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Full text of "Konservative Monatsschrift fur Politik, Literatur und Kunst"

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Inhalt. 


Ein Bertrag. Roman von Siegfried vom Hoof . . ... 


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1237 





„Bräfin 

Sophie Neinhard”, „Mörifceana*, „Vilionen und Träume”) . . .„ 129 
Engliihe Stimmen über Deutichland. Von Rev. L. A. Schlei 
Der Mitvater des deutijhen Nationalvereins . 
Monatsſchau. Bolitit. Vollswirtſchaft. Kirche. REBEL —— 
Nene Schriften. 1. Politik. 2 Kirche. 3. Kunſt. 4. Poeſie. 5. Unterhaltun 

fitteratur. 6. Litteraturgeichichte. 7. Weihnadtslitteratur. 8. Nerichiedenes 


Stiszen aus meinem Leben und meiner Zeit. (Von der Verfaſſerin der 






















1329 













Herausgeber: 
Dietrih von Derken, Schwerin i. M, Klofteritr. 6, und Profefior Martin 
von Nathufius in Greifswald. 
(An die erftere Adreſſe find alle für die Redaktion beftimmten Sendungen zu richten.) 


Nachdruck 


der in dieſem Heft enthaltenen Aufſätze verboten. 


Die „Allgemeine konjervative Monatsfchrift für das chriſtliche Deutichland“ Fort⸗ 
ſetzung des Volksblattes für Stadt und Land) dient zur Vertretung der chriſtlichen Welt- 
anſchauung in Staat nnd Kirche, Schule und Familie, Kunſt, Wiffenfchaft und Litteratur. 

Monatlich ericheint ein Heft in Ler.=8°. von 7 Bogen. 

Man abonniert bei jeder Buchhandlung, Roftanitalt (Zeitungspreistijte Seite 3 Nr. 61), 
wie bei der Verlagshandlung; Preis p. Quartal 3 Mt. 


Jufertionspreis für die gejpaltene Petit- Zeile 0,20 ME. Beilagengebühr für je 
2 


se Cinbanddeden zu den Halbjahrsbänden koſten je DE. 1.—. 


Tem Dezemberhefit liegen bei Troipelte von J. Bacmeifter, Eiſenach, %. Hennig, 
Berlin, Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig, Levy & Müller, Stuttgart, E. Ed. Müllers 
Berl., Bremen, Friedr. Pfeilftüder, Berlin, E. Neifiner, Yeipzig, BD. Reuther's Berlar 
Derlin, $. 5. Steinfopf, Stuttgart, Weidmaunn ſchen Buchhandlung, Berlin, Georg Werk 
Berl,, Heidelberg, Bari Winter’s Univerfitäts:Bucdhhd Heidelberg, Mar Woywod, Breslan, 





BE Im den Münjchen geehrter Abonnenten: für einen ermäßigten Preis 
in den Befis früherer Jahrgänge treten zum fünnen, entgegenzufommen, etern ivir 
foweit der teilweiſe nur geringe Norrat reicht: 

die „Allg. konſ. Monatsſchrift“ Jahrg. 1881. 1882 (Ladenpr. aM. 8.—) 
für aM. 4—, Jahrg. 1883 (Ladenpr. M. 10.—) für M. 5.— 
— Sämtlihe 3 Jahrgänge zufammen (Ladenpr. 26.—) für 12 Mari. — 


Jahrg. 1879 und 1880 ift nur in einzelnen Eremplaren fomplett und fan 
daher nicht ermäßigt abgegeben werden. 


Geora Böhme's Verlan in Leipzig. 


Proklamation 


des 


Kaifers und Königs Wilhelm II. 


An Mein Dolkl 


Gottes Ratfchluß hat über uns aufs neue die fehmerzlichfte Trauer 
verhängt. VNachdem die Gruft über der fterblichen Hülle Meines unver: 
geßlichen Großvaters fi kaum gefchloffen hat, ift auch Meines heißge- 
liebten Herrn Daters Majeftät aus diefer Seitlichfeit zum ewigen Frieden 
abberufen worden. Die heldenmütige aus chriftlicher Ergebung erwad)- 
fende Thatfraft, mit der Er Seinen Königlichen Pflichten, ungeachtet 
Seines Keidens gerecht zu werden wußte, fchien der Hoffnung Raum zu 
geben, daß er dem Daterlande noch länger erhalten bleiben werde. Gott 
hat es anders befchloffen. Dem föniglichen Dulder, defien Herz für alles 
Große und Schöne fchlug, find nur wenige Monate befchieden gewefen, 
um aud; auf dem Throne die edlen Eigenfchaften des Geiftes und Herzens 
zu bethätigen, weldye ihm die Kiebe Seines Dolfes gewonnen haben. 
Der Tugenden, die ihn fchmücten, der Siege, die er auf den Schlacht: 
feldern einft errungen hat, wird dankbar gedacht werden, fo lange deutfche 





Allg. tonf. Monatsichrift 1888. VIL. 815 44 


Herzen fchlagen, und unvergänglicher Ruhm wird feine ritterliche Geftalt 
in der Gefchichte des Daterlandes verflären. 

Auf den Thron Meiner Däter berufen, habe Ich die Regierung im 
Aufblid zu dem Könige aller Könige übernommen und Gott gelobt, nach 
dem Beifpiel Meiner Däter Mleinem Dolfe ein gerechter und milder Fürft 
zu fein, frömmigfeit und Gottesfurcht zu pflegen, den Frieden zu fchirmen, 
die Wohlfahrt des Kandes zu fördern, den Armen und Bedrängten ein 
Helfer, dem Rechte ein treuer Wächter zu fein. 

Wenn Ich Bott um Kraft bitte, diefe Föniglichen Pflichten zu erfüllen, 
die Sein Wille Mir auferlegt, fo bin ich dabei von dem Dertrauen zum 
preußifchen Dolfe getragen, welches der Rückblick auf unfere Gefchichte 
mir gewährt. In guten und in böfen Tagen hat Preußens Volk ftets 
treu zu feinem Könige geftanden; auf diefe Treue, deren Band fid Meinen 
Dätern gegenüber in jeder fchweren Seit und Gefahr als unzerreißbar 
bewährt hat, zähle auch Ich in dem Bewußtfein, daß Ich fie aus vollem 
Herzen erwidere, als treuer fürft eines treuen Dolfes, beide gleich ftarf 
in der Hingebung für das gemeinfame Daterland. Diefem Bewußtfein 
der Gegenfeitigfeit der Liebe, welche Mich mit Meinem Dolfe verbindet, 
entnehme ich die Zuverſicht, daß Gott Mir Kraft und Weisheit verleihen 
werde, Meines föniglichen Umtes zum Heile des Daterlandes zu walten. 


Potsdam, den 18. juni 1888. 


Bilhelm. 





—* 


—— 





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Elfaß-Iothringifche Beitfragen. 
Bon 


S. Gerdolle, faijerl. Oberföriter a. D. 


I 


Seit den legten Reichstagswahlen im vorigen Jahre find die eljaß-lothringiichen 
Angelegenheiten, und zwar ebenjo wohl was die Beziehungen des Reichslandes zum 
deutjchen Reiche, al3 was die inneren Berhältnifje des Landes ſelbſt betrifft, wieder 
in den Vordergrund des allgemeinen Intereffes getreten. Eine furze, hierauf bezüg— 
liche Umfchau dürfte daher den Lefern dieſer Zeitjchrift nicht unwillkommen jein. 

Was jene Wahlen ſelbſt betrifft, jo haben diejelben in Altdeutjchland nur jelten 
eine richtige Beurteilung gefunden, und ihr wahrer Charakter ift in den meiſten Preh- 
organen entweder über- oder unterjchägt worden. Der Grund liegt nahe; man war 
zu jehr geneigt, die Sache von dem einfeitigen Standpunkte der Politik, — als Maß— 
* für die ſogenannte Germaniſation — betrachten zu wollen, und das war grund— 
falſch. 
Einerſeits ſpielen perſönliche Verhältniſſe und Einflüſſe bei Wahlen vielleicht 
nirgends mehr die Hauptrolle, als im Reichslande, und daher ſind die Geſinnungen 
der Abgeordneten nicht immer ein zuverläſſiges Kriterium für die Geſinnungen der 
Wählerſchaft. Am beſten beweiſen dies die Wahlvorgänge in der Landeshauptitadt 
Straßburg, wo früher der Proteftler Kable einer erdrüdenden Mehrheit ſtets jicher 
war, und nad) deflen Tode der offen und entjchieden auf deutjcher Seite ftehende 
Rechtsanwalt Petri mit ebenfolcher Mehrheit durchdrang. Was übrigens Kable jelbft 
anbelangt, jo war derjelbe von gar aus durchaus fein Proteſtler, urjprünglich neigte 
er fogar fehr zur Deutjchfreumdlichleit; jpäter wurde er jchwanfend, und erſt nachher 
ging er, — wie es heißt, durch Beamtenmißgriffe dazu getrieben, — ins protejtlerijche 
Lager über; indeſſen hatte er in allen diefen Gefinnungsftadien die Mehrzahl feiner 
Mitbürger hinter fich, ein Beweis, dak für den Mann und nicht für deffen Grund- 
ſätze gefimm wurbe. 
uf der andern Seite läßt fich nicht leugnen, daß nichts geeigneter ift, die große 
Maſſe der Wähler zur politiichen Oppofition zu treiben, als die wirtjchaftliche und 
foziale Unzufriedenheit, und leider gibt e8 im Neichslande genug Anlaß dazu. Nicht 
bloß wirft hier, wie auch anderswo, die allgemeine, durch das Mancheftertum und die 
heutigen Währungsverhältniffe hervorgerufene Krifis: es hat ſich auch, infolge der 
franzöfifchen Entwidelung der legten hundert Jahre mit ihrem bejonders ausgeprägten 

44* 


680 Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 


einfeitig fapitaliftiichen Charakter, eine Menge Unzufriedenheitsjtoff angehäuft, der dem 
Reichslande eigentümlich ift, und auch unabhängig von der allgemeinen Notlage feinen 
unheilvollen Einfluß ausübt. 

Es gereicht daher der gegenwärtigen Regierung des Reichslandes entſchieden zur 
ge Ehre, daß fie, in richtiger Würdigung diefer Thatjachen, neben der jtrengen 

efämpfung fremder, Tandesverräterifcher Umtriebe und der jchärferen Betonung ber 
Bande, welche das Reichsland mit dem deutjchen re nunmehr vereinigen, ber 
Befjerung innerer Schäden auf wirtjchaftlihem und fozialem Gebiete eine erhöhte Auf- 
merfjamfeit jchenfen zu wollen erklärt hat. 

Freilich war jchon früher, teild von feiten ihrer Vorgängerinnen, teil® von jeiten 
einiger, leider zu jehr vereinzelten Mitglieder der Landesvertretung, hier und da befjernde 
Hand anzulegen verjucht worden. Aber diefe Verfuche waren zu jehr plan- und pro- 
— geblieben, um richtig verſtanden werden zu können. Außerdem haben, bei 

er im Reichsländiſchen Parlamente, dem ſogenannten Landesausſchuß, herrſchenden 
Zerſplitterung und Meinungsverſchiedenheit, Geſetzvorlagen überhaupt, und bei der 
überwiegend kapitaliſtiſchen Anſchauungsweiſe der meiſten Mitglieder dieſer Körperjchaft 
ſoziale Reformvorſchläge erſt recht, nur dann Ausſicht auf Erfolg, wenn ſie mit beſonderem 
Nachdruck von obenher befürwortet werden, während es gerade zu den Gepflogenheiten 
der bisherigen Regierungen gehörte, in allen nicht politiſch wichtigen Fragen wien, — 
wir wollen nicht gr den Parteien, denn ſolche gibt's nicht, Br zwiſchen den ein⸗ 
zelnen Hauptrednern möglichſt geſchickt zu lavieren, um es mit niemandem zu verderben. 

So iſt denn vieles beſprochen, aber nur weniges ausgeführt worden, und auf 
dieſe Weiſe find eine Menge „Fragen“ entſtanden, die heute mehr denn je zum Gegen— 
ftand der öffentlichen Diskuſſion geworden find und ihrer Löſung bisher vergeblich 
harten. Zu diefen Fragen wird die neue Regierung über furz oder lang Stellung 
nehmen a von dieſer Stellungnahme wird es abhängen, ob fie der Aufgabe, die 
fie fich ſelbſt geftellt hat, gerecht wird oder nicht, und mit Rüdficht auf den vorhin 
erwähnten Umftand, daß wirtichaftliche und joziale Zufriedenheit zur Beruhigung der 
Gemüter ungemein beizutragen vermag, wollen wir die wichtigjten unter ——— 
einer Beſprechung zu unterziehen verſuchen. 

Ehe wir jedoch dazu übergehen, können wir nicht umhin, zu bemerken, daß trotz 
der offen ausgeſprochenen Abſicht unſerer Regierung, für die Heilung wirtſchaftlicher 
und ſozialer Schäden mit mehr Nachdruck einzutreten, in dieſem Jahre noch recht wenig 
an gejelichen Maßregeln in Vorfchlag gebracht worden ift. Unleugbar hat dies fogar 
in manchen Kreifen eine gewiffe Enttäufchung hervorgerufen. Man muß jedoch berüd- 
fichtigen, daß bei den weitgehenden Perjonenveränderungen, die im Mintjterium ftatt- 
u haben, und namentlich bei der Neubejegung zweier Abteilungen mit zum Zeile 

em Reichslande ganz fremden Kräften, eine gewifje Ruhepauje nicht zu vermeiden 
war. Die neuen Chefs müfjen fich doch erſt in die neuen Verhältniſſe einleben, und 
es ift eben jehr gut, daß fie es thun, um dann nachher mit um jo mehr Sachfenntnis 
ihr eigenes Urteil in die Wagjchale werfen zu fönnen. Dann ijt e8 aber natürlich, 
daß man ſich zunächſt auf dasjenige bejchränfte, was unumgänglich notwendig oder 
bereits früher vorbereitet war, und im übrigen, wo eine endgültige Regelung nicht zu 
erzielen, fi) mit Uebergangsmaßregeln als einer Art Notbehelf begnügte. 

Diefen letzteren Charakter trägt 3. B. unzweifelhaft das jogenannte Bürger: 
meiftergejeg, welches dem Reichstage in feiner vorlegten Tagung vorgelegt wurde. 
Eine organische Reform der reichsländifchen Gemeindegeſetzgebung war es keineswegs, 
machte auch nicht den geringsten Anfpruch darauf, es zu jein. Es bezwedte bloß Die 
Bejeitigung einiger höchſt unpraftifcher und Läftiger Beſtimmungen, war aljo nur ein 
Mittel, um mit dem Vorhandenen befjer ausfommen zu fünnen, bis man in der Lage 
wäre, etwas anderes an defjen Stelle zu ſetzen. Der Gebrauch, den die Regierung 
von den ihr durch diefes Geſetz verliehenen Befugniffen bisher gemacht hat, beweiſt 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 681 


died übrigens am beiten; die Fälle, in welchen der Gemeindevoritand nicht aus den 
Reihen der Gemeinderatsmitglieder entnommen wurde, find äußerſt jelten, und noch 
— ſind die Ernennungen von beſoldeten, ſogenannten Berufsbürgermeiſtern. In 
ieſer Beziehung haben ſich die von den elſäſſiſchen Abgeordneten ausgeſprochenen 
efürchtungen als vollſtändig gegenſtandslos erwieſen, und thatſächlich ſtand der Lärm, 
der von denſelben und ihrem Eerifalsfreifinnig-demofratiichen Anhange im Reichstage 
über dieſes Geſetz gefchlagen wurde, mit deſſen Nichtigkeit in gar feinem Berhältnis. 

Das gerade Gegenteil ift bei dem zweiten Gegenjtande, der den Reichstag in 
bezug auf Elfaß-Lothringen, und zwar am Anfang der diesjährigen Tagung, bejchäftigte, 
nämlich die Einführung der Gewerbeordnung, der Fall. Die Bedeutung diejer 
von vielen Seiten jchon Bet Jahren herbeigewünjchten Maßregel war eine weit größere, 
als ein Nichteingeweihter aus der überaus glatten und jachlichen Diskuffion entnehmen 
fönnte, was ſich übrigens dadurch leicht erflärt, daß fait alle Parteien damit einver- 
ftanden waren, oder wenigſtens thun mußten, al3 wenn fie damit einverjtanden wären. 

Ueber diejen Punkt möchten wir uns noch eine Bemerkung erlauben. Die Wichtig- 
feit der deutjchen Gewerbeordnung für das Reichsland ift unferer Anfiht nah am 
wenigjten da zu juchen, wo jie von vielen Seiten gejucht worden it, d. 5. auf dem 
Gebiete der Fabrifarbeitergefeßgebung. Die elſaß-lothringiſche Induftrie fteht feit einem 
Menfchenalter in bezug auf die Fürſorge für ihr Arbeiterperjonal Hoch obenan, und 
wenn fie, wie allerdings nicht zu leugnen tft, manches auf diefem Gebiete noch zu wünfchen 
übrig läßt, jo liegt e8 weit mehr am Indujtrialismus überhaupt, als an etwas anderem. 
Freilich werden die Beitimmungen der deutichen Gewerbeordnung mit ihrem weit 

ehenderen Schuß der Frauen und jugendlicher Arbeiter, mit ihrer beſſeren Berüd- 

A htigung der Sonntagsheiligung u. j. w., nicht ohne gute Wirkung bleiben, eine völlige 
Gefundung werden fie aber nicht ——— vermögen. Dies kann nur dann der 
Fall ſein, wenn ſelbſt in den großen Induſtriediſtrikten eine blühende Landwirtſchaft, 
und namentlich ein fräftiger, ſelbſtbewußter Grundbejigeritand der Induſtrie als 
Gegengewicht zur Seite fteht, und um einen jolchen wieder ins Leben zu rufen, dazu 
gehören, wie überall, wo eine langjährige einjeitige Begünftigung des mobilen Kapitals 
und feiner Anlage in indujtriellen Unternehmungen die natürlichen Grundlagen einer 
gejunden Grundbefigverfaffung zerftört hat, Jahrzehnte und durchgreifende Maßregeln, 
und zwar jedenfall3 andere, al3 gerade zum Schub der TFabrifarbeiter. 

Den Hauptjegen der Einführung der deutjchen Gewerbeordnung in Eljaß-Lothringen 
erbliden wir vielmehr auf einem ganz anderen Gebiete, welches merkwürdigerweife 
während der Beratungen faft gar nicht erwähnt wurde, nämlich auf dem des Hand— 
werk. Schon vor einigen Jahren haben wir ung einmal dahin geäußert, daß die 
Handwerkerfrage als die wahre Arbeiterfrage für das Reichsland zu betrachten jet, 
und diejer leider nur zu wahre Ausſpruch hat jeitdem an Richtigkeit nicht das geringfte 
verloren. Ausbeutung, Unficherheit des Erwerbes und alle fonjtigen Folgen des 
Mancejtertums treten hier zu Lande im Handwerferitande viel größer und fchlimmer 
hervor, als unter den jtändigen Fabrifarbeitern, und daher find auch Die Verderbtheit, 
die Peine rasen bei demjelben weit mehr verbreitet, als unter der — jchon im Intereffe 
des Kapitalismus beſſer geſchützten — eigentlichen Fabrikbevölferung. Man muß eben be» 
denken, dab das Zerftörungswerf des modernen Liberalismus im Neichslande um etiva 
ein halbes Jahrhundert älter ift, als in Altdeutfchland, und daß, wenn auch die wirt- 
Ichaftlich guten Zeiten der 50» und 60er Jahre manches Unheil vertufchen halfen, es 
heute in dieſer Beziehung um fo troftlofer —— muß. Es ih ja eine alte Er- 
fahrung, daß erft in fogenannten fchlechten Zeiten die fozialen Sünden vollitändig zum 
Borjchein kommen, und zwar um fo mehr, als ihrer verderblichen Wirkung gerade 
während der guten Zeit vorgearbeitet zu werben pflegt. Dank der Einführung der 
Gewerbeordnung wird nun auch der eljah-lothringijche Handwerkerſtand fich allmählich 
wieder aufraffen können, und die Reformen, welche feit einigen Jahren in der deutſchen 


682 Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 


Handwerfögejeggebung entweder eingeführt oder geplant find, werden ihm nunmehr zu 
gute fommen fönnen, was bis jept, da es fich jedesmal bloß um „Novellen“ handelte, 
leider nicht möglich war. Dies kann nicht verfehlen, auf die betreffenden Kreiſe einen 
guten Eindrud zu machen und fie mit dem Deutfchtum allmählich zu verjöhnen. 

Freilich jind wir weit entfernt, die Innungen, befonders wenn fie nicht obligatoriſch 
find, als ein Univerfalmittel für alle Verhältniffe zu betrachten. Es beiteht übrigens 
auch in diefer Beziehung ein jehr großer Unterfchied zwiſchen Eljaß-Lothringen und 
Altdeutichland. Während letzteren Orts am Ende des vorigen Jahrhunderts oder am 
Anfange des jegigen die alten überlebten Einjchränkungen einer gefunden Reform fat 
allenthalben unterzogen wurben, dagegen die Proffamierung ber ſchrankenloſen Gewerbe 
freiheit erjt in der meueften Zeit erfolgte, fo daß heute, troß aller aufgehäuften Ruinen, 
ein recht guter Kern übrig geblieben tft, der nur geihügt zu werden braucht, um als 
Kriftallifationspumft wirken zu können, ift ſchon feit nahezu hundert Jahren in Frank 
reich und folglich mit im Reichslande, gleich alles, da8 Gute mit dem Böfen zufammen, 
auf einmal über Bord geworfen worden. Es fehlen fomit alle Traditionen, von der 
Vergangenheit hat man nur einen verſchwommenen faljchen Begriff, und alles ift vom 
Grunde aus wieder aufzubauen. Nichtsdeftoweniger werden die Innungen, für welche 
ſchon längſt in eingewanderten Handwerkerkreiſen eine lebhafte Agitation beiteht, un- 
bedingt mit der Zeit, wenn auch langjamer als anderswo, befjere Zuftände herbeizu- 
führen beitragen. Auch politiih, vom Standpunkte der Verfühnung mit dem neuen 
Rechtszuſtande, werden die Innungen nicht ohne guten Einfluß bleiben; denn fie bilden 
einen neutralen Boden, auf welchem Eingewanderte und Eingeborene fich gegenfeitig 
fennen und jchäßen lernen können, und in der Vertretung von —— — liegt 
eines der vornehmſten Mittel, die nationalen vi ah zu verwijchen oder wenigſtens 
ihrer Schärfe zu berauben. Von diefem Standpunkte aus müſſen wir die legthin 
von der Staatsregierung abgegebene Erklärung, daß fie das Innungsweſen möglichft 
fördern wolle, mit bejonderer Genugthuung verzeichnen. 

Mit diefen beiden Vorlagen, dem Bürgermeiftergefeg und der Einführung der 
Gewerbeordnung, war die Arbeit des Reichstags, injofern fie ſich auf eljaß-Lothringifche 
„ragen“ be ee follte, zu Ende; denn als fich auf eine wichtige Reform beziehend 
fann die allerletzte Vorlage, betreffend die Auslegung gewiſſer ftrafrechtlicher Be— 
ftimmungen nicht betrachtet werden. Es handelte fich dabei lediglich um Die wohl- 
verdiente Korrektur einer gar zu jehr einjeitig juriftiichen Auffafjung des Reichs— 
ericht3 und wenn auch eine folche Korrektur ſich al3 dringend notwendig erwies, jo 
bat fie doch nur vom Standpunkte der Handhabung der politiichen Polizei einen 
Wert 


Noch weniger al3 der Reichsta —* ſich der Landesausſchuß während ſeiner 
diesjährigen Tagung mit wichtigen Geſetzesvorlagen zu befaſſen. Von der Regierung 
wurde nichts von bejonderer Bedeutung eingebradht. Diejelbe Hatte fich noch nicht 
einmal über die Verwendung der ziemlich hohen, an die 1100000 Mark betragenden 
Ueberfchüffe aus den Reichsſteuern jchlüffig machen können, und begnügte fich daher 
damit, deren Aufbewahrung bis auf weiteres zu beantragen. Auch den verjchiedenen 
Anregungen gegenüber, die aus dem Hauje jelbit kamen, nahm fie eine, wenn auch 
nicht immer ablehnende, jo doch ftet3 abwartende Stellung ein, jo daß an ein Durch- 
dringen irgend eine? Antrages nicht im entfernteften zu denken war. Es iſt jomit 
alles fo ziemlich beim Alten geblieben und das Zuftandefommen der erwarteten, weit 
gehenderen Reformen bleibt erjt einer jpäteren Zeit vorbehalten. 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 683 


I. 


Eine der wichtigften, die, wenn auch in erjter Linie politiicher Natur, nichtsdeftos 
weniger das wirtjchaftliche und joziale Gebiet jehr nahe ftreift, it die fogenannte 
Berwaltungsreform. Das Möllerfche Regime hat ein Beamtenheer gef und 
Hinterlaffen, welches mit feinen laufenden Gehaltsanjprüchen und dem damit verbun- 
denen, jtetig wachjenden Penfionsfonds ſchwer auf dem Lande [aftet, während gerade 
wegen diefer Ueberzahl an Beamten die Verwaltungsgefchäfte nicht immer mit der- 
jelben Schnelligkeit und Korrektheit erledigt werden fünnen, die man in anderen 
deutjchen Staaten, und namentlich in Preußen, zu finden gewohnt iſt. 

er Grund liegt zum großen Teil daran, daß man bei der Organifation der 
Verwaltung in Eljah-Lothringen zwar im großen ganzen nach deutjchen bezw. preußischen 
Grundjägen verfuhr, fich aber gleichzeitig nicht entjchließen konnte, alles franzöfiiche 
zu befeitigen, jo daß fait allenthalben zwijchen den verfchiedenen Aemtern und deren 
räumlichem Wirkungsfreis ein Mikverhältnis entitand. Die — meift völlig neu er- 
richteten — Lolalinftanzen find vielfach überlaftet, während die an der Stelle der 
franzöfifchen Verwaltungsbehörde getretenen Kontrollinitanzen ungenügend — 
ſind. Infolgedeſſen kommt die Verwaltung ungemein teuer zu ſtehen, viel teuerer als 
früher oder in den ſonſtigen deutſchen Staaten, und dies wird um jo mehr empfunden, 
als eine Vermehrung der Lofalbehörden fich als immer dringender notwendig erweift. 

Auch bildet deshalb jchon feit Jahren die „Vereinfachung des Berwaltungs- 
apparates“ ein ftändiges Diskuffionsthema für den Landesausſchuß, ſowie einen Gegen- 
ftand der aufmerfjamen Erwägung für die Regierung. Leider hat man fich über eine 
Grundlage für durchgreifende Reformen ge nicht zu einigen gewußt und ſich daher 
mit vereinzelten Maßregeln Denn, die aber, weil fie vereinzelt blieben, nicht viel 
helfen konnten. Man bat 3. B. in einigen VBerwaltungszweigen, u. a. in der Ber- 
waltung der direkten Steuern, dadurch eine Vereinfachung zu ıhaffen ejucht, daß Die 
drei Bezirködireftionen in Wegfall famen, und eine einzige Zentra Direktion in Straß⸗ 
burg, mit einem Minijterialrat an der Spige, errichtet wurde. Aehnliches ließe fich 
auch in anderen Zweigen, z. B. für die Forſtverwaltung — wo die Forjtmeifter- und 
Oberforjtmeifterbezirfe dreimal Kleiner find als in der preußiſchen Rheinprovinz, während 
e3 namentlich in den Staatswaldungen des Hochgebirges Dane viel zu ausgedehnte 
Oberförftereien gibt — ebenfalld erreichen. Die Hauptjache liegt aber auf dem Ge- 
biete der allgemeinen, inneren Verwaltung, alles übrige iſt nur Flickwerk, und es dreht 
ſich daher der Hauptſtreit um die Aufhebung der Regierungsbezirke, oder beſſer geſagt, 
um die Aufhebung der Bezirksregierungen. 

„Wenn aud) anfangs gewichtige Gründe dafür geſprochen haben mögen, jo äußerten 
wir uns legthin in der „Straßburger Poſt“, daß man im Lande drei Regierungs- 
bezirfe im Umfange der früheren Departements beibehielt, und, trogdem daß der 
Schwerpunft der neuen Verwaltung auf die völlig neue Kreisinſtanz verlegt worden 
war, die früheren einfachen Präfefturen in eben jo viel Bezirfäregierungen mit ihrem 

anzen Apparate von Räten und Kanzleiperſonal ummwandelte, fann ein folcher 
Suftand auf die Dauer doc; nicht aufrecht erhalten bleiben, denn die Nachteile liegen 
gar zu jehr auf der Hand. 

„Bei der Verwaltungsorganijation, wie das Reichsland fie thatjächlich befigt, 
d. 5. bei einer jolchen, bet welcher der Kreis die Hauptgrundlage des Ganzen bildet, 
ijt die Thätigkeit der Bezirksinſtanz mehr oder weniger eine bloß überwachende, und 
deshalb kann deren Wirkungsfreis in räumlicher Ausdehnung viel größer fein, als 
das für das perjönliche Verwaltungsregiment eines franzöfiichen Präfekten berechnete 
Departement. Am beiten kann man dies an der preußifchen Rheinprovinz erjehen, 
wo die Berhältnifje fonft denen im Reichslande am ähnlichiten liegen, und wo die fünf 
Regierungsbezirke im Durchſchnitt das Doppelte an Kreifen und Einwohnern umfaffen, 


684 Elſaß-Lothringiſche Zeitfragen. 


als die reichsländiſchen. Selbſt der kleinſte derjelben, Koblenz, mit elf Kreifen und 
rund 750000 Einwohnern, ift bedeutend umfangreicher, als unfer größter, das Unter- 
eljaß, und dem größten, Düffeldorf, mit jiebzehn Kreifen und 1300000 Einwohnern, 
fehlt nicht viel, daß er dem ganzen Reichslande (zweiundzwanzig Kreife mit 1500000 
Einwohnern) an Umfang gleichfommt. Wie man fieht, könnte recht gut in Elſaß— 
Lothringen, ohne daß der Gejchäftsgang darunter zu leiden hätte, die Ueberwachung 
unmittelbar von der Zentralinitanz, d. 5. vom Minifterium ausgeübt werden, und 
ſomit die Bezirksinſtanz wegfallen. 

„Es handelt fich indeſſen nicht bloß um ein „kann“, fondern in Wirklichkeit um 
ein „muß“, wenn, ganz abgejehen vom Koftenpunft, die Kräfte der Beamten richtig 
ausgenußt werden jollen, und das ift die Hauptjache für ein gedeihliches, erjprießliches 
Funktionieren der Berwaltungsmajchine. Für den verwaltenden Beamten ift zwar 
Muße eine Hauptbedingung, joll intenfiv verwaltet werden; bei dem fontrollierenden 
Beamten führt e3 dagegen nur zu leicht zu Kleinigfeitsfrämerei, zum Vielfchreiben und 
Vielregieren, und fo wird jchlieglich die Kontrollinſtanz zu einem wahren Hemmſchuh.“ 

Go eine jolche Reform hat jich indeffen die Regierung bisher jtet3 ablehnend 
verhalten, und jie hatte dabei ein um fo leichtere Spiel, al3 bei jeder Angelegenheit 
die Bevölkerung der „erzentriichen Landesteile“, Lothringen und Obereljaß, bezw. 
deren Vertreter, gegen eine Aufhebung der Bezirke eine jchroffe Abneigung an den Tag 
legten, eine Abneigung, die joweit geht, daß die Leute, troß ihres Lebhaften Wunfches 
nach Erfparniffen und Vereinfachung des Verwaltungsapparates, noch lieber die hohen 
Koften und den vermwidelten Gejchäftsgang mit in den Kauf nehmen, al3 eben auf die 
Bezirke zu verzichten. 

Und diefe Abneigung rührt, jo jonderbar es klingen mag, von zwei Gefühlen 
her, die an ſich ganz erfreulich find, denn fie find beide urdeutich, und beweijen aljo 
das unter franzöfiicher Herrjchaft niemals unterbrochene Fortwirfen des deutſchen 
Geiftes im Lande: es jind das einerfeitS die Abneigung gegen eine jede angeblich zu 
weit gehende Zentralifation (mad übrigens bei Leuten, die während achtzig Jahren 
unter modern franzöfiichem NRegimente gejtanden haben, nicht Wunder nehmen darf) 
und anderfeit3 der Lofalpatriotismus, der um jo begreiflicher ift, als die Vogeſen bis 
zum Jahre 1870 eine ziemlich jcharfe Scheidewand zwiſchen Elſaß und Lothringen 
bildeten, und die Verhältniffe auf beiden Seiten derfelben in jeder Beziehung grund- 
verfchieden find. 

Allerdingd wäre die Aufhebung der Regierungsbezirfe feine Zentralifationg-, ſon— 
dern eine Dezentralifationsmaßregel, denn durch diefelbe würde jeder Kreis, ja ſogar 
jede größere Stadt ein Feine „Departement“ für jich bilden, und wenn auch die 
Bentralregierung die Zügel nod) jo jtraff anziehen jollte, bis in die Eleinften Details 
fönnte fie doch nicht dringen, die Selbjtändigfeit der Kreis- und Stadtbehörden fünnte 
daher nur wachen und es wäre auch am richtigiten fo. Eben fo wenig hätte der 
Lofalpatriotismus darunter zu leiden; von einem „Lothringifchen" Zofalpatriotismus, 
im Sinne eined Gefühl der althiftorischen Zufammengehörigkeit, kann fchon über- 
haupt, d. h. im heutigen Bezirke Lothringen, feine Rede jein, denn dieſer Bezirk befteht 
aus Gebieten, bezw. — von Gebieten, die ſeit des ſeligen Königs Lothar Zeiten 
nicht mehr zuſammengehört haben, und, wenn man nur die moderne Zeit berückſichtigen 
will, aus zwei Departementshälften, die miteinander faft gar feine Beziehungen hatten, 
und erft jet, feitdem Eifenbahnverbindungen zwijchen denjelben hergeftellt find, Be- 
ziehungen miteinander zu haben beginnen. Das Obereljaß hat allerdings von jeher 
eine bejondere Landvogtei gebildet, die auch ziemlich unverändert in daS Departement 
des Oberrheing übergegangen iſt, dafür ijt es aber immer ein Teil des Eljaß geweſen, 
und hat ziemlich 2. Verhältniffe und noch zahlreichere Beziehungen mit dem 
„unteren“ Teile desfelben. Unter lothringifcher bezw. oberelfähifcher Selbjtändigkeit 
fann daher nur eine Wahrung der berechtigten Lofaleigentümlichfeiten beider Landes- 


Eljah-Lothringifche Zeitfragen. 685 


teile verftanden werden, und das läßt jich eben jo gut von den einzelnen Kreisvor- 
ftänden al3 von den Bezirfspräfidien erreichen, zumal die Jentralregierung bisher 
noch durchaus feine „nivellierenden Tendenzen“ an den Tag gelegt hat, und voraus 
fichtlich niemal3 an den Tag legen wird, da es den deutjchen leberlieferungen voll» 
ftändig widerjprechen würde. 

Was nun eine andere Sorte von Lofalpatriotißmus betrifft, die wohl in diejer 
Angelegenheit das Haupttriebrad bilden dürfte, und, fofern jede Uebertreibung vers 
mieden wird, ebenfalld der Berechtigung nicht entbehrt, — wir meinen hier den Kirch: 
tumspatriotismus der zwei Bezirkshauptſtädte, — jo hat derjelbe von einer Aufhebung 
der Bezirke ebenfalls nichts zu befürchten. Darin kann weder „eine neue Begünjtigung 
des ſchon jo jehr begünftigten Straßburgs“, noch eine Zurüdjegung, eine „neue 
Dekapitalifation“ der zwei „früher mit der Landeshauptitadt gleichberechtigten Städte 
Mes und Colmar“, erblidt werden. Für die Bedeutung einer Stadt bleibt doch der 
Rang der darin wohnenden Behörden von jehr geringem Einfluß, und darüber follte 
man im Reich8lande erſt recht im Elaren fein, wo noch vor zwanzig Jahren das welt- 
befannte und weltbedeutende Mülhaufen ein einfacher Kantonsort — aljo noch nicht 
einmal Kreisftadt — war. Nach Aufhebung der Bezirfe würde Colmar immer die 

rößte nicht induftrielle Stadt des Oberelſaß, der Sit des höchſten Gerichtshofes im 
Kaas. bleiben, ebenſo wie Met die größte Feitung und Garnifon, und es würde 
deshalb beiden Städten z. B. fein einziger Bejuc von hohen und allerhöcdjiten Per: 
jonen entgehen, denn ſolche Bejuche gelten ja. nicht den Bezirföbehörden, jondern der 
Stadt ſelbſt. Der Verluft würde fich aljo auf die allerdings nicht unbedeutende Anzahl 
höherer und niederer Beamten bejchränfen, diefer würde aber in wirtjchaftlicher 
Beziehung durch die Entwidelung, welche ein jelbjtändiges ſtädtiſches Regiment, infolge 
der Einführung einer Städteordnung nad) deutjchem Mufter naturnotwendig mit fich 
bringen würde, mehr al3 ausgeglichen jein; und vom Standpunkte des Bürgerftolzes 
würde ein direft unter dem Miniiterium ftehender Bürgermeifter mit Magijtrat und 
Stadtverordnetenverjammlung an alte Reichäherrlichkeit weit beſſer erinnern, al3 das 
bloße Wohnen einer noch jo hohen Behörde. 

Es jei übrigens bemerkt, daß nad) einem ſehr beachtenswerten, in leiter Zeit 
aufgetauchten Borjchlage dieje hohe Behörde noch nicht einmal volljtändig in Wegfall 
zu fommen brauchte. Es darf nämlich nicht unberücfichtigt bleiben, daß die Bezirke 
juriftifche Perjonen find und als jolche eigenes Vermögen, Schulden u. ſ. w. befißen, 
jo daß deren Aufhebung recht jchwierige “Rain yet und jomit juriftijche 
und finanzielle Weiterungen zur Folge hätte. Mit Rückſicht hierauf ijt nun eine ähn- 
liche Organifation wie im Nachbarjtaate Baden in Vorſchlag gebracht worden, wo 
zwar ebenfall3 der Schwerpunft der Verwaltungsorganijation im Kreije — Ober⸗ 
amtsbezirk genannt) liegt, jedoch für eine größere Anzahl Kreiſe, etwa wie die hieſigen 
Bezirke, ein bejonderer hoher Beamter unter dem Namen eines „Landeskommiſſars“ 
befteht, der wohl die Aufjicht über die Lofalbehörden führt, aber dies allein, perſön— 
lich, ohne den Apparat einer preußijchen bezw. reichsländijchen Bezirksregierung thut. 
Käme diefer Vorſchlag zur Durchführung, jo hätte man die erwünjchte Erſparnis und 
Bereinfachung, ohne die befürchteten Nachteile und Schwierigkeiten. Nur die ungenügend 
bejchäftigten Räte und das überflüffige Kanzleiperjonal fielen weg, und damit wäre 
die Hauptjache gewonnen. 

Wie fommt es nun, daß dies alles von den meiften überjehen wird, daß man 
für eine übertriebene Zentralijation eine Mafregel hält, die das gerade Gegenteil 
davon jein ſoll, und in einer bloßen Behörde fozufagen den Hort der lofalen Selbit- 
ftändigfeit und Wohlhabenheit erblidt, was fie nicht ift und auch unmöglich fein kann? 
Der Grund hierzu iſt einfach in den franzöfiichen Verwaltungstraditionen und Ueber— 
lieferungen zu juchen, von denen die große Mehrzahl fich noch nicht recht hat los— 
machen fünnen, und in der groben Unfenntnis der deutjchen Einrichtungen, in der bie 


686 Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 


Bevölkerung bisher gelaffen worden ift. Nach wie vor hält man im Publikum die 
Kreisdirektion für ein bloße Ausführungsorgan, nad) wie vor glaubt man, daß der 
Schwerpunkt der Verwaltung im Bezirfspräjidium liegt, und die deutſchen Städte— 
verhältniffe, die fennt man einfach nicht. Dann ijt e8 fein Wunder, wenn man in der 
Aufhebung der Bezirke bezw. der Bezirfsregierungen das gerade Gegenteil von dem 
erblicdt, was es in der Wahrheit jein würde; aber es ift eben fo Elar, daß, wenn man 
nur wüßte, um was es ſich in Wirklichkeit handelt, man mit eben jo vielem Eifer für 
die Mafregel eintreten würde, als man jet gegen diejelbe auftritt. Sie entipricht 
alfo den Gefühlen der Bevölkerung und ftöht nur auf Irrtümer und Mißverſtändniſſe. 
Der Gedanfe hat übrigens in der legten Zeit unleugbare Fortſchritte, und zwar 
jehr weſentliche gemacht. Als zum erften Male, wenn wir nicht irren im Jahre 1885, 
der Abgeordnete — von Bulach Sohn einen diesbezüglichen Antrag ſtellte, erhob 
ſich in den ſonſt jo ruhigen und friedlichen Räumen des „Schweizerhäufels“ auf dem 
Kaijerplag zu Straßburg ein förmlicher Sturm der Entrüftung, der nur mit Mühe 
und Not beigelegt werden konnte. In diefem Jahre nun fam die Sache bei Gelegen- 
beit einer Forderung der Regierung nad) Vermehrung der Kreife zum erjten Male 
wieder aufs Tapet, und da war e3 ſchon ganz anderd. Die Diskuffion verlief un- 
emein ruhig, und es hätte fich wahrjcheinlich jogar eine fnappe Mehrheit für eine 
Fort des „do ut des* — d.h. Bewilligung neuer reife unter der Bedingung der 
ufhebung der Bezirköregierungen — gefunden, wenn die Regierung nicht erklärt hätte, 
fih darauf nicht einlafjen zu wollen. Die Enticheidung liegt alſo jegt allein in den 
— der letzteren, und wir hoffen, daß ſie ſich nunmehr nicht länger gegen eine 
aßregel ſträuben wird, die als die einzige praktiſche Löſung einer Lebensfrage für 
das Land betrachtet werden kann. 


I. 


Mit der allgemeinen Verwaltungsreform ift auch die Frage der Reform ber 
Gemeindeverhältnijje und überhaupt der allgemeinen Organifation der Selbft- 
berwaltungsorgane, wie in Vorſtehendem ſchon angedeutet, innig verbunden. Auch 
bier drängt es zu einer Löſung, denn das Bürgermeiftergejeg, welches im vorigen Jahre 
dem Hei vorgelegt worden, ift, wir wiederholen es, lediglich als ein Notbehelf 
u betrachten, al3 ein Mittel, Zeit zu gewinnen, um eine durchgreifende Reform ohne 

ebereilung und mit reiferer Ueberlegung ausarbeiten zu können. 

Die diesbezüglichen Zuftände dürfen wir wohl al3 allgemein befannt vorausjegen 
— daher, uns mit einer kurzen Aufzeichnung ihrer Hauptgrundzüge begnügen 
zu können. 

Erſtens bejteht in Eljah-Lothringen zwiſchen Stadt und gang eig fein Unter: 
fchied, ja die Benennung tft fogar eine willfürliche, wiewohl der Name Stadt in der 
Regel nur jolchen Gemeinden zu teil wird, welche mehr als 2000 Einwohner zählen. 
Auf die gejegliche Behandlung hat dies indefjen feinen Einfluß. Iedes Dorf und 
Dörfchen hat ebenjowohl jeinen auf Grund des allgemeinen Wahlrecht gewählten 
„Gemeinderat“ und feinen „Bürgermeifter", als die größte Stadt, und für die Zahl 
der Gemeindevertreter ijt lediglich die Einwohnenaht maßgebend. Auf der anderen 
Seite werden die Städte in bezug auf die Verwaltung ihre Vermögens, fowie über- 
haupt in allen ihren Angelegenheiten, jelbjt den nicht politifchen, ebenfogut der jtrengiten 
jtaatlichen Bevormundung unterworfen, als die kleinſten Dörfer. 

Dann it das Amt des Bürgermeifters ebenjowohl in der Stadt wie auf dem 
Lande ein Ehrenamt, alſo unbefoldet, umd die Amtsdauer hängt mit derjenigen des 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 687 


Gemeinderats zuſammen. Der Bürgermeiſter ſteht daher der Gemeinde gegenüber in 
einem Abhängigkeitsverhältnis, das ihn am jeder freien Handlung und Meinungsäußerung 
verhindert. Das neue Bürgermeiftergejeß hat zwar in bezug hierauf das Prinzip durch- 
löchert, die Anwendung fann jedoch, wie dies in den Verhältniffen liegt, nur ausnahms- 
weife gejchehen. 

Ferner hat der Bürgermeifter eine Doppeljtellung, die nichts weniger al3 angenehm 
ift für einen Mann, der nicht aus dem Beamtenjtande hervorgegangen ijt, mit der 
ehrenamtlichen Stellung erft recht nicht zujammenpaßt und ſomit auf viele mehr oder 
weniger abjchredend wirft, jo daß ge die beiten, geeignetiten Elemente jich zu diefer 

tellung nicht hergeben wollen. Auf der einen Seite ih der Bürgermeifter der Ver— 
treter der Gemeinde dem Staate gegenüber: er ift aber auch gleichzeitig der Vertreter 
des Staates in der Gemeinde und als jolcher eine Art Subalternbeamter, das lebte 
Glied in der Verwaltungsfette, auf dem die Ausführung einer Menge Mafregeln in 
letter Instanz ruht. 

Schließlich befteht für jeden Kreis und jeden Regierungsbezirk eine befondere Ver- 
—— die den Namen Kreis- bezw. Bezirkstag führt, auf Grund direkter Wahlen aus 
dem allgemeinen Wahlrecht hervorgeht und nur jehr geringe Befugniſſe befigt. 

Daß hier eine Reform not thut, geht jchon daraus hervor, daß eine jolche Orga- 
nifation im hohen Grade undeutjch ift und folglich zur Förderung deutſchen Geiſtes 
und deutfchen Weſens wohl jchwerlich beitragen fan. Sie ift aber auch an und für 
fich fchlecht, denn fie beruht nicht, wie die diesbezüglichen Organifationen in Altdeutjch- 
and, auf einer gefunden Entwidelung alter Traditionen, bezw. auf einer genauen 
Prüfung und Berüdfichtigung thatjächlicher Verhältniſſe, fondern Lediglich auf Fünft- 
fihen Abftraftionen, wie fie der Contrat Social und andere revolutionäre Utopien 
gezeitigt haben. Deshalb führt fie auch nicht bloß zu politifchen, jondern auch, und 
zwar vornehmlich, zu wirtichaftlichen und jozialen Unzuträglichkeiten. 

Zunächſt ift der ehrenamtliche Charakter der Sarg rmeifterfunftionen ein Unding. 
Man muß eben mit den Menjchen rechnen, wie fie find, und nicht mit Idealen. zür 
einen pflichtbewuhten Mann, der die Leitung der Gemeindeangelegenheiten aus reiner 
Hingebung für das Interefe feiner Mitbürger übernimmt, wie viele gibt es nicht, die 
ſich dabei lediglich Durch ſelbſtiſche Zwecke und Nebenabfichten leiten laſſen? Und 

üdlich noch, wenn dabei bloß der Ehrgeiz die Haupttriebfeder bildet. Zwar find die 

Nee vorüber, wo ein Dorfbürgermeifter die Fsronarbeiter auf jeinen Feldern unge- 
traft verwenden durfte; es gibt indefjen immerhin genug Mittel, um indireft das Wafler, 
wie man zu fagen pflegt, nach der eigenen Mühle zu leiten. Manche Stadtverwaltung 
bat darin wahrhaft Unglaubliches geleiftet, und von Dorfgemeinden werden ebenfalls 
geradezu haarjträubende Dinge erzählt. Wenn es auch manche recht edle und achtungs- 
werte Ausnahmen gibt, jo find es doch eben nur Ausnahmen, und daher gilt auch hier 
dad Sprüchwort, daß das angeblich Billige oft am teuerjten zu ftehen kommt. 

Mit dem faljchen Grundjag der Unbejoldbarfeit der Gemeindevorjtandsämter muß 
ein für allemal gründlich gebrochen werden, und an deſſen Stelle hat das deutjche 
Prinzip zu treten, wonad) Ser der ein Amt übernimmt, nach Maßgabe der von 
ihm geforderten Leiftungen bejoldet, aber auch gleichzeitig angehalten werden foll, 
aeg etwas zu leiften und die ihm anvertrauten Intereſſen energisch und jelbitlos 
zu fördern. 

Freilich kann dieſes Prinzip nur nad) einer volljtändigen Umgejtaltung der ganzen 
Drganifation zur vollen Anwendung kommen. 

Deshalb ift auch vor allen Dingen ein Unterjchied zwiichen Stadt und Land- 
emeinde zu machen. Die gleiche, ſchablonenhafte Behandlung dieſer beiden, ihrer ganzen 
atur nach jo grundverjchiedenen Gemeinwejen hat in Frankreich zur Verödung der 

Eleinen Städte ungemein beigetragen und jelbit die größeren Provinzialjtädte an einer 


688 Eljaß-Lothringifche Zeitfragen. 


normalen Entwidelung jehr gehindert. Thatfächlich find die Städte in Deutjchland, 
ceteris paribus, in jeder Beziehung den franzöfischen und reichsländijchen weit voraus, 
wie jelbjt die eingefleischteften Chauviniften bezw. Bewunderer Frankreichs zugeſtehen 
müſſen. Sollen die Städte des Reichslandes, und namentlich die kleineren, die meiſt 
nur ein Bild des traurigſten Verfalls bieten, wieder aufblühen, ſo gehört dazu vor 
allem der Erlaß einer entſprechenden Städteordnung, ähnlich wie in den meiſten deutſchen 
Staaten; dort hat die freiere Bewegung in der Erledigung der Gemeindeangelegen⸗ 
heiten, ſowie die Beſtimmung, daß an der Spitze einer Stadtverwaltung ein Kollegium 
gebildeter Männer jtehen joll, während in der Stadtverordnetenverfammlung für eine 
ernjte Vertretung der Bürgerinterefien Hinlänglich gejorgt wird, wahre Wunder gewirkt, 
und folche würden auch hier im Reichslande ficherlich nicht ausbleiben. Dafür, daß 
mit dem „Aufblühen“ auch nicht der hinfende Bote mit den hohen Steuerzufchlägen 
ſich gleichzeitig einftellte, könnte durch befondere Kautelen ſchon gejorgt werden. Uebrigens 
ift diefe Gefahr in einem Lande, wo die Oftroifteuer noch üblich und zuläffig, weit ge- 
ringer als da, wo jede indirefte Kommunalbefteuerung verpönt und abgejchafft ift. 

Auf dem platten Lande kann dagegen eine größere Bevormundung von feiten der 
Verwaltung nach wie vor bejtehen bleiben; fie ijt jogar notwendig, nur die Organifa- 
tion muß eine andere werden. Als Ausführungsorgane eignen ſich die Dorfvorjtände, 
mögen jie auch Bürgermeifter heißen, ganz und gar nicht, und bejoldet fünnen jie erft 
recht nicht werden, wenn man den kleinen Landgemeinden feine unerjchwinglichen Opfer 
auferlegen will. E3 empfiehlt fich daher die Einführung einer Organifation, wie fie 
in den meiften deutjchen Staaten befteht und ſich dort vorzüglich bewährt hat, wo 
zwifchen Kreis- und Ortsvorftand unter dem Namen Amtmann, Amtsvorjteher, Bezirks— 
bürgermeifter zc. eine bejondere Halb gewählte, Halb ernannte bezw. beftätigte Inſtanz 
befteht, die Beamtenqualität befist, die gleichzeitig Die Gemeindeangelegenheiten über: 
wacht und ald Ausführungsorgan fungiert. Unter einer jolchen Behörde find dann die 
Ortsvorjteher nur mehr das, was fie allein fein können, nämlich die Vertreter ihrer 
Gemeinden; ihr zwitterhafter Charakter fällt weg, und jeder fann fich dann dazu her- 
eben. Für Lothringen hätte eine jolche Einrichtung den unjchägbaren Vorteil, eine 

rennung der größeren gejchlofjenen Güter von den Dorfgemeinden, aljo die Bildung 
jelbjtändiger Gutsbezirke zu ermöglichen, eine Maßregel, die in hohem Grade geeignet 
wäre, ebenjo wohl die gutgefinnten Elemente der einheimischen Grundariftofratie für 
ihren Beruf wieder zu gewinnen und zu erziehen, als die Füllung der leider vorhan- 
denen, jehr breiten Lücken im Großgrundbejigerftande durch altdeutjche Kräfte wefentlich 
zu erleichtern. 

Der Begriff eines Amtsbezirkes ift in dem fogenannten Kanton hierzulande jchon 
vorhanden, nur mit dem Unterjchied, da leßterer nicht mehr notiwendigerweije den 
Wirkungskreis einer Behörde bildet, wie es früher für Friedensrichter, Polizeifom- 
miffar ıc. der Fall war, und daß die meiften Kantone zu umfangreicd) wären, um un- 
eteilt in die zufünftigen Amtsbezirfe aufgehen zu können. ze... erwächit jedoch 
eine bejondere Schwierigkeit. Auch würde durch die erwähnte Organifition feine Sg ce 
belajtung für die Gemeinden eintreten. Gegenwärtig wird in jeder Gemeinde ein Be- 
trag zur Bejoldung des Lehrers als „Gemeindefchreiber" ausgeworfen, der in Wegfall 
fommen würde und der hoch genug it, daß in den meiften Fällen höchitens 8 bis 10 
Gemeinden zujammenzutreten brauchen, um dem Amtsvorjteher ein ausfümmliches Ge- 
halt ohne Mehrbelaftung bieten zu fünnen. Die Lehrer fünnten dann von anderer 
Seite durch Gehaltserhöhung für den Verluſt ihrer bisherigen Nebenbefchäftigung ent- 
jchädigt werden, eine Nebenbeihäftigung, die übrigens ihre fehr großen Schattenjeiten 
hat und meist nur Unannehmlichfeiten, ſei es für den Lehrer, jei e8 für den Gemeinde- 
vorjtand zur Folge haben fanı. 

Die Schwierigkeiten liegen auf einer ganz amderen Seite; die Frage nämlich, 
welchen Anteil die Wahl, welchen Anteil dagegen die Verwaltung bei der Ernennung 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 689 


der zukünftigen Amtsvorjtände haben joll und in bezug auf leßteres wie weit das ein- 
gejeflene und wie weit das Veamtenelement zu berüdjichtigen wäre, läßt fich nicht ohne 
weiteres beantworten. In einem politifch noch wenig reifen Lande, wo es außerdem 
auf dem platten Lande vielfach an gebildeten Leuten fehlt, läßt fich eine Selbftver- 
waltungsorganijation, wie fie in den Öftlichen Provinzen Preußens bejteht, nicht hervor- 
zaubern, wenn man fich nicht der Gefahr ausjegen will, daß fie bloß auf das Papier 
zu ftehen fommt. Auf der anderen Seite würde ein Syitem wie in der preußifchen 
Rheinprovinz, wo zwar Selbftverwaltung dem Namen nad) vorhanden ijt, deren Organe 
aber faft ausfchlieglich aus den Reihen des Beamtentums, bezw. der Zivil- und Mili- 
täranwärter hervorgehen, hierzulande ihre jehr großen Schattenjeiten haben. Es fünnte 
dadurch der Gegentat zwiſchen Verwaltung und Bevölferung nur zu leicht verjchärft 
werden, außerdem fiele das Wenige an ühfung mit der einheimischen Bevölkerung, 
was der Kreisdireftor gegenwärtig durch feinen perfönlichen Umgang mit den Ortövor- 
ftänden noch hat, vollends weg, was eine Art Diktatur des Subalternbeamtentums 
leicht herbeiführen könnte, und N ieich wäre der einzige Boden, auf dem der Ge- 
meinfinn gepflegt und entwidelt werden fan, mehr oder weniger bejeitigt. 

Alle dieſe — —— wir jedoch keineswegs für unüberwindlich. Nichts 
iſt ja vollkommen auf dieſer Welt, und in den meiſten Fällen hat man nur zu ent— 
ſcheiden, welches von mehreren Uebeln man als das kleinſte wählen ſoll. So auch hier. 
Uebrigens läßt Ni in einer ziwedentjprechenden Gemeindeorgantjation weder das ange- 
jeflene noch das Beamtenelement volljtändig entbehren, und auf der Grundlage des 
Vorſchlags⸗ und Beftätigungsrechtes, ſowie ftrenger Normen für die Wählbarfeit Fönnen 
die nötigen Kautelen *28* werden, um nach jeder Richtung hin den Bedürfniſſen 
gerecht zu werden und zu verhindern, daß das eine oder das andere Element ſchließlich 
überwucert. Mag man ſich übrigens an maßgebender Stelle für das eine oder das 
Een a. entjcheiden, es wird jedenfalls und ficher befjer jein, als der jeige 

uſtand. 

Als Korrelat zur Gemeindereform gehört auch eine Reform der übrigen Selbſt— 
verwaltungsorgane, und namentlich eine Erweiterung des Arbeitsfeldes der Kreis- und 
Bezirkötage, leßterer natürlich nur injofern, als die Bezirke ſelbſt beibehalten würden. 
Dadurch könnte die Verwaltung wefentlich entlaftet werden, und jo hätte man ein 
weiteres Mittel zu Gebote, um den Verwa tung3apparat zu vereinfachen. Gegenwärtig 
haben die genannten Körperjchaften fich nur mit ganz beftimmten und wenig zahlreichen 
Dingen zu befafjen, ihr Wirkungsfreis und ihre Tagungen find äußerft behränt, und 
außerhalb der offiziellen Tagungen Hört ihre Thätigfeit vollftändig auf. Dies wäre 
nun dahin zu ändern, daß fich die genannten Körperichaften mit allen wichtigeren Ver- 
waltungsangelegenheiten ihres Bezirkes zu befafjen und durch ftändige Ausſchüſſe an 
der Verwaltung teilzunehmen hätten. Deshalb brauchte die Verwaltung noch lange 
nicht das Heft aus der Hand zu geben, dies wäre ſogar fehr wenig wünjchenswert. 
Aber ein jolches Zufammenwirfen N wie die Erfahrung faft überall gelehrt hat, das 
bejte Mittel, um einerfeit3 gegenfeitige Fühlung, Achtung und ſchließlich auch Sym- 
ur au fördern, jowie anderjeit3 die Bevölkerung bezw. deren Auserwählte politifch 
zu jchulen. 

Soll jedoch diefe Reform ihre volle Wirkung haben, jo ift eine Aenderung des 
Wahlmodus unbedingt erforderlih. Db das allgemeine direkte Wahlrecht für ein grö- 
Bered Parlament zwedmäßig ift oder nicht, darüber läßt fich ſchon ftreiten. Für Lo- 
falvertretungen paßt dasjelbe aber ganz und gar nicht, denn bei ſolchen müſſen gar 
verſchiedene Elemente vertreten jein, was bei direkten allgemeinen Wahlen eben nicht 
erreicht werden kann. Man wird daher auch der frage näher treten müffen, ob nicht, 
wie in Preußen, gefonderte Vertretungen zu fchaffen Kein werden, und zwar am zweck— 
mäßigjten für den —— die Städte und die Landgemeinden. Die erſte 
hätte für Lothringen einen ganz beſonderen Wert, aus denſelben Gründen, wie die 


690 Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 


Schaffung jelbitändiger Gutsbezirke. = das Elſaß müßte jie freilich, wollte man 
nicht jchablonifieren, in einzelnen Kreifen in Wegfall fommen; dies läßt fich aber fehr 
ut und leicht erreichen, ohne das Prinzip allgemein zu verwerfen, wie an der neuen 

eisordnung für Echleswig-Holftein leicht zu erfehen ift. Auch müßte den eigentüm- 
lichen Berhältniffen in den Weinbaudiftriften Rechnung getragen werden, in welchen ein 
Gut mit 5 Hektar Weinlandareal ſchon als zum Grokgrundbefit gehörig betrachtet 
werden fann; indefjen macht auch das feine — Schwierigkeiten. 

Bei dieſer Gelegenheit können wir nicht umhin, unſer Bedauern darüber auszu— 
drücken, daß nicht ſchon längſt eine ſolche Reorganiſation ſtattgefunden hat. Freilich 
rührte dieſe Zurückhaltung, dieſe Pietät für das Vorhandene von einer ſehr guten Ab— 
ficht her, beruhte indefjen nichtsdejtoweniger auf einem verhängnisvollen Irrtum. Mar 
wollte eben die Anhänglichfeit der Bevölkerung am Althergebrachten möglichſt fchonen. 
Eine jolche Anhänglichfeit ift aber nicht vorhanden, und zwar aus dem einfachen 
Grunde, weil es jih um „Althergebrachtes* nicht handelt. Frankreich hat fajt alle 
zehn Jahre, wenn nicht öfter, feine ganze Organifation geändert, und wenn auch die 
Hauptgrundzüge diefelben blieben, jo wurden die Details jedesmal bis zur Unfenntlich- 
feit umgeftaltet. Das Reichgland ift daher an Wechjel und Veränderungen gewöhnt, 
und wenn auch einige politiiche Nörgler in der Beibehaltung des Status quo ſozu— 
jagen den Hort der Gelbjtändigfeit des Landes erbliden, die Bevölferung läßt fich 
dadurch nicht irreführen und widerjtrebt feiner gefunden Reform. 

Die Reform der Gemeindeverhältniffe, wie wir fie joeben angedeutet haben, wird 
vielmehr von allen Seiten lebhaft herbeigewünfcht, und die Ausführung des Bürger: 
meiftergejeges wird ficher während der Zwifchenzeit noch den Reft an Miktrauen und 
Aengſtlichkeit vollends bejeitigen.. Schon jet, nach jo furzer Zeit, werden überall wo 
„Berufsbürgermeifter” ernannt werden, diejelben recht gern gejehen, jowie deren Vor— 
züge allgemein anerfannt. Es heißt fogar, daß von manchen Gemeinden der Wunſch 
nach Ernennung eines Berufshürgermeifters geäußert worden ift. Und ebenjo würden 
ſchon viele Stimmen für den Erlaß einer Städte- ſowie einer Kreisordnung im preu- 
Biichen Stile laut geworden fein, wenn die bezüglichen in Altdeutjchland bezw. Preußen 
geltenden Bejtimmungen beſſer befannt wären. 

Was in legterer Beziehung gejchehen ift, beſchränkt jich daher auf einen einzigen, 
vor drei Jahren eingebrachten Yntra des jüngeren Freiherrn von Bulach, der inbeflen, 
troß der nicht zu leugnenden guten Abjicht, den jehr großen Fehler hatte, das allge- 
meine direfte Wahlrecht beizubehalten. Letzteres war allerdings gerade für Herrn 
von Bulach, in jeiner Eigenjchaft als Edelmann und Großgrundbefiger, mehr oder 
weniger eine Notwendigkeit, wollte er jich nicht dem Vorwurfe ausſetzen, als verfolge 
er perjönliche oder Standesintereffen. Died zeigt aber um fo deutlicher, daß ein Re— 
formvorjchlag am beften von der Regierung fommt, die, über alle Parteien und Stände 
erhaben, einfach das allgemeine Wohl zu vertreten hat und deshalb auch feine derartigen 
Vorwürfe und Verdächtigungen zu befürchten braucht, wenn fie die gebildeten Elemente 
dem Lande und der Allgemeinheit durch weife Einrichtungen dienſt- und nugbar zu 
machen verjucht. 

(Schluß folgt.) 





Was if innere Million? 


Bon 


Ir. Naumann in Yangenberg. 


Ob der, wie es jcheint, zuerjt von dem Profeffor Lüde in Göttingen gebrauchte, 
von Wichern aber in den deutjchen Sprachſchatz eingeführte Name „innere Million“ 
befonders glüdlich gewählt ift, wollen wir hier nicht unterjuchen. Auf = Fall iſt 
er jetzt eingebürgert und wir wiſſen im allgemeinen, was er beſagen will. Von vielen 
Thätigfeiten und Veranſtaltungen, wie z. B. von den Stadtmiſſionen und den Rettungs— 
häufern, fann es gar nicht zweifelhaft fein, daß fie zum Gejamtgebiete der inneren 
Miffion gehören, aber ſchon, wenn wir jagen jollten, ob ein von Diakoniſſinnen ge- 
leitete fommunales Krankenhaus innere Miffion ift, würden wir und Bedenkzeit er- 
bitten müfjen, mehr noch dann, wenn wir im Gebiet der Krippen, Kleinfinderjchulen, 
Arbeitsjchulen, Knabenhorte, Mägdeherbergen u. ſ. w. eine klare Grenze zwijchen innerer 
Miſſion und Humanität zu ziehen hätten. 

Wie oft bei Dingen von großer, praftifcher Bedeutung, ift auch bei der inneren 
Miffion der Begriff dialektich ſchwer fahbar. Bielerlei Leute haben ſchon an ihm 
herumgejonnen, ohne ihn doc, endgültig zu formulieren. Es jcheint au, ala ob es 
fein großer Schade fei, wenn die theoretische Darftellung in diefem Falle nicht gelingt. 
Und fürwahr, der Hausvater in der Herberge wird jeinen Dienft gleich gut verrichten 
und der chriftliche Wohlthäter wird jein Goldſtück gleich gern geben können, ob fie 
nun eine tadelloje Begrifjsbeitimmung der inneren Miſſion haben oder nicht. Aber 
anders jtehen diejenigen zur Sache, welche durch Stellung oder Neigung beruien find, 
der inneren Miſſion die Richtlinien zu fteden. Dieſe werden — grundjägliche Klärung 
jih faum völlig vor Irrwegen hüten fünnen und, wenn vielleicht jelbjt nicht gefährdet, 
weil ein ftarfer genialer Takt fie bewahrt und leitet, doch nicht im ftande fein, ihren 
— dieſelbe Sicherheit unreflektierter Geſamtauffaſſung zu übermitteln. Aber auch 

r jeden wiſſenſchaftlich denkenden Chriſten muß es Wunſch ſein, einen für das kirch— 
liche und ſtaatliche Leben der Gegenwart ſo überaus wichtigen Entwickelungsprozeß, 
— er ſich in der inneren Miſſion uns vor Augen ſtellt, in — wahren Weſen zu 

nen. 

Begriffsunterſuchungen im Gebiet beſchreibender Wiſſenſchaften ſind intereſſant 
und verhältnismäßig gefahrlos. Eine fehlerhafte Beſtimmung des Begriffes „Elektrizität“ 
mag wohl für die Fachleute peinlich fein, it aber im Grunde genommen ein unſchäd— 
licher Irrtum, weil fie feinerlei direkte ethijche und joziale Folgen hat. Sehr anders, 


692 Bas iſt innere Miffion? 


fteht es aber bei einer in dieſen beiden Beziehungen wirkfjamen Angelegenheit. Ein 
faljcher Begriff innerer Miffion, ins Leben umgejeht, kann ein Moment der Zerjegung 
für die Kirche und unjer gefamtes chriftliches Bolköeben werben. 

Bei großen Dingen entjtehen die Begriffe erft mit den Sachen. Erſt als die 
Kirche eine Macht geworden war, entitand ein wirklicher Kirchenbegriff. Erſt ſahen 
wir die innere Mijfion werden und dann erjt fonnten wir daran denken, was fie 
eigentlich jei. Je weiter fie fortjchreitet, dejto klarer wird ihr Wejen fich in der nad)- 
denflichen Beobachtung darjtellen. Noch find wir zu jehr mitten in ihrer MWerdezeit, 
um ein abjchliegendes Wort jagen zu fünnen. Es handelt fi) nur um ein Kleines 
Stüdchen Fortarbeit an dem allmählich entftehenden Begriffe. Was bereits geleiftet 
ift, muß benußt und jpätere Fortſetzung in einer anderen Entwidelungsftufe der inneren 
Miffion muß erhofft werden. 

Wir wenden uns daher den Begriffsbeftimmungen au, wie fie von den zwei 
— hervorragendſten Fachmännern der inneren Miſſion gegeben werden: 

Oldenberg ſchreibt (1882) in der zweiten Auflage von Herzogs theologiſcher 
Real-Encyklopädte (10. Band, Seite 19 f.): 

„Shrem Wejen nach ift die innere Miffion die Fortjegung oder Wiederaufnahme 
der urjprünglichen Mijliongarbeit der Kirche innerhalb der Chriftenwelt zur Ueber- 
windung des in ihr noch ungebrochen gebliebenen oder wieder mächtig gewordenen 
Undrijtentums und Widerchrijtentums.“ 

Sie ijt alfo, Kurz gejagt, eine Art Heidenmiffion in der Chriftenheit. Daß man 
etliche Arbeitözweige der inneren Miffion (Stadtmiffion in den Riefenftädten, Wander- 
predigt, Traftatverteilung, Kaffee-Andachten) unter diefem Gefichtspunfte auffafjen kann, 
braucht kaum bervorgehoben zu werden, aber warnen muß man vor einem leicht ig 
einftellenden Mißbrauch des Vergleichs mit der Heidenmiffion: man vergißt bisweilen, 
daß noch heute faft alle Erwachjenen bei uns getaufte, im Glauben der Kirche hin— 
reichend unterrichtete, meift auch fonfirmierte Glieder der Kirche find. Auch ein deutjcher 
Difjident ift noch lange "kein Heide, denn ihn umweht die chriftliche Geiftesluft und er 
fann nicht umhin, fie zu atmen. Wir wollen uns nicht vor der Zeit in die entjeß- 
liche Lage hineinträumen, in welcher nach jachkundigen Berichten die Londoner Ehriften- 
heit bereit3 fteht, daß nämlich mit ihr in denſelben Straßen eine Million folcher wohnt, 
die nicht von den Önadenmitteln der Kirche erreicht werden. Noch haben wir, ſelbſt 
im wejentlichen noch in Berlin, Volkskirche. Wir wollen Gott danken, daß wir fie 
haben und nicht jo reden, als wäre fie nicht vorhanden. Abgefehen von Einzelfällen 
handelt es fich bei uns nicht um volles „Unchrijtentum" und „Widerchriftentum“, fon- 
dern nur um einen unbegreiflich jchwachen Glauben der Menge. Noch iſt Chriftentum 
da, aber es bethätigt fi) nicht nah Wunfch und kann fich daher von Krankheits- 
ericheinungen verjchiedener Art nicht freihalten. 

Aber ſelbſt zugegeben, die durch den Namen nahe gelegte Bergleichung mit der 
äußeren Miffion fer für Stadtmiffion und dergl. völlig berechtigt, jo läßt fich vieles, 
was wir unzweifelhaft unter der inneren Miſſion mit verjtehen, überhaupt nicht als 
„Miffionsarbeit“ anſehen (Sonntagsjchule neben konfeſſioneller Staatsſchule, Jünglings- 
verein mit geförderten Mitgliedern, Felddiakonie, Epileptifchene und Blödenpflege). 
Daher fährt Oldenberg fort: 

„sn weiterem Sinne und nach ihrer gejhichtlichen Entwidelung gehören der 
inneren Miffion aber auch alle diejenigen freien Bethätigungen der aus dem Glauben 
jtammenden Liebe an, durch welche nicht nur rettend, jondern auch borbeugend und 
bewahrend die Kräfte chriftlichen Heiles den gefährdeten Gliedern der Kirche wie 
ganzen Volksgruppen wieder zugeführt werden.“ 

Alfo: die innere Miffion jelbit ift und bleibt Te Das ift ihr 
„tieffter Charakterzug“. Aber gleihjam im Nebenamt befaßt fie fich auch mit Liebes- 
arbeit, deren Miffionsabficht nicht ohne weiteres einleuchtet. Entſpricht das der Lage 


Bas ift innere Miffion? 693 


der inneren Miſſion im heutigen Deutjchland? Iſt damit nicht ein Hauptbeftandteil 

ur Nebenjache gemacht? Man baut doc nicht Idiotenanſtalten wie die befannten in 
Alfterdorf bet Hamburg, um Miffion zu treiben oder Glauben zu bewahren oder um 
vor fittlichen Verirrungen zu behüten, jondern zunächſt, um den unglüdlichen Menjchen 
eine milde und rationelle Pflege zu gewähren. Hier iſt die Chriftianifierung höchſtens 
Nebenarbeit. 

„Subjett der inneren Miffion kann nur die in Wahrheit chriftliche Gemeinde 
und deren in lebendigem Glauben und Belenntnis ftehende Organe und Glieder 
jein.* 

Dieſem Sat fünnen wir überhaupt wie insbejondere auch in der Hinficht bei- 
ftimmen, daß die Organe der Gemeinde und (Landes-)Kirche nicht ala jolche von ber 
inneren Miffion ausgejchloffen find. Eine Arbeit der Gemeinde hört nicht in jedem 
Falle auf, innere Miffion zu fein, fobald fie in die Hände der firchenregimentlichen 
oder pajtoralen Verwaltung gelangt. Daß Dldenberg als Objekte der inneren Miffion 
die dem Glauben fern Gebliebenen, Abgefallenen oder aus mancherlei Urfachen vom 
Abfall Bedrohten anfieht, entjpricht völlig den bereits angeführten Sätzen. Wir fügen 
noch folgende Aeußerungen desjelben Berfafjers Hinzu. 

„Es ift ein Irrtum — leider ein weit verbreiteter — die innere Mifjion für 
den Kompler von allerlei Vereinen und Anftalten zu halten, die fich nad) der einen 
oder andern Seite mit chriftlichen Liebeswerfen bejchäftigen.“ 

Sehr richtig, denn in diefem Falle würde auch eine ftaatliche Blindenanftalt zur 
inneren Miffion gehören, weil unbeftreitbar ift, daß fie jich mit einem chriftlichen Liebes- 
werk bejchäftigt. 

„Es gibt ein Wirken der inneren Miffion durch Perfönlichkeiten und ganze 
Kreife, das Unftalten und Vereine weder hat noch bedarf.“ 

Man denfe nur an die jo gut wie nicht organijierte Bewegung zu gunjten der 
Sonntagsruhe. 

„E3 gibt Anftalten und Vereine, die darum, weil fie chriſtlich find, noch keines— 
weg3 der inneren Million angehören.“ 

ß er gehören viele Erziehungsvereine, Andachtsvereine, freie chriftliche Gym— 
najien u. ſ. w. 

Zum Teil beruht übrigens unjere Bejahung diefer Oldenbergſchen Sätze, wie das 
weitere zeigen wird, auf Borausfegungen, die der von uns hoc) verehrte Herr vielleicht 
nicht völlig anerfennen würde. — 

In feinem 1887 erfchienenen „Leitfaden der inneren Miſſion“ ſpricht fih Schäfer 
über das „Wejen der inneren Miffion* etwa jo aus: 

„Es lajjen fich drei Strömungen unterjcheiden, welche einzeln die Gejchichte der 
Kirche in allen ihren Hauptperioden durchziehen, um jich dann in der inneren Miſſion 
zu gemeinfamem Lauf und Wirken zu verbinden.“ Zuerſt gehören hierzu die Werfe 
der Barmbherzigfeit, wie fie in der alten Kirche, im Mittelalter und weiterhin geübt 
wurden, jodann „die freie Verfündigung des Evangeliums in Wort und Schrift ohne 
firchenamtlichen Auftrag aus Liebeseifer und Zeugengeiſt oder Gewifjensdrang und 
Erbarmen mit der Verwahrlofung und Unwiſſenheit des Volkes“, wie fie von der 
Apoftel Tagen an nie ganz ausgeftorben if. Das dritte find „Eirchliche Reform— 
verjuche*, wie fie die lutherijche Reformation und der Spenerjche Pietismus waren. 

Aus diefen Vordergedanfen ergibt fich für Schäfer folgende Definition: 

„Die innere Mijjion ift diejegige Firchliche Neformbewegung des neunzehnten 
Sahrhunderts, welche den innern Zuſtand der Kirche dadurch zu befjern unternimmt, 
daß fie die Werfe der Barmherzigkeit ebenjo wie die freie Verkündigung des Evans 
geliums dem Leben der Kirche einpflanzen und in ihr wirkſam machen will.“ 

Wir begrüßen diefe Darlegung als einen bedeutenden Fortſchritt zur Klarheit. 
Hier hat die nicht chriftianifierende Barmherzigkeit ihre gebührende Stelle, hier wird 

Allg. tonſ. Monatsfchrift 1888. VII. 45 


694 Was ift innere Miffion? 


für das vielerlei der inneren Mijfion in dem Begriff „Reformbewegung“ eine Einheit 
gefunden. Gejchichtlich angejehen ift es jehr wahrfcheinlich, daß man in etlichen Jahr- 
hunderten in unferer Kirche die innere Miffion ähnlich anfehen wird, wie die fatholifche 
Kirche jet die Eluniacenjer Bewegung im elften Jahrhundert betrachtet. Wir möchten 
von dem Schäferfchen Grundgedanken nicht? hinweggeben, glauben aber, daß er einen 
jehr wichtigen Gejichtspunft unberüdfichtigt läßt oder wenigftens nicht deutlich aus— 
ſpricht. Diejer prinzipiell und praftijch bedeutjame Geficht3punft ift: alle innere 
Miffion ift Vorarbeit für firhliche oder ftaatlihe Organifation. 

Die organijierte Kirche (und der Verwaltungsjtaat) beſteht in einem gemifjen 
Syſtem von Einrichtungen, Aemtern, Geſetzen, Gebräuchen; dieſes Syſtem iſt nicht 
unwandelbar, es verliert — meiſt ohne Sang und Klang — ältere Beſtandteile und 
nimmt neue an. Die neuen Beſtandteile der Organiſation treten nun aber nicht 
eruptiv auf, ſondern ſie heben ſich allmählich empor, bis eines Tages die Zeit ge— 
kommen iſt, wo jie in den Kodex aufgenommen werden können. Bor Zeiten mochte 
e3 möglich jein, daß irgend einem jelbjtherrlichen Hleinen Summepiffopus über Nacht 
ein völlig neuer organifatorijcher Gedanke fam und vor der folgenden Nacht ſchon 
falligraphiert und unterfchrieben vorlag; aber heute geht die werdende firchliche (und 
auch die joziale) Organifation folgenden Stufengang: 

1) Irgend jemand entdedt ein lofales Bedürfnis und beftrebt fich, dasjelbe zu 
befriedigen. Der Urjprung. 

2) Andere werben — auf die neue Idee und finden, daß das betreffende 
Bedürfnis ein allgemeines ſei. Zeit der kleinen Kreiſe. 

3) Zur Befriedigung des Bedürfniſſes werden freie, private Organiſationen, 
Vereine, Anſtalten Die nötigen Gelder werden in der Form von Liebes— 
gaben geſammelt. Die neuen Organiſationen leben von der Gunſt der cchriſtlich be— 
wußten) Volkskreiſe. 

4) Die neue Organijation macht fich unentbehrlih. Die Liebesgaben fließen 
jpärlicher, weil das (chriſtliche) Intereffe fich bereitS wieder einem neuen Werke zuge- 
— hat. Die beſtehende kirchliche oder ſtaatliche Organiſation muß helfend ein— 
greifen. 

5) Aus der Beihilfe wird eine Uebernahme der ganzen Sache durch das Kirchen— 
regiment, den Staat, die Kommunalverwaltung u. ſ. w. 

Dieſen Prozeß kann man in völliger Reinheit bei den Blindenanſtalten beobachten. 
Im Anfang unſeres Jahrhunderts war die Blindenpflege Privatgedanke einzelner, dann 
wurde jie Vereinsangelegenheit, dann aber Staatsjache. Innere Mifjion nennen wir 
fie nun in dem Zwiſchenſtadium zwijchen der Privat: und der Staatsbethätigung. 

Eben fo fei die Entwidelung bei den Waifenhäufern im wefentlichen vollendet. 
Waiſenhäuſer waren von Auguft ae Francke bis in die zweite Hälfte des vorigen 
Sahrhunderts innere Miffion, jet find fie e8 nicht mehr, da fie fast überall unter der 
Öffentlichen Hand jtehen. 

Dder um ein rein is Beifpiel zu bringen: Die Konfirmation war im 
vorigen Jahrhundert bis in diejes Jahrhundert hinein innere Miffion. In der Haupt- 
jache unabhängig von der im evangelifchen Deutjchland damals faft völlig erjtorbenen 
Firmelung brachte Spener den Gedanken der Konfirmation auf. Ihm jchloffen ſich 
viele Geiftliche an und fonfirmierten ohne behördliche Anweifung, weil fie e3 für nötig 
hielten. Allmählic; ward die Sitte des Konfirmierens allgemein. Nun fing das 
Kicchenregiment an, lofale Mißbräuche und Berjchiedenheiten zu befeitigen. Das war 
der Weg zur vollen Organifation. Jet wird es kaum eine deutfche Landesficche mehr 
geben, welche nicht ihre Korfirmationsordnung und Agende befähe. 

Es jer ein Vergleich gejtattet. Bekanntlich ftellt fi) Darwin die Entjtehung 
neuer Arten jo vor, daß infolge neuer Bedürfniſſe fich neue Organe bilden. Die 
Neubildung gejchieht aber gewiſſermaßen aufs Geratewohl. Die Natur felbft wei 


Was ift innere Miffion? 695 


im Anfang noch nicht, was fie weitere® aus jich herausgebären wird. Auch ift fie 
nicht unbedingt ficher in ihren Maßnahmen. Bisweilen treibt fie Anſätze hervor, die 
dann wegen Mangels geeigneter Funktionen wieder einfchrumpfen, vielleicht unter Zurüd- 
laſſung von eigentümlichen Nebenbildungen. Ob diefe Vorftellungsweife naturgejchicht- 
fihen Wert hat, geht ung nicht3 an. Aber fie bezeichnet jehr deutlich die Entwidelung 
der inneren Miffion. Auch in diefer ift im Anfang ein halb bewußtlojes Taften un- 
vermeidlih. Auch in ihr gibts eine zweckwidrige Ueberproduftion, ein Verſchrumpfen 
nicht funktionierender Teile. Iſt aber einmal die Normalform des Organs gefunden, 
dann bleibt jie, und die innere Miſſion tritt zurüd. 

Eine eigentümliche Erfcheinung ift, daß die neuen Organe meijt in der Zeit ihrer 
Entjtehung ſich für völlig neue Wejen halten. Die Jugendfraft der eriten Bewegungen 
beraufcht He In diefem Stadium fträuben fie fich in der Regel gegen Verkirchlichung 
und Berftaatlichung, während fie das eine oder das andere in einer noch jpäteren Zeit 
als Wohlthat begrüßen werden. Daher joll man ja nicht aus dem zeitweiligen Freiheits— 
jtreben etlicher Teile der inneren Mifffon fchließen, daß fie immer ungebunden bleiben 
werden. Wenn wir darum deflamieren hören: „Die freie chriftliche Liebe hat ein Recht, 
fich diefe oder jene Arbeit nicht entreißen zu laffen,“ jo macht dieſes Gerede auf uns 
wenig Eindrud. Die Zeit wird kommen, wo die freie Liebe, d. h. die Organ-bildende 
Produftionskraft der Ehriftenheit ganz anderes zu thun haben wird, als den Erzeug- 
niſſen von heute ihren Lebensjaft zuzuführen. 

Als Beijpiel einer irrationalen Aufwucherung, die nicht zur Organbildung fommen 
fonnte, ijt das Findelhaus zu nennen. Es ſchien die rechte Berriedigun des Be- 
dürfniffes und war nur — eine neue Erfranfung der wunden Stelle im Volksleben. 

ur eine Seite der Sache fommt in dem naturgejchichtlichen Vergleiche nicht zum 
Ausdrud: die Bedeutung des perfönlichen Elements bei den Neubildungen. Diefe wird 
mehr durch folgendes illuftriert: 

Der kirchlichen Organ-Bildung ift die Dogmenbildung verwandt. Verſetzen wir 
uns in dogmenjchaffende Zeit, etwa in den Anfang des dritten Jahrhunderts. Wie 
entjteht da das Dogma? 

1) Ein Theolog empfindet das Bedürfnis, eine Lücke feines inneren Syjtems durch 
eine neue Gedanfentombination auszufüllen. 

2) Der neue Gedanke bildet eine theologische Schule refp. Partei, welche ihn bis 
zur formalen Fixierung fürbert. 

3) Die kirchliche Autorität einer Synode erhebt die Privatmeinung von einft zur 
verbindlichen Lehrjagung der Kirche. 

Der zweiten von diejen drei Stufen entjpricht auf praftiichem Gebiete das, was 
wir innere Miffion nennen. Uebrigens fommen auf beiden Gebieten rüdläufige Be— 
wegungen vor. Eine Einrichtung oder ein Dogma kann fchon jo gut wie fixiert fein, 
wird aber durch Störungen nochmals ka emacht und erftarrt dann jpäter wieder 
in veränderter Form. Die entfprechenden Belege zu diefem Sat bietet die Gejchichte 
der Armenpflege im evangelifchen Deutjchland. 

Ein Gebiet aber, auf welchem der von uns bejchriebene Entwidelungsgang im 
Großen zu beobachten ift, ift die Schule. Auch fie war freie Gründung chriftlicher 
Liebe, wurde mehr und mehr firiert und ift nun ein aller Willfür enthobenes öffent- 
liches Inftitut. 

Es gibt aber entjtehende Organifationen (mit angejtrebten Verfaffungsänderungen 
hat die innere Mijjion michts zu thun), bei denen der Beifag chriftlicher Gedanken 
relativ gering ift, 3. B. die Handfertigfeitsichulen für unbeauffichtigte Knaben. Diefe 
nennen wir nicht innere Miſſion. Es gibt entjtehende Organijationen, welche * 
ſo embryonal ſind, daß wir fie noch nicht, und ſolche, welche ſo ausgetragen ſind, da 
wir ſie nicht — zur inneren Miſſion rechnen können. Im ganzen ſagen wir: 

Innere iffion find im chriſtlichen Geifte entftehende Einrich— 

45* 


696 Was ift innere Miffion? 


tungen des ftaatlihen oder firhlihen Organismus während ihre Ent- 
jtehungszeit. 

Daß dieſe Definition der Schäferfchen Beitimmung als NReformbewegung nicht 
feindlich gegenüberjteht, leuchtet von jelbit ein. — 

Nachdem wir alfo den Begriff gewonnen haben, wollen wir aus ihm Folgerungen 
ziehen. Wir thun dies, indem wir Vermutungen über die zufünftige Entwidelung 
einiger Arbeiten der inneren Miffion aussprechen. Daß dabei ein wenig Phantajie- 
gebilde jein wird, welches fich nicht genau bewahrheiten dürfte, ijt allerdings von vorn— 
herein a han: 

Die Rettungshäufer find jchon auf derjelben Bahn angelangt, auf der die Waijen- 
häufer der Verſtaatlichung entgegeneilten. Die erjte Liebe der Gemeinden für fie iſt 
erfaltet. Ihre Romantik ıft verhaucht. Das preußifche Zwangserziehungsgeſetz iſt ein 
erster Finger, den der Staat ihnen hinreichte. Landräte und Amtshauptleute befümmern 
fi) amtlich um die Nettungshäufer. Bisweilen erhalten fie Zuſchüſſe aus öffentlichen 
Kafjen. Wie lange wirds dauern, jo werden die Mettungshausväter eine neue Kate— 
— von Staatsbeamten fein? Ob fie dann noch in der Hauptſache Zöglinge der 

rüberhäufer fein werden oder vielleicht ältere feminarijtifch gebildete Lehrer? Das 
wird zum guten Teil von der weiteren Entwidelung unjerer Brüderhäujer abhängen. 

E3 will uns jcheinen, als müſſe man prinzipiell Brüderhäufer und Stadtmiffionen 
zu einer Gruppe zufammenfaffen. Was wird fih aus ihnen entwideln? Eine Art 
protejtantifcher Clerus zweiten Grades. Ob orbiniert oder nicht, wifjen wir nicht; 
aber das glauben wir zu wiſſen, daß die Stadtmiſſionen feinerzeit nicht mehr im 
Dienjte frei operierender Vereine, jondern der orgamifierten Kirchengemeinden ftehen 
werden. Sie werden in den Mafjengemeinden als ebenjo zur Kirche gehörig angejehen 
werden, wie jebt die Kantoren und Kirchenbuchführer.. Ob damit das Brüderhaus 
etwas von der Art firhliher Seminare empfangen wird? 

Der Clerus zweiten Grades wird bejonderd nötig fein im den Gemeinden der 
Zukunft, welche in allen Bevölferungszentren Schichten- oder Ständegemeinden jein 
werden. Die Lofalgemeinden unjerer Großftädte haben fich bereit überlebt. Jeder 
geht, von einigen fett eordnneten Amtshandlungen abgejehen, zu dem Geiftlichen, den 
er aus perjönlichen Gründen bevorzugt. Die Unordnung it 3. T. unbejchreiblich. 
Was wird an die Stelle der zerflofjenen Lokalgemeinden treten? Unſere Vereine, 
d. 5. diejenige Klafje von Vereinen, in denen wirkliches Gemeinjchaftsleben ift, geben 
die Antwort. ES wird eine Neugruppierung fommen, wie wir fie befonders in den 
großen evangelifchen Arbeitervereinen Aheinlands und Weſtfalens angebahnt finden. 
Schon entjtehen: Arbeitergottesdienfte, Berggottesdienfte, Zünglingsfefte. Werden wir 
nicht jeinerzeit Arbeiterpfarrer, Handwerferpfarrer, Geiftliche für die Gebildeten u. ſ. w. 
haben? Auf dem Wege dazu find wir. 

Und die Herbergen? Sind fie etwa Vorboten einer fozialiftischen Verftaatlichung 
des gejamten afihoföbetriebes, wie fie aus fittlichen Gründen von Baftor Sulze in 
Dresden vorgejchlagen wurde? — Die Arbeiterfolonien? Wann werden fie, falls fie 
ſich überhaupt halten, ftaatliche Inftitute jein? — Die Gemeindediakoniffinnen? Sie 
werden fich in den Dienſt öffentlicher Krankenkaſſen und kommunaler Armenpflege 
ftellen müfjen. — Die chriſtlichen Familienabende? Sie werden entweder untergehen 
—— wie in vielen Gemeinden die wöchentlichen Bibelſtunden, eine bleibende Einrichtung 
werden. 

Ein neues Weltalter zieht herauf. Die chriſtliche Vorarbeit für die prak— 
tiſchen Formen der Zukunft iſt die innere Miſſion. 





Leos Geheimnis. 


Erzählung 


von 


A. v. d. Glbe. 


Neuntes Kapitel. 


Mamſell Philippine Kruſe ſaß vor ihrer Küchenthür und ſchälte Birnen. Es war 
ein ganz angenehmes Plätzchen, wenn die Fliegen ſie auch etwas beläſtigten. Eine 
Laube von wildem Wein, den Quoſig vom Bank hergeleitet und um ein paar Tonnen- 
reife gejchlungen hatte, breitete wohlthätigen Schatten über ihr Haupt. Sie gefiel fich 
einmal wieder jehr in dem Gedanken, daß ſie jich reizend ausnehmen müjje, und 
fummte: „Fein's Liebehen unter dem Rebendach —“ 

Dann hielt jie mit gezierter Rüdwärtsbiegung zwei der jchönen gelben — 
empor und flüſterte: „Das Mägdelein mit den Birnen, ſchade, daß kein Maler zur 
Hand iſt.“ 

Während ſie dieſe künſtliche Stellung annahm, wurde die Thür ihr zur Seite 
aufgeriſſen, und Lotte ſchrie: „Sie kommen, ſie kommen!“ 

Pine Kruſe fuhr empor, die Birnen rollten um ſie her, raſch ſtrich ſie über ihr 
aar, ihre weiße Schürze und ſtürzte durchs Haus auf den Hof, um die heimkehrende 
errichaft zu empfangen. Seraph rannte laut bellend mit hinaus. 

Herr von Uting war als höflicher Reiſeführer bis Göttingen mitgefahren, hatte 
ſich da jedoch — um heimzukehren. Die drei Damen kamen alſo in einem 
offenen Mietswagen — Quoſig auf dem Bock — allein von dem Ausfluge zurück. 

Pine freute ſich beſonders, ihre Gönnerin, die Chanoineſſe wiederzuſehen. Es war 
doch auf Holzhauſen gar zu ruhig und gewöhnlich zugegangen. Herr Deiters hatte 
ſich jchon lange als unrührbar erwiejen, es blieb nichts * als ihn aufzugeben, 
und wenn Quoſig auch weit unter Pinchens Würde war, jo konnte man ſeinen Witz 
an ihm üben und die Genugthuung genießen, jpröde zu fein. 

„Da find wir wieder, liebe Krauſen,“ jagte Fräulein von Madeweiß, fich auf ihres 
Günftlings Arm jtügend. „Dem Reiz der blauen Ferne entrüct, umfängt ung der 
heimatliche Boden mit weichen Armen.“ 

„ch, gnädig Fräulein, nein, wie bin ich glücklich!“ 

„Alles in Ordnung, Mamjel? Wo ijt Deiters?“ fragte Leontine kurz. 
ichts Schlimmes pafjiert, Fräulein von Rosla, der Se Verwalter find, glaub’ 
ih, zu Holz,“ knixte Philippine. 


698 Leos Geheimnis, 


„Ach ſeh einer unfern Kleinen Seraph!* jchmeichelte Anna dem emporjpringenden 
unde. 
Die Damen gingen ins Haus, Quoſig trug Gepäck und bildete mit der Wirt— 
ſchafterin den Nachtrab. 

„Na, ſünd Se in de Tied von 'en Schrubber to 'en Heidbeſſen bekehrt?“ flüſterte 
er, verliebt blinzelnd. 

„Reifen ſoll doch bilden,“ erwiderte fie, die Naſe aufwerfend, „aber Sie haben 
immer — unmodiſchen Schnäcke. An Ihnen iſt ne und Malz; verloren,“ 

„Wollten Sie mir gern als Bier zu fich nehmen?“ jchmunzelte er im Davon- 

eben. 

e- Fräulein von Madeweiß kam mit Philippine auf ihrem — an. „Mein 
ſüßer Engel,“ rief ſie, den ſtürmiſchen Seraph liebkoſend, „nun iſt deine kleine Mama 
wieder bei dir. Vergib ihr das Schweifen und Schwärmen! Ach, das Herz ſehnt ſich 
wohl, die Blüten der Fremde zu koſten, kehrt aber beruhigt in die glatte Bahn des 
eigenen Herdes zurüd.“ 

Leontine war in das Gartenzimmer geeilt und an den Lefetifch getreten, wo auf 
ihren Befehl die Zeitungen gelammelt lagen. 

„Denkit du, daß fchon Briefe von deinen heiratsluftigen Schönen da find?“ fragte 
Anna, neugierig über ihre Schulter ſpähend. 

„Unfinn, Kind, wie follten die mich hier finden, ich fuche nur mein Inferat.“ 
Und nun durchblätterte fie mit vor Aufregung bebenden Händen die Haufen. „Hier 
ift es!“ rief fie triumphierend und blidte die wenigen Reihen mit liebevollem Stolz an. 

"Wirklich," fagte Anna faft erjchroden, „ich hätte Doch nicht den Mut, jo 'was 
druden zu laſſen. Fühlſt du dich gar nicht geniert? Ich käme um vor Scham und 
Berlegenheit? 

„Durhaus nicht,“ erwiderte Leo ſelbſtgewiß. „ ni wenn doch die vierzehn Tage 

t um wären, die ich mir bis zur Abholung gejegt habe. Laß ſehen! In drei Tagen, 
aljo nächften Montag, fann ich Jakob nach dem Büreau fchiden, eher ſoll es aber auch 
nicht geſchehen.“ 

Leontine that alles, was fie konnte, fich die drei nächjten Tage abzufürzen. 

„Ich bin doch früher auch ohme jene erſehnte Korreipondenz fertig geworden,“ 
jagte fie fih, „und war immer zufrieden, warum jeßt nicht?“ 

Die Neije hatte fie angeregt und ihr Freude gemacht, nur an den Schluß dachte 
fie al3 an einen peinlihen Mißklang. Sie empfand es als Ungebührlichfeit des Herrn 
Workuffehore: fie am Wiejenbeder Teich geradezu zu ftellen, und ihr jene Rede, jene 

useinanderjegung zu halten! Ob denn der Menjch wirklich nicht gefühlt hatte, daß 
fie ihm auswich? Er mußte doch gejehen haben, daß fie jein Be kreben mit ihr allein 
u fein, merfte und nicht geneigt war, fich jeinem jeltfamen Anfinnen zu fügen. „So 
Fb die Männer,“ dachte fie, „der rückſichtsloſe Tyrann fchlummert in jedem! Dafür 
habe ich ihn abgetrumpft, wie er es verdiente." — Ihr zu jagen, fie habe die häßliche 
Szene im Aftienhotel beobachtet, als ob fie nicht jo raſch davongeeilt wäre, wie jte 
fonnte. Er meinte wohl gar, jenes Tätjcheln jei ein angenehmer Anblid gewejen? — 
Vielleicht hätte fie dem bedrängten Mädchen, welches dieſe übermütigen Herren der 
Schöpfung ihrer Intrige gefügig zu machen juchten, zu Hilfe fommen follen, aber das 
Ding war nicht mehr zu retten. Man jah ihm die Unterwerfung in jeder Miene an. 

Hatte fie aber jenem Zudringlichen gegenüber auch ihr volles Recht gewahrt? Sie 
meinte, fie würde nicht jo viel daran denken müfjen, diefer Parifius würde ihr nicht 
immer vor Augen ftehen, wenn fie nicht bei der Gefchichte ein jchlechtes Gewiſſen hätte. 
Entweder war fie doch noch zu artig gewejen — oder — fo grob, daß er fie für ein 
unmanierliches Zandgänschen hielt. 

Endlich fam der Montag, an welchem Duofig nad) Göttingen reiten und die etwa 
eingegangenen Briefe abholen jollte. Ungeduldiger noch als vor vierzehn Tagen wan— 


Leos Geheimnis. 699 


derte Leontine ihrem Getreuen entgegen. Wie auf eine Erlöjung, jo hoffte fie auf 
Umkehr ihrer Gedanken durch das, was er ihr bringen follte. 

Sie jehritt heute weit den Feldweg entlang, den Duofig einzujchlagen pflegte, und 
rief, als er herantrabte, atemlos: „Haft du etwas befommen, Jakob?" 

„En ganzen Pads!“ jchrie er zurüd. Als er jeine Herrin erreichte übergab er 
ihr ein Pädchen, das mit feinem gelbgedrudten baummollenen Taſchentuch umwunden 
war. „Machen Sie's hier nicht los, Fräulein,“ warnte er, „wir könnten welche 
verlieren.“ 

Sie nidte und ging fliegenden Schritte, das Bündel feſt an fich drüdend, nach 
aufe. Hier flüchtete ſie fi in das Arbeitsfabinett ihres verftorbenen Vaters, deſſen 
hür fie hinter ſich abſchloß. Sie ſank auf den Sefjel vor dem leeren Schreibtifch, 

öffnete Quoſigs gelbes Schnupftuh und liberflog mit wehmütigem Blid die Menge 
der vor ihr liegenden Briefe. So viele ihres Gejchlechtes waren aljo hilflos und ver- 
lafjen! — So viele jehnten fich nach einer Veränderung ihres Loſes? — D fie hatte 
recht gehabt mit ihrem großen Erbarmen! 

ine ganze Weile wagte fie — ein einziges dieſer Blätter zu berühren, die 
vermutlich alle unter einer falſchen Vorausſetzung an ſie gerichtet waren. Aber ſie 
hatte ja in reiner und harmloſer Abſicht * n, darum getroſt! Es ſchien ihr, 
als blicke ſie auf einen weiten, ſchwarzen Sumpf, aus dem fich verlangend und Hilfe 
erflehend eine Menge weißer Arme zu ihr empor ftredten. 

„O, ihr — rechtloſen Schweſtern,“ flüſterte das Mädchen, „ja, ich will 
euch beiſtehen, ſo viel ich kann!“ Sie hatte den Kopf auf die Hand geſtützt und zwei 
große, klare Tropfen reinſter Menſchenliebe rannen über ihre gebräunten Wangen. 

„Doch nun and Werk!” ſagte ſie freudig, mit raſchem Aufblitzen der ernſten Augen 
und griff nach den Briefen. Da waren neun Kouverts mit Goldrand und von grobem 
Papier, rofa, grün und blau, groß und flein, lang und quadratiſch, fogar eine Poſt— 
farte mit dreiftem Anerbieten, Die Leo raſch überflog und von ſich warf, befand fich 
unter der Menge. Einige trugen den Pojtitempel des Aufgabeortes, andere waren an 
das Annoncenbüreau adreffiert gewejen und famen als Einlage ohne Ortsangabe unter 
Chiffer der Annonce. 

Leontine jchnitt einen Brief nach dem andern auf, las, fortierte, legte zu Haufen 
und las prüfend noch einmal. 

Hier und da fam die Forjchende zu Briefen, die fie anzogen, und auf die fie ein- 
zugehen dachte. Eine „arme Therefe”, abhängig und verwaift, die bei hochmütigen 
Leuten umbergejtoßen wurde, juchte in der Ehe, mochte dieje jein wie fie wollte, ihren 
rettenden Hafen. Sie mußte für irgend eine Selbjtändigfeit, einen befriedigenden Beruf 
gewonnen werden. Ebenfo ein paar andere, die Vermögen hatten und allein jtanden; 
weshalb jollten diefe nur in der Ehe ihr Heil finden? 

K.“ ſchrieb jchwärmerifch von einem öden, einjamen Herzen in roher Umgebung; 
armed Ding, dir müfjen wir dein überjpanntes Köpfchen zurecht rüden und dich im 
einen bejjeren Kreis bringen. 

Endlich fand fich noch ein Briefchen, „O.“ unterzeichnet, das in feiner, gewandter 
— und feſter Handſchrift Gedankenaustauſch über ernſte Fragen, die Stellung der 

iden Geſchlechter zu einander, Liebe und Ehe erbat. Leontine wog dieſen Brief in 

der Hand, bevor ſie ſich entſchloß, auf den Vorſchlag einzugehen. Allein es ließ ſich 

—** ein unklarer Geiſt aufhellen, ein ſuchendes Herz durch vernünftiges Zureden 
edigen. 

Es waren nun doch ein halbes Dutzend Briefe, auf die ſie antworten wollte, und 
das thatendurſtige, hilfsbereite Gefühl, welches nach der Reiſe in ihr geſchlummert, 
durchflutete ſie jetzt wieder mit ſprudelnder Freudigkeit. 


700 Leos Geheimnis. 


Behntes Kapitel. 


Um völlig ungejtört zu fein, richtete fich die Gejchäftseifrige das Kabinett ihres- 
Vaters als Arbeitszimmer ein, fie trug den Schlüfjel immer bei fich, ließ niemand- 
hinein und jchloß Hinter fi ab. Nur Annchen durfte einmal ihren Schag an 
Briefen jehen. 

„Du wirft dich num überzeugen, Kind,” jagte Leontine, nicht ohne jelbitzufriedene 
Wichtigkeit, „daß mein Unternehmen ein zeitgemäße? war. Das thörichte Verlangen 
unferes Gefchlechtes nach der Ehe jcheint in erjchredender Weife zuzumehmen. Es muß 
von wohlmeinender Seite alles gejchehen, dem Uebel Einhalt zu thun. Wenn es mir 
auch nur gelingt, eine oder zwei diefer Irrenden auf die eigenen Füße zu ftellen und 
ihrem Streben andere Ziele zu geben, fo halte ich meine Bemühungen für reid) belohnt.“ 

„Aber, befte Leo,” Tächelte Anna kopfichüttelnd, „du wirft jie doch nur jo lange 
gewonnen haben, bis der Rechte fommt. Warum jollte man denn nicht gern heiraten?“ 

Leontine runzelte die Stirn. „Es ift mir fehmerzlich, Kleine,” erwiderte fie ernft, 
„daß wir über diejen einen Punkt jo durchaus verjchieden denken. Ich gejtehe dir's, 
daß ich dich innig liebe, daß ich aber auch gern für dich die Hochachtung empfinden würde, 
welche man einer verjtändnisvollen Freundin zollt. Dazu ift num gar feine Hoffnung, 
jo lange du dich in folchem unbegründeten Vorurteil für die Männer gehen Läffeft.“ 

Anna brach in ein helles Gelächter aus und fiel der herben Freundin um den 
Hals. „Sei nicht böfe, Herzensleo, ich fann nicht anders, als über dich lachen. Du, 
jung, hübſch, umworben und geliebt, warum willft du dich auf die Männerfeindin 
fteifen? Du fönnteft glüdlich jein und verrennft dich in diefe Schrulle! Na, Gott 
Amor wird dich jchon in die Zucht nehmen und dich auf einen befjeren Weg leiten!“ 

Leontine begann eifrig ihre Korrefpondenz und erhielt ſchon im Laufe der anderen 
Woche verjchiedene Antworten. Der erfte Brief, welcher jogar direkt einging, da fie 
fi) genannt hatte, fam von ihrer einftigen Freundin „Röschen“. Dieſe überhäufte 
fie mit Vorwürfen über die ihr geftellte Falle, erklärte die Umwahrheit, mit der Leo 
umgehe, für viel jchlimmer, als ihr jehr natürliches Liebesbedürfnis; fie ſei noch jung 
und hübjch und wolle ihr Leben nicht vertrauern, verbitte fich aber hinfort jede Ein- 
miſchung und fenne die einftige Freundin nicht mehr, die mit ihr folche unwürdige 
Komödie aufführe. 

Diejer üble Anfang erfchredte die mwohlmeinende Leo jehr. Alfo „Unwahrheit* 
fonnte man in ihrem Vorgehen finden? Welch fchmerzlicher Vorwurf für die Wahr- 
heitsliebende! Sie wollte von nun an doch alle Korrefpondenzen ftreng anonym führen. 

Einen jehr dankbaren Brief erhielt Leontine dagegen von der armen, abhängigen 
Therefe. Dieſe jchilderte ihre Lage als eine tief unglüdliche und fühte im Geifte die 
rettende Freundeshand, die fich ihr entgegenftredte. Ia, wenn fie nur die Mittel be- 
jäßen, ein Feines Geſchäft, etwa einen Handſchuhladen aufzumachen, würde fie gern 
auf die Ehe verzichten und fich jehr wohl auf eigenen Füßen fühlen. Ob der Herr 
Briefiteller ihr nicht zu einer bejcheidenen Anleihe verhelfen fünne. Ewige Dankbarkeit 
folle jein Lohn fein. 

Die Ausficht, Hier endlich wirklich helfen zu fünnen, erfüllte Leos Herz mit 
innigem Glüdsgefühl. Um ficher und vorfichtig zu Werfe zu gehen, bejchloß jie, noch 
nähere Erfundigungen bei dem armen Mädchen einzuziehen und fich genau vorrechnen 
zu lafjen, was für den Anfang in ein jolches Gejchäft geftedt werden müſſe. 

Das Fräulein „K.* ſchien dankbar für die Teilnahme, welche man ihrem einfamen 
Herzen bot. Sie glühe, fchrieb fie, für eine bildende Freundfchaft, denfe vorläufig noch 
durchaus nicht an die groben Feſſeln der Ehe, erhebe ſich aber gern aus dem trüben 
ge in dem fie zu wallen gezwungen fei, in die reinen Höhen einer abjichts- 
(ofen Liebe. 

Es klang alles etwas gezwungen und überfpannt, war aber nad) Form und Hand- 


Leos Geheimnis. 701 


jchrift micht übel, jo daß Leontine, jchon bejcheidener durch verjchiedene Mikerfolge, 
eine gewifje Vorliebe für ihr „Käthchen“, wie fie das K. deutete, gewann. Sie mußte 
fich dies unfchuldige Kind, das nichts wollte als ein bischen Liebe und ftärfende Freund- 
ſchaft, hellblond und ganz jung denken und bejchloß, der Sehnenden eine treue Stüße 
u werden. 

j Am meijten fühlte ſich Leo indes von „D.* angezogen; diefe Dame jchien einen 
dem ihrigen ebenbürtigen Geift zu befigen. „Olga“, wie Leo fie nannte, ſprach auch 
nicht davon, daß jie —9— die Ehe begehre, ſie betonte nur, daß es ſie intereſſieren 
werde, über dahinſchlagende Fragen zu philoſophieren. Was konnte Leontinen erwünſchter 
ſein? Hatte ſie doch ſtets mit Vorliebe ihr Nachdenken auf dieſe Dinge gerichtet und 
es ſchien wirklich, als ſolle ſie in Olga eine gen Seele finden. 

An einem Nachmittage, an welchem die Eifrige eingejchloffen am Schreibtifche ſaß 
und fich ihre Gründe gegen die Ehe in mumerierte Abjchnitte teilte, wurde fie durch 
Borfahren eine? Wagens unangenehm aus ihrer Lieblingsbeichäftigung emporgeſcheucht. 
Gleich darauf hörte jie unten Annas freudig bewilllommnende Stimme. Sie trat ans 

njter und ſah den Stuhlwagen des Dberlöriters Schröter, der mit feiner Frau, mit 
arifius, Grips und ein paar Kindern zum Bejuch Fam. 

Wie unangenehm diefe Störung, dachte jie und eilte dann doch jo raſch fie konnte, 
ihre Hausfrauenpflicht zu erfüllen. Im Grunde Hatte fie Schröter8 ja auch gern, es 
war hübſch, ſich nach der gemeinschaftlichen Reiſe wiederzujehen; jie würde längjt ein- 
mal nad Grünhagen hinüber geritten jein, wenn jie nicht die Begegnung mit den beiden 
jungen Herren zu vermeiden gewünjcht hätte, mit dem läftigen Korfiaffeffor und dem 
jchmachtenden Grips. Jetzt mußte fie jehen, mit ihnen fertig zu werden! 

Die Gäſte befanden fich, von Anna geführt, ſchon im Gartenzimmer, wo Leontine 
fie begrüßte. Dann jchwebte Fräulein von Madeweiß herein, jie hatte rajch die roſa 
Toilette aus dem vergefjenen Koffer angelegt und ftrahlte eitel Huld und Sonnenſchein. 

„Welch reizende Fügung des Gejchides, Sie wiederzujehen!“ rief Jüly, füßte die 
Oberförjterin, ftreichelte die beiden Kinder und reichte den Herren die Hand. „Das 
zn. ift wie eine Roſe, die mit goldenem Sporn treue Seelen zu einan- 
er treibt.“ 

Man nahm auf der Veranda Plag, Anna bejorgte den Kaffee, jchäferte mit Otto, 
juchte Grips zu ermutigen und die Kinder mit Seraph zu befreunden. 

Der Oberförjter hatte jogleich wieder Leontine in Anſpruch genommen, die jich 
auch willig jeiner Unterhaltung hingab. „Wie ſteht's, hat Deiters ſchon viele Ketten 
Hühner ausgemacht?“ fragte er. „Anfänglich hieß es, die Jagd gehe erjt mit dem 
Fünfzehnten auf, glüdlicherweife iſtss nun doch am Erſten; zulegt zählt der alte 
Waidmann die Tage; die Völker werden jo barbarijch flüchtig, wenn's zu lange dauert.“ 

Leo berichtete von dem Wilditande auf ihrem Grunde, und die beiden jüngeren 
Männer mijchten jich in das alle interejjierende Jagdgeſpräch. 

Nachher bewegte jich die Gejellichaft zwanglos im Garten. Das männerfcheue 
Fräulein hatte fi heute indes über eine Verfolgung von jeiten des Forſtaſſeſſors 
nicht zu beflagen; er unterhielt jich lebhaft mit Anna, war artig und rejpeftvoll gegen 
die älteren Damen und ſprach jachgemäß mit dem Oberförſter. Nur manchmal be- 
gegneten LZeontinens Augen den jeinen. Weshalb jah fie ihn nur an? Sie empfand 
mit innerem Widerjtreben, daß ſich ummillfürlich ihr Auge angezogen fühle, daß ber 
wie von einer geheimnisvollen Macht gezwungen, ihr Blick zu ıhm verirre. D gewiß, 
es geſchah nur, weil die Frage fie beunruhigte, wie er über ihr Verhalten bei der 
Ichroffen Begegnung am Wiefenbeder-Teich denke! Aber was ging fie im Grunde fein 
Denfen an, mochte er fie doc für unartig halten, es konnte ihr ja gleichgültig fein! 
_ Mit tiefem Atemzuge, war e8 freude wieder ungeftört zu fein, oder entlaftete fie 
ihr Herz eines anderen Drudes, trat die eifrige Briefftellerin nach Abfahrt ihrer Gäjte 


702 Leos Geheimnis. 


wieder in das Schreibzimmer. Sie juchte fich in die unterbrochene Gedanfenreihe zu— 
rüd zu verjegen, aber ihr Geift irrte ab, und ungeduldig ſprang fie empor. 

Duofig mußte jet, der pojtlagernden Briefe halber, jeden Dritten Tag nad) Göt- 
tingen reiten und unterzog ſich dieſer oo. ohne Murren. Er fand es rührend gütig 
von jeiner Herrin, daß ſie ſich zur Berforgung ihrer ausfichtslofen Freier mit ent- 
as en Vorräten an heiratsluftigen Damen verjehen wollte. 

ontine jaß in ihrem wohlverjchloffenen Kabinett und bejchäftigte fich mit einigen 
neu angefommenen Briefen. 

Da war ‚Käthchens“ janftes Schmachten und Klagen, das ihr immer jo ſehr zu 
erzen ging. Thereſens Brief floß von Danf und Freude über. Sie rechnete ihrem 
Önner vor, daß ſie den Handjchuhladen mit der bejcheidenen Summe von taufend 

Mark einrichten könne; dab fie dann durch die Gunft eines Edeldenfenden jelbftändig 
daftehe und vor jeder Verſuchung, eine unmwürdige Ehe einzugehen, — wovor der ge- 
ehrte Herr fie väterlich warne — auf immerdar gejchüßt jei. 

Leo beeilte ji zu antworten. Sie bat um nähere Angabe, wohin jie die ver- 
——— Summe ſchicken ſolle, und ſchrieb zugleich einen Brief an ihren Bankier in 

öttingen mit der Bitte, ihr das Geld zur Verfügung zu ſtellen, was er getroſt thun 
könne, da ſie in wenigen Wochen mündig und Herrin ihres Vermögens werde. 

Zuletzt griff die Geſchäftige nach dem Schreiben „Olgas“, das 2 doch mit feiner 
haraktervollen Aufjchrift zuerjt ind Auge gefallen war. Aber mit welcher Enttäufchung 
7 ſie es, nachdem ſie geleſen, zurück. Olga dachte ja kein Haar breit höher als 
alle ihre Mitſchweſtern, hielt wirklich die Ehe für den wünſchenswerteſten, vollkommenſten 
ae und ftimmte am Schlufje ihres Briefes einen fürmlichen Lobgefang über das 

ujammenleben zweier, die ſich gegenjeitig lieben, an. 

Leontine machte fich jofort and Werk, hierauf zu antworten. Sie gab der Brief- 
jtellerin zwar in mancher Hinficht vecht, aber fie bezweifelte die Harmonie in den 
meiften Ehen. Jeder habe doch Neigungen und Intereffe für fih. Die Frau befite 
Rechte, welche der Mann nicht anerfenne, und das Geſetz jtelle fich auf jeine Seite. 
Sie werde als eine Unmiündige, Hilflofe, als ein Kind und Spielzeug angejehen. 
Welches ernſt geartete Weib fi) dazu herabwürdigen möge? „Iſt es,“ jo jchloß fie 
ihre Auseinanderjegung, „unter diefen ſeltſamen * mangelhaften Zuſtänden nicht der 
edleren Frau Recht, ſich dem anmaßlichen Geſchlechte fern zu halten? 

Mit lebhafter Spannung erwartete die erregte Schreiberin hierauf eine Antwort. 
Dieſelbe langte nach wenigen Tagen an. 

Olga ſprach ihr herzliches Bedauern aus, daß der Herr Briefſteller augenſcheinlich 
in einem ſo wenig anmutenden Kreiſe von jungen Herren und Damen lebe. „Ich bin 
in —— Lage,“ ſchrieb ſie, ‚„weder eine Dame, die nur Kind und Spielzeug iſt, 
= ein Herr, der mit einer folchen ich ernftlich zufrieden geben würde, gehören zu 
meinem Umgange Es * ja aber auch ſein, daß ich dieſen Umſtand nur zufälligen 
—— — u danken habe, und jedenfalls würden Sie mich ſehr verpflichten, 
wenn Sie meine Erfahrungen durch entſprechende Mitteilungen erweitern wollten.“ 

Leontine warf den Brief von ſich. „Die Schreiberin ſteht auf dem engherzigen 
Standpunkte meiner kleinen Anna!“ rief fie ärgerlich. „Was Olga nicht —9* brennt 
kümmert ſie nicht und wird abgeleugnet.“ 

Unter dem Einfluß dieſes erſten Eindruckes antwortete die Erregte: „Sie brauchen 
doch nur die Augen zu öffnen und ſich in einem weiteren Kreiſe umzuſehen, geehrtes 
Fräulein, ſo können Sie genug Beweiſe für meine Behauptung finden, und ich fürchte, 
daß Sie vielleicht doch Ihre näheren Bekannten, die Sie ſo rühmend hervorheben, zu 
günſtig beurteilen, Sie werden noch herbe Enttäuſchungen erleben; iſt das doch auch 
mir trotz meiner ſchon geklärten Anſicht über die Männer nicht erſpart geblieben. 
Gerade von einem jungen Manne, dem im übrigen Tüchtigkeit und liebenswürdige 
Form nicht abzuſprechen iſt, der mir durch manche Eigenſchaften herzlich ſympathiſch 


Leos Geheimnis. 703 


war, von dem ich zu hoffen wagte, daß er in jeder Hinſicht über ſeinem Geſchlechte 
ſtehe, habe ich ein Benehmen mit anſehen müſſen, welches mich mit gerechter Entrüſtung 
erfüllte. Erlaſſen Sie mir und ſich die Einzelheiten! Genug, daß jener junge Mann 
ſich unziemlicher Vertraulichkeiten mit einer weiblichen Perſon niederen Standes ſchuldig 
machte, die ihn in meinen Augen einfach zur Null herabdrücken. Denken Sie dieſe 
Thatſache durch, mein Fräulein, und laſſen Sie ſich warnen!“ 

Wiederum nad) ein paar Tagen hielt die geſpannt harrende Leontine Olgas Ant— 
wort in der Hand. 

„Ihr letzter Brief hat nichts an meiner Hochſchätzung für Ihr Geſchlecht ändern 
fönnen,“ jchrieb die Umerjchütterliche. „Es thut mir leid, daß ich durch meine Art, 
unfere frage zu faflen, Sie verleitet habe, fich eines Verfahrens mitjchuldig zu machen, 
das man fonft nur den ‘Frauen zufchreibt. Sie werden perfönlich, anftatt —* zu 
bleiben, und ich ſehe mich genötigt, Ihrem Vorgange zu folgen. Sollten Sie nicht in 
dem erwähnten Falle einem gewiß ſehr gerechten Verdruß zu große Wichtigkeit bei— 
meſſen, ſeine Bedeutung über Gebühr verallgemeinert haben? Ich begreife ja, wie Sie, 
da der Betreffende Ihnen am Herzen liegt, dazu gekommen ſind. Aber im Intereſſe 
der geſamten Männerwelt möchte ich — ihn zu rechtfertigen. Bedenken Sie, 
lieber Freund, daß die Art des Verkehrs zwiſchen den beiden — weſentlich 
von der Frau beſtimmt wird. Eine jede Dame hat es in ihrer Gewalt, wie ſie be— 
handelt ſein will. Die Schuld für jenes Vergehen iſt alſo wohl nicht allein dem 

errn zur Laſt zu legen und unter keiner Bedingung dürfen Sie ſein Benehmen allen 

rauen gegenüber nach dieſem einen Fall beurteilen. Glauben Sie es mir, derſelbe 

ann, der Ihr Empfinden hier ſo gröblich verletzte, würde das Glück, einem edlen, 
feinfühlenden Weſen, einer Trägerin echter Weiblichkeit, gegenüber zu ſtehen, voll zu 
würdigen wiſſen! Ihre Nähe wäre ihm Lebensluft! Und nie würde er es über ſich 
gewinnen, ihr Zartgefühl auch nur mit einem Hauche zu verlegen.“ 

Diejer Brief gab Leontine in mehr als einer Sinficht zu denfen; fie fühlte fich 
jeltfam aufgeregt, faſt verftört dadurch und beichloß, einige Tage mit der Antwort zu 
zögern, um fich erjt wieder auf fich zu bejinnen. 


Elftes Kapitel. 


Fräulein von Madeweiß wurde täglich mehr von Leontinens geheimnisvollem 
Treiben beunruhigt, oder — auch nur neugierig gereizt. Es konnte ihr nicht 
entgehen, daß Duofig — oft nach Göttingen ritt, ſowie daß ihre Nichte ſich 
—— im Arbeitskabinett des ſeligen Schwagers einſchloß. Die Chanoineſſe hatte 
mit allen Mitteln ihres Anſehens ſowohl, wie ihrer blumenreichen Ueberredungskunſt, 
Leontine und Anna auszuforſchen geſucht, war von der erſteren ſchroff, von der zweiten 
mit neckiſchen Ausflüchten abgewieſen und wußte ſich nun keinen Rat mehr. Sie 
erging ſich in den verſchiedenſten Mutmaßungen, was die Geheimnisvolle treiben möge 
und kam endlich auf den Gedanken, ſie habe ſich zur Poeſie bekehrt, dichte, ſende ihre 
Erzeugniſſe hinaus, wage indes ihrem, durch Seraphine von Schwanenflügel verwöhnten 
Urteile jich nicht preiszugeben. „Das arme Kind,“ ſagte ſich die Kritikerin mit Kopf— 
ſchütteln, „es mag der konn berben Natur jchwer fallen, dem jteinigen Boden ihrer 
Phantafie holde Klänge zu entloden. Immerhin möchte ich mir die Beitätigung meiner 
Ahnung verfchaffen und ihr dann den Weg des Vertrauen! abgewinnen.“ 

Ihre ergebene Pine, an die fie fich wandte, —— Quoſig auszuholen, ver— 
ſchämt andeutend, daß fie ſich einigen Einfluß auf den bärbeißigen Liebling und Boten 
des Fräuleind zutraue. Aber auch diefe Hoffnung fchlug fehl. Vielleicht daß der 
pflichttreue Jakob in dem Bewußtfein: — daß wir Vorrat auf Lager haben — Kräf— 
figung jeines Widerftandsvermögens gegen Pinchens jchmeichelnde Verführung fand. 
Er fuchte Ausflüchte und ſchwieg, und fie mußte beſchämt ihre Niederlage eingeftehen. 


704 Leos Geheimnis. 


Da beſchloß Fräulein Jüly, ſelbſt jich mit allen Waffen ihres Liebreizes und ihrer 
Würde an Jakob Duofig zu verfuchen. Sie wollte Licht, es herrichte ein Zuftand in 
Holzhaufen, der jie aufrieb. 

As nad) dem Mittageffen die beiden Mädchen unter vertraulichem Flüftern im 
Garten verjchwanden, und die Stiftdame vorausjah, daß ihre Nüdfehr ins Haus 
nicht bald zu erwarten ftehe, bejchloß ie, einen Teil ihres Nachmittagsjchlafes zu opfern 
und den arglos abdedenden Diener ind Gebet zu nehmen. 

„Kommen Sie einmal hierher auf die Veranda, guter Jakob,“ jagte die Madeweiß 
ungewöhnlich freundlich, indem fie ji auf die außenſtehende Rohrbank niederließ. Er 
trat, ihrem Rufe folgend, mit der Serviette unter dem Arm zu ihr an den Tijch. 

„Was befehlen gnädig Fräulein?“ fragte er in ehrerbietiger Haltung. 

„Sch möchte nur ein vertrauliches Wörtchen mit Ihnen reden. Sie find ein alter, 
bewährter Angehöriger diejes Hauſes, dem ich vorſtehe. Naturen wie wir, Quoſig, 
halten das Auge nur auf die Pflicht gerichtet; diefe überfliegt Abgründe und jpielt mit 
Hinderniffen wie mit Leuchtfugeln, denn ihr Weg iſt ein unumftößlicher. Ich zweifle 
nicht, daß ich Ihnen das Wort „Treue“ nur ind Gedächtnis zu rufen brauche. Wie 
mit Flammenfchrift wird in Ihrem Gewijjen mein Name antworten.“ 

„Sch weiß nicht, was gnädig Fräulein — meinen,“ jtammelte Duofig von ihrer 
Erhabenheit etwas verwirrt. 

„Sind Sie ſich bewußt, daß ich jtatt der minorennen Erbin hier ald Herrin vor 
Ihnen fie? Daß ich bis zum legten Atemzuge für Ehre und Qugend des zarten 

fandes jchweiterlicher Liebe durchs Feuer gehen muß? Flüſtert Ihr aufgejchredtes 
* nicht mit Donnertönen: verheimlicht — hintergangen!“ 

Sie hatte mit jo viel Schwung und Nachdruck geſprochen, daß die ehrliche Seele 
vor ihr, jegt genau begreifend worauf jie zielte, einen Augenblick verblüfft daftand. 
Er murmelte etwas von „zween Herren dienen“, jchlug mit der Serviette nad) einer 
Weſpe und wußte jich feinen Rat. 

„Sch fürchte, Quoſig,“ fuhr fie düfter fort, „die Tochter diefes Hauſes bejchreitet 
einen abjchüjfigen Pfad. Soll die Irrende vor unferen jehenden Augen von der Ge— 
fahr übermannt werden?“ 

„Sie thun ihr nichts, gnädig' Fräulein,“ grinjte er, „ene Krei hadt de annere de 
Ogen nid) ut.“ 

„Entjegen erfaßt mich! Welcher Raubvogel jchwebt über dem Haupte Leontinens ?“ 
wimmerte Fräulein Jüly. 

„Es ja gar fein „Er“ dabei“ — jagte Quoſig halblaut und ſich umfehend mit 
ichlauem Schmunzeln. 

„Nun, was hat das Kind denn vor?“ 

„Sa,“ meinte der Alte und fragte ſich hinter dem Ohre, „weiter darf ich partout 
nichts ausplappern. Allens dat, was fie nich mag, gönnt je andern alle Dag,* leierte 
er herunter und fügte faſt gerührt Hinzu: „forchtbar qut is fe doch!“ 

Seine plattdeutjchen Orakelſprüche machten die Chanoinefje nicht flüger, er blieb 
aber dabei, und all ihr weiteres Ermahnen Half nichts mehr; der erjte Schred war 
überwunden, jo mußte fie jeufzend die Hoffnung fahren laſſen, Hinter das Geheimnis 
u fommen. Es war überhaupt eine böje Zeit für Tante Jüly; fie hatte auf ihre 

nfrage wegen des verfehlten Rendezvous noch feine Antwort von ihrer geliebten Gräfin 
Schwanenflügel erhalten und neigte in ihrer Herzensverlaffenheit zur Schwermut. 

Das nächjte Ergebnis, welches Leontine von ihrer beabfichtigten guten That jah, 
war wieder ein recht betrübendes, das verhängnisvolle Erkennen eines Irrtums. Sie 
erhielt einen von Therefens Handjchrift adrefjierten Brief, welchen fie mit dem ange- 
nehmen Gefühlle öffnete, heiße und wohlverdiente Dankfagungen zu empfangen. Zuerſt 
begriff jie den Sinn deſſen nicht, was jie überflog, endlich wurde ihr flar, hab eine 
Verwechjelung der Adrejje diefen Brief in ihre Hand fpiele, fie las: 


Leos Geheimnis. 705 


„Beliebter Iſidor! - 

Denke Dir, mein geheimmisvoller Anbeter hat richtig angebiſſen und will mir die 
taufend Mark jchiden. Ich bin ganz närrisch vor Vergnügen. Er will nichts dafür, 

icht "mal meine Photographie, muß das ein Kamel fein! Na, unſer „Handſchuhladen“ 
fol vor allen Dingen Champagner liefern, den wir zuſammen auf die Gejundheit des 
großen Portemonmaies unferes ollen Rhinoceros auspicheln wollen. Beim Ballet bleibe 
ich natürlich nicht. Wir machen mit einander eine feine Hochzeitsreije. Vielleicht kann 
ih Herrn L. R. auch noch etwas für meine arme „Ifidore* abjchwindeln. Gratuliere, 
fobald Du fommen kannt, Deiner Thereje!“ 

Ein heißer Schmerz überflutete die reine Seele der Betrogenen. In welche Ge- 
fellichaft hatte fie fich verirrt! Wie war es möglich, jo zu täujchen und zu lügen? — 
Aber hatte fie nicht jelbjt den Weg der Täufchung zuerit bejchritten? 

„Jedem das Seine“, jchrieb he unter A hereieng Brief. „Ihnen dies Schreiben, 
das nicht am mich gerichtet ift, mir mein Geld, da3 nicht abgejandt wird. 2. R.“ 

Damit war fie nun alfo auc fertig. Es blieben ihr von allen den verheißungs- 
vollen Anfnüpfungen jegt nur „Käthchen" und „Dlga*. Die erjtere war doch ganz 
gewiß ein unſchuldvolles kleines Lämmchen, dejjen ſich unbeirrt anzunehmen bei Leo 
zum feften Entichluß wurde. Ihre großmütige Natur jcheute vor dem Gedanken zurüd, 
einer Unjchuldigen ihre üblen Erfahrungen entgelten zu laſſen. Aber auch von „Olga“ 
konnte fie fich nicht losſagen: mochten ihre Anfichten auseinandergehen, es war doch 
die einzige Korreſpondenz, die jie interejjierte. 

Allerdings wurde e3 ihr ſchwer, auf Olgas legten Brief —— Sie ſcheute 
ſich, ihre perfönlichen Beziehungen noch näher zu berühren und lenkte wieder in Aus- 
— en über ihr Lieblingsthema ein. Mit Feindſeligkeit ſprach ſie von der 
Ehe, mit Nihtachtung von dem Anlehnungsbedürfnis der Frau und jchloß: 

„Wir müffen Ihr Gejchlecht von vornherein zur ebenbürtigen Tüchtigfeit mit dem 
Manne erziehen, meine Liebe, das iſt der einzige Weg, die irdiichen Zuftände, wie jte 
ſich entwidelt haben, zu heben, zu verbefjern, und gern leihe ich zu diefem Zwed Ihnen 
oder einer Ihrer Hilflofen Schweſtern meine Hand. Heiraten mag unter Umſtänden 
ut fein, ledig bleiben ift beſſer, es ift zugleich frei, unabhängig und auf fich geftellt 
ein, auf ich aber fann man am zuverläfjigften bauen!“ 

Im nächſten Briefe ermahnte Olga den Freund, der Frau nicht allzuviel Kühn- 
heit und Selbjtändigfeit zuzutrauen. —* wer jung ſei und das Leben nicht kenne, 
nehme alle Verhältniſſe ſo leicht. Wenn es in ihrem Kreiſe kein armes unſelbſtändiges 
Mädchen gebe, ſolle ſie nicht alle Verhältniſſe danach beurteilen, das führe zu eng— 
herziger Ueberhebung. 

„Ich ſehe in dem Inſtitut der Ehe ein unſchätzbares Erziehungsmittel für beide 
Parteien,“ fuhr Olga fort. „Ich ſehe auch das Gluͤck der Ehe noch nicht darin, ohne 
Unfrieden, einig in äußerlichen Intereſſen, neben einander her zu gehen und jich be- 
ng mit dem Kleinkram der Alltäglichkeit und den beiderfeitigen Schwächen abzu- 

nden. Nein, die Ehe ift nur dann und im beſten Sinne glüdlich, wenn Mann und 
ar auch in der Gemeinjamfeit des Glaubens mit einander aufwärts und vorwärts 
treben. In dieſer gegenfeitigen Sorge befteht der fittliche Wert einer Ehe. Und ein 
Leben in jolchem gemeinjamen Streben mit einander hingebracht, jchafft die höchite, 
danerndfte Gemeinschaft. Sagt doch Spedenberg in jeinen religions= philofophijchen 
Forſchungen, daß zwei ehelich Verbundene, die in liebevoller Zufammengehörigfeit lebten 
und jtarben, gleich zwei Hälften feien, welche im Jenſeits zu einem einzigen Engel 
verjchmelzend, in der Empfindung volliter Ausgeftaltung ihres Ichs die ewige Geligfeit 
Sri Dieſe Idee hat, wenn auch nicht mehr, jo doch eine erhebende poetiſche 

ahrheit in ſich.“ 

Leontinens Streben hätte nicht ſo ernſtlich auf das Gute gerichtet ſein müſſen, 
wenn die Sprache dieſes Briefes ihr nicht tief zu Herzen gegangen wäre. So hatte 


706 Leos Geheimnis. 


noch fein Menjch zu ihr geredet. Aber weil fie hier eine wahre und überlegene 
Freundin fand, traf fie der gemachte Vorwurf jelbjtjüchtiger Ueberhebung um jo jchmerz- 
licher. Zuerſt vermochte fie die Berechtigung jenes Tadels nicht anzuerkennen. Gab 
fie nicht mit diefer Korrefpondenz den Beweis bereitwilligen Opfermutes? Was hatte 
fie anderd gewollt, al3 die Gelegenheit, jich ihrer bedrängten Mitjchweitern anzunehmen? 
Indes Olga war gewiß klüger und geprüfter als fie; Empfindlichkeit durfte nicht zwijchen 
ihnen auffommen. So antwortete fie anerfennend und mit der Bitte, ihre reiferen 
Anfichten nicht zurüdzuhalten. 

8 war ein unendlich freudiger Ton, in welchem Olga umgehend wieder jchrieb: 
„Nichts auf der Welt ift jo hoch zu preifen,“ hieß es, „als ein redliches Streben nach 
befjerer Einfiht. Ich glaube in Ihnen, lieber junger Freund, eine Natur zu erfennen, 
die nach dem Höchiten jtrebend, den Flug jehr fühn nimmt und fomit manchem Kampf 
und manchen Rüdjchlägen ausgejegt iſt. Laſſen Sie ſich durch Enttäujchungen belehren, 
aber nicht lähmen, abkühlen aber nicht ernüchtern. Bleiben Sie dabei, viel von fich 
zu verlengen, aber juchen Sie der Schroffheit Herr zu werden, die das eigene Denen 
und Thun für maßgebend hält.“ 

Alle diefe Lehren fielen in Leos Seele auf einen frijchen, fruchtbaren Boden. Sie 
wollte, jobald nur die bevorjtehende Feier ihrer Mündigfeitserflärung und Utings Be— 
juch vorüber jein würde, Olga zu jich einladen, um fie perfönlich fennen zu lernen. 
— mochte der Brieftwechtel, der immer mehr an Reiz gewann, weiter geführt 
werben. 

Ihre Ausritte, Bejuche in der Umgegend und Beteiligung an der Verwaltung des 
Gutes, hatte Leontine in diejer Zeit zurückſtehen laſſen. Ihr Sinn war vorwiegend 
von den neu gejchaffenen Beziehungen erfüllt; und wenn ſie jich zu einem Unternehmen 
aufraffte, jo geſchah es, um ihre Ungeduld zu bejchwichtigen und die Zeit bis zur 
Empfangnahme des nächjten Briefes auszufüllen. 

Der September war mittlerweile herangefommen. An einem jchönen Morgen 
entſchloß Leontine jich endlich einmal wieder auszureiten. ALS fie aufſaß ſagte fie zu 
Deiterd und Quoſig, die beide neben Hans, ihrem Braunen, ftanden, fie wollte 
—* — die Kette Rebhühner, welche auf dem hohen Kamp liegen ſolle, dort anzu— 
treffen ſei. 

Nachläſſſg die Zügelhand ſinken laſſend, gab ſie ſich der Willkür ihres zuverläſſigen 
Tieres hin und ritt, in tiefes Nachdenken verloren, von einer grünen Schneiſe, einem 
Waldweg auf den anderen. Die anfängliche Abſicht war längſt vergeſſen, der Kamp, 
von dem ſie geſprochen, lag weit hinter ihr, aber ſie dachte weder daran, wo ſie ſich 
befand, noch daß es Zeit ſein möge, umzukehren. Ein Brief Olgas beſchäftigte ihre 
ganze Seele; wie innig und zum Herzen dringend Hatte dieſe wieder gejchrieben! Leon- 
tine fühlte, daß der Geift und das ganze Weſen diejer klaren Natur immer mehr Ein- 
fluß auf fie gewannen. 

Olga hatte neuerdings zugegeben, daß im der allgemeinen Lage der Frau, durch) 
äußere Bedingungen ———— ſich Uebelſtände fänden, auf die eine umſichtige Geſetz— 
gebung werde Rückſicht nehmen müſſen. Allein daraus folgere ſie noch keinen feind— 
lichen Zuſtand der beiden Geſchlechter zu einander. Mit Not und Hemmniſſen aller 
Art habe auch der Mann zu kämpfen. „Jedes liebende Paar verſöhnt in ſich den 
Rechtsſtreit um die Machtſphäre der Geſchlechter,“ ſchrieb Olga. „Und aller Konflikt 
beider Teile, der aus unnatürlichen Berhältniffen entjpringt, wird in dem ausgleichen- 
= —— der Liebe, die dem andern mehr gönnt als Hi jelbft, immer aufs neue 

igelegt.“ 

„So mächtig jollte die Liebe jein?“ flüfterte zum unzähligftenmal die Reiterin 
vor ji hin. „So gewaltig, jo zu einander zwingend — jo ausgleichend und ver- 
bindend? D welch wunderbare Kraft muß diefe Empfindung haben, dab fie alle Ein- 
fit und MWeberlegung zum Schweigen bringt und das Selbftgefühl des Ichs ohne 


Leos Geheimnis. 707 


Schmerz in dem größeren Gefühl für ein anderes Wejen aufgehen läßt! — It daran 
ohne Demütigung zu denken?“ — 

Ein Schuß in nächſter Nähe Raufchend flatterte ein Volk rg aus dem 
Kartoffelfelde am Waldwege empor. Ein erjchredter Sprung des fich ſelbſt überlafjenen 
Braunen folgte. Die Nachläffige verlor den Sit, ch ungejhidt an den Bügeln, ein 
zweiter Sat des aufgeregten Pferdes, und Leontine lag daneben, während das Tier in 
Galoppjprüngen durchs Kartoffelfeld davonjagte. 

Sie war ind weiche Gras gefallen und unverlegt. Werwirrt juchte fie ſich auf- 
zurichten; eine Hilfreiche Hand, welche jich ihr entgegenftredte, nahm fie mechaniſch an, 
und * ſtand ſie, emporblidend, dem Jäger, der fie zu Falle gebracht — Pariſius — 
gegenüber. 

„Sie, Herr Forſtaſſeſſor,“ ſtammelte das Mädchen. 

„Sch bedauere ſehr, Ihr Pferd erſchreckt zu haben,“ ſagte er teilnehmend, „hoffent— 
lich iſt Ihnen kein Leid geſchehen. Ich würde ganz gewiß nicht gejchofjen haben, wenn 
ich Sie gejehen hätte; Ste wiſſen aber jelbit, daß der Jagdeifer taub und blind macht.“ 

Sein Borftehhund apportierte in diefem Augenblide das gejchofjene Feldhuhn und 
og die Aufmerkjamfeit des Jägers von jeiner Serährtin ab, was ihr zur Erleichterung 
Ga Es lag eine heitere Ueberlegenheit in jeinem Wejen, die ihr heute noch aus- 
geprägter erſchien al3 früher, und die eben faſt einen vertraulichen Ton angenommen 
hatte. Dergleichen konnte fie fich nicht gefallen lafjen. Woher jtammte ihm das Recht, 
fie fo forfchend anzubliden und fo freundjchaftlich zu behandeln? Er hatte auch ihre 
Hand länger fejtgehalten, als notwendig geweſen, jie mußte fich ſolcher Anmaßung 
erwehren. 

„Wollten Sie vielleicht einen Bejuch in Grünhagen abftatten?“ fragte er, das 
Huhn an die Jagdtaſche hängend und die Freudenſprünge des Hundes abwehrend. 
„Wir find hier nahe am Haufe, jene Kartoffeln gehören zur Oberförfterei.“ 

Dieje Mitteilung verwirrte fie aufs neue, wie war fie nur hierher gefommen? — 
„Rein,“ antwortete ſie in alter Schroffheit, fich halb abwendend, während jie mit der 
Reitpeitiche durch die Luft zwifchen ihnen jcheinbar einen trennenden Spalt hieb. „Ich 
habe nur einen etwas weiteren Spazierritt unternommen und werde zu Tiſch erwartet. 
Ihr Schießen wird doch meinen Hans nicht ganz verrüdt gemacht haben? Fangen Sie 
mir den Gaul wieder ein!“ 

Er jah fie mit einem Lächeln an, das ihr vorfam, als beluftige er jich über ihren 
ſchroffen Ton, dann gebot er dem Hunde, zurüdzubleiben und ging vorfichtigen Schrittes 
auf den Braunen zu, der jet an einem Hajelgebüjche jtand und Blätter abzupfte. 
Es gelang ihm u die jchleifenden Zügel zu faflen und das Pferd, welches anfing 
zu jpringen, zu bejänftigen; völlig beruhigt führte Parifius das Tier feiner Herrin 
wieder zu. 

„Danke,“ fagte fie kurz, „mun helfen Sie mir hinauf, wenn Sie mit dergleichen 
umzugehen verftehen.“ 

ieder das überlegene Lächeln. Er nahm die Zügel in die Linfe, welche er auf 
den Widerrijt legte, indem er zugleich in die Mähne faßte, und bot ihr die flache Rechte 
zum Aufjteigen. Sie trat hinein und jchwang fich in den Sattel. 

„Sie haben das faſt jo gut gemacht wie Quoſig,“ meinte fie fühl, nahm Die 
Zügel, grüßte gezwungen, wandte das Pferd und trabte den Waldweg hinunter, auf 
dem fie, um eine Ede biegend, bald jeinen Bliden entſchwand. 

„Nichts von Milde in ihrem Weſen,“ murmelte er betrübt vor jich hin, pfiff dem 
Hunde und fehrte, unfähig die Jagd fortzufegen, in die Oberförjterei zurüd, 

(Schluß folgt.) 


— 
— — un 


© 
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Das Wunderbare in Mozarts künſtleriſcher 
Sendung. 
Bon 


Audwig Meinardus. 


Am 29. Oktober 1787 erlebte eines unſerer jchönften und volf3tümlichiten Muſik— 
jchaufpiele, Mozarts? „Don Juan“, jeine erfte Aufführung und begeifterte Aufnahme zu 
Prag. Die Erinnerung an diejes Kunftereignis tft im vergangenen Winter 1887 von 
allen mufitfreundlichen Bölfern der Gegenwart, bejonders von der deutjchen Muſikwelt 
festlich gefeiert worden in mannigfaltigen Formen. Vielfach erweiterten dieſe ſich Über 
die Säfularfeier des einzelnen Werkes hinaus zu zeiten, welche dem Andenken feines 
Schöpfers gewidmet waren; das Don Juan Jubiläum geftaltete jich zur Mozart-Feier. 
Dak unter den huldigenden Feſtgenoſſen die Fach- und Tagesprefje nicht fehlen würde, 
fieß fich vorherjehen. Sie waltete ihres Amtes im Sinne des ordnenden ek ne 
fie brachte dem Meifter und feinem jchöpferiichen Wirken Fadelzüge, um die äfthetifchen 
und biographifchen Seiten des Gegenjtandes ins helle Licht zu jeßen; fie erging fich 
dazu in allerhand tiefjinnigen und mitunter wohl auch jeichten Betrachtungen: kurz, der 
jchriftftellerifche Niederichlag des vorigen Winters hat wenig beigetragen zur Ver— 
mehrung einer bereit län H vorhandenen, anjehnlichen Bibliotheca Mozartiana. Die 
Gejchichte der jehr umfänglihen Mozart -Litteratur umjpannt den Zeitraum eines ganzen 
Jahrhunderts. Alle europäischen Kulturjprachen haben der Bereicherung derjelben ihre 
Mitarbeit gewidmet. Den Gipfel alles an Bedeutung und bleibendem Wert bisher 
Erreichten bilden zwei Hauptwerfe, ausgezeichnet durch die Methode der Duellen- 
forſchung und durch die überjichtliche, pragmatische Anordnung und Behandlungsweife 
des überreichen Stoffes. Das eine diefer Quellenwerfe ift Otto Jahns „W. A. Mozart“, 
das andere Ludwig von Köchels „Chronologiſch-thematiſches Verzeichnis jämtlicher 
Tonwerfe W. A. Mozarts". Die beiden Berfatter waren befreundete Zeitgenofjen und 
haben einander in die Hände gearbeitet. Eine von der Berlagshandlung Breitkopf und 
— veranſtaltete Geſamtausgabe Mozartſcher Tonwerke ſchließt ſich an die Arbeiten 

ahns und Köchels auf das Gewiſſenhafteſte an und hat dadurch für die Geſchichte 
deutſcher Tonkunſt monumentale Bedeutung erlangt. 

Nach Jahn und Köchel darf man die Quellenforſchung in betreff des Lebens und 
Wirkens Mozarts als abgeſchloſſen betrachten. Spätere vereinzelte Beiträge zu der— 
jelben find unerheblich geblieben. Daß dennoch die Quelle nicht verfiegt ift, aus welcher 
ungezählte, nachgeborene Preßerzeugniſſe Leben und Nahrung jchöpfen konnten, das hat 





Das Wunderbare in Mozarts künftleriiher Sendung. 709 


die erſtaunliche litterarifche Arbeitfamfeit wieder bewiejen, welche von der Mozartfeier 
im legten Winter aufgeregt wurde. Gleichviel ob Neues oder auch nur Anteilwertes 
über die behandelte Materie zu tage gefördert worden jei: bemerkenswert ijt ohne Frage 
das weit verbreitete Bedürfnis Tauſender von Lejern, dem der Fleiß Hunderter von 
Federn zu genügen jtrebte. Gewiß verdient diefe Thatjache eine nachdenkliche Erwägung 
ihrer Urſachen. Die fortdauernde Begeifterung für einen hervorragenden Mufifer und 
für einige feiner Werfe ift an fich ſchon der Beachtung wert, dafern die Gegen- 
ftände jolcher Begeifterung eine Gejchichte von Hundert Jahren überdauert haben. 
Anders der gewohnte Lauf der Dinge: erfahrungsgemäß nämlich überdauern lebens— 
fähige, mit Enthufiasmus aufgenommene und zu ihrer Zeit über alle Bühnen verbreitete 
Opern nur ausnahmsweije einmal die Lebenszeit eines Menjchenalters, aljo einen Zeit: 
raum von etwa dreißig Jahren. Wohl feine Kunftgattung iſt gleichtwie eine jolche 
Oper dem Wind und Wetter der herrjchenden Gejchmadsftrömung unterworfen. Die 
Flut diejer Strömung trägt derartige Kunfterzeugniffe bi8 zu den Sternen empor — 
der Ebbejtrom aber jpült jie wieder in die Tiefe der Verfchollenheit hinab und Löjcht 
auch endlich jede Spur derjelben aus. 

Mozart und feine Hauptwerfe dagegen erfreuen fich einer ungefchwächten Fülle 
und Friſche an Lebenskraft noch heute gleichtvie zur Zeit ihres erjten Erjcheinens; und 
fte haben ihre allgemein ausgedehnte Verbreitung und univerjelle Volkstümlichkeit bis 
heute über alle anjtürmenden Gegenftrömungen völlig umgewandelter Kunftanfchauungen 
narech behauptet, wie die fühnften Hoffnungen es ſich wohl nie fonnten träumen 
affen. 

Woher nun dieſe an jich gewiß; recht merkwürdige Thatfache? — 

Wollte man die Frage nur nach Maßgabe äfthetiicher und ftilgefchichtlicher Gefichts- 
punkte beurteilen, dann würde die Erjcheinung faum ihre genügende Erklärung finden. 
Aber Mozarts fünftlerifche Lebensaufgabe bietet auch eine fulturgefchichtliche Seite der 
Betrahtung dar. Und aus einer Unterjuchung diefer Seite dürfte ſich wohl ein Beitrag 
zum DVerjtändnis des Mozartichen lebensfräftigen Wirkens gewinnen laſſen. 

In tieferniten Tagen, wie es die unfrigen find, wo unſer Volk, von einer Reihe 
jchmerzlicher Ereigniffe und banger Sorgen erfchüttert, etwas empfindet von dem Hin- 
eingreifen der gewaltigen Hand Gottes in den gemächlichen Verlauf des Alltagslebens; 
— in joldhen Tagen mag das erregte Gemüt bejonders empfänglich jein für den Troft, 
den die Erfenntnis der mannigfaltigen Mittel und Wege verleiht, vermöge deren Die 
Menjchenherzen wie Wafferbäche nad) den Zielen hingelenkt werden wollen, die ihr fitt- 
licher Beruf ihnen vorzeichnet. Nicht immer find es welterjchütternde und völfer- 
bewegende Ereignifje gewejen, die ſolchen Zwecken des göttlichen Heilsplanes ald Mittel 
dienen mußten. Häufig waren es auch freundliche Lockſtimmen und Mahnrufe, ungewöhn- 
liche DOffenbarungen göttlicher Liebesfülle und himmliſcher Schönheit, durch welche die 
gottentfremdete Menfchenjeele zur Befinnung auf ſich jelbft und zur Sinnesänderung 
Dingeleitet werden jollte. 

Eine jolche erweckliche Liebesabficht läßt fich erkennen und nachweifen auch in der 
fünjtleriichen Sendung W. A. Mozarts; ein Mahnruf zunächit an jein glaubensleeres 
und flatterhaftes Zeitalter — gejchichtlich begrenzt einerjeits vom Beginn des fieben- 
jährigen Krieges und anderſeits vom gögendienerijchen Menjchenkultus der eriten fran- 
zöſiſchen Revolution. Das ift alſo diejenige Kulturepoche, welche ſich mit Stolz das 
— der Aufklärung“ nannte. „Einſichtige Theologen“ — rühmt ein zeitgenöſ— 
ſiſcher Lobredner der —ã (Archenholtz) — „verließen die unbegreiflichen Dogmen, 
um reine Moral zu predigen.“ Die „reine Moral“ aber wurde Beftimmt nach Maß— 
gabe des ſogenannten „jonderbahren Nutzens“, den Religion, Künſte und alle übrigen 
Dinge der Geſellſchaft und dem einzelnen darzubieten haben mochten. In dem nüch- 
ternen Syſtem der Vernunftlehre des jogenannten „gefunden Menjchenverjtandes“ war 
fein Raum für höhere fittliche Ideale — fein Verftändnis für die „unbegreiflichen 

Allg. kon. Monatsfchrift 1888. VII. 46 


710 Das Wunderbare in Mozarts künſtleriſcher Sendung. 


Dogmen“ — am wenigjten für Wunderwirfungen göttlicher Gnadenerweifung Man 
juchte ſich hinwegzutäufchen über die innere Sohlbeit und Leere durch jchöngeiftige 
Bielgejchäftigfeit, welche ohne tieferen idealen Gehalt jich über den Charakter oberfläch- 
licher Tändelei nicht wejentlich zu erheben vermochte. Den ernjteren Beitrebungen der 
bildenden Künfte und der jchönen Litteratur wurde nur hie und da Aufmerfjamfeit 
gewidmet. Biel verbreiteter dagegen war die Pflege des Theaters und der Mufif. 


Auf diefem Gebiet allgemeinen Anteil3 und vielfeitigen Verjtändnifjes erjchien nun 
ein Genius jeltenjter Art, der — jelbjt ein Wunder nach jeiten feiner angeborenen 
Genialität, feiner Lebensführung, jeiner Doppelnatur, feiner Schöpferfraft und Fünft- 
(erifchen Entwidelung — berufen war, jeine Mitwelt und alle nachgeborenen Gejchlechter 
thatjächlich zu überzeugen, daß noch Wunder gejchehen könnten, daß hier vor aller Augen 
ji) ganz erjtaunliche Wunder vollzögen, Wunder, welche die innere Sicherheit jelbjt 
der Borfämpfer aufgeflärter Freigeiſterei aufs Tieffte erjchütterten. Der nachmalige 
Freiherr Melchior Grimm, ein Hauptvertreter franzöfiicher Aufklärung, lernte jenen 
höchjt ſeltſamen Tongenius, der in dem jechsjährigen Knäblein Wolfgang Mozart wohnte, 
zu Baris kennen und äußerte die empfangenen Eindrüde brieflich in dem fait verzweif- 
lungsvoll lautenden Gejtändnis: wenn man, wie hier, göttliche Wunder mit leibhaften 
Augen geichehen jehe, man könne darüber den Berjtand verlieren. — Aus den verjchie- 
denjten Städten Europas liegen Berichte vor von Augenzeugen und Obrenzeugen, 
welche die Leiftungen jenes findlichen Genius als göttliche Wunderwirfungen einfach 
anerfennen und preijen. 


Daß W. U. Mozart zur Beweifung der göttlichen Wunderfraft ausdrüdlich be- 
rufen und mit allen dazu erforderlichen Eigenjchaften reichlich, ja verſchwenderiſch aus: 
geftattet gewejen jei, das ijt eine Auffaſſung jeiner fünftlerichen Sendung und Lebene- 
aufgabe, die nicht urjprünglich von mir herjtammt. 

Ich finde indejjen nicht, daß dieſer anteilwerten Auffaffung von anderen die nach- 
jpürende Aufmerkjamfeit zugewandt worden jei, die jie mir in hohem Grade zu verdienen 
icheint. Es war Leopold Mozart, des auserwählten Tonmeijters Vater, der jchon in 
den früheften Lebensäußerungen feines zarten Knaben Wunderwirkungen jener göttlichen 
Abficht ar und mit rubhigjter Ueberzeugung erfannte. Die naheliegende Frage, ob 
diefes Urteil nicht doc von väterlicher Eigenliebe beeinflußt gewejen jei, hat Mozarts 
Weſen, Leben und Entwidelungsgang beantwortet. Dieje Antwort jchließt jede Eelbit- 
täujchung des Vaters zweifellos aus. Leopolds Einficht hat fich als zutreffend bewährt. 
Und aud) diejer Nebenumftand gehört zu den vielen einzelnen Zügen in Wolfgangs 
Sendung, welche wie verehrungswärdige Wunder wirken auf jeden, der die Tonkunjt 
in ihrem geheimnisvollen Zufammenhange mit der göttlichen Reichsordnung zu begreifen 
vermag. — Leopold Mozart verfügte über einen klaren, wifjenjchaftlich gebildeten Geiit. 
Er hatte den Grund Bildung gelegt in der gelehrten Schule des Kloſters 
St. Ulrich zu Fa und jtudierte darauf an der Hochjchule feiner nachmaligen 
Heimftätte Salzburg die Rechtswiſſenſchaft. Zugleich aber war er ein vielſeitig bewährter 
Tonkünſtler, als folcher namentlich ein trefflicher Geiger. Unter jeinen —— mu⸗ 
ſikaliſchen Schöpfungen hebt ſich beſonders ſeine in verſchiedenen Sprachen verbreitete 
Violinſchule hervor, ſeiner Zeit ein bahnbrechendes Werk. Die Grundſätze ſeiner künſt— 
leriſchen Erziehung der Jugend, welche Leopold im Vorwort dieſer Violinſchule ent— 
wickelte, bezeugen die Klarheit ſeiner Einſichten und Urteile, wie die Reinheit ſeines, 
auf die edelſten Ideale der Kunſt und des Lebens gerichteten Wollens. Sein ſittlich— 
menſchliches Bewußtſein wurzelte in ſeiner gläubigen religiöſen Geſinnung. Er war 
ein entſchiedener Bekenner der römiſchen Kirche; jedoch ſehr fern von jeder Hinneigung 
— Bigotterie und zum asketiſchen Zelotismus. Gehörten doch Gellerts geiſtliche 

ieder, Klopſtocks Meſſiade und andere Werke von evangeliſchen Dichtern zur bevor— 
zugten Nahrung ſeiner erbaulichen Bedürfniſſe, ſo ſehr, daß er Gellert brieflich dankte, 


Tas Wunderbare in Mozarts künſtleriſcher Sendung. 711 


und in jeinem Haufe wie in befreundeten Kreifen die Liebe für diefe Blüten der evan- 
geliichen Poejie anzuregen jtrebte. 

Das war der Mentor des Genius Wolfgang Amadeus Mozarts, der von Aber: 
glauben und Wunderjucht völlig freie Mann, der die künſtleriſche Sendung diejes feines 
Sohnes im Sinne einer ethischen Miffion auffaffen zu jollen meinte; der überzeugt 
war, daß Gott fich in dem Wejen jenes unmündigen Kindes habe ein Lob zurichten 
wollen; daß er beichloffen Habe, durch jolchen wunderbaren Sendboten feinem in feichte 
Tändeleien verjunfenen gottentfremdeten Zeitalter ein Zeichen und Wunder vor Augen 
zu Stellen, ob die Menjchen fich vielleicht dadurch bewegen laſſen möchten, ihre Ge— 
danken mit ernjterem Inhalt wieder zu erfüllen, ihr Streben auf höhere Ziele als jolche 
der Eitelkeit und des vergänglichen Scheine wieder empor zu richten. Und dieje Er- 
fenntni8 drängte den Vater Mozart, das feiner Obhut und Pflege anvertraute Myſte— 
rium der nachdenklichen Betrachtung der großen Welt rechtzeitig zugänglich zu machen. 
Die rechte Zeit dazu waren aber die Knabenjahre Wolfgangs. Denn feine unbegreiflich 
frühzeitig entwidelte Meifterjchaft ftand mit feiner zarten Körperlichfeit und unreifen 
Jugend in einem jo unfaßlichen Mifverhältnis, daß niemand daran glauben mochte, 
der nicht die Gelegenheit fand, fich perjönlich von diejem göttlichen Wunder zu über: 
zeugen, fei es durch den Augenſchein, jei e8 durch glaubwürdige Berichte. — Der eng- 
liſche Gelehrte Barrington argwöhnte eine Trügerei und glaubte jelbjt als Augenzeuge 
jeinen eigenen Sinnen nicht eher, als bis er fich über das Lebensalter de3 dama 
fiebenjährigen Knaben durch heimliche VBermittelung eines Auszuges aus dem Salzburger 
Kirchenbuch Gewißheit verjchafft hatte. Dann aber ſchrieb er über das Wunder einen 
jpäter gedrucdten begeifterten Bericht an die königliche Afademie der Wiffenfchaften in 
London. — Ebenjo ungläubig zeigten fich die Zöglinge eines Konjervatoriums für Mufik 
in Neapel, denen der vierzehnjährige Mozart freie Bhantafien auf dem Klavier vortrug. 
Sie hielten feine Meifterfchaft für pure Zauberei, für die Wirkung eines fojtbaren 
Fingerreifs, und glaubten erjt an das Wunder, al3 der junge Meifter ihnen den Ge- 
fallen erwies, ohne jenen Ring noch herrlicher zu jpielen als zuvor mit dem Ring 
am Finger. 

Bater Mozart lie; fich durch feine Schwierigfeit und Widerwärtigfeit abfchreden, 
jeine Pflicht im Gehorfam gegen die von ihm erfannte göttliche Abficht treu zu erfüllen. 
Er führte jchon den jechsjährigen Knaben in die große Welt: zuerft an den furfürft- 
lichen Hof in München, darauf an den Kaiferhof Maria Therefias zu Wien; im fol- 
genden Jahre unternahm Leopold mit Wolfgang und der talentvollen Klavierjpielerin 
Marianne, feiner älteren Schweiter von 12 Jahren, eine ausgedehnte Kunſtreiſe durch 
Deutjchland nach den Hauptjtädten Frankreichs, Hollands und Englands. Auch die 
Mutter begleitete die NReifenden auf diefer und ferneren Kunftfahrten. In Mozarts 
zwölftem Lebensjahre befand die familie Jich wieder in Wien. Zwei Jahre jpäter und 
die folgenden bejuchte der Vater mit dem Sohne dreimal in kurzen Zwifchenräumen 
Italien, daS gelobte Land derzeitiger Tonkunft und Tonfünftler. Der * dieſer ita⸗ 
lieniſchen Reifen richtete ſich auf die Schöpfung, Aufführung und Leitung großer italie- 
nifcher Opern von jeiten des 14 bis 16 Jahre zählenden „Maöftrino Amadeo“, der 
durch Jeine wunderbaren Leiftungen auch im Stil der Italiener alle Notabilitäten jener 
Zeit in den Schatten drängte, aber als das größte mufifalifche Wunder neidlos von 
ihnen verehrt und gefeiert wurde. Desgleichen hatte — ſelbſt der geprieſene Kunſt— 
geiſt Italiens keins hervorzubringen vermocht! — Nach all den Reiſen, welche Triumph— 
ügen za pe wurde der Mozartiche Genius in die Stille einer harten Schule des 

ebens gerührt — nämlich in die Wüſte feiner Dienftbarkeit unter dem Ha re 

Krummitab des Erzbiſchoſs Hieronymus Coloredo von Salzburg. Der tyrannijierte 

junge Meijter machte zwar einen Verfuch, ſich von dem unerträglichen Joch zu befreien. 

Aber daß diefer Verfuch fich als ein verunglüdter erwies, daß Mozart in feiner erjten 

Selbftändigfeit feine teuere Mutter zu Paris, dann feine zarte erſte Künftlerliebe zu 
46* 


712 Das Wunderbare in Mozarts fünftleriicher Sendung. 


München verlieren und im feiner Natlofigfeit fi abermals mit den Salzburger Ketten 
feffeln lafjen mußte: das alles demütigte ihn nur noch tiefer. Als endlich der gereifte 
Grofmeifter das erzbifchöfliche Joch durch eine entjchloffene That abgejchüttelt Hatte, 
legte ein barmberzigerer und größerer Herr die erziehende gewaltige Hand dem Viel- 
geprüften ſchwer auf die Schulter. Der Drud der fümmerlichiten Lebensumftände, den 
Mozart als Menſch, Gatte und Familienvater in dem legten Abjchnitt feiner nur 
36jährigen Lebenstragddie mit ftetig wachjendem Gewicht zu empfinden und zu tragen 
hatte, diefer laftende Drud, der wohl jeden anderen zu Boden geworfen hätte, war 
offenbar beftimmt, den augerwählten fünftlerifchen Genius, einen Propheten der reinften 
irdischen Form des jchönen Gottesglanzes, jtarf und elaftiih zu machen. Denn je mehr 
ihn die Nöte des Dajeins einengten, deſto freier und größer entfaltete ſein Schöpfer- 
geift die Schwingen; je ärmer an vergänglichen Gütern Mozart wurde, dejto reicher 
waren die unvergänglichen Gefchenfe feiner Tonmufe, deſto herrlicher und tiefer feine 
unfterblichen Tonfchöpfungen. Der Fußpunkt einer anfteigenden Linie, welche den Ente 
widelungsgang jeiner künstlerischen Selbitändigfeit darjtellt, fällt zujammen mit dem 
Scheitelpunft feines höchjten irdischen Glüdes, den er ſchon als Jüngling erreichte. 
Bon hier ſinkt diefe Linie jtetig wieder abwärts nach der Tiefe ſchmerzlichſter, ent- 
mutigender Kränfungen und Demütigungen, wie jämmerlichjter Dürftigfeit. Je tiefer 
aber dieſe Linie hinabfinkt, bis fie zuleßt jpurlos verjchwindet in einem unentdeckt 
ebliebenen Mafjengrab auf dem St. Marxer Friedhof bei Wien, dejto jchwungreicher 
teigt jene andere Linie nach oben bis in die reinjte Höhe der unermüdlich hinan— 
itrebenden Schöpferkraft, welche in dem Nequiem endlich fich emporringt zur Verklärung 
im ewigen Licht (lux perpetua). 

Welche bedeutfame Lebensführung! Mozart, der Menſch, mußte abnehmen; der 
in ihm geoffenbarte zeugende Tongeift mußte wachjen. — Die hervorgehobenen Grund: 
jtriche feiner Lebensführung, welche jolchen Inhalt zum Ausdruck brachte, ergänzen fich 
noch durch einen äußerlichen Nebenumſtand, der bezeichnend genug für die fittlich- 
fünjtlerische Sendung Mozarts ift, um Beachtung zu verdienen. Das iſt der Zeitpunkt 
feiner Geburt, der 27. Januar 1756, das Jahr der Eröffnung des fiebenjährigen 
Krieges, welcher den Sieg der deutjchen Beftrebungen des großen Preußenfönigs über 
das feindliche Europa entichied. Zum Siege vaterländifchen Selbftgefühles an feinem 
Teil mitzuwirken, war auch Mozart berufen. Die deutjche Mufifwelt lag jeit Hundert 
Jahren im Bann weljcher Fremdherrichaft. Lebendiger Glaube und vaterländijche Ge- 
finnung, diefe beiden fruchtbarften Triebfräfte deutjcher Volksart, waren verdorrt in der 
falten Zugluft des rationaliftiichen Kritizismus, der das Zeitalter beherrichte. 

Nach Leopold Mozarts Ueberzeugung nun war Wolfgang berufen, das Glaubens: 
leben indireft wieder zu erwecen durch die göttliche Wundermacht, die fich in defjen 
unbegreiflihem Tongeiſte thatjächlich und erjichtlih offenbart. Wohl deutlicher als 
eine jolche Berufung fühlte Mozart jelbit den natürlichen Antrieb, das vaterländijche 
Selbitbewußtfein direkt wieder zu beleben durch die Eröffnung jeines Kampfes gegen 
die Tyrannei der Italiener und Franzojen, wie gegen das Heer ihrer Anhänger, das 
fih aus allen Gejellfchaftsfreifen von den fürftlichen Hoflagern bis hinab zu den 
Handwerferhütten refrutierte. Zwar errichtete Karl Theodor, der Kurfürft von der 
Pfalz, in den fiebziger Jahren zu Mannheim eine jogenannte Nationalbühne; zwar 
folgten dieſem Beijpiele ähnliche Unternehmungen in anderen Rejidenzftädten, jogar 
auch in Wien unter Joſef II.: aber von den Urhebern der auf diejen Bühnen aufzu- 
führenden Opern wurde verlangt, daß dieje in Ton und Stil, wie auch in Wort und 
Form den italienischen Erzeugnijien gleicher Gattung nachgebildet wären. Der Cha: 
rafter deutjcher Nationalbühnen wurde deshalb fast lediglich dadurch zu fennzeichnen 
gefucht, da die Opern von deutjchen Urhebern verfaßt und daß die darjtellenden und 
injtrumentalen Kräfte zum größten Teil aus deutjchen Künftlern zufammengefegt waren. 
Mozart vermochte nun zwar in der Mehrzahl feiner Mufikjchaufpiele nicht die ita= 


, Tas Wunderbare in Mozarts künſtleriſcher Sendung. 713 


Lienifche, alle deutichen Bühnen beherrjchende Sprache feiner dramatifchen Dichtungen 
zu überwinden und abzuweifen; doch in jeder anderen Hinficht prägte er feinen Haupt: 
werfen einen neuen, vom gewohnten italtenischen Formalismus abweichenden Geift ein, 
den Geift der Wahrheit und der reinen Tonfchönheit, wodurch diefe Werfe ebenjo jehr 
zu univerfellen Kunfterzeugnifjen erhoben wurden, als fie den Sieg der deutjchen dra- 
matifchen Tonkunft über die italienifche und auch über die franzöfiiche Oper befiegelten. 

Beachtenswert mag es auch fein, daß Mozarts Geburt in die Mitte desjelben 
Jahrzehnts fiel, innerhalb defjen der Heimgang Bachs (1750) und Händels (1759) 
erfolgte‘, der’ beiden großen deutſchen Tonmeifter, welche eineherrliche fruchtbare Vergangen— 
heit abjchloffen. Sie jtanden auf der Schwelle einer Zeitwende, das Antlig einer neuen 
glänzenden Entwidelungsphafe der Tonkunſt und des deutſchen Geifteslebens zuge- 
wandt, einer neuen Kun ne welche Mozart mit heraufzuführen berufen war. Man 
fann fie bezeichnen als das Goethe: Mozartiche Zeitalter der neuen Klaſſizität. 

Nicht weniger auffällig als Mozarts abfonderlicher Lebensgang mit feinen hoch— 
geftedten Zielen ftrebte auch feine perfönliche Eigenart mit ihren oft genug ungewöhn- 
lichen Aeußerungsweiſen weit über den Rahmen des allgemeinen Menjchenwejens, ja 
ſelbſt des Begreiflichen hinaus. 

Unter jeinen jehr frühzeitig geweckten jelbjtbewußten Lebensregungen hob fich ein 
in hohem Grade entwideltes, äußerst reizbares Liebesgefühl und Liebesbedürfnis 
hervor. Dasſelbe erftarfte mehr und mehr zu dem tetentfichften Charakterzuge in des 
Meifterd Naturell und nahm oft Üüberrafchende Ausdrudsformen an. 

Beitleben® umfaßte er mit feiner reichen Liebe nicht nur alle Menjchen ohne An- 
jehn der Perſon und ihrer Würdigfeit, jondern er lichte auch aufs Zärtlichſte Die 
Natur, Blumen und Tiere. Bis furze Zeit vor feinem legten Augenblid trillerte in 
feinem Arbeit3zimmer ein Slanarienvogel, während der Meifter um die Wette mit feinem 
Liebling unjterbliche Weifen fang. Aber fein irdiſches Weſen beſchenkte Mozart fchon 
in der Kinderzeit mit einem jo reichen Maß jeiner herzlichen Liebe als feinen Water. 
„Nächſt Gott kommt gleich der Papa,“ fagte er als Knabe, fagte er auch noch ala 
gereifter Dann, bis der Tod an das Lager des Vaters trat, um das Liebesband für 
die Zeitlichfeit zu löfen. — Immer wieder entzüct den Beſchauer das liebliche Bild: 
„Woferl* im Nachtfittelchen auf dem Tifche; vor ihm der Vater, der ihm fein ee 
erdachtes Schlafliedchen fefundieren muß; auch die Worte Hat das Knäblein jelbit 
erjonnen: oragna figa taxa — jo etwa beginnen fie; einen Sinn verbergen fie nicht, 
aber jie lauten wie italienische Worte und lafjen ſich ſchön und leicht fingen. Wenn 
diefer zweiftimmige Nachtgefang verftummt, erhält der Bapa ein „Buſſerl“ aufs „Nafen- 
ſpitzerl“ und muß nach diefer Zeremonie das jelige Kindlein ing Bettchen legen — 
wo gewiß jchon ein unfichtbarer Wächter bereit fteht, den Schlummer zu behüten. 

Welches Kind, das jeinen Vater liebt, fommt auf den jeltfamen Einfall, ihn in 
einer Glaskapſel ftets bei fich führen zu wollen und ihn fo auch gegen Erkältung und 
andere Zwijchenfälle zu jchügen! Woferl jann ernjtlic) darüber nach, wie dieſer Ge- 
danfe jeiner Kindesliebe praftiich durchgeführt werden möchte. Sein kleines warmes 
Herz zitterte und zagte in der Sorge, daß die Leute ihn etwa nicht lieben möchten. Er 
fragte jeden, der ihm nahe fam, ob er ihn auch wirklich lieb hätte Antwortete nun 
einer einmal zur Prüfung oder zum Scherz verneinend, jo brad) der Knabe in heiße 
Thränen aus. 

Mozarts Herz glich einem weichen, warmen Erdreich, dem auch der befruchtende 
Tau nicht mangelte. Aus ſolchem Boden lodte darum die Sonne feines reinen Kunft- 
ideales Blüte auf Blüte hervor — eine faum fahlich reiche Flora der mannigfaltigften 
Tonwerke; und auch im kleinſten und unjcheinbarften derjelben vernimmt man den Puls- 
En liebevoller Herzenswärme. Der Mufifer nennt ſolche Ausftrahlungen der Mozart- 
ſchen Tonjeele wohl „geniale Züge“, oder er jagt mit Bewunderung: „ihm fällt immer 
etwas ein“, will jagen etwas Bejonderes, etwas überrafchend Schönes. Aber es ift in 


714 Das Wunderbare in Mozarts künſtleriſcher Sendung. . 


der That nur der Hauch des Liebesodems, der ihm in der unerwarteten Ausdrudsforn 
des Meifters jo beivundernswert entgegenweht. Und nun bedenfe man, daß die Summe 
des von Ludwig vom Köchel verzeichneten mufifalifchen Nachlafjes Mozarts aller Art 
die erftaunlich hohe Zahl von 626 Werfen erreicht, ungerechnet eine jehr beträchtliche 
Anzahl mit Ziffern nicht verjehener, vollendeter und unvollendeter Tonjchöpfungen ; 
und das alles geichaffen von einem Meifter, dem faum 36 Jahre Raum für folche 
Ichöpferijche Lebensarbeit vergönnt war! 

Sp muhte er denn frühzeitig damit beginnen. Und das hat Mozart wahrlich ge- 
than. Aus jeinem vierten und fünften Lebensjahre find fieben Klavierftücde vorhanden, 
welche der Vater und muſikaliſche ng mit Angabe der Entitehungszeit reinlich 
abgefchrieben haben. Schon in diejen Eindlichen Lebensäugerungen des Genius erkennt 
man eine Eigenjchaft jeines Wejens, welche ſich mit feiner flüjfigen Liebesfülle har— 
moniſch durchdringt und dadurch jeder Ausschreitung über die Grenzlinien des jchönen 
Haren Maßes vorbeugt. Dieje Eigenfchaft ift fein angeborener vollendeter Formſinn, 
die Blüte einer natürlichen Wohlordnung feines geiftigen Organismus — eine Seite 
der Schöpferkraft, die gar viel andere ebenbürtige Großmeiſter des Kunſtſchönen nur 
durch die geistige Zucht langanhaltender mühſamer Formſtudien, manche aber auch ſelbſt 
dadurch nicht in gleich hohem Grade fich anzueignen vermochten. In Mozarts Kind— 
heit, wo alles Neue jeinen regjamen Geijt zum Feuereifer entzündete, bis es jein Eigen- 
tum geworden, erwarb namentlich das Zahlenſyſtem feine lebhafte Gunſt. Fußböden, 
Schränke, Tijchplatten — alles tafelförmige Holzwerf des Zimmers bemalte Woferls 
unbarmberzige Kreide mit zolllangen Zahlen zum Entjegen feiner, Ordnung und Sauber- 
feit liebenden Mutter. Aber der Geiſt der Ordnung, der in der Zahl lebt, lebte eben 
auch in dem Stleinen, und jolche Antriebe wirkten jtärfer in ihm, als die billige Rück— 
ſicht auf die Politur der Zimmergeräte. 

Ausgerüftet mit ſolchem Formſinn, eilte er feinem väterlichen Lehrer zu deſſen Er- 
ftaunen oft dergeftalt voraus, daß ein theoretiſcher Grundſatz oder eine Negel der 
Tonlehre nur angedeutet zu werden brauchte, weil der Knabe fofort begriff, um was 
e3 fich handelte. Sein Tungenius lag eben wie in leichtem Schlummer, und es bedurfte 
oft nur eines halben Wortes, um ihn zur Karen Erkenntnis zu erweden. Dazu erfcheint 
— wie gejagt — fein Wejen als harmonische Durhdringung der Liebe, welche die 
Dinge flüffig macht, mit dem Ordnungsſinn, der fie in überfichtliche jejte Formen 
u jchränfen jtrebt. Im der VBerföhnung diefer beiden Seiten eines anjcheinend unlös- 

aren Widerjpruches ift wohl die wejentlichjte Borausfegung und Erklärung des Wunder: 
baren vornehmlich zu juchen, das in Mozart3 Genius und in feiner Bethätigung wie 
ein Umnbegreifliches, aus den Grenzen natürlicher Möglichkeit Heraustretendes wirft. 
Die angeborene Liebe erklärt den Drang feiner raftlofen Selbftentäußerung, die ſtets 
tönende Ausdrudsformen annahm; und fein Harer Ordnungsfinn, das muſikaliſche Wiſſen 
des Wiſſens, ermutigte ihn, jchon ein großes Klavierfonzert mit Orchefter zu ſchreiben, 
als er die ‚Feder faum erjt zu führen gelernt hatte — ein jo wohlgegliedertes, ver- 
ftändig durchgeführtes Tonerzeugnis, daß es dem erjtaunten Vater Freudenthränen der 
Bewunderung auspreßte. 

Jener wunderfame, von Liebe durchläuterte Ordnungsfinn mag wohl auch Mozarts 
unvergleichliches Gedächtnis, ja vielleicht fogar fein erftaunlich feinfühliges und 
raſches Ohr erflären helfen. Wie er das Tonwejen an fich liebte, es in allen feinen 
Gliederungen flar durchjchauend, jo hielt er aud) Tonwerfe treu im Gedächtnis feft. 
Und die natürlichen Klangverhältnifje des Tonſyſtems lagen jo körperlich faßbar in 
feinem geordneten Geifte, daß er fie mit ihren feinften Schwingungsunterjchieden jeder: 
zeit unmittelbar erfannte und lebendig im jich wiedertönen hörte Er unterjchied jchon 
in feinem fiebenten Lebensjahre mit unfehlbarer Sicherheit, daß eine gewille Violine, 
die er nicht zur Hand und ſeit mehreren Tagen auch nicht gehört hatte, um einen 
halben Viertelton tiefer geftimmt gewejen fei, als feine eigene Geige, die der Kleine 


Das Wunderbare in Mozarts künjtleriiher Sendung. 715 


eben jpielte. Das herbeigeholte Inftrument, welches inzwijchen die Stimmung nicht 
verändert hatte, beftätigte zur namenlojen Ueberrajchung ihres Beſitzers, wie nicht minder 
auch des Vaters das Urteil diejes unglaublich treuen und feinen Gehörs eines fieben- 
jährigen Knaben. 

Sieben Jahre jpäter befand fich der vierzehnjährige Künstler mit feinem Vater am 
Diittwoch der Karwoche in der St. Petersfathedrale zu Rom. Unter den berühmten 
Tonwerfen altitalienischer Meifter, welche vom päpftlichen Sängerchor bei jenem feier: 
lichen Gottesdienst noch jett regelmäßig gejungen werden, befand jich ein apa a 
Miferere von Allegri, ein ſehr ausgedehntes Stüd für neun Stimmen, die jih am Schluß 
zu vielgliedrigem Gewebe vereinigen. Die lateinifchen Textworte jind oft in jeder 
Stimme verjchieden untergelegt. Dieje Tonſchöpfung gehörte vormals zu denen, welche 
feit Alter3 her von den Päpften und Kardinälen als unveräußerliches Eigentum der 
Sigtinijchen Kapelle aufs eiferfüchtigite vor Verbreitung gehütet, ja jogar mit jchweren 
Kirchenſtrafen umjchanzt waren. Aber nichts defto weniger war Vater Mozart jo lüftern 
nach der Aneignung des ihm und feinem Sohne vollftändig unbekannten Mijerere, daß 
Wolfgang beichloß, feinem Vater den Befit zu verjchaffen. Zwar waren die Reijenden 
erjt gegen Mittag von Florenz nad) Rom gefommen. Die lange Neije und Gewitter: 
ſchwuͤle hatten fie ermüdet. Gleihwohl genügte das einmalige Anhören des ſchwierig 
aufzufafienden Werkes dem reifemüden Bolfgann, um dasjelbe jpäter in jeiner Wohnung 
Ton für Ton, Wort für Wort frei aus der Erinnerung fo korrekt zu Bapier zu bringen, 
daß ein päpftlicher Sänger, der beim Vortrag mitgewirkt, die Genauigfeit der Wieder- 
gabe nachher bejtätigte umd daß der Papſt Ganganelli, anftatt den frommen Diebftahl 
mit Kirchenbuße zu ahnden, dem wunderbaren Künglinge den hohen Orden vom Gol- 
denen Sporn verlieh, mit dejjen Befig der Adel und die Würden eines päpjtlichen 
Kammerherrn und römischen PBfalzgrafen verbunden waren. 

Solche Beifpiele innerlicher Aneignung nur ein einzige® Mal gehörter fremder 
Ionwerfe können dienen, Mozarts rein innerliche Art des Schaffens eigener mufifa- 
liſcher Geifteserzeugnifje verjtändlich zu machen. Entwurf und Ausführung eines Ton- 
werfes jeglicher Formgattung entitand lediglich auf dem Wege abgezogener Denkarbeit. 
Aeußerlicher Hilfsmittel, des Klavierd und Schreibmaterial3, bedurfte Mozart bei feinem 
Kunftichaffen nicht. Er vollendete die Arbeit bis ins einzelne in der Werfftätte feiner 
jchöpferischen Innerlichfeit; und wenn er fertig war, trug er das neue Werk, von dem 
oft noch feine einzige Note auf dem Papier ftand, mit Angabe des Tages in jein Werf- 
verzeichnis ein. Dasjelbe hat er leider erſt 1784 angelegt, dann aber bis wenige Tage 
vor jeinem Tode treu weitergeführt. 

So war fein Gedächtnis wie ein Magazin, in welchem die von ihm vollendeten 
Erzeugnijje feines Genius jahrelang unverflungen aufgefpeichert liegen konnten. Ohne 
äußere Nötigung entſchloß er ſich deshalb auch ungern zu dem mechanischen Gejchäft 
des Niederjchreibens feiner jo entitandenen Werfe. Dasjelbe glich dann aber äußerlichem 
Kopieren nad) einer Vorlage. Darum nahmen feine Manuffripte die bewundernswerte 
Form reinlicher, mit zierlichen Charakteren angefertigter Abjchriften an; darum ftörte 
ihn auch bei der erjten Niederjchrift eines neuen Werkes weder muntere Unterhaltung, 
noch Kinderlärm und Straßengetöje, noch ſelbſt Muſik in feiner nächiten Nähe. Zu 
Mailand wohnte Mozart eine Zeitlang in einer Umgebung der verjchiedenften Muſiker: 
über ihm und unter ihm fleiige Geiger, neben ihm ein umnterrichtender Singmeijter, 
gegenüber ein Oboebläſer. „Das ift luftig zum Komponieren!* — jchrieb er an feine 
Schweiter — „gibt einem viel Gedanken.“ Er follte inmitten diefes muſikaliſchen Chaos 
ein jehr verantwortliches Werk, eine Oper für Mailand fchaffen. Wo ift ein zweiter 
Muſiker, der unter gleichen Umftänden nicht in Verzweiflung geraten würde? — Der 
fünfzehnjährige Mozart froblodte darüber: „Das ift luftig und gibt viel Gedanfen beim 
Komponieren!“ 

In einem der legten Monate jeines Lebens befand der Meifter fich zu Prag. Er 


716 Das Wunderbare in Mozarts künftleriiher Sendung. 


hatte den ehrenvollen Auftrag der böhmijchen Landjtände angenommen, für die bevor- 
jtehende Königsfrönung des Kaifers Leopold II. und feiner Gemahlin die Feſtoper 
„Titus“ zu ſchaffen. Dazu waren ihm nur 18 bis 20 Tage Zeit vergönnt. Und als 
er den auszeichnenden Auf in Wien erhielt, arbeitete er gleichzeitig jchon an zwei an- 
deren großen Werfen; das eine war die „Zauberflöte“, daS andere fein Requiem. 
Während der fnapp bemejjenen Zeit, binnen deren die Feſtoper Titus in Prag geichaffen, 
ausgejchrieben, einjtudiert und aufgeführt werden jollte, pflegte der liebebedürftige Meiſter 
noch gern den gejelligen Verkehr mit feinen Prager Kunjtgenofjen und Freunden. Eines 
Tages bemerkten dieje, daß Mozart beim Billardfpiel mitunter einen Blick in eine fleine 
Schrift warf, welche er aus feiner Tajche z0g. Cie glaubten, er finne nach über die 
Mufif zum Titusbuch. Sie hatten ſich gänzlich geirrt. Denn nach beendeter Partie 
jeßte fi) Mozart an das Klavier und jpielte und fang das herrliche Quintett aus dem 
eriten Aufzug der Zauberflöte, welches während des Billardjpiel3 entworfen und voll- 
endet worden war. — Zugleich aber jchuf er auch rechtzeitig die Feſtoper Titus. 

Eine Menge ähnlicher Beilpiele bezeugen die jpontane Kraft feines jchöpferischen 
Geiftes und die ordnende Klarheit, welche die verjchiedenartigjten Kunftichöpfungen 
im Gedächtnis unvermengt neben einander jchaffen und aufbewahren fonnte. Um 6 
vor Diebſtahl zu ſchützen, ſchrieb der Meiſter Klavier-Konzerte, die er in ſeinen eigenen 
„Akademien“ ſelbſt ſpielen wollte, zunächſt nur für die im Orcheſter mitwirkenden 
Stimmen auf. Seine Klavierpartie ſpielte er gewöhnlich von einem nur mit Takt— 
ftrichen bejchriebenen Notenblatt. Die Taftjtrihe waren nad) Bedarf auseinander- 
gerüdt, jo daß die einzelnen Tafträume genau ausreichten, wenn jpäter die Noten ein: 
getragen wurden. Mit einer Violinjpielerin trug Mozart in deren Konzert eine neue 
Sonate für Klavier und Violine vor, von welcher er erft an dem Tage, der dem Kon— 
zert vorherging, die Noten, aber nichts weiter als die Violinftimme auf eichrieben hatte. 
Dazu fand fie fogar nicht einmal die Muße, die neue Sonate, Be auch Mozart 
nie gehört hatte, vorher zu probieren. So jpielte der Meifter feine Klavierpartie von 
einem leeren Notenblatt, und die geängfiete Sonzertgeberin — fie hie Regina Strina- 
acht — führte ihre notdürftig einjtudierte Violinſtimme zum erjtenmal öffentlich) aus 
vor dem verwöhnten und Fritiichen Auditorium Wiens. Man ift jegt daran gewöhnt, 
Konzertjpieler eigene und fremde Werfe ohne Notbehelf des Notenblattes öffentlic) 
wiedergeben zu jehen. Sie haben freilich zumeift viel Mühe und Zeit darauf ver- 
wenden müſſen, die Sicherheit des „Auswendigfpielens“ zu erarbeiten. Solche Schwierig- 
feiten ftanden Mozart nicht im Wege; dennoc) legte er jtet3 irgend ein Blatt oder 
Heft auf, wenn er, wie gewohnt, auswendig reproduzierte, was er rein innerlich ge- 
ichaffen hatte. Mozart mußte c3 als beichämende Entwürdigung des reinen Kunſtſchönen 
empfinden, wenn die Eitelkeit und Bemwunderungsjucht Nahrung aus feinen Leiftungen 
gejogen hätte. Er verabjchente jchon als Knabe Lobeserhebungen jo jehr, daß fie, wie 
Kränkungen, ihm Thränen entlodten. Noch weit mehr hate er ein unlauteres Streben 
virtuojer Fachgenoſſen, die heilige Kunft zum Mittel eitler Menfchenvergötterung zu 
mißbrauchen und die Bewunderungsjucht dadurch) zu nähren und herauszufordern. — Das 
waren num Beweggründe, welche Mozart beftimmten, ein Notenblatt aufzulegen, wenn 
er feine, aus höherer Kraft empfangenen mufifalifchen Offenbarungen öffentlich ver- 
förperte. Er verjchmähte den Beifall und die Bewunderung nicht etwa aus prahlerifcher 
Beicheidenheit, jondern aus künſtleriſchem Zartfinn — ja man möchte jagen aus Scham- 
gefühl. Seine Elare Kunſtanſchauung jträubte fic) dagegen, daß einem menschlichen 
Dolmeticher der reinen Form des Ewigjchönen Bewunderung und Ehre gezollt werde, 
welche dem Geber aller guten und vollfommenen Gaben allein gebühre Solche Ge- 
finnung teilte Mozart übrigens mit allen edelen Meiftern deutjcher Tonfunft. Seb. 
Bach jehte ji wohl nie an feine Orgel, ohne im Gebet fich gefammelt zu haben; am 
feiner Werfe fchrieb er in der Regel die drei Initialen der Worte: Soli Deo 

loria. 


Das Wunderbare in Mozarts künftlerifcher Sendung. 717 


Bon gleicher Denkart ließ auch Mozart jich leiten. Er pflegte fie mit feinen zu— 
nehmenden Einfichten und Erfahrungen als teueres Vermächtnis feines Vaters, den er 
fo innig geliebt Hatte, dem er in feinem Herzen den Pla „jogleich nächjt Gott“ ein- 
räumte. Gin jo geartetes Rüftzeug für die Offenbarung ſeines heiligen Gnadenwilleng, 
wie diefen Mozart, bedurfte aber eben der weile Lenker der Menjchenherzen zur Durch: 
führung jeiner Abfichten. Und diefe erhellen auch aufs Wunderbarjte aus Mozarts 
—— Doppelnatur, wie aus der ihm ſelbſt unbemerkt gebliebenen Logik ſeines 
künſtleriſchen Ausreifens. 

Wenn der junge Knabe muſizierte, verbreitete er ſchon ſo feierlichen Ernſt um ſich, 
daß jeder in ſeiner Nähe die Stimme dämpfte, leiſe auftrat und ſich hütete, ihn zu 
ſtören. Doch hatte der Kleine ſich von feinem Inſtrumente losgelöſt, jo tollte er im 
Zimmer umher, wie der mutwilligite Junge, al3 hätte er völlig vergefjen, daß er vor 
wenigen Augenbliden noch im Reiche jeiner ernjten Kunft geweilt. Solcher wunder: 
liche Widerfpruch verliert fi) aus Mozarts Doppelwejen erjt in feinen legten Lebens- 
tagen. Seine fleine Erjcheinung und feine tändelnde Freude an allerlei neckiſchen, kin— 
bifchen Beluftigungen und Scherzen, die jogar nicht immer gejchmadvoll genannt werden 
fonnten, verrieten feine Spur von dem edelen vornehmen Geift, der in dem unjcheinbaren 
Tempel dieſer gutgearteten, aber anfcheinend unbedeutenden Perſönlichkeit Wohnung 
enommen hatte und, völlig wie losgetrennt von derjelben, ſich in freier Unabhängig- 
eit jo herrlich beihätigte. Hier wirkte als Handgreifliche Thatjache das Gotteswort: 
Meine Kraft ift in dem Schwachen mächtig. Die göttliche Kraft bildete Mozarts Per— 
jönlichfeit zur Form jener Doppelnatur aus. Ihre beiden Seiten jtanden zwar nicht 
in feindlichem Gegenjat, lebten jedoch unvermittelt nebeneinander. Mozart, der Menſch, 
war ein völlig anderer, als Mozart, der Tonmeijter. Nach Ausſage jeiner Gattin 
Konftanze blieb er zeitlebens ein unmündiges Kind. Nach Ausweis aller jeiner muſi— 
kaliſchen Lebensäußerungen dagegen war der in ihm lebendig waltende Kunjtgenius 
bereit in jehr früher Jugend zu feinem abgeflärten reifen Mannesalter entfaltet. 
Menfchlicher Verſtand jucht erfolglos diefe Thatjache zu erklären; begreifen läßt fie fich 
auch nicht: und deshalb erjcheint fie eben als göttliches Wunder. 

So weit allerdings war auch diefer Genius an den Einfluß der Leiblichkeit und 
Wandelbarfeit alles Zeitlichen gebunden, als er die höchſten Ziele feiner künſtleriſchen 
Sendung nur nacheinander, nur nad) Maßgabe der vorwärtstreibenden Schritte eines 
jtufenweifen Entwidelungsganges zu erflimmen vermochte. Indeſſen auch Hier vollzieht 
ſich der Fortjchritt wie von weiſem a geordnet, äußerlich anjcheinend zufällig, aber 
dennoch mit einer inneren Notwendigkeit im Zufammenhange aller Glieder dieſer Lebens— 
fette, die fich gleich einer logischen Gedankenfolge feit aneinanderjchlieken. Das lette 
Glied jener an die Himmelspforte gejchloffenen Kette ift das Nequiem, das heilige Be- 
fenntnis in Tönen, daß „der Tod der Endzwed des Lebens, der Schlüſſel zur ewigen 
Stlüdjeligfeit jei“ — eine Anjchauung, zu welcher Mozart, jchon mehrere Jahre vor 
jeiner Heimberufung, aus eigener Ueberzeugung hindurchgedrungen war. Die Gejchichte 
jeines, durch äußere Umſtände beftimmten, ihm ſelbſt unbewußt vollzogenen, ftufenweifen 
Aufjteigens bis zu jener Klarheit fittlicher Erkenntnis umfaßt die legten zehn Jahre 
jeines Lebens, die bedentendjten zugleich für feine Kunſtſchaffen. Das auch für die 
Geſchichte deuticher und univerjeller Tonkunſt hochbedeutiame Jahrzehnt beginnt 1781 
mit Mozart> Schöpfung der ernten Oper Idomeneo. Er eröffnete mit dieſem herr- 
lichen Werfe jeinen Kampf gegen die Alleinherrichaft der Italiener, denen er mit that- 
fräftigem Entſchluß fein vaterländifches Bewußtjein als deutjcher Tonmeifter entgegen- 
jegte. Im folgenden Jahre, 1782, bemerfenswert wegen feiner Vermählung mit Kon- 
ſtanze von Weber, die er ihrer eigenfinnigen Mutter mit Lift entreißen mußte, ver- 
ewigte er diejes Ereignis durch jeine „Entführung aus dem Serail“ — eine Oper mit 
deutfchem Text, in welcher der Meifter jedoch noch nicht vollends frei geworden war 
von perjönlichen und anderen Ääußerlichen Motiven feiner jchöpferiichen Bethätigung, 


718 Das Wunderbare in Mozarts fünftleriicher Sendung. 


wie 3. B. der türkische Lofalton und die Zugeftändnijje an die „geläufige Gurgel“ der 
Daritellerin jeiner weiblichen Hauptrolle, der Konftanze, folche ihm nahelegten. Im 
Sahre 1786 entitand Figaros Hochzeit; dann 1787 Don Giovanni. Die Mufif zum 
Figaro ijt von allen Condermotiven bereits völlig frei. Sie ftellt ſich dar als ein 
verflärtes mufifalifches Sittengemälde aus jener Zeit, das durch die reine jchöne Form 
des ins Unendliche jchwebenden Tons fich erweitert zu einem Spiegel des fozialen 
Kulturlebens aller Zeiten einer auf fich ſelbſt gejtellten, im leichtfinnigen Lebensgenuß 
jtedengebliebenen Zivilifation. Die Titelrolle in Don Giovanni erjcheint als konzen— 
trierte Zufpigung des Geiftes jener Zeit, wie auch der felbgenugfamen Menfchennatur 
aller Zeiten. Eitler Mannestroß, ſtets rege Begierde, rückſichtsloſe Verfolgung der 
allerperjönlichiten Zwede, denen Leib und Seele anderer lachend aufgeopfert werden: 
das find Eigenjchaften des ungebrochenen natürlichen Menjchenwillens, die in dem 
Charakter des Don Giovanni mit furchtbarer Anfchaulichkeit in das Licht der Wirflich- 
lichkeit gejtellt worden jind. Mozart hatte felbjt wie ein glüdliches Kind bisher arglos 
im vollen Strom fröhlichen Lebensgenuffes geſchwommen. In feinem fteinernen Gaſte 
um, der von dem Reiche der Toten heraufgelandt, fich mit dem dröhnenden Ruf der 
Weltgerichtspoſaune als Vollſtrecker der umerbittlichen ewigen Gerechtigkeit ankündigt, 
trat dem Urheber des gewaltigen Kunſtwerkes die Erkenntnis feiner jelbit und der Zer— 
brechlichkeit übermütigen menjchlichen Stolzes, unbeugjamen hartnädigen Trogens auf 
eigene Kraft niederjchmetternd entgegen. Don Giovanni bezeichnet den wejentlichiten 
Wendepunft der Kunſt- und Lebensanfhauung Mozarts in den lebten zehn Jahren 
feines muſikaliſchen Schaffens. Einen weiteren Schritt auf der EStufenleiter fittlich- 
künſtleriſcher Vollendung that der Meifter (1791) in feiner deutfchen Oper „Die Zauber— 
flöte“. Dieſes univerjelle Werk ift eine künftleriiche Symbolik der göttlichen Heilsord- 
nung in der Verförperung eines Lebensganges durch Nacht zum Licht. Tamino ſtellt 
ji) dar als diametralifcher Gegenjat zu Don Giovanni. Tamino gelangt zu der Er- 
fenntnis, daß der Weg zur Glüdjeligkeit im verklärten Licht nur durch das gehorfame 
Ertragen und Bejtehen leidensvoller Prüfungen hinanführe; er beugt aus freier Ueber— 
zeugung jeinen eigenen Willen der höheren Weisheit, welche feine Schritte leitet, und 
elangt am Ende feiner Prüfungstage durch das Wafjer der Trübfal und durd) das 
* der Anfechtung endlich zum erſehnten Ziel. Ihn bereiten zwei geharniſchte ſtreit— 
are Wächter auf die ſchwerſten Prüfungen vor. Sie fingen die Weiſe des evangeli- 
ſchen Chorals „Ad Gott vom Himmel fieh darein“ in einer Satzform Bachfchen Kirchen: 
ſtils. Wie deutlicd) war es dem Meifter der Töne doch endlich geworden, daß er be- 
rufen jei, „die Menjchenfinder, bei denen der Glaube gar erlojchen war“, zur Befinnung 
auf jich jelbjt und auf das Ende aller Dinge aus dem Schlafe zu erweden! 

Mozart jelbjt war längſt daraus erwacht. Und er erflomm die lette Staffel jeiner 
menjchlich-künftleriichen Entwidelung in feiner mufifalischen bußfertigen Beichte, zugleich 
jeinem gläubigen Befenntnis, dem Requiem, mit dem er auch das letzte Ziel feines 
Erdenwallens erreichte. 

Nach jeinem am 5. Dezember 1791 eingetretenen Tode erfolgte ſogleich am Tage 
darauf feine Bejtattung in der Form dritter Ordnung. Für einen würdigeren Leichen: 
fonduft gebrach e3 an Mitteln. Der befanntefte und reichſte Meifter wurde in einem 
Mafjengrabe der ftille Gefelle einer Anzahl unbekannter armer Genofjen. Man hat 
jpäter jeine Nuheftätte zu entdeden vergeblich gejucht. Die Nahforichungen find noch 
in den jüngjten Tagen wieder aufgenommen. Die Wiſſenſchaft hat die morſchen Schädel 
Joſef Haydns, Beethovens und Franz Schubert3 aus den Stätten des Friedens ge- 
rifjen, um durch Unterfuchung der Knochenbildung zu einer natürlichen Erklärung des 
Wunderbaren zu gelangen, das die fchöpferische Bethätigung auch jener drei berufenen 
Geifter offenbart. Auch Mozarts Schädel hat man emjig, ja wohl am emfigjten auf- 
zujpüren getrachtet. Glücklicherweiſe aber hat man bis jeßt feinen Anhalt für die Hoff: 
nung entdeden können, ihn aufzufinden. Mozart ift gleich nach jeinem Tode der Erde 


Das Wunderbare in Mozarts künſtleriſcher Sendung. 719 


jpurlos entrüdt worden. Und auch dieje Thatjache bezeugt das Wunderbare feiner 
Sendung. Er, der jelbjt faum eine Ahnung hatte von dem logijchen Fortſchreiten jeiner 
Lebensführung, ſtieg Stufe für Stufe die Höhe hinan, die ihn endlich emporhob bis 
zur Himmelspforte. Sie leuchtete ihm entgegen jchon auf dem Sterbelager und nahm 
ihn, den Herold des Schönen, Wahren und Klaren ein, nachdem er den Zwed jeiner 
Sendung erfüllt, nachdem jein Genius ſich am höchiten Ziel ausgelebt hatte in der 
Schöpfung jeines erhabenen, begeijterten und gläubigen Bekenntniſſes, des Requiem. 

Wie ein göttlich) Wunder jteht wahrlich diejer unſterbliche Tonmeiſter allerzeit vor 
den Augen der Menjchen da, auch ein Prophet in der Reihe der Propheten, die auf 
den ewigen Heilsplan hinweiſen, nach welchem Gott das Licht in die — hinein⸗ 
ſcheinen läſſet, um dem ſchwankenden Wandel der Menſchheit den Weg zu erleuchten, 
der durch Waſſer- und Feuerproben zur Glückſeligkeit der Geprüften und Geweihten 
hinanführt. 

So ragt Mozarts Bedeutung hoch empor über die Grenzlinie ſeines reinmuſikali— 
jchen Schaffens, defjen reiche Blüten übrigens die Menschheit nun ſchon ein Jahrhundert 
lang erfreuen, allen fräftigen Irrtümern einer modernen Kunſtanſchauung zum Troß, 
welche ihnen den Untergang zu bereiten wähnte. Wie eine Sonne überjtrahlt Mozart 
mit der Klarheit jeines himmlischen Gejanges all das jchrwüle Gewölf nach wie vor 
und er verdient Die Liebe feines Volkes um jo mehr, al3 er gejendet war, die Herzen 
mit Dank und Preis gegen den zu erwärmen, der ihn zu einem bejonderen Dienft 
an jeinem Neiche auf Erden berufen hatte. 





Per Ad'm.9 


Rovelle 


von 


Ndolf Shmittbenner. 


Er ift ein ftruppiger Burjche gewejen, fünfzehn und ein halbes Jahr alt. Aus 
der Strafanjtalt für jugendliche Verbrecher hatte er einen Furzgejchorenen Schopf und 
die Redensarten „jawohl* und „nee* mitgebracht. „Jawohl“ hatte er von einem Auf: 
jeher gelernt, „nee“ von einem Kollegen aus Magdeburg, der neben ihm im Gefängnis- 
hofe Holz zu jpalten pflegte. 

Einmal war er während der Zeit jeiner Haft zu Hauje gewejen, als jeine Mutter 
begraben wurde. Sie war im Spital gejtorben, wohin man jie aus der ihr zuge- 
wiejenen Wohnung, einem alten Türmchen der Stadtmauer mit Schiekjcharten ſtatt 
der Fenſter, fünf Tage vor ihrem Tode gebracht hatte. In Ermangelung einer Kranken— 
bahre wurde fie auf einem jener Handfarren transportiert, auf dem in den größeren 
Städten die Kälber vom Schlachthauſe zu den Fleiſchern geführt werden, nur mit dem 
Unterjchiede, daß die Kälber ganz mit einem Tuche bededt find, während die * 
Kopf und Beine hinausſtreckte und darum von einer ſchweigenden Kinderſchar geleitet 
wurde. 

Als der junge Sträfling, von einem Gendarmen geführt, am Grabe ſeiner Mutter 
ſtand, war er der Zielpunkt aller Augen. Er vergoß keine Thräne. Nicht als ob er 
des Fluches gedacht hätte, den ihm ſeine Mutter bei der Verhaftung nachgerufen, weil 
er ſich über dem letzten Diebſtahl hatte erwiſchen laſſen; ſondern er pflegte überhaupt 
nur zu weinen, wenn er Schläge bekam. Andere Schmerzen als die des Hungers und 
körperlicher Mißhandlung kannte er nicht. 

An der Mutter Grab ſah er auch ſeine jüngeren Geſchwiſter zum erſtenmal wieder, 
zwei Mädchen, die bei einem Tagelöhner untergebracht waren. Das erſte, was er bei 
* Anblick empfand, war eine Art von Neid; denn er ſah ſie in neuen ſauberen 

leidchen, die ihnen von der Gemeinde angeſchafft worden waren. Von der Beerdigungs— 
rede, die der Geiſtliche hauptſächlich auf ihn gemünzt hatte, vernahm er nichts. 

Auf dem Rückwege vom Kirchhof jprang eines feiner Schweiterlein zu ihm heran 
und jagte: „Ad'm, wenn's bei ums Kartoffeljchnig gibt, dürfen wir effen, jo viel wir 
wollen. Kriegſt du auch Kartoffelſchnitz?“ — „Jawohl,“ ermwiderte er, „dreimal in der 


*) Adam. 


Der Ad'm. 721 


Woche!" — Nach jeinem älteren blödfinnigen Bruder, der während jeiner Abweſenheit 
in der Kreispflegeanftalt untergebracht wurde, fragte er nicht. 

Auf der Ruͤckfahrt jah er zuerſt mit innigem Behagen und mit dem Verjtändnis 
eine3 verdorbenen Gemütes zu, wie in der benachbarten Abteilung zwei Soldaten mit 
einem Mädchen jchäferten. Als ihm der Gendarm befohlen hatte, ſich auf die andere 
Bank zu jegen, damit er der Szene den Rüden drehe, mujterte er, was oben auf dem 
Gepädbrette lag, und fann darüber nach, was er von dieſen Dingen alles gebrauchen 
fönne. Dann bligte e3 einmal aus feinen grünlich braunen Augen; es mußte ihm 
irgend ein bübijcher Gedanke durch den Kopf gezuckt jein. Dann jah er gleichgültig 
und jchläfrig vor fich nieder, und während die Nacht fam, jchlief er ein. Es träumte 
ihm, er ziehe jeinen jüngeren Gejchwiitern die neuen SMlleider aus, die Mutter komme 
fluchend auf ihn log, um ihn zu fchlagen, er raufe mit ihr um den Stod; da jehe er 
das Mädchen von drüben HR er auf, zur zus hinaus und ihr nad. Dann 
träumte ihm wieder, er fie in feiner Zelle und fchlage die Bibel auf, um die Gejchichte 
von der fchönen Sufanna zu leſen; und wie er fie aufgejchlagen, da ſei es der große 
Neifekoffer, der ihm gegenüber auf dem Gepädbrett lag. Die eine Hälfte jei bis oben 
voll gligriger Goldftüde. Eben wollte er mit zitternden Händen die andere aufjchnallen, 
als ihn der Gendarm aus dem Schlafe rüttelte. 

In feiner Zelle fand er auf dem Tifch ein aufgejchlagenes Buch. Es gehörte zum 
Inventar. „Der Pfarrer war da,“ jagte er; dann jah er hinein und las die Ueber: 
chrift: Troft beim Verlufte teurer Angehöriger. „Nee,“ lächelte er, und legte das 

uch beijeite. 

Seitdem hat er niemal3 mehr an feine Mutter gedacht oder des nachts von ihr 
geträumt. 


* * 
* 


Fünf Wochen ſpäter, — es ging ſchon ſtark auf Weihnachten, — wurde er aus 
der Haft entlaſſen. Die Sorge, was nun zu beginnen ſei, beunruhigte ihn keinen 
Augenblick. Vor der Wannße als Heimat fürchtete er ſich nicht, und als bewährte 
er gegen den Hunger fannte er das Betteln und Stehlen. So jchaute er der 
Zukunft gleichmütig entgegen. Als ihm aber der Gefängnisvorjtand nach einer erniten 
Ermahnung eröffnete, daß der Pflegeverein feines Bezirkes für ihn ein Unterfommen 
bejorgt habe, wo er ein Handwerk lernen könne, da war ihm das auch recht. 

Es hatte Mühe gefoftet, geeignete Leute zu finden, die den verwahrloften Burjchen 
ins Haus aufnehmen wollten. Endlich hatte jich ein Bahnwart angeboten, der in jeder 
Hinſicht als der rechte Mann erjchien. Er wohnte eine halbe Stunde vom Dorfe ent- 
fernt. Sein Häuschen ftand auf einem Hügel, welcher zwijchen der hochgelegenen Land- 
ftraße und der Bahnlinie fich erhob. Nach der eriteren zu ſenkte er ſich jachte, und 
man gelangte dorthin auf einem gewundenen Pfade, der fich zuerſt zwijchen Gärten 
und dann noch etwa hundert Schritte weit zwijchen Fruchtfeldern Hinabzog. Nach dem 
Schienenkörper dagegen, der in der Sohle eines tiefen Einjchnittes lag, — man nur 
auf einer ſchmalen Treppe niederſteigen. 

Der Bahnwart trieb als Nebenbeſchäftigung das Weberhandwerk; das ſollte der 
entlaſſene Sträfling bei ihm erlernen. 

An einem Tage der zweiten Dezemberwoche — es war zum erſtenmal heuer kalt 
geweſen — klopfte es um die Nachleſſenszeit an die verſchloſſene Thüre des Bahn— 
wärterhäuschens. Die junge Frau ſchob den Riegel zurück und rief: „Seid ihr's ſchon, 
Voglerin?“ Dann ſetzte fie leiſe Hinzu: „So hätt's nicht preſſiert.“ — „Nee, der Ad'm 
iſt's,“ rief eine Stimme, und ein ſtämmiger Burſche trat ohne weiteres in die Stube 
herein. „Ich ſoll ja hier bleiben.“ 

„So, du bijt der Adam?“ ſagte jegt der Bahnwart, der auf der Bank hinter dem 
Tisch gefefien, jetzt aber fich jchwerfällig erhoben hatte und mit der Lampe dem Ans 


128 Der Ad’m. 


fünımling ins Geſicht leuchtete. Die Gatten wechjelten einen Blid. Der ne 
jegte die Lampe auf den Tiſch nieder, nahm feinen alten Pla ein und ſah jchwei- 
gend vor ſich Hin. Die blaffe Frau aber jtredte dem Burſchen die Hand entgegen 
und ſagte: „Grüß dich Gott bei ung, Adam! Es iſt falt und finfter draußen. Get 
di zu ihm auf die Bank! Das Eſſen fommt bald!“ 

Während die rau in der Küche nachjah und der Mann immer noch jchweigend 
auf die Tijchplatte jtarrte, jchaute fich der Junge mit frechen und liftigen Augen im 
Bimmer um. 

„Aha, da drinnen jteht der Webſtuhl!“ jagte er und wies mit der Hand im Die 
Kammer, zu der die Thüre offen ftand. Ein gemwöhnliches Auge erblidte nichts in ihr 
als Finfternis. 

„a, Adam, und morgen geht'3 dran.“ 

„Ungeichafft jchmedt's bejjer,“ lachte der Junge mit einem Blick nad) der Thüre, 
die fich gerade aufthat. Die Bahnwartsfrau fam mit dem Efjen herein. 

Schweigend jahen die Dreie beim Mahle. Zuweilen thaten die Eheleute eine 
prüfende Schau nach dem yanz mit Eſſen befchäftigten Burjchen hinüber, und dann fanden 
ſich immer ihre Augen zu vielfagender Ausſprache. In dem Blid des Mannes lag 
Unmut und Bejorgnis, in dem der Frau begütigender Zuſpruch. 

Nach dem Efjen legte fih Adam an die Wand zurüd und fchien zu jchlafen; es 
fam jedoch der jungen rau vor, als ob er zuweilen unter den Lidern hervorblinzle. 
Sie holte ihr Stridzeug, aber jegte fich jo, daß fie dem Lichte und dem Burfchen den 
Rüden drehte. „Du fiehft ” nichts, Xisbeth,“ jagte der Mann. „Ich jehe genug,“ 
erwiderte fie und hob ein beinahe fertiges Kinderſtrümpfchen in die Höhe. Da ver- 
jchwanden alle Schatten von des Mannes Stine, er lachte über das ganze ehrliche 
Geficht. Auch die blafie Frau lächelte zu ihm herüber, dann wurde fie rot und beugte 
ſich über ihre Arbeit. 

Der Bahnwart ging jet hinaus auf jeinen Poſten. Kurze Zeit darauf braufte 
der lette Zug vorbei. Unterdeſſen war die Frau hinauf in den Verſchlag gegangen, 
wo der neue —— ſchlafen ſollte. Das Paar kam zuſammen wieder zur Thüre 
herein. Der Mann rüttelte den Burſchen auf, der feſt eingeſchlafen ſchien. „Geh zu 
Bett, Adam!“ Als der Junge auf den Füßen ſtand, nahm der Bahnwart die Lampe 
und ſagte zu ihm: „Komm!“ Dann jchritt er ihm voraus in die Kammer. Ein kräf— 
tiger Garngeruch erfüllte den Heinen Raum. In ae Strängen hing der ge 
jponnene Hanf von der Dede herab. Der Pflegevater ftellte die Lampe jorgfältig auf 
eine Stelle des Bodens, über der die eifernen Hafen in der Dede fein Garn trugen, 
und holte aus dem Winkel Hinter dem Webjtuhl einen derben hagenbüchenen Stod 
hervor, den er dem verbußgten Burfchen unter die Augen hielt. 

„Wenn du brav bift, haft du’S bei uns gut. Wenn du aber wieder ftiehlit, dann 
hau’ ich dich mit dem da, daß du dran denfen ſollſt!“ 

Dann ftellte er den Stod wieder an feinen Pla und ging mit der Lampe im die 
Stube hinaus. 

Seine Frau war draußen am Fenſter im Dunkeln ftehen geblieben. Jetzt fam fie 
auf den Burfchen zu und fagte mit ihrer janften Stimme: „Sieh, Adam, wir wollen 
dir Vater und Mutter fein und dich lieb Haben mie unfer eigen Kind. Mach's uns 
nicht jchwer! Sei brav! Und wenn dir dein Bett nicht warm genug ift, dann nimm 
die Säde da und leg fie oben drauf!* Damit gab fie ihm ein halbes Dutzend neuer 
Säcke, die fie aus dem von ihrem Mann gewobenen Tuche genäht hatte. 

Der Junge riß feine Augen auf und ſah feine neue Mutter mit dem Ausdrud 
jcheuen Erjtaunens an. Dann lief ein helles Grinjen über fein Gejicht. Es follte 
vielleicht dasfelbe ausdrüden, was bie Kate durch Echnurren fund gibt: die Empfin- 
dung wohlthuender Wärme, und in diefem Augenblide hatte das verwahrlofte Antlik 


Der Ad’ın. 723 


den Zug frühreifer Gemeinheit verloren; e8 war wieder ein Sindergejicht, da man 
fast hübſch nennen konnte. 

Als der Bahnwart, der jeinen Pflegling nach jeinem Verjchlag geführt Hatte, 
wieder zur Thüre hereinfam, fagte er zu feiner rau: „Sch fürchte, wir haben einen 
Hallunfen in unjer a. aufgenommen.“ Lisbeth jeufzte; nach einer Weile jagte fie: 
— arme Bube! Er hat eine ſchlechte Mutter gehabt! Wir wollen gut zu ihm ſein, 

eorg!“ 

Dann gingen ſie mit einander die Treppe hinauf nach dem Schlafgemach. — 


* Ei 
* 


Es war ſeitdem rüſtig in den Winter hineingegangen, und Weihnachten ſtand vor 
der Thüre. Adam hatte ſich das „Nee“ und „Jawohl“ faſt wieder abgewöhnt, und 
der Zuchthausſchnitt ſeiner ſtrohgelben Haare war verwachſen. Seine Fortſchritte Hinter 
dem Webſtuhl konnte man nicht ſonderlich groß nennen; aber ſonſt war er willig und 
folgſam. Er trug Waſſer, machte Holz klein und half der Frau ſeines Meiſters bei 
allen häuslichen Arbeiten, was dieſe ſich gerne gefallen ließ, da ihr das Heben und 
Tragen beſchwerlich wurde. 

Einmal, als er Scheitholz ſpaltete, während ſeine Pilegemutter auf einem Schemel 
jaß und Kartoffeln jchälte, fing er an eines der Frechen Bagabundenlieder zu fingen, 
die er von feinem Kumpan in der Strafanftalt, dem Magdeburger, gelernt hatte. Da 
iprang die junge Frau von ihrem Sig auf und rief ihm zu: „Pfui, du wüſter Bub, 
ge) mir aus den Augen!“ Er erjchraf, daß ihm das Herz zitterte, und ſchlich zur 

üche hinaus. Am folgenden Tage war er ftille bei feiner Arbeit. Am zweiten Tag 
pfiff er leife vor jich hin und hatte jo tiefe Falten zwijchen den Brauen, wie wenn er 
über ein finjteres Problem nachdächte. Am dritten Tage fing er beim Holzjägen eines 
der Lieder an, die er in der Schule gelernt hatte; auf das erfte folgte ein zweites, und 
jo weiter. Es war ein unerjchöpflicher Vorrat. Sie paßten nicht gerade alle zu Zeit 
und Umftänden: „Goldne Abendfonne, wie bift du jo ſchön;“ — „Alle Menfchen müſſen 
jterben;“ — „Alle Vöglein find jchon da;* und die vielen andern. Die junge Frau 
that, als ob jie nichts Abfonderliches merke; aber bei jedem neuen Liede, das er an— 
ftimmte, lag ein glüdjeliges Lächeln auf ihren Lippen, und bei diefem oder jenem Liede 
fiel fie wohl —*— mit ihrer klangvollen Stimme ein. 

So war der Tag, der dem Chriſtfeſte vorausgeht, herangekommen. Die Bahn— 
wartsleute waren gerade mit dem Putzen des Chriſibäumchens fertig geworden. Als 
der Mann noch ein vergefjenes Lichthalterchen auf einen Zweig ftedte, ſagte er zu feiner 
Frau: „Du, wie wird’3 nächjtemal ſein?“ — „Wie Gott —8 — erwiderte ſie, und ein 
tiefer Atemzug hob ihre Bruſt. 

Jetzt machte ſich der Bahnwart fertig zu einem Gange ins Dorf. Ein Pfündlein 
Rindfleiſch für die Suppe wollte er einkaufen; — zu einem Weihnachtsbraten reichte 
es nicht, wie ſie vor einigen Tagen gefunden hatten, als fie während des Mittageſſens 
die Feſttagskoſten überjchlugen. Nocd eine andere Adreſſe wollte er — die 
freundliche Frau, die in dem kleinen Hauſe bei der Kirche wohnte und der einzige 
Menſch im Dorfe war, neben deſſen Hausthüre ſich eine Nachtglocke befand. Man 
konnte nicht wiſſen, was ſich in den nächſten Tagen ereignen werde. 

„Es kann ſein, daß ich bis zum Fünfuhrzug noch nicht daheim bin. Den Schlag- 
baum über den Feldweg hab’ ich ſchon zugezogen. Gieb nur acht, wenn du die Treppe 
hinunterſteigſt!“ 

„Geh ohne Sorge,“ rief ſie lachend, „ich bin noch ſicher auf meinen Füßen. Auch 
hat Adam heute das Eis weggehadt.“ 

„Was nur der Schlingel bei dem tiefen Schnee im Walde treiben mag?“ jagte 
noch der Bahnwart und fchidte ſich zum Gehen an. 


724 Der Ad'm. 


In diefem Augenblid fam der Burjche zur Hausthüre herein, barhäuptig, mit 
hochroten Wangen und fliegendem Atem. Er mußte wader gelaufen fein. Die Hofen 
ftafen in den Stiefeln und dieſe waren mit Schnee bededt. Er hielt etwas hinter 
feinem Rüden, und man ſah es feinen lachenden Augen an, daß es etwas Gutes fein 
mußte. Raſch trat er in die Stube hinein, warf einen toten Hafen auf den Tiſch und 
rief: „Da habt ihr euren Weihnachtsbraten!“ 

Die Beſchenkten jahen fich jprachlos in die Augen. Die junge Frau fanf auf 
einen Stuhl. Adam weidete ſich an der Ueberrafchung feiner Pflegeeltern. Bald aber 
£lopfte ihm angjtvoll das Herz. Das Antlig des Bahnwarts war blutrot geworden. 

„Wo haft du den Hafen her?“ 

„Sch hab’ ihn gefunden und totgejchlagen.* 

„Wo haft du ihn gefunden?“ 

„In einer Schlinge.“ 

„Wer hat die Schlinge gelegt?" Der Knabe zögerte mit der Antwort. 

„Adam, jag die Wahrheit!“ rief ihm die Frau zu. 

„Sch hab’ fie gelegt.“ 

„Komm!“ rief der Bahnwart und ging mit jchwerfälligen Schritten nach der Kam— 
mer voraus, wie er an dem Abend gethan, an dem jein Pflegefohn eintraf. 

Lisbeth trat ihm in den Weg. „Georg, thu's nicht! Ich bitt dich, — mir zu 
lieb! Denk doch, 's ift Heiliger Abend! Er hat's gut mit uns gemeint! Georg, denf 
an mich!“ 

„Lisbeth, aus dem Weg!“ rief der Mann mit einer vor Wut Freifchenden Stimme. 
Erjehroden wich fie zur Seite. Er that fic) Gewalt an, und feine Stimme flang un- 
heimlich ruhig, als er jagte: „Ich hab's den Herrn auf dem Rathaus in die Hand 
verjprochen, daß ich jtreng gegen ihn bin. Soll ich mein Wort brechen? Willft du, 
daß der Hallunfe geftohlenes Zeug in mein Haus bringt?" Aus den legten Worten 
flammte wieder der Zorn. Er riß die Thüre auf und ftieß den zitternden Knaben in 
die Kammer. Es jah in ihr anders aus als an jenem erjten Abend. Anftatt des 
Webſtuhls jtand das Chebett in der Mitte; denn da die obere Stube nicht geheizt wer- 
den konnte, hatte man für die MWochenzeit das untere Zimmer gerüftet. Neben dem 
Bett jtand eine Wiege. Die Garnftränge waren verjchtwunden. Nur der hagenbuchene 
Stod jtand noch im Winkel. 

„Seorg, thu' es nicht! in meiner Stube nicht!“ rief die Frau, die in die Kammer 
nachgegangen war. Aber der Wütende ſchob jie zur Thüre hinaus. 

„Mein Kind, mein Kind!“ weinte fie und fiel erjchöpft auf den Stuhl, die Hände 
im Schooße zufammengeframpft. Dann fprang fie auf, hielt fich die Ohren zu und 
eilte hinaus ins Freie. — 

Es war gejchehen. Der mißhandelte Bube lag wimmernd in feinem Berjchlage 
auf dem Bett. Der Bahnwärter ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. 
Die Frau folgte ihm befümmert mit den Augen. 

„Geſund iſt's für ihn gewejen, Lisbeth," jagte er, „und fterben wird er nicht dran. 
Gieb mir noch eine halbe Mark, daß ich dem Buben ein Buch kaufe mit Schönen LXie- 
dern, weil er jo gerne ſingt.“ Sie gab ihm das Geld. 

„Bilt du mir noch böfe, Lisbeth?“ Sie jchüttelte den Kopf. „Ich war dir nicht 
böje, ich bin nur traurig.” „Bis ich zurückkomme, bift du wieder luſtig, und dann 
halten wir Bejcheerung.“ 

Er gab ihr einen Kup, nahm den Hajen vom Tisch und jchritt zur Thüre hinaus. 

Eine Weile jpäter jchlih Adam die Treppe hinunter. Es dunkelte fchon. Etwas 
Naubtierähnliches war in dem Burjchen, al3 er vor der Stube laufchte. Seine Augen 
funfelten. Die Hausthüre war angelehnt. Er Hujchte hinaus, um das Haus herum, 
die Treppe hinunter und über die Schienen. Mit etwas Schwerem in den Händen 
fam er wieder zurüd. Es war ein großer Stein. Er legte ihn auf einer der mittleren 


Der Ad'm. 725 


Stufen der Treppe jorgfältig zurecht. Dann fchlich er wieder hinunter und duckte fich 
in den finfterften Schatten der Felswand. 

Es war jchwarze Nacht in dem Einjchnitt. Durch den bleichen Schimmer des 
Schnees auf dem Bahnkörper jchien die Finſternis zu beiden Seiten noch jchwärzer. 
Es erhob ſich ein Wind, und e3 fing zu fchneien an. Bald ächzten die Tannen oben 
in der Höhe, bald fuhr der Sturm in die Tiefe und heulte an den Felswänden Hin. 
Vom Dorfe her Hang Glodengeläute, aber matt und verfchleiert. „etzt ziehen die 
Kinder in die Kirche und fingen Weihnachtslieder," jagte der Burfche zu DR — „jet 
fommt der Zug bald.“ 

Es ſchlug ab. Der helle Ton zitterte wie ein klagender Aufjchrei im Sturmwind 
und wurde in der Ferne aufgenommen und weiter gegeben. Jetzt hörte man das Rollen 
des Bugs, und oben ging die Thüre des Haufes. Schritte näherten fi. Jetzt ift er 
am Rande angelangt; jeßt geht er die Treppe hirunter; Die erfte, die zweite, Die dritte 
Stufe; — und jetzt — 

Ein gellender Aufjchrei. Aber was iſt da8? — fo fchreit fein Mann! dem Bur- 
chen ftand das Herz ftil. Ein Poltern, — ein harter al, — ein leifer Klageruf 
„Adam, das Haft du gethan." Er hörte nicht mehr. Ein Raufchen und Braufen 
erfüllte den Raum. Zwei ungeheure Fackeln, fprühend von rotem Licht, jchoffen auf 
ihn (08, und die Felswand zitterte, als ob fie ihn abjchütteln wolle Seht war's 
vorbei. Er öffnete die Augen, die er entjegt geichlofjen. Er jah, drei Schritte vor 
fih, die Bahnwartsfrau auf dem Posten ftehen. Jetzt wandte fie ſich um, und ohne 
ihn zu bemerken, ging fie langfam und ächzend die Treppe hinauf. 

Eine gute Weile blieb er noch; dann ging er ihr nach ins Haus hinein. 

Mit Elopfender Bruft ftand er einen Hugenbiid, die Hand auf dem Drüder, vor 
der Stubenthüre. Jetzt faßte er fi ein Herz umd trat hinein. Die Lampe ftand 
brennend auf dem Tiſch, neben ihr ein Stridzeug und eine Schüſſel voll Waſſer mit 
einen Tuche, wahrjcheinlich zum Abwaſchen der Blutfleden, die der Haſe auf der weiß- 
gejcheuerten Platte zurüdgelaffen. Die Bahnwartzfrau war nicht da. Adam ging 
"el ir und pfeifend an das Fenſter und jchaute in die ſchwarze Nacht hinaus. 

ann brach er plöglich ab und fchlich auf den Zehen an die Kammerthür und Horchte. 
Er meinte, er hätte einen Atemzug drinnen vernehmen müſſen, aber er vernahm nichts. 
Dann holte er den Kalender von der Wand und jeßte fich auf die Bank. Er ſchlug 
auf und las, was er gerade fand, die Legende vom heiligen Ehriftophorus. Als er am 
Ende der Seite war, vergah er umzudrehen und blätterte rückwärts. Da fand er, daß 
die zwei leßtvergangenen Wochen auf dem Monatsblatt Dezember noch nicht ausge- 
ftriden waren. Er holte aus der Tijchjchublade das Tintenfaß und die jeder heraus 
und zog zwei dide Kreuzitriche, und von der begonnenen Woche ſtrich er Tag für Tag 
durch, auch den heutigen; erft vor dem roten Chriſtfeſt machte die Feder Halt. Zwiſchen 
hinein griff er fich an den Hals. Was Eopfte denn da fo fchredlich von unten herauf, 
daß es ihn fchier erwürgte? Er that Kalender, Tinte und Feder an ihren Pla und 
ing hinaus auf den dunfeln Flur. Vor der Küchenthür ſtand er laufchend,; dann 
$tich er den Kopf an den Pfoten und rief: „Hola, da iſt's finfter! Da rennt man 
ſich ja den Echädel ein!“ Keine Antwort erfolgte. Da machte er die Thüre auf. Es 
war fein Licht in der Küche, Im offenen Herde glommen die Kohlen eines verlöfchen: 


den Feuers. 

er trieb’8 ihn zum Haufe hinaus. Ein wildes Schneegeftöber raubte ihm faſt 
den Atem. Er ging um das Haus herum die Treppe hinunter. Die von der Nacht 
gedrüdte Schneedämmerung, die über den Boden hinfloß, die Gegenjtände auflöfte und 
ineinander mijchte, verdedte den Abſturz und hätte einen anderen genötigt, vorfichtig zu 
taften. Adam aber hatte von feinen frühen Diebesfahrten her ein nachtgetwohntes Auge, 
und hier ging er mit gefchloffenen Lidern in volllommener Sicherheit. Er zählte die 
Stufen. Diefe hier ware. Da lag der Stein. So ift fie auf ihm getreten; dann 

“lg. tonſ. Monatsichrift 1888. VIL 47 


726 Der Ad’ın. 


ftürzte er hinunter und fie ihm nad. Er wifchte mit feinen Händen den Schnee von 
der Stufe und ftarrte auf Die were Erde. Dann war's ihm, als ob e8 wieder 
faujend — mit feurigen Augen, als ob die re ſich wieder ſchüttle und 
ihn hinabfchleudern wolle in die Tiefe. Sich fejtfrallend in den Schnee kroch er auf 
den Knieen die Stufen hinauf und flog ins Haus hinein, in die Stube und wieder 
an die Kammerthür. Es war ihm, als müſſe er etwas von derjenigen hören, die allein 
von allen Menſchen gut gegen ihn war und der er ein Leid angethan. Aber e8 war 
totenftill in der Kammer. Da ftürzte er von Verzweiflung gejagt wieder zum Haus 
hinaus, und, wie um Hilfe zu holen, der Straße zu. Dort fommt ein Licht heran; 
da ijt er! 

"Adam fprang dem Bahnwart entgegen. Neben diejem trippelte rüftig ein altes 
Weiblein daher, wunderbar in Kapuze und Tücher vermummt. 

„Du biſt's, Ad'm?“ fagte der Mann mit weichem Ton, und dann jeßte er er— 
fchroden hinzu: „Was iſt's? Wie geht'3 meiner Frau? Dit etwas paffiert?“ 

„Nein — ich weiß nicht — Sie ft in der Kammer.“ 

Da eilte der Mann, jo fchnell er konnte, den Hügel hinan; das Weiblein trippelte 
puftend Hinten nad). 

Eine Weile jpäter war e8 hell und lebendig geworden in allen Räumen des Häus- 
hend. Adam ftand zitternd vor dem Fenſter. Er wagte nicht einzutreten, und als 
er feinen Namen rufen hörte, zudte er zufammen. „Sie hat's ihm gejagt, und er wird 
mich totjchlagen,“ flüfterte er und — heftiger. Da that ſich der Laden auf und 
der Bahnwart ſchaute Heraus. „Da biſt du, Ad'm?“ ſagte er freundlich. Komm 
doch herein, der Weihnachtsbaum brennt.“ 

„Sie hat ihm nichts geſagt,“ flüſterte der Junge, und die Thränen traten ihm in 
die Augen. 

Als er in die Stube kam, ſah er auf dem Tiſch den Weihnachtsbaum, der in 
einem kleinen Chriſtgärtchen ſteckte. Es ſah gar traulich und weihnachtlich aus. Der 
Junge ſchaute nach der Kammer. Die Thüre ſtand offen, und man konnte vom Bett 
aus gut zum Tiſche her ſchauen. 

„Sie hat's jo haben wollen,“ ſagte der Mann, der ſorgenvoll auf eines der 
brennenden Lichter gejtarrt hatte; „wir follen doch Beicherung halten, und fie wollte 
den Baum vorher noch brennen jehen.* Dann wandte er fich zu dem Burfchen: 
„Sieh, Ad'm, das ift für did. Das Liederbuch hab’ ich dir mitgebracht, weil du fo 

ern fingen thuft. Unter dem Tiſch jteht ein Napf mit Nüffen, Aepfeln und gebörrten 
wetichgen; davon darfjt du dir nehmen, jo oft du magft. Und der Lebkuchen gehört 
dein und die Bregel. Und hier die warme Mütze hat dir meine Frau noch gejtridt; 
du fannft fie bis über die Ohren ziehen; und dieje Strümpfe hier auch. Und fie läßt 
dir noch fagen, du follft nie in deinem Leben den heutigen Tag vergefjen.“ 

Keines Wortes mächtig ftand der Burfche da. Mit zitternden Händen griff er 
nad) der Mütze und den Strümpfen, hielt fie von fich und betrachtete fie mit Augen, 
die durch Thränen leuchteten, geradejo wie zur felben Stunde die Mugen jo mancher 
Braut auf den Schmud niederjchauten, den der Geliebte zum heiligen Chriſt bejchert 
hatte. Jet wandte er den Kopf der Thüre zu, aber hatte nicht das Herz bineinzu- 
hauen. Da fonnte er ſich nicht mehr halten. Er ftürzte zur Thüre hinaus, alles 
dahintenlaffend, Liederbuch, Lebkuchen, Bregel und Wepfelnapf. Und draußen hub er 
u heulen an, wie er noch nie in feinem Leben geheult hatte. Droben in feinem finftern 

erichlag lag er auf feinem Bette. Den Prühl hatte er hinuntergeworfen und fich 
mit den Säden zugededt. Die Mütze hatte er jich über die Ohren und über die Augen 
zogen, in feine Strümpfe die Fäufte hineingeſteckt und weinte leife vor fich hin in 
eue und Wonne. 

„Ad'm!“ rief jegt wieder die Stimme feines Meifters, und in demfelben Augen 

lit that fich die Thüre auf. „Komm ſchnell heraus!” 


Ter Ad'm. 727 


Im Nu jtand er draußen auf dem Speicher. Der Bahnwärter wartete, feine 
Dienftlaterne in der Hand, auf der halben Stiege. Er zeigte ein verſtörtes Gejicht. 

„Ad'm, weißt du, wo der Doftor in der Stadt wohnt?“ 

„Jawohl!“ — Wie oft hatte er bei der Frau Doktor gebettelt! Auch hatte er dort 
einmal einen Weberzieher gejtohlen. 

„Geh' Hin und hol’ ihn! Er fol fommen, fo fchnell er kann. Wenn er nicht jo- 
gleich kommt, iſt's zu ſpät.“ 

Die Stimme verjagte ihm. Dann fuhr er fort: „Ich muß Schnee jchaufeln. 
Vor dem Einfchnitt ift- ein böfer Windfang; da jagt der Sturm allen Schnee auf die 
Schienen; da gibt's Arbeit die ganze Nacht durch. Drum kann ich nicht gehen. Adam, 
trag’ mir's nicht nach von heut’ mittag! Lauf, was du fannft!* 

Während der Bahnwart redete, hatte ſich der Burfche feiner Stiefel entledigt, 
die neugejchenften Strümpfe übergeftülpt und die Stiefel wieder angezogen. Jetzt war 
er zum Gehen fertig. „Gebt mir Eure andere Laterne, Meifter,“ ſagte er, „und fchreibt 
mir's auf einen Zettel; wenn der Doktor nicht daheim iſt .. .“ 

„Da, nimm die! Die Löfcht nicht aus, mag's ftürmen, wie's will!“ Dann jchrieb 
er drumten im Zimmer auf einen Feben Papier ein paar Worte. Adam widelte den 
Bettel in fein Tafchentuch und eilte hinaus. 

Mit einigen Sätzen hatte er die Landitraße erreicht und trabte, vom Sturm ge- 
hoben, des Weges dahin. Das jagende Heer der Schneefloden erfüllte die Nacht mit 
einem weißlichen Dunft, in dem das Auge noch blinder war als in lauter Finfternis, 
und der > die fchimmernde Schneedede dem Blid entzog, fo da man den Boden 
nicht jehen fonnte. Aber mit wunderbarer Sicherheit fprang der Knabe die Straße 
dahin. Es machte ihm Freude, daß der Schnee jo tief war; er hatte ja jo gute warme 
Strümpfe an. Und es glühte ihm der Kopf in der neuen Müte von der Anftrengung 
und dem fich jagenden Gedanken. 

„Jetzt will ich ein tüchtiger Weber werden und ihr ein Zifchtuch weben jo groß, 
wie die Altardede am Feſttag ift; und dann ein Leintuch jo weiß und weich wie 
frifcher Schnee, und dann Servietten, drei Dußend, weit feiner noch als die waren, 
die ich dem Anferwirt vom Trodenplat ftibizt habe. Und Stehlen will ich gewiß nicht 
mehr, außer am Sonntag, eine Faftenbregel vom Bäderladen. Und wenn ich einmal 
ein MWebermeifter bin und der Robert von Magdeburg fommt und will bei mir fechten, 
dann werd’ ich zu ihm jagen: ſchäm' dich, du Lump, daß du's nicht weiter fee 
haft, und werd’ ihm nicht? geben, oder höchitens ein Paar alte Stiefel, die ich nicht 
mehr tragen mag, weil ich zu ſtolz bin.“ 

Unter jolchen Selbitgefprächen fam er im Städtchen an. Die Straßen waren 
menjchenleer. Die Laternen fladerten im Sturm. Die Nachtglode an dem Haufe des 
Arztes wurde ausgiebig gezogen, und einen Augenblid jpäter jtand Adam im Haus- 
gange vor dem Dienjtmädchen. 

„Sch möchte den Herrn Doktor holen. Er fol gleich fommen; es ift nötig.“ 

„Der ge Doktor find nicht zu Haufe. Site find über Feld.“ 

„Wo ift er?“ 

„Der Herr Doktor find in Fiſchbach, und wenn fie nach Haus gefommen find, 
dann halten fie Beicherung.“ 

Fischbach war ein Dorf, das in der Richtung lag, von welcher der Junge ge- 
fommen. Die Straße nach Fischbach bog eine halbe Stunde vor dem Städtchen von 
dem GSeitenwege ab, in defjen Nähe der Bahnwärter wohnte. 

Das Mädchen fchien weitere Erörterungen für überflüffig zu halten und ging in 
die Küche zurüd. In diefem Wugenblid öffnete fich eine Thüre und ein jugendlicher 
Lockenkopf — — 

‚Philippine, führen Sie den Mann in das Wartezimmer; ich will ſelber mit 
ihm fprechen.“ 


47* 


728 Der Ad'm. 


„Und wer joll den Boden pußen?“ brummte Philippine „Ich nicht. Morgen 
ift Heiliger Chrifttag, und heut’ abend ift unfer Heiland geboren. Da rühr' ich feinen 
Bejen an. Neligion haben fie doch alle feine, die Doktorsleut'!' — Hinaus auf Die 
Treppe und den Schnee abgeflopft! So! Und jet die Stiefel gepußt!“ 

Adam trat in das durchwärmte Zimmer und hörte von der * des Arztes das— 
ſelbe, was er von dem Mädchen vernommen. „Iſt es denn nötig, daß mein Mann 
heute noch kommt?“ 

Aam Fnüpfte fein Taſchentuch auf und wies der jungen Frau den Sehe Diefe 
warf einen Bli hinein. „Ja, 's ift nötig. Du Fannft hier auf meinen Dann warten 
und dann mit ihm Hinausfahren. Iſt die Frau deine Mutter?“ 


Ja. 

„Du biſt raſch gelaufen und glühſt aan, bei diefem Wetter! Philippine,“ rief fie 
zur Thür hinaus, „bringen Sie ein Glas Glühwein herein, ſobald er fertig iſt!“ 

„Auch noch!” brummte die Magd. „Bei der Verſchwendung kann nichts heraus— 
kommen! Was werden der Herr Doktor friegen von der Fahrt heut! Nacht? Nicht 
einmal die Fahrkoſten!“ 

Unterdefjen hatte Adam bei fich überlegt: Vom Kreuzweg bis hierher braucht ber 
Doktor zehn Minuten; auf dem Rückweg eine Viertelftunde, denn es geht gegen den 
Wind. Wenn er heimfommt, trinkt er zuerft warmen Wein, das dauert fünf Minuten. 
Die halbe Stunde kann ich gewinnen. 

„Sch will Lieber nicht warten,“ jagte er zur jungen — Ich will dem Herrn 
Doktor entgegengehen;“ und er zog fich die Mütze über die Ohren. „Welche Straße 
fährt der * oktor, die alte oder die neue?“ 

„Sch weiß es nicht ſicher,“ ſagte die Frau. 

i Pr Herr Doktor fahren immer nur die neue Straße,“ entjchied Philippine aus 
er Küche. 

„Was für ein Fuhrwerk iſt's?“ 

„Der Anferwirt fährt meinen Mann.“ 

„D, dem feine Schlittenjchellen kenne ich von weitem,“ jagte Adam und ſchmunzelte. 
Hatte er ihm doc vor einem Jahre ein paar Schellen vom Lederzeuge weggefchnitten. 

„Sch weiß nicht, ob mein Mann feine Inftrumente bei fich hat.“ 

„Der Herr Doktor haben die nötigen Inftrumente bei fich,“ rief das Mädchen. 

„Wenn du nicht warten willit, dann geh’ in Gottes Namen. Gute Berrichtung 
und gute Befjerung deiner Mutter! Philippine, leuchten Sie ihm die Treppe hinab!“ 

Beim Hinuntergehen bemerkte Adam, daß er müde geworben. Unwillfürlich mußte 
er die Stufen zählen. Auf der fünften bfieb er ftehen. „Da Hab’ ich den Stein Hin- 
gelegt,“ ſagte er zu fich und hielt ji am Geländer. Darauf wandte er ſich zurüd. 
„zräulein, fteht'8 mit meiner — mit meiner Mutter jehr jchlimm?“ Er hatte vor des 
Doktor Dienftmädchen einen gewaltigen Reſpekt und traute ihr alle mediziniſche 
Weisheit zu. 

Philippine zucte mit der Achſel. Dann kam fie neugierig herunter. „Zeig mir 
einmal deinen Zettel!“ 

Adam Fnüpfte fein Tafchentuch wieder auf. Er fürdhtete fich davor, das Blatt 
jelbft zu Tefen. Bhilippine las: „Das vierte Bahnwärterhaus gegen Mettlingen zu. 
Meine Frau ift in —“ Philippine ftieß einen unartifulierten Ton aus, ein Mittelding 
von Echredensruf und Geficher. „DO ja, das iſt jehr jchlimm! Gott ſoll mich vor fo 
was bewahren! Lauf was du kannt!“ 

Das Wetter war noch greulicher geworden. Der Sturm heulte durch die Gafjen, 
und Ziegel flogen von den Dächern. Fußhoch lag der Schnee, und immer neue Mafjen 
wurden beruntergepeiticht. Im Thorweg des letzten Haufes, einer Gaftwirtfchaft, zün— 
dete Adam die Laterne an, deren er bisher nicht bedurft, und dann fchritt der arme 
Junge hinaus in die menfchenleere Wildnis. 


Der Ad’m. 729 


Nicht mehr rajch ging's. Kopf und Bruft bohrten fich in den Sturmwind hinein 
und die Füße ſtemmten, Schritt für Schritt, tapfer nad. Das Gefühl wohliger 
Lebenswärme war verloren. Der Kopf glühte, aber auf dem Rüden lag e3 eifig, das 
Wams3 war gefroren; und die Füße wurden falt und ſchwer und immer jchwerer. 

Er hatte nach der Weifung der Magd die neue Straße —— auf dem 
—— war er die alte gegangen. Da kam ihm plötzlich der Gedanke, daß der alte 

eg der geſchütztere ſei, und daß höchſtwährſcheinlich der Doktor auf jenem fahren 
werde. Er brad) faft zufammen vor Echred, al8 ihm dies mit einemmal jonnenklar 
wurde, und es war ihm einige Augenblide nicht möglich, einen Schritt weiter zu thun. 
Da raffte er Schnee auf und preßte ihn an die glühenden Lippen und an die dumpfe 
Etirne, und das leife Stöhnen, das aus feiner Bruft brach, war ein Gebet, wie es 
jchreiender nie aus der Tiefe menfchlicher Not an das Herz deflen gejchlagen Hatte, der 
den Einjamen en und fi) des Elenden erbarmt. 

Adams Plan war gefaßt. Die beiden Straßen liefen parallel in geringer Ent— 
fernung von einander. Zwiſchen ihnen war zuerft der Eifenbahndamm und dann ein 
Bad) mit tiefem Bette. Adam hatte zugefehen, wie man im Sommer vom Wafjerfpiegel 
bi8 zum Beginn des Dammes eine „erfege Mauer aufgeführt Hatte. Hier hinunter 
u Klettern war unmöglich; auch pflegte der Bach, deffen Waſſer ungleichmäßig floß, 

im härteſten Froite wiſchem feſtem Eiſe lange offene Strecken zu behalten. Alſo 
war die Hoffnung, das Bett überſchreiten zu können, eine unſichere. Aber Adam war 
früher unzähligemal herüber und hinüber geſprungen. So konnte es gehen. 

Er bog von der Straße ab. Der Sturm hatte nachgelaſſen, aber um jo Dichter 
che die Schneefloden. Die Laterne, die er an der Bruft trug, beleuchtete jcharf einen 

eiedigen Ausſchnitt, deſſen Grundlinie fünfzehn Schritte weit von dem Lichte, der 
Spitze des Dreieds, entfernt fein mochte. Adam ſah vor ji) den Damm. AZuerft ſank 
er bis an die Lenden in den Schnee. Das war der Straßengraben. Dann arbeitete 
er fi) mit Händen und Füßen hinauf. Seht war er oben. Er unterjuchte mit dem 
uße. Hier find die Schienen, das erfte, das zweite Geleife. Jetzt ftand er am Rande. 
laufchte. Iſt dag nicht Schlittengeläute in der Ferne? Ja, des Anferwirts Schlitten 
iſt's. Adam hätte feine Schellen aus Hunderten herausgefannt. Was jegt thun? — 
Hier oben bleiben? — Allerdings, man ſah von der Straße aus fein Licht. Aber 
mußte ihn nicht der Arzt für den Bahnwärter halten, der jeine Strede abging? — 
—— — Er verſuchte ſeine Stimme; ſie war heiſer und matt. Unmöglich 
onnte man ihn hören. — Die Laterne hinüberwerfen? Aber konnte fie nicht an einem 
der Prellfteine der Straße zerfchellen oder verlöfchen im Schnee? Oder follte er es 
wagen, fich hinunterzulaffen? Unter dem grellen Schein, der von der Laterne ausging, 
lag das tiefe Bett des Baches in jchwarzer Finfternis. Wie er auch das Licht drehte 
und wendete, fein Strahl drang bis hinunter auf den Wafjerfpiegel. Ob Eis, ob Flut, 
wer fonnte es wiffen? Nur eins blieb übrig: der Sprung. 

Adam fpähte hinüber. Er wußte, daß von drei zu drei Schritten ein Quader— 

Pe am Rand der Straße emporragte zum Schuge der Fuhrwerfe gegen die Gefahr 
es Abſturzes. Aber die fallenden Floden verhüllten das gegenüberliegende Ufer. 
Adam Schloß die Augen, frampfte alle Kraft in jich zufammen umd jprang. 

Ein furchtbarer Schlag traf ihn auf das Knie, ein zweiter mitten in das Geficht; 
er war auf einen der Steine — Er griff zu, aber faßte nichts als Schnee und 
ſank hinunter in die Tiefe. Es war fein hoher Sturz und auf der weichen Hülle des 
gefrorenen Wafferjpiegels that er fich nicht wehe. Eine faft unbezwingliche Luft, liegen 
zu bleiben und auszuruhen, fam über ihn. Aber er hörte das Schlittengeläute näher 
und näher. Er drehte die brave Laterne nach allen Seiten, aber, er ſah's an den 
—— —— Schattenrändern, ihr Schein konnte — hinaufdringen bis auf 
ie Straße. „Ich ſelbſt kann nimmer hinauf, aber du ſollſt hinauf, dann will ich 
Schlafen" Er raffte fich auf. Der rechte Fuß war lahm. Er frod) den fteilen Ab— 


730 Der Ad'm. 


bang hinauf, ſich haltend und emporziehend am Geſträuch und ſich einkrallend unter 

den Schnee in die Erde. Seine Arme zitterten. „Noch einen Augenblick,“ fagte er, 
„dann iſt's genug.” Dept konnte er mit der Hand Hinauftaften auf die Straße; er 
fühlte die Kante des Steins, wider den er gejprungen. Mit der Linken hielt er ſich 
feſt an einem Zweige, der von oben N u mit der Rechten griff er in die Bruft 
und jchob jein Tafchentuch, in dem der Zettel ftaf, hinauf auf die Straße; dann nejtelte 
er die Laterne los und fchob fie daneben. Jetzt jtand fie und mußte ihren Schein 
hell über die Straße werfen. Ein glüdjeliges Lächeln, von niemand als Gottes Engeln 
gejehen, verflärte fein blutiges Angeficht; dann glitt er lautlos in die Tiefe hinunter. — — 

Da drunten iſt's warm, da sieht'ä uns hin, riefen die Schneefloden einander zu 
und jtürzten in die Tiefe. Die einen fielen zwifchen feine Lippen und zerichmolzen 
auf den Zähnen; die anderen häuften fich, ums Herz. Er friert, wir wollen ihn wärs 
men; er will von feiner Mutter träumen, wir wollen ihn zudeden, flüfterten fie, und 
immer mehr Brüder und —— riefen fie herbei. Bald ſchmolzen die Flocken auf 
feinen Zähnen nicht mehr, und al3 der Tag graute, riefen die zulegt Gelommenen: 
jetzt iſts genug; wir haben's bejorgt! — 

Wieder fam des Ankerwirtes Schlittengeläute die Straße her. Man hielt oben an. 

„Da ift die Laterne geftanden. Wer jie nur u are haben mag?“ 

„Das hat das Chriſtkind * erwiderte des Ankerwirts alter Knecht. 

"Sa, ein Engel muß es few,” fagte der Arzt, „denn wäre ich eine Viertelftunde 
jpäter gefommen, (4 wären Mutter I Kind verloren gewwejen. — Wo nur der Junge 
geblieben fein mag?“ 

Er ſtieg aus dem Schlitten und befichtigte die Stelle. Er jchaute auch in Die 
Tiefe hinunter. Uber die Schneefloden hatten es gut bejorgt. Ein Rabe erhob fich 
aus dem Bette des Baches und flog mit ig Schwinge drei Schritte weit. Dann 
Garn = die Männer an und Frächzte. er Ferne aber läuteten die Gloden zum 

riſtfeſte 





Eine deukſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Bon 


Martin von Matbufius. 


Bor mir fteht eine Heine Kifte, ganz angefüllt mit Manuffripten. Die meiften 
davon haben ein Papier, das fich würdig an die Briefbogen der modernen Altertums— 
narren anjchließen würde, die mit ihren künstlichen geben und Grobheiten beweifen zu 
follen jcheinen, daß ihre Befiger die hiſtoriſche Richtung unferes alternden Jahr: 
bundert3 mit Haut und Haaren in fich aufgenommen haben. Die älteften diefer Manu- 
Skripte find aus den fichziger Jahren des vorigen Sahrhunderts, die jüngjten aus dem 
Jahre 1840. 

Diefes Kijtchen mit feinem Inhalt bildet ein Stüd des litterarischen Nachlafjes 
meines Vater, nämlich) die Vorarbeiten, Sammlungen und Fragmente zu einer Bio- 
graphie feiner Großmutter, der im vorigen Jahrhundert gefeierten Dichterin Philip- 
pine Engelhard, geb. Gatterer. 

Daß fie wirklich eine gefeierte Dichterin war, beweifen nicht nur die Briefe von 
Bürger, Georg Forster u. a., die meine Kifte enthält, nicht nur die Mitteilungen 
der Dichterin über ihre Beziehungen 3. B. zu Boie, Lavater u. ſ. w., fondern es 
reden davon auch die Auflagen ihrer Gedichte und nicht zum mindeften die Beurtei— 
lungen, welche diefelben vor den damals in erfter Linie ftehenden Fritifchen Nichterftühlen 
gefunden haben. 

Heute freilich würde eine Dichterin wie Philippine nicht in der damaligen Weije 
gefeiert werden. Die Proben ihrer Lieder, die weiter unten mitgeteilt werden follen, 
haben heutzutage wejentlich ein litterar=gefchichtliches nterefje, und nur in diefem 
mache ich mich an die Aufgabe, von ihrer Verfafferin zu erzählen. 

Der Zuftand num aber, in dem fich meine Manujffripte befinden, ijt ein in hohem 
Maße bruchitüdartiger. Zwar find darunter zwei wohlgeordnete und mit Seitenzahlen 
verjehene Pädchen mit der Infchrift: „Das Büchlein von der Dichterin Philippine 
Engelhard, geb. Gatterer. Ihr zum Andenken und ihren Enfeln und Urenkeln zu Liebe 
und Frommen, aus ihrem Leben, ihren gedrudten und ungedrudten Werken zujammen- 
geitelkt von Philipp Engelhard Nathufius. 1. Bändchen (mit ihrem Porträt als Mäd- 
hen); 2. Bändchen (mit ihrem Porträt als Matrone) 1840." Allein innerhalb diejer 
fcheinbar drudfertigen Päckchen befinden fich jtarfe Hefte unbejchriebenen Papiers, die 
nichts als die Seitenzahlen enthalten, und auch außerdem weifen viele Randbemerfungen 
daranf hin, daß aus den weit größeren Mafjen von Briefen und Notizen noch manches 
nach des Biographen Abficht eingejchoben und hinzugefegt werden jollte. 


733 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Warum mag das jchon jo weit geführte Unternehmen nicht zuftande gefommen 
jein? — Der damals 24jährige Biograph, jelbit ein Dichter, der zwei feiner Namen 
nad) diefer namhaften Großmutter trug, jtand damals noch mit beiden ‚Füßen in der 
äfthetifch-humaniftischen Weltanfchauung des jungen Deutſchlands. Der leuchtende Stern 
an feinem Himmel war der Altmeister Goethe. Das Chriftentum Hatte für ihn nur 
ein Interefje von Standpunkte der Bolfspoefie aus. In demjelben Jahre noch, in 
dem die Fragmente jener Biographie entjtanden, machte er die Belanntfchaft, die ihm 
um Anlaß für die völlige Wendung und Wandelung feines inneren Lebens wurde. 

ie fremd mögen ihn jpäter feine cigenen Betrachtungen und Beurteilungen ange 
mutet haben! 

Hieraus beantwortet ſich jchon zum Teil die ‘Frage, warum jenes „Büchlein von 
der Dichterin u. ſ. w“ unvollendet geblieben fei. Doch waltete wohl noch eine andere 
Schwierigkeit ob. Für die Enkel und Urenkel jollte es gefchrieben werden. Aber es 
febten auch noch die Söhne und Töchter und viele Zeitgenoffen und Freunde. Sch 
finde unter den Papieren den Auszug aus einem Briefe der Bettina von Arnim, 
mit der unfer junger Biograph in lebhaften geiftigem Verkehr jtand, der mir einen 
weiteren Erflärungsgrund für das Unterbleiben der Vollendung und der Herausgabe 
abzugeben jcheint. Sie jchreibt: „Deine Großmutter war ein burlesfer Charafter, wie 

das leicht bei folchen Naturen der Fall jein fann, in denen das Großartige 

Feſſeln tragen muß, die der gemeine Menfch nicht bemerkt. Alles Edle und Freie 

in ihr war verbrämt mit einem allem Anjtande zuwiderlaufenden Humor, der 

nicht jelten Anlaß zu lächerlichen Szenen gab. Und objchon dies fo ganz nach 
der Natur aufgefaßte Bild von ihr auch allein fie in ein Licht ftellen würde, 
wodurch ihrem Gedächtnis Ehre widerfährt und zugleich dem Lefer eine wertvolle 
Skizze eines Menjchenlebens gegeben wird: jo glaube ich doc nicht, daß Du dies 
Deinen Berwandten recht machen würdejt. Ich kann (aber) nicht leiden, wenn 
etwas der Art nicht in jich eine literarische Wichtigkeit und Wahrhaftigkeit hat. 
Gerade in folchen Dingen muB ein höheres Intereffe Deines Geistes, ein tieferes 

Auffaſſen fich darlegen, ſonſt verfaufit Du Dich mit.“ 

Kurzum, die Manuffripte blieben jeit dem Jahre 1840 in dem Zuftande, in dem 
ki noch heute fich befinden. Wenn ich fie demſelben jegt entreiße, jo thue ich e8 nur in 
em Gedanken, daß fie einen nicht nur unterhaltenden, fondern auch wertvollen Bei- 
trag zur Kenntnis der äfthetifchen, litterarifchen und Kulturzuftände jenes Abjchnittes 
liefern. Eines perfönlichen Intereſſes bedarf es bei unjeren Leſern nicht. Es wird 
nur in jehr geringem Umfange vorhanden fein. Urteilte doch der Biograph ſchon vor 
fait fünfzig Jahren, da er mit dem Denkmal, das er der Dichterin fegen wollte, 
wefentlic nur einem Bedürfnis, das jich in ihrer ausgebreiteten Familie fund gegeben, 
genügen wolle, — „denn das Publikum, defjen Zuneigung jie fich in ihrer Jugendzeit 
erworben, war durch die rajch und jcharf über den Boden Hinftreifende Zeit wohl ziem⸗ 
lich eingeſchränkt worden.“ Ich befinde mich freilich, was die Form der Mitteilung 
betrifft, in nicht geringer Verlegenheit. Wollte ich einfach zum Druck geben, was der 
Be berufene Biograph im Jahre 1840 aufgejegt hat, jo würde es erftlich viel zu 
üdenhaft ausfallen, e3 würden aber auch außerdem zivei ganz verfchiedene Sachen mit 
einander vermijcht werden, nämlich mit dem Intereffe an der Dichterin des vorigen 
SahrhundertS das andere Intereffe an ihrem Biographen, der fpäter als ein jo ganz 
anders Gcarteter vor die Deffentlichfeit — infonderheit des Publiftums unferer Monats- 
ſchrift — getreten iſt, als er noch in diefen Entwürfen, jowohl bei gelegentlichen Ur- 
teilen al3 auch in der zu Grunde liegenden Weltanfchauung, erjcheint. 

Indem ich daher dasjenige, was für den inneren Entwidelungsgang des „Volks— 
blattjchreibers" bezeichnend ift, Herauslafje, gebe ich nur wieder, was ich mir objeftiv 
als Mitteilungen und Urteile über die Dichterin, ihre Zeit und ihre Freunde, zu eigen 
gemacht habe, und werde nur bier und da mit bejonderen Abzeichen einiges von dem 


Eine deutfche Dichterin vor Hundert Jahren. 133 


einfügen, was bejagt, wie in dem dichtenden Enfel, dem Freunde Bettinas, dem Be— 
wunderer Goethes, dem unbedingten Verehrer der klaſſiſchen Litteratur, fich das Bild 
der Großmutter und ihrer Zeit refleftierte. Die Quellen, die er benußte und die alfo 
auch dieſen Mitteilungen zu Grunde liegen, jind hauptjächlid mündliche Mitteilungen, 
wenige gedruckte Notizen in „Strieders Heffiicher Gelehrtengefchichte“ (1783, III. Bd.), 
„Deutichlands Schriftjtellerinnen King-Tſching“ (1790) und im „Nefrolog der Deut— 
ſchen“, — und endlich ihre eigenen Gedichte. Briefe von ihr find Leider * ſpärlich 
vorhanden. Nur gerade für die früheſte Jugend können wir ſofort mit einigen eigenen 
Aufzeichnungen beginnen. Bu das Aeußere jei noch bemerkt, daß ich nur bei den mit- 

eteilten Briefen und Briefſtellen hervorragender Zeitgenofjen, wie Gatterer, Foriter, 
Bürger u. j. w. die Orthographie beibehalten habe, nicht aber bei den eigenen Mit- 
teilungen, Gedichten u. j. w. von Rhilippine jelbft. 


I. Kindheit und Elternhaus. 


Philippine jchreibt an Thereie Huber, geborene Heyne, am 3. Mai 1827: 
„Meine gute Huber! Sie liebe Jugendfreundin fragten mich neulich, ob 
ich nicht Skizzen meines Lebens auffegen oder einen Roman jchreiben wollte, in 
den ich jie verwebte? Mißtrauen gegen meine Schreibart, die wohl nicht das 
Gepräge der neueren Mode führt, und die langjährige Gewohnheit, bei Pe 
arbeit die Feder zu verfäumen — werden es wohl nie dazu fommen laffen, 
dacht’ ich immer. Heut, am dritten Mai, wo ich leider erjt zum dritienmal den 
Frühling ſah — und o wie blüht er diefes Jahr! — dacht ich im Gehen doc) 
an manches Ereignis meines Lebens. Viel Wunderbares iſt mir juft nicht be- 
gegnet — und mir fehlt der Mut, Dinge von Menjchen, denen ich Ehrfurcht 
Ihuldig war, der Welt zu erzählen, oder noch Lebende über ihr Porträt jtaunen 
zu jehen, zu dem fie mit ihrem Willen nicht ſaßen. ‘Freilich fönnten die 
Skizzen ungedrudt liegen bis zu meinem Tode und dann nad) neuerer Art 
Memoires heißen. Sehen Sie, ich hoffe fogar fast, daß wenn ich jetzt deswegen 
jterben möchte, ich noch nach dem Tode was gälte. Bei Lebzeiten ſah's etwas 
elend darum aus. Als ich in einer Stadt lebend, wo aus fo vielen Gegenden 
Studierende zufammen famen, und zu einer Zeit, wo die deutfchen Dichterinnen 
jelten waren, meine erſten Verſuche Anno 1778 herausfamen, wegen Bojens 
Treiben und Dietrichd Anerbietung — ja da galt ich wohl was. Der edle 
Lavater, al3 er ein wenig bei mir gewejen war, zog den Vorhang, der Sonnen- 
brands halber beinah ganz zu war, jelbjt auf und jagte: Nein, liebes Weible! 
wir zwei wollen uns bei hellem Tage recht anſehen und fennen lernen. — 
Guter einfacher Menjch! wie lich, wie teilnchmend warjt du! Er hob mein da— 
mals einziges Knäbchen vom Boden empor, nahm e3 auf den Schoß, fühte und 
fegnete es. Er prophezeite, e8 würde fromm werden, und o — welch Mutter: 
glüd, day c8 wahr ward! — Der brave Zöllner, der wißige Nikolai, der 
hochberühmte Johannes von Müller — der ſüß dichtende Salis, der 
mir jo viel Schönes von jeiner Schweiter jagte, o fo mancher Berühmte und 
Beliebte der Zeit begrüßte mich. Aber fie ıft lange vorbei diefe Zeit. Kein 
— und kein Hahn kräht nach mir, wie ein altes Sprichwort ſagt. Bald 
chwieg ich lang — bald ward das ſtille lyriſche Spiel nicht beachtet bei den 
wunderſamen, oſt verworrenen Liedern des neueren Geſchmackes — die ſpaniſche 
Mandoline, die vielen fremden Töne überſtimmten den deutſchen Sang.“ 
„Wo Albrecht Dürer malte, von der ſchlimmen ſchönen Frau immer zu noch 
mehrerem Schaffen geſpornt, wo Hans Sachs, der witzige Schuſter, neben dem 
Leiſten dichtete — vermutlich hatte dieſer eine gute Frau, weil nichts von ihr 


734 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


geiprochen iſt, — wo die fünftlichen Eifengüffe gemacht wurden, die den Kirchhof 
und den Schönbrunnen und jo manch andere Stadt zieren, — wo Kaiſer und 
ihre Gattinnen jich des Lebens freuten — und ad), die Ariftofratie jo herrichte, 
daß unzählige Galgen und Räder die Despotie der Gutsherren bezeugten — daß 
ein ſolcher einjt gejagt hat, wie mein Water oft erzählte: Auf alle Weife - 
ich Schon Menjchen hinrichten lafjen, wenn man nur jemand der SHererei fiber- 
zeugen fünnte oder als Mordbrenner beträfe, daß ich auch Einen fünnte ver- 
brennen lafjen; — wo die Bürger ihr Vermögen der Abgaben halber den adligen 

Herrjchern angeben mußten, es jogar (ad) oft Yatich) beichwuren! dort — erblidt 

ich das Licht der Welt am 21. Dftober 1756.“ 

„Was joll ic) von meiner erjten Kindheit jagen? Im erjten Alter war ich 
jo ruhig, daß meiner Mutter Bater jagte: Es ijt wohl gut, daß das Kind nicht 
jchreit — es fann aber ftumm bleiben. — Gut, ich bin leider wohl zu beredt 
geworden. Wenn ich vergnügt bin, jtraf ich mich, auf einmal heimlich merfend, 
day ich mich der Rede fait ganz bemächtigt habe, und fchmweige bejchämt eine 
Meile. Doc reift die angeerbte Geſprächigkeit mich leicht wieder hin. Yu meiner 
höchſt wigigen Mutter jagte einft mein Bater: ‚Mama, ich glaube, Ste fünnten 
vierzig Menjchen auf einmal unterhalten; überhaupt jchade, daß Sie nicht eine 
große Fürftin wurden; es fonnte eine Katharina aus Ihnen werden" — Eine 
Aehnlichkeit war aber nicht da. Nie gab's wohl eine feufchere Frau.“ 

„Mein Vater, der Lehrer ihrer Brüder war, hatte fie lange ftill geliebt. 
Theolog und zu den Pietiſten gehörend, die uns noch oft Lämmleinslieder 
ſchickten, war er immer mit niedergefchlagenen Mugen. Leider war, als fie fich 
heirateten, feine — —“ 

Hier bricht das Manuffript unjerer Dichterin leider ab und wir müfjen nun ver- 
juchen, den Faden jelbjtändig wieder aufzunehmen. Philippinens Bater, Johann 
Ehriftoph Gatterer, der nachher jo berühmt gewordene Gefchichtsforicher, war 1727 
in der Nürnbergifchen Feitung Lichtenau geboren, als Sohn eines armen Soldaten. 
Der Vater hätte für feine Ausbildung nichts tyun können, allein durch die Empfehlung 
feiner Lehrer in Nürnberg, wo er in die Schule ging und fich durch Fleiß und gute 
Aufführung auszeichnete, befam er Unterftügungen einiger vornehmer Familien und 
fonnte zu jeiner großen Freude (1747) die Univerfität Altdorf beziehen, um dort 
Theologie zu ftudieren. Nebenbei aber legte er fich fchon damals auf die humanen, 
namentlich die Hiftorischen Wifjenfchaften, wozu ihn Neigung und Anlage in bejonderer 
Weiſe hinzog. 

Als nach ſeinem Tode die Tochter ſein Bildnis einem jungen Freunde zuſandte, 
begleitete ſie es mit einigen Verſen, aus denen hier die Beſchreibung der Entwickelun 
und der Perſönlichkeit des Vaters Platz finden mögen: „An Herrn Chriſtoph Rommel, 
Kaſſel am 3. Mai 1799. 


Mein junger Freund! der du die Muſen liebſt, 
Und dic ' 


Der einft dein Vorbild werden kann. 

In einer Höhe, die nur fcharfe Geijtes:Mugen 
du ſchätzen, zu eripähen taugen — 

Steht leer ſein Platz, den er ſo früh erklimmt, 


Er, der jetzt Platz am Quell der Weisheit nimmt, 


Der lebenslang mit Hinderniſſen kämpfte, 
Von denen keine je ſein Feuer dämpfte. 

Du haſt ſo vieles, was die Hand dir beut, 
Den teuren Vater voll Gelehrjamteit, 

So manches Buch, noch damals unbetannt, 
Hilfsmittel, die der Selige erfand. 

Mußt nicht wie er adıt Stunden Lehrer fein, 


don früh in Fleiß und Tugend übft, 
Nimm bier dad Bild von einem großen Mann, 


Dann dich belehren tief zur Nacht hinein. 
Als Süngting ſchwächt er feine Nerven fo, 
Ward felbft als Knabe nicht des Lebens froh, 
Denn ad! ftudieren follt’ er nicht, 

Drum gab er früh ſchon Unterricht, 

Und faufte jparfam ſich dafür 

Die Bücher, Federn und Papier. 

Auf jeder Schulbanf rüdt er ſchnell zur Höhl, 
Nur ihm ward ſtets des Fleißes Prämie. 
Nun hohe Vorſprach hin zum Water trat 

Und fir den armen Knaben bat: 

Laß dies Genie and Zwanges-Feſſeln los, 
Der wird gewiß einſt als Gelehrter groß! 


Doch Freund, kannſt du wie er aud) einfam fein? 


Man ſah ihn eifrig ſich der Dichtkunſt weih'n, 


Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 735 


Durch himmlijchen Gefang ſich zum Klavier erfreun, Der große Manır, jo gütig und jo mild 
Durch Bechiel der Natur —— ſich zerſtreun, Als Hier ſein denkend, Tiebeatmend Bild, 

Doch gleich ſchloß ihn die Zelle wieder ein. Was er als Menſch und Vater war, der große Geiſt, 
— — — — — — — — — — — — — — Das fagtder Tochter Thräne — die fie ſchweigen heißt.“ 


In Nürnberg fand der angehende Gelehrte jeine Gattin, das Töchterlein des 
Goldjchmiedes Schubarth, der er Klavierunterricht gegeben hatte, und Eehrte, nachdem 
er 1751 Magijter und 1752 Privatdozent an der Univerſität Altdorf geworden war, 
noch in demjelben Jahre als Lehrer am Gymnaſium in die alte Neichsjtadt zurüd, 
wo ihm als drittes Kind unſere Magdalena Philippine am 21. Dftober 1756 ge- 
boren wurde. 

In Nürnberg blieb Philippine faum drei volle Jahre. Als 62jährige Frau jah 
fie die Vaterftadt wieder und rief ihr zu: 

Sei mir gegrüßt mit deinen blanten Türmen 
Du ſchöne große ehrenwerte Stadt! 
Die Gottes Huld in alt’ und neuen Stürmen 
Vor Taufenden, jo wohl erhalten hat. 

„Wer kennt nicht Nürnberg? — Die freie deutjche Reichsjtadt, jo recht mitten im 
Herzen unſeres Vaterlandes gelegen, in der fich gute alte Sitte noch fo treu erhalten 
bat wie das altertümliche Ausjehen, wo der Gewerbefleiß mit der Poeſie auf einer 
Bank ſaß und aus der Bereinigung beider die jchöne, in Ernft und Laune jo biedere 
Kunst hervorging; wo der ehrliche, deutjch-gerade Meiftergefang noch faft bis auf die 
jüngften Zeiten herab gedauert hat. Ihre hohen Häufer mit verzierten Giebeln, denen 
man die Wohnlichkeit von außen jchon anfieht, mit den gemütlichen Erfern, bier und 
da Terrafjen mit Grün dazwijchen; überall Blumen vor den Fenftern, und hier und 
da ein Freslogemälde an der Wand. Die krummen, jo interefjant abwechjelnden Straßen, 
auf denen man lauter guten und freundlichen Leuten begegnet. Die ernten dämmern— 
den Kirchen, die die Andacht früherer Zeit bis ins Kleinſte mit taufend Bierlichkeiten 
ausgejtattet hat; Peter Viſchers erzene Bildwerfe, in deren unjcheinbarem Aeußeren 
ein hoher und wunderbar jchöner Geijt jpricht. Und wer von alledem nichts Fennt, 
dem ift doch wenigitens das Nürnberger Spielzeug befannt, mit dem dieſe gute alte 
Kinder liebende Stadt ganz Deutjchland alle Jahre beſchenkt. — Zwiſchen dem allen 
aljo jtand Philippines Wiege, und wer weiß, was fie da mit ihren tiefen Atemzügen 
des erſten Schlafes von dem Geiſte alles defjen eingefogen hat, denn man fagt ja, daß 
das Genie im Traum befcheert wird und daß ein Kind in feinem erften Jahre fein 
ganzes übriges Leben vorausträumt“ (Ph. N. 1840). 

Ueber die erjte Entwidelung fünnen wir wieder ein Fragment von Philippines 
eigener Hand benußen. 

„Von meiner Kindheit ſoll ich Ihnen erzählen? Cie enthielt gar nichts be- 
jonderes. Schon haben berühmte und unberühmte Berjonen mic) gebeten, meinen 
Lebenslauf aufzujegen, allein es jcheint mir ganz unmöglich. Wie vieler noch 
Lebenden, wie vieler Geftorbenen Schwachheiten auch Fehler würden hier an den 
Tag kommen? GErftere von mir jehr chrwürdigen Perfonen. Wie würden 
—— und Heuchler das Geſtäudnis von Jugendſchwärmerei, von Unfleiß der 
tindheit u. dergl. verhöhnen oder verdammen. Es kann und wird nie ein ganz 
treuer Lebenslauf von meiner Hand erjcheinen, und andere wifjen nur Bruch— 
ftüde, wovon viere, von denen ich weiß, daß fie erfchienen, Beweiſe find.“ 

„Doch der jpäter gefundenen Freundin, die es als Freundjchaftsbeweis for: 
dert, will ich ein wenig aus der Kindheit vorplaudern.“ 

„Ich mochte etwa drei und einhalb Jahre alt fein, als mein Vater den Ruf 
als Profeſſor der Geichichte nach Göttingen annahm. Im erjter Kindheit ſchwebte 
mir oft ein dichter Wald vor und ein fteiler, böjer Weg und mehrere Männer, 
die um unjere Kutſche geichäftig waren. Damals gab's nur Schlechte Landſtraßen 


736 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


und die Eltern jprachen davon, daß an einer Stelle mehrere Männer den Wagen 

hätten an einer Eeite unterjtügen müffen, damit er nicht herabftürzte. Vielleicht 

war gar der Fuhrmann einen falfchen Weg gefahren, aber gewiß hatte das Aus— 
jteigen, der Angftruf der Eltern, die nie gereift hatten, und die wilde Gegend 
den Eindrud mir gegeben. Schr lebhaſt jah ich jie vor mir jo oft ich wollte 

— umd in einer Zeit wo ic) weder Landſtraße noch Wald wiedergejehen Hatte.“ 

„Sch begreife nicht, wie ich als ein jo außerordentlich flüchtiges Kind, das 
damal3 und jpäter bei allem Lernen feine Ausdauer hatte, jo ſehr früh Habe 

(efen lernen und wer dies Wunder verrichtet Hat. Man jagte mir, mit vollen 

vier Jahren hab’ ich gelejen. Die Maſern hatte ich mit fünf oder höchſtens 

jechstehalb Jahren. Ich erinnere mich jehr deutlich in einer Zeit, wo e3 fpäter 

Tag wird, an den Majern franf gelegen zu Haben, und die aufſtehende Kinder- 

magd gebeten zu haben, die Laden zu Öffnen. Sie verweigerte es, es jei noch 

nicht Tag. Ich ungezogenes Ting fing, da Bitten nichts half, zu weinen an und 
endlich öffnete das Mädchen. Warum wollt’ id) jehen fünnen? Inter meinem 

Kopftiffen lag das deutjch-lateiniiche Wörterbüchlein. Auf der linken Seite des 

Blättchens waren fleine Dundraten mit Holzjchnitten, die alles in der Welt vor- 

ftellten, und die Benennungsworte jtanden deutſch und lateinisch daneben. Da 

(ag auch der liebe, liebe Orbis pietus. Schöne Nugenpflege! mit den verweinten 

Augen nun in der Dämmerung die Bilderjchäte aufſpürend und den Rüden er 

fältend. Es jchadete mir zum Glück nicht? und es war gar die Rede nicht 

davon. Vermutlich hatte die Magd es nicht berichtet. Dieje Lejewut wuchs mit 
mir um die Wette. Es war da auch eine Acerra philologica und eine Welt in 
einer Nuß, die mir nüßten und mich erfreuten. Eigentliche Kinderjchriften gab eg 
damals noch nicht. Allein wie glüdlich machten mich Gellerts Schriften und 

Hagedorn. An meinem jiebenten Geburtstage gab jie mir mein Vater im 

ihönes Papier gebunden. Hier hajt Tu Deine Lieblinge nun ganz als Eigentum, 

fagte der Gütige. Einige Wochenjchriften und mehrere Reifebeichreibungen las 
ich damals auch ſchon.“ — 

Sehr früh lernte das Kind auch jchreiben, und ihr erjter fchriftitellerischer Ver— 
ſuch war findlich großartig genug. Käftner, der eines Tages in Oatteres Haus fam, 
fand das etwa fünfjährige Ding auf einer Fußbank figend und mit großem Eifer über 
einem diden Buche jchreibend. — „Was macht dur denn da, Finchen?“ — „Ich fchreibe 
die Bibel ab.“ — Und da hatte es ganz naid wirklich) mit dem erjten Kapitel Mofig 
angefangen. 

„Das Magazin der trefflichen Madame Beaumont jür Kinder, größere 

Mädchen und Jungfrauen, war damals in der Mode. Gerade wie die Schule, 

die fie bejchrieb, war eine, der eine alte Wittwe aus der franzöfifchen Schweiz 

und zwei Töchter vorjtanden. Ebenſo waren fleine Kinder, größere Mädchen 
und Sungfrauen darin. Die ältefte Tochter, objchon jehr ftill und Fromm, liebte 
mic) noch ganz Eleines wildes Ding jehr. Wie oft ſteckte fie mir kleine Süßig- 
feiten oder Obſt zu. Auf einmal fränfelte jie und legte jich endlich. Eines 

Abends ward ich zu ihr hinbeſchieden. M. hob mich auf ihr Bett. Sie er- 

mahnte mich, fromm und fleißig zu fein, und nahm zärtlichen Abſchied.“ 

Später wurde ihre Ausbildung vorzugsweife vom Bater geleitet. Die Familie 
vermehrte jich jtarf. Das eine der drei ältejten Kinder jtarb, die beiden anderen aber, 
Helene und Philippine, hielten jich mehr zum Vater, während die durch eine Lüde 
mehrerer Jahre davon getrennten jüngeren Gejchwifter, die im Scherz die Kinder zweiter 
Ehe hießen, mehr der Mutter überlafien blieben und ihr in der Häuslichfeit an die 
Hand gingen. Helene und Philippine halfen dem Water jpäter auch bei feinen litte- 
rarifchen Arbeiten, fie fchrieben feine Vorlefungen ab, malten die Karten aus, die er 
herausgab, halfen ihm genealogiſche Tafeln machen, ja die eine lernte fogar in Wachs 


Eine deutiche Dichterin vor hundert Jahren. 737 


boffieren und die andere in Kupfer ftechen. Mit weiblichen Handarbeiten gab fie fich 
damals wenig ab, und wenn fie in die Küche fam, jo pflegte ihre Mutter wohl zu 
fagen: Was willjt du hier, Philippine, hier gehörſt du gar nicht her. 

Doch obgleich fie ihre Bildung von Water erhielt, hatte fie die Natur weit mehr 
von der Mutter. Dieje, eine Neichsjtädterin von guten alten Sitten, war, wie wir 
ſchon vorhin gehört, gar redſelig und lebensluſtig und voll Wit und alter Kraftfprüche. 
Es ijt jchade, daß ſolche Spricdhwörter immer mehr abfommen. Es liegt in ihnen eine 
ganze Lebensweisheit auf die einfachjte und eindringendjte Weije, umd fie ftellen fich 
immer gerade da ein, wo man ihrer bedarf, warnen, ermutigen oder tröften. Sie 
pflanzen ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht fort, und jo hatte auch Philippine davon 
manche überfommen und fie nachher wieder in den Mund ihrer Kinder überliefert. 
Dabei war die Mutter immer beweglich, rüjtig als Hausfrau, aber ebenjo vergnügt in 
Gejellihaft, pußte fich gern und ließ fich täglich frifieren — furz, fie war das genialere 
Element im Haushalt, ja fie machte fogar Gelegenheitägedichte. Was aljo Philippine 
empfangen hatte, war im eigentlichjten Sinne Mutterwit. 

Was fie dagegen vom Vater in den oben mitgeteilten Verſen über feine feurige 
Poeſie erwähnt, jcheint auf kindlicher Einbildung zu beruhen, wenigſtens ijt nie jeman- 
dem anders etwas davon zu Dr gefommen. Er war vielmehr mit Leib und Seele 
ein Gelehrter, ein großer jeitgebauter Mann, von geradem, ruhig freundlichem Wejen, 
jeltener Bejcheidenheit, und allem Gewaltjamen abgeneigt. Eine Eigenheit, die mit 
feinem unverblümten Weſen in der Wifjenjchaft nicht übel zufammenftimmt, war, daß 
er feine Blume riechen fonnte und davon unwohl zu werden meinte. Seiner ganzen 
pedantiichen Art gemäß führte er eine einfache und äußerſt mäßige Lebensweije und 
lebte fast einfiedlerisch allein feinen angejtrengten Studien. Nur täglich von 11—12 Uhr 
ging er auf dem Wall fpazieren, wo man fich denn mit anderen Profefioren traf, und 
abends ſetzte er fich zu feiner Frau und lieh fich erzählen, was fie Neues gejehen und 
erlebt hatte. Wenn er den Tag über die Menschheit in ihren entfernten und großen 
Maſſen und Bewegungen ftudiert hatte, fchien es, ala ob er fie num auch im einen 
und in der täglichen Nähe betrachten wollte, und als ob die Vergleiche daraus ihm 
feine großen Studien wieder interefjanter machten. Selbſt mochte er feine Zeit nicht 
dazu verwenden und fo hielt er jeine Frau dazu an: Mamachen, gehen Sie denn heute 
nit aus? — In demfelben Intereffe las er die Zeitungen, aber erft am Ende jedes 
— gleich im Zuſammenhange weg. Sonſt waren ihm gleichgültige Geſpräche zu— 
wider. 


Dies war eben das Neue und Vortreffliche ſeiner Leiſtungen, daß er die Geſchichte 
nicht, wie es bis dahin zumeiſt geſchehen war, als einen abgeriſſenen fremden a 
des Wifjens betrachtete, fondern fie von einem humanen Standpunkt aus auffaßte un 
beliebte. Dadurch, daß er die entfernteften Zeiten und Völker mit den Zuftänden der 
Gegenwart ftetS verglich, brachte er richtige Vorftellungen hinein, dadurch, daß er bei 
ben äußeren Begebenheiten, die überliefert werden, immer zugleich auf die Sitten und 
die Kultur des Volkes, das fie betrafen, Nüdjicht nahm, brachte er eine Einheit in das 
A Gebäude; dadurd) jchied er auch die eigentlich wirkenden Urjachen von dem Zu: 
älligen, und fchrieb ſo — wie er ſelbſt den Unterſchied macht — nicht bloß Staaten: 
geihthte, ſondern auch Menfchengejchichte. Bon der Gejchichte einzelner Familien, mit 
er er angefangen, ging er auf die Gejchichte einzelner Epochen und Völker über und 
erweiterte zuleßt jeinen Blick über die ganze Mentchheit Von Gatterer datiert eigent- 
lich erſt dasjenige, was man Univerjalgefchichte nennt, und indem er dieje zugleich ihrer 
höchſten Aufgabe zuführte, ein Bild der Menjchheit zu entwerfen, wodurch, ie nicht 
nur praktiſch belehrend wird, ſondern auch unmittelbar an das Ganze des Willens 
und die höchſten und tiefiten Fragen des Menfchengeiites anfnüpft, — hat er, unbe- 
wußt, das Fundament für die Gejchichte als Wiſſenſchaft gelegt. Die Tochter berichtete 
jpäter mit Stolz, daß der Vater „jogar Herders hohe Bewunderung erregte, wie ich 


738 Eine deutfche Dichterin vor hundert Jahren. 


mit defien eigenen Worten las“, — Herder, der ja nach einer anderen Seite hin 
diefer jelben Aufgabe in jo genialer Weiſe diente. 

Bon dem Blid ind Große führte ihn aber die Liebe zur Wiſſenſchaft immer 
wieder gern auch in alles Einzelne zurüd, und mit Fleiß und Emfigfeit konnte er jich 
in das Kleinste vertiefen. So lag er mit Eifer den hiftorischen Silfswiffenfchaften ob, 
der Genealogie, Heraldik, Tiplomatif, Numismatif, Chronologie, Statijtif und Geo— 
graphie und legte in ihnen allen einen fejten Grund. Bon der Geographie fam er 
fogar auf die Metereologie, zu der er lange und genaue Beobachtungen über die Wittes 
rung anftellen, welche er in einem „Kommentar über das metereologijche Fundamental— 
jahr“ zufammentrug. Seine Pünktlichkeit in diefen Beobachtungen ging bis aufs äußerite. 
Ein Fenster der Gattererfchen Wohnung war eigens mit den Apparaten dazu einges 
richtet, denen niemand zu nahe fommen durfte, und nach der Minute jchrieb er täglıch 
auf. Mitten im Hofe hatte er einen blechernen Regenmefjer; oft wenn die Profefjoren- 
frauen Wäfche Halten wollten, jchidten fie zu Gattererd Frau: fie möchte doch den 
Herrn Hofrat fragen, was e8 für Wetter gäbe, — worüber er ſich aber, zumal wenn 
er nicht heiterer Laune war, jehr ärgern konnte. 

In Schlichtegroll3 „Nekrolog der Deutjchen“ (von 1799) heit es von ihm nach 
einer lobenden Charafteriftif feiner wiffenjchaftlichen Tugenden: „Selbit feine Bedächt— 
fichfeit, die auf den erften Blick als Phlegma erfcheinen konnte, und die Abwejenheit 
einer lebhaften Phantafie waren der Art von Gejchichtsforfchung, durch die er 2 
augzeichnete, fehr vorteilhaft.“ — Aber eben jeine Bedächtigfeit und der Trieb na 
Vervollftändigung feines Wiffens hat ihn wenige feiner Werfe ganz vollenden lafjen. 
Die Menge des Stoffes übernahm ihn und noch unaufgeflärt gebliebene Bunfte zogen 
ihn immer wieder an und führten ihn zuräd. 

Zur Bervollitändigung des Bildes dieſes Gelehrten gehört noch die Erwähnung, 
dab er auch im Wirken wie in Werfen feinen Eifer bethätigte. Er ftiftete das hijto- 
rifche Inftitut in Göttingen (1764), und war eines der thätigiten Mitglieder der dor— 
tigen Eozietät der Wifjenfchaften. Das Wohl und der Ruhm der Univerfität ging 
ihm höher als fein eigener. In allem aber wirkte er als eine lautere Seele ohne 
fleinliche Rüdjichten der Eiferjucht oder der perjönlichen Abneigung. Nur fein münd— 
licher Vortrag joll, wie das nad) allem übrigen wohl erflärlich, etwas einförmig und 
langweilig gewejen jein. 

Bezeichnend ift, daß die Tochter ihn in dem oben mitgeteilten Fragment einen 
„Pietiſten“ nennen konnte. Doch jcheinen diefe Beziehungen feiner Jugendzeit nicht 
angedauert zu haben. Wenn auch eine entjchiedene Gottesfurcht und einfache Frömmig— 
feit fich in feinen Werfen zeigt, jo hat der Charakter derjelben nirgends etwas von 
dem, was man Pietismus nennen fünnte, — zu welchem fich die Tochter, wie die gleiche 
falls mitgeteilte Aeußerung über die „Lämmleinlieder* zeigt, Schon im entjchiedenen Gegen 
fat wußte. Es war ja gerade dieje Zeit, der Anfang der zweiten Hälfte des Jahre 
hunderts, wo unter der Gönnerjchaft des Philofophen von Sansſouci die Aufklärung 
ihren Einzug in die gebildeten deutjchen reife hielt und wo in vielen Biographien fich 
die Erjcheinung zeigt, daß die vereinzelten Wurzelfafern, welche die angeerbte biblijche 
Frömmigkeit naturgemäß noch ausjtredte, in dem Boden, auf den fie angewiefen waren, 
in Geſellſchaft und Kirche, feine Nahrung fanden und allmählich erjtarben. 

Um das Bild des Vaters gleich hier zu vollenden, teile ich noch einiges aus feinen 
Briefen mit, wenn diejelben auch aus den Jahren jtammen, in denen Philippine Schon 
verheiratet war. Er ſchickt am 15. Dftober 1782 feinen Sohn George nad) Kafjel in 
das Haus des Schwiegerjohnes, von wo aus er das Lyzeum befuchen jol. Nach 
einigen äußeren Mitteilungen und Bitten heißt es: 

„Sch bin ehr begierig, zu erfahren, ob — und wie fich George in den Elaß-Zwang 
finden werde. Bielleiht thut die Aemulation bey ihm mehr, als ich von ihm hoffe. 
Solte er aber fich verdrüßlich, oder miürrifch, oder niedergejchlagen zeigen; jo belieben 


Eine deutjche Dichterin vor hundert Jahren. 739 


Sie mir ja ungefäumt davon Nachricht zu geben, um darüber urtheilen zu fünnen. 
Seinen guten, freydenfenden und zu Erfindungen und Entwürfen von aller Art auf- 
gelegten Kopf möchte ich nicht gern in Gefahr ſetzen. Seine Anlage iſt, daß er ent- 
weder was rechtes, oder gar nicht® werden fan. Etwas Eigenfinn muß er behalten, 
denn darin bejteht die Originalität. Er läht jich an einer feidenen Schnur lenken; 
aber Stricke und Feſſeln zerreißt oder vernichtet er. — Im Fall die Clafeinrichtung 
nicht für ihn jeyn folte, jo dürfte man vielleicht dort, wie an anderen Orten, im 
Lyceum Privatijten aufnehmen, die nicht an jede Stunde und Lection ıc. gebunden 
find. Sch wolte gern etwas mehr geben. Geht die nicht an, fo riethe ich einen Ber: 
juch mit etlichen befonderen Hauslehrern (zu denen er allenfalls ſelbſt gehen könnte) 
oder die E.jche Anftalt an. Solte aber auch) die nicht möglich, oder für Sie zu be= 
fchwerlich und für mich zu fojtbar feyn: jo müßte ich ihn jogleich wieder nach Haus 
nehmen. Indeß hätte er doc) Gelegenheit gehabt, das jchöne Caſſel zu jehen, und die 
Welt außer des Vaters Haufe fennen zu lernen. — Wöchentlich wollte ich bitten, ihm 
1, 2 oder 3 Albus nach Beichaffenheit jeines Fleißes und feiner Aufführung, und in 
gewiflen Fällen auch gar nichts, zum Sadgelde zu geben. Alles übrige überlaffe ich 
Ihrer gütigen Vorſorge und weifer Veranitaltung.“ — 


Und vollftändig möge hier ein Brief vom 17. Januar 1784 Platz finden: 


„Mein Lieber Theurer Herr Schwiegerjohn, 
Liebe Rhilippine! 

Ihre findlichen Glückwünſche zum Jahreswechſel ertviedere ich durch herzliche Gegen: 
wünjche. Beftändige Gefundheit in einer langen Reihe vergnügter Lebensjahre und 
gr Ausfommen find fait die einzigen Dinge, die man Ihnen wünjchen fann: alles 

brige, Hausvergnügen, Kinderfreude, wechjelsweife Zärtlichkeit, Zufriedenheit mit dem 
was man hat u. dgl. hängt mehr von Ihnen jelbft, al3 von fremden Wünfchen ab.“ 

„Uebrigeng, weil doch folche periodische Wünsche, als Neujahrswünſche find, mehr 
von der Mode, al3 vom freyen Willen abhangen; jo wollen wir mit einander fürs 
fünftige ung dahin verabreden, daß wir einander bis zum Ende des laufenden Jahr: 
hundert3 nicht öfter, als etwa einmal oder höchftens zweymal, uns zum Neujahr 
gratuliren. Sobald man aber 1800 jchreibt, ja alsdann wollen wir feinen Jahres: 
wechjel — um uns bogenlange Glückwünſche zuzuſchicken. Sie werden lachen, 
daß ich ſo ganz leichtſinnig weg an 1800 denke. Aber einem Hiſtoriker muß man es nicht 
übel nehmen, daß er fo geſchwind über Jahrzehnde wegſieht, da es ihm zur Gewohn- 
ie it, immer Feder und Mund von Jahrhunderten und Jahrtaufenden voll 
zu haben.“ 

„So eben leſe ich im . . . Gelehrten Teutjchland folgenden Artikel: Engelhard, 
Philippine, Frau des Heſſen-Caſſelſchen Kriegsrats Engelhard rc. Ich will diejen 
fleinen litterarifchen Fehler, als Zufat zu meinem Neujahrswunich anjehen, und jo 
ihn zum deſten deuten.“ 

„Bergen kann ich nicht, daß ich einmal Sie mit Ihren 2 lieben Kindern wieder 
a in Göttingen zu umarmen wünjche Es geht da3 Gerücht in unferem Haufe, 

aß mein Lieber Herr Schwiegerfohn auf den grabling den Brunnen bey uns trinfen 
wolle. Machen Sie ja diefes Gerücht wahr. Bis dahin, da wir uns mündlich alles 
Gute wünfchen wollen, leben Sie jämtlich wohl, und bleiben geneigt 
Ihrem 
Meine Frau und Kinder grüßen — treuen Vater 
Sie herhlich. Gatterer.* 


Dies alfo war der Vater, unter deſſen auf jelbjtändige Entwicelung der Drigi- 
nalität, wie wir ſahen, jo bedachten Erziehung und unter deffen Einfluß fich die junge, 
in Genialität und lebendigem Wejen der Mutter gleichende Philippine entwidelte. 


740 Eine deutihe Dichterin vor Hundert Jahren. 


In das Leben mit und bei ihm mögen uns die Verje einführen, die fie ihm als Dank 
für feine „neu ausgearbeitete Weltgeichichte* zuſandte, — am 14. Juli 1785. 


Noch füllt jenes Feuer mein Gemüte, Nur las, geihah mir's wohl, daß ich mich jo vergaß 
Das als Heine Mädchen mid) durdhglühte, Und zwiſchen Erd und Himmel ſchwebend las. 
Wenn faft jeden Tag ich liftiglic) Erihroden trafit du, lieber fanfter Mann, 

Mit dem Stridzeug von der Shmweiter ſchlich, Mich mehr als einmal in der Stellung an. 

Und in deinen lieben Bücherſtuben Dann gab es zwar gebührenden Verweis, 


Blindlings welche fand — die Mädchen ſo als Buben Doch machteſt du mir die Hölle nie zu heiß; 
Man juft nicht gibt — las ich doc) jedes Fach; Und jchlofjeft vom närriſchen Mägdlein wohl fein: 
Klug und 3 zu fein war meine Neugier wah. Es ſammelt vielleicht wie die Biene ein. 

i 


Da fand Bücher, glühender Liebe voll, Wohl trug ich in Herzeleid und Ruh 

Die ſolch ein Gelbihnabel nicht leſen joll; Bald Honig der Poeſie mir zu. 

Und Weisheit der Nerzte, die viel mir entdeckte, O gäb' er dem Vater jet Lindrung und Kraft, 
Was Vorurteil oft nur den Kindern veritedte. Der lange mir Bildung und Nahrung verſchafft. 
Un zwei fih nahen Bücherbrettern Der heiße Lefetrieb iſt wahrlih Immer nod 
Wagl' ich oft Kapen gleich hinaufzuklettern, Die Duelle mir der höchſten Luft; und doch — 


Und blieb aus Lift oft mit den Büchern oben, Doch lernt id) bald ihn zu bezähmen, 

Die bei dem Heinften Geräuſch in ihre Fächer ftoben. Er darf kein Stündchen den Gefchäften nehmen. 
Doch auch bei Büchern, die du mir empfohlen, Schon lang fand faum ein Wochenblatt 

Und die ich alſo nicht veritohlen Auf meinem Arbeitstifche ftatt u. f. w. 


Sie freut ji nun der überfandten Weltgefhichte, für die fie gerade die ſchönſte 
Zeit habe. Aber den Eifer des Lejens kann man wohl nicht charakteriftiicher abbilden als 
in dem auch hier Ermwähnten, daß fie fich die Zeit nicht nahm, erſt herunterzufteigen, 
jondern ein ganzes Buch gleich oben auf der Leiter ftehend durchlas. 

Dies viele und mancherlei durcheinander Leſen it ebenjo wie die mannigfachen 
wiſſenſchaftlichen Berührungen, in die ihr Geiſt durch die direkten Hilfen, die fie dem 
Vater leiitete, eine Probe, in der fich die gefunde geijtige Natur Philippines bewährte. 
Es war nicht eine eigentlich gelehrte Bildung, die ihr dadurch zuteil wurde — dieſe 
thut wohl unter allen Umftänden der Natürlichkeit und Liebenswürdigfeit der Frau 
den größten Schaden. Aber ihr Geift war dazu viel zu beweglich, unbeftändig und 
natürlich gefund. Zwar Latein fonnte fie jo gut, da fie noch jpäter ihren Söhnen 
die Bolabeln abfragen konnte und auch wohl bei den Ererzitien hier und da aushelfen. 
Und jo blieben auch jehr viele wirkliche Kenntniffe aus den Büchern figen. Aber fie 
nahm nichts als totes Wiffen in fi) auf, oder gar um es vor der Welt zu zeigen. 
Sondern das lebhaft wechjelnde Intereffe, das fie an allem nahm, ließ fie alles Un- 
wichtige wieder jchnell und glücklich vergefien und das menjchlicd Wichtige machte fie 
ſich durch eigentümliche Auffafjung zu eigen und fammelte dadurch einen Schaf in 
Gedanken und in der Phantafie, von dem fie dreift jagen konnte, er war ihr eigen, 
— fein Leihhaus, wie die Gedanken der meisten vielgelernten Leute find, fondern ein 
Haushalt, wo alles, Bedürfnis und Luxus, an feiner Stelle ftand und flinf zum Ge- 
brauch) da war. 

Eine Folge freilich, die ihre Art von Bildung hatte, läßt fich nicht leugnen. 
Wenn auch das, was ſie auf diefe Weije erfuhr, die Unschuld ihrer Empfindung nicht 
beeinträchtigte, jo gab es doch fpäter ihrer Pocfie eine gewifje verſtandesmäßige Bei: 
— und eine Art über Herzensangelegenheiten zu reden, die der Poeſie nach— 
teilig war. 

Doch neben den Anregungen des Vaters und der väterlichen Bibliothek beſaß 
Philippine noch eine Reihe anderer Bildungsquellen und Gelegenheiten, ihrem beweg— 
lichen und bedürftigen Gemüt den Stoff zuzuführen, den es bedurfte. Ein lebendiger 
Zug führte ſie in das Leben der Menſchen. In die Werkſtätten ging ſie gern, ſah 
zu wie es gemacht wurde, verſuchte es wohl auch ſelbſt und unterhielt fi auch gern 
mit den Leuten aus dem Bolf. Und noch einen anderen nie verfagenden Born, aus 
dem die Stinderjeele immer wieder trinkt, mag fie uns felbft befchreiben. 


Eine deutfhe Dichterin vor hundert Jahren. 


An jenen Sahren wo nod Spiel und Freude 

Die Freundſchaft unter Mädchen tnüpft; 

Und wo im leichten Flügelkleide 

Das Herz im Heinen Buſen hüpft: 

Da hielt ich viel auf Märchen und Geſchichten. 

Bald las ich fie in Büchern und Gedichten — 

Bald aber jant ich tiefer aud) herab 

Und horcht' auf die, die Bauernwitz mir —X* 

Sa, dent ich jetzt daran, jo lach id) jo mi frank! 

Da ſaß ich euch auf einer Heinen Bank 

gu Füßen einer Magd — jah nebenher in Ruh 
em Drehen ihres Spinnrads zu — 

Und hörte Märchen an von mannigfacher Art, 

Die ih zum Teil bis jett noch aufbewahrt, 

Die bald von Königstöchtern handeln, 

Die Heren in ein Tier verwandeln... . 

Und bald von Mördern, die in Felſenhöhlen wohnten, 

Und niemand als die jhönften Mädchen fchonten .. 

Auch (was mir ſtets das liebjte war) von Spüfereien, 

Ich glaubte fie nicht ganz — und doch konnt‘ ich 

mid fcheuen, 

Wenn drauf ein Gang im Finftern zu paffieren war; 

Ob ich gleich fühn: Wer wollte jo was glauben! rief, 

Indem der Schauer mir no übern Rüden lief. 


741 


Es mwuhte ‚bald der Kleinen Mädchen Schar, 
Daß ich Sehr viele Märchen las und hörte; 
Und mwollte drum, daß ich fie drin belehrte. 
Mein Züngelden war immer gut zu Haus; 
Und was im Kopf war, floh nicht leicht heraus. 
Bar uns das Pfänderfpiel und Blindekuh zumider, 
So jegten wir in einen Kreis uns nieder: 
Dann fingen fie mich an zu quälen, 
Ih mußte ihnen was erzählen. 


Da ging e8 an Erzählungen! die groben 
Verfeinert ich, und die, die zu erhoben 
Für ihre Sphäre waren, macht’ ich leichter; 
Natürlich wurden fte auch jeichter 
Als im Original; allein was thut das! feine gähnte, 
Auch Hört’ ich nicht, das eine je erwähnte, 
Mein Märchen fei zu lang. — Die guten Seelen, 
An denen ich die Gabe zu erzählen 
So früh ſchon übte, > jet nie mehr um mic) ber, 
Sie fordern meine Märchen jegt nicht mehr. 
Teils find fie weg, teild haben fie zu wiegen, 
Und manche haben jet Vergnügen 
Bon andrer Art. Auch hatt‘ ich lang zum Lügen 
Und zum Erzählen feinen Trieb empfunden... 


So beginnt ihr eigenes Märchen „Kolibri und Willibald“ im 1. Band ihrer Ge- 


dichte. 


Und wie dieje lebensvollen nehmenden und gebenden Einflüfje im Kindesalter 


jtattfanden, jo wurden fie, wenn auch in anderer Weije, der heranreifenden Jungfrau 
nicht minder geboten. Obgleich Gatterer weniger Umgang mit der übrigen litterari- 
ſchen Welt in Göttingen hielt als unter den meiften Profefjoren üblich war, und da— 
ber auch in dem Briefwechjel jener Zeit weniger vorkommt, als er dem Range nad), 
den er einnahm, verdiente, jo fanden ich doc) immer der Berührungspunfte manche 
und Bhilippine hörte nicht jelten unbemerkt, aber mit geſpannter Aufmerfjamfeit Unter- 
baltungen über wifjenfchaftliche und jchriftftellerifche Gegenjtände an. 

„Ein perjönliches Zujammenjein und Verkehr zum Wahren, Schönen und Edlen 
gleich jtrebender Menjchen ift überhaupt das wirkfjamfte Element, aus dem fich alles 
Große in der Zeit entwidelt oder zu feiner vollen Kraft gelangt. Wie wenig fann 
im Vergleich mit einem jolchen die Belehrung und Begeifterung aus Büchern, auch 
den vortrefflichiten bewirken, und wenn ein Buch jelbjt wie ein ‚Freund oder Erzieher 
zu uns reden fann, jo liegt doch eine nicht zu erjegende Belebungs- und Zeugungs- 

aft gerade in dem perjönlichen Umgang“ (PH. N. 1840). 

Wir ſchließen dieſen Abfchnitt mit ihrem Gedicht „An Deutjchlands Mädchen“, 
das jie aber noch als Jungfrau gefungen Hat, und aus dem ihre eigene Entwidelung 
teils fritifiert, teild in das rechte Licht geſetzt werden fann. 


Lernt — habt zu Sprachen ihr Talente — 
Der Franz’ und Briten —— 
Und die ſanftſchmelzenden Accente, 

In denen einjt Petrarca fang. 


ge fie Verftand bei gutem Herzen? 
enkt mande, fragt ein Freier nicht. 
Iſt nur zum Küffen und zum Scerzen 
Noch ganz erträglich ihr Geficht. 


Doc die's empfindet, es bejeele 

Sie Geift, der fih zum Denken jchidt; 
Das liebe Mädchen, das ermwähle 

Nur ſolches Willen, das beglüdt. 


In tiefgelehrten Schriften lejen, 

Die man für ernite Männer fchrieb — 
Mein Trieb iſt's mind'ſtens nie geweſen; 
Weil id) in meiner Sphäre blieb. 


Sid, mit der Grundtexrt-Sprache quälen 

Unüberjegt Homern verftehn — 

Das ziemt ſich nicht für Weiberjeelen! 

Latein — ſteht eben auch nicht fchön. 
Allg. koni. Monatsichrift 1888. VII, 


Dod lernt Geſchichte ja ein wenig; 

Sonſt heißt's, wenn man von Cäjarn ſpricht; 
Bar diejer nicht in Frankreich König? — 
Hier gibt's jet Teichten Unterricht. 


48 


742 


It ein lühen, 
———66 


So ben 


Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Indes die Hand näht oder strich. 


—— Kunſt mögt ihr euch weihen; 


Schön iſt's, wenn unter eurer Hand 
Bald Flur⸗, bald Blumen-Schildereien, 
Bald täufchendes Geſicht entſtand. 


Lernt ſchwerverſchlungne Reihen führen; 


Das —— euch ce Gang — 


Und fühe Sit 
Zu einem zärtli 


aiten rühren 
en Geſang. — 


fen ſchickt, 
br Geiſt an Melodien, 


Do laßt dergleichen euch nicht gnügen, 
Das nur ald Nebenfache ihmüdt, 

Könnt ihr in Häußlichkeit je kcmiegen, 
Dann ift einft euer Mann beglüdt. 


Kurz! die, die nicht bloß Scherz und Lachen, 
Und Eitelteit und Mleidung lie t, 

Wird ihren Gatten glüdli machen, 

Und Kinder, welche Gott ihr gibt. 


Sie wird bei wenig Reiz gefallen — 
Iſt felbit im en nod) gelömüct 
Und froh wird der durchs wallen, 
Den fie durch ihre Hand beglüdt. 


(Fortiegung folgt.) 


RR 





3ahl und Biffer. 


Bon 


Abu His. 


IV. Rechnen. 


Der geduldige Leer, der bis hierher gefolgt, möge nicht fürchten, nun zu all dem 
Vorangegangenen noch eine Rechenftunde zu befommen. Das wäre überflüflig; denn 
das Rechnen wird heutzutage auf den Schulen in einer Vollfommenheit gelehrt und 
getrieben, die fich wohl nicht mehr übertreffen läßt. Wie es aber zu dieſer Vollkom— 
menheit gefommen ift, das eben ift intereflant zu wiffen; und jo müfjen wir wenigjteng 
a ee Blick auf den langen Weg werfen, den die Völker hier allmählich durch— 
mefjen haben. 


Geſchichte des Rechnens. 


Dabei iſt von vornherein klar, daß die Geſchichte des Rechnens aufs engſte mit 
der Geſchichte des Zahl- und Zifferſyſtems zuſammenhängt. Einerſeits nämlich ſahen 
wir, daß das Zahlſyſtem das Rechnen bereits vorausſetzt und ohne Rechnen überhaupt 
nicht zuftandefommen konnte. Das Syſtem entjteht durch Verknüpfung der einfachen 
Bahlbegriffe; und Zahlen verknüpfen heißt eben Rechnen. Wir fanden, daß geradezu 
alle vier Spezies zur Verknüpfung von Einer und Grundzahl im Syitem zur Anwen» 
dung gelommen find: Addition 3. ®. in dreisund-zwanzig, vingt-trois, Subtraftion be= 
ſonders im Lateinischen und Griechifchen: un-de-viginti, eins von zwanzig — 19; 
Multiplikation: dreishundert ıc.; Divifion — die am feltenften vorfommt — u. a. im 
Dänijchen: halv-tres-indstyve, das dritte zwanzig halb — 50; anderswo wird Diejelbe 
* durch „ein halb Hundert“ ausgedrückt. — Die Abdition, dieſe einfache Rechenart, 

ndet fich wahrſcheinlich jchon in den Urformen der einfachen Zahlwörter angewandt 
und niedergelegt; erklärt man doch 3. B. das indogermanifche Stammwort fir acht 
aus der Wurzel des Wortes für vier, und zwar als eine Addition „vier und vier“ 
enthaltend. 

Sept fo einerfeit3 das Zahlſyſtem bereits ein Rechnen voraus, jo ijt 56 
das Rechnen von dem Zahlſyſtem und noch mehr von dem Zifferſyſtem auf das Empfind- 
fichjte abhängig. Wir fahen, wie der Menſch die abftrakten Baitiegrife mittel3 der 
Finger, mittel3 gemwiffer Inftrumente, endlich mittel3 Schriftzeichen, die ſich von der 


744 Zahl und Ziffer. 


Buchftaben-Schrift merklich abheben, möglichjt konkret darzuftellen — Dies geſchah 
vornehmlich, um eben die Zahlen und Ziffern möglichſt operationsfähig zu — um 
ein recht brauchbares, bequemes, vollfommenes Handwerkszeug in ihnen zu haben, mit 
Hilfe deſſen man alle nur möglichen Zahlfombinationen und Rechnungen auszuführen 
im ftande wäre. 


Fingerrechnen. 


Die unterſte Stufe des Rechnens iſt die, bei welcher die Finger mitſpielen und das 
anze Geſchäft verrichten müſſen. Wir können ſolches Fingerrechnen nicht nur bei jedem 
—* beobachten, es iſt auch bei ganzen Völkern des Altertums und der Gegenwart 
im Gebraud. Bei Homer heißt Nechnen geradezu pempazein, d. i. „abfünfen“. Wie 
Schon diefer Name jagt, ift das Fingerrechnen ein jehr mangelhafte und umftändliches 
Verfahren. Man muß fünf bei fünf oder höchſtens zehn bei zehn weitergehen. Für 
hohe Zahlen Lafjen die Finger im Stich. Das Dividieren ift eigentlic) unmöglich, das 
Multiplizieren muß auf das Addieren zurüdgeführt werden, indem 3. B. 3><9 durch 
achtmaliges Zuſammennehmen von neun Fingern ausgerechnet werden muß. Allerdings 
find da auch einfachere, direkte Methoden erfunden worden. Die intereffantejte von 
allen haben wohl die Wallahen — ſchon Adam Riefe foll diefelbe empfohlen haben — 
eine überrajchend einfache Methode zur Multiplikation zweier Einer zwijchen 5 und 10. 
Die Finger jeder Hand erhalten vom Daumen auffteigend die Werte 6, 7, 8, 9, 10. 
Hat man nun 8X 9 zu multiplizieren, fo jtredt man den 8-Finger, d. i. den Mittel- 
finger ber .einen, und den 9-Finger, d i. den Ningfinger der anderen Hand, vor. Die 
nad) dem —— hin übrigen Finger beider Hände (2 und 1) multipliziert man 
und erhält jo die Einer des Produktes (2. 1 2). Die Finger vom Daumen aus 
bis zu den ausgeftredten einjchlieglich (3 und 4) addiert man und befommt damit 
die Behuer des Produktes, 3+4=17. So*) ergibt fih 8x9 = 172. 


Andere Rechenmittel. 


Die zehn Finger jind für Nechenzwede unzulänglid. So werden fie auch hier 
wiederum durch Steinchen, Marken oder dergleichen erjegt, die man der Reihe nad) 
vor fich legt und an denen man entlang zählt. Soll man 3.8. 16 + 14 zufammen- 
zäblen, jo zählt man erjt 16 ab, von da an 14 ab, und zählt endlich wie viel man 
im ganzen abgesähtt bat. Bon ſolchem Gebrauch rühren die griechischen und lateinifchen 
Wörter für Rechnen her, psefizein von psefos, Steindyen, und calculare von calculas, 
Steinden, woher auc das franzöfiiche calculer und unjer Fremdwort Kalkül ftammt; 
diefe Wörter bedeuten demnach eigentlich” „mit Steinchen hantieren“. Bei unzivilifterten 
Völkern führen die Handelsleute zum Behuf des Rechnens ſtets ein Sädchen mit Mais— 
förnern bei ſich. Wir hochjtehende Kulturmenjchen des 19. Jahrhunderts glauben über 
ſolche niedrige Mittel längjt erhaben zu fein — allerdings; und doch haben wir in 
der Schule alle die Rechenmajchine mit ihren 100 Kugeln auf 10 Drähten benutzt — 


Für Freunde der Mathematik jei aud die Erklärung diefer Methode beigefügt. Nennt man 
die zu multiplizierenden Einer a und b, jo find die noch übrigen Finger zum Sleinfinger Hin 
10 —a und 10 —b, die Finger aber vom Daumen an a—5 und b—5. Ürftere wurden multi= 
pliyient: (10—a).(10—b) = 100 + ab — 10 (a+b); Iehtere addiert: (a—5) +b—5)=a+b—M. 
‚Die legtere Summe (mit 10 multipffziert) ſollte die Zehner geben, während die erftere die Einer zu 
liefern hat. Demnach joll und muß 10 (a +b— 10) + [100 +ab— 10 (a + b)] gleich ab jein, was 
auch thatfählich der Fall: 10 (a +b) — 10 +10 +Fab— 10 (a+b)=ab. 


Zahl. und Ziffer. 745 


was ift das anders als jene Rechenfteine oder -Marten in praftifcher fefter Anordnung. 
Und es find auch bei Männern und Frauen, bejonders auf dem Lande, mehr folcher 
primitiver NRechenmittel im Gebraud, als wir vielleicht denken. 

Aber mit Fingern und Marfen allein kann man es im Rechnen nicht weit bringen, 
da bleibt e8 eine jaure Arbeit. Nun verjege man fich in die Zeiten zurüd, wo die 
Völker einfach darauf angewiejen waren, wo ie noch feine Schrift oder a Ver noch 
feine Zifferfchrift hatten! Was für eine Erleichterung und Erweiterung der Rechenkumft 
mußte die legtere bringen! Heutzutage kann jelbit der jchlechteite Kopfrechner im 
„Zafelrechnen“ immerhin weit genug fommen. So, fünnte man denfen, habe gewik 
damals, als die Zifferjchrift, — jeder arme Kopf-, Finger- und Markenrechner 
alsbald vergnügt ſeine Tafel zur Hand genommen und alle ſeine frühere Not damit 
vergeſſen. wenn man damals unſere Ziffern gehabt hätte! Aber was konnte man 
mit ſolchen Malereien und Buchftabenfünften, folchen verzwidten Zeichen und Syſtemen, 
wie fie vor Alters im Schwange waren, machen? Wir brauchen gar nicht einmal auf 
die erften Anfänge der Bieten zurüdzugehen; nehmen wir Beifpiele aus einer 
recht jpäten Zeit und jtellen ung einmal mitt lenden Herzens vor, wir hätten folgende 
Abditionen auszuführen: 


1. Lateinijches Erempel aus dem 3. Jahrhundert nach Ehr.: 
IX \CLXXX DCCXIV + XLCCCIX + MMDCDXLII 
(1180 714 + 403090 + 2943) 


2. Griechisches Erempel aus dem 6. Jahrhundert nach Ehr.: 


Y « — — 
M + M3 + Max + og + + m +40 
(900 000 + 39000 + 10025 + 1500 + 225 + 750 + 39) 


Solche Erempel find fein Vergnügen, und man begreift, warum vor Zeiten die 
Tertigfeit im gemeinen Nechnen für etwas Großes galt. 


Recheninſtrumente. 


So lange die Ziffern ihren Zweck als brauchbares Handwerkszeug, als bequemes 
Recheninftrument noch nicht erfüllten, mußte man auf befjere Hilfsmittel finnen. Fajt 
alle Kulturvölfer des Altertums nahmen darum nach und nad) ein Necheninftrument 
in Gebrauch, welches das folgende Verfahren bedingte: Sie ftellten die Einer durch 
ebenſo viele Marken, die Zehner durch Marken anderer Art, ebenjo die Hunderter u.i. f. 
dar, und konnten jet mit je neun Marken für die Einheiten der verfchiedenen Stufen 
jede beliebige Zahl darftellen und in Rechnung bringen. Sie befamen jtatt des mangel- 
—5*— Zifferſyſtems ein Markenſyſtem ganz guter Art. Die Operationen mittels des— 
elben waren ſehr leicht und ſicher, faſt mechaniſch. — Der Unterſchied der Marken 
für die verſchiedenen Stufen ward begründet entweder durch ihre Farbe — etwa wie 
bei den Spielmarken unſerer Zeit — oder durch ihre Größe und ihr Gepräge, — 
wie es ja auch bei den mittelalterlichen vielgebrauchten Rechenpfennigen (abbey- 
counters) der Fall war —, oder auch nur durd) ihre Ortsverfchiedenheit, indem man 
die Marken aut parallelen Linien anordnete, welche der Reihe nach dem verjchiedenen 
Stufen entiprahen. Man gelangte alfo faft zu dem Stellungsprinzip in dieſem 
Markenſyſtem. Man traf auch jchon früh die Einrichtung, bat jich zwifchen den 
Hauptlinien noch amdere befanden, welche der auf ihr liegenden Marfe den Wert von 


746 Zahl und Ziffer. 


5 Einheiten gibt; eine Methode, welche genau der damals auch in der Zifferjchrift 
angewandten entjpricht und den Vorteil bringt, daß auf eine Hauptlinie nie mehr 
al3 vier Marken zu liegen fommen — 5 werden ja fofort durch eine Marfe auf der 
Nebenlinie erjeßt. 

Diefe Marken, die Träger diejes Rechenſyſtems, wurden vereinigt auf einem Brett 
oder einer Tafel, oft von Marmor, mit eingejchnitten bezw. eingemeißelten Linien. 
Die Griechen, von denen diefe Erfindung ausging, nannten die Nechentafel abax. Die 
Römer, die fie als abacus von den Griechen annahmen, brachten allmählich noch eine 
Heine mechaniſche Berbefjerung an: die bisher frei beweglichen Marken erjeßten fie 
durch Knöpfe, welche in Schligen eines metallenen Tifches fich verjchieben lafjen; an 
dem einen Ende des Schliges werden jie aufbewahrt; dadurd, daß man fie von dort 
nad) dem anderen Ende jchiebt, zieht man fie mit in die Rechnung. Die Zahl der 
Schlige betrug in der Regel ſechs — jo reichte man bis zu einer Million, mehr 
ſchien man für den Durchjchnittsgebraucd nicht zu bedürfen. Wie das Klavier oder 
der Schadhtifch im modernen Salon jteht, jo fand fich der Rechentifch unter den Mö— 
ben eines römischen Haufes; und ein NRechenbrett gehörte zum notwendigen Inventar 
des römijchen Schülers. Yölgerne Nechenbretter finden wir dann auch in deutjchen 
Schulen des 15. JahrhundertS wieder, wo der Nechenunterricht mit dem „auff der 
Linien“, d. h. eben auf dem Nechenbrette, begann, und erſt jpäter als „auff der 
Federn“, d. 5. als Zifferrechnen, jich fortjeßte. 

Uebrigens hatte man im Mittelalter in Deutjchland und in Europa überhaupt, 
noch eine andere, vollfommenere Art von Rechentafel oder abacus. Unſer heutiges 
indisches Zifferfyftem war damals bereits eingeführt, und diefe Nechentafel hatte ledig» 
ih den Zweck, das allein mechanisch zu erleichtern. Sie befam nämlich eine 
gewiſſe gab von Kolumnen, mit oder ohne Weberjchriften, um die Stufen anzuzeigen; 
in diefe Kolumnen ſetzte man Marken, welche mit Zeichen für die Zahlen von 1—9, 
d. h. mit unferen, arabifchen, Ziffern bejchrieben waren. Es beiteht fein Wejens- 
unterjchied zwifchen folchem Rechnen auf dem Brett und dem auf dem Papier; man 
ſparte fich durch diefen Abacus nur das Schreiben der Ziffern. 


Wie weit die Völker des Oftens irgend welche Recheninstrumente beſeſſen, ift noch 
nicht genügend feitgeftellt. In China allerdings, wo ja immer alles längjt geweſen 
fein foll, ehe in Europa nur daran gedacht wurde, in China ward fchon im 6. Jahr» 
hundert vor Chr. ein „Rechenknecht“ gebraucht, welcher fich inzwiſchen jo bewährt 
bat, daß er noch heute unter dem fchwungvollen Namen Suan-p’huän (von suän, 
rechnen, und p’huän, Wanne) bei Chinefen und Tartaren in allgemeinem Gebrauche 
ift. Der Swän pän befteht meift aus 10—15 in einen Rahmen eingefpannten Drähten, 
diefelben werden insgefamt durch einen Querdraht in zwei Abteilungen zerlegt, deren 
Hleinere 2, deren größere 5 Kugeln trägt, aljo je eine Kugel mehr als der römifche 
Abacus. Im übrigen aber find fie, wie man jteht, genau nach demjelben Prinzip wie 
diejer ig „Geübte chinefifche Rechner,“ jo erfahren wir, „agieren mit den vier 
— er rechten Hand auf ihren Rechenbrettern, wie auf einem muſikaliſchen In— 
trumente und greifen ganze Zahlenakkorde.“ 

Dasſelbe Inftrument, nur ohne den Querjtab, jtatt defjen mit 10 Kugeln auf 
jedem Stabe, ift nun auch in Rußland in jedem Kaufmannsladen unter dem unaus- 
Inrehficen Namen Stschotü zu finden. Dort lernte es Poncelet, ein Franzoje im 
ruffischer Kriegsgefangenfchaft, fennen, und führte es nachher unter dem Namen boullier 
in die franzöfiichen Elementarjchulen ein. So fam es vor wenigen Jahrzehnten auch 
in die deutjchen Schulen, diesmal unter dem nicht ganz richtigen Namen Zählmafchine. 
Dieſelbe ficht dem chinefifchen Urgroßvater, dem Rechenknechte Swän pän, nun bloß 
noc äußerlich ähnlich; von verjchiedenen Stufen ift nicht mehr die Nede, denn jede 
Kugel bedeutet ja, wie der geneigte Lejer jich aus frühefter Jugend wohl noch) 


Zahl und Ziffer. 747 


erinnert, eine Einheit der unterften Stufe d. 5. 1; 100 Kugeln bedeuten Hundert. 
Nun, unjere Mittel erlauben uns das, denn wir haben ja daneben unfer herrliches 


Zifferſyſtem. — 


Inftrumentalrehnen. 


Die verfchiedenen Methoden des Nechnens auf dem Brette aufzuführen, wie fie 
zu den verfchiedenen Zeiten bei den verfchiedenen Völkern im Schwange gewejen, würde 
langweilig. Nur daß man fich von den unendlichen Schwierigkeiten, welche bei dieſem 
Rechnen, im Vergleich mit unferem, befonders bei Multiplikation und Divifion, vielfach 
zu überwinden waren, einen rechten Begriff mache! Vorausſetzung war für dieſe Ope- 
rationen — wie ja auch noch heute, — daß der Nechner das „Eins und Eins“ und 
das „Einmal Eins“ im Kopf hatte. Dies ward daher geradejo gut wie im 19. Jahr- 
hundert auch ſchon im Altertum auf den Schulen getrieben, vielleicht nur nicht I 
allgemein wie heute, wie ja überhaupt die Bildung nicht jo allgemein war. — Solche 
elementare Vorkenntniſſe erleichterten dann die Multiplikation Eleiner Zahlen; doc) 
laffen fie oft im Stich, wo es fih um höhere Stufen Handelt. In legterem alle 
wird noch im 10. Jahrhundert nach Chr. die Multiplikation auf Addition zurüdge- 
führt, wenigftens von Nicht-Mathematifern. Um z. 3. 409 mit 15 zu multiplizieren, 
wird zunächit 5 mal 400 genommen, indem man rechnet: 400, 800, 1200, 1600, 2000. 
Dann ift 10 mal 400 — 4000, aljo 15.400 = 6000. Weiter ift 9.5 =45, 9.10 =M, 
alſo 9.15—=135. Nun endlich addiert 6000 + 135 gibt 15.409 — 6135. 

Folgendes griechifche Erempel einer Abacus- Multiplikation it uns aus dem 
6. Jahrhundert aufbewahrt: 


058 265 

oe x 265 

de « 

MM ?,« 40 000, 12000, 1000 
u 

M 8 yxı 12000, 3600, 300 


‚a Tune 1000, 300, 25 





— 
M oxe 70 225. 


Biel Schlimmer noch geftaltete fich die Sache beim Dividieren. Im Jahre 944 
noch mußte ein deutjcher Spiegbürger folgendermaßen verfahren, wenn er 6162 durd) 
15 dividieren wollte: Bilde die Vielfachen von 15 bis 6000, mit einigen Abkürzungen 
fo 15, 30, 60, 90, 120, 150, 180, 210, 240, 270, 300, 600, 900, 1200, 1500, 1800, 
2100, 2400, 2700, 3000, 6000, bleibt 152; dies dividiere durch 15 jo: 15, 30, 60, 
90, 120, 150, es bleiben 2. Und dies ift noch eine der einfacheren Methoden! 


Bruchrechnung. 


Das Dividieren macht auch den Kindern unſeres Jahrhunderts immer am meiſten 
Mühe. Schon das bloße Verſtändnis für dieſe Operation kommt ihnen nur ſchwer. 
Das zeigt ſich am klarſten darin, daß ihnen die Bruchrechnung ſo ſchwer eingeht. 


748 Zahl und Biffer. 


Jeder Lehrer weiß, welche lange Mühe und immer neue Geduld es koftet, die Brüche 
in die Kleinen Köpfe hmeinzubringen. 

Es wiederholt fic) bei den Kindern nur, was die Völker im ganzen durchgemacht. 
Den alten Völkern wurde das Dividieren immer jchwer; die Brüche haben jie nie ganz 
richtig aufgefaßt und dargeftellt. Als fie an die Brüche famen, da ging ihr ganzes 
Bahl-, Ziffer- und Rechenweſen in die Brüche. 

Bon zwei verfchiedenen Seiten juchte man der Schwierigkeit beizufommen. Noch 
heute ift das bejte Mittel, um Kinder zum Verſtändnis der Brüche hinüberzuleiten, 
daß man ihnen die Brüche möglichit fonfret vorjtellt. Man jpricht nicht von Y/, jchlecht- 
hin, jondern zeigt ihnen einen Viertelsapfel und operiert damit. Derjelbe Weg wurde 
ſchon im Altertume eingejchlagen. Man jehte an Stelle der abjtraften Zahleinheit 
eine fonfrete benannte Maß- oder Münzeinheit, welche in eine (zum voraus) bejtimmte 
Zahl kleinerer benannter Einheiten zerfiel, deren jede wiederum eine Anzahl neuer 
benannter Einheiten enthielt. Wie alfo der. deutjche Lehrer an Stelle der 1 einen 
Apfel, an Stelle der Brüche dann die bezüglichen Aepfelichnitten jet, jo wurde im 
Altertum ftatt 1 etwa ein Grojchen genommen. Der Grojchen hat 12 Pfennige. 
Jeder Pfennig ijt ein Teil des Grofchens, alfo ein Bruch in bezug auf 1 Grojchen, 
nämlich Y,,. ", wären dann 2 Pfennig, —3 PH, , =4 Pi, I =5 Pi, 
6%, 1-7 PM == 9 ROH, = 11 PH 
Statt der Brüche hat man nun benannte Zahlen. Aber es iſt klar, daß man nur 
eine jehr befchränfte Anzahl von Brüchen auf jolche Weife ausdrüden fann, da man 
ja die Teilung des Grojchens und die Benennung der Teile nicht bis ins Unendliche 
Iortießen fann. 12 rg hat der Grojchen; mehr Bruchteile gibt e8 nur im der 
Theorie, d. h. für Solche, die überhaupt bereit3 mit Brüchen rechnen fünnnen. In 
der nüchternen hilflojen Praris bleibt nichts anderes übrig als Brüche wie /,, ’, 
di Grojchen u. ſ. f. immer zu reduzieren, aljo fortwährend Feine Fehler zu machen. 

often 7 Kugeln 1 Grofchen und ich will nur 1 Kugel, jo müßte diefelbe ", Grofchen 
foften, fie fann es aber nicht, weil es eine ſolche Münze nicht gibt. Die Regierung 
hat bloß ’/,, — 1 Pfennig und '/, = 2 Pfennig zu prägen beliebt — daran müfjen 
wir uns halten, das Gejchäft kann demnach ohne Fehler und Echaden nicht abge: 
jchlofjen werden. 


So ging es mit der Bruchrechnung der Alten. Man hatte nur wenig Wörter 
für Bruchteile der Einheit geprägt. Die meijten Brüche mußte man reduzieren, und 
das sing nicht ohne ‚Fehler, jo daß fajt nie bei der Bruchrechnung ein theoretisch 
reines Reſultat gewonnen werden fonnte. Aber davon abgejehen, war die Einrichtung 
nun nach einer Seite hin jehr vorteilhaft — nämlich für die Addition und Subtraftion 
der Brüche: 3 Pfennig von 5 Pfennig abzuziehen ift feine Kunſt mehr, während ?, 
von °,, augzurechnen nicht jo einfach ift. Auf der anderen Seite ift es für ein lo— 
gifches Denken jehr jtörend, wenn man bei der Multiplikation ftatt %, . ſagen 
muß 3 — mal 5 Pfennig. Das iſt geradezu ein logiſcher Fehler; denn es iſt 
ein einfaches Geſetz, daß man nur mit einer abſtrakten Zahl eine andere Zahl multi— 
plizieren fann, niemals aber zwei benannte Zahlen untereinander! Wohl fann man 
zwei benannte Zahlen addieren, auf alle Fälle. Belannt ift ja die Kleine Gefchichte, 
wie ein Lehrer jeinen Schülern eben die Addition benannter Zahlen klar zu machen 
jucht und noch Hinzufügt, man fünne aber Gleiches nur zu Gleichem addieren, und da- 
her könnten z. B. 2 Kühe und 2 Pferde zufammen nicht etwa 4 Kühe oder 4 Pferde 
ausmachen, jondern müßten einfach neben einander ftehen bleiben. „Aber, Herr 
Lehrer,“ rief der fleine Sohn eines Milhhändlers, „2 Duart Milh und 2 Quart 
Waſſer geben doc zufammen 4 Quart Mil." Nun, der geneigte Lejer zieht vielleicht 
die Bezeichnung Wafler- Milch für diefe 4 Quart Milch vor; aber fo oder fo, be- 
nannte Zahlen laffen jich addieren, doch nicht multiplizieren. Indem man für die 


Bahl und Ziffer. 749 


Brüche bei benannten Zahlen jtehen bleibt, bringt man ein ganz fremdes, logisch un- 
brauchbares Element in das Zahl- und Rechenwejen hinein. — 

Die Römer find die — dieſer Bruchmethode im Altertum. Die Ein— 
heit hies as, — daher unſer Ausdruck im Kartenſpiel — urſprünglich eine Kupfer— 
münze von 1 Pfund Gewicht. Dies as zerfiel in 12 unciae (woher unſere Unze), jo 
daß '/,, alfo uncia heißt; jede Unze hat 4 siciliei, 24 scripuli u. ſ. f., und jebe 
Mehrheit von Unzen hatte wieder einen bejonderen Namen. Daß die römischen Feld— 
mefjer und Ingenieure troß ihrer umfafjenden technijchen Aufgaben, daß das ganze 
römische Volk troß feiner die ganze Welt umjpannenden Machtausdehnung bei diejer 
ungenauen und unwifjenjchaftlihen Methode jtehen geblieben ift, hat denn endgültig 
bewiejen, daß die Römer bei aller jonjtigen Tüchtigfeit und hohen praftifchen Anlage 
doch im Rechnen faum die Stufe eines jiebenjährigen Kindes erreicht haben. 

Bon einer anderen Seite her fjuchten die Griechen der Schwierigfeit der Bruch- 
rechnung Herr zu werden. Sie hatten zwar im täglichen Leben eine der römischen 
ähnliche Methode. Daneben aber hatten fie noch eine andere, mehr wifjenjchaftliche. 
Die griechiichen Feldmeſſer rechneten mit völlig abjtraften Brüchen, und fie löjten alle 
Brüche fonjequent in Stammbrüche, d. h. in jolche mit dem Zähler 1, auf, und jchrieben 
ftatt ®/,, ſtets "+ "ya, Statt 9, ebenjo "or Statt 2, alſo 3 +, + "is 
u. ſ. f. Der Vorteil dieſer Zerlegung jcheint darin zu liegen, daß man die lehten 
Glieder einer jolchen aus einem gemeinen Bruch entitandenen Stammbruchreihe ohne 

roßen Fehler vernachläffigen fann, da jie in der Regel jehr Hein find. Uebrigens 

amt ieje Methode jchon von den Aegyptern her. Auch jie benugen die Stamm: 
rüche und jtellen diefe in der Schrift dadurd) dar, daß fie die Zahl des Nenners 
binfchreiben und ein Pünktchen darüber machen. Damit fie nicht jeden Bruch erft 
jeibit in die Stammbrüche zu zerlegen haben, brauchen jie Stammbruchtabellen, welche 
beim Rechnen vor ihnen liegen. 

Die Babylonier mit ihrem Serageſimalſy ſtem reduzieren ihre Brüche meiſt auf 
ſolche mit dem Nenner 60, jo daß fie ſtatt ?/, lieber *%,, ſchreiben, und außerdem 
num häufig den fonftanten Nenner 60 weglafjen fünnen. — Die Tamulen, eins der 
dunfelfarbigen ojtindiichen Bölfer, drüden alle Brüche durch ",, Y,, "rar Yıor Naor 
Yon aus und haben für lehtere bejondere Zeichen und Wörter. 

Das find nur einige Proben davon, welche Schwierigfeit doch die Bruchrechnung 
den Völkern machte! Welch ein Umbertappen; was für eine Hilflofigfeit des bejchränften 
Menſchengeiſtes gegenüber der Umendlichkeit der Zahlenwelt offenbart ſich da! 

Die Schwierigfeit der Bruchrechnung liegt in der doppelten Unendlichkeit der 
Brucreihen. Während die Reihe der ganzen Zahlen einmal von 1 bis in die Unend— 
lichkeit fortläuft, aljo einfach unendlich ijt, jo haben die Brüche Zähler und Nenner, 
von denen jeder einer unendlichen Mannigfaltigkeit ausgefegt if. Sind die Zahlen 
an ſich jchon abjtraft, jo jind die Brüche doppelt abftraft. 

Das Streben des Menjchengeiftes ging nun dahin, dieſe doppeltabjtrafte „Doppelt- 
unendliche Mannigfaltigfeit der möglichen Brüche in ein beftimmtes Schema zu zwingen“, 
d. h. man juchte dieje doppelte Abjtraftheit und doppelte Unendlichkeit der Brüche auf 
eine einfache, wie bei der Zahlenreihe, zurüdzuführen. Zu diefem Zmwede mußte man 
entweder Zähler oder Nenner fonjtant, d. h. endlich und fonfret machen. Die einen 
nun, nämlich Aegypter und Griechen, machten den Zähler fonitant, immer gleich 1, und 
fchafften ihn jo, jozujagen, ganz fort. Die anderen, die Römer, Tamulen und am 
beften die Babylonier machten den Nenner fonjtant und fonfret, die erjteren auf der 
Bafis 12, die legtgenannten auf jeragefimaler, d. h. auf derjelben Grundlage, auf 
welcher ihr Zahliyitem aufgebaut war. Das war entjchieden ein jehr glüdlicher Griff; 
und wir find nur die Schüler der Babylonier, wenn wir heutzutage alle Brüche in 
Dezimalbrüche umzufegen fuchen. Unſere Dezimalbrüche find genau parallel den baby- 
loniſchen Seragejtmalbrüchen, nur daß die leßteren, mangels des Stellungsprinzips, 


750 Zahl ımd Biffer. TR 


nicht zu folcher Vollkommenheit ausgebildet werden fonnten. Wie bei uns nun !/,, 
, einfach 0,2; 0,25 gejchrieben wird, fo erjcheint auch auf babylonischen Injchriften 
für K '/, furz 30, 20 — das „Sechzigſtel“ ift als jelbitverftändlich weggelaſſen. 

eiläufig bemerkt, erfannten jchon die Griechen den Vorteil diefer Seragefimal- 
brüche. Durch den Aitronomen Ptolemäus übernahmen jie fie geradezu von den 
Babyloniern; jeitdem blieben fie biß zum 16. Jahrhundert in allen ajtronomifchen und 
vielen mathematischen Rechnungen über das ganze Abendland bin berrichend. Sie 
wurden durch die Dezimalbrüche aus der Praris verdrängt; doch haben fie bis heute 
En 60:Teilung des Himmels, des Kreiſes und der Stunden ihre Spuren binter- 
afien. — 

Die Dezimalbrüche fommen zuerft im 13. Jahrhundert bei den Arabern vor. 
Erſt in neuefter Zeit fangen fie an in den gemeinen Gebrauch des Volkes überzugeben. 
Der Grund für diefe merkwürdige Erjcheinung ift darin zu fuchen, daß bis vor kurzem 
alle Make und Münzen, d. h. aljo die wirklich fonfreten Einheiten, auf der Bafis 12 
geteilt waren, von deren großen praktischen Vorzügen oben jchon einiges geſagt war. 
Erjt feitdem alle Maße und Münzen nun dezimal geteilt find, finden — die Dezi— 
malbrüche vollen und leichten Eingang. Sind ſie doch nun in der Zifferſchrift äußerſt 
— Sind ſie doch eigentlich eine notwendige Konſequenz unſeres Zahl- und Ziffer— 
yſtems. 


Arithmetik und Algebra. 


Nach alle dem — —— iſt klar, daß das Rechnen bei den alten Völkern 
eine ſchwer zu erlernende Kunſt war und daher auch bei weitem nicht ſo allgemein 
geübt werden konnte wie heute. Der gewöhnliche Mann lernte in der Schule ein 
wenig Einmaleins und ward mit den — der Bruchrechnung bekannt; nachher 
im Leben war es vorzüglich im Handel, wo ihm das Gelernte zu ſtatten kam: es kommt 
ein Geſchäftsmann zu ihm, ſie gehen zuſammen ins comptoir — wörtlich überſetzt 
Rechenſtube, computorium — wo der Rechentiſch ſteht, und nun geht das ſchwere 
Geſchäft von ſtatten, falls der Betreffende nicht etwa die ſeltene Fertigkeit des Kopf— 
rechnens beſitzt. Außer dem Handel machten vor allem Zeitrechnung, Feldmeſſung und 
Aſtronomie das Rechnen nötig; hier wurde die Rechenkunſt ſo recht ſyſtematiſch ge— 
pflegt und weiter gebildet; von hier gehen faſt alle Verbeſſerungen am Zifferſyſtem 
und an der Methode des Rechnens aus. 

Daß das Rechnen unter ſolchen Umſtänden nicht bloß eine Kunſt war, ſondern 
auch ſchon früh zur Wiſſenſchaft erhoben ward, nimmt nicht wunder. Man begann 
in rein theoretiſchem Intereſſe die Eigenſchaften der Zahlen und ihrer Verknüpfungen 
zu erforſchen. 

Dieſe abſtrakte Zahlenwelt hat von jeher etwas merkwürdig Anziehendes, dazu 
Geheimnisvolles für den Menſchengeiſt gehabt; ſie war ein rechtes Feld für ihn zum 
Tummeln wie geſchaffen, unbeſchränkt wie der Geiſt ſelbſt. 

Daß wir dieſe Wiſſenſchaft heute nach dem griechiſchen Worte für Zahl, arithmos, 
die Arithmetik nennen, iſt bezeichnend für ihre Geſchichte. Als Erfinder dieſer Wiſſen— 
ſchaft bezeichnen die Griechen ſelbſt freilich die Babylonier und Phönikier; aber, wie 
ſchon der Name Arithmetik ſchließen läßt, von den Griechen hauptſächlich ward dieſe 
Wiſſenſchaft ausgebildet und gefördert, von ihnen jedenfalls ins Abendland eingeführt. 
Es iſt wahr, die vorzugsweiſe Anlage der Griechen lag in der Geometrie, aber die 
Namen der Mathematiker Pythagoras, Hippokrates, Archimedes, Nikomachus, Diophan— 
tus u. a. glänzen ebenſo ſehr in der Arithmetik. Raumanſchauung (d. i. geometriſche 
Anlage) ohne Zablbegriff (d. i. arithmetische Anlage) ift auch viel weniger denkbar als 
etwa das Umgekehrte, welches bei den Indern der Fall gewejen zu jein fcheint. 


Zahl und Ziffer. 751 


Unter den orientaliihen Bölfern zeichneten fich in der Arithmetif außer den ge- 
nannten Erfindern diefer Wiffenjchaft bejonders noch die alten Aegypter aus. Es find 
ung von denjelben arithmetifche Aufgaben erhalten, deren manche einem heutigen 
mittleren Gymnafiafter Mühe machen würde: 3. B. die folgende „Worjchrift zu verteilen 
d. i. „Aufgabe: wie verteilt man... .") 700 Brote unter 4 PBerjonen, °/, für einen, 
/y für den anderen, ';, für dem dritten, ", für dem vierten (d. i. die Teile jollen ſich 
verhalten wie 2, zu ", zu , zu '/,)." Dieſe Aufgabe fteht in einem 1700 vor Chr. 
gefchriebenen, durchweg arithmetiichen Papyrus, der die Ueberjchrift trägt: „Vorjchrift 
zu gelangen zur Kenntnis aller dunfelen Dinge“. Denn nicht nur Aufgaben werden 
hierin gegeben, jondern vor allem die Methoden, alle möglichen Arten von Aufgaben 
zu löſen. 

Die Römer finden in der Gefchichte der Arithmetif feine Stelle. Bei ihrem oft 
enug beleuchteten Mangel an Zahlanlage läßt jich denken, daß jie in der Zahlwifjen- 
chaft nichts geleiftet. Sie waren froh, wenn fie die Rechenaufgaben des täglichen 

Lebens bewältigen fonnten. Horaz erzählt e3 als ein von allen Mitjchülern ange- 
Ttauntes blaues Wunder, daß ein Schüler, gefragt wieviel °,, weniger !;,, mache, 
gleich mit */; geantwortet hatte, umd daß er °ıs + "ız ſoſort zu Hs auszurechnen 
im ſtande gewejen jei. „Das läßt tief bliden.“ 

Im Mittelalter geriet die Arithmetif des Altertums bald in Berfall und Ber: 
geſſenheit. Nachdem der legte Stern Boethius aufgeleuchtet und verlojchen, verlifcht 
die „Wifjenjchaft* — jo nannte man fie fchlechthin, Mathematit — immer mehr. 
Man trieb nur jo viel als man nötig hatte, um die Dfter-, Feſt- und Sternberech— 
nungen anjtellen zu fönnen. Dabei benutte man immer, als Haupterbftüd aus dem 
Altertum, die jchlechten römischen Ziffern und Brüche; diefe Ziffern haben fich damals 
fo in Europa eingebürgert, daß jie noch heute überall weitergeführt werden, obgleich 
fie doch, wie wir gejehen, auf der allerunteriten Stufe des Syitems ftehen. 

Karl der Große, der aller Wifjenjchaft einen neuen Aufihwung gab, juchte auch 
der Arithmetif wieder aufzuhelfen; er verordnete, daß in allen Kloſterſchulen neben der 
Grammatif und dem Ba „auch der computus jolle gelehrt werden“, d. i. zu 
deutſch Rechnen, bejonders Sirchenrechnung, (woher auch das franzöfifche compte, 
compter, abzuleiten). Dieje Verordnung jchlug durch. Man fing in den Klöſtern 
wieder an, Rleifig auf die berühmten Arithmetifer des Altertums zurüdzugehen. 

Die eigentliche Neufchöpfung aber und Neugeitaltung der Zahlwifjenichaft fam 
dem Abendlande durch die Araber. 

Das jagt uns auch jchon der neue Name, den die Wifjenjchaft nun befam: 
Algebra. AI ift der arabijche Artikel, und gebr kommt von jabar, j. v. a. herſtellen, 
einrichten; al gebr bedeutet urjprünglich: das Ergänzen einer Negation, d. h. das 
Verjegen eines negativen Gliedes einer Gleichung auf die andere Seite. Dieje Be- 
deutung hat ſich dann chen ſehr erweitert, läßt aber noch jchließen, da das Haupt- 
verdienjt der Araber auf dem Gebiete der Gleichungen lag. Im übrigen ſteht es mit 
der Algebra der Araber wie mit der Arithmetif der Griechen: beide Völker jind nicht 
Erfinder, jondern bloß Vermittler zwifchen Orient und Decident. Wir jahen bereits 
in einem früheren Abjchnitte, daß die Araber, diefe Hirten und Groberer, auf dem 
Gebiete von Zahl und Ziffer gar nichts ſelbſt geſchaffen oder beſeſſen, jondern nur 
die Weisheit der Inder überfommen haben. Daß jie die lettere uns nicht bloß 
äußerlich übermittelt, jondern fie erſt noch jelbjt ausgearbeitet und uns jo auch 
innerlich vermittelt haben, darin befteht ihr eigentlic)hes Verdienft. Seitdem mit und 
nad) Gerbert (j. oben) die arabifchen Schriften ins Lateinische überjegt wurden, ſeitdem 
hat ſich die Arithmetik oder Algebra bei uns allmählich zu der wunderbaren Höhe auf- 
Ihwungen, auf der fic heute ſteht. 


752 Zahl und Ziffer. 


Die Weisheit der Inder. 


Es war ſchon wiederholt Gelegenheit auf das wahrhaft grobartige Rechengenie 
der Inder, auf die hervorragende Anlage zu Zahl und Ziffer, die fich bei diefem uns 
ftammverwandten Bolfe findet, hinzumweifen. Im vorigen Jahrhundert wurde man 
zuerit darauf aufmerfjam. In Indien wohnende Eircopäer erfuhren, daß Die einhei- 
mifchen Gelehrten viele ajtronomijche Berechnungen anzuftellen veritünden. Was fie 
dann fahen, war in der That eritaunlich, einzigartig.‘ „Die indiichen Ajtronomen 
vollziehen ihre Rechnung mit großer Leichtigkeit, ohne eine Ziffer zu jchreiben; ftatt 
deffen bedienen fie fich fleiner Mufcheln, welche jie wie Spielmarfen auf einen Tiſch 
oder den Erdboden auflegen, verjchieben und wieder aufnehmen. Ihre Rechnungsregeln 
find in rätjelhaften Verjen enthalten, welche jie auswendig wifjen und leife vor fich 
hin murmeln, während jie ihre Mufcheln legen; von Zeit zu Zeit jchlagen fie dabei 
in einem kleinen Hefte von Zahlen Tabellen auf Palmblättern nad. Sie arbeiten 
mit einer Kaltblütigfeit, deren ein Europäer unfähig ilt, und verrechnen fich nie; Pie 
Nefultate ihrer Finjternisberechnungen jind nicht weit von der Wahrheit entfernt. 
Das Erjtaunen, bei einem für barbarijch gehaltenen Vollke ſolche Fertigkeit zu finden, 
war um jo größer ald man merfte, dab man es hier mit einer uralten Weisheit zu 
thun hatte.“ 

Die Inder find fich durch die Jahrtaufende hindurch im wejentlichen gleich ge 
blieben. Die „uralte Weisheit“ ijt bei ihnen nicht ausgejtorben. Allerdings hat fie 
fi) auch wohl faum mehr weiter entwidelt, jeit jie etwa im 7. Jahrhundert ihren 
Höhepunkt erreichte, jeit jener glänzende Name Brahmagupta in ihrem Zenithe erjchien, 
einer der bedeutenditen indiſchen Rechner, der u. a. ein „zucderleicht zu kauendes Or— 
ganon“, d. i. ein Mechenbuch, jchrieb. Lange vor der Wera unjerer Zeitrechnung, „im 
grauen Altertum jchon*, rechneten die Inder mit geradezu ungeheuren Zahlen, nod) 
dazu im Kopfe. Interefjant jind die verjchiedenen Mittel, die fie hatten, um dieſe 
großen Zahlen im Gedächtnis zu behalten. Einmal benußten jie fonfrete Gegenſtände 
dazu, jo etwa wie die jetigen Inder die Mujcheln laut obigem Bericht; dann bildeten 
fie fi aber vor allem noch ganz eigentümliche Arten von Zahliyitemen aus. Eins 
von diejen ift ein alphabetijches Syijtem: Die Zahlen von 1—25, 30, 40.... 90 be 
zeichnen fie mit den Konfonanten ihres Alphabetes, und um nun dieje zu flingenden 
Wörtern zu verbinden, zugleich aber um das 100fache, 100?fache u. ſ. f. der bezeich- 
neten Zahlen auszudrüden, benugen ſie die Vokale. 3. B. ga = 3, gi = 300, 
gu = 30.000, gri = 3.000 000, gö = 3 . 1008; fo denn gukvima — 36 125, und daß 
dies viel leichter zu behalten als „ſechs und dreißig Taufend ein Hundert zwanzig 
fünf“, wird jedem einleuchten. 

Noch praftiicher it das etwas jpätere alphabetiiche Poſitionsſyſtem, wo nur die 
Zahlen von 1—9 durch) gewifje Konjonanten des Alphabetes bezeichnet, die letzteren 
nad) dem Stellungsprinzip geordnet, und um Wörter zu geben, durch Vokale verbun— 
den werden. Die Bofale fünnen hier aber beliebig, am beiten dem Wohlklange nad), 
gewählt werden, da jie ja weder jelbjt einen Zahlıwert befigen, nocd) dem Konjonanten 
einen jolchen verleihen. Die Möglichkeit, ein und diefelbe Zahl nach diefer Methode 
auf verfchiedene Weije darzujtellen, it fait unbegrenzt, und gewährt Durch den Sinn 
der jedesmal gebildeten Worte nicht bloß eine wahre Gedäcdhtnighilfe, jondern ermög- 
licht auch die Benußbarfeit im Verſe unter Einhaltung der jtrengjten profodijchen 
Regeln. Um diefe Methode eben aufs Deutjche anzuwenden, jo denke man fich einmal, 
wir hätten ftatt der 

10 Siem: 1 2 3 4 
die Laute: l n m r 


5 6 7 8 9 0 
p k t 8 f h 
(b) Od (MV) (ed) 6) 


Zahl und Ziffer. 753 


eingejegt, wobei es erlaubt ift, eventuell die eingeflammerten Laute jtatt der erjten zu 
benugen. Um jich dann z.B. die Zahl 6742 zu merken, würde man flugs das Wort 
katarine bilden, und man Eönnte ficher jein, daß die Zahl nun unauslöfchlich dem 
Gedächtniſſe eingeprägt ift, ja jogar auch wundervoll in den jchönften Vers paßt. 

ch geeigneter für die Poeſie erjcheint eine dritte, vielleicht die merfwündigite, 
Methode der Inder. Hier werden für die Einer, und auch für einige zweizifferige 
Bahlen jymbolifche Wörter gewählt und dieſe nad) Stellungswert zufammengejeßt; es 
entjtehen aljo jetzt Säte, während man vorher Wörter bildete. Die Inder haben da 
wieder eine große Mannigfaltigfeit folcher ſymboliſcher Wörter zur Verfügung; bier 
gebrauchen jie z. B. Mond, Anfang, Brahma, Schöpfer, Form u, j. f.; für 4 Veda, 
weil diejelbe aus 4 Teilen befteht, Ozean, weil fie nur 4 fennen, Himmelsgegend, weil 
fie nur 4 unterfcheiden ..... 12 heißt sürya, die Sonne mit ihren 12 Wohnungen; 
für 2 dient agvin, die 2 Söhne des Surya, für 4 eben Ozean, abdhi, jo daß nun 
2124 etwa lautet: abdhi süryäcvinas. 

Wie jehr fich dies Gedächtnismittel, das feiner Zeit in Indien gäng und gäbe 
war und auch heute noch gebraucht wird, bewährt hat, zeigt ein Blick in unſere heu- 
age Lehrbücher der Mnemotechnif, wo für Einprägung von Zahlen ganz dasjelbe 

ittel empfohlen wird, nämlich Worte oder Säte zu bilden, in denen gewifje feft- 
ftehende Buchſtaben bezw. Wörter als Zahlen fungieren. 

Ebenjo wie für die bloßen Zahlen brauchten die Inder aber auch für ihre Rechen- 
methoden ein Gedächtnismitte. Darum find alle ihre arithmetifchen Werke in Verjen 
mit den verjchiedenften oft jehr funftvollen Versmaßen gejchrieben. „Alle Regeln find 
in fnappfter Kürze in faſt orafelhaften Verjen gegeben, die fich ohne die Beijpiele fait 
nicht enträtjeln lafjen, wohl aber, nachdem man fie verftanden, vortrefflich geeignet 
find, dem Gedächtnis eingeprägt und leicht angewandt zu werden.“ Dieſe Verſe ind 
e3 eben, welche die heutigen Inder beim Rechnen gleich) Zauberfprüchen hermurmeln. 

Die Methoden jelbjt zeichnen fich ebenfalls alle durch eine ungemeine Einfachheit 
und Knappheit, dabei doch durch Elare Duchfichtigkeit und eiferne Konſequenz aus. 
Sie dürften zum Teil fchlechtweg volllommen genannt werden; wir könnten faſt noch 
davon lernen. Als Beifpiel jei ihre Multiplifationsmethode angeführt. Es joll 
3124 . 5273 genommen werden. Der Inder verfährt folgendermaßen: 


Multiplicator 


snpueorgdizinmw 


! 





Resultat (Produkt). 


Es wird aljo ein Net gebildet, in welchem jedoch die fchräglaufenden Linien zu- 
weilen len werden. In jedes Quadrat fommt dann das ganze Produkt der 
am Ende der beiden Kolummen jtehenden Zahlen, und zwar fo, daß der Zehner in 
die obere, der Einer in die untere Hälfte des Quadrates entfällt. Die Addition erfolgt 
nach den durch die Diagonalen gebildeten, jchrägliegenden Kolumnen. 


754 Zahl und Ziffer. 


Diefe Methode fteht der unferen mindejtens gleich. Vergleicht man fie aber mit 
den gleichzeitigen Methoden der Griechen und gar der Römer, dann wird man mit 
wahrer Bewunderung vor dem indijchen Geiſte erfüllt. — Die indifchen Additions- 
und Subtraftionsmethoden find den unjeren durchaus gleich. Ihr Divifionsverfahren, 
von den Arabern al-mamhü’, d. i. dad Ausgewijchte, genannt, unterjcheidet jich nur 
durch eine äußerliche Kleinigkeit, die eben durch diefen Namen angedeutet wird: gewifje 
Bilfern, die wir gar nicht erjt fchreiben, z. B. beim fogenannten Borgen, oder wenn 
eim Addieren Zehner gewonnen werden, jchreiben die Inder hin und wilchen fie 
— aus, oder ſtreichen ſie durch und verbeſſern ſie — ſo verlangt es ihr Forma— 
ismus. 


Indiſche Rechenluſt. 


Dem Genie iſt eine Luſt, was anderen Sterblichen nur Mühe und Laſt. Das 

Rechnen und die Beſchäftignng mit der Zahl war den Römern eine ſaure Arbeit, den 
Indern ein Vergnügen. Writhmetifche Aufgaben und Turnieren werden in Indien zu 
den gejellichaftlichen Luftbarkeiten gerechnet! Man denke! Ob ſich ein europäijcher 
Kulturphilifter wohl aucd jo mit Zahlen fpeifen und tränfen laſſen würde? 
7. Sahrhundert jchließt eine algebraiiche Schrift in Indien: „Dieje Aufgaben find nur 
zum Bergnügen gejtellt. Der Weije fann taujend andere erfinden, oder kann nad) den 
gegebenen Regeln die Aufgaben anders löſen. Wie die Sonne durdy ihren Glanz die 
Sterne verdunfelt, jo wird der Erfahrene den Ruhm anderer verdunfeln in Berfamm- 
des Volkes, wenn er algebraifche Aufgaben vorlegt, und noch mehr wenn er 
fie löſt.“ 

Aus der Jugendzeit des großen Reformators der indischen Religion, des Buddha, 
wird uns ausführlicher von einem arithmetifchen Examen in der Volksverſammlung 
berichtet. Als Buddha fich um ein Mädchen bewirbt, wird ihm ihre Hand nur zuge: 
fagt unter der Bedingung, daß er fich einer Prüfung in den wichtigiten Künſten 
unterziehe. Die Schrift, der Ringkampf, das Bogenjchießen, der Sprud, die Schwimm- 
funft, der Wettlauf, vor allem aber die Nechenfunft bilden den Inhalt der von dem 
Jüngling mit glänzendem Erfolg bejtandenen Prüfung. In der Arithmetif erweiit er 
ji) jogar weifer als der Weifejte, er, der nachmals jogar den Staub auf Erden und 
den Sand am Meere zählte Er muß aljo zuerit auf Befragen einmal alle Namen 
der Stufenzahlen bis zu tallakshana, d. h. bis zu 1 mit 53 Nullen angeben. Das 
jei aber, heißt e8, nur ein Syſtem; über dies hinaus liegen noch 5 oder 6 andere, 
deren Namen er gleichfall3 anzugeben hat. Nachdem Jung-Buddha dadurch feine Ge- 
fehrfamfeit aufs glänzendfte erwiejen, wird er zur Belehrung der Anmwejenden noch 
gebeten, „die Zählung zu geben, welche vordringt zum Staub der erjten Atome, und 
zu jagen, wieviel erſte Elementarteilchen an einander gelegt die Länge eines Yojana 
erfüllen”; und nun rechnet er folgendermaßen: 7 erjte Atome geben ein ſehr feines 
Stäubchen, 7 jehr feine Stäubchen ein feines Stäubchen; 7 davon ein vom Winde 
aufgewirbelte® Stäubchen; 7 davon ein Stäubchen von der Fußſpur des Hafen; 
7 davon ein Etäubchen von der Fußſpur des Widders, 7 davon ein Stäubchen von 
der Fußſpur des Stieres, deren 7 ein Mohnjamen, 7 Mohnjamen ein Senfjamen, 
7 Senfjamen ein Gerjtenforn, 7 Gerftentörner ein Fingergelenk, deren 12 eine Spanne, 
2 Spannen eine Elle, 4 Ellen einen Bogen, 1000 Bogen einen Kroga, deren 4 ein 

öjana. Lebterer aljo beiteht aus 710.32.12000 d. i. 108470495 616 000 Atomen. 

ie Herausgeber dieſes Berichtes fühlten übrigens ihre indifche Phantafie von diejer 
15 ftelligen Zahl noch nicht fräftig genug angeregt, jondern machten flugs eine 
29jtellige daraus. 

Dies Beifpiel jtammt aus einer Zeit, viele Jahrhunderte vor Chriſto. Schon 


Zahl und Ziffer. 755 


damals aljo erfreuten ſich die Rechenaufgaben und Zahlenrätjel, die arithmetijchen 
Spiele und Künjte einer Popularität, wie bei feinem anderen Volke bi8 auf den heu- 
tigen Tag. Sie wuchfen aus dem indiſchen Wolfe heraus, wie hierzulande etwa 
ärchen und Volkslieder; niemand fann ihren Urheber nennen oder jagen, wie fie jich 
verbreitet. So find die indischen Zahlipiele und Nätjelfragen auch fajt unvermerft zu 
uns gefommen und mancher fchon hat fich an ihnen erfreut. Wiele der jchönften Auf— 
gaben in unferen Algebrabrüchen jtammen aus Indien. Die bekannte Berechnung der 
Eumme der Weizenförner, die unter fteter Verdoppelung auf die Felder des Schach— 
brettes verteilt werden, ftammt von den Indern. Und die Krone von allem, die Fund— 
en von unzähligen immer neuen Problemen, das Echachjpiel*) — ſtammt von den 
ndern. 

Mit jener Popularität, deren jich die Zahl in Indien erfreute, mit jener Liebe 
und Luft des Volkes zum Nechnen hängt es auch zujammen, daß die algebraifchen 
Aufgaben der Inder zumeift in einem bildlichen, poetijchen, oft wundervoll anmutigen 
Gewande erjcheinen. Hier einige Beifpiele aus dem Aryabatta des Bhäsfara, in 
welchem ein Kapitel über die Rechenkunſt handelt. Der Berfaffer hat dies Kapitel 
Lilävati, „die Neizende*, genannt, und verjteht es auf eine bezaubernde Weije, die 
ligernden Augen der Schönen mit trodenen Nechnungsoperationen in Beziehung zu 
ringen. 
„Schönes Mädchen mit den gligernden Augen, jage mir, jo du die richtige Me— 
thode der Umfehrung versteht, welches iſt die Zahl, die mit 3 vervielfacht, jodann um 
3%, des Produktes vermehrt, durch 7 geteilt, um ’/,; des Quotienten vermindert, mit 
ſich ſelbſt vervielfacht, um 52 vermindert, durch Ausziehung der Duadratwurzel, Ad» 
dition von 8 und Divijion von 10 die Zahl 2 hervorbringt.“ 

(Auflöfung: 28.) — Oder: 

„Bon einem Schwarm Bienen läßt ", jich auf einer Radam-Blüte, , auf 
einer Silindha=-Blume, nieder. Der dreifache Unterjchied der beiden Zahlen flog 
nach den Blüten eines Kutaja; eine Biene blieb übrig, welche in der Luft Hin und 
I jchwebte, gleichzeitig angezogen durch den Lieblichen Duft einer Jasmine und eines 

andamus. Sage mir, reizendes Weib, die Anzahl der Bienen.“ 

(Auflöfung: 15.) 

„Aus einem Haufen reiner Lotusblumen wurde bezw. der dritte, fünfte umd der 
jechite Teil den Göttern Siva, Viſchnu und der Sonne dargebracht, und ein Viertel 
der Bhavant. Die übrigen ſechs Lotus wurden dem ehrwürdigen Lehrer gegeben. 
Sage mir fchnell die ganze Zahl der Blumen.“ 

(Auflöfung: 120:40.24.20.30. 6.) 

„Die Duadratwurzel der Hälfte der Zahl eines Bienenſchwarmes ift ausgeflogen 
auf einen Jasminftrauch; %/, des ganzen Schwarmes find zurücgeblieben; ein Weibchen 
fliegt um ein Männchen, welches in einer Lotusblume fummt, in die es durch ihren 
Wohlgeruch bei Nacht gelodt ward, nun aber eingefchloffen ift. Sage mir die Zahl 
der Bienen.“ 

(Auflöfung: 72:6.64. 2.) 

„Dei verliebtem Ringen brach eine Perlenſchnur; */; der Perlen fiel zu Boden, 
!/; blieb auf dem Lager liegen, */, rettete die Dirne, Y/,, nahm der Buhle an ſich, 
11 Perlen blieben aufgereiht; fage, wieviel Perlen hat die Schnur enthalten?“ 

(Auflöfung: 30.1.) 

„Der 8. Teil einer Herde Affen, ins Duadrat erhoben, hüpfte in einem Heine 


*) Es ift, beiläufig bemerkt, eine oft gemachte el daß — —— auch gute 
Mathematiker ſind, und umgekehrt, wenn anders ſie beides in gieichem Maße getrieben haben. Die 
berechnende Thätigkeit, die das Schachſpiel erfordert, ift eine mathematiſche. 


756 Zahl und Ziffer. 


herum und erfreute ſich am Spiele, die übrigen 12 ſah man auf einem Hügel mit 
einander ſchwatzen. Wie ftarf die Herde?“ 
(Auflöfung: 16.) 


Dieje poetifche Einfleidung erklärt jich zum Teil auch daraus, daß, wie bereits 
erwähnt, die arithmetijchen Lehrbücher alle in ausgezeichneter, metriicher Form ge- 
jchrieben find. Das ganze Zahlengebiet ift den Indern eine Luft, ein des Dichters 
würdiges Feld. In Deutjchland hat man es nachgeahmt, den trodenen Aufgaben folche 
ſchöne Form zu geben; „und es würde jchwer fein,” meint Handel*), „die Rechen- 
bücher unferer alten Meifter, eines Adam Riefe u. a., von der Lilävati Bhäsfaras zu 
unterjcheiden, wenn nicht in jenen ebenjo viel von der Zeche im Wirtshaufe als hier 
von Lotusblumen und gligernden Augen die Rede wäre.“ 

„Freude und Glück wird in diefer Welt immerdar wachjen für den, der die Lilä- 
vati in fein Inneres aufgenommen bat; gejchmüdt find ihre Glieder mit fchönem 
Verhältnis der Teile, deren Vielfältigkeit und Teilung; rein und vollendet find ihre 
Löjungen und gejchmadvoll durch Berfpiele ijt ihre Sprache.“ So die Inder, ſpricht 
ein Deutjcher auch jo von jeinem Nechenbuche? 


*) Handel, der treffliche, leider zu früh geitorbene Profeſſor der Mathematik zu Tübingen, in 
dem Bude „Zur Geſchichte der Mathematif im Altertum und im Mittelalter,” Leipzig Zeubner, — 
Außerdem jeien denen, die ſich noch weiter für Zahl und Ziffer intereffieren, folgende Titel entpfohlen: 

Pott, Quinäre und vigefimale Zähfmethode bei Böltern aller Erdtelle, Halle, Schwetſchke. — 
Derjelbe: Sprachverſchiedenhelt in Europa an den Zahlwörtern nachgewieſen. Galle, Waifenhaus. 

Eantor, Borlefungen über Geſchichte der Mathematit. Leipzig, Teubner. 

Pihan, Exposö des signes de num£ration. Paris 1860. 


= an (I, 
I ER +73 NY 


DIN 


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0) ww. N, — — 





Die Kaiſerblume. 


1875. 
Kornblume ſchlicht im Aehrenfeld, Und weil ſein Volk erfahren hat, 
Wo du verborgen ſchier, Daß er dir freundgewillt, 
Hat dich erblickt ein hoher Held So ehrt man dich in Dorf und Stadt 
Und Ruhm verliehen dir. Als ſeines Sinnes Bild. 
Wem jetzt dein Aug' entgegenblaut, Nun ſtehſt du, ohne ſtolz' Bemüh'n, 
Von reifem Korn umwallt, Verklärt durch ſeinen Glanz, 
Der denkt, durch deinen Gruß erbaut, Und mehr als je verſchönt dein Blüh'n 
An ſeine Huldgeſtalt. Den vollen Erntekranz. 


Kornblume ſchlicht im Aehrenfeld, 
Wo du verborgen ſchier, 

Hat dich erblickt ein hoher Held 
Und Ruhm verliehen dir. 


Allg. lonſ. Monatsichrift 1888. VII. 49 


758 Die Kaijerblume. 


1888. 
Sp fang ich einjt, als ich geweiht, Doc wenn num bald voll Wunderpracht 
Kornblume, dir mein Lied, Im Feld die Aehren fteh'n, 
Das endet in Bergefjenheit, Und uns dein Blick entgegenlacht, 
Seit uns der Teure jchied. Als wär’ es nicht geſcheh'n, — 


Dann tritt Erinn’rung uns hervor 
An ihn und feinen Ruhm, 

Und unfichtbar erzählt ein Chor 
Bon jeinem Heldentum. 


Martin Greif. 


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Monatsſchanu. 


Politik. 


Der Juni 1888 wird in der deutſchen Gejchichte, ja in der Gejchichte der Welt 
eine bedeutende Stelle einnehmen, um deswillen ſowohl, was er beendet als was er 
eingeleitet hat. 

Zwar ift die Regierung Kaifer Friedrichs III. zu kurz gewejen, als daß von ihr 
nachhaltige Wirkungen auf das Leben der Nation und ihr Verhältnis zu den Nachbarn 
hätten ausgehen können; gerade gegen ihr Ende jedoch begann fie einen Charakter an— 
zunehmen, der deutlich erfennen ließ, daß es bei längerer Dauer dieſes Standes der 
Dinge zu einer Widererftehung des „regierungsfähigen“ Liberalismus, zu einem jehr 
ernjtgemeinten Berjuche gefommen fein würde, die Ideen der dreißiger und vierziger 
Jahre am Schluffe der achtziger Jahre zu praftiicher Geltung zu bringen. Jetzt 
nachdem Friedrich III. nicht mehr unter den Lebenden wandelt, darf es ausgejprochen 
werden: er meigte in der That nach links, zu den Männern insbejondere, die den 
Kern der jogenannten „Sezejjion“ gebildet haben und jpäter der heutigen „Freifinnigen“ 
Partei beigetreten find, ohne hier indefjen eine ausjchlaggebende Stellung einzunehmen. 

Welcher Art die Beziehungen diefer Leute zum Hofe von ee und 
Friedrichskron im einzelnen gewejen find, iſt nicht genügend aufgeklärt, zum Teil 
eignet jich das Belanntgewordene wohl auch nicht zur Veröffentlihung. Daß aber 
ein Berfehr ftattgefunden hat, der auf eine gewiſſe Verwandtichaft der politischen An— 
ſchauungen ſchließen Lich, leidet, wie gejagt, feinen Zweifel. Wer zwifchen den Zeilen 
zu leſen verſtand, fonnte das übrigens aus der „‚zreilinnigen Zeitung“ entnehmen, bie 
in den Tagen des Glanzes d. h. etwa April und Mai d. I. eine Sprache führte, als 
jet jte zum halbamtlichen Organ ernannt. Mit welcher Zuverfichtlichkeit ſprach fich 
Eugen Richter in diefem jeinem Blatte über die Wirkung aus, welche jeine Rede vom 
26. Mai d. I. an entjcheidender Stelle ausgeübt haben jollte. „Ein treffendes Wort 
zu vechter Zeit“ habe Kaijer ;Friedrich fie genannt. Wenn dies nun auch jpäter für 
erfunden erklärt worden ijt, jo hat der am 8. Juni erfolgte Sturz Puttkammers 
doch gezeigt, dat Abg. E. Richter der Sache nach nicht ganz im Unrecht gewejen fein 
dürfte. Jene Rede iſt dazu benußt worden, die ohnehin ſehr geringe Vorliebe des 
Kaiſers für den Minifter des Innern vollends zu ertöten. Wer hierbei das aus- 
ichlaggebende Wort geiprochen hat, mag umerörtert bleiben. Dafür, daß der geſchicht— 
liche Thatbeftand nicht umdunfelt werden kann und wird, ift jedenfalls geſorgt. Es iſt 
dad um jo bemerfenäwerter, als die Dinge, wie fie fich in der erjten unitvoche zu⸗ 

49* 


760 Monatsihau. — Deutihland. 


getragen, eine über das bloß Perjönliche weit hinausgehende Bedeutung haben. Was 
damals teil3 durchgejegt, teild — und zwar in Üüberwiegendem Maße — nur geplant 
worden ift, hat wie bereit angedeutet, einen vom Standpunkt der Eonjervativen In— 
terefjen weit gefährlicheren Charakter getragen, als man ahnt. Mit Herrn v. Putt- 
fammer wurde der Anfang gemacht, weil er zur Leitung der Wahlen berufen war, 
welche die erite Kraftprobe der „neuen Aera“ abgeben jollten. Andere aber waren zur 
Nachfolge auserjehen, und niemand, der den wahren Zujammenhang der Dinge einiger: 
maßen fennt, wird behaupten, daß diefer Anjturm vor irgendwelcher Autorität halt 
gemacht haben würde. Wir wifjen, daß im diefer Hinficht während einiger Tage nad) 
dem Nüdtritt des Herren v. Puttlammer weitgehende Bejorgnifje gehegt worden find, 
daß es jelbjt am jolchen nicht gefehlt hat, welche ein Miniſterium Ridert nicht für 
ausgeſchloſſen hielten. Was diefen Vermutungen einen gewiffen Rückhalt zu geben 
jchien, war das NAuftauchen von Perjönlichkeiten, von denen man bis dahin geglaubt, 
daß fie mit der „Politik“ fertig jeien und jich zu großen Dingen nicht mehr berufen 
fühlten. Namentlich) wurde die Anweſenheit des ehemaligen Chef3 der Admiralität, 
Generals von Stoſch, vielfach in diefem Sinne ausgelegt, ohne daß jich freilich fejtitellen 
ließe, ob dem etwas Thatjächliches zu Grunde gelegen hat, und wie viel. Die Perfön- 
lichkeit de3 Generals, in der ſich unbezweifelte hohe Begabung mit fejtem Willen und 
dem entiprechend mit einem außerordentlich entwidelten Selbftgefühle mifchen, fchien 
ſich durch feine unausgeglichene Gegnerschaft gegen den Fürften Bismard zu empfehlen, 
als dejjen Nachfolger übrigens nu andere zum Teil in hohen amtlichen Stellungen 
befindliche Männer genannt wurden, wobei indefjen nicht behauptet werden fann, daß 
diejelben von der ihnen zugedachten Rolle nur eine Ahnung gehabt. 

In wie weit die „freijinnigen“ „Macher“ in Berlin fich auch für diefe weiteren 
Biele interejfiert haben, wird fich faum ermitteln laffen. Ihnen war es, wie gejagt, in 
erjter Reihe um die Bejegung des Puttkammerſchen Poftens zu thun, von der jie 
annahmen, daß fie, zum mindeften, in einem ihnen nicht unmittelbar feindlichen Sinne 
erfolgen würde. Wir erwähnten fchon, daß dies auch auf fonfervativer Seite zeit: 
weilig nicht für ganz ausgejchlofien gehalten worden iſt, während die Anfichten der 
Nationalliberalen fi) in ganz andern Bahnen bewegten. Wie man und aus guter 
Quelle mitgeteilt hat, joll Herr v. Bennigfen fich bis zum Todestage Kaifer en 
richs „bereit“ gehalten haben, um jeden Augenblid einer Berufung nach der Reichs- 
hauptjtadt Folge leijten zu können. Hieraus erklärt fich die fchlecht verhehlte 
Freude, mit welcher die nationalliberale Preſſe den Sturz — auch ihrer- 
ſeits begrüßte, vollauf. So weit zwar ging fie nicht, daß fie auf einen „Syſtiemwech— 
ſel“ gedrungen hätte. Ueberall konnte man jogar die Verficherung hören, daß ein jol- 
her durch die Beſeitigung des „einzigen Vertreters der äußerſten Rechten“ in keinem 
Falle herbeigeführt werden würde, das Gegenteil vielmehr, die innere Fejtigung des 
nunmehr ganz einheitlich gewordenen Minijterium Bismard fei zu erwarten. Und das, 
obwohl die jogenannte „infpirierte* Preſſe aus ihren Beforgniffen fein Geheimnis 
machte und Gerüchte über den bevorftehenden NRüdtritt der Herren von Scholz, Goß— 
ler umd Friedberg bereits ſtark verbreitet waren, einer gewiffen Begründung aller 
Wahrjcheinlichkeit nach, auch nicht entbehrten. 

Dieſen Wettvennen des liberalen Ehrgeizes jah die ultramontane Prefje von 
ihrem bejonderen Standpunkt höhniſch lächelnd zu. Bei dem Rücktritt Puttkammers, 
erklärte die „Germania“, ſei ihr „ein Stein vom Herzen“ gefallen, und wenn fich 
andere Organe des Zentrums, wie z.B. die„ Kölner Volkszeitung“ diefem Urteile aud) 
nicht ganz anjchliegen wollten, jo zeigten doch auch fie, bis zu einem gewiſſen Grade wenig- 
jtens, eine Teilnahme an den Drehen der „freifinnigen Wühler*, die den in Wahr: 
heit reichsfeindlichen Charakter der letzteren in das hellite Licht zu ftellen geeignet war. 
An jih — das mußte die „Köln. Volkszeitung“ zugeben — hatten die Ultramontanen 
fein erfennbares Intereſſe, Herrn v. Buttlammer durch jemand anderen erjegt zu fehen. 


Monatsihau. — Deutichland, 761 


Er mußte abgehen, damit der allgemeine Wirrwarr feinen Anfang nähme, aus dem 
man das „fröhliche Ende“ des Bismardichen Regiments „im Geifte* ſchon folgen jah. 

Viel offener und unbefangener fonnten dieje Hoffnungen natürlich in der aus— 
ländifchen Prefje zum Ausdrud fommen Diefe mußte man um die Mitte des 
Juni 1888 jtudieren, um zu verjtehen, um was es ſich in Wahrheit damals für uns 
gehandelt hat. Was die „freifinnigen“ Organe als „Morgenrot der Freiheit” priejen, 
ward von unferen lieben und getreuen Nachbarn von links und rechts als der beginnende 
„Verfall der deutjchen Größe“ angefehen und demgemäß bejubelt. 

So jtanden die Dinge, als am 15. Juni, vormittags, der franfe Kaiſer ftarb, den 
niemand, der jein Leiden mit unbefangenen Augen angejehen, für die Vorgänge ver- 
antwortlihh machen darf, die fich mit dem erlauchten Namen dedten. Daß Kaijer 
Friedrich liberale Neigungen beſaß, Haben wir gejehen. Aber auch der ganze Stolz und 
das Pflichtgefühl der Hohenzollern lebten in ıym: in gefunden Tagen würde er es deö- 
halb nie joweit haben kommen lafjen, als es fchlieglich gekommen ift. Allein ſchon feit 
dem Anfalle vom 12. April d. Is. war er nicht nur ein todfranfer Mann, fondern ein 
Sterbender. Die Wahrheit, die in den amtlichen Sranfenberichten ſtark verjchleiert 
war, ijt es jegt für niemanden mehr, wie fie e8 für die Eingeweihten überhaupt nicht 
geweſen ift; umd deren gab es mehr, als der äußere Anfchein vermuten ließ. Die 
öffentlichen Blätter haben jeit Beginn der Krankheit in Berlin wenigſtens einesteils 
bewußt der Lüge gedient, andernteil3 eine Zurüdhaltung beobachtet, die fie nicht auf- 
geben fonnten, ohne „im gehäffigiten Licht* zu erjcheinen. Es hat ja eine Zeit ge- 
geben, wo die Mitteilung der bloßen Thatjache, daß die inneren Räume des Charlotten- 
urger Schlofje3 „im englifchen Gejchmad“ eingerichtet würden, als „Hetze gegen Die 
Railerin“ bezeichnet wurde, von feinem Geringeren natürlich al3 von Herrn €. Nichter 
jelbit in jeiner „Freiſinnigen —— 

Man mußte den „engliſchen Arzt“ und ſeinen aus nicht weniger als ſechszehn 
meiſt „jüdiſchen Männern“ beſtehenden Berichterſtattertroß „machen“ laſſen. — 
Leute, denen das Polizeipräſidium auf beſonderen Befehl ſogenannte „Palaſtkarten“ 
hatte ausſtellen müſſen, gingen im Schloſſe nach Belieben aus und ein, während ſonſt 
niemand zugelaſſen wurde, der feinen derartigen Ausweis vorzeigen konnte. Schon da— 
durch mußten diejenigen Blätter, die den ausländischen Einfluß am faiferlichen Kranken— 
lager nicht für heiljam hielten, ftarf benachteiligt erjcheinen. Sie waren es aber doppelt 
und dreifach, weil jede Kritit Madenztes und feines Handlanger8 Dr. Hovell von 
den „freifinnigen* Zeitungen nahezu als Hochverrat behandelt wurde. An heftigen Er- 
Örterungen hat e& bei alledem, namentlich in der zweiten Hälfte des April, nicht 
geil: Später, d. 5. nachdem Profejlor dv. Bergmann und Dr. Bramann aus der 

ehandlung ausjchieden, trat Ruhe ein, die aber mit Frieden nichts zu thun hatte, 
jondern ſich einfach daraus erklärte, daß die übrigen deutjchen Werzte, feine Luft hatten, 
mit Madenzie einen ausfichtslofen Kampf zu führen. Seit diefer Zeit drang daher 
weniger als jonjt ins Publikum, weshalb ſich im Mai die Anficht fejtiete, daß es dem 
hohen Kranken erheblich beffer gehe und daß eine Hinausjchiebung der Katajtrophe um 
Monate, ja jelbjt um Jahre möglich fei. Es find ung Leute befannt, die dem faum 
8 Tage vor der Entjcheidung und zwar auf eigene, unmittelbare Anſchauung hin, 
Ausdruf gaben. Noch am 13. Juni empfing der Kaifer den durchreifenden König von 
Schweden in voller Uniform. Zwei Tage jpäter war er hinübergefchlummert, nach— 
dem = traurige Wahrheit über feinen Zuftand ſchon im Laufe des 14. Juni offenbar 
geworden. 

Was wir hier gegeben, ift nichts als eine Skizze, die fich der Fülle des überreichen 
Stoffe3 gegenüber dürftig genug ausnimmt. Allein Rüdfiht auf den Raum geitattet 
uns für jebt * ausführlicher zu reden. 

Der Tod Kaiſer Friedrichs III. hat zu einer Menge von Kundgebungen Anlaß 
geboten, die an Zahl und Umfang Hinter ven feinem Vater drei Monate zuvor ge- 


762 Monatsihau. — Deutichland. 


widmeten kaum wenn überhaupt zurüditanden. Daß dies den Thatjachen nicht ent- 
jpricht wird unbeſchadet der erfurchtsvollen Gefühle, die man dem Verewigten jchuldig ift, 
fein Unbefangener leugnen. Kaiſer Wilhelm I. nahm unter den Herrichern der Welt, 
nit nur Europes allein, den erjten Rang ein. Unvergleichliche Thaten im Verein 
mit einem unvergleichlihen Charafter Gaben ihn zu diefer Stellung emporgehoben, 
die niemand anzutaften wagte. Kaiſer Friedrich iſt es bei allen feinen jchönen Gaben 
nicht vergönnt gewejen, al3 Monarch etwas zu thun, was dem als Feldherr erwor- 
benen Ruhme ein wejentliches, d. h. bleibendes Moment hinzufügen könnte. Dazu würden 
die furzen drei Monate jeiner Regierung vorausfichtlic) auch dann nicht ausgereicht 
haben, wenn er ein gefunder Mann gewejen wäre; bei einem Leiden, wie das jeine, 
mußte es undenkbar erjcheinen. Nicht im Entfernteiten aljo fann es einen Vorwurf 
bedeuten, wenn der Bergleich zwijchen Vater und Sohn gejchichtlich zu Ungunjten 
des letteren ausfällt. Wie Kaifer Wilhelm I. die VBerförperung des Glüdes im 
ihönjten und edeliten Sinne darjtellt, jo ift Kaifer Friedrich IIL, eine Schmerzens- 
gejtalt der Gejchichte geworden, die als jolche nie vergeflen werden fann. Das Warım? 
iſt göttliches Geheimnis. Auch in den bejcheidenen Verhältnifjen des Alltagslebens 
wiederholt ſich diejelbe Erjcheinung täglich. Den einen jehen wir unaufhaltjam zu den 
Höhen des Erfolges auffteigen, der andere fommt über des Dajeins Jammer nie hinaus. 
Beide aber, wenn jie Chrijten find, beugen jich vor dem, der fie je und je geliebt, 
wenn er auch über den einen den „Stab Sanft“ jchwingt und über den anderen den 
„Stab Weh“, das Maß der Leiftung aber muß auch das der Trauer jein, wie fie 
einem großen Volk geziemt, das ſich nicht auf den privaten Standpunkt jtellen fann. 
In diejem Sinne aber ift wohl zu unterfcheiden. Den ritterlichen Helden, den edeln 
Fürſten beflagen wir alle, ohne Unterjchied der Parteien, tief. Als Politiker aber 
würden wir uns der Unwahrhaftigfeit ſchuldig machen, wenn wir jagten, daß wir das 
Syſtem bedauerten, welches mit Kaiſer Sriebrich allem Anjchein nach zu Grabe ge- 
tragen worden iſt. Unterwerfung unter den Willen des Königs kann und muß man 
von jeiten guter Unterthanen verlangen; UWebereinitimmung mit diefem Willen läßt 
jich nicht erzwingen. Unjer Gewifjen können wir nicht gefangen geben. Das aber 
würden wir thun, wenn wir den Schmerz der Liberalen zu dem unjeren machten. 
Politische Trauer empfinden wir nicht; wie jene überwiegend nicht das perjönliche Leid 
fühlen werden, das der deutjche Royaliſt jtet3 empfindet, wenn er am Grabe feines 
Königs ſteht, mag der König als Rolitifer immerhin Anfichten gehuldigt haben, die er 
nicht teilen fann. 

Seit dem 15. Juni 1888 fünnen Betrachtungen diefer Art übrigen nur eine 
afademijche Bedeutung haben. Kaiſer Friedrich ruht nun bei feinen Ahnen; den Thron 
Preußens, das Szepter Deutjchlands hat an diefem denkwürdigen Tage Wilhelm II. 
ergriffen, der nur 3 Monate die Stellung eingenommen, die jein Vater fajt mehr als 
ein Bierteljahrhundert fennen gelernt. Man rühmt unjerm neuen Kaiſer viel Ver- 
wandtes mit jeinem unvergleichlichen Großvater nach, dejjen Liebling er ja auch gewejen 
it, während ihn von dem Vater, aller perjönlichen Zuneigung, die beide verband, un— 
geachtet, ein tiefer Abjtand der Anjchauungen und Neigungen zu trennen jchien. Auch 
die Lebensführung Kaifer Wilhelms I. jedoch meist einen wejentlic) verjchie- 
denen Grumdzug auf, den daß er erjt dem Greifenalter nahe und nad) langer 
Ka Ha erreicht hat, was jeinem Enfel an der Schwelle des Mannesalters zu- 
gefallen iſt. 

Das eine Jahr, welches Kaifer Wilhelm II. hinter ſich hat, wiegt freilich ſchwerer 
als jonjt vielleicht zehn und mehr. Von dem, was feit dem Erjcheinen Sir Morell 
Madenzies in Berlin, in der dritten Maimoche 1887, bi8 zum 15. Juni 1888 
hinter den Kuliſſen der Deffentlichfeit vorgegangen ift, hat in den berufenen Organen 
diefer Deffentlichkeit nur wenig verlautet. Wem aber Gelegenheit geboten war, den 
wahren Sachverhalt, wenn auch nur annähernd zu erfahren, weik, dak der Sohn des 


Monatsſchau. — Deutichland. 763 


damaligen Kronprinzen im Diejer Zeit eine Schule der Selbſtbeherrſchung hat durch— 
machen müſſen, in der er über fein natürliches Alter hinaus gereift ift, in der er das 
Leben in einem Sinne fennen gelernt, der fich mit heiterem Jugendfinne nicht mehr 
wohl verträgt, dem Träger einer Verantwortlichkeit, wie fie die feine ift, aber un— 
entbehrlich ift. 

Wenn die vielgebrauchten Worte von den Kronprinzen, die zu enttäufchen und zu 
überrajchen pflegen, auch auf die Gegenwart Anwendung finden darf, würde man in 
Kaifer Wilhelm II. einen verhältnismäßig liberal gejinnten Herrfcher zu erwarten 
haben, denn als Kronprinz und auch früher fchon hat er für ftreng fonjervativ und 
— geſinnt gegolten. Wir überlaſſen die Entſcheidung dieſer Frage indeſſen der 
Zukunft und ſagen für jetzt nur ſoviel, daß es in unſern Wünſchen durchaus nicht 
liegt, in dem Kaiſer einen Parteimann im hergebrachten Sinne des Wortes zu finden. 
Das ſoll und darf der Träger der Krone nicht fein, und wir find überzeugt, daß 
Wilhelm II. es weder nad) der einen noch nach der andern Richtung fein will, fondern 
mit der Bejtimmtheit, die ihm eigen ift, das Gute nehmen wird, wo er es findet, ohne 
Rüdficht darauf, wen das im bejonderen Falle zujagt und wen nicht. 

Diefes Freiſein von der ängjtlichen Sorge um die Meinung der Welt nad) außen 
wie nach innen ift jchon in der erjten Negierungshandlung des jungen Kaiſers jcharf 
hervorgetreten. Die beiden Erlafje vom 16. Junt an das Heer und an die Marine 
atmen einen frijchen Fräftigen Soldatengeift, der im Auslande des ungewohnten 
Tones wegen, ben er —— anfangs Beſorgnis erregte. 

Daheim, wo man beſſer weiß, wie ein deutſcher Kaiſer zu „ſeinen blauen 
Kindern“ ſteht, iſt der Eindruck, ſoweit wenigſtens als das in den Organen der 
Oeffentlichkeit zum Ausdruck gekommen, der günſtigſte geweſen, weil uns mehr kraftvolle 
Männlichkeit aus den Erlaſſen entgegentrat, als wir von derartigen amtlichen Kund— 
gebungen zu erwarten gewohnt ſind. Daß es der Leitung unſerer Angelegenheiten an 
dieſem Geiſt nicht fehlte, haben wir zwar ſtets gewußt; wie hätte das auch anders ſein 
können, da Kaiſer Wilhelm J. und Fürſt Bismarck an der Spitze Deutſchlands 
ſtanden? Allein es ſchien zum Grundſatze geworden zu ſein, im internationalen Verkehr 
die äußerſte Vorſicht walten zu laſſen, den Gegnern des Reichs rechts und links jeden 
Vorwand zur Beſchwerde, ja ſelbſt den Schatten eines ſolchen zu entziehen. Das aber 
mußte in einer Sprache ſeinen Ausdruck finden, die mitunter mehr an Klugheit als an 
entſchloſſenes Weſen mahnte. 

Die weltberühmten ne des Reiches durften ſich eine jolche Haltung bei 
alledem gejtatten, in ihrem Munde konnte fie niemals die Vorftellung des Kleinmutes und 
der Verzagtheit weden. Dem neunzigjährigen Greije fteht ruhige Milde ohnehin befjer 
zu Geficht, al3 feuriges Rafjeln mit dem Schwert. 

Der neunundzwanzigjährige Enkel, der für den eigenen Ruhm noch nichts gethan, 
den die Welt nicht kannte, wie er ift, war vor eine andere Aufgabe geſtellt. Was 
bei Kaiſer Wilhelm I. ala Weisheit erfchien, mochte Wilhelm II. leicht als Schwäche aus: 
gelegt werben, die fich bejcheidet, weil fie feine Verantwortlichkeit zu übernehmen wagt. 

Diejer Auffaffung ift durch die Erlafje an Heer und Flotte der Boden jo gründlich 
entzogen worden, daß hinter dem entjchiedenen Friedensbekenntniſſe, welches der Kaiſer 
am 25. Juni vor verjammeltem Reichstage abgelegt hat, niemand eine jchüchterne Seele 
juchen wird. Der vom 18. Juni jtammende Erlaß an das preußifche Volk war dem 
bei der friedlichen Färbung, die auch er an fich trug, nicht ausgejeßt, weil es fich hier um 
eine innere Angelegenheit handelt, um eine perjönliche Begrüßung zwijchen Fürſt 
und Volk, in der eben deshalb alles fern zu halten war, was an Deutjchlands 
äußere Beziehungen erinnern fonnte. 

Auch vom Standpunkte der inneren preußijchen Politif übrigens vermied es der 
Erlaß auf Einzelheiten einzugehen, weil dies den unter der Ajche glimmenden Hader 
der Parteien jofort wieder angefacht haben würde. Das aber durfte in diefem feier 


764 Monatsihau — Deutichland. 


lichen Augenblide nicht fein, und es ift auch nicht dazu gefommen. So allgemein wie 
die Worte des Königs an fein Volk gehalten waren, fie fonnten von jeder Partei ge- 
billigt werden, ja jie mußten e3 fogar. Eben darin aber befundete fich das ne 
Geſchick des jungen Fürften, der güctiche Inftinkt jozujfagen, mit welchem er das Rechte 
trifft, und deshalb eine der bedeutenditen politischen Eigenjchaften darftellend. 

—gIn der Thronrede vom 25. Juni iſt mehr Kunſt zu finden. Hier haben wir 
ein Schriftſtück vor uns, in welchem jedes Wort und jede Silbe ſorgfältig überlegt 
erſcheinen, das darum aber doch keineswegs als das Erzeugnis des bloßen kalten 
Verſtandes anzuſehen iſt. Kopf und Herz vielmehr haben in bewunderungswürdiger Weiſe 
zuſammengewirkt, um ein Werk zu ſchaffen, welches von einem he Standpunfte 
aus vielleicht nicht Zuftimmung finden wird, dem aber auch die jchärfjte Kritik nicht vor- 
werfen fann, daß e3 den Zweck, der ihm von feinem Urheber gejegt ift, nicht erreiche. 


Als Herrſcher ift Kaifer Wilhelm II. ein weiges Blatt. Worauf e3 für ihn aljo 
vor allem ankam, war, ſich Vertrauen zu erwerben bei denen, die bewundernd zu 
dem Schöpfer des Reichs aufgeblidt, die aber der Natur der Sache nad nicht 
wiffen konnten, mit welchem Mahe der jugendliche Erbe zu mefjen fei. Dieſes Map 
fonnte ihnen, wie die Dinge lagen, zunächſt nur durch ein feites flares Wort 

eboten werden, und dann ijt die Thronrede auch für die Gegnerjchaft gemacht worden. 
edermann weiß fortan, was er fi) von dem dritten deutſchen Ratler zu verjehen 
hat, und was er von ihm zu fordern wohl berechtigt iſt. Mit jchier ans Peinliche 
ftreifender Korrektheit zeichnet Die Thronrede die Linien vor, welche dem Kaijer durch 
die Berfafjung des Reiches gezogen find. Die Wahrung der Form aber bedeutet in 
der Politik foviel wie die richtige Taktik im — ohne welche die größten 
ſtrategiſchen Gedanken wertlos werden. In dem vorliegenden Falle war es beſon— 
ders wichtig, der Wahrheit die Ehre zu geben, denn hier hängt die Form und 
das Weſen der Sache ſelbſt, d. h. die Erhaltung des Standes der Dinge in 
Deutſchland, untrennbar zuſammen. Der Erfolg iſt nicht ausgeblieben. Mit lautem 
Jubel hat der Reichstag das kaiſerliche Gelöbnis begrüßt. Die verſammelten Fürſten 
aber nn ſich für Die Eau ag belohnt, mit der ſte ſich in diefem entjcheidenden 
Augenblide um die Berjon des jungen Kaiſers jchaarten, um der Außenwelt wie den 
widerftrebenden Elementen in Deutjchland ſelbſt zu zeigen, daß der Thron Kaiſer Wil- 
helms des Giegreichen unerjchüttert und umerfchütterlich feſtſteht. 

Nicht minder bedeutfam, wenn auch in anderer Richtung ift es, daß Sailer Wil- 
heim II. ji) mit Worten, die nicht mißverjtanden werden fünnen, zu dem größten 
Gedanken feines Großvaters, zu dem der hriftlichen Sozialreform befannte. Der 
Ausspruch vom „praftiichen Chriftentum“ wird nicht wiederholt. Kaifer Wilhelm faßt 
die Sache tiefer, er beruft ſich auf die hriftliche Sittenlehre und giebt damit zu 
verjtehen, daß er grundfäglich aus dem Ganzen heraus zu arbeiten gedenke, nicht 
bloß dem „nächiten Bedürfniffe“ entjprechend, wie das bisher vielfach ie iſt 
und wohl noch geſchieht, ſo daß es möglich geworden iſt, die Arbeiterverſicherung 
eifrig zu fördern, für den Arbeiterſchutz aber ſo gut wie nichts zu thun. Vom 
Standpunkt der chriſtlichen Sittenlehre aber bedeutet der Arbeiterſchutz unvergleichlich 
mehr als die Arbeiterverſicherung, ſelbſt wenn ſie bis ins Kleinſte hinein vervollſtän— 
digt würde, je bedeuten kann. 

Wie viel freilich gerade auf dieſem Gebiet die Wirklichkeit hinter dem Ideal 
unter allen Umſtänden, ſelbſt wenn ſie die günſtigſten ſind, zurückbleiben muß und 
wird, darüber täuſcht ſich der Kaiſer nicht. Daher will er der Löſung nahe zu kommen 
ſuchen, mehr erwartet er, angeſichts der Unvollkommenheit des Irdiſchen, auch von 
dem beſten Willen nicht. Darin aber tritt eine Beſcheidenheit zu tage, auf welche die 
Verſicherung des Bibelwortes paßt, daß der Herr „dem Demütigen Gnade giebt“. 
Indem er von eigner Kraft wenig erwartet, fängt Kaifer Wilhelm, fo zur jagen, „im 


Monatsihau. — Deutſchland. 765 


a an. Gottes Wille aber mag es gerade deshalb jein, ihn Großes erreichen 
zu lafjen. 

Die liberale gr it von der entjchieden chriftlihen Auffaffung der Sozial- 
reform, wie fie der Kaiſer befundet, nicht eben jonderlich erbaut. Sie hat fich zwar, 
jo weit wir jehen, nicht dazu aufgefchwungen, diefer Auffaffung unmittelbar entgegen 
zu treten. Sehr bezeichnend war es aber doc, daß ein Blatt wie die „National: 
Zeitung” bei ihrer Beiprechung des Vorganges am 25. Juni mit feinem Worte 
darauf eingeht, was Kaiſer Wilhelm über die inneren Aufgaben der Neichspolitif 
gejagt hat. Das Blatt begnügt fich mit einigen falten gemefjenen Neußerungen über 
die angeblich „günftige* Lage, in welcher ſich der „nationalgejinnte Liberalismus“ gerade 
jet befinden jol. Wir glauben indefjen, daß dieſe Heberzeugung feine jehr tiefgehende 
it, da das Blatt font einen anderen wärmeren Ton angejchlagen haben würde. „Das 
Pentagramma macht mir Bein.“ Das ift eben das Chriftliche, welches Juden— 

enojjen, mögen jie fih nun nationalliberal oder „freilinnig“ nennen, ebenjo an— 
Nöbig it, al3 den Juden ſelbſt. Bei diefem Anlafje benehmen ſich die letteren zum 
Teil jogar angemefjen. Das „Berliner Tageblatt“ 3. B. jtellt ji) auch auf dem 
Gebiet der inneren Politik befriedigt, wenn es begreiflicherweife auf die Betonung des 
Ehriftlihen auc) feinen Wert legt. Wie wir die Herren aber fennen, wird es dabei 
allerdings nicht bleiben. Der Stachel figt nun doch einmal feit, und man wird feinen 
„Empfindungen“ ſchon Raum zu jchaffen wifjen. Was in Berlin mit Rüdficht auf 
das Preßgeſetz und aus andern Gründen nicht recht gejagt werden darf, findet im 
Auslande eine jichere Stätte und auch eine weite Verbreitung. Die „Neue Freie 
Preſſe“ 3. B. iſt in der Verleumdung unferes jegigen Kaiſers von der Zeit her, als 
er noch Kronprinz war, jo gut eingeübt, daß es ihr nicht jchwer fallen wird, dem 
Kaifer wegen jeiner „Einfeitigkeit“* allerlei Uebles nachzufagen. Schon die nächſte Zu- 
ah * dem Beobachter in dieſer Hinſicht höchſt wahrjcheinlich den intereſſanteſten 
Stoff bieten. 

Aber auch im eigenen Lande wird — mutatis mutandis — Aehnliches kaum 
unterbleiben. Im Wege der „Anjpielung*“ läßt fich jo manches vorbringen, was mit 
dürren Worten auszujprechen hie und da bedenklich wäre. Schon jeht fehlt es an 
derartigen „Anjpielungen“ nicht, deren tendentiöjer Charakter der großen Mafje des 
Publikums allerdings entgeht, die aber gerade dadurch um jo jchädlicher wirken. 


Wer Gelegenheit hat, das Denken und Fühlen der „kleinen Leute“ in Berlin 
fennen zu lernen, fann die Frucht diefer böjen Saat ſchon reifen jehen. Im diejen 
Kreifen find abfällig verjtimmte Aeußerungen über die „neue Aera* leider nicht jelten, 
während der gebildete und einfichtige Teil des Volkes raſch begreifen lernt, was es 
an jeinem jungen Herricher hat. 

Die Thronrede, mit welcher der König am 27. Juni den zur Eidegleiftung ver: 
jammelten preußijchen Landtag eröffnet hat, wird diefen Eindrud verjtärfen, wenn 
fie ſich auch nicht zu der jchwungvollen Tonart der Erlafje an Heer und Volk jowie 
der Botjchaft an den Reichstag erhebt, ſondern al3 eine ziemlich nüchterne Darlegung 
der Ziele erjcheint, welchen die preußifche Politik als ſolche nachzujtreben hat. Dieje 
fühl zurüdhaltende Sprache hat jedenfall den Vorzug, daß fie den Oppofitionspar: 
teien feinen brauchbaren Stoff für die nun bald beginnende Wahlwühlerei bieten wird. 
In der Allgemeinheit, wie König Wilhelm ſich als ein umfichtiger Anhänger der Bor- 
ſehung befennt, die Freiheit allen religiöjen Bekenntniſſen, dem Beiſpiel jeiner 
Ahnen folgend, jchüten will, den Frieden mit der römischen Kirche zu wahren ver- 
jpricht, der Selbjtverwaltung gedeihliche Fortentwidelung wünjcht und es für not- 
wendig erklärt, auf dem Gebiet des Steuerwejens in der bisher befolgten Rich— 
fung weiter zu arbeiten — in dieſer Allgemeinheit jagen wir — werden die in 
der Thronrede ausgedrüdten Anfchauungen auf feinen erheblichen Widerfpruch 


766 Monatsjhau. — Ausland. 


jtoßen, alle Barteien vielmehr abwarten wollen, was im einzelnen gemeint it. Das 
aber kann erjt die Zukunft lehren. 

Kaifer Wilhelm IL regiert erjt jeit Tagen; von Wochen läßt ſich noch nicht 
einmal reden. Niemand aber vermag in Abrede zu jtellen, daß er es in diejer kurzen 
Spanne Zeit verjtanden hat, dem Staatsjchiff einen feiten Kurs zu geben, einen Kurs 
der allerdings das eigentliche Ziel mit Beſtimmtheit nicht erkennen läkt, weil die Fahrt 
eben zu furze Zeit gedauert hat, als daß nicht noch eine Anzahl von Fragen offen 
blieben, die aber in der Handhabung des Ganzen erkennen läßt, daß der Kapitän, 
wenn e3 endgültig zu wählen gilt, dem Bejtimmungshafen ruhig und unentwegt zu— 
iteuern wird, gleichviel welche Wellen ringsum toben. 

Bis jeßt vermifjen wir nur Eines: daß der Selbjtändigfeitsbeitrebungen 
der evangelifchen Kirche und ihrer Berechtigung mit feiner Silbe gedacht worden 
it. Wie das zufammenhängt, können wir uns allerdings wohl denfen, und halten 
darum auch noch nichts für verloren. Eine Lücke bleibt troß alledem doch offen, 
und wir jind gewiß, daß ihr Anblid gerade denen feine Dr machen wird, welche 
dem jungen Reiche ein beſonders warmes Herz entgegen bringen. Ebenſo ficher ſind 
wir aber auch, daß fie ſich nicht verjtimmen laffen werden. Wenn irgendwo, jo iſt 

erade bier Geduld am Plate. Was in mehr als dreihundert Jahren geworden ift, 
äßt fich nicht an einem Tage bejeitigen. 


* * 
* 


Die Beziehungen zum Auslande können wir um fo fürzer behandeln, als fie 
durchweg von dem einen Gejichtspunfte beherrjcht werden, wie fich die „neue Aera“ 
bei uns entwideln wird. Das aber iſt eben „Zufunftsmufif*, niemand verfügt über 
ausgiebigeren Stoff, als ihn die deutjche Thronrede bietet, die ja klar und beſtimmt 
genug lautet und darum auch jehr beruhigend gewirkt zu haben jcheint, die die Er- 
eignifte jelbit aber doch nicht in dem Maße beherrichen kann, als die blinde Friedenswut 
— anders fann man das nicht bezeichnen — der nach oben fejtgelegten Spekulation 
zuweilen annimmt. Im gewifjem Sinne ift e8 für einen jungen Herrjcher ja jehr 
jchmeichelhaft, fich mit dem erſten Tage jeiner Laufbahn in den Mittelpunkt der Welt- 
gejchichte gerüdt zu jehen. Kaijer Wilhelm aber wird fich bei alledem nicht darüber 
täujchen, daß auch die drei Millionen Bajonette, über die er, wenn es fein muß, ver: 
fügt, den Frieden nicht dauernd aufrecht zu erhalten vermögen, „wenn es den böfen 
Nachbarn nicht gefällt“. Dieje Nachbarn nehmen zur Zeit zwar eine Miene an, als 
ob fie nicht drei zu zählen wühten. In Frankreich wie in Rußland fließt man 
von Liebenswürdigfeiten oder doch von friedlichen Verficherungen über und es finden 
ji wie immer bei uns Leute genug, die das für baare Münze nehmen, obwohl es 
auf der Hand liegt, daß gerade die uns feindjeligite Politif gegenwärtig das größte 
Interefje daran hat, ſich von Deutjchland nicht diplomatifch „ins Unrecht“ fegen zu 
lajjen. Den Franzoſen ijt es außerdem darum zu thun, fich die Ausstellung von 
1889 nicht verderben zu lafjen, von der fie ſich für das „Pariſer Gejchäft“ viel 
verjprechen. Die Zufriedenheit diejes „Gejchäfts“, welches in früheren Zeiten für 
Milliarden umjegte und jet jtet3 ins Hintertreffen geraten ift, hat für die armjeligen 
Inhaber des „blau republifanifchen“ Negiments aber die größte Bedeutung. So 
lange „Paris“ ihnen gehört, meinen fie vor Boulanger und den Bonapar- 
tijten ziemlich jicher zu jein, und wie fic) die Dinge ganz neuerdings anlafjen, jcheint 
die Gefahr, die von diejer Seite drobt, allerdings feine dringende zu jein. Boulanger 
bat offenbar auch Verſtand und Willenskraft genug, um einen politifchen Gedanken zu 
Ende zu denfen und ihm entjchlofjen nachzugehen, gleichviel was inzwifchen fommen 
mag. Eine Zeitlang ging er mit den Bonapartijten, und fo lange er es that, war 
fein Stern, fo weit ſich das vom außen überſehen läßt, wenigftens im Steigen. Schon 


Monatsihau. — Dejterreih-lingarn. England. 767 


bei der legten Nachwahl in der Charente aber verjtand er jich mit feinen gerade dort 
jehr einflußreichen Verbündeten nicht länger zu einigen. Obwohl die Bonapartijten 
auf das Beitimmtejte erklärt hatten, für Derouldde unter feinen Umftänden ftimmen 
zu wollen, ftellte der in Boulangers Interefje thätige Wahlausſchuß doch den Prä- 
jidenten der „Patriotenliga* auf und brachte dadurch eine Zerjplitterung der Stimmen 
zumwege, welchen Boulanger in der öffentlichen Meinung, die nur nad) dem Erfolg 
geht, jehr geichadet hat. Noch jchlimmer aber ift für ihn der, wie es fcheint, endgül- 
tige Bruch mit den Bonapartiften. Der Umftand, daß die Partei Boulanger beſchloſſen 
hat für die Stichwahl in der Charente für den opportumiitiich-republifanifchen Juden 
Weiller zu jtimmen, läßt feine andere Deutung zu. Ob Boulanger hiernach nod) 
eine nennenswerte Agitation wird auferhalten fönnen, muß jich zeigen. Die Bona- 
partiften stellen ihm einen andern abgejegten General, du Barail entgegen, von 
dem es aber noch nicht fejtiteht, ob er auch nur die Befähigung Boulangers mit ins 
Gejchäft bringt. So lebt die Republik, obwohl fie fich längjt um allen Kredit ge- 
bracht hat, einjtweilen an der Jämmerlichkeit ihrer Gegner weiter, und fann vielleicht 
auch noch lange leben. 


* * 
* 


In Oefterreih-Ungarn hat man allen Grund zufrieden zu jein, und jo weit die 
cisleithanifchen Regierungskreije dabei mit zu reden haben, wird daraus aud) fein 
Hehl gemacht. Um jo jchärfer macht fich die unfreundliche Gefinnung gegen uns — 
man fonnte es mit vollem Recht auch Haß nennen — einerjeit3 bei der durch das 
Wiener Vaterland vertretenen, jogenannten „hiſtoriſche“ Adelspartei, andrerjeits wie 
jchon erwähnt bei dem in der Preſſe das große Wort führenden Semitentum gel- 
tend, bei den einen, weil fie Königgräß auch nun nicht vergefen können, bei den 
andern, weil ihnen Kaiſer Wilhelm IL viel zu chriſtlich iſt. Das iſt auch der Grund, 
weshalb jelbjt die ungarifchen Offiziöſen vom Schlage des von Herrn Mar Falt 
geleiteten Pejter Lloyd mit einem wahren Ingrimm über die Anjprache des Königs 
an das preußijche Volk hergefallen find, ohne daß Herr 9. v. Tisza bis jeßt Miene ge- 
macht hätte hier von fich aus einzugreifen; und das, obwohl die Nordd. Allg. Zt. zweimal 
in der jchärfiten Weife auf die empörende Haltung des „PBeiter Lloyd“ hingewieſen hat. 

Uebrigens fteht diefes Blatt mit feinen Angriffen gegen Deutjchland nicht allein. 
Die magyarisch gejchriebenen Peſter Organe, offiziöfe und unabhängige, jchlagen die— 
jelbe Tonart an; natürlich) genug, da ja auch fie von Juden geleitet werden, die ftets 
bleiben, was ſie find. 


* * 
* 


In Euglaud ſieht es wenig zufriedenſtellend aus. Die Regierung, ſchwach wie 
ſie im gezwungenen Zuſammenwirken mit Elementen iſt, die im Grunde nur in der 
iriſchen Frage mit ihr übereinſtimmen, ſchwankt haltlos hin und ber, und verſtimmt 
ihre umſichtigen Anhänger dadurch ſo ſehr, daß ein Teil derſelben bei verſchiedenen Ge— 
legenheiten von ihr abgefallen iſt, jo daß ſie Niederlage auf Niederlage erlitten hat; 
allerdings nicht in jogenannten „grundjäßlichen Fragen“, weshalb Lord Salisbury 
auch noc) nicht genötigt worden iſt, feinen Nüdtritt zu erklären, immerhin aber doc) 
oft genug, um den Glauben an die Dauerhaftigfeit des herrjchenden Syſtems ſtark zu 
erjchüttern und damit Gladftone wieder bedeutende Obermacht zu geben. Was das 
Ende diejer Entwidelung jein wird, läßt ſich bei alledem noc) nicht überjehen. Eine 
endgültige Niederlage der Toris und eine abermalige Herrichaft Gladjtones würde troß 
Lord Salisburys Schwäche für die friedliche Zukunft Europas fein gutes Anzeichen fein. 

Die Rujjen jtellen ſich — wir berührten das bereits — von der deutjchen Thron- 
rede beionders befriedint, obwohl diejelbe zwifchen Interejien und perlönlichen Gefühlen 


768 Monatsſchau. — Wirtſchaftspolitik. 


ſcharf unterſcheidet. Davon haben ſie ſich jedenfalls überzeugt, daß man ſie im 
Innern nicht ſtören wird, wenn ſie nach außen Frieden halten. Und das mag ihnen 
für den Augenblick genügen. Noch bleibt von deutſcher Geſittung in den Oſtſee— 
provinzen zumal, aber auch in anderen Teilen des Reiches genug übrig, um der Zer— 
törungsluft einiger Jahre den Stoff zu bieten, den fie braucht. Darüber wird Bul- 
garien vielleicht — bis auf weiteres vergefjen werden. 


Wirtfchaftspolitik. 


Auch in den Tagen erneuter Trauer, welche das Ableben des zweiten deutjchen 
Kaijers Friedrich mit jich brachte, hat der Meinungstampf auf wirtjchaftspolitiichem Ge— 
biete nicht geruht, und er iſt von den Vertretern des finfenden Freihandels nach wie vor 
mit denſelben Waffen geführt worden. Die Unmöglichkeit, mit jchlagenden und ſach— 
lichen Gründen die Vollberecitigung der Interefjen der Produktion aller Richtungen 
neben denen des Bwijchengeichäfts und der Agiotage zu beitreiten, läßt nach wie vor 
die gehäfligiten Parteiangriffe und Beichuldigungen ebenjo wie Verdrehung der offen: 
kundigſten T Hatfachen an die Stelle der Gründe treten und trägt jelbjtverjtändlich nicht 
dazu bei, das jo dringende jozialpolitiiche Wirken zur Bejeitigung der vielen Mipftände 
des Induftrialismus zu fördern. Der — glaubte ſogar an das völlige und 
ſichere Wiederanbrechen ſeiner Zeit in Deutſchland — ſelbſt der Sturz des Fürſten 
Bismarck wurde nur noch als eine rag der Zeit angedeutet, um dem engliichen free- 
trade, der im Baterlande dem Banferott mit Riejenjchritten entgegeneilt, Deutjchland 
wieder ungehemmt und breit zu Öffnen; obgleich Deutjchland fein England iſt, und 
auch dieſes noch nicht den Punkt außer der Welt, von wo aus fie fich leicht drehen 
läßt, bedeutet. 

Inzwijchen iſt der Freihandel froh, daß wenigjtens die als möglich bezeichnete Her- 
jtellung von Retorſionszöllen gegen die rufjiiche Getreideeinfuhr unterblieben ijt. Es 
ift auch jehr wahrjcheinlich, daß mit der Ausficht auf diefe Maßnahme nur angedeutet 
werden jollte, daß Deutjchland gegen etwaige und bereit in Beratung befindliche Maß— 
nahmen Rußlands gegen deutjche Staatsangehörige feineswegs ganz wehrlos jei. Daß 
derartige Maßnahmen jchneidig jind und da jie nötigenfall3 von feiten Deutichlands 
auch nachdrüdliche Durchführung erfahren werden, ift durch den Erfolg der veränderten 
deutjchen Politif gegen die Einführung neuer ruffischer Anleihen in Deutjchland er- 
wiejen worden. In den legten Monaten it es, da in Frankreich eine Anleihe ſich als 
völlig unmöglich erwieſen hat, und Belgien und Holland für eine folche nicht Fräftig 
genug find, in England aber das Handel3- und politische Intereffe von der Gejchäfts- 
welt jelbjt ge gewahrt wird, von einer neuen ruſſiſchen Anleihe ganz jtill ge- 
worden, und der rufjtiche Finanzminister jtrengt fich unverkennbar an, feine Zinsver- 
bindlichkeiten aus den eigenen Mitteln Ruplands zu deden. Infolge deſſen haben be— 
deutende Goldjendungen von Petersburg nach Berlin ftattgefunden und die vuffische 
Getreideausficht ift jehr erheblich gefteigert worden; was freilich die Folge gehabt hat, dat 
die gewöhnlich vor der Ernte eintretende Preisfejtigfeit auf dem Getreidemarfte ſich nicht 
hat behaupten können, obgleich die Saatenjtandsberichte aus den Vereinigten Staaten 
geraume Zeit jehr ungünjtig lauteten. Das Aderbauamt in Wafhington meldete nicht 
nur, dat der Weizenanbau in den Vereinigten Staaten, der eine Fläche von 36 000 000 
Acres umfaſſen joll, gegen das Vorjahr um etwa ein Sechftel kleiner geworden jei, 
jondern auch daß der Saatenjtand für Weizen nur etwas über fiebzig Prozent eines 
Mitteljtandes bezeichne. Spätere Berichte meldeten zwar Befjerung des Standes, Doc) 
feine erhebliche. Der Hauptdrud auf dem Getreidemarft ergab fie alſo aus der ver- 


Monatsihau. — Wirtihaftspolitif. 769 


Ichärften ruffischen Zufuhr. Infolge deſſen befjerte jich auch der Berliner Wechjelturs 
auf Peteröburg, da die jtarke ruffiiche Getreideausfuhr zunächſt die ruffischen Guthaben 
an den Börjenplägen vermehrte. Auf die Induftrie freilich hatte dieje Wendung gar 
feinen oder nur geringen Einfluß. Die Wechjel zur Ziehung auf die ruſſiſche Staats- 
fafje bleiben immer noch jo majjenhaft, daß die Industrie ihre Forderungen für Lie- 
ferungen nach Rußland jchon deshalb ſehr hoch Halten muß, weil fie die dafür zu 
ziehenden Tratten billig verfaufen muß. Dies begünftigt natürlich den Verbrauch 
deuticher Induſtrieartikel in Rußland nicht. Und einige Zweige der in das induijtrielle 
Gebiet einjchlagenden ruſſiſchen Urproduftion erjcheinen jogar als Konkurrenten auf 
deutjchem Boden — bejonders die Kohlenproduftion, da es möglich getvorden jcheint, 
auf der Weichjel polnische Kohlen mit Borteil und in Konkurrenz mit den oberjchlefischen 
Kohlenwerfen nach Oft: Deutjchland zu verfrachten. 
Dies und der Umstand, daß einige andere Länder, welche mit Deutjchland in 
Sn und finanzieller Beziehung ftehen, auch eine geringere Einfuhr deutjcher 
ndujtrieerzeugnijje ausweiſen, hat der Vertretung der internationalen Gewinn-Intereſſen 
neuerdings ausgiebigen Stoff zum Angriff gegen die deutjche Zoll- und Handelspolitif 
gegeben. Und diejer Angriff erfährt leider nicht die Zurückweiſung, welche ihm gebührt, 
und welche im Interefje unjerer Produktion jo notiwendig ift. Der Produktion, ins» 
bejondere der landwirtichaftlichen und ihren Interefjen, —* es leider an jener nach— 
drücklichen auf breite Grundlage und Kenntnis der ſpekulativen Beziehungen geſtütztem 
Vertretung in der Preſſe, trotz zahlreicher landwirtſchaftlicher Zeitſchriften, deren Leiter 
aber gegen das Gejchid der Verfechter des Zwijchengefchäfts nicht aufzukommen ver: 
mögen. Es ijt dringend zu wünſchen, daß fich dies ändere, umd wir fünnen daher 
der Gründung einer Zeitjchrift,*) welche ſich nur mit der Vertretung landwirtjchaft- 
ficher Interefjen oder vielmehr mit der Darjtellung und Erörterung der agrarpolitiichen 
Bewegung befaffen joll, als einen wichtigen Fortſchritt auf publiziftiichem und hoffentlich 
auch auf praftiichem Gebiete begrüßen. Das lettere ift die Hauptjadhe. Man muß 
fih vor allen Dingen über das wirkliche agrarische Interejje Har zu werden juchen 
und zwar über die Doppelte Wichtigkeit dejjelben nad) der großen und nach der Kleinen 
Seite hin; und man darf nicht fremde Interejjen, welche mit denen der Landwirtichaft 
gar nichts zu thun haben, denſelben jogar nicht jelten jchnurftrads zumwiderlaufen und 
außerdem eine jehr geſchickte Vertretung jchon jelbjt befigen, verfechten in der Meinung, 
damit der Landwirtichaft und der Produktion überhaupt zu dienen, wie dies leider nicht 
jelten von landwirtjchaftlicher Seite ſowohl fchriftitelleriich al3 parlamentariſch geſchieht. 

Was nun die jüngjten Angriffe gegen die deutjche (man könnte wohl eigentlich 

jagen europäische) Wirtichaftspolitif betrifft, jo *5* ſie ſich auf die Handelsausweiſe 
der letzten Monate, nach denen der deutſche Handel, beſonders hinſichtlich der Ausfuhr, 
gegen das Vorjahr etwas rückgängig erſcheint, während der engliſche Handelsumſchlag 
eine Steigerung ausweiſt, und auf die Bemerkung, daß die deutſche induſtrielle Ausfuhr 
nach A Oeſterreich u. ſ. w. keine Fortſchritte gemacht hat. 

Dieſe Erſcheinungen erklären ſich aber weit weniger als eine ſolche unſerer Schutz— 
ollpolitif, als eine ſolche der mit dieſer keineswegs in Einklang ſtehenden Finanzpolitik. 
m Jahr 1887 ergaben die ſtatiſtiſchen Ausweiſe für den deutſchen Zollverein ein 

nicht unerhebliche8 Weberwiegen der Ausfuhrbewertung gegen die Einfuhrbewertung. 
Dies würde geradezu als eim höchft ungefundes Verhältnis bezeichnet werden müſſen, 
wenn nicht die Hanjeftädte noch außerhalb des deutjchen Zollvereing ſich befänden, 
während diefelben als Handelsthore doch im wirtjchaftlichen Gebiet dejielben Liegen. 
Auch die Etellung der Häfen der Niederlande und Antwerpens zum deutichen Handel 
beeinflußt ſehr bedeutend die Ergebniffe unferer Handelsftatiftif wegen des Gewinnes, 





*) Diejelbe erfcheint vom Juli an ald „Zeitjchrift für Agrarpolitik”, herausgegeben von 
Dr. $rantenftein, bei Georg Böhme in Leipzig. 


770 Monatsſchau. — Wirtichaftspolitif. 


den diefe Handelspläge am Handel machen und der natürlich in Gejtalt eines Teiles 
der durch fie hindurchgehenden Werte in ihrem Kreiſe bleibt. Würden daher dieſe 
Häfen zum deutjchen A ollbereine ehören und demgemäß in die deutjche Ein- und 
Ausfuhritatiftif einbegriffen fein, ß würde der gedachte Teil unſerer Ausfuhr in der 
deutſchen Ausfuhrſtatiſtik nicht erſcheinen, während andererſeits derjenige Teil der über— 
ſeeiſchen Einfuhr dieſer Städte, welcher in dieſen Plätzen ſelbſt verbleibt, daher gegen— 
wärtig in der deutſchen Einfuhr nicht erſcheint, in derſelben auftreten müßte. 

Ergibt fi daraus, daß ſich aus der Zollvereinsstatiftif ein richtiges Bild über 
das Verhältnis der deutjchen Ausfuhr zur Einfuhr gewinnen läßt, fo mag im» 
merhin zugegeben werben, daß die deutjche Ausfuhr gegen die Einfuhr im Jahr 
1886, jowie zuvor und auch noch im Jahr 1887 verhältnismäßig zu jtarf war. Wenn 
num die FFreihändler bei ihrer Kritif der deutſchen Wirtjchaftspolitif gerecht jein woll- 
ten, jo hätten fie doch, wenigjtens jo weit als fie die Anjchauung, daß ein den Ein- 
fuhrwert überfteigender Ausfuhrwert ein günstiges Verhältnis bezeichne, vertreten, jene 
Wirtjchaftspolitif deshalb rühmen müfjen. Denn wenn man diejelbe jest verantwortlich 
machen will für die Veränderung der Ausfuhr, jo muß man ihr zuvor das Verdienit 
der „Hebung“ zugejtehen — denn beides vollzog ſich unter ihrem Bejtand. 

Thatjächlich aber hat die deutſche Zollpolitit auf die Handelsbewegung nur einen 
jehr mäßigen Einfluß. Zwar wird freihändlerifcherfeitS unausgejegt behauptet, dat die 
Schutzollmagnahmen anderer Länder nur „Neprefjalien“ feien gegen die Deutjchen; 
allein dieſe Behauptung ift einfach lächerlich. Abgejehen davon, daß bereit3 vor Dem 
Uebergang Deutfchlands zur Zollpolitit anderwärts Schutzölle, z. B. in Rußland, den 
Bereinigten Staaten u. j. w. bejtanden haben, jo iſt far, daß die Länder, welche 
Schutzzolle annahmen, dies nicht thaten, weil ihre Erzeugnifje beim Eingang in andere 
Länder Zoll zahlen mußten, fondern deshalb, weil fich ihre eigene Induſtrie bez. Pro- 
duftion, durch den Eingang fremder Erzeugniffe bedrängt fühlte und Schug verlangte; 
wozu noc das Finanzbedürfnis trat. So lange in einem Lande feine Induftrie be 
ſteht, wird fie auch feinen Schuß gegen fremde Induftrieerzeugniffe, welche hereinfommen, 
fordern. Deshalb find in induftrielofen Ländern auch vielfach Induftricerzeugnifie, be- 
ſonders wenn fie dem Gebrauch mehr als dem Verbrauch dienen, zollfrei; jedenfalls 
jind die von ihnen erhobenen Einfuhrzölle Finanz- nicht Schutzzölle. Sobald aber eine 
Industrie ſich anfiedelt und fich ausdehnen will, aber Schwierigfeiten durch die fremde 
Konkurrenz findet, jo wird jie ſtets verlangen, gejchügt zu werden. Waren z. B. in 
Rußland früher die auf fremde Induftrieeinfuhr gelegten Zölle nur Finanzzölle, jo 
haben fie, jeitdem die dortentjtehende Industrie Schuß verlangt, auch den Schugcharafter 
angenommen. Und eine bejtehende Produktion in einem Lande, welche feine Konkurrenz 
von auswärts fühlt und vielleicht jelbft mit Vorteil exportiert, wird feinen Grund haben, 
Schub zu fordern; wohl aber wird dies eintreten, wenn die fremde Konkurrenz in das 
Land einbricht und die einheimische Produktion zu vernichten droht. Deshalb hat die 
deutjche Produktion Schußzölle gefordert und erhalten, und ebenjo ijt es in anderen 
Ländern, 3. B. in Defterreich, wo die Zölle übrigens nicht ſowohl hoch find zum Schuße 
der Induftrie, als zur Hebung der Staatseinnahmen; fo iſt es in Frankreich und Italien; 
und jo wird es in Großbritannien werden. 

Als Großbritannien zum Freihandel überging, war die Uebermacht der englischen 
Induftrie unbeftritten. Es wäre Narrheit gewejen, dort fremde Induſtrieerzeugniſſe 
einzuführen, es wären denn ſolche von ganz bejonderer, von altersher berühmte Art ge— 
wejen. Doch fpielten diefelben im ganzen feine merfliche Rolle. Dagegen durfte man 
hoffen, durch den FFreihandel nur die Landwirtichaft der Konkurrenz preiszugeben, da 
für die Induftrie, wie bemerkt, feine Konkurrenz beſtand. An die Möglichkeit, dab ſich 
dies Ändern könne, hat damals niemand gedacht. Jeder, der eine Vermutung deshalb 
ausgejprochen haben würde, hätte jich dem Spott ausgejegt. Allein dies hat fich jeßt 
wejentlich geändert. Klagen jchon längst die englifchen Induftriellen über eine vordem 


Monatsſchau. — Wirtſchaftspolitik. 771 


nicht für möglich gehaltene Konkurrenz, welche ſie auf dem internationalen Markt er— 
fahren, ſo wachſen nun auch ſchon die Klagen über die Konkurrenz auf heimiſchem 
Boden, und bevor fünfzig Jahre ſeit dem Uebergang zum Freihandel in England ver— 
gangen ſind, begegnen wir ſchon dem unaufhaltſamen Drange nach dem Schutzzoll, der 
nicht weniger bedeutungsvoll iſt, weil er verblümt auftritt. Alle die bereits erwähnten 
Maßnahmen, die ſtrenge Handhabung der Muſter-, Marken- und Aufſchriftgeſetze, ſowie 
die Forderung, daß nur auf Verlangen der Käufer in den Läden andere al3 engliſche 
Waren vorgelegt werden jollen, bezeichnen nur verfchämte Schritte auf dem Wege zum 
Schutzzoll, ebenjo wie der Flaſchenzoll u. dergl. m. Selbitverftändlich werden alle diefe 
Maßnahmen von der Freihandelspreſſe auf deutjches Konto gejchrieben. Diejelben jollen 
Reprefjalien fein gegen die deutjchen Echußzollmaßnahmen. 

Hierin zeigt ſich bejonders die Perfidie der freihändlerischen Preſſe. Diefelbe 
Behauptung wurde ebenfalls ausgejprochen, als Rußland feine peinlichen Maßregeln 
gegen die Fremden anordnete. Man jagte fed, daß dies NReprefjalien jeien gegen den 
deutjchen Schußzoll und man bezeichnete jogar den viel älteren ruffiihen Schußzoll 
als — vorweggenommene Neprefjalie gegen Deutichland. Als nım aber von wirk- 
fihen Neprefjalien, von den obenerwähnten Retorjionszöllen Deutjchlands gegen Ruß— 
fand gejprochen wurde, hieß es im derjelben Prefje, die ruffischen Maßnahmen ſeien 
nicht nur gegen Deutichland, fondern gegen alle Länder getroffen worden; alfo auch 
gegen das freihändlerische Großbritannien. Gegen folche Beweisführung muß freilich 
die Vernunft alle Segel jtreichen. Hier will der Frafjejte Egoismus, dem jedes Mittel 
recht ift, auf jeden Fall im Trüben der irregeleiteten Meinungen fischen. 

Dies wiederholt fich freilich bei jeder Gelegenheit. Man erinnere fich nur der 
Beweisführung gegen das Tabatmonopol, und gelegentlich der YBranntweinmonopol- 
debatte; und man weiß, mit welchem Nachdrud dabei das „Intereſſe“ der Tabakbauern 
und Fabrifanten ins Feld geführt wurde, ebenjo wie jpäter behauptet wurde, Staat 
und Großgrundbejiger beabjichtigten, jich auf Koften der Wirte und der armen Brannt- 
weintrinfer zu bereichern. Leider ilt den Freihändlern damals im Reichstag nicht 
erwidert worden, wie es nach diejer Richtung Hin im freihändlerifchen England aus- 
jieht; und von jeiten der FFreihändler hat man die jeltjame Beleuchtung des eng- 
liſchen Freihandels durch das dort bejtehende Verbot, daß Tabak im Lande gar nicht 
angebaut werden darf, wohlweislich verjchwiegen. Denn dadurch wirde die Begün- 
jtigung, welche das Manchejtertum auf Kojten der Produftionsfreiheit dem Zwiſchen— 
gejchäft zumendet, jchlagend fejtgeftellt worden fein. Ebenſo würde dadurd), daß 
die engliichen Schanfwirte Lizenzpflichtig find und für ihre Lizenz jährlich je zehn 
Pfund Sterling, alfo über zweihundert Mark bezahlen müſſen, auf die englijche 
Muftergewerbefreiheit ein beachtenswertes Streiflicht geworfen worden fein. Dieje 
Lizenzgebühr hat im vorigen Finanzjahr dem englischen Staatsjchag nicht weniger als 
1 697 078 Lſtrl. eingebracht. Allein dies ift nicht die einzige Steuer, welche der eng- 
liſche Staat vom Schanfgewerbe zieht. Die hierhergehörigen Steuern find vielmehr, 
zuerjt die bereit3 erwähnte 


Lizenzgebühr mit einem Ertrag von 1697078 Lit. 
die Bierſteuer — „ 8653007 „ 
die Branntweinjteuer = : 5 „1347359 „ 
die Branntwein-Mauth und Zoll „ . " „ 4195248 „ 
der Weinzoll ö „ 11296930 „ 


insgeſamt mit einem Ertrag von 29 148556 Litel. 
aljo mehr als 583 Millionen Mark, wobei der Finanzminiſter von der Erhöhung 
des Bolles auf Flaſchenweine eine Einnahmefteigerung von mehr als 1", Millionen 


Lſtrl. erwartet, wodurch aljo die Getränfjteuern mehr als 30 000 000 LitrL abwerfen 
werden, während die englijchen Gejamteinnahmen im gedachten Zinanzjahr 87',, Mil- 


772 Monatsihau. — Wirtſchaftspolitik. 


lionen Ljtrl. betrugen; wonach aljo aus den Wirtjchafts- und Getränfefteuern mehr 
als der dritte Teil der gejamten englischen Staatseinnahmen flofjen. 

E3 genügt wohl, diefen Punkt hervorzuheben, um die freihändlerische Kritif auf 
der einen und Die freihändlerische Wirkſamkeit auf der andern Seite zu beleuchten; es 
it gar nicht nötig, hervorzuheben, mit welcher zunehmenden Schärfe auch Frankreich 
auf feiner Grenze abjchließend gegen das Ausland vorgeht, zum Teil durch gejeß- 
geberiiche Zollmagnahmen, zum Teil durch Verwaltungsmaßregeln, welche die Einfuhr 
erjchweren. Hier aber ijt die Demokratie unbejchränft, fie könnte aljo das Himmel» 
reich des Freihandels gründen. Aber es zeigt ſich da nur die Gegenjätlichkeit der 
SInterefjen um fo jchärfer und zugleich die Unfähigkeit der Demokratie die Gegenjäh- 
lichkeit auszugleichen; es ift dabei gelegentlich der Verhandlungen über die Erhöhung 
des Maiszolles zu einer unglaublichen parlamentarischen Bloßftellung gekommen, indem 
das betreffende Geſetz jo gefaßt wurde, daß der durch die eriten Paragraphen her- 
geitellte Maiszoll durch die Schlußparagraphen wieder aufgehoben wurde In den 
legten Tagen war dann befannt worden, daß die franzöfifchen Zollbehörden 
von allem nad Frankreich eingeführten Wein ein Urfprungszeugnis verlangten — 
eine Maßnahme übrigens, welche die Weinbauern jehr falt gelafjen, umjomehr aber 
die Zwifchenhändler in Aufregung geſetzt hat, weil diefe legteren öfter nicht in der 
Lage jein follen, einen Berg, wo ihr Wein gewachſen, bezeichnen zu können, Seller: 
zeugniffe aber für Wein fo wenig Kredit genießen, wie Kellerwechiel. 

Inzwiſchen können die jet erjcheinenden Handelsfammerberichte für das Jahr 1887, 
jo wenig fie für die Schußzollpolitif geftimmt find, nicht umhin, den Gejchäftsgang 
des Jahres mit geringen Einjchränfungen als günftig zu bezeichnen. Und in der That, 
wenn Der Anteil Deutjchlands am internationalen Handel ohne Berüdfichtigung der 
zollausgefchlofjenen Hanjaftädte jechs Milliarden Mark Umjchlag überfteigt, wenn die 
Produktion von Noheifen faft auf 4 Millionen Tonnen geftiegen ift, obgleich diejenige 
Englands 7 Millionen Tonnen überftiegen und die nordamerifantjche 7 Millionen Tonnen 
faft erreicht hat, jo fann doch wahrhaftig nicht aus einigen unvollftändigen und in Ver— 
einzelung gar nicht zur Begründung eines Urteils geeigneten Ein- und Ausfuhrziffern auf 
einen jchlechten Gejchäftsgang für den deutichen Handel und die deutſche Industrie geſchloſſen 
werden. Und jelbjt wenn jich in einem Jahr ein Rüdgang in den jtatijtiichen Ziffern 
des Handel oder der Induſtrie zeigen follte, jo find Schlüffe auf den Gejamtgang 
des Gejchäftes nicht ohne weiteres zu machen. Immer gehört zum ftatiftifchen Urteil 
eine Reihe von Jahren, und man muß längere Beitabfchnitte miteinander vergleichen. 
Dann wird man flarer jehen. Es betrug die deutjche 


Einfuhr 1880: 14170907 Tonnen im Wert von 2 820 700 000 Marf 


„ 1887: 19386477 i „ 3124700000 „” 
Ausfuhr 1880: 16401063 , ⸗ „ 2895 400 000 
„ 1887: 19495464 — „ 3135300000 „ 


Bezeichnet dies ſchon eine ftetige Steigerung von °/, Mill. Tonnen und 45 Millionen 
Marf bei der Einfuhr, von ebenfalls °/, Millionen Tonnen und 40 Mill. Mark bei der 
Ausfuhr, jo muß man den Vergleich erſt bis zum Jahre 1850 zurüdführen, um die 
Steigerung das internationalen Gefchäftes in diefer kurzen Periode völlig zu überjehen. 
Denn im Jahr 1850 betrug im deutjchen Zollverein nach dem Wert 

die Einfuhr: 181659 164 Thaler = 544 977492 Marf 
die Ausfuhr: 172 948 116 „.  — 518834348 „ 

Es hat ſich aljo der Wert des deutjchen auswärtigen Handels binnen fiebenund- 
zwanzig Jahren faft verjechsfacht. Damals betrug der Wert der Ein» und Ausfuhr 
auf den Kopf der Bevölkerung 36 M.; gegenwärtig beträgt er auf den Kopf faſt 134 M. 
Und in An größerem Umfange ift die Induftrie gewachſen. Wie bemerkt, ift im Jahre 
1887 die Roheijengewinnung des Bollvereins auf faft 4 Millionen Tonnen geftiegen, 


Monatsſchau. — Wirtſchaftspolitik. 773 


und nach Maßgabe der bis jetzt vorliegenden Monatsausweiſe für das Jahr 1888 wird 
in dieſem Jahr die Menge von 4 Millionen Tonnen überſchritten werden. Dagegen 
betrug die deutſche Roheiſenproduktion im Jahre 1850 nicht mehr als 173520 Tonnen, 
im Sahre 1834 war die Gejamtroheijengewinnung Deutjchlands aber nur 96 580 Tonnen. 
Binnen fünfzig Jahren hat aljo eine vierzigmalige Steigerung der deutjchen Roheiſen— 
produktion jtattgefunden. Dabei waren ım Jahre 1850 in ſämtlichen Bergwerfen, 
Hütten und Salinen des preußiſchen Staates 110 082 Arbeiter (mit 232 152 Familien- 
angehörigen) in 3337 Werfen bejchäftigt. Es gab darunter neun Werfe, die weniger 
als vier Arbeiter bejchäftigten, und mehr als 100 Arbeiter auf ein Werk famen nur 
beim Steinfohlenbergbau vor. Dagegen bejchäftigten im April 1888 allein 205 zum 
Berein deutjcher Eifen- und Stahl-Induftrieller gehörige Werfe 138 695 Arbeiter, wäh- 
rend im Jahre 1850 auf jämtlichen damals be 1223 Hütten nur 40 701 Ar- 
beiter bejchäftigt waren. Der Gefamtwert der Jahresproduftion diejer 1223 Hütten 
betrug im Jahre 1850 nicht mehr als 1182798347 Mark, aljo monatlich 9 856 612 
Mark, wogegen jene 205 Werfe für den Monat Januar 1888 allein 10259518 Mark 
Arbeitslohn zu zahlen hatten. Es beträgt aljo gegenwärtig der Arbeitslohn nur für 
einen Teil der Eiſenhüttenwerke mehr, als im Jahre 1850 der gejamte Produktionswert 
der jämtlichen Hütten betrug. 

Daß dabei die Preiſe erheblic, niedriger find als damals, ijt ber nicht zu be- 
ftreiten, und naſſauiſches Stabeifen koſtete in Köln im Jahre 1850 durchſchnittlich 
276 Mark. Allein es ift damit noch nicht gejagt, daß der Gejchäftsgewinn, auf den 
e3 bei den freihändlerifchen Beurteilern vor allem ankommt, nicht gegenwärtig troß ber 
gejunfenen (Gro3-) Breite höher ift, al damals. Jedenfalld hat man im Jahre 1850 
von fremden „Emijfionen“, alfo vom Berborgen deutjchen Kapital in das Ausland 
38 gewußt. Dagegen hatten die Summe der an die deutſchen Börſen gebrachten 

iſſionen 


im Jahre 1883: 782790000 Mark Nennwert und 753 660 000 Mark Kurs 
A 1884: 988630000 „ — 901 390 000 


"1885: 989420000 "5907480000 
"1886: 1007490000 5.963 820 000 
> 1887: 1032370000 "71024210 000 


Der Kapitalgewinn am Gejchäftsumfchlag der produzierten Werte ift aber im 
Wejentlihen die Quelle diefer Emiffionen, aus ihm nähren fie fih. Es gibt aber 
auch Einzelangaben, aus denen man die Höhe jener Gejchäftsgewinne erkennen fann. 
In dem PBrofpekt der kürzlich zur Emiſſion gebrachten Riebeckſchen Bergwerke in Halle 
a. d. ©. ıjt angegeben, dab bei einem Aftienfapital von 10 000 000 Mark binnen der 
legten vier Jahre fat 11000000 Mark Gewinn erübrigt wurde. 

Jene Taktik, die Lage der Handels- und Snbuftriebetriche unter der Schutzoll- 
politif als gedrüdt und gefährdet darzuftellen, ift daher hinfichtlich ihres Zweckes ein- 
fach zu kennzeichnen als ein Verſuch, Verwirrung anzurichten und die Befejtigung der 
Produftionsverhältniffe zu Hintertreiben. Erfolge hat diefe Taktik zur Genüge. In 
der Frage der Spiritusbanf hat fich dies wieder gezeigt. Freilich waren bier die 
Produzenten auf faljchem Wege; aber fie glaubten doch wenigſtens zum Teil auf rich- 
tigen zu fein. Aber nicht an der Einficht des anderen ift das Projekt gejcheitert, 
fondern am Zwang, den das Zwijchengefchäft üben konnte. Es ift daher auch wenig 
Ausficht, daß eine Genofjenichaft der Spritproduzenten Ausficht habe; nur das Reichs— 
monopol fann bier noch helfen. 


UNg. konf. Monatsfchrift 1888. VIL. 50 


774 Monatsſchau. — Kirche, 


Kirche. 

Die kirchlichen Konferenzen, deren Erblühen wir im Maimonat erwähnten, haben 
ſich im Laufe des Juni nur noch vermehrt. Es ift der Monat der Pfingjtlonferenzen: 
Berlin, Leipzig, Hannover — dazu fommen noch viele Eleinere. Und wiederum war 
es Die Be Theologie, oder eins der durch fie angeregten Probleme, welche auf 
den meiſten derjelben den Stoff für die Verhandlungen lieferte. Wir gehen auf dies 
Thema heute nicht ſchon wieder ein, fondern wenden ung fofort zu einer Kon— 
ferenz, die einen ganz eigenartigen Charakter hatte und die auch deshalb eine bejondere 
Erwähnung verdient, weil fie in diefem Jahre zum eritenmal an das Licht trat. 

In Gnadau trat in der Pfingftwoche eine „freie Konferenz evangeliicher Män— 
ner“ zufammen aus allen Zeilen Deutjchlands, die von vollftändig anderen Beweg- 
gründen getrieben wurden, als fie durch die neuere theologijche Entwidlung an die Hand 

egeben werden. Es ift vielmehr der beherrjchende Gedanke für fie eine Umgeftaltung 

* kirchlichen Amts- und Gemeindeverhältniſſe, die den beſonderen Bedürfniſſen der 
Zeit nicht genügend angepaßt ſeien. Daß auch die perſönliche Heiligung des Lebens 
in dem Programm mit erwähnt war, als eine beſonders zu pflegende Aufgabe, war 
nicht von Ausſchlag gebender Bedeutung. Der Vortrag, der über dies Thema vom 
Generalſuperintendent Geß in Gnadau gehalten worden iſt, beweiſt, daß hier keine 
anderen Anforderungen geſtellt werden, als ſie allgemein in den gläubigen kirchlichen Kreiſen, 
in Zeitſchriften und Konferenzvorträgen verlangt werden. Es ſind die geſunden Anſchau— 
ungen der evangeliſch⸗lutheriſchen Reformation, welche Geh darſtellte. Der Nüchtern— 
heit entbehrende Uebertreibungen wies der Referent entjchieden zurüd. Daß von ande: 
rer Seite jolche in Gnadau vertreten worden jeien, wie behauptet ijt, davon ift uns in 
feinem Berichte etwas entgegengetreten. 

Die Hauptjache aljo war die Frage der Laienthätigkeit in der Kirche, wie man es 
nennt. Diefelbe fteht ja jchon lange auf der Tagesordnung und wird neuerdings von 
einigen trefflichen Männern, die in ihren befonderen Berhältnifjen merkwürdige Schwie- 
rigfeiten von geistlicher Seite erfahren haben müſſen, mit einem gewiſſen ängjtlichen 
Eifer betrieben. Wodurch fie aber jegt ganz bejonders in den Bordergrund gerüdt ift, 
ijt der Umstand, daß fich eine bedeutende wifjenjchaftliche Kraft praftijch für die Sache 
eingelegt hat, — Profeſſor Chriftlieb in Bonn, der neben feinem Amte als Vildner 
künftiger Geiftliher an der Univerfität, an die —* eines Unternehmens getreten iſt, 
das ſich zur Aufgabe ſtellt, auch noch andere „geiſtliche Kräfte in den Dienſt der Ge— 
meinde zu jtellen als Diejenigen mit der ſpezifiſch wifjenjchaftlichen Ausbildung; es ift 
das von ung mehrfach erwähnte und auch von der wejtfälischen Provinzialiynode warm 
empfohlene Sohanneum in Bonn. 

Man jagt etwa jo: Der Paſtor wird gegenwärtig gejchult zu einer Thätigkeit, die 
nicht mehr genügt. Er: wird angeleitet, eine Herde zu weiden, die nicht mehr vor- 
handen it. Es muß vielmehr gejammelt werden, und zwar einerjeits durch Wedung 
des Gemeinjchaftslebens und andrerſeits durch eine Miffionsthätigkeit, die ſich zielbe- 
wußt an die entfremdeten Mafjen wendet. Um dieje Gedanfen bewegten jich alle Gna- 
dauer Themata. Dr. Fabri jprach über die Berechtigung, Notwendigkeit und Grenzen 
der Laienthätigfeit, — Herr von Deren über die Notwendigkeit der organiſierten 
Evangelifation neben dem pajtoralen Amt und ihre Bedeutung für das firchliche Leben, 
— Sup. Schmalenbach über die Gemeinschaft der heiligen und die notwendige 
Drganifation der chriftlichen Gemeinjchaften in Stadt und Land, — Pastor Schrenf 
über Gebetsverfammlungen und Gebetögemeinjchaften und Paſtor Kärger aus Bar— 
men über Bibelitunden und ee u a 

Es ift natürlich auch bei diefer Verſammlung für uns nicht möglich, ein ein- 
gehendes Referat in diefer Firchlichen Umfchau zu geben. Ein kurzes rei aber ift 


Monatsſchau. — Kirche. 775 


jehr jchwierig. Vielleicht daß dem einen und andern doc) zur Orientierung dient, wenn 
wir ung auf folgende Sätze bejchränfen. Wir begrüßen die ganze Bewegung mit herz⸗ 
licher Freude, daß ſich unter der Verfammlung und ihren Freunden nicht wenige 
Elemente befinden, die ſich einer erheblichen Unklarheit über die tieferen grundfäglichen 
Fragen rühmen können, jteht uns zwar feſt. Es ijt z. B. die Grenze des blog Miß- 
verjtändlichen bereit3 überjchritten, wenn ein Teilnehmer der Konferenz — übrigens ein 
Geiftlicher — in feinem Bericht im Duisburger Sonntagsblatt „da3 geordnete Amt“ 
mit Anführungsitrichen jchreibt. Allein wir ſtoßen uns nicht an folchen Elementen. 
Es jcheint uns in der Kirchengefchichte unerhört, daß eine gute Sache von Anfang au 
nur reine Vertreter gehabt hätte. Wir warnen darum unjere Freunde vor ängjtlicher 
und engherziger Bejehdung. Wir fünnen ung doch nur aufrichtig freuen, wenn dem 
immer wiederholten Appell an die Gemeinden zur Mitarbeit an den firchlichen Auf- 
gaben in immer reicherem Maße entjprochen ir, Man wird des „geordneten Amtes“ 
und der theologischen Bildung niemals entraten können. Aber daß bei der leßteren viel- 
fach jpanifche Stiefel angelegt worden find: das zu leugnen, werden wir am wenigjten 
verfucht jein. Die Kirche des Herrn verträgt jehr viele Formen. Wenn nur Chriſtus 
epredigt wird! — jagen wir mit Paulus. Und wir freuen ung, wenn in die kirchliche 
rmee noch mehr leichtere und beweglichere Truppen eingeführt werden können. Anderer- 
ſeits aber würden die lieben guten Herren, die jo fleißige Yaienarbeit treiben, fich und 
der Kirche die Sache erleichtern, wenn fie fie etwas weniger prinzipiell fahten. Wir 
hoffen noch auf eine ftarfe Vermehrung der Laienkräfte in der Kirche, aber eine neue 
— en eng Epoche wird damit auch nicht begründet jein. Deren Quellen fliehen 
in der Theologie. 

Und dann hätten wir gewünfcht, daß bei den vielen Klagen über die Arbeit der 
geiftlichen Amtsträger der Gedanfe abgewehrt worden wäre, als ſei nur die Laien- 
arbeit überall vortrefflih. Ein Berichterftatter — ich glaube in der Allgem. ev-luth. 
R.-3., — hebt hervor, welche trefflichen Grundjäge über das Gebet in den Referaten 
und Anjprachen aufgeftellt ſeien, und wie die praftifche Uebung damit zuweilen fon- 
traftiert hätte. Schreiber diefes hat Laienarbeit in Anfprachen und Gebeten reichlich 
fennen gelernt und muß geftehen: gibt es jchon Paftoren, die „fürchterlich“ beten 
fönnen, jo ift das in Gebetsverfammlungen, wo Laien mit Vorliebe auftreten, noch 
viel jchlimmer. Gerade wegen unjeres Interefjes an einem jtärferen Eingreifen von 
nicht theologischen Hilfskräften im unjere Arbeit haben wir Profeſſor Chriſtliebs Ein- 
treten dafür und feine Bildungsjchule im Johannenm mit Freuden begrüßt. 


Denjelben Gegenſtand berührte übrigens auch ein Thema der Berliner Baitoral- 
fonferenz, auf der Pfarrer Schloffer über deutjches und englisches Kirchenideal refe- 
rierte, und zwar in dem Sinne über englisches, daß er den eigentlichen Anglikanis— 
mus ausjchloß, als der auf deutiche Verhältniffe gar feinen Einfluß habe, und nur 
von dem englifchen Wejen fprach, das fich bei uns Eingang verjchafft, nämlich dem 
methodiftiichen. Bekanntlich vertritt der Evangelifche Verein in Berlin mit jeinem 
Ev. firchl. Anzeiger den ausgefprochenften Gegenjat gegen vieles, was in der „freien 
firchlichen Arbeit“ jüngst erjtrebt wird, und er nimmt darum auch gegen die Gnadauer 
Konferenz, und insbejondere gegen den von ums jehr hochgefchägten Schrenk, eine 
viel ablehnendere Haltung ein al3 wir. 

In das große Gebiet, auf dem dieje Fragen jet zum Austrag ftehen, gehört aud) 
die Gründung des Hilfsvereins für die Stadtmiffion in den großen Städten, 
der durch die bei Graf Walderjee gehaltene viel beiprochene Verſammlung zuerjt an- 
geregt wurde. Unſere jet regierende Kaiferin hat noch als Kronprinzejjin die Pro— 
teftion des Vereins übernommen, der auf jehr großartiger, breiter Baſis angelegt ift, 
und das bejte, was der Verein uns bisher zu Wege gebracht hat, ift der liebe Brief, 
den Ihre Majeftät an den Vorfigenden, Herrn von Levetzow, gerichtet hat, — ein 

50* 


776 Monatsihau. — Kirche. 


Brief, der jedes deutjche Chriftenherz entzücdt hat und eine Sprache redet, wie fie jelten 
ſchöner vom Throne gejprochen worden iſt. 

Noch eine Verfammlung fiel in die Pfingfttage, die ein völlig anderes Gepräge 
trägt al3 die freie der evangeliichen Männer in Gnadau, — nämlich die Zufammenfunft 
der Firchenregimentlichen Abgeordneten in Eiſenach. Recht praftiiche Fragen waren 
e3, welche diefelbe in dieſem Jahre beichäftigt haben. Es wurden befondere Jugend- 

ottesdienſte für —— gehalten, weshalb nicht nur die Pflege und Wieder- 

lebung der firhlichen Katechifationen empfohlen wurde, jondern auch daß denjelben 
„die neuerdings aufgefommenen Kindergottesdienfte* — namentlich in den Städten — 
ergänzend zur Seite träten. ferner wurde der Grundſatz aufgejtellt, daß bei nicht ge 
tauften und ag mehr völlig unmündigen Kindern, jofern fie nicht widerftreben, Die 
Taufe in der Regel ohne Aufſchub, und zwar in der Form der ng unter 
Buziehung von Paten, vollzogen werde. „In dem Maße als der Täufling bereits zu 
entwidelterem Bewußtſein gelangt ift, kann eine angemefjene aftive Beteiligung desjelben 
ftattfinden. Iſt derfelbe jchon fähig am Konfirmationgunterrichte teilzunehmen, jo ift 
die Taufe möglichjt in den Anfang desjelben zu legen und die Konfirmation nachher 
in der gewöhnlichen Art zu vollziehen.“ — 

Aus Berlin ift noch eine unangenehme Skandalgefchichte in dem kirchlichen Bericht 
nicht zu übergehen. In der Reichshauptitadt jollte das Lutherfejtjpiel vom Super: 
intendent Trümpelmann aufgeführt werden und nach längeren Yin und Her» 
verhandlungen mit der Polizei fam am Vormittage des beftimmten Tages noch ein 
Verbot des Minifterd an, und das Komitee konnte am Abend vor dem gefüllten 
Theater eine Szene aufführen, die eine gewaltige Aufregung hervorrufen mußte. Wir 
bedauern das Verbot des Minifters = das Tiefite, fünnen aber doch damit nicht 
zurüdhalten, daß es für die evangelifche Kirche verhängnisvoll werden fann, wenn eine 
Sorte von PVerteidigern für fie auftritt, die den „freien proteftantifchen Geiſt“ Haupt: 
ſächlich in dem Stüd des Erbes Luthers jehen, auf das wir gern verzichten, nämlich 
im Schimpfen. Der hochpoetifch begabte Trümpelmann ift nicht der Mann, dem wir 
die Beitimmung über das was evangelifch taftvoll und sie ift, überlafjen möchten. 
Daß von der Iutherifchen Kirchenbehörde Sachſens das Stüd von Trümpelmann als 
für Dresden unmöglich bezeichnet ift, fteht neben der Thatjache, daß es in Weihenfels 
u. a. D. ohne Anstoß aufgeführt worden ift. 

um Schluß erwähnen wir einen Streit zwijchen den deutjchen Geiftlichen in 
Stalien und der Waldenferfirche, den wir eigentlich hatten ruhen laſſen wollen. Allein 
ein Bericht in der Allg. Ev. Luth. 8.3. über die letzte Zuſammenkunft der deutjchen 
Baftoren in Florenz veranlagt uns zu folgenden Bemerkungen. Wuch bei diejer Ge- 
legenheit wieder hat man fich beflagt über das Verfahren der Waldenfer, und zwar 
ganz beſonders in S. Giovanni Lugatolo. Dem Referenten hat die Korreſpondenz 
wilchen dem Präfes der Waldenjerjynode Prochat und Prediger Rönnede über die- 
= Fall vorgelegen, nach deren Einficht er jagen muß, daß Die Bejchuldigungen des 
legteren völlig grundlos find. Daß diefelben noch feftgehalten und wiederholt wer- 
den, während der Brief Prochats mit Bitten um Motivierung derjelben unbeantwortet 
geblieben war, ift uns, wie den Waldenfern, unbegreiflih und wir möchten fajt der 
Erklärung uns anjchliegen, daß die deutfchen Herren zu viel zu thun haben, um jich 
gründlich genug in die Angelegenheit zu verjenfen. 


En 





LT AN 
—— 


—————— 


a) 


RE.“ er 
EFT 


Neue Schriften. 


1. Politit. 


— Georg Friedrih "Knapp: Die Bauern- 
— und der —7 der Land— 
arbeiter in den älteren Teilen Preußens. 
L Teil. Ueberblick der Entwiclung. II. Teil. Die 
Regulierung der gutöherrlic bäuerlichen Verhält- 
nifje von 1706—1857, nad den Alten. (Reip ig 
— & Humblot.) 1887. XXIII. 352 ©. XXX. 
8 


Es ift eine Freude zu jehen, wie in der heutigen 
Wiſſenſchaft die Teilnahme für das Gebiet der 
Staatdötonomie uns jeit dem Vorgange Schmol- 
lers jährlich eine wachſende Anzahl gründlicher 
Arbeiten liefert, die alle mehr oder minder dem 
einen Zwede ſich widmen, die Geſchichte unſeres 
engeren Baterlandes, insbejondere Alt-Preußens, 
nad) der wirtſchaftlichen Seite darzuſtellen und jo 
eine Ueberſicht defien zu geben, was unfere Fürften 
und Borfahren im wahren Sinne des Wortes 
„erarbeitet“ haben, und was fie durch ihre Arbeit 
eworben find. Nichts ift mehr imftande vater- 
ändifche Gefinnung und treue Anhänglichkeit an 
den teuren WMutterboden unſeres Volles zu ers 
eugen als diefe Thätigleit. — Ein vortreffliches 

ert dieſer Art tig und vor in ©. F. Knapps 
Bauernbefreiung. an kann nicht jagen, daß es 
zum erftenmale diejen Stoff behandele. K. Hat in 
1. em Grade feine Vorgänger in Dönniges, 
. Zandkulturgejeggebun Breupens 1843, in 
Meipen, Der Boden und die landwirtihaftlichen 
Berhältniffe Preußens, in den vortrefflichen Ar- 
beiten Stadelmanns über die Landeskultur Preu— 
Bens von Friedrich Wilhelm I. bis Friedrich Wil- 
* II. u. a. m.; aber es bleibt ſein Verdienſt, 
aß er zum erftenmale diefen Stoff aus der Menge 
verwandter und angrenzender Stoffe herausgehoben 
und in ftreng quellengeihichtlicher Forſchung eine 
erihöpfende, folgerichtige und überall wohlbegrün- 
dete Darftellung gegeben Hat. Die Abjiht Kis. 
ift, die in der Landwirtichaft beichäftigten Menfchen, 
die ländlihe Berfaffung, die eg ber ge⸗ 
ſellſchaftlichen Klaſſen und die Stellung des Staates 
r denjelben uns vor die —* zu ſiellen. „In⸗ 
em wir die Befreiung der Bauern und den Ur— 


ſprung der Landarbeiter erforſchen, beſchäftigen 
wir und mit der ſozial-politiſchen Geſchichte der 
ländlichen Bevölkerung.“ — Der Berf. gibt im 
I. Bd. „die Bejhreibung und Erzählung des Vor- 
gangs, wie er dem Bert — ericheint“, im II. Bbe. 
eine überfichtliche Zujammenfaffung des quellen- 
efhichtlihen Stoffes. — In der Einleitung wer— 
5 forgfältig die Arten der ländlichen Bewohner 
insbefondere der Bauern und abhängigen Leute 
von einander geihieden. Die legteren zerfallen 
1) in gutsunterthänige Leute bei erblichem De 
2) in Plche mit unerblichelaffitiihem Grundbefige 
oder Leibeigene im uneigentlihen Sinne und 
8) in wirklich Zeibeigene d. 5. Untertdane, welche 
gebunden find an die Berjon des Herrn und ebenjo 
unfähig zum Erwerb beweglichen wie unbemeg- 
lichen — Die letzie Art findet ſich aller⸗ 
dings nur „ſporadiſch“ und ſehr ſelten; aber ſie 
fommt noch ſelbſt auf Domänen in Brandenburg 
1719 und in einigen Fällen in Oftpreußen vor. 
— Die Bezeihnung „Leibeigenihaft“ im 18. Jahr: 
hundert ift daher nur in uneigentlihem Sinne zu 
peälg: — Uebrigens hat s bie Unterthänigfeit 
der Bauern ganz natürlid und in den meiſten 
Fällen ohne Gewalt entwidelt, indem in ben öſt— 
lihen, ehemals ſlawiſchen Rändern die Landes- 
erren, b. 5. bie Ma guten, ihre Rechte an die 
auern, beftehend in Aderzins, Wagenbienit im 
Kriege oder Frieden, endlich auch dem Burgdienft, 
egen Entgelt an die Rittergutöbefiger, d. h. die 
Sekte (Adel) abtraten, die nun die Dienſte in 
— e Fronden umwandelten. Aber all— 
mählid ging die Erinnerung an dieſes Verhältnis 
verloren, der Bauer ſchien mit jeinem Gute nur 
um der Dienfte willen ba zu fein; that er fie 
nicht oder ſchlecht, ſo wurde er von feinem Gute 
vertrieben und ein anderer für ihn eingejeßt ober 
fein Befig eingezogen. In legterem e ver⸗ 
ringerte fi die Zahl der Fron=- Bauern; aber 
ihre Leiftungen wuchſen auf dem vergrößerten Be- 
e de Herren. Dazu kommt, dab im 16. Jahr: 
a an fi da8 Streben der leßteren vor— 
errichte, die Dienfte zu fteigern („ungemefjene 
Dienite*). 
auf die Seite der Herren. 


Der Landesherr tritt hierbei meiſtens 
„Erit auf diefe Weije 


778 


und erft um jene Zeit (1550) wird der „ägyptiſche“ 
Dienft zur Ringe des Landvolles“. — Der 30: 
jährige Krieg Hat diefen Zuſtand nur verihlim- 
mert; da8 Bauerngut wurde vom Gutsherrn wegen 
Mangels an Unterthanen eingezogen, der Bauer 
felbft, weil jelten geworden, um jo feiter an den 
Gutsherrn gelnüpft und mit feinem Dafein für 
benjelben verhaftet. Daher kann auch einem 
Bauern ein Gut vom Gutsherrn aufgezwungen 
werden, damit durch die Uebernahme desjelben die 
auf dem Gute haftenden Dienste für den Guts— 
berrn wieder fällig werden. — Diejer Zuſtand 
trug für den Staat große Gefahren in fid. 
Friedrich I. von Preußen trat ihm daher ſchon in 
der Edikte vom 14. Oltober 1710 entgegen; feine 
Nachfolger in gleicher Weife 1714, 1739, 1748, 
1763. Der „Bauernſchutz“ gebt von den Hohen⸗ 
zollerihen Königen aus. Aber er entbehrte noch 
des rechten Inhalts. Indeſſen erhielt er denjelben 
dur die Edikte von 1777 und 1790. Die Do: 
mänenbauern erhielten erbliden Befig und durften 
1799 alle Dienfte ablöjen. 1808 verwandelte ſich 
ihr —— in Eigentumsrecht, welches 1810 
ſeine volle Geltung befommt. — ex anders ge= 
taltete ſich dieſe Entwidlung bei den Brivatbauern; 
ie ijt zu verwidelt, als daß fie fich in Kürze dar- 
ftellen ließe, aber um fo anziehender iſt die uner- 
müdliche Thätigfeit, welche der Staat auch auf 
diefem Gebiete entwidelt. Erſt durd das Edikt 
vom 29. Mai 1816 wurde dieje Angelegenheit jo 
fejtgejegt, wie fie bi® 1850 beftanden pe — Dan 
muß die Fülle des Stoffes mit eigenen Augen über: 
jehen, die ungeheure, wahrhaft ergreifende Thätig- 
feit der preußischen Könige aus * Reglements 
und Ediften jelbjt erfennen, um die Berbienjte 
derjelben um die Bauern und Heinen Leute zu 
begreifen. — Nur eine kurzfihtige, kenntnisloſe 
Richtung in der Litteratur hat dies zu leugnen 
vermocht und verfucht, fich jelbit getreu, bis auf 
ben heutigen Tag die thätige Fürſorge der Krone 
und aller ihr treuen Staatsmächte für den Bauern- 
ftand zu hemmen und zu hindern. U. Br. 


— Choses d’Allemagne, coup d'oeil sur 
les forces militaires de l’Allemagne par Gallus 
De Louis Weſthaußer) 1888. 220 ©. 8°, 

‚0 Marf. 

Eine in dem bekannten hannoverſchen Berlage 
militäriſcher Broſchüren erjchienene Heine Arbeit, 
Gallicae Res von Gelticus, in welcher die Zus 
ftände der franzöfifhen Armee, injonderheit die 
inneren Verhältniſſe im franzöfiichen A 
in einer Weile beſprochen wurden, welche die Höf- 
lichkeit vermifjen ließ, die man zwiſchen den Wort: 
führern zweier feindliher Armeen mit vollen Recht 
fordert, findet bier ihre Antwort. 

Der Berfafier — er bezeichnet ſich jelbit an 
einer Stelle als ehemaliger Offizier der National- 
garde und ijt vermutlich Elſäſſer von Herkunft, 
muß auch gegenwärtig im Reichslande wohnen 
— verbindet mit einer Menge von Einzellennt- 
niffen eine große Bertrautheit mit der deutſchen 
Militärlitteratur; es ift nur im hohen Maße zu 
bedauern, dab mit diejer Belejenheit nicht Die 
Fähigkeit, das Wichtige vom Unwichtigen, das 


Neue Schriften. — Politik. 


Unparteiifjhe von dem wiſſentlich Entjtellten zu 
fondern gleihen Schritt gehalten Hat. Eugen 
Richter erjcheint einigemale ald Gewährdmann, 
zahlreiche Auszüge aus PBeitungen und Streits 
ſchriften, welde bis auf einen ganz geringen 
Bruchteil dem fortichrittlihen Lager entitammen, 
werden als Belegitellen für die Anfichten des Ver— 
faſſers angeführt, und jo muß denn das hier ent= 
worfene Bild, wie die Figur der preußiſchen 
Leutnants, welde den Umſchlag ziert, zu einem 
BZerrbild deutjcher Verhältniſſe werden. Neben 
der Fähigkeit Einzelheiten und Thatjahen mit 
einander in Zufammenbang zu bringen, geht Gallus 
die Gabe, wenn nicht gar der Willen ab, die 
Thatſache der Ericheinung durch die geichichtliche 
Entwidelung zu begründen und zu erflären; vieles, 
fo vor allem die Sonderjtellung der Offiziere, 
muß ihm als outsider daher unveritändlich bleiben. 
Gallus ift was Lord Chefterfield von feinen Lands— 
leuten behauptet: a mighty observer of events 
but ignorer of causes. Wir wollen bier nicht 
weiter auf den Vorwurf des Berfajjerd eingehen 
und die Behauptung widerlegen, dab jeit einer 
Neihe von Jahren in Deutihland nur geflijient= 
lich gefärbte Darftellungen von Franfreidh und 
den Franzoſen erjcheinen, um eine feindjelige 
Stimmung gegen Frankreich, „qui ne provoque 
personne*, zu erregen. Seit etwa einem Jahr: 
zehnt Haben wir die franzöſiſche politiiche Litteratur 
auf das eifrigite beobadtet und könnten Gallus 
eine Blütenleje von Werken zur Verfügung ftellen, 
welde die viel angegriffenen Erzeugnifje Tiſſots 
als zu harmlos nicht einmal nennen würde. 
Gallus ſchließt fih in der Einteilung des Stoffes 
dem Buche des Celticus Abſchnitt für Abſchnitt 
an. Es wird die Zuſammenſetzung der deutſchen 
Streitkräfte zu Lande und zu Waſſer, Eiſenbahnen, 
Feftungen, Enge ber Nachbarſtaaten im Kriegsfalle 
te und dann vor allem das Dffizierforps 
des aktiven Heeres und des Beurlaubtenitandes 
einer eingehenden Kritik unterzogen. 

Mit dem erjten Teile, wenn er auch eine Un— 
menge Fehler und Unrichtigfeiten aufweift, deren 
Aufdeckung ohne weiteres Intereſſe fein würde, 
wollen wir uns nicht beſchäftigen, ſondern uns 
dem zweiten Teile zuwenden. Von vornherein 
wollen wir auf eine Wiedergabe einzelner Stellen 
aus in Deutſchland hinreichend befannten Schriften 
— ſogar die Münchener Fliegenden Blätter dienen 
als Quellen — verzichten und nur die Anſichten 
des Verfaſſers, in ſofern ſie ſein eigenſtes Geiſtes— 
produtt find, bier wiedergeben. Sind auch in 
jüngfter Zeit in Paris zwei Arbeiten: Education 
de linfanterie frangaise und L'officier allemand, 
erſchienen, welche parteiloje Kritif üben und dem 
deutſchen Militärftaate auch die Unerfennnng nicht 
verjagen, jo find doch ſolche Erſcheinungen jelten 
wie weiße Naben, während uns Gallus in umges 
ihminkter Weije zeigt, wie man jenfeit8 der Vo⸗ 
geſen von uns denlt. 

Als Gegenſtück der Trennung der Offiziere in 
Frankreich in St. Cyriens und in troupiers, wie 
dieſe ja auch durchgehends von Franzoſen aner— 
kannt wird, wird die Trennung des deutichen Of: 
fizierforps in Wdelige und Bürgerliche angeführt, 


Nene Schriften. — Bolitif. 


beide Klaſſen ſollen faum mit einander verkehren, 
la camaraderie, meint Gallus, cest une affaire 
d’stiquette et voilä tout! Unſere Lachmuskeln 
muß aber geradezu die Schilderung des Lebens 
der Offiziere in ihren vier Pfählen in Bewegung 
jegen, wir laſſen fie hier folgen „unless it were 
to be a moment merry*. 

„Sit der Dienft beendet, jo ſchickt der Offizier, 
welcher in der Kajerne wohnt, jeinen Burjchen in 
die Mannſchaftskantine, um ſich fein Wbendefien 
holen zu laſſen, dieſes befteht für gewöhnlich aus 
einem Häringsjalat, einer „Knadwurft“, oder oft 
gar aus einer Portion „Rimburger*, ber dann 
mit zwei oder drei „Seideln“ begofjen wird. Dann 
fängt cr an eine Unmenge echter Havanas zu 
rauchen, von benen fünf Stüd vier Pfennig koften. 
Bird ihm dann der Kopf ſchwindelig, jo geht er 
u Bett, glüdlih am anderen Tage ein gleiches 

eben beginnen au können.“ 

„Die in der Stadt wohnenden Offiziere laſſen 
fih aus dem Kafıno ein warmes, oder, weil dieſes 
—— iſt, ein kaltes Gericht holen, zu welchem 
fie dann ebenfalld eine erjtaunlihe Menge von 
Seideln vertilgen. Diejenigen, die höhere An— 
ſprüche machen, fpeijen in einem Bierhauje und 
ih bin oft — Zeuge eines ſolchen Schauſpiels 
geweſen. 8 bat mir immer eine unſagbare 
Freude bereitet, einen unjerer ftolzen Sieger fich 
binter ein Wiener Schnigel oder ein Stüd Zunge 
mit ſcharfer Sauce jegen zu jehen. Wie fie lang- 
fam und methodiſch eſſen, ab und zu ſich mit ben 
Bapierjervietten (ressemblent point pour point 
à celles qui servent en France A un autre usage) 
den Schnurrbart ftreihend, voller Zufriedenheit 
dem eritaunten Bürger einmal zeigend, wie ein 
„Herr Offizier“ ißt. Nach beendigtem Efjen wird 
eine Eigarre von eleganter Form angejtedt, der 
Herr erhebt fih mit der jelbjtzufriedenen Miene, 
durch dieſes Schaufpiel zur moralischen wie intel- 
lektuellen Erziehung des Landes beigetragen zu 
haben, voller Beradtung für alle nit zum 
„Schwertadel“ gehörigen“. 

„sh habe immer wie toll laden müſſen, wenn 
ih einen Burſchen mit dem Abendeſſen jeines 

errn babe vor mir aufziehen jehen. Man kann 
ih faum die Borjorge vo eg en, mit 
welcher er in der einen Hand eine Schüfjel im 
Gleichgewicht zu haften bemüht iſt. Die Schüffel 
enthält meiſt einen in Ejjig ſchwimmenden Hering, 
für den es gewiß nichts erbauenderes geben kann, 
ald die Nahrung cines glänzenden Offiziers ab» 
zugeben. In der anderen Hand trägt der Burſche 
ein Seidel mit dem jchäumenden Trant des Gam— 
brinus am Diejer Burſche zwiſchen feinem 

ering und jeinem Seibel ift für mid) das beite 

{ld des deutſchen Dualismus, er lacht über das 
europäifche Gleichgewicht, für ihn iſt das Seibel 
und ber Hering die ganze Welt.“ 

Nahdem der Berfafjer in ähnlicher geiſtvoller 
Weiſe die Beziehungen des Offiziers zum anderen 
Geihleht vor feinen Richterſtuhl gezogen hat, 
fommt er zur Gejellicaft. 

„Man muß geftehen, der deutſche Offizier wird 
überall und mit großem Zuvortommen empfangen 
und das fommt daher, daß fidh die Offiziere auf 


779 


der oberſten Sproſſe der gejellihaftlihen Stufen- 
leiter befinden. Sie verkehren bei den hoben 
amten, den Rechtsanwälten, vor allem haben fie 
eine Schwäde für die großen Gewerbtreibenden. 
Man muß die Erfolge der Herren Kommerzien- 
räte bei den Herren Leutnants geſehen . 
Dieje finden alle Eigenheiten jener reizend und 
liebenswürdig, wobei fic mehr den Geldbeutel, 
als das Herz einer sg Toter im Auge 
haben. Dafür find jene aber auch nicht jo ſpar— 
fam, wie unfere Landsleute, fie zerreißen fich 
völlig, geben Gejellihaften und Bälle und über- 
ihmwemmen die Kehlen de8 „Schwertadels“ mit 
utem Müncdener Bier, von welchem ber Hekto— 
iter 20 Mark koſtet. In diefen Kreijen gibt es 
jene vorzüglihen Soupers mit „Hamburger Bück⸗ 
lingen und Kartoffelſalat“ .. . 

„Die Vorſchriften über VBerheiratungen find jehr 
bart, wenigjten® für die Schwiegerväter, und ich 
bin überzeugt, daß den vorjchriftßmäßigen Be— 
—— nur von ſehr wenigen Perſonen genügt 
wird. Ich kenne wenigſtens eine ganze Anzahl 
junger Mädchen, welche geheiratet haben, ohne 
wie vorgefchrieben ein Einfommen von 2125 Fri8. 
zu befigen, eine andere Dame meiner Belannt- 
ihaft Hat nicht einmal 1200 Franken und doch 
bat der Bräutigam jein Ehrenmwort gegeben, über 
da8 nötige Einkommen zu verfügen ... .“ 

„Ale Welt bewundert und achtet das Offiziere 
forp8, aber wer ſucht die Gejellichaft desſelben 
uuf? Bielleiht einige Gewürzkrämer, weiche ſich 
mit dem Titel Kommerzienrat vom Gejchäft zurüd- 

ezogen haben und für ihre Tochter eine gejell- 
haftliche Stellung zu erlangen juchen, die jie 
durch dad Bezahlen der Schulden ihrer demnäd- 
fligen Schwiegerjöhne erfaufen müfjen. Mit ihren 
toben Sitten und mit ihrem eingebildeten Weſen 
ind die Offiziere der Schreden — bei geſchloſſenen 
Thüren der Gegenftand des Geſpötts — aller 
Belt. Bekannt ift ed, dab eine ganze Anzahl 
Biviliften die Reftaurants, in denen Difiziere ver- 
tehren, nicht zur bejuchen wagen! .. .“ 

„Der beutiche Offizier ift ein vorzüglicher Lehr— 
meiſter jeiner Untergebenen, vorzüglie im Feuer, 
mit Leib und Seele jeinem Könige ergeben, außer 
Dienft iſt er aber das denkbar unerträglichſte 
Wejen, welches man fih nur vorjtellen fann, unse 
verijhämt gegen Männer und rauen, eingebildet, 
gedenhaft, fade in feinem Gejpräh, eine übers 
rafchende Erjcheinung im XIX. Jahrhundert; aber 
an dem Tage, wo ihm das Schladtenglüd untreu 
wird, da wird e8 mit ihm aus fein; wie aus 
einem geplagten Ballon wird aus ihm nichts ans 
dered wie Luft heraustoumen“. 

Der Berfafler jchließt mit den „quatre vers* 
von Voltaire: 


Aimer son roi, la gloire et la patrie, 
Sacrifier son bien, sa santé et sa vie, 
Tourment# par des fous, et chican& pour 
un rien, 
Voilä le vrai portrait d'un officier prussien. 
Das alles bedarf feiner weiteren Erörterung, 
wir müfjen geftehen, jelbit in —— Kreiſen 
bis jetzt — nicht auf ſolche Schilderungen ge— 


780 


ftoßen zu jein. Derartige Anjhauungen können 
nur in den Köpfen von Leuten reifen, denen das 
Verjtändnis für die inneren Grundbedingungen 
des beutichen Dffizierforpg mangelt. Wäre e8 
dem Berfafier darum zu thun —— ein un⸗ 
parteiiſches Bild der deutſchen Offiziere zu ent— 
werfen, er hätte in den Fußtapfen des Verfaſſers 
des Officier allemand, son röle dans la nation 
treten müfjen, deſſen richtige, unparteiifche Kritif 
aber auch in Deutichland, nur nidht in Frankreich, 
gewürdigt wird. Das franzöfiihe Lejepublitum 
verlangt ſtets nach Schilderungen über Deutid- 
land in beftimmter Färbung, daß nad) beendigter 
Lektüre der biedere Bourgeoiß jein: „Herr Gott, 
id danfe dir“ ausrufen fann. 

In gleicher Weiſe beleuchtet Gallus die Ver— 
hältnifje der Offiziere des Beurlaubtenftande® und 
die unſeres Unteroffizierforpe. Wir wollen ihm 
hier nicht weiter folgen, die Widerfegung der un- 

laublichften Anihuldigungen würde zwecklos fein. 

mit wahrem Wo —— berührt der Verfaſſer 
das Kapitel „Mißhandlungen“; ſollte ihm aber 
die Anwendung der crapaudine in ber eigenen 
Armee unbetannt jein, jollte er nie gehört haben, 
dab franzöfiihe Dffiziere im Tonkin-Feldzug ihr 
eigenes Quartier mit Poſten umgaben, den poste 
de discipline — wo fi unbewaffnet Beltrafte 
aufhalten müflen — aber in einzelnen Fällen 

ijchen den beiderfeitigen kriegen aufjtellten ? 

ir haben eine zu große g vor der Maſſe 
des franzöfiihen Offizierkorps, ala daß wir eine 
ſolche Polemik Hier aufnehmen würden. 

ep 9 lohnend würde e8 fein, dem Ber: 
faffer auf da8 Gebiet der Zukunftsſchlacht zu folgen. 
Trog allen Aufwandes an Phrajen und plumpen 
Angriffen auf Deutſchland wird e8 ihm aber aud) 
in ben Augen aller benfenden Franzoſen nicht 

elingen, ben Beweis zu führen, daß Frankreich 
tet8 und zu aller Zeit das unfchuldige Opferlamm 
deutſcher Politik geweſen ift; dennoch läht er ſich 
zu folgendem hinreißen, nachdem er gelegentlich 
des Friedensſchluſſes 1871 die Unterſchätzung ber 
Hilfsquellen Frankreichs durch die Deutſchen er— 
wähnt hat: „Maintenant que vous reconnaissez 
votre erreur, vous vondriez le röparer, sachant 
que le jour oü nous aurons un gouvernement 
solide nous vous casserons les reins, comme 
nous l’avous d&ja fait en 1806, mais d'une facon 
plus radicale“. —d. 


2. Kirde. 

— Aus ber Geijhicdhte des Chriſtentums, 
ſechs Borlefungen von Karl Sell. (Darmitadt, 
Baig.) 1888. 163 ©. 

Der Berf., Superintendent und Oberkonſiſtorial⸗ 
rat in Darmftabdt, ftimmt mit R. Sohm u. a. aud) 
darin überein, daß er von unjeren Gebildeten erſt 
dann ein Intereſſe an der Geſchichte der religidien 
Fragen erwartet, wenn fie ihnen im mweltgeichicht- 
liden Zuſammenhang gezeigt wird. Aus dieſem 
Grunde hat er dieje Vorlejungen mit wachſender 
Teilnahme in Darmftadt gehalten und, wie wir 
nad dem trefflihen Inhalte derjelben annehmen 
dürfen, jeinen Zuhörern einen weſentlichen Dienft 
oeleiftet. Denn was kann dienlicher fein, als der 


Neue Schriften. — Kirche. 


noch immer herrſchenden kirchlichen Gleichgültigkeit 
durch den Nachweis zu begegnen, daß die lirchen— 
geſchichtlichen Ereigniſſe im Mittelpunkt der Welt- 
gejaichte ftehen. — Die ſechs Vorlefungen behan—⸗ 

In: das urſprüngliche Ehriftentum, die alte katho— 
lifche Kirche, das Mittelalter, die Reformation, 
die Gegenreformation, das Ehriftentum im legten 
Jahrhundert. In diefen ſechs Abjchnitten hat der 
Berf. bie Dauptgüge der Geſchichte der chriſtlichen 
Kirhe durch lebendige Charakter- und Thaten= 
ſchilderung in fortwährend interefjanter Weiſe uns 
einzuprägen verftanden. Weniger das bejceiden 
u dtretende Urteil des Verf. als die in großer 

larheit dargeftellten Sachen an fi erfüllen und 
bewegen ung, weil fie in ihrer vollen Bedeutung, 
zuperläjfig, mit feinem nüchternem Wahrheits ſinn 
in geiſtvoller Erfaſſung künſtleriſch geſtaltet und 
mit dem warmen Leben des geiſtlichen Berufes 
vorgetragen ſind. In lebendigen, kräftigen Zügen 
treten die Heldengeſtalten ber alten katholiſ 
Kirche und des Mittelalter plaftiih vor ums Hin. 
Beſonders gelungen find die Abjchnitte über das 
Möndtum, über Luther und den Jeſuitismus, 
von welchem es 3. B. treffend heißt: „Der Je— 
ſuitismus ift der äußerfte Gegenjag gegen das 
Luthertum. Luther glaubt an das As Wort 
Gottes, auch wo er nicht die geringfte irdiſche 
——— Der Jeſuit glaubt auch — ich 
finde fein Recht ihm den Glauben abzuſprechen 
— an den Sieg feiner Sade, aber doch erft dann, 
wenn er alle Mittel, alle Minen und Gänge, 
womit er ben Feind in die Quft jprengen kann, 
in Händen hat. Er ift ganz und gar Bolitiker. 
Darin liegt feine Stärte — n dad Gcheimnis 
end nnziehung auf jeden Bolititer, darin auch 
eine Grenze. Denn wo ift denn für diefe Art 
von Religion noch ber lebendige Gott? Es jcheint 
al8 Habe er abgedankt zu Gunften feines Statt 
halter auf Erden und zu Gunften von befien 
Geihäftsträgern, die an unfihtbaren Fäden bie 
Geſchicke der Völker zu lenken glauben.“ 

Es wird jehr heilfam fein, wenn die —— 
oberflächlichen Redensarten vieler Gebildeten über 
tirchliche Dinge durch ſolche wohlbegründete Ur— 
teile korrigiert und ergänzt werden. Darum find 
dieſe Borträge vorzüglih zur Familienlettüre 
zu empfehlen. 

Für fchr gewagt Halten wir bie Behauptung 
©. 84: Proteftantismus und Katholizismus unter» 
ſcheiden fih nit wie Spielarten einer und ders 
jelben Religion, jondern wie zwei verſchiedene 
Religionen. Denn mit der verfciedenen Beſtim— 
mung des Grundes der Religion, des Berhältnifies 
zu Gott läßt ſich dies nicht m Danach 
wäre jeder Dogmatiler, der dies Verhältnis anders 
wie die übrigen beftimmt — und das belieben fie 
befanntlich alle zu thun — ein „Religiongitifter*. 
Wir halten diefem Schluß die öfumenifhen Sym- 
bole entgegen, durch welche alle chriſtlichen Kirchen 
id) gleicherweiſe zum bdreieinigen Gott jtellen, 
peziell daß Wort des Apoftolitums: „Wir glauben 
an ben heiligen @eift, eine heilige hriftliche Kirche“. 
Diefe Anihauung hängt wohl zufammen mit bes 
Berf. Anihauung vom Ehriftentum als einer vom 
Menſchenſohn geftifteten Religion. Es ift ge— 


Neue Schriften. — Kirche. 


wiß nicht die Meinung des Verf., Chriftum, den 
er ald Gottes Sohn befennt, gewiſſermaßen als 
„Religionsftifter* auf eine Vergleichslinie mit 
andern Religionftiftern wie Konfucius oder Mus 
hamed zu ftellen, aber ſchon dieſer Ausdrud ©.5 
ijt mißverftändlih. Die Hriftlihe Kirche ift nicht 
eine menihlih, d. h. von Katholiten oder Pro- 
teftanten beitimmte Religion, ſondern lediglich 
Schöpfung Gottes, wenigſtens wie Tertullian de 
baptismo jagt die Religion de& lebendigen Gottes. 
In der riftlihen Kirche beftimmt Gott und nicht 
der Menſch das gegenieitige Berhältnid. In ec- 
clesia non valet hoc ego dico, hoc tu dicis, 
hoc ille dieit, sed haec dicit dominus fagen 
wir mit dem hl. Auguftin. €. 8. 


— Die Anfänge des Chriſtentums in 
Bürttemberg von G. Bojjert. Ermeiterter 
Abdrud aus den Blättern für württembergijche 
Kirhengeihichte I. (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer.) 
1888. 35 ©. 80 


Der dur jeine unermüdliche und fruchtbare 
Thätigfeit für die Geſchichte und Altertumskunde 
Württembergd, zumal des fräntifchen, in weiteren 
Kreijen befannte ne" hut in biejer Schrift durch 
forgjame umfichtige Prüfung alter Nachrichten und 
Neberlieferun en Antwort auf eine ber Kardinal— 
fragen zunächſt des württembergijchen, bei vorfid) 
tiger Vergleihung aber auch des gejamten beut- 

en Aliertums zu gewinnen. Er fragt: wann 
ift die chriſtliche Kirche als jolhe in Württemberg 

egründet worden, wann bat fi das Ehrijtentum 
Bier ald eine Macht fundzugeben begonnen, die in 
das Öffentlihe Leben eingreift? Er hebt gleich zu 
Anfang den Unterſchied hervor, der in verſchiedenen 
Gegenden Deutſchlands bei der N des 
Chriſtentums in die Augen ſpringt. So ſei bei 
den Sachſen mit Gewalt, bei den Thüringern, 
teilweiſe auch bei den Sachſen, durch beſtimmte 
nachhaltig wirkende Glaubensboten die Lehre und 
Kirche Chriſti gepflanzt worden. Anders in Würt- 
temberg. Dies wird nun des näheren in ver— 
ſchiedenen Abſchnitten gezeigt. Nach einer Aus— 
einanderſetzung über den Stand der Frage wird 
im zweiten Abſchnitte die Frage —— 
Gab es Chriſtengemeinden in Württemberg vor 
506? Daß es ſchon zu römiſcher Zeit Hier eigent⸗ 
lich chriſtliche Gemeinden gegeben habe, wird ver- 
neint, aber darauf hingewleſen, dab doch die römi— 
ſchen Niederlafiungen nad) der Vernichtung des 
Reichs an etwas hätten erfennbar fein müſſen. 
Diefe Spuren findet der Verf. in der Grenzbe— 
ftimmung des Bistums Augsburg längs des rö— 
miſchen — in dem Hinüberragen des alten 
Lorcher Pfarrbezirts nordlich über dieſen Grem— 
wall, in der Zugehörigleit dieſer alten Pfarrei zu 
Augsburg und in der h. Maria al Kirchenheiligen. 
Als kümmerlich und gedrüdt wird die Qage der 
aus römiſcher Zeit in die der jelbftändigen Ala— 
mannenherrſchaft herübergeretteten Ehriften anzus 
nehmen jein. Dieſe Lage ber Dinge begann ſich 
nun (3. Abjchnitt) feit dem Jahre 506 und den 
Siegen des Frankenlönigs — zunächſt im 
Dftfrantenlande — wozu ja die nördlichen Striche 


781 


Württemberg gehören — zu ändern: Indem bie 
Frankenkönige am den alten Römerorten, bie fie 
für fi als Krongut in Anſpruch nahmen, frän— 
files Recht einführten und fränkiſche Anfiedelungen 
—— wurden ſie auch, ohne irgendwie das 

hriſtentum mit Gewalt einzuführen, Begründer 
Hriftliher Gemeinden. Dieje fränkiſchen Kirchen: 
gründungen laſſen fich num ganz befonderd an den 
alten Sirchenheiligen, vor allem dem heiligen 
Martin erkennen. Der heilige Martin ift 3 
Symbol der erſten Begeiſterung der Franken für 
das Chriſtentum. Daneben trat auch S. Michael, 
den bie Priefter dem Volt der Alamannen als 
Heiligen für ihren Kriegsgott Ziu gaben. Die 
im Einzelnen nachgewieſenen andenalten 
Römerorten und auf Königsboden ge— 
gründeten königlichen Kirchen bildeten 
nun die Riffionsftationen, von denen aus 
das fränkiſche Gebiet allmählich mit weis 
teren Kirchen außdgeftattet wurde. Was 
nun zunächſt in Dftfranfen geichab, vollzog fi 
ganı auf diejelbe Weife in Alamannien, feit 536 
er —— Vitiges dieſes Land dem Frans 
tenlönige Theudebert — hatte, denn wieder 
bildete ſich hier ein Krongut, auf dem überall 
chriſtlich⸗fränkiſche Gemeinden und Kirchen, bie 
dem Martin, Michael, auch wohl Remigius, Me— 
dardus u. a. geweiht waren. Ein Schlag für 
das alte Heidentum und deſſen Erſchütterung in 
der Volksſeele der Alamannen mußte dann die 
Vernichtung der alamanniſchen Scharen unter 
rg erg und Butilin im Jahre 553 werden. 
Um biefe Zeit wird aud an der Stelle von Win— 
diſch (Vindonissa) das alamanniidhe Bistum Kon— 
ftanz errichtet (4. Abihn) Im fünften oder 
Schlußabſchnitt wird nun angedeutet, wie zwar zu 
Anfang des fiebenten nadchriftficen Yahrhunderts 
die hriftlihe Kirche in Alamannien beftand, die 
Hauptmafje des Volks äußerlich dazu befehrt war, 
wie aber noch viel fehlte, dab das Bolt dasjelbe 
in feiner Ziefe erfaßt hätte. Dazu diente nun 
die Predigt einzelner Glaubensboten, bejonders 
aber das vorbildliche Leben von Männern wie 
Kolumban, Gall, Birmin u. A. Der durch könig— 
lihe Macht geihaffenen Kirche fehlte die Kralı, 
bie Reſte des — zu gewinnen und das 
Leben der Chriſten zu beſſern und zu vertiefen. 
In den genannten Männern lernten die Alaman— 
nen eine Kraft der Weltverleugnung und ein 
Streben nach Heiligung lennen, wie es ihnen in 
ben vom Frankenkönig errichteten Kirchen nimmer 
zum Bewußtjein gelommen war. 

Die bejprochene Arbeit bezeichnet fich jelbjt nur 
als einen Verſuch in eine ſchwierige, durch Mare 
unzweideutige gleichzeitige Zeugniſſe nicht hin— 
reichend zu löſende Frage einiges Licht zu bringen. 
Wir glauben nicht, daß man dieſer ſorgfältigen 
beſonnenen Unterſuchung, die uns zeigt, wie die 
iger | des Nlamannenlandes das Wert 
einer ftetigen Entwidelung und planmäßig wir- 
fender Kräfte war, die Unerfennung und das 
Zeugnis innerer Wahrſcheinlichkeit und Berechtigung 
wird verfagen fünnen. 

Bernigerode. Ed. Jatobs. 


782 


3. Geſchichte. 


— Gneomar Ernſt von Natzmer. Unter 
den Hohenzollern. Denkwürdigkeiten aus dem 
Reben des Generald Oldwig dv. Napmer. Aus der 
Zeit Friedrih Wilhelms II. II Zeil: 1832 bis 
1839. (Gotha. F. U. Perthes.) 1888. XXIL 
338 ©. 

Das Buch, deilen erſter Teil ſchon früher an— 
ezeigt wurde, zeugt nicht weniger von dem Ge— 
id des Bf. als jeine erite Hälfte, Er verbindet 
in jehr gewandter Weiſe jeinen an fih nicht ums 
fangreihen Stoff mit den Zeugnifien der Zeitge— 
ihichte, jo da man den Eindrud befommt, der 
General N. ftehe im Mittelpuntte der Thatiachen. 
Dies ift jedoh nur dann der Fall, wenn es fich 
um bie Berjon, die Yamilie, die befondere Wirt: 
jamfeit des Generald handelt, wie 3. B. bei feiner 
Verſetzung nad Königsberg, bei der Schilderung 
feiner Aufnahme und feines Umgangskreiſes, feiner 
Wohnung bajelbft; oder auch der mannigfaden 
widhtigen oder unwichtigeren Begebniffe bei Ge— 
legenheit des Königsmanövers und des Beluches 
Friedrich Wilhelms IH. in Ns. Haufe. Man 
darf daraus bem Verf. feinen Vorwurf machen. 
Das Leben des tommandierenden Generals des 
erjten Armeekorps in jenen Jahren fteht mit der 
großen Politik nicht in dem Zuſammenhange, daß 
wir aus den Aufzeihnungen besjelben welentfic 
fürdernde Aufichlüffe über gewilfe dunkle Punkte 
derjelben erwarten dürften. Was er davon kennt, 
erfährt er von anderen, die an ber Quelle ber 
Neuigkeiten figen und jhöpfen. Aber deren Mit- 
teilungen waren uns nicht mehr unbefannt. — 
Bas dem Buche trogdem jeinen Wert verleiht ift, 
daß es uns einmal befannt macht mit dem äußeren, 
amtlihen Leben eines jo hohen Offizier in jener 
Zeit; daß es dann Urteile über Perjönlichkeiten 
bietet, die mit dieſem in Beziehung traten, und 
dadurch unjere Kenntnis derjelben erweitert (z. B. 
des Kriegsminiſters von Wipleben), daß es ung 
ferner einzelne Züge aus dem Leben des Königs 
Friedrich Wilhelm III. (fehr anzichend und wert: 
voll ift die Schilderung des Beſuches des Königs 
©. 132 ff.), jeine® Bruder und ſeines Sohnes 
Wilhelm u. a. fürftliher Männer überliefert, um 
jo mehr, da wir don dieſem Stoffe nie genug 
empfangen können, fall® die Thatjahen jo gut 
verbürgt jind, wie hier; dab es auch die teligiöfen 
Verhältniſſe, insbeſondere die Kämpfe der preußi- 
fhen Regierung mit der römiſchen Kirche, durch 
die Erlebnifje und Anihauungen des Generals 
und jeiner Gattin (fie war fatholiich geworden, 
jpäter aber in die evangeliſche Kirche zurüdge- 
treten), bejonder® in Beziehung zu dem Freunde 
des N.ſchen Haufes, des Sürftbifihofe von Sebli- 
nigli, von neuem beleuchtet; endlich, daß es ung 
höchſt wertvolle Beiträge zur Kenntnis des dama— 
ligen rujftichen —858 insbeſondere der Perſön— 
lichleit des Kaiſers Nikolaus I. bietet. Hier iſt 
H. v. N. in ſeinen Erzählungen und Berichten 
als Quelle erſten Grades zu betrachten, da er als 
Freund des Königs wie des Kaiſers, als hochge— 
ſchätzter General und als ausgezeichneter Gaſt tief 
in Berhältnifie bliden durfte, die anderen unzu— 


Neue Schriften. — Geſchichte. 


Biographiiches. 


gänglih blieben. Kaifer Nikolaus wird nad) biefer 
ritellung vielen in feinem Wefen deutlicher, 
wenn auch nicht anziehender erjcheinen als früher. 
— Der Schluß behandelt des Generals Rüdtritt 
aus dem Dienfte, feinen Gutskauf, ben Tod Friedrich 
Wilhelms III., den NRegierungsantritt Friedrich 
Wilhelms IV. — Durd das ganze Buch weht ein 
wohlthuender frommer und nie el 
. Tr. 


4. Biographiſches. 


— Ph. Alb. Stapfer, helvetiſcher Miniſter 
der Künste und Wiffenichaften (1766—1840). Ein 
Lebens- und Kulturbild von Rudolf Lugin- 
bühl. (Bajel. C. Detloff.) 1887. IX. u. 589 ©. 
10 Mt. 

Dieje umfangreiche Werf ift zunächſt für die 
Schweiz bejtimmt. Bei uns in Deutjchland wird 
man durch die allzu weitgehenden Abſchweifungen 
in® Gebiet der ſchweizer und der franzöfiichen 
Schule zu dem Wunſche gebradt, das Lebensbild 
Stapferd möchte in gedrängter Faffung gegeben 
worden fein. Den Löwenanteil des Antereffeh 
nehmen die Männer der Schule weg; das allge- 
mein=politijhe Intereſſe fteht jenem nad. — 
Stapfer entitammt einem alten Geſchlechte im 
Brugg Et. Aargau, welches der reformierten Kirche 
der Schweiz eine ganze Reihe von Geiftlichen ge— 


geben Hat. Auch Stapfers Bater war Pfarrer 
und zwar (am Münjter) in Bern. Hier wurde 
St. am 23. September 1766 geboren. Durch feine 


Mutter, eine Waadtländerin, ift er frühzeitig mit 
der franzöfiihen Sprache vertraut geworden und 
da er nachmals eine Franzöſin geheiratet umd die 
längſte Zeit jeine® Lebens in und bei Paris 
(Belair) gewohnt hat, fo ift es erflärlih, daß er 
die deutſche und die franzöfiiche Sprache mit gleicher 
Meiſterſchaft zu beherrichen lernte. In Bern und 
Böttingen jtudierte St. Theologie. Nach Been— 
digung jeiner Studien hielt er fi längere * 
in London und Paris auf. 1791 wurde er Pro— 
feſſor der Theologie an der Berner Alademie, 
1792 auch Profeſſor der Philologie und Philoſophie 
am „politiichen Inftitut“. Seine Sympathien für 
die franzöfiihe Revolution — hierin Gefinnungss 
genofje von Klopjtod, Fritz Stolberg, Schiller und 
vielen anderen — lichen ihn empfehlenswert er- 
ſcheinen, um mit zwei anderen Abgeordneten 1798 
in Barid den Verſuch zu madhen, für die Schweiz 
Erleihterung von dem entjeglihen Franzoſendrud 
herbeizuführen. Während des Aufenthaltes im 
Baris iſt St. zum „helvetifhen“ Miniſter der 
Künfte und Wiſſenſchaften (Kultusminifter) er- 
nannt worden. Da er zeitlebens den Einheits— 
jtaat für die befte politifche Geftaltung der Schweiz 
gehalten hat, jo war er unermüdlich im Entwerfen 
von umfaflenden Gejegen über die Volksſchule, 
über eine National-Univerfität u. ſ. w., doc er= 
langten feine Entwürfe in der aufgeregten Zeit 
feine Geſetzeskraft. Ein beſonderes Wugenmert 
richtete er auf die in ihrem Einkommen ſchmählich 
durch die neue Ordnung der Dinge geſchädigten 
Pfarrer und Volksſchullehrer. Es iſt faft uns 
glaublih, mwad man damald den Erziehern des 
Volks zugemutet hat. Intereſſant ift ein bisher 


Neue Schriften. — Heerweſen. 


nit gedrudter Brief Goethes vom 15. März 
1799 an den gleichſalls in feinem Einfommen ver: 
kürzten Profeſſor ———— in Zürich, welchem 
Ausſichten auf anderweite Anſtellung außerhalb 
der Schweiz gemacht werden: „Wer hätte ſonſt 
daran denfen dürfen, einen Schweizer aus jeinem 
Baterlande zu rufen, aus einem Lande, wohin fi 
jo mandyer andere Europäer jehnt.“ — Aber „in 
dem Yugenblide, da man überall beichäftigt iſt, 
neue Baterlande zu erihaffen, it fir den unbes 
fangen Dentenden, für den, der fich über jeine 
Zeit erheben kann, das Vaterland nirgends und 
überall.“ Hottinger blieb in feiner Heimat, ob— 
ſchon die Regenten, „Bürger Adminijtratoren“ an« 
ge und am Scluffe jedes Attenjtüds mit den 
orten „Republitanifher Gruß“ beglüdt (Talley- 
rand: „la revolution helvetique n’est qu’une sin- 
gerie‘) den Hilferufen St’. faft immer paſſiven 
ideritand entgegenjepten. Einen befieren Erfolg 
hatte St. mit m reunde Beitalozzi, defjen 
Normaljchule, ringe sea und Seminar in 
Burgdorf er fürderte. agegen ihlug der Plan, 
duch Peſtalozzi ein offizielles helvetiſches Volls⸗ 
blatt erſcheinen zu lafjen, volljtändig fehl; das 
Bolt mißtraute allem „Helvetiſchen“. — St., von 
Haus aus ein gläubiger Chriſt, jah die Kirche ala 
eine Privatgejellihaft an, welde man zur Förde— 
rung ihrer Keipeit nad) und nad) vom Staat los— 
machen —* Er that alles zur Erhaltung der 
fichlihen Ordnung; er war ein ——— 
Gegner der Pfarrwahl und der Abſchaffung des 
Beöntens, — Bon 1800 bı8 1803 war St. Ge 
jandter in Paris, ein außerordentlich jchwieriger 
Bojten. Am 17. Sept. 1800 jchreibt er feiner 
Regierung: „Je ne dois pas vous cacher, Citoyens 
Magistrats, que nous sommes profondement m6- 
— et cest peut-ötre (il me répugne de le 
ire) ce mepris seul, joint a une tradition diplo- 
matique encore respectee, qui nous a épargné le 
sort de la Pologne“. — Tage jpäter ſchreibt 
er einem Freunde: „Bis zur Evidenz iſt es 
mir nun far und erwiejen, dab die franzöſiſche 
Regierung die Einführung einer die wahre Frei— 
beit begünftigenden Berfahung nicht nur nicht be— 
fördern will, jondern auf alle mit ihrem Intereſſe 
und ihren nun einmal öffentlih angekündigten 
Grundjägen vereinbare Art zu hindern entſchloſſen 
ift. Der Zweck Bonapartis iſt gewiß kein ande— 
rer, als der, Frankreich unter republikaniſchen For- 
men und Namen unumſchränkt a la Louis XIV. 
u regieren. — — Nicht nur werden alle unbes 
—— Freiheitsfreunde enticrnt, während Jako— 
biner und Royaliſten promisene angeſtellt werden 
und freien Zutritt haben, ſondern es wird plan— 
mäßig daran gearbeitet, die ganze Nation wieder 
monarchiſch zu ſtimmen, verſteht ſich, nicht um 
einem Bourbon wieder den Weg zum Throne an— 
zubahnen, ſondern um dem neuen Oftavian, qui 
plebem discordiis eivilibus fessam sibi, specie rei 
publieae conservata, snbjecit, das Herrichen leicht 
zu maden. Nicht nur bat diejer Jüngling, bei 
einen großen Talenten, feine Seele und feinen 
unten von Moralität, jondern er verfolgt recht 
yftematiih den Plan, den jo viele Könige gleich« 
am injtinftmähig befolgt haben.” 


783 


Im Luneviller Frieden warder Schweiz das Selbit- 
beſtimmungsrecht zurüdgegeben worden, gleich— 
wohl hatte Bonaparte bei den wecdjelnden Ver: 
fajjungen und Staatsftreichen feine Hand im Spiel 
und zur Belohnung für jeine unerwünſchte Thä- 
tigkeit verlangte er Abtretung des Wallis." Mit 
den Berfafjungen liberalen oder reaktionären Zu— 
ſchnitts wußte St. ſich abzufinden, gegen die Ab— 
tretung ded Wallis kämpfte er erfolgreid an. Nach 
feinem Ausſcheiden aus dem Staatsdienjt widmete 
fih St. der Erziehung feiner beiden Söhne, hier: 
bei unterjtüßte ihn von 1807 bis 1810 der im 
Anfang jeiner Laufbahn ftehende Guizot. Paris 
und jeine Umgebung boten dem vieljeitig ange- 
regten St. einen reihen geiltigen Verkehr. Adolf 
Monod, der Sohn jeined Freundes Johann Mo: 
nod, jagte von ihm: „sa oonversation était, si 
jose ainsi dire, son triomphe.“ Als jeine Haupt- 
aufgabe betrachtete er die Verbreitung von deut- 
icher Litteratur und Wiſſenſchaft auf franzöſiſchem 

oben. Bu jeinen intimften Freunden gebörten, 
außer den Scweizern Peſtalozzi, Fellenberg und 
Bichofte, in erjter Linie ler. vd. Humboldt, der 
monatelang im Haufe Sts. wohnte. — St3. litte- 
rarijhe Wrbeiten find äußerlich) angejehen nicht 
hervorragend. Er ſchrieb nur franzöfiih und 
war über da8 Berner Oberland — im vorliegen: 

en Werke wird eine trefilihe Schilderung ber 
„Jungfrau“ mitgeteilt — eine Geſchichte der Stadt 
Bern, eine Unzahl Biographien der Biographie 
universelle, von welchen diejenigen über Sofrates 
und Kant unverfürzt in bejonderer Ausgabe er- 
ihienen find. — St. half die Gejellihaft für chriſt⸗ 
fihe Moral in Frankreich gründen und die diejen 
Beitrebungen feindjeligen Anſchläge des reaftios 
nären Bourbonentums und der franzöfiichen Prie— 
fterwelt zurüdweijen. Dadurd wurde er mit Aler. 
Binet, dem Verf. einer preisgefrönten Schrift über 
die von jeiner Gejellihaft zur Beantwortung ge— 
jtellten Brage nah der Kulturfreiheit, befannt. 
Auch der Bibelgejelihaft und vielen anderen reli- 
* Vereinigungen gehörte St. an. Am 27. Mai 
840 it er im re Slauben an jeinen Erlöfer 
in Paris geftorben. O. 8. 


5. Deerwejen. 

— The balance of Military Power in 
Europe by Colonel Maurice (London, Black- 
wood and Sons bezw. Leipzig, Zauchnig). 1880. 
240 bezw. 288 ©. 8% bezw. 127. 6 M. bezw. 
1,60 M. 

Das vorliegende Buch ift eine Entgegnung auf 
eine Arbeit von Sir Eharled Dilte in der Sorte 
nightly Review und zuerit in dem ältejten enges 
lichen Magazine: Blackwoods Magazine eridienen. 
Der Herr Berfaffer iſt Lehrer an der engliſchen 
Generalitabsjhule und wir müſſen geftehen, daß 
wir von einem Lehrer der Kriegsgeſchichte an 
einer jo hervorragenden Anſtalt mehr erwartet 
haben als der Inhalt des Buches in der That 
bietet. Eine danfenswerte Studie wäre es jeben- 
falls geweien, das militärische Gleichgewicht ber 
europäiihen Staaten einer kritiihen Betradhtung 
zu unterwerfen und der Herr Verfafler würde als 
Hiftoriter und Generalftabsoffizier wohl geeignet 


784 


fein, eine ſolche Aufgabe mit ii a löfen. Der 
Grundgedante, welcher fi durch das ganze Bud 

indurchzieht, ift das Beftreben für den „Drei- 
und“ die Notwendigkeit darzuthun, England in 
fein Schutz⸗ und Trupßbündnis gegen ruſſiſche und 
franzBfiiche Angriffe mit aufzunehmen. Nicht ſchwer 
ift e8 aber, zwiſchen den Zeilen die Abficht heraus— 
zufejen, die Truppen der drei Mächte für die eige— 
nen infularen Intereſſen auszjunugen, während 
England ſich mit feiner Flotte, zwei nern 
und einer Kavalleriedivifion an diejem Kampfe bes 
teiligen würde. Wenn wir aud) in feiner Weiſe 
die Bedeutung eines vollfräftigen Beitritt Eng— 
lands in den Dreibund verfennen wollen, welcher 
die Offenfive Italiens erleihtern, die Neutralität 
der Heinen Nordſeemächte fihern, jowie die deutſche 
Küftenverteidigung im hohen Maße entlaften würde, 
fo ftehen einem kräftigen Eingreifen Großbritaniens 
fo viele Schwierigkeiten im Wege, daß die Unter- 
ftügung Englands nicht viel mehr al® eine mora= 
life fein dürfte. Bei dem unfertigen Zuſtande 
von Heer und Flotte iſt England Feibft zumeift 
durch Frankreich bedroßt, die in den erjten vier 
Wochen in Dienſt zu ftellenden Schiffe würden in 
keiner Weije zum Schuge der Küften Deutichlands 
und Staliend verfügbar jein, man würde jedes 
einzelne Kriegsſchiff dringend notwendig haben, um 
die franzöfiiche KRanalflotte in Schach zu Halten, die 
Verbindung mit Indien, die Lebensmittelzufuhr 
und die Kohlenftationen zu jchügen. Nicht uns 
mwahricheinlich wäre es, dab Frankreich verjuchen 
würde, mit kühnem Sandftreihe in England zu 
landen und in London ben Frieden zu diltieren, 
mit Recht werben in England derartige Unter: 
nehmungen gefürditet, und die englijche Armee ijt 
nit in der Lage, einen ſolchen Schlag zu ver- 
hindern, welcher fih in jeder Weiſe für Frankreich 
nüglich erweijen würde. Aber auch Rußland be- 
figt Mittel genug, um, ohne einen Mann jeiner 
europäifhen Feldarmee zu entziehen, jede that- 
fräftige Unterftügung Englands lahm legen zu 
fönnen. Das Heranrüden eines rujfiihen Heeres 
aus dem inneren Aſiens, im Verein mit beute= 

ierigen QTurfmenen, denen ſich die ——— 

lemente Afghaniſtans anſchließen würden, würde 
die Verwendung eines jeden engliſchen Soldaten 
zur Verteidigung der Nordweitgrenze Indiens un- 

edingt erheifchen. Bei der Unfertigfeit aller mili- 
tärijhen Einrihtungen und bei der Langſamleit 
ber Mobilmahung wäre eine Niederlage der Eng: 
länder unvermeidlich, welche jelbjt bei den glän- 
zendften Erfolgen der Mächte des Dreibundes 
nit verfehlen würde, bei den Friedensverhand⸗ 
lungen einen ſchwerwiegenden Einfluß auszuüben. 
Dann denke man an die Folgen eines Minifterwec)- 
ſels, weldyer jhon dreimal in der Geſchichte zum 
Nachteile der deutichen Verbündeten ausgeſchlagen ift. 
Bil England die Borteile, welde durch einen 
Anſchluß an die Mächte des Dreibundes erwachſen, 
genießen, jo muß es auch imjtande jein, eine ent 
Iprechende Gegenleiftung zu bieten, die Streitkräfte 
müſſen ſoweit entwidelt werden, daß England nicht 
allein in der Lage ift, jeine eigenen Küften und 
Grenzen zu jhügen, jondern aud) die franzöfiichen 
Häfen zu blodieren und mit etwa vier Armeelorps 


Neue Schriften. — Verſchiedenes. 


fih an einem Angriffskriege zu beteiligen. Im 
diefem Falle würde Englands eg, von 
hoher Bedeutung fein, vorläufig und ſicherlich für 
die nächften fünf Jahre reihen Hierzu die Streit- 
mittel Englands aber nicht aus. 

Aud die Behauptung des Colonel Maurice, daß 
erjt nad) Uebernahme des Küſtenſchutzes durd ein 
anglo⸗italieniſches Geſchwader bie Offenfive Jtalieng 
möglich jein würde, ift in en Maße hinfällig. 
Italia fara da se Zum Küſtenſchutz ift die ita= 
lieniiche Flotte völlig ausreichend, ein vereintes 
italieniſch⸗ oſterreichiſches Geſchwader würde im⸗ 
ſtande ſein, die franzöſiſchen Küſten zu blockieren 
und den Eintritt feindlicher Schiffe in das Mittel- 
meer zu verhindern. 

Bas jonft über die Berteidigungsfähigleit der 
deutſchen Grenzen nad) Dften und Weiten gejagt 
wird, ift nicht neu, die bier gemaditen Angaben 
jtügen ſich durchgehends auf deutfche Quellen, auch 
find die Grundzüge des deutichen und franzöſiſchen 
Verteidigungsſyſtem richtig gefennzeichnet und ge⸗ 
würdigt. Für engliſche Lejer muß die Arbeit de& 
Colonel Maurice von hohem nterefje jein, für 
uns hat fie, da fie den jpezifiich engliichen Stanb- 
punkt, den Standpunkt der angloszentrijhen Welt- 
auffajjung, vertritt, nur bedingten Wert. 


6 Berjdiedenes. 


— Schwert und felle. Bon Carlos von 
Gagern. Aus dem Nachlaſſe des Berfafjers 
herausgegeben von M. G. Conrad. (Xeipzig, 
Wilhelm Friedrih.) 1888. 215 ©. 

Ein in jeder Art widerwärtiges Bud), das einer— 
jeitö nur für den von Wert jein kann, der noch 
nötig hat, fi) durch ſolche Lektüre eine — 
Abneigung gegen die Freimaurerei anzu ug und 
dem man anderſeits doch wieder die größte Ver— 
breitung zu wünſchen ſich verjucht fühlen könnte, 
da es geeignet iſt, jedem die Augen zu öffnen, der 
die Endziele der fortgefchrittenen Maurer nod) nicht 
fennt. Entichieden das Merkwürdigſte an dem 
Berjaffer ift fein abenteuerlider Lebenslauf, weit 
mehr al3 jeine „bedeutende“ Perſönlichkeit, die es 
für ihre Pflicht hielt (S. 30) „Flecken jelbft in der 
Sonne zu ſuchen“. — Carlos Freiherr v. Gagern 
wurde im Jahre 1826 zu Rehdorf in der Neumark 
auf dem Gute jeine® Vaters, eines preußiichen 
Majors, geboren. Als er adıt Jahre alt war, 
verlor er Tas Bater. Bon drei Gymnafien ward 
er relegiert wegen undisziplinierbaren Wefens. Um 
Jura zu ftudieren, befuchte er die Univerfität 
Berlin, ging nad Holland, jtudierte in Leyden, 
reifte nad) Südfrankreih und Spanien, wojelbft 
er am politifchen Xeben teilnahm, ins —— 
kam und dem Tode nur auf ſehr romantiiche 
(romanhafte?) Weife entging. Im Jahre 1849 
trat er in die preußifche Armee, ſchloß ſich darauf 
an Wislicenus an, ward Sprecher der „Gemeinde“ 
und verfah die Fımltionen eines „Geiftlichen”. 
Vach Amerika ausgewandert, ernährte er fich in 
News Mort durch jowrnaliftiihe Wrbeiten. Bon 
bier trieb e8 ihn nad Merito, das jein Adoptiv: 
vaterland werden ſollte. Er brachte es dajelbft 
bi8 zum Hauptmann, jedoch der Sturz feines 


Neue Schriften. — Verſchiedenes 


Gönners, des damaligen Präfidenten Santa Anna, 
veranlafte ihn bald nad Habanna, Yulatan und 
nad der Inſel Cuba zu gehen. Nach Merito zu— 
rüdgelehrt, wurde er vom neuen Präſidenten zum 
Oberſtleutnant befördert. Als er aber zur geg— 
nerifhen Partei überging, wurde er in die Ber- 
bannung, dann ins Serängnis geihidt, bis ihn 
die Revolution des Jahres 1860 befreite und er 
— Oberſten und Lehrer an der Militäralademie 
efördert wurde. Später geriet er in franzöſiſche 
Sefangenihaft und kam nad) Parid, von wo er 
1865 wieder nad New- Port zurüdging. Nach 
verichiedenen Kämpfen, wiederholter Gefangenſchaft 
in Merito und wiederholter Befreiung aus dem 
Kerker („durch das freimaureriſche große Not- und 
Hilfszeichen,“ romanhaft?), naddem er ſich fo 
ziemlih mit allen Parteien überworfen hatte, fam 
er um die Mitte der 70er Jahre nad) Europa, 
lebte zuerft in Wien, dann 1883 als mexikaniſcher 
Militär: Attahe in Berlin, darauf in Dresden, 
und unternahm 1885 als Beitungsberichterftatter 
eine Reife nah Spanien, wo er im jelben Jahre 
ftarb. — Carlos von Gagern nennt ſich mit Stolz 
„Reformmaurer“. Was er * darunter vorſtellt, 
erläutert er zur Genüge. ie müſſen aber nad) 
eg Beichreibung die eigentlihen Maurer jein, 
ie nicht reformierten? Gr ſelbſt fpridt von 
Scharen von feigen, dummen, jtumpffinnigen und 
triehenden Maurern, gegen die er fämpft. 
hält ihn aber nicht ab, wenn es ihm gerade paßt, 
zu rühmen (©. 69): „Wenn wir unjere Hand 
ausjtreden im Kreije unferer Mauren = Genofen, 
wir find ficher, die Hand eines edlen, braben 
Mannes zu erfaflen, eined Mannes, auf den wir 
uns verlajjen können, den wir ein Recht haben mit 
dem ſchönſten Namen zu begrühen, mit bem 
Namen eines Bruders.” Wenn nur der Neben: 
mann, den er da in der Fette an der Hand faht, 
nicht am Ende einer von ben ftumpfjinnigen 
Brüdern E — — Es wäre ein ebenjo unange— 
nehmes wie ee Geihäft, ſich auf eine, 
wenn auch nod jo kurze Widerlegung der An— 
ten des Verfaſſers — — einige 
roben ſeien mitgeteilt. ©. 50 wird prophezeit: 
„EB wird und muß kommen bie geit, wo ber 
Atheismus die allgemeine Anficht der Menſchen 


785 


fein wird.“ „Begnüge man jich nicht,“ heißt es an 
anderer Stelle,“ abzuſehen von befonderen Glaubens⸗ 
betenntnifjen, jehe man überhaupt ab von einem 
Gott Glauben!“ „Laffen wir Gott in feinem 
Himmel, wenn es einen Gott und einen Himmel 
gibt,“ heißt e3 dann etwas weniger zuverſichtlich. 
„Mit einem Worte, unjer maurerifches Wirken, 
es liege angefangen und bejchlofien in dem reinen, 
jeder religiöfen Idee baren Kultus der Menid: 
lichkeit!" „Religion und fsreimaurerei,“ wird 
©. 75 verfichert, „find kontradiktorifche Begriffe.” 
„Bir wollen ja Luzifers jein — excellence.“ 
©. 54 entihront Darwin Gott ald „allmäcdhtigen 
Baumeifter aller Welten,“ nachdem bereitd Kant 
„die Hinrichtung Gottes arg ie hatte.” — Haft 
geradejo abſtoßend wie dieje blasphemiſchen Aeuße⸗ 
rungen ift e8, wenn ©. 75 „der milde Nazarener 
„die Herzigen Worte ſpricht“ ꝛc. — Wie reform- 
maureriſche Anjhauung im Gegenjaß zu Hriftlicher 
wirft, das beweiſt das Verhalten des jugendlichen 
Gagern bei jeiner Konfirmation. „Da er troß 
zwetjährigen Unterrichtes in den Grundſätzen der 
evangeliihen Religion ſich dazu nicht Herbeilaflen 
wollte, jo vereinbarte er mit feiner Yamilie, die 
unbedingt auf diefelbe beitand, daß er, wenn der 
Priejter nad) Verlefung des Kredo die Aufforderung 
an bie verfammelte Jugend richten wird: „Wenn 
ihr diejes glaubt, bekräftigt e8 mit einem lauten, 
vernehmlichen „Ya“, ein lautes, vernehmliches 
„Rein“ rufen werde, welches allerdingd in dem 
hundertftimmigen Chor der „Ja*=Rufenden unges 
hört verhallen würde. So geihah es aud; und 
er konnte jagen: confirmavi et salvavi animam!“ 
— Noch deutlicher zeigt ſolch traurige Verirrung 
der tragiſche Ausgang feiner Tochter, „ber wun— 
dberlieben Grete”, nad) jeinem Tode. Da kein 
Strahl in die jchmerzzerwühlte Seele der Hinter- 
bliebenen leuchtete, öffnete fie „mit gewaltſamer 
Hand die Pforten des Todes.” Bellagenäwert, 
aber side 

In jeinem Schlußwort iſt Herr Conrad über- 
zeugt, daß diefe Nachlaßſchrift Gagerns „einen 
wen in der Bücherei aller ftarten und fröh— 
lich ſchafſfenden Geifter” finde. Sollte die Ver— 
wendung als Makulatur nicht geeigneter fein? 
Das Papier tft gut. Schſt. 


786 


Das Kommentarwert von Strad-Zödler. 


Das Kommentarwerk von Strack-Zöckler. 


Bon 


Superintendent Bolkheuer. 


1. 


Der unter Mitwirkung von elj anderen Theo- 
en von Strack und Bödler herausgegebene 
—— Kommentar zu den heiligen Schriften 
Iten und Neuen Teſtamenis“ (Nördlingen, C. 9. 
Bed) hat gleich mit feinem erjten Bande einen 
außergewöhnlihen Zornesausbruch auf der Seite 
ber negativen Theologie hervorgerufen. Der Mo: 
niteur der In Giehßen- Marburg berrichenden 
Richtung, die Theologiſche Litteraturzeitung, gab 
angeficht8 dieſes agree Sammelwertes, der, 
wie hinzugefügt wird, jhon durch das Handbuch 
der theologiihen Wiſſenſchaſten von Zöckler ges 
wonnenen Weberzeugung Ausdrud, dab fortan 
die Theologen der Rechten und der Linken faft 
nicht8 mehr mit einander gemein hätten. Prof. 
Zöckler hat darauf in einer Brojhüre: „Wider bie 
unfehlbare Wiſſenſchaft“ die fachliche Ueberlegen— 
heit der fonjervativen theologiihen Forſchung über 
die wie alles Tendentiöſe in der u faule 
deftruftive Kritit von neuem dargethan. Und das 
von ihm geleitete Wert geht feinen Gang weiter, 
von den Gegnern weiter befehbet, weil in ihm 
ihre unerwiejenen Hypotheſen nicht al® geficherte 
neueste Refultate ericheinen, dafür aber allen denen 
zur weiteren freude, die fih ein Berftändnis 
dafür bewahrt haben, daß die wahre Wiſſenſchaft 
von der heiligen Schrift die Leuchte der Glaubens: 
gewißheit trägt. 

Die drei erjten Evangelien hat Nösgen be: 
arbeitet. Bielleicht hätte er wohlgethan, über das 
Labyrinth von Einfällen, mit weldhen man dieje 
Evangelien umgeben Hat, mehr zu oriens 
tieren. Anderjeit® muß auch das Recht, das 
wiffenjchaftlihe Recht, gewahrt bleiben, die Tra— 
dition, unbeirrt durch hyperkritiſche QTüfteleien, 
einfah auf der Wage der Elementargrundjäge zu 
wiegen, welche man jonft in ben hiftorifchen Wij: 
ſenſchaften zu befolgen pflegt. Mehr objektiver 
Grund ift thatjählid vorhanden, dab Matthäus 
der Verfafjer des eriten Evangeliums ift, ala daß 
er es nicht ift. Und daß fie jo nahe liegt, jpricht 

ewiß nicht gegen die Annahme, dab er, der Ber- 
— zunächſt der aramäiſchen Redeſammlung, 
ſpüter zur ee irdiich theokratiſcher So 
nungen fi zu dieſer Schrift von dem Reich, das 
durchaus Himmelreih ift, und von dem König 
dieſes Heiches, dem erniedrigten und doch mit 
aller Gewalt im Himmel und auf Erden begabten, 
entichlofien hat. Und was die Ordnung der drei 
betrifft, fo hat der Bibelleier, der nicht anders 
weiß, als dab fie immer nod fo jei: Matthäus, 
Markus, Lulas, damit alles in allem etwas viel 
Geſicherteres als die an der Drehung des großen 


Kaleidojtops, in welche man die Synoptiler ge— 
bracht hat, Beteiligten an ihren Augenblicksbil— 
bern. 
Das Evangelium des Johannes: Luthardt. 
Dad Material zu.den Einleitungsfragen iſt, 
joweit es von Belang ift, vollitändig geboten, 
Die johanneiſche Abfajjung wird natürlich feitges 
—— „Der Nachweis der ger 
inheit bei Geſchichtlichteit und der alttejtament- 
lihen Grundlage der evangeliihen Schrift“ wird 
in Uebereinftimmung mit dem 1852/53 erihienenen 
Kommentar ded Verfaſſers erbradt. Wertvoll 
find auch Erturje über die Geſchichte der Aus— 
legung an beſonders hervortretenden Stellen in 
Godeticher Art. 

Die Apoftelgeihichte: Zödler. 

Bon vornherein wird der Ausbeutung —* 
Geſchichtswerles zu einſeitigen und tendentiöſen 
Bweden dadurch der Weg verlegt, daß ihm der 
Charakter belafjen wird, auf den es Anſpruch 
machen kann, eine wahrheitägetreue Schilderung 
des miſſionsgeſchichtlichen Brogeiid auf der ju— 
büifchen, der jamaritifchen und der heidenchriſt— 
lihen Stufe während der nächſten Jahrzehnte nad) 
dem Heimgang des Herrn zu jein. 

Der herfümmliche Auslegungsapparat ift durch 
die betreffende Litteratur in engliiher Sprade 
wejentlich bereichert. 

Dem Vorwurf von der Giehener Seite, daB 
Unterfuhungen, wie die über die jogenannten 
Wirrjtüde, 16, 10 u. a., oder binfichtlich der Iden— 
tität der Jeruſalem-Reiſen Apoſtelgeſch. 15 und 
Gal. 2, nicht eingehend genug jeien, jei bier die 
Anerkennung gegenübergejtellt, daß, was in dieſen 
ragen die lentieitung zu geben im jtande ist, 
einer Erörterung unterzogen ift, die an Klarheit 
Geichlofjenheit und Ueberzeugungstraft nicht recht 
etwas zu wünſchen übrig läßt. Es fei zugegeben, 
daß mehr Umjtändlichteit möglich war. Aber ob 
man in jede Nebengafie eines Jrrgangs erjt mit 
hinein muß um darüber zur Tagesordnung über= 
gehen zu können, iſt eine andere Frage. 

Die Briefe an die Theflalonicher: 
Bödler. 

Der Brief an die Galater: ebenfo. 

„Daß unjere Galater=Erogeje,“ bemerft der 
Verfafier im Vorwort, „der jcharfen Würze, die das 
neuejte Paulusbüchlein von Volkmar ihr zuzu 
führen vermocht hätte, noch entbehren mußte, be— 
Hagen wir nicht allzuſehr. Die große Kunſt ten— 
benzfritiichen Erdichtens erfteigt darin fait den 
Bipfel. Zumal in jharffihtiger Durchſchauung 
der innerjten Motive und der Tragweite des ans 
tiocheniſchen Beter-Pauljtreites (Gal. 2) wird hier 
Frappantere8® und Bilanteres denn je zuvor ges 


ebenfall® 


Das Kommentarwert von Strad:Zödler. 


leiftet.” Wie viel wiſſenſchaftlicher ift der Zöck⸗ 
lerihe Standpunft ſchon, weil ihm die Raffiniert 
heit diejer „in modernen Borftellungen befangenen 
und moderne Motive in die Scriftwerke der 
chriſtlichen Urzeit hineintragenden Kritik“ fehlt! 

Die beiden oriniherbriefe: Schnedermann. 

Dabei, daß die deutihe Schreibung Korinther 
richtig iſt und nicht Korinthier, hätte der Berfajjer 
fi wenigſtens nicht aufzuhalten brauden, 

Der Aufſatz über die * enannten Parteien des 
1. Briefes trifft in feiner Beſonnenheit unzweifel— 
Den das Richtige, nämlich dak wir ein beftimmtes 

ild dieſer ———— nicht haben, und daß 
es ſich in ihnen um eigentliche Parteien gar nicht 
handelt. Im 2. Briefe dagegen iſt eine ausge— 
prägte Gegenpartei nach Analogie der galatiſchen 
vorhanden. 

Bei den Stellen vom Abendmahl behandelt der 
ſchweizeriſche Theologe die objektive Gabe als jelbit- 
verſtändlich. 

Vor einer Auslegung wie die von J. 15, 29, 
als hätten ſich Lebende zu gunſten naheſtehender 
Verſtorbener taufen laſſen, hätte ſchon mehr Rück— 
ſicht auf den Zuſammenhang bewahren können. 
Daß, um in das Reich der unerwedbaren Toten 
einzugehen, man ſich nidt erſt nod taufen zu 
laſſen braudt, der Gedanke liegt doch dicht vor 
ber Thür des Folgenden: „Was ſiehen wir alle 
Stunden in ber Fahr?“ 


Der Brief an die Römer: Luthardt. 


Der weſentlich heidenchriſtliche Charakter der 
römijchen Gemeinde, der aud) gar nicht überjehen 
werden kann, iſt jetzt fajt allgemein anerkannt. 
Auch Hier. Zum Schaden der Betrachtung würde 
jedoch irgendwelche Bezugnahme auch auf die Aus— 
Häbrungen in Ottos Kommentar nicht gewejen 
fein, die den Brief in einen bejtehenden Konflikt 
des aus eingewanderten Baulinern beftehenden 
Grundftod® der Gemeinde mit nacdgewanderten 
Hriftgläubigen Juden eingreifen lafjen. Das gründ— 
liche Wert von Otto konnte gewiß ſoviel Aufmerk— 
famteit auch beanipruchen als gelegentliche Aufſätze 
von Deligih oder von Beyſchlag. 

Die Dispofition des Ganzen in vier Abſchriften, 
Kap. 14, 5—8, 9—11, und dann bis zu den 
Grüßen hat unjere volle Zuftimmung. Wir haben 
die Dispofition ſelbſt bereit8 früher in der Evan: 
geliſchen Kirchenzeitung jo vertreten. Die den 
einzelnen Kapiteln oder Sapitelteilen vorange— 
ihidten im Zufammenhange orientierenden Exkurſe 
find beſonders eingehend und durchſichtig. 

Die Briefe Pauli aus feiner römischen Gefan= 

enihaft an die Epheier, Koloffer, Philemon und 

bilipper; Shnedermann. 

Die Baftoralbriefe: Kübel. 

Es wird um des ganzen Kolorit8 willen richtig 
fein, daß fie der Zeit gegen das Ende des Lebens 
Pauli entjtammen. Und e8 hat Wahrjcheinlichkeit, 
dab den 1. Timotheus- und den Titusbrief der 
aus der römiihen Gefangenichaft Wiederfreige- 
wordene, den 2. Timotheusbrief der Abermalsge- 
fangengenommene gejchrieben bat. Uns ift es 
aud bei der Annahme einer jo jpäten Abfafiungs- 
zeit des 1. Timotheusbriefs nicht bedenllich, daß 


787 


zu Timotheus noch gejagt wird: Niemand ver- 
achte deine Jugend. rn ift Zimotheus 
bereits 32—34 Jahre alt und längſt bewährt. 
Aber find nit in unierer Zeit auch Stimmen 
laut geworden, melde den Fajt dreikigjährigen 
wohblbewährten Erben eines Kaiſerthrons auch für 
zu jung erflärten? Wir bedürfen, um jolde und 
ähnliche Anſtöße zu bejeitigen, nicht der Vorſtel— 
lung, die Kübel von Grau in jeiner Entwide- 
lungsgeſchichte des Neu-Teſtamentlichen Schrift: 
tums übernommen hat, als mache ſich in der 
jetzigen Geſtalt dieſer echten Pauliner die Mitwir— 
fung einer ſpäteren Hand geltend. Wären aus 
pauliniſchen Billeten, wie man es nennt, u. dergl. 
dieje Sendichreiben mit apoftoliihem Titel von 
einem anderen gemacht, jo wären diejelben im 
Grunde doch — Fälſchungen. Die Hinweiie dar: 
auf, daß die Gemeindeordnung, welde die Briefe 
vorausjegen, in keiner Weije hierarchiſcher, ſon— 
dern vielmehr „pneumatiſch“ autoritativer Art jei, 
find danfenswert. 

Der Brief an die Ebräer: Kübel. 

Der Brief ift dem Verfaſſer ein Werk des Bar: 
nabas, für den, wie es heit, alles jprechen joll, 
während dafür doch nur das autoritative Anjchen 
des Mannes den judendriftlihen Empfängen gegen 
über und die Angabe Tertulliand, daß ein Brief 
des Barnabas an die Ebräer eriftiere, angejührt 
werden. Wir mußten dabei bleiben, das uralte 
Zeugnis des Orients, de gerade beim Ebräerbrief 
meiftintereffierten und beftunterrichteten Teils, für 
Paulus als das wichtigste aller Momente bei der 
Enticheidung der ganzen Frage anzujehen, umſo— 
mehr als die Unterfchiede in der Anjchauung und 
in der Diktion, die allerdings vorhanden find, einer 
Zurüdführung auf einen einbeitlihen Stamm 
durchaus nicht wiederjtreben. Auf einen Hiftoriter 
wie Rante hat die Kritik, welche den Brief dem Hei— 
denapojtel abjpricht, feinen Eindrud gemadt. Er 
hält in jeiner Weltgejhichte den pauliniſchen Urs 
iprung desjelben einfach feft. Als vecht geſchichts— 
mäßig aber erweiit es fich nicht, wenn Kübels Unter- 
ſuchung ſich von vornherein auf die Seite des dem 
Paulinismus des Briefes ungünstigen Abendlandes 
ftellt, obwohl es ſich dod hier erh um ein zweites 
Stadium in der Beurteilung der Sache handelt. 

Die mehrfach beliebte —— einen di⸗ 
daktiihen und einen paränetiſchen Teil der Aus— 
führung wäre z. B. bei ap. 4 bejjer unterblicben, 
da ®. 1, durchaus paränetiiher Art, wie er iſt, 
dem Schema, welches ihm jeinen Bla im didal- 
tiichen Abjchnitte zumeist, fi nicht fügt 

Daß dieſes in — Weiſe geſchloſſen ſich 
entwickelnde Ganze eine Behandlung durch einlei— 
tende Bemerkungen und erläuternde Anmerlungen 
nicht verträgt, drängt ſich einem auch bei dieſem 
——— Verſuch wieder auf. 

ud) hinſichtlich der Würdigung der Zentralidee 
des 3340 der neuteſtamentlichen Opferidee, kön— 
nen wir einen Diſſens nicht unterdrücken. Daß 
die Perſon des neuteſtamentlichen Hohenprieſters 
nicht bloß als diejenige Perſönlichkeit in Betracht 
tommt, welche die ewige Lebenstraft in ſittlichem, 
echtmenſchlichem Ringen bewährt, darüber läßt 
ſchon eine Stelle wie 8,4 keinen Zweifel. Das, 


788 


was jpezifiih Höher liegt, als alles Kreatürliche, 
auch Echtmenſchliche (ſ. 9, 11) jagen wir: Dies, 
daß ber wahrhaftige —— der Sohn Gottes 
iſt, das iſt's, woran die ewige Erlöſung hängt. 

Die —* Briefe 
Luthardt behandelt. 

In feiner Auslegung des Jalobusbriefes unter: 
nimmt Si in ſchlichter zutreffender Weiſe 
Schlihtung der fogerannten Differenz zwiſchen 
Jakobus und Paulus. Der Abſchnitt 2, 14—26 
ift ihre unbeabfichtigte und darum nur noch wirf- 
famere Korrektur gegen einfeitigen Mißbrauch der 
paulinifchen Rechtfertigungslehre. Und im 21.8. 
handelt es ſich nicht um den Pauliniſchen Begriff 
der Berjepung in das Berhältniß eined Gerechten 
vor Gott dur die fündenvergebende Gnade, jon= 
bern im Anſchluß an den altteftamentlihen Sprach— 
—— um die Verſetzung in ein dem Willen 

ottes entſprechendes Verhalten. 

Die beiden Briefe Petri: ebenfalls Burger. 
Die Authentie auch des zweiten Brief wirb ges 


aben Burger und 


wahrt. 
er Brief Judä: ebenfall® Burger. 
Die Briefe Johannis: Luthardl. 


Die Dispofition des erften Brief, ſofern fie 
nur jagen joll, wovon die einzelnen Teile „aus- 
geben fann man fi gefallen lafien. Daß der 

. Zeil (1, 5) von ber Gegenwart des Chriſten 
ald Gemeinjhaft mit Gott, der 2. (3, 1) von ber 
Zukunft des GChriften, der 3. (3, 24) von dem 
göttlihen Grunde unſeres Chriftenftandes aus- 
eht, ift rihtig. Dennoch greifen innerhalb diefer 
ächer Gedanken auch über in andere Fächer. 
Und das Leben in Gott, zu Gott, aus Gott thut 
dad auch. 

Die Offenbarung Johannis: Kübel. 

Das — iſt mit großer Sorgfalt behan- 
belt. Die durhichlagenden Momente, welde für 
bie Autorſchaft des Apoſtels Johannes eriftieren, 

ei: an geltend ge= 

macht. otalypſe der aus⸗ 
ſchließliche Stil des Johannes ſei, ſcheint uns 
jedoch in der Erwägung, daß es ſich um ein Buch 
göttlich gegebener — handelt, beanſtandet 
werden zu müſſen. Wenigſtens iſt es ſonſt im 
——— Falle ein für das Evangelium und die 
riefe zu ſtatuirender Amanuenſis, der die Erklä— 


Das Kommentarwerk von Strad-Bödler. 


rung für die ſtiliſtiſche Eigentümlichkeit dieſer 
Schriften zu bieten hätte. Und das wäre in for— 
maler Beziehung noch mehr 7 en den Wortlaut 
von Ev. Joh. 21, 24, als ſelbſt die Annahme 
nichtjohannaeſchen Urſprungs. Johannes der Ber- 
fafler des —— der Briefe und der Apo= 
falypje ohne Abzug da oder da, man wolle es 
dabei, als jo gewißlich wahr bezeugt, wie es ift, 
belafjen. 

Die Auffafiung des Ganzen ift vorwiegend bie 
endgeihichtliche, und mit Recht, da fih alles um 
dag Ende, die Barufie und ihre Anbahnung dreht. 
„Die Npofalypje malt das Drama bed Endes, 
insbejondere Kampf und * des Chriſtusreichs 
— das Finſternis- und Weltreich.“ Auf dem 

oden dieſer Grundanſchauung kommen aber auch 
die zeitgeſchichtliche und die kirchen- und reichsge— 
ſchi tiche Auffafiung zu ihrem Rechte. Die erftere 
jo, daß die Geſchichte des Endes als dad „aus 
ihren Zeitverhältnifien hervorwachſende Refultat 
der mit dem Kampf Roms gegen das Chriften- 
tum eingetretenen Bewegung“ eriheint. Die letz⸗ 
tere fo, dak „das Ende jeine Vorjpiele von jeher 

ehabt hat und immer neu hat, und daß die apo= 
alyptijche mn be Endes auch die beherr- 
ihenden Gefichtöpunfte ergibt, nad denen bieje 
Boripiele zu beurteilen find, daß fie zwar feines- 
wegs * in Detailweiſſagung ſchildert, wohl aber 
daß fie Mächte und Verhältniffe, wie Gejege ihres 
Wirkens malt, weldhe, jo oder anders, immer wie— 
ber auftreten.“ 

Der Zwed, der die Herausgeber mit diefen Kom: 
mentaren verfolgen, durch Darbietung dem neue= 
ften Stande poſitiv bibliſcher Wiſſenſchaft entipre- 
hender Forihung in gedrängter Form zu frucht⸗ 
barem und zujammenhängendem Schriftſtudium 
—— zu thun, iſt für das N. T. mit der 

uslegung desſelben, wie ſie nun vollſtändig vor— 
liegt, erreicht. 

nd alles das im N. T., was die Vandalen 
der Kritik ungewiß gemacht, verſchoben, zerjtüdelt, 
in der Beit und im Werte herabgedrüdt zu haben 
wähnen, bat wiederum auf der ganzen Xinie bie 
Probe beitanden, jo unverwundbar wie echt zu 
fein. Man hat den Eindrud, die konjerbative 
Wiſſenſchaft vom Neuen Teftamente ift wider den 
Beind und an ihr jelber ein glüdhaft Schiff. 





Li 





Carl Dinkk. 


Am 21. September 1887 jah die große St. Michaelisfirche in Hamburg eine 
Gemeinde verjammelt, die nach Taufenden zählte und — Kopf an Kopf — die weiten 
Näume des Gotteshaufes bis in die Winfel hinein füllte Es war ein Trauergottes- 
dienft, zu welchem die Gloden gerufen hatten und der alle Teilnehmer mit fpürbarer 
tiefer Bewegung erfüllte. Nach Beendigung besfelben bewegte fich ein langer Leichenzug 
— Wagen auf Wagen unter der ftillen, ernjten Teilnahme vieler Anwohner durch die 
Straßen des St. Michaelisfirchjpiels zur Stadt hinaus nach) dem anderthalb Stunden 
entfernten Kirchhof in Ohlsdorf, wo der teure Mann, dem man jo das Geleite gab, 
zur legten Ruhe gebettet warb. 

Es war der am 17. September nad) ſchweren Leiden im Alter von erjt 53 Jahren 
entjchlafene Carl Nind, Pastor an der St. Anfchar-Kapelle in Hamburg. 

Den nicht in Hamburg Geborenen darf doch die Stadt und insbejondere die Kirche 
Hamburgs dankbar zu den Ihrigen rechnen, weil er durch eine vierzehnjährige uner- 
müdete, bis zulegt ftetig wachjende Arbeit in ihr Heimijch geworben ift, wie wenige 
andere, und ihr reiche Quellen des Segens erjchlofjen hat, welche, will's Gott, auch 
a feinem Heimgang noch lebenskräftig weiter fließen werden. Seine Wirkjamfeit 
reichte aber weit über die Grenzen Hamburgs hinaus und Hat ihn vielen Taujenden 
im evangelifchen Deutfchland lieb und wert gemacht. 

So ijt es wohl gerechtfertigt, fein Bild in kurzen Zügen auch dem Lejerfreis dieſer 
Monatsſchrift darzubieten; es ift überdies Iehrreich genug für die rechte Art, den 
dringenden, ja vielfach fchreienden kirchlichen Bebürfniffen der Gegenwart — insbejon- 
dere in den großen Städten — wirkſam zu begegnen. 

Die St. Anſchar-Kapelle, an welcher Ninck Paftor war, verdankt jelbjt der 
Empfindung diefer kirchlichen Bebürfniffe ihre Entſtehung. Aus Gaben der Liebe, 
unter denen der Thaler einer armen Witwe das erjte Scherflein war, erbaut, und mit 
einer PBalmfonntagspredigt des in den kirchlichen Kreifen Hamburgs unvergefjenen, 
jpeziell um diefe Kapelle vielverdienten lieben Direktor Dr. Bertheau im Jahre 1860 
ihre Arbeit beginnend, war fie beftimmt, nicht etwa als Gotteshaus einer parochial 
abgegrenzten Gemeinde zu dienen, fondern innerhalb der volfreichen St. Michaelis— 
gemeinde eine Stätte für die Arbeit der Sonntagsfchule, für die Verkündigung des 
Wortes Gottes an die Erwachjenen und für Berlammlungen zu Zwecken der inneren 
und äußeren Miſſion zu bieten. Gleich von Anfang an ward mit der Kapelle eine 
Wochenſchule verbunden, welche den Kindern des Bürgerftandes eine von chriſtlichem 
Geiste durchdrungene Erziehung zuwenden jollte. 

Erjt im Jahre 1865 ward es ermöglicht, auf Grund eines angejammelten Pfarre 

Ang. tonſ. Monatzfchrift 18988. VIII, öl 


790 Carl Nind. 


fonds zur Berufung eines eigenen Paſtors zu fchreiten und dadurch der Arbeit an der 
Kapelle eine fejtere und umfajjendere Geftalt zu verleihen. Die Wahl traf einen durch 
jeine Schriften bereits in weiteren Kreifen des Volfes befannten und belichten Mann, 
den jegigen Generalfuperintendenten der Nheinprovinz, Wilhelm Baur. Derjelbe 
hat in fiebenjähriger gefegneter Arbeit den Grund gelegt zu der kirchlichen Wirkjamfeit, 
die jpäter im weiter Verzweigung aus der Anjchar-ftapelle hervorgewachlen iſt. Bor 
allem wußte er durch feine reichen Gaben in der Predigt eine jehr zahlreiche Gemeinde 
in feinem Gotteshauje zu ſammeln. Diefelbe gehörte zwar überwiegend den Streifen 
der Vornehmen und der ohnedies jchon Firchlich Geſinnten an, und jo jchien in diejer 
Dinficht die Anjchar-Arbeit eine Geftalt anzunehmen, welche nicht ganz der bei der 

ründung gehegten Abficht entſprach. Aber anderjeits war es Baurs Verdienjt, gerade 
diefe Kreije für ihre Pflichten gegen die Armen und die Entlirchlichten zu erwärmen 
und zur Mitarbeit für diejelben anzuregen. Abgejehen von der von Anfang an in der 
Stapelle betriebenen Sonntagsjchularbeit gründete Baur einen Verein von Helfern und 
delferinnen für regelmäßige firchliche Armenpflege, ebenjo ein weibliches Aſyl, das in 
päterer Zeit von der Anjchar-Stapelle getrennt und nach dem Borort Hamm verlegt 
ist; er legte auch den Grund zur Diakoniffenarbeit durch Anstellung einer eigenen Ge: 
meindejchweiter. 

Als Baur im Jahre 1872 in das Amt eines Hofpredigerd nad) Berlin berufen 
ward, jah jich der Vorſtand der Kapelle vor der jchwierigen Aufgabe, einen geeigneten 
Erjat zu finden. Da zeigte Gott den rechten Mann. Das war unjer Carl Rind, 
damals Paſtor in Frücht bei Ems. Nacd manchen Hemmmnifjen, unter denen aber der 
Vorjtand umentwegt an ihm fejthielt, trat Nind im Frühjahr 1873 jein Amt an der 
Anſchar-Kapelle an. 

Er war in jtiller Arbeit unter dem Landvolf vorbereitet für die Wirkſamkeit, 
welche fich ihm nun in der großen Weltjtadt erjchloß und die er alsbald unter einem 
weiten Gefichtsfreis auffaßte, — mit einer jeltenen Thatkraft durchführte. 

Im Jahre 1834 in Staffel bei Limburg a. 2. als Sohn des damaligen Pfarrers 
und jpäteren Herborner Profejjors Nind geboren, hat er jeine Jugendzeit größtenteils 
in Berg Ebersbach verbradht. Durch den Verkehr mit der Dorfjugend, mit der er auf 
einer Schulbank ſaß, hat er früh die Liebe zum Volk und das Verftändnis des Volfes 

ewonnen, die ihm lebenslang eigen geblieben find und jeiner jpäteren Wirkjamfeit die 

ichtung gegeben haben. In Weilburg erhielt er dann jeine Gymnafialbildung und 
r darauf in Erlangen und Halle feine theofogifchen Studien gemacht, bei denen ins— 
ejondere Deligjicd und Tholud auf ihn Einfluß gewannen. Er beſuchte außerdem 
das theologijche Seminar in Herborn, von wo aus er bereits mannigfach Gelegenheit 
fand, im den umliegenden Orten in jehr wirfjamer, von vornherein überaus volks— 
tümlicher Urt zu predigen. 

Seine eigentliche pfarramtliche Thätigkeit begann er im Jahre 1858 als Vikar in 
Wefterburg auf dem Wejterwald unter jehr jchiwierigen follegialen Verhältniffen. Mit 
jugendlicher Energie griff er in das Firchliche Leben der heruntergefommenen Gemeinde 
ein, und es gelang ihm in jiebenjähriger Arbeit dort gründlich Wandel zu jchaffen. 
Namentlich die Jugend ward durch feine Predigten innerlich ergriffen, und die Gemeinde 
ſchloß ſich in einem herzlichen, glaubensinnigen, fröhlichen Gemeinjchaftsleben um ihren 
Pfarrer zufammen. Schon damals hat Nind es verftanden, mit feiner Gemeinde, mit 
der Jugend wie mit den Erwachjenen, chrijtliche Volksfeſte zu feiern. 

ALS Pfarrer in Frücht bei Ems (1865—1873) fand er Gelegenheit, auch noch in 
anderen Aufgaben als der ihm zunächjt liegenden Gemeindearbeit feine Gaben zu ent— 
falten und feine Kräfte zu üben. Er gründete dort den nafjauischen Kolportageverein, 
dejien Seele er bis zu jeinem Fortgange blieb; und ganz bejonders übte er einen 
durchgreifenden Einfluß auf die Nettungsanftalt in Scheuern aus, die unter feiner 


Carl Nind. 791 


Mitwirkung in eine Jdiotenanftalt umgewandelt ward. Wenige haben jo wie er dieje 
bis heute — wirkende Anſtalt auf liebendem Herzen getragen. 

In die Zeit der Früchter Wirkſamkeit fällt der ** Krieg von 1870, der var 
Nind zeitweilig feiner Gemeinde entführte. Vom Auguft 1870 bis zum Friedensſchlu 
hat er als Militärgeiftlicher bei Met und in — geſtanden. Mit welcher Hin— 
gebung und Wärme er dabei ſeine Aufgabe ergriffen, das bezeugt manche Geſchichte, 
die er in jeinem ‚Kinderfreund“ erzählt hat, das bezeugen die 80 Straßburger Waiſen— 
finder, die er aus dem Kriege mit heimgebracht, um für ihr Unterfommen zu jorgen, 
— das beweift desgleichen das eiferne Sreuz, mit welchem er ausgezeichnet ward. 

Der Vorſtand der Anjchar-Fapelle in Hamburg hat das Rechte getroffen, als er im 
Sahre 1873 diejen Mann in die kirchliche Arbeit der Großftadt rief. Blicken wir von 
den vierzehn Jahren, während welcher er in diefer Arbeit jtehen jollte, auf die eben 
5— fünfzehn Jahre, die ihnen vorangingen, ſo treten in dieſen letzteren deutlich 
alle Anſätze zu derjenigen Art des Schaffens hervor, die in Hamburg zu jo bedeuten- 
den Erfolgen geführt hat. 

Mit —— Herzen und kräftiger Hand, in Demut und Mut griff Ninck die 
Arbeit an der Anſchar-Kapelle an, vom Anfang bis zum Ende die Loſung vor Augen, 
die er ſich im ſeiner Antrittspredigt auf Grund von 1. Kor. 9, 19 erwählt Hatte: 
Frei don jedermann und jedermanns Knecht! Nach der langen Vakanz, die 
vorhergegangen, mußte fich eigentlich um den neuen Pfarrer auch die Gemeinde erjt 
wieder meu ee Sie hat ſich gejammelt, keineswegs mit einem Schlage, aber in 
ftetig fortjhreitendem Wachstum. Anregend war feine Arbeit von vornherein, aber 
doch tritt dem er ein wejentlicher Unterjchied zwijchen den erjten und den letzten 
Sahren jeiner Thätigfeit ent sa Zuerſt ein Sondieren des Bodens und feiner Be— 
dürfniffe, ein Ringen nad) Klarheit und Feſtigkeit in bezug auf die Grundjäge, mit 
denen den firchlichen Schäden der Großſtadt auf dem ihm zugewiejenen Arbeitsfelde 
beizufommen jei, ein verjuchsweifes Erdffnen neuer Wege, ein Anfangen im fleinen 
Kreije, ein Bereiten des Aders in ftiller Säemannsarbeit, — und dann dagegen in 
den — Jahren eine reiche Erntezeit, Erfolg auf Erfolg, und jeder neue Erfolg ein 
Antrieb zu neuem Unternehmen, unter immer allgemeinerer Anerkennung ein ſieges— 
freudiges Fortjchreiten in ruhiger Sicherheit, bis es Gott gefiel, dem raftlos im Dienjte 
ſeines Herrn und feiner Brüder die eigenen Kräfte Verzehrenden auf der Höhe feiner 
Wirkfamkeit den Feierabend zu gebieten. Wie oft und nachdrüdlich Hat er feine Ge- 
meinde auf das Grundgejeg der Entwidelung des Reiches Gottes in dem Gleichnis 
vom Senfkorn Hingewiejen. Er ſelbſt hat fich, wie wir fehen, an dies — — 

um Segen der Arbeit. Das klein begonnene Werk iſt ſtetig gewachſen, weil die Keim— 
aft des Glaubens und der Liebe, verbunden mit einem offenen Blicke für das Not— 
wendige, darin wirkſam war. 
er Mittelpunkt ſeiner Thätigkeit und die Grundlage aller der Arbeiten, für die 
er ſeine Gemeinde zu gewinnen juchte, war ihm ſtets die Predigt des Evangeliums. 
Er hat in diefer Hinficht eine Fräftig erwedende und viele Herzen tief gründende Wirk: 
ſamkeit ausgeübt. Seine Predigten zogen in feiner Weije an etwa durd) rhetorijche oder 
homiletische Kunft, — man könnte fie im Gegenteil bei aller Sorgfalt der inneren 
wie der jchriftlichen Vorbereitung als jchlichte Naturprodukte bezeichnen. Was ihnen 
ihre Kraft verlieh, war dies, daß fie die großen Kernwahrheiten des Evangeliums, den 
Ernjt der Sünde, die Seligfeit der Gnade, die befreiende Kraft des Glaubens, den 
unumgänglichen Kampf der Heiligung mit großer Entjchiedenheit der Gemeinde ins 
Herz und ins Gewiſſen fchrieben, und zwar jo, daß man unmittelbar empfand, wie der 
Mann fich ſelbſt mit feiner ganzen Perfon unter diefe Wahrheiten gejtellt habe, wie 
fie fein eigenes Herzblut geworden ſeien. In diefem Sinne darf man feine Predigten 
wohl als Zeugniſſe bezeichnen: die ganze PVerfönlichfeit trat bezeugend ein für das, 
was der Mund redete. Gedanken, die ihm in feiner Arbeit an ſich ſelbſt bedeutjam 
51* 


792 Carl Nind. 


eworden waren, fehrten deshalb auch zu derjelben Zeit in jeinen Predigten vielfach mit 
Nachdrud wieder. Es war überdies jeine Art, wenn er die Notwendigkeit erfannt 
hatte, einen Nagel einzufchlagen, dann auch feine wuchtigen Hammerjchläge unermüdet 
auf denjelben Punkt zu richten bis er überzeugt war: der Nagel fißt feſt. Das Ziel 
feiner Predigt war, Menfchen Gottes darzuftellen, in denen Jeſus Chriftus wirklich 
eine Geftalt gewonnen habe, — wie oft hat er gemahnt „die Kräfte aus dem obern 
— im Glauben anzuziehen, damit durch fie „wachstümlich“ „ein göttlicher 
tebensbeftand“ im Herzen ſich entwidele! Dabei war es ihm die liebjte Methode der 
Predigt, das Schriftwort einfach Vers um Vers auszulegen und dem lebensvollen Ge- 
halt der biblijchen Begriffe recht tief nachzugraben. 

Nind hat durch diefe Art feiner Predigt vielen Herzen einen Samen der Ewigfeit 
wirffam mitgeteilt. Aber er begnügte fich damit nicht. Er fügte zur Arbeit des 
Pflanzens auch die des Begießens. Der Prediger ward zum Seeljorger. Er war 
in bieler Hinficht vor feinen Kollegen in Hamburg in der glüdlichen Lage, daß er 
— frei von der Fürſorge für eine Parochie mit ihren oft jo —— Amts⸗ 
— — mehr als ſie im ſtande war, ſich der Seelſorge ausgiebig zu widmen. 

r war zu dieſer Arbeit zugleich beſonders ausgerüſtet. Er hatte unter vielen inneren 
Kämpfen eine reiche chriftliche Lebenserfahrung gewonnen, — er verband mit ihr einen 
klaren und tiefen Blid ins Menjchenherz mit feinem Trog und feiner Verzagtheit, — 
er hatte außerdem den Mut der Offenheit und verftand es, in liebevollem Ernſt denen, 
die jeinen Rat begehrten, rüdhaltlos „die Wahrheit zu jagen“. Es gelang ihm darum 
auch in der Geeljorge, die Gewiſſen zu weden und die Gewiſſen zu tröften, verborgene 
Schäden aufzudeden und offene Wunden zu heilen. In jeeljorgerlichen Bejuchen war 
er unermüdlich, und ebenjo waren an jedem Tag mehrere Stunden denen gewidmet, 
die in feinem Haufe ihn aufjuchten und feinen Rat in Anspruch nahmen. 

Wir würden indes die Grundgedanken der Nindjchen Arbeit noch nicht richtig 
gefaßt haben, wollten wir bei diejer feiner Fürforge für die einzelnen Seelen jtehen 
bleiben. Ihm jchwebte vielmehr das Ziel einer Einwirkung auf das christliche Volt 
im ganzen, bezw. auf die entchriftlichten Mafjen vor. Auf dasjelbe Ziel hin arbeitet 
die Stadtmijfion. So war es naturgemäß, auch dem eigentlichen Zwed der Anjchar- 
Kapelle entiprechend, daß Nind gleich jeinem Vorgänger Baur die Leitung der Stadt- 
mijjionare und ıhrer Arbeit in die Hand nahm. Indeſſen ging dieſe Aufgabe nachher 
in die Hände des Herren Jaſper von Derten über, während ind fi) von der Mit- 
arbeit an der Stadtmiffion auf feine jpezielle Anjchar- Arbeit zurüdzog. Seiner Auf: 
fafjung war es entjprechender, in einem begrenzteren Kreife die Arbeit der inneren 
Miffion mit größerer Intenfität zu treiben, als es die auf das ganze Stadtgebiet be— 
rechnete Drganijation der Stadtmiffion nad) dem Maß der ihr zu Gebote ftehenden 
Kräfte geftattete. Mehr oder weniger unbewußt mag dabei für Nind das Gefühl 
mitgewirkt haben, daß er für die Ausgeftaltung der in ihm fich regenden Ideen einer 
volljtändigen perjönlichen Freiheit und eines ihm eigenen Bodens bedürfe, während die 
einmal gegebene Einrichtung der Stadtmifjion ihm in diefer Hinficht natürlich) manche 
Schranken würde aufgelegt haben. Man darf wohl urteilen, daß diefe Trennung, 
wenn jie jich auch zunächſt nicht ganz ohne Schmerz vollzog, doc beiden Teilen zur 
Förderung ihrer —— Aufgaben gedient hat, indem das Nebeneinander beider 
Arbeiten eine gegenſeitige Anregung in ſich ſchloß. 

Was aber Ninck nun auf ſeinem Boden ganz beſonders vorſchwebte, und was er 
nicht müde geworden ijt auf immer neue Weiſe ins Werk zu fegen, war eine Orga— 
nijation derer, die jich in der Anjchar-Kapelle um die Verkündigung des 
Evangeliums fammelten, zu einer wirklichen Gemeinschaft. Ihm, dem früheren 
Zandpaftoren, dem es in jeinen beiden Eleinen nafjauifchen Gemeinden, und ganz be- 
jonders in der erjten, gelungen war, ein warmes und herzliches Gemeindeleben zu 
erzielen, mußte der Mangel eines folchen in der Großſtadt doppelt ſchmerzlich fühlbar 


Earl Nind. 793 


werden. Es tft ja in der That fo, daß in unferen großen Städten von chriftlichen 
Gemeinden im tieferen Sinne des Wortes faum die Rede fein fann. Man jammelt 
fi) in den Kirchen und erbaut jich an der Verfündigung des göttlichen Wortes, man 
jucht fich feinen Beichtvater und fommt mit Hunderten und Tauſenden zuſammen zum 
Tiich des Herrn, ohne daß die, welche jo doch durch ein doppeltes heiliges Band ſich 
verbunden fühlen jollten, nur irgend ji) um einander fümmern und in eine Gemein— 
ichaft des Lebens unter einander eintreten. Nind jah darin einen der Hauptjchäden 
des kirchlichen Lebens auch in Hamburg. Der Menſch ijt auf Gemeinjchaft angelegt, 
ganz bejonders auch in bezug auf fein religiöjes Leben, das in der Vereinzelung leicht 
erftirbt, wie eine allein liegende Kohle. Da find Taufende, die alljährlich vom Lande 
in die Stadt ziehen. Daheim waren fie durch ein geordnetes Gemeindeleben getragen. 
Nun fehlt ihnen jeder perjönliche Nüdhalt, jie find nur noch wie Atome in einer 
atomifierten Gejellichaft, und nur zu jchnell pflegen fie dadurch dem firchlichen Leben 
verloren zu gehen. Oder fie befriedigen ihr Bedürfnis nach Gemeinjchaft da, wo ſich 
ihnen Gelegenheit bietet: die einen bei den Sozialdemofraten, die in ihrer Mitte viel- 
fach ein ftarfes Gemeinjchaftsbewußtjein zu erzeugen willen, — die anderen, die noch 
Slaubenswarmen, bei den Sekten, die gerade durch ihr Gemeinjchaftsleben der Kirche 
ihre beiten Kräfte aus dem Volke entziehen. Und find dann treue Seelen da, die ſich 
troß alledem feſt an die Kirche halten, fie fühlen fich doch in ihren „Gängen“ und 
„Höfen* zwijchen Hunderten von ntlirchlichten jchmerzlic; vereinfamt und fünnen 
vielfach Sonntags ihren einfamen Kirchweg nicht antreten, ohne den Spott der Nad)- 
barn fühlen zu müſſen. 

Deshalb wirkliche Gemeinfchaft derer, die I, eine Gemeinde nennen! 
Das war Ninds Parole. Da joll eins das andere ftärfen, eins das andere fördern 
und halten und in der Gemeinjchaft mit anderen jeine® Glaubens froh werden. In 
mannigjachiter Weife hat Nind auf dies Ziel hingearbeitet. In großen Sälen wurden 
Famlienabende eingerichtet, wo ich die Glieder der Anjchargemeinde zu vielen Hun— 
derten aus allen Ständen zujammenfanden, während man früher nur „tea-meetings* 
von meiſt vornehmem Charakter für beſtimmte Zwecke der inneren oder äußeren Miſſion 
gefannt hatte. An jenen Abenden wurden dann wohl die Landsleute je aus einer 
Provinz des Baterlandes, oder die Bewohner einer Straße und der benachbarten 
Gänge zujammengejegt, um ihre Bekanntſchaft unter einander zu befördern und fie jo 
auch zum Zujammenhalten im täglichen Leben zu bringen. Außerdem wurden inner- 
halb diejes großen Kreijes wieder Eleinere reife Zujammengehöriger gebildet, Männer: 
und Jünglings:, Frauen und Jungfrauen-, Dienftboten- Vereine u. ſ. w. Außerdem 
gab Nind jeit 1875 „Mitteilungen aus der Anſchar-Kapelle“ in zwangloſen Heften heraus, 
die nach ihrem Erjcheinen Sonntags an der Kirchthür den Bejuchern der Anjcharsftapelle 
umjonjt verabreicht wurden, um jte alle über alle Angelegenheiten der Anfchargemeinde 
in Kenntnis zu jeßen, für die vorliegenden Aufgaben fie zu interejjieren und fo das 
Gefühl Firchlicher Gemeinjchaft unter ihnen zu ftärfen. 

Es fonnte nicht ausbleiben, daß diefem immer klarer hervortretenden Streben 
gegenüber bald in freundlich warnender, bald in überaus gehäſſiger Weife der Vor- 
wurf der Seftiererei laut wurde. Der immer fejtere Zufammenjchluß der Gemeinde- 
glieder mußte in der That den Fernerſtehenden einen derartigen Eindrud gewähren, — 
e3 läßt ſich ſogar nicht Teugnen, daß im der Sache wirklich eine Gefahr liegt, wenn 
nicht ein nüchterner, selbft(ofer Mann den Zügel in der Hand hat. Aber Nind war 
diejer Mann, — und der Vorwurf der Seftiererei hat ihn feinen Augenblik an feinem 
Ziel irre gemacht, da er fich bewußt war, gerade jo einem wirklichen Bedürfnis der 
irhe zu dienen, der Propaganda der Sekten entgegenzumwirfen und nur das zu wollen, 
was er am liebjten in allen Gemeinden in einer ihren Verhältniffen entjprechenden 
Weiſe verwirklicht gejehen hätte. Und man darf jagen: je mehr diejer Zweck der 
Sade ans Licht trat, um jo mehr jchwand auch jener Vorwurf hinter der 


794 Carl Nind. 


immer allgemeineren Anerkennung der gerade auf diefem Wege zu ftande gefommenen 
Leiftungen. 

Denn das war nun eben das Mejentliche bei diefer erjtrebten Organijation des 
Gemeindelebens, daß Nind es dabei nicht etwa nur auf eine Gemeinjchaft des Feierns, 
des geiftlichen Genießens ober des gejelligen Verkehrs abgejehen hatte, jondern vor allem 
auf eine Gemeinjchaft der eh Arbeit. Ihm galt es als ein höchſt unge- 
ſunder Zuftand, daß die meiften Firchlichen Leute gute Chriften zu fein glauben, wenn 
fie für fich jelbft in der Kirche ihre Erbauung 3* und dann ihre Wege gehen, wie 
der Prieſter und Levit, welche aus dem Tempel in Jeruſalem nach Jericho ziehen und 
dabei den unter die Mörder gefallenen Volksgenoſſen kaum eines Blickes für wert 
achten. Er empfand es, wie wenig dieſe — man möchte ig — paſſive Kirch— 
lichkeit den ſchreienden Schäden der kirchlichen Gegenwart und des chriſtlichen Volks— 
lebens insbeſondere in den großen Städten gewachſen je. Er erkannte in der 
kräftigen Mitwirfung der ganzen Gemeinde die einzige a. Hilfe für 
unfere Zeit. Aktivität des Glauben? und der Liebe von feiten aller Gemeinde- 
glieder, das war die große Forderung, die er fort und fort auch jeiner Anjchargemeinde 
ins Gewijjen gerufen hat, — ohne dieje galt ihm das Chriftenleben nicht für voll und 
gefund. Eben deshalb follte ſich feine Gemeinde zu einer Gemeinschaft der Arbeit 
zujammenjchließen, bei der jedes Glied nad) dem Maß jeiner Gabe an feinem Plate 
in mannigfaltigfter Weije dienend jeinen Bauftein zur Erbauung der Gemeinde Hinzu- 
trüge. Durch diefen Grundfag, auf den fein ganzes Wirken angelegt war, 
hat er der Anjchargemeinde ihr eigentliche Gepräge verliehen. Es jei deshalb erlaubt, 
ihn jelbit zu Worte fommen zu lafjen, wie er fich über diefen Punkt in einer feiner 
„Mitteilungen“ aus dem Jahre 1877 ausgejprochen hat: „.. Darum, lieben Freunde, 
lafiet euch von eurem Pajtor und Seeljorger namentlid” im Blid auf die furchtbaren 
fozialen Notftände, die uns Überall in nächjter Nähe umgeben und immer bedrohlicher 
werden, im Namen Jeſu Chrifti des Gefreuzigten und Auferjtandenen ins Herz und 
Gewifjen rufen: ‚Alle Mann auf Ded! Die Gemeinde erwartet, daß ein jeder 
feine Schuldigfeit thue‘. Mit diefen Hiftorijchen Worten jpielt man nicht. Sie 
wurden ftet3 nur in bejonderer Notzeit, dann aber auch mit ganzem und vollem Nach— 
drud gebraucht. Auch ich bin mir dejjen bewußt, indem ich fie ausfpreche und möchte 
durch dieſelben einen jeglichen von euch bejonders bei der Hand nehmen und ihn ernftlich 
und dringend bitten, doch nicht bloß ein gemütliches chriftliches Privatleben zu führen, 
fondern wie es heutzutage nötig ift, fi an den großen Aufgaben und Arbeiten der 
Gemeinde lebendig und eifrig zu beteiligen und — weil mir dies die wichtigfte kirchliche 
Aufgabe der Gegenwart zu jein jcheint — fräftig mit Hand an die Gemeindedia- 
konie zu legen. Laſſe fich ein jeglicher von feinem Heilande ein reiches Maß von 
Liebe ſchenken und dann kommt herzu und helft uns, ein jeglicher an feinem Teil und 
mit feiner Gabe.“ 

In diefem Sinne die Gemeinde zu organifieren, das ift dem unermüdlichen Manne 
in jeltenem Grade gelungen. Nicht nur ein hohes Maß von Opferwilligfeit in äußeren 
Gaben, jondern auch ein hohes Maß von perjönlicher Dienftwilligfeit hat er bei faft 
allen zu erweden gewußt. Er verjtand es, Aufgaben zu ftellen, für dieſe Aufgaben die 
rechten perjönlichen Kräfte ausfindig und die gefundenen zur Uebernahme des Dienjtes 
mit der ihm eigenen Eindringlichfeit auch willig zu machen. Da waren die Helfer und 
——— in dem Kindergottesdienſt, der in —5*— Wachstum zuletzt wohl an 1000 

inder ſonntäglich ſammelte, in der Armenpflege, in der Krankenpflege, im Beſuchen 
allein ſtehender Gemeindeglieder; da gab es perjönliche Dienſtleiſtungen im Nachtwachen 
bei Kranken, im Vorleſen bei Alten und Schwachen, im Begleiten Blinder und Ge— 
brechlicher zum Gotteshauje, da gab es Arbeit in den verjchiedenen Vereinen, — Arbeit 
für Männer wie für rauen, — jowie in den Vorftänden für mancherlei Anftalten 
der Liebe, — furz, es gab überhaupt faum eine Arbeit an der Kapelle, in welcher der 


Carl Nind. 795 


Baftor allein geitanden, in welcher er nicht vielmehr mitwirfende Kräfte aus der Ge- 
meinde gehabt hätte, die mit Vertrauen unter feiner jicher leitenden Hand arbeiteten. 

Aber bei alledem erfannte Nind, daß angeficht3 der großen firchlichen Bedürfnifie 
der Weltftadt neben diejen freiwilligen DienHeiftungen jolhe Kräfte nicht entbehrt 
werden fünnen, die berufsmäßig ihr ganzes Leben in den Dienft der Gemeinde jtellen. 
In diefer Erkenntnis hat er das Werk der weiblichen Diakonie aufs Kräftigite ge- 
fördert. Den Grund zu demjelben Hatte bereit Baur gelegt. Unter Nind ward die 
Bahl der Diafoniffen bald von einer auf drei vermehrt, und fie iſt dann ftetig ge- 
wachen. Im Sahre 1877 ward ein eigenes Haus bei der Kapelle gemietet, und in 
der Schweiter des weiland Profefjors Wappäus in Göttingen eine treue Leiterin für 
die Heine Schwefterjchaft gefunden. Das Haus ward für den zunehmenden Schweitern- 
frei3 bald zu eng und jo ward im Jahre 1881 der Bau des jchönen, geräumigen 
Diafoniffenheims Bethlehem auf dem Anjcharplag in Anguifl genommen. Am Weib: 
nachtsfeſt 1879 hatte Nind feiner Gemeinde zuerit dieſen Bau warm ans Herz gelegt, 
und am Weihnachtöfeit 1881 fonnte er „an Bethlehems Krippe“ eingeweiht werben. 
Die 95000 Mark Baufoften und noch 10000 Mark dazu Hatte die Liebe der Ge— 
meinde ohne irgendwelche öffentliche Aufrufe aus ihrer eigenen Mitte in dem zmei 
Jahren zufammengetragen; jchuldenfrei ward das Haus unter innigem Danfe gegen 
Gott bezogen. E83 war für 36—40 Diakoniſſen, jowie für eine Kranfenftation, eine 
Kinterftation und eine Krippe eingerichtet, — Dieje legteren den Bebürfnifjen der Ge- 
meinde und der Ausbildung der Schweitern zugleich dienend. Die in Ausficht ge— 
nommene höchjte Zahl der Diakonifjen ift nun bereit3 erreicht. Mit dem Wachjen der 
Schwejternzahl hat aber das Wachstum der ihnen erjchloffenen Arbeit mehr als gleichen 
Schritt gehalten. 

Nind wollte mit feinem „Bethlehem“ nicht eine Diakoniffenanftalt im gewöhn— 
lichen Sinne gründen, auf welcher Schweitern zu mannigjachitem Dienjte ausgebildet 
werden, um dann auf verjchiedene Stationen ſich entjenden zu laſſen, fondern dies 
Diakoniſſen heim ſoll Lediglich ein Gemeindeinjtitut jein. Es joll aus der Gemeinde 
jeine Schweſtern ebenjo wie feinen Unterhalt empfangen. Die Schweftern aber — gleich 
anderen Diakonifjen aufs Sorgfältigjte innerlich; und äußerlich ausgebildet — ſollen 
wieder lediglich der Gemeinde in der Armen und Sranfenpflege u. a. unter 
Ausschluß der Privatpflege bei Bemittelten ihren Dienſt widmen. Diefer 
Nindiche Gedanfe eines Inſtituts von Gemeindefchweitern, die dies ausschließlich fein 
jollen, ift nicht unangefochten geblieben, aber er ijt Durch den Erfolg gerechtfertigt, dem 
Geiſt der erjten apoftolijchen Gemeinden gewiß nicht widerjprechend und für die Ver- 
hältnijje unjerer großen Städte von jegensreicher Bedeutung. Findet er anderweitig 
Nachfolge, jo werden die eigentlichen Diakoniffenanjtalten am meisten Urjache haben, 
dafür dankbar zu fein, da fie dadurch in etwas entlaftet werden von der übergroßen 
Dahl von Anforderungen, denen fie mit der ihmen zu Gebote jtehenden Zahl von Dia- 
onijjen fo oft nicht gewachjen find, 

Den Anjcharjchweitern fiel die Gemeindepflege in dem engeren Kreis der Anjchar- 
armen, jowie in dem weiteren reife der großen St. Michaelisgemeinde und der in 
ewiſſem Sinne ihr verbundenen noch größeren St. Pauligemeinde zu. Das ift ein 

ezirk, in welchem 150000 Menjchen wohnen! Welch eine Fülle von Liebesarbeit 
an Armen und Kranken ift damit den Herzen und Händen der Schweftern zugewiejen! 

Und doch fjollte jich ihnen noch eine weitere Aufgabe erjchließen, die, fcheinbar dem 
oben angebeuteten Prinzip widerjprechend, doch tiefer angejehen nur eine Konjequenz 
derjelben ift. Wie oft treten ihnen auf ihren Wegen arme Menjchenfinder entgegen, 
denen wahrhaft Hilfe nur gebracht werden fann, wenn fie den Lebensverhältniffen, in 
denen fie jtehen, entnommen werden und am anderen geeigneten Stätten die rechte Für— 
forge erfahren. Aus diefer Wahrnehmung find eine Reihe von Anftalten hervorge— 
wachjen, in denen die Anjchar-Diakonifjen arbeiten, aber fo, daß auch dieje Arbeit nur 


796 Carl Nind. 


als ein Dienjt an den Gliedern der Gemeinde betrachtet wird, denen in ihren 
eigenen Häufern nicht recht gedient werden kann. 

Es ift damit Hingedeutet auf eine Gründung, welche bei dem 25jährigen Stif- 
tungsfeft der Anſchar-Kapelle al3 jchöne Blüte am Baum der Anjchararbeit erwachſen 
ift. Eine der Gemeinde und ihrem Pajtor treu verbundene Hamburgerin hat bereits 
im Jahre 1883 das Emilienftift als eine Anftalt für fittlich gefährdete Mädchen im 
Alter von 14—20 Jahren ins Leben gerufen zu dem Zwed, diejelben dort zu tüchtigen 
Dienftboten auszubilden. Im Jahre der Subelfeier, 1885, faufte nun Diefelbe ein 
Grundftüd in Eppendorf bei Hamburg an, um auf demjelben ein neues Gebäude für 
diefe Anstalt zu errichten. Diejes Grundftüd ward der Anjchargemeinde übergeben 
und bei der Jubelfeier als „Anfcharhöhe” eingeweiht. Nun ift dort ſchon eine Kolonie 
von vier Häufern entjtanden: das „Emilienjtift”, zu dem bereit3 genannten Bed, 
der „Kaftanienhof“, eine vom „Rauhen Haufe“ erbaute und der Fürſorge der An— 
ichargemeinde überwiejene Erziehungsanftalt für — Mädchen, „Emmaus“, 
ein Siechenhaus für alte und unheilbare Frauen, und „Bethanien“, ein Erholungs— 
haus für Diakoniſſen. 

Es iſt in der That eine reiche Entfaltung, welche der Arbeit der weiblichen Dia— 
konie an der Anſchar-Kapelle bis hierher zuteil geworden iſt. Und Ninck war und blieb 
die Seele dieſer Arbeit, — ja es iſt ihm kaum eine andere ſo wie dieſe ans Herz ge— 
wachſen und ſeines Herzens Sorge und Freude geblieben bis zuletzt. 

Man wird denken: das alles ſei nun aber genug und mehr al3 genug der Arbeit 
gewejen auch für einen jtarfen Mann. Doc Nind hat fich daneben nod ein ganz 
anderdartiges Feld weitgreifender Thätigfeit eröffnet. Wir gehen vorüber an feiner 
treuen Mitarbeit für die „Norddeutiche Miffion*, an feiner Mithilfe bei der Gründung 
des „Seemannsheims*, an der Entjtehung des „Luifenhofs* in Eppendorf nach dem 
Vorbilde des „Verjorgungshaufes* in Bonn, und an feiner Leitung des „Vereins der 
Freundinnen junger Mädchen“ in Seife ‚ um nachdrüdlicher hinzuweifen auf das, 
was er für die volfstümliche riftlide Preſſe geleiftet hat. Seinem Blide ift 
e3 nicht entgangen, daß im ihr wieder eine Waffe liege, die mit Energie gehandhabt 
werben müjje, um ber feindlichen, unchriftlichen Mächte der Zeit Herr zu werden. 

Auch Hier hat er zunächit an ſchon VBorhandenes angefnüpft, um e3 mit neuen 
Gedanken und neuer Sraft zu durchdringen. Er nahm die Leitung der „Nieder- 
ſächſiſchen Traftatgefellichaft” ın die Hand, die, bis dahin zum großen Teil von eng- 
liſchem Gelde unterhalten, auch vielfach durch den Inhalt ihrer Schriften in —— 
methodiſtiſchem Geiſte wirkte. Ninck verlieh ihr ein deutſch-evangeliſches Gepräge, 
indem er für Schriften ſorgte, die, der geſunden Lehre entſprechend, auch zugleich 
deutſche Volksſchriften im beſten Sinne ſein ſollten, und als infolge deſſen die engliſche 
Unterſtützung zurückgezogen ward, gelang es ihm, die Arbeit auf ſolchen finanziellen 
Grundſätzen aufzubauen, daß ſie im ſtande iſt, ſich ſelbſt zu erhalten. 

Noch bedeutſamer iſt, was Ninck durch ſeinen „Nachbar“, ein „chriſtliches Volks— 
blatt für Stadt und Land“, geleiſtet hat. Seinen Nachbar darf man ihn nennen, 
obgleich er auch hier nicht der Gründer, ſondern nur der Erbe früherer Arbeit iſt. 
Denn als er den „Nachbar“ übernahm, mochte er vielleicht 1000 Abonnenten zählen, 
und jeßt, wo ihm die Feder aus der Hand genommen ift, wird dies Volksblatt in 
nahe an 100000 Exemplaren gedrudt, und ift aus einem Hamburger Sonntagsblatt 
zu einem deutjchen Volksblatt, — fait dem verbreitetiten — geworden. Es ift wahr: 
als Nind diefe Arbeit in die Hand nahm, da hat er ein paar Jahre lang ftark ge— 
trieben zur weiteren Ausbreitung des Lejerkreifes, aber er hat es gethan aus der 
innerjten Ueberzeugung, daß e8 auch auf dieſem Gebiete gelte, eine hervorragende 
Ehriftenpflicht der Gegenwart und in ihrer Erfüllung die Liebe zum Volke. zu bethätigen, 
dem jo hundertfach jchwarz auf weiß das Gift ins Haus getragen wird, und bei jeiner 
immer erneuten Anforderung an jeine Zejer, auch VBerbreiter des Nachbar zu wer: 


Earl Nind. 797 


den, leitete ihn doch nur derjelbe Grundgedanfe, der uns bei jeiner Pfarrarbeit fo 
arakteriftifch entgegengetreten ijt, die Herzen aus einem mühigen Genießen geiftlicher 
üter zur Mitarbeit für diejelben aufzurütteln. Später that ein folches Eintreten 
für die Verbreitung des Blattes nicht mehr not; — nachdem ihm die Bahn gebrochen 
war, forgte es jelbjt durch jeinen volfstümlichen Ton und Inhalt für jeine weitere 
Ausbreitung, — 08 erjcheint gegenwärtig für verjchiedene Gegenden des deutjchen Vater- 
landes in einer Reihe von verjchiedenen Ausgaben. 

Nicht minder glüdlic) war Ninck in feinem „Deutſchen Kinderfreund“, der 
monatlich mit vielen und jchönen Illuſtrationen erfcheint und fich durch feinen edlen 
unterhaltenden und belchrenden Inhalt jchnell viele taujend Kinderherzen und auch die 
Herzen der Erwachſenen erobert hat. Dieſe Jugendzeitſchrift iſt das einzige Blatt, 
welches Nind ſelbſt ins Leben gerufen hat, und es ijt ihm recht aus dem Herzen 
herausgewachſen. Er, der jtarfe, energifche, unerfchrodene Mann trug doc in K. 
ein reiches Kindesherz mit deſſen Fröhlichkeit, Innigfeit und Unmmittelbarfeit. Deshal 
fühlte er fich überall unbejchreiblich zu den Kindern hingezogen, wie nicht minder die 
Kinder zu ihm, fonnte er doch in feinem Orte der Welt — ſelbſt nicht in einem 
Badeort, ohne daß er alsbald eine ganze Kinderſchar um ſich verſammelt ſah. So 
hat er denn feinen „Kinderfreund“ jelbjt als jein liebes Kind in die Welt hinausziehen 
laffen, um der Tejeluftigen deutjchen Jugend eine gejunde geiftige Nahrung zu bieten 
und ihr alle Herrlichkeit und Echönheit der lieben Gotteswelt in dem Lichte des 
„großen Kinderfreundes* und jeines Wortes, — wie das Titelbild es andeutet — zu 
zeigen. Man muß das, was Nind jelbjt in feinem Kinderfreund gejchrieben hat, leſen, 
um ihn recht fernen zu lernen. Es iſt aber merkwürdig, wie er auch den Lejerfreis 
dieſer Jugendjchrift jo gut wie den LXejerfreis des Nachbar als eine Art von Ge: 
meinde betrachtete, die er jich jammelte und in der er wirfte, — natürlich durfte es 
aber dann in diejen „Gemeinden“ auch an der gemeinjamen Arbeit nicht fehlen. 
alljährlich wurden ihm freudig von alt und jung aus dem weiten deutjchen Vaterland 
und jelbjt aus anderen Ländern die Gaben dargereicht für den „Nachbarchriſtbaum“ 
und für den „Chrijtbaum des Stinderfreundes“, jener bejtimmt, um den „Nachbar: 
mifjionar“, den er im Dienft der Anfragen aus der „Nachbargemeinde* angejtellt hatte, 
zu unterhalten und chriftlichen Anftalten eine Weihnachtsfreude zu bereiten, diejer, um 
in der Mijjionsjtation Ho in Wejtafrifa eine Schule zu unterhalten. — Auch der 
Ertrag des „Kinderfreundes“ fam wieder armen Kindern zugute: er dient zur Unter: 
haltung der Kinderjtation und der „Krippe“ im Diakonifjfenheim Bethlehem. 

Wie Nind für alle Mitarbeiter in jeinem Werk ftetö eine herzliche Dankbarkeit 
fühlte, jo hat er es auch dankbar empfunden, daß ihm bei feiner Arbeit für den 
Nachbar und den Kinderfreund eine treue, hingebende und gejchidte Hand vieles 
erleichterte. 

Ueberbliden wir das ganze Arbeitsgebiet, von welchem doc in diejer Skizze nur 
Andeutungen gegeben werden fonnten, jo muß man befennen: es ijt ein reiches Leben, 
das ſich darin ausgewirft hat. 

Wo liegen die Wurzeln desjelben? Gewiß nicht vor allem in Ninds Gaben. 
Wohl war er für die von ihm ergriffene Arbeit bejonders begabt. Aber jeder befam 
doch den Eindrud, daß nicht jeine Gaben, jondern jein Charakter das Treibende und 
Wirfende in derjelben waren. Oder um es näher zu bezeichnen: er fonnte mit jeinen 
Gaben jo Bedeutendes wirken, weil fie durch jtarfen Glauben und durch feurige, ver: 
zehrende Liebe geheiligt, ja zum großen Teil eben dadurd überhaupt erſt 
erwedt waren. 

Der nach außen jo viel in Anjpruch genommene Mann hat doc) ein überaus 
reiches und tiefes Innenleben geführt. Es jei nur nebenbei bemerft, daß er troß jeiner 
vielen Gejchäfte mit jeinen Arbeiten nie im NRüdjtande, jondern immer im Vorauss 


798 Carl Nind. 


arbeiten begriffen war: nicht zum wenigjten dadurch Hat er fich in jeinem Schaffen 
ftet3 eine große Nuhe bewahren können. Aber er hat — abgejehen davon — jtet3 
auf das Energijchite jich die Zeit zur inneren Sammlung zu bewahren gejudt. Er 
wußte, wo die jtarfen Wurzeln jeiner Kraft lagen. In gleicher Weije hat er auch 
ag Gemeinde auf das Dringendite ang Herz gelegt, über ihrer treuen Marthaarbeit 
a3 Allerwichtigfte nicht zu vergefien, den jtillen, gejfammelten, in das Wort Jeſu jich 
verjenfenden Marienjinn mit dem „Eins ift not“! So ſehr er jelbit alle Gemeinde- 
glieder zur firchlichen Arbeit anjtachelte, jo jtellte er diejelbe doch erjt an die vierte 
Stelle; voran ftanden ihm das Gegründetjein im Glauben, der Ernſt der 
Heiligung des eigenen Lebens, die tägliche Treue im nächſten Beruf. 

Er jelbjt gewährte den Eindrud eine® Mannes, der feine Lebenswurzeln tief in 
Gott gejenkt hat. Ertrug ein ſtarkes Bewußtjein der eigenen Sünde und der De 
macht in ſich. Aber eben deshalb Fonnte er fich auf feinem anderen Grunde, als dem 
der Gnade Gottes ficher fühlen. Von der eigenen Gebrechlichfeit hinweg auf feinen 
Heiland jchauend, fand er in dem „Allein aus Gnaden* den Grundton des Chriften- 
lebend. Aber die erfahrene Gnade ſchuf in ihm ein Neues. Aus ihr erwuchs ihm 
der jreudige Mut und die brennende Liebe, wie fie fein Lofungswort atmet: Frei von 
jedermann und jedermanns Knecht. Sein gläubiger Aufblid zu der Gnade Gottes, 
um in ihr den {Frieden zu finden, und die raftloje Werfthätigfeit feiner Liebe hatten 
denjelben Zujammenhang, der uns in dem Worte des Apoftels entgegentritt: „Nach: 
dem und Barmherzigkeit widerfahren ift, jo werden wir nicht müde. Sch bin ein 
Echuldner beider, der Griechen und der Ungriechen.“ 

Daß bei einer jo ſtark ausgeprägten Imdividualität und einem fo männlich 
fejten Willen, wie fie uns in Nind entgegentreten, auch wohl Einfeitigfeiten nicht aus— 
bleiben mochten, daß es da auch — zumal bei den eigenartigen Verhältniffen der Ans 
ſchar⸗Kapelle — gegenüber anderen Männern, die die Kirche Chriſti mit gleicher Liebe 
umfafjen, nicht immer ohne Neibungen abging, — wen will das Wunder nehmen? 
Er ſelbſt hat ſich mit Rüdjicht darauf wohl manches Mal einen „Einfpänner“ ges 
nannt. Er war es in der That in gewiſſer Hinficht, aber in anderer Beziehung war 
er es auch gerade nicht. Vielmehr fuchte er gern Anjchluß und Gemeinjchaft des 
Wirfend. Sein offenes, gerade Weſen, fein jelbitlojes Abjehen von der eigenen 
Perjon, fein Sinn, der nur der Sache dienen wollte, hat dazu mitgewirkt, manchen 
Berjtimmungen den Boden zu entziehen, und ihn in treuer Freundjchaft auch mit ganz 
anderd angelegten Männern zu verbinden, jelbjt da, wo man nicht ohne weiteres 
allen jeinen Schritten beiftimmen fonnte. Insbeſondere war es etwas überaus Wohl- 
thuendes, zu jehen, wie ihn ein Band gegenfeitiger herzlicher Hochachtung und inniger 
Liebe mit den ihm amtlich zunächit jtehenden Paſtoren von St. Michaelis verfnüpfte! 
Auch ſonſt war er jeinen Freunden ein jehr treuer und opferwilliger Freund. 

Nind Hat treulih an fich ſelbſt gearbeitet. Wielleicht haben auch andere den 
Eindrud empfangen, daß eine frühere Neigung zur Schroffheit fpäter immer mehr der 
Milde und Freundlichkeit Raum gab, die den Freunden beim Gruß aus feinem jeelen- 
vollen Auge entgegen leuchtet. Er hat auch angefichts der Fülle feiner Pflichten ſich 
jelbjt zu einer großen Pünktlichkeit und Arbeitstüchtigkeit erzogen. Das Arbeiten war 
ihm, joweit Kraft und Gejundheit e3 geftatteten, zur zweiten Natur geworden. Es lag 
in jeiner Art, faum einem Genufje ſich hinzugeben, der fich ihm nicht irgendwie wieder 
in Arbeit umgewandelt hätte. 

Davon zum Schluß noch ein nicht unbedeutender Beweis. 

Es war Nind vergönnt, einen jehnlihen Wunjc feines Herzens erfüllt zu jehen, 
indem er im Winter 1884 mit einem Kreis von Freunden eine Reife nach Paläftina 
antreten fonnte. Ueber Wegypten reifte die Karawane von 15 Perjonen nach) dem 
gelobten Lande, um von diejem über Slleinafien, Griechenland und die Türfei wieder 


Earl Nind. 799 


heimzufehren. In 10 Wochen ward die Reife vollendet, — Dftern konnte Nind in 
feiner Gemeinde bereitS wieder die Auferjtehung des Herrn feiern. Mit großer Innig- 
feit und heiliger Freude und zugleich mit einem für alles geöffneten Auge hat er auf 
diefer Reife insbejondere die heiligen Stätten gejchaut, an denen der Sohn Gottes 
unter uns gewandelt und gelitten hat, gejtorben und auferftanden ift, der Herr, von dem 
er jo freudig ftetS befannt: „Er ift e8 wert, daß man ihn ehrt und fich in feinem 
Dienst verzehrt.“ Weiche Anregung und tiefe Erquidung hat ihm diefe Reife gebracht, 
und fie it ihm ein heller Lichtblid für die legten Jahre feiner zum Ende neigenden 
Pilgerfahrt geblieben. 

Eben auch diefe Reife ift ihm aber aus einem Genuß zu einer Arbeit geworden. 
Sie war ja ſchon in fich jelbjt eine Arbeit durch die ernjte und tiefe Art, in der er 
fie erfaßte, und es ift ihm auch nachträglich eine Arbeit aus ihr erwachjen. Seiner 
ganzen Denkweiſe nach, nicht für fich behalten zu wollen, was er hatte, jondern mit 

em Empfangenen zu wuchern, erjchien es ihm als Chriftenpflicht, an dem Gewinn, den 
die Reife ihm gebracht, auch andere Anteil nehmen zu lafjen. In diefem Sinne hat er 
fie bejchrieben in dem prächtigen, Iebensvoll abgefaßten, mit jchönen Bildern reich 
gezierten Buche: „Auf bibliihen Pfaden.“ Auch das war gemeint als eine Gabe fürs 
Hriftliche Volk, das er jo lieb hatte, wie er jelbjt es in der Vorrede ausjpricht: 
„Fürs chriftliche Volk find diefe Reifebilder bejtimmt. Ihm durch Wort und Bild 
„die biblifchen Pfade“ jo viel als möglich anjchaulich und heimifch zu machen, dadurch 
die Liebe zum heiligen Lande, das Verſtändnis der heiligen Schrift und das Intereſſe 
für die evangelifche Miſſion in weiteren Streifen fördern zu helfen, war mein fehnlichjter 
Wunſch und mein ernjtes Streben.“ 

Das ift ihm in der That reichlich gelungen. Mit faft übergroßer Anftrengung hat 
er fich gleich nach feiner Heimkehr an die Arbeit gemacht, fo bar der erjte Teil bereits 
auf den Weihnachtstiich des Jahres 1884 gelegt werden fonnte. Seitdem ift das Bud) 
bereit3 in dritter Auflage erjchienen und hat u. a. das Intereſſe für die jo wichtigen 
evangelifchen Anftalten um heiligen Lande fräftig angeregt. Auf diefe Weije ward feine 
Neije zu einer That. Von dem Reinertrage des Buches aber hat er draußen auf der 
Anſcharhöhe das Haus „Bethanien” erbaut, dejjen oben jchon gedacht ift. 

Ihm jelbit jollte dies Haus nun noch in befonderem Sinne gu einem „Bethanien“ 
werden, zu der letzten Station feines Weges nad) dem Jerufalem, auf das er jein 
Gelicht mit ganzer Wendung gerichtet hielt. 

Nind war bereit3 in früheren Jahren — hauptſächlich in Folge von Ueberan- 
fpannung feiner Kräfte — mehrfah an einem Herzleiden aufs ernjtlichjte erfranft und 
dadurch zeitweilig arbeitsunfähig geworden. Im Sommer 1887 fehrte das Leiden 
bejonders ftarf wieder. 

Der erjte Juli, der Tag feiner filbernen Hochzeit, ward in Folge deſſen in einen 
fehr ernten verwandelt. Anftatt ſich von einem entfernteren Kurorte Stärfung und 
Genefung zu verjprechen, zog es ihn bald nachher in fein liebes Bethanien auf der 
Anjcharhöhe, von deren — 7 — Luft man eine gute Einwirkung hoffen durfte. 

Dort hat er die letzten Wochen ſeiner irdiſchen Wallfahrt verbracht. Es war eine 
ſchwere Leidenszeit. Er mußte durch tiefe und dunkle Stunden der Angſt hindurch— 

ehen. Da hat er es zuletzt lernen müſſen, was er ſo oft ſchon in ſeinem Leben geübt, 

„Durchzuglauben,“ ſich dem ſinkenden Petrus gleich an „jeinen Heiland“ zu halten 
und „ſich ganz in die Arme des ewigen Erbarmens finfen zu lafjen.“ Es war, als 
ob der Knecht, der Tebenslang darnad) gerungen hatte, feinen Herren Durch jeine Arbeit 
zu preifen, ihn nun zulegt noch durch jein Leiden preifen ſolle. Daß er auf diejem 
dunklen Paſſionsweg innerlich gewachjen ift, daß — nad) dem Worte des Apoſtels — 
ob auc der äußere Menjch verwejte, doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert 
ward, das hat er jelbjt noch manches mal bezeugen fünnen. 


800 Carl Nind. 


Am 17. September 1887 morgens rief der Herr feinen treuen Knecht zu feinem 
Frieden. Am Vorabend des Begräbnijfes ſprach im engern Kreiſe der Angehörigen 
draußen in Bethanien jein Schwager an feinem Sarge auf feinen ausdrüdlichen Wunſch 
über das Wort: „Hier fommt ein armer Sünder her, der gern ums Lösgeld jelig wär’. 

Bon Bethanien nach dem Ierufalem, das droben ift! Wir gedenfen dabei des 
Wortes, das einjt der Herr über den in Bethanien Entjchlafenen geiprochen hat: Lazarus 
unfer Freund jchläft, aber ich gehe Hin, daß ich ihn aufwede.“ 


Paderborn. 


Theodor Nottebohm. 





Die Benaillanıe. 


Ein Breslauer Vortrag‘) 


von 


R. Rocholl. 





Für die Geſchichte des Abendlandes iſt das Wort „Renaifjance* von nicht ge— 
ringer Bedeutung geworden. 

Den Sinn des Worts werden wir uns von Kugler ſpäter deuten laſſen. Hier 
gentigt, dab e3 für die Völker unſerer Kultur wefentfich nur zwei Kunſtrichtungen gibt, 

ie helleniche und die romantijche. 

Die Hellenen find die Träger der Weltbildung. Der römijche Staat hatte nur 
das mächtige Beden zu ſchaffen und in Nechtsbildungen zu formen, in welches dieſe 
Bildung einftrömen konnte, als fie gereift von ihrem Träger, der griechijchen Staaten: 
gruppe, ſich zu löſen im ftande war. 

Gegenfa zu den morgenländifchen Monarchien, zu einer dumpfen Kultur des 
ſinnlos Kolofjalen, entwidelte ſich an glüdlichen und heiteren Geſtaden der Griechen 
der Gedanke einer harmoniſchen Ausbildung des Menſchen nach feiner geiftigen und 
leiblichen Natur. 

„Die Hauptform der alten Kunst ift — jagt Otfried Müller in feinem in Breslau 
1848 erjchienenen Handbuch der Archäologie — der menjchliche Körper. Er erjchien 
den alten Griechen als das notwendige Sorrelat de3 Geiftes, al3 der natürliche und 
einzige Ausdrud dafür.“ Soweit Dtfried Müller, unjfer Landsmann aus Ohlau. 

Dies ift alfo eine Errungenfchaft des griechifchen Geiftes: Geift und Leib wertvoll 
für gegenfeitige Ergänzung, wertvoll, und nicht nur zu pflegen, fondern auch zu bilden. 

nd dieſer Menſch, jo verjtanden, hat feinen Wert völlig unabhängig von 
Maſſe. Seine Größe ijt eine innere. Sie trägt dad Mak in fich ſelbſt und Geift 
und Maß fiegen in ihr über das Geift- und Maßloſe. 

Diefe Bilder aus Marmor ftellen Abſchluß und Ruhe dar, zu welcher die alte 
titanenhafte Kunft gelangte. Dieſe Gebilde ftehen, ſchön in fich, ohne Nebenbeziehungen 
zur lärmenden, anfpruchsvollen Welt. Sie entfalten „fern von der Unruhe der 


*) Diefer Vortrag, Skizze aus einem Zuſammenhang geſchichtsphiloſophiſcher Erörterungen, 
ift im le Binter in Breslau gehalten. Er 8 lotale Färbung angenommen, und wird aus ber 
Sommerfriihe am Rhein als Gruß zur Ober entjenbet. 

St. Goar, Mai 1888. D 8. 


802 Die Renaiffance, 


Bwede und Ziele,“ die in das Unermeßliche und Dunkle reichen: einfach, ruhig, vollen— 
det ihre eigne — in ſtiller — Damit ſind alle beängſtigenden, über die 
Erſcheinung und die erſcheinende Welt emporgreifenden Fragen ausgeſchloſſen. Alles 
iſt ſelige Gegenwart. 

Allerdings iſt damit die Angſt jener Fragen nicht aus der Welt geſchafft. Sie 
iſt nur in kindlicher Harmloſigkeit flüchtig überdeckt. Sie meldet N Und wo fie 
fi) meldet, dort kündet fich eine ungeftillte Tiefe im Menschen, es kündet fich eine 
jenfeitige Welt an, mit all den Fragen, welche nicht diefe Weltbildung, jondern nur 
die Weltreligion Löjen kann. 

Das Ehriftentum tritt ein: 

Es zerjtört die Illuſionen. Es lenkt den Blick in die Weite. 
Es 4 ihn in die Tiefe der nur künſtlich hinweggeſcherzten Furcht. 

Es zeigt den auf dieſer Stufe unlösbaren, mißtönenden Zwieſpalt von Ideal und 
Wirklichkeit und hält alle Mittel für Löjung diefes Zwiejpalts in feiner Hand. 

Aber zunächit, ohne e3 zu wiſſen. 

In der heiligen, ihm offenbarten Figur des Erlöfers jelbft Tiegt die Löfung. Hier 
liegt die Formel für alle Welträtjel. Über die Kirche faßt und verkündet es noch 
nicht völlig, was fie hat. Die Proflamation, mit der der Apoftel in die Mitte helle- 
nischer Kunst zu Athen tritt: „Wir find feines Gejchlechts“, fie enthält die univerjale 
Aber die Kirche verfteht fie, verfteht ihre Schäße, verjteht fich jelbit 
noch nicht. 

Zunächſt, fomweit fie judenchriftlich fich hält, hebt fie das Sreuz über den Erdball 
empor und zertrümmert die Weltwirflichkeit. Zunächft fcheint ihre Aufgabe nicht Welt» 
durchdringung, jondern Weltflucht. 

Damit ijt der Kampf der beiden großen Denkweiſen eingeleitet. 

Der Kampf iſt's des chriftlichen und hellenifchen Geiftes, der Romantik und der 
laffizität, des Evangeliums des Jenfeit3 und des Diesfeits. Diefer Kampf beherrſcht 
von nun an die Kulturgefchichte der gebildeten Völker. Er beherrjcht ihre geſamte Litte- 
ratur und ihre Kunſtgeſchichte. 

Mir treten in die Zeit, in welcher die Kirche wie ihren Aufbau im Staat, jo ihren 
Ausbau im künſtleriſchen Schaffen erſt juchte. 

Die fremden vorgefundenen Werte zertrümmert man, wenigftens in den Oftmarfen 
des Reichs, weil fie dämoniſch dem heidnifchen Götterwejen gedient hatten. Oder man 
verwandte fie al3 frembde. 

Das Reich war chriftlih. Alle Unterthanen mußten den Glauben befennen, „den 
Petrus den Römern überliefert” habe. So das Edikt des Theodoſius. 

Das Serapeion zu Alerandrien war zerjtört. Ein Soldat zerhieb mit der Axt 
das Bild der Gottheit. Die Welt ſank nicht ing Chaos zurüd, wie der Götterſpruch 
lautete. Aber eine ganze Kumftwelt fant, den Siegern unverftanden, in Nacht. — Bald 
folgte die Zeritörung des Marneion zu Gaza und damit der Hochburg des paläſti— 
nenſiſchen Heidentums durch Porphyrios mit Hilfe der Kaiferin Eudoria. Der Tempel 
Aphroditeng zu Byzanz wurde eine Wagenremife. 

Damit find wir ſchon auf europäifchen Boden getreten und ftehen in der Stadt 
Konftantins. 

ier fand man das Bildwerf der ehernen Schlangen, welches einjt Hellas dem 
delphiſchen Apoll ftiftete nach dem perfifchen Siege, hier fehaute man eine Fülle helle- 
nijcher und morgenländifcher Bildwerke, alle für den Glanz der Kaiſerſtadt herangeholt, 
alle wie Beutejtüde verwendet. Als die Sophientirche geweiht war, als Anthemios 
von Tralles die Schäge des Morgenlandes in fie hineinbaute, als die filberbelegten 
Wände und Säulen im Licht der Taufende goldner Ampeln ftrahlten, welche wie 
ichimmernde Fahrzeuge den weiten Raum a en — da war die Haffische Kunft 
in ben Dienjt der Kirche herübergenommen. 


Die Renaifjance. 803 


Sie war unvermittelt herübergenommen und ihre Säulen von Marmor und Ser- 
pentin, wie die aus dem ephefinifchen Dianentempel, jtanden wie gefangene Sklavinnen. 

Dder die Gefangenen wurden zurechtgeformt. 

E3 gab ein altes Bildnis der Ahea von Cyzicus. Die Begleiter Jaſons jollten 
es dort aufgeftellt Haben. Nach Byzanz gejchleppt, wurde aus dem Heiligtum der 
Argonauten eine anbetende Chriftin hergeftellt, wie und Viktor Schulte zeigt. 

Betreten wir den Boden Italiens, jo ftehen wir am Quell der unmittelbaren 
Kunjtanregungen für dad Abendland. 

Wie jtaunte Kaiſer Conftantius, al3 er im goldnen Wagen in die Straßen Roms 
einfuhr! Er fam aus Byzanz, er meinte, nichts könne herrlicher fein als diejes, wo 
die Kunftwerfe des Phidias und — einander drängten. Kaum mochte der 
Kaiſer ſeinen Blick umherſchweifen laſſen. Dann aber kam er zum Forum. Da ragte das 
Kapitol. Dort erhob ſich das Pantheon und rieſenhaft das Flavianiſche Amphitheater. 
Die Majeſtät des Anblicks übermannte ihn. 

Wie fonnte e8 anders fein, als daß die Majeftät diefer Bildungen immer wieder 
fi) behauptete! Das zeigen die Genien in der Domitilla-Katafombe. 

Die Kunftrichtung der Kirche wich der Antike nicht mehr aus. Man verwendete 
fie. Die römische Baſilika ward das Modell der Gotteshäufer. Die Zerftörung der 
antiken Kunſtwerke unter Theodofius machte langjam aber ficher der Anerkennung und 
Erhaltung jener Werfe Raum. 

Denten wir nur an die, wenn auch Furze, Blüte der Kunft von Ravenna. Denn 
Theoderich, der Dftgotenkönig, verkündet, im Geift der alten Cäjaren bauen zu wollen. 
So entjtehen jene Bauten von Ravenna bis Neapel, jo fein fönigliches Maufoleum, 
ftreng antik, redenhaft bededt vom gewaltigen, aus Jitrien herbeigejchafften Steinblod, 
welcher, wie Ebe jagt, an die altnordiichen Male erinnert. Nationales ift in die An— 
tife eingefügt! 

Es war eine kurze Blüte. Die Griechen machten ihr mit der Eroberung Ravennas 
ein rajches Ende. Die byzantinische Form trat die Herrichaft an. Alſo die Weltflucht 
tritt die Herrichaft an. 

Dieje Askeje fchuf jene mumienartigen, entjeglich fteifen Figuren der Heiligen. Mit 
finjterem, richterlichem Antlig erjcheint auf dem Goldgrund der Apfis am Abſchluß bes 
düfteren Schiffes der Kirche der Erlöſer. Zu ihm führen die jchwerfälligen, ungeglie- 
derten Säulen, über denen finfter die Reihe der düſteren Bilder der Apojtel und de 
pheten droht. Alle Figuren gelb, hager, jelettartig. Der Menjchenleib mit dem Adel 
jetner Verhältnifje, das Antlig mit der Schönheit feiner Linien, ward von der Hand 
des Malers ebenjo mißhandelt, als von der Hand des fich geißelnden Mönchs oder 
auf der Folterbank in dunkler Steinfammer. Allerdings müſſen wir hier die 
re des eriten Material3, der Steinmalerei, der Mojaifen in Anjchlag 

ringen. 

Nom, ein Pantheon der Götter aller Völker, wurde ein Pantheon der Reliquien 
aller Heiligen. Angelſächſiſche Fürjtenjöhne eilten herbei, ihr blondes Haar ab- und 
das Mönchsgewand anzulegen. Ganz Rom ward ein Klofter. Aber Eijenfeiljpähne 
von den Fetten des heiligen Petrus, vom Roſt des heiligen Laurentius, Baumwolle, 
ins Del der Lampen getaucht, die an den Gräbern der Märtyrer brannten, das ging 
wiederum von hier in alle Welt. 

Der eherne Herkules im Tempel zu Agrigent war einft der Gott der Umgegend 
und die Küfje der Gläubigen hatten ihm Kinn und Wangen abgejchliffen. Jetzt lagen 
die Gläubigen vor den büfteren Bildern, wie vor der Bronzejtatue des heiligen Petrus 
im Atrium feiner Bafilifa, und jein Fuß ward ebenfo von den Küſſen des Volks und 
der Völker gejchliffen. Welch ein Umſchwung! 

„Nie jah die Geſchichte,“ jagt Gregorovius, „ein gleiches Schaufpiel der Abwen— 
dung des Menjchengejchlechtes von einer noch völlig ftehenden Kultur. — Die vier 


804 Die NRenaifjance. 


hundert Tempel ftanden leer. Rom verfaulte als Leiche an dem einen Teil jeines 
Lebens und verjüngte ſich zu gleicher Zeit im anderen wieder, ein Doppelwejen, einzig 
in der Gejchichte der Menjchheit.“ 

Die Herrichaft der Kirche im Abendland, ausgeprägt in der ihr eignenden Kunſt— 
form, war entjchieden. 

Nicht, als ob nun die Elemente Hellenifcher Kunjt von der Fläche verjchwunden 
wären. Das ijt niemals ganz gejchehen. 

In der Faijerlichen lat zu Aachen baute Abt Anfigis. Für die Kapelle Holte 
man Marmorplatten und Säulen aus Ravenna und antife Stüde aus Trier. 

Man hat neulich im Dom zu Magdeburg auf einer Bronzeplatte aus dem zehnten 
Sahrhundert den Dornauszieher gefunden, wie Springer berichtet. 

Rabanus Maurus redet die Mönche zu Fulda an: Supplex vos posco testans 
per sceptra tonantis. Alles das ift bezeichnend. 

König Ottos J. Nichte Hedwig, Tochter Derzog Heinrichs von Bayern, hatte von 
Griechen, die von Byzanz kamen, griechijch gelernt. Saß fie dann ala Witwe Herzog 
Burkards auf dem Hohentwiel, jo gab fie, wie man weiß, den Kenntnifjen nicht Ab» 
ſchied. Mit Mönch Effehard von St. Gallen las fie den Virgilius. Dagegen lehrte 
fie den jungen Burfard, den Kloſterſchüler, griechijch. 

Ihre Schiweiter Gerbirg, Aebtiffin zu Gandersheim, war jehr gelehrt und weile. 
Die noch gelehrtere Hrosmwith, die ihr in der Regierung des Kloſters folgte, war ihre 
Schülerin. Niemand fannte die Komödien des Terenz genauer. 

Alſo in der finfterften Zeit des Mittelalter — Renatfjance und Humanismus, wenn 
aud nur auf ber Oberfläche. Denn auch Aeneas und Alerander der Große, der das 
Paradies erjtreiten will, fie müfjen es fich gefallen Iafjen, in Sage und Lied doch 
wieder in die phantaftifche Anjchauung des Mittelalters überjegt zu werden. Dies zeigt 
am beiten das auf der Breslauer Rathausbibliothef von Opitz aufgefundene, von hier 
aus zugänglich gewordene Anno-Lied. 

Mit dem Beginn des zwölften Jahrhunderts finden wir die franzöfiichen Kleriker 
förmlich auf der Jagd nach dem griechiichen Olymp, den fie für ihre Werfe zu Citaten 
und Floskeln plündern. Die Griechen-Götter und Helden treten auf die Bühne. Jo— 
hann von Salisbury nimmt feine Beifpiele aus der Welt griechifcher und römifcher 
Helden weit lieber als aus der Schrift. Und wo wäre ein Annalift geweſen, der nicht 
jeine Klojter- oder Stadt-Chronif am liebjten wie Jornandes vom Paradieje oder 
von Troja begonnen hätte. Wie Widufind die Sachſen von den Mafedoniern ablei- 
tete, jo mußte man mit Griechen und Römern beginnen und mit Citaten aus ihren 
Dichtern fich jchmüden. 

Die Aebtijjin Herrad von Landsberg bildet fat eine Ausnahme, wenn fie in ihrem 
hortus deliciarum den alten Dichtern ſchwarze Vögel auf die Schultern malt, zum 
Zeichen, daß fie mit dem Gottjeibeiuns im Bunde ftanden. Aber die Anficht der 

errichenden Kirche Iprist fie aus. Ihre Herrichaft auf allen Gebieten, auch dem der 
unft, war unzweifelhaft. 

Die Ströme der Völkerwanderung hatten die alten Kulturländer bedeckt. Seßhaft 
geworden, brachten jugendfrifche Stämme überjprudelnde Kräfte und phantaftifche a” 
heit mit und nötigten nach verjchiedenen Seiten auch zum Fortjchritt. Auch baulich 
wird aus dem überliefert römifch-chriftlichen Baufyftem die romanische Kunst, die nun 
vom 10. bis ins 13. Jahrhundert das Bewußtjein des gebildeten Abendlandes wider- 
jpiegelt. Wir erhalten einen Begriff von ihr, wenn wir nur das prachtvolle Südportal 
der Breslauer Maria-Magdalenen-Firche in Augenjchein nehmen wollen. 

Und dann geht der romanische Stil in den gotischen über. Mit der Gotif aber tritt 
an die Stelle des Mafjenbaues der Gliederbau. Er bedeutet den Fortſchritt der In— 
dividualifierung innerhalb des Gefüges der europäifchen Menjchheit. 

Als diejer Bauftil, vom nordöftlichen Frankreich ausgehend, * Herrſchaft antrat, 


Die Renaifjance. 805 


war's allerdings, als ob, wie ein neuerer Kunſtforſcher jagt, das vor der Welt ver- 
fchlofjene, fie zu erobern gejammelte Geheimnis feine metallnen Pforten geöffnet und 
eine nun eroberte vielbewegte Welt in die weiten, farbigen, vielgegliederten, fühn und 
jelbjtbewußt auffteigenden Räume zur Feier und Anbetung hätte laden wollen. Statt 
der dunklen Krypten — lichtdurchfloſſene Gewölbe, ftatt der jchweren, ernjten Pfeiler — 
ſchlanke, gegliederte Säulen, alles lebendig, a 
Und damit tritt in der mittelalterlichen Welt noch eine neue Eigentümlichfeit der 
— Kunſt hervor. Sie iſt im Drang zum Jenſeits immer bereit, die natür— 
lichen Bildungen, Verbindungen und Maße gering zu achten, und geneigt, mit ihnen 
ſouverän ſowohl umzugehen, als ſich humoriſtiſch über ſie zu erheben. Daher das 
Phantaſtiſche in dieſer Ornamentik und die Welt wüſter Ungetüme; daher die Satyre 
in Tierprozeſſionen, wie am Breslauer Rathaus, und in ſprudelnder Fülle von Fratzen 
urwüchſiger Komik im Stein der Waſſerſpeier und im Eichenholz des Chorgeſtühls. 

In dieſen Bauten iſt in ihre Tiefe hinein alles in Einem durchgeführt, der eine 
Gedanke alles durchherrſchend. 

Aber freilich die Geſtalten der Menſchen, hager, eckicht, fleiſchlos und verzeichnet, 
ſpotten jeder Anatomie, verachten jeden Reiz von Linie und Rundung. Wir vergeſſen 
dieſe Verachtung oder Stiliſierung des Natürlichen gern, denn wir ſehen, wie * den 
Bildern von Fieſole, die rührende, innige, kindliche Frömmigkeit in beiligem Schimmer 
von oben her alles überftrahlt. Aber es it doch jo. Und dies iſt der Zauber diejer Kunft- 
richtung, vor welcher Dürer 1521 bewundernd ftand, al3 er fich zu Köln für zwei 
Weißpfennige ließ bie „Zafhel auffperren, die Meifter Steffan gemacht hat“, aljo das 
Mittelſtück des Dombildes, die Anbetung der Könige, betrachtete. 

Bliden wir nur um uns Betrachten wir nur dieſe Perlen edler Gotik, dieſen 
Marien-Altar des Auguftinerflofters, im Befit des ſchleſiſchen Muſeums, diefes Sa- 
frament3haus der St. Elifabethfirche und die Grabplatte Biſchof Iohanns IV., welche 
Peter Viſcher 1496 in Nürnberg für den Breslauer Dom vollendete, der in feinem 
Chorbau den deutjchen Stil in — frühſten Geſtalt uns zeigt. 

Betrachten wir auch nochmals das Breslauer Rathaus, eins der ſchönſten Deutſch— 
lands, nun von Baurat Lüdede funftfinnig hergeftellt. An diefem im vierzehnten Jahr- 
hundert begonnenen Bau, an der „verjchwenderifchen Pracht“ feiner Erfertürme, jehen 
wir jowohl, von welcher Majejtät, Innigfeit und Zierlichkeit diefer Stil ift, als wie er 
— ausartet und ſinkt. 
orerſt aber beherrſchte er das Abendland, wie die Macht der Kirche alles über— 
pannte. 

Da Hub die „Wiedergeburt“, die Renaiſſance, des antiken Sinns an. „Die Götter 
Griechenlands“ ftiegen, ein Evangelium des Diesſeits, wieder empor. 

Das Wort rinascito fommt zum erftenmal, wie Kugler meint, bei Vaſari vor, der 
damit die Kumftbewegung feit dem zwölften Jahrhundert bezeichnet. Diefe aber nahm 
den Geift des Altertums auf, um mit Hilfe besjelben dann den Geift der modernen 
Welt erjtehen zu Lafjen. 

Oberitalien hatte fich dem mittelalterlichen romanischen Stil angejchlofjen, Venedig 
und Unteritalien beharrten im byzantinischen. Da trat die italienische Reformation ein. 

„Die Renaiſſance“, jagt Gregorovius mit Recht, „war die Reformation der Italiener. 
Sie machte bie Biffenfchaft von dogmatiſchen Feſſeln frei." Sie gab den Menjchen 
„der Menjchheit und der ganzen Kultur zurüd“. 

Gehen wir näher ein. 

Das alte Byzanz war den Griechenfaijern entrifjen. Da flüchtete man vor den 
in Morea einfallenden Türken das Haupt des Apoſtels Andreas, Symbol, wie Grego- 
rovius Schön jagt, „vom Reiche Konitantins und Juſtinians, von der Kirche des Dri- 

enes und Photius*. Das Apojtelhaupt fommt vor Rom an. Feierlich wird'3 im 
riumphzug durch die Straßen der Stadt geführt. Feierlich rebet der Papft es an: 


Ag. konf. Monatsſchrift 1888, VIIL 52 


806 Die Renaifjance. 


„So fommft du endlich, allerheiligftes und duftendes Apoftelhaupt; zu deinem Bruder, 
dem Fürften der Apostel (Petrus) nimmt du als Verbannter deine Zuflucht.“ 

Gleichzeitig, e8 war im Frühling 1462, ftudierte bereits zu Florenz Cofimo Medici 
der Xeltere mit Argyropylos aufs eifrigfte die platonifche Philojophie. 

E3 ift, al3 hätte Manuel Chryjoloras, als er nach Florenz fam, den Zauberſtab 
erhoben, um das wifjenjchaftliche junge Italien in die Kreife griechifcher Bildung zu 
ziehen. 

Und doch war er nur Vorläufer. 

Wir ftehen noch in der Frührenaiffancee. Wollen wir den eigentümlichen Bauftil, 
den fie jchuf, in der Nähe betrachten, jo brauchen wir nur das alte jchlefiiche Piaften- 
Schloß in Brieg in Augenſchein zu nehmen. 

Aber wir treten jofort zu Dichtern und Künſtlern der Hochrenaiffance. 

PBetrarca war, wie Janitſchek in feiner „Sejellichaft der Renaifjance in Italien“ 
jagt, „der erite Humanift und zugleich der größte“, dem nichts Menfchliches fremd 
it. Darum feine Befämpfung der Scholaitif, des öden Magifterjtolzes, und feine Dar- 
ftellung des Reinmenjchlichen. 

Dante jtand auf der Scheide der fümpfenden Richtungen. — Betrarca aber ge- 
hörte rein dem neuen Leben an. So war jeine Krönung auf dem Kapitol ein Signal 
auch für das Studium des Griechifchen gewejen. 

Laurentius Valla aber gab in jeinen Pialogen das Programm, Aufgebot aller 
Kräfte für die Befreiung der Sinnlichkeit von den Feſſeln der möndifchen Moral. 
Und Antonio Beccadelli aus Palermo verfündete laut das Evangelium des Diesjeits 
und pries die höchſte Schönheit in der Menjchengeftalt. 

Um 1460 war baulicd) das Gotiſche in Italien noch nicht völlig ausgerottet, wenn 
auch Filarete rief: „Verflucht, der dieſe Pfufcherei erfand, ich glaube, nur Barbaren 
volf konnte jie nach Italien bringen!“ Aber jeit jenem Jahre etwa verjchwand der 
gotische Stil, wenn er auch den Mailänder Dom gejchaffen. 

Mit Beginn des 16. Jahrhunderts ſtehen wir auf der Höhe der Rejtauration der 
antiken Kunst in Italien. Bramante ftand neben Naffael und jandte Zeichner durchs 
Land, um das Studium der alten Baufunft zu beleben. 

„Sroßartiger aber als je ein chriftliches Feſt gefeiert worden,“ jagt der Schlefier 
Wolfgang Menzel, „feierte Papſt Julius II. die Auffindung der Statue des Laofoon. 
Und nun erhebt ſich das Pantheon, dies ijt das Bezeichnendite, oben auf St. Peter.“ 

Der neue Gejchmad ging raſch in die Weite. Die Haffischen Autoren und Formen 
wirkten verjchieden, je nach Veranlagung der Völker. „Der italienijche Geift ward,“ 
wie Nanfe jagt, von jenen Muftern „zur Nachbildung ihrer Formen angeregt, der 
deutjche durch das Studium der Spradhe auf die Urkunden des Glaubens und ihre 
Aneignung im Geifte zurüdgeführt; der franzöfifche jegte jich mit der Mannigfaltigkeit 
des Inhaltes der alten Autoren, namentlich des Gejchichtlichen, in unmittelbare Be— 
ziehung.“ 

In Frankreich Stellt die Entwidlung der neuen Kunft fih am Hofe dar. In 
Deutjchland bricht beim Mangel einender Mitte ein vielleicht deſto reicheres und eigen- 
artigeres künſtleriſches Schaffen aus taujend Quellen, und jucht Betten und Beden für 
Lauf und Sammlung. 

N ed immer finden wir die Wiederherjtellung des Altertums gleichzeitig in Schrift 
und Bild. 

Anregung wie Bücher famen aus Italien. 

Der Magijtrat von Augsburg faufte für taufend Goldgülden griechiiche Hand» 
joriften von Corfu, und zweitaufend Bände wanderten aus Venedig nad) Wittenberg. 

Heiter jtürmen die Humaniften voran. 

Die „Luft zu leben“, von welcher Hutten jchwärmt, zeigte fich unter den eriwachen- 
den Geistern deutlich genug. 


Die Renaiſſance. 807 


Die Sodalitas litteraria, jene gelehrte Gejellichaft Ingolftadts, war von Italien 
aus hierher verpflanzt und von Aventinus gegründet. Hier tönten, echt modern, nächtig 
die Lieder zu Ehren aller Götter Griechenlands. 

Aeneas Sylvius, jeit 1443 einer der faiferlichen Sefretäre, ließ zu Wien, wohin 
auch Burbach fam, bei heiteren Gelagen die Mufen leben, glühte für die Humaniftifchen 
Studien und jtürmte die finjtere Scholaftil. Mit Gregor von Heimburg in Nürnberg, 
einer Kulturmitte, aber fam, nach Sylvius’ Ausdrud, Latium vollends nach Deutfch- 
fand. Hemmerlein, der Stadtjchreiber, und der Propft zu St. Lorenz, Thomas Pirk- 
heimer, ſtanden nicht in der lehten Reihe der Nürnberger Humanijten. Sie traten 
freilich nicht wie Heimburg auf, welcher, nad) einer Audienz beim Papft, vor dem 
Vatikan troß feiner gejandtichaftlichen Würde in höchit jaloppem Aufzug auf und 
nieder ging, unaufhörlich auf die Praffenwirtfchaft fcheltend. So erzählt Hagen. 

Neben Nürnberg bildete Heidelberg eine Mitte für die klaſſiſchen Studien. Hier 
traf Agricola von Nürnberg ein. Hierher eilte Conrad Celtes, als er das Winzer: 
mefjer zur Seite geworfen hatte, um nun voll Eiferd für das Antike in Kreuz» und 
Uuerzügen litterarijche Bünde zu ftiften. Hier fehrte NReuchlin bei Vigilius ein, und 
die Freunde der Mujen liegen nächtig volle Becher erklingen. 

Der ehrwürdige, nur etwas janguinische Abt Trithemius hatte eine Bibliothek von 
zweitaufend Bänden zu Spanheim zufammengebradt. Jetzt machte er feine Abtei zur 
gejuchten —— der Humaniſten, welche Kloſtergarten und Kreuzgang unſicher 
machten. Seine Mönche freilich, von den klaſſiſchen Studien weniger begeiſtert, ant— 
worteten mit einer Revolution gegen en Abt, welcher aus feinem Mufeum, wo unter 
Sprüchen und Gedichten Celtes’ Bild ftand, und aus feinem Klofter flüchten mußte. 

Heiterfeit fehlte auch den Erfurtern nicht, zumal als der Kanonikus Mucianus in 
Gotha war. Eobanus Heſſus war König des Trinkreichs. 

So gärte, heiter und unbändig, der junge Moft. 

Und jo regte ſich's auch in den Künſten überall. 

Das deutjche Mittelalter faßte die Kunſt als Handwerk auf. In Italien waren 
Architekten und Maler bereit3 freie, geehrte Künftler. Hier war die rein äfthetijche 
Freude am Kunftichönen erwacht. Albrecht Dürer jchrieb aus Venedig: „O wie wird 
mich daheim nad) der Sunnen frieren; hie bin ich ein Herr, daheim ein Schmaroger.“ 
— In Deutſchland hatte er in dreißig Jahren nicht für fünfhundert Gulden Arbeit 
erhalten; die Herren in Venedig boten ihm zweihundert jährlich, wenn er dort 
bleiben wolle. Man blide in die zwei Bände von Morig Thauſing. An Pirkheimer 
jchrieb er, die Venediger Meifter lachten ihn aus, weil feine Kunſt nicht „antikiſch“ ſei. 
Nun, er lernte e3 früh genug und hat urfräftigen Geiftes von Nürnberg aus mehr 
al3 einer für die neue Kunft in Deutjchland geleiftet. Und daß er ftatt der archi— 
teftonischen Hintergründe die anheimelnde Landjchaft wählt — das ift das Zeichen 
zugleich des modernen Geiftes. 

Hans Holbein der Jüngere brach völlig mit der alten Kunſt. Und Vielheit und 
— ſeiner Architekturformen weiſen, ſo belehrt man uns, deutlich auf Ober— 
italien. 

Wollen wir den ————— Umſchwung deutlich ſehen, ſo iſt's an Peter Viſcher. 
Als er 1495 das Grabdenkmal des Erzbiſchofs Ernſt im Dom zu Magdeburg ſchuf, da war 
er noch Gotiker. Als er aber 1508 bis 1519 das Sebaldusgrab formte, da gab er 
das vollendetſte Werk der Frührenaiſſance. Eine Welt antiker, zierlichſter Geftalten er— 
ſcheint bekanntlich zwiſchen den gotiſchen Bogen und Säulen des Aufbaues. 

Aber auch dieſen Bogen und Säulen war der Untergang geſchworen. 

Dieſe aus ſchlanken Pfeilern aufgetürmten Gewölbe mit aufſteigenden Gurten 
und Rippen waren der neuen Kunſt bald verhaßt. Sie litt über den Stützen nur 
antikes Gebälk, und mochte nur ſtarke Horizontalflächen, wenn fie nicht zum Tonnen— 
gewölbe genötigt wurde. 

52* 


808 Die Renaiffance. 


Die Schilderung der Formen der Renaifjance jelbjt dürfen wir uns wohl erſpa— 
ren. Eie bliden auf jeder unferer älteren Straßen uns aıt. 

Nah Mar Biſchof in Dresden fand die Renaiffance „gerade in Sclejien am 
früheften Aufnahme“. 

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts tritt fie reichlich in Bauten und Bildnereien 
in Breslau auf. Der Reichtum der Stadt war groß. Hier trafen die Pelzhändler 
von Kiew und Nomwgorod ein, und italienischer Luxus ward hier dem Norden vermittelt. 
Der Verkehr mit Venedig und Florenz zog Künftler jeder Art herbei. Mauches der 
alten Batrizierhäufer der Stadt haben Italiener gejchaffen, denn feit 1540 traten weljche 
Künstler in Menge auf. 

In der gotischen Elifabethfirche aber bejitt Breslau ein vollendetes Werf der 
Nenaifjance, das Grabmal des Faiferlichen Rats Rybiih von 1534. Wenn Kugler jagt: 
„Außer Köln hat wohl feine Stadt in Deutjchland noch jet ſolche Zahl mittelalter- 
licher — und Kunſtwerke aufzuweiſen wie Breslau“ — ſo gehört jenes Kunſtwerk 
in erſter Reihe hierher. 

Aber unzählige Portale alter Bürgerhäuſer in zierlichſten Formen und unzählige 
Giebel, von oben herabgrüßend, zeichnen uns die Stadt, ſehen wir von ihren alten 
Kirchen ab, als eine Stadt der NRenaifjance. 

In Dels, wo, irre ich nicht, Johann Heſſus, ein Freund Pirkheimers, neben den Hu- 
manijten Saurus und Valentinus Cratoaldus wirkte, haben wir im herzoglichen Schloß 
ein prächtiges Stüd Renaiſſance, und ebenjo im Schloß zu Liegnik. 

Im Haffischen Altertum ift die Natur in ihrer Schönheit völlig gewürdigt. Da- 
rum jorgloß-heitrer Genuß des Diesjeitd. Im Mittelalter Verkennung der Natur, 
Abtötung des Fleiſches, düftere Weltanjchauung, einfeitige Flucht ins Jenſeits. Und 
nun war mit dem Mittelalter gebrochen, Humanismus und Reformation hatten eine 
neue Weltzeit eingeführt. Ein jtarfes Bürgertum trug die neuen Gedanken auf fräf- 
tiger Schulter. Das Diesſeits trat mit der Menge feiner Aufgaben nicht mehr als zu 
Fliehendes und Abzutötendes zurüd. Es trat zur Arbeit aufrufend, in jeiner ganzen 
Wirklichkeit derb hervor, fein Necht begehrend, Durchdringung fordernd. 

diefem Sinn nun bewegt fich die Kunſt auch ferner. 

Wir brauchen nur den Namen Michelangelo zu nennen, um damit fchon an eine 
Dewegung erinnert zu haben, die ganz Europa als die vielgeteilte, beſſer vielwechjelnde 
Kunftrichtung der Spätrenaiffance durchzieht. 

Aus ihr entwicelt fich der Baroditil. 

Das Barode ift das „Verjchobene*. Es ift die Kunft der gewaltſamen jeſuitiſchen 
Reaktion. Die Säulen biegen und winden fi), und wo Raum bleibt, dort vertiefen 
fie fich zu Nifchen. Im deren Mufchelform erjcheinen die Figuren dieſer weichlichen, 
augenverdrehenden, in efjtatiicher Haft gewundenen Heiligen, jeder Blick, jede Falte des 
Gewandes II N und üppig. Und auf dieje überladene Schwüljtigfeit bliden aus 
diden, runden Wolfen die ebenjo diden Engel in einer Ueberfülle herab. Das ift barod. 

Auf das Barode fünnen wir den Stil Ludwigs XIV. folgen laſſen. Es ift die 
Zeit der pathetifchen Allongeperüde. Aber auch die Zeit Manſards und Lebrung. 
Wie der König, jo wußten fie für Nepräjentation zu forgen. Man braucht nur Ver: 
jailles zu ſehn. Alles fteif pathetiich, wogegen in Klein-Trianon die zierlich galante 
Seite dieſes Stils, nach welchem jedes Stüd Hausrat wie zum zierlich gemefjenen 
Menuett anzutreten jcheint. 

Eigenartig aber hat ſich dann eine deutjche Klaſſik entwidelt. Denken wir bier 
an die Bauten von a in Dresden und Schlüter in Berlin. 

In dieſe deutjche Klaſſik greift aber dann das Rokoko. Den Namen leiten wir 
mit d. Zahn von roc (Felſen) ab. Denn hier ift alles imitiertes Feljen- und Grotten- 
werk zwijchen fächerförmig verjchnittenen Baumpartieen. 

Es folgt die Zeit Ludwigs XVI. Im Deutjchland nennen wir dieſe Kunftrichtung 


Die Renaifjance, 809 


Bopf. Es ift der Zopf, für welchen Breslau namhaft durch feinen Wolff beitrug, den 
der treffliche Senior Kaspar Neumann zu St. Elijabeth für die mathematif Fran 
> e3 zu wollen, anregte. Es iſt der Zopf, den Gottjched in die Dichtkunſt überjegte. 

ir denfen, wollen wir uns diejen Stil in Bauten gegenjtändlich machen, an die große 
„Komode*, an die fol. Bibliothek in Berlin. 

Doc alle diefe Spielarten und Ausläufer der Renaifjance bis in die vollendete 
Geſchmackswillkür unjerer Tage liegen ung nicht weiter am Herzen. Wir jchließen ab. 

Wir jchliegen ab, indem wir Rüdjchau halten, um zufammenzufafjen. 

Aljo zwei große Kulturwelten, zwei beherrichende Kunjtperioden überblidten wir, 
die hellenijche und die chriftliche. Wir fahen, wie die Feier des Diesſeits, die antife 
Welt, vom Gedanken der Weltverachtung unterworfen wurde, und wie die miederge- 
haltene Antike in ihrer Wiedergeburt fiegreich wieder emportritt. 

Diefe Bewegung innerhalb der Bildung der abendländifchen Welt wiederholt ſich 
ja für die Litteratur der Deutfchen, wie in jedem ruhig fich entwidelnden Schrifttum 
eines Kulturvolks. Wir hatten die Periode Gudrun und PBarzival als erfte Blüte, 
wir hatten die klaſſiſche Epoche, Schiller und Goethe, als zweite. Es bedurfte, jagt 
Vilmar, nun der Durchdringung beider in einer dritten. 

Es bedurfte ebenjo der Durchdringung von Klaffizität und Romantik, von Objef- 
tivität und Subjeftivrtät der Anſchauung in einer abjchliegenden Höhe der litterarijchen 
und fünftlerifchen Welt in Europa. Es bebürfte vieler Abjchlüffe Aber auf Erden 
ift eben fein Raum für fie. 

Die Antife war, wie gejagt, niemals wirklich lbertwunden. Sie war eben nur 
niedergehalten. Es ift ein Ringen zweier Weltanjchauungen, welches wir erbliden. 

Durch die ganze Folge der Zeiten des Chriftentums läuft im Abendland die natür- 
ie Religion, läuft das wildgewachſene Denken und Dichten, läuft das Heidentum 
neben der Kirche her. Das Chriftentum, eine Macht, die das Abendland bändigte, hat 
doch nicht vermocht, die dunklen Wafjer abzudämmen, welche aus der Naturtiefe der 
Bölfer quollen. Wie der Gegenjag zwijchen geiftlichem und natürlichem Leben im ein- 
zelnen Menfchen hier auf Erden nicht völlig überwunden wird, fo überwand die Kirche 
niemal3 völlig jenes natürliche Denken. Der Kampf bleibt in Hebung und Senkung 
ſich fortſetzend. 

Michel Angelo meißelte die Gruppe der heiligen Jungfrau, den im Tode entſchla— 
fenen Heiland auf den Knieen. Kurz vorher hatte er die Statue des trunkenen Bacchus 
vollendet! — Das iſt der Menſch! 

Und das iſt die Menſchheit. Sie hat in der Antike die Schönheit des erſcheinen— 
den natürlichen Lebens geprieſen und die Durchſündetheit der Sinnlichkeit nicht erkannt. 
Sie hat dann, aus der Höhe angerufen, das, was ſie eben noch anbetete, in wilder 
Askeſe unverſtanden von ſich geworfen. Aber dann hat die verſtändnislos zurückge— 
worfene wirkliche Welt ſich gerächt und iſt zu neuen Siegen in antiker Macht der 
Sinnlichkeit Formvollendung wiedergekehrt. 

So ſehen wir die abendländiſche Menſchheit zwiſchen Gegenſätzen hin- und herge— 
worfen. Von der Kultur der Welt wird ſie im Taumel der Weltherrlichkeit gefangen, 
von der Kultur der Kirche in einſeitiger Weltverachtung nach Oben gewieſen. 

Iſt eine Ausgleichung dieſer ee = nicht möglich? 

Offenbar ift dies der Fall, und die Verjöhnung des Widerfpruchs ift gerade die 
Aufgabe der Kirche. Nur konnte die mittelalterliche Kirche diefe Aufgabe weder ver- 
Stehen noch löfen. Denn gegenüber der Antife mit ihrer Feier der natürlichen Welt 
war fie in das sehe Ertrem gefallen, indem fie gebot, daß dieje natürliche 
Welt mit all ihrer Schöne das überhaupt zu Ertötende fei. 

Schleiermacher, dem unſere Stadt als ihrem Sohne ein Denkmal geſetzt hat, ſah die 
Zeit nahen, daß „Kunft und Religion, die zwei befreundeten Seelen, ihre innere Ver— 
wandtſchaft untereinander erfennen und die bisher verfchloffenen Lippen zu freund- 


810 Die Renaifjance. 


fichem Austaufch öffnen würden“. Dieje Zeit und dieje Möglichkeit find jeit dreihun— 
dert Jahren vorhanden, wenn die Wirklichkeit auch nicht in diefe Weltzeit fällt. 

Denn nur das Bewußtſein vermag jene Gegenjäge auch jegt ſchon annäherungs- 
weife zu überwinden, welches ftatt der Weltflucht die ernjte Arbeit der Weltdurchdrin- 

ung verjtand, welches den Apojtel wieder verjtand, welcher, wie wir jahen, einft zu 
hen angeficht8 der Säulen der Akropolis die am fich göttliche Art des Menjchen 
feierlich proflamierte. 

In diefem Verſtändnis liegt zugleich dasjenige, daß, wie der Leib des Menjchen 
Tempel des heiligen Geijtes, jo die ganze wirkliche Welt überall wertvoll an fich, daß 
fie, wenn auch jegt in Eitelkeit jeufzend, doch wiedergeboren werden, daß Geiſt jamt 
Leib bewahrt werben jolle, daß Geiſt und Leib einander zu vollendeter Schöne zu durch— 
dringen bejtimmt find. 

Man hat eingeworfen, daß gerade das evangelifche Bewußtjein, wie wir in den 
Ländern deutjcher Nation es erbliden, von Anbeginn am entjchiedenften mit der Welt 
der Sinne brach, indem im Leben des einzelnen die Ablöjung von ihr in Geftalt 
eines den Einklang des ganzen innern Menjchen brechenden Riſſes vor fich gehe. 

Wir antworten, daß gerade hierdurch der Geift der jinnlichen Welt gegenüber frei 
hingeftellt wird, frei, um nun, weil nicht mehr verjchlungen in das Naturallgemeine 
des heidnijch-naturhaften Bewußtſeins, wirklich perjönlich frei und darum fräftig und 
marfig die Arbeit der Weltdurchdringung zu beginnen. Und wir jehen Hinzu, daß das 
Schöne gerade der Ausgleich des Widerſpruchs ift. Und hier ift nicht nur der Wider- 
fpruch zwifchen Stoff und Gedanken gemeint. Alles Lebendige bejteht in thätiger Ab- 
wehr, im Feſthalten der Entwidelung mitten im Kampf. Und alles Schöne joll, wie 
Loge fagt, „die Wunde aufzeigen, die es heilt, und durch Ueberwindung einer innern 
Anlage zur Häplichkeit fich jelbit den Glanz der Erhabenheit geben, der der unbefan- 
genen fampflojen Schönheit nicht zuſteht.“ 

Dies nur nebenbei. 

Das Ziel der Kunft-Entwidelung geht aljo auf jene Durchdringung des Jenjeits 
mit dem Diesfeits, des chriftlichen Denfens mit dem, was an hellenischer Kunſt berech- 
tigt ift, der Nomantif mit der Antife. Oder jagen wir: Das Ziel der Entwidelung 
geht auf die Humanität, auf Erfafjung des Menjchlichen in feiner dem Widerjpruch der 
Sünde enthobenen Ganzheit und tiefjten Bedeutung. E3 geht auf volle Darftellung 
jener VBerfündigung des Apoftels, daß wir, wenn auch erlöjungsbebürftig, dennoch un— 
ferer Anlage nach göttlichen Gejchlechts find. Es jind Eonvergierende Linien. Sie 
jchneiden jich dort, wo die Leiber verflärt, weil vom geheiligten Geiſt durchdrungen 
jind; dort, wo demnach allein die eigentliche Kunſt erjcheinen, be als Natur erjcheinen 
wird. Die Kunft auf Erden ijt in ihren Schöpfungen: Weiffagung. 

Erbliden wir Raffael3 Arbeiten, jene Durchdringung heiliger Geiftigfeit mit irdi- 
cher Formenjchönheit, jo ftehen wir auf einer Höhe, die ung in ein Jenſeits jchauen 
läßt, und ein Angeld für Künftiges und Ewiges erjcheint. Und worin anders als in 
jener Durhdringung liegt die Schwärmerei eines Goethe für Naffael? Und worin 
liegt'3, daß wir num in feiner Iphigenie die Antife jo warm durchhaucht fehen, daß 
wir Hinter diefen Formen den höchiten Adel der Menjchheit, den des Chrijten, zu 
empfinden glauben! Und befigen wir nicht auch in Albrecht Dürer teilweis ſchon dieſe 
Durddringung, haben wir jie nicht in feinen vier Apojteln oder vier Tempera— 
menten: 

An den Darjtellungen des Erlöjers aber werden wir den beiten Maßſtab für das 
Kunjturteil bejigen. 

War der Heiland der Welt zu Anbeginn in jugendlicher Schöne dargeftellt, als 
der jchönjte unter den Menjchenfindern, wie in der Staifergruft zu Ravenna, jo ver: 
drängte die byzantiniihe Malerei, es verdrängte die mittelalterliche Kunft jede Spur 
der Schönheit der Linien und Formen aus feinem heiligen Angeficht. 


Die Renaifjance. 811 


Da hat die Renaiſſance uns unſer Recht gelehrt, zur Heiligkeit auch die Schön— 
heit, zum Geiſtigen auch das Leibliche zu fordern. Und nun konnte, auf ihr Eigenes 
ſich beſinnend, die kirchliche Kunſt den Völkern ihren Erlöſer und Herrn vor Augen 
malen, denn dies ift das legte Ziel ihrer Arbeit. Sie konnte ihren Herrn den Völ— 
fern der Erde entgegenhalten, erhaben, heilig, jchön und darin ihnen Empfindung und 
Maßſtab für eine Harmonie des Göttlichen und Menjchlichen, Geiſtigen und Leiblichen 
darreichen, auf welche von Anbeginn die Welt angelegt und für welche fie von dem: 
jenigen erlöjt ift, welcher, in — Arbeit, die Welt zur urſprünglichen Schönheit 
zuruͤckzuführen, als Meiſter aller Meiſter uns zuruft: Siehe, ich mache alles neu! 

Sein ijt das Reich und die Kraft und das Werk wie der Erlöjung, jo der 
Vollendung. 





Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Bon 


Martin von Nathuſius. 





I. Die junge Dichterin. 


Göttingen war in den fiebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in feiner vollen 
Blüte und — was bald darauf Weimar wurde — der geijtige Mittelpunkt Deutjchlands. 
Hallers Andenken, der, gleich groß als Gelehrter wie ald Dichter, die neue Epoche 
der deutjchen Poeſie anhob, war noch friſch; er war der erite Präſident der Göttinger 
Akademie gewejen, und obgleich er (1753) in feine Baterjtadt Bern zurüdgefehrt war, 
fo wirkte jein Geijt gleihjam in Göttingen noch fort. Dort hatte der hannöverſche 
Staatsminifter von Münchhaufen, „der jcharfblidende Prüfer der Geifter“, wie ihn 
Heyne nannte, mit Umficht und Energie die trefflichiten Männer aller Fächer ver- 
fammelt. Dort blühten, um Heyne, den großen Philologen, der über alle tagte, ge— 
chart, neben Gatterer noch Käftner, Lichtenberg, Schlößer, Blumenbach und 
andere — jeder in feinem Fach ein Rieſe. Dort jtifteten Süngere: Gotter aus 
Gotha, der früher in Göttingen jtudierte und jegt als Begleiter zweier junger Edel- 
leute dahin zurücdgefehrt war, und Boie aus Holjtein im Jahre 1770 den eriten 
deutihen Muſenalmanach, den Boie von 1771 an allein fortjegte. Um ihn ver- 
fammelten ich geiftvolle und ſtrebſame junge Männer, die von den verjchiedeniten 
Seiten nad) Göttingen zum Studieren famen, und jtifteten im Jahre 1772 den 
Hainbund, aus dem Voß, Miller, Hölty, die zwei Stolberge, und, in den fol- 

enden Jahren aufgenommen, Cramer, Leiſewitz u. a. über ganz Deutjchland ihre 
na befannt und geliebt gemacht haben. 

Der kräftige Geilt, der ın Leſſing und Klopftod fich in der deutſchen Poefie 
aufgemacht hatte, fand in diefem Bunde fein verbreitertes Fortleben, und Goethes 
Götz und Werther, die im Sahre 1773 erjchienen, gofjen neues Del in die Flamme 
der Begeijterung. 

Wenn nun Philippine mit diejen Beitrebungen auch in feinem näheren Zuſam— 
menhange jtand, jo mußte es doch jchon einigen Einfluß auf fie haben, daß fie an 
demjelben Orte mit ihnen war. Und daß fie von Poeſie ſtets und zwar aus der 
nächſten Umgebung reden hörte, mußte ihr eigenes Talent auf fie aufmerkſam machen. 
E3 gibt eine geiftige Atmojphäre, die man atmet, und deren Einflüffe deſto unbemerkter 
find, je alljeitiger und mächtiger fie auftreten. 

Gebildet hatte Philippine ihren Gejchmad an den älteren Dichtern, die noch 


Eine deutſche Dichterin por Hundert Jahren. 813 


vor der Mitte des Jahrhunderts blühten: Hagedorn, Gellert, Pfeffel, von dem 
fie fingt, als im Februar 1809 eine ihrer Töchter zu feiner goldenen Hochzeit reifte: 


D ich pilgerte gern, verhüllt in männliche Kleidung 
Weiten ſchmählichen Weg, auch bei dem Feſte zu fein. 

Weinend jchmiegt’ ih mid dann an das frömmſte der männlichen Herzen, 
Deiien reiner Erguß Wonne und Lehre mir war. 


Terner waren e8 Gehner, deffen fanfte Seelentöne und Hare Naturfchilderungen ihr 
ihn lieb machten, jo daß fie noch in ihrem Alter ihm jungen Herzen zu empfehlen 
pflegte — und Gleim, defjen idylliſche Empfindung und veritändig betrachtende 
Dichtweije ſich ihr tief eingeprägt zu haben jcheinen. Dazu gefellte ji) nun von dem 
höheren und eigentlich lyriſchen Echwung jener Jüngeren ein — 

Zwei Männer ſcheinen den erften perkönlichen Einfluß auf die Entwidelung ihrer 
Poefie geübt zu haben: Käftner, von dem wir gejehen, daß er von ihrer Kindheit 
an ihr väterliches Haus bejuchte, und Boie. 

Abraham Gotthelf Käjftner, der große Mathematiker und Philoſoph, war 
ugleich einer der gebildetjten „Schöngeifter”, wie man fie damals nannte, und vielleicht 
* witzigſte Menſch ſeiner Zeit. Unter ſeinen Auſpizien war auch der junge Muſen— 
almanach an das Licht gekommen. Geboren 1719 und als einziges Kind von ſeinem 
Vater, Profeſſor der Rechte zu Leipzig, allein erzogen, ohne je eine öffentliche Schule 
beſucht zu haben, hatte er alles ſpielend gelernt. So ſchrieb er alte und neue Sprachen 
geläufig, ohne die Grammatik zu kennen. So war er der große Mathematiker ohne 
das Einmaleins und das gewöhnliche Addieren ſo gelernt zu haben, daß er es ohne 
Mühe gekonnt hätte, — wie er ſelbſt geſtand, daß er das Siebenmalacht nie recht wiſſe, 
und um etwas Lateiniſches oder Griechiſches zu ſchreiben, allemal erſt die Grammatik 
flüchtig überleſen müſſe. Sein Vater hatte ihn nie zum Auswendiglernen, zu einer 
mechanischen Bejchäftigung des Verſtandes, jondern nur zum eigenen Nachdenken an— 
gehalten und hatte es vor allen Dingen verjtanden, ihm Luſt zu machen, — dieje große 
Kunft, von der aber bei diefem aufgewedten Sinaben der Aufwand nicht allzu groß 
gewejen zu fein braucht. Biel auch geftand er, aus Nätjeln, Spielereien, die man in 
jpäterer Zeit verdammen wollte, aus Wortjpielen, Neimchen und dergleichen Kinder— 
jpielen gelernt zu haben. Mit dreizehn Jahren war er Student gewejen, und wie 
jehr diefe originelle Erziehung feine innere Originalität hatte unbejchädigt laffen und 
ausbilden müffen, fann man ſich denken. Er war übrigend ein einfacher, bieberer 
Mann geworden, altes Schrot und Korn auch in den alten Formen liebend, flein und 
beweglich von Geftalt und mit einem jeltiam gebauten Kopfe und mächtig gewölbter 
Stirn. Seine Schriften zeichnen fich durch einen immer heiteren Blick über die Welt, 
und nicht nur durch Laune und Wit, jondern auch durch jenen Scharffinn aus, der, aus 
einer tieferen Anjchauung hervorgehend, dem leichten Wite erſt Gewicht und Nachdrud 
gibt und das Bekannte und Unbedeutende durch feinere und tiefer gejchöpfte Auffaflung 
neu und interefjant macht. Er hatte jelbjt in der älteren Weije gedichtet; am bekann— 
tejten und gelungenjten find jeine „Sinngedichte*, die feiner Natur am entjprechenditen 
waren. Mehr aber noch galt er durch jein litterarijches Urteil, obgleich er jelbjt von 
fich die „Keßerei” gejtand, „daß ich von den Bemühungen, die manche gar jehr weit 
treiben, die Schönheit der Dichter zu entwideln, nicht viel halte. Ich denfe, wer Ge- 
fügl hat, braucht das nicht, und wer feins hat, wird durch jolche Entwidelungen nur 
ein äjthetiicher Schwätzer“*) — ein Urteil, defjen entjegliche Bejtätigung durch die 
Behandlung der Litteratur in unjeren gegenwärtigen höheren Schulen GKnaben- und 
Töchterſchulen) Käftner nicht ahnen konnte. 

Wie viel der Verkehr diejes feinfühlenden und immer jchlagfertigen Mannes dazu 


*) Biographien jept Ichender Aerzte und Naturforfher. Herausgegeben von Baldinger. 1772. 


814 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 
hat beitragen fünnen, die geistige Beweglichkeit und den Gejchmad des jungen Mäd— 
chens zu üben, läßt ſich denfen, obgleich fich feine äußeren Thatjachen davon angeben 
lafjen. Wohl aber von dem anderen — Boie. Diejer gehörte zu denjenigen Men— 
fchen, die, ohne ſelbſt Bedeutendes zu leiſten (jeine Gedichte find ganz vergefjen), 
andere zu Leiftungen anzuregen berufen jcheinen. Es muß auch ſolche Leute geben, 
und man findet, daß Gottes vorjehende Weisheit zu allen Epochen, wo er große 
produktive Männer auftreten ließ, ihmen auch jolche an die Seite gab, deren Ber- 
dienste zwar minder in die Augen fallend, aber oft größer und im ganzen feltener find 
als das des produftiven Genies ſelbſt. Boie war es, der Voß nad) Göttingen 
u fommen bewog, jpäter die Stolberge in den jungen Bund einführte und auch auf 
Bürger einen großen moralijchen und fritiichen Einfluß zu deſſen Beitem ausübte. 
Doc wir wollen Philippine wieder ſelbſt reden hören. Cie jchreibt in Strieders 
heſſiſcher Gelehrtengejchichte (1783, Bd. VID: „Wie ich zur Dichtfunft fam? Das weiß 
ich felbjt nicht. So wenig auch meine Eltern Koften bei der Erziehung ihrer Kinder 
iparten, und fo viele Mühe fie ſich auch jelbjt mit uns gaben, — diejen Funken 


Genie zündete Mutter Natur an.“ 


dur Beit, als fi in mir Grillen empörten, 
ie oft, ſogar im Schlafe, mid) jtörten, 
Erit braujend im Gehirn mir gährten, 
Dann dur die Feder ſich Ausbrud gewährten: 
Da präjentierte der ehrlihe Danım 
Mir deutlich den heidniſchen Götterftamm, 
Und jebo, kraft jeiner Mythologie, 
Verwechſelt' ich Götter und Göttinnen nie. 
Auch ſammelt' ih — troß meinem flüchtigen Lauf — 
Mand) andres gelehrte8 Brojämlein auf. 
Nun jhrieb ih im Kämmerlein (oft im Stehn 
Am Fenjter) Liederhen, ungejchn. 
Sch Hielt mird für feine geringe Schande 
Das einzige Mädchen im ganzen Lande, 
(So dacht' ih damald aus Jrrtum) zu fein, 
Mit welhem Signor Apollo ſich hielte, 
Und das auf der Leyer der Mujen jpielte, 
Und fänge, bald Trauer, bald Tändelein, 
Bald idealiiche Liebe drein. 
Drum trug ich jedes beichrieb'ne Papier 
Als Heiligtum in der Taſche bei mir; 
dog mandes wohl mit dem Schnupftucdh hervor, 
eil ich die erſten fajt alle verlor. 
So jhleidht ein Käpchen (sans comparaison) 
Gar luftig mit feinen Jungen davon, 
Legt, fie zu verbergen, aus chrlidem Sinn, 
In glühendheige Aſche fie hin. 
ch jagte zu Eltern und Echweftern und Brüdern, 
Bu feinem ein Wörtden von meinen Liedern, 


Bis Boie einst hinter Geheimnis kam 

Und ji von einigen Abſchrift nahm. 

Als drauf ih die Dinger im Almanadı jab, 

Da ftand ich halb lachend, halb weinend eud da. 

Freund Boie gab aud) den Gevatterömann ab, 

Der mir den Namen Rojalia gab. 

Ich dachte lang in der Verkleidung zu gehn, 

Doh Fama, die in jeder Stadt 

Bar feine Augen und Ohren bat, 

Ging bald drauf herum, von Haus zu Haus, 

Und rief der Verfaſſerin Namen aus. 

Dept, dacht' ich, mußt du's wohl offenbaren, 

Sonjt möchten dir andre die Müh' eriparen. 

Nun fam ich mit einem Geburtstagslied 

(Dad man im erjten Bändchen ficht) 

Und mit gar vielen Gedichten heran — — 

Pop taujend! wie jah der Herr Vater mid an! 

Ein Heiner Verweis — doch janft, nicht voll Hohn, 

War meines zu langen Verſchweigens Lohn, 

Dann floh ich — jo hochrot als blühender Mohn. 
Zu der Zeit wollt’ er mir gütig erllären, 

Bas Daktylus und Spondeen wären, 

Und alles dad — — doch ih mu befennen, 

Kaum weiß ich nody die Namen zu nennen. 

O was fo fchwer ift, begreif ich nıe! 

Ich liebe nur Praxis, nit Theorie. 

& mach' ich mir Hauben und Kleider und Hut — 

Nie lernt! ih’8 nah Regeln — doch ſteh'n fie 

mir gut.*) 


Die Gedichte, die im Muſenalmanach von 1776 von diejer Nofalia ftanden, fan- 
den allgemeinen Beifall und, wie Bhilippine felbit erzählt, blieb auch ihr Name nicht 
lange verborgen. —* ſie aber ſchon bisher durch ihr munteres und geiſtreiches 


Weſen intereſſiert, 


o zog ſie nun noch mehr an durch den Nimbus, den es in den 


Augen der Leute gibt, daß von einem etwas gedruckt iſt, und das nun gar von einem 


Mädchen. 


Das erſte öffentliche Auftreten iſt für den Dichter entſcheidend. Nicht nur für 


*) Dieſe wahriheinlih urſprünglich für Strieders heſſ. Gelehrtengeſch. geſchriebenen Verſe ſind 
auch in die Einleitung zu dem Gedicht „Eine wahrſcheinliche Hiſtorie“ in der zweiten Sammlung aufs 


genommen. 


Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 815 
den äußeren Eindrud, den er bei dem Publikum hervorbringen wird, jondern auch für 
ihn jelbjt in feinem eigenen Innern. Es entjcheidet ſich da namentlich eins, ob feine 
poetijche Kraft ſtark und innig genug ift, um von der natürlich fich aufdrängenden 
Eitelkeit, für die Welt etwas zu jein, nicht überwunden zu werden, ob die legtere den 
Vorrang gewinnt — und dann ijt'8 jchon in der Knoſpe mit ihm aus — oder ob er, 
unbefümmert um die Welt, nach wie vor dem —— inneren Leben nachgehen kann. 
Freilich iſt die Grenze zwiſchen eigentlicher Eitelkeit und berechtigter Freude an der 
Freude, die man anderen macht, oder dem Gewinn, den man ihnen bringt, oft ſchwer 
zu ziehen. Daß Philippine der erſteren nicht verfallen und nicht eine eitle Dichterin 
geworden iſt, davon zeugt ihre köſtliche Naivetät, die fie bis in das Alter bewahrte. 
Die andere tritt oft lebhaft in ihren Aeußerungen hervor. So jagt fie ſelbſt von 
ihren Liedern in einem Gedicht an einen poetischen Kollegen, der fich brieflich ihr ge 
naht. (An Herrn Amtmann Weppe 1779.) 


„D viele viele Luft entipringt aus ihnen mir und hoher Lohn! 
Dent, wie mein Herz für Freude fpringt, wenn oft, mit ſüßem Bauberton 
Ein Kreis Gejpielinnen fie fingt — und eine zärtlid mid) umjdlingt. 
Ja, manche Frau gewann mid) lieb, jeit ich die Meinen Lieder jchrieb. 
Und mandıer Mann, jehr hochgelehrt, hält jegt mich eines Wörtchen® wert. 
Frech hüpft kein Stußer au mir bin, weil ich fein Püppchen für ihn bin. 
Doch mander Jüngling iſt mir gut, vol Wig, voll Geift und Edelmut. 
Mid) lieſt jogar der Handwerlsmann und gafft mich freundlich lächelnd an.“ 


Philippine befam früh von dem dauernden Gewinn eine Vorjtellung, der darin 
für den Schriftjteller liegt, daß er mit einem größeren Kreife von Menjchen in Be— 
rührung fommt, als ohne eine jolche Deffentlichkeit des eigenen Namens möglich) ift. 
Und indem der Dichter jein innerjtes Leben, und gerade das, was jonjt am jpätejten 
bei Bekanntſchaften hervortritt, offenbart, erhält er die mannigfachſten Rüdwirfungen 
und bereitet fich jelbit auf dieje Weije ein reicheres Leben. 

E3 mögen hier noch einige Proben aus der erjten Zeit, in der fie mit ihren 
Gedichten hervortrat, folgen. Zuerſt das oben bereit3 erwähnte „Am Geburtstage, 
1710”, 


Schon zwanzig Jahr, daß ich auf Erden walle? 
Sie jhwanden wie im Traum dahin! 

Eo ſchwinden fie, die frohen Jahre alle — 
Ah bald ift meine Jugend bin! 


O Emiger! id) fleh an diefem Tage 
Did an um deines Geiftes Kraft, 

Der uns beſchützt vor des Gewiſſens Klage 
Und Rollen und Vollbringen ſchafft. 


O rehn’ id; aus, wie manches Jahr verloren, 
Haft ganz bewuhtjeinslos als Kind, 

Und überhaupt wie viel, jeit ih geboren, 
Durch Spiel und Schlaf verloren find: 


Dann brauft mein Geift wie ftürmendes Gewäſſer 
Und will ſich ganz der Weisheit weihn. 

Dann treibt mich Weiberfleiß. Er ziemt uns befjer 
Als Putz und Liebeständelein. 


Dein Wort ijt befjer ala was Menſchen jchreiben 
Es jei mir lich zu aller Zeit. 

Da find Erempel, die zur Tugend treiben, 
Und Gegengift für Eitelkeit. 


Daß nicht durch Beifall ic) mid einft vergefie, 
Geheimer Hocdhmut mich bejeelt, 

Daß ih mich nur an ſolchen Menjchen meije, 
Die Tugend üben, die mir fehlt. 


Nach einer langen Reihe von Wünſchen an den Allgütigen, für ſich felbjt, die 
Shrigen und die Feinde, bedenkt fie, daß fie vielleicht nicht mehr lange leben werde 


und fährt dann fort: 


Doh kann mein Los auch jein, daß lang ich walle 
Auf diefer fummervollen Welt. 

Du Herr! du weißt's, zählſt unſre Tage alle — 
Mir geh’ es, wie es dir gefällt. 


Vielleicht auch ernt' ich einft die jchönften Freuden 
Als Gattin und ald Mutter ein. 

Dann fann ih — o dad Los ift zu beneiden! — 
Das Glüd von vielen Menſchen fein u. j. w. 


816 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


An das Klavier. 1776. 


Mit jtilem Kummer in der Bruft ſchleich ich mid jest zu bir, 
Bring Harmonie in mich und Luft, du Tiebliches Klavier. 


In deine Saiten fing ich's oft, beitürmt ein Leiden mid. 
Die Thräne rollt — und unverhofft genieh id) Ruh durch did). 


Du lispelſt meine Klage nad), voll Sympathie — und auf 
Verrätit du niemald was ich ſprach, nad) falſcher Freunde Braud. 


Bald fing ih zum Akkordenklang von deinem Saitenfpiel 
Dem Herrn der Erde Robgejang und warmes Danfgefüpl. 


Bald fing’ ich keuſche Liebe drein, die mir im Buſen glüht, 
Und — jo wie deine Saite rein — dor Gottes Augen blüht... . 


Dank jei dem Mann, der dich erfand, du jprechendes Klavier! 
Dir längft verſchwund'ne liebe Hand, wie feurig dank ich dir! 


An die Freude. 1776. 


Sch ſuche dich — doch ohne dich zu finden — Du Halfit mir tragen Leiden meines Lebens 
Bei Spiel und Tanz und heller Saiten Schall, Und würzteit lieblich jedes tleine Glück. 
Im kühlen Hain, auf bunten Wiejengründen, Doch du entflohft! — Ich ſuche dich vergebens 
Bei Mondenihein, am lauten BWajjerfall. Und meine Thräne bringt di nicht zurüd.... 
Sonft hüpfteft du mir ungefucht entgegen, D Freude fomm zum armen Mädchen mwieber, 
Auf — Pfad, mit Roſen ſchön beſtreut. Und fliehe nur den finſtern Menſchenfeind. 
Jetzt ſchleicht um mich auf krummen Dornenwegen Dann fingt fie wieder jubelvolle Lieder, 
m langen jhwarzen Kleid die Traurigkeit. Die Jr jegt auf dumpfe Saiten weint. 


Ih möchte den Leſer nicht durch weitere Mitteilungen diejer Poeſien ermübden. 
Das Vorftehende wird genügen, um einen Eindrud zu geben von der wirklich poetijchen 
Anlage, die in Philippinen lag, wie auch von der harmlofen Natürlichkeit, mit der 
fie produzierte, nicht minder aber von der Macht des Zeitgeiftes, dem fich auch diefe 
Sängerin der Zopfzeit noch nicht entzogen hatte. Die Gegenftände ihrer Gedichte 
find alle von gleicher Einfachheit; wie an das Klavier, jo wendet fie fich auch in 
poetijcher Rede an ihrem Fächer, reflektiert über den Nachmittagsjchlaf des lieben Vaters, 
teilt Heine Ereignifje vom Spaziergang mit und tröftet jich über ihre „nicht Griechen- 
land jondern Aethiopien verwandte“ Nafe. 

„Einen tieferen poetischen Schwung follte ihre Poefie aber durch das befommen, 
was ja die Vögel wie die Dichter immer zuerſt in den jchönften Afforden fingen 
macht, das ijt die Liebe.“ Eine Univerfitätsftadt wie Göttingen gibt den Mädchen die 
feichtejte Gelegenheit zum Umgang mit jungen Männern. In Gatterers Haus famen 
zwar nur ihm empfohlene junge Leute, oft von ferne ber, als Engländer und Rufen. 
Doc fand ſich manche Gelegenheit zum gejelligen Verkehr auch außer dem Haufe, und 
Philippine genoß darin die größte Freiheit. Ihrer äußeren Erfcheinung nach war fie 
feine auffallende Schönheit; aber jie hatte im ganzen Auftreten etwas findlich An- 
mutendes; man lobte ihren leichten und ſchönen Tanz, überhaupt das Gefällige ihrer 
Bewegungen, aber ihr Geficht wurde erſt beim Sprechen oder Lächeln hübſch. Das 
weiſt auf das vorherrichend geiftige Interefje hin, das jie bei allem befebte. Und dies 
wiederum half ihr dazu, um fich in dem nach unjeren heutigen Begriffen bejonders 
freien Umgang dennoch mit der größten Scidlichfeit zu bewegen. Dffen jah fie mit 
lebendigem Auge jedem ins Geficht, interejfierte jich für jede Anrede, ohne Rüdjicht 
auf die Perjon, die fie that, um des bloßen Gegenstandes willen, der ihr darin nahe 
trat, war ſofort mit ungeteilter Seele dabei und wuhte durch ein geiftreiches Ergreifen 
ihm jtetS neue Seiten abzugewinnen. Niemand hatte ihr gegenüber das Gefühl der 


Eine deutihe Dichterin vor hundert Jahren. 817 


Verlegenheit, weil fie aus allem, was gejagt oder gethan wurde, auch dem Unbedach— 
teften, etwas zu machen wuhte Man kann ſich denfen, wie dieſe lebendige, 
menschlich wohlwollende, über alles Leere, das font die Unterhaltungen füllt, hinweg: 
gehende Art, dazu beitrug, ihr die Herzen zu gewinnen. 

„Es verjteht fich von jelbit, daß ein folcher lebendig und geiftig unbefangener 
Umgang die toten Formen falfcher, lügenhafter und erfundener Schidlichkeit, die zu 
aller Zeit willfürlich in der Welt gegolten haben, nicht einhalten fonnte und fie im 
Gefühl feiner inneren Schidlichfeit öfters, ohne es zu ahnen, überjprang. Daher 
erfuhr auch Philippine manche Nachrede, aus der fie fich aber wenig machte; denn, wie 
Georg Forjter (1780) an Jacobi fchreibt: „Wer in Göttingen einen Profejior be 
jucht, der eine hHeiratsfähige Tochter hat, der muß gleich ein Auge auf die Tochter 
haben wollen, und die alten Weiber beiderlei Geſchlechts verfuppeln fie.“ 

„Schwieriger mochte e3 fein und mehr dazu gehören, einen folchen Umgang da— 
mals durchzuführen al3 heutzutage. Von den Franzoſen berüber war anfangs des 
Sahrhundert3 eine Frivolität herübergeweht auch nad) Deutichland, und wenn jie 
auch nicht überall jo tiefe Wurzel gejchlagen hatte wie im Berlin und einzelnen an- 
bern großen Städten, jo war doc wenigſtens ein Anflug davon in den gejelligen Ton 
überhaupt übergegangen, oder hatte fich in ein zweites, faſt noch mehr zu verabjcheuen- 
des Ungetüm, deutichem Sinn mehr zujagend, verkleidet: in die Sentimentalität. Das 
war Wielands Blütezeit geweien. Nun mußte, um die Dreizahl voll zu machen, auch) 
noch die Prüderie hinzutreten, die ſich aufwarf, deutjche Sittlichleit gegen jene Fri— 
volität zu beſchützen, bis denn am Ende eine fich wieder kräftigende Empfindung alle 
drei zugleich aus dem Tempel warf, wenigjtens fo weit wie fie jegt heraus find, denn 
ganz haben wir die Abwejenheit diejer drei Ungrazien noch immer nicht zu beklagen. 
Ein Großes zu diejer Erfräftigung und Reinigung der Empfindung aber hat unver- 
fennbar die Poeſie beigetragen.” (Ph. N. 1840.) 

Philippine verfügte nun im Umgang über eine Waffe, die es ihr erleichterte, dem 
leicht entzimdeten flüchtigeren oder tieferen Intereſſe das Gegengewicht zu halten: das 
war ihr Wit, um deswillen Voß von ihr fagte: Philippine ift ſüß wie eine Biene, 
die das Schönfte aus allen Blumen jammelt, aber fie fticht auch wie eine Wespe. 
Sie lie jentimentale Stimmungen ihr gegenüber nicht auffommen und verjtand es 
auch, durch ihre ganze Haltung gemeine Naturen von jich fern zu halten. Zu hindern 
war e3 troß alledem nicht, daß die Gefühle derjenigen Liebe, in die die Freundichaft 
unter jungen Leuten jo leicht überfippt, für jie erwedt wurden. Als ein Zeichen 
jener Zeit kann ich es mir nicht verfagen, aus den Gejtändniffen in Proja und Poeſie, 
die fie erhielt, hier eins mitzuteilen. Es lautet: 

„Hüten Sie ſich, daß niemand durch die Verfe, die ich in den Kalender einge- 
Ichrieben, meine Gefinnungen erfahre. Sie allein jollen’s wifjen, daß ich unglüdlich 
bin. Gott bewahre Sie. 


Dir jei dad Glüd jo Hold als es dem, den du liebit, 
Eich einft beweifen wird, wenn du dein Herz ihm gibt. 


Leben Sie unendlich glücklich; dies ift der Wunfch, den Ihnen noch von jenjeit bes 
Grabes zurufen wird der Schatten Ihres 
Sie ewig, ewig verehrenden 
Gejchrieben in den erjten Stunden des 1776ten Jahres.“ — — 


Doc wenn Philippinen ftrenge Gefinnung eine Grenze gezogen hatte, jo wußte 
ihr leichter Scherz wieder anzufnüpfen und heilend da zu vertujchen, wo fie erſt Hatte 
verwunden müfjen, und mit ungezwungenem Wohlwollen führte fie die fich außer des 
Weges verirrende Zuneigung in die richtigen Bahnen zurüd. Mehrere jolcher Freund— 
ichaftsverhältniffe haben noch nach ihrer DVerheiratung al3 die reinjte gegenjeitige 


818 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Achtung fortgedauert. Noch an den Kindern der Jugendfreunde nahm fie Interejje, 
ſuchte fie auf und freute fich ihres Wohlergehen?. 

Ein folches Freundfchaftsverhältnis bejtand u. a. mit einem jungen Gelehrten, 
dem nachmaligen Altdorfer Profefjor Siebenfees. Es Hatte fi) aus litterarifchen 
Intereſſen entjponnen, und ich will hier einige Notizen aus feinen Briefen von einer 
Neife mitteilen, die dazu beitragen mögen, in die damalige Zeit (1776) umd ihre 
geistigen Bewegungen zu verjegen. 

Von Braunfchweig jchreibt er: „Von den Bibliothefen, Archiven, Gemälden, 
Galerien, Naturalien- und Kunſt-Kabinetten, welche ich bisher gejehen, fann ich Ihnen 
Weniges jagen, was Sie erbauen würde. Leſſing in Wolfenbüttel, welchen Jeruſalem 
den zweiten Teil der Wolfenbütteler Bibliothek nennt, ließ ſich von uns nicht |prechen, 
fondern jchüßte eine Reife nach Braunfchweig vor. Serufalem ift von Perſon ebenjo 
liebenswürdig als in feinen Schriften. Bon feinem unglüdlichen Sohn*) hat Leſſing 
vor furzem philoſophiſche Auffäge herausgegeben, welche zeigen, was man von ihm in 
een erwarten fonnte. Die Aufſätze ſelbſt würden Sie nicht jehr erbauen, aber 

eſſings Vorrede wünsche ich, daß Sie lejen. — Ebert ijt in feinem Umgang freund- 
licher als der Schriftiteller, den er jo meijterhaft überjegt hat, Young. — Zadariä 
ift von Perſon jo anjehnlich al3 etwa Böhme in Göttingen. Sein Anblid war uns 
anfangs jehr auffallend. Seine Geſpräche find ſehr zur Satire geneigt. Von Göt- 
tingen und den wenigen Plaifiers daſelbſt urteilte er ganz feinem weichlichen Charafter 
gemäß. — Deding, ein Maler, der jchon deswegen merkwürdig ift, weil er in den 
achtzig Jahren feines Lebens feine Krankheit ausgeftanden. Seine Frau war eine 
Nürnbergerin und er jelbjt lebte einige Zeit in Nürnberg, wovon er nod) viel Gutes 
rühmt. Er war vom Herzog der Kunſt wegen dahin gejchictt worden. Er verliebte 
fi) aber in feine nachmalige Frau und vergaß den Herzog. Erjt vor einigen Monaten 
befam er das Podagra, welches nach der Verficherung der Aerzte fein Leben um zwanzig 
Jahre verlängern wird. Er iſt noch jehr munter und erwartet den Tod mit aller 
Freudigkeit eines Chrijten. Die Bekanntſchaft dieſes Mannes, Jeruſalems und Schmids 
wird mir vielen moralischen Nuten bringen. — Der lebte, Conrad Arnold Schmid, 
lehrt am Garolinum die Theologie. Er war noch jehr betrübt über den Tod feines 
Sohnes, der in Göttingen jtudiert hat und vor einigen Wochen geftorben ift. Aus einigen 
Neden merkten wir, daß der unglüdliche Jerufalem in eine feiner Töchter verliebt war.” 

Aus Hannover, den 12. Mai: „... Der lebte, den ich noch fennen lernte (in B.), 
war Profefior Ejchenburg, welcher eben jet den Shafejpeare überjegt. Es iſt ein 
junger, hübjcher Dann, kurz, er jieht ungefähr aus wie ich, aber nur im Profil. (Dieje 
Vergleihung rührt von Prof. T. her.) Seine Farbe ift befjer als die meine, aber 
doc) jehr ungefund. Er fränfelt beſtändig. — Wir ſahen den leiten Nachmittag noch 
das Logenhaus der Freimaurer. Sie geniehen hier den größten Schuß. Der Herzog 
jelbjt und Prinz Ferdinand find im Orden; an diefem Tage war ordentliche Loge, 
welche auch der Held Ferdinand bejuchte. F einen Reiſenden iſt es ſehr vorteilhaft, 
Maurer zu fein..... Sp weit war ich diefen Morgen gefommen, ehe ich in die Kirche 
ging, um Schlegeln predigen zu hören. Diejer Mann wird Ihnen als einer der beten 
geiftlichen Redner befannt fein. Er läßt ſich auch wirklich eben jo gut hören als 
lefen. Er predigte von der Allwifjenheit Chrifti jehr eifrig und erbaulih...... Nach 
dem Gottesdienſt ſuchte ich Boien auf. Ich traf bei ihm einen holländiſchen Kauf— 
mann an, welcher der deutſchen Litteratur zu Gefallen eine Reiſe macht. Während 
daß ich da war, kam Herr Sekretär Käſtner und ein Offizier von Oſten. Es wurde 
von einigen neuen Schriften, die Herrn B. eben geſchickt worden waren, geſprochen, 





*) Er hatte ſich 1772 aus unglücklicher Liebe in Wetzlar erſchoſſen, was Goethe, der gleichzeitig 
in Wetzlar war, das Vorbild zu Werthers gleichem Ende geboten hat. Der Vater Jeruſalem war 
braunjchweigiiher Hofprediger (F 1789) und bat viele, oft aufgelegte Predigten herausgegeben, auch 
„Beratungen über die vornehmiten Wahrheiten der Religion“ u. ſ. w. 


Eine deutiche Dichterin vor Hundert Jahren. 819 


3. €. von dem Julius von Tarrent, welcher mit Klingers Zwillingen in Hamburg 
um den Preis gejtritten hat. Das Drama: Die Freunde machen den Philojophen, it 
von Lenk, nicht von Goethen. Ich blieb bei dem lieben Boien, auch nachdem die 
übrigen weggegangen waren und er ſich erit frijieren ließ, bi8 um 1 Uhr. Denn 
man jpeift in Hannover erſt um 2 Uhr. Herr B. war in das Nechbergijche Haus 
invitiert, jonft würde er in unjerem Wirtshaus gegefjen haben. Wir logieren in der 
neuen Schenfe auf der Neuſtadt ....“ 

Hamburg, d. 7. Juni: „... Das güldene Kalb Hamburgs, nämlich Paſtor Gößen, 
habe ich vorige Woche fennen lernen und ihn ganz der Bejchreibung ähnlich gefunden, 
welche der verjtorbene Dreyer von ihm gemacht hat: 


Dort fteht er, feine fette Wange 
Färbt feine Scham mehr rot....* 


Aus Berlin jchreibt er über Mendeljohn: „Me. haben wir vorigen Sonnabend 
bejucht. Eine grotesfe Figur! Etwa jo wie Käftner, Hein und hager und wenn er fitt, 
wie ein Tafchenmefjer zufammengebogen. Er jpricht befjer deutjch als alle Juden, die ich 
noch habe kennen lernen. Unſer Diskurs war zu gelehrt, al3 daß ich Ihnen davon jchreiben 
fünnte. — Wir haben eine jehr angenehme Wohnung unter den Linden. Dies ijt eine 
Allee auf der Neustadt, welche in 6fachen Strichen etwa 1200 Schritte fortgeht. Alle 
Abends und bejonders am Sonntage gehen hier viele 100 Menfchen fpazieren ... 
Wenn Sie einjtend noch ſatiriſche Schriftitellerin werden wollen, jo müßten Sie 
vorher noch einige große Städte jehen z. E. Hamburg, Berlin. Alsdann würde es 
Ihnen gewiß glücden.“ 

Diefer Satz ſchließt fih an die Beſchreibung eines Konzertes und der dort 
beobachteten Damen. Berjchiedene höchſt charakterijtiiche Züge für die damalige Zeit 
übergehe ih. Site würden einen Höchit verwunderlichen Eindrud geben von der Frei— 
heit des Ausdruckes, die auch unter den Gebildeten in einem derartigen Briefwechſel 
damals möglich war. Aus Hamburg erzählt er eine Skandal» und Liebesgejchichte, 
welche das oben von der Sentimentalität Gejagte zu bejtätigen geeignet wäre, und 
die — es war die Zeit von Wertherd Leiden — mit dem Piſtolenſchuß endigt. Aus 
Berlin bringt er Nachrichten aus dem Hof- und Gafthofsleben, welche die dort herr— 
jchende Frivolität, bejonder® auch) von dem damaligen Kronprinzen, dem jpäteren 
Friedrich Wilhelm II. vertreten, in das grellfte Licht — 

Aus dem litterariſchen und freundſchaftlichen Verkehr mit dieſem jungen Gelehrten 
entſpann ſich nun ſeinerſeits Liebe, und er wagte es, ihr immer deutlichere Erklärungen 
zu machen. Von Hamburg aus ſchickt er ihr ein Paar Handſchuhe und ſchreibt: 
„Das beiliegende Geſchenk kann niemand anders gehören als Ihnen, beſte Philippine. 
Wenn Sie deſſen Bedeutung nicht erraten können und doch dieſelbe wiſſen möchten, 
jo können Sie insgeheim Herrn Kulenkamp darum fragen. Können Sie ſich aber nicht 
überwinden, Diejelben zu tragen, jo muß ich es mir auch gefallen laſſen. Nur ent— 
ziehen Sie mir wegen meiner guten Meinung nicht Ihre Freundichaft gänzlih. Sonſt 
würden Sie machen, daß ich mein Verfahren jehr bereuen müßte. Ihre nächjte Ant- 
wort joll dies entjcheiden, welche ich aber freilich erft in Berlin befommen werde. 
Alsdann werde ich mich freuen oder — doch weg mit den Grillen!“ — Philippine 
antwortete, fie würde fie aufheben bis auf den glüdlichiten Tag feines Lebens und jie 
dann feiner Braut überjchiden. 

Philippine ſelbſt bewahrte die Leichte Beweglichkeit ihres Geiftes lange Zeit vor 
den tieferen Eindrüden der Liebe. Sie konnte noch ganz unbefangen, umringt von 
allen Freunden und Anbetern, ein Gedicht machen, das ihr von der Welt als höchſt 
unjchidlich ausgelegt wurde, weil ein Mädchen nicht an ihren künftigen Mann denen 
dürfe, das aber von der Naivetät, womit fie ſich felbft Feine ihrer Empfindungen und 
Gedanken verbarg, ein deutliches Zeugnis ablegt. Es heißt: 


’ 


820 Eine deutſche Dichterin vor Hundert Jahren. 


Der künftige Gemahl. 


Wer ift der Mann, der einst durch® Leben mic leiten ſoll? 
O möcht’ er doch jeht freundlich vor mir ſchweben und liebevoll. 


jt'8 einer, der ſich ſchon vol fanfter Triebe zu mir genaht 
Und der mit Worten treugefinnter Liebe mein Herz erbat? 


Lebt er vielleicht, no nicht von mir gejehen, in fernem Land? 
Sah ich vielleicht ihn jchon ———— mir unbekannt? 


Wer kann mir dieſe Frage wohl verübeln? Doch ſchweig ich hier. 
Du lieber Gott bringſt, ohne mein Ergrübeln, den Mann zu mir. 


Was Zufall ſcheint, macht, wer die Welt regieret, uns offenbar; 
Und deiner Hand trau ich auch Hier, fie führet mich zum Altar. 


Wie will ich den, der dort mir Liebe ſchwöret, mit Lieb erfreun! 
Und wie, wenn er mit fanftem Ernſt mid lehret, jo folgfam fein! 


Wie will ih dann, will Trauern ihn umzichen, dur Freundlichkeit, 
Und Thränen, oder Scherze, mid) bemühen: bis ich's zeritreut! 

Du arme Leier, wirjt im Staube hängen, jet Zeitvertreib: 

Denn manderlei Gejchäfte wird fi) drängen zum jungen Weib. 
Doch löſcht dein Angedenken, gute Leier, nie ganz ſich aus; 

Ih rühre dich bei jeder frohen Feier in meinem Haus. 


oft ſtimm' ich auch die hellen Saiten wieder für Freundesohr; 
Und finge meinen Kindern Heine Lieder von Tugend vor. 


‚. Hier muß nun aber ein Verhältnis erwähnt werden, das vielleicht ſchon damals 
tief im Hintergrunde ihres —— lag, und zu der Sprödigkeit, mit der ſie die einen 
zurückhielt, und zu der Unbefangenheit, in der ſie mit den anderen umging, beigetragen 
haben mag. Ein ruſſiſcher Fürſt Meſchersky aus Gruſien ſtudierte in Göttingen 
und war in dem Gattererſchen Haufe bekannt. Er war ein ſchöner ſtattlicher Mann, 
dem nicht nur der fürftliche Name Anſehen in den Augen der Betrachtenden gab, jon- 
dern in defjen ganzem Weſen, Haltung und Benehmen jich der Edelmann zu erfennen 
gab. Dabei war er ein einfaches, findliches Gemüt, das im Gegenjaß zu dem Weſen 
der großen Welt, durch das er umgetrieben war, im Gattererjchen Yamilienhaufe fich 
dejto heimijcher fühlte. Er durfte ohne Zwang und ängftlihe Beobachtung mit den 
beiden älteften Töchtern umgehen. Sie jahen oft im Garten zufammen und die Un- 
beholfenheit, mit der er das Deutjche faum eben zu jprechen anfing, das gegenfeitige 
Lehren und Lernen erhöhte den Reiz des Beifammenjeind. An dieje Spradhübungen 
fnüpfte die erjte Neigung an — und fie nahm fchneller zu als die Sprache. Doch 


Bald kommt, ach bald! der Lenz zurüd, 
Der und — auf ewig? — ſcheiden foll? 


Der Frühling 1778 fam, der ihn nach Haufe zurüdrief. Und es folgte nun für 
Philippine auf die jonnigen Höhen des Glüdes ein ebenjo düjteres Thal — ein 
Wechſel, der freilich ihrer Poeſie zu einer erheblichen Vertiefung und zu einem höheren 
Schwunge verhalf. 

Der Freund fchrieb noch mehrere Male, zulegt am 5. Juli 1778 von Mosfau. 
Er hatte von jeiner Kaiferin die Rücklehr nach Deutichland nicht erwirfen können; der 
Zürfenfrieg ift ausgebrochen und er ift Offizier. Das war das lebte, was die Göt- 
finger Freunde von ihm hörten, doch ift fein Name viel jpäter noch mannigfach mit 
Auszeihnung in den öffentlichen Blättern genannt. Ber Philippine aber blieb die 
wunde Stelle noch lange jchmerzlich nad. Für ihre Poefie, zu der fie nun lebhafter 
als je zurüdfehrte, hatte fie an ihrer Lage reichen Gegenjtand. Sie fing an, einen 


Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 821 


Noman in Briefen zu jchreiben, in den fie einzelne Gedichte zu verflechten und einzu- 
fleiden gedachte. 

Soweit war fie gefommen, al3 fie Bürger, der inzwiſchen — wie nachher erzählt 
werden wird? — cinen entjcheidenden EinHuf auf ihr Dichten befommen hatte, 
diejen Erjtlingsverjuch zeigte. Bürger fagte: „Wer jo leicht und fließend Verſe macht 
wie Sie, der jollte nicht anders als in Verjen jchreiben.“ So lieh fie das Werkchen 
abgebrochen liegen und gab ihm eine neue Geftalt in einer Reihe zufjammenhängender 
Gedichte. Das Beijpiel, das ihr offenbar dabei vorgejchwebt hatte, find Gödings 
furz vorher erjchienene „Lieder zweier Liebenden“. Wären die ihrigen Damals 
erjchienen, jo hätten fie gewiß Aufjehen erregt. Welche Zeit wäre wohl einem folchen 
Gegenſtande günjtiger gewejen als die damalige? Doch die „Lieder der Liebe*, wie 
fie fie nannte, blieben ungedrudt und fanden ich erft nad) ihrem Tode in ihrem Nach— 
laß in einem zierlich gefchriebenen Manuffript, mit einem blauen Bändchen umbunden, 
vor. Es war wohl zu viel Wahrheit darin aus ihrem eigenen Leben und Empfinden, 
als daß fie fich hätte entjchliegen fünnen, fie der profanen Welt zu überliefern. 

Vor mir liegen noc beide Werfe, die von Bürger verworfenen Briefe in 
Proja und die daraus entitandenen Lieder der Liebe, die zwijchen Adolar und 
Adeline geteilt find. Wenn ich in diefen Blättern in erjter Linie ein biographijches 
Denkmal zu jegen hätte, jo müßten jegt Mitteilungen aus jenen ungedrudten Werfen 
hier folgen. Doch es jcheint mir, da wir dasjenige, was zur richtigen Vorſtellung 
von der Gejchmadsrichtung und dem Kulturzuftande jener Zeit nötig ıft, in genügen- 
der Weije aus dem jchöpfen fünnen, was fie felbit an das Licht gebracht hat. Bon 
jolhen Männern freilich, die einen erheblichen Einfluß auf ihre Zeit gehabt haben, 
hört man auch jpäter gern nod Mitteilungen aus ihrem ungedrudten Nachlafje; des— 
halb werde ich weiter unten eine Reihe von Briefen Bürgerd und anderer veröffent- 
lihen. Allein Philippine als Menſch und als Dichterin, als Kind ihrer Zeit, jteht 
in ihren gedrudten Werfen jo lebendig vor uns, daß es eines Zurüdgehens auf die 
von ihr ſelbſt zurückgelegten Geheimnifje ihrer dichtenden Seele nicht bedarf. Ich teile 
ftatt dejjen einige ihrer Gedichte mit, die aus der Zeit des erjten Liebesjchmerzes 
ftammen und in ihrer erjten Sammlung Aufnahme gefunden haben. Zunächſt den 
Anfang eines Liedes mit der Ueberſchrift: „Der Abendipaziergang“. 


Wenn ich fonft zur Zeit der Abendröte Neben mir raufct, — wie Kriſtallen, 
Surtig durd) die grünen Wiejen ftrich, Ein von Weiden jhön umfränzter Bad). 

Bar ih fröhlid; nad und nad erhöhte _ An ihm feh ich Aehrenfelder wallen; 

Mein Gefühl zu ftiller Andacht ſich. Und nicht fern Hör’ ich der Wachtel Schlag.... 
Jetzo ſchleich' ich Tangjam und mit matten, Doch wer malt die taufendfachen Reize 
Kranken Schritten durch die Blumenflur. Diefer langgedehnten Landſchaft ganz! 

Kalt und unempfindlich wie mein Schatten Sonft verlange ih fie mit edlem Geige, 

Wall’ id) durch die lachende Natur. Und bejang in Liedern ihren Glanz. 


Aber jept, da meine matten Glieder 
Kränklichkeit, und Bram die Seele quält, 
Greif ich felten nad) der Leier wieder, 

Die ich jonft durch meine Hand bejeelt.... 


Die Nacht. 


O dul — milllommen jedem Müden, doc taujendmal willlommner mir! 
Du ſchenkſt mir immer kurzen Frieden, auf neu Mag ich mein Leiden bir. 


An diefem jetzt verflofjfnen Tage war wieder manches mir zur Bein. 
Bald jah ih Spott — bald hört’ ich Klage — und jelten nur war id allein.... 


Jetzt Hör’ ich nichts mehr um mich fallen, fühl iſt's um mid — ftill wie im Grab. 
Die frohe Hülle darf num fallen, die vor der Welt die Stirn umgab. 
Aug. kon. Monatsſchrift 1888. VIII. 53 


822- Eine deutihe Dichterin vor hundert Jahren. 
Im Schuß der Naht macht jeder Kummer durd Thränen unbemerkt fih Raum, 
Und jentt fih dann auf uns der Schlummer, fo find wir glüdlier im Traum.... 


Erhebe hoffnungsvolles Flehen zu dem, der alles —— lenkt. 
Er hat dich wieder weinen ſehen, und kennet alles, was dich kränkt. 


Wie tröftet dies! Auch ich geniche ja Freuden — Schwermut, lab mir Ruh! 
Und jept, du Todesbruder, jchließe die mattgeweinten Augen zu. 


Aus einem jehr eigentümfichen Gedicht „An Wilhelmine“, das verjchiedene geftörte 
Freuden jchildert, gebe ich noch den Schluß: 


In dem mächtigen Lenz, wo bie Erde erwacht, Keinen wunderte je ſolche Verwandelung — 
Schwingt fich jauchzend die Lerch’ empor. ‚Und du, Liebe, wunberft dich doch, 


Und ihr wechſelndes Lied flötet die Nachtigall Daß, da Hummer und Sram meine Seele erfüllt, 
Im vollblühenden Schlehenſtrauch. ir fein fröhliches Lied gelingt? 

Doch wenn braufenderNiord fahle Wälder durchpfeift,- Ad es wandelt ſich ie ber jonft frohe Gejang 
Reif und Schnee die Fluren bebedt, Ganz in traurigen Klageton! 

Ach N flieht auch zugleich mitdem Schmud der Natur Tiefen, jterbenden Klang jeufzen die Saiten nur, 
Ihr jo angenehmer Gejang. Wenn die bebende Hand fie rührt. 


Lacht mir wieder bad Glüd, blühen Freuden um mid, 
Dann jtimmt auch die Leier fih um. 

O —* ih ſie dann, ſtröme die Saiten durch — 
Und dir, Freundin, weih' ich ihr Lied! 


(Bortfegung folgt.) 


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208 
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Glfaß-Lothringifihe Zeitfragen. 
Bon 


ss. Gerdolle, faijerl. Oberförfter a. D. 





IV. 


Auf dem Gebiete des Steuerweſens gibt es ebenfalld eine ganze Reihe von 
Reformen, die alljährlich zum Gegenftande der öffentlichen Diskuffion werden und 
nunmehr erjt recht in den Vordergrund treten, ſeitdem durch die Erfolge der Reichs» 
finanzpolitif die Landesfinanzen fich immer günftiger gejtalten. Niemand zahlt ja gerne 
Steuern, und es ijt Daher fein Wunder, wenn in wirtichaftlic) rege ein jeder 
fich für übermäßig belaftet hält und die Laft auf andere abzumälzen ut. Solchen 
Vorgängen begegnet man gegenwärtig in faft allen Staaten. Sie find indefjen im 
Reichslande um jo natürlicher, als das noch von franzdfijcher Zeit her ſtammende 
Steuerjyitem zum großen Teil veraltet ift und deshalb für die heutigen Berhältnifje 
nicht mehr genügen kann. 

Das direkte Steuerfgftem umfaßt die vier Hauptfteuern: 1) Grund-, 2) Thür- 
und Fenſter⸗ (Gebäube)-, 3) Pen: (Gewerbe-) und 4) Berjonal- und Mobiliarfteuer. 
Wie man fieht, geht das mobile Kapital aus der direkten Befteuerung frei heraus, denn 
wenn auc die Mobiliarfteuer als eine Art Einfommenfteuer betrachtet werden fann, jo 
bieten doch die Wohnungsverhältniffe für das Einfommen nicht immer einen —— 
Anhaltspunkt, und außerdem wird ein jeder, alſo ebenſowohl der Grundbeſitzer, der 
Gewerbetreibende u. ſ. w. als der Rentner und Kapitaliſt, von dieſer Steuer getroffen. 
Dies hat nun vom Standpunkte der Leiftungsfähigkeit der Steuerzahler jeine jehr großen 
Schattenfeiten. Die Staatöbedürfmiffe wachen mit jedem Jahre, und mit ihnen folglich 
die Höhe der Befteuerung, während diefelbe jchon in ihrem jetigen Stande, der für 
die wirtjchaftlich günftigen Zeiten berechnet war, heutzutage immer drüdender wird. Ent» 
laftung der Broduttioffände und jtärfere Heranziehung der Einfommen aus mobilem 
Kapital heißt daher in Eljaß- Lothringen wie im übrigen deutjchen Reiche die Loſung. 

Wir müfjen jedoch bemerken, daß, jo notwendig und zwedmäßig eine folche Reform 
ſich erweift, fie fich doch im einem anderen Lichte zeigt als in Altdeutjchland. Eine 
vollkommen gerechte Veranlagun läßt fich in der direkten Beſteuerung kaum erreichen, 
und es fann ſich daher bei dies Reformvorschlägen jedesmal nur um eine relative 
Befferung, d. 5. um die Abfchaffung der allzufehr jchreienden Ungerechtigkeiten Handeln. 
In der nattichen Betenerung find num diefe Ungerechtigfeiten in Altdeutjchland weit 
geringer als in Eljaß-Lothringen, da fie nur eine Mehrbelaftung von Grundbeſitz und 

53* 





824 Elſaß-Lothringiſche Beitfragen. 


Arbeit dem mobilen Kapitale gegenüber, feineswegs aber eine vollitändige Steuerfreiheit 
des leßteren, wie fie im Neichslande thatjächlich befteht, enthalten. Indeſſen werden 
diefe an und für fich geringeren Ungerechtigkeiten weit auffallender und unerträglicher, 
weil fie bei dem unbeſchränkten Rechte der Gemeinden und Gemeindeverbände, Aufchläge 
zu den Staatsſteuern zu erheben, ich bis ins Unendliche vervielfältigen fünnen, was 
im Neichslande nicht der Fall iſt, da eine Reihe weijer Schugvorjchriften dafür jorgt, 
daß die Steuerzujchläge in erträglichen Grenzen bleiben, und auch die Armengejeggebung 
dazu wejentlich beiträgt. Während es fich aljo in Altdeutjchland um eine Bedürfnis: 
frage, und zwar um eine jehr brennende, handelt, ſteht im Reichslande Hauptjächlich 
das Prinzip im Spiele, was indeffen die Bedeutung und Notwendigkeit einer Reform 
nicht im geringjten mindert. 

Dieje Notwendigkeit tritt jogar weit bedeutender hervor, wenn man da3 indirekte 
Steuerſyſtem, und namentlich das jehr „ergiebige* Einregiftrierungsmwejen — eine Ein- 
richtung, die fich in Altdeutjchland nur im Gebiete des rheinischen Rechts befindet, aber 
dort jchon längſt gebejjert worden ift — mit in Betracht zieht. Da geht zwar das 
mobile Kapital nicht ganz jteuerfrei aus, der Grundbefig iſt aber jehr viel jchwerer be— 
lajtet, und außerdem weiß jich das Kapital in den meijten Fällen der Beſteuerung zu 
entziehen. Es ift deshalb jchon lange die Rede, die Uebergangsgebühren für den Grund: 
befit, wenigitens im Erbgange, bedeutend zu verringern, wenn nicht ganz zu bejeitigen, 
und ed handelt fich nur mehr darum, den Ausfall auf andere Weife zu deden. 

Außerdem gibt es einige Spezialfteuern, die einem immer größeren Widerwillen 
beim fteuerpflichtigen Publiftum begegnen, und deren Bejeitigung von den Betroffenen 
febhaft gewünjcht und verlangt wird. Diejelben beziehen jich beſonders auf die getjtigen 
Getränfe, und wir wollen davon nur die zwei hauptjächlichiten, die Zirkulationsſteuer 
für Wein und die Lizenziteuer, erwähnen. 

Frankreich beſaß und befigt noch heute, wie man weiß, ein ausgedehntes Syſtem 

indirefter Steuern auf die geiftigen Getränfe, und diejes Syſtem ift auch im Reichs— 
lande zum Teil bejtehen geblieben. Wir jagen zum Teil, denn mit dem Eintritt in die 
norddeutjche Brennereigenofjenjchaft mußte dasjenige, was ſich auf Branntwein bezog, 
fowie, infolge der Reichsverfaſſung, die Zirfulationsfteuer auf Bier und die Shan. 
jteuer (droit d’exereice) wegfallen. Somit ift nur die Zirkulationsſteuer auf Wein 
eblieben, die, anfangs auf 3 Mark pro Heftoliter erhöht und dann fpäter auf die 
Dälfte reduziert, um jo läftiger erjcheint, als die übrigen gewohnten Korrelate nunmehr 
fehlen. Zwar bildet diefe Steuer an und für jich feine drüdende Belaftung, weder für 
den Konjumenten, noch für den Händler, noch jchließlich für den Produzenten; fie ift 
aber für den Berfehr im hohen Grade unbequem, beſonders auf abgelegenen Gütern 
und in Orten, wo die Weinbergmenge nicht groß genug ift, um die Anjtellung eines 
befonderen „Ortseinnehmers“ zu gejtatten, und Jolche Drtichaften find, bejonders in Loth- 
ringen, zahlreich genug. Man bedenfe nur, was e3 heißt, wenn fein Faß Wein, und 
fei e8 nur ein Fäßchen, transportiert werden darf, ohne daß vorher ein „Zirkula- 
tionsſchein“ gelöft worden, und daß auf diefem Scheine das Transportmittel, der Füh— 
rer, der einzujchlagende Weg, die einzuhaltende Zeit u. ſ. w, von denen unter Ver— 
meidung jchwerer Strafen nicht abgewichen werden darf, genau vorgefchrieben find. In 
feinem deutjchen Staate wäre eine ſolche Steuer möglich, man würde fie aud) in Elſaß— 
Lothringen nicht einführen, wenn fie nicht vorhanden wäre; fie iſt aber einmal vor— 
handen, wirft recht anſehnliche Erträge ab, und ihre Abjchaffung wird daher recht 
ſchwer halten. Sie darf jedoch nicht aus dem Auge gelafjen werden, und zwar um jo 
weniger, als jie das letzte Ueberbleibjel des einjeitig fisfalifchen franzöfiichen Steuer: 
ſyſtems in der Belteuerung der geiftigen Getränfe bildet. 

Anders verhält es fich mit der Lizenzſteuer. Sie ift ein ureigenes Kind des Lan- 
desausjchuffes und daher auch ein Lieblingskind desjelben, was fie allerdings weder 
gerechter noch beliebter macht. Als Ende der 70er Jahre die Ueberſchwemmung des 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 825 


Neichslandes mit fchlechtem Sprit, der dadurch verurjachte Schnapskonſum mit jeinen 
für das hiefige Klima jo nachteiligen Folgen u. j. w. immer bedenflicher wurden, wollte 
man died durch eine bejondere Beiteuerung des Schanfgewerbes verhindern, und da eine 
eigentliche Schankſteuer, d. h. nad) Prozenten der wirklich verabreichten Getränfemenge, 
wie jie früher in franzöſiſcher Zeit beitand, mit der Reichsverfaſſung ſchwer in Einklang 
zu bringen war, jo griff man zur direkten Befteuerung, indem man jeder Schanfjtätte 
eine fejte Steuer von jährlich 75—1500 Mark auferlegt. Damit fonnte man natür- 
lic) den beabjichtigten Zweck nicht erreichen. Ein Unterjchied zwijchen Schanfftätten, in 
denen Branntwein, und jolchen, in denen feiner verjchenft wird, fonnte nicht gemacht 
werden, und da bei der Veranlagung, ohne eine Läjtige, übrigens ganz unmögliche Ins 
quifition, nur die äußeren Merkmale den Ausjchlag geben fonnten, jo war die natür- 
liche Folge, daß die bejjeren Kaffeehäujer, die gröheren Bierhallen, furz die unjchäd- 
lichen Wirtjchaften, zu gunften der Schnapsbudifer belajtet wurden. Die Wirtjchaften 
haben allerdings in ihrer Anzahl ein wenig abgenommen, die fogenannte Schnapspeit 
aber nicht, ** übrigens mit ganz anderen Urſachen zuſammenhängt als der Billig— 
keit des Getränkes. Dagegen hat ſich die Steuer als eine recht ergiebige erwieſen, ſo daß 
ſie jetzt aus fiskaliſchen Gründen nicht mehr ſo leicht abgeſchafft werden kann. That— 
ſächlich ſind alle diesbezüglichen Bemühungen der Wirte bisher ohne Erfolg geblieben, 
und das einzige, was ſie in letzter Zeit erreicht haben, war, daß man ihnen das Er— 
wägen eines beſſeren Veranlagungsmodus in Ausſicht ſtellte. 

Summiert man alle dieſe Forderungen — Verringerung der Grundſteuer, event. 
nur bei den unterſten Steuerquoten, Verringerung der Einregiſtrierungsgebühren, nament- 
lich im Erbgange, für die Uebertragung von Grundbefit, Wegfall, bezw. Aenderung der 
Weinzirkulationgjteuer, und Reform, bezw. Bejeitigung der Lizenzfteuer — jo fommt 
man zu einer ganz erfledlichen Anzahl von Millionen, denen gegenüber jelbjt die aller- 
ergiebigjten UWeberweifungen aus den Neichsjteuern ſich nicht viel anders ausnehmen 
fönnen als ein Tropfen Wafjer auf einem heißen Stein. Es war u. von unſerer 
Regierung jehr weile gehandelt, als fie fich über die Verwendung des Ueberſchuſſes von 
1100 000 Marf, den der Landeshaushaltsetat für 1888—89 aufwies, jchon für dieſes 
Jahr nicht ſchlüſſig machen wollte: indeffen wird auch jpäter die Schwierigkeit diejelbe 
bleiben, und joll man allen Anforderungen gerecht werben, jo ift die Erſchließung neuer 
Einnahmequellen unerläßlich. 

Als ſolche tritt nun die Einführung einer Kapitalrentenftener zuerft in den Vor— 
dergrund, Hierdurch würden nicht bloß erhebliche Mittel, genügend, um alle Steuer- 
reformen und Entlaftungen durchführen zu können, gewonnen werben; e8 wäre auch 
gleichzeitig ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit, der um jo befjer wirfen würde, al3 
die jyjtematifche Bevorzugung des mobilen Kapitals, wie fie die Politik der franzöfiichen 
Regierungen während ber legten hundert Jahre enthielt, zur Verbreitung der fapita= 
liſtiſchen Anſchauungsweiſe mit allen ihren verderblichen ee unter allen Schich- 
ten des Volkes ungemein beigetragen hat. Freilich ift die Einführung einer Kapital- 
rentenfteuer in einem Lande, wo feine Einfommenfteuer mit befonderen Sätzen für die 
verjchiedenen Einfommenquellen befteht, nicht ohne Echwierigfeiten in bezug auf bie 
Beranlagungsweife: denn für eine Kouponfteuer ift das Land zu Klein, bei Selbitan- 
gabe (offen fich etwaige Defraudationen nur ſchwer entdeden, und die Einfchägung durch 

ejondere Kommifjare ift mit einer jehr unangenehmen Inquifition verbunden. Indeſſen 
find ſolche Schwierigfeiten mit gutem Willen leicht zu bewältigen. 

Die Kapitalrentenfteuer hat in der Bevölkerung, namentlich im probuftiven Teil 
derjelben, warme und zahlreiche Anhänger, nicht ab im Landesausſchuß, wo, wenn 
man von einigen jehr vereinzelten Ausnahmen abjieht, die fapitaliftischen Anſchauungen 
noch faſt unbejchränft herrſchen. Im diefer Beziehung brauchen wir nur daran zu er- 
innern, daß vor drei Jahren, als der jüngere Herr von Bulach in einem Antrage die 
Regierung erfuchen wollte, baldmöglichjt einen diesbezüglichen Gejegentwurf dem Haufe 


826 Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 


vorzulegen, der Abgeordnete Dr. Raeis unter allgemeinem und langanhaltendem Beifall 
diejen Antrag als Kosialiftih (sie), und jede direkte Beſteuerung des mobilen Kapitals 
al3 eine Förderung der Umjturzbejtrebungen bezeichnen fonnte. Angefichts dieſer Hal- 
tung mußte damals die Regierung, welche ſich vorher zu gunften der Kapitalrentenjteuer 
ausgejprochen hatte, den Rückzug kleinlaut antreten, umd feitdem ift die Frage erjt in 
diefem Jahre, und zwar nur beiläufig, wieder aufs Tapet gefommen. Es war eben 
die ‚Folge der damaligen unglüdlichen Lawierungspolitif. Heute find jedoch dieſe Tage 
vorüber. Die bisherige Handlungsweife der jegigen Regierung hat aufs deutlichite 
bewiejen, daß fie, wo das allgemeine — auf dem Spiele ſteht, die kleinlichen 
Rückſichten ihrer Vorgängerinnen dem Parlamentarismus gegenüber, und mit recht, ms 
fennt, und jo fteht denn zu hoffen, daß, wenn fie der Frage näher tritt, ſie Diejelbe 
auch mit dem nötigen Nachdrud zu vertreten, und jchlieglich auch durchzuführen wiſſen 
wird. Dadurch würde fie ficher viel Danf ernten. 


V. 


Neben dieſen allgemeinen, ſich auf das ganze Land und die Geſamtbevölkerung 
erſtreckenden Reformen gibt es noch andere, die de bloß auf einen bejonderen Teil der- 
jelben, namentlich auf die Produftivftände beziehen, und als jolche nehmen diejenigen, 
welche die Hebung, bezw. den Schuß der Landwirtichaft zum Ziele haben, ent- 
ſchieden den erften Rang ein. 

Allerdings hängt das Schidjal des Nährftandes in der Hauptjache von der Reichs— 
politif und von der Reichsgeſetzgebung ab, und es haben daher die maßgebenden Faktoren 
eines Einzeljtaates® darauf nur wenig Einfluß. Die Zölle und die Währungsverhält- 
nifje, diefe Hauptregulatoren für die Preije der landwirtjchaftlichen Erzeugnifje, find 
ausschließlicd) Sache des Neiches. Desgleichen eine Menge anderer wichtiger Gegen— 
ftände, fo 3. B. die Regelung des Genoſſenſchaftsweſens, der bäuerlichen Erbfolge 
u. ſ. w. — wenigſtens, was leßteres betrifft, infofern, ald man von nun an die endgültige 
Feitjegung der diesbezüglichen Beitimmungen im zufünftigen Zivilgejegbuche abwarten 
wird, ehe man die Landesgejetgebung mit diefem Gegenjtande befaßt. Auch eine weitere, 
fi) zwar fpeziell auf Lothringen beziehende Frage, aber für dieſen Landftrich eine wahre 
Lebensfrage, die wir legthin in einer bejonderen Schrift, dem 23. Heft der „Sozialen 
Beitfragen*, eingehend bejprochen haben, nämlich die, wie die im hiefigen Großgrund— 
befigerftande vorhandenen Lüden am beiten zu füllen wären, und ob fich nicht zur 
Erleichterung diefes Vorganges, eine ähnliche Maßregel empfehle, wie fie für den Oſten 
Preußens bereit3 getroffen wurde — gehört leider vor das Forum des Reichstags. 
Wir jagen „leider“, denn nach Mitteilungen, die wir jeden Grund haben für zuberfäffig 
zu halten, hätte eine diesbezügliche Vorlage, wie aus vertraulichen Anfragen bei den 
einzelnen PBarteileitungen hervorgegangen jein joll, momentan feine Ausjicht auf Erfolg, 
und muß daher die Erledigung dieſer hochwichtigen Frage, welche, joviel wir wiffen, an 
maßgebender Stelle jeiner Zeit in —— gezogen wurde, bis auf weiteres, zum 
großen Schaden des Landes, aufgeſchoben bleiben. 

Nichtsdeſtoweniger bleibt für die Landesregierung, bezw. die Landesgeſetzgebung 
auf dem Gebiete der Landwirtſchaft genug zu thun, und daß erſtere durchaus nicht 
geſonnen iſt, die Hände in den Schoß zu legen, beweiſt die jüngſt erlaſſene Verordnung 
des Statthalters, betreffend das landwirtſchaftliche Vereinsweſen, wonach die 
Leitung der Kreis- und Bezirksvereine, die bisher zum größten Teil als bloße Ver— 
ſorgungsanſtalten für das Kliententum einflußreicher Parlamentarier dienten, von nun 
ab den Organen der Staatsverwaltung übertragen, und eine Zentralvertretung, unter 
dem Namen Landwirtſchaftsrat, als ſtändige Einrichtung errichtet werden ſoll. Beides 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 827 


ift entjchieden mit Freude zu begrüßen, und leßtere8 um jo mehr, als die Mitglieder 
der Zentralvertretung ausjchlieglich vom Statthalter ernannt werden follen, und ſomit 
die kapitaliſtiſchen Einflüfje, die ſich faſt bei jeder Delegiertenwahl infolge der Zuſam— 
menftellung unferer landwirtjchaftlichen Bereine bisher bemerkbar machten, nunmehr 
lahm gelegt werden können. 

Eine der wichtigften Fragen, ‚mit welcher ſich der zukünftige Landwirtichaftsrat 
wohl zu befajjen haben wird, ift die Reorganijation des völlig-daniederliegen- 
den Realfredits. Dies dürfte um jo mehr zu erwarten jein, als Die Regierun 
durch bejondere, freilich in der beiten Abjicht getroffene Maßregeln diejen Zuftand ſelbſt 
herbeigeführt hat. 

dis noch vor kurzem lag das ganze ländliche Kreditwejen in ‚den Händen der 
Notare, welche die zahlreich ihnen anvertrauten Gelder gegen Handjchein oder hypo— 
thefarifche Sicherheit ausliehen, und jomit als förmliche Sanfiers fungterten. Die Not- 
wendigfeit, .fich mehr oder weniger —— Zwiſchenperſonen zu bedienen, um ſolche 
Geſchäfte, die von jeher ſtreng verboten, aber dennoch geduldet waren, beſſer zu bemän— 
teln, die politiſche Stellung, welche die Notare unter Herren von Möller und dem 
Feldmarſchall von ——*88 als angebliche „Notabeln“ zu erringen wußten, und die 
damit unvermeidlich verbundene Schonung, die ihnen zu teil wurde, hatte nun in der 
letzten Zeit Auswüchſe gezeitigt, von denen der Fernſtehende ſich unmöglich einen Be— 
griff machen kann, und die ſchließlich die Begierung zwingen mußten, wollte jie das 
Rechtsgefühl im Volfe nicht vollitändig. untergraben lafjen, energijch einzugreifen. - Hierzu 
famen noch zahlreiche Konkurſe von Notaren (15 in 2'/, Jahren, mit einem Gejamt- 
verluft von über 40 Mill. Mark), bei denen jedesmal ein Teil der Yandbevölferung feine 
Erjparnifje verlor, während die Stellung der verjchuldeten Grundbejiger in äußerſte 
Gefahr geriet. 

Schon unter dem verftorbenen Statthalter war der Verjuch gemacht worden, eine 
allmähliche Gejundung diefer wahrhaft haarjträubenden Mipftände herbeizuführen, und 
zwar durch Einführung des Grundbuchſyſtems. Dasjelbe hätte ben deutjchen Hypo— 
thefeninjtituten geftattet, ihren Gejchäftsbetrieb auf Eljah-Lothringen auszudehnen, ſo— 
wie die Gründung einer jtaatlichen Pfandbriefanftalt für das Reichsland jelbjt wejentlich 
erleichtert, jo daß einerfeit3 die Notare eine Auseinanderfegung mit ihren Gläubigern 
und Schuldnern, und andrerjeit3 die Grundbefiger eine ‚Konvertierung ihrer Hypo— 
thefen ruhig und ohne Ummwälzung vornehmen konnten. Leider haben aber die zahl- 
reichen Vertreter des Notariats im Landesausſchuß, in einem Augenblide wahrhaft 
unglaublicher Verblendung, durch Verwerfen der Grundbuchvorlage dieje ihnen gebaute 
goldene Brüde mutwillig zerjtört, und jo konnte eine Sataftrophe nicht unterbleiben. 

Sie ließ auch nicht lange auf: fich warten; e3 war eine der erften Hauptmaßregeln 
des heutigen Statthalter®, für die das Land ihm übrigens nicht genug danken fann, 
eine Verordnung zu erlafjen, wonach den Notaren aufs jtrengfte unterfagt wurde, künf— 
tighin Depofiten anzunehmen, und fie gleichzeitig angehalten wurden, ihre bisherigen 
Depofiten binnen furzer Friſt herauszuzahlen. So zwedmäßig jedoch dieſe Maßregel 
auch war, jo war fie doch nur eine halbe Maßregel und erzielte deshalb auch nur 
einen halben Erfolg, Das Notariat ald Stand wurde zwar ungemein raſch gejäubert, 
denn faſt alle ftarf engagierten Notare nahmen nacheinander ihre Entlafjung, um be— 
—— SEN zu ——— die Lage des Publikums wurde indeſſen keine beſſere, im 

egenteil. 

Schon gleich nach dem Erſcheinen dieſer Verordnung hatten wir in einer beſonderen 
Schrift, die als Separatabdruck aus der „deutſchen landwirtſchaftlichen Zeitung“ im Ver— 
lage der Scribafchen Hofbuchhandlung in Met erſchien, auf die Notwendigkeit hinge— 
wiejen, eine allgemeine Liquidierung der Notariatsjtuben durch die Gründung eines 
bejonderen Kreditinſtituts zu unterjtügen, und unſere damaligen Ausführungen finden 
in den heutigen Zuftänden ihre volle Bejtätigung. Ein Notar fann doch die ihn an— 


828 Elſaß-Lothringiſche Zeitfragen. 


vertrauten Gelder nur dann herauszahlen, wenn er dieje Gelder, die er ausgeliehen, 
wieder zurüderhalten hat, und dies fann er wiederum nur durch Kündigung der be— 
treffenden Forderungen erreichen. Da aber gefündigte Hypothefen in der Regel nur 
durch Aufnahme einer neuen Anleihe zurüdgezahlt werden können, jo mühte doc) für 
die Erleichterung der Aufnahme folcher Anleihen gleichzeitig gejorgt werden, wenn nicht 
die Maffenkündigung zu einer allgemeinen Kataftrophe führen, oder eben aus Furcht 
davor unterbleiben, Ark aber die Maßregel ſelbſt illujorijch bleiben jollte. 

Dies trifft um jo mehr zu, als bis dahin außerhalb des Notariat3 der Real- 
fredit hierzulande äußerst bejchränft war. Die reichsländijche Aktienpfandbriefanftalt, 
„Aktiengefellichaft für Boden- und Kommunalfredit in Eljaß- Lothringen“, leiht nur 
auf Grund eines notariellen Gutachten? und bejigt übrigens eine ſolche Abneigung 
egen ländliche Darlehen überhaupt, daß fie nur jehr wenig in Betracht fam, während die 
Direfte Privathypothef zwar dem Namen nach wohlbelannt, dem Weſen nach jedoch 
nur wenig im Gebraud war, da das Publikum die Gewohnheit hatte, die zur hypo— 
thefarifchen Anlage bejtimmten Sapitalien einfach dem Notar zu übergeben, jich mit 
einem Kleinen Zins zu begnügen und fich fonft nicht darum zu fümmern. Letzterer 
Umftand war unferer Anficht nach ein Grund mehr, um eine neu zu gründende Kre— 
ditanftalt mit der Liquidation der Notariatsftuben zu betrauen, denn auf dieje Weife 
hatte die Privathypothef Feine Zeit, ich im Publiftum einzubürgern, und jo erreichte 
man ohne Weiterungen und Schwierigfeiten ein Reſultat, welches in Altdeutjchland 
nur mit Zwangsmaßregeln und Aenderung des Agrarrechtes zu erreichen ift, nämlich 
die Umwandlung jämtlicher Grundjchulden in unfündbare, amortifierbare Rentenfchulden. 

Leider ift, wie gejagt, diefes notwendige Korrelat der Liquidation der Notariats- 
ftuben unterblieben, und die Folgen davon machen jich in doppelter Beziehung nach— 
teilig bemerfbar. Auf der einen Seite geht die Liquidation jelbit ungemein langjam 
vor fich, denn eine Mafjenfündigung würde den Notaren wohl den gejamten Grund 
und Boden, aber noch lange nicht bare Mittel in die Hände geben; in vielen Fällen 
fönnen fie fogar ihren Verpflichtungen nur durch Aufnahme neuer Mittel gerecht wer: 
den, und jo haben jich die meiften als Bankier etabliert, in welcher Eigenjchaft fie 
ihre früheren Geldgefchäfte einfach weiter fortführen. Der alte Zuftand * alſo 
immer fort, mit dem Unterſchiede jedoch, daß früher in der Aufſicht der Staatsanwalt— 
ſchaft noch wenigſtens ein Schein von Garantie für das Publikum vorhanden war, 
während heute ſelbſt dieſer Schein verſchwunden iſt. Auf der anderen Seite iſt an der 
Stelle des früher ſehr mangelhaften und ausbeuteriſchen notariellen Realkredits ein 
Buftand der völligen Kreditlojigkeit eingetreten, der jehr leicht recht verhängnigvolle 
Hr haben fann, und der jich bei weiterem Gehenlafjen nicht ändern wird, da einer- 
eit3 die Aktiengejellichaft für Boden- und Kommunalfredit, ſelbſt wenn fie helfen wollte, 
in den meiften Fällen durd) ihre Statuten die Hände gebunden hatte, und andrerjeit3 
die durch die zahlreichen Notarenprozejje der legten Jahre hervorgerufene Rechtsun- 
ficherheit feineswegs dazu angethan ift, um dem ‘Brivatfapital, welches bisher an ein 
direftes Ausleihen nicht gewöhnt war, Vertrauen für diefe Anlageart einzuflößen. 

Für den Perjonalfredit ift allerdings fofort gejorgt worden. Schon in der vorigen 
Tagung des Landesausſchuſſes fam ein Gejeb über ——— Spar- und Darlehns— 
kaſſen zuſtande, welches, trotz ſeiner entſchiedenen Mängel, die, nebenbei bemerkt, 
faſt ausſchließlich von den im Haufe erfolgten Abänderungen herrühren, den Bebürf- 
niſſen ſo ziemlich abzuhelfen geeignet iſt, und rechnet man hierzu die Raiffeiſenſchen 
Darlehnskaſſenvereine, die unter dem Patronate der katholiſchen Geiſtlichkeit im Elſaß 
recht lebhaft um ſich greifen, ſo kann man die Dinge auf dieſem Gebiete ihrer weiteren 
Selbſtentwicklung ruhig und getroſt überlaſſen. 

Auf dieſem Gebiete iſt jedoch das Bedürfnis ein weit weniger dringendes als auf 
demjenigen des Realkredits. Hier gilt es vor allen Dingen, die neuen, an die Stelle 
der früheren Notariatsſtuben getretenen Bankanſtalten ſobald als möglich unſchädlich 


Eljaß-Lothringiiche Zeitiragen. 829 


zu machen, denn ſonſt wird die Ausbeutung von Gläubigern und Schuldnern in der 
alten Weife ruhig fortfahren. Auch muß für die Kapitaliften und namentlich für die 
kleineren gejorgt werden, die gar nicht mehr wifjen, wohin mit ihrem Gelde, da fie die 
deutjchen Bapiere nicht kennen, über feine heimatliche Anlage verfügen, und jomit noch 
immer franzöfifche Anlagen juchen. Schließlich muß für eine Konvertierung der alten 
immer noch 5prozentigen und furzfriftigen Grundjchulden fowie für eine ungefährliche 
Aufnahme der neuen gejorgt werden, für welch lettere unjer Agrarrecht ja täglich Ge- 
gs bietet, wenn der Grundbefiß nicht in eine unerträgliche Zwangslage geraten 
joll. Leider iſt aber auf dieſem Gebiete noch nicht? gefchehen, und jo viel wir wiljen 
hängt diefe Unterlafjung damit zujammen, da man an maßgebender Stelle die Grün— 
dung einer ftaatlichen Pfandbriefanitalt, die bereits unter dem verjtorbenen Statthalter 
ins Auge gefaßt war, ohne vorherige Einführung des Grundbuchſyſtems für — 
oder für wenigſtens nicht zweckmäßig hält. Mit dieſer Anſicht können wir uns jedo 
nicht einverſtanden erklären, wiewohl wir die Nachteile unſerer hieſigen Grundbeſitz— 
und Hypothekengeſetzgebung für eine geſunde Realkreditentwickelung keineswegs verkennen, 
bezw. unterſchätzen. Die Notare, welche ſich weder auf Börſen- noch ſonſtige Speku— 
lationen eingelaſſen, haben meiſt recht anſehnliche Vermögen geſammelt, und die 
„Aktiengeſellſchaft für Boden- und Kommunalkredit“ erteilt alljährlich — trotz einiger 
Verluſte, die aber lediglich von mangelhaften Taxationen und durchaus nicht von Ur— 
ſachen herrührten, die mit unſerer Grundbeſitz- und Hypothekengeſetzgebung zuſammen— 
hängen — recht hübſche Dividenden. Und ſo glauben wir, daß, wo Private und Aktien— 
geſellſchaften gute Geſchäfte machen, der Staat, der ja über zuverläſſige Taxatoren 
verfügt, und bei dem jede Spekulation von vornherein ausgeſchloſſen iſt, erſt recht 
nichts zu befürchten hätte. 

Freilich wird ſich, ſolange das Grundbuchſyſtem nicht ganz durchgeführt iſt — 
dazu gehören aber Jahrzehnte — eine ſtaatliche Pfandbrief-, bez. Realkreditanſtalt im 
Neichslande ge mit anderen Gejchäften als der bloßen Beleihung von ländlichen 
Grundjtüden befaffen müjjen, wenn jie ihrer Hauptaufgabe, das Notariat zu erjegen, 
vollftändig gerecht werden joll. Dies würde um jo notwendiger jein, als durch die 
„väterliche SFürjorge* der Herren Notare und ihres Anhangs im Landesausſchuſſe wohl- 
weislich verhindert worden ift, daß dieje Sorte von Geſchäften in den Thätigfeit3bereich 
der neuen Darlehnskaſſen, wohin fie eigentlich gehörte, fommen wird. Wir meinen 
hiermit die Uebernahme, bezw. Beleihung von Hypothefarforderungen, wie fie in einem 
Lande, wo die Bauerngüter im Detail und gegen Ausitand verfteigert zu werden 
pflegen, zu den dringenden Notwendigfeiten gehört, wenn die Bevölkerung der Ausbeu- 
tung nicht anheimfallen fol. Auf den jogenannten Ankauf von Berfteigerungsproto- 
follen legt befanntlich der für die preußische Saargegend durch den hochverdienten 
Landrat Knebel ind Leben gerufene „Verein gegen Wucher“ ein Hauptgewicht, und 
eine diesbezügliche Forderung hatten mehrere landwirtichaftliche Vereine bei Gelegenheit 
der fanbwirtihoftfihen Enquete im Jahre 1889 geftellt. Dieje Art von Gejchäften 
hätten nun, wie gejagt, am bejten die Darlehnskaſſen übernehmen können; da dies in- 
dejien nach den Beitimmungen des diesbezüglichen Gejeges nicht möglich ift, jo würden 
fie ausjchlieglich den Ernotaren und deren Banfen zufallen, wenn nicht die jtaatliche 
Piandbriefanftalt ſich damit befaffen follte Hierin liegt jedoch unferer Anficht nad) 
feine bejondere Schwierigkeit. Es würde hierzu genügen, wenn bei diejer Anjtalt, ähn- 
fi) wie bei den großen Hypothefeninftituten Altdeutjchlands (auch bei den genofjen- 
ichaftlichen), eine bejondere Abteilung für Perjonalfredit errichtet würde, eine Einrich- 
tung, die auch ſonſt nur ſegensreich wirken fönnte und auch aus anderen Gründen 
jehr wünjchenswert wäre. 

Jedenfalls thut, wir wiederholen es, eine baldige Negelung des Realkreditweſens 
in hohem Grade not, und am bejten wäre es, wenn fie ohne weiteres in Angriff ge— 
nommen werden könnte Sollte fie jedoch) aus Gründen, die wir nicht einzujehen ver— 


830 Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 


mögen, an Die vorherige Einführung des Grundbuchſyſtems geknüpft jein, jo - führe 
man dann dasjelbe ein, ohne das Sivilgefegbuc erft abzuwarten, denn bis dahin kann 
die Sache nicht verzögert werden, ohne unberechenbaren Schaden zu bringen! 


VI. 


Die Reihe weiterer Reformen, welche den zukünftigen Landwirtſchaftsrat in der 
nächſten Zeit beſchäftigen werden, können wir wohl füglich unbeſprochen laſſen; es 
würde uns zu weit führen, und, da es ſich meiſt um rein techniſche Fragen handelt, 
in den Rahmen dieſer Zeitſchrift nicht gut paſſen. Nur für eine derſelben möchten 
wir uns jedoch eine Ausnahme zu machen geſtatten, weil fie einerſeits die öffentliche 
Meinung jehr erregt, und andrerjeits, weil fie auf die Haltung des Landesausſchuſſes 
ein recht charakteriftiiches Licht wirft. Es ift dies die gejegliche Regelung der 
Wildjchadenerfagpflicht, eine Frage, die wegen der Neuheit des jogenannten Re— 
vierfyftend und bejonder8 wegen des fajt in allen Gegenden vorhandenen ſtarken 
Schwarzwilditandes vielleicht hierzulande eine noch größere Bedeutung bejigt al3 anderswo. 

Bis zum Jahre 1880 Hatte Eljah-Lothringen nod) das aus franzöfijcher Zeit her: 
ftammende jog. Patentſyſtem; d.h. jeder, der einen Jagdſchein Löjte, war auf jeinem Grund- 
eigentume jagdausübungsberechtigt und hatte fich nur den allgemeinen jagdpolizeilichen 
Beitimmungen über —— u. ſ. w. zu fügen. Unter ſolchen Umſtänden konnte von 
einer Haftbarkeit der Jagdberechtigten, und namentlich der Waldeigentümer, für den 
auf Nachbargrundſtücken entſtandenen Wildſchaden kaum die Rede ſein. Nach der fran— 
zöſiſchen Rechtſprechung war dies auch nur dann der Fall, wenn ihnen eine Begünſti— 
gung, eine künſtliche Vermehrung des Wildſtandes, ſowie überhaupt eine Schuld nach— 
gewieſen werden fonnte, und das iſt für Schwarzwild, welches befanntlich keinen feſten 
Standort hat, äußerſt jchwierig, wenn nicht unmöglih. Man Half fich auch deshalb 
mit anderen Mitteln, den jogenannten Anftandserlaubnisicheinen, den Bolizeitreibjagden 
u. ſ. w. Im übrigen gejtattete die mit einem folchen Syjtem notwendig verbundene 
HBeriplitterung der Jagdreviere eine merfliche Schonung nur auf größeren zuſammen— 
hängenden Gütern, und da hatte der Grundbefiter allein zu bejtimmen, bis wie weit 
er mit:der Schonung gehen wollte. 

Mit dem Gejege vom Jahre 1880 wurde ed anderd. Dasjelbe führte das in 
ganz Deutfchland bejtehende Nevieriyitem ein; das Jagdrecht der Grundeigentümer, in— 
jofern es fih um Grundjtüde handelte, die nicht groß genug find, um einen felbjtän- 
digen Jagdbezirk zu bilden, wurde vergenojjenjchaftlicht und meijtbietend verpachtet. 
Dadurch war überall eine waidmänniſche Pflege der Jagd und eine erfreuliche Vermeh— 
rung des Wildftandes ermöglicht, aber auch gleichzeitig die Möglichkeit eines Wild- 
jchadens gegeben, für welche der Jagdberechtigte von den Grundeigentümern verant- 
wortlich gemacht werden konnte. Die Frage wurde bis jegt allein der gerichtlichen 
Entjcheidung überlafjen, es ift aber begreiflich, dat eine allgemeine prinzipielle Regelung 
bejjer wäre, zumal in bezug auf das Schwarzwild, dem die neue Gejeggebung am 
meijten zu Gute gefommen ıft, und welches ſich an manchen Orten in unerträglicher 
Weiſe vermehrt hat, und für dieſe Negelung ift der Augenblid gerade günjtig, da 
nach den Beitimmungen des erwähnten Gejeges jämtliche Jagden im Sommer 1889 
wieder verpachtet werden jollen, und jomit, wenn bis dahin eine Entjcheidung getroffen 
wird, diejelbe in feine wohlerworbenen Privatrechte einzugreifen braucht. 

Nach den in der diesjährigen Tagung des Landesausſchuſſes abgegebenen Erflä- 
rungen der Regierung beabjichtigt diejelbe, diefe Regelung in der erwähnten Friſt 
vorzunehmen, und zwar in der Weije, da der Jagd: Berechtigte für jeden im 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 831 


feinem Revier vorfommenden Wildjchaden haftet, mit der Maßgabe jedoch, daß für 
Shwarzwild mit Rüdficht auf deſſen Wanderluft diefe VBerantwortlichkeit auf einen 
größeren Bezirk verteilt werden, aljo eine Solidarhaft zwiſchen mehrern Jagdberechtigten 
eintreten jol. Wie lettere8 erreicht und eingerichtet werden fann, darüber ift man 
fi) an mafgebender Stelle noch nicht im Flaren; dagegen haben eine Anzahl Landes- 
ausjchußabgeordnete, die meift dem Stande der Grokinduftriellen angehören und größere 
Waldreviere gepachtet haben, die Gelegenheit wahrgenommen, um Bie Angelegenheit in 
ihrem Sinne, bezw. zu ihren gunften zu regeln. Sie brachten einen Antrag ein, Wo» 
nach ein Zujchlag zu ben Jagdfcheingebühren erhoben, damit ein bejonderer Fonds 
gebildet und aus demjelben die nötigen Mittel entnommen werben follen, um die durch 
Schwarzwild bejchädigten Landwirte zu entjchädigen. 

Bir glauben faum, da ſelbſt im „reaktionärſten“ Lande ein folcher Antrag hätte 
eingebracht werben fünnen, jelbjt da nicht, wo wirklich althiftorifche Rechte mit auf dem 
Spiele ftänden. * ſieht man am beſten, was man von einer Plutokratie, wie ſie 
im Landesausſchuß vertreten iſt, zu erwarten hat. Auf der einen Seite ſollen ſämt— 
liche Jagdliebhaber, alſo auch ſolche, die Feldreviere beſitzen, in denen fein Schwarz: 
wild vorkommen kann, ſowie diejenigen, und das iſt die Mehrzahl, die überhaupt fein 
Jagdrevier bejigen, jondern einfach bei Freunden und Bekannten ald Gäjte dem Waid- 
werk obliegen, für die Unterlafjungsfünden einiger reicher Herren auffommen. Auf der 
anderen Seite bezwedt der Antrag nichts Geringeres, als eine förmliche Erpropriation 
der Grumdeigentümer zu gunften diefer jelbigen Herren; denn wird einmal der Schwarz- 
wildjchaden aus Staatsmitteln prinzipiell und ohne Regreß gegen die Jagdpächter. ver- 
gütet, jo kann fich der Landmann über die Vermehrung des Schwarzwildes nicht mehr 
befflagen — er wird ja entjchädigt, und der Vermehrung bis ins umendliche fteht Fein 
Hindernig mehr im Wege. Und diefe Erpropriation wird noch nicht einmal von denen 
bezahlt, die allein. ein Interefje daran haben, jondern von den Fleinen Jagdliebhabern, 
und wenn die Zujchläge, bezw. der mit denjelben gebildete Spezialfonds nicht ausreicht, 
was bald der Fall fein würde, von den Steuerzahlern, aljo zum Zeil von den Be- 
Ihädigten jelbit! Eine kraſſere Intereffenvertretung kann nicht erdacht werden, und wir 
erwarten mit Zuverficht, daß, im Fall diejer Antrag wirklich durchginge, demjelben die 
verfaflungsmäßige Zuftimmung verjagt werden wird. 

Was nun das Vorhaben der Regierung felbjt betrifft, jo können wir uns mit 
demjelben, wenn auch die gute Abjicht feineswegs verfennend, offen gejtanden, ebenfalls 
nicht gut befreunden. Hochwild ift im Neichslande nur in den ſehr ausgedehnten, zu— 
fammenhängenden Hochgebirgsforjten der ehemaligen Grafſchaft Dagsburg vorhanden, 
wo e3 ziemlich unjchädlich in, da fein landwirtjchaftlicher Betrieb jich in deren Nähe 
befindet, und es fommt daher um jo weniger in betradht, als eine Einbürgerung diejer 
Wildart in anderen Nevieren faum zu erwarten if. Mit Nüdficht auf Rotwild ift 
Daher die Zuerfennung eines unbedingten Wildjchadenanfpruch® nicht notwendig, Was 
aber das zur niederen Jagd gehörige Wild betrifft, jo it dasjelbe für die Landwirt: 
ſchaft im allgemeinen nicht jchädlich; wenigſtens tjt der von demjelben verurjachte Scha= 
den, wenn man von Wildjtänden abjieht, wie fie hier in abjehbarer Zeit nicht zu haben 
jein werben, jo gering, daß er durch die erhöhte Pacht, die nad) dem Gejete den ein- 
elnen Grundeigentümern direft zufommt, al3 vollauf vergütet zu betrachten iſt. Wahr: 
— haben einige Prozeſſe, die ſeinerzeit großen Lärm verurſacht haben, zu dieſer 
Stellungnahme der Regierung Veranlaſſung gegeben. Dieſe Fälle ſind jedoch unſerer 
Anſicht nach nicht maßgebend. Es handelte ſich dabei, ſoviel wir wiſſen, um Baum— 
ſchulbeſitzer, die wegen Haſenfraß gegen die betreffenden Jagdpächter klagbar geworden 
waren, und daraus dürfte doch die Notwendigkeit eines unbedingten Erſatzanſpruchs 
nicht gut herzuleiten jein. Einesteils ift Haſenfraß in Baumjchulen ebenjo gut bei 
ſchwachem als bei jtarfem Wildftand zu befürchten, jo daß, wer eine Baumjchule befigt, 
bezw. anlegt, die Schuld nur fich jelbjt zuzufchreiben hat, wenn er die nötigen Abwehr- 


832 Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 


mittel nicht anmwendet, zumal die hohe Rentabilität diefer Anlagen die Anwendung fol- 
cher Mittel (Einfriedigung, Anftreichen mit übelriechenden Stoffen u. j. w.) recht gut 
erlaubt: und andrerjeits fann für folche vereinzelte Fälle die Entjcheidung am beiten 
den Gerichten überlafien bleiben, die ja thatjächlich in den obenerwähnten Klagen zu 
gunften der Baumfchulbefiger ihr Urteil gefällt haben. Einen unbedingten Schaden- 
erfaganfpruch für zur niederen Jagd gehöriges Wild anzuerfennen, heißt Dagegen nichts 
anderes, als der Prellerei, der Chikane, den Gehäßigfeiten Thüre und Thor öffnen, 
und gerade das ald Vorbild fchwebende Beijpiel des Nachbarftaats Baden, worin jols 
cher unbedingte Anjpruch eriftiert und zu den größten Unzuträglichfeiten führt, müßte 
vor einer Nachahmung warnen. 

Mit dem Echwarzwild Liegt freilich die Sache anders. Die Schäblichkeit diejer 
Wildart für die Landwirtfchaft iſt eine allgemeine, und fie läßt fich weder ableugnen 
noch vermeiden. Will man jedoch den Betroffenen einen unbedingten Schadenerſatz zu— 
erfennen, jo fett man fich, ganz abgejehen von der Frage, wer den Erjaß zu leiſten 
bat, der Gefahr aus, daß der weniger ehrliche, oder der ſchlecht fituierte Bauer, anftatt 
den Bejuch der Schwarzröde abzuwenden, vielmehr alles verjuchen wird, um diejelben 
auf jeine Felder zu loden: denn in folchem Falle braucht er nur zum Scheine zu 
pflügen und zu jäen, jeine Ernte wird weder Hagel noch Froſt zu befürchten haben, 
für alles muß cben das Schwarzwild auffommen. Aehnliches gejchieht ja in der Um— 
gegend von Paris, wo die reichen Jagdpächter für den durch die dort zahlreich vor— 
bandenen und jorgfältig gehegten wilden Karnifel angerichteten Schaden, entweder frei= 
willig oder nad) Verurteilung durch die Gerichte, reichlichen Erſatz leisten, und es ijt 
BEN nicht nötig, ſolche höchjt demoralijierende Zuftände nach hier verpflanzen zur 
wollen. 

Da ift Vorbeugen das entjchieden Nichtigere, d. h. die Ueberhandnahme, bezw. das 
Vorkommen der für die Landwirtichaft anerkannt fchädlichen Wildarten ift von Staats- 
wegen zu regeln. Zu einem fultivierten Lande paßt Schwarzwild überhaupt nicht; es 
muß aljo ausgerottet werden oder kann höchjtens auf größere Forjten verwieſen wer- 
den, die mit Rückſicht auf die Wanderluft diefer Wildart am beiten einzugattern find. 
So iſt es fajt überall in Altdeutichland und niemand bejchwert fich darüber, denn dafür 
fann man einen um jo befjeren Rehſtand erziehen, der nicht oder wenigjtens nicht 
wejentlich jchädlich it. SFreilich gehört dazu eine befjere waidmänniſche Qualifikation, 
als fie die Mehrzahl unjerer Jagdpächter bejigt, während Echwarzwild nur fich jelbft 
überlaffen zu werden braucht, daher auch wahrjcheinlich die Vorliebe unferer „Waid- 
männer“ für diefe Wildart. Eo groß jedoch der Wert der Jagd, jei e8 in moralijcher, 
ſei e3 in wirtjchaftlicher Veziehung, auch ift, jo dürfen doch Einfeitigfeiten auf Kojten 
— Reue Zweige, zumal wenn fie zu folchen Auswüchſen ausarten, nicht ge— 

uldet werden. 


VII. 


Mit der Erläuterung dieſer wenigen „Fragen“ glauben wir uns nunmehr begnügen 
zu können. Was wir noch anführen könnten, iſt uͤbrigens entweder allgemein bekannt 
oder weniger dringlich. 

Die Schulfrage iſt z. B. hierzulande genau dieſelbe wie in ganz Altdeutſchland; 
mit der liberalen Aera Möller find die Gymnafien überall wie Silge aus der Erde 
geſchoſſen, um freilich bald entweder mit einer Tächerlichen Anzahl von Schülern ein 
traurige Dajein zu friften oder in „Progymnafien“ und dergl. ſog. Vorbereitungsans- 
ftalten wieder umgewandelt zu werden. Dabei fehlt es vielfach an Schulen für den 
mittleren Bürgeritand, auf die es doch hauptjächlich anfommt, wenn die eingeborene 
Bevölkerung davon einen Nugen haben joll. Jedoch jpruchreif ift die Frage, wie eine ſolche 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 833 


Reform allgemein durchzuführen, durchaus noch nicht, und es wird wohl noch viel Zeit 
vergehen müfjen, ehe jte endgültig gelöft wird. Gefunden Teilreformen die Hand zu 
bieten ift dagegen die Regierung, nach ihren legten Erflärungen, gern bereit, und das 
iſt wohl die Hauptjache. 

Ebenjo wird man mit einer Umgestaltung der dffentlihen Armenpflege 
warten müſſen. XTroß der entjchiedenen Mängel der hier geltenden Beitimmgen, wonach 
faft alles der Privatinitiative überlaffen bleibt und die Pflichten der Gemeinden, bew. 
des Staates ji) auf nur fehr wenige Fälle bejchränfen, find diefelben jedenfall nicht 
ſchlechter, als das von allen Seiten als bejjerungsbebürftig . anerfannte deutjche 
Unterftügungswohnfiggejeß, deſſen klarſter Erfolg darin bejteht, die am wenigjten 
leiftungsfähigen Gemeinden am meiften zu belaften und denjelben unerträgliche Steuer- 
zujchläge aufzubürden. Troß der allerdings rechtlich vorhandenen Möglichkeit fterben 
hierzulande nicht mehr Leute am Hunger — nad allen Nachrichten jogar weit 
weniger — als in manchen großen Städten im Gebiete der Awangsarmenpflege, und 
der hier gänzlich fehlende Begriff der Heimat ift doch im Unterftüungswohnfiägefek 
zu einem bloßen Begriff herabgejunfen. Letzteres daher hier einführen zu wollen, 
könnte nur der Schablone zuliebe gejchehen. Es darf übrigens nicht unberüd- 
fichtigt bleiben, daß die Sozialreform mit ihren zahlreichen Verficherunggeinrichtungen 
in nicht zu langer Zeit eine vollftändige Umgestaltung der öffentlichen Armenpflege 
hervorrufen muß, und daß jchon deshalb die fofortige Einführung des Unterjtügungs- 
mwohnjiggejeges feinen rechten Sinn hätte. Freilich bedarf unſere öffentliche Armen- 
pflege einer durchgreifenden Reform, und zwar im deutſchen Sinne, d. h. im Sinne 
einer Pflicht für die Gefamtheit, ihre Armen zu unterhalten. Allein warte man ab, 
bis das Neich feine ebenfalls reformbebürftige Armengejeggebung umändert; das ijt der 
Wunſch aller Einfichtigen, und diefer Wunjch wird wohl an mahgebender Stelle auch 
geteilt werden. 

Jedenfalls genügen unjere bisherigen Ausführungen, um zu zeigen, daß zahlreiche 
Aufgaben ihrer Erledigung harren, dab die Regierung denjelben nicht zu entweichen 
ſucht und da fie dabei einen ſtarken Hinterhalt an der Bevölkerung befigt. Sie zeigen 
aber gleichzeitig, daß in der Landesvertretung ein nicht geringes Hindernis vorhanden 
ift, und es fragt fich, in welcher Weife diefes Hindernis am beiten zu bejeitigen wäre. 
Mit einigen Bemerkungen darüber wollen wir dieje Arbeit jchließen. 

Zunächſt müfjen wir ausdrüdlich betonen, daß mit der „Bejeitigung des Hinder- 
niſſes“ wir durchaus nicht eine Befeitigung der Landesvertretung als Folche meinen. 
Ein folder Wunſch iſt allerdings des öfteren in einem Teile der deutjchen Preſſe 
eäußert worden, fann aber nicht ernft genommen werden, und der vom Landesausſchuß 
in diefem Jahre gefahte Beſchluß, als Proteft dagegen endlich einmal eine Nate für 
den Bau feines zufünftigen Sigungsgebäudes zu bewilligen, ift nur als ein Beichen 
lächerlicher Angft, höchſtens noch als eine Selbftanerfenntnts der eigenen Unbeliebheit 
im Volke, aufzufaffen. Heutzutage läßt fich die Mitwirkung des Volkes an der Geſetz— 
gebung nicht mehr entbehren, und zur Aufhebung der reichsländifchen Volfsvertretun 
aus politischen Motiven liegt um jo weniger Veranlafjung vor, als der —— 
ſich als eine deutſch-, bezw. —— Körperſchaft durchaus nicht erwieſen hat. 
Selbſt das, was ihm jo oft vorgeworfen wird, die Vorliebe für das „proviforijche* 
Sigungsgebäude, welches den Katjerplag zu Straßburg verunziert, ift weit mehr einer 
übelangebradhten Sparjamfeit zuzufchreiben als einer etwaigen Deutjchfeindlichfeit. Auch 
die unvermetdlichen Reden pour la galerie, die bei der erjten Lejung des Etat? wie 
in jedem Parlamente gehalten zu werden pflegen, find nicht „tribunenhafter“ als an- 
derswo, während der Landeshaushaltsetat alljährlich mit einer Bereitwilligfeit umd 
einer Schnelligkeit erledigt wird, die manchem Parlamente in Altdeutjchland zu wün— 
jchen wäre, ebenjo übrigen? manche Negierungsvorlage. Den Landesausihuß nad 
dem Rate gewifjer deutjcher Heißſporne auflöfen, bezw. aufheben zu wollen, hätte daher 


834 Elſaß-Lothringiſche Zeitfragen. 


ſehr unnötigerweife böjes Blut gemacht und ihm dazu einen Nimbus des politischen 
Märtyrertums jowie eine Popularität verliehen, die er thatjächlich nicht befißt. 

Auf der anderen Seite, wenn auch vielleicht gerade das paſſive Verhalten des 
Landesausſchuſſes gegen die von der Regierung vorgefchlagenen Reformen in hohem 
Grade geeignet ift, für die deutjche Sache im Lande zu wirken, jo fann dies Rejultat 
auch ebenjogut, wenn nicht jogar befjer, erreicht werden, wenn die Regierung eine Volks— 
vertretung zu jchaffen verfteht, die Hand in Hand mit ihr geht in allen ‘Fragen, wo 
das Volkswohl auf dem Spiele jteht. Und da dies mit dem jegigen Landesausſchuſſe 
wohl ſchwer zu erreichen ijt, jo wird man wohl über furz oder lang der Frage einer 
Reorganijation desfelben, bezw. der reichsländijchen VBolfsvertretung näher 
treten müſſen. 

In feiner überwiegenden Mehrheit ſetzt jich der gegenwärtige Landesausſchuß aus 
Elementen zufammen (Großinduſtriellen, Notaren, ländlichen Rentiers u. ſ. w.), die als 
entjchiedene Vertreter der fapitaliftiichen Richtung zu betrachten find. Wer — 
Ausführungen gefolgt iſt, wird über deſſen Leiſtungen ſchon im klaren ſein, und dem— 

egenüber vermögen weder die entſchieden deutſchfreundlichen, noch die ausgeſprochen 
lerifalen Elemente ein Gegengewicht zu bieten. Erſtere gehören mit Ausnahme des 
jüngeren Freiherren von Bulach, jeines Vaters und jeit lebterer Zeit des übrigens 
recht „stillen“ Herren Nemlinger dem Juriftenftande an, beffen Vorliebe für Abftraf- 
tionen fie natürlich auch teilen, während bei letteren die Abneigung gegen das Deutjch- 
tum, die demofratijchen Neigungen und die ftereotyp gewordene Angſt vor „Staats- 
omnipotenz“ jede gejunde Regung  unterdrüden. 

Hierzu fommt noch der fajt gänzliche Mangel an einem organifierten Parteiweſen, 
ſodaß die in jeder Verfammlung doc) unvermeiblichen Gruppierungen lediglich auf Per- 
jonen erfolgen, und wohin dies führte, hat man ebenfalls aus vorjtehendem zur Genüge 
jehen können. In der That wird in feinem Parlamente, wenigjtens in feinem deut— 
jchen, eine jo kraſſe Intereſſenpolitik getrieben, d. h. eine Politif der perjönlichen 
Intereffen der Parlamentsmitglieder und ihres Anhangs. 

So iſt es denn auch begreiflich, daß der Landesausſchuß ſich in allen Bolfs- 
Schichten nur einer höchſt negativen Popularität erfreuen fann, was auch thatjächlich 
der Fall. Die Namen „Landihaufjüre” (Schuhflidbude), „Ochjenftall* und noch draiti= 
ichere, mit welchen der Vollsmund die Heine Holzbude auf dem Kaijerplag getauft hat, 
* nicht bloß dem äußeren „Stile“. Uebrigens fehlen auch in den einheimiſchen 

lättern jeder Schattierung die Hiebe durchaus nicht. In keinem Lande würde ein ſo 
wenig geachtetes Parlament die Dauer einer Legislatur⸗Periode überleben. 

Da liegt aber der Hafen, indem bei dem bejtehenden Wahljyftem das eigentliche 
Volk auf die Wahlen nur einen ſehr unbedeutenden Einfluß auszuüben vermag und 
e3 für einen Teil der Ber Aa (die von den Bezirkstagen gewählten) * nicht ein⸗ 
mal Legislaturperioden gibt, da dieſelben nur teilweiſe ausgeloſt werden. Ja, es kann 
ſich ſogar ereignen, wie es ſich übrigens vor zwei Jahren mit Notar Fuchs in Mols- 
heim thatjächlich ereignet hat, daß ein bei der Gemeindebelegiertenwahl, wo die Volfs- 
ftimmung .. einigermaßen zum Ausdrud fommt, durchgefallenes Mitglied von feinen 
Bezirfstagskollegen gewählt wird und alfo, nachdem es aus der einen Thüre fortge- 
jugt, flugs durch eine andere wieder hineinjchlüpfen fanı. Auf diefe Weife müſſen fich. 
ie Perfonen,  jelbft die mißliebigiten, geradezu verewigen. 

Freilich ift dies gerade das Ziel, welches man bet der Ausarbeitung eines jo fom- 
plizierten und fonderbaren Wahliyftems verfolgte. Man wollte eben dem Lande die 
von jeder politijchen allgemeinen Wahl unzertrennliche Agitation erfparen, und diejes 

iel ift, wie man fieht, vollftändig erreicht worden. Gewiß war es gut gemeint; man 
ijt aber dabei umvorhergejehen in die erwähnte fapitaliftiiche Verſumpfung Hineinge- 
raten, die vielleicht noch gefährlicher geworden als die politische Agitation; denn die 
wirtjchaftlichen und jozialen Fragen überwiegen doch Sichfih alles andere. Die Not- 


Elſaß⸗Lothringiſche Zeitfragen. 835 
wendigfeit, aus dieſem Zuftande herauszufommen, ift num auch von der jegigen Regie— 
rung anerfannt worden, wie denn die Vorlage der Einführung der deutfihen Gewerbe- 
ordnung an den Reichstag deutlich genug beweift. 

Ein jolches Auskunftsmittel läßt fich indeffen nur ausnahmsweife gebrauchen und 
deshalb wird auch in der Bolfsvertretung jelbft, aber in dem von ung gemeinten 
Einne, d. h. um der Volksmeinung zum unverfäljchten Ausdrude zu wer nicht 
aber, um diejelbe zu unterdrüden, wie es gewifje „Streife* wollen — eine Reorganija- 
tion eintreten müſſen. 

In welcher Weije dies nun zu gefchehen hätte, ift eine Nebenfrage, die wir füglich 
unerörtert lajjen können. Zwar wären wir perfönlih für ein Einkammerſyſtem, wie 
man e3 in vielen kleineren deutjchen Bundesftaaten antrifft, d. 5. für eine teilweiſe aus 
Nechtsfigen, teilweije: aus gewählten Abgeordneten beftehende Kammer. 3. B. könnten 
im Landesausſchuſſe Rechtsfige erhalten: die beiden Bijchöfe, der Präfident des Direl- 
toriumsd Augsburger Konfejfion, der Rektor der Kaijer-Wilhelm-Univerfität, der Ge- 
neralftaat3anwalt beim Dberlandesgericht und die Häupter einiger noch anfäfliger, zur 
alten deutichen Ritterjchaft gehöriger adeliger Häufer, während der Großgrundbejiß, die 
Städte und die Landgemeinden, und zwar getrennt, eine Anzahl Abgeordnete zu wäh— 
len hätten. Die Anmwejenheit der Biſchöfe hätte jedenfalls den großen Vorteil, die 
unerquidliche und im hohen Grade fchädliche Oppofition gewifjer jogenannter Katho— 
lifen, denen Katholizismus und Chriftentum nur als Maske dienen, um ihre wahre 
Geſinnung, eitten ungefunden Demofratismus zu verbergen, zum Verjtummen zu brin= 
gen, und die Errichtung von Rechtsſitzen für einzelne adelige Häufer jowie einer 
gejonderten DBertretung für den Großgrundbefig, hätte, wie wir ſchon früher angeführt 
haben, für- unfere engere Heimat Fe Ken einen großen Wert. Ob indefjen ein jol- 
cher Vorjchlag Ausficht auf Verwirklichung befigt, ift eine ſchwer zu beantwortende 
Frage, und jedenfalls halten wir jedes Syftem, felbjt das von uns durchaus perhor- 
reszierte direfte allgemeine Wahlrecht, für beffer als den jegigen Zuftand. 

Zum Schluffe wollen wir. uns eine fette Bemerkung geftatten: Als die deutjche 
Neichöregierung, nach dem politischen Bankrott der liberalen Wera, eine Politik der 
wirtichaftlichen und jozialen Keformen inaugurierte, war das programmmäßige Betonen 
ihrer Ziele, welches fie bei jeder: Gelegenheit, ſei es im Parlamente, jei es durch die 
ihr ergebene Prejje zu wiederholen nicht verfehlte, ihre befte Waffe gegen die Reaktions- 
bejtrebungen des Mancheitertums, und diejes Verfahren hat ihr — zum Siege 
verholfen. Nichts iſt ja geeigneter, den Maſſen zu imponieren und dieſelben zu ge— 
winnen, als ein zielbewußtes, unerſchrockenes Vorgehen. 

Ebenſo wie im Reiche würde dies der Fall im Reichslande ſein. Sicherlich hat 
dem verſtorbenen Freiherren von Manteuffel, trotz ſeiner allgemein anerkannten guten 
Abſichten, nichts mehr geſchadet als die unter ihm befolgte Bolitit des ruckweiſen Vorgehens 
und des Lawierens. Ob dieje verhängnisvolle Politik das perfönliche Werk des Feld— 
marſchalls oder nicht vielmehr die naturgemäße Folge des dadurch entjtandenen Dualismus 
war, daß neben dem fonfervativen Soldaten ala Sratthafter ein liberales Bureaufraten- 
minifterium errichtet worden war, wollen wir hier nicht unterfuchen. Dieſe Zeit ift 
ja vorüber: durch die Nichtbejegung des Staatsjefretärpoftens ift jener Dualismus 
unmöglich gemacht; der Wille des Statthalters kommt ungeſchwächt zum Ausdrud; und 
daß derjelbe, im Gegenjage zu feinen Vorgängern, nicht bloß verwalten, ſondern auch 
regieren will, hat er zur Genüge in erfreulicher Weife bewiejen. So möge denn aud) 
ein ſtatkes umd öfter wiederholtes Betonen feiner Ziele feiner Negierung über die uns 
eigene gr Schwierigkeiten hinweghelfen, die Bevölkerung über deren Vorzüge auf 
klären und ihn zum Siege führen! 


RITTER 
ee 


8 





Für die Apologeten des poſitiven Chriſtentums. 
Von 


Th. Weber, Breslau. 


Vor furzer Zeit ift bei Friedrich; Andreas Perthes in Gotha folgende 126 Geiten 
umfaffende Schrift erjchienen: „Die naturwiffenichaftliche Weltanficht in Beziehung auf 
Religion und Staat, Erwerb und Ehe“ von Fr. M. A. Höljcher. Diejelbe iſt ge— 
richtet gegen das nunmehr jchon in dreizehnter Auflage vorliegende, duch umd Durch) 
antichrijtliche, von verderblichem Parteifanatismus eingegebene Buch des der litterarifchen 
Welt längft befannten Juden Mar Nordau: „Die konventionellen Lügen der Kultur: 
menjchheit“. Leipzig, Verlag von Bernhard Sclide (Balthajar Eliſcher). Hölſcher 
berüdjichtigt ziemlich ausführlic” auch meine ebenfall® aus dem Verlage von Perthes 
in Gotha im Jahre 1885 hervorgegangene Schrift: „Emil Du Bois-Reymond. Eine 
Kritik feiner Weltanficht*. Er erteilt ihr großes Lob, läßt fich bei der Wiedergabe 
meiner Ausführungen aber auch viele und große Mihverftändnifje zu jchulden fommen. 
Eine Beleuchtung der Höljcherijchen Beurteilung meiner Arbeit in der einen oder an- 
deren Beziehung liegt mir bier fern. Was mich zu den nachfolgenden Erörterungen 
bewegt, ijt einzig und allein die mehr als wunderliche Art, wie Höljcher in der oben 
angezogenen Schrift für die Weltanfchauung des pofitiven Chriftentums in die Schranken 
tritt. Er findet nämlich, daß ich mir die zu dem gleichen Kampfe in dem „Du Bois“ 
(und jüngftens wieder in dem I. Bande meiner ebenfalls bei Perthes in Gotha erjchienenen 
„Metaphyſik“) eingenommene Poſition „unnötigerweife erjchwert habe“. Ich joll diejes 
dadurch gethan haben, weil ich annehme, dat „der Dualismus oder die weſentliche 
Verjchtedenheit von Geift (Seele) und Leib (im Menjchen) die unerläßliche Voraus- 
ſetzung der religiös-chriſtlichen Weltanficht fei, und daß der Monismus oder der Na— 
turalismus unter allen Umftänden zu jener chriftlihen Weltanjchauung in unverjöhn- 
lichem Gegenjate jich befinde“. Dem gegenüber meint Höljcher, fogar unter Berufung 
auf die beiden Korintherbriefe des Apojteld Paulus, daß „eine moniftiiche Anjchauung 
des Menjchen an ich keineswegs mit der chrijtlichen Weltanficht unvereinbar erjcheine* ; 
wohl „unterjcheide das hriftlice Evangelium Seele und Leib oder innere und äußere 
Natur des Menjchen“, ohne fie aber mit mir aud) „al3 zwei wejensverjchiedene Sub— 
ftanzen hinzuſtellen“. Diejer Auffaffung zufolge will Höljcher in feinem Kampfe für 
das Chriftentum umd gegen das Antichriftentum denn auch „darauf verzichten, irgend- 
welche dualiftiiche Vorausjegungen zu machen, und fich auf einen Boden ftellen, der von 
allen Parteien in gleicher Weife anerfannt ift, auf den Boden der Allnatur“. Und den 
Begriff „der Allnatur* Habt er „im allerweiteiten Sinne, jo daß überhaupt nichts 
unleugbar in der Welt Vorhandenes ausgejchlofjen erjcheint“ (S. 6 und 7). 


Für die Mpologeten des pofitiven Chriſtentums. 837 


Als ich dieſe und ähnliche Erpeftorationen in der Einleitung feiner Arbeit las, 
kam mir anfänglich der Gedanke, ob in Hölfcher nicht ein Schalf Nteden möge, der die 
Weltanfchauung des pofitiven Chriftentums nur zu verteidigen vorgebe, um fie defto 
ficherer mitruinieren zu helfen. Indeſſen der Fortgang meiner Lektüre überzeugte mich 
volltommen, daß dies nicht der Fall jei. Hölfcher ift fein Schall. Es ift ihm mit der 
Verteidigung „der religiösschriftlichen Weltanficht“ wahrhafter Ernft, und am Schlufje 
feiner Sgritt (5.124) gibt er ich jogar dem fühen Wahne hin, das hohe Ziel in unan- 
fechtbarer Weife erreicht zu haben. Dieſe Entdedung gibt nun aber vieles zu denken; denn 
fie beweift ſonnenklar, dab e3 immer noch Apologeten des Chriſtentums gibt, die über das, 
was zu diefem wejentlic) gehört und innerhalb feiner Weltanjchauung jchlechthin unauf- 
ebbar ift, jelber nicht einmal gewiß und einig find. Auch unterliegt es feinem Zweifel, 
—* gerade in dieſer betrübenden Thatſache einer der Hauptgründe zu ſuchen iſt, warum 
die Bekämpfung des ſo weit verbreiteten Antichriſtentums unſerer Tage im Gebiete der 
Wiſſenſchaft verhältnismäßig von einem nur geringen Erfolge gekrönt wird. Der Ver— 
wirrung in dem Urteil über die dem Chriftentum wejentlichen Bejtandteile entgegen zu 
arbeiten und die jcharfe, präzife und deutliche Faffung derjelben zu fördern, joll daher 
die Aufgabe der nachfolgenden Auseinanderjegungen fein. In denjelben werde ich zwar 
nicht alle wejentlichen Beitandteile der Weltanficht des pofitiven Chriftentums zur 
Sprache bringen — es ift dies durch die Kürze des mir zugetviefenen Raumes jchon 
unmöglich — aber diejenigen werden erörtert werden, welche die Grundlage aller 
übrigen find und mit deren Preisgebung das fejte Gefüge der ganzen Welt» und 
Lebensanficht des Ehriftentums als unhaltbar zu Boden finft. Alle, die in der Wiſſen— 
fchaft für leßtere8 noch eine Lanze brechen wollen, müfjen daher auch die Pofitionen, 
die ich namhaft machen werde, in erjter Linie zu verteidigen, ja durch eine ftreng 
wifjenjchaftliche Begründung derjelben gegen jeden ferneren Angriff he zu ſtellen ſuchen. 
1. Der geſamte Lehrkomplex des poſitiven Chriſtentums wurzelt in einem ein— 
zigen Punkte, in ſeiner Lehre vom dreiperſönlichen Gotte. Und dieſer Gott der 
Chriſten iſt in erſter Linie Subſtanz oder ſubſtantiales (reales) Sein, und zwar 
Subſtanz oder Sein ſchlechthin, weil er als Subſtanz weder durch ſich, noch durch 
eine andere Subſtanz geworden iſt, fondern ſchlechthin, d. i. von Ewigkeit zu 
Ewigfeit, eriftiert, ohne daß feine Eriftenz auf eine fie bewirkt Habende Urſache (Kau- 
falität) zurüdgeführt werden könnte. Gott als Sein jchlechthin, oder in theologifcher 
Ausdrucksweiſe als principium sine principio, ift der Zahl nad Einer und, weil auf 
dasjelbe die Kaufalitätsidee nicht übertragbar ift, für unſeren Intellekt unbegreiflich, 
denn begreiffich für uns ift nur das, was für feine Exiſtenz eine es bewirfende Urſache 
zur Vorausjegung hat und deſſen Ableitung aus diejer nicht zu den Unmöglichkeiten 
ehört. Aber wohlgemerkt! auf Gott erleidet die Kaufalitätsidee nach chriſtlicher An- 
—* auch nur inſofern keine Anwendung, als er Subſtanz oder Sein ſchlecht— 
hin iſt. In einer anderen Beziehung dagegen iſt Gott nach Weiſung jener Anſchauung 
ohne allen Zweifel ſelbſt die ihn bewirkende Urſache; in dieſer Hinſicht iſt er 
causa sui, ens a se, nämlich nach der Seite feiner Dreiperſönlichkeit. Denn die 
Dreiperjönlichkeit Gottes ift nicht, wie Die göttliche Subjtanz, ſchlechthin, jondern fie 
iſt nach chriftlicher Auffafjung Produkt eines in Gott fich vollzogen habenden 
und von ihm als Urſache bewirkten Prozeſſes. Gott ift zu einem breiperjön- 
lichen Gotte geworden. Da er diefer aber, ohne Mitwirkung anderen fubitantialen 
Seins, aus und durch fich allein geworden, jo hat er, al3 Sein jchlechthin, auch 
ſchlechthin, d. i. von Ewigfeit her, durch abjolute Selbjtbeitimmung zur Dreiper- 
fönlichkeit fich entfaltet. Der Dreiperjönlichkeitsprozek Gottes ift, obgleich ein wahr- 
hafter prozch d. i. ein durch Gott in ihm ſich vollzogen habender Sen ‚ dennoch) 
mit anderen Worten ein ewig vollendeter, fo daß die Dreiperjönlichkeit Gottes 
mit der Subſtanz Gotte8 als dem Sein jchlechthin der Zeit oder Ewigkeit 
nah in Eins zujammenfällt und das Sein ſchlechthin niemal® anders als in ber 
Allg. konf. Monatsichrift 1888. VIII. 54 


838 Für die AUpologeten des pofitiven Chriſtentums. 


abjoluten Form der Dreiperjönlichkeit eriftiert hat. Nichtsdeſtoweniger fommt die 
Dreiperfönlichkeit Gottes als die (abjolute) Dafeinsform oder Erijtenzweife des Seins 
fchledhthin nicht neben diefe und unabhängig von ihm zu ſtehen; jeme ift die— 
ſem nicht foordiniert, fondern jubordiniert, injofern, al® eben das eine Gein 
schlechthin oder die eine göttliche Subjtanz es ift, welche ſich in ihrer (freilich ewig 
vollendeten und abgejchlojfenen) Entwidelung oder Entfaltung die Form der Drei- 
perjönlichkeit gegeben hat. Uub eben weil die leßtere Produkt der Entwidelung oder 
der Entfaltung des Ewigen ift, jo wird fie auch mit Recht und durchaus zutreffend 
als die göttliche Dreifaltigkeit bezeichmet. Aber wie iſt Gott aus umd durch ſich 
von Ewigkeit her zum dreiperjönlichen Gotte geworden? Der Lehrbegriff des pojitiven 
Chriftentums läßt über den Verlauf und die Momente des Prozejjes einen Zweifel 
nicht auffommen. 

2. Das Sein fchlechthin ift, wie jchon erwähnt, als folches em einziges, eine 
ſchlechthin exiftierende jubitantiale Monas, ein urjprüngliches reales Prinzip, welches 
von Ewigkeit her ift, bloß deshalb, weil es ift und zufolge jeiner Bejchaffenheit nicht 
nicht jein fans. Aber diefe eine urjprängliche, ſchlechthin eriftierende Subſtanz hat 
fic durch ihren trinitarifchen Perjonifilationsprozei zu einer dreifachen Eriftenz 
verholfen, und zwar je. Die eine urjprängliche göttliche Monas hat mittelft totaler 
Weſens-Emanation ohme alle und jede Teilung zumächit ſich fich ſelbſt gegenüber 
gejegt; fie hat jich verdoppelt, fo daß die eine urſprüngliche Monas oder die eine 
Subjtanz jchlehthin jegt zweimal da ift, einmal ald emanierende und das andere 
Mal ald emanierte. Zwiſchen den beiden Faktoren beiteht demnach eine Seins— 
oder jubjtantiale Berjchiedenheit nicht, jondern jeder von ihnen ift ganz Diejelbe 
göttliche Subftanz oder ganz dasjelbe Sein ſchlechthin ohne ingendweiche Minderung 
wie der andere. Vielmehr befteht die VBerjchiedenheit beider einzig und allen in der 
Art, wie jeder von ihnen als ein von dem andern Faktor unterjchiedliche® Moment 
in den Prozeß eintritt. Der emanierende Faktor ala das urſprüngliche Sein ſchlecht— 
bin it der erjte, der jich in den Prozeß einlaſſende, und der emanierte Faktor iſt der 
zweite als das Durch jenen mitteljt Total-Emanation von Ewigfeit ber gejehte 
und ihm jelbit gegemübergejehte fubitantiale Produkt desjelben. Die urjprüngliche 
jubjtantiale Einheit hat jich durch den in Rede ftehenden Vorgang zu einer jubitan- 
tialen Zweiheit erjchlofjen, in der zwar keins der beiden jubjtantialen Glieder als 
jolches das andere, wohl aber jedes von ihnen mit dem andern fubjtanttal identijch 
(omjubitantial) ijt, weil beide ein und dasjelbe ungeteilte Sein jchlechthin, nur daß 
eine als emanterendes, das andere ald emaniertes, find. Höchſt anfchaulich finde ich 
den geheimnisvollen Borgang ſchon in der Theologie des Mittelalters gejchildert, und 
zwar in den dogmatischen Deklarationen des 4. Lateran-Konzild vom Jahre 1215. 
Sch erlaube mir die betreffende Stelle wörtlich mitzuteilen. Sie lautet: Pater (unjer 
„emanierender" Faktor) ab weterno Filium (der „emanterte Faktor“) gemerando suam 
substamtiam ei dedit, juxta quod ipse testatur: Pater quod dedit mihi, majus om- 
nibus est. Ac diei non potest, quod partem substantiae suae illi dederit et partem 
ipse sibi retinuerit, cum substantia Patris indivisibilis sit utpote simplex omnino. 
Sed nee dici potest, quod Pater in Filium transtulerit suam substantiam generando, 
quasi sic dederit eam Filio, quod non retimuerit ipsam sibi: alioquin desüsset esse 
substantia. Patet ergo, quod sine ulla diminatione Filius nascendo substantiam 
Patris acoepit, et ita Pater et Filius habent eandem substantiam, et sic eadem res 
est Pater et Filius nee non et Spiritus Sanctus ab utrogne procedens. Ich bitte 
meine Lejer, dieje mittelalterlichen Konzilsaussprüche, und bejonders gewiffe Worte in 
ihnen, mit einem geſchärften Auge fich anzufehen; ich zweifle nicht, daß, wenn dieß 
gejchteht, fie in denjelben die Bejtätigung der Richtigkeit der oben von mir entwidel- 
ten Auffaſſung entdeden werden. 

3. In dem angezogenen Konzilsdefrete ift auch chen von dem dritten Faktor 


Für die Apologeten des pofitiven Chriftentums. 839 


der Gottheit, dem heiligen Geifte, die Rede. Aber wie? Iſt der Selbitentfaltungss 
prozeh Gottes als des Seins jchlechthin durch die ewige Segung des zweiten Faktors 
(des Sohnes) mitteljt Totale Emanation (Zeugung) feitens des eriten Faltors (des 
Vaters) denn noc) nicht zu Ende? Nein! Und warum nicht, und warum fann er 
es nicht jein? 

Zwiſchen dem emanierenden und dem emamierten Faktor oder, um von nun an 
theologijc zu reden, zwifchen Vater und Sohn der einen Gottheit befteht vollkom— 
menjte Wejensidentität, zwar nicht, wie wir oben vernommen haben, in dem Sinne, 
als ob die Subftanz von Vater und Sohn der Zahl nach nur eine fe. Denn hat 
der Bater nach dem angezogenen Konzilsausſpruche in der ewigen Zeugung des Soh- 
nes diejem feine Subjtanz übergeben und diefelbe zugleich für fich auch zurüdbehalten, jo 
ilt offenbar, daß die Subſtanz des Vaters als folche nicht Die des Sohnes und umgefehrt 
ift. Die Wefensidentität (Conjubftantialität) von Vater und Sohn liegt nicht darin, daß 
in beiden die göttliche Subftanz nur einmal vorkäme. Vielmehr ift diejelbe darin zu 
erichauen, daß durch Die Zeugung des Sohnes die eine urſprüngliche jubftantiale Monas 
zwar fich verdoppelt hat, aber — man beachte dag wohl! — ohne alle und jede Teilung 
oder Veränderung, jo dab der Sohn als Subſtanz ebenjo das Sein jchlehthin, wur 
als gezeugtes, wie der Vater ganz dasſelbe Sein ſchlechthin, aber als zeugendes, 
it. Und mit der Identität der Subftanz hat der Sohn vom Vater Gelb werttändtich 
auch alle Eigenschaften derjelben — jo daß der Sohn nad) Subſtanz und Eigen— 
fchaften dem Vater in allem volllommen gleich und nur in Hinficht feines Eintrittes 
in den Organismus der Gottheit von diefem verfchieden ift. Vater und Sohn jtehen 
fi) mit anderen Worten als zwei nad Subſtanz und Eigenfchaften einander voll» 
fommen steige göttliche Faktoren (Perjonen) gegenüber. Aber diefe vollflommenjte 
Gleichheit beider hat in ihnen als folchen noch nicht ihren objeftiv-realen Aus— 
drud gefunden. An jich find beide in den angegebenen Beziehungen vollfommen 
emander gleich, aber diefe Gleichheit ift noch nicht bezeugt durch einen Faktor, 
ber als folcher ebenfo real wie jeder der beiden eriten Faktoren iſt. Und doch ift 
der Eintritt auch diejes dritten Faktors im die Gottheit die unerläßliche Bedingung 
dafür, daß der ewige Selbitentfaltungsprozeh derjelben die Form der Abjolutheit 
reg Wovon wird nun aber der Eintritt des dritten Faktors, des heiligen Geifteg, 

edingt fein? Ganz offenbar von einer zweiten durch Bater und Sohn gleichmäßig 
bewirtten totalen Weſens-Emanation. Bater und Sohn, jeder für fich, ſetzen demnach 
durch eine zweite Total-Gmanation ihre Subjtanz ohne alle Teilung oder Verminde— 
rung noch einmal ſich gegemüber, jet aber zu dem Zwecke, daß die beiden jo gejeßten 
Subftanzen in dem dritten Faktor, dem heiligen Geifte, fich zur abjoluten Wejens- 
Identität und Weſens-Einheit miteinander vereinigen. Die zweite Emanation 
aus dem Vater und die (erjte und einzige) aus dem Sohne, jede die ungeteilte gött- 
liche Subftang, beftehen demnach nicht für fich, ſondern fie treten nur ein, um dur 
ihre Verbindung im heiligen Geiite die abfjolute Wejens-Identität von 
Bater und Sohn zur realen Darftellung zu bringen. Daher ift ihre Ver— 
einigung im heiligen Geifte auch feine formale, jo daß beide Emanationen al3 ſolche 
in demfelben bei und neben einander beftänden, jondern fie ift eine reale in dem 
Sinne, dab beide in ihm zur abjoluten Seins-Einheit zufammengehen. So üt 
der heilige Geiſt, obgleich atıf einer zweimaligen oder auf einer doppeljeitigen 
totalen Wejend-Emanation aus dem Vater und dem Sohne berahend, an Subjtanz 
doc nicht mehr als der Vater oder der Sohn. Er ift die göttliche Subjtanz nicht 
zweimal, fondern wie der Vater und wie der Sohn nur einmal, indem die beiden 
erwähnten Emamationen in ihm zur abfoluten Subftanz-Einheit, zu einer eine 
zigen mit der des Vaters und der des Sohnes jchlechthin identifchen jub- 
itantialen Monas ſich verbunden haben. Und mit dem Eintritte diejes Faktors in 
die Gottheit hat ihr Entfaltungs- als Perfonififationsprogeh die Form der Abjolut- 

54 * 


840 Für die Apologeten des pofitiven Chriſtentums. 


heit erreicht, weshalb denn auch eine weitere Fortfegung des Prozeſſes durch neue 
Emanationen eine Unmöglichkeit iſt. Die eine urjprüngliche göttliche Monas oder 
das eine uriprüngliche Sein fchlechthin hat durch den Gegenjag (Antitheje: Vater 
und Eohn) zum abjoluten Gleichſatze (Syntheſe: Heiligem Geifte) ſich vermittelt — 
eine Wermittelung, durch welche der trinitarische Prozeß als abjoluter Selbit- 
vollendungs= oder Selbitverwirklichungsprozeh des einen urjprünglichen 
Seins ſchlechthin fund und offenbar wird. Fügen wir dem noch Hinzu, daß Die 
drei fubjtantialen Faktoren der einen Gottheit, Bater, Sohn und Heiliger Geijt, ob- 
gleich in der von ums charakterifierten Neihenfolge durd) einander bedingt, dennoch 
aus dem ſchon erwähnten Grunde nicht in einem zeitlichen Nacheinander in die Gott: 
heit eingetreten, jondern in derjelben gleichewig (coätern) find, jo erhellt, daß eben 
die Dreiperfönlichkeit die abfolute Dafeinsform ift, welche die eine und einzige 
ursprüngliche göttliche Subftanz von Ewigkeit zu Ewigkeit fich jelber gegeben hat. 
Und weil die Dreiperfönlichfeit nur die ewige, abjolute Selbjtvollendung oder Selbjt- 
verwirflichung des einen Seins fchlechthin oder der einen urjprünglichen göttlichen 
Eubjtanz ift, fo fann gegen die Grundfehre des pofitiven Chriftentums auch nicht der 
Vorwurf des Tritheismus als eines chriftlihen Polytheismus erhoben werden. 
Obgleich in der trinitarischen Gottheit die göttliche Subjtanz dreimal vorkommt, in 
Bater, Sohn und heiligem Geifte, fo find dieſe drei doc nur ein Gott, weil fie 
alle drei nur die verfchtedenen Momente in der abjoluten Selbjtverwirflichung des 
einen urjprünglichen Seins fchlechthin oder der einen urfjprünglichen jubjtantialen 
Monas find; fie find unins trinitas substantiae. 

4. Der vorher gezeichnete trinitarische Perſonifikationsprozeß ift, wie gejagt, der 
Gottheit eigener Selbitvollendungsprozek, er tft ihre ewige Entfaltung zur Abfofipeit 
des Dafeind. Daher ift felbftverftändlich, dat alle Momente, welche in diefem Pro— 
zeſſe ſich einftellen, ſelbſt nur göttliches Sein und Leben find. Aber außer und neben 
Gott beiteht auch eine Welt al3 die Totalität des nicht-göttlichen, freatür- 
lihen Seins und Lebens. Gie als ſolche ftellt fich in dem trinitarifchen Prozeſſe 
der Gottheit noch nicht ein. Und doch muß fie nach hriftlicher Anjchauung in und 
aus Gott ihren Urjprung haben, da jie als die Totalität des Seins nicht-jchlechthin 
von Gott gejchaffen, nicht aber auch aus ihm emaniert oder von ihm gezeugt tft. 
Haben wir oben die Lehre von der Trinität das Wurzeldogma des pofitiven Chrijten- 
tums genannt, jo find wir mit der Schöpfung der Welt bei dem Zentraldogma 
desjelben angefommen, defjen volle Klarftellung und Begründung für die Wifjenichaft der 
Gegenwart und Zukunft die allergrößte und weitefttragende Bedeutung hat. Aber wie 
wird man fich die Entftehung der Welt aus und durch Gott nad) chriftlicher Weiſung 
zu denfen haben? 

Dffenbar lehrt das pofitive Chriftentum, daß der Weltfhöpfung durch den 
Willen Gottes der Weltgedanfe in der Intelligenz Gottes vorhergeht. Won wel- 
cher Beichaffenheit und welchen Inhaltes wird lehterer num aber fein müfjen? Da die 
Welt die Totalität der nicht-göttlichen (freatürlichen) Subftanzen iſt, alſo zu Gott in 
einem fontradiftorifchen fubftantialen Gegenſatze jich befindet, jo wird auch 
der Weltgedanfe in Gott nicht diefen jelber als Subſtanz, jondern nur die Negation 
feiner als Subſtanz, alfo nicht-göttliche Subitanz zum Inhalte Haben fünnen. Denkt 
Gott fich ſelbſt, jo denft er göttliches Sein und Leben, denkt er die Welt, jo denkt 
er nicht-göttliches Sein und Leben, aljo die Negation jeiner ſelbſt, er denkt einen Nicht- 
Gott. Num eriftiert der eine Gott aber in dreifacher Dafeinsform, als Bater, Sohn 
und heiliger Geiſt, von denen die beiden erjten Faktoren ebenjo die gegenſätzlichen 
Glieder (die Antithefen) der Gottheit find, wie der dritte Faktor der abjolute Gleich- 
jat (die Syntheje) derjelben iſt. Sit daher der Weltgedanfe in Gott die Negation 
Gottes als des Seins jchlechthin, fo wird jener auch die —— Gottes in ſeiner drei— 
fachen Daſeinsform ſein müſſen, alſo ebenfalls drei Glieder einſchließen, von denen 


Für die Mpologeten des pofitiven Chriſtentums. 841 


die beiden erſten ebenſo die Negation der gegenjäßlichen Faktoren des abfoluten 
Seins fein werden, wie das dritte Glied der Gedanfe der Negation des abjoluten 
Gleichjages fein muß. Der Weltgedante Gottes ijt mithin der Gedante 
von drei nicht-göttlichen, freatürlihden Subjtanzen. Und von diejen drei 
Subſtanzen Stehen zwei als freatürliche Gegenjäge (Antithejen) in der Intelligenz Got— 
tes, während die dritte als der Gleihjag (die Syntheje) jener Gegenjäge in derjelben 
auftritt. Der Weltgedanfe Gottes ijt mit anderen Worten der Gedanfe eines 
wejenhaften (qualitativen) Dualismus der Kreatur und jeiner Syntheje. 
Aber jener als jolcher ift ebem auch nur der Gedanfe eines Dualismus freatüriicher 
Subftanzen und ihrer Syntheje in der Intelligenz Gottes. Wirklich, d. i. zur Eri- 
ftenz gelangen fönnen die von Gott gedachten Freatürlichen Subftanzen nur durch 
den (allmäcdtigen) Willen Gottes, und diejes gejchieht in der Weltfchöpfung. 
Die Schöpfung der Welt von jeiten Gottes ift daher nach der Lehre des pofitiven 
Ehriftentums nichts als die Subjtantialifierung des göttlihen Weltgedanfeng 
in drei wejenhaft verjchiedenen Faktoren, als Geijt, Natur und Menſch, 
durch die göttliche Willensallmacht. : 

5. Aus diejer Darlegung geht hervor, daß die wirkliche Welt wohl ein fubitan- 
tial gewordener Gedanke Gottes ift, aber da diefer Gedanke als jolcdher die Nega— 
tion der Subftanz (des Wejens) Gottes zum Inhalte hat, jo iſt jene als jolche 
auch nicht-göttliche Subſtanz oder nicht=göttliches Weſen; d. i. Die wirkliche 
Welt in allen ihren Faktoren ijt nihts von der Subftanz oder dem Weſen 
Gottes. Es iſt daher nach chriftlicher Anfchauung grundfaljch und grundver— 
fehrt, wenn Hölſcher a. a. D. ©. 53 behauptet, daß „die bei der Schöpfung und 
Entjtehung der Welt leitende und zielbejtimmende Idee, aljo die Idee und damit auch 
das Wejen des Weltjchöpfers ſelbſt, verhältnigmäßig cm deutlichiten im Menjchen 
zur Erjcheinung fomme.“ Das Wejen (die Subjtanz) Gottes ift mittelit Emanation 
in jeinem ewigen Dreiperjönlichfeitsprozejje zur Erjcheinung gekommen, aber 
e3 fommt nicht mitteljt Kreation in der Welt und auch im Meenfchen nicht zur 
Erfcheinung. Die gegenteilige Anjicht Höljchers ift Pantheismus, iſt Identifizie- 
rung der Welt oder eines Teils der Welt (des Menjchen) mit Gott dem 
Beten nad) — eine Berhältnisbeftimmung zwijchen beiden, Die, in welcher Form fie 
auch auftreten mag, von dem Ehriftentume al8 einer der radifaliten Irrtümer 
und als eine der verhängnisvolliten Unwahrheiten zurücdgewiejen und ver: 
worfen wird. Dagegen tft nicht bloß in dem Menichen als der Syntheſe des freatür- 
lichen Wejens-Gegenjages von Geiſt und Natur, jondern aud) in den beiden l[eßteren 
durch die Weltjchöpfung ein (negativer) Gedanfe Gottes aus der bloken form des 
Gedanfens in die jubjtanziale Erijtenz übergeführt worden, und eben der in jedem Der 
drei Weltfaktoren jubitantialifierte oder realifierte Gedanke, nicht aber aud) das 
Wejen (die Subftanz) Gottes kommt in einem jeden derjelbern nach der von Gott 
in der Weltihöpfung ihm verliehenen Bejchaffenheit zur Erjcheinung.*) Und dieje 
Beichaffenheit der Weltfaktoren als jubitantialifierter Gedanken Gottes, ohne aus ſei— 
nem Weſen oder etwas davon zu jein, ift, wie wir jchon wiſſen, eine dreifach quali= 
tativ verjchiedene. Die Wejens-Gegenjäge innerhalb der einen von Gott gejchaffenen 


*) Die Behauptung, daß in der Welt und in allen ihren Faktoren die Subjtanz oder das Wejen 
Goͤttes nicht erſcheine, * in der Weltanſchauung des pofitiven Chriſtentums unbezweifelbar. Denn 
dieſes iſt durch und durch antipantheiſtiſch; es lehrt nur einen der Welt transzendenten, 
aber feinen ihr immanenten und auch feinen der Welt transzendenten und zugleich immanenten 
Gott. Nicht die Subjtanz, wohl aber ein Gedanke Gottes ift der Welt immanent, denn dieje 
ift, wie wir vernommen, nicht ald eben nur der jubitantalifierte göttlihe Weltgedante jelbit. 
Aber wenn auch die Subjtanz Gotte® in der Welt nit zur Erſcheinung fommt, jo hat Gott ſich 
doc in der Schöpfung der letzteren nicht unbezeugt gelaſſen. Denn die Welt als Kreatur 
in allen ihren Faktoren trägt auch die Signatur ihrer Geichöpflichkeit an ſich. Und gelingt es dem 
vernünftigen Geiſte, dieje ihre Signatur zu entziffern, jo führt die gemadte Entdedung ihn lonſe— 


842 Für die Mpologeten des pofitiven Ehriftentums. 


Welt find das Reich der reinen (naturlojen) Geifter, nach biblifchem Sprad)- 
ebrauche, der Engel. Es befteht aus einer Vielheit Freatürficher Subjtanzen, von 

a jede, durch einen unmittelbaren Schöpfungsaft Gottes zur Ertitenz gefommen, 
eine Subftanz an und für fich, ein ımgeteiltes und unteilbares ganzheitliches Realprinzip 
ift, welches infolgedejjen durch feinen Entwidelungs- oder Differenzierungsprozeh fich 
anch im die Lebensiphäre der ſelbſtbewußten, freien Perjönlichkeit erhoben hat. Die 
Vielheit der Subjtanzen im Reiche der reinen Geifter ift daher eine urfprüngliche, 
weil Setzung Gottes mittelft Schöpfung. Anders aber verhält es fich in dem freatür- 
lichen Weſens⸗Gegenſatze de3 reinen Gerfterreiches, in der ebenfall3 von Gott geichaffe- 
nen reinen (geiftlofen) Natur. Gott hat nur eine Naturfubitanz gefchaffen. Denn 
die umermeßliche Vielheit der fubftantialen Naturprodukte (der Naturweien), von dem 
unterjten anorganifchen angefangen bis zu dem höchftentwidelten Organismus, beruht 
nicht auf einer Seßung Gottes mittelft Schöpfung, jondern fie iſt das Erzeugnis der 
einen von Gott gejchaffenen Naturſubſtanz auf dem langen Wege ihrer 
Entwidelung oder Differenzierung mitteljt Diremtion oder Zerſetzung 
ihrer urjprünglidhen jubjtantialen Ein» und Ganzheit in eine unermeß— 
liche BVielheit von Teilen (materiellen Atomen). Und eben in dem Umftande, 
daß jedes Glied des reinen Geijterreiches ein ſubſtantiales Ganze, eine Subftanz an 
und für fich, Dagegen jedes Naturwefen nur ein Teilganzes oder ein Fragment der ala 
Setzung Gottes, d. i. der urfprünglich noch ungeteilten, ganzheitlichen, aber in ihrer Ent- 
widelung, freilich der Abficht und dem Willen Gottes entjprechend, in Geteiltheit ausein- 
andergefahrenen Naturſubſtanz iſt — gerade hierin, jage ich, offenbart ſich wie in 
wei Kulminationspunfte der Wejensgegenfag von Geijt und Natur innerhalb des 
eatürlichen Univerfums. Der Menſch aber ala drittes und —— Weltglied 

iſt die Syntheſe des kreatürlichen Weſensgegenſatzes von Geiſt und Natur, indem in 
ihm ein von Gott geſchaffener Geiſt (Seele) und ein Leib als die höchſte Individualität 
der Natur unter der Eimwirkmg des Willens Gottes auf dieſe (auf die Erde) zur 
perjönlihen Einheit oder zu einem Ich fich mit einander verbunden haben oder 
richtiger durch Gott miteinander verbunden worden find. Außer den genannten drei 
Schöpfungsgliedern von Geiſt, Natur und Menſch kann es ein weiteres nicht mehr 
geben, denn in ihmen ijt der Weltgedanfe Gottes jeinem ganzen Umfange nach real 
oder jubjtantial geworden, diejer ijt in jenen durch den allmächtigen Willen Gottes 
aus jeiner bloßen Formalität als Gedanke in die Realität als die Totalität der nicht 
göttlichen, freatürlichen Subftanzen ein: und übergeführt. Wuch gibt es zwifchen den 
erwähnten Schöpfungsgliedern feinen Uebergang aus dem einen ind andere, denn ihre 
Verſchiedenheit ift feine quantitative, graduelle, ſondern eine qualitative, wefentliche. 
Jedes der drei Glieder iſt ein jelbjtändiges, ob zwar mit den beiden anderen in 
lebendiger Wechjelwirfung befindliches Teilganze der Weltfreatur. Und fo fteht denn 
dem Dreieinigen Gotte als dem Sein jchlechthin feit der Schöpfung eine dreieimige 
Welt als die Totalität des Seins nicht-fchlechthin gegenüber. Sie ift eine Welt, weil 
fie die Nealifierung oder die Subftantialifierung des einen göttlichen Weltgedantens 
iſt. Und fie ift eine dreieinige Welt, weil fie aus drei wejenhaft verfchiedenen ſub— 
ſtantialen nicht-göttlichen (freatürlichen) Faktoren befteht: aus Geijt, Natur und Menſch. 
6. Das jind in gedrängtejter Kürze und in vielfach nur flüchtiger Andeutung 

die Hauptwahrheiten, deren Begründung eine Wiffenfchaft, die ſich als Apologetin der 
Lebens, Welt: und Gottes-Anſchauung des pofitiven Chriftentums erweiſen will, vor 
allem andern unausgejegt im Auge behalten muß. Es gilt in erjter Linie, die Welt 
in allen ihren jubjtantialen Faktoren wirklich einmal ald Kreatur Gottes darzuthun, 


— 


quenteriveile auch don der Kreatur zur Erfenntnis Gottes als des Kreators derielben hinüber. Daber 
erhält gerade auf dem Boden der Kreationslehre mit Ausschluß al’ und jeden pantheifierenden Ein 
ſchlages der tieffinnige Ausſpruch des Weltapoftel® in Röm. I, 20 erft recht jeine volle Wahrheit. 


Für die Apologeten des pofitiven Ehriftentums. 843 


mithin den ganzen und halben Bantheismus oder die Jpentifizierung der Welt oder 
eined Teiles der Welt mit Gott dem Wejen nach aus den Hallen der Wiſſenſchaft 
für immer zu erterminieren. Es gilt ferner, über der jo gewonnenen Welterfenntnis 
fi) in wahrhaft wifjenjchaftlicher Form zu Gott ald dem Schöpfer der Welt zu er- 
heben und ihn als den fchon vor der und ohne die Weltjchöpfung in und durch ſich 
abjolut Vollendeten, weil Dreiperjönlichen, nachzuweijen. Sind dieſe Aufgaben erit 
erledigt, jo wird ich die Begründung alles dejjen, was jonjt noch dem Lehrbegriffe 
des pofitiven Chriftentums wejentlich it, verhältnismäßig leicht und wie von Seit 
ſchon ergeben. Allein wo die vorher charakterifierten gewaltigen Aufgaben anfafjen 
und wie ihre Löfung zu einem glüdlichen Ende führen? Der Verfaſſer glaubt 
und bofft, den einzig möglichen Weg, der eine jichere Ausficht auf Erfolg verjpricht, 
in feinen beiden Schriften: „Emil Du Bois-Reymond. Eine Kritik feiner Weltanficht. 
Gotha 1885* und „Metaphufil. Eine wifjenfchaftliche Begründung der Ontologie des 
pojitiven Chriſtentums. Erfter Band: Einleitung und Anthropologie. Gotha 1888* 
betreten zu haben. Die Wanderung nad) dem hohen Ziele muß beginnen mit einer 
ftreng wifjenjchaftlicyen, in der Erfahrung wurzelnden Erforjchung des Menjchen. Die 
Herjtellung einer gründlichen Anthropologie, aljo die lichtvolle und geficherte 
Beantwortung der Fragen: was ijt der Geijt des Menjchen, was jein Leib und 
was der Menjc als die Synthefe von Geift und Leib (Natur)? — die vollfommene 
Löſung dieſer Probleme, fage ich, aber auch nur fie verjegt die Forſchung endlich ein- 
mal auf einen Standpunkt, von dem aus fie in der Lage ift, der ganzen Welt- 
und Lebensanjicht des pojitiven Chriſtentums im Gebiete der Wiſſenſchaft 
zum entjcheidenden Siege zu verhelfen. Denn das unterliegt jetzt ſchon auch 
nicht dem allevgeringjten Zweifel, daß die Rejultate, welche eine gründliche und wahr— 
haft wiffenfchaftliche empirische Erforſchung des Menjchen über diejen und jene Be— 
ichaffenheit erzielen wird, der oben kurz charakterifierten Auffaffung desjelben von 
jeiten des pofitiven Chriftentums das Zeugnis und die Beftätigung nicht jchuldig 
bleiben. Dit aber die rechte Erkenntnis des Menſchen als der Syntheje des Freatür- 
fichen Gegenjages von Geift und Natur erit geivonnen, jo wird jich von hier aus für 
den Forscher eine Fernficht eröffnen, im welcher auch die gegemjäglichen Faktoren der 
MWeltkreatur, das reine (antithettiche) Geifterreich und Die reine (antithetiiche) Natur 
und deren Beichaffenheit jenem Blicke fich enthüllen werden. Die Erfenntni® Der 
Welt in ihren drei Gliedern als Kreatur Gottes führt aber zur Erkenntnis Gottes 
als des Kreators der Welt hmüber. Und hat der forjchende Geiſt in Gott einmal 
den Kreator der Welt gefunden und wiſſenſchaftlich feitgeitellt, jo fann er auch der 
Frage nady der Beichaffenheit Gottes vor der und ohne die Weltichöpfung oder nach 
der Beichaffenheit Gottes an jich nicht mehr aus dem Wege gehen. Auch auf Ddiefe 
Frage wird er die dem Lehrbegriffe des pofitiven Chriftentums entjprechende Antwort 
ſchon finden und wifjenjchaftlich begründen. Da nun aber die vom Chriftentume als 
die frohe Botichaft verkündete Erlöjung der Welt durch den Gottmenſchen Chriſtus 
Sejus nichts ift als die durch dieſen bewirkte Wiederheritellung der durch die Sünde 
des erjten Menschen zerrütteten Schöpfung, jo muß es der Forſchung auf der erklom— 
menen Höhe endlich einmal auch gelimgen, das große Werk des fich erbarmenden 
Gottes in der Erlöjung unferes Gejchlechtes zum vollen Verſtändniſſe und zur An— 
erfennung zu bringen bei jedem, der eines guten Willens ift. Beendigung des langen 
verderblihen Streites der Weltweisheit mit der Gotteögelehrtheit, der Philofophie mit 
der Theologie, der Vernunft mit der Offenbarung it der Preis, welcher der Anthro— 
pologie als der wahrhaft wifjenjchaftlichen Begründung des im Menfchen zur perjön- 
fihen Einheit verbundenen freatürlichden Wejens- Dualismus von Geiſt und Natur 
(Seele und Leib) zuteil werden wird. Und was das bedeutet? Wer wollte jich er- 
kühnen, die unermeßlichen Segnungen zu jchildern, die aus diefer Errungenfchaft den 
Böltern der Erde und namentlich dem deutjchen Volte zufließem werden? 


—— —— AIR * —— 





RENNER ONE 


Leus Geheimnis. 


Erzählung 
von 


AR. v. d. Elbe. 


Zwölftes Kapitel. 


Das jchwärmerische „Käthchen“ hatte den Briefwechjel gleichfalls unermübdet weiter 
eiponnen. Leontine fonnte ſich num allerdings nicht verhehlen, daß die Heinen roſen— 
an Billet3 des armen Kindes inhaltlos und unintereffant feien, aber deshalb 
durfte fie doch eine Bedrängte nicht aufgeben. Selbſt die immer wieder vorfommenden 
Schnitzer beirrten fie nicht. Von einem ganz jungen, ländlich erzogenen Mädchen war 
ja nicht mehr zu verlangen. Zartheit der Empfindung, ein getsifker geſchmückter und 
gezierter Stil und große Geläufigfeit des Ausdrucks fielen ihr daneben auf. 

„Was Olga mir ift, möchte ich aus Dankbarkeit der Kleinen fein,“ ſagte fich 
Leontine gerührt und lieg nicht ab, Käthchen freundlich zuzureden. 

E3 war jet Dienftag, auf heute über acht Tage hatte ſich Herr von Uting mit 
feinem Sohne angemeldet; um am Mittwoch Leos Geburtötag jamt Mündigkeitserklärung 
fejtlich zu begehen. Quoſig hatte eben wieder zwei Briefe aus Göttingen gebracht, mit 
denen die Empfängerin in den einjamen Bogfetgängen des Gartens finnend hin und 
her jchlenderte. 

Vorläufig befchäftigte Käthchens Schreiben die nachdenfliche Wanderin ganz be— 
ſonders. Die Kleine bat flehentlich um eine perfönliche Begegnung, ein Kennenlernen. 
Sie meinte, daß ſie mündlich viel offener jein und viel befler den Rat des Freundes 
empfangen könne. Gegen die Nichtigkeit diefer Annahme ließ fich nichts einmwenden. 

Sollte nun LZeontine ſich als Freundin befennen und die Hilfefuchende zu ſich 
einladen? Es jprach vieles dagegen; wie fonnte fie den Beſuch bei ihrer Hausgejell- 
ſchaft einführen? — Allein das war e3 nicht, ſie wollte fich nicht belügen, fie fürchtete 
noch einen Verlust, wenn fie gejtand, daß jie jelbft ein Mädchen je. Warum jollte 
fie aud) die geborgte Rolle nicht fejthalten, falls jie in derjelben mehr wirken konnte? 
Es reizte fie, ein Abenteuer zu bejtehen. 

Wie oft hatte fie tadelnd hören müſſen, daß fie die Manieren eines jungen 
Mannes habe, daß man fie in den Kleidern ihres Bruders nicht al3 Mädchen erkennen 
werde. Warum jollte fie nicht einmal im Ernſt von dieſer Eigentümlichkeit Gebrauch 
machen, ji in Männertracht für einen Mann halten lafjen und als folcher ihr 
Käthchen auf einen vernünftigen Weg bringen? Sie wollte die kleine Freundin nad) 


Leos Geheimnis. 845 


irgend einem, beiden zugänglichen Ort bejtellen, wo man zujammentreffen und ſich un— 
gejtört ausſprechen Eonnte, 

Die Bittftellerin hatte einen Sonntag vorgefchlagen; gut, der Tag fonnte Leon— 
tinen gleichviel fein, nahm man den nächſten Sonntag Nachmittag auf dem Rohns 
— 2* mit Kaffeehaus und Tanzlokal geſchmückten Anhöhe — bei Göttingen. Unter 
dem dort ſich verſammelnden Volke, von den Studenten und Göttinger Bürgern kannte 
niemand das Fräulein von Rosla näher; fie konnte ſich da entweder von dem unter 
ſich amüfierten Publiftum abjondern, oder mit ihrem trauten Kinde unter die Menge 
mijchen. 

Raſch entichloffen ging jie in ihr Zimmer und fchrieb an „K.“, nächſten Sonntag, 
vier Uhr nachmittags, tolle fie an einem näher bejtimmten Plate des Rohns ihrer 
warten. Jeder jolle als Erfennungszeichen eine weiße Roje vorgeſteckt und einen Brief 
in der Hand tragen. 

Nachdem Leo jolchergejtalt erledigt, was fie „ihre Pflicht“ nannte, wandte jie fich 
in warmer Hingabe dem Briefe Olgas zu; jegt durfte fie ſich damit belohnen, dieje 
gemütvollen Zeilen wieder und wieder zu genieken. „O.“ jchrieb: 

„Sie fragen mich, teurer Freund, ob die Liebe denn wirklich jo mächtig it, daß 
fie Gegenfägliches, Fernſtehendes und Getrenntes zu einander zieht, und ob ich die 
Kiebe in ihrer gewaltigen Kraft jchon fennen gelernt habe? Ich muß Ihnen beide 
Fragen mit „ja* beantworten. Ic erfahre an mir, daß ich mich einem mir äußerlich 
— Weſen mit zwingender Gewalt hingegeben fühle. Mein weiteres Leben 
ſcheint mir nur Wert zu beſitzen, falls mir durch das Glück eine Vereinigung mit dem 
geliebten Gegenſtande beſchieden ſein ſollte. Aber die Hoffnung, meines Lieblings Herz 
zu erringen, iſt ſehr ſchwach. Es wird mir nichts übrig bleiben, als mich nach der 
vermutlich nahe bevorſtehenden Entſcheidung in trauriger Entſagung zurückzuziehen. 
Wer große Liebe kennt, begnügt ſich nicht mit geringeren Empfindungen. Da haben 
Sie den Zuſtand meines Herzens, den Inhalt meiner beſten Lebenshoffnungen; jchenfen 
Sie mir Ihre Teilnahme!“ 

Und das that Leontine; ſie fühlte ihre Augen feucht werden bei dem Gedanfen, 
daß dies herrliche Mädchen, deſſen Auffafiung eine jo hohe und ideale war, vielleicht 
ausfichts[os liebe. Wenn fie ihr doch helfen, zur Erfüllung ihrer Wünfche etwas bei- 
tragen fünnte! 

Plötzlich durchzudte jie ein jäher Schred. Wie, wenn Dlga, getäujcht von ihrer 
Angabe, ein Mann zu jet, fie liebte? Sie glaubte, daß aus einer Korreſpondenz wie 
die ihrige, ein jolches Gefühl entipringen fünne; die legten Briefe der Teuren hatten 
einen bejonders warmen Ton gehabt. Sie jelbit fühlte ſich ganz eigenartig durch» 
Ichauert und ergriffen, wenn Olga von Liebe ſprach — welch ein Verhängms hatte 
fie heraufbejchworen, mit welchen unbefannten Mächten hatte fie gejpielt? Sollte fie 
jegt ihr Gejchlecht der Armen entdeden und Freundſchaft jtatt Liebe bieten? — Nein, 
ihre Vorausjegung war thöricht, ein Trugbild ihrer Eitelfeit, fort damit, fie durfte 
ſich nicht lächerlicd; machen, aber antworten mußte jie gleich, ihre zärtliche Teilnahme 
mußte fie der herrlichen Freundin jo bald wie möglich ausjprechen. 

„Wie jollte das hohe Geſchenk Ihrer Liebe, Sie Treffliche,“ ſchrieb Leontine tief 
bewegt, „nicht jeden Mann beglüden? Wie jollte ein fühlendes Herz Ihnen jeine 
Gegenliebe verjagen fünnen? Das Bild, welches Sie von der Zulammengehörigfeit 
zweier Herzen, von Liebe und Ehe entwerfen, iſt ja jo ideal jchön, daß jegliche fühlende 
Seele davon ergriffen und mit Sehnjucht nach einem jolchen Verhältnis erfüllt werden 
muß. Zweifeln Sie nie an meiner warmen Anerkennung, meiner aufrichtigen Sympathie 
für Sie und die Entwidelung Ihrer Schidjale, die Erfüllung Ihrer Wünsche.“ 

Nachdem Leontine diefe beiden Briefe jür einen jojortigen Ritt Quofigs zur Poſt 
adrejjiert hatte, fühlte jie jich jo bewegt, daß fie zu ihrer Beruhigung wieder in den 


846 Leos Geheimnis, 


Garten hinunterging, wo fie mit Anna zufammentraf. Dieje fchlang den Arm um fie 
und jchlenderte mit ihr durch die jchattigen Laubengänge. 

„Nun, wie ſteht's mit deiner großen Angelegenheit?“ fragte die Iuftige Kleine. 
„Wie viele Befehrte haben ſchon den Schwur der Ehelojigkeit vor dem Tribunal 
deiner unnahbaren Majeität abgelegt?“ 

Leo fühlte fich unangenehm berührt. Raſche Selbftprüfung ſagte ihr, dab ihr 
Brief an Olga durchaus nicht abmahnend laute, und daß auch von dem jentimentalen 
Käthchen feine Männerfeindichaft zu erwarten ftehe. Es fiel ihr aber nicht em, ihre 
Niederlage zu befennen. 

„Sch werde etwas dergleichen — von dem du fprichitt — vermutlich nächiten 
Sonntag beſiegeln,“ jagte fie ftocdend, Doc mit dem alten, überlegenen Ton. 

„Nächiten Sonntag? Halt du eine Verabredung getroffen ?* 

„Sa, ich habe zur Befejtigung meines wohlthätigen Einflujfes ein übel beratenes 
junges Ding, Käthchen, nach dem Rohns beſtellt.“ 

„Sonntag nad) dem Rohns, in das Volfsgedränge? Iſt das nicht gewagt?“ 

„Sei ganz ruhig, ich gehe in einem Sommeranzuge meines Bruders, fein Menfch 
erkennt mich, und von vier bis fünf foll es auch noch nidyt voll fein.“ 

„Leontine! In Männerkleidern!“ rief Anna ganz beftürzt. „Du fannjt dir ja ent- 
jegliche Umannehmlichkeiten zuziehen. Ich bitte dich dringend, das micht zu wagen!“ 

„Unfinn, Kind, was tft Gerwagtes dabei? Ich reite mit Duofig, der, wenn ich 
abfteige, den Brannen hält, bi8 an einen der wenig benußten Sertenpfade zum Rohns, 
lafie Jakob warten, ſteige hinauf, treffe in einer genau bezeichneten verftedten Laube 
un vier Ihr das Mädchen und fehre, nachdem ich mich mit demjelben ausgeſprochen, 
auf dem nämlichen Wege zurüd. Die Sache wird jo ungefährlich und glatt wie 
möglich verlaufen. Mir iſt ja oft gemug gejagt, daß man mich im Julius' Kleidern 
nie für ein Mädchen halten würde.“ 

„Das glaube ich nicht,“ warnte Anna noch einmal umd fchilderte der Freundin 
voll Bejorgnis, wie peinlich es für fie fein müfje, doch erfannt zu werden; wie ſon— 
derbar oft der Zufall Spiele, umd wie übel man von ihr reden werde, wenn e3 in 
ihrem Umgangskreiſe verlaute, daß fie, als Mann verkleidet, in ein Kaffechaus ge= 
gangen jet. 

Ihr Zureden half indes nichts. Je deutlicher jich Leontine bewußt wurde, daß 
fie bis jegt mit ihrer Korreſpondenz, mit ihren bejonderen Anjichten nichts ausgerichtet 
babe, um jo fejter fteifte fich ihr Sinn auf das beabjichtigte Vorhaben. Es war, als 
fei ihr Widerſpruch gegen die gewöhnliche Ordnung der Dinge von einer VBerfchanzung 
in die andere getrieben und halte ſich nun mit äußerſter Hartnädigfeit in der letzten. 
Sie blieb dabei, am Sommtag nachmittag nach dem Rohns reiten zu wollen, und ver— 
lieg Anna in gereizter, jelbitgewifler Stimmung. 

„Es muß ihr jemand beiftehen" — jagte Anna zu ſich jelbft, als Leontine ge— 
gangen war. „Halt, das geht, ich werde ihr Hilfe verjchaffen!“ 

Die Warnungen der Freundin hallten doch in Lens Gemüt nach und erfüllten 
fie während der vier Tage bis zum Sonntag mit peinficher Unruhe. Hätte fie am 
Sonnabend die Verabredung rüdgängig machen fünnen, würde fie es vielleicht gethan 
haben, aber wie jollte jie „K.“ erreichen und jo rajch abbeftellen? Nein, fie durfte das 
arme betrübte Kind nicht täuschen. „Ein Mann, ein Wort,“ jagte fie zu fich jelbft, 
während fie in ihrer verjchlofienen Kammer des Bruders dunkelgrauen Sommeranzug 
vor dem Spiegel anlegte. Die gewonnene Ueberzeugung, daß ihrer fchlanfen Geftalt 
die Sachen außerordentlich gut ſaßen, berubigte ihr Gemüt und gab ihr die afte 
Unternehmungsluft zurüd. 

Der Sonntag fam. Duofig war benachrichtigt, daß er um zwei Uhr mit den 
beiden Pferden — auch der Hans mit einem Herrenjattel verjchen — an der hinteren 


Leos Geheimnis. 847 


Gartenthür halten jolle. Gegen Mittag ging Leontine, von Unruhe gepeinigt, in bie 
Küche, um das wie immer um ein Uhr Au Fe Mittagejjen früher zu beftellen. 

„Sch will ausreiten, Mamjell,“ ſagte fie zu Philippine, die eben den Braten be- 
goß, „könnten Sie wohl etwas zeitiger anrichten? Jakob muß abdeden und Silber 
waſchen, er möchte nicht präzije fertig werden, wenn das Effen ſich hinzieht.“ 

„Recht gern, gnädig’ Fräulein,“ antwortete die Haushälterin und hielt ihre 
tropfende Saucenfelle wie ein Szepter ausgejtredt von fi. „Die ganze Küche freut 
fich, wenn fie Sonntags etwas früher aufatmet. Der Sonntag Nachmittag ift ja auch 
recht dazu geichaffen, 6 etwas Bildung anzueignen.“ 

„Tante Madeweiß macht das Pinchen noch ganz närriſch,“ dachte die junge 
Herrin, indem fie die Küche verlieh. 

Um halb zwei Uhr huſchte Zeontine in den Garten, um fich eine weiße Remon— 
tant-Rofe abzujchneiden; dann wollte fie jich ankleiden. Als fie in ihr Zimmer kam, 
ſah fie zu ihrem Verdruß, daß eben Oberförjter Schröterd mit dem jungen Herrn 
von Grips auf den Hof fuhren. Zum Glüd war Parifius nicht dabei! Unſere neu— 
fihe Begegnung hat ihn verftimmt, dachte fie; ich konnte nicht anders, ich habe ihn 
wieder ungezogen behandelt. Sonderbar, daß es einige Menjchen gibt, gegen die man 
ſich immer wehren muß! 

Die Gäfte famen ungewöhnlich früh, nichtsdeftoweniger wollte fie ſich — als be- 
reit3 ausgeritten — verleugnen lafjen und heimlich entjchlüpfen: fie fonnte in der 
legten Stunde ihr Unternehmen wicht aufgeben, mochten die guten Oberförfters ſich 
mit Süly und Anna begnügen! Letztere ftürzte jeßt zu ihr herein und bejchwor fie, den 
Beſuch als Hindernis ihres unfinnigen Planes gelten zu lafjen. Leo blicb aber hart- 
nädig bei ihrem Vorſatz und ſchickte Anna hinunter, die Gäfte zu empfangen. Dann 
legte fie raſch die Herrenkleider an, ftedte fich die weiße Roſe ins Knopfloch, ein Brief- 
fouvert in die Tajche, nahm Hut und Neitpeitfche und ſchied mit einem zufriedenen 
Blid in den Spiegel aus ihrem Zimmer. 

Auf dem Gange fiel ihr ein, daß fie Hug thun werde, die Hintertreppe hinabzu— 
geben. Diefe führte gleich neben dem Zimmer der Mamjell in einen Raum hinunter, 
von dem man durch die Küche in eine Seitenpartie des Gartend und am unbemerftejten 
an jene hintere Thür gelangen konnte, an der Jakob mit den Pferden wartete. 

Als Leontine neben Pinchens Kammer jtand, hielt fie es für richtig, diefe auf die 
Ankunft der Gäſte aufmerfjam zu machen. So öffnete fie die Thür nur wenig, um 
ſich wicht im ihren Herrenkleidern jehen zu lajjen, und rief hinein: „Die Grünhagener 
find gefommen, Mamjell, Sie fünnten etwas Rahmwaffeln baden.“ 

Pine Krufe ftand vor ihrem mit Pfauenfedern geſchmückten Spiegel, gleich rechts 
neben der Thür, und zupfte jich ihre langen Granat-Ohrbummeln über die gelben Bänder 
ihres neuen Sommerhutes hervor. Auf die Mahmung wandte fie ſich mit einem lang- 
famen „Ja* — etwas zur Seite, jagte aber zu fich jelbit, als die Thür fich jchloß: 
„Das kann Lotte ebenjo gut, ich habe meinen freien Sonntag und werde die Fahr— 
gelegenheit nicht verpafjen.“ 

Leo fand, nachdem fie ungejehen hinansgejchlüpft war, ihren getreuen Jakob mit 
den beiden Pferden zur Stelle, ſaß auf umd ritt, gefolgt von dem Diener, ihrem 
Abenteuer entgegen. 

Die Ungeduld hatte fie getrieben, e8 war ein Viertel vor vier, als fie am Rohns, 
an der hinteren Bartie des Wäldchens, neben einem wenig begangenen Seitenpfade 
abjaß. Leo jchärfte Jakob ein, nicht vom Flecke zu gehen und fie nach etwa einer 
Stunde zurüd zu erwarten. Dann jchritt fie, recht unternehmend gelaunt, auf dem 
Waldwege bis zu den Bänfen und Tiſchen der Slaffeewirtichaft vor. 

Sie hatte richtig gerechnet: e8 war um diefe Zeit moch nicht voll, und auch die 
angegebene Terrafjenlaube fand fich noch frei, ebenjo ein nahe gelegenes Rondel mit 


848 Leos Geheimnis, 


vielen Tiſchen und Bänken. Leontine fette jich, bejtellte bei dem herbeieilenden Kellner 
Bier und wartete. 

Nah und nach füllten jich die Anlagen, jede hell gefleidete, zarte Mädchengeftalt, 
die irgendwo erjchien, konnte das erjehnte „Käthchen“ fein und zog die Aufmerkſamkeit 
der Harrenden auf fich, aber nirgend jah jie eine weiße Roſe vorgeitedt, und feine der 
Schönen wandte fich zu ihrer Laube. Die Tanzmuſik begann und es wurde immer 
lebhafter. 

Auch das Rundteil zur Seite ward jebt von einer Gejellfchaft Luftiger Studenten 
eingenommen, fede, übermütige Gefichter, viele mit Schmarren gezeichnet, darüber den 
Heinen, buntgejtidten Mübendedel. 

„Laßt Stoff anfahren!“ hie e8 — „Werde auch 'ne Maſſe vertilgen* — „Alter 
Schwamm!“ — „Der Kater von gejtern fchon bezwungen?" — „Kunz ift als Faß 
geaicht!“ So lachte und jchwirrte es durcheinander. 

„Was fitt denn da für ein Schmachtlappen ?“ hörte Leo, die fich zurüdgelehnt 
hatte und nicht zur Seite blidte, um feine Aufmerkjamfeit zu erregen, mit halb ge— 
dämpfter Stimme fragen. „Gevatter Schneider oder Handſchuhmacher,“ — „Nein, ein 
hübjches Bürjchchen, ein patenter Kerl!“ 

In diefem Augenblide Enifterte zur Seite der Kies; fie fommt endlich! fuhr es 
durch Leos Sinn, mit ihr kann ich diefen fatalen Pla verlaffen. Sie richtete ſich 
achtſam empor. 

Und um die bufchige Ede trat — Bhilippine Krufe! — Verſchämt lächelud, die 
weiße Roſe vorgeitedt, den Brief in der Hand, jchritt fie auf die männliche Gejtalt 
in der jchattigen Laube zu. 

Leontine fuhr mit einem Schredenslaut empor, ſprachlos ftanden fich die beiden 
Hausgenofjen gegenüber. „Sie — Pine!“ ftammelte die junge Herrin entrüjtet. 

„Ach herrje — gnädig’ Fräulein!” fagte die Krujen mit dem Tone der größten 
Enttänjchung. 

Leontine wandte ji, um die Laube zu verlaffen. Was gab es nun bier noch 
für fie zu thun, fie konnte fich daheim mit der albernen Perſon abfinden. Zudem hatte 
fie auch wieder Ohr für die beängitigenden Bemerkungen der Studenten, die fid auf 
ihre Perſon bezogen. 

„Der Kerl iſt ein Frauenzimmer,“ rief eine Fräftige Bierftimme. — „Alle Donner: 
wetter, ich glaube, Kunz hat recht!" — „Will jelber eins fein, wenn's nicht wahr iſt!“ 
brüllte Kunz, „vorwärts, rempeln wir das Ding an, um zu jehen, ob's Kourage hat!“ 

Einige der ftämmigen Gejellen jprangen empor; Leontine beſchleunigte ihre Schritte. 
Da Stand plöglich der Forſtaſſeſſor Parifins vor ihr. Eine Sekunde lang blidten fie 
fi) im die Augen. „Raſch zu den Pferden, Fräulein von Rosla,“ raunte er, „ich trete 
ihnen entgegen.“ 

Die Geängjtigte warf ihm einen danfbaren Blick zu und entfloh. 

„Sie rennt, jeht ihr, es ijt ein — ſchnell — hinterdrein!“ 

„Laſſen Sie meinen Bruder in Ruhe!“ 

„Wer hat ung was zu jagen?“ 

„Ich, id) laſſe Sie nicht durch,“ — jo ſchwirrte es Hinter der Fortftürzenden her. 

Es war Pariſius geglüdt, die Verfolger jo lange zurüdzuhalten, bis Leo fich auf 
ihren Braunen gejchwungen; nun jagte fie in wilder Flucht von dannen. 


Dreizehntes Kapitel. 


Es waren höchjt verworrene und keineswegs angenehme Empfindungen, mit denen 
Leontine wieder in Holzhaufen anfam. Sie fühlte jest deutlich, da fie zu viel ge— 
wagt, da; ihr Unternehmen, ja ihre ganze vorhergehende Handlungsweife thöricht und 


Leos Geheimnis. 849 


unbefonnen gewejen ſei. Beſchämung diefer närrischen Pine Kruſe gegenüber, die fie 
noch heute zur Mede jtellen wollte, und Verdruß, jo getäufcht zu jein, quälten jie. 

Allein mächtiger als alles andere beunruhigte fie der Gedanke, vor Parifius in 
einem fonderbaren Lichte erfchienen zu fein. Was mochte er von ihr denken? Neulich 
eine Demütigung und nun wieder eine! Aber heute hatte er ihr noch wejentlichere 
Dienste geleijtet ald damals auf der Hühnerjagd. Und wie feine Begegnung mit den 
Studenten wohl abgelaufen fein mochte? Ob er fich mit den Uebermütigen ir 
würde? In Gefahr bringen für fie! Es überlief fie mit jchauderndem Schreden. Was 
fonnte fie indes dagegen thun? hilflos abwarten, daß er die Folgen ihres Wagnifjes 
für fie trug. Ja, da war fie wieder als Frau zum GStillhalten verurteilt; aber als 
die Studenten hinter ihr johlten, hatte fie vielleicht zum erjtenmal die ganze Schwäche 
der weiblichen Natur empfunden. 

Anna fam mit beforgter Miene bald nad) Leontinens Rückkehr in ihr Zimmer: 
„Run, wie ift e8 abgelaufen?“ 

„Ganz gut,“ jagte die Erregte mit unjicherer Stimme: fie fonnte ihren harten 
Sinn noch zu feinem bejchämenden Gejtändnis beugen. 

—— — „Käthchen“ reizend und will fie aus Liebe zu dir jeder Ehe entſagen?“ 

„Möglich.“ 

„Du bift ja jo troden wie eine Semmel von ehegejtern!“ lachte die Kleine; „es 
fcheint doch nicht alles richtig zu fein. Da muß ich dich wohl unterhalten. Schröters 
haben zum Donnerstag zu einem Waldfeft eingeladen. Der gute Oberförfter jagte, er 
müfje durchaus feinen Freund, Herrn von Uting, bei fich jehen und wolle auch eine 
Nachfeier deines Geburtstages geben. Sie famen fo früh, weil fie noch zu Marrmanns 
und Schuſters wollten, die auc) geladen werden follten. Ach, wenn du doc) da einmal 
dein weißes Kleid anziehen möchteft, das Tante Jüly dir zu Weihnachten ge- 
ſchenkt hat!“ 

„Sch kann über Annahme oder Ablehnung der Einladung noch nichts bejtimmen,“ 
fagte Leontine fühl. „Du fiehft, Kind, ich bin ein wenig ermüdet von dem Mitt, ich 
will mich umfleiden und früh fchlafen legen. Grüße Tante Madeweiß von mir, ich 
fomme nicht mehr zum Thee hinunter.“ 

Das war eine deutliche Entlafjung, welche Annchen auch wohl veritand. Sie 
füßte die verftörte Freundin mitleidig, denn fie fühlte, daß diefe jehr verändert und 
fichtlich bedrüdten Herzens fei. 

Als Leo allein und umgefleidet war und forgenvoll in die herabjinfende Däm- 
merung des Sommerabends hinausjtarrte, fuhr der Stuhlwagen des benachbarten 
Müllers vor, welchem Philippine Krufe entſtieg. Ihr Anbli traf die Hinausschauende 
wie ein Stich. Dann lebte die ſchwache Hoffnung in ihr auf, Mamfell Kruſe könne 
wifjen, was aus dem Streit zwijchen Pariſius und den Studenten geworden fei, und 
fie bejchloß, ihr entpupptes „Käthchen“ aufzufuchen. Wenige Minuten jpäter Flopfte fie 
an die Kammer der Haushälterin. 

Pine hatte jchon Licht angeſteckt und ihren put abgejegt, deſſen ſchöne gelbe 
Bänder fie eben glatt ftrich; verjtört blidte fie der Eintretenden entgegen. In beiden 
kämpfte diejelbe Scham über ihre fonderbare Stellung zu einander. Wäre Leo nicht 
bejorgt um die Folgen ihrer Unbefonnenheit für Parijius geweſen, fie würde bei dem 
in dieſer erhitten, robusten Perfon ihr „Käthchen“ zu fehen, laut gelacht 
aben. 

„Was wiflen Sie von dem Verlauf des Streites® auf dem Rohns, Krujen?* 
fragte das Fräulein unficheren Tones. 

„Sch habe mich beeilt, daß ich dazwischen aus getommen bin,“ fagte die Stämmige 
weinerlich. 

„Sie wifjen aljo nicht, wie der Forjtafjefior mit den Studenten fertig ge- 
worden ijt?* 


850 Leos Geheimnis, 


„Nein, einer der jungen Herren fagte zu mir: ‚Olle Kamelle, Sie haben ja 'en 
fonderbaren Geſchmack“ das war mir zu anzüglich und da machte ich aus der unge 
bildeten Gejellichaft weg.“ 

Leontinens Lippen verzogen fich nun Doch zu einem Lächeln. „Wer hat Ihnen 
bei den Briefen geholfen, Kruſen?“ fragte fie vertraulich; „Lorrigierte Tante Made- 
weiß daran?“ 

„Keine Menfchenjeele, Fräulein,“ verficherte Mamjell Bine empfindlich, „ich habe 
ja mein Buch,“ und fie langte einen ſtark gebrauchten Band vom Bord herunter; die 
Neugierige aber las: „Briefiteller für Liebende beiderlei Gejchlechts." „Aha“ — jagte 
fie, „und das K.“, da Sie doch Pine heißen?“ 

„Fräulein nennen mich ja jelbjt immer „Krufen“; auch bin ich Philippine Ka— 
tharine getauft; alfo konnte mir der hübjche Name, den der Brieffreuud mir gab, 
wohl pajjen.“ 

„Na, vergejjen wir die Thorheit!“ Damit verließ die mißgejtunmte junge Herrin 
ihre gebildete Haushälterin. 

Kurze Zeit bevor die beiden Utings am Dienstage anlangten, erhielt Leontine 
durch den Poſtboten einen Brief, dejjen bloßer Anblid fie mit ſeltſamem Erjchreden 
durchriefelte. Er trug ihre voll ausgefchriebene Adrefje in Olgas wohlbefannter Hand- 
ſchrift. — Die Empfängerin flüchtete mit dem Unbegreiflichen in ihr Kabinett und 
Schloß Hinter ſich ab. Sie öffnete; die Unterjchrift bejtand diesmal nicht aus einem 
ſchlichten „O.“, jondern lautete: — „Dtto Parifius*. 

Das Blatt entjanf der zitternden Hand, Schwindel ergriff fie; jene von ganzer 
Geele geliebte, verjtändnisvolle Fremndin und — „Er“ waren eins! 

Es währte einige Minuten, bis fie im ſtande war, Har zu jehen und das, was 
fie las, zu begreifen. Er jchrieb: 

„Angelodt von der Ausficht, mit einem jede Annäherung ablehnenden geliebten 
Wejen zu verfehren, habe ich unſere Ktorrejpondenz begonnen. Ich habe Ihren fein 
Wort geichricben, das ich nicht al3 Mann und der Wahrheit gemäß wiederholen fann. 
Sit es Ihnen nun möglich, das herzliche Gefühl, welches Sie der liebenden „Olga“ 
jchenften, dem werbenden „Dtto“ zu geben, jo wifjen Sie, daß Sie ein Herz beglüden, 
welches lange innig für Sie jchlägt. Am Domerstage hoffe ich Sie Hier zu fehen 
und werde dann mein Scidjal mündlich von Ihnen hören.“ 

Leontine fühlte jich in eine Flut von ftreitenden Empfindungen verjegt; zwei 
Weſen, die beide längſt Bedeutung für fie gewonnen hatten, jchmolzen in eins. Cie 
mußte nun die Züge der Getrennten und ihr verjchiedenartiged Gefühl vereinen, um 
zu erkennen, wie fie zu diefem Ganzen jtehe. Das war eine Aufgabe, die ihre Seele 
eigenartig in Anſpruch nahm und tief bewegte. 

Einmal wollte fie zornig auffahren und ihn „Betrüger“ jchelten, aber jie befann 
ſich ſogleich. Lag eine tadelnswerte Täufchung vor, jo war dieje von ihr begangen. 
Daß Otto fie als Mann anredete, für den fie gehalten fein wollte, durfte fie ihm 
ebenjo wenig verübeln, wie daß er — anonym wie fie — nur mit einem Buchitaben 
unterzeichnete und fich ihre Uebertragung in „Olga“ gefallen ließ. Trotz dem Vorwurf, 
der nach jolcher Ueberlegung auf fie fallen konnte, fühlte fie jich doch frei von jeder 
Selbitanflage, da fie fich vollkommen bewußt blieb, aus den reinjten Beweggründen 
gehandelt zu Haben. Leider Hatte fie fi in dem Weſen der Menjchen geirrt und 
vielleicht auch in dem Mittel fehlgegriffen, die Beſſeren herauszufinden. 

Aus diefen Gedanken wurde fie unfanft aufgejchredt, indem Annchen lebhaft an 
ihre Thür pochte: „Mach jchnell auf, Utings find da!“ 

Leontine konnte wicht umhin, den Vormund zu empfangen, fie verjchloß rajch 
ihren Brief und öffnete die Thür, in der fich nun beide Mädchen mit gleich erregten 
Mienen und glühenden Wangen gegenüber jtanden. „Komm!“ rief Leo ımd eilte 
hinaus, ihren Gäſten entgegen. 


Leos Geheimnis. 851 


Auch Tante Madeweiß war jchon zur Stelle, ald der Wagen mit Vater und 
Sohn vor der Hausthür hielt. Bruno jprang wie ein Gummiball über die gejchloffene 
Wagenthür hinweg, jtand vor Anna, ohne die anderen zu jehen, und ergriff mit beiden 
„= ihre Rechte. „Da bin ich wieder,“ lachte er, „und nun joll ein Haupt- Ulf 
osgehen!“ 

„Den ich nicht mitmache,“ fagte fie jchnippifch und fich halb abwendend, „ich bin 
jet ganz vernänftig geworden.“ Nahm er ihre Ausrede für Exnit, oder erfannte er 
ihre Verlegenheit, Dre jich jo zu helfen ſuchte? Jedenfalls überjchüttete er fie mit einem 
Strom von Inftigen Reden, unter denen fie allmählich ihre volle Unbefangenheit 
wicdergewann. 

Herr Theobald von Uting Hatte fich mittlerweile der Tante und Nichte zuge 
wandt and war von diejen ins Haus geführt worden. „Welche Freude, Sie jo wohl 
zu jehen, meine Damen,“ jagte er in feiner halb galanten, bald, behaglichen Weife, 
„und nun wollen wir dies liebe, junge Täubchen jo lange flügge machen, bis es fich 
freiwillig wieder einfangen läßt." 

„Das wird leider nie gejchehen,“ Elagte Tante Jüly, „ihr harter Sinn bleibt 
von dem janften Blumenfchmelz der Myrtenfränze ungerührt.* 

Bruno war mit Anna in den Garten gejchlendert. Als fie jich einander jo nahe 
fühlten, der Wonne des Beifammenjeins hingegeben, jich jahen und hörten, nachdem 
fie ji) jo lange entbehrt, quoll in den beiden jungen Herzen ein heißes Glüd auf. 
Wie hatten fie ſich jeit der gemeinfchaftlichen Reife nach einander gejehnt! Aber bei- 
Leibe nichts von diejer großen Empfindung merken lafjen, nicht jentimental werden! 
Das war der vorherrjchende Gedanke in den troßigen jungen Gemütern. Derjelbe 
erfüllte fie mit jo viel Standhaftigfeit, daß fie jcherzen und fpotten konnten, als fei 
der eine nur das Stichblatt für die gute Laune des anderen. Sie fpielten mit dem, 
was ihnen doch heilig war, und glaubten fich nicht, weil jeder die Grenze zwijchen 
Scherz und Wahrheit jelbit mühſam verhüllte. 

„Sch Habe mich wahrhaftig koloſſiv nach Ihnen geſehnt,“ jagte er endlich, „finden 
Sie mich nicht traurig abgemagert, zum Schatten, zum Stelett beruntergefommen? 
Bon wehmütigem Verſchwind angehaucht?“ 

„Sicher nicht angehaucht, nur angeheuchelt!“ 

„oO, Sie Ungläubige, warum find Sie auch — mit ſo viel Reiz behaftet!“ 

Der Ruf zum Thee unter der Veranda unterbrach dieſe mit einer wahren Empfin— 
dung ſpielende Neckerei der jungen Leute, die beide ſich jo tapfer fie konnten gegen 
weiche Hingabe wehrten; unter den Augen der anderen hatten fie ſich nun doch einigen 
Bwang aufzuerlegen und der allgemeinen Unterhaltung anzujchließen. 

Auch Fräulein von Madeweiß war jet befonders froher Laune; die Poſt hatte ihr 
eben eine langentbehrte Freude, einen Brief ihrer teuren Schwanenflügel gebracht. Dieſe 
wußte nichts vom Nendezvous am NRadaufalle, fie hatte eine andere, längere Reife 
unternommen gehabt und bat, Züly folle, wenn fie ihre majorenne Nichte verlafjen 
könne, zu ihr nach Berlin fommen, wo jie eine Zierde des äjthetiichen Kreiſes jein 
werde, der fich um die Dichterin fchare. 

Welche Hoffnung für die Chanvinefje! Sie teilte ihre Ansfichten in begetjterten 
Worten den Fremden mit. „Im poetiichen Schaum der Kaiferjtadt zu jchwelgen,” 
lächelte fie, mit gen Himmel gerichtetem Blid. „Welch ein Genuß! Eingeflochten in 
die Strahlenfrone edeliter Geitter, bingegeben dem Duft werdender Lyrik, umjchlungen 
von der Freundſchaft Tempelbau — er jchweigt die Phantajie vor dem Höhenmaß 
folchen Daſeins!“ 

Herr von Uting ſprach die Hoffmung aus, feine liebenswärdige Freundin, falls 
fie veife, auch bei fich zu fehen, und Leontine erklärte, das Zimmer der Tante werde 
ihr immer bewahrt, jie immer ihr lieber Gajt bleiben, wenn nun auch die Führung 
des Hauswejens in die Hände der eigentlichen Herrin übergehen müſſe. 


852 Leos Geheimnis. 


„sn meinem Stifte hat man fich auch ſchon zärtlich nach mir gejehnt,“ meinte 
Züly, jelbitgefällig Tächelnd. „Es iſt faſt graufam, daß ich mich den Kloſterſchweſtern 
fo lange entzogen habe.“ 

Abends, als Phrlippine die Loden ihrer Gönnerin aufwidelte, jagte dieſe: „Es 
wird mir eine ſchwere Trennung fein, liebes Fräulein Kruſe, wenn ich) von hier gehe 
und Ihre angenehme Aushilfe entbehren muß. Es fommt mir auch ganz unnatürlic) 
vor, Sie Bartfühlende unter dem Negimente meiner derben Nichte zurüdzulafjen. Wie 
wäre es, wenn Sie mich als Jungfer und Gejellfchafterin begleiteten?“ 

Pine Krufe war außer fich vor Vergnügen fiber diefen Vorjchlag; fie küßte bie 
Löckchen und Hände der Gütigen und erklärte, Holzhaufen jehr gern verlaflen zu 
wollen. Der Gedanke an den Briefwechjel mit ihrer Hausherrin verleidete ihr den 
Aufenthalt. Und welche Ausjicht für ihre Bildung, wenn fie dereinit in Berlin einen 
üfthetiichen Thee würde bedienen dürfen! 

Während in der folgenden Nacht Anna von einem föftlichen Garten voll unbe- 
fannter Früchte träumte, in dem fie Arm in Arm mit Bruno von Uting luftwandelte, lag 
Leontine jchlaflos da. Sie hatte zum erftenmal die Berbindungsthür zwiſchen Annchen 
und fich leife abgejchloffen, dann alle Briefe „Olgas“ oder „Ottos“ auf ihr Nacht- 
tiichchen getragen und las nun bei brennendem Lichte jene wieder und wieder, 

Ein jchwerer Kampf mit ihrem Herzen, ihrem troßgig hochgehaltenen Mädchenitolz, 
ließ fie die ganze Nacht nicht zur Nuhe kommen. 

Niedergedrüdt durch den Miherfolg ihres mit jo vielem Eifer ergriffenen Unter: 
nehmens, hatte fie viel von ihrem Selbitgefühl und Thatendrang eingebüßt und empfand 
zum eritenmal das Bedürfnis der Anlehnung. Anderſeits legte fich, gerade weil der— 
artige Empfindungen auf der Seite des „Für“ mitzogen, der Stolz auf das „Wider“. 
Was follte fie thun? Sollte fie morgen mitfahren, ihm Aug’ in Auge gegenüber ftehen, 
ihn, treu ihrer Selbftändigfeit, ftreng abweilen? Warum follte fie nicht ihrem Plane, 
nur für des eigenen unterdrüdten Gefchlechtes Wohl zu leben, nachfommen? Der mißglückte 
Verſuch, auf dem Wege der Annonce die rechten Hilfsbedürftigen zu finden, hatte ihr ja 
nichts verdorben, jondern fie nur flüger gemacht. Es erſchien ihr immer noch edler, ein 
Aſyl für Verlaffene, für franfe Frauen, oder für Waiſenmädchen in Holzhaufen zu 
gründen, al3 ſich nur einem einzigen hinzugeben und in den gewöhnlichen Banden der 
Ehe zu leben, wie viele Taujend andere. Was Hinderte fie, ihren Vorfägen, ihrer 
bejjeren Ueberzeugung treu zu bleiben? Wie fonnte fie daran denfen, in die nächte 
Gemeinschaft mit einem Manne, dem Widerjacher ihres Gejchlechtes zu treten? „Dies 
ift nichts als eine Verſuchung, mein hilfsbereites Herz den gemeinnüßlichen Beitrebungen 
für unjer Gejchlecht zu entfremden,* murmelte fie vor fih Hin. „Die Liebe macht 
ſchwach, willenlos, hingebend; ift e8 ein Glüd, ſich erbärmlich zu fühlen? Nein, nur 
dem Feſtſtehen, dem Kraftbewußtſein, entjpringen Glüdsgefühle!" Und doch dachte 
fie daran, ſchwach zu fein, dachte immer wieder daran. Jetzt wie an eine Verſuchung 
zur Untreue an den eigenen heiligen Borjägen, dann wie an ein Lebensglüd, das 
unrecht war, anzunehmen, während fie meinte, mit fich und ihren Kräften in anderer 
Weiſe mehr ausrichten zu fünnen. „OD, leidiger Egoismus, du bift es, der mich um— 
garnt,* flüfterte fie. Allein das verführeriiche Bild der Vereinigung, der fühe Ge 
Danfe, einem teuren Weſen mit ihrem Ich, ihrer pingabe, Glück bereiten zu fünnen, 
fiel immer wieder zu Ottos gunften in die ſchwankende Schidjalswage und hielt den 
Kampf, der Leontinen zuletzt vorfam wie ein Streit zwiſchen Pflicht und Herz, bis 
zum hellen Tage unentjchieden. 

Am andern Morgen jtand Mamjell Kruje mit Hochgetragenem Kopfe in ihrer 
Küche. Das Wörtchen „Jungfer“ war ihrem Gedächtniffe gänzlich entfallen, fie fühlte 
ſich als „Geſellſchafterin“ der Chanoineſſe und erklärte der ſtaunenden Lotte und den 
beiden Viehmägden, daß ſie unter jener Würde ihren hieſigen Dienſt verlaſſe und mit 
dem Fräulein von Madeweiß nach Berlin gehen werde. 


Leos Geheimnis, 853 


Duofig lehnte, während diefe Eröffnung jtattfand, an der Anrichte und fchnitt fich 
ein Butterbrot. Er jagte garnicht? dazu, aber die Ueberlegung wurde fo mächtig und 
drängend in ihm, daß er jein Brot hinlegte und Hinausging. 

Bald darauf jah die Haushälterin, daß fie zu ihrem heutigen Geburtstagsdiner 
nod) einiger Gurken bedürfe; ſie begab jich aljo in den Garten, um jene von Duofig 
zu holen. Bereitwillig ging er mit ihr zu den Veeten und fchnitt ab, was fie brauchte. 
Während er mit Händen und Aermel an den Gurfen wifchte, redete er darüber, daß 
es nichts tauge, wenn der Menjch allein jei. 

„Da Sie nu weg wollen, Mamfell rufen,“ fuhr er heute jonderbar kleinlaut 
und verlegen fort, „ijt es Zeit, daß ich ordentlich mit Sie jpreche. Id weit ja: Ge— 
wohnheit i8 de tweite Natur, aber frien i8 ne jchöne Mode! — Wo wer’ et nu, wenn 
wir unfere Qumpen zufammenjchmifjen? Sch habe wol 'mal mit die Heuforfe gewinkt, 
mir aber nie deutlich ausgejprochen. Sie als rechtliche Perſon, konnten nich' anders 
als fpröde thun. Nu’ aber wird es ernjthaft, und ich wollte Sie man fragen, ob 
Sie mir nich" heiraten möchten.” 

„Sie haben fich diesmal recht anftändig benommen, Herr Quoſig,“ erwiderte 
Pine, „und ich danke Ihnen für den ehrenvollen Antrag; es will mir aber nicht in 
den Sinn, immerzu nur für Sie allein Hier auf Holzhaufen zu jigen. Wenn Sie 
ſelbſt von weiblicher Geburt wären, würden Sie wohl ein befjeres Einjehen in mein 
Recht haben, mid, freiwillig zu bewegen. Die Welt ift groß, und der Menſch hat 
mehr zu thun; befonder8 darf einer feine Bildung nicht vernadhläffigen. Dafür habe 
ich num beſtens gejorgt, indem ich mit unferer gnädigen Stiftsdame nad) Berlin in 
die höheren reife mache. Das arme gnädig' Fräulein fann ja nicht ohne meine Ge— 
jellichaft fertig werden“ — damit nahm fie ihre Gurken an ſich und ging würdevoll 
in die Küche. 

Duofig blidte ihr erfchroden nad, alle die Luftigen Fältchen in feinem Gefichte 
waren langgezogen. „Ein hochnafigtes Menjchenkind,* knurrte er und kraute fich in 
feinen ergrauenden Haaren. „Na, Fräulein Leontinchen Hat doch am Ende recht, daß 
Freien nicht® taugt; jo will ich's Denn wie fie machen und ledig bleiben.“ 

Nach der Feier des Geburtstagsmorgens Fam Herr von Uting in Leontinens Zimmer, 
um feiner Miündel den Stand ihrer Angelegenheiten vorzuführen und Rechenfchaft 
über die Verwaltung des ihm Anvertrauten abzulegen. Als die Gefchäfte erledigt 
waren, jagte Uting: „Morgen follen wir ja nun zu den biederen Schröters fahren, 
am Freitage denke ich aber, gehen wir zum Amtsgericht und fchließen die Wormund- 
Ichaftsrechnung bündig ab.“ 

„Ob ich morgen mit nach Grünhagen fahre," antwortete Leontine, während ihre 
— dunkel färbten, „weiß ich noch nicht, für das Geſchäftliche ſtehe ich Freitag 
zu Dienſten.“ 

„Wie, mein Kind, die braven Oberförſters ſollten ihre Fete ohne die Krone ders 
jelben loslaſſen? Das wäre denn doc fatal! Was gibt es gegen die Geſellſchaft ein- 
zuwenden?“ 

„Mädchen haben ihre Launen,” ftammelte die Bedrängte achjelzudend. 

„Dagegen haft du dich ja immer mit Hand und Fuß verwahrt.“ 

„Dan ändert fich.* 

Später wanderte Vater Uting mit feinem Sohne in einem der fchattigen Bos— 
fettgänge de3 Gartens auf und ab. Bruno redete eifrig auf den alten Herrn ein, der 
etwas bedenklich vor fich hin jchaute. 

„Du gibjt doch jelbft zu, Papa, daß fie reizend iſt.“ 

Der Bater nidte und jchmunzelte: „Ein ſüßes Ding, haft recht, — aber heiraten 
— ihr jeid beide zu jung.“ 

„Sch weiß jelbjt nicht, wie ich auf den Einfall fomme, aber ich halte es nicht 
mehr neben ihr aus, ohne fie in meine Arme zu reifen und durchzufüffen. Sie hat 

Aug. tonſ. Monatsichrift 1888. VIII. 55 


854 Leos Geheimnis. 


mich reineswegs mit ihrer Nettigfeit feſt gefriegt. Entweder will ich, wie ich bier 
ftehe, abreijen, geradezu ins Unglüd hinein, oder du mußt fie mir geben.“ 

„Na — dann in Gottesnamen! Aber was wird deine Mutter dazu jagen!“ 

E3 war am Donnerstag. Gleich nad) dem Eſſen jchlüpfte Annchen mit dem 
friſch ausgebügelten weißen Stleide der Freundin über dem Arm in Leontineng 
Bimmer. 

„So,“ lachte die Kleine, die ſelbſt jchon feftlich gejchmüdt war, vergnügt, „nun 
leg’ 'mal deinen alten dunfeln Herrenrod ab und ziehe did) an, wie es einem geöiden, 
jungen Geburtstagsfinde zufommt. Es ift ja purer Unfinn, nicht mitzuwollen und 
dazujtehen, al3 hätteft du ’en Mord auf der Seele.“ 

Leontine Ichnte allerdings mit düfterer Miene am Fenſter; fie hatte die brennende 
Stirn an die Scheibe gelegt und wandte ſich nur langjam um, da fie fich jcheute, Die 
Thränenjpuren auf ihrer Wange der [ujtigen Freundin zu zeigen. Noch immer 
ichwanfte fie unter Eeelenpein zwijchen dem entjcheidenden: joll ich oder ſoll ich nicht? 

Anna that, al3 merke fie von all der Dual, all den Kämpfen gar nichts. Sie 
hüpfte um die Ernfthafte her, plauderte dies und das, framte herbei, was jene jonft 
noch zu ihrem Anzuge gebrauchen mochte, und nahm als jelbjtverjtändlich an, was Leo 
immer noch für unentjchieden gehalten. Eo fam es, daß die ſchwermütige Meberlegung 
ein Ende gewann, und Leontine, fie wußte jelbft nicht wie, fich in der ungewohnten 
Kleidung vor dem Spiegel fand, umtanzt von ihrer in die Hände jchlagenden Gefährtin, 
die fich gar nicht genug über das hübjche Ausjehen der Gepußten freuen konnte. Dann 
fam die Kleine noch mit zwei frifchen roten Roſen gelaufen, von denen fie eine Leo, 
die andere fich ſelbſt vorftedte. 

Im nächſten Augenblide fuhr unten der Wagen vor. „Nun raſch Hut, Schirm 
und Handſchuhe, guter Leo!" bat Annchen, und dann liefen beide Mädchen miteinander 
die Treppe hinunter. 

Quoſig, der den Kutjcher machte, jah ſich ganz erjtaunt nach jeiner Herrin um. 
„Ale Wetter, ift die heute fchmud,“ dachte er, „jieht doch netter aus, als wenn jie 
dem jungen Herrn jein Sommerzeug anhat.“ 

Die andern waren auch der Meinung, daß Leo das Weit gut Eleide, und jprachen 
ſich anerfennend darüber aus. ALS Leontine nun in fröhlicher Gejellihaft — denn 
jowohl das alte wie das junge Paar fcherzte umd lachte — durch die eignen Felder 
und dann durch den jchönen Wald dahin fuhr, bemächtigte fich ihres Herzens ein aufs 
quellendes Wonnegefühl, ein Sehnen und Hoffen, ein Frohlocken und Zagen, wie fie 
e3 nie gefannt. Ja, der Menjch follte und durfte dem natürlichen Drange zum per: 
fönlichen Gflüde folgen. Man konnte in jeder Lage wohlthun und für andere leben. Wo 
fi fein Unrecht mit der Befriedigung eines natürlichen Herzenswunjches verband, da 
gejtattete der gütige Schöpfer das Begehrte. Und was fie vor allem andern erjehnte, 
das wußte fie jet ganz genau. Welch ein Troft, endlich mit fich im NReinen zu jein! 

Freudiger Empfang wartete der fleinen Gejellichaft in Grünhagen. Vier ländliche 
Mufikanten ftanden unter den alten Eichen vor dem Forſthauſe und jpielten luſtige 
Weiſen. Gepugte Gäſte bewegten jich auf dem Raſen unter den Bäumen, ein reich 
bejegter Kaffeetich blinfte mit weißem Tuch und buntem Gejchirr durchs Grün herüber. 

Schröters empfingen die Anfommenden mit Herzlichfeit. Leontine verjtand indes 
wenig von des guten Oberförjters lebhafter Begrüßung; fie hatte nur einen einzigen 
Blick in ein freudeftrahlendes Augenpaar gethan, aber diefer Bli hatte fie jo verwirrt, 
daß fie für mehrere Minuten gar nichts mehr fah und hörte. Am Kaffeetifch unter 
den Anreden der Bekannten fand fie fich wieder. 

Nach dem Kaffee, als man ich zwanglos bewegte, ftand Parifius plöglich neben 
ihr. „Darf der Freund auf dem Grunde weiter bauen, den die Freundin gewonnen ?“ 
raunte er ihr zu. 

Sie nickte mit ſcheuem Augenaufjchlag; wo war ihre fühle Sicherheit geblieben? Als 


Leos Geheimnis." 855 


er jie jo verändert jah, wußte er, daß er gejiegt habe. Ein ſtolzes Gefühl der Be- 
friedigung fchwellte jein Herz, jchweigend wandelten fie unter den Bäumen wer 

Leontine“, hob er endlich Eure an — ihm war, als müfje er in Jubel aus» 
brechen, jo bald er nur die Lippen öffnete, — „Leontine teures, herrliches Mädchen, 
wollen Sie mit mir vereint verfuchen, Ihre Ideale zu verwirklichen? Wollen wir, 
eins das andere ftügend, dem Leben einen zweifachen Reiz, einen zweifachen Segen 
abgewinnen?“ 

Sie blickte zu ihm auf und reichte ihm die Hand. „Sch will alles Gute — alles, 
was Sie wollen.“ 

Sie waren hinter einem Hafelgebüfche angelommen; hier legte er die Arme um 
ihre Schultern, küßte fie wie von Heiliger Scheu erfüllt und flüfterte: „Meine Braut!“ 

Dann lachten fie beide, als fie Nic umjahen; die8 war ja das Geſträuch, an dem 
er vor furzer Zeit ihren Braunen eingefangen hatte Waren fie denn noch diejelben 
Menfchen wie damals? 

Als fie ſich anfchidten, zur Gefellfchaft zurüdzufehren, trat ihnen aus einem 
anderen Gebüjch Bruno, fein Annchen am Arm, entgegen. Beide Baare Hatten mit 
einer leichten Verwirrung zu kämpfen, Die Freundinnen überwanden jedoch dieje An- 
wandlung in einer herzlichen Umarmung. „Mir däucht“, fagt Otto lächelnd, „hier 
haben fich vier zufammengefunden, die alle ‚auf dem nicht mehr ungewöhnlichen 
Wege — der Ehe, rg zu werden hoffen.“ 

„Richtig“, antivortete Bruno, „was bleibt uns über beide Ohren verliebten Leuten 
anderes übrig ?“ 

Man kehrte nun in heiterem Geſpräch zur Oberförfterei zurüd. Welche Ueber- 
rafhung für die ganze Gejellchaft! Und wie war es dem Forſtaſſeſſor gelungen, fich 
das fpröde Fräulein von Rosla zu gewinnen? 

Glückwuͤnſche überfluteten die beiden jungen Paare; das Erftaunen, die Aufregung 
nahmen fein Ende. 

„Sehen Sie wohl, Verehrtefte,“ jagte Herr von Uting vergnügt zum GStiftsfräu- 
lein, „das Täubchen hat ſich doch gutwillig wieder ein Net überwerfen laſſen, bie 
läftige Freiheit hat nur einen Tag gedauert.“ 

„Nicht jede ift fo fchmetterlingsartig gebildet,“ entgegnete Fräulein Süly feierlich, 
„um über die Blumenkelche und Klippen des Lebens unverfengt hinweg zu gaufeln.“ 

Etwas von der inneren Seligfeit der Verlobten jchien fic) dem ganzen Kreiſe mit- 

teilen, man hatte lange Zeit feine fröhlichere Gejellichaft gejehen. Nur der junge 
* von Grips ſchlug ſich tief betrübt in die Büſche. 


Ende. 


55* 


— — — — 





Die Branntiveinfrage in der Schweiz. 


Von 


Dr. Sri Baur in Bajel. 


Als im Sommer 1884 die eidgendffifchen Räte befchloffen, von Staat? wegen der 
Branntweinpeft entgegenzutreten, da fing man im ganzen Lande an, fih mehr als 
bisher mit der Altoholfrage zu befafjen, und es war damals ein vielgehörtes Wort, 
das Uebel müfje „Lonzentrifch” bekämpft werden. Man wollte darunter verjtanden 
wifjen die Kriegführung, welche nicht mit einfachem Frontangriffe fich zufrieden gibt, 
fondern den Gegner umzingelt und von allen Seiten andringend ihn gleichſam erdrüdt. 
Die ſtärkſte Hilfe erwartete man ziemlich allgemein vom Staate, getreu dem Zuge unferer 
Beit, nach welchem man in der Republif mehr noch denn anderswo durd) den Staat 
Taft ausschließlich Heilung von allen Krankheiten des Gejellichaftsförpers, Nettung von 
jeglichem Elend, Erlöjung aus jeder widerwärtigen Lage auch für den einzelnen fordert. 
Neben den jozialiftiichen Strebungen ging her eine mächtige Bewegung in unjerem 
ſtark ausgebildeten und weit verbreiteten Vereins: und Gejellichaftsweien. Der Kampf 
gegen den Alkoholismus wurde plöglich Mode, jedermann wollte ſich daran beteiligen, 
überall ſann man auf Mittel und Wege, den Schnapsgenuß zu mindern. Die Ge- 
meinnügigfeit erblidte ihre Waffe vorzüglich in der Beichaffung nahrhafter, wohl 
fchmecender und dabei doch möglichjt billiger Nahrungsmittel. Auch den Zuzug der 
bisher in weiten Streifen, bejonders in den jtaatlichen, ziemlich gering geachteten 
Mäfigfeitsvereine dachte in diefem Kampfe niemand zu miffen. Im Gegenteil, dieſe 
„Fanatiker“ wurden als unerjchrodene Vorfämpfertruppe mit doppelter Freude begrüßt 
und benüßt, die Mitglieder folder Vereinigungen tragen den Gedanfen der Enthalt- 
ſamkeit von allem Alkohol bis ins entlegenjte Dorf und bringen der Bevölferung 
überall nach und nad) die Erfenntnis bei, daß ein Einhalten im Genuffe des verbrei- 
tetjten Giftes dringend notwendig fei, fofern nicht der einzelne und die Gefamtheit 
einem langjamen Untergang entgegenfiecyen joll. Endlich erhob auch die Wifjenjchaft 
ihre Stimme; nicht nur dab Aerzte, Phyfiologen und Statiftifer in den für ihres- 
gleichen bejtimmten Büchern und Tabellen die Schädlichkeit übermäßigen Altohol- 
genufjes wiljenschaftlich an unwiderleglichen Zahlenreihen nachwiejen, man trat auch 
unter das Volk mit diefen Anfichten, und in mancher Dorfkirche hat der Arzt bei den 
Mäpigfeitsverfammlungen die Kanzel bejtiegen und den ftaunenden Bauern eine neue 
Botichaft populär-wilienichaftlich ausgelegt. Ja es ließ fich ein Hoch angefehener 
Univerfitätslchrer vernehmen, der in gemeinverftändlichem Vortrage nicht die Schäden 


Die Branntweinfrage in der Schweiz. 857 


der Unmäßigfeit, jondern die Verderblichkeit jeglichen Alkoholgenuſſes ſchlechthin nach— 
wies und mit feurigen Worten völlige Enthaltfamfeit predigte. E83 gelang dem Manne 
fogar, auf der Univerjität Bajel einen Studentenverein ohne Bier oder jonjtigen 
Alkohol zu begründen, welcher bei EelterSwafjer und Milch feine - frohen Kommerſe 
foll gefeiert haben. Wir wiſſen nicht, ob der Verein noch befteht; wohl aber fennen 
wir unter den Studierenden unferer Hochjchule verjchiedene, welche auf eigene Fauft 
Enthaltjamfeit üben und fich vorzüglich dabei befinden. 

Wenn in den folgenden Blättern von Alkoholgegnern die Rede ift, jo veritehen 
wir darımter in der Negel nicht die Feinde alles und jeglichen Alkoholgenuſſes, ſon— 
dern lediglich die Feinde des Mißbrauchs geiftiger Getränke. Wir ftehen nicht auf 
dem Standpunkte englischer Abjtinenzler, welche auch mäßigen Weingenuß als Sünde 
verdammen und hierauf bezüglichen Bibelftellen Gewalt anthun, um fie ihren Zweden 
dienftbar zu machen, und welche den Alkohol eine „Gabe des Teufels” nennen, wäh— 
rend doch nur menjchliche Verkehrtheit das göttliche Gefchent vielfach in fein Gegenteil 
verwandelt. Nur wo ein Gewohnheits-Säufer, um fich von jeinem Laſter zu retten, 
volle Enthaltfamfeit übt, oder wo zur Unterftügung eines folchen in feinem jchweren 
Kampfe ein anderer freiwillig das Gelübde der Enthaltung auf ſich nimmt, da ver- 
mögen wir eine Berechtigung diefer legteren anzuerfennen. 


* * 
* 


Der ſchweizeriſche Mäßigkeitsverein, deſſen Mitgliedern Enthaltung von 
allem Alkohol Pflicht iſt, zählte im Herbſte des Jahres 1887 im ganzen 4500 Ange— 
— Er beſteht zu einem großen Teil aus ehemaligen Säufern, welche durch die 

emühungen von Mitgliedern des Vereins dem Elend entriſſen, ihrer Familie und 
ehrlicher Arbeit wiedergegeben wurden. An der Spitze ſtehen vielfach Geiſtliche, wie 
denn ein ſtark religiöſer Zug unſre Mäßigkeitsvereine kennzeichnet. In dieſem Um— 
ſtande liegt aber auch eine Gefahr für die „Temperenz“. Es liegt uns fern, die Not— 
wendigfeit der Neligion auch für diefen Zweig menschlicher Liebesarbeit in Zweifel zu 
giehen; das Chriftentum erjt macht den „QTemperenzler“, welcher ſich aus der Sklaverei 
es Laſters wieder zu einem freien menschlichen Dafein emporgerungen hat, wirklich 
zum geretteten Eäufer. Allein in diefen Kreifen wird u. a. das „Zeugnisreden* nad) 
methodijtijcher Art oft und viel betrieben. Da fönnen wir uns denn der Befürchtun 
nicht enthalten, e8 möchte manchmal eine Seele der Trunkſucht entrifjen werden * 
dafür dem geiſtlichen Hochmut und der Heuchelei verfallen. Dieſe Gefahr liegt um ſo 
näher, als es doch auch für die Religioſität einer gewiſſen Vorbildung bedarf. Woher 
das Verſtändnis für die höchſten Schätze unſres Glaubens kommen ſoll bei einem Men— 
7* der noch vor kurzem in beſtändigem Branntweinraufche hinduſelte, das iſt ſchwer 
abzujehen. Ein erziehliches Vorgehen, ein Fortſchreiten vom leicht Verjtändlichen zum 
Scwierigern, erjcheint auch hier jehr angezeigt; jonft werden jich die armen Bekehrten 
für ganz befonders begnadigte Gejchöpfe halten; das ſtets wiederholte öffentliche „Zeugnis“ 
über die Errettung gebiert Heuchelei, und das Gleichnis von der Austreibung des Teu— 
fels durch Belzebub muß wieder Anwendung finden. Auch ſonſt gibts bei den Mäßig- 
feitSvereinen noc, Auswüchje zu bejchneiden. Wir erwähnen die jogenannten „Hoff 
nungsjeftionen“ für Kinder unter 15 Sahren, welche das Enthaltjamfeitsgelübde auf 
fi) genommen haben, Für folche Kinder ift Milch das felbftverjtändliche, einzig rich- 
tige Getränk und jomit jedes befondere Gelübde der Enthaltjamfeit vom Alkohol ein 
Unfinn. Wir geben gerne diefer Ueberzeugung inbetreff der Mäßigfeitsvereine bei 
dieſem Anlaß Ausdrud, da eine kürzere, nicht genauer begründete Aeußerung ähnlichen 
Inhalts, welche wir an diejer Stelle thaten, jeiner Zeit manchen Orts Kopfichütteln 
erregte. Wir erfennen dabei aufs bereitwilligite den großen Nuten an, welcher der 
menkhlicen Gejellichaft aus der Thätigfeit der Mäßigfeitsvereine erwächſt. Gar viele 


858 ‚Die Branntweinfrage in der Schweiz. 


anfcheinend retiungslos dem Schnaps verfallene Menfchen wurden durch Bemühung 
von „Temperenzlern“ einem mäßigen Wandel, —— Arbeit, ruhigem Familienleben 
wieder gewonnen. Mehr noch als dieſe höchſt anerfennenswerten Erfolge der Mäßig— 
feitövereine interejfieren uns hier deren Bejtrebungen in propagandiftiicher Hinficht. 
Auf diefem Gebiete leisteten fie der gegen übermäßigen Alfoholgenuß gerichteten Zeit- 
ftrömung den fchäßbarften Vorſchub; denn ihre Fake thatfächlichen Erfolge, jo wert- 
voll fie für den einzelnen Geretteten und für dejjen Angehörige fein müfjen, fallen für 
die Gejamtheit nur wenig in Betracht. 

Jede „Sektion“ des jchweizeriichen Mäßigkeitsvereins pflegt von Zeit zu Zeit neben 
den regelmäßigen Zuſammenkünften öffentliche Verſammlungen für jedermann abzu= 
halten. Dabei bindet fie fich nicht an eine bejtimmte Ortſchaft oder an dasjelbe Lokal, 
fie wechjelt vielmehr gerne den Schauplag. Mit Vorliebe werden dieſe Berjammlungen 
anberaumt für Ortichaften, wo eine „Sektion“ noch nicht bejteht. Gewöhnlich gibt der 
DOrtögeiftliche die Kirche zur Verſammlung her, verleiht wohl auch durch feine perjön- 
liche Anwejenheit der ganzen Sache ein erhöhtes Anjehen. Die Mäpßigfeitsverfammlung 
pflegt nicht nur von dem Firchlich gefinnten Kreifen, jondern ebenjo zahlreich von den 
weniger ernft Denfenden aufgefucht zu werden, welche der Bewegung mit Miktrauen 
ujehen. Auf den einfeitenden Vortrag eines Freundes oder Gönners der Mäßigkeits— 
Sache folgt — der Geſang eines Kirchenchors, dort eines aus ehemaligen Trinkern 
uſammengeſetzten Quartettes, deren nicht wenige beſtehen; gerettete Säufer erzählen 
die Geſchichte ihrer Heilung oft in recht draftischer Sprache, dazwijchen erjchallt Ge— 
meindegejang, und Gebet bejchließt die VBerjammlung Man — über ein ſolches 
Mäßigkeitsfeſt und deſſen in den Einzelheiten vielfach an amerikaniſche „Revivals“ 
erinnernden Verlauf denken, wie man will; der Propagande für Bekämpfung des Alko— 
hols dienen ſolche Tage gewiß. Wie vieles wird doch gewonnen ſchon dadurch allein, 
daß in weiteren Kreiſen ein Begriff von der Schädlichkeit übermäßigen Branntwein- 
genufles erwacht, daß hier und da einem allzu eifrigen Freunde geiftiger Getränfe 
er Stachel ins Gewiſſen gedrüdt wird! Oft wirft es beinahe erheiternd, wie jolche, 
die bisher der ganzen Bewegung ferne ftanden und fie nur durch die Brille der 
Wirte und der mit diefen verbundenen „Kenner“ betrachteten, nach dem Beſuch einer 
Mäßigfeitsverfammlung geftehen müfjen, die hier verfochtenen Grundſätze jeien eigent- 
fi jo verrüdt nicht, und das blaue Band im Stnopfloch, das Zeichen der Zugehörig- 
feit zum Mäßigfeitsverein, noch nicht ohne weiteres eine zyreifarte ins Irrenhaus. Faft 
regelmäßig nach einer Mäßigfeitsverfammlung auf dem Lande finden ſolche Stimmen 
ihren Ausdrud in der — Lokalpreſſe und wirken gewiß ihr Gutes noch an 
manchem Orte, wo man die an der Verſammlung ſelber von lauter Mitgliedern und 
Freunden des Bundes geſprochenen Worte mit mehr Mißtrauen aufzunehmen geneigt 
war als dies Urteil eines Unbeteiligten, dem man Voreingenommenheit nicht zutraut. 
E3 jtände zu wünjchen, daß mehr noch als bisher die Aerzte an der Mäßigkeitsbe— 
wegung ſich beteiligten. Erfahrungsgemäß übt auf die Menge ihr Wort einen bebeu- 
tenden Eindrud, Der Arzt kann bloße Mäßigfeit im Alkoholgenuß empfehlen, um 
nicht durch das Lob gänzlicher Enthaltjamfeit läſtige Konfequenzen über ſich zu neh— 
men. Uebrigens enthält fich auch von den Geiftlichen, welche zu gunften der Mäßig- 
feitSvereine auftreten, felten einer gänzlich des Alkohols, und dennoch verfehlen ihre 
Worte nicht die beabjichtigte Wirkung. Denn der Hauptnachdrud pflegt je und je auf 
dem übermäßigen Trinken zu ruhen; gänzliche Enthaltung wird nur dem eigentlichen 
Säufer empfohlen, welcher auf andere Weiſe feinem Lafter nicht entfommt. 

Wie bereit3 erwähnt, tritt im ſchweizeriſchen Mäßigfeitsverein ein religiöfer Zug 
neben dem nächjtliegenden Zwede des Bundes ftarf hervor. Die Nachteile, welche 
damit zufammenhängen, haben wir oben jchon bejprochen, und es bleibt ung nun die 
angenehmere Pflicht, auf die Vorteile Hinzuweifen, welche aus diefer Verbindung mit 
ber Religion dem Vereine erwachſen. Mancher ernftgefinnte Chriſt nämlich, von den 


Die Branntweinfrage in der Schweiz. 859 


religionslofen Kreifen gänzlich zu jchweigen, iſt geneigt, diefen Umstand als der Ver— 
breitung der Mäßigfeitsbewegung durch alle Schichten der Bevölkerung Hinderlich zu 
beflagen. Wir jehen vielmehr in dem Umfjtande, daß die deutjche Bewegung der 40er 
Sahre, welche das religiöjfe Moment unbeachtet ließ, jo kläglich im Sande verlief, ſo— 
wie darin, daß heutzutage dies- umd jenjeits des Atlantijchen Meeres faum ein Mäpig- 
feitäverein befteht, der nicht wejentlich auf religiöjer Grundlage beruhte, eine Gewähr 
dafür, daß diefer Kampf gegen die Trunfjucht zu ſchwer ijt für dem, der nicht immer 
wieder feine Freudigfeit ftärfen kann durch das Gebet zu dem, deffen Kraft umerjchöpf- 
lich ift. Denn man gebe fich feinen Täufchungen Hin; etwas anderes ift es, als barm- 
herziger Samariter den durch Trunk vertierten Säufern nachgehen, fie durch ſanfte 
Ueberredung zu einem Verſuche mit der Mäßigkeit bringen, ihnen ftet3 wieder Mut 
und Ueberzeugung ftärken; und etwas anderes wiederum, vom behaglichen Arbeits— 
zimmer aus, getrieben von höchit anerfennenswerten menfchenfreundlichen Gefühlen, die 
Gründung einer Kaffeehalle bejchliegen oder in den abjtraften Höhen der Wiſſenſchaft 
die Schädlichkeit des Alkoholgenuſſes nachweijen! 

Geſetzt auch, es hafteten dem jchweizerijchen Mäpßigfeitsverein mehr und ſchwerere 
Mängel an als die bisher erwähnten, wie jie feiner menjchlichen Beftrebung erjpart 
bleiben, jo würde doc) jtet3 fein Hauptruhmestitel darin bejtehen, daß er den beſſe— 
rungsbedürftigen Säufern einen Sammelpunft bietet, und daß er da, wo jich mehr 
Trinker zu gleichem Zwecke zufammenfinden, den armen Mitbrüdern ihren Kampf 
erleichtern hilft. Es gehört eine Charafterjtärke dazu, wie fie bei den durch Trunf 

eruntergefommenen Menſchen am allerwenigiten jich findet, den Alkoholismus jelb- 

— zu bekämpfen; das Gefühl der Gemeinſamkeit dagegen, das Bewußtſein, daß 
noch eine Schar von Kameraden Hohn und Spott mitträgt, mitſtreitet, mitbetet, 
dieſes Bewußtſein ſtärkt und läßt alle die Unannehmlichkeiten, welche das blaue Band 
ſeinen Trägern zuzieht, leichter erſcheinen. 

Kommt doch überall, wo mehrere ſich zu gleichem Zwecke zuſammenfinden, dieſe 
ſchöne Folge gemeinſamer Intereſſen zur Geltung; auch anderen Vereinigungen kommt 
fie zu jtatten, welche in der Schweiz weniger ausſchließlich als der Mäßigkeitsverein 
ähnliche Zwecke verfolgen. Hier jei als Beiſpiel nur der „landwirtſchaftliche Mäßig— 
feitäverein des Kantons Bern“ genannt; dieſer bejteht zum größten Teil aus Stop. 
grundbefigern, welche jich verpflichten, ihren Angejtellten allen Schnaps vorzuenthalten, 
ein in diefer Gegend doppelt verdienjtliches Beginnen. 

Die Beitrebungen der Mäßigfeitsvereine jeder Art fommen aber ſtets nur einzels 
nen zu gute. Was wollen die, hoch gerechnet, 2000 durch den Mäßigfeitsverein ges 
retteten Trinfer befagen gegenüber den Zehntaufenden, welche im Altohol verfumpfen? 
Was bedeuten die paar Hundert Großgrundbefiger, welche feinen Schnaps ausichenten, 
gegenüber den Taufenden, die dies thun? Bor einem jo tief gewurzelten, jo allgemein 
verbreiteten Uebel, wie es der Alkoholismus ijt, ftehen Privatperjonen, auch wenn jie 
fich zu Vereinigungen zufammenjchliegen, machtlos da. UWeberhaupt gibt e8 jchlieglich 
nur ein Mittel, welches dem Elend gründlich abzuhelfen vermöchte: die überall ich 
Bahn brechende Erfenntnis, daß das Lafter der Trunfjucht die davon ergriffene Be- 
völferung über kurz oder lang ausjtreicht aus der Zahl der lebenden Stämme In 
unjeren modernen Verhältnifjen vermag außer dem Staate niemand den wohlmeinen= 
den Zwang auszuüben, welcher allein jener Ueberzeugung Bahn bricht. Kaum irgendwo 
erjcheint das Eingreifen des Staates in die Verhältnifje des einzelnen jo durchaus 
gerechtfertigt wie eben hier; wenn er inbezug auf den Altoholfampf mit weitgehenden 

efugniffen ausgerüftet würde und fie vernünftig anmwendete, jo dürften bald auch 
andere Aufgaben, wie Kranken- und Altersverficherung, viel von ihrer abjchredenden 
Schwierigkeit verlieren. 

Die Ueberzeugung von der Notwendigkeit ftaatlichen Einſchreitens hatte ſich 

in der Schweiz bei den denfenden Streifen längjt Eingang erzwungen und ſich jchon 


860 Die Branntweinfrage in der Schweiz. 


bei der Volksabſtimmung vor 3 Jahren deutlichen Ausdrud gefchaffen. Damals wurde 
befanntli vom Volke mit ganz bedeutender Stimmenmehrheit eine Berfaffungsände- 
rung genehmigt, welche nicht nur dem Bunde das Necht zujprach, den Alkoholgenuß 
auf gut jcheinende Weife einzufchränfen, jondern auch erlaubte, wenn es diejer Zweck 
erfordere, den jo oft als „Perle“ der 1874er Berfafjung gepriefenen Grundſatz der 
Handels- und Gewerbefreiheit wenigſtens in bezug auf die Wirtshausfreiheit preis- 
ugeben. Die Arbeiten unferer Erelutive, des Bundesrates, welcher, jobald dieje Ver— 
———— in Kraft trat, den Entwurf eines entſprechenden Geſetzes vor— 
bereitete, wurden überall mit geſpannteſter Aufmerkſamkeit verfolgt. Drei in ihren 
Grundlagen durchaus verſchiedene Entwürfe wurden ſchließlich den ad hoc beſtellten 
Kammerausſchüſſen vorgelegt, und dieſe entfchieden fich einftimmig für den auf dem 
Gedanken des Verfaufsmonopol3 beruhenden Entwurf, den fie mit wenigen unweſent— 
lichen Wenderungen den Näten zur Annahme empfahlen. Im Nationale und im 
Ständerate wurde das Geſetz nach Ueberwindung eines jchwachen Widerjtandes an— 
genommen und hätte num unjerer Verfafjung zufolge in Kraft treten fünnen, wenn 
nicht in der Friſt von 3 Monaten nach) defjen Veröffentlichung 30,000 Unterjchriften 
wären gejammelt worden, welche noch den Entjcheid aller Stimmfähigen über dasjelbe 
verlangten (Referendum). Am 11. Mai 1887 kam's zur Abjtimmung. Das Gejeß 
elangte mit einer glänzenden Mehrheit zur Annahme; noch in gegenwärtiger Stunde 
Beichäftigt jich der Bundesrat mit der Einführung feiner einzelnen Bejtimmungen und 
vor furzer Zeit wurden an die fantonalen Regierungen zum erjtenmal jene Betreff: 
niffe aus dem Altoholgewinne des Bundes ausbezahlt, von denen weiter unten noch 
die Rede jein wird. 

Das eidgenöſſiſche Alkoholgefeg nimmt das Necht zur Herjtellung und Einfuhr 
gebrannter Wafjer ausjchlieglich für den Bund in Anſpruch. Ausgenommen find die 
von Sleinbauern und Sträuterfammlern des Gebirgs hergeitellten DObjtbranntweine 
(Kirichwafjer u. dergl.) und Kräuterjchnäpfe (wie 3. B. Enzianengeift), denen vielfach) 
Heilwirfung zugejchrieben wird. Doc darf ein folcher „Eleiner Mann“ nicht mehr 
als 40 Liter jährlich brennen. Ein Viertel des Gejamtbedarfs an Alkohol in der 
Schweiz wird durch Lieferungsverträge gededt, welche der Staat mit inländischen Pro» 
duzenten abjchließt. Den Brennereien, welche Gewähr bieten für Darftellung eines 
genügend gereinigten Wafjers, wird die Lieferung durch den Bundesrat in Loſen von 
mindestens 150, höchſtens 1000 Liter abjoluten Alkohol im Jahre vergeben; dabei 
ſollen landwirtjchaftliche Genofjenjchaften vor anderen Bewerbern den Vorzug genichen. 
Die Einfuhr altoholhaltiger Getränke fann auch Privatleuten geftattet werden gegen 
eine Monopolgebühr von Fr. 80 (64 Mark) per 100 Kilo brutto nebft Eingangszoll, 
ohne Rüdficht auf den Altoholgehalt. Der Bund verfauft die gebrannten Wafjer zum 
Preiſe von Fr. 120 bis Fr. 150 den Heftoliter abjoluten Alkohols. Bei der Ausfuhr 
von Erzeugnifjen, zu deren Herjtellung fteuerpflichtiger Alkohol Verwendung fand, 
muß für den entiprechenden Monopolgewinn Rüdvergütung geleiftet werden. Alkohol 
für technische und Haushaltungszwede wird einem Denaturierungsverfahren unter: 
worfen. Haufieren und Stleinhandel mit gebrannten Wafjern, fowte deren Ausjchanf 
find verboten in allen Fällen, wo nicht die Bewilligung dazu von den fantonalen 
Behörden erteilt wird. Die aus dem Altoholmonopol fich ergebenden Einnahmen bes 
zieht der Bundesrat und bejtreitet damit zunächit die Kojten der Alkoholverwaltung. 
Die Üübrigbleibenden Neineinnahmen werden jodann an die Kantone verteilt, und zwar 
bi8 zum Jahr 1890 zunächit ein Teil an die jog. Ohmgeldfantone, welche vor dem 
Inkrafttreten des Alkoholgejeges ein Ohmgeld, eine fantonale Eingangsgebühr auf 
geiftige Getränke, bezogen, nad) Maßgabe des Durchichnittes aus dem in den lehten 
Sahren bezogenen Chmgeldertrag. Bleibt noch ein Teil des Ertrages übrig, jo wird 
er gleichmäßig im Verhältnis der Bevölferungszahl an alle Kantone verteilt. Ver: 
fafjungsgemäß haben die Kantone 10%, diefes Alkoholgeldes zur Bekämpfung des Al 


Die Branntweinfrage in der Schweiz. 861 


foholismug zu verwenden. Auf Umgehung des Geſetzes ftehen ſchwere Bußen bis zu 
Dt. 10 000 und Freiheitsſtrafen bi8 zu 6 Monaten, und zwar joll der Verfuch ftraf- 
arer Handlungen auf dieſem Gebiete der Vollendung gleich geachtet werden. Die 
Eigentümer bejtchender Brennereien werden durch den Bund entichädigt für den Wert- 
verluft, welchen ihre Einrichtungen durch das Gejeh erleiden, jofern fie fich nicht zur 
Uebernahme von Brennlojen entichliehen. 

Das hier in feinen Hauptzügen gezeichnete Gejeß fand in jeder Stufe feiner Be- 
ratung eine erbitterte Gegnerichaft, welche jeweils von anderen Heerrufern angeführt 
wurde. Als es fich vor drei Jahren um Einführung einer verfafjungsmäßigen Be- 
ftimmung handelte, als deren Hauptzwed Steigerung des Schnapspreijes bezeichnet 
wurde, da waren es namentlich die Eozialiften und zugewandte Orte, ferner eine große 
Bahl von verhegten Angehörigen der unteren Klaſſen, welche für das „Gläschen des 
armen Mannes" bangten und die Berfafjungsänderung, jo viel an ihnen lag, zu 
hintertreiben fuchten. Es gelang aber, die angefochtene Berfafjungsänderung durchzu— 
drüden, und daraus erwuchs das Geſetz, welhem nun eben dieje Sozialisten freudig 
zujubeln und es als das Morgenrot einer joztalijtiichen Monopol-era begeijtert be— 
grüßen. Man Hört nicht jelten als Programm für die gejetgeberifche Arbeit der 
nächjten Jahre in der Schweiz anführen: Tabatmonopol und Kornmonopol. An Stelle 
der veritummten Gegnerichaft der Sozialdemokratie erwuchs nun aber in den Näten 
dem Gejeß eine andere: die der extremen Föderaliſten. 

Die Schweiz wurde erjt 1848 aus dem Staatenbunde der einzelnen Kantone zum 
heutigen Bundesftaat, und das Bejtreben der fonjervativen Parteien ging ftet3 dahin, 
das rajche Anwachſen der Hentralgewalt, des Bundes, möglichjt auf den Bahnen na— 
türlicher Entwidelung zu halten. Nicht nur find die Konſervativen überzeugt, daß bei 
der großen Verſchiedenheit der jchweizeriichen Bevölkerung in Sprache und Sitte, in 
Neligion und Geſetzgebung es nicht tauge, alle über einen Kamm zu jcheren, abgejehen 
davon, daß eine nicht durch die Umftände gebotene Entwidelung in politieis niemals 
zum Guten ausjchlägt; die Bundesverwaltung liegt auch jeit ihrem nunmehr vierzig: 
jährigen Beſtand ausjchließlich in den Händen der radifal-fortichrittlichen Gruppe, und 
bie fonjervativen Parteien haben wahrlich nicht Anlaß, auf deren Stärkung bedacht 
zu fein. Daß aber das Alfoholgejeg eine ganz bedeutende Stärfung der Bundes- 
gewalt bedeute, das war jedermann ſofort Kar; denn die bedeutenden Geldmittel, welche 
aus dem Ertrage des Monopol® der Bund an feine Angehörigen verteilen fann, 
werden bald den Grundjag: „wer zahlt, befiehlt“ auf dieſem Gebiete zur Geltun 
gelangen lafjen. Wenn alſo die Politifer von rechts jich für Empfehlung des Alkohol— 

ejeges entichlofjen, jo thaten fie es nicht wegen, jondern troß diejer zentraliftijchen 

Seite des Geſetzes. Man glaubte fich jagen zu dürfen, daß die in Ausjicht ſtehenden 
moralischen Vorteile des Gejetes die politiichen Nachteile überwiegen, und die Groß- 
zahl der Eonjervativen Minderheit fonnte deshalb in diefem Falle mit den Radifalen 
jtimmen. Man durchbrach mit jolcher Stimmabgabe einen wichtigen politiichen Grundjaß 
und brachte damit ein jchweres Opfer; man bewies aber dadurch, daß das Wohl 
des Volkes höher jtehe als der Parteifatehismus und legte dadurch eine Probe der 
lauterjten Vaterlandsliebe ab. Auch mußte die gemeinjame Arbeit der beiden Haupt- 
parteien einen günjtigen Eindrud hinterlafjen. Wenn auch die Einigung nicht dauern 
fann, jo jteht doch nunmehr durch Beweis feſt, daß man jich auf neutralem Gebiete 
gegenjeitige Verſtändigung nicht zu verjagen gedentt. 

Wir faſſen den Ausgang diejes ganzen ftaatlichen Altoholfeldzuges auf al3 gutes 
gr für die Gefinnung des Schweizervolkes. Daß damit aber erjt ein Kleiner 

eil der Arbeit gethan ift, davon jind auch wir feſt überzeugt. Jeder Gemwohnheits- 
fäufer wird jich, auch wenn jein Gläschen um jo und jo viel teurer geworben ilt, 
doc) zur gewohnten Zeit betrinfen. Mit der bloßen Verteuerung des Giftes it an 
dejjen verderblicher Wirkung nichts geändert. 


862 Die Branntweinfrage in der Schweiz. 


Nahhaltigere Mittel zur Bekämpfung der Trunfjucht gibt die Verfaffung den 
Kantonen in die Hand. Da ftellen wir in erfte Linie die Möglichkeit, die Zahl der 
Wirtshäufer zu vermindern. Das ift ja ein Hauptgrund unjres fozialen Elends, daß 
an jeder Straßenede ein ausgejtredter Arm den Schwachen einlädt, hier jein Geld zu 
verjubeln. Wenn es gelänge, auch nur den vierten Teil diefer Arme auszureißen und 
wegzuwerfen, jo wäre großes Wergernis aus der Welt gejchafft. Solche Befugnis jteht 
aber den Kantonen zu, indem die Verfaſſung ausdrüdlicd den Wirtshausbetrieb von 
der Handel3- und Gewerbefreiheit ausnimmt, und die zuftändige Behörde jomit an die 
Gewährung neuer und an die Erneuerung bereits erteilter Wirtjchaftspatente den Be— 
bürfnismaßjtab anlegen fann. Ueber Ausführung diefer Beftimmungen läßt fich einft- 
weilen noch nicht viel jagen. Bezügliche fantonale Bejtimmungen müſſen mit dem 
Bundesgejeg in Einklang ftehen; jomit fann erjt jeit verhältnismäßig kurzer Zeit von 
derartiger gejetgeberischer Arbeit die Rede fein, und jedenfall® war die Friſt bis zum 
1. San. 1888, welche der Bundesrat den Klantonsregierungen für diefe Arbeiten ftellte, 
etwas zu furz. Hier und da hat man bezügliche Vorlagen durchberaten, z. B. in 
Bafel-Stadt. Das Wirtjchaftögejet diejes Kantons beruht auf dem Patentſyſtem, und zwar 
find Patente von 200—2000 Fr. jährlich in Ausficht genommen. Bei Erteilung von 
MWirtjchaftsbewilligungen jol das Bedürfnis berüdjichtigt werden; für die Wirtfchafts- 
lofalitäten find fehr erjchwerende bauliche Vorjchriften aufgeftellt, und die perjönlichen 
Anforderungen an den Wirt find nicht eben lax; Tiederliche Wirte werden mit empfind— 
lichen Strafen bedroht; auf das Bedienungsperjonal wird gebührende Rückſicht genom- 
men. Für den Ausſchank von Branntwein bedarf e8 einer befondern Bewilligung; der 
Berfauf im Kleinen wurde vom Kanton als fein Monopol erklärt. Die Regierung wird 
aljo die Zahl der Verkaufsſtellen für geiftige Getränke möglichjt bejchränfen und deren 
Vertrieb nur ganz zuverläjligen Leuten anvertrauen fönnen. Das Geſetz wird ohne 
Zweifel bei jtrenger Handhabung eine wohlthätige Wirkung nicht verfehlen. — Aud) 
die gejeßgebenden Behörden andrer Kantone haben ähnliche Gejege durchberaten und 
damit den Beweis geleiftet, daß auch fie thun wollen, was an ihnen liegt, im Streit 
gegen den nationalen Feind, den Alkohol. 

Den Kantonen fteht auch die Strafrechtspflege zu. Schlecht und recht wird fie 
im ganzen geübt. Doch entziehen ſich auch die fchweizerijchen Gerichte nicht dem Zuge 
der Zeit, welcher ein in der Trunkenheit begangenes Verbrechen eher für entjchuldbar 
hält als die That eines Nüchternen. So verjchanzen ſich denn die Genoffen der 
internationalen Verbrecherzunft gerne Hinter diefen Wall, und oft fommt einer wegen 
des mildernden Umftandes der Trunfenheit mit leichterer Strafe davon als ein andrer, 
welcher eine ähnliche That in nmüchternem Zuftande beging. Died muß anders und 
befjer werden; die Trunfenheit muß bei der Beurteilung von Verbrechen als erſchwe— 
render Umſtand ins Gewicht fallen, wenn die Strafrechispflege das Ihrige im Kampfe 
gegen den Alkoholismus thun joll; mit ihrer bisherigen Praxis Teiftete fie dem Uebel 
eradezu Vorſchub. Andres noch bleibt auf verwandten Gebiete zu thun übrig: öffent- 
iches Aergernis, im Naufche begangen, jfandalöje Trunfenheit, umfittliches Geſchwätz 
und liederliche8 Betragen, wie fie den Säufer in der Regel auszeichnen, wurden bis 
jetzt höchſtens mit leichten polizeilichen Haftjtrafen geahndet; eine ftrengere Praxis 
gegenüber derartigen Vergehungen erjcheint dringend geboten. Dies alles find ja nur 
die Symptome der zu befämpfenden jozialen Krankheit, die Wurzel ſelbſt anzugreifen, 
bleibt nicht der Gejeggebung vorbehalten. Allein es iſt fchon viel gewonnen, wenn der 
Alkoholiker aus Angſt vor den Strafen, welche die legten Ausjchreitungen feines Laſters 
bedrohen, es wenigjten® nicht jo weit fommen läßt, daß ihm ein SKonflift mit den 
ftrafenden Gewalten des Staates droht. Es laſſen fich allenthalben Stimmen verneh- 
men, welche Abänderung der Strafgejeßgebung in einem — man gejtatte das Wort — 
antialfoholifchen Sinne verlangen. Uebereifrige Zentraliften rufen längft nach einem 
einheitlichen Strafgejegbuche für das ganze Sand und nach Unterjtellung der Straf- 


Die Branntweinfrage in der Schweiz. 863 


rechtöpflege unter Bundesgewalt. Beinahe möchten wir über die Thatjache hinweg— 
fehen, bob die in den einzelnen Landesgegenden tief eingewurzelten grundverjchiede- 
nen Rechtsanjchauungen fich jchlechterdings nicht unter einen Hut bringen lafjen; faft 
wären wir verjucht, uns für das einheitliche Bundesjtrafrecht zu begeiftern, wenn e3 
ung einige gegen den Alfoholmisbrauc gerichtete Bejtimmungen brächte. 

Das Uebel in jeinem Urjprunge zu befämpfen, das gilt vor allem als Aufgabe 
der gemeinnügigen Thätigfeit. Zwar aud) fie hilft nur mittelbar zur Austilgung 
des eigentlichen Keimes, der überall verbreiteten Neigung zur vermeintlich wohlthätigen, 
weil für den Augenblid entlajtenden Altoholbetäubung. Da muß, wie nicht genug be- 
tont werden Fann, durch eine Aenderung der Ueberzeugung bei jedem einzelnen ein 
Umſchwung im Bolfsbewußtjein erzeugt werden. Wohl aber wird der Menjchenfreund 
fuchen, bei der jogenannten Arbeiterbevölferung, bei armen Landleuten und beim Pro- 
letariate der großen Städte, den Kartoffelbrei und die dünne Kaffeebrühe, mit denen 
ugleich fajt durchgängig auch Branntwein genoffen wird, zu verdrängen durch billige 

ejhaffung guter Nahrungsmittel, jo daß das Verlangen nad) einem starken Magen- 
reiz ſich weniger geltend macht; er wird trachten, die Bezugsquellen abzugraben, aus 
denen der Schnaps feinen Weg in die Bevölferung findet; er wird — und das ift die 
Hauptiahe — zum Weden und Fördern eines andern Sinnes, edlerer Neigungen alle 
jeine Kraft einjegen. Wo irgend möglich, wird er perjönlich durch fein Wort und durch 
das Beijpiel den Branntweingenuß als gefährlich und verabjcheuungsmwürdig darftellen. 
Zu allen diefen Bemühungen fteht ihm die Hilfe des Staates in Ausficht; denn durch 
die bereit3 angedeutete Berfafjungsbeftimmung, welche 10 Proz. des Ertrags aus dem 
Altoholmonopol den Kantonen überläßt „zur Bekämpfung des Alkoholismus in feinen 
Urjachen und Wirkungen“, kann fich der Mann der Gemeinnügigfeit unter Umftänden 
beträchtliche finanzielle Unterjtügung von jeiten des Staates für feine Unternehmungen 
fihern. Bis jet gelangte der Alkoholertrag eben erit zur Verteilung und wird auch 
in wejentlihen Summen erjt nach 1890 zur Ausbezahlung fommen, wenn die Pflicht 
de3 Bundes zur Entihädigung der Ohmgeldfantone dahinfällt (Siehe Seite 860). 
Demgemäß läßt jich über Verwendung dieſer Summen bis jegt nur weniges berichten. 
In den Ratsjälen wurde, wenn wir nicht jehr irren, jeinerzeit bei Bejprechung dieſer 
Beſtimmung beijpielsweije die Subvention von Kaffeehallen genannt. Seitdem wurde 
diejer Gedanke dahin abgeändert, man wolle die Batentiteuer für folche Anftalten aus 
dem Alfoholgelde bezahlen und die Unternehmer fteuerfrei laſſen. Bon den Plänen, 
welche hier und da in der Preſſe auftauchen, weiß fein Menjch, ob fie wollen aufge: 
faßt jein als bloße fromme Wünſche, als offiziöfe Fühler oder als an mahgebender 
Stelle herrſchende Abjichten. So joll ein Kanton beabjichtigen, einen Teil jeines Be— 
treffnijjes den Verpflegungsitationen für arme Durchreijende zuzumwenden. Da leider 
ſtets viele der letztern durch Trunfenheit oder deren Folgen ganzen Gegenden läſtig 
fallen, jo dürfte es an Berechtigung hierzu nicht fehlen. Anderwärts joll aus dem 
Alkoholgeld ein Irrenhausbau unterjtügt werden u. j. f. Ueber die Verwendung jeiner 
10 Proz. hat jeder Kanton alljägrlich den Bundesbehörden Rechenſchaft abzulegen. 

Das Trachten, den Arbeiterjtand durch Beichaffung gefunder, kräftiger Nahrung 
förperlich zu heben, ift jchon im eidgenöfjischen Alkoholgejeg unverkennbar, indem dort 
der Handel mit Wein, Objtwein und Bier auf alle Weite gefördert wird, im Gegenſatz 
u dem mit allen denkbaren Schranken umgebenen Alkoholausſchank. Das nämliche Bes 
Kochen führte auch längjt zur Gründung von Konjumvereinen, deren Einrichtung zu 
befannt ift, als daß fie an diejer Stelle brauchte auseinandergejeßt zu werden. Bei 
diefen Genoffenfchaften steht der Zwed der Branntweinbefämpfung in der Regel erit 
in zweiter Linie Mit dem einfachen Dargebot einer gefunden Nahrung iſt's aber noch 
fange nicht gethan, namentlich) da nicht, wo es ſich um die Rettung eines dem ver— 
führerifchen Gifte bereit3 allzu fehr ergebenen Menſchen handelt. Lobenswerterweife 
weigern fich zahlreiche Konfumvereine, Schnaps zu führen, um wenigftens, jo viel an 


864 Die Branntweinfrage in der Schweiz. 


ihnen liegt, die Verbreitung desjelben zu hindern. Damit treffen die Vereine einem 
Kernpunft der ganzen Altoholfrage; denn ebenfoviel, wenn nicht noch mehr Unheil als 
die Winkelfneipen richten die Krämerläden an, in denen der Schnaps zum häuslichen 
Gebrauch in größeren oder Heineren Mengen gekauft wird. Im folchen Läden kann 
jedermann unbejchrieen aus- und eingehen. Infolge diejer Einrichtung verkommen 
ganze Familien im Branntwein, ohne daß je auch mır ein Glied derjelben im Wirt: 
hauje gejehen wurde. Ehrbar und züchtig holen fie beim Krämer ihr Mehl, ihr Salz 
und den übrigen Haushaltungsbedarf; wer jieht es der Flaſche an, welche das Kind 
nad) Haufe trägt, ob fie Eſſig, Petroleum oder Branntwein enthält? Unſere ſchweiz. 
Geſetzgebung gejtattet den Verfauf von nicht denaturiertem Sprit nur folchen Perſonen, 
mit deren fonftigem Gejchäft diefer Handel „in natürlichem Zufammenhange ſteht“. Außer 
dem Wirteberufe fennen wir höchitens noch das Küferhandwerf, wo von einem jolchen 
„natürlichen Zufammenhang* die Nede fein fünnte Wenn der Gejeßgeber jomit dem 
Spezereihändler die Erlaubnis zum Schnapsvertrieb erteilt, jo handelt er vielleicht im 
Einklange mit der gedanfenlofen, Jahrzehnte alten Ueberlieferung, aber er mißachtet 
die unbefangene Auffafjung des Geſetzeswortes. Uns erjcheint zweifellos, daß die 
Obrigfeiten der Echweiz befugt wären, den Kleinhandel mit gebrannten Wafjern im 
Krämerladen einfacdy zu verbieten. In der That Hat auch in den lehten Tagen der 
Bundesrat auf — Anfrage hin die Beſtimmung des Geſetzes nur als die Mi— 
nimalforderung bezeichnet, ſo daß die Kantone nach Gutfinden weitergehen können und 
z. B. auch das kantonale Monopol des Kleinverkaufs gerechtfertigt erſcheint. 

Die Gemeinnützigkeit kennt verſchiedene Mittel, um die Bezugsquellen des Brannt— 
weins nach Kräften zu verſtopfen. Je mehr der Staat in der eben angedeuteten und 
in anderer Weiſe ihren Beſtrebungen entgegenkommt, deſto leichter wird ihr dies ge— 
lingen. Die Einrichtung der Kaffeehallen, welche ſich nicht nur in den größeren 
Städten der Schweiz, ſondern nachgerade auch auf dem Lande ſchöner Verbreitun 
erfreuen, ſtreifen wir nur kurz. Denn ihre Zahl iſt noch immer zu gering, als bap 
von einer bemerkbaren Wirkung die Nede fein fünnte; ihr Beſuch beſchränkt fich auch, 
fo weit unfere Beobachtung reicht, größtenteils auf das weibliche Geſchlecht. Ja wir 
fonnten uns des Eindrudes oft nicht erwebhren, daß ein vom Markte heimfchrendes 
armes Weiblein in der Kaffeehalle der Verſuchung zu unnötigen Geldausgaben ebenjo 
leicht unterliegt, wie der Arbeiter in der Schnapsfneipe; immerhin wurde doch jene 
mit unjchädlicher Koſt erwärmt und geftärkt, diefer Hingegen durch verderbliches Gift 
an der Gejumdheit gejchädigt. Eine bejchränfte Wirkung üben die Kaffechallen aud) 
darum, weil fie ihrer Natur nach zumeist die Nicht-Alfobolifer anzichen; weiterhin 
jtehen fie im Geruche des Muckertums und fchreden dadurd eine fernere Zahl von 
Beluchern ab. Eine Kaffcehalle ericheint jomit weniger geeignet zum Kampfesmittel, 
als vielmehr zum Sammelpunfte jür die aus der Trunfjucht Erretteten. 

So ergibt fi von ſelbſt das Bedürfnis nad) einem Lofal, welchem dieſe Nach— 
teile nicht anhaften, und das dennoch dem Branntwein den offenen Krieg erklärt. Wir 
fennen bis jeßt in der Echweiz nur einen Ort, welcher diefem Bedürfnis in um— 
fafiendjter Weife Rechnung trug: die Stadt Bafel. Echon feit längeren Jahren bejteht, 
aus Eleinen Anfängen hervorgegangen, auf dem ausgedehnten Zentralbahnhofe, zunächft 
nur für die Angeftellten beftimmt, eine von höheren Bahnbeamien in menjchenfreund- 
lichjter Abficht gegründete Wirtichaft mit dem leitenden Grundfag: Geſunde Speifen 
und Getränfe zu möglichjt billigem Preis. Da man ſich mit einem mäßigen Rreife 
begnügte, jo gelang es, namentlich den Wein in ungleich beſſerer Qualität und doc) 
zu abjolut billigerem Preife auszuſchenken als in den übrigen Wirtjchaften, wo der 
Gajtgeber jo oſt eine gejundheitsichädliche, künſtlich zufammengebraute Flüffigfeit mit 
150—200 Prozent Gewinn ausjchenft. Der gute, billige Wein, dem in Qualität und 
Preis das Bier entiprach, ſowie nahrhafte, billige Speiſen ficherten dem neuen 
Unternehmen den Zuſpruch aller Bahnarbeiter. Branntwein fommt nur im Grog an 


Die Branntweinfrage in der Schweiz. 865 


falten Tagen zum Ausſchank; an Betrunfene wird nichts verabreicht. Jetzt hat man 
es, unterjtüßt durch eine ftrenge, die Trunfenbolde und Schnapsbrüder nd 
beitrafende und entlaffende Disziplin, danf diefer Speifeanjtalt jo weit gebracht, da 
auf dem ganzen Bentralbahnhof, der viele Hunderte von Arbeitern behhäftint, mit 
Ausnahme einiger alter, Fa Sahrzehnten in die Organijation der Bahn hineinge— 
wachjener Kerle, die man ohne unmenjchliche Graufamkeit nicht entlaffen konnte, feine 
Säufer mehr zu finden find. 

Durch diefe Erfolge ließ fich die Gemeinnügige Gejellichaft von Bafel zur Grün- 
dung einer großen Anjtalt ähnlicher Art veranlajjen. Die hier blog Bahnarbeitern 
und zufälligen Bejuchern des Bahnhofes gebotene Wohlthat trachtete dieſe jeit mehr 
als einem Jahrhundert mit größtem Segen wirkende Vereinigung der Bevölkerung im 
allgemeinen zuteil werden zu laſſen. In der neu zu gründenden Anſtalt jollte jeder- 
mann um einen anjtändigen — reichlich geſunde Nahrung und reingehaltene Weine 
ſich verſchaffen können. Eine Nebenabſicht ging, wie wir vermuten, dahin, Heine Kneip— 
wirte der Nachbarjchaft von der Sorte, bei welchen erfahrungsgemäß Trunfjucht und 
Laſter fich eine bevorzugte Brutjtätte offen halten, durch erlaubten Wettbewerb zur 
Aufgabe ihres edlen Gejchäftes zu zwingen. Es wurde aljo eine Aftiengejellichaft zu 
joldem Zwed ins Leben gerufen; daran beteiligte fich Die „Öemeinnüßige“ mit einer 
namhaften Zahl von Aktien. Auf einem Fäuflich erworbenen Grundſtück im haupt— 
fächlichiten Fabrifarbeiterviertel der Stadt errichtete man eine ausgedehnte Anlage mit 
gewaltiger Küche, großartigen Kellern, geräumigen Iuftigen Speijejälen und allem, was jonjt 
zu einer ordentlichen Wirtjchaft gehört. Selbſt eine trefflich eingerichtete Kegelbahn ladet 
a fröhlichem Spiel ein. Das Bejtreben der Unternehmer ging feineswegs dahin, ihrer 

undjchaft etwa eine Wohlthat bieten zu wollen; nur jollte das Wirtjchaftswejen von 
gemeinnüßigen Gefichtspunften aus betrieben und dabei fein unmäßiger Profit erzielt 
werden. Man verwahrte ſich ernftlich dagegen, Almofen geben zu wollen, die Aktien 
gleichſam à fonds perdus zu zeichnen. Geichätlich jtellte fi die Anstalt durchaus 
auf gleiche Linie mit allen andern Wirtfchaften, mit denen fie den Wettbewerb zu 
unternehmen fich anfchidte. Anfangs 1887 wurde fie eröffnet und hatte damals ſo— 
wohl mannigfaltige Anfeindungen auszuhalten von jeiten des Wirtsjtandes, als auch 
fonitige Unannehmlichkeiten von feiten der durch die Neuheit der Sache und durch die 
billigen Preiſe in hellen Haufen angelodten Befucher. Einigemal kam's in und vor 
der Anjtalt zu Ausjchreitungen; nachdem jich aber die Bevölferung an dieſes Wirtd- 
haus gewöhnt Hatte, fam das Geſchäft in ein ruhiges Fahrwaſſer und heute darf e3 
mit Befriedigung auf das erite Jahr feines Bejtehens zurüdbliden. 

Es verjteht fich von felbit, daß in diefer Wirtichaft mit Bezug auf den Schnaps» 
ausſchank und auf die Behandlung Betrunfener die oben erwähnten Grundjäge der 
Anjtalt auf dem Bahnhof ftreng zur Ausführung gelangen. Im übrigen macht e3 
ſich die Verwaltung zur Pflicht, ihre Gäfte durchaus jo zu behandeln, wie es in an- 
dern Gafthäufern üblich iſt. Es wird ihr auch die Genugthuung zu teil, daß ihre 
Beitrebungen in ſtets weitern Kreifen Anerkennung finden: die Einrichtung, daß zu 
billigem Preis eine gute Mahlzeit zu den Hauptefensftunden ftet3 fann in die Pri- 
vatwohnungen abgeholt werden, und welche hauptfächlich berechnet ift für Familien, in 
denen die Hausmutter den ganzen Tag über dem Verdienſte nachgehen muß, findet 
immer mehr Anklang. Endlich juchte man neuerdings die Privatwohlthätigfeit für das 
Unternehmen zu interejjieren, indem man Gutfcheine ausftellte, mit welchen die um 
eine Unterſtützung Bittenden anftatt mit einem Almofen können bejchenft werden. So 
entgeht der Wohlthäter der Gefahr, durch eine Gabe in barem Gelde der Qumperei 
und Säuferet Vorjchub zu leisten. Wir verfennen feineswegs, daß die hier in ihren 
Hauptzügen gejchilderte Speijehalle, der man vielleicht im Laufe der Jahre in andern 
Stadtteilen weitere wird folgen lafjen, auch ihre Schattenfeiten biete. So mag hier 
oder da in der Nähe der Anftalt eine arme Familie, welche fich jchlecht und recht 


866 Die Branntweinfrage in der Schweiz. 


durchbrachte, indem fie für die bejcheidenen Bedürfniffe der Arbeiter einen Kojttifch 
offen hielt, gezwungen worden fein, jich ein andres Ausfommen zu juchen. Es jet 
zugegeben, daß bei dem und bei jenem die Neigung zum Wirtshausfigen durch unjre 
Anjtalt gefördert wurde. Allein wo finden wir eine menjchliche Einrichtung, der ein 
Nachteil irgend welcher Art nicht anflebt! Jedenfalls dürfen fich die Gründer umd 
Reiter des Unternehmens mit Freuden gejtehen, daß ihre Anftalt im wejentlichen dem 
von Anfang an verfolgten Zwed entipricht, in wirklich gemeinnügigem Sinne wirft 
und überall reiche Anerfennung erwirbt. 


Eine andere Richtung menjchenfreundlicher Thätigfeit trachtet danach, in möglichjt 

weite Kreiſe Aufklärung und Belehrung über die jchädlichen Wirkungen des Schnaps- 
enufjes zu tragen. Eine Preisausfchreibung der jchweizerifchen Gemeinnüßigen Ge- 

Felfichaft veranlaßte vor einer Neihe von Jahren die außerordentlich anjprechende, auch 
in diefen Blättern ſchon wiederholt lobend erwähnte Schrift „das Wirtshaus" von 
Traugott Siegfried (Bafel, bei Riehm 1883). In gemeinverftändlicher, anheimelnder, 
ferniger Sprache legt dieſer Verfaffer auf 70 Seiten Gejchichte, Gejebgebung und Ver: 
mehrung der Wirtfchaften, Folgen des Wirtshausbejuches und Vorſchläge zur Abhilfe 
dar. Da ſtellt er neben dem Einpflanzen des Familienfinnes, der Belehrung der untern 
Klafjen, der Einführung von Spartafien und von Konfumvereinen mit in erjte Linie 
das jogenannte Gothenburger Syftem. Wir bedauern, bei Aufzählung der in unjerem 
Baterlande eingeführten Anftalten zum Kampfe gegen die Trunkſucht diefe Aeußerung 
der Menjchenliebe und Gemeinnügigfeit nicht anführen zu können. Bielleicht gelingt 
es, einen neuerdings aufgetauchten Borfchlag auszuführen, demzufolge verichtedene Kan 
tone fi zujammenthun jollten, um mit Hilfe der 10 Proz. des Alfoholgeldes von 
Staats wegen dieſes Syſtem einzuführen. Es beruht befanntlich darauf, daß nur eine 
bejtimmte Ant von Wirtshäufern in einer und derjelben Stadt, in einer und berjelben 
Gegend geduldet und diefe alle in einer Hand, wohl meist in der einer Aftiengejell- 
ſchaft vereinigt werden. Die einzelnen Wirtfchaften werden von Verwaltern bejorgt 
und durch bejondere Inſpektoren jcharf beauffichtigt. Spirituojen werden nur gegen 
bar verfauft. Damit der Verwalter fein Intereffe daran findet, feine Kunden zu ſtar— 
fem Konſum altoholifcher Getränke zu veranlaffen, hat er nur von dem Verkaufe von 
Zigarren, Kaffee, Thee und Speijen einen Gewinnanteil. Speziell in Gothenburg 
hatte die Unternehmergefellichaft fich verpflichtet, etwaige Gewinne der Stadtgemeinde 
auszuliefern und fonnte gleich im erjten Betriebsjahre dem Stadtjädel eine jchöne 
Summe zuwenden. Seitdem hat fich diefe Einrichtung in Schweden und in Norwegen 
außerordentlich raſch ausgebreitet und jeit den 20 Jahren ihres Beſtehens reichlich 
Segen geftiftet. 

Der Plan, diejes Gothenburger Syſtem auch bei uns einzuführen, ging, foweit 
uns befannt, wiederum von Traugott Siegfried aus, welcher auch zu den Hauptför- 
derern der oben bejchriebenen Speifehalle gehörte. Wie die Staatshilfe fich in dieſe 
Majchinerie einfügen ließe, auf welche Weite der Plan im einzelnen durchgeführt wer- 
den könnte, ohne berechtigte Intereſſen beftehender Gewerbe, 3. B. der jogenannten 
„Fremdeninduſtrie“ (Gajthofbetrieb, FFremdenpenfionen u. dgl.) ſchwer zu jchädigen, das 
auseinanderzujegen überlafjen wir Leuten, welche der Angelegenheit näher ftehen als 
wir. Daran aber wird faum jemand zweifeln, daß mit gutem Willen das Gothen- 
— Syſtem auch in unſern Volks- und Staatshaushalt ſich einfügen ließe. Ja es 
bleibt wohl für einen großen Teil der Leſer gleich wie für den Schreiber dieſer Zeilen 
unentſchieden, ob nicht die wohlthätigen Folgen des Gothenburger Syſtems auf die 
Geſamtheit des Volkes das vollſtändige Eingehen der Fremdeninduſtrie, das wir übri— 
gens unter keinen Umſtänden befürchten, mehr als reichlich aufwiegen würden. 

Die Privatwohlthätigkeit greift auch im Kampfe gegen den Alkoholismus vielfach 
in das Gebiet der Öffentlichen Vereine hinüber. E3 liegt aber in der Natur der 


Die Branntweinfrage in der Schweiz, 867 


Sache, dab hiervon verhältnigmäßig weniges nur befannt wird und daß die diesbezüg— 
lichen Beftrebungen in der Regel nicht des großartigiten Erfolges fich erfreuen, denn jie 
wenden fich zumeift nur gegen die Wirkungen des Giftes. Wir zählen hierher die 
Unterjtügung von im Elend verfommenden Trinferfamilien, die Verabreichung gejunder 
Nahrung an Säufer und an deren Angehörige u. dgl. Auch der Mäßigkeitsvereine 
fol an diejer Stelle nochmals Erwähnung gejchehen. Manche ihrer Aeußerungen vers 
folgen ftreng genommen nicht mehr den Zwed, vollftändige Enthaltjamfeit zu predigen; 
wir erinnern an die von Mäßigfeitsvereinen herausgegebenen Schriften über Schädlich- 
feit des Alkoholgenuſſes. In der Beranftaltung von Vorträgen über die jchlimmen 
Folgen des Altoholgenufjes u. dgl. m. wetteifern fie mit den Leitern chriftlicher Ver— 
einshäufer und gemeinnügiger Geſellſchaften. Weil aber in dieſen Bejtrebungen die 
Temperenzvereine der ganzen Welt fich gleichen, jo bedarf es feiner eingehenderen Be— 
fprechung derjelben, wie fie fich in der Schweiz offenbarten. Im ganzen Hat jich die 
Gemeinnügigfeit feit allzu kurzer Zeit erjt auf Bekämpfung der Trunfjucht geworfen, 
—— von namhaften Erfolgen in dieſer Hinſicht ſchon viel könnte geſprochen 
werden. 

Weit jünger noch iſt ein thatkräftiges Eingreifen der Wiſſenſchaft in die Ange— 
legenheit, ſo weit ein nicht dem ärztlichen Stand angehörender Beobachter dies zu beur— 
teilen vermag. Doch ſcheint erſt das Urteil des Laien auf dieſem Gebiet einigermaßen 
wertvoll, da Abhandlungen in medizinischen Zeitfchriften und in ähnlichen, dem gewöhn- 
lichem Menſchen unzugänglichen Büchern höchjtens mittelbar einen Einfluß ausüben 
auf die Allgemeinheit. Im Winter 1885—86 hielt G. Bunge, ordentlicher Profeſſor 
der phyfiologifchen Chemie an der Univerfität Bafel, einen öffentlichen Vortrag über 
„die Alkoholfrage“ (gedrudt bei F. C. W. Vogel, Leipzig 1887). Dabei wurde mit be- 
—— Beredſamkeit und für den Augenblick durchaus überzeugendem wiſſenſchaft⸗ 
ichem Rüſtzeug nachgewieſen, der Genuß von Alkohol in jeglicher Form, in großen 
oder in geringen Mengen bringe unbedingt dem menſchlichen Organismus Schaden. 
Mögen auch die Ausführungen des Gelehrten, mit denen er alle Wirfungen des Alko— 
hols auf Körper und Geift ald Lähmungserfcheinungen hinzuftellen bejtrebt war, bei 
fühlerer Betrachtung viel von ihrer Beweisfraft verlieren; mögen auch die wiederholt 
al8 Belege beigezogenen Zahlen über Leiftungsfähigfeit und Sterblichkeit jowie Ge- 
jundheitszuftand der mäßigen Alkoholtrinfer einer- und der Teatotaller® anderſeits 
in der nordamerifanischen Armee manchenorts nicht ohme Fragezeichen hingenommen 
werden — der Beweis gelang doch vollfommen, daß niemand in regelmäßigem körper: 
lichem Zuftande des Alkohols zu feinem Wohlbefinden notwendig bedarf und daß 
eigentlich jedermann mit einigem guten Willen ohne Wein, Bier, Branntwein u. dgl. 
jehr wohl auszufommen vermöchte. Aus feinen Ueberzeugungen über abjolute Schäd- 
lichkeit jeglichen Alkoholgenuſſes ergibt fi für Bunge die jehr emergiich gehaltene 

orderung, der Staat jolle den Verlauf von Alkohol in jeder Form verbieten. Das 
ijt in der That eine jo weitgehende — daß wir über deren Erfüllung inner— 
halb einer abſehbaren Zeit die lebhafteſten Zweifel nicht verhehlen. Aber ohne eine 
Art Fanatismus, ohne eine gewiſſermaßen über das Ziel hinausſchließende Begeiſte— 
rung wird niemand etwas Großes erreichen. 

Groß aber dürfen wir in der That die bisher erreichten Erfolge des Profeſſors 
nennen. Zum Unglaublichiten gehört wohl die bereit3 erwähnte Gründung eines 
Studenten-Temperenzvereind. Denn wie notwendig gerade in den Streifen, in welchen 
die Bildung vermittelt wird, eine kräftige Mahnung zur Mäßigung iſt, das weiß jeder, 
der einmal eine Hochjchule befuchte, nur zu genau. Groß it auch der Erfolg, den 
Bunge in unjeren gejellfchaftlichen Kreifen, joweit mein Urteil reicht, errang. An die 
Stelle ſpöttiſchen Achjelzudend und der mitleidigen Duldung „überjpannter Anfichten 
iſt jegt allerjeits die Anerkennung eines alfoholfeindlichen Standpunftes getreten; wird 
aber einmal die Furcht vor den Spöttereien des gebildeten und des ungebildeten 


868 , Die Branntweinfrage in der Schweiz. 


Vöbelhaufens gegenjtandslos, dann iſt vielleicht der mächtigfte Bundesgenofje des 
Alkoholismus in den Sand geworfen. Wir überfchägen die Macht der Wiljenjchaft 
nicht, allein wir wifjen, auf wie viele gerade von den angejeheniten Mitmenjchen, wie 
fie der große Haufe gerne für Räuſpern und Spuden, Trinfen und Sichenthalten zu 
Borbildern wählt, allein wiffenfchaftliche Gründe Eindrud hervorbringen. Die auf 
diefem Weg allenthalben durchdringende neue Anjchauung vom Altoholgenuß im Ueber: 
maße fann nicht verfehlen, ihren Einfluß auf weite Kreiſe auszuüben. 

Ein ebenjo energischer Vorfämpfer für die Mäßigfeit wie Bunge in Bafel ift 
Prof. Dr. Forel in Zürich, Vorfteher der Irrenanjtalt Burghölzli. Aus feiner Ber 
rufsarbeit jchöpfte diejer Die Ueberzeugung von dem Unheil, das der Alkohol anrichtet, 
und jeitdem wird er nicht müde, in Wort und Schrift, mit Rat und That für Ver— 
breitung der Temperenzgrundjäße zu wirken. Seine PBerjönlichfeit vor allem bot den 
Anlaß, daß ein fehr zahlreich bejuchter internationaler Kongreh von Feinden des 
Altoholgenufjes für den Herbit 1887 als jeinen Verfammlungsort Zürich wählte. 
Un diefem Kongrefje fanden fic zahlreiche Temperenzgrößen der alten und der neuen 
Welt zufammen mit den Anhängern eines mäßigen Altoholgenuffes und den Männern 
der Wiſſenſchaft, welche diefer Frage ihre befondere Aufmerkjamfeit widmen. Staats» 
männer und Aerzte, Menjchenfreunde aus dem Laienjtand und Geiftliche, Herren und 
Damen taufchten bei den mehrtägigen Verhandlungen ihre Erfahrungen aus. Es fam 
wiederholt zu jcharfen Auseinanderjegungen zwiichen den grundjäglichen Gegnern jedes 
Altoholgenuffes und denen, welche bloß die Unmäßigkeit befämpft wifjen wollen. Es 
wurden die Vorzüge der verjchiedenen Syiteıne einander entgegengehalten und neue 
Beweiſe für die Schädlichkeit des Alkoholgenuffes zu den alten gehäuft. Einen diejer 
Beweiſe wenigitens möchte ich hier anführen. E3 ergab fich aus den Tabellen ame- 
rifanischer Verficherungsanftalten, daß Teatotallers ſich im Durchfchnitt einer längeren 
Lebensdauer erfreuen als jelbjt jolche Alkoholiker, welche das „Gift“ nur in mäßigen 
Mengen genießen. Und jo klar trat diefe Thatjache hervor, daß der gewinnjüchtige 
Yankee es für gerechtfertigt erachtete, von den Enthaltfamen eine geringere Prämie zu 
fordern, als von Freunden des Altohols. 

Einen anderen Irrenarzt, den in der franzöfisch jprechenden Schweiz auch als 
Novellenfchriftfteller nicht unbekannten Dr. Chatela'n aus Neuenburg, ziemt es jich in 
Kürze hier zu nennen. Im Neuenburgifchen und im Waadtlande gilt der Weingenuß 
und das Abjynthtrinfen in reichlichitem Maße für jo durchaus felbjtverjtändfich, daß 
der genannte Gelehrte mit jeinen Mäßigfeitspredigten einen jehr fchweren Stand hat. 
Immerhin ift e8 ihm gelungen, mit einer von der medizinischen Gejellichaft zu Bordeaux 
preisgekrönten, jehr volfstümlichen Schrift über dieſe Angelegenheit die Aufmerkjamteit 
jeiner Landsleute auf diejes Kapitel zu richten. Wenn er es auf thatjächlichen Erfolg 
abjah, jo durfte er nicht ausjchlieklich verfahren und den Weingenuß an jich fchon für 
Ichädlich erklären. Vielmehr gibt er zu, für einzelne Fälle, für gewiſſe Naturen 
ericheine Alkoholgenuß ratjam. Mit aller Energie aber tritt er dem Vorurteil ent: 
gegen, als ob Wein, Bier, Schnaps ꝛc. fräftigten. Es verjteht fich von felbit, daß 
auf dem internationalen Gebiete der Wifjenfchaft dieſe alfoholfreundfiche Strömung 
nicht in einem einzelnen Lande bloß fühlbar wird. Dem Fachmann dürfte es nicht 
ſchwer fallen, zahlreiche Zeugnifje von mancherlei Lehrfanzeln anzuführen. Wir müffen 
uns begnügen mit den Beijpielen, welche zufällig einem Nichtmediziner vor Augen 
fommen. Weil wir daher von der Mangelhaftigkeit unferer Aufzählung ſelbſt, was 
die jchweizerijche einjchlägige Litteratur betrifft, von vornherein überzeugt find, jo 
möchten wir ein deutſches Buch, welches in feinen Ausführungen durchaus mit Yunge, 
Forel, Chatelain übereinftimmt, hier wenigstens erwähnen. Es ijt die „Gejundheits- 
lehre auf naturwiffenjchaftlicher Grundlage“ von Dr. Mar Reimann, königl. Kreis— 
phyſikus in Neumünfter (Kiel und Leipzig, Lipfius & Tifcher, 1887). Hier leſen wir 
u. a.: „Der Alkohol ift von jeher der ärgite Feind des Menjchengefchlechtes gewejen, 


Die Branntweinfrage in der Schweiz. 869 


gegen defjen Vordringen man internationale Mafregeln ergreifen follte, wie gegen Die 
pandemijchen Seuchen, Cholera und Peſt“. 

Der Berfaffer glaubt nachgewiejen zu haben, daß zwiichen Rhein und Alpen alle 
Beteiligten fi) von dem erniten Willen leiten laffen, den Alkohol zu verdrängen aus 
der Stellung, die er unter unferen Volksgenofjen einnimmt. Wenn die erjtrebten Ziele 
auch noch bei weitem nicht erreicht find, jo waltet doc) fein Zweifel, daß es vereinter 
ernjter Arbeit im Laufe der Jahre mit Gottes Hilfe gelingen wird, das gefährliche 
Krebsübel nach Möglichkeit einzudämmen und dadurch Tauſende einem freien Leben 
wieder zu gewinnen. 


Allg. fonj. Monatsfchrift 1888, VIII, 56 


BEE 
— 





Ein denkwürdiger Husflug nach Thüringen. 


„Wen Gott lieb hat, dem gibt er ein Haus in Thüringen!“ Das hat jchon 
Luther gejagt; und doch ift das fchöne Land immer noch weniger befannt und bejucht, 
als es verdiente, wenigjtens manche Gegenden desjelben. Friedrichsroda joll meiſt 
überfüllt fein von Fremden, und auc) die Partie nad) der Wartburg und nach dem 
romantischen Schwarzburg unternehmen viele, aber jo manche jchöne Punkte, die 
daneben und dazmwijchen Liegen, werden vernachläfjigt oder nur im Fluge gejehen. Die 
Saalbahn führt jet recht ins Herz des Landes hinein, aber auch vorbei an man- 
chem Schönen. Ic fannte und liebte dieſe Gegend, als es noch feine Eifenbahnen 
gab, ald man noc mit dem Iuftigen Schwager fuhr, der fein Poſthorn blies, oder 
im langjamen Hauderer ſich mühjam durd) die Hohlwege und über die jteilen Berge 
arbeitete, und endlich manche Wanderung zu Fuß unternahm, um die alten Schlöffer 
zu befuchen, deren es jo viele in dem jagenumwobenen Lande gibt. Da ijt die ganz 
verjtectte und jo wenig befannte Saalburg in der Nähe von Schleiz, wo die Grafen 
und Fürſten von Reuß die Hirfche zu jagen pflegten, und nachher in den hohen 
düjtern Gemächern und den vielen geheimen Gängen und Treppen des Schlofjes ihre 
Gäſte durch Geiſtererſcheinungen zu erjchreden liebten. Den ganzen Apparat folcher 
riefigen Erjcheinung, gleichjam eine ungeheure Strinoline, mit weißem Stoff bezogen, 
die jich durch einen Ruck der Schnur aufziehen ließ, und dann wieder in ſich zuſam— 
menfiel, habe ich noch als Kind mit leijem Grauen gejehen. Auch in Ranis, der 
alten ſtolzen Kaijerburg, die, einmal jhon halbzerfallen, jegt durch ihren Beſitzer zum 
Teil rejtaurirt wurde, jollten Geijter in den dunfeln Höhlen des jteilen Berges haujen, 
von dem herab die Burg das gleichnamige Städtchen und das weite, blühende Land 
überblidt. Ein längſt zerfallener unterirdiicher Gang jollte früher nach dem gerade- 
über liegenden Brandenjtein geführt haben. Wie oft habe ich in meiner Jugend, wo 
man das Geheimnisvolle liebt, vergeblich den verjchütteten Eingang geſucht, um den 
Zwergen und Gnomen oder der verzauberten Prinzeſſin Ilſe zu begegnen, die in den 
Urfeſten von Ranis haujen und ihre Schafe mit goldnem Stabe dort weiden joll — 
die Pforte blieb verjchlofjen — wie jo mancher Traum, der nicht erfüllt wird. Daß 
aber dieje alten Raubjchlöffer ein Schreden der Umgegend früher waren, wenn aud) 
nicht durch bloße Gejpenjter, davon zeugt noch der Name des Städtchens, das in ihrer 
Nähe liegt: Pösned — im jächfischen Dialekt für: „böje Ede“; jo gefürchtet war der 
Weg, die alte Landſtraße, die dort vorüber nad) dem romantischen Ziegenrüd führt, oder 
nad Saalfeld, das man jet mit der Eifenbahn rajch und ungefährdet erreicht. Auch 
dort winfen drei Schlöfjer aus den verjchiedenten Zeiten von der Höhe hernieder. 
Das ältejte, die Sorbenburg, nur noch ein halbverjallener Turm und eine Mauer 


Ei: denfwürdiger Ausflug nad) Thüringen. 871 


mit einigen fühnen Fenſterbogen, joll noc) von Karl dem Großen zum Schuge gegen 
die Sorben erbaut worden fein. Auch das gotische Rathaus mit mancher alten Res 
fiquie ift jehenswert; ebenjo die jchöne Johanneskirche, wo noch Tetzel gepredigt hat, 
und wo aud) der Sarg de3 kühnen Prinzen Louis Ferdinand geftanden, als er in der 
Schlacht bei Saalfeld Ahr jein Vaterland gefallen war. 

Wer militärifche Interefjen hat oder ein wenig Eoldatenblut in feinen Adern, 
der mag dort das Schlachtfeld jtudieren, oder auch das wenig jchöne Denkmal des 
heldenmütigen Prinzen beſuchen; dann fährt der Zug nur in wenig Minuten nach 
Schwarza, wo die Heine Bahn nad) Blankenburg ſich abzweigt. Blankenburg, nicht 
zu verwechjeln mit dem Blankenburg im Harz, was Briefen und jelbjt Reifenden zu— 
weilen pajjiert, liegt am Eingang des berühmten Schwarzathales, und Schwarz. 
burg, der Sommeraufenthalt des Fürften von Rudolſtadt, ift von dort mit Wagen 
oder Omnibus in einer Stunde erreiht. Die Schönheiten des Thales find ſchon oft, 
auch von Freytag in feinem Ingo gejchildert worden; früher wurde auch Gold in den 
Wellen der raujchenden Schwarza gefunden; jetzt joll es dort, wie überall in der Welt, 
fnapp geworden fein. Wer aber nod) etwas davon, d. 5. ein paar Zwanzigmarkſtücke 
übrig hat, wenn fie auch nicht aus dem Sande der Schwarza mit doppelten Kojten 
ausgewajchen wurden, der verjäume doch ja nicht, in Blankenburg etwas zu verweilen, 
das der lohnenden Spaziergänge und Ausflüge fo viele bietet. Das Sattonbillet vor 
Berlin aus, das 6 Wochen Gültigkeit und 50 Pfund Freigepäck hat, koſtet 2. Klaſſe 
nur 31 Mark, und niemand wird es bereuen, das alte Städtchen am Fuß der Ruine 
Greifenftein aufgefucht zu haben, wo einft der Kaiſer Günther, aus dem Haufe Schwarz- 
burg, in den kurzen Tagen feines Glanzes rejidierte. Außer in den verjchiedenen 
Hoteld und hübſchen Billen außerhalb der Stadt findet man auch in dem Vereins- 
hauſe, das jeit wenigen Jahren dort gegründet ift, in jchöner, freier Lage, mit Garten 
und Balkon jehr komfortabel eingerichtet, eine freundliche Aufnahme bei verhältnis- 
mäßig billigen Preiſen und einen für Geift und Herz anregenden Verkehr. Niemand 
follte es unterlaffen, von Blankenburg aus die Ruinen von Paulinzell zu bejuchen; 
einfam in einem Waldthal gelegen, gewähren fie mit ihren jchönen romanischen Säulen 
und Fenfterbogen, von Epheu bezogen und von hohen Bäumen befchattet, mit ihrer 
ganzen wohlgepflegten Umgebung das Bild einer englifchen Abtei, wie wir fie wohl 
auf alten Rupferflichen jehen, aber bei uns in era jelten in diefer Art ans 
treffen. Beſonders beim Mondfchein und auch in der Morgenbeleuchtung ift die 
Wirfung zauberhaft, und es empfiehlt fich daher wohl, in dem freundlichen, veinlichen 
Gafthof dicht daneben einmal über Nacht zu bleiben. 

Haben wir dann mit jchwerem Herzen dem lieben Blankenburg den Rüden gefehrt, 
jo führt ung der Zug nur allzufchnell an Rudolſtadt vorüber wieder in das Saal- 
thal. Schön und impofant ijt der Anbli des Nudoljtädter Schlofjes auf halber 
Berghöhe; unten am Wege die fchattigen Kaftanienalleen, in deren Nähe alljährlich 
das große Vogelſchießen jtattfindet, mit den weitgerühmten Roſtbratwürſten, die der 
Thüringer warm aus der Hand verzehrt. „'S geht doch nix über Rudolſtadt,“ jagt 
der Volksmund durch den dort jo beliebten Dichter Sommer, der jo unnahahmlich 
den Nubolftädter Dialekt wiederzugeben weiß in feinen „Bildern und Klängen“. 

Nur ein paar Stationen weiter liegt auf der Höhe des Berges das thüringijche 
Bethlehem, Orlamünde, das uralte Bergftädtchen. Dort, wo die Orla aus ihrem 
Schönen, fruchtbaren Gau herniederftrömt und fich in die Saale ergießt, haujten früher 
die reichen Grafen von DOrlamünde, und ein alter, fchwerer, riefiger Wartturm, 
zeigt noch, wo einſt ihr Schloß geſtanden und die Gegend beherricht hat. 
Dort ift ja auch die Heimat der gefürchteten „weißen Frau“ gewejen, die eine Gräfin 
von Orlamünde war und in manchen fürftlichen Häufern noc als Schredgeipenjt ums 
hergeht. Sie liebte einen Hohenzollern, einen Burggrafen von Nürnberg, und ermor- 
dete ihre beiden Kinder erfter Ehe, im Wahne, dann leichter jein Herz zu gewinnen. 

56* 


872 Ein dentwürdiger Ausflug nah Thüringen. 


Natürlich war die Unthat umſonſt, aber wejjen ift ein rajendes Weib aus verjchmäh- 
ter Liebe oder auch aus Ehrgeiz nicht fähig? Sie fand auch im Grabe feine Ruhe, und 
man jagt, daß fie noch bis heute bejonders in dem hohenzollernſchen Fürjtenhaufe 
erfcheine, um Unglüd oder Tod zu verkünden. Da hätte fie freilich jegt fommen fünnen, 
two die Helden in Israel gefallen find — einer nad) dem andern! Ich habe fie nie gejehen, 
wie oft ich auch in den zerfallenen Ringmauern der alten Kemenate umbergeklettert bin; 
aber e3 gibt doch Dinge zwifchen Himmel und Erde, an die man aud) im Scherz 
nicht rühren fol, wenn auch unfere Schulweisheit ſich nicht® davon träumen läßt. 
Wunderbar war es wenigjtens, daß der damalige deutjche Kronprinz im Herbit 1886, 
dem letzten aljo, den er noch in voller Gejundheit verlebte, auf feinem Wege zu den 
Mandvertt nad) Bayern zum erjtenmale in feinem Leben in jene Gegend fam, „zu der 
weißen Frau“, wie er ſelbſt jcherzend jagte. 

E3 war am Tage nad) dem Sedanfeft, das in Thüringen noch jehr feierlich be- 
gangen wird, aljo dem Erinnerungstage an einen der größten Triumphe unſeres Hee- 
res, das „unfer Frig* damals mitführte, die Fahnen wehten noch von allen Häufern, 
auch von der alten Burg oben auf dem Berge; die Schügen und Gewerfe verjam- 
melten fich rajch auf dem Bahnhofe, denn die Nachricht von der Ankunft des Kronprinzen 
hatte fich plöglich verbreitet. Ich ftand unter der Menge, die fich drängte, ihn zu 
jehen, al3 er in feiner gewohnten LZeutjeligfeit am offenen gt des Waggons er- 
ſchien; es war fchon fpät geworden, als endlich Böllerfchüfje das Nahen des Zuges 
verfündet hatten, und der Heine Bahnhof war mit bunten Lampen möglichjt fejtlich 
erleuchtet. Troß des Dämmerlichtes erfannte mich der Kronprinz, als ich ihm einen 
Strauß von Nojen und jpäten Kornblumen überreichte, nahm ihn freundlich entgegen 
und bedauerte fcherzend, daß er die „Heimat der weißen Frau“, die er längjt gern 
ejehen, nur bei Nacht berühre, und die fchöne Gegend faum unterjcheiden könne. 

d) jagte ihm, daß die Burg bengalifch beleuchtet fein würde, und jo richtete er denn 
das volle blaue Auge empor, und fuhr unter den braufenden Hurrahs der Menge 
langjam weiter. War es der Widerfchein der bläulichen Flamme, das Antlig des 
Kronprinzen erſchien mir bleich in dem Moment, und ein müder Zug legte fich um 
die hohe Stirn — war das der Gruß der weißen Frau dort oben? Ich hörte die 
bewundernden Urteile der Menge über unjern jchönen, ftattlichen Kronprinzen, über 
feine Zeutjeligfeit — ja, wir nannten ihn eine Siegfriedsgeftalt; wuhten wir nicht, 
dab das ein böfes Omen war, daß jener edle Held doch * verwundbare Stelle 
hatte, wo der grimme Hagen ihn mit dem Todesſtoß tückiſch treffen fonnte? Auch 
unſern Siegfried Hat die tüdische Hand der jchleichenden Krankheit getroffen, und die 
einzige verwundbare Stelle an dieſer Redengejtalt nur zu gut aufgefunden. Es war 
jeine letzte Reiſe gewejen, die ihn nad) Thüringen zu der Burg der weißen Frau ge- 
führt; er fam nicht, wie er verſprach, im Tageslicht einmal wieder, um alles beim 
Sounenjchein zu fehen. Als ich ihn wenige Monate fpäter in Berlin wieder traf, 
fam er jcherzend noch einmal auf unſre Begegnung bei der „weißen Frau“ zurüd, 
wie jchön die Burg beleuchtet, wie fejtlich überall der Empfang gewejen fei. Aber 
der Scherz Hang gezwungen und die Stimme war heifer und tief verjchleiert — die 
tödliche Krankheit hatte ihn ſchon im geheimen erfaßt, und eine bange Ahnung durch— 
zudte mich, daß er uns genommen werden könnte, der jo lange unſer Stolz gewejen. 
Mit welchen Rieſenſchritten die Krankheit weiterging, wie raſch und doc) nad) welchen 
Leiden das Ende fam, das will ich nicht wiederholen — wir wifjen es alle; aber ich 
werde wohl nie Thüringen wiederjehen und die alte Kemenate, ohne des Siegers von 
Sedan zu gedenken und des letzten Blides, den er da hinaufwarf. So liegt aud) über 
den lachendjten Landjchaften zuweilen ein trüber Schleier und umhüllt für mich den 
Schluß des ſonſt jo jchönen Ausflugs nach Thüringen, jo daß ich feiner übrigen 
Schlöfjer und Burgen, die ich noch geſehen, hier nicht mehr gedenken will. 

L. v. K. 


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Monatsſchau. 


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Vragmatiſche Tabelle 


Juli. 
13. Neues Wehrgeſetz in Rußland. 
— Duell Floquet-Boulanger. 
19. Kaiſer Wilhelm II. in St. Petersburg. 
26. Kaiſer Wilhelm I. in Stodholm. 
30. Kaifer Wilhelm I. in Kopenhagen. 


W olitik. 


E—r. Brachte der Juni mit dem Thronwechſel in Preußen die erjten bedeutungs- 
vollen Erlafje des deutschen Kaijers und Königs von Preußen, welche nad) innen das treue 
Feſthalten an den Bundesverträgen, nach außen Frieden verfündeten, jo hat der Juli 
in jchneller Folge der Ereignifje dieje Friedensbotſchaft bereits in Thaten überſetzt. 

Kaifer Wilhelm IL, eingedenf des ihm von feinem Großvater auf dem Sterbebette 
erteilten Rates: „den Kaiſer von Rußland mußt du mit bejonderer Nücdjicht be- 
— hat ſich mit der ihm eigenen Entſchiedenheit kurzer Hand entſchloſſen, dem 

aiſer Alexander III. einen Beſuch abzuſtatten, der, man mag im übrigen über die 
Tragweite desſelben denken, wie man will, nicht als ein bloßer Akt der Courtoiſie er— 
ſcheint, ſondern ſchon durch den äußeren Verlauf zeigt, daß es auf die Wiederan— 
bahnung eines beſſeren Verhältniſſes zwiſchen Deutſchland und Rußland abgeſehen iſt. 

Eine impoſante deutſche Flotte verließ am 14. Juli mit dem Kaiſer am Bord der 
vom Prinzen Heinrich geführten Yacht „Hohenzollern“ Kiel und traf am 19. Juli auf 
der Reede von Kronſtadt ein, woſelbſt alsbald die herzliche Begrüßung des hohen 
Gaſtes durch den Kaiſer Alerander erfolgte. Beide Kaiſer fuhren auf der ruſſiſchen 
Kaiſeryacht „Alerandria* nad) Peterhof, dort von der Kaiferin Maria Feodorowna in 
liebenswürdigſter Weiſe empfangen, und haben bis zum 24. Juli fünf Tage lang, da 
man die Trennungsftunde auf beiderfeitigen Wunjc über den urjprünglichen Plan 
— aufſchob, in überaus innigem perſönlichen Verkehre geſtanden. Die denkbar 
reundlichſten Beziehungen zwiſchen dem ruſſiſchen Hoſe und dem deutſchen Beſuche 
traten während der ganzen Zeit ſichtbar zu tage. 


874 Monatsihau — Deutſchland. 


Auch die ruffishe Bevölkerung bezeigte dem Kaifer Wilhelm überall, wo er ſich 

fehen ließ, in Peterhof, Petersburg, Krasnoje Selo ı., Sympathien, die im Fluge 
u erwerben, feinem einfachen, offenen und freien, aber auch mit einem gewiſſen jelbit- 
—— Ernſt gepaarten Weſen beſchieden zu ſein ſcheint. Selbſt die ruſſiſche 
Preſſe vergaß im Feſtjubel eine Zeitlang den alten Haß, wurde des Streites mit der 
Norddeutſchen Allgemeinen“ müde und feierte nicht nur den Gaſt des Landes, ſondern 
auch das Ereignis einer Annäherung zwijchen beiden Nachbarreichen, welches nur dem 
Frieden förderlich fein könnte. 

Darüber hinaus ging weder die offizielle, noch die offizidfe Preije. Das „Journal 
de St. Petersbourg“ hob in einer Würdigung der Bedeutung der Kaiferreiche zwar 
hervor, e3 habe fich bei den Zufammenkünften eine vollflommene Harmonie zwijchen 
den beiden Souveränen und zwijchen allen denen, die in jo großer Zahl zur Entrevue 
zufammengefommen jeien, hergeftellt, fügte aber in demjelben Atem einjchränfend hinzu, 
wenn Nic das Einverftändnis der Souveräne ebenjo getreu in den Geſinnungen der 
Völfer widerjpiegele, jo dürfe man vertrauensvoll auf eine Aera freundjchaftlicher Be— 
iehungen Deutjchlandg und Rußlands rechnen; gute Beziehungen unter diejen beiden 

ationen bildeten aber da3 ficherjte Unterpfand für den von aller Welt erjehnten 
Frieden. Der Petersburger „Herold“ Hielt es für unnüß, ſich den Kopf darüber 
u zerbrechen, was wohl aus der Kaiſerbegegnung fich ergeben werde; die Thatjache 
= Bufammenfunft ſelbſt ſei ſchon ein Ergebnis, dejjen Folgen feiner Macht, die es 
friedlich meine, zu Schaden, übrigens aber allen au größtem Nuten gereichen werde. 
Weniger optimiftisch Klingt jchon, was ein Petersburger Brief des mitunter halbamt- 
lichen Brüffeler „Nord“ ganz in Übereinftimmung mit der „Moskauer Zeitung“ fchrieb. 
gie wurde freilich auch ein freundnachbarliches Verhältnis beider Länder als in der 
uft liegend angejehen und zugleich in jeinem Werte für die ökonomiſchen Interefjen 
berjelben, jowie fir den Frieden im allgemeinen gekennzeichnet — was auch wohl von 
niemand bezweifelt werden wird — jedoch als conditio sine qua non einer wirklichen 
Verftändigung nicht? Geringeres verlangt, al3 daß Deutjchland aufhören müffe, jich 
in erjter Linie auf feine „famoſe“ Friedensliga zu ftügen; jonjt würde es in der alten 
„Unruhe wegen morgen" bleiben. Und fieht man jegt, nachdem das Feuerwerk ver- 
raucht und die Feſtfreude verraufcht ift, die ruſſiſchen Kisftänbioen Sournale an — es 
brauchen gar nicht einmal panjlawiftiiche zu jein — jo gewahrt man zwar eine gewiffe, 
von oben herab gewünjchte Seraayallung in der Schmähung Deutjchlands, aber nichts, 
was auf eine erhebliche Aenderung der Gefinnung jchließen ließe. 

Das Bemerfenswerte allein in der Haltung Al ruſſiſchen Blätter ift, daß fie auf- 
hören, mit Frankreich als Bundesgenofjen zu rechnen, dat die Schärfe der Sprache 
gegen Defterreich nicht abnimmt, und daß gelegentlich die Verſuche fortgejegt werden, 
einen Seil in das Bündnis der Friedensmächte zu jchieben. So griff neuerdings der 
„Nord“ nach Art der Oppofition den italienischen Minifterpräfidenten an und warf die 
Frage auf, was die Tripel-Allianz Italien gemügt habe; wenn Rußland und Deutſch— 
land einander näher träten, jo hänge Italien förmlich in der Luft: die jegigen Bundes— 
genofjen bedürften feiner nicht mehr, mit Frankreich habe es ich unflugerweife verfeindet 
und es befinde fich jomit auf einem völlig faljchen Wege. 

Das Organ Crispis, die „Riforma“, fertigte den Verſucher gebührend ab, indem 
fie ausführte, daß jeit Jahren die Stellung feiner italienischen Regierung dem Lande 
gegenüber eine jo feite gewejen fei, wie die des Kabinetts Grispi, und daß der leitende 
Gedanke der italienischen Politif im Oriente die Aufrechterhaltung des bejtehenden Zu— 
Standes ſei, wobei Italien in dem Wunſche nach Frieden fich mit feinen Alliierten be= 
gegne umd nicht begreifen könnte, wie es eine Ausjöhnung Deutſchlands und Rußlands 
mihgünftig aufnehmen oder gar als eine Gefahr für fich betrachten jollte, vielmehr 
fönnte Italien nur erwünjcht jein, wenn Rußland auf jede Störung des Friedens ver- 
zichten, wenn es ſich gleichjam dem Friedensbunde anjchließen möchte. 


Monatsſchau. — Deutſchland. 875 


Das Vertrauen auf Deutſchlands Vertragstreue iſt auch in 
nicht gewichen, doch machte ſich daſelbſt in letzter Zeit ein gewiſſes Unbehagen geltend. 
Nicht als ob aus dieſem Gefühle die fortgeſetzte Vervollſtändigung der dortigen Wehr— 
kraft entjpriingen wäre, denn diejelbe war eine jchon vorher bejchlojiene Sache. Neben 
der Ueberzeugung, daß dem Bejuche in Petersburg ein ſolcher in Wien folgen werde, 
und daß der Zwed des erjteren dem allgemeinen Weltfrieden zu gute fomme, tauchte 
aber offizids die Andeutung auf, daß in der Peterhofer Entrevue vorläufig etwas be- 
ſprochen fein könnte, was, um Gejtalt au gewinnen, der weiteren Beredungen und Ent- 
ſchließungen zwijchen den Kaiſern Wilhelm und Franz Joſeph bedürfte. Wir jehen 
nicht ein, was eine folche eventuelle Abſprache an Gefahren im Schoße bergen Fönnte, 
und würden von jener myſtiſchen Andeutung überhaupt feine Notiz genommen haben, 
wenn fie nicht in der Wiener „Polit. Korrefpondenz“ erjt Fürzlich gemacht wäre und 
jefundierend eine ruſſiſche Stimme bemerkt hätte, daß das Ergebnis der Beterhofer 
Unterredungen erft dann einen definitiven Charakter annehmen jollte, wenn die Be- 
gegnung des deutjchen Kaiſers mit dem Kaiſer von Dejterreich ftattgefunden haben 
werde. Andere Blätter bezeichnen direkt die bulgarijchen Wirren als den fraglichen 
Verhandlungsgegenftand, indem fie fich in mehr oder weniger gewagten Bermutungen 
ergehen. 
; gr ift ja möglich, daß die bulgarische Thronfrage und der Einfluß Rußlands in 
Bulgarien, den jchon Fürſt Bismarck in feiner großen. Rede vom legten Januar für 
theoretijch berechtigt in Gemäßheit des Berliner Kongreſſes erflärt hatte, zur Sprache 
— ſind, aber alles darüber hinaus entzieht ſich der Kontrolle, insbeſondere die 

hauptete Nachfolgerſchaft des Prinzen Waldemar von Dänemark, die zwiſchen ihm 
und ſeinem Bruder, dem Könige Georg von Griechenland, bezüglich Macedoniens und 
Thraciens einen ſchwer zu löſenden Antagonismus hervorrufen würde. 

Präjudizierliche Abmachungen, welche die öſterreichiſche Politik im Oriente lahm 

legen könnten, ſind jedenfalls bei der alle Welt in Bewegung ſetzenden Zweikaiſer— 
uſammenkunft nicht getroffen worden. Dafür bürgt allein ſchon die Thatſache, daß 
aifer Wilhelm erjt jüngft in feiner Thronrede vor dem Reichstage die feierliche Er- 
Härung abgegeben hat, daß er den auf den Frieden gerichteten Bündnifjen mit Dejter- 
reich und Stalien treu bleiben wolle, und daß diefe ihm zu feiner Freude gejtatteten, 
die perjönliche Freundjchaft mit dem ruffischen Kaiſer zu piiegen und die feit Hundert 
Jahren bejtehenden friedlichen Beziehungen Deutjchlands zu Rußland aufrecht zu er- 
halten. Es wäre eine Beleidigung des Kaiſers, ihm andere Abfichten unterzufchieben, 
als die in feierlicher Stunde vor be Nation verkündeten find. 

Inſofern haben alfo die franzöſiſchen Zeitungen recht, wenn fie das Reſultat 
des SKaijerbejuches als nicht epochemachend charafterifieren. Sie vergeſſen in ihrem 
Unmute über die vereitelten Hoffnungen auf ruſſiſch-franzöſiſche Baffenbrüberfchaft nur 
das eine, daß es doch etwas für dem Frieden diejes Erdteild zu bedeuten hat, ob das 
Deutjche Reich und Rußland verfeindet oder friedlich nebeneinander leben. Und die hoch— 
berzige Initiative ergriffen zu haben, um mit Rußland zu einem erträglichen ınodus 
vivendi zu gelangen, ijt das unbeftreitbare Verdienſt unjeres Kaiſers, ein Verdienſt 
nicht allein um die beiden zunächſt interejfierten Länder, jondern auch um die Ruhe 
Europas. Kaifer Wilhelm ift nıcht nad) Rußland gegangen, um Familien-Zwecke au 
verfolgen, wie einige Blätter wijjen wollen; auch nicht, um die Grundlage einer zoll- 
politiichen Verftändigung zwifchen Deutjchland und Rußland zu finden — deſto bejjer 
freilich, wenn auch dieſe mehr nebenjächlichen Dinge geordnet jind — fondern um dem 
Kaijer Alexander einen offenfichtlichen Beweis friedfertiger Gejinnung zu geben und 
denjelben für ebendiefe zu gewinnen. Daß die gelungen ift, fann als unzweifelhaft 
nad) dem Benehmen beider Kaijer gegeneinander angenommen werden, und das ijt ein 
Ereignis von großer politifher Tragweite, wobei allerdings zu wünjchen bleibt, 
daß dem befjeren Einvernehmen auch wirklich gelingen möge, die ſchwebenden europäijchen 


876 Monatsſchau. — Deutſchland. 


Fragen einer für die übrigen Mächte, namentlich für die Verbündeten Deutſchlands 
annehmbaren Löſung entgegenzuführen. 

Kaiſer Wilhelm dehnte ſeine gewappnete Meerfahrt noch weiter aus, indem er den 
Rückweg von Petersburg über Stockholm und Kopenhagen machte. Dort galt es 
die Pflege bereits vorhandener Freundſchaft, hier die Beſeitigung eines Reſtes ehe— 
maliger Gegnerſchaft, und ſo ſchloß ſich der Beſuch der Nachbarhöfe friedlich und ver— 
ſöhnend dem Friedenswerke an der Newa an. 

Aus Deutjchland regiftrieren wir neben der alljeitig Befriedigung erregenden 
Beſetzung des preußifchen Minifteriums des Innern mit dem bisherigen Unterjtaats- 
jefretär desfelben Reſſorts Herrfurth, einem vieljährigen Mitarbeiter des zurückgetre— 
tenen Miniſters von Puttfamer, jowie der Ernennung des Reichstags- und —— 
präſidenten von Wedell-Piesdorf zum preußiſchen Hausminiſter die Vermehrung der 
Kaiſerfamilie um einen Prinzen und ein dramatiſches Nachſpiel zur Leidensgeſchichte 
des Kaiſers Friedrich, welches weit über die Grenzen Deutſchlands berechtigtes Auf— 
ſehen verurſacht hat und unſer früheres Urteil über den Kompagnon der Freiſinnigen 
Dr. Madenzie in noch viel zu roſigem Lichte erſcheinen läßt. 

Mit Genehmigung des Katjers Wilhelm iſt eine authentijche Darftellung der 
Krankheit und des Endes Kaifer Friedrichs erjchienen, deren Fazit furz dahin zus 
fammengefaßt werden kann: „Kaifer Friedrich wäre nach menjchlicher Wifjenjchaft ge— 
rettet worden, wenn man im Frühling 1887 zu der einjtimmig von dem deutjchen 
Aerzten angeratenen Operation gejchritten wäre, Madenzie hat die Vornahme derjelben 
bintertrieben und durch faljche Behandlung den qualvollen Untergang des Kaijers 
herbeigeführt." Wir fönnten mehr jagen und dem englifchen Arzte nicht nur Arroganz 
und Ungejchidlichkeit, ſondern auch abjichtliche Unterdrüdung der Wahrheit vorwerfen, 
doch wir wollen damit zurücdhalten, bis derjelbe jeine lange genug unter allerhand 
Borwänden verzögerte Apologie veröffentlicht hat. Bertrauenerwedend ift e3 gerade 
nicht, daß er dem Vorhaben der Veranftaltung einer englischen Ausgabe der amtlichen 
ärztlichen Denkjchrift mit der Androhung einer Verleumdungsflage entgegengetreten ift. 
Inzwiſchen haben mehrere der deutjchen Aerzte die Genugthuung gehabt, vom jegigen 
Katjer mit hohen Orden ausgezeichnet zu werden. 

Die Kartellfrage hat zu einem erbitterten Streite geführt, bei dem ſich die 
offiziöje preußische Preffe, voran die „Norddeutiche Allgemeine Zeitung“, in mehr als 
mittelparteilicher Gebahrung dermaßen auf die Seite der Nationalliberalen ftellte und 
noch stellt, daß danach den Konjervativen nichts anderes übrig bliebe als abzudanfen 
und freumdlichjt in die nationalliberale Partei aufzugehen. Herr v. Rauchhaupt 
hatte als Führer der Konjervativen im preußifchen Abgeordnetenhaufe ſich mit Recht 
veranlaßt gejehen, in der „Hall. Ztg.“ den Urjprung und den Wert des Wahlkartells 
in wahrem Lichte darzuftellen, jowie die Anmaßungen abzuweifen, mit welchen die 
nationalliberalen Führer fich in einigen preußifchen Provinzen die Unterftügung der 
Konjervativen fichern, in anderen aber, wo die Konjervativen auf Hilfe der National» 
liberalen rechneten, freie Hand behalten wollen. Dieje den Konfervativen zugemutete 
societas leonina hätte billigerweije auch bei den Offiziöſen Verurteilung finden jollen; 
im Gegenteile, „Köln. Ztg.“, „Nordd. Allgem.“ ꝛc. fallen über die auf ihre Eriftenz 
als Partei bedachten Konjervativen her, bezichtigen fie des Mangels an Berjtändnis 
für die wahren Intereſſen des Baterlandes — es fehlt nur noch der nadte 
Vorwurf der Neichsfeindjchaft — und juchen ihnen ein unfündbares Kartell auf- 
zudrängen, in welchem diejelben unter „nationalem* Banner- Schleppenträger der Na- 
tionalliberalen fein und die chrijtlich-fonjervativen Grundjäge einfach verloren gehen 
würden. Daneben mußte nicht nur die Perjon des Neichskanzlers mit ganz ungehörigen 
Unterftellungen herhalten, jondern es wurde auch verjucht, in nationalliberaler Obſer— 
vanz einen Keil zwijchen den Iinfen und rechten Flügel der fonjervativen Partei zu 


jchieben. 


Monatsfhau. — Franfreih. England. Rußland. 877 


Die Sade ijt ernit. Die Wahlen zum preußiſchen Abgeordnetenhaufe jtehen 
bevor; an eine Erneuerung oder, wenn man lieber will, Fortjegung des Kartell für 
diejelben pro toto ift nicht zu denfen, womit natürlich lofale Verftändigungen nicht 
ausgefchloffen find, und die Kraftprobe der jog. „Kartellbrüder” gegeneinander wird 
einzutreten haben. Mögen dadurch vielleicht einige Site der Konſervativen im Abge- 
ordnetenhauſe verloren werden, obgleich unfere Hoffnung auf den Sieg gerichtet ijt, jo 
ift das unjeres Erachtens immer noch bejjer, al3 eine Barteiverfchmelzung, bei der 
niemand weiß, woran er ift. Bor allem iſt es doch Pflicht eines fonjervativen 
Mannes, angebliche Opportunitätsrüdfichten nicht dauernd über die eigenen Grundſätze 
zu jtellen, vielmehr „Mit Gott für König und Vaterland“ unbeirrt den für richtig er— 
fannten Weg zu wandeln. Hätte man der fonfervativen Partei auf Grund ihres 
Befisitandes ein Kompromiß für die Abgeordnetenwahlen geboten, jo wäre darüber 
allenfall3 zu reden gewejen; jet aber, wo die Nationalliberalen die Mehrheit im Abge- 
ordnnetenhaufe für ſich haben wollen, muß energisch ihren Ajpirationen begegnet werden, 
und es iſt unfaßlich, wie die „Konjervative Korreipondenz“ gegen die ausdrüdliche In— 
ftruftion der Parteileitung es hat wagen dürfen, die fonjervative Preſſe in diejem 
Kampfe zu befehden. 


* 
* * 


Ueber das Ausland genügen wenige Bemerkungen. 

In Frankreich jpielte fih am 12. Juli ein neuer Kammerjfandal ab, von Bou— 
langer hervorgerufen, der die Zugkraft feined Namens jchwinden fühlte und jein 
ie tige“ durch einen Theaterftreich aufzufriichen gedachte. Aber die Sache fam anders, 
al3 der in leßter Zeit recht unglüdliche Abenteurer berechnet hatte. Er wurde von 
dem Minijterpräfidenten Floquet in der Kammer moralisch und Tags darauf mit dem 
Degen körperlich abgeführt. Dies wäre von feinem Standpunfte noch zu verjchmerzen 
eweſen, indejjen ein Unglüd kommt jelten allein. Der Ergeneral hatte in_ jener 

ammerfigung unter lächerlichen Nebenumftänden fein Mandat niedergelegt, um „Frank— 
reich“ entjcheiden zu laſſen — natürlich durch feine Wiederwahl. Frankreich entjchied 
ſich jedoch anders; die Wähler der Ardeche beantworteten jeine Werbung mit großer 
Majorität verneinend. Seitdem ift der einjt gewaltige Mann unter Hohn und Spott 
als „Toter“ zu den Akten gelegt; jein Anhang wird immer geringer, man vechnet nicht 
mehr ernftlich mit ihm und er verjucht es, da eine Kandidatur nicht mehr ficher ift, 
mit mehreren, indem er ich jowohl in der Somme als auch in der Charente-Inferieure 
aufftellen läßt. Die Epijode Boulanger jcheint in der That beendet zu jein. 

Die Nepublit hat am 14. Juli ohne erhebliche Störung ihr Nationalfeft bei gleich- 
zeitiger Enthüllung eines Gambettadenfmal3 gefeiert, und die Stellung des Präjidenten 
Carnot befeitigt fich, wenn bei feiner Reife nach dem Südoften des Landes die wahre 
Bolksmeinung zum Ausdrucke gefommen ift, ſichtlich. Gefährlicher freilich, ald Bou— 
langer, ift eine Bewegung unter den Arbeitern in Baris, die in bedenklichem Maße 
an Umfang zunimmt und ein Symptom des verderblichen radikalen Webergewichts im 
Staatsleben bildet. 

England geht gegen Die ee in der Phönixaffäre ıc. auf gerichtlichen, nicht 
parlamentarijchem Wege vor; das Minifterium ift nur’ in der irischen Frage einig, und 
das Land fühlt fich ijoliert, je mehr von einer Annäherung Deutjchlands und Ruß— 
lands gejprochen wird. Man fieht übrigens jenjeits des Kanals ein, daß die englijche 
Regierung jelbft an der Entfremdung Deutjchlands, jowie daran Schuld iſt, daß ein 
Bündnis mit ihr für unzuverläffig und wenig bedeutend gehalten wird. 

Rußland hatte die Jubiläumsfeier feiner Kirche, der vor 900 Jahren erfolgten 
Ehriftianifierung. Die von Ignatieff und den Banjlawiften lange vorbereitete und mit 
vielem Geräusch in Szene gejeßte Feier in Kiew verlief ohne politifche Bedeutung. 
Der Kaiſer, die Mitglieder der faiferlichen Familie, die Regierung und großen Staats» 


878 Monatsfhau. — Serbien. Bulgarien. Wirtſchaftspolitik. 


förperjchaften blieben fern, das orthodore Ausland beteiligte ſich jehr ſchwach und 
politiiche Reden waren allerhöchit unterfagt worden. So ließe ſich aljo wohl im 
Hinblid auf den in Bewegung gejegten Apparat des Banjlawismus jagen: „Parturiunt 
montes“ etc. 

Der ferbifche Ehezwift ift noch nicht von der Tagesordnung verjhwunden. Die 
Synode hat ſich in der Scheidungsangelegenheit des Königs für infompetent erklärt 
und es foll nunmehr das ordentliche geiftliche Ehegericht entjcheiden. So jehr wir mit 
der gegenwärtigen politiichen Haltung des Königs Milan übereinftimmen und jo weni 
andererjeitS mit derjenigen der Königin, jo Haben wir doch bisher nicht gehört, bob 
abweichende politifche Anficht ein Ehejcheidungsgrund jei. Wir find daher neugierig, 
wie ſich ein „ordentliches geiftliches Chegericht“ auf die Klage des Königs mit der 
Sache abfinden wird. 

In Bulgarien jcheint fich ein Widerjtand gegen die gutwillige Heimſchickung des 
„Fürſten“ Ferdinand vorzubereiten. Seit der Hütter desjelben nad) Sofia am 28. 
v. M. ift von einer Meinungsverjchiedenheit zwilchen ihm und dem Minifterpräfidenten 
Stambulow nicht mehr die Dede. Es joll eine Ausjöhnung beider ftattgefunden haben, 
und die „Swoboda“, das halbamtliche Blatt der Regierung, erklärte kürzlich bündigft: 
ber Fürſt fei einzig und allein durch die Nation auf feinen Poſten berufen und werde 
folange im Lande verbleiben, als er die Liebe des Volkes, die ſich bei wiederholten An- 
läſſen en habe, bejige; das möge Allen vor Augen jchweben u. ſ. w. Das 
Bölfchen ift im Stande, ſich für jeinen Erwählten zu jchlagen, wofern diejer nicht freiwillig 
geht. Auf Legteres ift die Meldung zu deuten, daß die Mutter des Fürſten, Prinzeſſin 
Clementine von Koburg, in der Ueberzeugung, der entjcheidende Moment für ihren Sohn 
jei eingetreten, einen Familienrat in Koburg veranlaßt habe. Die nächite Zukunft muß 
lehren, welcher Art die angeblichen Verftändigungen von Peterhof in der bulgarijchen 
- Frage find, und — was die Hauptjache ift — wie eventuell der Bejchluß der Mächte 
gegen das bulgarijche Volk durchgejegt werden joll. 


Wirtfehaftspolitik. 


Das bedeutungspollite Ereignis der legten Wochen auf wirtichaftlichem und fozial- 
politiichem Gebiete für Deutjchland ift ohne Zweifel das Erjcheinen des Entwurfs 
eines Gejeges über die Alters- und Invalidenverjorgung der Arbeiter. Diejer 
Entwurf bezeichnet ohne Zweifel einen weiteren großen Fortjchritt auf dem Boden des 
Ausgleichs der wirtjchaftlichen Gegenjäge, obgleich derjelbe gerade bei den Nächjtbe- 
teiligten, wie wir uns haben cha überzeugen fönnen, wenig Anerfennung gefun- 
den hat und obgleich derjelbe in der That als jehr unvollfommen bezeichnet werben 
muß — merfwürdigerweije weit weniger in jeinen Einzelheiten und nach der organi= 
jatorijchen Richtung hin, als weil eine eigentliche Erkenntnis de3 fozialpolitijchen Zieles, 
das zu erjtreben ijt, aus der Arbeit ebenjowenig hervorleuchtet wie ein tieferes Be— 
müben, die Beziehungen, auf die erleichternd und befjernd eingewirft werden joll, zu 
erfennen. Der bittere Spott, den man nicht nur von jeiten der demagogiſchen Preſſe 
vernimmt, iſt nicht unmverdient, weil der Beginn der Altersrente für die Arbeiter für 
das einumdfiebzigste Lebensjahr angenommen ift und die Annahme des Satzes von ein- 
hundert und zwanzig Mark für diefe Nente hätte erjpart werden fönnen, wenn bie 
Vorausjegungen, welche wir bei der Arbeit vermijjen, Platz gegriffen hätten, und wenn 
man überhaupt die Grumdgedanfen des Verjicherungswejens auf den Entwurf hätte 
einwirken laſſen. 

Der letztere Mangel erſcheint uns als der Schwerpunft des Ganzen und gewiſſer— 


Monatsihan. — Wirtſchaftspolitik. 879 


maßen als der Brennpunkt aller —— welche ſich ſo ſchwerwiegend und un— 
erfreulich bei dem Entwurf geltend macht; wobei wir die erſtgenannten Mängel eben- 
falls nicht gering anjchlagen. Wenn man erwägt, dab in den größeren Städten mit 
wer Arbeiterbevölferung die mit fünfzehn Jahren in den eruf eintretenden Ar⸗ 

iter im Durchſchnitt nur 50 Jahre alt werden, und daß das fiebenundjechzigfte 
Lebensjahr nur drei Viertel der Perjonen, welche fünfzehn Jahre alt geworden find, 
erreichen, jo fann man ſchon daran erfennen, daß eine Altersrente, die mit dem ein- 
undjiebzigjten Lebensjahr beginnt, nur noch für die Toten Interefje haben kann. Dies 
zeigt fich aber noch weit draftijcher an den Lebensverhältnifjen in den eigentlichen Ars 
beitervierteln, wo das Durchſchnittsalter, welches die Fünfzehnjährigen erreichen, nur 
45 Jahre beträgt; wo drei Vierteile derjelben unter dem 62. Lebensjahre fterben und 
nur etwa ein Zehntel das fiebzigite Jahr erreicht; wobei aber zu bemerfen ift, daß in 
diefem Alter die weibliche Bevölkerung die männliche um 33%, Prozent überwiegt, 
während im fünfzehnten Lebensjahr die männliche um 1’/, Prozent jtärker erjcheint 
ald die weibliche. 

Hier handelt ſich's aber, wie bemerkt, nicht um Verhältniſſe einer Fabrikjtadt; und 
es wird das GSterblichfeitsverhältnis an fich jehr ſtark verjchoben durch das Zwiſchen— 
treten zahlreicher der Industrie durchaus fernjtehender Bevölferungselemente unter weit 

ünftigeren Lebensbedingungen, als jene fie bieten kann. Es erjcheint daher die An- 
jebun der Altersgrenze für die Altersrente auf das einundſiebzigſte Jahr als entſchie— 
en zu hoch, und man follte fich entjchliegen, wenigjtens auf das fünfundjechzigfte Jahr 
zurüdzugehen. Man muß immerhin erwägen, daß es ſich auch bei dem Eleinjten Bei- 
trag, der für die Sache geleiftet werden muß, um eine neue Geldlaft der Pflichtigen 
handelt; und man wird niemand deshalb tadeln dürfen, daß, wenn daraus ein Vorteil 
hervorgehen joll, er verlangt, es jolle ihm wenigjtens die Ausficht, dieſen Vorteil zu 
erlangen, nicht verjchloffen jein, und daß die Wirkung der Kafje nicht nur nad) der 
drüdenden, fondern auch nach der vorteilhaften Seite hin erfennbar wird. Es jcheint, als 
ob nach diejer Seite hin die jtatiftifchen Erhebungen verfäumt worden find. Aber es 
fann nicht jchwer fein, aus dem Material, das aus den letzten Volks- und Gewerbe- 
zählungen im jtatiftiichen Reichsamt aufgehäuft liegt, ſowohl die Zahl der jteuerpflich- 
tigen jüngeren Arbeiter al3 diejenige der rentenberechtigten Alten ganz genau feſtzu— 
Stellen. Dies ift aber unerläßlich, wenn man eine gerechte Alterögrenze erlangen will. 

Ebenjo bedenklich als die allzuhohe Feſtſtellung der Altersgrenze ift die Schablo- 
nifierung der Nente, und man könnte auch jagen die Schablonifierung jener Alters- 
grenze. Es handelt fich doch um eine Verſicherung; und die Berjicherung muß 
immer wejentlich den Charakter der Erjparungsanftalt tragen. Der reiche Kapitalift, 
welcher fein Leben verfichert, thut dies nicht, um feine Angehörigen nad) dem Tode 
vor Not zu fichern, jondern er fieht in der Verficherung eine bejondere Art der 
Kapitalifierung feiner Einfommensüberfchüffe. Der Arbeiter aber ift in anderer Lage; 
er fann nicht fparen zur Kapitalifierung, fondern nur zum Wiederverbraud. Aber das 
Cchlimme bei den gegenwärtigen Erjparungseinrichtungen ift, daß die Früchte der Er- 
ſparnis denen, welche fie machen, entfremdet und zweckwidrig, jowie jozialgejährlich der 
Kapitalifierung zugeführt werden. Im einzelnen mag diefer Schaden Elein erjcheinen; 
in der Zufammenfafjung und in der Einwirkung auf die Verteilung des Materialmohls 
ftandes wird er jehr groß und von einjchneidender Wirkung, befonders feit das Syitem 
der Sparfaffen durch das der fogenannten „Volksbanken“ noch eine unheilvolle Er: 
weiterung erfahren hat. Aus diejem Grunde haben wir uns jeinerzeit nachdrücklich 
für Einrichtung von Poſtſparkaſſen ausgefprochen, und befämpfen unabläflig die „Volts- 
banfen“ — im ausgejprochenen Gegenjag zum Liberalismus und Mancheftertum, welche 
aus den gleichen Gründen jene befämpfen und dieje verfechten. 

Aus dem von und hervorgehobenen grundjäglichen Unterjchied des Erübrigens 
zur Kapitalifierung und des Erfparens für Gebrauchs- und jpätere Verbrauchgzwede 


880 Monatsſchau. — Wirtſchaftspolitik. 


und der bisherigen Unzulänglichkeit der Einrichtungen für dieſe letzteren Zwecke ergibt 
ſich ſehr weſentlich der ſoziale Druck, welcher auf der Bevölkerung ruht; und daher 
ſollten auch alle Einrichtungen, welche nach Maßgabe der kaiſerlichen Botſchaft zur 
Verbeſſerung des ſozialen Zuſtandes getroffen werden, auf Beſeitigung der Benachteili— 
ung, welche die ſozialen Beziehungen durch die kapitaliſtiſchen erfahren, hingerichtet 
Fein. Insbejondere müßte es daher immer al3 vornehmjte Aufgabe joztalpolitiicher 
Mirkjamfeit, welche fich in feinem der einfchlagenden Gejegentwärfe verleugnen jollte, 
—* die Einzelnen in ihrer wirtſchaftlichen Wirkſamkeit auf den Fuß des Kapitals zu 
eben. 

Dem Kapitaliften als jolchem fteht e8 3. B., wenn es eine bejondere Alterörente 
erwerben will, volltommen frei, fejtzuftellen, welche Höhe diejelbe haben und in wel- 
chem Lebensalter diejelbe beginnen jol. Es fommt dabei nur darauf an, wie viel er 
jährlich von jeinem Einfommen für diefen Zwed verwenden will. Es liegt aber gar 
fein Grund vor, weshalb nicht die Reichs-Alters-Verſicherung ihren Teilnehmern die— 
jelbe Freiheit eröffnen will. Selbjtverftändlich Hat einfach derjenige, welcher etwa an— 
jtatt mit dem fiebzigften jchon mit dem fechzigiten Jahr in den Genuß einer Rente 
treten will, einen entjprechend höheren Beitrag, deſſen Verhältnis fich mit Hilfe der 
vorhandenen ſtatiſtiſchen Hilfsmittel ſehr genau feititellen läßt, zu zahlen. Ebenjo gibt 
e3 feinen Grund, weshalb es dem Einzelnen verwehrt jein jollte, auch die Höhe jeiner 
Nente zu bejtimmen. Auch in diefem Falle hätte fich einfach der Beitrag nach Höhe 
der erwünſchten Alters- oder Invalidenrente zu richten. Endlich jollte man die Alters— 
versicherung nicht auf die Arbeiter bejchränfen. Man jollte diejelbe über alle Bevölfe- 
rungsklaſſen erjtreden; wenigjtens jollte, wenn auf die eigentlichen Arbeiter ein 
Zwang ausgeübt würde, hinjichtlich des Beitritts und des Mindeſtſatzes der Rente, 
auch außerdem jedermann berechtigt jein, die Altersrente zu erwerben und diejelbe bis 
zu einem nicht zu niedrig gegriffenen Sage zu erhöhen. (Für dieſe Fälle dürfte aller: 
dings der Neichszujchuß nicht bewilligt werden. D. Red.) 

Auch diefer lettere Punkt erjcheint uns von ganz außerordentlicher Wichtigkeit; 
er betrifft ebenjowohl die grumdjägliche Geftaltung der Neichsalters: VBerficherung als 
jozialpolitische Pımfte von maßgebender Bedeutung. Wir haben jchon öfter darauf 
bingewiejen, wie eine Hauptquelle der jozialen Miplichfeiten, insbejondere injofern da— 
durch die Produktion unmittelbar berührt wird, zu ſuchen ift in der allzujtarfen Ab— 
jcheidung des Kapitals auf Kloten des Verbrauchs und in der Verwendung desjelben 
für Zwede, welche der nationalen Wirtjchaftlichkeit fern Liegen oder wohl gar feindlich 
find. Hiermit ſteht der Umstand, daß die große Maſſe der Bevölferung in ihrer Ver- 
brauchöfraft, bejonders in den höheren Altersreihen, allzuftarf und in zunehmendem 
Umfange bejchränft wird, in jehr engem Zujammenhang. Wir bezeichnen es daher ge— 
radezu ald eine Aufgabe der Alteröverficherung, jene Verbrauchskraft in den höheren 
Altersreihen zu jtärfen, und anderjeits der Erjparnisfähigfeit das Feld, wo die Er- 
jparnis dem eigentlichen Kreiie der Sparer wieder zum Vorteil wird und wo auch die 
Erjparnis ihrem hier ausjchlieglichen Zwed des Wicderverbrauchs erhalten bleibt, zu 
eröffnen. Wenn aber die Erſparnisluſt, worauf doch jo viel Gewicht gelegt wird, an— 
gejpornt werden joll, jo gehört dazu, daß eine wirklich vorteilhafte Erjparnisgelegen- 
heit geboten wird und dal es zugleich in den Willen des einzelnen gelegt fein muß, 
jein Sparen zu jteigern. 

Daß diejer Vorausjegung der Entwurf zum Altersverficherungsgejeg wenig ent: 
jpricht, ift leicht erfennbar; und doch fann es bei einer jo mächtigen und breiten Eins 
richtung, wie fie hier entjtehen jollte, nicht jchwer jein, Hervorragendes zu leiften. 
Möglicherweije fürchtet man Mühen und Berwidelungen von einer größeren Ver— 
mannigfaltigung. Aber ohne Mühen und ohne Hingebung wird man überhaupt nichts, 
was der Nede wert jein fünnte, erreichen; und wenn man fich begnügen wollte, auf 
dieſem wichtigiten Gebiete etwas Zwedlojes zu jchaffen, um nur überhaupt etwas zu 


Monatsihau. — Wirtſchaftspolitik. 881 


leiſten, ſo wäre dies das Bedauerlichſte, was man ſich denken möchte. Allein es iſt 
gar nicht ſchwer, eine auf kleinere Kreiſe ſich bauende Geſtaltung von vollkommenſter 
Wirkſamkeit einzurichten. 

Wir können hier freilich nicht ſelbſt einen Geſetzentwurf, oder auch nur einen Ein— 
richtungsentwurf für eine Reichs-Alters-Verſicherung geben; wir müſſen ung begnügen, 
ohne noch auf das Einzelne einzugehen, auf die grundjägliche Verfehltheit des ver- 
Öffentlichten Entwurfes, der nach feiner Seite hin günftige Ausfichten auf Erreichung 
des Zweckes, dejjen Erreichung fozialpolitifch gefordert werden muß, eröffnet, hinzu— 
weijen. Darunter fteht das Beitragsverfahren obenan. Man muß doch immer voraus— 
jegen, daß es fich um eine Gegenfeitigfeitsanitalt handelt, wobei die etwaigen Ueber- 
ſchüſſe wieder den Verficherten zufließen, nicht fapitalifiert werden jollen. Unter diefer 
Vorausſetzung wollten wir uns mit dem Prämienſyſtem einverjtanden erklären. Aber 
wir find der Meinung, daß das vorgejchlagene Beitragsverfahren nicht entiprechend if. 
Das Gejep mul allerdings vorjchreiben, daß jedermann, der in einem Arbeits- oder 
nicht altersverjforgungsgewährenden Anftellungsverhältnis fteht, verpflichtet ijt, einen 
wöchentlichen Beitrag, welcher den Minimalfag der Altersrente jichert, zu leiften. Dieſe 
Leiftung muß alljährlich durch Einreichung des vorzujchreibenden Marfenbuches kon— 
trolliert werden. Jeder der Pflichtigen wird eventuell zur Einreichung des Buches bei 
der Ortögenofjenfchaft gezwungen. Aber der Betreffende braucht innerhalb des Jahres 
nicht an die beftimmte Einflebung gebunden zu jein, jo daß er Arbeitslojigfeit vorüber: 
gehen laſſen, größeren Arbeitsverdienit aber durch Borauseinflebung von Marken vor: 
teilhaft benußen kann. Nicht der Arbeitgeber hat danach die Einklebung der Marken 
und den Abzug des Betrages vom Arbeitslohn zu bejorgen, jondern der Berfichernde 
beforgt dies felbft; aber man kann jenen verpflichten, bei der Lohnauszahlung den 
Arbeitern Marken, welche außerdem für jedermann bei der Reichspoſt verfäuflich fein 
müſſen, zur Einflebung nad) Bedarf zur Verfügung zu ftellen. Für die Einrichtung 
zur Steigerung der Rente wird es aber genügen, daß für jede Steigerung bejonders 
Buch zu führen ift; und daß, wenn z. B. eine Steigerung um die halbe Rente beab- 
fichtigt wird, jechs und zwanzigmalige, um die Viertelrente dreizehnmalige Einflebung 
der Einheitsmarfen auf das Sahresblatt genügt. Wer feine Rente aber mehrfad) 
jteigern will, der muß fich für jede Steigerung ein befonderes Buch Halten und hat 
dasjelbe ebenfalls alljährlich einzureichen; nicht der Pflicht, jondern der Beglaubigung 
wegen. Es verfteht jich aber unter diejer Vorausſetzung von ſelbſt, daß von einem 
einheitlichen Satze für eine Nente nicht die Rede jein kann, jondern daß fie jich nad) 
dem Alter des Cintritt3 richten muß. Uebrigens jollte auch der Mindeſtſatz einer 
Alterd- oder Invalidenrente nicht 120 Mark, jondern jo viel Thaler betragen. Doc) 
könnte vielleicht für die erften zehn Jahre den Altersflaffen über vierzig Jahre über: 
gangsweife die Steuer für eine Rente von nur 120 Mark geftattet fein. Die Heran- 
ziehung der Arbeitgeber halten wir nach den bei der Sranfenverficherung gemachten 
Erfahrungen faum für zwedmäßig — bei der Unfallverficherung iſt e$ etwas anderes; 
dabei gebührt die ganze Laſt dem Betriebe, während es ſich bei der Invaliden- und 
Altersverficherung um perjönliche und foziale, von der eigentlichen Arbeitsthätigfeit un— 
abhängige Sicherung handelt. Es muß aber ohne Zweifel dem Staat nicht nur jehr 
viel daran liegen, die wirtjchaftlichen Laften und Vorteile möglichjt nach Maßgabe der 
einflußreichen Verhältniffe zu verteilen, jondern auch dahin zu wirfen, daß Die Ab— 
hängigfeit der Gejamtbevölferung vom fapitaliftiichen Induftrialismus gemähigt werde. 
E3 dürfte ſonſt nicht ausbleiben, daß fich jener immer mehr zum Staat im Staat 
entwidelt und den leßteren aus den Fugen zu heben jucht; wo es dann darauf an- 
fäme, wer ſich als der Stärfere erweilt. Es empfiehlt ſich daher auch auf dieſem 
Gebiete, immer und insbejondere beizeiten eingedenf zu fein des Wahljpruches: Suum 
cuıque. — — 


Die Fortjchritte, welche die deutjche Induftrie auch im laufenden Jahr gemacht 


882 Monatsihau. — Wirtſchaftspolitit. 


hat, kennzeichnen ſich zunächſt darin, daß die Roheiſengewinnung Deutſchlands in den 
erſten ſechs Monaten dieſes Jahres zwei Millionen Tonnen überſchritten hat, obgleich 
die Herſtellung im Juni etwas kleiner geweſen iſt als im Mai. Die Vermehrung 
gegen das Vorjahr beträgt zehn Prozent. Dabei iſt von einer Häufung der Lager 
wenig zu bemerken und auch die Verkaufspreiſe werden als günſtig oder doch als = 
friedigend bezeichnet; für mehrere Gebiete der Eijengewinnung und »Verarbeitung find 
20 für nächfte Zeit Preiserhöhungen in Ausficht genommen worden. Dadurch wer— 
en jene Behauptungen der freihändlerischen Prefie, nach denen jich infolge der deut— 
ſchen Schußzollpolitit die deutiche Induftrie und der Handel bejonders dem engliſchen 
egenüber rüdgängig zeige, jchlagend widerlegt. Denn die Verhältniſſe der englijchen 
Sduftrie jcheinen ſich zwar in der letzten Zeit wenigftens teilweis einigermaßen ge— 
bejjert zu haben; allein die drüdende Zunahme der öffentlichen Lager dauert fort, und 
die Klagen über den ungünſtigen Einfluß der Warrantjpefulation find nicht geringer 
geworden. Die Öffentlichen Lagerhäufer von Glasgow zeigen gegenwärtig mehr als 
eine Million Tonnen, alfo den fiebenten Teil der großbritannischen Jahresgewinnung 
von Roheiſen, und die Verjchiffungen von dort ftehen in geradezu jchreiendem Mißver— 
hältnis zu der Größe der öffentlichen Lager. Zudem macht ſich jett jchon die in— 
duftrielle Konkurrenz der auftralifchen Kolonie geltend, und kürzlich wurde gemeldet, 
daß bei einer Verdingung von Lokomotiven in Auftralien der Zujchlag nicht an eng— 
liſche Fabriken, jondern an auftralische jelbft erfolgt jei. Auch in den Streifen der eng— 
lichen Tertilinduftrie zeigt man fich ſehr beſorgt. Man leidet unter fteigender Ungunſt 
des oftafiatiichen Marktes und unter der zunehmenden Konkurrenz der ojtindijchen 
Spinnerei und Weberei, während andrerjeit3 die Verhältniffe des Marktes für Roh— 
baummolle und die jpefulativen Einwirkungen auf diejelben ebenfalls unerfreulichen Einfluß 
auf die industriellen Verhältniffe äußern. Kürzlich hat man es von England her unver: 
hohlen ausgeiprochen, daß die Veröffentlichungen des Acerbauamtes in Wafhington 
über den Stand der Baumwolle rein fpefulativer Natur jeien und ihre Lojung von 
jeiten der New-Yorker Börſe empfingen. Daß dies Hinfichtlich des Getreideitandes nicht 
befjer jei, hat man jchon jeit geraumer Zeit vermutet. 

Allerdings hat man wohl jeit vielen Jahren nicht mit gleicher Spannung den 
Ernteergebnifjen entgegengefehen wie gegenwärtig. Die eigentümliche Witterung hat zwar 
ein auperordentliches Wachstum der Cerealien gefördert; mit Ausnahme einiger Ges 
treidelagen, die nicht gut überwintert haben, ıft das Getreide auch faſt überall in 
Deutjchland emporgejchoffen, und nicht minder zeigt das Objt eine Fülle wie jeit large 
nicht. Allein dann hat das Wachstum und die Neife der Frucht ſchwer durch die 
anhaltende Kälte und Näſſe gelitten, und die Heuernte iſt durch letztere vielfach ver- 
nichtet worden, während fie bei dem Obſt die Ausbreitung von Ungeziefer außerordent- 
lich begünftigt und den Roggen vielfach zum Lagern gebracht hat. Gleichwohl find die 
Getreidepreie gedrüdt. Im Frühling lauteten die Saatenftandsveröffentlichungen des 
Aderbauamtes der Vereinigten Staaten durchaus ungünftig; aber je näher man der 
Ernte rüdte, deſto mehr hoben fie fich; und während man anfänglich kaum eine Zwei— 
drittelernte in Ausficht nahm, ift man jest jchon nahe bei einer Durchjchnittgernte ans 
gefommen. Aber noch bei weitem einflußreicher ift der ſüdruſſiſche Getreidemarft für 
die Preisentwidelung geworden. Won dort aus ift jegt die Ausfuhr außerordentlich 
ewachjen; und obgleich dieje Ausfuhr die dortigen Lager umfaſſend räumen läßt, zeigt 
* doch daraus keine günſtige Einwirkung auf die Preiſe, welche vielmehr fortgeſetzt 
als gedrückt, wenn nicht rückgängig bezeichnet werden. Unter dieſen Umſtänden müßte 
natürlich eine wenn auch nur teilweiſe Mißernte in Deutſchland für weite Kreiſe unſerer 
Landwirtſchaft geradezu verhängnisvoll werden, da nicht zu erwarıen iſt, daß etwa 
durch Preiserhöhung ein Teil des Verluftes an der Menge ausgeglichen werden könnte. 

Auch die Handelsfammerberichte beftätigen, wenn auch unverfennbar widerwillig, 
die Echwierigfeiten und in&befondere den Preisdrud, unter dem insbejondere die land» 


Monatsſchau. — Kirche. 883 


wirtjchaftliche Produktion zu leiden hat, wogegen für Handel und Verkehr meiftens 
Aufihwung und Steigerung zu verzeichnen iſt. Freilich fann man auch aus jenen 
Berichten erfennen, daß neben der Landwirtſchaft auch vielfach ſchon die Fleinen Städte 
leiden. Während Eijenbahn:, Poſt- und Telegraphenverfehr in den größeren Städten 
ein wahrhaft überjtürzendes Wachstum zeigen, gibt es jchon zahlreiche Eleine Städte, 
wo jene in bedenklich ftarfem Umfange rüdgängig find, und zwar offenbar nicht vor- 
übergehend, jondern jtetig von Jahr zu Jahr. Aber ebenjowenig wie für die land- 
wirtichaftlichen Mißlichkeiten * ſich für diejenigen dieſer kleinen Städte irgendwelche 
Teilnahme. Und doch muß ſchon der geſunde Verſtand ſagen, daß die Blüte verwelken 
muß, wenn der Stamm verdorrt. Alle Wünſche, welche in den Handelskammerberichten 
zum Ausdruck gelangen, gehen auf weitere Steigerung des Handels, insbeſondere des 
fremden; aber für den Ausbau, für die feſte Stützung des Erworbenen zeigt ſich nirgend 
Sinn. Der Zug der Börfe, der jedes Verhältnis und Ereignis für den rajchen Tages: 
ewinn auszubeuten jtrebt, erſtreckt ich immer weiter über das Land und trifft den 
onjervativen Geiſt aufs jchwerite. 

Auch jene Ereignifje, welche der Thronbejteigung Sr. Majeftät des Kaifers Wil- 
helm II. vorangingen, fie begleiteten und ihr folgten, find für diefe Richtung uns wegen 
des Vorteild, der fi) aus ihnen ziehen ließ, und der Spekulationen, die man daran 
fnüpfte von Bedeutung gewejen. Die Reife Sr. Majejtät nad) St. Fetersburg war 
für jene nichts als die Eröffnung der Ausficht, daß nun wieder ruſſiſche Schuldtitel 
nad) Belieben der Börje in Deutiehland emittiert werden fünnten, und daß fich jowohl 
die Reichsbank als die Fönigliche Seehandlung wieder an ruffischen Finanzgejchäften 
beteiligen würden. Die jchweren Folgen der faljchen Finanzpolitif gegen das Ausland 
hat freilich nicht die Börje zu tragen. Diejelbe jchwimmt überhaupt jett wieder oben. 
Ceit Jahren hatten die jpefulativen Kurſe nicht die Höhe wie gegenwärtig, und von 
Neugründungen und Emijjionen jagt eine die andere An der Londoner Börje hatten 
die Emiffionen mit dem Halbjahr Bart einhundert Millionen Lftrl. erreicht. Die deut- 
jchen Emiſſionen erreichten zwar diejen Betrag nicht; aber eine Milliarde Mark wurde 
ebenfall3 überjchritten, wobet noch eine ganze Menge befonders großer fremder Emijjio- 
nen angekündigt find, darunter Vereinigte-Staaten-Eijenbahnen, argentinijche, brafi- 
lianiſche, italienische, ferbifche u. j. w. Und in gleicher Lage find alle Kapitalländer, 
die fich diefer Umgarnung durch Verfchärfung der Echußzölle nur unvolllommen er— 
wehren. 


SKirche.*) 

Kirhenpolitifche Wandlungen in Baden. Baden marfchierte bekanntlich an 
der Spite des Kulturfampfes. Bereits elf Jahre bevor man in Preußen etwas von 
demfelben wußte, wurden in dem badijchen Landtag die erjten Schlachten desjelben ge- 
ichlagen, erjt die fafultative, dann die obligatorische Zivilehe eingeführt, mit der kon— 
fejfionell gemifchten Volksſchule die Trennung der Schule von der Kirche vorgenommen, 
das theologische Staatderamen erfunden u. ; f. Da der damalige Kulturfampf von 
Altkatholiten, Proteftantenvereinlern und Neformjuden gegen jede religiös pofitive Rich- 
tung geführt wurde, ftanden die evangelichen Konfervativen in den Hauptfragen ent» 
jchieden auf der Seite der Ultramontanen, was namentlich bei den Wahlen zutage trat. 
Sie wurden deshalb in der offiziellen und der halboffiziellen Preffe des Landes wieder- 





) Da Herr PBrofefior Martin von Nathuſius diesmal leider verhindert war, den kirchlichen 
Bericht zu jchreiben, bringen wir hier eine Mitteilung aus Baden zum Abdrud, welche ein dortiger 
Mitarbeiter unferer Monatöfchrift uns freundlichft zugefandt Hat. Die Redaktion. 


884 Monatsihau. — Kirche. 


holt als Regierungsfeinde bezeichnet. Wer jene Kämpfe mit durchgerungen und ſodann 
die firchenpolitifchen Verhandlungen des jüngjt gejchlofjenen Landtags verfolgt hat, der 
fonnte ji in ein Märchen von 1001 Nacht verjegt wähnen, jo überrajchend erjchien 
die Wandlung. Wieder waren zwar die Führer der Konjervativen die Gegner der 
liberalen Regierung, und zwar hüben und drüben die gleichen Männer, aber die liberale 
Negierung wurde von den Ultramontanen unterjtügt und die liberale Kammerfraktion 
ging in ihrer Mehrheit Hand in Hand mit den Ktonjervativen. Woher diefe Wandlung? 


Die Frage ift um jo berechtigter, al3 in Baden, obwohl zwei Dritteile feiner Be- 
völferung fatholifch find, der Sieg der liberalen Kulturfämpfer als ein vollfommener 
bezeichnet werden mußte. Beweis hierfür ift die Erklärung, welche der hervorragendite 
Führer der damaligen ultramontanen Fraktion der zweiten Kammer, der Reichstags- 
abgeordnete Kirchenrat Zender, vor drei Jahren abgab, und in welcher es —* daß die 
Katholiken Badens mit den beſtehenden kirchenpolitiſchen Verhältniſſen zufrieden ſeien. 
Noch deutlicher wurde dieſer Beweis bei den Wahlen des legten Herbſtes erbracht, in— 
dem die ultramontane Fraktion bei denjelben auf die Hälfte ihrer bisherigen Stärfe 
zufammenjchmolz. Jene Wandlung erjcheint als das Produkt einerjeit3 des großen 
firchenpolitijchen Sprungs des Neichsfanzlers vor zwei Jahren und andrerjeitö der ver- 
änderten Taftif der Ultramontanen in ganz Deutjchland, welche jeit einigen Jahren 
von der Defenfive zur Offenſive übergegangen find und hiermit einen neuen Kultur: 
fampf ins Leben gerufen haben. Es Kind dies zwei Momente, welche den badijchen 
Wandlungen ein allgemeineres Interefje verleihen. 


Das weitgehende Entgegenfommen, welches zwar nicht das Zentrum unter Wind- 
horjt3 Führung, aber die römische Kirche unter Leo XIII. von jeiten der preußijchen 
Regierung erfahren hat, übt einen gewaltigen Drud auf alle anderen deutjchen Regie— 
rungen aus und zwingt fie in ähnliche Bahnen. Angefichts der Zugejtändniffe, welche 
der fatholijchen Kirche in Berlin gemacht wurden, erklärten ihre Angehörigen in Baden, 
nicht Katholiken zweiter Klafje fein zu wollen, und verlangten die gleichen Rechte. 
Hierdurch jah fich die badijche Regierung veranlagt — vielleicht auch durch Wünſche von 
Berlin her gedrängt — dem Landtage eine ae Borlage zu machen, durch 
welche der katholiſchen Kirche zwei große grundjägliche Zugeſtändniſſe gemacht werden 
follten. Diejelbe jollte das Recht erhalten, zur Heranbildung ihrer eigenen Priefter 
Erziehungs: — (nicht Lehr-) — Anjtalten zu gründen, und jodann Ordensgeiftliche zur 
aushilfsweijen Seeljorge heranzuziehen, während durch ein Geſetz von 1872 den Ordens— 
geijtlichen jede jeeljorgerliche Wirkfamkeit und jede Mijfionsarbeit verboten waren. Die 
liberale Regierung erntete hierfür jelbjtverftändlich ein liberftrömendes Maß von Lob 
in den ultramontanen reifen und in der Zentrumspreffe, jtieß aber in ihrer eigenen 
Partei bald auf Widerſtand. 


Der entjchiedenfte und nachdrüdlichite Proteft gegen die Zulaffung der Ordens— 
geiftlichen erfolgte aber aus den Reihen der früheren Bundesgenofjen der Katholiken, 
von evangelijch-fonjervativer Seite. Dieje Wandlung haben Die Katholiken ſich aber 
allein zuzujchreiben. Denn feit dem Katholifenfongreß in Bamberg, auf welchem das 
Zentrum jenen Uebergang von der Defenfive zur Offenfive Sg Eee hat, gewann 
von Jahr zu Jahr einer gemäßigten Richtung innerhalb der katholiſchen Volkspartei 
in Baden gegenüber eine intranjigente Gruppe die Oberhand, in deren Leitung Die 
katholiſche Preſſe fich allein befindet. Seine Gelegenheit wurde verjäumt, die evange- 
liſche Kirche zu verlegen, in Mifchehen Unfrieden zu ftiften, das katholiſche Volk zu 
verhegen. Trotzdem verlangte dieſe Partei von den evangelischen Konjervativen Heeres- 
folge, und als dieje infolge des Kartells und bereits vorher gegen demofratische Kan— 
didaten des Zentrums auftraten, fiel die fatholische Preffe mit einem namenlojen Geifer 
über fie her. Dieſe Vorgänge konnten nur das fonfejfionelle Bewußtſein in den evan— 
gelischen Kreiſen jtärfen und jenen Proteſt gegen die Zulafjung von Ordensbrü— 


Monatsihau. — Kirche. 885 


dern hervorrufen, welche in einem fonfeffionell jo vollftändig gemifchten Wolfe, wie die 
Erfahrung aus den 50er Jahren reichlich lehrt, die Gegenſätze noch verjchärfen würde. 
In der zweiten Kammer, in welcher nur elf Zentrumsmitglieder und nur ein Konſer— 
vativer fich Beaben, wurde der Artifel über die Zulafjung der Orden gänzlich ge 
ftrihen und der Artifel über die Errichtung geiftlicher Erziehungsanftalten durch läſtige 
Kontrollmagregeln und jcharfe Strafbeftimmungen in hohem Grade verflaufuliert. Von 
der erjten Kammer erwartete man die Wiederheritellung des Ordensartifels, weil in dieſem 
Oberhauſe eine größere Zahl fatholifcher Standes: und Grundheren und außerdem acht 
vom Großherzog ernannte Mitglieder ihre Sige haben. Auch beantragte der vom 
Geh. Hofrat von Holft erjtattete Kommijfionsbericht in der That die aushilfsweife Zu 
lafjung der Orden. Dagegen ftellte Frhr. v. Göler den Gegenantrag, im Interefje des 
fonfejjtonellen Friedens die Orden auch in Zukunft fern zu halten und nur die von der 
ey Kammer gemachten Berjchärfungen zum Erziehungsartifel zu ftreichen. Nach 
em Stimmenverhältnis erwartete man, es würden elf gegen elf Stimmen fich ergeben, 
und bei diefer Stimmengleichheit die Stimme des Präfidenten zugunften der Orden den 
Ausichlag geben. In achtjtündiger Debatte wogte der Kampf in zum Teil jcharf 
zugejpigten grundjäglichen Erläuterungen. Da erwuchs den Gegnern der Orden eine 
nie geahnte Unterftügung in dem Hochultramontanen Fürſten Karl von Löwenſtein— 
Roſenberg, welcher kürzlich erjt einen Pilgerzug nad) Rom geleitet hatte. Derjelbe 
erflärte nämlich, die vielen Erjchwernifje, welche der Kommifjionsantrag für die Zu— 
lafjung der Orden immer noch enthalte, jeien eine Beleidigung für dieje, und er müfje 
deshalb gegen diefen Artikel ftimmen. So fiel legterer gegen alle Erwartungen mit 
12 gegen 10 Stimmen. Die Regierung fand fich gerne hinein, und die zweite Kam— 
mer nahm nunmehr den Gejegentwurf in der von Göler und Genofjen befürmworteten 
Geitalt an. Wie nad) a weren Alpdrude atmete aber das badische Volk in jeiner 
ie Mehrheit wieder auf, und zahlreiche Kreife, welche fich vorher aus Zweckmäßig— 
eitögründen für die Zulafjung der Orden ausgejprochen hatten, freuten jich über das 
Endergebnis und würden heute gegen die Orden ftimmen. Auch Hier zeigte ſich bie 
Macht des Erfolgs. 
ALS ein entjchiedener Proteft des germanischen, evangelischen Geiftes gegen über- 
fpannte ultramontane Gelüfte und damit al3 ein Zeichen der Zeit verdient dieſer Sturm 
im badijchen Lande auch in weiteren Kreiſen einige Beachtung. 


Allg. konj. Monatsſchrift 1988. VIIL, 57 


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PESETTERTEIFER 
RAT ae, 80 5 
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Neue Schriften. 


1. Kirche. 


— Allgemeine kirchliche Chronik, begrün— 
det v. K. Matthes, fortgeſetzt von Dr. & i 
Brandes zu Göttingen. 34. Jahrgang 1887. 
(Dresden, A. Diedmann) 1888. V und 2835. 4M. 
Ein mit großer Sachkenntnis, ſtreng objektiv 
u und dabei flott gejchriebenes Nachſchlage⸗ 
uch über die kirchlichen —— des vorigen 
Jahres, nicht nur auf dem Gebiete der deutſchen, 
—— der europäiſchen Chriſtenheit, ja der an— 
ern Erdteile. Man folgt dem Darſteller gern in 
die lirchlichen Verſammlungen aller Art, auch wenn 
man fi noch der Beitungsberichte erinnert, und 
muß die große Genauigkeit und Treue bewundern, 
womit die Quellen benußt find, während mir 
andrerjeitö jehr vieles entdeden, was, der Beach— 
tung jehr wert, ſich doch unferer Kenntnisnahme 
entzogen bat. Daß über die Arbeiten der äußeren 
und der inneren Miſſion nur kurz referiert wer— 
den fonnte, liegt infofern in der Natur der Sadıe, 
als eine Darjtellung der Thätigleit auf diefen weis 
ten Gebieten allein ein ganzes Buch erfordern 
würde. Dagegen finden wir ferner liegende Be— 
ftrebungen, wie die der „Freireligiöſen“, der Ve— 
— Mormonen, Leichenverbrenner u. ſ. w., 
erückſichtigt. Eingehend iſt auch über wichtige 
Gerichtsentſcheidungen referiert. Wir können das 
Bud nur warm empfehlen. —r. 


— Einführung in die heilige Schrift Alten 
und Neuen Teſtaments. Vorträge von G. Behr— 
mann, Hauptpaſtor zu St. Michaelis-Hamburg. 
(Gütersloh, C. Berteldmann) 1888. IV u. 341 & 
4,50 M. geb. 5,50 M. 

Für dieſes Buch werden viele dankbar fein. Es 
ift nicht etwa eine trodene Einleitung in die Bi- 
bel, jondern eine lichtvolle, in jchöner Sprache ge— 
fchriebene Einführung in den Inhalt der Heiligen 
Schrift auf dem Grunde großer Belejenheit in * 
einſchlägigen Litteratur. Vielfach begegnen wir 
jetzt dem Verlangen, in das Alte Teſtament ein— 
geführt zu werden, und was der Verf. über ſeine 
Sprachgeſtalt, Geſchichtsſchreibung, Dichtkunſt, Weif- 


ſagung und religiöſe Bedeutung in 7 Vorleſungen 
jagt, 4 ſehr geeignet, Licht zu verbreilen, Verſtänd— 
nis und Liebe zu wecken. Seine Darlegungen ſind 
ein geeigneter Führer in dieſe Bücher, die man— 
chem wie ein Labyrinth erſcheinen. Was weiter 
über Chriſti Perſon und Werk, den irn der 
Heidenwelt bei Einführung des Chriſtentums in 
die Welt, über St. Paulus, fein Leben und feine 
Briefe, über die Evangelien gejagt ift, wird auch 
von ſolchen, die Neues nicht erfahren, doch gern 
— werden, während der jetzt erweiterte Kreis 
er „Zuhörer und Zuhörerinnen“ des Berf. reiche 
Anregungen und viel Nugen haben wird. Möchte 
diefer Kreis recht groß werben! —t, 


2. Geſchichte. 

— Zur Gefhidhte der Annerion des El- 
fab durd die Krone Frankreichs. Hiſtoriſche 
Auffäge auf Grund ardivaliicher Dokumente von 
Dr. Heinrih Rocholl, Divifionsprediger der 
15. Divifion zu Köln. (Gotha, F. A. Berthes). 
1888. X. 162 ©. 3 Mt. 

Unter denjenigen, welche im neuen Reichslande 
deutſche vaterländiiche Gefinnung zu erweden und 
zu befeftigen gejucht haben, ift Rocholl nicht der 
legte. Er Hat das Glüd gehabt, in dem Stadt— 
archiv zu Kolmar eine große Menge von geſchicht— 
lihen Akten zu finden, welche Zeugnis davon ab— 
legen, wie treu, opferbereit und begeiftert die Alt— 
vorderen der jegigen Elſaß-Lothringer einft zu dem 
deutichen Reiche hielten, und mit welchem Mute 
und welcher Zähigleit fie fich gegen „die Verwäl— 
hung“ gewehrt haben. — Der Bert, hat ala Di- 
vifionspfarrer längere Zeit unter den Bewohnern 
der Reichslande zugebradht. Seine eigene Vater— 
landsliebe und feine Zuneigung zu den neuen 
Neihsangehörigen haben ihm die Feder in die 
Hand gedrüdt und ihn eine Neihe von Aufjäßen 
verfaſſen lafjen, die in Zeitungen und Beitjchriften 
nacheinander veröffentlicht wurden. — Dieje bie— 
tet er dem weiteren Publitum in der vorliegenden 
Sammlung. — Es find meijt Bilder aus dem 
17. Jahrhundert, welche uns entgegentreten. Vor— 
ausgeihidt ijt eine Gejchichte des jogenannten 


Neue Schriften. — Biographi ches. 


ehnjtädtebundes, nämlich der 10 freien Reichs— 
tädte Kolmar, Schlettſtadt, Mühlhauſen, Münjter, 
Zürdheim, Kaijersberg, Oberehnheim, Rosheim, 
Beihenburg, Landau don 1354—1648. Bon da 
beginnen die offener hervortretenden Bemühungen 
ber Franzoſen, fich derjelben zu bemächtigen. Vor— 
trefflich verftanden e8 die Bewohner der „Delapo- 
lis“ die franzöfiihen Madinationen längere Zeit 
zu bintertreiben. Endlich aufgegeben vom Mutter: 
ande, mußten fie fi unterwerfen. Aber damit 
batten fie ihr Deutfchtum keineswegs aufgegeben. 
Eie hielten fi zwar als Unterthanen des Königs 
Ludwigs XIV., aber nicht als Franzoſen. Der 
König war nur Inhaber der Reichsvogtei Elſaß, 
diefe aber deutjch. — Auch der Stellung des Großen 
Kurfürften zum Elſaß 1674—75 gejdieht Erwäh— 
nung. Die Elſäſſer, insbefondere die Straßburger, 
haben ſich ihm mit rührendem Vertrauen binges 
geben; war er doch der einzige Fürſt und der ein- 
sige Veldherr, der ihnen Rettung aus der drohen- 
en Gefahr von jeiten der Franzoſen bot. Gie 
ftanden nicht an, den Faijerlichen General Bour— 
nonville geradezu des Verrates feiner und ihrer 
Sache an die gemeinfhaftlihen Feinde zu bezeich- 
nen. Sie waren nicht weit von der Wahrheit ent» 
fernt. Genaueres hierüber werden wir allerdings 
erft dann vernehmen, wenn einmal in ®ien wie 
in Paris alles hierher gehörige Aktenmaterial in 
durchaus vorurteilsfreier Weife zur Veröffentlichung 
gelangt, wie dies von brandenburgiich-preußijcher 

eite durch die Veröffentlichung der Urkunden und 
Altenftüde zur Geſchichte Friedrich Wilhelms des 
Großen Surfürften geſchieht. — Sehr anziehend 
find die Abjchnitte, welche „Paris und das Ober: 
Elſaß in den Jahren der Schreden 1789—1795”, 
und einiges „zur Geſchichte der deutichen Sprade 
im Elſaß“ zur Zeit Napoleons III. behandeln. 
Wer demgegenüber nocd immer von einem in 
dem Bollscharakter der Eljäffer begründeten Be— 
bürfnis, die franzöfische Sprache als Verlehrsſprache 
u pflegen, Ihredien fann, macht fich zweifellos der 
nwiſſenheit oder der Unmwahrhaftigteit ſchuldig. — 
Die friich geichriebenen Aufjäge werden fid in dem 
neuen Gewande ebenfoviel Freunde erwerben, wie 
fie ji in ihrem älteren gewonnen —— — 

. Br. 

— BZürder Taſchenbuch auf das Jahr 
1888. SHerausgeg. v. einer Gejellihaft zürcheri= 
ſcher Geihichtsfreunde. Neue Folge. Elfter Jahr: 
gs, (Zürid, ©. Höhr.) 1888. XVIL 264 ©. 

riB. 


Acht zum Teil auch für weitere Kreife anzie— 
bende Aufſätze enthält das neueſte Tafchenbucd. 
Dies gilt beſonders von dem zweiten: die Refor- 
mation im Bezirte Affoltern, welcher einen vor— 
zügliden Beitrag zur Geſchichte der Glaubensreini> 
er in der Schweiz, insbefondere zur Schlacht 
ei Kappel bildet; jodann von dem dritten: „bie 
Anfänge der zürcheriſchen Politik“, der die Verhält— 
niffe Zürichs zur Zeit Rudolf v. Habsburg und 
ihre Verſuche, ſich ſelbſtändig u machen, behan— 
delt; und endlich von dem Fänften: eine „ſchweize⸗ 
riſche Gejandtihaft an ben franzöſiſchen Hof in 
den Jahren 1687 und 1688“, einer Darftellung, die 
trefflich geeignet iſt, das herriſche und gemwaltthä- 


887 


tige Verfahren Ludwigs XIV. aud gegenüber der 
Schweiz, aber auch die Treue und Unbeftechlichteit 
der ſchweizer Gefandten gegenüber den wälſchen 
Verfuͤhrungskünſten in helles Licht zu ftellen. Der 
ſechſte Auflap: „die Belagerung don Rhodus im 
Sahre 1522” wird denjenigen manches Neue und 
Wertvolle bieten, welche fih mit den Pilgerfahrten 
nad) Serufalem und der Gejchichte des Johanniter- 
ordens beihäftigen. Er enthält den Bericht eines 
Hugenzeugen, Beter Füßli aus Zürich, über jene 
denfwürdige Belagerung. U. Br. 


3. Biographiſches. 

— Erinnerungen an Jane Welſh-Car— 
Iyle. Eine Briefauswahl, Ueberjegt, mit Anz 
merlungen und verbindendem Tert verſehen von 
Th. U. Fiſcher, Mitglied der „Carlyle-Society”, 
London. Mit Porträt. (Gotha, F. U. Perthes.) 
1888. VI und 350 ©. 

Im Juniheft 1887 ift die Ueberſetzung bes 
Froudeſchen Lebens Thomas Garlyles (2 Bände, 
Gotha, F. N. Perthes) angezeigt worden. Die 
vorliegende Sammlung von Briefen der Jane 
Garlyle, geb. Welſh, ergänzt jene Biographie in 
der glüdlichiten Weiſe. Es Handelt Na um bie 
bedeutende Frau eined berühmten Mannes, um 
eine Hausfrau, deren Schriftjtellerei in Briefen 
an Freunde und Nahbarn befteht, während fie 
gewiß dad gang hatte, Bücher zu jhreiben, welche 

ie gewöhnlichen Leiftungen der Schriftjtellerinnen 
tief in Schatten geftellt hätten. Ihre Freundes— 
briefe geben ein treues Bild, die Licht: und Schat- 
tenjeiten der einzigen Frau, während die Nach— 
barbriefe, nad dem Inhalte jener, in wirkſamen 
Vorſtellungen bejtanden, um irgend einen nadj= 
barlihen Hund, Hahn, Kater u. f. w. und bie 
Störungen zu bejeitigen, welche dem ebenſo fleißi— 
en als reizbaren Carlyle von jenen BVier- und 
weifühlern zu teil wurden. 

Das englifche Originalwerk ift 1883 in brei 
Bänden herausgefommen und enthält über 300 
Briefe. Aus diefen ift die deutiche Auswahl ges 
troffen worden. „Alles was Frau Carlyle ſchrieb, 
war geiftreich; daneben aber war fie, infolge ihres 
Temperamentes, ihrer ſtets leidenden und oft völ— 
fig gebrochenen Gejundheit und vieler häuslicher 
Unannehmlichkeiten, jo überaus verſchieden in ihrer 
Stimmung, oft „himmelhoch jaudzend, oft zum 
Tode betrübt,“ daß man Gefahr läuft, ſich bei 
einer Briefauswahl ein völlig verkehrte Bild der 
Schreiberin zu entwerfen.” Die Beröffentlihung 
der Briefe it von Carlyle ſelbſt ala eine Art 
Sühne angeordnet worden. Im Leben hat das 
finderlofe, durch und durch originelle Ehepaar ſich 
das Leben vielfach jauer gemadt; nad) dem Tode 
der in ihrer Eiferjucht wunderliden, aber von 
ihrem Manne oft rückſichtslos behandelten Frau 
wollte der Witwer mit dem Abdrud der Briefe, 
jo zu jagen, Buße thun. — Tiefer, jhwerer Ernſt 
und leichter, friiher Humor wechſeln in biejen 
Briefen ab. Ihre ftete Fürforge für ihren heiß— 

eliebten Mann, der Verkehr mit ihren liebevoll 
ehandelten Dienerinnen, die zahlreihen Bezie— 
hungen zu ihren Verwandten und Freunden, die 
Erlebnifie in Chelſea und auf Reilen, all’ das 


57* 


888 


gibt dem vor und *5— Buche einen ungemein 
reihen Inhalt. — Als der erſte Band der „fran— 
zöfiihen Revolution“ zum zweitenmale beinahe 
vollendet war, ſchrieb Frau E. ihrer jüngjten 
Schwägerin, daran erinnernd, dab das Manujfript 
de8 eriten Bandes durch die Nadjläffigkeit John 
Stuart Mills verbrannt worden war: „ES fehlt 
jeßt nur noch ein Kapitel zu feinem zweiten „erjten 
Bande”; dann fingen wir ein Tedeum und betrin- 
fen un® — wozu wir, nebenbei gejagt, eben jest 
eine ganz ungewöhnlich gute Gelegenheit haben, 
da ein freund un geftern einen Korb voll des 
beiten alten Mabdeirad zum Gejchent gemadt hat.“ 
Ihrem Freunde John Sterling, einem Geiftlichen, 
fchreibt fie, daß fie alles, nur feine Briefe jhreiben 
fünne. „Bon einem Briefe wird verlangt, daß 
ber Schreiber darin über ſich jelbjt ihreibe, und 
wenn man mit fi) jelbft unzufrieden ift, da möchte 
man lieber von etwas anderem ſprechen, denn es 
gewährt uns leider! nicht diejelbe Befriedigung, 
von unjeren eigenen Sünden und unjerem eige- 
nen Elend zu erzählen, als von den Sünden unb 
dem Elend unferer Nachbarn. Ich ſchwöre Ihnen 
jedoch, ſollte ich jemals wieder mit mir ſelbſt zu— 

eden ſein, ſo will ich über alle Maßen mitteil— 
am werden; um aber dieſes wünſchenswerte Ziel 
erreichen zu können, muß ich vor allen Dingen 
mid nad) einer beſſeren Geſundheit umſehen, und 
um zu einer befjeren Gejundheit zu gelangen, 
muß id) damit anfangen, weijer zu werden als 
id e8 bin. Dies erinnert mid an den Meinen 
Sangen „des engliihen Opiumefjer8* (im Buche 
de Quincey’8 Confessions of an English Opium 
Eater), der mir einmal jagte, er werde nächſtens 
Griehiich lernen. Sein Vater wünſche aber, er 
folle e8 vermittelft des Lateinischen lernen, doch 
babe er damit noch nicht angefangen, weil fein 
Vater ihm Latein aus einer von ihm verfahten 
Grammatit Ichren wolle, die er aber erſt nod) 
reiben müſſe!“ — Im Mai 1837 hielt Carlyle 
n London mit großem Beifall aufgenommene Bor: 
träge über deutihe Kitteratur. Darüber teilt Frau 
E. ihrem Onkel John Welſh in Liverpool mit: „Die 
„Vorftellung“ jol in Willis Roans ftattfinden, 
ſoll um drei Uhr anfangen und Punkt vier Uhr 
aus jein, und zwar jeden Montag und Freitag 
während ber eriten drei Wochen des Mai. Biel- 
leicht wird es „pünftli anfangen“, wenn id) die 
nötige Vorſicht gebrauche und alle Ihren im Haufe 
um eine halbe Stunde vorrüde; was aber das 
„Punkt vier Uhr aus fein“ betrifft, jo können wir 
nur darauf Hoffen! Es gibt auf diefer Welt Dinge, 
die, wenn fie einmal im Gange find, nicht leicht 
um Stillftchen gebradt werden können, und zu 

iefen gehört auch „er“. Es ift mir die Idee ges 

fommen, dab der ficherfte Weg, ihn zu einem 
cetera desunt (von einem Schluß kann gar nicht 
die Rede fein) zu bringen, wohl ber wäre, mit 
dem Glodenjchlag vier eine brennende Zigarre 
vor ihn auf den Fiich zu legen — nun wir wol- 
len jchen.* 

Bon allem ihren Mann bejuchenden Bolt was 
ren Frau C. die Nordamerifaner die unangenehme 
ften. „Ih habe kürzlich innerhalb —— Tage 
deren nicht weniger als vierzehn gezählt, unter 


Neue Schriften. — Biographiſches. 


denen Dr. Ruſſel der einzige war, bei dem man 
nicht Luſt verſpürte, mit dem Schürhafen zu kom— 
men. Brädte Mr. Carlyles „wachſender Ruf“ 
nichts weiter ein als glüdwünjhende Yankees, 
dann würde ih dafür jtimmen, daß dieſer Ruf 
fi ohne Säumen mindere.“ 

Die Briefe wimmeln von Anfpielungen auf Er— 
febniffe, die immer auf humoriſtiſche Weiſe ver— 
wendet werben. Bon einem Sofa jchreibt fie 
ihrem Manne, daß es weder teuer noch billig ge= 
weſen jei. Dies bezieht fi auf die Antwort eines 
Kaufmanns, der von einem Kunden beim Handel 
gefragt worden war: „Heißen Sie das billig?“ 
und die Erflärung abgab: „Weder billig noch 
teuer, fondern gerade was es wert iſt.“ 

Dem ſchon genannten John — —— ſie: 
„John Sterling „iſt ein verſtändiger Mann“ (wie 
Mrs. Buller einmal in Gegenwart Garlyles in her— 
ablajjendem Tone vom Apottel Paulus jagte) — —.“ 
Sole lächerliche Charakterifierungen haften im 
Gedächtnis. Derjelbe Apojtel wurde einft von 
einem freimaurerijhen Kreißarzt, der unmittelbar 
vorher von dem „jehr ehrenwerten Abu Bekr“ ges 
ſprochen hatte, „der jehr chrenmwerte Apoftel Pau- 
lus“ genannt. — „Doc wollen wir Beſſeres hof⸗ 
fen, obſchon wir jo ſprechen“ heißt e8 in einem 
Briefe an Carlyles Mutter, welche damit an eine 
in Schottland in Predigten oft gebrauchte Redens— 
art erinnert wurde. „Sch will aud von dem 
ihweigen, wovon ich vorhin geſchwiegen Habe“ 
jol der weiland Geheime Kirchenrat Engel in 
Gießen in feinen Predigten gejagt haben. — „hr 
heute angelommener Brief,“ jchreibt fie an Frau 
Ruſſel in Holm Hill 1862, „Hatte ungefähr diejelbe 
Wirkung, welche ein Glas Portwein, das mir ein- 
mal in meiner Kindheit eingegeben wurde, auf ein 
weniger edles Organ gehabt Haben ſoll: „Bort- 
wein (joll ich zu meiner Mutter mit ber plöglichen 
Eingebung von Bileams Ejel gejagt haben) machts 
da drin fo behaglid. Und jo hat aud) Ihr lieber 
Brief dad Herz da drin behaglid gemacht.“ 

Mit Entrüftung erzählt fie ihrem Onkel in Li— 
verpool von der N ütterung eined Hundes in einer 
Konditorei und Mmüpft daran die Bemerkung: „Es 
muß dies, nebenbei gejagt, ein merfwürdiger An— 
blid gewejen fein für die halbverhungerten Bettler, 
die gewöhnlich an den Thüren folder Orte herum— 
(ungern, einen Hund in fünf Minuten für jo viel 
Geld Kuchen verichlingen zu jehen, als für fie auf 
Wochen hinaus für Brot gereicht Hätte! Es iſt 
ihon ſchlimm genug, wenn jte zujehen müffen, wie 
Menſchen, die vielleicht weder ſchöner, noch weijer, 
noch in irgend einer Art beffer find als fie, aus— 

enommen, daß fie bejiere Kleider auf dem Leibe 
Een wie diefe Menihen warme Gelee und 
lonftige Delifatefien genießen, während ihnen das 
Nothwendigſte zum Leben entfagt ift! Aber einen 
Hund damit zu füttern, fcheint mir denn doch bie 
—— bis zur Gottloſigkeit getrieben zu 
e n “ 


Demjelben Onkel berichtet fie von dem behag— 
lihen Leben, welches die Züchtlinge im Penton- 
viller Gefängnis genießen. Ihren Bericht jchließt 
ie mit der treffenden Bemerkung: „Sollte nun 
jemand ben Wunſch haben, die Bequemlichkeiten 


Neue Schriften. — Philoſophie. 


des Lebens zu genießen, unterrichtet zu werden 
und dabei BR Freiheit“ zu haben, jo braudt 
er weiter nichts zu thun als hinauszuftürzen und 
ein Verbrechen zu begehen!“ Wie übel haben «8 
die armen Leute, welche fein Verbrechen begehen. 
In einem Falle aber jcheint Frau E. einen Raub: 
mörder viel zu günftig beurteilt zu haben. Eine 
Anmerkung über den ©. 315 berührten Straf- 
prozeb wäre übrigens am Plate gewejen. 

tazzini gehörte zu den Belannten Carlyles. 
Die Frau des berühmten Schotten hat dem Urre— 
volutionär und Erzphantaften nichts geichentt. Es 
ift entjeplich zu lefen, wie fie den Staliener wegen 
eines beabſichtigten Einfall3 in Unteritalien abge— 
fanzelt hat (S. 88). 

Von hervorragender Schönheit ift das ©. 149 
bis 166 abgedrudte „Schriftftüd“: ein forgfältiger, 
trefflih abgefahter Bericht über einen Beſuch ihres 

Be Habddington nad langen, langen 

ahren. 

Das dem Befuche beigegebene Bild der Frau 
E. ftammt aus ihrer Augendzeit und ift eine 
jhäßbare Zierde der Hiermit aufs nachdrücklichſte 
und zwar keineswegs bloß der Frauenwelt zu 
empfeblenden Briefjammlung. 


— Ludwig Hahn: Wilhelm ber erite 
Kaifer des neuen deutſchen Reichs. Her: 
ausgeg. vd. Ostar Hahn. (Berlin, 1888). XXX, 
476. 2 Mt. 

— Archibald Forbes: Kaijer Wilhelm. 
Nah dem —— bearbeitet. (Gotha, F. 4. 
Perthes). 1888. XXI, 866. 8 Mt. 

Von zwei Schriftftellern, deren Beruf es war, 
ber neueren Geſchichte unſeres Baterlandes nach— 
ugeben, find Abriſſe des Lebens unferes großen, 
re Kaijerd Wilhelm verfaßt, die weſentlich 
dazu beitragen werden, den jegt lebenden wie den 
tommenden Menjhen ein getreued Bild des er- 
zn Herrſchers und feines Wirkens zu bieten. 

er eine ift ein Deutſcher, ber, ergraut im Dienfte 
er faiferlichen Herren, zum teil mitarbeiten 
urfte an der inneren Förderung ded Staates 
unter diefem; der andere ein Engländer, der den 
Krieges: und Siegeszügen des greifen Herrſchers 
als aufmerkjamer und verſtändnisreicher Bericht: 
erftatter folgte, um feinen Landsleuten jene er: 
greifenden Schilderungen der Schlachten des Kö— 
nigs und ſeines Heeres zu geben, die den Ruhm 
ber deutſchen Waffen in England in ein fo helles 
Licht ftellten. — Ihrer Eigenart und ihrer Natio- 
nalität gemäß behandeln fie den gleichen Stoff 
durchaus veridhieden; aber in der Verehrung für 
ben König Wilgelm, in ber Bewunderung jeiner 
Thaten wie feines Weſens ftimmen fie durchaus 
überein. 

Es ift natürlich, dak bei L. Hahn, abgeichen 
von jeiner Neigung, Jugend, Entwidelung, erfte 
felbftändige Regungen im Leben des Fürften ein— 
en zu jcildern, die Teilnahme für die 

rbeit am Inneren des Staates überwiegt, wäh— 
rend U. Forbed am liebjten und längften bei der 
kriegeriſchen XThätigfeit des Königs und Kaiſers 
verweilt. Unwillfürlic Spricht 1a darin bie Auf- 
fafjung aus, welche bei den beiden Volfsftämmen, 


889 


benen bie Berfafler angehören, jet vorherriht und 
wahrjcheinlich bleibend vorherrihen wird. Dan 
wird in Deutſchland, ohne die Begeifterung für 
bie Kriegsthaten Kaiſer Wilhelms jemals einzus 
büßen, mehr und mehr der Einigung des Vater— 
lande8, der Neuordnung Preußens, der Sozials 
politit und nidt am wenigſten dem echt konſer— 
dativen Streben des Kaijerd, Geltung und Macht 
ber Krone gegenüber allen gegnerijhen Verſuchen 
u fejtigen und ficher zu ftellen, feine bewundernde 
Feilna me zuwenden; man wird das geſchichtliche 
Urteil zur Anertennung bringen, daß jeine Regie— 
rung nicht weniger eine Neugründung des von 
umjtürzenden Gewalten bedrohten königlichen Ver— 
faſſungsſtaates bedeute und damit die Grundlage 
ya babe für die gefunde Weiterentwidelung 
es deutichen Staatslebens überhaupt, als fie in 
den blutigen Kämpfen mit den Feinden Deutſch— 
lands diefem zum eritenmale die Möglichleit eines 
achtunggebietenden Dafeins eroberte. Diejer An— 
Ihauung zum Durchbruch verholfen zu Haben, iſt 
das Verdienſt Hahns. Seine Schrift bietet das 
reichlichſte Material in zwedmäßig geordneter Weife 
für diejen Gegenftand, Nur hätten wir gewünjdt, 
dab die Anführungen aus Erlajien, Belannt= 
madhungen u. j. w. regelmäßig und genau datiert 
und in weiterem Maße, ald es gejchehen, Schrift- 
ftüde und Aeußerungen nichtoffizieller Art benugt 
worden wären. — Wenn wir bei Forbes das Ein 
gehen auf jene Thätigkeit Kaiſer Wilhelms vers 
miffen, welde ſich der inneren Geftaltung des 
Staated zumandte, jo werden wir jeiner Darftel- 
lung doch nadhrühmen müfjen, daß fie die Helden 
geitalt des großen Hohenzollern den Landsleuten 
mit unparterifhem Griffel wiederum in glänzend 
fter Beleuchtung vor die Augen gejtellt und vor 
allem dadurch ſich ſogar Anſpruch auf deutiche 
Dankbarkeit erworben hat, daß fie unwiderleglich 
für alle Ausländer, die hören und leſen wollen, 
wiederholt nachweiſt, dag nicht deutſche Erubes 
rungsſucht, ſondern franzöfiihe Anmaßung, ja 
Frechheit den Krieg von 1870—71 heraufbeſchwo— 
ren haben. Wir halten deswegen das zehnte Ka— 
pitel, „Das Zujammenzichen des großen Sturmes“, 
für den anziehendften und für deutjche Leſer wert— 
volliten Teil des auch ſonſt jo reihen und treff= 
lihen Buches. Unjeren „Freifinnigen“ empfehlen 
wir das Leſen desjelben auf das angelegentlichſte, 
damit fie von dem Fremden gerechte und ehrliche 
Würdigung des großen Mannes lernen, den fie bei 
feinen Zebzeiten fo oft verfannt und vor dem In— 
und Auslande nicht jelten herabgejeßt 
. Br. 


4. Philoſophie. 

Die theiftifhe Botted- und Weltan— 
ihauung al® Grundlage der Geſchichts— 
pbhilojophie. Bon Dr. Ernſt Melzer. (Neibe, 
Graveurſche Buchhandlung.) 1888. II, 80 ©. 
gr. 8%, 1. Mt. 

Die Blütenkrone der Geſchichtsſchreibung ſieht 
Melzer in der Geihichtöphilofophie. Allein 
diejelbe wird vollitändig unbearbeitet gelafjen von 
den heutigen, jelbjt berühmteften, Hiftorifern, einem 
Mommien, von Ranke u. a. Nicht ebenjo jteht 


890 


e3 mit den Philofophen feit Kant. Diefe haben 
fi vielfach mit derjelben befaßt; leider kann aber 
bei ihnen „von einem geficherten, d. i. anertannten 
Erwerb des geſchichtsphiloſophiſchen Denkens nad 
keiner Richtung hin die Rede ſein,“ denn „das 
Reſultat der isherigen Leiſtungen auf dem Ge— 
biete der Geſchichtsphiloſophie iſt ein ebenſo proble= 
matiſches wie die Reſultate der Philoſophie unſerer 
Tage überhaupt problematiſch ſind, und die größte 
Berllüftung, den flagranteſten prinzipiellen Gegen— 
ſatz der verſchiedenſten Richtungen darbieten“ (©.6). 
Den Grund dieſes beklagenswerten Zuſtandes er— 
blickt M. in ber jo weit verbreiteten „ſubſtan— 
tiellen Bereinerleiung von Gott und Welt,“ ba 
„eine wahrhaft probehaltige Geihichtsphilojophie 
ih nur aufbauen läht auf der Grundlage des 

eismus, welder den fubjtantiellen Unterjchied 
zwiichen Gott und Welt fowie innerhalb der 
Welt zwiſchen Geift und Natur feithält, von 
welden der Menſch die Syntheſe iſt“ (©. 8). 
Diefen zweifadhen Dualismus von Gott und Welt, 
Geiſt und Natur hat vor allen anderen Syftemen 
die Güntheriche Philofopgie auf ihre Fahne ge— 
fchrieben. Eben deshalb glaubt M. in ihr „die 
Grundlage der Geihichtsphilofophie” erbliden zu 
bürfen (S. 3 und 7). Zugleich ift diefelbe nad 
feiner Meinung „noch viel zu wenig befannt und 
gewürdigt.“ a3 alles hat ihn beitimmt, in der 
vorliegenden Schrift „Bünthers Welt: und Gottes⸗ 
anſchauung unbeſchadet ihrer Berbefjerun sfäbig- 
feit als er für die Geſchichtsphiloſophle 
barzuftellen“ (©. 7). 

Auf Grund diefe® Programms entwidelt M. 
in den beiden erjten Kapiteln (S. 13—34) Gün— 
thers Schöpfungslehre, im dritten und vierten 
Kapitel (34—52) Sündenfall und Erlöfung, dar— 
auf in ben noch übrigen Kapiteln Güntherd Ans 
fiht von der Kirche (S. 52—55), vom Gtaate 
(S. 55—57), von der Bedeutung des Ehriftentums 
in ®Wiffenihaft und Leben (S. 58-61), von der 
(begrifflichen und ideellen) Entwidelung der Wiffen- 
ihaft (S. 61—62), von ber eigentümlihen Auf— 
gabe einzelner Wölter, bejonder® des deutſchen 
(S. 68—72), von der Wiedervereinigung der chriſt— 
lien Konfeifionen (S. 72—76), von dem Tode, 
ber reg und dem Gerihte (S. 77—80). 
Dann werden in einem Schlußworte die Kern— 
punfte noch zujammengefaßt, auf welchen die vor— 
getragene Seihichtsauffafiung ruht. 

Die Fülle von Gedanken, welche M. zu ent= 
wideln hatte, mußte ihn bei dem ihm zugemwiejes 
nen Raume von nur 80 Seiten jelbitverjtändlich 
überall zur größten Kürze bejtimmen. Dadurd) 
hat leider die Deutlichleit hier und da eine Ein— 
buße erfahren, Auch fehlt e8 einzelnen Ausfüh— 
rungen an der wünſchenswerten Bräzifion und 
Schärfe begriffliher Entwidelung. Am meiiten 
begegnet man diejen Mängeln in dem Abichnitte 
über Sündenfall und Erlöfung (S. 34—55) — 
reilich einer der ſchwierigſten Partieen der Schrift, 
in der fih M. außerdem zu viel an Günthers 
Mitarbeiter Joh. Heinr. Pabſt angelehnt Hat, 
dejien Gedanten doch nicht jo ohne weiteres mit 
denen Günther identiſch geſetzt werden bürfen. 
Einer Kritik der Güntherſchen Anfichten ſcheint fich 


Neue Schriften. — Philofophie. 


M. überall abfihtlih enthalten zu haben, wiewohl 
gu einer folden 3. B. ©. 14 und 15 bezüglich 
es finnlihen Vorſtellungsprozeſſes, S. 22 bezüg— 
lih Günthers Begriffsbeftimmung der Bernanft 
und an mehreren anderen Orten dod) die Gelegen- 
beit geboten war. Ungeachtet diejer Ausftellungen, 
die wir —— unterdrücken zu dürfen, be= 
grüßen wir M.s Schrift mit Freuden; denn im 
allgemeinen ift fie wohl geeignet, dem aufmert- 
famen Lejer die große Bebeutung der Günther— 
ſchen Philojophie für eine wahrhaft freie und zus 
gleich ächt chriftliche Wiffenihaft wieder einmal 
ven Bewußtjein zu bringen. Bor allem fällt in 
iejer Beziehung der $ 24, ©. 61 f. ſchwer ins 
Gewicht. Daher fei die Arbeit jedem, dem die 
immer dringlider werdende Berjühnung von Glaus 
ben und Wifjen, Offenbarung und Vernunft am 
Herzen * beſtens empfohlen. * Schluſſe 
noch zwei Ausſprüche Günthers: „Die wichtigſte 
Aufgabe der chriſtlichen Wiſſenſchaft iſt jebt diefe, 
die Immanenzlehre zu überwinden, bie Tranſzen— 
benz Gottes als Kreators, die Weſensverſchieden⸗ 
— des kreatürlichen Geiſtes von der Natur zur 
nerkennung zu bringen, die Brüde zwiſchen Glau⸗ 
ben und Wiſſen aufzubauen“ — 67). Und die 
Ausſicht auf Erreichung des hohen Zieles iſt nicht 
unbegründet. Denn „es müßten, ſchreibt Günther, 
die Zeichen der denkenden Zeit lügenhaft wie nie 
jeit Weltanfang werben, und es müßte die legte 
ofaune früher, als verjproden, zum Rückzuge 
lajen, oder — id jage — unjer Gejchlecht He t 
an ber Schwelle zum höchſten und legten Mo— 
mente in dem Berjtändigungsprozefje über ſich 
jelbft und fein Verhältnis zu Gott und Welt“ 
(S. 67 und 68). 
Th. Weber. 


Breslau. 
— Das KRAnT TIERE Wert Immanuel 
Kants: „Bom lebergange von den meta= 
A Unfangsgründen der Nature 
wiſſenſchaft zur Phyjit“, mit Belegen popu— 
lärswifjenjchaftlich dargeftellt von Aibert Krauſe. 
(Frankfurt a / M. und Lahr, Morig Schauenburg.) 
1888. gr. 8°. XVII u. 213 Doppeljeiten. 10 M. 

Als I Kant am 12. Februar 1804 ftarb, lag 
auf feinem Screibtiiche ein Manujfript, welches 
der rehtmäßige Erbe, Konfiftorialrat Schön in 
Dürben, Kurland, an fih nahm; feine Witwe übers 
gab es 1858 an Dr. Reide in Königsberg, der 
den größten Teil, zwei Drittel, 1882—84 in der 
Altpreußiihen Monatsjchrift veröffentlichte. Alb. 
Krauſe faufte es dann von Dr. Hänjell, dem Entel 
jenes Konfiftorialrat3 Schön. 

Es bejteht aus 117 Foliobogen und 42 fleineren 
Blättern. 

Kant Hat es nicht drudjertig gemacht; nicht jelten 
Pe fi diefelbe Materie zehn- und zwanzigmal 
ehandelt und entworfen und fajt immer mit jo 
reihem Beiwerk an Ausbliden und Nebengedanten 
verjehen, dab ein Ausſchneiden oder Auswählen 
einer einzelnen Faſſung unthunlich erſchien. Des: 
halb gibt in der neu vorliegenden Ausgabe Ib. 
Krauje auf den redtsjtchenden Seiten eine zus 
fammenhängende Darjtellung im möglichiten An— 
ſchluß an Kants Ausdrucksweiſe; gegenüber linfs 


Neue Schriften. — PhHilofophie. 


it das eg abgedrudt, und zwar find die 
verſchiedenen Faſſungen desjelben Gedankens zu— 
ſammengeſtellt. Die „populär-wiſſenſchaftliche“ 
Darſtellung iſt ein wertvolles Hilfsmittel zum Ver: 
ftändnis dieſer außerordentlih wichtigen Arbeit 
Kante. In Ueberweg, Grundriß der Geichichte 
der Philoſophie, IIL. Teil, 8 18 (5. Aufl. 1880, 
©. 227) wird fie folgendermaken erwähnt: Den 
Feng: ers von den metaphyfiichen Anfangsgründen 
der Naturwifjenihaft zu der Phyſik bildet die 
„Metaphyjit der Natur“, die von den bewegenden 
Kräften der Materie handelt und von Kant in ein 
Elementarſyſtem“ und ein „Weltſyſtem“ eingeteilt 
wird. Dad Manujkript ift unvollendet geblieben. 
So Ueberweg. 

Wir laſſen uns von A. Krauſe in dieſes in ge— 
wiſſem Sinne den Schlußſtein des von Kant auf— 

eführten Gebäudes eines Syſtems der geſamten 
Bhilpfopbie bildende Wert einführen. 

Die Phyſik ift die Kenntnis der Veränderungen, 
denen die Naturkörper, d. h. die einzelne Teile 
unterliegen, welche die Natur, die Gejamtheit alles 
finnlih BWahrnehmbaren, augmahen. Sie bedingt 
drei Wiſſenſchaften. Weil fie nur von materiellen 
Dingen und Borgängen handelt, bedarf fie der 
gehtellung defien, was Materie heißt; fie gibt 

ant in ben metaphyſiſchen Anfangdgrün= 
den ber Naturmwifjenichaften. Zweitens find 
alle bewegenden Kräfte, welche als ihr zulommend 
gedacht werben können, ſyſtematiſch und vollftändig 
re in dem Uebergange von ben 
metaph. Anfangsgr. der N. zur Phnfik, 
Endlich drittens find alle Thatjachen der Erfah 
rung in das volljtändige Syitem aller bewegenden 
Kräfte einzuordnen; diejes Syſtem iſt Phyſik im 
engeren Sinne. Wir haben es hier mit der zwei— 
ten Wiſſenſchaft zu thun, welche eine Brüde zwi— 
ſchen Phyſit und Metaphyfit bildet; jene geht von 
Thatjahen aus, welche durch Beobachtung oder 
den Verſuch feitgeftellt werden, und gelangt ver— 

leichend und zuſammenfaſſend zu Geſetzen oder 

ppothejen; die Metaphyſik dagegen geht von Be— 
riffen aus, deren Richtigkeit jchließlih an That— 
2 geprüft wird. Der Punkt, in dem das Syitem 
des Denkbaren fih berührt mit den phyſilaliſchen 
Thatiahen und Hypotheſen, ift die Materie; denn 
Phyſik ift die Lehre von den bewegenden Kräften, 
welche der Materie eigen find; fie H nur möglich, 
wenn die jubjettive Denkthätigkeit (Wahrnehmung 
und Bemwußtjein) von dem dur dieje Thätigfeit 
ewonnenen Objekte geichieden wird, was Kant in 
einer Kritif der reinen Vernunft ausgeführt hat. 
Wird nun die Fülle der phnjitaliihen Gegenstände 
und Thatjahen unter die Syſtematik der Bedin— 
gungen aller Erfahrung untergeordnet, jo wird 
unjere Wiſſenſchaft, der Uebergang von Me— 
taphyſit zu Physik, gewonnen. 

Soweit führen Kants frühere Werke, „Kritit der 
reinen Vernunft“ und metaphyſiſche Anfangs— 
gründe der Naturwiſſenſchaft.“ 

Wie iſt der Uebergang von Metaphyſik zu Phy— 
fit aber möglich? Alle phyſikaliſchen Gegenſtände 
müſſen ſich unſerm Bewußtſein durch materielle 
Bewegungen ankündigen (Reiz des Nerven durch 
mechaniſche Einwirkung, Leitung dieſer Reizempfin— 


891 


dung zum Zentralorgan); die Funktionen des Be— 
wußtſeins enthalten die Form der Geſetzmäßigkeit 
der erſcheinenden materiellen Natur, weil nicht nur 
Raum und Zeit, ſondern auch die empiriſchen Da— 
ſeinsweiſen einen vollſtändigen Schematismus der 
Materie bilden. 

Iſt der Uebergang von Metaphyſik zu Phyſik 
damit möglich, ſo muß 1) das Vorhandenſein und 
das Weſen der Materie nachgewieſen werden; 
2) find alle ihre einzelnen möglichen Kräfte ſyſte— 
matiſch aufzuzählen; endlich 3) die einzelnen mög— 
lihen bewegenden Kräfte der Materie mit That- 
jahen zu belegen. 

Es lag im Blanc Kants, nachdem bieje Unter: 
ordnung vollzogen, ein Lehrſyſtem aufgeftellt 
war, in umgelehrter Reihenfolge von der Ges 
famtertenntni® ausgehend, ein Beltinitem zu 
geben, „von Gott, der Welt und dem Menden 
in der Welt“; es ift in großartigen Zügen ſtizziert 
im eriten Konvolut des Manuſtripts. Wir wen— 
ben uns bier dem Lehrfyitem im einzelnen zu. 

Der Gegenftand des „Uebergangs* it die Ma— 
terie; die Phyſit jagt: alle phyſikaliſchen Gegen- 
ftände find Geftaltungen einer Materie, welche ich 
nicht wahrnehmen fann. Die Metaphyfit jagt: es 

ibt eine Materie, welche alle geiſtigen Thätig- 
eiten wachruft und jelbjt in feiner vorfommt. 
Das Mittel, die Kräfte der Materie zu erfahren, 
find bie eigenen Kräfte des beobadtenden Sub— 
jelts — die bewegenden Kräfte der Materie jind 
die allgemein wirkende Urſache der Boritellung 
ihrer Gegenftände; dieſe abftoßenden und anzie- 
benden Kräfte, fofern fie im Raume Schwingun- 
en erzeugen, bedingen die Erkennbarkeit der 
aterie. Die wirllide Eriitenz derjelben er- 
gibt fi) aus der Thatjache, daß wir denken. Jedes 
enten bat einen Gegenjtand, der mir zum Bes 
wußtjein fommen muß in der Form von Raum 
und Zeit durch Bewegung; die Urjache der letzte— 
ren iſt Kraft und die Einheit aller Kräfte ift die 
Materie. Dieje Bemweisführung — dab etwas 
als eriftierend erwiejen werben joll, welches nie 
Gegenitand der Erfahrung fein fann — wirft ver= 
blüffend; e8 wird daher dem Phyſiker dad Organ 
nachgewieien, welches nicht unter die fünf Sinne 
gehört und die Schwingungsfyiteme der Materie 
zur Erfahrung macht: es iſt das Bentralorgan, 
welches durch VBermittelung der einzelnen Sinnes— 
organe die Schwingungen zur Raumanjhauung 
madt. Dem Metaphyſiker wird jener Beweis — 
eine Thatjache zu finden, welche nicht auf Wahr: 
nehmung beruht — in der Erfahrung jelbjt, im 
Bewußtjein, in der Wahrnehmung geliefert. Iſt 
das Bewußtjein da (mad dod in jedem Momente 
unjere Denkthätigleit beweijt), jo gibt es aud) eine 
Urſache für das Eintreten des Bewußtſeins, die 
materiellen Bewegungen, die Schwingungen. 

Nahdem die Erkennbarkeit und die Eri- 
ftenz der Materie erwiejen ift, Handelt es fid, 
da8 Weſen der Materie anzugeben. E3 fommen 
ihr alle Eigenſchaften zu, welche auf der bloßen 
Gehirnthätigkeit beruhen, keine, welche einer Organs 
thätigleit bedarf. Weil es außer ihr nichts gibt, 
was fie bewegen könnte, hat fie die Bewegung in 
fih jelbjt; fie nimmt teil an der Unendlichteit 


892 


des Raumes und ber Zeit; fie ift die Quelle aller 
Kraft, deren Summe fonftant ift wie die Summe 
der Materie; ihre Schwingungen entipredhen den 
Eigentümlichfeiten de Raumes; daher gelten alle 
mathematifhen Geſetze nit nur für die Bewe— 
gungen der Körper, fondern aud der Schwin— 
ungen der Materie in Molelularzuftänden; end— 
ic ift die Materie ein Einfürmiges, Zuſammen— 
ängendes, welches formlos und grenzenlos alle 

Örper durchdringt. Soweit die pofitiven, bie 
negativen Eigenihaften find: die Materie ift für 
die Sinnesorgane nicht wahrnehmbar — im: 
A ferner imponderabel, fie kennt 
eine Grenzbejtimmung, aljo ift das Syitem der 
———— nicht koerzibel, endlich nicht 
kohäſibel und inexhauſtibel. 

Von der Materie handeln, heißt alſo von Kräften 
handeln — die allgemeine Kräftelehre be— 
ſpricht die denkbaren Kräfte; dieſe aufzufinden iſt 
Sache der Phyſik; die denkbaren Kräfte nad) 
bon bornherein feititehenden Grundfäßen zu orb- 
nen, Wufgabe der Metaphnfit. Dieſe Klaſſifika— 
tion fann auf dem materiale beruhen: danadı 
tönnen bie Kräfte eingeborne, nur innerlid) bes 
mwegende oder — den Ort verändernde ſein; 
dem formale, d. h. der Bewegung nad), find die 
Kräfte viel mannigfaltiger; fie ordnen ſich nad) 
den Kategorien. Der Quantität nad wirft eine 
Kraft entweder den ganzen Raum durddringend, 
oder nur einen Teil desjelben — Flächenkraft; 
legtere in der Berührung, eritere in die Ferne, 
Die Qualität geht auf die Richtung; die Gegen— 
jäge find Anziehung und Abſtoßung. Die Relas 
tion der Kräfte unterjcheidet ein Fortrüden vom 
Orte oder Schwingungen am eigenen Plage; end: 
lih der Modalität nad fünnen die Kräfte im— 
mer nur zu allen Zeiten und Orten ———— 
perpetuierlich wirken oder fie können tranſi— 
toriſch ſein. — Es war bisher von der Klaſifi— 
zierung der einzelnen denkbaren Kräfte die Rede; 
aber in der Natur kommen die Gegenjtände 
vor als bejtimmte Daſeinsweiſen der Materie 
und damit ala bejtimmte Einheitöweijen verſchie— 
benartiger bewegender Kräfte. Ihre Gliederun 
und ſyſtematiſche Anordnung kann nur beruhen er 
ihrer den Raum und die Zeit beftimmenden Wir— 
fung, jo daß fich drei Gruppen ergeben: 1) Grup— 
pen von Kräften, welche, obgleich jie den Raum 
einnehmen und erfüllen, doc feinen Einfluß auf 
feine Gejtalt augüben — Stoff; 2) Gruppen von 
Kräften, welde eine räumliche Beitimmtheit im 
erfüllten Raum hervorrufen — Körper; 3) Grup 
pen von Kräften, welche bewirken, daß das Ganze 
den Teilen, die Teile dem Ganzen und die Teile 
einander wecdjeljeitig die Erfüllung und Gejtalt 
des Raumes beftimmen — Organismen. 

Das folgende Buch hat nachzuweiſen, daß ſich 
die phyſikaliſchen Thatiahen nun aud wirklich 
dem oben aufgeftellten Syitem der denkbaren Kräfte 
unterordnen; es geſchieht mit Hilfe der Kategorien, 
der Funktionen der Erkenntnis. Diejer Teil des 
Kantſchen Werkes bildet die Brobe auf das Erem- 
pel: auf den Inhalt eingehn, hieße den Inhalt 
des Werkes wiedergeben: wir können nur die 
Hauptabjhnitte und den Gang der Darjtellung 


Neue Schriften. — Heerwejen. 


ſtizzieren. Im erjten Teile, „von ber Quantität 
der Materie“, wird nachgewieſen, daß die Beftim- 
mung des Gewichts weder fubjeltiv, noch mathe— 
matiih, jondern allein phyſilaliſch möglich ift: die 
Phyſil beftimmt die Gewichte, die Metaphyfit dag 
Weſen der Materie; der Uebergang von Meta- 
phyfit zu Phyſik zeigt, wie die Verſchiedenartigkeit 
des Gewichts begriffen werden kann und wie das 
Weſen der Materie als ein Gegenftand des Wä- 
end erfahren werden kann. Der zweite, wichtigſte 
Zeil dieſes Abjchnittes Handelt von der Qualität, 
der Zuſtandsart der Materie und löft die Frage: 
Welches ift der Vorgang, durch den die Zuſtands— 
arten, die Aggregatzujtände der Phyfil, zu ftande 
fommen? Die äußerlih am leidhtejten erfennbare 
Urſache diefer Veränderung Heißt die Wärme; 
Bärme aber ift innigjte oszillatoriſche Bewegung! 
Im folgenden werden die drei Mapregatzuflände des 
„Starren“, Tropfbarflüſſigen und Elaſtiſchflüſſigen 
ſowie die Beziehungen der Aggregatzuſtände unter- 
einander behandelt (Berührung des Tropfbarflüf- 
figen mit dem Starten: Kapillarität — Ueber— 
gang aus dem flüffigen Zuftand in den feiten und 
umgekehrt: Krijtallijation, Schmelzung — Reis 
bung als —— ſtarrer Körper aneinander). 
Dann folgt der die Relation einer Materie gegen 
die andere (Kohäfion), endlich der die Mobdalität 
der Bewegung aus den Kräften der Materie bes 
handelnde Abichnitt. 

Diefe Wärmelehre Kants ift nicht der geniale 
Einfall eines geiftvollen Denfers, jondern in ftren= 
er Denkrichtigleit aus dem Ganzen feiner Tran 
Hendentalphifofophie gefolgertes Ergebnis; fie dedt 
ſich mit den duch Verſuch und Beobachtung feſt— 
—— Erkenntniſſen J. R. Meyers, Joules, 
laufius’, Rettenbachers — iſt aber 50 Jahre 
bor den Entdedungen dieſer Phyfiter niederges 
ſchrieben! C. M. Ss. 


5. Heerweſen. 


— Die ruſſiſche Garde im Kriege 1877 
bis 1878 von Puſyrewski, kaiſerlich ruſſiſcher 
Generalmajor im Generalſtabe, bearbeitet von A. 
Regenauer, Hauptmann im Nebenetat des großen 
Generalftabes. (Berlin, E. S. Mittler und Sohn). 
1888. 247 ©. 2 Ueberſichtskarten und 2 Gefechts— 
pläne 8%, 5 M. 

Unter den bedeutungsvollen Kämpfen auf ber 
Balltanhalbinjel im Jahre 1877/78 nehmen die Ge— 
fehte an ber Straße von Plewna nad Sofia in 
jtrategijher wie taftijcher Beziehung einen bedeu— 
tenden Pla ein, wurde es doch erſt nach Beſitz— 
ergreifung diefer Linie möglich, die Verbindungen 
DOdman Bafdja mit dem Innern ded Reiches zur 
unterbinden und den Fall von Plewna nur zu einer 
Frage der Zeit zu machen. Wir jehen eine vor- 
züglich geführte und trefflich geihulte Truppe im 
Kampfe um —— ſcheitern, trotzdem daß dieſe 
mit dreifacher Ueber egenheit angegriffen werden. 
Die Litteratur über dieſe Gefechte iſt eine unge— 
mein reichhaltige und vielſeitige; während Bog— 
danowitſch-⸗Pochhammer das piychologiiche Element 
mehr in den Vordergrund drängt, Ichrt uns Verf., 
welcher als Gencraljtabsoffizier diejen Kampf mit- 


Neue Schriften. — Kulturgejhichte. 


emacht bat, die Verhältniſſe von feiten der oberen 
rung lennen. 

Verf. gebt hierbei von dem richtigen Standpunkte 
aus, dab es zur Beurteilung kriegeriſcher Hand: 
lungen unbebingt erforberlid ift, eingehend Bus 
fammenfegung, Ausrüftung und Bewaffnung der 
fechtenden Truppen zu kennen. Nahdem wir auf 
wenig Seiten ein Mares Bild von dem Leben ber 
Truppe in ben ————— erhalten haben, 
führt uns Verf. in das Getriebe der Mobilmachung, 
wir begleiten die Truppe ſodann auf den Kriegs— 
fhauplag, auf welchem fie binnen Da —* 
war, den Beweis ihres Könnens zu liefern. 

Die etwa 90 Kilometer lange Strecke zwiſchen 
dem Nordfuße des Balkan bei Orchanie und der 
in Plewna eingeſchloſſenen Armee war durch 48 
Bataillone, 16 Esladrons und 48 Geſchütze ge— 
ſichert; ungehindert vermochten, dank dieſer — 
abteilung, Verſtärlungen und Nachſchübe an 
Kriegämaterial die verfchanzte Stellung zu er: 
reihen und SKranfe und Berwundete von bort 
in die rüdwärtigen Lazarete befördert zu werben. 
Die Straße Plewna-Sofia war jomit die Lebens 
ader der Truppen Osman Paſchas; das Verdienſt, 
dieſes erfannt und gewürdigt zu haben, gebührt 
dem General Todleben, welder ben Kern der ein 
treffenden Berftärkungen nit zur Schlachtbank 
nad Plewna führte, jondern ihnen die ebenjo 
ſchwierige aber dankbarere Aufgabe zuwies, auch 
von der Südweſtſeite Plewna einzuſchließen und 
die türkiſche Etappenlinie in Befig zu nehmen. 
Unter Abzweigung bedeutender Heeresteile zum 
Schutze der Flügel erfolgt mit mehr denn dreis 
acher Ueberlegenheit an Truppen und vierzehn: 
acher Weberlegenheit an Gejhügen der Angriff 
auf den midtigjten Etappenort Gorni-Dubniak. 
Aber auch Hier tritt die Ucberlegenheit gesidt 
angelegter Erdwerke deutlich zutage, zwei Angriffe 
werden blutigſt abgewiejen und erſt beim dritten 
Sturme find die Rufjen nad) zwölfftündigem zur 
Herren der Stellung, ihren Erfolg haben fie aber 
mit dem Blute von 127 Offizieren und 3406 Mann 
erfaujt. Die türkiihe Beſatzung von etwa 6000 
Mann war am Abend bis auf 2200 zuſammen— 

efhmolzen und ftredte erſt die Waffen, ald aller 

ideritand unmöglid war. —d. 


6. Kulturgeſchichte. 

— Slluftrierte al et Sl Halte 
Friedrih Hellwald. Bandl. Haus und Hof. 
Lieferung 1—7 (jede 50 Pf). (Leipzig, Heinrich 
Schmidt & Carl Günther.) 1887. 1888. 

Der Berbreiter der Darwinſchen Lehre in Deutſch— 
land, Hädel, ftellte als wichtigſtes allgemeines Ge— 
ſetz alles Werdens und Wachſens der Lebeformen 
das biogenetiſche Grundgeſetz hin: Die Ent— 
wickelung des Einzelweſens vom Keim bis zur 
vollendeten Geſtalt iſt eine furze und ſchnelle, durch 
die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte 
Wiederholung der Entwickelung des zugehörigen 
Stammes — in ſeiner Fremdworttreiberei aus— 
—— Jede Ontogeneſis iſt eine Rekapitulation 

er Phylogeneſis. Der ungeheure Irrtum, wel— 
cher der Auffaſſung zu Grunde liegt, aus welcher 
dieſes angebliche Geſetz hervorging, beſteht darin, 


Von 


893 


daß eine Regel, nach welcher uns entgegentretende 
Thatſachen zuſammengefaßt werden, ein Gejep ſein 
—* daß ferner eine genealogiſche Verwandiſchaft 
ehauptet wird, wo nur ein ideeller Zuſammen— 
hang beſteht. Mit demſelben Rechte behaupten 
wir, es beſtehe eine aufſteigende VBerwandtichaft 
—— der einfachſten Kaffernhütte und dem Pa— 
aſtmaſſiv des Vatikan, zwiſchen den Bauſtilen der 
romaniſchen, gotiſchen und Renaiſſance-Periode, 
wiſchen den verſchiedenen m. ber Mufifge- 
chichte. Laffen wir lieber den Ausdrud „Deizens 
denztheorie“ fallen und nennen wir bieje Beralls 
gemeinerung von Thatjahen geſchichtlich begrüns 
ete Eriheinungen einer Entwidelung. 

Eine ſolche ideell zufammenhängende Entwides 
fung ber menſchlichen Wohnungen fchildert der 
uns vorliegende erjte Band „Haus und Hof“ 
ber Hellwaldihen Kulturgeſchichte. In 
anregender Darftellung (melde durch trefflihe Illu— 
ftrationen wirkungsvoll unterftügt wird) werden 
wir don ben erjten bdürftigften Werjuchen, mit 
denen Menjchen fih gegen Wind und Wetter und 
Feinde zu ſchützen ſuchten, zu den reichgegliederten 
Bauten eine® wohlhabenden und fein gebildeten 
Volkes geführt — und zwar ſowohl zeitlih von 
den erften Spuren, welche von J— 
auf der Erde erhalten ſind, bis zu unſeren Tagen, 
als auch räumlich von den Löchern, in denen Eski— 
mos und Auſtralier Schutz ſuchen, bis zu Paläſten 
— ein anſchaulicher Beweis, daß das ſogenannte 
biogenetiſche Grundgeſetz in Anwendung auf Men— 
ſchenwohnungen ein recht brauchbares Mittel der 
Darſtellung und der Verteilung des Stoffes ab— 
ibt. Die erſten Abſchnitte beginnen mit einer 

childerung der einfachſten Wohnungen, der Höh— 
lenbehauſungen, wie zahlreiche Funde ſie für längſt 
vergangene Beiten aufwiefen, wie fie heute noch 
in Yujtralien beftehen. Der erjte Fortichritt iſt 
eine bewegliche Wohnung: ein einfaher Schirm 
gegen Wind und Regen, ein Dad (Obdach ge= 
während); dann fünftlihere Einrichtungen: Jurten 
der Tungufen, Ajupas der Peſcherähs mit erften 
rohen Unfängen innerer Einrichtung: einige ges 
flochtene Körbe zur Aufbewahrung ehbarer Mu— 
ſcheln und andrer Borräte, ein Sack Glasſcherben 
für Pfeilſpitzen. Dauerhafter ſchon ſind die Leder— 
zelte der Berglappen, Samojeden, die Wigwams 
wandernder — 

Eine höhere Stufe, auf der techniſche Fertig— 
keiten in Anwendung kommen, bilden die Filz— 
jurten ber uralsaltaiichen Völker Innerafiens, ohne 
rec ihon in hohem Altertum gebraudt. Das 

nnere ift bei den Mongolen ſchon prunfvoll, geziert, 
indem reich bejchlagene und ausgeihmüdte Kiſten 
allerlei Habe bergen. Uebrigens genügen einige 
Keſſel und Pfannen dem täglichen, Filzdeden dem 
nädtlihen Bedürfnis. Diejelben Zelte finden fich bei 
den Turfmenen; Bäamböry weiß an ihnen zu loben, 
daß fie im Sommer fühl, im Winter angenchm 
warm find; jehr wohlthuend ift der Schuß, den 
fie gegen die wilden Orlane gewähren, welche über 
die unabjehbaren Steppen dahintoben; dem Frem— 
den wird oft bange, daß die elementare Gewalt 
die fingerdiden Wände in tauſend Stüde reihen 
möchte; doc den Turlmenen kümmert das wenig; 


894 


ihm an: des Sturmes Heulen wie ein janftes 
iegenfied. 

Das Beduinenzelt zeigt einen weiteren Fort— 
jchritt, e8 enthält mehrere Abteilungen; das Ma— 
terial ift ein wafjerbichtes Gewebe aus ſchwarzen 
Biegenhaaren. 

Allen diefen vornehmlichſten Formen der Wan— 
derbehauſung gemeinſchaftlich iſt die Feuer— 
ſtätte, das Wahrzeichen menſchlicher Behauſung; 
bei vielen Stämmen noch die blanke Erde, hat ſie 
doch überall einen beſtimmten Platz und tft ber 
Kernpunkt der Wohnungen; einen erheblihen Fort- 
ſchritt kennzeichnet die Ausbildung der nadten 
Feuerjtelle zum Herde, einen weiteren die Raumes 
eeern welche zum geſchloſſenen Hauſe 
ührt 


Eine eigenartige Richtung in der Ausbildung 
dieſer urſprün lidften Behaufungen bezeichnen die 
fünftliden Höhlen und Grubenwohnungen der 
Vorzeit, die auch jept noch in Syrien, Granada, 
Nordafrika, im Löß des chineſiſchen Aſiens be- 
ſtehen, meiſt ſchon vorhandene Erdſpalten und 
slöher benutzend; ihnen gliedern ſich die Schnee— 
hütten der Esfimo® an; ihre höchſte Entwidelung 
finden fie in den durch Sauberkeit ausgezeichneten 
walachiſchen Erdhütten. 

Sit die erfte Stufe der Menſchenwohnung das 
Dad über dem Feuerherd, jo iſt die nächſte bie 
Erhöhung des Daches durd) eine Wand — unjere 
uralten — ———— und Bergfriede ſind nichts 
anderes. 

Wo der Boden immer feucht iſt, wie in den 
waſſerreichen Gegenden der tropiſchen und ſubtro— 

iſchen Zone, da war eine neue Abänderung er— 
— der Pfahlbau, das Steckenpferd der Alter— 
tumstunde. Wer hätte nicht von den reihen und 
bedeutung3vollen Funden in den Schweizer und 
anderen Seen gehört! Biß in die Gegenwart 
dauern fie fort in Birma, Siam und Kambodida, 
bei den Dayalen und Papuas. — Den Gipfelpunkt 
ber Entwidelung findet diefe Bauart in Amſter— 
dam und la bella Venezia! 

Den Pfahlbauten jchließen fich die ſchwimmen— 
den Häujer und die Baummohnungen an, welche 
gleichfalls jene im öjtlihen Afien, dieſe in Afrika, 
nod heute gefunden werben. 

Die Darjtellung geht nun auf daß eigentliche 
Haus, das Hofhaus über, deſſen Grundform ein 
Viered, deſſen Urjprung die Umzäunung ift, und 
beginnt mit den ägyptiſchen, babylonijhen und 
affyrijchen Bauten, denen das heutige morgenläns 
diihe Haus gegenübergejtellt wird; dann folgt 
eine Schilderung der helleniſchen und römiſchen 
Bauten — auf dieſe Abjchnitte konnten wir hier 
nicht eingehen, da fie in den uns vorliegenden 
Lieferungen nod) nit zum Abſchluß — find. 

. WM. ©8. 


7. Litteraturgeſchichte. 


— Die deutſche Sappho (Anna Louife 
Karihin). Ihr Leben und Dichten. Ein Littera— 
tur= und Kulturbild aus dem Zeitalter Fricdrich® 
de8 Großen. Bon Dr. Adolph Kohut. Aweite 
Auflage. (Dresden und Leipzig, E. BPierjon.) 
1888. 180 ©. 


Neue Schriften. — Litteraturgeſchichte. 


Die „gute Frau Gottiched Hat bereit ihren 
Plutarch“ gefunden, deshalb beſchenkt uns Herr 
Dr. Kohut mit einem Bilde der Karſchin, das 
bisher „von der Parteien pop und Gunſt entitellt, 
in der Geſchichte geſchwankt“ Hat, wie ung ©. 6 
und 125 zweimal allen Ernſtes verfihert wird. 
Es kann nit behauptet werden, dab, nachdem 
nunmehr da8 Ergebnis der Forſchungen des Her— 
ausgebers zu Tage liegt, jene von Kohut erfundene 
Bartei, die dad Bild „dur Hab entjtellt“, fich 
irgendwelche Vorwürfe zu machen habe. Unſeres 
Eradıten® ift der Karſchin, die ihre vorübergehende 
Bedeutung nur ihren felten traurigen Lebensver— 
bältnifjen, den dentwürdigen Beitereignifjen, dem 
Mitgefühl Hochgeftellter Perjönlichkeiten, ihrer 
Schnellversfabrifation und ſchließlich, aber nicht 
zuleht, ihrer eigenen Reklame zu verdanken bat, 

isher ſchon ſtets viel zu viel Ehre angetban 

worden. Hat do 3. B. Dr. König in feiner 
Litteraturgefjhichte ihr drei enggedrudte Geiten 
—— und damit ihr Bild entſchieden „durch 

unſt entſtellt“. 

Vielleicht ſind folgende biographiſche Einzelheiten 
von allgemeinerem Intereſſe. Als Anna Louiſe 
Dürbach 15 Jahre alt war, warb bereits ein 
Freier um ſie, der ſich jedoch auf Anſtiften ſeiner 
Mutter zurückziehen mußte, entweder weil die 
—— Leſen und Schreiben gelernt hatte, 
oder weil, wie Frau von Klencke, ihre Tochter 
und Biographin, ſich außdrüdt, „fie vermöge ihres 
damal3 in ihr wirkenden Dichterfcuerd jelten mit 
den Augen gerade ſah, fondern beinahe jchiclte*. 
„Nicht durch ihre Schönheit,” jagt Dr. Kohut des⸗ 
halb, „hat dieje Frau Furore gemadt, ſondern 
durch ihren Geift, gerade wie Koltaire und nod 
andere Ritter vom Genicland im vorigen Säcu— 
lum“. Die Karihin ein Ritter vom Genieland! 
Die Enkelin der Dichterin, Helmine von Chézy, 
entwirft ein anderes Bild: „die blühendite Ge— 
fihtsfarbe, die ftrahlenditen Augen, eine Stirn, 
auf der Licht und Lieblichkeit thronte, feine, bis 
an ihr Lebensende purpurne Lippen, fajtanien= 
braune und doch wie Gold glänzendes Haar“ ıc. 
— kurz eine Art Venus. Die erhaltenen Bilder 

eben * Dr. Kohut recht. — Mit 16 Jahren 
—— ſie den Weber Hirſekorn, der ſie, da ſie 
im Dichterfeuer ihren Haushalt vernaächläſſigte, 
brutal behandelte. Nah elfjähriger Ehe wurden 
fie geichieden, nachdem fie vier Kindern das Leben 
geichenft Hatte. Ihre Mutter hatte ſich mittlers 
weile zum dritten male und zwar cbenfallß jehr 
unglüdlid verheiratet. Beiläufig bemerlt war 
auch jpäter eine Tochter der Karſchin zweimal 
verheiratet und zweimal geſchieden. Nach dreis 
viertel Jahren hatte fie „Heroißmus genug“, jagt 
Dr. Kohut, eine neue Ehe einzugehen, fie nahm 
in ihrem Dichterraufche einen notoriichen Trunken— 
bold zum Mann. Ein nad zwei Jahren geborenes 
Kind haßte fie, weil es feinem Vater ähnlich war, 
„Alle weiblihen Verpflichtungen, aud) die gegen 
ihr eigenes Fleifh und Blut, waren ihr uner- 
träglich“. Um fi von ihrem Manne zu befreien, 
trat jie mit einer falſchen Anflage gegen ihn auf 
und bewirkte dadurch, daß er, obgleich beinahe 
50 Jahre alt und privilegierter Bürger, als Soldat 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


‚eingefleidet wurde. Auf feine flehentlihen Bitten 
um ihre Verwendung dafür, daß er endlich freis 
gelafien würde, jchreibt fie einen höhniſchen Brief, 

r mit den Worten beginnt: „mein ungeduldiger 
Füfilier!! — Ihre jpäteren Rebensfchictiate, nad)» 
dem fie Gönner gefunden hatte, bie fie, wie jogar 
Dr. Kohut jagt, in den Olymp ——— 
find bekannt. Ebenſo ihre unwürdige Bettelei 
oder „bad Schnorren der Poetin“. 

Die Bedeutung der Boefie der Karſchin ficht 
ihr Biograph darin, daß Hier plötzlich Töne in 
der deutichen Lyrik angefchlagen wurden, welche 
bi® dahin wenig befannt waren. „Dieje feden, 
riihen Naturlaute, dieſe finnlihen und heiteren 

ebensgenuß feiernden Verſe, dieſes Urjprüngliche 
und Naturvollendete, dieſes Einfadh-gläubige und 
Naturheitere der Dorf- und Schäfernatur — das 
etwas ganz neues!“ Dem Ausrufezeichen diejes 
Sahzes geftatten wir und nod ein Fragezeihen 
beizufügen, jo barbarijch dieje Interpunttion auch 
fein mag. Nach Dr. Kohut Hat die Karſchin das 
beutiche Boll8lied mit einem „wahren Lebens— 
elirir echter Poefie* belebt. Welche Vorſtellung 
muß nad) diefem verräterifchen Sage Herr Dr. Kohut 
vom deutihen Volkslied haben! Welche Beſtand— 
teile aber in dem Lebendelirir (Hoff'ſches Malz« 
ertraft!) fteden, enthüllt ©. 126: gefunde Sinn- 
Jichteit, derbe Naivität. Die Dichterin erjcheint 
uns, ©. 141, „wie eine moderne Realiftin aus 
jungsdeutijher Schule“. Am Schluffe feiner Arbeit 
zieht Herr Dr. Kohut gar eine Parallele zwiichen 
der Karſchin und Bettina von Arnim zu Gunjten 
eriterer. Damit iſt yon. gejagt. Wer ſolche 
Urteile zu fällen im Ehen e iſt, Vute doch beſſer 
in litterariſchen Dingen nicht mitſprechen wollen. 
Das neueſte Werk des Herrn Dr. A. Kohut iſt 
„das Buch berühmter Duelle“. Hoffentlich iſt es 
in ſeiner Urt beſſer und vor allem geſchmackvoller, 
als jein Buch über die „deutihe Sappho”, die 
diefem Borbilde gerade jo ähnlih ift, wie dem 
„Ritter aus Genieland“ mit dem — — 

ch.⸗K. 


8. Unterhaltungslitteratur. 


— ‚Ben Hur“, Eine Erzählung aus der Zeit 
Chrifti von Lew. Wallace ijt jept durd eine 
recht gute Ueberjegung von B. Hammer (Berlag 
der „Deutihen Verlags-Anſtalt“ in Stuttgart. 
1888) dem größeren deutſchen Publitum zugäng: 
lih geworden. Wenn ſchon diejer Roman ji 
einen bedeutenden Ruf erworben, jo fann man 
do nicht jagen, daß er Höheren poetiſchen Ans 
forderungen genüge, und dab die Einführung der 
Berfon des Heilandes dem chriſtlichen Gefühle ent» 
ſpräche, obgleich der Verfaſſer, augenjheinlid im 
vollen Bibelglauben ſtehend, nichts weniger ver= 
ſucht hat als diefen abzuſchwächen. Die Sprache 
ift gewählt, die Erzählung jelbjt einfach, das ero- 
tiſche Element tritt ſehr wenig hervor und bildet 
nicht den leitenden Faden, es überwiegen Naturjchilde- 
tungen, Darjtellungen des jüdiſchen und römijchen 
Öffentlihen und Privatlebens, der Parteiungen 
der Juden, der übermütigen, gehaßten Herridaft 


oms. 
Der Rahmen der Erzählung iſt kurz folgender: 


895 


In ben eriten Kapiteln werden die drei Weiſen 
be3 Morgenlandes vorgeführt, wie fie auf phan— 
taftiihe Weife aus Megypten, Indien und Griechen— 
land in ber arabiihen Wüjte zufammentreffen, 
vom Stern nad) Jerufalem zu Herodes und nad) 
Bethlehem geführt werden; Joſeph und Maria 
zichen aud) dorthin, und den Hirten auf dem Felde 
wird durd die Engelsbotſchaft die Geburt des 
Heilandes verfündet. Darauf führt der Berfafler 
ben Lejer nad Ferujalem in das Haus ded aus 
uraltem Geſchlechte jtammenden Handelsfürſten 
Ben Hur, der, auf der See verunglüdt, Frau, 
Sohn und Tochter zurüdgelafien hat. Der Sohn, 
Ben Hur, trifft mit jeinem Jugendjreunde Mefjala, 
ber aus Rom zurüdgefehrt ift, zufammen, und 
da dieſer vergeblich verjudt, ihn zu Rom her— 
überzuziehen, trennen fie fi fühl. Beim Einzuge 
bed römiſchen Landpflegerd Gratus wird Ben Hur 
burd einen unglüdlihen Zufall Beranlafjung zur 
Verwundung des Gratus, und leßterer benußt, 
mit Bang vereint, dieſe Gelegenheit, Ben Hur 
u den Galceren zu verurteilen, feine Mutter und 

weiter verſchwinden zu lafien und jein uner— 
meßliches Vermögen zu teilen. Ben Hur fommt 
auf die Galeere de8 Duumpirn Arrius, eines 
Freundes ſeines Vater; diejer erfennt ihn, läßt 
ihm die Ketten abnehmen, beläht ihn aber auf der 
Nuderbant, um nicht den beften Ruderer zu ent— 
behren. In einer Seeſchlacht gebt die Galeere zu 
Grunde, aber der von Ketten befreite Ben Hur 
vermag fi jelbft und den Arrius zu retten; dieſer 
adoptiert ihn und Hinterläßt ihm bei feinem bal— 
digen Tode fein großed Vermögen. Ben Hur, 
nur von der Sehnjucht, Mutter und Schweiter 
wiederzufinden, und vom Haß gegen Rom getrie- 
ben, bildet fich zum Krieger auß und geht, um 
auch die Führung größerer Truppenteile zu lernen, 
zum Feldzuge gegen die Parther jeinem Konjul 
nad Anttodia voraus, wo grofkartige Feitipiele 
diejen erwarten. Hier erfährt Ben Hur zufällig, 
daß ein reicher Kaufherr Simonides daſelbſt Iebe, 
der früher Zeibeigener feines Vaters gemwejen, und 
ſucht ihn auf, um Nachrichten von Mutter und 
Schwefter zu erhalten. Simonided hat zweimal 
die Folter überftanden, um den Reſt der Schätze 
feines geliebten Herrn zu retten, und ift dadurch 
zum Srüppel geworden, bat aber unermehliche 
Neihtümer erworben. Er empfängt Ben Hur, 
obwohl ihm innerlich gewogen, kühl und miß— 
trauiſch, aber jeine Tochter —* neigt ſich ihm 
in aufkeimender Liebe zu. Ben Hur erfährt 
nicht3 über die Seinigen. Er begibt fid in das 

aradicfiijche Thal Daphne, wo die Fejtipiele vor— 
ereitet werben, und trifft dort den einzig noch 
lebenden der drei Weifen des Morgenlandes, Bal- 
thafar, mit deſſen Tochter Jras; auch Mefiala ift 
dort, da er an den Wagenrennen teil nehmen 
will. Seine Pferde gefährden den Balthajar 
und rad, und Ben En rettet fie; er wird 
bezaubert von der Schönheit Jras’, aber dieſe 
fcheint fich mehr dem Mefjala zuzjumwenden, Ben 
Hur trifft demnächſt auch zufammen mit dem bon 
den Römern beleidigten arabijhen Scheif Jlderim, 
fieht defien wunderbare Pferde und übt fie zum 
Wettrennen ein. Letzteres ſpitzt ſich ſchließlich zu 


896 


einem Zweifampf mit Mefiala zu, welder in Haß 
und Eifer Ben Hurs Pferde peiticht; diefer aber 
führt den vorbedadten Plan aus, fährt Meſſalas 
Wagen an, ſtürzt diefen um und fiegt; Mejiala 
wird überfahren und ein Krüppel; Simonides hat 
durch einen Agenten ihn zu übermäßigen Wetten 
verführt, und jo ijt er zugleich zum Bettler ges 
worden. 

Das Auftreten des Meſſias bewegt alle Ge— 
müter der Juden; jeder erwartet von ihm den 
Sturz der Römerherrihaft und die Aufrichtung 
eines jüdischen Weltreihes; aud Ben Hur. Er 
ſucht aus den Galiläern Legionen zu bilden und 
übt fie ein, um fie dem König der Juden zur 
Verfügung zu ftellen; Scheit Jlderim und Simo— 
nides unterftügen ihn aus Haß gegen Rom. Nur 
Balthaſar hofft nicht auf ein irdiſches, jondern ein 
immlisches Königtum, nicht etwa aus religiöfem 
ebürfnis, fondern meil jeine Philojophie den 
Geift über den Leib, die Ewigkeit über die Ber: 
ga jtelt. — Ben Hur ficht Johannes 
en Täufer, folgt Jeſu und wird Zeuge feiner 
Wunder. — Mittlerweile ift Pilatus LQandpfleger 
in Baläftina geworden und hat unter anderem 
auch die Gefängnifje befichtigt. Dadurch werden 
Ben Hurd Mutter und Schwefter, welche jeit 
8 Jahren, allen Menſchen entzogen, heimlich in 
einem Gefängnis eingemauert gewejen, nadt und 
vom Wusjag behaftet, befreit. Eine chemalige 
Sklavin erkennt fie und bringt ihnen Nahrung. 
Lie Sklavin entdedt auch Ben Hur und erfährt 
don ihm — der Ausſätzigen durch Jeſum, 
beredet die Mutter und Schweſter Ben Hurs, ihn 
darum anzuflehen, und ſie werden geheilt. Ben 
Hur erkennt ſie und führt ſie in das von ihm 
zurückgelaufte väterliche Haus. 


Ben Hur wird nun Zeuge des Verrates Iſcha— 
rioths und bietet Jeſu an, ihn zu befreien, doch 
dieſer antwortet ihm nicht; er wird unſchlüſſig, 
und da auch jeine Galiläer von ihm abfallen, jo 
muß er eben gejchehen lafjen, was geſchieht. Iras 
tommt zu ihm und verlangt von ihm das Ber- 
mögen des Meſſala zurüd, unter Drohung, jeine 
romfeindlihen Pläne zu verraten, doc vergeb— 
lid. Das Hervortreten ihres bösartigen Charak— 
ter8 wendet Ben Hur von ihr ab, der nun er— 
fennt, daß er eigentlidy Ejther liebe. Iras ver: 
läßt ihren Vater und geht zu Mefjala. 


Ben Hur, Mutter und Schweiter, Simonibes, 
Balthalar find Zeugen der Kreuzigung, welche mit 
allen Worten des Heilandes, den würfelnden Kriegs— 
fnedhten, dem Erdbeben und der Finſternis geſchil— 
dert wird. — Balthafar ftirbt im Glauben, die 
anderen werden ebenfalls gläubig. 

Später jehen wir, nachdem feine Mutter gejtor= 
ben, Ben Hur mit jeiner Gattin Ejther und mit 
feiner Schweiter in Mijenum, wo aud die auf 
bie niedrigjte Stufe gejunfene Jras erſcheint; letz— 
tere verjhmäht das Ihr gebotene bürftige Mitleid 
und endet in den Fluten de8 Meeres. Als auch 
Simonides zur Zeit der neroniſchen Chriſtenver— 
folgungen geitorben, geht Ben Hur nad) Nom und 
verwendet fein fürſtliches Vermögen zum Bau 
der Katafomben, behufs Aufnahme der Leiber der 


Neue Schriften. — Unte rhaltungdlitteratur. 


—— und Abhaltung der frommen Verſamm— 
ungen. 
etrachten wir nun die erg a Die Nas 
turſchilderungen follen forrett jein, aber fie find 
ohne bejondere Wärme. Die PDarftellungen der 
Gelage der römiſchen Zebemänner und Wüſtlinge 
find nicht anſchaulich und lebendig. Die Beſchrei— 
bung der Galeere ift zwar eingehend, aber dennoch 
erfährt der Leſer nicht, daß die hinter- und über 
einander angebrachten Ruderbänte Ba mehrere 
Sklaven aufnahmen, welche an ein Ruder gefettet 
waren; im Gegenteil jcheint der Verfaſſer zu glau= 
ben, daß jede Ruder von einem Manne geführt 
worden ſei. Die Sitten und Gebräuche, wie das 
Händefalten zum Gebet, der Gruß „Gott allein 
ift groß“ deuten auf fpätere Zeiten, und die Art, 
durch Klingeln die Dienerfhaft herbeizurufen, ift 
gan modern. Die Schilderung des Wettrennens 
ft lebhaft, aber der Verfafler geht mit Leichtigkeit 
darüber Hinweg, dab das Anfahren des Wagens 
des Mefjala durch Ben Hur einfah ein Schurfen= 
ftreich ift, der durch die vorhergehende Heftigfeit 
des Mejjala nicht gerechtfertigt wird, um jo weniger, 
ald Ben Hur bie Handlung jhon tagelang vor= 
ber beabjihtigt Hatte. Seine Berechtigung, als 
Sieger zu gelten, wird dadurd mehr wie zweifel- 
haft. Der Berfaffer verweilt mit allzu großer 
Deutlichkeit bei der Schilderung der jchredlichen 
Wirkungen des Ausjapes der beiden rauen, jo 
daß Ekel ftatt Mitleid erwedt wird. Daß über: 
haupt Mutter und Schweiter 8 Jahre lang einges 
mauert, fait nadt, im feuchten dunklen Kerker, 
ihliehlih vom Ausſatz verzehrt, noch leben, ift 
faum dentbar, wie aud, dab ihnen die Nahrung 
durd ein Mauerloh von einem augen- und zuns 
genlojen Greis gereiht wird. Man fieht auch 
nicht ein, warum Meſſala und Gralus die beiden 
nicht einfach haben umbringen lafjen, was wohl 
ebenjowenig er. war, als fie in einem 
— erfer bei lebendigem Leibe zu be— 
graben. 
Die Zeihnung der Charaktere geſchieht in ſehr 
unbeftimmten Umriſſen; keine Berjönlichkeit, höch— 
jtend etwa Simonides und Jras, erjcheint leben 
dig, feine erwedt beim Lejer ein Interefie, fie 
find befleidete Figuren. Statt daß die Hand— 
lungen aus den Charaftereigentümlidkeiten, Em: 
pfindungen und den Umftänden hervorgehen, muß 
fie der Leſer einfah ald Thatfahen binnchmen; 
die Schnjudt, Mutter und Schweiter zu finden, 
und der Haß gegen Nom find die einzigen Seelen— 
tbätigleiten des Helden; auch jeine Liebe zu Ira 
und dann zu Ejther ift farblos. Jras, die ſchöne 
Tochter des Balthafar, betrachtet ihren frommen, 
weijen Bater mit Hohn und Mihachtung; ber 
Vater hat feine Ahnung von den Vorgängen in 
der Seele der Tochter; dieje ftrebt nad lan, und 
Macht; Ben Hur gefällt ihr wohl, aber fie liebt 
ſchließlich rg ra fie fordert von Ben Hur bie 
Rüdgabe de8 Vermögens an Meſſala unter Dro— 
bungen, ihn zu verraten; er weiſt fie ab, und 
fie verrät ihn dod nit. Sie geht zu dem ver— 
armten Krüppel, ſinkt von Siufe zu Stufe bis 
zur niedrigjten Verworfenheit und kommt ſchließ— 
lid zu Ben Hur und Ejther, nit um ihr Mit- 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


Teid anzuflchen, jondern um bejien Kinder küſſen 
u bürken: dann ertränft fie fih. Wenn aud 

er Dichter die größten Widerſprüche des menſch— 
lihen Charakter vorführen darf, jo verlangt ber 
Leſer doc einen Einblid in deſſen inneres Leben; 
liebt Iras den Meflala, oder beide, aber bald den 
einen, bald den anderen, fämpft das Gute mit 
dem Böjen in ihr, welcher Verſuchung unterliegt 
* Von allem dieſem nichts; der Leſer erfährt die 

hatſachen und muß ſie hinnehmen. Und doch iſt 
dieſe Iras der einzige einigermaßen lebendige 
Menſch; alle anderen ſind Figuren ohne Perſön— 
lichkeit, von denen auch Simonides nur wenig 
hervortritt. 

Wenden wir uns nun zu dem Wichtigſten, zu 
der Verflechtung der Verſon Chriſti in dieſen Ro— 
man. Man kann ja die phantaſtiſche Art, wie die 
drei Weijen des Morgenlandes aus den drei Welt: 
teilen, jeder allein, unbewaffnet, auf weißem Ka— 
meel zu demjelben Bunkte in der arabiihen Wüſte 
gelübrt werden, fich treffen und troß der verjchies 

enen Sprachen fich verfiehen, wie eine myſtiſche 
WBundermär gelten laſſen; aber aldbald tritt der 
Berfajjer in die Realität und damit ind Triviale. 
Vom Stern geleitet, ziehen fie nach Jeruſalem, 
fragen nad bem neugeborenen König der Juden, 
und zwar wenden fie fi, um die Hunde zu vers 
breiten, zuerft an einen Haufen Wajchweiber, 
jodann an die Wade, wodurch es Herodes erfährt. 
Diejer forſcht fie aus, und fie entziehen ſich ihm, 
Heroded beruft Hohepriefter und Schriftgelehrte, 
und dieje jagen ihm, dab der Meifias in Beth- 
Ichem geboren werden müjje. — Jojeph mit Ma— 
ria ziehen gen Bethlehem; nad) dem Verfaſſer, weil 
fie in Bethlehem geboren feien; nad) der Heiligen 
Schrift aber, weil Zojeph aus dem Stamme Da- 
vids iſt und Bethlehem die Stadt Davids iſt. Daß 
auch Maria aus dem Stamme Davids, ijt in der 
Schrift nirgends gejagt und ein Zuſatz des Ver— 
faſſers. Diefer macht auch Jojeph zum Oheim 
der Maria, welche er zum Weibe genommen, da 
fie in Nazareth Haus und Garten geerbt Habe, 
und, um das Erbe anzutreten, gehalten ſei, einen 
aus der Berwandtichaft zu heiraten. Der Ber: 
fafjer erzählt die Botichaft der Engel an bie Hir⸗ 
ten, daß es wirkt wie ein —S gegenüber 
der Bloria der Himmlifchen Heerſcharen. Am 
beiten gefällt noch die jpätere Epijode, wo der 
Ku Galcere abgeführte Ben Hur durch Jeſus, einen 

üngling mit tiefen, ewnften, liebevollen Augen 
jhweigend durch einen Trunf Waſſer gelabt wird. 
— Ben Hur fommt, zum Manne gereift, zu Jo— 
hannes dem Täufer. Aber aud die mächtige Er- 
ſcheinung des Predigerd in der Wüſte wird hier 
Heinlih, und Chriſtus erſcheint etwa wie eine 
Beiftererfcheinung auf einem Tajchenipielertheater. 
— Als Ben Hur nad dem Verrat des Iſcharioth 
fi) erbietet, Jeſum zu befreien und, feine Antwort 
erhaltend, unſchlüſſig wird, ob er nicht ohne deſſen 
Befehl handeln jolle, ruft der Verfaſſer aus: „Wie 
anders würde die Weltgefchichte fich geftaltet Haben, 
wenn Ben Hur fi dafür entjchieden hätte! Aber 
das durfte nicht fein, denn ſonſt hätte nicht Gott, 
—— ein Menſch die Weltgeſchichte gemacht!“ 

ls ob das von Anbeginn der Welt beſchloſſene 


897 


Erlöſungswerk Chriſti von dem Entſchluß des Ju— 
den Ben Hur abgehangen hätte! 

Es iſt wohl erklärlich, daß auch die Darſtellung 
der Kreuzigung matt bleibt im Vergleich zu den 
Worten der heiligen Schrift, welche wie der Don— 
ner Gottes den Menſchen erſchüttern; daß der Verf. 
aber von der Auſerſtehung Chriſti nur gan bei⸗ 
läufig ſpricht, iſt nicht erklärlich. Der bibelgläubige 
Verfaſſer mußte doch der Worte des Apoſtels 
gedenken: „Wäre Chriſtus nicht auferſtanden, ſo 
wäre unſer Glaube nichts, und wir noch in unſe— 
ren Sünden.“ Worauf ruht denn der Glaube der 
Berrefienden? Balthajar glaubt, weil er als Phi- 
loſoph die Seele höher als den Leib, die Ewigkeit 
höher als die Vergänglichkeit ſchäßt, nicht aber 
aus dem Gefühl der Erlöfungsbebürftigkeit aus 
feinen Sünden; Ben Hur und die Seinigen um 
der Wunder Chriſti willen. Aber niemand, ber 
dieſes Buch lieft, wird in Erkenntnis und Glau— 
ben weiter geführt, im Gegenteil jeder gläubige 
Chriſt wird durch dieſe verwäſſerte Darftellung 
der Thatſachen der Erlöſung angewidert und em— 
pört; jeder Nichtglaubende wird der Schwäche der 
Grundlagen unſeres Glaubens ſpotten. 

Man möge aus dem Ganzen die Lehre ziehen, 
daß die Perjon unſeres Heilandes und die That: 
ſachen feines Erlöfungswerls zu heilig find, als 
daß fie als Staffage oder Hintergrund eines pro= 
fanen Romans verwendet werden dürften, und daß 
—* bei dem ſprachgewandteſten Schriftſteller die— 
er Verſuch ſich ſtets als ein grober Mißgriff dar— 
ſtellen wird. Frhr. v. Dörnberg. 

— Krone und Kerker. Erzählung aus dem 
ſechzehnten Jahrhundert. Von N. vom Hof. 
(Gotha, F. A. Perthes.) 1887. VIII und 403 S. 
geh. 5 Mt. 

Nach dem Vorwort ein „ichriftitelleriiher Ver— 
juh“ und zwar nad dem Stile zu ſchließen ein 
erjter Berjuh von Frauenhand Ich kann 
dieſen Verſuch nicht für glüdlih Halten. Die 
Verf. hat fich im Stoff vergriffen und iſt dieſes 
Stoffed nicht Herr geworden mittel® jorgfältiger, 
fejlelnder Darjtellung. Kann es cin widerwär— 
tigered Thema geben als die Geſchichte Heinrichs 
des Achten von England? Wenn aus diejer Ge— 
ſchichte das Dulden der „guten“ frommen Königin 
Katharina herausgenommen und in Gegenſatz hier- 
u gebracht wird das ehrgeizige, leihtjinnige Vers 
alten der Anna von Boleyn, jo läßt jih ein 
Geſchichtsbild denken, das farbenreid, ift und den 
Sieg des Lichtes über Schatten und Finſternis 
zur Darjtellung bringt. Wenn aber, wie in vor— 
liegender Erzählung geichehen, da8 Matyrium der 
Königin Katharina nur nebenbei und die „Boleyn“, 
in geichichtswidriger Weife zur „großen Seele“, 
ur „wirklich hochſtehenden“ rau, zur „wunder: 
aren weiblihen Erſcheinung“ ibdealifiert, zum 
Mittelpunkt der Erzählung gemacht wird, jo fann 
nicht ausbleiben, dag man dem Leſer zu viel zus 
mutet, wenn er die zu Lebzeiten der rehtmäßigen 
Königin von Heinrih VIII mit Anna von Boleyn 
eingegangene Ehe und all’ die unjhönen Vorbe— 
reitungen der gefalljüchtigen, chrgeizigen Boleyn 
für dieje Ehe unter dem Geſichtspunkte betrachten 


898 


fol, „daß fie — die Boleyn — eine zum Großen 
und zum Guten angelegte Natur war, welche leider 
durch Umſtände und Berhältniffe immer mehr in 
andere Bahnen gedrängt wurde.“ Dieſer peinliche 
Eindrud wird überdics durd zwei Umflände ver- 
ftärt. Der Vater der Anna von Boleyn ift weit 
davon entfernt jeine Tochter v beeinflufjen, er bes 
trachtet fie als ein von der Vorſehung zu beftimms 
ten Bweden (dad Wohl Englands?) auserjehenes 
Werkzeug. Und die Boleyn ift von Unfang an 
eine Entlihicbene Beihügerin der „neuen Lehre”. 
Wenn die Römiſchen die Königin Katharina voll 
und ganz für fid in Anfpruc nehmen, jo follte 
man evangelijcherjeit3 fo Hug fein, die Verdienfte 
ber Anna von Boleyn um die Einführung der 
Reformation in England nicht geflifientlich geltend 
au machen. — Was den Stil betrifft, jo leidet 
erjelbe an dem Mangel epiiher Ruhe und Ge— 
lafjenheit. Die Erzählung fpringt mit jähen Ueber: 
güngen, mit Einjhaltungen völlig nebenjädhlicher 
inzelheiten — mögen FH nun hiſtoriſch jein oder 
nicht — fortwährend hin und ber. Die Sprade 
ift großenteil® zu patetiſch; der Dialog fchreitet 
oft in Jamben einher. Die Leute fommen nicht 
und gehen nicht, fie entihlüpfen, fie gleiten, fie 
ihleihen. Höchſt jelben wird geflüftert, aber un— 
zähligemal geraunt. Celbft in der „tief nur im 
verborgenen Buſen“ geiprodenen Sprade des Her— 
end wird geraunt. Warum wird die von B. 
uerbach — Redensart verwendet: „als 
wollte er jagen“ — wobei jedesmal ein Thun vor— 
ausgeht, aus weldem durchaus nicht auf ein be= 
ftimmtes Sagen geichlofien werden kann. Wie 
oft werden die entieglichen Alten-Wörter „inbe= 
treff,“ „das betreffende” gebraudt! Bon der Ber: 
mendung einer großen Menge von unnöthigen 
Fremdwörtern will ich gar nicht reden. — Warum 
find die ©. 50 erwähnten Mütter herangewachſe— 
ner Snaben ausnahmslos „zahnlofe Weiber“? 
©. 21 wird erzählt, daß der König Franz von 
Frankreich eines frühen Morgens vor dem Bette 
Heinrichs des Achten erſchienen fei, „um denjelben 
in eigener Perſon mit fröhlihem Gruß zu weden, 
worauf biejer lahend erwiderte: „Beim Zeus! ein 
fapitaler Spa, Ew. Majeftät und Liebden.“ Die 
beiden Majeftäten müflen, hiernach zu urteilen, 
fehr genügfam in ihren Anforderungen an den 
Spaß gemwejen fein. Dieje Genügſamkeit will nicht 
recht ze dem Hoftone paſſen, von welchem wir 
©. 110 und 111 ein nettes Pröbchen erhalten. 
In Gegenwart der Königin Katharina ſchimpft 
die Holdame Unna von Boleyn eine gewiſſe Jea— 
nette „Kreuzſpinne“, „böje Kröte*, Schlägt wieder⸗ 
holt nach ihr und muß es erleben, daß ihr die 
andere die Zunge herausſtreckt! 
Die Berf. bat ſich für ihren erſten Verſuch ein 
zu weites Biel geftedt. Sie follte ihr Talent 
erit an Feinerem Stoffe erproben. O. K. 


— Bon Haus zu Haus. Novellen-Cyklus 
von E. Merr (Gotha, F. A. Perthes.) 1888. 
356 ©. Geb. 5 Mt. 

Dieſes Buch —— mit folgendem Satze: „Die 
— dieſer werdenden Geſchichte, Fräulein Emi— 
ie von Karolath, erblickt der geneigte Leſer ſofort 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


in Lebensgröße auf ihrem Reiſekoffer ſtehend, den 
ſie durch ihr nicht unanſehnliches Gewicht zum 
Nachgeben, heißt Einſtoßen in das Schloß zwin— 
gen will u. ſ. w.“ Damit wird der Leſer „ſofort“ 
mit dem Stile der „werdenden Geſchichte“ und 
mit der ihre Rundreiſe zu Vettern, Freunden und 
Freundinnen antretenden „Emilie“ bekannt. Die 
redſelige, von einer Szene zur andern eilende, 
eine Fuͤlle von oberflächlich behandeltem Stoff nach 
und nach anhäufende Verf. hat ſich beſtrebt, das 
ewige Oh und Ach der Liebe und Ehe in ſieben 
äuſern nachklingen zu laſſen. Zuerſt iſt es das 
aus des Kreisrichters, in das wir geübt 
werben. Hugo, der „große, breite, ſchwarze Sohn,“ 
hat eined Tages auf die Frage feiner Mutter, ob 
er nad) Kaffee dürfte, die Antwort gegeben: „nein, 
nad) Liebesglüd!* Die Folge davon war, daß er 
eine Seraphine geheiratet hat, die fi in der Ehe 
als „Schlampe“ entpuppte. Es ift erjtaunlich, 
wie anftedend der Unordnungsfinn der Frau Kreis— 
richter auf ihre nn gewirkt hat. Als Hugo 
die Koufine Emilie jah, fam eine Begrükung mit 
Küffen und Umarmen nicht recht zu Stande, doch 
mußte ſich Emilie von dem Better umarmt ges 
fühlt haben, denn es heißt ausdrüdlih: „Er ließ 
Emilie auß den Armen.” — Dad Hausjöhnden 
Selmar fam eined Tages auf ben Gedanken Toi— 
fette zu machen. Aber wie geht es dabei zu! Er 
hatte ſich „eigenmächtig Gefiht und Kopf getrod= 
net, und in jein neucd Höschen gejtedt.” elche 
Idee! denkt der nicht mehr ganz geneigte Leſer, — 
denn er denkt nicht daran, daß die Verf. nicht 
daran gedacht Hat, Selmars Geſicht und Kopf, 
nad) erfolgter Abtrodnung, in die neuen Höschen 
zu fteden, vielmehr die unteren Gliedmaßen des 
etrodneten Selmar. — Im zweiten Haus, dem 
Haus be Gymnaſiallehrers, fieht Emilie die 
ihr befreundete Frau dem Geiz verfallen. Der 
Mann iſt als Darwinift gemaßregelt worden, läßt 
aber feine Benfionäre in der Betwoche bei Tiſche 
abwecjeln. — DerKommerzienrat der Freundin 
Queilie ift ordensfüchtig und nebenbei auch adlich 
eworden. Als Erzieher fommt ein Gelehrter, 
amens Stern ind Haus, die erfte unvergejiene 
Liebe der Frau Kommerzienrätin. Innere Kämpfe 
werden erit durch den Tod des Kommerzienrates 
und, damit der LXejer in einiger Spannung er— 
halten wird, in der jehr mechanifchen ®eije eines 
Nachtrags auf den drei legten Seiten des Cyklus 
dadurch zu Ende gebradht, dab der frühere Ge— 
liebte die frühere Geliebte aufgibt. Lucilie öffnete 
infolge davon „eine Notenmappe, nahm daraus 
diejenigen Lieder, welche fie mit Stern gejungen, 
an denen fie ihre Hoffnung auf ihn, ihre Sehn— 
ſucht nad) ihm genährt hatte, und warf fie in die 
auflodernden Flammen des Kamins!“ Das ift 
der letzte Satz des Buches. — Wir gg aber 
nod) dad Haus Nr. 4 zu beſuchen. In dieſem 
wohnt ein adliger „VBerehrer und Freund“ Emiliens, 
ber das Glüd und das Unglüd gehabt hat, eine 
ebenjo reiche, als fromme Frau zu heiraten. Die 
Farben werden hier bejonders Bart aufgetragen, 
Bibelſprüche nebenbei falſch zitiert u. ſ. w. Der 
Gutsbeſitzer verliebt ſich in eine gewiſſe Eva, 
die wird aber einem völlig ſchwarz ausgeſtatteten 


Neue Schriften. — Unterhaltungßlitteratur. 


jungen Geiſtlichen zu teil. Eine ſchwere Krank— 
beit der Gutäbefigerin bringt die einander ent= 
fremdeten Gatten wieder zufammen. a. fünften 
gauie wohnt der Emilien befreundete Yandarzt. 

on feinem Abel macht er feinen Gebraud. Hat 
er doch eine verwitwete Bäuerin geheiratet und 
mit ihr drei Stieftöchter erworben, welde fi vor 
den Augen des Lejerd binnen zweimal bierund- 
zwanzig Stunden verloben. Kann e8 etwas ſchö— 
nered geben? Kaum. Es hätte denn der Ver— 
fafjerin gefallen müfjen, die Zahl der Stieftöchter, 
unter Beibehaltung der Verlobungsfriſt, um cine 
ober zwei zu vermehren. Die reijende Emilie 
erweift fi in dem Haufe des Landarztes beion- 
ders liebenswürdig und es ift ihr nur durch bie 
beeilte Fortſetzung ihrer Reiſe möglich gemejen, 
bie vierte Verlobung, nämlich ihre eigene mit 
dem alten Freunde, der jeine Frau dur den 
Tod verloren hat, zu vermeiden. — Am traurig- 
ften, aber am metjten ber Wahrheit des Lebens 
entſprechend ift das Bild des ſechſten Hauſes. 
Wiederum eine Freundin Emiliend ift verhei— 
ratet, und zwar an einen Schriftiteller von 
adligem Namen und höchſt geringer Begabung. 
Die phantaftiihe Braut eines Verlegers wird dem 
faft geiltesfranfen Dichter eine erfte Freundin. 
Die entitandene Verwirrung weiß Emilie diesmal 
mit dem nervus rerum zu löjen. Sie fann dies 
um jo leichter, als fie von einem Juden, nad 
Ausweis eines ihr vom Gericht auf die Reife 
furzer Hand nachgeſchickten Teſtamentes, 30000 
Thaler darum geerbt hat, weil fie jener Perle 
unter Iſrael einmal eine Heine Gefälligkeit erwiejen 
hat. — Das legte Haus, das Haus de8 Gym- 
najialdireltors wird für die des Reiſens müde 
Emilie das eigene Haus. Der brave Direktor 
John Hat zwar drei eigene und zwei Pflegekinder, 
das hält aber Emilie nicht ab, dem Vater diejer 
Kinder die Hand zu reihen. Hätte fie es nicht 
getban, jo wäre fie „torbgeberig“ geweien, um 
einen neuen Ausdrud der Verfafjerin anzumenden. 

Ih glaube nicht, daß es der Verfafierin ſchwer 
geworden ift, ihre Häufergefhichten zu erfinden 
und zu erzählen. Es fällt ihr offenbar leicht, 
ſehr leicht, ihre Gedanken aufs Papier zu bringen; 
ga vient comme ga vient, d’un bloc, et Von 
n’y retouche plus, heißt e8 einmal bei A. Daubet. 
Genau jo geht es bei der Erzüählerin der Reiſe 
von Haus zu Haus: Raketen verfagen anftande- 
mäßig, weil fie verpufit find (S. 35). — Herr 
v. Ramin ftand im Hofe neben dem Wagen und 
war eben im Begriff, jeinem Reitknecht, der nicht 
da war, in contumaciam die Leviten zu lejen. 
(228.) — Bei einem Gartenfonzert ift ein Mufit: 
Kor im Garten „verftedt invitiert“ (34). — Ein 
grober Flügel ftand an der dritten Seite der 

and (162), während bie dritte Wand des be— 
treffenden Raumes gemeint ijt. — „Einige Stufen 
er zur Hausthür, welche regelrecht die Mitte 
es Baues einnahm und an jeder Seite vier große 
Fenſter zeigte“ (238). Eine merfwürdige Thür! 
— S. 63 heißt e8: „dafür wurde oder Tote ein 
Bouquet gefauft werden“. ©. 90 heißt e8: „bie 
erjte Frage, deren mehrere nod) folgten.” Gerade 
wie bei 3 Heyfe, der in den „Kindern der Welt“ 


899 


den erften Frühlingsregen zweimal fallen läßt. 
— ©. 92 ift ala Dichter des Liedes: „das Grab 
ift tief und ſtille“ Mahlmann genannt, während 
v. Salis der Dichter iſt. — ©. 204 iſt Plautus 


itiert. Ich fürchte, hier liegt mehr als ein Druck— 
Fehler vor. Es ijt allem Anſcheine nad) an ben 


in Zeitungsberichten nicht jelten zitierten Jupiter 
Pluvius gedaht worden. — ©. 7 erhebt die Ver— 
fafjerin das „Altersbewußtſein“ zum unantaftbaren 
Eigentumsrecht“. Gleihwohl nehme ich zu Guns 
jten .% Bewußtjeind bei der Berfafjerin an, 
daß fie ſich noch eines jehr jugendlichen, unter- 
nehmungsfrohen, feden Lebensalter — 


.E. 

— Am Leuchtturm. Eine Geſchichte aus 
Preußens traurigen Tagen von Paul Block. 
Mit einem Briefe Felir Dahn als — 
(Leipzig, Reinhold Werther.) 195 S. 2,80 M. 

Der Verf. führt uns in die traurigen Tage 
nach Jena. Karl Claaßen, der Leuchtturm-Wächter 
von Memel, hat es erleben müſſen, daß ſeine ein— 
zige Schweſter von einem adligen Offizier verführt 
und im Stiche gelaſſen worden iſt, während ihm 
ſelber eine junge Adlige nicht die Treue gehalten 
bat, von der er das Gluͤck ſeines Lebens erwartete. 
Ingrimmiger Hab gegen den Adel indgefamt und 
infolge davon gegen die von adligen Offizieren 
eführte Armee hat den braven Claaßen zu einem 

inde aller Autorität gemadt. Nun muß er 
erleben, daß der bei ihm berangemwachjene Sohn 
feiner Schweſter freiwillig dem Heere folgt, um 
ige Feinde zu befämpfen, und dab an die 

telle des ihm entflohenen Pflegeſohnes die ver— 
waijte Tochter feiner Jugendfreumdin tritt. Dieje 
bat fich kurz vor ihrem Tode mit dem treuen 
Freunde verjöhnt und ihn nicht vergeblich gebeten, 
ihr elternlojed Kind nad) ihrem Tode väterlich 
u beraten und zu bejchüßen. Pflegeſohn und 
flegetochter werden ein Baar. Bei einem Bes 
juche, welchen jener dem Leuchtturm machen will, 
ftrandet da8 Boot; Klaahen rettet den Eohn, ver— 
liert aber jelbit dabei das Leben. — Die Geihichte 
ift jehr gut erzählt. In knapper, lebendiger Dar— 
jtellung weiß der Verf. ein wahres Bild jener 
Ken „nach Jena“ zu entwerfen und die einzelnen 
erfonen in feiten Umriſſen nr 3 zu 
zeichnen. Am meiften ift zu loben, daß ber Verf. 
jo unbefangen war, den von Felir Dahn an 
ihn geichriebenen Rezenfions-Brief abzudruden. In 
diefem Briefe fpendet Dahn dem Heinen Buche 
zwar verdientes Lob, aber er verichweigt nicht, 
wie er ſelbſt des Leuchtturm-Wächters „Selbſt-Wi— 
derlegung“ würde geſtaltet haben: „Ich hätte den 
Feind ‚des Staates und des Krieges durch Angriffe 
der Franzoſen auf feinen geliebten Leuchtturm — 
vielleicht auc) auf das junge Mädchen — genötigt 
werden laffen, troß feiner Falſch-Lehre die Bafte 
u führen, die Notwendigleit des Kampfes für das 
aterland einzufehen, für das Recht des Bater- 
landes, das zugleid) alle Rechte der Privaten ſchützt, 
zu fallen“ Man kann nur Dahn redhtgeben, wenn 
man die Löſung des Knotens, wie fie vollzogen 
worden ift, und mie fie hätte vollzogen werden 
fünnen, gegeneinander abwägt. Darin liegt aber 
eine durchaus anertennenswerte Unbefangenheit 


900 


des Berf., daß er feine Leſer geradezu auffordert, 
ſich bei diefem Abwägen auf die Seite Felix Dahns 
zu ftellen. — Ganz vortrefflich find aud) die Neben- 
geitalten von der Königin Luife herab bis zum 
dummſchlauen Lithauer und zum ftrammen Unter: 
offizier gelungen; Naturjchilderungen und Zeitfarbe 
tragen das Gepräge voller Fünftlerifher Wahrheit. 
Und Held und Handlung find aus einem Guß. 
(F. Dahn). O. K. 


9. Verſchiedenes. 


— Mit Gott! Worte des Herzens in Briefen 
an eine Freundin bei ihrem Eintritt in das Leben 
von A. G. Eingeführt und bevorwortet von Dr. 
Max Frommel, Generalſuperintendent. (Halle, 
J. Fricke) 1888. VI und 175 ©. 1,50 M. geb. 
2,25 M. 

In zehn Abjchnitten „Briefe* genannt, eine 
Neihe von Mahnungen und Ratjchlägen für junge 
Mädchen, welde in die Kämpfe und Verſuchungen 
des Lebens hinaustreten. Es ift die nüchterne, 
evangeliſche Anichauung, melde das Meine Bud 
durchweht. Gleichweit entfernt von pietiftijcher 
Engberzigfeit — Theater und Tanz werden nicht 
an und für fi) verworfen — wie don moderner 
Weitherzigleit — die Verf. erflärt fi) gegen die 
Frauenemanzipation mit der Frage: „Wann hat 
denn je in jo viel Hundert Jahren der Weltge- 
fchichte eine, auch nur eine rau epochemachend 
gewirkt auf irgend einem Gebiete ber Boch, Kunft 
oder Wiſſenſchaft?“ — beipricht die Verf. daS Le— 
ben in der Welt, das frei fein muß von dem 
Leben von der Welt. Ach kann das treugemeinte 
Büchlein nur bejtens empfehlen. — Wenn im erjten 
„Briefe“ gejagt wird, dab die befannten „Briefe 
aus der Hölle“ „Sofort in alle denkbaren, moder— 
nen Spraden“ überjegt worden jeien, jo iſt das 
eine übereilte Behauptung: „Mehrere moderne 
Sprachen“ würde genügt haben. O. 8. 

— Der Weltſpracheſchwindel. Von Dr. 
K. Feierabend. Geitfr. d. hriftl. Vollslebens. 
Heit 93.) (Heilbronn, Gebr. Henninger.) 

Der Berfafjer wendet fait vier Drudbogen auf, 
um Bolapüf und andere Weliſpracheverſuche zu 
rihten und ihnen ein Ende „auf dem Kehricht— 
page überwundener Irrtümer“ zu prophezeien. 

an fann das ruhig der Zeit überlajjen — und 
das will ja der Verfaffer auch thun. Nur be— 
greift man nicht, weshalb ber Verfafjer mit feiner 

1 Drudjeiten umfafjenden Arbeit joviel Zeit und 
Mühe an eine jeiner Anficht nad) verlorene Sache 
verſchwendet. Bei der Lektüre diejer und ähnlicher 
Streitſchriften, deren Zahl nicht gering ift, fragt 
man jih unmwilltürlih: Iſt denn Volapük ges 


Neue Schriften. — Verſchiedenes. 


meingefährlich? Was rechtfertigt das harte Wort 
„Beltipraheihwindel”? Sind der Erfinder Schleyer 
und feine Anhänger unehrlihe Leute, Schwindler, 
bie es auf Ausbeutung des Publikums abſehen 
wie Gründer und Börjenjobber? Die vom Ber 
fafier ©. 19 und 20 gegebene, ganz unzutreffende 
Eharakteriftit Schleyers läht beinahe darauf ſchlie— 
ben. Wenig liebevoll Hingt auch der Sag ©. 50, 
„daß die Weltipradheidee jeit Schleyer8 Auftreten 
idealiftiijhe Träumer und nt 
in ungeadnter Zahl mit einer Art Schwindel 
befallen hat“. Ich kann dem Berfafier nicht zu— 
eitehen, daß er sine ira et studio gejhrieben 
Bet. Daß Volapük nod viele Mängel bat, wel- 
her Kundige will e8 leugnen? Unjer Wiſſen ift 
Stüdwerl. Sade der Spracgelehrten wäre es 
weniger, zu tadeln, was befanntlid ſehr leicht iſt, 
als befjer zu maden. — Was Volapük eigentlich 
fein und nicht fein will, jcheint dem os 
nod verborgen. Es erhebt keineswegs den An— 
ſpruch die lebenden Spraden zu verdrängen, oder 
jelbft nur „eine in weiteren reifen geijprodene 
Sprade“ (S. 58) zu werden, es beſcheidet ſich ein 
internationale8 Verkehrsmittel zu jein, 
ein VBerftändigungsmittel für diejenigen, bie 
eines ſolchen Behr len. Der Berfafjer bejtreitet 
freilih da8 Bedürfnis mit dem Hinweis darauf, 
daß der Berfehr ſich bisher noch immer ausreichende 
a feiner Bedürfniſſe verihafft Hat. 
(S. 55.) Andererjeit3 jagt er wieder (S. 58): 
„Wenn der Welthandel jeinen Vorteil dabei 
findet, fich diejes Verſtändigungsmittels im Brief- 
wechjel zu bedienen, jo kann ihm das nicht ge= 
wehrt werden“, Nun gut, laffen wir's babei * 
wenden! Die Bedürfnisfrage werden füglich 
diejenigen am beſten entſcheiden, für welche Vola— 
püt hauptſächlich geſchaffen iſt. Die Möglichkeit 
einer künſtlichen Weltſprache, die der Verfaſſer 
ebenfalls beſtreitet — eigentlich unvorſichtig, da 
man ru von mandem Glauben an Une 
möglichkeiten befehrt wird —, mag fi) an Vola— 
ne erproben. Wir werden e8 abwarten. Daß 
ie Einführung einer allgemeinen Kunftfpradhe 
nur ein Hemmſchuh für unfere Fortentwidelung 
jein würde, ift doch eine gemwagte Behauptung, 
noch gewagter aber die Logik in einem und dem= 
ea Sap die Unmöglichkeit einer allgemeinen 
inführung zu behaupten und die Folgen dieſer 
Einführung vorauszujagen. (S. 60.) Mag 19 
nun Bolapüf als praktiſch brauchbar erweijen oder 
nit — die Zulunft wird’3 ja lehren —, immer 
bin haben wir in der Schleyerihen Erfindung ein 
nit zu verachtendes Erzeugnis menſchlichen, 
deutſchen Geiſtes vor uns. Dr. €. Horn. 


J 
I 


“© } — 





Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzehnten 
Jahrhundert. 


Von 


Ariedrich Curtius. 


Als im Beginn des letzten Jahres die mit dem Radikalismus verbündete Zentrums— 
fraktion den Verſuch machte, die notwendige dauernde Verſtärkung der deutſchen Heeres— 
macht zu hindern, da mußte auch dem ſorgloſeſten Optimiſten die Erkenntnis aufgehen, 
welche ernſte Gefahr für das Deutſche Reich die bloße Exiſtenz einer das ganze katho— 
liſche Deutſchland vertretenden Oppoſitionspartei bildet. Während die joziale Frage 
allen Kulturftaaten gemeinjam it und nur nad) Ort und Zeit mehr oder weniger afut 
auftritt, ift die firchenpolitiche Frage, welche das neue Neich bewegt, unjerem Bolfe 
und unjerer Zeit eigentümlich. Iſt doch die Gründung diejes Reiches die erjte bewußte 
Schöpfung eines Staatsweſens, welches ein religiös gejpaltene® Volk zu politiicher 
Einheit zufammenjchließen joll. 

Dem Mittelalter erjchien die Glaubenseinheit als die jelbjtverftändliche Voraus— 
jegung der Staatseinheit, und diefe Anſchauung bat bis in das 18. Jahrhundert ihr 
Leben gefriftet. Danach war die Unterdrüdung der Keerei eine Forderung der Selbit- 
erhaltung für den Staat. Wenn die Kirche, die nicht nad) Blut zu dürften behauptete, 
dem Staate Henfersdienste zumutete, jo fand fie bei diefem volle Dienjtwilligfeit, denn 
er fürchtete die Glaubensfreiheit nicht minder als die Kirche ſelbſt. Die Inquifition 
war ein Werk des Deipotismus jo gut wie des Fanatismus, und die Dragoner Lud— 
wigs XIV., welche die Hugenotten peinigten, waren die Werkzeuge einer aufs äußerfte 
gefteigerten Energie des Staatöwillens, welche den Verſuch jelbjtändigen Denkens und 
Glaubens als Hochverrat anjah. In den erjten anderthalb Jahrhunderten nach der Re— 
formation war aud) die Politik Deutjchlands von der Anficht beherrjcht, daß entweder 
der alte oder der neue Glaube fiegen und feinen Gegner vernichten müſſe. Erſt durch 
den weſtfäliſchen Frieden wurde die religiöje Gerpaltenheit Deutjchlands als eine 
dauernde, unabänderliche Thatjache anerfannt. Aber feineswegs wurde hieraus der 
Schluß gezogen, daß die Toleranz im heutigen Sinne, die perjönliche Befenntnisfreiheit, 
die Grundlage des Neichsrechts bilden müjje, jondern die Staatsfunft des 17. Jahr: 
— wußte keinen Ausweg aus dem Dilemma als die thatſächliche Auflöſung des 

eiches. Während Frankreich Gut und Blut ſeiner edelſten Söhne und die Freiheit 
des Gewiſſens der Staatseinheit zum Opfer brachte, mußte Deutjchland auf die letztere 
Allg. tonſ. Monatsjchrift 1888. IX, 58 


902 Ueber Toleranz im adhtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 


—— um jene zu retten. Seit dem Weſtfäliſchen Frieden ſtanden ſich innerhalb 
des Reichstages die evangeliſchen und die katholiſchen Stände als corpora, d. h. als 
eſchloſſene Verbände gegenüber, welche alle die Religion berührenden Fragen nur im 
ege freier Uebereinkunft in für das Reich verbindlicher Weiſe regeln konnten. Das 
Reich wurde dadurd) ein Kreis mit zwei Mittelpunften, ein logifcher Widerſpruch, 
deſſen Konjequenz feine Auflöfung fein mußte. 

Indefien glaubte gerade das 18. Jahrhundert, welches mit dem Untergange des 
Reiches endigte, in jeiner philofophijchen und religiöjen Entwidelung die — en 
erfüllt zu haben, welche zu einer konfeſſionsloſen Staatsbildung führen mußten. Die 
Aufklärung, deren ſich das Zeitalter Voltaire und Leſſings rühmte, jchien die Toleranz 
als eine notwendige Konjequenz mit ſich zu führen. 

Die Frage, ob es dem 18. Jahrhundert gelungen ift, die Toleranz prinzipiell zu 
begründen, ob wirklich Aufflärung und Toleranz Schweitern find, die nicht anders als 
—— können, iſt auch heute nicht ohne praftifches Intereſſe. Voltaire gibt 
in dem „Dietionnaire philosophique* folgende Definition: „Qu’est ce que la tolerance? 
C'est Y’apanage de Ihumanité. Moos sommes tous petris de faiblesse et d’erreurs: 

ardonnons-nous r&ciproquement nos sottises, c’est la premiere loi de la nature.“ 

oltaires Toleranz beruht aljo auf der abjoluten Verzweiflung an der Möglichkeit 
religiöfer Gewißheit, auf der Anſicht, daß eine Religion nicht mehr wert ſei als die 
andere, und daß daher niemand Grund habe, fich feiner religiöfen Ueberzeugung zu rühmen 
oder gar Anhänger für diejelbe zu juchen. „Un roseau couch& par le vent dans la fange 
dira-t-il au roseau couche dans un sens contraire: rampe à ma facon, miserable, ou 
je prösenterai requöte pour qu’on t’arrache et qu’on te brüle?“ Mit bitterem Hohne 
verfolgt Voltaire den Anfprud des Ehriftentums auf Verbreitung über die ganze Erde 
und rühmt e3 als einen Vorzug des Judentums, daß diejes feine Miffion getrieben, 
fondern fremde Bölfer bei ihrer Religion gelafjer habe. 

Leſſing Hat in der befannten Grabſchrift auf Voltaire zu verjtehen gegeben, daß 
er deſſen philojophifche und religiöfe Arbeit billige. Und fo weit auch der Berfaffer 
der Erziehung des Menfchengefchlehts an Tiefe und religidfem Ernſt den Franzoſen 
überragt, jo zeigt doch eine Vergleichung dejjen, was Voltaire und Leffing über die 
Toleranz gejagt haben, eine fajt vollftändige Uebereinjtimmung. Auch, Nathan, das 
deutjche Evangelium der Toleranz, verkündet die Skepſis ala Grundlage der Duldung. 
Denn mag nun einer der Brüder den echten Ring befiten oder mag bderjelbe ganz 
verloren gegangen fein, jedenfall3 kann feiner fich des Beſitzes ficher halten. Jede der 
drei Religionen, deren Vertreter und im Nathan begegnen, muß fich jagen, daß fie 
vielleicht Elemente der religiöjen Wahrheit, aber nicht diefe ſelbſt befigt. Keine von 
ihnen fann vernünftigerweife danach ftreben, Anhänger zu gewinnen. Mit Mitleid 
ſpricht Recha von ihrer Erzieherin: 

Ah die arme Frau 
Si eine Ehriftin, muß aus Liebe quälen, 
t eine von den Schwärmerinnen, die 
en allgemeinen, einzig wahren Weg 
Nah Gott zu wiſſen wähnen. 


Die Klage des Tempelherrn über Rechas Erziehung im Judentum fertigt der edle 
Saladin mit cyniſchem Spotte ab: 

Auch ſoll es Nathan ſchon empfinden, daß 

Er ohne Schweinefleiſch ein Chriſtenkind 

Erziehen bürfen! 

Der Anſpruch des Chriſtentums auf Weltherrſchaft erſcheint um ſo weniger be— 
gründet, als feine der drei Religionen die ethiſche Probe ſchlechter beſteht. So unna- 
türlich wie die Häufung der Tugenden bei Saladin und Nathan, jo Häglich ijt die 
Haltung der Vertreter des Chriftentums. Um des Patriarchen gar nicht zu gedenken, 


Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 908 


fo müfjen Daja und der Tempelherr unabläffig von Nathan und Saladin zurecht ge- 
mwiejen werden, und damit jedes Mikverjtändnis ausgefchloffen fei, wird der Tempelherr 
allemal an den Stellen, wo er ſich am wenigften lobenswert aufführt, als „Chriſt“ 
angeredet. Lejlings erklärte Abficht, „den Theologen einen Poſſen zu fpielen”, führte 
ihn zu einer rüdjichtslofen Härte gegen die Religion feiner Väter. Er hat ſich von 
derjelben auch mit dem Herzen vollftändig geiött, und der Nathan verfündet ſchon 
das negative Glaubensbefenntnis, mit welchem der Dichter ftarb, daß er feiner der be— 
jtehenden Religionen angehöre. 

Aber freilich war die deutjche Aufklärung weit entfernt, die rg wre als 
das Ergebnis des Philoſophierens hinzuftellen. Vielmehr wurde der Kampf gegen die 
pojitiven Religionen in der getrojten Zuverſicht geführt, daß die Religion r ft da⸗ 
durch gar nicht gefährdet würde. Dem Zeitalter des Rouffeaufchen Naturkultus war die 
Borjtellung einer Naturreligion jo geläufig wie die des Naturrechtes, und die Feind— 
ſchaft gegen die pofitiven Religionen beruht gerade auf der Anſchauung, daß die letzteren 
nur Hindernifje bildeten für den — der Naturreligion. Gott, Unſterblichkeit, 
Tugend, dieſe drei einfachen, jedermann faßlichen Begriffe bilden die ganze Dogmatik 
und Ethik dieſer Religion. Jeder Menſch mit geſundem Verſtande und redlichem 
Herzen muß derſelben zufallen, ſobald er von den Vorurteilen der poſitiven Religion, 
in welcher er erzogen worden, befreit iſt. Das Urbild von Leſſings Nathan verkündigt 
ſiegesgewiß dieſes neue Evangelium. „Mich dünkt,“ ſagt Moſes Mendelsſohn, „die 
—— der natürlichen Religion ſei dem unverdorbenen, nicht mißleiteten Menſchen— 
verjtande ebenfo Hell einleuchtend, ebenjo unumftößlich gewiß als — ein Satz der 
Geometrie. In jeder Lage des Lebens, in welcher der Menſch ſich befindet, auf jeder 
Stufe der Aufflärung, auf welcher er fteht, hat er Data und Vermögen, Gelegenheit 
und Kräfte genug, — von den Wahrheiten der Vernunftreligion zu überführen.“ 
„Natürliche Religion ift zugleich die einfachite und faßbarſte Religion; fie ift jo leicht, 
jo jedermanns Fähigkeiten angemefjen, daß man erftaunen muß, wenn man Bhilofophen 
ernfibaft behaupten hört, fie fei nicht für den gemeinen Mann. Der Menjch, deſſen 
Vernunft noch nicht durch Sophifterei verdorben ift, darf nur feinem geraden Sinne 
folgen, und feine Glückſeligkeit ftehet feſte“ Philofophifche und theologische Spekulation 
iſt für die religiöfe Gewißheit ganz überflüffig. Die Spekulation hat nur die Aufgabe, 
„die Unfprüche des gefunden Menjchenverjtandes zu berichtigen und jo viel als möglich 
in Vernunfterfenntni® umzufeßen.* 

Diefer Anjchauung von dem Wejen der Religion entfpricht die Toleranzpredigt 
bes 18. Jahrhunderts. Cie will die pofitiven Religionen durch die Naturreligion 
erjegen. Mochten nun die Formen der gejchichtlichen Religionen früher oder fpäter 
der Auflöfung anheimfallen, fofern nur die Naturreligion * — 5— durch die 
Herzen und durch die Tempel vollendete, mußte das Ende der Glaubenskämpfe und 
die Verbrüderung der früher durch dogmatiſche Kämpfe zerriſſenen Menſchheit mit 
Notwendigkeit eintreten. 

San Mängel und Inkonſequenzen der Toleranz des 18. Jahrhunderts liegen auf 
er Hand. 

ge mußte die Toleranzpredigt der Aufklärung an denjenigen jpurlos ab- 

leiten, welche dieſer — am meiſten bedurften. Denn wenn die Toleranz ſich auf 

n zum Prinzip erhobenen Zweifel gründet, jo muß fie gerade dadurch ben läubigen 
aller Konfeffionen verdächtig werden. Den Gläubigen wird ja direkt zu verjtehen ge- 
geben, daß fie gar nicht anders fünnen, als intolerant fein. Die Aufklärung fommt 
alfo jchließlich zu demjelben Ergebnis wie die Ketzer richtende Orthodoxie. Ste recht- 
fertigt wenigftens fubjeftiv die Inquifition. Denn wenn e8 wahr ift, daß man den 
Glauben wegwerfen muß, um tolerant zu fein, fo fann man den Kirchen als folchen 
und ihren überzeugten Anhängern aus der Intoleranz feinen Vorwurf machen. Schon 
aus diefem Grunde muß ferner die Aufklärung ihrerfeit3 intolerant werden. Wenn 

58* 


904 Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzeönten Jahrhundert. 


nur die abjolute Sfepfis zur Duldung führt, jo ift jede religiöfe Ueberzeugung, jeder 
pofitive Glaube eine öffentliche Gefahr, die ihrerſeits nicht zu dulden ift, und der gegen 
jeden Irrtum nachſichtige Philofoph muß dem Glauben gegenüber zum Verfolger werben. 
Die Kirchenpolitif der Revolution hat die Nichtigkeit dieſes Schlujjes bewiejen. 
AL die franzöfiiche Nationalverfammlung durch Dekret vom 29. November 1791 
alle eidweigernden Priefter der Penfionen beraubte, welche ihnen jeit ihrer Abjegung 
gewährt waren, und fie insgefamt für „verdächtig“ erklärte, wurde dem König von 
angefjehenen Männern der Hauptitadt eine Bittfchrift übergeben, welche ihn veranlafjen 
wollte, jein Veto gegen jenes Dekret einzulegen. Dieſes Schriftjtüd rügt den Wider- 
ſpruch zwifchen Maßregeln religiöjer Verfolgung, wie da8 Novemberdefret, und dem 
Prinzip der Glaubensfreiheit, deſſen Aufitellung der höchſte Ehrentitel der Revolution 
ſei. „Soll denn,“ jo heißt es im der VBittjchrift, „ein ganzes Jahrhundert der Philo- 
jophie nur dazu gedient haben, um zur Unduldfamfeit des 16. Jahrhundert zurüd» 
zuführen, und das auf der Straße der freiheit?" Offenbar beruht dieje Verwunderung 
auf einer Illuſion über die Natur derjenigen Toleranz, welche die Aufklärung lehrte 
und die Revolution durchführen wollte. Nicht die Freiheit religiöjer Weberzeugung, 
jondern die Vernichtung derjelben durch den Sieg der abjoluten Sfepfis war das Fiel 
Boltaired. Daher fonnte die Revolution den Widerjpruch des religiöjen Gewiſſens 
gegen den allmächtigen Staatswillen weder begreifen noch zulaſſen, ſo wenig wie der 
Deſpotismus Ludwigs XIV. In gleicher Weiſe wird die zum Prinzip erhobene reli— 
giöſe Negation überall und allezeit zur Mißachtung des Gewiſſens und zum Kultus 
der Staatsallmacht führen. 
Auch die Naturreligion kann trotz ihres Programms der allgemeinen Bruderliebe 
zur wahren Toleranz nicht gelangen. Je überzeugter fie von ihrer eigenen Vortreff— 
lichkeit, Allgenugjamfeit und von ihrer einleuchtenden Vernünftigfeit ift, um jo unver: 
nünftiger und gehäffiger muß ihr der Widerjpruch derjenigen Vertreter der alten Re— 
ligionen erjcheinen, welche ihre „veralteten* Dogmen und Einrichtungen fejthalten und 
den Anbruch des neuen Welttags hindern wollen. Nur auf den Trümmern der alten 
Kirchen fann der Tempel der neuen Humanitätsreligion auferbaut werden. Die Na- 
turreligion führt daher wie die Skepſis nicht zu einer Verföhnung der Religionen, jon- 
dern zum Kampf gegen alle Religionen. Sie treibt Propaganda wie jede gejchichtliche 
Religion und ift um fo intoleranter, je fiegesgewiffer fie fich fühlt. 
Unfer Jahrhundert Hat mit einem ſcharfen Gegenjag gegen die Aufklärung jeinen 
Anfang genommen. Die durch die Romantik hervorgerufene Bewegung auf das Hiſto— 
riiche in Recht, Kunft und Glauben fand unter dem furchtbaren Drud der Weltkriege, 
in der Zeit der jchweren Not ihre religiöje Vertiefung. Da zog e3 das Volk zu den 
alten, von der Aufklärung verworfenen Heiligtümern. Nicht in den froftigen Hallen 
des Vernunfttempels, fondern in der bunten Dämmerung gotijcher Kirchen hatte die 
Bolfsfeele Troft und Beruhigung, Ergebung und mutige Entjchlüffe gefunden. Bibel 
und Geſangbuch nahmen wieder bie Stelle im Haufe ein, aus welcher He die Litteratur 
der Aufklärung verdrängt hatte. , 
Wir würdigen diefen Umſchwung der Volksſtimmung am eheſten, wenn wir nicht 
auf Die Urheber der religiöjen Erwedung, fondern auf Männer bliden, welche ihrer 
gungen Lebengrichtung nad) den eigentlich frommen Sreifen fern ftanden. Goethes 
bhandlung „Israel in der Wüfte*, welche um die Wende des Jahrhunderts abgefaht 
wurde und 1820 in den Anmerkungen zum wejtöftlichen Divan erjchien, erfennt in dem 
Kampf zwijchen Glauben und Unglauben das „eigentlichte und tieffte Thema der Welt- 
eſchichte“. Sie findet die Zeiten, in welchen der Glaube herricht, „glänzend, herzer- 
bebend, fruchtbar für Mit- und Nachwelt“ und wendet fich mit Widerwillen von den 
„unfruchtbaren Perioden, in welchen der Unglaube vorübergehend einen kümmerlichen 
Sieg behauptet“. Gewiß darf man hier das Wort „Glaube“ nicht im Sinne eines 
kirchlichen Bekenntniſſes verftehen. Aber wie abjtraft und allgemein man dasjelbe auch 


Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 905 


faffen mag, jedenfalls will der Dichter nicht Voltairejche Skepfis, ſondern religiöfe Ge- 
wißheit, zuverfichtliches und energijches Ergreifen eines religiöfen Ideals al3 dasjenige 
preijen, was den Bölfern frommt. Und dieje Anſchauung ijt bei Goethe in fpäteren 
Sahren immer klarer und bejtimmter geworden. Er, der jich früher einen „dezidierten 
Nichtchriſten“ genannt hatte, der der Taufe von Schillers Sohn nicht beiwohnen mochte, 
„weil ihn folche Zeremonien gar zu ſehr verftimmten“, befennt gegen das Ende feines 
Lebens: „Mag die geiftige Kultur nur immer fortjchreiten, mögen die Naturwifjenfchaften 
in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachjen und der menjchliche Geiſt fich er- 
weitern wie er will, über die Hoheit umd fittliche Kultur des Chriſtentums, wie es in 
den Evangelien jchimmert und leuchtet, wird er nicht Hinausfommen." Solche An— 
fchauung läßt wohl Zweifel zu an der gejchichtlichen Ausgeftaltung diejes oder jenes Dog— 
mas, nicht aber an dem ewigen Wert, der Allgenugjamfeit und dem weltgejchichtlichen 
Beruf des Chriftentums. Der echte Ring, der nach Nathans Anficht nicht mehr zu 
ermitteln war, hatte fich in der Zeit der großen ah dem deutjchen Volfe bewährt. 

Mit dem Erwachen des hiſtoriſchen Verjtändniffes war vie Naturreligion jo gut 
wie das Naturrecht gerichtet. Man erfannte, daß das angebliche Gemeingut des ge— 
funden Menfchenverftandes nicht anderes war als ein Reſt der religiöfen Tradition, 
dab die Meinung, die Dogmen der Naturreligion jeien von aller Offenbarung unab— 
hängig, eine Illuſion war. Nathans rhetoriihe Frage: 

Sind Chriſt und Jude eher Chriſt und Jude 
Als Menſch? 


wird nach der hiſtoriſchen Anſchauung unſeres Jahrhunderts zu bejahen ſein. In der 
Entwickelung des einzelnen wie der Völker iſt das Beſondere, Konkrete früher als 
das Abſtrakte und Allgemeine. Das reine Humanitätsideal exiſtiert überhaupt nur in 
den geſchichtlich gegebenen Geſtaltungen des religiöſen Lebens und ſoll nicht gegen dieſe, 
ſondern in ihnen zur Vollendung gebracht werden. Wer wie Goethe nach reiner, voller 
Ausgeſtaltung des Menſchlichen —* muß wie er zu der Ehrfurcht vor der Tradition 
gelangen, die ſich in den Worten ausſpricht: 
Ein friſcher Quell, in dem ich bade, 
Heißt Ueberlieferung, heißt Gnade. 

Die große Reſtauration im Beginne unſeres Jahrhunderts hat den Beweis geliefert, 
daß keineswegs mit der Lebendigkeit und Energie des religiöſen Lebens auch die Into— 
leranz wachſen muß. Dieſelbe Epoche, in welcher die deutſchen Proteſtanten mit feu— 
riger Begeiſterung die Jubelfeier der Reformation begingen, ſah die Wiederherſtellung 
des Kirchenſtaats durch die europäiſchen Mächte, die Emanzipation der Katholiken in 
England und die romantiſche Schule in Deutſchland. Das katholiſche Deutſchland, 
welches ſeit der Reformation ein Sonderleben geführt hatte, abgetrennt von dem Strome 
der nationalen Kultur, trat in dieſem Momente wieder ein in die wiſſenſchaftliche und 
litterariſche Bewegung der Nation. Goethe reichte den Boiſſerées die Hand und vertiefte 
fi) mit ihnen in das bewundernde Studium mittelalterlicher Kunſt. Er, deſſen italie— 
niſche Reiſe mit Gleichgültigkeit oder Spott an dem katholiſchen Kultus vorübergeht, 
kann jetzt in der ——— Schrift über das Rochusfeſt zu Bingen mit Sympathie 
und Wohlwollen in das katholische Volksleben eingehen. 

Die poetifchen Stimmungen der romantifchen Periode berühren uns heute wie 
Klänge aus einer fremden Welt. Aber die Grundanjchauung der Romantik, der Re— 
jpeft vor der Gejchichte, ihr gejunder Realismus ift noch heute die Grundlage aller 
fortfchreitenden Entwidelung in Wifjenschaft und Leben. Daher find die Verfuche des 
jelbjtzufriedenen, die Gejchichte meifternden Menjchengeiftes, eine bequeme Allerwelts- 
religion aus fich zu produzieren, heutzutage bei allen Gebildeten, Gläubigen wie Un— 
gläubigen, in Mipfredit. Unſer Jahrhundert fennt feine Naturreligion. Es gibt jich 
nicht der Illuſion Hin, wenn die hiftorifchen Formen der Religion untergehen ſollten, 


0906 Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 


an deren Stelle eine reinere, höhere Menjchheitsreligion jegen zu können. Wer heut- 
zutage gegen die gejchichtlichen Neligionen kämpft, greift die Religion überhaupt an und 
hält das allmähliche Verfchwinden derjelben für eine unvermeidliche Folge der wachjen- 
den allgemeinen Kultur. Gewiß würde ein vollitändiger Sieg des Indifferentismus 
die einfachjte Erledigung der Toleranzfrage fein. Nur wäre zu Türchten, daß die völlige 
Vernichtung aller religiöfen Ideale eine Entfejjelung der Selbjtfucht herbeiführen würde, 
welche noch viel größere Gefahren für den öffentlichen Frieden in ſich ſchlöſſe als die 
religiöjen —— Aber ſelbſt der perſönlich religionsloſe Beobachter unſeres Volks— 
lebens wird nicht der Anſicht ſein, daß dieſe Löſung der Toleranzfrage in naher Aus— 
N t ftehe. Sobald eine religiöfe Frage Katholiken und Proteftanten ergreift, erheben 
ich auf beiden Seiten nicht nur die regelmäßigen Kirchgänger, jondern alles Volk teilt 
ſich, gruppiert fich nach religiöfen Gefichtspunften. Kein Zweifel, das Chriftentum ift 
nod) heute die Religion des deutſchen Volks. Da aber Katholifen und Proteftanten 
das Chrijtentum nur in der Form ihrer Konfeſſion fejthalten Fönnen, jo muB der 
Gegenſatz diefer Konfefjionen ein dauernder fein, und es bejteht Feine Aussicht, denfel- 
ben, wie das 18. Jahrhundert durch die Naturreligion anjtrebte, in einer höheren Ein- 
heit zu überwinden. Niemals ift diefer Gegenſatz jchärfer gewejen al3 in unjern Tagen. 
Die katholiſche Kirche hat ihr Autoritätsprinzip bis zu einem Grade ausgebildet, welcher 
feiner Steigerung mehr fähig ift, während innerhalb des Protejtantismus die Unge- 
bundenheit der religiöjen Subjektivität in einer Weife zugenommen bat, welche die Re— 
formatoren mit Entjegen erfüllt haben würde. Die Katholifen jehen in diejer Ent: 
widelung die Selbjtauflöfung des Proteftantismus, einen Beweis für die Unentbehrlichkeit 
der Autorität in Religionsſachen, eine Aufforderung zu rühriger Propaganda. Daher die 
Verjuche, die erhebendjte und ruhmvollfte Periode der neuen Gejchichte zu fäljchen, die 
Reformation in ihrem Urfprunge und ihren Führern herabzuwürdigen und dadurch dem 
deutjchen Volke den Auf zur Umkehr annehmbar zu machen. 

In politischer Beziehung hat diejer verfchärfte Gegenjag beider Konfeſſionen jeinen 
Ausdrud gefunden in der Bildung der Zentrumsfraktion und dem Kulturfampf. 

Gleichzeitig mit der Gründung des Reiches wurde der Verjuch gemacht, eine fatho- 
liche Oppofition gegen die Reichspolitif zu organijieren und dadurch die letztere in 
ähnlicher Weife zu lähmen, wie die im alten Neichstag durch die „itio in partes‘ 
geiheben war. Die Bildung der Zentrumsfraftion beruhte auf der Vorftellung, daß 

as meue — eine Gefahr —* den Katholizismus ſei. Nichts konnte ihr willkommener 

ſein als der Kulturkampf, der die Richtigleit jener Vorausſetzung in den Augen des 
katholiſchen Volks erhärtete. Wir ſind desſelben heute ſo gründlich müde, daß ſelbſt 
den Namen zu nennen, einige Ueberwindung koſtet. Und doch können die begangenen 
Fehler nicht oft genug aufgedeckt werden, damit ſie womöglich nicht ſobald wiederholt 
werden. 

Die gewaltigen Ereigniſſe des Jahres 1870 hatten einem ſtaatloſen Volke einen 
Staat gegeben, und es ijt begreiflich, daß der mächtige Eindrud diefer Umwandelung 
eine Ueberjpannung des Staatsgedanfens, eine Ueberihägung ftaatlicher Macht zur 
Folge hatte. In dem Augenblid, wo der Katholizismus den äufßerften Grad von Zen- 
tralijation und die höchfte Konzentration feiner Kraft erreicht hatte, wurde er von dem 
preußijchen Staate mit voller Wucht angegriffen. Die zweifelloje Gefahr der durch das 
Bentrum vertretenen Tendenzen wedte den Wunjch, eine allmähliche Umftimmung der 
von dem Klerus abhängigen Mafjen durch eine Umbildung des Klerus im nationalen 
Sinne vorzubereiten. Dazu wollte der Staat den geiftlichen Stand in jeine Botmäßig- 
feit bringen, indem er die Entjcheidung über Anftellung und Abjegung der Geiftlichen in 
legter Injtanz für fi) anſprach. Ein Teil der nach katholischer Anſchauung unzweifelhaft 
dem Papſt zuftehenden Disziplinargewalt follte einem aus preußifchen Beamten zuſam— 
mengejegten königlichen Gerichtshofe übertragen werden. Wie einft die franzöſiſche Revo— 
fution, in Ueberjchägung ihrer eigenen Macht, die „eonstitution civile du clerge“* durch- 


Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 907 


führen wollte, jo glaubte der an die Spige Deutſchlands geitellte preußijche Staat mit 
Staatlichen Zwangsmitteln eine Reformation des Katholizismus durchjegen zu können. Es 
war ein von vornherein ausfichtslojes Unternehmen. Denn, wenn es dem Papjttum im 
Beginn diefes Jahrhunderts gelungen war, eine mächtige Geiftesbewegung innerhalb der 
Kirche, welche auf eine nationale Form des religiöjen Gemeinjchaftslebens drängte, zu 
unterdrüden, jo mußte es noch viel leichter fein, einen von außen fommenden, mit rein 
äußerlichen Mitteln geführten Angriff zurüdzujchlagen. Der preußiſche Staat mußte denn 
auch zum erftenmal die Erfahrung machen, daß ein ganzes Syſtem von Gejegen unausge— 
führt blieb. Nur die Strafbeftimmungen und die Gehaltgentziehungen, nur das Aeußer— 
lichſte und Gehäffigfte der ganzen Maigefeggebung trat in Kraft; alle organijchen Beſtim— 
mungen, der ganze materielle Inhalt der Geſetze blieb ein Stüd Papier. Aber der Kultur: 
kampf Hatte die Folge, daß die Intoleranz Triumphe feierte. Der Staat mußte im 
Kampfe gegen Rom die ererbte Feindſchaft des protejtantischen Volkes gegen Nom auf: 
rufen. Weite Kreije ergriff das Gefühl, daß römischer Katholizismus und deutſche 
Neichötreue unvereinbar feien, daß es gelingen müſſe, jenen niederzumerfen, um das 
Neich zu erhalten. Die unvermeidliche Folge war die Zujammenjcharung alles katho— 
liſchen Volkes unter der Fahne des Zentrums, die Einnahme einer fejten Defenfivitel- 
lung des Katholizismus innerhalb des Reichs, von der aus nicht nur die Angriffe des 
Staats fiegreich zurüdgefchlagen, ſondern auch erfolgreiche Ausfälle gegen die Reichs— 
politif unternommen wurden. 

Der Sieg der Zentrumspartei mußte natürlich wieder die fonfejfionellen Leiden- 
fchaften innerhalb des Proteftantismus gewaltig aufregen, und daher folgte auf den 
Friedensſchluß zwifchen Preußen und Rom die Gründung des evangelijchen Bundes. 


Wenn die bloße Eriftenz der Zentrumspartei eine Gefahr für das Reich genannt 
werden muß, weil jie den inneren Gegenſatz, welcher dasſelbe durchzieht, organijtert und 
nad Möglichkeit verfchärft, jo kann diefer Vorwurf dem evangelischen Bunde ebenjowenig 
erjpart werden. In dem Aufruf zur Gründung desfelben wird als die Aufgabe bezeichnet, 
„in die weiteiten Kreife hinein die Ueberzeugung zu tragen, daß, wie auf der Reformation 
Deutjchlands gegenwärtige Kraft und Größe beruht, jo auch jeine Zukunft von dem jchließ- 
a vollen Siege des Evangeliums abhängt." Und an einer andern Stelle desjelben Auf: 
rufs werden alle zum Beitritt aufgefordert, „die von der Ueberzeugung durchdrungen 
find, daß allein der endliche Sieg der evangelifchen Wahrheit unjer Volk zur Erfül- 
lung feines weltgefchichtlichen Beruf auch —— befähigen kann“. Es wird alſo 
offen ausgeſprochen, daß der Katholizismus im deutſchen Reich mit Stumpf und Stiel 
ausgerottet werden muß, wenn Deutſchland einer glücklichen Zukunft entgegengehen ſoll. 
Kein Wunder, wenn auf die geräuſchvolle Agitation des evangeliſchen Bundes dann 
wieder in Trier eine Katholikenverſammlung folgte, welche in der Maßloſigkeit hierarchi— 
ſcher Anſprüche das Aeußerſte leiſtete. — 

So ſcheint die große Frage der Toleranz in unſerer Zeit und in unſerm Bolfe 
weiter denn je von ihrer Löjung entfernt zu jein. Und doch find in unjerem Jahr: 
Zn die Grundlagen gelegt, auf welchen fich mit der Zeit durch die Natur der 

jerhältniffe eine gejunde Toleranz entwideln muß. Die Toleranz iſt nicht eine philo- 
fophiiche Anſchauung, jondern eine praktische Tugend. Sie kann nicht durch Deduftionen 
oftroyiert, jondern nur durch Uebung gewonnen werden. Der preußijche Staat iſt 
immer, wenn er ſich der Erfüllung jeines weltgefchichtlichen Berufs näherte, in den 
toßen entjcheidenden Momenten feiner Gejchichte auf die Toleranz als eine Frage 
einer Eriftenz hingewiejen worden. Friedrich der Große brachte ihm das Fatholijche 
Schleſien und Polen, und der durch die Freiheitskriege neugebildete Staat jah jr! vor 
der Aufgabe, die alte Pfaffengaſſe des Reichs jeinem Organismus einzuverleiben. Heute 
aber jtehen wir vor der Thatjache, daß das neue Reich aufgebaut iſt auf dem Grunde 
der Toleranz. In dem neuen Haufe, welches uns das Jahr 1870 erbaut hat, müjjen 


008 Ueber Toleranz im adhtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 


wohl oder übel Katholiken und Proteftanten in Frieden zufammenmwohnen, wenn fie 
nicht dieſes Haus ſelbſt niederreigen wollen. Nur unpatriotischer Peſſimismus kann 
daher an dem jchlielichen Durchbruch der Toleranz verzweifeln. 

Es ift zwar in der Litteratur des Kulturkampfes namentlich von gelehrter Seite 
vielfach darauf hingewieſen worden, daß der Katholizismus feiner Natur nach intole- 
rant und durch feine fundamentalen Prinzipien gehindert fei, die Berechtigung des 
Proteftantismus anzuerfennen. Haarjträubende Zitate aus päpftlichen Bullen, aus den 
Schriften römifcher Theologen und Kanoniften dienen als Belege diefes Satzes. Aber 
die deutjche Politif hat nicht mit den offiziellen Theorien der firche jondern mit den 
thatfächlich vorhandenen Gefinnungen der deutjchen Katholiken zu rechnen. Wären 
beide identifch, jo würde man dazu fommen müſſen, entweder die Vernichtung des 
Katholizismus anzuftreben, oder die Gründung des Reiches als einen Mißgriff zu bes 
lagen. Aber die Thatjachen der Gefchichte find mächtiger al3 jene Theorien. Katho— 
fische und proteftantifche Reichsſtände haben den Weitfälifchen Frieden gehalten troß 
des Widerjpruches der Kurie gegen die Toleranzbeftimmungen desfelben. Heute wird 
von den jchroffiten Slerifalen wohl die ſchrankenloſe Macht der Kirche über Glauben 
und Denken der Katholifen beanjprucht, nicht aber die Wiederherftellung des kirchlichen 
Keerrecht3 angeftrebt. Das immer wiederholte Verweifen auf die Unverjöhnlichkeit 
zwijchen dem fatholifchen Prinzipe und den Einrichtungen des modernen Staats kann 
nur dazu dienen, die proteftantijche Intoleranz anzuftacheln, welche immer bereit ift, 
den Katholizismus als Antichriftentum zu perhorregzieren und den Frieden mit dem— 
jelben für unmöglich zu erflären. 

Beide Konfejfionen müfjen in der politischen Gemeinjchaft Duldung und Schonun 
lernen. Sie müfjen vor allem den Befigftand ehren und innerhalb des Reiches Pe. 
Propaganda verzichten. Es ijt ja flar, daß eine gründliche Aenderung der bejtehenden 
Befigverhältniffe nur durch eine große Umwälzung bewirkt werden könnte, welche fein 
Menjch herbeiführen fann. Was frommt es da, gelegentlich im Trüben zu fiſchen und bei 
Eingehung gemijchter Ehen, im Unterricht oder in * Krankenpflege hier und da einen 
kleinen Profit zu machen. Die katholiſche Kirche muß ſich ſagen, daß eine Bekehrung 
im großen innerhalb Deutſchlands ſchlechterdings undenkbar iſt, und die Proteſtanten 
werden begreifen, daß es widerfinnig ift, im deutjchen Neiche, von deſſen Bevölferung 
ein Drittel fatholifch ift, den alten Toryruf „no popery“ erjchallen zu laſſen. Die 
Katholifenverfammlungen und der evangelische Bund find nur Nachwehen des Kultur 
fampfes. Die große Lehre desfelben aber ift, daß jeder Mißbrauch der proteftantijchen 
Majorität zur Bekämpfung des Katholizismus die Grundlagen der Macht und Einheit 
unjeres Baterlandes gefährdet. Die Proteftanten müſſen ſich gewöhnen, auch das— 
jenige, was ihnen an den katholiſchen Mitbürgern unchriftlich, abjurd und ſtaatsge— 
fährlich erjcheint, mit Gleichmut zu ertragen. Wer überhaupt auf beiden Seiten für 
die chriftliche Neligiofität unjeres Volkslebens eintreten will, muß ſich bei der That- 
jache beruhigen, daß die Doppelgeftalt derjelben nach menjchlichem Ermefjen unver: 
ändert bleiben wird. 

Sehr wejentlic für die Uebung in der Toleranz ift die Gemeinfchaft politischer 
und jozialer Arbeit für allgemeine nationale Interefjen. Nichts ift daher beflagens- 
werter, al3 wenn, wie die jüngſte Katholifenverfammlung wieder proffamiert hat, aud) 
die ſozialpolitiſche Thätigkeit ausſchließlich für die Kirche in Anſpruch genommen wird. 
Das Schreien der Ultramontanen gegen die Staatsomnipotenz entſpringt ja nur ber 
Neigung, den Staat in mittelalterlich-ſcholaſtiſcher Weiſe als das Reich des Fleiſches, 
als eine Inftitution äußeren Zwanges ohne eigene fittliche Ideen Hinzuftellen, weil 
dieſer entſittlichte Staat die Impulſe ſeines Handelns nur bei der Kirche ſuchen kann. 
Jede Steigerung der ethiſchen Aufgaben und Ideale des Staatslebens iſt eine Be— 
fümpfung der Intoleranz. Der Staat ift ja nicht, wie ihn die Ultramontanen immer 
hinjtellen möchten, ein großes Ungeheuer, welches die Kräfte des Volkes ausfaugt und 


Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzchnten Jahrhundert, 0909 


dasjelbe feine Fauſt fühlen läßt, jondern er ift nichts anderes als das Wolf felbit, 
nur nicht als Mafje, jondern organijiert und im diejer Organifation handelnd. Die 
Betonung dieſer Organijation, die Ausdehnung jtaatlihen Wirfens in der Fürſorge 
für materielle und fittliche Interefjen, furz alles das, was als „Staatsjozialismus“ 
und „Staatsomnipotenz“ perhorresziert wird, ift um jo unerläßlicher, je mehr die reli— 
idfen Gegenſätze auseinanderreigen. Denn nur im jtaatlichen Handeln wird fich das 

olk jeiner Einheit bewußt. Aber auch außerhalb der politiihen Organijation muß 
jede gemeinfame Arbeit, zu welcher materielle oder fittliche Notitände auffordern, ein 
Band des BVerjtändnifjes und der Sympathie um die getrennten Konfejjionen jchlingen. 
Se) weite gemeinnüßige Vereine wirfen in diefem Sinne. Jedes erfannte allgemeine 

ebürfnis predigt und wirft Toleranz. Es fommt nur darauf an, daß dieſer natur- 
gemäßen Entwidelung nicht abjichtlich entgegengearbeitet werde. 

Das religiöje Leben muß bei gejunder Entwidelung die Antriebe zur Toleranz in 
fi jelber finden. Der Gläubige muß im Intereſſe des Glaubensprinzips fordern, 
dat die Wahrheit nur mit dem Gewiſſen erfaßt umd niemand aufgedrungen werde. 
Die Wahrheit der Religion fann nie bewieſen werden. Ihr Eindrud iſt ein unmittel- 
barer wie der der Schönheit. Daher gleicht der Glaube nicht dem Erfennen des 
Aal sig jondern dem Anjchauen des Künſtlers. Er kann nicht oftroyiert werden. 

n einer Zeit, wo jede religidje Weltanſchauung fich in ftetem Kampfe zu behaupten 
hat, fann Milde in der Beurteilung fremder Ueberzeugungen nicht jchwer fein. Das 
Streben nach Wahrheit, auch wo e8 im Srrtum verjtridt ift, muß dem wahrhaft 
religiös Gefinnten jo ehrwürdig fein wie Lejjing, wenn er auch nicht wie diejer das 
Suchen über das Finden, den Zweifel über die Gewißheit jtellt. 

Das achtzehnte Jahrhundert wollte durch die Aufklärung eine Ueberwindung der 
religiöfen Werjchiedenheiten, eine Verbrüderung der Menjchheit herbeiführen. Unſere 
Zeit faht die Aufgabe enger und befcheidener. Sie erftrebt nicht die Berbrüderung der 
Menſchheit, jondern die Duldung innerhalb eines Volkes. Die Toleranz ift uns eine 
nationale Aufgabe. In ihrer politischen Notwendigkeit liegt die Bürgjchaft des ſchließ— 
lichen Sieges. Denn jo gewiß wir bejjen find, daß das Deutjche Reich notwendig 
war und bleiben muß, jo ficher können wir darauf rechnen, daß dasjelbe die Hindernifje 
feiner Entwidelung, welche aus dem Gegenjaß der Konfejlionen jtammen, überwinden 
wird. Wenn aber die Aufgabe in ihrer nationalen Form und Beſchränkung gelöjt 
wird, jo muß dadurch auch das Ideal der Humanität, um welches Aufklärung und 
Naturreligion fich vergeblich bemüht haben, jeiner Verwirklichung näher gebracht werben. 


Nahjchrift der Redaktion: Im diefen jehr beachtenswerten Ausführungen 
jcheint uns einiges ftärferer Betonung zu bedürfen. Der unparteiifchen Betrachtung 
des Herrn Verfafjers entgeht es nicht, daß die Toleranz eine Frucht ift, welche nur 
auf dem Boden des evangelifchen Glaubens freiwillig gedeiht, dem Katholizismus 
aber abgezwungen werden muß. Daraus ergibt ſich ohme weiteres, daß die Auf— 
rechterhaltung des evangelifchen Befititandes in Deutjchland das einzige Mittel ift, 
um den Frieden zwifchen den beiden chriftlichen Bekenntniſſen zu fichern. Augenblicklich 
liegen nun die Verhältniſſe jo, daß fich die evangelifche Kirche (wenigſtens Preußens) 
in wichtigen Lebensbedingungen gehemmt ſieht. Sie hat PVerfehlungen an ihren 
eigenen Gliedern wieder gut zu machen; fie hat fich den völlig veränderten joztalen 
Verhältniſſen anzupafjen; fie hat auch wenigftens jo viel Freiheit zu erwerben, daß 
fie die Leugner ihrer Grundwahrheiten, alſo ihrer Erijtenzberechtigung, nicht als ihre 
amtlichen Vertreter anzunehmen braudt. Mißlingt ihr die Erfüllung dieſer Aufgabe, 
jo wird die Folge fein, daß ihre Mitbewerberin, deren propagandijtiiche Thätigkeit 
in Deutjchland nicht abgeleugnet werden kann, auch der Zahl nach zunimmt, wie fie 


910 Ueber Toleranz im achtzehnten und neunzehnten Jahrärhundert. 


ihr an Ehre und FFreiheit ſchon jet überlegen ift. Jede Zahlenverjchiebung zu guniten 
der grundjäglich intoleranten, nur unter zwingenden Verhältnifjen duldjam auftretenden 
römischen Kirche vermindert die Möglichkeit eines friedlichen Zufammenwirfens der 
beiden chriftlichen Belenntniffe. Wer aljo auch nur eine Kleine Hilfe leiftet für das 
Gedeihen und den Bejtand der evangelischen Kirche, der handelt patriotiſch. Und in 
diefer Beziehung wollen wir weder das Scherflein, das dem „Bujtav- Adolf Verein“ 
oder dem „Sottesfaften“ gejpendet wird, noch die brüderliche Mahnung an einen in 
emifchter Ehe lebenden Glaubensgenofjen gering achten. Das Schimpfen und be- 
eidigende PVoltern gegen Andersgläubige um ihres Glaubens willen haben wir als 
unevangelijch zu betrachten, während wir, jollte fie für Ehre und Beitand unfrer 
evangelischen Kirche nötig fein, jelbjt die Verteidigung mit der Waffe weder für unchriftlich, 
noch für intolerant, noch für unpatriotiich anjehen können. Das deutjche Reich muß 
zu zwei Dritteln aus Evangelifchen bejtehen, oder das deutjche Reich, unfre Kirche 
und die Toleranz werden überhaupt nicht beitehen. 
Sollte dieje unfre Anficht von den hier nicht ausgejprochenen Anſchauungen des 
errn Verfafjerd abweichen, jo wiſſen wir un® doch in der Hauptjache mit ihm völlig 
eins und find ihm für manches treffende zeitgemäße Mahnwort dankbar. 


WERTELMERZENEEELNNERTEN 





Ein Pertrag.” 
Roman 
bon 


Siegfried vom BooR. 





Nachrichten aus Pfeifersheim. 


In früheren Zeiten war Pfeifersheim ein fürftliches Luftichlößchen gewejen in der 
Nähe einer nachmals föniglichen Nefidenzftadt mit lebhaftem Fremdenverkehr. Einge— 
weihte gaben dem an ie Landfig jpäter jenen Namen. Das Gebäude im Ge- 
ſchmack der Spätrenaiffanee bildete drei Flügel, hatte einen geräumigen Söller, von 
wilden Wein umrankt, und war gekrönt mit einem turmartigen Objervatorium. Es 
lag in einem von hoher Ringmauer umjchloffenen, ausgedehnten Garten mit Blumen- 
rondells, jchattigen Bosketts, lauſchigen Plägchen und Laubgängen, Hügeln, Spring: 
brunnen und einem unter Röhricht und Schilf halbverftekten Teich, belebt von Schwimm- 
vögeln. Schwere eiferne Thorflügel geftatteten den Zugang zum Haufe. Hier bot in 
einem Winkel der Umfafjungsmauer ein von alten Akazien befchatteter Brunnen den 
nötigen Waflerbedarf dar. 

Unter den zahlreichen Räumen im Innern des weitläufigen Gebäudes gab e3 ein 
elliptiich geformtes, behagliches „Schäferftübchen“, das feiner mit Schäferidyllen ge- 
ſchmückten Tapete dieſe Bezeichnung verdanfte. Den Stolz des Haufes bildete ein jehr 
— Muſikſaal, ausgezeichnet durch ſchöne griechiſche Larven in den vergoldeten 

iſchen einer tiefen Hohlkehle, welche der Decke das Ausſehen eines Halbgewölbes 
verlieh. Büſten deutſcher Muſiker ſchauten von den Wänden herab auf geſchnitzte 
Möbel, Muſikinſtrumente und Notenpulte. Ein Kamin vollendete die Ausjtattung, 
‚welche, frei von jchweren Stoffen, die trefflichen Klangverhältniffe des Saales nicht 
beeinträchtigte. 

Die Gejellichaft, welche Pfeifersheim zur Zeit bewohnte, war eben vollzählig am 
Kamin verfammelt und in ernſter Beratung begriffen. Das fladernde Kaminfeuer 
milderte die Kühle des herbftlihen Tages. Es beleuchtete drei junge Herren und ihre 
—— die, auf Seſſeln ruhend, einen Halbkreis bildeten. Am Kaminſims lehnte 

err Pfeifer, der Hausvater. Er hielt in der rechten Hand einen entfalteten Brief. 

„Wir beide ſind ſchlüſſig geworden,“ ſagte er mit einem freundlichen Blick auf 


) Wir glauben dieſen Roman ber Beachtung unſerer Leſer beſonders empfehlen zu dürfen. 
ie Redaktion. 


912 Ein Vertrag. 


feine Gattin, welche das würdige Haupt bejtätigend neigte. „Aber die Umstände find 
ja fo ungewöhnlicher Art, daß es uns geboten erjchien, die Meinung unjerer lieben 
Pflegeſöhne darüber fennen zu lernen.“ 

„Vielleicht mag fein, daß wir genießen viel Vergnügen von einem jolchen Gentle- 
man,“ bemerkte Francis mit englifchem Accent und warf Holzjcheite in die Flammen. 

„Er wird doc nicht gar tobjüchtig fein oder unſere Gemütlichkeit durch Ausbrüche 
feines Nervenleidens jtören?“ fragte Kur beforgt, indem er nad) feiner Gewohnheit 
das rechte Ohrläppchen mit den Fingerſpitzen rieb. 

Herr Pfeifer ließ fich auf einen Sefjel nieder, brachte den Brief in die Kamin- 
beleuchtung und las die folgenden Sätze daraus vor: 

„Ueber die Unjchädlichfeit feiner Geiftestrübung, geehrter Herr, vermag ich Cie 
völlig zu beruhigen. Aus gelegentlichen Bemerkungen der Mutter, einer feinfühlenden 
Frau von ariftofratifcher Geburt und Gefinnung, konnte ich jchliegen, daß die Erziehung 
ihres Sohnes von verhängnisvollen Fehlgriffen nicht frei geblieben ſei. Beſonders hat 
man der ſeltſamen Hinneigung meines interejjanten Patienten zu vorzeitigen philojophijchen 
Grübeleien nicht gewehrt, als er noch mit fo ſchwerer Koft verjchont werden mußte. 
Sein jeliger Vater war mit Johann Gottlieb Fichte befreundet, als dieſer Philoſoph 
in Zürich lebte, der Vaterjtadt meines Patienten. Herr Hinrich Freifinger las nun 
manche Fichtefche Schriften, die er in feines Vaters Bücherei entdedte. In einer diejer 
Schriften meint Fichte, nad) den Forderungen der praftiichen Vernunft müſſe Gott jich 
jedem einzelnen Menjchen durch finnfällige Offenbarungen als moralifcher Weltregent 
erweien, wenn der Fall eintreten fünne, daß in einem allgemeinen fittlihen Auin der 
Menjchheit alle moralifchen Begriffe verloren gingen. Herr Hinrich hat ſich nun ein- 
gebildet, diefer Fall jei wirklich eingetreten, die Menjchheit leide, wie er ſich ausdrüdt, 
an einer allgemeinen Seelenjchwindjucht. Er behauptet hartnädig, Offenbarungen des 
moralifchen Weltregenten empfangen zu haben in den abjonderlichiten Bifionen. Was 
dieje ihm aber recht eigentlich bedeuten wollen, das fünne ihm nur die Geſamtwiſſen— 
ſchaft eines — Philoſophen und ſeelenkundigen Arztes erklären. Alle Verſuche, 
ihn zu geſunderen Anſchauungen zurückzuführen, regten ihn ſo bedenklich auf, daß ich 
bald beſchloß, aus Schonung davon abzuſtehen. 

„Aus meiner Zurüdhaltung zog er aber den irrigen Schluß, als Habe er mich 
durch jein Beweisverfahren vollends überwunden und mundtot gemacht. Seine grund» 
ehrliche, oft reichlich naive Offenheit hat mir dieje jeine Anficht auch feineswegs ver- 
hehlt. Und um gefährliche Erregungen zu vermeiden, laſſe ich ihn bei feiner Anficht. 

„Wie ich weiter oben bemerkte, jegen wir, Frau Freifinger und ich, fo auch der 
franfe Eohn unfere legte Hoffnung darauf, die gefuchte Hilfe endlich in dem Zauber 
zu finden, mit welchem die ſchöne Kunst fchon manches Problem gelöft hat, an dem 
alle aufgewendeten Mittel der Seelenheilfunde fcheiterten. Herr Hinrich Freifinger 
ſieht jelbjt die Notwendigkeit ein, zur Einleitung feiner Zukunft fich für einen Beruf 
vorzubereiten. eine wohllautende Baritonftimme, die mir freilic) der Entwidelung 
durch die Zucht der Echule noch jehr zu bedürfen fcheint, hat ihn auf den Gedanken 
gebracht, Sänger zu werden. Und vermöge der Starrheit feines Charakters hält er 
nun an diefem Vorſatz jo feit, daß ich die bedauerlichiten Folgen befürchte, wenn nicht 
wenigjtens der Verjuch gemacht wird, ihn zum Sänger auszubilden. Ich fann nur 
meine Ueberzeugung wiederholen, daß ich feinen Aufenthaltsort zu entdeden vermöchte, 
der für die Zufunft meines Pflegebefohlenen fo — zu werden verſpräche als 
Ihr Haus, geehrter Herr. Eine Aufnahme des ſonderbaren Hausgenoſſen iſt ja freilich 
mit Schwierigkeiten verfrüpit, wie weder ich noch die befümmerte Mutter verfennen. 
Aber nicht nur an dem ungewöhnlich begabten jungen Manne, jondern auch bejonders 
an Frau FFreifinger würden Cie ein Werk der Barmherzigkeit üben, wenn Sie und 
Ihre hochgeihägte Frau Gemahlin fich entjchliegen könnten, dem leidenden, aber keines— 
wegs unliebenswürdigen Sohn Ihr Haus und Herz zu Öffnen.“ 


Ein Vertrag. 913 


„Aus diejem Bericht des Arztes geht aljo joviel hervor, mein lieber Kurd,“ fügte 
der Hausvater hinzu, „daß der Charakter des jungen Hinrich Freiſinger uns feinen 
en zu Bejorgniffen für die Ruhe und Gemütlichkeit unferes Zuſammenlebens geben 
önnte.“ 

„Nun Henning, was meinen Sie,“ wandte ſich jetzt die Hausmutter an den ſchlan— 
ken, blonden Jüngling, der bisher mit dem Schüreiſen in den kniſternden Kohlen des 
Kamins geſtochert und beharrlich geſchwiegen hatte, „was meinen Sie, iſt es nicht 
unſere Pflicht, anderen hilfreich und nützlich zu werden?“ 

„Natürlich, wenn es unſere Pflicht iſt, müſſen wir es thun,“ erwiderte Henning. 
„Nach dem Briefe des Arztes aber ſcheint es mir nicht leicht, den Querkopf wieder 
zurechtzurücken.“ 

„Wenn ihr uns dabei behilflich ſein wolltet,“ bemerkte pert Pfeifer mit einem 
Blick auf die drei jungen Leute, „jo würde der gemünjchte Erfolg an Wahrjcheinlichfeit 

ewinnen.“ 
> „Wir?“ fragten die Angeredeten wie aus einem Munde. 
„Indem ihr ihm Liebevoll begegnet, feine Schwächen jchont und ihm euch nicht 
entzieht, wenn er euren Verkehr jucht,“ erklärte die Hausmutter. 
„sch werde ihn zum Gegenstand pfychologijcher Studien machen,“ fagte Henning, 
wandte der Hausmutter jein geijtvolles Antlig mit leuchtendem Ausdrud zu — und 
lachte. Auch Kurd und Francis lachten. 
„Meint du, Henning,“ fragte Kurd, „er werde jich das gefallen laſſen?“ 
„Oder es werde ihn gejund machen, von Ihnen gebraucht zu fein für wijjenjchaft- 
liches Studium?“ ergänzte Francis. 
„Warum jollte ich meine Kenntniffe nicht zu bereichern juchen?“ gab Hennin 
zurüd. „Und wenn ich verjuchen joll, ihm an meinem Zeil mitzuhelfen, muß ich doc 
vorher wiljen, wo e3 ıhm fehlt und wie ihm zu helfen ſei?“ 
„Henning betrachtet die Dinge zu gern unter dem Gefichtspunft ihres perfönlichen 
Wertes“, mahnte Herr Pfeifer. „Doch mit feiner Abficht, den neuen künftigen Haus» 
genofjen gründlich fennen zu lernen, um günftig auf ihn eimwirfen zu fönnen, hat er 
vollflommen das Nechte getroffen. Und da ich auch von euch, Kurd und Francis, ähn— 
liches erwarten kann, wollen wir den Verfuch mit Hinrich Freifinger in Gottes Namen 
wagen. Noch heute werde ich den Arzt in diefem Sinne verftändigen.“ 
So fam es, daß Hinrich Freifinger einige Jahre unter forgfältiger Leitung in 
feifersheim zubrachte. An die ftrenge Zucht geordneter Gefangitudien war er zwar 
chwer zu gewöhnen. Aber die regelmäßige Beichäftigung und die Genugthuung, welche 
ihm ſelbſt erwuchs aus der Entwidelung feiner jchönen Baritonftimme und der fort- 
—— Einſicht in das Weſen der duh übte auf den in Unordnung geratenen 

rganismus ſeines Geiftes doc mit der Zeit einen günftigen Einfluß aus. Auch jchien 
e3 wohlthuend auf fein liebenswertes Gemüt zu wirfen, daß feine neuen Pflegeeltern 
ihm fogleich ihr Herz dÖffneten. Durch den gegenfeitigen Gebrauch des „Du” ent- 
fernten fie jede trennende Schranke, gewöhnten den Leidenden daran, fie ald „Vater“ 
und „Mutter“ zu betrachten und anzureden. 

Hinrich faßte auch ſchnell genug rücdhaltlofes Vertrauen und fuchte dies anfangs 
Dadurch zu beweifen, daß er ee „Bater“ in das Dogma von der allgemeinen 
Seelenſchwindſucht einweihte und ihm mit Eifer begreiflih zu machen juchte, fein 
moderner Sterblicher Fünne I Bas bereingebrochenen fittlihen Ruin der MenjchhHeit 
entziehen; deshalb müſſe alles Ringen und Streben, auf „die Höhe des Daſeins“ zu 
gelangen, al3 fruchtloje Mühe erachtet werden. Seine anfänglichen Verjuche, diefen 
Philojophen der freien Hand von feinen Mikverftändniffen duch Vernunftgründe zu 
heilen, gab auch Herr Pfeifer bald entmutigt auf, wie e3 zuvor Hinrichs Arzt ge- 
than hatte. 

Nicht jo ſchnell Tieß Henning, der an dem neuen Hausgenofjen ganz bejonders 


914 Ein Vertrag. 


febhaften Anteil nahm, fich von ähnlichen Befehrungsverjuchen abjchreden. Sein klarer 
Kopf, beherrſcht von thatkräftigem Willen, vermochte es durchaus nicht zu begreifen, 
dag Hinrichs Wahnvorjtellungen durch überzeugende Beweiſe nicht zu überwinden fein 
follten. Ganze Sommerabende jah man die beiden hohen Sünglingsgeftalten im Lichte 
des Mondes durch die gejchlängelten Gartenpfade wandeln. ee deſſen Stimme 
im Eifer hell und jchreiend zu werden pflegte, reizte den Troß des Gegners oft zu 
nicht minder heftigen Entgegnungen auf. Und endlich fteigerten fich dieſe wiederfehren- 
den Kämpfe zu einer Maplofigfeit, welche den Hausvater zum ernftlichen Einfchreiten 
nötigte. 

Seitdem befleißigte fich Henning im Gedanfenaustaufch mit Hinrich der Mäßi— 
gung. Aber als Herr Pfeifer am frühen Morgen nach feiner väterlichen Unterredung 
mit Henning in ſein Arbeitszimmer, das jogenannte Schäferjtübchen, trat, welches mit 
dem Wohngemach Hennings durch eine Thür verbunden war, fand er auf jeinem 
Schreibtiiche ein zufammengefaltetes Papier, auf dem von Hennings Hand gejchriebene 
Verſe ftanden. Die Ueberfchrift lautete „Erwiderung“ und als Motto war das Ariom 
des Herzogs de la Roche-Foucauld benußt: 


Tas Herz macht den Berftand zum Narren. 


gig Verſe aber, in halb verdrofjener, Halb launiger Stimmung gebichtet, lau— 
teten jo: 


Wem bei gewifien Dingen Der hat die „Seelenſchwindſucht“, 
Das Herz nod ruhig ſchlägt, Und wird fein braver Mann — 
Der zeigt, dab er dasſelbe „Auf feines Dafeins Höhe“ 

Um rechten Ort nicht trägt. Da langt er nimmer an 


Und wer in allen Lagen 
Gelafjen bleiben tann, 


Herr Pfeifer pflegte die geiftige Negjamkeit der ihm anvertrauten jungen —— da⸗ 
durch zu fördern und in gebahnte Geleiſe zu leiten, daß er den geſunden Neigungen 
und Eigenſchaften ihres Weſens Nahrung bot, welche ihnen ſelbſt ſchmackhaft war. Co 
hatte ſich zwiſchen ihm und ſeinem Zimmernachbar Henning ein ſtiller ſchriftlicher Gedanken⸗ 
verkehr in Verſen über die Ereigniſſe und Erfahrungen des häuslichen Lebens ein— 
erichtet, von dem nicht weiter efhrochen wurde. Henning pflegte in der gejchilderten 

eiſe feine Verſe heimlich auf des Hausvaters zarun u legen, und dieſer eriwi- 
derte fie in derfelben Weife. Wenn Henning aus den tä den Unterrichtsftunden des 
Gymnaſiums zurückkehrte, entdedte er auf feinem Schreibtitche ftet3 eine Antwort, welche 
den angeregten Gegenjtand behandelte. 

Bon he Strebjamfeit bejeelt, fuchte er jeine Kenntniffe auf allen ihm erreich- 
baren Gebieten des Wiſſens zu erweitern, alle in feiner reich außsgeftatteten Natur 
ſchlummernden Gaben zu entwideln. Angeregt durch Hinrichs muſikaliſche Studien, 
wünſchte Henning auch in das Weſen der ihm ferner gelegenen Tonkunſt Einblide zu 
ewinnen; und gern verjtand ich der Hausvater dazu, ihn in bie Geheimniffe bes 
onſyſtems einzuführen. Boten ihm doch die ſymboliſchen Seiten der Tonlehre will 
fommenen Xnlas, auf menjchlich-fittliche Ideale Schlaglichter fallen zu lafjen. Henning 
folgte ſolchen Fingerzeigen mit feinfühlendem Verftändnis. Doch er unterließ es nicht 
ti tadelnde Kritifen feines übereifrigen Betragens oder feiner weniger gelungenen 
muſikaliſchen Arbeiten mit —— ungsverſuchen in gewohnter Art zu beantworten. 
In einem ſolchen Fall fand Herr —* eines Tages wieder folgende beziehungs⸗ 
volle Verſe: 

Schlechte Gänge. 
Wenn frei die Jugend fi erfühnet, O zürnet nicht, wenn fie nur wieber 
Und vorwärts ftürmet unbedacht, * in feſte Schranken kehrt, 


Die Zügel ſprengt im Uebermute nd ihrem zügellojen Drange 
Und ohne Regel wilde Sprünge macht: Durch treucd Halten an der Regel wehrt. 


Ein Vertrag. 915 


Der junge Dichter las darauf bei feiner Nachhauſekunft die folgenden Glofjen des 
Hausvaterd als Antwort: 


Schönes Map. 

Die Jugend — ja, wenn fie nur wieder Doch wehe wenn mit trunfner Wonne 

Burüd in feite Schranfen kehrt, Des Werdens Luſt, bed Schaffens Kraft 

Und ihrem zügellojen Drange Sich im Gebraus der Lenzesftürme 

Durch treues Halten an der Regel wehrt! — Ziellos zerjplittert, rettungslos erſchlafft. — 
Wer ſchaute nicht mit ſtiller Freude Nur edles Maß ſchafft edle Meiſter; 

Des Waldbachs tollen Sprüngen zu, Dem Iuftgen Lenz folgt ernfter Herbit: 

Der, wenn er Schranken bat gefunden, m jhönen Maß nicht früh geübet, 

Zum Meere ftrömt in majeftät'icher Ruh: laub's, daß du nie die Meijterfchaft ererbit.. 


Auch an fonftigen Anregungen, wie fie jugendlichen Gemütern willlommen und 
angemefjen find, fehlte es nicht in Pfeifersheim. Eine häusliche Verfaffung mit Ord— 
nungsgejegen und Anftandsregeln, mäßige Gelditrafen, welche bei Uebertretungen der: 
felben in eine Büchfe für Arme und Kranke gelegt werden mußten, eine periodijche 
Haugzeitung, die „Pfeiferöheimer Plaudermappe“, in welche von jedem Hausgenofjen 
anonyme Beiträge vom fogenannten Redakteur aufgenommen wurden, geiftig anregende 
Gefelligfeit, gemeinjfame Borlefungen guter pafjender Bücher, mufifalifche Aufführungen, 
gelegentliche — Darſtellungen: all das durchdrungen von der belebenden Wärme 
chriſtlicher Geſinnung prägte der Häuslichkeit den Stempel deutſchen Familienlebens auf 
und übte auch auf Fremde, namentlich auf engliſche Landsleute von Francis, ſtarke 
Anziehung aus. 

In der glücklichen Behaglichkeit ſolcher anregenden Zuſtände ſchloſſen die vier 
jugendlichen ** Pfeifersheims ſich immer freundſchaftlicher aneinander an. Sie 
förderten ſich wechſelſeitig und genoſſen auch gern ihre geſelligen Erholungen zuſammen. 
Das gedankenvolle Schachſpiel zu viert gehörte zu ihren bevorzugten Unterhaltungen. 

Hinrich, um mehrere Jahre älter als ſeine drei Freunde, erwarb ſich in —* 
ragender Weiſe ihre Zuneigung, gewann aber auch durch ſein geradſinniges, feſſelndes 
Weſen und feine ftattliche Erſcheinung, wohl auch durch feine Sonderbarkeiten die Auf- 
merkſamkeit und Teilnahme der Freunde des BPflegeelternpaares, welche Pfeiferöheim 
mit ihren Befuchen — begünſtigten. — 

Doch nach Verlauf einiger Jahre, da die Lehrzeit der jungen Leute ihrem Ende 
nahte, kam der Tag der Trennung heran. von und Kurd beabjichtigten, ihre 
wifjenjchaftliche Ausbildung auf einer Hochjchule zu vollenden. Francis, der Fünftige 
Erbe eines Herzogstitels, Batte ſich für die diplomatische Laufbahn beftimmt und wußte 
eine Stelle im auswärtigen Amt für —* demnachſtigen Eintritt vorſorglich offen 
gehalten. Und Hinrich war ſeinem Entſchluß treu geblieben, nach erlangter Sicherheit 
in ſeinen Geſangſtudien, die ihn länger als die Freunde an Pfeifersheim feſſelten, 
Bühnenjänger zu werden. 

Nun * ſie zum letztenmal am Schachtiſch; Henning ſpielte die Partie mit 
Hinrich gegen Francis und Kurd. In der einfachen Ausſtattung des Raumes zogen 
griechülhe, lateiniſche Wörterbücher und Autoren, Zogaritgmen-Tabellen, Landkarten und 

pptologifche Werke die Aufmerkſamkeit an. Oberhalb der Sr prangte eine in 
ee auf Papier genau nachgebildete Darftellung eines Feitzuges, deſſen Urbild- 
eine Wand der Pyramide des Chufu oder Cheops aufweiſt. Auf den Fenſterbänken 
lagen und ftanden Manufkripte, getrodnete Pflanzen, a Präparate von 
Fröfchen in Spiritusgläfern, eine Schmetterlingsfchere mit einer Naphta-Phiole und 
eine Elektrifiermafchine in buntem Wirrwarr flüchtig zufammengefchichtet. Der Inhaber 
diejes Wohngemachs war Henning. 

Die Schachpartie hatte die vier ftarr auf die Wechjelfälle des Spiels gerichteten 
jugendlichen Gefichter mit dunkler Glut übergoffen. Henning und Francis, außer 
Thätigfeit gejeßt, verfolgten mit Spannung die Züge der beiden anderen, von denen 


916 Ein Vertrag. 


fie Erlöfung aus dem Bann erwarteten. Hinrich) war am Zug. Er Hatte viel mehr 
Figuren verloren als jein Gegner Kurd. Lange blieb er unſchlüſſig in Nachdenken 
verfunfen. Stille herrichte im Raum. Man vernahm nur ab und zu tiefe Atemzüge. 
E3 war ein fritifcher Augenblid. Zweimal ſchon hatte Hinrich jeine Königin zu einem 
Zug ergriffen; zweimal die Hand zweifelnd wieder zurüdgezogen. Jetzt verkündete 
ein hellaufleuchtender Blick feinen fchwergefaßten Entſchluß. 

„Werft das Scheujal in die Wolfsjchlucht! — matt wie eine Herbftfliege!“ trium- 
phierte Hinrich, indem er mit feiner Königin Kurds König matt jehte. 

„Bravo, Hinrich!“ rief Henning. 

Kurd verzog den Mund, rieb jein Obrläppchen und hatte angeblich den entjchei- 
denden Zug längft befürchtet. Als er diefe Behauptung äußerte, warf er die Figuren 
feine® Spiel3 untereinander. 

„Wenn du einjt auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, auch jo glüdlich 
fpielft, wie heute auf diefem Schachbrett, werde ich Dir zu Ehren einen unbefannten 
Planeten entdeden und ihn Hinrich FFreifinger nennen“ — wandte jich Henning an 
den jelbitzufriedenen Sieger. 

„Sch fürchte nur,“ Äußerte Kurd mit volllommener Ruhe, „daß es Ihnen einmal 
begegnen könnte, den Schleier der Donna Elvira für Ihr Taſchentuch zu Halten, wie 
Site vorher mit Ihrer Schwefelholzbüchje mir Schach bieten wollten.“ 

„Und wenn Sie auf der Bühne jich befinnen als lange als mit Ihren Schad)- 
leuten,“ meinte Francis, „jo bin ich ficher, das Planet wird unentdedt bleiben.” 

„Die Hefe jchäumt,“ rief Hinrich und jegte Kopf und Schulter in nervös erregte, 
zudende Schwingungen. „Euer Spott quirlt hervor aus dem Bodenſatz eurer Phililterei. 
Lernt endlich ein Ding wie unſer Spiel fachlich anſehen — nicht alles mit perjönlichem 
Ellenmaß mejjen. SKleinlicher Aerger über meinen Sieg ijt es, was eure Reden aus- 
dünſten.“ 

„Nun ja!“ geſtand Kurd, „es iſt mir fatal, daß unſere Trennung es mir verſagt, 
Revanche zu nehmen!“ 

„Die ſollen Sie haben beim erſten Wiederſehen,“ verſicherte Hinrich und räuſperte 
ſich anhaltend mit heftigerem Geräuſch, als nötig ſchien. 

„Wie und wo ſollten wir uns, wie wir hier beiſammen ſind, jemals im Leben 
wieder begegnen?“ fragte Kurd zurück. 

„Für ſolchen Zweck,“ erklärte Henning, „wüßte ich wohl eine paſſende Veranlaſſung. 
Ich meine Hinrichs erſte öffentliche Leiſtung als Bühnenſänger.“ 

Der Vorſchlag erregte mancherlei Bedenken. In Ausſicht nehmen könne man ja 
allenfalls ein re Are er bei jolcher Gelegenheit, meinte Kurd. Aber darın 
ftimmte ihm Francis bei, daß man jet nicht wiljen fünne, ob die Verhältnijje im 
jener noch unbejtimmbaren Zukunft der Ausführung Ddiejer Abjicht nicht unüberwind— 
lihe Echwierigfeiten bereiten würden. Auch Hinrich hielt die Möglichkeit eines jolchen 
Wiederjehens für jehr gering. 

„Hier in unjerem traulichen Pfeiferheim,“ führte er aus, „gilt nur der Menſch. 
Das gleiche Streben, vorbereitende Schritte zu thun, die jeden von uns befähigen 
follen, auf die Höhe feines Daſeins zu gelangen, verurteilt uns zu gleicher VBerdammnis. 
Stümperei im Wiffen und Können ebnet die Bahnen, auf denen wir Arm in Arm 
unbefannten Zielen wie mit verbundenen Augen zujammen entgegen tappen. Ihr habt 
mich nicht gefragt, wer biſt du? oder was jtellit du vor in der Rangordnung des ge- 
jellichaftlichen Kajtenwejens? Desgleichen auch habe ich euch nicht — Wir nahe 
men einander, eben wie ein jeder fich dem anderen gab. Daraus entwidelten ſich 
flüchtige Zuneigungen —“ 

„Ohol“ unterbrach ihn Henning eifrig, „verjchone mit deiner jpahhaften Zweifel- 
fucht wenigitens das edle Vorrecht der Freundſchaft, beftändig und treu zu fein. 
gelobe Hierdurch mindejtens, bei deiner erſten theatralijchen Leiftung, wo fie immer 


Ein Bertrag. 917 


Stattfinden möge, zugegen zu jein, um die unerbittlichjte Kritif zu üben; natürliche 
Bwifchenfälle, wie Unkunde, unüberjteigliche Berge, Krankheit und Tod — nichts ſoll 
mic ſonſt in meinem Vorſatz wanfend machen.“ 

Wenn die Möglichkeit es zuließe, verficherten Kurd und Francis, jo würden auch) 
fie nicht verfehlen, ſich in einer Loge einzufinden. 

„Wenn — wenn!“ höhnte Hinrich. „Ihr thörichten Jünglinge vergeht bei euern 
‚Wenns‘ das eine entjcheidende ‚Aber. Hier im jtillen Schatten diefer Mauern, hinter 
diefem Bollwerk und Schugwall, an welchem die Wogen des wüſten menjchlichen Trei- 
bens und Drängens zerjchellen, hier jchließt ihr die Augen vor der allgemeinen Seuche, 
an der die Völker der Gegenwart Franken. Was find Zukunftspläne, was freundichaft- 
liche Regungen, wo bleiben fie, wenn ihr hinaustretet in das Freie und unrettbar dem 
Würgengel der Seelenjhwindjucht verfallt? — Ihr lat — ja lacht nur! Ihr werdet 
fehr ernite, vornehme Grimafjen jchneiden, wenn euch erjt die eiferne Zwangsjacke der 
perjönlichen Rüdfichten und Interefjen die Bruft zufammenjchnürt — dieſe Standes- 
vorurteile, dieſe Berufspflichten, dieſes Scheinwejen der Ehre, diejes eitle Gefühl ein- 
gebildeter Größe und Bedeutung in eurer parfümierten Welt, dieſes Schwanzwedeln 
um einen herablafjenden Gnadenblid eurer Obmänner — pfui! — Bejtändigfeit, Liebe, 
Treue? — an jolhe Ammenmärchen glaubjt du noch, Henning? — Sind doc die 
Begriffe Beitändigfeit, Treue und Liebe gleichbedeutend mit jelbjtverleugnendem Auf: 

ehen des eigenen Ich in einem anderen Sch: kraft welcher jophiftifchen Argumente 
Foft du nun dieſe Begriffe in dein ſpitzfindiges Syitem ein, das du als —— 
des reinen Egoismus kennzeichneſt? — Beantworte mir einmal dieſe Frage, wenn du 
kannſt, du Egoiſt von Pfeifersheim.“ 

„Dazu bedarf es feiner ſophiſtiſchen Argumente,“ meinte Henning. „Liebe, Treue 
und Beitändigfeit find fittliche Begriffe, und —*— iſt, was meiner Vernunft entſpricht. 
Die Vernunft aber iſt das Allgemeinſte und zugleich das Allerperſönlichſte, was den 
Menſchen zum Menſchen, das heißt zur Verkörperung des höchſten Schöpfungsgedan— 
kens erhebt. Was iſt aber die ganze Schöpfung anders als ein Spiegel, in welchem 
die ewige, alſo unwandelbar treue Liebe ſich Gerbft beſchaut?“ 

„Nach deiner Primaner-Philoſophie,“ entgegnete Hinrich, „wäre alſo Gott ſelbſt 
der höchſte und abſolute Vertreter des reinen Egoismus, und Liebe, Treue, Beſtändig— 
keit nichts anderes als der Ausdruck des Antriebes, das eigene Ich in einem anderen 
wohlgefällig anzuſchauen oder zu beſpiegeln.“ 

„Das gebe ich nur zu,“ erklärte Henning, „ſofern es mir zur Genugthuung gereicht, 
oder mein Bedürfnis mich glücklich zu fühlen befriedigt, wenn ich mit ſympathiſchen 
Menjchen mich innig vertraut und verbunden weiß, wenn ich fie aljo liebe und von 
ihnen geliebt werde. Solche gegenjeitige Liebe ift fittlich, denn fie entjpricht meiner 
Vernunft. Und fofern dieje reinmenjchlich ift, entjpricht fie auc) den Forderungen der 
durch fittliche Ordnungen verpflichteten und beherrichten menschlichen Gejellichaft. Die 
feitejte Grundlage liebevollen, treuen und beftändigen Zujammenlebens ijt die Familie. 
Folglich entipricht die Ehe meinen fittlichen Begriffen, das heißt meinem vernünftigen 
pr . Ohne die Gemeinjchaft, welche auf dem Inftitut der Ehe und Familie beruht, 
wie ohne Treue und Beftändigfeit im Handel und Wandel würde die Menjchheit jich 
in Atome und barbarifche Zuſtände auflöfen. Nicht jeder einzelne aber empfindet es 
als eine Bedingung jeines Glüds, ſich zu vermählen oder Freundichaften zu jchlieken. 
Ich meinerjeit3 bedarf eines freundjchaftlichen Anjchluffes, und wenn ich jemand mei- 
ner Sympathie würdig finde, werde ich fie ihm auch treu und bejtändig bewahren.“ 

„Wenn du nicht dem Würgengel der Seelenſchwindſucht rettungslos verfallen müß- 
tejt,“ jpöttelte Kurd mit einem beziehungsvollen Seitenblid auf Freifinger. 

„Sehr wahr!“ bemerkte diefer arglos. „Auch fteht Hennings Eremplifitation vom 
Inftitut der Ehe auf thönernen Fühen. Wo findeft du im Sumpfe de3 heutigen ſo— 


Allg. koni. Monatefrift 1888. IX, 59 


918 Ein Vertrag. 


genannten Kulturlebens noch glüdliche Ehen, aus Liebe gejchloffen und mit tadellojer 
GE geführt?“ 

„Warum joll es nicht geben glüdliche Ehen?“ wandte hier Francis ein, der dem 
Meinungswechjel bisher mit halbgejchlofjenen Augen zugehört und fich auf dem Stuhle 
gejchaufelt hatte. „Ic fann zwar nicht alle Ehen in England kennen, aber wie mande 
ich weiß, die glaube id, glücklich zu jein.* 

„Das Glüd hängt von der Wahl ab,“ warf Kurd ein. „Wenn ic) einmal hei- 
rate, jo werde ich natürlicherweije nur eine Frau wählen, die mich glücklich macht.“ 

„Der Laie möchte denfen,“ lachte Henning, „deine Wahl könnte auch ganz anders 
ausfallen. Aber ich wünjche Dir von Herzen Glüd dazu. Denn wie trügerijch die 
Loſe auch jein mögen, die wir aus Hymens Urne ziehen, e8 wird doch wohl ung allen 
vom Geſchick beftimmt fein, einmal in den Hafen der Ehe einzulaufen.“ 

„Auf mich zählt nicht,“ jagte Hinrich düfter. „Ich fühle mich von der dunfelen 
Macht des Berhängnifjes verdammt, ewig liebejuchend ein einfames Dajein zu ertragen. 
Kunſt und Philojophie müfjen mich als tröftende Engel über den darbenden Zuftand 
hinwegzuheben juchen. Uber euch wird das eheliche Koch nicht erjpart werden. Und 
trügt nicht alles, jo wird Henning der erfte fein, welcher feine Bhilofophie vom felbjt- 
— — in den Rauchwolken ſeines eigenen Feuerherdes ſich verflüchtigen 
ehen wird.“ 

„Daß Henning zuerſt geheiratet ſein wird von uns vieren, iſt auch meine Mei— 
nung,“ erklärte Francis. 

„sch glaube das ebenfalls,” ftimmte Kurd ein, „denn du bift von uns dreien der 
ältejte, haft aljo auch zuerjt deine Studienjahre und Milttärpflichten überjtanden, mein 
lieber Henning, fannit die Verwaltung deiner Güter übernehmen, jobald es dir Spaß 
macht; deine Frau Mama wird dich nicht hindern, und font iſt fein Menjch da, der 
dich beeinflufjen könnte, wenn du es nicht wünjcheft.“ 

„Die Mütter von einzigen Söhnen und Erben jind nicht ruhig," ſagte Francis, 
„bis fie geheiratet find. Wenigſtens ift e8 bei uns in England fo.“ 

„Möglich,“ bejtätigte Henning, „daß dem auch bei uns fo ift. Aber wenn ich 
die Ehe im Prinzip vorher zwar anerfannt habe, in der Wirklichkeit glaube ich doch 
nicht recht an eheliches Glüd, weil dazu das Kunſtſtück erforderlich ift, zwei getrennte 
Vernunftrichtungen oder Willenskräfte in jo pünktlich übereinftimmende Schwingungen 
a verjegen, daß jie ineinanderflingen wie die Glödchen, welche der Funke meiner 

lektriſiermaſchine harmonisch zu ertönen nötigt.“ 

„Sleichviel,* entjchied Hinrich, „nach menschlicher Aussicht fteht euch eine jehhafte 
Häuslichkeit bevor. Und das gibt mir den gloriofen Gedanken ein an die Möglichkeit, 
—5— ehrgeizigen Gegner Kurd die geforderte Revanche im Schach dennoch zu ver— 

affen.“ 

„Und zwar?“ fragte Kurd. 

„Und zwar,“ ſagte Hinrich, — die Gründung einer Häuslichkeit ein viel ſicherer 
Anhalt wäre für die Hoffnung, daß wir einander vollzählig einmal wieder vereinigt 
ſehen könnten.“ 

Vortrefflicher Einfall, Hinrich!“ rief Henning aufgeregt. „Ganz einverſtanden.“ 

„Aber wie?“ fragte Kurd, „der Fall muß doch näher beftimmt werden.” 

„Schon recht! jagte Hinrich, „nähere Beſtimmungen und bindende Verpflichtun« 
gen find freilich unerläßlich.“ 

„Ich hab's!“ rief Henning. „Wir fchließen einen Vertrag.“ 

„Berträge find nur da, um gebrochen zu werden," wandte Francis im Vorgefühl 
jeiner künftigen jtaatsmännifchen Laufbahn ein. 

„Wir errichten ja feinen Staatövertrag,“ erinnerte Kurd. 

Indeſſen hatte Henning einen Bogen Papier vor ſich auf den Tifch gebreitet und 
entwarf, jich jelbit laut und würdevoll diftierend, Die folgenden Bejtimmungen: 


Ein Vertrag. 919 


Wir Endesgezeichneten — uns heute gegenſeitig feierlich verpflichtet, die 
hierunter angeführten Artikel einer vertragsmäßigen Verabredung nach Möglich— 
keit redlich und gewiſſenhaft zu erfüllen. 

Dieſem Eingange folgte eine Anzahl Artikel, über deren Inhalt und Wortlaut 
man fich nach ekciner Beratung endlich einigte. Demgemäß wurde der „Pfeifershei- 
mer Vertrag” aus Anlaß des von allen vier Unterzeichnern geteilten Wunſches errich- 
tet, in ferner Zukunft ein Wiederjehen der Freunde herbeizuführen. Zur Erreichung 
dieſes Zweckes jollte der erjte, der fich vermählt und einen geordneten Hausftand ge 
—— hätte, die drei übrigen Vertragsgenoſſen in ſeine Wohnung entbieten. Man 
beſtimmte als Tag der Wiedervereinigung den achtundzwanzigſten Auguſt des Jahres, 
in welchem die Vermählung ſtattgefunden. Im Fall die Freunde oder einer derſelben 
nicht anders zu ermitteln, ſollte die Vermählungsanzeige durch die geleſenſten deutſchen 
und engliſchen gie in verbreitet und, wenn erforderlich, im zweiten und dritten 
Jahre wiederholt werden. Bliebe aber dennoch die Einladung ohne Erfolg, jo erwarte 
man, dab alsdann der Nächjtverheiratete den Verſuch wiederholen werde, umd zwar 
nad) Maßgabe der vertragsgemäßen Bereinbarung. Den actundzwanzigften Auguft 
wählten die jungen Freunde, weil er etwa erforderlich werdende Reifen durch die jom- 
merliche Zeit begünftigen würde und weil er als Geburtstag Goethes befondere Be- 
deutung für ihre jugendliche Begeifterung Hatte. 

In vier Abjchriften wurden diefe Bejtimmungen unterzeichnet und unterjiegelt. 
Die Unterfchriften lauteten: 


Pfeifersheim, am Borabende der Trennung. 
The Right Honourable Francis Mac-Bell. 
m Freiſinger, 
Freibeuter für Menſchenwohl und -Würde. 
Kurd, Graf von Dieffemberg-Bilamsdorff. 
Henning, Graf Hoyer auf Hoyershorſt 
concepit. 


Schon während der Abjchrift des Vertrags war Hinrich in einen unruhigen Zus 
ftand geraten, der fich fundgab durch nervöſe Zudungen des Oberkörper und geräujch- 
volles Näuspern. Als er dns Siegel feines Ringe num dem flüjfigen Wachs auf- 
prägte, verzogen ich feine Mienen krampfhaft zu höchſt jonderbaren Linien. 

„Hinrich befommt jein Heufieber,* bemerkte Francis, der die Freunde aufmerkfjam 
machte. 

— dieſer Art waren ihnen nicht neu. Sie erwarteten mit ſchlecht verhehlter 
Heiterkeit die Entwickelung. Alsbald entlud ſich Hinrichs Krampf in nieſenden Explo— 
ſionen. Mit trockener Gewiſſenhaftigkeit zählte Kurd dieſelben, wie ein Artillerie-Dffi- 
zier die abgegebenen Schüſſe ſeiner Kanone. 

Als endlich der Anfall überſtanden war, meldete Kurd gleichmütig: „Beinahe fünf— 
undzwanzig Erſchütterungen des nervus olfactorius; die letzte verſagte.“ 

Ermattet dehnte Hinrich ſeine Glieder auf dem Stuhl; mit verbiſſener Selbſtver— 
höhnung behauptete er, die Anſtrengung habe ihn ſichtlich abgemagert. 

„Die abſpannende Wirkung deines Schach-Siegesrauſches,“ tröftete ihn Henning, 
„und der jpäten Stunde. Darum laßt uns die Ruhe ſuchen.“ 

Kurd hatte die Thürklinke ergriffen und bemerkte, es fer für die Ausficht feiner 
Revanche von guter Vorbedeutung, daß Hinrich den Vertrag jo nachdrücklich benieſt habe. 

„Omen accipio!*“ eriwiderte Hinrich fchon wieder gutgelaunt. 

„Auf Wiederjehn, zunächſt morgen früh am —— 

„Und ſpäter,“ erinnerte Henning, „bei deinem erſten Debut auf der Opernbühne.“ 

„der“, nedte Kurd, „in einem Zirkus auf einem drefjierten Schimmelpony.* 

59* 


920 Ein Vertrag. 


Hinrichs Wahnvorftellungen von myſtiſchen Erjcheinungen und Offenbarungen, die 
er erfahren zu haben glaubte, verknüpften ſich aufs wunderſamſte mit der Geſchichte 
eines Zelters, den er in reiferen Knabenjahren bejejjen Hatte; ein Gejchent jeines Ba- 
ters, der das elegante Pferd dem Beſitzer einer Kunjtreiterbude abgefauft hatte. Kurds 
Anjpielung auf dieje oft gehörte Erinnerung Hinrich erregte die Heiterkeit der Freunde. 
Nur Hinrich nahm den Ausdrud wehmiütigen Ernſtes an, als er ſich zurüdzog. 


Nach vierzehn Jahren. 


Die sind Bilamsdorff befindet jich jeit dem jiebenjährigen Kriege im Beſitz 
der gräflichen Familie von Dieffemberg. Ein Zweig diejer Familie führte jeitdem den 
Namen von Dieffemberg-Bilamsdorfj. Reſidenzſtädte im Winter, Bäder für Die elegante 
Welt und Reifen in das Ausland während der günjftigeren Jahreszeit übten bisher 
auf die Inhaber diejes Fideikommiß-Beſitzes eine ſtärkere Anziehungskraft aus ald das alte 
entlegene Schloß Bilamsdorff. Brauchten doch zwei jchnelle Pferde beinahe eine Stunde 
Beit, um den nächjten Haltepunkt der Eifenbahn zu erreichen! 

Der gegenwärtige Majoratsherr, Graf Kurd, hatte auf Wunſch jeiner jungen Ge- 
mahlin, der Gräfin Alnıa, einer Freundin ländlicher Einſamkeit, das malerisch gelegene 
Wohngebäude mit allen Erfordernijjen einer verjchwenderijch, aber behaglich eingerich- 
teten Häuslichfeit ausstatten laſſen. Die ältejten Teile des Baues jtammten aus dem 
dreizehnten Jahrhundert und boten durch ihre vorjpringenden Erfer und wie Schwal- 
bennejter in den Winfeln der Seitentürme Elebenden Eleinen Söller dem Gejchmad der 
Techniker, welche mit der Einrichtung betraut worden, willfommenen Spielraum. In 
diefen alten Teilen lagen die Wohngemächer und die Bibliothef. Eine Thür führte 
von diejer auf einen Balkon und geitattete den Genuß der frifchen Luft und einer 
mannigfaltigen Weitjicht, verbunden mit geijtiger Anregung, welche die reichhaltige 
Bücherei bequem darbot. 

Bor nunmehr elf bis zwölf Jahren hatte Graf Kurd feine jetzige Gemahlin fen- 
nen gelernt. Er war damals faum erjt in das Dffizierforps der Gardehufaren einge- 
treten. Ein Jahr lang Hatte er die Eleidfame Uniform getragen, als der zu Paris 
erfolgte Tod jeines Vaters ihn nötigte, diejelbe jchon wieder abzulegen, um fich den 
A a zu widmen, welche die Nachfolge in der Majoratsherrichaft ihm auferlegter. 

ewilfenhaftigfeit und Pflichttreue, verbunden mit einer nüchternen Auffafjung 
der Wirklichkeit, waren feit des Grafen Schuljahren hervorftechende Grundzüge feines 
Charakters geblieben. Auch der Glanz und die beraufchenden Zerjtreuungen, denen er 
ſich ſtandesgemäß im Verkehr mit den vornehmen Kreiſen des Hofes und der Kame⸗ 
raden überließ, glitten an ihm vorüber, ohne ſeine anſpruchsloſe Denkungsart und 
Lebensanſchauung weſentlich zu beeinfluſſen. So ſchwankte er nicht lange, die Pflichten 
zu übernehmen, welche das Familiengeſetz ihm nach ſeines Vaters Ableben auferlegte. 
Er war alsbald entſchloſſen, die Verwaltung feiner zahlreichen Güter perſönlich zu 
überwachen und widmete jich nunmehr mit allem Ernſt landwirtſchaftlichen Studien. 
reiherr von Trutheimb, der Gemahl Dlgas, einer älteren Schweiter Kurds, 
unterjtüßte diefen in jeinen Vorbereitungen. Juſtus von Trutheimb hatte nach feiner 
Mutter Tode jeine diplomatische Laufbahn als Legationsrat aufgegeben und Ni nad) 
Imshuth, dem Stammjig feiner Familie, zurückgezogen, um diejes Gut jelbit zu bewirt— 
ſchaften. Imshuth lag anderthalb Stunden von Schloh Bilamsdorff entfernt. Den 
noch war Trutheimb Kurds nächiter Nachbar. — Die Vorftellung, den größten Teil 
feines Lebens auf dem Lande zubringen zu müſſen, und Trutheimb3 ermunternder 
Zuſpruch gemahnte den jungen Grafen an das bewährte Wort: es ijt nicht gut, daß 
der Menjch allein jei. 


Ein Vertrag. 921 


Seine Mahl ward ihm nicht fchwer. Als Kurd noch die Offiziersuniform trug, 
traf er mit Trutheimb, den er bereit3 unter den Hausfreunden, welche ehemals in 
Pieifersheim verkehrten, gejehen und fennen gelernt hatte, in der Gejelljchaft der Reſi— 
denz wieder zufammen. Hier jah er zuerjt die in anmutiger Schönheit erblühte Alma 
von Trutheimb. 

Alma hatte ihre Eltern verloren. Juſtus von Trutheimb, der Bruder ihres ver: 
ftorbenen Vaters, hatte die Vormundſchaft übernommen und fein Mündel bald nach 
der Einfegnung in die Gejellichaft eingeführt. Um dieje Zeit lernte Kurd fie fennen. 
Er war nicht der einzige, der fich von Almas Reizen gefefjelt fühlte Schon im erjten 
Winter ihres Eintritts in die Gejellichaft gehörte fie bald zu den meist umjchwärmten 
Schönen. Unter ihren Verehrern befand jich auch ein glänzender Offizier, Herr von 
Mareczka, Premierleutnant von der Feldartillerie, fommandiert zur Dienftleiftung bei 
den Gardehujaren, eine Perjönlichkeit, welche fich die Sympathien Trutheimbs zu er— 
werben — mehr als die des Offizierkorps, dem er zeitweilig zugeteilt war. Ma— 
reczka benutzte das Wohlgefallen, das er Almas Oheim abzugewinnen wußte, um ſeine 
Nichte mit Aufmerkſamkeiten aller Art aufs unbequemſte zu überſchütten und ihr end— 
lich in aller Form einen Antrag zu machen. Alma wies ihn zu ihres Vormunds 
Verdruß mit Entſchiedenheit zurück — Kurd hatte kaum Kunde von dieſer Thatſache 
erlangt, als er beſchloß, dieſelbe der Klatſchſucht zu entziehen, indem er ſeinerſeits um 
Almas Hand anhielt. Daß er, der um viele Jahre jüngere Offizier, glücklicher war 
als der zurückgewieſene Mareczka, erfüllte dieſen mit Haß und Neid wider den Grafen 
Dieffemberg. 

Kurds Brautſtand zog ſich ſehr in die Länge. Zwei Feldzüge, die er als Reſerve— 
offizier mitzumachen hatte, eine ausgedehnte Reiſe mit ſeiner Mutter, der Tod derſelben 
und die baulichen Einrichtungen des Sommerſitzes Bilamsdorff veranlaßten den Auf— 
ſchub der Hochzeit von einem Jahr zum andern. Auch nachdem der Graf ſeine junge 
ſchöne Gemahlin als Gebieterin in Schloß Bilamsdorff ſchon —— hatte, ließ ſeine 
— nicht nach, ihr den ländlichen Aufenthalt immer behaglicher zu machen. Ihre 

orliebe für ernſte und gute Hausmuſik machte ihm die Pflege derſelben zur Pflicht, 
obwohl er ſelbſt nur oberflächlich daran teilnahm und nie zu den muſikaliſchen Naturen 
gehört hatte. Gleichwohl ließ er es nicht dabei bewenden, einen klangvollen Flügel 
anzuſchaffen, ſondern erwarb auch Streichinſtrumente alter kremoneſer Meiſter zum Be— 
darf des Trio- und Quartettſpiels, wie eine Anzahl Waldhörner und andere Meſſing— 
injtrumente zur Benugung bei Waldpartieen und bei feitlichen Gaftmählern, bei welchen 
die Safelmunit aus einem Nebenraum herübertönte. Ein Hausfapellmeifter wurde ge— 
wonnen in der Perſon Leopold Giejeg, eines auf der Hochjchule erzogenen Tons 
fünjtlers und eine® Mannes von funftgefchichtlicher und äfthetifcher Bildung, der ſich 
mit zartem Taftgefühl im Berfehr zu bewegen verjtand und auch wegen gejelliger Ta— 
lente als anregendes Element gejchägt wurde. 

Aus der mit bejonderer Rüdficht auf mufilalische Begabung auserlejenen Diener: 
ſchaft und jungen Burjchen aus dem Dorfe Bilamsdorff hatte Gieje bald die brauch: 
baren Kräfte zur Beſetzung der — herangebildet. Die Vertreter des Streich— 
quartetts aber fanden ſich in akademiſch gebildeten Künſtlern, die der Graf auf Gieſes 
Empfehlung für den dritten Sommeraufenthalt nach Bilamsdorff gezogen hatte und 
freigebig beſoldete. Es waren zwei Geiger und ein Violoncellſpieler, mit denen Gieſe 
als Vertreter der Viola ſich regelmäßig zur Theeſtunde am Nachmittage im Vortrage 
von Streichquartetten deutjcher Meifter vereinigte. Gräfin Alma befundete in ihrer 
Vorliebe für diefe Kunjtgattung gute Litteraturfenntnis und feinen Geſchmack. Sie zog 
gern namhafte mufifalische Güte in ihren Verfehrsfreis und ihr Gemahl nahm nicht 
ohne Genugthuung wahr, daß die Nunftpflege der Gräfin nah außen hin mit Aus— 
zeichnung beachtet wurde und den Ruf vornehmer deutjcher reg gewann. 

In der Nachmittagszeit des jiebenundzwanzigiten Auguft ihres dritten Sommer- 


922 Ein Vertrag. 


aufenthaltes in Bilamsborff ſaß Alma an der geöffneten Thür der Bibliothef auf einem 
Taburett und laufchte dem Glodenjpiel einer Eleftrifiermajchine, die neben ihr auf 
einem eleganten Tiſch ftand. Ein Herr drehte die Glasſcheibe vermitteljt der Kurbel. 
Hochgewachſen, breit in den Schultern und ſchlank in den Hüften, das ariftofratijche 
Antlig mit feinen tiefblauen Augen von einem wohlgepflegten blonden Vollbart um— 
rahmt, beobachtete er leicht gegen die Gräfin geneigt den Eindrud, den die Wirkung 
des eleftrifchen Funkens auf jie machte. 

„Eine niedliche Muſik,“ jagte fie. „Dies Erperiment gefällt mir noch befjer, als 
die eleftriiche Windmühle, die Spinne, der Bratenwender, das Pferderennen, die Sie 
mir geftern zeigten. Ich danfe Ihnen nochmals, Lieber Graf, daß Sie es nicht ver- 

eſſen haben, mir diefe Dinge aus Ihrem phyfifaliichen Kabinett bei Ihrem heurigen 
Befuch mitzubringen.” 

„Müßige Spielereien,“ ermwiderte der pe here und 309g die Hand von der Kurbel 
der Mafchine. „Uebrigens benugt man das elektriſche Glodenjpiel, für welches ich jchon 
als Gymnafiaft bejondere Vorliebe hatte, auch zu praftifcheren Zweden. Zum Betjpiel 
bewirkt eine ungleiche Verteilung von Elektrizität in der Atmojphäre, daß die Glödchen 
läuten. So fündigen fie das Nahen eine Gewitterd an.“ 

„Sehr wunderbar!" urteilte die Gräfin nachdenklih. „Sagen Sie," fuhr Sie 
mit fchelmifchem Blick fort, „hat man nicht etwa auch jchon den Verfuch gemacht, durch 
Einwirfung des elektrischen Stromes ſteinharte Menjchenherzen wie Platina zu erweichen, 
oder gar zwei Herzen in eins zu verjchmelzen? — Doc) nein! denn dann würden Sie 
das Erperiment gewiß längjt an Ihrem eigenen Herzen — —“ 

Der Graf jchien ihre Anspielung nicht hören zu wollen. Er trat haftig auf den 
Heinen Söller hinaus und ließ jeinen Blick jchweigend über die jonnige Landjchaft 
jchweifen. Alma errötete. 

„Das Bild entzüct mich immer aufs neue,“ wandte er jich nach einer Weile ruhig 
an die erjchrodene Gräfin, „bier die Schlofterrafie mit ihren Wajjerfünften und An— 
lagen — dort der Fluß mit feinen weißen Segeln — die grünen Weiden und ihre 
algäuer und friefischen Rinderherden — der herrliche Eichenforft auf dem Hintergrunde 
der bläulichen Waldberge: wahrlich wenn ich im jtande wäre, die erforderliche Kraft 
berzuftellen, ich würde Scnen diefe Rundficht über Nacht entführen, um fie nach meiner 
nordiichen Kuhwüſte zum Schmud des alten Hoyershorft zu verjeßen.“ 

„Slüclicherweife laſſen landichaftliche Ausfichten fich bis jet noch nicht ent- 
führen,“ lächelte Alma, „aber Ihre Freude daran gibt ung zu diefer die liebere Ausficht, 
= den alten treuen Henning, wie Kurd Sie gern betitelt, oft, vecht oft bei ung 
zu ſehen.“ 

„Morgen, meine gütige Gönnerin, haben wir den 28. Auguft, Ihr Wiegenfeit; 
da läuft unſer Pfeifersheimer Vertrag ab, wie Sie wiſſen. Weil ich auf die erite 
Anzeige von Ihrer Verbindung mit Kurd durch meinen Aufenthalt im Drient leider 
verhindert war, dem Artikel 1 gemäß rechtzeitig mich zu melden, fo habe ich in dem 
zweiten und dieſem dritten Jahre meiner Berbinblichfeit um fo lieber gerecht werden 
wollen. Doc in Zukunft Stellt fich die Wiederholung meiner Bejuche billig unter den 
Einfluß der Anfichten über die Bejcheidenheit.* 

Alma machte eine ablehnende Gebärde. „Denken Sie denn wirklich,“ jagte fie, 
„daß man Ihnen erlauben werde, in Ihrem hyperboräiſchen Hoyershorft jahrein jahr- 
aus einfam zu ftudieren, zu darben, zu verkümmern?“ 

„se nun,“ jeufzte Henning, „man muß fich eben begnügen mit dem, was da iſt. 
Indeſſen die Dampffraft hebt alle räumlichen Schwierigfeiten auf, und gewiß werde 
ich auch ferner Gebrauch machen von der Erlaubnis und —— Vergünſtigung,“ 
ſetzte er mit leichter Verbeugung hinzu, „welche es dem Darbenden geftattet, ab und 
zu es dem Genuß der hier angehäuften Vorzüge neue Nahrung und frisches Blut 
zu jchöpfen.“ 


Ein Vertrag. 923 


„Was ich beſonders an Ihnen bewundere, mein lieber Graf — ift die frifche 
Genußfähigkeit, welche Ihnen unfer bejcheidenes Bilamsdorff noch abzugewinnen vermag, 
Ihnen, der die Schönheiten Italiens und des Morgenlandes mit vollen Zügen in fic 
aufgenommen, der jogar die geweihten Stätten betreten hat, wo der wandelte, deſſen 
göttliches Leben, Leiden und Sterben die Gejchichte der Menjchheit in die alte und 
neue Zeit jchied. Warum entzogen Sie ſich nur ftet3 meiner Bitte, von Ihren Reiſe— 
erlebnijjen, namentlich von den Eindrüden etwas mitzuteilen, welche die heilige Stadt 
Ihnen hinterlafien?* 

Ueber Hennings edle Mienen glitt ein Schatten wehmütigen Erinnerns und nur 
mühſam unterdrüdte er einen jchiwermütigen Seufzer. 

„Sie follen mich nicht länger für eigenfinnig halten,“ erwiderte er dann. „Sa, 
e3 ijt wahr, ich jchweige lieber über die Eindrüde, die ich in Jerufalem empfing. Doc) 
foviel geftehe ich Ihnen im Vertrauen, daß nad) meinem dortigen Aufenthalt auch die 
Geichichte meines eigenen inneren Lebens jich jcheidet in eine alte und neue Zeit. 
Uebrigeng verhinderte ein higiges Nervenfieber, das ich dort, Gott jei Dank! glücklich 
überjtanden, die Erfüllung meines Wunjches, die heiligen Stätten der Erinnerung ges 
nügend fennen zu lernen. Sobald ich wieder reijefähig war, jchidte der graujame 
Arzt, unterftügt vom Biſchof Gobat und dem preußischen Konſul, mich fort. Sie 
bejorgten, das Klima jei mir jchädlich.“ 

„Aber die Hauptjachen haben Sie doch gewiß gejehen? Erzählen Sie mir dod, 
bitte, vom Berg Zion,“ drängte Alma. 

„Sie haben wohl recht, gerade diejen geweihten Punkt zu den Hauptjachen zu 

ählen. Denn auf dem Berg Zion drängen jich vorzugsweile die Bauwerfe und An- 

Anlten zufammen, die nach Anregung Friedrich Wilhelms des Vierten durch die ver- 
einigten Kräfte der engliihen und preußiſchen evangelifchen Kirche errichtet, weit ins 
Land hinaus jichtbar ſind. Auf der Stelle, wo der Palaſt des Herodes jtand, erhebt 
fich jet die evangelifche, im gotischen Stil aus Quadern erbaute Chriftusfirche über 
alle Minarets, Kuppeln und Türme der Stadt. An diejelbe lehnt ſich Das engliſche 
Konjulat und Pfarrhaus. Eine jchmale Straße trennt von diejen Gebäuden das durch 
Fliedners Bermittelung angefaufte, frei liegende Diafonifjenhaus, mit Gärten und 
Terrafien, welche die anziehendite Rundſchau gewähren.“ 

Henning bededte flüchtig feine Augen mit der Hand und fuhr dann etwas zögernd 
fort, die gefpannte Aufmerfjamfeit feiner Zuhörerin zu befriedigen. . 

„Sn diefem Haufe,“ erzählte er, „befindet ſich eine Tochteranjtalt des Diakonifjen- 
Inſtituts von Kaiſerswerth. Hier in der Filiale auf Zion lebt eine Anzahl von Dia— 
fonifien, die unter dem Schuße deutjcher Konſulate und Gejandtichaften zu zweien und 
dreien, wohl auch einmal einzeln die Neife nach Serufalem unternehmen. Die vier 
eriten Schwejtern führte Fliedner jelbit dem Biſchof Gobat zu.“ 

„Welcher Glaubensmut! welche Hingabe an den entjagungsvollen Beruf gehört 
Dazu!“ rief Alma. 

„Gewiß!“ betätigte Henning, „aber noch mehr würden Sie die Selbitlofigkeit dies 
fer Glaubensheldinnen bewundern, wenn Sie diejelben in der Ausübung ihres heiligen 
Berufs beobachten könnten.“ 

‚Was treiben fie denn? womit werden jie dort bejchäftigt?" 

„Mit der Erziehung und dem Unterricht morgenländifcher und anderer Kinder, 
denen oft die Frage auf den jtupiden Gefichtern geichrieben jteht: wie darfjt du nur 
hoffen, aus mir ein vernünftiges menschliches Wejen machen zu fünnen? — Aber 
ungleich ſchwerer noch wird den aufopferungswilligen Kranfenpflegerinnen ihre 
Arbeit gemacht durch egoiſtiſche, rüdfichtsloje Patienten.“ — Henning verbarg eine, 
der Gräfin umerklärliche Aufwallung durch anhaltendes Hüjteln. Dann fuhr er fort: 

„An der Leidensftrahe unjeres Heilandes, der Via doloroja, nahe dem heiligen 
Grabe, weht auf dem preußifchen Stonjulat der fühne Adler unjerer Heimat. In der 


924 Ein Vertrag. 


benachbarten Pilgerherberge, wo ich die freumdlichjte Aufnahme und Pflege fand, hat 
die Balley Brandenburg des Johanniter: Ordens, deſſen Ritter zu jein ich die Ehre 
habe,“ jegte er lächelnd Hinzu — 

„Sohanniter ift auch Kurd,* erinnerte Alma mit Selbjtgefühl, was Henning, den 
Kopf neigend, anerfannte. 

"ho die Verwaltung jener Pilgerherberge hat die Balley Brandenburg über— 
nommen und mit diefem Alt den erjten Schritt feit der Zeit der Kreuzzüge wieder 
auf den geweihten Boden des gelobten Landes gethan. Im der Nähe liegt auch der 
Sammelpunft der deutich-evangelifchen Gemeinde, nämlich die Paftorei des vortrefflichen 
Pfarrers Valentiner, dem ich vielen Dank jchuldig geworden bin. Noch eins will ich 
Ihnen erzählen, weil Sie die tieferen Eindrüde fennen wollen, welche der Aufenthalt 
in Ierufalem mir eingeprägt: ich meine das nad) dem Vorbilde der erjten apojtolischen 
Gemeinden geregelte Zufammenleben der Bekenner des deutjchrevangeliichen Glaubens. 
Angeregt wurde dieſe Gemeinjchaft durch das jogenannte Brüderhaus der Bajeler 
Miſſion. Aber dem jehr nachahmenswerten Mujter haben fich faſt alle deutjch-evans 
geliichen Chriſten von Jeruſalem angejchlofjen. Und wenn ich zu bedauern hatte, jo 
raſch die heilige Etadt verlafjen zu müſſen, jo gründete ji) mein Unmut mit auf die 
Unmöglichkeit, jene erquidlichen Eindrüde folchen liebevollen Gemeindelebens im ſchönen 
Frieden, verbunden mit dem fröhlichiten Lebensgenuß, noch länger auf mid wirfen 
laffen zu dürfen.“ 

Der alte Gottlob unterbrach die Unterhaltung durch die Meldung, „der gnädige 
Herr jeien foeben von jeiner Reiſe nach der Kreisſtadt zurüdgefehrt“. 

Mit eimer entjchuldigenden Verbeugung gegen Henning eilte Alma dem Ge— 
mahl erregt entgegen. „Wie wird Kurd ſich freuen, jeinen alten treuen Henning wieder 
bier zu jehen!“ rief die anmutige Freundin dem zurücdbleibenden Grafen zu, der ihr 
finnend und zerjtreut nachichaute. 

Zögernd öffnete Henning eine elegante Truhe. Er verjenfte in diejelbe die Elef- 
trifiermajchine und die übrigen Gegenstände, die er bei feinen phyſikaliſchen Experi— 
menten benußt hatte. Dieje Thätigfeit unterbrechend, durchmaß er mit haftigen Schrit= 
ten einige Male die Bibliothek, 30g ein Buch hervor, defjen Titel feine Aufmerkjamfeit 
feffelte, blätterte darin und jtellte es teilnahmlo8 wieder an feinen Platz. Er fehrte 
zu der Truhe zurüd, vollendete die Verpadung und warf den Dedel ins Schloß. Dann 
ließ er fich auf einen Eefjel nieder, den er in die offene Thür gerollt hatte. Den 
Ellenbogen auf die Lehne des Sefjels ftügend, verjanf er vollends in feine Erinne- 
rungen an Jeruſalem: — El Kudſch, die Heilige, wie ihre Einwohner aller Zungen 
die Stadt zu nennen pflegen. 

Sie erjchien dem Träumenden mit allen ihren geweihten Stätten in der Gejtalt 
eines holdjeligen frommen Frauenbildes. Ein jchlichtes Gewand von ſchwarzem Stoff 
umbüllte die jchlanfen Glieder bi8 zum Hals hinan. Das jchöngebildete Haupt ums 
ihloß jo eng, als die Fülle des goldblonden Haares es gejtattete, ein ſchneeweißes 

äubchen. Eine jchmale Spigen-Einfafjung umrahmte das edeljte Antlig mit milden 
ügen und tiefblauen, von dunfeln Wimpern bejchatteten Augen, die mit einer über- 
windenden Holdjeligfeit und Anziehungskraft, doc) unbefangen in die Welt jchauten. 

Henning jah dieje anmutige Gejtalt wie durch einen flimmernden Schleier wieder 
neben jeinem Kranfenlager im Diakonijjenhauje auf Zion figen. Er vernahm wieder 
den gedämpften Ton ihrer tiefen, Hangvollen Stimme. Wieder fühlte er die Todes— 
mattigfeit alle jeine Glieder lähmen. Wieder durchitrömte es ihm mit balſamiſchem 
Troſt, wie „El Kudſch“ mit Überzeugendem Ausdrud und leije bebendem Ton aus der 
auf ihren Knieen ruhenden Bibel die Seligpreifung des Mannes las, der die Anfechtung 
erduldet. Wieder fühlte Henning fich wie in einem fteuerlofen Kahn von wilder Brandung 
ergriffen und umbergejchleudert, als die Worte aus ſolchem Engeldmunde in fein Her 
drangen „vom Glauben, der Geduld wirfet* und — „von dem Zweifler, der ijt nieich 


Ein Bertrag. 995 


einer Meereswoge, die vom Winde getrieben und gewebet wird". Nie hatte ihn ein 
Gedanke, nie ein vatender oder belehrender Erjahrungsjag alter oder neuer Lebens- 
weisheit jo von Grund aus erjchüttert, als dieſes jchlichte Wort von dem Zweifler in 
der ebenjo ſchlichten Vortragsweiſe Eindlich gläubiger Zuverſicht. — Das Wort gab 
feiner Weltanfchauung nachmals eine durchaus veränderte Richtung: „Ein Zweifler 
ift unbeftändig in allen jeinen Wegen. Solcher Menſch denke nicht, daß er etwas von 
dem Herrn empfangen werde." Eo las fie, die Henning „El Kudſch“, die Heilige, zu 
nennen pflegte, wenn er an fie und an Jeruſalem zurücddachte. 

Sept tauchten vor feinem inneren Auge die Tage unnennbaren Herzeleids, qual 
voller Eorgen und Befürchtungen auf, die er ausgeftanden hatte, als die anjtrengende 
Pflege, welche EL Kudſch ihm mit jelbjtverleugnender Berufstreue gewidmet, fie jelbft 
auf das Kranfenlager warf. Ihr Leben jchien nicht Henning allein, fondern auch dem 
Arzte aufs ernftefte bedroht. Der Graf zermarterte jein Herz mit jchweren Selbſt— 
vorwürfen. Hatte er der Leidenden jeine Pflege nicht erjchwert durch Ungeduld, Eigen- 
finn, Widerftreben gegen Verordnungen, die ihn läftig deuchten? Aengftigte er fie nicht 
obendrein mit ungehörigen Fragen nach ihren perjünlichen Familienverhältnifjen? Als 
das Fieber ihm die Herrichaft Über feinen Willen raubte, drang er jo ungeftüm in fie, 
ihm Näheres über ihr Vorleben mitzuteilen, ihren Familiennamen zu entdeden, von 
ihren Angehörigen, ihren et nie zu erzählen, daß El Kudjch erfchredt das 
Kranfenzimmer verlieh. ald darauf erfuhr Henning ihre lebensgefährliche Er— 
krankung. 

Er feibft genas unter der Pflege einer anderen älteren Schweiter. Der Arzt 
drängte zur Abreife. Er warnte vor den zu erwartenden heigen Südwinden. Einen 
Entihluß zu fafjen, fühlte Hoyer fich aber unfähig. Wie fonnte er abreifen, ohne fich 
von der glüdlichen Wiederherjtellung der leidenden BPflegerin überzeugt zu halten, 
die ihm ſolche Opfer gebracht? abreijen, ohne ihr gedankt zu haben? ohne jelbjt nur 
ihr Andenken an einen Eigennamen fnüpfen zu können? Unmöglich! Seine Wißbegier 
durch Nachforſchungen zu — trug er gleichwohl eine erklärliche Scheu. 

Endlich erfuhr er, daß „El Kudſch“ das Siechbett verlaſſen, daß ſie ſich zur 
Erlangung völliger Geneſung wieder in freier Luft erfriſchen dürfe. Dieſe Nachricht 
beflügelte Hennings Mut. Er offenbarte dem menſchenfreundlichen Biſchof ſeinen auf 
eine Unterredung mit El Kudſch — Gobat nannte ſie ſeine „Noah-Taube“ — ge— 
richteten Wunſch. Der ſeelenkundige, vielgeprüfte Greis erhob zu Hennings Ueber— 
raſchung nicht die geringſte Einwendung. Er bat den ihm liebgewordenen Reiſenden 
nur, die „in die Arche chriſtlicher Liebesarbeit noch nicht wieder zurückgekehrte Noah— 
Taube“ nicht durch zu ſtürmiſche Dankſagungen zu erregen. Dann bahnte er zu ihr 
jelbft den Weg. 

Und jet träumte Henning fich wieder zurüd in die Stunde der Begegnung. Er 
ſaß wieder auf dem Dace des Diafonifjenhaufes im Schatten der gefiederten Palme, 
die vom Hof ihre jchirmenden Fächer heraufjandte und durch Topfgewächſe und 
EC chlingpflanzen in eine fühle Laube verwandelt war. Bon hier gewährte der Blid auf 
das Panorama der Stadt mit der Grabesfirche eine prachtvolle Ausficht. 

Henning fühlte wieder fein Herz hämmern, während er die Stufen hinanjtieg, Die 
zu diefer jchwebenden Laube wie zum Vorhof Edens emporführten. Er jammelte 
gewaltjam alle Ruhe, die er in diefen Augenbliden erraffen konnte. So trat er hinaus 
auf das Dad. — — El Kudſch — dort ſaß fie, das Haupt auf ein Buch herabgejenft. 
— Als fie des Ankömmlings gewahr wurde, jchraf jie empor. Aber nur einen 
Augenblid lang wirkte der Anblid des Grafen, auf den fie vorbereitet war, etwas 
verwirrend. Sie verneigte fich leicht, deutete auf einen Rohrſtuhl und nahm ihren 
Play ihm gegenüber. Alle Farbe war aus ihrem Geficht gewichen. Durch die feine 
Haut jchimmerten die bläulichen Adern der Schläfe hindurch). 

„sch bin überrafcht," ſagte fie mit ruhiger Sicherheit, „unjeren genejenen Patienten 


926 Ein Vertrag. 


noch einmal wieberzujehen. Meiner Meinung nad) mußten Sie längſt auf der Rück— 
reife nach der Heimat begriffen fein.“ 

Auf Hennings Lippen drängte ſich ein unwahrer Vorwand. Aber ein Blid auf 
die ehrfurchtgebietende Jungfrauengejtalt mit dem jchlichten Ausdrud edler Einfalt in 
Gewand und Miene — und Henning unterdrüdte mit Beichämung die beabjichtigte 
Ausrede. 

„Wie konnte ich El Kudſch verlaſſen,“ fagte er doppelfinnig, „ohne über Die 
Wiederherftellung meiner ſelbſtloſen Pflegerin beruhigt zu fein, ohne für Ihre Ge- 
ee Gott danken zu dürfen — ohne für meine Heilung auch Ihnen gedankt zu 
haben!“ 

„Sie irren, Herr Graf,“ antwortete fie einfah. „Nicht den Menjchen widmen 
wir unjere geringen Dienjte, jondern dem, welchem wir unjer Leben verlobt haben. 
Segnet er unfere arme Arbeit, jo gebührt ihm allein auch der Dank. Unjer über: 
reicher Lohn Liegt in dem Vorzug, dienen zu dürfen.“ 

Ihr Blick richtete ich ftrahlend auf die ferne Kirche des heiligen Grabes. Henning 
fchwieg beſchämt. Dann nahm er wieder das Wort und jprach mit Wärme: 

„Dennoch fühle ich mich Ihnen auch perjönlich für Zeit und Ewigfeit verpflichtet. 
Sie waren e8, die der Herr des Lebens auserjah, mic) auf den Weg zu führen, den einst 
fein Fuß an dieſer heiligen Stätte uns voranwandelte. Nicht meine leibliche Ge— 
nejung allein ift es, die Ihre aufopfernde Pflege mir bereiten half, fondern auch meine 
fittlicde Erneuerung jchulde ich Ihrer vermittelnden Hilfe — eine Verklärung und 
Vertiefung meiner Erkenntnis — eine Umwandlung meiner Herzensrichtung, meines 
ganzen inwendigen Menfchen, die nichts Geringeres jein kann, als was die Schrift 
meint, wenn fie von einer Wiedergeburt im Geiſte redet.“ 

„Unfere erregbare Menfchlichkeit,“ feufzte fie mit dem Ausdrud trauriger Erfah: 
rungen, „gaufelt uns gern Srrlichter vor, die wir nur allzumillig mit dem reinen Licht 
des heiligen Geiſtes und feiner Wirkungen verwechjeln.“ 

Sie erhob ſich und reichte ihm die Hand zum Abjchied. Er wagte nur leije Die 
Spitzen ihrer zarten, weißen Singer zu berühren. 

„Bott geleite Sie auf allen Ihren Wegen,“ jagte fie innig, „und bewahre Ihren 
Fuß, daß er nicht an einen Stein ſtoße.“ 

Henning trat zurüd, um fich zu entfernen. Dann blieb er wie feitgebannt wieder 
ftehen, richtete feinen Blid voll tiefiter Bewegung auf fie und bat zaudernd um ihren 
Namen. „ES würde unverjtändlich fein,“ erklärte er, „und mir perſönlich Berlegen- 
heiten bereiten, wenn ich nicht einmal meine Wohlthäterin — Gottes demütiges Werf- 
zeug,“ verbejjerte er, „mit eimem menjchlichen Namen zu bezeichnen wüßte. Würde 
nicht meine Mutter an ihrem Sohn irre werden?“ 

„Man nennt mich bier die Schweiter Sofie,“ entgegnete fie anſpruchslos. Das 
wußte Henning jchon längit. 

„Mein letztes Ziel auf dieſer Reife ijt Deutjchland,“ fuhr er, noch immer zögernd, 
vorjichtig fort. „Darf ich mich zur Beſtellung von mündlichen oder brieflichen Aufs 
trägen an die heimischen Ihrigen erbieten? Sie würden mich glüdlich machen durch 
die Erlaubnis, Ihnen einen noch jo unbedeutenden Dienft leisten zu dürfen.“ 

„Die Meinigen,“ erwiderte fie abfehnend, „erfahren das Notwendige über 
Kaiſerswerth.“ 

„So ſollen wir ſcheiden auf Nimmerwiederſehen?“ fragte er unſchlüſſig. 

„Welchen Anteil könnte eine Begegnung mit mir Ihnen, Herr Graf, abgewinnen 
— mit mir, einer dienenden Schweſter? Gottes Wege ſind freilich nicht unſere Wege,“ 
etzte ſie mit etwas zitternder Stimme hinzu, „aber er bewahre mich gnädig vor einer 

ückkehr in die Lebenskreiſe, die das Herz friedlos und die Tage voll Unruhe und 
Angit machen.“ 
Nah einem zarten Drud ihrer dargebotenen Nechten mußte Henning ſich endlich 


Ein Bertrag. 927 


entichließen, der Abjchiedsizene ein Ende zu machen. Aber unvergeßlich jtand ihr Bild 
in fein Herz geprägt, unaufhörlich Hangen ihre Worte in ihm wieder, jo oft er ſich 
ſolchen Träumereten gefangen gab. — — 

Diesmal jchredte ihn Kurd daraus empor. Henning jpürte jeine Nähe erjt, als 
Kurd ihm die Hand auf die Schulter legte. 

„Eingejchlafen auf der Lauer iſt der alte müde Ritter“, citierte Kurd ſchmunzelnd. 
Henning fuhr aus jeiner Berjunfenheit empor und reichte ihm herzlich beide Hände, 
welche Kurd fräftig jchüttelte. 

„Du mußt herein gejchlichen jein, wie der Bär mit leifem Geifterfchritte — 
gab er heiter zurüd; „ich habe nichts von deiner Annäherung vernommen, obwohl 
ich nicht jchlief.“ 

„So brütetejt du vermutlich über deine Kommuniften- Kolonie?“ 

„Spötter!“ erwiderte Henning, froh die Unterhaltung von dem Gegenjtande jeiner 
Erinnerungen abgezogen zu eben. „Doch meinetwegen mag man meine Kolonie 
Friedſtett nennen. In der That ſtellt ſie eine Gemeindeverfaſſung dar auf der 
Grundlage einer gewiſſen gleichmäßigen Verteilung des beweglichen Eigentums wie 
aller Erträge treuer Arbeit und des Bodens.“ 

„Und die Regierung duldet jolche Gleichmacherei, die doch jehr verdächtige 
Aehnlichkeit zu haben ſcheint mit den gefährlichen Abjichten der jozialdemofratijchen 
Boltsbeglüder?“ 

„sm Gegenteil! Die Regierung hat alle Urfache, unjere Beftrebungen zu be= 
günftigen. Denn wir wirfen dem Elend der Arbeit3- und Heimatslofigfeit entgegen, 
aljo dem umjichgreifenden VBagabundentum. Die jozialdemofratifchen Theorien vom 
Umfturz alles Beftehenden, vom Bolfsjtaat und von dergleichen phantajtiichen Wahn- 
gejpinften der Unvernunft find Verzerrungen einer zeitbewegenden Idee, der Idee 
einer gejellichaftlihen Ordnung auf der Grundlage chrijtlicher Liebesgemeinjchaft.“ 

„Aha!“ jpöttelte Kurd, „wohl aljo ein Gemeindeleben wie zur Zeit der Apojtel 
fuchjt du dir mit deinen VBagabunden einzurichten?“ 

„Ganz recht! Und ein jolches verförpertes Ideal habe ich aus eigener Anjchauung 
fennen gelernt. Es diente meiner Friedſtett-Kolonie zum Muſter.“ 

Kurd äußerte feine Ueberrafchung mit jehr ungläubiger Miene. 

„Mache dich auf nach Ierufalem, alter Freund,“ fuhr Henning fort. „In 
Serujalem ift ein entwideltes Gemeindeleben zu finden, welches die Züge der eriten 
Liebe jener Urchriften jo erquidlich ausprägt, daß man wohl daraus den Mut jchöpfen 
durfte, in gleichem Geijte ähnliche Verfuche zu unternehmen.“ 

„Jawohl, in gleichem Geijte!“ zweifelte Kurd. „Wo willſt du in wahrhaft 
apoſtoliſchem Geift lebende und denfende Menjchen finden?“ 

Alma, welche diefe letzte Aeußerung vernommen, trat munter zwijchen Die freunde, 

„Nach einem ganzen Jahr der Trennung einander faum begrüßt,“ jchmollte jie, 
„und jchon wieder auf der Menſur mit den Klingen des Wortes!“ 

Sie erinnerte ihren Gemahl an jeine Abjicht, den Freund zum Thee einzuladen. 
Zugleich reichte fie diefem ihren Arm. Henning nahm denjelben und führte die 
Gräfin die Stufen hinab, welche nach dem Theezimmer im Erdgeſchoß leiteten. Kurd 
folgte und fette lebhaft gejtitulierend auseinander, dat Henning von feiner früheren 
Philojophie eines felbitbewußten Egoismus ſich völlig losgefagt habe. Wie unjelbit- 
füchtig aber auch er, Kurd ſelbſt, gejinnt fei, das behauptete er durch jeine Vergeß— 
lichkeit überzeugend beweifen zu fünnen. 

„Wäre ich feiter von den Banden des Selbiterhaltungs-Triebes und jeiner Wurzel, 
des Egoismus, umſtrickt gewejen,“ führte Kurd aus, „jo hätte ich den Thee ficherlich 
nicht Über Hennings interefjanten Umjchwung vom Egoismus zum Kommunismus 
vergeſſen.“ 


928 Ein Vertrag. 


„Pfeifersheimer Nachflänge, meine gnädige Frau,“ jcherzte Henning dazu. „Schon 
damals verriet Kurd feine Vorliebe für paradore Behauptungen.“ 

* Gräfin neigte etwas peinlich berührt ihr ſchönes Haupt. 

Ja, ja!“ beſtätigte ſie, „mein Herr und Gebieter windet ſich gern durch 
fophiftiiche Labyrinthe.“ 

Gräfin Alma übernahm gemohntermaßen das Gejhäft, die Taſſen mit Thee zu 
füllen. Nachdem zwei Diener das Getränk jerviert und fich zurüdgezogen hatten, 
ertönten aus dem angrenzenden Gemach die von den Falten eines Vorhanges etwas 
edämpften Klänge des D moll-Quartetts von Mozart. Die Spieler blieben unfichtbar. 
auberiie lauteten bie vier Inſtrumente. 


(Fortjegung folgt.) 





WINE a 
> 1) u ot: 
— SE u 


Feinvlihe Brüder.” 


Erlebnijje aus 1866, 


In der Bundestags-Sigung vom 14. Juni 1866 zu Frankfurt am Main war 
Die verhängnisvolle Abjtimmung erfolgt, die eine völlige Neugejtaltung des deutjchen 
Staatenbundes einleitete. nu die Austritterklärung des preußijchen Gejandten 
zerfiel das vermorjchte Fachwerkgebäude der Metternichichen Hauspolitik in Elägliche 
Trümmer. Zugleich mit der Kriegserflärung an Dejterreich und deſſen jüddeutjche 
Verbündete jandte Preußen jein jchneidiges Ultimatum, das am Deutlichfeit nichts 
zu wünjchen übrig ließ, an die Kabinette von Hannover, Heſſen, Naſſau und Sachſen. 
Die Wirkung, die dasjelbe in der jächjiichen Reſidenz hervorbracdhte, konnte ich 
aus nächjter Nähe beobachten. Dresden gewährte mir dazumal den Mittelpunkt meiner 
Wirkſamkeit. Schon mehrere Tage vor dem Eintreffen des Entjegen verbreitenden 
Ultimatums aus Berlin erfüllte die Schredensfunde alle Gemüter, das * Elbflorenz 
werde von allen Seiten durch preußiſche Truppen bedroht, die hart an der Grenze des 
ſächſiſchen Königreiches Lager aufgeſchlagen hätten. Dieſes Gerücht war kein leeres 
— — Privatbriefe, die wir damals empfingen, beſtätigten die Wahrheit uns 
chon, bevor die aufregende Nachricht davon ſich in weiteren Kreiſen der Dresdener 
Bevölkerung verbreitet hatte. Jene Briefe beanſpruchten noch ein beſonderes Intereſſe, 
weil ſie als Proben der umfaſſenden Mannszucht gelten konnten, die das preußiſche 
— auszeichnet. Dieſelbe erſtreckte ſich ſogar auf die Damen der Regimenter. 
ie mehrerwähnten Briefe hatten zu Verfaſſerinnen die Gemahlinnen zweier uns nahe— 
ftehender aktiver StabSoffiziere. Der eine derjelben hatte Brandenburg, der andere 
Trier zur bisherigen Garnifon gehabt. Nun verrieten uns zwar die Briefe der beiden 
in den bezeichneten Garnijonftädten lebenden Damen, die Gatten lägen mit ihren 
Truppen in ſolch unmittelbarer Nähe Dresdens, da wir fie täglich bejuchen könnten; 
aber beide jegten, völlig unabhängig von einander, Hinzu: „wenn ich ausplaudern 
dürfte, wo die Truppen liegen!“ Welche mujterhafte Disziplin, die ſelbſt im nächſten 
freundjchaftlichen Verkehr bewegliche weibliche Zungen bindet! 
2 Am Sonnabend, den 16. Juni, arbeitete ich in früher Nachmittags-Stunde, als 
meine Frau, deren Zimmer nad) der Straße hinausjah, mit verjtörter Miene mich be= 
nachrichtigte, daß die Truppen der benachbarten Kaſerne kriegsmäßig ausgerüſtet ſcharen— 


*) Daß der Herr Verfaſſer nicht als unparteiiſcher Schiedsrichter zwiſchen den „feindlichen 
Brüdern“ umhergereiſt iſt, ſondern ſelbſt „eindlich“ geſinnt war, wird ihm Heute in dem völlig ges 
einten Deutſchland die Gunst der Leſer hoffentlich nicht trüben. Die Redaktion. 


930 Feindliche Brüder. 


weile am Haufe vorübereilten. Ein Blick auf die Straße bejtätigte mir dies, ohne 
mich zu überrafchen. Wochenlang hatte der Ausbruch des Krieges gedroht. Nach dem 
preußiſchen Ultimatum fonnte man nichts anderes mehr erwarten. 

Mein Arzt hatte mich jchon längst zu einer Kur nach der Nordjee jchiden 
wollen. Dienftlicher Gejchäfte wegen wollte ich aber jo lange in Dresden bleiben, bis 
die erwarteten Kriegsunruhen meiner Pflicht ein Ende machen würden. Plötzlich war der 
gefürchtete Augenblid gefommen. Nicht unerwartet, aber unvorbereitet überrajchte er 
uns dennoch, wie viele andere. Unverzüglich mußte nun zu den Vorbereitungen einer 
Neije auf unabjehbare Zeit gejchritten werden. Wir mußten noch bis zum Abgange 
des Abendzuges mit der VBerpadung unjerer ganzen beweglichen Habe fertig zu werden 
fuchen. Während diejes haftige Gejchäft in Angriff genommen wurde, eilte ich nach 
dem Polizeigebäude Hinter der Frauenkirche am Neumarkt, um mid) mit den unent- 
behrlichen Legitimationspapieren zu verjehen. Mein Weg führte mich durch erregte 
Menfhenmaften, denen der Ausdrud der Bejorgnis und der Natlofigfeit auf die 
Mienen geprägt war. Bor dem Gitter der Amtsſtube im Polizeigebäude drängten fich 
Schulter an Schulter die Fremden, welche gleich mir ihre Päfje verlangten, um eine 
Stadt zu verlafjen, die nach der allgemeinen Vorausfegung in nächjter Zeit der Schau— 
platz Eriegerifcher Unruhen und wohl gar blutiger Zufammenftöße werden würde. Hatten 
doch in den legten Tagen jchon Tauſende leichtgläubiger Hoffnungsjchwärmer beim 
Einlaufen der Eijenbahnzüge aus Bayern den Bahnhof belagert in der Erwartung 
großer Truppenzuzüge der rettenden befreundeten Nachbarn. Ihre regelmäßige Ent» 
täuſchung und ihren Unmut juchten die guten Dresdner zu betäuben: in jener Zeit 
——— Hoffens und Harrens wurden vom böhmiſchen Bahnhofs-Reſtaurant un— 
endliche Fluten bayriſchen Bieres verſchänkt. Da die Bayern ſelbſt nicht kamen, hielten 
ihre vernachläſſigten Freunde ſich ſchadlos an dem narkotiſchen berühmten Landes— 
produft derſelben. 

In politiſch erregten Tagen verſchwinden alle Schranken der gewohnten abgeſchloſſenen 
Verkehrsfſormen — da hört der Geheime Nat, der Schulmeiſter, der Schulter auf —: 
es gibt nur Menjchen; Menjchen, die alle gleichmäßig das allgemeine Los zu teilen 
und zu tragen ich bewußt find. Auch im „Einwohner- Amt“ zu Dresden herrjchte 
unter der Menge der anmejenden Reijeluftigen die ungezwungenfte Nedefreiheit und ein 
Sedanfenaustaujc unter allerlei Leuten, die fich hier zum erftenmal im Leben begeg- 
neten, um ſich niemals im Leben wiederzujehen. Jeder erfundigte fich eifrig nach den 
Abjichten und Plänen des unbefannten Nebenmenfchen und war eifrig befliffen, ihm 
erwünjchten Rat zu geben und auf feine Fragen Auskunft zu erteilen. Solche men- 
ſchenfreundliche Dienjtbefliffenheit bewahrte mich vor Verlegenheiten, denen ich bei der 
Durchführung meines Reijeplanes, über Leipzig, Magdeburg und jo fort „via* Bremen 
nach der Nordjeefüfte zu gelangen, ohne Zweifel mic nicht hätte entziehen können. 
Ich erfuhr, daß alle Eijenbahnen des deutjchen Nordens faſt nur noch Militärzüge 
beförderten. Unter jolchen mit der Bürgjchaft der Zuverläffigfeit geichilderten Um— 
ftänden bleibe mir nur die Richtung ſüdwärts durch Bayern nach dem Rhein bis Köln 
und von da durch Ditfriesland nad) Oldenburg und jo weiter offen. Jede andere 
Wahl jchien ausgeſchloſſen; das beftimmte mich raſch zu dem bezeichneten langen Um— 
wege. Ich ließ meine Ausweispapiere in diefer Richtung ausfertigen. 

Inzwiſchen hatte fich auf meinem Heimwege ein erfchütterndes Schaufpiel ent- 
widelt. Zu beiden Seiten einer breiten Durchzugsgaffe dichte Mauern ftunmer Men— 
ihenmengen, unbeweglich, mit allen Zeichen namenlojen Erjtaunens, peinlichfter Angſt 
den unabjehbaren Kolonnen der Reiter von Großenhain, der Infanterie, der Artillerie 
benachbarter KantonnementS und der Dresdener Garnijon nachblidend. Keine Hand 
der verblüfften Zuſchauer regte ſich; fein Gruß, fein Laut machte fich vernehmbar. 
Die Hufe der Pferde, das Raſſeln der Gefchügräder auf dem Pflafter, der taftmäßige 
Tritt des Fußvolfes: ſonſt alles im tiefftes unheimliches Schweigen gehüllt wie ein 


Feindliche Brüder. 931 


Leichenzug! Ta drang mir ein tiefer Seufzer zu Ohren: „Ach, du großer Gott! — 
Auch unjer guter König Johann!“ — Alle Blide fehrten fich den zweiſpännigen Reife- 
wagen zu, die eben im rafcheften Tempo über den Neumarkt rollten. Sie entführten 
die königliche Familie der treuen Haupt» und Reſidenzſtadt. Man tröftete fich, der 
König würde außerhalb ihres Weichbildes die ausrücdenden Truppen, mit den bayrifchen 
Freunden vereint, dem Bordringen der „Ichredlichen Preußen“ entgegenwerfen. Nichts 
anderes hatten auch dieje jelbit vorausgejegt, als fie dent Befehl zum Vormarjch 
erhielten, die von den ſächſiſchen Pionieren zerjtörte Eifenbahnbrüde bei Riefa in einigen 
Stunden wieder gangbar gemacht hatten und „hinter jedem Haufe, Hinter jeder Erd— 
welle, jedem Baum und Strauch ſächſiſche fampfbereite Soldaten zu finden meinten“. 
Aber fein jolcher Widerftand, keinerlei jonjtiges Hindernis hielt den Marjch der Preußen 
auf. Ungehemmt zogen jie von verfchiedenen Seiten zugleich, gemächlich wie auf dem 
Paradeplat, in Dresden ein und nahmen Beſitz von der hilflojen verwaiiten Stadt. 

Als der Einmarjch erfolgte, befand ich mich mit meiner Reife: und Lebensgefährtin 
in der unmittelbaren Umgebung des bayrifchen großen Hauptquartiere zu Bamberg. 
Unjere Reife von Dresden nach Freiberg und von hier im Poftiwagen nad) Chemnib, 
wo wir wieder die Eifenbahn benugen konnten, war bis Bamberg plangemäß verlaufent. 
Doc; begegnete uns auf der bayrischen Bahn ein Zwijchenfall, welcher die Kopflofigfeit 
beleuchtet, die fich in der allgemeinen Erregtheit der Gemüter auch unſeres Zugperjonals 
bemädhtigt zu haben jchien. Sener Bwifchenfall nötigte ung zu einem mehrtägigen Aufent- 
halt in Bamberg. 

Es gejchah nämlich, daß der Zug zwijchen zwei Stationen auf freiem Felde un— 
erwartet anhielt. — Was mochte die Urfache jein? — Wir follten e8 nur zu bald 
erfahren. Am Eingange des Wagenabfchnittes, den fein Neifegefährte mit ung teilte, 
erjchienen zwei Beamte des Zuges, der Zugführer und der Gepäckmeiſter. Dieſer rief 
die Nummer eines Gepädjcheines herein und fragte, ob der Inhaber desjelben ſich im 
Wagen befinde. Es war die Nummer meines Gepädjcheines, auf welchem eine erheb- 
liche Anzahl von Gepädjtüden verzeichnet jtand, da ich reiste wie der alte Wandsbeder 
Bote, dejien Sprüchlein lautete: „omnia mea mecum porto“. — Von den „omnia 
mea* num fehlte ein Stüd, und zwar gerade dasjenige, welches alles enthielt, was wir 
an beweglichem Gelde und Geldeswerten beſaßen — freilich abgejehen von dem Inhalt 
der Neijefafje. Jenes Gepädjtüd juft jei zurücdgeblieben; alle übrigen „Colli* befänden 
ſich auf dem Zuge, erklärte der Gepäcmeifter; übrigens jei bereits zurüctelegraphiert, 
und das Vermißte werde ohne Zweifel mit dem legten Abendzuge in Bamberg wohl- 
behalten anlangen. Es traf aber erjt nach Verlauf einiger Tage dort ein, nachdem die 
Bamberger Bahnverwaltung, welche vom Direktor bis zum Gepädträger herab dem 
Mißgeſchick die lebhafteſte Teilnahme widmete, alle en in Bewegung gejeßt hatte, 
um mir mein Eigentum wieder herbeizufchaffen. Unterdefjen diente uns die unfreiwillige 
Muße, allerlei Beobachtungen zu machen. 

Wie die Stimmung der vorurteilsfreien Gejellichaftsfreife in Bayern ſei, das 
erfuhren wir fogleich nach unferer Ankunft auf der Fahrt vom Bamberger Bahnhofe 
bis zum „Deutjchen Haufe“, einem im Mittelpunkt der Stadt gelegenen Gafthofe, wo 
wir Wohnung fanden — freilich nicht anders als im Tanzjaale, dem einzigen Gelaß 
des Haufes, welches nicht mit Offizieren des Generalitabes und anderen belegt war. 
Sn dem Dunkel des Gefährtes, welches uns nach dem Gafthofe führte, fanden wir 
bereit3 einen Injafjen, defjen Züge beim völligen Mangel einer Beleuchtung zwar nicht 
zu erfennen waren, der jich aber im Laufe der fogleich mit uns angefnüpften lebhaften 
Unterhaltung als wohlunterrichteter Mann beglaubigte, wie wir denn auch von ihm 
ſelbſt erfuhren, daß er von Beruf Jurist ſei. Unſer anziehender Gefährte entwarf mit 
ſüddeutſchem Eifer ein Bild der die Gejellichaft beherrichenden Stimmung, welches viel- 
leicht perjönlich etwas übertrieben fein, aber im allgemeinen doch die reine Wahrheit 
treffen mochte. Danach mußte man glauben, daß die Politik der Regierung König 


932 Feindliche Brüder. 


Ludwigs von den Kreifen, welchen unjer Gewährsmann angehörte, aufs erbittertjte 
angegriffen und verurteilt wurde; daß man den „Deutjchen Bruderfrieg“ jür ein natio- 
nales Unglüd hielt, von welchem niemand jchwerer betroffen werden könne als Bayern 
und die übrigen mit Defterreich verbündeten Südjtaaten; daß die heimischen Zuftände 
unerträglich geworden; dat jie Auswanderungen veranlaft hätten, wie denn auch unſer 
Gefährte im Begriff ftehe, jeine ihm ſonſt jo liebe Heimat zu verlafien. 

Den jchroffjten Gegenjag zu ſolchen Klagetönen politiicher Verzweiflung bildeten 
die übermütigen Tijchgeipräche, welche die Offiziere aller Chargen, die zum Hauptquartier 
des Oberbefehlshaber der bayrijchen Korps, Herzog Karls in Bayern gehörten, an 
der Wirtstafel des „Deutjchen Haujes* zu Bamberg führten. Die Herren erhigten 
fih) um die Wette zu einer verfrühten Siegestrunfenheit, die in ihrer alles Maß des 
Gejchmadvollen überjchreitenden Ausdrudsweije doch nicht wie ein jelbjtgewijjes Glauben 
an den Sieg, jondern vielmehr wie der Humor zweifelmütiger Verzagtheit oder Un— 
ficherbeit lautete. Sie ſchienen ihre Hoffnung zum Teil auf die Raubgier der öſter— 
reichifchen „Srenzer“ zu jegen. „Die Kerle können nichts Blankes liegen lajjen,“ meinte 
mein Nachbar, ein Rittmeijter der Chevaux-legers. „Wenn fie die blanfgepugten Knöpfe 
der Preußen jehen, find dieſe geliefert.“ Uebrigens verriet mir der Rittmeifter, der mir 
demnach die Ehre erwies, mic nicht für einen Spion zu halten, ohne Scheu, daß er 
auch jeinerjeits nicht frei von Beuteluft je. „Wenn wir nad) Berlin fommen,“ jagte 
er ganz ernithaft, „weiß meine Esfadron, was jie zu thun bat. Ich Habe jie in drei 
Haufen geteilt; der erſte bejorgt das Getränf, der zweite den Küchenbedarf und der 
dritte die — Mertjachen.“ Ein anderer beabjichtigte jogar, Leipzig, doch eine be— 
freundete Stadt, in einen Trümmerhaufen zu verwandeln! Er erregte damit allgemeines 
Aufjehen, und als man ihn nach den Beweggründen folcher — Abſicht fragte, 
erklärte er, die Stadt verdiene fein beſſeres Los, feine Schonung, „denn ſie br Di 
dort ein Gebräu, mit dem jie die Öffentliche Moral beleidigen; fie heißen es Goje*. 
Diejes Wort erregte allen anwejenden Offizieren, einschließlich eines hohen Stabsoffiziers 
mit würdigem, weißen Haupt erjchütternden Schauder des Abjcheues. Dann fam man 
wieder zurüd auf die reiche Beute, die man fich bejonders von einer Plünderung in 


Berlin verfpracdh. Und hier wurde mir der Reim verjtändlich, den in jenen Tagen 
die Berliner Straßenjugend jang: 


Luiſe, thu die Löffel wegk, 
Es lommt der große Benedel. 


Nach der Schlacht bei Königgrät lautete der Spottreim: 


Luiſe, bring fie wieder her, 
Der Benedef, der fommt nicht mehr. — 


Bon dem gefunfenen Vertrauen im öffentlichen Geſchäftsleben hatte ich bereits in 
Dresden eine empfindliche Probe erhalten. Sie beftand in der Schwierigfeit, bare 
Münze zu erhalten. Mein Bankier weigerte fich, ein unanfechtbares, hoch im Kurs 
geitandenes Wertpapier, das er ſelbſt mir vermittelt hatte, anders als wie ein Pfand- 
objeft anzunehmen, gegen das er mir nur die Hälfte des Nennwertes auszahlen wollte. 
Ein Geldwechsler in Bamberg lieferte mir den zweiten Bewei von der allgemeinen 
Mutlofigkeit im Verkehr. An einem ſächſiſchen Bankzettel mußte ich je drei Groſchen 
(30 Bi.) vom Thaler mir abziehen lajjen. Dabei machten die Geldwechsler denn auf 
die bequemfte, mühelofejte Weiſe „gute Gejchäfte”. 

In Mainz, unferer nächiten Nachtherberge, fanden wir in der Wirtsftube des 
Gaſthofes wieder ſüddeutſche Offiziere aller Grade und Waffengattungen. Wir jegten 
bon dieſer ehemaligen Bundesfeitung aus unfere abenteuerliche Fahrt am folgenden 
en fort, wo wir ein Dampffchiff beftiegen. Dasſelbe Schiff benugten preußi- 
che Offiziere, zumeift vom Genieforps, wie auch Zivilbeamte; die einen, um die preußi— 


Feindlihe Brüder. 933 


jche Garnifonfaffe zu retten, welche von gegnerijcher Seite bedroht geweſen jei; die 
anderen, um fich jelbjt und ihre Habjeligfeiten aus gleicher Gefahr in Sicherheit zu 
bringen. Zu der fahrenden Habe diefer Herren gehörten auch lebende Produkte ihrer 
„bühnerologischen“ Beitrebungen, die in ihren Korbgehäufen fich der zarteften Sorgfalt 
ihrer Eigentümer erfreuten. Die Offiziere waren von heiterjter Laune bejeelt, und man 
fühlte, mit welch anderem, freudigen Vertrauen als ihre Herren Kameraden im Deuts 
fchen Haufe zu Bamberg fie ſelbſt der Entwidelung des friegerifchen Dramas ent- 
gegenhofften. 

Wie ſolche Hoffnungen alsbald — ja nach Verlauf der ereignisreichſten ſieben 
Tage, welche wohl die Kriegsgeſchichte aller Zeiten kennt — durch die preußiſchen 
Waffenerfolge ſich rechtfertigten; mit welcher Unaufhaltſamkeit die ſiegreichen Truppen 
auf dem böhmiſchen und ſüdweſtdeutſchen Schauplatz vordrangen; welche Meiſterzüge 
ber ſtrategiſchen Beweglichkeit großer Truppenmaſſen die verblüffte Welt da erlebte — 
die Gegner nannten diejelbe ärgerlich „affenartige Gefchwindigfeit“: — das liegt alles 
außerhalb des engen Kreijes von Privaterinnerungen, wie fie hier erzählt werden jol- 
fen. Doc war mir vergönnt, noch nach der thatjächlichen Beendigung des kurzen 
glorreichen Doppelfeldzuges ein denfwürdiges Beijpiel jener „affenartigen Gefchwindig- 
nn 3 — Dasſelbe führt auf den Beginn des Feldzuges zurück und ſpielte 
in Kaſſel. 

Nach dieſer früheren Reſidenz des jüngſten und letzten deutſchen Kurfürſtentums 
führten mich zu Anfang des Septembers 1866 perſönliche Zwecke, die einen mehrtägigen 
Aufenthalt erforderten. Während der Dauer desſelben erwartete die Bevölkerung von 
Kafjel die Rüdkehr der heſſiſchen Truppen. Das Oberfommando der verbündeten jüd- 
deutjchen Streitkräfte ſchien in die preußen-feindliche Gefinnung a jeiner Truppen- 
förper ein — wohl nicht ganz unbegründetes — Mißtrauen zu feßen. Unter einem folchen 
hatten vornehmlich die Heffen-Kafjeler zu leiden. Man überwies ihnen die Delegung er 
Feſtung Mainz, wo fie fich fajt während de3 ganzen Feldzuges zur Unthätigleit ver: 
urteilt jahen wie internierte Kriegsgefangene. 

Kurz vor der Erlöfung der hejfiichen Regimenter aus ſolchem unwürdigen Bann 
und vor ihrem Einmarjh in die heimatliche Hauptſtadt ſaß ich eines Abends mit 
etlichen — „beim Cimiotti“, einer beliebten Trinkſtube alten, einfach-behaglichen 
Stils. In der Tafelrunde Hatte ich meinen Pla gefunden neben einem mir unbe- 
fannt gebliebenen Offizier, den ‘ feiner Uniform nach zuerjt für einen preußifchen 
Ingenieur hielt. Es befand fich feine andere Uniform unter den dermaligen Gäften. 
Auffällig wurde mir, daß mein Nachbar, mit dem eine anregende Unterhaltung bald 
in beften Fluß geriet, Fein Seitengewehr trug. An einem Nagel der Wand, wo eine 
Offiziergmüge unter „zivilen“ opfbebedungen hing, juchte ich) den Degen ebenfalls ver- 
gebend. Die Frage, welche ich an diefen Nachbar in ſchicklicher Weile zu richten mir 
erlaubte, ob er etwa al3 Duartiermacher oder als FFourier-Dffizier den heſſiſchen Trup- 
pen vorausgefandt fei, verneinte er lächelnd. Seine Mundart hatte mich indejjen jchon 
überzeugt, daß er Hefje war; ein Umftand, über den mich die Aehnlichkeit der Uniform 
mit der preußifchen anfänglich täufchen konnte. Meine Verwunderung wuchs, als der 
Leutnant, wie es mir jchien, mit einiger Verlegenheit erklärte, er habe am Feldzuge 

ar nicht teilnehmen fönnen, fei vielmehr während der Dauer desjelben nicht über 
Rafiels Weichbild Hinausgefommen, „der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe — 
eitierte er wehmütig. „Sie waren genötigt, in Kaffel zu leben?“ fragte ich. „ALS 
preußijcher se he eh auf Ehrenwort* — beftätigte er. Und dann gewährte er 
mir die Bitte, den Hergang feiner Gefangennahme zu berichten. 

„Vielleicht war ich der erite Offizier der preußifchen Gegenparteien, der ein Bei- 
jpiel von jener ‚affenartigen Gefchwindigfeit‘ ihres gemeinjamen Feindes erleben durfte.“ 
Mit diefer Einleitung begann der preußifche Kriegsgefangene feine Halb ernite, halb 

Allg. foni. Monatsichrift 1888. IX. 60 


934 Feindliche Brüder. 


humoriftiiche Darftellung, deren weſentliche Einzelheiten, napp zufammengefaßt, fol- 
gende waren: 

Als die furfürftliche Regierung die vom preußiſchen Ultimatum gewährte vierund- 
zwanzigftündige Friſt hatte verftreichen laſſen, ohne die geforderte Erklärung ihrer 
preußijchen Heeresfolge abgegeben zu haben, mußte fie friegeriiche Vorbereitungen treffen, 
da ihre paſſive Weigerung nach der preußifchen Forderung in Berlin als Kriegserklä- 
rung aufgefaßt werden jollte Die vomehmlichite Sorge der militärischen Oberleitung 
in Kaſſel beftand nun darin, dab zur Sicherftellung kurfürftlicher Nefidenz die Zugänge 
zur Stadt ungangbar gemacht würden. Mein Herr Berichterjtatter und Tijchnachbar 
‚beim Cimiotti‘ wurde — er war Ingenieur-Offizier — mit einem Bifett von vierzig 
Pionieren feines Zuges nad) Ountershaufen entjendet, um dort die Eijenbahnfchienen 
auszubeben. Bevor er dieſes Zerſtörungswerk in Angriff nahm, meldete er feiner In— 
ftruftion gemäß jeinen Auftrag telegraphifch nach Bebra mit der Weilung, dort ein- 
treffende Eijenbahnzüge von diefer nächitbenachbarten Station aus nicht weiterfahren zu 
laſſen. Im kürzeſter Friſt erfolgte von der Stationsverwaltung Bebra die Antwort: 
„Mit dem Aufbrechen der Schienen warten, bis der hier joeben paffierte Güterzug 
dort eingetroffen.“ Jetzt bemerkte der Empfänger diefer Depejche auch, daß ein ans 
fommender Zug SJignalifiert jei. Nicht lange, jo wurde auch jchon die Dampfwolfe 
desjelben in der Ferne fichtbar. Bald erkannte der beobachtende Offizier bereits klar 
den Charakter des heranrollenden Zuges. Auch die gemäßigte Bewegung bejtätigte 
denjelben: es war der angekündigte Güterzug. Diejer kam in jeder Sekunde näher. 
Und nun war er nahe genug, um hinter den geöffneten Fenſtern eines, die Güterwagen 
führenden PBerjonenwagens Inſaſſen bemerken zu laffen. Sie trugen Offizierduniformen 
und Helme. Doch wie? — Waren das hejjiiche Helme? — SKeineswegs! — Das 
geübte Auge des Offizier überzeugte ſich nur zu bald und zu ficher: dieſe Helme wa- 
ren preußische Helme. Und dann jah er gar, daß die jchweren Thüren der zahl: 
reichen großen Güterwagen halb geöffnet waren und daß in denfelben preußische Pidel- 
hauben und unter diefen, Kopf an Kopf, muntere Soldaten ſich drängten, die Blide 
nach dem Bahnhof Guntershaufen gerichtet; der nicht wenig überrajchte Beobachter 
glaubte die unerwarteten Gäfte zumeilen fröhlich lachen zu hören. — „An die Ge- 
wehre!" — fommandierte er. Seine 40 Pioniere ftellten ſich mit Front nad) der Rich- 
tung des inzwischen nahe herangefommenen Zuges auf. Nun hielt derjelbe am Perron. 
Die Thür des Perjonenwagens wurde geöffnet, und heraus fchwang fich ein preußijcher 
Hauptmann, jalutierte mit militäriſchem Anftande und bat den heſſiſchen „Herrn Ka— 
meraden, den Scherz diejer Kleinen Ueberrajchung zu verzeihen.“ 

„Sie werden meine Antwort aus Bebra erhalten haben. Ich befand mich in der 
Lage, Ihre gütige Mitteilung perfönlic erwidern zu fönnen, und erlaubte mir die 
Wendung von dem abgegangenen Güterzuge, weil ich nur fo hoffen durfte, Ihre ange- 
nehme Bekanntſchaft zu machen. Hoffentlich wird unjere Begegnung feine Weiterungen 
veranlajjen. Sie haben da Leute — hübſche fchlanfe Pioniere — es werden etwa 
gegen vierzig oder funfzig Mann jein —“ 

„VBierzig, Herr Hauptmann.” 

„Ohne Bedeckung reife auch ich nicht, Herr Leutnant; ich habe übrigens hier nur 
hundertundzwanzig Mann zur Stelle. Wollen Sie es etiwa mit mir verjuchen?“ 

„Dazu habe ich Feine Inftruftion, Herr Hauptmann“, 

„Dann erjuche ich Sie ergebenft um Ihren Degen und um Ihr Ehrenwort, in 
* gegenwärtigen Feldzuge keine feindlichen Handlungen gegen Preußen zu unter— 
nehmen“. 

Der Leutnant gab das Ehrenwort und überreichte feinen Degen. 

„Danke, Herr Kamerad! um bitte ich noch, Ihre braven Leute entwaffnen und 
nach Haus jchiden zu dürfen. — Bei Muttern iſt's immer am beften!“ wandte er fich 
zu den Bionieren, die der Unterredung mit Spannung gefolgt waren. 


Feindliche Brüder. 935 


„Das ift die Gejchichte der affenartigen Gejchwindigfeit, durch welche ich preußi- 
ſcher Kriegsgefangener wurde. Ich bin micht viel fchlechter dabei gefahren als meine 
Landsleute, die in Mainz interniert wurden, und zwar nicht vom Feinde, fondern von 
Verbündeten, die ji unjere Freunde nannten.” — So ſchloß der Offizier die fefjelnde 
Schilderung feines Abenteuers. Der Groll gegen die Verbündeten hatte fich indefjen 
in den Gemütern feiner von Mainz zurüdgefehrten Kameraden bis zur leidenjchaft- 
lichten Erbitterung gefteigert. Einer der Offiziere, die mitausgerüdt waren und nun— 
mehr ihre Garniſon in Kafjel einftweilen wieder bezogen, gab jener Stimmung jehr 
draftiichen Ausdrud. Als Feldzeichen diente eine jchwarzrotgelbe Armbinde, durch 
welche die Truppen der verbündeten Eüdftaaten von den mit weißer Armbinde kennt— 
lich gemachten Truppen der Preußen und ihrer norddeutjchen Freunde fich unterjchieden. 
An der Wirtstafel boten die Friegerifchen Erlebniffe reichen Stoff der Unterhaltung. 
Jener Offizier num jchilderte den Unglimpf, mit welchem den hejjiichen Truppen be- 
egnet worden fei, in lebhaften Farben; er erwähnte unter andern ihnen zugefügte 

änfungen auch die der heffiichen Kavallerie widerfahrene. Diefe ſei nur einmal und 
nur zum Schein zur Verwendung gefommen; jei in fumpfiger Gegend aufgejtellt wor- 
den, welche jede freie Bewegung unmöglich gemacht habe. Jene und andere Erinne- 
rungen fteigerten den Erzähler in eine jo hochgradige Entrüftung hinein, daß er die— 
felbe an der fchwarzrotgelben Feldbinde augließ, fie aus der Uniformtafche hervorriß 
und mit dem Ausdrud leidenschaftlichen Hafjes mit Füßen trat. 

Gott ſei Dank, daß jene feindjelige Yerfplitterung der deutjchen Stämme hoffent- 
lich für immer ihren herrlichen Ausgleich gefunden hat; daß es feine fchwarzrotgelben 
und weißen feindlichen Feldbinden und Heere auf deutſchem Boden mehr gibt; bob alle 
das eine jchwarzweißrote Banner in Krieg und Frieden zu einer gefehfoffenen eijernen 
Mauer verbindet, am welcher jeder Gegner, fo Gott uns beifteht, ſich den Schädel zer- 
— wird. Aber um dieſes hohe Ziel zu erreichen, war das blutige Vorſpiel des 

eutſchen Bruderkrieges notwendig, ein kurzer ſchmerzlicher Krampf der Jungfrau Ger- 

mania, eine heftige Kriſis jahrhundertelangen Siechtums, eine wundervolle „Wendung 
durch Gottes Fügung“, aus tiefer Ohnmacht und Schmad) eine herrliche Auferftehung 
in ftolzer Kraft und wiedererworbener Ehre! —I— 


60* 


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— 


Eine deuffche Dichterin vor hundert Jahren. 


Bon 


Martin von Nathuſius. 


IL Georg Foriter. 


Am Ende des Jahres 1778, defjen Frühjahr den ruffichen Freund von Göttingen 
entführt hatte, fam Georg Forſter dorthin und wurde auch im Gattererfchen Haufe 
befannt. Philippine trat mit ihm in engen freundfchaftlichen Verkehr; und daß ſich 
das Band nicht noch feiter Fmüpfte, lag wohl mit in der unglüdlichen Liebe, die 
damals noch ihr Herz mit Trauer und Hoffnungslofigfeit erfüllte. 

Forfter, diefer mehr durch feine edlen Irrtümer und fein trauriges Schidjal, als 
durch das, was er etwa geleijtet, der Welt befannt gewordene Mann, war der Sohn des 
berühmten Naturforfher® Johann Reinhold Forfter, der anfangs Prediger in 
Nafienhuben bei Danzig war, wo Georg im Jahre 1754 geboren ift. Al3 elfjähriger 
Knabe Hatte er den Vater auf einer naturwiſſenſchaftlichen Reife in das füdliche 
Rußland begleitet, die derjelbe im Auftrage der ruffischen Regierung gemacht und auf 
der er mehrere Jahre zugebracht hatte. Im Auftrag der englischen Regierung ging 
der Vater Forjter dann mit Kapitän Cook auf deſſen Neike um die Welt. Und 
wiederum begleitete ihn der num herangewachjene Georg. Nach der Nüdkehr lebte 
die Familie jeit vier Jahren in London, unter dem Undanfe der englifchen Regierung 
leidend, den fich der alte Neinhold durch fein feltfames und barjches Weſen wohl 
—— ſelbſt zugezogen haben mochte. Ja, er ward ſogar in den Schuldturm 
geſteckt. 

Sein Sohn Georg unternahm teils zu wiſſenſchaftlichen Zwecken, teils um ſeinem 
Vater eine anderweitige Aushilfe zu verſchaffen, im Jahre 1777 eine Reife nach 
Paris, wo er Buffon Fennen lernte, und im darauf folgenden Jahre fam er über 
Haag und Düffeldorf nach Kafjel, das fich damals unter dem Landgrafen Friedrich II. 
zu einem Ffleinen Paris auszubilden begann. Er fand auch wirklich bald eine 
Anftellung als Profefjor der Naturgeichichte mit 450 Thalern Gehalt an dem neu 
— Kollegium Karolinum, nachdem er ſie vergeblich ſeinem Vater zu verſchaffen 
geſtrebt Hatte und durch die Hartnäckigkeit, womit er an dieſem kindlichen Wunſche 
bing, fie faft auch für fich felbjt verloren hätte. Ehe er aber fein Lehramt antrat, 
bedingte er fich noch einen dreimonatlichen Urlaub aus, um für feinen Vater noch 
weiter nach einer Anjtellung oder Unterftügung ſich umzufehen. So kam er gegen 


Eine deutſche Dichterin vor Hundert Jahren. 937 


Ende Dezember des Jahres (1778) zuerjt nach Göttingen und blieb dort vierzehn 
Tage, ehe er weiterzog nad) Berlin. 

Der 24jährige Weltumfegler, der jo manches erlebt und fich ſchon in der wiffen- 
ichaftlichen Welt befannt gemacht hatte, zog natürlich die allgemeine Neugier der 
Menjchen auf fich. Aber fein anjpruchslofes und gegen jedermann gleich wohlmwollendes 
Weſen gewann ihm jchnell mehr als ein flüchtiges Sntereffe Aus jeinem Briefwechjel, 
der von feiner Gattin, der nachmaligen Therefe Huber, in zwei Bänden heraus: 
gegeben it (Leipzig 1829), lernt man den liebenswürdigen Menjchen fennen. Er 

efennt jich darin voller Schwächen, aber wenigftens von der einen frei, dem geiftlichen 

Stolze. Die viele Liebe und Freundſchaft, die er empfange und bie ihm rühre, 
bewetje für feinen Charakter. „Ich gefalle”, jagt er einmal mit der ganzen Naivität 
des natürlichen Menfchen, „weil ich ohne Prätenfion bin und jedermann Wohl, 
feinem Uebel wünſche.“ — „Uneigennüßig fcheinende Liebe rührt die Menfchen immer 
am tiefften.” Daraus ſchloß er, da fie im Grunde durchaus gute Gejchöpfe feien. 
en ift der größte Vorteil des Menjchen, teilnehmend und liebevoll gegen die Welt 
zu ſein.“ 

Plato dachte ander8 über die Menjchen, der einmal ausgeführt hat, daß es 
einen vollfommen guten Menjchen nicht gäbe. Und wenn er erjchiene, Die Welt 
würde ihn nicht verftehen — man würde ihn freuzigen. In der That jehen wir ja 
auch an Jeſu Ehrifto, daß es nicht immer „vorteilhaft“ ift, „teilnehmend und liebevoll 
gegen die Welt zu jein.” Doc Forſters Anfichten in diefem Punkte fennzeichnen gut 
jenen Beitabjchnitt, in dem der Kultus des Genius und die Vergötterung der menſch— 
lichen Natur vorbereitet wurde. Ebenſo Iehrreich ift aber, grade an Georg Forſter 
die Entwidlung zu beobachten, die diefe Richtung immer nehmen muß. Bei jeinem 
Hange zur Schwärmerei, der fich fpäter jo verhängnisvoll entwidelte, „jpiegelte ihm,“ 
wie die Herausgeberin jener Briefe jagt, „jein allgemeines Wohlwollen für die 
Meenichen noch bei dem einzelnen, der ihm lieb ward, den höchſten Grad der Vor— 
trefflichfeit vor.“ So jchreibt er ſelbſt noch einige Jahre ſpäter: „Ich geſtehe Dir 
meine Schwäche, ich, ein Mann von dreißig Jahren, der manches gelitten und erfahren 
hat, der gegen die Welt und ihre Neize gleichgiltiger fein, der jo mancher Thorheit 
jpotten jollte, ich fann noch nicht immer dies Herz, das feinen eigenen Willen hat, 
im Baum halten und laſſe e8 nur gar zu oft, nach einem faum merklichen Widerjtande, 
mit mir forttreiben, wohin es will.” 


Wohin es ihn fpäter noch getrieben, werden wir gleich jehen. Worläufig war 
er aljo in Göttingen und kam auch in Gattererd Haus. Er jchreibt darüber an 
jenen Vater: „Von der trefflihen Gattererfchen Geographie hat Ihnen PBrofefjor 
Lichtenberg gejchrieben. Schade, daß nur ein Band heraus und der Mann jo kränklich 
iſt. Seiner Tochter Philippine Gedichte werden Sie durch die Göttinger Anzeigen 
ichon kennen. Sie find jehr ſchön, und das Mädchen ift jo lebendig, jo wißig, jo 
freimütig, daß mein erjter Befuch ſchon über drei Stunden dauerte, und ich die ganze 
Zeit fajt allein mit ihr fpradh, während daß Lichtenberg die übrige Familie, die jehr 
zahlreich ift, unterhielt. Ihre ältere Schweiter boffiert niedlich in Wachs und iſt 
hübfcher, auch jehr angenehm im Umgang. Aber Philippinen jteht das Maul nie ſtill.“ 

Wenn er dem Bater das tiefere Intereffe, das er an Philippinen gewonnen, 
nicht gefteht, jo konnte er es fich jelbit nicht verhehlen. Die Belanntichaft zweier 
Menſchen wie dieſe beiden jungen Leute, die beide nur auf das im Berfehr einzig 
Intereffante, nämlich da8 Empfinden und das innere Leben des Menjchen, ausgehen, 
und dabei das eigene Innere jo frei im Auge und im Munde haben, ift jchnell ge- 
ſchloſſen. In den wenigen Tagen fteigerte fich die erfte Teilnahme zum höchiten 
Vertrauen — wozu wohl die befondere Lage beider das ihrige beitrug, Was 
Philippine damals noch bewegte, ift fchon erwähnt, und bei Forjter war es das tiefe 


938 Eine deutiche Dichterin vor Hundert Jahren. 


Ergriffenfein von dem Unglüd feiner Familie, das ihn ja auf Reifen getrieben hatte, 
welches jegt jein Denken und Fühlen beherrjchte. 

Sch gebe nun die drei in meinem Befige befindlichen Briefe von Georg Forſter 
wieder, von denen die beiden erften noch in Göttingen, der dritte bald nachdem er es 
verlaffen hatte, an Philippine gefchrieben find. Der erſte bezieht fich auf ihm über- 
fandte Gedichte von ihr: 


l. 


Der ſanſten Dichterinn, die unvermerft gute Werfe ausübt, auch an mir, lohn’ e3 
der allgütige Himmel! — Alles Hab’ ich gelejen in glüdlicher Stunde; ich war allein, 
und Eonnte meinen Empfindungen freien Lauf lafjen. Unter den vorgejegten Be- 
dingungen, die ich willig eingehe, habe ich mir das an einen Freund der aufs Land 
09 — das trauernde an die Freude — das überirdiiche am Geburtötage — das 
ie vor dem Spiegel, — und das melancholiſch-hinreißende im einer traurigen 
Naht — abgefchrieben. D! warım mus die Traurigkeit jo oft de3 Verdienſtes Be— 
leiterinn jeyn? Warum trift jo manche bittre Stunde, jo manche Widerwärtigfeit Die 
—— reine Tugend? — Es mögte mir nicht ziemen Troſt und Muth en, 
weil ich ſelbſt viele finſtere melancholijche Gedanken hege; weil ich, (zwar nicht für 
meine a Perſon, aber in vielen andern) höchſt unglüdlich bin, weil ich — vielleicht 
nie glüclich werde? — und dennoch wagt’ ich es gar zu gern, hier mit Werthern zu 
jagen: „Sch will mich befjern, will nicht mehr das Bischen Uebel, das das Scidjal 
uns vorlegt, widerfäuen; Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Bergangene 
foll mir vergangen fein." Ja gewis! Auch in dieſer Welt empfängt jeder jein be- 
jcheiden Theil von Freude und Glüd, — fehlt's doch meistens nur am Willen zu 
erfennen. — Die Lage in England zurücgelaßner Verwandten, — es giebt Augen- 
blide, Stunden, Nächte, wo diejer jchmerzhafte Gedanke mic) zu Boden reißt und 
der Thränenftrom nicht verfiegen will — dagegen, die Beruhigung jelbft, dieſen Ge— 
danken jo fühlen zu können! und die Seeligfeit, wo ich nur hinfomme, warme, wahre, 
göttliche Freunde zu finden, in die Falten ihrer umfaßenden Seelen mich zu hüllen, 
gen) verjtanden zu werden, mein Herz vor ihnen auszufchätten, an ihrem frommen 

ufen neue Qujt zum Leben einzuhauchen! — Ihr Neichen gehabt euch wohl mit 
eurem Golde. Sch jpiegle mich, empfinde mein Dafeyn, an lebendigen mir ähnlichen 
Weſen, und ihr? — an der todten Materie! — — 

Unvergeslich find mir die mitgefchiekten Zeilen. Sie drangen zu tief in meine 
Seele, je den Rückweg zu finden. „Fern oder nah“, will ich nie vergejien, daß ic) 
die Seele fand, der ich beim erjten Anbli die reinſte Freundichaft weihen Eonnte. 
Heiliges Seelenband! das — o ich ſchwärme nicht! — über's Grab Hinausdauert! — — 

Leben Sie wohl, theure Philippine! Bald find Sie glüdlich. Ihr ſchönes Herz, 
Ihre Berdienste können nicht lange ungelohnt und ungenuzt bleiben. Die Nachwelt 
ſoll Ihnen noc mehr als Gedichte zu danken haben. — Mir wird die Nachricht einen 
heitern Tag, und die Erinnerung manche frohe Stunde machen. — — — Und find 
Sie dereinſt glüclich, jo denken Sie auch an Ihren aufrichtigen jteten Freund, 

31. Dec. 1778. Georg Forſter. 


2. 
Nach Mitternacht. 


Heilig find mir die harmlojen Vorurtheile Edler Seelen — heilig auch, und nie 
u entweihen, die Empfindungen der Freundſchaft! Ein doppelter Beweggrund, fo ans 
——— leichtſinnig zu handeln als ich den Abend that. Hätte ich meinem Gefühl 
nachhängen dürfen, ich würde traurig, ſtill und allen die mich nicht verſtanden 


Eine deutjhe Didterin vor Hundert Jahren. 939 


hätten, unerträglich geworden jeyn. Misverjtändnis aber, und Misdeutung find nahe 
verwandt. Ihnen, theuerite Freundinn, die mich allein verjtanden hätte, mogte mein 
Leichtfinn ohne diefe Erklärung eben jo misfallen, als e3 andern der ungezwungene 
Ausdrud meines Herzens gethan hätte. Bedauern Sie mich, daß ich durch meine 
eigne Schuld um joviel Freude gefommen bin, und das Glüd verſcherzt habe, noch 
eine (jagten Sie nicht, die Liebfte?) Ihrer Schweitern fennen, oder welches bei dem 
Nahmen Gatterer einerlei iſt, Hochichägen zu lernen! Die gezwungene, abgebrochene 
Unterredung konnte mir blos die Größe des Verlufts, nicht die Mittel ihn zu erjeßen 
anzeigen. — Tauſend Dank aber nehmen Sie hin für das warme Mitgefühl womit 
Sie meine Freimüthigfeit belohnten. OD! ich will nicht mehr einjame Nächte durch. 
weinen, und wenn bange jchauerliche Melancholie mit Schwarzen Fittigen mich umflattert 
— will idy mir zurufen: „Sie gebot Dir fröhlich zu ſeyn!“ ..... 

Ich nehme Hier Abjchied, weil ichs heute wieder nicht werde thun fünnen. Eine 
Verbeugung, ein Händedrud jage Ihnen, Ihr Freund gehe mit dem gerührtejten Herzen 
dahin! — Er wünjcht Ihnen das verdientejte Glück und zweifelt nicht, daß es Ihnen 
bald zu Theil werde! Wie wird er ſich freuen, wenn er hört, dak nun endlich einmal 
das Schickſal gerecht geworden jei! — Adieu, Philippine! Lebewohl! G. F. 


3. 
Berlin d. 15ten Februar 1779. 

„Er wird Vater und Mutter verlaſſen.“ Freilich einer der urälteſten Ausſprüche 
über'3 Menſchengeſchlecht! Aber ſollt' er ohne Ausnahme ſeyn? Es giebt gewiß Fälle, 
wo das Gefühl der Kindesliebe fiegt und fiegen muß, wo jede Danf-Erinnerung an 
das wohlthätige Väterliche Dach nun laut um Wiedervergeltung weint! Weltern leiden 
jehn, die der Tugend treu, dem Nächten hold, und Lehrer alles Guten uns gewefen, 
— und alsdann, nachdem wir jelbjt dem gejcheiterten Schiff entichwommen, den 
Sinfenden vom fejten Ufer aus Feine hHülfreiche Hand zu bieten, kalt und unthätig 
hinabzubliden, oder gar unbekümmert landeinwärt3 zu wallen durch Myrtenhain’ und 
Roſengebüſch' — E3 mag Menſchen-Weiſe jeyn; nur meine Weije nicht. 

Verhüte Gott, da aus diefen Zeilen Eigendünfel hervorjchimmere! Wer bier 
alles erfüllt und nach Wunjch vollendet Hat — der hat feine Pflicht gethan. Aber 
ih — habe nur alles verjucht ohne etwas auszurichten. Tauſend Menſchen jah ich, 
an die ich ſonſt nie gedacht; vielen lebte ich zu gefallen, die es nicht verdienten; oft 
riß ich mich von denen weg, die mein Herz ſich erwählt hatte, um die langen Stunden 
durch zu bofiren, oder mein Anliegen vornehmen Gönnern zu eröfnen, und ch’ ichs 
halb ausgeframt, mit einer Winternacht3-Miene außer Fafjung gebracht zu werden. 
Allein auch dieſe Beichäftigung war mir heiljam. Nicht aus dem jchäumenden Quell 
der Freuden jchöpfe der Kranke, jondern vom Gejundbrunn'! 

Hiernächſt, werthejte Freundin, will ichs verjuchen, mein zeitheriges Schweigen zu 
entjchuldigen. — Oder überhebt mich dejjen das Vorhergehende? Sie tadeln den nicht, 
der zu Gajt gehen will, aber unterweges bet einem Liebesdienit feinen Sonntags-Nod 
bejprüzt, und das Gelag verjäumt, welches er morgen nachholen fann. Wie viel mehr 
verdiene ich Ihr Gutachten, da ich nicht weis ob ich je wieder meine Empfänglichfeit 
anziehen, und in dieſem leichten Gewande jorgenlos in die Blumenwelt hüpfen werde? 
— Einige mislungene Verjuche find jchuld, daß jezt erſt meine ſchwerſte Arbeit an- 

eht, bei der ich jelbit meine Kräfte in Zweifel ziehe. Es bleibt mir fein Augenblid, 
Beet Aber, jo eine Mutter! folche Schweitern! Und diekeit des Ziels zu ermüden?... 

Das mitternächtliche Schreiben ift mir ein ſchäzbares Denkmal Ihrer Freundichaft; 
haben Sie vollen Dank dafür. Der Beifall unjerer Freunde ift ein tiefdringender Sporn, 
der nicht wehe thut. Dem Matrofen, der an der Ankerwinde ermattet, ift das Jauchzen 
am Strande Erquidung. 


940 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Mit Recht fagten Sie, „nur die Verlegung des innern Gefühls der Tugend fei 
ſträflich“. Ich lobe mir die Freimüthigkeit die aufs Bewußtjeyn der Unſchuld baut. 
Defto überflüjjiger war Ihre geäußerte Furcht vor übler Deutung. Wie jollte ich 
einen Augenblick zweifeln, daß Berdienjte, die meine Achtung und Freundſchaft nach 
fich zogen, andern empfänglichen Herzens nicht auch das wärmere (gleihwohl flüch— 
tigere) Gefühl der Liebe einflößen können? Bielmehr wollte ich wetten, daß noch 
mancher die Zahl der ſchon angeführten Verliebten vergrößern werde. Ihrer find oft 
mehr als wahrer Freunde Wählen Ste glüdlich, wie Eolibri!*) Ihre Freunde bleiben 
Shnen doch, und nach) dem erſten Taumel der Liebe finden Sie immer noch, daß diefe 
Leidenschaft das Herz nicht ganz erfüllen fann; die ruhigeren Freuden der Freundichaft 
haben alsdann auch ihr angewiejenes Stündgen. Dies Stündgen fei mein! 

Gegen das Ende des Märzen bin ich in Caffel, und vielleicht, wenn der junge 
Mai im Schooſe der Mutter erwacht, komm' ich auf ein paar Tage nach Göttingen. 
Leben Sie recht wohl, und vergnügt! ®. F. 


Philippinen Briefe zu erlangen, iſt nicht möglich geweſen. Doch tritt auch ihr 
Bild aus diefer Korrefpondenz des Freundes in einzelnen Strichen hervor. Der An— 
fang des dritten Briefes bezieht fich offenbar auf die Frage, die wir oben ſchon auf- 
warfen, warum das Band zwilchen beiden ich micht noch enger knüpfte. In diefe 
Erwägungen aber über Freundjchaft und Liebe, die Forſters Briefe anregen, paßt jo 
fehr ein Gedicht Philippinens aus dieſer Zeit, dab ich es, wenn e8 auch an einen an— 
deren Freund gerichtet ijt, doch hierher ſetze. Iſt doc) fein Inhalt für jene Zeit be- 
ſonders charafteriftijch. 


Un Herrn ©. W. 


u ihr, die Gott uns hier verlichen, uns Troſt in jeber Qual zu fein, _ 
ur hohen Freundihaft will ich fliehen, und ihrem Dienft mein Leben weih'n! 


So dacht ich, ald aus meinen Bliden der Kindheit langer Traum entflog, 
Und id), mich ewig zu beglüden, der Erde Lieblingsfreuden wog. 


Drauf ſucht ic die auf meinen Wegen, die auch zur Freundichaft fich bekannt; 
Bald famen viele mir entgegen — und und umgab der Freundſchaft Band. 


Wie über junge Frühlingsblüte, in der man fhon die Hoffnung liebt, 
Daß einftens ihrer Früchte Güte uns Süßigkeit und Kühlung gibt, 


So konnt' ich über fanfte Blide und fromme Worte mid erfreun: 
„Bu euch komm' ich getroft zurüde, will mir dereinft ein Unglüd dräun“. 


Doch wie die zarten Blüten ſchwinden, wenn fie ein kalter Reif umaleht 
&o mußt ich oft die Freundſchaft finden, die erft jo Hoffnungsvoll geblüht. 


Nur felten ward mein Wunſch erfüllet, oft täujchte Weiberneigung mid. 
Und in der Männer Freundichaft hüllet oft unvermerft die Liebe ſich. 


Doch fand id auch — was mehr ald Kronen, und alle Schäße dieſer Welt — 
Sand Menſchen, voll von janftem Schonen, und die durch Falſchheit nicht entftellt. 


Du willſt die Heine Zahl vermehren, die mir die Freundichaft zugeführt ? 
Wie muB mid diefer Vorjag chren, da dir der Tugend Ruhm gebührt. 


Wie fih zwei Wanderer begegnen, auf —— Pfad im Hain, 
Wie ſie, noch unbelannt, ſich ſegnen und ſich des guten Zufalls freun: 


So kamſt du jüngſt aus ſernem Lande, und unſre Seelen trafen ſich 
Und jetzt verfnüpfen ſanfte Bande der Sympathie ſchon dich und mid. 


*) Solibri und Willibald, — fo heißt eind von Philippinens Gedichten. 


Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 941 


Ih fah aus deinen offnen Zügen die reine Seel’ im Angeſicht, 
Nein! — dieſes Lächeln kann nicht trügen! Und — Wonne! — es betrog mich nicht! 


Nur wenig Tage fi & fennen — und ſchon entfliehft du meinem Blid? 
D, denke, wenn und Länder trennen, mit Wärme nod an mid, zurüd! 


Coll ich dich hier nicht mehr erbliden — ein leiſes Ahnen fagt e8 mir — 
So ſeh' ih dort did) mit Entzüden — Gch! — Meine Wünſche folgen dir! 


— beſuchte im ſpäteren Verlauf desſelben Jahres (1779) Göttingen von 
Kaſſel aus noch mehrere Male, um ſich in der Bibliothek bei ſeinen litterariſchen Ar— 
beiten Rats zu holen. Da wurde er auch in des Philologen Heyne Haus aufge— 
nommen, und Philippine hatte den kleinen Schmerz, zu bemerken, wie ſich ihr Freund 
bald von ihr ab und mehr der Tochter Heynes, Thereſe, zuwendete, die nachher ſeine 
Frau und unter ihrem dritten Namen als Thereſe See eine gefeierte Schriftjtellerin 
geworden ift. Namentlich auf einem Balle, wo diejelbe in einem leide aus von ihm 
mitgebrachtem otaheitiichem Stoffe erjchien, gewann fie fein Herz. Doc hat die 
Freundfchaft mit Philippine darum nie ganz aufgehört und fie hat bejonders teil- 
nehmend feiner gedacht, als jpäter alle Welt ſich von ihm losſagte. 

Sch denke, daß es dem Lefer erwünjcht fein muß, zu wifjen, wie e8 dem Manne, 
in defjen leicht bewegliche und edel denfendes Herz wir jebt einige Blicke gethan 
haben, weiter ergangen ift, und führe deshalb in A Strichen fein Leben hier 
u Ende. 
, Seine Bemühungen in Berlin für den Bater waren, wie der Brief von dort 
ſchon durchfühlen läßt, fruchtlos. Nur auf der Nüdreife erhielt er in Deffau eine 
fleine Unterjtüäßung vom Fürften Leopold. Im März mußte er, jo gern er noch 
einige Jahre ſich und der Wiffenfchaft allein gelebt hätte, fich in das Joch feines 
Amtes fügen, das ihm zwar bei der geringen Frequenz des Karolinums wenig Arbeit 
machte, aber durch den ihm dabei auferlegten Unterricht am Kadettenhaufe und die 
Schwierigkeit, dort Urlaub zu erhalten, läftig genug war. Den Ertrag feiner litterari= 
fchen Arbeiten und einen Teil jeines® Gehalts mußte er für die in England zurüd- 
gelaffene Familie (die Eltern und Gejchwifter) verwenden. Dabei fehlte e8 ihm immer 
jelbft, und bei feinem genialen Charakter wußte er ſich — bei dem beiten Willen — 
nie richtig einzujchränfen. Bald trat er in den geheimnisvollen Rofenkreuzer-Drden 
ein, jene wunderbare Gejellichaft, von der man noch immer nicht weiß, ob fie einer 
Satire oder einem ernjt gemeinten Verſuch im Anfang des 17. Jahrhunderts ihr 
Dafein verdankt, die aber in der Mitte des 18. Jahrhunderts als eine Abzweigung 
der Freimaurer durch alchymiftische Geheimniffe einen höheren Grad derjelben dar— 
jtellen wollte. Es ift eine pfychologijche Merkwürdigfeit, daß ein Mann von fo 
tiefen naturgefchichtlichen Kenntniffen wie Georg Foriter, der zugleich jo „vernunft- 
mäßige Anfichten“ über religiöfe Dinge hatte, diefe doppelte Schwärmerei damit verbinden 
zu können meinte. Die Ordensverbindung, ftatt ihm Gold zu liefern, koſtete ihm noch 
mehr, entzog ihn nützlicheren Bejchäftigungen und anregendem Umgang. 

Sm Sabre 1784 wurde er nah Wilna berufen. Che er abreifte, hielt er um 
Thereje Heynes Hand an, erhielt fie aber noch nit. Er fchrieb ihr wiederholt auf 
das achtungsvollite und teilnehmendjte, glaubte in ihr „fein Glück, feine ganze Be— 
tuhigung und den lebhafteften Sporn zum Fortjchritt auf einem ungebahnten Wege” 
u finden. Und im Herbſt 1785 holte er fie als feine rau nad) Rußland ab. 

ielleicht hat ihr ebler, aber männlich lebhafter und romantijcher Charakter noch dazu 
beigetragen, ihn aus den Ertremen feiner äußeren und inneren Lage nicht heraus: 
fommen zu lafjen. Glänzende Ausfichten, die fich ihm in Rußland boten, jchlug er 
aus und fam nad) Deutjchland zurüd, wo er 1787 O:berbibliothefar in Mainz wurde. 
Der Ausbruch der franzöfifchen Revolution erfüllte ihn, wie damals viele, mit Frei— 
heitsfchwindel; er glaubte in ihr das Wohl der ganzen Menfchheit zu ergreifen. Als 


942 Eine deutihe Dichterin vor Hundert Jahren. 


1792 die Franzojen Mainz eroberten und republifanifierten, ging Forſter lebhaft 
darauf ein und wurde auch al8 Konvent = Deputierter nach Paris gejhidt. Jedoch 
von feinen glühenden Idealen enttäufcht und völlig niedergejchlagen, fehrte er noch 
einmal zu feiner Frau zurüd, die mit zwei Kindern in Straßburg, und dann in 
Neufchatel lebte. Er übergab fie dem Schuge feines Freundes Huber, den er als 
Angejtellten bei der Sächſiſchen Gefandtichaft in Mainz kennen gelernt hatte, und 
faßte den Plan, ji) nach Indien einzujchiffen. Auf der Reife dahin erlebte er in 
Paris den Sturz der Girondiften, die Hinrichtung der Charlotte Corday und konnte es 
nicht lajjen, Taut gegen die Pöbel- und Mefjerherrjchaft zu proteftieren. Er jtarb im 
Gefängnis, noch ehe er bei der Guillotine an der Weihe war. Der Freund aber 
heiratete die Frau und führte bis zu feinem Tode 1809 eine glüdliche Ehe mit ihr. 
Victor Aims Huber, der bekannte priftlihe Sozialift und Arbeiterfreund, ift das 
Kind dieſer Ehe, und in deſſen von Elvers herausgegebenem Leben findet ſich auch 
eine eingehende Charakteriftit der Mutter Therefe, der Jugendfreundin unjerer 
Bhilippine. , 
* * 


Ehe wir uns dem öffentlichen Auftreten Philippinens als Dichterin zuwenden, 
das durch den Umgang mit Bürger eingeleitet wurde, gebe ich noch das Fragment 
eines Aufjages in Proja wieder, das um dieſe Zeit gejchrieben fein mag, aber erjt 
jpäter dem „Magazin für Frauenzimmer“ zum Drud gejandt worden iſt. Es trägt den 
eigentümlichen Titel „Aus der Brieftafche eines Frauenzimmers gejtohlen“ und 
enthält ein Selbjtbefenntnis in Briefform von einem vorübergehenden Landaufenthalt 
aus an eine Freumdin: 

An diefem lieben Orte, dem ich oft Ruhe und Vergnügen danke, jchreib ich an 
dich, Liebe Charlotte! Schon feit einigen Tagen wollt ichs zu Haus thun, aber es 
gab immer viel zu arbeiten. Eben habe ich eine wehmüthige, gefühlvolle Stunde. 
Sie jet dir geweiht, meine bewährte Freundin. Auch meine Muje würde ich jebt 
nicht umſonſt rufen — aber höher als fie ſchätz ich treue Freundjchaft. 

Wir hatten heute Hier viele Fzrenide von W. Sie fuhren und ritten gegen Abend 
fort. Ich hatte viel gejprochen und legte ermattet die Hand an meine jchmerzende 
Stirn — und Ruhe und Stille war mein Wunſch. Gejchwind warf ich Kopfput 
und Schnürbruft ab, umd freier wurde Herz und Hirn. Die lieben Kleinen waren 
jehr laut, umd ich jchlich in den Garten. Ich ging langfam auf und nieder, wollte 
mic) der Knospen und Bäume und Heden freuen, aber ein banges Sehnen dehnte 
meine Bruft. Seufzend jah ich zum Himmel — und fich der lang vermifte Mond 
hing da gleich einer jilbernen Sichel. Du wieder da? Freund der Liebe und der 
Gedanken! Du glücklicher kannt wol ſehen was ich gern jehen möchte — rief ich, 
ſchämte mich darauf, daß ich roth wurde, zum erjten Male — romanhaft genug — 
laut mit dem Monde gejchwaßt zu haben. Da hörte ich aus dem nachbarlichen Stall 
eine jüße reine Stimme; ich horche — es war die cben melfende Viehmagd. Mit 
rührendem Tone jang fie: Der du trägft die Sünde der Welt u. ſ. w. — Ein kalter 
Schauer fuhr durch meine Glieder und heiße Thränen jchofjen in meine Augen. Ich, 
mit mehr Kenntnis unjerer großen Neligion, mit feinem Gefühl, geh in der feierlichen 
Abenddämmerung und — was joll ich dir leugnen, Charlotte? — Wehmuth der 
Liebe drängt Thränen in meine Augen und füllt all meine Gedanfen. Und dies 
muntre Mädchen, das rohe Natur ift, hebt, jogar bei niedriger Arbeit, fein Herz zu 
Gott und zum Erlöjer empor! Innige Reue machte mich jet traurig. Man begrub 
eben ein Kind, und ich dachte an metne jüngste Schweiter, die immer frank if. Wo: 
durch, dachte ich, habe ich vor ihr Geſundheit, ka e und Beifall 
der Welt verdient? — Jetzt erflang noch dazu die feierliche Betglode und — dir 
darf ich es jagen, meine Charlotte, daß ich ins Gras an einem Baum fniete und 


Eine deutſche Dicbterin vor hundert Jahren. 943 


heiß betete und weinte. Ein Strahl von göttlicher Gnade fchien mirs, Drang in meine 
Seele und heiligte fie! Endlich ging ich ins Haus, es ward falt. Ich habe viel 
geweint — ad) ich weine noch. Wenn id; armes Mädchen doch mit dem Zuſtand 
meiner Seele nur Halb zufrieden fein könnte! Habe Mitleid mit meiner Schwermuth! 
Sie noch mehr zu zerſtreuen gehe ich zu meinen Lieben. Aber nicht lange jo komme 
ich wieder. — — — 

Hier bin ich wieder. Meine Augen find troden, mein Herz jchlägt fanft. Die 
ärtlihen Blicke meiner Lieben haben es wieder erfreut und erwärmt wie die Sonnen 
rahfen eine von Regen überjtrömte Flur. Gute Lotte! viele Leiden find mein Theil 
— ach die nicht mein Herz mir erjchafft oder die Einbildung; aber doch genieße ich 
jet einer jtärferen Gejundheit, habe rechtichaffene Eltern und einige wenige Getreue, 
ie für mid) leben und jterben. 

Braune Finſternis umhüllt die Hütten und Bäume des Dorfes, nächtliche Stille 
ift um mic) her, nur ein häßlicher jchreiender Ton vom Kirchturm unterbricht fie, 
vielfeicht eine Eule in ihrem Net. Gute Nacht. — — 


Tags darauf. 

Ich konnte am Morgen nicht mehr fchlafen. Ei, dachte ich endlich, follft auf: 
jtehen! Sch that es, jah aus dem Fenſter und ftatt der geftrigen Tieblichen Bläue um: 
zogen dide Wolfen den Himmel, Das wird einen traurigen Tag geben, dacht ich bei 
mir jelber, und ich wollte heute fo gern fpazieren gehen. Es war ordentlich dunfel — 
doch ſah id) am Boden, es hatte noch nicht geregnet. Bis es anfinge, wollt! ich in 
den Garten gehn. Ic fand die Hausthür noch verriegelt und hörte feinen Menjchen 
fih in Haus oder Hof regen. Was mag dies heißen? — dachte ich, als ich im 
Garten auf und ab ging. Auf einmal ftrahlte durch die Hede fühes Morgenroth, die 
Wolfen teilten jich ein wenig, und nach und nach fuhr goldne Sonne hinterm Berg 
herauf — und nun rollten jich die Wolfen zuſammen wie ein Vorhang 


Und En fie — jo glänzt im Morgenlande Die Vögel ihre Huldigungen. 

Des Kalſers ſchönſie 2* Das Heine Veilchen an den Wegen 
In Gold» und Burpurmen Gewande — Haucht jeinen Ballam ihr entgegen. 
Wie wirft ſich alles vor ihr bin! Und in dem rojenfarbnem Glanz 
Es jaudzen ihr, von Luft durchdrungen, Beginnen Müden ihren Tanz. 


Setzt jah ich, dah ich vor Tage aufgeitanden war. Wie freute ich mich! Die Kräuter 
und Blumen waren jo friih und alles noch jo fill. Nur der Hahn krähte im 
Hühnerhaug, ungeduldig bis man ihm aufmachte und die Tauben girrten und flogen 
untereinander auf dem Dad. Ich ging zum Hofe hinaus und wollte von einem 
fleinen Hügel der jchönen Scene am Himmel beſſer zujehen. Mein Weg führte über 
den Kirchhof. Schlaft fanft, dachte ich, Ihr, die ihr ausgefämpft habt den Kampf mit 
der Sünde, und ausgeduldet das Leiden der Zeitlichkeit. Rund um die Kirche, ganz 
nah an ihrer Wand ruhen die MWöchnerinnen — eine ziemliche Zahl. Ein frijches 
Grab dedt ein jchönes Weib, das ich kannte. Sie ftarb eines fchmerzhaften, langjamen 
Todes. An diefen Gräbern beftärft jich allemal mein Vorjag, nur einen Mann zu 
nehmen, den ich innig liebe, und für dem ich freudig leiden, auch im Fall der Noth 
fterben kann! 

Ahndung der ewigen Zukunft ergriff mich, als ic) durch die Gräber jchlich, deren 
feing ein lügender Stein drüdt, auf deren grasreichen Hügeln der Wind ſpielt ... 
Ich ging weiter durch die Dorfgaffen mit fchnellem Schritt. In den Ställen legten 
die Knechte den Pferden das Geichirr an, unter manchem Hub! und Ho! Alle Haus- 
thüren waren noch zu, und fein halbnadtes Kind ipielte im Gras und gaffte mich 
mit offnem Maule an. Ich kam auf das noch einſame Feld, wo die Lerche Tieblich 
fang und die Sonne herrlich überm Berge ftand und ſich in tauſend Thautropfen 


944 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


fpiegelte. An meinen lieben Bach jetzt! ich mich und freute mich über fein Raufchen 
und dachte allerhand frommes und weltliches, poetijches und proſaiſches. Ich ſäße 
wohl noch da, aber ein Naufchen erjchredte mich. Gott! dachte ich, wenn eine junge 
vielleicht freche Mannsperjon käme! Ich lief gegen das Dorf, ftand einmal til, um 
Athem zu holen, und es raufchte wieder ftärfer al3 vorhin. Ich merkte recht darauf 
und fiehe — es waren meine jeidenen Bänder am Hut, in denen der Wind fpielte. 
IH lachte mich albernes banges Ding aus. Ich ging aber doch heim und tranf 
Caffee mit meinen großen und fleinen Lieben. Dann jebt’ ich mich hin dir zu jchreiben. 
Aber — ob ich nicht zu viel gefchrieben Habe. — 
ends. 


Ich nehme nochmals den Brief vor, um dir zu ſagen: Bald — vielleicht 
morgen — kehr' ich wieder in die Stadt zurück. Denn ich fühle, daß die Schwer— 
muth, die ſich zuweilen meiner bemeiſtert, hier ſchlimmer wird. Die Einſamkeit und 
wenige Arbeit mag wol dran ſchuld ſein. Zwar weißt du, was wenige wiſſen, 
was eigentlich niemand weiß, daß ich ſchon viel gelitten habe. Mein Leben iſt kurz 
— aber voll Erfahrungen! In einer großen Familie aufgewachſen, hab ich liebe Ge— 
ſchwiſter hinwelken ſehen in ſchmerzhaften Krankheiten, wie die Blumen des Feldes. 
Hab’ einige berjelben ringen jehen mit dem Tode, wenn er feine vernichtende Hand 
auf ihr Herz legte. Ich habe fie blaß und Falt, im traurigen Leichenſchmuck gejehen, 
und die Hände gerungen an ihrem Sarge! -- Mit einem aufrichtigen Herzen geboren hab’ 
ich zuweilen Mädchen und Weibern, die aus Eigennuß oder anderen Abfichten fich an 
mich fchmiegten, getraut. Sie lodten mir aus, was tief verftedt in meiner Geele lag, 
und mißbrauchten's, und erjchroden, aber voll Schonung, 309 ich mich von ihnen 
zurüd, weinte über die SFalfchheit der Menjchen und tröftete mich meines guten Ge— 
wiſſens ..... 

Umſonſt ſchwingt jet mein Genius die Flügel und umſonſt ftrebt in meinem 
Innern mächtige Kraft. Der Ort, wo ich lebe, gefällt mir nicht — viele Menfchen, 
die um mic find, auch nicht. Duldend harr ich im Staube, ob Gott mich noch einft 
glücklich machen will. Geſchiehts noch in lebhaften Jahren, vielleicht flieh ich dann 
noch auf mit dem Adlerſchwung des Genius, aber dauert jo lange, bi8 mehrere 
Jahre mein Feuer gedämpft haben — oder foll ich lebenslang in ungewiffen traurigen 
Lagen herumgeworfen werden, wie ein Schiff im Sturm, jo mag Welt und Nachwelt 
mein vergefjen! Ihr wenigen Lieben, die Ihr mich näher fennt, mögt dann zuweilen 
mitleidig jagen: Es hätte was aus ihr werden fönnen! 

Ich fomme in einen tragijhen Ton, der mir natürlich, aber vermuthlich dir 
unangenehm iſt. Bergieb mir, ich kann nicht Helfen. Auch das Wetter mehrt den 
Schmerz meiner Seele. Traurig verjteden fic die Gejangvögel, die Bäume zittern 
im Winde, Ströme von Thränen ftürzen aus gedrängter Finsternis. — So preßt 
traurige Ahndung mein Ders, und jo jtürzen erleichternde Thränen aus meinen 
Augen. — Aber was will ich mit meinem &leichnis? Iſts nicht gut jo? Nach 
trodnendem Sonnenftrahl, in dem Bieles emporjchiegen und verderben und Vieles 
welfen würde, jtärft und verjchönert der Regen die Erde. Und fo wird fie empfänglich 

emacht für folgende jchöne Zeit und bringt dann herrliche Frucht. — Zwar mich ver- 

—* der Gram nicht, er wiſcht der Jugend Glanz und Fülle von meinen Wangen 
und löſcht ihren Strahl in meinen Augen. Aber er bereitet mein Herz vor, wenn 
mir noch irdiſche Freuden bevorſtehn, doppelt ihre Süßigkeit zu ſchmecken und feurig 
zu danken, um dann voll theilnehmendem Mitleid meinem Nächſten zu nützen. Ach, 
und ſoll mein Pfad immer trübe ſein — wie ſchön werden mir dann einſt die un— 
ſterblichen Fluren von Eden entgegenlachen. — Ich vergeſſe mich, meine Beſte! 
Gewöhnlich bedeckt ein fröhlicher Schleier vor Freunden und Feinden meine 
Melancholie — aber heute wollte ſichs nicht thun laſſen. Ich kann unmöglich 
witzig und luſtig ſchreiben, mit zährenvollem Auge und beklommenem Herzen! 


Eine beutihe Dichterin vor Hundert Jahren. 945 


Weißt du, was uns Proteftanten fehlt? Die Jungfernflöfter der Katholischen. 
Aber niemand müßte ſchwören dürfen, ewig darin zu bleiben. Wie ſchön wäre es 
für alle jungen Mädchen, zuweilen aus gefährlichen Verbindungen oder traurigen 
Lagen, in eine heilige Freiſtatt flüchten zu können, die Zeit in Andacht, Kopf- und 
— vertheilt, einige Jahre zu leben, und dann dem guten Knaben aus unſeren 
erehrern, dem Zeit und Entfernung nichts von ſeiner Liebe benahm, entgegen zu 
kommen und auf ewig die Seine zu ſein! 
Doch ich unterhalte dich, liebe Freundin, mit unnützen Phantaſien und fruchtloſen 
Wünſchen. Verzeih mirs, ich will bald wieder anders ſchreiben. Jetzt laß mich, daß 
ich am Klavier mich zerſtreue. P. G. 


Ich denke, der Leſer wird aus dem Mitgeteilten verſtehen, wie ein Mädchen mit 
ſolchem Gemüt grade in jenem Zeitalter der erwachenden Naturſchwärmerei und des 
Wühlens in (au und melandoliihen Empfindungen die Dichterin der Zeit werden 
mußte, jobald ihr die Gabe der gereimten Rede zu Gebote jtand. 


(Bortjegung folgt.) 





Zur Gelchichte Der preußifchen Militärmuſik 
von 1815—1866,. 


Nah amtlihden Quellen 


von 


Dr. Georg Thouret, Berlin. 


Als wir am 16. März diefes Jahres unjern großen und guten Kaifer Wilhelm 
gu Grabe trugen, konnte e8 nicht augbleiben, daß die eisfalte Witterung die Gedanfen 
er harrenden Menge einigermaßen von dem gewaltigen Vorgang, deſſen wir warteten, 
ablenfte. Da war es gut, daß die ftattliche Maſſe von Militär, welche dem Sarge 
voranmarjchierte, ung allmählich wieder in die rechte Stimmung verſetzte. Man 
empfing den unmittelbaren Eindruf, daß die friegerifchen Deutjchen ihren fieg- 
reichen Heldenfaifer zur letzten Ruhe geleiteten; naturgemäß hatten auch hierbei die 
Preußen die Hauptrolle au jpielen. Was aber diefem großartigen Zuge den eigen: 
tümlich feierlichen Charakter gab, das waren die weihevollen Klänge der Muſik, abge- 
(öft von dem dumpfen Wirbel der Trommeln. Auch die preußische Militärmufif nahm 
Abſchied von ihrem oberften Kriegsherrn, dem fie jo oft im Leben, daheim und im 
de, das Herz erfreut hatte. Nach der Kaiferproffamation in Verſailles wurde 
aifer Wilhelm von den jchmetternden Fanfaren des Hohenfriedberger Marjches be- 
gräht — jetzt geleiteten ihn auf dem letzten Wege die ernften Töne der Trauermärjche, 
ie in den Choral „Was Gott thut, das iſt wohlgethan“ ausflangen. 

Die preußifche Militärmufif, unſerm Volke ans Herz gewachjen, machte auch an 
diefem Tage einen tiefen Eindrud auf alle. Und wenn auch die Stimmung eine immer 
erntere wurde, je näher der Leichenwagen fam — man fonnte befonders auffallende 
Aeußerlichkeiten doch nicht überjehen. So wurden Ausrufe des Staunens laut, als 
man 3. B.des wahrhaft vorweltlichen Riefenrofjes anfichtig wurde, auf welchem die Hünen- 

ejtalt des Paufers vom Regiment der Gardes du Corps ob. Es ift befannt und begreif- 
ich, daß gerade die Kavalleriemufif auf das Volt Eindrud macht, weil fie nicht bloß das 
Ohr, fondern auch das Auge ergögt. Was die mufifalifche Wirkung betrifft, jo ur 
die Kavallerie in ihren jchmetternden Trompeten und der Grundgewalt ihrer Bäfle 
Mittel, welche, dem Charakter der Truppengattung angemejjen, einer zündenden Wir: 
fung ficher jind. Denn diefer Grundiag, die Mufik der verjchiedenen Truppengattungen 
ihrem Weſen gemäß charaftervoll iu geftalten, ift e8, welcher auf der einen Eeite maßgebend 
war und ijt Hr die preußische Militärmusik, und der auf der andern Seite jeder der drei 


Zur Gefchichte der preußiſchen Militärmufit von 1815—1866. 0947 


Hauptgattungen derjelben, der Kavallerie, Infanterie und Jäger- und Schügenmufif 
die eigentümliche Berechtigung und die befondere Wirkung verleiht. 

Der Berfaffer, welcher ich ſeit längerer Zeit mit der Gejchichte der preußifchen 
Militärmufit bejchäftigt, mußte, als fich in dem XTrauergeleit die Kapelle der Garde- 
Jäger näherte, an einen Vorwurf denken, den Theodor Node vor faft dreißig Jahren 
dem alten Wieprecht, dem Organifator unferer Milttärmufif, gemacht hat, daß man nämlich, 
wenn man die Augen zumache, nicht wüßte, ob man Kavallerie: oder Jägermufif höre. 
Rode behauptete, die Jäger und Schüßenmufif verlange ein Weberwiegen der Walbd- 
2 und ein Burldtreten der trompetenartigen Injtrumente und der Kraftbäſſe. 

odes Vater war der langjährige und hochverdiente Stabshornift der Garde: Jäger 
in Botsdam (von 1827—1857), auch jein Bruder leitete die Muſik eines Sägerbataillong. 
Die mufifalifche Richtung diefer begabten Familie war gleichjam traditionell, und Theo- 
dor Node juchte diejelbe bei Gelegenheit der Neorganijation von 1860 an Allerhöchjiter 
Stelle zur Geltung zu bringen. Er fand dabei eine gewichtige Stütze an dem Leiter 
der Hofmuſik, dem Grafen von Nedern, der Wieprechts Ihätigfeit nicht immer günftig 
beurteilte. „Insbefondere,* jchreibt diefer einmal, „jind bei der Infanterie manche 
Holzinftrumente bejeitigt und dafür Blechinftrumente angefchafft worden, wogegen 3. B. 
bei den Sägern Statt der bisherigen Waldhörner teilweife Kornette, Tenorhörner u. ſ. w. 
eingeführt worden find. Da diefe Veränderungen aber bei jedem Regimente jehr vers 
jchieden find, jo ift der einheitliche Charakter der Militärmufif, wie er früher unter 
der Leitung von Neithardt, Weller und Schid bei der Infanterie und bei den Jägern 
unter Node bejtanden hat, nach und nach verloren gegangen.“ 

Hiergegen ift num allerdings zu bemerfen, daß, ftreng genommen, von einem 
„einheitlichen" Charakter der Militärmufit vor Wieprecht nicht die Rede jein fann. 
Was aber die Hauptjache betrifft, die teilweife Verdrängung des Holzes durch das 
Blech, jo wollen ältere Berfonen auch den Eindrud haben, als fei die Infanterie- oder 
bejier die Janitſcharmuſik vor vierzig und mehr Jahren feiner gewejen als die heutige. 
Bezüglicd; der Jägermuſik wird der Laie den oben erwähnten Vorwurf Rodes nicht 
ganz umgerechtjertigt finden, wenn erraud) ohne Frage übertrieben ift. Man wünjcht 
im jtillen jich mehr Waldhörner, deren ganz eigener Neiz unjerm Ohr bejonders 
wohlthut. Dieje Frage zu entjcheiden, ift Sache der Fachleute, und jie ift auch ſorg— 
fältig geprüft worden. Wenn nämlich Node die Forderung jtellte, den Bataillons- 
mufifen der Jäger und Schüten je zehn Waldhörner zu geben, jo wurde darauf jehr 
einleuchtend geantwortet, „daß ſich Bläfer für zehn Waldhörner per Bataillon jchwer 
oder garnicht finden lafjen dürften“. Denn das Waldhorn ift befanntlic) eins der 
jchwierigiten Inftrumente. Was aljo bei einem oder einigen Bataillonen unter bejon- 
ders günftigen Verhältnifien angängig war, das fonnte darum noch nicht in der ganzen 
Armee eingeführt werden. Die vom Kriegsminifterium zur Begutachtung aufgeforderte 
Injpeftion der Jäger und Schüßen bat daher jchlieglich, „auch die fernere Entwidelung 
der Jägermuſik den Bataillonen jelbjt überlafien zu wollen“. 

Der Kampf zwifchen Rode und Wieprecht ijt heute vergejjen, und er mag ver— 
geffen bleiben, joweit er nicht zum Verſtändnis der Gefchichte der preußiichen Militär: 
mufif beiträgt. Der Sieg in diefem Ringen um den mahgebenden Einfluß bei dem 
entjcheidenden Abjchnitt der Hceresreorganifation fiel Wieprecht zu, und zwar mit vollem 
Recht. Einmal hatte Wieprecht feit dem Jahre 1828 bereit? Großes gejchaffen, vor 
allem die Kavalleriemufif, wie fie heute in der Hauptjache noch ift, und dann war er 
ganz der Mann, den das Werk brauchte. Seine Verdienſte um die preußijche Militär- 
mufif find fo groß, feine Wirkjamfeit jo einfchneidend, daß man nur von einer preu— 
Bifchen Militärmufit vor und nad) Wieprecht jprechen kann. Schon bei jeinen Leb- 
zeiten wurde das allgemein anerfannt. Seine originelle Berjönlichkeit erfreute fich der 
Gunft Friedrich Wilhelms II. und Friedrich Wilhelms IV., und unter König Wilhelm 
wurde er der populäre Mann, der „alte Wieprecht”, der Liebling der Berliner, das 


948 Zur Geſchichte der preußiſchen Militärmufit von 1815— 1866. 


Vorbild für alle Militärfapellmeifter. Und was war es, das Ddiejen braven Mann 
fo befonders für feine Stellung befähigte? Seine Muſik ift oft angegriffen, feine 
ſchriftſtelleriſche Thätigkeit jogar auf dag jchärfite Fritifiert worden, gegen jeine In— 
ftrumentation haben fich nicht ungerechtfertigte Bedenken erhoben, und er jelbjt hat 
eingeftandenermaßen erft im Laufe der Jahre ein völlig durchdachtes und in jich ge- 
fchlofjenes Syftem zu jchaffen vermocht. Im einzelnen bat er zweifellos geirrt, aber 
in der Hauptſache den Nagel auf den Kopf getroffen, nämlich darin, daß er fich bei 
allem, was er jchuf, als unverrüdbaren Grundjaß die einfache Wahrheit vor Augen 
hielt, daß die preußische Militärmufif eben nicht bloß Muſik, fondern Militär- 
muſik fein jol. Mit andern Worten: Wieprecht hat den friegerijchen Charakter der 
Militärmufit mit Entfchiedenheit wieder in den Vordergrund geftellt und er hat den 
preußischen Militärfapellmeifter gejchaffen, wie wir alle ihn fennen, wie dag Militär 
ihn braucht, und wie unjer Bolt ihn liebt, jene Verbindung von Soldat und 
Künftler, die, jcheinbar unmöglich, deshalb jo wichtig ift, weil fie, recht verwendet, 
nicht bloß für das Militär nugbar — werden kann. Wieprecht war begeiſtert für 
die Militärmuſik als ſolche und zugleich von der Idee beſeelt, durch ſie auf die Ver— 
edlung der Volksmuſik hinzuwirken. Die Ueberzeugung wurde ihm immer klarer und 
feſter, „daß die Militärmuſik, deren Bedeutſamkeit als Zweig des geſamten Armee— 
weſens außer Frage ſteht, ſoll fie anders nicht allein auf den Geiſt der Truppen, jon- 
dern auch auf die Veredelung der Volksmuſik Einfluß ausüben, gleich dem Schulwejen 
in der Armee elementarifch vertreten fein muß. Nur Lehrer, die, begabt mit mufi- 
kaliſchem Talent, als Xonfünftler elementarifch gebildet und im Seite ihres künf⸗ 
tigen Berufs zu militäriſch-muſikaliſchen Borgejegten erzogen find, werden im 
ftande fein, die Mufif der Armee zu dem Ziele zu führen, daß fie in Zukunft troß 
unjerer gejeglich kurzen Dienftzeit der zunftmäßig gelernten Muſiker entbehren kann“. 
.. einer Denfjchrift an den König vom 28. Februar 1855.) Diefes Ziel war frei- 
ich zu hoch geftedt; es ift auch heute moch nicht erreicht worden. 


L 


Die Finanzen Preußens waren nad) den FFreiheitsfriegen aufs äußerſte erjchöpft. 
Man kann die nächjten 25 Jahre als eine Periode der größten Sparjamfeit bezeichnen; 
mit peinlichjter Genauigkeit und Behutjamfeit wurde der Staatshaushalt den knappen 
Mitteln angemefjen. Da die Bekleidung und Neuausrüjtung des Heeres natürlich in 
eriter Linie in Betracht fam, jo blieb für die Militärmufif nur eine verjchwindend 
fleine Summe übrig. Erjt im Jahre 1834 fonnte auch diefer wichtige Zweig des 
Heeres reichlicher bedacht werden. 

Bon 1815 bis 1834 ift e8, von einzelnen Garderegimentern abgejehen, das preu- 
Bilche Offizierforps gewejen, welches die Hauptlaft für die Unterhaltung der Muſik 
getragen hat. In dem großen Kriege mochte es übel genug mit der Militärmufif 
ausgejehen haben. So erfreuten fi) nur wenige Landwehr-Negimenter eines voll- 
jtändigen Hoboiftentorps’, und wo ein jolches vorhanden, war es aus eigenen Mitteln 
bejchafft worden. Nicht wenigen Negimentern erging es wie dem Kolbergiſchen, bei dem 
nach dem Kriege nur noch fünf Injtrumente vorhanden waren. Ein einzelner Glüd3- 
fall aber war es, der dem 33. Infanterie-Regiment durch den Verkauf der bei der 
Uebernahme von Schwedilch-Bommern mit überfommenen fupfernen Trinkgejchirre einen 
Fonds zur Anſchaffung von Inſtrumenten gewährte, mochte er auch gering jein. 

[13 etatmäßig wurden im Jahre 1816 für jedes Linienregiment nur 10 Hoboiſten 
bewilligt. Außerdem fonnten zur Sanitfarmufif noch per Kompanie 1 Mann, alfo 
überhaupt 12 Mann genommen werden, jedoch wurde für dieſe Hilfsmufifer feine be— 


Zur Gefhichte der preußifchen Militärmufit von 1815—1866. 949 


fondere Vergütung gewährt. Jedes Regiment erhielt 223 Thlr. 16 Sgr. auf 8 Jahre 
zur Inftandhaltung der Inftrumente. Etwas reichlicher wurde der Etat der Garde- 
und Grenadier-Regimenter bemeſſen. 

Bei der Kavallerie ftanden 13 Trompeter für das Regiment auf dem Etat, zu 
denen 4 Hilfsmufifer hinzutreten konnten, unter derjelben Bedingung wie bei der 
Snfanterie. 

Was endlich die anderen Truppengattungen betrifft, jo erhielten außerhalb der 
Ruf vorläufig weder die Artillerie noch die Jäger und Schügen eine etatmäßige 
Mufif. 


Dieſe notgedrungene Sparjamfeit jollte natürlich die Truppen nicht verhindern, aus 
eigenen Mitteln ſich eine Muſik zu jchaffen oder die bewilligte zu verjtärfen. Der 
muſikaliſche Monard) liebte es, bei Baraden gute Mufif zu hören, und überhaupt war 
der Wunſch, ein Mufitchor zu befiten, ein viel zu natürlicher, al3 daß man nicht jelbft 
mit den größten Opfern die Mittel dazu Hätte herbeijchaffen jollen. Denn nicht bloß 
das Dienjtinterefje machte die Muſik wünjchenswert. Nicht bloß weil der Parademarſch 
und der Marjch überhaupt Mufif erfordert und im Felde Muſik das Gemüt erheitert, 
wollte man eine Mufif haben, fondern auch weil der Eindrud, den eine Truppe auf 
die Bevölkerung macht, nicht zum wenigften von ihrer Mufif abhängt. Ein Stabs- 
offizier von der Kavallerie wollte am Rhein jogar die Bemerkung gemacht haben, daß 
„nächſt der Ordnung in einem Regiment die mehr oder weniger gute Mujif auf den 
Eintritt von Freiwilligen und Kapitulanten Einfluß hatte“. In den deutjchen Bundes- 
fejtungen trat die preußifche Muſik mit der der anderen Bundesjtaaten notwendiger: 
weije in Konkurrenz, und befonders war es die Öfterreichifche, welche überall den Huf 
der DVortrefflichkeit bejaß und verdiente. Die dfterreichifchen Mufifer mußten 9 Jahre 
dienen, und da fie größtenteils aus Böhmen ftammten, wo jeder Einwohner jozujagen 
ein geborener Muſikant ift, jo gewannen die Öjterreichifchen Kapellen, welche außerdem 
durchſchnittlich ſtärker bejegt waren als die preußiichen, ſchnell die allgemeine Gunft. 
Was war natürlicher, al3 daß die Preußen auch auf diefem Gebiete ihre Leijtungs- 
fähigfeit zu beweifen fich beftrebten? So hören wir wiederholt aus Mainz und Raftatt 
Ki bejonders noch wegen der Nähe von Baden-Baden) dringende Bitten um Ver— 
tärfung der preußifchen Muſik. Dieje Rivalität erfcheint jogar noch nad) 1864 in 
den Elbherzogtämern (in Altona hatte die Muſik des 43. Infanterie-Regiments einen 
jchweren Stand gegenüber der 60 Mann ftarfen Kapelle des öſterreichiſchen Infanterie- 
Regiments Graf Khevenhüller) und fie hat ohne Zweifel belebend auf den Eifer der 
preußischen Militärmufif gewirkt. 

Die Koften, welche die Muſik den Regimentern verurjachte, waren num aber un— 
verhältnismäßig große. Dies lag hauptſächlich an der Schwierigkeit, geeignete Kräfte 
zu finden. Die Klagen der Regimenter hierüber werfen ein merkfwürdiges Licht auf 
die höchſt verjchiedene mufifalische Begabung unjeres Bolfes in den einzelnen Provinzen 
rn die Zeit vor ungefähr 60 Jahren. Schlefien, Sachſen und beſonders Thüringen, 
as find eigentlich die einzigen deutſchen Gaue, aus welchen Mufifer zu gewinnen 
waren. Die Erjagbezirte der anderen Provinzen lieferten fat feine. Wenn ein Bericht 
aus Poſen meldet, „daß in diefer Provinz nur Juden Mufif als Broterwerb treiben“, 
und ein anderer, „daß in Poſen und Weftpreußen die Mufif für die niederen und 
mittleren Klafjen noch eine terra incognita ſei“, A werden wir nicht erftaunt jein. 
Ueberraſchender ift die Thatjache, daß auch in Weftfalen und am Rhein ähnliche 
Klagen verlauten. So hatte das 13. Infanterie-Regiment in Münfter in zehn Jahren 
nur einen einzigen Muſiker unter feinen Refruten, und diejer eine wurde nad) ein- 
jähriger Dienftzeit von den son für die Domfapelle reklamiert. In Weit 
Br wurde damals in den Fleinen Städten jehr wenig, auf dem Lande fait gar nicht 
Mufit getrieben. Ebenſo befand fich das 16. Infanterie-Regiment in Düffeldorf in 
der Notlage, jeine Kapelle aus Sachſen ergänzen zu müſſen, „weil in ber dortigen 

Ang. tonſ. Monatsichrift 1888. IX, 61 


050 Zur Gejchichte der preußifchen Militärmufit von 1815—1866. 


Gegend feine Hoboiften zu haben wären”. Am Rhein war es allerdings weniger der 
Mangel an mujfifalifchem Sinn der Bevölferung als vielmehr die Schwierigkeit, für 
die Blechinftrumente geeignete Individuen zu finden, welche den Erſatz von weit her 
nötig machte. 

Die Berichte der Regimenter jcheinen darüber feinen Zweifel zu laſſen, daß die 
Aufhebung des Zunftzwanges (1810) zum Teil die Schuld an diejen Berhältniffen 
trug. Wir meinen hier nicht das Zunftwejen dev Trompeter bei der Kavallerie (der 
„Karoliner”), wonach jeder neu eintretende Trompeter fic einer feſtgeſetzten Lehrzeit 
und dann einer förmlichen gend, zur Aufnahme in die Zunft unterwerfen, auch ein 
Lehrgeld für ihm an den Stab3- Trompeter gezahlt werden mußte, eine Einrichtung, 
die durch eine Kabinetts-Ordre vom 8. November 1810 endgültig aufgehoben wurde; 
wir denfen vielmehr an das Institut der Stadtmufifer oder Stadtpfeifer. So lange 
das alte Zunftwejen bejtand, wurden die Posten der Stadtmufifer nur mit gejchidten 
invaliden Trompetern bejeht, eine Stellung, die glücdlich genannt zu werden verdiente 
und deshalb die Luft zum Fache aufs neue belebte, auch in den Trompetern das Be— 
ftreben wedte, fich einer folchen Verjorgung würdig zu machen, die ihnen außerdem 
nach alter Sitte die Verpflichtung auferlegte, für einen würdigen Stellvertreter zu 
forgen. So lange die Mufit nun in den Städten zünftig war, bejaßen oft die kleinſten 
Städte wenigſtens einen jolchen Muſikus, und welch tüchtige Kräfte darunter waren 
und wie fegensreich für die Volksmuſik diefes alte Inftitut gewirkt hat, davon hat uns 
Mieprecht, jelbjt der Cohn eines Stadtmufifus, erzählt. (Im der Berliner mufifalifchen 
Beitung 1846, Nr. 19— 21.) Geitdem aber jedermann mit einem Gewerbejchein in 
der Taſche nach Herzensluft mufizieren fonnte, verlor der Stadtmufifus feine fejte 
bürgerliche Eriftenz; das Pfuſcherweſen machte fich breit und hinderte die Ausbildung 
tüchtiger Mufifer; denn es dauerte eine ganze Reihe von Jahren, bis die Verhältniffe 
fi) jo ordneten, daß das Talent den Etümper verdrängte. Staatliche Lehranftalten 
für Militärmufifer gab e8 aber nur zwei, nämlich die Mufikjchulen des großen Militär: 
Waijenhaufes zu Potsdam und der föniglichen Militär-Knaben-Erziehungs-Anftalt zu 
—— beide vortrefflich, aber nicht ausreichend für den Bedarf der Armee. (Uns 
ſtehen allerdings nur Zahlen aus den fünfziger Jahren zur Verfügung, wonach aus 
Potsdam und Annaburg alljährlich 23 Muſiker in die Armee eintraten, während das 
angemeldete Bedürfnis —* durchſchnittlich auf 68 belief.) 

Die Gewerbefreiheit jteigerte alſo zumächit den Wert und daher aud) die Anſprüche 
der wirklich tüchtigen Muſiker und verteuerte den Negimentern die Mufif. Auf der 
anderen Seite freilich erleichterte fie den Militärmufifern die Möglichkeit zu Neben— 
verdienjten und zum Privaterwerb. Wo daher, wie in dem früher jchwediichen und 
fächjifchen Landesteilen (3. B. in Stralfund, Greifswald und Torgau), die Innungen 
und der Zunftzwang noch bejtand und das Recht Mufil zu machen ein Monopol des 
Stadtmufifus war, blieben die Militärmufifer einzig auf ihr Gehalt angewiejen, welches 
dem entiprechend erhöht werden mußte. Denn der Nebenverdienst fpielte natürlich bei 
den Engagements eine Hauptrolle. Nur da, wo der Nebenverdienft dem Gehalt gleich- 
fam, traten die Hoboiften gern ein, und Fleinere Garnifonen erjchwerten daher dent 
Truppen die Unterhaltung der Mufif außerordentlih. So mußten 3. B. die in Star— 
gard garmifonierenden Negimenter ihren Hoboiften mehr zahlen als jelbjt die Garden, 
weil die Leute in Stargard nur einen ganz geringen Nebenverdienft hatten, während 
fie in Berlin ſich außer dem Gehalte monatlid 20 bis 30 Thaler nebenher verdienten, 
Dieſem Uebelſtand konnte auch der Vorjchlag, die Hoboiften vom der Gewerbejteuer zu 
befreien, welcher im Jahre 1825 gemacht wurde, faum abhelfen, da die Steuer eine 
zu geringe war. Der Mangel an Mufitern hatte aber noch einen andern Uebeljtand 
ur Folge. Da fein Normaljag der Bejoldung beitand und unter den angegebenen 

erhältnifjen „taum bejtehen konnte, jo überboten fich die Negimenter, um gute Kräfte 
zu erhalten. Man empfand in der Armee die hieraus erwachjenden Miitände jehr 


Zur Gejchichte der preußifchen Militärmufit von 1815— 1866. 051 


deutlich und verjuchte auf verjchiedene Weile Abhilfe zu jchaffen. In Danzig 3. B. 
wurde zwiſchen den dort jtehenden NRegimentern die Uebereinfunft getroffen, jeden ent» 
lajjenen Hoboiften des anderen Regiments früheftens ein Jahr nad) der Entlafjung 
zu engagieren. 

ie bejprochenen Berhältnifje erklären die außerordentlichen Schwankungen in der 
Höhe der Koften der einzelnen Regimentsmufifen. Die außeretatmäßigen Ausgaben 
jchwanften im Jahre 1825 


bei den Infanterie-Regimentern zu 3 Bataillons zwijchen 1755 und 700 Thlrn. 
„= Rejerve- — 1164 „ 550 „ 
„ der Kavallerie R 892 „ 2123 „ 


Die Aufbringung diefer Summen machte die größten Echwierigfeiten. Glücklich das 
Regiment, welches einen freigebigen Chef beſaß, wie, um nur ein Beifpiel anzuführen, 
die 3. Hularen, deren Chef, der Herzog von Cumberland, jährlich 600 Thaler zur 
Mufik beifteuerte. Glänzend war das erjte Garde-Regiment geftellt, deſſen Mufikfaffe 
aus der Föniglichen Schatulle jährlich 2000 Sr erhielt, weil die Kapelle die Ehre 
hatte, bei Anweſenheit des Hofes die Tafelmujif auszuführen; günftig ftanden auch 
die 2. Dragoner, die „einen bejonderen Fonds" für die Mufif verwenden fonnten. Im 
— aber vermochten die Truppen nur mit großer Selbſtverleugnung den An— 
forderungen der Muſik gerecht zu werden. Es war ihnen geftattet, die Erfparnifje bei 
der Selbjtbeihaffung der großen Montierungsftüde und bei anderen Fonds für die 
Muſik zu verwenden. Aber einmal blieb in den erjten 15 Jahren nad) dem Kriege, 
wie jchon bemerkt, nicht viel übrig, und zweitens verjtand es fich in en von jelbjt, 
daß mit peinlicher Genauigkeit diefe Erſparniſſe bei den Mufterungen kontrolliert wurden. 
Am beiten war in diefer Beziehung die Kavallerie daran, da fie bei der Mannigfaltig- 
feit ihrer Ausrüftungsgegenftände und ihrer Fonds viel leichter ſparen fonnte al3 die 
Infanterie. Namentlich bot der Hufbejchlagsfonds und der jehr ausfömmliche Etat für 
den Lederbefat der Reithofen die bejte Gelegenheit zu Erjparniffen, und köjtlich Klingt 
es, wenn wir hören, daß ſich der für die Pferdehufe bejonders günftige Sandboden 
einzelner Garnifonen in fröhliche Muſik umſetzte. Wer jparen lernen will, der gehe 
bei dem Militär in die Schule! Alle möglichen Verſuche und VBorfchläge wurden auch 
bei der Infanterie gemacht, die Erjparnifje zu fteigern. U. a. bat man um „Gewährung 
befieren Filzes für die Tſchakos und um die Verlängerung ihrer Tragezeit um 2 Jahre”, 
damit man mehr Geld für die Muſik übrig behielte. 

Da dieje Erjparnijje, zu denen auch gewöhnlich die Zinſen der „Douceurgelder* 
für eroberte Gejchüge hinzugejchlagen wurden, bei weitem nicht ausreichten, jo ruhte 
die Hauptlaft auf den Schultern des Offizierkorps'. Die Opfer, welche das preußijche 
Offizterforps in jener geldarmen Zeit in diejer Desiehung gebracht Hat, find zum Teil 
erjtaunlich große. Natürlich war es Negimentsjache, die Offiziere zu Beiträgen für die 
Muſik heranzuziehen oder nicht, und der König bezeichnete die Einigung hierüber aus- 
drüdlich als eine innere Angelegenheit der Offizierforps. Uns Iwidertkrebt e3 daher, 
über diefen Punkt in ein ausführliches Detail einzugehen. Nur einige Andeutungen 
mögen geftattet fein, bei denen man nicht vergefjen darf, daß es ſich um die Zeit vor 
60 Jahren handelt. Es war nicht? Ungewöhnliches, daß der Regiments-Kommandeur 
einen jährlichen Beitrag von 80 Thalern und darüber zahlte; jedes Avancement war 
mit einer Muſikſteuer belegt, welche gewöhnlich die Hälfte eines erhöhten Monats- 
gehaltes betrug; jeder Offizier, welcher fich verheiratete, zahlte „dafür* 25 Thaler an 
die Mufikfaffe, nicht jelten endlich wurde auch der Raffenüberichuß des „geſelligen 
Dffizier-Vereins* für die Muſik verwendet. Wenn die nichtetatmäßigen Koften Der 
Regimentömufiten im Jahre 1825 bei der Kavallerie durchſchnittlich 465 Thaler, bei 
der Infanterie 1241 Thaler jährlich betrugen, jo mußten die Offizierforps „bei der In— 
fanterie die Hälfte davon, bei der Kavallerie etwas weniger aufbringen. Nur jehr 

61* 


952 Zur Geſchichte der preußifhen Militärmufit von 1815— 1866. 


wenige Negimenter gab es in der Armee, deren Offiziere teilweife oder ganz von Bei— 
trägen befreit waren. A 

Daß dieje Opfer freudig gebracht wurden, ift ebenjo jelbjtverjtändlich, wie daß fie 
nichtsdejtoweniger dem einzelnen eine oft drüdende Laſt auferlegten. Es war auch 
nicht abzufehen, wohin man auf diefem Wege kommen würde, da die Erfindungen auf 
dem Gebiete der Inftrumentalmufit, befonders die Erfindung der Ventiltrompeten und 

Örner die Inftrumente immer mehr verteuerten, und da das Ohr jchon damals durch 

eine volltönende, ja oft zu ftarfe Mufif bereit jo verwöhnt war, daß zu ſchwache 
Mufit auf Beifall nicht zu rechnen hatte. Schon um die Armeemärjche auszuführen, 
welche Friedrich Wilhelm III. perjönlich für das Heer ausjuchte und bejtimmte, genügte 
die etatmäßige Bejegung faum, am wenigjten die der Kavallerie. So lange aber eine 
ute Mufit bei den Revüen beifällig bemerkt wurde, jo lange auch die äußere Aus- 
attung die Negimenter zum Wettitreit antrieb, jo lange endlich die Garden zum 
Mufter und Maßſtab, wie begreiflich, dienten, jo lange endlich alle anderen Armeen 
und jpeziell die Öfterreichijche den größten Wert auf gute Muſik legten — fonnte man 
in Preußen unmöglich die eigenen Anjprüche niedriger ftellen. 

Der Etat von 10 Hoboiften vom Jahre 1816 blieb aber unverändert; nur wurde 
im Jahre 1820 geftattet, 20 Hilfsmufifer einzuftellen, jo daß das Mufifchor eines 
Linien-Infanterie-Regiments nunmehr 30 Köpfe, den Stabshoboiften nicht gerechnet, 
ftark fein jollte. Indeſſen jagt ein Bericht aus dem Jahre 1829, da alle Regimenter 
mehr Mufifer hätten, „weil die Stimmen fonjt nicht vollſtändig bejegt werden Fönnten, 
und dennoch erforderten die ausgegebenen Armee-Märjche immer noch mehr Inſtru— 
mente, als die Mufif der Bisier Hetmenier befige*. Die Verteilung der Injtrumente 
auf 25 Hoboijten und 5 jogenannte Janitjcharen (Roßſchweif, große Trommel, Kleine 
Trommel, Beden und Triangel) erfolgte nach einem Gutachten des Stapellmeijters 
Schneider und des General-Majors von Wigleben in Berlin. Dieje lange Zeit maß— 
gebende Bejegung weilt allerdings im Verhältnis mehr Holzinftrumente auf als die 
heutige. (Die techniich-mufifalische Seite des Themas wird ald dem Charakter diejer 
Zeitjchrift zu fern liegend hier nur angedeutet.) 

Das Jahr 1834 brachte endlich den Truppen eine wejentliche Erleichterung, indem 
ein regelmäßiger jährliher Zujhuß zum Etat für die Muſik vom König bewilligt 
wurde Es erhielt jeitdem: 


Jedes Linien-Infanterie-Regiment 300 Thaler 
Die Garde-Artillerie-Brigade 300 
Das Garde-Jäger-Bataillon 100 
Das Garde-Schügen-Bataillon 100 


Iedes Garde- und Linien-Kavallerie-Regiment 100 
Die reitende Kompanie einer Artillerie-Brigade 50 


Die nicht genannten Garde- und Grenadier-Regimenter der Infanterie waren bereit3 be- 
vorzugt, da jie jeit 1820 eine vollftändige Janitjcharenmufif von 44 Köpfen bejahen; 
alle anderen Truppen aber blieben nach wie vor ohne etatmäßige Muſik, was bejon- 
ders jchmerzlich von den Schüßenabteilungen empfunden wurde, welche bei den Kleinen 
Dffizierforps für Mr Hornmufif die größten Dpfer bringen mußten. Sie follten nun 
— ihre Muſik auflöſen. Wir begreifen es, daß dieſer Befehl den Abteilungen 
hart ankam. Hatten doch die ſchleſiſchen Schützen (2. Abteilung) ſeit dem Jahre 1809 
eine Waldhornmuſik, die zu den beiten der Armee gehörte; ebenſo galt die aus 
16 Dann bejtehende Mufif der 4. Abteilung in Wachen als überaus ſchön, und fie 
wurde von den Einwohnern vorzüglich geſchätzt. Selbſt die Fürfprache des Generals 
von Borſtell jchien feinen Erfolg zu haben, ſchließlich aber wurde die Beibehaltun 
dom König ſtillſchweigend geftattet, bis endlich eine Kabinett8-Order Friedrich Wilhelms IV. 
im Jahre 1841 den Schüßen die Erlaubnis erteilte, „daß fie ebenjo wie die Jäger 


= 6 2 = x 


Zur Geſchichte der preußifhen Militärmufit von 1815—1866. 0953 


bei großen Paraden mit einer Hornmufif vorbeimarjchieren könnten, wodurch jedoch 
feine neuen Wusgaben für die föniglichen Kafjen entjtehen dürften“. Als im Jahre 
1845 die Echüßenabteilungen in Jäger-Bataillone umgeformt wurden, verbot Die 
Rüdfiht auf die Sparſamkeit immer noch die im übrigen allgemein als wünfchenswert 
angejehene Etatifierung ihrer Muſik; an derjelben Klippe jcheiterten wiederholte Ans 
träge der Inſpektion der Jäger und Schützen in diejer Richtung während der fünfziger 
Sabre, und erjt eine jpätere Zeit, die Neorganifation von 1860, brachte den Jäger: 
bataillonen die notwendige Erleichterung. Denn wenn wir 3. B. aus dem Jahre 1836 
von der 2. Schützenabteilung hören, daß ihre Waldhorniften, übrigens jämtlich einge 
fchofiene Büchſenſchützen, monatlich je 10 Thaler Zulage erhielten, obwohl fie in Breslau 
reichlichen Nebenverdienst hatten, jo können wir daraus auf die Schwierigkeiten jchlichen, 
mit denen die anderen Abteilungen in den Eleineren Garnifonen zu kämpfen hatten. 

Der Etat von 1830, reſp. 1834 blieb, wie gejagt, maßgebend, aber er erwies fich 
immer mehr als unzureichend. Nach der großen Parade des 3. Armeeforps in Berlin 
am 31. Mai 1856 ließ fich der fommandierende General, der bald darauf zum Generals 
Feldmarſchall ernannte Freiherr von Wrangel, aus Veranlaffung eines Spezialfalles 
von jämtlichen Negimentern des Armeeforps melden, wie viel Gemeine dicjelben als 
überzählige Mufifer führten. Der Nachweis ergab, daß bei allen Regimentern mehr 
Hilfsmuſiker vorhanden waren, als die noch in fraft beftehende Allerhöchite Kabinetts— 
Order vom 15. März 1830 geftattete. Wrangel befahl daher, daß die Mufitchöre bei 
der Infanterie und Kavallerie auf die in jener Order fejtgejeßte Zahl von Hilfsmufifern 
binnen Jahresfriſt zurücgeführt würden, ein Befehl, ie natürlich eine große Be— 
ftürzung hervorrief, da er teilweiſe eine ganz meue Organijation der Mufit bedingte. 
Der Feldmarjchall war indejien damit einverjtanden, daß der Graf von Nedern eine 
Smmediat- Eingabe an den König richtete, „in den (1830) getroffenen Beſtimmungen, 
welche unter anderen Berhältnifjen für die ganze Armee erlaffen worden wären, eine 
Aenderung allergnädigit eintreten zu laſſen und die Beibehaltung der betreffenden 
Mufitchöre in der bisherigen Stärfe oder aber einen höheren Stand nach dem Ermefjen 
der einzelnen Regimenter Huldreichit genehmigen zu wollen“. Bevor eine Antwort 
erteilt wurde, hielt das Kriegs-Miniſterium eine Umfrage bei jämtlichen General:Kom- 
mandos in diejer Angelegenheit. Aus den Antworten ging hervor, daß bei fast jünt- 
lichen Infanterie und Savallerie-Hegimentern damals die vorgejchriebene Anzahl von 
Hilfemufifern zum Teil nicht unbedeutend überjchritten war, und daß ein höherer Stand 
der Mufifchöre jeitens jämtlicher General-Kommandos (mit Ausnahme des vom 3. Korps, 
welches jich über diefen Punkt nicht ausjprach) als wünjchenswert anerkannt und be= 
fürwortet wurde. Denn jeit 1830 war die Kunſt jo fortgejchritten und die Militärs 
mufif derart injtrumentiert worden, daß mit 30 Inftrumenten bei der Infanterie, mit 
17 bei der Kavallerie eine entjprechende Muſik nicht hergejtellt werden fonnte. Bei 
der Kavallerie fam Hinzu, daß infolge der während der Ererzier-Periode erforderlichen 
Abfommandierung von Trompetern zur Landwehr die Zahl der Trompeter nicht aus— 
reichte, jobald nur ein Krankheitsfall eintrat. Daraufhin wurde durch eine Kabinetts— 
Drder verfügt, daß nach dem Ermefjen der General-Kommandos bei einem Linien» 
Infanterie-Regiment bis zu 32 und bei einem Linien-Savallerie-Regiment bis zu 8 Mann 
zum Dienft als Hilfsmufifer verwendet werden dürften. Eine Erhöhung der etatmäßigen 
Mittel für die Muſik wurde jedoch auch diesmal nicht geftattet. | 

Die Reorganijation von 1860 brachte eine bedeutende Vermehrung der Regi— 
menterzahl und damit auch der Mufifchöre. Bei Beantwortung der Frage, welcher 
Art diefe fein jollten, fpielte nun Wieprecht eine entjcheidende Rolle. 


054 Zur Geſchichte der preußiſchen Militärmufit von 1815—1866. 


II. 


Kalkbrenner, der verdienftvolle Biograph Wieprechts*), jagt, es jei eigentlich ein 
Nätfel, wie Wieprecht dazu gefommen jei, ſich gerade der Militärmufif zu widmen. 
„Nie hat er früher ein Interejfe an der Militärmufif verraten, nie hat er aftiv in der 
Armee gedient, nie als Militärmufifer felbjt Dienfte gethan wie fein Vater, feinerlei 
eigene praftifche Erfahrungen in diefem Berufe fich erworben.“ Wir halten doc) die 
Antwort, die Wieprecht Wſt auf dieſe Frage gegeben hat, für völlig ausreichend. 
„Als ich,“ jchreibt er, „in Berlin zum erſtenmal (1824) eine vollſtändig beſetzte Infan— 
Geriemufit hörte, wurde ich von einem Gefühl ergriffen, von dem ich mir nie habe 
Rechenschaft geben können. War es die Rhythmik, die Melodit, die Harmonie oder 
die Verfchmelzung dieſer verjchiedenen Elemente, die mich jo gewaltjam erjchütterte? 
Als ih nun Diefe Militärfapelle auf ihrem Hinmarjche zur Wachtparade verfolgte und 
dort im gejchlofjenen Kreiſe die Ouvertüre zu Mozarts Figaro jpielen hörte, da wurde 
e3 in meinem Herzen zum fejten Entfchluß, mich von nun an dem Fache der Militär- 
muſik ausjchlieglich zu widmen.“ 

Die entjcheidende Stunde jeines Lebens war gekommen, ihm felber, wie jo vielen 
Menfchen, unverhofft und überrafchend. Das Eigentümliche bei ihm war nur, daß er 
2 die innere Weberzeugung gewann, daß die Militärmufif verbejferungsfähig und 

aß er wohl der Mann fei, fie wirklich zu verbeſſern. Die Berhältnifje erleichterten 
ihm die Wahl des richtigen Weges, und das Glück begünftigte ihn in auffallender 
Weife. Wäre die Organijation der Militärmuſik damals auch nur annähernd jo jtraff 
gewejen, wie fie heute ift, jo würde Wicprecht jchwerlich die eigentlich leitende Stellung 
erreicht haben. Die im vorigen Abjchnitt dargeftellten Verhäftniffe, nach denen die 
Unterhaltung der Muſik eben wejentlich Regimentsjache war, ermöglichten das Eingreifen 
eines Brivatmufifers, das heute ausgefchloffen erjcheint. Da num Die Savallerie- 
mufif bei ihrer ganz ſchwachen Bejegung befonders ınangelgaft war, während Die 
Infanteriemufif, an deren Spite bedeutende Männer ftanden, auf einem höheren 
Standpunkt fich befand, fo griff Wieprecht mit richtigem Blick zunächit zur Kavallerie 
muſik. Die Bekanntjchaft mit dem Kommandeur de3 Garde-Dragoner-Regiments ver- 
Ichaffte ihm die Gelegenheit, durch eigenartige Marjchkompofitionen praftiich zu zeigen, 
wohin er hinauswollte, wie er überhaupt anfangs Lediglich durch perjönliche Berbin- 
dungen jeinen reformatorifchen Ideen Eingang verjchaffte. Ganz befonders wertvoll 
in diejer Beziehung war für ihn das Wohlwollen, welches ihm der Kapellmeifter 
Schneider, der damalige Direktor der Gardemufif, entgegenbrachte. Die neue Kavallerie- 
mufif erregte die Aufmerkjamfeit des Königs und fand jeinen Beifall in jo hohem 
Grade, daß Wieprecht im Jahre 1829 den Befehl erhielt, die Mufif des Regiments 
Garde du Corps neu zu organifieren. Damit hatte er feſten Fuß gefaßt. Es ıjt hier 
nicht der Ort, die mufifalifchen, jpeziel inftrumentalen Reformen näher auseinander: 
zujegen, die Wieprecht ſchon damals durchjegte. Sie betreffen hauptſächlich die all» 
mähliche Einführung der Bentiltrompeten, der Kornetts und der von ihm miterfundenen 
Baßtuben. Als Schneider im Jahre 1838 penfioniert wurde, erfolgte Wieprecht3 Er- 
nennung zum Direktor der gefamten Mufitchöre des Gardekorps. Mit diejem Jahre 
beginnt eine neue Epoche in der Gefchichte der preußifchen Militärmuſik. Wieprechts 
Vorgänger in der genannten Stellung waren lediglich Muſiker gewejen; er jelbjt bat 
von Anfang an, obgleich er nie Soldat war, die militärische Seite feines Amtes be- 
rüdjichtigt. Sein „Syitem“ war nicht bloß ein mufifalifches, jondern ein militärijch- 
muſikaliſches. Das „Syftem Wieprecht” erjcheint in den Aften zum erjtenmal im Jahre 
1843 bei dem Antrage des Generalflommandos des Gardeforps betreff3 Einrichtung einer 
„einfachen Hechmufit- für das Garde-Rejerve-Infanterie- (Landwehr:) Regiment. Diejes 


*) Vergl. A. Kaltbrenner, Wilhelm Wieprecht u. |. w. Berlin, Emil Prager, 1332. S. 17 ff. 


Zur Gedichte der preußiſchen Militärmufit von 1815—1866, 055 


Syſtem ruhte auf dem —— den Wieprecht ſchon bei der Organiſation der Ka— 
valleriemuſik ſcharf ins Auge gefaßt hatte, dem Grundſatz nämlich, „daß die Militär— 
muſik auf die Grundprinzipien ihrer Inſtrumente zu baſieren ſei“. Von den Inſtru— 
menten, die ſich in ihrem — bis ins graue Altertum nachweiſen laſſen, und 
von denen alle andern, ob mit, ob ohne Ventile, ob tief, ob hochſtimmend, ob gerade 
oder frumm, nur als Abarten erjcheinen, jind die drei wichtigiten das einfache Signal» 
born, die Trompete und das Waldhorn. Alſo muß die Signalpornmufif, die einfachite 
hr der Infanteriemufik, ihre Inſtrumente dem Signalhorn, die Trompetenmujif der 

avallerie fie der Trompete und die Waldhornmufif der Jäger jie dem Waldhorn an- 
mejjen. (Das Waldhorn hatte Wiepreiht allerdings anfangs aufgegeben, ſpäter aber 
griff er darauf zurüd.) 

Da die Janitjcharmufif, als eine aus Holz. und Blechinjtrumenten zujammenge- 
feste, jehr foftjpielig war und aljo nur zur Regimentsmufif taugte, die nicht mit dem 
Negimentsitab zujammenliegenden Bataillone daher ohne Mufif waren, jo fahte Wiep- 
recht die Schöpfung einer einfachen Bataillons-Signalhorn-Muſik zunächſt ins Auge. 
Wenn heute die detachierten Bataillone wohl ausnahmslos eigene Muſik bejigen — 
natürlich auf einige Kojten, was eine Kabinett3-Order vom Jahre 1833 gejtattete — und 
jorgjam hüten, jelbjt wenn fie zu wünjchen übrig läßt, jo haben jie das im letzten 
Grunde der unermüdlichen Thätigkeit Wieprechts zu verdanfen. Und wenn andverjeits 
durch dieje über das ganze Land verjtreuten Mufitchöre ohne Zweifel der muſikaliſche 
Sinn unjeres Volkes gewedt und der mufifalische Gejchmad verbefjert worden iſt und 
wird, jo wurde Wieprecht von vornherein von dem Gedanken geleitet, durch dieje Sig— 
nalhornmufifen auf die Veredlung der Volksmuſik hinzuwirken. Im Jahre 1337 jchuf 
er die erjte derjelben für das ‚züjilierbataillon des 32. Infanterie-Regiments, bald 
darauf eine zweite für das Füfilierbataillon des 20. Regiments und dann ähnliche auf 
Befehl des Prinzen Wilhelm von Preußen beim ganzen 3. Armeekorps. Von hier 
verbreiteten jie jich über das Gardeforps und bald über die ganze Armee. Dieje Elei- 
nen Chöre wurden durch weitere Opfer der Offizierforps und ungeachtet der jchon zur 
Unterhaltung der Regimentsmuſik gezahlten Beiträge noch bejonders erhalten. Bei der 
erjten Einrichtung jtanden ihm nur nicht muſikaliſch gebildete Mannjchaften zur Ver- 
fügung; um jo überrajchender und anerfennenswerter waren die erzielten Nejultate. 
Beim 1. Bataillon des Garde Rejerve-Regiments brachte er 3. B. in einem Zeitraum 
von drei Wochen ein jolches Mufifchor aus den vorhandenen Signalhornijten zujtande, 
von denen nur ein einziger als etwas vorgebildet gelten konnte. Dieje Rejultate ftehen 
aftenmäßig feit und halten den Angriffen der damaligen Gegner Wieprechts vollfom- 
men jtand. Sie fonnten nur erreicht werden durch einen vorzüglich praktischen Lehr— 
plan, dejjen Auseinanderjegung hier zu weit führen würde, und durch die weile Be- 
Ihränfung auf eine einfache Beſetzung. Schon mit 12 Stimmen erreichte Wieprecht 
ein flangvolles Enjemble. Wir begreifen, daß jolche Erfolge ihn zu fühnerem Vor— 
gehen ermutigten. 

Wir haben bereit3 in der Einleitung darauf Hingewiejen, daß es die wichtige Ka— 
pellmeijterfrage war, in deren richtiger Beantwortung ein Hauptverdienjt Wieprechts 
zu juchen ift. Bedeutende und geniale Stabshoboiſten-, »-Trompeter und -Horniſten 
hat es jelbjtverftändfich auch vor ihm gegeben; wir brauchen nur Namen wie Neidhardt, 
Weller, Node und Schid zu nennen; ebenjo find unter Wieprechts3 Mitarbeitern höchſt 
verdienjtvolle Männer nicht zu vergeffen, wie vor allen Saro und Bieffe; aber es 
fommt bei der Armeemufif weniger auf die höchiten Spigen als auf da3 Durchſchnitts— 
maß an. Das ftraffe, preußische Wejen ließ auch bei den Stellen der Muſikmeiſter 
das Recht der Anciennität vorwalten, und in den zwanziger Jahren noch gab e3 Stabs— 
trompeter, die jich nicht in eine cinfache eigen finden konnten. Nicht ohne äußerſte 
Mühe und mit zweifelgaftem Erfolge durfte man damals den Verſuch machen, zwei 
Mufitchöre zufammenwirfen zu lajjen. Die Möglichkeit von Maſſenwirkungen, die, 


056 Zur Geſchichte der preußiſchen Militärmufit von 1815—1866. 


wenn fie auc von künftlerischem Standpunkt aus oft angegriffen werden, bei beſtimmten 
Gelegenheiten mindeftens erlaubt fein müſſen, ift auf feinem Gebiet größer und gebote= 
ner als auf dem der Militärmufif. Wer je einen großen Bapfenttreich gehört hat, 
wird das zugeben. Dieſe Möglichkeit ſchwebte Wieprecht von vornherein als erjtrebeng= 
wertes Ziel vor. War es ſchon ein Lieblingsgedanfe von ihm, durch das Zuſammen— 
treten der einzelnen von ihm gejchaffenen Bataillonsmufifen wie durch einen Zauber— 
lag eine große Regimentsmuſik herzuftellen, jo war er befanntlich der Schöpfer der 
—— Monſterkonzerte, die auch nicht mehr ausſterben werden.) Die notwen— 
dige Bedingung hierfür aber iſt und bleibt ein allgemeiner Beſtand tüchtiger Muſik— 
dirigenten. 

Nur ſehr wenige Leute werden wiſſen, daß Wieprecht ſchon im Jahre 1853 in 
einer Immediateingabe an den König Friedrich Wilhelm IV. die Erhöhung des Armee— 
Muſiketats um jährlich 1000 Thaler zu zehn Stipendien für Hoboiften am Berliner 
Konfervatorium beantragt hat. Erft nad) feinem Tode (im Jahre 1874) wurde diejer 
Gedanke verwirklicht dadurch, daß fortan zehn geeignete Milttärmufifer zu weiterer 
Ausbildung an dem Unterrichte der akademiſchen Hochjchule für Muſik teilnahmen. 
Genau im Sinne Wieprechts wurde als einziger Zweck dieſer Neueinrichtung angegeben, 
„Durchgebildete Mufikdirigenten für die Militärfapellen zu gewinnen und Dadurd eine 
allmähliche Hebung der muſikaliſchen Zuftände in den einzelnen Muſikchören herbeizus 
führen.“ In der genannten Immediat-Eingabe hat Wieprecht auch die Anforderungen 
zujammengeftellt, welche an einen Militärmufif-Dirigenten zu ftellen ſeien. Sie jind 
nicht gering. „Ein Mufifmeifter muß“, jagt er, „abgejehen von jeiner militärischen und 
fittlihen Haltung, 1) wenigftens ein Chorinjtrument (Klarinette, Trompete oder Wald» 
born) mit volljter Tüchtigfeit behandeln können, 2) von allen andern Chorinftrumenten, 
ihrer Struktur und Behandlung nach, gründliche Kenntnifje haben. Er mul 3) in der 
Theorie und Tonſetzkunſt joweit gründlich unterrichtet jein, daß er Kompofitionen beur— 
teilen, arrangieren und auch fomponieren fann. Er muß endlich, für jeine außerdienſt— 
liche Thätigfeit, die Violine gut genug jpielen, um ein Orchefter zu führen, die übrigen 
Streichinftrumente verftehen, auch Klavierjpiel und Gejang möglichjt weit geübt haben.“ 
In einer andern Ausführung, einer großen Denfjchrift vom Jahre 1855, betont er in 
ebenjo warmer Weije die militärischen Eigenjchaften, ohne welche ein Muſikmeiſter in 
der Armee nicht gedacht werden fünnte, und gerade die Betonung des Soldaten im 
Dirigenten fennzeichnet die Richtung feines Strebens. 

Was num zunächjt die muſikaliſche Leiftungsfähigfeit betrifft, jo blieben, wie jchon 
bemerkt, die Wünjche Wieprecht3 auf ein Eingreifen von Staats wegen unerfüllt. Dafür 
verlangte er aber von jedem, der als Mufikdirigent notiert fein wollte, daß er zum 
wenigjten einen Privatkurſus in der Kompoſition bei einem tüchtigen Lehrer durchge— 
macht haben müßte. So wurden allein bis zum Jahre 1853 24 Stabshoboijten 
und 32 Stabstrompeter zur Anftellung durch ihn in Vorjchlag gebracht; von dieſen 
waren 17, rejp. 22 aus dem Garde-Korps hervorgegangen, die übrigen aber zu ihrer 
Ausbildung nach Berlin geichidt und unter WieprechtS Leitung gejtellt worden. Wie 
viel Dirigenten er jeitdem bis zu feinem Tode (1872) dem Heere gebildet hat, iſt zahlen- 
mäßig nicht möglich anzugeben; jedenfall3 wurden jeine Srundläge fajt durchweg die 
maßgebenden. Erwähnen wollen wir noch, daß einige feiner Schüler auch in andern 
Armeen leitende Stellungen erlangt haben. 

In bezug auf den zweiten Punkt, die Pflege und Stärkung des foldatischen oder, 
bejier gejagt, kriegeriſchen Geiftes in der Militärmufif, war natürlich Wieprechts Ein» 
fluß an die Grenzen feines Fachs gebunden. Aber innerhalb desfelben fand er auch 


) Tas erite der Art fand im Mai 1838 bei der Anweſenheit des Kaiſers Nikolaus’ I. von Rufe 


land jtatt. Das Orcheſter umfaßte 1000 Injtrumente und 200 Trommeln. Vergl. Kaltbrenner 
a. a. O. 5. 26 ff. 


Zur Gejhidte der preußiſchen Militärmufit von 1815— 1866. 957 


hier das entjcheidende Mittel. Er hatte die Beobachtung gemacht, daß viele Dirigenten 
der Salon= oder fogenannten Harmoniemufif jo ausschließlich Huldigten, daß fie die Haupt- 
bejtimmung einer kraftvollen und energifchen Militärmufif, ja ihr eigentlich belebendes 
Prinzip, die Marſchmuſik nämlich, über Gebühr vernachläfligten. Da Befehle in diefer 
Richtung nicht gut von ihm erteilt werden konnten, einmal weil er ja nur an der Spitze 
der Muſik des Garde-Korps ftand, und zweitens, weil folche Befehle überhaupt nicht 
jeine Eache gewejen wären (ganz davon abgejehen, daß die Mufifchöre bejonders bei 
der Infanterie ja mehr durch Geldbeiträge der Offiziere als durch ftaatliche Mittel 
unterhalten wurden), jo vermochte er die Marſchmuſik nicht fo jchnell wieder zur Blüte 
u bringen, wie er e8 für notwendig anjah. Am meijten Erfolg hatte er in dieſer 
Desiehung noch bei der Kavallerie und den neuen Hornmufifchören. Wenn Wieprecht 
aber irgendiwo den Nagel auf den Kopf getroffen hat, jo ift es hier gewejen. Die 
Militärmufit mug in erjter Linie Marſchmuſik und fie darf erit in zweiter Konzert- 
und Salonmufik fein. Die Berhältniffe, gegen welche er anfämpfte, hatten e3 vers 
chuldet, daß eine ganze Weihe der jchönjten alten Märjche in Bergefjenheit geraten 
waren. Daß die lange FFriedenszeit hierzu mitgewirkt hat, iſt zweifellos. Sowie 
Preußens Fahnen ſich im Felde und zum Siege entfalteten, famen auch die alten 
Märjche wieder zum Vorſchein und entjtanden neue, fraftvolle Märjche; leider aber 
verjchwanden fie auch zum Teil wieder in den FFriedensjahren nad) 1871. In unjern 
Tagen ift aber endgültig Wandel gejchaffen worden, allen zum Trojt, die den Hohen- 
friedberger, den Möllendorf-, den York-, den Barifer Einzugsmarih, den Torgauer, 
Koburger und auch neuere Märjche von Bieffe, Boigt, Fauft und Golde lieber hören 
als die Märjche aus Fatinika, Fledermaus, Boccaccio u. ſ. w. bis herunter zu dem 
entjeglishen „die Muſik kommt“. Solche Operettenmärjche fünnen allenfalls zur Aus 
hilfe dienen, aber der Name einer Marjchmufif für die Armee fommt ihnen nicht zu. 
Denn die Marſchmuſik ſoll nicht bloß den Marſch regeln, jondern vor allem auch die 
friegerijchen Gefühle wecken und begeiſtern; jie joll endlich auch die Erinnerungen an 
die Großthaten des preußischen Heeres wachrufen und immer von neuem beleben. Und 
wie leicht findet jolch ein mufifalischer Gejchichtsunterricht Eingang in die Herzen und 
Sinne! Bon jeher ift dieſer Gefichtspunft bei den PBarademärjchen im Auge behalten 
worden, und wer gedient hat, der weiß, wie jeder Nerv zudt, der Kopf in die Höhe 
geht und das Auge heller glänzt trog Staub und Sonnenflimmern, wenn nach dem 
Loden der Trommeln die Mufik einjegt. 

Die Poeſie des Krieges, von der Gneijenau einmal jo herrlich fpricht, wird ge— 
rade von der Muſik fejtgehalten. Die blutigen Spuren des Sturmes auf die Düppeler 
Schanzen find in unjerer Erinnerung verwijcht, aber die Herrlichkeit dieſes Siegestages 
flingt ung immer noc) aus dem Düppeler-Sturm-Marjch von Pieffe entgegen, und zus 
gleich) das rührende: „Steh' ich in finftrer Mitternacht jo einfam auf der ftillen Wacht“, 
jenes echte Soldatenlied, welches damals bejonders gern von unjeren Truppen gejun= 
gen wurde und von jo vielen in wahrhaftem Gedenten an „das ferne Lieb* daheim. 

Das Ideal eines Militärmufifmeisters, für welches Wieprecht lebte, wird im Frieden 
nie ganz erreicht werden, wohl aber muß es im Frieden vorbereitet jein. Ein jiegreicher 
Krieg wird dann von felbjt die schlummernden Kräfte zur Entfaltung bringen. Die drei 
legten Kriege weijen genug Beifpiele von Stabstrompetern, Stabshoboiften und Stab3- 
hornijten auf, die ihre Aufgabe in volllommener Weije gelöjt haben. Wir wollen hier 
nur an den verjtorbenen Pieffe erinnern, der bei Königgräg, als das Leibregiment vor: 
ging, mit gezogenem Degen den Avanciermarjch dirigierte.*) Achnlicher Züge gibt es noch 
viele; jie müjlen ihren Pla in einer Gejchichte der preußiſchen Militärmuſik finden. 

Sedo fehren wir zu Wieprecht zurüd! Die bedeutende Vermehrung der Zahl 
der Regimenter, welche die Reorganijation von 1860 herbeiführte, gab ihm Gelegenheit 


- 


*) Der hochſelige Kaijer Wilhelm Hat Hiervon vor einigen Jahren gelegentlih gefproden. 


0958 Zur Geſchichte der preußiſchen Militärmuſik von 1815—1860. 


zu weiterer Durchführung feiner Ideen. Da eine Errichtung von Janitſcharmuſikchören 
für fämtliche neuformierte Regimenter mit fehr bedeutenden Koften verknüpft gewejen 
wäre, fo bot fich von jelbjt die jpeziell Wieprechtiche Hornmufif als willkommener Er- 
fat dar. Eine Kabinett3-Order vom 16. Februar 1860 beftimmte, daß die neuen In— 
fanterie-Regimenter „vorläufig“ *) feine Janitſcharmuſiken jondern eine Hornmuſik erhalten 
follten. Wieprecht ftellte ein Normal-Tableau auf, welches heute noch die Grundlage 
für die Beſetzung der Infanteriemufif bildet, und welches jo eingerichtet it, daß ſich 
in der einfachften Weiſe der Uebergang von der Horn- zur Janitſcharmuſik bewerfitelli- 
en läßt. Die neue Hornmufif jelbjt jtellte er zu 22 Imjtrumenten zujammen. Auf 
Beranlaffun des Kriegsminifteriums wurde von einer bejonderen Begutachtungskom— 
mifjion**) ebenfalls ein Inftrumentierungsvorjchlag gemacht; dieſer jtimmt mit Wie- 
prechts VBorjchlägen bis auf unmejentliche Nebendinge vollfommen überein. Man jieht 
daraus, was e3 mit den Angriffen Rodes auf fich hat, der damals Wieprecht vorwarf, 
„aus der friegerifch und trefflich Elingenden Janitjcharmufif eine Horniftenblehmufif 
fabrizieren zu wollen“. 

Am 22, September 1860 befahl der Brinz-Regent die Probe einer jolchen Horn- 
muſik von 22 Inftrumenten in feinem Palaid. Sie hatte zur Folge, das die Wie- 
prechtiche Zufammenjegung den neuen Regimentern al3 „Anhalt“ mitgeteilt wurde. In 
der betreffenden Kabinett3-Order (datiert Jülich, den 26. September 1860) erjcheinen 
zwei nur wenig verjchiedene Zujammenftellungen von 22 Injtrumenten, „von welchen 
Abweichungen möglichjt vermieden werden fjollten“. Jedem Negimente wurden ferner 
zur eriten Anschaffung der Injtrumente und Mufikalien 600 Thaler und zur Unter: 
haltung bderjelben ein jährlicher Betrag von 300 Thalern überwieſen. Nur das 
4. Garde-Grenadier-NRegiment erhielt ausnahmsweije in Nüdjicht auf feine Garnijon 
Koblenz von vornherein eine Janitjcharmufif. 

Die weitere Entwidelung diejer neuen Muſikchöre war vorauszujehen: die Negi- 
menter jtrebten eins nad) dem andern früher oder jpäter die Erweiterung ihrer Horn— 
muſik zur Janitjcharmufif an. Dieſer Gang der Dinge fam niemand überrajchend. 
Der Prinz Regent jelbjt Hatte jenes wichtige Wort „vorläufig* Höchiteigenhändig ge— 
jchrieben und hatte Abweichungen von der offiziellen Inftrumentierung von vornherein 
nicht geradezu ausgeſchloſſen. Es zeugt aber von einer nur oberflächlichen Kenntnis 
der finanziellen Schwierigkeiten bei der Reorganijation, wenn man aus diejer Entwide- 
lung Wieprecht den Vorwurf hat machen wollen, daß er feine perjönliche Liebhaberei 
für die Blechmuſik gegen die Janitſcharmuſik geltend gemacht habe. Wieprecht wußte 
jehr wohl, daß eine einzige Hornmufif für ein Infanterie-Negiment zu drei Bataillonen 
nicht ausreichte, und dab die Janitſcharmuſik für den Marſch umerjeglich iſt; er wußte 
auch, daß die Kräfte des Blechbläſers, feine Lippen und Lungen bei Hige, Staub und 
jtarfem Winde übermäßig angeftrengt werden. Nur in einem Punkte jcheint er fich in 
der That geirrt zu haben, nämlich in der Erwartung, daß im Jahre 1860 genug mus 
fifalijche Kräfte in Preußen vorhanden fein würden, um die gejteigerte Nachfrage nad) 
Dläjern zu befriedigen. Dies war aber nicht der Fall. Schon im Frühjahr 1862 
wurde über Mangel an Mujikern geklagt. Das Generalfommando des 7. Armeekorps 
ſprach geradezu die Anficht aus, daß, „wenn den neuen Infanterie-Regimentern die 
Hornmufif bliebe, weder fie noch die Jäger: und Pionier-Bataillone für die Dauer die 
erforderlichen Kräfte würden gewinnen fönnen, ja daß es ſelbſt den Kavallerie-Negi- 
mentern wejentlich jchiwerer fallen würde, ihre Trompeterforps volljtändig zu erhalten.“ 
Die Hornmufif hat allerdings die Eigentümlichkeit, die durch Fehler eintretenden Diffe- 
renzen mit jchneidender Schärfe durchflingen zu laſſen. Ich wage es nicht, zu ent» 

*) Diejes „vorläufig“ war ein eigenhändiger Zufag des damaligen PBrinzregenten im Original. 

**) Sie bejtand aus dem Grafen von Redern, Meyerbeer, dem Hauptmann von Karczewski und 
den Kapellmeiftern Licbig, Meinberg, Saro und Piefke. 


Zur Geſchichte der preußiſchen Militärmufif von 1815— 1866. 959 


ſcheiden, ob die Forderung, welche damals von einer fachverjtändigen Seite laut wurde, 
„daß mindeſtens die Hälfte der Inftrumente durch gute Mufifer, und die hohen melo- 
dientragenden geradezu durch Künftler beſetzt fein müßten“, jtihhaltig oder übertrieben 
ift. Nicht nur das natürliche Beftreben, den alten Negimentern auch in bezug auf 
die Mufif gleichzuftehen, fondern auch die genannten Echwierigfeiten veranlakten Die 
neuen Negimenter jehr bald, ihre Muſik der Janitſcharmuſik anzunähern oder fie gänze 
lic) zu einer ſolchen umzuformen. Selbjtredend durfte das nicht ohne fünigliche Ge- 
nehmigung gejchehen, welche in den meiften Fällen auch erteilt wurde. Eine allgemeine 
ae zu befürworten, lehnte das Kriegsminifterium vorläufig ab, da die Gene- 
ralkommandos eine jolche in der Mehrzahl wenn auch als wüntjengwert, jo doch 
feineswegs als notwendig bezeichnet und zwei Kommandos fich jogar ablehnendb ver- 
halten hatten. Es war eine völlig gefunde und normale Entwidelung. Sobald Die 
Regimenter die nötigen Mittel für eine Janitſcharmuſik befaßen, baten fe um die Er- 
laubnis zur Umformung oder um die Genehmigung der bereit3 erfolgten. Andere 
halfen jich vor der Hand durch eine Uebergangsinjtrumentierung, wie 3. B. das 7. rhei- 
nijche Infanterie-Regiment Nr. 69, welches in Mainz ftand und mit den Defterreichern 
in Wettfampf treten mußte. Dieje Mufit fand bei Gelegenheit der im Jahre 1861 
auf Befehl des Königs von Wieprecht im Bereich des 7. und 8. Armeeforps jowie in 
den Bundesfeitungen vorgenommenen Injpizierung die volljte Anerkennung des Gene- 
ral-Mujif-Direftors. Fat überall nahm man wenigjtens die Schlaginftrumente zur 

ornmufif Hinzu, um den Takt befjer und hörbarer zu markieren und die Melodien: 
[äjer zu jchonen. Im manchen Provinzen bemußte der preußijche Patriotismus die 
Gelegenheit, um fich durch Unterjtügung der Militärmufif gerade in jenen jchweren 
Sahren zu betätigen. Dieſe Gaben jollen nicht vergeffen fein. So erhielt das 5. Pom— 
merjche Infanterie-Negiment Nr. 42 von der Ritterjchaft der vier neuvorpommerjchen 
Kreife und der Stadt Stralfund ein Bargeſchenk von 880 Thalern und in Natura 
eine große und eine kleine Trommel, Beden, Glodenjpiel, ein Oboe und ein Fagott. Von 
dem Gelde wurden alle andern zur Janitſcharmuſik noch erforderlichen Injtrumente (in 
Neujilber) angefchafft, freilich vorläufig nicht dienitlich geführt. Bei der Einweihung 
der neudorpommerjchen Eijenbahn durch Se. Majeität richtete der Negierungspräfident 
Graf von Krafjow die Bitte an den König, zu gejtatten, daß das Regiment die ihm 
Keen Instrumente auch im Dienft benugen dürfe, was auf förmlichen Antrag des 

egiment3 durch eine Kabinetts-Order im Februar 1864 auch geftattet wurde. Aehn— 
Tiche Gejchenfe jeitens der Stände der Kreiſe Kottbus, Sternberg und Lübben ermög- 
Iichten dem 52. Regiment die Errichtung einer Janitſcharmuſik. Wir ſchließen mit dem 
8. pommerjchen Infanterie-Regiment Nr. 61. ALS diefes Regiment im Januar 1864 
Marjchorder gegen Dänemark erhielt, veranftalteten die patriotiichen Bewohner der 
Kreife Stolp und Bütow auf Anregung der betreffenden Landräte Sammlungen teils 
in Geld, teils in Natura, um Unterkleider für die Mannjchaften anzujchaffen. Dieje 
Sammlungen fielen jo reichlich aus, daß die Bedürfniffe befriedigt und die namhafte 
Summe von 247 Thalern erübrigt wurde. Diejen Ueberjchuß verwendete das Regi- 
ment in Webereinitimmung mit den Gebern zur BVerjtärfung der Muſik. 

Im April 1865 wurde noch einmal bei fämtlichen — Umfrage 
gehalten, welche der neuen Regimenter die Hornmuſik bereits in Janitſcharmuſik umge— 
wandelt hätten. Es ergab ſich, daß einzig und allein beim 1. Armeekorps keine Um— 
formung ſtattgefunden hatte. 20 Regimenter beſaßen bereits eine vollſtändige Janit— 
Icharmujif*), 6 eine verſtärkte und nur 10 noch die urſprüngliche Hornmuſik. Hiermit 
it allerdings ein jchlagender Beweis geliefert dafür, daß eine lebensfähige und allen 


*) Als am Ende des Jahres 1863 bei der königlichen Kapelle die Orcheſterſtimmung verändert 
wurde, rangierte man alle Holzblafeinjtrumente aus. Da dieje durchweg ſehr gut und billig waren, 
fo fauften einige Militärtapellen die Inſtrumente auf. 


960 Zur Gefhichte der preußiihen Militärmufit von 1815—1866. 


Anjprüchen genügende Infanterieregimentsmufift nur die Janitſcharmuſik fein Tann. 
Diejer Thatjache wurde auch von dem oberjten Kriegsherrn Rechnung getragen. Eine 
Kabinett2-Order vom 19. Juli 1865 genehmigte, „daß die Hornmufifen der neufors 
mierten Infanterie-Regimenter auf Grund motivierter Anträge der betreffenden Regi— 
ments-Kommandeure nach dem Ermefjen der fommandierenden Generale in Janitſchar— 
mufifen umgewandelt werden dürften, jedoch nur unter der Bedingung, daß bei den 
Truppenteilen die Mittel hierzu vorhanden wären und der Staatsfajje feine Mehrs 
belaftung ermwüchje*. Bei der infolge der Ereignifje von 1866 eintretenden Neubils 
dung von Negimentern wurde von vornherein die Errichtung von Janitſcharmuſiken 
ejtattet. Jedes neue Infanterie und Kavallerieregiment erhielt wie früher zur An— 
N haffung 600 Thaler, jedes Jägerbataillon und jede reitende Artillerieabteilung 400 
Thaler, außerdem natürlich) das etatmäßige jährliche Paufchquantum zur Unterhaltung 
der Instrumente u. f. w. 


Heute haben alle Infanterie-Regimenter eine mehr oder weniger glänzend ausge— 
ftattete Janitſcharmuſik von durchichnittlich 42—44 Mann, nur bei den alten Garde: 
Negimentern ift fie etwas ftärfer. 44 Mann, den Träger für den Halbmond und 
einen zweiten Konzerttrommler eingerechnet, genügen nach Wieprechts Urteil zu einer 
vollftändigen, nach allen Richtungen Hin befriedigenden Regimentsmufif, und für dieje 
Bahl von Stimmen find auch alle feine Partituren berechnet; niemals hat er, wie er 
noch furz vor jeinem Tode ausdrüdlich bemerkte, diefes Maß in feinen Produktionen 
für Militärmuſik überjchritten. Wenn die angegebene Bejegung das unbedingt Aus- 
reichende bezeichnet, jo ift fie aber auf der andern Eeite zugleich als das unbedingt 
Erforderliche bei dem heutigen Stande der Kunſt zu betrachten. Wünſche um Verſtär— 
fung der Mufif machen fich überall bemerkbar. Indeſſen hat die Saniticharmufit 
eine Verſtärkung viel weniger nötig als die Kavalleriemufit, bei welcher jpäter oder 
früher eine Reform ſich als unabweisbar herausftellen wird. 


Mieprecht hat der preußijchen Militärmufif die Bahn gewiefen, in der fie fich 
ruhig fortentwideln wird. Seine Wirkjamfeit und jeine Verdienfte wurden von drei 
Königen anerfannt und belohnt. Die Gegner verftummten allmählich; feiner würde es 
ihm gleichgethan Haben, wenn auch mancher ihm an mufifalifchem Talent überlegen war. 
Das muſikaliſche Talent allein aber jchafft noch feinen Militärfapellmeifter. Und wenn 
bei dem internationalen Wettjtreit der Militärmufit im Jahre 1867 zu Paris die 
Preußen die einzigen waren, denen einftimmig von der Jury der erjte Preis zuerkannt 
wurde, jo bedeutete diefer Erfolg zugleich eine unanfechtbare Anerkennung der Befähi- 

ung Wieprechts zum Organijator der Militärmufif. Es wird denn auch wenige Mus 

Hfmeifter in der Armee geben, welche in ihm nicht ihren eigentlichen Lehrmeiſter, ihr 
eigentliches Vorbild verehrten, jelbjt wenn fie ihm nicht mehr im Leben gekannt haben. 
Der jetzige Armee-Muſik-Inſpizient Voigt ift fein vertrauter Schüler und Freund ges 
weien, den er fich jelber zum Nachfolger gewünjcht hat. Hoffen wir daher für die 
Zukunft das Beſte! 


Zum Schluß möchte der Verfaſſer zwei Wünfche auszusprechen fich erlauben. Die 
vor einem Jahre neugejchaffene Charge eines Armee-Mufit-Injpizienten ift ein hochbe— 
deutjames Amt und für die einheitliche Organifation der ganzen preußiſchen Militär 
muſik geradezu unentbehrlich. Außerdem bietet fie die Gelegenheit, endlich auch für 
die Gejchichte diejer wichtigen Mufifgattung grundlegende Sammlungen in die Hand zu 
nehmen. Es müßte ein Bentralarchiv für die preußiſche Militärmufit gefchaffen wer: 
den, welches das gefamte neue und alte Material nach und nach aufzunehmen hätte, 
Bis jetzt ift das hiſtoriſche Material jo zerſtreut und lückenhaft, daß eine klare Ans 
ſchauung von der Gejchichte unſerer Milttärmufif nicht möglich ift. Ueber den Wert 
und den Nugen einer genaueren Kenntnis aber brauchen wir feine Worte zu machen. 
Mir iſt es nicht zweifelhaft, daß dabei auch die Gejchichte unfrer Armee übers 


Zur Geſchichte der preußiihen Militärmufit von 1815—1866. 961 


— gewinnen würde, geſchweige die Geſchichte der Muſik. Hierzu ſind vor allem Geld— 
mittel nötig. 

Der — Punkt betrifft die Beiträge des Offizierkorps zur Muſik. Die vor— 
fiegenden Ausführungen haben gezeigt, dab dem preußiichen Offizierkorps der Ruhm 
gebührt, in einer geldarmen Zeit für die Militärmufif außerordentlich große Opfer 
gebracht zu haben, Opfer, deren Wert nur jteigen fann durch den Umſtand, daß jie 
ganz in der Stille gebracht wurden. Solche Beiträge beftehen ja auch heute noch, 
wenn fie auch glüdlicherweije geringer find. Es würde nur ein Akt der Gerechtigkeit 
fein, wenn die Volf3vertretung durch entjprechende Erhöhung des Mufifetat3 dafür 
forgte, daß die Beiträge ganz aufhören könnten. Das Geld würde ja nicht bloß dem 
Militär zu gute fommen, da nächſt den Gefangvereinen die Militärfapellen den größten 
Einfluß auf die Volksmuſik haben, die Militärmufif im befonderen aber den kriegeri— 
fchen Geift und die Freude unferes Volkes an unferm fchönen Heer immer von neuem 
belebt und wach hält. 


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Der Menſch Hat von jeher mystische Beziehungen in den Zahlen gejucht und 
gefunden. Aus dem Altertume find ung Werfe überliefert, welche ſich ganz mit 
diefem geheimnisvollen Gegenjtande bejchäftigen: des Nicomachus Zahlentheologie, über 
die möftifche Bedeutung der Zahlen; und des Jamblichus theologiſch-arithmetiſche 
Auseinanderfegungen. In Mittelalter aber und Neuzeit — von Abbo von Fleury 
bis auf Schubert — iſt die Zahl der Schriften Legion, welche ſich in Unterjuchungen 
und Berechnungen, wahrſageriſch dunfeln und orafelhajt wichtigtäuenden Erklärungen 
der Zahlgeheimnifje ergehen und verlieren. 

Die Zahlenmyftif iſt veranlapt teild durch die Häufige oder gar regelmäßige 
Micderfehr einer und derjelben Zahl, jei e8 nun in irgend welchen fosmijchen Ver— 
hältniffen, jei e8 bei heiligen Einrichtungen oder auch bloß in Grundformen des 
täglichen, natürlichen Lebens; teils durch bejondere, merkwürdige Eigenjchaften einzelner 
Zahlen, 3. B. Teilbarfeit oder Unteilbarfeit; teil3 durch irgend welche mehr zufällige 
Umjtände und Verhältniſſe der Ziffern, z. B. deren Form oder Buchjtabenwert. 

In der That bietet jchon die bloße Unendlichkeit der Zahlenwelt, ihre eigen- 
tümliche Mannigfaltigfeit und doch Einfachheit, ihre unbegrenzte Kombinationsfähigfeit 
und doch Ueberfichtlichkeit dem Menjchengeift jo recht em Feld zum Tummeln und 
auch zum myſtiſchen Sichverlieren. Diefe aus der Null, aus dem Nichts auftauchende, 
das ganze Gebiet des Endlichen durchmefjende, beherrjchende und dann bis in ewige 
Unendlichfeiten fortlaufende Zahlenreihe jcheint dem endlichen Geijt num auf einmal 
die Verbindung mit dem Unendlichen herzuftellen; ja fie jcheint Erde und Weltall, 
Raum und Raumlofigkeit, Zeit und Ewigkeit miteinander r verbinden und die 
Möglichkeit zu bieten, die einfachen, erhabenen, ewigen Grundgefege für alle unjere 
fomplizierten und doc jo bejchränften irdiſch-zeitlichen Verhältnifje feitzujtellen. Daher 
die Zahlenmyſtik, die zeitweife geradezu als Wiſſenſchaft auftritt! 

Es ift Schon Zahlenmyftik, ja es ift dies jogar die allergewöhnlichite und grund» 
legendjte Form Derjelben, wenn der Menjch gewiffe Zahlen bevorzugt, andere 
zurüdjegt. Woher die Unterjcheidung von geraden und ungeraden Zahlen? Das iſt 
nicht bloß eine wifjenjchaftliche Unterfcheidung; nein, in den Namen „gerade“ und 
„ungerade* liegt ebenjo wie in „rechter“ und „linfer"*) Hand, eim fittliches Urteil. 





) Man vergl. auch das lateiniſche dexter und sinister. 


Zahlenmyſtik. 963 


In dem dunklen Gefühl, jagen wir im „Geichmad* der Völker jind die ungeraden 
ahlen weniger wert als die geraden. Bet den Griechen heißen jene die „über- 
üſſigen“, während dieſe „Die richtigen, ebenen" genannt werden. Und auch das 
uralte Spiel „Grad und Ungrad“ zeugt für die parteiifche Behandlung, welche von 
jeher den Zahlen zu teil wird. 

Beiläufig bemerkt, jcheinen die Chinefen gerade die umgekehrte Parteiftellung 
einzunehmen. In einer alten ſymboliſchen Darjtellung, wo die Zahlen als ver- 
Ihlungene Schnüre mit allerlei Knötchen gezeichnet find, da find die ungeraden Zahlen 
weiß gemalt, „denn das Ungerade ift das Vollkommene, wie der Tag, die Hibe, die 
Sonne, das Feuer“. Die geraden Zahlen dagegen find jchwarz, „denn das Gerade 
it das Unvollkommene, wie die Nacht, die Kälte, das Waſſer, die Erde.“ 

Die allgemeine Bevorzugung, welche der Grundzahl des Syſtems widerfährt, iſt 
jehr begreiflih. Diejelbe eetlärt ſich nicht jo jehr aus — Vorurteilen als 
vielmehr aus Bequemlichkeitsrückſichten. Ganz beſonderer Ehre erfreut ſich die Grund— 
zahl 12; ſie ſcheint faſt heilig, ſeitdem Israel 12 Stämme und Jeſus 12 Apoſtel 
hatte. Soweit geht hier der Aberglaube, daß er, wenn einmal 13 zu Tiſche ſitzen, 
ängſtlich fürchtet, einer der 13 müſſe ſterben, damit die Geſellſchaft wieder auf die 
heilige Zwölfzahl zurüdfinfe. Und in Schottland nennt man aus demjelben Grunde 13 
oft Deils Dizzen (= devils dozen), d. i. „Teufel3 Dutzend'. — Die Zahl 12 regiert 
auch die Zeit, das Zifferblatt der Uhr ſowohl als den Jahresfalender mit feinen 12 
Monaten. Sie regiert den Himmel mittel3 der 12 Bilder des Tierkreiſes. Sie 
regierte einjt auch die Erde mittels ihrer Herrjchaft über Maß und Gewicht, Feld— 
meßzeug und Geld; doch ijt ihr Szepter hier feit Durchführung des dezimalen Syſtems, 
insbejondere jeit Auffommen der Reihswährung und Geltendmachung des zehnmillionten 
Teils des Mequatorvierteld als Metermaß zerbrochen, wie ſehr es auch ſtückweiſe noch 
weiterwaltet. 

Auf eine ganz außerordentliche Weife ehrten die Babylonier ihre Grundzahl 60. 
Sie teilten nach ihr nicht mur ihre Zeit ein; fie formten danach geradezu ihre Welt- 
geichichte um. Bei öffentlichen Anordnungen wird immer die 60 bevorzugt. Länge 
und Weite der Arche, die in der Bibel (1. Moſes 6,5) auf 300 und 30 Ellen an— 
gegeben wird, erſcheint in den Keiljchriften zu 600 und 60 Ellen angeordnet. Das 
goldene Götterbild, welches Nebufadnezar nach Dan. 3 errichten ließ, war 60 Ellen 
hoc, und 6 Ellen breit. In dem nach der babylonischen Gefangenschaft gejchriebenen 
———— müſſen 60 Starke aus den Starken in Israel um des Königs Salomo 

ett jtehn, und 60 die Zahl feiner Königinnen fein, die ſich doch in den andern, 
früheren Berichten auf mehr denn 1000 beläuft. Ein babylonisches® Sprichwort jagt: 
„Sn des einen Haufe 60 Hochzeitbälle, in des andern Kreiſe 60 Sterbefälle”. 60 Tage 
follen nach dem Befehl des Perferkönigs die ionischen Truppen an der Donaubrüde 
warten; 5 mal 60 Autenfchläge muß fich der Hellespont von Xerges gefallen Tajien; 
der Gyndesfluß aber, in welchem eins der heiligen Roſſe des Cyrus ertrunfen war, 
* — Strafe und zur Warnung für alle übrigen Flüſſe in 6 mal 60 Rinnſale 
abgegraben! 

Eine ähnliche Rolle als Grundzahl ſcheint bei den Semiten einmal die 40 ge— 
fpielt zu haben. Wenigjtens ift die 40 in der Bibel ausgefprochen Heilige Sun und 
ähnlich Heute bei den Türken. Um nur einige wenige Beifpiele anzuführen, jo dauerte 
der die Sündflut einleitende Regen nach dem biblifchen Bericht 40 Tage; und wiederum 
40 Tage nach) dem Aufhören des Regens that Noah die Fenſter der Arche auf 
(1. Moies 8,6). Mofis Leben ift geteilt in 3 Epifoden von 40 Jahren: 40 Jahr 
in Wegypten, 40 in der Wüſte, 40 bei den Israeliten. 40 Tage und 40 Nächte 
brachte er auf dem Berge Sinai zu, um von Gott das Geſetz zu empfangen, ebenjo 
wie Chriſtus 40 Tage und 40 Nächte in der Wüſte war, um vom Teufel verjucht 
zu werden, und wie Elias (1. Kön. 19,8) durch die Kraft der Speiſe des Engels 40 Tage 


964 BZahlenmpitit. 


und 40 Nächte am Horeb war. 40 Jahre waren die Juden in der Wüſte, wo Die 
ganze Generation fich erneuerte; und 1. Kön. 6 wird die Zeit vom Auszug aus 
Aegypten bis zum XTempelbau auf 12 mal 40 Jahre, jpäter wieder die Zeit vom 
Tempelbau bis zum Eril auf 12 mal 40 Jahre berechnet. Die beiden größten Könige 
Ssraels, David und Salomo, regierten je 40 Jahre. Der leßtere hält gerade 
40 Taujend Wagenpferde. Ebenjoviele Juden fehren nachher aus der babylonijchen 
Gefangenschaft zurüd. Zwiſchen Auferftehung und Himmelfahrt Chrifti liegen 40 Tage. 
40 Streihe war eine der gewöhnfichjten Strafen nach dem Geſetz, doch machten die 
Phariſäer bekanntlich 40 weniger einen daraus, damit fie vor Ueberſchreitung des Gejeges 
(d. 5. vor der Gefahr unverfehens einen Streich zuviel zu erteilen) jicher wären. 

Die Zahl 7 übertrifft wohl die 40 an Würdigfeit und Heiligkeit nicht nur bei den 
Juden, jondern auc) bei Babyloniern und vielen andern Völfern. Der Grund dafür wird 
gleich auf dem eriten Blatt der Bibel gegeben: 7 Tage hat die Schöpfungswoche und 
jede fernere Woche, der fiebente Tag ijt ein Heiliger Tag! Schon die Babylonier 
zählten 7 Wandeljterne (Planeten); dab dieſe fpäter den 7 Wochentagen die Namen 
gaben, lag jehr nahe (vgl. das Lat. und Franzöfiiche: Sol, dies Solis, Sonntag; terra, 
jtatt dejien luna, lundi, Wond-Tag; Mars, Mardi; Mercur, mercredi; Jupiter (Jovis), 
Jeudi; Venus (Veneris), vendredi; Saturn, engl. Saturday), Alſo 7 Tage bat die 
Woche; 7 mal 7 Arbeitswochen außer den 3 Feſtwochen hat das iBraelititche Sahr; 
im jiebenten Jahr und nach je 7 mal 7 Jahren trat jedesmal ein Hall» und Jubeljahr 
ein. 7 Tage vor der Sündflut muß Noah in die Arche gehn, und je fieben und 
fieben von allen reinen Tieren mithineinnehmen (1. Moj. 7, 2—4). Nach dem 
Regen läßt er zwiichen der Ausfendung der Vögel je zweimal 7 Tage verjtreichen, bis 
ihm dann zuleßt die Taube das Delblatt mitbringt (1. Moſ. 8, 10.12). Jacob muß 
um Leo und Rahel je 7 Jahr dienen; 7 fette und 7 teuere Jahre famen nad) Pharaos 
Traum und Jojef3 Deutung über Aegypten. „Kain joll fiebenmal gerochen werden, 
aber Lamech fieben und fiebenzigmal,“ heißt es in dem uralten Liede 1. Moſ. 4, 24. 
„ft 8 genug, wenn ich meinem Bruder fiebenmal vergebe?* fragt Petrus und erhält 
die Antwort: „Nicht 7 mal, fondern 70 mal 7 mal.“ Neben den 12 Apojteln hat 
Ehriftus noch einen weitern Kreis von 70 Jlüngern; und die Apoftel wählen nachher 
noch 7 Almojenpfleger oder Diafonen, von denen Stefanus einer war. 7 Männer 
nacheinander hat das Weib in jener fingierten Erzählung der Sadduzäer; 7 Märtyrer« 
fühne jene Mutter, von der die Apofryphen erzählen. Die Offenbarung Johannis 
baut ſich ganz auf der Siebenzahl auf; es braucht ja nur an die jieben Geijter vor 
dem Throne Gottes, die fieben Leuchter und Sterne des 1. Kap., die fieben Rund» 
jchreiben an die fieben kleinaſiatiſchen Gemeindebifchöfe, das Buch mit den fieben 
Siegeln, die fieben Pofaunen, die fieben Donner, das fiebenköpfige Tier, die fieben 
Engel mit den fieben Zornjchalen erinnert zu werden. 

Den fiebenarmigen Leuchter der Juden fennt jeder, ſchon aus der Abbildung auf 
dem Titusbogen in Nom. So wurde überhaupt im Volt Israel die Zahlenmyjtif in 
engfte Verbindung gerade mit Religion und Kultus gebracht. Insbejondere beim Bau 
der Stiftshütte und des Tempel3 werden faft nur heilige Zahlen zur Beitimmung der 
Maße umd Berhältnifje angewandt. Aehnlich übrigens hatte auch der Tempel des 
Nebucadnezar, defjen Trümmer in den Bir Nimrud begraben wurden, 7 Stufen 
— Materials; und die Stadt Ekbatana in Babylonien hatte 7 Wälle und 

räben. 

Wie eigen die 7 auch bei uns Heutzutage noch behandelt wird, das beweijen 
ſchon dieſe drei befannteften dahin gehörigen Redensarten unferer Sprache, nämlich 
von der böfen Sieben, von den Siebenjachen und von den Siebenmeilenftiefeln. 
Meifter Siebenfäs, jowie die Märchen von den fieben Raben und von den fieben 
Bwergen find ebenjall® Beweis. Auch mag an die Einteilung des Vaterunſers in 
7 Bitten, jowie an die Aufftellung von 7 Saframenten in der römifchen Kirche 


Zahlenmyſtit. 965 


erinnert werden. Und wer kennt nicht die 7 goldenen W (Wafjer*), Wein**), Wald ***), 
Waizen, Wild, Wolle, Weide), mit denen die Provinz Nafjau prangt gegenüber den 
3 jchlimmen © der Mark Brandenburg (Sand, Sumpf und See)? 

Das bejondere Anjehen, welches auch die 3 genießt, die fich mit der 7 zu 10 
ergänzt, beruht mit nur darauf, weil fie die erfte eigentliche ungerade Zahl ift, 
jondern vor allem darauf, daß fie jo außerordentlich Häufig in den Verhältniſſen des 
Lebens wiederfehrt, bejonders als Teilzahl: 3. B. der ayınger hat 3 Gelenke; der 
Leib beiteht aus Kopf, Rumpf und Außenteilen; der Menjch aus Leib, Seel’ und 
Geiſt; die Körper tommen in dreifachen „Aggregatzustand“ vor, als feit, flüffig und 
aufgelöft — Eis, Waller und Dampf. Das Kleeblatt iſt ſtets dreiblättrig; eine 
Ausnahme, welche jonjt, wie man jagt, die Regel beftätigt, bedeutet hier Glück. Im 
Vorübergehen jei erzählt, daß die evangelifche Gemeinde in Paderborn, eine der 
blühenditen Diajporagemeinden unſeres Vaterlandes, einer joldhen Ausnahme ihre 
Erijtenz verdankt, wenn man jo jagen darf. Als im Jahre 1806 in den Unruhen 
der Kriegsläufte die preußiiche Garnijon aus der Stadt Paderborn gezogen wurde, 
da wurde damit auch dem bisherigen evangelifchen Garnijonpfarrer Günther Gehalt 
und Stellung entzogen. Da er fein Vermögen hatte, jo war es ihm eigentlich unmöglich, 
der wenigen anjäfligen Protejtanten halber in Paderborn zu bleiben; doch da er auch 
die wenigen liebte, wurde es ihm umendlich ſchwer, fie zu verlaffen. Im dieſem 
Kampfe ging er auf dem Liboriusberge fpazieren, und den Blick auf den Boden ge 
fefjelt, findet er dort plößlich 12 regelloje Kleeblätter, nicht bloß vierblättrige, jondern 
auch fünf- und ſechs-, ja jiebenblättrige. Das entjcheidet fein Geſchick. „Ich fordere 
alle Kaifer und Könige der Welt auf, jchreibt er, je eine Million Truppen über alle 
— der Erde hin zu ſchicken, um zu ſehen, ob einer binnen zwei Minuten 12 ſolcher 

leeblätter bei einander finde! Dieſes Wunder der Natur, kann ich es anders auf— 
faſſen denn als einen Wink meines Vaters im Himmel, hier bei meiner kleinen 
Gemeinde zu bleiben, es gehe wie es wolle, und zu vertrauen, daß auch Gott uns 
nicht verlaſſen wird?" .. . . Sp bedeutſam und entſcheidungsvoll war ihm dieſer 
und, daß er die 12 Kleeblätter aufflebte und mit ungefähr den obigen Worten (die 
— nur nach dem Gedächtnis wiedergegeben werden konnten) dem Archiv ein— 
verleibte. 

Ein Negervolf, die Coruba, halten mehr als die 3 noch die 9, weil fie gleich 
3 mal 3 it, heilig, und ihr ärgiter Fluch iſt daher „99999 Krankheiten“! Aber 
allerdings ijt die 9 eine der merfwürdigiten, wunderbarjten, myſtiſchſten Zahlen. 
Nämlich wegen ihrer überrafchenden Eigenjchaften. Wer kennt nicht den Sat: „Sit 
eine Zahl durch 9 ohne Reit teilbar, jo geht auch ihre Duerjumme auf“? 3.8. 
1234575, Querjumme 27. Aber noch mehr: „Subtrahtert man von irgend einer 
Zahl ihre Querſumme, jo iſt der Reſt ſtets durch 9 ohne Reit teilbar." 8. B.: 
1234567 hat die Querjumme 28; dieſe jubtrahiert gibt 1234539; und Ddieje Zahl, 
mit der Duerjumme 27, ift durch 9 teilbar. — Daraus ergeben fich nicht nur eine 
Menge von anjprechenden und verblüffenden Zahlenfünjten, jondern auch einige 
weitere Regeln und Süße, welche die 9 in einen Nimbus des Geheimnifjes ein- 
zuhüllen jcheinen. 

Daß die Grundzahlen 5, 10, 100 überall die hervorragenditen Rollen jpielen, 
braucht nicht erſt bewiejen zu werden. Sie find ja von der Natur, in der Anlage 
ber menjchlihen Hände und Füße, bevorzugt, fie find ala Grundpfeiler des Zahl- 
ſyſtems die bequemjten und einfachiten Zahlen, die man haben fann. Daher fie denn 
auch im praftiichen Leben allgemein bevorzugt werden. an denfe nur an die römi— 


— 


*) Ems, Wiesbaden, Soden, Homburg ı« 
**) Nüdesheim, Nierftein, Aamanndhaufen ıc. 
+) Taunus, Wefterwald, Niederwald ꝛc. 


Allg‘ konf. Monatöichrift 1888, IX, 62 


966 Zahlenmyſtilk. 


ſchen Dezemvirn (10 Männer), an das ſchreckliche Dezimieren, das auch von den 
Römern ſtammt, und an „den Zehnten“, der als einfache Steuer ſchon bei den Juden 
Sitte und Gebot war. Bei der Prügelſtrafe ſpricht man gewöhnlich von Aufzählung 
von 10, 25, 50 oder gar 100 Streichen. Aus der Bibel mögen nur die 10 Gebote 
und die 10 Plagen über Aegypten, die 10 Jungfrauen, 5 kluge und 5 thörichte, und 
die 10 Ausfägigen, 1 danfbarer und 9 undankbare, erwähnt werden. Auch die 
100 Schafe, wo 1 fi von den 99 verirrt, und die 10 Grofchen, von denen die 

au 1 verliert; ferner die 10 und 5 Talente, die den Knechten anvertraut werden, 
omwie die 100 Grofchen und 1000 Pfund, die jene beiden anderen Knechte jchuldig 
find, alle dieſe Gleichnifje des Herrn Halten ſich an die Zehnzahl. Endlich jei nod) 
an die 5 Bücher Moſis erinnert, welchen entjprechend auch der Pjalter in 5 Bücher 
geteilt ift; das 1. Buch Mofis, mit feinen 50 Kapiteln in umjerer heutigen Bibel, 
iſt feiner Anlage nad) in 10 Zeile geteilt, welche alle diejelbe Ueberjchrift tragen; 
die Urzeit wird mit einer Zehnzahl von Urvätern bis zur Sündflut herabgeführt; 
nach der Flut vollzieht fich die Scheidung der Völfer wiederum während einer Zehn- 
zahl von Gefchlechtern. 

Doch genug der Beifpiele, die der geneigte Lejer aus dem Schafe jeiner eigenen 
Erfahrung und Erinnerung leichtlich wird vermehren fünnen — Beifpiele unabjicht- 
licher, unwillfürlicher Zahlenmyftif, wie fie ganz von ſelbſt aus dem Volke hervor» 
wächſt und wie fie von einem jeden mehr oder weniger unbewußt fort und fort ge 
trieben wird. 

Daneben gibt e3 nun noch eine mehr jpefulative Zahlenmyſtik: bewußte Klügeleien 
und Bhantaftereien einzelner Gelehrter, geheimnisvolle Rechnungen und Beftimmungen 
der — und Propheten. Die Zahlen werden mit allen möglichen theologischen 
und philofophifchen Dingen verknüpft; fie werden als Symbole benußt, als bequeme 
Träger irgend welcher dunkler, nicht bejtimmt erfannter Wahrheiten. 

„Unter den religiös-philofophijchen Begriffen der Chaldäer nehmen Träumereien 
über den Wert der age einen bebeutjamen Plaß ein. Jeder Gott wurde durch 
eine der ganzen Zahlen zwijchen 1 und 60 bezeichnet, welche feinem Range in der 
himmlischen Hierarchie entſprach. Eine Tafel aus der Bibliothek von Niniveh hat 
ung die Lifte der hauptjächlichen Götter nebſt ihren geheimnisvollen Zahlen auf 
bewahrt. Es jcheint jogar, als jei gegenüber diefer Stufenleiter ganzer an die 
den Göttern beigelegt wurden, eine andere von Brüchen vorhanden gewejen, welche 
fi) auf die böfen Geifter bezogen und gleichfalls ihrem jeweiligen Range ent- 
ſprachen.“ —— 

Die weitgehende Zahlenmyſtik der Pythagoreer iſt bekannt. Pythagoras war zu 
dem Schluſſe gekommen, das Weſen aller Schönheit beruhe in inneren Zahlen— 
verhältniſſen; ſchöne Formen, ſchöne Töne, ſchöne Metra, was es auch ſei, in allem 
lebt die Zahl. Harmonie iſt nichts als eine geheimnisvolle Zahlenbeziehung. Wo 
un da Zahlen; wo Zahlen, da Harmonie. Weiter: Prinzip aller Ordnung und 

hönheit der Welt ift die Harmonie, und fo ift auch die Zahl das Wejen und 
Prinzip aller Dinge. Das war einer der Hauptjfäge der Pythagoreer, und von 
dieſem Satze aus entwicelte fi) dann ihre ganze Zahlſymbolik. Nicht nur, da jie, 
dieje Bertreter der Wifjenjchaft und Kinder der Aufklärung, an dem althergebrachten 
Tage- und Stundenwählen, an dem Glauben an heilige und unbheilige Zahlen fejt- 
hielten; fie bauten auch) ein ganzes Syſtem von neuen Sachen auf. Bei dem Gegenjaß 
von Gerade und Ungerade ſetzten fie ein. Diefem Gegenjag unterliegen ja alle Zahlen. 
Nun iſt das Gerade zugleich begrenzt, das Ungerade aber unbegrenzt; ferner find 
nach uraltem Volf3glauben die geraden Zahlen heilig, die ungeraden aber unheilig. 
Aus diefen Grundfägen ließen fic) nun ſchon eine Mafje Gegenjäte herausbilden un 
aufjtellen, wie die folgenden: 

1) Grenze und Unbegrenztheit. 2) Gerades und Ungerades. 3) Eins und Vieles, 


Bahlenmpftit. 967 


4) Rechtes und Linfes. 5) Männliches und Weibliches. 6) Nuhendes und Bewegtes. 
7) Gerades und Krummes. 8) Licht und Finsternis. 9) Gutes und Böfes. 10) Quadrat 
und Rechteck. 

War jomit die Zahl als oberſtes Weltgeſetz erfannt, fo mußte auch jedem Dinge 
eine bejtimmte Zahl zufommen. Demgemäß fagten die Pythagoreer 3. B., die Ge- 
rechtigfeit bejtehe in einer Duadratzahl, weil fie Gleiches mit nn. vergilt, und 
daher jei die 4 oder die 9 die Gerechtigkeit; die 5 als Verbindung der erften männ- 
lichen und weiblichen Zahl (2 und 3) nannten fie die Ehe, die 2 die Meinung u. f. f. 
Der höchſte Schwur der Pythagorifer war die Zahl 36, die fogenannte Tetraftyg, 
oder auch das Weltall genannt, al3 Bereinigung der vier erften Geraden und 
Ungeraden, 2 +4 +6 +8 +1+3+5 + 7. Sie hatten auch den Satz, 
daß die = Sch Urjprung und Anfang aller Zahlen, aber nicht jelbjt Zahl ſei. Sie 
gaben den Zahlen moralifche Attribute, indem fie von vollfommenen, mangelhaften, 
überjchießenden, befreundeten Zahlen ſprachen. Vollkommen 3. B. hieß eine Zahl, 
wenn jie der Summe ihrer Teiler gleich) war, was natürlich nur bei ſehr wenigen 
augerlejenen der Fall. Die 6 war eine jolche vollfommene Zahl, denn 6 = 1x<2x3 
ud—=1+2+3; ebenſo 8=1+2+4+7 +14; nd I96—=1+2+4+3 
+16+31+62+124+248 u. S. f. 

Bon den Pythagorifern hat auch unfer berühmter Landsmann Alkuin gelernt. 
In feinen Augen geb die Theologie erjt der Arithmetif die rechte Weihe, indem fie die 
theoretisch feitgeftellten Eigenfchaften der Zahlen zur Erklärung der heil. Schrift be— 
nußte. Ein Beifpiel genüge. Die Zahl der von Gott, der alles volllommen und pe 
ſchuf, erichaffenen —— ſei 6 (entſprechend den 6 Schöpfungstagen), weil 6 
eine „vollfommene* Zahl iſt 6 —=1-+2 +3). Dagegen ift 8 eine mangelhafte Zahl 
denn 1+2+4=]17, aljo 1 weniger al3 8), und „daher geht der zweite Urfprung 
des Menjchengefchlechtes von der Zahl 8 aus: wir leſen nämlich, daß in Noahs Arche 
8 Seelen gewejen, von welchen das ganze Trigger gg abjtammt; um zu zeigen, 
der zweite Urjprung ſei unvollkommener al3 der erjte, welcher nach der Scchszahl 
geichaffen ward u. ſ. f.“ Durch folche Spekulationen ſuchte Alkuin Karl den Großen 
von der „Annehmlichkeit und Nütlichkeit des arithmetischen Studiums“ zu überzeugen. 

Ebenjo fol auch der Ringfinger der Aegypter feine Würde der pythagoreijchen 
Bahliymbolik verdanken. Diefer Finger hatte nämlich früher, beim Zählen und Rechnen, 
den Wert 6, aljo die erjte volllommene Zahl, dargeftellt, „und ſei darum auch jelbjt 
der Volllommenheit teilhaftig worden, und habe das Vorrecht erhalten, Ringe zu 
tragen“. — In Ebers' Uarda, I, Seite 105 findet ich ähnliche pythagoreifche Zahlſym— 
bolif in Aegpten gefchickt verwertet. 

Eine ganz andere, eigenartige, tiefgehende Zahlenmyftit haben die Inder. Zur 
Probe mögen bier die magischen oder Zauberquadrate vorgeführt werden, welche von 
den Indern zu uns gelommen find und für jedes myſtiſch angelegte Gemüt ein 
Gegenjtand unbegrenzten Staunens fein müfjen. Sie wurden denn auch von den 
Indern vielfach auf Amulette als Schugmittel gegen Krankheiten und Bezauberungen 
geihrieben und ſonſt zu magijchen Zweden benußt. Nachdem fie um das Jahr 1400 
in Europa befannt geworden, haben viele große Mathematiter Bücher über fie ges 
jchrieben, unter anderen auch der Altmeister Adam Niefe und Mollweide, der Vater 
der trigonometrifchen Gleichungen. Agripha von Nettesheim (f 1535), der die Quadrate 
von 3.3, 4.4 bis 9.9 Fächern öffentlich aufftellte, it deswegen noch als Zauberer 
angeklagt und um ein Haar zum Feuertode verurteilt worden! 

Das Problem, deſſen Löjung jolhes Staunen und Entjegen erregt und in das 
Reich der Magik zu gehören jcheint, iſt befanntlich das Folgende: — 

Ein Quadrat in 9, 16, 25, 36, 49, 64 Fächer u. ſ. w. zu teilen und in jedes 
der vorhandenen Fächer eine Ih fo zu fegen, daß alle Kolonnen, die vertifalen wie 
die horizontalen und auch die diagonalen jedesmal diejelbe Summe ergeben. 

62* 


968 Zahlenmyjtil. 


Hier find die 6 erſten Duadrate: 


11 is 2512 


19 | 21 


’ 


5 | 7 14 


32 41 43 


— — — — — — 


24 83 42 | 4 | 





| 6 8 17 26 88 


ss a 7 0 18 27 

















Bahlenmpftit. 969 | 


Es würde zu weit führen, hier Die übrigens gar nicht jehr jchwierigen Regeln zur, 
Herftellung diejer Quadrate beizufügen; oder gar die mannigfaltigen Variationen der, 
einzelnen Schemata anzugeben. Aber allerdings, ftaunenswert ift die Löfung des 
Problems gerade durch ihre Einfachheit und Bieljeitigkeit. Man nehme nur 3. B. 
das 16-feldige Quadrat. Das Geheimnis der eig ift das folgende. Es wirb 
durch die 4 dicken Linien nochmals abgeteilt. Darauf werden die Zahlen fortlaufend, 
mit abwechjelnder Ueberipringung je eines von den diden Strichen begrenzten Felder 
gebietes eingezeichnet, aljo 1—4—6.7.10.11— 13 — 16; von hinten anfangend: 
2.3 -—5—8—9— 12 — 14.15 — Nun fann man zufammenzählen, wo man 
will, von oben nach unten, von recht3 nad) links, von Ede zu Ede, oder aud) 4 andere 
nur irgendwie in forrefpondierender Lage befindliche Felder — immer wird man bie 
Summe 34 erhalten. Man nehme 3. B. 13.3 und 14.4 oder 8.2 und 9.15, 
oder 12.2 und 15.5, immer ift Die Summe 34. — 

Eine befondere Art von Zahlmyjtif oder Zahlſymbolik ift die, welche an die Ziffern 
anfnüpft. Dies war vorzüglich bei jolchen Bölfern a deren Siem zugleich 
Buchſtaben waren, wie bei den Griechen und Semiten. Nicht nur daß hier einzelne 

iffern in ihrer Zufammenjegung Worte bildeten; man fonnte da jedem Worte einen 
ahlenwert beilegen, und jobald num ein anderes Wort denjelben Zahlenwert Hatte, 
jo juchte man myſtiſche Beziehungen zwijchen den beiden Wörtern. Bei dem römischen 
Dichter Capella wird Jupiter einmal mit der Zahl 717 begrüßt, und zwar weil 
Jupiter der Anfang aller Dinge ift, der Anfang griechiſch 7 aexn heißt, dies aber 
durch Buchftabenwert 8 -+ 1 + 100 + 600 + 8 die Zahl 717 vorftellt. So dienen 
denn die Zahlen geradezu zur Verhüllung irgend eines Namens oder Gedanfens, als 
Rätſelwort. Wer kennt nicht aus der Offenbarung Johannis die rätjelhafte Zahl 666 
(Offb. 13, 8)? Man Hat befanntlich durd) die Jahrhunderte hindurch die Enträtjelung 
diejer Zahl in dem Namen des Kaiſers Nero zu ben geglaubt, welcher, hebräiſch 
gejchrieben, nach dem Zahlwert 666 ergibt. Doc wird man fich nicht verhehlen fünnen, 
daß es die Myſtik auf die Spite getrieben hieße, wenn hier, alfo in einer griechifch 
gejchriebenen Schrift, ein römifcher Name (Nero Cäfar) in hebräifchem Zahlwert ver- 
hüllt wäre. Wenn nun außerdem die ältefte Tradition die Abfafjung der Apofalypfe 
um viele Jahre jpäter ala den Tod des Nero Icht; und wenn man vor allem den 
anzen Zuſammenhang, in dem die Zahl erfcheint, berüdfichtigt, jo ergibt fich ziemlich 
lar, daß der Seher unter der Zahl die Wahrheit nicht enthüllen, jondern eben ver- 
hüllen will. Wenn fpäter, meint er, der Antichrift auftreten wird, jo werdet ihr ihn 
daran erkennen, daß fein Name den Zahlwert 666 Hat; ich gebe euch hier jegt ben 
Namen nicht an, um den Schleier, den Gott vor die Zufunft gezogen, nicht wahr» 
jagerifch zu Lüften. 

Auch ſonſt in der Bibel hat man derartige Zahlmyſtik durch Buchjtabenberechnung 
zu finden geglaubt. So jteht 1. Moſ. 14, 14: Als nun Abraham hörte, daß jein 
Bruder gefangen war, mwappnete er jeine Hr 318, in feinem Hauje geboren, und 
jagte ihnen nad) bis gen Dan..... Rabbiniſche Ueberlieferung und auch neuere Er— 
flärer meinen, 318 ftehe hier ſtatt des Namens Eliefer, der in der That x — 
200 +7+70+10+30 + 1= 318 ergibt. Dann würde Abraham allein mit 
diejem — treueſten Knecht in den Streit gegen die Könige aufgebrochen ſein. Das 
würde doch mehr als myſtiſch, das würde unglaublich ſein. — 

Annehmbarer erjcheint die zahliymbolifche Erklärung in Jeſ. 21, 8. Dort ver- 
fündet „der Löwe“ den Fall Babels. Addiert man die Buchjtaben des Wortes MR 
(Löwe) = 5 + 10 + 200 + 1= 216, jo erhält man die gleiche Summe wie die 
des Wortes Fran = 100 + 6 + 100 + 2 + 8 = 216, und fjomit könnte Habafuf 
mit dem Löwen gemeint jein. 

Wir wollen hier nicht tiefer in die jogenannte Kabbala oder Kabbaliftif eindringen, 
obwohl diejelbe als eine myſtiſche Wifjenjchaft im Altertum und Mittelalter einen fo 


970 Zahlenmyſtit. 


breiten Raum eingenommen hat. Heutzutage, wo die Welt ſo ernüchtert, die Zeit ſo 
aufgeklärt iſt, kommt man von ſolchen dunklen Träumereien immer mehr ab. Man 
betreibt ſie höchſtens noch als Spielerei. Folgende merkwürdige moderne Spielereien 
mögen den Schluß machen: 

In bezug auf den Regierungsantritt Louis Philipps und Napoleons II. ſowie 
deren Geburtsjahr und Thronverluft, und ebenjo für die Gemahlinnen beider, Amalie 
und Eugenie, erhält man folgende überrafchende Zahlenergebnifte. 


Louis Philipp Amalie, feine Gemahlin 
Regierungsantritt 1830 Negierungsantritt 1830 
1 1 

Geburtsjahr { Geburtsjahr | i 
— — 

Vom Thron vertrieben 1848 Vom Thron vertrieben 1848 


Das Paar als ſolches 
Regierungsantritt 1830 
1 





Bermählung | : 

— 

Vom Thron vertrieben 1848 
Louis Napoleon II. Eugenia, jeine Gemahlin 
Regierungsantritt 1852 Negierungsantritt 1853 
1 1 
Geburtsjahr — Geburtsjahr | s 
08 I 8 
Letztes volles Regierungsjahr 1869 Legtes Negierungsjahr 1870 


Das Paar als joldhes. 
Regierungsantritt — 
Vermählung 

— 
Letztes Regierungsjahr 1870 


Die Kabbaliſten würden dieſe Ergebniſſe nicht haben auf ſich beruhen laſſen! 

Das Wunderbarſte zuletzt. Bekanntlich wurde dem König Friedrich Wilhelm IV. 
von Preußen im Jahre 1849 die deutſche Kaiſerkrone angeboten, die er damals aus— 
ſchlug. Nun „erzählt man“, daß der geiſtvolle Monarch bei dieſer Gelegenheit mit 
einem gewiſſen prophetiſchen Blick den Abgeſandten, die ihm die höchſte Würde im 
deutſchen Lande anboten, erwiderte: Noch iſt die Zeit der Wiedererrichtung des 
Deutſchen Reiches nicht gekommen! Wenn Sie aber wiſſen wollen, wann der erſte 
deutſche Kaiſer zur Regierung kommt, fo ſchreiben Sie die Zahl dieſes Jahres 1849 


Bahlenmyftik. 971 


erit quer und dann jenfrecht darunter und darauf addieren Sie beides. Man that dies 
und erhielt nachitehendes Refultat: 


1 
8 
4 


9 
1871 (18. Januar!) 


Während fi) noch das höchſte Erftaunen in aller Mienen fpiegelte, fuhr der König 
fort: Wenn Sie nun aber wifjen wollen, in welchem Jahre der zweite deutſche Kaifer 
den Thron bejteigt, jo finden Sie dies, indem Ste wiederum die Zahlen unter einan- 
der jchreiben * 

1 


1 
8 
7 
— 
1888 (9. März und 15. Juni). 


PERTRETE 
| A EL SU N / Ah > 


A N 
N * — — ME I * 


m — — ——sz, nn — — ——çü— — 





Dante in der deutſchen Litteratur. 


Bon 


Adolf Schmitthenner. 





J. 


Vor einigen Jahren iſt von Dante Alighieri in den deutſchen Tagesblättern viel 
die Rede geweſen. Die Veranlaſſung dazu wurde durch zwei vaterländiſche Ereigniſſe 
ge eben. Gegen Ende des Jahres 1882 wurden die Deutjchen durch die Kunde erfreut, 

9 die preußiſche Regierung die Handſchriftenſammlung der Bibliothek Hamilton er— 
worben habe. Mit der vorläufigen Anzeige war ſogleich die rl ven verbunden, 
daß durch diefen Kauf die Nation in den Befig zweier illuftrierter Handichriften der 
divina commedia gefommen jei, von denen die eine in der Mitte des 14. Jahr- 
hunderts zu Lucca entjtanden, während die andere, die man als den koſtbarſten Schatz 
der ganzen Sammlung bezeichnet hat, aus der Blütezeit der Frührenaiſſance ſtamme 
und durch die Meiſterhand Sandro Botticellis mit Federzeichnungen verſehen ſei. 
Wenn in der Folge von der Hamiltonſchen Sammlung die Rede war, ſo beſchränkte 
ſich die Beſprechung faſt einzig auf das Werk Botticellis, von dem unſre Zeitſchriften 
ausführliche Beſchreibungen und teilweiſe auch Nachbildungen brachten. 

Wenige Wochen nach dieſem Gewinn wurden die Deutſchen durch einen Verluſt 
an Dante und ſeine Werke erinnert. Im März des Jahres 1883 ſtarb Karl Witte, 
der bedeutendjte Danteforjcher feiner Zeit. In Deutſchland wurde er von einer kleinen, 
aber begeifterten Gemeinde als ihr Haupt hoch verehrt, in Italien ift er ein populärer 
Mann in der litterarichen Welt gewejen. Wenn unfre Blätter in ihren Nekrologen 
eine Ueberſicht über die Arbeiten gegeben haben, mit Denen diejer Gelehrte auf allen 
Gebieten der bereits zur weitjchichtigen Wifjenfchaft gewordenen Dantologie bahn- 
brechend vorangegangen ift, jo war das die beſte Antwort auf das Wutgeheul der- 
jenigen englifhen Zeitungen, welche die Verleumdung ausſprachen, daß Deutſchland 
in den Belig eines Schates gekommen fei, den es nicht verdiene. Wenn eine fremde 
Nation es verdient, das ſchönſte Dantemanuffript der Welt zu beſitzen, jo iſt es 
diejenige, der Scartazzini in feinem 1881 zu Neapel erjchienenen Buche „Dante in 
— zugeſteht, daß ſie gegenwärtig den Primat in der Dantewiſſenſchaft 

ehaupte. 

Wir dürfen auf den Ruhm, mit den Italienern um die Palme zu ringen, um ſo 
ſtolzer ſein, als ſich darin etwas von der überſchüſſigen Kraft des deutſchen Geiſtes 
befundet. Die Beichäftigung mit Dante ift ja für uns nicht ein Gebot der Selbit- 


Dante in der deutichen Litteratur. 973 


erhaltung, wie für feine Landsleute. Dieſe würden nicht nur einen Vatermord, fondern 
auch einen Selbjtmord begehen, wenn fie den vernachläffigen wollten, welcher der Schöpfer 
ihrer Sprache und Poeſie gewejen, welcher zuerft in dem ganzen Stalien fein Vaterland 
— und den als den Erſten das ganze Italien als den gemeinſamen Bürger 
geprieſen. 

Für uns dagegen iſt die Danteforſchung eine Arbeit auf entlegenem Gebiet, deren 
erſte Früchte nicht unſerer, ſondern einer fremden Kultur zu gute kommen. Denn 
wenn wir auch gerne dem Dichter der göttlichen Komödie ſeine Kränze gönnen und 
die unſrigen dazu legen, dem Genius huldigend, der die Weltlitteratur mit einer der 
erhabenſten Poeſieen beſchenkt hat und in deſſen Geiſtesleben ſich die erſten Merk— 
eichen einer neuen Zeit kundthun: ſo ſtehn wir doch vor der Herme eines Shake— 
ee mit ganz andern Empfindungen. Shafejpeare iſt der Umfrige geworden. Dante 
dagegen jteht uns nicht nur ferner als jener, jondern auch als Sophofles und Homer. 
Er ıjt noch immer der befannte Unbekannte unter ung, obgleich jein Hauptwerk in 
mehr als zwei Dutzend Ueberjegungen den Deutichen zugänglich gemacht wurde. Die 
meijten, die jich durch den Ruhm der Komödie beftechen laffen, ihre mühigen Stunden 
auf ıhre Lektüre zu verwenden, fommen über die Hölle nicht hinaus. 

Es wird wohl niemal3 anders werden, auch dann nicht, wenn uns eine Ver— 
deutſchung zu teil würde, die dasjelbe leitete, wie die Schlegeliche Shakeſpeare— 
Uebertragung. Denn wer wird nicht abgejchredt, wenn er von Schritt zu Schritt 
nad) einem Kommentar greifen muß, fofern er den Dichter verjtehen will, wenn er 
jeitenlange Expoſitionen über jcholajtiiche Begriffsentwidelungen nachzulejen hat, um 
eine einzige Beile zu begreifen? Ein unmittelbares Genießen der Dichtung wird nur 
dem zu teil, welcher jich das Recht darauf durch mühevolle Studien erworben hat. 
Denn mit dem Maße von Kenntnis, das der Gebildete in der Negel bejigt, reicht 
feiner aus. Wer mit Dante Ernſt macht, findet fich vor eine Bibliothek geführt, die 
wie eine Sammlung von Kuriofitäten ausfieht. Die großen Folianten, die Summen 
des Petrus Lombardus und des heiligen Thomas, jowie die Chroniken der italienischen 
Kommunen dürfen am wenigjten fehlen. 

Und ift der jo teuer erfaufte Genuß ein folcher, daß er den modernen Menjchen 
völlig befriedigte? 

Auf welchem Gebiete unjer realiftiiches Gejchlecht die Allegorie heute finden mag, 
fie fommt ihm langweilig vor; fie erjcheint uns als ein unglüdjeliges Zwitterding, 
das ſich zwijchen zwei Stühlen niederjegt. Wir erwarten von der Kunjt, daß jie 
dag wirkliche Leben, wie eö bewegt wird von den allgemein menjchlichen und darum 
ewig wahren Motiven, um jeiner jelbjt willen darjtelle. Wie iſt es nun aber mit 
dem Hauptwerfe unjeres Poeten? 

Das Ziel diefer Dichtung ift dasjelbe wie das der Metaphyfif und der theologi- 
jhen Spekulation: das Abſolute. Sobald der Dichter im Anjchauen desjelben von 
dem Blige des Verſtändniſſes durchzudt wird, klingt die legte Terzine aus. Welches 
iſt der Weg zu diefem Ziele, das dem Willen die Freiheit, der Erfenntnis die Wahrheit, 
dem Gefühle die Seligfeit beut? Die Dichtung führt denjelben Weg, den die Predigt 
der Kirche verfündigt, den Weg der Erlöjung. Mit feinem eigenen VBernunftlichte 
fann der Menjch nur die Tiefe jeines Verderbens erfennen, durch feine eigene Willens- 
fraft nicht weiter als bis zu einem jehnlichen Ausblid nach Rettung gelangen. Die 
göttliche Gnade muß jich jeiner annehmen. Sie führt ihn auf dem Wege der Neue 
und Beſſerung in das Neich des ewig Wahren und Schönen und zur Bereinigung 
mit Gott. 

So ijt das Subjekt des Gedichts der Menjch. Diejer Begriff zerlegt fich: er ift 
entfaltet in der Gattung, fonzentriert im Individuum und wird gejchichtlich in der 
bejtimmten Perſon. 

Dat die Gattung, die Menjchheit, durch das Lebensgejeh der Erlöjung bejtimmt 


974 Dante in der deutichen Litteratur. 


jet, zeigt Dante an ihrer Entwidelung, an der Weltgejchichte. Aber der Dichter läßt 
uns die Weltgejchichte nicht in ihrem Fluſſe Schauen, jondern er führt uns dahin, wo 
Die Wogen erjtarrt find und das zeitlich Gewordene im Lichte der Ewigkeit unbeweg- 
lich ftile fteht. Er citiert die Weltgejchichte vor das Forum des Weltgerichtd und 
zeigt uns die Menjchen durch die ewige Gerechtigkeit feitgebannt in ihrem Loſe und 
den Ringkampf der zeitlichen Mächte durch göttlichen Urteilsſpruch entjchieden. 

Wäre die Abficht des Dichters nicht weiter gegangen, jo hätte die poetische Fiktion 
der Allegorie nicht bedurft. Dante hätte ein Epos gejchaffen, das den Zujtand der 
abgejchiedenen Seelen, wie er durh Schuld und Verdienſt der Menjchen verurjacht 
wurde, zum Gegenftand der Daritellung gehabt hätte. 

Nun aber wollte der Dichter zugleich zeigen, wie der einzelne Menjch den 
Prozeh der Erlöfung durchlebe, indem er eine Reihe von Veränderungen erfahre, 
durch die aus einem Verlorenen ein Seliger werde. Hierin liegt das dDramatijche 
Moment des Gedichtes. Die innere Entwidelung, die er demgemäß darzuftellen hatte, 
mußte mit dem äußeren Verlauf, in welchem die Reife durch das Jenſeits fich abjpielt, 
fachlich zufammenfallen; ſonſt wäre die poetische Einheit des Gedicht verloren ge— 
gangen. So ergab ſich die Notwendigkeit, alle Momente de3 äußeren Gangs der 
erfundenen Geſchichte, die das Jenſeits vor uns aufrollt, zugleich zu Allegorien des 
inneren Gangs des zwijchen der göttlichen Gnade und dem fündlichen Menſchen ſich 
abipielenden Dramas der Erlöfung zu machen. So ijt der Dichter, der die drei Neiche 
durchwandert, nicht allein der Zeuge und Erzähler der jenjeitigen Dinge, jondern zu- 
gleih die Allegorie des Menfchen, jofern er Gegenjtand der göttlichen Erlöfung tft. 

Er ijt aber noch mehr. Er ift zugleich der biftorifche Dante Alighieri jelber. 
Das große Werk entjprang einer perjönlichen Nötigung des Dichters. Derjelbe fang, 
was er in feinem Gemüte erfahren hat: große innere Ummwandlungen, aus gewaltigen 
Kämpfen hervorgegangen. So ijt jein Lied auch ein Selbitbefenntnis, und darinnen 
liegt das Iyrifche Moment der göttlichen Komödie. Wenn er feine eigene innere 
Entwidelung im Bilde darjtellen will, jo beißt das mehr als nur, er will fich als 
denjenigen geben, der den in Allegorien gejchilderten Heilsweg gegangen ift. Was, 
auf den Menjchen überhaupt bezogen, eine Allegorie für einen allgemeinen Zuftand ift, 
hat in bezug auf des Dichter Perjon einen ganz eigentümlic) bejtimmten Sinn. 
Seine Verirrung, jeine Läuterung, feine Befriedigung erhalten ihren Inhalt durch) 
den Stand feines inneren Verhältniſſes zu Beatrice, die für ihn nach ihrem Tode 
zur Berförperung aller auf fein perjönliches Leben heilend, reinigend und fördernd 
einwirfenden idealen Lebensmächte geworden war, aber auch noch in diefer Vergeijtigung 
die Geliebte feines Herzens, das Mädchen voll finnlicher Schönheit blieb, 

So jteigt denn vor den Augen dejjen, der in dies Gedicht eindringt, eine zweite 
Reihe von Allegorien auf. Es find dies Allegorien, die jich zwar zum großen Teile 
mit denen der erjten Reihe deden, aber dem Geijte etwas ganz anderes daritellen. 
Jene zeigen den Weg des Sünders zu Gott, diefe die innere Befreiung eines be— 
itimmten Dichtergemüted durch Rückkehr zu feinem Lebensideal und Feithalten an 
demjelben. 

Wir bewundern den Geift, der die äußere und innere Welt, die allgemeine und 
feine perjönliche, in einem Gedichte zufammenzufafien vermochte, wir ftaunen über 
die poetijche Kraft, welche die allgemeinjten und unjinnlichiten Stoffe in lebensvollen 
Gejtalten zur Darjtellung brachte, und welche die verjchiedeniten Gedanken in eine 
und diejelbe fcharf ausgeprägte Bildform zu gießen verjtand, im der ein jeder fich 
darjtellt wie in feinem eigentümlichen Kleid. Aber in dem gleichen Mafe, in dem 
unfer Verjtändnis des Kunftwerfes wächit, fommt uns der Dichter und jeine Arbeit 
fremdartiger, jeltfamer vor. Im der Welt feiner Gedanken wird es uns jchließlich 
beflommen zu Mute wie in den Hallen eines hochragenden gotischen Domes. Nein, 
unter dieſem Dache möchten wir nicht wohnen; wir fehren gern wieder in die Fleinere 


Dante in der deutſchen Litteratur. 975 


Welt unferer heimijchen Dichter zurüd. Dort wird die Ueberfülle im gemefjenen Raum 
läſtig. Wir möchten es bedauern, daß die Abficht des Dichters ung nötigt, mit dem 
unmittelbaren Eindrud der Darftellung uns nicht zufrieden zu geben, jondern in dem 
ſchönen Bilde zugleich eine Hieroglyphe zu ſchauen. Wäre der durch das Jenjeits 
wandelnde Dichter nicht anderes als nur der Rhapjode und Prophet, welcher der 
Menſchen Schuld und Berdienft fingt und ein zorniges Gericht über jeine Zeit hält, 
fo wäre die commedia für uns um Jahrhunderte jünger. Nun kann man freilich dem 
Nate U. W. Schlegeld folgen, der uns warnt, die geheime Symbolik des herrlichen 
Gedichtes ergründen zu wollen; denn, meint er, nur Dante jelbit hatte das Recht, 
den Genuß feiner lebendigen Dichtung durch folche Heilloje Grillen zu ftören. Aber 
ein folcher Verzicht auf die Erkenntnis deſſen, was der Dichter gewollt hat, läßt 
einen reinen Genuß nicht zuftandefommen. Zur völligen Befriedigung kommt 
unfer Geift einem Kunſtwerke gegenüber nur dann, wenn er es völlig verjtanden hat. 
Zu diefem Ziele zu gelangen iſt auf feinem anderen Wege möglich al3 auf dem, 
welcher ung die Abficht des Künftlers finden läßt. So iſt die allegoriiche Deutung 
eben doc) notwendig. Diefelbe ergibt fi aus dem Plane des Gedichted. Diefer 
Plan aber ift fein einfacher, fondern ein verjchlungener. Innerhalb derjelben Konturen 
find verfchiedene ſich dedende Zeichnungen projiziert, und fowie man das Blatt 
wendet, erhält der einzelne Strich eine andere Bedeutung, weil er einer anderen 
Sr mung u eigen wird. So bietet aljo das Gedicht nicht nur die Aufgabe einer 

llegorie. Diele feiner Bilder find Doppelallegorien. Damit ift aber ihre Bedeutung 
noch nicht erfchöpft. Wie die mittelalterliche Hermeneutif den sensus spiritualis (ben 
geijtlichen Sinn) nicht als den allein richtigen anfieht, jondern neben ihm doc auch 
noch den sensus litteralis (den buchjtäblihen Sinn) gelten läßt, jo will aud) Dante 
durchaus nicht haben, daß wir den verborgenen Sinn feines Gedichtes allein feit- 
halten; auch der buchjtäbliche gehört zu dem Ganzen der fünftlerifchen Idee. Denn 
was ſich für uns reinlich jcheidet, das Sinnliche und Unfinnliche, das flo für die 
mittelalterliche Anjchauung in einander über, jo daß das eine unmittelbar im andern 
und zugleih mit dem andern gejchaut wurde. Wir dagegen bedürfen eines be- 
deutenden Aufwandes von Reflexion, und dadurch wird der rein äfthetiiche Genuß 
beeinträchtigt. 

So erklärt e3 fich leicht, daß troß aller Bemühungen der Dantefreunde die große 
Menge der Gebildeten dem Werke des Romanen immer fremd bleiben wird. Aber 
eine Eleine Schar eifriger Verehrer wird er in aller Zukunft haben. Gerade in dem 
Rätjelhaften und Fremdartigen der Komödie liegt ein Reiz, der nicht aufhört, jtachelnd 
zu wirken. In der Anlage und Ausführung zeigt fich die jeltenjte Verbindung kühner 
Spekulation, tiefjinniger Myſtik und realiftiicher Geſtaltungskraft. Seine unerjchöpf- 
liche Phantafie hat Feine anderen Schranfen als die, welche Die weiſeſte Selbjtbeherrichung 
ihr jeßt. Diefer Dichter, der das Recht hat, in der Vorhölle ſich zu dem erlejenen 
Kreis der größten Poeten der Welt zu gejellen, hatte die Gedanken des Philofophen, 
die Augen des Malers, die Empfindung des Myſtikers, das geheiligte Selbitgefühl des 
Propheten. Die Sprache vereinigt mit einem Lapidarftil den höchſten Schwung und 
mist der düfteren und furchtbaren Töne ebenjo mächtig wie der Tieblichen und fcherzen- 
den“. Und endlich liegt in der fittlichen Perſönlichkeit des Dichters, wie fie uns aus 
ben Zerzinen entgegentritt, bei allem Strengen und Majeftätiichen etwas, das Liebe 
erwedt. Es erfüllt fich die Weisjfagung des Ahnherrn Gacciaguida: 

. .. se la voce tua sarä molesta 
Nel primo gusto, vital nutrimento 
Lascerä poi, quando sarä digesta. (par. c. 17). 
. .. wenn aud ein bittres Kraut iſt 


( 
Beim erften Biß dein Lied, jo wird es —2 
Dem Leben ſpenden nachher, wann's verdaut iſt. 


976 Dante in der deutichen Litteratur, 


Es ift wohl feiner unter den neueren Dichtern, der in ſolchem Maße ſich derer 
bemächtigt, die ihm huldigen. Häufig begnügt ſich Dante mit feinem geringeren Opfer 
als mit dem aller Lebenskraft und Lebenzzeit. Im Berhältniffe ift die für ihn auf- 
gewandte Arbeit eine der allergrößten auf litterariichem Gebiete. 

Aber bei allen Verdieniten der deutjchen Danteforfchung und bei all ihren Ehren 
in der gelehrten Welt — nahe gebracht hat fie unjerem Volke den romanischen. Dichter 
nicht. Die Wifjenjchaft hat noch feinen populär gemadt. Ja, die Schleppe von 
Dantes Gelehrtenmantel — eine jolche gereicht feinem Dichter zum Schmud — wird 
durch die Arbeit der Dantologie in den Augen der Laien nur noc) breiter, die Scheu, 
dem Dichter zu nahen, nur noch größer. 

Auch die Danteübertragungen, die reifite Frucht der Dantologie, haben es nicht 
vermocht, den großen Florentiner unjerem Volke vertraut zu machen. Mit Liebe hängt 
eine Nation nur an dem, welchem fie viel verdankt. Stehen wir jo zu Dante? Unſer 
Volk fünnte ihn ohne großen Schmerz vermifjen, weil es in der Zeit, in der jein 
Geijtesfeben zur Reife fich entfaltete, wenig von Dantes Geift gejpürt hat. Diejenigen 
Dantophilen, welche mit einem gewifjen Neid auf die Begeifterung bliden, mit der 
wir zu Shakeſpeare emporjchauen, jehen wohl ein, daß es jegt zu ſpät it, und klagen, 
daß Tante nicht mehr für und werden könne, was er hätte werden müſſen, wenn Die 
Herven unferer Litteratur nicht allein bei den Griechen und bei Shafejpeare, jondern 
auch bei Dante in die Schule gegangen wären. Man macht den geijtigen — 
unſerer Nation aus dieſer Unterlaſſung einen ſchweren Vorwurf; durch die Vernach— 
— Dantes hätten ſie verhängnisvolle Gebrechen der deutſchen Kultur ver— 
urſacht. 

Die Grundloſigkeit dieſer Vorwürfe ſoll in den folgenden Aufſätzen dargelegt 
werden. Weder war Dante unſerer Litteratur in der klaſſiſchen Periode fremd, noch 
wurde der Verſuch unterlaſſen, ihn an der Seite Shakeſpeares zum Leitſtern zu machen. 
Wenn unſere nationale Kultur trotzdem heute dem Italiener wenig zu danken hat, jo 
liegt die Urfache nicht in einer Ungunſt der Zeiten noch in einer Berftocdtheit der 
Gemüter, jondern in der Eigenart des Dichters. Die göttliche Komödie fteht einjam 
in der Weltliteratur, einzig in ihrem Weſen, in ihrem Gefchlecht, durch einen Genius 
geichafien, der groß genug war, eine alte Zeit abzuſchließen und eine neue zu beginnen. 
Das iſt der Grund ihrer Unfruchtbarkeit auf litterarijchem Gebiete. 


II. 


Als bald nach des Dichter Tod in Italien feinen Werken allgemeine Anerkennung 
zu teil ward, juchte man fich überall, wohin er während jeines unfteten Wander- 
lebens gefommen war, feiner Perſon zu erinnern und fich für die Gajtfreundichaft, 
die man ihm gewährt hatte, durch charakteriftiiche Ausjprüche, die er gethan haben 
joll, bezahlt zu machen. So entitand eine Reihe von Danteanefdoten, die ſich teils 
in den alten Biographieen des Dichters, teils in den Novellenfammlungen des 14. 
und 15. Jahrhunderts finden. Mehrere diefer Gefchichtchen ftimmen zu der Art de 
Dichters ehr wenig. Man hat jie offenbar mit feinem Namen gekrönt, um ihnen 
ein bejjeres Anjehen zu geben. Dies erhellt auch aus den Parallelen, die fich in der 
deutjchen Litteratur vorfinden. Was die Italiener von Dante erzählten, erzählen die 
Deutjhen vom Könige Salomo oder gar von dem befannten Eugen Hirtenbüblein, 
das durch Wi und Mundfertigfeit Könige und Mebte bejchämt. Andere diejer 
Anekdoten mögen auf Ueberlieferung beruhen. Sie zeichnen das Bild eines finjtern, 
jhweigjamen und jtolzen Mannes, der feines Werts wohl bewußt ift und feine Ueber- 


Dante in der beutihen Litteratur. 977 


legenheit andere fühlen läßt; der die Thoren geigelt, wo er ſie findet, und wenn es 
feine Gönner und Bejchüger wären. 

Eine diejer Gejchichten, die in den facetiae des Poggio ſteht, hat Sebaitian 
Brand in einer lateinischen Anekdotenfammlung, die er einer Ausgabe der äſopiſchen 
Fabeln hinzufügte, abgedrudt — ums Jahr 1480 — unter der Ueberjchrift: „Dantis 
Florentini faceta responsio* (mwigige Antwort des Dante aus Florenz). Ein deutjcher 
Humaniſt hat wenig jpäter dieſe Dantefacetie in lateinijche Verſe gekleidet. Wichtiger 
aber war, daß jene durd die Brandiche Sammlung vermehrte Aejopausgabe von 
einem lnbefannten um 1535 ind Deutjche überſetzt wurde. Dieje Ueberjegung geriet 
dem Nürnberger Poeten Hans Sachs in die Hände, und als er die Gejchichte „Ein 
hoffliche Antwurt Dantis florentini“ gefunden, jo muß fie ihm bejonders gut gefallen 
haben, denn er behandelte jie in einem am 7. Mär; 1563 verfaßten Gedicht. Es iſt 
betitelt: „Hiſtoria. Dantes der Poet von Florentz.“ 

In der Einleitung erzählt Hans Sachs in furzen Zügen Dantes Leben bis zu 
dejien Aufnahme bei Can Grande, dem Fürſten von Verona, an defjen Hof die 
Anekdote jpielt. Der Inhalt der letzteren it folgender. Noch ein anderer Florentiner 
hatte bei Can Grande Aufnahme gefunden, ein elender Bofjenreißer, der von Dante 
wie ein unvernünftiges Tier verachtet wurde. Der Fürſt dagegen 309 den Spaß— 
macher vor und erhob ihn zum reichen Manne. Als einmal der Begünftigte den 
dürftig lebenden Dante bei Hof traf, jagte er Höhnifch zu ihm: „Wie fommt e3 denn, 
daß du arm bleibjt, obgleich man dich für weije und gelehrt hält, während ich, der 
ich närrisch bin und nichts weiß, jo reich geworden?" Dante erwiderte ihm: „Wann 
ich einen Herrn finden werde, der mir und meiner Art ähnlich ijt, wie du das Glück 
gehabt haft, der wird mich reich machen.“ 

Den „Beichluß“ des Gedichtes führt Sachs mit den Worten ein: 

„Doctor Sebajtianus Brand 
Der thut uns die Geichicht befannt.“ 

Woher aber hat er das, was er im Eingang über Dante jagt? Er fennt nicht 
nur die Lebensgejchichte des Dichters, jondern er weiß auch von dem Buch zu jagen, 
in dem „ganz artlich, jubtil und gering himmliſch, helliſch, irdiſch Ding berichtet, 
künstlich bejchrieben und declarirt“ wird? Und wenn er’s auch nicht ſelbſt gelejen, jo 
weiß er doch, daß „es noch hoch geachtt und bei den Gelehrten künſtlich verbracht“ 
wird. Es muß aljo ums Jahr 1563 der Dichter jelbit, von dem er erzählen will, 
feinen Einzug in Deutjchland gehalten haben. 

Das war mitten in den Stürmen der Reformation gejfchehen. Ja, gerade der 
Lärm des Streits hatte den Florentiner über die Alpen gerufen. 

Nach Karls V. Sieg über die protejtantischen Fürjten war der Zorn gegen Rom 
wieder jo flammend geworden wie in den eriten Jahren der Neformation. Unter 
den Streitichriften, die von Magdeburg aus gegen den Bapit, den Kaiſer, das Interim 
und die Wittenberger Halben gejchleudert wurden, war eine, Die den Titel trug: 
Catalogus testium veritatis (Aufzählung der Wahrheitäzeugen). Ste führt eine lange 
Reihe von Zeugen auf, die vor Luther wider den römijchen Irrtum gejtritten. Inter 
ihnen nimmt Dante einen ehrenvollen Pla ein. Berfajjer diejer 1556 erjchienenen 
Schrift war Matthias Flacius (Flacich) aus Albona in Jitrien, der Geburt nad ein 
Slawe, der Bildung und Sprache nach ein Italiener. Es war eine fühne und folgen- 
reiche That, daß er den Dante als Kämpfer gegen Rom auf den Schauplag führte. 
Denn der große Florentiner galt bisher in den humanijtifchen Streifen als einer der 
Dunfelmänmer. Man dachte von ihm gering, weil er in der Volksſprache gejchrieben, 
und weil er ein Schüler der Scholaftif gewejen, und rechnete ihn zu der Vergangen- 
beit, mit der man gebrochen. Im Francesco Filalfo hatte er einen Verteidiger ger 
wonnen, und man jtritt ſich gerade in Stalien über den poetischen Wert der gött- 
lichen Komödie. Als num Flacius den Dichter als einen Vorläufer Luthers aufführte, 


978 Dante in der deutichen Litteratur. 


da war Dante auf einen Plag gejtellt, wo ihm des Zeitalters Liebe und Haß im 
reichjten Maße zu teil wurde. Ob er an diefen Platz gehöre, darüber erhob jich ein 
leidenschaftlich geführter Kampf, an dem fich Deutjchland, die Schweiz, Italien und 
Frankreich beteiligten. 

Flacius führt einige Stellen aus der göttlichen Komödie wörtlih an. Die eine 
ift einer Nede des Troubadour Falco aus Marfeille entnommen und fpridht von 
dem verfluchten Gulden; 

„ch’ ha disviate le pecore e gli agni, 
perch& fatto ha lupo del pastore;* 
(Der jchuld ift, daß verirrten Schaf’ und Lämmer, 

Weil aus dem Hirten einen ®olf er macht.) 

Die andere ftammt aus dem Munde der Beatrir und rügt, daß ftatt des 

Evangeliums eigne Erfindungen gepredigt werden: 


„per apparer ciascun s’ingegna e face 
sue invenzioni, e quelle son trascorse 
dai predicanti e il Vangelio si tace.* 
har jeder finnt, ſich jelber nur zu zeigen; 
Ind man erfindet — und was man erfunden, 
Das wird gepredigt: Gotte8 Wort muß jchweigen.) 


Bon größerem Erfolge für die Einführung Dantes in Deutjchland waren des 
Flacius Citate aus Dantes Traftat „de monarchia libri tres*. (Drei Bücher von 
der Monarchie.) Es war ein glüdlicher Griff, daß Flacius dieſe damals faſt ver- 
ichollene Schrift wieder ans Licht z0g. Wann fie Dante verfaßte, ob 1299 oder 
furz vor feinem Lebensende, ift eine jtrittige Frage. Die Spracde ift ein barbarifches 
Latein und die Methode der Unterjuchung die entjegliche der Scholaftif. Da ijt fein 
lebendiger Fluß der Rede, jondern eine Unſumme logifcher Operationen, genau nad) 
den Formeln barbara, celarent u. j. w. vollzogen. Da wird fein Oberſatz dem Lejer 
geijchenkt, und wenn er zum zehntenmale fich wiederholt. Die gewonnenen Schlüfje 
werden hierauf nach derjelben Methode zu einander in Beziehung gejeßt, und es wird ge— 
rechnet und gerechnet, bi8 endlich das Thema des Ganzen als Refultat herauskommt. 
Troß diefer für das humaniftisch gebildete Zeitalter fo abjchredenden Form hatten die 
zahlreichen Anführungen in dem Flacianiſchen Werfe die Wirkung, daß ein Unbekannter 
im Sahre 1559 den Traftat in Magdeburg mit einem auch in jenen litterarijch er- 
regten Tagen ganz erjtaunlichen Erfolge herausgab. Der Inhalt erwies fi) als 
völlig zeitgemäß. Dante beweift in jener Schrift das ewige Recht des Staates, d. h. 
der Weltmonardiie, des Kaiſertums; er zeigt, wie der Staat ebenſogut als die Kirche 
eine unmittelbare Gottesordnung jei, und leitet alles Elend der Zeit von den auf 
zeitliche Weltherrichaft zielenden Tendenzen des römischen Stuhles ab. In demfelben 
Sahre (1559), in dem der Traftat in Magdeburg herausfam, erichien in Bajel eine 
von Sohann Heroldt bejorgte Ueberſetzung. Heroldt jchidt, die Biographie des 
Boccaccio benüßend, eine Einleitung voraus, in der er die Deutjchen mit dem großen 
Italiener befannt macht. Aus dieſem Heroldtichen Buche hatte wohl Hans Sachs 
das gejchöpft, was er in dem vorhin erwähnten Gedichte über Dante zu jagen weiß. 
Obgleich der Weberjeger in feiner Einführung rühmend auf Dantes Poejieen hin- 

ewiejen, die, wie er jich ausbrüdt, „Hölle, Fegfeuer und Himmel und auch ſunſt vil 
ons Dings“ befchreiben, vermochte er doch nicht die Neugierde der Nation zu reizen. 
Die göttliche Komödie blieb in Deutjchland noch fast ein Jahrhundert lang unbefannt. 
Dagegen war die Monarchie im Interefje proteftantifcher Politif ein beliebtes Buch 
in Deutjchland geworden; wenigſtens erjchienen hier von derfelben bis zum Beginn 
des dreigigjährigen Krieges fünf neue Auflagen. 

Bon der lutherifchen Kirche war die Anregung zu diefer Art von Polemik aus— 


Dante in der deutjchen Litteratur. 979 


gegangen; aber die reformierte Kirche fühlte für fie die größere Sympathie. Es ent- 
ſprach ihren fosmopolitifchen, mit der Weltkultur jich auseinanderfegenden Tendenzen, 
die Berwandtichaft mit den großen Geiftern der Vergangenheit wert zu halten. Zudem 
war ed für ihre Ausbreitung im romanifchen Ländern von fürberlicher Bedeutung, 
wenn die Stimme des größten Romanen für fie oder wenigjtens wider die Gegner 
laut wurde. 

Waren jchon die erneuten Auflagen der Monarchie ihrer Mehrzahl nad) in Süd» 
deutichland erjchienen, jo gingen alle folgenden Angriffe, bei denen mit Dantes 
Waffen gejtritten wurde, von dem jchweizeriichen, den franzöfifchen oder italienischen 
Protejtanten aus. 

Im Jahre 1586 erjchien ein nach Angabe des Titelblattes in München, wahr: 

iheinlicher in Genf gedrudtes Buch in itafienifcher Sprache „avviso alla bella Jtalia“ 
(Botjchaft für das jchöne Italien), das die ganze Linie der Päpftlichen von Köln bis 
Neapel und von Löwen bis Alcala in Aufregung brachte. Der anonyme Verfaſſer 
will dem „schönen Italien“ beweijen, daß die Entwidelung feiner Kultur es dränge, 
jih vom Papſte loszufagen, denn feine nationale Bildung fei antirömish. Die 
Männer, denen Italien den Aufſchwung feines geiftigen Lebens zu danken habe, Dante, 
Petrarca, Boccaccio, hätten Rom für Babel und den Papſt für den Antichrijten ge— 
halten. Es regnete an leidenjchaftlichen Entgegnungen. Die Proteftanten erwiderten 
in gleichem Tone. Der litterarifche Kampf, in dem auch Bellarmin, Roms größter 
Polemiker, feine jchneidigen Waffen verjuchte, währte das ganze 17. Jahrhundert 
hindurch. Auf beiden Seiten wurde der Dichter gewaltjam umgedeutet, um ihn jo 
zu haben, wie man ihn haben wollte. Mean verfiel auf die ————— Aus⸗ 
ünfte, um das Unangenehme wegzubringen. Auf reformierter Seite wurden alle die 
Stellen, in denen Dante anerkennend den Papſt erwähnt, wider alle Logik auf 
Chriſtus gedeutet; wo der Maria gehuldigt wird, wurde die Kirche untergeſchoben. 
So gelang's, aus dem Schüler des Thomas von Aquinas einen dogmatiſch korrekten 
Proteftanten zu machen. Auf der gegnerischen Seite juchte man den Vorfämpfer der 
Ghibellinen in einen Anhänger der Bulle „unam sanctam ecclesiam* zu verwandeln, 
indem man von den mißliebigen Stellen erklärte, fie jeien von den Ketzern ein— 
gejchmuggelt, oder indem der Schriftiteller einfach behauptete, jene Stellen jeien gar 
nicht vorhanden, in feinem Exemplare jtänden fie nicht. Noch gründlicher verfährt 
der Jejuitenpater Hardouin. Er hält die Komödie und die Bücher über die Monarchie 
für Schriften eines unbelannten Anhängers Wiclifs. 

Diefer Streit der Kirchen um die Perſon Dantes ijt dem Anjehen jeiner Dichtungen 
verhängnisvoll geworden. Der Grund, weshalb man jich um fie befümmerte, lag 
nicht in äſthetiſchem — Darum blieb auch ihr Kunſtwert dem Verſtändnis 
verborgen. Die konfeſſionelle Befangenheit machte die fleißigſte Beſchäftigung mit 
Dante zu einer unfruchtbaren. So hat das geiſtige Leben keiner der Nationen, die 
an dem Streite teilnahmen, die Anregungen empfangen, die der Dichter gerade jener 
Zeit hätte geben fünnen. Deshalb geriet Dante, als das polemifche Interejje erfaltete, 
in Mikachtung und Vergeſſenheit. Es lag auf feinen leuchtenden Blättern der ganze 
Roft einer unmerquicdlichen Zeit, die überjtanden zu haben man froh war. 

Dies tritt in Bayles Urteil ehr deutlich zu Tage. In dem Urtifel „Dante“ 
jeine® dictionnaire historique et critique vom Jahre 1698 fpricht Bayle in ziemlich 

eringichäßiger Weife über Dante. Er nennt ihn zwar einen der erſten Dichter 
taliens, hält aber die politischen Tendenzen feiner Werke für eine Verirrung. Er 
habe ſich um Dinge befümmert, die ihm nichts angingen. Ueber die commedia jagt 
er nicht viel mehr, als daß in ihr ein glühender Haß gegen die Feinde zu Tage 
trete, und daß jie viele Dinge enthalte, die den Päpften nicht gefallen. In den 
Noten gibt Bayle einen von jtaunenswerter Beherrichung des Materiald zeugenden 
Ueberblid über den konfeffionellen Streit und jchließt die Beſprechung mit der Be— 


980 Dante in der deutichen Litteratur. 


merfung, Dante biete jowohl denen, die ihn zu einem guten Katholiten machen, als 
auch den Gegnern Beweiſe genug. 9 

Bei dem großen Einfluſſe, den Bayles dietionnaire auf das geiſtige Leben unſerer 
Nation gewann, war das, was er jagte und was er verjchwieg, von der größten 
Bedeutung. So danfenswert es iſt, daß er den Streit der Sirchenparteien über 
Dante bei der Gelehrtenwelt disfreditierte, jo verhängnisvoll war es, daß er über die 
Schönheit und den Tieffinn des Gedicht? jo gar nichts zu jagen wußte. Die ganze 
Epoche der Aufflärung eignete fich fein Urteil über Dante an, die deutjchen Ency: 
Hopädieen von Buddeus, Iſelin u. a. jchrieben feinen Artikel aus, und der Größte 
unter denen, auf deren Entwidelung Bayles dietionnaire einen unmittelbaren Einfluß 
auzübte, ©. E. Lejjing, konnte ſich durch das, was er hier fand, nicht gereizt fühlen, 
auch die göttliche Komödie in den Kreis feiner äjthetifchen Unterjuchungen zu ziehen. 

So war aljo diefe ganze geiltige Bewegung, zu der das Buch des Flacius den 
Anſtoß gegeben, für unfre nationale Kultur erfolglos geblieben; ja, e8 wurde dadurch 
das jpätere Eindringen der Poejieen Dantes erjchwert, indem von jeßt an ein be— 
wuhtes Widerftreben der Gebildeten zu überwinden war. Erſt in den Jahrzehnten, 
die der Blütezeit unferer Litteratur unmittelbar vorausgingen, beginnt das deutjche 
Volk die Gabe des großen Fremdlings zu würdigen und zu verwerten. 


I. 


Die eriten jpärlichen Spuren einer Bekanntſchaft deutjcher Dichter mit der Ko— 
mödie jtehen mit dem wachjenden Berjtändnis für den Vater der italienischen Dicht: 
funjt außer allem Zujammenhange. Zwar war der Einfluß der italienischen Poeſie 
auf die deutsche im 17. Jahrhundert nicht unbeträchtlich; die galt aber nur von 
Ariofto an abwärts. Die Deutjchen lernten von den Weljchen arfadisch zu jeufzen; 
zu dem ernjten Wanderer durch Himmel und Hölle wagten jich die hüpfenden Pegnitz— 
ſchäfer und die wichtigthuenden Mitglieder der fruchtbringenden Gejellichaft nicht. Wo 
wir deshalb im jener Zeit einen Dichter mit Dante beſchäſtigt finden, entjpricht dies 
entweder einer zufälligen Liebhaberei oder erflärt es fid) aus dem Lebensgang. Die 
erjten Dantejchen Berje, in Proſa überjegt, finden jich bei dem Dresdener Bürger: 
meijter und Dichter Chriftian Brehme (1637), die erjte metrifche Uebertragung Dantejcher 
Strophen bei Gryphius. Der lehtere hatte Florenz und Nom gejehen und war durch 
feine holländijchen Vorbilder auf die italienische Litteratur aufmerfjam geworden. Bei 
feiner jchwermütigen Weltanjchauung und jeiner Neigung für düſtere Stoffe begreift 
es jich, dab ihn die Schredniffe der Dantejchen Hölle anziehen mußten. 

Bon Gryphius an ijt Hundert Jahre lang in der deutjchen Litteratur auch nicht 
der Leijeite Klang aus Dantes Poefieen zu vernehmen. Erjt in dem Streite zwijchen 
Gottjched und den Schweizern tönen Name und Lied aufs neue, diesmal aber, um 
nicht wieder zu verhallen. Die Nation war eine andere geworden. Ihr eigenes 
Getjtesleben ging der Reife entgegen. Sie war jet im ftande, die Schäße der Fremden 
dankbar und jelbjtändig jich zu eigen zu machen. 

In jener litterarijchen Fehde hatten beide Teile mehrfache Gelegenheit, Dante zur 
Sprache zu bringen. Aber obgleich Gottjched in feiner „Eritifchen Dichtkunft* fich aus- 
drüdlich mit den italienischen Epifern bejchäftigt, nennt er nicht einmal Dantes Namen. 
Dasjelbe ift bei Breitinger der Fall, der feine Theorieen durch Beispiele aus den be- 
rühmtejten Dichtern alter und neuer Zeit belegt. Dagegen wird Dante jehr häufig von 
Bodmer rühmend erwähnt. Im feinen „Neuen kritiichen Briefen“ widmet er der Komödie 
eine zwölf Seiten lange Beſprechung. Derjelde Mann, der zuerjt unter den Kunſt— 
theoretifern für das Recht der echten Poeſie eintrat, die mit jchöpferifcher Kraft aus 


Dante in der deutfchen Litteratur. 981 


dem Herzen quillt und, wie Dante jagte, eine Tochter der Natur und Gottes Enkelin 
ift — der unſerer Nation Miltond verlorenes Paradies, dejjen Ueberſetzungen ver- 
geſſen waren, wieder aufgeſchloſſen hat, führte uns in die Herrlichkeit der größten 
italieniſchen Dichtung ein; auch dieſes Verdienſt ſoll unvergeſſen bleiben. 

Da Bodmer in der Nachahmung der Natur vermittelſt der reproduzierenden Ein— 
bildungskraft das Weſen der Poeſie fand, ſo iſt für ihn an der Komödie nicht die 
Univerjalität des Inhaltes und der myſtiſche Tiefſinn das Bewundernswerte, wie 
ſpäter für die Romantiker, ſondern die ſinnliche Geſtaltungskraft des Dichters, der die 
Gegenſtände der Natur ſo ſcharf ins Auge faßte, daß er ſie mit den beſtimmteſten 
Umriſſen wiedergeben konnte. 

Hatte Bodmer die Begierde gereizt, den verſchollenen Mann näher kennen zu 
lernen, ſo wurde dies der Nation in kurzer Zeit ermöglicht. 1755 erſchien die erſte 
italieniſche Textausgabe der divina commedia in Deutſchland. Der Geſichtspunkt, der 
bei der Herausgabe maßgebend war, iſt freilich nicht gerade der höchſte geweſen: 
Nicolo Ciangulo, Lektor der italieniſchen Sprache an der Leipziger Univerſität, wollte 
ſeinen Schülern eine gute Chreſtomathie in die Hand geben. In der Vorrede ent— 
ſchuldigt ſich der Fremdling gewiſſermaßen beim deutſchen Volke, daß er es wage, 
ſeinen Landsmann bei ihm einzuführen; man ſolle Dante doch erſt kennen lernen, ehe 
man ihn verwerfe. 

Von ungleich höherer Bedeutung war ein anderes Unternehmen. Von dem ver— 
dienſtvollen Meinhard erſchien im Jahre 1763 ein Buch mit dem Titel ‚„Verſuche 
über den Charakter und die Werke der beſten italienischen Dichter“. Der Verfaſſer 
fpricht über den Urfprung der italienischen Poeſie, charafterifiert die Dichter des 
14. und 15. Jahrhunderts und gibt Proben aus ihren Werfen in Proja-Ueberjegung. 
Der göttlichen Komödie find 180 Seiten gewidmet. Die ausgewählten Proben jind 
Durch erzählenden Text verbunden. 

E3 war dies der erjte Berjuch, das ganze Gedicht dem Inhalte nach zur Kenntnis des 
deutichen Bubliftums zu bringen. Bier Jahre jpäter erichien die erjte vollitändige Ueber— 
jeßung. Sie war in Proſa, der Berfajjer hieß Leberecht Bachenſchwanz. Troß ihrer Geſchmack⸗ 
Lofigfeiten fand jie reißenden Abjag. Sie fam einem Verlangen der Gebildeten entgegen. 

Der litterariiche Erfolg und Einfluß beider Werfe war ein großer. Lejjing, der 
feit dem Ende des Jahres 1760 feine Hand von den Kitteraturbriefen abgezogen hatte, 
jchreibt nach dreijähriger Pauje noch einmal einen, den legten. Er gibt darin über 
das Meinhardiche Werk das günjtigite Urteil ab. So ein Werk hat uns gefehlt, 
meint er, und e3 jo ausgeführt zu jehen konnten wir wünjchen aber nicht hoffen. 
Die italienische Litteratur jei bis jegt noch nie recht unter uns befannt gewejen. Zwar 
war einmal die Zeit, da unjere Dichter faſt nichts als weljche Mujter wählten. Aber 
was für welche? Den Marino und feine Schule. Und als nun die Kritif über das 
Verdienſt diejer Meijter und ihrer Nachahmer die Augen öffnete, jo erwogen wir 
nicht, daß unjer faljcher Gejchmad gerade auf das Schlechteite gefallen war, jondern 
Dante und BPetrarfa mußten die Berführung ihrer ſchwülſtigen und ſpitzfindigen 
Nachfommen entgelten. So Lejling. 

Die erjte Frucht, welche die ß freudig begrüßte Anregung brachte, zeugte aller— 
dings noch von der jugendlichen Unreife unſerer Litteratur: 1768 erſchien Gerſtenbergs 
Tragödie Ugolino. Den Stoff entnahm der Dichter der berühmten Epiſode im letzten 
Geſang der Hölle. Die Handlung, wenn von einer ſolchen da die Rede ſein kann, 
wo alle Perſonen leiden, beſchränkt ſich auf das, was im Turme vorgeht. Wir ſehen 
Ugolino und ſeine Kinder von dem Augenblicke an, in dem ſie ſich dem Hungertode 
preisgegeben wiſſen, bis zu dem Zuſtande der letzten Hilfloſigkeit. In dieſe ſtockende 
Maſſe phyſiſchen Elends wird durch die Motive der Hoffnung, des Wartens, der 
—— und endlich durch den Hungerwahnſinn des Ugolino einige Veränderung 
gebracht. 


Allg. konſ. Monatsichrift 1888, IX. 63 


982 Dante in der deutſchen Litteratur. 


Das Etüd erregte bei den Zeitgenofjen Staunen. Klopjtod war entzüdt, Herder 
pries des Dichters milde und weiche Imagination, Leifing nannte die Tragödie ein 
Werk von jehr großen, auferordentlihen Echönheiten. Doch verjchwiegen die leßteren 
die Fehler, welche der Dichter in der Stoffwahl und in der Durchführung begangen, 
keineswegs. Da ihre Kritik auch auf ihre Schäßung der Dantejchen Epijode Licht 
wirft, darf fie bier nicht übergangen werden. Herder tadelt, daß Gerjtenberg das 
Abſcheuliche und Empörende abjcheulich und empörend dargejtellt habe. Der Eindrud 
des Widerwärtigen und Grauenvollen überwog demnach bei ihm, wenn er die Ugolino— 

eichichte bei Dante las, und da er durch fein anderes Urteil den Ausipruch bejchräntte, 
o läßt fich jchließen, daß er für die Poeſieen des Stalieners feine Sympathieen bes 
ſaß. Leſſing dagegen erklärt ausdrücklich, daß jein Tadel den Dramatifer allein 
treffe und der Vorlage desjelben nicht gelte. Nachdem er in einem Briefe an den 
Berfafjer gerügt, daß alle Perſonen leiden, und zwar meiftenteil3 völlig unjcyuldig, 
Ugolino wegen einer Schuld, die außer Verhältnis zur Strafe jei und völlig aufer- 
halb des Stüdes jtehe, fährt er fort: „Sie werden jagen, Dies trifft den Dante jo 
gut als mich. Nein! Bei dem Dante hören wir die Gejchichte als gejchehen, bei Ihnen 
jehen wir fie als gejchehend. Es ift ganz etwas anderes, ob ich das Echredliche 
hinter mir oder vor mir erblide; ganz etwas anderes, ob ich höre, durch) diejes Elend 
fam der Held durch, das überjtand er, oder ob ich ehe, durch dieſes joll er durch, 
diejes joll er überjtehen.“ 

Goethe, deſſen Würdigung der Ugolino-Epifode an ihrem Orte folgen wird, miß— 
billigt zwar die Wahl des Stoffes, denn, meint er, das Große der Dantefchen Dar: 
jtellung müfje durch jede Art von Amplififation verlieren. Aber er fügt das beſchränkte 
Lob hinzu, Gerjtenberg habe das Unmögliche mit Sinn und Geſchick gewiſſermaßen 
ausgeführt. 

Gerjtenberg war nicht der einzige, der dieſen Stoff dramatifch behandelte; die 
übrigen Verjuche jtehen aber weit unter dem feinen. 1776 jchrieb 2. Ph. Hahn, ein 
Rheinpfälzer, eine Tragödie, „Der Aufruhr in Piſa“. Es ift eines der verzerrteiten 
Stüde der Sturm: und Drangzeit. 1802 erjchien eine von Goethe in dem Trank: 
furter gelehrten Anzeiger jehr ungünjtig rezenjierte Tragödie, Ugolino Gherardesca, 
deren Verfafjer ein gewifjer Böhlendorf war. Die Hungerjzene wird zerjtüdt, der 
Lejer bald in den Turm, bald auf die Straße geführt. Nachdem Ugolino glüdlid) 
gejtorben, geht jein Geiſt hinten über die Bühne. Der Bifchof Roger wird um Mitter- 
nacht in den Dom gelodt und ermordet. 

Das Meinhardihe Werk blieb nicht die einzige Anregung zum Studium der 
italienischen Poefie in jenen Durchgangsjahren der Klärung. Im Jahre 1771 wurde 
der Briefwechjel zweier deutjcher Kunſtkritiker, Maurillon und Unger, veröffentlicht. 
Die Sammlung trug den Titel: Briefe über den Wert einiger deutfcher Dichter. 
Maurillon, ein feiner Kenner der italienischen Litteratur und der nachmalige Leber: 
feger des Orlando furiojo, führt aus, nicht England allein jei die Schule des guten 
Gejchmads; bei den Italienern müfje, wie die Malerei, fo aud) die Poeſie in die Schule 
gehen. Die deutjche Dichtkunft werde niemals zu einer höheren Stufe gelangen, wenn 
man fortfahre, die Italiener zu vernacdjläffigen und allein bei den Engländern den 
Begriff der vollfommenen Poeſie hole. 

Diejem Urteil liegt eine Wahrheit zu Grunde. Der germanijche Freiheitsdrang 
mußte jich mit dem Sinne für die klare Formenſchönheit, wie ihn der Süden erzeugte, 
vereinigen, ehe unjere Litteratur den höchſten Aufihwung nehmen fonnte. Aber unfere 
en Dichter wandten ſich nicht zu den Stalienern, fondern zu den Alten. Der 
Intife wieder aufglänzender Schimmer war e8 auch, was Maurillon an der italienijchen 
Rocjie bewunderte. Darum fühlte er fich weit weniger von der göttlichen Komödie 
als von Arioftos wundervollem Gedichte angezogen, deſſen Harheitere Herrlichkeit troß 
Feenzauber und Nitterfahrten durch und durch antik ijt. 


Dante in ber deutfchen Litteratur. » 983 


Meinhards und Maurillons dringliche Empfehlung vermochte unjerer Litteratur 
feine Wendung zu geben. Der gewaltige Anjtoß, der um eben jene Zeit das litte- 
rarische Leben unferer Nation in wogende Bewegung brachte, ging von anderen Män— 
nern aus und führte anderen Richtungen zu. Haman und Herder haben auf Dante 
niemals ausdrüdlic) hingewiefen. Wenn auch Herder die Poeſie aller Kulturvölfer 
überblidte und mit kritiſchem Verjtändnis dDurchwanderte, jo war es ihm doch mehr 
darum zu thun, auf die Naturftimmen der Völker zu lauſchen als ein Kunftwerf von 
jolcher Abjichtlichkeit, wie die Komödie es ift, zu durchdringen. So nennen auch die 
Dichter der Sturm» und Drangperiode zwar Dantes Namen mit Ehrfurcht, denn in 
ihrem Grimme über den Zopf und die Dürftigkeit der Gegenwart Iobpreifen fie alle 
Größen der Vergangenheit; aber vor der Sonne Shafejpeares, vor welcher ſie knieen, 
erbleicht für fie jedes Geſtirn. Lenz ruft in der Dithyrambe „Ueber die deutjche 
Dichtkunſt“ die Poeten der fremden Nationen an, nachdem er Deutjchland eine alte 
Jungfer unter finderreichen jungen Frauen genannt hat. Die Reihenfolge ift interefjant: 


„O Homer, o Dffian, o Shaleipeare, 

D Dante, o Arioſto, o Petrarka, 

O Sopholles, o Milton... . . 

Gebt mir taufend Zungen für die taujend Namen, 
Und jeder Name ijt ein fühner Gedanke — 

Ein Gedante — taujend Gedanken 

Unfrer heutigen Dichter wert.“ 


Am eingehendften unter den Stürmern hat fich wohl Klinger mit der altitalienijchen 
Litteratur befaßt. Beſonders mit Petrarfa war er vertraut. Aber auch die graujen 
Bilder der Dantefchen Hölle lebten in feiner Phantafie, wie fein Roman „Fauſts 
Leben, Ihaten und Höllenfahrt“, der 1791 erjchien, aber lange vorher konzipiert war, 
an mehreren Stellen bemweiit. 

(Schluß folgt.) 


65* 





Monatsſchau. 


Politik. 


Mir hatten in vorigen Monaten viel von den Kartell-Streitigfeiten zu be- 
richten, welche von den Offiziöſen einerfeits, und von fonjervativen und nationalliberalen 
Blättern andererjeit3 geführt wurden. Auch der laufende Monat begann in diejem 
Zeichen; die beiden genannten Parteien weigerten ſich hartnädig, wie bisher, dem Ideal 
der Negierung, einer farblojfen Mittelpartei zuliebe auf ihre Sonderexiſtenz zu vers 
zichten. Und nur um fo ungeftümer forderten diefen Verzicht die offiziöjen Blätter 
und beeilten fich jeden, der fich nicht ohne weiteres ihren Anordnungen fügen wollte, 
unter die Demokraten und Reichsfeinde zu verweilen. 

Gegenüber den Maflofigkeiten der offiziöfen Polemik, welche freilich bisweilen auch 
von fonjervativer Seite leidenjchaftlicher, wie gut ift, erwidert wurde, hielt es dann 
a von Rauchhaupt, der anerkannte Führer der Konjervativen im preußijchen 

andtage, für angemefjen, durch eine gejchichtliche Darlegung deſſen, was im politiichen 
Leben der legten zehn Jahre die Konjervativen geleiftet, die Regierung doch einmal 
daran zu erinnern, daß fie jo ziemlich alle ihre Erfolge der hingebenden Mitarbeit der 
jegt in ihren Blättern angegriffenen Partei verdanfe, und daß es mindeſtens unbillig 
fe, die erprobten Helfer nun derart zu ſchmähen, wie e8 fort und fort in den offiziöjen 
Blättern gejchehe. 

Die ruhigen und fachlichen Darlegungen des Herrn von Rauchhaupt verfehlten ihre 
Wirkung nicht. Vielleicht in Verfolg derjelben, vielleicht auch auf Grund von Ein- 
wirfungen, deren Beſprechung fich der Deffentlichfeit entzieht, weil niemand Sicheres 
darüber ausjagen kann, wurden plöglich die offiziöfen Blätter zur Ordnung gerufen 
und ihnen das Schimpfen auf die Konjervativen unterfagt. Die Blätter verjicherten 
nun, daß fie es nie jo böfe gemeint und nur hätten fonftatieren wollen, daß neben der 
fonjervativen auch die nationalliberale Partei ihre Verdienjte habe. Die Regierung 
müſſe die Parteien nehmen, wie fie wären, und fönne, wenn fie fich nicht parlamen- 
tarischen Niederlagen ausfegen wolle, unter denjelben nicht „optieren*. Da num niemand 
der Regierung zugemutet hatte, daß fie fich mit irgend einer Partei identifizieren jolle, 
jo war alles zufrieden und man glaubte, e3 werde num einigermaßen Ruhe eintreten 
und die fonjervative Partei in ihrer Entwidelung und Arbeit nicht gejtört werden. 

Leider jcheint aber fein Friede, jondern nur Waffenftillitand gemacht zu jein, um 
das gewünjchte Ziel auf anderen Wegen zu erreichen. Gegen Ende des Monats iſt 
eine Ernennung erfolgt, welche darauf ſchließen läßt, daß die Regierung bereits in 


Monatsihau. — Deutſchland. 985 


Sorge ijt, die fonjervative Partei fünne ihr zu mächtig und damit unbequem werden, 
und daß jie num nach dem Grundjag des divide et impera verfahren will: Der be— 
kannte führer der Nationalliberalen, Herr von Bennigjen, ift unerwartet zum Ober— 
Präjidenten der Provinz Hannover ernannt worden. Es liegt auf der Hand, daß 
— in Hannover dieſe Ernennung eine bedeutende Stärkung des Nationalliberalismus 
edeutet, zumal die konſervative Partei in dieſer Provinz, weil ſie nach zwei Seiten 
hin Front machen mußte, bisher weſentlich als Regierungspartei ſich entwickelt Hatte. 
Wenn jetzt, wie bei der bekannten Parteilichkeit des Herrn von Bennigſen zu erwarten 
ſteht Gennigſen war der parteilichſte Präſident, den bisher der Deutſche Reichstag ge— 
habt), die konſervative Partei regierungsſeitig völlig im Stich gelaſſen wird, ſo dürfte 
die mühevolle Arbeit vieler Jahre baldigſt vernichtet ſein. 

Ebenſo unglücklich wie in dem ganzen Kartellſtreit hat die offiziöſe Preſſe in 
allem operiert, was auf die Berliner Verhältniſſe und ſpeziell auf die ftattgehabte 
Berliner Reichstags-Erjagwahl Bezug hat. Gewiß war ſtets in der jogenannten 
„Berliner Bewegung“ eine ganze Anzahl zweifelhafter Elemente, die im Grunde nicht 
wußten, two jie mit fich hinjollten. Immerhin ging ein frischer Zug durd) das Ganze 
hindurch und ein Zug zum Guten. Das einigende Band aber, welches alle die bunt 
zujammengewürfelten Elemente umjchlang, war in erjter Linie die Abneigung gegen 
das Judentum, der Antijemitismus. Die Möglichkeit, mit Hilfe aller diefer Elemente 
den Sozialdemokraten gegenüber einen Erfolg zu erringen, war jchon mehrmals ziem- 
lih nahe. Durch die befannten 10000 Mark aber, welche bei der vorigen Reichstags— 
wahl dem Zentralfomitee aufgezwungen wurden, ift Die Bewegung auf Jahre hinaus 
auseinandergejprengt. Es hat diesmal jchon fein Gefamt- Kandidat mehr für die 
ganze jogenannte fonjervative Bewegung nominiert werden können; vielmehr haben die 
Antijemiten, um vor den Geldern der offiziöfen Großfinanz jicher zu fein, ihre 
eigenen Kandidaten aufgestellt, und da die Kartellparteien jo gut wie der Fortichritt 
ebenfalls Kandidaten aufjtellte, jo wurde den Sozialdemokraten der ohmehin fichere 
Sieg nur um fo leichter und Liebfnecht mit erheblicher abjoluter Majorität gewählt. 
Das alles hätte vielleicht vermieden werden fünnen, wenn man die Bewegung ruhig 
ſich jelbjt überlafjen, und nicht zu gunſten von einigen liberalen Geheimräten, die ſich 
weigerten, für Stöder zu jtimmen, alles verdorben hätte. Stöder war der einzige, der 
vielleicht im jtande gewejen wäre, mit der Zeit den Sozialdemokraten Terrain abzu— 
gewinnen; der einzige, der wenigitens Anfänge von Erfolg gehabt hat. Statt ihn 
zu fördern, hat man ihm Hindernis auf Hindernis bereitet und gerade die wichtigsten 
Teile der Sozialreform, zugleich die, die am leichteften durchzuführen find, den Arbeiter- 
hut nämlich, ungebührlich vernachläffigt. 

(Auch der deutjche Handwerfertag, welcher im abgelaufenen Monat in München 
getagt hat, hat wiederum jeine alten Forderungen erhoben und darauf hinweiſen müfjen, 

ab den Innungen zu einer wirfjamen Organijation noch vieles fehlt und daß es 
nicht wohlgethan ift, über den Arbeitern die Handwerfer zu vergefjen.) 

Bietet aber die Stellung der Regierung zu den Parteien fein erfreuliches Bild 
und läßt die Behandlung der Sozialreform manches zu wünjchen übrig, jo bietet 
vollends die preußijche Kırchenpolitif einen beflagenswerten Anblik dar. Der um— 
efehrte Kulturfampf fteht in voller Blüte. Die Katholiken treiben mit Heiligtums— 
—* und Reliquien-Anbetung einen Unfug, der geradezu unerhört iſt. Unſinnige 
alte Kleidungsſtücke werden in Aachen für „heilige Windeln“ und „Jungfrauenhemd“ 
ausgegeben, und für nächites Jahr wird gar in Trier die Ausstellung des notoriſch 
unechten „heiligen Rockes“ wieder vorbereitet. Dieſen grauenhaften Aberglauben läßt 
man gehen, wie er geht; den Evangelifchen aber paßt man genau auf die Singer, daß jie 
nur bei der Kritik desfelben fein Wort zu viel jagen. Ein evangelifcher Prediger wird 
auf Grund genereller Verfügung der Behörden in evangelischer Kirche an jolcher Kritik 
gehindert. Ein evangelifches Lutherfejtipiel wird verboten, weil die Rolle des Tegel für 


986 Monatsihau. — Kolontalgebiet. Auswärtige Lage. 


diejen nicht jchmeichelhaft genug ausgefallen ift. Und der Oberpräjident einer Provinz 
mit gemifchter Bevölferung hat jogar im verflojjenen Monat den Kaplarisblättern Rede 
und Antwort ftehen müfjen, als fie fich beſchwerten, daß er von jeinein -Einfpruchs: 
recht Gebrauch gemacht habe. Der deutjche Kaifer jelbft ſteht wieder Im Begriff nach 
Rom zu fahren und dort den Papſt mit einem Beſuch zu beehren. ‚Statt dankbar zu 
fein, — aber die ultramontanen Blätter auch noch darüber, daß fiberhaupt der 
König von Italien befucht wird. Eine Romfahrt joll nur dem Papft gelten. 

Gilt aber von der römischen Kirche, dak dem, der da hat, gegeben wird, jo gilt 
von der evangeliichen Kirche Preußens, daß ihr auch das noch genommen wird, was 
fie hat. Ein durchaus auf vorgejchriebenem Wege zuftande gefommenes Firchliches 
Geſetz bleibt in den Schränfen des Kultus-Miniſters liegen, und niemand fann ihn 
zwingen, dasjelbe zu veröffentlichen. Und ebenjo gleichgültig wie hier über verfaſſungs— 
mäßige Arbeiten, fett ſich in einer firchlichen Vokationsſache der Kultus-Miniſter über 
das Deto des evangeliichen Oberkirchenrats hinweg. Die dogmatiiche Stellung des 
— Harnack, um den es ſich handelt, wird im kirchlichen Bericht ihre Behandlung 

nden; hier genügt es, feſtzuſtellen, daß die preußiſche Landeskirche dem Kultus— 

Miniſter gegenüber machtlos iſt und daß, wenn irgend kirchenpolitiſche Beſtrebungen 
nat find, dahin die Anträge Kleiſt-Retzow und Hammerftein gezählt werden 
müſſen. 


Aus der immer ſchlechter werdenden Behandlung der evangeliſchen Kirche hat ſich 
übrigens in Rheinland und Weſtfalen eine Bewegung entwickelt, welche den Para— 
graphen 166 des Reichs-Straf-Geſetz-Buches aufheben will; dieſer Wunſch muß in- 
deſſen ohne Zweifel als verfehlt abgewieſen werden. Der Paragraph handelt nur 
vom Schimpfen; das aber können wir entbehren; nicht ſo den Schutz gegen das Be— 
———— Die konfeſſionelle Leidenſchaft, welche ſich ſo leicht in gemiſchten 

genden entwickelt, hat hier über das Ziel hinaus geſchoſſen. 


* 


Auch auf unſerem Kolonialgebiet iſt Leben und Bewegung geweſen. Die Deutſch— 
Oſtafrikaniſche Geſellſchaft hat mit dem Sultan von Sanfibar ein günſtiges Abkommen 
über 14 Feſtlandshäfen getroffen und damit die mangelhafte Verbindung ihrer großen 
Territorien mit dem Meere in ausreichendem Maße hergeſtellt. Neben bieler vollendeten 
Thatjache bereiten fich aber noch größere Dinge im Hinterlande der oftafrifanijchen 
Kolonieen vor. Das Uuellengebiet des Nils und die Seeplatte des Njanza und 
Zanganjifa jind nunmehr zum Ziel geworden, auf deſſen Erwerbung Deutſche und 
Engländer mit Bewußtſein zujteuern. Der Vorwand zu den Epeditionen, welche nach 
der ägyptijchen Wequatorialprovinz gerichtet werden, ijt „der Entjag Emin Pajchas“, 
der übrigens nach eigener Angabe fic gar nicht ſchlecht befindet, auch gar nicht „ent- 
jest“ jein will. Stanley, der erfte, der zu ihm eilen wollte, iſt verjchollen. Jetzt joll 
von deutjcher Seite der befannte Afrifareifende Wißmann jeinerjeit3 den Verſuch 
machen. Er iſt bereit3 abgereijt, um eine Expedition anzumwerben, und man fann nur 
wünjchen, daß dieſe neue große Aufgabe ihm ebenjo gelingen möchte, wie jeiner Zeit 
die mutige Durchquerung des dunklen Erdteils. 


* * 
+ 


Was die answärtige Lage betrifft, jo ift Diejelbe wejentlich unverändert; der 
deutſche Kaiſer ift von feiner nordiichen Meerfahrt heimgefehrt, nachdem er in 
Petersburg, Stodholm und Kopenhagen fich eines teils begeifterten, teil® wenigitens 
freundlichen Empfanges zu erfreuen hatte. In Petersburg war zeitweile die Be 


Monatsſchau. — Rußland. 987 


geifterung jo groß und die perjönliche Annäherung der beiden Monarchen eine jo 
intime, daß Optimiften an eine erfolgreiche Verhandlung der orientalischen Frage 
glauben fonnten. Es jchien einen Augenblid, als jollten Kombinationen gefunden 
werden, um das böje Loch im Berliner VBertrage, die oftrumelifche Angelegenheit, zu 
bejeitigen. Inzwijchen iſt aber nach allen Richtungen hin Ernüchterung eingetreten; 
Nufland weigert ich, dem erjten Schritt zu einer Konferenz zu thun, deren Aufgabe 
e3 jein müßte, das durchbrochene Recht wieder herzujtellen, und da Deutjchland und 
Defterreich nicht daran denken, Maßregeln ohne Not zu befürworten, die darauf hin- 
auslaufen, den Fürften Ferdinand zu befeitigen, jo regiert diejer zum großen Summer 
Rußlands unverdrojjen weiter. Rußland aber rächt jich dafür, daß ihm fein 
Necht verweigert wird, dadurch, daß es die Kriegsſorge nicht einjchlafen läßt. Eine 
momentane Gefahr jcheint freilid) nicht vorhanden; was aber werden wird, wenn ein— 
mal in Frankreich Herr Boulanger das Heft in Händen hat und in Rußland Graf 
Ignatiew und feine YBundesgenofjen Oberwaſſer befommen, das jteht dahin. Der 
Friede, nach dem fich jet die ganze Welt zu jehnen vorgibt, wird es jchwerlich jein. 

Nach den Monarchenbegegnungen hat e3 auch wieder eine Miniiterbegegnung ge- 

eben. Herr Erispi hat wiederum dem deutſchen Reichsfanzler in Friedrichsruh einen 

Beſuch abgeitattet. Beftimmtes über den Zwed desjelben ijt nicht befannt geworden; 
jedenfalld darf man wohl annehmen, daß es ſich um die Stellung Italiens im Mittel- 
meer gehandelt haben wird. ES jcheint, dab Frankreich Abfichten auf Tripolis hat 
und daß Italien ihm hier Konkurrenz machen will. Dean fann nur wünjchen, daß 
wenn Italien ſich in Tripolis feitjegt, e8 hier von größerem Glück begünjtigt fein 
möchte, al3 in Maſſauah, wo die italienische Bejagung fich jchon wieder von den 
Abejjiniern eine empfindliche Schlappe geholt hat. 

In bezug auf die Stellung Deutichlands zu Dänemark iſt im abgelaufenen 
Monat befannt geworden, daß der Paragraph 5 de3 Prager Friedens, welcher von 
Nordichleswig handelt, durch Uebereinfunft zwijchen Oeſterreich und Preußen, die ihn 
auf Frankreichs Betreiben einjchalteten, in aller Form aufgehoben worden ijt. Ueber— 
dies iſt durch eine Nede, welche Kaiſer Wilhelm gelegentlich einer Dentmals-Enthüllung 
in Frankfurt a. DO. gehalten hat, feierlich und öffentlich verkündet worden, daß an die 
Rückgabe irgend welcher Gebietsteile Nordjchleswigs nicht mehr gedacht wird. In 
Dänemark jcheint dies denn nunmehr als vollendete Thatjache hingenommen zu wer: 
den, denn jchon nad) jener Veröffentlichung ift König Chriftian in Berlin gewejen und 
hat den Bejuch des deutjchen Kaiſers unverzüglich enwidert. 


* * 
* 


In Rußland und zwar in Kiew ſollte ein großes panſlawiſtiſches Zauberfeſt ge— 
feiert werden, das ſich als Ausgangspunkt die Feier der 900jährigen Einführung des 
Ehrijtentums zum Vorwand genommen hatte. Gefeiert ijt es auch, aber man hat jehr 
viel Wajler in den Wein gießen müſſen. Denn unglüdlicherweije fiel dieje Feſtfeier 
mit den Feſttagen des beutichen Kaiſerbeſuchs in Petersburg zujammen und jo hatte 
fi Kaiſer Alerander alle lauten Demonftrationen nad) Weiten hin entjchieden verbeten. 
Trotz des Verbotes hat ſich aber doch der Unternehmer des Feſtes, Graf Ignatiew, nicht 
aller Reden im Stil der Herren Skobeleff und Gurfo enthalten, jondern auf dem Ded eines 
Dampfers ein Feſtmahl gegeben, beiwelchem man in ben Träumen zufünftiger jlawijcher Herr: 
lichkeit förmlich gejchwelgt hat. Man hat in den Tijchreden Dejterreich über den Haufen 

erannt und den ganzen Orient für Rußland verjpeijt. Nichtsdejtoweniger würde die 

ier objektiv harmlos verlaufen jein, wenn nicht ein Öfterreichiicher Biſchof, der angeb— 
liche Slowene mit dem echt jlawischen Namen Stroßmayer ein Glüdwunjc- Telegramm 
nach Kiew gerichtet hätte, in welchem er „die große Weltmijjion Rußlands“ in beredten 
Worten feierte, und wenn nicht außerdem Graf Ignatiew eine fleine Separatfonferenz 


988 Monatsſchau. — Frantreid. 


mit allen den Leuten gehalten hätte, welche in Serbien, Bulgarien und Montenegro: 
in den fetten Jahren al3 Unternehmer aller jener ver und Aufftände befannt ge= 
worden find, die als unzertrennliche Beſtandteile der ruffiichen Orientpolitif zu = 
trachten man jich leider hat gewöhnen müfjen. Auch diejes Feſt und was dazu gehört 
beitätigt alfo nur das WVorhandenjein einer nationalen Mißſtimmung, die ohne Friege- 
rifche Abrechnung jich niemals befriedigen wird, und man fann daher auch nur mit 
Freuden begrüßen, daß die Dinge in Bulgarien ſich im antiruffischen Sinne zu be- 
fejtigen jcheinen und dat Rumänien Rußland gegenüber Feitungen zu errichten bes 
ſchäftigt it, welche wohl geeignet jein dürften, der jlawifchen Invafion den Weg nach 
Stambul wirkfjam zu verjperren. 

dann und wo die große Kriſis ausbrechen wird, iſt unberechenbar; im verflofje- 
nen Monat jchien es fait, als fünne der Streit fich zwijchen Italien und Frankreich 
anfpinnen, welche beide Mächte bereit3 Noten in einem Tone austaujchten, der faum 
noch dem Friedenszuſtand entjpricht, wobei man jich bejonders über die Territorials 
hoheit der Italiener in Mafjauah erhitzte. Indeſſen ijt doch jchließlich alles wieder 
in friedliche Bahnen eingelenft und müfjen noch andere Zwijchenfälle fommen, um die 
glimmenden Funken zur Flamme zu entfachen. 


* * 
* 


In Frankreich iſt es wieder recht bunt hergegangen — die Herſtellung der Säbel— 
herrichaft durch einen „Retter der Gejellichaft“ it für Paris im Grunde nur noch eine 
Trage abjehbarer Zeit. Die Republik ift unmöglich) auf die Dauer in diefem Lande, 
dejien Bevölkerung alle republifanischen Bürgertugenden fehlen und deſſen jittlicher 
Zuftand ein durch und durch Forrumpierter iſt. Auch im verfloffenen Monat haben 
wieder einmal in Paris alle Befigenden zittern müfjen, daß ihnen das ihrige demo— 
fiert und jie jelber mafjafriert werden fünnten. Die Arbeiter haben einen allgemeinen 
Ausſtand gemacht, der allmählich in einen allgemeinen Aufftand auszuarten drohte und 
nur jehr langjam wieder geordneten Verhältniffen Plat gemacht hat. In Amiens hat 
es jogar etwas Branditiftung gegeben. Zuletzt haben die Streifenden fich gefügt, weil 
ihre Geldmittel zu Ende gingen und weil fie die volle Allgemeinheit der Arbeits— 
niederlegung nicht erreichen konnten. Aber ſie haben jich nicht gelüigt, ohne die Ver— 
jiherung abzugeben, daß jie im nächſten Jahr, im großen Jubeljahr 1889, zu ihrem 
Ziele fommen wollen. Daß fie auch dann nicht erreichen werden, als höchſtens 
Trümmer und Leichen, fann zwar erwartet werden, da es ihnen an allen pofitiven 
und durchführbaren Plänen fehlt. Daß aber im entjcheidenden Moment ein Diktator 
die Gejellichaft retten wird, ift im hohen Grade wahrjcheinlih. Und gleichfalls nicht 
unwahrjcheinlich, daß dieſer Netter Boulanger fein wird. 

Am Anfang des Monats ging es dem General jchlecht. Sein Ruf litt erheblich 
darunter, daß er von einem Advofaten „abgejtochen” war und daß er im Departement 
Ardeche, wo er jich Hatte aufitellen Lafjen, eine empfindliche Niederlage über ſich ergehen 
laſſen mußte. Seine Aftien fielen. Aber die Freunde jchonten weder Arbeit noch 
Kojten, um fie wieder jteigen zu laſſen. Und mit Hilfe von erheblichen Summen, die 
man aufwendete, ift dann möglich geworden, ihn in drei Departements auf einmal mit 
großen Mehrheiten durchzubringen. Freilich fam eine wejentliche Hilfe dazu. Bis zur 
Ardechewahl jtand der in Frankreich auf dem Lande noch überaus einflußreiche Klerus 
dem General jfeptifch gegenüber, unjchlüjfig ob für oder wider ihn Partei zu nehmen 
ſei. Boulanger zeritreute diefe Bedenken, indem er einen kleinen „Gang nad) Kanofja* 
machte und feierlich verkündete, er werde „niemals die Religion verfolgen, niemals“, 
Der Winf wurde verjtanden und alles was ultramontan war, ging nun in Eile zu 
ihm über. Ob auch Bonapartiften als ſolche für ihn geftimmt, ift natürlich jchwer zu 
entjcheiden, ebenjo unflar wie die Antworten auf die Frage, woher alle® Geld für die 


Monatsihau. — Wirtſchaftspolitik. 989 


enormen Wahlkoſten gekommen ſei. Die plauſibelſte Löſung dieſes letzteren Rätſels 
dürfte wohl die ſein, daß ein amerikaniſches Getreideſpekulantenſyndikat den Präten— 
denten unterſtützt, der ſeinerſeits für den Fall ſeiner „Thronbeſteigung“ die bündigſten 
finanziellen Zuſagen gegeben haben dürfte. 


Wirtfchaftspolitik. 


Die Angriffe des Manchejtertums gegen die deutjche Wirtichaftspolitif werden 
durch die Veröffentlichungen von Thatjachen immer mehr Lügen geftraft. Selbſt zahl: 
reiche Handelsfammern, welche aus begreiflichen Gründen dem ;Freihandel angehören, 
find genötigt, der Wahrheit die Ehre zu geben. So jprechen jid) z. B. von den acht 
württembergijchen Handelsfammern wenigitens die Hälfte günftig über die Wirkungen 
des Schußzolliyitems aus, während jämtliche anerfennen müjjen, daß, wenn auch das 
Erportgejchäft viel zu wünjchen übrig lajje, doch das innere Gejchäft dies bei weiten 
ausgleiche. Und die über den Verkehr und Umjchlag veröffentlichten Zahlen bejtätigen 
dies vollfommen. Ueberall hat eine bedeutende Steigerung des Güterverfehrs auf den 
Eijenbahnen, jowie des Poſt- und Telegraphenverfehrs jtattgefunden. Und gerade die 
Städte, von wo das größte Gejchrei wegen des angeblichen Verkehrs- und Handels» 
rüdganges fommt, haben thatjächlich den wenigjten Grund, jich über die Einwirkungen 
des Schutzzollſyſtems zu beklagen. In Frankfurt a. M. z. B., von wo aus die Ylır= 
griffe gegen die Schutzzölle und gegen die Parteien, welche für diejelben eintreten, am 
unabläſſigſten und gehäfligiten betrieben werden, hat von 1884 bis 1887 die Güter: 
bewegung auf den Eijenbahnen um zwei Millionen Zentner, diejenige bei der Schiff: 
fahrt um mehr als jechs Millionen Zentner zugenommen. Für die von der Stadt aus 
zu Wafjer verjfandten Güter Hat jich im diejer Zeit eine Vervielfahung der Menge 
herausgejtellt. Man kann alfo feine jchlagendere Widerlegung der Angriffe auf das 

egenwärtige Wirtjchaftsjyitem gerade vom Standpunkt des Handels aus geben, als 
Be bier durch die Thatfachen gegeben wird. Dem in der Woche vom 18. bis 25. August 
in Franffurt a. M. verjammelten internationalen Binnenſchiffahrtskongreß fonnte denn 
auch ein großartiges Bild der Entwidelung der deutjchen Arbeiten auf dem Gebiete 
des Wajjerbauwejens und des Binnenflußverfehrs gegeben werden. Daß man Diefe 
Ergebnifje fich nicht ohne die Einwirkung des Schutzzollſyſtems denfen kann, liegt auf 
der Hand. Gerade die großen Wafjerbauten von Frankfurt a. M., die Verjtauung des 
unteren Mains, wodurch fich der Schiffsverfehr jener Stadt jo auferordentlich gehoben 
hat, fallen in die Echußzollperiode und find nicht durch das Privatfapital, jondern 
durch Staat und Gemeinde errichtet worden. Zu jolcher Errichtung gehören aber doch 
Mittel und diejelben find nicht aus dem Auslande geborgt worden; und ebenjo wenig 
wird für die übrigen großen Wafjer- und anderen Bauten, welche in Deutichland ge— 
plant jind, ein Pfennig im Ausland geborgt werden. Vielmehr ift troß der großen 
Aufwendungen für Öffentliche Arbeiten in Deutfchland immer noch ein jebr großer 
Kapitalbetrag in das Ausland abgefloffen und fließt immer noch dahin ab. Dies wäre 
aber nicht möglich, wenn das Schutzzollſyſtem ungünstig auf die Kapitalbildung einges 
wirft hätte. Allerdingd hat für einige Induftrieerzeugniffe, insbejondere der Eijen- 
indujtrie, eine Verminderung der Ausfuhr aus Deutichland ftattgefunden. Allein 
dennoch hat fich die Gewinnung von Roheiſen in Deutichland nicht vermindert und es 
it auch feine übermäßige Steigerung der Vorräte desjelben eingetreten, wie im dem 
freihändferifchen Großbritannien. Folglich beitätigt jich hier ebenfalls thatjächlich, was 
oben gejagt wurde: daß eigentlich der vermehrte Verbraud) im Inland den Nücdgang 
oder die Mäßigung der Ausfuhr bedingte. DerfVerfuch, die englischen Ausfuhrver— 


990 Monatsihau. — Wirtſchaftspolitik. 


bältnifje gegen die deutjchen und die Zunahme der englischen Ausfuhr als einen Be— 
weis gegen die Schußzollpolitif auszufpielen, fanıı um jo weniger verjchlagen, al3 der 
englijche Außenhandel jahrelang rüdgängig gewejen it und auch gegenwärtig troß 
wiedereingetretener Steigerung noch nicht wieder den Stand von 1880 erreicht hat. 
Außerdem ift jene Steigerung nur bewirkt worden durch einen enormen Preisdrud, 
der den engliſchen ea jelbjt zum Teil jo unerträglich it, daß 3. B. die 
Schienenwalzwerfe wieder ein internationales Kartell erjtreben, um jenen Preisdrud 
zu mäßigen, und daß der-Lohndrud beim Kohlenbergbau jo jtarf geworden ijt, daß 
über 6000 Kohlenarbeiter die Arbeit mit einem Schlag und unter bisher in England 
nicht üblich gewejenen Schritten eingejtellt haben; wobei zugleich alle Anzeichen auf 
eine noch weitere Ausdehnung der Streiks hindeuten. 

Dieje Zufpigungen der Zohnfragen haben ich allerdings auch mehrfach in Deutjch- 
land gezeigt, doch Handelt es fich dabei durchweg um Lohnerhöhungen. Das ijt aber 
bei weitem günjtiger, al$ wenn Streif3 wegen Zohnherabjegungen jtattfinden; e8 deutet 
an, daß es an Beichäftigung für die Arbeiter nicht fehlt, daß diejelben die Zeit viel- 
mehr für Lohnerhöhungen geeignet halten. Lohnerhöhungen bezeichnen aber eine 
Steigerung der Verbrauchskraft der Bevölkerung oder wenigitend Hemmung des Rück— 
ganges derjelben, wogegen Lohndruck Verminderung der Verbrauchstraft bezeichnet und 
un der Berallgemeinerung von der einheimischen Produktion von Lebensmitteln ebenjo 
fchwer empfunden wird als die unterwertige Einfuhr von jolchen. Beide haben die 
Nüchwirkung des Preisdrudes auf jene. Sind daher die deutjchen Arbeitseinjtellungen 
diejes Jahres am jich jchon bei weitem weniger umfangreich als in manchen anderen 
Zändern, jo find fie auch aus dem angeführten Grunde weniger bedenklich. 

Größere Aufmerkjamfeit haben die großen Arbeitseinftellungen in Paris und einigen 
franzöfischen Induftriebezirken erwedt. Auch bei den erjteren handelte es fich im wejent- 
lihen um Lohnerhöhung, nicht um Lohnherabjegung und jonjtige Vorteile für die Ar- 
beiter, wobei der Pariſer Gemeinderat ſogar die Partei der Streifenden gegen die 
Unternehmer genommen hatte, was bis jet von Seiten einer Behörde faum oder nur 
un Anklängen vorgefommen war. Der Magijtrat zu Frankfurt am Main 3. B. hatte 
bei Aufftellung eines allgemeinen Bedingnisheftes für ſtädtiſche Arbeitsverdingungen 
die Unternehmer verpflichten wollen, ihren Arbeitern den Lohn wenigstens bei ſtädtiſchen 
Arbeiten achttägig und nicht in längeren Friſten auszuzahlen; diefe Bedingung wurde 
aber von den Stadtverordneten wieder gejtrichen. War dies ein mißglüdter Verjuch 
einer Behörde, eine Bergünftigung für die Arbeiterjchaft durchzuſetzen, jo iſt von diefer 
Begünſtigung bis zu der Parteinahme, welche der Pariſer Gemeinderat für die In— 
terejjen der Arbeiterjchaft zeigte, ein himmelweiter Schritt. Gab jchon diejes Verhältnis 
dem Barijer Streif ein eigenartiges Anjehen, jo war außerdem die Verquidung des- 
jelben mit politischen Beziehungen bedrohlih. Zunächſt handelte es ſich um die Erd» 
arbeiter, welche, jeitdem Kanaliſation und Straßenpflajterung in ihrer ewigen Bewegung 
durch Aufreißungen für Gas: und MWafjerleitungen jowie Straßenbahnen im Haushalt 
der großen Städte eine jo bedeutende Rolle jpielen, einen außerordentlich jtarfen Pro- 
zentjag der Bevölferung bilden und die bedenklichiten Elemente aus allen Nationen und 
Gejellichaftsichichten (vielfach jchiffbrüchige Eriftenzen) in jich vereinigen, auch durd) ihre 
Werkzeuge einigermaßen bewaffnet jind. Daher war die Bejorgnis, daß es bei diefem 
Streik zu gewaltfamen Ausjchreitungen fommen fünne, jehr groß, und dieje Bejorgnis 
iſt auch vielfach bejtätigt worden, wenn es auch zu einem allgemeinen Aufitand nicht 
gekommen ift. Aber die Befürchtung eines jolchen ift auch im Hinblid auf die poli— 
tiſchen Verhältniſſe Frankreich immer noch nicht vorüber und fie wird außerordentlich 
dringend durch die Arbeiterverhältniffe, wie fie jich in Paris gejtaltet haben und welche 
die denkbar traurigiten find. Nur die Nebeneinanderjtellung einiger Ziffern eröffnet 
den ärgſten Ausblid. In der Parifer Industrie find neben 404408 Männern 
411690 rauen und 615 230 Kinder beichäftigt! Kann das Beichäftigungsverhältnis 


Monatsihau. — Wirtihaftspolitit. 991 


fchredlicher fein? Neben nur 28 Prozent Männern finden jich 29 Prozent Frauen 
und 43 Prozent Kinder in der Induſtrie bejchäftigt! Daß hier jedes natürliche und 
ge Verhältnis befeitigt ift und daß man nur diefe Ziffern nebeneinander zu jehen 
raucht, um die Schwere der fozialen Gefahr, welche in ſolchen Stadtverhältnifien 
unmittelbar liegt, zu erfennen, iſt Elar. Aber auch welche arge Rüdwirkung dieje Ver- 
hältnifje auf die Gefamtproduftion haben müſſen, it leicht erkennbar. Stände an der 
Stelle von zwei Kindern nur ein Mann, jo würde, wenn man den Lohn eines Kindes 
u 1, den eine® Mannes zu 3 Fr. annimmt — wie dies durchjchmittlich der Fall zu 
ein icheint — auf die Konſumtion des betreffenden Induftriegebiet® 50 Prozent mehr 
fommen al3 gegenwärtig, Mit andern Worten: Der allgemeine Verbrauch wird durch 
das Ueberhandnehmen der Kinderarbeit um fünfzig Prozent vermindert. Dieſe Quelle 
der jogenannten „Ueberproduftion“ jucht man freilich immer zu verhüllen. Aber wir 
halten jeden Berjuch, jozialpolitiich erjprieglich zu wirfen, für verfehlt, wenn derjelbe 
nicht diefen Punkt befonders ins Auge faßt. Aehnlich it der Einfluß der „Frauen— 
arbeit“, der jich aber feineswegs allein in der Industrie jo bedenklich breit macht. Auch 
bei den im parijer Handel bejchäftigten Berfonen überwog das weibliche Element bei 
weiten. Es waren von den Handelsgehilfen in Paris 192585 männlichen, aber 
209 667 weiblichen Gejchlechts, 47?/, gegen 52", Prozent, — aljo überwiegen die 
weiblichen Handlungsgehilfen um etwa fünf Prozent. Dabei ift außerdem das jchmwere 
Mihverhältnis der Zahl der im Handel beichäftigten Perſonen gegen die in der Pro- 
duftion thätigen in Anjchlag zu bringen. Während ſich in dem lebteren Verhältnis 
die jchwerjte Schädigung der Produktion zeigt, jehen wir im erjteren dieſe Schädigung 
noch gefteigert durch die Ueberlaftung der unproduftiven Thätigfeit. Endlich führt dieſe 
fapitaliftiiche Nichtung, den Lohn, alſo die Verbrauchsfähigfeit der Bevölkerung mittel- 
bar oder unmittelbar zu jchmälern, zum Bedenflichiten von allem —: zur gejteigerten 
Heranziehung fremder Arbeitskräfte über die einheimischen hinweg. Selbſt von der 
großen Slindermenge, welche wir in Paris bejchäftigt finden, dürften nur die wenigiten 
in Paris geboren fein. Hiermit wird unausgejeßt die Landwirtjchaft in Tributpflicht 
egen den jtädtiichen Kapitalismus gejegt. Jene zieht die Arbeitskräfte groß und wenn 
He einigermaßen leiftungsfähig geworden find, zieht fie der jtädtijche und imduftrielle 
Kapitalismus durch den jcheinbar höheren Geldlohn an fich, jelbjt aus fremden Ländern. 

Daß hier die fonfervative Sympathie allen Grund hat, dem bejonders in Frank— 
reich ftark hervortretenden, aber auch in Deutjchland hier und da merflichen Gegendrud 
gegen den Import billigerer Arbeitskräfte in die Städte und Arbeitsgebiete, wie er von 
den einheimijchen Arbeitern zu üben verjucht wird, fich zuzumenden, dürfte aus unjern 
Ausführungen hervorgehen. Sowohl das jozialpolitiiche Moment der Verdrängung 
der eingefejfenen Elemente — das nur jcheinbar von demjenigen der Fapitaliftiichen 
Verdrängung der Grundbefiter verjchieden it — als dasjenige der Steigerung der 
Ueberproduftion, welche eigentlich weiter nichts als eine verhältnismäßige Herabjegung 
der Verbrauchskraft ift, erheichen die ſorgſamſte Beachtung der hier in Betracht 
fommenden Verhältniſſe. 

Uebrigens haben ich ſolche Bewegungen auch ſchon in England gezeigt; und Die 
neuerliche Antichinefenbewegung in Aujtralien, die Fortjegung der Antichineſenbewegung 
in den Vereinigten Staaten, gehört durchaus auf diejes Gebiet. Allerdings erjcheinen hier 
zum Teil moralische und fittlihe Momente in den Vordergrund gejchoben; allein dieſe 
Momente jehlen auch nicht Hinfichtlich des Arbeiterimports in kleineren Berhältnijjen. 
Indes hat ſich in den Vereinigten Staaten bereits auch eine Bewegung gegen dei 
europäischen Arbeiterimport erhoben. Man hat immer mehr fejtgejtellt, daß die Ueber— 
fahrtsmittel eines überwiegenden Teiles der europäischen Auswanderer und insbejondere 
der industriellen Arbeiter dabei aus den Vereinigten Staaten jelbit bezahlt werden. 
In den englifchen Induftriebezirfen gibt e3 zahlreiche Agenten, welche Arbeiter unter 
Bahlung des Weberfahrtögeldes anwerben; und wenn auc) hiergegen ein nordamerifa= 


992% Monatsibau. — Wiriſchaftspolitik. 


nijches Geſetz wirken joll, jo ijt diefe Wirkſamkeit doch unerheblich, da man begreif- 
licherweife nur im jehr jeltenen Fällen dahinter fommen kann, ob ein verbotener 
Arbeitsvertrag vorliegt oder nicht. Dabei weiß man, daß in der Verwaltung des Ein- 
wandererwejens in Newyork eine jolche Korruption herricht, daß an eine gerechte und 
nachdrüdliche Handhabung der beitehenden Gejege gar nicht zu denken iſt. 

E3 fanden auch in öſterreichiſchen Fabrikdiſtrikten Arbeitseinjtellungen jtatt, haupt— 
jächlich in Brünn, wo die Wollfpinner und die Färber ftreiften und auch) einen Erfolg da- 
vontrugen. Dort hat die Verarbeitung schlechten Materials jo um fich gegriffen, daß mar 
ihon um den quten Auf des Brünner Tuchs bejorgt ijt. Durch die Verarbeitung jchlechten 
Material3 werden aber die Arbeiter jo benachteiligt, daß es einer Lohnherabſetzung um 
zwanzig Prozent aleichfam. Um etwa die Hälfte fcheint diefer Schaden dort wieder 
ausgeglichen zu jein. Die Einwirfung derartiger Berfahrungsmweijen von jeiten des 
Indujtrialismus zeigt ſich gerade auf dem bier in Betracht fommenden Gebiete Doppelt, 
indem einerjeit3 durch Verwendung jchlechtejter Wollforten die Schafzucht gefährdet und 
andererjeit8 durch Verminderung des Einfommens der Arbeiterjchaft deren Verbrauchs— 
fähigfeit verringert wird. Hinfichtlich der auftralischen Bewegung gegen die Chinejen- 
einwanderung ijt jelbjtverjtändlich die Mancheiterpreije einftimmig gegen die Atitralier, 
indem jie behauptet, die Chinejen bildeten mit etwa 52000 Köpfen, welche fie dort 
zählen, fein einflußreiches Element. Dies werden wohl aber die Aujtralier, welche die 
Dinge vor Augen haben, bejjer beurteilen können, als die fernwohnenden liberalen 
Doftrinäre. 

Auch in Belgien wird die joziale Lage wieder als bedrohlich angejehen und mar 
fürchtet neue Arbeitseinftellungen. Die Gefahr einer Erneuerung der belgischen Bes 
wegung Sicht man jehr erhöht dadurch, daß auch in den nordjranzöfiichen Induſtrie— 
bezirfen, welche in jtarfem Zufammenhang mit den belgischen ftehen, vielfach Arbeits- 
einstellungen im Gange find, zum Teil hervorgerufen durch Lohnherabjegungen. Troß 
der jozialen Bewegung, die Belgien faum erſt jahrelang in Aufregung feste, it zur 
Verbejjerung der dortigen Verhältniſſe nichts geichehen. Der königlichen Macht find 
bejonders nach diefer Richtung hin die Hände gebunden. Die Krone muß ihr Thätig- 
feitsgebiet außerhalb juchen, und jie it auch da mit der Gründung des luftigen 
„Kongo:Staates" kaum glüdlich gefahren. Auch diejer befindet ſich in einer Kritis, 
bevor er nur Spuren einer günjtigen wirtjchaftlichen Rüdwirfung auf das Mutterland 
äußern fonnte. Im Lande jelbit aber ftreiten jich die parlamentarischen Parteien über 
die angeblichen Differenzen zwijchen Klerikalismus und Liberalismus, die dort doc 
nur in der Methode liegen, während beide Parteien jonjt die Dinge gehen laſſen, wie 
fie gehen mögen. Kennzeichnend aber it, daß gelegentlicd; der Erörterungen über die 
befannten Vorgänge bei der Hochzeit im fürftlich Arenbergichen Haufe in Brüſſel 
und über eine jpätere ariſtokratiſche Hochzeit, welche zur Vermeidung ähnlicher 
Vorgänge in Bajel gehalten wurde, in einem demofratischen Blatte bemerkt wurde, 
materiell könne legteres den Brüfjelern wenig Kummer machen, da die Ausjtattungen 
bei diejen arijtofratischen Hochzeiten doch nur aus Paris bezogen würden. Iſt dies 
wirklich der Fall, jo würde man bier ein neues Beijpiel haben zu dem alten Sprid)- 
wort von dem Ejel, der den anderen Sadträger nennt; im übrigen aber würde die 
Cache nur beweijen, daß praftiih in Belgien Stlerifalismus und Liberalismus 
völlig gleichitehen, obgleich auch dort im Biſchof von Lüttich der hohe Klerus einen 
ſozialpolitiſchen Führer aufgejtellt hat. 

Eine jeltjame Stellung hat inzwijchen der Ffapitaliftiiche Internationalismus in 
Epanien einzunehmen begonnen. Freilich find in diefem Lande bereits eine große Ans 
zahl der wichtigsten nationalen Bermögensjtüde in internationalen Befig übergegangen; 
insbejondere die Bergwerfe und zum Teil auch der Weinbau. Set wurde nun vers 
jucht, auf das Steuerweſen unmittelbar einzumwirfen, als die Steuererhöhung auf Spi- 
tus durchgeführt werden jolltef, In den jpanischen Häfen, wo die Verjegung des 


Monatsihau. — Wirtſchaftspolitit. 993 


Weines mit Spiritus jtattfindet, haben große Import: und Erportaftiengejellihaften 
den Umjchlag in der Hand. In Terragona fam es, als die Niederlage der ſchwediſchen 
Spiritusgejellichaft Karlshamm zur höheren Steuer gezogen werden jollte, unter der 
Behauptung, daß deren Spiritus der Steuer nicht unterworfen fei, zu Ruheſtörungen; 
«3 wurden Barrifaden gebaut und das jpanifche Minijterium mußte nachgeben, indem 
es vorläufig die Bejteuerung vertagte, um erit die Vertreter der Gejellichaften zu 
hören. Wir fünnen aljo er. dem internationalen Gebiet in Europa erjtaunliche Dinge 
erleben. In der That Hat dann auch) das jpaniiche Minijterium den Anforderungen 
des Spiritus endgültig wenigitens zum Teil nachgegeben. 

Inzwijchen jcheinen ſich die Völkerſchaften in den übrigen Erdteilen, welche bis 
jetzt als vornehmſte Gegenjtände der kapitaliſtiſchen Spekulation zu leiden hatten, 
immer ernitlicher auf die Abjchüttelung derjelben vorzubereiten. In Indien reden die 
Stimmen für die Wiedererlangung der Selbjtändigfeit immer lauter; und diejelben 
haben durch die immer größere Ausdehnung, welche der Indujtrialismus dort erfahren 
hat, neuen Nahdruf gewonnen. Unter den englischen Industrien, welche auf den 
Erport gebaut jind, leidet die Tertilindujtrie am härtejten, weil ſich die indiſche In— 
dujtrie mit Macht hebt und die englischen Zufuhren verdrängt, jo daß dieje immer 
mehr weiter nah Djten Hin gedrängt und immer mehr auf China angewiejen 
wird. Aber auch dahin werden von England aus ebenjo wie nad) Japan, wie man 
aus den Veröffentlichungen über die jtattfindenden Verfrachtungen erfennt, immer mehr 
Maſchinen verjchifft; und das iſt nur der Anfang einer neuen Konkurrenzinduftrie, von 
der wir jchon vor einigen Jahren bemerkt haben, daß fie alle Vorbedingungen zeige, 
um im internationalen Konkurrenzkriege die erſte Geige zu jpielen. 

Uebrigens haben die „chineſiſchen Gejchäfte” * in den letzten Wochen wieder 
vielen Lärm gemacht. Die Börſenpreſſe meldete, von ſeiten der deutſchen Reichsbank 
ſeien die Verhandlungen wegen einer deutſch-chineſiſchen Bank (wahrſcheinlich anſtatt 
der verunglücten Ueberſee-Bank) wieder aufgenommen worden. Ein Widerruf dieſer 
Meldung iſt nicht erfolgt, und es ijt von mehrfachen Verhandlungen zur Durchführung der 
Abjicht im Gebäude der Neichsbanf in Berlin die Rede gewejen. Doch möchten wir 
die Wahrheit aller diefer Nachrichten bezweifeln. Nach den Erfahrungen der legten Jahre 
fann jich am allerwenigften die Verwaltung der deutjchen Reichsbank berufen fühlen, 
für die Steigerung des internationalen Finanzichwindels mitzuwirken. Die Befliſſen— 
heit, mit der derartige Verirrungen durch die demokratiſche Börjenprejje gegen den Staat 
und die Regierung ausgebeutet werden, zeigt das unausgejegte Aufwirmen der Mitwir: 
fung der föniglichen Seehandlung bei einem ruſſiſchen Finanzgeſchäft und der Hinweis 
auf die finanziellen Reklamen auch in offiziöjen Blättern, deren jonftige Beziehungen 
begreiflicherweije in weiteren Finanzkreiſen nicht befannt find. Die Börſenpreſſe wird 
fiher, wenn die Hantierungen der Börſe derartige Gejchäfte zu einem Krach zugejpigt 
haben, die Schuld an den Verluſten, welche dann das Nationalvermögen erleidet , von 
der Börje ab und den beteiligten Negierungsanftalten zujchieben; aber e3 wäre ein 
großer Fehler, wenn man die Einwirkung derartiger Bejchuldigungen, wo es jih um 
das Vermögen handelt, unterfchägen oder gar mißachten wollte. Es wird uns gar 
nicht wundern, wenn die Neklame, welche 3. B. die „Nordd. Allg. Ztg.“ kürzlich bei 
Einführung der mexikaniſchen Papiere in Deutjchland für dieſelben machte (obgleich es 
ſich um nichts handelte als darum, die deutschen Kapitaliiten ebenjo mit mexikanischen 
„Werten“ zu prellen, wie die engliichen vor ihnen geprellt worden waren), jeinerzeit, 
wenn auch dieje bösartigen Papiere für gutes Geld in die Hände der deutjchen Kapi— 
talijten gebracht jein und feine Zinſen mehr kommen werden, von der Börjenprejje aus- 
gebeutet werden wird zum Beweis, daß diefe Papiere mit Unterftügung der Regierung 
nad Deutjchland gefommen jeien. Um jo mehr jollten auch die offiziöfen Blätter ge- 
warnt werden, jih auf finanziellem Gebiete Hinjichtlih des Auslandes bloßzuſtellen. 
Unjere großen Finanzanjtalten aber haben im Lande noch genug zu thun. 


994 Monatsſchau. — Wirtſchaftspolitit. 


Indes hat es nun auch ſchon nicht mehr an handgreiflicher Warnung gefehlt. 
Schon am 1. Juli war in Buenos-Ayres, wohin die Blicke der Berliner Börſe in 
Ermangelung Ruflands jegt mit Vorliebe gerichtet find, ein Finanzkrach ausgebrochen 
und derjelbe hatte ſich am 1. Augujt wiederholt. Eine ganze Anzahl dortiger Börjen- 
firmen hatte Banferott gemacht und Hunderte von Kleinen Börjenjpefulanten, welche jich 
tags zuvor noch für Willionäre gehalten hatten, lagen auf der Strafe. Das Gold- 
agio war auf 160 Hinaufgefprungen und it jegt noch in den Heftigiten Schwankungen, 
fam jedoch nicht mehr unter 150 herab. Daß die Filialen, welche von zahlreichen 
europäifchen Banken am Laplata errichtet wurden und wovon man foiofjale Vorteile 
für das „Gejchäft“ erwartete, dabei ebenfalls in merfliche Mitleidenjchaft gezogen wur⸗ 
den, beweiſen die großen Goldſendungen, welche für Rechnung jener Banken ſowohl 
von London als von Auſtralien her nach Südamerika gemacht werden mußten, ſo daß 
die engliſche Bank ſich genötigt ſah, ihren Diskont neuerdings zu erhöhen, um ihre 
Reſerven zu ſtärken. Wie das internationale Handelsgebiet nichts mehr ijt als ein 
Nennplag der verjchiedenen Industrien, um ſich gegenfeitig die Abjatgebiete abzujagen, 
jo ijt das moderne Banfwejen zur reinen Heßanjtalt um das Gold geworden. Der 
eigentliche wirtjchaftliche Zwed der Banfen, um den es freilich immer jehr windig jtand, 
geht dabei gänzlich verloren. 

An den argentinijchen Krach angefnüpft hat ſich ein folcher in Genua, das viele 
Beziehungen nad) dem Laplata unterhält. Indes lagen die Urfachen diejes Krachs in 
den italienischen Verhältniffen jelbit. Diejelben find im höchiten Grade fpekulativ 
untergraben, und der Gejchäftsgang hängt größtenteils ab von den Mitteln, welche man 
noch ım Auslande zu borgen vermag. Allein alle größeren Städte oder wirtjchaft- 
fihen Zujfammenhänge haben entweder jchon ihre —* gehabt oder treiben der— 
jelben entgegen. WBorangegangen find Mailand, Rom, die Injel Sardinien. Genua, 
das jet an der Reihe ijt, hat jeinerjeit3 eine ganze Reihe Eleinerer Orte in Mitleiden- 
ſchaft gezogen. . | | 

Troß der argentinischen Vorgänge jollen doc) noch eine ganze Reihe von Emijjio- 
nen aus jenem Land nach Deutjchland gebracht werden, und zwar binnen kurzem. Auch 
von neuen rufjishen Finanzgejchäften tjt wieder die Rede, und es jcheint, als habe 
Herr v. Bleichröder dafür wieder die Unterjtügung der offiziöſen Preſſe gewünjcht. Zu 
welchen Kedheiten die Börje fähig ift, beweilt aber wohl genügend die durch eine 
Hamburger Bank bewirkte Emiffion einer Anleihe — der Republif San Domingo. 


Kirche. 


Die evangelifche Kirche in Deutjchland jteht gegenwärtig unter dem Eindrud des 
Staunens über die Stellung, welche die Staatsregierungen, bejonders die preußiiche, 
zu der jogenannten Barität einnimmt; des Staunens über die überaus zarte Rüdjicht, 
welche auf die Empfindlichkeit der Römifchen genommen wird. Daß das Gegenteil 
von dem damit erreicht wird, was man bezwedt, ift far. Man will Ausbrüche ber 
fonfejjionellen Gereiztheit verhindern, will den religiöjen Frieden im Lande befördern 
u. dgl.; ftatt defjen jchwillt auf diefe Weife den Römijchen der Kamm und die Evan- 
gelijchen werden erzürnt und juchen durch immer bereicherte und erweiterte Demonjtra- 
tionen die Interefjen ihrer Kirche zu wahren, was dann nur wieder zu neuen zweifel- 
haften Echritten der Behörden, zu erbitterten Ausfällen in der gegnerifchen Prejje und 
zur Vermehrung der allgemeinen Erregung ausfchlägt. 

Am meisten tritt das in dem Gegenden mit gemijchter Bevöfferung hervor und 


Monatsihau. — Kirche. 995 


am allermeisten am Rhein, wo die Evangelijchen nach jahrhundertelangen Kämpfen und 
Unterdrüdungen, jegt in dem Bemwußtjein, Angehörige eines paritätijchen Staates zu 
jein, mit einem Haupt in der hohenzollernjchen Dynajtie, die von je her Schutz und 
Schirm für das evangelische Bekenntnis bildete — die Erwartung hegen, dab bei den 
fortwährenden Reizungen von römischer Seite her wenigjtens die Staatögewalt unpar— 
teiisch jein werde. Vom Rheinland her find denn auch drei Vorkommniſſe zu berichten, 
welche in die Gebiet der Auseinanderjegung zwijchen den Kirchen gehören: es iſt der 
Eolinger Vorfall, die Petition um Aufhebung von $ 166 und die Generalverjamme 
lung de3 evangelischen Bundes in Duisburg. 

In Solingen hielt der Zweigverein des Evangelischen Hundes am 26. Juli eine 
Verjammlung ab, auf der eine Rede Paſtor Thümmels über die Nachener Heiligtums— 
fahrt angekündigt war. Die Verjammlung war um einige Tage aufgejchoben, weil der 
Vorjtand des Evangelischen Vereinshaufes es bedenklich fand, fie an dem Tage zu hal- 
ten, wo gleichzeitig das jehr befuchte Schützenfeſt einer katholiſchen Gejellichaft gefeiert 
wurde Da man nun auch für den Thümmeljchen Vortrag auf eine jehr jtarfe Be— 
teiligung rechnete, wünjchte man jtatt des Vereinsjaales die Schügenburg. Diejelbe 
wurde zuerjt bewilligt und dann verweigert. Darauf beichloß das Presbyterium, die 
evangelische Kirche für die Berjammlung des Bundes einzuräumen, und dieſe wurde — 
dem Orte gemäß — als cine gottesdienftliche Verfammlung mit Gejang von „Ad 
bleib mit deiner Gnade“ unter Orgelbegleitung eingeleitet. Der evangeliihe Bürger: 
meijter van Meenen hatte, wie ſich nachher herausitellte, jchon bei den verjchiedenen 
Verhandlungen wegen eines Lokals die ganze Sache zu Hintertreiben verjucht; er hatte 
au, wie er in der Stadtratsjigung jagte, jofort gedacht, es jei bejjer, Thümmel 
ſpräche nicht in Solingen (wozu die Freiſinnige Zeitung bemerkt: wie fommt ein Bür— 
germeijter dazu, derartiges überhaupt zu denfen?). Und ebenfalls jtellte ſich heraus, 
daß die Behörden im allgemeinen feitens der föniglichen Regierung ange 
wiejen waren, den Pfarrer Thümmel etwas im Auge zu behalten. Hat das 
wunderliche Auftreten desjelben zu einer jolchen Verordnung auch Anlaß geboten, jo 
offenbarte ji nun in Solingen, daß die Behörden, denen diejelbe galt, der Größe 
ihrer Aufgabe nicht überall gewachſen waren. 

Paſtor Giejekfe und das Presbyterium von Solingen verlegten aljo die Berfammlung 
in die Kirche. Auf die Mitteilung hin, daß der Bürrgermeifter eventuell die Kirche 
jperren laſſen würde, zeigte der PBaftor die Verſammlung polizeilih an. Er war dazu 
bei einer „gottesdienftlichen“ Verſammlung nicht verpflichtet, glaubte es aber der Sicher: 
heit wegen thun zu jollen. Auf diefer Anzeige fußend, fonnte num der Bürgermeijter 
die Verſammlung polizeilic) überwachen. In diejer Thätigfeit verjuchte er jhon — in 
unbegreiflicher Weiſe — den Gejang des Choral3 zu verhindern, und ebenfalls löſte 
er in feiner Eigenjchaft als Vertreter der Polizei die Verfammlung auf, als Paſtor 
Thümmel nad) einem langen Vortrag über die Aachener Reliquien und die Reliquien- 
verehrung überhaupt die Worte ſprach: „Wie nennen wir denn einen Menjchen, der 
mit dem Namen Jeſu Chrifti ſchwindelt? Den nennen wir einen Menjchen, der 
Blasphemie und Gottesläfterung treibt! Den nennen wir einen Menjchen, der das 
Gebot: „du follit den Namen des Herrn deines Gottes — und der Name Gottes ift alles, 
wodurd er ſich uns geoffenbart hat — — nicht mißbrauchen“ ganz vergefjen hat. 
Diejes Gebot haben übertreten der Erzbifchof Kremeng von Köln, die Stiftsherren in 
Aachen, die römisch-fatholifche Geiftlichteit dort, und ich lage fie hier von den bergi- 
jchen Bergen aus der Gottesfäfterung an." — Thümmel felbjt verjuchte jofort Ein— 
ſpruch zu thun gegen die Berechtigung der Auflöfung einer Verfammlung in der Kirche, 
aber der Vertreter der Polizei blieb jet, und unter großem Tumult, wobei u. a. auch 
die Poliziſten das Drgeljpiel, das der Organift als Schlußzeichen begann, verhinderten, 
wurde „das Lokal,“ wie der Herr Bürgermeifter ſich auszudrüden beliebte, geräumt. Die 
2000 Köpfe zählende Verſammlung jang währenddem „Und wenn die Welt voll Teufel 


996 Monatsihau. — Kirche. 


wär und wollt uns gar verſchlingen, ſo fürchten wir uns nicht ſo ſehr, es ſoll uns doch 
elingen.“ 

Das Presbyterium von Solingen hat gegen den Bürgermeiſter Strafantrag ge— 
ſtellt, und da der Staatsanwalt die Sache abgelehnt, hat es ſich an den Oberſtaats— 
anwalt gewandt, gleichzeitig aber einen Bericht an den Herrn Juſtizminiſter abgehen 
laſſen. 

Das ſind ja nun alles ganz verſtändliche Sachen: eine Regierung, die ſich der 
römiſchen Kirche glaubt gefällig erweijen zu müjjen, ein enfant terrible der Gegen- 
partei, das überwacht wird, eine unbeholfene Ueberwachungs-Zwiſcheninſtanz und ein 
vorjichtiger Staatsanwalt. Wenn das nur nicht alles gerade im Rheinland pajjtert 
wäre und das Presbyterium einer evangeliichen Gemeinde getroffen hätte! Im Djten 
hat man feine Vorjtellung von dem Selbjtändigfeitsbewußtjein diejer Eirchlichen Organe, 
das auch durch feinen „Königlichen“ Superintendenten unterdrüdt wird. In den letz— 
teren fommt im Gegenteil ın Rheinland zumeijt das Selbjtändigfeitsbewußtjein der 
Synoden zum Ausdrud. Und jo hat denn der Solinger Vorfall jchon in weitere 
firchliche Kreije jeine Wellen gejchlagen. Dazu müſſen wir freilich vorerjt die etwas 
wehmütige Rolle erwähnen, welche das evangelijche Skirchenregiment dabei jpielt. Kurz 
nach dem Ereignis in Solingen erjchien in dem Amtsblatt des Königlichen Konſiſto— 
riums eine Erinnerung an die bejtehende Verordnung, wonad) Kirchengebäude zu anderen 
als gotresdienjtlichen Zweden nur mit Genehmigung des Presbyteriums, des Synodal- 
vorjtandes und des Königlichen Konfiftorii hergegeben werden dürften. Die VBeröffent- 
lihung diejer Erinnerung gerade in dem gegenwärtigen Zeitpunkt konnte natürlich nur 
den Zwed haben, die Öffentliche Meinung gegen das Presbyterium in Solingen einzu- 
nehmen, das übrigens nur dem rheinischen Uſus gefolgt it, nach welchem zu jo ver: 
wandten Zwecken wie etwa Stirchenfonzert oder Tagen einer Firchlichen Verſammlung 
die Genehmigung des Königlichen Konfiftoriums zumeist gar nicht eingefordert wird. — 
Weiter hat aud) das Konjijtorium dem Presbyterium direkt eine Verfügung zugehen 
fajien, in der ihm ein Verſtoß gegen $ 75 der Stirchenordnung (betr. eben die Be— 
willigung der Kirchen) vorgeworfen und es auch bedenklich gefunden wird, Thümmel zu 
einem Vortrage die Kirche zu gejtatten. Das Presbyterium aber hat fich gegen die 
Borwürfe verwahrt, hat auf $ 118 der Slirchenordnung hingewiejen, nach der ber 
Geiftliche verpflichtet jei, „in jeinen öffentlichen Vorträgen unter anderem auch vor 
unchrijtlichen Grundjägen zu warnen,“ und hat dem Königlichen Konfiftorium jein Be- 
dauern Darüber ausgedrüdt, daß dasjelbe ohne jede nähere Unterjuchung der Thatjachen, 

um Teil auf entjtellende Zeitungsberichte hin, jofort in dem jedermann zugänglichen 

mtöblatt an jenen $ 75 erinnert und damit den Eindrud gegeben habe, als wenn die 
evangelijchen SKirchenbehörden zu ſchwach oder nicht gewillt jeien, ihre Untergebenen 
wirfjam in Schuß zu nehmen. 

Noch energijcher war ſchon vorher (am 22. August) die Kreisiynode im benachbar- 
ten Lennep vorgegangen, die an dem Tage an Stelle des verjtorbenen Synodalpräjes 
Evertsbufch den Lie. Thönes zum Superintendenten gewählt hatte, den bedeutenditen 
Führer der rheinischen Mittelpartei, der aber auch auf der legten Firchlichen Selbjtän- 
digkeits- Verſammlung zu Eſſen ein Referat gehalten hatte. Pfarrer Siebert-Remſcheid 
erjtattete ein Referat aus Veranlaſſung der Konfiftorialverfügung betreffend $ 75 der 
Kirchenordnung: „Bejtimmung der Kirche nur für gottesdienftliche Zwede.“ Indem Die 
Synode den Grundgedanken des Referats zuftimmte und zugleich die vom Referenten 
gegebene Deklaration des Paragraphen ſich aneignete, erhob jie die drei Anträge desjelben 
zum einjtimmigen Bejchluß: I. Kreisjynode wolle ihr Befremden ausdrüden über die 
ungeeignete Form, in welcher hohe Verfügung Königlichen Konfiftorii, betref- 
fend $ 75 erlafien worden ift und zwar deshalb für ungeeignet, weil 1. erlafjen in 
einem auch den Gegnern zugänglichen Blatte und weil 2. dadurch die Meinung erwedt 
werden fonnte jowohl bei Evangelijchen wie bei Römiſch-Katholiſchen, als ob Könige 


Monatsſchau. — Kirche, 997 


liches Konfiftorium in dem entbrannten Kampfe nicht auf feiten der Evangelifchen 
ftehe; — II. Kreisſynode wolle bei Königlichem Konfiitorium und hochwürdiger Pro- 
vinzialjynode den Antrag jtellen, dahin bei den ftaatlichen Behörden zu wirken, daß 
diejelben ihren Organen jegliche Unterbrehung von Handlungen im Gottes: 
hauſe unterjagen und, wo jie eine Ueberwachung meinen ausüben zu müjjen, etwaige 
in der Kirche vorgefommene Vergehen gegen die Staatsgejege nachträglich zur Be- 
ftrafung überweijen; dieſes umjomehr, als ein Vorgehen der jtaatlichen Organe, wie e8 
bei den Solinger Vorgängen ftattgefunden hat, nicht nur nicht geeignet ijt, den fon- 
fejlionellen Frieden zu erhalten, jondern Hader und Zwietracht zwijchen Evangelischen 
und Römiſch-Katholiſchen ſäet, weil dadurch der leider weit verbreiteten Anficht Vor— 
ſchub geleijtet werden könnte, daß beide Konfeſſionen in Preußen heute nicht mit glei- 
chem Make gemefjen werden. — IL. Kreisiynode wolle der Auffafjung ſich anjchlieken, 
daß für Handlungen, welche nad) jorgfältiger Prüfung im Sinn der Kirchenordnung 
und ihrer Auslegung durch die Presbyterien als kirchliche Handlungen beziehung» 
weije als Gottesdienfte erklärt worden jind, die Hergabe der Kirche nicht mehr der Ge: 
nehmigung durch den Superintendenten und dad Provinzial:Konjiitorium bedarf.“ — 
Auch andere Synoden haben fich inzwijchen ähnlich ausgejprochen. 


Ohne uns weiter in die Einzelheiten einzulafjen, dürfen wir doch wohl dieje Vor: 
änge als ſymptomatiſch bezeichnen für die Stimmung in der evangeliichen Bevölkerung. 
ur aus diejer heraus ift auch die große Beteiligung zu erklären, welche die Petition 

um Aufhebung des $ 166 des Neichsitrafgefegbuches gefunden Hat. Wir ſchließen 
uns der Anficht derjenigen an, welche diefe Aufhebung nicht für günftig halten. Die 
egenwärtig in Negierungsfreijen herrjchenden Tendenzen zur Begüinjtigung der römischen 
'irche find eritlich einmal naturgemäß von vorlibergehender Dauer, während ein Ge— 
jegesparagraph auf längere Zeit berechnet ift. Die Aufhebung würde ferner bedeuten, 
daß man das Schimpfen freigeben wolle, und wir haben feineswegs den Wunjch zu 
diefem Brauch der guten alten Zeit zurüdzufehren. Als Zeichen der Zeit iſt Die 
Petition von Bedeutung und jchon ihre Einbringung mag ernjt denfende Leute in den 
leitenden Negionen zu der Frage führen, ob nicht in der neueren Rechtſprechung Dinge 
vorgefommen find, die eines Eingreifens bedürfen. 


Die herrjchende Aufregung fam nun auch der zweiten Hauptverjammlung des 
Evangelijhen Bundes zu jtatten, welche kurz nach der Wupperthaler Feitwoche in 
Duisburg gehalten worden iſt. Die Begeifterung jcheint auf derjelben eine große 
ewejen zu jein und die Berichte darüber in den gutgefinnten rheinijchen Blättern 
ießen deutlich merfen, wie diejenigen, welche fich von dem Evangeliichen Bunde fern 
halten — wie 3. B. die geſamte Geiftlichfeit des Wupperthales — eigentlich) der evan- 
eliihen Sache doch ziemlich falt gegenüberftänden, oder gar, wie Konjiitorialrat 
teufchner jagt: einem Gottesgebot ——— Von Bedeutung war nun an den 
Tagen in Duisburg, daß eine feierliche und öffentliche Verbrüderung der Rechten mit 
der Linken — wie es ſich gehört im Bunde mit der Mittelpartei — ſtattfand. Herr 
Paſtor Lie. Weber aus M.Gladbach brachte einen Toaſt aus auf die Profeſſoren, 
welche durch ihre Anweſenheit und ihre Reden der evangeliſchen Sache gedient hätten, 
darunter Beyjchlag — und Nippold. Der lettere dankte und hob bejonders hervor, 
daß ein Vertreter der Rechten diefen Gruß ihm dargebracht hätte, aljo nicht verjchmähte, 
mit denen zufammenzugeben, die das Evangelium in einer etwas anderen Wetje 
verfündigten. Auch Herr Konfiftorialrat Leuſchner, der Schriftführer des Evang. 
Bundes, ſpricht in einer Zeitungspolemif, die er mit Herrn von Hammerjtein über 
die Tendenz des Bundes führt, davon, dar fi) Männer „aller auf dem Boden des 
Evangeliums ftehenden Nichtungen“ zufammengeichlofien hätten — „die Belenner des 
reinen Evangeliums”, — er citiert aus der Frankfurter Eröffnungsrede die Aeußerung: 
"Wo aud die Meinungen und Belenntnisformen im einzelnen abweichen mögen und 


Hug. tonſ. Monatsihrift 1888. IX. 64 


998 Monatsſchau. — Kirche. 


naturgemäß abweichen müſſen, da bleibt uns doc) allen das gemeinfame Band in dem: 
Worte Gottes, in Chriftus, in feinem Wahrheitszeugnis, in feiner welterlöjenden Kraft“. 

Hier ift der Punkt, an dem die Beurteilung des Evangelifchen Bundes und des 
Beitritt3 zu demjelben anzufnüpfen hat. Ein Artikel in der Weſtd Zeitung jchloß 
mit den Worten: „Es erfüllt uns mit hoffnungsvollem Mute, daß in dem Ev. Bunde 
fich jet jo viele Männer der verjchiedenen Richtungen zufammenfinden, die alle darin 
einig jind, daß es zunächft gilt, im eigenen Haufe Buße zu thun, zu beffern und ab- 
zuthun das, was nicht wahrhaft evangelifch iſt.“ — Was ift nun wahrhaft 
evangelifh und was nit? — Es erfüllt uns mit großer Betrübnis, daß wir: 
jehen, wie die Parteibegeifterung gegen römijche Narrenspofjen trefflihe Männer: 
dahin bringt, vollftändig zu vergefjen, „was wahrhaft evangelijch ijt“. Die Herren 
Profefjoren vom Protejtantenverein, die entweder in Duisburg zugegen waren, oder 
die Verfammlung telegraphijch begrüßten u. ſ. w., jtehen zu den Heiligtümern unjeres- 
Glaubens geradejo jfeptijch wie zu dem römischen Aberglauben. Die Auferjtehung Jeſu 
Ehrifti, feine wunderbare Geburt, jeine Gottheit, das Gebet zu Chriſtus, der Glaube- 
an Gebetserhörung — das ift ihnen alles gerade jo viel wert als die heiligen Kleinig— 
feiten, welche die römischen Auguren ihren Gläubigen vom Kirchturm in Aachen zeigen. 
— Würden die Herren, die mit den Vertretern des Protejtantenvereins in Duisburg 
Brüderjchaft gejchlofjen haben, ihren Söhnen und jonjtigen Anvertrauten, die ji zum 
Dienft am Worte vorbereiten, den Nat geben, in Jena „die andere Art, das Evan- 
elium zu predigen* fennen zu lernen und jich anzueignen? — würden ie, wenn ein 
# Borgebildeter am Nachmittag den toten Jeſus predigt, wo fie vormittags den leben- 
digen verfündigt haben, die Gemeinde mit einer „anderen Art“ desjelben Evangeliums 
tröften? Nein und dreimal mein, jo wird gewiß Herr Paſtor Weber uns bejtätigen. 
Wenn aber dem jo ijt, was bedeutet dann das Bündnis in Duisburg? Iſt das noch 
feujche Wahrheit? 

Daß gegen gewiſſe Vorfälle und Tendenzen das evangelijche Bewußtjein in die 
Schranken gerufen wird, ift gut. Daß ſich dabei diejenigen hervorthun, die am lau— 
tejten jchreien fünnen, it matürlih. Daß es uns dadurch unmöglich gemacht wird, 
mitzuthun, ift bedauerlich. Es ergibt fich aber daraus für uns doppelt die Aufgabe, 
den wahren Schaden Israels feit im Auge zu behalten und mit dem Herrn weiter zur 
ringen um die Herausbildung einer Geftalt feiner Kirche, die ihrer Aufgabe entjpricht, 
frei von hemmenden Rückſichten menschlicher Macht und menjchlichen Witzes. 

Zu den Regierungstendenzen in bezug auf die römische Kirche tragen wir noch 
einen bezeichnenden Vorfall aus Berlin nad), der eigentlich viel bezeichnender ift, als 
das Verbot der Aufführung des Trümpelmannjchen Lutherfeſtſpiels. In dem ftudenti- 
ihen Mijfionsverein zu Berlin wollte kürzlich) Brediger Lic. Neveling einen Vortrag 
a über römiſch-katholiſche Mifjionspraris, die Dr. Warned fürzlich in mehreren 

rofhüren mit ausgedehnter Sachkenntnis beleuchtet hat. Allein der Rektor der 
Univerfität verhinderte dieſen Vortrag im Hinblid auf die Weiterungen, welche ihm 
die Gejtattung der Aufführung des Qutherfpieles jeitens der Regierung gebracht hatte. Es 
jcheinen eben von hohen Zentralftellen aus jet nach allen möglichen Richtungen hin 
bedeutjame Winfe gegeben zu fein. 

Aus Deutjchland ift ſonſt noch eine Reihe von Todesfällen im Laufe des Som— 
mers zu berichten. In Cammin jtarb Meinhold, der alte vielgeliebte Führer der 
Lutheraner in Pommern und darüber hinaus, eine lutheriſche SKraftgeftalt mit einem: 
weiten Herzen, durcchglüht von jenem Feuer, das in den Tagen der erjten Liebe im 
errang einjt entfacht war. In Leipzig ftarb ein Neſtor unferer theologischen 

iſſenſchaft Profeſſor Kahnis, ein Name, der nad) beiden Seiten hin mit viel Vor— 
urteilen zu kämpfen gehabt hat. In Breslau war er j. 3. zur [utherifchen Separation: 
übergetreten und jtand bis zuleßt in entichiedener Abwehr aller „Unionstendenzen“, — 
und bei Lutheranern wiederum galt er vielfach für fegerifch. Hatte doch Hengjtenberg, 


Monatsſchau. — Kirche. 999 


einft nach dem Erjcheinen feiner Dogmatik über ihn das Urteil geſprochen: „Rothe: 
Schenfel-Beyjchlag-Kahnie. In dieſer legten betrübten Zeit, verleih und Herr Be- 
ftändigfeit!" — Die Theologie verdankt dem Heimgegangenen jehr viel. — Ein viel 
jüngerer Mann jtarb in Roftod, Prof. Bahmann, einer der legten Vertreter des 
Alten Teftamentes aus der Schule Hengftenbergs. Und wiederum in hohem Alter 
ftarb ein Haupt der reformierten Kirche Deutjchlands, Ebrard, zufegt Paftor der 
reform. Gemeinde in Erlangen. Auch die Allgem. konſ. Monatsſchrift, wie die all: 
emeine äfthetijche Litteratur, hat in ihm einen thätigen Mitarbeiter verloren. Won 
irchlicher Bedeutung war er, außer feiner fruchtbaren theologifchen Schriftitellerei, be— 
fonder8 auch durch fein kurzes Wirken in der Pfalz, wo er n firchlichen Revolution 
weichen mußte. 

Wenden wir und, nachdem wir auf deutfchem Gebiete dieſes Mal nicht viel Er- 
freuliches gefunden haben, zu einem herzerquidenden Bilde von jenſeits des Kanals, 
Sn der erjten Hälfte des Monats Juni fand in London eine allgemeine 
Miſſionskonferenz ftatt, an der die Vertreter von über 200 Miffionsgejellichaften 
oder Vereine teilnahmen. E83 wurden da die Erfahrungen ausgetaujcht, die man in 
den letzten hundert Jahren in der Miffion gemacht, ſowohl über die Praris draußen als 
die in der Heimat, und ed wurde u. a. der Gedanke ausgeiprochen, es jei jeht an der 
Zeit, die verfchiedenen noch unberührten Erdteile und Völker zu verteilen, damit ſyſte— 
matiijh und planmäßig das Evangelium allen Völkern gebracht werde. Es bedarf 
wohl feiner bejonderen Begründung, wenn wir diefe Verfammlung für ein erfreuliches 
Zeichen der Zeit erklären. Das Evangelium vom Reich wird gepredigt werden in der 
ganzen Welt, zu einem Zeugnis über alle Völker, und danıı — — 

Stimmet ein, indgemein, 


Mit der Engel Sehnen 
Nah dem Tag, dem fchünen. 


64* 


—— 


U 





Neue Schriften. 


1. Politif, 


Der ruffiihe Nibilismus von feinen Ans 
Br bis zur Gegenwart. Bon Karl DOfden- 
erg. epyßz under und Humblot.) 1888. 
200 ©. 8° 3,60 M. 

Dldenberg, der Freund und Mitarbeiter der 
beiden Wichern, — ſeine litterariſche Kenntnis 
—7— Zuſtände benutzt, um in den „liegenden 
Blättern des Rauhen Hauſes“ Aufjäge über die 
ebenjo mertwürdige als grauenerregende Erſchei— 
nung des Nihilismus zu bieten. In umgearbeiteter, 
—* abgerundeter Geſtalt erſcheinen ſie jetzt als 
beſonderes Buch. Sie erheben nicht den Anſpruch, 
Selbſtbeobachteies zu geben oder auch nur ganz 
Neues aufzufinden. Sie find, wie geſagt, die 
Frucht des Studiums der auf dieſem Gebiete in 
verſchiedenen Sprachen erjchienenen Litteratur, bon 
welcher der Verfaſſer einen umfafjenden Ueberblid 
gibt, beſonders hervorhebend die Schrift des 1886 
— Profeſſors der Staatswiſſenſchaften 
in Baſel Alphons Thun: „Geſchichte der revolu— 
tionären Bewegungen in Rußiand“ (Leipzig, 
1883, Dunder und Humblot) und die Mono» 
raphieen Julius Edardtö, des hervorragenden 
enners der neueſten ruffiichen Geſchichte. Daß 
die Aufſätze urſprünglich in den „Fliegenden 
Blättern des Rauhen —* erſchienen, verbürgt 
von vorn herein den chriſtlich-konſervativen Charak⸗ 
ter des Buches. Allein man ftaunt, mit welcher 
Unbefangenheit der Verſaſſer auch den Boden 
Garafterifiert, aus welchem jold ein Gewächs 
feinen Gejchmad nehmen konnte. Der Name 
Nihilismus entftammt übrigens, wie der Verfafier 
angiebt, dem 1862 —— Roman Iwan 
Zurgenjews: „Väter und Söhne“. Die Bewegung 
ſelbſt, mit den jozialen und anardiichen Strö- 
mungen des weftlihen Europas vielfad verknüpft, 
aber doch wicderum einen von diejen verſchiedenen 
Eharafter ie ift bereit® feit Ende der fünf: 
ziger Jahre im Gang. ir ußland, wo eine 
Grofinduftrie und die allgemeine Schulbildung, 
bieje mächtigen Hebel des wejteuropäiichen Sozialis— 
mus, nod fehlen, mußte die fozialiftiiche Be— 


wegung in jenen gebildeten Kreijen beginnen, 
die in Wefteuropa Kultur fennen gelernt hatten. 
a. des Großen eilfertige zivilifatorijche Arbeit, 
atharina® II. Gallomanie, beide verbunden mit 
Aufrehterhaitung des Despotismus, bradjten eine 
barbarifierende Frrivolität des Dienſtadels und 
Beamtentums zu ſtande. Die typiſchen Eharafter- 
F dieſer „Geſellſchaft“ — fagten ruſſiſche Schrift⸗ 
he er — m Blafiertheit, Frivolität, eine zus 
nehmende Unfähigfeit zu jelbjtändigem Urteil, 
eine hoffnungsloſe geiftige Leere, verbunden mit 
einem äußerlich brillierenden Leben, unter deſſen 
Hülle allen barbarifchen Laftern und Leidenihaften 
die freiefte Entfaltung erlaubt wird. Dazu ber 
unbedingtefte Servilismus nah oben: nur Jagd 
nad) Karriere, nur Sorge um Proteftion. Und 
als Kehrjeite der betrübtefte Hochmut im Verlehr 
mit den Untergebenen und die ſprichwörtlich ge— 
worbene Beſtechlichkeit und Unreblichkeit im Amte. 
In diefer Gefellichaft mußte fi das Familien— 
leben auflöjen, die Erziehung ber Kinder in die 
Hände bezahlter Leute geraten, der Schlüfjel r 
dem Rätſel, dab jo viele Nihiliften aus hoch— 
ftehendem Kreiſe entjtammen. Die Bertreter ver 
entgegengefepten Richtung fanden fid bei dem 
altrujfiihben Adel, der mit Vorliebe Landwirt 
oder Soldat wurde. Hier liegt die Wurzel des 
Slawophilentums. Sodann aber bildete —* eine 
litterariſche Schule, welche die Schäden kritiſierte 
—* irgend welchen Radikalismus zu zeigen. 

icht aus diejen reifen entitand denn aud) die 
DO ppofition, fondern fie wurde von jenen Dffizie- 
ren, welde 1815—20 Frankreich beſetzt hielten, 
urückgebracht. Jetzt begannen die geheimen Ges 
Pellicha ten und führten im Dez. 1825 (hätte Alerander 
den Mai 1826 erlebt, jo war für dieje Zeit feine 
Ermordung geplant) zu jenem Aufftande, als 
dejien Sieger Nitolaus hervorging und 5 Ber- 
—— hängen ließ, 100 nach Sibirien ver— 
annte. ſt belannt, mit welchem eiſernen 
Willen Nitolaus den Liberalismus, dieſe weſt— 
europäiiche Entartung, durd die Zenfur und bie 
„Dritte Abteilung Sr. Majeftät Höchiteigenen 
Kanzlei” (Geheimpolizei) unterdrüdte. Mit Stolz 


Neue Schriften. — Politik. 


fah er auf die revolutionäre Fäulnis de Wefteng, 
als 1848 eine Denunziation die Mugen öffnete 
und die dem Minifterium de& Innern (welches 
von der Ill. Abteilung unabhängig war) über: 
gebene Unterfuhung den Einblid in ein aus— 
— anarchiſches Treiben öffnete, welches 
is auf 1842 —— Mit den ftärfften 
Repreſſivmaßregeln, aber auch mit diejen allein, 
follten die revolutionären Ideen nicdergefämpft 
werden. Wenn heutzutage die Sozialdemofratie 
über drakoniſche Gejepe und Willkür der Geheim- 
polizei Hagt, möge fie ſich einmal diejes ruſſiſche 
Syitem anfchen, um den Unterſchied einer in 
vernünftiger Weile die Ausjchreitungen hemmen— 
ben Gejepgebung und einer jchrantenlojen Willkür 
fennen zu lernen. 21 in das Komplott ver 
widelte junge Leute wurden zum Tode verurteilt 
und vom Kaijer, da thatſächlich nur illoyale Ge— 
finnung nadmweisbar war, zu lebenslänglider 
Zwangsarbeit begnadet. Der dritten Abteilung 
wurde jet alles, jelbjt der Minifter unterftellt. 
Die Zenfur ſetzte faft die ganze deutiche, fran— 
zöfiihe und engliſche Litteratur und 90”/, der 
periodifch.n Prefie auf den Inder. Zu einer 
Reife ind Ausland mußte Allerhöchſte Erlaubnis 
eingeholt und 500 Rubel hinterlegt werden. Die 
Baht der Studenten wurde auf 300 für jede 
Univerjität feitgejeßt; der Kaiſer wollte die Unis 
verfitäten jogar gänzlich bejeitigen. Der Krim— 
frieg und der Tod des Kaiſers 1855 machte der 
eheimen Oppofition Luft und brachte jenen offenen 
rief an Alexander I. Sein Berfafjer heißt 
mit Recht der Vater der ruffiihen Revolution. 
Er hieß Alexander Herzen. Geboren 1811 ala 
illegitimer Sohn eines hohen ruffiihen Adligen 
und ciner bürgerlihen Schwäbin ließ fi der 
begabte, eitele, aber dabei weiche junge Menſch 
auf der Hochſchule in die Verſchwörung hinein— 
ziehen. 1834 nad Sibirien verbannt, lernte er 
dort Bilder des Elends und der Tyrannei fennen, 
bie ihn furdtbar verbitterten. Gerade als er 
eintraf, hatte der Gouverneur Tufaejew einen 
Beamten ind Irrenhaus jperren fajjen, weil er 
die Abführung feiner Schwester in den Harem 
Tufaejews zu hindern verſuchte. Seit 1847 finden 
wir Herzen im Eril jür die Nevolutionierung 
Rußlands thätig. Mit allen Koryphäen der roten 
Internationale ftcht er in Verbindung. 1854 
rünbdete er die berühmte Wocdenichrift „Glocke“ 
Kolofol), welde troß der Zenfur in Rußland 
die grdbie Verbreitung fand. (1859 wurden auf 
ber Nowgoroder Mefje 100000 Eremplare fonfis- 
ziert.) Alexander II. las fie jelbjt. Die Büreau— 
fratie ftand unter der Angſt, in den Kolokol zu 
fommen. Herzen erhielt Bericht über alle Staals— 
eheimniffe und bald war er der abjolute Bes 
here der Öffentlihen Meinung. (Mebenbei 
emerft jcheint uns Dldenberg Herzen doch zu 
günftig zu beurteilen.) Es foigte nun die Zeit, 
in welcher das unjtäte Hin- und Herju, sanfen 
Alexanders II. dem Nihilismus zu einer Höhe 
fondergleihen verhalf. Durch die Aufhebung 
der Leibeigenjchaft, refp. durch die Art, wie fie 
—— wurde, machte die Regierung ſich Adel 
und Bauern feind. Hatte doch ſchon 1842 der 


1001 


weſtfäliſche Freiherr von —— die Ent— 
deckung gemacht, daß nach altruſſi cher Einrichtung 
die zu einer Gemeinde vereinten Bauern ihr 
Land gemeinſchaftlich beſaßen und alle 9 Jahre 
durch das Los verteilten. Daran änderte auch 
die Leibeigenſchaft nichts. Der Gutsbeſitzer über— 
ließ von dem Gute einen Teil den Bauern, die 
8 verloften. „Die Bauern gehörten dem Herru, 
da8 Land den Bauern.“ it großem Beifall 
war das in Rußland aufgenommen worden. 
Jetzt follten die Bauern das Laud vom Gutäheren 
padıten oder faufen. Das gab böſes Blut; wäh- 
rend doch andererjeit® dem Adel die Berarmung 
drohte. Grade damals (1861) trat der berüchtigte 
Balunin zu Herzen in nähere Beziehung. — Bald 
jean die Feuerbrände in Petersburg den Ernit 
er revolutionären Partei. Da gelang es Michael 
Katkow, dem ehemaligen Brofeffor der Philojophie 
zu Mosfau, in einer Reihe von Artikeln gegen 
Herzen (mit offizieller Ermächtigung zur Nennung 
jeine® verbotenen Namens) die Öffentliche Meinung 
gegen diejen als cinen Baterlandsverräter zu 
wenden. Bon da an datiert das Bündnis dieſes 
früher liberalen Mannes mit den Slawophilen. 
Unter Katkows Einfluß (1863—69) fanf der Ein- 
fluß des Nihilismus auf ein Minimum. Auch 
dad Attentat Karatojows 1866 auf den Slaijer 
änderte daran nichts. Es gehörte die ganze 
Zähigkeit des alten Verſchwörers Bakunin und 
der Aufſchwung, den gerade damals der Evzialig- 
mus in Rejteuropa nahm, bazu, um die Bes 
wegung nicht gänzlich verichwinden zu laſſen. 
(Michael Bakunin war 1814 aus hochadligem Ge— 
jhledte geboren und in der wegen ihrer revolutio— 
nären Gefinnung berüchtigten Artilleriejhule in 
Petersburg gebildet.) Balunin verfaßte den bes 
rüchtigten, bei der nibiliftiichen Jugend in hoher 
Geltung jtehenden „Revolutionsfatehismus“, in 
dem er die Plihten des Revolutionärs in bie 
einer befferen Sade würdigen Worte jahte: 
„Streng gegen ſich ſelbſt muß der Revolutionär 
es Ber gegen andere fein. Alle Gefühle ber 
Neigung, der verweicdlihenden Empfindungen der 
Verwandliſchaft, Freundſchaft, Liebe, Dankbarkeit, 
müſſen in ihm erftidt werden durd die einzige 
kalte Leidenschaft des revolutionären Werkes. Fir 
ihn erijtiert nur ein Genuß, ein Troit, ein 
Lohn, eine Befriedigung: der Erfolg der Res 
volution. Tag und Nacht darf er nur einen Ge— 
danfen, nur einen Zweck haben — die unerbintliche 
Berftörung. Während er diefen Zwed kalıblütig 
und unaufgörlich verfolgt, muß er jelbjt zu ſter— 
ben bereit jein und ebenjo bereit, mit eigenen 
Händen jeden zu töten, der ihn an der Erreichung 
diejes Zieles hindert.“ Er lich durh Sergei 
Netihajew cine Sektion der alliance revolutio- 
naire europienne begründen, wurde aber eben— 
owohl wie die Glieder diejer Verſch wörung von 
tetihajew myſtifiziert. Die Ermordung eines 
ungehorfamen Mitgliedes der Verſchwörung auf 
Beiehl Netſchajews bradte den Bund an den 
Tag. Zu Balunin, dem Revolutionär des Her— 
ens, trat jetzt der frühere Oberſt und Frojıjlor 
der Peteräburger Kriegsalademie Peter Lant.om, 
der Revolutionär des Kopfs, der ächte nigili : ixie 


1002 


Typus. Man wollte jegt die Agitation in das 
Volt werfen, allein der ganz in Faulheit und 
Trunkſucht geratene Bauernftand bot einen jehr 
fterilen Boden. 1873 veranlaßte eine Denun— 
ziation die Megierung, 35000 Perjonen unter 
polizeilihe Auffiht zu ftellen. Es fam jept bie 
—— der N rg Bro eſſe gegen die Nipiliften. 

ie große Maſſe des Volles Hatte aber Sym— 
patbie für fie, bejonders ſeitdem dad Gerücht 
zirtulierte, dab die Gefangenen durch furdtbare 
Mikhandlungen in den Tod, Selbitmord und 
BWahnfınn getrieben würden. Um 24. April 1878, 
in den Tagen der zweiten Niederlage bei Plewna, 
ing der Nihilismus endlich zur — re 
uch den Mord über. (Ermordung des Genera 
Trepow durch die Wera Safjulitih, welche von 
ben Geſchworenen freigefproden wurde.) Schlag 
auf Schlag folgten jegt die Mordthaten, von der 
Oberleitung, die fi jept „Exekutiv-Komitee“ 
nannte, als „bereditigte Notwehr“ bezeichnet. 
Eine durd die Berhaftung von 2000 Verſchwö— 
rern und die Sprengung des Beteröburger Bun: 
bes „Land und Freiheit“ hervorgerufene Störung 
der nihiliſtiſchen Organifation wurde durch Alex— 
ander Mihailow, der mit Scheljabow und Sophie 
Peromwslaja (Oldenberg gibt die kurzen Lebens- 
bilder der Hauptnihiliiten) die Seele der revolus 
tionären MWrbeit in Rußland wurde, glüdlic 
überwunden. Die Mordthaten, welche das Exeku— 
tiv⸗Komitee verüben lieh, wurden in dem in der 
geheimen Druderei gedrudten Sournale „Land 
und Freiheit“ in Maueranſchlägen befannt ges 
eben. Am 2. April 1879 erfolgte das Attentat 
Solowjews auf den Zaren. Som folgte eine 
Bolizeifampagne, die alle ordentliche Gerichts— 
barteit juspendierte. Sie führte im April und 
Mai 20 000 Berbhaftungen herbei, lich aber die 
nihiliſtiſche — sg unverſehrt. Nur vollzog 
ſich jetzt eine Teilung der großen Verſchwörung 
„Land und Freiheit“ in die terroriſtiſche „Narodo— 
woljzy“ (nad) ihrem Preßorgan „Narodnaja 
Wolja“ der Boltöwille genannt) und die pro= 
pagandiſtiſche Narodniki“ (Vollstümler, auch nad 
ihrem Organ Tſchernij Peredjel: Schwarze Ver— 
teilung genannt.) Das war aber mehr Arbeits— 
teilung und beide arbeiteten nad einem Ziel. 
Der Weg dazu hieß Ermordung des Zaren. Er 
war am 26. Auguſt 1879 vom Exekutiv-Komitee 
um Tode verurteilt worden. Wohl entging der: 
feibe den 3 Erplofivminen, die jeinen Bahnzug 
vernichten jollten, in wunderbarer Weiſe. Belannt 
ift, wie das verjpätete Eintreffen des Fürſten 
Alerander von Bulgarien aud die Sprengung 
im Winterpalaſt durd) Chalturin vergeblich machte. 
(5. Februar 1880.) Man verjuchte jept durch die 
Iıberale Verwaltung des Generals Grafen Loris— 
Melitow den Radikalismus zu bejeitigen. Wäh- 
rend der Kaiſer am 1. März 1831 ein einer 
tonititutionellen Charte entſprechendes Schriftitüd 
unterzeichnete, ſtanden bereits am Slatharina= 
anal die durch den berühmten Chemiker der 
Verſchwörung Kibaltihitih mit Dynamithand- 
bomben bewaffneten 6 Männer (man hatte fie 
im Freien Generalprobe halten laſſen) bereit und 
eine Bombe zerjchmetterte den Zaren famt dem 


Neue Schriften. — Politik. 


Mörder. Die Hoffnung auf einen allgemeinen 
Bollsaufftaud erwies I jedoh als Täujhung. 
Alerander III. beftieg den Thron. 10 Tage 
darauf erhielt er ein Schreiben des Exekutib⸗ 
Komiteed, in weldem ihm die Wahl geitellt 
wurbe: entiweber Revolution oder an Sr (Amneſtie 
der politiſchen Verbrechen und Einberufung einer 
aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegange— 
nen Repräientantenverfjammlung. Mean weiß, 
wie Alexander III, der ald Kronprinz, aud für 
liberal galt, zur höchſten Ueberraſchung ber lei— 
tenden Kreije mit einem Manifejt antiwortete, das 
bie jelbjtHerricherliche Gewalt des Kaijerd profla= 
mierte. Loris Melikow und zwei andere Staats— 
minifter demittierten; ein in Rußland unerhörter 
Fall. Ignatiew, Pobedonoszew, Oberprofureur 
des bl. Synod, Katlow und Aljalow traten in 
das Bertrauen des Kaijers, der die neue panjla= 
wiſtiſche Aera mit einer Legion von „neuen Mänr 
nern“ in allen Berwaltungszweigen einleitete, 
Der propagandiſtiſche * des Nihilismus 
bat ſeitdem ſeine Thätigkeit bezüglich der Bauern 
aufgegeben und jeine Wgitation den Induſtrie— 
arbeitern zugewendet. ie Ende 1886 aus— 
gebrochenen Unruhen haben gezeigt, daß die Wühl- 
arbeit nicht vergeblich ift. Das Nep ift über die 
industriellen Provinzen Petersburg, Mosfau und 
Wladimir ausgebreitet. Die Zerrorijten jind in 
ihren Grundjägen diejelben geblieben. Sie jteuern 
jedoch nicht mehr einer fonftitutionellen Regierung, 
jondern der Aufrichtung der Kommune zu. Unter 
dem Namen: „Das rote Kreuz“ haben fie ein Netz 
von Wgenturen zu Geldjammlungen eingerichtet. 
Die Schriftenverbreitung wurde durd den greijen 
Lawrow in Paris, von Ptaitowsti in London 
und von Wera Saſſulitſch in Genf betrieben. 
Die Hoffnungen des Nigilismus jtehen auf dem 
Ausbruche eines europäiihen Krieges, der die 
Aufrihtung der Volksherrſchaſt wie in ganz 
Europa jo aud in Rußland bringen werde: ein 
Beihen der Zeit, das doppelt verjtchen läßt, 
warum der deutiche Kaijer im Einverftändnis 
mit jeinem Großvater und Kanzler Bißmard die 
Friedenspolitit Rußland gegenüber jo jehr betont. 
Bas in Rußland die Zuftände fo weit fommen 
ließ, war der Rüchhalt, den der Nihilismus 
gerade in der gebildeten Schicht des Volkes fand; 
die Ungleihmäßigleit der Regierung, die auß der 
unmenſchlichſten —28 in die unvernünftigſten 
Zugeſtändniſſe umſchlug (man denke nur an die 
Aburteilung reſp. Freiſprechung der Wera Saſſu— 
litſch durch ein Geſchworenengericht) und das 
laissez faire den offenkundigen Mißbräuchen 
egenüber. Viel zu wenig beachtet ſcheint uns 
mmer noch neben dieſen Momenten: das Fehlen 
eined tüchtigen Bauernftande® und —— 
beſitzes, dieſer Säulen konſervativen Vollslebens. 
In Deutſchland iſt die Regierung bemüht, den 
Ausſchreitungen der Umſturzpartei auf der einen 
Seite Schranken zu ziehen; auf der anderen Seite 
aber auch durch die joziale Reform den Brennitoff 
zu mindern. Ob es freilich gelingt, nad und 
nad) die Bewegung in frieblihe Bahnen zu len— 
nn muß die — lehren. 


Neue Schriften. — Kirche. 


— Ruſſiſch-Baltiſche Blätter. Beiträge 
ur Kenntnis Rußlands und feiner Grenzmarten. 
n zwanglojen Heften. Viertes Heft. (Leipzig. 
Dunder u. Humblot.) 1888. 

Auf einen anderen wunben Punkt des ruſſiſchen 
Reiches und feiner jegigen Regierung weijen 
diefe Blätter Hin. Sie zeigen, wie rückſichtslos 
das an fi jo morjche panſlawiſtiſche Syitem ftatt 
alle gejunden Elemente zur gemeinjamen Arbeit 
egen die Revolution zu vereinen, dad bdeutiche 
Element und jeine Entfaltung in Schule und 
Kirche, ſowie die ihm bisher geitattete Gelbit- 
verwaltung zu vernichten jtrebt. Dem gegenüber 
vertreten die obigen für die Privilegien der balti— 
ihen Provinzen einjtehenden Blätter den Grund— 
jag: anjtatt der ruifiihen Thirownifgerricaft 
(warum ift da8 Wort nicht erflärt ? dem Sinne nad 
muß es — abjolute Beamtenherrſchaft jein) das 
germanijche (?) Selbſtverwaltungsrecht. Anitatt der 
ruſſiſchen Schule, einer bloßen Drillanſtalt, die 
baltiſche Vollsſchule, unter Wahrung des luth. 
Charakters, ſowohl in betreit des Lehrers als 
des Neligiondunterrichtes, —— der deut⸗ 
ſchen Mutterſprache und endlich Wahrung des 
konfeſſionellen Rechtszuſtandes. Was der Ober— 
profureur des bi. Synod in Petersburg Pobe— 
donoszew auf einen Brief der evangl. Geiſtlichkeit 
des Kanton Schaffhauſen (um Weihnachten 1886) 
bezüglich der kirchlichen Zuſtände antwortet, wird 
mitgeteilt und einer Prüfung unterworfen, wobei 
beſonders der Vorwurf einer baltiſchen Landes— 
verratsintrige des Adels und der Geiſtlichkeit in 
ira Nichtigkeit nachgewieſen wird. 5 


2. Kirde. 


— Kirche, Kirden und Gelten, ſowie 
beren Unterjcheidungslchren. Bon Paſtor Wild. 
NRohnert in Waldenburg (Schiefien). Vierte 
Auflage. (Leipzig, Georg Böhme.) 1888. 3,20 M. 

Ein ungemein praftiihe® Buch, Wegweijer 
durch die Vielheit der Bruchitüde, in welche bie 
eine Kirche des Herrn in natürliher, wenn auch 
nicht ohne Sünde erfolgter, Gliederung zu lebendi— 
ger Arbeitsteilung auseinandergegangen ijt. 

Bir wollen gleich die Ueberfiht über das Dar: 

ebotene geben. Wir jehen die Unterjcheidungss 
ehren der römiſch-katholiſchen Kirche, die griechiich- 
fatholiihe Kirche, die Unterjcheidungsiehren der 
Neformierten, die engliiche und jchottiiche Kirche, 
die engliſch-ſchottiſchen Kirchengemeinſchaften in 
Nordamerifa, den untericheidenden Charakter der 
fatholiihen, reformirten und lutheriſchen Kirche, 
die faljche Union der Lehre, Kultus und Kirchen— 
regiment, die Iutheriiche Kirche in ihrer gejchicdhte 
lihen Entwidelung und äußeren Erſcheinungs— 
form, als Freikirche. 

Ebenſo überbliden wir die Selten: Spiritualis- 
mus, Pietismus, Arminianer oder Remonitranten, 
Socinianer oder Unitarier, Apokataſtiker, Tauf- 

efinnte, Mennoniten, Baptijten, Herrnhutiſche 
rüdergemeinde, Methodiften, Albrechtsbrüder, 
Dtterbeinleute, Heilsarmee, Jrvingianer (oder 
Allg. apojtolifhe Kirche), Darbyiten oder Piy- 
mouthbrüder, Mormonen oder Heilige der letzten 


1003 


Tage, SIerufalemdfreunde, Clöter, Nazarener- 
nemeinde, Quäfer, Schäfer, Harmonijten, Boarijten, 
Inipirierte, Swedenborgianer, Spiritijten und 
endlidy den Chiliasmus. 

Wie die Ericheinungen innerhalb ber evangeli- 
ſchen Landeskirche Preußens (Bereinslutheraner, 
Antrag Hammerftein), jo find die Heineren Bil— 
dungen, in denen die unabhängige Iuth. Kirche 
fih darjtellt, im Einzelnen vorgeführt, alio aud) 
die Immanuelſynode, die Kirchentörper in Sadjen, 
Hannover und den beiden Hefjen, ſowie diejeni— 
gen jenſeits des Dzeand, in Nordamerifa und 

uftralien. 

Die Menge der uns in Deutſchland ſchon um— 
gebenden, dem reformierten Belenntnis entſtam— 
menden Sekten zeigt un jonderbare Mihbildungen. 
Die Ondenjhen Neubaptijten, deren Gliederung 
nad Provinzen wir 2: deutlich beichrieben er— 
halten, jagen von ber Kindertaufe: „Mag man bie 
Säuglingsbefprengung als eine wiedergebärende 
oder bloß weihende —53 anſehen, ſie ver— 
hält ſich zu dem —— Chriſtentum wie eine 
Giftpflanze zum Kohlbeete, wie ein bösartiges 
Geſchwür zum menſchlichen Körper!“ 

Ebenſo beſcheiden drücken ſie ſich anderwärts 
aus. 

Der unierte und donatiſtiſche Irrweg ſtellt ſich 
in erſter Linie in der Herrnhuter-Gemeinde 
dar, welche ſich völlig ſeparatiſtiſch von ben da— 
mals durchaus luth. Landeskirchen trennte, in 
welchen ſie jetzt auflöſend miſſioniert. Wir er— 
fahren hier, daß das Herrnhutertum amtlich die 
Evangeliſche Alliance willlommen hieß. Damit 
ſollen jeine großen Verdienſte für Heidenmiffion 
nit in Schatten gejtellt fein. 

Ueber den Methodismus, der nicht nur in 
Süddeutſchland eindringt (man denke an Pearjall 
Smith und Schlümbadh) erfahren wir jo Unter- 
richtendes, daß in Zukunft diefer gefühligen 
Schwärmerei bei uns gewehrt fein könnte, wenn 
man fih warnen lajjen wollte. 

Hinfihtlid der Heildarmee wird Lord 
Shaftesburys Wort mit Beifall angeführt: „Die 
Heildarmee eriheint mir als ein Werk des Teu— 
feld, der, nahdem er lange verjucht hat, das 
Chriſtentum widerwärtig zu machen, jeine Zaftit 
geändert bat, und es nun ind Lächerliche zu 
ziehen ſucht.“ 

Auch von den Jrpingianern wird cin ein— 

ehendes Bild entworfen, und wir erfahren hier 
leberraſchendes. Wir erhalten Mitteilungen aus 
dem Irvingianiſchen Katechismus und das merk— 
würdige Sendichreiben „an unjere Brüder in 
Norddeutichland“ vom Jahr 1856. Es wird darin 
auf die neuen Apoftel hingewiejen. „Der Auf— 
trag, den diefe Männer von Gott haben, erjtredt 
ſich über die gefamte Kirche,“ 

Auch vom „Tempel“, von den Unhängern 
Hoffmanns, Hören wir hier einmal Gründliches, 
ſowie vom Spiritismud in feinen Spielarten. 

Am —S mit iſt für Ref. die ein— 
gehende Beſprechung des Chiliasmus. „Wir 
müſſen, ſagt Verfaſſer, auf das Beſtimmteſte be— 
haupten, daß die heil. Schrift des N. T. von 
einem irdiſchen Ranaan und Jeruſalem als Sam— 


1004 


melplatz des Volkes Gottes nichts weiß.“ Ref. 
ist zudem hinſichtlich der Auslegung von Röm. 9 
zurüdhaltender. Er glaubt, daß Israel ſchon 
eingegangen iſt. 

So ſei denn dies treffliche ernüchternde Buch 
als tüchtige Arznei gegen allerlei Schwindel— 
Anfälle, als bittere, aber geſunde Pille gegen be— 
liebige Obſtruktionen und alle daraus abzuleiten— 
den irrlichterierenden Phantasmen angelegentlich 
empfohlen. 

Breslau. Rocholl. 

— Syſtem der chriſtlichen Sittlichkeit. 
Bon D. Fr. H. R. Frank, Geheimrat, O. Prof. 
der —— in Erlangen. 1. und 2. Hälfte. 
(Erlangen, Andreas Deichert.) 1884, 1887. 8°, 
448 und 495 ©. 7 und 8 M. 

Die Klage Hamlets, daß Gewiſſen Feige aus 
uns allen made, und Unternehmungen voll Mark 
und Nahdrud, von des Gedankens Bläſſe anges 
träntelt, der Handlung Namen verlieren, — dieje 
Klage des dänischen Prinzen findet in dem natür— 
lihen Meuſchen einen lebhaften Widerhall: er 

laubt aus der beflagten Thatſache das Recht 
Berleiien zu können, jein Gewiſſen je und je der 
Leidenſchaft oder wenigitens dem Opportunismus zu 
opfern. Daß er damit jein edelſtes Bejigtum in 
Frage ftellt, daß er das Band lodert und ſchließ- 
lich löft, welches ihn noch an den lebendigen Gott 
müpft und die Möglichkeit feiner Wiederkehr zu 
dem Duell jeined Lebens bedingt, fommt ihm 
nicht zu deutlihem Bemußtjein. Je mehr nun 
unjere ganze Zeitridtung eine opportunijtifche oder, 
wie man beſchönigend jagt, realiftiihe ift, um 
jo mehr haben diejenigen, welche in ihrem privaten 
und öffentlichen Handeln fi als Ehriften bewähren 
wollen, Urjadhe, ſich der Prinzipien der chriſtlichen 
Sittlichteit immer Harer bewußt zu werben, indem 
fie betenten, dab die Kirche mit gutem Grund 
auch die Tapferleit zu den chriftlihen Karbdinal- 
tugenden zählt, toß, oder vielmehr gerade wegen 
der Zartheit des Gewiſſens, welche jie bei ihren 
Gliedern vorausſetzt. — Solche Gedanten legen 
den Wunſch nah, dab das oben angezeigte vor— 
trefflihe Werk aud über die Kreije der Theologen 
—— Verbreitung finde. Dasſelbe iſt zwar als 

bſichluß eines größeren Ganzen, das die ſyſtema— 
tiſche Theologie umfaßt, —— nur für den 
Fachmann berechnet; aber da das Buch in einer, 
wenn auch vornehmen, ſo doch klaren und ver— 
ſtändlichen Sprache geſchrieben iſt, direlte Polemik 
faſt ganz vermeidet, auch mit fremdſprachlichen 
Citaten ſparſam iſt, jo iſt es jedem wiſſenſchaftlich 
Gebildeten zugänglich, ohne freilich populär ſein 
zu können oder zu wollen. — Sollen wir einen 
Vorzug des Werkes zum voraus namhaft machen, 
jo nennen wir den, daß es nicht an der Hand 
eines von der Philoſophie dargereichten Schemas, 
fondern aus ihrem eigenen Weſen heraus die chrijts 
lihe Sitilichkeit zu entwideln jucht, dieje dann aber 
zu der ſtreng ſachlich auigefaßten natürlichen Sitt- 
lichfeit energisch in Beziehung jet. So kommt 
einerjeit8 die Cigentümlichleit des chriſtlichen Han— 
delns zu klarer Entfaltung, andererjeits werden 
die Kämpfe und Konjlifte, im welche dasjelbe mit 
dem von der Eünde beeinfluhien Welileben gerät, 


Neue Schriften. — Kirche. 


nicht durch ſchöne Formeln zugededt, jondern im 
ihrer Tiefe mit nüchternem Urteil gewürdigt. — 
Nicht eine Aufgabe, jo leſen wir in der Ein- 
leitung, jondern einen Thatbeitand hat dad Eniiem 
der chriſtlichen Sittlichkeit darzuitellen, den That 
beitand de3 von Gott durch Chriftum gejchentten 
neuen Lebens, aber allerdings joll ſich diejes 
neue Leben allmählidy zu dem ausgeſtalten, was 
es jeinen Anlagen nad ſchon iſt. Demgemäß ift 
es Aufgabe der chriſtliceen Ethik, dad Werden 
des Menihen Gottes zu beichreiben; die durch 
den Glauben an Chriftum gejehte perjünliche Ge— 
meinſchaft des Menichen mit Gott ift das Real— 
prinzip dieſes Werdens, das fittlihe Selbſt— 
bewußtjein des Chriften — nicht des einzelnen 
als joldhen, jondern jofern er jeine Erfahrungen 
in denen der andern wicderfindet und durd) dies 
jelben ergänzt — bildet das Erfenntnisprinzip. 
Spitematiich nennt ſich die Darjtellung nicht eiwa 
in dem Einn, dab fie aus einem oberjten Saß 
mit Notwendigkeit alle8 Weitere abzuleiten unter= 
nähme, jondern jofern jie ihr Objekt in jeiner 
Eigentümlichkeit zu erfaſſen und in jeiner bes 
jonderen inneren Gliederung wie in feiner Be— 
ziehung zu anderem unter Einfügung der durch 
die Erfahrung gegebenen Thatiahen an dem ihnen 
zufommenden Urte in den Formen diskurſiven 
Denkens nadzubilden unternimmt. — Nach diejen 
Vorbemertungen wendet fi der erite Band zu 
der Darjtellung des Werdens des Menſchen Got— 
te8 an jih. Die widtigen Fragen nad dem 
natürlihen Beſtand, welchem ji dad von Gott 
—— neue Leben entgegenſetzt, nach dem 
erhältnis von Beſtimmtwerden und Selbſtbeſtim— 
mung in der Wiedergeburt und Bekehrung, nach 
den Lebensbewegungen, durch welche ſich das 
neue Leben entwickelt und behauptet, kommen 
hier zur Beſprechung. Trotz der ſtreng wiſſen— 
ſchaftlichen Form wirft dieſer Abſchnitt in hohem 
Maße erbaulich. Gemäß ſeiner Geſamtauffaſſung 
legt der Verfaſſer nicht den Nachdruck darauf, die 
chriſtliche Sittlichkeit als die Erfüllung deſſen aufs 
zuweiſen, was in dem Streben nach Humanität 
eſucht wird; er will vielmehr Natürliches und 
eiſtliches in ſeinem eigentümlichen Gegenſatz be— 
greifen. Demnach erſcheint das Natürliche als durch 
die Sünde verderbt, aber auch durch Gottes Leiten 
in Geſchichte und Einzelleben ſo beſtimmt und 
erhalten, dab es noch Anknüpfungspunkte für 
die rettende Gnade bietet, die allerdings durch 
bewußtes Widerſtreben vernichtet werden fünnen, 
während andererſeits gezeigt wird, daß das neue 
Leben ſeinen Urſprung und ſeinen Beſtand über— 
natürlichen Kräften verdankt, aber dadurch ſeine 
echt menſchliche Weiſe bekundet, daß es durchaus 
in demſelben Schema wie das natürliche ſittliche 
Handeln verläuft. Reſultate der neueren For— 
ſchung, auf anderen Gebieten und zu anderen 
Zwecken gewonnen, erweiſen ſich hier unter eines 
Meiſters Hand geſchidt zum Dienſte des Evans 
— — Der zweite Band beſpricht dann das 

erden des Menſchen Gottes im Verhältnis zur 
geiſtlichen und natürlichen Welt. Die hier vor— 
getragenen Anſchauungen fügen ſich feiner Partei— 
ſchablone und werden darum von den verſchie— 


Neue Schriften. — Lutherana. 


denjten Seiten Widerſpruch finden, find aber 
gerade um ihrer Selbjtändigfeit willen aller Be- 
adhtung wert. Die Behandlung ber kirchlichen 
Fragen zeigt einen ölumeniſchen Blid und edle 
Weitherzigkeit und Ichrt und verftchen, wie aud) 
in Beiten kirchlicher Verderbnis dod die Gnade 
an Menicdienjcelen wirkſam wurde und fie zu 
neuen Menichen madte. Sie liefert damit ben 
Beweis, daß echte Luthertum“ dem Zentrum 
der chriſtlichen Lebensmächte nicht ferne ſteht und 
darum am eriten anderdartige Erſcheinungen ver— 
ftehen und würdigen Ichrt. Daneben zeigen fich 
dieje Ausführungen von einem ftrengen Kon— 
— beherrſcht. Auf eine Erörterun 
er vielen Fragen, welche ſich an dieſen Punkt 
fnüpfen, müſſen wir verzichten. Nur das möchten 
wir bemerken, dab es uns jcdheinen will, als 
fomme der Verfaſſer hier mit jeinen eigenen Vor— 
ausfegungen je und je in Konfli. Wenn bes 
bauptet wird, alle Sätze des Belenntmijies jeien 
fundamental — und das iſt wohl die am meiften 
anfechtbare Behauptung — jo möchten wir fragen, 
wer denn als Träger diejes Betenntnifjes gedacht 
wird, zumal wenn man zugibt, daß die theolo— 
iſche Korihung wie die mündlihe Verkündigung 
De Evangeliums fih dem Belenntnis gegenüber 
freier bewegt. Etwa die gläubige Gemeinde? 
Eie kennt ja aber das Belenntnis, abgejehen 
von ihrem Katechismus, mit wenigen Ausnahmen 
gar nit. Es ſcheint hier die befennende Ges 
meinde mit ihrer fittlihen Gebundenheit von der 
rechtlich verfaßten Kirche und deren Bedürfniffen 
nicht Mar geſchieden. Jede Differenz im Belennts 
nis ferner ſoll firchentrennend wirken, weil alle 
Trübung der Wahrheitierfenntnis auf Sünde be— 
ruhe, und der, welder die Wahrheit richtig er— 
fannt babe oder ertannt zu haben meine, ſich aljo 
einer Teilnehmungsjünde ſchuldig made, wenn er 
mit dem, welcder jene Wahrheit leugnet, in einer 
- Kirdengemeinihaft bleibt. Andererſeits wird je= 
doc anerfannt, daß jener Jrrtum ſehr wohl nur 
eine Schwachheitsjünde jein, dab man troß der 
Trennung vielfah überzeugt fein könne, daß 
Chriſtus auch den irrenden Bruder anncehme. Und 
doch joll Trennung jittlih geboten fein? Dem 
gegenüber wird freilich aud) betont, daß nur dann, 
wenn der Chriſt infolge der in Frage ftchenden 
Differenzen gegen feine Ueberzeugung zu handeln 
gegiwungen ei, eine Scheidung geboten fei, und 
adurch erjcheinen allerdings die Foigen der obigen 
Sätze weſentlich eingejhränft. Jedenſfalls zieht 
der Verfaſſer aus allen dieſen Vorausſetzungen 
die Folgerung, daß in der Folgezeit eine immer 
größere Zertlüftung der evangeliſchen Kirche ein— 
treten und erſt die Endzeit darin Wandel ſchaffen 
werde. Daß bei folden Boraußjegungen alle 
Unionen ſehr ungünftig beurteilt werden , tft ſelbſt— 
verftändlih. Doch wird —— eingeräumt, 
daß die Union für die Jetztlebenden, welche ſie 
als Thatſache vorgefunden haben, bei den be— 
zeichneten Erwägungen als etwas geſchichtlich Vor— 
handenes und von Gott Zugelaſſenes zu gelten 
” e. Den Borzug wird man aud diejem Ab— 
chnitt zugeftehen, daß er die realen Berhältnijfe 
eneraife irs Auge faßt und an den Prinzipien 


1005 


mißt und nicht durch fchöne Theorien über die 
arme Gejtalt unferer evangeliihen Kirche hinweg— 
zutäuichen ſucht. — Der legte Teil, weldjer das 
Verhältnis des Ehriften zur natürlichen Welt ent— 
widelt, bringt unter anderen jehr beachtenswerte 
Ausführungen über den Staat und defien Ver: 
hältnis zur Kirche. An die Möglichkeit eines 
prinzipiellen Ausgleichs zwiſchen Staat und Kirche 
glaubt der Berfaffer nicht und verſucht darum 
auch nicht, einen joldhen in der Theorie zu volle 
ziehen. Der Staat wird als die Welt der natürs 
lichen Sittlihleit eincd Wolfe gewürdigt und 
darum vor gewaltjamer Einführung chriſtlicher 
Grundjäße, die mit dem allgemeinen moralischen 
Bewußtſein im Gegenjag fteben, durch den Staat 
ernftlih gewarnt. Bon diefem Gefichtspunft aus 
erfährt auc die chriftlichefuziale Bewegung eine 
abfällige Beurteilung, die aber ihrem Kern wohl 
nicht gerecht wird. — Doc wir bredien ab. Wenn 
der erſte Band den Ghrijten mit jeinem Gott 
allein zeigt und dbemgemäß, obwohl auch da von 
Sünde und Schuld, von Verjuhung und kampf 
die Rede ift, doch immer wieder in dem Anjchauen 
von Gottes Herzen, das größer iit als das unjrige, 
ausruhen läßt, jo führt der zweite in den Drang 
de8 Weltlaufs, welhem der Chrift preißgegeben 
ift, aus dem er wohl, von feines Heilands Hand 
eg jeine Seele erretten, in dem er unter 

ottes Leiten jeinen Frieden bewahren und jid 
als Herrn der Welt beweilen kann, aus dem aber, 
da derſelbe ſich in diefer Weltzeit nie ohne inneren 
Wideriprucd zum criſtlichen Ethos verhalten wird, 
den Ehrijten immer neue Kämpfe und Anfechtun— 
gen erwachſen. Da die Hoffnung des Chrijien 
aber ausihlichlih der Dogmatif angehört, jo 
fann der zweite Band nicht mit einem harmoni= 
ihen Bilde fließen. Aber was er dadburd au 
Schönheit verliert, gewinnt er an Wahrheit. — 
Möchte das Werk recht viele Lejer finden, welche 
nicht nur das Syſtem, ſondern auch das Leben, 
weiches dad Syſtem darjtellt, in ſich —* 

A. H. 


3. Lutherana.“ 


— Martin Luther. Sein Leben und ſein 
Wirken von $. von Pornetb. 1. und 2, Teil. 
(Hannover, Schmorl und von Serfeld.) 1586 
und 1888. 162 und 194 ©. 8%. 2 und 2 M. 

Dieje Lebensbejhreibung Luthers will durchaus 
nicht Abſchluß neuer Unterjuhungen jein. Was 
das Leben Luthers von Köjtlin für die Gelehrten, 
dad möchte es für ein gebildetes Publitum ſein, 
eine jhöne und formgewandt gejchriebene aus: 
führlihere Gejchichte der Äußeren und inneren 
Entwidlung Luthers. Der Darftellung ift darum 
eine jchr große Aufmerkſamkeit gewidmet, die 
mandmal jogar übertrieben wird. Die Bes 
jchreibung der Aufnahme Luthers ind Kloſter 
©. 50, die Erzählung von Hans Luther ©. 60 ff. 
erwartet man, was die Schilderung anlangt, doch 
eigentlich cher in einem Roman als in ciner 
Lebensbejchreibung zu finden. Die Bemerkung 
über die hübſchen Mädchentöpfe in Leipzig, die 
den Einzug Luthers, Karlſtadts und der Wüten— 
berger zur Leipziger Disputation angejehen hät— 


1006 


ten, fonnte der Berfafier fih auch jparen. Der 
Emit der Situation läht jolde Ausmalerei nicht 
angenehm empfinden. Aber man wird doch das 
ſich entfaltende Bild Luthers mit Genuß aufneh— 
men können. Der politiiche Rahmen ift, meiſt 
nadı Rante, richtig aufgejtellt, die kirchliche Be— 
wegung um Luthers Perſon her, treffend geſchil— 
dert und der jo munderbar zujammengejegte 
Charakter Luthers gerecht beurteilt. Die moderne 
Theologie verrät ſich freilih in den Ausführun- 
gen über Luthers ee Anfehtungen. Die 

bieitung aus Unterleibsbejchwerden oder Gebirn- 
affefiionen verwirft der Berfafier, dagegen will 
er jie auf gebrüdte Seelenzuftände zurüdführen. 
„Die Anfälle traten nad jeiner Berufung nad) 
Wittenberg mehr und mehr zurüd vor dem wohl— 
thätigen Einfluß einer praktiſchen, ſegensreichen 
Thärigkeit.. Der Satan jtellte jih nicht mehr 
ein, weil Zuther feine Muße hatte, ſich mit ihm 
zu beihäftigen ꝛe.“ (II, ©. 40.) Ya, was wiſſen 
wir denn davon aus der erjten Zeit Quthers in 
Wittenberg? Hat der Berfaffer vielleicht neue 
Belenntnifje Luthers gefunden, in denen der— 
gleihen geichrieben ſteht? Wir haben uns dem 
— gefreut, daß der Verfaſſer Luthers 
Urteil über Erasmus, den damals jo viel über— 
ſchätzten Rationaliften, gibt. „Erasınus Hielt die 
rijtlihe Religion und Lchre für eine Komöbdie 
oder Zragddie, in welcher die Dinge, jo darinnen 
beihrieben werden, niemals alio geichehen und 
ergangen jind wahrhaftig, jondern find allein 
darein erdichtet, daß die Leute nur zu einem 
feinen äußerligen Leben und Wandel unterrichtet 
und angeridtet würden zu guter Disciplin und 
Zucht.“ (II, ©. 113.) Bedauert haben wir, daß 
der Verfaſſer die angefettete Bibel im Kloſter zu 
Erfurt in einer wenigitend „ſtichelnden“ Weije 
erwähnt. (I, S. 43.) Der Gedanke, die Bibel wäre 
auf offenem Tiſche an Ketten hingelegt gewejen, um 
das Leſen zu verhindern, iſt jo unjinnig, daß 
man ihn doch endlih aufgeben jollte.. Man 
jfollte den Ultramontanen ſchon nicht das Ber: 
gnügen machen dergleichen immer wieder vor— 
zubringen. Gerade die meiftgebraudten Bücher 
wurden in den Kibereien an Ketten feitgemadt, 
wie man heutzutage in manden Gajthäujern 
Mejier und Gabeln an Ketten befeftigt findet. 
Endlih iſt unjeres Erachtens die Verlegung der 
Entitehung des Liedes: „Ein feite Burg ꝛ⁊c.“ in 
dad Jahr 1530 auf die Veſte Koburg nicht mehr 
anncehmbar, jondern Wadernagel (Luthers geiftl. 
Lieder ©. 158) hat gezeigt, dab das Lied in 
einem 1788 noch bejdyriebenen, jeßt nicht wieder 
aufzufindenden Klugejchen Gejangbud von 1529 
bereits gejtanden hat. Trotz diejer Ausſtellungen 
im einzelnen wollen wir aber dem jonjt gut ge— 
ichriebenen Buche, dejien I. Band in 2 Teilen bis 
jept erichienen ift und bi8 zum Schluſſe ded Augs- 
burger Reichstages führt, recht zahlreiche Leſer 
wünſchen. Sie werden ſich überzeugen, daß auch 
von Luther das Wort gilt: „Große Männer fann 
man nur lieben oder haſſen“, und dak deshalb, 
weil er ein jo großer Mann war, Quther, wie 
der Verjaffer jo jhön bei dem Einzuge in Worms 
zeigt, von den einen jo hoch —— von den 


Neue Schriften. — Geſchichte. 


anderen als ber giftigite, 
Veen geſchmäht wird. 


ſittlich verborbene 


F. 
4. Geſchichte. 


— Geſchichte der Stadt Berlin. Von 
Oskar Schwebel. (Berlin, Brachvogel & Ranft.) 
1888. Lieferung 1-6 à 1M. XXX. u. 480 ©, 

Es ift erftaunlih, wie Berlin in Hinficht der 
Stadtgejchichte gegenüber anderen, viel unbedeus 
tenderen Städten zurüditeht, wenigſtens bis jept 
zurüditand. Allerdings find einzelne Zeile ders 
jelben, Perioden, die durd) bedeutende Perſönlich— 
feiten oder hervorragende geſchichtliche Ereignifie 
ausgezeichnet waren, nicht unbearbeitet geblieben. 
Aber eine Geihichte der Stadt Berlin, welche 
im Bujammenhange und mit woijienichaftlicher 
Treue und die Gejchide der Stadt von ihrer 
Gründung bis zur Gegenwart vor die Augen 
jtellte, bejaßen wir noch nicht. Unwillkürlich denkt 
man mit einem gewiſſen Neide babei an die Städte 
„im Neid“, bejonderd® an die alten Trägerinnen 
der Aultur, wie Köln, Augsburg, Frankfurt a./M., 


. Nürnberg u. a. m., die ihre Geicdhichtichreiber, 


alte wie neue, oft in nambaften Gelehrten gefun— 
den haben. Berlin hat feit dem vorigen Jahr- 
hundert, jeit Küfter, * Nicolai, A. B. König, 
in ſeiner Geſchichtſchreibung keine Förderung er— 
fahren. Denn Fidicins „Chronik Berlins“ war 
ihrer Anlage nach nicht zu einer Geſchichte der 
Stadt geeignet und iſt als Torſo im 16. Jahr— 
hundert fteden geblieben. — Der Grund für diefe 
Erſcheinung ift weniger in dem Mangel an Fleiß 
der Hiftoriler — an dem hat es niemals und in 
ber neuſten Zeit am wenigjten gefehlt — zu ſuchen 
ald in den hiſtoriſchen und politiichen Verhält— 
nifien, unter denen fi die Stadt aus dunkler 
Vergangenheit zu ihrer jegigen hohen Stellun 
ald Hauptitadt des deutſchen Neiches entwidelt 
bat. „Ferrara ward durch jeine Fürften groß“ — 
jo auch Berlin. Mit „Rom“ möchte ich es daher 
nicht vergleihen, wie Schwebel thut, der freilich 
bald bemerken muß, dab „die nunmehr erreichte 
Machtſtellung Berlins innerhalb jedweden Gebie- 
tes der heutigen Kultur im wejentlichen auf dem 
gottgeicaneten Wirken hochbegnadigter Fürſten“ 
eruht. Die Geſchichte dieſer Fürſten iſt es, über 
der man nur zu leicht die ihrer Reſidenz vergißt. 
Und in Wahrheit bietet Berlin in alter Zeit zu 
wenig des Anziehenden und Bedeutſamen, als 
daß es auf beſondere Teilnahme für ſeine Ge— 
ſchichte in jener Zeit in weiteren Kreiſen rechnen 
dürfte. Es wird erſt der Erwähnung wert, als 
die Kurfürſten von Brandenburg ihren dauernden 
Aufenthalt in ſeinen Mauern nahmen, als von 
„Cölln an der Spree“ aus ſich unter Friedrich 
Wilhelm, dem großen Kurfürjten, der brandens 
burgiſche Staat zu feiner politiſch-religiöſen Macht: 
ſtellung führte, die ihn mit Notwendigkeit in den 
Kreis der Königreihe einführte und ihn zuleßt 
über dieje hinaus zum erjten Staate in Deutid- 
land erhob. Die Geſchichte Berlins ift aljo mit der 
Geichichte feiner Kurfürften und Könige jo eng 
verbunden, dab, mer dieje ſchreibt oder jchrieb, 
mehr oder minder auch jene mitgefchrieben hat. — 


Neue Schriften. — Geſchichte. 


Dies gilt für das allgemeine der geichichtlichen 
GEntwidelung ber Stadt. Im einzelnen und be— 
fonderen bleibt für den, der den dunklen Wegen 
der leberlieferun — will, noch Stoff 
enug zum Forſchen und Erzählen; freilid) wie 
Biefer behandelt und der Teilnahme auch ber 
wire Stehenden nahe geführt wird, ift Sache des 
arjtellenden Talente und der gelchrten Kenntnis 
befien, der ein ſolches Werk unternimmt, und 
vor allem auch des politiich reifen Urteil®, das 
er als Maßſtab für die zu behandelnden That- 
jahen verwendet. Weil ihm diejes fehlte und 
er nur mit ber Brille eines höchſt einfeitig ge= 
bildeten „Sreifinnigen“, befier „Demokraten“, die 
Dinge des 16. und 17. Jahrhunderts in derjelben 
nörgelnden und abjpredhenden Weiſe wie die ſei— 
ner Zeit im 19. Jahrhundert zu betradhten im 
ftande war, war Stredfuß überhaupt ungeeignet, 
eine der Wahrheit entiprechende Geſchichte Berlins 
zu liefern. — Anders Oskar Schwebel. Wohl: 
thuend berührt von Anfang bis zum Ende feines 
bisher gelieferten Wertes das ernſte Streben nad) 
Objektivität und die ftrenge Prüfung des über: 
lieferten Stoffes ohne jede Voreingenommenheit. 
„Die geograpdiiche Lage Berlins“, über die ſchon 
jo vieles Richtige und —* geſagt worden, wird 
in geſchickter und zutreffender Weiſe erläutert, in 
der „Urgeſchichte“ die tröſtliche Verſicherung er— 
teilt, * die Berliner nicht (wie Ehrenberg ans 
nahm) auf einem „Infujorienlager“ wohnen, jon= 
dern auf „Diatomeen d. 5. auf kieielichaligen, 
einzelligen Algen“. Die „Borgeihidyte* bietet 
manches Unziehende, wenn aud „großartige und 
erheblihe Funde aus der Bronzezeit chenjowenig 
emadt worden find wie aus der Steinzeit“. 
& der „deutſchen“ Vorzeit wird mit Recht den 
Semnonen, in ber „ilawiichen“ den pfahlbauten= 
liebenden Wenden Aufmerkſamkeit geſchenkt. Die 
Namen „Berlin und Köln“, welche nad) der Ein— 
nahme durch die Deutihen von diefen übernom- 
men wurden, bat Sch. unter Anlehnung an 
frühere Deutungsverjuhe jened ald „Hof“ am 
Rande des „Kieferwalde8“ oder ald „Tummelplag 
von Enten und Gänjen“, dieſes als „ein Dorf 
auf Pfählen“ (die wirklich gefunden worden) ge 
deutet. — „Kölln“ wird urkundlich am 28. Oft. 
1237, Berlin erit am 26. Januar 1244 erwähnt. 
Beide Orte mußten indes ſchon einen gewiſſen 
Umfang haben, da zu gleicher Zeit „ein Propit 
u Berlin“ erwähnt wird. Der erjte locator, 

toner, der zwiſchen 1232 und 1244 gegründeten 
„Stadt“ Berlin war Marfilius, ein angejehener 
Mann, wie e8 fcheint rheinſcher Abkunft. Die 
von ihm verwaltete Stadt ftand „unmittelbar 
unter dem Marfgrafen“, der im „alten Hofe” 
Quartier nahm, 5 oft er fie beſuchte. — Die 
Aslanierherrihaft endete mit dem Markgrafen 
‚Waldemar. — An den mannigfahen Kämpfen 
und Leiden der Märker unter ben Wittelsbachern 
batte aud Berlin ſchmerzlichen Anteil. Der Propit 
von Bernau, ein Feind der Baiern, wurde am 
16. YAuguft 1325 in den Strafen der Stadt er- 
ihlagen, verbrannt, die Stadt dann mit dem 
Danne und ſchwerer Geldbuße belegt. Dann 


1007 


famen die Tage des „falſchen Waldemar“, bie 
Belagerung durch die Dänen 1349 und durch 
Ludwig den Nelteren von Baiern 1351, endlich 
bie traurigjte Zeit unter den Zuremburgern. — 
Unter der Hohenzoller Friedrich 1. beginnt aber 
eine neue Zeit. „Eine zeitgendifiiche Angabe über 
die Art und Weije der eriten Aufnahme, melde 
er .... in unjerer Stadt gefunden hat, befigen 
wir nicht — wenigjtend nicht in ausführlicherer 
Form.“ Die Huldigung erfolgte am 7. Juli 1412, 
Das Puſthiusſche Chronicon bemerkt hierzu: „Unno 
1412 hat der Rat zu Berlin Friederichen von 
Zollern zu feiner Ankunft eine Tonne bernauiſch 
Bier verehret, fo damals 17 Groſchen gefojtet.“ 
Damit begann die gemütlichere Seite des Ver— 
tehr8 des neuen Herrſchers mit Berlin. Es fol- 
en die Kämpfe mit den Quitzows und ihrem 
nhange, in denen die Berliner auf der Geite 
Friedrih8 ftehen, die Belehnung mit der Mark 
1415 und 1417, die Schreden bes Hujjitentrieges, 
welche Berlin weniger ald die Nachbarſtädte trafen, 
und endlid „die Kämpfe der Jahre 1442 bis 1448 
und der Untergang ber ſtädtiſchen Selbjtändigfeit“, 


. welche Friedrich II., der Eijerne, Berlin und Kölln 


bereitete. 1451 wurde die „Burg“ zu Kölln, das 
„Zwing=Berlin“, vollendet. on ihr ift nur 
„ein einziger rund hervortretender Turm an 
der Spreejeite der Hohenzollernrejidenz, bis auf 
unjere Tage gekommen“. Fortan galten „Berlin 
und Köln nur als märkiſche Kleinjtädte, — 
Vortrefflid find die Schilderungen „des jtills 
bürgerlichen Lebens“, welche der Verfaſſer aus 
diejer Zeit bis zu den bewegteren Jahren ber 
Reformationdperiode entwirft. Dann vermweilt er 
bei „den Reformen Joachims J.“, dem Juden 
prosch von 1510, ber Städteordnung von 1515, 
der Einfepung des kurfürftlihen Hof und Kam: 
mergerichts 1516. Es iſt natürlich, daß auch der 
Reformation gedacht wird und des Zerwürfniſſes, 
welches über die neue Lehre zwiſchen Joachim 
und ſeiner Gemahlin Eliſabeth entſtand. In der 
Nacht zum 24. März 1528 entfloh ſie aus dem 
Berliner Schloß zu ihrem Verwandten, dem Kurs 
fürjten von Sadjen. — Bon den bürgerliden 
Berhältnifien der Stadt in dieſer Zeit erhalten 
wir ein anjchauliches Bild; freilich zeigt es nur 
wenige bejondere Züge. Um jo mehr bejigt deren 
die folgende Zeit unter Joachim Il. nad) der Ein— 
führung der Reformation in der Geichichte Hand 
Robihales. des Berliner Pferdbehändlerd, der in 
feinem kecken Wagemut, feiner zähen Ausdauer 
und feinem faft ftolzen Troge ein gutes Stüd des 
ihroffen märkiſchen Charakter offenbart. Was 
Berlin dem lebensfrohen und mit feinen Mitteln 
nicht jparjam umgebenden Kurfürjten an Bauten, 
Förderung der Künſte und Wiſſenſchaften, an 
Unterftügung der Schulen und an öffentlichen 
Anftalten verdankt, hat der Verfaſſer gewiſſenhaft 
aus den mannigfaltigiten Quellen zujammengetras 
gen und fo mit Fleiß, Geihid und guet ennts 
nis aller einſchlägigen litterarifchen Hilfsmittel den 
Berlinern ein wertvolles Denkmal der Erinnerung 
an die Heimatjtabt geboten. A. Br. 


1008 


5. Biographiſches. 


— Charles Kingsley. Brüfe und Ges 
denfblätter, Herausgegeben von jeiner Gattin. 
Autorifierte deutiche Uberiegung von M. Sell. 
Fünfte Auflage. Mit Porträt. (Gotha, F. N. 
a 1888. XVI. und 623 ©. Eleg. geb. 
9 


Die erite Auflage diejes trefflihen Buches ift 
1879 eridhienen und von mir im 3. Band der 
Monatsjchrift (1880) empfohlen worden, Es ift 
erfreulich, daß jegt ſchon die fünfte Auflage nötig 
geworden ilt. Bus den Leſer vor anderem feffelt, 
it die Wahrhaftigfeit zu. In dieſer Hins 
ſicht ſteht er mit F. W. Robertjon und Maurice 
auf einer Linie. Man iſt nicht ſelten ganz anderer 
Anſicht als einer dieſer Männer und doch fühlt 
man ſich ihnen darum nahe, weil fie nicht ihr 
Eigenes geſucht, jondern jih müde geabeitet haben 
im Leben für die Brüder. Zum Nahahmen in 
allen Stüden jind ſolche Originalmenjden nit 
da. Möchte die 5. Auflage dieſes Buches über 
Kingsleys Leben nicht die legte fein. O. R. 


— Grafvon Zinzendorf. Bon K. Diter- 
tag. Mit Bildnis. (Calw und Stuttgart, Ver— 
——— 1888. 247 S. Geb. 2M. 

Es iſt der 12. Band der „Calwer Familien— 
bibliothet“, der vor uns liegt. Von einem ums 
faſſenden, urkundlich belegten biographiſchen Werk 
hat der Verfaſſer zwar abſehen müſſen; was er 
aber aus dem Leben des Grafen Zinzendorf mit— 
teilt, iſt nicht bloß mit dem lebendigen Sinn für 
geſchichtliche Wahrheit, für ein gerechtes Abwägen 
von Für und Wider dargeſtellt, ſondern auch ſo 
erzählt, daß man ein vollſtändiges Bild von 
dem Lchen des Grafen erhält. Pie Brüder— 
gemeinde hat von Anfang an feine ncue, abs 
gejonderte kirchliche Gemeinihajt jein wollen, 
gleihwohl iſt es ihr vermöge der Gewalt der 
geihichtlihen Entwidlung cbenjowenig als den 
apoitoliichen Gemeinden in unjerem Jahrhundert 
beichieden gewejen, die una sancta in feinem 
Mahitabe darzuitellen. Es ijt wohlthuend, dab 
der Verfaſſer immer wieder den kirchlichen 
Standpunft geltend macht, der doch in einen 
gewijien notwendigen Gegeniag zu dem Prinzip 
der Brüdergemeinde treten mußte, — Tab Zinzens 
dorfs Leben auch „janjjeniftiich” beichrieben werden 
fann, deutet der VBerfajjer mit den Worten an: 
„Wir könnten uns denfen, dab ein perfider Ver— 
ſuch, aus dem Grafen eine läherlide Karilatur, 
eine widerwärtige Fratze zu zeichnen, einige Aus— 
fiht auf Erfolg habe, ja daß man dabei noch 
fortwährend mit wörtlidher Anführung von Aus— 
ſprüchen des Grafen oder jeiner Mitarbeiter über 
ihn den Schein von biftoriiher Wahrhaftigkeit zu 
wahren wiſſe.“ Solche Geihichtsfabritation ver— 
abſcheut aber die Redlichkeit und Gerechtigkeit des 
Verfaſſers. Geſchichtsfabrikation wäre es aber 
auch, das Bild des Grafen mit einem Heiligen— 
ſchein zu umgeben. Kuch davon bat ſich ber 
Verfaſſer frei gehalten. — Das gebildete Publikum 
weiß durchſchnittlich ſehr wenig von Yinzendorf, 
meift nur etwas von fjühlichen, findiihen Spieles 


Neue Schriften. — Biographifhes. Kulturgeſchichte. Muſik. 


reien in des Grafen geiftlihen Gedichten; durch 
ein Buch wie das vor uns liegende fann ſich die 
deutihe Familie in ziemlich gründlider Weife 
über einen Mann unterridten, ber das Haupt 
einer Religionsgemeinſchaft war, auf der bis auf 
den heutigen Tag Gottes reichiter Segen ruht; 
ein aus den Tagen Binzendorjs bis zur Gegen 
wart darum fortvererbter Segen, weil die Brüder: 
gemeinde nicht aus dem Bunde gewichen iji, den 
die Väter mit Gott gemacht haben. D. 8. 


6. Kulturgeſchichte. 


— Die Völferwanderung und die Kul— 
tur ihrer Zeit. Bon Friedrid Wonne— 
mann (Separatabdrud aus dejien „Kulturs 
eſchichte des deutihen Volles“) (Leipzig, Rein— 
old Werther.) 1888. 149 ©. 

Eine tüchtige, umfihtige, beſonnen urteilende 
Darijtellung einer Zeit des Krieges aller gegen 
alle. Hervorzuheben iſt die einfichtsvolle Art, 
wie der Verfafjer die Andeutung des Chriiten- 
tums zur Geltung bringt. Nur in einem Bunte 
muß ihm wideriproden werden. Bei dem 
Kampfe des heil. Athanaſius gegen den herrſchen— 
den Arianismus Hat es fih durdaus nicht um 
„baarjpaltende Sophismen“, jondern um die Ret— 
tung des Chriſtentums vor weltlider Verflachung 
—— Wenn irgendwo, iſt hier der Finger 

ottes deutlich in der Geſchichte der Völtler zu 
erkennen. — Nach dem Urteil über den hier vor— 
liegenden Ausſchnitt aus dem im Erſcheinen be— 
griffenen, etwa 60 Bogen umſaſſenden Werfe 
„Deutſchland über Alles! Populäre Kulturgeſchichte 
des deutſchen Boltes* kann diefem Werle nur 
eine günftige Aufnahme zu teil werden. 


1. Muſit. 


— Alte Reifen in neuer Weiſe. Für 
zwei-, dreis und vierjtimmigen Gebrauch in 
Schulen, Familien und Vereinen eingerihte: von 
E. H. R. Waldbach, Könige. Mufikdireftor und 
Seminarlehrer zu Pr.-Eylau. 2 Hefte. Zweite 
verbeſſerte und vermehrte Auflage. Königsber 
i. Pr. Gräfe und Unzer (Dreher und Stürtz 
und beim Verfaſſer.] 

Geiftlihe und weltliche Lieder und Motettien 
im Bollöton: das find die „alten Weiſen“, bie 
der Titel diejer Sammlung anfündigt und die 
den Inhalt der beiden Hefte bilden. „Ju neuer 
Weile“ ſtellen fih die ausgewählten Stüde nicht 
* wegen ihrer urn bar; denn 
olgen den alten bewährten Gejchen mehrſtimmi— 
gen Gejanged in einer Geſchmacksrichtung, die 
den von den Vollsſchulen und Seminaricn ges 
pflegten jog. Vollsgeſang fennzeihnen. Das „Neue“ 
beihräntt ſich demnad auf die Weife, wie die 
Tonſätze diejer Sammlung notiert find. Das tft 
nämiih in „Bahlnoten mit wanderndem Eins— 
Schlüſſel“ geſchehen, eine doch nicht mehr völlig 
„neue Weiſe“; denn Waldbadh ijt mit anderen, 
aber cr vorzugsweiſe feit Jahrzehnten bereits 
eifrig bejtrebt geweſen, dieje nivellierende Tone 
ſchrift in Schulen und Scminarien zu pflegen, 
zu befürworten und zu verbreiten. Waldbachs 


Neue Schriften. — Poeſie. 


Suftem beruht im weſentlichen auf unferer all: 
gemein gebräuchlichen Ordnung der Durtonleiter, 
fofern ſie fih als Folge zweier gleichartiger 
Tetradhorde 
(2 Ganztöne und 1 Halbton z a h 9 

darſtellt und ohne Chromata in der Tonleiter 
von C am anſchaulichſten vorliegt. Bekanntlich 
lann dieſe Tonordnung auf jede Oftave aller in 
ihr enthaltenen Töne „tran&poniert*, das heit 
mit allen ihren Tonbezichungen übertragen wer: 
den. Darauf beruht dann der Begriff verichiedes 
ner „Modi“ oder „Tonarten“, die ſich durch die 
erforderlihen Chromata oder „Borzeichnungen“ 
fenntlih machen. Für einen Seminarijten und 
gar für einen Volksſchüler, vielleicht auch für 
einen Gefanglehrer, mag das Leſen der trans 
onierten Tonarten in mehreren — neuerdings 
übrigens zumeift nicht mehr als zwei — Schlüjieln 
ja freilich Schwierigkeiten haben, zumal wenn 
die Lehrweiſe der an ſich einfahen und leicht: 
faßlichen Ordnung dad Verftändnis derjelben 
nicht erleichtert. Dieje alte Tonjchrift hat wenigjtens 
den Borzug, daß die Noten in allen transponier— 
ten Tonarten die gleiche Stellung auf dem Linien- 
ſyſteme und diejelben Buchftaben = Bezeichnungen 
behalten. Die Note auf der zweiten Linie im 
G: oder Biolinfhlüfjel 3. B. bedeutet in allen 
Tonarten das g!. — Der wandernde Einsſchlüſſel 
nötigt nun aber dagegen den Notenleſer, die 
Bedeutung diefer Note je nah der Bedentung 
der „1:“ in allen bejonderen Fällen zu berech— 
nen. Steht 3. B. die den Grundton der Ton 
leiter ftet8 bezeichnende „1:“ auf der erften Linie, 
e bedeutet die Note auf der zweiten die dritte 
onleiterjtufe — ift 1=c, jo bedeutet unjer oben 
bezeichnete® g! den Ton et; ift aber 1 = f, jo 
wird aus der g!:Note a’ u. ſ. f. Wenn die Zahl: 
noten von Männerjtimmen gejungen werden jollen, 
jo müfjen dieſe ihre Noten obendrein nod in die 
tiefere Oftave tran®ponieren. Unjer altes Trans— 
poſitionsſyſtem mit feinen 1 bis 6 oder 7 Bor: 
—— iſt freilich durch den Eins-Schlüſſel 
eiſeite geſchoben; aber die neue Transpoſitions— 
weiſe der einzelnen ziffermäßigen Intervalle iſt 
an feine Stelle getreten, hat aus den feinen 
Charakteren der Tonarten und Modulationen 
einen rein verjtandesgemäßen Mechanismus für 
das Gedächtnis gern: ohne doc der edelen 
Tonkunft ein Mittel zur Förderung und Ber: 
tiefung ihrer Pflege darzubieten. Im Gegenteil! — 
Wer die Tonjchrift nur in diefer „neuen Weiſe“ 
fennen gelernt und geübt hat, für den find alle 
nit darin notierten Tonwerle, vom einfachiten 
Choral und Volksliede bis hinauf zu Beethovens 
neunter Symphonie und Bachs „Matthäuspaſſion“ 
nicht vorhanden, dafern er fie nicht lejen fann. 
Indeſſen für da8 leichtere Verftändnis und für 
eine geſchicktere Behandlungsmweile des alten 
Transpoſitionsſyſtems der 12 Purtonarten ge— 
währt die Uebung im Lejen des Eins -Schlüfjels 
nicht unerhebliche Vorteile. Und ſelbſt Tonkünſt— 
lern, die eigene mufifaliihe Gedanten haben und 
diejelben zunächft flüchtig ſtizzieren wollen, Tann 
die Zahlnotierung im Eins-Schlüfjel gute Dienfte 


1009 


leisten, namentlich dann, wenn der erite Gedanke 
nod nicht reif gedadt if. So hat die neue 
Weiſe nicht bloß den Anſpruch, als geiftreiche 
Erfindung anerkannt, ſondern aud als ein für 
beitimmte BZwede bequemes Ausdrucksmittel 
empfohlen zu werden. L. M. 


8. Poeſie. 

— Flammende Kerzen auf dem Altare 
des Glaubens. Religiöſe Gedichte im Vollston 
von Bruno Edelweih. I. Band. (Eigentum 
be8 Herausgebers. Kommiſſionsverlag von Zangen 
- & Himly in Leipzig). 335 ©. 4 M., geb. 
5 M. 


Es find im ganzen 250 Gedichte, die von der 
vollendeten Unfähigkeit des Herrn „Edelweih“ Zeug: 
nid ablegen. Der ſchlaue Reimſchmied Hat den 
Bolfston auf das Titelblatt gejept, um damit 
die Fülle feiner entjeglihen Neime zu deden. — 
Nein, „Hammende Kerzen” find dieje fahlen dürf— 
tigen Berje nicht; im beften Fall find fie glim— 
mende Fünkchen oder aud nur erloihene Kohlen. 
Naturgegenitände, chriſtliche Gedanken, patriotijche 
Ideen find in ftrophenreichen Gedichten verarbeitet. 

ch greife aus dem einleitenden Gedicht zwei 

trophen heraus, melde die nachfolgenden 250 
würdig charakterijieren (Strophe 7): 


So durd den Glauben find erjtanden 
Der Verje NReihn, der Kerzen Fuß; 

Die Worte find mit ihm verbunden, 
Sie find des Herzensglaubens Gruß. 


Es wäre bejjer geweſen, der Poet Hätte fi) weniger 
um der Kerzen Fuß und mehr um den Versfuß 
befümmert! (Strophe 8): 


Und in dem Lieb ih Troft au fande; 
Ergquidung beut die Frucht voll Saft; 
Drum ic fie (wen?) aud zujammen banbe 
Als Lettern diefer Glaubenstraft. 


Ach, es wäre befier, auch ökonomiſch-verſtändiger 
geweſen, wenn der Flug des „Edelweihs“ nicht 
mit den Lettern des Setzerkaſtens gebunden worden 
wäre. Bruno, Bruno, si tacuisses! O. K. 


— Dramatiſche Dichtungen von Carlo 
Gozzi. Aus dem Stalienifchen überſetzt von 
VBoltmar Müller. Mit bibliographiihen No— 
tizen über die deutiche Gozzi-Litteratur. (Dresden, 
E. 8. Knecht.) 348 ©. 

Der liebenswürdigite italieniihe Dichter, Graf 
Gozzi, hat endlich einen berufenen und — faft 
fagte ih — berufsmäßigen Herold in Deutihland 
gefunden. Voriges Jahr hat V. Müller das 
„grüne Vögelchen“ überjegt, und hier folgen be— 
reits 3 Stüde in durchaus gelungener Ueber: 
fegung. Vorübergehend hatte Gozzi ja ſchon 
andre deutſche Poeten, beionders in der romans 
tiihen Zeit, angezogen, und unjer Schiller ge— 
währte ihm denſelben Dienft, den einjt Gozzi den 
fpanifhen Dichtern leiftete: er überjegte jeine 
Zurandot. Gerade Turandot iſt für und Deutiche 
das befte Muſter Gozziiher Weije: die Feeric mit 
tieferem Gedankengehalt. Sein grazidjer Humor 
verwendet das Phantaftifche und jelbit das Poſſen— 


1010 


hafte zur Beflügelung ſchwergediegener Schidjals- 
und Charakterprobleme. Mit jeinen eigenen Wor— 
ten e8 zu jagen: „Sie find — Sinnbilder, 
welche einſtens hoch man ſchätzte; die in der über- 
fatten Neuzeit Schriften man aber nur veradhtet 
und nicht deutet. Wir wollen bald, wenn unter 
und wir find, erläutern alles, jchwelgen in den 
Früchten der alten Dichtfunft, die aus goldener 
Zrube ans Licht wir ziehen.“ 

Eine ganz eigene, in Stoff wie Ormament in 
hohem Grad an Shafejpeare erinnernde Komödie 
ift „Liebe macht Hug“. Eine geiftig hervorragende 
und jhöne Frau heiratet einen Tölpel, der ihr 
nichts bietet als feine Liebe, erzicht ihn allmählich 
und bewahrt ihm in allen Berfuchungen die reinfte 
Liebe: ein rührender, mit großer Zartheit durch⸗ 
—— Vorwurf. Während Gozzis Märchen— 

ramen natürlich voll Zauberei und Hexerei ſtecken, 

iſt hier die Schranke der Wirklichkeit nicht über— 
ſprungen, d. h. einſchließlich der belannten Büh— 
nenwirklichkeit, die durch die Einheit des Orts 
hervorgerufen, duch alle früheren Theaterftüde 
Europas hindurdläuft von Menander bis Holberg, 
und wonad alle Menjchen fi immer in einem 
Zimmer treffen, jeder feine Geheimnifje vor dem 
verborgenen Lauerer monologifiert, und der be= 
trefiende Brief immer juft von dem einzigen ges 
—— wird, dem er allein verborgen bleiben 
ollte. 

Ueber das alles hebt der Wert der Ideen hin— 
weg, die Gozzi darſtellt, und die außerordentliche 
Feinheit, mit der er feine Charaktere nicht nur 
abihildert — das fünnen viele Neuere auch —, 
jondern auswählt — und das fünnen viele nicht. 
Denn feine Perjonen find nicht gewöhnlicher Art. 
Frauentugend hat er in hödit verfommener Beit 
mit der Beredſamkeit eines Octave Feuillet dar: 

ejtellt, Feuillets, in deſſen Schöpfungen mehr 
aljam als Gift bei Zola ift. 

Gozzis Dichtungen find überhaupt wahre Poeſie 
und fünnen ein ftarte8 Glied in der immer 
mächtiger vordringenden Realtion der idealiftifchen 
Kunſt gegen den flachen Realismus werden, der 
die Künfte für bloße Wiederfäuerinnen gemeiner 
Natur Hält. Auch dem Ueberjeger wünſchen wir 
Glück, denn die Ausftellungen des Kritikers fün- 
nen nur Geringfügiges betreffen. So S. 287 
leihte, und Penelope ift einmal falſch gemeſſen. 
Es hat auch im Italieniſchen den Accent wie im 
Lateiniſchen, und der griechiſche ift eben nur im 
— Griechiſchen gebräudlic, 2. Schaedel. 


9. Unterhaltungslitteratur. 


Auf halb verwiihten Spuren. Eine Fa— 
miliengejhidte von Lucian Bürger (Ch. Niefe), 
Verf. von „Cajus Rungholt“. (Spebee, U. Nuffer.) 
1888. 166 ©. 2 M., geb. 2 M. 80 Pf. 

Der Titel diefer Erzählung ift gut gemäßlt, 
denn aus Aufzerhnungen und langen Briefen 
wird eine Skizze zujammengeftellt, die nicht 
wenige Lüden enthält. Was die Geſchichte dadurch 
an Leben gewinnt, dab die Leute des 17. Jahr⸗ 
hunderts unmittelbar zu uns reden, verliert fie 
an ruhiger, klarer, epiiher Entwidlung. Aus 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


überlieferten Bruchſtücken eine Geſchichte ergänzen, 
ein Bild zufammenjegen, ift beſſer als Bruchitüde 
erfinden und aus dieſen die flüchtigen Striche einer 
kijzierten Lebensgeſchichte herausfinden laffen. Eine 
höne, junge, adlige Holjteinerin wird von drei 
Männern zugleich gelicht. Zuerſt von einem 
Better, dann von einem Schreiber der Stadt Mayer 
und endlih von einem Domherrn aus Trier, der 
die al8 Here verfolgte Dame im Kerker bejudt 
und von ihrer Anmut jo beftridt wird, dab er 
den geiftlihen Stand verläßt und mit päpftlihem 
Dispens die ſchöne Heilwig heiratet, ohne daß ein 
Konfeſſionswechſel für unumgänglich erachtet wird. 
Die Behandlung der Schönen Holiteinerin als Here 
ift nicht Hinreichend begründet. Der ©. 119 an— 
gegebene Grund, weshalb Heilwig troß drohendent, 
Ihimpflichen Tode nicht ihren guten Namen nennt 
— „weil er mich zu edel dünfte, um von elenden 
Menſchen nachgeſprochen zu werden" — ift übers 
aus unwahrſcheinlich und dürftig. — Aufmerkſame 
Leſer werden übrigens gern den halbverwiſchten 
Spuren folgen. Da die Novelle nicht von der 
gewöhnlichen Mache ijt, kann ih nur bedauern, 
dab das ſchöne Talent der Verfaſſerin nur eine 
Skizze gezeichnet und nicht ein volle Bild ge— 
malt hat. O. 8. 


— Bater Elemensd. Bon Grace Kennedy. 
Neue Ausgabe. (Calw und Stuttgart, Vereins— 
buchhandlung). 1888, leg. geb. 2 Mt. 

Bor 64 Jahren iſt diefe Erzählung von Grace 
Kennedy (geb. 1782, geftorben 1825) eſchrieben 
worden, um die Unterſcheidungslehren der römi— 
ſchen und der reformierten Kirche durch die Er= 
ählung von dem Zujammenleben ftren kalviniſti⸗ 
* Schotten und mehrerer Jeſuiten, we che Beicht⸗ 
väter römiſch⸗katholiſcher Familien waren, ins Licht 
u ſetzen. Pater Clemens, ein frommer Jeſuit, 
dat zum Gegenfat den Pater Adrian, der alle die⸗ 
jenigen fatalen Eigenjchaften in ſich vereinigt, welche 
man gemeinhin einem „Jeſuiten“ zuzuſchreiben 
pflegt. Lutheriſche Leſer werden nicht jelten Wider— 
ſpruch gegen die Beweisführung der Schotten er= 
heben. Sler und da werden aud) reformierte Lejer 
Widerſpruch erheben, 3. B. zu ©. 193, wo gelagt 
wird, daß die römifche Kirche lehre, der Zwed hei⸗ 
lige die Mittel, oder zu ©. 245, wo die Beid)t- 
finder des eben gejtorbenen Pater Clemens den 
Toten um feine Fürbitte im Himmel bitten, was 
der andere Pater mit Worten begünftigte, bie dar— 
auf jchließen laſſen follten, als 06 der Berjtorbene 
fofort unter die Zahl der Heiligen aufgenommen 
ſei, oder zu ©. 203, wo erzäßlt wird, dab Pater 
Adrian eine Urkunde in einer Geheimſchrift abges 
faßt habe, welche ein falviniftiicher Geiſtlicher jo- 
fort entzifferte. — Ich kann die Erneuerung dieſes 
Buches nicht für zeit= oder ſachgemäß halten. Da 
leiſten Thierih8 Vorlefungen über Katholizismus 
und Protejtantismus denn dod) ganz andere —— 


— Das Margaretenbuch. Eine Erzählun 
von Th. von Saldern. 9. Aufl. (Wolfenbüttel, 
J. Zwißler). 1837. 436 ©. 4 Mt. 

Der äußere Erfolg dieſes vielgelefenen Buches 
genügt oberjlählichen Xejern, um damit den inne 


Neue Schriften. — Verſchiedenes. 


ren Wert desjelben zu bemweifen. Habent sua fata 
libelli. Es ift ein eigne® Ding um den Erfolg 
neuerjchienener Bücher. Vortreffliches wird wenig 
beachtet, Durchſchnittsware findet großen Beifall: 
Ich kann „das Margaretenbuh“ nur zu den wohl: 
gemeinten, aber nad) Inhalt und Form recht man— 
gelhaften Büchern der chriſtlichen Novelliſtik rech— 
nen. Die Zeit unmittelbar von der franzöſiſchen 
Revolution und die erften Jahre diefer Epoche bie— 
ten den geichichtlihen Boden dar, auf welchem die 
fonderbare Liebesgeihichte Bernhards und Mar: 
erwächſt. Dem Lejer wird nämlich nur 
er Anfang diefer Geichichte in den eriten Jugend— 
jahren und ganz zulegt mit jäbem Uebergang von 
dem Berheiratetiein des Paares erzählt, während 
mitten im Buche Meine und überdies höchſt uns 
wahrjcheinliche rg die Pflege des zarten 
Verhältniffes ohne Zweifel zum großen Verdruß 
der meijten Lejerinnen hindern. Das Ganze leidet 
an der Fülle der Geſchichte. E3 ereignet ſich zu 
viel und e8 entwidelt ji) zu wenig. Dadurd wird 
eine Menge von unklaren Situationen und fchat= 
tenhaften Perſonen geihaffen. Der Erfahrung des 
Lebens wird nicht jelten in auffallender Weije wi- 
deriprochen. Ein fünf Monate altes Kind fieht nicht 
nach einer fi in die Lüfte erhebenden Lerche und 
ört nicht ihr fjchmetterndes Lied. Und ein elf 
— altes Mädchen iſt nicht ſo albern, einen 
ſeltſamer Weiſe ſein Neſt nicht findenden, ängſtlich 
hin⸗ und herflatternden Vogel zu fragen: „Lieber 
Bogel, kannſt du mir fagen, ob mein Großvater 
wieder gefund wird?” Daß die Berf. S. 140 und 
424 meint, die Pfirſich- und Aprifofenllüte — die 
frühefte im Jahr — falle mit der Rebenblüte — 
der jpäteften im Jahr — zujammen, iſt ein großer 
Irrtum. Auch daß zu glüdlichem Würfelipiel ges 
wiffe Aunitgriffe gehören jollen, fpricht für den 
Mangel jeder Erlohrung. — S. 257 wird bie 
Ankunft von Reifenden vor einem Gafthofe erzählt. 
Als captatio benevolentiae wird der empfangenden 
Aufmwärterin eine Börje zugeworfen, aus der „einige 
Goldftüde Happernd zu Boden fielen“. ®o kommt 
jo etwas vor? Dod nur auf dem Theater, wo 
die mit Spielpfennigen gefüllten Geldbeutel einem 
Diener oder einem Bravo zugejchleudert werben. — 
©. 272 und 276 läßt die Verf. ihre Reifenden von 
—— nach Baſel mit einem Segelboot fah— 
ren. Solche Boote gingen angeblich des Tages 
mehrmals — vor 100 Jahren — von Straßburg 
flußauf- und flußabwärts. — Bon Bajel reifen 
wei Damen mitten im Winter in der Weije nad) 
Senf, da fie am Vierwaldftädter See und an der 
Jungfrau vorüberfommen. Der Reijewagen fliegt 
nur jo über die „gefahrvollen Aipenftragen“. — 
Erſtaunt hat mid) endlich, dab eine nicht Heine 
Anzahl ſchiefer Ausdrüde bis in die neunte Auflage 
erhalten worben iſt. Kindlich firömende Thränen” 
anjtatt ftrömende findlihe Thränen; „dienftthuende 
Tage“ anjtatt mit Dienft beſetzte Tage; „einfach, dis- 
ziplinierte Schulen“ anftatt Schulen mit einfacher 
Disziplin, „die Seele abprefjen“ ftatt die Seele prefien. 
Für „fortlaufendfte Unterhaltung“ würde der Bofitiv 
fortlaufend genügen. ©. 267 werden geſchloſſene 
Tenfterläden erwähnt, welche nicht bloß Freud und 
Zeid vergangener, fondern aud künftiger Tage 


1011 


bargen. S. 286 heißt es: „Den rechten Arm ftemmte 
er (hd) mit einer gewiſſen Zärtlichkeit in die Seite.“ 
Wie ift das zu denfen? — ©. 323 ift von dem 
weichen Bourbonen-Geſicht des Dauphins die Mede, 
das nicht nur der fommenden jchweren Zeit nicht 
feft ind Auge fehen, jondern jogar den ſchwanken— 
den Thron nicht halten werde. Kann man mit 
dem Weficht einen Thron halten? — Neben dem 
Margaretenbuch mwird eine Harfe häufig erwähnt. 
Barum mird diefe Harfe „weich“ genannt? — Das 
Deutichiprechen eines Lothringers wird fonderbarer- 
weije ein Talent genannt, während es doch ein 
Willen und Können if. — Auch iſt ein jehr er— 
beblicher Unterſchied zwijchen einem Champagner: 
gas und einem Glas voll Champagner. Mit einem 
hampagnerglas an fid) ift nicht viel anzufangen. 
— Die zahllofen Fremdiwörter aus dem Franzö— 
ſiſchen in der eigentlichen Erzählung fallen um jo 
mehr auf, ald die Verf. ihren Lothringern «ine 
nicht recht glaubliche deutiche Geſinnung beilegt. 
Auch die zahlreihen franzöjiihen Broden, 3. 
douze sous, im Fluß der deutihen Rede find vom 
Uebel. Dabei ijt der Verf. der Fehler unterge- 
laufen, mit euré den protejtantifchen Pfarrer zu 
bezeihnen. Um nicht zu ausführlich zu werden, 
unterdrüden wir eine Anzahl von Ausjtellungen 
und fragen. Zum Schluß: wie konnte eine jo mit- 
telmößige Erzählung neue Auflagen — 
DR. 


10. Verſchiedenes. 


— Turmbud. Qurmformen aller Stile und 
Länder. Gel, u. ge. von Konrad Sutter. 
Mit einem Borwort von Dr. Fr. Schneider. 
(Berlin, Ernit Wasmuth.) 1. und 2. Lieferung 
von je 10 Tafeln in Folio. Jede Lieferung 4 M. 
Im ganzen 5—6 Lieferungen. 

Ein origineller Gedanke: aus allen Zeiten und 
Ländern, aus allen Stilen und Geſchmacksrich— 
a Zurmformen von Kirchen, Rathäufern, 
Sclöffern, Befeftigungen zufammenzuftellen; nicht 
eine Muiterfarte von allen möglichen Baus 
werfen, inöbejondere von baulidien Gejchymadlofig- 
feiten, jondern ein NMachſchlagebuch“ für den 
Architekten und Bauherrn. Der Berfafler des Bor 
wort® iſt der befannte Dompräbendat F. 
Schneider in Mainz, ber zeichnende junge 
Arditelt Konrad Sutter von Mainz ijt ein 
Sohn des veritorbenen Mijfionar® Cutter in 
Karlarufe. Dem Vorwort ift vorgejept eine An— 
fiht von Mainz nad) Morian; unter dem Vor— 
wort befindet jih ein Bild von Worms nad 
Sib. Münfter. Der Umſchlag ift geziert mit der 
Beihnung bes Freiburger Shünferturms, von 
der Ghoreite aus mit den beiden Chortürmchen 
geſehen. AL das ermwedt ein in hohem Grabe 
günftiges Vorurteil für die Bilder der fol- 
genden 20 Tafeln, die, mit Aufmertjamleit und 
Verftändnis betrachtet, bei dem Beihauer nur 
ein günſtiges Urteil zurüdlafien können. — 
Ohne firenge, endete Ordnung, doch nicht 
ohne Ordnung find Einzelbilder auf verſchiedenen 
Tafeln zufammengeftellt, wie beiſpielsweiſe der 
prächtige nr Hader in Mainz, welchen philijter- 
bafter Radikalismus abgebrochen hätte, wenn 


1012 


nicht die Standhaftigfeit bes Oberbürgermeiſters 
Dumont Retterin ded Turmes geworden wäre. 
Neben dem Mainzer Holzturm erblidt man den 
Eihenheimer Turm in Franffurt am Main. 
Diefer Zurm ijt einer der jchönften Wehrtürme 
Deutichlands, aber derjenigen Sorte Bolt, die 
den Fiafer- und Rollwagen-Verkehr höher ſchätzt 
als „altmodifche Baumerke“ des „finsteren Mittels 
alterö“, ein Dorn im Auge! — Die Rathaus 
türme von Brüffel und Löwen, von Altenburg 
und Rotenburg o. d. T., die Scloßtürme von 
Offenbach und Gottedau, die Kirchtürme des 
Nheingaus (Bingen, Klemenskapelle, Bibrich- 
Mosbach) und die franzöfiihen Türme der Kirchen 
von Saintes und Limay', jind hübſch zuſammen— 
geitellt, um den Gegenjag und die Achnlichteit 
augenfällig zu machen. — Das reihe Wert be— 
ar mit dem altehrwürbdigen Wormfer Dom, 
ejien Erhaltung in den legten Jahren eingehend 
erörtert worden ift; dann folgen die Kilianskirche 
in Heilbronn, welde auf Gög von Berlidingen 
berabgejchaut Hat; die Stuttgarter Stiftäfirdhe, der 


Neue Schriften. — Verſchiedenes. 


Frankfurter „Barrtorn” (Domturm), Kirchtürme von 
Zug, Yarau, Danzig und Lübeck. Die Heimat 
der behäbigen Holländer ift an den gedrungenen 
Zurmformen von Dordrecht, Hoorn, Enkhuizen 
zu erfennen. Die Mannhaftigkeit der Väter 
De wir in den ftattlihen Wehrtürmen von 
ecligenitadt, Augsburg und Neiße verkörpert. 
— Wie hat der Zeichner jeine Aufgabe gelöft ? 
Ganz vorzüglich! Die flotte, Hare Zeichnung, bie 
maleriſche Wiedergabe, der feine, hiſtoriſche Sinn, 
die geichidte Auswahl und — lung find 
auf jedem Blatte zu erkennen. Nicht nur Arie 
teten, auch anderen Aunftfinnigen wird das 
Sutterihe Turmbuch gefallen. Wie reich ijt doch 
die Entwidlung ded im Turm ausgedrüdten Ges 
dantens! Auf meinem Schreibtiſch fteht in 
Alabaſter eine Nachbildung des Campanile von 
Slorenz; ein völlig jelbfrändiger Monumentalbau 
diefer Gampanile! Der moderne Villenbau mit 
feinen eingegliederten Treppen» und Erfertürmen 
iſt das direfte Gegenſtück zu jenem. ; 





FEN 





— 


— Bye 


Graf von Walderſee, 
Chef des großen Generalſtabes. 


— — — 


Der neuerdings ernannte Chef des Generalſtabes der deutſchen Armee ſteht — am 
8. April 1832 geboren — im kräftigſten Mannesalter. Einer vornehmen Familie 
entſtammend, deren Name ſchon mit ehernen Lettern in die Blätter der preußiſchen 
Geſchichte eingegraben iſt, trat Graf Alfred, Sohn des einſtigen kommandierenden 
Generals des 5. Armeekorps, Grafen von Walderſee, aus dem Kadetten-Korps in das 
Garde-Artillerie-Regiment ein. 

Seine militärische Befähigung, fein bejonnenes Weſen und jein klares Urteil, 
welches nicht nur in militärischen Dingen ihn die richtigen Mittel zum jeweiligen Zwecke 
erfennen läßt, Ienften die Aufmerkfamfeit der Armee jchon auf den jungen Offizier, 
den man daher in den Friedensjahren jchon in verjchiedenen Adjutantenftellen verwertete 
und zum Stabe des Generalfeldzeugmeifterd Prinzen Karl heranzog, der damals 
General-Infpefteur der Artillerie war. In dieſer Eigenfchaft wurde Graf Walderjee 
auch zum Mitgliede der Artillerie-PBrüfungs-Kommijfion ernannt. 

Während des Feldzuges 1866 in den Generaljtab des großen Hauptquartierd auf: 
enommen, arbeitete der Graf direkt unter dem General von Moltfe. Im Herbit des: 
Fefben Jahres, aljo unmittelbar nad) dem Feldzuge, zum neu errichteten General: 
Goudernement von Hannover fommandiert, ging Veine Thätigfeit vielfah auf das 
politijche Gebiet über; auch wurde Graf Bismard in diefer Zeit ſchon auf das Elare 
ſtaatsmänniſche Urteil des Grafen Walderjee aufmerkjam, dejjen Anjichten er Häufig 
hörte. Wer in jener Provinz länger gemweilt, weiß, wie der Graf zwar hier und da 
gefürchtet, aber in allen Rreiten Hannovers hoch geachtet war. 

Im Beginn des Jahres 1870 wurde Graf Walderjee als Militär-Attache zur 
Botichaft nad) Paris fommandiert. In diefer Stellung hatte derjelbe befondere Ge- 
legenheit, jein ſcharfes militärisches Auge und fein Hares und ruhiges Abmefjen der 
Verhältnifie zu beweifen, namentlich) dadurch, daß er gegenüber der Schwarzjeherei 
mancher Berichterftatter die offenbare Ueberlegenheit der preußijch-deutjchen Armee 
über die franzöfiihen Truppen darlegte. Namentlich aber betonte Graf Walderjee 
beim Beginn der ernfteren Verwidelungen, daß Preußen fich durch das geräufchvolle 
Auftreten der Franzoſen und ihr eiliges Vorjchieben der Armeen nach der Grenze nicht irre 
machen laſſen dürfte, jondern daß die beſten Chancen für eine erfolgreiche Offenjive in einer 
planmäßigen Mobilmachung und in einem geordneten Aufmarjche zu juchen feien. Die 
noch vor Eröffnung des Feldzuges erfolgte Ernennung des Grafen zum re 
jutanten des Königs zeigte, welche Bedeutung dieſe Berichte hatten und welchen hohen 

Allg. kon. Monatsihrift 1888. X. 65 


1014 Graf von Walderice. 


Wert man höchjten Ortes dem Urteil des verhältnismäßig noch jungen Offiziers bei- 
gelegt hatte. 

Während des franzöfiichen Krieges im perjönlichen Dienjte des Königs ftehend, 
wurde Graf Walderjee in der Zeit des Loire-Feldzuges in befonderer Miſſion in das 
Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl gejchidt, in welchem er alle Schlachten von 
Beaune la Rolande bis Vendome mitmachte und tägliche Berichte an den König zu 
jenden hatte. Der Feldzug gegen Le Mans bis zum Ende des Krieges ſah den Grafen 
als Chef des Stabes des Großherzogs von Mecdlenburg, zu deſſen militärijchem Bei- 
jtand er fommandiert wurde, während er für die Dauer der denfwürdigen kurzen Be— 
jegung von Paris durch die deutjchen Truppen als Chef des Stabes des Gouverneurs 
der Nejidenz, des Generals von Kamede, fungierte. 

Mit Beendigung des Krieges wurde der Oberftleutnant Graf Walderjee wiederum, 
und diesmal als Gejchäftsträger, nad) Paris gejchidt, um dort den überaus jchwierigen 
Uebergang von dem Kriegszuftande zu der regelmäßigen diplomatischen Vertretung des 
neu gegründeten deutjchen Reiches zu vermitteln. Infolge feiner entjchlofjenen Haltung, 
verbunden mit Eluger Mäßigung, der richtigen Handhabung der Preſſe und damit der 
öffentlichen Meinung, jo wie der forreften und diplomatijchen Leitung der vielfachen 
Fäden, die zu dem Endziele führen mußten, gelang e3 dem Grafen in kürzeſter Zeit, 
das Parijer Chaos in eine regelmäßige Organifation zu verwandeln, und damit neben 
jeinen militärischen auch feine diplomatischen Fähigkeiten zu beweifen. Der Graf blieb 
in Paris, bis die Uebernahme der Gejchäfte durch den zum Botjchafter ernannten Grafen 
Harıy Arnim möglid” war. Im dieſe Zeit der Thätigkeit Walderjees fielen die 
— der erſten Zahlungen der Milliarden, die den Franzoſen ſehr ſauer 
wurden. 

Nach glücklicher Abwickelung der ebenjo heikllen wie ſchwerwiegenden Aufgaben in 
Paris wurde Graf Walderſee mit dem Kommando des 1. hannoverſchen Ulanen-Regi— 
ments Nr. 13 betraut und zwei Jahre ſpäter zum Chef des Generalſtabes des 10. Ar— 
meekorps auserſehen, zu deſſen kommandierenden General gleichzeitig Prinz Albrecht 
von Preußen ernannt wurde. Die bisherigen und die in dieſer Stellung geleiſteten 
Dienſte veranlaßten den von Arbeiten überlaſteten Generalfeldmarſchall Grafen von 
Moltke, dem in jo vielen Sätteln bewährten Generalſtabschef unter Ernennung zum 
Seneral-Quartiermeifter der Armee einen wejentlichen Teil der Gejchäfte, die er bisher 
geleitet hatte, zu übertragen und von Jahr zu Jahr immer weitere Befugnifje in die 
jachkundigen Hände feines Adlatus zu legen, jo daß in letzter Zeit, in welcher übrigens 
Graf Walderjee auch zum General-Adjutanten (1886) ernannt wurde, bereits der größte 
Teil der Arbeiten des oberjten Chefs durch den General-Quartiermeifter erledigt wurde. 
Als Kaifer Wilhelm II. auf die dringenden Vorftellungen des berühmten Strategen 
jich, wenn auch jchweren Herzens, dazu entjchloß, deſſen Wünſchen zu willfahren und 
ihm, unter Ernennung zum Chef der Landes: Verteidigungs-Stommiffion, die ſchwere 
Lajt der Verantwortung von den Schultern zu nehmen, konnte Se. Majejtät in volljter 
Zuverficht auf die vielbewährten sähigfeiten des General Grafen von Walderjee, der 
in den jchwierigiten Lagen ſich ftets feiner Aufgabe gewachjen gezeigt und das allge 
meine Vertrauen fich erworben hatte, das jchivierige Amt des Chefs getroft dem bis— 
herigen General-Uuxartiermeijter übertragen. 

Graf Walderjee ijt vermählt mit der verwitwweten Fürftin von Noer, geborenen 
Miß Lee, welche, diejelben Wege gehend wie unfere verehrte Kaiferin und Königin, in 
itiller, jelbjtlojer Liebesthätigfeit dem moralijchen und phyſiſchen Elende der Reſidenz 
Schranken zu jegen ſucht. 

Diejer reich gejegneten Thätigfeit, die jich) mit den Arbeiten auf demjelben Ge- 
biete in Verbindung ſetzte, wandten auch jeiner Zeit der Prinz Wilhelm und der 
General: Quartiermeifter ihr warmes Intereffe zu, und dieſer Gefinnung entjprang 
jene — leider jo vielfach und unnügerweife angefochtene und mit faljchen Motiven 


Graf von Walderſee. 1015 


unterjchobene — Bereinigung menjchenfreundlicher und chriftliher Männer, welche 
hoffentlich noch reiche Fruͤchte tragen wird. 

Der Kaifer und König hat über die thörichten Verſuche unreifer Köpfe hinwe 
dem hochbegabten Offizier die vornehmſte Stelle in der Armee anvertraut und Dabei 
in der beutjchen Armee ein hohes Gefühl der Beruhigung und Befriedigung erzeugt. 
Wie im dÖfterreichiichen Heere, in welchem Graf Walderjee ein Hohes Antehen genießt, 
die Ernennung desjelben zu dem wichtigen Poſten mit Enthufiasmus begrüßt wurde, 
jo hat der Beweis des Allerhöchſten Vertrauens, welches durch die Stellung à la suite 
des hannöverjchen Ulanen-Regimentes ein deutliches Zeichen erhielt, in den beutjchen 
Heereskreifen allgemeinjte Freude erregt und fie mit neuem Vertrauen erfüllt. 

Möge der Herr auch die Pläne des neuen Lenfers der deutjchen Truppen mit 
reichen Siegen fegnen! 


65* 


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Ein Perfran. 


Roman 
von 


Siegfried vom SBooR. 


(Fortſetzung.) 


Aufmerkſam folgte die Gräfin dem fortſchreitenden Vortrag in einer Miniatur— 
ausgabe der Mozartſchen Quartett-Partituren. 

Auch die beiden Herren lauſchten ſchweigend dem unſichtbaren Strome der lauteren 
tönenden Schönheit, welche dieſes Kunſterzeugnis der Mozartſchen Muſe ganz vorzugs— 
weiſe auszeichnet. — Henning bedeckte ſeine Augen mit der Hand, um die Wirkung 
in völliger Abgezogenheit von äußeren Störungen auf Geiſt und Gemüt ein— 
dringen zu laſſen. — Kurd hatte ſich nach ſeiner Gewohnheit an den Leſetiſch zurück— 
gezogen, als die Muſik begann. Er verband mit dem Angenehmen das Nützliche, indem 
er, von den Tonwellen getragen, ſich in die auf der Reiſe vernachläſſigten Zeitungen 
vertiefte. In Mozarts reine Weiſen und Harmonien miſchte ſich das Kniſtern und 
Rauſchen des großblättrigen Zeitungspapiers. Ab und zu erhob Alma das Haupt 
von der Partitur und ſandte dem Verurſacher des ſtörenden Geräuſches ſeufzend einen 
Blick hinüber, den Kurd aber niemals wahrnahm. Dann glitt ihr Auge über den Gaſt, 
der in die Tonflut vollends untergetaucht ſchien, beruhigt zur Partitur zurück. 

Als die anmutsvollen Variationen des letzten Satzes verklungen waren, verharrten 
die Hörenden eine Weile unter dem empfangenen Eindrucke in tiefem Schweigen. Henning 
unterbrach es endlich durch die Aeußerung ſeines Wunſches, den vier Künſtlern zu 
danken. Alma ſchellte und ſandte den erſchienenen Diener mit einer Einladung an 
dieſelben ab. 

„Du wirſt in meinem Hauskapellmeiſter eine ganz angenehme Perſönlichkeit kennen 
lernen, mein Lieber,“ bemerkte Kurd zu Henning gewendet. „Herr Leopold Gieſe iſt 
ein feinfühlender, taktvoller Menſch, auf manchen Gebieten wohlunterrichtet und beleſen, 
auch ſpielt er vorzüglich Schach und hat mir ſchon manche Partie abgenommen.“ 

„Hy!“ entgegnete Henning, „ich hatte bereits wiederholt Gelegenheit, feine trefflichen 
Eigenschaften ſchätzen zu lernen.“ 

Gieſe trat in das Theezimmer, verneigte ſich mit ficherem Anstand und entjchul- 
digte feine drei Kunftgenofjen, die bereits ihre Wohnung im Haufe des Nentmeifters 
aufgejucht hätten, wo ein Freund fie erwartete, der fie mit feinem Beſuch aufs ange: 
nehmſte überrajcht habe. 


Ein Vertrag. 1017 


Henning drüdte dem Mufifer mit Wärme die Hand und verficherte, er könne fich 
nicht erinnern, daß er — freilich nur ein Laie und unwiſſender Mufiffreund — die 
Wirkung eines Tonwerfes auf das Gemüt jemals tiefer empfunden habe. Giefe lehnte 
den Dank bejcheiden ab. 

„Sn erfter Linie,“ jagte er mit Ueberzeugung und Wärme, „möchten wir doch dem 
Schöpfer des einzigfchönen Quartetts dankbar verbunden fein, daß er mufifalische 
Schönheitsideale ung, jeinen Erben, hinterließ, die wie leuchtende Fanale das Dunkel 
heutiger Mufikteufelei —— Darin liegt für uns einiger Grund der Hoffnung, 
daß wir den Weg zu den Urquellen des Ewigreinen und Klaren in der tönenden ſchönen 
Form doch nicht vollends aus den Augen verlieren können.“ 

„Sie überraſchen mich aufs erfreulichſte, Herr Gieſe!“ rief Henning, indem die 
Geſellſchaft fich auf die Echloßterraffe begab und auf Gartenftühle niederſaß. „Man 
begegnet jegt jelten noch einmal einem Vertreter der Tonkunſt, von dem man die 
—— Modemuſik als Geſchmacksverirrung oder — wie Sie ſehr kernig ſagten — 
als Teufelei beurteilen hört.“ 

„Wir dürfen aber doch erwarten, daß der geſunde Geſchmack die Auswüchſe, über 
die man ſich ja ſchon vielfach klar geworden, einmal wieder abſtoßen und ausſcheiden 
werde? Meinen Sie nicht, Herr Kapellmeiſter?“ fragte Alma mit Zuverſicht. 

Gieſe zuckte bedenklich die Achſeln. „Leider bin ich nicht Optimiſt genug, gnädige 
Gräfin, um auf eine Erneuerung des muſikaliſchen Blutes zu hoffen. Ic vermag in 
der gegenwärtigen Bhaje der Gerichte des Etils, der Kunftanjchauung und der Kunſt— 
übung wenig Troftquellen zu entdeden. Am wenigjten beruhigt mich die Annahme einer 
zeitweiligen Mode, die vorübergehen werde. Tenn ic) fürchte, daß wir einer eifernen Folge— 
richtigfeit im gejchichtlichen Entwidelungsgange des nationalen Kulturlebens gegenüber: 
jtehen, einer umerbittlichen Konſequenz, die jich in der Entleerung der Gejchmadsbe- 
dürfniffe von idealem Gehalt anfündigt und die Gejege der reinen jchönen Form immer 
allgemeiner in die auflöfende Willfür der Selbjtbeitimmung einzelner herabjeßt.“ 

Henning tröftete ih und dem jchwarzjehenden Mufifer mit der Hoffnung, die er 
auf die verjüngende Kraft des chriftlichen Geiftes baute. Kurd dagegen war geneigt, 
den Anfichten jeines Kapellmeiſters beizupflichten. Er hob hervor, daß die jozialen 
Zuftände eine regenerierende Wirkung chriftlichen Geiftes wahrlich nicht erkennen ließen. 

„Zwar gebe ich zu,“ jagte er, „daß ſich auf dem verjchiedenen Gebieten chriftlicher 
Liebesarbeit vielfach gejchäftiges Streben und Wirken regt. Aber die feſten Grundlagen 
volfstümlicher Gefittung werden täglich mehr untergraben von einer gewinnjüchtigen 
Spekulation. Der befejtigte Grundfig ſinkt zur Bedeutungslofigfeit eines beliebigen 
Taufchobjeftes herab. In unjerem Nachbarjtaat hat jich die Zahl der zwangsgerichtlich 
veräußerten Rittergüter in der furzen Friſt von neun Jahren mehr als verdoppelt. 
Die Sittenlofigfeit treibt in allen erdenklichen Formen immer ungefcheuter ihr verderb- 
liches Wejen. Lug, Trug, Totjchlag, Selbitentleibung, Raubmord find tägliche Er— 
jcheinungen, über bie man faum noch jpricht, ſich faum noch entſetzt. — Bon einer 
Geſchichte, wie fie kürzlich wieder in der Reſidenz paffiert ift, wird ohne fittliche Er- 
regung einfach Bericht erjtattet, als wäre es eine gleichgültige alltägliche Begebenheit. 
Sch meine den Raubmord, der nach den Zeitungen an dem liebenswürdigen polnischen 
Grafen Ladislaus Willichowsky nächtlicherweile verübt wurde. Ihr, Henning und 
Alma, werdet ihn gefannt haben.“ 

Henning erinnerte fich dunfel feiner Belanntichaft und forfchte nach den näheren 
Umjtänden. 

„Ueber die Todesart jcheint ein Geheimnis gebreitet zu fein,“ erklärte Kurd. „Man 
meint, eine der neuentdecten tüdiichen Gifte habe eine Rolle dabei gejpielt.“ 

„Kennt man die Thäter?“ fragte Alma, die fich des Ermordeten ebenfalls nur 
undeutlich erinnerte. 

Kurd erflärte, daß man die Spur des Mörders verfolge, und brach diejes Thema 


1018 Ein Vertrag. 


der Unterhaltung ab. Man unternahm auf feinen Vorſchlag einen Spaziergang. — 
Gieje empfahl fich und fuchte feine She auf. 

Am öftlihen Horizont ſchwang ſich eben der Mond wie ein leuchtender Kahn über 
Die Gipfel der Waldberge empor, als die Gräfin mit ihren beiden Begleitern die breiten 
Gänge durchwandelte, welche von hochitämmigen, gleichförmig gewachfenen Drange- 
bäumen in weißgeölten Kübeln gebildet wurden. 

„Selten fieht man eine jo wohlgepflegte, jchön belaubte Orangerie wie dieſe,“ 
rühmte Henning. 

„Sie befindet fich allerdings recht wohl,“ gab Kurd zufrieden zurüd. „Seit länger 
als dreißig Jahren ruht ihre Pflege fozujagen in einer Hand. Ein und biefeibe 
Gärtnerfamilie hält ihre hingebende Fürjorge nach ererbten Grundjägen jchon in der 
dritten Generation darauf gerichtet. Dabei ift die Orangerie zur allgemeinen Freude der 
Liebhaber eines ſolchen Gartenjchmudes ſehr glüclich gediehen.“ 

„Diejes Bilamsdorff ift wahrlich eine bemeidenswerte Zufluchtsftätte für ein welt- 
müdes Menſchenherz,“ urteilte genning. 

„Weltmüde," wiederholte Kurd, „ja Eranf und elend fann man werden, jobald 
man nur den Fuß über das Weichbild diejes ruhigen Aſyles hinausſetzt und einen 
Blick in das unfittliche, betrügerifche und verbrecherifche Treiben und Rennen da draußen 
thut. Wahrhaftig! — Hinrich FFreifinger hatte nicht unrecht, wenn er von einer allge- 
meinen Seelenſchwindſucht phantafierte.“ 

Alma nahm ihre® Gemahls Arm. „Haft du in der Kreisjtadt Verdruß gehabt?“ 
fragte fie teilnehmen. 

„Scherereien über Scherereien!“ antwortete er ärgerlich. „Abermalige Berhand- 
lungen al3 Hauptbelaftungszeuge vor dem Unterjuchungsrichter.“ 

„Noch immer wegen des unglücdlichen Förfters von der Mleierei, der durch Die 
Kugeln der Wildſchützen getötet wurde?“ 

„Getroffen! Doch emdlich ift es gelungen, den Thatbeitand feitzuftellen und das 
weitere Verfahren gegen die berüchtigten Strolche einzuleiten. Später aber folgt die 
en vor den Gejchworenen, und da muß ich wieder an den Schranken 
erjcheinen.“ 

„ch! — dieje einfältige Meierei,“ jeufzte Alma, „wie viel Laft und Unruhe hat ung 
jenes Anhängjel an unfer liebes, ftilles Bilamsdorff jchon bereitet! — Was werden wir 
noc alles zu erleben haben!“ ” 

„Run, darüber kannſt du ruhig jein, mein Schatz. Meine Verfaufsanzeige in der 
Kreuzzeitung hat endlich diefen Pfahl im Fleiſch befeitigt.“ 

Alma äußerte ihr Entzücden über die erfreuliche Nachricht. Dann forjchte fie 
nach dem Käufer, der jo thöricht geweſen, jene entlegene Bejigung zu erwerben. 

„Hat er auch erfahren, daß die Umnficherheit das Waldthal zu einem verrufenen 
Ort gemacht hat?“ fragte fie bejorgt. 

„Was den Käufer bewogen haben mag, jich dorthin zurücdzuziehen — wer weiß 
es?“ antwortete Kurd. „Mein Mandatar, der Rechtsanwalt Kniff, der das Gejchäft 
in meinem Namen abgejchloffen, wußte nur von dem Manne zu erzählen, er nenne 
fi) Mifter Joſef Whitehorje, jei amerikanischer Bürger, liebe Waldeinfamfeit und 
Jagd und habe deshalb auch das von mir ausgebotene Revier gepachtet. Die Be— 
drohung jenes Teils der Waldungen von feiten wildernder Grenzer habe den Mijter 
Wpitehorje eher angezogen als abgejchredt. Ein jonderbarer Kauz! — Ich jelbft habe 
ihn übrigens bis jegt mit Mugen noch nicht gejehen.“ 

„Am Ende eine neue Auflage des Schillerjchen Karl Moor,“ fcherzte Hoyer. 

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete Kurd nachdenklich. „Kniff ſchildert ihn als 
einen jehr gebildeten Kavalier. Zum vollendeten Gentleman mangele ihm nichts als 
das linke Auge. Er trägt an jener Stelle feines edlen Antliges nämlich eine jchwarze 
Binde. — Auch hat er * Denn er ſchickte mir durch den Mandatar ſeine Karte 


Ein Vertrag. 1019 


und ließ entjchuldigen, daß er mir jeine Aufwartung noch nicht abgeſtattet. So— 
bald feine wohnlichen Einrichtungen vollendet find, werden wir unſeren neuen Herrn 
Nachbar aljo perjönlich kennen zu lernen das Vergnügen haben.“ 

Die Gräfin unterbrach diefe Mitteilungen. „Seltjam,“ flüjterte fie. „Saht ihr 
nicht den bläulich weißen Lichtfchein, der drüben wie ein Bligftrahl die Baumjtämme 
erhellte ?* 

Sie klammerte fich feiter an den Arm ihres Gemahls. 

„Du zitterft ja!“ bemerkte diejer. „Das jchwanfende Mondlicht täujchte wohl nur 
deine erregte Einbildungsfraft.“ 

„Nein, nein!“ verficherte fie haſtig. „Schaut doch nur hin — dort unter den 
Bäumen — da ijt es wieder.“ 

Nun nahmen auch die beiden Herren einen weigleuchtenden Schimmer wahr, der 
fi) vom Dorf her auf der Heerjtraße nach der Nichtung der Waldblöße mit erjtaun- 
liher Schnelligkeit bewegte. Die Geräufchlofigkeit der Erjcheinung auf dem Standorte 
der Beobachtenden machte den Eindrud des Gejpenjtischen. 

Nicht lange aber, jo Löfte fich das jpannende Rätſel. Trotz der beträchtlichen 
Ferne und umficheren Beleuchtung wurde in der Waldblöße, welche den Blick auf das 
Schloß gewährte, ein vom Monde grell bejtrahlter Schimmel jichtbar. Zugleich bemerkte 
man auch deſſen Neiter, der, den Blick dem Schlojje zugefehrt, Halt machte, nachdem 
er jein Roß aus der jchnelliten Gangart pariert hatte. 

„Er hebt ja wie drohend den Arm gegen ung empor,“ meinte die Gräfin. 

Kurd fuchte fie zu beruhigen. Er dämpfte unter dem Eindrud des Seltjamen 
unmillfürlich auch) jeinerjeit3 die Stimme: 

„Selbjt das ſchärfſte Auge kann uns im tiefen Schatten diejer alten Kaftanie von 
dort aus J gar nicht erkennen, zumal wir hinter der Beleuchtungslinie des Mondes 
ſtehen, liebes Kind. — Hob der Reiter wirklich den Arm, ſo ſuchſt du darin eine be— 
drohliche Abſicht, weil du die ganze Erſcheinung zu ſo ſpäter Abendſtunde mit deiner 
ſchreckhaften Stimmung in Beziehung bringſt.“ 

Jetzt warf der Reiter ſeinen Schimmel wieder herum, ſetzte ihn in Trab und 
a unter den Eichen auf der Strafe nach Imshuth den Bliden der Gejell- 

aft. 

„Er hatte feinen Gaul jicher in der Hand,“ rühmte Henning. „ES jchien ein 
elegantes edles Tier zu jein, dag er ritt.“ 

„Erinnerte mich lebhaft an den Belter, den ich für meine aufgeregte kleine Frau 
anjchaffte. Aber unlängft habe ich ihn an einen Roßkamm zu gutem Preiſe wieder 
veräußert, weil das unruhige Temperament des vierjährigen Gauls für Alma nicht 
paßte. Der Hengjt war milchweiß ohne Abzeichen und Hatte RENTE Nüftern — 
wahrhaftig, ein jchmudes Pferd! Doch auch die Abficht, es für mich ſelbſt zu benugen, 
habe ich wieder aufgegeben. Der Schimmel war auch mir zu unbändig. Ihm fehlte 
der jeinere Schliff; man wird mit den Jahren bequemer; und ich habe jet wichtigere 
Gejchäfte, ala Neitpferde zuzujtugen. Das friegt man als Hujarenoffizier ſatt.“ — 

So plauderte Kurd fort, bis das grüne Gemach erreicht war, wo man ich zum 
Nachteſſen niederlieh. 

Die Erjcheinung des ſeltſamen Reiters hüllte ſich gar zu auffällig in das Gewand 
des Nätjelhaften, als daß man das allfeitige Verlangen hätte unterdrüden mögen, 
fih über den Gegenstand auszufprechen. Beim Austaufch der Vermutungen über die 
Perjönlichkeit riet Kurd auf den fremden Roßkamm. Alma und Henning dagegen 
begegneten einander in der Annahme, es möge der Käufer der Meierei geweſen ſein. 
Einem Abenteurer, wie er jcheine, dazu einem Amerifaner, fönne man recht wohl abjon- 
derliche Liebhabereien zutrauen. Endlich wurde Gottlob citiert, um Peg Licht 
in die dunfele — zu bringen. „Gottlob iſt das unfehlbare Orakel von Bilams— 
dorff,“ ſcherzte Kurd, „Gottlob weiß alles, was in Schloß und Dorf, in Feld und 


1020 Ein Vertrag. 


Wald vorgeht." Das allwifjende Hausorafel hatte auch bereits vom Schulzefrigen 
erfahren, daß der fremde Reiter feinesivegs der Roßkamm geweſen jei, jondern ein in 
der Gegend völlig unbefannter Herr. Aber des Herrn Grafen verfloffenen Schimmel- 
hengſt habe er geritten, darauf wollte der Schulzefrige einen leiblichen Eid ablegen, 
obwohl er den Reiter nur einen Augenblid in Obacht nehmen fonnte, al3 er gejtern 
abend eben um die Kirchhofmauer bog und im jchneller Gangart unter den Buchen 
verschwand. Mit rajchem Blid habe der Fritze übrigens auch jo viel noch bemerkt, dal 
am Sattel Pijtolenhalter gewejen jeien, aus denen Kolben — t hätten. Gott: 
lob, der von dem Verkauf der Meierei unterrichtet war, gab zum Schluß das Votum 
ab, wie er glaube, dag der Weiter fein anderer ſei, al3 der neue Herr Nachbar 
aus dem Waldthal. Webrigens fünne e8 ja gern auch irgend ein anderer als der 
gewejen fein, gab Gottlob zu. Damit war jein Verhör zu Ende, und er verließ das 
Gemac mit dem Hochgefühl eines vom Richter vernommenen Zeugen, der eine dunkle 
Rechtsfrage aufgeklärt hat. Ä 

„Sch kann es nicht verhehlen,“ gejtand Alma, „daß der jeltiame Unbefannte mich 
ängftet. Der tolle Ritt gegen zehn Uhr abends, eine drohend erhobene Hand, Die ich 
nur zu deutlich gejehen, jogar Waffen: was hat der Menſch vor? Am Ende entlarvt 
er fich doch als neuer Karl Moor, der böſe Abjichten auf unfere Sicherheit, auf unjer 
Eigentum im Schilde Führt. Vielleicht hat er nur unbeachtet, wie er gehofft haben 
mag, das Terrain refognoszieren wollen.“ 

„Die Sache foll gründlich unterjucht werden,* tröftete Kurd, „ängſtige dich nicht 
weiter.“ 

„Der Schred ftedt mir noch lähmend in allen Gliedern,“ Elagte die Gräfin, 
deren frische Gefichtsfarbe auffällig abgeblaft war. 

Henning juchte die Gräfin wegen ihrer Bejorgnifje zu beruhigen, indem er ihre 
Aufmerfjamfeit auf das Weſen der Furcht binlenfte. 

„Ein plößlicher Schred,“ führte er aus, „wirkt zunächit körperlich, erjchüttert 

flüchtig das vom Willen [osgebundene Nervenſyſtem. Die Furcht dagegen iſt ein 
Zuitand, der dur) das Losreißen des Gefühlsorgans von der Botmäßigfeit des 
herrichenden vernünftigen Willens gejchaffen wird. Das Berhältnis wird derartig auf 
den Kopf geitellt, da der Wille vom zagenden Herzen feine Richtung empfängt. Der 
einzige unfehlbare Negulator, der dag verjchobene Gleichgewicht wieder herjtellt, ift 
der zuverjichtliche Glaube, daß fein Haar ohne Gottes Willen von unferem Haupte 
jällt. Solches durch Erfahrungen bewährte Vertrauen, verehrte Gräfin, wurzelt in 
der — zum Lenker unſerer Schickſale. Denn die Liebe treibt bekanntlich die 
Furcht aus.“ 
„Warum biſt du, mein lieber Henning, nicht —— der Moralphiloſophie 
geworden?“ ſcherzte Kurd in feiner derben, wiewohl harmloſen Weiſe. Erregung einer 
heiteren Laune hielt er ſeinerſeits für das wirkſamere Mittel, die Furcht auszutreiben. 
Deshalb kam er auf Almas Beſorgniſſe zurück und ſuchte ſie ins Lächerliche zu ziehen. 
Die Mittel zu dieſem — waren nun freilich nicht ſehr glücklich gewählt. Denn 
die ironiſche Abſicht blieb trotz ſeiner lächelnden Mienen wirkungslos. 

„In der Allee ſteigt er vom Schimmel,“ phantaſierte der luſtige Graf mit aus— 
drucksvollem Gebärdenſpiel. „Dann umſchleicht er lauernd das Schloß — verſteckt ſich 
in der geräumigen Hundehütte — ſobald die Lichter erloſchen, erklimmt er das Dach 
— gleitet ſachte durch den Schlot — und iſt er erſt im Hauſe, kommt er wie Mozarts 
ſteinerner Gaſt: tapp, tapp, tapp —“ 

Drei laute Schläge an den Fenſterſchalter erſtickten Kurds Rede. Unter den 
friſchen Eindrücken des Erlebten ſank die Gräfin marmorbleich in die Sofakiſſen zurück. 
Bei dieſem Anblick verlor auch Kurd für einen Augenblick die Faſſung. Er ſchellte 
ungeſtüm und rief zugleich nach Dienerinnen. Dann führte er die erregte Gemahlin, 
die über Kopfichmerz Hagte, in ihr Schlafgemach. 


Ein Vertrag. 1021 


Henning war indejjen ans Fenſter geeilt, Hatte den Schalter aufgejchloffen und 
mit einem Draußenjtehenden einige rajche Worte gewechjelt. — 

Als Kurd nad) geraumer Weile wieder in das grüne Gemach trat, ſchwang der 
Freund ihm ein blaues Kouvert entgegen. 

„Die Adrefje lautet ‚Graf Dieffemberg‘," jagte Henning ruhig. Verdroſſen riß 
Kurd das Telegramm aus der Hülle. Die in englifcher Sprache geichriebene Depejche 
war ‚‚zrancis‘ unterzeichnet. Sie Fündigte den zum 28. Auguft fälligen Bejuc des 
Pieifersheimer Vertragsgenoffen und feiner Gemahlin, der Lady Lucy Mac-Bell an, 
mit der Bitte um einen Wagen bis zur nächſten Eifenbahnftation. 

Kurd fand die Zeit folcher Anmeldung ſehr fchlecht gewählt, behauptete, alle Eng- 
— ſeien rückſichtsloſe Leute, und zog ſich für die Nacht zu der leidenden Alma 
zurüd. 

Auch Henning juchte die Ruhe. Gottlob leuchtete ihm voran. 

„Warten Sie einen Augenblid,* befahl der Graf, in feinem Wohngemach ange 
langt. Er öffnete ein Etui mit homöopathifchen Heilmitteln in Gläschen. Endlich 
fand er das Gefuchte. 

„Das wird's thun!“ ſagte er zuverjichtlich und jandte den Diener mit demfelben 
an die Gräfin ab, nachdem er ihm eine Gebrauchsanmweijung erteilt. Gottlob jchüttelte 
ungläubig den grauen Kopf dazu. 

„Drei Tropfen?“ wiederholte er halblaut, als er die Treppe hinabitieg. 


Alte Freunde. 


Die Gejellichaft, welche jih am legten Abend in erregter Stimmung getrennt 
hatte, fand ſich den nächſten Morgen vollzählig am Frühſtücktiſch wieder —— 
Auch der Kapellmeiſter Leopold Giete nahm am Frühftüd teil. 

E3 war der achtundzwanzigjte August: nach dem Pfeifersheimer Vertrag der Tette 
Termin, der den zuerjt vermählten Genoſſen, Grafen Dieffemberg, verpflichtet hatte, die 
anderen drei Freunde nach Bilamsdorff zu entbieten. Bon den vier Jugendfreunden 
fehlte bis jet Hinrich Freiſinger, deſſen Aufenthaltsort fich in undurchdringliches Dunfel 
hüllte. Francis wurde heute erwartet. 

Der achtundzwanzigfte Auguft gewann zugleich Bedeutung anderer Art. Es war 
der Gräfin Alma Geburtstag, Man empfing regelmäßig zu diefem Feſt eingeladene 
Gäfte von den nächjten Landfigen und aus der benachbarten Kreisitadt. Deshalb follte 
heute große Tafel im „Eal’ a Terra” ftattfinden. Von dem Gärtner war fejtlicher 
Blumenjchmud entfaltet. Kurd und fein Gaft huldigten der Gefeierten mit gewählten 
Geſchenken. 

Gräfin Alma, welche die dargebotenen Ueberraſchungen mit herzgewinnender Freude 
aufnahm, erklärte, durch Hoyers homöopathiſches Mittel von der geſtrigen Nerven— 
erſchütterung völlig geneſen zu ſein. Kurds praktiſcher und nüchterner Verſtand 
ſträubte ſich, an die Birfung zu glauben. 

„Begreifen läßt fie jich auch nicht,“ räumte Henning troden ein. „Aber das winzige 
Mittelchen Hilft.“ 

„Daß es mir geholfen, davon bin ich durchdrungen,“ verficherte Alma. 

„Einen Keber wie mich,“ beharrte Kurd, „werdet ihr jchwerlich befehren. Meines 
Erachtens gehört die Homöopathie zu den Zeichen der Zeit. Ehedem glaubte man an 
Zauberei, Gejpenjter und Hexen; jpäter an Mesmerismus und Geifterjeher. Auch jolchen 
Unjinn brachte man in eine Art von wiljenjchaftlicher Methode und gelangte dann 
zum Spiritismus. Aus dem tiefen Bedürfnis nad) Anknüpfung mit dem Ueberfinn- 
lichen erflärt fich der Hang zum Moftifchen. Entleert fich diejer aber von jittlichem 


1022 Ein Vertrag. 


Inhalt, Schlägt er um in Wunderjucht. Die lodte ſtets hinab in den Sumpf aber- 
gläubifcher VBorjpiegelungen. Und der gejunde Menjchenverftand irrt, wie ein Schatten 
am Kofytos, auf dem Ufer jenes Sumpfes umher und jchwingt Hagend und warnend 
die Pechfadel der Wiflenjchaft darüber. Denn Bernunft und Wifjenjchaft bleibt der 
Ahnung des Uebernatürlichen jede Erklärung jchuldig.“ 

„Unerflärlich ift doch auch manches, was wir jeden Tag thatjächlich vorgehen 
ſehen,“ entgegnete Henning. „Aber eben deshalb müfjen wir einen himmelweiten Unter: 
ſchied anerkennen zwischen abergläubifchen Vorſpiegelungen und Thatjachen, die wir 
nicht begreifen und als Wunder zu bezeichnen pflegen. Dahin gehören zum Beiſpiel 
Momentbilder, deren Erzeugung wohl eine Analogie bieten könnte für die Wirkjamfeit 
homöopathiſcher Heilmittel.“ 

„NRämlich?* fragte Kurd ungläubig. 

„Etwa ſo,“ meinte Henning. „Denkt man jich das Nervenſyſtem oder ein Lebens— 
organ durch irgend welche Störung in äußerſt gereizten Zuftand verjegt, jo erklärt 
uns die präparierte Glasplatte wenigſtens analogiſch die Möglichkeit einer Wirkung 
der faſt aller Subjtanz entäußerten Gifte der Homoöpathie. Denn der flüchtige Licht: 
eindrud fann es ſehr wohl begreiflidh machen, daß eine Erregung vorgehe, die ver: 
mittelt leifefter Berührung des zur Empfänglichkeit aufgejtörten Organismus mit einem 
Minimum des geeigneten Stoffes die Neaftion der Genejung herbeiführen fünne.* 

Eine Pauje trat ein, während welcher Alma dem unerjchrodenen Verteidiger der 
homdopathijchen Geheimniffe dankbar die Hand reichte, Gieje mit großer Aufmerkſamkeit 
jeine wohlgeformten Fingernägel betrachtete und Kurd nachdenklich das Haupt wiegte. 
Dann zog er die Uhr und jchellte. 

„Friedrich,.“ fragte er den an der Thür erjchienenen Diener, „it Wilhelm nad) 
der Bahn gefahren?“ 

„Zu Befehl, Herr Graf, vor einer halben Stunde," antwortete Friedrich mit 
joldatischem Anftand. Der Graf nidte und entließ ihn. 

„Ich bin geipannt auf die Lady Mac-Bell,“ jagte Alma. „Hoffentlich gehört fie 
nicht zu jenen jtolzen englischen Ladies, die mit einer gewijjen, man möchte jagen, 
altteftamentlichen Ausjchließlichkeit Anerkennung fordern für die Vorrechte ihrer Nationalität 
und ihres Neichtums. Wann hat denn Sir Francis geheiratet? Und warum hat er 
uns nach dem berühmten Pfeifersheimer Vertrag nicht pflichtjchuldige Nachricht von 
jeiner Vermählung gegeben?“ 

„Er meinte damals,“ erinnerte ſich Kurd mit einem unterdrüdten Gähnreiz, 
„Verträge jchliege man nur, um fie zu brechen. Wird wohl auch die Urjache jein, 
daß er auf meine Anzeigen weder im vorigen noch vorvorigen Sommer hier antrat.“ 

„Berheiratet war er im legten Sommer noch nicht,“ verteidigte ihn Henning. „Und 
daß er nicht hier war, erklärt jich wohl aus verjchiedenen diplomatischen Sendungen, 
zu denen die englifche Negierung den Gejchäftsträger, welchem Sir Francis als 
Sefretär zugeteilt war, in den legten Jahren häufig veranlaßt hat. Seine amtliche 
Station war früher Konftantinopel. Wo er jeßt jteht, weiß ich nicht. Unſer Brief- 
verfehr jtoct jeit geraumer Zeit.“ 

„Seine geftrige Depejhe war in Wien aufgegeben," bemerkte Kurd. „Nun, es 
ift zum mindejten achtbar, daß er jeiner Verpflichtung von Pfeifersheim in der zwölften 
Stunde noch gedenkt. Und da auch Trutheimb mit jeinen Damen und unferem alten 
Mar Ningelin ſich angemeldet hat, fehlt bis jegt nur noch FFreifinger, der die ganze 
Vertragsgeichichte doc damals jo jelbitgewiß aufs Tapet brachte. Mit ihm würde 
die Hoffnungsvolle Jugend von WPfeiferöheim wieder einmal vollzählig beijammen 
boden. Doc, vielleicht überrajcht uns der große Barde noch,“ tröftete ſich Dieffem— 
berg. „Sie würden in ihm einen interefjanten Kollegen fennen lernen, lieber Kapell— 
jmeifter, mit dem Sie über Kunftfragen vom Standpunkt der allgemeinen Seelenjchwind- 
ucht nach Herzensluſt philofophieren könnten.“ 


Ein Vertrag. 1023 


„Würde mich jehr freuen,“ beteuerte Gieſe etwas zweifelmütig. Hennings Hoff: 
nung auf Hinrichs heutiges Crjcheinen in dieſem Freundeskreiſe war can nur 
gering. Aus jeinem VBriefwechjel mit der Mutter jeines Jugendfreundes hatte der 
Graf erfahren, daß Hinrich nach einem jehr unglüdlichen theatraliichen Verſuch auf 
der Opernbühne einer norddeutjchen Provinzialhauptitadt, in Newyorf und Baltimore 
als Bühnen» und Liederjänger ungewöhnliche Triumphe errungen habe. „Den lebten 
Brief, der wieder Anklänge feiner alten jchwermütigen Stimmung enthielt, empfing 
Hinrichs Mutter vor drei oder vier Jahren. Seitdem haben wir jeine Spuren völlig aus 
den Augen verloren. Um fie aufzufinden, wandte ich mich an die deutjche und Durch 
Vermittelung unferes damals in Wajhington anmejenden Freundes Francis ſogar an 
die englifche Gejandtichaft, aber leider ohne den dringend gewünjchten Erfolg.“ 

„Ufo völlig verſchollen?“ fragte Alma mit teilnehmender Betrübnis. „Wie nun,“ 
tief fie plöglic) und ihre Mienen erhellten fich unter der Wirkung eines aufleuchtenden 
Gedanfens, „wie nun, wenn der amerikanische Bürger die Meierei auf jo geheim- 
nisvolle Weife nur angekauft hätte, um ſich uns als Freund FFreifinger zu ent- 
larven ?“ 

„Wahrhaftig, ein gloriojer Einfall meiner Alma Mater!“ jcherzte Kurd. „Ich will 
fogleich einen Wagen nad) der Meierei ſchicken.“ 

„Nur feine Webereilung,* beruhigte Graf Hoyer des ‚Freundes Eifer. „Zeit und 
Umstände würden jolche Vorausjegung gewiß gerechtfertigt erjcheinen laſſen; aber leider 
macht Hinrichs ebenjo geradjinniger als erplojiver Charakter und feine freundichaftliche 
Treue eine jo überlegte und verjchmigte Abjicht mir mehr als zweifelhaft. Sollten 
Sie aber trogdem das Rechte getroffen haben, verehrte Gräfin, meine ich doch, daß wir 
uns in Geduld faſſen müfjen, um ihm die Freude einer etiva geplanten Ueberraſchung 
nicht zu verfürzen. Heute ift ja der verabredete Tag des Wiederſehens. Mein 
Verlangen danach hat fich durch die Möglichkeit nahe bevorftehender Befriedigung, ich 
verhehle es nicht, jehr lebhaft gejteigert. Doc will ich ruhig erwarten, was Die 
nächſten Stunden uns bringen.“ 

Dieffembergs ftimmten diejer Erflärung rüdjichtsvoll bei. 

Freifinger, dem ein Mann wie Graf Hoyer eine fo zartfinnige und treue Freund: 
kin bewahrte, erregte Almas Anteil. Sie wünjchte Näheres von feinem Schidjal zu 
erfahren. 

„Du verhießeſt ihm ja bejtimmt, bei jeiner erjten Opernleiftung anwejend zu fein,“ 
erinnerte Kurd in der Vorausjegung, daß Henning jein Vorhaben nicht ausgeführt 
haben möchte. ALS diejer ihn aber mit der Berficherung überrafchte, fein Wort richtig 
eingelöjt zu haben, machte Dieffemberg ein langes Geficht, und Alma bejtand darauf, 
mehr davon zu hören. Gieje beurlaubte fich, weil er mufikalische Vorbereitungen für 
das Diner zu treffen habe, ließ ſich aber zurüdhalten. 

„Das Programın der Tafelmufif können Sie nachher noch zujammenjtellen,“ 
erklärte Kurd. „Hören Sie die Gejchichte von einem Fiasfo Ihres Kollegen immer mit 
an. WBielleicht wird es lehrreich für Sie,“ fette er nedend hinzu. 

Gieje verneigte jich mit einiger Verlegenheit und blieb, zumal Hoyer ihm zuredete. 
„sch habe Feine Geheimnifje zu enthüllen,“ verficherte er, „und Sie können mir vielleicht 
mit Ihrer Sachkenntnis Hilfreich werden. Hinrichs erfte Leiftung, an die ich ungern 
zurückdenke, war die Titelrolle in Figaros Hochzeit.“ 

„In dieſer verantwortlichen Rolle zu debütieren, jegt eine jeltene Sicherheit vor: 
aus,“ bemerkte Giefe. 

„Mit dem Studium des Figaro plagte er fich und uns jchon in Pfeifersheim,“ 
erläuterte Kurd. Darauf ahmte er nicht Fehr zartfühlend die nervöſen Zudungen des 
Kopfes und der Schultern, wie das geräufchvolle Räuspern nad), wodurd Hinrichs 
unbehaglihe Stimmung und innere I ug fi) früher anzufündigen pflegte, 
wenn ihm gejangliche und andere Schwierigkeiten Verdruß bereiteten. 


1024 Ein Vertrag. 


Henning jchien das nicht zu bemerfen. „Auf dem Zettel,“ erzählte er ungeftört 
weiter, „hatte man durch die Anmerkung ‚Erjter theatralifcher Verjuch‘ eine wohl- 
wollende Aufnahme des Neulings angerufen. Tas Haus war überfüllt. Kaum 
gelang es mir, der ich ohne Vorwiſſen Hinrichs erjt nachmittags die Stadt erreichte, 
noch einen Pla in der Projzeniumsloge des erjten Ranges zu erobern. Aus der 
Unterhaltung meiner Nachbarn ließ ſich erfennen, daß diefes Debüt ungewöhnliche 
Spannung errege. 

„Nach der, wie es mir jchien, etwas mangelhaft vorgetragenen Ouvertüre rollte 
der Vorhang empor. Sufanne, eine geübte etwas äftliche Soubrette, fofettierte mit 
fich jelbft am Spiegel. Hinrichs Geftalt bewegte ich gejchmeidig mit dem Maßſtab 
im Hintergrunde. Die enganjchliegende Kleidung des jpanifchen Kammerdieners lieh 
jeinen fräftigen, jchlanfen Wuchs, der den Eindrud des VBornehmen machte, jehr vor- 
teilhaft hervortreten. Ein beifällig8 Gemurmel lief durch die Räume des Hauſes. 
Beim Einſatz feines Gefanges* — 

„Fünfe — zehne,“ jummte Gieſe halblaut wie erläuternd dazwiſchen. 

„Ganz recht!" nicte der Erzähler, „bei diefen Einjägen hörte man von verjchie- 
denen Seiten ein überrajchtes ‚Ah!‘ Der Ton lang fernig und voll. Und die aus— 
gejprochenen Textworte waren leicht verjtändlich. Als er aber vor der Rampe mit 
der gewandten Soubrette zujammen zu agieren hatte, trat freilich die Ungeübtheit des 
Neulings fogleich hervor. Doch die wohlwollende Stimmung der Zujchauer, die ihm 
augenscheinlich entgegenfam, ließ fich dadurch nicht beirren. Man erfreute fi) an dem 
Wohllaute der trefflich gejchulten Stimme und an der angenehmen Gejtalt des 
Debütanten. Bedenklicher wurde jchon die Sache, als diejer in feinem Zwiegeſang 
mit Sufannen nicht völlig gleichen Schritt hielt, jondern aus gewohnter Selbjtbejtim- 
ara die Hilfen des leitenden Taktſtockes überjah und jeinen eigenen Weg ver- 
olgte.“ 

„Drum,“ ſchmunzelte Kurd, „heißt er ja Freiſinger.“ 

„Aut“ entfuhr dem gräflichen Kapellmeiſter, der mit ſeinem Tuch haſtig feinen 
Mund verbedte, während Alma begütigend lächelte. 

„Fühlte Hinrich jein Verſehen,“ fuhr Graf Hoyer fort, „traf ihm ein unwilliger 
Blick vom Dirigentenpult, oder glaubte er, was mir das Wahrjcheinlichjte iſt, die 
Sängerin habe es faljch gemacht: kurz, ich erjchraf, als ich wahrnahm, wie jeine fun— 
felnden jchwarzen Augen unjtät Hin und her zu rollen begannen, worauf die ſeltſamen 
Schwingungen des Oberförpers nicht lange ausblieben. Dieſe auf der Bühne ganz 
außergewöhnlichen Krampfäußerungen jchienen anfangs allgemeine Beftürzung hervor- 
zubringen. Die Ueberrajchung machte jich aber bald in Bemerkungen Luft, die das 
Haus wie mit einem unbeimlichen Saufen erfüllten. Gflüdlicherweife ging dieſer 
Zwiſchenfall und das Duett noch leidlich vorüber, jo daß man wieder freier aufatmete. 
Nach dem folgenden furzen Dialog, den Hinrich jeinerjeit3 mit jeinem fchweizerischen 
Accent etwas unverjtändlich jprach, blieb er, wenn id) nicht irre, jogleich allein auf der 
Bühne — nicht wahr, Herr Gieje?“ 

„Gewiß, Herr Graf,“ bejtätigte Gieje, „die Solojzene ſchließt mit der munteren 
Arie ‚Will einit das Gräflein ein Tänzchen wagen‘. Uebrigens bin ic) auf den Einjaß 
gejpannt, der ohne Borjpiel zugleich mit dem Orchejter in Frdur anhebt. Für Sänger, 
die nicht tonficher find, eine heiffe Aufgabe! Man pflegt ihnen deshalb durch ein wenig 
bemerfbares Pizzicato den Ton furz vor dem Einjag zu foufflieren.“ 

„Dieje Hilfe mochte der Aermſte überhört haben,“ erzählte Henning bewegt weiter, 
„denn er verfehlte völlig die richtige Tonhöhe und jang mit Nichtachtung aller Be: 
mühungen des Slapellmeifters, als ob er ganz allein wäre, in der mißlautenden Stim— 
mung weiter. Das Orchefter verjtummte endlich. Nun erjt bemerkte Hinrich, daß er 
ohne alle Begleitung jinge Und gemäß jeiner oft unbegreiflichen Rückſichtsloſigkeit 
rief er mit äußerjter Erregung ins Orcefter hinunter: ‚Sie jpielten ja total falſchle — 


Ein Vertrag. 1025 


Zugleich kehrten die ſchrecklichen Konvulſionen wieder, jein ganz ungebührliches Räufpern 
gejellte jich dazu und endlich entlud fi) der Krampf in jenem anhaltenden und unge: 
jtümen Niefen, Hinrichs —— wie Francis es ſeinerzeit nannte.“ 

„Weniger als fünfundzwanzigmal hintereinander habe ich ihn nur ber einer einzigen 
Gelegenheit niefen hören,“ erläuterte Kurd. „Damals fam das fünfundzwanzigfte Mal 
nicht ganz zum Ausbruch.“ 

„Eine wahrhaft tragi-komiſche Geſchichte,“ äußerte die Gräfin. „Wie verlief denn 
endlich das Unheil?“ 

„Der Vorhang rollte herab,“ jehte Henning feinen Bericht fort, „und man hörte, 
unerachtet des tumultuarischen Lärms im Zuſchauerraum, wie Hinrich fich niejend von 
der Bühne entfernte — Bald nachher erichien ein Schaufpieler in jchwarzem rad 
vor der Gardine und erklärte, Herr Freiſinger, der plöglic) von einem Anfall gänz- 
licher Geiftesverwirrung überrajcht worden, werde durch einen anderen Sänger jogleich 
erjegt werden. Bei der eingetretenen Stille im Haufe glaubte ich Hinter der Szene 
auf meinem Platz in unmittelbarer Nähe der Bühne einen tobenden Lärm zu vernehmen, 
aus welchem Hinrichs erhobene Stimme deutlich hervorzufchallen jchien. Nicht ohne 
langwierige Weiterungen glüdte es mir endlich, Einlaß zur Bühne zu erhalten. Durd) 
einen heftigen Wortwechjel geleitet, gelangte ich in den durch Bretterwände abgekleideten 
Raum der Herren-Garderobe. Hier fand ich den unglüdlichen Freund. Mit eijernem 
Griff drüdte er einen Mann in bürgerlicher Kleidung an die Wand und überjtrömte 
ihn mit Vorwürfen, weil er den Vorhang habe zur Unzeit fallen lajjen. Es war der 
Negiffeur, der jich zu befreien vergebliche Anftrengungen machte. Erjchroden und furcht- 
jam in fcheuer Ferne umftanden die Gruppe in ihren bunten Koftümen die Sänger 
und Sängerinnen, wie auch Arbeiter in Hemdärmeln. Keiner von allen wagte dem 
Negifjeur zu Hilfe zu fonımen. Lange bemühte ich mich vergebens, den rajenden Roland 
auf meine Nähe aufmerkſam zu machen. Endlich nahm er meine Hand wahr, die auf 
jeiner Schulter ruhte. Er wandte wild jein zornglühendes Geficht mir zu, erkannte 
mich, ftieß mit einem grellen Schrei meinen Namen hervor, ließ fein unglücdliches 
Opfer fahren, raffte Mantel und Hut zufammen und jtürzte durch den Ausgang des 
Theaterd auf die Strafe. Das alles geſchah jchneller, als es fich erzählen läßt. 
Meine bunte Umgebung war erjchüttert und betäubt wie ich ſelbſt. Der Regiſſeur 
fand zuerjt wieder Worte. Er jchäumte vor Wut und wollte den Angreifer jeiner 
unantaftbaren Perſon und Autorität polizeilih verfolgen laffen und dem Gericht 
überliefern. Ich bot meine ganze Ueberredungskunſt auf, jchilderte ihm Hinrichs Ber: 
gangenheit, jeinen krankhaften Gemütszuftand, jeinen braven, liebenswerten Charakter 
und nach andauernden Bemühungen gelang es mir, den Zorn de3 Gekränkten joweit 
zu bejänftigen, daß er verſprach, es bei der jofortigen Entfernung des gefährlichen 
Menjchen aus dem Opernverbande bewenden lajjen zu wollen. — 

„Eine Stunde mochte die Unterredung nahezu gewährt haben. Die Oper hatte 
inzwijchen ihren ungeftörten Verlauf genommen. Endlich eilte ich nad) Hinrichs Woh— 
nung, von einem Theaterdiener geführt. 

„sch Fam leider zu jpät. Die freumdliche Wirtin empfing mich mit verjtörten 
Mienen. Sie hatte mich erwartet und überreichte mir einen Brief, an mich von 
Hinrichs Hand adrejjiert. Es waren nur wenige Beilen: rührende Abjchiedsworte 
eines Scheidenden, ‚der fich in einer langen Reife anſchickt nach dem Lande, wo das 
ng, wir die Geſtalten verffärt‘; dann die Bitte, feine Habjeligfeiten verfteigern und 
den Erlös jeiner armen Mutter mit meinen Trojtzufprüchen zugehen zu laſſen. Seine 
philojophijchen Schriften, namentlich die von Fichte, bat er mich zum Andenfen an 
meinen unglädlichen Freund aufzubewahren, der das Opfer einer trügerijchen Lebens— 
weisheit geworden fei. ‚Die Philofophie fordert ihr Opfer. Ich bringe es ihr. Dein 
— treuer und dankbarer Hinrich; So ſchloß der Brief. In einer Nachſchrift 
eſchwor er mich noch, jeine Spur nicht zu verfolgen. — Aljo hatte er jein Haus mit 


1026 Ein Vertrag. 


überrajchender Ruhe und Ueberlegung bejtellt, den Nejt ſeines Mietzinjes erlegt und 
der Wirtin mit genauen Bejtimmungen eine fleine Summe zur Tilgung einiger unbe: 
deutender VBerbindlichkeiten hinterlaffen. Seine Uhr, feinen mir wohlbefannten Siegel: 
ring und eine leere Geldtajche fand ich auf dem Tiſche und habe diefe Gegenftände 
jeiner Mutter zugehen laſſen.“ 

Henning jchwieg bewegt. 

„Seine Abjicht, Hand an jich zu legen, hat er nach deinen vorherigen Mitteilungen 
aljo nicht ausgeführt,“ unterbrach Kurd das eingetretene Schweigen erleichtert. „Aber 
ich würde jeine Epur troß jeiner Bitte verfolgt haben.“ 

„Einen Tag lang band ich mic mit Widerftreben an jeinen Wunfch, der ja einer 
legtwilligen Beitimmung gleichjah,“ entgegnete Henning; „die darauf eingeleiteten Nach— 
forjchungen blieben leider erfolglos. Und erft als ich nad) Verlauf eines halben Jahres 
von jeiner Mutter erfuhr, daß er ihr aus New-York einen ruhigen, vernünftigen Be- 
richt über feine dortige fünftlerische Wirkjamfeit erftattet habe, tröftete ich mich über 
das Schidjal des Totgeglaubten, defjen jpäteres Los freilich fich wieder im tiefes 
Dunkel gehüllt hat.” — 

Die nachdenklihe Stimmung der Gejellichaft verkehrte jich in geſchäftigſte Munter- 
feit und Bewegung, als Gottlob meldete, joeben fahre die Trutheimbiche Equipage die 
Allee herauf. Man beeilte fich, die Gäſte am Eingang des Schloffes zu empfangen. 
Gieje benugte die Aufregung, unbeachtet zu verjchwinden. 

Das Gejpann von friejischer, fräftig und hochgebauter Raſſe trabte eben die an- 
fteigende Rampe des Schlofjes hinan, als Kurd und Alma die weitgeöffnete Hausthür 
erreichten. Man begrüßte die Gäfte mit munteren Wechjelreden und Händejchütteln. 

Sn der Begleitung des Freiherrn Juftus von Trutheimb, eines wohlbeleibten, 
unterjegten Bierzigers, deſſen fugelförmig gewölbtes Haupt bis zum Scheitel von 
Haaren entblößt war, befanden ſich drei Damen: feine Gemahlin Dlga, jeine Nichte 
Adeltraut von Trutheimb und deren Freundin Marie Ringelin. Olga war befanntlich 
eine ältere Echweiter Kurds. Die Väter Adeltraut3 und der Gräfin Alma waren 
Brüder des Freiherrn Juftus geweien. So verknüpften mehrjeitige Bande nicht nur 
der Freundſchaft, Sympathie und Nachbarjchaft, jondern auch der Blutsverwandticdaft 
und Berjchwägerung die Familien des Freiherrn und des Grafen. 

Marie weilte jchon jeıt Wochen als gern gejehener heiterer Gaft auf Schloß Imshuth 
und wurde von Alma mit Herzlichfeit wie eine liebe Bekannte aufgenommen. Kurd 
begrüßte fie mit der Frage nach ihrem „Brüderchen Mar, dem Lord Nittmeijter,“ wie 
er ihn jcherzend betitelte. Er habe noch eine briefliche Dienſtſache raſch zu erledigen 
befommen, als jchon der Wagen vor der Thür gejtanden, entjchuldigte Marie den 
Bruder, werde aber bald nachfolgen, da der Freiherr ihm ein rajches Pferd zur Ber: 
fügung gejtellt habe. 

Olga erfundigte jich alsbald nach Almas „jühem Baby, dem Stammbhalter der 
Dieffemberg- Bilamsdorffer“. Die jungen Damen, namentlid) Wdeltraut, welche jeit 
einigen Jahren im Hauje ihres Oheims fich durch ftilles Walten nützlich machte, 
äußerten ihren lebhaften Wunjch, den Eleinen hübſchen Prinzen fogleich begrüßen zu dürfen. 

Man zog fich eben unter lauten Sundgebungen der fröhlichjten Laune in das 
Innere des Schlojjes zurüd, als der gräffiche Wagen die engliichen Gäjte von der 
Eijenbahnjtation brachte. 

Den Baronet Sir Francis fand Kurd wenig verändert. Juſtus Trutheimb 
hatte ihm zu Pfeifersheim kaum beachtet, aber jpäter in diplomatischen Angelegen- 
heiten wiederholte Begegnungen mit ihm erlebt. Sir Francis ftellte jeine Gemahlin der 
Gräfin und den beiden ie vor. 

Lady Lucy Mer Bells Anblid erinnerte den Grafen Diefjemberg daran, daß jie 
im Muſikſaal von Pfeifersheim einander einmal gejehen hätten. Francis beftätigte 
dieje Begegnung und befannte, daß er jeine jegige Gemahlin damals bereits geliebt 


Ein Vertrag. 1027 


habe. Lucy Grifford war die Tochter eines großen Kaufherrn in Chicago und lebte 
gleichzeitig mit Francis in derjelben deutjchen Rejidenzitadt, um ſich in der Sprache, 
in jchönen Künften und in Aneignung deutjcher Lebens» und Verkehrsformen auszu- 
bilden. Ihr liebenswürdiges Entgegenfommen bei der Begrüßung überzeugte die Gräfin 
Alma jofort, daß ihre Bejorgnifie unbegründet gewejen, und flößte ihr fröhliches Ver— 
trauen zu der engliichen Gajtfreundin ein. Sie führte die Lady jelbjt in ihre Ge- 
mächer. Die drei Herren ftiegen indejjen die breiten Stufen der Treppe hinan und 
erreichten munter plaudernd das Empfangszimmer, wo Graf Hoyer jie längſt er- 
wartet hatte. 

„Hier bringe ich fie dir, mein alter Henning,“ rief Kurd diefem mit launigem Mut— 
willen entgegen. „Sir Francis, den Bejtändigen — denn abgejehen von der Sote- 
fettenplantage jeiner Wangen, ift er vom Wechjel und Wandel der Jahre unberührt 
geblieben; und bier ijt auc mein Schwager Juftus, der Gerechte von Trutheimb, der 
ſphäriſche Freiherr.“ 

Der jo Bezeichnete gewährte den Freunden den vollen Genuß des Anblids feiner 
gerundeten Leibesgejtalt, indem er ſich mit ausgejtredten Armen um feine Achje drehte. 
Er behauptete, nur der Neid ſpreche aus jeinem „langen dürren Schwager“ Kurd, 
wenn er jchlechte Wie mache über das erfolgreiche Streben anderer nad) Voll- 
fommenheit. 

„Das Sphäroid oder die Kugel ift allerdings die vollfommenjte aller Formen,“ 
ergänzte Henning heiter; „die Kugel hat alle Eden und Spigen abgeichliffen,“ fügte 
er mit einem beziehungsvollen Seitenblid auf den jpottluftigen Kurd Hinzu. 

„sn der Kriegführung,* parierte Kurd den wohlgezielten Hieb, „hat man dod) 
die Erfahrung gemacht, daß die Kugel weniger ausrichtet als das Langgeſchoß.“ Bei 
diefem legten Worte richtete er jeine hohe und fchlanfe, aber feineswegs hagere Geitalt 
ihrer ganzen Länge nach jteil empor. Man lachte, fchüttelte einander die Hände, nahm 
einen erfriichenden Trunk alten Portweins und ging allmählich in einen ernfteren 
Unterhaltungston über. 

Der Anteil, den Dieffemberg und Trutheimb als Landesältejte dem Schidjal der 
ritterfchaftlichen Grundbefiger ihres Kreifes widmeten, ihre unter dem wachjenden Drud 
der Finanzipefulation jo häufige Verarmung pflegte den beiden Schwägern bei jeder 
Begegnung reichlichen Stoff des Gedanfenaustaufches darzubieten. Auch jet jtimmte 
Kurd dieſes Thema an. 

So lange die Erörterung jolcher Webelftände in Grenzen des Allgemeinen ſich 
bewegte, beteiligten fich auch Francis und Henning daran. Als aber Kurd die Rede 
auf die jüngjt wieder notwendig gewordene Sequejtration eines „gewiſſen“ Ritterguts 
jeitens der Yandjchaft hinlenkte, zog Graf Hoyer den Engländer diskret in eine Fenſter— 
nijche, um dort mit ihm eine Angelegenheit zu bejprechen, welche für ihn die Bedeu: 
tung einer perjönlichen Herzensſache jchon längſt gewonnen hatte. Cie betraf die 
Ergebnifje chrijtlicher Liebesarbeit, welche der würdige Dr. Gobat in Jerujalem als 
Biſchof einer vieljpradhigen, verwahrloften Diözeje übte, deren Ausdehnung fich über 
run Syrien, Aegypten und Abejjinien erjtredte. Sir Francis hatte wiederholt 

elegenheit gefunden, als Gejandtichaftsiefretär in Konftantinopel, wo er noch gegen: 
wärtig jtationiert war, die apoftolifche Wirkſamkeit Gobats zu beobachten und jchägen 
u lernen. Francis, der fich jest feiner englifchen Mutterjprache bediente, wußte den 
eifpiellojen Mut des Gottvertrauens nicht hoch genug zu preifen, mit welchem 
Gobat die Dornenfrone feiner bifchöflihen Mitra trug, unerhörten Schwierigkeiten 
die Stirn bot und wie ein friegeriicher Held das Panier der Hoffnung aus den 
ee Mikerfolgen und Demütigungen immer wieder fiegreich empor- 

wang. 

Henning neigte beftätigend das Haupt und gedachte der Gehäſſigkeit von jeiten 
des engliichen Konjuls zu Ierufalem, als Gobat mit einigen britischen Gefinnungs- 


1028 Ein Bertrag. 


enofjen fich gegen die Anerfennung eines zum Bizefonjul ernannten walachiichen 
uden von jehr zweifelhaften Charakter jträubte. Infolge dejjen verhängte gar jener 
feindfelige Konjul über den Bischof und feine Freunde jchmachvolle Beraubung ihrer 
reiheit. — 
6 ee erinnern fich aber,“ jagte Francis, „daß dieje That des Konſuls in ganz 
England einen Schrei der Entrüftung bhervorrief, daß der Biſchof und feine Mit- 
gefangenen fraft telegraphijchen Befehls des Lord Malmesbury wieder auf freien Fuß 
gejegt wurden und daß der Prince of Wales bei jeiner jpäteren Anwejenheit in Jeru- 
jalem den Konſul mit Verachtung ftrafte. Doc etwas Wunderbares lag in den Folgen 
der widerwärtigen Geſchichte. Ich meine das allgemeine Intereſſe, welches diejelbe 
für Gobats Beltrebungen plöglich erwedte. Ihm floffen feitdem von allen Seiten — 
auch von Ihrer Seite, verehrter Freund — unverhofft jo viel Gaben und Unter: 
ftügungen zu, daß er fich den Tanggehegten Wunſch erfüllen konnte, für feine Schul- 
fnaben ein neues gejundes Heim zu erbauen. Das vu. liegt an der jüdlichen Grenze 
des Zionsberges, nahe dem Abhang, der in das Thal Gehenna fteil abfällt. Die Schule 
it jegt zum Waijenhaus erweitert und mit einem Seminar für evangelische arabijche 
Lehrer verbunden worden. Ohne die Verleumdungen und unmürdigen Feindſeligkeiten, 
mit denen Gobat verfolgt wurde, wären jolche Unternehmungen ihm jchwerlich möglich 
eworden." — 
; Nittmeifter Mar Ningelin war in den Saal getreten. Kurd freute fich, daß der 
Rittmeister jchneller eingetroffen fei, ald3 man hätte hoffen dürfen. „Ste jind fogar 
den Damen zuvorgefommen,* ſagte er, „die noch immer mit ihrer Toilette bejchäftigt 
zu jein jcheinen.* 

„Ohne Trutheimbs braunen Langtraber und deſſen Ausdauer würde ich den Weg 
jchwerlich ſchon zurüdgelegt haben," antwortete Ringelin, „zumal ich auf einer Kreuzung 
links ſtatt rechts einſchwenkte.“ 

„Da gerieten Sie ja nach der famoſen Waldmeierei,“ ſagte der ſphäriſche Freiherr 
und betrachtete den Rittmeiſter bedenklich durch ſeine Augengläſer. 

„Richt völlig!“ berichtete der Rittmeiſter. „Ich traf auf einen Forſtbeamten, der 
Ihren eleganten Zelter ritt, lieber Dieffemberg; der Mann jah mir freilich für einen 
Nevierförfter fat zu vornehm aus; aber was follte er jonjt gewejen jein? Das 
linfe Auge, welches er mit einer jchwarzen Binde verdedt trug, jchien auf einen 
Kampf mit den verrufenen Wilderern von der Grenze zu deuten. Auch bejchrieb er 
mir die Waldwege, die ich zu vermeiden und die ich einzufchlagen hätte, mit einer 
Genauigkeit und militärischen Kürze, als verfolgte er fie mit dem Finger auf der 
Generalſtabskarte.“ 

Kurd und Henning hörten dieſe Mitteilungen mit Spannung an und wechſelten 
verſtändnisvolle Blicke. Die Umſtände, unter welchen das Zuſammentreffen des Ritt— 
meiſters mit dem vermeintlichen Revierförſter ſtattgefunden, ließen offenbar über die 
Identität des Fremden mit dem nächtlichen Reiter keine weiteren Zweifel zu. Das 
meinten auch Trutheimb, Ringelin und Mac-Bell, als man fie inſtandgeſetzt, den Fall 
zu beurteilen. Kurd fragte, ob der Mann bewaffnet geweſen ſei. 

„Bis an die Zähne,“ verſicherte der Rittmeiſter. „Er ſchien auf eine Sauhatz 
oder Bärenjagd eingerichtet zu fein mit doppelläufigem Hinterlader, Revolver und 
DSagdmefjer. Uebrigens machten feine tadellofen Manieren mir jelbft einen Augenblid, 
wie gejagt, zweifelhaft, daß diefer Gentleman mit feinem noblen Schick Revierförfter 
fein könne. Dazu ſprach er das Deutſche mit einem fremden Accent, der mir fibrigens 
etwas affeftiert zu fein jchien. Als ich bei einer jcharfen Wendung um eine Waldede 
faft mit ihm zujammenrannte, jchien er bei meinem Anblid überrafcht zu ftugen. Und 
auch in mir zudte ein Erinnerungsftrahl auf, der freilich nur ſchwach und flüchtig eine 
dunkle, längſt vergeſſene Epiſode meiner Vergangenheit erhellte, auf deren nähere 
Umstände ich vergeblich mich zu befinmen juchte." 


Ein Vertrag. 1029 


„Erinnerte der Fremde Sie etwa an unſeren alten Freund Freiſinger, den Sie 
feiner Zeit wohl auch in Pfeifersheim öfters gejehen haben?“ fragte Henning mit faum 
verhohlener Erregung. 

„Wahrhaftig, Herr Graf,“ rief Ningelin, „das könnte möglich jein. — Doch nein! 
— Bei ruhiger Erwägung wird e8 mir unwahrjcheinlid. — 0 war damals ein 
übermütiger Fähnrich und Habe Freiſinger, dejjen Name mir freilich nicht entfallen, 
doch zu jelten gejehen und zu wenig beachtet, um nach zwölf bis vierzehn Jahren Ein- 
drüde von einer flüchtigen Begegnung empfangen zu können, wie der Säger fie mir 
beim erjten Schen machte. Aber je aufmerkſamer ich ihn betrachtete und reden hörte, 
als er neben mir herritt, um mich auf den richtigen Weg zu geleiten, deſto mehr ver- 
blaßte die Wahrjcheinlichkeit, daß ich diefem Menſchen, der feine Spur einer Erinnerung 
an meine Perſon verriet, früher jchon einmal begegnet jein könne.“ j 

„Romanhaftes Abenteuer!“ entjchied durch die Naſe gähnend der Gerechte von 
Trutheimb, ein entjchiedener Gegner aller unflaren Verhältnifie. Er brachte die Rede 
auf die heurige Jagd, ein Thema, mit welchem er den lebhaften Anteil Dieffembergs 
und des Rittmeifters erregte. 

Henning jchien längere Weile in Gedanken über Ningelin Abenteuer verloren. 
Dann zog er Francis wieder in die Fenſterniſche und verjenfte fich in den früheren 
Unterhaltungsstoff, der jeine Erinnerungen mit frijchen Farben belebte. Bon Gobats 
Unternehmungen gingen die Freunde auf eine evangelijche Gemeinde in Konjtantinopel 
über, deren Anfang und Weiterentwidelung jich zurüdführte auf Hennings perjönliche 
Anregung und thatkräftige Unterftügung. Francis fonnte ihm aus eigener Anjchauung 
jehr erfreuliche Auskunft über jene Fragen erteilen. 

Und die Freunde waren in Erörterung derjelben jo ſelbſtvergeſſen vertieft, daß fie 
den Damen, die a. in dem Empfangsjaal erjchienen, die üblichen Höflichkeiten 
entgegenzubringen vergaßen. Sogar das Gejchwirr der lauten Stimmen in den ver- 
jchiedenften Slangfarben und Tonhöhen, welches jett den Raum unharmonijch zu 
durchraufchen begann, jchien an Henning und Francis in ihrer von jchweren Bor: 
hängen halbverhüllten Fenftervertiefung unvernommen vorüberzugleiten. 

Endlich entrig fie Kurd aus ihrer Verſunkenheit. Er ergoß über fie eine volle 
Scale feiner unbarmherzigen Nederei, zog dann die Uhr und teilte ihnen nad) einem 
aufmerkjamen Blick auf das Zifferblatt die Dispofition der nächjtfolgenden Stunden 
des Tages mit. 

„Jetzt ijt es fünf Minuten über drei Uhr,“ jagte er bedächtig, „um halb vier zieht 
ſich die Gejellfchaft beiderlei Gefchlechts zurüd, um ſich zur Tafel zu pußen; um halb 
fünf Uhr wird gejpeift. Ich bitte Sie, mein edler Lord, im Namen meiner Gattin um 
die Gunst fie, nämlich Alma, zu Tiſch führen zu wollen. Und dich, Henning Graf 
Hoyer auf Hoyershorjt, erjuche ich, Trutheimbs jchöner Nichte Adeltraut deinen Arm 
zu leihen. Bijt du ihr denn jchon vorgejtellt?“ 

Henning verneinte zerftreut. Auch Lady Lucy und Ringelins Schweiter Marie 
fannte er noch nicht. Francis bat gleichfalls um die Ehre, bei rau von Trutheimb 
und den beiden jungen Ladies introduziert zu werben, und begleitete zu diefem Zweck 
den Herrn des Haufes, während Henning den beiden Voranſchreitenden teilnahmlos 
und wie abwejend folgte. War die größere Gejelligfeit niemal3 geeignet gewejen, ihm 
Geſchmack abzugewinnen, jo berührte fie ihn in feiner gegenwärtigen abgezogenen Ge— 
miütsverfaffung geradezu abjtoßend. 

Er folgte den mit Würde voranfchreitenden Freunden mechaniſch — wie ein 
Traummandler. Als Sir Francis der Frau von Trutheimb vorgejtellt wurde, welche 
Henning jchon längst kannte, begrüßte er fie mit einer eben jo förmlichen Verbeugung 
wie der Engländer, der jie zum erftenmal jah, jo dab Frau von Trutheimb den zer- 
jtreuten Grafen mit prüfenden Blicken überrafcht muſterte. — Diefer folgte dann den 
beiden Freunden, welche fich den jungen Damen, Fräulein Adeltraut von Trutheimb 

Aug. koni. Monateichrift 1888. X, 66 


1030 | Ein Vertrag. 


und Marie Ringelin näherten. — Auch bei diefer neuen Borjtellung wiederholte Hoyer 
diefelbe Förmlichkeit. Als er jein geneigtes Haupt wieder emporrichtete, begegnete 
er dem Blick des Fräuleins von Trutheimb, welche die Farbe wechjelte. — Ein Blitz— 
ichlag hätte ihn faum fo jäh erjchüttern fünnen, als die Strahlen aus den leuchtenden 
Augen diejes jungfräulichen Antliges. Sie erregten fein Inneres zu ſtürmiſchem Auf— 
ruhr. Er vermochte der plöglichen Verwirrung nicht zu gebieten. Sein gejellichaft- 
liches Anftandsgefühl drängte ihn dunfel, den Anmwejenden den Anblick jeiner verlorenen 
Selbjtbeherrichung zu entziehen. Er murmelte einige unverjtändliche Artigfeiten und 
zog fich nach dem Ausgang des Saales zurüd, durch den er verjchwand, jobald er 
fih unbeachtet wähnte. — 

Ohne Ueberlegung eilte Henning mit langen Sätzen die Treppe hinan in jein 
Wohnzimmer. Hier warf er fi) in einen Seſſel, um jeines völlig fremdartigen 
Zustandes Herr zu werden. DVergebens! — Wie aufgejcheuchte Vögel flatterten jeine 
Gedanken wirr durcheinander. Seine Verjuche, jie zu ſammeln und das erregte Blut 
zu beruhigen, blieben ohne Erfolg, Die eingeichloffene Stubenluft drüdte ihn un- 
leidlih. Er jprang auf, ergriff Hut und Stock und bejchlog einen Gang auf der 
Terrajje zu unternehmen, um im Freien die geitörte Ruhe und Klarheit wieder zu 
gewinnen. Auf der Hausflur begegnete ihm Gottlob. Der ſah ihn forjchend an, als 
wolle er erraten, weiche Beweggründe den jonft jehr ruhigen Gaſt beitimmen möchten, 
mit Hut und Stod allein nach der Terrajje zu jtürmen. 

„Wann wird gejpeift, Gottlob?“ fragte Hoyer, mechanijd) die Uhr ziehend. Aber 
bevor er Antwort erhalten, war er den Augen des Eopfjchüttelnden Alten bereits von 
der Drangerie entzogen. — Die Auguftjonne brannte wie Feuer auf Hennings Scheitel 
hernieder. Er wandte fich deshalb der Dorfbrüde zu, um in den Buchenwald zu ge- 
langen, durch defien Stämme am geftrigen Abend der Schimmel wie ein Jrrlicht Hin- 
durchgeglitten. — Im fühlen Schatten beruhigte jich allmählich Hennings, ihm jelbjt 
befremdende Aufwallung. — x mäßigte er auch jeine hajtige Bewegung und wandelte 
nun ruhiger den elajtijchen Waldpfad entlang. — Alsbald vermochte er die gewohnte 
eiftige Sammlung wiederzugewinnen. In dem heiligen Schweigen der erhabenen 

aldeinjamfeit vernahm er die leiſeſten Stimmen jeiner eigenen Brut. 

Indem er feine Gedanken zu ordnen fuchte, vergaß er jedoch auf Weg und Zeit 
zu achten. Was hatte denn eigentlich vermocht, ihn in die ungewohnte leidenjchaftliche 
Stimmung zu verjegen, vor der er bei ruhigem Nachdenken erjchraf? Seine Er: 
innerungen an El Kudjch, aufgeregt durch die geitern an Alma gerichteten Mitteilungen, 
genährt durch die Ausjprache mit Francis, hatten ihn prädisponiert. Aus feiner Ver- 
junfenheit in diejen Gedanfenfreis riß ihn ganz unvorbereitet der Blid eines ihm 
völlig unbekannten Fräuleins. Die Wirkung äußerte fich jo ungeftüm, daß er ohne 
Ueberleguug die Flucht ergriff. Wie ärgerte ihn jegt ſolche unmännliche, Lächerliche 
Kopflojigfeit! Hätte er ich nicht Nechenjchaft geben jollen über die Urjache des 
erichlitternden Eindruds? Mußte er nicht Erfundigungen einziehen über die Perſön— 
lichkeit, deren Augen den Aufruhr in ihm erregten? — 

Henning hemmte jeinen Schritt. Er überlegte, ob er nicht wieder umkehren jolle, 
um das Verſäumte nachzuholen. Bald aber jegte er kopfſchüttelnd jeinen Weg fort. 

Se mehr der Zweifel ausgejchlojjen jchien, daß irgend ein anderes Weſen ihn jo 
durchdringend anzujchauen vermöge, als El Kudſch, feine ehemalige Kranfenpflegerin 
auf dem Berge Zion zu Jerufalem, deſto heftiger regte fich fein Widerftreben, durch 
die Rückkehr ins Schloß jich und dem Fräulein von Trutheimb die peinliche Verlegen- 

eit einer möglichen Erfennungsizene vor den dort verjammelten Zeugen zu bereiten. 
Jar denn aber die Hauptfrage wirklich entjchieden? Schwefter Sofie follte aus 
ihrer weltjcheuen Verlegenheit in die gefürchteten Lebenskreiſe zurückgekehrt fein, „welche 
die Tage voll Unruhe und das Herz voll Angjt machen?“ — Ihr Bild ftand in 
feiner unbewußten Hoheit und jchlichten Schönheit lebendig vor Hennings inneren 


Ein Vertrag. 1031 


Augen. Er verglich dasjelbe mit dem flüchtigen Eindrud, den Fräulein von Trutheimb 
ihm in feiner Zerjtreutheit Hinterlafjen. Die Gejtalt, das volle Haupthaar, deſſen 
goldblonder Glanz, das Kreuz an ihrem Halſe: diefe Einzelheiten ftimmten überein 
mit denen des Erinnerungsbildes. Aber Schweiter Sofie im jeidenen Gejelljchafts- 
ftaat! — wie wäre das möglich? — Bon dem Fräulein von Trutheimb hatte Henning 
nie reden hören. Aber er fonnte bei der Mitteilfamkeit ihrer Verwandten nicht glauben, 
daß jenes Fräulein ebenjo unvorbereitet auf eine Begegnung mit dem Gafte Dieffem- 
bergs geblieben jei. Hätte aber EI Kudich, wenn fie jener Adeltraut identifch, ſich 
wohl jemals entjchlojien, mit ihrem ehemaligen ungeftümen Pflegling vom Berg Zion 
in einer lauten fröhlichen Gejellichaft zum Teil fremder Menſchen zufammen zu treffen? — 
Sehnlich wünjchte — dennoch, er möge ſich nicht getäuſcht haben. Aber unwillig 
verwarf er jedesmal den Wunſch, wenn er das Widerſpruchsvolle einer ſolchen Mög— 
lichkeit bedachte. 

Seine Uhr zeigte nahezu fünf. Man hatte ihn um halb fünf zur Tafel er- 
wartet. — Er jchaute um ſich. Diefe Gegend des Waldes war ihm unbekannt. Hätte 
er auch den Widerjtand gewaltjam brechen wollen, den jein Zartjinn der Rückkehr ins 
Schloß entgegenjeßte, jegt fam er viel zu ſpät. Mochte Trutheimb über den 
Bermißten jeinen Spott ergießen, mochte Dieffembergs peinliche Ordnungsliebe jich 
verlegt fühlen: das war nun nicht mehr zu ändern. Aber Fräulein von Trutheimb! 
— Sie hatte vergeblich nad) ihrem Tiſchnachbar umgefchaut — mit dem großen ruhigen 
Bli ihrer wunderjamen Augen! — Ein heftiges Wehgefühl durchzudte Hennings Bruft 
bei diejer Vorjtellung. 

Er hatte es nicht beachtet, daß von fernher der Schall von Büchjenjchüffen durch 
den Wald drang. Etwas näher hörte er jegt wieder einen Schuß. Derjelbe entjchied 
die Frage, wohn Henning jeine Schritte lenfen jolle. 

Heinrich fiel ihm wieder ein. Almas Gedanke und Ringelins Erlebnis vereinigten 
ſich mit Hennings Verlangen, den Freund hier endlich wiederzufinden. 

Heinrich jagte ja eben im Walde. Wer als er fonnte der Jäger jonft jein? — 
Des Nittmeifters unbeftimmte Erinnerung beim erjten Anblic des Fremden jchien jede 
andere Deutung auszufchließen. 

Bis jet aljo hatte Heinrich unerfindliche Gründe gehabt, jein Inkognito zu be— 
wahren. Um jo bejjer! — Denn nun fand Henning im vielbejprochenen Jagdſchlößchen 
Unterkunft für die Nacht; fonnte durch einen Boten die Bilamsdorffer Freunde von 
jeinem Berbleib benachrichtigen, mit Heinrich fich ungeftört ausjprechen und ihn morgen, 
wenn die jtörenden Elemente der Gejellichaft abgereift waren, den Verjchollenen feinen 
Pfeifersheimer Vertragsgenoſſen im Triumph zuführen. 

* Von rechts ſchallten die Schüſſe herüber. In derſelben Richtung lag auch die 
eierei. 

Henning drang raſtlos weiter mit Ueberwindung der nicht geringen Schwierigkeiten, 
die das oft dichtverſchlungene Pflanzenwerk ihm bereitete. — Es ee nunmehr in 
einer Entfernung von etwa zwanzig bis dreißig Schritten wieder ein Büchjenjchuß. 
Henning wandte der Richtung feinen Blick zu. 

Er entdedte eine an den Stamm einer Eiche gejchmiegte jugendliche Männergejtalt, 
die den Blik wie lauernd und gejpannt dem Herannahenden zufehrte. Bei dem Sonnen 
jtrahl, der durch das grüne Laub zitternd auf den wie ein Jägerburſche gefleideten 
Menjchen fiel, vermochte Henning feine Gefichtszüge deutlich genug zu unterjcheiden, 
um durch ihren überrajchenden Anblid in nicht geringe Verwirrung zu geraten. — 

Wie war jener Menjch im diejen deutjchen Wald gekommen! — Seine längliche 
Kopfform mit den ftark ausgebildeten Backenknochen, jeine gelblich) braune Hautfarbe, 
durchfreuzt von den verblaßten bläulichen Rejten einer Tätowierung, feine jehnige 
fräftige Geſtalt und ihre entjchlojfene Haltung mit dem lauernden Ausdrud, das 
breite, von der Rechten wie zum Abfangen eines Feindes oder angejchofjenen Wildes 

66* 


1032 Ein Vertrag. 


ezüdte Jagdmefjer: wahrlich! eine wenig jtilvolle Staffage in diejem deutjchen Walde 
tellte jene auffällige Figur dar. Dazu jchmiegte jich der wunderfame Fremdling an 
den Eichenſtamm, wie mit demjelben zujammen gewachjen, und jah troß feiner grün- 
grauen Joppe einem jungen Indianer ähnlicher, al3 einem deutſchen Jägerburjchen. 

Indeſſen nicht lange währte die Frift, die dem erjtaunten Grafen zu Beobach— 
tungen vergönnt war. Ihm fiel noch die ungewöhnliche Länge des Feuerrohrs auf. 
Der Schuß aus diefer Flinte, die der Fremde mit bligjchneller Bewegung an ihrem 
ledernen Riemen jogleich wieder über die Schulter geworfen, um das Jagdmeſſer zu 
ziehen, war faum verhallt, da fnallten zwei andere Schüjje in der Ferne. Eine Kugel 
pfiff hart an des Grafen Ohr vorbei. Erjchroden wandte er das Geſicht zurüd. 
Unter den Eichen arbeiteten ſich zwei ältere Jäger haftig aber mühjam durd) das 
dichte Gejtrüpp. Mit jcheuchenden Rufen hHebten fie einen mächtigen fchweißenden 
Keiler. Das wiütende Wild rajte feuchend und mit feuerjprühenden Augen gerades- 
weges auf Hennings Standort los. Diejer flüchtete nach der rettenden gewaltigen 
Eiche, an deren Stamm gejchmiegt jener ſeltſame Burjche den Eber mit unbeweglicher 
Ruhe erwarten zu wollen jchien. Noch acht bis zehn Laufjchritte, und Graf Hoyer 
hätte Die Eiche erreicht — da jchmetterte ein heftiger Anprall ihn jäh zu Boden. Im 
Sturz rigte ein fcharfer Dorn feine Stirnhaut. In demjelben Augenblid jtieß der 
Fremde ein gellendes Geheul aus, ſtürmte heran und bohrte dem steiler das Meſſer 
mit jicherem Stoß ind Auge. — Nad) einem letzten gewaltigen Sprunge wälzte ſich 
das verendende Ungetüm mit der ganzen Schwere jeiner maſſigen Lajt über den amt 
Boden Hingeftredten Körper Hennings. Diejer fühlte, wie ein heißer feuchter Strom 
jein entblößtes Haupt neßte; er vernahm noch undeutlich ein dumpfes Nöcheln: dann 
Ichwanden ihm die Sinne und das Bewußtſein. 


(Fortiegung folgt.) 





Vielfach ijt im den legten Monaten der $ 166 des Strafgefegbuches erörtert 
worden. Zunächit bei dem Antiſemiten-Prozeß in Marburg, wo der Lehrer Fenner zu 
einer Gefängnisftrafe verurteilt wurde wegen Beichimpfung der jüdijchen Religion. 
Dann bei dem Thümmelprozeß, welcher ſogar zu einer Bewegung für die Aufhebung 
jene® Paragraphen oder doch für die Einjchränfung desjelben auf die Gottesläjterung 
geführt hat. 

Der $ 166 lautet jet folgendermaßen: 

Wer dadurd, daß er Öffentlich in bejchimpfenden Aeußerungen Gott läftert, 
ein Aergernis gibt, oder wer Öffentlich eine der chriftlichen Kirchen oder eine 
andere mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes beftehende Religions- 
gejellichaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beichimpft, ingleichen wer 
in einer Kirche oder in einem anderen zu religiöfen Verſammlungen bejtimmten 
* — Unfug verübt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren 

eſtraft. 


Der Paragraph iſt eigentümlich gefaßt. Auf der einen Seite ſcheint der Wort— 
laut vieldeutig, auf der anderen iſt er ſehr gewunden und verklauſulirt. Bei der Gottes— 
läſterung z. B. genügt es offenbar nicht, um den Thatbeſtand derſelben herbeizuführen, 
daß jemand ſpottet; es muß dies in beſchimpfenden Ausdrücken, dazu öffentlich, d. h. 
jo geſchehen, daß die Kenntnisnahme von ihr allen offen ſteht (omnibus patet); 
endlich muß durch die Läfterung ein Aergernis gegeben fein. Daß z. B. die letztere 
Bedingung des Thatbeitandes ruhig hätte beifeite gelaffen werden können, leuchtet ein. 

Der —— Teil des Paragraphen iſt offenbar derjenige, welcher von der Be— 
ſchimpfung der Religionsgeſellſchaften oder ihrer Einrichtungen oder Gebräuche handelt. 
Ueber den Sinn dieſes Teiles ift noch vielfach Unflarheit vorhanden. Das Reichs— 

ericht hat anerkannt, daß die bloße, wenn auch fcharfe Kritik einer Religionsgejell- 

—* noch keine Beſchimpfung darſtellt. Die letztere könne nur in Ausdrücken be— 
ſchimpfender Art gefunden werden. Trotz dem wurde ich einmal angeklagt, weil ich 
geichrieben hatte: 

e8 liegt der begründete Verdacht vor, daß die Juden glauben, jich von faljchen 

Eiden religiöfen Dispens erholen zu fünnen. 


1034 5 166. 


Selbſtverſtändlich wurde ich freigejprochen, obgleich der Staatsanwalt eine Ge- 
fängnisftrafe gegen mich beantragt hatte. Die Sentenz des Gerichtshofes war klaſſiſch: 
„es wird lediglich Fonftatiert, daß der Herr Angeklagte nicht geſchimpft Hat, Folglich 
kann er auch nicht bejchimpft haben." Im diefen Worten wird in der That das 
wichtigfte Erfordernis zu einer Herftellung des fraglichen Thatbejtandes kurz und 
bündig feſtgeſtellt. 

Ber den Laien d. h. Nichtjurijten, bei den Geijtlichen beider Konfeſſionen und 
bei den Schriftjtellern herrſcht aber vielfach Unklarheit über diefen jelben Punkt. Ich 
bin überzeugt, daß zahlreiche Fatholijche jowohl als evangelische Prediger würden ver- 
urteilt werden, wenn im jeder Kirche ein Aufpajjer ſäße. Neulich hörte ich in einer 
Predigt von dem Papſttum mit jeinen Menjchenjagungen, diefer „greulichen Tyrannei*. 
Da das Bapjttum eine Einrichtung der katholischen Kirche ist, und das Wort „greu- 
lich” jchimpfend, jo würde jener Prediger ohne Zweifel verurteilt worden fein, wenn 
ihn jemand angeklagt hätte. Aus dieſem Beiſpiel geht jchon hervor, dal die Be— 
dingung des „Aergernis=Gebens“, welche bei der Gottesläfterung überflüfjfig it, ge— 
rade bei dem Thatbejtand der Beichimpfung einer Religionsgejellichaft jehr wünjchens- 
wert wäre. 

In der Septembernummer der Allg. Kon. Monatsſchrift wird unter der politi- 
ſchen Monatsjchau über die Bewegung gegen den $ 166 abweijend geurteilt. Der 
Paragraph handele nur vom Schimpfen, und das fünnen wir entbehren. Ich bin ganz 
einverjtanden. Aber auf der nahe jtehenden Seite wird unter derjelben Rubrik die 
Reliquienverehrung als unerhörter Unfug, als grauenhafter Aberglaube bezeichnet. Die 
Neliquienverehrung ift eine Einrichtung der katholischen Kirche; „grauenhafter Aber: 
glaube und unerhörter Unfug“ werden ohne Zweifel (?) von einem Gerichte als be- 
ihimpfend angejehen werden; ergo. — 

Dagegen ein anderes Beifpiel: Vor einigen Monaten fchimpfte eine Korrefpondenz 
der Frankfurter Zeitung aus Bielefeld über das Knieen einer Paftoral-Konferenz wäh: 
rend des Gebeted. Beichimpfende Ausdrüde waren offenbar in dem Artikel gebraucht; 
ich ftellte bei der Staatsanwaltjchaft in Frankfurt a. M. fowie bei derjenigen zu Biele- 
feld (ein Mündener Blatt hatte den Artikel nachgedrudt) Strafanträge. Bon der 
erjteren Behörde fehlt mir der Bejcheid; von der zweiten erhielt ich ablehnenden Be— 
jcheid: e8 gehe aus dem ganzen Artifel hervor, bob nicht Die evangeliiche Kirche oder 
eine ihrer Einrichtungen oder Gebräuche, fondern nur die zu einer Slonferenz ver: 
jammelte orthodore Partei der Kirche habe getroffen werden jollen. Ich machte da- 
gegen geltend, daß es auf dieje Abjicht nicht anfomme; das Knieen während des Beten 
jei ein alter, den chriftlichen Kirchen gemeinfamer Gebrauch, welchen in diefem Falle 
eine Konferenz evangelifcher Geiftlichen ausgeübt habe; diefer Gebrauch jei bejchimpft. 
Aber die Oberftaatsanwaltichaft blieb bei dem ablehnenden Bejcheide. 

Ich stellte einem mir befannten Staatsanwalt diefe Sache vor; auch er war der 
Meinung, daß eine Anklage nicht erhoben werden fünne. Ich hielt ihm vor: wenn ich 
morgen auf den — Gebetsmantel und Gebetsriemen ſchimpfe, was werden Sie 
thun? — Sie anklagen natürlich, war die Antwort. 

Der Unterſchied iſt — Der $ 166 ſchützt weit mehr die jüdiſche Religions— 
gejellichaft und die katholische Kirche als die evangelifche Kirche, und zwar deshalb, 
weil jene beiden mehr und feiter jtehende Einrichtungen und Gebräuche haben als 
wir. Man jchimpfe auf Luther — niemand wird dafür bejtraft werden fünnen. Bet 
der Thatjache, daß fast feine einzige Kirchenregierung in Deutjchland mit Energie über 
das Belenntnis der Kirche wacht, ift es fogar jehr zweifelhaft, ob eine Beſchimpfung 
unjerer Befenntnisjchriften jtrafbar wäre. Man fchimpfe auf das Papfttum, auf die 
Neliqguienverehrung, auf die Veichte, auf die Meſſe, auf das Cölibat, auf die Marien: 
anbetung — alles Einrichtungen und Gebräuche der Fatholifchen Kirche. 


g 166. 1035 


So find wir thatjächlich bei dem S 166 jehr im Nachteile, und eine Menderung 
desjelben wäre jehr erwünſcht. Zunächſt dahin, daß der Talmıd von dem Schuge 
des $ 166 ausgenommen würde, denn es hat jich gezeigt, daß diejer Schuß die ange- 
mejjene Kritif des Talmud unmöglich macht; ſodann dahin, daß die Bekenntnis— 
ichriften der evangelifchen Kirchengemeinjchaften und die Reformation als ſolche 
vor Beichimpfung gefichert werden. Die Neformation wird jo vielfach und jo ſtark 
bejchimpft, daß ein evangelifcher Chriſt im Lutherjahre z. B. fich fait täglich ärgern 
mußte, wenn er gezwungen war, ultramontane Blätter zu lejen. 


Wir geben diefer Anfiht Raum, ohne uns derjelben in allen Punkten anzuſchließen. 
Die Redaktion. 


"BLE?T 


8 





Per Athos und [eine Bewohner. 


Bon 


Vbilipp Mener. 


Wer von Süden her das ägeische Meer durchfährt, gewahrt, wenn er bis Limno 
gefommen, im Nordweiten eine mächtige, von breitem Grunde fich zu fteiler Spitze er- 
hebende Bergpyramide, welche ſich von allen umherliegenden Infeln, die ja ſämtlich wie 
Berge erjcheinen, durch ihre Höhe und monumentale Gejtalt abhebt. Jeder Eingeborene, 
der mit ung auf dem Schiffe ift, fann uns den Namen des Bergrieien jagen. Es ijt 
der heilige Berg, das Ajionoros, wie die Griechen jeit Jahrhunderten den Athos nennen. 
Wendet jich nun der fleine Küftendampfer, den wir bejtiegen, nach Wejten, um über 
Salonik die Nordfüften des ägeijchen Meeres abzujtreifen, oder nad) Samothrafi nord- 
wärt3, um von hier aus jeine vorgejchriebene Reife in entgegengefegter Richtung zu 
machen, jo jehen wir, daß Ajionoros feine Inſel ift, jondern mit dem Feſtlande ver- 
bunden, denn wie die Schleppe am föniglichen Gewand, jo hängt ſich an den Rüden 
des Berges ein niederes Kammgebirge, das, anfangs fteil und zerflüftet, nadt und öde, 
dann herrlich bewaldet, in immer mildere Formen ich auflöft, bis es fi) am Ende zu 
einem Querriegel zerteilt, der wie eine Mauer die Halbinjel abjchließt. Diejer Riegel 
ift die Megali-Viglia, die große Warte, die Grenze von Yjionoros. 

Seltſam, wie freigebig Gott die Stelle der Erde ausgeftattet. Gleich der Stadt 
des großen Konjtantin, der Herricherin in der politiichen Welt des Orients, gehört der 
heilige Berg, der wandellofe Träger griechischen Kirchenlebens, zwei Erdteilen an. Als 
öſtlicher Ausläufer der europätjchen zer Chalkidike reicht er doch in Aſiens 
Snjelwelt hinein, dem Einfluß zweier Welten Hingegeben. Nur zwölf Stunden lang 
und nirgends breiter als deren 4, vereinigt diejes Fleine Gebiet alle Vorzüge einer 
ichönen und benußbaren Natur. Hier ift Meer und Berg und Wald beifammen. Und 
wer den Zauber jenes Meeres gejehen und geatmet, dem wird's immer wie wehmütige 
Erinnerung daran in der Seele bleiben. Der Wald von Ajionoros aber kann ſich 
dem jtolzeiten unjeres Vaterlandes an die Seite jtellen. Mächtige Kaftanien, Platanen, 
Eichen, Tannen treten hier zujammen zur vornehmen Gejellichaft des Hochwalds, hier 
iſt Urdidicht von Haſelnüſſen und Lorbeer und zahllofem fremdartigen Strauchwerf. 
In den Lüften fchaufelt fich die Liane an ftarrendem Aſt und tief umten in der be- 
mooften Steinfluft ladet der murmelnde Gießbach auszuruhen auf altem Eichenjtamm, 
um Welt und Zeit zu vergeſſen. Wie mannigfaltig ift auch die Art des Gebirges! 
Die Weitjeite der Halbinfel trägt die fchaurigften Abhänge, der Athos ſelbſt ſchwingt 


Der Athos und feine Bewohner. 1037 


jih auf in den kühnen Linien des Hochgebirges. Sein marmorner Kegel ift ſchnee— 
bededt vom Herbit bis in den Sommer hinein, in den öftlichen Furchen feiner Stirn 
jchmilzt niemals das Eis. Im trüben Tagen von Wetterwolfen verhüllt, frönt ihn im 
rellen Licht de8 Sommers das trübe Flimmern der Glut. Des Abends aber, wenn 
Au längjt Wald und Meer in Schatten gehüllt find, kündigt der Berg durch pur: 
purnes Glühen an, daß für ihn das Tagesgeftirn noch längſt nicht erlofchen iſt. Im Oſten 
fällt der Kamm der Halbinjel bald zu janften Abhängen ab. Kühne Gießbäche haben 
die mannigfachjten Thäler gebildet. Blumige Wiejen, Weinberge und Gärten bededen 
das Gelände, unten aber reiht fi) Bucht an Bucht, in denen das dort jonft uner- 
ründliche Meer feine Wogen auf buntem Sliefelgeröll, wie auf Moſaik flach und fanft 
tanden läßt. Die gejamte Natur ift belebt von Vögeln und dem Wild des Waldes. 
Hier fingt die Nachtigall und die Schwarzdroſſel rafchelt durchs Gebüfch. Den Hafen 
freut der Wechjel zwijchen Wald und Feld, das Reh und das Wildjchwein finden 
Unterkunft im Waldesdunfel. Hier rajten der Zugvögel ungezählte Scharen, ehe fie 
über Meer ſetzen, und der mafedonische Wolf wagt fein Leben für einen Bejuc auf 
der beutereichen Halbinjel. 

Diefe Dafe in der Wüfte des Orients ift num feit mehr als taufend Jahren eine 
der berühmteften Stätten für das chriftliche Mönchtum, und trägt daher den Namen 
des heiligen Berges nicht umjonjt. Wollten wir den Sagen der Ajioriten glauben, fo 
hätte die Panajia, wie die Griechen die Maria nennen, jelbft ra ihren Befuch den 
Athos jeinem heiligen Zwede geweiht. Sie habe, jo heißt es, die Heiden, die damals 
den heiligen Berg bewohnten, zum Chriftentum befehrt. Und die erjten jejten Klöfter 
joll Konjtantin der Große gebaut haben; fo fnüpft die Sage wieder an eine für bie 
Griechen berühmte und heilige Perſönlichkeit. 

Geſchichtlichen Boden betreten wir erjt im neunten Jahrhundert. Damals gab es 
noch feine fejten Klöfter auf der Halbinfel, die Mönche lebten als Einfiedler, zu zweien 
oder mehreren vereint unter einem geiftlichen Führer, dem Igumenos. Alle Igumenen 
wählten zum gemeinjamen Oberhaupt einen aus ihrer Mitte. Diefer führte den Namen 
„der Erjte*, Protos. In dieſer Weiſe waren auch Einfiedlerfolonien an andern Orten 
organifiert. Der Erfte hatte jeinen Sig in dem fleinen Orte Karyäs, der etwa in der 
Mitte der Halbinjel Liegt. Seine Wohnung und die dazu gehörige Kirche befam den 
Namen Protaton. Das Leben der älteften Aioriten war höchſt einfach. Feldbau wurde 
noch nicht betrieben, fein Lajttier wurde geduldet. Noch galt das Mönchsideal in der 
ftrengften Fafjung. Vater, Mutter, Weib und Kinder verlaffen, alles verkaufen und 
den * geben, dem Irdiſchen entfliehen bis zur vollkommenen Bedürfnisloſigkeit 
und Einſamkeit, im Gedanken des Todes den Tod vorwegnehmen, das ſchien den Berg— 
heiligen der alten Zeit das Höchſte, und noch immer bricht im Orient dieſes alte Mönchs— 
ideal wieder Durch. 

Der Mann nun, der die Ajioriten auf die höhere Stufe des Mönchslebens nad) 
abendländiichem Begriff, nämlich des Zujammenmwohnens in Klöſtern, führte, war der 
heilige Athanafios, der um dag Jahr 960 den heil. Berg betrat. Bon vornehmer 
Abkunft aus Trapezunt, hatte er ſich jchon in Kleinaſien einen Namen gemacht als geijt- 
licher Kämpfer. Er war mit dem damaligen Kaifer der Rhomäer, dem trefflichen Nife- 
joros Phokas (963—969) wohl befannt, und durch faiferlihen Einfluß und Reichtum 
unterjtügt, fonnte er noch vor 965 das erjte Kloster auf dem Athos gründen, die be- 
rühmte, nach ihm benannte Lawra des heil. Athanafios, an der Süboftipige der Halb- 
injel, noch jet größtenteils im alten Zuftande erhalten. 

Damit beginnt eine neue, die zweite Periode in der Gejchichte von Ajionoros. 
In dieſer entwidelt ſich die Gemeinschaft des heiligen Berges zu einem wohlorganifierten 
Mönchsſtaat und hält ſich auf diefer Höhe. Es ijt auch die Zeit der Kloftergründun- 
gen, die erjt mit der Stiftung des jüngiten, Stawronifita, im Jahre 1540 ihren Ab- 
ihluß erreicht. Damals begann auch die genaue Durchbildung des Rechtsverhältniſſes, 


1038 Der Athos und feine Bewohner. 


in dem die Anstedelungen zu einander ftanden. Die urjprünglichen Eleinen Mönchs- 
familien, die in den Kellien, den einzeljtehenden Mönchshäuſern, wohnten, fommen in 
Abhängigkeit von dem Klojter. Auch eine andere Form de3 Einfiedlerlebens der alten 
Zeit oder der Zeit nach Athanafios, das Zuſammenleben der heiligen Männer im 
Mönchsdörfern, die man Sfiten nannte, kann ihre Freiheit gegenüber den Stlöftern 
nicht mehr bewahren. Seit jener Zeit werden die Klöfter allein die Bejigenden auf 
Ajionoros. Skiten und Kellien werden gepachtet. So iſt es geblieben bis auf den 
heutigen Tag. Mit Athanafios beginnt auch die Zeit für Ajionoros, in der es den 
Ruf des geiitlichen Konftantinopel gewinnt. Durch zähes Feithalten am UWeberlieferten, 
durch ftrenges Leben, jpäter durch Ausbildung einer begeifterten Myſtik haben die 
— des Athos einen bedeutenden Einfluß auf die griechiſche Kirche ausgeübt. 

aß Athanaſios ein Grieche, oder wie die byzantinischen Griechen ſich ſelbſt 
nannten, ein Nhomäer war, hat der Mönchsgemeinjchaft jofort rhomätjches Gepräge 
verliehen, das fie nie verloren. Wie das Reich von Konftantinopel aus mit unver: 
wüftlicher Kraft die fremden Nationen verjchiedenfter Abjtammung rhomaiſiert hat, jo 
haben auch die rhomäiſchen Mönche von Ajionoros den fremden Heiligen, die jich bei 
ihnen anfiedelten, alsbald die rhomäijche Art mitgeteilt und aufgezwungen. Kurz 
nad) Athanafios begann bereits diejer nationale Wettfampf, nämlich als vom faufafi- 
ichen Iberien aus, etwa um 980, das berühmte Klojter der Iberer, oder nach moder— 
ner Ausjprache, der Iwirer, gegründet ward. Fünfzig Jahre fjpäter gelang es 
Mönchen von der Stadt Amalfı in Unteritalien, der fühnen Vorgängerin von Genua 
und Venedig in der Levante, dicht bei der Lawra ein jtattliches Kloſter zu erbauen, 
das ohne Zweifel ebenjo jehr merfantilen als religiöjen Zweden dienen mußte. Um 
1260 gründet der jerbijche Fürſt Stephan Nemanja das erſte jlawijche Klofter auf dem 
Athos, Chiliandari; mit allen diefen Nationalitäten hat ji) das Rhomäertum ſiegreich 
abgefunden. Die Amalfitaner, als Romanen und Lateiner fonnten fich faum bis 1100 
halten. Eine höchft romantisch gelegene Ruine in der Nähe der Lawra bezeichnet die 
Stätte des einzigen fränkischen Klojters auf dem heil. Berge. Die Jwirer wurden 
im 14. Jahrhundert mit Hilfe des Patriarchen von Konjtantinopel moraliſch erdrüdt, 
als ihnen nach langjährigen Streitigkeiten von zugezogenen griechischen Mönchen die 
Teilnahme an der Regierung des Kloſters und andere Rechte genommen wurden. 
Eine jehr fleine, von dem Kloſter ganz getrennte Anſiedelung von iberitifchen Mönchen 
oberhalb des Kloſters iſt der Reſt der einſt einflußreichen Macht der Iwirer auf 
Ajionoros. Der Kampf mit den Slawen entjchied ſich allerdings nicht jo leicht. Nach 
dem Tall des Rhomäerreichs waren die Fürſten der ſlawiſchen Balfanjtaaten und 
die von Rußland die größten Wohlthäter von Ajionoros. Es ift wohl fein Kloster, 
das nicht von dort aus einmal unterjtügt wäre. Das verbot ein gewaltjames Vorgehen 
gegen die Slawen. Doch waren im Anfange diejes Jahrhunderts alle zwanzig Klöjter, 
zwei ausgenommen, jogar das Ruſſenkloſter Ruſſiko im Belig der Griechen. In den 
legten Iahrzehnten ift der Raſſenkampf zwiſchen Nhomäern und Slawen allerdings 
jehr heftig entbrannt. Nach langwierigen Kämpfen haben rufjiiche Mönche, aufs 
reichjte unterjtüßt von der Regierung, das Kloſter Ruſſiko in Befig befommen. Von dort 
aus juchen fie jich namentlich durch Pachten von Kellien und Sfiten auf den Gebieten 
der andern Klöſter feſtzuſetzen. Doch haben die Griechen längjt die Gefahr erkannt 
und in den lebten Jahren dürfte das Vordringen der Nufjen zum Stillftand gekommen 
jein. Und wer rufjische und griechifche Mönche nebeneinander gejehn, wird ſich 
darüber nur freuen. 

Die Gründungen der Klöjter, die jett noch bejtehen, verteilen ſich nun auf die 
Sahrhunderte jo. In das zehnte jällt die Entjtehung von Batopädi, Ziropotam, Phi— 
lothen, Ajiu Pawlu. Im elften Jahrhundert find gegründet Kutlumufi, Dochiariu, 
Karakallu, Kenophontos, Esfigmenu, Ruſſiko, auch Kachamondu; das dreizehnte Säfu- 
um fügt Chiltandarı und Sographu Hinzu. Won 1300—1400 find Dionyſſiu, Pan— 


Der Athos und jeine Bewohner. 1039 


tofratoros und Simopetra entjtanden. Grigoriu entijtammt dem 15. und Stawronifita 
dem 16. Jahrhundert, wie wir jchon oben jagten. 

Zu diejen Klöftern gehören elf Skiten und etwa 300 Kellien. Die Zahl aller 
Mönche aber hat fich jtet3 etwa zwiſchen 700 und 6000 gehalten. 

Kehren wir nun, nachdem wir einen kurzen Weberblid vorausgenommen, zur Zeit 
des heiligen Athanafios zurüd, jo machte jich bald das Bedürfnis nach einer neuen 
feften Verfaſſung der ganzen Gemeinde fühlbar, denn durch die Kloftergründungen 
waren namentlid) die Nechtsverhältuiffe der kleinen Igumenen der alten Zeit verjcho- 
ben. Schon Kaiſer Johannes, der Nachfolger des Romanos, ließ durch den Igumenos 
des Kloſters Studion in Konftantinopel, Euthymios, al8 durch jeinen Gejandten, mit 
den KHlöjtern eine Verfaſſung vereinbaren, deren Original noch jegt im Mittelort der 
Klöfter, Karyäs, aufbewahrt wird. Nach diefer Liegt die Regierung in den Händen de3 
Protos und der Verſammlung aller Igumenen, die regelmäßig einmal im Jahre in 
Karyäs ftattfinden follte.e Dem Igumenos der Lawra waren dabei gewilje Vorrechte 
eingeräumt. Um das Ajionoros jeinem frommen Zwed zu erhalten, war alles Ber: 
faufen über das Gebiet des heil. Berges hinaus verboten; namentlich galt dieſe Be— 
ihränfung für den Handel mit Kienholz und Wein. Um die alte Einfachheit zu 
erhalten, durfte, wie früher, jo auch jegt zu feiner Arbeit ein Lajttier benugt werden; 
nur die Lawra durfte ein Paar Laftochien halten. 

Eine Verfafjung für fein Klofter, die beftimmend geworden ift für die Gejamtheit 
der ajtoritifchen öfter, hat der heil. Athanafios in zwei Schriften niedergelegt, in 
feiner „Verfaſſung“ und in feinem „Zejtament“. Zwei Bergamenthandichriften in 
Buchform werden noch jet in der Lawra aufbewahrt, die jene beiden Schriften des 
Arhanafios enthalten. Die ältere derjelben kann Autograph des Verfaſſers jein oder 
jcheint doch wenigstens aus der Zeit des großen Mannes zu ftammen. 

Nach diejen Urkunden war Lawra ein reichsunmittelbares Kloſter, wie wir jagen 
würden. Die Herrſchaft in demjelben führte ein Igumenos, der von feinem Vorgänger 
empfohlen und von allen Brüdern gewählt wurde Im ganzen gehörten zum Kloſter 
damals 125 Brüder, von denen 5 in den naheliegenden Kellien, unter Arbeit auf Feld 
und Flur, je mit einem Diener, der Erbauung nachgehen durften. Den Angefochtenen 
und Kranken weift der Heilige mit wohltluender Milde, die beide Schriften überhaupt 
durchweht, als Erholungsort das kleine, noch jet erhaltene Klöfterchen Mylopotamos 
an. Diejes Kleine Schlogartige Gebäude liegt dicht beim Iwirerflofter hart am Meer, 
wunderbar jchön und friedlich. Indem Athanajios weiter das Leben der Brüder zwar 
jehr genauen Regeln unterwirft, legt er doch den Hauptnachdrud auf die Forderung 
berzlicher Bruderliebe und Demut. 

Daß das Leben der damaligen Berggemeinde nicht ftillftand, jchliehen wir mit Necht 
daraus, daß bereits im elften Jahrhundert die Verfaffung von Kaiſer Johannes nicht 
mehr genügte. Im Jahre 1046 bejtätigte Kaijer Konſtantinos Monomachos einige 
Aenderungen derjelben. Danach durfte jedes Kloſter Eleine Fahrzeuge halten und bis 
Salonif jeinen Handel ausdehnen, die Amalfiner jegten es jogar durch, daß fie ein 
großes Schiff befigen und ihre Beziehungen zu Konftantinopel mit demſelben aus- 
nugen durften, „weil ohne das ihr Klojter nicht beftehen kann“, wie e3 in der Urkunde 
heit. Auch das Verbot der Lajttiere wurde aufgehoben. Zwar mußten die Lawrioten 
die Schafherden, die fie fich angelegt, wieder aufgeben, doc) erlangten fie unter dem 
Borwande, ihre Greije und Kranken ohne Fleisch und Milch nicht ernähren zu können, 
die Erlaubnis, an einem einfamen Ort, fern vom Kloſter eine Eleine Zucht von Schafen 
oder Nindvieh zu Halten. Mehrere Verbote finden wir von diefen Anfangszeiten an 
durch alle Jahrhunderte immer wieder eingejchärft. Steine Frau umd fein weibliches 
Weſen darf das Gebiet des heil. Berges betreten und die Dofimi, wie bei den Griechen 
die Novizen heißen, mußten vorgerüdten Alters fein. 

Das Zeitalter der Komnenen (1030 —1204) brachte den Mönchen viele Vorteile 


1040 Der Athos umd jeine Bewohner. 


und neue Stiftungen. Kaifer Alerios Komnenos bejtätigte namentlich die Freiheit der 
Klöfter. Dies gejchah bei einem Ereignis, das die damaligen Verhältniffe des heil. Ber- 
ges ſeltſam beleuchtet. E3 waren nomadifierende Slawen, „Walachen“, wie e3 in den 
Urkunden furz heißt, mit Weib und Kind und ihren — in das Gebiet der Ajiori— 
ten eingedrungen. Das hatte auf dem heil. Berge viel Aufſehen gemacht. Die Stren— 
gen, an ihrer Spitze die Lawrioten, verlangten die Vertreibung der Eindringlinge, 
anderen gefiel die Sache. Die Slawen verſorgten die Mönche mit Milch und Käſe 
und ihre — verſahen den Kloſterhaushalt. Da wurde ein Gebot des Patriarchen 
Nikolaos bekannt, das die ſofortige Austreibung der Nomaden befahl. Die Rigoriſten 
triumphierten, die Eegner trauerten und klagten. Ja viele wanderten mit den Hirten 
aus, ſo daß der heilige Berg zu veröden drohte. An der drohenden Entvölkerung des 
Athos nahm der Railer Alerios nun Anlaß, dem Patriarchen jein zwar wohlgemeintes 
aber unrechtmäßiges Vorgehen gegen die Mönche vorzuhalten, da der heilige Berg 
nur dem Kaifer jelbjt unterftehe. Zu allgemeiner VBerwunderung aber lehnte der Ge- 
tadelte e8 rundweg ab, das bewuhte Schreiben an die Klöfter erlafjen zu haben. 
Erft nach längerer Zeit fam es denn heraus, daß der Igumenos der Lawra, Johannes 
Walmas, das Echriftftück untergejchoben hatte. 

Während der lateinijchen Serrichaft in Konjtantinopel hielten die Wjioriten ftreng 
an der griechischen Sade. Obwohl ihnen Innocentius II. von Rom aus verjprad), 
den heil. Berg in feine und des heiligen Petrus Proteftion zu nehmen, und ihnen alle 
ihre Privilegien beftätigte, jo wandten fie ſich doch, als einft in diefer Zeit der neue 
Patriarch von Bulgarien feine Macht fie fühlen laſſen wollte, um Hilfe nicht nad) 
Nom oder Konftantinopel, jondern an den Kaiſer von Nicäa Sohannes, der denn auch 
mit Hilfe des Bulgarenfönigs ihnen Abhilfe jchaffte. 

Im Jahre 1261 ftürzte Michael Paläologos die Franfenwirtichaft und eröffnete 
die letzte Dynaftie der Ahomäer in Konftantinopel, die der Paläologen. Um dieje Zeit 
trat zum erftenmale die ganz eigentümliche Myſtik öffentlich auf Ajionoros auf und 
wird von nun an ein ganz wichtiger Bejtandteil der mönchiſchen Lebensanjchauung. 
Im vierzehnten Jahrhundert, das darf man als Parallele aufftellen, beginnt auch in 
der abendländifchen Kirche eine myftiihe Bewegung Ein Mönd) vom Katharinen- 
flofter auf dem Sinai, namens Gregorios, jo heißt es in deſſen Lebensbejchreibung, 
fam auf einer PBilgerreife auch nach Kreta. Hier traf er einen alten erfahrenen Mönd) 
der ihn, als fie einjt von der Erreichung vollfommenen Lebens redeten, dahin befehrte, daß 
au den praftiichen Uebungen des Faſtens, Betens und Gehorchens aud) die „Theorie“ 
ommen müßte, die geiftige Erhebung zu Gott, wolle ander der Möncd ein wahrer 
Mönch fein. Bei der Ausübung jolches Ningens nad) der Gemeinjchaft Gottes müßte 
der Fromme fich in einen jtillen, am beiten auch dunfeln Raum zurüdziehen, das 
Kinn auf die Bruft jenken, feine Gedanken von aller Welt abziehen und fonzentrieren 
auf die furzen Gebetsworte: „Herr Jeſu Ehrijte, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“! 
die er mit vollfter Andacht im Geift ohne Aufhören vor fich hinzufprechen habe, das 
Atmen dabei möglichjt anhaltend. Dann würde bald ein eigentümliches Wärmegefühl 
den Betenden überfommen, Thränen würden aus den Augen brechen, Wonnejchauer 
die Seele ergreifen und bei geduldiger Hebung endlich werde dem Entzüdten ein Licht 
erjcheinen, überirdiſch, geiftig, göttlich, und im diejer Lichtſphäre erjcheine Gott, der 
den Begnadigten wenigjtens auf die Zeit des Gebetes in die Gefilde der Seligen führe. 
Da jenes Gebet diefe unausſprechliche herrliche Wirkung habe, jo nenne man dieje 
Theorie auch „die Lehre von dem geiftigen Gebet.“ 

Gregorios nun, der Mönd vom Sinai, brachte dieſe merkwürdige Lehre nach dem 
Athos, den er auch auf feiner Pilgerreife berührte. Hier fand er genug gebetsfreudige 
Ecüler. In dem Kellion Magullah, dicht beim Iwirerflofter, ſoll er gelehrt haben. 
Bald gehörten die meisten Ajtoriten zu den „Nuhenden“, wie ſich die neuen Enthufiaften 
nannten. Bald drang die Kunde von dem wunderbaren Erjcheinen des göttlichen Lichts 


Der Atho3 und jeine Bewohner. 1041 


auf Ajionoros in die Welt. Widerjprucdh wurde laut. Von ferne fam man, um ſich 
Kunde zu holen. So erichien auch von Italien ein Mönch, namens Barlaaın, der 
entlodte einfältigen Bergheiligen die merfwürdigiten Ausjagen über das Gottjchauen. 
Mit jcharfer Feder wußte er die frommen Ruhenden danı anzugreifen. Entgegnungen 
blieben nicht aus. Klagen auf Irrlehre folgten bald. Kaifer und Saijerinnen, Pa— 
triarhen und Synoden entjchieden für oder gegen die Wjioriten. Die Litteratur wuchs 
ins Unendliche und die gefamte griechiiche Kirche war in Aufregung. Endlich auf der 
Synode von 1351 befamen die Mönche vom Athos recht. Seit der Zeit ift Die 
griechische Dogmatik bereichert um den Eat vom erjcheinenden göttlichen Licht; die nie 
ruhende Polemik gegen die Zateiner hat ein Gejchoß mehr, das fie gegen Rom jchleudern 
fann, in den tiefen Wäldern aber von Ajionoros, in der einfamen Zelle oder im halb- 
dunkeln Kämmerchen hinter turmhoher Klojtermauer lehrt man die alte heilige Lehre 
vom geijtigen Gebet heute wie zu den Zeiten der Paläologen. Und dadurch ijt erſt 
die mönchiſche Weltanfchauung zur Vollendung gefommen, daß zu dem verneinenden 
Streben nad) Abtötung des Jrdijchen das pofitive des Ringens nach Vereinigung mit 
Gott gefügt wurde. 

Während man jo durch die Lehre vom geistigen Gebet den Weg gefunden zu 
haben glaubte, der Welt zu entfliehen, brach der Geiſt der Welt gerade um dieſe Zeit 
in höchſt verderblicher Weije in die Hürden der Heiligen ein. Bislang hatte zu den 
grundlegenden Kloſtergeſetzeu der Sat von der perjönlichen Bejiglofigfeit gehört. 
Eigentum beſaß nur das Klofter. Jetzt fam es auf, dal hie und da in den Klöſtern 
reiche Eintretende nicht auf ihr Eigentum verzichten wollten. Andere arbeiteten für 
fih. Das gemeinfame Leben wurde durchbrochen, manche richteten jich auf eigene 
Koſten ihren eignen Haushalt ein. Diejes idiorrhythmiſche Leben, wie man es nannte, 
untergrub das ganze Kloſterleben. Keine Disziplin fonnte mehr geübt werden, Ge— 
horjam gegen den Igumenos vermochte man nicht mehr zu erzwingen. Die es ernjt 
meinten mit dem mönchtichen Leben, mißbilligten dieſe unerhörten Neuerungen, fie 
hatten auch die Patriarchen in Konftantinopel auf ihrer Seite, aber fie drangen nicht 
durch. Kaiſer Manuel Paläologos jah fich genötigt, in dem Ausschreiben von 1406, 
in dem er verjchiedene Punkte des ajioritiichen Lebens beleuchtete, der gefährlichen 
neuen Lehre von der Berechtigung des Eigenbefiges der Mönche SKonzejjionen zu 
machen. Er billigte diefelbe zwar nur für jet, da es jchwierig jei, den einmal Be— 
figenden ihr Eigentum zu nehmen. Doc war mit diejer Nachgiebigfeit die gute Sache 
verloren. Da in den Klöftern, in denen die Mönche Beſitz hatten, auch des Igumenos' 
Stellung unmöglic war, riet der Kaiſer ebenfalls, dem Abt einen Rat von 15 Brüdern 
an die Seite zu ftellen. So fiel auc das monarchifche Regiment in vielen Klöftern. 
Solche Klöſter, in denen jeder feinen eignen Haushalt führte und die Verfaſſung eine 
demofratische war, nannte man jeit der Zeit furz idiorrhythmiſche Klöfter, die aber 
nad) den alten Regeln weiter jich richteten, wurden im bejonderen Sinne mit dem 
alten Namen „Kinowien“ geſchmückt, d. h. Klöfter mit gemeinjamem Leben. Dieje 
Spaltung hat ji) auf Ajionoros erhalten bis auf den heutigen Tag. 

Werfen wir num noch einen Blick auf die Bildung der Wjioriten im verflofjenen 
Zeitraum, jo fünnen wir nur bezeugen, daß der Athos jeit des Athanafios Zeiten eine 
Stätte der Wiſſenſchaften, Künfte und Kunfthandwerke gewejen iſt. Hier ift vor allem 
hinzuweiſen auf die ungeheure Anzabl von foftbaren Handfchriften, die auf dem Athos 
verfertigt jind, von dort aus über die ganze Welt zerjtreut wurden oder jich jet noch 
in den Bibliothefen finden. Dieje Schriften aber wurden nicht allein von den Mönchen 
geichrieben, jondern auch gelejen, wie man an den vielfachen Spuren des Gebrauchs 
erfennen kann. Namentlich die griechische Theologie erfuhr Bereicherung durch den 
Eifer der Bergheiligen, und was 3. B. von ihnen über das göttliche Licht gejchrieben 
ift, wird für die Gejchichte der Neligion von dauerndem Intereſſe fein. Auf dem 
Gebiete der Kunſt liebte man namentlich die Schnigerei in Holz und Elfenbein und 


1042 Der Athos und feine Bewohner. 


die Malerei. Seltjam ift e8, daß die Mufter, die die Mönche bei ihren Schnigereien 
verwenden, vielfach am ajiatische Formen erinnern. Als bedeutungsvolles Ornament 
3. B. wenden die Künſtler häufig jenes kreisrunde Zeichen an, das bei den Bubdhijten 
jeit Urzeiten als das Zeichen der Sonne gilt. Nicht unwahrfcheinlich ift es, dat die 
Einführung diejes Sinnbilds des Lichts mit der Erjcheinung der Myſtik des göttlichen 
Lichts auf Ajionoros in Verbindung gejtanden. Dialer gab es von früh an unter 
den Mönchen. Schon die Konftitution des Kaijers Johannes unterjchreibt ein „Georgios 
der Maler“ und ein „Nikolaos der Schönjchreiber". 

Im Jahre 1453 erfüllte fich das längjt vorhergejehene Schidjal des rhomäiſchen 
Neichd. Damit brach für den gejamten griechijchen Orient eine neue Zeit an. Im 
Aeußeren find den Ajioriten die neuen Herrjcher, die Türken, jelten bejchwerlid) ge— 
fallen. Auf dem h. Berge war jogar mancherlei gejtattet, was im übrigen türkischen 
Reich verboten war, jo der Gebraud) von Sirchengloden und das NAufjtellen des 
Kreuzes an Öffentlichen Wegen. Gegen die Zahlung einer jährlichen Abgabe lich man 
die Heiligen in Frieden, jtörte nicht ihre Verfafjung und mijchte ſich nicht in ihre 
Angelegenheiten. Allerdings find jolche Erzählungen, wie daß der große Sultan 
Selim I. im 16. Jahrhundert das Kloſter Kiropotam nad) einer Feuersbrunſt von 
Grund aus neu gebaut und reich ausgeitattet, ald Sagen zu betrachten. Zur Ver— 
tretung der türkischen Regierung wohnt jeit alters ein höherer türkischer Beamter unter 
den Mönchen, jegt ein Kaimafam. Die Rückſicht auf die Anfichten der Ajioriten ver: 
anlaßt die Regierung dabei, auch ihren Beamten nicht zu gejtatten, daß jie ihre 
Familie bei jich haben. 

Das Folgenjchwere und VBerhängnisvolle der neuen türkischen Zwingherrichaft war 
namentlich für die Griechen ihre geiftige Unterdrüdung. Die offizielle Sprache des 
Reiches ward die Sprache der Sieger, das Türfifche. Die griechiichen Schulen gingen 
ein, die Kenntnis des Altgriechifchen verlor fi). Das Volksgriechiſch, jenes interejjante 
Gemisch von Griechiſch, Romaniſch, Slawiſch, Türkiſch ward die Schrift» und Umgangs: 
jprache für die Griechen, eine Sprache, die wohl für Erbauungsbücher und Findlichen 
Chronifenftil genügte, aber feineswegs eine höhere Bildung vermitteln fonnte. Wer 
in jener Zeit ſich bilden wollte, ging nach Italien, ward aber dadurch meijt der grie- 
chiſchen Kirche und jeinem eigenen Volk entfremdet. Der Mangel an allgemeiner Bil- 
dung brachte auch der Kirche großen Schaden. Ihr alleiniges Leben ward der Kultus 
und dieſer konnte es mit dem Islam, wenn er geiftig und begeiftert auftrat, nicht aufs 
nehmen. Verſuche vom Abendlande aus der Schweiterficche zu helfen, wurden von 
diefer in alter Starrheit zurückgewieſen. Die lutherifche Kirche erlebte das namentlich) 
im 16. Sahrhundert, al3 die Neformatoren und ihre Schüler mit dem Patriarchen 
Jeremias II. in Verbindung traten. Für die römiſche Kirche juchten die Jejuiten be= 
ſonders zu wirken, doc, auch mit geringem Erfolg. Erſt in der Mitte des 17. Jahr: 
hunderts jind leije Lebenszeichen im griechiichen Bolt wieder zu bemerfen. Bon da an 
bahnt ſich die Wiedergeburt der Griechen an, die in der nationalen Selbjtändigfeit 
eines Teils derjelben ihren vorläufigen Abſchluß gefunden hat. 

Dieſe Schidjale des ganzen Volkes erlebten die Bewohner des heil. Berges mit. 
Dunkel find jene Zeiten des 16. und 17. Jahrhunderts auch für Ajionoros. Der 
Patriarch) Joakim 1. Elagt in einem Brief an die Mönche von 1499, daß fie die 
Satzungen der Väter verlaſſen. Aus anderen Quellen läßt jich erkennen, daß das 
idiorrhythmiſche Leben der Mönche in jenen Zeiten die alte Strenge des Lebens bei 
den meisten untergraben hatte. Im Jahre 1574 jah fich der Patriarch Jeremias II. 
genötigt, die alten Konftitutionen den Mönchen bejonders wieder einzujchärfen. Er 
ermahnt außerdem z. B. fein Maß und Gewicht beim Handel zu benugen, außer dem 
vom Protos anerkannten. Für die Kaftanien, Kirſchen und dergleichen werden be— 
ſtimmte Preiſe feitgefegt. Die Fabrifation und der Genuß von Branntwein wird den 
Bergheiligen unterjagt. Solche und andere Verbote laſſen auf manche fittliche 


Der Athos und jeine Bewohner. 1043 


Schäden jchließen, an denen das Leben des Ajionoros damals krankte. Im 17. Jahr: 
hundert jchüttelten die Klöſter auch die letzte Herrichaft ab, die ihnen wenigjtens noch 
eine Kontrolle auferlegt hatte, die des Protos. Die fünf größten Klöſter Lawra, 
Batopädi, Imwiron, Chiliandari und Dionyffiu nahmen die Herrichaft in die Hand. 
Mährend jo die äußeren Bande auf Aionoros am meisten gelodert waren, begann 
gerade um dieje Zeit der Wiederauffchwung zum Beſſern. Damals Tebte auf dem 
heil. Berge der bedeutendfte religiöfe Schriftiteller jener Zeiten, Agapios Landos. 
Seine Erbauungsbücher und Heiligenleben, in der Volksſprache gejchrieben, erleben 
bis auf den heutigen Tag unveränderte Auflagen, denn die moderne Erbauungslitteratur 
der griechiichen Kirche findet beim Volke fein Zutrauen. Im folgenden Yahrhundert 
jehen wir Ajionoros an der Spitze der geiftigen Bewegung des griechiichen Volkes. 
Im Jahre 1749 nämlich gründeten die Korfteher des Klosters Vatopädi in Berbin- 
dung mit dem Patriarchen Kyrillos V. dicht bei ihrem Klofter in einem zu dem Zweck 
errichteten, prachtvollen Gebäude die Athosafademie, die eine Lehranjtalt im Großen 
werben jollte, namentlich für den griechiichen Stlerus. Hier wollte man orthodore 
Kirchenlehre, das Studium der griechtichen Klaſſiker und moderne abendländiiche Philo- 
fophie miteinander verbinden. Nachdem als erjter Direftor der Mönch Neophytos die 
Sache in den Gang gebracht, berief man den größten Griechen der Zeit, Emwjenios 
Wulgaris. Diejer jtammte aus Korfu. Seine Bildung war eine tiefe und univerjale. 
Er kannte die Klaſſiker feines Volkes nicht weniger als die Syiteme der damaligen abend- 
ländischen Philofophie. Namentlich hat die Lehre Leibnigens ihn beeinflußt. Er ſtand zwar 
bei den orthodoren Griechen im Auf der Freiſinnigkeit, doch wußte er fich bald durch 
einige kräftige Schriften gegen die Lateiner wieder in die Gunst der rechtgläubigen Kreije 
zu ſetzen. Seine Werfe find ſehr anziehend zu lefen. Durch alles, was er jagt, geht ein 
erfrifchender Lebenshauch. Wie die Humaniften der abendländifchen Renaiſſance klaſſiſches 
Lateinisch Liebten, erjtrebte Ewjenios tadellojes Griechisch. Wie bei jenen die Aus— 
drucksweiſe ſich gern an klaſſiſche Vorbilder anſchloß, jo bewegt jich der griechijche 
Humanist am liebften in den Begriffen und Bildern feiner au nationalen Vor— 
fahren. Vieler Sprachen mächtig, überjegte Ewjenios viele abendländifche Werfe ins 
Griechijche, feinem Volke dadurd) eine Bildungsquelle nach der anderen erjchliegend. 
Er jelbjt fchrieb unter anderem eine Logif und eine Metaphyfit, Lehrbücher, die jeit 
Sahrhunderten zum erjtenmal wieder weiteren Streifen die Grundlagen höherer Bildung 
vermittelten. Von der Theologie legte er feinen Zeitgenoſſen nicht nur eine ſyſtema— 
tische Darjtellung vor, jondern er führte jie auch durch eine geiftreiche, praftijche Er- 
flärung der fünf Bücher Mofis in die Bibel ein. Sogar auf dem Gebiet der Mathe: 
matif und der Phyſik bewegte er fich für feine Zeit mit rühmlichem Erfolg. Ewjenios 
fam 1753 nach dem Athos. Angeftellt mit dem für damalige Zeiten jehr hohen Ge— 
halte von etwa 3000 Mark, war er verpflichtet, täglich zwei Etunden Philoſophie 
vorzutragen. Er aber übernahm jofort vier Stunden für jeden Tag, richtete Latein- 
klaſſen ein, um jeinen Schülern die abendländijche Bildung erjchliegen zu können, ließ 
im Griechifchen Herodot, Thukydides, Demofthenes, Platon und Ariftoteles lejen und 
wußte namentlich, wie alle großen Pädagogen, durch feinen lebenjchaffenden Geift den 
Eifer und die Begeifterung feiner jungen Leute aufs höchſte zu entflammen. Aus 
allen Teilen Griechenlands ftrömten Jünglinge herzu; 20 Schüler fand Ewjenios bei 
jeinem Kommen vor, 200 hatten ſich bald gefammelt. Man kann noch jegt in Der 
traurigen Ruine der Schule die Eleinen Schülerzellen erkennen, jede einzelne mit einer 
Dfenanlage, jo daß die Studierenden auch im Winter arbeiten konnten. Das Gebäude 
bildet ein längliches Vieref mit einem freien Hof in der Mitte, war aljo nach der 
Art der Klöfter gebaut. Die Anftalt war Internat und wie eine große Familie lebte 
Emjenios mit feinen Lehrern und Schülern. Vielleicht gab es auf der ganzen Welt 
feinen geeigneteren Ort für ungeftörtes Leben in den höchjten geiftigen Sphären als 
jener grüne Hügel bei Vatopädi. Unendliche Veltferne, träumerifche Weitficht auf 


1044 Der Athos und jeine Bewohner. 


das vaterländiiche Meer mit jeinen blauen Inſeln, dort das zinnengefrönte ehrwürdige 
Kloster, ein lebendiger Zeuge vergangener byzantinischer Herrlichkeit. Eine Bibliothek 
in demfelben mit mehr als taujend, zum Teil höchjt bedeutenden Handjchriften und 
einer für Studenten ausreichenden Anzahl gedrucdter Werfe aus allen Gebieten. Im 
Nücden endlich tiefer grüner Wald, dem müden Geijte allzeit Ruhe und Friſche ver- 
heißend. An jolcher Stätte nun ein Lehrer wie Ewjenios, ein felbjtändiger Geist, weit- 
herzig, begeiftert für alles Wahre und Große, das Kultuschriftentum feiner Zeit, viel 
leicht gegen jein Bewußtjein, überfliegend — gewiß dort zeigte ſich niemals das Jdeale 
unverhüllt vom Staub der Welt, freilich auch nur für eines Augenblides Länge. Der 
geniale Mann auf dem Athos wurde wahrjcheinlich den Negierungsfreiien in Stambul 
unbequem, oder ob Privatfeinde aus Neid die Sache anjpannen, furz man begann 
bald eine Oppofition gegen Emwjenios an der Schule ſelbſt zu jchüren. Unter den 
Studenten bildeten ji) Parteien. Die einen nannten fich Ewjeniten als die An— 
hänger des Ewjenios, andere Meletiten nach dem Vorſteher von Vatopädi, namens 
Meletivs, der damals am meijten im Kloſter vermochte, wieder andere nach dem 
Batriarchen Kyrillos, eine vierte Partei, ich weiß nicht warum, Veneter. Leider nahm 
für die Widerjacher Partei derjelbe Patriarch) Kyrillos, der damals, nach) dem Athos 
verbannt, in Vatopädi lebte. Leicht hette man nun auch den Fanatismus der Mönche 
auf, indem man ihnen vorjpiegelte, wie des Ewjenios Lehren dem ftrengen Leben zu- 
widerliefen. Endlich fam es jogar dahin, daß man in der Schule, nachdem die Dis- 
ziplin fich immer mehr gelodert, dem einft vergötterten Lehrer mit Stodjchlägen drohte. 
Da verließ diejer die Schule und floh nach dem Jwirerflojter. Das war im Jahre 
1758. Mit dem Weggang des Ewjenios aber war der Schule das Urteil gefprochen. 
Eie hielt ſich zwar noch bis in den Anfang diejes Jahrhunderts, janf aber jehr jchnell 
zu einer niederen firchlichen Bildungsanftalt herab. Ewjenios aber ging nach einem 
furzen Aufenthalt in SKonftantinopel nach Leipzig und von da nad) Berlin. Hier 
wurde er auch an den Hof Friedrichs IT. gezogen, der ihn dann der Saijerin Katha— 
rina I. von Rußland empfahl. In Rußland ſtarb Ewjenios in den höchiten kirch— 
lichen Ehren. 

Im öden Schulhof von Vatopädi aber baute man ein Kirchlein, dem Elias ge- 
weiht. Zu ihm, als dem wajjerjpendenden Heiligen, wallfahrten bei großer Dürre die 
Mönche von Vatopädi in feierlicher Prozeſſion. Elias hat jedoch) die geiftige Duelle 
(ebendigen Waſſers nicht wieder fliegen laſſen, die einft an diefer Stätte ſprudelte. 

In jenen Jahren erjtarkte das Firchliche Bewußtſein bei den Patriarchen endlich 
wieder jo weit, daß fie mit Energie den früher bejejfenen Einfluß auf die ajioritiichen 
Berhältnifje wieder anjtrebten. Bejondern Anlaß mochte dazu geben, daß in jener Zeit 
faſt alle Klöſter das gemeinfame Leben verließen, auch viele theologische Zänfereien die 
Mönche entzweit hatten. Im Jahre 1783 nahm der Batriard) Gabriel den fünf großen 
Klöftern die Herrichaft und erließ eine neue Konftitution, die noch jet fait zu Necht 
bejteht. Danach liegt die Regierung bei der Verjammlung der 20 8 nr euch 
die in Karyäs ihren Sig hat. Einen gejchäftsführenden Ausschuß befigt diefer Senat 
an den vier Epijtaten, deren Würde von je vier Klöftern weitergeht, bis fie die Zahl 
der zwanzig durchlaufen. Die Reihenfolge beftimmt alte Tradition. Die Abgeordneten 
und ihr Ausschuß halten ihre Sigungen im alten Protaton, in einem hufeifenförmig 
möblierten Saale. Es geht da jehr würdevoll und mit peinlicher Ordnung zu umd 
fujtanellenbeffeidete, jchwerbewaffnete Diener erhöhen den Glanz der Klojterver- 
tretung. 

Der griechiiche Freiheitsfampf hat wohl einem Teile der Griechen nationale Selb- 
jtändigfeit verliehen, er hat aber auch viel verwüfte. Das Volk hat fich an ihm für 
lange Zeit verblutet. Das gilt auch für Ajionoros. Fünfzehnhundert Mönche kämpften 
182] tapfer bei Salonik gegen türkische Uebermacdht. Dafür lag aber bis 1830 milt- 
täriſche Beſatzung in den Klöſtern. Diefe waren daher vielfach verödet, und jedenfalls 


Der Athos und jeine Bewohner. 1045 


war die hoffnungsvolle Saat des vergangenen Jahrhunderts zertreten, als nach Abzug 
des Militärs die Mönche jich wieder einrichteten. Empfindliche pekuniäre Einbuße er- 
litten die Klöjter noch, als in den jechziger Jahren die rumänische Regierung ihnen 
die reichen Beſitztümer, die fie in den Donauländern bejaßen, ohne Erjat abnahm. 

Heute liegt, wie über dem ganzen Orient, jo auch über der Welt von Ajionoros 
ein Gefühl der Unficherheit und der Erwartung. Was für ein Kreuz wird die Ajia 
Sophia tragen, ein griechifches oder ein lateinisches? Das ift die Frage der Zeit. 

Werfen wir jebt, nachdem wir die Gejchichte von Ajionoros kurz durchwandert 
haben, einen Blick auf das heutige Lebensideal der Ajioriten und ihre Mittel, dasfelbe 
in erreichen, jo find wie in alter Zeit Weltflucht und myjtiiche Vereinigung mit Gott 

ie beiden Gejichtspunfte, von denen aus jich alle Erjcheinungen des Mönchslebens 
auf dem Athos begreifen laffen. Ein berühmter Ajiorit, namens Nifodemos, gab im 
Jahre 1801 ein „Handbuch des geiftlichen Rats“ heraus, in dem er bis ins gemauejte 
ausführte, wie das gejamte Leben der Mönche im Irdiſchen einer jteten Disziplin 
unterzogen werden müßte, um endlich abgetötet zu werden. Um die Vereinigung mit 
Gott zu erreichen, müßte das jo entleerte Leben rein religiöje Formen eingehen, um 
auf diefem Wege endlich mit dem „geistigen Gebet“ das Leben in Gott zu gewinnen. 

Aus der fonjequent durchgeführten Weltflucht erklärt jich das einzigartige Verbot, 
daß feine Frau den Boden von Ajionoros betreten darf. In den ſechziger Fahren, fo 
erzählte mir der alte Fremdenbruder in Iwiron, ſeien einmal englijche Ariftofraten mit 
ihren Damen bei Iwiron gelandet. Doc habe die Panajia wenigitens joweit die 
Bitten der Mönche erhört, daß fie den Eintritt der rauen ind Innere der Klöfter 
nicht zugelafien. Das Unheilvolle diefes Einfalls jchilderte der alte Mönch mit nicht 
Ihwächeren Farben, als die Chronijten des Mittelalters etwa einen Einbruch der jee- 
räuberischen Araber oder Italiener. Uebrigens wird auf Ajionoros auch fein weib- 
liches Tier geduldet; nur in ganz abgelegenen Kellien habe ich wohl eine Henne mit 
Küchlein wahrgenommen, doch darf das ja nicht ruchbar werden. 

Die Weltflucht verbietet auch den Genuß von ftarfen Speijen, vor allen Dingen 
den Genuß des Fleiſches. Für einen einfam lebenden Mönch, der ftreng den Geboten 
nachfommen will, bejtimmt daher eine Speifeordnung des 17. Jahrhunderts, die aber 
auch noch jet von vielen innegehalten wird, folgendes: „IR die ganze Woche nur 
Brot und Wajjer, und zwar nur einmal des Tags, nad) Untergang der Sonne, aber 
auch das mit Map und nicht bis zur Sättigung. Gekochtes Ehen und Wein gejtatte 
dir nur Sonnabend und Sonntag, aber auch dann nicht bis zur Sättigung, jondern 
nur die Hälfte von dem, was man in den Klöſtern mit gemeinſamem Leben it, und 
zwei bis drei Eleine Gläjer Wein, wenn du alt oder frank bij. Wenn du aber jung 
oder Fräftig bijt, mag der Wein ganz fehlen, ebenjo auch das gefochte Ejjen.* In den 
Klöſtern ift nun allerdings tägliches warmes Eſſen Regel, doc) find Bohnen, Kicher- 
erbjen, Linjen, Knoblauch die Hauptnahrung; Salzfiſch gilt als Ausnahme, frijcher 
le und Eier als jeltene Delifateffen. Fleiſch Habe ich nur in zwei idiorrhythmiſchen 
löjtern und in einem Sellion gegefjen. Dabei darf man aber nicht vergejlen, daß 
drei Tage in der Woche gefaftet wird, nämlich Montag, Mittwoch, Freitag. An diefen 
Tagen gibt's in den jtrengen Klöſtern nur Bohnen, in Wafjer ohne jede Zuthat gekocht, 
rohe Gemüje mit Tomaten und Brot. Zu diefen dauernden Fafttagen kommen dann 
noch die jehr ftrengen FFaftenzeiten vor Djtern, vor Weihnachten, vor Himmelfahrt 
Mariä und nad Pfingjten. Die Ordnung für die DOfterfaften ift nach den Vorjchriften 
des Heil. Athanafios folgende: „In _der großen: Faltenzeit ejjen wir nur einmal des 
Tags, außer am Sonnabend und Sonntag, Wir effen aber in der erjten und mitt- 
leren Woche meist abgefochte Bohnen oder Kichererbſen, zumeilen auch Salzfrüchte ohne 
Del, auch Kaftanien oder andere Früchte. Im der zweiten, dritten, fünften und jechiten 
Woche ejjen wir abgefochte Bohnen und gekochtes Gemüſe mit geriebenen Nüffen, außer 
am Mittwoch und Freitag, denn an bielen Tagen efjen wir die Speifen der erjten 

Aug. toni. Monatsfchrift 1898. X. 67 


1046 Der Athos und jeine Bewohner. 


Woche. Die ganze Faftenzeit hindurch aber trinken wir feinen Wein, nur am Sonn— 
abend und Sonntag.“ 

Folge diefer enthaltjamen Lebensweije iſt, daß man jelten wohlbeleibte Mönche 
auf Ajionoros findet. Doc find die meiften jehr fräftig, ausgezeichnete Fußgänger 
und Ruderer. Indes wußte man mir von eigentümlichen Knochenkrankheiten zu erzählen, 
die von dem ausschließlichen Genuß der Hüljenfrüchte jich bildeten. 

Die Abtötung alles Irdiſchen foll auch die Kleidung der Mönche darftellen. Das 
Haupt bededt eine jchwarze Filzmütze, einem Cylinderhut ohne Krämpe vergleichbar. 
In der Kirche und beim Eſſen verhüllt die Mütze wieder ein jchwarzer Schleier, der 
vom Kopf nur das Geficht freiläßt, denn der Mönch ſoll womöglich alle Sinne von 
der Außenwelt abjchliegen. Zwei lange jchwarze Kleider deden den Leib; das untere 
ift eng und wird gegürtet, das obere ijt weit und verbirgt die Gejtalt des Trägers. 
Jenes bedeutet die Gerechtigkeit, die der Mönch mit jeinem Stande anzieht, der Gürtel 
die Enthaltjamfeit, das Obergewand deutet auf den göttlichen Schu. Breite ftarfe 
Lederichuhe Eleiden den Fuß; fie wollen daran erinnern, daß der Mönch auf dem 
ſchmalen Wege wandern joll. 

Zu diefen, allen gemeinjamen, Kleidern kommen noch die bejondern Zeichen der 
beiden Stände; denn ftatt wie das römiſch-katholiſche Mönchtum ſich in verjchiedene 
Orden zu jcheiden, iſt das des Drients ein allumfafiendes geblieben, hat dafür aber 
einen niedern und einen höhern Stand ausgebildet, die durch die Strenge der An- 
forderungen in dem geiftlichen Webungen und durd die Kleidung ſich unterjcheiden. 
Die Mönche erjter Drdnung tragen über dem Untergewand eine lange, jchmale jchwarze 
Schürze, auf der mit roter oder weißer Schnur ein Kreuz mit den Worten „Jeſus 
Chriſtus jiegt* ich abhebt. Diefe Schürze wird an einem Schlig über den Kopf 
gezogen und jchließt mit einer Kleinen Kapuze, die der Reſt der alten großen Kapuze 
ist, an deren Stelle die heutige mörjerförmige Müge getreten ift. Ueber diefer Schürze 
hängt wieder ein auf beiden Seiten des Körpers jymmetrischer Kompler von Woll- 
jhnüren, der an vielen Stellen Kreuze bildet und das Kreuz in Erinnerung bringen 
will, das die Mönche ihrem Herrn nachtragen jollen. Das Abzeichen der Mönche 
zweiter Ordnung bejtcht jegt nur noch in einem jpannebreiten Stüd jchwarzen Zeugs, 
das, unter dem Unterkleid getragen, ebenfalls mit Kreuz und Spruch geſchmückt und 
daher als eine Artt von Amulett zu betrachten ift. Den Mönchen erjter Klaſſe be- 
gegnet man vorzugsweiſe nur in den Klöſtern mit gemeinfamem Leben und in den 
Sfiten. 

Alle diefe Gewänder werden dem Mönch bei der Schur feierlic) überreicht. Ich 
wohnte einer ſolchen im Iwirerkloſter bei. Diejelbe fand um 2 Uhr nachts ftatt, und 
zwar in dem kleinen Slirchlein, in dem das berühmte Bild der Panajia PBortaitifia 
hängt, das bereit3 um 1300 in Urkunden erwähnt wird. Der Prieſter jtand in der 
mittleren Thür der Bilderwand, rechts von ihm am diejer das Banajienbild. Der 
Dokimos, Awirkios war jein Name, der gejchoren werden jollte, fam unter mehreren 
Fußfällen auf den Knieen durch die Kirche gerutjcht, nur mit feinem Unterfleid angethan, 
denn die Stleider der Welt foll der Mönch draußen laffen. Ernfter monotoner Gejang 
der Brüder empfing ihn. Sie jprachen in des Neulings Namen die Worte aus dem 
Gleichnis vom verlorenen Sohne, dejjen Grundgedanken die ganze Zeremonie beherrichen: 
„Deffne eilend Deine VBaterarme, denn ohne Heil verbrachte ich mein Leben. In dem 
unergräündlichen Reichtum Deiner Gnade überjieh nicht mein armes Herz, denn in Ber: 
knirſchung ruf ich zu Dir: Ich habe gejündigt, Vater, in dem Himmel und vor Dir.“ 
Dann folgen die jchwerwiegenden Fragen der Gelübde, deren jede der Neuling mit den 
Worten beantwortet: „Sa, mit Gottes Hilfe, chrwürdiger Vater“, und nach längeren 
Ermahnungen die Schur. Bei diefer wird aus dem — des Mönchs an vier 
Stellen, vorn, hinten und an den beiden Seiten über den Ohren eine Locke abge— 
chnitten, ſo daß die Verbindungslinien der Schnittſtellen ein Kreuz bilden. Die gefallenen 


Der Athos und feine Bewohner. 1047 


Haarbüſchel bindet der Priefter zufammen und thut fie an einen heiligen Ort, in Iwiron 
hinter das Panajienbild. Das Gelübde gilt ja der Panajia im — Endlich 
folgte die Anlegung der Gewänder und der Neubekleidete erhielt ein Kreuz in die 
Hand, das alle anweſenden Brüder, ihm gratulierend, küßten. 

Zur Zucht in allen irdiſchen Dingen gehört auch der Verzicht auf allen Komfort 
des Lebens. Die Zimmereinrichtungen in den ſtrengen Klöſtern ſind ſehr einfach. Eine 
Holzbank, mit einem Sack, einer bulgariſchen Decke oder einem billigen türkiſchen Teppich 
belegt, dient zum Sitzen und zum Schlafen. Ein einfacher Holztiſch, felten Stühle, 
— ein alter Schrank, vollenden das Meublement. Die Waͤnde ſchmücken einige 

ilder, die meiſtens den Tod oder das jüngſte Gericht oder etwas aus dem Leben der 
Heiligen darſtellen. Nur der Igumenos, als offizielle Perſon, hat zuweilen eine 
befjere Einrichtung. Spiegel findet man felbjt in reichen Klöſtern felten. „Spiegel be- 
fördern die Eitelfeit“, jagt man auf Ajionoros. Die Toiletteneinrichtungen machen dem 
Fremden überhaupt viele Schwierigkeiten. Schon daß man ſich * dem Korridor 
unter dem Hahn der Waſſerleitung waſchen muß, gehört nicht zu den Annehmlichkeiten. 
Petroleum iſt in den meiſten Klöſtern der Feuergefährlichkeit halber nicht beliebt; die 
teilweiſe ſehr primitiven Lampen werden vielfach noch mit Oel geſpeiſt. Im allgemeinen 
erhöht die Strenge der Lebensordnung und die Höhe der Bedürfnisloſigkeit nach An— 
ficht der Mönche die Heiligkeit des Lebens. Die Eremiten, die fich den Diogenes zum 
Borbild genommen und im abgelegenen Felsſpalt des hohen Athos von Brot, Wurzeln 
und — leben, genießen daher noch immer vorzugsweiſe den Ruf einer beſondern 
Heiligkeit. 

Alle an die Welt erinnernden Vergnügungen wollen ferner die Rigoriſten von 
Ajionoros ganz und gar ausgeſchloſſen wiffen. Kein weltliches Lied hört man dort 
fingen, zu pfeifen gilt für ſehr umfchidlich, lautes Lachen habe ich innerhalb des 
Kloſters nie gehört. Lautlos thun die Mönche ihre Arbeit. Mit leifer Stimme gibt 
der Igumenos die Befehle, ohne Entgegnung leiften die Brüder den Gehorjam. Klavier 
und Harmonium find verboten, Orgeln in der griechifchen Kirche überhaupt verpönt. 
Keinem Gejellfchaftsjpiel darf der Mönch frönen, auch mit dem Schach macht man 
feine Ausnahme. Xiere, wie Hunde oder Singvögel, ſich zum Vergnügen zu halten, 
gilt als Dienst der Welt. Nur eine große Anzahl zum Teil ftattlicher Kater bevölfern 
die Klöſter. Dieje einzigen Freunde * Mönche aus dem Tierreich führen nach ihren 
Farben beſondere Namen, auf die ſie auch hören. Die braunen heißt man gern 
„Schakal“, die ſchwarzen „Mohr“, und ſofort. Auch ſind dieſe Tiere vielfach gut abge— 
richtet. Sie ſitzen aufrecht, ſchlagen Purzelbäume, ſpringen über den Stock und 
machen ähnliche Kunſtſtücke. Nirgends auf der Welt gibt es ſo viele Nichtraucher als 
auf Ajionoros. Ich ſprach über dieſe Form der Entſagung mit einem trefflichen Mönch 
im Kloſter Kutlumuſi. Der meinte, Sünde ſei das Rauchen zwar nicht; wer aber 
nach Vollkommenheit ſtrebe, dürfe ſeinen Leib auch nicht ſolchen knechtenden Gewohn— 
heiten hingeben. 

Dieſe allgemeine ſtrenge Zucht folgt, möchte ich ſagen, dem Mönch noch über den 
Tod hinaus. Stirbt einer der Brüder, wird ihm, nachdem er gewaſchen, die ſchwarze 
Mütze über den Kopf gezogen, den übrigen Körper näht man ein in das ſchwarze 
Obergewand, das er bei ſeinen Lebzeiten getragen. Denn nun iſt der, welcher der 
Welt ſchon im Leben ſtarb, dieſer vollends geſtorben; darum ſoll ihn fein Menſch 
mehr ſehen. Alle Brüder begleiten die Leiche nach dem Friedhof. Unter ergreifenden 
Geſängen ſenken ſie den Bruder in ſein flaches Grab, das ſelten mit einem Kreuz, 
meiſtens nur mit einem nummerierten Stein verſehen wird. Nach der allgemeinen 
Sitte der griechiſchen Kirche im Orient wird nad) 3 bis 4 Jahren das Grab wieder 
geöffnet, Die Gebeine werden gefammelt, mit Rotwein gewafchen und in dem Beinhaufe 
zur Ruhe gelegt. Die Simitirien, wie man diefe Häufer heißt, find wunderbare 
Stätten. Kamentlich in den alten großen Klöftern kann man fie nicht ohne Staunen 

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1048 Der Athos und feine Bewohner. 


und Ehrfurcht betreten. Da liegen auf dem Fußboden Gebeine bei Gebeinen, an den 
Wänden zu Bergen getürmt, Generation ruht auf Generation. Hier find auch im Tode 
vereint, die Jahrhundert auf Jahrhundert denjelben jchweren Kampf des Lebens ge- 
fämpft haben. Sonnabends aber, ehe die Sonne aufgeht, lieſt ein Prieftermönch hier 
die Liturgie und einmal im Jahre, am Sonnabend aller Seelen, gedenft in feierlichen 
Gottesdienste die gefamte Brüderjchaft an diefer Stätte der Entjchlafenen. Da werden 
aus den alten Negijtern aller Namen verlefen, die in den Mauern des Kloſters ge- 
fajtet, gebetet und gejtorben find. 

Diefer peinlichen Disziplin des gejamten äußern Lebens, die nach den Ausfagen 
der Njioriten den Geift von allen irdischen Gedanken und Wünſchen freimachen joll, 
daß er unbejchrieben erjcheint wie ein reines Blatt Papier, läuft nun in allem parallel 
die religiöfe Erziehung, die gleichjam dem Geiſt wieder Inhalt und Stoff geben joll. 

Diejer religiöjen Erziehung dienen beſonders die Gottesdienite, Die in den jtrengen 
Klöjtern täglich viermal, in den freieren zweimal jtattfinden. Ihre Höhe erleben die- 
jelben in den jogenannten Agrypnien, den Nächten, die wachend mit Gebet in der 
Kirche zugebracht werden. Solcher Vigilien, von denen der abendländiichen Kirche nur 
der Name geblieben iſt, feiert das Klojter gegen 30, und zwar vor allen bedeutenderen 
Selten. In den Sfiten hält man deren auch für Bezahlung zum Seelenheile andrer 
ab. Die täglichen Gottesdienjte nehmen etwa 8 Stunden in Anſpruch. Die größte 
firchliche Feier des Jahres ift die Panijiris, die Kirchweih. Ein jolches Feſt feiert 
man im größten Klofter bis herab zum kleinſten Kellion. Ich Habe die größte aller 
Kirchweihen, nämlich die von Jwiron, miterlebt. Dieje findet jtatt zu Himmelfahrt 
Mariä, welcher Heilsthatjache das Kloſter geweiht if. Als ich am Vorabend des 
Feſtes gegen 5 Uhr hinkam, war bereit Klojter und Hof von viel hundert Fremden 
—— Da waren außer ungezählten Scharen gewöhnlicher Mönche und Laien, meiſt 

rbeitern, die den Klöſtern dienen, Bulgaren, Albaneſen, Inſelgriechen, auch die Spitzen 
der Geſellſchaft von Ajionoros erſchienen. Da war der Patriarch Joakim IIL, der ſich 
pe beſuchsweiſe auf dem Athos aufhielt, ein geborener Kirchenfürft und geiftig jehr 
edeutender Mann, der in Wien als Archidiafonus der dortigen griechijchen Gemeinde 
auch Deutjch gelernt Hatte Da waren zwei Erzbijchöfe und die Erjten jämtlicher 
Klöfter. Der Gottesdienst, eben die Feitagrypnia, begann um 5 Uhr abends und 
dauerte unausgejegt bis zum andern Morgen 8'/, Uhr. Dabei entfaltete das Klojter 
eine wahrhaft fönigliche ha an heiligen Gewändern, unter denen Meifterwerfe 
byzantiniſcher Stiderei ji) fanden, an goldenen und filbernen Kelchen, Kreuzen, 
Leuchtern und dergleichen. Die koftbariten Evangelien trug man umber, unter andern 
eins von doppelter Foliogröße, ein Gejchent Peters des Großen. Am andern Morgen 
um 10 Uhr fand das Feſtmahl ftatt; für das gewöhnliche Publikum, die niederen 
Mönche und die Laien im alten Speilehauje und auf dem Hof im freien. Für diefe 
Br nur Salzfiich, der aber auch in ungeheuren Majjen verzehrt wurde. Die Elite 
er Gejellichaft jpeiite, etwa 70 PBerjonen, oben im Synodifon, dem offiziellen Ver- 
tr der Brüder. Der Patriarch präfidierte, die beiden Erzbiſchöfe an feiner 
Seite. eben einem von dieſen ſaß ich, dann folgten die Vorſteher der Klöſter in 
langen Reihen. Friſcher Fiſch in allen möglichen Geftalten, gekocht, gebraten, in Salat: 
form und jonftigen Bubereitungen bildeten den Inhalt des Mahles, bei dem es höchſt 
zeremoniell herging. Als Nachtifch gab es Feſtkuchen, die jogenannten Kolywa, die beim 
Gottesdienſt zuvor der Banajia dDargebracht waren, eine Miſchung aus gefochtem Weizen, 
Diandeln und Wallnüffen, oben mit einem Zuderguß, der die Formen des byzantinischen 
Chriftusfopfes gut erkennen ließ. Es war eben religiöfe Torte. Der Kirchweih ſchloß 
ſich nad) alter Sitte al3 zweiter Feittag die Gedächtnisfeier der Stifter des Kloſters an. 
Doch wurde die Nacht vorher nicht wieder durchgebetet. Das Feſtmahl an diefem Tage 
geſtattete ausnahmsweiſe Fleiſch, doch ſah ich die meiften Gäjte beim Fiſch bleiben. 
Nach Tiſch jegten wir ung gemütlich zufammen, an harmlofen Scherzen uns erfreuend. 


Der Athos und feine Bewohner. 1049 


Unter allgemeinem Beifall trugen da die beiten Sänger auch ein Lied vor, nämlich) 
einen Hymnus auf die 318 Väter von Nicäa. 

Außerordentliche Bedeutung für das religiöje Leben der Väter vom heil. Berge 
hat auch die Lektüre, die auf Ajionoros beliebt ift. Faſt nur geiftliche Litteratur ſieht 
man in den Händen der Mönche. Nur den alten Sekretär von Iwiron ſah ich häufig 
in der Odyſſee lejen, doc) jchien mir diejer überhaupt ein verftedter Freigeiſt zu fein. 
Auch die jüngeren, die in Athen und auf der Inſel Chalki bei Konjtantinopel ihre 
theologijchen Kurje abjolviert haben, emanzipieren ſich von der Mönchslitteratur. Doc) 
find das Ausnahmen. Als ich einjt den alten Gabriel in der Täuferjfiti bei Iwiron 
bejuchte, gab mir diefer zur Unterhaltung, währenddem er nach) dem Ejjen jah, eine 
Betrachtung des Kaijers Leo Sophos über den Tod und eine Predigt des Neugriechen 
Theotofis über die Wahrheit des Evangeliums. Das war jeine eigne tägliche Lektüre. 
In der Stille lieft man auch gern alte Volksweisſagungen, die von dem Sturz der 
Türken handeln, wie man denn auch gern die Offenbarung Johannis auf Mohammed 
und jeine Anhänger deutet. 

Auch in ganz allgemeinen Formen des Lebens prägt fich das Religiöfe aus. Statt 
des Grußes der Welt jagt der Ajiorit: „Segnet mich, Vater“, und der andre antwortet: 
„der Herr jegne dich“. Dieje Formel, namentlich die erjte, hat jedoch jo jehr ihren 
religiöfen Inhalt verloren, daß fie auch bei ganz andern Gelegenheiten benutzt wird. 
Nötigt uns ein Mönch zum Eintreten, zum Sigen, zum Ejjen, ſtets heißt e8 „ewlojite*. 
Beim Klopfen um Einlaß jagt man die Worte: „Um der Bitten der heiligen Bäter 
willen“ und jtatt des „Herein“ antwortet'3 im Zimmer „Amen“. Beim Ejjen tranf 
mir ein alter Mönch zu, indem er mir ein jelige8 Ende wünjchte. Als allgemeiner 
Ausruf des Etaunens, des Schredens, der Freude, furz als univerjale Interjeftion 
gilt das „Kirie eleison!* 

Hervorragende Bedeutung im innern Leben der Mönche hat das Gebet. Diejes 
wird täglich in verjchiedener Weile geübt, teils mit dem Komwolojion, wie bei den 
Griechen der Roſenkranz heißt, teil3 mit Kniebeugungen vor dem Bilde Chrifti oder 
der Panajia. Das myſtiſche Gebet aber ift das eigentliche Geheimnis von Ajionoros. 
Der Patriarch Joakim fagte mir, dat dasjelbe höchſtens noch im Kloſter des heiligen 
Sabbas bei Serujalem geübt würde. Die alten Theorien der Ruhenden find bei den 
heutigen Mönchen, namentlich in den Sfiten und den Klöſtern mit gemeinjamem Leben, 
ganz befannt und in Uebung. Sie jprechen nicht gern davon, wie jich das erwarten 
läßt, find aber nicht zurüdhaltend damit, wenn fie merken, daß der Fragende in ihrem 
geheimnisvollen Thun eine Form der Gottesverehrung jieht, die, geichichtlic) genommen, 
jedenfall der höchjten Beachtung wert ift. 

Ich Lade nun den Lejer ein, im Geifte mit mir bei einer jeden der drei großen 
Gemeinjchaftsformen, in denen ſich das ajioritische Leben ausgebildet, einen Bejuch zu 
machen, in einem Kloſter, in einer Skiti und in einem Kellion. Unter den Klöftern 
wählen wir dazu das jchon öfter genannte Swirerflofter, in dem ich mich im ganzen 
länger als fünf Wochen aufgehalten. Der vielfad, gefrümmte jteile Waldpfad, der 
nach dem Kloſter führt, läßt uns erjt furz vor dem Ziel das gewaltige Gebäudeviered 
der alten Jwirergründung jehen, das ziemlich nahe am Meere aus der Miündungs- 
Ihlucht eines meift trodenen Giesbachs Herausragt. An Gärten und Weinbergen 
vorbei jchreiten unſere Maultiere der Htattlichen Säulenhalle zu, ‚die vor dem Portal 
ſich ausbreitet. Doc) jchon vorher fordert unfer Albaneje uns auf, von unjern Tieren 
abzufteigen, denn niemand darf auf Ajionoros in den Klofterhof einreiten, das wider 
jpricht der den heiligen Stätten jchuldigen Ehrfurcht. Zu Fuß fönnen wir noch beffer 
gleich alles ins Auge fallen. Links vom jetigen Thor iſt ein fleineres, altes, mit dem 

ilde des Todes der Maria geſchmückt. Dem Gedächtnis diejer Thatjache ift ja das 
Klofter geweiht. Sehr häufig finden wir den Heiligen oder die Heilsthatfache, unter 
deren Schutz das Klofter fteht, über dem Klojterthor abgebildet. An der Thür be- 


1050 . Der Athos und jeine Bewohner. 


grüßt uns der junge Pförtner mit herzlichem Willkommengruß. Wir übermitteln ihm 
den Empfehlungsbrief, den wir wie jeder fremde bei jeiner Ankunft auf Ajionoros von 
den Abgeordneten in Karyäs ausgeftellt befommen, und werden daraufhin ungejäumt 
ſchräg über den weiten Klofterhof in den Fremdenflügel geführt. Dort erwartet ums bereits 
der freundliche alte Fremdenbruder, der uns das große helle Zimmer anweift, das nur 
für Gäfte erjter Klaſſe geöffnet wird. An den Wänden desjelben laufen breite Diwans, 
mit blau und weißem Drell bezogen. Den Fußboden bededt eine Eunftvoll gearbeitete 
große Matte. Tijche und Stühle ergänzen das einfache, aber höchſt jaubre Meublement. 
Die Wände find mit Bildern von Fürften vieler Länder gejhmüdt. Kaiſer Wilhelm 
mit feinen Heerführern von 1870, Alexander II. von Rußland mit jeiner Gemahlin, 
König Georg von Griechenland und viele andere find da zu jehen. Grandios iſt die 
Ausficht. Links das brandende Meer, geradeaus und rechts über dem leeren Bett des 
Giesbachs fteil anfteigender Berg mit herrlichem Hochwald. Kaum haben wir uns das 
angejehen, jo kommen die Borjteher des Klofters, um uns zu begrüßen. In den 
Klöftern mit gemeinfamen Leben erjcheint ftatt ihrer der Igqumenos. Sehr gewandt 
fpinnen die Herren die Konverjation an. Reife, Herkunft, Deutjchlands heutige Stellung, 
die Nähe eines Krieges find die Themata, die mit Urteil und Taft erörtert werden. 
Indefjen bringt ein Diener der Fremdenwohnung, deren es in den großen Klöftern 
ftet3 mehrere gibt, die übliche Erfrifchung, die wir überall im griechifchen Orient in 
eingemachten Früchten mit friſchem Wafjer bejteht, dem gleich ein meijt jehr guter jelbit- 
gebrannter Likör und ein Kaffee folgt. Will man dabei den Vätern eine Liebenswiürdig- 
feit jagen, jo lobt man das Waſſer, das in der That in den meijten Klöftern ein vor: 
züglich fühles und gejundes ift. Und was fühles und gejundes Wajjer bedeutet, das weiß 
man im Orient allerdings bejjer al3 bei ung zu Haufe. Nun treten wir einen Rundgang 
durchs Klofter an. Von dem offenen Vorbau des Fremdenhauſes iſt dasjelbe leicht zu 
überjehen. Iwiron bildet wie fajt alle byzantiniſchen Klöſter ein längliches Viered. Der 
Hof, den es umschließt, ift 150 Schritt lang und etwa die Hälfte davon breit. So mäd)- 
tige Höfe haben indefjen nur die auf ebenem Terrain gebauten Klöjter, die auf felſigem, wie 
Ajiu Pawlu, Stawronifita, Dionyjjiu und andere find jo zujammengedrängt, daß die 
Kirche, die immer mitten im Hofe jteht, dieſen faſt ganz ausfüllt. In dem geradezu 
an den Felſen angeflebten Limopetra fehlt der Hof gänzlich, und die Kirche ijt in dem 
Gebäudeviered enthalten, eine jeltene Ausnahme von der allgemeinen Bauart, welche 
legtere übrigens ohne Frage mit der Ähnlichen der alten orientalischen Gafthäufer und 
MWohnungsfomplere, der Home zufammenhängt. In dem geräumigen Klojterhof von 
Iwiron und fat jedem Klofter liegen in der Längsrichtung besielben ſich die große 
Kirche, das Katholifon und das Speifehaus gegenüber. Zwiſchen beiden erhebt R ein 
kleiner ſäulengetragener Pavillon mit rieſigem Marmorbecken, der zum Heiligen des 
Waſſers dient, welches jeden Erſten des Monats ſtattfindet. Dieſe Marmorbecken ſind 
teilweiſe ſehr intereſſant durch ihre Formen und Waſſerleitungsvorrichtungen. Das in 
der Lawra iſt aus dem Platz gehauen, denn dort iſt der ganze Boden Marmor, und 
die Waſſerzuführung iſt ein hübſches Denkmal byzantiniſcher Goldbronzearbeit. Das 
Dach dieſer kleinen Tempel iſt häufig mit ſchöner Malerei geſchmückt. Bei dem in 
Iwiron hat modern europäiſcher Einfluß ſtattgehabt. Manche Frauengeſtalten erinnerten 
ſogar an die Wartburg. Wir betreten das Katholikon. Dasſelbe zerfällt ſtets, wie 
alle größeren griechiſchen Kirchen, in eine Vorhalle, den Vortempel und den eigentlichen 
Tempel. Von dieſem iſt der Altarraum wie ſtets durch die Bilderwand geſchieden. 
Große und kleine Kuppeln erheben ſich über den einzelnen Teilen, die zuſammen in 
ihrem Grundriß meiſt die Form des Kreuzes bilden. Die Arme des Kreuzes dienen 
u den Sitzen für die geweihten Mönche, die Prieſter und die Diakonen, der Kopf des— 
Felben ift mit dem Altarraum gefüllt, im Schaft haben die einfachen Mönche ihre 
Plätze. Der rechte Arm des Kreuzes ift der erjte an Würde, an der Ede desjelben 
nad) dem Schafte des Kreuzes ift darum der Ehrenplab, ein mehr oder weniger pracht- 


Der Athos und feine Bewohner. 1051 


voll geſchmückter Thron, für den Kaifer oder den Patriarchen bejtimmt. Neben dieſem 
Blake find die der Erjten des Kloſters. In den Kreuzarmen figen auc die Sänger 
bei den Gottesdienten, jelbjt wenn fie nicht die Weihen empfangen haben. Bekanntlich 
find die Athosklöfter mit Fresken nad) byzantinischem Geſchmack ausgemalt. Die 
Reihenfolge der Bilder, die meistens Vorwürfe aus dem Alten und Neuen Teftament 
und den heiligen Legenden behandeln, richtet ich noch ziemlich genau nach den Vorſchriften 
des byzantinischen Lehrbuchs der Malerei, das uns in einer Gejtalt aus dem 15. Jahr: 
hundert überliefert ift. Diejes höchft merkwürdige Buch, das über Behandlung der 
Farben, der Wände, über die Vorwürfe und deren Ausführung bis ins Kleinſte, jo- 
wohl was Naumverhältniffe als auch Farbenverteilung betrifft, ganz genaue Auskunft 
und Anweifung gibt, läßt begreifen, wie die byzantinische Malerei fich jahrhunderte- 
lang nicht geändert hat. Uebrigens ift das Buch nicht nur griechifch und zwar das 
in zwei Auflagen, fondern auch franzöfifch und deutjch erjchienen. Wer die Welt der 
Phantaſie fennen lernen will, in der das Fromme — Gemüt ſich bewegt, mag 
dieſes Malerbuch ſtudieren. Alle Bilder in der Kirche beherrſcht nun das der Haupt— 
kuppel über der Vierung. Es iſt das Koloſſalbild des Chriſtos Pantokrator, des 
Weltenherrſchers Chriſtus, das in ſeiner furchtbaren Größe und unbeweglichen Starr— 
heit auf niemand ſeinen Eindruck verfehlen wird. Von dort herab iſt auch der mäch— 
tige Kronleuchter befeſtigt, deſſen großer Ring aus bronzenen Doppeladlern beſteht, 
eine Erinnerung an vergangene Herrſchaft. Die Bilderwand hat ihren Namen von 
den Bildern, mit denen ſie bedeckt iſt. Das Hauptbild ſcheint meiſtens rechts von der 
Mittelthür zu hängen. 

Das Speiſehaus, der Kirche gegenüber, iſt häufig aquch ausgemalt. An den Wänden 
des langen, häufig auch freuzförmigen Gebäudes ziehen ſich die riefigen Marmortijche hin, 
bis zu 25 am der Zahl, jeder für 10 Perſonen gewiß ausreichend. In den Klöjtern mit 
gemeinschaftlichem Leben; jpeift man hier noch täglich, in den idiorrhythmischen efjen, wie ſchon 
oben gejagt, die Mönche auf ihren Zimmern. In dem Klofter Esfigmenu wohnte ich einem 
gemeinjchaftlichen Mahle im Speijehauje bei. Es gab — * Brot, Waſſer— 
melonen und Rotwein. Das Geſchirr war irden und das Beſteck in die bunte Serviette 
eingewickelt, wie auch ſonſt im Orient. Der Vorleſer trug aus einem alten Kirchen— 
vater eine Erklärung zu der Berufung Samuels vor. Unterhaltung iſt ja verboten. 
Nach Tiſch ſprach der Igumenos das Dankgebet, dann traten alle Brüder zu zwei 
langen Reihen in dem Gange zwiſchen den Tiſchen zuſammen, das Geſicht der Thür 
zugewendet, welcher der Gang gerade zuführte. Der Igumenos ging voran und vor 
der Thür an der Seite ſtehen bleibend, ſegnete er jeden der Herauskommenden. An 
der innern Thürſchwelle lagen zwei Mönche auf den Knieen. Sie waren in Strafe 
und mußten jeden der Brüder beim Heraustreten um Verzeihung bitten. Ein rieſiger 
Roſenkranz aus Stricken dient für die Abſolvierung der Strafgebete. Faſteneſſen voll: 
endet die Pon. Die Verfaſſung des h. Athanaſios kennt ſogar noch Gefängnisſtrafe 
für unverbeſſerliche Brüder. Derartiges iſt heute nicht mehr möglich. „Die Brüder 
würden fortlaufen,“ gab man mir zur Antwort, als ich mich danach erlundigte. 
Neben der Hauptkirche und dem Speifehaufe find noch manche Wirtjchaftsgebäude 
angelegt: die Küche, der ein gelernter Koch vorfteht, das Badhaus, das Waſchhaus 
und anderes, wie Holzterraffen zum Trodnen der Hajelmüffe, die ja eine Haupteinnahme 
für manche Klöfter bilden. In dem Badhaus wird gewaltig gearbeitet. In Imwiron 
wurde bis zu fünfmal in der Woche gebaden und jedesmal 500 Brote, deren jedes etwa 
ein Kubifdezimeter füllen mag. In der Lawra, die augenblidlich nicht viele Brüder 
zählt, bädt man 3mal alle 2 Wochen, jedesmal 750 Kilogramm Mehl. In Iwiron 
rechnet man nämlich allein 200 Brüder, dazu fommen als Eſſende aber noch die 
Laienarbeiter und viele Arme in Betracht, denn jeder, der am Klojterthore vorbeifommt, 
erhält auf feine Bitte ein Brot. Dergleichen menjchenfreumdliche Züge finden jich nod) 
mehr. Auf dem Wege zu Lawra fommt man an der Quelle des h. Athanaſios vorbei. 


1052 Der Athos und feine Bewohner. 


Dort hat man für den müden Wanderer einen Pavillon gebaut, in diefem wiederum 
einen Schranf, in dem jeder Speifende die Ueberrejte feines Mahles deponiert, damit 
auch die Armen dort ftet3 Speiſe finden. 

Die Wafchhäufer zeigen eine Menge großer fteinerner Wafchtröge; das Waſſer 
focht man frei über Holzfeuer in mächtigen Keſſeln. Uebrigens wajchen die Mönche, 
namentlich wollene Sachen, perfekt, denn fie jelbft tragen nur Wolle, auch hierin ſchon 
feit Jahrhunderten Lehrer der Gejundheitspflege. Künfte wie die des Plättens jind 
allerdings auf Ajionoros unbekannt. 

Anziehend find auch die fühlen Kloſterkeller, meiftens uralte Anlagen. Hier 
träumen ungeftört die bauchigen Träger des ftärkenden Notweins, den das Kloſter 
jelbft aus jeinen Reben feltert. Die 4 größten Fäfjer in Iwiron hieß man die 4 
Evangeliften. Das Diivenöl, die Butter des Orients, von dem man in VBatopädi allein 
jährlid 15000 Kilogramm verbraucht, wird meiftens in uralten marmornen Sarko— 
phagen aufbewahrt, die mit Dedeln aus Kaftanienholz verjchlofjen werden. Namentlich 
der Delfeller von Vatopädi ift ſchön ausgeftattet und durch Wunder der Panajia be- 
rühmt. Kehren wir nun von dem Klofterhof in das Gebäudeviereck zurüd, jo finden 
wir dasjelbe in viele einzelne Flügel geteilt, die, aus verſchiedenen Zeitaltern ſtammend, 
Wohnungen für ſich bilden, die ſogar mit eigenen Kirchen ausgeſtattet ſind und unter 
fih nur durch Korridore Verbindung haben. Bon offiziellen Gebäuden iſt da noch zu 
nennen das Verfammlungszimmer der Mönche, das häufig reich ausgejtattet ift, wenig— 
ftens für die Verhältniffe von Ajionoros. Die Klöfter, die Verbindung haben mit 
Kleinajien, präfentieren in diefem Zimmer häufig jchöne alte anatolische Teppiche. Faſt 
alle Klöfter find aus alter Zeit noch von mächtigen VBerteidigungstürmen überragt, 
deren fich auch an dem Kleinen Hafen, wie ihn jedes Kloſter beißt, finden. 

Wir verlaffen nun das Klofter und bejuchen eine Sfiti, und zwar, die oberhalb 
von Iwiron liegt und dem verehrungswürdigen Täufer und Vorläufer des Herm, dem 
Fohannes, geweiht ift. Die Bewohner diejes Mönchsdorfes werden in älteren Be— 
jchreibungen nicht allein ihres ftrengen Lebens halber, jondern auch wegen ihrer Ge— 
lehrjamkeit gerühmt. Auf einem Bergvorjprung, den wiederum ein Thal teilt, Liegen 
die wenigen Häufer, ganz und gar im Grünen verjtedt. Beim Ausjägigenajyl von 
Iwiron rt der Weg vorbei, beim Ausfägigenajyl, in dem die barmberzige Liebe der 
Mönche dieje elendeften aller Kranken, die ſich meist aus dem Städtchen Hierifjos auf 
der Halbinjel Chalcidice und von einigen Dörfern auf Mytilene refrutieren, jeit alter 
Zeit verpflegt. Oben in der Skiti habe ich gute Freunde, vor allen den alten Gabriel, 
der in der Kalywi, jo heißt jede einzelne Behaujung einer Sfiti, des heiligen Antonios 
wohnt. Dem Schußheiligen nach hat Gabriel jeinen älteften Dienermönch oder Hypo» 
taftifos genannt, den braven Antonios, der num auch jchon dem Greijenalter nahe ift. 
Ein halbwüchſiger Dokimos, namens Georgios, hat die „laufenden“ Gejchäfte des 
Haufes zu bejorgen, da die beiden älteren nicht gerne weiter als ins Kloſter geben. 
Gabriel ift feines Zeichens Fabrifant vom feinsten Näucherwerf in der griechischen 
Kirchenwelt. Diejes hat in der That ein jehr feines Aroma. Dafür foftet das Kilo» 
gramm aber auch gegen 30 Mark. Antonios dagegen iſt Maler, und zwar bat er bei 
einem tüchtigen Meifter gelernt. Er hat auch feinem Gerontas, jeinem Greiſe, wie der 
ältefte regierende Mönch feit alters in allen Mönchsgemeinjchajten heit, dem Gabriel, 
von der hohen Malkunſt etwas beigebracht, doch jchien mir diejer in feinem urjprüng- 
lichen Face größer zu jein als in der Malerei. Infolge diefer Berufsarten der Be— 
wohner lag über der ganzen Hütte ein eigener Duft von Weihrauch, Roſenöl, Eyprejien- 
holz und Terpentin, der mir immer mit der Erinnerung an dieſe heimatliche Stätte 
verbunden bleiben wird. 

ALS Gaſtgeſchenk Hatte ich meinen Freunden bei meinem zweiten Aufenthalt einige 
Lithographien von religiöfen Bildern der Dresdener Galerie mitgebracht. Unter diejen 
trug den Triumph der Ehriftus von Guido Reni davon, während die Sirtina nicht dem 


Der Athos und jeine Bewohner. 1053 


Seal entiprach, das bei den Griechen für die Panajia gilt. Bielleicht ärgerte den 
alten ftreitbaren Gabriel die dreifache Krone des Papſtes auf diefem Bilde Im 
übrigen lobten fie die deutjchen Schnitte, Stiche und Drude als Vorlagen, und was 
ich allerdings von ruffifchen Fabrifaten in der Richtung auf Mjionoros ſah, konnte 
mit den deutjchen nicht konkurrieren. Was nun die Nachahmung europäischer Vorlagen 
überhaupt anlangt, jo folgt ınan auf Ajionoros einem zweifachen Gejchmad. Die Ge: 
biete der griechischen Kirche, die dem alten Rhomäerreich angehörten, verlangen für 
ihre öffentlichen und privaten Heiligtümer faſt durchgehends Bilder nach dem alten 
byzantinischen Gejchmad, obwohl auch diejer an jeiner alten Starrheit eingebüßt hat. 
Die ruffiiche Kirche dagegen verlangt realiftiich moderne Heilige und Madonnen. Eine 
PBanajia für Rußland, fo jagte man mir, müßte blondes Haar haben, Rehaugen, rote 
Baden und einen fleinen Mund; leuchtende Gewänder müßten ihre Geitalt heraus— 
treten lajfen. Diejen beiden Richtungen nun muß die Malerei auf Ajionoros Rechnung 
tragen, will fie oder wenigſtens wollen ihre Jünger beſtehen. Namentlich die Ruſſen 
beftellen jährlich durch ihr Klofter große Mengen von Bildern. Die ruffiihen Hand- 
lungshäufer liefern fertig dazu das Brett aus Eyprefjenholz, mit Leinwand überzogen, 
und bezahlen für eine Banajıa von einem Meter Höhe und entjprechender Breite gegen 
100 Mark. Gerade in den Sfiten wohnen nun die Maler diejer Bilder. An einem 
Bilde genannter Art, fo jagte mir ein Maler in der Nea Skiti, fünne einer vielleicht 
8 Tage arbeiten. Mein Freund Antonios war in jeiner Gejchmadsrichtung ein By— 
zantiner und fonnte nicht genug über den modernen Verfall der Malkunſt auf dem 
heil. Berge flagen, die nicht allein durch den neumodilchen Geſchmack in den Farben 
leide, jondern auch die Mannigfaltigkeit der Vorwürfe zujammenjchrumpfen laffe. Im 
der That find von den etwa 25 berühmten Banajtenbildern auf dem h. Berge nur 3 
etwa in Rußland begehrt, nämlich die Portaitiffa, die Thorbejchügende, der wir in 
Iwiron begeanet, die Goraohypifoa, die Gorgobezwingerin, vom Klofter Dochiariu und 
die alte Madonna vom WBrotaton, furz die Protatiffa genannt. Bon Heiligen iſt 
namentlich der — vom Ruſſenkloſter, der h. Panteleimon, eine begehrte Perſönlich— 
keit. Für die Gebiete des alten Geſchmacks indeſſen werden auch noch ſehr viele, teil— 
weiſe in ihrer Art ſehr ſchöne Bilder fertiggeſtellt. 

Die Bewohner der Skiten treiben auch ſonſt noch viele nützliche Künſte und 
Handwerke. Sie find es, die die feinſten Löffel und Geſtalten in Buchs und Elfenbein 
Ihnigen. Auch ordinäre Löffel zum Gebrauch, Brotjtempel mit chriftlichen Zeichen, 
Amulette von vielen Arten gehen aus den jtillen Hütten der Sfitioten hervor. Auch 
die berühmte Schwarze Müte, das Hauptfennzeichen der Mönche, verfertigt man bier, 
und nicht minder ift der Schnitt der Wiönchsgewänder von Ajionoros, wie er gerade 
von den Sfitenbewohnern zur Anwendung gebracht wird, in der ganzen griechiichen 
Möncdswelt tonangebend. Doc, beginnen auch hier die Ruſſen Konfurrenz zu 
machen. 

Mein Gajtfreund Gabriel war nit nur Räucherwerkfabrifant und Maler, jondern 

auch ein tüchtiger und ftreitbarer Theolog. Er beſaß jehr nette Kenntniſſe in der 
neugriechiſchen er und erhielt diejelben durch eifriges Studium in feiner aus- 
ewählten Bücherfammlung. Theologische Debatten konnten daher nicht fehlen, doc 
anden wir uns immer wieder an den großen Kreuzwegen chrijtlichen Glaubens in 
Uebereinjtimmung. Mit dem alten Gabriel verhandelte ich auch über die Myſtik, 
deren Theorien er genau fannte. Auch er befaunte fich zu dem Glauben an das 
göttliche Licht, doc, warnte er vor allen leichtfinnigen VBerjuchen, das hehre Geheimnis 
zu jchauen. Des Teufels Betrug jei gerade in diefem Ding groß, und mancher Heilige 
jei jchon das Opfer von Täuſchungen geworden. 

Bei jo jchwierigen Thematen war der Morgen jchnell vergangen. Wir gingen 
um Mittagseflen, das wie bei allen Mönchen gegen 10 Uhr eingenommen ward. Ich 
—* jedoch mit dem Alten allein. Autonios und Georgios blieben in der Küche. 


1054 Der Athos und feine Bewohner. 


Schade, daß der Tiich, deſſen früherer Befiger offenbar nach altorientaliicher Weiſe 
den Fußboden als GSitgelegenheit benußt hatte, nicht höher als der Divan war, auf 
dem wir faßen. So jchuf die gefrümmte Stellung nicht jonderliche Eſſensfreudigkeit, 
die ſonſt kaum gefehlt hätte. Denn es gab Salat von rohen Tomaten, dejjen Sauce 
von Del und Eſſig viel Peterfilie und ſogar einige zerjchnittene Sardellen aufwies. 
Als Extraſpeiſe war roter Kaviar aufgetischt. Dazu tranfen wir einen leichten, ſelbſt— 
gefefterten Rotwein. Nachdem wir der allgemeinen ajtoritifchen Sitte gemäß eine 
Mittagsruhe gehalten, die für die Mönche Bedürfnis it, da fie jchon gegen 2 Uhr 
des Nachts in die Kirche müſſen und hernach nicht wieder jchlafen, fam ein Nachbar 
zum Bejuch, der in dem Ruf eines tüchtigen Sängers jtand. Da er aber fein Gerontas 
war, blieb er mit dem Antonios im Nebenzimmer. Von dort aus trugen fie ung 
einige Palmen vor. „Zur Erbauung“, jagte der alte Gabriel. Später machten wir 
bei andern Sfitioten Bejuche. Da famen wir in noch manche Malerwerfitatt. Natür- 
lich bejahen wir auch die Kirche der Sfiti, die übrigend aus vorigem Jahrhundert 
ftammt und nichts beſonders Merfwürdiges darbietet. Unter der Altarnifche war in 
einem Keller das Beinhaus für die Skiti. Die Thür dazu ſtand offen und die jüngjten 
Gebeine jah man in einem Korbe unweit derjelben. „Dort jchlafen wir bis zum Tage 
der Auferjtehung“, jagte Gabriel mit entjagendem Lächeln. Umwillfürlich fiel mein 
Blid von diefer Stätte des Todes auf die wunderbare Pracht der Natur, die fich für 
den Blick gerade von dem Pla vor der Kirche aus entfaltet. Ueber das vollite Grün 
der Abhänge gings hinaus aufs Tichtblaue Meer. Ein einfames Schiffchen mit drei= 
edigem Segel zog dem fernen Thajos zu. ch weiß nicht warum, aber e$ ward mir 
bei dem Kontraft zur Gewihheit: Eine freudige Ueberwindung des Todes, wie unfer 
eu fie jeinen Jüngern verheißt, haben auch die Strengften der Ajioriten nicht ge— 
runden. 

Ende September im vergangenen Jahre (1887) führte mich der Zweck meiner 
Reife in das Kellion, das der heiligen Dreieinigfeit geweiht ift und darum Ajia Trias 
genannt wird. Die Beichäftigung mit einer dort befindlichen Handjchrift hielt mich 
eine Woche in demjelben fejt, und jo hatte ich Muße, auch das Leben der Kellioten 
fennen zu fernen, die Urform ajivritiicher Gemeinschaft. 

Das Sellion liegt oberhalb Karyäs, ziemlich hoch am Abhange des Die ganze 
Halbinjel durchziehenden Kammes. Es gehören zu demjelben an Grund und Boden 
jchöne Gemüfegärten, mehrere prächtige Weinberge und umfangreiche Haſelnußwaldungen. 
Bon Gebäuden umfaßt es ein zweistödiges Wohnhaus mit wohl 14 Zimmern, das 
nach Oſten wie jedes von Pr bewohnte Haus in eine Kirche ausläuft. Ein ge- 
räumiger Speicher enthält eine Küche und die in Kellien nie fehlenden Kelter. Eine 
eisfalte Quelle, die noch im Rufe befonderer Heilkraft fteht, jpendet die Bedingung des 
Lebens, das Waffe. Das Kellion iſt eines der älteften auf Ajionoros, war früher 
autonom, gehört aber jeit alters zur Lawra, die dann dem Kellion den einſt viel 
größeren Grundbejig genommen. Der heil. Athanajios joll hier jelbjt gewohnt haben, 
ehe er jein Klofter gründete. Damals jah er zu feinem Grabe aus die geräumige 
jeltjame Höhle, die jenjeits des Wegs im Hajeldidicht verborgen liegt. Hier bejtattet 
man noch jest als im Stimitirion die Gebeine der Mönche von Ajia Trias. Und nad) 
der Fülle an Knochen zu urteilen, liegt da manche Generation begraben. 

Hier lebte nun al3 Gerontad oder Igumenos des Kellions mein Freund Ewjenios 
mit jeinen vier dienenden Brüdern. Ewjenios war als junger Burjche vor langen 
Jahren hier bei dem damaligen Gerontas Sawwas eingetreten. Da er eine jchöne 
Stimme bejaß, war er allmählich zum erjten Sänger in der Kirche von Protaton auf: 
gejtiegen, und jeine mufifalischen Verdienjte waren vom Patriarchen durch das Archi- 
mandritenfreuz anerfannt worden. Doch hatte er dieſe Stellung jchon feit Jahren 
aufgegeben, da er feine Luft habe, jo jagte er mir, für 200 Mark — joviel beträgt 
der Gehalt des eriten Eänger® am Protaton — zweimal des Tags den Berg auf 


Der Athos und jeine Bewohner. 1055 


und ab zu fteigen. Noch aber las er gern zur Erbauung in mufifalifchen Werken, gab 
auch einem jungen Nachbarn, der eine augerlejene Stimme hatte, täglich Singftunden. 
Ewjenios hatte wie alle Kellioten auch ein Handwerk gelernt. Ein mit König Otto 
nad) Athen gefommener Deutjcher hatte ihn als Mönch die Buchbinderei gelehrt, und 
wie es jchien, mit Erfolg. Jetzt ruhte mein Freund ſchon längft von aller Arbeit aus, 
war er doch ein hoher Siebziger und ernährte ihn umd feine Synodia, jo heißt jede 
geiftliche Mönchsfamilie, das reiche Kellion ohne allzuviele Arbeit. Der ältejte feiner 
Mönche hieß Kyrillos, auch jchon ein bejahrter Mann. Er hatte edle, freie Züge und 
ein gerades, biederes Wejen. Dem folgte der Prieftermönd des Rellion, Kejarios, 
furzieg der Papas genannt. Er litt an der Zunge und war nicht frei von ſchwärme— 
riſchem Wejen. Auch zeigte er einen Anja von Gelehrjamkeit und liebte, mic) in Kleine 
theologische Debatten zu verwideln, woran fich namentlich der alte Emwjenios freute. 
Der dritte der Familie war der Diakon. Da derjelbe ſtets bei jeinem Titel genannt 
wurde, habe ich feinen Namen gar nicht erfahren. Es war ein fräftiger Gejell, der 
noch nicht die Mitte der Zwanziger überjchritten. Friſches, gutmütiges Wejen machten 
ihn zu einem angenehmen Gejellichafter. Er liebte die Jagd über alles und dem Fiſch— 
fang, doch lag er jeinen Kirchenpflichten auch mit Eifer ob. Das jüngjte Mitglied der 
Synodia hieß Panajiottis, vom Alten auch Fürzer „Panajiott!“ gerufen. Er hatte noc) 
nicht die Zwanzig erreicht und gab den Diener für alle her. Seine Stimme war jehr 
laut; namentlich wenn er einmal in der Kirche lefen mußte, erhob er diejelbe nicht 
immer zur Hebung der Andacht. Im übrigen war er jtet3 Dienfteifrig und ſprang 
troß feiner langen Gewänder mit beängftigender Gefchwindigfeit die dunkeln Treppen 
auf und ab. Seine beiten Gefährten waren die drei Hunde des Kellions, Azor, Lewkos 
und der große Jagdhund, der dem Diafonen zugeteilt war. 

Sämtliche Unterthanen des Ewjenios hatten die Buchbinderei erlernt. So erbt 
fih bei den Sellioten das Handwerk fort. Und die „deutſchen“ Einbände aus der 
Ajia Trias waren berühmt durch Wjionoros. Augenblicklich war Kyrillos Meifter im 
sach, der Diakon dagegen war jo wenig in die Geheimnifje der Technik eingedrungen, 
dat ihm nur das Falzbein und die Nadel anvertraut wurde, was zu manchen harm— 
Iojen Scherzen Beranlafjung gab. 

Alles im Leben der Kellioten, der uralten Grundform des griechijchen Mönchs— 
wejens, jchien mir maß- und zielvoll geordnet. Der Frühgottesdienit begann faum vor 
drei Uhr und währte wohl nicht länger als 1, Stunden. Dann ging jeder an feine 
Arbeit. Der alte Emwjenios hatte faſt täglich Gejchäfte in Karyäs, wie er fagte, und 
trat darum fajt jeden Morgen, immer mit großer TFeierlichkeit, den Weg dahin an. 
Er bejorgte auf diefen Gängen nicht nur die nötigen Einkäufe für die Küche, ſondern 
brachte auch die neuejten Neuigkeiten des ajioritischen Lebens mit, da er bei den Klojter- 
abgeordneten wegen feines erfahrenen Alters und feines Geldes in gutem Anjehen jtand. 
Kyrillos band Bücher ein und fochte beizu. Der Papas und der Diakon gingen auf 
eldarbeit. Die Ernte der Küſte jpielte damals gerade eine bedeutende Rolle auf dem 
Arbeitsprogramm. War das Feld ihrer Thätigfeit weiter entfernt, jo gab man ihnen 
auch für mehrere Tage Zehrung mit, Ziegenkäje, Salzfiih und einen Schlau, d. h. 
ein Ziegenfell voll Wein. 

Um 9%, Uhr früh wurde meift die erjte Mahlzeit eingenommen; bis dahin hatte 
es nur ein Täßchen jchwarzen Kaffee, einen Likör und ein Stüdchen Lufumi gegeben. 
Das Ejjen war einfah und gut. Nur am Mittwoch und Freitag fehlte das Fleiſch. 
Einmal gab's jogar ein Huhn. Auch der Alte Emwjenios hielt in der Stille einen 
Hühnerhof. Sonjt allerdings jah man, wie überhaupt meistens im Drient, nur Fleiſch 
vom Schaf. Dem Ejien folgte ftet3 eine Mittagsruhe, im Orient auch dem Abend» 
länder fajt ein Bedürfnis. m Nachmittag war die Arbeit in gleicher Weiſe geregelt. 
Kam der fühle Abend, ging der Alte wieder jpazieren, wobei ih ihn stets begleitete. 
Ih erhielt da viele aufllärende Mitteilungen über die inneren Verhältnifie von Ajion— 


> 


1056 Der Athos und jeine Bewohner. 


oros, die mir fehr wertvoll waren. Nur daß mein Freund wie die meijten alten 
Leute die Gegenwart zu peſſimiſtiſch anſah. Erblaßte an der Athosſpitze, die in ihrer 
gigantischen Herrlichkeit allzeit zu ſchauen war, die Glut der Abendjonne, rüdte Pana— 
fiottis die alte Hausuhr auf zwölf, und die Abendmahlzeit wurde angerichtet. Nach 
derjelben wandten jich die Jüngeren ftehend nad) der Lage der Kirche und lafen die 
Abendandacht. Zuweilen ftand auch Panajiottis mit fliegendem Haar bei fladerndem 
Licht allein auf dem Platz und las mit fchneller Stimme die vorgejchriebenen Gebete. 
Bis neun Uhr jahen wir dann noch zufammen in harmlojer Unterhaltung. 

Ich gewann bei dem allen den Eindrud, daß die Kellioten vielleicht nicht Die 
jtrengjten, aber die zufriedenften Mönche auf Ajionoros find. Sie haufen auf ihrem 
Eigentum. Das gibt ihrem Charakter etwas Selbjtändiges. Freie Arbeit und gejunde 
Nahrung läßt fie nicht in das jchemenhafte Wejen der Mönche aus den Klöftern mit 
gemeinfamem Leben fallen. Doch behütet der unbedingte Gehorjam gegen den Gerontas 
die Kellienbewohner vor der Ordnnungslofigfeit, der die Mönche in den idiorrhythmiſchen 
Klöftern oft erliegen. Allzeit in Berührung mit Wald und Strauch), haben fie Einn 
für den jprießenden Frühling, das Wehmütige des Herbites und das Gemütliche eines 
warmen Ofens, wenn die Schneejtürme den Athos umkreiſen. Sie verbannen nicht das 
Tier aus ihrer Nähe. Der treue Hund ift ihnen ein lieber Freund. Sie verachten 
nicht den freundlichen Schmud der Blumen. Nelfen, Georginen, Sonnenblumen zieren 
die Gärten. Ein tiefer Zug patriarchalifcher Frömmigkeit geht durch) ihr Leben, und ein 
gejunder jittlicher Geiſt belebt ihren Berfehr. 

Und kommt die Zeit zum Sterben, jo jcheiden fie mit der Gewißheit, daß auch 
der Tod ſie nicht von den Ihren trennt. Ihre Gebeine trägt man hinaus in den 
Hafelnußwald. Dicht bei dem Haufe, wo fie jo lange gelebt, fchlafen fie in ungeftörter 
Stille den legten Schlummer; dort, wo ihre Väter ruhn, die vor Jahrhunderten den- 
jelben Pilgerweg vollendeten. An die Stelle des verjtorbenen Gerontas aber tritt der 
eltejte der Eynodia, die Jüngeren rüden auf, und der Jüngſte erhält nun einen 
Bruder, der au ihm gehorchen muß. Das Leben aber bleibt, wie es gewejen. Die 
Ueberlieferung hat den Kellioten gebildet und erhalten, jie überlebt ihn, nachdem er ihr 
Träger gewejen. Hier ift auf eigentümliche Weife das Nätjel des Lebens gelöft, hier 
herricht nicht das Geje des Werdens, hier löſt die Zeit ſich auf in Ewigkeit. 





Eine deutſche Pichterin vor hundert Jahren. 


Bon 


Martin von Matbufius. 


IV. Freundſchaft mit Bürger. 


Ehe wir nun zu Philippinens öffentlichem Auftreten als Dichterin Fortjchreiten, 
müſſen wir einen fleinen Rücjchritt thun und etwas nachholen, das bisher des Zu— 
jammenhanges wegen nur angedeutet worden ift — e3 ijt der Umgang, der von allen 
Verhältniſſen, welche ihr vereinzeltes Titterarijches Auftreten ihr verjchafft Hatte, weit- 
aus der interefjantefte und einflußreichite war, nämlich) mit Bürger. 

Ih muß — in dieſem Kapitel von dem mir vorliegenden biographiſchen Material 
faſt ganz loslöfend, auf eignen Füßen ſtehen. Und zwar aus einem doppelten Grunde. 
Erjtlich tritt der Unterfchied des Standpunftes von dem Biographen aus dem Jahre 
1840 an feiner Stelle jo grell hervor wie in der Beurteilung Bürgers. Und zweitens 
hat auch über diefen Dichter feit jener Zeit die wifjenjchaftliche Forjchung foviel Neues 
zu Tage gefördert und iſt über ihn ſoviel gejchrieben worden, daß ſich allmählich ein 
richtigeres und zutreffenderes Urteil auch in weiteren litterarijchen Kreijen über ihn 
—— hat, als es vor 50 Jahren möglich war. Unter den eingehenden Veröffent— 
ichungen über Bürger nimmt die erſte Stelle ein ſein in vier Bänden herausgegebener 
Briefwechſel, den wir Strodtmann zu verdanken haben. In unſerem Entwurf vom 
Jahre 1840 konnte der Verfaſſer noch jagen: „Wie ſchade, daß auch hier alle Be— 
mühungen zu Philippines Briefen wieder zu gelangen, vergeblich gewejen find, da 
Bürgers jchriftlicher Nachlaß in der Litterarischen Welt verkhollen iſt.“ Wie diefer 
verjchollene Nachlaß wieder aufgefunden wurde und in Strodtmanns Hände und fo in 
—— ia ie gelangt iſt, bejchreibt derjelbe in der Vorrede zu dem genannten 

erfe.*) 

Unter diefen Papieren befanden fich auch 13 Briefe von Philippine an Bürger, 
die im 2. und 3. Bande abgedrudt find und die ich mit Erlaubnis des Herrn Verlegers 
den Briefen Bürgers an Philippine, die fich in meinem Beſitz befinden, einfüge, wo— 
durch nunmehr ein anjchauliches Bild von dem Verkehr, in dem beide miteinander 
ſtanden, ermöglicht wird. 

Bürger nimmt in der deutſchen Litteratur eine ganz eigentümliche Stellung ein. 
Mit den Dichtern des Hainbundes zwar verbunden, ging er doch feine eignen Wege. 


*) Strodtmann, Briefe von und an Gottfried Auguft Bürger. 4 Bände. Berlin, Pätel. 


1058 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Sein Einfluß auf die Entwidelung der deutjchen Dichtkunft in jenen Jahren ijt unver— 
fennbar. Das Erſcheinen jeiner Lenore bildet eine Epoche. Die „wahre lebendige 
Volkspoeſie“, die er erftrebte, fteht darin wirklich vor uns. Daß jein Einfluß nicht 
ein größerer und nachhaltigerer war, lag nicht an jeiner poetijchen Begabung, jondern 
an den Fehlern jeines Charakters. Bürger iſt an Eitelfeit und an Zuchtlofigkeit nicht 
nur moralijch, fondern auch äfthetifch zu Grunde gegangen. Wurde er zuerft auch von 
Weimar aus anerfannt und bewundert, jo fam aud) von dort der Schlag, der ihn am 
jchmerzlichjten getroffen hat, — es war die anonyme Rezenſion jeiner Gedichte durch 
Schiller in der Jenaifchen Litteraturzeitung. Und gerade von Schiller jtammt dies 
harte Urteil über den Zujammenhang zwijchen Bürgers äfthetiichen und moraliſchen 
Mängeln. 

Bekannt ift im ganzen jein Lebensgang. Nach einer jehr unglüdlichen Jugend 
in einem völlig zerrilienen Familienleben wurde er ein ziemlich zuchtlofer Student. 
Dann, durch Gleims und Boies Bemühungen auf einigermaßen geordnete Wege gebracht, 
wurde er richterlicher Beamter, Amtmann von Altengleichen, in der Nähe von Göt- 
tingen, lebte jpäter al Dozent in Göttingen, wo er 1794 ſtarb. Im Jahre 1774 
verheiratete er jich mit Dorette Leonhardt, deren Schweiter Molly feine Geliebte 
wurde, die er auch ein Jahr nach dem Tode DVorettens, im Jahre 1785, heiratete. 
Molly behielt er nur kurze Zeit. Die Liebeslieder und Slagelieder um fie wurden 
ganz bejonders gefeiert. Seine dritte Ehe und deren Löjung, jeine innere und Äußere 
Verkommenheit bi8 zu dem armjeligen Ende — bilden mit das Tragifchite, was in 
der deutjchen Litteraturgejchichte vorfommt. 

Sein Berfehr mit PBhilippine beginnt im Jahre 1777 und zieht fich bis zum 
Jahre 1780 hin. Es waren Dies gerade die Jahre, in denen die Tragif und Die 
Schuld jeines Lebens ihn entjeglic) unglücklich zu machen anfingen. Philippine jah 
mit unbefangenem Blick, mit aufrichtiger Bewunderung und Dankbarkeit zu ihm empor, 
der fich freundlich zu ihr, dem jungen, auffeimenden Talent, herabneigte. Durch Boie 
eingeführt, fam er öfter in das Haus ihrer Eltern, belehrte und ermutigte fie in ihrer 
Poeſie und jchenkte ihr Schließlich jo viel Vertrauen, daß er in dem Briefwechjel, der 
ſich hauptjächlich auf Dichten und Gedichte bezieht, doch ein gut Stüd feines inneren 
Lebens und Empfindens mitteilte. 

Ceine Hauptaufgabe war die Kritif an ihr. Auch Boie, von dem wir willen, 
daß er fie zuerit auf fich jelbit aufmerfjam und dann ihre Gedichte in die Deffentlich- 
feit gebracht hat, fand doch jelbjt Kritik ihr gegenüber jehr nötig. So jchreibt er an 
Bürger (30. Sept. 1779) von ihr: „Geift und Gefühl hat das Mädchen im Uebermap. 
Wer ihr nur Gejchmad und Delifatejje beibringen könnte.“ Bürger jelbit dachte gerade 
jo über jie, woraus er auch in den Briefen feinen Hehl macht. An Boie jchreibt er 
(11. Oft. 1777): „Mit PBhilippine ©. bin ich jegt in fleiigem Briefwechjel. Ich habe 
eine ganze Sammlung ihrer Gedichte in meinem Pult. Sie hat großes poetijches 
Talent, aber an Beurteilungsfraft fehlt's ihr; und ſie bedarf den Hobel noch gar jehr. 
Ich kuranze fie gewaltig, jo weh es auch ihrer Eigenliebe, deren fie eine gute Portion 
bejigt, thun mag. Es jteht wirflich viel von ihr zu erwarten.“ 

Boie antwortet darauf (15. Oft.): „Wohl der Dichterin Pilippine, dag du ihr 
die Wahrheit ſagſt. Sie braucht's und fann dann was werden.“ Im folgenden Früh— 
jahr warnt er geradezu vor einer Gejamtausgabe der Gedichte. „Ph. Gatterer will ja 
ihre Gedichte zujammendruden laſſen. Du jollteft doch abraten; ich will es auch thun.“ 
— Bir wifjen jchon, daß der Nat nicht befolgt wurde, und werden nachher jehen, daß 
die Zeit doch im ganzen anders darüber dachte als Boie. 

Bon Bürger finde ich in dem Briefwechjel noch eine Aeußerung über Philippine 
vom 20. Sept. 1779 (gleichfalls an Boie): „Von Phil. Gatterer habe ich noch eine 
Menge ungedrudte Sachen, worin jie bald des beiten Dichters würdig fich erhebt, 
bald tiefer, als der jämmerlichite Leiermaz ſinkt.“ — 


Eine deutihe Dichterin vor hundert Jahren. 1059 


Ic gebe nun die Briefe, nach der Zeitfolge geordnet, wieder, wenn auch zunächit 
nur fo weit, als fie in die Zeit von Philippinens Leben gehören, in deren Bejchreibung 
wir noch jtehen. 


1. Bürger an Philippine. 
W. den 10ten Fbr. 1777. 


So wollen wir denn endlich einmal unjeren abgeredeten Briefwechjel anfangen. 
Zwar weijt meine Uhr jehon auf elfe, und der Bote trillt mich gewaltig, ihn abzu- 
fertigen; aber der Anfang ſoll und muß gemacht jeyn, ſonſt wird in diefem Leben 
nichts draus. 

Nun räuspere Dich Verftand, und gieb hübſch was Gejcheidtes von Dir. — Da 
ftehen die Ochjen am Berge. Ja, wenn ich nun hübjch Ihren poetischen Liebhaber 
jpielen dürfte, da jollten Sie mal jchauen, was für ein Kaſten voll fchöner Raritäten 
ji aufthun würde. Die Liebe ift doch jürwahr! das Salz der Erde, ohne welches 
fein einziges Gericht beym Gajtmale des Lebens jchmedt. Leider! nur verjalzt fie 
auch gar viele Gerichte. 

Aber weiß ich denn nun fchlechterdings jonft gar nichts? Nein! ganz und gar 
nichts, als etwa das: Wie haben Sie jich denn die Zeit her befunden, meine liebe 
Demoijelle? Sehen Sie, was für ein ſtupider harter Kieſelſtein ich bin! Kein einziges 
Fünkchen jpringt von mir. Wenn nicht in der Folge Ihr Wit nod) was herausfchlägt, 
jo dürfte wohl mit mir nichts anzufangen jeyn. Friſch auf alfo, und machen Sie den 
todten Kieſel elektrisch. Im der Folge befjert fichs vielleicht. 

Apropos! Vor allen Dingen, lajjen Sie ſich gejagt jeyn, dat Sie alle Ihre 
Epifteln, Briefe und Sendichreiben in einerley Format, wie ich auch thun werde, 
ichreiben müfjen, damit man ſie dejto bequemer in das Archiv legen und hernach ohne 
viele Umstände in die Druderey jchiden kann. Sie heißen alsdann auf dem Titul 
Nojalie, wie ich aber heißen werde, weiß ich noch nicht. Ich denfe Hosius Pom- 
posius. 

Noch einmal Apropos! Wie wird e8 denn mit dem Herausfommen und Bejuchen? 
Jetzt iſt wohl das Wetter zu jchlecht. Aber auf Michael kommen Amarant und Nant- 
chen,*) dann muß Roſalie jchlechterdings auch hier ſeyn, jolte ich fie auch Huckpack 
hertragen müjjen. 

Abermals apropos! was macht denn Ihre theure Schweiter Helene? 

und wiederum apropos! die Kleine jchlanfe Dirne, Johanna ? 

und immer wieder apropos! das fleine jchnurtige Ding, das den Huth jo tief 
in die Augen drüdte, der Wafjerfall? 

und zum legtenmal apropos! die Mutter Mama und der Vater Papa? 

An alles was fich unter den Titel Apropos bringen läßt, ergehen meine jchönften 
Grüße, an manche — und ich weiß wohl an wen? — meine jchönften K. . . . die ich 
troß dem jchönften Vaticanischen Apollo jo Lieblich zu geben weiß, daß zu zweifeln ift, 
was befjer jey, meine Verſe oder meine Küfje? 

Für heute muß ich Ihnen nunmehr Valet geben. Nun antworten Sie mir großen 
berühmten Menjchen hübſch bald wieder, und legen Sie was von Ihrer Muſe bey. 
Meine ift nach und nach jchon alt und unfruchtbar. Sollte fie wieder eines Kindleing 
genejen, jo jollen Sie Gevatter ftehen. Adio! Das heißt auf teutjch Gott befohlen! 
die verdammten Klekje! das macht die fatale Eile, welche Sie diefem ganzen aberwizigen 
Brieflein, ohne mein Anführen, wohl anjehen werden. 

Ich bin und bleibe von num an bis in Ewigkeit Amen! 

Dero was Sie wollen 
—- G. U. Bürger. 
*) Göding, der Verf. der Lieder zweier Liebenden, von denen oben mehrfach die Rede war. 





1060 Eine deutjche Dichterin vor Hundert Jahren. 


2. Philippine an Bürger. 
Göttingen, den 13. Sept. 1777. 

Verzeihen Ste mir, wenn ich Ihnen ganz ofjenherzig geitebe, daß ich mich faſt 
wunderte, daß Sie Ihr Verjprechen jo bald erfüllten; denn Sie wifjen, ohne daß ich 
Sie darum bat, ob ichs gleich heimlich wünjchte, boten Sie mir Briefwechjel an; es 

iengen Monate hin — aber fein Brief! — Nun haben wir ung einigemal gejprochen, 

ie erneuerten Ihr Verjprechen — und jo bald jchon erfüllen Sie ed. Sehen Sie, 
ich fange gut an; zwey Tage darauf jchreibe ich jchon wieder. — So wie ich vom 
Abend-Eſſen weggieng ſetz ich mich nieder an Sie zu jchreiben. Man jagt, gleich nach 
dem Eſſen wäre man eben nicht jehr finnreih — gut! Wenn mein Brief Ihnen mis- 
fällt, jo jchteben Sie es nur auf die Zeit in der ich ihm jchrieb. 

Sc joll doc alfo wohl zuweilen was von Ihren Berjereyen ſehn? — Dann, 
und nur dann erjt will ich mit meinen armen, jchwachen Verfeleins herausrüden. Ich 
hatte lange lange Zeit gar feine poetiiche Laune; aber jet da ich faſt ganz gejund, 
und munterer bin, jcheint fie wieder zu erivachen. Nun wirds, hoff ich, gar erit loß 
gehn da endlich Wind und Regen Waffenjtillitand machen. Ich bin in voller Freude 
über die freundliche Sonne, und wenn das Wetter jo bleibt jo Hoff ich daß meine 
Seele jo heiter werden wird als der blanfe blaue Himmel. Ha! dann ſolls loß gehn! 
— Ih muß lachen wenn ich bedenke daß ich fo halb und Halb unter die Tieblichen 
Eänger gehöre. Lang hielt ichs jo geheim, daß meine eignen Verwandten nichts davon 
wußten — ich hielt mird fast zur Schande; aber jeitdem mir Bote die paar Lieder in 
den Voßiſchen Almanach gegeben hat — Ja da its vorbey! Wenn erjt Tebendige 
Zeugen vorhanden find — Ieht babe ich ordentlicher Weile Schaam ımd Schande 
verlohren; oder, um ernithaft zu reden, die übergroße Blödigfeit! Regeln, die Wahr 
heit zu geftehen, fenne ich nicht — könnte jeßt noch welche erlernen — und mag nicht! 
Was fol mir ein Leitband? Ich hoffe ohne das aufrecht zu bleiben. Ich habe oft 
die poetiichen Gedanken in mir unterdrüdt, weil ich nicht die erjchrefliche Zahl der 
Dichter vermehren wollte; aber zuweilen drängen fie ſich, und brüten heiß in meinem 
Gehirn; dann je ich fie auf, wenn ich fie, indem ich Hand-Arbeit verrichte, ausgedacht 
habe. Das heilige Feuer des Genies brannte ſonſt heller in mir — id) wagte einiges — 
man jagte mir es jey erträglich, es jchien mir ein wenig zu verlöjchen — und ich 
jchwieg. Aber nun es wieder aufglimmt, nun will ichs nicht unterdrüden; kindiſch 
genug, juchen männliche, und, meistens, weibliche Spöttereyen, e8 auszublafen - — Eitle 

emühung! Sie fachen es nur mehr an! 


Verlängern die Barzen mir nur, mit ihren oft drohenden Händen, 
Den Faden des Lebens, der faum erſt entjtand: 

So tret ih voll Schüdhternheit, einft zur hohen Berlammlung der Dichter; 
Und weihe den jühlenden Schweſtern mein Lied. 


Dann wirds gehn! Vielleicht fritidaftert man mich tüchtig — mögen fie doch! Nur 
ſchade ifts, daß nicht nur verfuchte Dichter, die die vielen zu befämpienben Schwierig: 
keiten kennen, jondern oft Anfänger uns beurtheilen. Hätt ich Dichter-Umgang hehaht 
vielleicht wär e3 qut für mich gewejen — So viele waren hier; und ich fannte fie 
nicht einmal von Geſicht. Doch ifts im Gegentheil auch gut, ſonſt könnte die Welt 
glauben, Ihr guten Leute hättet jo lange an mir gehobelt, bis jo ein bischen aus mir 
geworden wäre Die meilten wijlens dab ich (was die Dichtfunft betrifft) wie ein 
wilder Baum ohne Pflege aufgewachjen bin; und doch hör ich hier und da: daß bald 
ein Brofejlor, bald gar Studenten mir helfen jollen. Ja ich wollte fie lehren! Sie 
ſelbſt haben mir geftanden, daß Sie gehört hätten: Meine Anbeter machten mir meine 
Berje, — Deren habe ich nun Gottlob! jehr wenige. Unter den jcehimmernden Laffen 
waren mir, die ich nicht immer beyfall-lächelnd, jondern wenns nöthig thut auch mit 
unter einmal höhniſch oder ernithaft ausſehe, jelten welche jehr gut; und die Glänzen- 


Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 1061 


den — ob die mir auch juft hätten helfen fönnen? — Und wenn Leute von ernſt— 
haften guten Schlage mir günjtig waren, jo jahen ſie erjtlich jelten etwas; und zweitens 
hätt ich mir ihre Verbeſſerungen jehr verbeten. Sagen Sie mir, lieber Bürger, was 
e3 heißt, daß ich über das Geſchwätz mich nicht hinausfegen fan: ich kann es jonft 
über manches. 

Nun bald fchreiben Sie mir wieder, und legen etwas poetijches mit bey; dann 
will ich mich revangiren. Sie jollen die Erlaubniß haben, zu jagen: Dieß und jenes 

efällt mir nicht. Sie find einer von Denen die ich für voll anjehe (um mich eines 

pojfierlichiten Sprichwörter zu bedienen) denn Sie verftehen die ſchwere Kunſt nach 
dem Gejchmad der meisten zu jchreiben; jo erjtaunend muthwillig Sie auch zu- 
weilen jind. 

Anmarant und Nantchen fommen in den Michaclis- Ferien? Zwar wünjchte ich 
mehr als einmal nad) Wöllmershaujen zu fommen, und Ihre Liebe fanfte Frau, und 
Ihr pfiffiges Eleines Mädchen wieder zu jehn; damahls wie ich fie ſah war das leßte 
einige Wochen alt, ich jah wie ihm Zwiebad-Brey ins Mäulchen gejchmiert wurde und 
hörte es jchreyen; das war nicht viel, mehr konnte man damahls aber nicht fordern; 
aber jezt würde fie mich gewiß jehr ergözen. Ihre Frau Gemahlin war noch nicht 
ganz wieder hergeftellt, ſah jehr frank aus; und jchien nicht viel Luft zum Reden zu 
haben. Sch hoffte es wenigstens und jchriebs ihrer Schwächlichkeit; und ihr Stillfein 
feiner Abneigung gegen mich zu. Sie würde meine Freundinn werden wenn ſie mich 
öfter jähe, ohne Stolz jage id) das. Nun alles dieſes macht daß ich mich jehr nad) 
einem Bejuch in Ihrem Haufe ſehne; aber wenn ich bald durch dieſes, bald durch 
jenes, meine Hoffnung vereitelt jehe — jo denk ih: D es find ja nur ein paar 
Stunden — wie bald fommen wir einmal Hin oder fie her. Aber bey Amaranth und 
Nantchen kann ich nicht jo jagen, fie find weit weg — und wenns nicht auf die Art 
geichieht, jo jeh ich fie vielleicht gar nicht. Alfo, wenn Sie uns beyden Mädchens 
Gelegenheit verjchaffen in Ihrer und Goedings und ihrer Angehörigen Gejellichaft, ein 
oder zwey Wonnetage zuzubringen; jo mögen Sie Gottes Lohn haben. 

Alles was in unferm Haus Sie fennt, grüßt Sie; und ich für mein Theil alles 
was in dem Ihrigen mich kennt. — Ic habe meinen Brief überlefen — er ift herzlich 
ſchaal — Wir wollen hoffen, daß es ein andermal befjer fommen wird. Wer weiß 
was nicht am Ende für treffliche, weile, und zugleich wigige Briefe erjcheinen von dem 
Herren Amtmann Bürger, und der 

Dem. Gatterer. 


3. Bürger an Bhilippine. 
W. den 16. Fbr. 1777. 

‚ Gott jegne Sie, meine Liebe Philippine, für Ihren lieben langen Brief. Der 
Meinige aber wird heut nicht jo lang jeyn, weil D. Weiß jchon wieder forteilt, und 
die Bauern dergeftalt vor meiner Thür Huften und fcharren, daß mir angft und bange 
wird. Denn heute ift Gerichtstag. Von einem Amtmann, der heute ein griesgrim— 
mendes Löwengeficht machen, die Beine über einander jchlagen und das Kinn im die 
Hand nehmen muß, werden Sie wohl nichts Liebliches verlangen und erwarten. 
Drceſſen, wozu einen Gott und Natur berufen bat, ſoll ſich der Menjch nicht 
Ihämen. Alfo auch Sie nicht Ihrer Verjereyen. Mögen ji) nur die jchlechten Poeten 
ihämen, die nichts gejcheidtes machen und doch das Machen nicht laſſen können. Aus 
Dir, mein Goldtöchterchen, — ich jag es ohne Schmeicheley — kann was rechtes 
werden. Kann was? — Iſt vermuthlich jchon geworden. Denn ich habe ja nur das 
wenigjte und geringfte erft gejehen. Ic kann Ihnen faum bejchreiben, wie jehr mich 
verlangt, Ihre Machereyen allzujammen einmal zu jehen. Das iſt aber unartig, daß 
Sie nicht eher damit logrüden wollen, al3 bis ich meinen Schubjad erſt geöffnet habe. 

Allg. konj. Monatsfchrift 1899. X. 68 


1062 Eine deutihe Dichterin vor Hundert Jahren. 


Letzteres wollte ich gern thun, wenn nur was drinn wäre. Um indeijen meinen guter 
Willen zu zeigen, leg ich eine Kleinigkeit bey, die ich vor einigen Wochen erft verfertigt 
habe. Doc) weiß ich nicht, ob ich das Ding nicht neulich fchon Ihnen vorgejagt habe. 
Nun aber unterjtehen Sie ſich nur nicht, mir künftig wieder einen blanfen baaren Brief 
ohne Anhang zu jchiden. 

Ich fühle einen gewaltigen Trieb in mir, Ihre Kindlein recht aus Leibesfräften 
zu befunftrichtern. Bey einem: Dies und Jenes gefällt mir nicht! joll es wahr- 
haftig nicht bleiben, wenn ich anfange. Denn Sie wiſſen wohl, wer jein Kind lieb 
hat, hält e8 unter der Ruthe? — Philippinens Genie ift das Kindlein, das ich Lieb 
gewonnen habe. Entweder joll was Rechts, oder — Nichts draus werden. Die 
Genie jchlagen oft am aller erjten aus der Art. Es ift mir nur lieb, daß Sie mid) 
für voll anfehen. Ich will mich bemühen, auch wirklich voll zu jeyn. Mag doch das 
Kind hernach, wenn es groß und wader geworden iſt, jeinem alten Papa wieder auf 
der Naje jpielen. Daran wird der alte Papa, wenn er fraftlos und lebensjatt im 
Großvaterſtuhle ruhet, feine leßte Herzensluft und Freude haben. Aber hör einmal, 
mein Töchterchen, Du ſcheinſt mir, mit Permiß, ein ſtolzes Ding zu jeyn, daß Du 
ichlechterdings Deine Erziehung feinem Sterblichen zu verdanfen haben willſt. Freylich 
iſis am Ende der Laufbahn ein herrlicher hoher Gedanke, das, was man ift, blos durch 
fich felbft geworden zu ſeyn. Aber wie viel Sterbliche feit Adam find, die das von 
fich rühmen könnten? Und gereicht es denn dem erwachjenen Helden am Ende zur 
Schande, daß in feiner Kindheit ihn eine Amme gegängelt hat? Alſo mag ſich aud) 
meine en nicht jchämen, auf diejen oder jenen Wink eines Freundes — den fie 
für voll anfieht und der es wirklich ift — zu achten. Und wie viel befjer ift es, dab 
jolches insgeheim unter vier Augen, als hernach öffentlich vor unbärtigen Kunftrichtern, 
richtenden Knaben gejchehe. Aus diefen Betrachtungen mögen Sie zum voraus ab- 
nehmen, daß ich bey Ihnen fein Blatt vor Maul nehmen werde. Dagegen will ich 
aber auch recht Lieblichen führen Lobhonigjeimsbrey meinem Philippinchen ing Mäulchen 
ftreichen, wenn es jeine Dinge wader gemacht hat. Dies, hoffe ich, wird wohl mehren- 
theils mein Fall jeyn. Sollte ich aber bisweilen Sie zu furanzen gemothjacht 
werden, jo joll es Ihnen dafür auch erlaubt jeyn, mich wieder nach Herzensluft zu 
furanzen. — 

Meine Frau, welche Sie recht lieb hat, läßt ſchönſtens grüßen, und wünſchet 
von Herzen, mit Ihnen bald einmal das Kälbchen recht austreiben zu fünnen. An 
ihrem grämlichen Geficht vor zwey Jahren it wohl Leibesschwachheit Schuld gewejen. 
Denn jonjt iſt fie eine ziemlich wilde Hummel. Nun Gott befohlen! Meine beiten 
Grüße an alles in Ihrem Haufe, was ſich von mir grüßen laflen will. 

Ganz der Ihrige 
GAB. 


4. Philippine an Bürger. 
Göttingen, den 28. Sept. 1777. 


Nicht wahr Lieber Bürger, Ich verdiene Schläge? Aber vergeben und vergefien 
Sie; das muß ja der Weife können. Ift eine außerordentliche Krankheit die vor allen 
im Kopf die meiften Schmerzen, und durch fie Gedanfenlofigfeit machte — eine 
Schwermuth, die oft in Thränen fich auflöfte, die ſchon lange in meiner Seele brütet, 
und entweder aus meiner Schwächlichfeit, oder (und im Vertrauen gejagt, und das 
glaub ich am erjten) meine Schwächlichkeit durch fie entjtand — Sind zwey fo pein- 
liche Leiden Entſchuldigung genug, die alle Luft zum Schreiben in mir miederjchlugen; 
jo bin ich Hinlänglich entſchuldigt — Ich habe die Lieder zweyer Liebenden gelejen — 
bei der Gelegenheit entitand beyliegendes Gedicht, das vielleicht bey der damahligen 
Stumpfheit meiner Gedanken ſchmeckt. D ich habe auch Lieder die a la Nante find! 


Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 1063 


Auch von mehr al3 einem Amaranth — Gedichte. Die mögen verborgen bleiben; 
aber jene — wenn ich (vielleicht bald) todt bin, ich will ſie in ein Büchelchen ſammeln, 
fo können fie gedrudt werden. Oder wenn ich alte Jungfer — oder Wittwe werde, 
bey meinen Lebzeiten. Sterb ich als junges Mädchen, So wird man in diefer Kleinen 
Sammlung den Wurm finden, der langjam die Blüthe und Gejundheit eines Mädchens 
welfte und im Herzen (dev Welt verborgen) die Pflanze durchnagte; das Leben eines 
Mädchens, das zwar jonft wieder alles romanhafte eiferte, und auch noch jezt von der 
Meinung nicht abgeht; aber das doch es Hart findet: Leute zu fennen bey deren Er- 
blidung ihr Inneres bewegt wird — und gegen die — bald Vernunft, bald Vorurtheil 
jtreitet; Und einft, vielleicht einen gefühllofen ernithaften Mann, vielleicht einen der 
jezigen Berworfenen — durch Spiel — Trunk — Wohluſt und dergleichen, tief unter 
fie herab gejunfnen heirathen muß. Wer weiß das? Zeigen fie fich nicht in Schafs- 
fleidern? Und zu fühlen daß man das .alles verdient hat, weil man einem von ge- 
lehrter — und bürgerlicher Welt gejchägten Dann, erjt jein Wort unüberlegt gab — 
und dann, troß allem Wiederjtand von ıhm, und jeiner eignen Familie die ihr Kind 
reich und geliebt verforgt glaubte — es wieder zerbrach. Ach Bürger! Noch fleht er 
— aber id) fann, ich fann nicht! Eine Ahndung, die vielleicht von dem jchwarzen Flor 
herfömmt, durch dem ich jeit einigen Jahren alles betrachte, jagt mir: der Ehejtand 
werde mir das Leben fojten. Und darum — und feiner jo vielen übrigen Leiden 
wegen, möchte ich ihm noch verjchieben, und einjt einen Mann ganz nach meinem Sinn 
haben; furz einen in dejjen Armen ich froh lebte, und mit ungetheilter Liebe gegen 
den ich einjt die Welt verliege. — Ich jchweife aus — Lieber Gott! Du haft auf 
meinem ohnehin jo dornigem Wege, dieſe unüberjteiglichen Felſen gejtellt — die mid) 
und irdiiches Glüd trennen. Nimm fie hinweg! Oder ſchicke Deinen Todes - Bothen 
der mir freundlich die Hand biete, und mich in Deinen Tempel zu Deinen befjeren 
und reineren Freuden bringt! — Bürger! Jch vergaß mich — verzeihen Sie mir! 
Die Thränen verlöfchen was ich niederjchrieb, ich A aufhören! 

Mein Kleines Clavier Hat meine Empfindungen janfter gejtimmt — und das Ge- 
fhwäg meiner Gejchwifter unterm Eſſen — das ziemlich mannigfach war, weil unjere 
Aeltern nicht dabey waren — hat mich zerjtreut. Mama ift auf 14 oder 16 Tage 
nach Hannover, mit (Prof.) Kulenfamp zu feiner verheirateten Stieftochter, wie längjt 
projectirt war. Papa brachte fie um 11 Uhr hin und aß da mit Kulenfamp — und 
Mama ijt jezt wohl jchon in Nordheim. Man leutet in die Kirche — aber ich werde 
nicht Hingehn — jo wie ich auch diefen Morgen da war. Sch Habe jet Froſt, drauf 
fliegende Hitze — und bald dieß bald das. Ich habe viele Wochen lang fie zuweilen 
berfalimt, (ungeachtet ich fie für den Vorhof des Himmels halte) weil die Kirchenluft 
mir jehr jchlecht befümmt, und ich allemal blaß wie eine Leiche, daraus zurüdfehre. 
Sie verfalimen jie immer — lieber Bürger! Jede Religion hatte ihre Altäre, ihre 
Dpfer — die unfrige ift jo leicht — Es ift wunderbar! Auch die unwiſſendeſten 
Nationen die man entdedte, hatten eine Art von Religion — folglich liegt der Drang 
dazu tief in unfrer Seele; und nur wenige der wilden Völker find jo dumm eine Gott- 
heit zu erfennen und fie nicht anzubeten — oder wenigftens ihr nicht Öffentlich und 
verfammelt zu Huldigen. — Um Sie wegen der Trodenheit meines Briefes jchadloß zu 
halten, will ich Ihnen mehrere Gedichte ſchicken. Aber Gnade und Barmherzigkeit! 
Du guter Bürger, der Du Kenner und Richter bift! — Es find polirte und unpolirte. 
Neue und alte. Ueber dem einen ftehn Veränderungen; jagen Sie mir: Ob man fie 
Berbefjerungen heigen kann, fo will ich das unterjte Bye Kurz jagen Sie 
alles was Sie für nöthig halten — nur ſchreiben Sie bald, und ſchicken mir die Ge- 
dichte jo bald ala möglich wieder zurüd, denn es find die einzigen Abjchriften. Ich 
babe niemahl3 Zeit mehrere zu machen. 

Sie werden dieſem Brief anjehen, daß fein Vater- oder Mutter-Auge ihn durch— 
lefen joll. Auch den Ihrigen ſoll niemand jehn. Sagen Sie dem Doctor (Weis) daB 

68* 


1064 Eine deutihe Dichterin vor Hundert Jahren. 


er ihn unter einem Collegio meines Vaters bringt; damit er ihm nicht ſieht. — Leben 
Sie wohl! Ich wollte ich könnte noch meinen Brief umfchmelzen. Aber Ihre Gut- 
herzigfeit wird meiner nicht jpotten. Grüße an Ihre Lieben; o könnt ich bald ftatt 
Grüße ihnen Küffe geben. 

PhHilippine Gatterer. 


5. Bhilippine Gatterer an Bürger. 
Göttingen, den 1. Oct. 1777. 


Wie jehr muß ich um Verzeihung bitten, day ich jo lange nicht jchrieb; aber mich 
dünkt mein Brief hat fchon alles gut gemacht — ganz gut! Alſo die übrigen Ent- 
jhuldigungen kann ich jpahren? 

Ihr Brief thut mir an einigen Stellen zu viel Ehre, an andern wieder zu wenig 
an. JIhr Lob, Ihre Aufmunterung ift mir unjchägbar; mögte ichs einft ganz ver— 
dienen! — Aber — ich wäre ftol3? Es war halb im Scherz gejagt: aber dennoch 
erlauben Sie mir mich zu vertheidigen. Vielleicht habe ich mich wohl zuweilen in 
meinem Sinn drüber gefreut, daß ich meine meisten Gedichte heimlih — und folglich 
(natürlicher Weiſe) ohne fremde Hülfe gemacht habe; da man mir doc) fogar aufbürdet: 
Ich ließe mir alles verfertigen. Pfui über die faljchen Leute! — Doc was hilft das 
Schwaben! — Das wollt ich Sie nur verjichern, an deſſen guter Meinung mir viel 
viel Liegt: Daß ich nichts weniger als ftolz bin. Wie thöricht wär es, wenn ich immer 
mit Freude auf die wenigen Schritte jehn und mich drüber aufblähen wollte, die ich, 
auf eimem nicht zu leichten Wege gethan hätte; und mich dadurch vom weiteren Fort— 
gange abhielte — und das ift ganz gewiß: Biel Stolz jchadet unjrer Vervollkom— 
mung; denn man hält fich immer jchon für vollkommen; aber ein Heiner edler Stolz 
— Bürger! Wenn ic den nicht gehabt Hätte — zu dem bischen das ich bin — 
fpornte er mid)! 

Ihr Gedicht — Nicht war, das willen Sie ohne mich dat es ganz vortreflic, üft. 
Sp naif, und doc jo mannichfacd und neu, daß es nicht langweilig wird, wie mir die 
Scäfer- Gedichte jonft leicht werden. Ich weiß nicht was es heißt, Sie nehmen fi 
jehr viel heraus; reden oft von Dingen, die man jonft in Gedichten nicht zu nennen 
wagte — als eben in der Liebeserklärung des Schäfers, von Bwideln — und ber- 
gleichen; und es gefällt den meisten. Das unterjtehe ich mich ſchon nicht; erftlich bin 
ich zu Ängjtlich, und zweitens denf ich, man würde manches einem Mädchen übel 
nehmen, was bey einem Manne gut, oder wenigitens nicht ſchlimm geheißen würde. 
Ferner brauchen Sie auch oft Provinzial- Worte — ich denke nun gleih: Wenns 
gleich unjern Sachjen gut gefällt und manches anziehender für fie macht; was jagen 
die andern Sachſen, und num gar die Schwaben und Dejterreicher, und Franken — 
u. }. f. dazu, die die Ausdrüde nicht fennen; und folglid nichts dabey fühlen? — 
Dergleichen Grillen führ ich oft in Compagnie, und darüber jchlud ich manchen poffter- 
lichen Einfall wieder hinunter; und ftreiche manches fchnurrige Wort wieder weg. Biel: 
leicht lern ich mit der Zeit befjer mich in alle diefe Sachen finden. 

Sie wollen meine Kindlein jehn? Wie ich Ihnen mündlich jchon gejagt habe; 
einige (und zwar eine ziemliche Menge) find in Celle bey einem guten Freund. Der 
gute Mann, dem ich fie zum Lejen gab, nahm fie in Gottes Namen mit — ich ver- 
gaß fie ihm abzufordern — aber nun ijt jchon drum gejchrieben. Wieder andre find 
verlohren gegangen. Halb und halb leben fie noch in meinem Gedächtniß und ich will 
fie nächſtens aufjchreiben. Alſo fünftig ein mehreres; und ich könnte jagen, was beſſeres. 
Erſt wollt ich Ihnen nur zwey jchiden — und in oder 


Eine deutiche Dichterin vor hundert Jahren. 1065 


Aufden Umſchlag zweyer Gedichte 
ſchreiben: 
Du willſt von meinen Kindern welche ſehen? 
Hier iſt ein Paar, das blöd' und ſchüchtern iſt; 
Und noch nicht lang das Licht der Welt genießt. 
Was? — Ihr jeyd bang? — Warum? Ihr jollt zum guten Bürger gehen, 
Der Euch um meinetwillen freundlich grüßt. 
Gr wird Euch Heine Fehler gern vergeben, 
Er, der ein Bater iſt und Pädagog; 
Und nit nur fremder Kinder Fehler wog: 
Nein! der mit faurer Müh, um Leſer-Luſt der Welt zu geben, 
Ihr manches wohlgeratäne Kind erzog. — — 
Ja Bürger! Biele große könnt’ ich weiſen 
Und (falls ich nicht aus Mutterliebe Blind) 
Du füähelt manches pr weiße Kind; 
Allein fie find zum Unglüd alle juſt auf Meinen Reifen 
Zu Leuten, die der Mutter günftig find. 
Bald ſchick' ich fie vor Deine ſtenner-Blicke; 
Dann jage mir, wie ſich's von jelbjt gebührt, 
Ob Du an ihnen Geiſtes-Kraft veripührt. 
Und diefe Kleinen bring’ eins Deiner Großen mir zurüde; 
Und melde mir wie fie ſich aufgeführt. 


a, jo wollt ich machen. Dieſe unwizigen Zeilen auf ein Papier jchreiben, die 
zwei Gedichte hinein wickeln — und dann getroft mein Urteil erwarten. Aber nun 
denk ih — ich will nur gleich mehrere jchieen, jo fomm ich mit einem Kuranzen ab. 
So bald ich die andern Habe jo follen Sie fie auch haben — ich hätte fchon jezt noch 
einige; aber vor dießmal haben Sie gewiß fatt. 

Noch eins! In den Gedichten ift mit unter einmal was frommes. Ich hoffe daß 
Sie oft nur aus — ich weiß nicht was — fcheinen gleichgültig in der Religion zu 
jeyn; und ich glaube daß auch Sie ſich auf diefen ftarfen Wanderftab ftügen, der nie 
zerbricht und ung in den größten Gefahren ſchüzt — und in der äußerſten Mattigfeit 
unterjtüzt; allein jollten Sie auch ihn zuweilen ein wenig an die Seite lehnen — So 
werden Sie doch zu Flug jeyn über die zu jpotten die fich auf ihn feſt verlaffen; und 
werden folglich aud) nicht aus der Urſache ſolche Gedichte partheijch beurtheilen. Grüßen 
Sie alle Ihre Lieben — und alle meine Lieben grüßen Sie. Kommt Goedingt und 
fein Weiblein noch nicht bald? Leben Sie wohl und antworten Sie bald 

Bhilippine Gatterer. 


6. Bürger an Bhilippine, 
Wöllmershaufen, d. 6. Novbr. 1777. 


Was wird meine traute Goldzuder Bhilippine, meine holdjeelige, meine auserwählte, 
meine Taube in den FFelsrizen, was wird fie wohl denfen und En daß ich jeit jo 
fanger Zeit nicht von mir hören und fehen laße? — „Nein! das ift zu arg, wirds 
heißen. Das hätt ich doch in dem Menjchen nicht gejucht. Ich wollt ihm beynah) 
Ihon anfangen gut zu werden. Schon wollt ich ihn meines Vertrauens würdigen. 
Aber denft, was er mir für Streiche fpielt! Ein oder zweymal fprechen wir uns; ein 
oder zweymal jchreiben wir an einander. Da hängt der Himmel überall voller Geigen. 
Da will er mein Freund jeyn; da will er meine Gedichte fehen; da will er mir Kin 
Urtheil, feinen guten Rath) und hundert fchöne Sachen mittheilen. Ich bin ja jo treu— 
herzig, das alles für baare Münze zu nehmen. Sch chi ihm eine ganze Sammlun 
Gedichte jchon vor jechs acht Wochen. Sollte man denken, daß der Menſch mir — 
keine Zeile drauf geantwortet habe? Noch mehr! Amarant und Nantchen wollen 
zu ihm kommen. Mit denen will er mich bekannt machen. Huckepack will er mich 


1066 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


hinausjchleppen zu fich und feinen zreunden aufs Land. Ja! großen Danf! Sie find 
da gewejen, er aber hat nicht ein Wörtchen davon hören laßen. So gar hier in Göt- 
tingen bey Dietrich ift das Volk geweſen, hat gejauft und gejchmauft, gehüpft und ge- 
fprungen, aber um Bhilippine hat fich Feine Chriftenjeele befümmert. Nein, das iſt 
zu arg! diesmal noch einem getraut, und num in meinem Leben nicht wieder. „— Nicht 
wahr, Bhilippinchen, jo ohngefähr wird dir das Mäulchen Elappern? — 

So lange Sie, liebſte Freundin, meine Entjchuldigungen, meine wahrhaften und 
triftigen Enttöulbigungen nicht gehört haben, kann ichs Ihnen nicht verargen, fo in 
Worten und Gedanfen auf mich loßzuziehen. 

Sa, wahrhaftig, ich fünnt es Ihnen nicht Übel nehmen, wenn Sie zum Fenster 
hinaus Hinter mir herjpudten: Pfui! da geht er hin, der garftige, faljche Menſch! 
In der That traue ich mich deswegen faſt weder perfönlich noch fchriftlich vor Ihre 
Augen. Neulich war ich in Gottingen, zweymal war ich jchon auf der Brüde um zu 
Ihnen zu gehen, aber jo wahr ic) Hans Tromm bin, ich wagte mich nicht unter Ihre 
Augen, umd ging zweymal zurüd. Einmal wollt ich zum Inſtrumentmacher Krämer 
gehn, aber der Henker hätt mich nicht vor Ihrem Haufe vorbey gebringt. Sch nahm 
einen weiten Umjchweif über den heil. Geift. Eher fomme ich Ihnen nun gewiß nicht 
wieder vors Angeficht, als bis Sie mir theuer verjichert haben, daß Sie noch meine 
berzliebe Bhilippine find und bleiben, mich in die Arme nehmen, herzen, küſſen, drüden 
und Liebhaben, mich nicht aushungen, meine Entjehuldigungen geneigtes Gehör ſchenken, 
überall vergefjen und vergeben und unter Badenftreicheln und Hopfen jagen wollen: 
„Bürgerchen, Du bift zwar ein Stüdchen von einem Schelm, aber böje fann man Dir 
närriichem Kauz doc, nicht werben." — 

D, über alle alberne Schmieralie! Darüber wird num vergeſſen, ſowohl die Did 
berührten Entjchuldigungen anzuführen, als etwas über Ihre letten Briefe und Ge- 
dichte zu jagen. So wahr ich aber ein ehrlicher Kerl bin, wenn ich auch das Alles 
abhandeln wollte, jo könnte ich heute doch nicht. Sie glauben gar nicht, meine Liebe, 
was für ein armes, geplagtes Gejchöpf ich feit einigen Monathen gewejen bin. Sch 
werde jtündlich hierhin, dahin und dorthin, Furz eh | allen vier Winden gezerrt, und 
weiß oft faum, ob ich ein Männchen oder ein Weibchen bin. Meiner Oberfläche ſieht 
man's nicht an, was für ein Wuft von Sorgen, Gram und Bekümmerniſſen mein 

erz belajtet. Nur an jehr wenig Gegenftänden diefer Erde hab ich noch wahre 
erzenöfreude. Dazu kommt denn nun noch gar die leidige Hypochondrie und des 
Teufels Ungemach — o man möchte * — — — ſich erwerthern. 

Bis auf meine nächſte perſönliche Ueberkunft in Gottingen, die bald geſchehn wird, 
und wo ich Eie gewiß zu jehen hoffe, verjpahre ich alles, was ich auf meinem Herzen 
und Gewiſſen habe. Desjen ift jehr vie. O wenn ic) doch einmal einen ganzen un— 
gejtöhrten Tag mit Ihnen Herz und Gewiljen mir leicht jprechen könnte! Ich fühle, 
daß die gute, liebe Philippine zu den wenigen Sterblicdyen gehört, denen ich mich ganz 
mittheilen könnte. Sie fühlten das in Anfehung meiner auch. Glauben Sie nur, was 
Sie mir vertrauen, das vertrauen Sie dem ftummen Grabe an. 

Für heute Gott befohlen. 
Ewig der Ihrige 
G. A. Bürger. 


7. Philippine an Bürger. 
Göttingen, den 29. November 1777. 

Ja das iſt nun freylich nicht zu läugnen, daß Sie unverantwortlich lange ge— 
ſchwiegen haben; aber daß ich einige Wochen wartete, geſchah nicht aus Rache ſondern 
aus vielerley Verhinderungen. Mich wundert, daß Sie mir meine Gedichte nicht wieder 
ſchicken da ich Ihnen doch mehr als einmal ſagte: daß ich von jedem nur die Abſchrift 


Eine deutjche Dichterin vor Hundert Jahren. 1067 


hätte. Sobald ich dieſe wieder befomme erhalten Sie mehrere — vielleicht einige die 
befjer jind,; Ihr Urtheil, Ihre Erinnerungen follen mir ſchäzbar jeyn. Sie ware 
nicht in der fröhlichjten Stunde als fie mir jchrieben, das jah ich ihrem Brief, unge- 
achtet jeiner Scherze an. Ich erlaube Ihnen, ja ich bitte Sie jo gar drum, nie ſich 
Zwang anzuthun. Wenn fleine Wiedrigfeiten, oder Kränklichkeit Sie verdrießlich 
machen — aud das muß die Freundichaft mit Ihnen theilen. Zwar bin ich jelbjt 
von Natur fröhlich und lebhaft, aber ich weiß nicht ob ich nicht in ftilleren Stunden 
mehr mit mir zufrieden bin. Die vernunftlojen Gejchöpfe — wenn fie in ihrer Art 
glüdlich find, Hüpfen, haben Freudentöne wie wir. Freilich trauern fie auch zuweilen — 
ſind ftill und mürrifch, wenn Mangel an Nahrung oder guter Begegnung ihnen vor- 
kömmt; aber Thränen — stille einfame Betrachtung — jympathetifches Mit-Empfinden 
fremder Leiden — dergleichen Traurigkeit, hat der an den Engel gränzende Menſch 
allein. Wer ſtark denkt, wer janft empfindet, hat traurige Stunden — wenn Sie eine 
ſolche Stunde haben (und wer hat fie nicht) jo fuchen Sie nicht wenn Sie dann juft 
an mich jchreiben, e8 zu verbergen, jo lajjen Sie mir e8 ſehen wie Ihr den in dem 
Augenblid it. Jetzt werden Sie vielleicht ängftlich und fummervoll feyn. an jagt 
Doct(or) Weis jey auffen bey Ihnen weil man glaubte Ihre Kleine befäme die Blatter. 
Sch wollte e8 wäre wahr und fie giengen glüdlich zu Ende — denn jet müfjen Sie 
immer bange jeyn in der Ungewisheit. Das Mädchen ift Ihr Abgott — ich habe es 
gemerkt jo wenig Sie von ihr ſprachen. — Ob ich jemahls Ihr Haus fehen werde ift 
jehr ungewig — der Winter wird zwar fo gejchwind vorbeygehn als alle Jahrszeiten 
bey uns bejchäftigten Leuten; aber auch im Frühling — zwar muß er in Ihrer 
Gegend herrlich dichteriſch blühn — aber es ift jo weit. Doc, uns Pahgängern nicht, 
wir Mädchen gehn wer weiß wie weit — nun wir müfjens erwarten, ich wünſche e3 
wenigjtens; und wenn Sie nad) Göttingen kommen, jo bitt ich vergefjen Sie nie unfer 
Haus; und folls auf einen Augenblid jeyn; wir wollen jo vergnügt jeyn als möglich 
und ennuyren joll fich der Herr Amtmann Bürger in unfrer geiftlofen Gejellichaft 
hoffentlich nicht. Wir wollen noch ganz erträglich gefcheut zu jeyn fuchen. Ich habe 
lange nicht3 gelefen — nicht daß ich dächte ıch fünnts miffen — jo albern bin ich 
nicht; aber weil es mir viel Zeit nimmt; wenn ich welche zu meinem Gebrauch habe 
jo jchreibe ich einmal ein bischen was. Die Lieder zweyer Liebenden unterbrachen den 
Leje- Stillitand in meiner Seele — bald hoff ich wird er wieder auf eine ſehr ange- 
nehme Art unterbrochen werden, wenn Ihre Gedichte herausfommen; nicht wahr fie 
erjcheinen bald? — Ich freue mich fchon über alle Beichreibung drauf. Ich habe oft 
das Vergnügen, daß wenn ich in Gejellichaften Ihr Lied vom Mädel das ich meine 
finge und jpiele, daß Leute von Gejchmad ganz in Entzüdung fommen. Es iſt auch 
jo gut, jo faßlich leicht daß man gleich meinen follte man könnts auch, und doch fo 
voll herrlicher Gedanken. Und die jchöne Melodie des Doct(or) Weis*. Wenn mit 
Gefühl der Ver gefungen und mit Ausdrud gejpielt wird: Lob jey etc. — jo gehts 
ang Herz wie ein Pjalm; einem deucht man möchte die Hände falten. 

Auch Goeding ift mir ein lieber Mann. Ich wünjchte ich hätte ihn kennen lernen 
— aber wenn er mich mifjen kann, kann ich ihn auch miffen! Er ift ja noch in der 
Welt und noch dazu nahe bey und, Mir ifts lieb wenn nicht Vergejienheit oder Ge- 
ringſchäzung jchuld war, daß Sie damals weder mit, noch ohne ihn kamen. 

Was mahen Ihre Frau und Ihre Schwägerinnen? Mich verlangts fie alle ein- 
mal wieder zu ſehn. Ach ich war jo feelig den Morgen mitten unter der lieben ver- 
traulichen Familie — auch Brüder waren dabey — mit dem ältften ſprach ich viel — 
wenn Sie ihn jehn jo grüben Sie ihn und jagen ihm daß auch jein Andenken noch 
lebhaft in mir ift; umd daß ich ihm Gefundheit und Munterfeit wünjche — man jagt 
er ſey jehr jchwächlich feit einiger Zeit. Ihre Frau ja, fo zärtlich und fittjam auf 


) Im Göttinger Mufenalmanad) für 1777 mitgeteilt. 


1068 Eine deutſche Dichterin vor Hundert Jahren. 


dem Canapee. Hatte jih und ihr Kind in einen Mantel gehüllt und jchlug die Augen 
auf das Kind wie eine Madonna. Und der gute freundliche Amtmann! Er war jo 
gut gegen mich — Ach er ift Hin — ich dachts nicht daß ich ihm nie wiederjehen würde. 
So jchleicht einer nad) dem andern von dem Schauplag hinter die Sceenen — ad) 
dahinter finden fie fich wieder — aber wie? — das große und noch verborgene Ge— 
heimnig! — 

Wenn Sie mir bald, und wenns auch nur wenig ift, jchreiben, jo jollen Sie einen 
unterhaltenden Brief, und wenn Sie mir die alten wieder ſchicken, neue Gedichte be- 
fommen. Leben Sie wohl und denfen zuweilen an 

Philippine Gatterer. 


8. Bürger an Bhilippine. 
Wöllmershaufen den 17ten März; 1778. 
Gott zum Grus 


Habe vernommen, da Mit Philippinchen ganz gottesjämmerlich auf mich jchimpft. 
Glaub’ es auch wohl; hab's auch wohl verdient, aber doch nit jo jehr, als Miß Ph. 
glauben mag. D. Weiß hat mich gewaltiglicd) ins Bockshorn gejagt. Er meint, ich 
dürfte es gar nicht mehr wagen, much vor Ihnen jehen zu laſſen. Das wag' ich aber 
mit nächitem doch. Ich laſſe mir erft geduldig die Jade vollichelten; hernach erhebe 
ich mich wieder in aller meiner Herrlichkeit und bringe Sie dahin, dat Sie mir alles 
wieder abbitten müfjen. Ich habe mich nämlich im einem Gedichte jelbit gefchildert, 
mit diejen noch viel zu wenig jagenden Zeilen 

O jchaut, wie er vol Majeftät, 

Ein Gott daher auf Erden geht! 

Er gebt und fteht in Herrlichkeit; 
Und fleht um nicht3; denn er gebeut. 


Wenn mir meine rau nicht das Concept verrüdt hätte, jo hätt! ich Ihnen jchon 
diefe Woche erwähnte meine Herrlichkeit gezeigt. Aber Fünftige Woche fomme ich aller 
Wahrjcheinlichkeit nad. Denn es iſt hohe Zeit mit dem Abdruck meiner Unsterblichkeit 
anzufangen. 
Gott befohlen! Ganz der hrige 
In höchſter Eile, G. U. Bürger. 


9. Vhilippine an Bürger. 
Göttingen, den 29. Juni 1778. 

Auch ich Habe dießmal lange nicht gejchrieben; aber nicht aus Rache ſchwieg id), 
fondern wegen unzähliger Verhinderungen. Oben drauf waren wir zehn Tage in 
Minden, und dann unſre Einem bey uns in Göttingen vierzehn Tage. Das gab 
täglich Saus und Schmaus, und der arme Bürger ward — nicht vergejien — aber 
doc) ein bischen verabjäumt. Seit einigen Wochen trinf ich Brunnen und werde ihn 
noc) länger trinfen. Da flüjtert num der Verſtand: Du darfjt nichts jchreiben. Die 
Faulheit findet ihre Rechnung dabey, und nickt ein jchläfriges Ja. Kurz! Im länger 
als ſechs Wochen hab ich fein Wort gejchrieben — ich bin ziemlich davon abgefommen, 
meine Finger, nur an Fingerhut, Näh- und Stricknadel gewöhnt, faflen jehr tölpiich 
die Feder an: Wie Figura zeiget! 

Lieber Bürger! täglich denk ich an Sie, wünjche Sie einmal zu jprechen, im 
Schoos Ihrer Lieben Familie, Ihr in jo romantischer Geaend Iiegendes Dörfchen zu 
jehn, uud Dort, wenigjtens einen herrlichen Tag zu leben. Oft jchon hatt ich Entwürfe 


Eine deutiche Dichterin vor hundert Jahren. 1069 


dazu zu gelangen — aber fie blieben ftet3 unerfült. Wir würden Ihnen wahrlich 
feine Beſchwerde machen, denn die Freundſchaft ift nicht ächt die man mit Geremonie — 
mit dem Wunfche falter gefühllofer Seelen — bedienet. Sollen wir einmal kommen, 
mit dem Doctor Weis, und der Dem. Hambferger)? So ein Weg mattet mich nicht ab. 
Ich gehe Meilen ohne Ermüdung zu fühlen. — Oder fommen Sie nach Göttingen mit 
Ihrer lieben Frau — Wahrlich! Mich verlangt3 recht, mit Ihnen einmal recht ver: 
nünftig zu reden. Wenn id) Sie gejehn habe, war immer Gefjellichaft dabey; und das 
Gefpräh war zu allgemein. Im Zimmer möcht ich jeyn beym jungen Baar, und 
Stunden verbringen mit traulichen Gejchwäzzen. Oder möcht in Euerm Garten jeyn, 
der jezt auch von Rojen und Lindenblüthen Duft erfüllt jeyn wird. Oder möchte neben- 
her jchleichen wenn, in heller Mondnacht, Ihr Fuß ums Dörfchen irrt*), Bürger! 
Das ijt mein Leiblied! Sie haben jchwerere gemacht das weiß ich; aber das Süße 
und Ungezwungene diejes Stüds reißt jeden zur Bewundrung hin. 

Wie werden die Herren Fipp und Fapp und Firlefanz mit mir armen Mädchen 
herumfpringen! Aber was thuts! Wenn diefer glaubt, der Lorbeerfranz jtehe meiner 
hohen Frifur nicht jo gut als jeiner Perüde,; und jener mid) grob herab zu jtürzen 
ſucht von der fleinen Höhe die mir im Reifrod und jpigen Abjägen doch fauer genug 
zu erjteigen war; oder wenn ein dritter mir heimtüdisch auf die Schleppe tritt weil 
er fich fürchtet vor mich dreiſt Hinzutreten und mich zu beleidigen: D jo giebts auch 
gewiß einige gute Seelen die mir den Arm bieten, um zum Helifon zu Flimmen; oder 
die mich fanft warnen, wo ich firauchelte; und mir freundliche Winke geben, auf welche 
Art ich diefer oder jener Schwierigfeit ausweichen kann. 

Alles iſt till um mich. Sogar iſt jezt eben die Grille verſtummt die in unfrer 
Küchenmauer zirpte; fie ruht — und ich folg ihr. Die Nacht ift fürchterlich finiter; 
ic) bin müde; und muß morgen vecht früh aus den Federn. Aljo leben Sie wohl! 
Morgen mehr. 

Den 1. Juli. 


Der Menſch denfts — und Gott lenkts! — Wohl wahr ift das alte deutjche 
Sprihwort. Da hätt ich mich drauf erichlagen lajlen, des andern Morgens ganz früh 
jäß ich wieder an Ihrem Brief. Aber durch wunderbare Fatas iſts heute, da ich 
wieder jchreibe, Schon im Juli. Meine Echweitern find fast alle in einer Comoedie die 
von hiefigen Schülern aufgeführt wird. Man führt den Defjerteur*) und den danf- 
baren Sohn (von Engel) auf. Aber nicht das Stück dejjelben Namens, das ich gelejen 
habe, wo der arme Junge erichojjen wird, jondern eines wo der mitleidige Autor ihm 
in den letzten Augenbliden noch das Leben jchenkt. Es ift unmöglich, daß fie ein fo 
langes und jchweres Stück, qut aufführen — und den danfbaren Sohn hab ich jo vft 
gejehn, daß ich ihn am den ‚Fingern herzählen kann. Ueberdieß ift in der Gapelle, wo 
fie jpielen eine jchredliche Hite wegen der zugemachten ;Fenfterladen die den wiedrigen 
Eontrajt des Tageslicht3 und der Lampen auf dem Theater verhindern jollen; daß ich 
für Elüger hielt zu Haus zu bleiben. 

Haben Sie ſich noch nicht im Schatten zeichnen lafjen? Wie gern hätt ich Ihren 
Schattenriß, da nur Sie mir perjönlich befannt find unter den Dichtern. Oft hab ich 
mit den Stolbergs in einem Reiben getanzt, fie dachten aber nicht daß die Hand des 
unbeträchtlichen Mädchens je die Leyer gerührt hätte. Hier jtudierten Voß, Hölty, 
Cramer, Miller ꝛc. ıc. aber feinen ſprach ich als Boye — der fich gewiß jelbjt für 
feinen großen Dichter hält. Und nun fenn ich Sie — laſſen Sie Fr Freundſchaft 
ewig ſeyn, wie Ihren Ruhm! Weit unter Ihnen, aber nicht neidiſch auf Ihre Höhe, 
ſing ich kleine Lieder. 


*) Aus der vorletzten Strophe des Gedichtes: „Auch ein Lied an den lieben Mond“. 
” *) Der Deferteur aus Kindesliebe, von Gottlicb Stephanie. Sämtl. uftipiele, Teil IIL 
ien 1776. 


1070 Eine deutſche Dichterin vor hundert Jahren. 


Lab Du Deine hohe Harf' erflingen, Um durch Scherz und Ernit zu unterrichten 
Mit dem ftolzen Lorbeer um das Haupt. Strömt Dein Bollögejang empor. 

Sch will leife in die Laute jingen, Und id) finge jpielend ihre Pflichten 

Beil ein Mirtenfranz mein Haar umlaubt Meinen Schweitern lächlend vor. 


Gut für Sie, dak mein Bogen zu Ende it. Sch merfe ich fomme ins Reimen — 
und was wollten Sie Univerfaldichter mit meinem Wortgefammle. — Noch einmal bitt 
ich um Ihre Silhouette, und noch Tauſendmal um Ihre fernere Freundſchaft. Unfer 

anzes Haus macht Ihnen das zärtlichjte Compliment; und ich bitte Sie mich Ihrer 
malie und Ihren Schwägerinnen zu empfehlen. Schreiben Sie mir doch bald, ich 
bitte Sie. 


Bhilippine Gatterer. 





Dante in der deutlchen Titteratur. 


Von 


Adolf Schmittbenner. 


(Schluß.) 


IV. 


Wir treten nun in die Periode unſerer Litteraturgeſchichte, die, in welchem Intereſſe 
man fie durchwandern mag, immer wieder von neuem groß und fruchtbar erſcheint. 
Dantefanatifer zwar jchleudern gerade gegen Schiller und Goethe die bitterjten Vor— 
würfe. Ja, man hat jich nicht entblödet, die Gleichgültigfeit gegen den großen Ro— 
manen, die man Goethe jchuld gab, einem Charafterfehler des deutjchen Dichters zuzu— 
jchreiben: e8 jei dem Umlauteren in der Nähe des Heiligen nicht wohl geweſen. 

Diefe Beihuldigung ijt grumdlos, ja unfinnig. Schiller allerdings hat jich nie 
über Dante ausgefprocdhen; der Italiener Hat nie jein Interefje erregt. Er nennt ihn 
nach der Kenntnis des Verfaſſers nur ein einziges Mal, in einem Briefe an Goethe, 
und hier in gleichgültigem Zuſammenhang. Auch von Goethe haben wir nur gelegent- 
liche Aeußerungen über Dante; aber diefe ziehen fich durch fünfzig Iahre feines Lebens 
hindurch. Er war des Italienischen jehr wohl fundig. Er liebte diefe Sprache, die 
er bereit3 in feiner Jugend fennen gelernt. Bor feiner italienischen Reije frifchte er 
jeine Kenntnifje neu auf, indem er eigens bei einem Leftor Unterricht nahm; und als 
er das Glüd hatte, faft volle zwei Jahre in dem geliebten Lande zuzubringen, hat er 
in dieſer Zeit jeine Kenntnis der Sprache und Litteratur bedeutend erweitert. Jeden— 
falls wifjen wir, daß er ſchon damals, im Jahre 1786, feinen Dante gelejen hatte, 
und wenn ein Goethe einen Dichter Tieft, jo will das etwas anderes fagen, als wenn 
diefer oder jener ihn lieſt. 

Anders leſen Knaben den Terenz, 
Ander® Hugo Grotiuß. 


Aber jchon damals jcheute er fich auch nicht, den Italienern gegenuber den gefeierten 
Dichter zu fritifieren, wie er uns das in feiner italienischen Reiſe ſehr anmutig 
erzählt hat. 

In dem Haufe des Grafen Foies zu Nom verfehrte außer den SKünftlern und 
Kunſthändlern jene Art italienifcher Litteraten, die in Abbetracht umherwandeln. Mit 
diefen war fein angenehmes Geſpräch. War von der nationalen Dichtung die Rede, 
jo mußte man fofort die Frage vernehmen, wer größer ſei, Arioft oder Tafjo. Ein 


1072 Dante in der deutſchen Litteratur. 


vernünftiges, beiden gerecht werdendes Urteil ließ man nicht gelten. Regelmäßig wurde 
der eine hoch erhoben, der andere tief herabgefegt. Goethe, den dies verdroß, pflegte 
die Partei defjen zu ergreifen, dem man übelwollte. Biel ſchlimmer noch war es, 
wenn von Dante geredet wurde. Als Goethe einmal einem feurigen Bewunderer des— 
jelben feine hohe Schägung des gefeierten Dichters ausgejprochen hatte, war jenem 
damit gar nicht gedient. Er nahm Goethes Beifall nicht zum beiten auf, indem er ver— 
jicherte, jeder Ausländer müfje von vornherein auf das Verftändnis Dantes verzichten, 
dem ja jelbft die Italiener nicht in allem folgen fünnten. Nach einigem Hin=- und 
Widerreden wurde Goethe denn doch zulett ernftlich böje, und er jagte, er müſſe be— 
fennen, daß er geneigt jei, dem Abbe recht zu geben; denn er habe nie begreifen können, 
wie man ſich mit diefem Gedichte beichäftigen möge. Die Hölle fomme ihm ganz ab- 
jcheulich vor, das Fegefeuer zweideutig, das Paradies langweilig. Mit dieſem Urteil 
war der Gegner jehr zufrieden, indem er daraus ein Argument für jeine Behaup— 
tung 309. 

® ehntich erging es dreißig Jahre jpäter dem achtzehnjährigen Karl Witte im 
Florenz. Er hatte Zutritt bei einem hochgejtellten Italiener. Die jchöne und geiftvolle 
Tochter des Haujes, Bianca Mileft, veriprach dem jungen deutjchen Doktor, jich feiner 
Litteraturjtudten anzunehmen, forderte aber von ihm das Gelübde, daß er mit feinem 
Finger die divina commedia anrühre; „denn,“ jagte fie, „wir Italiener behaupten 
zwar, das geheimnisvolle Gedicht zu verjtehen, täujchen ung aber darin. Wenn nun 
gar ein Fremder ſich damit befaßt, jo fünnen wir ein Lächeln faum unterdrüden.“ 

Wenn auch Goethes Urteil über Dante in heiterer Ironie gefliffentlich übertrieben 
it, jo erhellt doch daraus, daß er ein früheres Interefje an dem Gedichte damals noch 
nicht nahm. In den nächjten fünfzehn Jahren finden wir Dante nicht bei ihm erwähnt. 
Als Schiller und Goethe im Jahre 1798 anläßlich der Schlegelichen Einführung der 
Terzine im die deutjche Litteratur ihre Gedanken über diefe Versart taufchten, wurde 
des gewaltigjten Gedichtes, das in Terzinen gejchrieben wurde, hierbei nicht gedacht. 

Dagegen hören wir im Jahre 1801 aus Goethes Munde bei der Beiprechung 
des früher erwähnten Böhlendorfjchen Trauerjpiels ein Urteil über die Ugolino-Epijode, 
das die Anerkennung Dantes al3 eines der größten Dichter aller Zeiten im jich 
ſchließt. Er jagt: „Die wenigen Terzinen, in welche Dante den Hungertod Ugolinos 
und jeiner Kinder einjchließt, gehören mit zu dem Höchiten, was die Dichtkunſt hervor— 
gebracht hat; denn eben dieje Enge, diefer Lafonismus, diejes Verftummen bringt uns 
den Turm, den Hunger und die jtarre Verzweiflung vor die Seele. Hiermit war alles 
gethan und hätte dabei wohl bewenden fönnen.“ 

Es iſt unmöglich, die Schönheit jener Terzinen mit wenig Worten erjchöpfender 
und charafteriftiicher auszudrüden, als Goethe es hier thut. Aus dieſen Worten erhellt 
aber zugleich, daß für den das Maß liebenden deutjchen Dichter Dante hier die Schranfe 
erreicht, jenjeits welcher die Darftellung des Grauenvollen abjchredend wirft. Niemand 
fann leugnen, daß Dante diefe Schranfe jehr oft und jehr weit überjchritten hat. Wenn 
Ugolino jeinem Feinde Nuggieri den Schädel von hinten mit den Zähnen zerfrißt, um 
ihm das Hirn auszujaugen, und fi) dann, von Dante zum Sprechen aufgefordert, 
erjt den Mund rein wijcht am jenes Schädels Haar, nad) feinem Bericht mit feinen 
Zähnen wieder einhaut und die Knochen zermalmt — jo ijt dies ein Bild, das die 
jtärferen Nerven des mittelalterlichen Italieners wohl ertragen fonnten, inmitten einer 
Welt, in der die Leidenjchaften der Menjchen wie wilde Tiere aufeinander Losftürzten; 
auch die heutigen Romanen mögen's noch jchön finden. Wir Deutjche aber werden 
bei jolchen Gräßlichfeiten nicht anders empfinden als unfer größter Dichter, deſſen 
Phantajie vor den Greueln der Dantejchen Hölle zurüdichauderte. 

In einer ganzen Reihe von Aeußerungen hat Goethe diejen Eindrud ausge 
jprochen. Dantes Hölle ift ihm die Heimat des Mißbehagens. In den Anmerkungen 
zu der Ueberſetzung von Diderots Dialog „Rameaus Neffe“ jpricht Goethe von einem 


Dante in ber beutfchen Litteratur. 1073 


franzöfiichen Dramatifer Dorat, der ſich „in dem traurigen Zuftande des Mißbehagens 
mit jo vielen anderen befand, mit deren Zahl man, wo micht einen Pla in Dantes 
Hölle, doch mindeftens in feinem Fegefeuer bejegen könnte. — 

Ein Bild, das im Jahre 1817 auf die Berliner Kunftausftellung fommen follte 
und auf der Reiſe Goethe zu Gefichte fam, gab ihm zu einigen „zahmen Xenien“, in 
denen die Künftler vor der Nachahmung Dantefcher Greuel gewarnt werden, Beran- 
lafjung. Das Bild ift von Goethe in der Zeitjchrift für Kunſt und Altertum be- 
jchrieben worden. Der Maler holte jich den Stoff aus dem 28. Gejang der Hölle. 
Man ficht eine lebensgroße Figur mit grüner Haut. Aus dem enthaupteten Sal 
jprigt ein Blutquell. Die Hand des rechten ausgeftredten Armes hält den Kopf bei 
den Haaren. Diejer, von innen glühend, dient als Laterne und jpendet dem jchauder- 
haften Bilde das Licht. 

Die betreffenden Xenien lauten: 


Künftler, zeiget nur den Augen Modergrün aus Dante Hölle 
Farben-Fülle, reines Rund! Bannet fern von eurem Kreis! 
Bas den Seelen möge taugen, Ladet zu der Haren Quelle 

Seid gejund und wirkt gejund! Glücklich Naturel und Fleiß! 
Entweiht, wo düftre Dummheit gerne jchweiit, Und fo haltet, liebe Söhne, 
Inbrünjtig aufnimmt, was fie nicht begreift, Einzig euch auf eurem Stand; 

Wo Schredensmärhen ſchleichen, ſtutzend flichn, Denn das Gute, Liebe, Schöne, — 
Und unermeßlich Maße lang ſich ziehn! Leben iſt's dem Lebens-Band. 


Wenn Goethe etwas las, was einen beklemmenden Eindruck auf ihn machte, ſo wurde 
er wohl an die Lektüre der Danteſchen Hölle erinnert. Das Mißbehagen, mit dem 
ihn die Voßſche Streitſchrift erfüllte: „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“ ſpricht 
er in dem Verſe aus: 


Voß eontra Stolberg! Ein Prozeh Mir wird unfrei, mir wird unfrob, 
Bon ganz befondrem Weſen, Wie zwiichen Glut und Welle, 
Ganz eigner Art; mir ift indes, Als läſ' ich ein capitolo 

Das hätt’ ich ſchon geleſen. Aus Dantes grauſer Hölle. 


Es erinnert dieſer Vergleich, den der Dichter ſelbſt ihm zu geftatten bittet, an eine 
Stelle der von Goethe überjegten Lebensbejchreibung des Benvenuto Gellini. Mattheo, 
ein Genoſſe des erfrankten Benvenuto, hat für deſſen wilde SFieberphantafieen feine 
ib Erklärung als die: er hat den Dante gelejen und für große Schwäche phan- 
tafiert er. 

Dieje Reihe von Urteilen möge durch den Ausdrud abgejchlofjen werden, der am 
prägnantejten Goethes Eindrud wiedergibt. Er jpendet dem Dichter das höchite Lob, 
freilich das Lob eines Bewunderers, der, wo er anftaunt, zugleich zurüdjchredt. Im 
den Tag- und Jahresheften von 1821 erzählt Goethe von der Lektüre eines Trauer- 
ſpiels Jldegonda von Grofji und berichtet: „Taſſos Anmut, Arioſts Gemwandtheit, 
Dantes widerwärtige, oft abjcheuliche Großheit, eins nad) dem andern widelt jich ab. 
Sch mochte das Werf nicht wieder lefen, da ich genug zu thun hatte, die gejpenfter- 
haften Ungeheuer, die mich bei der erften Leſung verjchüchterten, nach und nach aus 
der Einbildungsfraft zu vertilgen.“ 

Troß diejes lebhaften Getühfes, daß in der Dantejchen Poeſie etwas liege, was 
ihn innerlich abjtoße, legte Goethe die göttliche Komödie nicht mehr aus der Hand. 
Ihre mannigfachen Schönheiten zogen ihn an, bejonders die plaftifche Kraft der Bilder 
und Gleichniffe, die tieffinnige Auffafjung und die Liebevolle Beobachtung der Natur; 
auch die Myjtif und der Allegorienreichtum Dantes mochten ihm zu einer Zeit ſym— 
pathiſch fein, in der er ſelbſt J viel geheimniſt hat. 

In einem kleinen Aufſatze über den Streit der Klaſſiker und Romantiker in 


1074 Dante in der deutſchen Litteratur. 


Italien gibt Goethe dem Dante „einen ehrenvollen Platz in der italienischen Litteratur- 
eſchichte“. 

Neben ſolchen gelegentlichen Erinnerungen an Dante findet ſich in den Schriften 
der letzten Zeit noch einmal eine eingehende Würdigung der Komödie. Die Veran— 
laſſung gab die Ueberſetzung der letzteren durch Stredfuß. Goethe nahm ſich die Mühe, 
die ihm von Etredfuß zugejandte Uebertragung aufs genauefte mit dem Originale zu 
vergleichen, und jchrieb einen kurzen Aufjag über Dante, den er mit der Bitte, ihn 
dem Weberjeger zu übermitteln, an Zelter jandte. In dem Begleitjchreiben teilt er dem 
fegteren mit, er habe verjucht, einige Stellen der Uebertragung ſich nach jeiner Weife 
deutlicher und gelenfer zu — habe aber erfahren, daß niemand an dieſer Arbeit 
mit Nutzen mäkeln könne. „Was ich in bezug auf Dante beilege,“ ſchreibt er weiter, 
„lies erſt mit Aufmerkſamkeit. Hätte das, was ich anrege, unſer guter Streckfuß vom 
Anfange ſeiner Ueberſetzung gleich im Auge gehabt, ſo wäre ihm vieles ohne große 
Mühe beſſer gelungen. Bei dieſem Originale iſt gar manches zu bedenken; nicht allein, 
was der außerordentliche Mann (Dante) vermochte, ſondern auch, was ihm im Wege 
ſtand, was er wegzuräumen bemüht war, worauf uns denn deſſen Naturell, Zweck und 
Kunſt erſt recht entgegenleuchten.“ 

Der an Zelter geſandte Aufſatz zeigt, wie ſich Goethe das ſpezifiſch Dichteriſche in 
Dante vollkommen klar gemacht hatte und mit dem eigentlichen Geiſte des großen 
Italieners vertraut geworden war. Wie fruchtbar iſt allein ſchon die einleitende Be— 
merkung! Sie bezieht ſich auf die Verwandtſchaft Dantes mit den gleichzeitigen Floren— 
tiner Malern, beſonders mit Giotto. Beide habe derſelbe ſinnlich-bildlich bedeutend 
wirkende Genius beherrſcht. Anderswo hebt Goethe den Einfluß hervor, den hin— 
wiederum Dantes Gedicht auf Orcagnas Bilder der Hölle und des Weltgerichtes im 
Campo Santo zu Piſa geübt habe. 

In jenem Aufſatze handelt ſodann Goethe von der Anlage des Danteſchen Höllen— 
lokals. Er findet dieſelbe fehlerhaft, weil fie dem Leſer zumute, ſich das Ungeheure 
im bejchränften Raume zu denfen. Sie habe etwas Mifromagisches und deshalb Sinn— 
verwirrended. Man Habe ſich von oben herab Kreis in Kreis zu denfen bis in den 
tiefften Abgrund; Dies gebe die VBorjtellung eines Amphitheaters, das fich, jo ungeheuer 
e3 immer jei, als etwas Ffünftlerifch Beichränktes vor die Vhantafie ftelle Die Er- 
findung jei mehr rhetorijch als poetiſch. Die Einbildungsfraft jei aufgeregt, aber nicht 
befriedigt. 

Es ift intereſſant, daß, was Goethe hier tadelt, Schelling als einen — —— 
Vorzug rühmt. In einer ſpäter zu erwähnenden Abhandlung ſchreibt er: „Die lokalen 
Make Bahlen und Verhältnifje, die Dante beobachtet, waren durch die Wiſſenſchaft vor: 
gejchrieben. Er begab fich hierin abjichtlich der Freiheit der Erfindung, um feinem, 
dem ai nach unbegrenzten Gedichte durch die Form Notwendigkeit und Begrenzung 
zu geben.“ 

— Goethe das Ganze nicht rühmen will, wird er, wie er weiter ſchreibt, 
durch den ſeltſamſten Reichtum der einzelnen Lokalitäten überraſcht, in Staunen geſetzt, 
verwirrt und zur Verehrung genötigt. Er wählt, um dies an einem Beiſpiel zu zeigen, 
eine Szenerie aus dem 12. Geſang der Hölle. Er führt die ganze Stelle an, zehn 
Terzinen, und fügt eine philologiſche Bemerkung bei. Sodann analyſiert er das Ge— 

ebene. Dante und Vergil ſteigen einen Felſenhang hinab. Dieſen beſchreibt der 
ichter zuerſt als rauhfelſig (alpestro), ſchrecklich, Augen und Sinn verwirrend. Das 

it ihm nicht genug. Er erwähnt ein finnliches Beiſpiel, den Bergfturz, der zu feiner 

Zeit den Weg von Trento nach Verona verjperrte. Wie dort die hebelartig aufruhen- 

den Felsſtücke ins Schwanfen gerieten, wenn die Leute drüber wegftiegen, fo gejchieht 

es A, unter den Füßen Dantes. Das ijt aber dem Dichter noch nicht genug. 

will jenes Naturphänomen unendlich überbieten. Vergil erzählt, daß a Felſenſturz 


entſtanden ſei, als Chriſtus ans Höllenthor ſtieß und den alten Felſen, der ſeit Ewig- 


Dante in ber deutſchen Litteratur. 1075 


feit gerubt, in ein Chaos zertrümmerte.. Die Wanderer nahen fich der Ebene und find 
den hölliichen Wächtern, die fich hier tummeln, ganz nahe gefommen. Da müfjen wir 
noch einmal dorthin jchauen. Ein Centaur — ſeinen Geſellen darauf aufmerkſam, 
daß unter Dantes Fuß die Felsplatten ſchwanken. Man frage nun ſeine Einbildungs— 
kraft, ruft Goethe aus, ob dieſer ungeheure Berg und Felſenſturz nicht vollfommen im 
Geiſte gegenwärtig geworden fei! In diefem Feſthalten und Ausmalen durch Wiederkehr 
derjelben Bedingungen fieht Goethe eine der vorzüglichiten Schönheiten des Gedichtes. 

Am Schlufje des Aufjages hebt Goethe als eben jolche Feinheit in der poetijchen 
Ausmalung hervor, daß die Seelen des purgatorio vor Dante erjchreden, weil er 
Schatten wirft. Die Borjtellung von fchattenlojen Wejen, die ſich vor dem Schatten 
entjegen, muß in Goethes Geifte befonders gehaftet haben. Im Tetten Abjchnitte feiner 
Lebenggejchichte, two er von feinen dilettantischen Beſtrebungen im Zeichnen redet, welchen 
die eigentliche plaſtiſche Kraft gefehlt Habe, vergleicht er feine Nachbildungen den leichten 
Luftwejen in Dantes purgatorio, die, feinen Schatten werfend, vor den Schatten wirf- 
liher Körper erjchreden. 

In der Freude am jolchen Zügen mochte fich unferem Dichter eine innere Ver: 
wandtichaft mit dem Florentiner offenbaren. Dante und Goethe begegnen fich nicht 
in den Regionen des Himmels oder in den Abgründen der Hölle, wohl aber auf dem 

rünen Boden der finnlichen Welt. Die wirkende Natur hat beiden ihre geheime 
Derrlichfeit offenbart. Dieje innere VBerwandtichaft hat Goethe wohl gejpürt. 

Unter den Sprüchen in 7— ſteht einer, der lautet: „Metamorphoſe im höheren 
— Nehmen und Geben, Gewinnen und Verlieren hat ſchon Dante trefflich 
geſchildert.“ 

Dieſe Bemerkung bezieht ſich auf eine Verwandlung oder vielmehr Geſtaltenver— 
tauſchung, von welcher der 25. Geſang des inferno erzählt. Eine Schlange ſtürzt ſich 
auf einen Menſchen und beißt ihn in den Nabel. Dann fällt ſie zu Boden. Schlange 
und Menſch ſtarren einander an, aus ihrem Munde und aus ſeiner Wunde dringt 
dampfender Dans, der jich freuzt, und während fie fich jo anftarren und anhauchen, 
vertaujchen Menfch und Schlange ihre Naturen: der Menjch wird zum Wurm und die 
Schlange zum Menjchen. Die allmähliche Wandlung wird mit einer Anjchaulichkeit 
von Moment zu Moment erzählt, jo dat die glänzendfte Schilderung in Dvids Me- 
tamorphojen dagegen in Schatten tritt. 

Bei dieſem Geſtaltenwechſel bleibt die Summe des Stoffes ftet3 die gleiche; jedes 
Mehr auf der einen Seite ift von einem Weniger auf der anderen Seite begleitet. 
Goethe konnte hierin feine Theorie von der Metamorphofe der Tiere im Bilde erkennen. 
In dem Gedichte, daS diefe Ueberfchrift trägt, führt Goethe aus, wie zwar im Innern 
— ein Geiſt mächtig ringe, die Schranke der beſtimmten Geſtalt zu durch— 
rechen. 

„Doch was er beginnt, beginnt er vergeblich, 

Denn zwar drängt er fi vor zu diejen Gliedern und jenen, 
Stattet mächtig ſie aus, jedoch ſchon darben dagegen 

Andere Glieder . . .“ 


Was nach jeiner Theorie in jedem einzelnen Individuum vorgeht, das fand er bei 
Dante in die Gefchichte zweier Geftalten auseinandergelegt und gewifjermaßen ſym— 
bolifch verdeutlicht. 

Am liebenswürdigſten fpricht fich die auf das gemeinfame Suchen nad) dem Geifte 
der Natur gegründete Sympathie des greifen Goethe zu dem Dichter der divina com- 
— in einer Anzeige von Fritz Jakobis auserleſenem Briefwechſel aus. Goethe 
agt hier: 

„Jakobi wußte und wollte gar nichts von der Natur, ja er ſprach deutlich aus, 
ſie verberge ihm ſeinen Gott. Nun glaubt er, mir triumphierend bewieſen zu haben, 
daß es keine Naturphiloſophie gebe; als wenn die Außenwelt dem, der Augen hat, 


1076 Dante in der beutjchen Litteratur. 


nicht überall die geheimften Gejege täglich und nächtlich offenbarte! In diefer Konjequenz 
des unendlih Mannigjaltigen jehe ic) Gottes Handjchrift am allerdeutlichiten. Da 
fobe ih mir unfern Dante, der uns doch erlaubt, um Gottes Enkelin zu werben. 


„Bon Gott dem Vater ftammt Natur, Sie liebten fih nicht unfrudtbar: 
Das allerliebite Frauenbild; Ein Kind entiprang von hohem Sinn. 
Des Menſchen Geift, ihr auf der Spur, So ift und allen offenbar, 

Ein treuer Werber, fand fie mild. Naturphilojophie jei Gottes Entelin.“ 


Goethe bezieht fich hier auf eine Stelle im elften Buche des Inferno. Vergil belehrt 
hier den Dichter, daß, wie die Natur aus Gottes Verftand und Kunſt ihren Urjprung 
genommen, jo die menjchliche Kunft (und Wiſſenſchaft) den Spuren der Natur nach— 
folgen müfje, jo viel jie vermöge, wie der Schüler dem Meijter, jo daß fie gleichfam 
Gottes Enkelin ſei. 


V. 


Goethe iſt ſeinen eigenen Weg zu Dante gegangen und hat als Dichter den 
Dichter gefunden. Sein Pfad lag ferne ab von der Heerſtraße, auf welcher um die 
Wende des Jahrhunderts die Poeten und Aeſthetiker zu dem „heiligen Vater Dante“, 
zu dem „Stifter der romantischen Poeſie“ wallfahrteten. Man thut unferer Litteratur 
bittere Unrecht, wenn man ihr die Vernachläffigung Dantes vorwirft. Es gab eine 
Beit, da wurden von den jchönen Geiftern in Deutjchland dem Florentiner Lorbeeren 
geftreut, wie außer Shafejpeare feinem anderen. Heute jind dieſe Lorbeeren zum 
großen Zeil verdorrt. Aber ſegensreich war die Huldigung doch. Der italienijche 
Dichter wurde erjt hierdurch und nun wohl für immer in eine, jo weit e8 bei der 
fremdartigen Natur feiner Poeſieen jein kann, lebensvolle Beziehung zu unjerer Kultur 
gebracht, und der deutjchen Wiſſenſchaft wurde ein Feld gewiefen, auf dem fie der 
Nation Ehre erworben hat. 

Wenn Auguft Wilhelm Schlegel in dem vielberufenen Sonett, in welchem er jeine 
DVerdienfte um die deutjche Litteratur preift, fich denjenigen nennt, der zuerſt es wagte, 
„mit Shafejpeares Geift zu ringen und mit Dante“, jo hätte er zwar dies beffer jemand 
anders jagen lafjen, aber in der Sache hatte er recht. Weder Meinhard noch Bachen- 
ſchwanz hatten mit Dante gerungen, jondern Sat für Sa recht und ſchlecht überjeßt. 
A. W. Schlegel aber wollte nicht übertragen, jondern nachbilden, frei ohne Willfür und 
treu ohne Pedanterie. Sein weicher Sinn wurde wohl durch den unwiderſtehlichen 
Wohllaut der Sprache zuerjt nach Süden gelodt. Seine Freude an echter Poeſie 
machte ihn kühn genug, zu allererft mit dem jpröden Dante zu ringen. Bon 1791 
bis 1797 ließ er in mehreren Zeitſchriften bruchitüchveife Ueberjeßungsproben aus der 
göttlichen Komödie erjcheinen; verbunden find dieje Proben durch Fleine Abhandlungen, 
in denen Schlegels jpätere Meifterjchaft äfthetifcher Kritik fich fchon ahnen läßt. Die 
Meberjegung behält die Terzinen des Driginal® bei mit der Erleichterung, daß 
der mittlere Vers ohne Reim bleibt. Des Wohlflanges entbehren deshalb Die 
Verſe durchaus nicht, ja, fie verlieren das eigentümlich Leiernde, das Schiller an 
der Terzine nicht leiden mochte. Der vortrefflichen Ueberſetzung geht ein Aufſatz 
voraus, der anmutig und geiftvoll den Lejer in die düſtere Welt der Dantejchen 
Poeſie Hineinführt. Schlegel gibt eine Charafteriftif der Borausjegungen der Komödie, 
des Beitalters, de3 Lebensganges und der inneren Entwidelung des Dichters und ſo— 
dann einen glücklicherweife noch nicht durch die Nebel der romantischen Kunfttheorie 
getrübten Einblid in die Idee des Werkes. Bor allem aber fommt es ihm darauf an, 
für Dantes Perſon Zutrauen zu erweden. Um von jeinem Lieblingsdichter recht viel 


Dante in der deutſchen Litteratur. 1077 


Gutes jagen zu können, hebt er zuerjt deſſen abjtogende Seltſamkeiten in's Licht. Troß 
derjelben jet Dante einer der großherzigiten, tiefjinnigften, einfältigiten, echteſten 
Menjchen gewejen. Und nach einer wundervollen Charakteriftif ruft er aus: „Warft 
du im Leben auch wirklich unfreundlich, rauber und ftrenger Dante, wer muß 
nicht dennoch dich lieben und deine Rauheit verzeihen um der Kunſt und Größe 
willen? — Dod), ich vergejje mich; bei wie vielen findet Kraft und Größe felbit nie 
Verzeihung!* 
Das Interejje für Dante und die anderen großen Dichter des Südens gehörte 
zu den Eigentümlichfeiten der beiden Schlegel und ihrer Freunde. Der mittelbare 
Anstoß zu dieſer Beichäftigung ging von Herder aus, der jowohl durch das Beiſpiel 
jeiner Univerjalität wie durch die von ihm begründete litterarhiftorijche Kritik ſolche Leute, 
wie die Schlegel, in denen eine merfwürdige Anlage zur Erlernung fremder Sprachen 
mit der Begabung für äjthetiiche Kritik vereinigt war, jehr wohl anregen mochte, die 
entlegene Herrlichkeit der alten Italiener und Spanier aufzufuchen und zu den Litte- 
raturzuftänden der Vergangenheit wie der Gegenwart in Beziehung zu ſetzen. Das 
Intereſſe wurde zur Vorliebe, als die Genofjen ich in den Beftrebungen der roman 
tischen Schule zujammengefunden hatten. Da waren die vergefienen Romanen zu den 
Häuptern und Führern des jungen Gejchlechts geworden. In ihren Dichtungen ſah 
man das deal, zu dem man zurüdtehren müſſe, das Urbild der Poejie, das, nachdem 
die hellenische zu Grabe gegangen, allein diejes Namens würdig jei und allein eine 
— habe. Um den Anbruch der herrlichen Kunſtepoche zu beſchleunigen, haben die 
tomantifer jenen Dichtern des Mittelalters bei uns eine Heimat bereiten wollen. 
Auguft Wilhelm Schlegel ruft ihnen zu: 


Vergangenheit muß unjre Zukunft gründen. 

Mich fol die dDumpfe Gegenwart nicht halten; 
Euch, ew'ge Künftler, will id) mich verbünden! 
Kann id neu, was ihr ſchuft, und rein entfalten, 
So darf au ich die Morgenröte künden. 


Sehr häufig finden wir bei den beiden Schlegel und bei Tied in litterariichen Auf- 
fägen wie in Gedichten eine Aufzählung der wahren Poeten der modernen Dichtung. 
Im fünften Alte des Luſtſpiels „Prinz Herbino oder die Reife nach dem guten Ge- 
ſchmack“ führt uns Tieck in den Garten der Poeſie. Hier wandeln die Schatten von 
Dante, Petrarfa, Ariofto, Tafjo, Cervantes und Shafejpeare, die in ihrem Kreiſe von 
den Lebenden nur den einzigen Goethe dulden. Die NRomantifer lieben aus dieſer 
Apoftelichar eine Auswahl der Auserleſenſten zu treffen. Immer find e8 drei. Tieck 
nennt Dante, Cervantes und Shafejpeare die drei heiligen Meifter der modernen 
Kunſt; Fr. Schlegel bezeichnet Dante, Shafejpeare und Goethe als den heiligen Drei- 
flang der modernen Poefie. 

Biehen die Nomantifer nach Italien, jo wandeln fie nicht mit Catull und Pro— 
perz, jondern aus den finjteren Portalen der mittelalterlichen Stadtjchlöfjer treten 
ihre Lieblinge. „Und wie ich den Kreis,“ jagt Tied, „der Thaten und Männer, der 
geliebten Künftler finnend überfchaue, reiht jich der große Dante dem Zuge an, und 
alle bliden voll Ehrfurcht auf den greifen Alten, der fie alle belehrte, der jte alle 
entzücte und die Begeifterung vom Himmel rief, in Beatriced Gejtalt zu wandeln.“ 

Ja, um Dante jcharen ſich alle. Aus jener Dreizahl tritt er hervor als der 
heilige Vater. Wie in Homer die helleniſche Poeſie jogleich in ihrer vollendeten 
Geſtalt erjchienen ift, jo daß alle Nachfolgenden nur von ıhm leben, jo hat auch die 
zweite Epoche der Poefie, die romantifche, in ihrem Begründer ihre Herrlichkeit in 
einziger Weife offenbart. So führt Fr. Schlegel aus. Die göttliche Komödie wurde 
zum Urbild der romantischen Poeſie. 

Allg. konf. Monatsichrift 1888. X. 69 


1078 Dante in der deutjchen Litteratur. 


Es jind ganz andere Dinge, die Goethe wohlgefallen, und die jegt gepriejen 
werden. Es iſt die Univerjalität des Gedichtes, die von den Romantifern bewundert 
wird. In einem ungeheuren Werk, jagt der jüngere Schlegel, umfaht Dante feine 
Nation und fein Zeitalter, die Kirche und das Kaifertum, die Weisheit und die Offen- 
barung, die Natur umd das Neich Gottes. Infolge diejes umfafjenden Inhalte war 
die göttliche Komödie wie fein anderes Gedicht der Welt geeignet, den Kunittheo- 
retifern der Schule zur Eremplififation zu dienen. Schelling hat die romantische 
Kunfttheorie begründet, Fr. Schlegel weitergeführt. Nach Schelling iſt die Philoſophie 
jubjektive, die Kunſt objektive Anſchauung. Nur allein die Kunſt kann die abjolute 
Soentität des Bewußtloſen und des Bewußten reflektieren. Sie ijt das einzig wahre 
und ewige Organon der Philoſophie. Darım muß die Wiljenjchaft, von der Poefie 
geboren, zur Poeſie zurüdfehren. 

Hat fie dies nicht bei Dante getan? Hat fie hier nicht die ganze Weisheit des 
Beitalter8 Der al in den Schoß geichüttet? Soll die Wifjenjchaft zur Poeſie zu- 
rüdfehren, jo fann dies nur jo gejchehen, daß ein Gejchlecht feinem erfenntnismäßig 
gewonnenen Bildungsftoff dur die Phantaſie poetifches Leben gibt und jich aus dem 
Material feiner Kultur eine Mythologie ſchafft. Hat das nicht Dante getan? Hat 
er nicht aus dem ptolemäijchen Weltjyftem, aus der Weltgejchichte, aus den chrift- 
(ihen Lehren vom Jenſeits und von der Erlöfung eine Mythologie von ernjter Pracht 
gebildet? Darum ift Dante Schellings Lieblingsdichter. Er weiß deſſen großem Werfe 
nur eines an die Seite zu jegen: Goethes Fauft. „Im Allerheiligften, wo Religion 
und Poeſie verbündet, jteht Dante als Hohepriefter und weiht die ganze moderne 
Kunft für ihre Beitimmung ein.” So verfündet Schelling an der Spike einer Ab- 
handlung über „Dante in philofophiicher Beziehung“. Er zeigt jodann, wie in der 
commedia ſich alle Elemente der Wiſſenſchaft, der Kunst, der Religion durchdringen, 
jo daß fie feiner Kunftgattung angehöre, fondern eine Gattung für fich je. Sie iſt 
nicht plaſtiſch, nicht pittorest, nicht muſikaliſch; fie ift nicht dramatisch, nicht epiich, 
nicht Iyrisch, fondern von allem eine einzigartige beifpielloje Miſchung. Darum ſei 
dies Werk prophetiich — vorbildlih für die ganze moderne Poeſie. Es faſſe alle 
ihre Bejtimmungen im jich und entjteige dem noch vielfach gemifchten Stoffe derjelben 
al8 das erjte fich über die Erde und zum Himmel ausbreitende Gewächs, als die erfte 
Frucht der Berklärung. 

Friedrich Schlegel legt bejonders auf die Forderung Gewicht, daß ſich Religion 
und Poeſie in der Kunft vermijchen jollen. Er und die fpäteren Nomantifer jchauen 
vor allem in Ddiejer Beziehung in der göttlichen Komödie das Urbild der wahren 
Dichtung. Und da man im „chriftlich-fatholiichen Glauben“, wie man ſich ausdrüdte, 
diejenige Religion jand, die bereit fei, jene Mijchung einzugehen, jo geichieht es num, 
daß, während 250 Jahre vorher Matthäus Flacius den Dante als Zeugen wider 
Rom aufführte, deutjche proteftantische Dichter denfelben als den großen Propheten 
des Katholizismus feiern. 

Wer heutzutage die Funftkritiichen Arbeiten der Nomantifer lieſt, wird zuweilen 
in überrafchender Weife an die Theorien der modernften Kiünftlerfchule erinnert. 
Sollten nicht auch die „Wagnerianer* in der göttlichen Komödie die Mifchung der 
Künste zur Kunft bewundern? Es wäre zum Erjtaunen, wenn nicht einer von ihnen 
in Dante den Vorläufer ihres Meijters erfannt haben jollte! 

Eichendorf jagt einmal, die romantische Schule ſei einer Rakete vergleichbar ge- 
wejen, die junfelnd zum Himmel emporfteigt und nach furzer, wunderbarer Beleuch— 
tung der nächtlichen Gegend oben in taujend bunte Sterne jpurlos zerplagt. Als 
die Nafete zerplagt war, da war's auch mit dem magischen Lichte vorbei, das eine 
Zeitlang um Dantes Haupt gejtrahlt hatte. 

Aber auch) in feiner eigenen Beleuchtung ift der edle Florentiner ſchön und an- 


Dante in der deutichen Litteratur, 1079 


ziehend genug. So hat ihn ein Kornelius gejchaut; jo iſt ihm die deutfche Wiflen- 
ichaft nahe getreten; jo hat er manchen verborgenen Freund gewonnen, der fich üben 
will an dem ernſten, jtrengen Geifte des großen Sonderlings. Wer aber durch leichte 
Lektüre hierzu verdorben ijt umd anderen als billigen Genuß nicht fennt, der möge 
die Worte gleih am Anfang des eriten Teils nur auf ji) und jeinesgleichen be- 
ziehen: 
„Lasciate ogni speranza voi ch’entrate!* 
(„Wer eintritt, lajje jede Hoffnung fahren!“) 


69* 


FERTESIIIET, 





FEN 008 


Berliner Brief. 


Th Müller: Fürer. 


In diefem Sommer ift die deutſche Kunſt nach München gezogen. Die Berliner 
Jahres: Ausstellung erjcheint nur wie ein Abhub von den reichbejegten Tifchen der 
Münchener Jubiläums-Ausftellung. Selbſt die Aquarelle umd Paſtell-Abteilung, auf 
welche diefesmal hier der Nachdruck gelegt werden jollte, nimmt ſig gegen die ent— 
ſprechenden Seitenſäle in München dürftig genug aus. Mit einem Gefühl der Ent— 
täuſchung verlieh ich jedesmal das klaſſiſche Dreied. 

Um nicht ungerecht zu fein gegenüber einem jo großartigen Aufwand an äußeren 
Mitteln, muß ich befennen, daß mir Bilder-Ausstellungen nicht ausschließlich den Zweck 
von Markthallen zu haben jcheinen. Soll der Glaspalaſt eine ſolche Markthalle für 
Kunst darstellen, jo trifft die Veranftalter der Austellung fein Tadel dafür, daß fie in 
der Aufnahme recht weitherzig waren. Soll aber „das Wolf“ hier fein Kunftbedürfnis 
befriedigen, jenes „Vol“, das nicht Geld genug hat, um gute Bilder als Privateigen- 
tum zu erwerben, jo fönnte wohl etwas jorgfältiger auf Fernhaltung des wirklich Ge— 
ringen geachtet werden, man foll auf feinem Gebiete dem Volke Steine ftatt des 
Brotes bieten. 

Weitaus die meiften Befucher betrachten freilich Kunftausftellungen wohl nur als 
eine Art von Sommervergnügen, die man bei Gelegenheit der Badereifen mitmacht, um 
dagewejen zu fein. Sie jind die eigentlichen Förderer unjerer Kunſt. Mafjenhaft opfern 
jie ihre Yünfzigpfennigftüde auf dem Altar der Ausitellungen, faufen alle Loſe an 
und machen die ganze Veranftaltung mit Einjchluß der Verloſung erſt möglid). 
Diejen Kunftfreunden genügt durchgängig eine Austellung folgenden Charakters: Zwei 
bis fünf Prozent der Bilder müſſen abjchredende Hellmalereien fein, damit fie etwas 
haben, worüber fie ſich entrüften und woran fie ihren Schönheitsfinn leuchten Lafjen 
fönnen; denn fie find wie ein Kieſel, aus dem nur ein recht harter Stahl und ein recht 
derber Schlag Funken lodt. Die doppelte Anzahl von Bildern muß Gegenden darftellen, in 
denen fie jchon gewejen find; die dargejtellten Alpenjpigen, Schlöffer, Badeitrände und 
eg wiedererfennen und mit Namen bezeichnen zu können, ift ein großes — 

ildniſſe von hohen Beamten und Zeitgrößen zweiten und dritten Nanges dürfen nicht 
fehlen. Man kennt ihre Namen aus den Zeitungen und kann aljo auch darüber jprechen. 
— „Darüber jpreden“, ja, das ift vielfad) der Zwed des Bilderbefchauens. Und 
man fpricht befanntlicy am leichteften über Dinge, ber die man fich feine bejonderen 


Berliner Brief. 1081 


Gedanken macht. Darum dürfen Genrebildchen von recht deutlichem Inhalte, jolche, 
die feinen Augenblik im Zweifel lajjen über das Woher und Wohin ihres Gegenstandes, 
am allerwenigiten fehlen. Der Reit kann Füllmaterial jein. 

Kein unwahreres Wort al3 das „Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen“. 
Es gibt — auch manche Ausſtellungsbeſucher, die nach Bildern ausſchauen, von 
denen ſie eine Bereicherung ihres inneren Lebens erfahren könnten. Der Landſchafts— 
maler ſoll, wenn er ihnen genügen will, die Empfindungen des Erhabenen und des 
Anmutigen in allen ihren —— Uebergängen und Kontraſten rein hervorbringen, 
reiner, wie ſie der von zufälligen Nebenumſtänden geſtörte Sinn des Beſchauers em— 
pfand, als er ſelbſt am Meere, im Walde, am rauſchenden Gießbach, im ſtillen Wieſen— 
thale weilte. Der Geſchichtsmaler ſoll zugleich dramatiſcher Dichter ſein, die Charaktere 
wie das Ereignis ſelbſt dichteriſch empfunden und dann erſt verkörpert haben, jo daß 
der Beichauer fich nicht in einem Collegium historicum, jondern in der Örtlichen und 
zeitlichen Gegenwart des Gejchehenden wähnen kann und zugleich erjchüttert und ver: 
edelt von dannen geht wie aus einem Shafefpeareichen Spiele. Der Genremaler joll 
ebenfall3 die Saiten des Gemütes erklingen lafjen, die das Alltagsleben unberührt läßt. 

Es ijt manchem wirklich nicht darum zu thun, zwei Reihen Gemüfepugerinnen bei 
der Arbeit zu belaujchen, auf deren möglichit unjchöne Vorder: und Nüdanfichten Lieber: 
mann wieder jein ganzes Können verjchwendet hat. Nicht als ob jolche Frauen unter 
feinen Umjtänden interefjant wären. Jeder Menſch ift intereffant, wenn jein Gemüt 
jih äußert. Sobald er aber in einer mechanischen Arbeit fich jelbjt verliert und jenem 
geiftigen Dämmerzujtande verfällt, der nun einmal von dem gewohnheitsmäßigen Ber: 
richten ftet3 derjelben gleichförmigen Körperarbeit unzertvennlich ift, dann ijt er ebenjo 
langweilig für jeden Dritten wie die tidende Uhr und der trabende Droichkengautl. 
Darjtellungen des Menjchen in diefem faſt leblojen Zuſtande fallen in das Gebiet des 
Stillleben, und bei diefem galten bisher doch wenigitens hohe Anforderungen an 
Schönheit der Farbe, der Anordnung und der Formen. Es wäre folgerichtig, wenn 
man jegt nur angefaulte Pfirfiche, verhungerte Hafen und abgeftandenes Bier — kurz 
nichtmarktjähige Waren zu Modellen wählte, wie man Menjchen ohne Gedanken und 
Empfindungen malt, um nur einmal „etwas anderes" zu malen. Die außer Mode 
gekommenen Griechen, die nur noch vom Katheder herab citiert werden dürfen, bildeten 
jolche Menjchen mit Bodsohren und rudimentären Bodsjchwänzen, wenn fie einmal 
bloß die Thätigkeiten des Atmens, des Verdauens und andere zum Forteriftieren nötige 
Berrichtungen darjtellen wollten. Das geht jet nicht mehr, weil es unverſtändlich ſein 
würde. Aber warum grade die jogenannten „arbeitenden Klaſſen“ den Vorzug genießen 
jollen, die Rolle der Satyren und Faune in der bildenden Kunſt zu jpielen, ift mir 
ebenjo unverjtändlich. Ich möchte empfehlen, die arbeitslofen VBergnüglinge nicht zu 
überjehen, welche über die reinite Luft zum Atmen, die eßbarſten Speifen und andere 
phyſiſche Freuden, entjprechend unferer heutigen hohen Kultur, umfajlende Studien 
machen. Modelle diefer Art findet man in den befannten feinjten Nejtaurants, zur 
Sommerzeit in Luftkurorten umd Seebädern in reicher Auswahl, namentlich junge. 
Auc die Zigeuner find zu empfehlen, wie Meyerheim und Bode fie auf jehr 
verjchiedene Weiſe verherrlichen. Erjterer malt fie in echter Lumpenhaftigkeit und Nadt- 
heit, wie fie ein zufällig durch den Wald reitendes Paar um Zigarren und Geld an- 
betteln. Die Herrichaft willfahrt den pantomimijch vorgetragenen Bitten in bejter Laune, 
der Reitfnecht im Hintergrunde aber macht einen vergeblichen Verjuch, einen Zigeuner- 
buben mit der Peitjche abzufinden. Das Bild hat wirklichen Humor, der fonft bei 
Meyerheim jelten wird. Bode malt elegante Zigeuner, drei junge Männer, die unter 
einem Baume liegen, jchlafend der eine, rauchend der zweite, Geige jpielend der dritte, 
das Ganze etwas idealijiert, doch inhaltlich ganz zutreffend. Das find Modelle für 
menfchliche Vegetations-Bilder, die man durch ihre Verwendung nicht entwürdigt. 

In einer Zeit, welche der raftlojen geiftigen Arbeit mehr noch wie der körperlichen 


1082 Berliner Brief. 


gewidmet jein muß, muten diefe und ähnliche Genrebildchen aber nicht mehr recht an. 
Man will Gejchichte jehen, wie man Gejchichte erlebt. Da weiſt Friedrich Seller Die 
rechten Wege mit feinem großen Monumental: Gemälde „Wilhelm, der jiegreihe Be- 
gründer des deutjchen Neiches*, das in München ausgeſtellt ift und das künſtleriſche 
Hauptereignis des Jahres (vielleicht und hoffentlich ein epochemachendes) genannt werden 
muß. Iſt es im Berlin nicht möglich, die Gegenwart jo auf fich wirken zu laſſen, 
wie e8 der Karlsruher Meiſter vermochte? An Menjchenvergötterung leijtet die Haupt- 
itadt Genügendes; an unbefangener Würdigung wahrer menschlicher Größe fehlt es. 
Aber vielleicht ift fie überhaupt wenigen möglich und Keller einer der bejonders be- 
gabten Künftler, die Gott nur jelten erftehen läßt. Im jeinem Kaifer Wilhelm ift 
ruhige Erhabenheit, ftiller Friede, demütiger Glaube verkörpert, wie in den Aufzeich- 
nungen des Tejtamentes, das der Kaijer hinterlaffen hat. Er jtürmt nicht dahin auf 
jeinem Triumphwagen, wie ihn Gujtav Landgrebe hier in einem Relief darjtellt, trunfen 
vom Erfolg und gierig nach neuen Lorbeeren; er jtedt das Schwert in die Scheide, 
froh im Gefühl der Pflichterfüllung und der göttlichen Hilfe. Und diejer Charakter 
it e8, der unfre bewundernde Liebe errang, der auch auf jeinen Erben übergegangen 
zu fein fcheint. Die Taufende, welche fich täglich zur Begrüßung unjres Kaiſers zu— 
jammenfinden — was anderes zwingt ihnen Thränen der Begeifterung in die Augen, 
als der Gedanke, daß unſer Volk von ebenfo frommen und ebenjo jtarfen Händen 
regiert wird wie unter dem fiegreichen Vorfahren. Die ohne Gottesjcheu und Gott- 
vertrauen dahinftürmende Thatenluft ift nicht dem Geiſt unjerer Epoche entjprechend, 
fie ift nur eine private Abirrung vieler einzelner und darum für Deutjchland nicht von 
biftorischer Bedeutung. Ohne zu moralifieren, kann die Hijtorienmalerei der deutjchen 
Gefchichte der Gegenwart die in jeder, auch in moralijcher Beziehung edeliten Stoffe 
abgewinnen. Es fommt hier einmal wirklich nur auf die Auffajjung an. 

„Wenn ich König wäre" — jo träumten wir als Kinder und erjannen Pläne, 
zu deren Ausführung man beinahe allmächtig fein müßte. Sie waren aber alle harmlos 
und ich könnte fie unbefchadet meines guten Rufes erzählen. Eine Verbrecher Phantafie 
erfindet andere Pläne zur Bethätigung übermenfchliger Macht, und wohnt jie in dem 
Kopfe eines Königs, jo kommt manches auch zur Ausführung, was jonjt nur dem 
Richter über Gedanken und Willen des Menjchen befannt geworden wäre. Die Ge- 
ichichte erzählt davon. Db aber unjre Kunſt wohl daran thut, dergleichen auch dar- 
zuftellen? — Ich ftieg die Stufen des griechischen Tempels im Ausftellungsparf hinauf, 
um mir ffichtichufbigt das hinter der Säulenhalle aufgeftellte Rundgemälde anzujehen, 
welches den Brand Noms unter Nero darftellt. Ein großartiges Schaufpiel! Brennende, 
zufammenftürzende Häufer, in allen Gafjen flüchtende Menjchen und Tiere, der Jupiter: 
tempel des Kapitols vom Qualm geſchwärzt, und noch fein Ende der Berjtörung ab- 
zufehen. Aber — auf der Terraiie des Kaijerpalaftes fteht Nero, verjunfen in den 
Anblid feines Werkes, falten Herzens überlegend, wie er den Trümmerhaufen, der 
unzählige Menfchen begraben hält, jchöner wieder aufbauen will. Dieje eine Figur 
macht das Bild verwerflih. Ein großer Stadtbrand ijt ein Naturjchaufpiel von er- 
habener Wirkung, denn es zeigt die Meberlegenheit der Elemente über die Werfe von 
Menjchenhand. Eine Brandftiftung als Gegenftand eines Bildes hat dieſe Wirkung 
nicht, —— erregt nur Grauen und Abſcheu vor dem Verbrecher, und zwar um ſo mehr, 
je höher der Brandftifter in der menſchlichen Geſellſchaft ſteht. Ob dem Maler bei 
jeiner mühjamen Arbeit, welche Erfindungsgabe und Berechnung in hohem Maße er: 
forderte, nicht auch der Gedanke gekommen ift, daß er Mühe und Fleiß verjchwende 
an die jchöne Darjtellung eines fcheußlichen Verbrechens? Und Hat er denn geglaubt, 
jein Publikum ſei durchweg jo gedanfenlos und fittlich ftumpf, daß ihm über dem 
Flimmern der gemalten Flammen, über der Angſt der Flüchtlinge und dem Einfturz 
von Hundert friedlichen Heimftätten die Empfindung nicht aufdämmern würde, dab man 
es hier mit einem weltgefchichtlichen Bubenftücd von unerhörter Graufamfeit und wahn- 


Berliner Brief. 1083 


Jinniger Laune zu thun habe? — Ueber einige Zoten im Theater entrüftet man ſich, 
zu dieſem Schauftüd führt man die Schulen und doziert an ihm die Topographie 
des alten Rom. Wunderlihe Schwäche der Menjchen! An die Erzeugung guter 
Gedanken durch die Kunjt glaubt jeder; daß fie auch an böje Gedanken gewöhnen und 
das Herz verhärten kann, das jcheint man nicht anzunehmen. 

Bon der religidjen Kunſt der Gegenwart ijt überall wenig zu berichten. Mein 
ceterum censeo ijt, dal fie nicht auf die Ausstellungen gehört. Zwar die Religion 
gehört überall Hin, aber nur in dem Sinne, daß man fie überall mit hinbringen muß, 
wenn man jie überhaupt befigt, in die Bolitif, in die Kunft, in die Wiſſenſchaft — 
jogar in die Gejellichaft. Aber ihre Predigt ſoll doch nur da erjchallen, wo der Sinn 
empfänglich jein fann. Chriſtus predigte auf den Straßen und auf dem Berge wie 
im Tempel. Ob er es in unſern Gropjtädten auch gethan haben würde, in dem be- 
täubenden Lärm der Straßen? Ich glaube es nicht. Und betäubend ift auch das 
Durcheinander der Ausjtellungen. Was für Sprachen und Stimmen dringen hier auf 
den Bejucher ein! Und wenn es nur Gedanken und Gemütsjtimmungen wären, Die 
jie erweden wollen! Aber auch der Sirenengejang, der die Sinne bejtridt und die Ueber- 
fegung betäuben möchte, mifcht fich hinein. Das alles wohnt auch im Menſchen dicht 
bei einander. Aber wenn die Stimme des göttlichen Wortes vernehmlich hindurch: 
flingen fol, jo muß der Prediger jchreien wie der Londoner Straßenprediger oder gar 
mit Trommeln und Trompeten den übrigen Lärm niederlärmen wie die jogenannte 
Heilsarmee. Wer gewohnt tft, fich im Kämmerlein oder in der jtillen Kirche zu er: 
bauen, wird mit ſolchen Mitteln nicht einverjtanden jein. 

Es gilt freilich einen Unterfchied zu machen zwijchen dem religiöjen Hiftorienbild, 
das die Heilsthatjachen einfach darftellt, um fie durch ſich jelbft wirken zu lafjen, und 
dem religiöjfen Genrebild, welches direft erbauliche Abfichten verfolgt. 

Der ganze Streit, der in diefem Sommer wieder die Zeitungen, die Zeitjchriften 
und allerlei Broichüren zu lebhaften Erörterungen bewog, der Streit über den heute 
möglichen Stil der chriftlihen Malerei, er ift meiner Anficht nach durch dieſe Unter: 
ſcheidung leicht zu jchlichten. 

E3 waren die litterarischen Vorkämpfer der jogenannten modernen Kunftrichtung 
in der Malerei, welche den Streit anfingen. Sie forderten das Recht der realiftischen 
Malerei, auch an der höchiten Aufgabe alter Kunft, der Verjinnlichung des Glaubens- 
lebens, ihre Kraft zu verjuchen. Sofern jie wirklich) Ernjt macht mit ihrem eigenen 
Grundjage, in allen Dingen wahr zu jein, aljo auch die Thatjachen der chriftlichen 
Religion als Thatjachen malt, wird ıhr dies Necht nicht zu beftreiten jein. Ja ich 
bin geneigt zu glauben, daß die „realiftijche* Malweije bei alljeitiger Auswirkung ihres 
Grundprinzips fich zu einer wirklich in dem Geiftesleben der Gegenwart wurzelnden 
und dasjelbe wiederum befruchtenden religiöjen Kunft entwideln fann. Zum wenigjten 
icheint es mir, daß es weder gerecht noch förderlich ift, an die Fünjtlerifchen Leiftungen 
unfrer Zeitgenofjjen den Maßſtab einer „Eaffischen“ Kunft vergangener Jahrhunderte 
oder früherer Jahrzehnte anzulegen. Die Kunft fennt wie das gejamte übrige geiftige Leben 
feinen Stillftand; ihr Weſen iſt das Werden. Sie ijt eine Blüte des innerlichjten 
Lebens, und diejes ift wie bei den einzelnen, jo fajt noch mehr bei den jich ablöjenden 
Gejchlechtern verjchieden. Man kann alfo von der Kunft der Gegenwart nichts anderes 
verlangen, als daß fie das Menfchliche in der unferer Gegenwart eigentümlichen Aus— 
gejtaltung darjtelle. Und wollte man die Formen einer vergangenen Kunſtſprache ihr 
aufzwingen, jo würde uns doch ein Blid in die Gejchichte der Kunſt lehren, daß auch 
die Antike, die fcheinbar jo überaus einfache, verjtändliche und gejegmäßig-freie Antike, 
niemals wieder mit „antifen“ Augen angejchaut worden ift, jondern in ihrer Nach— 
ahmung ſtets den Stempel einer neueren Zeit getragen hat, jelbjt da, wo man die ge- 
nauejte Nachbildung ihrer Formen beabjichtigte. Iſt es aljo unmöglich, die antike 
Kunſtweiſe oder irgend eine vergangene, Für muftergültig angejehene Kunſt im Original 


1084 Berliner Brief. 


wieder aufleben zu lajlen, fo it es auch dem Kunjtkritifer unmöglich, ſie als einen 
jicheren Mapjtab für die Wertbemefjung moderner Kunſt auszugeben. Eadhlid wie 
formell jind aljo die „Realiſten“ im Necht, wenn fie bei ihrem erneuten Zurüdgreifen 
auf das erjte Urbild der bildenden Kunjt, die Natur jelbjt, allein den modernen Geist 
als Richter über jich anerfennen. Und joll nun, was im allgemeinen zugegeben wird, 
in der chriitlichen Kunſt beftritten werden? — Hier fommt e3 auf die oben gemachte 
Unterjcheidung an. 

Einige Bilder der hiefigen Ausftellung und alles, was über diejelben Kluges und 
Thörichtes gejchrieben worden ift, zeigen mir aber, daß es notwendig ift, darüber feinen 
Zweifel zu lafjen, was ich unter chriftlicher Kunft überhaupt verjtehe. Dieje Bilder 
jelbjt find zu unbedeutend, als daß ich jie als Beijpiele anführen möchte. ch fingiere 
ein ungemaltes., Wird man eine jchöne jüdliche Landſchaft, in welcher ein jüpdijcher 
Nabbi mit feinen Schülern, feitlich gekleidet, durch ein Aehrenfeld wandelt, an fich ſchon 
für ein chriftliches Bild halten? Der Chrijt wird ſich beim Anblid desfelben daran 
erinnern, daß Jejus unter jolchen Umständen von jeiner göttlichen Macht und von der 
chriftlichen Freiheit ewige Worte gejprochen hat; wenn aber in dem Bilde von dieſem 
wichtigiten Inhalte der biblifchen Erzählung nichts angedeutet ift, jo werden wir es, 
trog der erbaulichen Gedanken, welche es durch eine dem Bejchauer geläufige Erinnerung 
anregt, nicht für ein eigentümlich chriftliches Bild gelten laſſen können. Anders iſt es, 
wenn der Maler die Handlung des Aehren-Raufens, die heuchleriſche Entrüftung der 
Pharijäer und die hoheitsvolle Erwiderung Ehrijti wiedergibt. Tizian hat in feinem 
„Binsgrojchen“ gezeigt, daß die Malerei fähig iſt, die zugleich jtrafende und bejjernde, 
zugleich abweijende und emporzichende Art, mit welcher der Gottesjohn jeine Feinde 
behandelt, im Bilde darzuftellen. Behandelt der Maler in diefem Sinne das Matthäus 
12 erzählte Gejchehnis, jo malt er ein chrütliches Bild, andernfalls aber nur eine 
Landſchaft oder, ein Hijtorienbild mit biblischen Figuren, mag der Beſchauer auch noch 
fo tiefe religiöfe Betrachtungen daran früpfen können. 

Aus dieſer Ueberlegung ergibt jich wohl, daß für den weitaus größten Teil der 
Bilder mit bibliichen Motiven die Bezeichnung „chriftliche Malerei” nicht im eigent- 
lichen Einne gebraucht werden kann. Vielmehr wird man die Anwendung derjelben 
auf jolche Bilder bejchränfen müſſen, welche unmittelbar religiöje Gedanken und 
Empfindungen im Sinne des Chriftentums anregen. 

Ihrem Inhalte nach können wir dieje Bilder unterjcheiden in jolche, welche die 
großen Thatjachen des Erlöjungswerfes und der Gejchichte des Reiches Gottes auf 
Erden objektiv darjtellen, und in jolche, welche da8 Leben im Glauben, da3 eigentlich 
Subjektiv-Religiöfe, zum Gegenjtande haben. Wie man in der Profankunft Hiftorien- 
und Genremalerei unterjcheidet — ohne damit im einzelnen immer ganz genaue Grenzen 
bezeichnen zu fünnen — jo drängt ſich auch in der chriftlichen Kunſt das Bedürfnis 
zu jolcher Unterjcheidung auf, nicht nur aus theoretijchen Gründen, jondern auch zu 
jehr praftichen Sweden. Denn nur jo haben wir die Möglichkeit zu entjcheiden, welcher 
Stil in der chriitlichen Malerei zuläffig fein kann, welcher nicht. 

Die chriftliche Hiftorienmalerei wird gedacht und ausgeführt im Hinblid auf ihre 
Berwendung in feitlichen Räumen, welche ausjchlieglich oder gelegentlich zu gottesdienft- 
lichen Verſammlungen benugt werden. Das ergibt von ſelbſt die Notwendigkeit, daß 
ihre Werke ſich dem kirchlichen Stil anpafjen, und dar fie nicht als Fremdlinge, als 
der firchlichen Sitte widerjprechende Erjcheinungen in den Organismus der gottesdienft- 
lihen Ordnung ſich eindrängen wollen. Man jollte denfen, dies ſei unbeftreitbar. 
Und doch hat ein namhafter, jehr vernünftiger Kunftkritifer allen Ernjtes vorgeichlagen, 
tür Bauernfirchen nur Bilder der Uhdejchen Richtung zu verwenden. Warum? Weil 
Uhde die Perſonen der biblifchen Gejchichte ald Bauern und arme Handwerker malt 
und weil e8 jehr erquidlich für dieſe fein müſſe, ji auch im Bilde in des Heilandes 
Nähe wiederzufinden. Der Kritifus hat nur vergeifen, daß der Bauer ſich zum Kirch— 


Berliner Brief. 1085 


gang im ein Feiertagsgewand kleidet und alle Spuren jeiner Alltagsarbeit jorgfältig 
von ſich abthut. So ganz thöricht waren unjere Vorfahren nicht, als fie für die 
chriftlichen Künfte, die Architektur, die Muſik, Plaſtik und Malerei, ſelbſt für die 
Rhetorik befondere Normen erjannen. Sie haben ihre Begründung nicht im Dogma, 
ſondern im Volfscharafter, und auf diefen muß zurücdgegangen werden, wenn man fie 
weiterbilden will. 

Ein weiterer Spielraum bleibt der chrijtlichen Kunſt in der veligiöjen Genremalerei. 
Hier kann individueller Gejhmad ſich nad allen Richtungen frei entwiceln. Stein 
Menjc wird hier andere als jubjektive Gründe vorbringen können gegen die realistische 
Malweije der großen Niederländer und der aufjtrebenden „modernen“ Nichtung. Hier 
macht wejentlid) der Gedanken-Inhalt und nicht die Form ein Kunftwerf zu einem 
hriftlichen; jobald nur zwijchen beiden eine vom Künftler empfundene, im Beſchauer 
unmittelbar (nicht durch lange Reflerion) wieder auflebende Harmonie bejteht, das Bild 
demgemäß als echtes Kunſtwerk ſich ausweift, wird man dem Maler feine ftrengen 
Stilvorjchriften machen wollen und dürfen. 

Bejonders die religiöjen Bilder werden nicht gemalt, dag man darüber jpricht, 
jondern daß man fich darüber freut. Zu jeder Drohung ſetzt Gott eine Verheigung ; 
jo joll e8 auch der Künftler machen, wenn er das Gewiſſen wachrufen will, damit der 
Zwed auch feiner Predigt erfüllt wird: „Xröftet, tröftet mein Volk!“ Erreicht der 
Maler dies mit feinen religiöjen Bildern, jo mag er meinetwegen einer Schule ange: 
hören, welcher er will. Das bedeutendfte religiöſe Bild unferer Ausftellung läßt mic) 
aber gerade hierin unbefriedigt. Anton Dietrich in Dresden malte als Altarbild eine 
Slluftration zu dem Spruche „Kommt her alle, die ihr mühjelig und beladen jeid, ich 
will euch erquiden*. Um den einladenden Chriſtus jammeln ſich Kranke, Hungernde, 
Trauernde in großer Zahl. Aber der Heiland jteht teilnahmlos zwijchen ihnen und ruft 
aus dem Bilde heraus die Beſchauer zu jich herbei. Dieje Darftellung ift nicht ermutigend. 
Wenn der Heiland wenigitens einen der Bittenden ſichtbar erhören wollte, jo würde 
man ihm glauben. So jteht er wie eine Bijion, eine göttliche „Erjcheinung* unter all 
dem Jammer. Das Bitten jieht man, es iſt jogar ergreifend gejchildert; aber daß 
Chriſtus jich auch erhörend zu den Armen neigen kann, das fieht man nicht. 

Man hat diefem Bilde einen jtillen Pla in der Ausstellung eingeräumt. Möchte 
man überall jo rücjichtsvoll mit der chriſtlichen Kunſt verfahren. Uns in ein luftiges 
Landichaftsbild oder eine Genrejzene zu vertiefen, jind wir jtetS geneigt. Die ewigen 
Wahrheiten jprechen nur zu einem in Stille gefammelten Gemüte. 





Skigen aus meinem Leben und meiner Zeit.” 


(Bon der Verfafjerin der „ Gräfin Sophie Reinhard“, „Mörifeana*, „Vijionen 
und Träume*.) 


Meine freundlich gelegene Vaterſtadt M. war einjt der Sit des Hoch- und 
Deutſchmeiſters des Johanniterordens, und barg hinter ihren Mauern außer den 
Kirchen und Klöftern aus dem Mittelalter und der Rokokozeit auch noc) ein Renaifjance- 
Schloß, das ehemals die Meifter des Ordens bewohnten. Zu Anfang dieſes Jahr: 
hunderts (1809) wurden die Ordensheren gezwungen, fich nach Dejfterreich zurückzu— 
ziehen, und das Städtchen wurde „königlich“ gegen feinen Willen, ja zum großen 
Schmerze der Bewohner, von denen es jenesmal hieß: „Deutjchherriich — Deutſch— 
närrifch”! In die zuvor ganz fatholifche Stadt famen nun mit der Zeit königliche 
evangelifche Beamte, und fo im Mai 1814 der erſte protejtantijche Oberamtsarzt — 
mein Vater. Unfer Haus lag etwas abſeits, im Scheitel eines rechten Winkels, den 
zwei fchmale Gäßchen bildeten, von welchen eins, das fchnurgerade auf unfer Haus 
zuführte, zuvor an feinem Eingang den Namen „Krammetsgaffe“ hingemalt hatte, troß- 
dem aber von jedermann nur das „Doctorsgäßle" genannt wurde, während das 
andere, krumme, unfere Verbindung mit der „Heinen Türkei“ unterhielt — einem jehr 
winfeligen Stadtteil, der vom Volksmund fo getauft wurde, weil e3 dort etwas „mufel- 
männiſch“ zuging, wie man mich belehrte. Das Neft, in dem wir „Srammetsvögel“ 
(wie uns die Stameraden gerne fchalten) flügge wurden, lag alſo nicht im ſchönſten Teil 
der Stadt, und das einftödige graue Wohnhaus mit feinen kleinen Fenſtern und niedern 
Stuben machte einen nicht weniger als imponierenden Eindrud; doch ging jedermann, 
Vornehm und Gering, gern dort aus und ein, und der Dichter Eduard Mörife pflegte 
zu jagen, es gehe ihm nichts über die mweiland braune Gartenftube dajelbjt! Urge— 
mütlich machte unjer trautes Heim vollends der Garten hinter dem Haufe, der mit 
jeinen Bäumen, Beeren, Blumen und laufchigen Plägchen, bejonders dem großen Dürr: 
ligenbaum, der einen runden Tiſch und im Kreis 3 Bänke bejchattete, jtet3 der Sammel- 
plat der Familie war. Meine eriten Erinnerungen find, daß ich auf dem Kieſe des 
Gartens lag und die jtolzen Pappeln betrachtete, die den Hintergrund desjelben wie 
mit einem riefigen lebendigen Zaune prächtig abjchloffen. Die Bäume waren für mic) 
Himmelgleitern, an denen fich Blid und Gedanken emporrichteten, höher und höher bis 
zu den ſchwanken Wipfeln, auf denen zuweilen ein einfamer Rabe noch von der Sonne 
bejchienen jaß, während der Garten und ich ſchon längft im Schatten lagen. Den 


*) Alle Rechte vorbehalten. 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1087 


Mittelpunkt der Tafelrunde, die jich wie viele Male unter dem Dürrligenbaume zujammen- 
fand, bildete ein Mann, dejjen Erjcheinung in meinem VBaterhaus den erjten bleiben: 
den Eindrud auf mich machte, den ich von Vorgängen des äußeren Lebens empfing. 
Friſch wie von gejtern jteht e& mir noch vor Augen, daß eines Abends, als jchon das 
Licht in unfrer Wohnftube brannte, eine ſchlanke Gejtalt in das Zimmer trat, mit der 
Mutter einige Worte wechjelte, worauf dieſe mit dem ungewöhnlich freudigen Ausrufe: 
„Ach, unjer neuer Herr Stadtpfarrer!* dem Fremden beide Hände hinbot. Diejelbe 
Szene jpielte fich gleich darauf zwilchen der aus dem Nebenzimmer herbeieilenden Tante 
Nenate und Stadtpfarrer Bed ab, und zulegt zwijchen diefem und meinem Vater, der 
von einem der größeren Gejchwijter eiligit aus feinem Studierzimmer herbeigeholt wurde. 
Dieje ichtliche allgemeine große Freude, wie wenn ein Engel vom Himmel bei uns 
eingefehrt wäre, und daber von allen der gleiche Ausruf: „Ach, unjer neuer Stadt: 
pfarrer!“ machte einen großen Eindrud auf mich, und faum hatten jich der Fremde und 
mein Water zujammengejegt, als ich legterem auf das Knie Fletterte und fragte: „Du, 
Vater, was is neuer Stadtpfarrer?* Noch jehe ich beide Männer lächeln und höre, wie 
Beck mich verjichert, er fei diefer neue Stadtpfarrer, den jet Groß und Klein Liebhaben 
müßten, auch Kinder wie ih! — Grund genug zur freude war in meiner VBaterjtadt 
über die Ankunft des erjten eigenen evangelifchen Geiftlichen dajelbit, denn unter- 
defjen hatte der Pfarrer des eine Stunde entfernten Dorfes W. bei den wenigen Pro- 
teitanten unſeres Städtchens die geiltlichen Funktionen vollzogen; er taufte, begrub, 
predigte und „ſpeiſte“ (dort gebräuchlicher Ausdrud für das Verabreichen des h. Abend- 
mahls) je nad) Bedürfnis. Zu dem Religions: und SKonfirmandenunterricht mußten 
aber die Kinder bei allem Wetter nah) W., und da jie bei tiefem Schnee ;. B. nicht 
genau die Zeit einhalten fonnten, joll es öfters vorgefommen fein, daß der ganz umd 
gar verbauerte Pfarrer mit jeinem fatholischen Stollegen im Wirtshaus jaß, und von 
Karten und Wein Hinweg von jeinen auswärtigen Stonfirmanden abgeholt wurde, 
während des Unterrichts dann aber einjchlief! Als Bed im Herbit 1829 als Stadt- 
pfarrer und Oberpräzeptor nad) M. kam, lag die evangelijche Gemeinde daſelbſt jo zu 
jagen noch in den Windeln, und nun galt es unter allerlei Kämpfen gegen widerjtrebende 
Elemente in und außerhalb der Gemeinde in vielem erjt den Grund zu legen und ein 
Neues zu ſäen. Daß gegenüber einer fatholijchen Bevölkerung und Geijtlichkeit, die 
ſich jeither im Alleinbefig der Stadt wuhte, manches Necht erjt erjtritten werden 
mußte, das jonft für jelbjtverjtändlich gilt, lag gewijjermahen in der Natur der Sache. 
Bed war jedoch hier ganz der rechte Mann, bald nad) rechts, bald nach links hin 
Front machend, geradeaus den Weg, den er für dem richtigen erfannt, zu wandeln. 
Mit größtem fittlichen Ernft und feuriger Hingebung an feinen geijtlichen Beruf, an 
die Ordnung der damals noch ziemlich verworrenen Verhältnifje gehend, mochte er durch 
die Strenge und Schärfe feines Auftretens gegenüber dem etwas leichtlebigen Sinn des 
Bolfes umher teilweije eher jchreden als anziehen. Andernteils aber war es jein 
haraftervolles, durchaus wahres, tiefchriftliches Wejen, dem der Sinn für jedes edlere 
menjchliche Gefühl lebendig imwohnte, wodurd er andere um jo mächtiger anzog, und 
Alt und Jung — von der Jugend bejonders jeine Konfirmanden — vielfach für immer 
an jich fefjelte. Deffentliche VBergnügungsorte meidend, juchte Bed jeine Erholung außer 
fleißigen Spaziergängen gern im engeren Freundeskreiſe, der jich bei guter Witterung 
regelmäßig Sonntag nachmittags in unferem Hausgarten unter dem Dürrligenbaum zu 
verjammeln pflegte. Bei Bier und Tabak (dem aus langen Pfeifen tapfer zugejprochen 
wurde) jahen der Hausherr und Bed mit ihren Frauen unter dem ftattlihen Baume, 
der jeine unzähligen £leinen jchwärzlichen Früchte zuzeiten medijch auf die Köpfe der 
Umbherfigenden oder in die Biergläjer und Kaffeetafjen warf. Neben dem grauen, ſchon 
halb kahlen Haupte meines Vaters, deſſen ernſte Züge manchmal durch das freundliche 
Wetterleuchten eines Witzwortes verklärt wurden, hebt ſich noch deutlich vor meinen 
Augen die ſchlanke, doch kräftige Geſtalt Becks mit den tiefen dunkeln Augen und dem 


1088 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


energifchen, von vollem dunfeln Haarwuchs umrahmten Antlig, und ich kann noch dei 
Ton jeiner beredten, oft halb grollenden Worte (je nachdem dag Thema war!) hören. 
Auch jehe ich noch meine Mutter, wie fie mit ihren feinen Händen und den freund- 
lichen blauen Augen am Staffeetijch waltet und der Frau Stadtpfarrer Bed oder den 
beiden Schweitern meines Vaters noc ein Täßchen aufnötigt. Die fromme Tante 
Renate war unjere Hausgenojjin und teilte fich mit unſerer Mutter in die Lajt des 
Haushaltes und der Erziehung. Tante Bach, die Witwe eines Großneffen von Sebajtian 
Bach, war erjt nach deſſen Tod ihren Gejchwiltern nachgezogen und führte in M. 
ihren jelbftändigen Haushalt, nahm aber am Leid und Freud unjeres Hauſes den 
innigften Anteil. Meine zwei älteren Gejchwilter jagen wohl auch in der Tafelrunde; 
Bertha, fein Auge vom geliebten Lehrer lafiend (der fie zu der Konfirmation vorbe- 
reitete), und Hermann, der Meltejte, dem Gejpräch der beiden Männer aufmerffam 
folgend, und nur zuweilen eine trodene Bemerkung dazu machend, die aber nicht auf 
den Boden fiel, jondern von dem einen oder andern mit einem Lächeln oder einer 
Antwort belohnt wurde. — Sie alle find nicht mehr; fie jind zum Teil längjt Bed 
vorangegangen, der hier einjt den Mittelpunkt ihres Kreijes gebildet, und der fie jo 
fleißig dort hinübergewiefen! . . . . .. Nächſt der Ankunft Becks in unſerem Lebens— 
kreis bildet die zweite mir tiefen Eindruck hinterlaſſende Erinnerung aus meinem Leben 
ein Vorfall, der ſich am 10. Mai 1831 kurz vor dem Mittagsläuten in unſrer Wohn— 
itube abjpielte. Eine Deputation des Stadtrates mit dem Stabdtjchultheißen an der 
Spitze erjchien, um unjerm Vater einen filbernen Pokal zu überreichen, nebjt einem 
Ehrenbürger:Diplom für jich und jeine ganze Familie, als Anerkennung für die vielen 
Berdienjte, welche er fich um die Stadt erworben hatte, hauptfächlich bei der Gründung 
des Mineralbades. Schon am 25. Oftober 1826 war, vom Stadtrat gejchidt (dem er 
die erjte Meldung gemacht hatte), der Schäfer Franz Gehrig in unjer Haus gefommen 
und erzählte, daß an einer gewifien Stelle des Fluſſes, an welchem das Städtchen 
liegt, während anhaltend trocdenem Wetter und niedrigem Waflerjtande eine jchwache 
Quelle hervorriejele, welche das Gerölle ringsum roftbraun färbe und, joweit ihr Lauf 
im Flüßchen zu verfolgen jei, dejjen Bett gleichfalls mit gelb-braunen Niederjchlägen 
bedede. Lebhaft dafür interejjiert, machte Jich mein Vater mit den Brüdern (und im 
Begleitung des Schäfers), wohlverjehen mit kleinen Fläſchchen und Schöpfern, jogleich 
auf nach der Quelle, um die, wie der Schäfer erzählte, fich feine Herde begierig 
herandrängte und an den braunen Niederjchlägen leckte. Lebteres hatte unjern Vater 
auf die Vermutung gebracht, daß es fich um eine Mineralquelle handle, und jo ftellte 
es ich auch heraus. Das Waller wurde gleich in die Apothefe getragen und dort 
chemiſch unterjucht und zeigte ich jo vielverjprechend, daß Vater jofort eine Probe an 
Dr. ©., Profefjor an der Yandesuniverfität, jchickte, welche auch von diefem unterfucht 
und der Gehalt mit dem der Duelle des SKarlsbades verglichen wurde. Nun jehte 
Bater — wie und Mutter oft beteuerte — Herz und Leben ein, um die Väter der 
Stadt zu überreden, Grund und Boden der Quelle anzufaufen, von Sadverjtändigen 
Bohrverjuche machen zu laffen, und wenn diefelben gelängen, die Quelle zu fafjen und 
dann zu bauen: Trinfhalle, Badezimmer, Wirtjchaftsgebäude u. j. wm. Die Sadıe 
ichreibt jich hier kurz und leicht Hin, aber welche Mühe es war, bis unjer energijcher 
Vater die Starrföpfe alle unter einem Hut hatte — davon wußte die l. Mutter 
jpäter an jtillen Winterabenden uns Kindern ein Langes und Breites, Trauriges und 
Ergögliche8 zu erzählen. Auch aus meinen eignen frühejten Erinnerungen weiß id) 
noch, dag wir faſt Tag für Tag unfern Water nach) dem neugegründeten Bade be- 
gleiteten, dort auf den Bauten herumffetterten oder auch an dem jalzigen Wafler 
wippten, während Vater fich mit den Bauleuten bejprach u. j. w. Ende, als das 
Ganze fertig war, auch Badegäfte fich einfanden und Vater 1830 ein Kleines Buch 
über die Heilquellen M.s (ihre phyſiſchen und chemischen Eigenjchaften, die Wirkungen 
auf den Organismus, die Brunnen und Badeanjtalten, die Kuren, die er damit be- 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1089 


obachtete) herausgegeben hatte, fahte der Stadtrat den Beſchluß, ihm für feine felbft- 
[oje Bemühung eine Anerkennung zu teil werden zu lafjen, die im Ehrenbürgerrecht für 
fih und feine Familie und in einem filbernen Pokal beftand. Nachdem der Stadt- 
ſchultheiß eine Nede an Vater gehalten hatte, überreichte ein anderer aus dem Kreiſe 
der Gemeindeväter, der, wie er von fich jelbit zu jagen pflegte, „eine Front hinwarf“, 
mit jeinen riefigen fleifchigen Händen die Geſchenke, und ich konnte dabei nicht begreifen, 
wie Vater mit größerem Intereſſe die unfcheinbare Papierrolle — das Bürgerrecht — 
betrachtete, al8 den mich jo jchön dünkenden filber und golden blinfenden Pokal! Auch 
war faum die Thüre hinter der Deputation in das Schloß gefallen, als ich meinen 
Vater ſchon darüber verhörte und meine unmahgebliche Meinung dahin ausſprach, 
daß aus dem fchimmernden Pokal ihm zufünftig gewiß alles viel befjer jchmeden 
werde al3 aus feinem gewöhnlichen Glas! „Verſuche es einmal!“ redete mir Vater 
zu, ließ mich einen Schluf Waſſer aus feinem Glaſe trinfen und goß mir darauf 
welches in den Pokal, denjelben an meinen Mund haltend. Begierig trank ich, jette 
aber enttäuscht gleich wieder ab und jagte ärgerlich: „Ach, es fchmedt ja gar nicht 
anders!“ Alle lachten, aber mein Vater jagte: „Gut, daß du dies einfiehft, aber merke 
Dir jegt auch nur — wie der Schein trügt!“ .. ... 

Im Spätjahr 1831 wurde mein ältejter Bruder Hermann, als Mitglied der 
Burjchenjchaft — deren Ideal ein einiges Deutjchland war — (wegen der Gefährlic- 
feit dieſer Ideale!) auf 2 Jahre von der Univerfität verbannt und heimgejchidt, und 
bei diejer Gelegenheit machte ich feine erjte Bekanntſchaft. „Mutter, ein landfremder 
Menſch will mi küſſe!“ joll ich entjegt gejchrieen haben, als Hermann jeine brüderlichen 
Rechte an mich geltend machen wollte. Auch daß jich der „landfremde Menſch“ ohne 
weiteres „auf das Sofa ſetzte“, das uns Kindern ein für allemal verboten war, fam 
mir recht frech vor, und ich brauchte lange, bis ich mich an den neuen Ankömmling 
gewöhnte. Weberhaupt jtand mir von meinen Gejchwijtern damals am nächjten meine 
ältejte Schweiter Bertha, die im meinen Augen das Urbild von Vollkommenheit war, 
weil fie mich vor allen fleinen Unbilden des Lebens zu jchügen wußte und bejonders 
mir unermüdlich vorlas, wenn ich frank zu Bette lag. — Das dritte Kind meiner 
Eltern, Bernhard, war ein mutwilliger Knabe, der dem ganzen Haufe „ohne Anjehen 
der Perſon“ fchelmische Streiche jpielte, und der jich bei Groß und Klein — jelbit 
bei jeinen Lehrern — dadurd etwas gefürchtet machte, daß er mit ein paar Strichen 
eine Karikatur hinzuwerfen verjtand, der jedermann auf den eriten Blick anjah, welche 
Perſon fie vorjtellte. Diejes war ein fatales Talent und bejonders mir — dem Nejt- 
fegel — jehr zuwider, und ich wehrte mich dagegen bei Tag und Nacht umd jchrie 
jelbjt noch im Traume: „Mutter, der Bernhard ruht nit!“ — Das vierte Kind meiner 
Eltern war ein jtillvergnügtes, immer zufriedenes Mädchen, von der in der Familie 
die Sage geht, das fie zwar als Kind zweimal gejtraft wurde, aber — jedesmal un— 
gerecht! Außer ihrem „brav“ jein fand unſere Emma jpäter noch weitere Anerkennung 
durch ein Talent, das ſich jo frühzeitig bet ihr entwidelte, daß man fat jagen könnte, 
fie habe mit dem Sprechenlernen auch jchon das „Reimen“ verjucht. Selbſt Eduard 
Mörife ſagte jpäter einmal, er beneide fie um die Leichtigkeit, mit der fie ihre Neime 
finde, und er bezeichnete jchon damals von ihr Gedichte, die er der Deffentlichfeit wert 
achtete; ich werde jpäter gelegentlich welche anführen. — Das dritte Mädchen der „Neit- 
fegel“ oder der vornehmen Miene wegen, mit der fie ſich unzarte Späße der Brüder 
vom Leib zu halten fuchte, von diefen auch „Fürftengeficht” genannt, war leider der 
gerade Gegenjag von der nie Tadel oder Anſtoß hervorrufenden Emma. Vom erjten 
Lebensjahre an fränflich, daher reizbar, heftig und über die Maßen empfindlich, war 
ih noch mit der weiteren unbequemen Eigenjchaft begabt: alles erklärt haben zu 
wollen! „Wiſſensdrang“ würde man es in gegenwärtiger fortgejchrittener humanerer 
Zeit wohl nennen! Im meiner Kindheit fand aber dieſe Eigenjchaft noch wenig An: 
erfennung, und ich armer Neftfegel, der oft frank zu Bette lag, jchien oft jchlafend, 


1090 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


und hörte häufig, wenn die Mutter zufällig abgerufen wurde, von den guten Freunden 
und getreuen Nachbarn eine Art „Totengericht“ über mich abhalten, wobei mit be- 
merfenswerter Offenheit behauptet wurde, daß die gute Doktorin eine rechte Plage mit 
diefem Fränflichen „überheinijchen* Kinde habe und daß ich auf dieſer Welt nicht am 
pafienden Platz jei; und jede Hausfreundin gönnte mir's, „wenn mich der liebe Gott 
bald zu fich nehmen würde!“ Herzbrechend weinte ich da oft in die Kiffen meines Bettes 
hinein und war tief betrübt, daß ich jo ein wenig geſchätztes Glied meiner Familie 
war. Ein glücdlicher Zufall machte mich aber einmal damit befannt, daß ich wenigſtens 
eine und meiner Meinung nach nicht zu unterjchägende gute Eigenjchaft bejige. Als 
ich nämlich meine erjten jelbjtändigen Gänge in Haus und Hof machen durfte, wurde 
ich einmal mit Seife in die Waſchküche gejchidt, und dort verjicherten mich einftimmig 
die Wäjcherinnen, „ich jei Dr. B's Schönite!" Da ich bis jegt gar nichts „Gutes“ 
an mir gefannt hatte, jo fam ich mit wahrem Triumphgejchrei in das Wohnzimmer 
zurüd und teilte die „Entdefung“ der Wäjcherinnen mit, befam aber gleich zu hören, 
daß brav jein beſſer jei als „jchön“ fein, worauf ich hoffnungsvoll gejagt haben 
joll: „Ich kann aber auch noch brav dazu werden!“ — Nächſt den Wäjcherinnen zählte 
ich bald auch die polnischen Offiziere unter meine Bewunderer. Als Bismard einmal 
im Reichstag mit feinem Spott von der „PBolen-Schwärmerei* ſprach, an der Deutjch- 
land in den dreifiger Jahren frankte, da gedachte ich auch lebhaft der Thorheit meiner 
Vaterſtadt und erinnerte mich, daß ich als Eleines Kind amwejend war, wie man die 
Polen mit Gejang, Feitreden, Deflamation u. j. w. empfing und wie mein jehr mufifalifcher 
Bater beim Vortrag einer Sängerin zu feinem Nachbar jagte: „Welche Nachtigall fräht 
ſo falſch?“ und von diefem zur Antwort belam: „Meine Frau!" (Es war bei dem 
Gejang des Liedes: „Noch ift Polen nicht verloren!*). Nach dem fejtlichen Empfang 
wurden die Polen in den Privathäufern aufgenommen, verpflegt und, reichlich mit 
Geldmitteln verjorgt, wieder weiterbefördert. Wer nicht das nötige Geld beſaß, opferte 
anderes; meine Mutter 5. B. jehr wertvollen Familienſchmuck von ihrer Großmutter, 
einer geborenen de Bertrand aus Met. Der polnijche Offizier, welcher bei uns [ogierte, 
nahm mich, jobald er in das Zimmer fam, auf den Arm und fühte mich. Bernhard, 
der diejer Prozedur zuſchaute, winfte mich abjeits und flüjterte mir zu: „So, jetzt 
bift du bald nicht mehr unjere „Schönste“, denn jegt befommit du einen großen Schnurr: 
bart wie der Pole, von dem du dic) Haft küſſen laſſen!“ Diefe Drohung, nun meine 
einzige „gute“ Eigenſchaft wieder zu verlieren, erfüllte mich mit folcher Verzweiflung, 
daß ich in großes Gejchrei mit Thränen ausbrach und erjt zu beruhigen war, als 
man mich verjicherte, wern ich mich jet und immer recht tüchtig wajchen lajje, wachie 
mir fein Bart! Dies beruhigte mich in etwas, doch war ich auf meiner Hut, und als 
mich der nächjte polnische Offizier auf den Arm nehmen wollte, ftrampelte ich mit Hän- 
den und Füßen und rief: „Nit Eüffen, mit küſſen! i will die Schönft fein!“ .... Von 
dem Frühjahr 1832 iſt mir eine Erinnerung bejonders tief eingeprägt. Eines Tages 
jaß mein Vater bei Tijch an jeinem Kaffee und las dabei die Zeitungen „Merkur“ und 
„Hochwächter”. Lebterer trug eine Vignette mit einem Turm und Hahn darauf und 
diejes Bildchen betrachtete ich eben, al3 ich meinen Vater lebhaft jagen hörte: „Was 
der taujend! Der Herr Geheimerat von Goethe in Weimar find gejtorben!“ Neugierig 
blidte ich auf und befam durch Vaters Gefichtsausdrud wie durch feine Worte den 
Eindrud, als hätte zwijchen dem Herrn Geheimerat und meinem Vater feine bejondere 
Freundſchaft beitanden. Um jo mehr wunderte es mich deshalb, daß auch meine Mutter 
jich jo jehr für die Todesnachricht zu intereffieren jchien, und als ich gleich darauf mit 
ihr allein war, wollte ich durchaus von ihr wiſſen, wer diejer „Herr Goethe” gemejen 
jei und warum ihn Vater nicht möge? Mutter fertigte mich nur kurz damit ab: Goethe 
jei ein Dichter, den jedermann möge! Lebteres wuhte ich num viel beſſer, denn ſoeben 
Hatte ich ja gehört und gejehen, daß zwifchen meinem Vater und diefem Goethe von 
„Liebe“ nicht viel die Rede war — wie mich deuchte — deshalb wollte ich auch 


Stizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1001 


um jo mehr noch erklärt befommen, was „ein Dichter“ jei? „Einer, der Gejchichten er- 
zählt,“ hieß es, und damit mußte ich damals zufrieden fein. Viele Jahre jpäter aber, 
als ic) von Goethe etwas mehr wußte al3 dazumal und jozufagen mit einem Perjpeftiv 
an ihm in die Höhe jchaute, erzählte ich einmal im Familienkreis, bet welcher Gelegenheit 
ich Goethes Namen zum erjtenmal gehört habe, und blieb dabei: Vater müjje von Goethe 
irgendwie einmal vor den Kopf geitoßen worden jein! Mutter lächelte und erzählte 
uns, daß Vater, der eine jehr hohe Meinung von der Würde der Burjchenichaft gehegt 
habe, von Jena aus öfters mit feinen Kommilitonen herüber nach Weimar in das 
Theater gekommen jei, und hätte dort einmal bei einer Aufführung von Schillers Räu- 
bern mit den andern Studenten, vom Parterre aus, das Räuberlied flott mitgefungen, 
was des alten Goethe Mißfallen in jolch hohem Grade erregte, daß er fich über die 
Brüftung feiner Loge hinausbeugte und mit jonorer Stimme hinab in das WBarterre 
befahl: „Man jchweige da unten!” „„So etwas läßt ſich aber ein Burjche jelbit von 
einem Herrn Geheimerat von Goethe nicht bieten, denn ein braver Burjche ijt jo viel 
wert — als der König von Preußen!" fanden wir in einem Tagebuch unjeres Vaters 
aus damaliger Zeit eingetragen. Die jchwergefränfte Burſchenſchaft drohte jenesmal, 
mit allen Studenten die Univerfität Jena zu verlafjen, wenn ihnen nicht zur Genug: 
thuung die Erlaubnis zu teil werde, bei jeder Aufführung von Schillers Räubern das 
ae mitfingen zu dürfen, ein Gebrauch, der bis auf den heutigen Tag fort: 
beſteht. . ... 


Fortſetzung folgt.) 





Metaphyſik. 


Wiſſenſchaftliche Begründung der Ontologie des poſitiven Chriſtentums 
von Th. Weber, Prof. in Breslau. 
(A. Perthes. 1888. 1.) 


Auf dem Boden der röm—katholiſchen Kirche Deutſchlands find in dieſem Jahr— 
hundert zwei hervorragende Geifter erwachjen, welche bedeutenden Einfluß auf Die 
Bhilofophie, auch innerhalb der protejtantischen Welt, unſeres Vaterlandes gewannen. 
Wir meinen Franz von Baader und Anton Günther. 

Jener hat von München aus auf die Vertiefung des philofophijchen Denkens 
ungemein anregend gewirkt. Er nahm, wie Schelling, die deutfche Naturmyſtik Böhmes, 
allerdings viel zu pietätsvoll, auf. Franz Hofimann, Qutterbed, Schlüter, von Schaden, 
Hamberger gaben jeine Werfe heraus, Varnhagen von Enje machte früh auf den „Magus 
des Südens" aufmerkſam und die Theologie der Proteftanten nahm, wie. Dorner, 
Liebner, Ehrenfeuchter zeigen, die Anregung eingehend auf. 

Zu Baader und feinen Herausgebern war die Kluft zwifchen Vatikanismus und 
Protejtantismus, in Anerkennung, Wohlwollen und im tiefen Gefühl der Gemeinjamfeit 
der fonjervativen Grundlagen alles Völferlebens praftifch überwölbt, wie dies heut nicht 
mehr möglich ift*). 

Dagegen iſt die Arbeit Anton Günthers im ganzen, in Norddeutjchland wenigjtens, 
ung verborgen geblieben. Knoodt, Zudrigl, Veith, Pabſt find in feine Gedanfen ein- 
gegangen. Im ganzen war feine jcharfe Oppofition gegen jeden Pantheismus Zeit 
—** unbequem, welche in den Strom unſerer Identitätsſyſteme vollſtändig einge— 
taucht waren. 

Standen beide, Baader wie Günther, mit Rom auf geſpanntem Fuß, jo war es, 
weil jener die Löſung der Fatholifchen Kirche Deutjchlands von der römischen Kurie 
wünfchte, diefer den Proteftantismus als ein notwendige Moment im Entwidlungsgang 
der abendländischen Völker anerfannte. So jind beide jchliehlich von der brofeftantifihen 
Welt mehr verjtanden, mehr beachtet, mehr geliebt, als von einem Katholizismus, defjen 


*) Hier jei dem Verfaſſer — Herrn v. St. in Görlitz für ſeine freundliche Zuſchrift in 
Anlaß einer Kritik des Lebens Picpenbrods von Reinkens im Auguftheft von 1881 dieſer Zeitſchrift 
— zu danken, aber auch freundlih zu bemerken, daß, wenn Dr. Hettinger fid) jo, wie angegeben, 
ausdrüdt, dies mit dem nicht ftimmt, was die Encyklila vom 8. Dez. 1864 in den 88 26, 27, 77 
ausdrüdlid anordnet. Demnad) find die Proteftanten nur die Geduldeten, gegen welde aud Gewalt 
—— geſtattet iſt. Friede aber iſt nur möglich, wo man die Exiſtenzberechtigung gegenſeitig 
anerkenn 


Metaphyfit. 1093 


Theologie auf dem Standpunkt des heil. Thomas, aljo des Pantheismus, feitzuichrauben, 
die Arbeit der Jeſuiten, aljo ihres „Mundſtücks“, der jetzigen Päpfte, ift. 

Hat Baader vertieft, jo hat Günther geklärt. 

In diejer Beziehung muß ich Günther die größere fulturliche Bedeutung zujchreiben, 
auf die ich neulich bei Luthardt (Zeitjchrift für kirchl. Will. ıc., 1888, ©. 317 ff.) 
aufmerffam machte. Und in diefer Beziehung möchte ich hier auf die eben erjchienene 
Metaphyji von Prof. Th. Weber hinzuweiſen mich beeilen, indem derjelbe gerade Dies 
fonjervative Blatt für die Anzeige feiner Eonjervativen Arbeit wünjchte. 

In einem früheren Jahrgange gerade diejer Zeitjchrift, ich erinnere mich nicht 
mehr, welches? — habe ich unter der Ueberſchrift: „Anton Günther“ den Wiener 
Philofophen gezeichnet, der, wie feiner der Neuzeit, mit fcharfem logiſchen Meſſer dem 
Bantheismus zu Leibe ging. Und vermögen wir es, den Gang und die Arbeit der 
deutjchen Philojophie in diefem Jahrhundert zu Überbliden, vermögen wir e8, zu jehen, 
wie der Spinozismus nach allen Richtungen in ihr zu breit entfalteter Blüte fam, jo 
werden wir es begreifen, wie die — Denkweiſe, auf die Verhüllung des Perſon— 
lebens durch die Naturmächte gerichtet, wie dieſe alte Mitgift der ariſchen Bölfer- 
familie für alle Lebensfreife die herrjchende wijjenjchaftlihe Denkweife werden und 
chließlich für die praktiſche Geftaltung der Gejellichaft die eminenteften Gefahren in 
fich bergen muß. 

Wie diefe Gefahr, wie der „antife Bandwurm“, wie Günther im Anti» Savareje 
jagt, wie der Pantheismus die römische Kirche zu einer Zentralifation vermocht hat, 
welche bis zur Züchtung und Schulung eines durchaus gleichartigen Intelleft3 fortgehen 
muß, jo muß er auf dem Gebiet des Protejtantismus verheerend, Hier nur in anderer 
Form, materialiſtiſch, wirken. 

Zu loben find dort die Warnrufe von Difchinger, in jeiner „ſpekulat. Theologie 
des heil. Thomas“ von Joh. Huber, Michelis, Knoodt, Balger, zu loben ijt die in 
Gütersloh (Berteläm.) 1872 erjchienene Arbeit von Fr. Hoffmann: „Kirche und Staat“, 
zu loben ift die vorliegende Arbeit von Th. Weber. 

Betrachten wir fie. Beachten wir nur, daß im „Prozek des Ringens des menjch- 
lichen Geiſtes“ der ganze Fortſchritt des Kulturlebens und der Gejchichte der einzelnen 
Völker ſich jpiegelt, wie Prof. Konrad Hermann dies einmal trefflich dargejtellt hat. 

E3 find immer Gedanken, welche ein Zeitalter in der Tiefe bewegen. Und der 
nat — der religiöſe, bewegt, wenn auch unter tauſend Fällen verborgen, am 
mächtigſten. 

Weber jteht im Ganzen auf dem Sat Günther's: Die Welt freie Setzung Gottes, 
Schafft der perjönliche Gott, fo jchafft er ein Anderes, als er jelbit ift. Damit ift 
jedem Emanatismus, jeder Differenzierung des göttlichen Weſens in eine gejchöpfliche 
DVielheit hinein, jedem Ein- und Aufgehen des Unendlichen in das Endliche als feine 
Bejonderung, jedem Nichtbeifichbleibenfönnen des Göttlichen, um im Gejchöpflichen ſich 
jelbft anfchauend feine Fülle gu gewinnen — damit ift jeder pantheiftiichen Thorheit 
ein für allemal ein Riegel vor — und ein reiner Schöpfungsbegriff gewonnen. 
Nach Günther und Werner iſt die Welt: Geiſter- und Natur-Welt. 

Dort eine Vielheit perſönlicher Geiſter in formeller Einheit, hier eine Vielheit der 
Naturindividuen in materialer Einheit. Und der Menſch iſt Einheit beider Reihen, 
Syntheje aus Geift- und Naturwelt. In ihm erjcheint der perjönliche Geijt mit der 
Natur verbunden, Die es zu gewiſſen feelischen Thätigfeiten bringt, nie aber zum Selbit- 
bewußtjein und zum Ich-Gedanfen, nie aber: Geift wird. 

E3 gehört zu dem Wertvollen diefer Arbeit, dab die Mangelhaftigfeit der Defi- 
nition gezeigt wird, mit welcher Hume, Kant und Herbart den Begriff des menjch- 
bel Geiſtes erjchöpft zu haben glauben. Wir finden eine jehr Klare Darjtellung 
dejjen, was der Hume-Kant'ſchen Erkenntnistheorie fehlt. Es wird deutlich, da Hume 
und feine Nachfolger das Kaufalitätsgefeg in ein bloßes Succeffionsgejeg verwandelt 

Allg. tonſ. Monatsichrift 1898. X. 70 


1094 Metaphyſik. 


haben. ©. 239. Ich rechne zu den Vorzügen der Arbeit die Evidenz, mit welcher 
nachgemiejen wird, dab die finnliche Erfahrung die Urjächlichfeit in der Abfolge der 
Erjcheinungen der Außenwelt nicht zu entdeden vermöge, da dies nur dem Ichgedanfen 
und den Erfahrungen desjelben bezüglich feiner Wirkungen nach außen zufomme. 

Wertvoll ift auch der Nachweis des Bantheismus des römijch-fath. pro- 
flamierten Normal» Theologen des Thomas von Aquino, ©. 170 ff, welcher für jede 
philojophifche Regung für die Zukunft den alleinigen Maßſtab bilden wird, jo daß wir 
einer völligen Verſteinerung römiſch-katholiſcher Gedanfenarbeit zul unſerem tiefiten 
Bedauern entgegenjehen mütfen. Denn immer werden wir mit Schmerz; der edlen 
Kräfte gedenken müfjen, welche dort zum Stillſtand verurteilt find. 

Hiermit ftehen wir wieder bei der tiefjten Bedeutung der Arbeiten Günther's und 
auch der vorliegenden: Sicherung der Perjönlichkeit einem naturhaften Denfen gegenüber, 
welches dort immer die Infallibilität, hier immer den Materialismus naturnotwendig 
gebären muß. 

Der ald Normalphilojophie dort nun ausgerufene Thomismus, der mit arijtote- 
fischen, heidnifchen, alfo pantheiftifchen, Denkformen arbeitet, und welchem Maria-Laach 
und Mainz die Univerſität in München gewinnen möchten, und diejenige von Salzburg 
gründen, erzeugt eine jchwindelhafte Infallibilität, welche nach Erdrüdung der organiſchen 
Gefüge und der im Bistum noch vorhandenen perjönlichen Werte den Materialismus 
der Seiligtumd-Fabrten und Reliquien zur notwendigen Folge hat. So auf römiſchem 
Gebiet. Und die Identitätsſyſteme des PBantheismus auf der andern Seite jinfen 
aus der jchwindelhaften Höhe in den Monigmus und Meaterialigmus einer wüjten 
Naturauffaffung, welche jozial und fommuniftijch ebenfo international Hand und Fuß 

ewinnt. So auf proteftantiichem Gebiet. Ueberall fann nur die chriftliche Weltan- 
—— der perſönliche Gott, damit der Wert der Perſönlichkeit des Menſchen und 
ſeine Selbſtverantwortlichkeit uns retten. 

Es iſt ein erfreuliches Zeichen, daß in der Metaphyſik Webers ein Denken ver— 
treten wird, welches gerade den Wert des Perſonlebens betont. 

Die Ausſtellungen, welche das proteſtantiſche Bewußtſein an der Arbeit Webers 
zu machen haben wird, werden ſich um die Frage bewegen müſſen, ob die Natur des 
Menſchen, wie er jetzt iſt, die Natur des empiriſchen Selbſtbewußtſeins tief genug, ob 
es in ſeiner auch intellektuellen Verfinſterung und Gebundenheit ernſt genug genommen 
ſei? Wenn es heißt, der Geiſt wolle an ſich das Gute ©. 335, jo gilt dies unſeres 
Erachtens eben nicht vom Geift in jeinem Sofein und Gewordenfein. Der Verfaſſer 
tritt hier zu den paulinifchen Stellen, die er anführt, in Gegenfag und wir finden hier 
die Merkmale der Vorbildung durch Tridentinische Theologie, welche auch der Alt— 
Katholik nicht ohne weiteres zur Seite legt. 

Offenbar hängt hiermit der Umstand zujammen, daß Weber das, was wir unter 
| — Natur verſtehen, unterſchätzt S. 369, ſowie er die pauliniſche ſeufzende 

eatur, die geſamte Ktiſis in ihrer Korruption, alſo den Begriff der kosmiſchen Mate— 
rialiſierung zu wenig anerkennt, und demnach verwertet S. 364. Denn der Tod kann 
jo wenig im Menſchen- als im Naturleben etwas normales ſein. — Damit hängt 
wieder die Auffaflung zujammen, daß die Natur als Subjtanz ich differenzieren (im 
Sinn Webers jich materialijieren) müßte. ©. 316. 

Dies führt uns weiter. 

Weber jagt, daß „die Materie die Subjtanz der Natur ift“. ©. 227. 241. Biel- 
leicht Fönnte er jagen, daß die Natur die Subftanz der Materie fei. In — u 
würde er m. E. den richtigen Weg bejchreiben. „Natur“ nennen wir das geichöpflich 
Gejegte, dag dem Willen des Schöpfers entjprechende Sein einer Subjtanz, welche zum 
Geift den einfachen Gegenjag bildet. Geift und Natur werden alſo immer jein. 
„Materie“ dagegen nennen wir diefe Natur in ihrem gegenwärtigen Sojein, in ihrer 
empirischen Erſcheinungsform. Dies ift die Form gehemmter Evolution, während 


Metaphyſit. 1095 


„Natur“ freie Evolution iſt. Oder ſagen wir: die eine Subſtanz, welche die Contra— 
poſition des Geiſtes darſtellt, erſcheint in ihrer Freiheit als Natur, in ihrer Gebunden— 
heit als Materie. 

Als Natur iſt jene Subſtanz auch noch in der von der Sünde befreiten jenſeitigen 
Welt. Als Materie erſcheint ſie mit der Sünde zuſammen innerhalb dieſes Kosmos. 
Hier iſt dieſe Subſtanz, alſo Natur, in ihre Verhüllung oder Verlarvung, dort iſt dieſe 
Subſtanz, alſo Natur, in ihrer freien ihr eignenden Seinsweiſe. Mit dem Abſchluß 
diejes Kosmos zugleich wird die Materialwelt oder Materie aus diejer ihrer Form 
als Materie erlöft und in ihre ihr zu Grunde liegende Wahrheit, in die reine Natur, 
zurüdgeführt. 

Aber auch Weber jelbjt jcheint dem nicht wohl ausweichen zu fünnen. Er fennt 
eine „Naturjubitanz“, welche einft nicht, wie jegt, in ihrer „Differenzierung ein Eolleftives, 
aus disfreten Atomen bejtehendes, jodann ein fontinuierliches, reales, oder jubjtanzielles 
Ganzes war.“ ©. 249. Hier nennt Weber die Atome, in welche jene Ganze diffe- 
renzierend jich auflöfte: „materielle“. 

Weber nennt die Differenzierung jener realen Subjtanz jogar einen „Zerjegungs- 
prozeß“ ©. 250. 

Dann fügt er ©. 268 aber Hinzu, daß diefer Prozeß Folge „der erjten fremden 
Einwirkung“ in jene fontinuierliche, einheitliche Naturjubjtanz ift, welche dann in den 
Differenzierungsproduften „aufgegangen“ und „untergegangen“ ift. Immerhin bedenklich. 
Was untergeht, ift nicht mehr vorhanden. 

Demnad) jcheint die anfängliche Subjtanz als Natur allerdings für immer ver: 
foren. Sie jcheint nur noch in Form der Materie zu eriftieren. 

Sowie wir für den folgenden Band jtetige, ganz bejtimmte Verwendung der 
Ausdrüde „Geift* und „Seele“, niemal3 aber promisiscue fie gebraucht wünjchen, jo 
wiünjchen wir e8 auch Hinfichtlich der Ausdrüde „Natur“ und „Materie* (S. 260). 

Wir wünjchen allerdings zugleich, wie angedeutet, tiefere Faſſung des Weſens 
der Sünde, piychologisch und fosmologish, von dem, was die Schrift „Fleiſch“ und 
„Geiſt“ nennt, von natürlichem und geiftlichem Leben. 

Alles, was man in diefer Richtung im einzelnen — auch gegen die Bejtimmt- 
heit, mit welcher die Dreiheit der endlichen Welt (und damit die körperliche Welt reiner 
Seifter) aufgejtellt wird, ©. 19, oder gegen die Begründung des Kreatianismus, im 
Gegenjag zum Traducianismus, noch einmwenden fönnte, ii indeß gegen die unjeres 
Erachtens ernſt verjuchte Beweisführung einjtweilen zurüdtreten, in welcher die Er- 
Ihaffung in einer Art feftgeftellt wird, daß hierdurch die perjönliche Ajeität des Un— 
endlichen ebenjo gejichert, als das endliche Perjonleben in jeiner Bedeutung fejtgehalten 
iſt. Drüden wir uns jo zurüdhaltend aus, fo ifts, weil wir, wie dies bereit Durch 
die Stellung gefordert ift, welche wir der Sünde für das Syſtem des Endlichen bei- 
legen müſſen, nicht imftande find, mit der Zuverficht, wie der Verfaſſer dies thut, 
davon zu jprechen, daß der angenommene Zufammenhang der Dinge förmlich jtringent 
bewiejen werden fünne. 

Dies liegt Schon in dem Umftand begründet, daß, wie Günther fagte, der Menſch 
das Maß aller Dinge ift. „Wie der Menjch fich, jo verjteht er alles andere“ Und 
er verjteht jich jehr wenig. 

Schließlich empfehlen wirdie Schrift Webersallen, welche der „zunehmenden retrograden 
Erjtarrung“, welche Diepenbrod fürchtete, entgegenjehen und dieje Erjtarrung nicht am 
wenigjten durch die Aufrichtung des Scholajticismus und Monopoflifierung des Thomis- 
mus herbeigeführt jehen, welche eine allgemeine Kalamität für die gefamte abendländijche 
Ehrijtenheit bedeutet. 

Breslau. Rocholl. 


70* 





Monatsſchau. 


Politik. 


Brachte der vorige Monat im wejentlichen nur Greignijje, die bis zu einem ge- 
wijjen Grade erwartet und vorausgejehen werden fonnten, jo hat der abgelaufene 
September auch einige Ueberrajchungen gebracht. Die erheblichite derjelben iſt ohne 
Zweifel die indisfrete Verdffentlihung von Tagebüchern des Kaiſers Friedrich aus der 
deit des Krieges 1870/71. Wie dieſe intimen Papiere in unberufene Hände haben 
ommen fönnen, ijt noch nicht fejtgejtellt; doc; kann in der „Wera“, mit 
welcher die Regierungszeit des jterbenden Kaiſers zu Ende ging, vieles, auch das 
Unwahrjcheinliche möglich geworden fein. Die „Nordd. Allg. Ztg.* erklärte offiziös, daß 
die Veröffentlichung ohne Vorwiſſen Seiner Majejtät des Kaijers und Königs erfolgt jet; 
ebenjo jteht derjelben die Kaijerin Friedrich fern. ES drängt fich Daher leicht der 
Gedanke auf, daß der Tert des Tagebuchs unecht jein könnte. Die „N. A. 3." hebt 
in diejer Beziehung hervor, daß dasjelbe „mach den Erinnerungen der bei den Er- 
eigniffen beteiligten Perſönlichkeiten jo jtarfe chronologische und thatjächliche Irrtümer 
enthalte, daß die Echtheit bezweifelt werden müſſe. Namentlich jei es — jo fchreibt 
fie — ausgejchlofjen, daß der ganze Inhalt von dem Kronprinzen jelbjt herrühre und 
täglich aljo in frijcher Erinnerung von ihm aufgezeichnet worden ſei. Indeſſen haben 
alle dieje lahmen Dementis doc) wenig Eindrud gemacht, und der Hauptjache nach 
dürfte das Tagebuch echt fein. Aus dem Inhalt geht aber hervor, was man ja 
übrigens ſchon wußte, daß Kaiſer Friedrich mit feinen Sympathieen durchaus auf 
der fortgejchrittenen Linken geitanden hat und von einem Optimismus Hinfichtlich der 
Träger dieſes Liberalismus bejeelt war, der ihm ohne Zweifel noch viele bittere Ent- 
täujchungen gebracht haben würde, wenn er berufen gewejen wäre, länger zu regieren. 
Mit ** fann der ideal angelegte Kaiſer dem öſterreichiſchen Joſef II. verglichen 
werden, der zu feiner Zeit auch mit idealiftiichen Weltbeglüdungsplänen jeine Regierung 
begann, die doc reg? mit Enttäufhung und Berbitterung des Herrichers wie 
der Beherrjchten endete. enn nun jebt von liberaler Seite diefe Publikation im 
parteipolitiichen Interefje fruftifiziert wird, jo ift das gewiß bedenklich genug. Wenn 
aber andrerjeitS von fonjervativer Seite verfucht wird, den verjtorbenen edlen Kaijer 
für die politifche Rechte zu reflamieren, jo find das wiederum Verfuche, die der Be— 
weisfähigfeit ermangeln. 


Monatsſchau. — Deutichland. 1097 


Während in der inneren preußiichen Politif der vorige Monat belebt wurde 
durch die Streitigkeiten über das Kartell, ift e8 auf dem Gebiet des Parteiwejeng 
neuerdings erheblich jriedlicher hergegangen. Die Sache iſt auffallend, injofern für 
gewöhnlich, je näher die Wahl rüdt, um jo lebhafter die Disfuffion zu werden pflegt. 
Aber der Wechſel erklärt fic auf die einfachjte Weiſe dadurch, daß die Offizidjfen in 
Berlin auf höheren Befehl ihre Bemühungen, eine Mittelpartei zu jchaffen aus 
Konjervativen und Nationalliberalen, bis auf weiteres eingejtellt haben. 

An der That konnte es auch nichts Unrichtigeres und Ungeſchickteres geben als 
diefe fünftliche Mache. Gewiß fann es niemand, der das politische Leben in Deutjch- 
(and beobachtet, entgangen fein, daß die nationalliberale Partei in den legten Jahr: 
zehnten fich fonfervativer Anjchauung genähert hat. Statt diefe Bewegung, welche 
unhaltſam fortfchreitet, fich ruhig und jtetig entwideln zu lafjen und abzuwarten, daß 
fonfrete ragen auf'3 neue Gelegenheit bieten möchten, übereinjtimmende Anjchauungen 
zu entwideln und zu bethätigen, griffen die Berliner Offiziöfen ſofort mit ihren 
plumpen Händen in eine Entwidlung ein, welche jo zart wie möglich zu behandeln 
war; und fie haben ehrlich gethan, was fie konnten, um den Frieden zu erjchweren und 
hintanzuhalten. Wenn es gleichwohl ftill geworden iſt, jo beweilt das nur, daß 
man ohne die Vermengungsverjuche den Frieden längjt hätte haben fünnen. 

Und noch eins hat der Gang der Dinge im abgelaufenen Monat bewiejen. Die 
Offiziöfen bemühten ſich nad; Kräften, die Konjervativen als Störenfriede Hinzuftellen, 
welche angeblich das Kartell gebrochen und der Herjtellung eines freundlichen Ver— 
hältniffes zu den Nationalliberalen widerftrebt haben jollten. Nun aber find die 
beiderjeitigen Wahlaufrufe erichienen. Der fonjervative, welcher zuerit fam, gab 
mit faren Worten dem Wunjche Ausdruck, jich in manchen Punkten mit den National 
fiberalen zu begegnen. Der nationalliberale dagegen, welcher folgte und in die dar- 
gebotene Hand wohl hätte einjchlagen fünnen, vermied dies ausdrüdlich und gab 
damit in unzweidentiger Weije zu verjichen, daß man das Kartell als aufgehoben 
anſehe und zu einer Erneuerung desjelben durchaus nicht geneigt fei. 

Was Übrigens die Wahlaufrufe der Parteien betrifft, jo war man gejpannt, wie 
der fonjervative jich zu dem befannten Antrage Hammerjtein ftellen würde. Der be: 
zügliche Paſſus ift offenbar die Frucht eines Kompromiffes. Die Dotation wird zu— 
geitanden, die Bejeitigung oder aud) Befreiung des fürftlichen Ober-Biſchofsamts aber 
nicht gefordert. Entgegen der Hammerjteinjchen Forderung jprechen der freifonfervative 
und der nationalliberale Wahlaufruf ganz ausdrüdlich aus, daf fie das Ober-Bifchofsamt 
in bisheriger Geftalt gewahrt wifjen wollen. Sa, die Nationalliberalen fügen noch 
einen Proteſt gegen „bierarchiiche Gelüfte“ des Kirchenregiments hinzu — einen Proteft, 
den man fajt für Ironie halten fünnte in dem Augenblid, wo der preußifche Ober- 
Biſchof durch jein politisches Ministerium gedrängt worden ift, einen negativen Profeſſor 
zu bejtätigen, defien Standpunft der Kaifer nach den eigenen jchönen Zeugnifjen, die 
er wiederholt öffentlich abgelegt hat, nur für einen ungünjtigen halten fan. 

Ein Wahlaufruf der Freifonjervativen liegt auch bereitS vor; er treibt, wie 
es Diejer Partei eigen iſt, „Nealpolitif* und befürwortet das Kartell; eine Kund— 
gebung der Zentrumspartei wird noch erwartet; der Freiſinn dagegen joll auf den 
Verſuch, ein Brogramm zuftande zu bringen, verzichtet haben, weil bei der VBerjchieden- 
heit der Meinungen innerhalb der Partei eine Einigung ausgejchloffen erjcheint. 

Die Regierung hat auch bereits im ihrer Weife in den Wahlfampf eingegriffen, 
indem plößlich, wie jchon im letzten Bericht gemeldet ift, zu allgemeiner Ueberraſchung 
der Führer der Nationalliberalen Landes Direktor von Bennigſen als Folge einer 
Unterredung mit dem Reichskanzler, zwar feinen Minifterfeffel, aber doch das Ober: 
präfidentenamt in der Provinz Hannover zugeteilt befommen hat. Es lag im diejer 
Ernennung unter den Umftänden, in welchen ſie zujtande famen, die ganz deutliche 


1098 Monatsſchau. — Deutichland. 


Erklärung der Regierung, daß ſie auch ferner mit der Partei des Ernannten Hand 
in Hand zu gehen wünſche — für die Konſervativen in Hannover ein harter Schlag, 
da ſie alle Ausſicht haben, die Förderung und Unterſtützung, welche ſie bisher offiziell 
enoſſen, in Zukunft zu verlieren. Es mag ſein, daß man fürchtet, die hannoverſchen 
onſervativen könnten ein unabhängiges Element in den Parlamenten werden, in denen 
man doch nichts weniger zu ſehen wünſcht, als eben unabhängige Konſervative. 

Freilich hat man der Ernennung des Herrn von Bennigſen eine andere Beförde— 
rung gegenüber geſtellt, nämlich diejenige des Herrn von Maltzahn-Gültz und 
wir haben unſererſeits gegen die Perſönlichkeit desſelben gewiß nichts einzuwenden. 
Im ganzen aber mutet doch die in dieſer Weiſe beliebte Berufung von Parteiführern 
in hohe Aemter uns engliſch und darum unſympathiſch an und wir können nur hoffen, 
daß dieſe Fälle Ausnahmen bleiben möchten, welche die Regel beſtätigen, daß 
die hohen Beamten aus der Hierarchie und nicht aus dem Parlament genommen 
werden. 

Es geht übrigens das Gerücht in gut unterrichteten Kreiſen, daß Herr von Bennigſen 
durch ſeine Ernennung im weſentlichen habe „kalt geftellt“ werden ſollen; man wünſcht 
nicht ihn, jondern Herrn Miguel an der Spike der Nationalliberalen zu wifjen. 
Miquel it ein glatter Mann, mit dem leicht verhandeln ift; indeffen ändert das nichts 
an dem Eindrud, den die Ernennung machen mußte und diejer Eindrud ift für Han— 
nover notwendig der, daß der Negierung die Nationalliberalen mindejtens ebenjo an- 
genehme Bundesgenofjen find als die Konfervativen. 

Ebenſo unglüdlic) wie den Kartellitreit haben die Dffiziöjen Die jogenannte 
„Berliner Bewegung“ behandelt. Wir haben uns oft und erjt vor Monatsfrijt 
wieder eingehend über diefen Punkt ausgejprochen; die einzige Partei, welche geringe 
Anfänge eines Erfolges den Sozialdemofraten gegenüber gehabt hat, war die chrijtlich- 
joziale. Statt dieſe Partei zu ftügen und zu fördern, hat man fie gehett und ver- 
dächtigt und jchlieglich durch allerlei Nänfe an Herrn von Bleichröder ausgeliefert. 
Der Erfolg liegt am Tage, die wohlgefinnten Elemente find verjprengt und in den 
Net Haben ſich Fortſchritt und Sozialdemokratie geteilt. Bei einer Neichstags-Erjaß- 
wahl, welche in Berlin jtattgefunden hat um den geiltesfranfen ea zu er: 
jegen, hat nun die „Norddeutjche- Allgemeine“ — * man ſolle eine große 
„Ordnungspartei“ bilden, in welcher nicht nur Konſervative und Liberale, ſondern 
auch Fortjchrittler Plak finden fünnten. Ein großes Gelächter bei „denen um Richter“ 
war natürlich die Antwort auf diefen Vorſchlag; den projeftierten „Partei- Omnibus“ 
hat niemand beftiegen, außer Herrn Pindter, und am Ende hat Liebfnecht mit un- 
geheurer Mehrheit triumphiert. 

Diefer Sieg hat dann nod) eine weitere Folge gehabt, dat nämlich die National- 
liberalen, unter ihnen hervorragende Gründer und Börjengrößen ein jogenanntes 
„Arbeiterblatt” gegründet haben, welches die Sozialdemokraten gewinnen und ver— 
fühnen fol. Wir glauben, man fann ich größere Sllufionen faum machen als hier 
gerieten it; es ift zwar der Einfichtslojigfeit der Arbeiter auch manches zuzutrauen; 

ab fie aber die Vertretung ihrer Interefjen wiederum Vertretern der befitenden 
Stände — und was für Befigern! — ausliefern jollten, erjcheint uns völlig aus- 
geichloffen. Sie haben die Führung ihrer Angelegenheiten jelbft in die Hand genommen 
und werden fie auch jelbit zum Ziele führen. 

Eine leichte Dunftwolfe, welche über den innerpolitiichen Himmel dahingeflogen 
iſt, war ferner eine Anzahl nie ganz aufgeklärter Artifel über die Neuorganijation 
gewifjer Reihsämter; es tauchte plöglich die Nachricht auf, Fürſt Bismard babe die 
Abſicht mit Rückſicht auf ſein hohes Alter das einigermaßen ihm auf dem Leib zu- 
geschnittene Neich durch Organiſation von Neich3minijterien zu fejtigen. Offiziöſe 
Blätter übernahmen die Nachricht ohne fie zu beitreiten, dann aber fam plößlich Befehl, 


Monatsſchau. — Deutſchland. 1099 


alles für rein erfunden zu erklären, wozu freilich ſelbſt die „Kölniſche“ die Bemerkung 
machte, über kurz oder lang werde die Reform gleichwohl ins Leben treten. Worauf 
im einzelnen diejes Hin und her, dieſe Verſchiebung von Verjicherungen und Ableug- 
nungen zurüdzuführen ift, hat nirgends ausreichende Erflärung gefunden; nur jovtel 
Scheint fejt zu ftehen, daß man in Berlin den Wunſch nad) Reichgminifterien hegt und 
zu gegebener Stunde immer wieder verjuchen wird, die Bundesregierungen dem Plane 
geneigt zu machen. 

Haben Hier aber dem Anjcheine nach partifulariftiiche Einflüffe fich geltend ge— 
macht, jo hat an einem anderen Punkte die Heritellung der deutjchen Einheit einen 
Fortichritt gemacht. Der Senat der freien Stadt Hamburg hat auf den 15. Dftober 
den Zollanfchluß der zweitgrößten Stadt des Reiches Feftgefeht, Es ijt nicht un— 
interejjant, daß jetzt jogar freihändlerijche Blätter mit dem Anjchluß ganz zufrieden 
find, während in den Jahren 1877 und 78 eine fürmliche Raſerei gegen die Ein- 
beziehung fic) der guten Stadt bemächtigt hatte, eine Mißſtimmung, die übrigens 
zum Teil durch rüdjichtslofe Art des Vorgehens von Berlin her hervorgerufen und 
unnützerweiſe verjchärft worden war. Inzwiſchen find die Hamburger gute Kaufleute 
und fie juchten aus der Situation gejchäftlich zu machen, was daraus zu machen war. 
Und heute wird, wie gejagt, kaum jemand bejtreiten, daß Die Stadt ald Staat ein 

utes Gejchäft gemacht hat. Wohl find einige Anleihen zur Herjtellung von Neu: 
auten aufgenommen. Aber fie entjprechen nicht entfernt dem Averjum, welches 
früher gezahlt wurde. Und überdies find, zum guten Teil auf Kojten des Reiches, 
die veralteten Hafenanlagen durch neue und zeitgemäße erjeßt. 

Ja, die Stadt hat zur Einweihungsfeier jogar den deutjchen Kaiſer eingeladen 
und es jcheint, daß die anfänglich als Ruin der Stadt angejprochene Maßregel nun: 
mehr offiziell al8 Ausgangspunft einer neuen Blütezeit gefeiert werden wird. 

Im übrigen ijt der verflofiene Monat ein Monat der „Tage“ und Verſamm— 
lungen gewejen; es find Bücher geredet worden, politifchen und unpolitiſchen Inhalts. 
Als nennenswert erwähnen wir nur den deutjchen Katholifentag, der im Freiburg 
in Baden gehalten worden iſt und gegen das neue italienische Strafgejegbuch nad) 
dem Beijpiel der Biſchöfe lebhaft proteftiert hat. Was von den Biichöfen zu jagen 
war, gilt auch vom Katholifentage; es ift eine Taktlofigkeit jondergleichen ſich in die 
inneren Angelegenheiten einer fremden Macht einzumijchen und es ijt eine Unwahrheit, 
die alles Maß überjteigt, wenn gejagt wird, daß der Papſt gehindert fei durch die 
Annerion des Kirchenſtaats „die chriftliche Lehre in voller Freiheit zu erklären.“ „Wolle 
Feiheit“ für das Chriftentum bejteht in Rom erit, jeit der Papſt dort nichts mehr zu 
jagen hat. Wer es dort früher bis zur Wende des Jahrhunderts unternahm, die 
„Hriftliche Lehre” zu verbreiten, marjchierte einfach ins Gefängnis. Wenn das neue 
italienische Geſetz jich Imveltiven im Stil des Syllabus und verjchiedener Encyflifen 
nicht mehr gefallen laſſen will, jo beweijt das nur, daß in Italien Sonne und Wind 
jegt gleichmäßig verteilt werden jollen. 

Im Grunde richtete ſich auch der ganze Proteſt der Ultramontanen nicht gegen 
Stalien, jondern gegen Deutjchland; man jchlägt den Sad und man meint den Ejel. 
Die Ktlerifalen jind wütend, daß das deutjche Neich mit Italien Freundfchaft hält und 
daß dieje Freundſchaft feierlich in einer Kaijerreije zum Ausdruck fommen jol. Alles 
was die preußijche Regierung durch eine jahrelange Kette von Konzeffionen erreicht 
hat, ift die fortwährende Steigerung der katholischen Anjprüche, find gegründete Be— 
jchwerden nicht da, jo zieht man ungegründete an den Haaren herbei. 

Leider jteht der J————— Begünſtigung der Ultramontanen wiederum ein 
Fall von Behandlung der evangeliſchen Kirche nach politiſchen Motiven gegenüber, 
eine Anwendung der üblichen „Parität“. Ueber die Anſtellung des Profeſſors Har— 
nack beziehentlich über ſeine Verſetzung von Marburg nach Berlin, war es zu einem 
Konflikt zwiſchen dem preußiſchen Staatsminiſterium und dem evangelifchen Ober— 


1100 Monatsihau. — Deutſchland. 


kirchenrat gekommen. Der Oberkirchenrat hat den kürzeren gezogen, Harnack iſt 
berufen worden. Da, wie ſchon geſagt, der Ober-Biſchof ohne Zweifel mit ſeiner 
perſönlichen Anſicht auf Seite des Oberkirchenrats ſteht, ſo liegt eben wieder einer 
jener Fälle vor, in welchem die Politik zu gunſten der Negation ſich in der Kirche 
geltend gemacht hat. Dieſe Beugung der Kirche unter den Staat iſt das, was in 
einem politiſchen Bericht an der Sache erwähnenswert ſcheint und die Notwendigkeit 
der Verſelbſtändigung nahe legt; über die dogmatiſche Stellung des Profeſſor Harnack 
zu handeln, muß Sache der kirchlichen Berichterſtattung bleiben; hier ſei nur erwähnt, 
da die gejamte liberale Brefje über den von Herrn von Goßler errungenen Erfolg 
in ein wahres Triumphgejchrei ausbrechen zu jollen glaubte. 

Auf dem folonialen Gebiet hat im abgelaufenen Monat eine ftarfe Bewegung 
jtattgefunden — das Streben eine deutjche Erpedition zujtande zu bringen, welche dem 
befannten Negenten der ägyptiichen Aequatorialprovinz, Emin Paſcha, „Entjag“ bringen 
joll. Die Sache iſt joweit gediehen, daß man alles bejchlojjen und Dr. Peters und 
Leutenant Wißmann zu Führern der Erpedition bejtimmt und — den Slingbeutel in 
Bewegung gejegt hat, um auf dem Wege freiwilliger Sammlungen die Millionen zu= 
jammenzubringen, die erforderlich find, um das Ziel zu erreichen. Wir wünfchen unjerer- 
jeits jelbjtredend diejen, wie allen folonialen Unternehmungen den beften Erfolg 
und hoffen, daß auf dem hier betretenen Wege zunächit das finanzielle Ziel erreicht 
werden möchte. Schwer genug wird jchon die Vorbereitung fein. Zudem ftellen jich 
aber dem Unternehmen zwei weitere Bedenken entgegen. Erjtens ift es überhaupt zweifel- 
haft, ob Emin „entjegt“ werden will, ob er nicht vielmehr entjeßt fein würde, wenn 
unbegehrte Hilfe fommt. Und zweitens liegen gewichtige Gründe zu der Annahme vor, 
dag Stanley bereit? in Wadelai angelangt ift, aljo den Deutjchen zuvorgefommen: tft. 
Legteres iſt allerdings noch jehr unficher, wie alle — aus Mittel-Afrika. 
Andrerſeits kommt dann freilich, wenn Stanley nicht ſchon bei Emin ſein ſollte, ſondern 
umgekommen wäre, dem deutſchen Unternehmen zu gut, daß gerade in dieſem Augen— 
blid der hoffnungsvolle Kongoftaat in fich zujammenbricht und vollends zum geogra- 
phiſchen Begriff wird. Die Beamten werden ermordet, die Stationen geräumt. Damit 
wird aber auch die Möglichkeit von Südweſt her Emin zu erreichen zur Unmöglichkeit 
und als einzige Straße bleibt, weil im Norden der Mahdi fteht, die oſtafrikaniſche 
übrig, auf welcher immer noch die Deutjchen den Engländern zuvorfommen könnten. 
Darum dürfen gewiß auc im gegenwärtigen Moment, wenn nur einige Ausficht auf 
Erfolg ijt, die Bedenken nicht maßgebend jein, jondern es muß eben gewagt und ein 
Abenteuer verjucht werden. Ohne Wagemut ift fein Gewinn zu denfen und Amerika 
würde nicht entdedt und der Seeweg nad) Indien nnbefannt geblieben fein, wenn nicht 
hin und wieder auch tapfere Leute ihre Eriftenz auf Eine Karte zu ſetzen bereit wären, 
die ihnen, wenn's gut geht, Gewinn, aber auch ebenjowohl Verluſt und Verderben 
bringen fann. 

Wenn die Uebernahme des befannten Küftenftriches, welcher bisher noch der Ver: 
waltung des Sultans von Sanſibar unterftellt war, den Beamten der oftafrifanifchen 
Gejellichaft große Schwierigkeiten gemacht hat und Araber wie Eingeborene fich jogar 
mit Waffengewalt den Deutfchen widerjeßt und einige von ihnen ermordet haben, jo 
legen wir doch diefer an jich bedauernswerten Thatjache fein bejonders großes Gewicht 
bei. Die Küjtenbevölferung, befonders in den Hafenftädten ift ein aus Negern, Arabern 
und Indiern bunt zujammengewürfeltes Yumpengefindel, aus deſſen Widerfeglichkeit 
man an feine Schlüſſe auf das Verhalten der binnenländischen Negerjtämme 
ziehen darf. 

Die Größe des Emin-Pajcha-Unternehmens erhellt übrigens daraus, daß von der 
Küfte bis zum Zentrum der Aequatorial-Provinz eine Entfernung von mindefteus 1500 


Kilometer zu durchmeſſen ift. 
. * 
* 


Monatsihaun - Auswärtige Lage. 1101 


Die auswärtige Lage iſt im wejentlichen unverändert geblieben; nur Hinfichtlich 
der Feſtigkeit der deutjch-öfterreihiichen Beziehungen fann es als eine wirfjame neue 
Stütze angejehen werden, daß Erzherzog Albrecht von Oeſterreich ſich zu einer 
Reife nach Berlin entjchlojjen und dem deutjchen Kaiſer einen Beſuch abgejtattet hat. 
Der Erzherzog, der in Berlin mit höchiten Ehren empfangen ijt, galt in Wien als 
Mittelpunft antipreußifcher Kreife und als Freund der alten Zeiten, in denen Dejter- 
reich die Hegemonie in Deutichland führte. Sein jegiger Bejuch bemweift, daß er als 
verjtändiger Mann feine Rechnung mit den politischen VBerhältniffen gemacht hat, die 
zu ändern nicht in feiner Macht Itand, und dab er die Interejjen jeines Heimatlandes 
perjönlichen Empfindungen voranitellt. 


Demjelben Zweck wie dieje fürftliche Reife hat offenbar auch der Beſuch des Grafen 
Kalnody in FFriedrichsruh gedient; beide Beſuche bejtätigen, dag man die ruffischen 
Ansprüche auf den Orient nicht zuläßt, jondern daß man Bulgarien und die anderen 
Balkanſtaaten zunächſt jich jelbjt überlaſſen will. 

Ebenſo freundjchaftlich wie zu Dejterreich ift die Stellung Deutjchlands zu Italien 
und auch dieje hat durch den jchon im Auguſt erfolgten Beſuch des Miniſters Crispi 
in Friedrichsruh offenen Ausdruck gefunden; freilich jcheint es, als hätte Erispi nicht 
nur im allgemeinen die befannten Beziehungen pflegen, jondern auch im einzelnen jich 
Rat holen wollen hinfichtlich des Konfliftes, der fich zwijchen Frankreich und Italien 
zu größter Schärfe zugejpigt hatte, und es jcheint ferner, daß man Herrn Crispi zus 
geredet hat, fich zu mäßigen und nicht Konflikte vom Zaum zu brechen, die ihn vor der 
Welt ins Unrecht jegen mußten. Es jteht zu hoffen, daß der bevorstehende Beſuch des 
deutjchen Kaijers in Nom, zu welchem die großartigften Vorbereitungen getroffen wer: 
den, das deutjch-italienische Bündnis weiterhin bejiegeln wird. Zu bedauern ijt nur, 
daß bei den römischen Beſuch auch ein Beſuch für = Papſt abjallen wird; denn es 
verjteht fich von ſelbſt, daß diefes neue Entgegenfommen nur wieder neue Anjprüche 
der umerjättlichen Kurie zeitigen wird. 

Gerade die legten Wochen wären aber wohl geeignet gewejen, dem Papit Klar zu 
machen, daß feine politifchen Wünſche ausſichtsloſer jind al je. König Humbert hat 
eine Neife durc, die Romagna gemacht, bekanntlich die am längſten unter päpjtlicher 
Mißwirtſchaft geftandene Provinz, und er hat hier überall eine Begrüßung und Auf- 
nahme gefunden, die er jelbjt micht erwartet haben mochte. Die Bevölferung wäre 
aud in der That mehr wie verblendet, wenn jie jich aus den verhältnismäßig geord- 
nn: Zuftänden der Gegenwart in die Mißwirtſchaft der Vergangenheit zurüchehnen 
wollte. 


Zum Teil dürften bedenkliche Zugeftändniffe an den Batifan im voraus jchon 
gemacht jein. Die offiziöjen Blätter erklärten zwar einmal jehr tapfer, es jei völlig 
unwahr, daß man beim Vatikan förmlich angefragt habe, wie der Empfang einzurichten; 
dann aber fam der hinfende Bote nad) und ed wurde Hinzugefügt, man werde im 
wejentlichen das Zeremonial wiederholen, welches bei dem Beſuch des Kronprinzen 
Friedrich Wilhelm zur Anwendung fam. Nur in einem PBunfte werde „ein erhöhtes 
Entgegenfommen“ bewiejen werden. Das evangelifche Deutichland hat Urjache geipannt 
zu jein, worin „das erhöhte Entgegenfommen” gegen den Papſt noch beitehen joll. In 
der Richtung der Ergebenheit für den Vatifan jchien die gegenwärtige Kirchenpolitik 
faum noch einer Steigerung fähig zu jein. 

Im übrigen ift des Zündjtoffs in der Welt nicht weniger geworden. Im Orient 
jegt Rußland jeine befannte Politik fort, welche darin beiteht, die Balkanjtaaten nicht 
eher zur Ruhe kommen zu lafjen vor Räubern und Aufrührern und Attentätern, bis 
ein ruffischer Kandidat den bulgarischen Fürjtenthron einnimmt. Auch im abgelaufenen 
Monat hat es ein Attentat gegen den bulgarijchen Minijter Nathomwitc gegeben, 


1102 Monatsjhau. — Frankreich. England. 


das glüdlicherweife rejultatlos verlief. Nichtsdeſtoweniger ſcheint die Stellung des 
Fürjten Ferdinand ich moraliich zu befejtigen, während Rumänien die eigene 
Stellung nad Norden hin auc) materiell derart befejtigt, dag im nächjten Striege 
jchon hier die rufjischen Heereswellen wirkſamen Widerjtand finden und heftig branden 
dürften. 

Ebenjo ift das Verhältnis zwiichen Rußland und Dejterreich ein gejpanntes 
geblieben; hat jich etwas darin geändert, jo iſt es gewiß feine Wendung zum Beſſern 
gewejen. Infonderheit hat der Fall des jlowenijchen Biſchofs Stroßmayer viel böjes 
Blut in Peteröburg und Moskau gemacht. Wie wir jchon im legten Bericht erwähnten, 
hatte Stroßmayer zum Jubiläum in Kiew an den Grafen Ignatieff ein Glüdwunfch- 
telegramm mit Hinweis auf die „Weltinijjion Rußlands“ abgeſchickt. Nun hat der 
Kaijer Franz Joſef Gelegenheit genommen, bei einem Manöver den Bilchof ins Hof: 
lager zu citieren und ihm in unzweideutigſter Weile den Standpunft flar zu machen. 
Er, der Bijchof, habe ſich gegen Defterreich, gegen die Monarchie und gegen die Kirche 
in unverzeihlicher Weite vergangen. Auch der Papſt joll den Biſchof nuch Rom be— 
fohlen haben. Ebenſo entrüftet wie die Defterreicher über die Slowenen, jind aber 
nun die Nufjen über die Behandlung, welche Stroßmayer erfahren hat. Die panſlawiſti— 
chen Blätter feiern den Biſchof in gleich begeisterter Weiſe, wie jeine eigenen Diözejanen, 
die ihm noch am Abend des Nüffels einen feierlichen Fackelzug gebracht haben. 

Naheliegende Gefahren brauchen ja aus diejen Heinen Zwijchenfällen nicht ohne 
Weiteres zu erwachjen; aber joviel Steht feſt, daß die Entfremdung wächſt und die 
Spannung zunimmt. 

Auch zwiichen Franfreih und Italien hat fih im Grunde nicht? gebejjert; 
ja, einige Tage lang Hantierten bereits beide Staaten jehr jtarf mit ihren Panzerflotten 
und man wuhte nicht recht, ob fie jchon aufeinander losfahren, oder nur eine Wett— 
fahrt machen wollten, wer zuerjt in Tripolis anfomme, um dieſen längjt beiderfeit3 
ummworbenen Küjtenstrich ſich endgültig einzuverleiben. 

Glücklicherweiſe find indefjen die Flotten, ohne gejchofjen zu haben, heimgefehrt 
und auch die Frage nad) der Staatsangehörigfeit der Fremden in Mafjauah dürfte 
der Verfumpfung anheimfallen; aber auch hier heißt es, daß die Abneigung der beiden 
Nationen nur zugenommen und der Zündſtoff fich gemehrt hat. 

Im inneren Frankreich ift es verhältnismäßig jtill hergegangen. Boulanger tft 
auf einige Zeit untergetaucht und erjt wenn er wieder auftaucht, dürfte die Politik zu 
neuem Leben erwecdt werden. 

In England Hat der befannte Unioniſt Chamberlain zu Bradford in einer 
Berfammlung von Vertretern Tiberal-unioniftischer Vereine Nord-Englands eine große 
Rede über die irische Frage gehalten, welche den anweſenden Gladſtoneanern nicht jehr 
angenehm ins Ohr ging, weshalb jie den Nedner wiederholt ſtürmiſch unterbrachen. 
Die Nede jtellt ſich als ebenſo entjchiedene Parteinahme für das Kabinett 
Salisbury, als eine Abjage an Gladitone und Genofjen dar. „Wir find bereit — 
erklärte der Führer des radikalen Flügels der Unioniften — ohne Wanfen das gegen 
wärtige fonjervative Kabinett zu unterjtüßen und dafür jeden perjönlichen Ehrgeiz zum 
Opfer zu bringen. Das vollfommenjte Einverftändnis herrſcht zwiſchen den konſerva— 
tiven Barteiführern und den liberalen Unionijten. Meine Freunde und ich übernehmen 
gerne die Verantwortlichfeit für die von Lord Salisbury verfolgte Politik, über welche 
wer übrigens immer zu Nate gezogen werden. Sch billige ganz bejonders die Bolitif 
des Herrn Balfour, des Staatsjefretärs für Irland. Alles in allem werben wir 
feinen einzigen Schritt thun, um das Tory-flabinett zu jtürzen, jo lange Mr. Gladjtone 
jein Home-Rule predigen wird." Im weiteren erklärte Chamberlain, in Irland gebe 
es gegenwärtig feine Zwangsgejete. Alles, was die Regierung fordere, jei Gehorjam 
gegen das Geſetz. Es gebe in der Welt feine Körperjchaft, welche jo gemeigt wäre, 
Unrecht abzuftellen, als das britiiche Parlament. Das bewieſen die dem irijchen Pächter 


Monatsihau. — Kirche. 1103 


verlichenen Rechtsmittel und insbejondere das legte Landgeſetz, welches dem Pächter, 
wenn die Preife der landwirtjchaftlichen Produkte fielen, eine Reduktion feiner Pacht 
fiherte. Die Lage der irijchen Pächter ſei gegenwärtig befjer, als die irgend eines 
Pächters der Welt. Die unioniftiiche Partei werde ſich weder durch geheuchelte Be- 
ſchwerden täujchen, noch durch Drohungen einjchüchtern lafjen, fondern ihre Pflicht, 
die Freiheit jedes einzelnen zu jchügen, erfüllen. Die Nede hat großes Aufjehen 
erregt, und die allgemeine Anjicht geht dahin, daß die Stellung des fonjervativen 
Kabinett damit eine neue, dauernde Kräftigung erfahren hat. 


* * 
* 


Wir werden darauf aufmerkſam gemacht, daß unſer letzter Bericht einen that— 
ſächlichen Irrtum enthält. Die Aufhebung der Veſtimmung des Prager Friedens, 
welche auf Nordichleswig Bezug hat, iſt micht erſt jetzt offiziell bekannt geworden, 
fondern war dies bereitö jeit mehreren Jahren. 


Kirche. 

Der kirchliche Bericht für September fällt aus. An ſeiner Stelle geben wir einen 
kurzen Auszug aus dem ſoeben erſchienenen Schriftchen: 

— Verhandlungen der Gnadauer Pfingſtkonferenz (22.—24. Mai 1888) 
über das Recht gemeinjchaftlicher Privaterbauung, Gemeinjchaftspflege, Evangelijation 
und Laienthätigkeit im Verhältnis zum paftoralen Amt, über Heiligung, Bibel- und 
Gebetjtunden u. a. Herausgegeben von Dr. 3. ©. Pfleiderer, Inſpektor des Jo— 
hanneums in Bonn. (Gnadau, Unität3-Buchhandlung.) 1888. 

Ueber jene Verſammlung iſt bereit3 viel gejchrieben worden, zum Teil auf Grund 
unrichtiger feierate, Wir denken, es wird es Lejern wicht unlieb fein, eine kurze 
Darftellung der Debatte über die Laienthätigfeit in dieſer Zeitjchrift zu finden. 

Das erite Referat über „die Beredhtigung, die Notwendigfeit und die 
Grenzen der Laienthätigkeit“ hielt D. theol. Fabri von Godesberg. 

D. Fabri erblidt die Aufgabe feines einleitenden Wortes darin, zunächſt nach 
einem prinzipiellen Ausgangspunfte zu juchen, jodann einen freilich ganz furzen ge- 
Ichichtlichen Ueberblid über die Stellung und Entwidelung der chrijtlichen Laienthätigfeit 
zu geben und endlich mit einigen praftiichen Winfen zu jchlieen. 

Handelt es jich um einen prinzipiellen Ausgangspunkt, jo werden wir auc) 
hier die heil. Schrift zu befragen und auf die Geftaltung der ältejften chrijtlichen Ge— 
meinden unjeren Blid zu richten haben. Die Frage ift eine ziemlich moderne. Wäre 
fie in der apoftolischen oder nachapoftolifchen Zeit gejtellt worden, fie würde Verwun— 
derung erregt haben und faum verftanden worden jein. Denn die hier aufgeitellte 
Stage hat zur Vorausfegung, daß bereits eine mehr oder minder jcharfe Scheidung 
von Prieftertum und Laientum, von Geiftlichkeit und chriftlihem Wolfe vorliegt. Die 
eriten Gemeinden waren Verfammlungen der Gläubigen an Ehriftum Jeſum, und die 
Ausjage von einem Prieſtertum aller Gläubigen ſtand noch in allgemeiner Aner— 
fennung. Die Verfaſſung war im wejentlichen forporativ, weder hierarchiſch noch ſtaats— 
kirchlich. Erſt wo eine feſt umfchriebene firchliche Organifation in den Vordergrund 
firchlichen Lebens ſich ftellt, entjteht Prieftertum und Be und damit die ee 
nad) der Zuläfjigfeit und der Abgrenzung der Laienthätigkeit. 

Sollte Unordnungen vorgebeugt, Sollte der Leib Chrifti erbauet werden, jo be— 


1104 Monatsihau, — Kirche. 


durfte es von Anfang an beſonderer Dienſtleiſtungen in und für die Gemeinde Es 
bedurite Männer, die als von Gott dazu berufen fich erwiejen und daher auch eine 
bejtimmte Autorität genofien. * begegnen uns in erſter Linie die Apoſtel, als vom 
Herrn berufen, mit beſonderer Autorität ausgerüſtet. Nachfolger fanden ſie, wie die 
vor kurzem ans Licht gezogene, in vielem Betracht lehrreiche Schrift: „Die Lehre der 
zwölf Apoſtel“ zeigt, in apoſtoliſchen Reiſepredigern, welche wie zur Stärkung der 
Gläubigen, ſo zur Ausbreitung der Gemeinden, wenigſtens zeitweiſe, wie früher die 
Apoſtelgehilfen, thätig waren. Dieſe, wie andere in den Gemeinden bejtchenden Dienſt— 
leiftungen — id) ziehe diefes Wort der von Luther gebrauchten Ueberjegung „Amt“ 
zur Slarjtellung der Sache vor — ruhten aber nod) nicht auf einer ftreng abgegrenzten 
amtlichen Wirkjamteit, jondern auf einer Vorausſetzung geiftliher Natur. Welche war 
dieje? Keine andere als die, daß zu einer geitlichen Thätigfeit eine göttliche, eine 
geistliche Begabung vorhanden jein müſſe. Ueberall, wo in der heiligen Schrift 
von Aemtern, d. h. von Dienftleiftungen in der Gemeinde, die Nede ift, wird daher auch 
auf die göttliche Gabe Hingewiejen. So heißt es Eph. 4, 8: „Gott hat Gaben gegeben“ 
und im ıummittelbaren Anjichluß daran: „Er hat etliche zu Apoſteln gejegt, etliche zu 
Propheten, etliche zu Evangeliften, etliche zu Hirten und Lehrern.“ Damit iſt der 
zweite prinzipielle Gejichtspunft für die hier vorliegende Frage gegeben. Wie der 
priejterliche Charakter der wahrhaft Gläubigen feſtſtand, jo auch die Ueberzeugung, daß 
8 die Bezeugung von göttlichen Gaben und Kräften jei, die Gott jelbjt in Macht 
jeines Geiftes darreiche, welche der Gemeinde zu ihrer Erbauung, wie zu ihrem Wachs— 
tum not thue. Die Apoftel und das geſamte Schriftzeugnis find davon durchdrungen, 
daß es die unmittelbare Bezeugung des heiligen Geiftes jet, auf welcher das Leben der 
Gemeinde Ehrifti, ihre Erbauung und ihre Vollendung ruhe. In diefem Sinne jagt 
der Apoftel: „Es jind mancherlei Gaben, aber es iſt ein Geift; es find mancherlei 
Dienftleiftungen, aber es iſt ein Herr; es find mancherlei Kraftwirfungen, aber es ijt 
ein Gott, der da wirfet alles in allen; einem jeden aber wird jolche Offenbarung des 
Geiſtes gegeben zum gemeinen Nugen.“ Darauf folgt die befannte Aufzählung der 
verjchiedenen Geiſtesgaben. 

Damit haben wir zwei Gefichtspunfte von prinzipielle Bedeutung gewonnen. Der 
eine, der Ausgangspunft, iſt die Annahme des prieiterlichen Charakters aller Gläu— 
— der andere die Notwendigkeit göttlicher Gaben zum Dienſt an der Gemeinde 
Chriſti. 

Redner wirft nun von dieſen Geſichtspunkten aus einen kurzen Streifblick auf die 
geſchichtliche Entwickelung der Frage nach der Laienthätigkeit in der chriſtlichen 
Kirche. Zunächſt auf die vorreformatoriſche Zeit, dann auf die Neformation. Die— 
jelbe hat auch nad) Seite der hier behandelten Frage eine Wandlung hervorgebradit. 
Die eriten reformatorischen Schriften Luthers find erfüllt von dem Gedanken des geiſt— 
lichen Prieſtertums aller Gläubigen. So bedeutjam diejer Fortjchritt, jo echt evange— 
liſch diefer Grundſatz ift, jo ſtieß derjelbe doch jehr bald, jo wie es fich um jeine Ver— 
wirflihung handelte, auf die größten Schwierigkeiten. Natürlich; denn wo war die 
Gemeinde der Gläubigen, die auf Grund ihres allgemeinen priejterlichen Charakters 
jih als jolche darjtellen und zujammenfajjen fonnte? Luther fand ja die ganze Menge 
der in der Kindheit Getauften geiftlich vielfach vernachläſſigt und verwildert, als chrijt- 
liches Volk vor; wie jollte da eine Scheidung vollzogen werden? 

Tas damals ſich als unausführbar erwies, fand anderthalb Jahrhunderte jpäter 
im Pietismus, wie in den fich an denjelben anreihenden fleineren kirchlichen Gemein- 
Ihaftsbildungen, vor allem in der Brüdergemeine, jeine anhebende Verwirklichung. 
Dieje neu erwedten Arbeiten des Glaubens und der Liebe charakterifieren ſich ſofort 
dadurch, daß jie, wenn auch vielfad, unter dem Vorgang treuer und erleuchteter Geijt- 
licher, wejentlich als Laienthätigfeit zutage treten. Im diefer ftillen, aber doch vielfach 
fraftvollen Bewegung tritt auch das Prinzip eines allgemeinen Prieſtertums der Gläu— 


Monatschau. — Kirche. 1105 


bigen, wie auch der Grundjag, dab zu geiftlicher Thätigkeit eine geiftliche Gabe von 
nöten fei, von jelbft wieder in die Erjcheinung. 

Bon diejen geichichtlichen Streifbliden aus möchte id) nun noch einige Bemerkungen 
über die praftijche Beurteilung der vorliegenden Frage, angeſichts der gegebenen that- 
jächlich Firchlichen Verhältniffe, machen. Dat Latenthätigfeit ein Bedürfnis, eine Not- 
wendigfeit jei, bedarf nach allem Gefagten und Angedeuteten feines weiteren Nachweijes. 
Wir jtehen ja, wie gezeigt, in den mannigfachiten Gebieten chriftlicher Bethätigung 
bereit3 auch mitten in derjelben. Die ganze Fülle der jo vielfach geitalteten Arbeiten 
der inneren Miffion bejtätigt dies. Sind hier nicht allüberall chriftliche Laienfräfte 
thätig? Doch will ich's verfuchen, noch ein paar Bemerfungen in Abficht auf die neuer: 
dings oft in Anfpruch genommene Grenzbeftimmung der Laienthätigfeit zu machen. 

Es handelt fich hierbei wejentlich oder ausſchließlich um die Abgrenzung gegenüber 
dem firhlichen Amte. Die Kirchenbehörden können wir ja wohl ** Betracht laſſen. 
Niemand will in deren Befugniſſe dreinreden oder eingreifen. Es handelt ſich alſo um 
die Grenzen der Laienthätigkeit gegenüber dem kirchlichen Amte in ſeiner lokalen 
Ausgeſtaltung. Was iſt die verordnete Thätigkeit unſeres gegenwärtigen kirchlichen 
Amtes? Kultus und Predigt, Seelſorge, Verwaltung der Sakramente und Kaſualien, 
kirchlicher Jugendunterricht. Niemand denkt, glaube ich, daran, in dieſe Thätigkeiten ein— 
greifen zu wollen. Wenn aber in der Familie, in der Schule, auch durch Sonntags— 
Ichulen der Geiftliche hier und da eine anfpruchsloje Mithilfe findet, wenn ein geför- 
derter Chriſt in Bibeljtunden fich bethätigt, und wo fich ihm Gelegenheit bietet, auch 
ein Wort des Troftes und der Ermahnung zu feinem Nächiten redet, wenn Gläubige 
in Erbauungs =» Gemeinjchaften ſich zufammenfinden, jo wird fein verjtändiger, jeines 
Amtes in Treue wartender Geiftlicher daran einen Anſtoß nehmen, ja er wird ſich 
freuen, je mehr er jolche mitwirfende Kräfte in feiner Gemeinde findet. Auch hier fommt 
e3 eben weſentlich darauf an, welches Sinnes und Geiftes der jeweilig in Betracht 
fommende Geijtliche ift. Dem einen wird die freie Thätigfeit jehr erwünjcht, dem an— 
deren bedenklich, dem dritten widerwärtig fein. Schon in diefem Blicke ift es unmög- 
(ich, allgemein gültige Grenzbejtimmungen aufftellen zu wollen. Es liegt alles daran, 
day die Träger der freien chrijtlichen Thätigfeit mit Glaubens- und Liebes- Sinn und 
mit Weisheit das Ihre thun, Streit meiden und durch die Arbeit jelbjt die Bedenken 
der Gegner allmählich überwinden. Sie jollen ſich nicht mit Gewalt eindrängen; öffnet 
Gott heute nicht die Thür, um jo erfolgreicher vielleicht morgen. Der rechte Eifer lehrt 
und mit Ruhe, nicht mit Haft vorgehen. 

Hinfichtlich der Freien Evangelijation verweilt Redner auf das nächite Referat. 
Und mit der Zuverjicht, daß das Verlangen nach reicherer göttlicher Geiftesbezeugung 
auch in der Gegenwart Befriedigung und Verwirklichung finden werde, jchliegt Redner 
fein Referat. 

Nach dem Bortrag D. Fabri's ergreift Herr Imftitutslehrer Dietrich aus Stutt- 
gart das Wort: Ich wünfche, daß die Ueberzeugung von der Notwendigkeit und Be- 
rechtigung der Laienthätigfeit in der Kirche jich noch viel weiter Bahn breche, als es 
bereits gejchehen ift. Der Herr Referent hat in der Einleitung die Bemerkung gemacht, 
daß dies in jehr weiten Streifen jet jchon feine Frage mehr fei. Aber auf der anderen 
Seite möchte ich doc) jagen: die Kreiſe, in denen man die Zaienthätigfeit nicht für 
notwendig und nicht für berechtigt hält, find immer noch viel größer als die Streife, 
in denen man fie wünjcht, obgleich ich auch mit Freuden zufehe, wie die letteren ſich 
immer mehr erweitern. 

Nedner legt nun den Laien und Geiftlichen Demut and Herz. Damit die Laien- 
brüder fich recht in die heilige Schrift Hineinleben und fich genau an fie halten möchten, 
wünjcht er eine "Qaienbibel“ und die Einrihtung von bejonderen Laienkurſen 
während weniger Monate des Winters. 

Der nächſte Redner, Profefjor D. Chrijtlieb aus Bonn, geht von dem Wort 


1106 Monaisſchau. — Kirche. 


eines alten griechiichen Biſchofs aus, „die Praris fei die Oberjtufe der Theorie”, und 
freut jich, wenn in der Berfammlung bejonders Praftifer zu Wort fommen. Er hält 
dann eine kleine gejchichtliche Nachleje zu dem erjten Teil des Referats, erinnert daran, wie 
nach dem Tode des Stephanus die ganze Gemeinde in ihrer Zeritreuung evangelifierte, 
wie noch im zweiten Jahrhundert die Rechte des allgemeinen Priejtertums galten und 
die Kirche erjt vom dritten Jahrhundert an das Heil allmählich; mehr an die äußeren 
Drdnungen und an das Amt fmüpfte, wie das Zurüdtreten der Rechte des allgemeinen 
Prieftertums immer die religiös-fittliche Ihätigfeit des einzelnen auch im Kultus 
ichädigt, wie jelbjt im Mittelalter, abgejehen von vorreformatorischen Richtungen, jogar 
mitten in der Kirche die Predigtgabe einzelner Laien nicht ganz zu unterdrüden war, 
wie 3. B. im vierzehnten Jahrhundert Hermann von Fritslar einen Band Predigt: 
betrachtungen über das Leben der Heiligen jchrieb. Zu dem im Neferat über Die 
hervorragende Bedeutung des Pietismus für Entwidlung der Laienthätigfeit Gejagten 
fügte er hinzu, Spener habe in dem in Frage und Antwort abgefaßten, in durchaus 
biblijchem und zugleich evangelifch-weitherzigem Sinn und Geift gejchriebenen Traftat 
„vom geiftlichen Prieſtertum“ auf das Thema diejer Verhandlung längjt eine flare 
Antwort gegeben, indem er nicht nur die Funktionen jenes Priejtertums (Gott an- 
enehme geijtliche Opfer bringen, für ſich und andere beten, jeguen, ſich und den 
Stächften durch das Wort erbauen) genau darlegte, jondern daneben auch die Rechte 
des geordneten Predigtamts jorgfältig wahrte und Andeutungen zur Vermeidung jeder 
Kolliifion mit demjelben gab. — Seit 1848 habe man immer flarer erkannt, daß die 
organifierten Kirchen mit ihren bisherigen Aemtern und auf den bisherigen Wegen 
allein die Schäden des Volkslebens nicht mehr genügend befämpfen und heilen fönnen; 
daher die evangeliichen Gejellichaften und die innere Mijfion überhaupt. Und heute 
zeigen unjere firchlichen und jozialen Verhältniffe immer deutlicher, daß auch die bis— 
herigen Mittel und Wege der inneren Miſſion nicht ausreichen, wenn dieje nicht noch 
viel jtärfer als bisher zugleich zur Evangelijation werde und in dieſer ihren alle 
Zweige jchügenden und befruchtenden Gipfel juche. 

Auf die 3 Punkte des Themas gab er furz folgende Antwort: die Beredhtigung 
der Laienthätigkeit liege objektiv im Willen Gottes und Chrifti, daß das Evangelium 
aller Kreatur gepredigt, daß allen Menjchen geholfen werde und daß fie zur Erkenntnis 
der Wahrheit fommen und dergleichen Sprüchen; — jubjeftiv im allgemeinen Priejter- 
tum der Gläubigen und der bejonderen Gabe, die der einzelne empfangen habe und 
zum Beiten des Ganzen im Geijt dienender Liebe verwerten müſſe. 


Die Notwendigkeit der Laienthätigfeit beruhe teil im allgemeinen darauf, daß 
zur alljeitigen Entwidelung und Regeerhaltung eines gefunden geiftlichen Lebens alle 
Glieder am Leibe Chrifti mitwirken müffen, teils — und heute beſonders — auf der 
handgreiflichen Thatjache, daß das firchliche Amt allein mit der Aufgabe der Durch: 
dringung des Volks mit dem Evangelium an vielen Orten, zumal in den maffigen 
Gropitadtgemeinden, abjolut nicht mehr fertig werden fünne.. Die Vermehrung der 
Geiftlichen halte Tängjt nicht mehr Schritt mit dem Anwachjen der Bevölkerung. 
Daher müfjen jchriftfundige, lehrtüchtige und geijtgejalbte Laien das geordnete Amt 
unterjtüßen. 


In der Bejtimmung der Grenzlinien zwilchen Laienthätigfeit und geordnetem 
Amt liege die eigentliche Schwierigfeit. Auf unjerm kirchlichen Standpunft verjtehe 
es ſich von jelbit, daß der Laienevangelift in den geordneten Dienſt am Wort und 
die Verwaltung der Saframente nicht eingreifen dürfe Er Halte es durchaus nicht 
für zuläjlig, daß ein ob auch noch jo begabter Evangelift einen Sonntagsgottesdienit 
in der Kirche übernehme. Aber man möge doc einen Unterjchied machen lernen 
zwijchen regelmäßigem Gottesdient vor verfammelter Gemeinde und den außergemöhn- 
lichen evangeliftiichen Verfammlungen an einem andern Ort, zwifchen Hirtendienft an 


Monatsihau, — Kirche. 1107 


Kirchlichen und notgedrungenem Gehilfendienft an Entkirchlichten und Entchrijtlichten, 
auf dem neu erftehenden Mijjionsboden der geiftlic) Verwahrloften. 

Den Laienbrüdern möchte er al3 Grundregel ans Herz legen, doch ja nie darauf 
auszugehen, das beitehende Amt in Schatten zu ftellen. Dazu jende der Herr fie 
gewiß nicht. Vielmehr gelte e8, auch da, wo der Geiftliche jeine Pflichten ungenügend 
erfülle, in Gebuld zu tragen und vorab mit zu beten, daß der Herr den Träger des 
Amtes erleuchten und mit mehr Kraft ausrüjten möge. Auf der andern Seite möchte 
er aber auch die Geiftlichen bitten, den Laienarbeiter doch ja nicht mit den Augen 
der Eiferfucht zu betrachten, wenn er Erfolge erzielt, jondern fich um des Herrn und 
der Seelen willen herzlich darüber zu freuen. Bei dem innerfirchlich wirkenden Evan- 
geliſten komme ja die Frucht feiner Arbeit dem geiftlihen Aufbau der ganzen Ge- 
meinde zu gut. 

Herr Paftor Diejtelfamp (Nazaretgkirche, Berlin): Ich bin durch meine Lebens: 
erfahrungen dahin gekommen, daß ich dem Laien viel zutrauen kann. In meiner 
Jugend war das geordnete Amt in einer Nachbargemeinde jo bejtellt: der eine Pfarrer 
war ein Trinfer, der andere ein ftrammer Orthodoxer, welcher aber eine ganze Woche 
ungeftört bleiben mußte, um am Sonntag eine Predigt halten zu fünnen. Da war 
e8 denn ein Laie, der, ſobald er befehrt war, Arbeiter um jich verjammelte, um ihnen 
eine Heine Bibeljtunde zu halten. Es war dies fein ausgebildeter Evangelijt, aber er 
war doc) vorgebildet in der Schule des heiligen Geiftes. Eine frau habe ich kennen 
gelernt in einer meiner Gemeinden, die nicht hochdeutjch Fonnte, aber ich habe fie doch 
oft gebraucht, um den Leuten das Evangelium ans Herz zu legen. Auch in meiner 
jegigen Gemeinde habe ich eine Frau, welche mir jehr viel hilft. Ich kenne nur einen 
Unterjchied: ein Laie ift für mich der, der ein natürlicher (wwgırog 1. Kor. 2, 14) 
Menſch ift, ob er 2 oder 20 theologijche Eramina gemacht hat. Wer aber Pfingiten 
gefeiert hat, der ift ein Geiftlicher (zreruarırog), und folche Leute thun uns bejonders 
not. Es wird jo viel Weſens gemacht in der evangeliſch-lutheriſchen Kirche, abjonder- 
(ich von denen, die jo wenig geijtlich gerichtet find, vom „geordneten geiftlichen Amt“, 
und dabei ift die Unordnung jo groß in den großen Städten und wohin man jieht. 
Ich freue mich, daß es jegt auch in Deutjchland eine Evangeliftenjchule gibt, und ich 
hoffe, daß die Kirche, welche doc jchon Ja gejagt hat zur äußeren und inneren Miſſion 
und zur Stadtmijjion, auch Ja jagen wird zur Evangelijation, damit etwas heraus- 
fommt zum Heil der Gemeinden. 

Graf Ed. v. Püdler aus Berlin: Auf einen Lichtpunft in dem eben gehörten 
Referate wolle er bejonders aufmerfjam machen: daß die Berechtigung zur Thätigfeit 
eines Laien aus der ihm von Gott verliehenen Gabe erwachje. Hieraus wäre wohl eine 
Theje zu formulieren. 

Paftor Mühe aus Derben a. d. Elbe jpricht feine Freude über das Zuſtande— 
fommen dieſer Konferenz und jeine UWebereinjtimmung mit den Zielen derjelben aus. 
Er jei jchon oft auf Konferenzen in Gnadau gewejen, er jei jtrenger Lutheraner, aber 
diefer Umjtand hindere ihn nicht, an den Arbeiten diejer Verfammlung, die gewiſſer— 
maßen einen ökumeniſchen Charakter trage, freudig teilzunehmen. 

Carl de Neufville, Rentner aus Frankfurt a. M., ergreift nach) ihm das Wort: 
Als eine bejondere Führung der göttlichen Gnade erachte er es, daß er 13 Jahre in 
Nord-Amerikta Habe zubringen dürfen. Man möge ihm die Erklärung nicht übel nehmen, 
die, wenn man fie auch nicht gern in Deutjchland höre, eben doch wahr fei, für ihn un- 
umftößlich wahr, weil er jie nicht aus Zeitungen und Blättchen, jondern durch Anz 
ſchauung und Erfahrung gewonnen habe: ca ift das Land des lebendigen Chriften- 
tums.“ Was bei uns meift ohne inneren Trieb, teils aus Gewohnheit, teil3 aus 
Zwang gejchehe, entjpringe dort freiem Impuls. Opferwillig jeien dort zum Geben 
nicht etwa nur die Reichen, fondern gerade die minder Bemittelten, die Arbeiter und 
der mittlere Bürgerftand: opferwillig feien fie aber ebenjo zum Einjegen perjönlicher 


1108 Monatsſchau. — Kirche. 


Kraft und Zeit. Redner ſchloß damit, daß ſeine Erfahrung, die er in Nord-Amerika 
vom Segen der Laienthätigkeit gemacht, ihm die unabweisliche Pflicht auferlege, auf 
dem ben Gebiet der Sonntagsjchulen, der Fürjorge für die fonfirmierte Jugend, der 
Sünglings- und Jungfrauen-Vereine mit aller Hingebung zu arbeiten. 

Wattor Dammann von Efjen: Wenn die Gemeinden evangelifiert werden jollen, 
jo fomme e3 doch immer wieder darauf an, daß die Paſtoren evangelifiert würden. Er 
habe jchon oft Predigten gehört, in welchen von der Hauptjache wenig die Rede war. 

Oberpfarrer Medem aus Magdeburg. Es erjcheine ihm weniger nötig, die Grenz- 
linien der Laienthätigfeit zu bejtimmen, als vielmehr die Verbindungslinien für 
diejelbe zu finden, denn in weitaus vielen Gemeinden jei das Intereſſe der Laienwelt 
für kirchliche Mitarbeit und die Luft und Liebe dazu faum zu erweden. So habe er 
beijpielöweife in Budau-Magdeburg noch nicht einen Mann als Helfer für die Somn- 
tagsschule bereit finden können. 

Paſtor Reich aus Eilbed, Hamburg, äußert ſich in gleichem Sinne mit Bezug 
auf jeine Gemeinde in Hamburg. Mit Freuden wolle auch er jede ihm dargebotene 
Hand zur Hilfe ergreifen. 

Herr von Dergen: „Ich habe jeit 14 Jahren das Evangelijtenamt in Schles- 
wig-Holjtein geübt und jehr viele Anfprachen gehalten, aber fein einziges Mal gepredigt, 
jondern immer nur davon gejprochen, wovon mein Herz voll war. Der Gegenjat 
— Geiſtlichen und Laienpredigern iſt unnötig, unbegründet und, wo er beſteht, 
ünſtlich hervorgerufen. Die Evangeliſten ſollen in Liebe dienen, aber nicht verſchloſſene 
Thüren einſtoßen, ſondern warten, bis ſie vom Herrn geöffnet werden.“ Schließlich 
bittet er D. Fabri, bis zum Schluß des Nachmittags das Weſentliche ſeines Referats 
in wenige Theſen age u en. 

Wir fügen diejelben, obgleich fie erft am folgenden Tag der Verjammlung vorge- 
legt wurden, gleich hier an. Diele, die Beſprechungen über die Laienthätigkeit zujammen- 
fajjenden, von D. Fabri gemeinfam mit Graf von Pückler feitgeitellten Theſen werden 
nach furzer Debatte faft einftimmig in folgender Fafjung von der Verſammlung an— 
genommen: 

1. Wo Gott eine geiftlihe Gabe gegeben hat, Liegt nicht allein eine Berechtigung, 
— vielmehr eine Verpflichtung vor, dieſelbe im Dienſt des Reiches Gottes zu ge— 

rauchen. 

2. Daher verſündigt ſich die Kirche, wenn ſie erkannte geiſtliche Gaben ihrer Mit— 
glieder nicht entwickelt und nicht benützt. 

3. Die Gabe wird ſich ihren Weg zwar ſelbſt ſuchen, ſie wird jedoch im all— 
gemeinen nur dann von dem vollen gottgewollten Segen begleitet ſein können, wenn 
ſie im Anſchluß an die beſtehenden Ordnungen der Kirche zur Ausübung gelangt. 

„Ueber die Notwendigkeit der organijierten Evangeliſation neben dem 
pajtoralen Amt und ihre Bedeutung für das kirchliche Leben“ hat man folgende Thejen 
mit großer Majorität angeommen: 

1. Es gehört eine bejondere Begabung umd anders geartete Arbeit zu dem Evan- 
eliftenberuf, wie zum pajtoralen Beruf des Hirten: und Lehramtes, daher dieſe beiden 
lemter neben- und miteinander beftehen jollten — wie es auch am Anfang in der 
Ehrijtenheit war. 

2. Diejenigen, welche als Objekte der Evangelifation in Betracht kommen, ent- 
* ſich zumeiſt äußerlich wie innerlich dem —— Amte gänzlich; daher laſſen 
ie ſich leichter von anderer Seite auf neuen Wegen gewinnen. 

3. Trotz einzelner Gefahren, denen das Evangeliſations-Werk, wie alle geiſtlichen 
Arbeiten, ausgefegt ift, tritt das Wünfchenswerte einer an die Organe der Kirche an- 
gegliederten und Pr diejelbe arbeitenden Organijation immer dringender an den Tag. 

4. Die organifierte Evangelifation ermöglicht der Kirche ein gefchlofjenes ener- 
giiches Vorgehen gegen den organifierten Unglauben und ermöglicht es namentlich, die 


Monatsſchau. — Kirche. 1109 


latenten Lebensfräfte zu entwideln und zu entfalten, wie der Unglaube es feinerfeits 
meifterhaft verfteht, alle Kräfte ins Feld zu führen. 

5. Die organifierte Evangelifation bedeutet ferner die entjprechende Gegenwehr 
und Angriffitellung gegen Rom, welches jeinerjeits die Maffen ganz anders beherricht, 
als wir e3 bisher vermochten. 

- 0: Sie erhält endlich innerhalb der Kirche jelbit das Leben rege und frifch, in- 
m fie 
a) der Kirche neue Elemente zuführt; 
b) die Gläubigen jammelt und jtärft, und 
c) fortgejegten Kampf mit den vielen Feinden der Kirche wach erhält; denn 
eine Kirche, die nicht gewinnt, jammelt und erobert, geht zurüd, verliert 
Boden und zerjplittert. 

7. Darum richtet die Pfingitlonferenz in Gnadau die herzliche umd drin ee 
Bitte an die evangeliiche Landeskirche und ihre Organe, in Erwägung unjerer kirch— 
lichen Notjtände die bereits beftehende Evangelifationsthätigfeit mit allen Kräften zu 
unterftügen und ihre Ausbreitung in Berüdfichtigung zu ziehen. 


Aug. koni. Monatäfcrift 1888. X. 71 


A 


2 rg 


FABEL 





Neue Schriften. 


1. Kirche. 

— Zinzendorf. Hier ift wer, der weiß nicht 
mehr, als dab jein Schöpfer jein Heiland ift. 
Dargejtellt von Hermann Tiegen. (Güter&loh, 
G Bertelömann.) 1888. VII und 371 S. 5M., 
geb. 5,75 M. 

Wir wiſſen es dem Verf. Dank, daß er verſucht 
hat Zinzendorf darzuſtellen als einen Theologen 
„aus einem Guß“, denn wir erhalten einen 
Einblid in Zinzendorfs Theologie, wie mir 
ihn uns jo leicht nicht verſchaffen fünnen. Dies 
hatte jeine Schwierigfeit, weil Zinzendorf fein 
Spyftematifer war, e8 auch nicht jein wollte, und 
weil e8 eine Kunſt ift, aus feinen im „Verſamm— 
lungsftil“ gehaltenen Reden und aus den Dis— 
kurſen jo zu jagen ein Lehrgebäude aufzurichten. 
Wenn wir nun aud nicht erwarten eine Dog: 
matit im neueren Sinne zu finden, jo müfjen wir 
doch bedauern, in Zinzendorf einen Theologen vor 
uns zu ſehen, der, wie ber Verf. jelbjt fühlt, 
„doppelzüngig* ericheint, mag man das nun er- 
Hären wie man will. Denn wenn er fi 3. 8. 
einmal zur kirchlichen Trinitätslchre bekennt und 
auf der anderen Seite den Sag: „mein Schöpfer 
mein Heiland“ in der Weije zum Grundſatz jeiner 
Theologie mat, daß Gott der Bater für unjere 
Erkenntnis darunter verihmwindet; wenn er „das 
Symbolum Apostolorum für ein in den aller= 
meiften Stüden ſchönes Symbolum hält, darüber 
eine große Weisheit und Treue Gottes gewaltet 
hat“, aber auch etliche der Autoren des Symbols 
al® Scholastiei bezeichnet, welche die Grillen von 
der Einteilung der Dreieinigfeit in den Schöpfer, 
Seligmader und Heiligmader gehabt, jo fragt 
man billig, wie fi) ſolches reime. Es kann dies 
auch nicht damit gut gemacht werden, daß man 
etwa mit Binzendorf der — iſt, was wir 
freilich nicht ſind, Luther —— as apoſtoliſche 
Symbolum „ja nur ſtehen laſſen“ (!) um ſeinen 
Zuſammenhang mit der ganzen Chriſtenheit feſt— 
zuſtellen, denn hier würde es ſich nicht um luthe— 
riſchen, ſonder um ökumeniſchen Glauben handeln. 
Aber ſollte der Vorwurf, der Zinzendorf zu treffen 


ſcheint, ſich nicht dadurch erklären, daß ſeine Aus— 
führungen, die wir hier in Bruchſtücken moſaik— 
artig zufammengeftellt finden, ſehr verjchiedenen 
Zeiten angehören, und daß er nie — ———— 
enommen hat, ſich über dieſes oder jenes Lehr— 
Sic erſchöpfend auszuſprechen, wie wir das von 
einem Spitematifer gewohnt find? Mit diefer 
Frage erheben wir freilich einen Vorwurf gegen 
dad Buch Tiepend und wir find der Anſicht, daß 
ihm dieſer nicht eripart werden fann. Dennod 
bleiben wir bei dem Ausdrud des Dankes stehen. 
Uns wird Zinzendorf nicht Heiner, wenn wir an— 
nehmen, daß er jich bei allem, was er je über 
die Geheimnifie des Glaubens gejagt hat, bewußt 
geweſen, daß e8 vor jeder Kritik bejtchen fann, größer 
aber muß er jedem werden, der aus Tietzens Bude 
bie reichliche Erfahrung macht, wie das A und O ber 
Binzendorfihen Theologie die Offenbarung Gottes 
in Christo Jeſu ift und wie e8 für ihn eine Theo— 
logie überhaupt nicht gibt, die etwas vom Inhalte 
der h. Schrift begreifen will ohne die Erkenntnis 
deilen, von dem und durch den und zu dem alle 
Dinge find, und durd den ©t. Paulus alle wahre, 
richtige Erkenntnis Gottes und ſeines Reiches 
empfing. —t. 


— Die Goßnerſche Mijiion unter den 
Koyls. Die Arbeit in den Jahren 1874—87. 
Bon L. Nottrott. Mit einer Karte. (Halle a. ©., 
Mühlmann.) 1888. 235 © 3 M. 

Derjelbe Berfaffer, dejien Familiennamen ja 
mit der Kohlsmiſſion verwadjen iſt, hat ſchon 
1874 die Gejchichte diejer Arbeit von der Grün- 
dung bis zu dieſem Jahre gejchrieben. Die vor- 
liegende Fortiegung gibt die weitere Entwidelung, 
wobei das Ethnographiſche nicht mehr berüdfich 
tigt ift. Die innere und äußere Zunahme der 
Stationen, Schulen, eingeborenen Geiſtlichen, 
Kateheten und Melteften, die Belämpfung bes 
Heidentums, die Gottesdienste mit ihren „Bhajans” 
(hriftlihe Lieder in den Mundarten der Kohls— 
Dax gedichte. Der Verf. gibt eine Probe jamt 

oten), die Litteratur, die Arbeit an Waifen, 
Hungernden und Kranken (beionders zahlreich die 


Neue Schriften. — Kirche. 


Ausfägigen) wird uns vorgeführt. Ein wahrhaft 
wohlthuender Abjchnitt ift die Beichreibung der 
400 jährigen Geburtstagäfeier Luthers, zu dem 
auch der eingeborene Kandidat Patras Rantei ein 
„Leben Luthers“ in der Mundari-Sprache ge= 
jchrieben hat, mozu ein ebenfall® von einem Kohl 
gezeichnetes Yutherbild verfauft wurde. Aber der 
Verf. muß aud von Hemmungen reden. Nicht 
allein das einheimiiche Defizit, das troß zweier 
Vermächtniſſe 1882 von 52000 Markt und 180000 
Mark chroniſch geblieben ift und im letzten Jahre 
wieder 11200 Mark beirug; — nein auch unter 
den Kohls jelbit gab es harte Kämpfe. Da ift 
diejelbe Frage, die uns in Europa jo ſchwer zu 
ſchaffen madt: die foziale Frage auch bei den 
Rohls zu finden: und in einer der agrarijchen 
Frage ähnlichen Gejtalt. Das Land gehört zu 
einem Drittel freien Bauern (Bhuiard); ein ans 
dered Drittel, dad Königsfeld (Rajahas), bleibt den 
Bauern in Erbpacht; der legte Kleinere Teil (Mas 
jihas) wird als bes Königs Eigentum von Ber: 
waltern, Pächtern und Steuererhebern bewirtichaftet, 
verwaltet, rejp. beſteuert und verpadtet. Dieje 
Berwalter, Pächter und Steuererheber (Zamindare 
und Thikadare) ſuchen fih an den Bauern zu be— 
reichern durch Steuern, Anſprüche auf deren eigenes 
Land, Einziehen der Waldberehtigungen ꝛc. Das 
brachte die armen Kohls in große Aufregung. Als 
die Mijfionare, von denen fie glaubten, jie fünnten 
ihnen ohne weiteres helfen, fie zur Geduld er— 
mahnten und vor Gewaltmaßregeln ernftlich warn— 
ten, verloren fie vielfach das Vertrauen der Kohle 
und ließen ſich toute comme chez nous lieber 
von jchlauen Advokaten und Mgitatoren jcheren. 
Ja es hat fich durch die joziale ea unter 
den Kohl die erjte Sekte gebildet, die Birfa- 
Bande (geftiftet von einem gewiſſen Mafihdas 
Birfa in Gemeinſchaft mit dem Schreiber Manjidh 
und Johann Babadur). Sie beriefen ſich auf ihre 
alte Berfajjung und verlangten ſämtliches Land 
als ihr Eigentum ꝛc. Dabei liefen aber auch res 
ligiöfe Schwarmgeijtereien unter. So wollte jener 

arjidh ald anderer Adam und Herr der Welten 
* und Bahadur als Inkarnation Moſis und 
Johannis des Täufers. Zum Glück gelang es 
den Miſſionaren, jenen Birſa von der Sache ab— 
zuziehen und ſo ſcheint die Angelegenheit im Ver— 
laufen zu ſein. Schlimmer er fi die Ge— 
genmiflionen der Society for the Propagation 
of the Gospel und ganz beſonders die der Je— 
juiten. Erftere hat fich jeit 1669 wenig freundlich 
in das Gebiet der Goßnerſchen Miſſion eingedrängt 
und ihr eine höchſt unerquidliche Konkurrenz be= 
reitet. Natürlich wurde dies von den Eingeborenen 
benugt, um ſich Vorteile zuzumwenden und die fitt- 
lihen Forderungen, welche die Mijfionare an fie 
ftellen, abzuſchwächen. Doc iſt es bejler geworden 
jeit 1885 der Mijfionar Bohn, der legte, der zu 
den Engländern nicht ausgeichiedenen Goßnerſchen 
Miſſionare an die Spipe der englijhen Mijfion 
— iſt. Es ſoll jetzt wenigſtens in jedem 

ll von Aufnahme aus einer Miſſion in die 
andere Anzeige jtattfinden. Sehr gefährlid) ges 
ftaltet ji die Gegenmijfion der Jejuiten. Geit 
1869 dringt fie von Chaybaja aus gegen 


1111 


Norden vor. „Die Zahl ihrer Stationen ift jept 
bereit8 größer als die der Goßnerſchen Miſſion.“ 
Sie haben ein Seminar für Ausbildung von 
Miffionaren und eine Erziehungsanitalt für euro» 
päiihe Mädchen, zu welcher auch Protejtanten 
ihre Töchter ſchicken. Jetzt find fie daran, ein 
Klofter und eine höhere Schule zur Musbildung 
von Eingeborenen für den Regierungsdienit zu 
errichten. Die Regierungszeit des Bizelünigs 
Lord Ripon, befanntlidy eines Katholiken, war 
ihnen natürlich eine große Förderung. Sie wuß— 
ten auch, wie einst bei ihrem Auftreten in Deutſch— 
land (Worms), dur ihre Kaſteiungen und Wohl— 
thätigfeit viele an ſich zu fejleln, wenn ſolche auch 
vielfach nur des „Bauches willen“ famen. Aud in 
der jozialen Frage traten fie eifrig für die Rechte 
der Bauern auf und führten, jobald ſie zu ihnen 
traten, ihre Rechtshändel kojtenlos, Ob freilid) 
alles, was unjer Buch aus dem Munde der Leute 
bringt, richtig ift: wäre doch erft zu unterjuchen. 
Uns jcheint e8 nicht ganz richtig, alle Gerüchte 
wiederzugeben, die im Schwange gehen, auch 
wenn es die Jeſuiten betrifft. Das „es wird 
ihnen nachgeſagt“ ijt eine fatale Phraje, wenn 
es fih um Beihuldigungen wie heimliches Saufen 
und Schwelgen handelt. Manches ijt uns bei 
den Goßnerſchen Mijfionaren geradezu unerklär— 
lid. Dan kann e8 nur Eigenfinn nennen, wenn 
die Leipziger Miſſion ſchon längjt, gerade wie die 
eg auch, den Männern das Tragen des zur 

itte des Volfes gehörigen Zopfes erlaubt: und 
die Goßnerſchen Miſſionare darauf bejtehen, jeder 
Kohl, der Chriſt wird, muß ihn abjchneiden. 
Deswegen die Kohls in Verfuhung führen, lieber 
fatboliih zu werden, ift doch, gelinde gejagt, ver- 
fehrt. Und warum joll ein evangeliiher Mij- 
ſionar nicht das Kind einer Konkubine taufen — 
überläßt das den Jeſuiten? (S. 187), Wie viele 
finder der Sünde müjjen wir in Europa jahre 
aus jahrein taufen! Das verjtche, wer fann! Und 
da wir dod an den Außitellungen find, machen 
wir darauf aufmerkſam, wie bedenklich eine joldhe 
Würdigungslifte noch lebender eingeborener Geiſt— 
ficher ift, wie fie unjer Buch ©. 80 ff. gibt. In 
den Tagen des allgemeinen Welwerkehrs wird 
auch dad Buch bald bei den Kohls jein, manden 
aufgeblajen machen, mandem böjes Blut maden. 
Wie viele evangeliihe Geiftliche find auch in 
Deutihland, von deren langſamem Arbeiten und 
ichläfrigem zo: man genau jagen fünnte, 
was ©. 87 Bon Arandmaſih Matſchun geurteilt 
ift. Uber wer will es ihnen vorhalten? Ge— 
wünjcht hätten wir jehr eine überſichtliche Tabelle 
des Beitandes der Kirche und Schule unter den 
-— 1874 und 1887. — 


s F. 
— Das Hohelied in ſeiner Einheit und 
dramatiſchen Gliederung mit Ueberſetzung und 
Beigaben von Dr. Johann Guſtav Stidel. 

(Berlin, Reuther.) 1888. 187 ©. 8%, 4 M. 
Was diefen neuen Berfuh, das Rätſel des 
Hohen Liedes zu löfen, empfiehlt, ijt einerjeits, 
daß er Feinerlei Umſtellungen oder Menderungen 
des Terteß zu feiner Durdführung bedarf und 
doch einen, wenn auch zuweilen etwas ſpringen— 


71* 


1112 


den, fo doch Haren und folgerichtigen Gedanken— 
gang in dem Bude —2 Der Verf. erreicht 
das neben der Annahme, daß eine dramatiſche 
Handlung im vollen Sinne des Wortes vorliege, 
durch die Musjonderung einiger Szenen, melde 
eine Nebenhandlung zwiſchen einem Hirten und 
einer Hirtin! enthalten und der Haupthandlung 
wiſchen Salomo und Sulamit zur Folie dienen. 
Ser Nachweis, daß unter diefen Borausfehungen 
ſich eine einheitliche dbramatijche Entwidlung erfennen 
läßt, hat viel Beitechendes, wenn auch die Thatſache 
des völligen Ulleinftehens einer dramatiſchen Dich- 
tung in diejer — und an dieſem Orte immer 
wieder ein gewiſſes Unbehagen darüber erweckt, 
daß der Beweis ſich lediglich auf innere Gründe 
ſtützen muß. Wir ſind den Ausführungen des 
Verf. mit großem Intereſſe gefolgt, glauben aber, 
daß die Freude an ſeiner Entdeckung ihn die 
Kunſt des Dichters doch hat etwas zu * ſtellen 
laſſen; im Vergleich mit einer vollendeten dra— 
matiſchen Technik zeigt der Dichter ſich doch 
nicht im ſtande, eine dramatiſche Aufgabe mit 
dramatiſchen Mitteln zu löſen; vielmehr ver— 
legt er die Peripetie hinter die Szene und 
6. uns ihre Gründe nur erraten, der Cha— 
ralter des Salomo hätte viel tiefer und 
wirkſamer erfaßt werden können u. ſ. w. Der 
Hinweis auf dieſe und ähnliche Punkte würde die 
Annahme eines Dramas in ſo früher Zeit erleich— 
tern. Der hohe ſittliche Geiſt, welcher das Werk 
durchdringt, ſteht dann in einem rührenden Gegen— 
ſatz zu den einſachen Mitteln, mit denen der 
Dichter ſeine Handlung vorführt. 1.9 


2. „Qutherana.” 


— Unbelannte handſchriftliche Predig— 
ten und Scholien Martin Zutherd. Auf 
— beſchrieben und unterſucht von Paul 

ſchackert, D. theol. und phil., ordentlicher 
Profeſſor der Kirchengeſchichte in Königsberg. 
(Berlin, H. Reuthers Verlagsbuchhandlung.) 1888. 
71 ©. gr. 80. 2M. 

Wer hätte es noch für möglich gehalten, daß 
ungeachtet der ſo genauen — der Bi⸗ 
bliothefen noch umfaſſendere Manuſtripte entdeckt 
werden könnten, welche ihren Urſprung auf Lu— 
thers enorme geiftige Schaffungskraft zurückführten? 
Freilich iſt's nicht Luthers befannte Handſchrift, 
welche ihnen das Kleid gab; aber, um ſogleich 
das Refultat obiger Unterſuchung hierher zu ſetzen, 
das Manuſtript enthält doch die Nachſchriften von 
echten Wittenberger Lutherpredigten. Der auch 
den Laien als Dichter des Liedes „Nun lob mein 
Seel’ den Herrn“ bekannte Johann Graumann 
(gräziſiert Poliander; geb. zu Neuſtadt in Bayern, 
j. 1503 in Leipzig als Student, Magilter und 
von 1516—22 Rektor der Thomasſchule; j. 1523 
Pfarrer zu Ultftadt » Königsberg in Preußen, 
7 1541) hat feine für die damalige Zeit jehr um— 
fangreihe Bibliothef der Stadt Königsberg zur 
Begründung einer „gemeinen Liberei“ vermadt; 
darunter auch Manuskripte und Kolleltancen. In 
der GStadtbibliothet zu Königsberg befinden ſich 
nun heute noch 2 Bände Poliander-Handſchriften, 


Neue Schriften. — Lutherana. 


welde die Zeihen ©. 21 und 22 führen. ©. 21 
enthält ziemlich wertlofe lateiniſche Predigtlonzepte 
Volianderd, nad denen dieſer deutſch predigte. 
S. 22 hielt man bisher unbejehen auch dafür. 
Es iſt das Verdienſt des Prof. Tichadert, die 
wahre Natur dieſer Handichrift erfannt und mit 
umfichtigjter kritiicher Prüfung feitgefteitt zu haben, 
daß fie teils in Nachſchriften, teils in Auszügen 
97 Predigten und ferner Scholien zu I. Mof. von 
D. M. Luther enthält. Erftere entjtammen aus 
den Jahren 1519—21, letztere dem Jahre 1523. 
Die Predigten find faft alle — Ausnahme bilden 
nur 3 — nody ungedrudt und deshalb für die 
zz. Entwidlungsgeihichte Luther um jo 
ebeutfamer, weil wir bißher gerade aus biejer 
Zeit gar feine Predigten beſaßen. Die Beweis- 
führung Tſchackerts iſt cbenjo g ndlih als un- 
umſtößlich. Die Nahichriften find, wie ar erhellt, 
von Poliander nicht jelbft gemacht; er hat fie ab- 
ichreiben lafien (2 Handſchriften laufen neben 
einander) und bier und da jelbit Bemerkungen, 
ja abweichende Anjhauungen zu dem Texte bei- 
geiet. Ueber einer Anzahl diefer in Witten 
erg entweder in parochia (Stadtfirche) oder im 
Augquftinerklofter gehaltenen Predigten jteht als 
Wutor D. M. oder M. L. oder D. Martinus Lut. 
oder Martin L. Drei der im Koder enthaltenen 
Nahichriften find überdies bereit Bd. 15 und 16 
der Erl. Ausg. gedrudt. In ©. 22 Haben fie eine 
nur wenig veränderte Geftalt. Endlich wiſſen wir 
aus Luthers Briefwechſel mit Spalatin, da er 
in jener Zeit über die Evangelien und den Pjalter 
—— Dem entſprechen die Texte der Königs— 
erger Handſchrift. Wahrſcheinlich hat alſo Poli— 
ander, als er 1519 zur ev. Anſchauung gelangte 
und bis er 1523 nad Königsberg ging, fi die 
Nachſchriften und Erzerpte machen (offene was für 
einen Gelehrten, dem der berühmte Humaniſt 
Mojellanus feine „Paedagogia“ widmete, nicht 
ſchwer zu erreihen war. Zur Lebensgejchichte 
Luthers ftimmt auch ganz, daß die Predigten bis 
2. April 1521 laufen. Am folgenden Tage brach 
Luther nad Worms auf. Die Scholien zu 
I. Moj. von 1523 entſprechen inhaltlih den ſchon 
gedrudten Predigten und Auslegungen des Buches 
in Quthers Werfen. Tihadert übertreibt übrigens 
den Wert jeine® Fundes keineswegs. Da Luther 
jelbft, wie er an Spalatin (1520) ichreibt, von 
den Predigten damals fein Wort aufihrieb (wegen 
Beitmangel und nicht zur Nahahmung für bequeme 
Prediger), jo wären wir aus jener Zeit fiher ganz 
ohne ein Zeugnis von Luthers Predigtweife, wenn 
nicht diefe Nach- und Mbjchreiber und das ge— 
fprodene Wort firiert hätten. Die Notizen, die 
wir aus der Handjchrift über Luthers Leben ge— 
winnen, find unbedeutend. Die ganze Handſchrift 
ift, wie Tichadert bemerkt, furdtbar ſchwer zu 
leſen. Gemwünjcht hätten wir, daß der Heraus: 
geber ftatt der Angaben der Anfänge und Schlüjje 
ber ſämtlichen Predigten lieber eine der noch uns 
—— Predigten ganz hätte abdruden laſſen. 

oll die ©. 27 als unverftändlich bezeichnete Ab- 
fürzung: „Et enim h .. ct..scandali, de 
qua (?) in evangelio“ nicht etwa heißen: Et enim 
hoc peccatum scandali, de quo in evangelio, 


Neue Schriften. — Geſchichte. 


d. i. diefes nämlich ift die Sünde des Aergerniffeg, 
— im Evangelium (sc. geredet wird)? 


— Elfungedrudte ... von D. Mar: 
tin Luther, gehalten in ber Zrinitatiäzeit 1539. 
Nach Zwickauer und Heidelberger Handſchriften 
zum erſtenmale veröffentlicht von Georg Buch— 
wald, Lic. theol., Dr. phil. Dialonus in Zwickau. 
(Werdau, Kurt Anz.) 1888. 116 ©. gr. 8°. 
2 M., * geb. 2,60 M. 

Schon 1884 hat der Herausgeber diejer Luther⸗ 
prebigten in ber Zwickauer Ratsjhulbibliothet 
einen Qutherfund gemadt. Es find von ben bort 
auf — Nachſchriften von Lutherpredigten 
auch 2 Halbbände unter dem Titel: Andreas Poachs 
handſchriftliche Sammlung ungedruckter Predigten 
D. Martin Luthers (Leipzig, Grunow) erſchienen. 
Allein das Intereſſe dafür mangelte dem großen 
gegen wie leicht verjtehen wird, wer hört, daß 
ie in lateinifch-deutihem Gemiihe nahgeichrieben 
find. Die Veröffentlihung wurde eingeitellt; doch 
ift mit Sicherheit zu erwarten, bah die große 
Weimarer Ausgabe fie feiner Zeit ſamt kritiſchem 
Apparat zum Abdrud bringen wird. Der Heraus: 
geber hat 1886 auf der Meißner Konferenz über 
diefe Lutherfunde referiert, und diefer Vortrag ift 
auch gedrudt erſchienen (bei Thoft in Zwickau). 
Soll aber dad Bolt jelbit etwas von diejen Pre— 
digten haben, jo müßten diefelben in un Deutſch 
zurüclüberſetzt werden. Dieſe Arbeit hat ſchon 
ein früherer gethan; fein geringerer als Johann 
Aurifaber, defien Bearbeitung D. Enders, der 
befannte Mitarbeiter an der Erlanger Ausgabe 
der Werke Quthers, auf der Heidelberger Univerfi- 
tätsbibliothek in Handichriften wiedergefunden hat. 
Aus diefer Heidelberger Handichrift (Cod. 42), 
doch kritiſch bearbeitet nad) der Zwickauer Hand— 
ſchrift (Cod. XXVII; nur ®red. XI findet fi allein 
in dem Heidelberger Manujfript), hat der Heraus- 
geber jegt in obiger Schrift 11 noch ungedrudte 
Predigten erſcheinen laſſen, alle aus der zweiten 
Hälfte de Jahres 1539, einer die jich bisher 
* durch Mangel an erhaltenen Predigten 

uthers auszeichnete. Die Predigten find echte 
Lutherpredigten, voll Originalität, Kraft und 
Marl, aus der Stimmung, die ihn 1539 beherrichte, 
— Bemerkenswert ſind ſeine Gedanken über 

rmenpflege mit der Klage „Drum ſchickt der Teufel 
joldye, die ſich ftellen al8 arme Bettler, und rauben 
unjer Almoſen. Aber wir müfjen alſo thun, wie 
Mojes jagt, dab wir fehen, wer c& bedarf oder 
ob einer im Luder liegt und nicht arbeitet, ſon— 
bern ſchwelgt. So nun einer befannt ift und arm, 
und wollte gern arbeiten, aber die Arbeit will 
nicht reichen, allda bift du ſchuldig zu Helfen, oder 
du bift no im Tode. Wenn man das !häte, fo 
wäre eine jegliche Stadt reichlich verforget, wenn 
fie wüßte, wer da recht dürftig wäre! Wo nicht, 
dann ift zugeichlofien der Himmel und age 
die Hölle, und gehört zu Kain, nicht zu Wbel. 
Es fommen oft fremde Bettler, bringen von ans 
deren Orten Briefe. Aber der Rat jehe zu, daß 
die Briefe nicht falich find.” (S. 24). Das aus— 
gehende Mittelalter war ſchrecklich mit der Vaga— 


1113 


bundenplage behaftet und es gibt aus diejer Zeit 
Büchlein über die Vagabunden, ihre Klaffen, ihr 
Rothwälſch ꝛc., bei deren Lektüre man fih jagen 
muß: „Ganz wie bei und.” (Ein jolhes Büchlein 
- fi) 3. B. in der an Flugichriften aus dem 

eformationdzeitalter jehr reihen Kirchenbibliothet 
zu Michelitadbt im Odenwald in einem Sammel: 
and.) Ebenjo äußert ſich Quther in diefen Pre— 
digten wiederholt gegen die bamalige Trunfjudt, 
belondere gegen das Bierjaufen, dazu am Morgen. 
Der vielfah von den Papiften wegen feines „ſtarken 
Truntes“ angefeindete Luther nahm es alſo ftrenger 
mit dem Fruhſchoppen als Dr. Windthorſt lobeſam. 
Die Ueberteuerung der Lebensmittel ſtraft der 
Reformator ſehr ernſt. Jeder evangel. Chriſtenmenſch 
wird dieſe ia mit Erbauung lejen. Erflärt 
ift wenig; z. B. nicht einmal der oben citierte 
Ausdruck „auf dem Luder liegen“ iſt erklärt. 
(Luder — Was. Lüderlichkeit — griech. aowri«, 
der ausſchweifende und auch äußerlich heilloſe 
Zuftand fittliher roher Zerrüttung, ber in ber 
zufammenbrehenden alten Welt häufig vorkam 
und bei und vorzugsweiſe im 15. und 16. Jahr» 
undert in großer Ausdehnung vorgefommen ift.) 

arum zu dem Worte „Franzojen* die Erflärung 
gejegt ift „allerniedrigjte Krankheit“, verjtehen wir 
nit. Es würde da falſche Prüderie jein, wollte 
man ben Ausdrud Syphilis oder Unzuchtsfranf- 
beit vermeiden. Warum ift das luth. „endelich“ 
= zu Ende ftrebend, eilends ©. 75 im Terte 
Luft. 1, 39 ftehen geblieben und in der Predigt 
(S. 80) in das in die Lutherbibeln übergegangene 
— verwandelt worden? 


F. 
3. Geſchichte. 


— Kleine Schrift en von Georg Curtius. 
Herausgegeben von E. Windiſch, mit einem 
Vorworte von Ernſt Curtius. Bd. I und II. 
Lepig 1886. 

er erſte Band dieſer kleinen Schriften des 
ausgezeichneten Philologen iſt Ihrer Majeſtät der 
—— —— Auguſta gewidmet und von 
E. Curtius, dem Bruder des Verewigten, mit 
einem Vorworte verſehen, in welchem die Bedeu— 
tung und der Charakter des trefflichen Gelehrten 
in ſehr feiner und anzichender Art gejchildert 
wird, Alle, welche das Glück gehabt Haben, den 
liebenswürdigen und jdarffinnigen Spradforjcher 
u fennen, werden fi an diefem jo gelungenen 
haralterbilde erfreuen und dem Bruder des Ber: 
ftorbenen dankbar fein, daß er und das Bild 
Georgs auf Grund langjähriger Kenntnis in jo 
————— Weiſe geichildert Bat. Ref. war einer 
der erjten Zuhörer Georg Curtius, er hörte bei 
ihm 1847 die Erklärung der Fragmente der 
Inrifhen griechiſchen Dichter. Es war merk— 
würdig, wie der junge Dozent jeine Zuhörer durch 
jeine gründliche Gelchriamfeit und durch die 
Liebenswürdigkeit feiner ganzen Perjönlichleit zu 
feffeln verftand. Man date immer den Eins 
drud: Hier ſteht ein gelehrter und in jeder Bes 
iehung trefflihder Mann vor dir. In der es 
pichte der Philologie nimmt ©, Curtius cine 


1114 


wichtige Stellung ein. Er war einer der erjten 
von denen, welche die großartigen Rejultate der 
vergleihenden Spradjforihung Fir die klaſſiſchen 
Spraden mit einer Umſicht umd Feinheit ver: 
wertete, welche überall die größte era 
gefunden Hat. Die griehiihe Schulgrammatif, 
welche zuerft in Brag 1852 erſchien und in wel: 
her in vorfichtiger Weife die Errungenſchaften 
der vergleihenden Sprachwiſſenſchaften für den 
Unterricht zur Anwendung gebracht wurden, liegt 
in der 17. Auflage vor. Die Erläuterungen 
zu der Schulgrammatit haben ebenfalls drei Auf: 
lagen erlebt. Die Grundzüge der griechiſchen 
Etymologie, zuerjt Leipzig 1858 und 1862, find 
für jeden Lehrer der grieh. Spradye ein unentbehr: 
liches Hilfsbuch. Das trefflihe Wert: „Das Ber- 
bum der griehifhen Sprache“, ift ebenfalls in 
zweiter Auflage erichienen. Als akademiſcher 
Lehrer übte er einen aufßerordentlihen Einfluß 
aus; bejonderd großartig war feine Wirkjamteit 
an der Univerfrtät Reipzig. Hier hatte er in 
feinen Borlefungen nahe an 300 Zuhörer. €. ®in- 
diſch in feiner GSharakteriftit des trefflihen Mannes 
(Berlin 1887) hat berechnet (S. 31), daß ®. Eur: 
tius in 47 Semeftern in feinen Brivatvorlefungen 
7592 Zuhörer gehabt hat — die ausgewählten 
Neben und Borträge find wahre Kabinettsftüde, 
auch in Beziehung auf Darjtellung. Ich wüßte 
in der That nicht, welchem Vortrage ich ben 
Vorzug einräumen follte: über Pietät, über den 
König, Über die Bedeutung ded Studiums ber 
klaſſiſchen Litteratur, über die Geſchichte und 
Aufgabe der Philologie, PHilologie und Sprach— 
wiſſenſchaft, Spradie, Sprachen und Bölfer, über 
Wilh. v. Humboldt ꝛc. Der 2. Band enthält die 
von €. Windifh herausgegebenen ausgewählten 
Abhandlungen wilfenihaftlihen Inhalts, die jeder 
mit Genuß und Belchrung lefen wird. Am 
16. Upril 1820 wurde Georg Eurtius in Qübed 
eboren, er beſuchte das Gymnaſium jeiner Vater: 
ſtadt; bejonders übte der trefflihe Joh. Clafjen 
einen beftimmenden Einfluß auf jeine Entwidlung 
aus. Die alademiihe Wusbildung erhielt er auf 
ben Hochſchulen in Bonn, wo KRitihl, Welder, 
Laſſen u. a. von ihm eifrig achört wurden, und 
in Berlin, wo er ein eifriger Zuhörer Böchs, 
Lahmannd, Nanfes, Franz Bopps war. Bon 
1845 bis 1847 war er Lehrer an dem Bloch— 
mannjchen Imftitut (Vitzthumſches Gymnafium), 
dann habilitierte er ſich an der Univerfität Berlin, 
1849 folgte er einem Rufe als Profefior der 
Haffiihen Philologie nah Prag, wo cr mit 
Aug. Schleier zujammenmwirkte, 1854 fiedelte 
er nad) Kiel über und wurde dann 1861 ala 
Profefior nad Leipzig berufen, wo er eine nad 
allen Seiten bin anregende Thätigfeit entfaltete; 
am 12. Auguſt 1885 wurde er durch den Tod 
feiner überall anerfannten Wirfjamteit entrifjen. 
Die ausgezeichnete Charakteriftit des ag 
Mannes von Windiicd (Berlin 1887) und das 
Vorwort Ernſt Eurtius’, des geiftvollen Bruders, 
zu den Heinen Schriften geben und ein treucs 
Bild des zu früh Heimgegangenen, ganz aus: 
gezeichneten Mannes. Die Heinen Schriften wünſch— 
ten wir in dem Beſitze von allen, welche ſich für 


Neue Schriften. — Biographiices. 


die Entwidlung deutichen Geijteslebens intereifieren. 
Die NAusftattung der beiden Bände ift fo, wie 
man fie von der Hirzelihen Buchhandlung er: 
wartet. 


4. Biographiſches. 


— D. Karl Gottlich Pfander, ein Zeuge 
der Wahrheit unter den Belennern des Islam. 
Mit Bliden in Vergangenheit und Gegenwart des 
Mohammedanismus. Ein Beitrag zur Miſſions— 

eihihte. Bon Chriſtoph Friedrih Eppler, 

farrer in Birsfelden bei Baſel. (Bajel, Mifjions- 
budhandlung.) 1888. 192 ©. 1,40 M. 

In ber Oſterwoche 1854 fand eine Disputation 
zwiſchen Gbriften und Mohammedanern in Agra 
in Indien ftatt. Die gelehrtejten Mohammedaner 
Dehlis und Agras vereinigten fih, mit Madıt 

egen das Ghriltentum Sturm zu laufen und den 
oran zu verteidigen. Ihr Spreder war Rahmat 
Ulah von Dehli, der Verfaffer der Streitſchriften 
egen das Epriftentum: Azalatsul-Auham (= der 
Berfärer der Einbildungen) und Ibtal-i-Tath— 
ith (— Widerlegung der Dreieinigkeit). Die hrift: 
liche Mijfion war vertreten durch Karl Gottlich 
Plander. Ihm gilt dieje Lebensbeſchreibung, die 
augleid Einblid in den Islam, fein Heimatland 
und Stammpolf, feinen Stifter, feine Licht: und 
Schattenfeiten gibt. Pfander hat, nachdem er, 
aus dem biftorijch bekannten Waiblingen im Nems- 
thal in Württemberg gebürtig, durch Pfarrer 
Friedrih in Kornthal erwedt, in Baſel Miſſionar 
eworden war, in Armenien, Mejopotamien und 
Berfien (1825 — 37) unter den Moslemin ges 
wirt. Damals bat er ſchon feine berühmte und 
an vielen Mohammedanern gejegnete Schrift: 
Mizan ul Had, oder die Wage der Wahrheit, ge- 
ſchrieben, die in mannigfahe Spraden ber 
Länder, in denen der Halbmond herricht, überjegt 
worden iſt. Als 1835 ein ruffiiher Ukas die 
evangeliihe Mijfion in jenen Ländern unmöglich 
machte, ging er nad Indien. Die engliſch-kirch— 
lihe Miſſionsgeſellſchaft, al8 deren Mifjionar man 
damals in Indien allein zu wirkten vermodte, 
zauderte anfangs, ihn in ihren Dienft zu nehmen. 
Es handelte jih um die biſchöfliche Ordination. 
Erjt 1841 wurde er angenommen und wirfte nun 
mit großer Kraft in Agra und Teſchawar (1842 
—57). Damals geſchah es, dab der württem- 
bergiihe Miffionar die Schriften ſeines Lands— 
manned David Strauß als willlommene Waffen 
in der Hand der Mohammedaner fand. Die tüch— 
tige wiſſenſchaftliche Belämpfung des Islam —— 
ihm vom Erzbiſchof von Canterbury den Gra 

eines Doltors der Theologie ein. Der Aufſtand 
der Sepoys ließ Pfander und ſeine Freunde un— 
berührt und der fromme Oberſt Edwards konnte 
ſpäter in London darauf hinweiſen, welch ein 
Segen ihnen die Miſſion geweſen ſei. „Ihr ver— 
danken wir unſere Sicherheit. Sie war wie eine 
Bundeslade Gottes unter uns.“ Doch nötigte 
die zunehmende Kränklichkeit ſeiner zweiten Gat— 
tin, einer Engländerin (ſeine erſte Frau war eine 
Tochter des ruſſiſchen Staatsrat Reuß und ſchon 
bei der erſten Entbindung verſtorben), Pfander, 
einen anderen Poſten zu ſuchen. Er lich ſich 


Neue Schriften. — Biographiiches. 


nad) Konjtantinopel jenden und hat dort 1858 
—65 nod einmal eifrig die Arbeit aufgenommen. 
Die hervorragenden Erfolge riefen plöplih eine 
Verfolgung der befehrten Mohammedaner durch 
die türfiihe Regierung hervor. Und troß des 
Eintretend ber evangeliigen Allianz und der eng» 
liihen Regierung mußte Pfander den Plah räumen. 
Das Herz voll von Hoffnung auf baldige Rüd- 
fehr, ging er mit jeiner Familie nah London. 
Am 29. uni 1865 traf er dort ein; am 1. De- 
zember besjelben Jahres jhon nahm ihn der 
Herr heim. Seine Arbeit war reid) gejegnet; 
jeine Schrift: die Wage der Wahrheit zumal ift 
in ded Herrn Hand zum ri mander Bes 
tehrung geworden. Alle, die mitbeten, daß auch 
Ismael Gnade finde, das arme bethörte Bolt des 
faljhen Propheten, werden die Biographie mit 
—— leſen, zu welcher der am 7. April 
883 in Alra auf der Goldküſte verſtorbene Mif- 
fiond-Fnipeltor Prätorius von Baſel nod vor 
Ir Abreiſe indas Todesland Afrita den Ber: 
afler ermunterte. 
N. F. 


— Von ee bis Hofader. Bilder 
aus dem chrijtlihen Leben Württembergd. Von 
B. Claus (Württembergijhe Väter. 2. Bd.) 
Mit vier Porträts. (Calw und Stuttgart, Ber: 
einsbuchhandlung.) 1888. 2 M. 

Dan hat den Reihtum Württembergd an ori— 
ginellen Zeugen Chriſti jo recht vor Augen, wenn 
man dieſen Band des empfchlenswerten Werkes 
lieft. Die Strahlen, welche ein Spener, Bengel, 
Detinger ausjandten, erſcheinen in den Geftalten, 
welche uns vorgeführt werden, in vielfältiger 
Weife gebroden. Man kann aber aud die Be— 
obadtung madhen, dab mit dem zunehmenden 
Berfall der Kirche, welchen der Rationalismus 
berbeiführte, je mehr und mehr aud die Sektie— 
rerei fi einfindet; Michelianer, Pregezianer, 'die 
Anhänger de& in Hoffart untergehenden &. Rapp ıc. 
„gu dem, was die Außfiht trübt, rechnen wir 
die verſchiedenen Selten“ — jchreibt 1828 2. Hof- 
ader — in welde der gläubige Teil unferes 
Volkes getrennt iſt. Bei defien Erregbarfeit möchte 
es nicht leicht einen Unfinn geben, der, wenn er 
im Gewand des Glaubens auftritt, nicht jeine 
Anhänger fände. Dreierlei Gefinntheiten herrichen 
unter reblihen Seelen vor. Die jogenannten 
Bregizerianer, d. 5. Anhänger des 1824 zu feiner 
Ruhe eingegangenen Pfarrers Pregizer, defien 
— ie aber mißverſtanden und gegen ſeinen 
— auf die Spitze geſtellt haben, treiben vorzugs— 
weije die Lehre don der Rechtfertigung, von Cpri- 
ſtus für uns, und zwar häufig auf eine Art, 
wodurch das inwendige Chriftentum in den Schat= 
ten geitcHt umd die täglihe Buße, die tägliche 
Vergebung der Sünden oder was eins tft, bie 
Seiligung aufgehoben wird. Die Anhänger von 

ich. RR der zwar nur cin Bauer, aber ein 
tiefer ſtiler war, fcheinen den Chriſtus für uns 
mehr zu überfpringen und machen häufig aus 
dem ganzen Evangelium eine Lehre der Heiligung. 
Natürlich ift die Stellung diefer beiden Parteien, 
die aufs ftrengite unter fi zufammenhalten und 


1115 


innerlich ziemlich organifiert jind, der Kirche 
gegenüber etwas jeparatiftifch , obgleich fie ſich 
nit förmlich getrennt haben. Die dritte Art 
find die gewöhnlichen Bietiften, die Arnds, Spe— 
ner, Bengels ꝛc. Schriften leſen, bei der Bibel 
und dem protejtantiichen Lehrbegriff bleiben und 
ſich meiftenteil3 zur Brüdergemeinde hinneigen.“ 
(Gottlieb Wilhelm Hoffmann ſagte deshalb ein- 
mal: „Er jei als Pregigerianer erwedt worben 
(d. 5. mit Erfahrung einer bejonderen Ueber— 
flutung der Seele durch göttlihe Gnade), ich 
möchte als Michelianer wandeln (im ernten Fleiß 
ber Heiligung) und als ein Herrnhuter fterben 
(im alleinigen Bertrauen auf den Sreuzestod 
Chriſti). Doc durfte Hofader troß feiner Klage 
über dieſe Separationen, über lare Kirchenzucht, 
Mangel an Organijation, den Geiſt der Träg— 
heit :c. auch erflären: „In unferem Volle findet 
fih viel Empfänglichkeit für die Wahrheit, und 
im allgemeinen eine gute Unterjheidungsgabe 
zwifchen Gottes- und Menſchenwort. In Alt: 
württemberg mag es wenige Gemeinden geben, 
in welchen nicht ein oder mehrere Gemeinjhaften 
und jogenannte Bietiften —— wären, bie 
des Gebeis und der Schriftbetradhtungen wegen 
fih verfammeln und ihres Glaubens halber wenig 
oder nichts zu leiden haben. In dieſen Gemein- 
ihaften liegt viel Segen. Nicht nur gebt bie 
Bibel- und Miſſionsſache, hauptjählih auf fie 
eftügt, einen ſchönen gejegneten Gang; jondern 
de find aud bie Pflanzihulen und Zräger ber 
Wahrheit, welche diejelbe nicht jobald aus un— 
jerem Bolt werden vertilgen laſſen.“ So konnte 
e8 fommen, daß feinerzeit auf einer Verſammlung 
des Protejtanten-Bereind gellagt wurde, daß man 
vergeblich immer noch frage: „Sind feine Württem- 
berger da?“ Der vorliegende Band der „Würt- 
tembergiijhen Bäter* beginnt mit Brajtberger 
(1716—1764), deſſen Evangelien-Predigtbuch jeit 
mehr als 100 Jahren und weit über Württem- 
berg hinaus in Taufjenden von Familien jahr- 
ausjahrein die fonntäglihe Nahrung und Er: 
bauung dargeboten hat. Noch fing jagte mir 
ein erwedte8 Glied meiner Gemeinde: „Gewiſſens⸗ 
mahnung und SHerzendtröftung, wie der alte 
Brajtberger fie gibt, findet man jonjt nirgends. 
Der malt fie Einem nicht vor: er gibt fie Einem. 
Der muß Etwas erfahren haben.” Neben ihm 
jtehen auch das „Weberjatoble*, arm an irdiichem 
Wut, aber reih in Gott, Heußer ꝛc., durch bie 
Braftbergerd Samen nad Fellbach kam, und bie 
dort an Pfarrer Sad ihren Mittelpuntt fanden. 
Eine Segendquelle für Württemberg wurden jeit 
1710 auch das Stuttgarter und u... 
Waiſenhaus; critere8 mit Männern wie U. Hartt- 
mann, Geig, Gros, Dettinger; leßtered unter 
Barth und Israel Harttmann. In Dettinger 
u. a. finden wir den freund des Magus des 
Südens, Detingerd, Pfarrer rider (1729—66); 
auch bedeutender Naturtenner und Medaniter. 
ALS ſolcher fam er auf Empfehlung Detingers zu 
dem Grafen von Eajtell, um mit einem genialen 
Schreiner Nehtfell für den Kaijer zu Wien eine 
Planetenmafhine zu verfertigen, welche ihm in 
Wien hohe Anertennung bradte, Er ging von 


1116 


Wien zu dem fatholifhen Pfarrer Diviih in 
Mähren, einem Geiftesverwandten Detingers; 
machte dann Reifen nad) Holland, England (wos 
jelbft er mit die Stifter ded Meihodismus Wesley 
und Whitefield, kennen lernte; wie er benn über— 
Haupt mit allerlei Seftenleuten Bekanntſchaft 
flegte; aber ftet3, wenn er am bem liebertritt 
A wieder zur Befinnung lam) und trat auf 
der Nüdreife am Niederrhein mit Dr. Collenbuſch 
in Berührung. Er übte in Württemberg eine 
lange und jehr gejegnete Wirkſamkeit und hinter— 
ließ aud einige Schriften, von welden die be— 
fanntejte ift: „Die Weisheit im Staube, d. i. An— 
weifung, wie man in ben allergewöhnlidjiten und 
gemeinjten Umjtänden, die man gleihwie Staub 
anficht und wenig beadtet, auf die einfältig 
leitende Stimme Gottes bei fi merken joll.“ Er 
ftarb 13 Tage nad) feinem Freunde Diafonus 
Köftlin in Ehlingen, ber Friderd nahen Tod 
auf jeinem Sterbebette vorausgejagt hatte, 13. Sep⸗ 
tember 1766. Ein bejondere8 Kapitel ift den Er— 
wedungen in Tübingen, Döffingen, Bernloch, 
Pfullingen, Kirhheim u. T. und Beutelsbach durd) 
Männer wie Frommüller, Helfferich, Göz, Simo— 
nius, Baumann veranlaft, gewidmet. Durd 
anz Württemberg arbeitete ſich dieſe geiftliche 
ewegung. „Man will — jchrieb Srider an den 
Iutheriichen Pfarrer Henke in Duisburg, den ver— 
trauten Freund Terjteegend — mid) faſt bereden, 
e8 jei fein rt im Lande, wo nit ein oder 
etlihe erwedte Seelen find.“ Freilih muß er 
au über viele Heuchelei Magen. „Biele unbe— 
lehrte Paftoren legen fi darauf, die erwedten 
Seelen an fih zu loden, ihnen Stunden zu 
halten, ſich nahdrüdlih auf der Kanzel zu por: 
tieren (bezeugen), jelbjt evangeliih zu en 
(Konfiftorium und theologische Fakultät waren der 
Bewegung günſtig). — Ich achte, Bengel habe 
in prophetiihem Geifte auf die nächſt nad ihm 
es Beit gejchrieben: „Das Gute und Böje 
teht ſchon in höchſter Reife.” — — Separatijten 
gibt es fen feine mehr. — — Man predigt deut- 
ih, dab alles Babel jei, joweit e8 am Geifte 
Gottes Mangel leidet. Die Welt aber wird unter 
allen diejen guten Umjtänden nidt nur nicht 
befjer, jondern immer ſchlimmer (S. 91). — Wer 
bat no nicht von dem Originale Flatti gehört ; 
nah einander Pfarrer in Hohenadperg, Metten- 
zimmern und Mündingen (1713—97], unnach— 
ahmlidy aber ebenjo Hug als originell in Predigt, 
Seeljorge und Erziehung, bejonder8 mißratener 
Söhne. Niht minder befannt verdienen zu fein 
bie beiden Freunde R. H. Rieger (1726—91), 
deſſen Gedächtnis bejonders durch jeine nad jeinem 
Tode veröffentlihten und an Bengels Gnomon 
fih anfchließenden „Betradjtungen über das neue 
Zejtament“ erhalten ift; „eine Schrift, welche zwar 
einen oft jchwerfälligen und ſchleppenden Stil hat, 
aber jo tief und einfah in die Schrift einführt 
und jo rein aus der Schrift jhöpft, baf fie allen 
denen, welden an Schriftbegrifien und Schrift 
eihmad etwas liegt, noch heute eine hochgeſchätzte 
Pandieitung iſt.“ Als SKonfiftorialrat (j. 1783) 
ämpfte er energifch gegen die jegt auch in Würt- 
temberg eindringende, und im Konfiftorium durch 


Neue Schriften. — Biographiiches. 


Griefinger vertretene Aufklärung an. Konnte er 
auch die Einführung des verwäfferten Geſangbuches 
nicht verhindern: ß erhielt Rieger doch Württem⸗ 
berg die ſogenannte Kinderlehre“ und ſeiner Ver— 
mittlun gelang ed, M. Hahn der Landeskirche 
zu erhalten und ihn von jeinen anftößigen An— 
riffen in feiner Lehre zum Schriftwort zu bringen. 
u den bedeutendften Männern, welde der Würt- 
tembergifchen evangeliihen Kirche angehörten, 
af man gewiß audh den Prälaten Roos 
(1727—1803) rechnen, jowohl durch feine pafto= 
rale und kirchenregimentliche Thätigkeit ald durch 
feine Schriften (chriſtliches Hausbuch, Einleitung 
in bie biblijche Gejchichte de8 Alten Teftaments; 
hriftlihe Glaubenslehre, Kreuzihule; Hier wäre 
eine außführlihe Angabe feiner Werfe ſehr er— 
wünſcht; nit dürften ganz übergangen jein 
Schriften, wie: „Fußſtapfen des Glaubens Abra- 
hams“, 1773 zuerjt erichienen, von deren fünf 
Stüd, der Erklärung des Hohenlicdes, Delitzſch 
urteilt, daß es zu den geiftlich tiefiten und zarte- 
ſten Auslegungen dieſes Buches gehört; die Aus— 
legung des Römerbriefes; die bedeutende Psycho- 
logia sacra). Gerade durch Roos trat aber eine 
Spaltung ein unter den Schülern Bengels; bie 
grobe Ueberzahl blieb auf Seiten einer nüchtern 
ibliihen Richtung, während eine Meine, aber jehr 
bedeutende Schar ſich einer theoſophiſch —— 
Lehre hingab. Zu letzterer gehörten beſonders 
Srider, 8. Fr. Harttmann und Phil. Matthäus 
Hahn. Daß Roos hier ernüdhternd eintrat, wurde 
ihm gewaltig übel genommen. Auch ein Oetinger 
meinte, Roos jtrebe nad) dem Prälaten. So Eu 
es aud) hier re PH M. Sr (1739—90) 
it der zugleich geniale und praftiihe Vertreter 
dieſer Richtung; gleich bedeutend als Pfarrer wie 
als Mechaniker. Iſt cr doch der Erfinder der 
Eylinderußren. Herzog Karl, ber ihn ſehr ſchätzte, 
wollte ihn zum Reofellor der Philoſophie in 
Tübingen ernennen. Hahn wies die Stelle aber 
—— und blieb Pfarrer. In der Lehre wich er 
n einigen Punkten (Dreieinigkeit, Menſchwerdung 
Chriſti) von der kirchlichen Lehre ab, was ihm 
von verſchiedener Seite vorgehalten wurde. Allein 
er war dabei ein überaus eifriger, gewiſſenszarter 
und in Bezug auf —— energiſcher Pfarrer. 
Sein Nachfolger wurde K. F. Haritmann (1743 
71815), weniger Original als Oetinger ober 
Hahn, aber Bengels Nüchternheit mit Detingers 
Zieffinn vereinigend. Seine Beicht- und Leichen 
reden find noch heute den Paſtoren als Muſter 
u empfehlen (herausgegeben von Ehmann, Heil— 
ronn, Scheurlen). Sein Lebensabend wurde ihm 
verbittert durch die Kämpfe, welche die einreißende 
—— in bezug auf die Renunziation bei 
Taufe und Konfirmation brachte. Er Yeibit zwar 
wurde von der Kirchenbehörde geſchont und ihm 
der Gebrauch der alten Formel bewilligt. Da— 
gegen machte ihm ein junger Anilsbruder in 
offenbar recht boshafter Weile daß Leben jauer 
und wurde dabei noch von dem SKonfiftorium, 
deſſen Anſchauung er vertrat, unterjtüßt. Hartt— 
mann jhrieb in dieſen Nöten einmal an den 
Direftor des Konfiftorinms Süskind: „Unter 
ſolchen Umständen will es einem fauer werden, 


Neue Schriften. — Biographiſches. 


ſich gegen Anfälle der Ermüdung zu wehren, 
teil8 weil man bei ben ——— Geſchaͤften 
meiſtens das Edlere und Noͤtigere ſeines Amtes, 
nämlich die Verlündigung des Worts und die 
—— hintenanſetzen muß, teils weil 
die meiſten Ahndungen Männer treffen, denen 
es um eine gewiſſenhafte ae zu thun 
ift, während andere leichtfinnige, in den Lehr: 
fägen — id) will nur jagen — gleihgültige Kir— 
hendiener einer wohlverdienten Ahndung fich zu 
entziehen wiſſen.“ (S. 209.) Sonderbarerweiſe 
bradte ihn ſchließlich die Einführung einer Art 
Uniform für die Pfarrer durch den König Friedrich 
dazu, feine Entlafjung un nehmen. Er ijt der 
Dichter des Liedes: „Endlich bricht der Heiße 


Ziegel” x. 

gu den befannteften mwürttemberger Zeugen 
neben Bengel, Oetinger, Flattich gehört bei uns auch 
Machtolf, zulept Pfarrer zu Möttlingen (geb. 

35, t 1800). Durch jeine Liche und Geduld 
überwand er feine Gemeinden und wurde ihnen 
zum reihen Segen. Ließ er ſich's doch nicht ver- 
driehen, bei Gängen in die benahbarte Stadt in 
feiner Gemeinde Umfrage zu halten, wer etwas 
dort zu beforgen habe, und kehrte dann abends 
eim, beladen mit Kaffee, Zuder, Del, Töpfen ꝛc. 
rquidend ift e8, zu ſehen, welde Fülle von 
Glauben an Jeſum, von Gottesvirtrauen und 
Liche mitten im öden Nationalismus Männer 
wie Baubder, Eytel, Härlin, Flatt, Daun in fidh 
trugen. Einem Jakob Böhme ähnelt in etwas 
Michael Hahn (F 1819), wohl zu unterjcheiden 
von dem oben genannten Phil. Matıh. Hahn. 
Auch Michel Hahn war durchaus jektiererijch ges 
artet. Er wurde Bater ber Selte der Michelianer. 
Seine Gedanten gingen ihon dem Ziele nad, 
nah dem Mufter der erjten Chriften Gemeinden 
in Württemberg einzurichten. Der Plan wurde 
befanntlid von Gottlieb Wilhelm Hoffmann 
(+ 1846), Bater des bekannten Berliner Generals 
juperintendenten, in Kornthal und Wilhelmsdorf 
zu rcalifieren verſucht. Auch in G. W. Hoffmann 
jehen wir neben dem großen organifatorischen 
Zalent die ſchwärmeriſchen diliaftiichen Gedanken 
fi regen. Mit Qudwig Hofader, dem Erwedung®- 
—— ſchließt das Buch, deſſen Lektüre wir 
eſonders auch den Brüdern im paſtoralen Amt 
auf das Wärmſte empfehlen. Es gibt viel Ge— 
legenheit zur paſtoralen Selbſtprüfüng; und bei 
Buͤchern iſt es doch gerade wie bei — Die 
und auf unfere Fehler aufmerkſam machen, find 
—7* beſten Freunde. 


— Gottfried Bernhardy. Zur Erinnerung 
an ſein Leben und Wirken. Von Dr. Rich. Volk— 
mann, Öymnafialdireftor in Jauer. Mit einem 
Bildnis Bernhardys nach einer Photographie. 
Halle, Ed. Anton. 1887. 

Ein dankbarer Schüler hat in diefer Schrift 
feinem ausgezeichneten, um die philologiſche Wifien- 
ſchaft hochverdienten Lehrer ein monumentum 
— dargebracht. Ein Lebens⸗ und Charakter⸗ 

ild, keine erſchöpfende, kunſtgerechte Biographie 
liegt uns bier nach den Worten Vollmanns vor. 


1117 


Alle, welche eine Verſtändnis haben für die großen 
Verdienſte, welche ſich Gottfried Bernhardy als 
alademiſcher Lehrer und als Schriftſteller erworben 
hat, werden dem Verfaſſer der Lebenserinnerungen 
an den ſcharfſinnigen, N en und haraftervollen 
PHilologen jehr dankbar Kin. Direltor Bolt: 
mann bat es verftanden, und in den Lebens: 
und Studiengang des großen Gelehrten einen 
tiefen Einblid zu gewähren und namentlid) auch 
zu zeigen, wie feine in gemijler Weile epoche— 
machenden Werfe entitanden find, und welde 
Stellung fie in dem jeßt jo angebauten Gebiete 
der Philologie einnehmen. Die —— Wiſſen⸗ 
ſchaft hat insbeſondere durch Sprachvergleichung 
und inſchriftliche Funde ſowohl in der Erkenntnis 
des grammatiſchen Baues der alten Sprachen als 
auch in der Erkenntnis der realen Seiten des 
Altertums jo erhebliche Fortſchritte gemacht, dak 
man fi nicht wundern darf, wenn gegenwärtig 
die Wltertumsforihung anders ftcht als vor 
20 Jahren. Tropdem aber wird man gern an— 
erfennen, dab Bernhardy jehr viel zum Ausbau 
der —— beigetragen hat. In der 1829 in 
Berlin erſchienenen ——— Syntax der 
griechiſchen Sprache ſtellte Bernhardy ſich die wich— 
tige Aufgabe, die jyntaktiihe Kunſt der Griechen 
in ihren Gejegen und Anſchauungen zu begreifen 
und den Zuſammenhang ihrer — Ent⸗ 
widlung an den Eigentümlichleiten der wechſeln— 
den Spradperioden nachzuweiſen. Die biftoriiche 
Syntax wollte den lebendig fortwachjenden Or— 
ganismus der Sprache nachweiſen; dazu gemügte 
nicht die genaue Kenntnis des zu allen Zeiten 
dafür Gelcifteten, jondern c8 war eine jelbftändige 
Prüfung der verjhiedenen Stilgattungen und die 
Erfenntnis des innern Zufammenhangs des Lebens 
und der Ritteratur erforderlih. Das Werk wurde 
bon einem ber beiten Kenner der griechiſchen Sprache, 
Chr. Lobeck, in den Jahrbüchern für wiſſenſchaft— 
liche Kritik ſehr anerkennend beurteilt. Die in 
gr 1832 erſchienenen Grundlinien zur Ency- 
[opädie der Philologie fanden eine fo große Ver— 
breitung, daß da8 Werft gegenwärtig ganz ver- 
riffen ift. Eines jehr großen Beifalls hatte 
ih die in immer neuen Wuflagen ans Licht 
tretende römische Litteraturgeichichte (zuerjt 1830 
herausgegeben, jeßt in der 5. Bearbeitung vor: 
liegend) und die griechifche Litteraturgefchichte (zu— 
erit 1836 erjchienen, jeßt in 3. Auflage inden Händen 
der Leſer) zu erfreuen. Bedeutend it aud) die Aus 
abe des Suidas, an welder Bernhardy fait 20 
hre gearbeitet hat. Außer diejen, deuticher Gelchr- 
ſamkeit Ehre bringenden Werfen hat ſich Bern 
— durch Herausgabe der Eratoſthenica (1822) 
ekannt gemacht. Er beabſichtigte eine neue Aus— 
gabe der kleinen Geographen zu veranftalten, hat 
aber nur den Dionyfius Periegeta mit Noms 
mentar erjcheinen lafien. Zu bejonderem Dante 
ift ihm die Philologie dadurd verpflichtet, daß 
er, ein treuer Schüler Fr. A. Wolfs, mit großem 
Fleiße uns in den Befig eines vollftändigen Cor— 
pus age pc Schriftitellerei gebradt hat. Bern- 
—— gab nämlich 1869 in zwei Bänden die 
leinen Schriften in lateiniſcher und deutſcher 
Sprache von Friedr. A. Wolf heraus. Auch die 


1118 


in diefen Bänden vereinigten Schriftitüde des 
roßen Altertumsforjchers find von Bedeutung. 
pr anregend war Bernhardys Thätigkeit im 
Seminar. Hier war er befonder darauf aus, 
die Studenten zu andauernder wifjenjchaftlicher 
Thätigfeit — und eine gewiſſe Feſtigung 
des philologiſchen Charalters herbeizuführen (S. 88). 
Mir will es ſcheinen, als ob eine methodiſche 
Schulung, wie ſie in den Seminarien G. Her— 
manns, Carl Reißigs und Friedrich Ritſchls den 
jungen Philologen gegeben wurde, von größerem 
Werte geweſen ſei. Die Studenten wurden durch 
die Art der Behandlung der Schriftſteller, wie 
fie von Wolf, Hermann, Ladhmann, Ritich!, 
Haupt u. a. geübt wurde, cbenfalld zu weiterer 
wiflenfchaftliher Thätigkeit angejpornt und Iern= 
ten von den großen Meiftern, wie man es anzu— 
fangen habe, wenn man erjpriehlid arbeiten 
wollte, So oft Bernhardy von einem jungen 
jtrebfamen Studenten gefragt wurde, was er zu— 
nädjft zu betreiben habe, jo wurde der Fragende 
mit einer folden Mafje von Aufgaben über: 
jhüttet, daß er ſich jagte: das überfteigt meine 
Kräfte — und e8 wurde in der That wohl öfter 
gar nichts in Angriff genommen. Freilich gab 
es unter ben Schülern Bernhardys auch Männer, 
welche dur ihre Arbeiten die Wiſſenſchaft für: 
derten (S. 90). Sceuerlein® Syntar, Rumpels 
Eajuslchre, Hildebrands Arnobius und Apulejus, 
Geierd Scriptored Alerandri Magni, Herkbergs 
Propertius, Holtzes Syntaxi priscorum scrip- 
torum Latinorum, Nauds Ariftophanes ꝛc und 
auch das, was der Herauägeber der Bernhardy— 
ihen Biographie jelbjt geſchrieben hat, find durch— 
aus anertennendwerte Leiftungen. Einer von ben 
treueften Anhängern und Schülern Bernhardys 
war W. Hergberg, der erjt nah langer Zeit eine 
jeinen audgebreiteten und gründlihen Kenntnifjen 
entiprechende Stellung al& Leiter eines Gym— 
naſiums in Bremen finden konnte. Bei Gelegen— 
beit der Ueberjendung jeiner Ueberjegung der 
Ars und Amores Ovids (1854) erwähnt er in 
einem Briefe an Bernhardy, dab Hermann und 
Lachmann ihre Schüler nah allen Seiten hin 
auch materiell zu fördern juchten, während er 
nichts thue. „Wie wäre es ſonſt möglich,” führt 
er dann fort, „daß ein wirklich flaher Menſch, wie 
Haupt, eine jo dominierende Stellung hätte 
ewinnen können?“ Das ijt ein ungerechtes Urteil 
über den bochverdienten Morig Haupt, das gewiß 
nur jehr wenige unterjchreiben werden. Ebenjo 
ift das Urteil über Müllengoff nicht begründet. 
Beide Männer hatten etwas Eigentümliches in 
ihrer Art, was jehr vielen nicht zufagte; fie haben 
aber die Wiſſenſchaft erheblid gefördert. — 
Sn Halle verkehrte Bernhardy mit Leo, Erb» 
mann, Ufrici, Blanc, Tholud ꝛc. Die Berhältniffe 
mit feinen fpeziellen Fachgenoſſen wurden ab und zu 
— wenig günſtig waren fie mit Theod. 
ergt, defien Berufung an die Halliihe Unis 
verjität Bernhardy gegen den Einſpruch eos 
durchgeiept hatte. Auch als Rezenjent hat Bern 
bardy in den verjdiedenften philologiidhen Zeit— 
ſchriften eine anerfannte Thätigleit entwidelt. Ge: 
boren wurde der geiftvolle Philolog am 20. März 


Neue Schriften. 


— Militärische. 


1800 in Landsberg an der Warthe, er war der 
Sohn eines jüdiſchen Kaufmanns, von 1811 an 
bejuchte er in Berlin das Joahimsthalihe Gym- 
nafium, 1817 bezog er die Berliner Univerjität, 
um Bhilologie zu ftudieren. Er börte ben be- 
rühmten, in hohem Anſehen jtehenden Altertums— 
forjcher Fr. Aug. Wolf, auch Böckh und Butt- 
mann zogen ihn an; die philoſophiſchen Studien 
wurden nicht vernadläffig. Am 30. Oktober 
1822 erlangte Bernhardy die philoſophiſche Doktor: 
würde und veröffentlichte noch in demjelben Jahre 
feine erſte Schrift, die Eratojthenica, eine Samm— 
lung ber weitzerjtreuten und vielartigen Frag- 
mente des Alexandriners Eratoſthenes, in deren 
ihwieriger Erklärung feine umfafjende Gelehr— 
famfeit und jcharfe Kombinationsgabe hervortrat. 
1823 habilitierte er fi), befonderd auf Anregung 
von Joh. Schulze an der Berliner Univerjität. 
1829 wurde er nad dem Tode Carl Reißigs 
nad) Halle berufen. Hier hat er bis zu jeinem 
am 14. Mai 1875 erfolgten Tode eine ſegens— 
reihe und anertannte Wirkſamkeit entfaltet. In 
jeinem perjönlihen Verlehr war Bernhardy jehr 
liebenswürdig, zuweilen etwas jharf Der Ref., 
ber dad Glüd Hatte, vielfah mit ihm zufammen 
zu fein, wird die mannigfaltigen Anregungen, 
die er von dem geiftvollen Manne empfangen, 
nicht vergeſſen. Älle Philologen werden Herrn 
Direltor Volkmann für die trefflihe Biographie 
de8 verdienftvollen Gelehrten dankbar ſein. Wir 
wünſchen der Schrift einen weiten Leſerkreis. 


5. Militäriſches. 


Kriegsgeſchichtliche Einzelſchriften. Her- 
ausgegeben vom Großen Generalſtabe, Ab— 
teilung für Kriegsgeſchichte. Heft 9. (Berlin 
1888. €. © Mittler & Sohn.) 

Die kriegsgeſchichtlichen inzelihriften des 
Großen Generalftabes erſcheinen feit dem Jahre 
1883 in zwanglojen Heften und behandeln ſowohl 
Themata der älteren, wie vorwiegend aud) der 
neuern Kriegsgeſchichte. Heft 9 bringt zunächſt als 
Feſtgabe für den einhundertjährigen ger mm 
tag der Bayeriſchen Chevauxlegers eine vor allen 
Dingen kulturgeihichtlih hochintereſſante Dar: 
ftelung der Thätigkeit der churpfalz-bayeriſchen 
Kavallerie in den Seldgügen 1790 bi® 1796. 
Den Schluß des Heftes bildet eine aud für 
weitere Kreiſe beitimmte Studie des Major Kunz: 
Die Stärfeverhältniffe im deutſch-franzöſiſchen 
Kriege 1870/71 bis zum Sturze des Kaiſer— 
reiches; im vorliegenden Hefte werden zunächſt 
nur die Stärkeverhältniſſe in den Kämpfen bei 
Weißenburg, Wörih und Spicheren behandelt. 
Nachdem zunächſt in der Einleitung die Schwie— 
rigfeiten hervorgehoben jind, welche jich der Auf: 
findung eines für die Wertihäßung zweier Heere 
geeigneten Maßſtabes ergeben, wird mit kurzen 
und Maren Worten die Kraft der beiden kämpfen— 
den Parteien verglihen und die Methode darge— 
legt, nach welcher die Stärfeberehnung erfolgen 
fol. Wenn ſich die deutihen Angaben aud auf 
abjolut verläßliches Material fügen, fo jind die 
Angaben der Stärke der franzdjtihen Truppen 


Neue Schriften. — Muſik. 


einzig und allein als Wahrſcheinlichkeitswerte an- 
zufehen. Bei Weißenburg ftanden ſich überhaupt 
gegenüber: 


Deutſche: Franzoſen: 
48 000 Gewehre, 4650 Gewehre, 
2950 Säbel, 650 Säbel, 


14Geſchütze, 
im Entſcheidungskampfe: 


18 Geſchütze, 


Deutſche: Franzoſen: 
24 700 Gewehre, 4650 Gewehre, 
1700 Säbel, 650 Säbel, 

900 Geſchütze, 18 Geſchütze. 


Während deutſcherſeits die ganze III. Armee 
Hatte verfügbar gemacht werden fünnen, wäre es 
möglich gewejen, die franzöfiihe Armee bis auf 
27600 Gewehre, 2400 Säbel und 54 Geſchütze 
zu bringen. 

Noch interefianter ift Wörth. 

Es ftanden fich hier gegenüber: 


Deutiche: Franzoſen: 
76400 Gewehre, 42800 Gewehre, 
5700 Säbel, 5700 Gäbel, 


300 Geihüße, 167 Feſchütze. 


Davon nahmen am Entſchei dungskampfe teil: 
Deutſche: Franzoſen: 
71500 Gewehre, 32000 Gewehre, 
4250 Säbel, 4850 Säbel, 
234 Geſchütze, 131 Geſchütze. 
An dem Kampfe Hätten teilnchmen können: 


Deutſche: Franzoſen: 
89 000 Gewehre, 42800 Gewehre, 
7750 Säbel, 5750 Säbel, 


342 Geſchütze, 167 Geichüge. 


Es folgt nun die Beiprehung der Schlacht von 
Spicheren; an bderjelben nahmen teil: 


Deutiche: Franzojen: 
30100 Gewehre, 24400 Gewehre, 
4500 Säbel, 3200 Säbel, 


108 Geſchütze, 90 Geſchütze. 


Bon diefen Truppen ftanden fi dann im Ent- 
icheidungsfampfe gegenüber: 


Deutiche: Franzoſen: 
26 000 Gewehre, 23700 Gewehre, 
840 Säbel, 260 Säbel, 


78 Geſchütze, 90 Geſchütze. 


Aus diejem annähernd yeär Bahlenverhältnis 
ergibt ſich ſchon an und für ſich die ſchwierige 
Lage der Deutihen als Angreifer. Für die 
Beurteilung des thatſächlich beitandenen Kräfte: 
verhältnifies iſt es jedoch unerläßlich, noch die— 
jenigen Punkte hervorzuheben, welche den Frans 
zoſen außerdem eine bedeutende taktiſche Ueber— 
irben über die Deutſchen gewährten. Dieſe 
ind: 


1. Die planmäßige Verteidigung in einer von 
Natur vorteilhaften und außerdem noch durch die 
Kunſt verftärften Stellung. 

2. Die von Anfang an beftchende Verſamm— 
lung völlig friiher Truppen. 


1119 


3. Die während bed Kampfes ermöglichte ein= 
heitlihe Leitung. 

Auf deutiher Seite erfolgte der Angriff unter 
völlig entgegengejegten Berhältnifjen, indem ein— 
mal ber Kampf für den 6. deutſcherſeits nicht 
beabfihtigt war und fid) an dem Kampfe, welcher 
lediglich aus ber Jnitiative der Unterführer her— 
vorgegangen war, die ZTetenabteilungen breier 
Armcelorps beteiligten, jo daß von einer ein- 
heitlihen Leitung nit die Rede jein fonnte. 
Während deutjcherjeits die Stärke der am Kampfe 
beteiligten Truppen nicht wejentlih zu erhöhen 
war, Dätte man franzöfifcherjeit8 an Stelle von 
24400 Gewehren, deren 58200, an Stelle von 
90 Geſchützen deren 210 zur Schlacht heranzichen 
fönnen, wodurd es möglid; gewejen wäre, zum 
wenigjten den deutſchen Truppen den — 
ſtreitig zu machen, wenn auch ein Sieg bei Saar: 
brüden bei der Niederlage ded rechten Flügels 
bei Wörth ohne nennenswerten Einfluß auf den 
Gang der Ereignifje gewejen wäre. 

Wir beenden hiermit die Auszüge dieſer in- 
terefjanten Studie, deren Fortickung wir mit 
Spannung entgegenjehen. „Zahlen beweijen“, jo 
lafien fi leiht an der Hand dieſer Angaben 
Fehler und Verſehen erkennen, welche jeitens ber 
Heereleitung und Truppenführung gemadıt find. 
Zu bedauern ift e8, daß die gejamte Arbeit ſich 
nicht in ein und demjelben Heft vereinigt findet, 
fondern ſich vorausfichtlid auf den Raum von 
drei Heften erjtreden wird, was der Verbreitung 
diejer Arbeit in weiteren Kreifen hinderlich fein 
muß. 


6. Mufit. 


— Das evangeliſche Kirdenlied für 
Schule, Seminar und Sonfirmanden-Unterricht, 
ausgewählt, erflärt und dißponiert, nebjt einem 
Anhange: Kurzer Abri der Gejchichte des Kirchen- 
liede8 von 8. Nejemann, Oberpfarrer und 
Schulinſpektor. (Gütersloh, C. Bertelämann.) 
1887. 26 Bogen. 8°. 4,50 M. 

Unter den erbaulichen und erwecklichen Anre— 
gungen evangeliihen Bewußtjeind und Herzens 
ſteht der reihe Schap unjerer voltstümlichen 
Kirchenlieder obenan. Das hat jchwerlich jelbjt 
der entichiedenfte, anderägläubige Widerſacher der 
evangelijchen Kirche und der evangeliihen Wahr: 
beit jemals bezweifelt und beftritten. Im Liede, 
das nicht gelejen, jondern gejungen, und zwar von 
ber Gemeinſchaft verjammelter Andächtiger ger 
jungen werben joll, vermählt fi Wort und Ton 
zu einer höheren Einheit des mittelbaren und ums 
mittelbaren Zeugniſſes der evangelifhen Glaubens: 
Wahrheiten und der geoffenbarten Heild-That- 
ſachen. Die Predigt, ihre Wirkung auf das gläubige 
Gemüt und ihren unmittelbaren warmen Wider— 
ball tönt das Lied in der Worttonjpradye gleich— 
zeitig aus. Unſere Zeit bekundet allerorten die 
Ueberzeugung von ber hochwichtigen Bedeutung 
des crbaulihen geiftliden Gemeinde: und Chor— 
gejanged. Man ertennt in dem Slirchenliede zumal 
ein’ gute Wehr und Waffen im neuentbrannten 
Verteidigungskriege wider den alt’ böjen Feind, 
der niemand darüber im Ungewifien läßt, daß er 


1120 


es jegt ernjt meine, wie je zuvor. Ohne Frage 
erwirbt fi) deshalb fein geringes Verdienſt um 
die evangeliihe Sache, wer eindringlihe Mittel 
findet und darreicht, unſere kirchlichen Kernlicder 
dem Herzen und Berftändnis der Befenner und 


namentlid) de8 jungen Volles unvergeßlich ein— 
zuprägen. 
Dielen Zwed verfolgt das Werk Nejemanns, 


E83 erjtrebt das Ziel desjelben mit treffender 
Sicherheit, wie mir fcheint, die nicht leicht fehle 
gehen wird. Neſemann macht das Kirdenlicd 
zum Gegenftand und Anhalt eines erbaulichen 
und erwedlichen Lehrbuches von feflelnder volls— 
tümlicher Allgemeinfaßlichleit. Seine Auswahl 
ber verbreitetften Gemeinde-Licder folgt den leiten— 
den Gedanken unjerer meiften bejjeren Geſang— 
bücher. Nejemann jegt, wie jene, den beleuchteten 
Stoff in vier Abjchnitte auseinander: der erite 
Abſchnitt umfaht „das Kirchenjahr“, der ziveite 
Katechismus-Lieder“ (diefe auf Grund des Quther- 
ihen Katechismus); dann folgen im dritten Ab— 
ſchnitt „Glaubens-, Lob- und Danklieder” und im 
vierten, dem legten Abjchnitt „Lieder für bejondere 
Zeiten“ — im ganzen 82 Lieder, wohl nad) Ans 
zahl und Auswahl übereinjtimmend mit den für 
die Boltsihule chedem von der vielbejprodyenen 
„Regulative“ beftimmten Liedern. 

Nun zur Stoffbehandlung jelbit: Aus den Ges 
fihtspunften eines, die allgemeine Bedeutung der 
größeren Abſchnitte wie ihrer Unterabteilungen 
geihichtlih und dogmatiſch erflärenden Einganges 
und eined Nachweiſes der „bibliihen Grundlage“ 
des jedem Liede ala Gedankenquell dienenden In— 
halte nimmt der Verfaſſer zunächſt Anlaß, den 
fortſchreitenden Entwidelungsgang der göttlichen 
Reichsordnung als eines logiſch gewordenen zu: 
ſammenhängenden Ganzen darzuſtellen. Darauf 
werden ſämtliche Strophen eines jeden der aus— 

ewählten, versweiſe abgedrudten Lieder ſachlich, 
prachlich und abologetiich wie auch parenetiſch 
erklärt, beleuchtet und dem verſtändigen, wie herz— 
lichen Faſſungsvermögen klar und wert gemacht. 
Den Inhalt jedes einzelnen Verſes faßt der Autor 
in eine knappe fatehetiihe Frage und Antwort 
fur; zujammen, zum Zmwed einer leicht behältlichen 
Einprägung in® Gedächtnis. Eine ebenfo ge— 
drängte ſummariſche Ueberficht über den Gedanken— 
gehalt des ganzen, ver&weije refapitulierten Liedes 
und ein kurzer Lebensabriß des Dichters ſchließt 
diefe finnige und praftiihe Art der Auseinander— 
fegung jedes der 82 Lieder, Nejemanns Erflä- 
rungen und theologische Anichauung&weile jeiner 
——— Gegenſtände atmen den Geiſt der 
reinen luͤtheriſchen Lehre und Schriftgläubigkeit. 
Unter den Stüden, die ich eingehend geleſen habe, 
ift mir nur ein einziger Ausdrud aufgefallen, der 
meinen Widerjprudy aufruft, indefien lediglich 
—— Bedenken erregt. Während der Br 

erfafjer ſonſt die Lesarten der Originale mög— 
licht treu feitgehalten hat, jcheint er einer Bor: 
lage de& Luther-Liedes „Ein’ feite Burg“ gefolgt 
zu jein, welche über Luthers kernigen Voltsaus— 
drud ftolpert: „Thut er und ei nicht (mill 
jagen, ift er uns doch „nicht über“ — oder „kriegt 
er und doch nicht unter“), und das „nicht“, diejes 


Neue Schriften. — Muſik. 


kräftige, mutige „nicht“ in ein zaghaftes „nichts“ 
verwandeln. Daß diefes „nichts“, welches auch 
Nefemann lieft, aus der Reim- Melodie entgleift : 


Thut er ung doch nicht 
Das macht, er iſt gericht't, 


mag nicht jonderlih ins Gewicht fallen. Aber 
Sans Erklärung, „thut er und doch nichts, 
er fann uns nichts anhaben“, verfehlt doch ficher 
vollends den Sinn deſſen, was Luther jelbit 
laubte, dachte und jagen wollte. Wie? Der 
eufel könnte ung nichts anhaben? Dann braud= 
ten wir feine „graujame eg ja nicht zu 
fürdten, braudten uns nicht jelbft zu wappnen 
mit der Wehr des Glaubens wider die „lſtigen 
Anläufe de8 Teufels“. — Uber das drüdte Luther 
nit aus mit feinem „nicht“. — Seine Sprache 
bildete jich befanntlid daraus hervor, daß er dem 
„Volt nah dem Maule ſah“ — und feine Leute 
bezeichneten das Uebergewicht der Körperftärfe 
fehr bezeichnend, wenn ciner von einem anderen 
jagte: „ber thut mich“, bezw. „der thut mich nicht“. 
Sp wäre recht erwünſcht, daß bei einer neuen 
Auflage des Neſemannſchen Werkes die originale 
und originelle Ausdrudsform wieder hergejtellt 
würde. Im übrigen verdient das trefilihe Bud 
weitejte Verbreitung, und zwar nicht ausſchließend 
in Schulen, Konfirmandenjtuben und anderen 
Lehranitalten, ſondern in allen chriſtlichen Häujern, 
wo man geiftliche, liebliche Lieder pflegt liebt. 
. M. 


— Die Geſchichte des Dratoriums, für 
Mufitfreunde kurz und fahlih dargejtellt von 
Franz M. Böhme. Zweite, gi li umgear- 
beitcte Auflage. (Gütersloh, EC. Berteläamın.) 
1887. 8 Bogen. 8%. 2M. 

Nicht durch eigene Tonfhöpfungen hat meines 
Wiffens der Berfaffer diefer Monographie als fom=- 
petenter Beurteiler der Tonkunſt und ihrer bejon- 
deren Form-Erjheinungen das öffentlihe Ber: 
trauen erworben; wohl aber bezeugte er jeinen 
Trieb, zu forjhen und zu ſammeln, in dem vor— 
liegenden Werte, wie auch in anderen zujammen= 
gejtellten Materialien der Mufit, von denen hier 
fein „Altdeutiches Liederbuch“ (1877) und feine 
„Geſchichte des Tanzes in Deutihland“ (1886) 
genannt werden mögen. Borliegende® Wert — 
nicht die erjte und einzige Fachſchrift über das- 
Dratorium und feine verfchiedenen Gattungen — 
bat feine Bedeutung und Berechtigung fait auss- 
ihließend in dem Sammelfleiß, den der Verfaſſer 
aud Hier wieder bethätigt hat. Als wertvolle 
Gabe erſcheint namentlich eine dem geſchichtlichen 
Hauptteil angehängte „Ueberfiht aller befannt 

eworbenen Oratorien nebjt Angabe ihrer Ent- 
Hehun Seit und ihrer Komponiften“. Vollſtändig 
alles Vorhandene — wie diejer Titel verſpricht — 
gibt bad Berzeihniß zwar nicht, aber es umfaßt 

oh die Hauptwerle ohne Lüden und fann ber 
Geſchichtsforſchung des Oratoriums von feinen 
Anfängen bis zur jüngſten Gegenwart herab als 
willlommener Wegweiſer dienen. Der geſchicht⸗ 
liche Vortrag des Buches beſtrebt ſich einer löb— 
lichen Kürze und Verſtändlichkeit; laut Titel ſucht 


Neue Schriften. — Muſik. 


das Wert jeine Lejer nicht jowohl unter ben Ges 
nofjen der ausübenden Tonfunft, als unter ihren 
Freunden und Gönnern. Co erhebt dasſelbe 
keinerlei Anſpruch auf Wifjenihaftiichleit. Das 
iheint mir aber doch fein Grund zu Kr: auch 
hie und da auf geſchichtliche und kritiſche Treue 
und Zuverläſſigkeit zu verzichten, oder eine Flüch— 
tigkeit der Arbeit zu rechtfertigen, die nicht jelten 
fo empfindlich —— wird, daß man ſchon 
beide Augen — nicht eins — zudrücken müßte, 
um fie nicht zu erkennen. Bon dieſer Flüchtigkeit 
wird fogar der von Sapfehlern wimmelnde Drud 
betroffen. Im Zert finden ſich auch fachliche Uns 
—— und ſogar unzutreffende geſchichtliche 

aten. — Ein Muſilhiſtoriker ſollte doch wiſſen, 
daß ein namhafter Meiſter, wie Ph. Em. Bach 
nicht zuerſt in Hamburg und dann in Berlin 
lebte, wie daß er hier nicht als „Kapellmeiſter“ 
fungierte, ſondern als Kammercembaliſt Frie— 
drichs II. — wie endlich, daß der ſogenannte 
„Hamburger Bach“ — eben derſelbe — nicht 1768 
zu Berlin, ſondern 1788 zu Hamburg geſtorben 
iſt. — In der Einleitung grenzt der erlaffer bie 
Begriffe „Oratorium* und „Kirchenmuſik“ ftreng 
gegeneinander ab. Ohne Frage I er volllommen 
recht, zu erflären: Kirchenmuſik jei dad Orato— 
rium troß jeiner bibliich-religiöjen Terte nicht, 
da c8 nicht zur Liturgie gehöre.” Im weiteren 
Verlauf feiner Ausführungen aber jcheint er dieje 
Begriffsbeftimmung nicht ernft gemeint zu haben; 
denn öfter wird das Oratorium als bejonbere 
Gattung der Kirhenmufit bezeichnet, wird ſogar 
einmal (S. 103) ‚das Kirchendrama“ genannt, 
obwohl es „von der Kirche als folder ausge— 
(ölofien ift“. Widerſprüche diefer und anderer 

rt muß der Leſer fih nun einmal nicht zu ſehr 
“ Herzen nehmen. Uebeler ift ein anderes Be— 

enten, das die aufmerkſame Durchficht ded Buches 
aufregt. Nämlich dieſes: die Ältere Zeit bis herab 
* neueren Entwickelung ſeit Bachs und Händels 

ode wird in einem Lichte dargeſtellt, welches 
lange vor Herrn Böhmes öffentlicher Wirkſamkeit 
bereits hell leuchtete und von namhaften Gewährs⸗ 
männern muſilaliſcher wre | in autos 
ritativen Werfen angezündet wurde. Nun trifft 
es jih, daß die Fritiihen Anjchauungen und Ur— 
teile des Verfaſſers fait überall genau denjenigen 

leihen, welche durch die Schriften eined Mojemius, 

arg, Ambros, Chryjander, Spitta und ähnlicher 
Autoritäten zum Ullgemeingut der deutihen Mufit- 
welt geworden find. Die neuere und injonders 
bie neueste Zeit dagegen hat ber öffentlihen Mei— 
nung für ihre muſilaliſche Kunſtkennerſchaft ähn— 
lihe zuverläffige Stügen nody nicht darzubieten 
vermodt. Das joll erft gejchehen, wie man auch 
aus dem vorliegenden Berte erſieht. Dasjelbe 
will den Muſikfreunden die Wege bahnen, welche 
8 einem kritiſchen Standpunkte gegenüber dem 

ratorium, ſeiner Geſchichte, ſeiner Gegenwart 
und Zukunft führen mögen. Gewiß, ein nüßliches 
und verdienftvolle® Unternehmen! Doc Monde, 
daß die Urteile des Verſaſſers über die neueren 
Beitrebungen und Leijtungen ben Eindrud madıen, 
als litten fie ſchwer an Unklarheit, die dem An— 


1121 


ihein nad zu einem Teil aus einer gewiſſen— 
haften Prüfung der beurteilten Gegenſtände 
ſchlechterdings nicht zu erflären ift, Deshalb regt 
id der Verdacht, daß eine ſolche Prüfung dem 
rteil gar nicht vorhergegangen fei, zuweilen auch 
da, wo man nicht lieft: das Oratorium jo und 
fo „ſoll“ ſchöne Chöre enthalten u. j. w. Uns 
derenteild ift man verjuht, den Mangel an 
Klarheit auf eine — wohl faum vom Verfaſſer 
empfundene und einzuräumende — innere Unfihers 
beit feines Urteils zurüdzuführen, welde denn 
oft die objeftive Wahrheit des Hiftoriferd trübt 
und fie zur rein jubjehiven Meinung eines Re— 
zenjenten herabſetzt. Man vergleihe Hierzu nur, 
was über Nobert Schumann — nicht gejagt und 
wie überjhwänglih dagegen von Löwes „Hochzeit 
ber Thetis“ geihwärmt wird. Um nod ein Bel— 
ipiel anzuführen von folder Unficherheit des Ur— 
teils, jo findet der Leſer fi überraſcht durch die 
Behauptung, Mendelsjohn habe Fr. Schneider 
(den fogenannten Weltgerichts-Schneider) wegen 
defien „Friſche und Jugendlraft zu beneiden“ 
Urſache gehabt!? Auch wird es kundigen Lefern 
anz neu ſein, daß Mendelsſohns „Elias“ „weniger 
Sting“ gemacht häite als fein „Paulus“. Elias 
wurde vielmehr jhon in den Aushängebögen ber 
Simrockſchen Berlagshandlung ftürmitch getauft, 
und der Ertrag des erftjährigen Vertricbes bedte 
— wie man derzeit erfuhr — zur Oſtermeſſe das 
anze Geihäft, welches die —— im letzten 
Sabre gemacht hatte. Man jucht überall vergebens 
nad) einer zielbewußten Kunftanihauung als der 
Grundlage und Quelle der Kritit, die der Ver— 
Ale den raſch vorübergeführten Gegenftänden 
einer Darftellung angedeihen läßt. Daraus er- 
Härt fi fein ſchwankendes Urteil, das zumeilen 
— vorzugsweiſe in Bezug auf die Gegenwart — 
den Eindrud eines auf der hohen See der Mei— 
nungen umbergetriebenen jteuerlojen Fahrzeugs 
madt. In der Einleitung bekennt Herr Böhme 
ih zu Spitta® Begriffsbeitimmung, welde „vom 
ratorienjtyl fordert, dab der Komponijt mit allen 
Zonmitteln den vollen mufifalifchen Gehalt feines 
Textes entfefieln müfje, che er dramatiſche Rück— 
fihten nehmen dürfe. Die Aufgabe des Orato— 
riums jei demnad gar nit, dramatiich zu fein, 
fondern nur den in jeinen Begebenheiten liegen 
den Stimmungsgehalt mufitaliih zu entbinden“. 
So erhebe das Oratorium ſich nad) feinem fitte 
lichereligiöjen Inhalt und nad der reichen Ent— 
faltung der höchſten Kunftformen auch ſtiliſtiſch 
über die Oper umd alle anderen Formengattungen 
der Tonkunſt. Mit diejer Auffafjung des Drato- 
riums und feiner Aufgaben kann man gern eins 
verjtanden jein; biejelbe folgt der überlieferten 
Anſchauungsweiſe und jcheint aud vom Verfaſſer 
eteilt zu werden. Wenigftens lieſt man jein Bud 
in folder Vorausſetzung bis zur drittlegten Seite, 
ohne aus diefer vertrauensvollen Annahme herauss 
gedrängt zu werden. Da zieht ganz unerwartet 
ein gejperrt gedrudter Satz af Seite 108 die 
Aufmerkfamteit des Lejerd auf eine völlig neue, 
an das Dratorium und jein Wejen gerichtete 
Forderung — eine Forderung oder ein Wunſch 


1122 


des Verfaſſers, wie nad) jeiner Meinung die Zus 
funft diefer Kunftgattung ſich geftalten müſſe — 
nämlich wörtlid jo: „Darftellung der heiligen 
Geihichte in lebenden Bildern (ohne Altion), 
verbunden mit einfachen vollstümlichen Gejängen 
der Kinder (!) oder Singchöre, jelbit (!) mit 
SInjtrumentalbegleitung, zu außerkirchlicher Erbau— 
ung in den drijtlichen Feitzeiten.” — Das Urteil 
über eine ſolche Weiterbildung des Bachſchen, 
Händeljchen, Mendelsjohnihen Oratoriums mag 
jeder mufitverjtändige Leſer fich ſelbſt bilden. — 
Uebrigen® joll nicht vergefjen werden, bejonders 
hervorzuheben, daß die evangeliſch-deutſche Grund 
jtimmung des Verfaſſers jtellenweije enthufiaftiich 
bervorleuchtet und empfängliche Lejer warm an— 
mutet. 8m. 


7. Poeſie. 


Dantes göttlidhe Komödie, überjegt von 
Otto Gildemeifter. (Berlin. Wilhelm Herk 
— Buchhandlung]) 1888. XII u. 551 ©. 


Wie Shakeſpeare fand aud Dante in Deutich- 
land eine zweite Heimat; allerdings lange nicht 
in einem jo weiten Kreiſe. Biele Gebildete halten 
immer nod die Bejhäftigung mit ihm für eine 
ionderbare Liebhaberei. Unſerer Frauenwelt gilt 
er als der unnahbare Dichter für gelehrte Männer. 
Er Hat das Weib verherrliht wie fein anderer; 
ein unverdienteres Schidial hätte ihn nicht treffen 
fünnen, al® von edlen Frauen gemieden zu werben. 
Ver in Goethes Fauft nur eine Liebesgeichichte 
findet und fi an vergängliher Salonmufit ers 
quidt, wage es nicht, zur göttlichen Komödie zu 
reifen. Wir haben aber, Gott fei Dant, deutiche 
Me genug, die jid) gerne den Tiefjinn des 
Lebens deuten lajjen und von dem Gewaltigen, 
das er fündet, erichüttert und erhoben werden. 
Alle diefe mögen tedlih die göttliche Komödie 
lejen. Manches mag ihnen jeltiam, manches ab— 
ftoßend ericheinen; aber im ganzen wird ihnen 
dad mwunderfjame Buch einen erhabenen Genuß 
bereiten, wie nur wenig andere Dichtungswerfe, 
und der Geihmad an jeichter Lektüre wird ihnen 
für lange vergangen jein. 

Die neueſte Ueberjegung, die uns in einem 
ftattlihen, von der Verlagshandlung würdig aus— 
gejtatteten Bande vorliegt, jei zu dieſem Zwede 
den Lejern der allg. fonj. Monatsjchrift und be— 
jonder8 den oben charalterifierten Frauen ans 
gelegentlich empfohlen. 

Es ift die 18. Uebertragung ins Deutiche, die 
8., welche die Terzine beibehalten bat. 

Ein leberjeger der comedia ſcheint vor der 
Wahl zu ftehen, auf die treue Wiedergabe des 
Sinns oder auf die poctiiche Form des Originals 
in verzichten. Es zeugt von der Reife deutjcher 
lebertragungstunft, dab wieder und wieder der 
rühmliche Verſuch gewagt wird, die ſchweren Ge— 
danken des Italieners in unjerer Heimat in das— 
jelbe zarte Kleid zu hüllen, das fie in der jei- 
nen tragen. Bor 11 Jahren hat uns Karl 
Bartſch mit einer trefilihen Terzinenüberfegung 


Neue Schriften. — Poeſie. 


beihentt. Wenn ber Nachfolger immer etwas 
Beſſeres bieten joll ala die Vorgänger, jo war wohl 
feiner mehr dazu berufen, Bartſchs nenne zu 
fein, als Otto Gildemeifter, der geiftvolle Ueber 
ſetzer Shafeipeares und Arioſtos, Byron? und 

uſſets. Das vorliegende Buch ift dad Wert 
eines gewiſſenhaften Dolmetſchs; dabei entfaltet 
fih troz der Nötigung durd den Zwang bes 
Gedankens und den Zwang der Form der Geift 
ber deutichen Zunge in völliger Freiheit, jcheinbar 
unter feinent anderen Gejeg, ald unter dem einer 
autonomen poetiihen Kraft. 

Die Sprache der Uebertragung ijt fräftig, ges 
drungen, wuchtig, plaftiih; wohl faum läuft ein— 
mal ein unpoetijcher Uusdrud mit unter. 

Nur an wenigen Stellen der drei Gejänge, 
welche der Unterzeichnete mit dem Drigjnale vers 
glichen hat, läßt die Treue der Uebertragung zu 
wünſchen übrig. So purg. 11,18, wo „e non 
guardar al nostro merto“ durch „und laß un® 
nit umſonſt Vergebung bitten“ rg 
ift. An einigen Stellen mußte um des Reimes 
willen die feine Nuance de Sinnes verwiſcht 
werden oder ein Stüd der Anjchaulichkeit verloren 
geben. So inf. 7,48 „in cui (Päpſte und Kardi— 
näle) sua avarizia il suo soperchio* — „die 
fi der Macht des Geizes nicht erwehren.“ Der 
Sinn ijt: in denen der Geiz ſich jelber übertroffen 
bat. Parad. 18,121. si ch’ un altra fiata omai 
sadiri. Es ſpricht bier der Dichter den Wunſch 
aus, daß wieder einmal (un altra fiata) der 
Zorn Chriſti über dad Kaufen und Berfaufen 
in Tempel entjlamme. Das bezeichnende un 
altra fiata, weldyes an die erſte Tempelreinigung 
durch Chriſtus erinnert, ift in der Ueberſetzung un 
berüdjichtigt geblieben („damit vor jeinem Grimm 
den Krämern graut“). Biel zahlreicher find die 
Stellen, wo eine Vergleihung mit dem Originale 
Bewunderung vor der Kunſt des Lleberjegers er— 
weckt. Prächtig iſt die Wiedergabe an Stellen 
wie inf. 7,53. 54. 81. 95, purg. 11,93. 102, par. 
18. 64 fi. Nur jelten findet man eine Erweite— 
rung des Gedanfens, die dem Bedürfnis, den Reim 
zu füllen, ———— iſt (inf. 7,37; purg. 11,5). 

Während dad Driginal faſt lauter meibliche 
Neime hat, wendet ©. dem Charakter der deutſchen 
Sprade gemäß mit Recht aud männliche Reime 
an, und zwar in regelmäßiger Abmwechjelung mit 
jenen. Seine Berstunft ift eine meifterhafte. Nie 
wird dad Ohr durch einen unreinen Reim, nie 
N unnatürlicde Inverfionen oder Ellipfen bes 
leidigt. 

Aur Aufgabe der Uebertragung trat die Der 
—— Ohne gelehrte —— in die 
Welt des Dichters iſt ein Genuß der comedia 
unmöglich. Sehr leicht wird hier des Guten zu 
viel gethan. G. hat ſich auf das Notwendigſte 
beichräntt. Er ſetzt nicht einen gelehrten, wohl 
aber einen gebildeten Leſer voraus. Man wird 
dankbar dafür fein, daß feine Noten ben Text 
entjtellen, jondern in einer mäßig großen Einlei- 
tung zum ganzen Werfe und in furzen Einleis 
tungen zu jedem einzelnen Gejange das zum 
Berjtändnis Erforderliche geboten wird. Aller— 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


dings ift es ratſam, dieje Bemerkungen mit Auf: 
mierffamfeit zu leſen. Es wäre vielleicht dienlich 
gewejen, wenn öfter in den Einleitungen zu den 
einzelnen Gejängen auf die Gejamteinleitung, 
namentlich auf die hier gegebene Schilderung der 
politifhen Verhältniſſe, zurüdverwiejen worden 
wäre. 

Die dem Ganzen voransgefhidten Bemerkungen 
enthalten nur geficherte Ergebnifje der Dantefor- 
ihung und von diejen nur jolche, die zu erfahren 
not thut, um das Gedicht zu verfiehen. Dankens— 
wert ift es, daß fie nicht im voraus eine Analyie 
desjelben geben und mit den verichiedenen Deus 
tungstheorien den Leſer verihonen. Der Interpret 
läßt dad Werk für ſich felber reden. Eine Er— 
Härung des auffallenden Titeld „Komödie” Hätte 
nicht fehlen jollen. 

Die Einleitungen zu den einzelnen Gefängen 
Pan in eine kurze Inhaltsangabe ein, was zum 

erftändnig einzelner Stellen notthut. Was ſich 
in die zufammenbängende Darftellung nicht eins 
fügen lieh, wird am Schluſſe derjelben anhangs— 
weife zu den einzelnen Verſen angemerft. 

Ein Ueberſehen iſt e8, wenn in der Einleitung 
zu parad. 18 Ulice, die Geliebte Rennewarts, 
eine Tochter Karla des Großen genannt wird. 
Sie ift nad der Sage eine Tochter Ludwigs des 
Frommen. Die Ertlärung des fumo acidioso in 
inf. 7,122 auf den heimliden Haß der Hämiſchen 
ſcheint dem Unterzeichneten richtig zu fein, dagegen 
mödte er mit den ältejten Kommentatoren die 
beiden Guido, welche der Ungenannte vom Nefte 
vertreiben wird, für Guido Guinicelli und Guido 
Gavalcanti halten (purg. 11,97). 

Vielleicht ift der Verfaſſer in feiner rühmlichen 
Sparjamkeit an Noten etwas zu weit gegangen. 
Inf. 7,12 „soperbo strupo“, „ſtolze Hurerei“, hätte 
einer Erläuterung bedurft. Es ijt nicht Har, ob 
der Ueberſetzer nach dem Sprahgebraude des 
Alten Tejtaments den Abfall von Gott bezeichnen 
will, oder an das 1. Moje 6,2 erwähnte Bergehen 
der Engel denkt. Der Dichter hat wohl das eritere 
gemeint. Das „tägliche Manna“, um weldes in 
den herrlichen Eingang&worten des 11. Geſanges 
de purg. die Seelen fliehen, ift nur dem theolo= 

iichen Leier als die mitwirtende Gnade verſtänd— 
ich, Bei Zeile 129 desſelben Geſanges hätte auf 
das, was Belacqua purg. 4,129 ff. jagt, zurück— 
verwiejen werden dürfen. Der Adler in parad. 
18,108 jcheint dem Unterzeichneten nicht Sinnbild 
der Herrichertugend Gerechtigkeit überhaupt zu 
fein, jondern der Gerechtigkeit der kaiſerlichen 
Weltmacht, die nad) Dante ein notwendiges Glied 
der göttlihen Ordnung der Dinge iſt. 

Dieſe Ausſtellungen werden nicht gemacht, da— 
mit getadelt werde, ſondern damit die rühmende 
Anerkennung des prädtigen Buches nicht als eine 
———— und fonventionelle erſcheine. Möge 

ie gebildete Welt unfere® Volkes mit der gebüh- 

renden Dankbarleit die wertvolle Gabe, die ihr 
hier geboten wird, entgegennehmen, und dadurch 
dem großen Staliener viele neue begeifterte Freunde 
gewonnen werden! 

Wenn die Verlagshandlung einer zweiten Auf- 


Berichiedenes. 1123 


lage, die hoffentlich bald nötig wird, das Giotto— 
ſche Konterfei des Dichters beigeben würde, wäre 
es gewiß nicht nur ein äußerer Schmuck; der 
Unterzeichnete wenigſtens ſchaut immer gern, 
wenn er ſich ſo recht an ſeinem Dichter BL Me, 
hat, in die wunderſamen Züge des ftrengen Ant— 
lige8 hinein, die das verhaltene Feuer der alma 
sdegnosa (inf. 8,44) — der zornigen Seele — 


verraten. 
N. Scmittbenner. 


8. Unterhaltungslitteratur. 


— Meijter Bredmann, wie er wieder zum 
Glauben fam und aufhörte, Sozialdemofrat zu 
jein. Bon 8. v. Hammerjtein, ©. J. 2. Aufl. 
Eh Banlinus-Druderei.) 1888, 115 ©. 8%. 
1 


Von der Sozialdemokratie ift in dem vorliegen- 
den Schriftchen jehr wenig die Rede. Der Verf. 
fennt nur einen Gegner und das ift — der Pro— 
teftantismus. Diefen jucht er auch hier alsbald 
auf und bringt in populärerer Form diejelben 
Gründe gegen den evangeliichen und für den 
römiichetatholiihen Glauben vor, welche er jchon 
in jeinem „Edgar oder: Vom Atheismus zur vollen 
Wahrheit” entwidelt bat. Da diefe Schrift mit 
ihrer Beweisführung bereits früher von uns in 
diefer Zeitichrift gewürdigt worden ift, jo iſt ein 
Eingehen auf die jachliche Seite des Büchleins 
nicht erforderlih. Was die Form angeht, jo mag 
vielleicht ein oberflüchlicher Leſer den Eindrud bes 
fommen, dal der römijch-fatholifche Glaube die 
Religion des geſunden Menjchenveritandes jei; 
wer jedoch mit einigem Nachdenken liejt, wird die 
Gutmütigfeit des Meifter8 Bredmanı bewundern, 
der jo leiten Kaufes jeine a re Ueber: 
zeugungen preißgibt und ein gläubiger Katholik 
wird. Freilich hatte der Meiiter — das wird 
mehrfad hervorgehoben — ein jehr gutes Herz 
und war eigentlih, man weiß nicht wie, zur 
Sozialdemofratie gelommen. Ein warmer Bruſt— 
ton, der Herz und Gemiljen ergreifen könnte, 
findet fich, abgejehen von den bibliihen Citaten, 
faum in dem Bude. Eine Sünde ift nah ©. 110 
nur dann etwas, „wenn man gegen das eigene 
Gewiſſen handelt“, A. H. 


9. Verſchiedenes. 


— Iris. Farbenſtudien und Blumenſtücke von 
Franz Delitzſch. (Leipzig, Dörffling & Franke.) 
1888, 80. 175 S. 4 M. 

Wer das Glück hat, zu den Schülern Delitzſchs 
zu gehören, der weiß auch, daß die holden Kinder 
des Lenzes und Sommers ſeine Lieblinge ſind 
und ihm tagtäglich in ſeine Vorleſungen das Ge— 
leit geben. Zwölf Vorträge über Farben und 
Blumen, meiſt im Plaudertone gehalten, und doch 
voll tiefen Ernſtes, werden uns daher nicht über— 
raſchen, aber uns um ſo willkommener ſein, weil 
wir wiſſen, daß ſie nicht Kinder einer plößlichen 
Laune ſind, ſondern langer und treuer Liebe 
ihren Urſprung verdanken. Sämtlich einzeln ſchon 


1124 


früher veröffentlicht, erjcheinen fie Hier in einem 
zierlihen Büchlein vereint, ſelbſt gleichſam cin 
lieblider Strauß, anhebend von dem tiefen Blau 
de8 heitern Himmels, jchließend mit der ewigen 
Jugend, welde in den goldenen Gafien der neuen 
Welt ihre Wohnftätte Hat. Innerhalb dieſes 
Rahmens Hören wir finnige Deutungen der Farben 
und ihres Gebrauchs auf geiftlihem und welt 
lihem Boden, vernehmen den Preis ber Blumen 
und ihre® Duftes, erhalten einen Beitrag zur 
Löſung der Frage, ob Quther in Leipzig gegen 
den groben Ed mit einem Blumenftrauß jich 
waffnete, jehen die Königin von Saba Salomo 


Neue Schriften, — Verſchiedenes. 


ein Blumenrätjel aufgeben, erfahren die bibliſche 
Beurteilung des Weines und Zangen, um mit 
einer Betradhtung über Liebe und Schönheit dem 
Ende zuzueilen. Die Bermählung deutſcher Ge— 
mütdtiefe und deutſchen Humors mit orientalifcher 
Dentweife, welche des Berfaffer zweite Natur 
eworden ift, geben ber Daritellung einen eigenen 
eiz, und das Schwanken zwiichen Holden Phan— 
tafien und der Verſenkung in ernite wiffenihaft- 
fie und fittliche Bahrbeiten läßt den ganzen 
Menſchen bei der Lektüre zu feinem Rechte on 


hähhbäb 4 444 
EEE AST 





Ein Verkrag. 


Roman 
von 
Siegfried vom Boak. 


(Fortjegung.) 





Sal’ a Terra. 


Henning hatte Schloß Bilamsdorff noch nicht verlaffen, als die Gejellichaft, der 
er entflohen, bereits bejchäftigt war, ficd) — wie Kurd es bezeichnete — zur Tafel zu 
pugen. Um vier Uhr war der Schloßherr gerüftet in jeinem Privatgemach zu treffen. 
Er empfing bier den Kapellmeister Gieſe und den Haushofmeifter, beide wie er jelbjt im 
Gejellichaftsanzug. Der Graf pflegte vor Beginn feitlicher Veranftaltungen in Schloß 
Bilamsdorff die getroffenen Anordnungen noch einmal perjönlich zu prüfen: „Wir find 
es unjeren Gäften und der Ehre umjeres Hauſes ſchuldig“ — erflärte er jeiner Gemahlin 
— „daß alles in tadellofer Ordnung ſei. Man darf den Leuten ſolche Sorgen nicht 
überlafjen. Sie müſſen ſtets eingedenk bleiben, daß des Herrn Auge fie bewacht und lenkt.“ 

Mit militärischer Straffheit ftand in rejpeftvoller Entfernung der Haushofmeijter 
vor dem Schreibtijch jeines Gebieters. Diejer war in Durchſicht eines langen Regifters 
vertieft. Er jchrieb mit Bleiftift ab und zu eine Bemerkung auf den Rand, welche er 
mit halblaut gejprochenen Worten verbolmetjchte. 

„Nehmen wir heute Chateau d’Aquem, — Kapwein dürfte für Damen doc zu 
heiß werden —“ jagte er jchreibend. 

„Zu Befehl, gnädiger Herr Graf” — antwortete der Haushofmeifter, während 
jener weiter las. 

„Nein, nein!“ — bemerkte derjelbe wieder nad) geraumer Weile allgemeinen 
Schweigens. — „Wir haben achtzehn Gedede und neun Paare, da find neun Jäger, 
— für jedes Baar einer — ganz genug.” 

„Sehr wohl, gnädiger Herr Graf!“ — echote es zurüd. 

Endlich hatte der Schloßherr jeine Durchficht beendet und reichte den Bapierbogen 
jeinem Haushofmeijter. 

„Vergeſſen Sie nicht, Meißner” — ermahnte er diefen noch — „nachzujehen, ob die 
Leute ihre Knöpfe und das Lederzeug gehörig gepußt haben.“ 

Darauf entließ er den Oberften der Dienerjchaft und wandte ſich dann in weit 
vertraulicherem Tone zu Gieſe. Der Graf durchlief langjam das Programm der 
Tafelmufit, welches Gieſe ihm überreichte. 


Allg. foni. Monats ſchrift 1888. XI, 12 


1126 Ein Bertrag. 


„Was wollen Sie denn mit ihrer Schubert’jchen Polonäſe zur Suppe jagen, mein 
lieber Kapellmeister?” — fragte der Graf — „das ſieht ja aus, als wollten Sie einen 
Ball ankündigen.“ 

„Ziehen Herr Graf zur einleitenden Suppe vielleicht eine Duverture oder ein 
Präludium von Bad) oder von Chopin vor?” — fragte Gieje mit leichtem Anflug 
von Ironie. 

„sa, ja!” — entichied Kurd nad) einiger Ueberlegung arglos — „da e3 wirkſam 
injtrumentiert ift umd Ihre Leute es gut blajen können, nehmen Sie das Bady’iche 
Präludium, das der Gräfin neulich jo wohl gefiel — nehmen Sie das zu Ehren des 
Fräulein von ZTrutheimb und des Grafen Hoyer. Ich denke, auch unjere engliſchen 
Säfte hören nach dem Tijchgebet am liebjten ein ernjtes Stüd.” — 

Der Mufifer machte eine ironische Verbeugung und Dieffemberg las weiter. 

„Mendelsjohns Gondellied zum Fiſch?“ — unterbrach er ji) wieder. — „Wir 
haben Seezungen” — belehrte er ſich durch einen Blid auf den neben ihm liegenden 
Entwurf des Speijezettels. „Zu dem Seefiſch paßt doch das Gondellied nicht recht — 
wie denken Sie über den Fall, Kapellmeifterchen, he?” — 

„Die paflende Wahl zu treffen iſt zumeilen jchwer. Befehlen Herr Graf vielleicht 
zum Seefiſch das Lied der Meermädchen aus Oberon ?* 

„Na ja — das paßt jchon beifer. Alſo „Lied der Meermädchen”” jchrieb er 
an den Rand neben dem durchitrichenen Gondellied. 

„sägerchor aus dem Freiichüg zum Nehrüden — bravo! — gut gewählt! Wir 
haben verjchiedene Jagdfreunde bei Tafel, denen die muſikaliſche Erinnerung an Waid: 
mannsleben den Genuß des Wildprets würzen wird.“ 

Während der Graf noch die übrigen Programmftüde durchmufterte, welche nach 
Maßgabe der entiprechenden Stimmung ausgewählt zu werden pflegten, die den Genuß 
der Küchenerzeugniſſe zu vergeiftigen dienen jollte, brachte Friedrid) die vom Schloßturm 
heruntergelangte telephonijche Meldung, daß der Wagen des Oberjten Kracht fichtbar 
geworden jei. Mit der Weilung, die Gräfin von der Ankunft der Gäſte zu verjtändigen, 
verſchwand der Kammerdiener. 

„Na hören Sie mal, mein lieber Herr Gieſe,“ ſchmunzelte Kurd fich erhebend und 
das Verzeichnis dem Angeredeten behändigend, „mit Ihrem „Nun danket alle Gott“ 
zum Nachtijch werden Sie bei der ‚heutigen gemijchten Geſellſchaft ſchwerlich Glück machen.“ 

„Soll ich vielleicht lieber einen Marſch ſpielen, mein Herr Graf?“ 

„Beileibe nicht, Kapellmeifterchen! — Wo denken Sie hin? — Ich werde doch 
meinen Gäſten nicht den Marſch machen! — Nein, nein! — Blaſen Sie nur den 
Choral. Ich will es mir gern gefallen laſſen, daß die Theetanten in der Stadt die 
Köpfe zuſammenſtecken und die altväteriſchen Manieren auf Schloß Bilamsdorff beklatſchen. 
— Beklatſcht zu werden, das iſt ja ohnehin das Streben Eures künſtleriſchen Ehrgeizes, 
mein lieber Stapellmeijter” witzelte Kurd mit dem zufriedenen Gefühl, ein treffendes 
Wortipiel gemacht zu haben. 

Er jtieg mit Gieje die Treppe hinab und redete mehr mit jich jelbjt als zu jeinem 
Begleiter, indem er weiter bedachte, wie das treue Feſthalten an den ehrwürdigen 
Gebräuchen und Bedürfnifjen einer religiös gerichteten Gefinnung der Vorfahren die 
heilige Pflicht des heutigen Edelmannes jei. 

„Die adelige Denkungsweiſe — darin liegt jet allein das Weſen der Standes- 
ehre. Was wäre meine Gefinnung wert, wenn ich dem Geber nicht danken wollte für 
die Gaben, die er mir ohne mein eigenes VBerdienjt in überreichen Maße darreicht. 
Aljo es bleibt dabei, Kapellmeiſter,“ wandte Dieffemberg ſich mit fröhlichem Entſchluß 
zu Gieje, „blajen Sie mir nad) Tafel recht hell und vergnügt „Nun danket alle Gott.” — 

Damit verabjchiedete er den Mufifer und trat in den Empfangsjaal, um die ein: 
treffenden Gäſte hier zu begrüßen. 


Ein Vertrag. 1127 


Kurd fand jeine Gemahlin jchon zu diefem Zwecke amvejend. Bald gejellten fich 
auch Sir Francis und Lady Lucy zu ihnen. 

„Sie werden verjchiedene Honoratioren aus der Kreisitadt und Nachbarichaft 
fennen lernen,“ erklärte Kurd jeinen englischen Freunden, „man hat Berbindlichkeiten” — 

Alma jchnitt die weitere Entwidelung der internen Beweggründe ab, welche geeignet 
waren, ein nicht eben günftiges Vorurteil zu erweden gegen die Einladung der erwähnten, 
von Kurt mit etwas mofantem Ausdrud als „Honoratioren“ bezeichneten Tijchgälte. 

„Die beiden Töchter des Oberjten Kracht,” jagte die Gräfin mit einiger Verlegen: 
heit beichönigend, „Sind die tonangebenden Genien der jungen Welt in unjerer Kreisſtadt.“ 

„Roldyen und Nia“ jchaltete Kurd beluftigt ein. Alma fand die Laune ihres 
Gemahls „wieder einmal ganz jpinds”. Sie machte dem engliichen Paar verjtändlich, 
die Schweitern würden nur von ihrem etwas jonderbaren Vater jcherzweije Rolchen und 
Nia oder Niny geheißen. Ihre Patinnen jeien jehr Hochitehende Damen, und die 
jungen Fräulein Kracht jcheinen deren vornehme Eigennamen „Karola” und „Sidonia“ 
mit jehr würdigem Anftande zu tragen. Sidonie, eine niedliche, noch recht naive 
Blondine mit keckem Stumpfnäschen, jehe man übrigens erſt jeit dem legten Winter in 
der Gejellichaft und heute zum erjtenmal zur Tafel in Schloß Bilamsdorff. 

Kurd ahmte die pathetiche Sprechweile des penjionierten Oberjt Kracht nad): 
„Meine Karolra — meine Sidonria” machte er und begleitete die Darjtellung des alten 
militärischen Sonderlings mit rollenden Augen, die er jo weit öffnete, daß die Bupillen 
zur Hälfte hinter das untere Augenlid verjanken, gleich untergehenden Sonnenjcheiben 
am Horizont weißer Schneeflächen. — Dieffemberg erklärte jein jeltfames Betragen als 
den Ausdrud einer ganz harmlojen Vergnüglichkeit, die er als jeine Gejellichaftsjtimmung 
bezeichnete. — Solche gute Laune teilte ſich auch alsbald den bereits amwejenden Gäften 
mit. Selbſt Alma bemühte fic vergebens ernſt darein zu jchauen, troß des peinlichen 
Gefühls, das der Mutwille ihr erregte, den ihr Gatte an jogleich zu erwartenden Gäjten 
fühlte. Außer Alma jchien aud) der Rittmeifter jich etwas unbehaglich berührt zu finden. 
Einen zwar verabjchiedeten aber ſonſt im Dienſt ſtets tüchtig und ehrenhaft bewährten 
Vorgeſetzten in ſeiner Abweſenheit mit den Koſten der Heiterkeit zu belaſten, das wider— 
ſprach dem militäriſchen Schicklichkeitsgefühl des Rittmeiſters. Er wandte ſich wie 
zufällig dem mit Prachtwerken belegten Büchertiſch zu, um aus Kaunlbachs Illuſtrationen 
zum „Reinefe Fuchs” unverdächtige Nahrung für jeine unterdrücte Heiterkeit anzuleihen. 

Inzwijchen erreichte der offene Landauer des Oberſten Kracht die Rampe des 
Sclofjjes, empfangen vom Haushofmeifter Meiner, dem alten Gottlob und einem Stall: 
fnecht. Der Oberjt lenkte vom Bock des Gefährtes eigenhändig jeine gutgepflegten 
Braunen. Auf den Polſtern des Rückſitzes wiegten ſich jeine elegant gefleideten Töchter, 
Fräulein Karola und Fräulein Sidonie. Den Bedientenfig nahm Johann ein, des 
Oberſten gewejener Offiziersburſche. Die Arme auf der Bruſt gekreuzt, in der okergelben 
Kracht'ſchen Phantaſie⸗ Livree mit himmelblauen ſilberbordierten Aufſchlägen und Kragen, 
machte Johann ſeiner Herrſchaft und ſeinem aufſehenerregenden Aeußeren alle Ehre. 

Der Oberſt wachte eiferſüchtig über den Glanz ſeines Hauſes. Im Dienſt bemühte 
er ſich ſtets, als einer der properſten und ſtrammſten Offiziere des Regiments zu erſcheinen. 
Sein einziger Schmerz war, daß ſein Wuchs ſich nicht über zwei Zoll des vorgeſchriebenen 
Maßes erhob. Er pflegte von ſich ſelbſt zu ſagen: fünf Zoll größer — und ich wäre 
der jchönjte Offizier in der ganzen Armee. Dabei zeigte er dann im Eifer der Ueber: 
zeugung das Weiße jeiner Augen oberhalb der halbverjunfenen jchwarzen Bupillen. 
Sein Haar war auf dem Schädel durchjichtig geworden; doch unterhalb desjelben fand 
ji) noch Vorrat genug, mit welchem er dieſen Schönheitsfehler aufs künſtlichſte hinweg— 
zutäujchen veritand. An den Schläfen gewährten tadellos gerundete jpigauslaufende 
Loden, welche ein glänzender Klebeſtoff feithielt, der kunſtreichen Friſur dauerbare 
Sicherheit. Mit dem reinen Weil des Haupthaars fontraftierte höchſt auffällig der an 
den Mundwinfeln ſtumpf abgejtugte Schnurrbart. Diejer männliche Schmud war 

72° 


1123 Ein ertrag. 


ichwarz wie unpoliertes Ebenholz und zeigte an den Wurzeln eine etwas unreinweiße 
Färbung. Oberſt Kracht ſetzte feinen ganzen Stolz in dieſes Symbol jeiner joldatischen 
Wirde und jugendlichen Straffheit, die er troß feiner vorgerüdten Jahre fich in der 
That bewahrt hatte und mit ritterlichem Hochgefühl und Anftand geltend zu machen juchte. 

Faſt gleichzeitig mit diejen Tiichgäften des Grafen brachte ein verdecter Mietwagen 
drei andere zu den Spiten der Gejellichaft zählende Kreisjtädter. Es war der Amts- 
richter Weinhold mit jeiner Gattin, einer jüngeren Schweiter des Oberſten Kracht, und 
der Rechtsanwalt Kniff, ein gewandter unterrichteter Jurist, glänzender Verteidiger und 
gefürchteter Gegner der Staatsanwaltſchaft — des Grafen Dieffemberg-Bilamsdorff Sad): 
walter und von allen unverheirateten Schönen wegen jeiner einträglichen PBraris und 
wegen jeiner gejelligen Talente im jtillen angejhwärmt Unter Führung des Haus: 
hofmeiſters jeßte dieſe Gejellichaft aus der Kreisftadt fi) nach langen Vorbereitungen 
mit fteifer Förmlichkeit in Bewegung; voran der Oberjt, auf der deforierten Bruft aud) 
das eiferne Kreuz, am Arm jeine Schweiter Weinhold. Beim Eingang des Empfangs: 
jaales langten zugleich mit den Sreisftädtern Adeltraut von ZTrutheimb und Marie 
Ningelin an. Sie traten bejcheiden zurüd, um dem Oberjten mit jeiner älteren Dame 
den Vortritt einzuräumen, nachdem Meißner die Flügelthüren geöffnet hatte. 

„Ab, mein gnädiges Fräulein von Trutheimb, weiß die Ehre zu ſchätzen,“ beteuerte 
der Oberſt. Er nahm eine jtramme Haltung an, jchlug die Stiefelabjäge zujammen, 
daß die Sporen Hirrten und deutete mit bezeichnender Handbewegung jeinen Entichluß 
an, dem adeligen Fräulein folgen zu wollen. Als Adeltraut nach vergeblichem Sträuben 
diefer Förmlichkeit ein Ende gemacht hatte, indem fie auf die Wünſche des alten 
Sonderlings einfach einging, jchloß der Oberſt ſich mit jeiner Begleiterin an. 

„Folgen Sie uns, Fräulein Ringelin!” wandte er fich zugleich nad) diejer um. 
Solche Neihenfolge wurde nad) jeiner Anficht von einer forreften Beobachtung der 
gejellichaftlichen Rangordnung gefordert; denn Marie ftand als Schwefter eines Ritt: 
meifters und als bürgerliches Fräulein unter der Stufe des Oberſten. 

Sp bewegte diejer fi) an der Spitze der Gäſte im Tempo eines Defiliermarjches 
nad) dem Pla im Saal, wo die Gräfin Alma ji) aufgejtellt hatte, um Geburtstags- 
gratulationen zu empfangen und die Eintretenden zu begrüßen. Nachdem er Trutheimbs 
und den Nittmeifter als alte Bekannte mit winfender Hand flüchtig begrüßt hatte, wurde 
der Oberſt und jein Gefolge den englischen Gäſten vorgeitellt. 

„Magnifique!“ rief der Oberft, „Rolchen und Nia, tretet mal 'ran, ihr Mädels 
— ımterhaltet euch mal mit den Herrichaften auf rrengliich. Sie haben in unjerm Net 
von einer Kreisitadt feine Gelegenheit dazu, meine Gnädigſte,“ erklärte er der Lady Luecy. 

Der Reiz, mit vornehmen Engländern perjönlich zu verkehren, wirkte auf beide, 
von gewillen Schwächen deutichen Volkscharakters befangene Mädchen mit gleicher Stärte. 
Karola aber fühlte ſich im Ausdruck der fremden, unter Leitung einer ſächſiſchen 
Erzieherin erlernten Sprache nicht ficher genug, ihrem inneren Antriebe zu folgen. Ihre 
Schweiter Eidonie hingegen ließ fich von der Aufforderung unbedachtiam hinreißen. 

„Hau thu Juh thu, mey Leddy?“ fragte fie die Lady mit leichtem Erröten. 

Lucy jah ihren Gemahl mit fragendem Blid bejorgt an. Er z0g fie aus der 
Berlegenheit, indem er dem naiven, niedlichen Fräulein in leidlich fließendem Deutjch 
über das Befinden der Lady Mac-Bell die tröftlichjte Beruhigung erteilte. Hierauf 
wandten beide fich zu Adeltraut von Trutheimb, welche in der Nähe jtand, und ver: 
tieften fich mit ihr in eine engliſch geführte Unterhaltung. 

„Ungezogen!” flüfterte Karola mit flammendem Blid auf die Gruppe. Dann 
führte fie die Schweiter an der Hand nad) einem Fenſter. 

„Diejes ftolze Fräulein von Trutheimb“ jchalt fie, „it mir unausftehlich!” 

„Warum denn, Nolchen?“ fragte Niny erjtaunt. „ch bemeide fie. Sieh doch, 
wie ihr der Mund geht — wahrſcheinlich habe ich eine rechte Dummheit begangen — 
wie ärgerlich! — wer doch auch jo fließend englisch fünnte! — Und wie jchön fie ijt! 


Ein Vertrag. . 1129 


— Wie freundlich fie uns die Hand reichte! — Ic fand es gar zu hübſch, daß fie 
den Bortritt nahm, weil Papa es dod) jo wünſchte. — Nein! — Aber diejer Papa!“ 
unterbrach ſich Sidonie plöglich, lief zu dem Genannten und 309 ihn beijeite. 

„Bapa!” flüfterte fie ihm eifrig ins Ohr, — „du haft ja die Uniform mit dem 
abıen*) Knopf angezogen!” — 

Verwirrt und jtumm blidte der Oberjt der Verkünderin der Schredenspoft in die 
Augen. Dann defilierte er am Spiegel vorüber mit zurüdgewandtem Blid. Richtig! 
— am untern Teil des Rockſchoßes fand ſich die Stelle, wo der vorjchriftsmäßige 
Knopf fehlte. 

„Krach und Bletz! — Reinführt — dazu — dabei — daran!” wetterte Oberft 
Kracht zwiichen den Zähnen. Er ſtieß die lebten vier Wörter kurz und mit abgemejjenen 
Pauſen im Metrum eines jambijchen WVerjes hervor. Ob er einen verborgenen Sinn 
damit verband, hat fich leider nicht ermitteln lafjen. Der rhythmiſche Tonfall diente 
aber — gleich dem Trommelichlag zum Appell — die aufbraufenden Gefühle zur 
Sammlung aufzurufen. Im aktiven Dienjt vor der Front waren jene rhythmiſchen 
Snterjeftionen hülfreiche Zeitmefjer gewejen zur genauen Feititellung der Friſt, welche 
den Anruf der Truppe vom auszuführenden Kommandowort trennte: „Bataillon — 
(reinführt — dazu — dabei — daran) — Marrrſch!“ — Im gegemwärtigen ver: 
hängnisvollen Augenblif der Entdeckung eines fehlenden Knopfes an der Garnitur 
Nummero Eins erleichterten jene Evolutionen der Zunge den verurjachten ſchweren Schred. 

„Der Soldat muß fich in jeder Lage zu helfen willen,” erinnerte fich der Oberft. 
Er werde eine pafjende Rückendeckung juchen, erflärte er. Auf dem Marſch zur Tafel 
jolle eine der Töchter fich hinter ihm heranmandövrieren, um als markierte Wand die 
ſchadhafte Stelle zu maskieren. 

Bald nad) diejem familiären Zwilchenfall hörte man die Tiichglode läuten. Zugleich 
erichien Gottlob in einer ftrahlenden Livree und fragte jeine Herrin, ob die Suppe auf: 
getragen werden dürfe. 

„Die Herrichaften find ja noch nicht einmal alle verfammelt, Gottlob — Sie haben 
zu früh läuten laſſen,“ tadelte Alma. 

„Halten zu Gnaden, gnädigjte Frau Gräfin,“ rechtfertigte fich der Alte, „um 
halber fünf ift befohlen worden. Sekt ijt die Glode ſchon fünf Minuten darüber. 
Und die Herrichaften von Tſchickenitz ſein ſoeben einpaffiert. Da jein fie auch ſchon.“ 

Der Haushofmeiiter öffnete wirklich jeßt die Flügelthüren jo weit als möglid). 
Denn das eintretende Ehepaar bedurfte viel Raum, um fich ungezwungen in der Welt 
bewegen zu fünnen. Beide Geftalten litten an einem jeltenen Ueberſchuß von Körper: 
fülle, den fie indeilen mit Würde zu tragen wußten. Doch die Gangart des Herrn 
machte gleichwohl den Eindrud des Schwerfälligen, weil er beim kurzen Ausschreiten die 
Fußipigen jehr auffallend nad außen zwängte; wahrjcheinfich, um jeine Bafis auf ſolche 
Art zu erweitern. — Seine Unterhaltung durchiwoben oft unartifulierte melodiiche Kopf: 
laute, die mit einem mäßigen Emporziehen der Mundwinkel verbunden zu jein pflegten. 
Das Ganze diejer Ausdrudsweile erjegte die Anftrengung rechtichaffenen Lachens. So 
erleichterte er fich die Arbeit, Teilnehmung und Einverftändnis überzeugend fundzugeben. 
— Seinerſeits ſprach er am liebſten über landwirtichaftliche Fragen. Er jchmeichelte 
ſich, der angejehenfte „Hühnerologe“ in der Umgegend zu fein. Bramaputra und Berl: 
hühner waren beliebte Spezialitäten, in denen fein Mitglied des „hühnerologiichen 
Vereines“ es ihm gleichzuthun vermochte. Gern hörte er ſich vom Grafen Dieffemberg: 
Bilamsdorff als Vetter titulieren, obwohl er feinen vollwiegenden Anſpruch auf ſolche 
Ehre hatte. Denn in Wirklichkeit verband eine wirkliche Vetterjchaft ihm nur mit den 
Treiherren von Dieffemberg » Zippelwig : Maujche, einer Seitenlinie des gräflichen 
Geſchlechtes. 





*) Eine gewagte Danziger Adjektivbildung von der Präpoſition „ab“. 


1130 Ein Vertrag. 


„Endlich !” rief Kurd den Eintretenden freundlicd; entgegen. „Spät fommt ihr, 
doch ihr kommt.“ 

Man vernahm einen ftillen hohen Kopfton; dann ging der große Hühnerologe auf 
Kurds Gitat ein. Er entichuldigte mit der Länge des Weges das jäumige Eintreffen. 
Auch mußte man öfter Schritt fahren, weil die diden Rappen bei der Auqufthite Leicht 
zu warm würden. — Nad) erteilter Abjolution machte Dieffemberg das jtattlihe Paar 
den Anwejenden befannt. 

„Mein Vetter Köck Freiherr von Küken auf Tichidenik und Frau Gemahlin Klotilde 
Freifran von Küfen —“ wiederholte er bei jeder Vorftellung mit jorgfältiger Gewiſſen— 
haftigfeit. Und jedesmal zog der wohlbeleibte Freiherr die Mundwinfel empor und 
drückte jeine Freude über die nene Bekanntſchaft durch einen innigen hohen Kehlton aus. 

Gräfin Alma bewegte ſich unftät und zerjtreut unter den Gäſten. ihre Blicke 
jchweiften von einer Gruppe der Gejellichaft zur anderen. — Endlidy eilte fie mit erficht: 
licher Unruhe nad) der Thür und drüdte auf einen Elfenbeinknopf. 

„Gottlob,“ raunte fie dem gejchäftigen Diener zu, der auf das gegebene Zeichen 
hereingetreten, „Gottlob, bitten Sie doch den Herrn Grafen Hoyer in meinem Namen, 
herunterzukommen. Er wird das Läuten überhört haben.“ 


„Bitte gütigit um Vergebung, Frau Gräfin,“ antwortete Gottlob betreten, „Der 
fremde Herr Graf jein vor ungefähr einer Stunde und funfzehn Minuten mit Hut und 
Stod auf die Schlofterrajje hinaus. Sie fragten, wann gejpeilet würde. Um Glock' 
halb fünfe, gnädiger Herr Graf, jagt’ ich. Aber Sie waren jo eilig fort, dak ich nicht 
weiß, ob Sie es verftanden haben. Denn Herr Graf jein noch nicht da und aud) des 
Herrn Grafen jein Hut und Stod befinden fich nicht in Nummer Achte. Ich habe jelbft 
nachgejehen, Frau Gräfin.” 

„Seltjam,” flüfterte Alma, „er ist jonft jo rückſichtsvoll.“ — Mit der Uhr in der 
Hand trat Kurd zu ihr. 

„Es ift bereits dreiviertel auf Fünf, mein Kind,“ jagte er etwas erregt, „auf was 
warten wir noch?“ 

Nachdem Alma ihn veritändigt, wandte Kurd ſich zur Gejellichaft. 

„Meine Damen und Herren,” ſprach er launig, „es ergiebt ſich, daß einer unjerer 
werten Gäſte ſich vermiſſen läßt. Derjelbe nennt fi) Henning Graf Hoyer auf Hoyershorft. 
Steht indeflen zu hoffen, daß er nicht weit jein und in Bälde hier eintreffen werde. 
Wir wollen deshalb durch allauzarte Rüdjichtnahme unjerem Selbjterhaltungstriebe und 
unjerer Geduld nicht ferner entiagungsvolle Proben auferlegen. Ich bitte darum die 
Herren, meinem Berjpiel geneigtejt folgen zu wollen.” — 

Er reichte der Lady Lucy den Arm und jchritt voran nach dem anftoßenden 
Billardjaal, dejien Doppelthüren als Durchgangspforten in den Speifefaal führten und 
zu Beginn der Nede des Schloßherrn vermittelit Einjchiebung in die Scherwand geöffnet 
wurden. Dem leitenden Baar folgten die übrigen. Rittmeiſter Ningelin beichloß den 
Zug mit dem Fräulein Sidonie Kradıt. 

Adeltraut von Trutheimb hatte ſich bei Kurds Mitteilung in betreff Hennings 
nad) der Fenſterniſche zurücdgezogen, wo der Vermißte vorher mit Sir Francis jo eifrig 
im Gejpräch vertieft war. Nachdenflich mit träumerifch verjchleiertem Blick jchaute fie 
zum Fenſter hinaus. Die flimmernde jonnige Luft verklärte den Waſſerſtrahl eines 
Springbrunnens, wenn er über die Schattenlinie einer Rojenhede emporſprühte, wie mit 
taujend goldenen Lichterchen und bligenden Denanten. Der Anblid des Verſinkens im 
Schatten und Emporjprühens in das reiche Gold des Lichtes jchien die Verlafjene der: 
geitalt zu feſſeln, daß fie fich jelbit und ihre Umgebung vollends darüber vergaß. 

„Bitte taufendmal um Vergebung, gnädiges Fräulein, daß ich mic) nicht eher um 
den Vorzug beworben, Ihnen einen jchlechten Erſatz für Ihren abwejenden Herrn Tiſch— 
nachbarn bieten zu dürfen.“ 


Ein Vertrag. 1131 


Mit diefen Worten wedte der Rittmeifter die ſchöne Träumerin aus ihrer Ver: 
junfenheit und reichte ihr, da er Sidonien am rechten Arm führte, jeinen linken. 
Adeltraut nahm ihn mit danfender Neigung des Hauptes an und folgte den voran: 
jchreitenden Paaren. Sidoniens Blide glitten verjtohlen zu Adeltraut empor. Sie 
weilten entzüct und jchwärmerisch auf dem Ausdrud ruhiger Hoheit und Harmonie, der 
über ihre edlen Meienen, ihre jchlant emporjtrebende Seftalt und über ihr ganzes Wejen 
ausgegofjen war. Auch Ningelin geriet in jeltiame Bewegung. Er empfand an 
Adeltrauts Seite ein jremdartiges Gefühl ehrfurchtsvoller Scheu, das ihn befangen machte 
und zugleich wie mit reiner Glücksempfindung durchflutete. — 

„Der Sal’ a terra” — wie die Schloßbewohner im Widerjpruch mit dem italienischen 
„la Sala* zu jagen pflegten — war ein weitgejtredter, von mächtigen Säulen geteilter 
Raum. In alten Zeiten diente derjelbe den Burgherren und ihren Mannen als Trink: 
halle. Kurds Urahn legte den Grund zu der gegenwärtigen künſtleriſch ſchönen und 
finnigen wie reichen Ausjtattung. Er hatte feinen Gejchmad in Italien gebildet und 
der alten einfachen Trinfhalle den Namen Sal’ a terra beigelegt. 


Zwiſchen zweien der byzantinischen Säulen war die braune, mit mattroter Ein- 
fafjung gezeichnete Marmortäfelung von einen Teppid) bededtt, auf welchem die 
geſchmackvoll deforierte Tafel ftand. Die gegenüber Tiegende Wand führte reichliches 
Licht zu durch Fenſter, welche die ganze Ausdehnung derjelben einnahmen und von der 
Dede bis zur Sohle des Saales hinab reichten. Breite Glasthüren geftatteten den Aus: 
tritt auf die Schloßterraffe, deren mächtige Fontäne vom Saal aus einen anregenden 
Anblict gewährte. 

Natur und Kunft vereinigten fich, um die Genüfle des Feſtmahles mit ſinniger 
Belebung der Phantaſie und des Gemütes aufs behaglichſte zu würzen. Indeſſen auf 
die Geſellſchaft, welche ſich an der Tafel niedergelaſſen hatte, ſchien die Umgebung ſolchen 
anmutenden Eindruck anfangs nicht zu machen. Sie ſchien vertieft in die ernſten Klänge 
des Gieje'jchen Hörnerchors, welche aus der Ferne feierlich herübertönten. Hie und da 
wechjelten Tiichnachbaren ein halblautes Wort. Im übrigen herrichte Schweigen, das 
nur von den aufwartenden Nägern und ihren Handreichungen mit geringem Geräuſch 
unterbrochen wurde. Ein prüfender Seitenblick beim Eintritt in den Saal hatte den 
Schloßherrn überzeugt, daß die Livree der Aufwärter, ihr Lederzeug und die vergoldeten 
Knöpfe mit dem Dieffemberg'ſchen Wappen in tadelloſem Glanz ſchimmerten. 

Während die Suppenteller abgeräumt und jüdliche Weine gereicht wurden, winfte 
Kurd mit den Augen dem alten Gottlob und befahl ihm leiſe, auf der Schlofterraiie 
und in dem Zimmer des Grafen Hoyer nachjehen zu laſſen, ob derjelbe ſich etwa da 
oder dort verjpätet haben möge. — Gottlob Vorjorge hatte das, indeſſen ohne Erfolg, 
ſchon gethan. 

„Aber Jakob, der jeine Ponnies ſchwemmte, hätte ihm erzählt, daß er geſehen, wie 
der Herr Graf über die Dorfbrücke in den Buchwald gingen. Es wird Ihnen doch 
nichts zugeſtoßen ſein?“ — 

„Das Ausbleiben fängt an mich ernſtlich zu beunruhigen,“ ſagte Kurd bedenklich. 
„Gottlob, ſchicken Sie Leute in den Wald, die nach dem Verbleiben des Herrn Grafen 
ſuchen ſollen.“ Gottlob eilte hinaus. 


Freiherr von Trutheimb vernahm die letzten Aeußerungen Kurds. Er fürchtete, 
der unangenehme Zwiſchenfall möge die Behaglichkeit des Mahles ſtören und ſuchte den 
erregten Dieffemberg und die in Meitleidenjchaft geratene Gejellichaft zu beruhigen. 

„Graf Hoyer fennt ja die Waldwege jo genau, wie du jelbit, mein alter Schwager,“ 
jagte er laut genug, um -auf jedem Platz verjtanden zu werden. — „Er ging von Jugend 
auf gern jeine eigenen Wege. Ihr jungen Leute nanntet ihn ja wohl den eingefleiichten 
Egoiſten von Pfeifersheim? Er konnte euch oftmals in Angſt verjegen, lediglich um 
des Vergnügens willen, über eure zarte Sorge ſich in pifanten Verſen luſtig zu machen 


1132 Ein Vertrag. 


und euch auszulachen. Wahrjcheinlich hat er es unjerer Gejellichaft vorgezogen, in irgend 
welcher Bauernhütte jeine anthropologiſchen Einfichten zu erweitern.“ 

„Aber konnte ihm nicht haben begegnet ein Accident?“ forjchte Lady Lucy, die den 
Eckplatz zwiſchen Kurd und Trutheimb innehatte. 

„Ein Unglüdsfall in diefen friedlichen Forften, Mylady, in der Umgebung diejes 
Schloſſes,“ verficherte der Freiherr mit Weberzeugung, „ganz unmwahrjcheinfih! — ganz 
undenkbar!” — 

„Für ganz undenkbar, Herr Baron, halte ich einen jolchen Fall denn doch nicht,“ 
warf der Amtsrichter mit Dienftmiene ein. „Es find jehr umruhige Zeiten — eine 
Maſſe von Kriminalfällen — das Vagabundentum dringt immer mehr in die Schwachen 
Pofitionen der Givilifation vor — umd daß es auch in unjere Gegend Eingang 
gefunden habe, ift mir ganz neuerdings jehr wahrjcheinlich geworden.“ 

„Sc bin nicht jo begünstigt, den Grafen Hoyer näher zu kennen,“ fiel Trutheimb 
ablentend raſch ein, „übrigens an perjünlicyer Entjchloffenheit gebricht e8 ihm ebenjo 
wenig als an Umficht in diffizilen Lagen. Doch vorher war er dermaßen zeritrent, daß 
er fic) meiner Gattin — die er längst kannte — mit einem tiefen Büdling vorjtellte 
— nicht wahr, Olga?“ — 

„Sa, das that er wahrhaftig!” beftätigte fie, von der entgegengejeßten Ede der 
Tafel herüber lachend. 

„Dagegen,“ fuhr der Freiherr fort, „ichenkte er den jungen Damen, Fräulein 
Ningelin und meiner Nichte Adeltraut, nicht die geringste Aufmerkſamkeit, obwohl er 
ihnen beiden wirklich unbekannt war. Als er fein gräflidies Haupt neigte, mochte die 
Bewegung einen nagelneuen großen Gedanken in jeinem Gehirn Losgerüttelt haben. 
Denn als jein Antlig wieder fichtbar wurde, hatte es alle Farbe verloren; die weit 
offenen Augen leuchteten in verklärter Bläue; er glich einem Geiftesabwejenden; und 
jo eilte er, von jeiner Idee gejcheucht, aus der Thür. Daß er die Einſamkeit des 
Waldes aufjuchte, bejtätigt meine Kombination bis zur Evidenz. Ich gehe aber jede 
Wette ein, daß uns der Vorzug feiner Gejellichaft nicht mehr lange vorenthalten bfeiben 
wird. Denn der Hunger bejiegt endlich die tieflinnigiten Spekulationen und jelbjt die 
unverantwortlichen Rückſichtsloſigkeiten.“ 

Nach den legten mit beißender Schärfe betonten Worten trat eine peinliche Pauſe 
ein. Adeltraut hatte während der Rede ihres Oheims die Augenlider gejenft und mit 
einem Löffel verlegen geipielt. Zwiſchen ihr und ihrer Freundin Marie Ningelin 
wartete ein leerer Seſſel auf das endliche Eintreffen des Vermiften. 

Sir Francis, der neben Adeltraut auf ihrer rechten Seite jaß, war von Trutheimbs 
faltjinnigen Auslafjungen ebenfalls unbehaglich berührt. Die Bewegung feiner jchönen 
Nachbarin entging dem Engländer nicht. Um der gedrücten Stimmung eine heitere 
Wendung zu geben, unterbrad nun Sir Francis das Schweigen. 


„Unjer Lieber Freund,“ jagte er mit Zuverficht, „ich glaube will bald kommen 
hier. Aber er muß bezahlen einen Groſchen in die Poor-box.“ 

Kurd erklärte den Unkundigen die Beziehung des Scherzes auf die Ordnungsitrafen, 
welche die früheren Hausgenofjen von Pfeifersheim verpflichteten, für jede Uebertretung 
eines Hausgejeßes eine mäßige Geldbuße in die Büchſe für Arme und Kranke zu legen. 
Man wollte Näheres darüber willen, ein Wunjch, dem Kurd willfahrte, indem er einige 
harakteriftiiche Züge aus dem Leben und gefelligen Verkehr zu Pfeifersheim mit kräftigen 
Strichen zeichnete. 

„Ach! wie hübſch! — wie interefjant!” warf Sidonie wiederholt dazwischen und 
beteuerte dem Rittmeifter: überhaupt finde fie muntere Gejeklichaften ganz reizend und 
ziehe eine jolche jeder anderen vor — ein naives Urteil über die gegenwärtige Gejellichaft. 

Idhre Schweiter Karola wurde durch Kurds Mitteilungen zum Nachdenken über 
die Erziehung der Jugend angeregt. Sie entwidelte ihrem Tiichnachbar, dem Rechts: 


Ein Vertrag. 1133 


anwalt Kniff, ihre Anficht, daß wohlerzogene Grafen die rücjichtsvolliten Lebensformen 
befigen müßten; und daß vornehme Herren überhaupt feine Böjewichter jein könnten. 

Kurd und Trutheimb ſchmunzelten verbindlich. Der feiſte Freiherr Köck von Küken, 
bisher ſtill bejchäftigt mit dem Inhalt der Gläſer und Schüffeln, kündigte jeßt durch 
einen hellen Kehlpfiff wie eine Lokomotive an, daß er fi) in Bewegung jeßen werde. 
Ueberrajcht richteten die Amwejenden ihre geipannten Blide auf ihn. Der Freiherr war 
ji) bewußt, daß jeine Gedanken leicht in Verwirrung gerieten, wenn er einen zuſammen— 
hängenden Vortrag halten mußte. 

„Sch wollte nur bemerken,“ ftotterte er, mit jeiner Befangenheit kämpfend, „nur 
beweijen, mein gnädiges Fräulein — wollt ich jagen, Fräulein Kracht — daß leider 
auch Böjewichter — ich meine gleihlam Hallınfen von Familie vorkommen. Bei uns 
auf dem Lande wird das Gelindel immer dreijter. — Schon die Göhren ftehlen mir 
meine Hühner — was wird aus ihnen? — Gauner! — oder vielmehr Spigbuben. — 
Sp zum Beiſpiel jchreibt mir da wieder ein Freund aus der Nefidenz von einem jolchen 
striminalfall — cause eelebre jagt er — jebt das Tagesgejpräh in allen Schänfen — 
willen Sie, in den Reftaurationen. — Wie die Sache zujfammenhängt — veritehn Sie 
mich, mein Fräulein — den Zuſammenhang Habe ich nicht vecht — ich meine, nicht 
genau behalten. Aber ein Nugendfrennd von mir — Graf Ladislas Willichowsky — 
e3 war eine polnische alte Familie — id) fannte ihn früher recht gut — habe mandjes 
Spielchen mit ihm gemacht was ich jagen wollte: — jehen Sie, mein verehrtes 
Fräulein — dem haben die Hallunfen das Geld abgenommen — er hatte es beim 
Tempeln gewonnen und trug gleichjam alles bei fich, und hernad) haben die Spigbuben 
ihn — mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein Kracht — vergiftet — und was das Empörendfte 
it — wie man glaubt — mit Cyankali ums Leben gebracht; — die Raubmörder nämlich 
waren gottloje Hallunfen von Stande — vornehme Edelleute von alter Familie — 
er jchreibt mir: engliiche Lords und Barone. — Da fünnen wir auf Tichidenik ung 
ja nod) tröften; denn die kommen bei ung gottlob nicht vor. — Obs aber überhaupt 
wahr ift — ich meine — was er mir jchreibt — das fann ich num freilich nicht wiſſen 
— willen Sie — nicht verbürgen. Was wird nicht alles zujammengelogen — ent: 
ichuldigen Sie gütigft, mein Fräulein — ich meine nur — ſozuſagen geflunfert und 
geichnurrt!” — 

Der Majoratsherr von Tſchickenitz trodnete ſich die Stirn und juchte jein Gleich— 
gewicht mit frappiertem Marfobrunner wiederherzujtellen. 

Ktarola, wohl die Einzige, welche ihm mit Ernſt zugehört, hoffte, die Mordgejchichte 
möge nur ein müßiges Gerede jein. Aber jowohl Kurd als Justus bejtätigten, daß die 
Nachricht von verjchiedenen Zeitungen bereits beiprochen werde. — Und der Amtsrichter 
Weinhold hatte in einer Gerichtszeitung gelefen, daß der Verdacht jenes Raubmordes 
ſchon auf bejtimmte Perſonen gelenkt worden jei; „ja noch mehr!” — Nad) dem angeb: 
lien Reſultat der Vorverhandlung würden die entdeckten Spuren möglicherwetje 
polizeiliche Nachtorichungen in biefiger Gegend veranlafjen. 

„And ſolche Scheufale jollten Lords und Barone jein können?“ fragte Karola 
entrüſtet?“ 

„Angeblich, meine gute Karola, keineswegs erwieſen,“ beruhigte ſie der Amtsrichter; 
„angeblich zwei vornehme Engländer, die einen obſkuren indiſchen Prinzen auf einer 
europäischen Bildungsreije begleiten ſollen.“ 

„Kennt man, was find ihre Namen?“ forjchte Sir Francis. 

„Angeblich,“ beitätigte Weinhold, „ein Sir Robert Trap — übrigens nur ein 
perjönlicher Adelstitel; der andere wird Lord Shepholm genannt.” 

„Berjönliche Adelsdiplomaten man kann nicht behalten alle im Kopf,“ meinte Sir 
Francis. „Aber Lord Shepholm? — Shepholm id; kenne jehr wohl — oh —“ ſann 
er und bald ward im erinnerlich, Shepholm jei ein bergiges Eiland an der Küſte von 





1134 Ein Bertrag. 


Devonihire — „jo!” — befiegelte Francis jeine Entdeckung. „Aber einen Titel von 
Lord Shepholm — ich bin ficher — haben wir nicht in England.“ 

Der Amtsrichter horchte auf. „Ein fingierter Name wirde den Verdachtgründen 
allerdings einigen Anhalt bieten,” erklärte er. 

„Worauf aber gründen fich die von Ihnen erwähnten Recherchen in unſerer Gegend ?“ 
forjchte Dieffemberg etwas beunrubigt. 

„Falls die richterlichen Erhebungen in meiner Quelle korrekt wiedergegeben find, 
joll der Käufer Ihres Meierhofes, Herr Graf, mit denjelben in Beziehung gebracht 
worden jein,” antwortete Weinhold. „Allem Anjchein nach eine jpiefindige Kombination: 
Denn derjelbe heißt Joſef MWhitehorje und legitimierte jich und jeine beiden Diener durd) 
unverdächtige Vapiere als amerikanischen Bürger. Nach den Ergebnijjen der Vor: 
verhandlung fällt der Verdacht indejjen lediglich auf diejenige Perjon, welcher jih Sir 
Robert Trap nannte, Derjelbe jtand in freundichaftlichen Beziehungen zu dem 
angeblichen Lord Shepholm und begleitete mit diefem einen indischen Prinzen, der 
übrigens nur in dem Gajthofe bekannt war, wo die drei Herren wohnten. — Aus 
diejen Umständen jchöpft nun ein junger eifriger Unterfuchungsrichter Verdacht gegen 
die jetigen Bewohner der Meierei, weil es drei Perjonen find, welche engliich reden, — 
Einem älteren Juriften von Erfahrung können jolche Schluffolgerungen nur vag und 
ſpitzfindig ericheinen“. 

Rechtsanwalt Kniff war zwar jehr geneigt, diejer Anficht des Amtsrichters zu wider 
Iprechen. Er zog es aber unter den obwaltenden Umftänden vor, jeinem Kollegen beizupflichten, 
weil er bemerkte, daß der Tiichgejellichaft ſich eine beſorgte Stimmung bemächtigte, die er 
zerftreuen zu helfen als Generalmandatar des Grafen Dieffemberg fich berufen fühlte. Auch 
hatte der Käufer des Meierhofes beim Abſchluß des Gejchäftes fic dem gräflichen Sachwalter 
gegenüber ala jo nobeldenkenden Amerikaner bewiejen, daß Kniff bereits das Material 
jammelte zu einer glänzenden VBerteidigungsrede, die er ihm halten wollte, falls derjelbe 
in die Unterfuchung dennoch verwidelt würde. 

Indeſſen wollte die auch von Trutheimb befämpfte ängftliche Spannung der 
Gemüter ich nicht beruhigen. Marie Ringelin fragte, ob die drei unheimlichen Fremden 
denjelben Wald bewohnten, in welchem Graf Hoyer verjchwunden zu jein jcheine. Dieje 
bängliche Frage fachte die Sorge um den Vermißten lebhaft wieder an. — Kurd verriet 
jeine innere Unruhe. Und auch der Nittmeifter, der unter den Neden der beiden Rechts: 
fundigen das Bild des Fremden, der ihm auf feiner Irrfahrt im Walde begegnete, ſich 
mit allen erinnerlichen Zügen lebendig vergegemmwärtigt hatte, rang ſchon längft mit dem 
Wunſch, jeine peinigende Ungewißheit durch thätiges Eingreifen bejchwichtigen zu dürfen. 
Nach Mariens Frage und der Bejtürzung, welche fich auf den Gefichtern der Damen 
faft allgemein abjpiegelte, ftand des Rittmeiſters Entjchluß feit. Er flüfterte jeiner Nach— 
barin, dem Fräulein Sidonie Kracht, einige Worte haftig zu. 

„Um Himmels willen,“ entgegnete dieje erblajiend, „Sie wollten, bejter Herr 
Rittmeister?” — Bedenfen Sie doch!” flehte fie. „Wenn Sie nun au — ad! — 
es wäre gräßlich!“ 

Eben reichten die Diener den Nachtiſch. Die Bewegung derjelben benußte der 
Rittmeister fich zu erheben und unter Dedung der Jäger zu Kurd zu gelangen. Beide 
wechjelten einige leiſe Worte, dann nidte Kurd bejtätigend und Ningelin jchlüpfte hinter 
einer der umfänglichen Säulen zum Sal’ a terra hinaus. 

Nach Verlauf einer geraumen Weile ritt er in langem Trab über die Dorfbrüce 
und jchwenkte in den Buchenwald ein. Ihm folgten, ebenfalls beritten, ein — 
Förſter mit zwei erprobten Spürhunden, und Helmrich, der Kammerdiener des Grafen 
Hoyer. Helmrich war in Auftrag ſeines Herrn abweſend geweſen. Er traf aus der 
Kreisſtadt wieder ein, als eben des Rittmeiſters Pferd gejattelt wurde und beſtimmte 
diejen leicht zu der Vergünftigung, jeinem Streifzug ſich anzuſchließen. 


Ein Bertrag. 1135 


„Wir pirfchen ben ganzen Wald ab,” jagte er entichloffen, „bis wir Die Fährte 
meines gnädigen Herrn aufgejpürt haben.” 

Inzwiſchen erhob die Gefellichaft fi von der Tafel. Man begab fi auf die 
Schloßterraife, um bier dem Kaffee zu nehmen. 

Trutheimb vang mit einer jehr unbehaglichen Laune. Auf allen Gefichtern las 
er nichts als Sorge und Mißſtimmung. Ringsumher vernahm jein Ohr halbunterdrückte 
Stoßjenfzer und Worte der betrübten Anteilnahme an dem Schickſal des Vermißten, 
welches vor der geängiteten Phantafie der Damen Kracht, Ringelin und der Lady Lucy 
von einer Minute vergeblichen Hoffens zur anderen immer bedenklichere Formen annahm. 
— Mit einer Art von Fanatismus aber hielt der Freiherr jeinen einmal gefaßten Ent: 
ichluß feit, den Anstand gejelligen Behagens zu retten. Aber welchen Unterhaftungsitoff 
er and) anjchlug, ihm wurde jedesmal der Faden der Konverfation zerrifen durd) eine 
Rückwendung auf den Gegenftand, der die Teilnahme aller übrigen gefangen zu 
halten jchien. 

Zuerst verjuchte ev es, den jehr ſchweigſam gewordenen Freiherrn von Küken 
redjelig zu jtimmen. Trutheimb fragte den berühmten Hühnerologen nad) jeinen Brut: 
öfen und erhielt jehr befriedigende Auskunft über ihre Erträge. 

„Aber Sie jollten einmal kommen, lieber Trutheimb, und ſich die Hühnerwirtichaft 
ſelbſt anſehen,“ jagte der die Freiherr freundlich. „Sch habe das ganze Frederviehzeug 
ſeit kurzem eingeſperrt. Hübſcher machte ſich's freilich, als ich es noch auf dem Hof und 
im Garten frei laufen laſſen durfte.“ 

„Und warum laſſen Sie Ihr Federvieh denn nun nicht mehr frei laufen?“ fragte 
Trutheimb mit angeſtrengtem Wiſſenseifer, als hoffe er eine ganz unerwartete Neuigkeit 
zu erfahren. 

„Ja ſehen Sie, mein guter Trutheimb, das geht nicht wegen des Diebsgeſindels. 
Die Gauner ſchnappen mir die ſchönſten fettſten Perlhühner vor der Naſe weg,“ erklärte 
der Hühnerfreund. 

„In der ganzen Welt nichts wie Banditen und Hallunken!“ rief Trutheimb ſehr 
unvorſichtig. 

Marie Ringelin hatte nur die Worte „Banditen und Hallunken“ vernommen. Sie 
eilte zu Trutheimb, legte ihre Hand auf ſeinen Arm und fragte ihn mit ängſtlicher Haſt: 

„Richt wahr, Herr | Baron, fie werden ihnen in die Hände fallen? — Bitte ver: 
hehlen Sie es nicht — Sie glauben es auch.“ 

„Aber liebes Kind,“ fragte jener verwirrt zurück, „wer ſoll wem in die Hände 
fallen? — Wir ſprachen von den Hühnern und Hallunken auf Tſchickenitz,“ murrte er 
ärgerlich. Er hörte, indem er ſich einer anderen Gruppe zuwandte, noch einen Pfeilauft 
des Freiherrn Küfen auf Tſchickenitz. 

Sobald war Trutheimb nicht zu ermüden. Er trat auf Oberſt Kracht zu und 
klopfte ihm von hinten mit Kordialität leicht auf die Schulter. 

„Reinführt — dazu!“ Weiter kam dieſer nicht. Er machte überraicht Kehrt und 
ſah das glänzende Antlitz des ſphäriſchen Freiherrn wie eine Sonne auf ſich niederſtrahlen. 

„Wahrlich, mein Herr Oberſt, die Leute haben recht, Sie den ſchönſten Offizier 
der Armee zu nennen,“ beteuerte Trutheimb. 

„Tempi passati, Herr Baron,“ raſſelte der Oberſt und hob ſich auf den Fuß— 
ballen, „fünf Zoll höher — dann vielleicht — aber jechzig ftramme Dienftjahre inkluſive 
doppelte Rampagneperioden und Penfion — nein, nein! — Schönheit passati!” 

„Nur nicht zu beicheiden, alter Freund,“ mahnte Trutheimb. „Wahrhaftig! wie 
Ihnen nod) dieje Garnitur ſitzt — meiner Seel’! vorjchriftsmäßtg wie auf Parade! — 
Bropre bis auf den Knopf!” 

„Krach und Bletz!“ Fnirichte der Oberft in dem Glauben, der Freiherr habe den 
fehlenden Knopf jeines Waffenrods bemerkt und wolle ihn damit jchrauben. 

„ber liebjter, beſter Papa,“ unterbrach ihn Karola, welche den Zorn ihres Vaters 


1136 Ein Vertrag. 


auf den Käufer der Meierei bezog. Von diefem war fie eben mit dem Anwalt Kniff 
in eine Meinungsverjchiedenheit geraten betreffs der naheliegenden Trage, ob das 
Vagabundentum im allgemeinen poetiiche Seiten nur in der Dichtung oder auch in 
Wirklichkeit aufzuweiſen habe. „Aber Liebfter, bejter Papa,“ beruhigte fie, „wir dürfen 
uns doch über das Abenteuer der beiden Herren nicht jo erhiten. Warten wir es doc) 
ab, bis fie wiederfommen. ch denfe mir, daß fie jehr intereflant davon erzählen werden.“ 

Trutheimb ftampfte umwillig mit dem Fuß. Noch einen Verſuch — den legten — 
wollte er machen. Er juchte einen Gegenstand, jo unschuldig, jo entlegen, daß er es 
für unmöglich hielt, von jolcher Rofition aus eine Abſchweifung auf die bejorgniserregenden 
Tragen des verhängnisvollen Waldes daran zu knüpfen. 

„sch Höre,“ wandte er ſich zum Amtsrichter, „daß Sie ein glücklicher Blumen: 
züchter ſind.“ 

„Nicht ich,“ jagte Weinhold, „meine Freude ift es mehr, in Mußeftunden Bögel 
und Eleinere Tiere auszuftopfen. Die Blumen bejorgt aber mit Gejchid und ſchönſtem 
Erfolg meine liebe Frau. Namentlich ihre Sträufchen find bei jungen Balldamen 
jehr beliebt.” 

„Schmeichler!” jchmollte Fran Weinhold Liebevoll und berührte mit ihrem Fächer 
janft den Mrm ihres ſchmunzelnden Ehegenofien. „Mit meiner Blumenzucht ift es nicht 
weit her, lieber Baron, nein! — nein! — machen Sie fich feine zu hohe Idee davon, 
beiter Baron. Denn meine Spezialität, die ich am liebjten en famille jelbjt juche, find 
die Holden Frühlingsfinder des Waldes. Der Wald liefert meinem guten Männchen 
auch jeine Tierchen.” 

„Aber Tantchen,” fiel hier Sidonie Kracht bittend ein, „das mußt du mir ver: 
iprechen: im diejen garjtigen Wald gehen wir nicht wieder Blumen pflüden. Wie mag 
es nur den Unglüdlichen dort noch ergangen fein — ach! ich mag gar nicht daran 
denken. — Und wir müſſen heute im Dunkeln noch ein Stück Weges darin fahren — 
Hu! — wie ich mich graufe, Tantchen!” 

Trutheimbs Geduld und Kunft war erichöpft. Die runden Arme auf den Rüden 
legend, durdjichritt er die breiten Gänge der Terraſſe. Sein ärgerlider Humor mad)te 
fi) Luft in der geſummten Choralmelodie: „Nun danfet alle Gott.” Vom Nachtiſch 
her, den fie janft Herüberklingend programmgemäß begleitete, tünte fie in Trutheimbs 
Erinnerung noch fort. „Eine zu der Situation recht paſſende Wahl!” hatte der Freiherr 
jeiner Tiichnachbarin, der Frau von Küken, jarkaftiich zugerannt. Auf einem Seitenpfade 
des Bosketts, das er eben erreichte, fand er, was jeine umberjpähenden Blicke gejucht 
hatten. Im Zwiegeipräh mit Frau von Küken wandelte dort jeine Gattin. Seine 
kurzen Schritte bejchleunigend, holte er die beiden Frauen ein. 

„Komm, Schab, rüfte dich!” jagte er zu jeiner Gattin. „Wir fahren nad) Haufe.” 

„zrutheimb ift als ein Spaßvogel in der ganzen Nachbarichaft verrufen,” meinte 
jovial die ftattliche Frau von Küken. 

„Mag jein!” erwiderte der Freiherr mit faft unhöflicher Kürze. „Diejesmal iſt 
es Trutheimbs vollkommener Ernſt.“ 

„Aber Juſtus,“ flehte Olga, „Du willſt meinem armen Bruder doch nicht ſolchen 
Affront anthun. Wir dürfen doch nicht vor dem Thee das Vergnügen ſtören!“ 

„Vergnügen? — Wahrhaftig, Olga, ein ganz apartes Vergnügen,“ höhnte er. 
„Ic dächte von dem frommen Hoyer und dem zartbejaiteten Rittmeiſter hätte man eine 
jo inftruftive Lektion im Kapitel der Umverfrorenheit empfangen, daß fie die Neigung 
zu Rückſichtsloſigkeiten gründlich furieren müßte. Oder find wir Dieffembergs nicht die 
Rückſicht Ihuldig, fie von uns und der übrigen Gejellichaft zu befreien? — Haben meine 
Damen etwa nicht bemerkt, in welch’ läftigen Kampf die gejelligen Pflichten der armen 
Geſchwiſter die — meines Erachtens übrigens ganz grumdloje Sorge um den teueren 
Freund ſie verwidelt ?“ 


Ein Vertrag. 1137 


„Der gewiegte Diplomat bewährt ſich wieder durch ſpitzfindige Interpretation der 
Thatjachen, mein edeler Freiherr,“ ſagte Frau von Küken gutgelaunt. „Sie ſind nie 
amüſanter, als wenn Sie ſich mit Anſtand ennuyren. — Und nun wollten Sie dieſen 
feltenen Genuß uns graujam entziehen? — Nein! — nein! — Erjt recht müjjen wir 
jest hier bleiben, um den — wenigjtens meiner geringen Einficht nad) — doch nicht 
jo ganz ungerechtfertigten Kummer tragen und zerjtreuen zu helfen.“ 

„Sie haben über fich jelbjt zu verfügen, Sie Spötterin,“ erwiderte Trutheimb, in 
den leichten Ton der Frau von Küken eingehend. „Bleiben Sie; — Olga und meine 
Sejellichaft wird nad) Haufe fahren. Denn wir find der Meinung, daß für Trauernde 
ſich Einſamkeit beſſer ſchickt, als fruchtloje Zerſtreuungsverſuche. . 

„Aber Alma hat doc) unjere beiden Mädchen auf einen längeren Beſuch eingeladen,“ 
erinnerte Olga ihren Gemahl. „Die Marie freute ſich ja wie ein Kind darauf. — 
Wir werden unſerem munteren Gaſt das Vergnügen ſchon nicht zerſtören dürfen. Und 
ſicher wird ſie auch die Rückkehr ihres Bruders erwarten wollen.“ 

„So laß die Mädchen bleiben, wenn die langweilige Veränderung der Umſtände 
ihnen die Luſt dazu nicht genommen,“ entſchied der Gerechte von Trutheimb. „Sie 
können denn meinetwegen nach einigen Tagen unter der Eskorte des Rittmeiſters zu uns 
zurückkommen. — Aber wir beide fahren nach unſerem behaglichen Imshuth, Olga. — 
Auf den Rittmeiſter und ſein Jagdobjekt, den Herrn Henning, zu warten, könnte mir 
indeſſen auch zu ſpät werden. Ich habe morgen zeitig zu thun mit einem Holzverkauf 
und muß meine gewohnte Nachtruhe haben. — Ihrem Herrn Gemahl, meine Gnädige,“ 
wandte er ſich zu Frau von Küken, „wird übrigens ein früherer Aufbruch ebenfalls 
nicht unerwünſcht ſein. Der Weg bis Tſchickenitz iſt weit. Nach dem heißen Tage 
wird es in den Niederungen, die Sie zu durchſchneiden haben, ungeſunden Nebel geben. 
Werden Ihre Rappen nicht den Schnupfen davon bekommen?“ 

„Ach! die Rappen! — Die hatte ich vergeſſen!“ rief Frau Klotilde beſorgt. 
„Mich wundert, daß mein ängſtlicher Köck noch nicht an den Nebel gedacht hat — ah! 
da kommt er eben.“ 

Freiherr von Küken und Oberſt Kracht ſuchten in der That nach dem maßgebenden 
Teil der Geſellſchaft, den für Küken ſeine Klotilde, für den Oberſten der Freiherr von 
Trutheimb darſtellte. Die beiden heranrückenden Herren hielten bei der geringen 
Anregung, welche die Geſellſchaft bot, es ebenfalls für ratſam, nach Hauſe zurückzukehren. 
Küken deutete mit ſeinem fleiſchigen Zeigefinger nach dem Wieſengrunde, über den eine 
dünne Nebelſchicht ſich wie ein Schleier hinbreitete. 

„Die Rinder,” erklärte er, „ſind heute jchon vor Sonnenuntergang durch den 
Fluß geſchwommen. Das PVichzeug weiß es vorher, wenn's ftarfen Tau und Nebel 
giebt. Wenn wir bald aufbrechen, fünnen die Rappen noch Leidlih an den Sümpfen 
von Kuchelwig vorbeikommen.“ 

Trutheimb wechjelte einen verjtändnisvollen Blick mit Olga, während Oberjt Kracht 
mit der Miene eines Sadjverjtändtgen behauptete, daß es bereits ſtark dämmere. 

„Meine Sidonria,” fuhr er fort, „it ein ganz ausgezeichnetes Wejen. — Allein 
militärische Bravour hat fie leider nicht von ihrem Prapa ererbt. — Es jtedt in jedem 
Menjchen ein Stüd von einem — rrr Hundsfott. — Mein Töchterchen befißt auc) 
ihre etatsmäßige Nation davon. Die Kleine fürchtet fich vor der Dunkelheit des Waldes 
und jucht Rückendeckung in einer improvifierten Netirade.” 

Die Gejellichaft befämpfte mühjam den Ausbruch ihrer Lachluft, um den alten 
wunderlichen Offizier nicht zu fränfen, der mit jeinen beweglichen Augenpupillen die 
ſeltſamſten Evolutionen ausführte. 

Kurd und Alma, welde Trutheimb richtig gejchäßt Hatte, waren mit dem 
unverhofften Entichluß der Gejellichaft unter den betrübenden Umſtänden nicht allzu 
unzufrieden. Sie gaben aber ihrem untröftlichen Bedauern Ausdrud, daß die Feſtfreude 
eine jo jeltjame Störung erfahren mußte. Die beiden Fräulein wollte man natürlicherweije 


1138 Ein Vertrag. 


durchaus nicht ziehen laſſen. Und Marie begründete ihre jtille Freude darüber mit der 
jchweiterlichen Pflicht, wegen des Scidjals ihres Bruders Mar Gewißheit erlangen 
u müfjen. 

Anders verhielt es fih Hingegen mit Mdeltraut von Trutheimb. Sie bejtand 
darauf, den Oheim nad) Imshuth zu begleiten mit einem Eifer, den man bei Diejer 
zurücgezogenen Natur nicht gewohnt war. Selbjt ihre vertraute Freundin Marie fand 
die Enticheidung Adeltrauts — unerachtet der urjprünglichen Freude, mit welcher Almas 
Einladung fie erfüllt hätte — vollends unbegreiflich. Adeltraut beſchwor aber die 
PBittenden, nicht weiter im fie zu dringen. Und endlich) erflärte Marie, von ihrer 
Freundin werde fie ſich auf feinen Fall trennen — Mar möge über ihre jchweiterliche 
Liebe denken, wie er wolle. 

„So muß es denn jein!“ ſeufzte Adeltraut und bat Alma, welche ſich durch das 
unerklärfiche Widerſtreben gefränft zeigte, dasjelbe lediglicd) aus einem Beweggrunde zu 
entjchuldigen, über den fich durchaus nicht ſprechen laſſe. 

Alma und Marie jahen die ermitbewegte hohe Geſtalt mit erjtaunten Blicken 
jragend an. Weitere Erörterungen diejes neuen Rätſels aber wurden dem Fräulein 
Trutheimb durd) Abſchiedsſzenen erſpart, welche die Auseinanderſetzung unterbrachen. 

Gleichzeitig ſchlüpfte eine behende weibliche Figur durch die beſchatteten Pfade der 
Terraſſe — ſcheu umheripähend — in eine der geöffneten Thüren des Sal’ a terra. 
Hier brannten einige Sterzen und verbreiteten in dem weiten Raum ein unficheres 
Dämmerliht. Der Haushofmeifter und einige Diener waren noch mit dem Abräumen 
der Tafelgeräte bejchäftigt. — Meißner ftand am Anrichtetiich. Er wandte den Rüden 
nach dem geöffneten Eingang, als er leije jeinen Arm berührt fühlte. 

„Was giebt's ichon wieder?” fragte er barjch und warf jeinen Kopf zurüd. Bor 
ihm ſtand im jommerlichen Strohhut und leichten Mantel Hocherrötend Fräulein 
Sidonie Kradıt. 

Meißners Züge nahmen bei diefem Anblid einen giütigen, fait geichmeichelten 
Ausdrud an. Er fragte mit feiner leutjeligften Miene, womit er dienen fünne. Sidonie 
überflog mit rajchem Blid die in langen geordneten Reihen auf dem Anrichtetijch 
liegenden, bereits gepugen Tijchgeräte. Mit äußerſter Erregtheit ergriff fie plöglich eine 
Bratengabel und jchwang fie mit ihren ſcharfen Zinken dem entjeßt zurüchweichenden 
Haushofmeiiter entgegen. 

„Bitte, * feuchte Sidonie mit jchwerem Atem, „bitte, Herr Haushofmeifter, erlauben 
Sie mir, dieje Gabel unterwegs nad) Hauje mitzunehmen. Ich ſchicke ſie morgen mit 
der Botenfran Ihnen wieder. Bitte! — Wollen Sie? — Aber um Himmelswillen 
jagen Sie es niemand, hören Sie?” 

„Sa, aber darf man fragen,” entgegnete Meiner, der fich von feinem Schred 
und Erjtaunen nod) nicht erholt hatte. Allein er befam feine Auskunft. Denn Sidonie 
war bereits in der Dunkelheit der Terraſſe jeinen Blicken entichwunden. — Sie verbarg 
die Gabel, deren Hirſchhorngriff ihre zierlichen Finger feſt umklammerten, in den Falten 
ihres Mantels und murmelte dazu zwijchen den beiden Berlichnüren ihrer weißen 
kleinen Zähne: 

„So! nun wagt 'mal, uns zu überfallen, ihr Waldräuber! — Wehe euch!” 
Dabei zucdte fie die Gabel unter dem Mantel mit mehr Bravour, als ihr Vater in 
ihr juchte. 

Als Trutheimbs abgefahren waren, rollten die beiden Kreisjtädter Kutſchen die 
Rampe des Schlojjes herauf, voran der Landauer des Oberjten. Auf Sidoniens Bitte 
war das Verdeck geichlojien worden. Bevor der Oberjt Kracht einftieg, befahl er dem 
Lenker des Mietwagens: 

„Im Walde dicht hinter uns herfahren. — Könntet doc) meines Schutzes bedürfen.” 

Die legten Gäſte, welche abreijten, waren die von Tſchickenitz. Lange hielt bereits 
die breitgebaute Kalejche mit den runden Wappen auf der Nanıpe. Auf dem Bod ſaß 


Ein Bertrag. 1139 


Hannes, der Küken'ſche Roſſelenker. Er gab jeinen Rappen wie jeiner Herrichaft an 
störperfülle nichts nad). 

Langjam und behaglic) trat der dicke Freiherr, jeine Gemahlin an der Hand 
führend, endlidy aus dem Schloßportal. Das gräflihe Paar gab ihmen das Geleit. 
Mit gemächlicher Umpjtändlichkeit richteten die Reiſenden fich auf den geräumigen Bolfter: 
jigen des Gefährts ein. 

Inzwilchen war Kurd an den Wagen getreten und unterjuchte jehr aufmerkſam 
die Feder des Geitelle. 

„Was machjte denn?“ fragte Freiherr von Küken mit einiger Unruhe. 

„Sch überzeuge mich nur, lieber Vetter,“ erflärte Kurd mit dem Ausdruck ernfter 
Beſorgnis, „ob die Feder deiner Kalefche dauerhaft und feit genug iſt. Ich tariere, 
wie viel Kilo ihr, Hannes und die Rappen etwa in Summa repräjentieren mögt. 
Dazu gehört denn eine ſtarke Eijenfonjtruftion, euch vor Malheur zu fichern.“ 

„Schäfer!“ jchmollte der ‚Freiherr. „Fahr zu, Hannes!“ rief er dem Kutſcher 
hinaus. Die Nappen jebten ſich in gemejiene Bewegung und aus dem Innern des 
Magens drang den Nachgrüßenden noch ein erjterbender Kopfton zu Ohren. 


Allerlei Erlebtes. 


Im Schloß Bilamsdorff war es ftill geworden. Die Gejellichaft ſaß im Thee— 
zimmer und folgte jchweigjam den aus dem Nebengemad) herübertönenden Klängen des 
Beethoven'ſchen Streicyquartetts in B-dur. Alma hatte diejes Werk mit Gieje auserlejen. 

„Es wird die Hoffnung beleben,“ meinte fie, „ohne die betrübte Teilnahme, die 
uns alle begreiflicherweile beherricht, zu verlegen. Die „Malinconia”, über welche die 
etwas ſchüchterne Munterfeit des Allegrettofaßes in diefem dramatiichen Finale vergeblid) 
zu fiegen jucht — in die der erjtrebte Aufichwung immer wieder zurücjinkt, wird auf 
den Drud, der die Gemüter belaftet, wie ein homöopathiiches Mittel Hoffentlich wohl- 
thuend einwirken. Erproben wir denn einmal die lindernde Heilkraft jchöner Mufit!“ 

Indeſſen jchienen die übrigen Lauſchenden — noch zerjtreuter als fie jelbjt, die 
jeinfühlige Herrin des Schloffes — ihre Aufmerkfjamfeit dem Quartett Beethovens an 
diefem Abend doch nur geteilt widmen zu künnen. 

Sir Francis und Lady Lucy folgten der Gewohnheit, die das Benehmen ihrer 
Landsleute beim Mufizieren, in gejelligen Theezirkeln zu bejtimmen pflegt. Sir Francis 
bediente mit einem goldenen Stocjerinjtrument jeine Zähne. Dann jpielte er mit dem: 
jelben, ſteckte es bedachtſam wieder ein, gähnte zweimal verjtohlen, zog jeine Brieftajche 
hervor und entfaltete nacheinander mehrere Briefe, die er flüchtig durchlas, um fie und 
das Portefeuille wieder an ihren Aufbewahrungsort in der Brufttajche feines Gejellichafts- 
rods zurüdzubefördern. Als er damit endlich fertig war und eben der ausbrudsvolle 
Schlußſatz beginnen follte, lehnte er fich in das Polſter feines niedrigen Sefjels zurück, 
jtredte beide Füße jo weit als möglich von fich, vergrub Kinn und Mund in die 
Höhlung jeiner rechten Hand und ftarrte verfunfen die leuchtende Milchglastuppel der 
Yampe au, als erwarte er bejtimmt, durch das unverrücte Anftarren diejer Kuppel aus 
jeiner peinlichen Unruhe erlöjet zu werden. 

Lady Lucy wurde beim Beginn des Quartett3 plötzlich redjelig. Sie ſaß zwijchen 
der Gräfin und Adeltraut. Von der Mufit hüpften ihre Gedanken leicht zur ſchönen 
Litteratur ihrer amerifanijchen Heimat. Auf ihre Frage nad) Almas Urteil über die 
Dichtungen Longfellows erfolgte eine ausweichende einfilbige Antwort. Lady Lucy konnte 
einige Anfänge jener Poeſien aus dem Gedächtnis zitieren und that es aud) mit dem 
Ausdrud jchwärmerischer Bewunderung. Dagegen verficherte fie, daß die berühmten 
Goldgräbergeichichten aus Kalifornien von Bret Harte ihr zum größten Teil nad) Inhalt 
und Darjtellung abjcheulich, roh und unerträglich jeien. — Lady Lucy begriff es nicht, 


1140 Ein Bertrag. 


daß eine feingebildete Frau wie die Gräfin Alma, diejem fajhionablen Unterhaltungsitoff 
durchaus feinen Anteil abzugewinnen jcheine, — Etwas gekränkt wandte fie ſich deshalb 
an Mdeltraut mit der Frage, ob fie Wagnerianerin ſei und wie fie über die Dichtung 
der großen Tetralogie Wagners denke, die man eben zu Bayreuth) mit joviel „Noise 
and Humbug* zum erjtenmal zur Darjtellung gebracht habe. — Unglaublih! — 
Adeltraut kannte das alle Welt bewegende Werk nicht. — Aber für Offenbachs reizende 
Opern: „Orphee dans l’enfer* — „La belle Elene* — und gar „La Granduchesse 
de Gerolstein“ werde Adeltraut doc) ficherlich jchwärmen, hoffte Lady Lucy aufs 
dringendfte. Adeltraut gehe gar nicht ins Theater? — Liebe Zeit! — Wie das mur 
auszuhalten je? — Da dieje deutjchen Frauen ihr in der Konverjation nicht zurechnungs— 
fähig erichienen, ergriff die Lady Mac-Bell ein filbernes Kuchenmefjer, deſſen krauſe 
Gijelierung fie, wie eine Wahrjagerin die Linien einer Hand, nun endlich verjtummend, 
von allen Seiten betrachtete. 

In Kurds Haltung ſprach ſich die Sorge aus, mit welcher das unklare Schidjal 
Hennings und des ihm nachipürenden Nittmeifters jein ſonſt jo gelafjenes Herz beunruhigte. 
MWiederholt jah er nad) der Uhr, ſtrich mit der Hand durchs Haar und rückte unruhig 
auf jeinem Sitz Hin und her. Beim Beginn des Scherzojages mit feiner, faſt eigenjinnig 
feftgehaltenen Taktverrüdung jprang Kurd vom Seſſel auf, durchmaß einigemal auf 
fnarrenden Sohlen den weiten Raum des Theezimmers und blieb endlich am Fenſter 
jtehen, durch dejien Scheiben er in die mächtige Dunkelheit hineinjtarrte. Als das 
Scherzo verflungen war, berichtete er, der Nebel jei in dichten Maſſen heraufgefommen. 
„sm Walde wird es pechfinfter jein. Die Mondfichel ift total unfichtbar,“ fügte er hinzu. 

„Willſt du dich nicht zu ung jeßen, lieber Kurd,“ bat Alma, „und das jchöne 
Finale mit der Malinconia ruhig anhören?“ 

„Sc werde es mit Mealinconia anhören,“ gab Kurd mit erzwungener Faſſung 
zurüd und nahm jeinen verlaſſenen Platz jeufzend wieder ein. 

Die Bejorgnis, welche Marie Ningelin um ihren Bruder trug, wurde durd) 
Dieffembergs Wetterbericht zur quälenden Angſt gejteigert. Beim leiſeſten Geräufch 
durchzucte fie das Gefühl, als müſſe fie aufjpringen und dem Erwarteten entgegenfliegen. 
Nur Schwer gelang es ihrem geübten Sinn, für gejelligen Anftand die erwünſchte Haltung 
zu behaupten. 

Auch Alma juchte ihre Unruhe zu verbergen Hinter der Gejchäftigfeit, mit welcher 
jie ji) der leeren Theetaffen annahm und unermüdlich fiedendes Waller aus dem Keſſel 
in die Theefanne goß, obzwar ſchon ſeit langer Zeit niemand mehr von dem heißen 
Getränk begehrte. 

Endlich verjtummte die Muſik und man atmete wie erleichtert auf. Nur Adeltraut 
ichien den Tonwellen mit ungeteilter Aufmerkſamkeit und innerer Bewegung hingegeben 
gewejen zu jein. Zuweilen mochte eine Epijode ihr Herz von grundaus ergriffen haben. 
Denn man hörte fie tief aufatmen; und wäre nicht jedes Mitglied dieſes Kreijes mit 
ſich jelbft ausjchlieglicy beichäftigt gewejen, würde es kaum unbemerkt geblieben jein, daf 
Adeltraut die Hände im Schoß ineinanderfchlang wie eine Betende, und daß ihr Auge 
ſich feuchtichimmernd nach oben richtete. 

„Meinen Bruder wird doch fein Unglück zugeftogen jein?“ brad; Marie das 
allgemeine Schweigen. „Die entjegliche Ungewißheit erdrückt mich.“ 

Dieffemberg bemühte fi, mit jehr zweifelhaften Troftgründen ihre Seelenangjt 
zu bejänftigen. ‚Während er noch jprach, ſchnellte Marie mit einem halb unterdrücdten 
Freudenſchrei empor und eilte ihrem Bruder, dem Nittmeifter, entgegen, der endlich in 
den Raum trat, wo die Gejellichaft jeiner Rückkehr ſchmerzlich harrte. 

„Wo iſt Hoyer?“ rief Dieffemberg ihm eifrig entgegen. Mit aufgeregten Mienen 
richteten die Anwejenden ihre Blide gejpannt auf den Rittmeijter. 

„Beunruhigen Sie ſich nicht ohne Urſache,“ ſagte diejer etwas zaghaft. „Zwar 
kann ich Ihnen nicht bejtimmt melden, wo der Vermißte fich befindet. Aber wir dürfen 


Ein Vertrag. 1141 


hoffen, dal; er jich in der Meeierei geborgen hat. Dahin deuten dieje beiden Gegenjtände, 
die wir im Walde auffanden.”“ 

Ningelin zeigte einen Spazierjtod und eine Brieftajche vor, beide mit einer Grafen: 
frone und Hoyers Monogramm als jein Eigentum gekennzeichnet. 

„Ihr umfichtiger Förfter, Herr Graf,“ berichtete der Rittmeiſter, „hatte zwei 
trefflich dreijierte Hunde mitgenommen. hr entwidelter Spürfinn führte uns nad) 
langem vergeblichen Umherirren endlich auf die Fährte, die wir mühjam juchten. 

Die Köter durchjtöberten jchon lange umſonſt mit emfigen Najen den Wald. 
Endlich drang durch den jteigenden Nebel ihr Lodruf zu uns. Wir ſaßen ab, banden 
die Säule an Eichäſte und arbeiteten uns durch das verichlungene Unterholz, dem kurzen 
feidenschaftlichen Gekläff folgend. Wir erreichten eine uralte Eiche. Am Fuß des 
gewaltigen Stammes wetteiferten die Rüden jchnaufend in Bloßlegung eines jtarfen 
Keilers, der von kundigen Jägern halb eingejcharrt, halb mit Reiſig bededt war. — 
Des Grafen Spazierftod jtand aufrecht im Boden daneben. Er diente offenbar als 
Malzeichen. — Seine Brieftajche fand beim matten Schein eines brennenden Holzipahns 
des Grafen Kammerdiener. Sie lag in der Nähe, war augenſcheinlich uneröffnet geblieben 
und ihrem Eigentümer wohl nur bei einer raſchen Bewegung unbemerkt entfallen. Diejer 
Umſtand jchließt aljo die Annahme eines Raubüberfalls aus.“ 

„Und die Leute in der Meierei?* unterbrach Kurd ihn mit Ungeduld. 

„Nach der Meierei!” fuhr der Nittmeifter fort, „das war unſer eriter Gedanke, 
als weiteres Nachſpüren ſich rejultatlos erwies. Nach einer halben Stunde fruchtlojen 
Umbertappens auf dem foupierten Terrain bei undurchdringlichem Nebel fanden wir erjt 
unjere Pferde wieder. Nicht minder jchtwierig und zeitraubend war es, eine breitere 
Fahrſtraße im Walde aufzufinden, wo wir Trab reiten fonnten. Nach kurzen Bejinnen 
ſchlug der Förjter die Richtung ein, welche jeiner Meinung nad) uns zur Meierei 
führen mußte. Der Nebel verjagte, auch nur einen Schritt weit vorauszjujehen. So 
ritten wir lange jchtweigend bald gerade aus, bald links, bald rechts. 

„Endlidy) parierte der Förſter jeinen Saul. Das find ja die Buchen! rief er 





verwirrt und ärgerlich. — In geichwungenem Zickzack waren wir jtatt nach dem 
Meierhof rücdwärts gelangt und befanden ung in der Nähe der Dorfbrüde und des 
Schlofjes. — Wie unn? — Umzufehren erklärte unjer Führer bei der trügerifchen Luft 


für unausführbar. Nur beim Schein von Laternen könne man ans Ziel zu gelangen 
verjuchen. Mich beunruhigte jchon längſt das Gefühl der Pflicht, die Herrichaften aus 
der ohne Zweifel quälenden Ungewißheit zu befreien,“ hier drücdte Ringelin zärtlich die 
Hand feiner Schweiter, ſich gegen die übrige Gejellichaft leicht verneigend. 

„So erreichten wir denn bald die Brücke und das Schloß,“ fuhr er fort und zu 
Kurd gewandt ſetzte er hinzu: „der Förjter wartet nur auf Ihre Order, in Begleitung 
einiger Mannschaft mit Laternen den Weg nad) der Meierei zu Fuß antreten zu dürfen. 
Ich Habe es jelbit erfahren, daf die Aufgabe zu Pferde unter den erichwerenden Umſtänden 
fajt unlösbar erjcheinen muß!” 

Der Graf ging hinaus, um die Ausführung des Planes perſönlich mit den 
abzuordnenden Leuten zu überlegen und ihnen die erforderlichen Weilungen zu erteilen. 

Nach einer halben Stunde waren der Förſter nebſt Helmrich und vier fräftigen 
Bauernburſchen aus dem Dorfe zu der Expedition mit Laternen und Waffen gerüjtet 
und traten den Weg nach der Meierei frischen Mutes an. Bewaffnet hatten jie jich 
auf des Grafen eigenen ausdrüdlichen Wunſch. 

„Ich traue meinen ameritanischen Nachbaren in Waldthal alles Gute zu,” jagte er, 
„aber jeht euch vor, ihr Leute, man kann nicht wiſſen, wie der Haje läuft.” 

Nachdem er unter ähnlichen jovialen Redewendungen die ei Boten entlaſſen, 
fehrte Kurd zu jeiner Gejellichaft zurüd. Die Niedergejchlagenheit der Stimmung 
jteigerte fich nur, je mehr der Rittmeister bemüht war, jie durd) allerlei tröftliche Mut: 
maßungen zu befämpfen. 

Allg. tonſ. Monatsichrift 1888. XL 13 


1142 Ein Vertrag. 


War Graf Hoyer verfeßt? — Befand er fich wirklich unter wohhvollender Pflege 
in der verrufenen Waldmeierei oder konnte er nicht ebenjowohl getötet, beraubt und 
unentdedbar vericharrt worden jein? 

Auf alle solche beängjtigenden Fragen wußte Ringelin nichts Beſſeres als 
Beruhigungsverjuche, Schlußfolgerungen und Hoffnungen zu erwidern. Denn auch der 
vom Nittmeifter als Merkmal bezeichnete Spazierjtod mochte, wie Sir Francis jcharf- 
finnig bemerkte, nur zu dem Zwed in den Boden neben dem verendeten Wild eingejenkt 
worden fein, um den Verdacht einer Frevelthat auf eine faljche Spur zu lenken. Selbſt 
der Nittmeifter mußte zugeben, daß, eine ruchloje Abficht und That vorausgejeßt, eine 
ſolche Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen jei. 

Gräfin Alma hielt in der verzweifelten Ungewißheit ihre Hoffnung aufrecht, daß 
Henning fid) wohlbehalten in der Behauſung und Gejellichaft jeines alten Freundes 
Hinrich) Freifinger befinden werde. 

„ob Freifinger — ob Whitehorje,” warf Kurd ein, „das wird jich aufklären, 
wenn unſere Boten von der Meierei zurückgekehrt find.” 

„Mifter Whitehorje? — Ooh!“ jann Francis nachdenklich. 

„Sie jcheinen ſich diefes Namens zu erinnern,” bemerkte Alma, „kannten Sie den 
rätjelhaften Herrn wohl gar?” 

„sch erinnere einen Sportsman,” erklärte dev Baronet, „welches, ic) glaube in 
Chicago, mit jeinem Schimmel, ein vorzügliches Nafje:Horje, bei jedes Horſe-Raſſe den 
eriten Preis gewann. Aber ich kann nicht willen, Mylady, ob diejes iſt dasjelbe 
Individual.“ 

„Das Sportsman ich bejinne jehr wohl aljo,” fiel Lady Lucy ein. „Sein Name 
war Whitehorie — oh yes! — jo!” . 

„So!” beitätigte Sir Francis zuverfichtlich. 

„Unmöglich ift e8 ja nicht, da Ahr Sportsman und unſer Schimmelmeier oder 
Whitehorſe identijch jei. Es jcheint auch nicht undenkbar, daß dieſer fich endlich als 
Freund Freiſinger entpuppen könne,” erörterte Dieffemberg bedachtſam. „Denn erjtens 
war Freifinger, nad) Hoyers Ausjage, in den Vereinigten Staaten anfällig. Sodann 
hatte er eine jeltjame Vorliebe für Schimmel. Oft jchwärmte er in Pfeifersheim von 
einem milchweißen Bony, dem Stolz jeiner Knabenjahre. Er jchrieb ihm elektrische 
Schnellkraft und jonjtige übernatürliche Eigenschaften zu. — Allein entjcheidend für die 
Berjonalfrage find dieje Gründe nicht. — Wie das Nätjel fich endlich löſen werde, 
müſſen wir mit Geduld erwarten.” 

Marie Ringelin bat den Baronet um die Gunft, der Gejellichaft etwas aus jeinem 
Leben mitzuteilen. Sie juchte ihn durch artige Lobjprüche auf jeine Beherrichung der 
jchwierigen dentjchen Sprache zu ermutigen. In Wahrheit aber hatte Marie eine jtille 
rende am gebrochenen Deutſch des englischen Paares. Francis lehnte ihre Anerkennung 
ab. Er habe früher weit fließender deutſch geiprochen. Aber um ſich auf den Beſuch 
in Bilamsdorff wieder etwas bejjer einzurichten, habe er auf der Herreife ſich mit dem 
Studium deutjcher Sprachlehre eifrig beichäftigt. Auch Lady Lucy verficherte, daß jie 
viel vergeflen habe und deshalb vor dem Einschlafen allabendlic) ſich die Gedächtnisverje 
dev Vorwörter auf ihrem nächtlichen Lager zu überhören pflege: 

„Schreib mit nach nächit nebjt jamt Fu ßuwider“ und: „An auf hinter neben in 
— uber unter vor und ßwitſchen. — Aber alles in Eitelkeit!” jammerte fie jeufzend, 
worauf Kurd fie befehrte, „in vain“ heiße umſonſt.“ 

Indeſſen wurde Mariens Antrag jo lebhaft unterjtügt, daß Franeis ich bereit 
erflärte; jedod) nur unter den beiden Bedingungen, ſich des Franzöfiichen vder jeiner 
Mutteriprache bedienen zu dürfen, wo das Deutſche ihn im Stidy laſſe. Und jeiner 
zweiten Bedingung nach jollten auch die beiden anderen Herren, der Graf und der 
Nittmeifter, einige für weibliche Anteilnahme paſſende Erlebniſſe zum bejten geben. Kurd 
bejand ſich jegt in der früheren Lage des Freiheren von Trutheimb. Nachdem er die 





Ein Vertrag. 1143 


getroffenen Maßregeln, über Hennings Schickſal Gewißheit zu erlangen, angeordnet hatte, 
wiünjchte er dringend die jorgenvollen Gedanken der Gejellichaft zu zerjtrenen. Und 
dazır ſchien Mariens Anregung fich zwedentiprechend zu erweilen. Er willigte deshalb 
in die Bedingungen jeines engliichen Freundes ein und forderte diejen auf, zu erzählen, 
was er mitzuteilen geneigt jet. 

„Mein Leben,“ en Sir Francis mit dem Schlüffel feiner Uhr jpielend an, 
„mein Leben ift die Geichichte eines Menſchen, auf welchem Wege er wird Diplomat. 
Das ift alles. Alſo ich, wenn ich kam zurück von Pfeifersheim nad) London, ich ging 
in das Büreau des Foreign Office —“ 

„Des auswärtigen Amtes,“ überjegte Kurd. 

„Danke!“ jagte Sir Francis und erzählte weiter, wie jein Pflichtenkreis anfangs 
auf genaue Abjchrift geheimer franzöfiicher, englischer und deutſcher Noten, Depeichen 
und Urkunden eingeengt gewejen jei. „Das ift oft, die Wahrheit zu jagen, jehr lang: 
weilig,“ verficherte er. „Dabei ic) habe gejehnjuchtet jehr heftig zu Miß Lucy Grifford, 
welche ic) hatte gemacht ihre Bekanntichaft, wenn lebend in Pfeifersheim. Darm wenn 
ich mußte rüchvärts nach London, Miß Lucy zurücdblieb noch für ein Jahr. Und id) 
wagte nicht ihr zu jchreiben. Denn wir waren nicht gewejen zu jagen die Wahrheit, 
wie war unjer Gefühl im Herzen gegeneinander. Oh! die Ungewißheit in Trennung 
war jehr unbequem, war es nicht, Lucy dear?” 

„Sp es war!” betätigte die Lady verjchämt. 

„Wenn id) war endlich befommen Attache bei der Embassy —“ 

„Geſandtſchaft,“ verdeutichte Marie freundlid). 

„Danke!“ erwiderte Sir Francis und berichtete, daß er während der Zeit jeiner 
Stellung bei der englischen Botſchaft in Konftantinopel Graf Hoyer zum erjtenmal 
wiedergejehen habe. Bon Jeruſalem zurüdgefehrt, wo dieſer ein gefährliches Nerven: 
fieber überjtanden, habe er jeine dankbaren Gefinnungen für die wiedergejchentte 
Gejundheit aufs opferfreudigjte bethätigt. Der Wunſch vieler in tonjtantinopel lebender 
evangelijcher Ehriften, der Mehrzahl nad) Deutjcher, eine Kirchengemeinde zu bilden, 
fam dem Danfeseifer Hennings willkommen entgegen. Bisher waren die zerjtreuten 
Lutheraner in der engliichen Kirche zu Gaft gegangen. „Aber unjere Kirche,“ erzählte 
Sir Francis, „war viel zu schmal. Alſo nicht alle Deutjche verjtanden als wohl 
englische Sermons, als zu folgen zu des Clergymans Worten. Und jo, fie wollten 
haben vorgezogen zu bauen eine deutjche Kirche.” Unter lebhaftem Anteil der Gräfin 
Alma und der beiden Fräulein, die in freudiger Erregung einander wiederholt verjtohlen 
die Hände drücken, erfuhren fie von Sir Francis, daß der Bau der Kirche wie auch 
einer Schule durch reichliche Geldbeiträge des Grafen Hoyer endlid) zur Ausführung 
gebracht werden konnte. Die Erinnerung an des Freundes ftille Wirkſamkeit — die 
ſich auch durch anjehnliche Geldjendungen an den Biſchof Dr. Gobat in Jeruſalem 
betätigt hätte, — reizte den Baronet zu einer Beweglichkeit und Lebendigkeit jeiner 
Darjtellung auf, die mit feiner gewohnten Ruhe einen überrajchenden Gegenjaß bildete. 
„Graf Hoyer,” ſchloß Sir Francis jeinen Bericht, „jeit Pfeifersheim Hat abgelegt jein 
fünftliches Egoism wie eine Schlange jein Fell — das ift die Wahrheit. Denn diejes 
Ktonftantinopel-parish —“ 

„Wir jagen: das Kirchſpiel zu Konſtantinopel,“ half Alma ein. 

„Danke!“, antwortete Sir Francis. „Wohl!“ — Diejes Kirchenjpiel hat nicht 
ausgejchöpft feine Geduld und Mühjeligkeit. Die Wahrheit ift, daß er bewiejen hat 
jeine Freigebigfeit wirklicd) ohne jedes Egoism. Ich weiß nur ein Bruchteil, ev hat 
gejpendet. Es iſt jehr viel wahrhaftig, wie viel ich kenne.“ 

Im Lichte der uneigennüßigen Wirkſamkeit Hennings, von der man jo eben gehört, 
befannte Kurd, jehe er dejjen jpottweije jogenannte „Kommuniſten-Kolonie“ denn doch mit 
günstigeren Augen an, als zuvor. Wenigftens müfje die jelbjtloje Abficht eines ſolchen 
Berjuches jchon ehrwürdig genug erjcheinen. 


13° 


1144 Ein Vertrag. 


„Und joviel Adel der Geſinnung,“ Eagte Alma, „ein jolches jelbitverleugnendes, 
echt chriſtlich liebendes Herz könnte das Opfer eines jähen Frevels geworden jein? — 
Unglaublich!“ — 

„Es wäre ganz entjeglich!” rief Marie und rang verzweifelt die Hände. Auch die 
ruhige Adeltraut befämpfte nur mühſam ihre heftig erregte Teilnahme. 

Kurd bemeijterte zuerft jeine trüben Gedanken und gab der Erörterung der 
traurigen Möglichkeit eine ablenfende Wendung, indem er den englischen Freund anregte, 
nod) einige anteilwerte Erinnerungen aus feinem Leben, infonderheit auch jeine Heirats: 
geichichte betreffende Einzelheiten mitzuteilen. Sir Francis nidte zuftimmend. 

Im Vertrauen auf das ntereffe, das die Anweſenden jeiner Perſon entgegen: 
brachten, erzählte er dann, wie die Hoffnung, jeine Herzensangelegenheit mit der wieder 
in ihrer Vaterſtadt Chicago lebenden Miß Lucy Grifford zu flären und zu fürdern, 
ihn veranlaßt habe, zur Vertretung eines Rats der englischen Botichaft zu Waſhington 
ſich nad) Amerika ſchicken zu laſſen. 

Zu der nachwirkenden tiefen Verſtimmung Englands wegen der amerikaniſchen 
Gleichgültigkeit gegen die Umtriebe und Konſpirationen der Fenier geſellten ſich ſpäter 
die Differenzen in betreff eines Kaperſchiffes, die zu der berüchtigten Alabamafrage 
aufgebauſcht, jahrelang durch die politiſche Tagespreſſe ſich wie eine ſogenannte Seeſchlange 
hindurchwanden. Solche Komplikationen verfehlt die Börſenſpekulation nicht leicht, in 
gewinnſüchtigem Sinne auszunutzen. Auch zur Zeit ſeiner Station in Waſhington, erinnerte 
ſich Sir Francis, jeien die Gejchäfte des Humbug in den amerikaniſchen Zeitungen 
glänzend gediehen. Durd) jehr jchlau gejchriebene Artikel, die fich den Nimbus offiziöjer 
Inſtruktion zu geben verjtanden, jeien die Börjen von einer erjchütternden Panik ergriffen 
worden. Die Liügenberichte, welche hochitehende Perſonen in England zur Dedung 
hereinzuziehen gewagt, hätten die ernjthafteften Verwidelungen des britiichen Reiches 
mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika als kaum noch anzweifelbare Wahrjchein: 
lichkeit dargejtellt. Infolge der plüßlicd gefallenen Werte an der Börje jeien große 
Häufer der Einftellung ihrer Zahlungen nahe gebracht worden. Wiederholter amtlicher 
Dementis von jeiten der britischen Botjchaft habe es bedurft, um das untergrabene Ber: 
trauen wieder zu befejtigen und den Ligenreporter zur Ruhe zu bringen. 

„So ift er unentdeckt geblieben?” fragte der Rittmeijter mit etwas erzwungenem 
Intereffe. „Man wird doch joldyen Unfug jelbjt in Amerika nicht ungeahndet dulden?“ 

„sn Amerika,“ belehrte ihn Sir Francis, „Sie willen, die Preſſe ift frei; es 
kann druden, was er will. Aber meine Regierung war dabei engagiert, den Thäter zu 
nehmen feſt. Und jo unjere Detektevs juchten jeine Spur. Aber das Schurfe war 
jhon gerannt hinweg. Wir waren vermutend, der ſpitze Bube habe geflohen nad) 
Chicago. Diejes pretext id) gebrauchte —“ 

„Diejen Vorwand benußgten Sie,“ verbeilerte Kurd halblaut. 

„So!“ bejtätigte Francis, „danke!“ 

Diejen Vorwand habe er benußt, fuhr er fort, um nad) Chicago zu reifen und 
dort nad) langjährigen Darben fich eines Wiederjehens mit Miß Lucy Grifford zu er: 
freuen. Wie jehr ihn bei diefem Anlaß die Entdedung beglüdte, ihr Herz noc frei 
und in treuer Anhänglichkeit ihm ergeben zu finden, das deutete Sir Francis nur 
ihüchtern an, wobei Marie Ringelin auf's deutlichjte beobachtet Haben will, daß jeine 
Schläfen ji) mit zartem Rot färbten. 

Kurd und dev Nittmeifter fragten nad) dem Schidjal jenes Lügenreporters, während 
die weitere Entwidelung des Liebesromans ſich mehr eines bevorzugten Jnterejjes des 
weiblichen Teils der Gejellichaft erfreute. Bon beiden Seiten aufgefordert, erzählte 
Francis, daß der Verkehr mit jeiner nunmehr endlich ihm verlobten Braut jeinen Eifer 
in der politiich » polizeilichen Angelegenheit begreiflicherweije etwas abgekühlt habe. 
Aber nicht ohne Verdruß konnte ev an die Fruchtlofigkeit zurücdenten, welche der um: 
Jichtigiten Berfolgungen des Flüchtlings jpottete. Was hier mit indirefter Nedeweije 


Ein Vertrag. 1145 


berichtet wurde, erzählte Francis i in jeiner Mutterſprache. Zum Ausdrud jeines Aergers 
ſchien er das Deutiche für geeigneter zu halten. 

„Alles war für nichts,“ jchalt Francis, „und wenn er nicht gefrochen ift ein zu 
die Erde, ic) weiß nicht, wo der Hallunfe hat geblieben. Wohl!“ 

„Endlich ein Jahr her ich befam Counsellor of the Embassy, was ift das zu 
jagen in Deutſch?“ unterbrach er fid). 

„Rat der Gejandichaft, Legationsrat, mein jehr ehremmwerter Freund,“ erklärte 
Kurd mit einer Verbeugung. „Sie wurden aljo endlich vor einem Jahr Legationsrat.“ 

„Und da“ fiel Francis nach jeinem jtereotypen „danke“ ein, „da ging ich für das 
zweite Mal zu Amerika und Chicago in eigenen Angelegenheiten. Denn da haben wir, 
ih und Miß Lucy Grifford, in den Stand der Ehe getreten. Und mich hat befallen 
jeıtdem fein Gedanke zu bereuen diejes Tritt. In Chicago war ich lebend als ein 
Ehemann für den ganzen Sommer. Und jo ich fonnte nicht kommen hier, wenn id) 
las Ihre Einladung, lieber Dieffemberg, in die Amerika: Zeitungspapieren. Im Herbit 
wir, ich und Lady Mac-Bell, zurüdgingen zu Konftantinopel. Und in diefem jegigen 
Jahr ich war fejend ihre Einladung für das zweite Mal. Die erjte Anzeige, daß Sie 
geheiratet wurden, muß haben gejchlipft vorbei meine Augen. Nach Ihrem lebten Ad— 
vertiffement nun wir haben gereijet über Wien zu Schloß Bilamsdorfi, vollfüllend 
unjeren Vertrag von Bfeifersheim.” 

„Ich fürchte,“ Schloß er entichuldigend, „zu haben gefoltert Sie jehr unerträglich) 
mit meinem jchlechten Deutih. So ihre kränkliche Ohren müſſen jein furiert wieder von 
Graf Dieffembergs verjprochenes Erzählen eine fließende Gejchichte aus jeinem Leben.“ 

Dieffemberg liebte es nicht jonderlich, auf jeine Erlebnifje in der Vergangenheit 
zurüdzufommen, wofern fie nicht zur Klärung und zum VBerjtändnis gegemmwärtiger 
Fragen zu dienen verjprachen. 

In der Hoffnung, bei dem vorliegenden Anlaß manches zu hören, was ihr in 
dem Vorleben Kurds unbekannt geblieben, vereinigte Alma nun ihre Bitten aufs eifrigjte 
mit denen der Gejellichaft, die eingegangene zweite Bedingung des Sir Francis zu 
erfüllen. Kurds Mienen nahmen den Ausdrud der Selbjtironie an. Er rieb jein 
Ohrläppchen und begann pathetiſch: 

„Es war einmal ein Grafenjohn“ — 

„Aber, liebſter Kurd,“ unterbrach ihn Alma, „ic bitte dich, erzähle vernünftig. 
Der Anfang lautet ja wie ein Märchen.” 

„Wenn ich euch fein Märchen aufbinden darf,“ entgegnete Kurd,“ dann muß die 
Sejellichaft mit einem trodenen eurrieulum vitae vorlieb nehmen. Das ift mir ohnehin 
geläufiger. Denn ich habe eine jolche Chronik meines Lebens öfters den Behörden 
einreichen müfjen und werde es wol noch auswendig wiſſen.“ 

„Alſo ich, Kurd Lothar Auguſtus Friedrich Wilhelm, bin der eritgeborene Sohn 
meines Vaters. Ich erprobte die Widerjtandsfraft meines jugendlichen Schädels gern 
in gewaltiamen Zufammenftößen mit Pflafterjteinen und Mauerkanten, wodurd nicht 
nur mein Gehirn, jondern auch die auf meine normale Entwidelung gejegten Hoffnungen 
meiner Mutter vermutlich) bedenkliche Erjchütterungen erlitten. Mehr als wahricheinlich 
it es, daß von jolchen Stößen phrenologiihe Umbildungen veranlaßt wurden, durd) 
er mir manche angeborene Gabe abhanden gekommen ift. Dahin gehörten namentlid) 
die „larges sentiments*, welche ich mir nie aneignen konnte in einem, dem deal meiner 
Mutter entiprechenden Grade. Doc) ich überichreite die Grenzen eines eurriculum vitae. 

„Hauslehrer fürderten meine vorbereitende Schulbildung weit genug, daß, in 
meinem fünfzehnten Lebensjahr nad) Pieifersheim geichict, ich in die Tertia eines im 
Innern der Stadt gelegenen Gymnaſiums aufgenommen werden konnte. Henning lebte 
bereits jeit einem halben Jahr innerhalb der gemütlichen Ringmaner von Pfeifersheim. 
Er gedieh dort geiſtig und körperlich ſo wohl, daß bald ſein brennender Siſſenedurſ 
ſich ungehemmt genugthun konnte. Im Lauf der Jahre überflügelte Henning — das 


1146 Ein Vertrag. 


müßte auch der Neid anerfanıt haben — an Gelehrſamkeit und klarem Urteil alle feine 
Jugendfreunde in Pfeifersheim.“ mi 

„So er that!” ſchaltete Sir Francis mit Weberzengung ein. 

„Wir bejchloffen unjere Schulzeit”, fuhr Kurd zu erzählen fort, „mit der Errichtung 
des berühmten Vertrages von Pfeifersheim und bezogen diejelbe Hochſchule, um durch 
fameraliftiiche und andere Studien uns auf den landwirtichaftlichen Beruf vorzubereiten, 
für den die Familienverhältniſſe uns jchon im Stedfiffen bejtimmt hatten. Nach Verlauf 
des erſten Semejters z0g Henning eine Ortsveränderung vor umd führte dadurch eine 
Trennung herbei, die jeitdem nur zeitweile unterbrochen worden ift. Mit meinem fünften 
Semejter verband ich die Ableiftung meiner Militärpflicht. Die Hujarenuniform gefiel 
meiner Mama jo ausnehmend gut, daß ich dem mütterlichen Andringen nicht widerjtchen 
mochte, das Dffizierseramen zu abjolvieren und in die Armee einzutreten. 

„Wäre es auch nur wegen der larges sentiments, lieber Kurd, die man ſich in 
der Uniform und im Sattel viel ficherer aneignet, als im Civil und am grünen 
Tiſch,“ rechtfertigte Mama ihren Wunſch. 

„Allein das Schickſal ſchien fich gegen die Erfüllung ſolcher Hoffnungen verſchworen 
zu haben. Denn zur fruchtbringenden Beſamung meiner kleinbürgerlichen Sinnesart 
ließ es mir nicht die erforderliche Muße. Mein Offizierspatent war kaum ein Jahr 
alt geworden, als mich ein Familienereignis nötigte“ — 

„Der Tod ſeines Vaters“, flüſterte Alma den Nächſtſitzenden zu. 

„Die wunderverheißende Uniform ſchon wieder an den Nagel zu hängen“, fuhr 
Kurd ungeſtört fort. „Indeſſen hatte der Dienſt im Sattel meine geronnenen Gefühle 
doch ſoweit in Fluß geſetzt, daß ſie nicht unempfindlich bleiben konnten gegen die ſtillen 
Herzensleiden einer jungen Schönen, die hinſichtlich der ſie umſchwärmeuden Freierſchar 
mit der Penelope wetteifern durfte.“ 

Alma drohte ihrem mutwilligen Gemahl mit abwehrender Gebärde. Aber er neckte 
fie unbarmberzig weiter. 

„Auch Antinoos fehlte nicht im der gemiſchten Geſellſchaft. Er war ebenio zu: 
dringfich, ebenſo habgierig und ebenſo jchön als fein antifes Vorbild. Nur in einigen 
Nebenumständen unterjchied er jich von demfelben. Er ftand nämlich als Premier: 
leutnant bei irgend einer Feld-Batterie, war uns, den Gardehujaren, zur Dienftleiitung 
zeitweilig zugeteilt, verstand es meifterhaft, fi) an vornehme Kameraden heranzudrängen, 
wurde von vielen Seiten jeiner unzweifelhaft glänzenden oder biendenden Manieren 
wegen geichägt, von anderen gefürchtet und von einer Gruppe, zu welcher ich mid) hielt, 
nach Möglichkeit gemieden; er hieß auch nicht Antinoos, jondern Herr von Mareczka, 
jeines Stammes ein Czeche.“ 

Der Rittmeister NRingelin machte bei Nennung diefes Namens eine aufhordende 
Bewegung. 

„Die neue vielbedrängte Penelope,“ jcherzte Kurd, „verlieh meiner Hand Die 
Kraft, den Odyſſeusbogen zu jpannen. Und wenn ic) die ‚Freier aud) nicht erichoß, jo 
gelang es mir doch, jie aus dem glüdjeligen Ithaka meiner Vorrechte zu vertreiben. 
Antinoos, wie Kameraden verficherten, einen Pfeil mit Widerhafen im Herzen, war 
bald vom Schauplab jeiner Schlappe jo jpurlos verichwunden, daß er es jogar ver: 
mieden hatte, bei der Redaktion der neuen Nanglifte jeine Adrefje abzugeben. Ach genoß 
nun alſo den unbeſtrittenen Vorzug, mit Penelope oder Fräulein Alma von Trutheimb 
in ein verbindliches Verhältnis getreten zu ſein. Aber ich zählte noch nicht völlig drei— 
undzwanzig Lenze und kämpfte mit ungeübter Kraft gegen den Andrang ſehr ernſter 
Verwaltungsſorgen, die mich wie ein Strudel plötzlich vom Sattel riſſen. Dazu gab 
es bald einen Feldzug, der ohne meine Mitwirkung als Reſerveoffizier ſicherlich für 
unjere Waffen einen unglüdlichen Erfolg gehabt hätte. Das beweijet die Dekoration, 
mit der man meine entjcheidenden Verdienjte ausdrücklich anerkannte.” 


Ein Vertrag. 1147 


„Ihr BVerdienft, lieber Dieffemberg, ift wahrlich nicht zu unterſchätzen,“ berichtigte 
Ningelin die ironische Erwähnung. „Der feindliche Kundjchafter war ein jehr gefährlicher 
Burjche, trug fich mit äußert verräterischen Inftruftionen und die Bravour, mit der 
Sie den Spion dingfejt machten, rettete unjere Divifion wahrjcheinfich vor einer Weber: 
raſchung von jeiten des wohlinformierten Gegners. 

„Nun endlich!“ rief Alma, „endlich erfahre ich doc einmal, daß und mit welcher 
perjönlichen That mein hochgeichägter Odyſſens ſich den roten Vogel mit Eichenlaub 
und Schwertern erworben. Kann man es glauben, daß jeine eigene Lebensgefährtin, 
jeine Penelopeia, erſt heute den wirklichen Grund erfährt? „Für allgemeine Pflicht: 
erfüllung in der Kampagne, liebes Kind,” das war immer meines verjchlojienen Mannes 
Antwort, wenn ich nach der Urjache der Auszeichnung jchüchtern zu forjchen wagte. 
Nun aber, lieber Rittmeifter, müfjen Sie uns auch mehr darüber jagen, wie es meinem 
Kurd gelang, den Kundichafter einzufangen und was Sie jonft davon nod) mitteilen können.“ 

Der Rittmeifter meinte aber dem Grafen jelbjt nicht vorgreifen zu dürfen. Und 
da man in diefen drang, das friegeriiche Intermezzo eingehender zu erzählen, willigte 
er etwas verdroſſen ein. 

„Nun ja!” jagte Kurd, „wahr ift es, daß der Spion mir in die Hände lief. 
Ich ſtand mit meinen Hujaren in der Vorpoftenlinie. Wir waren abgejejjen, um abzu— 
kochen. Ein Stüd Weges von meinen Leuten entfernt luſtwandelte ich einſam im 
Schatten alter Weiden und dachte an mein fernes Lieb, ob's mir auch treu und hold 
verblieb. Da ftand fie plößlich leibhaftig vor meinen Augen: Gebückt, mit gehöferter 
Wirbeljäule, das jchöne Haupt und die jchlanken Glieder in ſchmutzige Lumpen dicht 
eingehüllt troß der jengenden Mittagshige, hüjtelnd und knixend, auf einem Krückſtock 
geftüßt, jo watjchelte fie, nämlicy eine alte Bettlerin, zu mir heran und bat weinerlich 
um eine milde Gabe. Mir war die dichte Lumpenumbüllung ihres Kopfes bei einund: 
dreißig Grad Reaumur in der Julifonne jogleich verdächtig. Und wir hatten verſchärfte Order 
erit tags zuvor erhalten, alles Verdächtige unnachfichtlich zum Negimentsfommando zu 
erpedieren. Der Dienft, gebot mir demnach, diefen problematischen Charakter feitzunehmen. 
Und da meine Leute anderweitig beichäftigt und auch zu fern von meinem Standort 
waren, jo erlaubte ich mir, das Kopftuch meiner Klientin höchiteigenhändig etwas zurück— 
zujchieben, um mich über Grund oder Ungrund meines Argwohns zuerft einmal zu 
unterrichten.” 

„sch blickte in ein jorgfältig vetouchiertes Mänmerantlig und ergriff den nächſten 
Arm des Gejellen, es war der linfe, mit meiner nervigten rechten Fauſt. Aber der Kerl 
jtarrte mir mit haßverzerrten Mienen ins Geficht, indem er mit der Nechten ein Meſſer 
unbemerft gezogen, das er geradesweges nad) der Stelle züdte, wo ich meiner teuren 
Alma mir anvertrautes Herz aufzubewahren pflege. Durch eine rechtzeitige Parade mit 
meinem freien linken Arm verfehlte der Stoß glücklicherweiſe die Stelle, wo jener koſtbare 
Schatz ruht. Mein linker Arm trug aber eine Schramme davon und das Meſſer 
fuhr dem rabbiaten Burſchen abgleitend ſo tief in ſeinen eigenen Arm, daß ſofort die 
Lumpenhülle feucht wurde. 

„Meine herzugeeilten Huſaren thaten das Uebrige: ſie knebelten dem Opfer des 
Verrats die Hände auf den Rücken, und als ſie kaum damit fertig waren, konnte ich 
den Arreſtanten ſogleich dem Herrn Zugführer Ringelin überantworten, der an der 
Spige einer Hujaren-Batronille eben vorübermarſchierte. Das iſt meine Heldenthat, 
durch die ic) zum Wetter des Vaterlandes geworden bin.“ 

„Meine Freude und mein Stolz über dieje tapfere That läht mic) das Zerrbild 
verjchmerzen,” jagte Alma heiter, „das du böjer Mann fern von Deinem fernen Lieb 
malteft. Gut, dab es fich dann als der vermummte Spion entpuppte! ber was 
ward aus deiner Schramme? Was aus dem Arreftanten? Du wirft uns den Schluß 
der Affaire doch nicht jchuldig bleiben wollen?“ 


1148 Ein Vertrag. 


„O Neugier!” jeufzte Kurd. „Um das jernere Schickſal meines Angreifers hatte 
ich mich zumächit nicht dienftlich zu befümmern. Die rajche Folge der Friegeriichen 
Ereigniffe jcheint den unbedeutenden Zwilchenfall nachher ins Meer der Vergeſſenheit 
verjenft zu haben. Nunmehr erübrigt noch zu berichten, daß die Aerzte und meine 
bejorgte Mutter darauf bejtanden, die Folgen eines Streifichufles, der mid) feider 
fampfunfähig machte, in wärmerem Klima auszuheilen. Ich tröftete meine liebe Braut 
und mich jelbjt mit dem Liede „O Scheiden und Meiden, du bitteres Kraut,“ und wir 
wechjelten bald die redjeligiten Briefe. Die meinigen kamen zuerit von Nizza, jpäter 
von Genua, Mailand, Florenz und Rom. In dieſen Städten lebte ich mit meiner 
treuen muütterlichen Pflegerin abwecjjelnd wochen: und monatelang. Meine Mama 
drängte mich von Ort zu Ort. Auf dem italienischen Elaffiichen Boden hoffte jie 
beharrlich irgendwo eine Quelle zu entdeden, aus welcher ic) Nahrung für das Wachstum 
meiner „sentiments* wiürde jchöpfen fünnen. 

Davon ließ jich aber leider immer noch nichts verjpüren. 

„Jedoch wuchs meine feibliche Kräftigung, während die Unruhe des Reiſelebens 
die Kräfte meiner armen Mutter täglic mehr ſchwächte. Die Malaria ergriff fie und 
erfüllte mich mit ernsten Beſorgniſſen. Indeſſen fie genas joweit, daß ich nad) fait 
anderthalbjähriger Abwejenheit die Nücdreije nad) der Heimat mit ihr zu unternehmen 
wagen durfte. Leider aber blieb ein Siechtum zurüd. Und jelbit die jorgfältigite Pflege 
meiner befümmerten Alma fonnte e8 nicht verhüten, daß abermals ein Trauerjahr das 
Ziel unjerer Wünjche hinausrückte. 

„Nad) Verlauf desjelben wurde dann der Gedanke an unjere eheliche Verbindung 
ernjtlic ins Auge gefaßt. Da brach wie ein Blik aus wolfenlojem Himmel der leßte 
Krieg los. Ic wurde wieder als Reſerve-Offizier einberufen und der Kalpak löſchte 
wie ein Lichtdämpfer die glimmenden Hochzeitskerzen unbarmberzig abermals aus. 

„gum Andenken an jenen gewaltigen Völkerkampf tragen wir, nämlid ich und 
mein jeßiger Kammerdiener Friedrich, dag eijerne Kreuz. Ich erhielt es zur Beſchämung, 
weil ich in der großen Neiter: Affaire vom 16. Auguſt durch die gegnerischen Küraſſiere 
faft unrettbar vom Pferde gehauen oder gefangen genommen worden wäre. Und mein 
Friedrich wurde nad) Verdienjt mit dem Ehrenſchmuck ausgezeichnet, weil er mid) mit 
impojanter Bravour aus der verhängnisvollen Klemme heraushieb. Doc) genug von den 
friegerischen Neminiscenzen! 

„Erholung von den Anftrengungen des bejchwerlichen Feldzuges, mancherlei bau: 
liche Aenderungen und wohnlidye Einrichtungen diejes alten Kajtells Bilamsdorff nahmen 
mich noch faſt ein ganzes Jahr hindurch in Anſpruch, bevor alle Zurüftungen weit genug 
jortgejchritten waren, um in den Tempel einer erträglidy würdigen Häuslichkeit dielebendige 
Seele einführen zu dürfen, die entichloffen war, ihn zum anmutenden Sige gemütlicher 
Behaglichkeit zu machen. 

„Drei friedliche Nahresfreije umranfen nun bereits unjere Haus: und Herzens: 
gemeinjchaft. Meine Erfahrung hat mid, überzeugend befehrt: Keine wahrhaft glücliche 
Ehe ohne den Segen des weiblichen PBantoffels. Seine ſchwunghafte Herrichaft hat 
Jogar die Zaubermacht bewiejen — id) darf es mit Genugthuung hoffen —, endlich den 
bfeiernen Bann etwas abzuheben, der meine Denfungsart jo hartmädig hemmte in ihrer 
annähernden Erhebung zu den „larges sentiments*, dem deal meiner jeligen Mama. 

„Das Hauptaugenmerk richten wir infolge meiner eigenen Erfahrungen bei der 
Erziehung umjeres nun jchon zwei Jahre zählenden Stammhalters darum auf die Ent: 
wicelung jeines Abjcheus vor Pflafterjteinen und jcharfen Mauerfanten. 

„Hiemit endet die Gejchichte meines bisherigen ruhmmwiürdigen und jegensreichen 
Erdenwallens. Den Entichluß fie hier zu erzählen, halte ich übrigens jelbjt für eine 
der verdienftlichjten Thaten meines Lebens. ch habe mir damit den billigen Anſpruch 
erworben, die erheiterten Mienen meiner werten Freunde und holden Damen als Ausdrud 


Ein Vertrag. 1149 


dankbaren Beifalls aufzufafien. Ausruhend auf jolchen Lorbeeren bitte ich nunmehr 
meinen alten Kriegsfameraden Mar Ringelin um die noch ausjtchenden Nachträge zu 
meinem currieulum vitae.* 

„Was ic) noch nachzufügen hätte,“ ſagte der Nittmeifter, „betrifft fediglich den 
von Ihnen, mein verehrter Dieffemberg, mir zur Esforte an das Negimentsfommando 
iiberantworteten Kundichafter. Nach rauhem Ktriegsbraudy ließ ih ihn zwiſchen zwei 
Pferde binden, um ihn nach dem Quartier des Oberften zu transportieren. Unterwegs 
meldete der Wachtmeijter, es jei zu befürchten, daß der Gefangene ſich verblute. Darauf 
durfte ich es nicht ankommen lafjen. Ich ließ deshalb Halt machen. Ein Blick auf 
die triefenden Lumpen des erblichenen Gejellen überzeugte mich, daß hier nicht gezügert 
werden dürfe. Eine Ordonnanz wurde abgeſchickt, irgendwoher eine Tragbahre herbei: 
zuſchaffen. Und um einen Verband zu improvifieren, unterjuchte ich jelbjt die klaffende 
Armwunde des Arreitanten. 

„Er lag am Boden hingeftredt. Als ich mich nun auf jeinen Arm niederneigte, 
jlüfterte er mir haftig zu: „Ringelin, mein alter Namerad, ich bin nod) in deiner Schuld. 
Zweifle nicht an meinem verpfändeten Ehrenwort. Ich ſchwöre dir zu, ich will es ein: 
Löjen doppelt und dreifach. Aber ich kann deine Anſprüche nur befriedigen, wen ic) 
wieder frei über mich verfügen darf.“ 

„Empört über die ſchmachvolle Bejchimpfung meiner joldatiichen Ehre, jtarrte ic) 
dem gewifienfojen Verſucher lange ſprachlos ins Geſicht. Endlich gelang es mir, Die 
entjtellten und bemalten Züge desjelben zu entziffern. Ich erkannte in dem Biedermann 
jenen Antinoos, gnädigſte Gräfin, der vor Jahresfriſt ohne Urlaub abreijete und vergah, 
jeine Adrejje zurückzulaſſen.“ 

„Was ijt denn endlich geworden mit diefem Gentleman?” fragte Francis. 

„Er wurde an das Negiment richtig abgeliefert,“ antwortete der Nittmeifter, „man 
entdeckte chiffrierte Notizen bei ihm, die glücklich entziffert wurden und Eröffnungen von 
enticheidender Bedeutung enthielten. Das jtandrecjtliche Todesurteil wird aber ſchwerlich 
zur Ausführung gebracht jein. Denn jchon am anderen Tage eilte unjere Armeeabteilung 
im Gewaltmarſch nad) dem Schauplag der Schlacht, die den Feldzug glorreich entichied. 
Später erinnerte fich niemand mehr des Arreitanten Fojef von Mareczka. Seine Schlau: 
heit wird wohl Mittel und Wege gefunden haben, jein armieliges Dajein in Sicherheit 
zu bringen, da der ftrömende Negen es dem Train ohne Zweifel jehr erjchwerte, dem 
ſtürmiſchen Eilmarjch der Armee in vorjchriftsmäßiger Ordnung zu folgen.“ 


„Erlauben Sie mir, meine werten Gäſte,“ bat Kurd, „mit unjerem Dank für 
die intereffanteren Mitteilungen diejes Abends, der vorichriftswidrigen Unordnung des 
Trains den Train einer ebenjo vorjchriftswidrigen Unordnung folgen zu laſſen.“ 

„Den längjt verjtorbenen Herrn von Mäuſebach werden wohl wenige von Ahnen 
nur dem Namen nad) noch gefannt haben. Herr von Mäuſebach iſt in manchen Lebens: 
gewohnheiten das Mufter, nach weldyem ich mich zu bilden juche. Hoffentlich erreiche 
ich auch jein hohes gejegnetes Alter. 

„Herr von Mäuſebach liebte es, in feinem Freundeskreiſe jeine Abende zu verleben. 
Aber er hielt jtreng auf geordnete Zuftände. Man wußte das und er gehörte zu den 
bevorzugten Sterblichen, denen niemand etwas Ungewohntes übel deutete. Wenn Herr 
von Mäuſebach nun bejorgte, die Ausdehnung des gejelligen Behagens könne ein Manko 
in der genau berechneten Ziffer jeiner nächtlichen Ruheſtunden herbeiführen, pflegte er 
ſolchem Unglücksfall durd eine kurze Anſprache an jeine Geſellſchaft vorzubeugen: Lieben 
‚Freunde, jagte dann Herr von Mäuſebach, wenn ic) wäre wie ihr, und ich wäre wo, 
dann ginge ich jeßt.” 

„Aber Kurd!“ rief Alma entſetzt. Doch die heitere Wirkung feiner Rede überwand 
bald aud) ihr verfegtes Schidlichkeitsgefühl. So trennte ſich die Gejellichaft unter Hände: 


1150 Ein Vertrag. 


ichütteln im aufgebeſſerter Stimmung, um fih in die Einjamfeit zurüczuziehen und von 
den erregenden Eindrüden diejes bewegten Tages auszuruhen. 

Am runden Turmgemach Wdeltrauts, nahm dieſe von ihrer Freundin Marie, 
welche das anſtoßende Edzimmer inne hatte, Abjchied Für die Nacht. Endlich war 
Adeltrant allein. Sie nahm aus ihrem Scliefforb ein Büchlein, blätterte haftig darin 
und fand unter dem Datum des Jich zu feinem Ende neigenden Tages den Spruch: Er 
hat jeinen Engeln befohlen iiber dir, daß fte did) behiiten auf allen deinen Wegen, daß 
fie Dich anf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein ſtoßeſt. — 

Nad) geraumer Weile öffnete ſich leife die Thür. In einen weißen Ueberwurf 
gehüllt, Ichlüpfte die behende Gejtalt Mariens fait unhörbar in das Gemach. Sie fand 
die Frenndin in knieender Stellung, die Ellenbogen auf die Polſter eines Seſſels geſtützt, 
das Antlib mit beiden Händen verhüllt. Marie wollte bei diejem Anblid ſich wieder 
zurücziehen. Da wandte Adeltraut ihr die von verffärter Ruhe jtrahlenden Augen zu, 
richtete fangjam ihre hohe Geftalt empor und jchritt der Freundin entgegen. 

„Willſt du nicht zur Ruhe gehen, liebe Marie?” fragte fie. 

„sch kann nicht schlafen, Trautchen,; und ich jah im deinem Qurmfefter nod) 
Licht,” antwortete Marie. „Aber hätte ich geahnt, ich wiürde dich in deiner Andacht 
jtören —“ 

Adeltrant ließ fie den Sat nicht vollenden. „Komm, laß mic) hören, was did) 
aufregt. Schütte mir dein Herz recht aus,” jagte fie zutraulich und zog die Freundin 
nad) der Cauſeuſe, auf welche beide ſich niederließen. 

„Schon als Feines Schulmädel fannte und verehrte ich dich, meine teure Adel: 
traut,” begann Marie. „ch vergefle es nie, wieviel du mir gegeben. Ich konnte dir 
ja wenig oder nichts dafür erwidern als mein danfbares Herz. War id) dod) jtets nur 
die Empfangende. Nein! bitte, unterbrich mich nicht. Ach weiß, was du aus deiner 
bejcheidenen Selbjtlofigfeit mir Tröftliches entgegnen willit. Du weißt, es ift meine 
Freude, mein Glüd, mein Stolz, dir jo nahejtehen zu dürfen, als du es mir gejtatteit. 
Und wenn du e8 audy nicht gern hörst, ich muß es noch einmal jagen, daß ich den 
reichen Schaß deines klaren Geiſtes, deines vollen Herzens und deiner ruhigen, harmo— 
niſchen Seele mit einem Gefühl der Ehrfurcht bewiundere, wie niemanden und nichts 
jonit im Leben, jelbit nicht meinen Bruder Mar.” 

„Am mich durch Lobeserhebungen zu demitigen, bift du doc) wohl nicht in diejer 
jpäten Stunde zu mir gefommen, meine liebe Marie? Willft du mir nicht lieber jagen, 
was den Schlummer von deinen übermüdeten Augen verſcheucht?“ 

„Auch du, meine Adeltraut, bijt gewiß recht müde. Und ich halte dich vom Schlafen 
zurück! Deshalb will ich mid) kurz fallen. 

„Mir iſt ja jo manches in deinem jtillen Wejen verborgen, was ich wohl jo gern 
willen möchte. Aber Eins habe ich doch durchſchaut. Denn dazu kenne ich Dich genau 
genug und irre mic) darin wahr und wahrhaftig nicht.” 

Adeltraut ſchaute der Freundin etwas beunruhigt in die lebhaft bligenden braunen 
Augen. 

„Ich mühte ja ftocblind ſein,“ jprac Marie eifrig weiter, „wenn id) bei meinem 
wochenlangen Beluch in Imshuth wicht bemerkt hätte, daß dein Dortiges Leben nnd der 
Verkehr mit Trutheimbs und ihren Umgangskreijen eine rechte Prüfung für Dich jei. 
Kannſt du leugnen, teure Freundin, daß ich recht habe ?” 

„Hat mein Betragen div Anlaß zu diefer Vermutung gegeben ?” fragte Adeltraut 
mit wiedererlangter Ruhe zurück. 

„Dein Betragen? O gewiß nicht! Aber Trutheimbs Betragen gegen dich,“ 
meinte Marie teifmehmend. „Ihre häuslichen Andachten und XTiichgebete, ihr regel: 
mäßiges jonntägfiches in die Kirche fahren, Icheint mir zu ihrem Alltagsgeficht jo wenig 


Ein Vertrag. 1151 


zu paſſen — daß es mir wie eine angenommene Gewohnheit vorkommt. And wenn 
das ein anfpruchslojes Gemüt, wie das meinige, ſchon unangenehm berührt, die ich doch 
nur vorübergehend zum Beſuch bei ihnen bin, wie jchwer mag's erſt dir zu tragen jein, 
die du mit den jonjt ja lieben freundlichen Menjchen, durch nahe Berwandtichaft und 
Pflichten verbunden, vielleicht für lange Zeit, möglicherweiie jogar für's Leben tagtäglid) 
zujammen verkehren mußt!” 

Adeltraut jenkte ihren Blick auf die im Schoß ruhenden Hände und jenfzte leiſe. 

„Wie habe ich dich doch verjtanden,” meinte Marie darauf nicht ohne Selbitgefühl, 
während Adeltraut faſt unmerklich eine verneinende Bewegung machte. „Wie begriff ic) 
deine Freude, als Trutheimb dich aufforderte, dich einmal jtandesgemäß zu Eleiden und 
dich für einen Bejuch auf zwei oder drei Tage einzurichten bei deiner Couſine Alma! 
— Aber deswegen it mir eins um jo unfaßlicher geweien. Und das iſt es, was mic) 
nicht Schlafen ließ; darım trieb es mid; jo unwiderſtehlich noch ſpät zu dir — und id) 
weiß, wenn du mich für wirdig hältit, wirt du mir geri jagen, was dich dazu bewog.” 

„Sch verjtehe dich nicht, liebe Marie,” erinnerte fie Adeltrant janft, „was ſoll 
id) dir denn jagen? Wovon jprichit du doch nur?” 

„Als dein Oheim jo barjch und Falt beichloß, nah Haufe zu fahren, weil Die 
Bejorgniffe um den verichwundenen Grafen Hoyer ihn zu langweilen jchienen, warm 
bejtandeft du da jo eifrig darauf, deine abreiſenden Verwandten nach Imshuth zurück— 
zubegfeiten ; ihnen deine wohlverdiente Erholung in diefem reizenden und jchönen Bilams: 
dorff zu opfern? Warum nur in aller Welt? Ja, wenn die Verhältnifie in Imshuth 
anziehender wären, da ließe ſichs begreifen, daß du dich aus der hiefigen betrübten Ge: 
jellichaft nad) Haufe zurückgeſehnt hättet. Aber wie die Sachen nun leider einmal 
liegen, war mir dein fat beftiges Sträuben geradezu unfaßlih. Und es that mir bei: 
nahe leid, dich mit Alma und den anderen überredet zu haben, als ich) jah, wie jchiwer 
es dir wurde, nachzugeben. Es jchnitt mir durch's Herz, wie Du endlich mit tiefen 
Seufzer den ichwergefaßten Entichluß ausſprachſt: „So muß es demm jein!” 

„Da diefes Wort in deinem Gedächtniife fortlebt, meine liebe Freundin, jo wirft 
du auch noch nicht vergejlen haben, daß ich euch bat, über die Gründe, die mir den 
Entſchluß wirklich erichwerten, jchweigen zu dürfen. Dein rückhaltloſes Vertrauen wird 
mir wohl glauben, daß ich weder aus Teilnahmlofigkeit, noch aus der jelbitgefälligen 
Neigung, mich ohne triftige Urſachen in Geheimniſſe zu hüllen, euren unverdient freund: 
lichen Vorſtellungen nicht ohne inneren Kampf nachgeben konnte.“ „Jetzt,“ jagte fie mit 
inniger Ueberzeugung und ernfter Einfachheit, „jet kann ich wieder ficjere Schritte thun; 
denn id) fühle mic wieder von einer mächtigen Hand gehalten. Deshalb mu ich mein 
unartiges widerjtrebendes Benehmen jelbjt als eine verwerfliche Amwandelung Eindiichen 
Troßes verurteilen und dich bitten, es mir zu vergeben und es zu vergeſſen. Doc) 
num müſſen wir wirklich zur Ruhe gehen, Marie.” 

Adeltraut Hatte ſich erhoben und begleitete die Freundin an der Hand bis 
zur Thür. 

„Ich wußte es, du Gute,” jagte Marie mit einem Kuß, „dab deine Nähe und 
ein Wort von dir meine evregten Gefühle wunderbar beruhigen würde. Gute Nacht!“ 
Damit legte ſie ihre zierlichen Finger um den Griff des Thürſchloſſes. In dieſer 
Stellung verharrend, brachte ſie noch eine Angelegenheit zur Sprache, die wohl der eigent— 
liche Autrieb ihres ſpäten Beſuches geweſen ſein mochte. 

„Du, Adeltraut,“ ſagte Marie zutraulich, „wie ſchade, daß wir dieſen intereſſanten 
Grafen Hoyer nicht näher kennen gelernt haben. Das muß ja ein ganz ausgezeichneter 
Kavalier ſein. Alles war voll jeines begeifterten Lobes, jogar der ruhige Engländer 
und and; Graf Dieffeniberg, dem ich eine ſolche tiefherzliche Teilnahme für einen Freund 
faum zugetrant hätte. Aber gewiß ift er eine grundehrliche, trene Natur. Ach! welche 
ihöne männliche Figur der Graf Hoyer machte, als er mit Sir Francis am 


1152 Ein Vertrag. 
> 

Fenſter lehnte; und diejer edele Anjtand! Dieje vornehmen Bewegungen! ch zittere 
recht für ihn! Was wird nur aus ihm geworden fein? Ein Glied meines kleinen 
Fingers gäbe ich darum, wenn ich wüßte, daß er lebt und geſund ift. Mit Grauen 
denfe ich an die entlegene Waldmeierei. Und diefer entjegliche Eber! Es ift mir nicht 
entgangen, daß aud Mar bejorgt war. Er verbarg es nur aus Rückſicht für uns. 
Dir allein, geliebte Freundin, ſchien das ungewilfe Schidjal des Vermißten die Faflung 
nicht geraubt zu haben. Zwar fteht Graf Hoyer dir wohl nicht näher ala mir. In 
Imshuth wurde ja ie von ihm gejprochen und wir ahnten nicht, daß wir ihm hier be: 
gegnen würden. Obendrein raubte er uns durch jeinen jeltiamen Rüdzug das Ber: 
guügen, ihn perjönlich kennen zu fernen. Aber ganz gleichgültig ſchien er dir doc) nicht 
zu jein. Das verriet mir dein flüchtiges Erröten bei jeiner Vorſtellung. Woher nun 
nur deine unbegreiflihe Ruhe, als wir jpäter alle für ihn bangten und zagten? Kannte 
ich dich und dein prachtvolles Herz nicht gar zu gut, möchte ich fait glauben, es hätte 
dic; gefränft, daß er jo wenig Wert darauf legte, dein Tiſchnachbar zu jein. Aber be: 
denfe doch nur jein rätjelhaftes Verjchwinden in jenem verrufenen Walde. Könnte dic) 
das wirflich kalt laſſen? Denke dir diefe männlich jchöne Geftalt verwundet — ver: 
früppelt — oder gar” — — 


Marie bededte ihr Geficht, wie um ſich den Anblid des entitellten Grafen zu 
entziehen. Adeltraut benußte die Unterbrechung des Nedeftromes, um die aufgeregte 
Freundin an die Pflicht der Nachtruhe zu mahnen. 


„Mebrigens,“ jegte fie Hinzu, „it das Schidjal des Grafen Hoyer mir ebenjo 
wenig gleichgültig als dir. Aber mich tröftet die Ueberzeugung, daß ihm nichts begegnet 
jein könne, was wir berechtigt wären für jein und für unſer Unglüd zu halten. 
Kenntejt du die Gejchichte, welche jich an die heutige Tageslojung für mein verborgenites 
Herzensleben knüpft, dann würdeſt du dich nicht darüber wundern, daß ich wenigftens 
die äußere Ruhe zu bewahren vermochte, al3 alle anderen zagten.” 


Sie reichte der Freundin das Feine Buch, welches noch aufgeichlagen auf dem 
Tiihe lag. Marie las den Pſalmſpruch. Ihre Stimme ſank immer mehr zum be 
wegten Flüſtern herab. Adeltraut umjchlang ihren Hals und wiederholte mit warmer 
Eindringlichkeit halblaut die legten Worte des Spruches: „Und du deinen Fuß nicht an 
einen Stein jtoßeft.” 

Dann wünjchte fie der Freundin mit einem Kuß gejegnete Ruhe. 


„Du bijt ein Engel des Himmels!” hauchte Marie mit feuchtem Dantesblid und 
eilte endlich zur Thür hinaus, 


„ech, eine, nur eine Seele, die veriteht, was ich leide, die meine Kraft jtärft 
durch das Mittragen des Kreuzes, das mich zu erdrüden droht.” Mit jolchen Gedanken 
juchte auch Adeltraut ihr Lager auf. Die mannigfaltigen Bilder des inhaltreichen Tages 
ſcheuchten lange Zeit den Schlaf von ihren Augen. Nachher ftörten fie wiederholt Vor: 
gänge, welche ihre Aufmerkſamkeit fejjelten. Dem bewegten Tage folgte eine unruhige 
Nacht. Vom Hofe heraufichallendes Rafieln von Wagenrädern — eintretende Stille — 
laute Männerjtinnmen — Deffnen und Schließen von IThüren im Schloß — ſchwere 
Tritte auf den Steinftufen der Wendeltreppe, die Adeltraut an ihrem Zimmer vorbei 
bis in das dritte Geſchoß des Turmes verfolgen konute. Endlich) wieder alles ſtill. 
Und ſchon umraujchten die Schwingen des Schlummers mit ihrem wirren Wehen das 
Lager Adeltrauts, da drang abermals ein Lebhaftes Durcheinander mehrerer zugleich 
redender Männerjtimmen vom Hofe herauf. Adeltraut laujchte mit angehaltenem Atem. 
Ihre Uhr zeigte bald die zweite Stunde. Sollten die Boten von der Meterei zurückgekehrt 
jein? Da vernahm fie deutlich) die nachdrücklich betonten Worte: „Gott jei Dank!” 
Ste glaubte die bedächtige Stimme des alten Gottlob, des Kammerdieners, erfannt zu 
haben. Adeltraut durchitrömte plöglich das Gefühl freudiger Sicherheit. „Gott jei Dank!” 


Ein Bertrag. 1153 


hallte e3 in ihrer Seele wieder und aus dem Dank:Erbieten erhoben ſich Gedanken 
des Friedens. Die bejchwichtigten jede bange Sorge um das Los des Grafen Hoyer, 
und umjchwebten wie lieblicdhe Genien das jchöne Haupt der Ruhenden, bis fie den Träumen 
die weichen Schattenhände reichten und erquidlicher Schlummer die müden Augenlider 
endlich ſchloß. 

Nad) einigen Stunden regte es fich noch einmal auf dem Wirtichaftshof, den die 
Schloßfeite mit dem Turm begrenzte, in welchem Adeltrauts Gemad) lag. Man rollte 
einen leichten Jagdwagen aus der Remiſe; Jakob jpannte jeine Bonnies ein und fuhr 
mit Helmrich durch das Hofthor ab. 

Adeltraut vernahm nichts von dieſen Vorgängen. Sie hatte längit die Erquidung 
eines jtärfenden Schlummers gefunden. 


(Fortjegung folgt.) 


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Bur Reform des Eifenbahnwmelens. 


Abdruck dieſes Artifeld mit Quellangabe 
erlaubt und erwünſcht. 


Das von einem Nichtfahmann gejchriebene und fir Nichtfachleute beftimmte Buch 
von Dr, E. Engel über obigen Gegenjtand hat gleich einem ins Waſſer geworfenen 
ichweren Steine weite Kreiſe gezogen und vielfaches Intereſſe erweckt, wie die zahlreichen 
Beiprechungen in der Preſſe beweijen. 

Geht hieraus einerjeits deutlich hervor, daß mit dem Buche eine offene Frage 
angeregt, ja geradezu eine wunde Stelle im öffentlichen Leben berührt ift, jo jcheinen 
uns anderjeits manche Reformvorſchläge von Dr. Engel jo wenig brauchbar oder aud) 
nur in ihren Nejultaten wiünjchenswert, daß kaum zu begreifen ift, wie ein großer 
Teil des Buches ernjt genommen zu werden beanjpruchen fann.*) 

Es jei erlaubt, auf einige Punkte näher einzugehen. 

Um ein Stüd vorauszujchieen, welches die allgemeinfte Billigung finden wird 
umd nur zum Nuten, wie für das Publikum, jo fir die Eifenbahnverwaltungen gereichen 
dürfte, jo ift das die Abjchaffung des Freigepäds und die Vereinfahung und Fracht— 
ermäßigung in der Erpedition des Neifegepäds. Es ift eben eine unentjchuldbare 
Unbilligfeit, daß der ohne Gepäd reifende Fahrgajt für jeinen Fahrjchein denjelben 
Preis bezahlt, wie der von der Gewährung des Freigewichts Gebraud) machende. 
Dieje Unbilligkeit kann nur bejeitigt werden, indem alles Freigepäd abgejchafft wird. 
Zugleich wäre aber eine Frachtermäßigung fir das expedierte Neijegepäd jehr wünjchens: 
wert und auch jehr wohl ausführbar, und ift hierfür in der That die Analogie des 
Einheitsporto für die Zehnfundspadete im Poſtverkehr völlig anwendbar. Man mache 
zwei Zonen und expediere alle Koffer zc., die unter 50 Ktilogr. wiegen, bis zur fünften 
Station vom Aufgabeorte für 20 Pf, bis zu jeder weiteren Station innerhalb des 
deutjchen Neiches für 50 Pf. Dabei fann es bei den allermeijten Gepädijtücen der 
Schäbung des expedierenden Beamten iiberlaffen bleiben, ob das Gewicht von 50 Ktilogr. 
erreicht wird, jo daß das umſtändliche Wiegen durchjchmittlich nicht nötig wäre, und 
das Gepäck and) eventuell noch direft am Gepäcdwagen abgegeben werden könnte. 
Hierin ftimmen wir, wie gejagt, mit Dr. Engel völlig überein. 


In der That gehn jchon recht launige Humoresten über das Bud) durch die Preiie. 


Zur Reform des Eiſenbahnweſens. 1155 


Bedeutend wichtiger und einjchneidender it das Stapitel von der Ermäßigung der 
Fahrpreie fiir den Perjonenverkehr. 

Der Berfaffer beklagt verjchiedene Umjtände, die den Eijenbahnverwaltungen viele 
Ktoften verurjachen und doch niemandem nügen. So die vielen Leerbeförderungen von 
Güter: und Berjonemvagen und die verwidelten Abrechnungen der verjchiedenen Direktionen. 

Wenn Engel in leßterer Beziehung die Einführung des Reichseiſenbahnſyſtems 
empfiehlt, jo it das ohne Zweifel weit iiber das Ziel hinausgeſchoſſen und ein jolcher 
Vorſchlag ſtößt bisher noch auf jo erhebliche und auch wohl berechtigte politijche 
Schwierigkeiten, daß Ddiejelben ſich mit bloßer Berufung auf die Erjparnisrücjichten 
nicht werden bejeitigen laljen. Läßt fich dagegen unter Fortbeſtand der verjchiedenen 
Eijenbahnverwaltungen und Gejellichaften in dem Abrechnungsverfahren manches ver: 
einfachen, jo wäre das ja jehr willtommen zu heißen und wir wollen gern glauben, 
daß von unjern praftiichen Vettern jenjeits des Kanals, bei denen doch aud) die ver- 
jchiedenen Eijenbahngejellichaften bejtehen, in diejer Hinficht vieles zu lernen ift. 

Uebrigens wird die Frage der Leerbeförderungen aud) von Güterwagen durd) die 
Vielheit von Verwaltungen wenig berührt; jene Leerbeförderungen würden durch die 
Vereinigung der leßteren nur unbedeutend bejchränft werden. Schon der Laie kann jich 
das jelbjt jagen. Was joll z. B. aus dem vielen Hundert Kohlenwagen werden, die 
zumal im Herbſt täglich auf ſo vielen mittleren und kleinen Stationen zur Entladung 
kommen? Rückfracht findet ſich doch grade für dieſe offenen Wagen in den wenigſten 
Fällen. Was bleibt alſo anders übrig, als ſie mit dem nächſten Güterzuge leer zurück— 
zuſchicken und zwar mögligſt direkt in die Kohlenreviere, wo fortwährend der ſtärkſte 
Bedarf für dieſelben herrſcht. 

Ebenſo klar iſt es, daß ſich die Leerbeförderungen an Perſonenwagen wenig oder 
gar nicht beſchränken laſſen werden; man braucht ſich nur klar zu machen, worin dieſelben 
ihren Grund haben. Zunächſt iſt darauf hinzuweiſen, daß nach rückſichtsvollen neueren 
Inſtruktionen an die Schaffner die Plätze der Coupees (10 in der 3., 8 in der 2. Wagen: 
Elajje) nur im Notfall alle bejegt werden jollen, jo daß aljo jchon bei normaler Bejetung 
des Zuges ein gewilfes Maß von Leerbeförderung ftattfindet. Vor allem aber fommt 
in Betracht, daß fein Zug auf der ganzen Strede gleihmäßig bejegt ift, daß aber die 
Zahl der anzuhängenden Wagen nicht nach der ſchwächſten, auch nicht nad) der mittleren, 
jondern nur nad) der jtärkiten Frequenz, welche zu erwarten ijt, bemejjen werden kann. 
Geht 3. ®. auf der im allgemeinen jehr jtark befahrenen Strede Hannover-Bremen ein 
Zug um 5 Uhr morgens aus Bremen, jo wird er nicht jehr voll jein. Die Leute, die 
e3 nicht gerade nötig haben, mit diefem erſten Zuge zu fahren, jehen fich nicht veranlaft, 
um 3 Uhr aufzuftehn, jondern nehmen Lieber den zweiten Zug, der höchſtens zwei oder 
drei Stunden jpäter abgeht. So würden an den meijten Tagen vielleicht die in Bremen 
einjteigenden Neifenden ev. in einem Wagen unterzubringen jein. Auf allen Zwiſchen⸗ 
ſtationen aber mehren ſich die Fahrgäſte, und wenn ſich der Zug gegen 8 Uhr Hannover 
nähert, iſt er unter Umſtänden ſo voll, daß acht bis zehn Wagen kaum dem Bedürfnis 
genügen, dieſe mußten alſo wohl oder übel von Bremen leer mitgenommen werden. 
Achnliche Beiſpiele kann ſich jeder jelbft leicht bilden. Wie oft wird ein Zug, der voll 
hinfährt, ziemlich leer zurücktehren, weil eben die Rückfahrt in eine ungünftige Tages: 
oder gar Nachtzeit fällt, und doc müſſen die Wagen alle zurücbefördert werden, um 
für die Hinfahrt wieder am Platze zu jein. Jeder Jahrmarkt, jede Feftlichkeit auf einer 
Zwijchenjtation kann plöglich die Wagen für eine kürzere Strede bis auf den lebten 
Platz füllen, wie ein Gewitterregen die Eleinen Gräben und Bäche, jobald der Ort 
pajjiert tft, wird der Zug jogar auffallend Leer; was bleibt der Eijenbahnverwaltung 
anders übrig, als mit Nückjicht auf jolche Eventualitäten oft auf weite Strecken leeres 
Wagenmaterial in Menge mitzubefördern. 

Alſo auch) hier, jehen wir, find die Leerbeförderungen in feiner Weife zu umgehen, 
und in diejer Hinficht Erjparniffe zu machen, um fie einer Ermäßigung der Tarife zu 


1156 Zur Neform des Eijenbahnwejens. 


Gute kommen zu lajjen, wird unmöglich jein. Soll das Publikum auf diefem Wege 
Erfüllung jeiner gerechten Wünſche nad) Tarifermäßigung erhoffen, jo wird es ſich 
diejelbe verjagen müſſen. 

Daß aber die Tarifſätze für die Berfonenbeförderung im allgemeinen zu hoch find, 
wird ohne weiteres anerfannt werden müſſen. Wir möchten zwar nicht mit Dr. Engel 
jagen, ſie find jo lange zu hoch, als die Leute noch mit Rückſicht auf den Fahrpreis 
von irgend welchen Reifen abgejchredt werden, aber doc) jo lange, als fie von relativ 
nötigen, von jolchen Reiſen abgejchredt werden, zu denen ein berechtigter Wunjch 
vorliegt. 

Dat die jegigen Tarifjäge zu hoch find, läßt ji) an manchen unmittelbar aus 
dem Berfehrsleben gegriffenen Beiſpielen leicht beweijen. 

Bon einer Station zur andern beträgt das Fahrged in 4. Klaſſe gewöhnlich 
20 Pf., wo aber die Stationen etwa 10 Kilometer, aljo zwei Wegesjtunden von einander 
liegen, jhon 30 Pf., d. i. für die Hin- und Rückfahrt 60 Bf. 

Das Dörfchen E. hat eine Halteftelle. Es ijt mit feinem ganzen Verkehr auf die 
zwei Stunden entfernte kleine Stadt S. angewiejen, iſt jogar dort eingepfarrt. Die 
Leute müſſen nicht mur zu Amt und Gericht, zu Arzt und Apotheker, zu Krämer und 
Wochenmarkt, jondern jogar zu Kirche und Pfarramt, die Kinder zum Konfirmanden— 
unterricht nad S. Wie viel fünnte ihnen die Eifenbahn nützen, wie häufig künnte fie 
benugt werden und wie wenig wird jie benußt! Und warum jo wenig — vor allem 
weil fie zu teuer iſt. Der Hofbefiger benußt jie wohl, aber joll der Tagelöhner, Knecht, 
Magd, Hitejunge für jeden Kirchgang erjt 60 Pf. Reiſegeld, etwa einen halben Tagelohn 
ausgeben, das ijt denn doch zu viel. Koſtete es im Ganzen 20 Pf., dann würde er 
ji jagen, daß er joviel an Schuhwerk abläuft und anderweit in Staub und Negen au 
jeinem Sonntagszeug verdirbt, jeßt aber geht er lieber neben der Bahn her zu Fuß. 
Die Banerfran hat einige Pfund Butter, ein oder zwei Stiege Eier zum Wochenmarft 
zu ſchicken, joll erjt das Fahrgeld von 60 Pf. davon abgehn, wie viel Gewinn ijt denn 
da noch daran? Sie jchicdt aljo lieber ihre Magd zu Fuß zum Markte, oder wartet, 
bis ein Aufkäufer kommt, um ihm den Gewinn zu überlaflen. So lange auf dieje 
Weiſe die Leute neben der Bahn her zu Fuß gehen, find ficher die Tarifſätze zu hoch 
und die Bahn thut ſich jelbit Schaden, denn mit einer Herabjegung des Fahrpreijes 
auf ein Drittel würde der Verkehr ficher um mehr als das Dreifache fteigen. Es find 
nicht nur die Paſſagiere der 4. Klaſſe, welche unter der Höhe der Tarifjäge leiden. 
Weniger freilich empfindet naturgemäß der Gejchäftsreifende davon, der jeine Unkoſten 
den Preiſen der Waren hinzufchlägt, noch weniger der Beamte, der Anwalt, der Offizier, 
der die Umfojten jeiner Dienftreifen erjegt befommt. Auch läßt fich billig reiſen in 
Fällen, wo Rundreiſe- und Saifon: oder Nbonnementsbillets benubt werden können. 
Wo aber nun das alles nicht zutrifft, ergeben ſich gar leicht Härten durch die jetzigen Tarife. 

An Keinen Haltejtellen der Bahn wohnen 3. B. oft Gutsbefiger, Forjtbeamte, 
Geiftliche, Lehrer u. j. w., die vielleicht gern regelmäßig ein- oder zweimal in der Woche 
einen Klub in der nächjten Stadt bejuchten. Aber das Netourbillet 3. Klaſſe (bei zwei 
Stationen Entfernung) koſtet jchon 1,20 M, 2. Klaſſe etwa 1,80 M. So würde das 
Bergnügen jchon leicht 100 M an Fahrgeld im Jahre erfordern und die Teilnahme 
unterbfeibt infolgedeſſen Lieber ganz, demm einige wenige Beſuche find ja den Eintritt 
nicht wert, man bliebe doch dem Kreiſe fremd. So verdient denn die Bahn auch nicht 
einmal das Drittel, welches fie leicht verdienen könnte, wenn die Hin: und Herfahrt auf 
derjelben Strede für 40—50 Pf. zu machen wäre; ca. 30 Mark im Jahre würde 
mancher gern für ſolchen Zwed anwenden. Mancher Lehrer oder Prediger bejuchte 
gern öfter eine Fachkonferenz in der Provinzialhauptitadt, oder wo fie jonjt jein mag. 
Aber das Netourbillet kojtet doch leicht 1O—15 Mark und die kann er unter Hinzu: 
rechnung von allerlei jonjtigen Unkoſten für den einen Tag nach feinen Verhältniſſen 
nicht aufwenden. So muß er lieber warten, bis einmal ganz in jeiner Nähe etwas 


Zur Reform des Eijenbahnmejens. 1157 


Aehnliches ftattfindet. Wie oft fieht man Lehrer, um doc einmal einen ſolchen Tag 
mitmachen zu können, +. Klaſſe fahren. Aehnliche Beijpiele von empfindlicher Erjchwerung 
des Reiſens durd) die hohen Koften ließen fich leicht in großer Zahl anführen. 

Ehe wir dazu übergehen, die Vorichläge von Dr. Engel über Tarifherabjegung zu 
prüfen, wird es angebracht jein, die jchon beftehenden Fahrpreisermäßigungen und ihre 
Berechtigung näher anzujehn. 

Was jpricht eigentlich für Netourbillets, Rumdreijebillets, kombinierbare jowohl, 
wie jeititehende, Satjonbillets u. j. w. Es flingt ja recht jchön, wenn man jo oft lieſt: 
Wieder hat die Eifenbahmverwaltung neue Erleichterungen des Reiſeverkehrs geichaffen, 
oder: Das Publikum hat Grund, für die neuerdings gewährten großen Erleichterungen 
jehr dankbar zu jein u. j. w. Aber wir find jo argwöhniich und proſaiſch zugleich, zu 
glauben, daß die Eijenbahnverwaltung, von einzelnen speziellen Fällen abgejehen, jehr 
wenig danad) fragt, was dem Publikum leicht oder jchwer wird, jondern nur danach, 
wie fie den größtmöglichen Gewinn aus ihrem Betriebe zieht. Das wollen wir ihr 
einesteils nicht verdenfen, denn fie muß jehn, wie fie zu ihren Zinjen kommt und die 
Verwaltung der zum Glüd fat durchweg eingeführten Staatsbahnen thut damit aud) 
wieder dem Publikum indirekt einen Gefallen, andererjeitS verträgt ſich auch diejes 
Streben mit den faktiſchen Erleichterungen für das Publitum bis zu einen Grade, der 
beide Teile völlig befriedigen könnte und in viel höherem Maße, als es bis jeht von 
der Bahnverwaltung erfannt oder anerkannt wird. Nur daß eben die Erleichterungen 
viel umfangreicher und vor allem gleichmäßig gewährt werden müßten. Und das kann 
und muß, um es grade heraus zu jagen, nur geichehn durch die radikale Abſchaffung 
der jämtlichen Netour:, Saifon- und Rundreiſebillets und Einführung eines völlig 
einheitlichen Tarifs. Dies nicht nur der von Dr. Engel befonders betonten Vereinfachung, 
jondern vor allem auch der Gerechtigkeit und Billigkeit wegen. 

Zu den Preisermäßigungen für Retour: und Nundreijebillets hat offenbar nur 
das Streben geführt, das Publikum zum Reifen anzuloden. Zu einer kurzen in ein 
oder zwei Tagen abgemachten Reife entjchließt man ſich leichter, wenn das Fahrgeld 
nicht jo hoch ift, zu einer ausgedehnten Bergnügungsreife von 600 und mehr Kilometern 
wird ebenfalls leichter gejchritten, wenn man es jo viel billiger haben kann. Aber 
wodurd in aller Welt verdienen die Reifenden, die von jolchen Billets zufällig Gebrauch 
machen fünnen, einen Vorzug vor den andern, und warum dieſen nicht dieſelben 
Erleichterungen gewähren? Sit es ein Verdienft, wenn man in der Lage ift, eine Reiſe 
in zwei Tagen abzumaden? Iſt es ein Verdienſt, zu demen zu gehören, welche eine 
Reife in die Schweiz oder nad) Tyrol machen können? Die Bahnverwaltung jtellt ſich 
den Kaufleuten gleich, welche die Waren in großen Pojten relativ billiger verfaufen als 
in Heinen. Dieje haben einen berechtigten Grund dazu, denn fie haben beim Großhandel 
viel weniger Umſtände und dadurch verurfachte Unkoften, Verlufte u. ſ. w. als beim 
Verichleiß im Kleinen und miüffen außerdem der Konkurrenz begegnen. Bei der Eijenbahn 
trifft aber dod) feins von beiden zu, denn fie hat von den Neijenden, welche oft und 
weit mitfahren, am jelben Tage zurückkehren u. j. w. feineswegs relativ weniger Mühe, 
als von den andern und einen Konfurrenztampf hat fie in der fraglichen Hinficht auch 
nicht zu bejtehen. 

Wenn num gar die jeßt jo vielbegehrten Kilometerbillets eingeführt werden ſollten, 
jo wiirde die Sache nicht nur noch unendlich verwidelter, jondern auch noch viel unge: 
rechter. Die dadurd gewährte Ermäßigung käme ja hauptjächlich den Gejchäftsreiienden 
zu Gute. Wer bliebe denn nun jchließlich noch übrig, der den vollen Preis der einfachen 
Billets bezahlte? Das wären etwa die Schüler und Studenten, die im die Ferien 
oder zur Scyule reifen und weder Retour: noc) Rundreijebillets gebrauchen fönnen, Die 
fleinen Gejchäftsleute und Handwerker, die alle Jahre ein oder zwei nicht umfangreiche 
Reifen machen, die von des Lebens Mühe jchwer belafteten Familienväter und Mütter, 
welche nicht die Mittel zu weiten Vergnügungs: und Badereifen haben, aber wohl 

Allg. koni. Monatölchriit 1838, XI. 14 


1158 Zur Reform des Eijenbahnwejens. 


einmal auf acht Tage mit ihren Kindern, oder auch ohne diejelben, zu Verwandten 
reifen, wahrlich) alles Leute, denen die Preisermäßigungen viel eher zu gönnen und zu 
wünfchen wären als denjenigen, welche jie der Regel nad) genießen. Bor allen hätte 
auch das Publifum der 4. Klaſſe dann mod) die Laſt für die andern zu tragen. Es 
iſt offenbar ein grobes Mißverhältnis, daß da, wo ein Retourbillet 3. Klaſſe 75 Pf. 
koſtet, die Hin- und Herfahrt in 4. Klaſſe mit 60 Pf. bezahlt werden muß. 
Sollten aber auch in 4. Klaſſe Retourbillets mit ermäßigten Preiſen eingeführt werden, 
wovon vielfach die Rede geweſen iſt, ſo ſchrumpft dann die Zahl der den vollen Preis 
zahlenden Fahrgäſte noch viel mehr zuſammen und es wäre gar nicht mehr zu ſagen, 
warum dieſe ganz geringe Minorität noch jo gezehntet werden ſoll im Vergleich zu der 
großen Majje der Reiſenden, welche ermäßigte Preiſe genießt. 

Man ficht, das gegenwärtige Syſtem richtet ſich jelbit, es führt vollftändig 
ad absurdum. Die Eijenbahnverwaltungen haben jo fange der Manie gehuldigt, ihren 
Scharfſinn zu erichöpfen in Erfindung der mannigfaltigſten und verwideltiten Beſtimmungen 
über Fahrpreisermäßigungen, bis jie in die Gefahr gekommen find, ſich auf diejem 
Wege lächerlich zu machen. Wann wird endlich der geniale Minifter kommen, der 
diefen ganzen ungeheuren Zopf mit einem mutigen Schnitt abjcheren möchte? 

Man jebe die Perjonengeldiarife unter Abſchaffung des TFreigepäds um ein 
Bedeutendes herunter, befürdere aber jämtliche Neijenden nad) denjelben einheitlichen 
Sätzen je für die verichiedenen Klaſſen, ſo wird man den Zweck, die Frequenz der 
Bahnen zu vermehren, beſteus erreichen, die Nentabilität, vorausgejeßt, dal das richtige 
Maß getroffen wird, erhöhen und den ganzen Apparat zu Nuten der Beamten wie der 
Neifenden ungemein vereinfachen. 

Aber das richtige Maß in der Herabjegung der Fahrpreiie zu treffen, darauf 
wird es vor allem ankommen und bier ift in den Neformvorichlägen des Engel’jchen 
Buches der Punkt, welcher dasjelbe notwendig in die Gefahr bringt, mit einem 
mitleidigen Lächeln beijeite gelegt zu werden. 

Dr. Engel jchlägt vor, drei Zonen abzugrenzen, die erite bis 25 Kilometer 
Entfernung, die zweite von 25 bis 50 Stilometer, die dritte über 50 Kilometer bis zu 
jeder beliebigen Station des Reichs. In Diefer dritten Zone 3. B. joll das Billet 
2. Kaffe 2 HM koſten, dafür würden aljo Entfernungen bis zu 1200 Kilometer und 
mehr zurücgelegt. Der durch jolche Preiſe zunächſt bedingte Ausfall an Einnahmen 
wiirde nad) Engels Meinung durch Vermehrung der Reijenden ausgeglichen, und wohl 
mehr als das. 

Nehmen wir für die dritte Zone eine Durchſchnittsentfernung von 600 Kilometern 
an, ſo würde die Eiſenbahn, da der jetzige Satz für dieſe Entfernung ca. 40 M beträgt, 
etwa 20 Perſonen auf jolche Strecken befördern müjien, ehe fie das einnimmt, was fie 
jest an einer Perſon verdient. Das heit, wo fie jebt einen Wagen befördert, müßte 
jie dann mindeſtens zwei jchtwere vollbejegte Ziige befördern. Hieraus geht hervor, daß 
dieje Neuerung eine jo außerordentliche Bermehrung der Betriebsunkoften verurjachen 
wiirde, daß an das jeßige Maß der Nentabilität längft nicht mehr zu denken wäre. 
Eine weitere Folge jolcher Einrichtungen wäre, daß der Zuftand der 2. Klaſſe, was 
Gejellichaft, Meinlichkeit, gute Luft u. ſ. w. betrifft, weit unter das Niveau der jeßigen 
dritten Klaſſe herab jinfen würde, demm wie mancher Handwerksburſch würde ſich nicht 
das Vergnügen machen, einmal für 2 M in der 2. Klaſſe durch ganz Deutſchland zu 
fahren. Endlich müſſen wir ſagen, daß wir eine solche Steigerung des Reiſeverkehrs, 
wie ſie bei jenen nenen Tarifſätzen auch nur zur Erzielung des jegigen Bruttvertrags 
der Einnahmen aus den Perjonengelde erforderlidy jein wirde, gar nicht einmal für 
wünjchensiwert halten. Es wird jtellemweije jchon jet zu viel gereiſt. Manche Leute 
thuen ſich aus Unverſtand durch allerlei_ überflüjliges Reifen großen wirtſchaftlichen 
Schaden, nicht minder hat ein Uebermaß von Reiſen moraliſche Nachteile für das 
Volksleben im Gefolge. Derartige Uebelſtände werden ſich allerdings bei keinem 


Zur Reform des Eiſenbahnweſens. 1159 


Tarifſyſtem vermeiden laſſen, aber eine jolche Mobilifierung der ganzen Bevölkerung, wie 
fie die obigen Vorjchläge veranlaſſen möchten, hat die Negierung allen Grund, hintan 
zu halten. 

Wir erlauben uns einen andern Vorſchlag kurz zu jfizzieren, der den Vorzug 
großer Einfachheit hat und vielleicht in der Normierung der Preije die richtige Mitte 
trifft. Das jeßige Syſtem der von Station zu Station lautenden Billets zu verlajien 
liegt fein Grund vor. Für das Zonenſyſtem läßt ſich die Analogie des Brief: und 
Bafetporto nicht anwenden, denn ob der Zug einige hundert oder taujend Briefe mehr 
mitführt, macht für die Schwere feinen nennenswerten Unterjchied, auch lajjen ſich viele 
Pakete in primitiven Räumen zujammenjtauen, weshalb man aud) mit dem Neijegepäd 
ganz wohl nach diefem Schema verfahren könnte, nicht aber treffen dieje Verhältniſſe 
bei den Reiſenden jelbjt zu, ihre Vermehrung erfordert jofort die Vermehrung der zum 
Teil ſehr Eojtipieligen Wagen und jomit der Züge. Es bleibt darum hier immer 
geboten, die Fahrgeldsberräge im ganzen nad) der zurückzulegenden Entfernung zu 
bemeſſen. Es würde ſich aber vielleicht empfehlen, anſtatt der minutiöſen Berechnung 
nach Kilometern mit der beliebten „Abrundung nad) oben” für die Feſtſtelluug der 
Fahrpreiſe die Anzahl der durchfahrenen Stationsintervalle zu Grunde zu legen, unange: 
jehn ob Diejelben nun grade 8 oder 9 oder 10 stilometer betragen. Für die Bahn: 
verwaltung gleicht es ich ja immer aus, für das Publitum bei nur mäßigen Entfernungen 
auch jchon, und bei ganz Kleinen von ein oder zwei Stationen wird dasjelbe nach den 
fleinen Beträgen, die es gegen andere Stationen zu kurz kommt, nichts jragen. Wir 
wirden alſo jagen, von jeder Station beträgt das Fahrgeld bis zur nächjten in +. Klaſſe 
10 Pf. in 3. Klaſſe 20 Pf. in 2. Klaſſe 30 Pf. und in 1. Klaſſe 40 Pf. Dies 
wäre eine Herabſetzung etwa auf ein Drittel des jebigen Preijes der vierten Klaſſe und 
etwa auf die Hälfte der Preije für die einfachen Billets der drei anderen Stlajien. 
Es iſt ganz unzweifelhaft, daß die dadurch bedingten mäßigen Ausfälle in den Einnahmen 
jofort gededt würden durd) die erhöhten Einnahmen aus dem exrpedierten Reiſegepäck, 
durch Aufrücken vieler Reiſenden in höhere Wagenklafjen und durd) bedeutende Ver: 
mehrung dev Reiſenden. Dieje Vermehrung der Reiſenden aber brauchte, um Das 
gewünſchte finanzielle Nejultat zu bewirken, nicht jo groß zu jein, daß eine wejentliche 
Vermehrung der Züge dadurch bedingt wirde. Denn immerhin fahren ja, um häufig 
genug Gelegenheit zur Beförderung zu bieten, auf den meijten Stveden mehr Züge als 
zur Fortichaffung der vorhandenen Neijenden nötig wären. Durch vermehrte Anhängung 
von Wagen würde in dem meijten Fällen dem geiteigerten Bedürfnis abgeholfen werden 
fünnen, während ein höherer Bedarf an Majchinen, Steinkohlen wie an Fahrperjonal 
nicht jo bald einträte. Sollte aber die Steigerung des Verkehrs jo erheblidy werden, 
daß eine bedeutende Mehrbeförderung von Zügen erforderlich) wiirde, jo würden dann 
auch die gejteigerten Einnahmen ſolche veichlich bezahlt machen. 


Eine Bejchränfung der oben vorgejchlagenen Tarifſätze wiirde nur nötig jein für 
die Nebenbahnen (jog. Sekundärbahnen) und die Vororte der großen Städte. Auf den 
Nebenbahnen liegen die Stationen durchjchnittlih näher zuſammen als auf den Haupt: 
bahnen, außerdem wird auf jenen bedentend fangjamer gefahren, beide Umstände tragen 
dazu bei, die Herabjegung der Preije gegen die Hauptbahnen zu rechtfertigen. 


In der Umgebung der großen Städte pflegen ebenfalls die Stationen bejonders 
nahe bei einander zu liegen, auch ſpricht dort die Rückſicht auf das ſehr gerechtfertigte 
Verlangen der Großſtädter nach zeitweiſem Aufenthalt im Freien dringend jür möglichſt 
— Sahrpreile.. Es empfiehlt jich demnach) auf Nebenbahnen und zwiſchen den 
n auf allen von Städten über 100000 Einwohnern ausgehenden 
Toren die Preife auf die Hälfte von obigen Sätzen zu reduzieren, aljo für die 
Beförderung zwiſchen zwei benachbarten Stationen zu erheben 5 Bf. in der 4. Klaſſe, 
10 in der 3. Klaſſe, 15 in der 2. Klaſſe und 20 Bf. in der 1. Klaſſe. 

14° 





1160 Zur Reform des Eijenbahnmwejens. 


Es wäre das aljo nur ein fir gewiſſe Streden zur Anwendung kommender zweiter 
Tarifjag, nicht aber eine zweite Art von Billets. Andere Billets als die einfachen, 
von einer gewiſſen Station zu einer andern lautenden und zu jeder einzelnen Fahrt 
bejonders zu löſenden gäbe es nicht, davon machten höchitens eine Ausnahme die 
Abonnementsbillets für diejenigen Reiſenden, die eine bejtimmte Strede täglich durd): 
fahren, Schüler, die in eimem benachbarten Ort die Schule bejuchen, Arbeiter, die 
außerhalb der großen Städte billiger und gejunder mit ihren Familien wohnen und 
täglich zur Arbeit Hineinfahren, desgleichen Gejchäftsleute und Beamte, die ihren Familien 
die Annehmlichkeiten eines mehr ländlichen Wohnfiges gewähren möchten, während jie 
täglich in der Stadt ihre Geichäftsitunden wahrzunehmen haben. Für ſolche Zwecke 
wären aus volfswirtichaftlichen Gründen die Preiſe noch bedeutend billiger zu berechnen; 
im übrigen aber gäbe es nur jene einzige Art von Fahrkarten. Welche Vereinfachung 
wäre das allein jchon für Publifum und Beamte! Wohin will man zulegt noch kommen 
mit all’ diejen Zuſammenſtellungen von Rundreijebillets, Berechnungen von Kilometer: 
billets und hundert ähnlichen Blüten der PBhantafie, wie fie jedes Frühjahr üppig 
hervorjprießen läßt! 

Um nochmals auf Dr, Engels Buch zurüdzufommen, jo bieten einige andere 
Neuerungsvorſchläge desjelben ebenfalls wenig Stichhaltiges. Die Verlegung der Billet: 
fontrolle 3. B. aus den Wagen heraus an die Eingänge der Bahnhöfe möchte ja für 
das Wohlbefinden der Schaffner ganz zuträglich fein, indem fie das aufreibende tägliche 
Fahren für diejelben bejeitigte, desgleichen fiele das fortwährende unausſtehliche Durch— 
laufen derjelben durch die Durchgangswagen zur großen Erleichterung des Publitums 
fort. Anderjeits wiirde dieſe Neuerung unzählige Defraudationsverfuche hervorrufen 
und begünftigen und hätte viele andere Unannehmlichkeiten im Gefolge, da z. B. niemand 
mehr von Angehörigen oder Bediensteten ſich an den Zug begleiten laſſen könnte, die 
Reijenden im Zuge ganz ohne Schuß und Aufficht wären u. j. w. 

Eine naive Anficht iſt es, daß ohne Ungzuträglichkeiten alle Perjonenzüge mit 
derjelben Schnelligkeit befördert werden fünnten, wie jetzt die Kourierzüge. Welcher 
Mehrverbraud) von Kohlen, wel’ intenfivere Abnugung des Materials, eine wieviel 
ſchärfere Anſpannung und darum Vermehrung des Perſonals dazu erforderlich wäre, 
iheint Herr Dr. Engel nicht zu ahnen. Eine Geichwindigfeit von 45 Kilometer in der 
Stunde (die allerdings feinesiwegs immer erreicht wird) genügt für die Perſonenzüge 
vollfommen, da meijt nicht allzuweite Streden in denjelben zurücgelegt werden. Dagegen 
wäre allerdings eine vermehrte Einjtellung von Schnellzügen für den Fernverkehr oft 
jehr wünjchenswert. Um ein paar Beiſpiele aus unjerer Nähe anzuführen, jo erjcheint 
es wenig rücjichtsvoll, daß auf einer jo frequenten Strede wie Hannover-Kaſſel noch 
immer fein zweiter Tagesichnellzug gefahren wird, da der eine vorhandene, wenigjtens 
im Sommer, jo überlaufen ift, daß zur Beförderung der Menjchenmafien fahrplan- 
mäßig innerhalb eines Zeitabjtandes von 10 Minuten zwei Schnellzüge hintereinander 
her fahren müjjen. Eine jolche Verdoppelung gewährt aber natürlich feine eigentliche 
Verfehrserleichterung. Ebenjo hätte die Strede Hannover-Altenbefen mit Stationen wie 
Hameln, Pyrmont und wichtigen Abzweigungen zumal im Sommer einen Schnellzug 
durchaus nötig.*) Dergleichen Beijpiele ließen fich mehr anführen. 


*) Die Provinz; Hannover entbehrt überhaupt auf dem Eijenbahngebiete einer Rüdjichtnahme, 
die ihr jhon aus Klugheitsrüdfichten gewährt werden jollte, ihr aber auch nadı Lage der Verhältniſſe 
und der durchſchnittlichen Rentabilität ihrer Bahnftreden zuftände Ein flüchtiger Blid auf eine neuere 
Eijenbahntarte genügt, um zu zeigen, daß nirgends in ganz Deutjchland die Majchen des Eijenbahn- 
neßes mehr jo weit find, als im nördlichen Teile der Provinz Hannover. Man verweile dem gegen- 
über nicht auf die weiten Heide- und Moorftreden, deren Charakter man anderswo überhaupt nicht 
genügend kennt. Es ijt eben Thatjache, dab die meijten Linien auch im nördlichen Hannover jehr 
itarten Verkehr haben und auch demgemäß rentieren, während nad) der eigenen Ausjage des Herrn 
Minifters in den öftlihen Provinzen, welche in den legten Jahren jo reichlid; mit Eijenbahnbauten 
bedacht find, manche Streden nicht einmal die Vetriebsfoften aufbringen. Sind einige neuere Linien 


Zur Reform des Eijenbahnwefens. 1161 


Indem wir zum Schluß unjerer Bemerkungen über Eijenbahnreform eilen, möchten 
wir einen Vorjchlag nicht unerwähnt laſſen, der ausführbarer jein möchte, al$ manches 
von Dr. Engel Vorgebrachte. 


Die Klage des legteren, daß Die wichtige Erfindung der Eijenbahnen für Land 
und Volk noch längjt nicht in dem Maße nugbar gemacht werde, wie es fein jollte, iſt 
zwar auch im diejer Allgemeinheit nicht unberechtigt, ganz bejonders aber trifft fie für 
ſolche Orte zu, welche eine Eifenbahn und jogar eine Vollbahn haben und doc) unter 
Unbequemlichkeiten der Zugverbindungen leiden, welche gradezu den Verkehr empfindlich 
hemmen. Es ift das auf den ziemlich zahlreichen Streden der Fall, deren Perſonen— 
verfehr nicht jtarf genug iſt, um täglich eine größere Anzahl von Zügen zu füllen. 
Die Eijenbahnverwaltung läßt allerdings in der Regel wenigitens drei Züge in jeder 
Richtung fahren, auch wo zuweilen einer genügte, um die vorhandenen Neijenden fort: 
zuichaffen. Das ijt jehr anerfennenswert, es bleiben aber dennoch auch bei drei Zügen 
meiſt noch jo viele Unzuträglichkeiten für die durch die Eifenbahnen einmal gejchaffene 
Art des Verkehrs übrig, daß die Klagen darüber nie aufhören, und jehr viele Reifen 
unterbfeiben, die bei einer größeren Anzahl von Zügen ohne Zweifel gemacht würden. 
St es in jolhen Fällen nicht ein Mißſtand, daß es bei dem ungeheuren in dem Bahn: 
bau angelegten Kapital dennoch an der nötigen Neijegelegenheit jehlt? Aber kann man 
anderjeits von der Verwaltung verlangen, daß fie auf jo wenig frequenten Streden 
nod) mehr foftipielige Züge fahren läßt, um je 10—20 Menichen darin zu befördern 
und die Nente auf dieje Weiſe noch mehr jchmälert? Das Publikum fieht wohl ein, 
daß das zu viel verlangt ift und verfällt gewöhnlich auf den Wunſch, man möchte 
doch den Güterzügen einen Werjonenwagen anhängen. Defjen weigern fich wegen 
gewilier damit verbundenen Unbequemlichkeiten für den Betrieb meijt wieder die Ver: 
waltungen, und jo bleiben die alten Klagen. Berechtigt find Diejelben, denn bald 
liegen die Züge unbequem für den Lokalverkehr, bald für die Anjchlüffe im Fern— 
verkehr, dem Einen liegen fie zu früh, dem Andern zu jpät u. ſ. w. Läßt fich da fein 
Ausweg finden? 

Uns will bedünfen, man jollte doch davon abjehn, auf Linien der genannten Art, 
welche vielleicht an und für fi nur das Zeug zu Nebenbahnen haben, aber wegen 
gewilier Verbindungen oder aus jtrategiichen Rückſichten Vollbahnen bleiben jollen, nur 
die normalen koſtſpieligen Perjonenzüge der Vollbahnen fahren zu laſſen. Dieje Züge 
mit ihren großen jchweren Lokomotiven, die koloſſale Maſſen von Steinfohlen ver: 
ihhlingen, mit 6—8 Mann Zugperjonal jtehn allerdings mit den dafür erforderlichen 
Koſten in feinem Verhältnis zu dem durch jo wenige Paſſagiere aufgebrachten Fahr: 
gelde, noch dazu, wenn dasjelbe ermäßigt werden joll. 


Es hindert ja aber nichts, neben einigen Hauptzügen mit normaler Gejchwindigfeit, 
welche für den Fernverkehr und zugleich zur Beförderung der Poſt und Eilgutjendungen 
nötig find, auch auf den fraglichen Hauptbahnen für den Lofalverfehr einige derartige 


in Hannover weniger ventabel, jo liegt es zum großen Teile an der unrichtigen Anlage derjelben, 
welde ein verjtändnisvolles Eingehn je die wahren Bedürfnifie des Yandes empfindlich vermiflen läßt. 
So wählte man 3. B. die Strede Lüneburg » Buchholz anitatt Lüneburg + Salzhaufen · Toftedt, Ülzen- 
Langwedel anitatt Ulzen-Verden, Hannover-Bilfelhövede anftatt Neuftadt-Soltau. Dieje letztere Strede 
war durch den Herrn Miniſter in richtiger Beurteilung der Verhältniſſe zuerſt jelbit vorgejchlagen 
worden, hernach ließ fich derjelbe durch die Petition einer in Hannover inizenierten Bürgerverjammlung 
davon abbringen, und nach längeren unerquidlichen Verhandlungen bewilligte das Abgeordnetenhaus 
die jegige Linie Hannover-Bifjelhövede, deren Ausführung allerdings jeit Jahr und Tag immer wieder 
verzögert wird, jo daß es fait jcheinen will, als jei man in maßgebenden Kreiſen jelbft wieder an 
dem fait ungeheuerlich zu nennenden Projekt irre geworden. Es jcheinen in die diesbezüglichen 
Erwägungen und Berhandlungen allerlei politiiche Rückſichten hineinzujpielen, über die mir uns hier 
nicht weiter ausjprechen können; die einzig richtige und zulegt erfolgreiche Politik wäre aber doch 
gewiß, lediglich das wohlverftandene Intereſſe der betreffenden Gegend und die Rückſicht auf die wirt- 
ſchaftliche Gejamtwohlfahrt des Landes walten zu laſſen. 


1162 Zur Reform des Eifenbahnmwefens. 


Züge, wie fie auf Sekundär: und Tertiärbahnen üblich find, verkehren zu laſſen, Züge 
alfo mit viel Eleineren Lokomotiven und nur ein bis zwei leichten Wagen. Hat man 
doch auf manchen Seitenbahnen Fahrzeuge, bei denen Machine, Kohlenraum, Bojtconpee 
nebjt den vorhandenen Coupees zweiter und dritter Klafje, jowie dem Gepäckraum alles 
in einem einzigen Wagen vereinigt it. Diejelben bedürfen einschließlich des Maſchinen— 
wärters nicht mehr als zwei Mann Perjonal und brauchten auf den durch Bahmwärter 
bewachten Streden nicht viel langjamer zu fahren als jonftige Perjonenzüge. Sollten 
jie aber auch nur etwa 25 Kilometer in der Stunde zurücdlegen, jo würden fie doch 
auf denjenigen Streden, welche wegen des Mangels einer größeren Anzahl von Zügen 
an empfindlichen WVerfehrsunbequemlichkeiten leiden, mit der größten Freude begrüßt 
werden, jobald fie zur Ansfüllung der im Fahrplan vorhandenen Lücken und überhaupt 
zur KRompfettierung des ganzen Zugiyitems eingeführt würden. Die Koften aber diejer 
Züge find jo unbedentend, daß fie jedenfalls durch die aus der Einführung derjelben 
erwachjende jtärfere Frequenz der Bahn reichlich gedeckt wirden. 

Mir jchließen mit dem Wunſch, daß es den zur Förderung des Eijenbahnmwejens 
berufenen Inſtanzen gefallen möge, recht bald das Probehaltige aus den verjchiedenen 
Reformvorſchlägen, deſſen vielleicht auc der vorjtehende Eleine Aufſatz Einiges enthält, 
zur allgemeinen Einführung zu bringen. 





Skizzen aus meinem Lehen und meiner Beif.”) 


(Bon der Berfafferin der „Bräfin Sophie Reinhard”, „Mörikeana“, „Viſionen 
und Träume.) 


Fortſetzung.) 


Vom Jahr 1834 iſt mir das wichtigſte Ereignis mein erſter Schulgang. Mit 
großer Freude hatte ich denſelben unternommen, aber noch ungleich vergnügter kam ich 
mit der Nachricht heim, daß wegen des Mittwochs nachmittags keine Schule ſei, 
denn — ach! der Eindruck, den ich von der Schule und ihren Inſaſſen bekommen hatte, 
war ein herzlich ſchlechter Der Schmutz einer damaligen Volksſchule — die Hitze im 
Lofal während des Sommers, die Kälte im Winter (je nachdem man einen Pla ein- 
nahm), der Ledergerud; beim Negenwetter von den gejchmierten Bubenftiefeln, war etiwas 
Unbejchreibliches und verfolgt mich heutigen Tages noch bis in meine Träume. Auch 
hatten es die Schulkinder bald weg, daß es eine gute Unterhaltung war, jo eine zorn- 
mütige „Prinzeſſin“ (mie fie mich jchalten) weidlich zu neden. Die Heinen Männlein 
und Fräulein genoffen dies reichlich, und bejonders unterließ es feines, auf meinem 
jogenannten „Pilgerkragen“ Federzeichnungen zu probieren; wenn ich aber die Unthat 
inne wurde, durfte man gewiß jein, daß ich Eleine Furie herumfuhr und jobald id) die 
Berbrecher entdeckt hatte, die Mifjethat unverweilt und mit kräftiger Stimme dem Schul: 
lehrer anzeigte, damit fie zur Nechenichaft gezogen würden. Einen zweiten Anlaß zu 
böjen Nedereien gaben meine herabhängenden Zöpfe — die einzigen in der Schule, 
denn die anderen Mädchen trugen jogenannte „Nejter”. Wehe dem! der das verjuchte 
oder gar ausführte, an meinen Zöpfen herzhaft zu ziehen, was mir empfindlich wehe 
that, da ich beinah immer Kopfweh hatte. Wie der Wind fuhr dann mein Kopf herum 
und ich jchrie: „Here Schulfehrer, der oder die ruht nicht!” Einmal machte ich aber 
eine „unerhörte” Anklage! Meine erſte Schulprüfung fam heran und mein Vater hatte 
mir verjprechen miüfjen, mich im meinem ganzen Glanze zu jehen und zu hören! 
Bekanntlich aber fommt der Hochmut vor den Fall und jo erging es auch mir; ich 
wurde nicht gefragt was ich wußte, und was ich gefragt wurde, wußte ich nicht, da 
wurde id) wie ein gereizter Puter, der bei der erjten Gelegenheit loskollert. Da jtreifte 
etwas meinen Hals und id) empfand den jchmerzhaften „Ruck“ im Genid; ärgerlich 
wandte ich mid) um, mein erfter Blid fiel auf Stadtpfarrer Bed (dev ſich zu einer 
andern Schülerin vorbeugte und unwiſſentlich meine Zöpfe damit auf die Bank flemmte), 
und in blindem Zorn jchrie ich: „Herr Schullehrer, der Stadtpfarrer ruht nicht!“ 


*), Alle Rechte vorbehalten. 


1164 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


Noch jehe ich Bed erjtaunt lächeln, die Schulkinder mich entjegt anftarren, und 
höre, wie der Schulfehrer verjucht, mich zu entichuldigen, daß id; aber auf dem Heimmeg 
von meinem Water fein Lob erntete, glaubt mir wohl jeder. — Ein wahrer Sonnen: 
blie fiel aber in meine bis dahin trübjelige Schulzeit, als id) eines Tages die wunder: 
jame Märe unter uns verbreitete, daß „Gräfinnen“ heute in unjerer Ichmußigen 
Schulſtube ericheinen würden. „Lebendige ?“ fragte ich atemlos und wurde natürlich 
dafür belaht. Da ich auf meiner Schülerbanf unter den Jüngſten der Schule 
noch nichts „Gräfliches“ erblickt hatte, als die Landgräfin Eliſabeth auf dem Altarbilde 
in unſerer Kirche, ſo hatte ich ſtillſchweigend angenommen, daß die Grafen und Gräfinnen 
der antediluvianiſchen Periode angehörten, und war deshalb auf das Höchſte verwundert 
und intereſſiert, als drei lebende Exemplare dieſer Gattung eines ſchönen Tages in 
unſerer Schule auftauchten. Ein erſter Blick belehrte mich aber ſchon, daß dieſe „Grafen— 
kinder“ ſo wenig der Landgräfin Eliſabeth glichen, als uns gewöhnlichen Menſchen— 
kindern. Der Junge ſah noch am erſten zu uns gehörig aus; er war ein beherzter 
kleiner Gentleman, der ſich mit lachendem Geſicht und ſehr ungeniert die ſchmutzige 
Schulſtube und deren Inſaſſen betrachtete. Da es damals noch ſehr urſprünglich in 
der Schule eines Landſtädtchens zuging, ſo ſaßen z. B. die Buben und Mädchen nur 
durch einen ſchmalen Gang getrennt, und der Zufall wollte es, daß dem Gräflein der 
Platz als Erſter in der Bank angewieſen wurde, die nur durch den ſchmalen Gang von 
der getrennt wurde, auf welcher ich als die Letzte ſaß. Einen „lebendigen“ kleinen 
Grafen in allen Einzelheiten mit den Augen aufzunehmen, war für mich ein noch nie 
dageweſenes Vergnügen, und im Eifer darüber ließ ich mein ABE-Buch aus der Hand 
fallen. Mein gräflicher Nachbar verließ ſogleich ſeinen Sit, hob mir das Bud) auf 
und bot e8 mir artig hin; ein Knabe aber, der einem Mädchen etwas aufhob — war 
in den Annalen unferer Schule aber etwas Ilnerhörtes, disponierte mich aber jofort 
zur Freundichaft, und alsbald entipann jich ein Zwiegeſpräch. Natürlich wollte ih — 
die immer allem auf den Grund ging — zuerjt willen, ob er wirklich und wahrhaftig 
ein „Graf“ jei, und als er dies verneinte, war ich jchmerzlich enttäufcht. Der geicheite 
Junge bemerkte es, wollte mich tröften und verficherte mich, jein Papa jage immer, 
ein altadeliger Baron jei viel vornehmer, als ein neugebadener Graf, wie Mamas 
Bater, der Graf Reinhard in Paris, umd mit viel Selbftgefühl fügte er hinzu: „Ach 
bin Baron Karl v. Diemar.” Und diejer Teibhaftige Kleine Baron trug mir noch am 
jelben Tage meine Biüchertajche heim und wir jchloffen eine innige Freundſchaft mit 
einander, die ſich im Laufe der Zeit auch auf jeine zwei älteren Schweitern und drei jüngeren 
Brüder ausdehnte. Ich wurde balt der häufige Gaft bei den „Srafenfindern”, welcher 
Name ihnen lange blieb, und FFlötentönen gleich durchzieht mic) noch im Alter die 
Erinnerung an ihre Kinderftube. Diefelbe würde heutzutage faum den Anjprüchen einer 
Handwerferfamilie genügen. Der Plafond derjelben war ehemals wohl weiß, jo lange 
ic) mid) aber erinnere, rauchgeichwärzt, die Wände grobgemalt, Dagegen reichlich verziert 
mit den Spuren unjerer Wurfgeſchoſſe, die zuweilen in gebratenen Aepfeln oder grünen 
Nüſſen beftanden und recht deutliche Wandzeichnungen zurückließen. 

Unmittelbar vor den Fenſtern waren ein paar hohe alte Nupbäume, welche ihre 
Aeſte jo verführeriih nahe heranftredten, daß wir, wie Tante Yonife, des Barons 
Schweiter, uns nachjagte, „um ein paar {umpiger Nüſſe unjer nichtsnugiges Leben 
wagten.“” Das Scönfte an diejer Kinderjtube, welche nad) Weiten faq, war die Aus: 
ſicht. Nechts hatte man das Flüßchen und geradeaus das lieblichite Wieſenthal — in 
meiner Erinnerung bejtändig grün und von goldener Abendjonne übergosien. 

Doc), wie nichts vollfommen ift auf diefer Welt, jo knüpft ſich doch auch eine 
demütigende Erinnerung für mich an diefen Pla, die ich lange nicht verwinden konnte. 
Die Kinder erzählten mir oft von ihrem Großpapa, dem Grafen Reinhard, erwähnten, 
daß man jeinen Bejuch erwarte und freuten ſich auf die jchönen Pariſer Gejchenfe, die 
er mitbringen würde; ich mic) natürlich mit ihnen, denn ich wußte, daß ich alles 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1165 


mitgenießen durfte. Da jaß mir aber eine Eule auf und meine Freude wurde dadurch 
jehr verbittert. Wenn wir Schulfinder in die Wochenkinderlehre oder zum Sonntags: 
gottesdienft zu gehen hatten, jo führte ung der Weg an den eijenvergitterten Gruft: 
jenftern der Kirche vorüber; die Furchtiamen gingen jchen vorüber, die Beherzteren 
jpähten nach einem Sarge, der im Halbdunfel gejpenfterhaft ausjah. Warf man einen 
Stein hinab, jo hallte e3 jchaurig; ſowie aber ein böfer Knabe rief: „der Ordensmeifter 
kommt“, jo ergriff die ganze Bande die Flucht, ſtürmte wild durd) den alten Luftgarten 
der Ritter, welcher Hinter der Kirche lag und von der jchon früher angeführten Bappel- 
allee begrenzt wurde. Hatte fich ung niemand in den Weg geitellt, jo lief die Sache 
gut ab, aber einmal, als wir im jchnelliten Lauf waren, begegnete ung Baron v. Diemar 
und faßte befonders mich, wie es mir fchien, ftreng in das Auge, was mich im Augen: 
blick beunruhigte, aber ich vergaß es bald wieder. Doch jollte ic) leider jeine Auf: 
merfjamfeit noch einmal auf mic) ziehen und in einem mir recht mißliebigen Augenblid 
wurde ich fpäter daran erinnert. Baron von Diemar hatte eine herzliche Freundichaft 
mit Stadtpfarrer Bed angeknüpft und war ein fleifiger Kirchengänger. Leider wählte 
er aber jeinen Pla auf der Empore, auf der auch wir Schulkinder unjere Sie hatten. 
Die Kleinen, welche die Predigt noch nicht verftanden und nachjchreiben konnten, trieben 
zu ihrer Unterhaltung allerlei Kurzweil, die nicht kirchlicher Natur waren. Die ganz 
ſchwarzen Bödlein unter der Lämmerherde aber bejchäftigten ſich manchmal (wie id) 
von jemand weiß, der mir nahe fteht) damit, Papier in ganz fleine Stückchen zu 
zerreißen und Diefelben wie Schneefloden auf die unten Sitenden oder arglos im 
Kirchgang Dahinwandelnden hinabwirbeln zu laſſen. Am liebſten bombardierten wir 
eine jehr große, meift auffallend gefleidete Dame, die gewöhnlich nur zur Oſterzeit 
majeftätifch den mittleren Gang entlang wandelte. Einmal war es ıyir eben geglüdt, 
ihren Hut mit einem weißen Flocken zu jchmücen, da begegnete ich einem  jtrafenden 
Bli des Barons und drohend erhob er zugleich den Finger. Ich erichraf, verlor mid) 
rajcd) unter den andern und glaubte damit die Sache abgemacht. Leider fam aber 
furze Zeit darauf der gräfliche Großpapa von Paris an und die Kinder erzählten mir 
in der Schule, daß er ihnen wahre Weltwunder von Gejchenten mitgebracht habe und 
Inden mic) ein, die Pariſer Schäße zu beaugenjcheinigen, was ich mic, aud) beeilte zu 
thun. Wahrjcheinlich war ich in meinem Entzücen zu laut, kurz, ehe ic) es mir verjah, 
war die Thüre geöffnet worden und Graf Neinhard mit jeiner Gemahlin jowie der 
Baron und feine Gattin jtanden unter uns. Diesmal konnte ich mich nicht unter den 
andern verbergen und zu meinem Schreden jchob mic) der Baron hart vor den alten 
Grafen Hin und erzählte dieſem, ich jei die Keckſte und Wildefte der ganzen Gejellichaft, 
ftöre den Deutjchmeifter in feiner Ruhe und laſſe auf die Köpfe der Andächtigen jogar 
im Sommer Scjnee fallen. Auch noch andere längſt vergeflene „Schandthaten” von 
mir verfündigte der Baron den gräflichen Ohren. Alles lachte, aber mich ergriff die 
bitterfte Beſchämung und ich juchte mit meinen Eleinen Händen meine auffteigenden 
Thränen zu verbergen. Graf Neinhard jah meinen Jammter, jegte fich, zog mich auf 
jeine Knie und tröftete mich freundlich, indem er mir mitteilte, er ſei auch ein feder, 
vorlauter kleiner Schlingel jeiner Zeit geweien, habe e3 aber doch zum „Orafen“ 
gebracht und ich jähe ihm ganz darnad) aus, wie wenn aud) „etwas“ aus mir würde. 
Dies war Balſam auf meine Wunde und da immer „etwas Nechtes” aus den Aichen: 
brödeln und dergl. verfannten Gejchöpfen wurde, wenn ein „Prinz“ bei ihnen angeritten 
oder vorgefahren fam, jo erjtaunte ic) an jenem Tag meine Familie mit der Frage: 
wie alt ich jein müfje, bis ein Prinz komme und etwas Rechtes aus mir made? . 

Die Auskunft, welche man mir damals daheim bot, muß mich jchlecht befriedigt haben, 
denn die Baronin erzählte jpäter öfters, wie id) nach dem Beſuch ihres Vaters einmal 
ganz ernjthaft fie verhört habe, wie es denn der Herr Vater der gnädigen Frau 
angefangen habe, daß jo etwas Rechtes — wie ein Graf — aus ihm geworden jei? 
Was ich damals von der Gräfin-Tochter zu hören bekam, weiß ich nicht mehr, um jo 


116 Skizzen aus meinen Leben und meiner Zeit. 


tiefer prägte jich mir aber ein, was ich jpäter aus dem Munde der Baronin und ihres 
Bruders, des Gejandten Reinhard in Bern darüber hörte, und was ich des beichränften 
Raumes wegen bier leider nur ganz kurz mitteilen fan. Karl Reinhard, ein Schwabe, 
war ein Pfarrersjohn aus Balingen, jtudierte Theologie im Tübinger Stift, als die 
jranzöfiiche Nevolution ausbrady und fein freiheitdurftiges Herz nad) Frankreich 309. 
Eines Nachts fletterte er über das Thor des Stiftes, nichts mitnehmend als jein Feines 
Nänzel, enthaltend etwas Leibwäſche, einen Anzug, Plutarch und ſonſt ein paar lateiniſche 
Schunfen nebjt einem Kronenthaler und etwas Kleingeld. In Frankreich angefommen, 
wurde Karl Reinhard zuerjt Privatlehrer, und erſt als er der franzöfiichen Sprache voll: 
fommen Herr geworden war, ging er nad) Paris, jtürzte ſich in den Strudel der 
Revolution und war nahe daran, von diefem verichlungen zu werben. 

Seine jcharfen Urteile zogen die Aufmerkſamkeit der Schredensherrichafts:Männer 
auf fich, und der Herr Stiftler jaß bald genug in der Gonciergerie und war von 
Nobespierre zum Tode verurteilt. Jeden Tag hielt bekanntlich damals der Karren 
vor der Gefängnisthüre; der Gefangenwärter kam und las die Namenslifte derer ab, 
welche das verhängnisvolle Fuhrwerf (das jeinen Weg direft zur Guillotine nahm) zu 
bejteigen hatten. Eines Tages, als jchon ein ziemlicher Schub für die Guillotine 
beiſammen jtand, fam von den Lippen des Sterfermeifters als letzter Aufgerufene noch 
der Name des Bürgers „Renard.” „„Das bin ich, der Franzoſe kann meinen Namen 
nur nicht richtig ausiprechen,“” dachte K. Neinhard, und war jchon im Begriff vorzu— 
treten; da fam ihm ein anderer zuvor, der den franzöfischen Namen „Renard“ trug. 
Der Gefangenwärter jtecfte nun jeine Lifte befriedigt ein und der Transport für den 
Greveplak war ſchon unterwegs, ehe K. Reinhard ſich nur halb bewußt wurde, weldyer 
Gefahr er — vielleicht auf Koften eines andern — joeben entronnen war. — In der 
darauf folgenden Nacht brach die Gegenrevolution aus, die Gefängniffe wurden geöffnet 
und Reinhard frei. Da, che er die Conciergerie verließ, ſuchte er den Kerkermeiſter 
auf und bat ihn nachzufehen, ob er nicht die geftrige Lifte der Verurteilten nod in 
Händen habe. Wirklich kam auch aus deſſen Tajchen ein zerfnittertes beſchmutztes Papier 
zum Vorſchein, welches ſich als die gewünfchte Lifte herausstellte und Reinhard jah mit 
freudigem Schreden, daß das unheilvolle Blatt wirklich feinen ganz richtig gejchriebenen 
Namen enthielt. Er erbat fich als Kuriofum die Lifte vom Gefangenwärter und Graf 
Reinhard’s Sohn, der Gejandte, erzählte mir, als ich ein erwachjenes Mädchen war, 
daß er diejes verhängnisvolle Papier als Knabe öfters in Händen gehalten habe, wenn 
jein Bapa es nach Tiſch jeinen Gäften als Kuriofum gezeigt habe. Ach erzähle und 
widerhofe dies hier ausdrüclich, weil die Thatjache, dal; Graf Reinhard fich in Lebens: 
gefahr befand, was ich ſchon bei PVeröffentlihung meiner Gräfin Sophie Reinhard 
mitteilte, von weitläufigen Verwandten des Grafen bezweifelt wurde, „weil fie nie etwas 


nicht geitattet! . . . . Im Jahre 1835 erlitt die evangelische Gemeinde meiner Vaterftadt 
den großen Berluft, daß fie ihren Stadtpfarrer verlor, da diejer einen Ruf an die 
Univerfität in Bajel angenommen hatte. Im Morgengrauen eines nebligen falten 
Septembertages wurde ich von unferem Haus aus mit Stadtpfarrer Bed, der die leßte 
Nacht vor jeinem Umzug nach Bajel bei ung logiert hatte, hinein in jeine Schloßwohnung 
gejchieft, um der Abfahrt der Familie anzuwohnen und zu Haufe dann alles zu erzählen, 
denn von dem, was zu jehen und zu Hören war, entging mir nichts, darauf konnte 
man ſich verlaffen. Meinem Vater fiel der Abjchied von feinem jungen Freunde jo 
ſchwer, daß er fich jchon oben in feinem Studierzimmer von ihm trennte und ihn nicht 
mehr herunter zum Frühſtück begleitete. Auch unjere Mutter und Beck's Frau hatten 
ſchon am Abend zuvor einen thränenreichen Abjchied von einander genommen. Nur wir 
Kinder nahmen es gegenfeitig nicht jo ſchwer, augeinanderzugehn, und als ich unter dem 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1167 


Schloßportal ftand und zujchaute, wie die Kinder Beck's bald in den Reiſewagen 
hineinffetterten, bald wieder heraushüpften, da waren wir uns jchon jo fremd geworden, 
daf eines von ihnen ganz erftaunt zu mir ſagte: „Ra, was thuft denn du da, Did) 
nehmen wir ja doc nicht mit nad) Baſel.“ Dies Tief mich empfinden, daß meine 
Kameraden fich jchon wie getrennt von mir betrachteten und da es mich im Falten 
Morgennebel ohnedies fröftelte und Bed und jeine Frau eben immer noch zügerten, 
ihre Wendeltreppe herabzufommen und auch einzufteigen, jo z0g ic) es vor, ohne Sang 
und Klang mic von der Familie zu verabichieden und wandte mich dem Doftors: 
Gäßchen zu. Doch halt! auf der jogenannten „Schied,“ dem Plate zwilchen dem 
Schloß und der Krametsgaſſe, fam der hochbepadte Reijewagen jchwerfällig an mir 
vorüber gehumpelt, und kleine wie große Hände winften mir jeßt noch eifrigft zu. 
Fran Bed ſaß bleich und wie erftarrt da und ich habe fie in dieſem Leben nicht mehr 
gejehen! Wie Bed aber auch noch von der Ferne aus die verlafienen Freunde und 
die verwaifte Gemeinde im Geiſt umſchloſſen hielt, wie lebendig ev Freud und Leid mit 
ihnen teilte und Nat und Troft zu jpenden ftets bereit war, davon mögen nachfolgende 
furze Briefauszüge Zeugnis geben, jorwie auch davon, daß Becks Sinn und Wort 
neben dem klugen energischen Erfalien der äußeren Verhältniffe, eingetaucht war und 
blieb in den Geiftesftrom göttlicher Gedanken, die ihm immer frisch aus Gottes Wort 
floſſen und ihm über alles Augenblicliche, zeitlich Gegebene hinüber Auge und Finger 
unverrüct gerichtet hielten auf das Eine, Ewige, Unvergängliche, das Gott in Chrijto 
der Welt geoffenbaret und daraus dem Menjchen — mit der aufrichtigen Selbiterfenntnis 
und Selbitbeugung vor Gott, mit den lebendigen Gefühl der eigenen Hilfsbebürftigkeit 
— auch immer kräftiger Trojt und Stärkung von oben zu ftrömen! Auch davon zeugen 
nachfolgende Briefabjchnitte und nichts iſt dabei gewifjer, als wenn Bed einmal jagt: 
ich deflamiere nicht! Noch muß ich bemerken, daß dieſe Briefe, obwohl immer an 
bejtimmte Perſonen adrejfiert, doch nicht jelten von Bed jelber für einen weiteren 
Freundeskreis bejtimmt find. Am liebften würde ic) die Briefe Becks wörtlich, obgleich) 
mit Vermeidung feiner Familienangelegenheiten herausgeben, oder hier mitteilen, wenn 
nicht widrige Gründe, die ic) wohl bedauern, aber nicht ändern kann, entgegenftänden. 
Bom 5. Dftober 1836 datieren die erften Nachrichten, welche Beet jeinen Mergentheimer 
Freunden giebt. Er berichtet, daß er mit feiner Familie in Balingen bei jeinem Vater 
liege „wie ein gejtrandetes Schiff, das nimmer flott werden fünne!” und daß er aus 
verjchiedenen Gründen erit am 8. Dftober die Weiterreife antreten könne. Wie jehr 
Becks Gedanken bei der joeben verlaffenen Gemeinde weilten, fchildert er ergreifend, 
indem er erzählt, daß beim Spielen eines feiner Lieblings-Choräle, die er bei Gottesdienften 
in M. öfters fingen ließ, jo viele Erinnerungen auf ihn eindrangen, daß er aufhören 
mußte zu jpielen. Ebenſo erging es ihm beim Kirchenbeſuch und beim Anblid von 
Schulfindern. Dieje Zeit, wo das alte Werk von ihm genommen war, und das neue 
nody nicht angefangen, war Bed, wie er ſich ausdrüdte, in einer ſchattenartigen 
Zwiſchenwelt, und es drängte ihn zu neuer Arbeit. Auch preift Beck Gott von Herzen, 
wie gut er ihn bisher geführt habe, und meint, wir alle müßten Gottes tägliche 
Wohlthaten, die wir jo leicht überjehen, aber als von jelbft fich verjtehend annehmen, 
dieje, und das Ganze unjerer Lebensführung nur nie vergejien, über wehthnenden 
Einzelheiten, dann werde immer Zufriedenheit und Hoffnung bei ung vorherrichen, und 
darin bejtehe der echte Lebensgenuß. Der verwaiiten Gemeinde giebt Bed den Nat 
„wohlaufgepakt und feſt aufgetreten” und fügt hinzu (Hinfichtlich der Stellung des 
evangeliihen Stadtpfarrers als lateinischer Lehrer gegenüber dem katholischen Kirchen: 
fonvent), der evangelische Kirchenfonvent dürfe jeinen Geiftlichen nimmermehr zu einer 
Subordination unter katholiſches Kirchenkonvent und katholiſche Geiftlichkeit degradieren 
fafjen. Kein anderes Verhältnis jolle anerkannt, ja gegen jedes andere keck proteftiert 
werden, als das der unabhängigen Stellung. Dringend ermahnt der gejchiedene Hirte 
der Gemeinde, fich nur durch michts eimfchlichtern zu laſſen, die gute Sache müſſe 


1168 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


er Ende immer gewinnen, wenn nur wir jelbit fie nicht im Kleinglauben 
aufgeben. . . . 

Zum Schluß jpricht Bed die Zuverficht aus, daß alles, was jeine Freunde und er 
miteinander durchlebt hätten, fein Verlebtes jein joll, jondern in neuer Muflage wieder: 
fehren werde. Auch bittet er, die Gemeinde jolle fich friedlich und freundlich in ſeine 
Schreiben ſich teilen (die Briefe jollten alſo nicht bloß unjer Kamiliengut bleiben, 
wir find deshalb jo zu jagen von Bed jelbjt autorifiert, diejelben mitzuteilen). 

Die eriten Nachrichten aus Bajel liefen im Doftorhaus am 26. Oftober 1836 ein. 
Ber preift in feinem Brief Gott, wie gut und weile es diefer angelegt, daß aus der 
Vergangenheit das Freundliche und Angenehme fefter uns im Andenken hafte, und im 
Herzen ſich noch Fühlbarer mache, als das Harte und Unangenehme, und fügt Hinzu, daß 
wir Chriften in feiner Welt nicht erſt wie die Heiden meinten, aus dem Strome des 
Vergeſſens zu trinken brauchten, um von den trüben Nüderinnerungen diefer Welt nicht 
mehr gepeinigt zu werden. Das Trübe träte von ſelbſt zurüd, wenn es einmal heiße: 
es ift vorbei! und das Erfreuliche lebe unsterblich in ung fort! . . . In einem Brief 
vom 21. und 22. Dezember 1836 verfichert Bed, jo vielen Umgang er in Bajel habe, 
jeinen Doktor und deſſen Haus vermijje er eben! Dann verjichert er Vater, daß ihr 
Bund für die Ewigfeit gemacht jei! Dann bejchreibt Bed, da wenn er manchmal 
auf Geiftliche jtoße, geliebt von ihren Gemeinden, umgeben von Freunden, dann denfe 
er: „D ihr Glüclihen — und ich hatte mehr als ihr! Nur ich weiß, was id) hatte!“ 
Doch tröftet er fich damit, daß ihm nicht Mutwille in M. Iosgerifien Habe, jondern 
allein die Pflicht. Wäre es auch jchöner gewejen zu ernten: jo jei es wiederum bejier 
zu jüen, neu zu ſäen und zu arbeiten, wo Der berufen hat, der für uns alle 
Dimmelsglüd verließ. Diejer wilfe, wozu Er ihn gerade hier in Baſel brauche, und 
werde auch wieder Segen geben, die Ernte bleibe nie aus, wenn wir fie auch bier 
nicht jelbjt einfammeln! . . . . Aus Beds bisherigen Lebenslauf in Bajel erzählt er, 
daß jeine Antrittsrede viele Neugierige herbei gelocdt habe, und von denjelben mit 
geipannter Aufmerkſamkeit bis zu Ende gehört wurde, und eingreifender wirkte als er 
nur geahnt hatte, denn von mehreren Seiten famen ihm freudige Verjicherungen zu, 
wie jie dem Einen ein neues Licht, dem Anderen Entjicheidung und Sicherheit gebracht 
habe. Bald jprachen ſich zwei öffentliche Blätter darüber aus, zuerit die Basler 
Zeitung im Geiſte der bisher an der Univerfität herrichenden Partei, dann der Volks— 
bote mit vieler Wärme im Geilte der Frommen. Bed jagt dazu, nachdem er den 
Ausipruc der Zeitungen angeführt hatte: „Der Hammer ijt angelegt und der erite 
Schlag durd) Gottes Gnade gut gelungen! Das Erfreulichite dabei, jagt er weiter, jet 
ihm, jeine bisherige Erfahrung auch auf diefem neuen Felde beftätigt zu jehen: wie 
man nur Die ganze Wahrheit, die uns die Schrift anbietet — ohne Ab: und Zuthun 
aus Eigenjucht — ausjprechen dürfe, um jeder Partei ein Gewiſſenszeugnis dafür ab: 
zunötigen; ev bemühe jich, einfach und bejtmöglichit wiederzugeben, was Gott in jeinem 
ihm jo teuern Wort gebe: auf Dem Boden fürchte er feinen Menfchen, und beuge ſich 


vor feinem! . . Später rühmt Bed: die 13 Miffionszöglinge machten ihm durch ihre 
lebendige Strebjamfeit und ihre ausdauernde Aufmerfjamfeit und Tüchtigkeit bejondere 
Freude! . . . Von jeinen ‚Ferien rühmt Bed, daß ſie ihm jehr erwünjcht fümen, denn 


indes jeien Vorleſungen um VBorlefungen hinter ihm her galoppiert, denen er den Bor: 
reiter machen mußte, und das jei ein fatales Gefühl, die eilende hohe Herrichaft ſich 
immer auf dem Naden figen zu baben!... Am 3. Mai 1837 jchreibt Bed als 
Antivort auf einen Brief meines leidenden Vaters: er beeile ſich umjomehr den legten 
Brief zu erwidern, als jchon in der Handichrift das Leiden meines Vaters jichtbar jei. 
Er fühle e8 ganz mit, wie einem jo rüftigen Manı eine plößliche Lähmung der 
gewohnten Kraft das Gemüt viel empfindlicher angreife, als den Leib, und nichts 
härter dünke, als von anderen fich dienen lajjen zu müſſen. Dennoch bedürfen gerade 
Leute unjeres Scylages von Zeit zu Zeit auch jolche Lektionen, damit wir auf unjere 


Skizzen aus meinem Leben uud meiner Zeit. 1169 


Selbjtändigkeit nicht als auf einen Fels bauen, und den zarten Gefühlen der gegen: 
jeitigen Hilfsbedürftigfeit nicht abjterben. In rüftiger Geiundheit und Kraftentwicelung 
gefallen wir uns gar zu leicht darin, Anſpruch zu haben auf den Danf anderer, md 
verwöhnen es jelbjt wieder zu Dank verpflichtet zu jein; die Schwächen anderer werden 
uns unleidlich, und wir jchmeicheln uns, feiner Geduld und Pflege für uns jelbjt be: 
dürftig zu jein, worauf eben von Gottes Weisheit unfer Familienleben geordnet iſt, 
defien Liebesband und erziehende Beitimmung uns viel näher tritt, wenn wir uns 
ſchwach fühlen, als wenn wir uns ſtark wiſſen. Ohne ſolche Erfahrungen wiirde unjer 
Herz mit dem Alter bei uns Männern immer mehr vertrodnen und verknöchern, wie 
man e3 meift wahrnimmt an Leuten, die bis in ihre alten Tage gut durchfommen, aljo 
jo herb der Stachel ift gerade für Leute mit unjerem Unabhängigfeitsgefühl, Lieber 
Doktor, es ift uns gerade unentbehrlich, daß wir von Zeit zu Zeit gebeugt werden 
und die Erfahrung, weld) ein gebrechliches Ding es um ein Menjchenleben ift, an uns 
jelbit machen, nicht nur an fremden Anblid.” Dann ladet Bed unjern Vater zur 
Erholung und Stärkung jeiner Gejundheit noch dringend zu einem Bejuc bei ihm ein, 
bejonders zu der Zeit des Baſeler Miflionsfeftes. Dringend ermahnt Bed, wenn Vater 
ihm den Willen nicht thue, befomme er feine Ruhe vor jeinem catonischen Votum: 
Ceterum censo, Basileam esse frequendandam, nicht delendam ! 

Aus hoͤchſt traurigen Gründen konnte dieſer Einladung Becks von Vaters Seite 
aus nicht entſprochen werden, denn bei dieſem kam ſchon damals unheimlich ſtill und 
leiſe ein ſchweres Leiden herangeſchlichen, das bei Thaben (als Arzt!) wohl von vorn 
herein alle Hoffnung ausſchloß, und ihn nur bedacht ſein ließ, klaglos ſein ſchweres 
Geſchick zu tragen. Nie kam ein Schmerzenslaut über Vaters Lippen und bloß ein 
kurzes leiſes Seufzen verriet ſeine innere Qual, verſtummte aber ſogleich, wenn man 
durch Vorleſen von naturwiſſenſchaftlichen Werken und dergl. ſeinen Geiſt beichäftigte. — 
Am 11. Juli 1837 fchrieb Bee wieder an Vater und bedauert, daß er ihm nicht über 
das Miſſionsfeſt bei fich gehabt habe, er jchreibt darüber: „Dieje Feſtzeit würde auf Sie, 
lieber Doktor, denjelben ſtärkenden und febengerhebenden Eindrud gemacht haben, ohne 
den meines Wiſſens niemand fortging. Die Beichreibung des Calwer Miffionsblattes 
erjeßt nicht den lebendigen Anblid. Dort nimmt fich vieles künſtlich und auch frömmelnd 
aus, was in Wirklichkeit fi ganz natürlich; macht und wahrhaft den Geiſt der 
Frömmigkeit zu erfahren giebt als einen Geift der Kraft, der Liebe und der Zucht. So 
war es wenigjtens auch jolchen, die mit Gleichgültigkeit oder gar mit Vorurteilen 
gekommen waren, und mehrere jprachen es unverhohlen aus, die jonft Falter Natur 
jind! Da wird einem das Chriftentum nicht mehr zu einer Winkel-Predigt, jondern zu 
der großartigjten Welterjcheinung, zu einem wahrhaften Gottesbau, an dem in allen 
Gegenden der Welt rüftig weiter gearbeitet wird und fir den viele Zungen bereit find, 
Gut und Leben zu laſſen.“ . . . Am 8. August 1837 jchreibt Bed an Vater: „Wir 
fragen oft: warum muß mir’s jo gehen? denn unjer Verftehen reicht nicht weit; darım 
jind unjere Gedanken nicht des Herrn Gedanken und feine Wege, die Er uns führt, 
nicht diejenigen, die wir wählen würden: aber dafür find auch unjere Gedanken, jo gut 
fie ums jcheinen, nicht die Weisheit felbft und unſere Wege führen uns nicht in das 
Himmelreich, wenn Gott nicht andere Wege uns führte, wo Er aud) gegen unjern Sinn 
handelt und Icheinbar ichlimme Wege mit uns einfchlägt, find jeine Gedanken nur Weisheit 
und Friede, jeine Führungen Gnade und Wahrheit und das Nejultat daran it — Glüd, 
Himmelsglüd, Seligkeit! Nichten Sie daran fich auf, I. Doktor, und laſſen Sie jid) 
nicht die Krone rauben, die Ihnen zugedacht ift, kämpfen müſſen wir jo oder anders, 
und zum Kämpfen gehört nicht nur Waderheit im Handeln, jondern auch im Leiden. 
Auf dieſen Glauben, teurer Freund, will der Herr, der unſer altes Leben oft hart 
angreift, damit Er zum neuen wahren Leben uns verhelfe, Sie und ihre Familie 
erbauen, fejter gründen und vollbereiten und wo die andern Gejchäfte müſſen  jtille 
jtehen, machen Cie das zu Ihrem Hauptgefchäft, fich und die Ihrigen zu erbauen in 


1170 Skizzen aus meinen Leben und meiner Zeit. 


dem Einen, was not thut: Gott jalbt ums in der Leidensichule zu Prieſtern unjeres 
Hauſes.“ .. . . In einem Brief vom 28. Dezember 1837 meldet Beck den Eltern die 
ſchwere Erkraukung ſeiner Frau und ſagt darüber: „Wir ſtehen nun mit einander, 
meine Lieben, in der Gedulds-Schule, aber deſſen wollen wir gewiß ſein, ein Segen iſt 
uns zugedacht vom Herrn, aud) indem er jeine Hand jchwer auf uns legt. Eines 
wollen wir nur zu unjerer Hauptjorge machen und die übrigen Sorgen auf Ihn werfen, 
daß wir, was wir jet zu tragen haben, als jein Joch auf uns nehmen, ala von jeiner 
zum ewigen Leben uns erziehenden Hand auferlegt. Wir mögen jo gelehrt oder jo 
ungelehrt jein als wir wollen. Die Krenzes:Schule iſt eine gute Schule, die Dinge zu 
fernen giebt, welchen jonjt fein Lehrmeiſter gewachjen ift. 

Am 18. Februar 1838 trat bei unjerem franfen Vater der Anfang vom Ende 
ein fich nicht mehr von jenem Bette erheben und man fand jeinen Zuſtand 
jo bedenklich, dal meine Schwejter Emma nnd ich im Ddiejen letzten Tagen von der 
Schule daheim behalten wurden. Bernhard bejuchte diejelbe jchon jeit langen Wochen 
nicht mehr, jondern lag im dunkeln Zimmer verſchwollen und unfähig aus den Augen 
zu jehen in Folge eines Wurfgeichojies (ein jchweres jpigiges Holzicheit), das ihm beim 
„Neligionskriegerlos:Spiel” zu teil geworden war (zu einer Zeit, wo ohnedies die Waſſer 
der Trübſal ſchon über Mutter's Seele gingen) und das ſein Augeunlicht in große Gefahr 
brachte. Bei dieſem ſchreckliſchen Spiel, dem ein bitterer Ernſt zu Grunde lag, jchimpften 
die Katholiken die Evangeliichen „Brühſaufer“ und dieje jene dagegen „Brockenfreſſer“, 
was ich arglos auf dem Wege zur Schule hundertmal hörte, aber erſt in ſpäteren Jahren 
darüber aufgeklärt wurde, daß ſich dieſes „Kriegsgeſchrei“ anf den Ritus des Abendmahles 
bei beiden Konfeſſionen bezog. Am 20. Februar war meine ganze Familie in Vaters 
Schlafzimmer verſammelt, nur mir hatte man den Eintritt verweigert und ich hatte mir 
einen Lejewinkel zwijchen dem Fenſter und Vaters verlafjenen Lehnjtuhl eingerichtet, ich 
las von der dunfeln Höhle, in der Heinrich von Eichenfels jein Yeben als Kind zubringen 
mußte und mein jegiges Daſein erjchien mir auch nicht viel beſſer oder glüdlicher. 
Bitterlich weinte ih. Da jagte unjere Köchin Sujanne, die durch das Zimmer ging, 
zuftimmend: „Ganz vecht, du thuft beſſer daran, zu weinen als Gejchichten zu lejen, 
während dein Vater jtirbt.“ „„Ja, ſtirbt er denn?““ fragte ich beftürzt; che Sujanne 
mir aber darauf antworten fonnte, fam von Hinten her ein Arm, zog mich raſch in das 
Schlafzimmer und jemand flüfterte mir zu: „Falte deine Hände, dein Bater liegt im 
Sterben.” Gntjeßt blidte ic; mic) um, Vater lag mit geichlofjenen Augen und ſchien 
nicht mehr zu bemerken, was um ihn vorging; meine Mutter jaß neben ihm und hielt 
eine jeiner Hände. Die Tanten fajen abwechjelnd etwas vor, wie ich jpäter hörte, 
Sterbelieder. Die Gejchwifter hörte id) leiſe weinen. Ich ſelbſt Elanımerte mid) krampfhaft 
an der Lehne von meiner Mutter Stuhl au, denn der ſtarke Moſchusgeruch im Zimmer 
und das fir ein Kind unfaßbar Schauerliche, was im Begriff „Sterben“ Liegt, Hatte 
mid) jo erjchüttert, daß ich am ganzen Leibe zitterte und umgefallen wäre, wenn id) mid) 
nicht Felt am Stuhle gehalten hätte. Da fam vom Bett ber ein Mark und Bein 
durchdringender Laut, der mid) an Leib und Seele erichauern machte und Tante Nenate 
jagte: „Kinder, das war eures Vaters Sterbejenfzer, lat uns zuſammen beten!’ Wer 
laut vorbetete, weiß ich nicht mehr, denn es drang nur wie aus weiter Ferne an meine 
Ohren, aber ich verſtand, daß man für Vaters Seele betete und den lieben Gott bat, 
diefelbe in den Himmel aufzunehmen. Nun irrten meine Gedanken von der Hauptjache 
ab und ich mußte darüber nachdenken, wie die Seele in den Himmel komme und wo 
jie im Augenblick ſich aufhalte. Darüber fam ich jo ins Grübeln, daß ich faum 
beachtete, wie eines nad) dem andern das Sterbezimmer verlieh. Nur erinnere ich mir 
noch, daß ich allein mit umjerer Köchin Sufanne war und mich getvaute, dieje um 
Auskunft zu bitten, wo meines Vaters Seele ſich aufhalte, bis ſie in den Himmel 
aufgenommen ſei, ob ſie noch bei uns im Zimmer wäre, oder ſchon unterwegs dahin. 
Zuerſt jah mid) Sujanne befremdet an, dann jtreifte ihr Bid das Fenſter und erjchredt 





Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1171 


jagte fie: „Weiß Gott, niemand hat daran gedacht, eine Fenſterſcheibe zu öffnen, damit 
die abgeſchiedene Seele hinaus kann!“ und eiligſt ſchritt ſie zum Fenſter, das in den 
Garten hinausging und öffnete eine kleine obere Eckſcheibe. „Alſo da hinaus muß ſie 
ihren Flug nehmen,“ dachte ich ſtill für mich und war feſt entſchloſſen. der Seele aufzu— 
paſſen, weil ich erwartete, wenn ich ihren Flug verfolge, könne ich nicht verjehlen, den 
Himmel fic öffnen zu jehen und wenn auch nur einen Blid in jeine Pracht und 
Herrlichkeit hinein thun zu dürfen. Geſpannt gab ic; Achtung und blickte unverwandt 
nad) der Heinen offenen Scheibe. Einmal täujchte mich der Schimmer der filbernen 
Mondicheibe, die anı Himmel heraufzog und deren Glanz jo geilterhaft über das Fenſter 
hinzitterte, daß ich nicht mehr unterjcheiden fonnte, ob es das Mondlicht oder die Seele 
war. Am Tag der Leiche mußten Emma und id) Hinter dem Sarge einher gehen. 
Die Kälte hatte ſich gebrochen und auf Schritt und Tritt fing das Eis an zu jchmelzen 
und einzubrechen, ſodaß meine Eleinen Füße oft bis zum Knöchel einfanken und id) wohl 
kaum von der Stelle gekommen wäre, wenn nicht Suſanue, die zwiſchen uns ging, mid) 
gewaltjam weiter gezogen hätte. Als wir endlich) vor dem Sarge am offenen Grabe 
jtanden, waren meine Füße weit herauf naß und falt wie Eis, was id) jchmerzlich 
empfand, doch viel, viel peinlicher nod) waren mir alle die vielen Augen vingsun, die 
nur auf mich gerichtet jchienen. Beides war mir jo unerträglich, daß meine Sinne 
darüber zu ſchwinden drohten — da ſchlugen wunderjchöne Laute an mein Chr — Gejang 
(eines Männerquartetts, wie ich jpäter hörte), der mic) alle Qual vergejien machte, mid) 
wie auf janften Schwingen erhob und hinwegtrug über die Unluſt der Gegenwart. Ich 
fanı erjt wieder zu mir, als Sujanne mid) anherrichte: „Schau noch einmal hinunter 
auf den Sarg deines Vaters und nehme Abjchied von ihm.“ Zitternd that ich es, aber 
es erjchten mir entjeglich, daß wir nun alle Hinweggingen und Vater jo allein ließen. 
Ich klagte meinen Schmerz darüber Mutter und dieje jagte nur: „O Kind, alle Liegen 
da einmal „allein“, ich und du, ebenjo wie Vater.“ Diejer Gedanke lie die erſte bewußte 
Todesfurcht in mir aufjteigen und bei allen Leichenbegleitungen, deren ich als Schulkind 
viele mitzumachen hatte, war mir Dies jedesmal Die gleich bittere Empfindung, wenn 
eines nad) den andern das friiche Grab verließ und der Tote zuleßt allein blieb. 

Nicht allein im Doftorshaus, auch in der Freundesfamilie in Bajel forderte in 
diejer Zeit dev Tod feine Opfer und Bed jchrieb darüber am 6. März 1838 an meine 
Mutter: „Teuerſte Freundin! Sie willen es wohl jchon aus dem Merkur, daß Sie 
an mir unerwartet ſchnell wohl für Sie und andere einen Unglüdsgenojjen befommen 
haben. Zwei Tage von einander getrennt ichieden unjere Lieben und wir beide tragen 
nun ein Kreuz mit einander dem Herrn nach, wie unjere Lieben wohl in einem Lichte 
mit einander ihres Herrn jid) freuen. Wir werden beide einander der innigjten Teilnahme 
nicht erjt verfichern dürfen.“ Ueber die Erbauungsbücher, die er am Bette jeiner Frau 
benugt habe (während der elf Wochen des Leidens unter immer näherem Heranrüden 
des Todes, der jtufenweije eine Waffe um die andere aus feiner finjtern Rüſtkammer 
hervorbolte) jagte Bed, es jeien namentlid) „unjere Alten” gewejen: Rons, Steinhofer, 
Nieger, Bengel u. dergl. „Das jind im Feuer exerzierte Männer, ihre Worte find 
ferniges Reſultat tiefer Erfahrung und auf diefem Wege ging mir und meiner jeligen 
Frau mitten in der peinlichen Finjternis immer wieder das Licht auf und das Licht 
gewann den Sieg.” 

Das verwaijte Doftorhaus lag zu diefer Zeit in tiefem Schatten und lange dünkte 
es mich, Damals wollte fein freundlicher Lichtjtrahl mehr uns erfreuen. Beck mochte 
an jeinem eigenen Leide der Mutter Trojtbedürftigkeit mit empfinden und jtellte jich 
immer von Zeit zu Zeit mit einem Briefe bei ihr ein. 

Vom Weihnachtsabend erzählt Bed, daß die Studenten und Mifjionszöglinge 
(die auch jeine Frau zu Grabe getragen hatten) ihn durch einen Geſang überrajcht und 
erfreut hätten, als er traurigen Herzens jeinen Stindern den Baum anzündete. Bei 
uns im Doktorhaus war es dieje Weihnachten um jo jtiller zugegangen, da die Krone der 


1172 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


Geſchwiſter, unſere Bertha, in der Reſidenz war, um ſich zur Lehrerin auszubilden; 
ihre Lücke konnte bei mir durch niemand ausgefüllt werden. Plötzlich wurde ſie mir 
zwar wiedergeichenkt, aber auf eine jo traurige Art, daß ich kaum zu jagen vermöchte, 
was jchmerzlicher war: Meiner Schwefter Verlaffen des Vaterhauſes — oder ihr 
Zurückommen. Eine jchwere Krankheit hatte dieſes an Leib und Seele gleich veich 
ausgeftattete Wejen in St. gepadt und fie zu einem Siechtum verdammt, von dem fie 
erſt nach) 15 Jahren durch den Tod erlöft wurde. Jahre lang jahen wir Schweitern jeßt 
an ihrem Bett und wurden von ihr mit täglich gleicher Geduld und Ausdauer unterrichtet. 
Beim Anblid eines der ſchauerlichen Schmerzensanfälle empörte ich mid) jozujagen gegen 
Gott und rief verzweiflungsvoll: „Water im Himmel Hilf ihr, Hilf! die Qual ift nicht 
zum Aushalten!“ Da traf mid) ein verweijender Blick der Dulderin und mit ihrer 
janften Stimme gebot fie mir: „Jammere nicht jo troftlos, was vorübergeht, iſt zum 
Aushalten und der bitterjte Kelch geht einmal zur Neige!” Dieje Worte von den Lippen 
der jo ſchwer Gepeinigten machten damals einen wahrhaft erhebenden Eindrud auf mich, 
ich jchwieg tief beihämt und ließ in Berthas Gegenwart nie mehr meinen Sammer 
über ihr ımausiprechliches Elend laut werden. Da ich manchmal meine Schweiter 
bedauern hörte, daß ſie ihre Ausbildung in St. nicht gründlicher hatte vollenden fünnen, 
jo reifte der Wunjc bei mir, den Faden gleihjam da wieder aufzunehmen, wo er ihren 
franten Händen entfallen war und mich gründlich zur Lehrerin ausbilden zu lafjen, ein 
Beruf, der mir bejonders ideal erjchien durch ein Buch, welches ich täglich mit Begierde 
las und das den Titel führte: „Instructions pour les jeunes Dames, par le prince 
de Beaumont* 1760, 

Sehr frühe hatte ich an mir die Bemerkung gemacht, daß eine befriedigende Be- 
ihäftigung mich in die glüclichjte Stimmung verjege, ich verjprad; mir deshalb von 
einem „Beruf“ den bejänftigenden Einfluß, den 3. B. Muſik auf mich ausübte, oder 
das Betrachten jchöner Bilder. Auch Dichterwerke hatten diefen Einfluß auf mich; es 
war deshalb natürlich, das es mein großer Wunjch war, einmal einen „lebendigen 
Dichter” zur Geficht zu befommen, und diefer Wunſch jollte mir unerwartet erfüllt werden. 
Mit einemmale hieß es im Stäbchen, der Dichter Eduard Mörike habe fich unter ung 
niedergelafjen, der vielen Nachtigallen wegen, die den Hofgarten jo jehr bevölferten, 
„daß man vor ihrem Geſchrei jein eigenes Wort nicht mehr hörte“, wie eine Bekannte 
behauptete. Seine erite Bekanntſchaft machte ic) im Haufe unjeres Doktors, Des 
Hofrats K.; doch daß ich es nur gleich gejtehe, dieje erite Begegnung blieb weit hinter 
meiner Erwartung zurüd und erjt als id; Eduard Mörike im Haufe jeiner jpäteren 
Frau oft jah und hörte, lernte ich einen Dichter von Gottes Gnaden in ihm fennen. 

Mörike, eher flein als groß, fiel mir zunächjt nur dadurch auf, daß er uns über 
jeine Brillengläjer hinweg jehr aufmerkſam, ja neugierig betrachtete. Seine Schweiter 
Ktlärchen war für meine ldjährigen Augen zwar ſchon eine angehende alte Jungfer, 
nichtsdeftoweniger aber eine allerliebit ausjehende Blondine, deren rundes blühendes 
Geſicht eingerahmt war von einem Kranze ajchblonder Löckchen. Während des Thees 
hatte ich nun alle Gelegenheit, mir den „geiftweije” von ung allen längft angeichwärmten 
Poeten näher zu betrachten und ihm jedes Wort jozujagen von den Lippen zu nehmen. 
Wie jtaunte ich aber, ihm nichts anderes erörtern zu hören, al3 die Wunderfuren 
eines zweiten jchwäbiichen Dichters, des Nuftinus Kerner. Mir jelbjt war zwar jehr 
Merktwürdiges jchon vorgefommen im Traume wie im Leben, aber die Geſpenſter— 
geichichten, die Mörife aus dem Kernerhauſe preisgab, erjchienen mir jo „abgemacht“, 
daß ich auf den Gedanken fam, Mörife wolle uns alle nur für Narren halten, ic) 
brad) deshalb ungeniert in ein lautes luftiges Lachen aus und verjicherte den Dichter, 
„ſo dumm jeien wir nicht!” Da bligten aber des Poeten Augen recht ärgerlich zu 
mir herüber und zu meinem maßlojen Erjtaunen befam ic) von Mörife zu hören, daß 
es zwiichen Himmel und Erde manche Dinge gäbe, von denen meine Jugend (er meinte 
wohl mein Unverſtand!) fich nichts träumen laſſe, deshalb jeien fie aber doch nicht 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1175 


minder da: leibhaftig und wirflih! Beſchämt ließ ich den Kopf hängen und blidte 
nicht mehr um mich, bis Mörike mit jeiner Schwefter ſich entfernt hatte. Jet ver: 
ficherte mich auch noch die Hofrätin: mein Lachen verwandle fid) wohl in Weinen, wenn 
fie mir mitteile, daß der Dichter beabfichtigt habe, einen Beſuch in der Krametsgaſſe 
zu machen, was er jetzt wohl unterlaffen werde „auf mein Auslachen hin.” — Ganz 
zerfnirscht fam ich heim, denn ich wußte es: unſerer Bertha würde es große Unter: 
haltung gemacht haben, den Dichter kennen zu Lernen — und darum Datte ich fie jet 
gebracht. Der andere Tag ließ ſich Hinfichtlich des Wetters gut an, aber troßdem war 
ich in etwas gedrückter Stimmung, als ic) unter dem Dirrligenbaum neben Bertha 
ſaß. Da kam unfer dienftbares Geiſtle angerannt und meldete Bejuch, der ihr aber 
ſchon auf dem Fuße folgte und zu meinem Freude» Schreden niemand anders war 
als Eduard Mörife und feine Schweiter. 


Ach, wie froh war ich! ich ftellte ihnen mur geſchwind Bertha vor und flog dann 
wie ein Pfeil davon, um Mutter und Emma zu benachrichtigen, die am andern Ende 
des Gartens Bohnen brachen und faum ahnten, welche hohe Ehre unjerem Haufe wider: 
fuhr. Bis ich zurückkam, fand ic) das Gejchwijterpaar ſchon ganz gemütlich mit Bertha 
plaudern und beide ſchienen ihr jofort gut geworden zu jein, was eigentlich jeden jo 
ging, der in das blaffe jchöne Geficht Jah, das mit jeinem Ausdrud von Neinheit und 
Sanftmut umviderjtehlich die Menjchen einnahm. 


Als Beweis, wie jehr der Dichter meine jchöne Fuge Schweiter würdigen lernte, 
jege ic) die Worte hierher, welche ev ihr am 17. Juli 1847 für ihr Album dichtete 
und die Eduard Mörike fpäter in feine gefammelten Werfe aufnahm; fie lauten: 


„Zeus, um die Mitte zu finden von dem GErdfreis, den er beherrichte, 
Wußte den finnigjten Nat, findliche Dichtung erzählt's: 

Adler, ein Baar, vom Morgen den einen, den andern vom Abend, 
Ließ er fliegen, zugleich, gegeneinander gekehrt, 

Wo fie alsdann, gleichmäßiger Kraft, mit den Fittigen ftrebend, 
Trafen zujammen, da fand was er verlangte der Gott! 

— So wo die Weisheit fih und die Schönheit werden begegnen, 
Stellet den Dreifuh fe, bauet den Tempel nur auf!” ..... 


Sm Laufe der Zeit waren wir einmal bei Mörifes zum Thee. Mörike wurde 
von jeiner Schweſter aufgefordert, uns vorzulejen, das er — wie fie jagte — meijterhaft 
verjtehe, und er war auch bereit dazu. Während er nad) einem Buch fid) umſchaute, 
ſtand ich am offenen Fenſter und betrachtete mir den Marftplab, der vom Mondlicht 
übergoffen in der Stille dalag uud von dem man feinen Ton herauf hörte als das 
PBlätjchern des Brunnens unter unjerem Fenſter. Mörike Hatte unterdeſſen zur Lektüre 
ein Feines Luftipiel gewählt, betitelt: „Der Schatz“ oder „Die Schaßgräber” und die 
Borlefung begann. Da ich dem Vorleſer am nächſten ſaß, jo konnte ich bald fein 
Ange mehr von ihm ablafjen, denn ich empfand es, dab Mörike beiter Vorleſer 
und befter Schaufpieler zugleich; war. Plötzlich fragte er mich halblaut: „Spricht nicht 
jemand da unten?” und jchmell erhob ich mich, trat an das Fenſter, jah, daß Fein 
menjchliches Weſen fichtbar war und verjicherte mn Mörike: „Es kann niemand da 
unten gejprochen haben, denn es iſt nichts fichtbar als der Mondjchein, und nichts laut 
als das Gepläticher des Brunnens. Da lachte Mörife mit dem ganzen Geficht und 
plöglic) ging mir ein Licht auf, daß die Frage dem Tert entnommen war. — Der 
Dichter ging auch gerne bei ung aus und ein und framte mit Vorliebe unter den alten 
Schunken in unferer Bibliothef, die damals reich) war an Büchern, wie 5. B.: Des 
Herrn Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphauſen „Ajiatifche Bomije“ oder: 
„Blutiges und doc), mutiges Pegu, beruhend in Hiftorifcher und mit dem Mantel einer 
Helden: und Liebesgeichichte bedeckten Wahrheit.” . . . . Zur Abwechjelung machte 
Eduard Mörike wohl auch mit mir einen Streifzug auf die zwei Böden unferes Hauſes, 

Ag. toni. Monatsichrift 1888. XI, 15 


1174 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


die mit Mammutsfnochen, römischen Ziegen mit Zahlen, Broden römischer Wajler: 
feitungen und anderen Weberreften aus unjeres Vaters Sammlungen nod) veicd) gejpickt 
waren und dem Dichter unerjchöpfliche Unterhaltung boten... . . 

Im Frühjahr 1845 fiedelte ich in die Nejidenz über. Als ich dort eines Tages 
einen hochgeſchätzten Lehrer, Profeſſor Ludwig Bauer, zu Grabe geleiten mußte, bekam 
ich meine erſte Ohnmacht. Wie lange ich in derſelben lag, weiß ich nicht, doch iſt mir 
noch ganz genau der Eindruck gegenwärtig, als ich anfing, in das Leben wieder zurück— 
zukehren. Das Bewußtſein regte ſich zuerſt und wie ein Blitz durchzuckte es mich. 
„Jetzt erwachſt du zum ewigen Leben!“ Die erwartungsvolle Bangigkeit dieſes Augen— 
blicks war unbeſchreiblich. Da ertönte ein lieblicher Geſang, durch meine geſchloſſenen 
Lider drang eine ſanfte Helle und beinahe jauchzend kam es von meinen Lippen: „Im 
Himmel bin ich!“ „Nein, nein, meine Liebe, wir ſind noch auf dieſer Welt,“ ſagte es 
da neben mir, und erſchreckt und beinahe enttäuſcht öffnete ich da meine Augen, ſah, 
er ich auf einem — ſaß und bemerkte, daß was ich für himmliſche Chöre 


Einen wahrhaft hinveißenden überwältigenben — machte auf mich das erſte 
Oratorium, das ich hörte. ALS dieſes Meer von Harmonieen nid) umwogte, überrieſelten 
mich jelige Schauer und mit der Empfindung: „Das könnteſt du ewig hören“ hatte 
ich plöglich einen Begriff von dem Wort „Ewigkeit!“ . 

Unter meinen Lektionen waren mir weitaus die anziehenditen: deutſche Geſchichte 
und deutjche Litteratur; in leßterer wurde gelegentlich der Dichter Haug abgehandelt 
und jeine Epigramme gerühmt und folgendes mitgeteilt, das Haug eines Abends aus 
dem Stegreif im Wirtshaus auf einen auf Freiersfühen gehenden tapferen Offizier machte, 
der neben Haug ſaß: 

„Der Herr von B. kam von dem firieg nad) Haus 
Und nahm ein Weib — der Krieg ift noch nicht aus!“ 

Damals hätte ich zu gerne gewußt, wer diefer Herr v. B. gewejen? Aber ich 
mußte 9 Jahre auf Antwort warten, dann aber wurde derjelbe Herr v. B. meines 
Bruders Schwiegervater und zu meiner Ueberrajchung hörte ich, daß jeine Frau die 
einzige Tochter des Dichters Haug war. Noch will ich auch meines Erlebniſſes in 
einer Geſchichtsſtunde gedenken, des Schmei zensichreies, dev meinen Lippen entfuhr, als 
der Herr Profeſſor fich erging in draftischen Schilderungen der deutſchen Verhältniſſe 
zur Zeit Napoleons I., des Aheinbundes, der Demütigung Preußens u. j. w. Auf mid) 
atemlos BZuhörende machte dieſe Vorleſung einen ſolch' niederjchmetternden Eindrud, 
daß ich bitterlich weinend meinen Kopf in meine Arme barg und auf des erjtaunten 
Profefjors Frage, was mir denn jo heiße Thränen entlode, nichts jtammeln fonnte als: 
„Die Schmady Deutjchlands!" Noch kann ich den Blick des waderen Mannes jehen 
und höre feine biedern Worte, mit denen er mid) tröftete: „Ich ſei ja noch jung genug, 
um es erleben zu können, daß die „einigen“ Deutjchen endlich mit dem böjen Nachbar 
abrechneten und feine Macht brächen für immer!“ 

Es drängt mich, auch in Kürze noch einiger Freunde zu gedenken, die Gottes Güte 
mich in St. finden ließ. 

Unter den Mitſchülerinnen meiner Klaſſe ſchloß ich mich zuerſt an die geiſtesfriſche, 
von edelſter Wahrhaftigkeit durchdrungene Tochter einer Offiziersfamilie an, die mich 
bald ihren Eltern zuführte, von denen ich mit unvergleichlicher Güte aufgenommen und 
während meines ganzen Aufenthaltes in St. wie eine Tochter behandelt wurde. 

Bei jchönen Wetter beftieg ich mit dem ehrwiürdigen Herrn Oberjt und jeiner 
Tochter beinahe täglich den Hajenberg, der zu jener Zeit noch von feinem Verſchönerungs— 
verein entdeckt und in Pacht genommen war, weshalb der Oberft und wir Mädchen oft 
mit diejem noch nicht in die Mode gekommenen Berg genedt wurden. Meinem immer: 
gleichen Vergnügen, mit dem ich — in jeder Jahreszeit — die unvergleichliche Aussicht 
betrachtete, die man von dort aus hat, that dies aber nicht den geringiten Eintrag. 





Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1175 


Was ic) täglich während zweier Jahre dieſer mir bis heute jo teuern Familie zu ver: 
danken hatte, it eine Schuld, die nur der liebe Gott für mich abtragen kann. — Eine 
zweite Freundin, Die mich durch ihren Verſtand und Charakter bald fejlelte, war damals 
die Nichte und iſt heute die Frau eines der Inhaber der bedeutenditen Zeitung 
Schwabens, die von jedem reichstreuen Bürger, der Gut, Mut und Blut für Deutſch— 
lands Kaiſer und Dentjchlands Kanzler einjegen wiürde, gelejen wird. Auch die Mutter 
diejer Freundin war mir von hohen JIntereſſe, bejonders als Schweiter von Guſtav 
und Paul Pfizer. Noch mehr als die Gedichte des Erjteren war mir des Zweiten 
„Briefwechſel zweier Deutjchen“ von höchſtem Jutereſſe, in dem hier Paul Pfizer — 
mit Seherblid zum Heile Deutjchlands die Hegemonie Preufens betonte und für 
deſſen Könige die deutjche Kaiſerkrone verlangte. — Einem dritten jungen Mädchen kam 
ich ſozuſagen erſt auf Umwegen näher, da ſie ziemlich jünger war wie ich und deshalb 
nicht in meiner Klaſſe, aber wenn ſie mir im Garten oder in den Gängen begegnete, 
ſprachen mich ihre ſanften Rehaugen an, und zufällig hörte ich auch einmal, daß ſie die 
Trägerin eines berühmten Namens war. Letzteres erfuhr ich, als ich eine Sommer: 
vakanz in den jchönen Kloſter Maulbronn zubvachte bei einer Nichte meines Baters, 
der Frau des fleinjten Mannes, aber größten Gelehrten (was die griechiiche Sprache, 
m... Homer und die Tragifer betraf), des Ephorus Bäumlein. Auf die geringe 

Störpergröße meines gelehrten Wetters hatte mid) meine Mutter angelegentlic) vorbereitet, 
doch ließ ich bei meiner Ankunft, als ich am Pojtwagen von meiner Baje (die mir 
perjönlic) ſchon befannt war) abgeholt wurde, mein Gepäd getroſt „ven Buben“ tragen, 
bis die Frau Ephorus endlich jagte: „Ja jo, id) habe dir ja meinen Mann noch nicht 
vorgejtellt“, und ſich der „Padträger” zu meinem größten Schreden als der „große 
Grieche“, wie meine Brüder von ihm jprachen, herausſtellte. Der Kleine, geiftig große 
Vetter trug mir aber mein Verſehen nicht nad) und ließ es ſich angelegen ſein, mid) 
nicht nur mit allen Bauftilen des jchönen Kloſters bekannt zu machen, jondern mir 
auch jonjt alles Intereflante zu zeigen. So führte er mich auch auf den Kirchhof, um 
mir das Grab zu zeigen der Fran „von Schwabens größtem Philoſophen — Schelling”. 
Da ich nun jederzeit froh und dankbar war, mich unterrichten zu lafjen und obgenannter 
Philojoph für mich damals noch eine ganz unbekannte Größe war, jo bat ic) lebhaft: 
mein Vetter möge mir doc) geſchwind jegt auf dem Rückweg in das Klofter das Syſtem 
dieſes Philoſophen Schelling auseinander ſetzen, weil ich noch gar nichts von oder über 
ihn wiſſe! Da blieb der kleine Mann vor mir ſtehen, ſah voll gutmütigen Spottes 
an mir hinauf und ſagte mit feinem Lächeln: „So, jo! das iſt ein echt frauenzimmer— 
licher Wunſch, daß ich deinem Verſtändnis in einer halben Stunde beibringen joll, 
wozu ein Mann jeine ganze Univerfitätszeit, wenn nicht jein halbes Leben braucht ! 
Aber zu ſchämen brauchjt du Dich deshalb nicht jo gar arg (es hatte mich heiß über: 
flutet!), denn es zeigt deine Bitte immerhin, daß du Interefje für die großen Söhne 
deines Waterlandes haft und ihr Wirken verftehen möchteft!” und dann gab Jic) 
Ephorus Bäumlein wirklich alle Mühe, mir zu zeigen, welch' jeltener Geiſt dieſer 
ſchwäbiſche Philoſoph Schelling geweſen ſei. — Zufällig wurde mir dies einige Zeit 
darauf von einem Dichter und Prediger Schwabens beſtätigt, deſſen Bekanntſchaft ich 
auf ſehr überraſchende Art machte. 

Als ich nach St. kam, war ich dringend in die Familie eines Studien-Direktors 
Knapp empfohlen, und wurde dort auch ſehr freundlich aufgenommen, doch ſchien die 
Familie ſtill und zurückgezogen zu leben, denn ich traf nie andere Geſellſchaft dort, als 
die Hausbewohner, und hörte auch nie ein Wort über Verwandte am Ort u. |. w. 
An Unterhaltung fehlte es mir deshalb aber nicht in diefem Haus, denn der Herr des 
Haujes war ein jehr geicheiter Kopf, der mir alle meine wißbegierigen Fragen gründlic) 
beantwortete, nur die eine Untugend hatte der Herr Direktor, mich gerne zu neden, 
bejonders mir verfängliche Fragen über den Unterricht in meiner Klaſſe vorzulegen. 
Der geiftliche VBorjtand des Inſtitutes, welches ich bejuchte, hatte in jeiner Bibelftunde 


15* 








1176 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


in feiner Harmlofigfeit das Hohelied mit uns vorgenommen; aber die Lektüre brachte 
Ungzuträglichkeiten mit fich, irgend eine Schülerin plauderte wohl darüber, und Direktor 
Knapp erfuhr die Sache und frug mich, ob es wahr jei. In meiner Verlegenheit, denn 
ich glaubte nie das Ende davon hören zu müßen, gejtand ich die Thatjache nicht. Die 
Frau Direktorin jah, daß ich gequält wurde, und ſchützte mich vor weiterer Nachforſchung. 
Alle konnten mir aber anmerken, jo gut ich es mir jelbjt bewußt war, daß ich der 
Wahrheit aus dem Weg gegangen war! Wohl zur Strafe dafür fonnte mich der Herr 
Direktor nie zu Geficht befommen, ohne von den nur erdenklich abgeſchmackteſten Themas 
zu behaupten, er hätte gehört, wir in der höchiten Klaſſe hätten einen Aufſatz darüber 
aufbefommen. Ergoß ich mich nun in einem feurigen Strom von Betenerungen, daß 
dem nicht jo jei, jo bejchuldigte mich der Herr Direktor, ich getraue mich nur nicht es 
einzugeftehen, und jchlieflich, wenn er mic) bis zum Grobwerden gebracht hatte, lächelte 
er ganz verichmigt und jagte: „Nun, nun! es freut mich, von Ihnen zu hören, daß dem 
nicht jo iſt, — ja, ic) habe es jelbjt nicht vecht glauben können!” Merkte ich dann 
endlich, daß ich wieder „auf den Leim gegangen war,“ jo nahm ich mir heilig vor, 
das jchöne Landhaus nicht jo bald mehr zu betreten. Begegnete mir aber der Herr 
Studien-Direftor in der nächjten Zeit in der Friedrichsſtraße (in der jein Haus und 
mein Inſtitut lag), dann 309g er tief jeinen Hut und mit heuchleriicher Demut erfundigte 
er fi) nad) meinem „werten Befinden”, und ſprach die Hoffnung aus, ich möge auch 
bald wieder den Weg die Straße vollends Himunter im jein Haus finden. Wollte ich 
dann, „um einen Kamm größer”, oder wie man aud) daheim zu jagen pflegte, mit einem 
„Sürftengeficht” erfter Sorte am Herrn Direktor nur mit einem ſtummen Gruß vorüber 
gehen, dann vertrat er mir wohl ganz leutjelfig den Weg und jagte lachend: „Ei, ei, es iſt aljo 
doch wahr, die gejcheiten Stiftsfräulein verftehen alles, nur feinen Spaß!” Dann mußte 
ich auch lachen und der Friede war wieder hergeftellt — bis wir unverjehens wieder 
auf den Kriegsfuß miteinander kamen. Einmal, nachdem id) einen wunderjchönen 
Herbjtabend mit der Frau Direktor im Objtgütchen hinter dem Hanje zugebracdht hatte, 
und jchon im Begriff war, wegzugehen, gejellte ſich auch noch der Herr Direktor zu 
uns. „Aha, es wird heimpreifiert, weil der Aufjag noch nicht gemacht iſt“, begrüßte 
er mid. „„Welcher Aufſatz?““ fragte ich erſtaunt. „Sa, wie hieß demm das Thema 
gleich? doc ich Habs: „Was halten Sie vom Teufel?“ antwortete ganz 
unschuldig thuend der Direktor. Grenzenlos verblüfft jchaute ich ihn an, denn Dieje 
Behauptung überjtieg doch alles, was ich jeither jchon von ihm gehört hatte. „Nun, 
haben Sie Ihre Definition der hölliſchen Majeſtät jchon parat?” fuhr mein Quälgeift 
fort. „Sa“, plaßte ich heraus, „ich brauchte nicht weit zu juchen nad) jeinem Konterfei! 
ich jchildere ihn als böjen Geift, dejien Luft darin befteht, jedermann auf das Aeußerſte 
zu plagen, am liebjten aber junge Mädchen!” und dann jtürmte ich in blinder Hajt 
fort, um aus dem Bereich des Herrn Direktors zu kommen, verfehlte aber den fürzeften 
Weg, denn als ic; an das Pförtchen, das hinaus in die Friedrichsitraße führte, Fam, 
Itand der Hausherr vor mir, und wie wem wir joeben in innigjter Freundichaft von 
einander gejchieden wären, jagte er ganz gemütlich: „Morgen Nachmittag feiern wir 
in unjerem Stüdchen Weinberg Familienherbit, dabei dürfen Sie auch nicht fehlen, 
fommen Sie ja, jobald Sie im Inſtitut fertig find.” Stolz ablehmend jchüttelte ich 
meinen Kopf und juchte am Herrn Direktor vorbei hinaus auf die Straße zu kommen. 
Dies gelang mir aber nicht, da mein Gegenüber mir den Weg abjchnitt und ruhig jeine 
Rede mit der Bemerkung wieder aufnahm: fein Bruder fomme aud) dazu, und es werde 
mic doch gewiß jehr intereffieren und freuen, diejen kennen zu lernen! „Wie fünnen 
Sie jo etwas behaupten!” rief ich empört, und meinem Geficht mochte der Herr Direktor 
anjehen, daß es mir an einem Glied der Sippe jchon mehr als genug war! Dod) 
jagte er höflich: „Dann find Sie die Erjte, die fich nicht freuen würde, Albert Knapp 
fennen zu lernen!“ „Albert Knapp?“ wiederholte ich erftaunt, „Sie jprachen ja von 
Ihrem Bruder!” „Ganz recht, von meinem Bruder, dem Stadtpfarrer und Liederdichter 
Albert Knapp.” 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1177 


Ganz betreten jtammelte ich: „Dit e8 die Möglichkeit, daß Sie der Bruder dieſes 
Mannes find?” „„Oho! Eie denfen wohl: Wie ftimmt Chriftus mit Belial?““ ſcholl 
es in hartem Ton an mein Ohr; verneinend jchüttelte ich zwar den Kopf, aber im 
Geheimen mußte ich mir doch eingejtehen, daß ich ein ganz Fein wenig doc, jo gedacht 
hatte und der Herr Direktor blieb dabei, daß, wenn ich ihm nicht dur) mein Kommen 
von Gegenteil überzeuge, er genau wife, was ic) von ihm halte. Damit trennten wir 
ung und am nächjten Tage jtenerte ich eben doch wieder dem FFriedrichsthor zu. Der 
Direktor ftellte mich lachend feinem Bruder als das bewußte junge Mädchen vor, mit 
der er jo gern philojophiere. Gutmütig auf den Spaß eingehend, fragte mid) Albert 
Knapp, welchem philojophiichen Syitem id) denn anhänge. Da geftand ich ihm, bis 
vor kurzem von feinem das Geringſte gewußt zu haben, aber neulich fer ich in Maulbronn 
gewejen und da habe mir mein Vetter Ephorus Bäumlein am Grabe von Schellings 
Frau einiges von diefem großen wiürttembergiichen Landsmann erzählt. Albert Knapp 
teilte mir nun mit, daß er er Bäumlein und Schelling perſönlich kenne und auch des 
leßteren Familie in ©t. als Beichtvater nahe ſtehe; dann fragte er mich noch, ob id) 
nicht die jüngſte Tochter des Hauſes perjünlich Ferne, diejelbe bejuche das gleiche 
Inſtitut wie ich? Kurze Zeit darauf machte ich ihre Bekanntichaft und Mathilde Schelling*) 
wurde mir eine Freundin für das Leben. Bon meinen Jugendfreundinnen allen gilt 
mir das perfiiche Dichterwort: 

„Sie find ein PBerlenhäufchen mir, 
Ich aber bin die Schnur dafür.” 

In die Zeit, welche ich nad) meinem Austritt aus dem Inſtitut daheim zubradhte, 
bis jich für mich eine paſſende Stelle als Lehrerin fand, fällt das Wunderbarite, 
was ich je erlebt habe: Eine Vifion auf dem Gottesader meiner Baterjtadt. Dieſe 
und die Fülle merfwürdiger Träume, die mir im Leben zuteil wurden, find erzähleng: 
wert, doch möchte ich Platens Dichterwort vorausichiden: 

„Nicht mich jelber, ich rühme den Genius, welcher bejucht mich, 
Nicht mein jterbliches, mein flüchtiges, irdiiches Nichts! 

Weil ich bejcheiden und ftill mich jelbit für viel zu gering hielt, 
Staunt’ ich in meinem Gemüt über den göttlichen Geijt. “ 


Für die Wahrheit des Nachftehenden kann ich noch lebende Zeugen, z. B. die 
Witwe Eduard Mörikes**) und des Dichters Schweiter Klara***) anführen, die gewiß 
bereit find zu bezeugen, daß ihmen das Erlebnis unmittelbar darauf mitgeteilt wurde. 
An einem jchönen heißen Sommertag des Jahres 1848 wurde in meiner Vaterjtadt ein 
junger Mann begraben, der unjerer Gemeinde angehörte, und unter der Leichenbegleitung 
befand fich auch die Schreiberin diejes mit ihrer Tante Renate. Da die Evangelifchen 
bedeutend in der Minderzahl im Städtchen waren, jo gehörte es zum guten Brauch, 
daß jede Familie ein oder mehrere Mitglieder zur Begleitung einer Leiche in unſerer 
Eleinen Gemeinde mitjchiekte. Noch jehe ich das offene Grab, den Sarg und Darüber 
den tiefblauen woltenlojen Himmel, an dem wie am Sonnengolde fich jchwingend ein 
Raubvogel ji) abhob, der weite und immter weitere Kreife zog und meine Gedanken 
mit ihmt Mitten in meinem Gedankenfluge, der mich der jeweiligen Gegenwart 


Seit lange die Frau des Staatsrats v. Kößlin, eines in der ſchwäbiſchen Beamtenariſtokratie 
hochangeſehenen Mannes. 
**) Neu· Ulm, Maximiliausſtraße No. 1. 
**8) Lebt im Frauenſtift in Neuſtadt, Württemberg. 
7) Ach halte für nötig hier zu jagen, daß ich öfters und in den verſchiedenſten Altersſtufen 
— aus dem Gedächtnis — das Erlebnis niederjchrieb und die Hauptſache, das Wejentlihe daran, 
blieb unverrüdbar jedesmal gleich, jo daß ich auf die Erſcheinung des geipenitijchen jungen Mannes 
einen heiligen Eid ablegen fünnte. Der greifbare Zujammenhang mit den großen politiichen Ereignifien 
mag fich dagegen hergeitellt haben durch die Erklärung und Schlußfolgerung Eduard Mörites, der mir 
zwar die Bilder nicht erflären fonnte, aber doch aucd überzeugt war, daß ein „biutiger Krieg” im 
Fahre 1870 auf 71 die Erflärung und Bedeutung derjelben bringen würde. 


1178 Skizzen aus meinem Leben und meiner Feit. 


vollftändig entrüdte, wurde ich plötzlich von einem eifigen Schauer erfaßt. Ic jah mich 
fröſtelnd um. Nicht Tante Renate jtand mehr an meiner Seite (fie hatte den Schatten 
eines Baumes aufgejucht), jondern ich hatte eine wahrhaft geipenitiich ausjehende Nachbar: 
ichaft. Ein junger, einem Schatten mehr als einem lebenden Menjchen gleichender Mann 
ſtand in meiner Nähe, der troß der Hitze in einen kurzen, ſchwarzen Mantel gehüllt 
war und ſchaute mic mit großen, totenſtarren Augen an. Jetzt wußte ich's, daß dieſer 
Blick es war, der mich ſo eiſig überrieſelt hatte. Von mir hinweg blickte die Schatten— 
geſtalt an den Himmel hinauf. Wie — folgten ihr meine Blicke dorthin, und 
ſiehe, auf der tiefblauen, wolkenloſen Fläche hob ſich, wie mit ſchwarzer Farbe hingezeichnet, 

ein Erntewagen ab, in ganz natürlicher Größe, und der, wie ich genau untericheiden 
fonnte, nicht reich beladen war, eher jpärlich; alles an ihm erſchien mir aber ſo deutlich, 
daß ich die einzelnen Garben gut hätte zählen fünnen, ebenjo wie ich Glied für Glied 
an der eijernen Kette unterjcheiden konnte, welche vorn an ber Deichiel herab hing. 
Natürlich wünschte ich meine Tante Nenate auf die Ericheinung am Himmel aufmerfjam 
zu machen, fie hatte fich aber zu weit von mir entfernt und auch jonjt begegnete ich 
ringsum nur andächtig ‚gejenkten Augen. Da fühlte ich aber jchon wieder den dämoniſch 
bannenden Blick auf mir und folgte ihm wie zuvor — himmelwärts. Dort war jetst 
der Erntewagen verjchwunden und dejien Platz nahm eine Riejenfanone ein von jo 
ungeheuerlicher Größe, daf ich glaubte, in Wirklichkeit eriftiere feine ähnliche. Erftaunt, 
ja erjchrect juchten meine Blicke eine Erffärung bei dem rätjelhaften Gejellen, derjelbe 
ſchaute aber nur wieder gen Himmel und ich natürlich ihm nad). Die Kanone war 
gleichfalls verichwunden und ein ganz natürficher reich beladener Weinftod, an dem ich 
die Trauben und die Blätter genau unterjcheiden fonnte, hatte ihren Platz eingenommen. 
Wieder ſchaute ich auf meinen geipenftiichen Nachbar umd mit jtillem aber unaus— 
ſprechlichem Pathos wies er meine Augen noch einmal in die Höhe. Der Weinftod 
war verſchwunden und an ſeiner Stelle ſah ich vier rieſig große ſcharf gezeichnete 
Zahlen, eine 1, eine 8, eine 7 und eine O und ic) las für mich hin: 1870. Während 
ich aber noch meinem Sebächtnis diefe Zahlen gut einzuprägen ſuchte, da zerrann plötzlich 
vor meinen Augen die Null und der leichte ſchwarze Duft, in den ſie ſich wie aufgelöſt 
oder ausgewiſcht hatte, zog ſich vor meinen Augen wieder zuſammen in ein ſchwarz, 
ſcharf und deutlich gezeichnetes Eins. 1870 und 1871 — was bedeuten (grübelte ich) 
dieſe Zahlen und die damit in Zuſammenhang ſtehenden Bilder? und entſchloſſen, den 
ſchattenhaften Geſellen, der ja alles mit geſchaut hatte, darüber zu befragen, drehte ic) 
mich nach dieſem um, aber die Frage erjtarb mir auf den Lippen, denn der Plab, 
auf dem die dämoniſche Geftalt joeben noch geftanden, war leer — fie war verſchwunden, 
wie ein Schatten verflattert. In zitternder Aufregung ftand ich da und vernahm nur 
wie aus weiter Ferne das „Amen“ des Geiftlichen. Ohne den Geſang jebt noch abzu: 
warten, eilte ich flüchtigen Schrittes zwijchen Gräbern und Denkmälern hindurd, den 
geraden und fürzeften Weg einjchlagend, der Kirchhofsthüre zu; denn im Falle ſich der 
Unheimliche auf natürliche Weife — vor meinen Augen nur — unter der Leichenbegleitung 
verborgen hatte, hier mußten ihm meine Blicke wieder begegnen, denn der Gottesacker 
hatte ja nur diejes eine Thor. Gejpannt und im höchiten Grade erregt, wollte ich den 
geſpenſtiſchen Menſchen über das höchſt merkwürdige Erlebnis befragen, auch ſollte er es 
mir erklären und mir bei meiner Tante, der ich ihn zu zeigen wünſchte, bekräftigen, was 
wir beide ſoeben am Himmel geſchaut hatten. Die ganze Leichenbegleitung kam nach 
und nach an mir vorüber, auch meine Tante (die mir vergeblich winkte), zögernd blieb 
ich aber immer noch stehen, hoffend, den jchattenhaften Geſellen doch wieder zu Geſicht 
zu bekommen. Endlich mußte ich mich aber überzeugen, daß ich nur allein noch auf 
dem Kirchhof war außer dem Totengräber, der in der Ferne das Grab zujchaufelte. 
Zitternd an Leib und Seele bejann id) mich auf das Erlebte und fand feinen Anhaltspunft 
und feine Deutung. Mein ganzes bisheriges Leben hindurch wurde ich num nachts 
zuweilen von ſeltſamen Träumen heimgefucht, die ich aber morgens beim Erwachen 


Skizzen aus meinem Leben und meiner eit. 1179 


vergeflen hatte, dod) nur jcheinbar. Denn gelang e8 mir, das „Trumm“ meiner 
Gedanken wieder habhaft zu werden, mit denen ich eingejchlafen war, jo kam plötzlich 
meine Erinnerung wieder auf den Traum zurück und nicht jelten wurde diefer dadurd) 
wie „ausgelegt” oder wenigitens erklärt. Aber wo war ich mit meinen Gedanken in 
dem Augenblick gewejen, als mich der geipenftiiche Gejelle auf die Vifion am Himmel 
aufmerkſam machte? Beſchwören könnt' ich dies nicht, aber ohne Zweifel war ıd) da, 
wo — jobald ich mir jelbit überlaflen war — im FFreiheitsjahr 48 meine Gedanken 
immer weilten: in der Paulskirche, welche ich für die edle Werfjtätte hielt, in der die 
Einheit, Größe und Macht des deutichen Waterlandes gejchmiedet würde. Nach einigem 
Beſinnen jagte ich mir: „Sicherlich waren deine Gedanken wieder da eingefehrt, wo die 
Beſten deines Volkes um die Einheit jtritten mit begeifterten Worten, von denen es 
mir oft deuchte, daß man damit Felſen ſpalten und Berge verjegen könnte. Da fing 
es (während ich dies dachte) an zu flüftern Hinter mir, über mir — in mir? ich weiß 
es nicht! in leiſen Kehllauten, die wie die Worte erflangen „nicht“ -— „durch“ — „ſolche“ 
aber dann plößlich jcharf accentwiert in die fanten deutlichen Worte übergingen: „Durd) 
einen blutigen Krieg!” Blitartig durchzuckte es mic) da, daß das Gehörte gewiß mit 
meiner Bifion im Zuſammenhang jtehe und geipannt jchaute ich um mich, es war aber 
niemand jichtbar, niemand! In höchiter Erregung eilte ich nun meiner Tante nach, der 
vorhin schon mein Benehmen aufgefallen war, jegt noch mehr mein Ausjehen, und bald 
flogen wie Weberichifflein Fragen und Antworten zwiſchen uns hin und zurüd. Meine 
gute Tante war auf das Peinlichſte von dem Gehörten berührt, denn fie hielt alles nur 
für eine phantaſtiſche Tag-Träumerei, und da fie mir jehr zugethan war und es ohnedies 
nicht billigte, daß man mic jcherzhaft in der Familie „Die Träumerin“ jchalt, jo 
bejchwor jie mich dringend, zumächit feinem anderen Meenjchen als ihr davon zu 
erzählen. Endlich veriprach ich es, ausgenommen mit dem Vorbehalt, bei jchiclicher 
Gelegenheit mein Erlebnis Eduard Mörike anvertrauen zu wollen. Meine Tante mochte 
hoffen, dieje Gelegenheit bleibe aus, aber ich verjtand es, fie recht bald mit den Haaren 
herbeizuziehen. Der Dichter hatte uns jchon öfters die allermerkwürdigſten Erjcheinungen 
und Vorkommniſſe aus dem Nachtgebiet der Natur mitgeteilt und Mörike war, als Freund 
von Juſtinus Kerner, von diejem in alle Myfterien zwiſchen Himmel und Erde eingeweiht, 
wie mir jchien. Bon ihm hoffte ich daher eine Erklärung meines Kirchhof-Erlebnifjes ficher 
zu erfahren und deshalb machte ich mich, jobald ich unbeobac)htet war, auf den Weg zu 
dem Dichter md jeiner Schweiter. Beide hörten mit dem größten Intereſſe meine 
Erzählung an und Mörike zog aus derjelben jogleich den Schluß, daß ich unmittelbar 
vor der Viſion mit meinen Gedanken unfehlbar mid) wieder mit dem „einigen“ 
Deutjchland beichäftigt habe und daß, als eine Antwort auf mein gläubiges Bertrauen 
zu den hohen Worten, mit denen dort über Deutichlands Einheit geftritten wurde, Die 
Geiſterſtimme mir zuflüfterte: „Nicht durch jolche, durch einen biutigen Krieg wird 
Deutſchlands Einheit geichaffen!” Die Bilder am Himmel wußte mir der Dichter nicht 
zu deuten, nahm aber au, daß in den Jahren, deren Zahl ich geliehen, die Viſion 
verwirklicht wirde. Glärchen Mörike wußte von dem Toten, an deſſen Grab id) die 
Ericheinung hatte, daß er dem politischen Greignifjen des Jahres 48 mit warmer 
Teilnahme gefolgt war und daß er ſich gewünscht habe, jo lange zu leben, bis ein 
einiges Deutjchland unter einen proteſtantiſchen Kaiſer geichaffen worden jei. Glärchen 
erinnerte ſich auch, den Berjtorbenen wenige Tage vor jeinem Tode noch in jeinem 
Höfchen — in der Sonne fibend — gejehen zu haben und daß es ihr aufgefallen jei, 
ihn troß der warmen Witterung mit einem jogenannten „ſpaniſchen Mantel“ bekleidet 
zu jehen, einen Umhang, wie ihn jonft im Städtchen nur die Männer trugen, weldje 
das Geremoniell eines Yeichenfonduftes bejorgten. Am Schluß unjerer Unterredung drang 
dann Eduard Mörike noch im mich, das ganze Erlebnis möglichſt getreu niederzujchreiben. 
Später ließ er fich gelegentlich dieje Blätter einmal zeigen, befragte mic), ob ich mid) 
aud) bis in das Kleinſte alles noch genau jo erinnere und da ich bei einer Stelle etwas 


1180 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


ungewiß war, jo überpappte er dieje mit Papier und gerade diejes Blatt hat ſich unter 
meinen Sachen bis auf den heutigen Tag erhalten. 

Kurze Zeit nach der Bifion auf dem Gottesader hatte ich auch einen merfwiürdigen 
Traum, der, wenn auch nicht buchjtäbfich, doch jeinem Inhalte und jeinen Folgen nach 
in Erfüllung ging und der im meiner Vaterjtadt und weit über den Kreis meiner 
nächjten Freunde hinaus, viel von fich veden machte. Nach meinem Austritt aus dem 
Inſtitut juchte ich, wie jchon gejagt, eine Gouvernantenftelle und am liebjten hätte ich fie 
in England gefunden. Gründe dafür hatte ich feine anderen, als daß eine Anverwandte 
meiner Schorndorfer Schwägerin dort in günjtigen Verhältniffen Iebte und mir durch 
Schilderungen in ihren Briefen an Sophie Luft machte, mein Heil auch — wie Mademoijelle 
Bonne — in einer englischen Familie zu verfuchen und (mie ich nicht zweifelte) auch zu 
finden. Meine Schwägerin war jo freundlich gewejen, ihr Bäschen zu beauftragen, ſich 
nad) einer paſſenden Stelle für mich umzujehen. Da träumte es mir nun in einer 
September-Nacht im Jahre 1848, ich jtehe an einem großen breiten Strome, wie ich 
bis jeßt noch feinen gejehen hatte. Die Gegend, durch welche er floß, war jchön, ja 
maleriich, und die Ufer des Fluſſes an der Stelle, wo ich jtand, jo flach, daß id) ganz 
nahe an das Waſſer herantreten konnte; ich that dies und bemerkte dabei, daß zwei 
Briefe dahergeſchwommen kamen, welche beide meine Adreſſe trugen, was ic ganz 
deutlic) und genau lejen konnte, denn ihre Ueberjchrift war mir zugefehrt. Der eine 
Brief war von weißem Papier, groß und vieredig und die Handid rift darauf war in 
jteifen, altväteriichen, aber jchönen Zügen geichrieben. Der andere Brief von bläulichem 
Papier war jchmal und lang, trug viele Poftzeichen und die Schriftzüge darauf waren 
von einer unſchönen, Frigelichen Frauenzimmerhand. Das Komiſche war uun, daß ich 
bald bemerkte, wie der große Brief mit dem weißen vierecfigen Couvert ſich jeht bemühte, 
dem jchmalen blauen vorauszufommen und ihn beim Vorüberſchwimmen ſo anpuffte, 
daß er dadurch wie zurückgeſchleudert wurde. Mit wahrer Spannung verfolgte ich nun in 
meinem Traume dieſen Brief-Wettfampf und war deshalb höchſt verdriehlich darüber, daB 
ich geweckt wurde, che ich im Traum den Ausgang des Brief-Wettrennens geſchaut hatte. 

Beim Frühſtück, als wir im Hausgarten unter dem mit Früchten reich beladenen 
Dürrlitzenbaum ſaßen, hieß es wie gewöhnlich: „Was haſt du heute Nacht geträumt?“ 
und ich erzählte, was ich eben niederſchrieb, und eine Schweſter, die damals den Traum 
friſch von meinen Lippen hörte, ſitzt mir jetzt zur Seite und kann jedem Zweifler 
beteuern, daß ſie das Niedergeſchriebene bis in die kleinſten Einzelheiten hinein genau 
ebenſo im Herbſt 1848 von mir vernahm. So weit war id) eben gekommen bis zu 
meinem Aerger, daß ich gewedt wurde, als meine liebe Schweiter ihr feines Näschen 
rümpfte und herausfordernd zu mir sagte: „Jetzt jollteft du aber auch wiljen, was in 
den beiden Briefen für dich ſtand.“ Da behauptete ich fe: dies fünne ich mir jo genau 
denfen, wie wenn ich es gelefen hätte! und malte aus, indem ich meiner Phantaſie die 
Zügel ſchießen ließ: „Der jchmale blaue mit den vielen Bojtzeichen kommt natürlich 
aus England von dem Bäschen unſerer Schwägerin, und Dieje ſchreibt mir, daß ſie 
eine „meinem Alter und meinen Fähigkeiten entſprechende“ Stelle für mid) gefunden 
hat!“ Alles lachte und Eines fragte: „Und wo war denn denn der zweite Brief her 
und was enthielt er für einen Antrag?” . . . 

„Das werden wir jet gleich ſehen!“ ſcher zte ich dreiſt und ſprang dem Briefträger 
entgegen, deſſen Stimme ich im Wohnzimmer hörte. Ueber das Blumenbeet hinüber 
rief ich ihm zum Fenſter hinein: er möge mir ſeinen Brief zuwerfen! und im nächſten 
Augenblick lag vor meinen erſtaunten Blicken auf dem Buchsbaum unter dem Fenſter — 
der große viereckige Brief mit der ſchönen, ſteifen Handſchrift! Keines Wortes fähig 
hielt ich ihn nur den andern ſtumm hin. Emma nahm ihn mir ab und las vor. 
Das Schreiben an mich kam von der Vorſteherin einer Mädchenſchule in U. am Rhein. 
Dieſelbe ſchrieb mir, daß ihr Lehrer für deutſche Litteratur und deutſche Geſchichte 
nach Berlin in den Landiag gewählt ſei, und daß ſie es in deſſen Abweſenheit mit mir 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1181 


probieren möge, fie habe zufällig von mir gehört; (die Dame hatte fi) an einen der 
Brofefioren des K. Stiftes gewendet, erfuhr ich jpäter). Im Falle ich Luft zu diejer 
Stelle habe, müjje ich möglichjt bald nach U. abreijen und jchon im voraus verjprechen, 
wenigitens zwei Jahre im Inſtitut zu bleiben. Außerdem nahm der Ton des Briefes 
die älteren Köpfe des Hanfes alle für ſich ein, und da die Vorfteherin der Schule jehr 
auf eine baldige entichiedene Antwort drängte, jo wurde im Familienrate beſchloſſen, 
daf ich gleich nad) der Kirche (e8 war ein Sonntag) meine Antwort an Madame M. 
zu Schreiben habe. Dringend bat ich nun zwar: „Lat mich doch erit noch den zweiten 
Brief abwarten,” aber ich wurde überjtimmt, denn man ſah mich bei meiner großen 
Tugend zumächit doch lieber an den Rhein als nach England ziehen. 

Vor dem Zuſagen nach U. ging es aber noch in die Frühkirche; auf dem Wege 
dahin hatte ich allerlei Begegniſſe und in fliegender Haft jchüttete ich gegen Klärchen 
Mörike und L. v. D. mein Herz aus, „daß ich nicht einmal auf den zweiten Brief 
warten dürfte, che ich meine Zuſage nach U. ſchickte.“ Beide fanden meinen Traum 
höchſt merkwürdig, jede erzählte zu Haufe davon und der Traum von den zwei Briefen 
machte die Runde im Städtchen, wie ich bald Gelegenheit hatte zu erfahren. Im Poſt— 
gebäude in M. wohnte damals ein Onkel der Brüder Guftav und Paul Pfizer, der 
mir, weil er meine Schwärmerei fir ein einiges Deutjchland unter preußiicher 
Hegemonie fannte, das Buch jeines Neffen Paul „Briefwechjel zweier Deutſchen“ kürzlich 
zum Gejchent gemacht hatte. Dafür wollte ich mich nun bei meinem väterlichen 
gan bedanken, und ging eiligen Schrittes in die Poſt, deren zweiten Stod er 
bewohnte. 

Auf dem Wege dahin mußte ich an dem Büreaufenſter des Poſtmeiſters vorüber, 
und zufällig erblickte mic) diejer und bat mich bei ihm einzutreten, er habe einen Brief 
für mich von weither! und mit den Worten, „der fommt jebt wohl zu ſpät“, gab mir 
der Poſtmeiſter W. den identischen, auf bläuliches Papier geichriebenen, jchmalen, langen 
Brief, mit den verjchiedenfarbigen Poſtzeichen und der frigelichen Schrift in die Hand. 
Wortlos nahm ich ihm entgegen, war aber jo aufgeregt, daß ich die Stimme des Herrn 
W. nur wie aus weiter Ferne hörte, als er mir erzählte, mein Traum von den beiden 
Briefen jei das Stadtgeipräch geweſen, und jo habe auch er davon gehört, und vorhin 
beim Auspaden diejes Briefes gleich denken müſſen: „Wie jchade, daß er zu jpät fommt, 
da Sie, geehrtes Fräulein, ja lieber nach England gegangen wären, als an den Rhein.“ 
Natürlich unterblieb zunächit mein Bejuch bei Herrn Pf., ich flog mehr, als ich ging, 
nach Haufe, und vief jchon von der Hausthiüre an, den großen Gang entlang: „Der 
zweite Brief, der zweite Brief!“ Meine Finger zittertett aber zu jehr, um ihn nur zu 
erbredyen, auch hätte ich ihm nicht Tejen Können, denn meine Augen füllten jich mit 
Thränen. Man las ihn mir vor. Der Brief fam aus England, war von der Conſine 
unſerer Schwägerin, und enthielt wirklich einen Stellenantrag. Mein Wunſch war, 
nun jogleic nach U. wieder abzujchreiben und doc) nach England zu gehen! ber 
unerbittlich blieb meine Mutter dabei, daß ich mein gegebenes Wort zu halten habe. 
Nach der erjten Enttäuſchung jah ich dies auch ein, und zwei jchöne Aussichten verjöhnten 
nic) jogar damit. Der Weg an den Rhein führte ja über Frankfurt und dabei natürlich 
mich im die Paulskirche! Herr Pf. wollte mir durch jeinen Schwiegerfohn dort ſchon 
Mittel und Weg dazu bereiten. Die zweite jchöne Ausficht war die, daß man Emma 
zuredete, ſich als Erſatz für mich der engliichen Pfarrfamilie anzubieten, und daß im 
günftigen Falle (woran kaum zu zweifeln war, da Emma den großen Vorzug vor mir 
hatte, muſikaliſch zu fein), fie mir bald auf dem Fuße nach kam, in U. natürlich aus: 
jtieg, um ein paar Tage bei mir zu verweilen. Alles geichah genau jo. Als der Tag 
meiner Abreije feſt bejtimmt, und ich jo wohl in %. wie in U. feit angelagt war, 
brachten Handelsleute die Nachricht in meine Vaterjtadt: im Frankfurter Parlament 
gehe es zu wie in einem polnischen Reichstag. Ich wollte diefes durchaus nicht glauben, 
denn ich war erfüllt von Begeijterung für die Nationalverfammlung und voll Ehrfurcht 


1182 Skizzen aud meinem Leben und meiner Feit. 


gegen die Mitglieder derjelben. Unterwegs nad Frankfurt hörte ich aber ſchon, daß 
das Volk ſich biutiger Ansjchreitungen jchuldig gemacht hatte, und tags zuvor, che ich 
nich auf die Neile begab, den Fürſten Lichnowsty und Herrn von Auerswald ermordete. 
Auf meinem Wege von der Eifenbahn bis in die Schnurgafje, wo ich bei dem Schwieger: 

john des Herrn Pr. logierte, jah ich jremdländijche Soldaten (Rotmäntel oder Panduren) 
am Wachtfener ſitzen, und Laute einer fremdländiſchen Sprache drangen an mein Ohr. 
— In Frankfurt hielt ich einen Nafttaqg, um einer Sikung des Parlamentes anzumwohnen. 
Kalt überriefelte es mich, als ich die Paulskirche betrat, denn ich kam gewiſſermaßen 
voll Andacht und gläubigen Herzens; aber voll Betrübnis und heiligen Zornes, möchte 
ich jagen, war ich, als ich wieder heraus fam. Nun war e3 mir recht, was ich vorher 
ſchwer verwunden hatte, daß mein ältejter Bruder Hermann, als man ihn von jeinem 
Helferat aus nach Frankfurt in das Parlament jchiden wollte, damals beicheiden er: 
flärte, „daß ev nicht unter die 18 Beſten des Yandes“, die gewählt werden jollten, 
gehöre! Doch konnte er es nicht verhindern, daß er zum Stellvertreter ernannt wurde. 
Jetzt frente ich mich, dat es jo gegangen war, denn an dieſes ſchwätzende, lachende, 
würdeloje, Starrifaturen zeichnende Parlament hatte ich (nachdem ich einer Sitzung bei: 
gewohnt, in der ich Obiges gejehen hatte) feinen Glauben mehr, daß es die Einheit 
Deutjchlands zu wege bringen würde; umjomehr fehrten meine Gedanken wieder zu 
meiner Viſion auf dem Kirchhof zurüd, und noch in derjelben Nacht legte ich darüber 
eine ausführliche Generalbeichte meiner lieben Mutter und Bertha ab und verwies die: 
jelben zu weiterem Zeugnis an Tante Nenate und Eduard Mörike. Bertha antwortete 
mir voll Intereffe und Teilnahme, die liebe Mutter aber beſchwor mich förmlich, feiner 
Menichenjeele weiter meine „Tag: Iräumerei” mitzuteilen, denn der Prophet gelte be: 
fanntlich nichts in jeinem Waterlande, und ich möge mich nur um Gotteswillen jeßt 
nicht lächerlich machen mit meiner plößlichen, nicht gehörig motivierten Geringichägung 
der jo viel veriprechenden Gegenwart, und meinem, mich wie über Nacht angeflogenen, 
auf einmal ganz zuverfichtlichen Glauben an ganz dunfel und geheimmnisvoll angedentete 
Ereigniffe, die ſich exit in 20 und mehr Jahren, meiner eigenen Ausjage nach, erfüllen 
würden. 


Fortſetzung folgt. 





Janssen in Frankreich. 


Die Revue des deux Mondes brachte am 15. April diejes Jahres einen Artikel 
von I. Bourdeau: „Un Historien catholique de la Reforme — M. Jean Janſſen“. 
Das über den jo viel bejprochenen Gejchichtsichreiber und jeine weit verbreiteten Werfe 
gefällte Urteil, die Bemerkungen über Deutichland und deutichen Protejtantismus beruhen 
auf einer für einen Franzoſen jeltenen Selbjtändigfeit des Urteils; unſere Leer werden 
ſicher mit Intereſſe der nachjtehenden Mitteilung jeines Inhalts Folgen. 

Seitdem die Gentrumspartei dem Kulturfampfe ein Ende gemacht hat, richtet fie 
ihre Thätigleit auf weitere Eroberungen, und um die Erfolge für die Zukunft vor: 
zubereiten, ift fie bemüht, den Katholizismus der Vergangenheit zu rechtfertigen. Seine 
Geſchichte wird neu gejchrieben. Unter den deutjchen katholiſchen Hiſtorikern, welche 
diefe Art von Nechtfertigung unternommen haben, nimmt Sanffen die erite Stelle ein. 
Man braucht nur das von ihnen herausgegebene „Hiltoriihe Jahrbuch“ zu durchleſen, 
um beurteilen zu fünnen, mit welcher genauen Methode, mit welcher aus den Uuellen 
gejchöpften Durchbildung jie ihre Sache verteidigen. Die Gelehrteften jchreiben von 
neuem die Gejchichte derjenigen Zeitabjchnitte des Katholizismus, für welche bisher 
protejtantifche Hiftorifer die Gewährsmänner waren. Ludwig Paſtor veröffentlicht eine 
Geſchichte der Päpfte, eine Art Gegenjchrift des berühmten Werkes Leopolds von Nante, 
und in jeiner Gejchichte des deutſchen Volkes jeit dem Ende des Mittelalters 
jtellt Janſſen gleichfall® von neuem das Zeitalter der Neformation dar von einem 
Standpunkte aus, welcher demjenigen Nantes, bisher maßgebend für diejen Gegenftand, 
geradezu entgegengejebt ift. Jeder der fünf bisher erichienenen Bände, welche Die Seit 
von 1450 bis 1618 behandeln, haben einen bedeutenden Erfolg gehabt, bisweilen 
fürmlih Sturm erregt. 

Die folgenden Seiten haben weniger den Zwed, Janſſens Wert vom Standpunkte 
der hiftorischen Kritif zu prüfen oder ihm folgend Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts 
zu entwerfen, als vielmehr: in jeinem Werfe ein treues Bild der Gegenwart 
zu ſuchen. Die meiften Geichichtsichreiber laffen nämlich ihre Zeit im Koſtüm der 
Vergangenheit auftreten. Jedes Menjchenalter, jede Partei jcheint das Bedürfnis zu 
haben, die Gejchichte zu ihrem bejonderen Zwede umzuarbeiten, indem jie diejelbe ihren 
Geſchmack und ihrem Gedanfenkreis, ihren Hoffnungen und Beſtrebungen  entiprechend 
umftmmt: Daher die weiten Unterichiede der Darjtellung wie des Urteils. Es will 


1184 Janſſen in Frankreich. 


uns ſcheinen, als wenn auch in dieſen Bänden der Verfaſſer, ſo ſorglich er auch jede 
Anſpielung auf die Tagesgeſchichte vermeidet, doch nur ſeine Partei und ſeine 
Zeit rechtfertigen will. Und ebenſo wie wir mit Leichtigkeit aus den Werken eines 
Schriftſtellers der Gegenpartei, eines Treitſchke oder Sybel, das Weſen des Preußentums 
darſtellen könnten, würden wir mühelos Janſſen nachweiſen, daß er die Lehren, Abſichten 
und Ziele der deutſchen Katholiken in die Vergangenheit zurückverſetzt und in günſtigſte 
Beleuchtung ſtellt. 


J. 


Das Muſterbild, welches ſich Janſſen von Geſchichtsſchreibung macht und in der 
erſten Vorrede aufſtellt, entſpricht in jeder Beziehung der neueſten Entwickelung des 
Katholizismus unſerer Zeit; Le Play hat es in ſeinem Werke L'Organisation du Travail 
folgendermaßen geſchildert: „Die meiſten Schriftſteller, von denen die Leſewelt mit 
Unrecht — Aufſchlüſſe über Geſchichte verlangt, ſind weit davon entferut, Geſchichts— 
ſchreiber zu ſein; man wird einſt ſtaunen, daß ſie überhaupt mit dieſer Bezeichnung 
bedacht werden koönuten. Es iſt gar nicht ihre Abſicht, die wahren Ergebniſſe der 
Forſchung zu bringen, fie wollen ihre Leſer nur unterhalten oder ihnen jchmeicheln — 
Dagegen übergehen fie als nicht pacend die Thatjachen, welche mit tüchtigem Wirfen 
zufammenhängen und den Wohljtand begründen.“ Als Gejchichtsichreiber der chriftlich- 
Jozialen Schule verfolgt Janſſen mit Eifer das joziale Wohl und Wehe. Für ihn iſt 
in ſeinem Werke, wie er ſelbſt ſagt, nur von untergeordneter Bedeutung, was man 
ſonſt als wichtige Ereigniſſe bezeichnet: Staatsaktionen, Kriege, Schlachten, Hof- und 
Kanzlei: Intriguen; ev zieht vor, zu unterjuchen, auf welcher Höhe die Wiſſenſchaften 
und Künſte, der Volksunterricht, die Sittlichkeit und der Wohlſtand Deutſchlands ſtand, 
welche die Lage der ungeheuren Maſſe der namenloſen niedrigen Menſchen, der Hand— 
werker und Ackerbauer war, derjenigen alſo, welche Bismarck in ſeinen Reden „den 
armen Mann“ nennt; fie haben die Geſchichtsſchreiber alten Schlages als materia vilis 
unbeachtet gefallen; die Politiker aller Parteien beginnen aber ihnen Aufmerkamteit 
zuzuwenden, jeit fie Ausficht haben, die hHerrichende Klaffe zu werden. Janſſen giebt 
lich) das Anſehn eines Gejchichtsichreibers der Kulturentwidelung, er vermeidet je ein 
Glanbensbefenntnis zu erwähnen; er jchreibt für alle, welche mit der Teilnahme für die 
Vergangenheit Fürjorge für das allgemeine Wohl verbinden. 

Der erite Band, eine glänzende Einleitung zur Gejchichte der Reformation, 
behandelt Deutichland am Ende des Mittelalters, 14501500. Met einer lebhaften 
Darftellung des Einzelnen verbindet der Verfaſſer eine wunderbare Gelehriamteit, den 
beiten Quellen entnommen; er jchildert die gefamten Lebens: und Gejellichaftsverhältnifie, 
welche durch die Neformation auf dem Kopf gejtellt wurden. Alles gipfelt in einer 
Berherrlichung der Kirche, jede Seite hat den Zweck, die Vorurteile zu zerjtören oder 
abzuichwächen, welche uns vom Meittelalter scheiden wie ein chernes Thor, hinter 
welchem unjere Einbildung Geſtalten jah, in dichter Finſternis erichanernd. Jene Zeit 
zeigt uns Janſſen in Sonnenglanz und Frühlingsfluten; zuweilen gar wie ein Bild des 
Friedens. Am Ende einer langen Zeit der Erjtarrung in Geiftesöde tritt Deutſchland, 
um 1450, plöglich in die Renaiſſance ein, dieje Blütezeit betrachtet Janſſen als das 
Ende des Mittelalters, während die Geſchichtsſchreiber ſie gewöhnlich als die Vorläufer 
der Neuzeit betrachten. Ganz plötzlich nimmt das geiſtige Leben die glücklichſte und 
geſundeſte Entwickelung. Die Erfindung der Buchdruckerkunſt bewirkte eine Umwälzung 
von unabjehbarer Tragweite, welche ſich über ganz Deutſchland und von ihm aus über 
das ganze Europa ausdehnt. Als ein mächtiges Bildungsmittel begünftigt fie den 
Austaujch der Gedanken und macht die Wiſſenſchaft allen zugängig. Ein tief empfundenes 
Bedürfnis nach Belehrung regt ſich in allen Ständen, Deutſchland bringt eine 
unerſchöpfliche Fülle bedeutender Menſchen hervor; der größefte it Nikolaus von Kuda, 
„ein wahrer Geiftesriefe” an der Neige des Mittelalters. 





Janſſen in Frankreich. 1185 


Diejer allgemeine Aufſchwung it nach Janſſen eng verknüpft mit der Firchlichen 
Lehre von dem Verdienfte der guten Werke und ihrer Wirkung auf die Seligfeit. 
Gleich auf den erften Seiten ftellt alfo der katholiſche Gejchichtsichreiber dieje Grund: 
lehre des fatholiichen Glaubens in die vorderite Schlachtlinie; ihr gilt dev Angriff der 
Neformation, als der Hauptburg des priefterlichen Einfluffes in Austeilung der 
Saframente; ihr ſteht entgegen die Nublofigkeit der guten Werke und die Rechtfertigung 
durch den Glauben allein. Diejer Grimdlehre, welche die Wohlthätigfeit und damit 
das allgemeine Wohl jo außerordentlich fördert, mißt Janfjen einen großen Anteil an 
der Entwickelung der Kultur des 15. Jahrh. zu, wie ihr Aufgeben die Rückkehr zur 
Barbarei des 16. Jahrh. veranlaßte. 

Der wohlthätige Einfluß des Katholizismus macht ſich auf allen Gebieten des 
Staats und Volkslebens erkennbar: in Unterricht, Wiſſenſchaft, Kunſt, Staatswirtichaft. 
Die Neihenfolge, in welcher Janſſen diefe Gebiete behandelt, mit Beiſpielen belegt, läßt 
deutlich erkennen, daß er unter Einfluß der Jetztzeit Schreibt. Er beginnt mit der 
Elementarjchule, heute der Angelpunft der PBarteibejtrebungen. Durch eine Mafle von 
Urkunden weiſt Janffen nach, wie jehr fie vor der Reformation gedieh, unmittelbar 
nach derjelben verfiel. Freilich unterftüßte damals der Lehrer die Beltrebungen der 
Geiſtlichkeit; er teilte mit ihr Stellung und Anjehen, Klagen über ungenügende Gehälter 
famen nicht vor. Der höhere Unterricht hat denjelben Umfang‘ die klaſſiſchen Wiſſen 
ſchaften wurden eifrigft betrieben; die alten Humaniften, die Schule des Rudolf Agricola, 
des deutjchen PBetrarca, ſuchten jedoch in diefem Studium nicht Beweismittel gegen das 
Ghriftentum, vielmehr war es ihnen ein Mittel, die edeliten Beſtrebungen des religiöjen 
Eifers zu fördern: die fpäteren Humaniften aber find Todfeinde der Kirche; indem fie 
die heidniſche Nenaiffance fälichten, halfen jie die Neformation zu jtande bringen. 


Die Univerſitäten endlich, „die vielgeliebten und begünftigten Töchter der Kirche” 
frönten das Ganze der Einrichtungen, welche allen Ständen Unterricht bieten ſollten. 
Die Mittel, welche aus frommen Vermächtniffen und Stiftungen reichlich floſſen, machten 
dieſe Herde gelehrter Beſtrebungen auch den Aermſten zugängig. Auch hier wieder ſetzt 
Janſſen auseinander, daß es irrig iſt, das glänzende Gedeihen der deutſchen Univerſitäten 
der Reformation zuzuſchreiben; nach ſeiner Darſtellung hatte auch hier, wie überall, die— 
ſelbe einen unbeilvollen Einfluß. 

Wie Unterricht und Wiſſenſchaft, jo erblüht auch die deutſche Kunſt unter dem 
Einfluſſe des Katholizismus, der überall die Künſte gefördert hat. Wir können uns kaum 
noch eine Vorſtellung von der überquellenden Pracht in den Leiſtungen der Kunſt des 
15. Jahrhunderts machen. Die Zerſtörungswut des Bauernkrieges, die Bilderſtürmerei 
der Lutheraner und Kalviniſten, die Verheerungen des 30jährigen Krieges, die franzöſiſchen 
Raubzüge haben nur Trümmer bejtehen lafjen. Inden die Künjtler und Baumeifter 
eine Kirche erftehen machten, erfüllten fie ein frommes Werk; fie arbeiteten zur Ehre 
Gottes und für ihr Seelenheil. Bon wunderbarer Beicheidenheit, jeder Marktichreierei 
abhold, gegen Lob gleichgültig, Tiefen fie ihre eigene Berjon ganz zurücktreten, von 
vielen ift nicht einmal der Name bekannt. Alle dieſe Baumeifter, Maler, Bildhauer, 
Goldichmiede, Glasmaler, Miniaturmaler waren einfache Bürger, Zunftgeuoſſen. Ein 
Adam Krafft bezeichnete fi als einen Steinhauer; der berühmte nürnbergiiche Kunſtgießer 
Peter Viſcher als Kupferſchmied; am Grabmale des heil. Sabaldus hat er fich jelbit in 
jeinem Arbeitsanzuge dargeftellt: mit der großen Lederjchürze, dem Mützchen, im der 
Hand einen Hammer. 

Die Kunſt zeigt uns aber in diefem 15. Nahrhundert neben diejer Frömmigkeit 
noch einen anderen Zug deutichen Weſens, es iſt eine friiche frohe Laune, im Eulenjpiegel 
mit plumper Roheit verquickt, — meiſt aber ein wunderbar wirfendes Gemisch von 
Frohſinn und Traurigkeit, wie es entjteht aus der Wechſelwirkung unjerer guten 
Borjäge und unjerer Schwächen, Hemmungen des Geijtes durch das Fleiſch. Janſſen 


1186 Janſſen in Frankreich. 


läßt dieſe froh-traurige Stimmung aus dem Chriſtentum erſtehen, das zum erſtenmale 
den Menſchen über die Macht und die Schwäche ſeines Herzens belehrt hat. Er behauptet, 
dieſer Humor ſei weder in Zeiten des Unglaubens, noch in ſolchen finſtrer Frömmelei 
zu finden — eine neue geiſtreiche Denkweiſe, die man nur nicht zu ſcharf prüfen darf; 
denn die Lächelnde Schwermut, das Erwachen aus dem Traume zum Jammer der 
Wirklichkeit bejteht, jeit die Menjchen von Volltommenbeit und Glück träumen, welches 
doc nicht in der Wirklichkeit bejteht. 

Die hohe Blüte, zu welcher Kunst und Wiſſenſchaft im Mlittelalter gediehen waren, 
haben die Schriftiteller der romantischen Schule, Jakob Grimm, Uhland, geichildert: 
eine andere Seite des Lebens jener Zeit, Die Zuftände der Gejellichaft und ihre 
Bermögenslage, 1450— 1500, hat Janſſen Elargelegt. Ausgehend von chrijtlich-jozialen 
Grundſätzen unterjucht ev die Gehälter, Stiftungen, den Handel, Luxus, das Stapital nud 
ihren Einfluß auf die Sitten; gejtügt auf eine Menge von Urkunden und Thatjachen 
fommt er zu dem Ergebnis, daß der Fortichritt des Volkswohlſtandes auch der überrajchend 
ichnellen Entwidelung von Wiſſenſchaft und Kunſt entſprach. Die Lage des an Zahl 
größten Standes des Aderbaues war im ganzen günftig, unter dem Einfluß der Kirche 
war die Leibeigenjchaft allgemein aufgehoben; aber fie wird nach der Reformation an 
vielen Stellen wieder gefunden. Die Erbfolonen bildeten die Mehrzahl der Bevölferung; 
ihnen gehörte der Boden mehr als den Feudalherren. Ihnen konnten die rechtlichen 
Beliger die Meierei nicht nehmen, um fie anderen zu einem höheren Preiſe zu verpachten; 
fie waren nur zu einer Frohne oder einer bisweilen erjtaunlich mäßigen Abgabe 
verpflichtet. Nach den von ihm gegebenen Beiipielen ift Janſſen geneigt, die Kolonen 
und Tagelöhner für glüclicher zu halten, als heutzutage. 


Der Handel war nicht minder in Schwung, die deutiche Hanja war noch 
voller Kraft, Janſſen fieht in diefer Blüte den Keim des VBerfalls, denn damals wie 
heute waren die Handelsjtädte die Kloaken Deutjchlands, Stätten der Wöllerei und 
Verſchwendung. Zugleich mit jchlechten Sitten begünstigt der Luxus den allgemeinen 
Wucer. Die Nuden waren das Ziel des Volkshaſſes, aber die chriftlichen Wucherer 
übertrafen fie noc) an Naubgier. Das Vermögen Einzelner erhob ſich zu unerhörter 
Höhe; das der Augsburger Fugger war in 7 Jahren um 13 Millionen Gulden vermehrt 
worden. Dieſe verkehrte Verteilung der Neichtümer wurde jogar von Schriftitellern 
jener Zeit als eine logische Folge des Aufgebens der Grundjäge des katholiſchen 
Kirchenrechts angejehen; das chriftlich deutiche Necht unterjagte den Wucher, stellte das 
Leihen auf Zinſen dem Diebjtahl gleich, eine Auffafjung, der die Praris der bürgerlichen 
und kirchlichen Nichter entipracd), aber eine Umwälzung der ganzen Vermögensverhältnijie 
von ungeheurer Tragweite vollzog jich in Dentichland am Ende des 15. Jahrhunderts, 
als ungeachtet des Widerjtandes der Kirche und des Volkes Fürſten und Gejebgeber au 
Stelle des chriftlichen deutjchen Nechts das römische ſetzten. Alle Deutſchſchwärmer 
(germanisans) der romantischen Schule von Herder bis auf Scheffel haben Widerwillen 
gegen römische Gejeßgebung ausgejprochen und beflagt, daß Deutjchland nicht wie 
England jein altes Recht, jeine gotischen Freiheiten behalten hat und daß, wie fie mit 
äußerjter Verachtung ſich ausdrücden, das freiefte Volk der Erde wie Wäliche beherricht 
worden jei. Zu Diejer volfstümlichen Abneigung tritt bei Janſſen noch die der Katholiken, 
des Eiferers für Feudalrecht, auf Familien begründete Negierung und väterliche Autorität. 


Im  mittelalterlichen Deutjchland vor Einführung des römischen Rechts findet 
Janſſen aljo alle Abfichten des chrijtlichen Sozialismus jchon ausgeführt. Obgleich er 
gewöhnlid) Vergleiche mit der Gegenwart ſehr nahe legt, aber nicht ausipricht, kann er 
ſich bier nicht verlagen, die Staatswirtjchaft des Mittelalters mit den Lehren der 
Manchejterichule zu vergleichen. Der Grundgedanke dev evjteren war, wie er meint, 
unendlich viel fittlicher, als derjenige des freien Wettbetriebs und Umtaufches, welcher 
heute Herricht und den Eigennuß des Einzelweiens als den mächtigiten Hebel des 


Janſſen in Frankreich. 1187 


Staatswohles anſieht. Indem wir unſere Arbeiter wehrlos denen überlaſſen, welche ſie 
ausnutzen, laſſen wir ihnen nur drei Möglichkeiten, ſich bedingungslos zu unterwerfen 
oder ins Arbeitshaus zu gehen oder ins äußerſte Elend zu geraten. Ohne Zweifel gab 
es im Mittelalter auch Entbehrungen, Arbeitseinſtellungen. Janſſen weiſt in einigen 
Randbemerkungen darauf hin. Aber es wäre ſinnlos, ſich einbilden zu wollen, in der 
Vergangenheit wäre alles ſchlimm geweſen, jetzt aber vortrefflich. Die Uebel, an denen 
die heutige Geſellſchaft leidet, die ungeheure Kapitalauhäufung gegenüber der ebenſogroßen 
Not, die Maſſen-Kündigungen und Arbeitseinſtellungen, die häufigen Bankbrüche, das 
Profetaviertum, eine notwendige Folge der Entwidlung alles Fabrifbetriebes, ſie alle 
widerjprechen nur zu laut den Lobrednern unjerer Zeit. Aber es fragt ſich doch, ob 
es zur Heilung aller diejer Uebel genügen würde, die jetzige Gejellichaft nach dem 
Muſter des Mittelalters neu zuſammenzuſetzen, die patriarchafiiche Negierung, die uner— 

ſchütterliche Autorität, die geheiligte Beſtändigkeit wiedereinzuführen, welche das Glück 
der einzelnen und das Gedeihen der Völker auf der Ueberlieferung beruhen läßt. 

Und eine zweite Frage. Dieje gejellichaftlichen und jtaatlichen Verhältniffe, welche 
uns die deutjche Gejchichte jo einzigartig vorführt, waren fie in Wirklichkeit jo blühend 
wie in der Darjtellung Janſſens? Anſtatt in jenem Bilde Licht und Schatten gerecht 
zu verteilen, hat er alles, was den Glanz desjelben beeinträchtigen Eonnte, ans Ende des 
Bandes verwiefen, die Schilderung der Lafter, der Mißbräuche, der Nergerniffe in der 
Kirche jelbjt. Trotz der vielen Thatjachen, welche angeführt find, macht diejer erſte Teil 
den Eindrucd eines Utopiens, eines traumbaften goldenen Zeitalters des Katholizismus. 
Je weiter wir lajen, um jo öfter fragten wir uns, ob nicht bei ung in Frankreich ein 
Lobredner der alten Zeit (vor der franzöj. Nevolution) ebenjo Elar jehend und gejcheut 
wie Janfjen, ebenjo gewandt die Urkunden zujammenzuftellen und zu deuten, ob er nicht 
in der beiten Meinung der Welt dahinfäme, beweijen zu wollen, daß am Vorabend 
der Revolution von 1789 unjere Vorfahren vollfommen glücdlich gelebt hätten, ihre 
Kinder vortrefflich unterrichtet und erzogen wären, in unſeren Provinzen eine väterliche 
Milde die Negierung geführt, die Genofjenichaften das Elend der arbeitenden Klaſſen 
gehoben hätten, daß man Laſter nur im den höheren Schichten, nur am der Oberfläche 
des Tageslebens habe finden fünnen, daß eine große Zahl von Standesherren, PBriejtern 
und Priejterorden ſich einer ausgedehnten Wohlthätigkeit befliſſen hätten — furz, daß die 
jranzöfiiche Revolution, wie deutiche Neformation, dauernde Wirkung ohne tiefer liegenden 
Anlaß gehabt hätte. Ohne Zweifel würde Janſſen antworten, daß er alle jeine 
Behauptungen auf Thatjachen ſtütze, daß nur eine ebenjogroße Zahl von Urkunden 
entgegengeſetzten Inhaltes ihn widerlegen könnte, aber der am ſchwerſten wiegende 
Einwand iſt die Schwierigkeit, überhaupt durch Ziffern fejtzuftellen, wie viele denn in 
der von Janſſen gejchilderten glücklichen Lage wirklich geweien find. Mean denke nur 
an die große Schwierigkeit, welche es macht, heute mit allen Mitteln der Berichterftattung, 
Nachforſchung, Statiſtik, der öffentlichen Verhandlung ein auch nur annähernd richtiges 
Urteil über die Lage der Arbeiter oder Landbaner in einer Provinz zu gewinnen — wie 
will man Nechenichaft ablegen über die Lage eines ganzen Landes vor 400 Nahren? 
Außerdem find nicht alle Urkunden aud) wahre Beweismittel! Wir wiljen wohl, daß 
wir mit jolchen Zweifeln zuleßt die ganze Gejchichte in Frage ſtellen können. Che wir 
aber die Forſchungsweiſe prüfen, wollen wir im gutem Glauben verjuchen, uns die 
wahre Lage der chrijtlichen Gejellichaft jener Zeit klar zu machen. 

Janſſen findet in 3 Holzichnitten Albrecht Dürers diefen Zeitabjchnitt der Kultur: 
entiwicelung dargeftellt. Die beiden erjten: Nitter, Tod und Teufel, jorwie der heilige 
Hieronymus, find Sinnbilder des Mittelalters. Inmitten von fteilen Felſen, welche in 
der Ferne eine Feſtung krönt, reitet der Mann des Mittelalters in jeiner glänzenden 
Nüftung in Glauben und Ehre unerjchütterlich, ohne Furcht und ohne Tadel zwiſchen 
den beiden Feinden, dem Tode und dem Teufel. Der andere Held des Mittelalters iſt 
der Mönch: im Frieden jeiner engen Zelle, umgeben von allerlei Hausgerät, jigt, einem 


1188 Janſſen in Franfreic. 


Löwen zu Füßen, der heilige Hieronymus in eine ruhige Arbeit vertieft, welche weithin 
treffliche Früchte bringen wird. Stein ftörender Gedanke, feine von außen eindringende 
Sorge beängftigen die glücliche Heiterkeit, den ruhigen, jtillen und tiefen Glauben, 
welchen das jchöne und ausdrucksvolle Geficht des Ktirchenvaters ausjtrahlt. 


Aber eine neue Zeit beginnt mit der Neformation, eine Zeit des Zweifels der 
unruhigen Forſchung, Angſt und Abſpannung — die Schwermut Dürers iſt ihr Sinn— 
bild: ein Weib mit Engelsflügeln, das Haupt mit Myrte bekränzt, in der Rechten 
Bud) und Kompaß, umgeben von einem Chaos wiſſenſchaftlichen Geräts: jo ſitzt ſie am 
Strande des Meeres, in finjtere tiefe Gedanfen verjunfen; ihr Blick verliert ſich in die 
Terne, ihre Züge sprechen von herbem Leid: den Eindrud des trüben Bildes zu 
mildern, hat der Künstler einen Negenbogen über das wüſte Meer geipannt, ein Symbol 
des Friedens. 

Aber diejer Friede ift weit von uns entfernt, der Negenbogen glänzt über einen 
gewitterjchweren Horizont; in das Dunkel unlösbarer Aufgaben verjenkt ijt Die 
Melancholie, die Muſe unjeres Jahrhunderts. Aber auch der Frieden des Mittelalters 
ijt nicht, was er jcheint, er iſt ein Deckmantel der Knechtſchaft. Montesquieu jtellt als 
allgemeines Sejeb auf, daß jedesmal, wenn die Bevölferung eines Staates ruhig 
erjcheint, fie der Freiheit entbehrt. Dieje vielgepriejene Einigkeit des Mittelalters war 
au ftande gekommen auf Koſten der Willens: und Gewiliensfreibeit; jeder jelbjtändige 
Geiſt wurde erdrücdt. Noch umerträglicher wurde der Gewiljensziwang, welchen die 
stirche auf diejelben Völker ausübte, die fie durch Bildung zur geiftigen Selbftändigkeit 
geführt hatte, durd; den Umjtand, daß die Macht in den Händen einer verfommenen 
Briejterichaft war, welche die Achtung dieſer Völker verloren hatte. Nachdem ſich 
Janſſen erit in genauen Einzelheiten über gute Werke, gute Sitten, allgemein verbreitete 
Wohlthätigkeit ausgelaffen hat, zeigt er uns die Ktehrjeite: Zügellofigkeit und Nergernis 
unter der höheren Geiftlichkeit, ſcham- und mahloje Habjucht, befriedigt durch die Angit 
oder die Frömmigkeit der Sterbenden. Die deutjche Kirche war denn auch die veichjte 
der Welt; ein Drittel des Grumdeigentums gehört ihr, ein Umſtand, der die Habgier 
der kirchlichen Wiürdenträger um jo verdammtlicher macht. „Alle Welt jah diefe hohen 
Geiftlichen in üppiger Scwelgerei leben; wie Frauen fegten fie mit den Schleppen 
ihrer Gewänder die Straße.“ Solche Sitten haben das alte Königtum in Frankreich 
zum Stürzen gebracht: Anhäufung von Volksvermögen in der Kirche, die Bistümer jich 
ſelbſt überlafien, die hohen Würdejtellen der Kirche ausdrüdlid den jüngeren Söhnen 
der fürftlichen Familien vorbehalten. Selbjt in die eigentlich Firchlichen Angelegenheiten 
ſchlich ſich allmählich) dieje Verderbnis ein: auf die Opferwilligfeit der Frommen 
vechnend, jtellten Mönche künstlich Wunder her. Die Frömmigkeit, welche in Janfjens 
Darjtellung von einem Hauche findlicher Einfachheit und Anmut durchweht erjcheint, 
war Häufig ganz äußerliches Handeln: für gewilie Gebete war ein Ablaß von 
1465 Tagen gewährt, für andere von 7—8000 Fahren. Will man die Menjchen diejer 
Zeit begreifen, jo muß man fie für fähig halten, alle Gegenjäge in fich zu vereinigen: 
Sranjamkeit und Andächtigfeit, glühende Einbildungstraft und trodnes Gelehrtentum. 


Aber Die ganze Geiftesrichtung begann ſich zu ändern. Die Schriftfteller des 
Altertums lehrten fie, auf die Theologie mit Mißtrauen zu jehen, welche bisher allein 
Wiſſenslicht geipendet hatte; ehe ſich ſolche Umwälzungen vollziehen, welche oft gewaltjam 
das Leben eines Volkes von Grumd auf ändern, gehen neue Gedanken und Auffaſſungen 
vorher. Die Humaniften, an ihrer Spige Erasmus, jpielen im 16. Jahrhundert diejelbe 
Nolle, wie im 18. die Encyklopädiſten. Sie verfolgen das tote Wiſſen mit ihren 
Spöttereien, nicht minder legen fie die böjen Schäden der firchlichen Ordnung bloß, 
rühmen die Staatsreligion des Altertums, verlangen Einziehung der Kirchengüter: jo 
bricht der Krieg der Geifter los; und in diejer Verwirrung der jtaatlichen Verhältnifie, 
in weldje Marimilian müht, ein wenig Ordnung und Frieden zu bringen, veranlaßt 


Janſſen in Frankreich. 1189 


jene Aufwiegelung ein überall verbreitetes Unbehagen, und alle Welt fühlt am Ende 
des Jahrhunderts die unheimliche Angſt, welche den verhängnisvollen Ereigniſſen 
vorangeht. 

II. 

In dieſer ſeiner glänzenden Darſtellung der kirchlichen Zuſtände des deutſchen 
Mittelalters ſieht Janſſen das Schlimme nur an der Oberfläche, im inneren Grunde iſt 
alles trefflich. Doch war zweifellos eine Reformation d. h. Neugeſtaltung des Katholizismus 
nötig; Elarjehende Staatsmänner, wie Nikolaus von Kuja, arbeiteten darauf Hin. „Ganz 
Deutjchland war auf gutem Wege der Neugejtaltung, als Luther erjchien.“ Janſſen 
beurteilt die Reformation, wie Montalembert die franzöfiiche Revolution, als eine 
blutige, aber nußloje Bewegung, die ftatt zu heilen, das Leiden verjchlimmerte. Das 
16. Jahrhundert, welches anderen troß jeiner blutigen Kämpfe jo heilbringend ericheint, 
erklärt er als das unheilvollfte der deutichen Gejchichte, ein Jahrhundert Fruchtlojer 
Berwüftungen, welche zur WVerwilderung führten. Die folgenden 4 Bände, welche bis 
zum Vorabend des 36jährigen Krieges führen, jchildern mit derjelben ins Einzelne 
gehenden Genauigkeit, wie die gute Ordnung, in welcher die Kirche Unterrichtswejen, 
Kunſt, Wiſſenſchaft, Wohlthätigkeitseinrichtungen zur Blüte gebracht Hatte, Stüd um 
Stüc vernichtet wird. Janſſen macht den NReformatoren den Prozeß, wie Taine ihn 
den Jakobinern gemacht hat; aber leßtere erjcheinen als harmloje Bürger verglichen mit 
den Jakobinern der Romantik, entlaufenen Mönchen und Brieftern, Auswürflingen des 
niederen Adels, wie Ulrich) von Hutten, dem mit Feder und Schwert wütenden Straut- 
junfer, dem Camille Desmoulins der Reformation, oder dem aus der Hefe des Volkes 
plöglich auftauchenden Schneider Jan van Leyden, einer Art von gotiſchem Marat, einer 
Gejtalt, wie fie nur der Traum im Alpdrüden jieht, oder Hoffmann im jeinen ſinnver— 
wirrenden Erzählungen giebt. 


Luther überragt fie alle um Haupteslänge; in ihm verkörpert fich die Reformation; 
zwar iſt ſie nicht ganz und gar jein Werk, er ift nur Werkzeug einer Umgeftaltung 
geworden, welche durch die Wucht der gejamten Zeitverhältnifje notwendig gemacht 
torden war. Es iſt jogar von einer an Sicherheit grenzenden Wahrjcheinlichkeit, daß 
auch ohne Luther Luthers Werk vollendet wäre. Seit dem 15. Nahrhundert war das 
Anjehen des heiligen Stuhles durch Neuerer angegriffen worden, welche fajt alle in Die 
Fußtapfen von Johann Huß traten. Luther hatte die Schriften Johann Kuchraths von 
Weſel jtndiert, welcher jchrieb: „Ich verachte den Papſt, die Kirche und das Konzil und 
ich fobpreife Chriſtus. . . Der Papſt ift ein in PBurpur gefleideter Affe, jeine Prieſter 
Hunde und Raubtiere.“ Solchen Lehren lieh Luther jeine mächtige Stimme und ganz 
Dentichland horchte auf; das Echo hört man aus den Blättern des Janſſen'ſchen Werkes. 
Dort finden wir nicht ein nad) afademijcher Schreibweile entworfenes Bild: Janſſen 
folgt dem Manne durch alle Stufen jeiner Entwidelung, er läßt ihm ſtets das Wort. 
Welche Sprache kann die Wucht Luther’icher Beredtjamkfeit erreichen — übrigens das 
einzige Verdienſt, welches der katholiſche Gejchichtsjchreiber ihm zuerkennt! Aber Janſſen 
macht die Auszüge aus Luthers Werfen derart — jo will es jcheinen — daß dieſer 
gegen ihn die Stlage auf VBerleumdung erhoben und öffentlich jeine Irrtümer, Wider: 
jprüche, Gewaltthaten und Frevel befannt haben würde. Er erjcheint als ein Geijterjeher, 
der nicht immer weiß, was er thut, hingeriſſen durch „er weiß nicht, welchen Geiſt“, 
voll von Berachtung des Volkes, der Knechtsherde, welche die Fürjten mit Nuten und 
Rad jtrafen jollen, welche er zum Bapjte wieder zurüdführen könne, wenn er nur wolle, deren 
Leichtgläubigfeit er benußt; der die Bibel die einzige göttliche Autorität nennt, und fie 
doc) in jeiner Ueberjegung nach jeinem eigenen Geftändnis ändert; der in Sachen der 
Doppelehe Philipps von Heilen dem gejcheuteiten Iejuiten an Spipfindigfeit gleichfommt, 
in dem die abergläubijche Wut jeiner Zeit gegen Zauberer und Juden lebt — Myſtiker, 
Praſſer, vom Teufel geplagt, der fein Glaubensbefenntnis in dem ſittenloſen Spruch 

Allg. font. Monatsichriit 1888, XI. 76 


1190 Ianfjen in frankreich. 


ausdrüdt: Pecca fortiter, sed fortius erede. Gegen Ende jeines Lebens erichridt er 
über feine Kühnheit, fürchtet jein eigenes Werk; wie Melanchthon wird er von gewaltiger 
Angst geplagt angefichts des Bürgerfrieges, der Verheerungen der zerftörten Kirchen, 
verlafjenen Schulen, der Vernichtung aller Wohlthätigkeitsanftalten; da legt er ein 
überrafchendes Zeugnis für die Zeit der Papjtherrichaft ab, „da jedermann barmberzig 
und friedfertig war, da man fröhlid, mit beiden Händen und fromm jpendete, da 
Almojen, fromme Stiftungen und gute Werke in Strömen kamen.“ Geſetzloſigkeit, 
Roheit, Verwilderung find, jo jagt Luther ſelbſt, die Folgen der Reformation, Früchte 
der Lehre, daß die guten Werke nicht nützen, daß der Menſch aus eigener Kraft nicht 
zum Heil gelangen fünne. 

In diefem harten Urteil über Luther, welches durch die Menge der gegebenen 
Citate verftärkt wird, ftimmt Janfjen mit Voltaire (Essai sur les moeurs) ziemlid) überein. 
Die Reformation hat die Katholiken und die Zweifler gegen fich; jene flagen fie der 
Zerftörung, diefe der Furchtiamfeit an; nad) Boltaire hat fie dem Fortichreiten Des 
Neiches der Vernunft geſchadet; Yuther nennt in der That die Vernunft die Hure des 
Teufels. Dieſe Weije, den Urheber der religiöfen Umwälzung des 16. Jahrhunderts 
darzuftellen, iſt aljo nicht allzu neu. In dem proteftantischen Deutichland erhob ſich 
alsbald ein Schrei des Umwillens gegen den Fatholiichen Schriftjteller; denn Luther, der 
Vernichter der Heiligen, ift jelbjt ein Nationafheiliger geworden; jein Ruhm ift bejtändig 
gewachjen. Für die Norddeutichen ift der Reichstag zu Worms, 1521, was uns das 
Jahr 1789: das erjte Jahr einer Entwidelung. Im ihren Augen ift feine Revolution 
zu vergleichen mit diejer, welche den Einzelnen vom Joch der Weberlieferung, den Staat 
von der Herrichaft der Kirche, die Deutjchen von der römischen Lüge befreite, ihnen erjt 
das Bewußtjein brachte, ein Volk zu fein. Die deutjchen Litterarhiftoriter laſſen aus 
der Neformation die glänzende Blüte deutjcher Philojophie und Dichtung des 18, Jahr: 
hunderts erjtehen und weijen mit Vorliebe darauf hin, daß das fatholiiche Deutichland 
diefer Bewegung fernftand. Nicht minder ruhmreich wirkte der Proteftantismus im 
Staatsleben. Preußen hat jeine Anſprüche als führender Staat in ihm begründet; 
jeine großen Männer, Stein, Bismard find Bewunderer — und in der öffentlichen 
Meinung Nachfolger Luthers gewejen. Heine drüdt dieſen Gedanken in den Worten 
aus: „Luther war nicht nur der größte Mann, er war aud) der deutichefte Mann, 
welcher im unjerer Gejchichte zu finden if. Das Bedürfnis der Mafje, in einer 
Verjünlichkeit die Bejtrebungen und Eigenjchaften des ganzen Stammes verkörpert zu 
jehen, läßt fie in Luther ein Bild Norddeutichlands finden; in ihm find alle Züge ihrer 
Eigenart vereinigt: die kühne Verneinung, die Frömmigkeit, das träumerische Weſen 
und die Thatkraft im Handeln, die Roheit, die Plumpheit, die Sinnigfeit und Liebe 
zur Dichtkunſt. Diefe Lutherverehrung macht die Bibel zu einem wefentlichen Teil der 
Bolkserziehung.” Als daher Janjjen am Morgen nad) den unerwarteten Siegen und 
der Wiederherftellung des Reiches jeinen Landsleuten durch eine Flut von gehäuften 
Thatjachen bewies, daß man in einer entlegenen Vergangenheit 1450—1500 die wahre 
Höhe deutjcher Gejchichte juchen müſſe und daß mit der Reformation der Berfall 
eingetreten jei, da entfejlelte dieje Behauptung einen Federkrieg, deſſen heftige Sprache 
in dem Lande der freien Meinungsäußerung in Erftaunen Veht; aber die deutſchen 
Gelehrten behandeln die Gejchichte der Vergangenheit mit derjelben Hißigkeit, ala ob es 
fi darum handelte, für Bismarck oder Windthorit Partei zu nehmen. Auch fahten 
die proteftantiichen Stritifer Diejes Werk als eine riefige Streitichrift in Sachen des 
Kulturfampfes auf; die Higigften Hagen Janſſen jogar an, er habe den Bürgerkrieg der 
Zufunft vorbereitet und nennen ihn einen Judas. Einige jtellten jüngft auf einer 
Verjammlung den Antrag, die Negierung um Mafregeln gegen die Schmähungen 
anzugehen, mit denen die katholiſche Preſſe täglich das Andenken Luthers überhäuft — 
ohne Zweifel würde gegen Janſſen zuerft dies neue Geſetz der Heiligenschändung in 
Anwendung gebracht. 


Janſſen in Frankreich. 1191 


In feiner Geichichte hat ſich Janſſen jeder Augeinanderjegung mit jeinen Wider: 
jachern und Kritifern enthalten; ihnen gelten zwei Broſchüren (An meine Kritiker. — 
Ein zweites Wort an meine Kritiker), Mufter einer Streitichrift voll Feinheit und 
Schärfe, er giebt auch einige Nachrichten über feine eigne Perſon, Urteile von Liberalen 
und Anhängern der Regierung, Am Gymnafium zu Frankfurt a. M. Profeſſor, 
unterrichtet er jeit 28 Jahren katholische und protejtantiiche Schüler, ohne jemals Anlaß 
zur Klage über religiöjes Eifern gegeben zu haben, er führt zwei jeiner Gegner a, 
welcher feiner Unparteilichfeit Gerechtigkeit widerfahren lafien. Um Politik hat er jich 
nur jehr wenig gekümmert; furze Zeit Landtagsabgeordneter, wandte er ſich bald wieder 
den ihm jo teueren Studien zu. Er nennt fich Eaijerlich, Anhänger der deutjchen 
Einigkeit, mag der Kaiſer Proteftant oder Katholif fein, er verurteilt die Revolution des 
16. Jahrhunderts, welche gegen die Neichseinigfeit gerichtet war; in der Religion iſt er 
für Freiheit. Man beichuldigt ihn, feine Gejchichte aus der Verſtimmung gegen den 
Kulturfampf herausgejchrieben zu haben, aber das Material dazu hatte er lange vorher 
gejammelt. Allerdings gejteht er zu, daß der Kulturfanıpf auf jeinen Geift tiefen 
unauslöfchlichen Eindruck gemacht habe, freilich jeien feine heiligen Bilder gejchändet, 
feine Kreuze, noch Altäre umgejtürzt worden, aber Klöfter und Niederlaffungen jeien 
entoölfert, werte Freunde verbannt, mit jchweren Geldbußen beftraft, geächtet wie 
Verbrecher; Bijchöfe, deren FFreundichaft jein Stolz gewejen, habe er auf der Anflagebanf 
gejehen, den Armen und Sterbenden jeien die Tröjtungen der Saframente verweigert, 
das Glück von vielen Familien zerjtört, die Kirche ihrer ehrwürdigiten Rechte beraubt: 
er habe erfahren müſſen, wie in den legten 10 Jahren eine Majorität von 30 Millionen 
eine Minorität von 15 Millionen behandelt habe. 


Nur die Reformation ift Janſſen einem ungeheuren Kampfe ähnlich erjchienen. Die 
Stellen, welche er aus Luther und Melanchthon anführt, „bringen den Beweis, daß die neue 
Lehre dem Volke durch die Regierung aufgedrungen jei, daß diejes mit Bedauern an 
die fatholiiche Zeit denfe.“” Er will gegen die Reformation nicht das Autoritätsprinzip 
anrufen, nicht Die unverjährbaren Rechte des Katholizismus auf die Führung der Völker; 
die Reformation ift vielmehr ihrem eigenen Grundwejen untreu geworden, fie ijt ein 
Streich, welchen habgierige und aufrühreriiche Fürjten gegen die Gewiljensfreiheit des 
deutjchen Volkes führten. Wenn andere Herricher ähnliche Mittel gegen die Reformierten 
angewendet haben, verdammt 3. fie jchonungslos; von Louis XIV. und der Aufhebung 
des Edikts von Nantes jagt er: „Der Franzöfifchen Geiftlichkeit wird mit Recht der 
Borwurf gemacht, daß fie nicht laut gegen die Gewaltthätigfeiten diejes erſten Vertreters 
der unheilvollen Staat3wirtihaft der Bourbonen Einipruch erhob; 100 Jahre jpäter 
haben franzöfiiche Priefter in Strömen Blutes die Fehler ihrer Vorgänger büßen müſſen. 
Solche Worte ehren Janffen, der jelbit Geiftlicher ift; aber wer wirde heute wagen, 
die Aufhebung des Edikts von Nantes zu widerrufen, jo jehr auch die Sache der 
Gewifjensfveiheit gefördert ift? — J. verteidigt fi) ferner gegen den Vorwurf, Die 
unbeilvolle Verwüſtung Deutichlands im 16. Jahrhundert Luther und der Neformation 
allein in die Schuhe geichoben zu haben. Die Päpjte der Renaiffance, ja die Katholiken 
haben teil an diefem Unheil und 3. Hat fie nicht entjchuldigt; ja im einer Beziehung 
nennt er fich jogar einen Bundesgenofjen des Broteftantismus — nämlid im Kampfe 
gegen den Materialismus. Als furchterregendes Krankheitszeichen diefer Seuche bezeichnet 
J. die heutige franzöfiiche Litteratur, welche die Unzucht eingehend und mit Vorliebe 
behandelt, von einem nur zu zahlreichen deutjchen Lejerkreife mit Beifall aufgenommen wird. 


Es ift nun in der That leichter, fi) über J. zu ärgern, ihn zu jchelten, als ihn 

zu widerlegen; ed genügt nicht, ihm Leopold von Ranke enigegenzuftellen, denn Diejer 

ift zwar ein Meijter im Slarlegen verwidelter Staatsbeziehungen, im Berfolgen der 

Wandlungen eines gejchichtlichen Geſetzes, im Entwerfen hiſtoriſcher Bildniffe, aber er 

jpricht im allgemeinen, geht nicht auf die Maſſe ein. Es müßte jchon die Geichichte 
76* 


1192 Janſſen in Frankreich. 


jener Zeit von neuem mit demſelben überwältigenden Aufwande thatſächlicher Genauigkeit 
geſchrieben werden, welche ihr J. geweiht hat: darin iſt er der leichtfüßigen Kritik weit 
überlegen. 

Janſſens Ueberlegenheit beruht auf langem unermüdlichen Forſchen; damit iſt aber 
noch nicht bewieſen, daß er unbedingt recht hat. Giebt es überhaupt bedingungsloſe 
Wahrheit in der Geſchichtsſchreibung? In der Geſchichte kann man alles unumſtößlich 
beweiſen. In dem ungeheuren Rüſthaus von bewieſenen Thatſachen giebt es Beweis— 
mittel für alle Streitſachen, Angriffswaffen für alle Parteien. Dieſe Thatſachen kann 
man nach den Regeln der Redekunſt zuſammenſtellen, wirkſam verteilen, ſo daß man 
mit unumſtößlichen Urkunden zwei Geſchichtswerke geradezu entgegengeſetzten Sinnes 
verfaſſen könnte; es hat ſich ja Benjamin Conſtant gerühmt: „Ich habe 40000 That— 
ſachen; ſie wirken nach Belieben“. Das iſt die hiſtoriſche Unehrlichkeit auf die Spitze 
getrieben; ſie darf man J. nicht zur Laſt legen. Aber es genügt auch nicht, als 
Grundſatz der Geſchichtsſchreibung aufzuſtellen: „Die Darlegung der Thatſachen iſt meine 
einzige Tendenz“. Denn dieſes Durcheinander der geſchichtlich bekannten Thatſachen — 
deren doch im Vergleich zu allen den nicht bekannten aber doch geſchehenen ſo wenige 
ſind — dieſes Chaos wird von jedem nach vorher aufgeſtelltem Plane gelichtet, 
entſprechend ſeiner ganzen Denkrichtung, freilich oft im beſten Glauben, nur das Wahre 
zu wollen. Janſſen verteidigt ſich gegen den Vorwurf, er deute die Thatſachen; dann 
dürfte er aber nicht einmal zu den Namen einen Zuſatz machen — ſchon die Eigenſchafts— 
wörter bedingen zuweilen ein Urteil. Wenn nun J. von Luther jpricht, jo bezeichnet 
er ihn mit dem etwas abjprechenden Ausdrude: „Der Gewifjenszweifler”. Dies krank— 
hafte Grübeln über Gewiljensfragen, an dem Luther jo jehr litt, haben ihm andere 
Schriftjteller zur Ehre angerechnet. Wir könnten Taine (Litterature anglaise tomett; 
la Renaissance chretienne) anführen, der jicher nicht der Barteilichkeit für Nevolutions: 
männer verdächtig ijt. Vielleicht hat bei Katholiken die Hochachtung, mit welcher ſich 
Lacordaire über den großen Neformator ausſprach, noch mehr Gewicht. Jauſſen hat 
ung Luther nur als vom Teufel geplagt jehen laſſen; bei einer anderen Auswahl der 
Auszüge würden wir in Luther vielleicht den Geift des heiligen Auguftin wiederfinden. 

Abgejehen von diejen Unterjchieden, welche fich aus der Auswahl und der Deutung 
der Thatjachen ergeben, ändert ji) die Auffaſſung einer Epoche oder einer geichichtlichen 
Geſtalt, je nachdem man das Ganze oder die Einzelheiten mehr ins Auge faßt. Aus 
je größerer Nähe man beobachtet, um jo mehr Unvolltommenheiten, ‘Fehler, Laſter 
fallen auf. Diefe Weije tadelt Joſehh de Maiftre an den Feinden des Papfttums, 
welche einige jchlechte Regierungen aus der langen glänzenden Neihe hervor in den 
Vordergrund jtellen, und ruft aus: „Sch verbiete den Kurzfichtigen Gejchichte zu 
ſchreiben“. Freilich verfällt er in denjelben Fehler, wenn er mit Bonald über die 
Reformation jagt: „Halb Europa hat die Religion geändert, damit ein fittenlofer Mönch 
eine Nonne heiraten konnte“. Dieje Unfeufchheit Luthers gehört in dasjelbe Muſeum 
von hiſtoriſchen Merkwürdigkeiten, wie die Naje der Kleopatra, Cromwells Sandkorn 
und Scribes Glas Waſſer. Janſſen faßt die Gejchichte mit zu durchdringendem Ber: 
jtändnis auf, als daß er jo wichtige Ereignijje von jo abjonderlichen Vorfällen abhängig 
machte. Aber feine Gegner könnten ihn eines geringen Grades von Nurzfichtigkeit 
zeihen, wenn er nur die unmittelbaren Wirkungen, aber nicht die über Jahrhunderte 
reichende Tragweite der Neformation ins Auge faßt. „Mean jpricht von den angeblichen 
Segenwirkfungen der Neformation”, jagt er, „dem Gedeihen des Volkes, dem Blühen 
von Wiljenichaft, Bildung, Nationalismus, Gewillensfreiheit ı. Die von mir gebotenen 
Thatjachen liefern feinen Beweis für diefe Segemwirfungen; vielmehr zeigen fie, wie 
ich glaube, unwiderleglich, daß das Gegenteil ans den religiöjen Wirren, der Trennung 
der Kirchen und der Zerreißung unjeres Volfes zu konfejfionellen Parteien hervorging.“ 
Das jcheint für die Neformationszeit nur zu richtig zu jein; aber bedarf es nicht einiger 
Einihränfungen für die Zukunft? Janſſen ift freilich noch nicht zum Schluß gekommen, 


Janſſen in Frankreich. 1193 


aber die eben angeführte Stelle läßt wenig Hoffnung auf Milderung eines ſo ſchroff 
ausgeſprochenen Urteils, welches nur für das 16. und einen Teil des 17. Jahrhunderts 
berechtigt iſt, für die ſpätere Zeit aber ſehr anzufechten iſt, da der Reformation andere 
Wirkungen nachzuweiſen waren. In ihren Anfängen freilich hat ſie das Ausſehn anderer 
Revolutionen, welche die Bande geſellſchaftlicher und ſittlicher Ordnung brechen, die 
Menſchen zu Tigern und Affen machen; dieſes wüſte Gebahren wird durch Einmiſchen 
der Religion noch) verſtärkt, welche überhaupt die menjchlichen Leidenſchaften jtärker 
entflanımt. So wird die Entwidelung von Sitte und Bildung in Deutjchland unter: 
brochen; das Land fir Jahrhunderte entkräfte. Endlich nach langer Zeit bringt die 
Reformation gute Frucht; freilich erjcheinen dem Katholiken die perjönliche Injpiration 
und das Necht der freien Schriftenforihung bittere, ja gefährliche Früchte; aber eine 
wohlthätige Wirkung der Reformation war, daß der Katholizismus fi) reinigte, erneute, 
verjüngte; die proteſtantiſche Geſellſchaft gar beftrebte fich einer jo ernften Frömmigfeit, 
einer jo peinlichen Sittenreinheit, dat Voltaire jagen Eonnte: „Zwingli und Calvin 
haben die Klöſter geöffnet, um die ganze menjchliche Gejellichaft in ein Kloſter 
umzuwandeln.“ Unter ihrem Einfluffe wurden ſogar jo wüſte blutgierige Sekten, wie 
die Wiedertäufer, janfter und ernfter. — Die menjchlichen Vereinigungen der neueren 
Zeiten verfolgen ausjchließlich irdijche Zwede und überlaſſen jedem Gliede, ſich unter 
den verſchiedenen Glaubensbekenntniſſen eine Grundlage ſeiner Sittlichkeit zu ſuchen; 
der Katholizismus hatte früher in dieſer Hinſicht eine ausſchließliche abſolute Herrſchaft 
ausgeübt — um einen Ausdruck des Geldmarktes zu brauchen — ein Religionsmonopol 
gehabt: Die Reformation ſetzte an die Stelle desſelben einen freien Wetteifer der Kirchen, 
ein thatkräftiges Ringen um den Vorrang in Wohlthätigkeitsleiftungen und im Eifer, alle 
Pflichten gegen die Menjchen zu erfüllen. 

Nirgends iſt bei Janſſen von dieſem Grundbegriff der chriftlichen Freiheit etwas 
zu finden; doc hat die Reformation fie gebracht, wurde von ihr bejeelt. Denn alle 
Revolutionen, welche wirkliche Folgen hatten, zeigen eine doppelte Seite, eine moraliſche, 
welche die Herzen mit Wahrheit erfüllt und dauern wird, eine andere rohe geſetzloſe, 
welche aber zu befeitigen iſt, jobald die Revolution ihre Macht verloren. Die Schand: 
thaten, welche fie begleiteten, verbleichen allmählicy im Gedächtnis der Menjchheit; die 
Wohlthaten aber, welche ihr zu danken jind, bleiben. Dies Verdienſt wird den Leitern 
zugeichrieben, die doc) jo oft an ihrem Werke verzweifelten, ja die eigentlichen Beweg— 
gründe oft nicht einmal klar erfannten. So entjteht die Legende, die einzige Geftalt, 
in welcher die Gejchichte im Volksbewußtſein weiterlebt. 

Dieje Legende wollte Nanfjen zerjtören, und feine Anhänger haben jeine Gejchichte 
einen vernichtenden Stoß genannt, welcher ins Herz des Protejtantismus geführt wurde. 
Aber Legenden haben wie Religionen ein zähes Leben. Darum bleibt aber Janſſens 
Wert doch ein großes Verdienſt — die übertriebenen Lobeserhebungen, mit denen der 
Ktulturfampf den Proteſtantismus feierte, auf ihren richtigen Wert zurüdgeführt zu 
haben. Der Gejchichtsichreiber hat mit Erfolg den Anteil, welchen der Katholizismus 
an der menschlichen Entwickelung hat, feitgejtellt. Auch Deutichland Hat ja am Ende 
des vorigen Jahrhunderts ſich erſt auf fich jelbit bejonnen, nachdem Herder und Goethe 
das Mittelalter wieder verftehen gelehrt hatten: Deutſchland hat jeine Einigkeit für alle 
Zukunft gefejtigt, nachdem es diejelbe in der Vergangenheit aufgefunden hatte. 

Janſſens Gejchichte hat einen philoſophiſchen Zwed: indem er uns eine ins 
Einzeljte gehende Unterfuchung über die Kriege und Bürgerzwifte des 16. Jahrh. giebt, 
läßt er uns die Herenfüche der Revolution kennen lernen, die ihre Zwede durch Ein: 
Ihüchterung erreicht. Er giebt uns die genauejten Angaben über die reichen Kunſtſchätze 
und Denkmäler, welche für immer vernichtet find, über die Grauſamkeiten und Verbrechen, 
welche ungejtraft blieben, über die Leiden und Entbehrungen, an deren Folgen nod) 
Ipätere Geſchlechter krankten; und er läßt uns den Schluß ziehen: wie viel bejjer es 
wäre, die Menjchen änderten ihre Natıır und führten die Nevolutionen ftatt mit Blut 


1194 Janſſen in Franfreic. 


— mit Nojemwaller aus in langjamer Entwidelung ohne Ueberftürzung; wohl beraten 
von Kongreffen, Konzilen und Akademien der moralischen und polittichen Wiflenichaften. 

In der Vorrede, welche die franzöfiiche Ueberjegung von „Deutichland am Ende 
des Mittelalters“ einleitet, wird Janfien mit Taine vergleichen: diefelbe nur die That: 
jachen beachtende Abfaſſung, diejelbe Weile, die Ereigniffe zufammenzuftellen, um darans 
den leitenden Gedanken zu ziehen, diejelbe jorgfältige Behandlung der Beweismittel, 
diejelbe peinlich genaue Benugung der Quellen — bei Zaine kommt binzu eine 
glänzende Darftellungsgabe, eine bewundernswerte Selbſtändigkeit. Eine weitere 
bemerkenswerte Uebereinftimmung zwilchen den Werken dieſer Schriftfteller Der 
beiden großen nationalen Umwälzungen: fie Haben 15 und mehr Auflagen erreicht. 
Der Luther Janſſens Hat denjelben Eindrud gemacht, wie der Napoleon Taines. 
Ein Umstand untericheidet fie gleihwohl, — ganz abgejehen von den von Grund 
aus verjchiedenen Auffaflungen und Ueberzeugungen, in denen fie ” Werfe 
ichrieben — ein bemerfenswerter Unterfchied. Taine wird wegen diejer feiner Auf: 
faflungen von dem Reduerſtuhle des franzöſiſchen gejeßgebenden Körpers zur Nechenichaft 
gezogen, von den Apojteln der neuen gejellichaftlichen Ordnung nicht minder; er wird 
von den Jakobinern aus demfelben Grunde in Acht gethan, endlich von den Bonapartiften 
mit dem Bannfluche belegt: in ihm erjcheint ein überrafchend getreues Bild des 
vollendeten Gejchichtsichreiber8 Bayles, welcher „allen Parteien mißfallen muß, weil er 
feiner a ichmeichelt, keine jchont.” Janſſen dagegen hat das freudige Lob der einen, 
den Haß und Tadel der anderen erzielt; jchon diejer Umstand macht ihn der Barteilichkeit 
verdächtig. Es iſt ganz natürlich, daß er, der Katholif, die eine Partei mit Nachficht 
und Voreingenommenheit behandelt, bei der anderen das Schlimme unvermittelt jieht. 
Seinem Trauerjpiele des 16. Jahrhunderts fehlt der Chor, welcher zwiichen beiden 
Gegnern das Recht abwägt und den Schiedsſpruch giebt, der jedem die Schuld, aber 
aud) das Gute zufpricht, wie er es verdient. 

Ss. 





Eine Sahrf zur Sfephaniprogellion in Dfen 


bon 


N. Bad. 


Eine dunftige fühle Morgenluft ummehte ung, die wir, dem kommenden Tage 
und jeinen Greigniffen froher Erwartung voll entgegenjehend, durdy die noch jtille 
Kaijerftadt an der Donau in einem Fiaker mit Geraffel dahinrollten, das in den engen 
Straßen jtärfer wiederhallte, al3 mit der Morgenruhe der gemütlichen Wiener verträglid) 
jein mochte. Es ging in beflügelter Eile — denn der Wiener Fiaker hat es immer 
eilig — nad) dem Donaufanal, dem Landeplaß der Dampfboote zu, die ftromabwärts 
fahren. Dort war jchon gejchäftiges Leben und Treiben, doc) famen wir noch frühe 
genug, ung einen günftigen Pla auf dem Verdeck zu erobern, von dem aus wir Die 
nach uns kommenden Baflagiere mit dem behaglichen Gefühl der beati possidentes beim 
Einjteigen beobachten konnten. — 

Deutjche, Ungarn, Slawen, alles bunt gemiſcht. Das Boot war jo voll, daß 
faum noch ein Stehplaß zu gewinnen jchten, aber immer noch famen neue Scharen. 
Wir ſaßen ſchon wie die Häringe, da trat noch ein letztes Paar auf das Verded, Die 
Dame voran, fampfbereit die bejegten Plätze iüberblidend, hinter ihr der Gatte mit 
unentjchlojjenen Mienen. „Wenn die Herrichaften a bis! z'ſammenrucken thäten,“ beginnt 
fie in unverfälſchtem Wiener Dialekt, und ohne noch im mindeften den Erfolg 
—* Anrede abzuwarten, ſchließt ſie mit vernehmlicher Stimme „aber natürli, dös 
giebt's nöt.“ 

Allgemeines Gemurmel, hier läſſiges Umſchauen, da eine beredte Mimik, die 
Unmöglichkeit des Begehrens demonſtrierend. Ihr Mißtrauensvotum ſchien übrigens 
nur ein verſtärkter Appell an männliche Galanterie ſein zu ſollen, denn immer noch 
ſtand ſie unwillig heiſchend da. Zum Glück für ſie und uns alle erſpähte ich indeſſen 
einen mit Gepäckſtücken beladenen Sitz, den ich, von ſeiner Laſt befreiend, der Dame 
anbot, die ſich verſöhnt und gnädig nickend darauf niederließ. — Nun ſind, wir fertig, 
das feſthaltende Seil wird vom Üferpflock losgebunden und fliegt auf's Verdeck, „Die 
Majchine beginnt zu arbeiten, wir gleiten dahin am einjamen Prater mit jeinen noch 
von Nebel umſchleierten Bäumen. 

An der Einmündung des Kanals in die Donau, deren ſtolze Fluten in breitem 
Bette dahinfließen, erwartete uns das geräumige ſchmucke Donaudampfſchiff, auf das 


1196 Eine Fahrt zur Stephaniprogejlion in Ofen. 


wir num umzufteigen hatten. Die Mafje der Baflagiere, die auf dem kleinen Boote 
erdrücend war, verlor ſich faft auf diefem großen Verded und in den weiten Schiffs: 
räumen. Wir hielten eg mit denen, die oben blieben, um Licht, Luft und Landichaft 
zu genießen. Die Nebel begammen fich zu zerteilen, am blauen, nur leicht bewölfen 
Morgenhimmel ftrahlte die Sonne. Das herrliche Wahrzeichen Wiens, der ſchlank und 
fühn zum Himmel vagende Stefansturm, auf deſſen Spitze geftern ein waghaljiger 
Steyrer mit Einjegung jeines Lebens zu Ehren des faijerlichen Geburtstages eine 
Ihwarzgelbe Flagge aufgepflanzt hatte, ift längjt den Blicken entjchwunden. Auf dem 
linken Ufer des Stroms, welcher oft durch langgeftredte bewaldete Inſeln in einzelne, 
immer noch ftattliche Arme zerteilt wird, dehnt ſich weithin die Ebene, nur da und dort 
von niederent Buſchwerk belebt, während rechts gejchloffene, vielfah kahle Hügelreihen 
nahe herantreten. Die Größe der Verhältniſſe der Landſchaft und des majeſtätiſchen 
Stroms, mit dem der Gedanke kühn und frei in geträumte Fernen zieht, giebt der 
Seele eine Spannweite, welche fie in der Enge des Alltagslebens niemals findet. Jene 
Ebene zur Linken ift das Marchfeld. Eine Vögelichar fliegt eben aufrauſchend darüber 
hin; ſonſt unterbricht nichts die ernfte Stille, die auf diefer, vom Laufe der Yeiten 
unberührt jcheinenden Stätte großer Erinnerungen lagert. Nach dem Einfluß der 
Mard), von welcher das Feld feinen Namen trägt, ändert ſich der Charakter der Gegend. 
Am linken Ufer jteigen anfehnliche Berge auf, mit den jchönen Linien ihrer Kämme 
eine Zeitlang den Fluß begleitend. An ihren Hängen wächſt edler Wein. Wir find 
in Ungarn. Die rot:weiße Flagge, die feither am Worderteil unjeres Schiffes geflattert, 
ist herabgeholt und durd die grün-weiß-rote Trikolore erjegt. 

Nad) kurzer Fahrt innerhalb der neuen Grenze winkt von Ferne auf einem Hügel 
ein viertürmiger hochragender Bau, wie jid) bald auch dem unbewaffneten Auge zeigt, 
eine Ruine, welche durch ihre Lage weithin die Gegend beherricht. Es find die Reſte 
der Königsburg, zu deren Füßen, zum Teil an den Burghügel ſich anlehnend, die che: 
malige Königs: und Strönungsjtadt Preßburg anmutig Hingelagert ift, die weißen 
ftattlichen Häuſer überragt vom Dome, deſſen Turmkuppel eine Königskrone ziert. 
Seltiam ſchaut die Burgruine mit den zahlreichen ausgebrannten Fenſterhöhlen, durch 
die das Blau des Himmels freundlich jcheint, auf die Stadt herab und auf das Leben 
am Strom. Die Höhenzüge der fleinen Karpathen, die hinter der Stadt ſich erheben, 
geben mit ihren reichen Wäldern und dem frischen hellen Grün ihrer Neben, zwijchen 
das zahlreiche Kapellen, Villen und Weinberghäujer wie weiße Punkte eingejprengt find, 
dem Gejamtbild einen unvergleichlichen malerischen Neiz. Dazu kommt als Staffage 
das bunte Gewoge ländlicher, vornehmlich weiblicher, Trachten, welches ji) zum Ufer 
herandrängt, als das Schiff am Quai angelegt hat. — Noch iſt es nicht lange weiter 
ſtromabwärts gefahren, ſo iſt von dem Zauber dieſer reichen Landſchaſt nichts mehr zu 
erblicken. Die Berge ziehen ſich tief ins Innere des Landes; nur die Mauern und 
Türme der ausgebrannten Burg zeichnen ſich noch lange in ſcharfen Umriſſen vom 
weſtlichen Himmel ab. Ringsum iſt wieder flaches Land. Ueber grünen, unendlichen 
Weidegründen, welche zuweilen Wälder und freundliche, hinter Obſtbäumen und Gebüſch 
halbverſteckte Dörfer unterbrechen, dehnt ſich das Himmelsgewölbe, von dem die Sonne, 
ſich raſch der Mittagshöhe nähernd, ihre glühenden Strahlen herabſeudet. 

Obſchon wir keine Sammetkleider trugen, wie zwei ungariſche Damen mit hohen 
Strohhüten und weißen wallenden Schleiern, die mit uns eingeſtiegen waren, vielmehr 
nur leichte Sommerkleider, war doch die Hitze allmählich ſo drückend geworden, daß wir 
uns eutſchloſſen hätten, das Werded mit dem Salon zu vertaufchen, wenn wir ung 
irgend etwas vom Anblid der Gegend hätten gerne entgehen laſſen. Aber im diejer 
eintönigen, ftundenlang ſich dahinziehenden Uferlandichaft bieten ſich dem Auge, das das 
Schöne auch im Kleinen und Einzelnen zu jehen gelernt hat, unzählige feſſelnde Blide. 
Zahllofe Wafjervögel figen in dichten Stetten am Ufer, auf dem ſich mageres Gehölz 
binzieht, oder auf den Inſeln und Sandbänken, die aus dem Strombett aufragen. 


Eine Fahrt zur Stephaniprozeflion in Ofen. 1197 


Zuweilen ftehen vereinzelte Hütten nahe am Waſſer, von alten Weiden oder von Erlen: 
gebüjch bejchattet und zeigen in ihrem Innern das primitive Qeben einer kleinen Familie; 
dann ſieht man wieder ftattliche Herden großgehörnter Ninder, oder magere, aber feurige 
Nofje auf den jaftigen Uferwiejen, in malerische Gruppen aufgelöjt, weiden, oder zur 
Tränfe in die Fluten getrieben von dem Hirten, deſſen weißes weites Gewand mit der braunen 
Gefichtsfarbe, den rabenjchwarzen Augen und Haaren des Burjchen hübſch contraftiert. 
Im Strom jelbjt reiht fih Mühle an Mühle, die Einfürmigfeit der Wafjerfläche 
angenehm belebend. — Alle dieje Kleinen Bilder werden in dem Einerlei von Luft, 
Ebene und Wafjer, das fie ungiebt, wie in einem großen Rahmen gefaßt, welcher das 
Eigentümliche der Einzelericheinung reizvoll heraustreten läßt. 

Unter jolchen Naturbetrachtungen, die uns die Länge der Strede wejentlid) 
verfürzten, hatten wir ung immer mehr Komorn genähert, deſſen düſtere Feſtungs— 
wälle, vor denen im Befreiungstampf jo viel edles Blut geflofen, wir nun zu 
unjerer Rechten erblidten. Eine langgejtredte, mit den jchönjten alten Bäunten 
bejegte Inſel zieht fich noc zwiichen unjerem Schiffe und der Stadt hin, bis dieje ic) 
endlich offen dem Blide darbietet, mit ihren Kirchen und großen öffentlichen Gebäuden 
an einem Gelände am Ufer leicht emporfteigend. Nachdem auch hier zahlreiche Paſſagiere 
aus: und eingejtiegen, und das Schiff jeine Fahrt fortgejegt, erblidten wir am rechten 
Ufer wieder gelbliche Hügelketten, zuweilen vom Grün der Neben überjponnen. Die 
Mittagshöhe war indejjen ſchon Tange überjchritten, als der Ton der Glode die Fahrgälte 
zum Mittagsmahl rief, ein Ruf, dem auch unſere kleine Neijegejellichaft mit Vergnügen 
Folge leiftete. An zwei verjchiedenen Tafeln war das Eſſen ſerviert. Wir nahmen 
nad) einigem Schwanken an der Tafel erjten Ranges Plab, welchen mit ung eine 
Gejellichaft Wiener Bummler mit ihren Damen, Handlungsreijende verjchiedener Religion 
und ein alter Franzoſe teilten, welcher fein Wort Deutich, um fo mehr aber zu ejjen 
verftand. Wir hatten wenig Luft, unferen Tiſchgenoſſen Lejondere Aufmerkjamfeit zu 
Ichenfen, wurden indejien plößlich durch laute Worte, die ſich vom entgegengejegten Ende 
des Tijches vernehmen ließen, veranlaßt, unjere Blide dorthin zu wenden. Wir wurden 
num erit eines Gates gewahr, der während des Eſſens eingetreten jein mußte. Ein 
Mann von unverkennbar magyarifchem Typus, auf der hünenhaften Geftalt gin energiſcher 
Kopf mit Scharfgejchnittenen Zügen wandte fich eben in jcharfem Tone an jeinen Neben: 
jiger, der in jeiner äußeren Erjcheinung das reine Gegenftüd des erjteren war. Wir 
entnahmen aus dem nun folgenden Gejpräch, das die Blicke der ganzen Tiichgejellichaft 
auf die beiden Parteien Ienfte, daß der Ungar ſich durch Worte in feiner Nationalität 
gekränkt gefühlt hatte, welche der andere, einer von der erwähnten Wiener Gejellichaft, 
über Ungarn Hatte fallen laſſen. Die jcheinbar gleichgiltige Art, mit der der letere 
id) aus der Affaire zu ziehen juchte, entflammte den Zorn jeines Gegners auf's höchite, 
der, indem er fich jelbit als königlich ungarischer Honvedrittmeifter v. 3. voritellte, 
Iprühenden Blides den Namen des Wieners zu wiſſen verlangte, der fich nach einigem 
Zögern entichloß, ſich als Privatier N. zu nennen. Der Nittmeifter erhob ſich noch 
bleid; vor Erregung mit einem nicht mißzuverftehenden Hinweis auf „weiteres“, das er 
noch mit dem Wiener zu reden haben werde, und verlangte von dem Wirt, ihm jein 
Kouvert auf dem zweiten Tiſche aufzulegen, zu dem er algbald erhobenen Hauptes und 
dröhnenden Schrittes ſich begab, von den Gäften desjelben mit einer Miſchung von 
Scheu und Ehrfurcht empfangen. Die Würde und Entjchloffenheit, mit der der Mann 
auftrat, jtimmte unwillkürlich zu feinen Gunsten und ſelbſt unſere Nebenfiger, die 
Bekannten und Landsleute des Wiener Privatiers, welche für dieſen angelegentlic) 
Partei nahmen, konnten ſich offenbar dem perjönlichen Eindrud jeines Gegners nicht 
ganz entziehen. Wie im übrigen auch die Anwejenden jonft denken mochten, feiner 
wagte es fortan, den „Leu zu weden”, welcher bald darauf mit dem Stolze eines 
Siegers, das volle Kinn zuweilen auf den filbernen Knopf feines eleganten Rohrſtockes 
jtügend, auf dem Verded jeine Promenade machte, auf dem auch wir uns nad) Tiich) 

ieder zufammengefunden hatten. 


1198 Eine Fahrt zur Stephaniprozeilion in Ofen. 


Die Ferne, die fich jebt vor unferen Bliden oftwärts aufthat, mit dämmernden 
ſchönen Bergen, die wie eine feſte Riefenmauer zujammengerüct jchienen, als wollten fie 
dem gewaltigen Strome den Weg verjperren, zog aber jebt unjere ganze Aufmerkſamkeit 
auf ich, und auch die übrige Neijegejellichaft jammelte ji) bald zahlreidy oben, um den 
Blick auf die Schöne Landichaft zu genießen. Auf einem Hügel gewahrte man bald, 
vom Hintergrund der gewaltig anjteigenden Bergfette ſich abhebend, einen hellſchimmernden 
Kuppelbau von gewaltigen Formen, zu deſſen Füßen eine freundliche Stadt ſich ausbreitete. 
Man hätte glauben können, eine fata morgana zu erbliden, die fi) im Dunft auflöjen 
wirde, aber das Bild hielt ftand und wurde deutlicher und deutlicher. Zu langjam näherte fich 
übrigens nad) unjerem Dafürhalten das Dampfihiff dem Ziel unferer Blide, bis es 
endlich unmittelbar vor unjeren Augen lag — wir waren in Gran gelandet, dem Site 
des ungariichen PBrimas. Der Wunderbau, den wir nun aus nächiter Nähe betrachten 
konnten, ift die Domkirche. Der Hügel, auf dem er fich erhebt, ift durch jein Vorſpringen 
in den Fluß wie gejchaffen, ein bedeutendes weithin fichtbares Monument zu tragen. 
Durch) diefe Lage und durch den Kontrajt der jonnigheiteren freien und anmutigen 
jüdlihen Bauweije mit dem ernten Charakter der Gegend wird der Eindrud noch 
erhöht, mit dem feine mächtigen Formen auf den Beichauer wirken. 

Der Strom macht eben hier eine ftarfe Biegung; bald befinden wir uns inmitten 
der Berge, die wir von ferne ſich türmen ſahen. Schroff, oft fast jenkrecht fallen Die 
nacten Felſen von beiden Seiten gegen den Strom ab, den gigantische Bergesichatten 
in fühle Dämmerung büllen. Ueber diejer ernften Scenerie, die durch feine Wohnjtätte, 
durch feine bebaute Fläche unterbrochen wird, glänzte in unendlicher Weite der noch 
hell durchleuchtete Nachmittagshimmel. Auf der jchmalen Straße, die fi) dem Strome 
entlang zieht, jprengte ein einzelner Reiter dahin, deſſen weißes Gewand im Winde 
flatterte, jonft war fein menschliches Wejen zu erbliden außer den Paſſagieren des 
Schiffes, welche fi) bei der Stühle, die allmählid) aus den Waſſern aufzufteigen 
begann, ihrer jeit dem Morgen vergeffenen Ueberkleider erinnerten. 

Unter ihnen hatte ſich inzwiichen etwas Unerwartetes zugetragen. Während ich 
die Blicke über das Verded jchweifen ließ, bemerkte ic) nämlich zu meinem Erftaunen 
unjeren fampfluftigen Honvedrittmeijter in Iebhafter Unterhaltung mit einer Dame 
unferer Reijefompagnie, mit jeinem Stode da und dort auf die Gegend weilend. Wie 
fi) das angefnüpft, hatte ich nicht wahrgenommen, joviel war aber allem nad) Har, 
daß der Ungar ein „Ritter ohne Tadel“ war, der fich mit ebenfoviel artigem Anftanıd 
zu benehmen wußte, als er vorhin Schärfe gezeigt hatte. Dies ermutigte zu einer 
Annäherung unfererjeits, und ſchon nach kurzem Geſpräch waren wir nahezu Freunde 
mit dem Rittmeifter geworden, der als gemütvoller Mann von Wiffen und Welterfahrung 
ſich erwies, defjen anregende Gejpräche über Land und Volk Ungarns der Fahrt eine 
angenehme Würze gaben. 

Die Gegend, an der wir unter diefen Gejprächen vorüberfuhren, erinnert Tebhaft 
an intereflante Partien des Rheins, aber freilich fehlt ihr ein gut Teil des Neizes, 
welchen dort eine uralte Kultur mit ihren zahlreichen herrlichen Bauten über die Ufer 
verbreitet. Doc, auch dieje malerischjte Vartie der Donau entbehrt nicht ganz jenes 
eigenartigen Schmudes. Etwa eine Stunde unterhalb Gran ragt ein ftolger, in Ruinen 
zerfallener Bau auf einem Felſen des rechten Stromufers auf. An feinen mächtigen 
Trümmern, zwiſchen denen üppiges Buſchwerk zum Lichte hervordrängt, find noch ſchöne 
Proben romanijcher Rundbogenarditeftur erhalten. Wir haben die alte ungarische 
Königsfefte Vijegrad vor uns, im Mittelalter berühmt durch ihre kunftreichen Gärten, 
deren legte Spur freilich längft von Schutt begraben und von Waldesgrün überwuchert ift. 


Aber nun weicht die wilde Romantif der Flußufer reicheren Bergformen: links 
grüßt, in liebliches Weingelände gebettet, das jchöne große Dorf Groß-Maros — ein 
letztes überrajchendes Bild auf diefer an Naturjchönheiten jo reichen Donauftrede. 


Eine Fahrt zur Stephaniprozeifion in Dfen. 1199 


Zwiſchen niedrigem Hügelland fuhren wir weiter bis zur legten Station vor Peſt, 
der Landitadt Waipen. Die Sonne ftand jchon ziemlich tief im Weften, über den breiten 
Waſſerſpiegel wehte eine kühle Zugluft und eine falbe Röte mifchte ſich zwiſchen Die 
jtahlblauen, in Maſſen geteilten Wolfen, welche, ihre Formen bejtändig wechjelud, raſch 
am Himmel über uns hinzogen. — Die Wetterausfichten für den folgenden Tag waren 
mit einemmale zweifelhaft geworden. Wielleiht hat der falte Abendhimmel es mit 
verjchuldet, daß mir die Stadt Waiben viel Fälter und unfreundlicher erichten, als alle, 
an denen wir bisher vorübergefahren. Eine wahre Flut von Menjchen, namentlich der 
unteren Klafjen, beladen mit Gepäd aller Art, ergoß fih vom Landeplag auf unjer 
Schiff. Vor anderen diefer neuen Gäfte zog unjere Aufmerkjamfeit die Erſcheinung 
eines Prieſters auf fich, der um den Iangen, faft bis zu den Knöcheln reichenden 
ichwarzen Rod eine breite rotfarbene Binde trug, die ihm maleriich kleidete. Endlich 
war die Einfchiffung zu Ende, und unjer Schiff dampfte weiter ftromabwärts auf den 
grauen, in breiten Maſſen dahinziehenden Wogen. Die Gegend, die wir nun durchfuhren, 
erſchien mir ziemlich wenig anziehend, der Mangel des Sonnenlichts, das auf unjerer 
jeitherigen Fahrt jo klar ſich über das Gefilde gebreitet hatte, erhöhte noch dieſen Eindrud. 
Der gute Humor und das Erzählungstalent unjeres Nittmeifters, der und nicht mehr 
von der Seite wich, entjchädigte uns indefjen reichlich fir den mangelnden Reiz der 
Gegend, und im geipannten Laufchen entjchwand uns die Zeit wie im Fluge. Je näher 
wir dem Ziele unjerer Reife rückten, deſto dichter, wenn — unmerklich langſam, 
woben ſich die dünnen Schleier des Abends über die Landſchaft. Jetzt mußten wir 
ſchon ganz nahe der Hauptſtadt jein: Lichter, die ſich zu vervielfältigen ſchienen, tauchten 
da und dort am Ufer auf, Gebäude und Fabrikichlote wurden links fichtbar. Wir fuhren 
an einer Injel entlang, unjere Blide juchten die Dämmerung zu durchdringen, die ſchon 
nur mehr die Umrifje der Gegenftände erfeımen ließ. Die Lichter mehrten ſich, jtanden 
in Reihen dicht an den Ufern und jandten ihren Widerjchein in langen zerfließenden 
Bahnen in die Tiefe des dunklen Waſſers, einzelne jchwebten wie Leuchtwürmchen kreuz 
und quer darüber hin und neben und unter ihnen bewegten ſich dunfle Maſſen. Der 
Kapitän ftand unbeweglic auf der Kommandobrüde und erteilte durch's Sprachrohr 
nad) unten feine Befehle. Nun fuhren wir an einer zweiten, parfartig angelegten Inſel 
vorüber, deren Dichtes Gehölz das Geheimnisvolle ihres Innern undurddringlid) 
umſchloß. Dann pafjierten wir eine Brüde. Eine jtolze Häuferzeile, von der Perlen: 
ſchnur unzähliger Gasflammen eingefaßt, die fi) am linken Ufer weit binabzog, 
wurde fichtbar, während wir dem rechten Ufer zufteuerten, deſſen malerische Lage, 
trogdem die Nacht fich ſchon niederzujenken begann, deutlich erkennbar war. Won den 
Türmen einer großen Kirche, welche, dem Ufer nahe, die Häujermafjen überragt, tünte 
in dem Augenblid, als wir den Landungsplag in Ofen erreicht hatten, das Geläute 
jämtliher Gloden, welche den kommenden Feittag einläuteten, die Luft durchzitternd, 
über Stadt und Fluß, wie ein feierlicher Gruß die SFremdlinge empfangend. Nur 
wenige Paſſagiere jtiegen aus. Nachdem wir wieder abgejtoßen, durchkreuzte das Schiff 
den von Dutenden großer und Feiner Fahrzeuge belebten Strom, um dem jenjeitigen 
Ufer zuzuſteuern. 

Eine erwartungsvolle Erregung, die uns jchon bei der Annäherung an die Stadt 
ergriffen hatte, fteigerte fi). Das Dunkel, welches die beiden Städte, zwiſchen denen 
wir dahin fuhren, halb verhüllte, fügte ein Element der Spannung hinzu. Auf dem 
VBerded wurde es immer bewegte. Man rannte durcheinander, oder ftand jchon voll 
Ungebuld da neben (jeiner fahrenden Habe, zum Ausjteigen bereit. Der Nittmeifter, 
welcher eine Menge von Koffern mit fich führte, erklärte uns, warten zu müſſen, bis 
der legte Mann ans Land gejtiegen jei. Noch einmal fuhren wir unter einer gewaltigen 
Brüde hindurch, noch eine kurze Strede, dann hatte das Schiff am Duni angelegt. 
Ein kräftiges Händejchütteln mit unjerem neugewonnenen ungariichen Freund, einige 
Danfesworte — und der Strudel hatte uns von ihm geriffen. Wir ließen ung vom Strome 


1200 Eine Fahrt zur Stephaniprozefiion in Ofen. 


der Ausfteigenden treiben, uns feit zufammenhaltend. Wartende und Neugierige jtanden 
dichtgedrängt in zwei Neihen, durch; welche die Ankömmlinge Hindurchfluteten, im 
gedeckten Eingang. Als wir ins Freie getreten waren, jtürzten wie bungrige Wölfe 
Scharen halbgewachjener Burjchen ſich auf unjer Gepäd, es zuerjt uns, dann ſich 
einander aus den Händen reigend und im Trabe davonrennend, ſodaß wir notgedrungen 
dieje ſeltſame Jagd mitmachen mußten, wollten wir nicht Burjche und Gepäd im Dunkel 
der Nacht für immer verſchwinden jehen. 

Bald waren wir am Ziele, ein mächtiges Hotel am Strande, faſt ein ganzes 
Häuferquadrat füllend, nahm uns in jeine weiten prächtigen Räume. Nach einer kurzen 
Nat auf unjerem Zimmer betraten wir den Speijejaal, aus dem uns die Klänge einer 
Zigeunermufif verlocdend entgegentönten. Bon Wänden und Deden, von den Geſchirren, 
überallher jtrahlte ung blendender Glanz entgegen, als jollte den Gäſten durch dieſen 
reihen Apparat eindringlich zum Bewußtjein gebracht werden, daß fie noch innerhalb 
der Grenze der Civilifation jich befanden. Die untadelige Eleganz erjtredte ſich ſelbſt 
auf die Zigeuner, die wir im fernen Welten als Typen urjprünglichjter Natürlichkeit 
fennen. Waffiniert war hier alles bis auf die PBaprifajpeiien, die uns den an jolche 
Koſt nicht gewöhnten Gaumen wund brannten. 

Nachdem wir uns, noch frühe am Abend, in die vier Wände unjerer jtillen 
Zimmer zurüdgezogen hatten, hörten wir noch lange, bis uns die Müdigkeit in angenehme 
Träume zu lullen begann, die gedämpften Töne jener eigentümlichen, bald verzehrende 
hoffnungsloſe Sehnjucht, bald die Glut höchſter Leidenjchaft atmenden Mufik. 

Sch erwachte mit einer Friſche, mit welcher die Friſche des Morgens draußen 
Ihön zufammenftimmte. Mein erjter Blid fiel auf ein Stück des herrlichen glänzenden 
Stromes, auf dem ungezählte buntbewimpelte Boote freuzten, auf einem grünbewacjenen 
Hügel am jenfeitigen Ufer, auf ein darauf thronendes Schloß und auf einen hellen 
blauen Himmel über dem ganzen bezaubernden Bilde. Herrlicher konnte eine Lage wohl 
faum gedacht werden für den Sit eines küniglichen Hofes, der hier, wie befannt, einen 
Teil des Jahres zu refidieren pflegt. 

Wer hätte bei einem jolchen Anblid in den Federn bleiben mögen! Binnen einer 
Viertelftunde fanden wir uns alle auf der Straße und wandelten, mit vollen Zügen 
den Morgen und alles Schöne und Neue rings um uns genießend, dem Cafe zu. 
Der Rittmeifter hatte uns vor dem Scheiden unter anderem den Nat gegeben, den 
Morgenfaffee im „Kiost” am Franz-Joſefs-Quai einzunehmen. Diejem Rate waren 
wir jehr dankbar, denn eine gute Taſſe Kaffee im Anblick eines der jchönften Städte— 
bilder einzunehmen, ift ein Genuß von jeltener Art. Da lag nun alles, was wir 
gejtern faum in nebelhaften Umriſſen gejehen, im klaren jcharfen Morgenlicht vor dem 
Dlide ausgebreitet: flußabwärts abjchließend der felfige Koloß des Blodsberges mit der 
Citadelle, in bläulichen Duft gehüllt, auf dem Kamme des von Anlagen gezierten Hügels 
vor ung die Burg mit dem langen Neihen ihrer zahlreichen, von grünen Läden ein- 
gefahten Fenſter freundlich herabjchauend, und flußaufwärts daran anjchließend die 
Stadt Ofen mit ihren Gebäuden und Türmen, teils auf dem Hügel fortlaufend, teils 
zum Ufer ſich Hinabziehend. Zwijchen den Bäumen der Promenade, die vor uns lag, 
glänzte der Fluß herauf, zur Nechten von der Stettenbrücde überjpannt, welche die 
Gentren der beiden Schweiterjtädte verbindet. Lange fonnten wir ung nicht von dem 
Plage trennen, dann jchlenderten wir hinauf hinab am reichbelebten Quai mit jeinen 
Niejenpaläjten, durd die angrenzenden Straßen und wieder zurüd. Won dem immer 
mehr anjchwellenden Menjchenitrome ließen wir ung bi8 zur Kettenbrüde treiben, auf 
der eine wahre Bölferwanderung ſonntäglich gepugter Menfchen, alle von einem 
Gedanken getrieben, Ofen zupilgerte, das weibliche Element in hellen bunten Kleidern. 
Auf dem breiten Fahrweg zwilchen den beiden Fußſteigen reihte ſich Fuhrwerk an 
Fuhrwerk, von der feinen Karofje der Ariftofratie bis zu dem plumpen altmodijchen 
Gefährt des Heinen Landbeſitzers. Das Blau des Himmels Ieuchtete in einer Tiefe, 


Eine Fahrt zur Stephaniprozejlion in Ofen. 1201 


wie man fie nur im Süden zu finden erwartet, die Sonne entjendete jchon ihre 
jengenden Strahlen auf das von hellen Glanzlichtern und reichen Farbentönen überall 
befebte Bild. Das FFreudegefühl, das durch die Mafjen wie ein magnetischer Strom 
zog, hatte auch uns erfaßt, und mit Luft ftürgten wir uns in den Strudel. Ein dichter 
Schwarm jchob fich gleich Links jenjeits der Brüde gegen das Stationsgebäude der 
Drabtjeilbahn, die vom Fuße des Burghügels zur Höhe führt. 

Nachdem wir ung dort mit Mühe unſere Billets erfämpft, trug uns der Wagen 
mit faſt unheimlicher Schnelligkeit die fteile Höhe hinan. Nach wenigen Schritten 
befanden wir uns auf dem Georgsplatz und mitten im dichten Marktgewühl, das rings 
um das Heebidenfmal wogte, welches fich inmitten diejes VPlates erhebt. Die tumultu: 
ariichen Szenen, die fi) vor wenigen Wochen an die Dekorierung diejes Denkmals 
geknüpft und Belt in Aufruhr verjegt hatten, ſchienen gänzlich vergeffen und alles 
Intereſſe der Maſſen, die fich hier bewegten, vom Kaufen und Verkaufen, vom Warten 
der kommenden Dinge und von der Luft des feitlichen Tages in Anfpruch genommen 
zu jein. Neben einzelnen Buden gewahrte man vielfach; Tücher auf dem Boden aus: 
gebreitet, auf welchen die Verkäufer ihre Waren ausgelegt hatten, um die fich jchauend 
und feilichend das Landvolf drängte. 

Die ländlichen Schönen hatten ſich bejonders feſtlich geſchmückt. Mit dem 
farbigen Kopf- und Bujentuch, den kurzen gebaufchten, blendend weißen Hemdärmeln 
und dem kurzen faltigen Rod, unter dem fofette Stiefelchen hervorſchauend den anmutigen 
Gang ihrer Trägerin zeigten, zogen jie zumeijt die Blide auf fich, und bei nicht wenigen 
unter ihnen milderten wohlgebildete Gefichtszüge und Körperformen angenehm die Derb- 
heit der Erjcheinung. Daneben bildeten die Männer, mit hochanfgefrempten kleinen 
Hüten auf den gebräunten kecken Gefichtern da und dort Heine Gruppen, wobei die 
knappen, verjchnürten Jacken und Hoſen der Einen mit den weiten weißen Gewändern 
der andern einen malerischen Kontraſt bildeten. 

In der anjtogenden Hauptitraße, welche dem Kamm des Higels entlang zur Burg 
führt, wurde von Soldaten, welche den Tſchako mit frifchem Eichenlaub geschmückt 
hatten, Spaliere gebildet, zwijchen denen die berittenen Schußleute der Peſter Polizei, 
von einem martialiichen Offizier geführt, zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf der 
Feſtſtraße auf und abpatrouillierten. Die Haufen, die troßdem da und dort jich durch: 
zudrängen wußten, wurden mit echt öfterreichiicher Gemütlichkeit zurechtgewieſen; ſelbſt 
die hohe Polizei jtimmte das Feitgefühl milde. Hinter den Neihen der Soldaten jtanden 
dDichtgedrängte Maſſen bis hart an die Häufer, deren große Freitreppen einen trefflichen 
Ueberblid boten. Zwiſchen den Gruppen wandelten arme barfuß gehende Weiber und 
Mädchen mit riefigen Waflerfrügen und einem Glaſe, unaufhörlich ihr „Woſſa g'fälli, 
friſch Woſſa“ ausrufend. Uns lechzte der Gaumen, den die von den hellen Häufer- 
wänden zurücprallende Glut und der aufwirbelnde Staub ausgetrocdnet hatten, und 
dennod) fonnten wir uns im Bli auf die nur allgubunt zufammengewürfelte Menge, 
die dieſes Labjal reichlich genoß, nicht entjchließen, unjern Durft auf diefem Wege zu 
jtillen. Es mochte eine halbe Stunde vergangen jein, vielleicht aucd) mehr — in 
bejtändigem Schauen verging die Zeit troß der Hite im Flug — da wurde die Ordnung 
etwas ftraffer, die Offiziere gingen eifriger auf und ab, und das Publikum wurde mit 
etwas weniger Nachlicht Hinter die jchnurgerade Linie der Soldaten gedrängt — Alles 
blidte mit uns erwartungsvoll nad) der Stadtjeite, von welcher die Brozejfion herfommen 
mußte, welche, wie wir gehört hatten, zur Burg zog. 

Endlich erichien die Spike in unferem Gefichtsfeld, von einem Trupp der berittenen 
Schubmannjchaft geführt, und dann entrollte fich, Szene für Szene, begleitet von dem 
feierlichen Geläute jämtlicher Gloden, ein Schaujpiel, deſſen Farbenreiz jeder Beichreibung 
jpottet. Dem Sinnenfälligen des fatholiichen Kultus verband ſich hier farbenfreudiger 
Geſchmack und nationaler Stolz und verichmolz mit ihm zu einem berücenden Gejant- 
eindruc, deijen Einwirkung auch die nüchternfte Neflexion nicht ftand hielt. 


1202 Eine Fahrt zur Stephaniprozejlion in Ofen. 


Eine Abteilung Honvedinfanterie, Fräftige Leute in der anliegenden ungarischen 
Uniform mit rotem Tſchako und Beinkleid, dann Scharen von Jungfrauen, in zartes, 
duftiges Weiß gehiüllt, das in der grellen Sonne faft das Auge blendete, ſchwarzgekleidete 
Bruderjchaften und Männervereine, jede einzelne Gruppe, auch die der Nungfrauen, 
Fahnen, Kreuze oder Heiligenbilder fid) vorantragend, und inmitten die Geiftlichteit — 
die höchſten kirchlichen Würdenträger in goldgefticten buntjeidenen Gewändern unter 
Baldachinen gehend —, geleitet von jcharlachrot gefleideten Chorfnaben, eine Garde 
mittelalterlicher Hellebardiere in farmoifinroten verzierten Wämmſern mit Blechhauben, 
auf deren Spitze Adlerfedern aufgeftedt waren, die hohen Beamten und die Generalität 
in reicher Gala, und zuleßt, an Reichtum und Pracht alle Vorangegangenen über- 
jtrahlend, eine zahlreiche Gruppe von Magnaten und Edelleuten, in Pelze und Sammet 
von meijt dunklen Farbentönen gekleidet, bligend von Edeljteinen an den Agraffen Des 
Barett3, des Attila umd der Scheide des reichverzierten Krummjäbels, den jeder, Der 
flaumbärtige Jüngling wie der filberhaarige Greis, mit der Würde und dem Stolz 
eines Königs trägt — alle diefe Scharen zogen in endlojer Weihe, feierlich und in 
mufterhafter Ordnung in ihrem blendenden Glanz an uns vorüber. Als die Letzten vorbei 
waren, bahnten wir ung langjam durd) die Menge einen Weg bis da, wo gegenüber 
dem Eingang des weiten Burghofs eine Reihe von Bäumen erquidenden Schatten 
jpendete. Die militärische Eskorte ftellte fic) im Burghof auf, während die Teilnehmer 
der Prozeſſion die Burgfapelle betraten, in der ein Hochamt celebriert wurde, deſſen 
Ende wir unter den Scharen der Zujchauer abwarteten. Unjere Geduld wurde auf 
feine allzugroße Probe geftellt. Bald ftrömte alles unter den Klängen der Orgel, 
welche durch die geöffneten Pforten herausdrangen, aus der Kapelle heraus und im 
aufgelöfter Ordnung, teil3 zu Fuß, teils zu Wagen zur Stadt zurüd. Hierbei hatten 
wir Gelegenheit, die Edelleute mit etwas mehr Muße zu betrachten und den Heroismus 
zu bewundern, mit welchem die meijten unter der Glut einer faft tropischen Sonne 
Attilas von didjtem Pelze trugen — in majorem Sancti Stefani gloriam. 

Als ich nad) dem Anblick diejer Herrlichkeiten die Augen unter meiner nächjten 
Nachbarſchaft umherjchweifen ließ, wurde ich erſt gewahr, daß ich inmitten einer Gejell: 
Ichaft mic) befand, welche aus den düſterſten Winfeln und Höhlen Peſts ans Tageslicht 
gekommen zu fein jchien. Unwillkürlich juchte ich mit den Händen die Tajchen, mich 
zum Gehen wendend, als mic) aus der Nähe ein Fräftiger Steinwurf an das Hand: 
gelent traf. Durch diefen Zwijchenfall wurde die gehobene Stimmung, in der ich mich 
befand, etwas getrübt, indejjen begann ich bald das fleine Abenteuer als eine pikante 
Zugabe zum Feſt zu betrachten, zumal id) bei demjelben weiter feinen Schaden 
genommen hatte. 

Mit der zurückflutenden Menge gingen auch wir, num erjt die Hite und Ermüdung 
voll empfindend, zum Centrum zurüd, von dem wir ausgegangen waren, um und auf 
demjelben Wege wieder hinabbefördern zu laffen, der ung aufwärts gebracht hatte. 
Ein Pikett Stadtjoldaten unter ihrem oben bejchriebenen Führer, hielt dort unter einem 
Gedränge ohmegleichen Ordnung, jo gut es eben gehen wollte. Die Menge, die heute 
in Stunden heraufgefommen war, wollte num in Minuten abwärts befördert jein. Der 
BVolizeioffizier, auf feinem Roſſe hochaufgerichtet, gerötet von Hife und Anftrengung, 
fommandierte, fortwährend jeinen Stab, das Zeichen feiner Würde, ſchwingend, mit heijerer 
Stimme die ftürmende Menge. Damen freifchten, andere begannen in Ohnmacht zu 
fallen und dabei drängten die Polizisten unbarmherzig mit den Hinterteilen ihrer Pferde 
gegen das Publikum, daß fich jelbit dem geftrengen Chef mitten unter jeine Flüche ein 
Lächeln auf die Lippen drängte. Hier durchzufommen war augenſcheinlich unmöglid) 
und jo betraten wir den Weg durd) die Stadt, der uns durch ein altes tunnelartiges Thor 
ins Freie führte. Durch grüne Anlagen ging’8 in langen Windungen bergab. Unter 
und wand fich das gligernde Niefenband der Donau zwijchen den Ufern Hin und drüben 
lag Peit im Dunfte des Mittags mit feinen Häufermafjen weithin ſich dehnend. Das 


Eine Fahrt zur Stephaniprozeflion in Dfen. 1203 


Sedränge auf der Brücde beim Rückweg war womöglich noch größer als des Morgens, 
aber in den zahlreichen Verkehrsadern Peſts hatte ſich der Strom raſch zerteilt und nur 
noch einige Gruppen disfurierender Bauern waren in unjerer Nähe, als wir am Quai 
jtromabwärts gingen. Dußende von Karren waren dort entlang dem Ufer aufgejtellt, 
zwilchen denen in langen Reihen Taujende herrlicher Melonen aufgeftapelt waren, einen 
Wohlgerud) ausftrömend, welcher uns nod) eine Strede weit in die jtillen von der 
Mittagsjonne durchglühten Gafjen geleitete, die wir num einschlugen, um zwiſchen fühlen 
Mauern dem heißen Sommernadhmittag zu entrinnen. Doc jollte der Tag nicht 
beijchlofjen werden, ohne daß wir noch einen vollen Zug aus jeinem Freudebecher ung 
gejtatteten. Noch ehe die Sonne ganz hinter die große weftliche Ebene hinabgegangen 
war, führte uns ein Wagen durch Peſts Prachtitraße, dem Staatsmanı Andraffy zu 
Ehren benannt, zum Stadtwäldchen, deſſen hibjche Anlagen wir noch in der Dämmerung 
durchwandelten. Unweit davon feierten wir den Reſt des Abends unter dem dichten 
Yaubdad) eines Rejtaurationsgartens, in welchem die Geldarijtofratie Peſts, die Damen 
in hocheleganten Toiletten, fich zujammengefunden hatte. Während wir beim feurigen 
Ungarwein den rauſchenden Klängen der Militärmufit Laufchten, welche im Garten 
jpielte, glaubten wir einen Strom jenes gewaltigen Naturgefühls durd) unjere Nerven 
zuden zu fühlen, welches den Bewohner diejes wunderjamen Landes wie ein Fieber 
ergreift, wenn der zitternde Ton der Geige jein Ohr berührt. Ueber uns Teuchteten 
ſchon lange die Legionen flimmernder Sterne am nächtlichen Firmament, als wir unter 
den legten Gäjten den Garten verließen und durch die jtillen Straßen der weiten Stadt 
unjerem Quartiere zurollten. 

An der Donau war alles Leben wie erlojchen, nur die dunkle Mafje eines kleinen 
Boots, an dejien Spitze ein Licht fichtbar war, job ſich langjam flußaufwärts, die 
Gebäude der Burg ftanden jchiweigend und jchwarz auf dem Hügel drüben, als hätten 
fie niemals Farbenglanz, Freuden und Feſte gejehen. 


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Monafsſchau. 





Politik. 


L. Unſere Zeit iſt an plötzlichen Ueberraſchungen, an unerwarteten Ereigniſſen jo 
reich, wie feine andere je gewejen. Trotzdem tadelt der verwöhnte Zeitungslejer gar 
oft jeine Zeitung, daß fie „nichts Neues” gebracht. Er will und verlangt täglich 
pifante Neuigkeiten, wenn jein Blatt feine Zufriedenheit behalten fol. Der Monat 
Dktober hat jo mannigfache politische Ereignifle, die, wie die Bilder in einem Kaleidoſkop, 
in raſchem Wechiel auf einander folgten, gebracht, daß auch der ſenſationsluſtigſte 
Beitungslefer fein Genüge an feinem Blatt wird gefunden haben, Nur der Monats: 
Ichauer ift im Sorge, wie er diefen reichen politischen Stoff in einem furzen Monats- 
bericht unterbringen und recht würdigen joll. 

Das politische Intereſſe des verflofjenen Monats gipfelt zunächſt in den Kaijer- 
reifen, im den Bejuchen des deutſchen Kaiſers an dem ſüddeutſchen Höfen, in feinem 
Empfang in Wien, in feiner Romfahrt. Geben diefe Neijen und die begeisterte Aufnahme, 
die der Kaifer überall gefunden, doc nicht bloß uns, jondern auch ganz Europa nad) 
menschlichem Ermefjen die Gewähr, daß das Striegsbeil noch begraben bleibt und die 
Völker fich der Segnungen des Friedens auch ferner erfreuen können. 

Der Kaijer in Rom! Weld) eine Wendung der deutjchen Gejchichte durch Gottes 
Fügung! Wie viele Jahrhunderte find vergangen, in denen fein deutjcher Kaifer Rom 
betreten ! Und wie anders heute als ſonſt. Ehemals zog der Kaiſer mit ftattlichem 
Kriegsheere nad) Rom, um mit Waffengewalt den Römern und dem Papfte die römische 
Kaiſerkrone abzuftreiten, oder, als die Kaijermacht gebrochen, fie ihnen mit nicht immer 
des Kaiſers würdigen Mitteln abzuhandeln, um doc wenigstens den Schein zu retten. 
Wie es auch geichab, in beiden Fällen haßten die Römer und ihr Oberhaupt den fremden 
Eindringling und Barbaren. a fommt der Kaiſer nicht als Zwingherr und nicht 
als Bittender. Er begehrt nichts, wohl aber bringt er als treuer Verbündeter des 
geeinten Jtaliens den Weltfrieden, wenn Italien die Treue hält, wie der Kaiſer fie dem 
Könige gelobt. Darum Hat der Kaiſer auch in Nom eine jo begeifterte Aufnahme 
gefunden, wie noch fein Kaiſer vor ihm. Nicht nur die offizielle Welt hat ihm die 
hergebrachten offiziellen Ehren erwiejen, jondern das Volk ſelbſt hat ihm zugejubelt und 
ihn auf den Händen getragen. Berjuche, die von franzöfiicher Seite gemacht find, die 
Feſtfreude durch aufregende Plakate und Berteilung jchmähender Flugjchriften zu ſtören, 
haben feinen Erfolg — Freilich gilt der Jubel der Italiener und die Begeiſterung, 
die dem Kaiſer an allen Orten entgegengebracht iſt, nicht allein dem Gaſt ihres Königs, 


Monatsjchau. — Deutſchland. 1205 


wenn auch der Zauber jeiner Perſönlichkeit die Begeifterung erſt hell hat aufflammen 
lafien, jondern in ihm feiern fie gewifjermaßen ſich jelbit, ihre eigene nationale Einheit. 
Der Bejuch des Kaijers in Rom hat in der That nicht nur für die äußere, jondern 
and für die innere Politik Italiens eine hohe Bedeutung. Zum erjtenmal hat einer 
der Souveräne Der europätjchen Sroßmächte den König von Italien in jeiner Hauptftadt 
Rom bejucht. Darüber nicht zum wenigjten jubelt das römische Volk. Der Volksſtimme 
giebt Ausdruck die über der Engelsbrüde angebrachte Inſchrift: „Heil Wilhelm IT., 
dem deutſchen Statjer, in Rom, der unantajtbaren Hauptjtadt des stönigreiche 
Italien, dem erhabenen Gajte des Königs Humbert.“ Diejer Bolksftimme haben auch 
die Fürſten in ihren Toaſten Ausdruck verliehen. Freilich haben beide Herrſcher in 
warmen Worten zugleich der Heere gedacht und damit die Waffenbrüderſchaft vor aller 
Welt hervorgehoben — König Humbert pries als den „Schutz und Schirm Deutſchlands“ 
das deutjche und Kaiſer Wilheim feierte zur Befriedigung ſeiner Gaſtgeber „das ſo ſehr 
brave italieniſche Heer“ der entſcheidende und weltgeſchichtliche Satz in dieſen 
Wechſelreden iſt dennoch das Wort des Königs Humbert, daß er den Kaiſer empfange 
in ſeiner Reſidenz, „hier in der Hauptſtadt Italiens“, und daß Kaiſer Wilhelm 
antwortete mit dem Ausdruck ſeines Dankes für die erhebende Begrüßung, „die 
Ew. Majejtät Hauptſtadt mir hat zu teil werden laſſen.“ Daran ändert nichts der 
Umstand, daß auch der Bejuch des Ktaijers beim Bapfte, dem zweiten Souverän in Rom, 
nicht von Rom mit allen einem Sonverän gebührenden Ehren gemacht ift, ja daß die 
Zuvorfommenheit gegen den Vatikan joweit gegangen tft, daß der Kaiſer feinen Beſuch 
von dem Palajt feines bei dem Vatikan beglaubigten Gejandten v. Schloezer gemacht 
hat, im eigener von Berlin nachgefandter Galakutſche. Da das von den DOffiziöfen 
angekündigte „erhöhte Entgegenfommen” gegenüber dem Batifan nur hierin bejtanden 
hat, jo hätte auch, wenn fie jonft der Mühe lohnte, das evangelische Deutjchland gegen 
dieſe äußere Ehrenerweifung nicht allzuviel einzuwenden. Gerade diejer feierliche Beſuch 
und der glänzende Pomp, welcher im Batifan jelbjt zum Empfang des Kaiſers von dem 
Gefangenen des Vatikans entiwidelt worden ift, liefert den Nachweis, daß die Lage 
desjelben gar feine jo üble und daß ganz gut ein modus vivendi für die beiden in 
Nom refidierenden Souveräne zu finden ift, um mit einander auszufommen und fürjtliche 
Beſuche zu empfangen. Werden nad) dem einmal gegebenen Präcedenzfall fich die 
fatholijchen Fürſten, namentlich der Kaiſer von Dejterreich, der Pflicht der Höflichkeit 
noch entziehen können, ihrerjeits den König von Italien in jeiner Hauptitadt zu begrüßen? 
Die Zukunft wird es ausweiſen. Merkwürdig fontraftiert mit dem bei dem Empfang 
des Kaiſers von dem Papſt entwickelten Pomp, den Nobelgarden, Schweizergarden u. ſ. w. 
ſeine Klage in dem gleichzeitig veröffentlichten Antwortſchreiben an die in Fulda 
verſammelt geweſenen deutſchen Biſchöfe: „Ihr kennt und beklagt mit Recht mit ums 
die traurige und täglich bedrängter ſich geſtaltende Lage, zu welcher der Papſt, namentlich 
ſeit Eroberung der Stadt Rom, verurteilt iſt.“ Deshalb iſt jetzt, wenn jemals zeitgemäß 
eure feſte Abſicht, mit täglich wachſendem Eifer darnach zu ſtreben, daß den römiſchen 
Päpſten jene volle und unverſehrte Freiheit wiedergegeben werde, welche denſelben bei 
Ausübung ihres hocherhabenen Amtes ganz unentbehrlich ift.“ 

Der „Gefangene des Vatikans“ hat aber doc) jelbit gezeigt, daß ſeine Lage eine 
recht erträgliche iſt. Ueberhaupt ſcheinen an den Beſuch des Kaiſers im Vatikan allerlei 
Hoffnungen geknüpft geweſen zu ſein, denen das Auftreten des Kaiſers ein ſchnelles 
Ende bereitet hat. Auch eine zweiſtündige Audienz des Grafen Herbert Bismarck beim 
Papſte ſcheint ein für den päpſtlichen Stuhl nicht erfreuliches Ergebnis gehabt zu haben. 
Hierauf deuten wenigjtens die wechjelnden Meldungen der ultramontanen Blätter Hin 
und die energijche Erklärung der jonft jo jchweigjamen Münchener Nuntiatur, daß der 
Beſuch des KHaifers im Vatikan an der Nomfrage nichts geändert habe. Eine Folge 
der getäufchten Erwartungen find auch wohl die in allen fathofischen Ländern im 
Ausficht gejtellten oder angeregten Verhandlungen zu Gunften der Wiederberjtellung der 

Allg. koni. Monatsjcrijt 1888. XI. 17 





1206 Monatsſchau. — Deutjchland. 


weltlichen Macht des Papftes und vielleicht auch die Wahlerlajje des Erzbiihofs von 
Köln und des Biichofs von Minfter zu den preußischen Wahlen. Nah Rom jahen 
wir Evangelischen unſeren Kaifer nur mit geteiltem Herzen ziehen, weil nad) vielfachen 
Vorgängen die Bejorgnis nicht ungerechtfertigt fchien — die aber erfreuliher Weije 
ungerechtfertigt gewwejen, — da die preußische Kirchenpofitit weitere Zugeltändniffe zu 
Gunſten des römischen Stuhles erfordern werde. Dagegen war bei allen Deutjchen 
eine einmütige Freude über die Reife des Kailer® nad Wien. In anderer Form, 
als früher, hat Deutjchland feine alte Oftmark wieder gewonnen. Der Sprud) Des 
alten „Rundjchauers” der „Kreuzzeitung“: „Defterreih Preußen Hand in Band, 
Deutjchland jonft aus Rand und Band”, Hat in jchönerer und von ihm nicht geahnter 
Weiſe jeine Erfüllung gefunden. Das Einvernehmen der beiden Kaijer ijt ein treues 
Abbild der Beziehungen beider Kulturreihe zu einander. Der Bund, den Kaifer 
Wilhelm I. geſchloſſen, wird, wie jein Enkel hervorhob, „in dem Gefühle bewährter, 
unverbrüchlicher Freundſchaft“ fortbeftehen zum Segen von ganz Europa. Die Be: 
zeichnung der „Sameradichaft”, jenes eigentümlichen militairischen Bandes, das Den 
feften Kitt der Armeen bildet, ift ausgedehnt auf die beiden verbiündeten Heere. 

Mit Recht gingen den Reifen nad) Wien und Rom die Beſuche des Kaijers an 
den jüddeutjchen Höfen voran. Nur die Bındesgenofjenjchaft des Staates ift gejucht 
und gejchäbt, die auch Macht in das Bündnis mitbringt. Aus dem jubelnden Empfang, 
den der Kaiſer an den Fürftenhöfen und in den Völkern Süddeutſchlauds gefunden, hat 
das Ausland notwendigerweile die Weberzeugung gewonnen, daß die Zeit deutjcher 
Berriffenheit umd Uneinigfeit vorüber ift, daß das Kaijerreich feite Wurzeln in allen 
Herzen geichlagen und daß in Zeiten der Not und Gefahr Deutjchlands Fürjten und 
Völker gleich einmütig zum Kaiſer ftehen werden, wie der Kaiſer zu ihnen. 

In dem reichen Kranz der ſüddeutſchen Kaijertage it ein bejonders erfreuliches 
Bild die Ausjöhnung des Haujes Naſſau-Oranien mit Preußen, wie jie durd) 
die Begegnung des Kaijes mit dem Herzog Adolf am 29. September vollzogen ift. 

Herzog Adolf hat im Jahre 1866 bis zum Friedensſchluß treu zu Dejterreich 
gehalten, dem er fich verbindet Hatte, und blieb jtandhaft, obwohl er wußte, daß er 
mit anderem, jchnellen Entichluffe ungleich) befiere Bedingungen von Preußen haben 
fonnte. In deuticher Treue wollte er im Unglück nicht von der Seite weichen, auf 
welche er ſich nad) jeiner Meberzeugung gejtellt hatte. Nachdem er aber ein Jahr jpäter 
jeinen Frieden mit der Krone Preußen gemacht, hielt er eben jo diefen Frieden und 
machte nie den geringjten Verſuch, die neue Entwidelung Deutichlands etwa mit fremder 
Hülfe anzutaften. Hat er auch perjünliche Beziehungen zum preußiichen Königshauſe 
bei Lebzeiten des Kaifers Wilhelm nicht wieder aufzunehmen vermocht, jo gab er 
dod) feine Eimwilligung zu der Vermählung der Prinzeifin Hilda mit dem Erbgroß: 
herzog von Baden. 

Die Haltung des Herzogs hat ihm aucd) bereits Frucht getragen in dem ent: 
ſchiedenen Eintreten der deutſchen Politik für das luremburgiiche Thronrecht des Haujes 
Naſſau-Oranien, wie es in den Wiener Verträgen von 1815, in den Hausgejegen des 
Haujes Nafjau:Dranien, welche in jene Verträge aufgenommen find, in der luxem— 
burgiichen Verfaſſung und endlich in den jpäteren internationalen Abmachungen begründet 
ift. Deutjchland hat zu Anfang diefes Sommers Gelegenheit genommen, fich mit voller 
Beitinimtheit zu Gunſten diejes Erbrechtes, welches von anderer Seite und zu unten 
anderer Bejtrebungen angefochten ward, auszuiprechen. Der Bejuch, welchen hi 
Adolf dem Kaijer Wilhelm Il. in Mainau abjtattete, hat auch im den deutjchgefinnten 
Streifen des Großherzogtums Luxemburg den freudigiten Wiederhall gefunden. Mit 
der Begegnung des künftigen Großherzogs mit dem Kaiſer ift der ruhige Uebergang 
der luremburgiichen Krone von der jüngeren Linie Oranien auf die nafjauijche Linie 
vollfonmen gejichert, da nicht weiter anzunehmen it, daß etwa Frankreich die luxem— 
burgiiche Thronfolge zum Anlaß eines Konflifts nehmen wird. König Wilhelm II. 


Monatsihau. — Deutſchland. 1207 


bereitet überdies jelbjt die Luxemburger darauf vor, daß fie dereinft von einem deutjchen 
Fürſten regiert werden würden. So entließ er vor einigen Jahren das Minifterium 
Blohhaujen, dejien Haupt, Baron v. Blodhaujen, den deutjchen Einfluß im Groß: 
herzogtum verdrängen wollte. Die Partei des Herrn v. Blochhaufen äußerte * 
belgiſch-franzöſiſche Sympathien. Mit dem nunmehr berufenen Staatsminifter Dr. Eyſchen 
tritt ein Mann in die Regierung ein, welcher in Berlin persona gratissima iſt. Dr. 
Eyichen iſt jahrelang der diplomatische Vertreter Yuremburgs in Berlin gewejen und 
zeichnet fich durch eine ausgejprochene deutichfreundliche Gefinnung aus. 


In Stuttgart und in München lauert freilich noch manch alter Groll. Daß 
dieje Stimmung fich während der Kaiſerreiſe aber nicht zu äußern gewagt, daß fein 
Mißklang irgend welcher Art die großartige Einmütigfeit gejtört hat, mit der das Volk 
dem Kaijer huldigte, darin liegt der ſchönſte Beweis, daß die unberechtigt partifulariftiiche 
Denkweiſe und Gefinnung, die über der Stammesgemeinjschaft die große Gemeinschaft 
des deutjchen Volkes vergißt, ich in den Schmollwinfel zurüdgezogen hat. 

Es ijt dies um jo erfreulicher, als gegenüber den Feitberichten aus Süddeutjchland 
die Grörterungen, weldye durch die Veröffentlihung des Tagebuchs Kaijer 
Friedrichs hervorgerufen wurden, einen häßlichen Mißton bildeten. In der That 
fonnte es nur überaus peinlich berühren, wenn in dem Augenblid, wo Kaiſer Wilhelnt 
nad) Siddeutjchland aufbrach, jenes Tagebud) Dinge hervorzog, die an den jüddeutichen 
Höfen höchſt unangenehm berühren mußten und wenn dann, als der Kaiſer auf dem 
Wege nad) Wien war, der Bericht des Kronprinzen über die Schlacht von Königgrätz 
in den Blättern verbreitet wurde, um die Habsburger daran zu erinnern, daß der Sohn 
ihres Beſiegers ihr Gaft jei. 

Daß die Veröffentlichung des Tagebuches bejtimmt, mindeftens aber geeignet jet, 
einen Riß im die deutjche Einheit zu bringen, jcheint die Anficht des Reichskanzlers 
gewejen zu jein. Nur jo erklärt es fi, daß die Enthüllung ihn jofort veranlaßte, 
jeine ländliche Stille in Friedrichsruh zu unterbrechen, zum Kaiſer zu eilen und von 
demjelben die Veröffentlichung jeines befannten jcharfen Immediatberichtes zu erbitten 
und zu erlangen. Enthüllt das Tagebuch Staatsgeheimnilje, jo enthiillt der Immediat— 
bericht jolche nicht weniger. Unbedenklich iſt es jicher nicht, das Verhältnis Kaijer 
Wilhelm I. zu jeinem Sohn, nacddem die Gräber beider ſich erjt vor Monden 
geichlofjen, öffentlich in jolcher Weile zu jchildern. Aber die Gegenwart gehört nicht 
den Toten, jondern den Lebendigen. Wenn Dinge gejagt worden, Die allerdings 
geeignet find, das monarchiſche Gefühl im Volke tief zu verlegen, jo trifft ohne Zweifel 
die jchwere Verantwortung hierfür in erjter Linie den, der die Notwendigkeit zu ant: 
worten gejchaffen hat, nicht den, der in einer Zwangslage zu gewagten Mitteln gegriffen 
hat. Wer auch nur einigen Einblid in die geheime Gejchichte der Regierung der 
99 Tage gehabt hat, wer weiß, wie nahe unſer Staatsjchiff dem Scheitern gewejen ift, 
der wird mit ung gewiß gern annehmen, daß bei Erjtattung des Immediatberichtes 
Gründe maßgebend waren, die die Deffentlichkeit nicht kennt und die diejelbe vielleicht 
jpäter in einem ganz anderen Lichte erjcheinen laſſen werden, als dies bei der Be- 
leuchtung der Tageszeitungen gegenwärtig der Fall it. 

Die eingeleitete Unterfuchung hat ergeben, da der Geh. Nat Prof. Dr. Geffden 
bedauerlicherweile der Herausgeber des Tagebucjes ift. Er befindet ſich nunmehr in 
Anklagezuftand wegen des jogenannten diplomatiichen Landesverrats 8 92 Nr. 1 des 
Strafgejegbuches, ein Verbrechen, das bereit3 verwirkt ift, wenn jemand „vorſätzlich 
Staatsgeheimniffe oder Aktenſtücke oder Nachrichten, von denen er weiß, daß ihre 
Geheimhaltung einer anderen Regierung gegenüber für das Wohl des deutſchen Reiches 
oder eines Bundesjtaates erforderlich it, öffentlich bekannt macht.“ Die Strafe ijt 
Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, bei Annahme mildernder Umſtände Feſtungshaft nicht 
unter 6 Monaten. 


4 


1208 Monatsſchau. — Deutſchland. 


Die Unterſuchung wird ergeben, wann und durch wen Geh. Rat Geffcken in den 
Beſitz des Tagebuches gelangt iſt, welches nur handſchriftlich vorhanden geweſen ſein 
ſoll, und vielleicht auch, welche Beweggründe ihn geleitet haben. Nur in dem einen 
Fall würde ſeine Handlungsweiſe eine Entſchuldigung finden können, wenn der Kaiſer 
Friedrich jelbft ihm das Tagebuch) zur VBeröffentlihung übergeben hätte. Der dem 
Baterlande dadurch zugefügte Schaden würde freilich derjelbe bleiben. 

Ueber Geffckens Motive und politische Stellung iſt in den Tagesblättern viel hin 
und ber gejchrieben und geftritten worden. Am zutreffenditen dürfte wohl fein, daß er 
fi) hierbei von dem Gedanken hat leiten laſſen, jeinem Faijerlichen Freunde ein Ehren- 
mal zu errichten, das zugleich beſtimmt jein jollte, die jtaatsmännischen Fähigkeiten und 
Reiftungen des Fürften Bismard zu verdunfeln. In jeinem Eifer, dies Biel zu 
erreichen, hat der jonft jo feinfinnige und mit jcharfem Fritiichen Verſtande begabte 
Nechtsgelehrte fich fortreißen laffen, ohne die Folgen zu bedenfen, welche eine joldye 
unerhörte Veröffentlichung unfehlbar nad) fid) ziehen mußte. 

Die Verſuche, Geffcken irgend einer Partei an die Rockſchöße zu hängen, find 
nicht zu billigen. Am weiteften hierin gingen jelbjtverjtändlich die Blätter der goldenen 
Mittelmäßigfeit, allen voran die Berliner „Post“, welche Geffden als ein „Produkt 
der Hammerftein » Windthorft'ichen Beſtrebungen“ Hinjtellte, um damit die „Extrem— 
Konjervativen” (das neueſte Schlagwortmittel mittelparteiliher Wahlagitation) unter die 
Neichsfeinde zu werfen. 

Die „Kreuzzeitung“ ift die Antwort nicht jchuldig geblieben. Ebenjowenig iſt 
aber die urjprüngliche Vermutung begründet, als ob die freifinnige Partei als ſolche 
hinter der Veröffentlichung ftände umd der Auszug aus dem Tagebuche zu gunften 
diejer Partei tendenziös gemacht jei. Dieſe Vermutung mußte ſich zunächſt jedem auf: 
"drängen, der jah, wie die freifinnige Partei, ohne Rückſicht auf das Vaterland und 
den toten Kaiſer die beflagenswerte Indiskretion nur im Partei- und Wahlinterejie 
ausnutzte und zu einer Haupt: und Staatsaftien aufbanjchte. 

In Wahrheit hat ſich Geffcken nie mit irgend einer Partei ſolidariſch verbunden 
gefühlt, vielmehr ftet3 eine Haltung eingenommen, die ihm freie Hand ließ. Seiner 
Preßthätigkeit ift das ebenjo jehr zu ftatten gekommen, als es jeinen Verſuchen, ins 
Barlament zu gelangen, im Wege gejtanden hat. In den Blättern Eonnte er fic) 
jeine Gegenftände auswählen, er jchrieb jowohl in fonjervativen — aud) unfere Zeit: 
Ichrift zählte ihn zeitweile zum Mitarbeiter — als liberalen Blättern. Wenn er aber 
al3 Kandidat für den Neicystag auftrat, mußte er Farbe bekennen, und da er aus 
jeinen Anfichten nie ein Hehl machte, jo erregte er nach allen Seiten hin Anftoß und 
fonnte jein Ziel nie erreichen. 

Die Wahlen zum preußijchen Abgeordnetenhaus, wenigftens die ent« 
jcheidenden Wahlmännerwahlen, werden vollzogen jein, wenn dies Heft in die Hände 
der Lejer gelangt. Das Vorherjagen ift immer ein mißliches Ding, am mißlichſten bei 
Wahlen, auf deren Ausfall unberechenbare Einflüffe häufig im letzten Augenblick nod) 
ändernd und enticheidend einwirken. Wir wollen uns daher auch hier alles Prophezeiens 
enthalten und aus der Wahlbewegung nur einige bemerkenswerte Züge, die fiir die 
Entwidelung des Barteivejens und für die Stellung der Parteien zu der preußiichen 
Regierung von Bedeutung find, hervorheben. 

Der Wahlfampf des legten Monats — das it das Wichtigſte — hat ſich nicht 
zu einem Kampf gegen die Freijinnigen gejtaltet, jondern zu einem Kampf gegen die 
Ktonfjervativen. Bald im Bunde mit den Freifinnigen, bald Hand in Hand mit den 
Treifonjervativen gehen die Nationalliberalen in vielen Wahlkreiſen gegen den Beſitz— 
jtand der Ktonjervativen vor. Nur in wenigen Wahlkreiſen haben fich die Stonjervativen 
aufgerafft, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Während der ganzen Wahlbewegung 
waren die Nationalliberalen das verhätjchelte Schoffind der Negierung, denen nur ganz 
leije auf die Finger geflopft wurde, wenn fie gar zu imtim mit dem fFreifinn wurden, 


Monatsjchau. — Deutſchland. 1209 


während die Konſervativen ernſtlich zur Ordnung gerufen wurden, ſobald fie irgendwo 
unerlaubte Selbſtändigkeitsgelüſte zeigten. Anzuerkennen iſt freilich, daß die Tonart der 
Offiziöſen im allgemeinen gegen die Konſervativen eine anſtändigere geworden iſt, nad): 
dem fie, ſoweit erjichtfich einen Allerhöchiten Befehl gemäß, mit einer dahin gehenden 
Weiſung verjehen worden find. 

Unter der Hand aber jcheint der ganze Regierungseinfluß, ſoweit derjelbe fich von 
Berlin aus dirigieren läßt, für die Nationalliberafen in die Wagſchale geworfen zu 
jein. Wo das aber nicht angängig geweſen ift, da ijt doch wenigstens auf Befeitigung 
der unabhängigen jelbitändigen Elemente innerhalb der Fonjervativen Partei und auf 
Erjegung durch unbedingt gouvernementale Abgeordnete Hingewirkt. Nur aus dieſem 
Vorgehen der Regierung läßt es ſich erklären, daß drei anerfannte Führer der 
Konjervativen, die troß aller Willfährigkeit gegen die Regierung doch auf Selbftändigkeit 
nicht ganz verzichten, andererjeits aber aud) nicht wohl in einen ausgejprochenen Gegen- 
jaß zur Regierung geraten wollen, auf eine Wiederwahl verzichtet haben, nämlich) 
v. Minnigerode, Juſtizrat Grimm und v. Rauchhaupt. Lebterer hat fich aller 
dings noch im letzten Augenblid zur Annahme einer Wahl, aber in einem anderen 
Wahlkreiſe entjchloffen, während jein bisheriger Wahlkreis den Freikonſervativen hat 
überlafjen werden müſſen. 

Man fragt ji, aus welchen Gründen die preußiſche Negierung die Konfervativen 
jo arg befehdet, obgleich diejelben doc) in allen entjcheidenden Fragen jchließlich immer 
auf Seiten der Negierung geftanden haben, während den Nationalliberafeu dies gar 
nicht eingefallen ift. Man wird auf dieje Frage nur die eine Antwort finden können, 
daß der leitende Staatsmann nad) dem Grundjag: divide et impera verfährt in der 
Dejorgnis, daß eine ftarfe konſervative Partei unter Führung feſter unabhängiger 
Charaktere in Zukunft in umbequemer Weile jelbftändig vorgehen und einen Rüdhalt in 
der befannten Gefinnung des Monarchen finden möchte, der alle politischen Vorgänge 
vom Standpunkt der chriftlichen Weltanſchauung aus beurteilt und jelbjt ein ausgeprägter 
Charakter ift. 

Ihre ärgften Feinde find freilich die Konſervativen jelbft. Sie zählen in ihren 
Neihen, namentlich in Preußen, nicht genügend unabhängige, mit einem weiten freien 
Blid verjehene Männer, die nur die Sache und nichts anderes im Auge haben, und ftatt 
deſſen gar zu viele Männer, die nur Opportunitätspofitit zu treiben willen. Nur fo 
erklärt es fi), daß ohne jeden erfichtlichen Grund Wahlfreije ganz ohne Kanıpf den 
Nationallberalen und SFreilonfervativen überlaffen find, daß die „SKonjervative 
Korreipondenz” Monate lang gegen die eigene Preſſe fchreiben und der Führer 
der Partei im Neichstage auf dem Eonjervativen PBarteitage in Halle ſich zu der 
Aeußerung hat hinreißen laſſen, daß die Konjervativen mit dem Fürften Bismard gehen 
müßten, wenn jie aucd hin und wieder, wie die Gegner jagen, einen „Tritt“ 
befommen. Jetzt joll freilich dieje Aeußerung nur „icherzhaft gemeint” geweſen fein, 
aber wir fürchten, daß des Herzens wahre Meinung in ihr wiederflingt, wenn aud) die 
Form des Ausdruds im Eifer der Nede vielleicht unüberlegt gewejen ift. Herr v. 
Helldorf hat weiter geklagt über Mangel un Einmütigkeit, an Opferwilligfeit, an Eifer 
und Fleiß in der Eonfervativen Partei. Diejer Vorwurf ift in vielen Fällen begründet, 
wie jeder zugeftehen muß, der gezwungen gewejen ift, in der konjervativen Wahlarbeit 
mitzuwirken. Aber wir fünnen die Berliner Parteileitung von der Mitſchuld nicht frei: 
Iprechen. Es wäre nicht joweit gekommen, wenn diejelbe ſich charakterfefter gezeigt 
und ſich nicht in die Opportunitätspolitit der „Poſt“ und Genoffen Hineinziehen ließe. 
Ein mitteldeutiches Fonjervatives Blatt ſchreibt hierüber und giebt damit der Meinung 
weiter Kreiſe Ausdrud: 

„Die Parteileitung hätte es nicht jo weit fommen laſſen dürfen, wie es jebt gefommen 
ift. Aber wie konnte fie etwas thun, da fie durchaus nicht gewillt ift, den „rechten 
Flügel“ der Partei zu jtärken, ſich mit diefem unter allen Umſtänden jolidariich zu 


1210 Monatsſchau. — Deutichland. 


erklären. Die Varteileitung iſt längſt nicht mehr getragen von dem Vertrauen des 
Kernes der konſervativen Partei. Herr von Helldorf hat neulich darüber geklagt, daß 
es nicht gelinge, die für die Centralleitung nötigen 30 000 M. aufzubringen. Ja, wer 
wird denn dieſer Centralleitung etwas geben? Die „Conſ. Corr.“, welche ſo viel Geld 
verbraucht, hat viel mehr geſchadet, als genützt, und wenn ſie in letzter Zeit etwas 
beſſer war, als früher, jo kommt dieſe Beſſerung zu ſpät. Wenn die Eonjervative 
Fraktion nie einen Zweifel darüber gelaffen hätte, daß fie mit Männern wie Stöder, 
Hammerftein, Minnigerode ftehe und falle, jo würde man dieſe Männer nicht an Die 
Wand zu drüden gewagt haben.” 


Daraus folgt nun aber nicht, daß die fonfervative Bartei fi ohne Grund in 
Dppofition zum Fürften Bismard stellen jollte, oder al3 ob wir meinten, daß der Fürft 
ein Parteimann fein oder wieder werden fünnte. Aber jeder wird jo behandelt, wie er 
es verdient. Nur die Partei findet Achtung, die fich jelbjt achtet. In jener Aeußerung 
über die Annehmbarkeit von „Tritten“, vermilfen wir die erforderliche Achtung vor fid) 
jelbft und der eigenen Meinung. Daß wir jede faktiöfe Oppofition der Fonjervativen 
Bartei gegen den Reichskanzler und gegen die Negierung verwerfen, brauchen wir nicht 
zu verfichern. Wir halten einen Gegenſatz zwiſchen der Partei und der Regierung 
immer für eine bedauerliche Thatjache. Iſt ein jolcher vorhanden, jo wird die Ber: 
tretung desjelben im Parlament jowohl, als in der Preſſe, fich immer in ſolchen Formen 
zu Eleiden haben, daß dadurch die Achtung vor der Regierung nicht verlegt wird. 
Einer im allgemeinen konſervativ gerichteten Regierung gegenüber jollte überhaupt Die 
fonjervative Partei, wenn die Regierung auf Durchbringung einer Mafregel Gewicht 
legt, oder wenn die Regierung bereits engagiert ift, nur dann opponieren, wenn und 
in jofern die Aufgabe eines Prinzips verlangt wird, auf dem die konſervative Partei 
beruht. In vielen Fällen kann ohnehin die Regierung, von der hohen Warte aus, auf 
der fie ſteht, Perſonen und Dinge leichter und bejjer beurteilen, als dies den einzelnen 
Abgeordneten oder auch der einzelnen Partei möglich ift. Mit diefer Anjchauung über 
das wünjchenswerte Verhältnis der Eonjervativen Partei zur Regierung, wie - wir fie 
auch bei den Wahlen zum Ausdruck gebracht jehen möchten, befinden wir uns in volliter 
Uebereinftimmung mit dem Fürften Bismarck jelbt. 


Gelegentlich der Verhandlungen über den hannoverjchen Provinzialfonds führte 
der Fürſt Bismard am 5. Februar 1867 im preußiichen Abgeordnetenhauje gegenüber 
den fonjervativen Abgeordneten v. Brauchitſch aus: „Der Herr Abgeordnete jcheint 
mid) injofern nicht verjtanden zu haben, als hätte id) verlangt, ich erwarte und fordre 
von der Eonjervativen Partei, daß fie unbedingt der Negierung folge. Ich habe in 
meiner Nede ausdrücklich; bemerkt, ich verlange das nicht, ich kann es nicht verlangen, 
wo große Prinzipien fich jcheiden, und wo die Negierung von den großen Prinzipien, 
auf denen die Stellung der fonjervativen Partei beruht, fich entfernen jollte. — ‘Ferner 
iſt e8 etwas anderes, wenn es ſich um Dinge handelt, wo nicht ein fait accompli vor: 
handen ift; aber two die Negierung engagiert iſt, wo die Sache nicht mehr res integra 
ift, wo jie vor der Wahl nicht mehr res integra war, da habe ich, jo lange ich auf 
jenen Bänfen der fonjervativen Partei ſaß, niemals der Regierung Verlegenheiten zu 
bereiten gejucht.“ 

Im bejonderen führte jodann der Fürſt bezüglich feines Verhaltens als 
fonjervativer Abgeordneter gegenüber dem Eonjervativen Minifterium Manteuffel noch 
aus: „Hätte es mir eine Forderung gejtellt zur Aufgabe von gewiſſen Prinzipien, die 
ic) unzweifelhaft und klar als große Grumdideen meiner Barteiftellung anerkannte, jo 
wirde ich gegen das Meinifterium gejtimmt haben, und das Meinifterium war darauf 
vollfommen vorbereitet und es hat gewußt, da es jo fommen wiirde; beiſpielsweiſe 
habe ich noch, als ic) ſchon im Dienjte war, im Herrenhauſe gegen die Grundſteuer 
gejtimmt, ohne daß dadurch meine Beziehungen zu meinem Allergnädigiten Herrn und zu 


Monatsihau. — Deutichland. 1211 


dem Minifterium alteriert wurden, weil fie wußten, daß ich nad) der Konjequenz meiner 
geiamten prinzipiellen Barteijtellung nicht anders handeln konnte.“ 

Wir möchten wünjchen, daß diefe Anſchauungen über das Verhältnis der konſer— 
vativen Partei zur Regierung Gemeingut der ganzen Partei würde, 


Neben dem Kampf der Mittelparteien und Offiziöjen gegen die Konjervativen oder, 
wie fie jelbft jagen, gegen die „Extrem-Konſervativen“ und einzelne bejtimmte Männer 
der fonjervativen Partei, wie Hofprediger Stöder, Freiherr von Hammerjtein und 
von Rauchhaupt, geht das Beſtreben der Mittelparteien — das ijt das zweite 
charakteriftiiche Merkmal des diesmaligen Wahltampfes — dahin, ſich mit der Perjon 
des Kaiſers zu deden und den Kaiſer zum Schildhalter ihrer alle politischen und kirchlichen 
Prinzipien verwijchenden Beitrebungen zu machen. Dem Grafen Douglas, einem in 
weiteren Kreijen unbekannten Abgeordneten, der aber behauptet, das bejondere Vertrauen 
des Kaijers zu genießen, war es vorbehalten, zum Gegenftand jeiner Wahlrede den 
Kaifer ſelbſt als „Kartellfaifer” zu machen, ihn hinzuftellen als Schußpatron mittel: 
parteilicher Bourgoispolitif. Wenn ein Mann, wie Graf Douglas, wirflih von dem 
Monarchen mit jeinem Vertrauen beehrt wurde, jo iſt doch dabei jchwerlich Voraus: 
jegung gewejen, daß er über jolche vertrauliche Mitteilungen Reden halten und Artikel 
Ichreiben werde. Hält der Kaiſer es für erforderlich, feine perfünliche Willensmeinung 
jeinem Volk fund zu geben, jo wird er fich jchwerlic den Grafen Douglas oder irgend 
einen anderen Abgeordneten zu feinen Dollmeticher wählen, jondern er wird ſich jelbjt 
direkt in Form einer Botjchaft oder in anderer geeigneter Weije an fein Volk wenden. 
Nur dies ijt die der Würde des Monarchen entiprechende Weile, fi) zu äußern. Wenn 
aber Graf Douglas und alle Offiziöfen nach ihm, ſich bemühen, den Kaijer auf ein 
mittelparteiliches Programm feitzulegen, jo verlegt dies Verfahren das monarchiſche 
Gefühl und giebt dem Freifinn, wie die Thatjachen es bewiejen haben, nur neue 
Handhaben. Wenn jene Männer, z.B. Hofprediger Stöder, auf deren Koften Graf 
Douglas feine Enthüllungen machte, mit gleichen Indisfretionen antworteten, wohin 
jollte das führen ? 


Auch die Gentrumspartei ift mit einem langen Wahlaufruf hervorgetreten. 
Derjelbe charakterifiert fich furz dahin, daß das Centrum jeine Kampfesftellung bei: 
behalten will und bereit ijt, jederzeit nach Bedürfnis wieder zur Dffenfive überzugehen. 
Etwas anderes war auch nicht zu erwarten. Charakteriſtiſch fiir das gefteigerte Selbft- 
gefühl der Katholifen und für die Stellung ihrer Kirche in Preußen ift aber das Ein- 
greifen des Erzbiichofs von Köln und des Biſchofs von Miünfter in die Wahlbewegung 
durch Erlaß von Hirtenbriefen, welche von allen Kanzeln verlejen werden jollen. 

Allen Gläubigen wird die Beteiligung an den Wahlen dringend ans Herz gelegt, 
dem Klerus wird aufgegeben, fich nicht allein jelbft bei den Wahlen zu beteiligen, jondern 
auch, wo diejes erforderlich ift, mit Ruhe und Umficht, durch Wort und Beiſpiel auf 
die Wahl von Abgeordneten hinzuwirken, welche Gott fürchten, den König ehren und 
für die Windthorft’ichen Schulanträge ftimmen. 

Dieſe Wahlfundgebung der Biſchöfe ift nichts anderes als eine Mobilmachung 
des ganzen Klerus für den Wahltampf. Der jchönen Nedewendungen entkleidet, find 
dieſe Hirtenbriefe nur ein Befehl an die gejamte Geiftlichkeit, ihren ganzen Einfluß in 
den Dienjt der ultramontanen Wahlpolitif zu ftellen. Wie wirden die Offiziöfen zur 
Blütezeit des Kulturfampfes gegen dieje Hirtenbriefe gewettert haben. Heute jchweigen 
fie entweder ganz oder fie juchen, wie die „Nordd. Allg. Ztg.”, an der Hand päpit- 
licher Ausiprüche fie zu fommentieren. Da das fatholifche Wolf aber nicht aus der 
offiziöjen, jondern aus der klerikalen Preſſe jeine Belehrungen empfängt, jo werden dieſe 
Bemühungen der Offiziöjen wohl nur auf einen Heiterfeitserfolg rechnen können. 

Uebrigens wird hoffentlich das Centrum nad) der großartigen Wahlbeeinflufjung der 
Biichöfe, der gegenüber die Wahlbeeinfluffung der Regierung, Beamten, Arbeitgeber und 


1212 Monatsfhau. — Deuticland. — Auswärtige Lage. 


jonftigen Perfonen, welche nad) bekannten Anträgen defjelben bei unerlaubter Wahlbeein. 
fluſſung mit Schwerer Kriminalftrafe befegt werden jollten, ein wahres Kinderſpiel ift, den 
Reichstag mit ähnlichen Anträgen in Zukunft verjchonen. Aber wer weiß? Ja Bauer, 
das ift ganz was anderes! wird es danı wohl heihen. 


Auf dem folonialen Gebiet hat der Dftober nur Hiobsnachrichten gebradıt. 
An der ganzen unter der Oberhoheit des Sultans von Sanfibar ftehenden Küſte, an 
der die deutiche oſtafrikaniſche Gejellichaft die Zollverwaltung übernommen hat oder hat 
übernehmen wollen, ift ein Aufftand ausgebrochen. Die Beamten der Gejellichaft find 
teil ermordet, teils verjagt. Selbſt den Landungstruppen der deutſchen Kriegsichiffe 
ift Widerftand geleiftet worden. Auch auf die unter Verwaltung der engliichen 
afrifanischen Gejellichaft ftehenden SKüftenftriche Hat ſich der Aufſtand verbreitet. Ob 
man es nur mit einer Nevolte der Kiüftenbevölferung zu thun hat oder mit einer weit: 
gehenden gegen die Europäer gerichteten innerafrifanischen Bewegung, darüber fehlen 
noch ſichere Nachrichten. 

An der Küſte ſind die eigentlichen Leiter der Bewegung die arabiſchen Walis, 
die alte Beamten des Sultans von Sanſibar die der Kontrole und dem Oberbefehl 
von Europäern unterſtellt werden und im Weigerungsfall Haus und Amt aufgeben 
jollten. Ob diefe aber gewagt haben würden, ſich mit bewaffneter Hand zu widerſetzen, 
wenn fie fich nicht eines Nückhaltes an einer innerafrifanischen Bewegung, an den 
Sklavenhändfern, an dem zweifelhaften Tippu Tip und an dem Mahdi bewußt geweſen 
wären, jollte man kaum glauben. Daß bei diefer Sachlage die Aufgabe der deutjchen 
Emin-Erpedition eine jehr viel wichtigere, aber auch eine jehr viel jchwierigere geworden 
ift, liegt auf der Hand. Ohne einen ftarfen Rüdhalt an der Küfte wird fie nicht 
vordringen können. 


Zur Bekämpfung des Aufftandes jcheint ein gemeinjames Vorgehen von Deutſch— 
land und England geplant zu werden. Ob und imvieweit ein Eingreifen des Reiches 
in Ausficht fteht, darüber laſſen ſich nur Vermutungen aufftellen. Da aber offiziös 
ſowohl die afrifanische Geſellſchaft als auch der Sultan für unfähig erklärt find, die 
Ruhe wiederherzuftellen, jo scheint damit angedeutet zu jein, daß das Neid an der 
Küfte für Ruhe jorgen werde. Im feinen großen folonialpolitiichen Neden im Reichs— 
tage hat der Reichskanzler ausdrücdlich den Schuß des Neiches für Angriffe aus der 
unmittelbaren Nachbarichaft den gedeihenden kaufmänniſchen Unternehmungen verheiken. 
Die Wiederherftellung der Ruhe an der Küfte liegt aljo noch innerhalb des für Die 
Thätigkeit des Reiches auf dem folonialen Gebiet vom Kanzler gezogenen Grenze. 

* * 


* 

Die auswärtige Lage haben wir bereits bei Beſprechung der Kaiſerreiſen geſtreift. 
Das enge Zuſammenſtehen des Dreibundes, das durch dieſelben von Neuem bewieſen 
iſt, hat natürlich das Mißfallen der europäiſchen Störenfriede erregt. Die ruſſiſchen 
Blätter,beginnen wieder in dem denkbar gehäſſigſten Ton gegen Deutſchland und Oeſterreich zu 
Ichreiben. In Wien haben abermalige ruſſiſche Truppenverſchiebungen an der öfterreichijchen 
Grenze Aufmerkjamkeit erregt und halten mit Recht unjere öfterreichifchen Verbündeten 
wacjam. In Rußland wird die nunmehr ausgejprochene Ehejcheidung des Königs 
Milan von Serbien und der Königin Natalie erneut böjes Blut machen. Der ruffiiche 
Stolz wird nicht nur durch diefe gegen den Willen der aus Rußland ftanımenden 
Königin durchgeführte Scheidung verlegt, jondern durch ihre Entfernung aus Serbien 
verliert dort Rußland aud) feine befte Stüße. Zur Bekämpfung des üfterreichtichen 
hierdurch fteigenden Einfluffes wird vorausfichtlid von ruffiicher Seite in verftärktem 
Maßſtabe unter der Hand gegen König Milan gewühlt und das gefränfte Recht der 
Königin zum Aushängejchild benußt werden. Nur aus dieſen Gründen Haben Die 
ehelichen Zwiſtigkeiten des jerbiichen Künigspaares, die jchon üffentliches Wergernis 
erregt haben, die Aufmerkſamkeit weiterer politischer Kreije auf ſich gezogen. 


Monatsſchau. — Defterreih. — Frankreich. 1213 


In Dejterreich hat ſich bald nad) Abreiſe unſeres Kaifers von Wien ein teil: 
weijer Meinifterwechjel vollzogen. Die ausjchlaggebenden Gründe zu demjelben find 
nicht befannt geworden, und der Minifterrvechjel iſt gerade in umgekehrter Richtung 
erfolgt, al3 die allgemeine Meinung annahm. Nach dieſer jollte die Stellung des 
Grafen Taaffe erjchüttert jein und ward eine Verſchiebung des Schwerpunftes des 
Minifteriums nach links erwartet. Allgemein aufgefallen war auch, daß bei dem reichen 
Drdensjegen, der den öſterreich-ungariſchen Staatsmännern bei Anweſenheit nunſeres 
Kaijers zu teil geworden, nur Graf Taaffe, das Haupt des Ktabinets, leer ausgegangen 
war. Ueber die Urjache diefer allerdings auffälligen Thatſache, welche in den Berliner 
offiziöfen Blättern mit vollftändigem Stillichweigen übergangen ift, kann man ſich nur 
in Mutmaßungen ergehen. Bielleicht wird man aber der Wahrheit mit der Annahme 
nahefommen, daß die Zurücddrängung des deutichen und die Begünftigung des czechiſchen 
Elementes doch in Berlin Mißfallen erregt hat, dem mit der Uebergehung des Grafen 
Taaffe bei der Ordensverleihung Ausdrud verliehen ift. Hierin wirde allerdings ein 
Eingriff in die inneren öfterreichiichen Verhältniſſe liegen. 

Der gegen alles Erwarten erfolgte Entſchluß des üfterreihiichen Monarchen, Die 
Stellung des Grafen Taaffe durdy Ernennung des Ritters von Zaleski zum Miniſter 
ohne Portefenille und namentlich des Grafen Schönborn zum Yuftizminifter zu ver: 
jtärfen, charakterifierte fich alsdann als eine Zurückweiſung der deutjcherjeits verfuchten 
Beeinflufjung der inneröfterreichiichen VBerhältniffe. Graf Schönborn iſt fein Ezeche, 
jondern ein Deutſcher. Politiſch gilt er als feudal ultramontan und den altczechiichen 
Beitrebungen zur Herjtellung Böhmens als unabhängiges Kronland zugeneigt. 

Bon reichsdentichem Eonjervativen Standpunkte aus kann man die weitere Ent- 
widelung der öſterreichiſchen Verhältniffe nur mit getheiltem Herzen und mit großer 
Sorge betrachten. Eine deutjche und konjervative Partei fehlt dort gänzlich. Die uns 
der Nationalität nad) naheftehende Partei ift die Deutſch-Liberale. Diefe ift aber jtarf 
links gerichtet und fteht vollftändig unter jüdiſchem Einfluß. Sie wird weniger nad) 
deutichen, als nach den dem internationalen Judentum pafjenden Gefichtspunkten ge: 
feitet. Ebenjo ift bis auf das Vaterland, die deutjche Preſſe ganz in den Händen der 
Juden. Das Vaterland wiederum und der demjelben nahejtchende deutiche Lichtenftein: 
Club it vollftändig ultramontan. Endlich die Czechen und Polen, erjtere wiederum 
mit Ausnahme der radikalen Jungezechen, vertreten zwar im allgemeinen eine politijche 
Anſchauung, die das Beſtehende erhalten will, find aber erbitterte Feinde unferer Nationalität. 
Es giebt zwar unter der deutichen Ariftofratie Oeſterreichs Männer, die aud) eine deutiche und 
in unjerem Sinne fonjervative Denkweiſe haben. Dieje find aber ohne Fühlung mit einander 
und ohne Einfluß. Manche von diejen jchließen fich den Altezechen an, um durd ihre 
Vereinigung mit der herrichenden Partei fich Geltung zu verjchaffen und für ihre 
Nationalität zu retten, was zu retten ift. Der Wirrwarr ift, wie man fieht, jo groß, 
daß er faum größer gedacht werden kann. Kaiſer Franz Joſef verdient alle Bewunderung, 
daß er das öjterreichiiche Staatsichiff noch immer unverjehrt durch alle dieje Klippen 
und Untiefen geführt hat. Sollte die Hoffnung der Ezechen, die Krönung des Kaiſers 
in Prag mit der Wenzelfrone, in Erfüllung gehen, jo möge Defterreihs guter Stern 
den damit beginnenden Trialismus eben jo gut ertragen, wie bisher den Dualismus! 

In Frankreich hat die Mipftimmung über die Kaiferreifen ſich Luft gemacht 
durch Die Zertrümmerung des Schildes des deutichen Konfuls in Havre, für welche aber 
volljtändige Genugthuung jeitens der Behörden geleiftet ift, und durd) einen üblen 
Empfang, der dem König von Würtemberg bei feiner Ankunft in Nizza mit Pfeifen 
und Ziſchen bereitet if. Daß aber auch in den offiziellen Kreiſen Frankreichs die 
Revandjegelüfte gegen Deutjchland und der Haß gegen das ihm verbündete Italien alles 
andere überwiegt und die unvereinbarſten Gegenſätze vereint, das beweift von neuem, 
wenn es überhaupt noch eines Beweijes bedürfte, daß die Regierung der glaubenslofen 
Republit der Bropaganda in Rom angezeigt hat, daß fie die von Erispi den italienischen 


1214 Monatsihau. — Frankreich. 


Schulen und Miffionen im Orient entzogenen Unterftügungen zahlen werde. Der Zorn 
über die verhaften Nachbarn überwiegt doch noch die feindjelige Gefinnung gegen die Kirche. 
Für Fremde wird Frankreich je mehr und mehr ein unmirtliches Land. Das 
Spionengejeß, die Ausbrüche der Volkswut gegen einzelne Neijende, die Unmöglichkeit für 
Deutiche in Frankreich Necht zu juchen, weil fein Advokat ihre Vertretung vor Gericht über- 
nehmen will, jcheint ung dies aber mehr zu beweijen, als das am 9. Oktober vom Präfidenten 
der Nepublit unterzeichnete Dekret bezüglich der in Frankreich wohnenden Fremden, 
welches allgemeines Aufjehen erregt hat. Stände dies Dekret im üffenlichen Leben 
allein da, erhielte es nicht durch die in Frankreich beftehende Fremdenhetze ein ganz 
bejonderes Gepräge, jo wäre gegen die Beitimmungen defjelben wohl nicht viel einzu: 
wenden. Aehnliche Beftimmungen zur Kontrole der Fremden beftehen in den meiften 
Ländern und find auch nicht qut in einem civilifierten Lande zu entbehren, in denen 
eine Weberflutung mit fremden Arbeitern unter Umftänden ein wirtichaftliches Uebel 
eriten Ranges werden kann, gegen die im Intereſſe der einheimischen Bevölkerung jeitens 
der Negierung eingefchritten werden muß. Freilich läßt ſich das Fremdendekret politiih 
ausnugen. Zunächſt aber jcheinen durch dasjelbe nicht ſowohl die Deutjchen, als Die 
italienischen und belgischen Arbeiter betroffen zu jein, deren Betriebjamfeit der 
franzöfiichen Arbeiterbevölferung ſchon längft ein Dorn im Auge gewejen ilt. 

Die Kammern find in diefem Monat wieder zujammengetreten und damit hat Der 
übliche Kampf um Sein oder Nichtjein des Minifteriums begonnen. Das Kabinet Floquet 
hat jein Verjprechen eingelöft und den Entwurf zur Verfaflungsrevifion, die um ihrer jelbit 
wegen eigentlich niemand will, vorgelegt. Das MWejentliche des Entwurfs ijt Die 
Abſicht, eine durch das allgemeine Stimmrecht direkt gewählte Deputiertenfammer zu 
ſchaffen, die fich alle zwei Jahre durch Neuwahl des Drittel ihrer Mitglieder erneuert, 
wodurch es möglich wird, das Auflöjungs- und Vertagungsredht aufzuheben. Dazu 
fommt ein durch das allgemeine Stimmrecht in 2 Abftufungen (indirekt) nach Alter und 
Wählbarfeit betreffenden Spezialbeftimmungen gewählter Senat, welcher Kontrole über 
alle Gejege hat und ſich alle zwei Jahre zu denfelben Zeiten wie die Deputiertenfanmer 
drittelweile erneuert. 

Die gemäßigt republifanifchen und opportuniftiichen Journale waren ganz entjeßt 
über das Revifionsprojeft, vor allem die „Republique Françaiſe“, welche den Entwurf 
eine Entwaffnung der Republif nannte. Das radifale Meinijterium (jo meint das leitende 
Blatt der Gemäßigten) enthaupte den Wräfidenten der Republik, indem es ihn des 
Auflöjungsrechtes und des Nechtes, an die Nation zu appelieren, des Vertagungsrechtes 
und des Nechtes, den Staatsrat zu ernennen, beraube; es enthaupte den Senat, indem 
es ihm das Auflöfungsrecht nehme, und es enthaupte die Kammer, indem es fie der 
Dntegrität ihrer gegenwärtigen legislativen Macht beraube. Der Präfident der Republik 
finfe zu einer nußlojen und Lächerlichen Unterjchriftmafchine und der Senat zu einer 
Regijtratur-Verfammlung herab. Die große An der republifanischen Deputierten 
war ficher gleicher Anficht wie die „Republique Francaije”, aber nur ein Eleiner Teil 
wagte es, die Konjequenzen diefer Anficht zu ziehen. Denn als Floquet die Bertrauens: 
frage ftellte, blieb er in der Mehrheit. Ein großer Teil der Republikaner jcheute den 
Anſchluß an die Monarchiſten, die natürlich gegen Floquet jtimmten, und die Radifalen 
hatten den Gewinn davon. Damit ift vorläufig die Stellung von FFloquet wieder 
befejtigt. Sein Entwurf ift in die Kommilfion gegangen. Unter den gegenwärtigen 
parlamentarischen Verhältniſſen rechnet niemand auf eine Erledigung der Revifion; erit 
die allgemeinen Kammerwahlen des fommenden Jahres jollen die Enticheidung herbei: 
führen. Ob aber bis dahin die Verhältniffe jchon gereift find für eine heiljame 
Wandlung in den Geſchicken Frankreichs, muß dahingeftellt bleiben. Gewiß ift nur, 
daß alle Verſuche, dem liberalen Regime neues Leben einzuhauchen und ihm  jpeziell 
die Fähigkeit beizubringen, ein ftabile Regierung zu erzeugen, fläglid) wie bisher 
icheitern werden. 


Monatsihau. — Wirtichaftäpolitif. 1215 


Wirtſchaftspolitik. 


Die Brodpreisfrage beginnt bereits brennend zu werden, und was wir 
gelegentlich früherer Berührung der Schutzzollfrage und ihrer Folgerungen ausgeſprochen 
haben, daß ohne gleichzeitige Eimwirfungen und Maßnahmen, welche der Spekulation 
bez. Agiotage für die notwendigften Lebensmittel den Boden thunlichjt entzieht, trifft 
bereits ein. In Deutſchland beginnt die Demagogie die „Brodteuerung durch Die 
Schußzölle” bereits bei den Wahlen und zu jonftiger Aufregung der Bevölkerung aus: 
zubeuten, und in Frankreich haben Unruhen ftattgefunden, weil die Bäder ihre Defen 
falt geftellt haben, indem fie einerjeits die von den Behörden aufgeftellte Brodtare für 
zu niedrig erklärten, andererjeits die Löhne der Gehülfen um fajt zwanzig Prozent 
herabjegten und Diejelben dadurch zur Arbeitseinftellung zwangen. Es ijt bereits 
gefordert worden, um die Ernährungsgefahr, welche dadurch entftanden ift, einzudämmen, 
die Defen jeitens der Gemeinden mit Bejchlag zu belegen und damit auf Gemeinde: 
rechnung Brod zu baden. Dieſe Mafregeln würden gar nicht nötig fein, wenn man 
nicht jahrtaufendelange Lehren in den Wind geichlagen und die Brod: und Fleiſch— 
verjorgung der Bevölkerung rückſichtslos der Spekulation preisgegeben hätte. Der 
Einwand der Bäder, daß fie bei dem von den Gemeinden feitgeftellten Tarpreis, obgleich 
derjelbe nicht niedrig bemeffen erjcheint, nicht beftehen könnten, ift nicht ganz zu über: 
gehen. Seitdem die Bäderei und Mebgerei freigegeben und die Taxen bejeitigt worden, 
it dieſe Freigebung jofort fapitalifiert worden. Die damaligen Bäderei- und Fleiſcherei— 
bejiger wurden durch die Bejeitigung der Tare jofort Kapitaliften und Nentiers; ſie 
verkauften einfach ihre Gejchäfte und die Kapitalbelaftung, welche, jpäter gelegentlid) 
weiterer Verkäufe noch mehr gefteigert, daraus für das Gewerbe entjtand, ijt natürlid) 
für Diejenigen Gewerbetreibenden, welche neuerdings gekauft und vielleicht mit erheblichen 
Schulden begonnen haben, jehr drücend, jo daß fie der Wiedererrichtung der Brod— 
und Fleiſchtaxe mit Schreden entgegenjehen. Es wird auch kaum angehen, wenigitens 
in den großen Städten, denjelben Maßſtab für die Brodtaxe anzulegen wie früher, wo 
der Brodpreis dem Roggenpreis gleich war, da man Bad: und Mahllohn als einerjeits 
durch die Kleie, andererjeits durch den Gewichtsgewinn infolge des Waflerzujahes für 
gededt annahm — wobei ſich befanntlic) die Bäder ganz wohl befanden. indes war 
es zu jener Zeit nicht üblich, daß die Backwaren jeitens der Bäder dem Käufer 
in wurden, jondern fie wurden abgeholt, während das jet übliche Zubringen 
elbjtverjtändfich die Koften der VBäder erhöht. Immerhin aber muß das Gemeinwejen 
endlich wieder Anftrengungen machen, die Lebensnotdurft von der Wucherei zu befreien. 
Es muß geſetzlich feitgeftellt werden, daß der Brodpreis, und zwar für Brod, das 
höchitens dreißig Prozent Waſſer enthalten darf, nicht mehr als fünfundzwanzig Prozent 
über dem NRoggenpreis jein darf. Nur auf diefe Weiſe ift eine zweckentſprechende 
Wirkſamkeit der Schußzölle möglich. Selbjtverftändlih find ähnliche Beftimmungen 
auch hinsichtlich des gewöhnlichen Weißgebäckes zu treffen. Die Einwände der Bäcker 
find umſomehr zurückzuweiſen, als diejelben einen wejentlichen Zeil ihrer Schwierig: 
keiten fich jelbjt zuziehen, indem fie nicht ſelbſt mahlen, fondern das Mehl kaufen. 
Dazu find fie auch heute noch nicht genötigt.*) Es liegt aber gerade hier ein Punkt, 
wo der Hebel gegen den Wucher angejegt werden muß. Wenn wir z. B. die jüngite 
Preisbewegung in Frankfurt a. M., einer Stadt, wo ſich Getreidebau und Getreide: 
einfuhr außerordentlich nahe berühren, kurz betrachten, jo werden wir dies leicht erfennen. 
E3 waren dort notiert 1888er 


*) Anm. db. Red. Wir geben die Anfichten unjeres Herrn Referenten als Material zum 
Nachdenken wieder; die Lejer der Monatsichrift mögen jelbft hier und da ihr Fragezeichen machen. 


1216 Monatsſchau. — Wirtichaftspo litik. 


1. März: 2. Juli: 3. Septbr.: 24. Septbr.: 
Roggen, biefiger: 13%; 1434; 14 14— "2; 14?4,—15 13. 
ne ruſſiſcher: 134 14; 131 — u; 16 '4— "a. 
Noggenmehl 0: 21a —221a,;, 23—2314,; 25-26; 25 Ve —26 "je. 
pr On: 19a — 2012; 221% 224, 23—24; 231 —24 ja. 
— 1: 17—18; 18-19; 21-22; 21 221. 
.; 2: 14—15; 15%e—16'.; 1712 —181e;  18—19. 


Während aljo Roggen vom März bis Juli um fieben Prozent geftiegen ift, und 
während am 3. September der Preis für hiefigen Noggen gegen den 2. Juli jogar 
um 2". Prozent herabgejegt ericheint, finden wir die Mehlpreiſe um nicht weniger als 
zwetundzwanzig Prozent gejteigert. Es bedarf wohl nur der Hervorhebung dieſer 
aus den Berichten der Spekulanten ſelbſt hervorgehenden Thatjache, um zu zeigen, 
wohin ſich die Bäder, um ihren Vorteil fich zu erhalten, zu wenden haben, und von 
wo ihnen troß der Aufhebung der geſetzlichen Brodtare eine ſolche doc) mit wirklicher 
Daumſchraubenwirkung gemacht wird. Dabei ift noch hervorzuheben, in welcher Weife 
man den deutſchen Noggen gegen den ruſſiſchen im Wert herabzufeßen jucht. Vor: 
gearbeitet war diefer Hantierung ſchon durd) die Börſenpreſſe, in der ſchon jeit geraumer 
Zeit mit Befliffenheit öfters wiederholt behauptet wurde, daß die deutjchen Land: 
wirte ihr Getreide jo jchlecht behandelt hätten, daß es fait unbrauchbar jei. Und jo 
jehen wir denn die Notierung für ruffisches Getreide, die im März und Juli noch 
erheblich unter der für dentjches Getreide jtand, im September gewaltig über diejenige 
für deutjchen Roggen himveggehen. Des Pudels Kern dabei ift aber, daß die Händler 
gegemvärtig nad) der Ernte das deutjche Getreide, das auf den deutjchen Märkten zum 
Verkauf kommt, billig an ſich bringen möchten, während fie das eingeführte ruſſiſche 
Getreide, das bereits in ihrer Hand ift, teuer verkaufen wollen. Man ſieht aljo, wie 
das Zwiſchengeſchäft nad) beiden Seiten hin, ſowohl nad) der produftiven als nad) der 
fonfumtiven hin die Bevölkerung prellt, und wie wenig aud) der befannte Erlaß des 
preußiichen Handelsminifters gegen die Verationen der Produktenbörje, jo erfreulich er 
an id) it, die Wirkſamkeit der Getreidengiotage hat treffen können. Bier handelt es 
fih, wie überhaupt, wo die Börje in Frage kommt, um ein Syftem, und wo man ein 
ſolches treffen will, kann e3 nicht geichehen durch einzelne Maßregeln, jondern nur durch 
ſyſtematiſches und umfaſſendes Vorgehen. 

Wenn aber unter den Kniffen und Ränken der Spefulatoren und Börje die deutſche 
Landwirtichaft und namentlich der Großgrundbefig ſchwer leidet, jo darf andrerjeits 
nicht im Mbrede genommen werden, daß Hinfichtfich desjelben ſich bis zu einem gewiſſen 
Grade die Sünden der Väter an den Kindern rächen. Die „Einzäumungen” von 
Gemeinde: und Banerneigentum, welche in England die Vernichtung der Landbevölferung 
und des landwirtichaftlichen Beſitzes eingeleitet haben, find auch bei uns der Fehler 
der Großgrundbefiger des vorigen und ehevorigen Jahrhunderts geweien. Sie haben 
große Güterbezirfe angebahnt, aber die wirtichaftliche Grundlage des Beſitzes jelbit ift 
dadurch, wenn nicht vernichtet, doch jehr tief erjchüttert worden. Wenn die übergroßen 
Rittergüter im Oſten Deutjchlands mur die Hälfte, zum dritten Teil ihrer heutigen 
Größe hätten und auf dem anderen Gebiet ſäße ein zahlreicher verbrauchskräftiger Bauernſtand, 
jo würde e8 den großen Gütern in nächfter Nähe nicht fehlen an zahlreichen verbrauchs: 
kräftigen Meittelftädten und die Iandwirtichaftliche Produktion Rußlands, Indiens, der 
Vereinigten Staaten würden ihnen keine jo große Sorge zu machen brauchen. Nod) 
heute ift es vielleicht für viele wirtjchaftlich gefährdete Rittergutsbefiger nicht zu ſpät, 
fi zu erholen und auch ihre Zukunft geradezu glänzend zu gejtalten, wenn fie ihre 
Güter teilen wollten, den einen Teil als Gut erhalten, den anderen aber zu Bauernbeſitz 
umgeftalten wollten. (Die Schwierigkeiten jolcher Mafregel find für den Privatmanı 


Monatsihan. — Wirtichaftspolitif. 1217 


in der Negel viel zu groß. D. Ned.) Sicher könnten fie Dabei ihren Anteil jchuldenfrei 
haben und es kann gar feinem Zweifel unterliegen, daß derjelbe binnen zehn Jahren 
Wert und Ertrag des früheren ganzen Beſitzes Haben wird. 

Die Befiedelung in Poſen durch die Negierung und and) der Verſuch des Nitter- 
gutsbefigers Sombert in Strejow jollten hier als Beijpiel nicht überjehen werden — 
wenn auch unter mancherlei Verbeſſerungen. Ohne Zweifel find die bäuerlichen Befigungen, 
die in dieſen Befiedelungen gejchaffen worden, zu groß. Es begegnen uns auc) aus 
anderen Gebieten, 3. B. aus Weftfalen, wo allzugroße Bauerngüter zu finden find, 
Stlagen, daß die Bauern dort jelbjt nicht mehr arbeiten, fie jpielen die Herren. Das ijt 
einfach die Folge des allaugroßen Beſitzes. Wenn man einmal zahlreiches Gefinde halten 
muß, dann kommt es auf eine Perſon mehr auch nicht an und der Bauer jpielt 
einfach den Herrn. Wenn aber das Banerngut amftatt zu 6O—100 Hektaren zu mur 
zwanzig angenommen wird, dann muß der Bauer, wenn er bejtehen will, jelbjt thätig 
jein, denn er kann nur wenig Geſinde halten und eine PBerjon mehr oder weniger füllt 
daher merklich ins Gewicht. Daher jollten bei Befiedelungen Banerngüter von mehr 
als zwanzig Hektaren in der Negel aud) gar nicht vorfommen. Dann werden aber 
auch da, wo bei großen Gütern nur eine familie leben fann, wenn auch vielleicht etwas 
reichlicher, drei bis fünf ihr gutes Ausfommen haben. Das ijt aber für die Verbraud)s: 
fähigkeit von höchſter Wichtigkeit; und von dieſer VBerbrauchsfähigfeit hängt der Beſtand 
und das Gedeihen des Großgrundbejiges ab. Um aber den Bauern und Ktleinbefiger 
auf jeiner Scholle zu erhalten, muß gejeblich beſtimmt werden, daß bäuerlicher Beſitz 
nur von anſäſſigen Bauern beſeſſen jein kann und zu bewirtichaften ift. 

Wie dem aber auch jet — unter allen Umständen unterjcheidet fich die fonjervative 
Anſchauung und das fonjervative Streben von mehr oder weniger demofratifierenden 
Anfchaunngen dadurch, daß fie nicht wie dieje, wie Minchhaufen an einem Strobjeil, das 
fie am „abgehauenen“ Ende immer wieder anknüpfen, vom Mond auf die Erde zu 
kommen juchen, jondern lieber gleich auf demſelben bfeiben und auf der joliden Grund— 
lage der bejtehenden Verhältniſſe mit Vorſicht weiter zu bauen juchen. 

Daß dabei immer einiger Eifer, vorwärts zu fommen, am Plage jein möchte, 
leugnen wir nicht. Die Brodunruhen in Frankreich, die nenerdings wieder ftärferen 
jozialiftiichen Bewegungen in Belgien und Großbrittanien bezeichnen jedenfalls ftarke 
Erhigung und lajjen dieje Fragen immer im der erjten Neihe der Aufmerkſamkeit und 
Wirkſamkeit erjcheinen. Hierzu kommt die rücjichtslofe Entfaltung des Kapitalismus 
auf induftriellem Gebiete durch dte Ausbildung der Kartelle. Man hat freilich verjucht, 
dieje Kartelle auf den Schußzoll zurüczuführen. Allein dieſtlben find in England zuerjt 
entjtanden und haben dort eine noch jchärfere Entwicelung erfahren wie anderwärts 
und das „internationale Schienenfartell“, jowie deſſen gegenwärtige Erneuerung ift von 
England ausgegangen. Gegemvärtig it es im Plane, die gejamten Kohlenwerke Groß— 
brittanieng in die Hände einer einzigen Gejellichaft mit achtzig Millionen Pfund Sterling 
zu bringen — eine Abficht, die befanntlic) der im Wahnfinn verjtorbene Spekulant 
Grillo in Ejjen auch Hinfichtlicy der deutjchen Kohlenwerke erjtrebte. Die Ausfichten 
des Gelingens jenes Planes find vielleicht in Großbrittanien nicht beſſer als in 
Deutſchland. Aber die Ziele, wohin der Kapitalismus ftrebt, legen ſich durch jolche 
Entwürfe Klar vor Augen. Bon der „Konkurrenz“, dem famojen „Wettbewerb“, ſpricht 
bemerfenswerter Weiſe auch der Liberalismng gar nicht mehr. Durch die Kartelle wird 
die Konkurrenz erichlagen. Daß dieje Kartelle aber mit ihrer Richtung auf Preis: 
jteigerung und Webertreibung derjelben innerhalb der Schußzollgebiete ſich bejonders 
breit machen fönnen, liegt nahe und it aud) von ung vorausgefagt worden. Das ift 
ein Schatten; und bekanntlich giebt es jolchen überall, wo Licht iſt; man kommt aljo 
über ihn nicht hinweg; aber man kann ihn allerdings wohl erheblich ermäßigen. In 
der That ist es notwendige Folgerung der Schußzölle, daß auf dem Gebiete der 
Arbeiterichußgejepgebung nach) Maßgabe der faijerlichen Botſchaft entichieden weiter vor: 


1218 Monatsſchau. — Wirtichaftspolitif. 


gegangen werde. Unter gegenwärtigen Umjtänden fällt der Nuten der Schußzölle aus- 
ichließlich (??) der Stapitalifierung in den Schoß und die Börje ſaugt ihn auf, um 
ihn der fremden Konkurrenz zuzuführen. Dies kann aber nicht die Abficht fein. Es 
muß daher gejorgt werden, daß ein entiprechend größerer Teil des Gewinnes aus den 
Schußzöllen aud) den Arbeitern und damit dem Wiederverbrauch zugeführt werde. 
Hierzu find Mittel das Verbot der Sonntags: und der Kinderarbeit in den Fabriken, 
jowie die äußerjte Beichränfung der Frauenarbeit; ebenſo wie eine ftrenge Fabrik— 
injpeftton hinfichtlich der Verbeſſerung der Fabrifeinrichtungen zum Schuß der Arbeiter. 
Solche Einrihtungen find nicht ohne Koften für die Induftrie zu machen; fie würden 
größere Ausgaben als bisher für die Löhne und für die Einrichtungen im Intereffe der 
Arbeiter verurjachen. Allerdings fennt man auch den Einwand der Induftriellen, daß 
fie ſolche Einrichtungen zu machen nicht imftande jeien. Dann kann man fie aber auf 
die Schußzölle hinweiſen und darauf, daß diejelben nicht errichtet jein fünnen, um dem 
Auslande unjere Waren um Spottpreife zu liefern, jondern damit diejelben dem Lande 
nützen; und fie nügen nur dann, wenn fie unjer VBerbrauchsvermögen erhöhen, nicht, 
wenn fie dazu führen, diejes Vermögen zu verichleudern. Und wie jegt die Dinge ftehen, 
hat allerdings nur die Börje Nutzen von den Schußzöllen. 

Die Börje befindet jich denn auch in febendigiter Bewegung. Die Verfügung des 
Fürſten Bismard als preußischen Handelsminifters, wonach die Bejchaffenheit des Liefer: 
baren Getreides an der Berliner im Durchichnitt erhöht worden ift, erregt zwar immer 
noch deren Aerger, aber jie hofft auch immer noch, daß jie eine Ermäßigung diejer 
Bedingungen durchjegen werde — hoffentlich vergebens. Dazwiſchen hat aber der 
Kaffeejchtwindel am neuen Terminplage Hamburg den des alten Platzes Havre bereits 
überflügelt. Am 2. Augujt war die Hamburger Kaffeenotirung 58, am 5. September 
92, am 7. September 200 mit Schluß 185 und am 8. wieder 105. Daß damit der 
jolide Handel zu Grunde gehen muß, läßt fich auch für den Blinden erkennen und hat 
denn auch von diejen aus Mifbilligungserflärungen hervorgerufen; und man hat gejagt, 
daß man ich jo die Agiotage nicht gedacht habe. Dies find indes Lächerlichkeiten; 
man hat fie jchon anderswo gejehen; ihre Sprünge find überall die gleichen. Richten 
diefelben aber auch überall ſtarken Schaden an, jo find fie doch begreiflicherweije am 
ichlimmften, wo fie das Lebensmittelgebiet betreffen. Schon längjt ijt übrigens dieſe 
auf das Engfte mit der Effektenbörſe verquidt. Faſt alle Spekulanten „großen Stils“ 
jtehen jowohl in der Effekten, als in der Produkten: und Waren-Agiotage, wie fic) dies 
auch bei den Fürzlichen Bankerotten am der Wiener Börje zeigte. Einem eigentlichen 
Börjenjpekulanten, der nur in Papieren „machte“, fielen mehrere induftrielle Firmen, 
deren Leiter in die Agiotage verwidelt waren, nad. Es handelt ſich um Verluſte von 
Millionen. 

Dabei verjpricht fich die Börje einen „reichen Herbit” — und anjcheinend mit 
Recht. Die Emiffionen find bereit3 wieder mafjenhaft gefommen; außerdem ſchweben 
große Finanzgejchäfte in der Luft. Sogar die Bleichröder'ſche Firma jollte auf Aktien 
gejeßt werden. Dies wurde zwar widerrufen, aber e8 fehlt deshalb nicht an Gründungen 
aller Art; ebenfowenig wie an Emiffionen. Demnächſt jollen auch die Eleinafiatiichen 
Bahnen durch deutjches Geld gebaut werden. WBleichröder joll dabei vermitteln. Das 
wiirde wieder eine neue Konkurrenz fir Weizen und Viehzucht jein, wenn es glückte 
und ein großer Kapitalverluft im Fall des VBerunglüdens. Auf keinen Fall aber konnte 
Borteil herausfpringen, obgleich unter anderen Verhältniſſen deutjche Kapitalanlagen in 
jenen Gegenden zu den am wenigjten bedenklichen für Deutjchland gehören. Allein die 
fapitaliftiiche Ausbeutungsweie läuft nur auf die Zerjtörung des Alten durch das Neue 
hinaus; jo kann denn aucd die Ausbeutung jemer Gegenden durd) die Eijenbahnen 
feine befruchtende Rückwirkung auf die Heimat des Kapitals mit jid) bringen — abgejehen 
davon, daß die Ueberladung des Landes mit fremden Papieren jchon an und für jich 
zur Stodung führen muß. 


Monatsichau. — Kirche. 1219 


Kirche. 


Mit dem Herbſt, der Jahreszeit der Verſammlungen und „Tage“, hat ſich jetzt 
wieder eine große Zahl von kirchlichen Vereinigungen zu gemeinſamer Beratung und 
Verfolgung der jeweiligen ſpeziellen Ziele hin und her in den deutſchen Landen ver— 
ſammelt. 

Alle dieſe Vereine und Kongreſſe auf ihre Abſichten und ihren Erfolg hin einer 
kritiſchen Prüfung zu unterziehen, iſt in dem engen Rahmen eines Monatsberichts 
ſchlechterdings nicht möglich. Wir beſchränken uns darauf, einiges von dem hervor— 
zuheben, was grundſätzliche Bedeutung beanſpruchen kann. 

Zu erwähnen iſt zunächſt die in Berlin ſtattgehabte Verſammlung der Evangeliſchen 
Allianz. Es iſt ein Zug vorhanden in der gegenwärtigen kirchengeſchichtlichen Periode, 
der auf Einheit in aller Zerriſſenheit der getrennten evangelischen Konfeſſionen hindrängt. 
Diejer an fich ohne Zweifel berechtigte Zug kann richtige und kann verkehrte Wege 
einjchlagen. Ein verfehrter Weg 3. B. war die Herjtellung der preußiichen Union. 
Die Einführung derjelben bezwedte die Aufrichtung einer äußeren Einheit, wo doch die 
innere Uebereinſtimmung noch fehlte. Die Folge davon war, daß geiftige und geiftliche 
Mittel als Waffen nicht ausreichten, jondern daß Gendarmen und Dragoner zur 
Verwirklichung firchlicher Ideale zu Hilfe gerufen werden mußten. — Ein anderer 
Irrweg iſt umjeres Erachtens der „Evangeliiche Bund“, der fein pofitives Ziel, jondern 
eine Negation, die Gegnerjchaft gegen Rom, zum Ginheitsbande machen will. Ein Bund 
aber von Männern, die nur in Der Feindichaft einig find, aber auseinanderjtreben, 
jobald es ſich um das geringjte pofitive Wirken und Wollen handelt, ift doch nur ein 
Kartenhaus, das feinen Sturm überdauern kann. 

Sehr viel beijere Gründe laſſen ſich anführen für das Dajein und die Ziele der 
Evangeliichen Allianz. Die Allianz fieht völlig ab von allem Synkretismus; fie nimmt 
die Verjchiedenheit der Konfejlionen als gegebene Größe und bis auf weiteres unab— 
änderliche Thatjache Hin. Aber fie jucht alle diejenigen zu vereinigen, die neben der 
Liebe zum engeren firchlichen Kreife, in den fie Hineingeboren oder hineingewachjen find, 
fid) doc) einen offenen Blid und ein weites Herz für das Gute bei den anderen bewahrt 
haben, die in anderer Schule erzogen, aber einig find in den Artikeln der jtehenden und 
fallenden Kirche. — Die Vertreter jolcher Berjchiedenheiten jucht die Allianz in 
öfumenischer Gefinnung zu jtärfen und zu berjenigen Arbeit zujammenzufafjen, an 
welcher alle evangelischen Denominationen ein gleiches und lebendiges Intereſſe haben. 

Ein Stüd diefer Arbeit ift die Fürjorge für ſolche Evangelische, welche um ihres 
Glaubens willen von griechiichen oder römiſchen Kirchenregimenten zu leiden haben. 
Bei der diesjährigen Verſammlung handelte es fich jpeziell (wie auch früher ſchon) um 
die Frage, ob irgend etwas gejchehen könne für die unter brutaler Mißhandlung der 
Ruſſen jchwer leidenden Lutheraner der deutichen Dftjeeprovinzen. Ein bisher mit dem 
einflußreichen Oberprofurator der ruffishen Synode Pobedonoszew geführter Briefwechjel 
ift durchaus erfolglos geblieben. Der franzöfijche Zweig der Evangelien Allianz hat 
zugejagt, die Korreſpondenz fortzujegen; ob mit beſſerem Erfolge, muß dahingejtellt bleiben. 

Die nächſte Weltverfammlung der Allianz wird im September 1890 in London 
jtattfinden. Ob dann von größeren äußeren Erfolgen wird geredet werden fünnen, muß 
gleichfalls abgewartet werden. Bleiben aber jolhe aud) aus, jo iſt e8 doch wie gejagt 
ohne Zweifel von Segen, wenn die Verjuche, auf dem Wege dogmatijch Formulierten 
Bekenntniſſes zu einer Einheit der Stiche zu kommen, endgültig aufgegeben werden und 
an ihrer Stelle die einzig mögliche Einheit, die Einheit des Geiftes in der Nachfolge 
Ehrijti, erjtrebt wird. 

Pflegen aber die Verhandlungen der Evangeliſchen Allianz fein großes Ergebnis, 
dagegen wohlthuende Einheit der Gefinnung zu befunden, jo bietet ein immer gleich: 


1220 Monatsſchau. — Kirche. 


mäßig unerjrenliches Bild der Protejtantentag, der jein fiebzehntes Jahresfeſt im 
Bremen gefeiert hat. Die Deflamationen der PBrotejtantenvereinler gegen bierarchiiche 
Beitrebungen, katholifierendes Kirchenregiment, dogmatischen Formelzwang, und wie die 
Schlagworte alle heißen, find alt und befannt. Neueren Datums dagegen ift, daß der 
Brotejtantenverein alle jeine alten Ideale verleugnet und die einzige Nettung der Kirche 
in ihrer Verftaatlihung erblidt. Früher hieß das Schlagwort, man wolle die freie 
Kirche im freien Staat. Seit man aber erfannt hat, daß ohne allen Zweifel die freie 
Kirche ganz andere Wege gehen würde als die des Protejtantenvereins, jeitdem verjchreit 
man die Beitrebungen der Kirche, ſich freiere Bewegung zu jchaffen, als evangelijchen 
Bapismus und man jebt den legten Reſt von Hoffnung auf politiiche Kultusminiſter 
und Firchlich gleichgültige Barlamentsmehrheiten, die im liberalen Sinne in die Kirche 
hineinregieren jollen. 

Wenn jomit der Protejtantenverein  jelbjt in den Dingen, die er nicht will 
und im Grunde bejchäftigt er jich nur mit ſolchen — bin: und herſchwankt und Heute 
verwirft, was er gejtern gefordert Hat und andererjeits durch völlige Abwejenheit aller 
pofitiven Leiftungen ſich auszeichnet, jo kann es Wunder nehmen und die Frage erweden, 
woher er denn überall noch jeine Lebenskraft nimmt; und da glauben wir, zeigt er, 
vielleicht der einzige Nugen, den er bringen kann, auf einen Schaden der Vergangenheit, 
den die Gegenwart noch nicht völlig überwunden hat. Wir meinen, auf die Lebertreibung 
des evangeliichen Formalprinzips, welchen als Reaktion gegen das vorreformatoriid) 
fatholijche, die proteftantijche Theologie vielfach verfallen war; mit anderen Worten, der 
Glaube an eine mechanische Berbalinjpivation und das zähe Feithalten an demjelben hat 
jo viel wunderliche Theologie und Apologetif gezeitigt, daß es in der That jelbjt 
für „pofitive” Chriſten bisweilen jchwer ijt, feine Kritit zu üben. Wird erjt auf 
dieſem Gebiet die ganze Kirche einen kräftigen Schritt vorwärts gemacht und jich hinweg— 
gejeßt haben über die ängjtliche Sorge, daß alles zujanımenbrechen miüfje, wenn man 
den Buchjtaben der Schrift preisgiebt, jo wird unſeres Erachtens der heut jchon mit dem 
Tode ringende Protejtantenverein an völliger Entkräftung jterben. 

Ein erfreuliches Bild kirchlichen Lebens enthüllten im Gegenja zum Totentanz 
der Chriſtusleugner die mancherlei Borträge und Anfprachen, welche zum  fünfund: 
zwanzigjährigen Nubiläum der Sonntagsichulen oder Kindergottesdienfte in Deutjchland 
gehalten worden find. Aus Heinen Anfängen bat ſich das Sonntagsjchulwejen auch in 
Deutjchland zu hoher Blüte entfaltet. Gewiß giebt es noch manche Geiftliche, die fich, 
jei es weil die Sache aus England und Amerifa kommt, jei es aus anderen prinzipiellen 
Bedenken, der Förderung diefer Sache entziehen. Ein beliebter Punkt der Kritik iſt ja 
namentlich die behauptete Mangelbaftigfeit der jugendlichen Gruppenleiter. Indeſſen 
gehört die Sountagsſchule zu den guten Sachen, die ſich langſam aber jicher über alle 
Bedenken hinweg ihre Straße bahnen. Was jpeziell die lutheriſche Kirche auf dem 
Gebiet der Ktinderlehre in früherer Zeit und bisher geleiftet hat, iſt kümmerliches Stüd: 
werk im Bergleich zur Praxis der Sonntagsichulen. Dort im wefentlichen aus Ueber— 
ſchätung der Dogmatik die jchulmäßige Förderung der Erkenntnis, die jo manchem 
Kinde die Religion für immer verleidet hat, hier das Beftreben, in Eindlicher Form dem 
Kinde das Evangelium erbaulich nahe zu bringen; dort der Zwang, hier die volle 
Freiwilligkeit. Ueberdies iſt ſchon manchem Geiftlichen, den den Schlüffel zu den Herzen 
der Alten nicht finden konnte, die Sonntagsichule das Mittel zu den erfrenlichjten 
Erfolgen geworden. Es giebt feinen bejjeren Agitator, als den harmlojen Kindermund, 
wenn und two der Heiland jelbjt die Lippen öffnet. 

Wenn endlich über die brennendſte Tagesfrage, über das Verhältnis der 
Evangelijchen zu Rom, nod) ein Wort zu jagen ift, jo füllt es für den abgelaufenen 
Monat zumeift in das Gebiet der Bolitif. Zu bemerken ift an diejer Stelle allenfalls 
nur, daß bis zum vatifanischen Kaiſerbeſuch die preußiſche Regierung ihre Schmeichel: 
politif den Römischen gegenüber fortgejegt hat. In Berlin 3. B. ift ein neuer Armee: 





Monatsichau. — Kirche. Innere Mijfion. 1221 


bijchof geweiht worden und nac einigen Berichten hätten fich der Kultusminister und 
zahlreiche Wiürdenträger jogar an einer Prozejfion, nad) anderen wenigjtens an der 
kirchlichen Feier beteiligt. Wäre aber auch nur das leßtere der Fall, jo bleibt es 
traurig genug im einem Staate, der vor allen anderen auf der Feldwacht gegen die 
Kurie stehen ſollte. Erfreulicherweiſe jcheint der Umftand, daß der Papſt beim deutjchen 
Kaiſerbeſuch in Rom völlig leer ausgegangen tft, eine jtarfe Abkühlung der Beziehungen 
verurjacht zu haben. Augenblicklich jchelten die römischen Blätter in einer Weije, die 
faum noch der Steigerung fähig it, und jo darf man vielleicht hoffen, daß auch da, 
wo nicht religiöfe, jondern nur diplomatische Rückſichten maßgebend find, das evangeliiche 
Selbitgefühl erwacht und die jüngſte Praxis, die Katholiken zu verhätjchelu und die 
Evangelijchen zu jchlagen, wenigjtens der vormaligen Barität wieder Platz machen möchte. 


Wir fügen dem firchlichen Bericht eine Zufchrift an, welche uns als Erwiderung 
auf frühere Aufjäge, das Wejen der Inneren Miſſion betreffend, zugegangen ift. 


Ein Beitrag zur Forſchung nad; dem Weſen der inneren Miſſion 


von Dr. W. Caipar. 


Was will aus der inneren Million der evangelijchen Kirche werden? Dieje Frage 
beantwortet in dem Aufſatz „Was ift innere Miffion?” im Juliheft diejer Monatsſchrift 
Herr Pfarrer N. dahin: „Junere Miſſion find im chriftlichen Geiſte entjtehende 
Einrichtungen des jtaatlichen oder Firchlichen Organismus während ihrer Entjtehungszeit” 
oder „die chrijtliche Vorarbeit für die praftiichen Formen der Zukunft ift die innere 
Million.” „Alle (!) innere Miſſion iſt Vorarbeit für kirchliche oder ftaatliche Organijation.” 

Neben die jchon jeit einiger Zeit vielumftrittene Loſung „Berfirchlichung der 
inneren Miſſion“ tritt alſo bier als in Aussicht ftehend eine „Berjtaatlichung,” und 
zwar joll jeder (!) Arbeitszweig der inneren Miſſion, wenn er gejund ift, lediglich dazu 
beſtimmt jein, ſich entweder als jtaatlic) (oder bürgerlich, jollte dabeiftehen) geleitete 
Anstalt einzuleben oder als geregelte Thätigkeit der Kirche — nein, der Landeskirche. 
Ob Hinfichtlic) derjenigen Zweige der inneren Milton, welche „verjtaatlicht” werden jollen, 
dieje Entwidelung notwendig oder wünſchenswert ift oder nicht, wollen wir nachher 
erwägen. Zunächſt wenden wir uns zu den (beiläufig recht wenigen) Zweigen der inneren 
Miſſion, welche nicht unter ausjchließliche Leitung der weltlichen Obrigkeit (Staat vder 
Gemeinde) zu fallen beftimmt, jondern der Kirche vorbehalten werden. Das unvorfichtige 
Umgehen mit der gefährlichen Unterjchiebung der verjchiedenen Bedeutungen des Wortes 
„Kirche“ für einander jcheint hier von bedenklichem Einfluffe zu fein. Zu Oldenberg's 
Worten: „Subjekt der inneren Miſſion kann nur die in Wahrheit chrijtliche Gemeinde 
und deren im lebendigem Glauben und Bekenntnis ſtehende Organe und Glieder fein“ 
wird gejagt: 

„Diefem Sabe können wir überhaupt wie insbejondere auch in der Hinficht 

beijtimmen, daß die Organe dev Gemeinde: und (Yandes-:) Kirche nicht als jolche 

von der inneren Million ausgeſchloſſen find.” 

Allerdings ift durch den Satzbau (3. B. durch das „auch“) vermieden, geradezu 
die eigentliche, unfichtbare Kirche mit ihren ivdiich-erfennbaren Gefäßen, die Gemeinjchaft 
der Erlöjten mit den „Jichtbaren” Stirchenförpern zu verwechjeln. Aber die befremdliche 
Borjtellung, als ob die Organe der Landeskirche „als jolche von der inneren Miſſion 
ausge, ſchloſſen“ jein fünnten, it doch wohl gar nichts anderes als eine der Windmühlen 
de3 Nitters von der traurigen Geſtalt — eigens erbaut zu dem (jei es unbewußten) 
Zwede, um beim jiegreichen Niederrennen derjelben etwas der Landeskirche als ſolcher 

Allg. lonſ. Monatsichrijt 1888. X. 18 


1222 Monatsihau. — Kirche. Innere Miffion. 


zufallen zu lafjen, was von ihr nur joweit, als fie in der umfichtbaren Kirche iſt, 
gelten muß. 

Nachdem jo an Stelle des innerlichen Zufammenhanges der inneren Milton mit 
der evangelifchen Kirche der äußerliche Zufammenhang betont ift, kann dann fait das 
ganze Gebiet der inneren Miffion als Fünftiges Erbteil — des Staates oder bürgerlicher 
Verbände hingeftellt werden. Die Entwidelung in diefen Sinne joll zum vollen Erfolge 
bereits gediehen. jein bei den Blindenanftalten und bei den Wailenhäufern, jowie bei der 
Schule: „auch jie war freie Gründung chriftlicher Liebe, wurde mehr und mehr firiert 
und ift nun eine aller Willkür enthobene, öffentliche Einrichtung.” Die Nettungshäufer 
jolfen ebenfalls im Begriffe tehen, ganz verjtaatlicht zu werden. Den Herbergen zur 
Heimat, den Arbeiterfolonien, ja jugar — den Gemeindediakonijjinnen wird Dasielbe 
Schickſal in NAusficht geftellt, welches fie „in einer jpäteren Zeit als Wohlthat 
begrüßen werden.” 

Aber es jollte doch nicht überall Verjtaatlihung, jondern zum Teil aud) Verkirch⸗ 
lichung der inneren Miſſion in Ausſicht ſtehen! „Um ein rein kirchliches Beiſpiel zu 
bringen,“ wird uns geſagt: „Die Konfirmation war im vorigen Jahrhundert bis in 
dieſes Jahrhundert hinein innere Miſſion . . . Jetzt wird es kaum eine deutſche 
Landeskirche mehr geben, welche nicht ihre Konfirmationsordnung und Agende beſäße.“ 
Danach ſcheint es nicht leicht zu ſein, ein für Pfarrer N.'s Beweisführung brauchbares 
„kirchliches“ Beiſpiel zu finden, denn das Geſuchte iſt hier doch wohl nicht gefunden. 
Es wird ſchwerlich der allgemeinen Auffaſſung entſprechen, eine einzelne freiwillige 
Handlung innerhalb des Seelſorgerberufes, wie ſ. 3. die Konfirmation war (und 
wie heutzutage etwa das Halten von Bibeljtunden, wo jie nicht herkömmlich find), als 
innere Miſſion zu bezeichnen. Ja wir rechnen auch die wiederkehrenden Verjammlungen, 
zu welchen ein Geiftlicher die von ihm eingejegnete Tugend einläd, um ihr chriftliche 
oder jonjt gejunde Geijtesnahrung zu bieten, wohl noch nicht zur inneren Million; 
dagegen zählen wir es der lebteren zu, wenn die jungen Leute zur Thätigkeit dabei 
herangezogen werden. Hierin liegt ein wohl zu wenig berüchichtigter Fingerzeig. 

Für die Zukunft nennt der Aufſatz im Juli-Heft als Zweige der inneren Miffion, 
welche verfirchlicht werden, nur die Bruderhäufer in Verbindung mit den Stadtmijfionen, 
aus denen eine Geiftlichfeit niederen Grades hervorgehen joll, und chriftliche Familien: 
abende. Erjterer Vorjchlag begegnet bekanntlich) in unjeren Landesfirchen ſtarken 
Bedenken. So kann man aljo wohl jagen, daß „die evangelische Kirche” bei N.'s 
Zufunftsgemälde wenig, jehr wenig Anteil an dem Erträgnifje ihrer inneren Miſſion 
erhält. Die Hülfeleiftungen bei jittlicher, wie bei äußerer Not follten ihr jedesmal im 
gegebenen Zeitpunkte, d. H. wenn aus dem Senfforne ein tüchtiger Baum gewachjen 
ist, von der jegt „konfeſſionsloſen“ weltlichen Behörde abgenommen werden?! aljo 3. B. 
die Rettungshäuſer möglicherweije durch den heuchleriichen Eiertanz einer konfeſſionsloſen 
Erziehung verwahrlojt werden (man denke nur an die Beftrebungen des jog. „liberalen“ 
Schulvereins, an die öffentlich geduldete „Neichsfechtichule” u. a. m.)!? Es kann ja 
nicht verfannt werden, daß dieſe Entwidelung wirklich die Gejchichte von ungezählten 
Anftalten, Stiftungen u. ſ. w. gewejen ift, die in ihren Anfängen dem Gebiete angehörten, 
welches jegt innere Miſſion heit. Andere VBeranftaltungen der Art find eingegangen, 
entiweder weil eine weltliche Obrigkeit fie nicht übernahm (bez. bei Stiftungen nicht 
ihre Beſtimmung aufrecht erhielt) oder um diejer Uebernahme zu entgehen, daß dieſe 
alle fi dadurch jchon als minder gejund erwiejen hätten, erſcheint nicht gewiß. 
Wiederum zugegeben wird dagegen, daß die evangelischen (Landes:) Kirchenkörper — 
bis eben die innere Million in unjerem Jahrhundert auftrat — feine ausreichende 
Befähigung zeigten, den in ihrer Mitte entjtehenden und beftehenden Liebeswerfen zum 
Tortbejtande als ſolchen und namentlich zur Aufrechterhaltung ihres urjprünglichen 
(bez. jtiftungsmäßigen) Charakters zu helfen, namentlih Die dazu erforderlichen 
Perjönlichkeiten ihnen dauernd zuzuführen; in diefer Beziehung leiftete jogar die römische 


Monatsſchau. — Kirde. Innere Mijjion. 1223 


Vapjtfirche ein wenig mehr durch Anerkennung und Schuß auch ſolcher Regulares neben 
und außer dem Parochialſyſtem. Aber ift es nun gerechtfertigt, über die Zukunft der 
inneren Mifjion — und wir jegen hinzu: auch der evangelischen Kirchen — abzujprechen 
durch VBergleichung der inneren Miſſion mit der Cluniacenſiſchen Bewegung ? 

Es iſt hier eine Urſache berührt, welche die jo häufige Verſtaatlichung chriftlicher 
freiwilliger Liebeswerfe erklärt ohne die Annahme, dag dieſe Entwidelung an ſich 
notwendig oder gar wiünjchenswert gewejen jei. Es joll der Obrigkeit im VBaterlande 
der Dank nicht vorenthalten werden für gute Dienfte, die auch jie auf Grund von 
Verftaatlichungen geleijtet hat; wir denfen 3. B. an die Geichichte des Geiftes der 
Francke'ſchen Anstalten nach der Zeit, als in unjeren Kirchen das Salz jeine Straft 
verloren hatte. Aber wie viele Beiſpiele ftehen dem gegenüber mit mehr oder weniger 
weiter Entfremdung der Liebeswerfe von ihrem Zwecke durch die Kommunaliſierung, wie 
viel Uebergang in Familienverjorgung, Gemeindebereicherung u. ſ. w.! 

Nicht minder ericheint auch theoretisch uns die Verftaatlichung vermeidenswert und 
zwar weil fie die Gejeplichkeit an Stelle der Liebe zu jegen kaum umbin kann. Wären — um 
nur die äußere Seite zu erwähnen — wirklich, was wir nicht zugeben, in Verſorgung 
der Blinden und der Waiſen die Behörden überall an die Stelle und nicht bloß neben 
die Freiwilligkeit getreten, jo würde aus der Schematifierung der zu berücfichtigenden 
Notitände, wie fie durchjchnittlic) vorkommen, mit mehr als Wahrjcheinlichkeit das 
Fehlen der Nüdjichtnahme auf bejondere Nöte von Einzelfällen erwachjen, denen Die 
Liebe nachging. 

Wir haben diejen Widerjpruch gegen den Artikel des Juli-Heftes geltend gemacht, 
gerade weil wir mit demjelben durchaus übereinjtimmen bezüglich der Tragweite, welche 
eine richtige oder faljche Begrifjsbejtimmung der inneren Miffion haben kann. Auch 
wir wilfen uns noch zu jehr mitten im der Werdezeit der inneren Miſſion, um ein 
abſchließendes Wort jagen zu können und möchten nur als Dilettant ein kleines Stück 
Fortarbeit zu dem allmählich entjtehenden Begriffe beitragen, indem wir neben den 
geichichtlich höchſt beachtenswerten Gefichtspunft jenes Artikels einen andern jtellen. 

Der um die Theorie der inneren Miſſion litterarijch hochverdiente P. Schäfer hat 
in jeinem jonjt jo wertvollen Leitfaden bei der Begriffsbejtimmung der inneren Miffion 
die „Reformbewegung“ und das „Unternehmen, den inneren Zuftand der (in welchem 
Sinne?) Kirche zu beifern,” alſo die Richtung auf das (mehrdeutig bezeichnete) Ganze 
vielleicht zu ausjchließlich betont. Die evangelifchen Kirchen fordern nad) ihrem Wejen 
und nad) ihrer Lehre, daß alle Glieder der Kirche, welche nach geiftlichem Leben trachten, 
mitwirken an der Reichsgottesarbeit, ein jeder nach feinen Mitteln, nad) jeinen Gaben 
und nad) jeinem Gnadenſtande, im Kämmerlein und vor den Menschen. Die innere 
Miſſion ericheint uns als eine Selbftverwirkfichung der evangelifchen Kirche in dieſer 
Beziehung. Demgegenüber möchten wir die Bedeutung, in welcher a. a. D. das Wort 
„Berfichlihung” gebraucht wird, für eine zu äußerliche halten. 

Was Luther nur zurüctitellte, weil er die Leute dazu noch nicht Habe, das dürfte 
nac) über dreihundert Jahren hoch an der Zeit fein. 

Wir möchten hiernach das Hinausgehn über die im Juli-Heft beiprochene Definition 
Oldenberg's oder deren Umdentung nicht für einen Gewinn halten. Eine Ergänzung 
feiner Worte möchten wir eher nad) der Seite hin wünjchen, daß bei Beiprechung von 
„Subjekten” der inneren Miffion auch daran erinnert werden möchte, daß wir, wie 
docendo diseitur, bei Bethätigung der Liebe gefördert werden in der Liebe. Inſofern 
dürfte jedes Subjekt der Inneren Miſſion als ſolches auch Objekt derjelben fein, zu 
Nutzen feines geijtlichen Perfonen: oder Gemeindelebens. Die das an fich ſelbſt erfahren, 
die müſſen wohl treue Freunde der inneren Miffion werden und bleiben. 





ee 


Heue Sehriften. 


1. Politik. 

— Zur Begründung von Schußzöllen, | 
in Sonderheit für die Landwirticdaft. | 
Neue Gefichtspuntte von Dr. Adolf Maper, 
Profeſſor und Vorſtand der holländ. Keichsverjuchs- 
ftation in Wegeningen. (Heidelberg, 2. Winter.) 
1888, 47 © 8°. 1,20 Marf. 

Mit Recht hebt der Verfaſſer jhon in der Bor- 
rede hervor, daß der Umſchwung von der frei- 
händlerijchen zur jchußzöllneriihen Anſchauung in 
Deutjchland fich „Teineswegs infolge einer “sen, Pi 
Reform der bis dahin geltenden volkswirtichaft- 
lichen Begriffe” vollzogen habe. Dies ift in der 
That der Fall und wir finden daher aud) jeden 
jocialpolitiichen Zug, ſelbſt wenn er unmittelbar 
auf jchußzöllneriihe Maknahmen Hingeht, von 
freihändlerijcher Vorausjegung beeinträchtigt und 
gehemmt; demnach thut „auch in Deutjchland eine 
Erörterung der wiljenichaftlichen Grundlage Not“. 
Und in der That haben wir hier eine Schrift vor 
uns, in welcher vollftommen vorurteilsfrei die 
wifjenjschaftliche Grundlage zur Beurteilung frei- 
händleriſcher und ſchutzzöllneriſcher Vorausjegungen 
und Entwidelungen geſucht wird. Der Verfafler 
ftellt feit, daß die unbedingte Unterwerfung unter 
die Frreihandelsdoftrin ein Wolf leicht zum aus: 
ichließlihen industrie, das andere zum aus: 
ſchließlich aderbautreibenden maden kann. Die 
reihandelsdoltrin nimmt daran nicht nur feinen 
Anjtoß, jondern fördert dies jogar. Freilich geht 
aber der Berfafler zu weit, wenn erdie „Erkenntnis“, 
dab die vom Freihandel erjtrebte unbedingte Arbeits- 
teilung eine „goldene Negel“, nennt und als 
„etwas Großes” preifen will, und ihr gegenüber 
nur von „Ausnahmefällen“ jpricht. Die Entwidelun 
entjpricht dem nicht. Und auch die Wifjenjchaft 
wird bei genauer Prüfung der Thatjachen und 
ihrer Urjachen finden, dab die „goldne Regel“ 
gerade die Ausnahme ift. Die Darftellung, in 
welcher der Verfaſſer eigentlich jelbit darauf fommt, 
zeigt jchon im erften Sat die Unhaltbarkeit jener 
Freihandelsdoftrin. Auc die Goldwut des FFrei- 
bandels wird berührt, wenn auch nicht vollfommen | 
umfaßt, und auch die Vernichtung der nationalen ' 





| Selbitändigfeit durd die Durchführung jener 


Doftrin wird treffend gezeichnet. Vielfach finden 
wir diejelben Anjchauungen vertreten und diejelben 
Thatjachen berührt, welche wir in unjerer wirt- 
ichaftspolitiihen Monatsichau jeit jeher vertreten 
haben; wenn wir auch in Einzelheiten zu wider- 
ſprechen haben, 3. B. wenn der Berfajler von 
„billigem Brot“ richt. Darin liegt der Wider- 
jpruch der „goldenen Regel“, daß wir troß billiger 
Produktion teuere Verbrauchspreije haben. Und 
daß die Verbrauchspreije fteigen, während die 
Produftionspreije finten. Nicht genügend betont 
ericheint uns auch das Konjumtionsvermögen und 
dejien tiefe Erjchütterung durch den Freihandel 
und die jocialpolitiiche Wichtigkeit der Pflege 
desjelben. Doc erlennt der Verfaſſer, daß jich 
die Fleiſchpreiſe auffallend wenig nad den Vieh— 
preijen richten ; wobei nod) ins Gewicht fällt, daß 
das „Schlachtgewicht“ gegen das „Fleiſchgewicht“ 
den Unterjchied noch außerordentlich ſteigert. 
Jedenfalls haben wir allen Grund, die Schrijt 
unjeren Leſern, welche fich über die vorliegende 
Frage beſſer, als es aus der Tagesprefie möglid) iſt, 
unterrichten wollen, dringend zu empfehlen. 

— Domänenpolitif und Grundeigen- 
tumsverteilung vornehmlid in Breußen. 
Bon Dr. 9. Nimpler. (Leipzig, Dunder & 
Humblot.) 1888. 253 S. 5,40 MM. 

Dieje Schrift behandelt eine wirtjchaftliche 
Angelegenheit, welche von uns ebenfalls ſchon 
mehrfad, wenn auch mur gelegentlid und unter 


Anregung von Vorgängen berührt worden ift. 


Der Verfaſſer behandelt im guter und objeftiver 
Darjtellung zunächſt die auf die „Landfrage“ be- 
zügliche Litteratur hauptjächlich Hinfichtlich der in 
ihr zum Ausdruck gelommenen Berührung der 
Domänenfrage. Hieran jchließt fi eine Prüfung 
der Veweisführung für und wider die Domänen: 
veräußerung, wobei er zumächit bemerkt, daß die 
redjtlichen Bedenfen bei der Frage in den meiiten 
civilifierten Staaten gegenftandslos geworden find. 
Für Preußen ift vorauszujegen, dab nach den 
bejtehenden gefegligen Beitimmungen eine Ber 
wendung Des löjes aus Veräußerungen von 


Neue Schriften. — Politik. 


Staatsdomänen zu anderen als Staatsſchulden- 
tilgungsjweden wicht zuläſſig ift. Politiſchen und 
wirtjchaftlichen Bedenken gegen den Domänenbeſitz, 


| 


1225 


würde in diejen Städten wieder der Markt, durch 
den fie vom Zwiſchenhandel unabhängig werden, 
wieder erwachſen, während ihnen aus der Neu— 


wie jie vom Liberalismus mit Vorliebe erhoben | befiedelung heraus die notwendige Arbeiterjchaft 


werden, legt der Berfafler kein Gewicht bei. 
gegen verwirft er auch manche der Beweispunkte 
für die Domänenerhaltung, insbejondere die Be- 
tradhtung desjelben als ficheren Nejervefonds; 
wogegen er den Eimwurf des Grafen Moltfe, die 
Domänen nicht durch Verkauf der Berwirtichaftung 
preiszugeben, für beachtenswert erflärt. Bellagt 
wird aber die unfahmänniiche Verwaltung der 
Domänen, ebenjo das Verfahren bei der Ber: 
pachtung. Ohne den finanziellen Standpunft bei 


Da: | 





der Verpachtung zu unter und den, welcher aus | 


den Domänen Mufterwirtichaften macen will, 
zu überjchägen, ift der Verfaſſer doch der Meinung, 
dab der finanzielle Gejichtspunlt bei der Ber- 
pachtung nicht ausichlaggebend jein dürfe. Er 
empfiehlt aber die Einführung vobligatorijcher 
Buchführung mit jährlicer Inventur auch für den 
gejamten Großgrundbeiig — was doc wohl zu 
weit geht. Beller würde weiter nichts erreicht 
werden, als Berteuerung des Betriebes. Beifall 
giebt der Berfafler auch den Vorſchlägen €. v. 
Funle's, wonach die Domänen in größerem Um— 
fange der Tandwirtichaftlihen Werjuchsthätigfeit 
zuzuführen jeien, was eine ftrenge Auswahl unter 
den Domänenpächtern vorausjegen würde. Gewicht 
legt auch der Verfaſſer darauf, daß dem Staat 
als Beſitzer zahlreiher Domänen die Möglichkeit 
auf die Grumdbeligverteilung einzuwirfen gegeben 
jein würde. Man jollte daher auch den Erlös 
veränferter Domänen immer wieder zum Ankauf 
von Großgütern verwenden, two freilich die Auf 
hebung der beitehenden gejeplichen Beitimmungen 
borausgehen müßte. Ansbejondere fünnte man in 
Gegenden, wo der Grundbeſitz teuer ift, Domänen 
verlaufen, und in Provinzen mit billigeren Grund: 
preijen Güter erwerben. Ein guter Kern Tiegt 
ohne Zweifel, abgejchen vom Gewinn für den 
Staat, in diejem Borichlag; allein es ſtehen dem- 
jelben auch gewichtige Bedenten gegenüber. Nicht 
ungünstig jteht der Verfaſſer den Barzellierungs- 
beitrebungen gegenüber, indem er die Einwände 
dagegen befämpft. Über dieſe wichtige Frage 
uns auszuſprechen, findet fich vielleicht bejonderer 
Anlah. Übrigens ftimmen wir dem Berfaffer 
vollfommen bei, wenn er Fideikommißbeſitzern 
mit unzureichendem flüſſigen Kapital vorjchlägt, 
einen Teil ihres Beliges mit Meinen Bauern zu 
bejiedeln. Wir haben dieſen Vorſchlag jchon 
längit gemacht und halten ihn für den einzig 
durchichlagenden, um den Großgrundbefig vor dem 
Patifundismus und den Grundbeliterftand vor 
dem Untergang zu bewahren. Es unterliegt 
feinem Zweifel, dah ein Gut von 15002000 
Heltaren, deſſen Beliger SKapitalmangel vder 
Schulddrud leidet, jeine Verhältniſſe vollitändig 
ummandeln und jein Erträgnis verdoppeln würde, 
wenn er die Hälfte des Beliges parzelliert. Eine 
umfaflende Ausdehnung einer jolchen Mafregel 
in ſachgemäßer Durchführung würde den Heinen 


Landſtädten die notwendige bänerliche Verbrauchs“ 





bevölferung wieder jchaffen und den großen Gütern 


ohne gefährliches Proletariat zur Verfügung ftehen 


würde. Hierfür könnte der Staat beijpielgebend 
wirken. Nusführlich wird dann die Frage der 


rundeigentumsverteilung behandelt. Die wirt 
ichaftlihe Bedeutung und Stellung des Bauern 
wird zivar nicht erichöpfend, wohl aber zutreffend 
behandelt. Leider ift die Abnahme des bäuerlichen 
Grundbeſitzes feitzuitellen. Das Verhältnis in 
den jechs öftlichen Provinzen Preußens, wo vom 
landwirtjchaftlichen Beſitz wenig über ein Drittel 
bäuerlich ift, erjcheint als ein entjchieden ungejundes, 
an dem der Großgrundbefig jelbit in der Auf: 
löſung zum Latifundismus zu Grunde gehen muB. 
Nah der mitgeteilten übrigens mangelhaften 
Statijtit hat der bäuerjiche Grundbeſitz jeit 1816 
in den ſechs öſtlichen Provinzen mindeſtens 
486660 Morgen an den Großgrundbelig verloren. 
Hiervon kommt der Hauptanteil auf die Rrovinzen 
Preußen, Schlefien und Pommern. In Preußen 
macht der Verluft 4.10 Prozent des bäuerlichen 
Geſamtbeſitzes aus. Im Pommerſchen reis 
Lauenburg betrug die Verminderung des bäuer— 
lichen Beſitzes nicht weniger als 21.56, in Hirſch⸗ 
berg 20.59, in Lauban 20.35 Prozent. Nur im 
einzigen Regierungsbezirk Erfurt fand Vermehrung 
des bäuerlichen Bejiges ftatt. Hiermit geht aber 
die Berninderung der Bauern jeldit Hand in 
Hand. Nicht nur die Flächen, jondern auch die 
Bauern jelbjt verſchwinden. In Schlefien gab es 
1840 45,799 Bauerngüter mit 1,091,177.55 Fläche, 
1880 nur noch 40,876 mit 896,372.05 Flächen 
gehalt. Gleichwohl ist der Bauernitand noch lebens: 
fähig, bejonders wenn ihm eine breitere inder&emeinde 
zu juchende Grundlage als gegenwärtig gegeben 
wird. Hieraus würde ſich dann eine Berbejlerung 
der Lage der ländlichen Arbeiter, über welche ſich der 
Verfafler eingehend verbreitet, von jelbjt ergeben. 

Im weiteren verbreitet ſich der Verfaſſer über 
Auswanderung und Bevölferungsverhältniife, ſowie 
über Verfahren bei Barzellirungen und deren 
Erfolge. Er hält dabei das Höfejpftem für das 
beſſere; während thatjächlich, da es insbejondere 
auch auf einen zahlreichen und möglichft wenig in 
der Entwidelung beengten Bauernitand anlommt, 
das Gemeindeinitem das entiprechende iſt. Wir 
erfahren übrigens, daß das Ergebnis der älteren 
Parzellierungen in Neuvorpommern ein günftiges 
geweſen iſt. Hinfichtlich des Verfahrens bei zu— 
fünftigen Parzellierungen ftellt fich der Berfaller, 
indem er fein Reſtgut zurüdbehalten will, mit 
jeinen früheren Ausführungen in Widerſpruch. 
Hier handelt es ſich allerdings um praktiſche und 
vielfach jtreitige Fragen. Daß der Durchſchnitt 
des bäuerlichen Beſitzes der Leiftungsfähigleit einer 
Familie entiprechen follte, halten wir für richtig; 
nicht "aber die Schablonifierung. Auch find wir 
der Meinung, daß die Gebäude fertig überliefert 
werden jollten. Indes müflen wir uns weiteren 
Eingehens enthalten und uns beichränfen, den 
eigenen Einblid in das fleißige und an Gefichts- 
punkten reiche Werk zu empfehlen. 


1226 


— Deutihes Zeitungswejen der Gegen: 
wart von Franz Walther. 

Die vorliegende Heine Schrift giebt eine Dar- 
legung des Standes der beriobilihen Preſſe in 
Deutichland im allgemeinen und gebt dann im 
bejonderen auf die einzelnen Gebiete der Zeitung 
und des Zeitungswejens ein, ftreift im Worüber: 
gehen eine Anzahl prinzipieller ragen, um endlich 
auch über den publiziftiichen Beruf, über jeine 
Bedingungen und Ausfichten Randglofjen zu machen. 
Die Meine Schrift ift mit großer Sachkenntnis 
geichrieben und rührt offenbar von einem im 
Beitungswejen groß gewordenen Publiziften her. 
Mas nun das Urteil des Verfallers betrifft, jo 
ftimmen wir in vielen Punkten mit ihm überein, 
wir geben ihm zu, daß dem modernen Zeitungs- 
wejen große Schäden anhaften. Es ift in der 
That ein wenig jo geworden, wie eine franzöfijche 
Dame des ancıen regime fi) ausſprach: „Depuis 
qu’on a des journeaux, cn n’apprend plus rien;* 
es iſt Schade, daß der Charakter der Blätter ganz 
aufgehört hat, ein litterarifcher zu jein und daß er 
ein rein geichäftliher geworden it. Der geift- 
reichite Nedakteur der Welt kann allein mit jeinem 
Geiſt fein Blatt über Wailer halten, wenn ihm 
die Geldmittel fehlen, viele Injerate, viel Beilagen, 
ipannende Romane und gutes Depejchennaterial 
u bringen; es ift jchlimm, daß das Anzeige und 
— — daß Börſe und Handel und 
taujend andere Dinge, die mit litterarijcher Leistung 
nichts zu thun haben, die Blätter füllen. Aber 
was hilft jchließlich das Klagen? Fürft Bismard 
hat einmal, als Herr von Bennigien ſich vor 
unliebjamen Scwierigfeiten des Barteilebens aus 
der Politik zurüdzug, eine Bemerkung gemacht 
ungefähr des Inhalts, daß man die Umftände 
nicht jchaffen könne, jondern mit ihnen rechnen 
mühe, und daß, wenn er irgend ein Verdienſt in 
jeiner politiichen Laufbahn ſich zurehnen dürfe, 
es die Ausdauer jei, mit der er niemals die 


Schwierigkeiten geflohen, jondern ſtets verjucht | 


habe, „aus jeder Situation etwas zu machen.“ 
Das jcheint uns auch im Zeitungswejen der rechte 
Weg: unter den Unvolllommenheiten, die ſich 
überall auf diejer armen Erde finden, zu erreichen 
ſuchen, was zu erreichen ift. Hinſichtlich des 
Erreihbaren mögen wir aber dem Peſſimismus 
des Verfaſſers durchaus nicht beiftimmen. Wenn 
er am Schluß des Schriftchens jagt, ein Stüd 
Koealismus habe allezeit dazugehört, „auf dieje 
undanfbarite aller gebildeten Berufsarten feine 
Karte zu ſetzen“, heute ein noch größeres als vor 
dreißig Jahren, jo glauben wir doc), liegt der 
Schade wicht darin, dab im publiziftiichen Beruf 
und durch denjelben der Idealismus schneller 


ee ee 





erlahmte, als etwa im Beamten oder Offizier: | 
ftande, jondern der Schade liegt darin, daß jo 
viele von vornherein ohne irgend eine andere 
Idee in den Beruf eintreten, als den Munich, 


ſich jelber zur Geltung zu bringen. Wer aber 
die Dinge der Welt, auch die politischen, sub 
specice aeterni anjchaut, der wird auch im publi- 
bien Beruf jo gut wie in jedem andern Be: 
riedigung finden und ausharren können. Am 
Gegenteil halten wir es nicht für etwas Geringes, 


Nene Schriften. — Kirche. 


jondern für etwas Großes, wenn man dahin 
fonımt, täglich oder periodiih zu einem großen 
Leſerkreiſe zu jprechen und etwas Größeres noch 
auf diejem Wege Vertrauen und Einfluß zu er 
werben. 

In Summa: Mit Ausnahme des Fritiich +» pefit- 
mijtijchen Zuges, der durch die Schrift hindurd- 
geht, liegt eine Arbeit vor, die zur Orientierung 
um jo mehr zu empfehlen ift, als die Unkenntnis 
des Zeitungswejens im Ganzen noch eine jehr 
große ift und die Leute, die fortdauernd Redak—. 
tion und Erpedition verwechjeln, immer noch nicht 
ausfterben. 


2. Kirche. 

— Goldkörner aus dem deuſchen ev. 
Predigtichat alter und neuer Zeit. Bier 
Jahrgänge kurzgefaßter Predigten über die jonn- 
täglichen Evangelien und Epiſteln des ev. Kirchen: 
jahres. Heransgegeben v. C. 9. Rieger, PH. 
in Stuttgart. Greiner u. Pfeiffer. Liefrg. 
2—12. Schluß.) a 40 Pi. 

— Kirchliches Handlerifon. In Verbin— 
dung mit einer Anzahl ev.-Iutheriicher Theologen. 
—— von br. pl. Meuſel P.in Rochlitz. 

iefrg. 11—14. ä1M. Leipzig. J. Naumann, 

Berde Schriften haben wir bereit# angezeigt 
und empfohlen ; die eritere 1887 ©. 1107, die 
zweite im Aprilheft d. J. Wir haben aljo mur 
unjere Empfehlung zu wiederholen ; in Bezug auf 
das zweite große Wert mit dem erneuten Hin— 
weis darauf, daß die Nrtifel der Realenchtopädie 
die Einigfeit des Geiftes jämtlicher Mitarbeiter 
verraten, was wir für einen Gewinn halten. 
Auch die uns neun vorliegenden Hefte entiprechen 
durchaus den gehegten Wünſchen und Ermwartun- 
gen und jomit wird biejes Buch eine erfreuliche 
Bereicherung des Bücherſchatzes der ev.-Iutherichen 
Kirche jein. Möchte diejes Werk raſch mit gleichem 
Geſchick jeinem Ziele entgegen geführt werden. 


— Das Leben Fein. Der Ehrijtengemeinde 
zur Erbauung dargeitellt von R. Asmis, Paitor 
zu Scönermarf. Im Selbitverlage des Berf. 

II un 740 ©. 6 A, direft bezogen 4,50 M, 

Ein Leben Jeju in kurzen Betrachtungen jämt- 
licher Gejchichten und Reden des Herrn zur 
Erbauung gläubiger Lejer. Als jolhes empfehlen 
wir das Buch von Herzen und wer die Gejtalt 
des ſchönſten unter den Menjchentindern, deſſen 
Lippen holdielig find, an fich in der Stille vorüber- 
gehen laſſen will, der wird Freude und Segen 
haben. Es ift jomit nicht ein „Leben Jeſu“, wie 
wir Bücher von Profeſſoren und mit diefem Titel 
beiigen. Alle Fragen menjchlichen Wites fallen 
hier aus, aber der, welcher die Wahrheit jucht, 
die uns frei macht, kann ſie in diefem Buche 
finden. Man wird auch nicht eingehende Erfärung 
von des Herrn Neden erwarten. denn es iſt z. B. 
nicht möglich, die Abjchiedsreden des Herrn auf 
30—40 Seiten zu erflären, aber Fingerzeige zum 
richtigen Verſtändnis, einfältige Anwendung wird 
man nicht vergebens juchen. Daß der Verf. eigene 
Erfahrungen an Kranfenbetten zur Verdeutlichung 
einflicht, ift nicht zu tadeln Wir wünjchen dem 


Neue Schriften. — Kirche. 


Buche Eingang in die Häufer der Chriften, bie 
gern an der Quelle jhöpfen und für ein Schöpf- 
gefäh aus des Nachbars Hand dankbar find. 


—r. 
— Brobleme aus der dhriftlihen Ethik. 
Bearbeitet von Julius Schiller, evangelijcher 
Pfarrer zu Nürnberg. (Berlin, H. Reuther.) 
1888, 116 ©. 8% M. 2. 
Die Broſchüre behandelt: 1) Die Adiaphora und 
das Erlaubte. 2) Die Asteje. 3) Das Gelübde. 
4) Das Gewiſſen. 5) Die Kollifion der Pflichten. 
6) Die Freiheit des menjchlihen Willens. Unter 
fleißiger Benutzung der einichlägigen Litteratur 
werden dieſe twichtigen fittlichen Probleme mit 
nüchternem evangeliichen Urteil erwogen und gelöft. 
MWejentlih Neues läßt ſich in diefen Dingen kaum 
vorbringen, die Frage ift nur, ob die Aus. 
führungen das abwägende fittliche Bewußtſein auf- 
zuflären geeignet find und die getroffenen Ent- 
icheidungen fich demjelben bewähren. Wir möchten 
dieje Frage bejahen, ohne jedoch dadurch unjere 
Übereinftimmung in allen Bunkten befunden zu 
wollen. A. H. 


— Glaube und Wiſſen bei Loge. 


18858. 486 8°. 19 

Belanntlih war es Loßes unaufhörliches Be- 
müben, derjenigen Richtung der modernen eraften 
Wiſſenſchaft, welde mit Bedauern oder mit Be: 
hagen durch die amngeblihen Reſultate ihrer 
„vorurteilslojen Forſchung“ das Glauben und 
Hoffen des menschlichen Herzens als bloße Jllufion 
zu erweijen jucht, das gute Recht der Forderungen 
des Gemüts entgegenzuhalten und jener Richtung 
in Erinnerung zu bringen, daß Objektivität der 
Erkenntnis nicht gleichbedeutend mit Vernach— 
läjfigung oder Mißachtung diejer wichtigiten Seiten 
des Menjchengeijtes jein könne. Andererſeits 
erihien Loge auch eine Teilung des einen 
Menjchen in einen fühlen Forſcher, der fich um 
die Unruhe jeines Herzens nichts kümmert und 
einen warmenpfindenden Träumer, der jich jhönen 
Alufionen Hingiebt, ohne nach deren objeftiver 
Berechtigung zu fragen, durchaus unerträglich und 
widerlinnig. Mochte er auch daran verzweifeln, 
eine Weltanfhauung, die mit wiflenichaftlicher 
Folgerichtigkeit Befriedigung des Herzens verbindet, 
füdenlos durchzuführen, N, war es doch jein 
Haube, daß gegenüber den wirklichen Reſultaten 
erafter Forſchung für die Welt des Gemüts 
immer wenigitens die Möglichkeit ihrer Wahrheit 
fich werde zeigen laſſen. — Die hierauf bezüglichen 
Gedanken hat das oben angezeigte Schriftchen aus 
Lopes Werfen zujammengetragen und in an 
iprechender Weije dargeftellt. A. H. 


— Sant, Lotze, Albrecht Ritihl. Eine 
fritiiche Studie von Lie. theol. Leonh. Stählin, 
II. Pfarrer in Bayreuth. (Leipzig, Dörfiling & 
Franke) 1888. 2536 8°. M. 4. 

Bei der ſtets wachjenden Bedeutung, welche die 
Theologie Ritſchls gewinnt, iſt eine gründliche 
Unterfuhung der philojophiihen Vorausjegungen 
diejes Syſtems bejonders erwünjht. Denn aus 
jeinen philojophiichen Borausjegungen leitet Ritſchl 


Bon | 


Dr. Kari Thieme. Creivaig, Dorffling & Franke.) Bewußtſein gekommen ſei und eine Kriſis erzeugt 








1227 


ſeine eigentümliche Poſition und aus dem Mangel 
an Bertändnis für dieſe Vorausfeßungen jeitens 
jeiner Gegner deren ihm unzutreffend erjcheinende 
Polemik ab. Das vorliegende Buch giebt nun 
zunächſt eine Kritik der Ertenntnistheorie Kants 
und Lotzes und zeigt dann, daß Ritſchl troß jeiner 
gegenteiligen Behauptung im mwejentlichen nicht 
Lotze, jondern Kant folgt. Mit jchneidiger Dialektik 
wird dann nachgewieſen, indem die einzelnen 
erfenntnistheoretiichen Sätze Ritſchls bis in ihre 
legten Konjequenzen verfolgt werden, daß dieſe 
Borausjegungen die Möglichkeit jeder theologischen 
Erfenntnis aufheben und die religiöjen Thatjachen 
in fubjeltiven Schein auflöjen, über deilen objektiven 
Hintergrund fich nichts ausjagen läßt, aljo nicht 
geeignet erjcheinen, dem Zwecke zu dienen, um 
deffen willen fie aufgeſtellt find. Das relative 
Recht der Ritſchl'ſchen Theologie ſieht der Verf. 
darin, dab in ihr dem theologiichen Denken der 
Gegenjag zwiichen den auf heidniicher Grundlage 
erwachjenen philofophiichen Borausjegungen, an 
welche die hriftliche Lehrwiſſenſchaft einst harmlos 
angefnüpft hat, und die dadurch in die gejamte 
theologiſche Tradition übergegangen find, einerjeits 
und der hriftlichen Heilswahrheit andererjeits zum 


habe, deren Löſung jedodh noch ausſtehe. Es 
bleibe demmac der Theologie die Aufgabe ihrer- 
jeits, nicht im Anjchluß an ein gegebenes philo- 
jophijches Syſtem, jondern aus der Tiefe der 
chriſtlichen SHeilserfenntnis heraus eine Meta- 
phyſik und Erfenntnistheorie zu entmwideln. — 
Die Ritihl’ihe Schule wird das Schriftchen ein- 
gehend würdigen müſſen; ohne Zweifel wird es 
durch jeine gründlichen Ausführungen zur Klärung 
der Lage beitragen. A. H. 

— Der tiefe Graben zwiſchen alter und 
moderner Theologie. Ein Bekenntnis von 
Franz Delitzſch. (Leipzig, Zentralbüreau der 
Inftituta Judaica.) 1888. 

Daß das Epriftentum der ig er 
und hierauf fommt es vor allem an, dab dieſes 
Ehriftentum nicht das hiſtoriſch urkundliche ift, 
zeigt Brof. Deligic in einer jo eigenartigen Weiſe, 
daß er jeinen auf einer Konferenz in Glauchau 
gehaltenen Vortrag ein „Belenntnis” nennen 
fonnte. In der That, wer die Gegenjäße von 
Gott und Welt, Gnade und Natur jo herab- 
mindert oder ganz verwiſcht, wie die Ritſchel'ſche 
Schule es thut, wer die Erbjünde leugnet, das 
ftellvertretende Thun und Leiden Ehrifti zu einem 
falichen Theologumenon ftempelt, den perjönlichen 
Verfehr mit dem lebendigen Gott zu ben 
erfahrungsmwidrigen myſtiſchen Illuſionen rechnet 
und die Wirklidjfeit des Wunders leugnet, der 
hat ein anderes Ehriftentum, wenn anders jeine 
Religion noch diejen Namen verdient. Daß der 
Bert. mit vollem Recht von einem tiefen Graben 
redet, den feine Kunſt überbrüden fann, wird 
niemand leugnen können, der mit dem alten 
Glauben Ernit macht. Uns iſt das Zeugnis des 
ehrwürdigen Lehrers unferer Kirche nm jo wert. 
voller, als ſich derſelbe bekanntlich den kritiſchen 
Forichungen gegenüber durchaus nicht entjchieden 
abmwehrend verhält. — -T. 


1228 


3. Geſchichte. 


— Die Schulgejeßgebung des Herzogs 
Auguft des Jüngern von Braunſchweig-Wolfen— 
büttel. Eine jchulgejchichtlihe Abhandlung der | 
Georgia Augusia zu ihrem einhundertfünfzig: 
jährigen Aubelfefte dargebracht von Prof. D. Dr. 
Friedrich Koldewey, Direktor des Herzoglichen 
Realgymnaſiums zu Braunfchtweig. (Braunjchweig. 
Koh. Heine. Meyer.) 1887. 43 ©. 


Aus der Menge der in den legten Jahrzehnten 
veröffentlichten alten Sculordnungen, die, der 
Natur der Sache nad), ſich ſchon zur Zeit ihres 
erſten Erjcheinens nicht durch allzu jpannenden 
Anhalt auszeichneten, ragt die hier in vorzüglicher 
Weije behandelte durch gejundes, praftijches Urteil 
und trefflihe Gefinnung weit hervor. Sie ijt 
Zwedichrift und nur für ein Heineres Publikum 
berechnet, jo daß wir auf eingehendere Beiprehung, 
wie fie ihr in Fachzeitichriften zu Teil geworden, 
an diefem Orte verzichten müſſen. Das Nejultat 
der Unterſuchungen des Verfaflers läßt ſich in das 
Wort zujammenfallen: In der Schulordnung des 
Herzogs Auguſt hat der Humanismus kurz vor 
jeinem Erlöjchen noch einmal eine jeiner reinjten 
und edeliten Blüten getrieben. 

Es ſei geitattet, in Kürze einige Fulturgejchicht- 
lich — Notizen der ſehr empfehlenswerten 
Arbeit zu entnehmen. Die Einleitung der Schul- 
ordnung beflagt die traurigen Verhältniſſe des 
damaligen Unterrichtsivejens und jpricht in fräftigen 
Worten von der Geringichägung, mit der man den 
Vertretern des Lehrerjtandes begegne. „Obwohl 
fein Dorf, Stadt oder Kommun jo Hein oder 
geringe ift, derer Einwohner nicht mit jonderbaren 
Fleiße darauf bedacht jein, damit fie denen, welchen 
fie ihre Kühe, Schweine und ander Vieh anver- 
trauen gebührlich lohnen fünnen, nur zu dem 
Ende, damit ihr unvernünftig Vieh wohl in Acht 

enommen und fie davon die Nahrung vor den 
terblichen Leib und elenden Madenjad haben und 
nehmen mögen: fo läßet ſich dennoch — welches 
nicht genug mit Thränen zu beflagen ift — fein 
Menſch, oder jedoch unter taufend kaum einer 
finden, welder darauf mit Ernſt gedächte, zu 
geichweigen jährlich oder monatlich ein gewiſſes 
hergeben wollte, wodurd) der Präzeptor oder Schul- 
meijter jeinen Unterhalt haben könne.” Diejer 
Satz ijt ſtark gekürzt, er enthält im Driginal 199 
Wörter! „Gerät es zu ehrlichen Zufammenkünften, 
Gelagen, Prozejlionen auf Hochzeiten, Kindtaufen 
oder anderen bürgerlichen Konverjationen, da iſt 
niemand aud unter gemeinen Bürgern, welcher 
denen Präzeptoren zu weichen oder jelbigen die 
Dberftelle zu laffen gemeinet, jondern cs muß ſich 
der arme Präzeptor, ob er jchon Rektor, Konrektor 
oder Subconrektor an der Schulen ift, von Hand- 
werfsleuten, Schuiter, Schneider, Bäder, Brauer, 
Kramer und anderen, ja auch denen, jo wohl gar 
nichts zum gemeinen Beſten thun, jondern ent 
weder von Finanz und Wucher oder dennoch von 
demjenigen leben, was ihnen ihre Borfahren hinter: 
legt, fruges consumere natis, hinunter 
ſtoßen und verachten Taffen.“ Heutzutage ftehen 
wir zur Abwechslung wieder einmal auf dem 








Neue Schriften. 


— Geſchichte. 


anderen Extrem: jeder Schulmeiſter hat mehr oder 
weniger die Schlaht von Sadowa gewonnen. 

Schr darakteriftiich für die damalige glüdlicye 
Zeit ift die Mitteilung der Arbeitszeiteinteilung. 
Es wurden an öffentlichen Stunden nur morgens 
zwei und nachmittags, mit Ausichluß des Mitt: 
wochs und Sonnabends, gleichfalls zwei Stunden 
erteilt, und von diejen fielen außerdem noch die 
eriten Morgenjtunden am Montag und Donnerstag 
infolge des Gottesdienjtes, an dem die ganze Schule 
teilnehmen mußte, aus. Das war eben die jchöne 
Beit, in der man nur in den Spraden und den 
Anfängen der Bhilviophie die Grundlage wahrer 
Wiffenichaft erkannte und die Einführung der 
Nealien in den Schulunterricht für eine verderb- 
liche Neuerung hielt. 

©. 30 ift die Koſtenrechnung der Frau des 
Koadjutors Rudolphi mitgeteilt, bei dem der Bili- 
tator der Braunschtweiger Schulen eine Woche lang 
wohnte, und die im ganzen 36 Thlr. 9 gr. betrug. 
Für diejes Geld wurde aber auch nicht ſchlecht 
aufgetiicht: Hafen, Hühner, wilde Enten, Krammets- 
vögel, Tauben, Lachs, Krebſe, Hechte, Karpfen, 
Artiihoden und eine Menge anderer Zederbiiien 
wurden mit Wein für 8 Thaler angefeuchtet, ein 
Bild wie aus Voß' Louiſel Wenn man den Wert 
des Geldes in jener Zeit bedenkt, jo kann man 
ſich nur über die Belferung freuen, die darin liegt, 
daß die fetten Vilitatorjtellen heutzutage etwas 
weniger lutrativ, dafür aber die Lehreritellen und 
die Stellung der Lehrer eine beſſere geworden iſt. 
Eine entſchiedene Wendung zum Beſſeren! 

— Geſchichte Deiterreihs. Bon Alfons 
Huber. 3. Band. Geſchichte der europäijchen 
Staaten. Herausgeg. von Heeren, Ukert und von 
Giejebredht.) Gotha. Friedr. Andr. Perthes, 1888. 
XX und 565 ©. 11 M. 

Es möge nicht verdriehen, einige bedeutende 
Sätze aus der Vorrede des eriten Bandes wieder: 
holt zu jehen, wiewohl derjelbe bereits in einem 
früheren Jahrgange jeine Würdigung fand. 
„Wenn die Gejchichte Oeſterreichs nicht gleich der 
Summe der Geichichten der einzelnen Kronländer 
aufgefaht werde,“ jei fie ein bejonders ſchwieriges 
Unternehmen, da alle Ländergeihichten ſich in 
einander verjchlungen zeigen. Sodann: Huber ift 
nicht der Meinung, dab alle Gejchichte in eriter 
Linie Rulturgejchichte jei; er verlangt (mit Hante 
und Lorenz) „Einjchränfung auf das ftaatliche 
Moment“, indem er Treitichfes köftlihe Worte 
zitiert: „Hiſtorie hat nicht die Aufgabe, einen 
Volta unter jeinen Froſchſchenkeln zu betrachten 
oder aus den Funden der Topfgräber die Ent: 
widelung der Yampen nachzuweiſen.“ Daß dabei 
das hiſtoriſch Wejentliche des Kulturfortichritts 
nicht vernachläjligt wird, zeigt in den früheren 
Bänden z. B. Die Beobachtung der deutichen 
Kolonijation in Ungarn, im dritten die Gejchichte 
der Univerfität Wien im Zeitalter des Humanismus. 

Der erite Band ſchloß mit der am „Glüdstag“ 
(d. h. damals Freitag!) gewonnenen Schlacht auf 
dem Marchfeld; der zweite zeigte das Ringen der 
Habsburger und Yuremburger um das große Erbe 
im Oſten, der dritte bahnt jeine dauernde Belit- 
nahme (inch, Defterreih und Böhmen) an. Go 


Neue Schriften. — Poeſie. 


ftehen Friedrich III. und Mar I. im Vordergrund. 
Der letztere wird mit derjelben Sympathie wie bei 
Hanke aufgefaht, das „ichtwarzgallige Urteil” jeines 
neueſten und ausführlichiten Biographen Ulmann 
vielfach widerlegt. Bei dem Tadel jeiner fajrigen 
äußeren Politik, die ihn 1511 veranlaßte, jogar 
die päpftliche Tiara (d. h. Ataliem) für ſich zu 
eritreben, ift doch micht vergeilen, wieviel er 
gerade für die Großmachtftellung Defterreichs 
gethan, und namentlich, wie er die innere Ver— 
waltung in moderne Formen übergeführt hat. 
Bejonders fein iſt schließlich der Gewinn der 
ungarischen Krone durch Ferdinand I. dargeitellt 
auf dem Grunde der Zerjegung, die Ungarn ſchon 
vor dem Türfentriege von 1526 erfahit hatte. 
Mafhaltigkeit in der Auswahl des Stoffes, der 
doc eine große Quellenfunde, jelbit für Ungarn, 
zu Grunde liegt, zeigt die Nennerichaft des Ber: 
faſſers. Auf Intereſſantheit legt er es nicht eigens 
ab. Die Darftellung ift nirgends glänzend, aber 
gediegen. Das Gebotene jcheint eher weniger, als 
es wirklich iſt. Die Charakteriſtiken fteigen nirgends 
in die myſtiſche Quellentiefe der Perſönlichkeiten 
hinab, in denen 3. B. Nitzſch phantaftiich herum— 
jtörte, fie halten ich mehr an's Aeußere und an 
das Sichere. Traditionen gegenüber ift Huber 
gerne fonjervativ. Nod mehr als das: er citiert 
Jörg und Janſſen mit unliebfamer Unbefangenheit. 
Wenn er demnad, katholisch und Defterreicher, 
dem tiefjten gottgegebenen Impulſe des beginnenden 
16. Jahrh. nicht voll gerecht werden kann, nimmt 
er gegen grobes hiftorisches Unrecht doch die Refor— 
mation in Schuß 3. B. als hätte fie den Bauern: 
frieg geboren. Nur wo Verf. den Dingen litterariid) 
ferne fteht, läuft wohl ein jchiefes Urteil unter: 
daß bei Granſon und Murten die Eidgenofien viel 
jchwächer geweien jeien als Herzog Karl (ein jept 
widerlegtes Vorurteil). — So ilt es ein überaus 
tüchtiges quellentreues Werk, das wir dem Intereſſe 
der lich hiſtoriſch Bildenden hiermit — 


— Griechiſche Geſchichte bis zur Schlacht 
bei Chaironeia von Dr. Georg Buſolt, Prof. 
der Geſchichte an der Univerſ. zu Kiel. 1. Teil 
XHU und 623 © 2. Teil XVI und 607 ©. 
a 12 .M. der der alten Geſchichte LI.) 
Gotha. Friedr. Andr. Berthes. 

Zwei berühmte Forſcher des griechiichen Alter— 
tums, Mar Dunder und Arnold Schäfer, haben bei 
diejem Werke gewiſſermaßen Paten geitanden. Nun 
ift eine griechische Gejchichte von diefem Umfange 
(der 2. Teil geht bis zum peloponnejiichen Kriege) 
und diejer Anlage ſchon an fich ein Ereignis. Und 
überdies hat dies Werf jeinen ganz eigenen Cha— 
rafter. Das orientalifche Element in der griechi— 
ichen Frühkultur wird hier jehr fnapp bejichnitten ; 
auch die Korier fieht der Verf. als NArier an. 
Wohl nimmt er an, daß die Pelasger eine nicht 
helleniiche Sprache redeten, aber er veritellt derart 
alle öftlichen Wege, daß man etwa die Vorfahren 
der Schfipetaren darin erfennen müßte. Beiläufig 
nur giebt er zu, daß die helleniiche Buchitabenichrift 
jemitisch ift; eine unmittelbare Einwirkung jemiti- 
icher Kultur auf griechiiche vor Piammetich ſtellt 
er in Abrede. Ethnologiſche Vorftadien find offen- 


Die | 





1229 


bar für den pofitiv angelegten Hiſtoriker, den 
vorzugsweije litterariich Gebildeten, eine Fatalität. 
Veitpiefsweile führt B. die alten Minyer mit ihren 
Werfen ein, 
er nicht. 

Wo Dagegen der Strom der herodoteiichen Er: 
zäblung beginnt, deſſen centrale Stellung in der 
Onellenlitteratur meifterhaft erörtert wird, da fühlt 
man, wie der Verf. fich mit Behagen in jeinem 
eigentliden Fahrwaſſer bewegt. Allerdings hält 
er ſich zu jehr an Herodot und zeigt einen Mangel 
an Steplis, der anderen Foridiungsgebieten mur 
zu empfehlen wäre. Auch die Geſchichte der Weit: 
griechen wird mit großer Gründlichleit herein- 
gezogen und der Geſchichte der Litteratur, der 
Genealogie der Quellen ein jtaunenswertes Stu: 
dium gewidmet. Doch vermijjen wir bei der 
Homerfrage Sengebuſchs Namen und erklären uns 
von der Paritellung des Eleatismus nicht für 
befriedigt. Bei der Dialeltfrage hat Here Prof. 
Blaß⸗Kiel beigetragen, dem auch unjere Monats. 
jchrift manch ſchönen Beitrag verdankt. 

Das vorgeitedte Ziel, dem Lernenden durch 
gründliche Einführung in die Quellen zu dienen, 
hat das Werk erreicht. Durch feine Voreinge- 
nommenheit macht jich der Führer uns verdächtig, 
über die größten Stoffmafjen wird mit mufter- 
hafter Klarheit disponiert. Auch wird das Buch 
den Studierenden in ernite Aucht nehmen, ihn 
frühe jelbjtändig machen: als Krücke wird cs 
ſich nicht brauchen laſſen. Für die ſchwierigſten 
Materien ftehen die Ergebniſſe jelten dogmatijch 
bei einander, überall herrſcht induktive Methode. 
Allerdings fehlt das fünftlerifche Element, welches 
Otfried Müllers und Ernft Curtius Werle zugleich 
zu Hajliichen Büchern der deutſchen Litteratur 
gemacht hat; aber man muß geitehen: was wir 
fiher über griechiſche Geichichte in dem halben 
Jahrhundert bis zum großen Bruderfriege willen, 
das leſen wir hier vereinigt — und wie wir es 
erfahren künnen. L. ©. 


aber „wer die Erzeuger“, das jagt 


4. Poeſie. 

— Faftnachtsjpiele von Heinrid Kruſe. 
(Leipzig. Berlag von ©. Hirzel.) 1887. 115 ©. 

Der Dichter, dejjen rüftigem Schaffen wir jchon 
ein Dutzend Traueripiele verdanken, hat fich bier 
mit Glüd leichteren Stoffen zugewandt. Die drei 
Faftnachtsipiele: der Teufel zu Lübeck, der eifer- 
jüchtige Müller, ftandhafte Liebe, behandeln mittel- 
alterlicdie Erzählungen in geichicdter Wahl und in 
vorzüglicder Darjtellung. Der Berfafler beherricht, 
was man troß aller germanijtiichen Studien gerade 
bei unjeren Dichtern nicht häufig antrifft, die An— 
ſchauungs und Ausdrudsweije der Zeit, im der 
jeine Geſchichten jpielen, mit jeltener Bertrautheit. 
Ueberall fühlt man in wohlthuender Weije Die Liebe 
durch, die ihm zu jenen Stoffen gezogen hat. Ya 
es jcheint faſt, als ob er darin etwas weit ginge, 
wenn er in jeinem Brolog die kühne Frage auf- 
Be die er allerdings nur ganz leife gejagt haben 


„Wenn wir bei Nürnbergs Art geblieben, 
Wer weiß, wir hätten’s weit getrieben!“ 
Wohl hat er recht, wenn er jagt: 


1230 


„Doc wer ein wenig tiefer blict, 
Iſt nicht jo ganz und gar entzückt 
Von Weimars Dekfamation, 

Und Schiller jelbjt bemerkt’ es jchon: 
Der jhönen Worte find zu viel, 

Sie fennen weder Maß noch Biel.” 

Doch darf auch nicht vergejlen werden, daß 
„Nürnbergs Art” nie hätte Hajfiich werden können 
und daß der Leiſten Hans Sachs’ nicht für jeden 
Stoff paßt. — 

In dem „eiferfüchtigen Miüller* würde das fein 
durchgeführte Kolorit nicht Not gelitten haben, 
wenn die zwar echt mittelalterliche und Shafeipear- 
iche, aber zum Glück nicht mehr moderne Derbheit 
©. 43, die allerdings bei den Impreſſioniſten unjerer 
Litteratur Beifall finden dürfte und en plein air 
vielleicht eher zu ertragen wäre, einfach tweggeblieben 
wäre. Bei der Daritellung wird fie hoffentlich 
dem Kotitifte nicht entgehen. Der kurze Monolog 
des Teufels ©. 20 ift nur dann verftändlich, wenn 
der Leſer fich jeiner Verwandtichaft mit den jata- 
niichen Reden in Hiob und Fauft erinnert. Es 
hätte etwas deutlicher darauf hingewieſen werben 
fönnen. „Der eiferfüchtige Müller“ eignet fich 
unjeres Erachtens am heben zu jcenijcher er: 
wendung und wird bei einigermaßen geichidter 
Beſetzung ftets gefallen. Jedoch wollen wir unfer 
Bedenken über die etwaige Zulaſſung diejes Stüds 
auf die Bühne in nicht rein protejtantiichen Städten 
nicht unterdrüden; der katholiſche Pfarrer muß in 
unjeren Tagen zarter behandelt werden. 


— Herr im Haunje oder Ein geplagter Par- 
lamentswähler. Schwank in zwei Aufzügen von 
Friedrich Roscius. (Leipzig. Reinhold Werther.) 
38 ©. 

Der äußere Doppeltitel dieſes Schwanks umhüllt 
noch ein zweites Blatt, auf dem, um einem drin- 
genden Bedürfniſſe abzuhelfen, noch ein dritter 
Titel jtebt, unter welchem der Käufer ebenfalls 
berechtigt ift, dasjelbe in jeder Buchhandlung zu 
fordern: Simon Gourlay. 

Selten hat ein Schwanf uns in eine jo trübe 
Stimmung verjegt, wie dieſer geplagte Simon 
Gourlay. Das Stüd jpielt in England, und falls, 
wie es den Anjchein bat, jeine Vorlage engliicher 
Abjtammung ift, wie es bei der Art der darin 
vorfommenden jogenannten Wige zu vermuten 
ſteht, jcheint es unbegreiflih, daß man ſolch un- 
gereimtes Zeug importieren mag. 

Der Träger der Hauptrolle ift eine widerwärtige 
Schlafhaube, jein Weib ein Drache S. 37: „Ichred- 
liher als der leibhaftige Satan!”), die Handlun 
unmahrjcheinlich, die Situation verfehlt, der Schluß 
jammervoll. 

Als Troft und Entjchädigung offenbar für den 
armen Leſer ift von der Berlagshandlung der 
legten Seite gegenüber die Empfehlung eines 
Werles von J. Weiß beigegeben: Leichte Neigungen! 
(Das Ausrufezeichen, das hier bejonders wirkungs- 
voll it, befindet jich im Titel!) Auf dem Bilde 
produziert ſich eine unbejchreiblich ordinär gezeich- 
nete Birkustünftlerin am hohen Traprez. Nicht 
einmal dieſe Reizung vermag dem „geplagten 
Wähler“ aufzuhelfen. 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


Deffentlihen und Privatbühnen — ift 
der „Schwank“ Manuſtript. Möge dies ihöne 
Verhältnis nie anders werden! . 


5. Unterhaltungslitteratur. 

— Kulturhiſtoriſche Erzählungen von 
Guftad und Ina von Budmwald. I. Der 
Heljäger von Waldbad. (Kiel, E. Homann. 1888.) 

Der Verfaſſer der gutgeichriebenen und gern— 
gelejenen Skizzen, die ſich: Deutiches Gejellihafts- 
leben im endenden Mittelalter betitelten, bat, 
manchem gewiß nicht unerwartet, mit dieſem 
Buche fih der Romandichtung zugewandt, als 
liebenswürdige Genojfin ſich jeine Frau affocierend. 
Es ift ja nicht das erfte Mal, daß jich, jeit Freitag 
das Beijpiel gab, ein Hiltorifer von Fach ins 
Gebiet der Phantafie wagte und zu verfolgen, 
wie ſich jedem der Hiſtoriker der Gegenftand jeiner 
Forſchung widerjpiegelt, bleibt allerdings für den 
Beobachter ftets eine interejfjante Aufgabe. Auch 
Herr dv. B. darf ein jolches Intereiie für ſich 
beanjpruchen, als Hiftorifer, wie jegt als Roman— 
ichriftjteller. Es mag der Leſer herausfinden, ob 
der Verfaſſer mit jeiner Lebens und Welt- 
anjchauung jchon abgeſchloſſen und fertig ijt, oder 
ob er fich noch in der Periode des Schwanfens 
und Ringens befindet, ob er den Weg von Loyola 
zu Spee ſchon zurüdgelegt hat oder noch unter 
wegs ift. Sedenfalls ift die Zeit des Romans 
und jein Gegenitand recht wohl geeignet, dafür 
die Folie zu bilden, die Zeit des Friedens nach 
dem 30 jährigen Kriege, wo fi die Welt zu 
erholen und zu befinnen begann, nach der Unruhe 
das Bedürfnis nach Ruhe faft ängitlih empfand 
und wo jene gräßlichſte aller Geifterverfolgungen, 
der Teufelsglauben und die Hexenprozeſſe ihre 
erften Gegner und religiöje Toleranz ihre eriten 
Vorfechter fand. Am jübweitdentichen Gebirgs- 
bade — leicht verftändlich find die Nomannamen 


| Waldbad, Flenz, Altenburg u. j. w. — treffen 


die Berjonen der Handlung zujammen, Dentiche 
durchweg, aus Nord und Süd, zum Teil in ihren 
Ahnen italienische, iriſche Abſtammung mit 
Bigeunerbiut mijchend, jo von vorne Herein in 
ein romantisches SHelldunfel getaucht, wie denn 
überhaupt von den Mitteln der Romantik ein 
ansgiebiger Gebrauh gemacht it; insbejondere 
darf es als ein guter Gedanke bezeichnet werden, 
zur Erflärung von Zauberei und Hexenweſen den 
modernen Hypnotismus zu verwenden. Auch mit 
den Anforderungen der Nomantechnit zeigen ſich 
die Berfafjer in diejem ihrem Erftlingswerfe wohl 
vertraut, und die Gabe des Humors ift ihnen, 
wie z. B. das Kapitel von der Erſcheinung des 
Holjägers beweiit, nicht verjagt. Um jo mehr 
aber darf Verwahrung eingelegt werden, daß hier 
im Kampfe gegen Keberanihauungen und Steper- 
gerichte jelbit ein solches gegen eine moderne 
Romanjchriftitellerin unter leichter Namensänderung 
in Scene gejegt wird und auch jonjt in allerlei 
Andeutungen und Anjpielungen hervorragende 
Leute der Gegenwart, moderne Berhältnifie und 
jelbjt Berjonen aus der Bekanntſchaft des Autors 
re werden, für den damit Bertrauten durch · 
ichtig genug und nicht gerade immer fein. Die 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


etwaige Berufung auf ein Mafliihes Vorbild 
möchte eine Rechtfertigung nicht gewähren. Und 
ebenjo hätte die gelegentliche zwedloje Verweiſung 
auf ein älteres Buch des Herrn von B. in Wegfall 
fommen dürfen. 

Alles in allem: Hier liegt ein Bud) vor, deſſen 
Lektüre nicht gerade leicht ift, das aber recht 
energijche Leſer vielleicht zum zweitenmale in die 
Hand nehmen werden, 


— Erzherzog Karls Liebe u. „Der Kampf 
um den Niederwald“. Roman von C. Byr. 
(Stuttgart, Süddeutiches Berlagsinftitut.) 1888. 
2 Bände. 

Wir erjehen aus einem Verzeichnis, welches dem 
eriten Bande angeheftet ijt, daß der bis dahin uns 
unbefannte Berfaffer bereits 22 Bücher verfaßt 
hat, darunter Gedichte, Dramen, Firchenpolitijch- 
philojophiihe und litterarijch-Fritiiche Arbeiten. 
Wir können nur wiünjchen, daß die 22 bejler 
geglüct jein möchten, als Nr. 23. Hinfichtlich des 
vorliegenden Buches geitehen wir offen, dab wir 
nur einen Teil des erjten Bandes gelejen haben. 
Es ift uns beim bejten Willen nicht möglich 
gewejen uns weiter durchzuarbeiten. Sind tapfere 
Xejer vorhanden, die es wagen wollen, die zwei 
Bände zu bewältigen, jo raten wir niemandem 
ab. Es ijt ja möglid, daß in dem ungelejenen 
Teile noch ungeahnte Schönheiten winken. Der 
Anfang freilich verjpricht wenig genug. Und ein 
trivialer, mit der üblichen Schablone tiefichwarz 
angemalter Jejuit, der als böjes Prinzip auftritt, 
läßt im Fortgang um jo Schlimmeres befürchten, 
als der Verfaſſer ſich zu Leſſing und zum Frei— 
finn befennt. Der Stil erinnert an „berühmte 
Mufter”, wie „Biltole und Feder” und ähnliche 
Berlen moderner Litteratur. Eine Spezialität des 
Berfaflers find die überaus umſtändlichen Mobiliar- 
beidjreibungen, die in Tapeziererfreiien Aufſehen 
zu machen berufen find. 


— Elja. Eine novelliftiiche Studie von Frie— 
.. Nonnemann. (Leipzig. Reinhold Werther.) 
63 ©. 

Elja, die Tochter des Herrn von Hohenburgen, 
wird von Erich, den fie jehr liebt, um Anna's 
willen verlafjen. Sie folgt ihm nad) Amerika, 
wird, nachdem fie ihr Geld durch den Brand ihres 
Hotels verloren, Runjtreiterin 

„Auf ſtolzen Rappen 
Neitet fie die hohe Schule” — 
und verunglüdt, wie fie ihm im Zirkus erblidt. 
Er wird wahnfinnig. Anna lebt noch in Amerika. 
„In einem 
Präct'gen Haufe in der Vorjtadt 
Wohnt ne Witwe mit zwei Kindern, 
Anna heißt fie. — — Nicht geitorben 
Sit ihr Gatte — nein — er lebt noch! 
Dieje höchſt einfache „Studie* wird in ziemlich 
korrelten Scheffelverjen vorgetragen, ohne daß fich 


der Lejer über das höchft traurige Schidjal der 


Liebenden gerade allzujehr aufzuregen brauchte. 
©. 6. joll die Berszeile „Eine Ravall’riebrigade” 
gerade jo gemejlen werden, wie ©. 13 „est die 
Pferde, jchleudern den Wagen“. Eine etwas harte 
Zumutung an den Lejer! 











1231 


©. 7 muß es um der Betonung willen heißen: 
„vor mittag“ nicht „Vormittag“. Eine wunder. 
bare Namenjpielerei bietet ©. 29: 

„Und zum legten mal will Eric 
Mit der Freundin, mit Klein-Elja, 
Nicht Klein-Elja, mit Groß-Elſa — 
Heut fich treffen.“ 

Hoffentlich hat weder Verleger nod) Verfaſſer 
dieſer Klein-Elſa den Wunſch gehegt, ſich finanziell 
durch das Erſcheinen derſelben zu bereichern: reicher 
geworden werden ſie mittlerweilen wohl beide 
geworden ſein um die Erfahrung, daß man ſolche 
„Studien“ der undankbaren Welt beſſer vorenthält. 


— Geſammelte Werke von Maximilian 
Schmidt. Münden. 1884—1887. Bd. I. Hoch— 
landsbilder (Die Scwanjungfrau. 's Alm— 
jtummer!.) Bd. II. Die Blinde von Kunterweg. 
Der goldene Samstag. Der vergangene Auditor. 
Bd. III. Die wilde Braut. Der Tranklfimmet. 
Bd. IV. Der AZuggeift. Bd. V. Der Herrgotts- 
mantel. 

In den Dahrgängen 1884 und 1885 ber 
Monatsichrift babe ich wiederholt Erzählungen 
von Maximilian Schmidt angezeigt: Der Georgi- 
thaler. 1884. ©. 372. Die Mieſenbacher. Dai. 
©. 873. Glasmacherleut. 1385. ©. 218. Kultur- 
bilder aus dem bayriichen Walde (Die Ehriftfindl- 
fingerin. Brigitta.) Daſ. ©. 1336. Dieje fünf 
Erzählungen find bis jegt nicht in die „gejammelten 
Werke” aufgenommen. — Marimilian Schmidt, 
geboren am 5. Febr. 1832 in Eſchlkamm im 
bayriichen Wald, trat 1850 in das bayrijche Heer, 
machte als Hauptmann die Feldzüge 1866 und 
1870/71 mit, nahm wegen eines Nervenleidens 
1874 den Abjchied und mwidmete fich dem, 1863 
zum erftenmale mit den „Bolfserzählungen aus 
dem baprijchen Wald“ hervorgetretenen jchrift- 
jtelleriihen Berufe. Man hat Schmidt ben 
„Defregger mit der Feder“ genannt und 
damit ohne Zweifel andeuten wollen, daß er 
weder Nealift (im modern-verwegenen Sinn), noch 
Idealiſt ift, daß er aber das reale Leben, von 
der Poeſie verflärt, zur Daritellung bringt. Wenn 
id einen Wunſch ausſprechen joll, jo wäre es 
der, daß M. Schmidt mehr bei Jeremias Gotthelf 
und weniger bei Berthold Auerbah in die Schule 
gehen möchte. An legteren erinnert das Bor- 
tommen romanbafter Unwahrjicheinlichkeiten, dichte: 
riicher Ueberjchwenglichkeiten, wie aud das Rück⸗ 
fihtnehmen auf das gebildete Publikum. Je mehr 
ih Schmidt an fein bayrijches Volk richtet, unter 
dem er aufgewachien iſt und bei dem er fort- 
während jeine Studien macht, und je weniger er 
auf die profejlionsmäßigen Bücherleſer beiderlei 


 Gejchlechts Rückſicht nimmt, um jo beifer werden 


jeine Erzählungen ausfallen. — Schmidt nimmt 
jeine Helden und Heldinnen aus dem katholiſchen 
Volk Tyrols, den bayritchen Alpen, des bayrijchen 
Waldes. Niemals zeigt er ſich als aufgeflärter 
Mann, der fih über die katholiſche Neligion 
erhaben dünft, obſchon man deutlich merkt, daß 
er nicht zu den durch Did und Dünn gehenden 
Ultramontanen gehört. Er ftellt das Wolf der 
Holzfnechte, Bauern, Jäger dar wie es leibt und 


1232 


lebt. Sein Malerfteifel und jein Tranklſimmet 
jind naturwüchſige lebensvolle Gejtalten. Als 
rechter Volksſchriftſteller verichönt Schmidt feine 
Seichichten mit echtem Bollshumor Die 
Schnadahüpfin weiß er trefflich zu verwerten. 
Franz dv. Kobell, der Meiſter in diejen Gjangen, 
wird in der Erzählung „Der Zuggeiſt“ welche die 
erite Beſteigung der Aunfpibe am 27. Aug. 1820 
durd den weiland Artillerie » Leutnant und nach— 
maligen Feitungsfommandanten von Ulm, Joſef 
Naus, zum Gegenstand hat, perjönlich eingeführt. 
Vor diem Aberglauben weicht Schmidt jo wenig 
aus als vor wilder Nauf: und Mordluft. Selbſt 
den unberechenbaren PBrobabilismus der Jeſuiten 
jehen wir in der Sejchichte „Der goldene Samstag“ 
jeinen Einfluß üben auf die Moral des katholifchen 
Bolfes. — Den größten Neiz — darüber fann 
fein Zweifel jein — übt Schmidt aus durch die 
meifterhafte Verwendung des Dialelts. Ad 
kann mir recht gut denken, daß Schmidt im 
Itande wäre, eine ganze Gejchichte im Dialekt zu 
ſchreiben, wie es 3. Gotthelf jo häufig gethan 
hat. Unter den neuen Erzählungen der eingangs 
genannten 5 Bände „Gej. Werke“ findet fich eine 
Sumoresfe von vollendeter Wahrheit und Schön- 
heit: „Der vergangene Auditor.“ Dieje Gejchichte 
muß der Verf. oder ein guter Freund don ihm 
in München erlebt haben. Erſinden läßt ſich 
jo etwas nicht. Für die herannahenden Winter 
abende jollen Maximilian Schmidt’s Dorfgeſchichten 
als eine gejunde Lektüre dringend empfohlen 
werden. O. K. 


— Alte Gejhichten. Erzählt von Gisbert 
Frhr. Binde (Münfter 1887. . Drud u. Ber 
lag der Aſchendorff'ſchen Buchhandlung.) 2 Bände. 
310 m. 258 ©. 8° Preis? 

Dem Lejer fällt hier eine überaus erfriichende 
Lektüre in die Hand, die er jicher mit dem Gefühl 
fortlegt, daß er in befter Gejellichaft war. 

Es find feine nervenerſchütternde Begebenheiten, 
die ihm erzählt werden. „Hofgeichichten”, „Haide— 
geſchichten“, „Stadtgeichichten“, leicht und licbens- 
würdig hingeworfen ; im geiftreihen Dialog vieles 
berührend, was ernſte und fittliche Fragen betrifft, 
4 B. das Duell, das Wejen der Kritik u. a. m. 
Ein vornehmer Zug gebt durch die Erzählungen, 
fern liegt jede Effefthajcherei. Die Stoffe And 
jehr hübſch erfunden, der Lejer folgt mit Anteil 
der Berwidlung und der Löſung der Begeben- 
heiten — mitunter geht es wohl etwas umwahr: 
ſcheinlich zu, aber es ftört nicht, überall begegnet 
man natürlichen lebenswahren Geſtalten — edlen | 
Frauenbildern und bedeutenden männlichen Cha- 
rafteren. Am meilten aber erfreut die lleber- 
zeugung, die man gewinnt, daß der Verf. jelbit 
eine lebensfrohe von Herzen geſunde Perſönlich— 
feit zu jein jcheint, die mit Haren Mugen im die 
Welt und ihr Getreibe jchaut, und gern mitteilt, 
was fie da erfahren. 

Gleich die erite Gejchichte, „der Improviſator“, 
ift Löftlich erzählt. Sie ipielt an einem Meinen 
deutichen Hofe; der Lejer erfreut fih an dem | 
geift- und gemütvollen Ton, der hier berrict. 
Der Fürſt jelber ift ein Mufter von Intelligenz, 





Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


erfüllt von dem einen Gedanfen, jeine Unter- 
thanen zu beglüden — die Zeiten find eben an- 
dere geworden; Aeußerlichleiten und Leerheit 
dürfen nicht mehr das Charafterijtiiche jein, wer 
das Bild ein Hofleben der Gegenwart ſchildert. 
„Im Haidehofe* giebt es ein Stüd Naturleben, 
in welches unheimliche Klänge von dunfeln Thaten 
lich mijchen, die durch fejte chrenwerte Charaftere 
doch twieder ausgeglichen werden. Db Staats. 
anwalt und Arzt bei Gelegenheit eines Leichen— 
fundes die Sache in Wirklichkeit jo leiht und 
privatim abmachen würden, mödte man be- 
zweifeln. 

„Billeggiatur“ ift eigentlich ein Feines niedlidyes 
uftipiel, welches ohne bejondere Veränderungen 
die Bühne mit einem ammmtigen Einafter be» 
reichern könnte. 

„Warum* — bier ftoßen wir auf eine Heine 
Schwäche des Berfaflers, er jcheut Wiederholungen 
nicht. In einer früheren Novelle „Der AImpro- 
viſator“ führt der Augeublid der Erflärung die 
Trennung der Liebenden herbei — nadı 8 Nahren 
finden fie fich wieder und das Mißverftehen löſt 
fich beglüdend auf. An der vorliegenden Erzäh- 
fung treunt fich ein verlobtes Baar und durch— 
lebt eine fieben Jahre mwährende PRrüfungszeit, 
ehe das verlorene Bertrauen wiederfehrt. Am 
diefer Zeit emtwidelt fi die Heldin zu einer 
idealen echt weiblichen Geſtalt. Sie löſt ein 
Problem, denn alles was als unweiblich bezeichnet 
wird, gehört zu ihren Gewohnheiten; fie reitet, 
fie bändigt wilde Pferde, fie raucht Zigarren, fie 
jpielt Billard, fie ſchießt mit Piftolen und verfehlt 
fein Biel, und bleibt dennoch ein ächtes holdes 
Weib, weil der Grund all diejes Thuns die Liebe 
zu ihrem Teidenden Water ift, deſſen Pflege ſie 
jich jo völlig hingegeben, daß fie auch jede jeiner 
Beichäftigungen teilt. 

„Ein Nugendträumer" bietet nun wieder ein 
buntes ftädtiiches Gejellichaftsieben, durch welches 
fid) das Motiv zieht, daß, wenn das Herz einmal 
vom warnen Hauch der Sympathie berührt wird, 
cs nicht eher Ruhe findet, als bis der Gegenftand 
derjelben gewonnen iſt. Mit Yebenswahrheit und 
vielem Humor zeichnet Berfafler jeine Geftalten 
und Charaktere, wie die verichiedenen Geſellſchafts 
freije ; mufterhaft die Unterhaltungen, bejonders 
der Männer. 

Ein reiner Hauch fittlichen Ernſtes breitet ſich 
über dieſe Erzählungen und jo möchte in jeder 
Beziehung dieſe Sammlung „alter Gejchichten” 
den Freunden geiftvoller gejunder Leltüre auf's 
Wärmſte empfohlen werden. —y. 


— Genevieve oder Die Kinder von Port 
royal. Eine Gejchichte aus dem Frankreich ver- 
gangener Tage von D. Alcod, Verfaſſerin der 
jpanijchen Brüder. Ueberſetzt von Elifabeth Klee. 
(Leipzig. Commijfions-Berlag der Buchhandlung 
des Vereinshauſes. H. ©. Wallmann.) 1888. 8°, 
20 ©. 4 M, geb. 5 Mr 

Die jest aus ihrem Aufognito herausgetretene 
beliebte Berf. reicht uns bier wieder eine jchöne 
Gabe, die Frucht ihrer im die franzöſiſchen reli- 
giöjen Kämpfe nad) der Aufhebung des Edilts von 


Nene Schriften. — Unterhalungslitteratur. 


Nantes tief eindringenden Studien. In vorliegen: | 
dem Werf werden wir vertraut gemadjt mit dem 
Weſen der Janjeniften und deren Berfolgungen 
durch die römische Kirche um die Mitte des jieben- 
zehnten Jahrhunderts. 

In diejer einfachen Gejchichte, deren Intereſſe 
jih hauptſächlich auf rein innerlice Vorgänge 
gründet, ift es der Gegenſatz der Janſeniſten und 
Hugenotten, welcher den Kernpunkt bildet. Er | 
wird dargejtellt durch wenige aber edle und anteils- | 
werte Gejtalten. Das Klofter Port roval in Paris 
hat jich den Lehren der Janſeniſten erſchloſſen. | 
Obwohl der fatholiichen Kirche feit verbunden, | 
reinigen ſich dieje von den Auswüchſen derjelben, 
und jtreben nach einem geheiligten Leben in Gott. 
Pascal, einer der bedeutenditen Janjeniften, übt 
durch jein Wort und jeine Schriften großen Ein- 
fluß auf die Bewohner von Port royal. 

Unter den Zöglingen des Kloſters befindet ſich 
die Tochter der Herzogin von Roannez, einer 
Weltdame, die mit Unmut die religidje Nichtung 
des Fräuleins gewahrt, und fie deshalb aus dem | 
Kloſter entfernt, um ihr einen vornehmen Semahl 
zu geben. Mademoijelle de Roannez hat aber die 
Grundſätze der Weltentjagung und des Kloſter— 
lebens in ihr Herz aufgenommen und treu bewahrt. 
Still und duldend fügt fie fi) dem Willen ihrer 
Mutter, nur folgt fie ihr nicht in die glänzenden 
Säle der Gejellihaft und lehnt jeden Gedanfen 
an eine Bermählung ab. 

Zur dienenden Gefährtin ift ihr Genevieve 
Monteres gegeben, deren Mutter auch in Port 
royal erzogen wurde. Genevieve hat harte Schick— 
jale durchgemacht. Mit leidenjchaftlicher Liebe 
hängt ſich ihr junges Herz an ihre edle Gebieterin. 
Sie ſtehen auf gleihem Boden religidjer Anjchau- 
ung, nur daß „Mademoijelle” in viel höherem 
Grade das Abjondern von der Welt und jtetes 
Selbjtverleugnen für geboten hält und das heitre 
Licht des Evangeliums nicht in ihre Seele dringen läßt. 

Ein Pilegebruder Genevieve's, deilen Water 
eifriger Hugenott war, uud jeinem Sohn als 
teuerstes Vermächtnis jeinen Glauben hinterlich, 
jindet nach langer Trennung die Jugendgeſpielin 
wieder. Die Zuneigung der linder wird im erneneten 
Verkehr zur herzlichen Neigung. Eduard de Sercourt 
tritt mit jeiner Bewerbung hervor; entjegt über 
ein joldyes Bündnis weilt ihn „Mademotjelle* im 
Namen ihrer Schußbefohlenen zurüd, Genevieve 
wird in heiße Seelenlänpfe getrieben. Es find 
jo geringe Schranfen, welche den Hugenotten von 
der Janſeniſtin trennen, da Beide nach der reinen 
Ertenntnis der himmlischen Dinge jtreben. 

Die piuchologischen Vorgänge in den drei edlen 
Seelen bilden die Hauptmomente des interefjanten 
Buchs, welches zugleich ein Bild jener Zeit giebt, 
wo die Gegenjäge mit ihren furchtbaren Folgen 
ſich zuzuſpitzen beginnen. 

Durch ſchwere Geſchicke geführt, verbinden ſich 
ſchließlich doch die beiden Liebenden. Eduard de 
Sercourt wird eine kräftige Stütze der Hugenotten. 
Genevieve, die Janſeniſtin, entwidelt ſich natur- 
notwendig zur freudigen Bekennerin des evange— 
liſchen Glaubens, und Pascal's Lehren in ihrer | 
idealen Reinheit wirten in den Herzen beider fort. 


' zugänglich 


1233 


Auch diefer Noman ruht auf guten Glaubens- 
grund, wie es alle Schriften der trefflichen Verf. 
thun. Sie wendet ihre bejondere Sympathie den 
für ihren Glauben Teidenden und kämpfenden 
Hugenotten und Waldenjern zu. "Diejer Vorliebe 
verdanfen wir nun jchon das dritte wertvolle Wert, 
das wiederum von der befannten und bewährten 
Ueberjegerin Elijabeth Klee dem deutjchen Bolte 
emacht wurde. Eine ganz; bejonders 
ſchöne Ausftattung hat die Verlagshandlung dent 
Buch gegeben, namentlich in der gebundenen Aus— 
gabe, und jo können wir es jchon jebt in jeder 
Beziehung für den Weibnacdtstiic empfehlen. 


— 

— Wilde Kirſchen. Von Heinrich Hans— 
jatob. GHeidelberg, Georg Weih.) 1888. 362 ©. 
Br. M. 4,—. 

Wir haben jchon früher Schriften von Hans- 
jatob in der Monatsjchrift beſprochen. Was von 
den älteren Sachen gejagt iſt, kann heute nur 
bejtätigt werden. Wenn die Franzoſen recht 
haben, dab in der Litteratur jedes „Genre“ erlaubt 
it, „sauf le genre ennuyeux“, jo iſt die von 
Hansjakob beliebte Gattung entjchieden berechtigt. 
Denn das Buch iſt durchaus nicht langweilig, 
jondern ein Griff in’s volle Menjchenleben. „Ich 
babe es“ — jagt der Verfaſſer — „dabei vorzugs- 
weile auf eine bejondere Art von Driginalen 
abgejehen, auf die Kleinbürger und die Handwerks— 
leute in den Landftädtchen. Sie unterjcheiden fich 
von Bauern-Original lediglich dadurch, daß fie 
mit ihrer den Bauer nicht überragenden Bolfs- 
ichul-Bildung in der Welt draußen waren. Die 
Wanderichaft hat ihre geiſtige „Bildung“ nicht 
alteriert, nur ihr Handwerk ausgebildet und an 
ihre Originalität einige Schnörfel und Arabesten 
gezeichnet, durch welche dieſelbe nur mehr illuftriert 
wird. 

„Wilde Kirſchen“ nenne ich meine Leute, weil 
die Driginal-irjche, wie der liebe Gott fie bei 
uns wachen läßt, die „wilde“ iſt. Gie bat feine 
Kultur, iſt nicht „gezweigt” und veredelt, enthält 
aber weit mehr Geiſt und Schärfe, als ihre fulti- 
vierte Schweiter. Gerade jo die Natur-Menjchen. 

Ich bemerke noch ausdrüdlid, daß ich meine 
Originale jtreng nad) der Natur und dem wirf: 
lihen Leben gezeichnet habe. Auerbach's und 
Nojegger's Volksgeſtalten, jo wunderbar poetiſch 
jie auch find, Haben mir zu viel von der Bhantafie 
der beiden Dichter. Unſereiner ijt ein armjeliger 
Stümper diejen genialen Poeten gegenüber, ic) 
fönnte nicht jo jchreiben, ich will es aber auch 
nicht. ch laſſe meine Kinzigthäler aufmarjchieren 
wie jie „leibten und lebten”. Das allein hat nach 
meiner Anficht für die Kenntnis der Menjchen- 
Natur, mie jie im Volle auftritt, einigen Wert.” 

Wir weichen von dieſer Anficht doch einiger- 
maßen ab und möchten betonen, dab uns zivar 
nicht der Auerbach, der unmwahr, wohl aber der 
NRojegger, der wahr und poetiich zu gleicher 
Zeit ijt, lieber ift und größeren Wert zu haben 
icheint, als der von Sansjafob beliebte kraſſe 
Realismus. Wir führen ein Beijpiel an. Berj. 
erzählt von einem alten Bauern, mit dem es zum 
Sterben ging. Derjelbe wollte durdy die mit dem 


1234 


Sterben verbundenen Umpftände jeine Kinder, Die 


gerade bei der Weizenernte waren, in ihrer Arbeit | 
Er jchidte fie daher auf's Feld. 


nicht jtören. 
Um aber gleichwohl ihnen jein Ende jignalifieren 
zu fönnen, ließ er einen Bindfaden an den ge- 
Ipannten Hahn eines geladenen Gewehrs binden, 
um mit demjelben als Zeichen jeines legten 
Seufzers einen Schuh abzufeuern. Und jo hat 
er wirklich gethan. Gegen Abend kracht ein 
Schuß. Und dann „war die Ernte daheim und 
der Bater au“. In Summa: Unjeres Erachtens 
ift es in der Malerei jo wenig wie in der Litteratur 
berechtigt, der Photographie Konkurrenz zu machen. 
Und namentlich ein Geiſtlicher, ſei's auch ein 
ultramontaner, der jeine Zeit zum Schriftitellern 
verwendet, jollte ji) etwas höhere Ziele jteden, 
als 3. B. ein burlesfes GSterbebett zu zeichnen. 
Sngoifchen lieft fi, wie gejagt, das Buch glatt 
weg und wenn bier und da das feinere Gefühl 
verlegt wird, jo langweilt der friſche Verfaſſer 
uns niemals. 


6. Litteraturgeſchichte. 


— Longfellow's Dihtungen. Einlitterarijches 
Beitbild aus dem Geijtesleben Nordamerifa’s von 


Alerander Baumgartner, 3. Zweite, 
vermehrte und verbejlerte Auflage. Mit Long- 
fellow’s WBorträt. (freiburg im Breisgau. 


Herder'ſche Verlagshandlung.) 1887. 3546. IM. 

Endlich eine Biographie des größten amerifani- 
ihen Dichters, der nad Freiligraths treffender 
Bemerkung „den Amerifanern in der Poeſie 
Amerifa erſt entdedt hat“ und den wir, wenn er 
auch unjere Sprache nicht redet, doch mit größerem 
Rechte den unjeren nennen dürfen, ald die Eng- 
länder, die ihn jo gerne als den beiten Bolfs- 
dichter englifcher Zunge bezeichnen. Baumgartner 
gebührt das Verdienst zuerſt verjucht zu haben, 
die gejamte litterariiche Thätigfeit des Dichters 
eingehender Betrachtung unterzogen und in engern 
Zujammenhange damit, joweit es zum Berjtänd- 
nis jeines Schaffens nötig ift, ein liebevoll ge- 
zeichnetes Bild jeines Lebens gegeben zu haben. 
Wer fich je amSange vonHiawatha u. an —— 
erfreut hat, der wird mit Intereſſe dieſer geſchickt 
zuſammengeſtellten Schilderung des poetiſchen 
Wirkens Longfellow's folgen und es nicht bereuen, 
die eingehendere Bekanntſchaft eines Dichters ge— 
macht zu haben, von dem ein engliſches Urteil 
mit Recht ſagt: „Seine größte Leiſtung war 
dieſe: die Poeſie des Glaubens und der Freudig— 
feit wieder voltstümlid) gemad)t zu haben. Es 
ift Zweifel genug in der Welt und Kummer 
genug und Leid; es it ein wahrer Segen, daß 
dieſer Dichter des häuslichen Herdes erjchienen ift, 
reih beladen mit Glauben und Hoffnung, mit 
Erquidung, Mut und Freude.” 

Baumgartner’ Buch ift, wie alles, was fein 
Verfaſſer zu bieten pflegt, gewandt und anregend 
geſchrieben und erfüllt für fatholiiche Leſer jeinen 
Zweck volltommen. 
der Wahrheit nirgends zu nahe tritt, jondern ſich 
im Gegenteil öfters in jehr reſpektvoller Ent. 


fernung von ihr hält und fie eine ſolche Reſerve 
evangeliicher ' 


gewohnt find, zumal wenn ein 





Es kann ihnen daher, da es | 





Neue Schriften. — Litteraturgeichichte. 


Dichter behandelt wird, nicht genug empfohlen 
werden. 

Anders verhält es fich jedoch mit den Lejern 
diejer Zeitichrift. Eine evangelijche Kritif hat Die 
Pflicht Hier nicht zu ſchweigen. 

Dat Baumgartner die Reformation ©. 6 nur 
als „furchtbare Umwälzung des 16. Jahrhunderts 
erjcheint, welche mit der religiöjfen und politiichen 
Einheit des alten Deutjchland den Garten jeiner 
Poeſie zerjtörte”, ijt weiter nicht zu verwundern, 
it doch ©. 88 der Katholizismus „jene Religion, 
die einſt Deutjchland zum Haupt und Herzen 
Europa’s machte,“ „der große Zentralpunfi, von 
dem aus einst das bdeutiche Volk jeinen Primat 
unter den Bölfern, wie den wahren Adel und 
das religiös-fittliche Gepräge jeines Charakters er- 
halten hatte." Während S. 368 „der alte, zelo- 
tiihe Protejtantismus ſich wirklich nur Durch 
gewaltjames Aufdrängen jeiner Dogmen be 
hauptet hat.“ Ebenſo erflärlich ift es, dab „der 
Widerjchein Shakeſpeare's und katholiſcher Dich. 
tung“ in einem Atem genannt wird (Shafejpeare 
war ja befauntlid katholisch |) und daß S S. 133 

„die Salzburger Grauſamkeiten, die unſere mo— 
dernen Toleranzapoftel im Munde führen, bloß 
der protejtantiichen Legende“ angehören. Sehr 
jeltjam aber iſt es, daß, wo Longfellow fatholiiche 
Einrichtungen bewundert, er mit „offenem, edlem 
Herzen alles Schöne und Gute aufnimmt," was 
ihm aus dem fatholiichen Leben anjpricht; da 
er da „gerecht und liebevoll" ift, wo er aber 
©. 43 „Stark proteftantijch angeweht“ jchreibt, da 
„beabfichtigt er wohl nur, durch anders geartete 
Bilder Abwechjelung in jeine Skizzen zu bringen“ 
und „zeritört dadurch den gewinnenden Eindrud, 
den jeine Schilderung katholiſcher Berhältnifie 
bervorbringen müßte.“ ©. 49 ijt „der protejtan- 
tiiche Standpunkt nicht völlig überwunden, aber 
dod find „manche proteitantijche Vorurteile bei 
jeite geſchoben.“ 

Es gehört die ganze Anmaßung eines katholi— 
ichen ALitteraturzujchneiders dazu, derart mit 
zweierlei Maß einen evangeliihen Dichter zu 
mefien, damit für jeine katholiſche Hölle recht 
breite Lappen abfallen. 

Wenn man VBaungartners Daritellung von 
Rongfellow’s religiöjen Anſchauungen lieſt, be 
greift man jchließlich nicht, warum der Dichter 
nicht einfach fatholiich geworden ift. Dffenbar 
begreift das Herr Baumgarten ſelbſt micht, wie 
er auch micht verfteht, warum Flemming, 
Longfellow's Doppelgänger aus ſeinem Romane 
Hyperion, nicht katholiſch geworden iſt. Von ihm 
heißt es: „Der proteſtantiſche Leſer wird ſich der 
Beſorgnis kaum erwehren können: der wird am 
Ende noch katholiſch! Alle Sympathien und An— 
ſchauungen des Mannes drängen dahin. Er ſteht 
vor dem Schlußſtein, der jene ganze poetiſche 
Welt trägt, von welcher er jo voll ijt; er jteht 
vor der Wahrheit, aus der all jene Schönheit 
emporgeblüht, die ihn entzückt; er jteht vor dem 
Lebensquell jener Religion, die einft Deutjchland 
zum Haupt und Herzen Europas machte.” (Wie 

tief, Herr Baumgartner, find wir gegen jene alte 
Herrlichkeit unter den Hohenzollern heutzutage 


Neue Schriften 


gefunfen!) „Das Chriftentum nad) feinen ganzen 
objektiven Lebensreichtum zu erfallen, ward 
Longfellow nicht nur durch den proteftantijchen 
Geijt gehemmt, der ihn umgab, jondern auc 
durdy den protejtantiihen Standpunkt, den er 
jelbft nicht gänzlich verlaſſen hatte.” Traurig, 
aber wahr! 

„Dem Gedanten,! zu der Fatholiichen Kirche zu« 
rüdzutreten“, heißt es ©. 7 der Vorrede, „icheint 
Longfellow ebenjo fern gejtanden zu haben, als 
Uhland und Novalis.” Herr Alexauder Baum: 
gartner ©. J. jcheint nach der Lektüre jeines 
neueften Buches zu urteilen, dem Gedanten, 
endlich zur evangeliichen Kirche überzutreten, noch 
ebenjo fern zu jtehen, wie Herr Majunfe und 
Herr Janſſen. Hoffentlich ermwedt jein nächites 
Werf in diejer Hinficht größere Hoffnung. 


7. Verjdhiedenes. 

— Spaziergänge eines Naturforjchers 
von William Marjhall, Profeffor an der 
Univerjität Leipzig, mit Zeichnungen von Albert 
Wagen aus Bajel. (Leipzig, Seemann.) 1888. 
341 Seiten. Geheftet 8 M. 

Ein naturwiſſenſchaftliches Buch, das nicht für 
Fachleute, jondern für ein größeres Publikum 
geichrieben it. Ein Nichtfachmann nimmt gern 
Gelegenheit, dasjelbe zu empfehlen, und zwar als 
Geſchenkswerk für die reifere Jugend. Es enthält 
16 naturwiflenjchaftlihe Plaudereien, welche in 
ihrer Art fein und hübſch geichrieben und wohl 
geeignet find, zu verjtändnisvoller Beobachtung 
auch des Geriugiten anzuregen. Hin und wieder 
ſtößt und wohl eine allgemeine Bemerkung auf, 
der wir nicht beifallen, im ganzen aber jcheint 
uns das Bud für den angedeuteten Zwed recht 
entiprehend. Hübſche Vignetten und Smitiale 
ſchmücken in künſtleriſcher Weiſe den ftattlichen 
Band, deſſen Austattung in jeder Hinficht eine 
freundliche und jplendide iſt. Freilich beträgt aud) 
der a 8 Mark, was in Deutjichland recht 
viel iſt. 

— Die Lehniniihe Weisjagung von 
Heinrih Pröhle Berlin 1888. (Nicolaiiche 
Verlagsbuchhandlung.) 76 Geiten. 

Eine neue Heine Monographie zu vielen alten 
über die bekannte Lehniniiche Weisjagung. Auf 
die archivarijchen Unterjuchungen des Herrn Ber- 
fafjers gehen wir nicht mäher ein und über bie 
Nichtigfeit oder Unrichtigkeit jeiner Konjekturen 
geitatten wir uns auch fein Urteil. Wir be 
jchränfen uns auf die Anzeige, daß diejenigen, 
die fi) im allgemeinen über die befannte Weis- 
ſagung orientieren wollen, bier den lateinijchen 
Wortlaut, eine verftändliche Ueberſetzung und 
eine Deutung des Inhalts finden. Auch nad) 
Pröhle ift der Prophet längft vollftändig in die 
Brüche geraten und von irgend zuverläjligen 
Weisfagungen für die Gegenwart kann feine Rede 
mehr fein. Einige merkwürdige Anklänge find 
ja vorhanden in den Berjen 

Priscaque Lehnini surgent et teeta Chorini 

Et veteri more clerus splendeseit: honore, 

Wer denkt nicht bei dem Inhalt dieſer Prophe- 
zeiung, „daß Lehnin und Chorin wieder auferftehen 


— Verſchiedenes. 





—— — —ñ ñ — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — 


1235 


und der Klerus in altem Glanze leuchten ſoll,“ 
an die verwirklichte Thatſache, daß Kloſter Lehnin, 
allerdings noch ohne Mönche, reſtauriert iſt und 
an die neueſte Phaſe preußiſcher Kirchenpolitik 
dem Vatikan gegenüber ? Indeſſen ſteht doch noch 
zu hoffen, daß auch dieſe Phaſe vorübergehen 
wird, wie der Kulturkampf. Und bis auf weiteres 
ſcheint es unmöglich, den ganzen Schluß der 
Weisſagung auf die Gegenwart zu deuten. 

Höchſt unterhaltend iſt ein im Anhang bei— 
gefügtes Spottgedicht auf Friedrich den Großen, 
weldyes an die Lehniniſche Weisjagung anknüpft. 
Schon Hinfichtlich diefes Monarchen hat fich näm- 
lich der Prophet ſtark geirrt, indem er weisjagt, 
derjelbe werde im Waſſer umfommen. Der 
Schlufvers des Spottgedichts, welches hieran an— 
fnüpft, lautet: 

Alleine welcher Tod jofort 

Soll des Monarchen Leben kürzen ? 

Man meinet aus des München Wort, 

Er werde fid ins Waſſer ftürgen. 

Gwiß kann er nicht dem Tod entlauffen, 

Und jonderlich des Waſſers Not, 

Wird er in Thränen nicht erjauffen, 

So jeufft er ſich in Kaffee todt ! 


— Theophilus. Das Fauft- Drama des 
deutſchen Mittelalters, überjept und mit einer 
erläuternden Einleitung verjehen von Johannes 
MWedde (Hamburg, Herm. Grüning. 1888.) 
LXII u. 79 ©. 

Ende 1852 hat Hoffmann von FFallersleben das 
niederdeutihe Scaufpiel Theophilus aus einer 
Trierer Handjchrift des 15. Jahrhunderts mit 
Einleitung, Anmerkungen und Wörterbuch heraus: 
gegeben. „Die viele Mühe, die ich dem Werke 
zugewendet, war nun durch eine nachhaltige Freude 
belohnt worden,“ heißt es in H.'s Aufzeichnungen 
„Mein Leben.” Bd. 5 ©. 199. Mit diefem Buche 
war dem feinen Bruchteil der Bücherlejer, welcher 
fih um ſolche Sachen befümmert, ausreichend 
gedient. Eine Ueberjegung war fein Bedürfnis. 
Wenn der Verf. gleichwohl eine jolche veranjtaltet 
hat, jo darf ihm das Lob einer fleißigen, gejchidten 
Arbeit nicht verjagt werden. Viel Lejer wird 
aber dieje Weberjegung nicht finden. Auch die 
lange, gelehrt Hingende Einleitung wird viele 
anloden. Den einen wird fie zu hypotheſenreich 
und lüdenhaft erjcheinen, die andern werden ſich 
an der bis in’s Gebiet gelehrter Albernheit ſich 
verjteigenden widerchriftlichen Gefinnung des Verf. 
ftoßen. Einige Citate werden zum Beweis 
genügen, dab der Verf. entweder ein ımreifer, 
junger Menih oder ein zu feinen Jahren 
gelommener Mann ift, deſſen Geſichtskreis ſich 
durch Abkehr von Gott verengert hat. ©. XXI 
it davon die Rede, daß das göttliche Wejen nad) 
urchriftlicher Anfchauung eine weibliche Seite 
befige. Welcher Fund! Der „heilige Geiſt“ ift in 
der Sprache der Urchrijten, im Syrijchen, im 
Femininum, im Lateinijchen und Deutſchen aller- 
dings männlichen und im Griechiſchen jächlichen 
Geichlehts. Mit jeiner weiblichen Seite bringt 
dann ber Berf. den Marienkult in Verbindung, 
von dem ©. LII gejagt wird, daß die Nefor- 


1236 Neue Schriften. — Berjchiedenes. 


mation jchlecht daran gethan habe, „als jie Maria | — in's Leere herausdellamieren, daß an „Dogmen- 
und ihren bunten Hofſtaat von Heiligen aller Art | formulieren und Dogmenverfechten nur noch im 
aus der Kirche verjtieg. Als ob es einen ver | Kreijen gedacht wird, die ſich außerhalb der 
nünftigen Grund gäbe, beim Sohne der Maria Kulturbewegung ſtellen.“ Da haben wir's! Die 
eine Offenbarung der Gottheit in höherem Sinne gläubigen Chrijten find Leute minorum gentiun, 
anzuerfennen, als bei jeiner jungfränlichen | ohne Bildung, ohne Kultur, ohne Fortichritti — 
Mutter!” Es liegt auf der Hand, daß Herr | Ganz dasjelbe behaupteten befanntlich ſchon vor 
Wedde über die Elemente des chriftlichen Glaubens | fait 2000 Jahren in ihrem Bildungsdüntel die 
längit hinaus ift. Er hat die windigen Höhen | alteömijchen Vorgänger des Herrn Wedde. 

der äſthetiſchen Aufklärung eritiegen und kann O. 

von da aus — die Zahl jeiner Leſer angeſehen 


Neue Schriften, 


welche der Redaktion zugegangen und vorbehaltlich näherer Bejprechung 
zunächſt hier angezeigt werden. 


Naphtali = —e in Aufzügen von Fritz Lienhard. (Norden, Hinrieus Fiſcher Nachfolger. 
1888. 

Horaz. Auswahl Feiner Lyrik. Uebertragen von Johannes Karſten. Dritte Ausgabe. 
(Morden, Hinrieus Fiſcher Nachfolger.) 1888. 154 ©. 8°, 

Shwanmitt Ein Märden in fünfzehn —— von Mathilde Raven. Sechſte Auflage. 
(Norden, Hinricus Fiſcher Nachfolger.) 1888. 78 ©. 

Das Fiſchermädchen. Normwegiiche Erzählung. von Björnftjerne Björnjon. Deutich 
von Dr. Aug. Peters. Dritte Auflage. (Norden, Hinricus Fiſcher Nachfolger.) 18885. 215 ©. 

Bilder und Szenenans Europa. Nach vorzüglichen Vterjebeichreibungen für die Jugend 
ausgewählt und bearbeitet von U. W. Grube Mit Abbildungen. Siebente vermehrte Auflage 
bearbeitet von Dr. Paul Buchholz. (Stuttgart, J. F. Steinfopf.) 1887. 365 ©. III. Teil. 

Bilderund Szenen aus Amerika. Nah vorzüglichen Reiſebeſchreibungen für die Jugend 
ausgewählt und bearbeitet von A. W. Grube Mit Abbildungen. Siebente vermehrte Auflage 
bearbeitet von Dr. Paul Buchholz. (Stuttgart, 3. F. Steintopf.) 1858. 312 ©. IV. Teil. 

Unjer Glaube. Der Gemeinde dargelegt von G. Weitbrecht, Delan in Stuttgart. (Stuttgart, 
J. F. Steintopf). 1888. 336 ©. 

Karl Heinrid v. Bogapfy. Einhumdertfünfzig erlejene geiftliche Lieder nebſt Pebenslauf- 
Aufs Nene dargeboten durd Johannes Claajjen. (Stuttgart, 3. F. Steintopf.) 1888. 225 ©. 

Deutſche Jugend- und Bolfsbibliothef. Deutiche Gedichte zur deutſchen Geſchichte. 
pe a Fr STR. Zweite jehr vermehrte Auflage, bejorgt von G. Klee. (Der. Verlag.) 

888. 44 S. 

Mitgabe auf die Lebensreiſe. Blütenſtrauß geiſtlicher Lieder und Gedichte aus allen 
Beiten der Kirche auf jeden Tag des Jahres. Mit acht Bildern in Lichtdrud nad) den Originalen 
von Prof. Dr. C. ©. Pfannſchmidt. Giebente, mit dem evangeliichen Namenfalender 
vermehrte Auflage. (Derj. Verlag.) 1888. 375 ©. 

Neues hriftlides Sch apfäftleim auf alle Tage des Jahres in einer Auswahl bibliſcher 
Kternjprüche mit Liederverjen. Mit einer Vorrede von Heinr. Jung-Stilling, weil. Großh. 
Badenjcher Geh. Hofrat. Sechſte Auflage. (Derj. Berl.) 1888. XVI und 496 ©. 

Bücdherfleinode evaugeliſcher Theologen Mitteilungen bekannter evangelifcher 
Theologen der Gegenwart über Bücher, die ihnen für Amt und Yeben von bejonderem Werte 
gewejen find, zuſammengeſtellt und als Einleitung in die „Bibliothef theologiicher Klaſſiker“ 
herausgegeben von Friedrid Zimmer Zweite Auflage. (Gotha, F. AU. Berthes.) 1888. 
XVI und 269 ©. 

Bilder und Szenen aus Njien und NAuftralien vn A. W. Grube u. j. w. 
(Stuttgart, X. F. Steinfopf.) 1888. 328 ©. 1. Teil, 

Bilderund Szenen aus Afrilavn U. W. Gruben. j. w. (Stuttgart, X. F. Steintopf.) 
1888. 364 ©. II. Teil. 

Die Neihstagsperhbandlungen von Mayr Sternau. Erſter Band 1858. (Erfangen, 
Andreas Deidyert.) VI und 122 ©. 

ehe Bon Ulrih Rudolf Schmid em. P. (Jena, Hermann Pohle.) 

86 ©. 

Andreas Bräm’ Briefe an Frauen und Jungfrauen über Fragen aus dem praftijchen Leben. 
‚u drei Neihen mit dem Bilde und einem kurzen Lebensabriß des jel. Verfaſſers herausgegeben 
von Gottfried Bott, Inſpeltor des Erziehungsvereins. 2. Auflage. (Neufirchen b. Moers, 
Berlag des Erziehungsvereins.) XV und 196 ©. 





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Ein Verkrag. 





Roman 
von 
Siegfried vom Book. 
Fortſetzung.) 
Whitehorſe-Cottage. 


Hart am Abhang des Höhenzuges, der hier die Grenze des deutſchen Reichsgebietes 
bezeichnete, lag ein altes, von Wirtſchaftshäuſern umgebenes, maſſives Gebäude, deſſen 
runde Bleifenſter, ſchweres eichenes Thürwerk mit grünlich angelaufenem Meſſingklopfer, 
vorſpringendes von Pilaſtern getragenes Dach mit dichter Epheuwucherung auf ein 
mehrhundertjähriges Alter ſchließen ließ. Umrahmt von den Ausläufern des gräflich 
Bilamsdorffer Waldes, hatte dieſes Gebäude, ein gräfliches Allodialgut, im Lauf der 
Jahrhunderte verſchiedenen Beſtimmungen gedient. Urſprünglich war es ein Jagdſchlößchen 
geweſen, eingerichtet zu gaſtlicher Aufnahme der ritterlichen Weidgeſellen, welche ſich in 
der geräumigen Halle an manchem Bärenſchinken und kräftigem Trunk nach den Mühen 
des edlen Weidwerkes weidlich erlabten. — Später hauſete ein gräflicher Meter darin. 
Und das Gebäude behielt auch dann noch im Volksmunde den Namen der Waldmeierei, 
als dasſelbe forſtwirtſchaftlichen Zwecken gewidmet wurde. — Näuberijche Einfälle 
wildernden Grenzergejindels bereiteten den Eigentümern diejes Vorwerks unabläjjig 
Berdruß. Und als der legte Förſter, welcher die Meierei bewohnte, das Opfer eines 
jolhen blutigen Zujammenftoßes geworden, war Graf Kurd endlich zum Entichluß 
gelangt, die „Klitſche“ — wie Trutheimb ſich ausdrücte — um jeden Preis zu veräußern. 
Das mitverpachtete Jagdrevier umfaßte denjenigen Bezirk der gräflichen Waldungen, 
der jeiner Unficherheit wegen die Meierei und das Waldthal mit Gerüchten von Ber: 
rufenheit und abergläubiichen Furchtgeſpinſten umwoben hielt. 

Am Abende desjelben Tages, an dem das Feitmahl im Bilamsdorffer Schloß 
durch das rätjelhafte Verjchwinden des Grafen Hoyer jo jäh gejtörb wurde, jaß in einem 
der Wohngemächer des Erdgejchojies der Meierei ein jhmächtiger Mann, angethan mit 
einer grauen Joppe, am Tiſch, der in der Mitte des Raumes ftand. Auf dem Tiſch 
brannte eine Dellampe. Sie beleuchtete Porzellangeichirre mit Speijerejten, drei 
gebrauchte Teller, auf denen ebenjo viel Meſſer und Gabeln lagen und drei Waller: 
gläjer, von denen eins vor dem am Tiſch figenden Manne ftand. Das Glas war mit 
einer klaren dampfenden Flüffigkeit noch halb gefüllt, die einen jcharfen Spiritusgeruc) 
verbreitete. 

Allg. loni. Monatoichriit 1858, XII. 19 


1238 Ein Vertrag. 


Die Staffage- Figur diefes Stilllebens ftübte den linken Arm auf die von Tafel: 
tuch nicht bededte Tiichplatte. Der Kleine, _ mit dünnem vötlich-blonden Haar jpärlich 
bededte Kopf ruhte in der linken Hand. Sie war ſchmal und knochig. Die hageren 
langen Finger krümmten fich faſt bis zur Mitte des wenig gewölbten Schädels hinauf. 
Das Hinterhaupt dagegen war jtarf ausgebildet und zeigte mehrere hervortretende Höder. 


Mit der rechten Hand jchleuderte er von Zeit zu Zeit ein langes Dolchmeſſer wie 
zur Kurzweil bald nad) angejchnittenem falten Rojtbraten, der in jeiner Schüſſel 
auf dem Tijche ftand, bald nad) einem daneben liegenden derben Laib Graubrot. Das 
Mefjer fuhr jedesmal jo tief in dieſe Ziele hinein, daß die Klinge darin fteden blieb. 
Und nad) jedem wohlgelungenen Wurf verzogen fich die jahlen Züge und der von 
ichmalen Lippen gejäumte Mund zu einem jelbjtzufriedenen Grinjen, wobei ein gelundes 
kräftiges Gebiß fichtbar ward und die ftechenden grauen Augen im wilder Freude auf: 
bligten. 

In feinem, geraume Weile fortgejegten Spiel mit dem Wurfgeihoß ließ der 
gewandte Schütze fi) anfangs auch nod) nicht ftören durch den Eintritt eines hoch— 
gewachjenen, Fräftig und elegant gebauten Mannes. Er mochte achtundvierzig Jahre 
zählen. Die Stürme des Lebens waren nicht jpurlos an ihm vorübergebrauft. Aber 
fie hatten das jchwarze, Iodige, noch) volle Haar jeines wohlgeformten Hauptes und 
den gepflegten Bart der Wangen und Lippen völlig unberührt gelaſſen. Die regelmäßig 
geichnittenen Gejichtszüge erhielten ihr Licht von Eohlichwarzen Augen, die den aus: 
gearbeiteten, etwas abgelebten Mienen den Ausdrud des Schwermütigen, Müden 
beimijchten. Dabei konnte es auffallen, daß der ftechende Glanz des feurigen rechten 
Augenjterns dem linken mangelte. 

Der Eingetretene jchritt ftumm auf den Tiſch zu, an welchem der andere in 
unveränderter Stellung fortfuhr, jein Meſſer zu jchleudern und das Heft desjelben mit 
lang ausgeſtreckten Fingern wieder an ſich zu ziehen. Er jchien die Ankunft umd die 
Unternehmungen jeines Gejellihafters völlig unbeachtet zu Lafien. 

Diejer legte eine jchmale jchwarzjeidene Binde auf die Tijchplatte, dann ergriff 
er stehender Fußes eine Flajche von dunklem Glas mit der Etiquette „Arrac de Goa*, 

goß von der Füllung derjelben in ein Trinfglas bis zu Zweidritteln jeines Raumes 

—9 füllte den Reſt des Glaſes mit kochendem Waſſer, welches auf einem Kohlenbecken 
in einem Meſſingkeſſel brodelte. Nachdem er den Keſſel an ſeinen Ort zurückbefördert 
hatte, ſetzte er ſich zu dem ſtummen Wurfſſchützen. 

So ſaßen die Beiden einige Minuten lang ſchweigend neben einander. Durch 
ungeduldiges Trommeln auf der Tiſchplatte verriet der Aeltere mit den ungleich 
blietenden ſchwarzen Augen, daß er von einem beumruhigenden Gedanken bewegt jein 
mochte. Er führte das Glas an die Lippen, prüfte vorfidhtig den Wärmegrad des 
heißen Getränfes und nahm einen mäßigen Schlud davon zu fih. Während er das 
Glas wieder auf die Tijchplatte ftellte, brach er endlic) dag Schweigen. 

„Ein Graf,” jagte er auf engliich, „die Grafenfrone auf jeinem Cigarren-Etui.” 

„Der von Bilamsdorff, unjer wertgeichäßter Nachbar?” fragte der Andere gleich: 
mütig zurück und traf mit feinem Dolchmejjer den Braten jo kräftig, daß er über den 
Rand der Schüffel auf die Tifchplatte jprang. 

„Wenn er’3 wäre!” erwiderte der Schwarze mit einem plößlich zum Ausdrud 
glühenden Haſſes erhigten Farbenwechſel. „Wahrhaftig, den hätten wir nicht wie ein 
Kind gewaichen, umgekleidet, ins Bett gebracht, gefmetet und gerieben, verbunden und 
mit Falten Auflagen bedient, nachdem wir ihn im Schweiß unjeres Angefichtes auf 
improvifierter Bahre hierhergejchleppt. Wärs der Bilamsdorffer gewejen, hätte ich) 
ie Nat befolgt, alter Junge, ihn in jeinem und des Keilers Blut liegen 
zu laſſen — 

„Aber zuerſt ein kleines Kunſtſtück, wie hier mit dem Roaſtbeef,“ grinſete der 


Ein Vertrag. 1239 


Blonde. „Indeſſen könnt Ihr Euch nicht nad) jo langer Zeit doch geirrt haben, 
Sir Joſef?“ 

„Unmöglih! — Den da drüben,” jagte der Schwarze mit einer Zurücddeutung 
jeines Kopfes, „den kenn’ ich. Den vergeſſe ich nie. Und hoffentlich gelingt mir noch 
der eine Plan im Leben, jeine Bekanntichaft bei unjerer vertraulichen Nachbarjchaft 
Auge in Auge zu erneuern.” 

„Bott jegne Euer Borhaben, Sir!” antwortete der Hagere und leerte jein Glas, 
um es jogleich wieder zu füllen. 

Der Schwarze entblößte jeinen linken Arm, der eine tiefe Narbe zeigte: „Hier ijt 
die Wunde vernarbt — aber nicht hier,“ jagte er, mit flammendem Bli auf den Sik 
ſeines Herzens deutend, indem er wiederholt Leidenjchaftlic auf die Stelle ſchlug und 
haftige Kopfbewegungen dazu machte. Während er jeinen Nodärmel wieder herunter: 
jtrich, verzog fi) der Mund des anderen zu jpöttiichem Grinsen. 

„Herz in der Fauſt!“ murmelte er und legte jeine geballte Hand feſt auf den 
Tiſch. Dann verjanten beide wieder im nachdenkliches Schweigen, das nur ein Zug 
aus den Gläjern ab und zu unterbrach. Endlich jagte der Schwarze halblaut wie im 
Selbſtgeſpräch: 

„Ob mein alter Kamerad Ringelin mich wirklich nicht erkannt haben ſollte?“ 

„Hätt' Euch zum Frühſtück eingeladen, Sir; — Erkennungsſzene, Umarmung — 
vergeben und vergeſſen — kenne das — edle Herzen, Haha!“ polterte der jüngere der 
beiden Gejellen höhnend. „Herz in der Fauſt!“ wiederholte er, warf jcheu einen 
prüfenden Seitenblid auf den anderen und erhob fid) vom Stuhl. 

Er umſchritt den Tisch und ging nad) der Stelle, wo der angejpießte Braten lag. 
Mit dem Heft des Meſſers hob er das Fleiſch auf die Schüffel und jtreifte am Rande 
derjelben den Braten von der Klinge. Nachdem er diefe am Futter feiner Joppe 
abgewijcht, wirbelte er das Meſſer in die Luft und fing es mit jpielender Sicherheit 
wieder am Griff. Dieje Uebung fortjegend wandelte er einigemal im Gemach ſummend 
auf und ab. Dann jebte er ſich auf den verlajjenen Stuhl, flappte das Meſſer ver: 
mitteljt Druds auf eine ſtarke Feder zujammen, ftedte es ein und belohnte fich durch 
einen tiefen Zug aus jeinem Glaſe. 

„Meine Kur angejchlagen?” fragte er gleichgültig mit einem Blick nad) dem 
oberen Stocdwerf des Gemachs. „Schweiß eingetreten?“ 

„Weiß nicht,” gab der Schwarze zurüd. „Da die trodne Fieberhise nicht nad): 
ließ, kant ich herunter. James it oben und joll melden, wenn dein jchweißtreibendes 
Mittel anfängt zu wirken.” 

„Wirtichaft!” Schalt der Schmäcdhtige. „Was ging uns der Narr an? Warum 
lief er uns in den? Schuß und dem Seiler in die Fänge? Habt Ihr das Net, Sir, 
Menjchen zu retten, die der Himmel zu ſich nehmen will?” Die legte Frage begleitete 
ein läfterliches Schimpfwort und verzerrtes Mienenfpiel. „Die Welt ift ein Tollhaus,“ 
philofophierte er. „Was macht fie dazu? Die Erfindung geheiligter Ordnungen im 
Staat, das Schichtenwejen und die Rollenverteilung in der Lebenskomödie, die Selbit: 
täufchung jogenannter Menjchenliebe — was weiß ih! — Die Beſtien find doch aud) 
Gottes Geichöpfe. — In der Bibel fteht: Er ſchuf fie ein jegliches in jeiner Art, — 
Mo, zum Teufel! — haft du jemals wahrgenommen, Manı, daß ein Löwe fid) für 
vornehmer hält als einen Maulwurf? — Giebts unter den Tieren großhanjige Geld: 
jäde und Bettelgefindel? — Hunger und Durjt haben fie alle, nicht anders als die 
Menjchenbrut. — Aber von Liebe keine Spur. — Sie nehmen mit, was ihnen in den 
Weg läuft. Und die jchwächeren dienen zum Futter der ftärferen. — Herz in der 
Fauſt, Sir! — Empfindfame Seelen find feines mannhaften Entjchluffes fähig. Aber 
Hungrigen die Suppe verjalzen — das verftehen fie meifterlich. Und doch heißt e8: 
Du jättigeft alles was lebet mit Wohlgefallen. Hunger und Durjt_gefällt weder mir 
wohl, noch Euch, Sir, noch dem großmögenden König und armen Teufel. Sättigt e8 


79° 


1240 Ein Vertrag. 


dich mit Wohlgefallen, daß einfältige Tröpfe in prunfenden Schlöjjern prangen und 
faulenzen, daß unwiſſende Spekulanten auf vollen Geldjäden thronen, und da fie mit 
Gleichgültigkeit und Hohn auf die jaure Arbeit des Bauern und weißen Sklaven herab- 
jehn dürfen, in deren Fett fie ſchimmen? — Glüdlich zu jein, ein jegliches nad) jeiner 
Art, das iſt der göttliche Lebensberuf aller Kreaturen. Weun nun geniale Köpfe in 
ihrer Art nad) ſolchem Ziele ftreben und das papierne Geſetz, das jogenaunte Recht 
verfolgt fie dafür, dab fie wie Ausgejtoßene ein Unfenleben in verborgenen Schlupf: 
winken führen müffen, um fich wenigftens das Necht zum Leben zu fichern — Jättigt 
dic) das mit Mohlgefallen, frage ih) — he? — Darum Herz in der Fauft, Sir Io! 
— Fort mit dem vornehmen Narrenpad, — fort mit allen Geldjäden, — fort mit 
dem Staat und aller gejellichaftlichen Fraubajerei, — nieder mit dem unfittlichen Gejeß! 
— Wir wollen das göttliche Net, das fteht uns zu; wir wollen nicht von den 
Brojamen zehren, die von den iippigen Tafeln der Reichen und vornehmer Hausnarren 
uns wie Hunden zugeworfen werden; wir wollen unjer gutes Recht, das Recht aller 
Gejchöpfe des Herrgotts; wir wollen ihm die Hände frei machen, welche ihm die 
Menjchenbrut gebunden hält, daß er in Wahrheit wieder alles was lebet auf Erden 
ſättigen kann mit Wohlgefallen. Das wollen wir, verdamm’ mich! Beginnen wir gleich 
mit dem hochadligen Schläfer da oben — wer kann beweilen, daß er den Gnadenjtoß 
nicht von dem Seiler empfing, daß wir nicht alles gethan, jein wertvolles Leben 
zu retten?” 

Er jchnellte von jeinem Sit empor, wie gehebt vom Entichluß zu einer ungejtümen 
That, und eilte nad) der Thür. 

Da rief jein Gefährte mahnend und gebieteriſch: 

„Wlaſta Tomiſchek!“ 

Dieſer weibliche Name übte eine ſeltſame Wirkung. Wie vom Blitz getroffen 
blieb der hartgeſottene Fanatiker der Selbſtſucht am Boden gebannt ſtehen und verhüllte 
ſein leichenfahles Geſicht mit beiden Häuden. Aber ſchon nach wenigen Augenblicken 
erlangte er ſeine Entſchloſſenheit wieder. Er ließ die Hände ſinken und erhitzte ſeine 
Thatenluſt durch das zwiſchen den Zähnen gemurmelte Wort: 

„Herz in der Fauſt!“ dabei krampften ſich ſeine langen hageren Finger wie 
Eiſenklammern zuſammen. Mit erſchütterter Sicherheit verteidigte er ſich in ezechiſchem 
Idiom, indem er ſeinem Geſellſchafter einen ſtechenden Blick voll boshaften Haſſes zuwarf. 

„Wlaſta war mein mit Leib und Leben,” ziſchte er. „Das Mädchen opferte 
ſich widerſtandslos meinen chemischen Verſuchen. Ihr Tod lag nicht in meiner Abficht. 
— Warum erinnerjt du mic) an die verjährte Geſchichte, Herr?“ 

Mit gebieteriichem Wink deutete der andere auf den leeren Sit am Tiſche und 
mahnte drohend jeinen Genofjen: 

„Wnislaw Stur, denke an den Fluch deiner Mutter!” 

Ein ungewohnter fittliher Schauer erjchütterte plöglid) das verjteinerte Herz des 
erbebenden Gejellen. Wie im Fieberwahn Feuchte er wilde, angjtgequälte Irrreden aus 
gepreßter Kehle hervor: 

„Dal — da! — fie ballt mir die magere Fauft entgegen! — Was willjt du 
hier im Kerker, Weib? — ad! — der Krampf krümmt ihre alten Glieder. — Ich 
wollte dich ja nicht vergiften, Mütterchen, bei allen Heiligen! — ich wollt’ e8 nicht. — 
Aber warum quälteft dur mic) unaufhörlid mit Vorwürfen? — — Joſef und Maria! 
— jtirbft du? — nein, nein! — fie jchläft, fie jehläft nur. — Meine Miſchung war dir zu 
kräftig! — e8 war ja nur ein Schlaftrunft — ja, ja! — ein guter, wirkſamer Trank!“ 

Sp delirierte er fort, nachdem er ftöhnend auf den Stuhl gejunfen. Er vergrub 
den Kopf in die Arme, welche jchlaff auf der ZTijchplatte ruhten. Dann ging der Aus: 
bruch jeiner Najerei allmählich) in ein röchelndes Schluchzen über, unterbrochen von 
balblauten Selbitanflagen: 


Ein Vertrag. 1241 


„Keine Beitie vergiftet jein Weibchen — feine feiblihe Mutter! — Ich bin ein 
Ungeheuer — ein Scheufal — oh! — oh!” 

Plötzlich ſprang er wie ein Tieger auf. Mit biutunterlanfenen katzenhaften Augen 
frallte er jeine fnochigen Finger in den Kragen jeines Beobachters: 

„Wer hat meine Jugend vergiftet?” vief er ihm zähmeknirichend zu. „Wer hat 
meine arme Schweiter Nepomuzena elend gemacht? — Du! — Du! — ihr Mörder! — 
Du, den der Fluch meiner Mutter ebenjo jchwer getroffen als mich, — du, der mir 
jein heiliges Gelübde gebrochen hat!“ 

Mit eijernem Griff befreite fic) der Schwarze von den Fäuften Wnislaws. Er 
drückte ihn mit muskulöſer Kraft auf den Stuhl zurück und entgegnete ihm mit gemüt— 
lihem Ton wieder in engliiher Sprache: 

„Unfinn, alter Junge! — Was haben wir einander vorzuwerfen? — Du bateft 
mich, al3 unjere gemeinjchaftliche Lebenstomödie begann, dich niemals wieder weder an 
den Namen deines rechtichaffenen Vaters zu erinnern, noch an deine Apotheferjtudien 
mit ihren verhängnisvollen Folgen. Ich gab dir das Verſprechen und hielt es aud) 
bis zu diefer Stunde. Du gelobteft mir dagegen, nichts zu unternehmen, was unjere 
verfehmte Lage verichlimmern fünnte. Dein verfnöcherter finnlojer Egoismus hat Did) 
zur wilden Beſtie gemacht. Unterwirfjt du dich der Lenkung meines klaren Willens, 
dann bift du ein brauchbares Werkzeug bei Unternehmungen, die rückſichtsloſes Drauf: 
gehen erfordern. — So jteht nun die Wage: Gelübde gegen Gelübde! — Brud) gegen 
Bruch! — Und wir find quitt. — Was willft du denn noch? — Ich habe dein 
foftbares Dajein vom Henkerbeil gerettet; du das meinige von der ftandrechtlichen 
Kugel: aljo abermals quitt! — Seitdem bift du für mid) mein Kamerad — mein 
gehorjamer Diener Robby — wie es eben paßt; und ich bin für did Sir Jo oder 
Miſter Whitehorfe — je nachdem. — Unfer beiderjeitiges Dajein hängt am  jeidenen 
Faden unferer Eugen Vorſicht — unjerer Verfchwiegenheit. In diefem Sinne ift einer 
dem anderen die zartefte Nückficht jchuldig. Die rührendfte Liebe aljo kettet unjere 
Nornenjeile unzertrennlich aneinander.” 

„Liebe!“ knirſchte Stux, „ich kann das Wort nicht hören. Der Teufel fittet uns 
wie mit Assa Foetida zuſammen,“ ſchnaubte er und legte feine feuchtkalten Finger 
flüchtig in die dargereichte Hand des Anderen. 

„Erneuern wir denn nun unferen alten Pakt,“ forderte Sir Jo. „Ich erinnere 
dich nie wieder an Wnislaw Stur und feine Unthaten.“ 

„Meinetwegen!” ftimmte Robby in engliicher Sprache ein; „und ic), Sir, folge 
Eueren Weifungen und Verboten wie ein dreifierter Pudel.” 

„zopp! — So gefällft du mir wieder, Hallunke!“ entgegnete jener. Dann 
ergriffen beide die gefüllten Gläſer, ftießen fie zufammen und ftürzten den heißen Inhalt 
mit tiefen Atemzügen hinunter. 

Die Gaftzimmer des vormaligen Bilamsdorffer Jagdichlößchens, welche im oberen 
Geſchoß des Gebäudes zu beiden Seiten eines jchmalen Ganges einander gegenüber 
lagen, waren von den wechielnden Beſtimmungen des Haujes wenig berührt worden. 
In Form und Ausstattung glich ein Raum genau dem anderen. Niedrige Dede mit 
unbekfeidetem Gebälk, vom Alter geſchwärzte hölzerne Wandbeichalung, ſchwere Zimmer: 
geräte; gegenüber der Thür ein, die ftarfe Außenwand durchbrechendes Fenjter mit 
runden, in Blei gefaßten Glasjcheiben: jo war ein Gaftzimmer wie alle andern ein: 
gerichtet. Der gegenwärtige Befiger der Waldmeierei übernahm beim Ankauf das ganze 
altehrwürdige Inventar, wie er e8 vorfand, und da es jeinem Geſchmack nicht wider: 
itrebte, bejchloß er, nichts daran zu verändern. Eine unbequeme fteile Schmale Treppe 
mit ausgetretenen, zum Teil abgebrödelten Steinftufen führte vom Erdgeihoß in den 
oberen Stock und mündete auf den Gang, an welchem die Gaftzimmer fich befanden. 

Diejelben waren unbewohnt mit Ausnahme desjenigen, welches unmittelbar zur 
Rechten der Treppe lag. Während die beiden Männer im unteren Gemach ihre 


1242 Ein Vertrag. 


Erinnerungen austaufchten und die aufgereizten Leidenschaften nur mühſam in Schranken 
bannten, herrichte oben lautloſe Stille. Auf dem Sofatiih qualmte ein offene Del- 
lämpchen. Die matte rötliche Flamme, von zahllojen junmenden Miücden umſchwärmt, 
verbreitete nur jpärliches Licht, das von dem dunfelen Holzwerf der Dede und Wände 
noch gedämpft wurde. Waſſerkaraffe mit Glas, eine Medizinflaſche mit Hornlöffel, 
eine goldene Taſchenuhr mit Kette und Berloden, Geldbörfe und Cigarren-Etui waren 
ungeordnet auf der Tiichplatte verftreut. Männliche Kleidungsjtüde, darunter ein zer: 
drücter Hut von feinem italienischen Stroh, das jtellenweije mit Blut bejudelt war, 
lagen auf dem Eleinen Sofa und am Fußboden umher. 


Unter einer wollenen Dede ruhte im Bett eine männliche Geſtalt, das Geſicht der 
Wand zugewendet. Keine Regung, kein hörbarer Atemzug verriet, ob Leben in den 
ausgeſtreckten Gliedern pulſiere oder nicht. Der obere Teil des Körpers war beſchattet 
von einem hochgewachſenen ſchlanken Jüngling, der, mit dem Rücken dem Licht auf 
dem Tiſche zugekehrt, am Bette ſtand und bemüht war, mit leiſen Schwingungen eines 
Fächers die Angriffe der Mücken zurückzuſcheuchen. Die Hausgenoſſen nannten ihn 
James. Er glich genau dem Jägerburſchen, den Graf Hoyer im Walde geſehen hatte. 
Von Zeit zu Zeit berührte er vorſichtig mit ſeinen Fingerſpitzen die Stirn des Ruhenden, 
wie um die Lebenswärme der Haut zu prüfen. Dann fuhr er fort, die Mücken fern 
zu halten. Im übrigen machte er den Eindruck einer bewegungsloſen Erzfigur den 
ſtarren Blick unverrückt auf den Gegenſtand ſeiner Fürſorge geheftet. 

Dunkele Röte färbte plötzlich die Wangen des Kranken. Aber die Haut blieb, 
wie es ſchien, trocken. — James, eingedenk des erhaltenen Auftrages, den Männern im 
Erdgeſchoß ſofort zu melden, wenn der Trank Wnislaws ſeine ſchweißtreibende Wirkung 
zu äußern begonnen haben werde, beobachtete den Farbenwechſel auf dem Geficht, das 
immer noch gegen die Wand gekehrt war, mit Erregung. Vorſichtig unterjuchte er mit 
feiner Hand die Temperatur der Stirnhaut des Schlummernden. 


Da warf ſich dieſer mit einem Ruck herum, jchlug die Augen auf und ftarrte 
einige Sekunden lang verwirrt in das ſeltſame Antlig mit dem unheimlich Lodernden 
euer jener jchwarzen runden Sterne, die regungslos auf ihn herniederftrahlten. 

„Apage Satanas!* rang es fich endlich beflommen aus der Bruft des Halbwachen 
hervor. Zugleich drang ihm matter Schweiß aus allen Poren. Er ſchloß die Augen 
und fehrte fich wieder der Wand zu. So lag er von wirren Traumgedanfen geichaufelt, 
geraume Zeit wieder ohne äußere Negung da. Seine Arme ruhten ſchlaff auf der 
wollenen Dede. 

Sie wurden von leifer Hand jegt behutiam mit dem wärmenden Stoffe verhüllt. 

„Danf, Dank!” klang es halblaut von den Lippen des Nuhenden. „War id) 
wieder unfolglam? — Bitte, verzeihen Ste mir!” 

Er jeufzte tief auf. Dann ſchwieg er wieder und jchien zu ſchlummern. Das 
Geräuſch klirrender Theegeſchirre drang an ſein Ohr und verband ſich mit ſeinen 
Traumvorſtellungen. 

„Dann gehen wir nach China,“ flüſterte er. „Der Thee iſt zu heiß — es iſt 
ja ſo ſchwül; — ruhig liegen? — Weil Sie es wollen — ich will ja gern Ihre 
Wünſche erfüllen!“ 

Er ſtreckte die Glieder und ſchob ſeinen Körper bis zum Kinn unter die Dede. — 
Da vernahm er eine Männerftimme, die mit flangvollem, aber zur milden Weichheit 
abgefhwächten Ton nahe feinem Ohr jagte: 

„Der Thee wird kalt. — Es wäre Ihnen gut, eine Schale davon zu fich zu 
nehmen, weil das Getränf noch warm ijt.” 

„Meine Pflegerin joll mir eine Tafje reichen,” antwortete der nod) immer Traum: 
verwirrte mit matter Stimme. Er wendete jeinen Kopf dem inneren Raum des Gemaches 
zu, jchlug die Mugen auf und ließ fie unruhig umberjchweifen. „Wo ift fie?“ fragte 


Ein Vertrag. 1243 


er Ängftlich und ungebuldig. „Warum ift fie fortgegangen? — Bitte, Herr Doktor, 
wollen Sie die Schweiter rufen ?” 

Erſt jetzt ſchenkte er jeine Aufmerkjamfeit der Perjon, die an jeinem Bette ftand 
und von dem Licht der Lampe undeutlich beleuchtet wurde. Es war eine ftattliche 
Männergeftalt, diejelbe, welche Wnislaw Stur als Sir Jo angeredet hatte. Das matt: 
leuchtende linke Auge bededte jetzt jene jchmale jchwarzjeidene Binde, welche den 
Gefichtszügen einen auffallend veränderten Ausdrud gab. Er befand fich ſchon längere 
Meile hindurch mit dem Leidenden allein im Zimmer. James war geräujchlos ver: 
ſchwunden, nachdem er die Stirn feines Pflegebefohlenen feucht werden jah. — Bald 
nachher trat Sir Jo in das Gemach. — Dann brachte James den Thee und entfernte 
ſich jogleich wieder. 

„Warum fommt nicht der Arzt, der mich bisher behandelte?” fragte der Ruhende 
num, der dem Fremden nach einem flüchtigen Blick wieder den Rücken zumandte. 

„Sie irren,“ erflärte derjelbe, „ich bin nicht Ihr Arzt — bin überhaupt fein 
Doktor.” 

„Wer find Sie denn?” fragte der Andere barſch zurücd, warf ſich auf die rechte 
Seite und betrachtete den Sprechenden mit dem Ausdruck der Weberrafhung. Der 
lodernde Blid des einen jchwarzen Auges, der fich feſt auf ihn beftete, übte vorüber: 
gehend eine bannende Wirkung. Aber er wedte auch des Verwirrten volles Bewußtſein. 
— Erjtaunt mufterte er die ihm völlig fremde Umgebung. 

„Wo bin ich?“ rief er herriich. „Was haben Sie mit mir vor?“ Damit richtete 
er fi) etwas mühſam zu fitender Stellung empor und machte Anftalten, aus dem 
Bette zu jpringen. 

„Oho! — Gemadh, mein Freund!” entgegnete Sir Jo und drüdte feinen auf: 
geregten Gaft etwas unjanft in die Kiffen zurüd. „Sie befinden ſich vorläufig in meiner 
Gewalt, lieber Mann, und in meiner Kur. Ic rate Ihnen deshalb: Feine Wider: 
jeßlichkeit gegen meine Verordnungen!“ 

„Wie? — Drohungen? „mein Freund?” — „Lieber Mann?” rief der andere 
empört, „ich bin nicht Ihr Freund, Herr; — id) kenne Sie nit! — Ihr Benehmen 
reizt auch nicht den Wunſch auf, Ihre nähere Bekanntſchaft zu machen. — Aber id) 
muß doc) bitten zu bedenken, daß eine gewille Spezies von Vertraulichkeit zuweilen 
weder ſchicklich noch angenehm ift. Ich bin Graf Hoyer, Gaft des Grafen Dieffemberg.“ 

Sir Io machte eine leichte tadelloje Verbeugung. „Um jo höher Habe ich die 
Ehre zu jchägen,” jagte er mit einem Anflug von Jronie, „einem jo vornehmen Gaſt 
unter diejem bejcheidenen Dach meine geringen Dienfte widmen zu dürfen.” 

Dem Grafen entging die ironiſche Abſicht keineswegs. Aber eben deswegen ver: 
wirrten ihn die wohlgejegten Worte, die von einem Gebärdenfpiel begleitet waren, wie 
man es im Salon der feinen Welt zu erlernen pflegt. So konnte nur ein ſelbſtbewußter 
Kavalier jprechen, dem ein Grafentitel nicht mehr galt, als das Prädifat „Hören Sie 
"mal, lieber Mann!“ — Unwillfürlich jchlug nun aud) Henning den Ton an, der ihm 
im Verkehr mit gleichgeftellten Standesgenofjen geläufig war, als er den Wunſch 
äußerte, Auskunft darüber zu erhalten, wo er ſich befinde und wem er für die gaſt— 
freundliche Aufnahme zu Dank verpflichtet ſei. 

„Meine Leute, Herr Graf,“ erg ihn der Fremde mit dem Anftande vornehmer 
Gleihgültigkeit, „nennen dieſen Landfig in der Sprache unjerer gemeinjamen amerika: 
nichen Heimat „Whitehorje-Cottage”. Ich jelbft zeichne mich in Firma Joſef Whitehorfe,” 
jepte er lächelnd Hinzu. 

„Sehr angenehm,“ dankte Henning mit einem prüfenden Blick. Dann legte er 
finnend die Hand an feine Stirn, wie um unklare, zujammenhangloje Erinnerungen zu 
ng und fragte halb für fich, wie er denn nur in diefen Zuftand, in diejes Bett 
gelangt jei. 

Mifter Whitehorje faßte feines Gaftes Mienen jcharf insg Auge. „Sie erinnern 





1244 Ein Vertrag. 


fih, Herr Graf, doch an den Unfall, der Ihnen im Walde begegnete?“ forjchte er miz 
der geipannten Aufmerkſamkeit jeines lauernden Auges. 

„Unfall,“ wiederholte Henning langjam und nachdenklich. „Unfall — ganz recht! 
— Meine Phantafie erhigte eine Tiebliche Sinnestäufhung,“ flüfterte er faum verftändlich, 
„ich wollte dem jchönen Trugbilde entfliehen — ja ja — jo wars! — Hd befand 
mich in tiefer Waldeinſamkeit — gehetzt von einer unbezähmten Leidenjchaft, wuchs fie 
groß und wild im Herzen empor — fie verfolgte mid) wie eine tolle Beſtie — fie 
itand verfürpert vor mir in Geftalt des Dämons meiner umvirdigen Zügellofigkeit — 
ich Jah ihn aus einem Eichenſtamm hervorwachſen — id) jah ihn hier neben mir am 
Lager ftehen — noch zittert der ftarre Blick, mit dem er mic angloßte, mir im Herzen 
nach — dann verlor ich die Herrichaft iiber meinen Willen vollends, die Beitie meiner 
finnfojen Aufgeregtheit überwältigte mich und der Dämon meiner Thorheit drohte 
heulend das Nachejchwert mir in die Bruſt zu ſtoßen.“ 

„Sie find noch nicht fieberfrei, mein Herr Graf,” erklärte Mifter Whitehorje und 
prüfte den Puls jeines Gaftes. — Er Hatte ſich neben dem Bett auf einen Stuhl 
niedergelaffen mit dem Nüden nad) dem Lampenlicht, deſſen Strahl die Züge des 
Grafen deutlich genug beleuchtete, um dem Beobachter jeden Reflex der inneren Vor: 
gänge wahrnehmbar zu machen. 

„Ihre erregte Phantaſie verdunfelt Ihnen die Erinnerung an die Ereigniffe im 
Walde. Natürliche einfache Ihatjachen beziehen Sie auf innere Erlebniffe, die Sie 
ſchon in einen Zuftand fieberhaft aufgereizter Stimmung verjeßt haben müſſen, bevor 
die Belinnung Sie vollends verlieh. Sie mußten fi) völlig vom Wege verirrt haben. 
Und in diefem Umftande läßt fich abermals Ihre Abgezogenheit von der Außenwelt 
erkennen. Denn ohne Zweifel war im Schlojje die Rede auf die Unficherheit diejes 
MWaldreviers gefonmen. Ich Schließe das,“ ſetzte er mit verjchärfter Aufmerkſamkeit auf 
Hennings Mienen Hinzu, „ich ſchließe das aus dem Eindrud des argwöhnijchen Blicks, 
mit welchem der Huſarenoffizier mich zu betrachten ſchien, den ich heute auf die richtige 
Straße nad) dem Schloſſe zu geleiten die Ehre hatte. SH darf demnad annehmen, 
daß Sie gewarnt worden waren. Und jchwerlich würden Sie dann Ihre werte Perjon 
der Möglichkeit ratlojen Umherirrens oder gar ernfteren, wenngleich völlig unbegründeten 
Tührlichkeiten mit ruhiger Ueberlegung und kaltem Blute ausgejegt haben.” 

Henning mußte feine Gedanken mit ungewohnter Anftrengung zujammenraffen, 
um den Schlußfolgerungen des Mijter Whitehorſe mit VBerftändnis folgen zu können. 

„Zerſtreut,“ jagte er nachdenklich, „ia, das werde ich wohl gewejen jein. Aber 
gewarnt hat der Rittmeifter mich nicht. Vielmehr ſprach er mit rüdhaltlojer Hoch— 
achtung von Ihren Verkehrsformen. Sie fielen ihm auf, weil er Sie für einen gräflichen 
Nevierförfter hielt. Er bemerkte, daß Sie einen ihm befannten Zelter vitten, den er 
noch im Beſitz des Grafen Dieffemberg wähnte,“ 

„Es paßte mir trefflich,” schaltete Whitehorje ein, „daß mir diejes Pferd von 
einem Roßkamm, der es allerdings von meinem Herin Nachbar erworben, zum Kauf 
angeboten wurde, al3 ich eben einen Gaul juchte. Ich habe eine einfältige Vorliebe, 
Herr Graf, für Schimmel ohne Abzeichen — ein Erbteil meines Vaters, der nie andere 
Pferde ritt.“ 

Dieje Bemerkung brachte eine Wirkung hervor, die der Sprecher weder beabfichtigt 
noch erwartet hatte. Demjelben entging es nicht, daß der Graf ihn eine Weile lang 
betrachtete, als juche er fich eine Erinnerung zu vergegenwärtigen. Bald aber wiegte 
er wie verneinend das Haupt und verſank in jchiweigendes Sinnen. 

„Ich freue mich,” jagte Whitehorje, ohne jeine Wahrnehmung zu berühren, „daR 
der Herr ‚Rittmeifter ſich jo jchmeichelhaft über meine geringe Perjon geäußert.“ 

„Sie fünnen völlig beruhigt darüber ſein,“ tröftete ihn Henning. „Vielleicht hat 
der Nittmeifter Sie nur prüfend angejehen. Denn ic) entfinne mich, daß Ihre Erjcheinung 
beim erjten Anbli eine dunkele Erinnerung — wie er erzählte — flüchtig in ihm 


Ein Vertrag. 1245 


aufgeregt habe, die ſich jedoch) alsbald völlig abblafte und als Einbildung 
erwies.“ 

„Um ſo beſſer,“ ſagte Whitehorſe mit dem zufriedenen Gefühl erlangter Gewißheit. 
Dann klagte er ſich ſeines tiefeingewurzelten Mißtrauens an, mit dem ſeine herben 
Lebenserfahrungen ihn gegen die Menſchen, namentlich gegen alle Fremden erfüllt hätten. 

„Wie könnte es auch anders ſein!“ ſchloß er mit Bitterkeit. „Ich habe dieſen 
ſchönen Erdball faſt nach allen Richtungen hin durchmeſſen. Unter allen Himmels— 
ſtrichen bleibt der Menſch ſich gleich. Ueberall bereitet er ſich ſelbſt und Anderen 
dasſelbe Elend. Im Herzen nagt ihm der giftige Wurm der Selbſtſucht und Bosheit. 
Im Kopf regiert der Teufel. So ruinirt die Menjchheit ſich jelbit und krankt rettungslos 
dahin an einer allgemeinen Seelenſchwindſucht.“ 

„Hinrich!“ rief Henning plötzlich leidenſchaftlich und ergriff mit einer vajchen 
Bewegung den erftaunten umd zugleich erſchreckten Mifter Whitehorje bei den Händen. 
„sa, du bift doch mein alter verjchollener Hinrich, — wie jehr die Jahre dein Aeußeres 
auch verändert haben, wie du dich auch in dieſes rätſelhafte Inkognito zu hüllen ſuchſt. 
— Du biſt ja ein ganz vorzüglicher Schauſpieler geworden, daß es deiner Verſtellungs— 
kunſt gelang, mich ſo lange wenigſtens in einer halben Täuſchung zu erhalten.“ 

Miſter Whitehorſe hatte ſich während dieſes ſprudelnden Freudenerguſſes vom 
Stuhl erhoben und ſuchte eine Erregung zu bemeiſtern, indem er am Tiſch eine Taſſe 
mit Thee füllte. Er reichte dieſelbe dem erregten Gaſt und forderte ihn zum Trinken auf. 

„Sie find noch recht krank, Herr Graf,“ ſagte er wieder völlig rnhig. „Nehmen 
Sie etwas von Diejem niederſchlagenden Mittel, um die Wahnvorſtellungen Ihrer 
leidenſchaftlichen Einbildungskraft zu verſcheuchen. — Sie täuſchen ſich ganz in meiner 
Perſon. Wahrſcheinlich neckt ſie irgend eine zufällige äußere Aehnlichkeit.“ 

„Wenn es nur die wäre!“ entgegnete Henning beharrlich und verſchüttete mit 
bebender Hand von dem Thee in die Unterſchale. „Zur äußeren kommt auch eine 
untrügliche innere Gleichheit. — Die gleiche Vorliebe für weiße Roſſe will ich nicht 
gar zu hoch anſchlagen — aber die Anſchauungsweiſe des Lebens, die meinem Freunde 
ganz ausſchließlich angehörende Philoſophie vom ſittlichen Ruin und der „allgemeinen 
Seelenſchwindſucht der Menſchheit“. Dieſe Art der Bezeichnung iſt jo originell, daß 
ſchwerlich ein anderer als Freifinger darauf verfallen fünnte — er müßte den Ausdruck 
denn von ihm jelbjt gehört haben.“ 

„Ich nehme die Erfindung des Ausdrucks feineswegs für mid in Anſpruch,“ 
erklärte Whitehorje. „Schlagwörter find wie Scheidemünzen; einer verausgabt fie, dann 
furjieren fie durd) die Welt. Wo ich zuerjt von der Seelenjchwindfucht der hinfiechenden 
Menichheit habe reden hören, ob in Melbourne, Paris oder Teras — vielleicht gar 
von Ihrem Freunde jelbjt, Herr Graf, — das weiß ich nicht,“ behauptete er achſel— 
zudend. „Meine vom Leben gewonnene Anficht habe ich aber aus meinen eigenen 
troftlojen Erfahrungen gejchöpft, das weiß ich leider nur zu gewiß.” 

„Alſo nicht?” fragte der Graf kleinlaut. „Nicht Hinrich Freiſinger?“ 

„Ich nenne mich Joſef Whitehorſe, wie ich zu erwähnen bereits die Ehre hatte,“ 
wiederholte dieſer, während Henning nach kurzem Beſinnen fortfuhr. 

„Seht wird es mir auch wieder klar, daß ich, vom Knall der Büchſen geleitet, 
den Weg nach der Meierei juchte in der zuverfichtfichen Erwartung, hier meinen Freund 
Treifinger begrüßen zu dürfen. Und nun ich ihn gefunden zu haben wähne, joll ic) 
glauben, nur feinen Doppelgänger entdedt zu haben ?“ 

„So hatten Sie, Herr Graf, doch aljo wohl begründete Urjache, auf das Wieder: 
jehen Ihres intereffanten Freundes zu rechnen?” lenkte Whitehorje ab und feine Mienen 
nahmen wieder einen gefpannten lauernden Ausdrud an. 

Henning antwortete nicht direkt auf diefe Frage, die er kaum zu vernehmen fchien. 

„Es wird mir wahrhaft jauer,“ jagte er, „glauben zu jollen, daß ich mich jo 
arg täuſchen könnte. Aber Sie find ja ein vielgereifter Mann, Mifter Whitehorje, — 


1246 Ein Bertrag. 


jo wäre es doch nicht ganz undenkbar, daß Sie meinem freunde irgendwo einmal 
begegneten, oder wo nicht, daß Sie doch von ihm gehört hätten. Denn allem Anſchein 
nach muß er ald Opernfänger in Newyork und in Baltimore vor einigen Jahren Die 
öffentliche Aufmerkjamkeit auf fic) gezogen haben. Für die enttäufchte Hoffnung, 
ihn perjönlich hier begrüßen zu dürfen, würde es mich wenigftens etwas entichädiger, 
über feinen Wohnſitz und fein Schiejal wenn auch nur Andeutungen zu erfahren.” 

„Alſo Sänger bei der Oper in Baltimore war Ihr Freund, Herr Graf? — 
Und er hieß oder nannte ſich Mifter Harry FFreifinger?” fragte der andere anjcheinend 
nachſinnend. 

Henning beſtätigte etwas ungeduldig beide Fragen. 

„Von einem ſolchen Gentleman,“ ſagte Whitehorſe mit der Miene einer wieder— 
erweckten alten Erinnerung, „ging allerdings, wie ich mich jetzt entſinne, vor einigen 
Jahren eine recht lebhafte Diskuſſion durch die nordamerikaniſche Preſſe. Doch der 
Gegenſtand iſt jo wenig erfreulich, daß er bei Ihrer gegenwärtigen Reizbarkeit, mein 
Herr Graf, zur Mitteilung mir nicht geeignet jcheint. 

„Sp viel mir davon aus zujammenhanglojer Zeitungsleltüre noch erinnerlich 
geblieben iſt,“ fuhr er fort, weil Henning darauf beſtand, „mögen Sie denn mit Ruhe 
und Faffung wohl auch erfahren Dürfen. Miſter Harry Freiſinger nämlid) war, wie 
ich las, in einen fatalen Preßprozeß verwidelt. Es handelte ſich um Ausnutzung der 
Preßfreiheit in gemeinjchädlichem Sinne und zwar aus gewinnjüchtigen Abfichten. 
Seine Alarmberichte verurjachten Falliffemente und allgemeine Panif. Die letzte Nach: 
richt, die ich las oder hörte, lautete dahin, daß Miſter Freiſinger gefänglich eingezogen 
worden jei. Ueber den weiteren Verlauf jeines Schickſals habe ich nichts in Erfahrung 
gebracht. ch verlor die an fich mir ziemlich gleichgültige Angelegenheit über näher: 
liegende Bflichten aus den Augen. — In ihrem Intereſſe, mein Herr Graf, würde id) 
mic) indefjen freuen, zu hören, daß Ihr beflagenswerter Freund nicht gar in einem 
Staatögefängnis verſchwunden jei. Hoffentlich) haben Sie Kunde von jeinem Verbleiben 
in erwünſchteren Umgebungen.” 

E3 jchien den Erzähler zu beunruhigen, daß ſein Zuhörer nur flüchtig vorüber: 
gehende Spuren der erregenden Wirkung verriet, die jener mit jeinen Gröffnungen zu 
erzielen beabfichtigt haben mochte. Auf Hennings lakoniſchen „Danf für die ſchmutzige 
Geſchichte“ erwiderte Whitehorje deshalb jeine etwas erfünitelte Freude, daß die Nerven: 
erregungen doch ſchon nachzulaflen schienen. 

„sn der That,“ gab Henning zu, „abgejehen von einer empfindlichen Unbequem— 
lichkeit am Rüden und einer jchmerzhaften Stelle am Fußgelenk, fühle ich feine weiteren 
Folgen meines Unfalls, als einen Hang zu ruhen. Meine Erlebnifje treten mir jebt 
indejfen deutlicher entgegen. Ich entjinne mich zweier Jäger, die einen Seiler besten, 
der von einem ſeltſamen Jägerburjchen mit gezücktem Hirichfänger erwartet wurde.“ 

„Ganz recht, Herr Graf, beſtätigte Whitehorſe. „Es konnte ein entſetzliches 
Unglück daraus entſtehen, daß Sie mit Ihrer ahnungsloſen Zerſtreutheit im entſcheidenden 
Augenblick den Wechſel des raſenden Ungetüms kreuzen mußten. Glücklicherweiſe ſind 
Sie mit einer Kontuſion am Fuß und einer geringen Schnittwunde an der Stirn davon— 
gekommen, wie ich nach dem normalen Verlauf der Fiebererſcheinungen infolge Ihres 
jähen Schrecks zu meiner Freude wahrnehme.“ 

Henning entdeckte mit taſtendem Finger ein engliſches Pflaſter an ſeiner Stirn 
und fragte erjtaunt, wer ihm die Schnittwunde, wie Whitehorje jagte, beigebracht habe. 

„Wenn mir erlaubt ift, eine kurze Erklärung voranszufchiden,“ eriwiederte White: 
ar „ſo werden Sie dieſen allerdings abjonderlichen Nebenumjtand zu verzeihen 
willen.“ 

Mit einer zuftimmenden Handbewegung ftredte Henning id) auf dem Lager aus, 
um die Erklärung nad allem Vorhergegangenen nicht ohne eine Regung von Mißtrauen 
mit gejchlofjenen Augen anzuhören. Whitehorſe erzählte: 


Ein Vertrag. 1247 


„Außer mir bewohnen bis jegt nur nod 2 Perjonen die jtille Wpitehorje-Cottage, 
nämlich mein Adoptivjohn James und Robby, mein Diener, der mir ergeben ift wie 
ein treuer Freund. James ift der Sohn eines Indianer-Häuptlings, der im Kampf 
von meiner Kugel fiel, nachdem die jeinige mir das linfe Auge geraubt Hatte. Der 
Knabe blieb allein und hülflos von dem überwundenen Haufen jeines Stammes übrig. 
Ich nahm ihn an Sohnesjtatt an und verließ meine amerikanische Heimat, um das 
Leben europätjcher Städte auf feine wilden Sitten wirken zu laſſen. Dieje Anjtrengungen 
führten Teider nicht zum erwiünjchten Erfolg. Seine natürlichen Neigungen bereiteten 
mir oft peinliche Verlegenheiten. Und jo bejtimmte er mich vor kurzem zur Anfiedelung 
in diejer entlegenen Waldecke. Freilich erwachten hier in der Freiheit der einjamen 
Natur feine zügellojen Regungen wieder. Er jperrt fich gegen ſtlaviſchen Zwang enger 
zugeftußter Kleider; fträubt fich, Speijen nicht mit den Händen, jondern mit Inftrumenten 
aus unreinen Stoffen zum Munde führen zu ſollen; und begreift nicht, warum ich ihm 
ftreng unterjagte, von erlegten Tieren und Gegnern ſich gewohnte Trophäen anzueignen. 
Als er in leidenjchaftlicher Erregtheit den ſchweißenden Keiler mit geichidtem Stoß 
abgefangen, mochte ihm in feinem Siegesraufche Ihr exemplariiches Toupet verlodend 
ericheinen. Schon hatte er feinen Tomahawk angejegt, und wenn ich es nicht rechtzeitig 
verhindert hätte, jo ftand zu befürchten, daß er Euer Gnaden im nächiten Augenblid 
auf's kunſtgerechteſte jkalpiert haben würde.“ 

Nach diejer jchauerregenden Darftellung des Uriprungs der Hautwunde an Hoyers 
Stirn, welche in Wahrheit ein jcharfer Dorn verurjachte, bemerkte Miſter Whitehorje 
endlich, daß fein Gaft eingejchlummert war. Er hatte die Geichichte aljo nicht einmal 
der äußerlichiten Aufmerkjamfeit gewürdigt. Mifter Whitehorje fühlte jich gefränft und 
zugleich gedemütigt. An der ruhigen Klarheit und schlichten Vornehmheit des Grafen 
prallten jeine gewohnten Praftifen fruchtlos ab. Daß dieſer ihn durchichaut Habe, 
fonnte Sir Jo ſich nicht verhehlen. Wie fade und plump erjchienen ihm jelbjt im 
Lichte diejer Einficht mun feine zwedlojen Täufchungsverjuche ! 

Berjunfen in bittere Selbitverachtung, blickte er auf fein verfehltes Leben zurück. 
Mechaniſch griff er nad) ſchwärmenden Mücden und zerdrüdte fie. Endlich erhob er ſich 
jeufzend vom Sit neben dem Bett des friedlich ruhenden Gajtes mit der reinen, falten: 
lojen Stirn und verließ leije das ftille Gemad). 

Unten angefommen wandte Whitehorje ſich nach rechts und tappte einen finfteren 
Gang entlang bis zu einer angelehnten Thür, durch deren Deffnung ein jchwacher 
Lichtſchimmer drang. Mifter Whitehorje ftieß mit dem Fuß die Thür zurück und trat 
in den Stüchenraum. Hier fand er den Indianer. Derjelbe ruhte mit Armen und Kopf 
auf dem alten breiten Küchentiih und war eingejchlafen. ine dunkel brennende 
Thranlampe verbreitete übelriechenden Dunft und beleuchtete die Umriſſe des Schlafenden. 

Mijter Whitehorje ergriff die Lehne des Stuhls, auf dem der Schläfer ſaß. Ein 
kräftiger Ruck entzog dem Ruhenden feinen Halt. James ftürzte zu Boden und erwachte 
mit jähem Schred aus feinem feſten Stat „Will dich schlafen Ichren, Faultier“, 
ſchalt Mifter Whitehorje, „Führft du jo meine Befehle aus, heift das jcharfe Wache halten ?” 

Er jahte das Ohr des Müden, zog ihn nad) einem Waſſerkübel und tauchte den 
Kopf des Ichlaftrunfenen Opfers jeiner ärgerlichen Laune in faltes Waller. Zugleich 
erteilte er ihm mit barjchen Worten den Befehl, ſich jofort wieder zu dem fremden 
Herrn hinaufzubegeben und ungefäumt die Meldung herunterzubringen, wenn derjelbe 
vom Schlaf erwacht jei. 

Als James leife und gejchmeidig wie eine Kate die Steintreppe erflommen hatte, 
wandte jein verdroffener Gebieter ich wieder dem Raum zu, wo er mit Wnislam Sturz, 
auch Robby genannt, vorher alte Verbindlichkeiten erneuert hatte. 

Mifter Whitehorje oder Sir Jo, wie Robby ihn nannte, jchenkte diejem jetzt feine 
Beachtung. Schweigend ſchloß er einen Wandichranf auf und holte daraus eine Mappe 
mit vielen, zum Teil vergilbten Heften bejchriebenen Vapiers hervor. Durch Ausfchiebung 


1248 Ein Vertrag. 


einer tiſchartigen Platte verwandelte er den Wandſchrank in ein Schreibpult. Dann 
zündete er eine Lampe an und lich ſich an diefer Einrichtung nieder. 

Nachdem er mit Anzeichen aufgeregter Gemütserichütterungen tn den Aufzeichnungen 
geblättert, ergriff er endlich eine Feder und jchrieb die Folgenden zerfnirichten Gedanken 
auf die erite der noch) leeren Seiten in deutjcher Sprache: 

„Whitehorje-Cottage, den 28. Auguft. 
Jede Zeile diefer rührenden Selbftbefenntniffe eines Verfehmten grinjet mir 

entgegen: jchwachherziger Tropf! — ehrlojer Wicht! — betrogener Betrüger! — 
D meine Mutter! — meine vertrauensjelige getäufchte Mutter! — fennteft Du 
die Verworfenheit und das elende Schickſal deines Erjtgeborenen! — Nicht ſchwerer 
würde ihn dein Fluch belastet haben, als das Bewußtjein ihn beugt, daß dein 
Segen erichwindelt wurde. Und doch muß ich es dem miütterlichen Segen danken, 
nicht zum unvettbaren Verbrecher geworden zu jein. Aber ich ermenere noch 
einmal meinen heiligen Vorſatz, ein andrer bejjerer Menjch zu werden. In diefer 
endlich gefundenen Stille einer jelbitbejchaulichen Zurückgezogenheit wird es 
gelingen, beijer als im betäubenden Rauſch des verächtlichen Rennens und Treibens 
da draußen. Wird mir nur diefe Schöne Ruhe ungejtört erhalten, jo werde ich 
endlich ernjtlicher als je an meiner jittlichen Genefung arbeiten lernen, vom Bann 
des irvegeleiteten Gewiljens frei werden und den langerjehnten Frieden finden, 
deſſen Süßigkeit ich nie gejchmedt habe — nie!“ 

Seraume Weile das Haupt auf die Hand geftüßt, ſaß der Schreiber diejer Zeilen 
noch am improvifierten Schreibtich in triibe Gedanken vertieft. Endlich jchien er fich 
zu einem kräftigen Entichluß zu ermannen. Er ftand elaftiih vom Stuhl auf, ſchloß 
das Fascikel jener Aufzeichnungen wieder in den Schranf und durchmaß einigemal mit 
rajchen Schritten das Zimmer. Dann wandte er ſich dem Nobby zu. 

Derjelbe bejchäftigte jich angelegentlid) mit der Reinigung eines Revolvers, ohne 
fi um die Anwejenheit des anderen zu kümmern. Mit jummendem Ton begleitete er 
jeine Arbeit durch eine gepfiffene melodiiche Phraſe. 

Whitehorſe jtand endlich till, füllte die Gläjer mit Arrak und Waller, jchob eines 
derjelben jeinem Gefährten hin und richtete mit Entjchloffenheit das Wort an ihn, der 

es jedoch nicht im mindejten zu vernehmen jchien. 

„Robby, alter Knabe,“ jagte er, „wann wirjt du endlich anfangen, ein verftändiger 
Mann zu werden? Dentit du nie an die ewige Gerechtigkeit, die jede Schuld uner: 
bittlich jühnt? Meinft du, dich ihr zu entziehen, wie der Strauß, wenn er feinen 
Kopf im Sande verbirgt? Oder glaubft du wirklich, ihr trogen zu fünnen? Dod 
das geht mich ja nichts an. Jeder muß jelbjt jehen, wo er zuleßt bleibt. Aber das 
Eine merfe dir: vergiß nicht, warum ich jchon lange eine vom Geräuſch des Lebens 
entlegene Zuflucht ſuchte. Ich habe fie endlich gefunden. Und hier will ich Ruhe 
haben. Das VBagabondieren joll einmal für allemal aufhören. Danad) richte dich und 
mache mir mit deinem beftialischen Ungeftüm feinen Strich” durd; die Rechnung. Soweit 
ich jehe, haben wir bis jegt nichts für unjere Sicherheit zu befürchten. Rittmeiſter 
Ningelin hat mich nicht erkannt, hat vielmehr mein Lob im Schloß gefungen. Und unſer 
Saft ift ein echter Edelmann, ein verdammt nobeler Charakter, der wird uns nicht 
verdächtigen, jchon deshalb nicht, weil er uns zu Danf verpflichtet ift. Alſo feine 
verräteriichen Tollheiten mehr, Robby, alter Sünder!“ 

Schweigend jeßte Mifter Whitehorie jeinen Spaziergang im Gemach wieder eine 
Weile fort. Auch Robby fuhr ftumm fort, jeine Waffe zu pugen. 

„Er ift mir unter den Händen eingejchlafen“, hub jener danad) wieder an. 
„Morgen kann ihn der Bilamsdorffer abholen lafjen, wenn er will. Beſſer, wir fämen 
ihm zuvor; aber wie? zu Pferde? — wird den Sattel nod) nicht vertragen; zu Fuß? — geht 
auch nicht. Werden doch Equipage anjchaffen müſſen, verlangt jchon die Reputation.” 


Ein Bertrag. 1249 


Whitehorſe blieb am Tiſch ftehen und richtete im Flüfterton die Nede an Nobby, 
der jeine Gegenwart völlig unbeachtet zu laſſen jchien. 

„Weißt du,” fragte Whitehorſe, „wen der Graf hier zu finden erwartete? Für 
wen er mic) beharrlic) hielt? Du ahnſt es wohl? für Hinrich Freiſinger. ⸗ 

Robby horchte auf. Seine pfeifenden Lippen zogen ſich in's Breite, 

„Dann hielt er Euch für den einfältigſten Tölpel ſeines Zeitalters, Sir,“ ſagte 
er mit ſorgloſer Zweideutigkeit. 

„Eben weil Harry ein Tölpel iſt,“ antwortete Whitehorſe, „könnte er uns einen 
übeln Streich ipielen. Denn wenn der Graf ihm den Staar fticht, wird fein mißhandeltes 
Gefühl ihn nicht ruhen lafien, bis er jeine alten Freunde vor dem Richter entlarvt hat.“ 

„Machen wir den Grafen mundtot,“ jchlug Robby vor und gab mit einer 
verjtändlichen Gebärde die praftiiche Ausführbarteit jeiner Abſicht zu erkennen. 

„Schon wieder übermütig, du unverbeſſerlicher Spaßvogel?“ tadelte ihn der 
andere. „Vorläufig wird's noch keine Not haben, wiewohl ich nicht herausgebracht 
habe, ob der Graf über Freiſingers Aufenthaltsort nicht dennoch beſſer unterrichtet iſt, 
als er zu ſein ſchien.“ 

In dieſem Augenblid jchrafen beide Männer empor. Nobby zog fein Dolchmeſſer 
und wollte nad) der Hausthür eilen, deren Mejfingklopfer dröhmend von außen wieder: 
holt angeichlagen wurde. Whitehorje hob den Genoſſen zurück und verlieh das Gemad). 
E83 vergingen mehrere Minuten, bevor er wieder eintrat. 

„Erpreßbote aus der Kreisftadt,” jagte er etwas erregt. „Was hat das zu 
bedeuten?“ 

Nobby hatte ihm inzwiſchen ein verfiegeltes Couvert mit haftigem Griff entrifjen, 
es erbrochen und trat an das Licht: 

„Seichäftsfreunde des Grafen W. im Anzuge. Werden wohl dieſer Tage 
ſchon Beſuch abjtatten. In Eile. Bertraulich.” 

Sp las Robby. Der Sinn diefer Mitteilung jchien ihm ſogleich deutlich zu ſein. 
Er verlor für einen Augenblick ſeine teilnahmloſe Gleichgültigkeit. Seine faltigſchlaffen 
Züge bedeckte Leichenbläſſe. Seine Kniee ſchlotterten. Mit der linken Hand ſuchte er 
eine Stütze auf der Tiſchplatte. In der andern hielt er das entfaltete Blatt. Indeſſen 
nicht lange bot er ſo das Jammerbild eines im Schuldbewußtſein verzweifelnden Feiglings. 

„Courage!“ flüſterte er kaum vernehmlich. Dann raffte er ſich gewaltſam wieder 
auf; und mit ſeinen krallenartigen langen Fingern den vor ihm liegenden Revolver 
umklammernd, ziſchte er durch ſeine zuſammengebiſſenen Zähne: 

„Herz in der Fauſt! Fort von hier! Ueber die Greuze!“ 

Whitehorſe hatte mittlerweile mit ſcheinbarer Ruhe ſinnend das Zimmer durchſchritten, 
ohne auf Robby zu achten. Jetzt machte er vor dem Wandſchrank halt und nahm 
aus dem Schrank ein Aktenbündel. An die Lampe tretend ſuchte er nach einer Namens— 
unterſchrift und verglich die Handſchrift mit derjenigen des von Robby auf den Tiſch 
geworfenen Briefes aus der Kreisſtadt. 

„Zwar etwas verſtellt, aber ziemlich ungeſchickt,“ ſagte er für ſich, „doch unver— 
kennbar dieſelben Grundzüge.“ 

Er reichte beide Schriftſtücke dem neugierig ——— Robby. Nach flüchtiger 
Prüfung pflichtete dieſer der Meinung bei. „Auguſt Kniff, Rechtsanwalt, General— 
mandatar Seiner Hochgeboren des Grafen Kurd von Dieffemberg-Bilamsdorff,“ las 
Robby halblant. 

„Wer diejen Kaufvertrag mit den breitipurigen Titeln und Würden unterfertigte,“ 
jagte er dann zuverjichtlich, „hat auch den vertradten Brief da geichrieben, das iſt 
feine Frage.“ 

„Deshalb bleiben wir ruhig in Whitehorſe-Caſtle,“ bejtimmte der andere, „und 
erwarten mit Würde die angekündigten Gejchäftsfreunde.” 

Nobby jah ihn mit Verwunderung fragend an, während Whitehorje den verräterichen 
Zettel und deſſen Umſchlag jorgfältig verbrannte. 


1250 Ein Vertrag. 


„Meint du, dummer Teufel,“ jchalt er den Verdugten, „der Rechtsanwalt habe 
aus purer Freundichaft für uns einen Boten in diefer nebeldichten Nacht herausgejchiekt ? 
Glaubſt du, Tropf, er habe durch dieje verwarnende Aufmerkſamkeit jeinen Auf, fein 
Amt und Brot in die Gefahr einer Entdedung feines rechtswidrigen Vorgehens gebracht, 
wenn er aus meinem freigebigen Honorar nicht den Schluß gezogen hätte, daß er an 
mir einmal einen jplendiden Kunden gewinnen fünne? Daraus folgt aljo, daß er jelbit 
weder ernjten Verdacht gejchöpft, noch eine Bedrohung unjerer Sicherheit von dem bevor: 
ftehenden Beſuch vorausfieht. Nur für alle Fälle erteilt er uns den Wink. Wir jollen 
Zeit gewinnen, alles aus dem Wege zu räumen, was den Schnüfflern etwa Anhalt 
bieten fünnte für VBerdächtigungen. Unſer jchlauer umfichtiger Freund will ung eben 
nur vor Ungelegenheiten ſchützen. Deshalb verwarnt er und. Wir wirden alfo nichts 
Alderneres unternehmen fünnen, als wenn wir das Neſt räumten. Die Grenze, ja fie 
ift in zwanzig Schritten erreicht. Aber der elektriiche Funke kennt feine: Grenzen. 
Und die Auslieferungsverträge der Staaten gönnen uns drüben feine Sicherheit. Flucht 
wäre überdies gleichbedeutend mit Geftändnis. Alſo warten wir ruhig ab, was fommt. 
Ic will den Spiteln jo geichict Sand in die Augen treuen, will ihnen mit nobelen 
Faxen jo gewaltigen Reſpekt vor uns einflößen, daß fie die unliebjame Störung mit 
Bedauern entjchuldigen und ſich rechtwinklig zur Thür hinausdrücden jollen.“ 

„Mißlingt aber das Manöver wider Erwarten?” fragte Robby ſpitz. „Es wäre 
doc) nicht gerade überrajchend, wenn die Unterfuchung gar zu gravierenden Berdacht 
wider uns ergeben hätte. — Weldyen Grund fünnte ſonſt diefe Warnung gehabt haben?“ 

„Im äußerſten Falle feinen Widerjtand, verjtehit du?” bejtimmte Whitehorfe. 
„Bewaltthätigfeiten würden unjere Lage nur verichlimmern. — Soll das Verhängnis 
fi) endlich an ung vollziehen — wohlan! — ich will die gerechten Folgen meiner 
— und — deiner Schurkereien tragen — ich will ſie bußfertig bereuen und 
ühnen.“ 

„Und ich will,” entgegnete Stux unerſchüttert, „ich will unterdeſſen unſere Wert- 
effekten und Baaria in die Kleider nähen, die Waffen rüften, die Hinterthür nad) dem 
Gebirge öffnen und im Notfall mein bischen Leben jo teuer als möglich verkaufen.“ 

James erichien, dieſe Entwürfe freuzend, jet auf der Thürjchwelle, wo er ſchüchtern 
jtehen blieb. Er meldete, der Graf jei von dem Lärm des Thürklopfers erwacht, habe 
vergeblich wieder einzujchlafen gejucht und laſſe Mifter Whitehorje um eine kurze Unter: 
redung erjuchen. 

Oben angekommen, fand diejer jeinen Saft aufrecht im Bett fitend. Mit einigen 
Worten der Entjchuldigung, daß er ihm jo viel Unbequemlichkeiten verurjache, erklärte 
Henning, er fühle fich nach jeinem furzen aber ftärkenden Schlummer erfräftigt genug, 
um jeine Nickbeförderung nad) Schloß Bilamsdorff ins Auge faſſen zu dürfen. 

„Am Tiebjten,“ jagte er, „unternähme ich den Weg dahin als Spaziergänger —“ 

„Schwerlich würde Ihre Fußverlegung Ihnen das jchon jo bald erlauben, mein 
Herr Graf,“ unterbrach ihn Whitehorfe. 

„Das bezweifle aud) ich,“ betätigte Henning. „Deshalb wollte ich Sie gebeten 
haben, zu allen mir ohne mein VBerdienjt erwiejenen wejentlichen Dienjtleiftungen mir 
nad) Sonnenaufgang Ihren Wagen zu bewilligen.“ 

„Herr Graf vergejjen,“ eriwiederte Whitehorje mit einiger Verlegenheit, „daß Ihre 
Bekleidung unbrauchbar geworden ift und eines Erjaßes bedarf. — Ich werde Deswegen 
nad) dem Schlofje einen Boten jenden. — Wie fonnte ich vermuten, daß ein Wagen 
mir hier im Walde jobald unentbehrlich werden wirdel — Für mich und meine Leute 
bedarf ich vorläufig feiner Equipage. Unfer Iagdrevier ift nicht zu groß, um es nicht 
zu Fuß abpirjchen zu können. Und um die Schönheiten der Natur und Kunſt in 
weiterem Umkreiſe zu genießen, genügt mir der Sattel. Die elajtijchen Waldwege jagen 
dem Pferdehuf ohnehin zu; jo fanır ich meiner alten Neigung für anjprechende Spazier: 
ritte aufs befriedigendite gerecht werden, und muß meine Introduftion bei meinen Herren 


Ein Vertrag. 1251 


Nachbaren binausichieben, bis der Landauer injtand gejeßt ift und Whitehorje-Cottage 
auf den Empfang vornehmer Gegenbejuche eingerichtet fein wird.“ 

„Sie jcheinen Ihre Spagzierritte gern zu jpäter Abendzeit zu unternehmen, Mifter 
Whitehorje,” jchaltete Henning mit flüchtigem forjchenden Blid ein. 

* „Ei, ei!” antwortete Whitehorſe. „Hat man das zu bemerken die Aufmerkſamkeit 
gehabt ?“ 

„Man hat auc) bemerkt, daß Sie bewaffnet waren und eine wie drohende Bewegung 
gegen das Schloß machten.” 

Miſter Whitehorje brach in ein erfünfteltes Gelächter aus und ſchickte fich zu einem 
Nechtfertigungsverjuch an. In diefem Augenblic ward abermals der Thürklopfer gerührt. 
Zugleich jchnellte Whitehorje fichtlicy erblaffend vom Siß empor. 

„gum Teufel!“ rief ev mit halberjticter Stimme. Aber raſch gefaßt, entjchuldigte 
er fi) beim Grafen. 

„Eine verwünjcht unruhige Nacht,“ jagte er gezwungen. „Ich bedauere, daß Sie 
Ihon wieder gejtört werden, mein Herr Graf. Sie haben aber durchaus nicht zu 
bejorgen, daß meine jpäten Gäſte, die ich erjt in den nächjten Tagen erwartete, Sie in 
irgend welcher Weije beläjtigen werden.” 

Würdevoll nach der Thür jchreitend, überließ er den Grafen jeinen einjamen 
Gedanken über die Bedeutung des zweifelhaften Troftes, den Whitehorſe mit feinen 
legten Worten ausdrücden wollte. 

Aus feiner Ueberlegung ward Hennings Aufmerkſamkeit bald auf die von unten 
herauf jchallenden vereinzelten Geräujche Hingezogen. Er hörte ein wirres Durcheinander: 
reden; es war unmöglich zu verjtehen, was dort unten verhandelt wurde. 

Jetzt trat Stille ein. Gleich darauf bemerkte der Lauſchende, daß ſich ein Schlüfjel 
im Schloß drehte und ein Niegel mit freifchendem Geräuſch zurücgejchoben wurde. 
Nicht lange, jo vernahm er Tritte von Männerftiefeln die Treppe heraufeilen. Dann 
öffnete jich die Thür jeines Schlafgemachs. 

Der Indianer, mit einer Lampe voranleuchtend, wurde fichtbar und herein trat 
raſch und entjchlofjen eine Männergeftalt, die Henning bei der umdeutlichen Beleuchtung 
unbefannt erichien. 

„Bott jei Lob und Dank,” rief jebt die befanıte Stimme feines Kammerdieners 
fröhlich und herzlich, „daß der gnädige Herr Graf leben und leidlich geſund find!” 

„Helmrich! — Du biſt's?“ entgegnete Henning eben jo warn, indem er feinem 
Diener aus dem Bette eine Hand entgegenjtredte, welche jener einen Augenblic 
herzhaft drückte. 

„Herr Graf können nicht denken,“ verficherte Helmrich, „wie ich und die gnädigen 
Herrichaften und die Dienerjchaft fi) um Ihnen geängftigt haben.” 

Er berichtete alles, was man ihm erzählt und was er jelbft erlebt hatte, jchlicht 
und ohne jede Uebertreibung. Vorſorglich Hatte er auch die im Walde aufgefundene 
Brieftajche jeines Gebieters mitgebradit. 

* gnädige Herr vom Schloß meinten, Herr Graf möchten das Portfell vielleicht 
vermiſſen.“ 

„Ja, ich bin den Leuten in dieſem alten Kaſtell zu außerordentlichem Dank ver— 
pflichtet. Ob das aber mit Geld gut zu machen ſei?“ das war eine peinliche Frage 
für Henning. 

„Wenn Herr Graf mir das Vertrauen ſchenken wollen,“ verſicherte der Diener, 
„werd' ich es ſchon gleichmachen. — Was ich unten bemerkt habe, artet nicht ſehr nach 
Vornehmheit. Da iſt ein Menſch, hat ein Geſicht wie der leibhaftige Geiz. Laſſen 
Herr Graf mich man machen.“ 

„Später!“ bewilligte dieſer. „Es werden noch fünf bis ſechs Stunden bis nach 
Sonnenaufgang verſtreichen. Dieſe Zeit iſt mir willkommen, noch zu ſchlafen. Ich 
fühle mich doch recht ermüdet. Du, armer Kerl, wirſt dieſe Nacht nicht an das Bett 


1252 Ein Vertrag. 


denen fünnen. Denn du mußt bald wieder nach dem Schloß zurüd. Dort padjt Du 
mein graues Sommerkoftüm, erjuchft den Grafen oder den Haushofmeiiter in meinem 
Namen um den gräflichen Jagdwagen, falls das Wetter nicht ein gejchlojjenes Verded 
empfehlen jollte. — Auf alle Fälle kommſt du wieder hierher zurfid, mir beim Ankleiden 
behülflich zu jein. Denn ich fühle mich noch etwas unbequem.” 

„Am Vergebung, gnädiger Herr,” bat Helmrich mit gedämpfter Stimme, „möchten 
Herr Graf mir nicht erlauben, hier zu bleiben? — Der Förfter ift mit anderen Leuten 
vom Schloß unten. Der würde die Befehle prompt ausführen, wenn ich ihm jagte, 
wie und wo. Ach! — laffen Herr Graf mich doch hier bleiben. — Der Einäugige 
war ja ganz artig. Aber der Nothaarige, der Geizteufel, um Vergebung, gnädiger 
Herr, der jchlich umher wie eine falſche Kate und biinzelte ung an, als wünſchte er, 
daß jeder Tropfen von dem Grog, dein der Einäugige uns anftändig vorjegte, ſich im 
Gift verwandeln möchte. Und Drittens, dieſer Obrenutang, der mid) die Treppe 
heraufleuchtete —“ 

„Papperlapapp!” unterbrach Henning den Erguß jeines Dienerd. „Sei um mich 
unbejorgt. Die jauberjte Gejellichaft mag es freilich wohl nicht jein, die in dieſer 
Höhle Haufe. Aber führten fie Arges gegen mich im Schilde, konnten fie mich ja 
ruhig im Walde meinem Schicjal überlajjen, ihre Jagdbeute ftatt meiner heimſchaffen 
und jede Spur verwijchen, die einen Verdacht auf jie gelenkt hätte. Alſo geh nur 
und jei um jechs Uhr wieder hier, wie ich dir befohlen. Dabei bleibt es. Auf 
Wiederſehn!“ 

Helmrich drückte durch Kopfbewegungen aus, daß der Beruhigungsverſuch doch 
nicht ganz den erwünſchten Erfolg gehabt habe. Indeſſen tappte er die dunkele Treppe 
hinunter und war froh, daß der Indianer, den er für einen Orang-Utang in Kleidern 
hielt, wie er einmal al3 Knabe einen auf dem Marfte gejehen, mit einer Lampe erichien, 
um ihn zu feinen Gefährten in das Zimmer zu führen, wo dieje beim Grog auf jeine 
Rückkehr warteten. 

Als die gräfliche Expedition die Laternen erleuchtet und fich in die mebeljchwere 
Nacht hinaus nad) dem Schloß wieder aufgemacht hatte, entſpann fich zwiichen Robby 
und MWhitehorje noch folgender kurze Gedankenaustauſch. 

„Sie find um das fojtbare Leben des Grafen ſehr bejorgt,” jagte Robby, 
„behalten wir ihn als Pfand für unjere Sicherjtellung gegen die Spigeln. — Herz in 
der Fauft, Sir No!“ 

„Wann wirft du einmal jo Klug, alter Narr,” entgegnete Whitehorie, „die Wirk: 
lichfeit zu tarieren, wie fie ift? — Wenn wir ung nicht herausfügen —“ 

„Oder heraushauen,“ jchaltete Robby mit Entſchloſſenheit ein. 

„Auf feine Weife dulde ich gewaltſamen Widerftand! — Verſuchſt dur es, liefere 
ich dich den Häfchern jelbjt aus. Was jollte alfo der Graf als Geijel nügen?” 

„Wir drohen, ihm das gräfliche Licht auszublajen, wenn fie Hand an uns legen.“ 

„Dummes Zeug!” ſchalt Whitehorſe, als wenn man das ruhig geichehen laſſen 
wiirde. Sch rate dir, du Tolpatſch, meine Entjchlüffe nicht zu kreuzen. Du läßt 
mich allein handeln und agierft wieder meinen gehorjamen Diener, der das Maul hält, 
bis er gefragt wird. Merk’ dir das. Und nun in die Koje mit dir. Wir werden, 
wer weiß wie bald jchon, unſere Seelenruhe gebrauchen und wollen jeßt jchlafen gehn. 
Der Bengel hält in der Küche die Wache. Schärfe ihm jtrengfte Aufmerkſamkeit auf 
jedes Geräujch ein, das jeine langen Ohren ſich draußen vegen hören.” 

Darauf trennten fich beide. Robby aber juchte erft die Ruhe, nachdem er fic im 
Haufe und in den Sellerräumen geraume Weile geräufchlos zu thun gemacht hatte. 

Bor Tagesanbrucd erhob ſich ein friiher Wind. Er fuhr zerftreuend in die 
dichten grauen Nebelmafjen und die aufgehende Sonne drückte den Net derfelben vollends 
zu Boden. Am wolkenloſen Morgenhimmel ftieg der goldene Ball in volljtem Strahlen: 


Fin Vertrag. 1253 


glanz empor, als eben der Nagdiwagen mit dem Ponygeipann vor dem alten Gebäude 
anhielt, welches die Bewohner Whitehorje-Cottage nannten. 

Helmrich hatte feinen Auftrag pünktlich) ausgeführt. Er jprang eilfertig vom 
Wagen und öffnete die bereits entriegelte Eichenthür. Auf dem Flur trat ihm haftig 
Nobby mit gejpannten Meienen entgegen. Als er den Kammerdiener erkannte, jchien er 
fich zu beruhigen. Nachdem Helmrich über feinen Herrn erwünſchte Auskunft erlangt 
hatte, brachte er nicht ohne Gewandtheit die Nede auf die außerordentlichen Dienfte, 
die man jenem im diefem Haufe geleiftet. 

„Meinen Herrn Grafen,” jagte er vertraulich, „drückt die Schuld der Verbindlich— 
feit. Er hofft deshalb, daß es nicht mißverftanden wird, wenn er fich hier ein Eleines 
Andenken ftiftet, ein schönes Album oder ein Delgemälde für Ihre fahlen Wände. 
Vielleicht aber wählen Sie jelbjt lieber etwas Paſſendes. Und wenn Sie es nicht für 
übel nehmen, will ic) Ihnen das Notwendige nachher verabfolgen. 

„Daß nur Miſter Whitehorje nichts davon erfährt,“ raunte Robby dem Diener 
hajtig zu. 

„Aha,“ antwortete diejer ebenjo, „ich verjtehe!” 

Nach einer halben Stunde trat Graf Hoyer mit Mifter Whitehorje an den 
Wagenſchlag. Henning stellte unter den Ausdrüden jeiner dankbaren Geſinnungen jeden 
möglichen Gegendienft feinem Wirt zur Verfügung. 

„Wohlan, Herr Graf,“ äußerte Whitehorje, „ich erlaube mir, Sie jogleich beim 
Worte zu nehmen. Seien Sie zunächſt mein Fürjprecher bei Ihren geehrten Freunden 
im Schloß. Und dann lajjen fie mid) Ihre Freude teilen, wenn Sie gute Nachrichten 
von Ihrem Freunde, dem Berjchollenen, erlangt oder ihn jelbjt wieder begrüßt haben jollten.“ 

Mit einem etwas erjtaunten Blick mufterte Henning nod) einmal die ganze Erjcheinung 
des jeltenen Doppelgängers jenes Verjchollenen. Er gab aber die Berjprechungen, 
welche Whitehorje, wie er jagte, als vollgültige Gegendienfte anerkennen wolle. Dann 
jchüttelten die Männer einander die Hände zum Abjchied und Henning jtieg mit 
Helmrichs Hülfe in den Wagen. Hinter der Thür war unterdejien Robby beichäftigt, 
eine Banknote von beträchtlicher Höhe in der Brufttajfche feiner Joppe zu bergen. Ein 
Zug grinjenden Hohns glitt dabei über jeine charafterlofen Mienen. 

Der Jagdwagen rollte inzwiichen munter in den lauen hellen Sonmermorgen 
hinein. Helmrich, der beim Kutſcher Jakob vor feinem Herrn ſaß, plauderte dieſem 
ununterbrochen vor, alles was ihm einfiel. Unter anderem erzählte er auch, wie der 
alte Gottlob ihm noch beim Abfahren nachgerufen habe, daß in der jpäten Nachtzeit 
ein Herr angekommen jei mit guten Nachrichten aus Hoyershorft. So ging es fort 
von einem Gegenjtande zum anderen und nad) einer halben Stunde hatten die ſchnellen 
Ponies bereits das eiſerne Thorwerk der Schloßallee erreicht. Hier ſtieg Henning 
aus dem Wagen. Es verlangte ihn die ſteifgewordenen Glieder durch den Spazier: 
gang nad) dem Schlofje wieder geichmeidig zu machen. 


El Kudſch. 


Während Helmrich nad) dem Hofe weiterfuhr, wandelte jein Herr langjam im 
Schatten der alten Stajtanienallee entlang. Bis zur gemeinjchaftlichen Morgenandadht 
blieb ihm noch geraume Zeit übrig. Er beichloß dieſe Muße auszufüllen mit einem 
Spaziergange durch die anmutigen Bosketts und Gartenanlagen der Schloßterrajfe. Die 
behagliche Bewegung in jonniger Morgenfrühe that ihm wohl. Schon auf der rajchen 
Fahrt durch den vom Tau erfriichten Wald fühlte er fich im der ftärfenden Luft wie 
erlöjet aus der dummpfen Schwüle von Whitehorje-Kottage. 

Das nächtliche Abenteuer juchte Henning nach feiner Gewohnheit aus einem 
höheren Plan jeiner Lebensführung zu begreifen. Er fühlte jich jelbjt als entgegen: 

Aug. konſ. Wonatsjchriit 1885. XIL 50 


1254 Ein Vertrag. 


gejegten Pol der Are, um welche die Welt, die von den engen Mauern der Meierei 
begrenzt war, ihre wirren Kreiſe ſchwang. — War der Man, der jih Mifter White: 
horje nannte, fein Jugendfreund, Hinrich Freifinger — war er jein Doppelgänger? — 
Zur Gewißheit fonnte Henning über diefe Frage noch immer nicht "gelangen. Nach 
den Eindrücden, die er empfangen, jchien es ihm fast unmöglich, die alte Jugend— 
freundjchaft mit jenem Abenteurer zu erneuern, wenn er fich endlich dennoch als der 
verichollene Freund demasfieren jollte. Die Gründe, welche diejen bejtimmen mochten, 
fi) ihm, jeinem treueften Jugendgenofjen gegenüber jo hartnädig in ein mit Täuſchungs— 
verjuchen verjchanztes Inkognito zu hüllen, kannte Henning zwar nicht. Aber es ver- 
langte ihn auch nicht, fie zu kennen, oder gar ſelbſt fie enthüllen zu helfen. — Die 
Möglichkeit, jeinen Hinrich nur wiedergefunden zu haben, um ihn für immer zu verlieren, 
erfüllte ihn mit Trauer. Aber jchmerzlicher noch quälte ihn die Sorge, welde ihn 
zu der unbeſonnenen Flucht aus der gejtrigen Gejellichaft trieb und ihn dann in 
Lebensgefahr und in eines der jeltjamften Abenteuer verwidelte, die er je erlebt hatte. 
— Der überwältigende Eindrud, den Fräulein von Trutheimb ihm gemacht, trübte das 
reine Bild der Schweiter Sofie vom Berge Zion — bisher das lautere Ideal ſchöner 
frommer Jungfräulichkeit, welches wie eine Leuchte Hennings innere Welt erhellte. — 
Hatte wirklich die nur für andere lebende weltjchene Schweiter an ihrem heiligen Beruf 
die unbejchreibliche Untreue begehen können, fich in jene jeidenrauschende ſtolze Weltdame 
zu verwandeln — daun mußte Henning aud) diejes jein holdes beglüdendes Ideal ala 
verloren und jein Vertrauen auf Treue und Zuverläffigkeit der Menjchenjeele als tief 
erjchüttert betrachten. Ein Wehgefühl durchdrang ihn, während er diefen Gedanken 
nachſinnend, ein Boskett mit jchmalen SKiespfaden und laufchigen Laubenfigen durch: 
wandelte. Ein Geräufch, wie verurjacht von einem zur Erde fallenden Buch, weckte 
ihn aus jeinem Sinnen, als er eben an einer halbverſteckten Laube achtlos vorüberichritt. 
Den Blid umwendend, jah er das Buch am Boden liegen. 

Und daneben trat ihm eine überwältigende Erjcheinung entgegen. 

Namenlos überrajcht blieb Henning wie gebannt ftehen. 

„EL Kudſch!“ rief er halblaut. 

Bor ihm jtand das leibhafte Bild der Schwefter Sofie. Faſt genau jo, wie 
Henning fie zuleßt in der Dachlaube unter der Fächerpalme des Diakoniffenhaufes zu 
Jeruſalem gejehen, jtand fie vor ihm in ihrer jchlichten Ruhe und jungfräulichen Hoheit, 
angethan mit einfachem dunklen Morgengewande, - das goldblonde Haupthaar leicht 
bededt vom weißen Häubchen, mit der auf die Marmorplatte eines Gartentisches geſtützten 
Hand einen Anhalt juchend. 

Stumm jtanden die beiden einander gegenüber — Auge in Auge gerichtet — auf 
den Wangen die lodernde Flammenschrift innerer tiefer Erregung — unmittelbar ent- 
zündet — unmittelbar verjtanden. 

Weltentrüct unterzutauchen im den aus höherem Chor niederraufchenden Strom 
jeliger Harmonien: nur furze Augenblide lang ift es Sterblichen vergünnt. Aber ein 
Augenblid gewährt dem himmlischen Lichte Kraft genug, wie der elektriiche Funke ein 
Glockenſpiel, zwei Menjchenjeelen zum bejeligenden, ewig forttönenden Einklang zu 
verjchmelzen. 

Henning erwachte aus dem Traum paradiefischen Entrüdtjeins. Wie geblendet 
bededte er flüchtig die Augen. Dann atmete ev tief auf. Endlich ergoß jein erregtes 
Gefühl fich in einem Nedeitrom. 

„Schweſter Sofie!” quoll die Herzensfülle iiber jeine Lippen. „Ja! — Stein holder 
Wahn! — So jah ich Sie in der umvergeßlichen Scheideftunde — jo lebten Sie in 
meiner Borjtellung fort und fort jeit drei entjagungsvollen Jahren läuternder Neu: 
gejtaltungen meines inneren Lebens. In diefem Augenblick unverhofften Wiederfindens 
aber verjinft jene Vergangenheit in die Tiefe des gegenwärtigen Glücks, das mir die 
Empfindung erregt, als jet ic) nie von Ihnen getrennt gewefen.” 





Ein Vertrag. 1255 


Ihre Hände, die fie unbefangen in die Hennings gelegt, zitterten leiſe, als fie 
ihm diejelben nun janft entzog. Eine flüchtige Verwirrung befämpfend, ließ fie fich 
nieder. Henning jegte fich ihr gegenüber und hob das Buch auf. Als er es auf das 
Gartentiſchchen Iegte, erkannte er es mit flüchtigem Blid. Es war Thomas a Kempis. 

Mit wiedergewonnener Ruhe unterbrach Adeltraut das Schweigen. 

„Bott jei Dank!” jagte fie ablentend, „daß die ernfte Sorge, die man um Sie, 
Herr Graf, getragen, nun gehoben ift.“ 

„Mein Abenteuer ijt zwar ſeltſam genug,“ entgegnete Hoyer, „aber zum Sorgen 
gab es weniger Grund als zum Denken und Danfen, wie aud) zu Vorwürfen, welche 
mein Benehmen verdiente, das der Gejellichaft und bejonders Ihnen, Fräulein von 
Trutheimb, unerklärlich erſchienen jein muß.“ 

„Es konnte ja freilich nicht unbeachtet bleiben, Herr Graf, daß Sie ſich aus der 
Gejellichaft zurüdzogen faft unmittelbar nachdem Better Kurd Sie meiner Freundin und 
mir befannt gemacht hatte.“ 

„Mein Betragen zu bejchönigen bin ich weit entfernt; ich habe es empfindlich 
genug büßen müſſen. Aber es liegt mir dringend am Herzen, Ihnen eine mildere 
Beurteilung desjelben abzugewinnen. Fragen Sie ji) jelbit, ob der Eindrud mich nicht 
übermannen mußte, den ich völlig unvorbereitet empfing, als ich in der Gejellichafts: 
toilette des Fräuleins von Trutheimb die Schwefter Sofie vom Berge Zion wieder: 
zuerfennen glaubte, die jelbitlos dienende Verlobte des Heilands, aus deren eigenem 
Munde ich die umverflungene Aeußerung vernahm: Gott bewahre mic) gnädig vor einer 
Rückkehr in Lebenskreife, die das Herz friedlos und unjere Tage voll Angſt und 
Unruhe machen.“ 

Henning verjtummte erjchroden über die Wirkung, welche dieſe Worte hervor: 
brachten. Adeltraut richtete auf ihn einen tieffchmerzlichen Blick, neigte aber ſogleich das 
Haupt wieder und hauchte faum vernehmlicd): 

„Ih muß auch diejes Kreuz ſegnen — es joll mir helfen.“ 

„Schweſter Sofie!“ flehte Henning ratlos. 

„Einft war diefer Name mein Ehrenschmud, Herr Graf; jeitdem das Paradies 
jeine Pforten hinter mir gejchloffen, beſchämt er mich, wie ein verdienter Vorwurf. — 
Aber nie zuvor beugte mich, wie jet nad) Ihrer Erklärung, die Untreue empfindlicher, 
welche Fräulein von Trutheimb an der Schweiter Sofie beging.“ 

Adeltraut blätterte mechanisch im Thomas a Kempis. 

„Unverjchuldetes Leid fan zum Segensquell werden,” tröftete Henning fie. „Was 
Sie bewog, Ihrem frommen Beruf zu entjagen, weiß ich zwar nicht. Aber auch Ihre 
unbekannten Beweggründe ehre ih. Sie künnen doch das Opfer jchmerzlicher Seelen: 
fämpfe nur gebracht haben, weil Sie es dem jelbjtverleugnenden Gehorjam gegen einen 
höheren Willen oder gegen zwingende Pflichten jchuldig zu jein glaubten.“ 

„Freilich glaubte ich ein folches Opfer bringen zu müfjen, Herr Graf. Aber 
längst erkannte ich mit fittlichem Schauder, daß mein Schritt auf einen eigenwillig 
jelbjtgewählten Weg führte. Was ich für Gehorſam hielt, war nichts als kreuzesflüchtige 
Teigheit, die dem verordneten Kampf mit Trübſal ſich jelbitfüchtig entzog.“ 

„Sind Sie in der That jo ficher, verehrte Freundin, daß in dem, was Sie für 
Ihren eigenen menjchlihen Willen hielten, ſich die göttliche Weisheit nicht eines Mittels 
bedienen wollte, Sie zu einem Schritt zu beftimmen, den Sie ohne die dringlichjten 
Antriebe von außen und von innen wohl nie gethan hätten? — In jeder Lebensführung 
treten Wendungen ein, die auch der geübteften Prüfung jehr erjchweren, den ein: 
zuichlagenden Weg far zu erfennen. Wir laufchen dann auf irgend eine Stimme, 
welche uns Gottes Abjicht offenbaren möchte. Sie jcheinen nun ja einen jolchen weijenden 
Auf empfangen zu haben. Derjelbe beftimmte Sie, das Amt einer Diakonifje nieder: 
zulegen. Und weil es Ihnen jauer fiel, fich in den ſchutzloſen neuen Lebensverhältniſſen 
heimisch zu fühlen, fteigerten Sie den Drud des Ihnen auferlegten Kreuzes durch) 

80* 


1256 Ein Vertrag. 


jelbftquälerische Vorwürfe und Zweifel, ob Sie nad) Gottes Willen gehandelt, oder 
nicht vielmehr aus rein perjönlichem Antrieb einen Schritt gethan hätten, der Ihnen 
al3 ein eigenmächtig jelbjtgewählter erjcheint und Ihnen Grund zu Selbftvorwürfen giebt, 
die wahrjcheinfich fich jpäter einmal als völlig ungerechtfertigt erweijen werden.” 

„Ihre eingehende Teilnahme thut mir unausjpredlid wohl, Herr Graf. Sie 
ermutigt mich, Ihre einjt an die dienende Schweiter gerichteten Fragen nun zu 
beantworten.” 

„Sie bedürfen in Ihren peinlichen Zweifeln beruhigenden und klärenden Trojtes. 
Wenn Sie mir das Vertrauen fchenfen wollen, mir tiefere Einblide zu geftatten in Ihre 
Vergangenheit, würden Sie mir dadurd) einigen Anhalt verichaffen fünnen zu der 
Hoffnung, die Wiederheritellung Ihres Seelenfriedens durch) Erwägung oder Nat etwas 
fördern zu helfen.“ 

„Ihr gütiges Anerbieten kann ich jet nur mit Dank begrüßen,“ jagte Adeltraut ; 
und Henning jchiete jid) an, ihren Bekenntniſſen aufmerkſam zu folgen. 

„Mein Vater, ein älterer Bruder vom Onkel Juftus,“ berichtete fie einfach, „mein 
Bater wurde an der Spibe feines Negimentes in der Schlacht ſchwer verwundet. Gr 
hatte meinen Bruder Paul, jeinen Adjutanten, tödlich getroffen vom Pferde ſinken jehen. 
Meine arme Mutter war in Verzweiflung. Ihr jonit jo frommes Gemüt verichloß ſich 
jogar jedem Troftzujpruch des teilnehmenden Geiftlichen. Nur am Schmerzenslager des 
Baters, den wir beide pflegten, fand die Mutter einige Ruhe. Aber als der teure 
Kranfe nad) einem halben Jahre unjäglicher Leiden jeinen Geift in der Mutter Armen 
anshauchte, brach auch ihre Kraft zufammen. ch war jechzehn Jahre alt, als ich, die 
Pflege und das Hauswejen mit Hilfe eines treuen Mädchens und Diener übernehmen 
zu können überzeugt war. Aber bald mußte ich einjehen, daß weder meine Kräfte nod) 
Erfahrungen genügten. Die jchredlichen Phantafien meiner lieben Kranken nötigten 
mich nicht jelten, Gewalt anzuwenden, wenn fie Miene machte, in der FFieberhige ihr 
Lager zu verlaflen. — Die Aerzte drangen auf eine unterjtügende Kraft. Und endlich 
fügte ich mid). 

„Der Geiftliche vermittelte ung eine geübte Pflegerin aus Kaijerswerth. Bald 
gewann ich die Schwejter Anna jehr lieb, lernte ihr manchen Handgriff ab und konnte 
ihr dann aud in der Pflege Erleichterung gewähren. Mit Gottes Hülfe ließen die 
furchtbaren Aufregungen endlich joweit nach, daß Schweſter Anna die Pflege mir allein 
anvertrauen zu dürfen meinte. 

„su den legten Monaten ihres Erdenlebens erleichterte mir meine geliebte Mutter 
die Pflichten weſentlich. Sie wurde mir das Vorbild einer freudig Hoffenden Streu; 
trägerin. Schmerzhafte Operationen ertrug fie mit der heiteren Seelenruhe einer heiligen 
Dulderin. Für Klagen und Nöte anderer hatte fie ftets ein ermutigendes Wort; für 
jede Berlegenheit einen Eugen Rat. Mir wurde diefe Krankenſtube zum lehrreichſten 
und liebften Aufenthalt.“ 

Nach einer Pauſe ftiller Sammlung ſetzte Adeltraut ihre Erzählung fort. 

„Als ich im dem vereinfamten Haufe allein war, bejuchte mich zuweilen unſer 
alter Hausgeijtliher. Er hatte mich getauft, eingejegnet und war nun mein VBormund 
geworden. Bon ihm erfuhr ich, daß die durch jene langen Krankheiten empfindlich) 
zujammengejchmolzenen Mittel kaum ausreichen würden, mic) anftändig zu unterhalten: 
— Daran knüpfte ev die Frage nach meiner früher geäußerten Neigung zu dem gemein: 
nigigen Beruf der Schweiter Anna. Diefe Anregung ftrahlte anfangs zwar wie ein 
helles Licht in das Dunkel meiner Zukunft. Bei eingehender Prüfung aber wuchjen 
riejengroße Schwierigfeiten vor mir auf. — Meine gewohnten Lebensanjprüche, die 
verborgenen Ahnungen künftigen großen Glückes eines jungen, fröhlichen Mädchen: 
herzeng: dem allen für immer entjagen? — woher jollte ich jo viel Kraft und Hülfe 
horfen? — Wie beglüdend war die Pflege meiner geduldig leidenden Mutter gewejen: 
— fünftig jollte ich fremde Menjchen ohne Wahl pflegen, gleichviel mit welchen 


Ein Vertrag. 1257 


Krankheiten und Leiden jie behaftet jeien. Würde meine jelbitverleugnende Liebe zu 
ſolchen Dienftleiftungen ftart genug fein, mic) vor Untreue oder gar vor Verzweiflung 
zu ſchützen? — Nach beftigem Ningen mit meinem Kleinglanben erlangte id) endlich) 
dennoch die erfehnte Frendigkeit des Entſchluſſes. Sicherte derjelbe doch auch zunächſt 
meine ungewiſſe Zukunft. Aus diefem Grunde allein gab mir Onkel Juſtus endlich) 
jeine Erlaubnis, den abenteuerlichen Verſuch, wie er jchrieb, wenigitens einmal zu 
wagen. Lange würde ich ja ein ſolches Leben nicht ertragen, meinte er. — Der Geift: 
liche, mein Vormund, ftärkte mich dagegen in meinem zaghaften Mut und zeigte mir 
eine geichriebene Einwilligung zu meiner Berufswahl, weldye meine fürjorgliche Mutter 
im Falle meiner freiwilligen Entſchließung hinterlaſſen hatte. 

„Das Blatt mit den Schriftziigen meiner teneren Mutter gab mir die Freudigkeit, 
den demütigenden Brief des Oheims zu verichmerzen und meinen Entichluß zu befräftigen. 

„Als ich das vorgejchriebene achtzehnte Lebensjahr erreicht hatte, wurde id) als 
„Brobejchweiter” in SKtaiferswerth aufgenommen. Man erhob feinen Einwand gegen 
meinen Wunſch, meinen dritten Namen Softe führen zu dürfen, da mir die beiden 
anderen, Adeltraut Thusnelda, zu prunfend für meinen jtillen Beruf erichienen. Auch 
glaubte ich meinen ftolzen Verwandten damit eine Rückſicht zu erweiien. Schon diejer 
Namenswechjel verurfachte mir thörichtes Herzeleid. Noch ſchwerer wurden mir aber 
anfangs die Pflichten meines Dienftes. Ich hatte mir alles viel leichter gedacht, weil 
ich mic) durch den Verkehr mit der Schweiter Ama in meinem Elternhauje für eidlic) 
vorbereitet hielt. Das erwies fic) bald als herbe Täuſchung. Um jede Kleinigkeit 
mußte ich erfahrenere Schweitern mit Fragen befäftigen. Und das Wehgefühl meiner 
Unwiſſenheit und Untüchtigkeit machte mich oft jo troftlos, daß ich manchmal mit 
Thränen das nächtliche Lager juchte und es mit Thränen morgens wieder verließ. — 
Nur manchmal wuchs in der Liebesgemeinschaft der Schweftern mir der Mut und Die 
Kraft, durch; Demütigungen aller Art gehorchen zu fernen. Und endlich wurde mir 
joweit durchgeholfen, daß ich eingejegnet werden und das Dienen um des Heilandes 
willen als bejeligendes Glück begreifen konnte. — Auf verichiedenen Stationen arbeitete 
ic) in der Schule, Kranfenftube und Apotheke. Die lebte Station tar der Berg Zion 
zu Jeruſalem. Hier waren Sie ja Zeuge meiner bejcheidenen Arbeit, Herr Graf.“ 

Adeltrant jtockte; fie jchien nac) dem angemeljenen Ausdruck deſſen zu juchen, was 
fie nunmehr erzählen wollte. — Die folgenden Sätze rangen fich zögernd und mühjam 
von den Lippen los. 

„Sie hatten EL Kudſch verlaſſen. — Ich jollte bald darauf die Pflichten einer 
vorjtehenden Schwefter übernehmen. — Das vermochte ich nicht — meine Kräfte hatten 
doc) jehr gelitten. — Die Stille der Seele — mir fehlte die Freudigkeit am gewohnten 
Dienft und Beruf. — Ich fühlte mich unluſtig und untüchtig zu jeder Arbeit. — Das 
peinigte mich mit Gewilfensnöten. — Die Schweitern ahnten nichts vom verborgenen 
Grunde meines Elends. Sie juchten mic) aufzurichten mit Troftgründen und Lobſprüchen, 
die mich tief demütigten. — Sie, wie der Arzt und unſer verehrter Beichtvater, der 
Biſchof Dr. Gobat, meinten, ich jei noch nicht frei von der kaum überjtandenen Krank: 
heit. — Zwar fühlte ich nod) eine körperliche Mattigkeit — doc krank war ich nicht. 
Namenlos aber litt meine Seele — mein Gewiſſen. — Mein Herz hatte jeinen Frieden 
verloren.“ 

Erſt nad) einer abermaligen Pauſe, welche Henning in feiner Ergriffenheit nicht 
zu unterbrechen wagte, jegte Adeltraut ihre Bekennmiſſe fort. 

„Wir hatten das Adventslied gefungen: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ 
Wie Töne der Gerichtspojaune dröhnten mir die Mahnungen im Herzen nad: „Wo 
jeid ihr Eugen Jungfranen? Steht auf! die Lampen nehmt! Ihr müſſet ihm entgegen: 
gehn!” Hatte ich die Lampe genommen, um in die Finfternis meines Zuftandes beherzt 
hineinzuleuchten? War ich ihm entgegengegangen? DO nein! Bei meinem Müßiggehen 
in Trübfal war das Del meiner Lampe vertrodnet. Träge ruhte mein Fuß, anſtatt 


1258 Ein Vertrag. 


dem himmlischen Helfer rüftig und glaubensftarf entgegenzugehen. Da endlich leuchtete 
mir in der Mdventsnacht vor bald drei Jahren das Licht der Yampe wieder. Ich 
erkannte bei diefem klaren Schein, daß der Herr fich mir verbarg, damit ich mich auf— 
machen jolle, ihn zu juchen, ihm entgegenzugehn. Ein tiefes Bußbedürfnis ergriff mich. 
Ic) fühlte klar, daß er ein jchweres Opfer von mir fordere. Welches Opfer hätte mich 
mehr in der \ Selbftüberwindung üben und mid) von mir jelbjt freier machen können, 

als der freiwillig gefaßte Entichluß, dem treuen Schub des Mutterhaujes und der 
vertrauten Schweiterngemeinde zu entjagen und wenigjtens für einige Beit in fremdartige 
Umgebungen zurüczufehren, die mir widerjtrebten und im Kampf meine Kraft ftärfen 
fonnten? Durch ſolch jelbjtgewähltes Kreuztragen hoffte ic) die Mahnung zu erfüllen: 

„Ihr müſſet ihm entgegengehn.“ Lange prüfte und erwog id) meinen Entſchluß und die 
Art ſeiner Ausführung. Und nachdem ich endlich mit mir ſelbſt darüber ins Klare 
gekommen und die Herzensfreudigkeit dazu als Siegel eines höheren Willens empfangen 
hatte, gewann ich den Mut, meinen Entſchuß mit ſeinen Beweggründen, dem Dr. Gobat, 

meinem verſchwiegenen Seeiſorger, zu bekennen. Ich verhehlte ihm nichts, entfaltete in 
dieſer Privatbeichte die verborgenſten Regungen meines Herzens und Gewiſſens, wie 
auch, daß ich mir die Buße auferlegen müſſe, meiner ſchützenden Heimat und meinem 
beſeligenden Dienſt in der Schweſterngemeinde für unbeſtimmte Zeit zu entſagen, um im 
Kampf mit der Welt meine ſelbſtverleugnende Kraft zu ſtärken. Der erfahrene Biſchof 
verſuchte mich vergeblich zu überzeugen, daß Gott ein ſolches Opfer ſchwerlich von mir 
fordere. Später iſt es mir erſt klar geworden, daß er gewiß recht hatte. Bei unſerer 
Erwägung aber glaubte ich in meinem Entſchluſſe beharren zu müſſen. Uebrigens 
pflichtete Gobat mir ſoweit bei, daß er eine zeitweilige Unterbrechung meines Dienſtes 
beim Mutterhauſe befürworten wollie, weil der Arzt darauf gedrungen habe, zur Wieder— 

herſtellung meiner Geſundheit mir einen Aufenthaltsort zu verſchaffen in einem zuſagenderen 
Klima unter Verhältniſſen, die mir nichts nahebrächten, was mich an meinen Diakoniſſen— 
beruf erinnern könnte. Dr. Gobat hatte jchon daran gedacht, mid) nach feinem 
Ichweizeriichen Heimatsdorfe zu jenden. Dort aber, in der beichaulichen Ruhe, war 
Heilung meines Zuftandes nicht zu erhoffen. Mein Plan richtete fich deshalb darauf, 
dem Onkel Juſtus meine Dienjte anzubieten und ihn um Aufnahme in jein Haus für 
unbejtimmte Zeit zu bitten. Mit Freude billigte mein tenerer geiftlicher Berater diejen 
Entjhluß und die Beweggründe, die ich ihm entwidelte. Daß ich die heilige Stadt 
mit ihrem jegensreichen Frieden verlafjen werde, jtand alſo nun feſt, jchon bevor ich 
einen weiteren Schritt that. Meine Beziehung zu den Verwandten war nie eine vecht 
rege und vertrauliche gewejen. An die Tante Olga hatte ich wohl einmal gejchrieben ; 
niemals aber, jeitdem ic) in Kaiſerswerth eingetreten, wieder an den Oheim. Es wurde 
mir jchiver, meiner Anfrage nun eine Faſſung zu geben, die mich ſelbſt befriedigte. 
Nach wocenlangem Harren traf endlich die jehnfüchtig erwartete Antwort ein. Nad) 
meiner lieben Gewohnheit hatte ich meinen Brief an den Oheim unterfchrieben: Deine 
gehorjame Nichte Sofie. Daran fnüpfte der Onkel jeine Antwort: Einer „Nichte Sofie“ 

erinnere er fich nicht, jchrieb er. Leider aber könne er fich noch darauf bejinnen, daß 

jeine Nichte Adeltraut in der Anwandelung einer romantilchen Laune ihrer Familie 
den „Affront“ angethan habe, eine jogenannte Diakonifje zu werden und fich auf die 

unpajjendite Weiſe in der Welt umber ſchicken zu laſſen. Für ein Fräulein von Familie 
und Bildung, wie für die Angehörigen jet das höchſt fompromittierend. Und Diele 
berechtigte Auffaſſung werde dadurch nicht gemildert, daß ähnliche jolche Ausnahmefälle 
vorgekommen jeien, wie daß Diakoniffenhäufer im allgemeinen und bejonders auch für 
unverjorgte Bürgermädchen manches Gute hätten. Da jeine Nichte die Hoffnung ihrer 
Verwandten jahrelang getäufcht habe, in jtandesgemäße Verhältnifje wieder zurüczufehren, 

jo habe er, der Oheim, als Haupt der Familie, dafür gejorgt, daß über ihr Schidjal 

der Schleier der chriftlichen Liebe gebreitet worden jei. In Kreiſen der näheren 
Bekannten, wo man fich meiner wohl einmal erinnert habe, werde die Meinung aufrecht 


Ein Vertrag. 1259 


erhalten, daß ich wahrſcheinlich als „Dame d’honneur* am Hofe von Athen plaziert jei. 
Da id) jelten von mir hören lafje, wiſſe man nichts näheres, als daß es mir nad) 
Wunjc ergebe. Ic werde aljo einjehen, daß der Oheim mic als Diakonifje in jeine 
Familie nicht aufnehmen könne. Wolle ich aber endlich meiner unwürdigen Grille 
entjagen — ja, Herr Graf, jo ftand da — wolle ich niemals aud) nur andeutungsweile 
meiner Vergangenheit Erwähnung thun, jo jolle ich als die Nichte, Fräulein Adeltraut 
von Trutheimb, willtommen fein und man freue fich darauf, mid) je eher deſto Lieber 
in Imshuth zu begrüßen. Meine Krankheit erkläre ſich ja einfach aus dem ungejunden 
orientalischen Klima, wie aus meiner demütigenden Dienjtbarfeit. Die jtärkende Luft 
zu Imshuth und nüßliche Thätigkeit in Haus, Küche und Keller werde mid) bald wieder 
herjtellen. Diejen bejhämenden Brief begleitete eine Geldjumme und jonjtige Gegen: 
ftände für die Neife und für eine ftandesgemäße Ausftattung, wie Yegitimationspaptere 
an Gejandtichaften und Konſulate, deren Schuß der Oheim mic) empfohlen hatte. Cine 
Nachſchrift feines Schreibens erfreute mich mit der Nachricht, daß die Verwandten mid) 
in Rom erwarten würden, um mir von dort aus perſönlich das Geleit nach Imshuth 
zu geben. „Vergiß aber nicht, liebe Adeltraut, die Rolle der gewejenen Hofdame von 
Athen mit Geſchick durchzuführen.“ Das war die bejchämende Schlußwendung jener 
Nahichrift des Oheims.“ 

„Empörend,“ braufte Henning auf. „Und eine jolche Zumutung jchredte Sie 
nicht zurück?“ | 

„Durfte diefe erfte unjanfte Berührung weltlicher Verkehrsformen mid) beſtimmen, 
mein Bußgelübde zu brechen? jchwachherzig vor dem Kreuz zu fliehen?” fragte Adeltraut 
milde. „Ich geitehe, daß ich mir des Oheims Gefinnung noch härter, ja liebloſer 
gedacht hatte. Wie freundlich jorgte er für mic, fein und der Tante Entgegenfommen 
in Rom, wie hätte ich das zu hoffen gewagt! Der entjcheidende Brief erregte anfangs 
zwar nicht nur mir, ſondern auch dem Vater Gobat ernjte Bedenken genug; er jchüttelte 
zweifelnd jein ehrwürdiges Haupt. Nad) gemeinschaftlicher reiflicher Ueberlegung aber 
billigte er meine Beharrlichkeit. Berwegt reichte er mir die Hand: „Ich begreife,“ 
tröftete er mich, „es muß jein. Der Kreuzzug unter dem Kreuz des Heil wider den 
Unglauben der Welt, er muß gethan jein! Ziehe denn hinaus in den schweren Kampf, 
der dir verordnet ift. Lege deine liebe Uniform ab, aber lege an das Nüftzeug des 
Glaubens und des Gebetes. Wer weiß, warıım Gott der Herr dic) auf das Arbeits: 
feld des jteinigen Aders jendet. Vielleicht bift du zu einer reichgejegneten Ernte berufen; 
vielleicht darfit du das jeidene Gewand einmal wieder vertaufchen mit dem armen, 
verachteten, dunkeln Kleidchen; vielleicht ehrt ung die „Noahtaube” in die jtille Arche 
einmal zurüd und verkündet mit fröhlichem Flügelichlage, daß die Waller der Trübjal 
ſich verlaufen haben.” 

„Gar zu gern, Herr Graf,“ ſchloß Adeltraut ihre Gejchichte, „verweile ich bei der 
Trojtipende, die Vater Gobat mir auf die Reife mitgab. Wie eine unauslöfchliche 
Schrift jenkte ſich jedes jeiner Abjchiedsworte mir ins Herz und Gedächtnis. Oft 
gereichten jie mir zur Stärkung in Anwandelungen des Zagens. Noch friſch fteht die 
hochaufſtrebende Gejtalt des vielgeprüften Greifes vor mir; noch heute fühle ich den 
warmen Drud jeiner Hand und vernehme den Ton feiner bewegten Stimme, höre 
deutlid) jedes Wort, das in jener Scheideitunde aus der Tiefe jeines erprobten Chriften: 
herzend in meine verdüfterte Seele drang.” 

Adeltraut jchwieg bewegt; ihre Hand ruhte auf dem Buche von Thomas a Kempis. 
Diejelbe nun mit der feinigen janft umjpannend, jagte Henning nach einer Pauſe 
mit Wärme: 

„Ich danfe Ihnen, meine Freundin; Sie haben mic) tief ergriffen. Auf Ihr 
Vertrauen in jolhem Make rüdhaltlojer Offenherzigkeit hätte ich faum zu hoffen gewagt.“ 

Wie aus dem Traume aufgejchredt, machte Adeltraut eine haftige Bewegung und 
wechjelte die Farbe. 


1260 Ein Vertrag. 


„Bing ich denn zu weit?” klagte fie verwirrt. „Außer Vater Gobat erfuhr biz 
jegt noch fein Menſch joviel von den inneren Vorgängen, die ich gar unbedachtſam wor 
Ihren Augen entichleierte. Was mögen Sie nun nur von mir denfen, Herr Graf!” 

„Daß Sie das Gefühl hatten, ich ſei Ihres Vertrauens nicht ganz unwert“, 
antwortete Henning bejänftigend; „daß Sie dem Drange nicht zu widerftehen vermochten, 
fi einmal nad) langem Darben auszuſprechen und die Laft, welche Sie niederbeugt, von 
einem verftehenden Freunde mittragen zu lafien. Der herrliche Biſchof Gobat, deſſen 
Wort Sie ftarf machte im Streite nach) außen und nach innen, er iſt fern; jein 
gejchriebener Rat und Troft vermag die Wirkung jeiner perjünlichen Gegenwart Ihnen 
nicht zu erjegen. Daß id) jeine Stelle jeßt vertreten fünne, das zu glauben bilde ich 
mir gewiß nicht ein. Woher follte mir Gobats bewährte Erfahrung fommen? woher 
mir die Macht feiner zwingenden Perſönlichkeit? Vielleicht aber darf ich jo glüdlich 
jein zu hoffen, daß ich berufen jei, Ihnen zu helfen durch Mittel, welche Ihrem hoch- 
würdigen Berater und Beichtvater nicht zur Verfügung ſtanden.“ 

Adeltraut blickte ihn groß und forichend an. 

„ragen Sie nicht, liebe Freundin“, bat Henning. „Prüfen Sie mit gejammelter 
Ruhe, was ich auf Grund Ihrer erjchütternden Bekenntniſſe Ihnen auseinanderjepen 
zu ſollen meine. Ich jehe Sie in einen fieglofen Kampf verwidelt, der endlih Ihre 
zarte Kraft aufreiben, ja ſelbſt Ihr erprobtes Glaubensleben bedrohen wird, wenn Sie 
nicht daraus erföjet werden, jo lange es nody Zeit ift. Sie gerieten ſchon in Dielen 
Kampf hinein, al3 Sie zaghaft und zögernd Ihren Fuß auf die Schwelle des Diakonijjen: 
haufes jegten.“ 

„So teilen Sie die Auffaffung diefes meines Schritte8 mit meinem Oheim?” fragte 
fie erſchrocken. 

„Richt entfernt!” verficherte Henning. „Sie haben gehandelt, wie Sie aus tieffter 
Ueberzeugung handeln zu müſſen glaubten. Aber ic) möchte faft vorausjegen, daß Sie 
jenen entjcheidenden Schritt doch nicht in voller Freiheit Ihrer begeifterten Hingabe an 
den Beruf thaten und daß Ihre Ipäter gewonnene Anjchauungsweile desjelben ſich 
bildete unter den beftimmenden Einwirkungen gewiſſer Formen und Normen, wie fie in 
Miffionsanftalten und auch in manchen firchlichen Kreiſen vorherrichen. Da Sie die 
Uniform der dienenden Schweitern abgelegt haben, darf ich ja wohl wagen, Ihnen 
meine Anficht von der Sache anzudeuten, ſelbſt auf die Gefahr Hin, daß fie hie und da 
von derjenigen abweiche, die Ihnen geläufig worden ift. 

„Die ehrwürdigen Beitrebungen der „inneren und äußeren Million” find auf 
einen zu erzielenden Sieg des „Neiches Gottes“ auf Erden über „die Welt” im 
biblischen Begriff gerichtet. Die Organijationen der Miffion ftellen das gerüftete Kriegs: 
heer jtreitbaren Glaubensmutes dar. Unter dem Banner des Kreuzes zieht es hinaus, 
mit dem „Schwert des Geiſtes“ zu kämpfen wider Unwiſſenheit, Geiftlojigfeit und 
Gottentfremdung; im „Krebs der Gerechtigkeit” durch Gefinnung, Wort und Wandel 
Ungläubige zur Nachfolge zu reizen; mit der Hand der helfenden Liebe Wunden zu 
verbinden, Schmerzen zu lindern, Betrübte zu tröften; verirrte und angefochtene Seelen 
mit dem „Schild des Glaubens” gegen die feurigen Pfeile und liſtigen Anläufe des 
Böſen zu deden.“ 

Verſöhnt reichte Adeltraut dem Grafen die Hand, als bereue fie ihren gehegten 
Argwohn. Henning fuhr fort. 

„Sleihe Zwede und Biele führen die Menjchen auf allen Gebieten jozialen 
Lebens zu organifierten Gejellichaften und Verbänden zujfammen. Sie jondern id) 
gegeneinander ab unter dem Zeichen jogenannten Gorpsgeiftes. Auch in den Anftalten, 
bejonders der inneren Miffion, Hat ji ein frommer Gorpsgeift entwidelt, der jeinen 
Ausdruck jucht in maßgebenden Idealen und VBorjtellungen chriftförmiger Normen und 
Formen, wie in eimer chart umriſſenen Anfchauungsweije des äußeren und imneren 
Lebens. Es liegt darin durchaus nichts Gezwungenes oder Erfünfteltes. Jeder mit 


Ein Vertrag 1261 


Trene und gewilienhaftem Ernst durchgeführte Beruf prägt dem menschlichen Charafter 
jein Wejen auf und wirft mehr oder minder beftimmend auf die Gefinnung wie auf 
die Lebensformen ein. Wer in jeinem Beruf Tüchtiges und Großes für das Gemein: 
wohl erreichen will, wird ohne eine gewille Einfeitigkeit nicht leicht zum Ziel gelangen. 
Sie jehen alfo, verehrte Freundin, daß ich nicht zu denen gehöre, welche die Anſtalten 
der inneren Miſſion mit Mißtrauen und gar mit übehvollenden Gefinnungen beurteilen, 
weil ihre pflichttreue Arbeit am Reiche Gottes jene thatkräftige Einjeitigkeit ihrer Organe 
auszubilden pflegt, mit welcher dieje ihr heiſſames Ziel verfolgen und weil auch auf 
diefem Gebiet die menschliche Natürlichkeit und Schwäche die Reinheit des idealjten 
Strebens mitunter trübt. Ihre Charakterbildung, Adeltraut, der Grund Ihres inneren 
Verhältniffes zu Gott, Welt, Menfchen und zu Ihrem eigenften Bewußtjein entwicelte 
fich in der Lebensluft des Diakoniſſen-Berufes, der jein Vorbild ſchon in der apoftoliichen 
Kirche findet und aus den Firchlichen und jozialen Nöten der Gegenwart mit zwingender 
Gewalt zu neuem Leben in neuer Gejtalt und zu jegensreichem Wirken in der evan: 
geliſchen Gemeinde wiedererwect, wiedergeboren worden ift. Dem Frieden, Schuß und 
der rüftigen Arbeitſamkeit eines jolchen Ehrfurcht gebietenden Berufskreiſes zu entiagen, 
das iſt Ihnen begreiflicherweije jehr ſchwer gefallen. Und ich verftehe durchaus, daß 
Sie ſich in dem zerjtreuenden Treiben weltlich gerichtetev Lebenskreiſe nicht heimiſch 
fühlen lernen fünnen, folange Sie mit allen Wurzeln Ihres Wejens in dem Boden 
jenes heiligen Berufs feitgewachjen bleiben. Sie werden deshalb gewiß aucd nicht 
Befriedigung finden in einer Bethätigung Ihrer Kräfte, die auf ganz entlegene Zwecke 
abzielen mag. Und das nährt wohl Ihr verborgenes Sehnen, in die anregende Schweitern: 
gemeinde und ihre bejtimmt begrenzte Berufsarbeit früh oder jpät einmal wieder zurüd: 
fehren zu dürfen. Aber auch außerhalb der Miffionsanftalten, meine Freundin, kann 
der Einzelne doch manches wirken zur bejcheidenen Mitarbeit am Reiche Gottes im 
Geiſt der inneren Milton.” 

„Wie viel Sie, mein Freund, daran gethan, davon weiß ich wenigitens joviel, 
daß id) gern mehr wüßte,“ jagte Adeltraut freudig erregt. 

„Btelleicht Später einmal,” erwiderte Henning bedeutjam. „Ich möchte jebt den 
Faden meiner Gedanken noch etwas weiter jpinnen, um ihn mit Ihren Bekenntniſſen zu 
verfnüpfen, hoffentlich zu — einem Knoten.“ 

„Zu einem Knoten?” forjchte fie mit unverftelltem Erſtaunen. Henning ergriff 
hingerifjen ihre Hand und ſprach mit wachjender Wärme: 

„Sie ftehen vor der Frage, warum Gott Sie Ihrem Beruf möge entzogen haben. 
Können Sie fih nun wohl entjchließen, einmal ohne Vorurteil zu prüfen, ob feine 
freundliche Abficht Ihnen nicht einen andern Lebensweg bereiten wollte, als den einer 
dienenden Schweiter? Wahr ift es, weil jchriftgemäß, zum Dienen ift das echte Weib 
berufen und mit allen erforderlichen Eigenschaften dazu ausgerüfte. Aber muß der 
Dienst fich notwendig nach menjchlichen Einrichtungen und Satzungen regeln oder nad) 
den einfeitigen Objervanzen eines frommen Gorpsgeiftes? Iſt das wirklich der vom 
Heilsplan der Weltordnung dem Weibe verordnete Beruf, Adeltraut? In Luthers 
Sprache heißt es: „Gott jchuf dem Manne eine Gehülfin, daß fie um ihn fer.” Ber: 
ftehen Sie, teuere Freundin, den Sinn diefes „Um ihn Seins?” Sie foll ihn, den 
Gefährten und Beichüger ihres Lebens mit ihrer Liebe umgeben; fie joll der Friede 
jeines Herzens und Hauſes fein; joll darin ftill walten als ordnender Geift der Ruhe, 
der Anmut und Behaglichkeit; joll Leid und Luft mit ihm teilen, ihm feine Arbeit 
leicht und ſüß machen helfen; joll auch mit ihm unter das Holz treten, wenn ſchweres 
Kreuz jeine Schultern belaftet; ſoll wie jeine Leuchte, wie fein Gewiſſen mit den 
Strahlen ihres Feingefühls das Dunkel feiner Seele erhellen. So an ihn geichmiegt, 
vom ftarfen Arm jeiner Liebe jchübend umfangen, kann ſich von ihrem gar aus ein 
Segensſtrom ergießen, der in den Ozean ferner Jahrhunderte ausmündet. Das, Adeltraut, 
ift ein jchwaches Bild vom Beruf des Weibes nad) Gottes unmwandelbarem Schöpfungs: 


1262 Ein Vertrag. 


plan. Hier biete ic) Ihnen Herz und Hand. Dieje Hand ift, jo Gott mir Hilft, that: 
fräftig genug, Sie, geliebte Freundin, aus allem erfolglojen Kampf zu befreien und 
Ihnen eine Stätte des Friedens, der Freiheit und einen Beruf zu bereiten, wie Sie 
einen beglücenderen auf Erden nicht finden können.“ 

Während der Graf diefen Nedejtrom über Adeltraut ergoß, ſaß fie mit geſenktem 
Haupte da. Als er jchwieg, verhüllte fie ihre Augen mit einem Tuche und atımete 
heftig. Henning jehnte ſich vergeblich nach ihrer Gegenerflärung. Doc) fie beharrte in 
Schweigen. Fand fie feinen Widerhall in ihrem Herzen auf jeinen Antrag? Hatte 
derjelbe fie allzu jäh überrajcht, dat fie nad) Fallung rang? Mit peinlicher Spannung 
jann Henning auf eine Deutung ihres Verftummens. 

Unter unliebjamen Störungen einer angejpannten geiftigen Thätigkeit oder 
gejammelten Stimmung mag es wenige geben, jo peinlich als der Zwilchenfall, welcher 
jich für den Liebenden eben vorbereitete, in dem Augenblide, der die bedeutjamite 
Mendung jeines bisherigen Lebens durch den Mund der Geliebten enticheiden jollte. 
Henning jchiwebte lange zwijchen Hoffen und Zagen, die Minuten der Ungewißheit 
dehnten fich für jeine Sehnjucht aus zu Ewigfeiten banger Uual. 

Da vernahm er aus der Richtung des nicht fernen Schlofjes ganz deutlich jeinen, 
mit fragendem Tonfall gejprochenen Namen. Er glaubte die tiefe volle Stimme des 
Miſter Whitehorje zuverläffig erkannt zu haben. 

„Dann links nad) dem Boskett,“ rief aus etwas weiterer Ferne eine andere 
Stimme, den Weg nad) dem halbverftecten Plätzchen bejchreibend, wo Henning in Der 
Ausiprache mit Adeltraut die jeligite Stunde feines irdischen Dajeins genofjen hatte. 

Dem drohenden Ueberfall mußte auf jede Weile vorgebeugt werden. Deshalb 
erhob ſich Henning jogleich, um dem läftigen Eindringling, deſſen Tritte auf dem Kies 
er bald auch ſchon vernahm, abwehrend entgegenzugehen. Raſch ereilte er, den 
Ausgang des Bosketts und jah Mifter MWhitehorjes Geftalt heftig mit den Armen 
rudernd heranjtreben. 

Ein breitfrempiger Panama bededte jein Haupt und bejchattete jeine Augen, von 
denen das eine mit einer Binde verhüllt gewejen war, die Henning jegt nicht jah. Des 
Mannes ftattlich gebauten Wuchs mit feiner hochgewölbten Bruft zwijchen fraftvollen 
Schultern ließen die graue Joppe und knapp anjchließende, bis über die Kniee hinauf: 
reichende Stiefel jehr vorteilhaft hervortreten. Die Nachtruhe ſchien die Wirkung geübt 
zu haben, daß diefer Whitehorje jeinem Beobachter jünger, rüftiger und jogar mit 
vollerem Bartwuchs entgegentrat, als fein flüchtiges Bild in der Nacht, bei undeutlicher 
Lampenbefeuchtung in Hennings Gedächtnis ſich eingeprägt hatte. 

Henning lüftete leicht feinen grauen Filzhut. Ohne den Gruß zu erwidern, 
bejchlennigte der andere feine Schritte. Henning blieb erjtaunt jtehen, ihn zu erwarten. 
Sept hatte der Heranftürmende ihn erreicht. Und ohne vorhergegangene Erklärung 
padte er den Ueberrumpelten mit beiden Händen an den Schultern und brach in ein 
ungeftümes Gejohle aus. 

„Herr!“ vief Henning entrüftet, indem er fich den Eijenflammern der gewaltigen 
Finger vergeblich zu entwinden ftrebte, „find Sie von Sinnen, Herr? — Wie fünnen 
Sie ſich unterftehn —“ 

„D du verſtockte Welt!” unterbrad) ihn der Angreifer, „du treuvergeſſener Pylades! 
— Ueber das große Wafler wie ein abgejchofjener Pfeil nad) deinem nordiſchen Raub- 
nejt — finde dich nicht — lafje mic) von Lokomotive zu Lokomotive durch das ganze 
deutjche Reich bis nad) diefem entlegenen Winkel pfeifen — fam in jpäter Nacht gejtern, 
den achtundzwanzigſten Auguft,g als am fontraftgemäßen Termin nod) rechtzeitig an — 
traf dich auch hier nicht, und mun, da ich dic) endlich gepadt, nun Hallt mir unjere 
Fugendfreundichaft aus deiner jchwindjüchtigen Seele wie ein vergejjener Ton entgegen!“ 

„Hinrich! — Hinrich! — verjchollener Barde!“ rief Henning im Rauſch der 
unverhofften Freude des MWiederfindens. „Na, du bift in Wahrheit Hinrich Freifinger! 
— Diejes Mal täujcht mich fein Trugbild!“ 


Ein Vertrag. 1263 


Brujt an Brujt verftummten die Freunde in langer feiter Umarmung. 

Ein gepreßter Angftichrei drang an Hennings Ohr. Diejer riß fi zu Hinrichs 
Erſtaunen unjanft aus jeinen Armen [os und eilte zurück nad dem jchmalen Laubgang, 
an deſſen Eingang, vom Gebüjc halb bejchattet, Adeltraut mit verftörten Mienen ihn 
erwartete. Das rätjelhafte Geräuſch der ſtürmiſchen Begrüßungsizene hatte fie auf: 
geichredt. — Eine Gefahr bejorgend überwand ſie jede Rückſicht auf ſich ſelbſt — eilte 
hinaus lab Hennings Arme mit denen eines unbekannten Mannes wie im Ringkampf 
verjchlungen und machte ihren namenlojen Entjegen durch den Weheruf Luft, der die 
Männer trennte. Während fie dem Grafen dieſe Vorgänge mit fliegenden Worten 
deutlid; machte, hatte Hinrich das Paar mit langen Schritten voll Gravität aud) jchon 
erreicht. Schwunghaft ſchwenkte er nun vor der verlegenen Adeltraut feinen ungewöhnlich 
breitichattigen Strohhut, neigte den Kopf ein wenig und jagte mit ftrahlender Miene: 

„Berzeihen Sie, Frau Gräfin, den ungeſchickten Ueberfall. Vielleicht hätte ich 
meine Sehnſucht nad) Ihrem Manne bezwungen; aber wer konnte auch Hoffen, daß 
jeine brave Ehefrau ihn ſchon auf frühen Meorgenjpaziergängen erwartet, wenn er von 
nächtlichen Abenteuern zurückkehrt.” 

„Fräulein von ITrutheimb,” unterbrady Henning mit mühjam unterdrückter Heiter: 
feit die peinliche Verlegenheit, „Sie werden von diefem Barbaren vielleicht ſchon gehört 
haben. Es ift mein alter lieber Jugendfreund Hinrich Freifinger, dem es gelang, ſich 
jahrelang meinen eifrigften Verfolgungen hartnädig zu entziehen.” 

Adeltraut folgte zerjtreut der Vorftellung und rang vergebens nad) einigen freund: 
lien Worten der Begrüßung. Sie fand aber nicht die Zeit zur Ausſprache, denn 
Hinrich knüpfte an Hennings Schluftworte jofort feine Rede wieder an. 

„Fräulein?“ fragte er gedehnt. „Alto nicht deine Gattin, Henning? — Schade! 
— hr würdet ein jtattliches Paar abgeben. Mit deinem mannhaften, jehr ver: 
vollfommmeten Gliedergefüge und tadellojen blonden Bartwuchs hätten des Fräuleins 
elegante ſchlanke Gejtalt, ihr Ichöngeformtes Haupt mit dem üppigen roten Haar und 
ihre klaſſiſch geſchwungenen Schönheitslinien gar trefflich zu dir gepaft. — Dod) jet 
begreife ih! — Ei freilih! — War ich denn ftocblind?” rief er luſtig. „Natürlic) 
ein Brautpaar! — Nun jo redet doch!“ 

Der Eifer, mit dem Hinrich in feiner freumdjchaftlichen Ungeduld das Baar 
bedrängte, wirkte jo komisch, daß Henning in fröhliches Gelächter ausbrach. Cr fühlte 
ji) dadurch aus feiner peinlichen Lage erlöjet. Adeltraut war zu Sinn, als möchte fie 
am liebjten bis zum Mittelpunkt der Erde verfinfen, wurde aber nun von Henning in 
den Strom der Heiterkeit mit fortgerijjen. Indeſſen machte Freifinger eine ungeduldige 
Handbewegung, trat einen Schritt zurück, Ereuzte jeine Arme auf der hohen Bruſt und 
ſprach mit der bejchaulichen Meiene eines beobachtenden Arztes: 

„Was es da nur zu lachen geben mag? — Ein Symptom der Bejefjenheit Ver: 
lobter. — Das jeid ihr doch. Denn ſonſt würdeſt du ja gewiſſenlos handeln, Henning, 
durch heimliche Zujammenkunft mit diefem edelen Fräulein zu früher Morgenftunde 
ihren guten Auf zu gefährden.” 

Dieſe Naivetät überftieg Hoyers Gelaffenheit; zornige Aufwallung drang ihm 
blutrot in die Schläfe. Das focht indeifen Hinrich Ruhe nicht ar. 

„Was ift da aufzubraufen?” bejchwichtigte er den erregten Freund mit überwindendem 
Gleichmut. „Wie joll ich mir denn dieſes jeltiame töte-A-töte erklären, wenn du nicht 
meinen Argwohn widerlegen kannſt? — Drum geftehe doch endlich, daß ihr verlobt 
jeid und jeit wann?” 

Mit dem geſammelten Ernſt diejes enticheidenden Augenblids richtete Henning, 
Adeltrauts Hand ergreifend und fie janft am ſich ziehend, einen tief zu Herzen dringenden 
Bid in ihre glüdjtrahlenden Augen und fragte fie mit leife bebender Stimme: 

„Wollen Sie die liebevolle Eindringlichkeit unferes Freundes befriedigen? — 





1264 Ein Vertrag. 


Wollen Sie jeine Frage beantworten, Adeltrant, jeit wann unſere Hände ih zum 
jeligiten Lebensbunde für Zeit und Ewigkeit verpflichtet haben?“ 

„Seit dieſer namenlos wonnevollen Stunde, mein teurer Freund,” flüfterte fie 
und lehnte ihr glühendes Antlig an Hennings Schulter, deſſen Herzichläge ſie vernahmt. 

Für Hinrich mochte die Sachlage durch dieſe halblauten Erklärungen nur wenig 
verftändlicher geworden jein. Aber er überzeugte fich doch durd; den Augenjchein, daß 
er recht gehabt habe und betrachtete mit Wohlwollen das ſtumme Paar, maleriſch umrahmt 
vom jonnigen Grün des Laubganges. — Endlich brach Hinrich das Schweigen und 
tröftete ſich jelbft: 

„Sah ich doc) jogleich, daß ihr für ein einander gejchaffen jeid. — Und da Gott 
der Herr euch jeinen Segen gegeben haben wird, joll aud) der meinige eich nicht fehlen.“ 

Indeſſen die drei Glücklichen einander während Hinrichs Weiheipruh die Hände 
ichüttelten, vernahmen fie vom Schlofie her den lodenden Ruf einer Glode. Henning 
fannte das Zeichen: 

„Kommt,“ jagte er weich, „laßt uns zur Morgenandacht gehen.“ 

Auf Adeltrants Anregung wurde beichlofien, die Hausgemeinde nicht zu zerſtreuen 
durch eine vorzeitige Ankündigung des überraſchenden Ereigniſſes, das ſich ſoeben unter 
der naiven Einwirkung Freiſingers vollzogen hatte. — Der vodrauselleuden ſeligen 
Braut folgten die Freunde langſam nach. Auf der Rampe des Schloſſes empfing 
Dieffemberg dieſelben mit freudigen Begrüßungen und führte fie feiner Gemahlin ent: 
gegen, welche den ihr unbekannten Freifinger herzlich, doch mit muſternden Bliden 
bewillkommnete. 

Die häuslichen Erbauungen in Schloß Bilamsdorff prägten feſte patriarchaliſche 
Formen aus. Der gräfliche Hausvater ließ ſich nicht nehmen, die Andacht ſelbſt zu 
leiten. Daran teilzunehmen ſtand jedem Hausgenoſſen, bis herab zur Gänſehüterin frei. 
Auch fanden ſich zumeiſt Dorfbewohner dazu ein. Der Graf aber nötigte feinen dazu. 
Zur Andacht fünne und jolle niemand gezwungen werden, meinte er. 

Ein einfach weiß getündhter Saal war ausjchließend ſolchen erbaulichen Zweden 
gewidmet. — Ein Harmonium, ein Tiſch mit hochlehnigen Stühlen für die Familie 
und Gäſte des Hausherrn, Bänke für die Dienerſchaft und Dörfler; darauf beichränfte 
fi) die Ausftattung des Saales. Hohe Fenster mit Glasmalerei gaben demjelben eine 
zwedentiprechende künſtleriſche Würde. 

Am heutigen Morgen — zur gewohnten Stunde vor dem Frühſtück — intonierte 
Gieſe das Yoblied von Johann Menger: 

D daß ich taujend Zungen Hätte, 
Und einen taujendfahen Mund. .... 


Nach dem vollftimmigen Geſange einiger Strophen verbreitete Dieffemberg ſich 
über das verleſene Pauliniſche Hohelied von der Liebe: „Wenn ich mit Menjchen: und 
mit Engelzungen vedete” u. ſ. w. — Er bezog die Macht der Liebe diejesmal auf ihre 
Wirkung, welche ſich in der Wiedervereinigung der hier verjanmelten vier Jugendfrennde 
wunderbar bethätigt habe. 

Daß diefer Schrifttert und jenes ſchwungreiche Danklied einem jungen Herzens: 
bunde die ſympathiſcheſte Weihe gab, ahıte niemand in der andächtigen Hausgemeinde 
außer Freifinger und dem ſtill beglückten verlobten Paar, Adeltraut und Henning. 


Ein Vertrag. 1265 


Zweiter Band. 





Nachklänge. 


Das Knäuel der Ereigniffe, welches ſich am Kaffeetiſche abwickelte, ſchlang ſich 
verwirrend durch die Vorſtellungskreiſe der Geſellſchaft. Niemand vermochte den ein: 
jachen Faden des Gejchehenen Har zu verfolgen. Aus der halbverjtandenen Meitteilung 
Hennings, er habe in Meifter WHitehorje den alten Freund Hinrich wiederzuerkennen 
geglaubt, bildete fich Kurd die Ueberzeugung, daß Henning den jo unerflärlicherweiie 
zurüdgefehrten Freiſinger als Inhaber der Meierei wirklich wiedergefunden habe. 
Und auch Sir Francis pflichtete der Annahme bei. „Denn es hat wenig Wahr: 
icheinlichkeit,“ begründete Sir Francis jeine Vorausjegung, „daß ein Individual wie 
Hinrich konnte jein gefallen aus den Wolken.“ 

Am aufregenditen wirkte — wie vorauszujehen war — die völlig unverjtändliche 
Verlobung. Selbſt in dem begeifterten Herzen Mariens regte diejer unerwartete Schritt 
Adeltrauts denn doc einige Gereiztheit auf. 

„Es it unbegreiflih von Adeltraut,“ klagte Marie ‚heimlich ihrem Bruder Mar. 
„Und gejtern Abend habe ich nody mit ihr über Graf Hoyer geiproden. Hätteſt du 
unr gejehen, wie jogar ein jolches Muſter von Aufrichtigkeit imstande war, ſich zu 
gebärden, als kenne fie den Grafen nicht näher wie id. Und fie mußten doch jchon 
längjt miteinander im Reinen gewejen jein. Denn der Graf war ja die ganze Nacht 
fort und ift erjt furz vor der Morgenandacht zurückgekehrt.” 

Der Nittmeifter juchte fie zu beruhigen. „Unjer Brautpaar wird wohl triftige 
Urjachen gehabt haben, die Verlobung erſt heute zu deflarieren. Das Rätſel wird ſich 
zweifelsohne bald zur allgemeinen Zufriedenheit auflöjen.” 


Im jchroffen Gegenjab zu der ſtürmiſchen Leidenſchaftlichkeit der Gemüter dieſer 
Geſellſchaft herrſchte auf Schloß Imshuth gleichzeitig die Ruhe beſchaulichen Behagens. 

Die Baronin Olga lag im Morgenanzuge auf der Ottomane ausgeſtreckt. Sie 
tändelte mit ihrem allerliebſten Bologneſer, der übelgelaunt, in poſſierlichen Sprüngen 
nach den ſüßen Biſſen unermüdlich ſchnappte, welche eine neckende Handbewegung ihm, 
einem Tantalus der Hundewelt, unermüdlich entzog. Auf dem Teppich neben dem 
niedrigen Lager Olgas lag ein aufgeſchlagener franzöfiicher Roman. Aergerliches Gekläff 
des jeidenhaarigen Hündchens miſchte ſich gellend in das jchadenfrohe Kichern jeiner 
beluſtigten Gebieterin. 

Sehr zufrieden mit dem Ertrag jeines Holzverfaufs war der Freiherr Juſtus von 
Trutheimb leiſe pfeifend die Stiege heraufgefommen. Er hatte ſich dann in einen 
jaltigen Malerfittel gehüllt und jaß jegt mit Palette und Maljtod vor der Stafielei, 
um eine angefangene Anficht aus dem Albaner Gebirge zu vollenden. 

Er tauchte eben feinen Pinjel in Ultramarin, als ein Diener eintrat, der auf einem 
Briefteller ein Schreiben trug. 

„Bom Schloß Bilamsdorff,” meldete der Diener, während der Freiherr durd) 
eine nachläflige Bewegung mit feinem Malſtock andeutete, er wolle jegt nicht gejtört 
jein. Der Diener folgte der Weiſung, indem er das Billet auf den Tiſch legte. Zugleich) 
erffärte er aber, ein reitender Bote habe das Schreiben abgegeben. Er jolle anfragen, 
ob eine Antivort zurüdzutragen jet. 

„Corpo di bacco!“ entfuhr es der Ungeduld des in jeiner behaglichen Lieblings: 
beichäftigung unterbrochenen Freiherrn, der durd) jeine Gebirgslandichaft mit allen Sinnen 
unter den azurnen Himmel Italiens verjegt ſchwelgte. „Der Bote joll warten, Jean!” 
jegte er etwas gefaßter Hinzu und malte ungeſtört weiter. 


1266 Ein Vertrag. 


Sean aber hatte faum die Thür Hinter fich geichloifen, als der Freiherr, von 
Neugier getrieben, die Palette vom Daumen ftreifte, fid) erhob und das Schreiben 
entfaltete. Nach einem Ruck am Binoele durchlief er mit flüchtigem Blick die Zeilen. 
Als er bis zum Schluß gelangt war, zuckte durch jeine runde Geftalt eine Erjchütterung. 

„Was ift das?“ rief er halblaut — trat ans Fenſter, jchlug den lichtordnenden 
ichwarzen Vorhang der hohen Glasjcheibe zurück und las — als traue er jeinen Augen 
nicht — immer wieder die legten Zeilen des Billets. Dann eilte er in jein angrenzendes 
Arbeitsfabinet und jchrieb auf eine Karte die Worte: 

„A vos Ordres! Tout à vous. Le Juste de T.* 

Darauf drücte er den Knopf einer Glode, jchob die Karte in ihre Hülle und 
während er adrefjierte, befahl er dem eingetretenen Diener: 

„Sünther joll feine Füchje und das Coupe fertig machen. Nach dem Frühſtück 
fahren wir nad) Bilamsdorff — bleiben vielleicht über Nacht da — du kannſt einen 
fleinen Koffer paden, Iean. — It die gnädige Frau unten?” 

Sean bejahte und verſchwand mit der Karte. 

Mit erftauntem Bli empfing zu jo ungewohnter Stunde Olga den Gemahl, der 
die Spuren feiner Kunftbethätigung indefjen bejeitigt hatte. Der Freiherr warf ſich in 
einen Seffel. 

„Jetzt höre nur dieje ftiliftiiche Leiftung deines Bruders, Olga,“ rief er ärgerlid) 
fachend. „Mein genialer Schwager Kurd padt mir da Nüſſe auf die Zähne, die du 
fnaden helfen mußt. Ich bring’ es allein nicht zuftande.” 

Er brachte den entfalteten Brief vor fein Doppelglas. Olga erhaſchte das Blatt 
und begann den Inhalt laut zu lejen. 

„Schönen Gruß. Euer Kurd.“ Hier jchiwieg fie verdußt. 

„Haft du je einen jolchen Briefeingang gelejen?“ fragte der Freiherr kläglich. 
Dlga wandte das Blatt um und unterjuchte es aufmerkſam nad) allen Seiten. Endlich 
gab fie die Erklärung ab: 

„Am Schluß finden fich die gefrigelten Worte „In Eile!” Kurd hatte hier feinen 
Raum mehr für die Unterjchrift; er jchrieb fie aljo deshalb über den Brief, wo Platz 
war, weil er offenbar in der Haft die Anrede vergaß. 

„Wahrhaftig, Olga, jo wird das Quidproquo Kar,“ bejtätigte Trutheimb getröftet. 
„Die erjte Nuß wäre aljo glücdlich geknackt. Nun aber weiter!” 

„Kannſt du den Duft des vorweltlichen Urſchleims jchildern?” las Olga zügernd. 
„Ebenjo unthunlich ift es, die heilloſe Konfuſſion zu bejchreiben, die jeit heute morgen 
in meinem Kopf und Hauje herricht. Ahr müßt uns heraushelfen, mag es gehen, wie 
es geht. Eilt angefichts diejes Zettels hieher. Hoyer hat jeinen Schwerpunkt verloren. 
Seine Stimme gleicht wieder der ehemaligen Trompete von Wfeifersheim. Ganz 
ihwirbfich wird mir der Kopf davon. Wir eſſen um halb jechs Uhr. Der Koch wird 
nicht früher fertig. Adieu.” 

Dlga ließ das Blatt ſinken und jah ihren Gatten ratlos an. 

„Du Haft das Tolljte überſehen,“ befehrte er fie, „Lies nur einmal erjt die Nach: 
ſchrift. Sie folgt der leergebliebenen zweiten Seite.” 

„Ah, Hier!” entdecdte Olga die bezeichnete Stelle und trug die Nachjchrift mit 
wachjender Erregung vor. 

„Daß ich die „Klitſche“ im Waldthale feinem anderen verkauft haben würde, als 
an Heinrich Freifinger, Opernfänger außer Dienften, wußte ich ja. Wir jpeien auf 
Almas Wunſch heute um 6 Uhr. Hinrich) behauptet zwar, er fühle jich jebt ferngejund. 
Aber jein Appetit hat an frankhafter Intenfität, wie eg mir jchien, noch nicht abgenommen. 
„A voir! Richtig, noch Eins! Du weißt natürlich jchon, daß deine Nichte Braut ift, 
Alma freut fich jehr über die pafjende Partie.” 

Olga durchforichte das verwirrte Schriftſtück wiederholt nach einer aufflärenden 
Randbemerkung von allen Seiten. Sie unterjuchte fogar die leere Enveloppe. Aber 


Ein Bertrag. 1267 


vergebens. Das Ehepaar war zur Beruhigung der durd) die letzte unvollitändige 
Nachricht verurfachten Aufregung auf ledigliche Vermutungen bejchränft, um das Rätſel 
zu löſen. Man wurde bald darüber einig, daß Adeltrauts Erwählter fein anderer jein 
fünne als der Nittmeifter Mar Ringelin, der Bruder Mariens, Adeltrauts Freundin. 
Ningelin müſſe alfo jchon in den Tagen jeines Bejuchs zu Imshuth feine Operations: 
bajis, wie Juſtus ſich ausdrücte, vefognosziert haben. Kurds, „du weißt natürlic) 
ſchon,“ deute ja an, daß die Verlobung bereits in Imshuth erfolgt ſei. Sein geftriger 
menjchenfreundlicher Nitterdienft zur Aufjpürung des verichtwundenen Hoyer wird dem 
Herzen unſerer Nonne anderenfalles den Entihluß zur Kapitulation abgewonnen haben. 
Aber wer hätte diefem Biedermann jolche Finten zugetraut! Ja, ja, die Liab’, die Liab’!“ 

„Stille Waſſer find tief, lieber Juſtus,“ erinnerte Olga, welche die Bartie übrigens 
gar nicht übel fand. „Ich verliere das Mädchen aber ſehr ungern. Dir wird es nicht 
anders gehen. Sie war uns doch außerordentlich nützlich, im Hauſe, bei den Wäſch— 
ſchränken, Kellervorräten, Einnahmen, Beaufſichtigung der Küche und Milchwirtſchaft, 
bei den notwendigen kleinen und großen Nätereien, bei deiner Buchführung, wenn du 
ihr Briefe diktierteft oder zum Kopieren und Exzerpieren gabjt, jo anjtellig und dabei jo 
willig und anſpruchslos! Obendrein ein jchönes Mädchen mit feinem Takt und Manieren 
wie eine Prinzeß. Woher bekommen wir nur eine andere, die das halbe leiftet um 
hohes Salair. Adeltraut Fojtete uns bei ihrer Abneigung gegen die Mode ja fait 
gar nichts.“ 

„Wohl wahr! wir werden den Verluſt aber doch verjchmerzen müſſen,“ überlegte 
der Gerechte von Trutheimb; „gegen diefe Partei läßt ſich ja nichts Stichhaltiges ein: 
wenden. Der Rittmeister ijt zwar fein Edelmann, aber iſt jehr wohlhabend und macht 
den Gardehujaren alle Ehre. Meinen Wünjchen wäre es freilich gemäßer, wenn wir 
uns in unferer VBoransjegung irren könnten, ich meine, wenn unjere Nonne dem frommen 
Grafen Hoyer Geihmad abgewonnen Hätte. Warum jollte ein Separatift jeines 
Sclages nicht den gejcheidten Einfall gehabt haben können, Adeltraut von Trutheimb 
zur Gräfin Hoyer promovieren zu wollen?“ 

„Warum nicht gar, Juſtus!“ zweifelte Olga. „Der Graf ijt erjt heute nad) 
Bilamsdorff zurüdgefehrt. Die Nacht brachte er bei jeinem Bujenfrennde, dem Aben— 
teurer in der Meierei zu. Er wußte ja nicht einmal etwas von der Eriftenz Adeltrauts, 
jah fie geitern nur flüchtig zum erjtenmal, jprach noch fein Wort mit ihr. Nein! nein, 
Juſtus, deine Kombination iſt abjolut ohne thatjächliche Möglichkeit.“ 

„Nous verrons,* beharrte er. „Gleich nad) dem Frühſtück fahren wir hinüber. 
Dann kommen wir auch jicher zurecht zum Diner hin, gleichviel ob es um halb ſechs 
beginnt oder um ſechs Uhr, wie in Kurds klaſſiſcher Nachſchrift ſteht. Die Verwirrung 
drüben muß doch wahrlich arg ſein.“ 

Wie arg die Verwirrung in Kurds „Kopf und Haufe” in der That war, bezeugte 
die zerjtreute Faſſung des Briefes, der die Unklarheiten zu Bilamsdorff auch auf 
Imshuth übertrug. Undurchſichtige Verhältniſſe erſchütterten ſtets Kurds Gleichgewicht, 
zumal wenn ſie, wie jetzt, verſchiedene Intereſſen ſeines Gemütslebens berührten. Er 
vermochte bei Abfaſſung ſeines Schreibens an Trutheimb ſeine Gedanken umſoweniger 
zu ordnen, als Alma, der Haushofmeiſter, Gieſe und andere ihn mit allerlei not— 
wendigen Fragen ſtörten und die gewohnte Ruhe im Schloß von der allgemeinen 
Erregung oft unterbrochen wurde. Kurd lehnte deshalb vorläufig jede Aufklärung der 
zweifelhaften Fragen, die ihn quälten, jtandhaft ab. 

Sp entitand dieſes Billet. — Als dasjelbe abgejandt war, atmete Kurd erleichter: 
anf. Jede Sorge und beunruhigende Erregung warf er entichloffen Hinter ſich. Da 
Trutheimbs die ausjtehenden Enthüllungen doch aud) erfahren müßten, jo feien jolche, 
um Wiederholungen vorzubeugen, bis zur Ankunft der Verwandten aus Imshuth füglich 
aufzujparen. Nach diefem Beſchluß erheiterte ſich Kurds wohlgebildetes Gejicht wieder. 


1268 Ein Vertrag. 


Und ſogleich regte fich auch das Plichtgefühl, welches ihn als Hausherren für angemejjene 
Unterhaltung jeiner Gäfte verantwortlich machte. 

„Sum erjtenmal jeit unjerer Pfeiffersheimer Jugendidylle“, jagte er, „find wir 
vier alten Knaben wieder zujammengejchneit. Die Stunde ift alſo gekommen, Die 
Gelegenheit günjtig, alter Heinrich, für die von mir und Francis an Sie und Henning 
verlorene fette Schachpartie mir die verjprochene Nevanche zu geben. Ringelin und Die 
Damen fünnen ja, wenn es ihnen Vergnügen macht, ſich als ftumme Zufchauer daran 
beteiligen, oder durch einen Spaziergang und jonjtige Unterhaltung jich unterdeffen 
zerftreuen. Alma hat mich erjucht, jie mit ihren häuslichen Anordnungen zu entichuldigen. 
Vielleicht zieht Adeltraut es vor, meiner lieben Hausfrau hüffreiche Hand zu leihen.“ 

Adeltraut erklärte fich jogleich bereit dazu. Aber Henning und Freifinger lehnten 
ji) hartnädig auf ſowohl gegen Kurds letztes Anfinnen, als gegen die Schadypartie. — 
Sir Francis unterjtügte lebhaft den Vorſchlag Dieffembergs. Lady Mac:-Bell jei eine 
Meifterin des Schachipiel3 und werde gern einen der protejtierenden Herren erjeßen. — 
Zur Uebernahme der vierten Hand meldete ji), wiewohl nicht ohne inneres Widerjtreben, 
der Nittmeifter, weil ev Kurds Verdruß über das drohende Scheitern feines Planes 
bemerkte. 

Die andere Gruppe beichlog auf Mariens VBorjchlag, die Zwiſchenzeit mit einem 
Spaziergange im Park auszufüllen, und trennte ſich in freudiger Haft von der Scyad): 
partie, um die Morgenjonne nod) zu genießen. 

Als Henning beim Aufbruch Miene machte, jeiner Verlobten den Arm zu bieten, 
wich Adeltraut diefer ungewohnten Bertraulichkeit aus. Sie äußerte den Wunjch, ihrer 
Freundin Marie beruhigende Auftlärungen über die heutigen Vorgänge zu geben, welche 
jene notwendig überrajcht haben würden. — So wandelten die beiden Freundinnen im 
eifrigen Zwiegeipräc voran, und Henning, der mit Hinrich in einiger Entfernung nach: 
folgte, beantwortete gern deſſen eifrige Fragen nad) dem Lebensgange, den Henning jeit 
der Zeit der Trennung geführt worden jei. Solche lebhafte Teilnahme für Gegenftände, 
die nicht Hinrichs eigene Perſon betrafen, war ehedem jeinem franfhaften Wejen ganz 
jvemd. Henning glaubte darin ein Zeichen der Genejung des wiedergefehrten Freundes 
begrüßen zu dürfen. — 

Mariens gereizte Stimmung war bald verjühnt, als Adeltraut ihr klar gemacht 
hatte, welche Gründe fie bejtinmmten, den erjten Eindruck ihrer geftrigen Begegnung wit 
Graf Hoyer nicht zu verraten. 

„Alſo ſchon in Jeruſalem faßteſt du tiefe Neigung für ihn?” fragte Marie 
überrajcht. „Und weil du vergeblich wider fie kämpfteſt, erichien es dir unmöglid), 
Diafonijje bleiben zu dürfen? — Sp wollteit du gleichjam vor der leidenſchaftlichen 
Herzensunruhe Schuß juchen; das verjtehe ich alles aber warum wähltejt du dazu 
Imshuth?“ — 

„Weil ich glaubte, dort vor einer Begegnung mit dem Grafen ſicherer zu ſein, 
als in Jeruſalem oder an irgend einem anderen entlegenen Zufluchtsort. Eine 
Beziehung jo grundverſchiedener Charaktere, als Graf Hoyer und Onkel Juſtus wie 
auc) Vetter Kurd jchien mir undenkbar. Stelle dir deshalb mein Entjeßen vor, Marie, 
als ich erfuhr, Graf Hoyer werde von Kurd in Imshuth vorgeftellt werden! Das war 
im legten Sommer gejchehen. Aber es gelang mir, dem Grafen auszumeichen. Und 
da man von mir, dem Ajchenbrödel, nicht zu ſprechen pflegte, blieb ihm, wie er verfichert, 
meine Anwejenheit und überhaupt mein Verhältnis zu den Verwandten ganz unbekannt.“ 

Adeltraut berührte dann ihre Begegnung mit dem Grafen am gejtrigen Tage. 
Auch fie habe ihn erjt erfannt, als Kurd ihnen beiden denjelben vorjtellte. Ein jäher 
Schred habe fie erjchüttert. Und fie habe ſich wie erlöjet gefühlt, als des Grafen 
jeltiamer Rückzug aus der Gejellichaft ihr die Verlegenheit einer Erfennungsizene 
erjparte. Sie verjchwieg indejjen nicht, wie quälend der Gedanke ihr geweſen jei, 
Hoyer habe ihr jeine Achtung entzogen, falls er in der Weltdame die dienende Schweiter 





Ein Vertrag. 1269 


von Jeruſalem wiedererfannte. Um ihm bei jeiner Rückkehr auszınveichen, habe fie 
durchaus mit Trutheimbs nad) Imshuth zurüdfahren wollen. 

„Eine jolche Löſung deines rätjelhaften Benehmens fonnten wir freilich nicht 
vorausjeßen,” fchaltete Marie ein. 

„Nach einer unruhigen Nacht,“ fuhr Adeltraut fort, „machte ic) nad) meiner 
Gewohnheit einen Morgenjpaziergang auf der Terrajie. Ein laujchiges Plätzchen 
begünftigte mein Verlangen, mich an den Dialogen des Thomas a Kempis zu erbauen. 
Ich war jo jehr vertieft, daß ich die Schritte eines Herrn überhört hatte, der nahe an 
meinem Platz vorüberwandelte. ch verlor das Buch vor Ueberrajchung aus den 
Händen. Es war Graf Hoyer.“ 

Einfach und kurz deutete fie den Inhalt des entjcheidungsjchweren Zwiegeſprächs 
an, erklärte, der unerwartete Antrag des Grafen habe fie jo jehr verwirrt, daß fie 
feines Wortes mächtig gewejen jei. Sp viel Beſinnung aber ſei ihr doch geblieben, 
ihre Antwort nicht ohne Vorwiſſen Trutheimbs erteilen zu dürfen. Auch mit Marie 
hätte fie fi) wohl gern vorher ausgejprochen, wenn nicht Freifingers Dazwijchenkunft 
und deſſen entjegliche Naivetät die Gegenerflärung ihr wider Willen entriffen hätte. 

Ueber die anſchauliche Schilderung diejes Zwiſchenfalles geriet Marie in die 
heiterite Yaune. 

„Alſo Frau Gräfin titulierte er. dich?“ wiederholte fie luſtig, „dann vezenfierte er 
deinen jtattlihen Wuchs, dein Haar, das er rot fand, erklärte euch gar für beſeſſen, 
zwang dich durch jeine zarte Sorge um deinen Ruf endlicd) zur Kapitulation! Ein 
wahres enfant terrible! Wie ift das nur vereinbar mit feiner vornehmen ®eftalt und 
edelen Miene? Solchen jchweizeriichen Granit etwas polieren zu helfen, jcheint mir 
Menjchenpflicht zu fein. Ich bin begierig, diefes Original kennen zu lernen.“ 

„Herrn Freifinger näher kennen zu lernen,“ erflärte Adeltraut, „kann auch ich 
nur dringend wünjchen; ift doch Graf Hoyer jein aufrichtiger Freund! ſchätzt er ihn 
doc mit allen jeinen Sonderbarfeiten! ber, nicht wahr, liebe Marie, wir wollen die 
originellen Eden und Kanten feines Wejens recht jchonfam behandeln; wollen ihn 
mit leifer Hand zu polieren juchen; ich bitte dich, Marie!” 

„Sei meinetwegen unbejorgt!” tröftete dieje die Fürjprecherin etwas gefränft. 
„Doch du Haft recht, Adeltraut, ein Mann, den Graf Hoyer liebt, muß es aud) ver- 
dienen. Welchen Eigenjchaften oder Erlebnifjfen Herr Freifinger diefe Freundichaft 
verdankt, das möchte ich nur willen. Wielleicht bringen wir ihn zum Entſchluß, uns 
aus jeinem Leben zu erzählen. Das ift gewiß intereflant genug und man gewinnt 
dabei doc wohl auch Einfichten in den tiefen Goldjchacht jeiner hohen Männerbruft!” 

„Bon Jugend auf war Freifinger eine jehr phantaftische Natur. Unmittelbar 
bevor Graf Hoyer ihn fennen lernte, lebte jein Freund in einer Heilanjtalt für Nerven: 
leidende. Graf Hoyer hat jchon heute am Kaffeetiich erkannt, daß Freiſingers Bor: 
itellungen und Reden nod) immer wie in einen golddurchwirktten Schleier wunderbarer 
Wahngeipinite gehüllt zu fein jcheinen, die aber oft tiefiymbolische Beziehungen auf 
jeine Innerlichkeit haben jollen. Alſo verdient er gewiß unſere lebhafte Teilnahme, 
liebe Marie.” 

„ech! wie jelten find Männer von Phantafie und Gefühl!” jeufzte Marie altklug. 
„sa, ich wiederhofe: diejen wunderjamen Herrn FFreifinger muß ich kennen lernen. Es 
verlangt mich brennend danach! Ich mache dir gar kein Hehl daraus, meine traute Freundin.“ 

Der Wunſch wurde ihr jchneller erfüllt, als fie bei Adeltrauts Zurückhaltung 
gehofft haben mochte. Mit bejchleunigten Schritten hatten die Herren ſich genäbhert. 
Und Henning rief, Schon ehe die Freundinnen ihre Annäherung wahrgenommen, den: 
jelben mit komisch jammerndem Ausdrucd zu: 

„Helfen Sie mir, meine verehrten Fräulein, dieſen unverbefjerlichen, rechthaberiſchen 
Skeptiker von einem unverzeihlichen Vorurteil heilen.” 

Allg. koni. Monatsichrift 1888, XII, 81 


1270 Ein Vertrag. 


Adeltraut und Marie erwarteten ftehenbleibend die angekündigte Erklärung. 

„Die Frage liegt jo,“ fuhr Henning fort, „Freund Freilinger brachte die Rede 
auf eine gewille ſympathetiſche Transmiſſionsfähigkeit der Seele, die auch Goethe und 
andere auerkennen. Goethe bezeichnet dieje geheimmisvolle Ericheinung als „Wirkung 
ins Weite.” Auch Freifinger zweifelt nicht am jolchen Vorgängen. Aber was er 
bezweifelt, ift weder begreiflich noch begründete. Wirkungen ins Weite, behauptet er, 
jeien nur von energiſch gefammelten Gemütern, bei aufmerkjamfter Prüfung und jchärffter 
Kritik der leiſeſten Gefühlsſchwingungen und geiſtigen Regungen anfzufaſſen. Die in 
breiter lauer Luft unftät umherflatternde weibliche Pſyche ſei deshalb ſolcher Offen— 
barungen nicht fähig und vermöge folgerichtig auch nicht an eine Wirkung ins Weite 
zu glauben. Welch umerhörte Hinterwälderische Keberei, meine Damen!” 


„Eine Möglichkeit, dak es Ausnahmefälle geben könne, habe ich nicht in Abrede 
gejtellt”, jchaltete Hinrich ein mit einer etwas ungewohnten Neigung jeines Oberkörpers 
gegen Adeltraut und Marie. 

„Nun, das gejteh ich!“ ſcherzte Marie mit nediicher Empfindlichkeit. „Während 
die Herren uns in ihre gelehrte Unterſuchung verflochten, beichäftigten ſich unſere 
Gedanken gleichzeitig mit den beiden Herren. Aber weder Sie noch wir beide hatten 
bewußte Vorſtellungen von ſolcher Wechſelſeitigkeit, die Sie, Herr Freiſinger, doch wohl 
auch als eine Wirkung ins Weite werden anerkennen muſſen. Es giebt demnach auch 
ſolche Vermittelungen, welche vom Bewußtſein gar nicht aufgefaßt werden. Ebenſo 
begriffslos pflanzt ſich ja auch der wunderſame elektriſche Funke fort. Bekennen Sie 
alſo, Herr Freiſinger, daß Sie ein himmelſchreiendes Unrecht gegen die umherflatternde 
weibliche Piyche begangen haben. Bitten Sie ſich zur Sühne für diefe Ehrenkränkung 
eine gnädige Strafe aus, mein Herr!” 

„Keine Strafe kann mic) härter treffen, als Nefultate meines reiflich erwogenen 
Urteils für Irrtümer erfären zu ſollen. Ich bin zerknirſcht und das ift ein Triumph, 
den Sie, mein Fräulein, über mein ungejchlachtes Dreinpatichen davongetragen. Ueber: 
zeugt freilich haben Sie mich nicht.” 

Marie ſchritt jetzt munter und mit leichtem Anftand neben der feitanftretenden 
heldenhaften Geſtalt Freifingers einher. Das Brautpaar wandelte voran und entzog 
Nic) in einem Laubgange den Augen der beiden, mit ji) ſelbſt lebhaft beichäftigten 
anderen. 

„So gehören Sie alſo aud) zu den geftrengen Herren der Schöpfung,“ forichte 
— „die von der geiſtigen Energie der weiblichen Seele ſehr unvorteilhafte Anfichten 
yaben ?“ 

„Reineswegs! Im Gegenteil, mein Fräulein! Ich bewundere, ja, id) beneide die 
zähe Straft des Weibes in der Leidensfähigkeit. Kein Mann thut e3 darin dem Weibe 
gleich. Auc im Mitempfinden fremder Schmerzen und Freuden werden wir von der 
ihönen Weiblichkeit beſchämt. Eben das erklärt fi) aus dem elementarijchen Wejen 
des weiblichen Gemütslebens. Es teilt mit der Luft das Streben der Expanſion, hat 
mit ihr den Horror vacui gemein, vermöge dejlen es in jede Falte und Spalte zu 
dringen, alles Leere mit dem eigenen Inhalt zu erfüllen ſucht. Mean hat diefe Eigen: 
ſchaft Neugier geicholten. Das ift grundfalih. Es ift das Bedürfnis des Mlitteilens, 
des Belebens, des Beglückens — mit einem Wort: e3 ift Liebe. Aber freilich bedarf 
dieſes dehnbare Gefühl feſter Einſchränkung in ſichere Bollwerke. Denn ſonſt über— 
ſchwemmt es wie ein reißender Strom ſeine Ufer, oft mit vernichtenden Folgen für die 
in Mitleidenschaft Gezugenen. Darum fingt Saraftro in der Zauberflöte: 


„Ein Mann muß eure Herzen leiten, 
Denn ohne ihn pflegt jedes Weib 
Aus ihrem Wirfungsfreis zu jchreiten.” 


Ein Vertrag. 1271 


„Ihr rechter Pla iſt da, wo fie in gehorjamer Pflichttreue ihre himmlischen 
Gaben auf einem Gebiete entfalten kann, das ihr von Natur, oder wenn Sie lieber 
wollen, vom Schöpfer angewiejen ift: 

„Im häuslichen Kreije 

Da herriche jie weije 

Und rege ohn' Ende 

Die fleißigen Hände, — — — 
Und mehr’ den Gewinn 

Mit ordnendem Sinn.“ 

„Und Fülle mit Schäßen die duftenden Laden,“ fiel Marie mit mutwilligem Pathos 
in tiefen Brufttönen deflamierend heiter ein. 

„Und dreh’ um die jchnurrende Spindel den Faden, 
Und ſammle in reinlich geglättetem Schrein 

Die jhimmernde Wolle, den jchneeigten Lein; 

Und füge zum Guten den Glanz und den Schimmer, 
Und ruhe nimmer.” 

„Und der Vater mit frobem Blid,“ fuhr Hinrich Hingerifjen fort. Aber Marie 
jchnitt dem Citat jeinen weiterlaufenden Faden raſch und bejorgt ab. 

„Halt, mein Herr, nicht weiter! Die Naturgefchichte des Familienidylls,“ erklärte 
Marie fröhlich, „könnte uns zu einer traurigen Kataſtrophe führen, ich meine: 

„Da werden Weiber zu Hyänen 
Und treiben mit Entſetzen Scherz.“ 
Spielen Sie deshalb lieber nicht mit der Gefahr, 
„Denn mit des Geſchickes Mächten 
Aft fein ew’ger Bund zu flechten 
Und das Unglüd jchreitet ſchnell.“ 

Hinrich ſchien indefjen durchaus nicht geneigt, das Thema der naiven Unterhaltung 
ichon fallen zu laſſen. Unerbittlich fuhr er fort, jeine anmutige Begleiterin zu ängjtigen. 

„Ein Mann,” behauptete er, „der nicht in der Lage ift, ſich ſeßhaft zu machen 
und ein Haus zu günden, findet immer Raum genug in der Welt, jeine Gaben, Kräfte 
und Mittel zu gemeinmüßigen Zweden und zu jeiner eigenen Genugthuung zu ver: 
werten. Aber ein umverheiratetes Frauenzimmer —” 

„Kann ſich ebenſowohl müglih und beglüdend beſchäftigen,“ fiel Marie ihm 
wieder in die Rede. „Wüßten, ja ahnten Sie nur, Herr Freifinger, was zum Beijpiel 
meine Freundin Adeltraut für die leidende Menſchheit gethan und erlitten hat! Mancher 
jelbjtgenugjame Herr feijtet mit all feiner ruhmmwürdigen Kraft in feinem ganzen Leben 
nicht halb joviel.“ 

„Fräulein von Trutheimb war Diakoniffe, wie Hoyer mir vorher andeutete?“ 
fragte Hinrich. „Ich habe nur jehr ungenügende Vorftellungen von dem Bflichtenkreije 
und Bildungsgang einer joldyen dienenden Schweſter.“ 

„Nun,“ belehrte ihn Marie, jehr zufrieden, das Zwiegeipräch auf diefen Gegenstand 
abgelenkt zu haben, „eine dienende Schweiter wird nicht bloß für äußerliche Hand: 
reichungen bei der Stranfenpflege erzogen, fie erhält auf fittlich) religiöſer Grundlage 
auc) eine umfafjende wiſſenſchaftliche Ausbildung, die fie befähigt für das Lehrfach, ja 
jogar für den Dienft im Laboratorium und am Nezeptiertiich der Apotheke.“ 

„Wie?! der Apotheke?” rief Hinrich ungläubig. 

„Warum nicht? Yaboratorium und Küche find verichwifterte Wirkungskreiſe. Auch 
die Verwaltung des Magazins und der mannigfaltigen Heilmittel bietet dem weiblichen 
Ordimungstriebe ein gemäßes Feld ftiller Arbeit. Unſere angeborene Neigung findet 
bier reichlihe Nahrung, die Umgebung mit ihrem verworrenen QTaufenderlei in ein 
überfichtliches Syftem umzuſchaffen.“ 

„Syſtem!“ triumpbierte Hinrich und lieh feinen Bid mit wohlwollendem Behagen 
auf der Gejtalt Mariens ruhen. „Syitem! Ja, das ijt die Bajis gejunder Zuftände!” 

81* 


1272 Ein Vertrag. 


„Selbjt mit der Behandlung der therapeutischen Gifte geht eine weiblihde Hand 
vorfichtiger um, als es jonft wohl gejchehen mag. Und Sie wiljen, mein Herr,” ſetzte 
fie jchalkhaft Hinzu, „eine rechte Tochter Evas zählt zu ihren ftillen Neigungen immer 
auch ein bischen Giftmijcherei.“ 

„Giftmiſcherei?“ 

„Wenigſtens ſoweit ein Tröpflein Wermut dienen kann, den Becher der Freude 
zu würzen.“ 

„Aber, mein Fräulein, dringt denn der verderbliche Stoff nicht durch die Poren 
der zarten weiblichen Epidermis in das Blut?“ 

„Das weiß ich nicht, mein Herr. Bleibt etwas an den Fingern hängen, nun, 
das entfernt man durch die nicht mehr ungewöhnliche Anwendung von ätzender Seife.“ 

„So teilen Sie nicht Hufelands Anſicht, Fräulein Ringelin, daß Seife der 
Geſundheit nachteilig ſei?“ 

Dieſe mit wiſſenſchaftlicher Ueberzeugung ernſthaft ausgeſprochene Frage wirkte 
ſo ſtürmiſch auf Mariens Lachreiz, daß ſie die Antwort ſchuldig bleiben mußte. 
Glücklicherweiſe trat in dieſem Moment das Brautpaar ihr aus einem Seitenpfade des 
Buchenhains entgegen. 

„Ihr ſeid ja ſehr luſtig,“ ſagte Henning, der Adeltraut jetzt am Arm führte, 
„Eure Heiterkeit hat uns hierhergelockt, euer Vergnügen zu teilen. Zugleich aber, lieber 
Hinrich, möchte ich dir Adeltrauts Wunſch vortragen, den ich dringend unterſtütze, die 
willkommene Muße zu einigen Mitteilungen aus deiner Vergangenheit zu benutzen.“ 

Marie drückte der Freundin, deren Vermittelung ſie ſogleich richtig deutete, mit 
dankbarem Blick die Hand und vereinigte auch ihre Bitte mit der Hennings. Freiſinger 
erklärte ſich ohne Ziererei bereit. 

„Hennings Verlangen kommt meinem eigenen Bedürfnis entgegen,“ äußerte er. 
„Jahrelang habe ich nach einer verſtehenden Freundesſeele geſchmachtet. Die Anregung, 
mich endlich einmal rückhaltlos ausſprechen zu dürfen, begrüße ich deshalb mit Frenden. 
Henning wird ja Nachſicht üben, wenn ich manches wiederholen ſollte von Einzelheiten, 
die ihm noch aus unſerem Pfeifersheimer Verkehr erinnerlich geblieben ſein mögen. 
Aber ob meine freimütigen Bekenntniſſe den beiden Fräulein Teilnahme abgewinnen 
werden? In meinem abgeſchloſſenen Verkehr mit der Natur iſt mir, wie ich fürchte, 
der rechte Maßſtab verloren gegangen, für das, was man den gejellichaftlich-feinen 
Taft nennt.” 

Dieſem Bedenken traten die beiden Damen entichieden entgegen. Und Henning 
beihwichtigte dasjelbe durch die Erinnerung, daß jeine Braut für den Freund feine 
Fremde jet. 

„Und id, als Adeltrauts Freundin,” fiel Marie eifrig ein, „darf wohl aud 
Anipruch auf einen Bruchteil Ihres Vertrauens erheben, Herr Freiſinger?“ 

Henning hatte die Gejellichaft nad) einem Pla geführt, der von dem Laubdach 
einer alten Buche bejchattet war. inladende Sie umgaben den riefigen Stamm. 
Eben richtete man ſich hier ein, als eilenden Fußes der Rittmeister heranfanı. 


„Unter der berühmten Buche hoffte ich die Gejellichaft anzutreffen“ rief er ſchon 
von fern. „Durch mein mangelhaftes Schadjipiel,“ erzählte er dann, „it für Lady 
Yıcy eine Bartie unglaublich jchnell verloren gegangen. Kapellmeiſter Gieje hat meinen 
Pla übernommen. Meiner HZerjtreutheit danke ich es nun, mich diejer Gruppe in 
jreier Natur gejellen zu dürfen.“ 

Als Hinrich) meinte, jeine Mitteilungen jept doch lieber auf eine andere Gelegenheit 
hinausjchieben zu müſſen, verficherte dev Nittmeifter, ihn habe vorzugsweije der Wunſch 
hergetrieben, Eimblide zu gewinnen in die Schidjale Hinrichs. 


Ein Vertrag. 1273 


„Stand ich Ihnen in Pfeifersheim als Hausfreund nicht jo nahe, als Ihre Vertrags: 
genofjen, mein Intereſſe für Sie ift deshalb doch kaum weniger lebhaft und aufrichtig,“ 
verlicherte er. 

Endlicd) ließ Freifinger jeine zarten Bedenkfichkeiten fallen. Und man jah jeinen 
Mitteilungen allerjeits mit Spannung entgegen. 


„Mein transizendentaler Zelter.” 


Unter diefem Titel kündigte Hinrich Freiſinger feine Gejchichte mit feierlichen 
Ernſt geheimnisvoll an. 

„Die Eigenart jeder menschlichen Berjönlichkeit,” begann er zu erzählen, „entiwidelt 
ih) nadı Maßgabe des individuellen fittlichen Willens. Erziehung und Lehre üben auf 
die Charafterbildung jehr selten beftimmenden Einfluß aus. Wielmehr wird Die 
Erkenntnis nur zur lebendigen Kraft durch perjönliche DOffenbarungen, welche der 
„moralische Weltregent” dem Einzelnen vermöge der Organe finnliher Wahrnehmung 
übermittelt. Aber jelten it das Fallungsvermögen genügend entwidelt, um ſolchen 
natürlichen Offenbarungen Verſtändnis und Aneignung entgegen bringen zu können. 
Deshalb fieht die Menichheit dahin au ihrem Unverſtändnis idealer Intereſſen. Des: 
halb auch ift fie einer weitverbreiteten Seelenſchwindſucht aubeimgefallen und eilt mit 
bedrohlich raſchen Schritten einem allgemeinen fittlihen Ruin zu.“ 

„Unklare Nachklänge aus Fichtes Kritik aller Offenbarung,” erklärte Henning 
jeiner Berlobten flüjternd. 

„Seltjam,” erwiderte Adeltraut ebenſo. 

„Meine eriten Offenbarungen empfing ich jchon im der Kinderſtube,“ berichtete 
Hinrich mit träumerisch verjchleiertem Blid. „Wie viel von meinen jpäteren Erfahrungen 
jich dem helldunfeln Andenken an die frühften Eindrüce beigemilcht habe, das vermag 
id) nicht mehr klar zu unterjcheiden. Aber gewiß tft, daß es meine Mutter war, welche 
die eriten deutlicheren Einblide in eine höhere fittliche Dajein-Sphäre meinen Bewußt: 
jein erichloß. — Die Erinnerung an meine Mutter umhüllt ſich mir mit unentjchleierten 
Geheimnifen. Ihr Mädchennane hieß Ludmilla von Negedly. Sie erzählte gern von 
einigen gelehrten und Ddichteriich wie religiös angeregten Verwandten einer bürgerlichen 
Seitenlinie der Familie Negedly. Mit bejonderer Vorliebe las fie uns aus Erbauungs: 
bichern und Nugendichriften, wie auch Dichtungen eines Oheims Adalbert Negedly vor, 
die ſie fließend aus dem Gzechtichen ins Deutiche zu überjegen verftand. Onkel Adalbert 
jei Dechant und ein anderer Oheim, Johann Negedly, Profeſſor der czechiichen Sprache 
und Litteratur an der Univerfität Prag gewejen, berichtete die Mutter gern. Dem 
direkten und indirekten Einfluß diefer beiden Verwandten ſei jie den beiten Teil ihrer 
geiftigen und religiöjen Bildung jchuldig geworden. Ich weiß, daß die Mutter vor 
ihrer Verbindung mit meinem jeligen Bater ihre Jugendzeit hindurch in ihrer böhmischen 
Heimat gelebt hatte. Aber zu weiteren GEröffnungen über ihre dort gemachten 
Erfahrungen habe ich fie nie zu bewegen vermocht. Auch meine einzige ältere Schweiter, 
Dina, jonjt dem mitterlichen Herzen verbunden wie eine vertraute Freundin, hatte es 
aus Schonung endlid; aufgegeben, nad) der Urjache eines tiefichmerzlichen Zuges zu 
forichen, den die peinliche Erinnerung an uns unbekannte Erlebnifje wohl auf die edle 
Stirn unjerer zarten Mutter eingegraben haben mochte. 

„Menjchen und Spiegel jagten mir, daß meine Kinderlarve wie aud) meine 
Lebensäußerungen, Neigungen und Abjonderlichkeiten mic) damals zum  jprechenden 
Ebenbild meiner Mutter machten. Ich fühlte, daß ich ihrem Herzen innig nahe jtände, 
ob jie zwar ihre Liebe meiner Schweiter feineswegs in jpärlicherem Map widmete. 


1274 Ein Vertrag. 


„Doch ich wollte von dem jittlichen Bildungsgang erzählen, der fi) in meinem 
Bewußtſein durd; wunderbar verwandte DOffenbarungen in ftufenweifer Bermittelung 
vollzog. Das Wunderbare derjelben wird übrigens deshalb ein Begreifliches, weil es 
ftet3 als Iogiihe Notwendigkeit erichien und meiner Charakterbildung zur Förderung 
gereichte. Hatte meine menjchliche Selbftbeherrichung banferott gemacht, hatte wilde 
Verzweiflung mic Hinabgeftürzt bi8 zum Abgrunde der Selbjtvernichtung; dann rettete 
mich jedesmal ein enthüllter Einblid in die lichtvolle Welt des ethischen Geiſtes, oder 
ich wurde durch eine geheimnisvolle Kraft an ein ungejuchtes Ziel getragen, wo ich 
erkannte und erreichte, was mir zur Ergänzung ausgereifter reiner Menſchlichkeit 
mangelte und frommte. — So geftalteten fich jene Myfterien zu Wendepunften meiner 
Lebensbahn. Und der erjte derjelben fällt Schon in mein fiebentes oder achtes Knabenjahr. 


Nach einer wohlverdienten Strafe der väterlichen Zuchtrute ergriff mich jo indische 
Verzweiflung, daß ich im den Garten ranıte umd ohne Belinnung in den Filchteich 
iprang. ALS der Gärtner mich aus dem winterlich Falten Waller hervorzog, zweifelte 
man an der Möglichkeit meiner Wiederbelebung. — Dod einige Wochen jpäter ftand 
ic unter den langjam erlöfchenden Kerzen des Chriftbaums an die Mutter geichmiegt. 
Sie ruhte in einem Sefjel und Hatte ihren Arm Liebevoll um meinen Lockenkopf 
geichlungen. Ich vernahm deutlich jeden Schlag ihres Herzens. — Sp erzählte fie 
halblaut von der erjten Geburtstagsfeter des heiligen Kindleins in der Strippe; wie der 
Himmel ſich erichloffen und Legivnen reiner Engel in leuchtenden weißen Kleidern Den 
ganzen unendlichen Raum erfüllten mit ihrem Liebeshymnus und Friedensgruß. Und 
alle die himmlischen Gejchwifter jeien in Liebe untereinander verbunden. Sie ſeien auch 
die Geſchwiſter freundfid) und artig gefinnter Menſchenkinder, jeien ihre unfichtbaren 
Wächter und Beichüber Naht und Tag. Durch fie nur jei ich wieder ins Leben 
gerufen worden. Sie ſprach auch von dem Erzengel Michael, der auf weißem Hof 
mit flammendem Schwert ausgeritten jei, dem alten Drachen des troßigen Eigenſinns 
und der Gottlofigkeit den Kopf zu Spalten. 

„Die anſchauliche Schilderung wirkte auf mich wie eine Leibhafte Offenbarung, die 
meinen findiichen Troß zu brechen bejtimmt war und mich zu liebevollem, gehorſamem 
Betragen anmahnen wollte. 

„Seit jenem Chriftabend, wo die erjten Lichtſtrahlen mein fittliches Bewußtjein 
erhellten, zog ich mid) in meine eigene Kleine Welt zurüd. Ich befebte fie mir durch 
eine Jonderliche Art von Myfterien, die an freundlichen Sonntagnadymittagen in einem 
entlegenen Teil unjeres großen Gartens gefeiert wurden. Dinas Gejpielinnen bildeten 
darin einen Chor weißgeffeideter Engel mit Lilienftäben. Sie jchlangen einen Reigen 
um den Erzengel Michael, den ich jelbft darftellte — auf einem weißen Nollenpferde, 
in der Hand ein blißendes Schwert. Dazu fangen wir mit fanftem Ton: 

Weihe Mleider ichimmern belle, 
Helle rauchen goldne Flügel; 
Weißes Roß mit Blitzesſchnelle 
Schwingt ſich himmelab zum Hügel. 
Lilienſchweſtern ſinget 
Nun die Engelweiſe; 
Euern Reigen ſchlinget, 
Schwebet loſe, leiſe. 
Eia, Ringelrei! 
Schwenkt die Lilienfahne 
Dreimal ſtill vorbei 
An dem weißen Schwane — 
Heiahei, NRingelreil — 
An dem weißen Schmwane. 

„Diefe Spiele meiner Kindheit gewährten mir die reinften Freuden, die ich je 

genoffen. Noch heute empfinde ich etwas davon, wenn der Anblid einer weißen Lilie 


Ein Vertrag. 1275 


oder ein weißes Gewand mich daran erinnert. — Indeſſen erfüllten ſolche himmliſche 
Bilder meine Phantafie auch als ich älter wurde und jene Myſterien längft aufgehört 
hatten, noch jo ausschließend, daß alles übrige vor ihrem Glanz erblaßte. Mir erjchien 
die Umgebung und das wilde Treiben meiner Schulfameraden jchal und roh. Immer 
mehr verjenfte ich mich in meine innere Anſchauung. Speiſe und Trank jchmecte mir 
nicht. Oft brachte ich die halbe Nacht ohne Schlaf zu. Die Eltern beunruhigte diejer 
Zuftand. Der Bater verjuchte jedes Mittel, mich zu zeritrenen und meinen Neigungen 
eine gejundere Nichtung zu geben. Für meine zwölf Jahre war id) ein übrigens hod) 
und fräftig gewachiener Burjche, nur hatte ich in den letzten Jahren Fürperliche 
Uebungen fait gänzlich vernachläfligt. 

„Auf alle Weile juchte der Vater mich in diefer Richtung anzuregen. Beſonders 
drängte er mid), reiten zu lernen, zu welchem Zweck er verjprad, mir einen Pony zu 
ichenfen. — Eines Tages führte er mich auf den Roßmarkt. Der Weg leitete ung an 
einer Kunftreiterbude vorüber. Eben erjchienen auf dem Balkon des Eingangs bunt: 
ichedige Trompeter und findigten unter aufregenden Gejchmetter den Beginn einer 
neuen Vorftellung an. Der helle Trompetenton erfriichte die erjchlaffte Lebensthätigfeit 
meiner trägen Nerven. Halb überredet, halb angelockt folgte ich meinem Vater in die 
Neiterbude. Der Vater wählte Site, die den Blid auf den Vorplag der Stallungen 
gewährten, von woher die Pferde und die Neitfünftler in die Rennbahn gelangten. 
Das wilde Jagen und Springen, die abgejchmadten Späße der Poſſenreißer — alles 
jtürmte wie ein Höllenbrodem im Hexenkeſſel beängftigend an mir vorbei. Alle liebe: 
vollen Mutzufprüche des Vaters verhalten fruchtlos. Sie, fteigerten nur meinen 
apathiichen Zuftand und die Bellemmungen meiner Bruft. 

„Plötzlich ergriff ich des Vaters Arm. „Dort fteht er!” vief ich mit fliegendem 
Atem. Der Vater folgte meinem nad) dem Vorplatz deutenden Blid. „Wer jteht da?“ 
fragte er geipannt. „Siehft du nicht den Schimmel des Erzengel?” Ich glaube, daß 
der Vater mich bejorgnisvoll anjchaute und für den Schimmel des Erzengels nur wenig 
Aufmerkſamkeit hatte. Er juchte mich zu beruhigen, indem er von dem langen Ber: 
zeichnis der einander folgenden Leijtungen mir vorlas, es werde alsbald Monſieur 
Michael mit feinem in Freiheit dreifierten arabiichen Zelter Amalek an die Reihe fommen. 
— Erregt entriß ich dem Bater den Zettel und überzeugte mich, daß der Name, den 
ich gehört, wirklich daſtand. Ich wußte es ja auch ohnehin, es jei Michael. 

„Die Arena blieb einen Augenblid leer. Das Orchejter intonierte eine feierliche 
Weile. Da jchritt vom Eingang ber elaftiich und mit Würde eine Jünglingsgejtalt bis 
zum Mittelpunkt der Rennbahn vor. Die breite Bruft umjchloß ein weißer gold: 
durchwirfter Koller. Mit ähnlichem Stoffe waren auch die musfulöjen übrigen Glieder 
beffeidet. Um die jchlanfen Hüften wand fich ein goldener Gürtel. Das braune lodige 
Haar hielt ein Diadem gefejlelt. In der rechten Hand trug der Jüngling ein bligendes 
Szepter. Dasjelbe jenkend, verbeugte er fih nach allen Seiten mit Anftand, ohne 
Ziererei. Darauf wandte er ſich dem Eingang mit dem Geficht zu, erhob das untere 
Ende jeines Szepters an die Lippen und es erflang im janften Tongepräge einer Flöte 
ein kurzes melodiiches Signal daraus hervor. Kaum verhallte der letzte Ton, als jener 
Zelter, ein zierlich Tier von arabiicher Naffe, mit leichtem Schwung wie ein Blitzſtrahl 
über die Schranke der Bahn jeßte, ans dem Sprung ſogleich parierte, und ſich wie 
zum Gruß demütig auf die Kniee niederlief. Vom Orchejter, das inzwijchen ſtumm 
geblieben war, erjcholl darauf ein leiſer Paukenwirbel. Derjelbe, unterjtüßt von der 
Wirbeltrommel, ſchwoll zu furchtbarer Kraft immer mehr auf und brach ſich zuleßt in 
einem entjeglich jchwirrenden QTamtamjchlag, welcher von einem dämoniſchen Aufjchrei 
aller Inſtrumente begleitet war und mein Blut erjtarren machte. In dem nämlichen 
Augenblick jtrecte ein jchuppiger Drachenkopf am oberen Teil eines Seitenpfeilers feinen 
weitgeöffneten Rachen in die Arena herein. Michael jchwenkte dem Drachen jein Szepter 
drohend entgegen, und beitieg dann mit den Füßen den umngejattelten Rücken des 


1276 Ein Vertrag. 


fnieenden Zelters. Vorſichtig vaffte ſich dieſer empor, fuhr dann aber mit jo rafender 
Schnelle nad) einer jchmetternden Muſik in der Kreisbahn dahin, daß ich, wie von 
einem Lichtitrahl geblendet, kaum noch zu unterfcheiden vermochte, ob ih Roß und 
Neiter oder nur ihre Scheinfurchen in der Luft erblidte. Der Reiter ſtand in ſchwebender 
Stellung ficher und leicht auf einem Fuße, den Körper nach vorn geneigt und ſchien, 
von jchimmernden Flügeln getragen, zu fliegen. So oft er in die Nähe des Drachens 
gelangte, zücte er demielben das goldene Szepter wie einen Speer entgegen. Mit dem 
Speer traf er ftet3 unfehlbar die Zunge des Ungetüms und ließ als Siegestrophäe 
nad) jedem Stoß einen blutroten Neif an dem hochgeichtwungenen Szepter herniedergleiten. 
„Sc habe dieje Vorgänge ausführlich gejchildert, weil fie für mein Äußeres und 
inneres Leben nacwirfende Bedeutung gewannen. Damals ahnte ich freilih nichts 
dergleihen. Ich wußte nur zuverläffig, daß ich den Belit des wunderjamen Zelters 
erlangen müſſe, mit dem ich mich jeit Jahren bereits aufs engite verbunden wähnte. 
Der Vater war jehr zufrieden, in meinem leidenſchaftlich geäußerten Wunjc das endliche 
Wiedererwachen meiner Lebensenergie zu gewahren. Sp erwarb mein freigebiger Vater 
den Zelter für mid) und mietete zugleich den Stallburjchen, der ihn bisher gepflegt Hatte. 
Bald ſaß ich kunſtgerecht und feſt im Sattel. Der über die platte Fläche des 
Menjchentreibens erhabene Si; der Gehorjam meines verjtändigen Tieres, den dasjelbe 
dem leileften Winf meines Willens unfehlbar entgegenbracdhte; die Schneiltraft jeiner 
elaftiichen Bewegungen, welche die beengenden Grenzen von Raum und Zeit aufhob: 
wie fürderjam wirkten ſolche Eindrüde auf mein Selbitgefühl, auf die Entſchloſſenheit 
zurüc, mit welcher ich dazumal allen Träumereien entjagte, um die Wirklichkeit in ihrem 
mannigfaltigen Wejen und Treiben kennen zu lernen und fie mit durjtigen Zügen in 
mich zu ſaugen! — Damals ſchon wurde e8 mir wahrjcheinlih, daß Menſch und Tier 
unter bejtimmenden Einwirkungen geheimnisvoller Naturfräfte ihre eigenartigen Lebens 
äußerungen und individuellen Bejonderheiten entwideln. Um dieſer VBorausjegung auf 
den Grund zu fommen, las ich bei voranjchreitenden Jahren Werke über Elektrizität, 
Magnetismus, Wärme und Licht, wie über ähnliche Stoffe der Naturforichung. 
Unerjättlicher Lejetrieb hatte mich ergriffen und ich befriedigte denjelben aucd durch das 
Studium der Tageslitteratur und Belletriftif Deutjichlands, Frankreichs, Englands — 
zur Genugthuung meines Vaters, der alle meine auf das jogenannte Praktiſche gerichteten 
Lebensäußerungen mit Vorliebe begünftigte und zu fördern juchte. Er wünjchte, ich, 
jein einziger Erbe, möchte die alte würdige Handelsfirma „Hinrich, Freiſinger und Sohn“ 
dereinft weiterführen und arbeitete mit Gefährdung feiner Gejundheit, um das ausgedehnte 
Geſchäft mir im blühenden Zuftande hHinterlafien zu können. Daß meine jugendlichen 
Neigungen einer ſolchen Zukunft entichieden widerjtrebten, jchien meinem Vater zunächft 
feine abjonderliche Sorge zu machen. — Als er aber nad) meiner Konfirmation meinen 
Widerwillen gegen den Hauptzwed feiner jahrelangen aufreibenden Arbeitjamfeit niemals 
brechen zu können überzeugt jein mochte, janf jein Lebensmut, ſchwanden jeine Hoffnungen, 
erlahmte jeine Thatkraft. Der Tod raffte ihn jchneller dahin, als man vermutet hätte. 
Und jchon während jeines legten SKtranfenlagers mußte die Firma ihre Zahlungen ein: 
jtellen, ein Schlag, der dem Leidenden das Herz brach. — Mein Vater gehörte in allen 
kaufmänniſchen, induftriellen, fommunalen und jozialen Angelegenheiten zu den Vertrauens: 
männern der Stadt. Der Philojoph Fichte und andere Männer der Wiſſenſchaft, die 
mit dem Großvater befreundet geweſen, waren für meines Vaters Geijtesrichtung nicht 
ohne Einfluß geblieben. — Kapazitäten von Belang juchten auch jpäter gern feinen 
Berfehr. Unſer Haus wurde an gediegener Behaglichkeit von feinem anderen überjtrahlt. 
Die ehrwürdige Firma „Hinrich Freifinger und Sohn“ gehörte zu den älteſten in der 
Schweiz; ihr Kredit ftand feit wie Granit und jchien unerjchöpflich wie der Züricher Ser. 
„Das alles war nun wie ein jchlechtes Gedicht mit einem Federſtrich ausgelöſcht 
— der Reſt waren Klagen, Not und jchmerzliches Erinnern. — Tief erſchüttert jtand 
ich an den Trümmern meines jorglofen Jugendglückes. — War es mehr gewejen als 


Ein Vertrag. 1277 


trügeriicher Schein — eitele Sinnestäuſchung? — Gab es überhaupt eine Wirklichkeit 
nad) den Forderungen der Bernunft? — Trug nicht alles den Stempel des Unter: 
ganges und Wechjels, jobald es die Formen des vergänglichen Dajeins angenommen? 
— Gedanken jolhen Inhaltes erfüllten mid) wachend und jchlafend. — Fichtes Lebens: 
anfichten und jeine Weltanichauung überzeugten mich jchon damals, daß auch die 
Menjchheit vom Krebs allgemeinen jittlichen Hinſiechens ergriffen je. — Dazu 
beunruhigte mich eine jchwere Beichuldigung des ältejten Buchhalters unſerer Firma. 
Er hatte meinen Vater aufwachjen jehen und bewährte ſich ſtets — auch bei der traurigen 
Katastrophe — als treuer Freund der Familie. Am Tage der Bejtattung jagte mir der 
alte Mann: „Wenn Sie gewejen wären, wie Ihr Bater in Ihrem Alter war, dann 
wäre das Unglück ficherlich nicht hereingebrochen und unjer verehrter Chef hätte wohl 
nod) lange leben können.“ 

„Erit in unjerer nachfolgenden Einſamkeit fiel diejes Wort mir bleischwer aufs 
Herz. Hatte der Alte recht, jo wäre ja mein troßiger Widerjtand gegen des Vaters 
Willen verantwortlich gewejen für die unglüdliche Wendung, die jeine Kraft bei rüftigen 
Jahren gebrochen und jein Ende verfrüht Hatte. — Wieder ſank ich hinab an den 
Hand der Verzweiflung. Meine Seele zermarterte fid) mit ungelöften Rätſeln — fie 
fand feine Antwort — feinen Troft. Was mid) noch an diejes Phantom fettete, das 
die Menjchen das Leben nennen, war einzig die Pflicht liebevoller Schonung, die ich 
meiner Mutter und Schweiter jchuldete. Mit jolchen düſteren Gedanken der Nat: 
loſigkeit beichäftigt, lag ich nad) einem Bade im Bodenjee am Ufer. Dunkel und ſchwül 
wie mein Inneres hatte ſich auch meine Umgebung in dichten Nebeldunſt gehüllt, der 
mir dag Atmen erjchwerte und drüdend auf Nerven und Sinnen lajtete. 


„Da riß mich aus meinem ftumpfmütigen Hinbrüten plößlich ein hellaufflanımendes 
Leuchten. Das finftere Nebelgewölf öffnete fid) und enthüllte mir ein himmliſches 
Geſicht. In biendendem Glanz mit jchimmernder Nüftung und auf weißen Roſſen 
folgte eine gewaffnete Schar ihrem von ftrahlendem Licht umfloffenen Führer in eng: 
geichlofjenen Reihen zum Kampf gegen zahllojes Getier, das aus dem dämmernden 
Nebelgewühl mit dämoniſchem Troß heulend und kreiſchend wider das himmlische Heer 
heranftürmte. Unter dem Haufen der fümpfenden Tiere bemerkte ic) auch einen Berg: 
adler; der ftieg troßig und ftumm dem Anführer der Streiter auf den lichtweißen 
Pferden entgegen. Aber ihn traf ein FFeuerjtrahl aus den Augen des Erhabenen — 
und der Adler jtürzte föpflings hinab in den Nebelpfuhl. Bei feinem Sturz erfannte 
ic) ihn — er trug die Züge meines eigenen Bildes. — Betäubt brad) id) zujammen. 
Erft nad) wochenlanger Krankheit vermochte ic) meine Erinnerungen, Eindrüde und 
Gedanken wieder zu jammeln und zu ordnen. 


„Was ic) geichaut hatte, fand volle Beitätigung im 9. Kapitel der Offenbarung 
des Johannes. Nach langem fruchtlojen Suchen in der Bibel, die meine Fromme 
Mutter für die Quelle aller Klarheit und wahren Seelenfriedens hielt, entdedte ich 
jene Johanneiſche Weisſagung: „Ich ſahe den Himmel offen,“ — jo etwa las id) dort — 
„und jahe ein weißes Pferd und der darauf jaß, hatte viele Kronen auf feinem Haupte 
und Augen wie Feuerflammen; und ihm folgte nad) das himmlische Heer auf weißen 
Verden, angethan mit weißer und reiner Seide. Vögel, die unter dem Himmel fliegen, 
das Heer des Tiers, rebelliiche Könige: fie alle erwürgte das Schwert deſſen, der auf 
dem weißen Pferde ſaß. Sein Name heifet Treu und Wahrhaftig, der da ftreitet und 
richtet mit Gerechtigkeit. Das Tier aber und der faljche Prophet wurden in den Pfuhl 
geworfen, der mit Schwefel brannte.” 


„Der hier gejchilderte Titanenfampf der Gejchaffenen wider den Schöpfer tobte 
auch in meiner eigenen Bruft und war mir in der Viſion am Bodenjee verkörpert vor 
Augen getreten. Die apofalyptiiche. Beitätigung machte mir nun meinen perjünlichen 
Zufammenhang mit dem Univerſum Far und führte mich zu eifrigen Studien der 





1278 Ein Vertrag. 


bibliichen Bücher. Doc auch hier fand ic) feine Antwort auf die quäfendften Fragen 
meines fittlichen Bewußtjeins. Fichtes Schriften, vorzugsweile feine Kritif aller Offen: 
barung, erflärten mir zwar manches Rätjel; ich begriff, daß der allgemeine Kampf Die 
Menjchheit immer mehr entjittliche und die moraliiche Erkenntnis zu ihrer Entwidelung 
perjönlicher Offenbarungen des fittlichen Weltgeiftes bedürfe, wie fie mir wiederholt zu 
teil geworden waren. Uber wie die Philojophen, jo konnten auch ärztliche Meifter der 
Seelenheilfunde weder auf die nächitliegenden Fragen genügende Auskunft geben, noch 
gar mir den befriedigten, Fampflojen Zuftand bereiten, nach welchem id; mich mit 
wachſendem Berlangen jehnte. Endlich juchte ich Frieden im der jchönen Kunft. Doch 
jah ich damals nicht ein, daß fie ihren tiefen Goldſchacht nur denen erichließen könne, 
die ihr ganzes Weſen jelbjtlos und liebevoll darein verjenten. Ich war nicht ein jolcher 
einfahrender Bergmann gewejen. Deshalb ſchien auch mein erjter theatraliicher Verjuch 
jogleidh das Ende meines ganzen Künftlertums werden zu jollen. Henning war Augen: 
zeuge jener Kataftrophe und wird jie gelegentlich richtiger jchildern können, als ich 
jelbjt e8 vermag.“ 


Henning verſprach e3 und erinnerte den Erzähler an feine derzeitigen Entſchlüſſe 
der Verzweiflung, die er glüclicherweije nicht ausgeführt habe. 


Hinricd bite zur Erde. „Der geftürzte Bergadler wollte ſich losketten von der 
fajtenden Körperlichkeit,” jagte er finfter. „Im lauterer Form eines freigewordenen 
Geiftes hoffte er aus dem Nebelpfuhl nichtigen Scheines zum reinen Licht empordringen 
zu können. Mit ſolchen Gedanken verließ ich nad) jener Szene im Theater meine 
Wohnung. Sturm und Mondfchatten begleiteten die erften Schritte meiner nunmehr 
folgenden Wanderſchaft. Dämmerlicht Hillt mir noch Heute meine eigenen Spuren 
vielfady ins Ungewiſſe.“ 


„Nachdem ich mich von der Stadt weit genug entfernt glaubte, um ohne Zeugen 
zu bfeiben, bereitete ich mich zu meiner, wie ich wähnte, legten That. Noch einmal 
blickte ich mit Bitterfeit hinaus in die Welt trügeriichen Scheins, jenes Ungeheuer, das 
ſich jelbjt immer erzeugt, um fich jelbjt zu verichlingen, ein riefengroßer Schutthaufen 
zertrümmerter Luftſchlöſſer, enttäufchter Hoffnungen, vereitelter Beftrebungen! — — — 
Weißes Gewölf floh vor dem Sturm dahin, gejpenftiich, wie die wilde Jagd vom Heber 
gepeitiht. Zitternde Mondlichter jchlüpften um mich her, gleich abgejchiedenen Seelen, 
die ihren neuen Gejellen begrüßten. Ich komme, ihr bleichen Mahner, ſprach id) 
entjchlofjen und rüftete die Waffe. In dieſem Augenblid lähmte meinen Arm ein 
Anblid, der mein Herz von Grund aus erichütterte. Auf der gegemüberliegenden Höhe 
des Hohlweges im Walde erjchien mir das Bild meiner Mutter mit allen Gebärden 
qualvoller Angſt und flehender Mahnung. Die ergreifende Ericheinung zerriß plötzlich 
den Vorhang blinder Selbjtiucht, der mir bisher das Verftändnis der opferfreudigen 
Mutterliebe entzogen hatte. Erniedrigte ſich doch die vornehme zarte Fran jchon ſeit 
Sahren zu mühſeligen Kranfenwärterin-Dienften, um die Mittel meiner künſtleriſchen 
Ausbildung zu beichaffen. Und ich, nad) des Vaters unglücdlichem Ende ihr Lebenstroft, 
die einzige Hoffnung ihres Alters, was Hatte ich je gethan, um ihr ein dankbar Herz 
zu zeigen? was war ic) jet gar im Begriff zu thun? Bon folchen Gedanken als mit 
Fieberfroſt durchſchauert, ſank ich auf die Kniee. Auf einem Feldftein wie auf dem 
Betichemel ruhten Kopf und Hände. Bußfertige Negungen, opferfreudige Gefinnungen, 
thatkräftige Entichlüfje wogten durch meine Seele. Ich wollte die erfahrene Demütigung 
als heilfame Lehre nüßen, wollte meine gelammelte Kraft dem Studium meiner Kunſt 
fortan ernfter al3 je widmen und einzig dahin jtreben, meiner Mutter und Schweiter 
die zuverläffige Stütze zu werden, die in meiner Energie zu finden fie den gerechten 
Anſpruch hatten. In jolche Bußgelübde wirrten fich liebliche Erinnerungen aus meiner 
glüdlichen Kinderzeit. 


Ein Vertrag. 1279 


„Weihes Rob mit Blikesjchnelle 
Schwingt ſich himmelab zum Hügel“ 

ang das holde Saitenjpiel der zurüchchanenden Seele. Und, war es ein phantaftiicher 
Traum, war es Wirklichkeit? ich weiß es nicht: aber ich fühlte mic) von dem düſtern 
Ort, wo ich ein Verbrechen hatte begehen wollen, hinweg gerifien und in eine reine 
Lichtiphäre wunderfam emporgetragen. Die Transmiffionskraft, welche mid) entrüdte, 
erichien mir in der Geftalt meines ehemaligen Zelters Amalek, nur größer und Fräftiger 
entwidelt, als habe das edle Nok im Wachstum mit mir gleichen Schritt gehalten. 
Wie Amalek vormals über die Schranke der Reitbahn, jo ſchwang diejer jeltfame Zelter 
fich über eine Dornhede, jo ließ er fich grüßend vor mir auf die Kniee nieder. Mit 
ſtrahlenden Augen fchaute er mich an; jeine rofigen Nüftern zitterten wie flüjternde 
Lippen; jein Atem jänjelte, als wolle er mir einen Gedanken zuraunen. Kein Zaum, 
fein Sattelzeug bejchwerte die Fräftigen Glieder. Gleichwohl konnte ich der Verſuchung 
nicht widerjtehen, mic) dem lockenden Sig anzuvertrauen. In demjelben Augenblid 
erhob fic) das Roß und trug mich mit betäubender Schnelligkeit von dannen. Bald 
fühlte ich in jonniger Luft mid) umrauſcht von melodienfüßen Harmonien. Feierlicher 
Reigen lorbeergefchmücter Meifter der Töne umkreiſete den Blumenthron einer hehren 
Frauengeftalt. Eine goldene Lyra mit ſchimmernden Saiten ruhte ihr im Arm. Mit 
leuchtenden Fingern entlocdte ihnen die Erhabene heilige Weijen und jtreute fie ver: 
ſchwenderiſch hinab auf ihre laufchenden Priefter. Jede Luftwelle drang mir ins Herz 
wie Elingender, fingender Liebesoden.” 

„Wunderbar!“ flüfterte Abdeltraut, als der Erzähler verſtummte. 

„Himmliſch!“ verbefferte Marie ſchwärmeriſch. 

„Daß mic dieſes Geficht,“ fuhr Hinrich fort, „in meinem Entſchluſſe ſtärken 
wollte, auch meinerſeits der grünen Ehrenfrone wirdig zu werden und mid) dereinft 
dem Reigen der huldigenden Meifter anſchließen zu dürfen, daran habe id) nie geziweifelt. 
Sch weiß nicht, ob ich das Gejchilderte wachend oder träumend erlebte. Aber jeit 
jener Zeit weiß ich, daß alles Vergängliche nur als Gleichnis, nur in feiner ſymboliſchen 
Beziehung auf Unmvergängliches Bedeutung habe.” 

Den Nittmeifter berührte das Phantaftiiche in Hinrichs Erzählung peinlich. Mit 
ungläubiger Miene fragte er, ob die alte Buche, welche ſchon jeit Jahrhunderten ihren 
Schatten jpende, nichts weiter jei, als ein Gleichnis oder Sinnbild. 

Hinrich Hob einen dürren Aft vom Boden. „Der,” wandte er ſich zum Rittmeifter, 
„grünte einft als lebendiges Reis in der mächtigen Laubfrone über uns. Werfen Sie 
den Alt ins Feuer, nehmen Sie Art und Säge, zerlegen Sie die Buche in Scheite, 
verwandeln Sie aud) dieje in Ajche, wo bleibt dann der Hundertjährige Baum mit 
jeinem fühlen Schatten? Worin befteht denn nun die Wirklichkeit dieſes ſtolzen 
Baumes, den jeder Tölpel zerbrechen kann, wie das Kind feine Puppe? Aber der 
Schatz, den ich im Schrein meiner Gedanfenwerfjtatt trage, läßt ſich nicht verwandeln; 
ich jelbft vermag ihn nicht zu zerftören. Doch er läßt ſich durch Mitteilung verewigen. 
Deshalb trägt er die Marke des Umvergänglichen und lehrt mich, was in Wahrheit 
das MWirkliche jei. Indeſſen zurüd zu meinen Erlebnifjen!” 

„Als ich mit ermatteten Kräften mich jelbft wieder wahrnahm, lag id) auf einem 
Ruhebett in einem behaglich ausgejtatteten Gemadh. Die Wunderwelt, in welcher ic) 
geweilt, erfüllte noch all mein Denken und Fühlen. Vermutlich hatte ich meine jeligen 
Erfahrungen im halbbewußten Selbjtgejpräh in die Erinnerung zurüdgerufen, als 
erzählte ich fie meinem zweiten Ich. Mein Zuftand mußte wohl ein jehr exraltierter 
fein. Denn e3 erjchien mir durchaus nicht auffällig, daß jenes mein zweites Ich in 
feibhafter Geftalt an meinem Lager jaß und mic) anftarrte mit meinen eigenen ſchwarzen 
Augen. Ich wunderte mic anfangs nicht im mindeften, daß der Eindrud der Erjcheinung 
im Ganzen wie in allen einzelnen Zügen mir genau übereinzuftimmen jchien mit dem 
Bilde, das ein Spiegel mir von meiner eigenen Perfönlichkeit entgegenftrahlt. Mid) 


1280 Ein Vertrag. 


beichäftigten ausjchließend die Gedanken an das Wunderreicd; der Töne und an Den 
leuchtenden Pegaſus, der mich dazu emportrug. Wohin mochte derjelbe entkommen ſein? 
Auf dieſe vernehmlic) geäußerte Frage, hörte ich plößlic” mit meiner eigenen Stimme 
in gleicher Klangfarbe mit dem nämlichen Tonfall neben mir antworten: 

„Mein Kuticher machte mich aufmerkſam auf einen ſeltſamen Lichtjtreifen, der 
pfeiljchnell am Firmament dahinſchoß und fich im Gewölf des Horizonts verlor. Dieje 
Erſcheinung erklärt fih mir nad deinen Enthüllungen nun auf die einfachite 
Weile: es war ohne Zweifel dein transjcendentaler Zelter, dein verflärter Amalef, 
mein guter Hinrich.“ 

„Berwirrt und entjeßt betrachtete ich nun den Sprechenden. War id) es jelbit? 
war e3 ein andrer? ch rieb mir ratlos die Stirn. Ihn jchien das nicht zu ftören. 
„Du jchenktejt dein Vertrauen übrigens feinem Unwürdigen,“ tröjtete er, „da du mir 
jo tiefe Einblide gewährtejt in deine übernatürlichen Offenbarungen. Nachdem du mid) 
geitern gewürdigt, Brüderjchaft mit mir zu machen, habe ich aber ja einigen Anſpruch 
auf dein freimütiges Vertrauen erworben. Jetzt zerriß die zu ſcharf geipannte Sehne 
meiner Geduld; vor Erregung bebend herrichte ich ihn an: Menſch, wer bift du? was 
belaufcheit du meine Geheimniffe? wodurch erlangteft du die angemaßte Nachäffung 
meiner eigenen Gejtalt und Perſönlichkeit? „Ein höchſt albernes Spiel des Zufalls,“ 
antwortete er leichtfertig, „eine Neminiscenz, wenn du willit: ein Plagiat; Beweis 
genug, daß auch in der Werkitatt der Natur die Originalität ihre Grenzen finde, daß 
aud) dort nad) Schablonen gearbeitet, nad) vorrätigen Modellen zufammengejtoppelt werde.“ 

„sc bedurfte lange Zeit der Sammlung, bevor ich diefe unheimliche Ericheinung 
als einen Menjchen von Fleiſch und Blut zu begreifen vermochte. Er glid) mir wie 
ein Zwillingsbruder, der ich doch der einzige Sohn meiner Eltern war und einen 
Bruder nie gehabt hatte. ch fühlte mich unter einem gewiſſen Bann dieſes rätjelhaften 
Geſellen, der die Fähigkeit zu haben jchien, vom Grund meines verborgenften Seelen: 
lebens die perjönlichhten Vorgänge und Geheimniſſe abzulefen. Das alles machte mic) 
jo verwirrt, daß ich anfangs von dem was vorging nichts klar zu begreifen vermochte. 
Wie ich in dieje Gejellichaft geraten, erfuhr ich erit, als ich Europa weit im Rücken hatte. 

„sojef Böhm nannte fich mein jeltiamer Doppelgänger. Er war amerikanischer 
Bürger, artiftiicher Leiter der deutjchen Oper zu Newyork und als jolcher nad) Deutſch— 
land gefommen, um jeinen Opernverband durch einige neue Mitglieder zu ergänzen. 
Zu dieſen gehörte eine treffliche Sängerin Lätitia Brücdmann, Tochter eines waderen 
Dorfichullehrers, der mic im jein Haus aufgenommen hatte, als Landleute mich in 
bewußtlojem  jtarrframpfartigen Zuftande angeblich im Walde aufgefunden. Yätitia 
befand fid) eben bei den Ihrigen, um Abjchted von ihmen zu nehmen. Hier holte 
Böhm fie mit einem Mietwagen ab und war erfreut, mid) unverhofft anmwejend zu 
jehen. Wie er jpäter berichtete, hatte er meinem ſo Eläglichen Debüt beigewohnt, ſich 
durch dasjelbe jedoch nicht abgeſchreckt gefühlt, mir einen Platz in jeiner Operngeſellſchaft 
anzubieten. Mein Streben richtete ſich auf Schünheitsideale, für welche ih nur in 
Deutjchland volles Verſtändnis finden zu fünnen glaubte. Deshalb Iehnte ich Böhms 
Antrag ab. Wie es gelang, meinen Widerftand zu überwinden, weiß ich nit. Schlaf: 
jucht und Schwäche im Kopf, welche Böhms Theaterarzt, Doktor Roberts, mit ſehr 
angreifenden Mitteln zu bekämpfen juchte, trugen wohl bei, mich zur Unterjchrift eines 
dreijährigen Kontraftes zu vermögen. Erit in Newyork erlangte ich durd eine geregelte 
Kur und Lebensweile den vollen Gebraud; meiner geiftigen und körperlichen Kräfte 
wieder und begriff dann erjt im ganzen Umfange die Vorgänge, welche mich zum 
verpflichteten Meitgliede der Oper in der erjten Stadt des Yankeelandes gemacht hatten. 

„Der Inhaber und geichäftliche Leiter diefer Kunftanftalt, ein eingefleischter Amert: 
faner, hieß Mijter Jamesjon. Der betrachtete die öffentliche Bühne lediglich als Geld: 
preſſe. Idealgerichtete Bejtrebungen verhöhnte er. Er nannte fie unpraftiihen Humbug. 


Ein Vertrag. 1281 


Mein unheimlicher Duzfreund Joſef Böhm hatte ihm gegenüber feinen leichten Stand 
mit jeiner höheren Auffallung der Kunſt umd ihrer Zwede. Böhms forporalmäßig 
gehandhabte Negie ſchien erfahrenen Mitgliedern übrigens manchmal an etwas dilettan- 
tiicher Unficherheit zu leiden. 

„Mit Zittern und Zagen betrat ich zum erjtenmal vor dem faltherzigen Publikum 
die Bühne, ein Gefühl, das ich nie zuvor gefannt hatte, auch nicht bei meinem verun: 
glücten erjten theatraliſchen Verſuch in Deutichland. Mic, drücdte die Schwere der mir 
bewußt gewordenen Verantwortlichkeit gegen mein Ideal einer jchönen Kunftleiftung, 
das zu erreichen ich mich unvermögend wußte. Aber eifriges Studium und voller 
Sonnenschein unverdienter Volksgunſt befruchtete bald die Keime, welche aus dem Samen 
jtrenger Schulung hervorgeiproßt waren. Allgemach erwarb ich mir jene Sicherheit, 
die der Begeifterung die Schwingen löjet und den hohen Genuß gewährt, die von den 
Miasmen des Nebelreiches angekränfelte Seele gefund zu baden im reinen Aether der 
ihönen Form und ihrer Daritellung. 

„Als nad) Verlauf der erjten Jahre volle Häuſer und Tageskaſſen ſeltener zu 
werden anfingen, nötigte Jamesſon ſeinen Mitleiter, ſittenverderbliche ſogenannte Zug— 
ſtücke auf das Repertoir zu ſetzen. Auch ich mußte ſolches Joch des zum Schwefelpfuhl 
verdammten falſchen Propheten unweigerlich auf meine Schuldern laden. Zu dieſen 
Widerwärtigkeiten geſellten ſich andere, welche der Verkehr mit der geſinnungsloſen 
Operngeſellſchaft im Gefolge hatte. Böhm verſammelte die Genoſſen gern nach der 
Oper zum Kartenſpiel, in welchem er und auch der fatale Doktor Roberts ſo 
viel Glück und Geſchick entwickelte, daß den beiden dasſelbe zu einer einträglichen 
Erwerbsquelle wurde. Mein Verhältnis zu den Genoſſen und inſonders zu Böhm 
nötigte mich zur Teilnahme an ihren nächtlichen Orgien, die mir immer unerträglicher 
wurden. 

„Auch Lätitia war des wüſten Treibens und nächtlichen Kartenſpiels mit den 
leichtfertigen Kunſtgenoſſen längſt überdrüſſig geworden. Namentlich war der unver— 
meidliche Theaterarzt, Doktor Roberts, ihr ſo ſehr zuwider, daß ſie ihn bei jedem 
Anlaß ihre Verachtung ungeſcheut fühlen ließ. Seinen Aerger darüber ſteigerte ſie 
durch verletzenden Spott immer mehr zum Haß. Lätitiens Verhalten zu Joſef Böhm 
war von Anbeginn ein abwehrendes. Sie gab mir zuweilen zu verſtehen, daß ſie ihn 
ſchon lange kenne, daß er nicht ſei, was er ſcheine; und wenn ſie nur ſprechen dürfe, 
würde ich begreifen, warum ſie mich vor gar zu vertrauensſeligem Verkehr mit Böhm 
warnen müſſe. Sie wollte ihn mir verdächtigen als einen falſchen jeſuitiſchen Charakter, 
der meine Arglojigfeit, wie fie meinte, zu jelbitfüchtigen Zwecken auszubenten verftehe. 
Ich hatte dergleichen Abjichten in Böhms Betragen nicht entdeden können. Vielmehr 
begegnete er mir mit einer rücjichtsvollen Auszeichnung und Ieiftete meinen künstlerischen 
Beitrebungen und Erfolgen jo viel fürderfamen Vorſchub, daß ich ſolche Beweije auf: 
richtiger Freundſchaft nur aufs Wärmſte erwidern konnte. Dabei traten freilich manche 
Charakterzüge in ihm hervor, die mir keineswegs ſympathiſch waren. Seine Wahrheits— 
liebe mochte wohl manchmal zu leiden haben unter ſeinen weltmänniſchen Verkehrsformen; 
ſeine angeborene Herzenswärme unter der praktiſchen Lebensklugheit, mit welcher er ſeine 
perſönlichen Zwecke rückſichtslos zu erreichen ſuchte. Ueber Lätitia ſchien er eine 
Herrſchaft zu beſitzen, der ſie ſich nicht zu entziehen vermochte, ſo lange ſie in dem 
gegenwärtigen Abhängigkeitsverhältnis zu dem artiftiichen Leiter der Oper ſtand, obzwar 
jie Böhms Bertraulichkeiten ſtets mit Entjchiedenheit zurüchvies. Aber fich feiner Tyrannei 
bei erſter Gelegenheit zu entziehen, hatte Lätitia längſt beſchloſſen. Und wir beide 
wären wohl damals zuſammen nach Europa zurückgekehrt, wenn nicht Miſter Tornhill, 
der die Oper zu Baltimore im Sinne eines gewählten klaſſiſchen Geſchmackes leitete, 
uns nach Ablauf unſerer Verbindlichkeiten gegen Mr. Jamesſon durch glänzende Be— 
dingungen permocht hätte, unſere Heimreiſe aufzugeben, um in den Verband der deutſchen 
Oper zu Baltimore ſogleich mit vierjähriger Verpflichtung einzutreten. 


1282 Ein Vertrag. 


„Wie aus dem Bann erlöjet, erflomm ich unter den glüdlichen Umftänden zu 
Baltimore raſch die Höhe meines fünftleriichen Dajeins. Erfolgreich ftrebte Lätitia mit 
mir hinan. Die Salons der reichiten Mäcenate erichloffen jich uns; wir galten bald 
als „celebrated Performers* nicht nur in der Oper, jondern aud) auf den Gebieten 
des KKonzertgefanges, Dratorios und deutjchen Liedes. Unſer Fünftleriiches Zujammen- 
wirken führte auch einen engeren perjünlichen Verkehr herbei. Und da man uns viel 
zufammen ſah, bemächtigte ſich dieſes harmlojen Verhältniffes endlich die öffentliche 
Klatſchſucht. — Eines Tages empfingen wir von Bekannten und Unbefannten Glück— 
wünſche zu unjerer angeblichen Verlobung — an die weder Lätitia noch ic) wohl jemals 
gedacht hätte. Es ergab ſich, daß ein vorlauter Zeitungs:Schwäger unjere Brautichaft 
als befannte Thatjache dem öffentlichen Gerede preisgegeben hatte. — Wollte ih auf 
den künftleriichen Verkehr mit der Freundin nicht verzichten, und den unbejcholtenen 
Huf des Mädchens nicht grundloſen Berdächtigungen ausjegen, jo mußte ich Die 
Stlätjcherei wahr machen. So bejtimmte mich jener plumpe Reporter, mic mit Lätitien 
wirklich zu verloben.“ 

Henning wechjelte einen bedeutjamen Blick mit Adeltraut. Marie bemerkte denjelben 
und jcherzte beziehungsvoll: 

„Ein Eheprofurator wider Willen — ein enfant terrible! — Dergleichen Beijpiele 
jollen häufiger vorkommen.“ 

Hinrich richtete auf die Gruppe einen leeren Blid, der bezeugte, daß Mariens 
Meinung ihm ganz unverftändlich jei. — Aus feinen Andeutungen über jeinen Braut: 
ſtand ließ ſich erkennen, daß der poetiiche Hauch desjelben bei feiner näheren Einficht 
in Lätitiens Wejen doch jehr geichwunden jei. Die praftiichen Erfolge ihrer Kunſt 
erfüllten immer ausjchließender Lätitias Streben, je höher die Erträge fich fteigerten, 
welche fie erzielte. Sie fing an mit Kapitalien zu spekulieren und jchalt ihren Ber: 
lobten, der mit jeinen Ueberſchüſſen gern unbemittelten Freunden half, einen leichtſinnigen 
Verſchwender. Sie führte Szenen leidenſchaftlicher Auseinanderſetzungen herbei, die 
Hinrich endlich damit beendigte, daf er mehrere Summen jeiner Braut zur Verwaltung 
überließ, um diejelben — wie jie jagte — für ihn zu retten. — Doch aud) Hinrichs 
Verſuche, auf die künſtleriſchen Lebensfeime Lätitiens leitend und fürdernd einzumirken, 
reizten nur ihren Troß und endeten gewöhnlich mit vulfanischen Ausbrüchen der 
Leidenſchaft. 

Während der Zeit ſolchen fruchtloſen Streitens und Ringens trat eines Tages 
Joſef Böhm in Hinrichs Wohnung, gratulierte zur Verlobung und beteuerte, daß es 
ihm in der Trennung klar geworden ſei, wie unfähig er ſich fühle, den gleichftrebenden 
Freund länger zu entbehren. Miſter Jamesjon habe mit jeinem Wahliprucd „Geld 
ift das Blut des Geſchäfts“ wenig Glücksgewinn erzielt, jeitdem er Freiſinger und 
Lätitia, jeine tüchtigften und folideften Mitglieder, verlieren mußte. — Joſef jei des 
jämmerlichen Treibens endlich ebenfalls müde geworden und preije ſich glüdlich, von 
Mifter Tornhill in deſſen Opernverband aufgenommen worden zu fein. Auch Doftor 
Noberts war dem Freunde Hinrichs wie jein Schatten nad) Baltimore gefolgt und als 
aſſiſtierender Theaterarzt angejtellt worden. 

Bon jetzt an befand ſich Böhm täglicd) in Hinrichs Gejellichaft. Bald übernahm 
er die Verwaltung der Einnahmen, die dem beliebten und gejchäßten Sänger immer 
veichlicher zuflofjen. Unter Böhms Händen vermehrte ſich das Kapital ungleich jchneller, 
als es durch Lätitiens Maßnahmen geichehen war. Ahr altes Mißtrauen gegen Joſef 
erwachte aber in gefteigertem Grade, da fie jah, wie jorglos Hinrich eine Summe nad) 
der anderen in Böhms Hände legte. Indeſſen beftand diejes Verfahren ohne bedenkliche 
Zwijchenfälle mehrere Jahre mit gutem Erfolge fort. 

Eines Tages erklärte Joſef, es biete ſich eine günftige Gelegenheit dar, durch die 
gering verinterejfierten Staatspapiere, welche Yätitia mit ihrem eigenen und mit Hinrichs 
Gelde angefauft habe, ein glänzendes Gejchäft zu effeltuwieren. Er wußte diefe Ausficht 


Ein Bertrag. 1283 


jo lockend anzupreifen, daß Hinrich jich für den Plan begeifterte. Aber das Anfinnen, 
Yätitia ſolle die Wertpapiere ausliefern, ſtieß auf gewaltigen Widerjtand. Das 
cholerijche Mädchen ergoß ihre ganze Entrüftung über Böhm und ihren „leichtſinnigen“ 
Verlobten. Sie reizte damit aber nur Hinrichs Eigenwillen. Es kam wieder zu einem 
Ausbruch der heftigſten Leidenfchaftlichkeit. Lätitia verweigerte aufs Entjchiedenfte die 
Herausgabe nicht nur ihres, jondern auch des ihrer Obhut anvertrauten Eigentums 
ihres Bräutigams. An dieſen Notpfennig erklärte fie durch ihre Beziehung zu jenem 
gerechten Anſpruch erworben zu haben. Das Geld bleibe zwar jein Privatbejig. Aber 
bei jeiner Unmündigkeit jei fie berufen, es für ihn und die fünftige Begründung ihres 
Hauſes zu retten. Wolle Hinrich jein ſonſt Erübrigtes zum Fenſter hinauswerfen, jo 
könne fie ihn daran nicht hindern. Mit jolcher Scylußwendung verließ Yätitia das 
Zimmer, warf die Thür frachend Hinter ſich ins Schloß und Hinrich — jah fie nie wieder. 

Sie lieh fich bei der Opernregie franf melden und Böhm jandte ihr den Doktor 
Roberts, der ein hitziges Fieber fonjtatierte. Von einem Mlittel, weldjes er verordnete, 
wurden der LZeidenden einige Gaben nad) Vorſchrift eingeflößt. Zu klarem Bewußtjein 
zurücgelangt, weigerte fie ſich jtandhaft gegen die fernere Behandlung des ihr verhaßten 
Arztes. Und ein anderer mußte denjelben erjegen. — Jenen legten Sturm in Hinrichs 
Wohnung überlebte Lätitia indejien kaum vierzehn Tage — eine Zeit qualvoller Selbjt- 
vorwürfe fir Hinrich, deſſen Bejuche die Leidende fich verbeten hatte. Einige von 
Lätitien noch in der legten Stunde ihres Lebens mit zitternder Hand gejchriebene ver: 
ſöhnliche Abjchiedsworte gojien Balſam in jeine brennende Wunde. 

Nach Lätitiens Beſtattung, deren Tod viel von fich reden machte, jandte Joſef 
Böhm den Baarbetrag ihres Vermögens und den Erlös ihrer beweglichen Hinterlafjen: 
ichaft an ihren Bater, den Lehrer Brückmann. — In jeiner Trauer ließ Hinrich alles 
geichehen. Joſef lenkte ihn wie ein teilmahmlojes Kind. Seine Wertpapiere, welche 
Yätitia verwaltet hatte, überlieferte Hinrich dem Freunde, der verſprach, fie einträglic) 
anzulegen. Uebrigens zahlte Joſef zumeijt die Ueberſchüſſe jeiner Spekulationen richtig 
an Hinrich aus und jorgte dafür, daß diejer einen erheblichen Teil jeines Vermögens 
jtetS zur Verfügung hatte. 

Sp ging es geraume Zeit fort. Da trat Joſef eines Tages haſtig in Hinrichs 
Zimmer mit einer Nachricht, welcher diefer in feiner trauernden Gemiütsverfaflung nur 
oberflächliche Aufmerkſamkeit ſchenkte. Joſef las ihm aufhegende Zeitungsartikel vor 
und behauptete, infolge deſſen habe die Börje eine kopfloſe Panik ergriffen — ein 
günftiger Moment, daß ein jehr reicher Mann werden könne, wer Mittel und Befinnung 
genug zu feiner Verfügung hätte, in diefem Augenblid der tiefften Baiſſe zu faufen, 
was irgend Wert im Kurſe beſäße. Man könne ficher erwarten, das Vertrauen werde 
ſchon in wenigen Tagen ſich wieder jchwunghaft heben. Denn die ausgejtreuten 
Tendenzlügen wirden gewiß; bald dementiert werden. Hinrich verficherte, daß nach 
Lätitiens Ableben der Befit ohnehin keinen Wert mehr für ihn habe. Er erklärte ſich 
jofort bereit, dem Freunde jeinen baaren Vorrat an Geld und Geldeswert zu behändigen. 
Aber Joſef Böhm wies einen nicht unerheblichen Reſt zurüd, weil Hinrich ſich nicht 
vollends entblößen dürfe. Ueber die größeren Summen jtellte er Empfangsbejcheinigungen 
aus und nahm fie unter den zuverfichtlichiten Verſprechungen auf unglaubliche Erträge 
mit ſich hinweg. 

Seitdem ſah Hinrich auch ſeinen Freund Joſef Böhm nicht wieder. Aber nad) 
einigen Tagen erhielt er durch die Post ein kurzes Billet von jeiner Hand, das ihn 
völlig beruhigte: Böhm hätte fi) und Hinrichs Vermögen in Sicherheit bringen müſſen, 
weil man ihm verraten habe, daß ſchlechte Menjchen ihn in den Verdacht zu verwickeln 
beabfichtigten, als jtehe er mit den aufwiegelnden Zeitungsartifeln und ihren verhängnis: 
ſchweren Folgen in maßgebender Beziehung. „Daß diefe Verleumdung mich, von 
Unglück überall heimgejuchten, unjchuldigen Narren treffen muß, kann mid) kaum über: 
raſchen. Wir beide, mein Bruderherz, willen, wie mir miteinander daran find. Das 


1284 Ein Vertrag. 


tröftet mich. — Dein Geld werde ic) ficher anlegen. Eile zu mir. Im Bahnhofhotel 
zu Chicago wirft du von mir hören. Dein treuer Joſef.“ 

So ſchloß der Brief. 

Bei der ohnehin lähmenden Gejchäftskrifis hatte der Drud auf die Kurſe empfind- 
liche Verlufte und Zahlungseinftellungen herbeigeführt. Die erbitterte öffentliche Meimung 
forderte eine Beltrafung der Urheberichaft jener ftiliftiich gewandt und überzeugend 
gejchriebenen Lügenberichte. 

Der Verdacht traf eine erhebliche Anzahl von Berjonen, die der Sache ihrer 
Mehrzahl nad) ganz fern ftanden. Gleichwohl zog man fie in Unterjuchungshaft, um 
durch thätiges Vorgehen die aufgeregten Gemüter zunächſt wenigſtens etwas zu beruhigen. 
Auch Hinrich Freifinger erhielt zum Leidwejen jeiner zahlreichen Freunde und Bewunderer 
und zum Nachteil des Mifter Tornhill einen Berhaftsbefehl, der ihn in jeiner träumerischen 
Betrübnis aufs höchſte überraſchte. 

MWochenlang jchleppte ſich die Umterfuchung bin. Nur durch eine lange Reihe 
entlajtender Zeugenausjagen gewann der Glaube des Nichters an die Schuldlofigkeit 
des unbejcholtenen Künftlers nach und nad) einigen Boden. Dem amerikanischen 
Bewußtſein erjchien es als eine unerhörte Forderung der plumpften Ausflucht, ſich 
überzeugen zu follen, daß ein Sapitalift jeine Gelder im blinden Bertrauen auf die 
Nedlichkeit eines Freundes preisgegeben haben fünne, ohne beijere Sicherheit in Händen 
zu behalten, als einfache Empfangsbejcheinigungen, die ebenjowohl auf zurücgezahlte 
Verpflichtungen, wie auf Schenkung gedeutet werden fonnten. Als  enticheidendites 
Beweisjtüd anerfannte der Richter Joſef Böhms Brief, in welchem er die Sicherftellung 
der Gelder des Angeſchuldigten in Ausjicht nahm. Sehr erjchwerend für Böhm wirkten 
auch die Ausjagen einer Menge von Zeugen, von denen er tags vor feiner Abreije 
an der Börſe Wertpapiere zu niedrigen Preiſen eingehandelt. — Dagegen blieb der 
Verdacht unerwiejen, daß er die verhängnisvollen Zeitungsartikel ſelbſt gefchrieben und 
den Abdruck perjönlich vermittelt habe. 

Auch Lätitias Verkehr mit Hinric) und Böhm wurde in das Material der Beweis: 
aufnahme hineingezogen. Der alte Theaterarzt, der die Verftorbene zuleßt behandelte, 
jagte aus, daß er die beunruhigende Beobachtung einer unnatürlichen Todesurſache 
bisher aus Nücdjichten gegen dritte Perſonen verhehlt habe. — Eine ärztliche Unter: 
juchung führte zu der Entdedung ſchwacher Nefte eines giftigen Stoffes. 

Hinrich fühlte fich durch die Erinnerung an dieſe Seite feines Prozefies über: 
wältigt. — Nur mühjam und jtocend berichtete er weiter, daß der anfangs auf ihn 
gewälzte Verdacht, jeine Braut vergiftet zu haben, endlich auf eine That des Aſſiſtenz— 
arztes, Doktor Noberts, abgeleitet worden ſei. Es erwies ſich, daß aud) der die Stadt 
verlafjen habe. Und die Zofe Lätitiens fand noch ein Schächtelchen, das einen Weft 
des von Roberts verordneten Mittel enthielt, welchen die Kranke zu nehmen ſich 
beharrlich geweigert hatte. Aus der Analyje diejes Mittels ergab ſich die IThäterjchaft 
des entflohenen Arztes mit fajt zweifellojer Wahricheinlichkeit. 

Daß diefer Prozeß der Tagesprejfe willfommenen Stoff für die Unterhaltung 
ihrer Elatjchjüchtigen Lejer bot, ift jehr begreiflich. Freiſingers in denjelben jo bedenflid) 
verwidelter Name bildete den Gegenftand der Stlaticherei und des Meinungsaustaufches 
von der Behringsftraße bis zum Meerbujen von Banana. 

Hinrich fühlte den gewaltigen Luftdrud von Millionen Läfterzungen nicht. Er 
war der Haft entlafjen und ermannte fich zu dem Eräftigen Entjchluß, jeine Trauer um 
die getäufchte Herzenshoffnung und die demitigenden Anschuldigungen, welche vor den 
öffentlichen Schranken auf jeinen unbejcholtenen Charakter gehäuft worden, zu über: 
winden und zu verjchmerzen. Hülfe und Troft fand er im feiner jchönen Kunſt. Die 
Gemütserfchütterungen lagerten in jeinem Innenleben einen warmen gejättigten Gefühls— 
inhalt ab, daraus jein gejungener Ton ihm jelbjt in neuer überrajchender Fülle und 
Empfindung entgegenblühte. Seine Achtung vor dem Wert öffentlichen Nunfttreibens 


Ein Bertrag. 1285 


hatte zwar einen heftigen Stoß erlitten, jeitdem er tiefere Einblide in das ungerechte, 
jelbftjüchtige Weſen der Menjchen geworfen, aus denen ſich die Korona einer faltjinnigen 
Gönnerjchaft refrutierte. Aber Hinrih kam bald mit ſich darüber ins Reine, daß er 
jein Können und Wollen lediglich den Forderungen des deals ſchuldig ſei. Diejem 
näher zu fommen als je zuvor, fühlte er die volle mutige Kraft; und mit Ungeduld 
wartete er auf die Gelegenheit, feinem dramatischen Schaffensdrange in öffentlichen 
Leiftungen volles Genüge gewähren zu dürfen. 

Aber Wochen vergingen, ohne daß ſolche Gelegenheit fid) darbot. Wurden Opern 
gegeben, im welchen Hinrich zu fingen pflegte, jo vertraten Gäfte von benachbarten 
Bühnen feine Partien. Ber Proben und beim Studium nen in Szene zu jeßender 
Werke beteiligte man den geichäßteften Sänger Baltimores nicht. Der Verkehr mit 
jeinen Fachgenoſſen bewegte ſich in fteifen Formen einer abgekühlten Temperatur. Als 
endlich Hinrichs Arglofigkeit ſolche unerklärlichen Veränderungen gewahrte, entichloß 
er fich, mit Mifter Tornhill Rüciprache deshalb zu nehmen, zumal diefer ihm das 
frühere Wohlwollen von allen noch am treueſten entgegenzubringen jchien. Dennoch 
beantwortete auch Mifter Tornhill alle Fragen und Klagen Hinrichs anfangs mit ver: 
legenem Achjelzuden. Zulegt nötigte dieſer ihm die überrajchende Erklärung ab, daß 
die Freiſprechung Freifingers allgemeine jittliche Entrüftung hervorgerufen habe. Man 
halte an dem Vorurteile feit, Hinrich habe mit Böhm einen abgefarteten jchlauen Sport 
getrieben. Schon die deflarierte Freumdichaft mit Böhm, der für einen gefährlichen 
„Sambler“ oder gewerbsmäßigen Spieler gelte, habe Freifingers guten Leumund arg 
Ihädigen müfjen. An die Wahrheit der Behauptung, der argloje Künftler habe 
Kapitalien ohne Sicherheit den Händen eines problematischen Charakters wie Joſef 
Böhm in findlichem Vertrauen überlafjen, glaube in ganz Amerika fein Menſch. Wie 
e3 jchien, wollte Miſter Tornhill ſelbſt auch nicht als Ausnahme glänzen. Der Ent: 
täujchte verftand nur zu wohl die Beſorgnis des Theaterdireftors, der Ruf jeines 
Dpernverbandes und das ganze Kunftinjtitut möge geichädigt werden durd) ein Mitglied 
von jo zweideutigem Charakter. 

„So endete meine Laufbahn als Bühnenjänger,“ ſchloß Hinrich diejen Teil jeiner 
Geſchichte. „Bis zur Hefe habe ich den giftigen Taumelfelch der wandelbaren Volks: 
gunft ausfoften müfjen, bevor ich zu dem Entichluß gelangte, das Bild der Holden 
Muſe mit ihrer goldenen Lyra feit in meine Bruft zu verjchließen, um jeine Reine vor 
Befledungen des Gemeinen zu jchügen. Meine Mittel waren immer noch auskömmlich 
genug, um geraume Zeit hindurch unabhängig davon leben zu fünnen. Nachdem ic) 
vom Grabe der unglüdlichen Lätitia Abjchied genommen und meine Verhältnifje in 
Baltimore aufgelöft hatte, trieb ih mich unichlüffig in Whiladelphia, Waihington, 
Pittsburg und anderen Städten umber, wo mufifaliiche Treunde und Berwunderer 
meiner Kunſt zum Teil in glänzenden Befigverhältniffen lebten. Sie hatten mir ehedem 
die liebenswürdigften Vorwürfe gemacht, daß ich ihnen hartnädig die Möglichkeit ent: 
zöge, mir ihre dankbaren Gejinnungen zu bethätigen. Jetzt bedurfte ich nur ihres 
Rates. Zu jeder rechtichaffenen Arbeit erklärte ich mit Freuden bereit zu jein, welche 
mich vor Bedrängnifjen ficherftellen würde, wie ich fie im öffentlichen Dienjt der Volks: 
gunft zu erdulden hatte. — Aber emporgezogene Augenbrauen und Schultern waren 
das Günſtigſte, was ich erreichte. Weberall wiederholte fich diejelbe troftloje Wahrheit, 
daß, wer fid) in Amerika nicht jelbjt zu Helfen weiß, von anderen Menjchen auf Feine 
Hülfe rechnen dürfe. Ich ward endlich jelbit ohne Erklärung abgewiefen! — Miſter 
Zornhill hatte alfo feine Landsleute richtig geichägt: ic) war von der öffentlichen 
Meinung verfehmt. 

„Ach! wie jehnte ich mich nun nach einem herzlichen Wort, nach einem verftändigen 
Vorſchlag Joſef Böhme, meines Eugen Freundes! War er nicht ein Ausgeftoßener 
wie ich —** — Was hatte man ihm vorzuwerfen? — Von allen wider ihn erhobenen 
Anklagen und Verdächtigungen war ja nicht eine einzige Schuld nachgewieſen. — Eile 

Alla. tonſ. Monatsichriit 1888. XII. 82 


1286 Ein Vertrag. 


nach Chicago — hatte er gejchrieben. Auf eine gerichtliche telegraphiiche Anfrage war 
von Chicago eine ausweichende Antwort erfolgt: „Hier nicht bekannt,“ lautete Diefelbe. 
Auch daraus hatte der leichtgläubige Argwohn Kapital gejchlagen! — Wie beneidete id) 
den Freund, daß jeine Einficht in die Verhältnifie ihn Raum gewinnen ließ, jeine Berjon 
wie ja doc) auch meine Gelder in Sicherheit zu bringen! 

„Mein Verlangen, ihn wiederzufehen, trieb mich endlich nad Chicago. Vielleicht 
eröffnete fich) mir dajelbft im äufßerjten Fall der Not eine Iehrhafte Wirkfjamfeit an der 
muſikaliſchen Akademie, deren Vorfigender ein Deutjcher und mir perjönlich befreundet war. 

„Im Bahnhofshotel der im Schmud der herrlichjten Gartenanlagen prangenden 
Stadt Chicago wurde ich mit meinem Geſuch um eine Wohnung zurücdgewiejen. 
Das Haus war von Fremden überfüllt, welche ein großes Pferderennen hergelodt Hatte. 
Sp juchte ich denn ein anderes Unterfommen in der Stadt nad) freier Wahl des 
Droſchkenlenkers. Mehrere Tage hindurch mußte ic meine Nachforichungen im Bahn: 
hofhotel wiederholen, bevor der Thürhüter — dur) ein Geldftüd erweicht — nad) 
andauerndem Suchen mir endlich ein verfiegeltes Convert ohne Poſtſtempel aushändigte. 
Die Adrefje zeigte mir jogleich die zierlichen Schriftzüge meines Freundes Joſef. Nach 
dem Datum war das Gejchriebene faſt drei Meonate alt geworden. — Der Freund 
beffagte mid), ohne meine geringste Schuld in den fatalen Prozeß verwidelt worden zu 
jein. Er hatte aus den Zeitungen erjehen, daß Lätitias plößlicher Tod den Verdacht 
eines Verbrechens auf den Doktor gelenkt; infolgedeflen jei zwiſchen diefem und Joſef 
das Tafeltuch zerichnitten. Stete bittere Täufchungen haben Joſefs Efel vor allem 
menschlichen Treiben fo jehr gefteigert, daß er ſich aus der Welt zurüczuziehen im 
Begriffe ftehe, um an den nördlichen Ufern des Miſſiſſippi als Jäger und Pelzhändler 
ein bejchaufiches Leben fern vom Gewühl der Welt zu führen. Meine Kapitalten könne 
ich jeden Augenblid erheben durch das jolide Gejchäft von Brown und Kompanie zu 
St. Louis. „In der Freiheit der Natur,“ ſchloß Joſef jeine Zeilen — „würde die 
Sorge um dein Eigentum mich nur belaften und hemmen. Wie herrlich wäre es, unter 
dem vollen Segensitrom einer ungefünftelten großartigen Gotteswelt mit dir, mein 
Bruderherz, in losgebundener Freiheit genejen zu dürfen. Hoffentlich auf Wiederjehen 
im Grenzbezirt der Chippewayans!“ 

„Ein Kaufmann aus St. Louis erzählte mir auf mein Befragen, daß die Firma 
Brown und Kompanie in jener Stadt öfter vertreten ſei. Zu unterjcheiden jeien dieſe 
Häufer nur durch) ihre Vornamen. — Von joldhen Erwähnung zu thun, hatte Hofe 
in der Eile, mit der er den Brief verfaßt haben mochte, vergefien. — Und außerdem 
war mir ja bereit3 flar gemacht worden, daß die Empfangsicheine, die Joſef meines 
Eradıtens in genügender Form ausgefiellt hatte, vom vorſichtigen mißtrauiſchen Krämer— 
geiſte dieſes Volkes nicht als vollgültiger Ausweis anerkannt wurden. Ich tröſtete mich 
mit der Hoffnung auf ein endliches Wiederſehen meines Freundes und zweifelte nicht, 
daß er dann die Beſitzfrage ohne Mühe ordnen würde. 

„Faſt wäre es mir gelungen, unſeren Freund Francis, der eben drinnen im 
Schloß am Schachtiſch ſitzt, in Chicago wiederzuſehen. Man erzählte, daß er ſich mit 
Miß Lucy Grifford vor kurzem verlobt haben ſolle. Aber mit meinem Verſuch, ihn 
zu begrüßen, kam ich leider um einige Tage zu jpät. Sir Francis war wieder abgereijt. 
Auch mit meinen Unternehmungen bei dem Vorjigenden der mufikaliichen Akademie war 
ich nicht glüclicher, als mit früheren Bewerbungen. — Zurückweiſungen über Zurüd- 
weilungen! — Und immer dieſe demiütigenden Mienen, die mic) daran erinnerten, daß 
ic) ein Berfehmter jeil — Nach Europa zurüd? — Las man dort nicht auch ameri: 
fanijche Zeitungen? — Durfte ic) hoffen, e8 werde mir dort ein duldjameres Urteil 
entgegenfommen? — Mein Zuftand grenzte wieder ans VBerzweiflungsvolle. 

„Da erfuhr ich abermals eine wunderbare Hülfe, welche ſich wenigjtens loſe 
berührte mit den empfangenen DOffenbarungen, die fiir meine Charafterbildung jo ent: 
icheidend gervorden waren. Durch den Oberkellner meines Gafthofes konnte ich ein 


Ein Vertrag. 1287 


anmutiges entlegenes Pläbchen im ftädtiichen Barf, fern vom finnverwirrenden Straßen: 
lärm, das ich fait täglich zu einer bejtimmten Stunde auffuchte. Hier ſaß ich eines 
Tages in trübe Gedanken verjunfen, als ich das Schnaufen eines Pferdes vernahm, 
das ein Jockey auf dem nahen Neitwege daherführte. ALS der Jockey meiner anfichtig 
wurde, verließ er mit jeinem Tiere den Neitweg und lenkte jeine Schritte meinem Sitze 
zu. Artig grüßend zog er ein Briefchen aus jeinem Wams und erklärte, er jet beauftragt, 
das Schreiben und den Zelter an einen Herrn perjünlich abzuliefern, den er, wie man 
ihm im Gafthoje gejagt, vermutlich zu diefer Stunde im Park treffen werde. Auf 
jeinen Wunſch nannte ic) dem jeltfamen Boten meine dermalige Adrefje, die genau 
übereinftimmte mit der Aufjchrift des Briefes; jogar die Nummer meines Wohnzimmers 
war nicht vergejien. 

Erjtaunt erbracd ich die Hülle. Der Brief, den ich wiederholt aufmerfiam durchlas, 
war in klar ftilijiertem fließenden Deutsch gejchrieben. Die Unterjchrift lautete: Ein 
danfbarer Kunſtfreund und Verehrer. Mit überrajchendem Berftändnis meiner ratlojen 
Lage beflagte der teilnehmende Verfaſſer das harte Los, welches mich betroffen Habe, 
einen Künftler, dem jener und ungezählte andere erhebende Genüſſe jchuldig geworden 
jeien. Auf eine Erneuerung meiner öffentlichen Wirkjamfeit zu hoffen, würde bei den 
einmal bejtehenden amerikanischen Vorurteilen gegen einen von der öffentlichen Meinung 
Berfehmten zunächit leider erfolglos bleiben. Umfomehr machten es meine danfbaren 
Freunde ſich zur Pflicht, mir in meiner bedrängten Ungewißheit mit Rat und That 
beizuftehen. Nur eins jcheine mir übrig geblieben zu fein: ich müfje für eine Zeitlang 
aus der Gejellichaft verichtwinden, big Gras über die Gejchichte meines Unfalls gewachjen 
jet. In meiner trüben Gemütsverfaffung würde mir das Leben in einjamer Natur 
wohlthun. Dazu empfehle ſich Jagd und Biberfang, die an den nordöftlichen Ufern 
des Miſſiſſippi zur Zeit am einträglichiten feien. Der mit dieſen Zeilen durch einen 
verjchwiegenen Jockey abzuliefernde Zelter werde mir willfommene Dienfte leiten. Ein 
Sinnbild jchwunghafter Kunftbegeifterung, gleich) dem antiken eo gehöre diejer 
Belter, „Fire-Fly“ oder „Leuchtkäfer” mit Namen, der dauerhaften Illinois-Raſſe an, 
und ſei jchnell wie der elektriiche Funke. Der Künftler kenne ja nur jelten feine Ver: 
ehrer und Bewunderer. Um den geringen Wert der Gabe nicht noch mehr herabzujegen, 
bitte man mich, das Pferd als Beifallipende von einer namenlojen Stimme des Parkett 
freundlid) anzunehmen. „Gut Heil auf der Jagd und fpäter neue Lorbeeren!“ 

So ſchloß das rätjelhafte Schreiben. Ich betrachtete nun das edle Tier, das 
kräftiger als Amalek und elegant aufgezäumt war. In den filbergefticten Lorbeer: 
zweigen der blauen Schabrade entdeckte ich mein Monogramm, ein verjchlungenes HF. 

Was jollte ic länger zaudern? Auf meiner Karte beftätigte ic dem Jockey den 
richtigen Vollzug feines Auftrags, drückte ihm ein Goldftüd in die Hand und jchwang 
mich in den Sattel. Ich ja wie auf einem Springfederpolfter. Es fiel mir auf, daß 
Spaziergänger und Reiter, die id) nie zuvor gejehen, mir Grüße zuwinkten, bald höfliche, 
bald vertrauliche. Mancher blieb ftehen und jchaute den gejchmeidigen Bewegungen 
meines glänzenden Nenner bervundernd nad. Die Neugier der Gaffer wurde mir 
läſtig. Mit einer Ermunterung ließ ich dem Fire-Fly die Zügel. Das Eluge Tier 
ihien meine Gedanken zu erraten. In jaufender Gangart trug es mich zu einer 
entlegenen Gegend des Parks, die mein Verlangen nad) bejchaulicher Einſamkeit 
befriedigte. Meine Aufmerkſamkeit Ienfte fich mit ganz ungewohntem Anteil der land- 
Ihaftlichen Umgebung zu. Auge und Herz wurden beraufcht von Eindrüden, denen 
meine Sinne bisher gänzlich verjchloffen geblieben waren. Nie hatte ich beachtet, welch' 
verjchwenderiichen Reichtum mannigfaltigfter Erzeugniffe die Erde überall ausgeftreut 
habe; wie liebevoll die Natur zu ihrem fühlenden Beobachter zu reden verftehe; wie fie 
jeinen Blick erjchließen könne für die Tiefen des jchöpferiichen Gedankens. Dieſe Ent: 
defung regte meine Seele mächtig auf. Ich dachte zurück an die Einflüffe, welche die 
wiederholten Erjcheinungen des Zelters auf meinen fittlichen Entwicdelungsgang übten, 

82* 


1288 Ein Vertrag. 


Das Gaukelſpiel des Kunſtreiters verknüpfte ſich mit der erſten Offenbarung meiner 
Kindheit. Im Beſitze des Amalek reifte der Knabe ſchnell zum Jüngling heran, der 
mit heißem Wiſſensdrange das Schaffen des Menſchengeiſtes zu ergründen und mit 
Hochgefühl die ganze Welt zu umfaſſen meinte. Das himmliſche Geſicht am Bodenſee 
erweckte dann meinen philoſophiſchen Forſchungstrieb, in die göttlichen und natürlichen 
Urſachen der ſtreitenden Widerſprüche des Daſeins verſtändig einzudringen. Danach 
erſchien in phantaſtiſcher Weiſe der transjcendentale Zelter, um mich einzuführen in das 
Reich der Schönen Kunſt und mich zu überzeugen, daß ich berufen jei, ihr zu dienen. 
Wie treffend verfinnbildlichte jede diefer Sendungen ihren fittlichen Zweck! Das dreſſierte 
Roß des Kunftreiters und das Gaufeljpiel des Lebens, das himmlische Heer und die 
ringenden Gegenſätze des religiöjen Bewußtſeins, der Iuftige Nenner, wie aus Nebel 
geboren, ohne Zügel, und die ideale Welt der Kunft: welche Harmonie! wie planvoll 
Ichritten dieje erziehenden Offenbarungen des Lebens, der Neligion und der Kunſt fort! 
Daß die Sendung des Fire sy jener Reihenfolge ſich anzujchliegen bejtimmt jei, daran 
zweifelte ich feinen Augenblid. Traf fie doch wieder zujammen mit einem Wendepunft 
meiner äußeren Lebensgejtaltung, der ſich anfündigte in einem Augenblick verzweiflungs: 
voller Ratlojigfeit, wo alle Bande gewaltjam zerrijjen worden, die mic) an die Menjchen 
und an meinen fünftleriichen Beruf gefejlelt hatten. Mir, dem Ausgeftoßenen, dem 
Ernüchterten, wurde nun das rettende Roß zugeführt, offenbar um mid im Verkehr 
mit der freien unverfünftelten Gottesnatur zu erfriichtem Lebensmut zu erheben. Deshalb 
hüllte fich die Sendung Fire-Flys nicht, wie die früheren Offenbarungen, in das Sell: 
dunkel phantaftiicher Geheimniffe. Wollte der unbekannte Freund auch verborgen bleiben, 
jo vollzog fich doc) dieſesmal der _Borgang auf natürlich-menſchliche Weiſe, wie es dem 
höheren Zwed entiprad), meinen Sinn für die Natur zu erichließen und dadurch mein 
Verjtändnis für Leben, Religion und Kunſt abrundend zu ergänzen. 

Bon zwei Seiten her war mein Augenmerk hingelenkt worden auf ein ungebundenes 
Leben am Geftade des Miſſiſſippi. In den ausgedehnten Grenzgebieten eingeborener 
Naturmenjchen auf den großen Stromgeländen mit ihrer wechjelnden Szenerie fand ich 
weiten Raum genug für mein Verlangen, dem Bannfreije einer entfjittlichten Ueberfultur 
zu entfliehen. Bald gelangte ih) zum Entſchluß: zwiichen dem Miſſiſſippi und dem 
Weit-Ufer des Michiganfees in nördlicher Richtung vordringend, wollte ich ein Revier 
juchen, das einem Trapper oder nomadifierenden Jäger ergiebige Beute veriprechen 
würde. Zu dieſem Zwecke knüpfte ich eine gejchäftliche Verbindung an mit einer Peltry: 
Kompanie in der Stadt Sheboigan, verjah mich mit erforderlichen Inſtruktionen und 
Ausrüftungs-Gegenftänden und — frei wie ein Vogel ritt ich von dannen, geleitet von 
genauen Ortsfarten und einem Kompaß. 

Auf dem elaftiichen Polſter im freien weiten Naum, fern vom Menjchengewühl 
der Städte, brannte mir das Herz vor nie gefannter Glückſeligkeit. Zuweilen umjchlang 
ich im Ueberſchwang des Gefühls, wie einen Freund, den jchlanken Hals Fire-Flys. 
Fröhlich wiehernd ſchien das kluge Roß jeinen Reiter zu verjtehen. Oft ließ ich meine 
Empfindung im Gejange ausftrömen. Manchmal ergo ic meine Eindrüde und Gedanfen 
in Shwunghaften Reden und dichteriichen Rezitationen vor einem Parkett von grauen 
Felſen, alten Fichten und rauſchenden Kaskaden. — Auf die Dauer regte ſich aber das 
Bedürfnis nach einer miterlebenden Menjchenbruft in der gewaltigen Natur-Einjamfeit. 
Und auch diejes zunehmende Bedürfnis der Mitteilfamfeit wurde mir endlich erfüllt. 
Um ein mäßiges Löjegeld befreite ich einen Indianerfnaben von etwa fünfzehn Jahren 
aus den Fäuſten einer betrunfenen Nothaut, eines rohen Gejellen, der den armen 
Jungen aufs unmwirdigfte mißhandelte. Mit Freuden jchloß diejer ſich an feinen Befreier 
an. Er ftammte von chriftlichen Eltern ab, die am Eriejee gelebt hatten und amerifa: 
nische Bürger gewejen waren. Mein junger Gefährte ſprach geläufig‘ englisch und 
erlernte auch das Deutſche bald. Gottwalt, jo nannte ich ihn, zeigte ſich jehr anftellig 
und gelehrig. Im unferem primitiven Blockhauſe bejorgte er die Häuslichkeit, pflegte 


Ein Vertrag. 1289 


Fire-Fly wie einen Bruder; erwitterte wie der beſte Spürhund die Fährte des Wildes, 
verjtand ſich trefflih auf die Zurüftungen des Biberfanges und erleichterte mir Die 
erforderlichen Bejuche bei einem benachbarten deutjchen Farmer, der meinen Handels: 
verkehr mit der Beltry: Kompanie in Sheboigan vermittelte, unjere Vorräte an Konjerven 
ergänzte und mich auch durch freilich etwas alte Zeitungen mit der Außenwelt im 
lockeren Zujammenhange erhielt. Begünſtigt von Bejtändigfeit ber Witterung, verlebten 
wir in dieſem glüdlihen Zuftaude die Sommermonate. Auch der Herbit war zumeiſt 
freundlich) und veid an Jagdbeute. So genas mein Herz allgemach von jeinen Wunden. 
Sc fühlte mich gefünder als je zuvor. — Oft las ich im gewaltigen Buche der Natur 
von des Schöpfers herrlichen Wundern. Achtlos war ich ehemals daran vorübergegangen. 
Det gab mir ein in der Morgenjonne leuchtender Tautropfen an der Aehre eines 
ſchwanken Grashalms dichterifche Stimmungen und Gedanken. Die Elugen melancholiſchen 
Augen bunthäutiger Schlangen erzählten mir von dem geheimen Leide, daß ihnen ver: 
jagt geblieben, ſich frei zu erheben über die ftaubige Fläche. Sie predigten von dem 
Fluch des Sündenfalls. Oft ſtand ich in Erftaunen verjunfen vor dem künſtlichen 
Bau des Bibers, dem Muſter des Wigwams der Indianer. Und wie beredt waren 
die malerischen Bilder der von der Art und Pflugjchar nie berührten Landichaft im 
Strahlenglanz des Tages, im flatternden Nebeljchleier der Dämmerung, im flimmernden 
Mondlicht der jchweigenden Nacht! — Für die rauhe Jahreszeit des Winters jedoch in 
dieſer unwegſamen Wildnis zu bleiben, das konnte nicht meine Abficht jein. Gottwalt 
empfahl, nad) dem jüböftlichen Seftade des Eriejees überzufiedeln, nach Cleveland oder 
Erie, der Heimat jeines Stammes, wo die weißen Gefichter noch nicht zu ausichließlicher 
Herrichaft gelangt jeien. Vielleicht hätte ich mich jeinen Wünſchen geneigter gezeigt, 
wenn ich nicht begründete Urjache erhalten hätte zu der Ausficht, in Sheboigan meinen 
Freund Joſef Böhm wiederzufinden. Der hülfreiche Farmer war dort einem Herrn 
begegnet, der fi) nad) mir erkundigt hatte und nad) der Perjonalbejchreibung fein 
anderer jein konnte alg mein Doppelgänger Jojef. Den Namen des Fremden fannte 
der Farmer nicht, aber ich bat ihn, denjelben im tiefjten Vertrauen auf die Spur 
meines Lagers zu lenken, falls die Begegnung fid) wiederholen und der Unbekannte id) 
als Joſef Böhm legitimieren jollte. Gottwalt hielt das fir jehr gewagt. Denn die 
Entdeckung eines Lagers von jeiten benachbarter Trapper führt oft zu Friedensftörungen 
und bfutigen Zujammenjtößen. Der Knabe jollte leider jeinen Argwohn gerechtfertigt 
finden. Eines Morgens meldete er mit verjtörten Mienen, es jeien einige unſerer 
Biberfallen verſchwunden. Nun war feine Zeit zu verlieren. Ich wollte jchleunig nad) 
Sheboigan aufbrechen und begab mic ungejäumt zum Farmer, ihn um ein verjprochenes 
Fuhrwerk zum Transport unjerer Habjeligkeiten nach der Eijenbahnftation zu erſuchen. 
Auf Gottwalts Rat ließ ich dieſesmal Fire-Fly zu Hauſe, um unbemerkt meinen Zweck 
zu erreichen. Erſt bei einbrechender Dämmerung erreichte ih unjer Blodhaus wieder. 

„Der Anblick, der mich hier erwartete — — ach! meine Freunde, laßt mic) kurz 
darüber hinwegeilen — bis jetzt hat fein Schmerz mich jo tief ergriffen. Meine Holz: 
hütte bot das Bild der Verwüſtung — Gottwalt — Fire Fly — id) juchte, ic) lockte 
fie vergebens. Endlich mußte ich mich der troftlojen Gewißheit ergeben, daß ſie ver: 
ihwunden, dab fie gewaltjam entführt worden jeien. Es konnte nicht ohne Kampf 
geichehen jein — das zeigten mir Spuren einer improvijierten Verbarrifadierung — 
eine doppelläufige Jagdflinte mit abgejchlagenem Kolben — tiefe Eindrüde von Pferde: 
hufen, die auf den Widerftand hindeuteten, den Fire-Fly jenen Näubern geleistet: kurz, 
ich lag mit gebrochenem Mut darnieder. — Tückiſche Gewalt, verbrecheriiche Roheit 
hatten aljo auch den Weg gefunden in die friedliche Stille diefer entlegenen Wald: 
einfamfeit! — Wo jollte ich den treuen Gefährten und Genoffen meiner glücdlichen Tage 
juchen? — wo mein edles Tier wiederfinden? — wo die Spuren der Räuber ver: 
folgen? — Nach der kurzen amerikanischen Dämmerung war e8 auch bald völlig Nacht 
geworden. Und am folgenden Morgen verjchwanden die verworrenen Stapfen von 


1290 Ein Vertrag. 


Stiefeln und Pferdehufen ja jpurlos im aufgeweichten Sande. Sie Ichienen nad) dem 
Ufer des Stroms zu deuten. Aber ohne Kahn und Floß — was jollte id, ein ein: 
zelner Mann, meiner Befinnung kaum mächtig — was fonnte ich unternehmen? — 
Verloren! — Borüber! — 

„Laßt mich, meine Freunde, zum Schluß meiner langen Geichichte noch kurz 
erwähnen, daß teils mein Andenken an Gottwalt, teils eine leiſe Hoffnung, er werde 
in jeine Heimat entronnen fein, mid) bewog, feinem Nat zu folgen. Die beiden lebten 
Fahre brachte ich unter den Indianern am Eriefee zu, ohne Gottwalt wiederzujehn. 
Doch hier fühlte ich mich bald wohl, obgleich auch diefen Naturmenjchen ftrenge Sitten 
und Gebräuche den Stempel des Gefünftelten jchon aufgeprägt haben. Hier fing ich 
aud) wieder an, meine Kunſt zu pflegen, ohne fie in das Joch des ſklaviſchen Erwerbes 
zu erniedrigen. Ic Iernte den Indianern ihre wunderlich näjelnd, mit Begleitung 
Elatjchender Hände und klappernder, rafjelnder Injtrumente vorgetragenen Werjen ab, 
fang fie ihnen zu ihrem Erſtaunen mit reinem Ton vor und entflammte fie endlich 
auch zur Begeifterung für deutjche volfstümliche Lieder. Es bildete ſich zwiichen uns 
ein freundliches, ſympathiſches Verhältnis aus. Ich ſah, wie die unjelbitfüchtige 
Muje unverfälichte Gemüter zu andächtigen Stimmungen und vertrauensvoller Offenheit 
zu erheben vermöge. Und die zur Natur zurüdgefehrte Kunft übte auch auf mid 
jelbft die Rückwirkung einer beglüdenden Genugthuung, wie ich fie vordem niemals 
empfunden. 

„Der freundliche Verkehr trug meiner Erwerbsthätigfeit als Jäger und Tauſch— 
händler überrafchend reiche Ernten ein. Meine mildere Beurteilung der menschlichen 
Natur bereitete der Vorfjtellung, in die Kreiſe der europäischen Gejellichaft einmal zurüd: 
zufehren, feine jelbjtgemachten Schwierigfeiten mehr. 

„Kaum jedoch hätte ich mich jo jchnell dazu entſchloſſen, wäre mir nicht Dieffem- 
bergs Vermählungsanzeige in den Newyork-Times zu Geficht gekommen. Ich eriah 
daraus, daß der Pfeifersheimer Bertrag von dem Freunde durch die vorgejehene dritt- 
malige Wiederholung jener Anzeige gewiljenhaft erfüllt worden je. Das gemahnte 
mic an meine eigene Pflichttreue. Dazu fteigerte die Vorftellung, womöglid mit 
meinen alten Freunden einige glüdliche Stunden der Wiedervereinigung genießen, aud) 
meine Mutter wieder ang Herz jchließen zu dürfen, meine Sehnſucht zu der franfhaften 
Heftigkeit durchdringenden Heimwehs. 

„Um rechtzeitig zu Goethes Geburtstag, unſerm vertragsgemäßen Termin, in 
Bilamsdorff einzutreffen, benußte ich das nächſte Schiff zur Ueberfahrt. — Von Ham: 
burg aus dampfte ic) zunächſt nad) deinem würdigen alten Ritterichloß Hoyershorft, 
Henning, mit der unüberlegten Hoffnung, dich dort zu überrafchen und in deiner 
Gejellichaft hier in diejen Fieblichen Hafen der Freundſchaft einzuziehen. Ich bejichtigte 
mit Genugthuung dein Heimwejen und reifte von Hoyershorjt nad) Hamburg zurüd. 
Erforderliche Anordnungen verzögerten dort meine Weiterreife. Aber ich habe dennoch) 
unjeren Vertrag pünktlich erfüllt, wenn ich auch wegen der mangelhaften Verbindungen 
hier erjt geftern, am achtundzwanzigiten Auguft in der zwölften Stunde anlangen konnte.“ 


Schluß folgt.) 





Skizzen aus meinem Leben und meiner Beif.”) 


(Bon der Berfafferin der „Gräfin Sophie Reinhard“, „Mörikeana“, „Viſionen 
und Träume.) 


(Fortjepung.) 





Der Raum nötige mich, nur kurz über meinen zweijährigen Aufenthalt als Lehrerin 
in U. am Rhein wegzugehen; al3 meine Gejundheit jo ziemlich aufgehauft war, hörte 
meine I. Mutter durch Dritte davon und befahl mir, Heim zu kommen. Zu meiner 
Erholung jollte ich unterwegs aber furze Zeit bei dem Hausfreund meiner Eltern, dem 
Ultgrafen Salm Reiffericheid, der damals in Mannheim lebte, zubringen und dort eine 
Traubenfur gebrauchen, von der man jich guten Erfolg für meine Heijerfeit veriprad). 

Der Herr Graf war mir von Jugend auf befannt und ich hatte oft erzählen 
hören, wie er ſich meinen Eltern zum Paten angeboten hatte, als ihr eriter Sohn 
getauft werden jollte. In unſerer Vaterjtadt war damals noch fein evangelischer Pfarrer 
und mußte ein jolcher von auswärts zur h. Handlung herbeigeholt werden. Graf 
Salm, der damals in unjerer Nähe (in Krautheim) lebte, erbot fich, mit jeinem Wagen 
den Pfarrer zu bejorgen, wenn er (auf ſich zeigend) auch gleich den Paten mitbringen 
dürfe. — Als mein Bruder Hermann die erjten Hojen befam, war der Graf zufällig 
anwejend, ging fort und kaufte feinem WBatenfind eine filberne Uhr. Bei der 
Konfirmation jtellte ji) der Graf ebenfalls ein und jagte zum Konfirmanden: „Deine 
filberne Uhr Haft du matürlich jchon längſt verloren?” Als Gegenbeweis holte fie 
Hermann aus jeiner Tajche. 

„Dann wirft du fie jonft wiehingemacht haben, wie, laß einmal jehen,” ent: 

egnete der Graf, trat damit an das Fenſter, anjcheinend, um die Uhr zu unterjuchen, 
Be fie unterdejlen aber mit einer goldenen vertaufht! . . .. 

Ic jelbjt war einmal nahe daran gewejen, dem Herrn Grafen einen Kupferkreuzer 
zu schenken, indem ich ihn feines Gebrechens wegen — er hatte einen Klumpfuß — 
für einen armen Invaliden hielt. Mutter fam aber damals noch glüclicherweile dazu 
und hieß mich zwar dem Herren Grafen ein Händchen geben, nachdem fie mir jchnell 
den Kupferfreuzer abgenommen hatte. 

Graf Salm war ein feltenes Original, wie fie in dieſer alles gleich machenden 
Zeit immer mehr ausfterben. Man denke fich eine Dide Figur mit Klumpfuß und 
hohem Rüden, die nur an zwei Krüdjtöden fich fortbewegen konnte. Aus dem grau: 


*) Alle Rechte vorbehalten. 


1292 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


bärtigen verwitterten Gefichte Leuchteten aber zwei jo klare, joviale Augen, und jein 
Mund war troß der vielen Leiden, die der Mann ftille trug, unermüdlich zu allerlei 
humoriftiichen Bemerkungen und Erzählungen geneigt, jo daß man gerne um ihn war, 
zumal in diejer höchſt unfchönen Geftalt nicht nur ein jcharfer Verſtand, jondern 
zugleich ein durchaus ehrliches, aufopferungsfähiges Herz lebte, das in jeiner Einſamkeit 
— der Graf, Katholif, hatte die Würde eines Kanonikus — ſich jehr freundichafts: 
bedürftig fühlte und feinen Freunden auch bis in den Tod Treue hielt. Der Graf, 
der in Krautheim im Badiſchen begütert war, ging von da aus viel in unjerem elter- 
lichen Haufe aus und ein. Kinder find aber ftrenge Sittenrichter und haben wenig 
Sinn für Humor, und jo erinnere ic) mich genau, daß wir drei jüngeren Doktors— 
Kinder troß des Grafen Gutmütigkeit ihn doch wegen jeiner allzeit blühenden, nicht 
jelten jedes billige Ma überjchreitenden Phantafie ihn (unter uns) einfach nur „den 
großen Lügner” fchalten. Das war die Erlaucht zwar unbeftritten in gewiſſem Sinne, 
doc) famen lauter „weiße”*) Lügen über jeine Lippen, das heißt ſolche, die niemand 
ichadeten, und von denen auch nie entfernt ein Körnchen Wahrheit war (was ja immer 
die ſchwärzeſten Lügen enthalten!), jondern die in ihrer ganzen Ungeheuerlichfeit ſich 
jofort gegen jedermann kundgaben als Ausgeburten einer überjhwänglichen Phantaſie. 
Könnte ich annehmen, daß der Dichter Immermann die Bekanntſchaft des Grafen 
irgendwo gemacht hätte, ſo würde ich vermuten, die Erlaucht ſei ihm Modell geſeſſen 
zum Baron Münchhauſen. 

Altgraf Salm Reifferſcheid war mit dem „Genie“ des Erfindens ſo reich aus— 
geſtattet, daß er im Orient z. B. ein berühmter, unübertrefflicher Märchenerzähler 
geworden wäre, an deſſen Lippen Jung und Alt gehangen hätte. — Zu beſagtem 
gräflichen Original ging ich alſo im Oktober 1850 zu Beſuch und wurde daſelbſt ganz 
wie eine junge „Gräfin“ aufgenommen und behandelt. Das heißt: erſtens konnte ich 
ichlafen jo lange ich wollte, jodann wurde mir, jobald ich jchellte, das Frühftüd auf 
mein Zimmer gebracht, da der Herr Graf vor elf Uhr vormittags nie jein Zimmer 
verließ, d. h. nicht für mich fichtbar wurde. War das Wetter jchön, jo erichten nad) 
elf Uhr der Kammerdiener, welchen die Erfaucht nie anders als ihren „Jammerdiener“ 
benannte, denn er gab unaufhörlich Gelegenheit, über ihn zu jammern, und jammerte 
fomijcher Weile dann jelbft auch mit; jagte z. B. ganz kläglich: „ich hab wieder einmal 
was recht Dummes gemacht!” oder: „Nein! aber was mir wieder pafjiert ift, Frelen!“ 
und Iud mic) unterthänig zu einer Spazierfahrt mit feinem Herrn ein. Hatte ſich aber 
ſchlimmes Wetter eingeftellt, jo wurde ich aufgefordert, in des Grafen Bibliothefzimmer 
zu fommen, woſelbſt diejer fich dann bejtrebte, mich auf das bejte zu unterhalten bis 
zum Mittageſſen. Lebteres war immer eine lange Arbeit, denn wir jaßen in der Regel 
noch am Kaffee, wenn der Wagen für das Theater gemeldet wurde. (Die Rachel 
gaftierte damals in Mannheim.) 

So viele gute Dinge, wie mir an des Grafen Tafel täglich vorgejegt wurden, 
waren mir in meinem ganzen bisherigen Leben nicht zu Geficht gefommen; und da die 
Erlaucht ſich einbildete, mein damaliges blafjes und jchmächtiges Ausjehen komme daher, 
weil man mich in meiner Schule habe halb verhungern laſſen, (was durchaus nicht der 
Fall war, denn wir wurden reichlid und gut genährt), jo jollte ich num von allem, 
was mir vorgejegt wurde, ejfen, und zwar tüchtig. Wehrte ich mich aber dagegen, jo 
hieß es doch meilt: „Und folgſt du nicht willig, jo brauch ich Gewalt!” und troß meines 
Brotejtes wurde mir vorgelegt, bis es mir beinahe erging wie meinem jüngften Bruder 
auf der Kirchweihe zu Weikersheim, wohin ihn die dortige Baje eingeladen hatte und 
worauf er fich Eindiich freute; bejonders auf den Wafen mit jeinen Schaubuden und 
jeinem Spielplab. 

Alle dieje Herrlichkeiten jollten ihm aber erſt zugänglich gemacht werden, nachdem 





*) Wie die Engländer jagen. 


Stizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1293 


er fi) bei der Frau Baſe „durchgegeiien” hatte. Zwei Teller Nudeljuppe waren 
glücklich) verichwunden, als die Baſe aber Anftalt machte, meinem Brübderlein den dritten 
berauszujchöpfen, da waren Bernhards Geduld und gute Manieren mit einemmale 
verschwunden und er brach in ein jolches Gebrüll aus, daß man ihm entjeßt das übrige 
Eſſen jchenfte und ihm feiner Wege laufen ließ! . . . 

Graf ©. ließ mich aber nie von jeinem Tisch Hinweglaufen, ehe ich mich, wie der 
Mann im Märchen, durc den „Pfannenkuchenberg” Hindurchgegelien hatte. Im jtillen 
glaube ich, daß damals der Grund zu meinem jeßigen „embonpoint* gelegt wurde, 
wegen dejjen ich von Kind und Segel, das heißt Nichten und Großnichten, wenn aud) 
nicht bewundert, „berengegen” doch angeftaunt werde. 

Der Graf hat es auf dem Gewijjen! Er jchrieb damals wörtlid; an meine 
Mutter: er jchmeichle fich, mich noch gerade zu rechter Zeit vom Hungertod errettet zu 
haben! Wahrheitsliebender waren der Herr Graf, jeit ich ihm zum letztenmale gejehen 
hatte, überhaupt nicht geworden, doch Hatte ſich bei mir unterdeflen aud) der Humor 
— und ich verſtand jetzt eine „blühende Phantaſie“ von einer Lüge zu unter— 
cheiden. 

Wie die Erlaucht mit meinem Vater befreundet wurde, hätte ich längſt gerne 
gewußt, denn die beiden hatten nach unſeren kindlichen Begriffen nichts, aber auch gar 
nichts gemein mit einander. Plötzlich ging mir jetzt ein Licht darüber auf, daß Vaters 
Humor in der Geſellſchaft des Grafen reichliche Nahrung fand. Als uns das Regen— 
wetter einmal in die Bibliothek bannte, erzählte mir der Herr Graf ungefragt folgendes, 
von dem mir Mutter nachher beſtätigte, daß es diesmal im großen ganzen der Wahrheit 
ziemlich nahe komme, weshalb ich e3 hier mitteile.. Umjomehr, als mir unjere Mutter 
unter jchönem Erröten (fie behielt dieje Eigenjchaft bis ins a geftand, daß es aud) 
das erjte geweſen fei, was ihr über unferen Vater zu Ohren gekommen und fie jofort 
für ihn eingenommen habe. Während die Erlaucht einftmals auf ihren Gütern in K. 
refidierte (e8 mag ungefähr anno 1811 gewejen jein, jagte der Graf) hörte er viel 
von den „nagelneuen“ Kuren eines jungen Doftors, der feine Weisheit auf ſieben Univerfi: 
täten aufgegabelt haben jollte (in Wahrheit waren es nur fünf) und der fich jeit kurzem 
in Ingelfingen niedergelafien hatte. Eines Tages erzählte dem Grafen fein „Bartkratzer“ 
und Neuigkeitszuträger: „Erlaucht möchten doch vernehmen, was der junge Doktor für 
ein ſonderbarer Kauz jei. Vor ein paar Tagen habe er bei Nacht und Nebel auf der 
halsbrecheriichen Stange dajelbit jeinen Heimweg gejucht, als jein Pferd an einem 
Gegenjtand, der am Weg lag, jcheute. Jeder andere hätte jih nun mit dem Gedanken 
beruhigt,“ da liegt auch einer, der des Guten zu viel im Moſt gethan hat“ und wäre 
weiter geritten. Nichts da, der vorwigige Doktor hatte nichts eiligeres zu thun, als 
abzufteigen, denn ein menjchlicher Körper, der regungslos daliege, ſei ja befanntlich ein 
„wahres Freſſen“ für einen jungen Arzt. Diefer habe num jchnell Feuer geichlagen, 
ein Eleines Laternchen angezündet, das er bei ſich getragen habe und beim Lichte desjelben 
einen alten Schacherjuden erkannt, der in der Gegend jeinen Handel betreibe. Anjtatt 
nun diefen alten Salomon, Iſaak oder Jakob feine Reife in Abrahams Schoß ruhig 
antreten zu lafjen, habe er Jude und Zwerchjad auf jein Pferd geladen, jei neben dieſer 
Fracht Ingelfingen zugejchritten und habe den Juden — und alles — in jein Logis 
gebracht und den Kranken in jein eigenes Bett gelegt, ihm die Glieder wieder eingerenft 
und pflaftere und jalbe num jeither an ihn herum, zum Gaudium der ganzen Gegend 
und zum bejonderen Vergnügen jeiner Hausmwirtin, deren Kramladen noch nie zuvor jo 
viele Kunden an jich gezogen habe, wie eben jeßt. „„Diejen Doktor mußt du div aud) 
anjehen,““ nahm ſich nun der Graf vor; und gejagt, gethan. Anderen Tages jchon 
habe er es unternommen und jei expreß von K. nad) Angelfingen gefahren, für jeine 
Knochen in einem Tag hin und zurück feine Kleinigkeit! Dort habe er Gefährt und 
Kutſcher in das Wirtshaus geſchickt und habe zuerjt den Kramladen aufgejucht; über 
einem Schnupftabaf, den er ſich kaufte, jei ihm alles bejtätigt worden und jo jei er 


1294 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


denn mit feiner Krüde die jchlechte Stiege hinauf geftapft und die Thüre zu des Doktors 
Stube habe er nicht nötig gehabt zu juchen, denn fie jei weit offen geftanden. Den 
alten Juden habe er wirklich dort im Bett getroffen und den Doktor daneben Pflafter 
ftreihend. Raſch habe diejer aufgeblict, als er mit feinem Krüdenftod hereingehumpelt 
jet und habe mit ein paar „Freßaugen“ fein Fußwerk angejchaut, wie wenn es Da 
vielleicht bald eine vergnügliche Mebelei gebe; dann habe er ruhig am Juden weiter 
hantiert ımd verbunden. Der Graf gejtand, ihm habe e3 dabei jonderbar am Herzen 
„gelrabbelt” und auch in die Augen fei ihm ein feuchter Tropfen gefommen; um jeine 
Rührung aber zu verbergen, habe er etwas von „Knoblauchduft“ gemurmelt. Darauf 
habe ihn der Doktor unwillig angeblidt und ihn verfichert, wenn ihm die Luft in jeiner 
Doftorsftube nicht gut genug ſei, möge er fich nur gefälligit wieder die Treppe hinunter 
nnd zum Haus hinaus bemühen. „Anftatt aller Antivort,“ erzählte mir die Erlaucht 
weiter, „jeßte id) mich aber nur auf den nächiten Stuhl. „Wer find Sie und was 
wünjchen Sie. Wenn Sie fid) wegen Ihrem Klumpfuß zu mir bemüht haben, ift es 
vergeblich, meine Wiſſenſchaft kann nichts für dieſes angeborene Leiden thun.“ Nun 
machte der Graf nach, welche demütige Haltung er ſich damals beftrebt hätte anzu: 
nehmen, indem er antwortete: „Ich bin bloß der Altgraf Salm von Reifferſcheid— 
Krautheim und komme nicht wegen meines Fußes, jondern nur um beim Herrn Doftor 
anzufragen, ob ich nicht den halbtoten Juden vollends totmachen, ad) nein, helfen her: 
pflegen darf. „Das verjehe ich beſſer jelbft,“ joll nun bejagter Doktor lachend erwidert 
haben, und erjt als er mit dem Juden ganz fertig gewejen jei, habe der Doktor jeinen 
Saft aus dem Schlafzimmer in das Studierzimmer geführt und ihm dort ein wahres 
„Lotterbett“ von Sopha als Ruheſitz angeboten. Dann bejchrieb der Graf, wie er nun 
ein menyhliches Rühren in feinem Magen verjpürt hätte und diplomatijch ſich geäußert 
habe: „Doktor! wenn Ihre Speifefammer nicht bejjer verproviantiert ift als Ihre 
Gelafje möbliert find, jo werden Sie einem halbverhungerten Menjchen, der zu nacht— 
ichlafender Zeit daheim aufgebrochen ift, um einen barmberzigen Samariter und einen 
halbtoten Juden zu jehen und jet einen tüchtigen Appetit hat, wohl nicht viel aufzu- 
warten haben.“ Lächelnd joll der „Pflafterftreicher” geantwortet haben: „Nichts als 
eine jaure Milch, friich aus dem Keller, Schwarzbrot und Butter nebſt einem Rettich 
aus dem Gürtchen Hinter dem Haufe, oder auch eine Pfeife.” „OD Herzens:Doftor,“ 
behauptete der Graf entzüct gerufen zu haben, „alles drei in gehöriger Reihenfolge, 
damit ich Ausficht habe jatt zu werden. Fangen wir mit der gejtandenen Milch an, 
laffen wir darauf eine Pfeife folgen, und zulegt, ehe ich heimfahre, Rettich und Butter: 
brot, zu dem fich dann wohl auch noch ein Schlud von etwas Trinkbarem beſchaffen 
wird? he Doktor?” was derjelbe dann auch freundlicht in Ausficht zu ftellen beliebte. 
Nun malte der Graf aus, wie, nachdem die Milch feinen erften Hunger befriedigt 
gehabt hätte, die „Freundichaftspfeife” geraucht worden ſei (in einer Reihenfolge) bis 
fich zulegt beide jozufagen vor Rauch nicht mehr gejehen hätten. Da habe der Jude 
im Nebenzimmer angefangen zu huſten und erjchredt joll der Doktor Fenſter und 
Stubenthiire weit aufgerifien und befohlen haben: „Herr Graf, jegt darf nicht mehr 
geraucht werden, denn mein Patient joll nicht huſten, und wie Sie hören, reizt ihn 
der NRaud) dazu.” „Nun meinetwegen,” will der Graf erwidert haben, „aber den 
Neitichgeruch wird der heikle Patient doch vertragen können?” Lachend habe der Doktor 
die Rettiche and, höchfteigenhändig aus dem Hausgarten herbeigeholt und ihm den 
Ihönften, „einen Kerl, wie einen Kindskopf“ auf unterwegs „zur Unterhaltung“ mit: 
gegeben. In diefem Tone plauderte der Graf mir Stunden lang vor und entichuldigte 
mich, wenn ich wegen meiner Heiferfeit jelten eine andere Antwort, als ein Lächeln für 
ihn Hatte. Einmal brachte der Graf die Rede auch auf feinen Klumpfuß, der befanntlich 
angeboren wird, mic) aber verjicherte er friſchweg, dieſer Fuß ſei ihm von einer 
Kanvnerkugel „herumgedreht” worden. Da ich wußte, daß der fatholijche Graf eine 
Pfründe als Kanonikus bezog, jo fragte ich Fed, wie e8 denn fomme, dab ein Träger 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Feit. 1295 


jeiner geiftlichen Würde je diejem merkwürdigen Schickſal ausgeſetzt geweſen jei. Höchlich 
erjtaunt rief der Graf: „Wußten Sie denn nicht, daß ich im meiner Jugend Soldat 
gewejen bin und viele Schlachten unter Napoleon mitgemacht habe?” und als ich verneinend 
den Kopf jchüttelte, erzählte er mir, wie Napoleon „jeine Bekanntichaft gefucht hätte“ 
wegen jeiner Sprachkenntniſſe (diefe muß die Erlaucht in Wahrheit beſeſſen haben, denn jeine 
Bibliothek enthielt Bücher aus 5—6 Sprachen) und ihn einftmals mit einer hochwichtigen 
politiichen Kommiſſion nad) England betraut habe. „Sa, fuhr der Graf wie in 
alten Erinnerungen aufgehend fort, „damals war ich nod) ein ganz anderer Kerl. Auf 
das Pferd gejellen und Tag und Nacht nicht davon herunter, bis ich in London herab: 
jprang, das war meine Sache.“ Lächelnd erinnerte ich die Erlaucht an das Meer. 
„Dh! ich) habe den Landweg nad) England benußgt!” gab mir der Graf zur Antwort, 
ohne fich durch meinen Einwand im geringsten aus dem Konzept bringen zu laſſen. 
Manchmal erzählte mir der Graf auch allerlei Studentenftreiche, Die er aus 
Vaters Munde erfahren, und ſonſt noch Familiengeichichten, die er von ihm gehört 
hatte, und da mir diejelben von meiner Mutter und den Tanten beftätigt wurden, als 
ich in die Heimat zurückkam, jo will ih, was ic) mir noch erinnere, bier anführen. 

Vater jtudierte mit einem feiner Brüder einige Semefter in Jena; am Thor der 
Stadt war noch eine Wache, der man genaue Auskunft über feine Perjon geben mußte. 
Befragt, gab ſich Vater, der rötlich blonde Haare und eine lange Naſe hatte, für „Schiller“ 
aus, und fein dunfelaugiger, dunfelhaariger Bruder, der mit einer Adlernaje begabt war, 
für „Goethe.“ „So,“ jagte die Schildwache und fuchtelte mit bezeichnender Gebärde in der 
Luft herum. Da wird der „Klop:f-ftod auch nicht ferne fein,” nad) weld) verſteckter Drohung 
die übermütigen Studenten es doc, für geraten hielten, Namen und Herkommen richtig 
anzugeben. In Marburg jollte Vater des Grafen Erzählung noch an einem Tage 
mit einem ganzen Korps gepauft haben und mit einem fogenannten Fleuret jo viele 
Korpsitudenten fampfunfähig gemacht haben, daß ein großer Lärmen darüber entjtand 
und Water relegiert wurde jamt feinem Sekundanten, dem als Oberzollverwalter und 
Urbild eines Philifters in meiner Vaterſtadt verftorbenen Herrn W., der mir Obiges 
betätigte. Nachden Vater relegiert war, ging er unter dem Namen feines Bruders, 
der frank geworden zu Haus lag, nah Würzburg und jtudierte gerade dort, als anno 
1796 Fürſt Wrede oder Erzherzog Karl von Dejterreich die Franzoſen dort unter 
Jourdan befiegte. Vater jah vom jogenannten Käpelle aus (wenn ic) mir den Ort nod) 
recht erinnere) die Schlacht mit an und jchlicy fich nachts auf das Schlachtfeld, holte 
ſich dort einen toten franzöfiichen Grenadier, jchleppte ihn auf die Anatomie und bereitete 
ihn dort zu einem funftvollen Skelett zu, das er in ſeiner Doftorsjtube jpäter ftehen 
hatte und dem wir Kinder frühzeitig Patſchhände geben mußten, wodurch wir jo vertraut 
mit dem Knochenmann wurden, daß wir lernten, denjelben treppauf und ab zu führen, 
was mich in die Verjuchung brachte, einmal den Mut meiner Kameradinnen zu erproben, 
indem ich unvermutet die Thüre unjerer Wohnftube öffnete und den Knochenmann vor 
mir her zur Thüre herein jchob, wodurd) ich der Kleinen Gejellichaft aber einen wahren 
Todesjchreden einjagte, der mir am jchlimmiten jelbft befam. Auf der Univerfität Er: 
langen (die Vater, wenn ich recht weiß, zuerft bezog) lieferte er ein Stückchen, welches 
ihm jeine Schwejtern nicht vergeben und vergeſſen fonnten. Er befam von ihnen 
12 Baar jelbgeftridte nagelneue Strümpfe zu feinen neuen Kniehoſen mit und ein 
Dutzend ſelbſtgeſponnene, ſelbſtgebleichte und jelbjtgenähte Hemden. Die Hemden waren 
aber für Vaters zarte weiße Haut nicht fein genug, „Sie judten ihn“ (wie er nachher 
jagte) und jo gab er fie feinem Stiefelpuger zum „Abrumpeln.” Der rumpelte aber jo 
lange daran ab, daß, bis Vater fie zurücdverlangte, „fein guter Faden” mehr daran 
war und man fann ſich der Großmutter Schreden vorjtellen, al3 fie die Lumpen der 
Waſchkiſte des Sohnes entnahm, umjomehr, als fie nicht die einzigen darin waren. Kaum 
hatte nämlich Vater die Univerfität Erlangen bezogen in Strümpfen und kurzen Hojen, 
als die Herren Studenten anfingen blaue Fräde und lange Nanking:Beinkleider zu 


1296 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


tragen; dazu brauchte man aber Soden anftatt Strümpfe. Vater war nun fur; beſonnen, 
(egte jeine 12 Paar Strünpfe auf einander und machte ſich mit einem wuchtigen Schlag 
jeines Rapiers „Soden“ daraus. Natürlic hatte jeder eine andere Länge, was Vater 
aber durchaus nicht genierte, umjomehr aber jeine Schweitern, welche dieje Soden, als 
der Herr Studiojus fie nad) Haufe brachte, nur auch gleich zu den Lumpen werfen 
durften und neue dafür ſtricken. Abgerechnet jeine heruntergefommene Garderobe muß 
Vater von jeinen verjchiedenen Univerfitäten aber Nüßliches d. h. Kenntniſſe nicht 
gewöhnlicher Art und weltmänniſche Manieren mitgebracht haben, ſodaß mir Graf Salm 
ſagte, er habe in der Apotheke in Ingelfingen erzählen hören, der Fürſt von J. 
habe auch das Geſchichtchen von dem verunglückten Juden gehört und aus Nengierde 
Vater zu einer Audienz befohlen; überraſcht von der imponierenden weltmänniſchen 
Erſcheinung des jungen Doktors, ſoll der Fürſt ihn mit „Sie“ anſtatt mit „Er,“ wie 
es damals gebräuchlich war, angeredet haben, was der Umgebung des Fürſten ſo auffiel, 
daß der jüngſte Prinz ſich deshalb zu einer Frage verſtieg. „Ja,“ ſoll der Fürſt lachend 
geantwortet haben: „Der junge Doktor ſah mir eben darnach aus, als ob er mich 
duzen würde, wenn ich ihm mit einem „Er“ daher käme. 

Die lebhaften Erzählungen des Grafen hatten es mir erſt zum Bewußtſein gebracht, 
wie wenig ic) eigentlic) von meinem jeligen Vater und den beiderjeitigen Großeltern 
wußte. Als ich deshalb wieder in der alten lieben Heimat war, ließ ich mit Fragen 
nicht nach, bis ich von der lieben Mutter und den beiden noch iebenden Tanten einiges 
über unſere Familie gehört hatte. Was ich mir davon noch genau erinnere, will ich 
hier anführen. Mein Vater Chriftian Friedrih B. war anno 1776 am 7. April 
geboren, als Sohn des Superintendenten Bernhard B. in Weikersheim. Mit drei weiteren 
Brüdern bejtand er das Maturitäts:Eramen, ohne je einen andern Unterricht genojien 
zu haben, als den unjeres Großvaters, der jeine Kinder jo jorgfältig erzog, daß jein 
Bruder, der unter Friedrich dem Großen als Chirurg den jiebenjährigen Krieg mitgemacht 
hatte und zwar fein hochdeutſch ſprechend, aber ſonſt etwas verwildert nach Hauſe 
zurückkam, ganz erſtaunt zu ihm geſagt haben ſoll: „Aber höre, du erziehſt ja deine 
Kinder, wie wenn du jedem 100,000 Gulden mitgeben könnteſt.“ Nicht weichlich, 
genußſüchtig oder ſonſt irgendwie anſpruchsvoll wollte der Militärarzt damit ſagen, 
ſondern nach dem Höchſten ſtrebend, Gemeines haſſend und ſelbſtändig in Ausdruck und 
Haltung Höherſtehenden gegenüber. Großvater konnte ſeinen Kindern an Geld und Gut 
nichts hinterlaſſen, als er ftarb, dafür hatte er ihnen allen aber eine ausgezeichnet qute 
Erziehung gegeben und das war genug. 

Unjer Bater jtarb ziemlich jung, desgleichen ein anderer Bruder, Friedrich 
Wilhelm, als Veſperprediger in Nauenſtein. Der dritte Bruder, Friedrich, jtarb als 
Gerichtshof-Direftor in E. Hochbetagt. Der vierte und jüngjte Bruder „Chriſtel“, 
ungemein talentvoll, bejonders im Malen, fteckte, noch als Student, nach einer großen 
Anjtrengung, die ihm Wallungen und Herzklopfen verurjacht hatte, jeine Arme in einen 
Brunnentrog voll eisfalten Waſſers; befam daraufhin einen Schlaganfall und lag wie 
zerichmettert darnieder, bis ihm Gott jein tägliches Gebet erhörte, daß er vor jeiner 
Mutter eingehen durfte in die ewige Heimat anno 1813. 

Auch jeine Töchter hatte Großvater weit über den Begriff der damaligen Zeit 
von „Bildung und Haubenjteden” erzogen. Tante Renate war 3. B. in der Mufit 
jo daheim, daß jie nad) dem Gehör jedes Mufikftüct nachipielen und aufichreiben konnte, 
das von vorüberziehenden Truppen gejpielt wurde. Tante Bach war am Sternen: 
himmel jo genau befannt, wie ein Geograph auf ſeiner Landkarte. Alle Schweſtern 
fonnten nad) der Natur aufnehmen und in Wajjerfarben hübjc malen, und die älteſte 
Schweiter, Tante Mine, hatte alles geleſen und wußte mit Begeilterung zu rezitieren; 
3. B. jagten ihr die Schweitern nach: bei Geburt ihrer Kinder habe ihr jedesmal eine 
von ihnen den „Meſſias“ von Klopjtod vorlefen müjjen, und bis der durchgelejen war, 
erichien auch der fleine Weltbürger, ohne daß jeine Mutter nur „gemuckſt“ hätte, wie 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1297 


unfere Tanten zu jagen pflegten. — Nachdem unjer Vater im Jahr 1812 nad) 
Künzelsau (von Ingelfingen aus) übergejiedelt war, heiratete er von dort aus am 
10. Auguft 1813 unfere I. Mutter Karoline, einziges Kind des kurz zuvor gejtorbenen 
Pfarrers Landbeck in Michelbach bei Dehringen. 

Unſer Großvater Landbeck war als arme Waiſe von Franke in Halle im Waiſen— 
haus erzogen worden. Dorthin lieferte ein Graf ſdeſſen Name ich mir Leider nicht 
mehr erinnern fann) zwei Söhne in Frankes „Pädagogiun“, in dem — in der Regel — 
nur Kinder vornehmer Leute erzogen wurden. Zugleich jprad) der Graf gegen Fraufe 
den Wunſch aus: für einen älteren, gejcheiten und gut gearteten Waijenhauszögling 
die Kosten für das Pädagogium tragen zu wollen, wenn derjelbe willig und geeignet 
wäre, die beiden jungen Grafen unter jeine Aufſicht und Fürſorge zu nehmen und den: 
jelben bei ihren Studien den nötigen Nachhilfeunterricht zu geben. Zu Ddiejem quasi 
Hofmeifter ſchlug nun Franke unjeren Großvater vor, der einer jeiner begabtejten 
Matjenfinder war und der durch jeine tadelloje Aufführung und jeinen Xerneifer 
Frankes bejonderrs Intereſſe und Wohlwollen ſich errungen hatte. Der Graf berichtete 
darüber an feine Frau und dieje joll darauf geantwortet haben: er jolle den jungen 
Mann — che er einen feiten Entjchluß falle — zuerit zum Mittageſſen einladen und 
fi) dabei über alles mögliche mit ihm unterhalten — finde er ihn angenehm und 
ſchicklich in ſeinen Manieren, jolle er jogleich die Sache richtig machen. — Su geſchah 
es. Der jugendliche Hofmeilter erwarb ſich in jolch hohem Grade die Liebe und das 
Vertrauen feiner beiden Grafenfinder, daß diejelben ſich mit Leib und Seele an ihn 
anjchloffen, und als fie das Pädagogium abjolviert hatten, durfte Großvater — auf 
Koften des Grafen — mit feinen Zöglingen die Univerfität beziehen, und dort jeinem 
PBrivatjtudium, der Theologie, obliegen. Nach zurücgelegtem Eramen wurde Großvater 
von der gräflichen Familie dem Fürſten von Dehringen als Bagenhofmeijter empfohlen 
und von diefem angenommen. Nach der Mediatijierung des Fürſten wurde der Hof: 
meiſter mit der Pfarrei Michelbach belehnt und von dort aus verheiratete fich unfer 
Großvater mit der Tochter eines Geheimen Hofrats Rößle, deren Mutter eine 
Mademoijelle de Bertrand aus Meb war. Dieje Urgroßmutter beſaß jehr vielen 
fojtbaren Schmud, maffives Silberzeug und echte Spigen, welche Reichtümer fie unter 
ihre Töchter, die alle „höher hinauf“ heirateten, wie die jüngjte, verteilte. Die Lifte 
über das, was unjere Großmutter bei ihrer Verheiratung mitbefam, exiftiert noch und 
it lang; um jo fürzer beifammen ift aber, was fi) davon noch auf ihre Enkel ver: 
erbte. Am meijten bedauere ich, was für die perfiden Polen aus der Mutter ihrem 
Schmudkäjtchen nicht den Weg alles Fleiiches ging. Im Mai 1814 wurde Bater von 
der württembergiichen Regierung als erjter füniglicher Oberamtsarzt in die ehemalige 
deutjchherriiche Reſidenz nach M. geichidt. Mutter rühmte noch im Alter, wie lieblich 
ihr damals das Städtchen erichienen jei, als fie unter den blühenden Linden zum Thor 
bhereinfuhr und wie entzüdt fie von ihrer erjten Mietwohnung am Thore war, mit der 
Ausficht auf das Schloß und den jchönen Blumengarten, aus welchen: abends viel: 
ftimmiger Nachtigallengejang heraufſchallte. Diejes ſchöne Logis entleidete den Eltern 
aber bei Gelegenheit der großen Truppendurchzüge, weil im Erdgeſchoß des Haujes 
eine Hauptwache jtationiert war und fremdes Militär dort fortwährend aus und 
einging, gelegentlich auch einmal Ruſſen bei der allein anweſenden Mutter in das 
Zimmer drangen, alles wie Kinder betafteten und als fie Vaters große Tabafsvorräte 
entdeckten, lachend anfingen ihre Pfeifen und Beutel damit vollzuftopfen, danı aber mit 
Dankesgebärden wieder abzogen, ohne unjere Mutter ſonſt irgendwie zu beläftigen. Die 
unruhigen Zeiten wedten in Vater den Wunjch, für Fran und Kinder ein eigenes Haus 
zu befigen, und er wählte dazu das abgelegene in der Krametsgaſſe feines großen 
Gartens wegen. Dasjelbe hatte einen deutjchherriichen „Zrapaneiverwalter” L. gehört, 
von dejjen Witwe, Die ein jeltenes Original von ſchmutzigem Geiz und jchmußigiter 
Schlamperei gewejen fein muß, e8 Vater erftand. Die Verkäuferin jaß in einem Unter 


1298 Skizzen and meinem Leben und meiner Zeit. 


rod, deſſen Flecke und Fleckchen verjchiedener Farben an eine Landkarte erinnerten, auf 
dem Dache ihres Gartenhaufes und bejjerte dasjelbe aus, als die Eltern famen, um 
das Anwejen in Augenjchein zu nehmen. Nicht im geringjten aus der Fallung gebracht, 
rutjchte die Frau Trapaneiverwalter mit Hülfe eines Hollunderbaumes, dejjen Aſt fie 
zu fich herüber bog von ihrem ungewöhnlichen Sit herunter und führte in ihrer Land— 
farte die Eltern ganz ungeniert in Haus und Garten, Hof und Seller herum. Dieje 
wußten faum, was fie mehr anftaunen jollten, die Kojtbarkeit einzelner Gegenſtände, 
Möbel, Bilder und dergleichen, oder den bodenlofen graufigen Unrat, der neben Dem 
Reichtum überall jichtbar war, ja ſorglich gehegt und gepflegt jchien. 3. B. lag Der 
größte Haufen jchimmeliger Eichen in der Speijefammer aufgejchüttet, aus welchen 
die Frau, wie fie mitteilte, ihren Kaffee zu bereiten pflegte. Auf Baters Bemerkung, 
daß dieſe Eicheln gänzlich unbrauchbar geworden jeien und höchft ungejund wegen Der 
Eilze, die jie bededten, meinte die Frau, fie fteche fi mit ihrer Gabel jeden Tag noch 
gejunde Eicheln aus dem Haufen heraus, auch habe jie feinen neumodiſchen verwöhnten 
Magen. Dod) ließ fie die vermoderten jchlecht geröfteten Eicheln in der Speijefammer 
bei ihrem Abzuge zurüd, und als meine Mutter den Unrat hinausjchaffen ließ, fanden 
ſich unter dem Haufen Eicheln jechs jchwere filberne Gabeln vor, zwar fledig und 
angelaufen, aber majjiv und jchön geformt, mit denen ich die Frau Geizkrägin wohl 
ihre Bortion Eicheln zum Kaffee herauszugabeln pflegte, in ihrer Schlamperei aber die 
Gabeln im Haufen ſtecken ließ, bis fie in demjelben verjanfen. Dieje Gabeln lie Mutter 
nun bejtens reinigen und Vater packte jie dem Kaufjchilling bei, welcher dem Geizdrachen 
nachgejchiett wurde. Als Dank dafür jchrieb die Frau Trapaneiverwalter zurüd: In 
den Geldrollen jei ein faljcher Zwölfer gewejen, jie quittiere daher erjt, wenn Diejer 
durch einen guten ausgewechjelt jei. Unſer Vater hob diefen Brief als Quittung auf 
und gab gar feine Antwort darauf. „Deutjchherriich, deutſchnärriſch,“ hieß es damals 
und die Eltern wußten uns Kindern immer noch viel davon zu erzählen, wie ungern 
die Bürger des Städtchens der Herrichaft des deutichen Ordens verluftig gegangen jeten. 
Nicht nur mit Händen und Füßen, jondern mit Steinen, Kugeln, fiedenden Wajler 
u. dergl. hatten fie fich gegen das würtemb. Militär gewehrt, um nicht anjtatt „Deutſch— 
herriſch“ „Königlich“ werden zu müſſen. Noch erinnere ich mir, daß ich als Fleines 
Mädchen von meinem Vater Auskunft verlangte über Steine an einer Weinbergsmaner 
in der Nähe der Wolfgangstapelle, in welche eine Schere, ein Rad, ein Weden, eine 
Bregel u. j. w. eingehauen waren, und daß mein Vater erzählte, hier jeien Bürger des 
Städtchens: ein Schneider, ein Wagner, zwei Bäder u. ſ. w. erichofjen worden, Die 
das in die Stadt einziehende Militär mit Eochendem Wafjer, Del, Steinhagel und 
Schießen aus den Dachluken empfangen hatten. Auch die Schwejtern unjeres Baters 
liebten e3 ehemals, troßdem fie ehrjame Superintendententöchter waren, zuweilen bei 
bejonders großen Feitlichkeiten von dem benachbarten W. aus (das Großvater bewohnte) 
den deutjchen Ordensherren nachzulaufen, um diejelben im offenen Speiſeſaal des jchönen 
Luſtgartens, „salla terena* genannt, tafeln zu jehen, oder von einem Fenjter im Gaft: 
haus zum Kreuz irgend einen der prächtigen Umzüge der Ordensritter anzujchauen, 
wohl jogar von der Empore der katholiſchen Kirche aus ihren Feſtgottesdienſt zu 
belaujchen. Bei einer jolchen Gelegenheit brachte die Kreuzwirtin einmal den hübjchen 
Pfarrjungfern die erjten Kirſchen aus ihrem Garten, damit fich diejelben damit die Zeit 
vertrieben, bis die Prozeſſion der deutjchen Herren daher gewallt fam. Die Pfarr: 
töchterlein hatten am Fenſter Poſto gefaßt, den Kirichenteller zwijchen ſich und führten 
bald eine Kirjche zum Munde, bald hielten fie Umſchau nach dem Aufzuge der Ritter, 
welcher immer noch nicht erjcheinen wollte. Doch endlich bog er um die Ede und 
wallte gerade unter ihrem enter dahin, als Tante Renate den Kirjchenteller mit einer 
hübjchen Anzahl Stielen und Sterne läſſig in der Hand haltend, ſich zu weit vorbog, 
jo daß der Teller jchnappte und jein ganzer Inhalt gerade noch das Haupt des lebten 
Ordensheren erreichte und ſich unbemerkt auf deſſen jtattlicher Perrücke lagerte. Entjett 


Skizzen aus meinem” Leben und meiner Zeit. 1299 


fuhren die Mädchen mit ihren Köpfen und ihrem leeren Teller zum Fenſter herein, da 
trat eben die Wirtin unter die Thüre und forderte jie auf, gejchwind mit ihr hinüber 
in die Kirche auf die Empore zu fommen. Gejagt, gethan! Aber als Tante Renate 
hinter irgend einem Heiligen verſteckt herabfugte, jtand gerade — o Edjreden — ber: 
jelbe Ritter unter ihr, deſſen mächtige Perrüde fie mit dem une wöhnlichen Schmud 
hehe etlichen geringen Kirjchen, zahlreichen Stielen und einem Häufchen Kernen ver: 
eben hatte. 

Zur Zeit der Truppen: Durchzüge während der Napoleonijchen Kriege hatten unjere 
Tanten auch viele Augenweide und konuten fich nur jchwer von den Fenſtern trennen, 
wenn es etivas auf dem Marfte zu jehen gab, an dem das geiftliche Haus in W. lag 
und jomit jeder Zeit die jchönfte Ausficht bot. Einmal war auch wieder Truppen: 
durchzug; die müden Wanderer wurden in ihre Quartiere entlajfen, aber der Herr 
Offizier bejtimmte zuvor noch genau die Stunde, wann fic) die Soldaten \wieder auf 
dem Marftplag zu jammeln hätten und fommandierte mit weit hinjchallender Stimme: 
„Aber daß mir Steiner der legte jei!” Ein anderes Mal hielt ein Trupp Franzojen 
unmittelbar unter den Fenſtern des Defanathaujes; einige machten Zubereituugen zum 
Eſſen, andere pußten ihre Stiefel, und ein Dritter rieb die Knöpfe feiner Uniform 
ganz wunderbar glänzend. Mit was er Iebteres jo gar ſchön zu wege bradıte, 
interejfierte die Pfarrjungfern, die am Fenſter jaßen und nähten; bejonders die eine 
itredte ihr Hälschen wohl öfter als nötig war, jedenfalls üfters al3 es dem Unter: 
offizier gefiel, denn diefer wandte jeinen Kopf plöglich empor zum Yenfter und jagte 
jtrafend: „Travailler Mademoisselle und nit glog!” — Ein anderes Mal fam ein 
beitaubter, todmüder Trupp Franzojen auf dem Marktplatz an, der dort unur jo umfiel 
und liegen blieb aus äußerſter Erjchöpfung. Einzelne Spießbürger kamen herbei und 
ſchauten jich die Leute, die jo marode ausjahen, an, unter diejen ein ſimpelbafter Krüppel, 
weitaus die auffallendfte Erjcheinung im Ort. Derjelbe wadelte fortwährend mit dem 
Kopfe, ftrecte dabei möglichjt weit die Zunge heraus, und während er mit den langen 
Armen wie mit Windmühlenflügeln fuchtelte und feine Elephantenfüße dabei jo jtellte, 
daß die Ferien an einander tiefen, wie es felbit ein franzöfischer Tanzmeifter nicht 
beſſer zuwege bringt, und dabei die Zehen in gerader Linie, die einen füuf nach rechts, 
die anderen fünf nach links auseinander liefen. Dieje auffallende Erjcheinung war nun 
in W. jo mwohlbefannt, daß fein Menſch mehr nad) ihr herumblidte als höchſtens ein 
böjer Bube, der den Simpel hänjeln wollte. Die Herren Franzofen hatten aber jo eine 
Gejtalt wohl noch nie gejehen, denn plötzlich vergaßen fie ihre Müdigkeit und wurden 
ganz Auge. Einer ſtieß den andern an, lachte, plauderte, und mit einemmal unter: 
hielten fich alle auf das bejte! Der Simpel aber, nachdem er fich an ihnen ſatt gejehen 
hatte, ftieß die gewöhlichen gurgelnden Laute aus, die bei ihm die Sprache vertraten, 
und trollte ji davon. Sofort jprang der nächſte Franzoje auf und ihm nad), wadelte 
mit dem Kopf, jchlegelte mit den Armen, jtellte die Füße wie ein Dachshund auswärts, 
Itredte die Zunge jo weit als möglich heraus und verjuchte die gleichen heiferen Kehl— 
laute auszuftoßen, wie der Simpel! Dem erjten nachäffenden Franzoſen folgte der 
zweite nad), dann der dritte, und zulegt — wie große Kinder — ftellten fie alle, im 
Gänſemarſch ſich bewegend, eine Bande johlender Simpel vor! 

Manchmal erzählten mir auch die Tanten Erlebniffe ihrer Eltern, die buchſtäblich 
wahr find, aber in heutiger Zeit märchenhaft Elingen werden. 3. B. wußte die Grof- 
mutter zu erzählen, daß e3 bei meinen Urgroßeltern — Pfarrleuten in einem Weingau — 
gebräuchlic) war, daß jeden Tag am Morgen eine jogenannte „Stüße”, ein großes 
Trinkgeſchirr aus Holz, innen gut ausgepicht, im Keller mit Wein gefüllt und in die 
Wohnſtube gejtellt wurde zum beliebigen Gebrauch für die Hausbewohner. Erwijchte 
num die Urgroßmutter eines ihrer Kinder, daß es am Wafjerfübel in der Küche feinen 
Durft löjchte, dann hieß es verweilend: „Ei, jo ſauf doch nicht Waſſer wie das I. Vieh)! 
Zu was läßt denn unjer Herrgott Wein für die Menjchen wachien? Trink doc) in 


1300 Skizzen aus meinem Leben und meiner Beit. 


Zufunft aus der Stüße und nicht mehr aus dem Kübel!” Einmal joll jo ein reiches 
und gutes Weinjahr in Vorbachzimmern gewejen jein, daß die Urgroßeltern, wie alle 
Leute im Ort, den Säuerling des Vorjahres auslaufen ließen, um die Fäller frei zu 
befommen für den guten Heurigen. — Manche angenehme Stunde brachte ic) damals 
bei meinen alten Tanten im oberen Stod zu, und jichtlich freute auch fie mein Kommen 
und fie juchten mich jedesmal damit zu ehren, daß, jobald id) ihr Zimmer betrat, gleich 
eine von ihnen den ſauber gefegten Eßtiſch mit einem Teppich bededte. Wollte ich Dies 
wehren, jo hieß e8: „Ach nein, wir haben jonjt nichts dir vorzufegen, laß uns wenigstens 
unjern Teppich auflegen, wie unjere Jungfer Tante immer that, wenn wir fie bejuchten.“ 


Ein Jahr und etliche Monate brachte ic) damals zur Pflege meiner Gejundbheit 
daheim zu, und in diefer Zeit fnüpften fich alte Freundichaftsbande wieder neu. Im 
D.'ſchen Landhaufe, wo von den Grafenfindern jegt alle bis auf die ältefte Tochter 
und den jüngjten Sohn ausgeflogen waren, fam, während ic) zufällig anmwejend war, 
ein Brief aus fernen Landen und Meeren, der von Albert war, und anjtatt des Datums? 
mit „Fünfter Breitegrad” begann, was Ernft, den jüngjten, veranlaßte, mir zuzuflüftern: 
„Da trägt er wohl auch feine Unterhojen mehr!” Diejem Brief nad) hatte bereits das 
Leben in eine harte Schule den dreiften „Kobold“ (wie Alberts Spitzname lautete) 
genommen, doch war der Brief gewürzt mit föjtlichem Humor; und wenn auch Albert 
nicht gerade „jein Glück machte” auf der See, jo hatte er es doc) zum zweiten Steuermann 
—5 als er nach zehnjähriger Abweſenheit ſeine Heimat zum erſtenmal wieder 
aufſuchte. 


In der damaligen Zeit ging ich auch bei Eduard Mörike ſeiner Schweſter wieder 
aus und ein und trat in dieſer Zeit auch ihrer intimen Freundin Margarete von Speeth 
näher; und als zu Anfang Mai 1851 die Geſchwiſter Mörike nach Egelshofen, einem 
romantiſch gelegenen Dörfchen bei Konſtanz gingen (des Dichters Geſundheit verlange 
vollftändige Ruhe und Abgejchlofjenheit, hieß e3 damals!) da durfte ich in Margaretens 
Mädchen-Stübchen Anteil nehmen an den poetischen Grüßen in Proja und Verſen, Die 
von Egelshofen an die Freundin kamen. Bon „Liebe“, wie mein junger Kopf ſich 
diejelbe damals vorjtellte, war in diefen Sendungen wohl nie die Nede, doc empfand 
ich jo viel, daß 


„Was unfichtbar dazwiſchen fteht, 
Iſt Föftlicher, als was die Zeilen jagen!“ 


Jedermann im Städtchen glaubte, der Wegzug Eduard Mörikes bedeute ein Löſen 
der Freumdichaftsbande, die Margarete mit Mörike und jeiner Schweiter verbunden hatten; 
aber was vielleicht beim Zujammenwohnen und täglihem Sehen und ſich Sprechen 
„Freundſchaft“ geblieben wäre, befam durch die Trennung von „Süßer Gewohnheit“ 
plöglidy eine afutere Färbung, und eines Tages bradjte uns Stadtpfarrer W. 
(unjerer und Mörifes Hausfreund) die große Neuigfeit, daß er ſoeben Mörifes Anhalt: 
brief Frau v. Speeth in das Haus getragen und nad) der nötigen Vorbereitung über: 
geben habe! Auch wußte W. zu erzählen, dag Mörike — von jeinen Freunden beftimmt — 
fi) in Stuttgart niederlaffen werde, um litterariiche Borträge zu halten, und daß ihm 
bereits eine Profeſſur am königlichen fath. Stift angetragen worden und damit der Weg 
zu jeiner Verheiratung für ihn geebnet jei. 


Auf dieje wichtige Nachricht Hin ftürzte ich natürlich, jobald W. uns verlafjen 
hatte, jogleich zu M. v. Speeth, um ihr meine aufrichtige Teilnahme an ihrem Glüd 
auszudrüden. WBielleicht that ich es mit einem Anflug von Erjtaunen, denn fie jagte 
befremdet: „Aber du fannjt doch faum überrajcht jein, daß es jo gekommen ift, du 
mußteſt doch längjt gemerkt haben, wie es zwijchen mir und Eduard ſtand?“ . . 
Offen geitanden, hatte ich im dem Verhältnis nichts gejehen als eine „ideale“ (von den 


Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 1301 


Spießbürgern des Städthens „überhirnisch” titulierte) Freundichaft, aber ich beglüd: 
wünſchte Gretchen, daß die Freundſchaft fich in noch befieres verwandelte. 


Eine Dichterbraut zu werden, hielt ich in meiner Jugend für den Himmel der 
Himmel! Ic Hatte eine Empfindung dabei: von fefjellofem im Aether Schweben — und 
dem göttlichen Lichte dabei Näherjein, als alle anderen Staubgeborenen ! — Meine 
l. zuge Bertha und ich machten uns jest bald an eine Handarbeit zum Hochzeits— 
geſchenk. 

Geheimnisvoll verborgen blieb allen der Tag der Trauung; nur im allgemeinen 
erfuhr man, daß dieſelbe vor Wintersanfang ftattfinden werde — aber ganz in der 
Stille. — Unſere I. Bertha hatte ——— ein ordentliches Spätjahr und gab dem 
Drängen von Bruder Bernhard nach, ihn auf ſeiner erſten Pfaarverweſerei im Hohenlohe'ſchen 
noch im Laufe des Novembers auf ein paar Tage zu bejuchen. 

Ich jelbjt war im dieſer Zeit zum Beſuch bei einer Profefjoren- Familie in W., 
und unjere Mutter wurde damald gerade von neuen Hausgenofjen ganz in Anſpruch 
genommen, und zwar durch die Witwe und eine Tochter des verftorbenen Herrn von 
Forſtner, von dem das geflügelte Wort ftammt: „Der Mift ift die Seele der Land: 
wirtichaft.” 

Diejelben hatten längere Zeit bei Trier gelebt, wo eine Tochter der Frau von 
Forſtner verheiratet war, mußten aber auf einige Zeit in die alte Heimat zurückfehren, 
da man widrigenfall® der Witwe ihre Benfion entzogen hätte. Da ic die Familie 
vom Rhein aus bejuchte und fie von mir hörten, daß die zwei Zimmer, welde Tante 
Meine bei Lebzeiten bewohnte, jeit ihrem Tode leer ftanden, jo baten die alten Freunde 
meine Mutter, fie ungefähr auf ein Jahr bei jich aufzunehmen. Mutter willfahrte dem 
Anjuchen, doch wurden dadurch ihre Haushaltungsjorgen und Arbeiten jehr vermehrt 
und fie fand deshalb wenig Zeit zu freundichaftlichen Bejuchen, hörte daher auch nicht, 
was im Städtchen vorging, umjomehr, als fie beide Töchter auf Reifen geſchickt Hatte. 
Unjer Haus erfuhr deshalb mit feinem Wort, daß der Tag der Hochzeit Eduard 
Mörifes herangerüdt war, bis zu meiner Nüdkunft von der Univerfität W. Zufällig 
ſprach an jenem Abend Stadtpfarrer W. bei uns vor und freute fi, daß ich nod) 
zeitig genug komme, um anderen Tags (den 25. November 1851) die Dichter Hochzeit, 
d. h. die Trauung in der Schloßkirche mit anzufehen. Natürlich war auch ich recht 
frob, eine Zujchauerin dabei abgeben zu können, und bedauerte nur die Abwejenheit 
meiner Schweiter, die fich immer gewünjcht hatte, dabei anwejend zu fein. — Am 
nächiten Morgen — meine Mutter und ich Tagen noch zu Bett — und nur unjer 
dienftbarer Geiſt war bis jeßt auf den Beinen, da fchellte es recht energifch an unferem 
Haus und unjer kleines Mägdlein erjchien gleich) darauf vor der Mutter Bett mit der 
Einladung und Bitte von Frau von Speeth, ſich zu einer beftimmt angegebenen Stunde 
im Hochzeitshaufe einzufinden, um die Braut-Mutter zur Kirche zu begleiten. Wir 
waren ein wenig erjtaunt über die Umänderung des Programms, das urjprünglich auf 
eine ganz ftille Hochzeit: im Morgengrauen oder in der Abendftille, d. h. ohne 
Zujchauer, gelautet hatte, wie „die böje Welt” behauptete. Meine Mutter wollte nun 
zu meiner Verzweiflung die große Ehre durchaus ablehnen, weil ihr echter indischer 
Shawl, „der ganze ſechs Louisd'ors gekoftet hatte“ (wie wir zu hören befamen, wenn 
wir unſere Najen über das Altertum rümpften!) gerade einer Kunftwäjche in der 
Refidenz anvertraut war, und in damaliger Zeit alte Damen unmöglich zu irgend einer 
Seftlichkeit ohne ihren gewirften Shaw! gehen konnten — wie meine Mutter behauptete. 
Diejer Grund aber war für mic) durchaus ungültig und ich überlegte hin und ber, 
wie ich meine I. Mutter vermögen könne, ohne indischen Shaw! zur Hochzeit zu gehen! 
Da fuhr es mir plöglich durch den Kopf, daß unfere neue Hausbewohnerin Frl. v. F. 
ja ein nagelneues Prachtſtück von Shaw! beſaß, das fie fich erſt auf der Reiſe hierher 
in Frankfurt ausgejucht hatte. Im höchſt oberflächlicher Toilette ftürzte ich nun hinauf 

Al. tonſ. Monatsfchrift 1888. XII. 83 


1302 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


zu den Freunden, trug ihnen die Sache vor und gewann an Frau und Frl. v. Forftner 
jofort Hiülfstruppen. 


Beide begleiteten mid) mitjamt dem Gewirkten jofort herunter zur Mutter, deren 
Anzug noch nicht über den Unterrod hinaus gefommen war. Troß der Lächerlichkeit 
des Anblids wurde ihr ohme weiteres Frl. v. 3.3 Shawl umgelegt, und war id) 
einmal in meinem Leben beredt, jo war ich es damals! Ja, von ung allen Hart 
bedrängt und bejtürmt, blieb der I. Mutter endlich nichts übrig, als fi) in Gottes 
Namen darein zu ergeben, im entlehnten Shaw! bei der Dichter-Hochzeit als Trau— 
zeugin zu fungieren. „Es ift aber das erjte und legte Mal, daß ich in einem entlehnten 
Shawl zur Kirche gehe!” beteuerte meine Mutter, als ich ihr denjelben zulegt umlegte. 
„Sei nur zufrieden,” tröftete ich fie, „dein Sechs-Lonisd'ors-Shawl wird jo wenig eine 
zweite Walch mehr erleben, wie du eine zweite Dichter-Hochzeit! Beide Ereignifje find 
für uns das achte Weltwunder.” Nun mußte meine I. Mutter wider Willen Tachen 
und ging eben in ihrer gewirkten Pracht in das Hochzeitshaus; ich aber eilte zur 
Kirche, um mir da nod) einen Plaß zu fichern. Der Tag war rauh und trübe, Regen 
und Schnee kämpften mit einander, und über die Braut mußte der Schirm gehalten 
werden, als jie aus dem Wagen jtieg. Schattenhaft jah es troß der vielen Fenfter in 
der Kirche aus, und durch den trüben Novemberhimmel drang auch nicht ein Sonnen: 
jtrahl, als der Hochzeitszug durd) das Portal der Kirche jchritt. Alles war wie düſter 
angehaucht — bis auf die Traurede hinaus, an der ic) jo viel auszujeßen Hatte, daß 
Lotte v. 75. bei Tijch jpottete: eigentlich jei es recht jchade, daß Herr W. diejelbe ich 
wicht von mir habe einblajen lajjen! . . . 


Als ich noch im beiten Räſonnieren war, fam vom Hochzeitshaufe auch noch eine 
Einladung für mich, und die Braut ließ mir jagen, fie habe jveben erft erfahren, daß 
ich wieder von W. zurück jei. Natürlich ließ ic) danken, da ich mit feiner hochzeitlichen 
Toilette vorbereitet jet. Da fam aber jpäter eine zweite Botſchaft und diesmal vom 
Bräutigam jelbft, der mich fragen ließ, ob denn mein „Prunkſtück“ auch in der Waſch 
jei, weil ich nicht Fommen wolle? Alſo hatte meine gute Mutter geplaudert und ihr 
Gewiſſen entlajtet, damit fie ja niemand im Verdacht hätte, ihren ehrwürdigen weißen 
indischen Shaw! abgedanft und fich dafür diefes farbenprächtige Oſterei eingethan zu 
haben, in welchem fie am heutigen düjtern Novembertag unter der dunkeln Hochzeits: 
gejellichaft ausgejehen hatte wie der Regenbogen am Gewitterhinnmel. Die Hochzeitsgäſte, 
in deren Kreis ich bald darauf eintrat, erinnerten mich an jene befannte Hochzeit im 
Evangelium, in der jo verjchiedenartige Geſellſchaft zuſammenkommt und auch folche, 
die fein Hochzeitliches Kleid anhatten, wie ich heute 3. B., denn mein jchwarzjeidenes 
Kleid hatte jchon allen Glanz eingebüßt, denn es hatte jchon vielerlei erlebt — nur 
noch) feine Dichterhochzeit. Mir wurde ein Platz neben dem Bräutigam angewiefen und 
derjelbe unterhielt fich mit mir lebhaft über — Gottfried Kinkels Gedichte (die ich ihm 
kürzlich geliehen Hatte) und zuleßt jagte er: „Mit Ihnen will ich den heutigen Tag 
poetiſch ausklingen laſſen;“ eine Aeußerung, die mir damals ärgerlich war, denn ich 
mit meinem jungen Herzen und blinden Slauben an den Dichter-Genius konnte mir 
nicht zujammenreimen, daß ein jolcher eines anderen Gedanken und Empfindungen 
brauche, um den eigenen Hocjzeitstag damit „poetiſch ausklingen” zu laſſen. 


Als meine Schweiter Bertha von ihrem Ausflug zu Bernhard wieder heimkam, 
ſaß ich gleich am erjten Abend, wie es meine Gewohnheit war, auf ihren Bett, um ihr 
genauen Bericht über die Dicyterhochzeit zu erjtatten, den Kirchgang, die Gäſte, Die 
Unterhaltung, das jympathiiche Ausjehen der Braut, die leider mit Zahmveh an ihrem 
Hochzeitstage geplagt war. Zuletzt rückte ich auch noch mit des Dichters Aeußerung 
heraus, die mic) verdrofjen hatte. Bertha ſeufzte! Schon glaubte ich über den Dichter, 
aber nein! über mich. Weil ich an die Menjchen Anforderungen mache, wie fie den 


Slizzen aus meinem Leben und meiner Yeit. 1303 


Einbildungen meiner Phantafie entiprächen, aber feineswegs dem wirklichen Leben, 
behauptete meine gute und weile Schweiter. ch verteidigte die Anjprüche meiner 
PBhantafie jo lebhaft und laut, daß unjere qute Mutter darüber erwachte und mich jofort 
ärgerlich zu Bett ſchickte. Solches abendliche, manchmal auc nächtliche Zwiegeipräd) 
mit meiner Schweiter war das „poetiſche Ausklingen“ meiner Tage in jener Zeit. Schnell 
fand es jein Ende, alg mir bald darauf der Antrag gemacht wurde, in eine Pfarrfamilie 
nad England zu fommen. Da fich meine Gejundheit im Elternhaus wejentlich gebejjert 
hatte, jo hatte man nicht viel dagegen einzuwenden, daß ich meinen zweiten Flug hinaus 
in die Welt unternahm. Leber den Abjchied will ich nur foviel jagen, daß er mir 
wejentlich erleichtert wurde durch die Aussicht, bei der Ankunft in England zuerst meine 
Schweiter Emma bejuchen zu dürfen. Dann ging es auf die englische Heide zu einem 
Pfarrer, der mich viel an Oberlin erinnerte. Die Erlebnifje im Haus und der Gemeinde 
habe ich bereits anderwärts gejchildert, nur ein einziges Erlebnis drängt es mic), auch 
hier zu erzählen. Gleich die erjte Nacht, in der es ein ſtarkes Glatteis gab, wachte ich 
um Mitternacht auf, hörte, wie die Hausthüre behutjan geöffnet und wieder geichloffen 
wurde und jah das Yicht einer Laterne, die im Garten ſich hin- und herbewegen mußte, 
in mein Zimmer hereinfallen; jchlaftrunfen malte ich mir aus, es jei wohl der Gärtner, 
der für jeine Bilanzen bejorgt Einzelnes dee. Am nächſten Morgen am Frühſtück 
kam die Sache zur Sprache und num erzählte die Frau Pfarrer: In der Gemeinde jei 
ein verfommener Menjch, der nie zur Kirche komme, jondern am Samstagabend feinen 
Wochenlohn als Maurer größtenteils die Kehle Hinunterjage und dann den Sonntag 
verjchlafe wie ein Heide. Der Heimweg diefes Menjchen vom Wirtshaus in feine 
Wohnung führe nun zufällig über den abgelegenen Pla, wo gegenwärtig ihr Mann 
ein Eleines Armenhaus baue*) und dort jei geitern eine Fuhre Backſteine abgeladen 
worden. Während ihr Mann nun vor Mitternacht am Studieren jeiner Predigt gejefjen, 
falle ihm plöglich ein, der kalte Abend nad) dem regnerifchen Tag erzeuge Glatteis und 
bei der Dunkelheit werde der Trunkenbold die Steine nicht eher bemerken, als bis er 
darüber falle und vielleicht Hals und Bein breche. Was thue er? eine Don Quichottiade 
ohne gleichen! Er verlafje das Kaminfeuer, an dem er jeine Predigt einjtudierte, zünde 
ji) die Stalllaterne an, pilgere damit der einfamen Straße zu und räume in mitter: 
nächtlicher Stille und bei friſcheſter Temperatur die Fuhrbadjteine aus dem Wege. 
Merkwiürdigerweile habe es dann der Zufall gewollt, daß, gerade als ihr Mann mit 
jeiner paftoralen Bejchäftigung fertig gewejen, jei der Betrunfene wirklich angetaumelt 
gekommen und habe jeinen Weg hübſch geebnet gefunden zu neuem Lafterleben. Ob ich 
ihr num nicht auch beiftimme, daß diefe Handlung ihres Gatten eine weggeworfene 
gewejen jei? Wie ein Blig fuhr mir ein Sinnfpruch durch den Kopf und ich citierte: 


„Thue das Gute und wirf’s in das Meer; 
Sehn’s nicht die Fiiche, jo ſieht es doch Er!“ 


Ungefähr ſechs Monate jpäter wurde der Herr Pfarrer zu einem Verunglückten 
geholt, der jchrecflich zugerichtet war und wie er wußte, fterben mußte. Diejer berichtete 
dem Pfarrer, er jei auf jenem einfamen Weg im Begriff in das Wirtshaus zu gehen, 
an einem Steinhaufen vorbei gekommen und habe gedacht: „Das wäre eine gute 
Gelegenheit für den Teufel, dich heute Nacht abzuholen, da gilt es jet aufzupaſſen!“ 
Auf dem Heimweg habe er die Straßen jauber und leer gefunden, habe noch hinaus: 
gelacht: „Werden doc) nicht gar die himmlischen Heericharen fich infommodiert und für 
dich aufgeräumt Haben!” Da hätte eine janfte Stimme ihm in das Ohr geflüftert: 
„Euer Pfarrer hat's für Eud) gethan, danfts ihm damit, daß Ihr ein anderer und 





) Der Herr Pfarrer hatte auch Kirche, Schulhaus und jein Wohnhaus aus eigenen 
Mitteln gebaut. 


83* 


1304 Skizzen aus meinem Leben und meiner Zeit. 


beſſerer Menſch werdet! O wenn er doc) diejfen Nat befolgt hätte, jetzt ſei es wohl zu 
ſpät? Der Herr Pfarrer erinnerte an den Schäder am Kreuz und ermahnte Den 
Sterbenden, ſich wie diefer voll Vertrauen an Chriftum zu wenden. „sch — thue — 
es,“ kam e3 noch deutlich von den erbleichenden Lippen, dann verjuchte er noch Die 
Hände zu falten und mit dem Seufzer: „Berzeihung, VBerzeihung!” ging der Unglückliche 
hinüber. 
Während eines längeren Aufenthaltes in der Nähe Londons bejuchte ih mit Vor— 
liebe die Löwen der Niejenftadt und jchrieb manche Nacht hindurch nieder, was ich Den 
Tag über gejehen und durchſtudiert hatte. 





Noblesse oblige. 


Bon 


Otto RAraus. 


Ein vielgebrauchtes, ſchönes Wort, nicht oft befolgt. Noblesse oblige läßt ſich 
nicht mit zwei Worten überjegen, weil e8 wegen des Doppeljinnes des Wortes noblesse 
— Geburts: und Seelenadel — zu viel umfaßt, vom Kaijer und vom Tagelöhner zum 
Wahlſpruch gemacht werden fann. 

Der achtzehnjährige Prinz Wilhelm von Preußen hat vor feiner Konfirmation 
im Juni 1815 jeine 37 Lebensgrundſätze niedergejchrieben. Der erjte Grundſatz handelt 
von dem hohen Stand, in dem der Prinz geboren ift, und jchließt mit den Worten: 
„Mein fürjtlicher Stand ſoll mid) immer an die großen Verpflichtungen, die er mir 
auferlegt, an die größeren Anftrengungen, die er von mir fordert, und an die größeren 
Verjuchungen, mit denen ich zu kämpfen habe, erinnern.” Dieje Umschreibung des 
noblesse oblige jollten ſich alle Adlige merken, inner: und außerhalb Preußens, alle 
freunde und Feinde Preußens, im hohen und im niederen Adel. — Der Romandichter 
Friedrich Spielhagen wird ein Adelsfeind genannt, nicht ohne Grund. 

„Mebrigens ift Spielhagen denn doc) auch viel zu jehr Menjchenkenner und Dichter, 
um ſich durch feine nicht wegzuleugnende Gereiztheit gegen die privilegierten Kreiſe zu 
farrifierender Einfeitigkeit in Verteilung von Licht und Schatten verleiten zu lajjen.“ 
Mit diefer Einſchränkung des Spielhagen’ichen Adelshaffes, wie fie von Fr. Kreyßig 
in den „Vorleſungen über den deutſchen Roman der Gegenwart” formuliert worden ift, 
fann man ſich nur einverftanden erflären. ch denfe mir, daß Spielhagen jeinen 
neuejten Roman Noblesse oblige (Leipzig, L. Staadmann, 1888) nur darım 
gejchrieben und, wie angegeben, betitelt hat, weil er der Welt beweilen wollte, daß es 
auch Adlige gebe, die nicht nur dem Namen nach Edelleute jeien. — Während Spiel: 
hagen jeine Romane ji) jonjt auf dem Boden der jeweiligen Gegenwart abjpielen läßt, 
hat er diesmal einen biftorijchen Boden, Hamburg in den Tagen des Bedrängers Davouft, 
gewählt, um eine ununterbrochene Tragödie darzustellen. 

Der Hamburg’ihe Senator Warburg fteht nahe vor dem Banferott. Nur Einer 
fann ihn retten, Theodor Billow, der vergeblich jucht, jein Schwiegerjohn zu werben. 
Die geiſtreiche, jhöne Minna Warburg ift mit des Vaters Willen die heimliche Braut 
des Marquis Hippolyt Drouot d’Hericout, Kapitän im 1. Kürafjier-Regiment der großen 
Armee in Rußland. Sie könnte fih für die Familie opfern und die Frau des 
ungeliebten Billow werden. Um der Tochter den Tauſch zwiſchen einem Ritter ohne 


1306 Noblesse oblige. 


Furcht und Tadel und einem geldftolzen Philiſter zu erleichtern, unterjchlägt der Senator 
alle für die Brant anfommenden und alle von ihr an den fernen Bräutigam gejchriebenen 
Briefe. — Sonderbarer Weife vernichtet der Schlechte die Briefe nicht. Spielhagen 
weiß, warum dies nicht geichieht. Wir werden davon hören. Eine zweite Sonderbarfeit 
will ich hier erwähnen. Spielhagen jchreibt Hypolit, ein Wort, des nur im griechijchen 
Wörterbuc) au finden und das fein Eigenname it, während Hippolytos, der die Mojie 
Löjende, ein trefflicher Name für einen Neiterführer und ein beliebter franzöſiſcher 
Vorname iſt. — 

In Minna Warburg lebt unbewußt das Wort noblesse oblige. Ihr einziger 
Bruder ift in Rußland dem Heere Napoleons entlaufen; er glüht von Haß gegen den 
Ujurpator. Ihre Baterlandsliebe wird durch des Bruders patriotiichen Sinn neubelebt 
und darum weiß fie ſich das Schweigen des geliebten Mannes, der doch treu ijt wie 
Gold, nur jo zu erklären, daß er als franzöfiicher Offizier die Sache jeines Kaiſers 
nicht verlaflen und ihr, der deutichen Frau, umjoweniger angehören kann, als jeine 
Mutter, eine jtrenge Royaliftin, eine geborene Herzogin, die Ehe mit Minna nur dulden 
wird. In Erwägung diejer Umstände bietet Minna dem bereit3 abgewiejenen deutſchen 
Freier nur darum ihre Hand („nicht ihr Herz”) an, weil fie auf dieje Weije ihre Familie vor 
dem Untergang zu bewahren hofft. Und der früher Abgewiejene nimmt die ihm auf 
dieſe Weiſe gebotene Hand an. Hat er doch jo jeinen Willen durchgejeßt und den Beſitz 
eines jchönen Weibes in Ausficht. „Nicht einen Pfifferling fragte er nach ihrer Liebe, 
die fie doch dem franzöfiichen Hallunfen bewahrt hatte und bewahren werde, aber ging 
es auf die Dauer nicht, jo lange jollte und mußte es gehen, bis er fie bejeilen hatte.“ 
Gleichwohl rente den auf jo fühle Art zum Bräutigam gewordenen Billow jeine Ver: 
lobung und er hoffte — freilich vergeblich — auf irgend einen Auftritt, der ihn zum 
Bruch des Verlöbniſſes berechtigte. Er mochte eine Ahnung davon haben, daß er einer 
niederen Sphäre angehöre, als jeine Braut, daß ſie über ihm stehe troß all jeinen 
Neichtum. Dieje Ahnung wurde zur Gewißheit, als er bald nach der Hochzeit jeine 
Fran im böflichen Verkehr mit den jein Haus bejuchenden ruffischen und deutſchen 
Offizieren jab. In der täppiichiten Art macht Billow jeinem Merger Luft, während 
Minna ihn daran erinnert, daß fie jih an den Wappenſpruch des von ihm gefauften 
adligen Schlojjes: noblesse oblige halte. „Wer ſich mit ganzer Seele einer großen 
und gerechten Sache, einem hohen und edlen Gedanken hinzugeben verjucht, der jpürt 
bald die Notwendigkeit der Verpflichtung, nun auch alles Kleinliche und Gemeine von 
ſich abzuthun, weil er nur ſo im ſtande iſt, ſeinem Großen und Edlen zu leben. 
Nun meine ich, vielmehr bin ich davon überzeugt: was ich für mich allein erfahren 
habe, das werden wir beide zu unſerm Heil in unſerer Ehe erfahren, wenn wir in ihr 
zunächſt einen Bund ſehen, den wir gejchloffen, um mit gemeinjchaftlichen Kräften, eines 
dem andern ratend, beijtehend, eines das andere tröftend, ermutigend, dem Gewaltigen, 
das über uns hereinzubrechen droht, Widerftand zu leiſten.“ Unter dieſem Gewaltigen 
verjtand Minna, daß General Tottieben Hamburg wiederum den Franzoſen räumen 
mußte, ein Ereignis, welchem Billow ſich durch die Flucht nad) jenem in Holjtein 
gelegenen Schloß zu entziehen juchte. Er ging dahin voraus und ließ jeine Frau, um 
die Habjeligfeiten vegelrecht zu verpaden, in Hamburg zurüd, als „die Haushälterin des 
Herrn Billow“, wie fie ſich jagte. 

Mit Davonfts Rückkehr kam das Elend und die Not in entjeßlichem Maße über 
Hamburg. Noblesse oblige, darıım richtete fie unter der Leitung ihres Hausarztes, 
der ihr zeitlebens ein treuer, väterlicher Freund war, ein fleines Lazarett ein. Zu dem 
allgemeinen Elend kam für fie das bejondere, daß ihr Vater mit anderen angejehenen 
Männern der Stadt als Bürge für die der Stadt auferlegte Kontribution inhaftiert 
worden war. Als unerjchrodene, pflichttrene Tochter bittet jie den Vater von Davouit 
[08 und übernimmt an des erkrankten Mannes Stelle die Arbeit in den Befejtigungs: 
werfen der Baterjtadt. Hier war es, wo fie eined Tages den Marquis d’Hericout 


Noblesse oblige. 1307 


wiederjah. Nun kommt es heraus, daß jeine und ihre Briefe unterjchlagen worden. 
Sie weiß, daß es der eigene Vater war. „Das ift die Gerechtigkeit des Himmels: 
ein Vater betrügt jchamlos fein Kind; dann wird das arme Gejchöpf mit der Not der 
Ihren gemartert und in Verzweiflung gejagt; zuleßt, um das Opfer ficher zu haben, 
jchlägt es ein Dämon mit Blindheit! Und da ſpricht man von einem barmberzigen 
Gott!" Auch Hippolyt fühlt mit einem Schlage jeinen Glauben an den allbarmberzigen 
Gott vernichtet. Und doch ſtirbt der alte Warburg gerade jetzt, alſo zur rechten Zeit. 
Die entjegliche Lat, mit ihrem Vater ferner leben zu müffen, wird von ihr genommen. 
Mit der plöglichen Gottentfremdung Minnas geht der Gedanke Hand in Hand, durch 
Selbjtmord ihrem armen Leben ein Ende zu machen. Daran hindert fie dev ihr jonft 
immer als „Heide“ erichienene Hausarzt, welcher ihr mitteilt, daß fie „im Dienjte der 
Allmutter” ftehe und ihre ganze Sorgfalt einem Sejchöpfe zuwenden müſſe, welchem fie 
noch zum Leben verhelfen jolle. Von Gott hatte fie ſich Iosgejagt, jo dankte fie Die 
Fortjegung ihres Lebens einem der „mitleidsvollen Genien“, die es geben joll. Nach 
des Arztes Rat will fie ihre Niederkfunft in dem Holfteinifchen Schlofje halten, das 
Billow mittlerweile, einer Gejchäftsreife halber, wieder verlaſſen hat. Ehe fie von 
Hamburg weggeht, werden die Briefe aus dem Brautftand Hinter der abgebrochenen 
Bettlade des jeines Dienjtes entlajfenen Diener ihres Vaters gefunden. Nun wird der 
urkundliche Beweis ihres jeltenen Unglücks dem Leſer vorgelegt. Dies hätte ohne die 
Vorſicht des gewandten Nomandichters nicht geichehen fünnen. Nun weiß man, warum 
der alte Warburg die jämtlichen Briefe nicht hat ing Feuer werfen dürfen. Hippolht, 
der um Minnas willen mit einem anderen franzöfiichen Offizier ein Duell gehabt hat, 
in welchem er den Gegner getötet hat, von diefem aber vorher verwundet worden, 
erhält zur Pflegerin die frühere Braut für die erjte Nacht. Sie weiß, daß fie, nur 
geijtig verbunden, fic) einander gehören können: „Durch Länder und Meere getrennt, 
doc) mit einander lebend; grauſam gejchieden, dennoch verbunden in geheimnisvoll köſt— 
licher Ehe.” — In dem holfteinischen Schloß gab Minna einem Sohne dag Leben und 
diejer Sohn gehörte ihrem Marne jo gut als ihr. „Entweder war die Ehe heilig, 
oder fie war es nicht. Ein Drittes war ausgeſchloſſen. So mußte fie ihre Ehre heilig 
halten, auch in der Phantafie, um ihres Kindes willen. — Jetzt war fie begnadigt 
worden mit dem höchiten Adel des MWeibes, dem: Mutter fein zu dürfen. Sie konnte 
ji) der Verpflichtung, welche ihr aus diefem Adel oblag, nicht entziehen.” So jchrieb 
ſie denn einen verjöhnlichen, Tiebreichen Brief an ihren Mann. Die Freude an dem 
Erben war leider nur von furzer Dauer. Das Kind jtarb, ohne da ein Gebetswort 
der Mutter zu Gott gedrungen war. Nun überfiel fie eine entjegliche Troſtloſigkeit, 
aus der heraus fie ſich nad) einem zweiten Abjchied von Hippolyt jehnte. Sie fehrte 
nad) Hamburg zurücd, Hatte eine lange Unterredung mit dem Marquis und dachte 
zulegt daran, aus Hamburg, aus Europa, in die Tiefe des Urwalds zu fliehen, überall 
hin, nur nicht dahin, wo ihr Mann ihr begegnen konnte. Der ehrenfejte Bruder bringt 
jie wieder auf den Weg der Pflicht. Sie will nad) dem Schloß in Holftein zurüd: 
fehren. Auf dem Wege dahin berührt fie einen Eleinen Dftjeehafen, während ein 
fürchterficher Sturm die See aufwühlt. Ein Schiff ftrandet, in deſſen Takelwerk fich 
der heimfehrende Billow über Waller zu halten ſucht. Hippolyt, der Minna nachgereift 
it, erjcheint in dem Augenblid, als die Not der Schiffbrüchigen am höchften war. 
Er unternimmt es mit einigen Schiffern, Hilfe zu bringen. Sie fommen bis zu dem 
gejtrandeten Schiff. Billow ertrinft und Hippolyt wird von einer herabjtürzenden Raa 
tödlich getroffen. Ans Ufer gebracht, haucht er in Minnas Armen jein Leben aus. 
Wie Huyppolyt nad) dem Wappenjpruch gelebt hat und gejtorben ift, jo beftrebt fie fich 
von dem ihr zugefallenen Schloffe aus, ihr Leben mit Werken der Wohlthätigkeit 
auszufüllen. 

Das Bejte in diejem neueſten Romane Spielhagens ift die Schilderung des 
Hamburger Lebens im der Franzoſenzeit. Daß diefe Schilderung einen zuverläffigen 


1308 Noblesse oblige. 


geſchichtlichen Eindrud macht, läßt fich jchon daraus abnehmen, daß Friedrich Perthes, Der 
thätige und duldende Patriot, vom Dichter als wirkſame Perjönlichkeit, insbejondere als 
Ratgeber und Gefinnungsgenofje Minnas, verwendet wird. Spielhagen ift unbefangen 
genug, jeiner Heldin dasjelbe glaubensftarfe und werfthätige Chriftentum beizulegen, von 
welchem die Lebensgeichichte jenes berühmten Buchhändlers berichtet, aber Spielhagen 
kennt das Iebendige Chriftentum als eine Kraft Gottes zu wenig, er fieht im Chriſten— 
glauben zu jehr eine menſchliche Meinung, als daß er den Fehlgriff hätte wer: 
meiden fünnen, feine Heldin ganz plößlih und jo gut als unvermittelt aus Der 
Sicherheit der chriftlihen Weltanfhauung in die Leere und Wüſte der Feindſchaft 
gegen Gott hinüberjpringen zu laſſen. Damit hängt zufammen, daß Spielhagen eine 
Minna Warburg, die doch das perfonifizierte Pflichtgefühl ift, in völlig vomanhafter, 
nad) dem Sittengejeg wenig fragender Weife, innerlich und faſt auch thatjächlich ihre 
Ehe mit Billow mißachten läßt. Wie jehr der Dichter die Hier zu Tage tretende 
Inkongruenz gefühlt hat, geht daraus hervor, daß er den Konflift im Herzen Minnas 
durch den jähen Tod des früheren Bräutigams befeitigt. Daran kann aud) der Umstand 
nichts ändern, daß dieſer Tod durch eine herrliche Bethätigung des noblesse oblige 
herbeigeführt wird. Auf die Frage: wie würde Minna mit ihrem zurüdgefehrten Gatten 
gelebt haben, hat der Schlußmadjer der Nomandichter, der Tod, mit einem non liquet 
geantwortet. 

Mer erinnert ſich nicht, daß vor einiger Zeit eine große Menge von Juden aus 
Rufland vertrieben, nach) Hamburg gefommen ift, um nad) Amerifa auszuwandern. 
Spielhagen hat fi) nicht verjagt, in jeinem neueften Roman einen wahren Mufterjuden, 
aus Rußland jeiner Zeit nad) Hamburg gekommen, als den Idealmenſchen Hinzuftellen. 
Samuel Hirsch ift ein echter deutjcher Patriot, der in Napoleon den Widerjacher feines 
Volkes und der Menjchheit erblict: „Wohl hat der Jud’ ein Vaterland, wenn jeine 
Väter auch nicht find geboren und er jelbjt nicht ift geboren im jelbigen Lande” „er 
glüht in zornigem Eifer um das gefnechtete Deutjchland, für dejien Befreiung er ein: 
jtehen will mit allem, was er kann und vermag, Gott bittend, an denen, die es mit dei 
Franzoſen halten, nicht heimzufuchen ihre Unvernunft und Unehrbarfeit.” Der Wohl: 
thätigfeitsfinn diejes Juden war „in feinem Kreiſe“ ſprichwörtlich und auch jonjt vielen 
befannt, die den alten Mann ihrerjeit3 verachteten. Dem vor dem Abgrund Des 
Bankerotts ftehenden Senator Warburg hat Samuel „jein letztes baares Geld“ gegeben! Als 
der Sohn des Senator heimlich nad) Hamburg gefommen war, hat ihn der vortreffliche 
deutjch:patriotische ruffiiche Fude zwei Tage vor den Augen der Franzofen verborgen. 
Wer nad) ſolchen Beweijen noch an der echtdeutichen Gefinnung desjenigen Teils des 
Sudenvolfes zweifelt, das zur Zeit in Deutjchland wohnt, dem ift nicht zu helfen. 
Spielhagen hat jein Mögliches gethan, um dem Antifemitismus entgegenzutreten. Wer 
nad) der Bekanntichaft mit Samuel Hirſch noch die überlieferte Meinung hegt, daß die 
Juden das gewinnjüchtigite, eigennüßigfte Volk der Erde ſeien, dem ift nicht zu helfen. 
Noch mehr: Neben dem alten Hausarzt des Senators ift der alte Jude die einzige 
erfreuliche Erjcheinung auf deuticher Seite. Von dem Sohne des Senator und der 
geradezu jchwärmerischen Liebe zu jeiner Schwefter Minna rede ich nicht. Troß den 
hier jehr ſtark aufgetragenen Farben hat man von dem jungen Warburg doc nur den 
Eindrud einer romanhaften Schattenfigur. In dem Franzojen Hippolyt hat Spielhagen 
einen ritterlichen edlen Mann gezeichnet. Daß einem jolchen Franzojen ein deutiches 
Mädchen jein Herz jchenft, findet der Leſer jehr begreiflih. Im Ganzen geht aud) 
durch diefen Roman Spielhagens der Untergang und Vernichtung bringende Haud) des 
modernen Peſſimismus. Der Lejer muß ſich am Ende des ſtiliſtiſch vortrefflich gehaltenen 
Buches jagen, daß die Lektüre eine durchaus unerquicliche war und insbejondere daß 
der Dichter der Löſung des Konfliktes aus dem Wege gegangen ift. 

Der Titel des Spielhagenihen Romans hat mir einen Roman von Karl von 
Holtei in Erinnerung gebracht, welcher denfelben Titel Hat und die Bedeutung des 


Noblesse oblige. 1309 


noblesse oblige innerhalb des Lebensfreijes darftellt, welchem die Devije ihr Dajein 
verdankt. Holtei gehört zur alten Schule, er ift als Romandichter nicht allgemein 
befannt. Und doc) verdienen jeine im ftärkften Gegenfaß zum modernen Peſſimismus 
jtehenden Nomane viel mehr Beachtung, als fie bisher gefunden haben. Mit feinem 
klaſſiſchen Roman „Chriftian Lammfell” Habe ich jchon manche Lejerin befannt gemacht 
und alle waren ohne Ausnahme entzückt von diefem vortrefflichen Buch. Nicht ganz 
jo viel Lob verdient Holteis Noblesse oblige, aber doch mehr Lob als der gleid) 
namige Roman Spielhagens. 

Graf Ulrich Eichengrün, Majoratsherr auf Eichenau hat zwei Söhne, von welchen 
der ältere ich der diplomatischen Laufbahn gewidmet und feinen Wohnfig in der Refidenz 
genommen hat, während der jüngere, Hermann, des Vaters Liebling, der Zögling einer 
Nitterafademie geworden ift. Auf diefer Schule hat der junge Graf mancherlei Frei 
jinnigfeiten gelernt, mit welchen er in den ‘Ferien bei der Schweiter jeines Vaters, der 
Gräfin Barbara, Aebtiſſin eines adeligen Stiftes, übel anfommt. Als jüngerer Sohn 
faßt er jeine Stellung jehr nüchtern auf: „Im unſeren Zeiten hat der Adel ohnehin feine 
Bedeutung mehr; fehlt es ihm nun auch gar noch an Mitteln, ſich durch einen gewiſſen 
Glanz hervorzuthun, jo bleibt ihm ja gar nichts. Was ift denn ein armer Graf, daß 
er diejes leeren Titels halber jeine Menfchenrechte aufzuopfern gezwungen wäre, die 
jedem Bürger: und Banernjohne gefichert find? Was ift denn Graf Hermann Eichengrün 
auf Habenidhts? „Er ift der Sohn feiner Väter,” erklärt Tante Barbara, „der Sproß 
eines edeln Stammes. Er ift ein Kavalier. Er ift geboren mit dem Namen hoher Ahnen 
und hat vollauf zu thun, will er diefem feine Schande machen.” Dieje Worte waren 
ein Nachklang der Worte, welche Tante Barbara von ihrer fterbenden Mutter gehört 
hat: „Vergiß niemal® meinen Wahlipruch noblesse oblige.” Diefem Sprudy hat fie 
fich in jungen Jahren gefügt, obſchon mit bitterem Schmerz. Die junge jchöne Gräfin 
Barbara war willens, einem polnischen Fürften die Hand zu reichen, der einer herunter: 
gekommenen Familie angehörte. Ihr Vater war gegen dieſe Verbindung und ftellte 
für den Fall, daß Barbara nicht von dem Fürsten lafjen würde, in Ausficht, ſein Vor: 
haben, ein Majorat zu ftiften, fallen laſſen und fich zum zweitenmal verheivaten zu 
wollen. Der Familienſinn fiegt über die Liebe zu dem polnischen Fürften. Barbara 
opferte ihr Lebensglüd dem Glück des Haufes und wurde eine alte Jungfer. Sein 
Wunder, daß der Findjunge Neffe Hermann mit jeiner liberaliftiichen Schulwetsheit voll 
Ehrerbietung an der Aebtiſſin hinaufjah und ihrem Rate, im Gegenjag zu jeiner, der 
Land: und Forjtwirtichaft zugewandten Neigung, folgte und in die Armee eintrat. Als 
Fähnrich traf er in der Nefidenz mit feinem älteren Bruder Theodor zufammen, der 
ein üppiges, Tiederliches Leben geführt hat und unter dem Worte noblesse oblige die 
rein äußerlichen Standesverpflichtungen verfteht, zu deren Erfüllung nicht edler Simm, 
jondern Hochmut ein genügender Anfporn ift. Anfangs fühlte fi) Hermanı von 
Theodor abgeftoßen. Wie könnte er diefem Bruder von der Liebe erzählen, welche ihm 
ein junges Mädchen, Schülerin eines Dameninftituts, eingeflößt Hat. Er denkt ganz 
ernjthaft daran, wie herrlich es wäre, wenn die ſchöne Meatilde feine Frau wiirde. 
Der wahrjcheinliche Standesunterfchied macht ihm Kummer, aber darüber weiß ihn die 
verjtändige Tante Barbara zu beruhigen: „Mesalliancen, was man im gewöhnlichen 
Sinne jo nennt, dürften gar nicht existieren, wenn ich zu befehlen hätte; das heißt, ich 
würde feinen Anjtoß daran nehmen, daß fie gefchloffen würden. In meinen Augen 
iſt's eine weit ärgere Mesalliance für einen honetten Kavalier, die alberne, herzlofe 
Tochter des ältejten Hauſes zu heiraten, als die friiche, edle, blühende eines armen 
Beamten, Gelehrten oder meinethalb Handwerkers. Sa, ich gehe noch weiter: Der hohe 
Adel joll ſich auf jeine Privilegien und Vorrechte vor der Welt nichts einbilden, jo 
lange dieſe nicht dem Erben eines großen Geſchlechts das naturgemäße Privilegium 
zugejteht, diejenige zu feinem Nange zu erheben, die ihn zu ihrer Seele, zu ihrem 
Herzen erhob; jo ange dieſes Privilegium nicht durch die That anerfannt wird; 


1310 Noblesse oblige. 


und eine jolche Gemahlin nicht überall, in jedem Kreiſe, auch in den allerhöchiten, für 
ebenbiürtig gilt. Ich berufe mich dabei auf die ftolzefte und mächtigſte Arijtofratin 
Europas und behaupte, daß der unfrigen etwas mangelt, weil es bei uns nicht jo ijt.“ 
— Graf Theodor ift, nachträglich in das Herzensgeheimnis eingeweiht, entichieden gegen 
die drohende Verbindung Hermanns mit Meatilde. Er weiß, dab er jelbjt niemals 
Majoratsherr wird, daß er bald fterben muß und daß Hermann der einzige Erbe des 
Vaters wird. Seines und eines ihm befreundeten Kammerherrn Bemühungen gelingt 
es, nad) und nach aus dem Eindlich-unbefangenen, offenherzigen Hermann einen Elugen, 
bejonnenen, fühllofen Weltmenjchen zu machen. Das warme Herz Hermanns war zum 
ſchweigſamen Tölpel geworden, der ich nicht mehr regen darf, will er nicht verhöhm 
werden. Der berechnende, abwägende, fombinierende falte Verftand hatte den jungen 
Grafen gelehrt, nur an ſich zu denken, natirlich in erfter Linie daran, dai er Gra' 
jei. Bruder Theodor brachte es auch Fertig, daß Hermann jich mit einer fofetten, von 
ihrem Marne getrennt Lebenden Frau befannt machte und darüber Matilde völlig aus 
dem Gedächtnis verlor. Hermann ging ganz im vornehmen Thun und Treiben auf. 
„Er hatte verlernt, ich noch auf Etwas, über Etwas zu freuen. Alle Genüſſe meinte 
er erichöpft, die Jugend mit ihren thörichten, doch wonnevollen Irrtümern, mit ihren 
himmliſchen Täuſchungen wähnte er Hinter ſich zu haben. Seine einzige und eines 
vornehmen Kavaliers höchſte Aufgabe juchte ev darin, ſich nun auch über nichts mehr 
zu Ärgern, fich durch nichts mehr aus jenem Gleichmut bringen zu lajjen, der 
den Großen hauptſächlich vom Pöbel unterjcheiden ſoll. Wir müfjen jo hoch jteben, 
daß uns nichts mehr berührt und erreicht, was Die niedrigen Majien bewegt uud 
erichüttert. Wir müſſen auf fie berabjehen können und immer lächeln, mitleidig — 
huldreich — verächtlich — wie es kommt!” Nach des Bruders Tod fühlt er jich vom 
Drud, welchen die Stellung des jüngeren Bruder? mit ſich bringt, befreit, nun will er 
genießen, aber nicht wie ein Plebejer, nein, mit Bewußtjein, mit Würde, mit Rüdjict 
auf Stand und Rang, in den Grenzen, die jeine Geburt ihm vorzeichnet: noblesse oblige. 
Welche Auslegung weiß er dem Wahlſpruch der Tante Barbara zu geben! Das 
Gentrum des Adels hat er preisgegeben ‚ er treibt ſich außen in der Peripherie herum: 
aber Hermann hat ji) nur veriert, er kann fich zuvechtfinden, wenn „ein armer 
Sonnenblid der Huld, ein milder Hauch göttlicher Gnade“ ſein hartes Herz erweicht. 

Nach mancherlei Erlebniſſen ſeiner Romanfiguren läßt Holtei den, nach Reſignation 
ſeines Vaters, Majoratsherrn gewordenen Hermann mit Matilden zuſammentreffen, 
welche die Tochter eines uralten adligen Geſchlechts mütterlicherſeits it. Ihre Mutter 
aber iſt — wie es fich für emen regelrechten Roman paßt — jene fofette, nun jchnell 
verftändig gewordene Frau, die mit ihm in der Nefidenz verkehrt hat. Der Bater, die 
Tante, Matildens Mutter und durch ihre jungfräuliche Zurüdhaltung am meijten 
Matilde jelbit, alle helfen zufammen, daß der faſt erfojchene Funke der Jugendlicbe des 
Majoratsheren wieder zur Flamme wird. Sein Jugendfinn erwachte wieder, er fühlte 
jich wieder heimisch im väterlichen Beſitz, er wurde freumdlich, mitteiljam gegen jeine 
Untergebenen. „Der vornehme, unteilnehmende Diplomat machte nad) und nad) einem 
freundlichen, wohlwollenden Gutsbefiger Platz, der dem gutmütigen Hermann von ehedem 
jo jehr ähnelte, wie nur ein Mann von jiebenundzwanzig Jahren einem Jünglinge von 
jiebzehn ähneln kann. Ernfter, gehaltener, bejonnener, auc wohl ein biächen jtolzer, 
doch ohne Hochmut; ohne jene herablafjende, unmenjchliche Gnade, die deſto jchärfer 
ſchneidet, je feiner und zierlicher ſie zugeſchliffen ift.“ 

Auf Einzelheiten des Romans einzugehen unterlafje ih. Sonſt künnte auf große 
Vorzüge desjelben vor den Dichtungen andrer Nomanciers, auch auf manche Schwächen 
hingewiefen werden. Nur darauf jei hingewiejen, daß man auch in diefem Romane 
Holteis Praris erkennt, nur ſolche Perſonen, bis zu Dienern und Kammerjungfern 
herab, auftreten zu laſſen, deren Originale er mit ihren thatjächlichen Vor: und 
Zunamen, Wohnort u. j. w. namhaft machen konnte. Ihm jtand immer dramatiſch 


Noblesse oblige. 1511 


febendig in Geſtalt, Geficht, Sprachweiſe, Kernwort die Perjon vor dem inneren Auge, 
welche er im Roman zu Wort kommen ließ. Wie er die höheren Klaſſen der birger: 
fichen Gejellichaft gekannt hat, jo hat er aud) die unteren Schichten gekannt. Wie oft 
fennen die Nomanjchreiber weder die vornehmen noc die geringen Leute! 

Zur Verwirklichung der noblesse oblige gehören durchaus feine befondern Vorzüge 
äußerlicher Natur, wie wiſſenſchaftliche und künſtleriſche Talente, Bildung; das gehört 
aber dazu, daß einer das Herz auf, dem rechten Fleck hat, daß einer das 
Bewußtſein von Pflichten und Aufgaben hat, daß einer auch den Adel als 
Beruf auffaßt, daß man auch als Adliger zu den Arbeitsbienen und nicht zu den 
Drohnen gehören ſoll. Nur um der Drohnen willen iſt dev Adel vielfach gehaßt. 

Ein aus dem Leben gegriffenes Beiſpiel dafür, daf das noblesse oblige ohne alle 
Neflerion, in unmittelbarjter, angeborner, edler Gefinnung geübt werden kann, bietet 
der in der Reclamſchen Univerjalbibliothef erneuerte komiſche Roman „Siegfried von 
Lindenberg“ dar. (BD. — Dieſer Roman iſt zum erſtenmal 1779 
erſchienen. Sein Verfaſſer Johann Gottwerth Müller in Itzehoe erwartete nicht, 
daß ſein Siegfried ihn überleben werde und doc) ift jein Buch nicht nur für wert 
gehalten worden, nad) mehr denn hundert Jahren aufs neue gedrudt zu werden, jondern 
jelbjt in dem großen Unternehmen der jog. Kürjchnerichen National-Litteratur anszugsweile 
mitgeteilt worden. (Band 107.) Siegfried von Lindenberg war ein pommerjcher Land: 
junfer von viel Selbjtgefühl, der römische Kaiſer und der preukiiche König waren in 
jeinen Augen Edelfeute wie er jelbft, nur daß fie etwas mehr Land und Leute vegierten, 
als er jelbjt. Von feinen Eltern hatte er die denkbar jchlechtefte Erziehung genojien. 
Seine Kenntniſſe waren faft gleich Null. Die befanntejten Fremdwörter im gewöhnlichen 
Verkehr hat er jtets, wie das gemeine Volk, vom Dialekt jeiner Heimat aus umgeitaltet. 
Bahllos find die Blößen, welche ſich diefer pommerjhe Don Quichotte giebt. Und doch 
war er den Juſaſſen jeines Dorfes Lindenberg gegenüber „ein Vater des Vaterlandes,“ 
deſſen gütige, ſorgende, ratende, helfende Hand darum nie müßig war, weil er das 
Herz auf dem rechten Fleck hatte. Seine „innere Größe und Würde und ſeine 
unermeßliche Unwiſſenheit und der Mangel an aller Ausbildung“ stehen im wirfungs: 
reichiten Kontraft. „Siegfried von Lindenberg” giebt ein bis in Die kleinſten Züge 
wahres Bild von den kleinen Landesherren, welche vor hundert Jahren im römiſchen 
Reiche deutſcher Nation ſich durch eine Menge von Albernheiten und Lächerlichkeiten in 
äußeren Dingen, aber durch edlen, großen Sinn im Verkehr mit den ſog. „Unterthanen“ 
mit Fremden, mit Slandesgenoſſen auszeichneten. Mit dem Satze noblesse oblige 
hätte man dem biederen Junker Siegfried nicht kommen dürfen, denn er verjtand Fein 
Wort Franzöfiih, aber was ihm jein Pfarrer bei der Auslegung des Iutheriichen 
Katechismus gejagt hat, das ijt ihm im Herzen geblieben und die Nichtichnur feines 
Lebens geworden. 

Ich stelle den alten Roman Joh. Gottw. Müllers iiber den Roman Holteis und 
diejen über den Roman Spielhagens. 





Englifche Stimmen über Deuffchland. 


Bon 
Rev. L. N. Schleicher. 


Ein weifer Mann wurde einft gefragt, wie es ſich fejtitellen Liege, welcher Nation 
der erſte Plab unter den Kulturvölkern gebühre, da doch ein jedes Volk denjelben für 
ſich jelbjt in Anspruch nähme. Er erwiderte, daß dasjenige Volk das erjte ſei, dem 
alle anderen den zweiten Platz zugeftänden. Aber, jo fragte man weiter, wenn nun 
die anderen Völker verschiedener Meinung find? So erkenne man, war die Antwort, 
die Palme demjenigen Volke zu, welchem die ftolzefte und exflufivfte unter den Nationen, 
deren Stolz ſich auch auf große nationale Errungenjchaften gründet, den zweiten Hang 
einräumt. Die ftolzefte, die exklufivfte, und zugleih auch eine der allertüchtigften 
unter den europäifchen Nationen find nun unbeftritten die Engländer. Und menn 
die Frage fich erhebt, welche Stellung wir Deutjchen unter den Kulturvölfern Europas 
beanjpruchen dürfen, jo muß auf die Entjcheidung wirklich urteilsfähiger Engländer 
bejonders großes Gewicht gelegt werden, einerjeits, weil fie uns ſtammverwandt find 
und deshalb für unjere deutſche Art ein tieferes Verftändnis haben dürften, als z. 2. 
die Franzoſen — andererjeitS auch, weil ihr Urteilsvermögen durch Feine tiefergehende 
politiſche Feindjeligfeit getrübt ift. Für uns Deutjche unterliegt natürlich unjere 
Führerftellung in Europa feinem Zweifel; unjer „Deutichland, Deutjchland über Alles, 
über Alles in der Welt” fingen wir aus tieffter Herzensüberzeugung. Aber da wir 
jelbjt zu den ftreitenden Parteien gehören, müfjen wir doch dieſen Spruch, jo natürlich 
er aud) ift, mit großem Mißtrauen betrachten, bis er durd die Entjcheidung eines 
unparteifichen Appellationsgerichts bekräftigt worden ift. Und unter all’ den Nationen 
Europas dürfen wir unbedingt das gerechtefte, das unparteiiſchſte und das verjtändigjte 
Urteil von den Engländern erwarten. 

Natürlicd) muß dies aber nur von denjenigen Engländern verftanden werden, 
welche wirklich in der Lage find, fich ein Urteil über Deutichland zu bilden. Londoner 
Sournaliften, welche unter dem Einfluffe der politiichen Tagesjtrömungen in den Tag 
hinein jchreiben, ohne von deutjchen Verhältniffen oder von deutſcher Kultur aud) nur 
die mindefte Ahnung zu haben, dürfen matürlich nicht befragt werden. Wohl aber 
fünnen wir mit Achtung Hinhören auf die Stimmen derjenigen Engländer, welche jelbjt 
gediegene Geiftesbildung befigen und dabei nicht von einer aus Unwiſſenheit hervor: 
gehenden Verachtung gegen alles Fremde erfüllt find — welche ferner unjer Land und 
Volk mit eigenen Augen gejehen haben, in unjerer Litteratur wohlbewandert find und 


Engliihe Stimmen über Deutjchland. 1313 


unſerer Art ein liebendes Verftändnis entgegenbringen. Und feiner, der jich viel unter 
wahrhaft gebildeten Briten bewegt hat, wird leugnen fünnen, daß die Anzahl diejer 
Freunde und Bewunderer des Deutjchtums unter den Engländern außerordentlicd) groß 
und im jtetigen Wachjen begriffen ift. In Streifen, wo wahre Bildung die Geifter über 
die engen Schranfen nationaler und injularer VBoreingenommenheit hinausgehoben hat, 
hört man oft über unjer Volk mit einer Begeifterung und unverhohlenen Bewunderung 
reden, welcher fich jelbjt ein patriotiicher Deutjcher nicht immer ganz anzuschließen 
vermag. Es ift ein Erfahrungsjag, der wohl wenig Ausnahmen erleiden dürfte, daß 
wenn ein Engländer erjt einmal zu einem vollen VBerjtändnis des deutichen Weſens 
gelangt, er ſich ohne Rückhalt dieſem Einfluſſe Hingiebt und jogar den gewöhnlichen 
Deutſchen in der Berehrung des Deutjchtums übertrifft. 

Diejer Sinn für deutſches Wejen ijt auch durchaus nicht auf einen kleinen inneren 
Zirkel beichräuft. Vor dem Auftreten des Thomas Garlyle, des großen Apojtels des 
Deutjchtums in England, war allerdings unjere Heimat für die meijten jeiner Lands: 
leute eine unbekannte Weltgegend, bewohnt von halbwilden Hujaren: und Ulanenſtämmen, 
welche ji) von rohem Schinken nährten und Kirſchbranntwein dazu tranfen. ber jeit 
den dreißiger Jahren ift der Einfluß des deutſchen Geiftes in der engliſchen Litteratur 
entjchieden in den Vordergrund getreten. Seit jener Zeit iſt es den unverbeſſerlich 
bejchräntten „Philiftern”*) überlafien worden, geringjchägig von Deutjchland zu reden; 
jeder bedeutende Schriftjteller aber, den England während der Ießten fünfzig Jahre 
hervorgebracht hat — jeder Schriftiteller wenigjtens, deſſen geiftige Entwidelung nicht, 
wie 3. B. diejenige Macaulays, vor diejer Periode jchon abgeſchloſſen war — hat 
bewußt oder unbewußt deutiche Ideen (German ideas) gepredigt, und ſich mit warmer 
und dankbarer Bewunderung über Deutjchland ausgeiprochen. Alle äußern fie in den 
verjchiedensten Tonarten das, was einer der größten unter ihnen fühlte, als er Deutid): 
land „die Mutter Europas“ nannte, von der jeit der Völkerwanderung jede jchöpferijche 
Ktulturbewegung für unſern Weltteil ausgegangen jei. Sogar die engliichen Zeitungs: 
jchreiber hat während des legten Jahrzehnts die Schen vor der Berachtung jedes: 
Gebildeten veranlaßt, mit gebührendem Reſpekt von unſeren wiljenjchaftlichen und mili: 
tärijchen Leiftungen zu reden. 

Wird unjer Vaterland jet von ihnen erwähnt, jo heißt es „deep thinking 
Germany“ (das tiefdenkende Deutjchland); es ijt ferner „das Land der Denker”, die 
Heimat der Foricher und Denker“, „das Land, welches jo lange für ganz Europa die 
fruchtbare Mutter neuer Ideen in der Theologie, der Gejchichte, der Metaphyfif und 
der Philologie geweſen iſt“, „das gelehrte, hochgebildete Deutjchland“. Von einem 
hochgelehrten Engländer heißt es, daß er „unterwieſen ift in aller Weisheit dev Deutſchen“ 
(learned in all the learning of the Germans). Man ltejt von der „deutjchen Gründ— 
lichkeit” und dev „unverrücten Pflichttreue und wunderbaren Präzifion, mit welcher in 
Deutjchland alles, was ſich auf die Volkswohlfahrt bezieht, ausgeführt wird“ (that 
unvarying fidelity and precision which characterize the German people in most 
matters of national duty and concern). Die deutjche Sprache ift „Die reiche und kraft— 
volle Sprache Luthers“ (the rich and energetic language of Luther), „die reinſte und 
allein jelbitgenugjame unter den neueren Sprachen”, welche „zugleich des janftejten, 
tieblichjten Wohllauts und der gewaltigjten Macht und Majeftät, der einjchmeichelmdften 
Weichheit und der braujenditen Poſaunenklänge fähig ift“. 

Es ift der Zweck diejes Schriftchens, durch Auszüge aus den bejjeren englijchen 
Schriftitellern dem deutjchen Leſer ar vor die Augen zu führen, was gebildete Briten 
von unjerem Vaterlande wirklich denken und jagen. Das gewifjenloje Gejchreibjel einer 
unverantwortlichen Tagesprejje hat zwiſchen zwei edlen Völkern, welche einander mehr 
gewejen find und auch in Zukunft noc) fein können, als irgend zwei andere Völker in 





*) Philistines — ein dem Deutichen entliehener Ausdrud. 


1514 Eugliſche Stimmen über Deutichland. 


Europa, einen Staub anfgewirbelt, der jedem von beiden die wahre Gejinnung Des 
anderen verhüllt. Denn wenn wir auch jeine Fehler und Mängel nicht zu überjehen wer 
mögen, im Grunde unferer Herzen lieben, achten und bewundern die Beten unter uns 
dennoch) das englijche Volk. „Britin, ich liebe dich, Britin, ic) liebe dich mit Beavund’rung“, 
jo fühlte nicht nur Klopſtock; jo fühlten auch Herder, Yeiling, Goethe, Schiller, Niebubr, 
Bunſen; jo fühlen troß mannigfacher Neibungen und Eiferfüchteleien immer noch Die 
Edeljten unjerer Nation. Und daß, troß der Tagesprefje, welche dieje Fleinlichen Eifer: 
jüchtefeien von Zeit zu Zeit widerjpiegelt und jchürt, dieſe Gefühle von den Beſten der 
englifchen Nation auf das wärmſte erwidert werden, dürfte aus dem Folgenden zur 
Genüge hervorgehen. Der Beifall, den England uns zollt, iſt fein herablaſſendes 
Achſelklopfen; er iſt die offene und riücdhaltloje Bewunderung eines hochherzigen Bruder: 
volfes. Möge denn diejes Büchlein ein Fein wenig dazu beitragen, den Nebeljchleier 
des Mifverftändniffes, welches zur Zeit zwiſchen den beiden Völkern waltet, etwas zu 
lüften, damit jie bald wieder einander ohne entitellendes Medium klar in die Augen 
jehen können! 

Es jei mir vergönnt, Die Neihe von Gitaten zu eröffnen mit einem Briefe, welchen 
der große Staatsmann Sir Robert Peel in den vierziger Jahren an Bunjen jchrieb. 
In diefem Briefe jagt Peel von den Deutſchen: „Sie find ein edles Volf, groß ſowohl 
im Frieden als aud) im Kriege. Die Einheit und die Vaterlandsliebe diejes Volkes, 
weches den Mittelpuntt Europas bildet, ift die einzig ſichere Bürgſchaft für den europäiſchen 
Frieden. Bon ganzem Herzen hoffe ich, dal jedes Mitglied diejes erlaudhten Stamnıes 
nicht nur jein engeres Vaterland lieben möge, jondern daß jein PBatriotismus über Die 
engen Schranken desjelben hinausflutend ihn mit dem jtolzen Bewußtjein erfüllen möge, 
daß er ein Dentjcher ift und daß Deutjchland auf die thatenmutige Liebe aller jeiner 
Söhne ein heiliges Anrecht hat. Ich hoffe, ich darf auf die Gefinnung eines jeden 
Deutjchen einen Schluß ziehen von den Gefühlen, welche in meiner eigenen Bruft 
wachgerufen wurden durd) ein einfaches Lied, welches aber den eijernen Entichluß eines 
mächtigen Volkes in ſich birgt, und mit Nachdruck es ausipricht: 

„Sie jollen ihm nicht haben 
Den freien deutſchen Rhein!” 


Sie werden ihn nicht befommen, und den Rhein wird ein Lied jchirmen, wenn, 
wie ic) von Herzen hoffe, der Geift jenes Liedes eine jede deutjche Bruſt bejeelt. Sie 
werden jchon denken, daß ich jelbjt ein guter Deutſcher bin und das bin ich audı, 
wenn die innigiten Wünſche für die Einigkeit und Wohlfahrt des deutjchen Volkes einen 
guten Deutjchen ausmachen.” 

Mas einfichtsvollen Engländern bejonders an uns auffällt, iſt nicht nur unſere 
Gründlichkeit und Wifjenjchaftlichkeit, jondern unjere geduldige, eiferne Ausdauer und 
unſer unerjchütterlicher Glaube an das Unfichtbare. 

„Die Deutſchen,“ jagt Carlyle, „ind das einzige reine unvermilchte Volk Europas. 
Sie find nie wirflid) von einem fremden Volke unterworfen worden; und, wenn man 
bedenkt, was für ein weites, offenes und fruchtbares Land fie bewohnen, jo beweiſt 
ſchon diefe Thatjache ummwiderleglich den männlichen unbezwingbaren Charakter der Nation. 
Das Hauptmerfmal des deutjchen Geiſtes ift eijerner Mut (valour), jene kaltblütige, 
beharrliche, eherne Ausdauer, welche durch gute Gerüchte und böje Gerüchte unentwegt 
vorwärts jchreitet, und durch die allein große Dinge geleijtet werden.“ 

Charles Kingsley, der edle Berfajjer der „Hypatia“ findet die Größe des deutſchen 
Geiſtes in feiner „inftinkftmäßigen Auffaſſung des Unfichtbaren.” 

„Ans fehlt,“ jagt er, „jener deutjche Iujtinkt für das Unfichtbare, jene majejtätiiche 
Ktindlichkeit des deutjchen Geiſtes. Diejer Inftinkt für das Unfichtbare (instinet for the 
unseen) — man nenne ihn nun Enthuſiasmus, Myſtizismus oder wie man wolle, er 
bleibt dod) eine lebendige und fir Europa unendlich jegensreiche Thatjache verleiht 








Engliſche Stimmen über Deutſchlaud. 1315 


der deutjchen Philoſophie, Poefie, Kunft, Religion und vor allem dem deutjchen Familien: 
leben einen eigentümlichen Wert und iſt gerade die Ergänzung, welche wir Engländer 
brauchen, um unjeren nüchternen praftiihen Simm vor der Entartung in dem Materia— 
lismus zu bewahren.“ 

In demjelben Sinn äußert ſich Sir James Stephen, der geniale Verfaſſer der 

„Leetures of the History of France* über die Stellung Deutjchlands unter den 
weftlichen Kulturvölfern: 

„Ich Habe jchon meine Leberzeugung ausgejprochen, daß nach göttlichem Ratſchluſſe 
jedem Volke ein eigentümlicher Charakter zugehört, welcher es zur Ausführung jeiner 
bejonderen gejchichtlihen und kulturellen Aufgabe befähigt. Den Franzoſen ijt die Rolle 
geworden, das Leben zu verfeinern und zu humanifteren. England jollte der Führer 
Europas auf praftischem Gebiete jein und jie im Handel und in der Staatsfunft unter: 
weijen. Aber für Deutjchland war vorbehalten die höchite und herrlichite Aufgabe, 
welche je einem Wolfe gewworden ift, jeit die Hebräer, die Griechen und die Römer der 
Menjchheit die Segnungen der Religion, der Weisheit und des Gejeßes vermitteln 
durften... . Wenn es heißt, daß bei der Teilung der Welt England das Meer 
zugefallen jei, Frankreich) das Land und Deutjchland die Wolfen, jo iſt das eine Halb: 
wahrheit, welche der Deutjche von ficherer Höhe herab belächeln darf. Denn heilige Ehr Furcht 
in der Betrachtung alles Erhabenen, kühne roontafte in der Darjtellung alles Schönen, 
duftige Zartheit in der Empfindung alles Lieblichen, eiferne Geduld im Forjchen nad) 
der höchſten Wahrheit, männliche Kühnheit im Ausjprechen jeder Herzensüberzeugung, 
hochherzige Duldjamfeit in der Beurteilung jeder ehrlichen Meinungsverjchiedenheit, das 
jind nach wie vor die organischen Hauptmerkmale des deutjchen Geiſtes.“ 

Das Folgende ift ein Auszug aus einem längeren Artikel, in welchem George Eliot, 
die hochbegabte Romanjchriftjtellerin, mit jprühendem Wige zu Felde zieht gegen die 
„snobbish Philistines“ (jpießbürgerlichen Philifter), welche im Hochgefühl ihrer eigenen 
gen die Deutſchen als „nebulöje Metaphyfifer” (cloudy metaphysicians) 
belächeln 

„Sollen wir es anzudeuten wagen, daß diefer Ausdruck zur Kennzeichnung des 
deutſchen Nationalcharakters nicht ganz hinreichend iſt? Denn erſtens befteht nur ein 
fleiner Bruchteil des deutjchen Volkes aus Metaphyſikern. Es giebt unter ihnen auch 
Bäder, die ausgezeichnetes Brot baden, welches vielleicht nur an Schwere hinter dem 
britischen Brot zurüdjteht. Zweitens ift der hervorragendite unter den deutjchen Meta: 
phyfifern, Stant, nebulös nur in dem Sinne, in welchem ein Mathematiker fich nebulös 
ausdrüct für den, welcher feine Mathematik verjteht. Was kann nebelhafter fein, als 
ein Buch über Geometrie für denjenigen, welchem weder der Gegenjtand noch die 
Terminologie geläufig find? Was ift mehr laputanifch und verworren, als algebraijche 
Formeln für einen, der fich nie mit Algebra bejchäftigt hat? Kant war ein ſtrenger 
Denfer, der, wie jeder andere ftrenge Denker, fich nach Ausdrüden umſehen mußte, 
welche durch langen Gebrauch noch nicht abgeichliffen, und von verwirrenden Ideen: 
verbindungen frei waren. Will man Kant verjtehen, jo iſt das Folgende ein ausge: 
zeichnetes Rezept: Erjt ſchaffe man fich einen Kopf an, der fähig it, feinem Räſonne— 
ment zu folgen, jodanı mache man jich mit jeiner Ansdrudsweile vertraut. Hält man 
ſich an dies Rezept, jo ift die „Kritik dev veinen Vernunft“ freilich immer noch feine 
leichte Lektüre, aber fie ift ‚ganz gewiß nicht „nebulös.“ Es iſt allerdings fein geeignetes 
Buch für den Klubtiſch. Dort möchte vielleicht ein Mitglied, welches es durchblättert 
und dabei auf Ausdrüde, wie „ſynthetiſche Urteile,” „Antinomien“ u. dgl. ſtößt, ſich 
einer überlegenen Verjtandesidhärfe bewußt werden und ausrufen: „Nein, was ijt das 
num wieder für ein Blödſinn! Was doch dieje Deutjchen für Träumer find!” Uber es 
it auch möglich, daß, wenn dies mit jo Elarem Verſtande begabte Klubmitglied aufge: 
jordert wiirde, die Ausdrücke „Koefficient“ und „Hypotenuje” zu erklären, und man ihm 
zu verjtehen gäbe, daß man mit einem vieljagenden Lächeln nicht zufrieden jein würde, 


1316 Engliiche Stimmen über Deutichland. 


er die peinliche Entdedung machen dürfte, daß auch dieſe Ausdrüde höchſt nebelhafter 
Natur find. Es ift eine unſerer intereffanteften Schwächen, daß wir alle glauben, 
Klarheit höre da auf, wo unjere eigene Sehkraft nicht mehr hinreicht. 

Drittens verwahren wir uns gegen den Ausdruck „cloudy metaphysician* als 
ſtehende Bezeichnung der Deutichen, weil er eine andere thörichte Gewohnheit erzeugt 
hat, mit der wir uns durchaus nicht befreunden fünnen. Eine Anficht wird nämlich oft 
mit den Worten verworfen, daß fie deutich ſei. Nun giebt es ja allerdings eine eigen- 
tümlich deutſche Anſchauungsweiſe, gerade wie es eine englische Anjchauungsweije, eine 
franzöſiſche Anſchauungsweiſe, eine Hindu-Anſchauungsweiſe giebt, und jo weiter bis 
herab zur Anſchauungsweiſe des Batagoniers, welche vielleicht von allen die am wenigsten 
metaphyſiſche iſt. Natürlich iſt die englische Anſchauungsweiſe die vermünftigite von 
allen und alle Nichtengländer find auf das tiefjte zu bemitleiden. Aber das Menjchen- 
geichlecht ift nicht nach einem gleichfürmigen Plane erzogen worden; und gerade dieſer 
Einteilung desjelben in verjchiedene Raſſen und Völker verdanken wir jene Verſchieden— 
heit der nationalen Begabungen und Gefichtspunfte, welche die menschliche Erfenntmis 
der Innen: und Außenwelt immer mehr bereichert und vervollitändigt. Und feiner, der 
nur irgendivie mit den Erzeugniſſen des deutjchen Geiftes auf irgend einem Felde vertrau 
ift, wird leugnen fünnen, daß aus den Eigentümlichkeiten jenes Geiftes Leiftungen von 
außerordentlicher Bedeutung für die geiftige Entwicelung des Menjchengeichlehts hervor: 
gewachjen find. 

Der deutjche Geijt befißt im hohen Grade zwei Elemente, welche jonit für unver: 
einbar gelten — nämlich einen theoretijchen Gefichtsfreis von weitefter Ausdehnung 
(largeness of theoretie conception) und dabei doc) eine außerordentliche Gründlichfeit 
in der Erforichung der Einzelheiten. Die Theorie des Deutjchen ijt allumfajjend; Teine 
Details find genau und vollſtändig. E3 giebt feinen Menjchen, der jo wenig geneigt 
wäre wie der Deutjche, aus mangelhaften Vorausſetzungen einen Schluß zu ziehen oder 
eine ungenaue Angabe durchſchlüpfen zu laſſen; auf der anderen Seite hat aber aud 
fein Menjch eine tiefere Verachtung für oberflächliche Forſchungen, welche nicht „willen: 
— d. h. nicht durch eine vernünftige Theorie verknüpft ſind, oder wenigſtens im 
vollen Bewußtſein des Bedürfniſſes einer ſolchen Theorie ausgeführt werden. Wenn er 
Experimente anſtellt, ſo wird er gründlich in ſeinen Experimenten ſein; iſt er ein 
Gelehrter, ſo werden alle ſeine Forſchungen das Gepräge ſtrengſter Gründlichkeit an ſich 
tragen. Daher kommt es, daß wer heutzutage irgend einen Gegenſtand von Grund 
aus ſtudieren will, deutſche Bücher benutzt, oder doch es ſchmerzlich empfindet, wenn 
ſeine Unkenntnis der deutſchen Sprache ihm die Benutzung derſelben unmöglich macht. 
Daher kommt es auch, daß in jedem guten philologiſchen, geſchichtlichen und natur: 
wiſſenſchaftlichen Werke, welches heutzutage in Frankreich oder England herauskommt, 
die Anmerkungen von deutſchen Namen wimmeln. Wenn die Deutſchen nicht wären, ſo 
gäbe es überhaupt keine wiſſenſchaftliche Geſchichtsforſchung; ohne die Deutſchen und 
ihre eiſerne Ausdauer, ihre Gründlichkeit, ihr Bedürfnis nach einer Theorie, welche 
vorübergehende Erſcheinungsformen in vernünftigen kauſalen Zuſammenhang bringt, 
wäre uns die Weltgeſchichte heute noch ein verworrenes unverſtändliches Chaos. Kurz, 
wenn heutzutage überhaupt jemand ohne eine Kenntnis des Deutſchen auf Bildung 
Anſpruch machen darf, ſo iſt das nur, weil die Litteratur der beiden anderen großen 
europäiſchen Kulturvölker von den Nejultaten deutſcher Arbeit und genialer deutſcher 
Geijtesthätigkeit durchdrungen iſt.“ 

Beſonders und mit Recht ſind wir Deutſchen ſtolz auf unſere Litteratur, welche 
wir trotz unſerer ſtrengen Gerechtigkeitsliebe in der Beurteilung fremder Leiſtungen für 
die größte der Neuzeit halten. Noch zu Klopſtocks Zeiten erkannten wir hier den erſten 
Rang den Landsleuten Shakeſpeares zu; aber ſchon damals rüſtete ſich Deutſchland, 
dem ſtolzen Albion die Siegespalme abzuringen. Jeder erinnert ſich der ſchönen Ode, 
in welcher Klopſtock mit prophetiſchem Geiſte den Wettlauf der beiden Muſen beſchreibt. 


Engliihe Stimmen über Deutſchland. 1317 


„Mit der britannijchen,” jo fingt er, „jah ich im Streitfauf Deutjchlands Muſe heiß 
zu den frönenden Zielen fliegen.“ Er jah, wie „glühende fiegswerte Röten flammend 
die Wangen der jungen bebenden Streiterin überjtrömten.“ Aber den Ausgang des 
Kampfes war es ihm nicht vergönnt zu jchauen: 


„Der Herold Hang! Sie flogen mit Adlereil'. 

Die weite Laufbahn ftäubte, wie Wolfen, auf. 

Ich jah: vorbei der Eiche mwehte 

Dunkler der Staub, und mein Blid verlor fie.“ 


Wem in diefem edlen Wettlampfe der Siegespreis zu teil geworden, das wollen 
wir aus dem Munde der Briten jelber hören. 

Wie jchon erwähnt, war Thomas Garlyle, oder „Altmeifter Thomas“, wie ihn die 
Engländer gerne nennen, der erjte, welcher jeine Landsleute auf die Bedeutung der 
neueren deutjchen Litteratur hinwies. Seine Lebensaufgabe hat darin beftanden, jeinem 
Volke das deutſche Geiftesfeben zu vermitteln; und der Einfluß, welchen durch jeine 
und jeiner Jünger Thätigkeit das Deutichtum auf die englifche Denkweiſe ausgeübt hat, 
ift größer, als viele Engländer ahnen. Das folgende ift ein Auszug aus feinem erjten 
epochemachenden Artikel über die deutjche Litteratur in der „Edinburgh Revier“ und 
ichildert das allmähliche Steigen unferes Volkes in der Achtung Europas. 

„Bor mehr als einem Jahrhundert legte ſich der Jeſuitenpater Bonhours die 
prägnante Frage vor: Si un Allemand peut avoir de l’esprit — ob ein Deutjcher 
Geift haben könnte? Wenn der Vater Bonhours bedacht hätte, welchem Lande Kepler 
und Leibniz angehörten oder welchem Volke Europa die drei Hauptelemente der modernen 
Kultur — nämlich das Schießpulver, die Buchdruderkunft und die Reformation — 
zu verdanken habe, jo hätten dieje Thatjachen vielleicht etwas Licht auf feine Unter: 
juchung geworfen. Hätte er das Nibelungenlied gekannt — hätte er gewußt, in welchem 
Lande Reineke Fuchs und Fauſt und das Narrenichiff und vier Fünftel der Volks— 
jagen, des Volkshumors und der Volksromantik, welche e8 im 16. und 17. Jahrhundert 
in Europa gab, entjtanden waren ...... ‚ wer weiß, ob er dann nicht die jtaunens: 
werte Entdeckung gemacht hätte, daß ein Deutjcher wirklich) ein wenig esprit haben 
kaun und vielleicht nod) etwas bejjeres. Aber dieſe Verfahrungsweife war dem Pater 
Bonhours viel zu umftändlih. Die Bewegung durd) einen leeren Raum geht befanntlic) 
viel jchneller und ficherer von ftatten, als durch ein Widerjtand leiftendes Medium, 
bejonders für leichte Körper: und jo gelangte denn das luftige Iejuitlein, da ihm weder 
Fakta noch Prinzipien hindernd entgegenjtanden, zu jeinem vorgefaßten Schlußjage, und 
entichied mit der größten Selbjtzufriedenheit die Frage, ob ein Deutjcher Geift haben 
fünne, im verneinenden Sinne. — So ließ denn der Pater Bonhours feinen leicht: 
fertigen Wit an den Deutjchen aus; aber er hat jchwer dafür büßen müſſen. Durch 
diefe eine jchlecht angebrachte Witzelei ift nämlich der unglücliche Iefuit dazu verdammt, 
bis auf jpätefte Zeiten fortzuleben. Der Gnadenftoß volljtändiger Vergeſſenheit ift ihm 
auf immer verjagt; und jo hängt er in jeiner eigenen Schlinge über dem jchwarzen 
Letheftrome, den er mit den Füßen berührt, aber in dem er nie ganz verfinfen kann. 
Andere zu verachten, ift immer ein gefährliches Vergnügen; aber man kann fich ihm 
wenigftens mit größerer Sicherheit Hingeben, nachdem man ſich die Mühe genommen 
hat, den anderen fennen zu lernen, als vorher. ...... 

Aber woher kommt es, daß die Deutichen, welche jo viel für Guropa gethan, 
während des legten Jahrhunderts jo wenig Beachtung gefunden haben? 

Der Grund liegt wohl hauptſächlich darin, daß fie während diefer Zeit teils ihre 
eigene Kraft noch nicht Fannten, teil® aber auch mehr verleumdet und verfannt worden 
find, als irgend ein anderes Volk. Werfen wir einen Blick auf ihre Geſchichte, jo kann 
ung dies nicht befremden. Bon der Zeit des Opitz und Flemming bis zur Zeit 
Klopftods und Leſſings (vom Anfange des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts) 

Allg. font. Monatsichriit 1888, XII, 84 


1318 Englifche Stimmen über Deutſchland. 


bejaßen jie feine Litteratur, weldhe im Auslande befannt war, oder befannt zu jein 
verdiente. Während Diejer Periode war ihre politiihe Lage von außen höchſt 
bedrüctend und unglüdlid); und von innen war das Volk in jo viele Parteien und 
Staaten zerjplittert, daß es fi) als Nation zu fühlen aufgehört Hatte; jeine Energie 
im Kriege und in den Werfen des Friedens fonnte fich nie recht geltend machen: denn 
fie war zerjplittert, innerlich entzweit und unter fremdem Einfluß. Die Franzoſen, 
welche fie zugleich beraubten und verhöhnten, ftellten fie dem übrigen Europa al 
Halbbarbaren hin; und dieſe tröftliche Verficherung war das übrige Europa durchaus 
bereit, ihnen aufs Wort zu glauben. Während des vorigen JahrhundertS wurde 
Deutichland, wenn von den geiftigen Leitungen Europas die Rede war, mit Still- 
Ihweigen übergangen. Man gefiel fi) im verächtlicher Unwiſſenheit; e8 war ein 
Kimmerien, wo nur bie und da inmitten der jchwarzen Nacht ein ſchwaches Fünkchen 
glühte. .. .... 

Das Buch der Madame de Stasl hat die ganze Sachlage mit einem Schlage wer: 
ändert. Ganz Europa weiß nun, daß die Deutjchen etwas find, das fie von andern 
jcheidet und über andere hinaushebt: etwas Tiefes, Impojantes, Wunderbares. ...“ 

In einem zweiten Eſſay jagt Carlyle: 

„Um die Mitte des legten Jahrhunderts erhob fich der Niejengeift Deutjchlands 
(the giant spirit of Germany) aus einem Wuft von parifiichen Liebesliedern, wurm— 
jtichiger Sentimentalität, Hofäffereien und hohler Stupidität, und erwachte gleichjam 
aus einem langen Schlummer, mit ingrimmiger Ungeduld warf er von ſich diefe mürben 
Bande und that der Welt durch feinen Leifing und Klopftod in echter deuticher Mundart 
fund, daß er eine lebendige Seele jei. Diejes gewaltige Wiedererwacen fand unter 
wunderbaren Umständen jtatt. Es war, wie wenn ein jchaffender Geiſt über den 
Waſſern jchwebte und ein belebender Impuls das ganze Volk bejeelte.e Denn die 
Bewegung wurde von feinem Hofe oder König begünftigt, jogar die allerwinzigften 
Fürſten Hatten ihre Mutterjprache und ihre National: Litteratur hoffnungslojer 
Barbarei anheimgegeben. Aber die Volkshewegung jchritt auch ohne diefe Hilfe vor: 
wärts. Lejlings Heroldsruf verhallte nicht ungeftört, jondern erflang im Munde jeiner 
Nachfolger immer lauter und gewaltiger, und erjchallt nun durch ganz Deutjchland, ja 
durch die ganze Welt. Denn dieſe neuefte Beriode der deutjchen Litteratur ift tief: 
bedeutjam für alle Völker. Wie jchon jo oft, hat auch in diefem Falle das Bedürfnis 
der Zeit zuerjt in Deutjchland Ausdruck und Befriedigung erhalten. In der edlen 
Litteratur der Deutjchen (the noble literature of Germany) liegen die Keime einer neuen 
Geiftesepoche, welche dieje und die nächſte Generation zu entwideln und ſich anzueignen 
haben wird. Die jhöpferiiche Eingebung der Alten ift, wie es jcheint, noch möglich 
in diefen Tagen. Zu einer Zeit, da Frivolität, Zweifel und grobe Sinnlichkeit das 
Leben zu einer Sandwüſte ansgedörrt hatten, da unjere ſchönſte Ausſicht nur eine 
gleißende Fata Morgana war, und da ſelbſt unſer Byron nur in ein Sterbelied oder 
ein verzweifelndes Geheul ausbrechen konnte, hat der Moſesſtab wieder jenem Horeb 
erfriichende Waſſerſtröme entlodt, zu denen nun die edelften Geifter aller Nationen 
hoffnungsvollen Blickes herbeieilen, um ihren Durft zu Lölchen. ...... 

Einer der bedeutendften Mitarbeiter Carlyles in der Vermittelung — Ideen“ 
an England war der berühmte Eſſayiſt John Sterling, deſſen Leben auch Carlyle ver: 
faßt hat. Im dem folgenden Eſſay, welcher nad) englischer Weije in der Form einer 
Rezenſion gejchrieben ift, verleiht Sterling jeinen Anjchauungen über „the Genius of 
German Literature* eingehenden Ausdrud. Da er darin die Anfichten aller gebildeten 
Engländer in höchſt trefjender Weile ausipricht, jo jet es mir verjtattet, längere Aus: 
züge daraus dem deutichen Lejer vorzulegen. Das Werk, dejjen Nezenfion ihm bei 
diefer Beiprechung zum Worwande dient, heißt „Fragmente aus deutſchen Proja- 
ichriftitellern, überjeßt von Sarah Auftin“. In der Einleitung jagt er, dab es dem 
des Deutjchen unkundigen Engländer, welcher diejes Buch leſe, zu Mute jein müſſe, als 


Englifhe Stimmen über Deutichland. 1319 


erwache er in einem wunderbaren Feenlande inmitten der jchönften und duftigften Blumen, 
und fährt dann weiter fort: „Vielleicht hätte fich in feiner anderen Brojalitteratur 
außer der Griechenlands der Stoff zu einem jo weiſen, wißigen und mannigfaltigen 
Buche gefunden. Und doc fehlen jenen hellenifchen Werfen, obgleich fie dem Zeitalter 
der urjprünglichen Naturempfindung am nächjten liegen und in unnachahmlicher Weije 
kindliche Einfalt mit Tiefe der Gedanken verbinden, einige der edleren, ja der aller: 
edeljten Elemente unjerer chriftlichen Weltanfchauung, und aud) jene volle, klare Erkenntnis 
der Natur: und der Menjchengejchichte, welche ung Neueren Bedürfnis tft, und welche 
die Deutichen mehr als irgend ein Volk der Welt verwirklicht haben. Kurz, während 
fie an Gedanfenfülle und majeftätiicher Einfalt den Griechen weit näher jtehen, als Die 
Schriftiteller irgend einer anderen Nation, haben fie für uns den weiteren unvergleich— 
lichen Vorteil, daß fie die Kinder und die Lehrer unferer eigenen Zeit find. Garlyle, 
mit jeiner Geiftestiefe und feiner prophetiichen Originalität ift der große Hierophant, 
welcher frommen Seelen unter uns die wahrhaft göttliche Weisheit jenes modernen 
Heiligen Landes verfiindet (the great hierophant disclosing to prepared minds the 
truly divine wisdom of that modern Holy Land). Aber die Flamme des Deutſchtums 
muß schon im umjeren Herzen brennen, und wir müſſen jchon etwas von der feurigen 
Begeifterung eines Neubefehrten fühlen, wenn uns der unendliche Segen jeiner Lehre 
ungefchmälert zu teil werden joll — wenn wir uns das Wahre, das Schöne und das 
Gute, welches die edelften Herzen, die jchöpferifchiten Geifter, die ſcharfſinnigſten Forjcher 
der Neuzeit der Welt gejchenkt, ganz und voll aneignen wollen... .... Daß 
während der letzten 25 Jahre die deutſche Litteratur eine univerſelle Weltbedeutung 
erlangt hat, iſt eine allgemein anerkannte Thatſache. Die Schriften Chateaubriands, 
Byrons und Manzonis haben allerdings auch großes Aufſehen erregt. Aber weder 
Frankreich, England noch Italien hat ein Werk hervorgebracht, das an den goetheſchen 
„Fauſt“ auch nur im entfernteſten hinanreichte. Und jeder weiß, daß dieſe Dichtung 
ſich nur durch ihre größere Vollkommenheit von den anderen Leiſtungen desſelben Volkes 
unterſcheidet, und daß es noch viele deutſche Werke giebt, welche denſelben Geiſt atmen 
und dasſelbe Ziel anſtreben. 

Betrachten wir die deutſche Litteratur in ihrer europäiſchen Bedeutung, ſo gehört 
ihr jetzt dieſelbe Stellung, welche vor ihr die großen franzöſiſchen Schriftſteller ein: 
nahmen. Denn nicht nur wird jeßt von jedem gebildeten Menfchen verlangt, daß er 
etwas von den deutichen Dichtern und Denkern weiß, fondern ihr Geift fpiegelt id) 
auch in den Werfen ihrer berühmteften Zeitgenofien im Auslande wider. Zum Beijpiel 
war Scotts Romantik und Byrons Weltjchmerz jchon lange vor ihrer Zeit in deutjchen 
Werken zum Ausdrud gefommen. Und dies gilt in noch höherem Grade von der 
Philoſophie, als von der Poeſie: denn die tiefiten Denker ganz Europas figen jetzt 
Deutichland zu Füßen. Guizot ift bei diefen hohen Meiftern in die Schule gegangen. 
Guvier war durch feine Geburt und Erziehung jelbjt ein Deutjcher. Coleridge iſt der 
begeifterte Ausleger Kants und Schellings. Wordsworth, welcher unter dem Anjchein 
eines Dichters wirklich ein Lehrer der erhabenften Sittenphilojophie ift, kann uns nichts 
geben, dem nicht die erleuchteten Meiſter Deutjchlands ſchon lange vor dem Erjcheinen 
jeiner Werke viel lebendigeren und volleren Ausdrud verliehen hätten. 

Ic glaube, daß nur wenige, die einen weiten Ausblid über die Welt haben, 
leugnen werden, daß die deutjche Litteratur, oder wenigſtens der Geiſt diejer Litteratur 
einen wichtigen und ausgedehnten Einfluß auf ganz Europa auszuüben beftimmt iſt. 
Dieje ihre Bedeutung zu ergründen und erklären, war der Wunjc der Madame de Staäl, 
den fie jedoch nicht zur Verwirklichung brachte. Aber troß der Verkehrtheit ihrer 
Anfichten ift es doch augenscheinlich, daß fie das Dafein von etwas Großem und 
Gewaltigen im deutſchen Geifte fühlte, welches weit über ihren bisherigen parifiichen 
Standpunkt hinausging und aud) in der großen und ftrahlenden, wenngleich durd) viele 
Flecken verdunfelten Sonne des Rouſſeau'ſchen Genies feinen Platz hatte. In der 

84* 


1320 Engliiche Stimmen über Deutjchland. 


Hauptjache ift ihre Anjchauung diejenige aller Gebildeten der Welt geworden; und aus 
diefem Grunde liegt jeßt die Befürchtung nahe — nicht daß die deutſche Litteratır 
nicht hoch genug angejchlagen werde, jondern daß man ihren Wert in eimer Talichen 
Richtung juche. Wir wollen es verjuchen, einige der Stufen anzugeben, auf welchen 
die Menjchheit zur Schöpfung der legten und größeſten aller neueren Litteraturen empor: 
geftiegen iſt. . . . (Nachdem Italien, Spanien, England und Frankreich eines nad 
dem andern jeine litterariiche Rolle ausgejpielt hatte) folgte die „Deutiche Ideenperiode“ 
(German period of ideas). Unter der deutjchen Ideenperiode verftehen wir eine Epoche, 
in welcher die Phantaſie fich höhere und edlere Ziele vorzujteden und die philojophiiche 
Forihung einen ernfteren und großartigeren Charakter zu tragen begann, ala in Den 
vorhergehenden Perioden, während zu gleicher Zeit die franzöfiiche Periode diefer Epoche 
mehr Wiljen, mehr Anmut, mehr Syſtem und mehr jelbjtbewußte Klarheit Hinterlieh, 
als England zur Zeit jeiner höchſten Blüte beſeſſen hatte... . . (Wenn wir bedenten, 
da die Nömer und die römijche Kultur in Deutjchland nie feiten Fuß gefaßt, daß « 
als Binnenland erjt jpät einen regen Handel zu treiben anfing, und daß es während 
zweier Jahrhunderte der Schauplaß verheerender Religionskriege war), jo können wir 
teilweije einjehen, weshalb Dentjchland, nachdem es faſt das ganze römische Reich in 
Europa eingenommen und jeine Söhne auf alle die hauptjächlichiten europäiihen Throne 
gejeßt — nachdem es darauf die Buchdruckerkunſt erfunden und Luther hervorgebradt 
hatte, dennoch Hinter England, Frankreich, Italien und Spanien zurüdblieb — warum 
es nicht gleichen Schritt mit ihnen hielt in der Schöpfung jener jchönen und mannig: 
faltigen modernen Kultur, welche es in der lebten Zeit mit größerer Vollſtändigkeit ſich 
angeeignet und zu höherer VBollfommenheit gebracht hat, als irgend eines feiner Rivalen. 
Aber vielleicht haben gerade die Urjachen, welche die Blütezeit Deutjchlands verjpätet, 
e3 auch bewirkt, daß, als endlich die Blüten zum Vorjchein kamen, fie jchöner, herrlicher 
und duftiger wurden, als alle anderen. Denn brad)te nicht gerade die Kraft, Die 
Gemitstiefe, die vom fieberhaften Treiben des Handels ungetrübte Geiftesruhe und 
Solidität der Deutjchen unter ihnen die Neformation hervor? Und waren es nicht 
diefelben tüchtigen Eigenschaften, welche fich zwei Jahrhunderte jpäter in Männern wie 
Lejling, Goethe und Kant verfürperten? Ja jogar die große Anzahl der kleinen 
Staaten und Refidenzen, welche die Neligionskriege verurjachte und in die Länge zog, 
hat ihre Vorteile gehabt. Denn durch die vielen Höfe und Univerfitäten war auch die 
entlegenfte Gegend Deutichlands nicht ohne ihren Intelligenzmittelpunft,; und Daher 
ichreibt fi) doch gewiß zum großen Teil jene allgemeine, mannigfaltige und freie 
Geiftesbildung, welche die jchläfrigen Kollegien Englands und die eine tyrannijche 
Metropole Frankreichs in diejen Ländern unmöglich gemacht haben. 

Was Deutichland am auffallendften von dem übrigen Europa unterjcheidet, ijt die 
große Anzahl, der mächtige Einfluß und die großartice Freiheit feiner Univerfitäten. 
Die Beichaffenheit des Landes jelbit, jeine Beziehungen zum Handel, die mannigfaltigen 
Negierungsformen, die Verjchiedenheiten der Neligion in den verjchiedenen Staaten, der 
Nationalcharafter mit jeinem Feuer und jeiner eijernen Ausdauer (the national character 
with its deep and steady fire), die Ruhe und der Ernjt jeiner Lebensgewohnbeiten, 
alles dies hat ja jeine unleugbare Bedeutung. Aber was den Deutjchen unter den 
großen Nationen Europas ihre eigentümliche Stellung verleiht, iſt doch bejonders ihr 
Univerſitätsſyſtem. Bei ihnen allein giebt es in großer Anzahl Vereme von Männern, 
die wegen ihrer hervorragenden Leiftungen ala Denker berufen worden jind, denen das 
Denken Lebensaufgabe ift und die ihre Gedanfen mit vollfommener oder beinahe voll: 
fonımener Freiheit ausiprechen dürfen. Während in dieſem Augenblide bei uns ein 
Orforder Profeſſor von unbeftrittener Frömmigkeit fait zu Tode gehegt wird, weil er 
etwas über den Thomas Aquinas gejchrieben hat (ob für oder gegen, ift uns entfallen) 
— darf ein Deuticher fich furchtlos als begeifterten Yünger Platos, Spinozas oder 
Shaftesburys bekennen oder die Autorität der Kirchenväter über den Haufen werfen; 


Englifhe Stimmen über Deutichland. 1321 


ja, wenn er es aus ehrlicher Ueberzeugung und auf geniale Weiſe thut, jo erhält er 
gar noch ein höheres Gehalt und einen volleren Kollegienjaal. Es braucht eben feinen 
übermäßigen Scharffinn, um zu entjcheiden, von welchem der beiden Syſteme man die 
beften Philojophen und Gejchichtsforicher zu erwarten hat. Obwohl Deutjchland im 
Vergleiche mit Frankreich und England ein armes Land ift, jo konzentriert ſich dod) 
dort bei weitem der größte Teil des ernten Forichens und der freien Wiſſenſchaft, 
welche es in der Welt giebt. Oxford und Cambridge bejigen größeren Reichtum als 
all die deutichen Profefioren zufammengenommen; aber außer in der Naturwiſſenſchaft 
haben fie nicht jechs Namen aufzuweiſen, die in der Gejchichte geiftiger Erkenntnis 
wirflid von Bedeutung wären. 

Was ift nun die Totalwirkfung diefer Kräfte und Bewegungen an den Ufern der 
Elbe und des Rheins? Erſtens, eine deutjche Litteratur, die vor uns und um ung ift, 
und im Studienlauf aller Gebildeten diejelbe Stellung einnimmt, welche früher das 
Italienische und das Franzöfiiche behaupteten. Aber dies ift noch nicht alles. Dieje 
deutjchen Werfe haben nicht nur ihre eigene Sprache; fie haben ein bejonderes, eigen: 
tümliches, individuelles Gepräge, welches fie von den anderen litterariichen Erzeugniſſen 
Europas jcharf abjondert und ihnen vielleicht eine höhere und univerjellere Bedeutung giebt. 

Wie heißt nun wohl das Wort, welches den jpezifiichen Charakter der befannteren 
deutſchen Schriftfteller der Neuzeit ausdrüdt? Wir wollen jehen, ob uns die verjchiedenen 
landläufigen Erflärungen eine Antwort auf diefe Frage liefern. 

Heißt es Einfachheit (homeliness)? 

Nein, denn fie find nicht einfacher als Goldjmith, Crabbe oder Walter Scott. 
Aber fie verbinden Einfachheit mit einem höheren Etwas, welches ſich jonft nirgends in 
diejer Bereinigung findet. 

Sit es vielleicht Wärme? 

Wohl faum. Allerdings finden fich bei den deutjchen Philojophen und Dichtern 
Beichreibungen und Darftellungen einer Wärme und Tiefe der Gefühle (und nicht nur 
der Leidenichaften), wie fie jonjt bei neueren Dichtern nur in vorübergehenden Anfällen 
jentimentaler Webertreibung vortommen. Aber auch diefe Gefühlstiefe fan faum eine 
Eigentümlichfeit der Deutjchen genannt werden. 

Heißt das Wort Myjtif? 

In keinem Sinne läßt fich diefer Ausdruck auf den größeren Teil der Dichtungen 
Goethes und Schillers anwenden. Ein Myſtiker im eigentlihen Sinne des Wortes ift 
derjenige, welcher über jeine höchiten Gefühle und Weberzeugungen nicht zu voller, ver: 
nünftiger Klarheit durchzudringen liebt und fich in der ungewillen Halbdämmerung 
feierlicher Empfindung jo wohl fühlt, daß er in das Tageslicht klarbewußten Denkens 
hervorzufommen ſich jcheut. In diefem Sinne ift vielleicht fein Menjch, der einen 
tiefen Herzensglauben hat, jo frei von aller Myſtik, als die hervorragenderen unter den 
deutichen Philoſophen und Dichtern. 

Bielleicht ift dann das Gegenteil von der Myſtik, nämlich Gedanfentiefe, das 
rechte Wort? 

Diefe Worte tragen allerdings die Spuren großartigeren und gründlicheren 
Dentens, als die zeitgenöffiichen Meifterwerfe anderer Schriftiteller. Aber auch Gedanken: 
tiefe ift micht ihr Hauptmerfmal. Tiefe der Gedanken ift ein höchſt wichtiges Element 
in der deutichen Poeſie; aber wenn man jagt, daß fie für die deutiche Philojophie 
bezeichnend iſt, jo heißt das eben nur, daß diejelbe beifer ift als die Philojophie des 
Auslandes. Aber das Wort drückt auch keineswegs die Haupteigentümlichkeit der nicht: 
philojophiichen Werfe Deutjchlands aus. Denn auf dem Gebiete der Beichreibung und 
Detailmalerei und auf ähnlichen Gebieten zeigen Dichter wie Goethe und Tieck eine 
Anichaulichkeit und Schärfe der Darftellung, wie fie jonft nirgends vorfommt; und bei 
Goethe und Tieck jowohl wie bei Schiller und Jean Paul findet ſich eine freie und 
doch febensgetreue Darjtellung mannigfaltiger und großer menschlicher Charaktere und 


1322 Engliſche Stimmen über Dentjchland. 


eine Mannigfaltigkeit und Tiefe der Empfindung, wie fie fein Nachdenken zıı Tage 
fördert und wie fie nur aus der tiefiten Herzens: und Lebenserfahrung heraus gejchaffert wird. 

Iſt es Willen? 

Die Anſicht hat viel für ſich. Die deutſche Philoſophie zeichnet ſich aus durch 
eine Weite des Ausblicks, ein Beherrſchen der Theorien aller Völker und Zeiten und eine 
Kenntnis der Fakta, welchen diefe Theorien zur Erklärung dienen follten, wie ſie feine 
andere Philojophie fich auch nur hat träumen lafjen. Wenn man dieſe Werfe aud 
nur überjeßt oder in indirefter Weile von ihnen borgt, kann man fchon in anderen 
Ländern und bejonders bei ung in den etwas gefährlichen Auf kommen, daß man fi 
mit der allerungeheuerlichiten der verbotenen Künfte, nämlich) der jchwarzen Kunft des 
Denkens abgiebt. Es läßt fid) auch nicht beftreiten, daß die deutjchen Dichter mit den 
Ergebnifjen der Bhilojophie, der wiſſenſchaftlichen Kritif und der Kunftgeichichte vertraut 
gemwejen find, wie feine ihrer Zeitgenoffen oder Vorgänger in anderen Ländern. Mber 
der Unterjchied zwijchen der deutjchen Litteratur und der anderer Völker geht zu tief, 
als daß er fich durch die allergrößte und mannigfaltigfte Biücherfenntnis erklären ließe. 
Die ganze Lebensanſchauung und die taufenderlei Eleinen Züge, denen wir dort begegnen, 
find auf etwas ganz anderes al3 bloße Büchergelehrjamfeit zurüczuführen. 

Das Wort, welches wir juchen, muß etwas ausdrüden, aus dem unter günftigen 
Umftänden feine Bildung, Willen, Gedanfentiefe, Klarheit und Anfchaulichkeit der Dar: 
ftellung, der Ernft, welcher dem oberflächlichen Beobachter als Myſtik erjcheint, die 
Herzenswärme, welche ein Menſchenleben und ein Buch erjt wahrhaft anziehend macht, 
und die Einfachheit, welche aufrichtigen Anteil an den Formen und Bedingungen Der 
Menjchennatur beweift — hervorftrömen wie Wafjer aus einer Quelle. Und es giebt 
eine Macht im Menjchenherzen, welche, wenn die anderen Vorbedingungen vorhanden 
find, diefe Erjcheinungen und alles andere Gute hervorzubringen vermag. Es giebt nur 
eine jolhe Macht. Sie heit heiliger Herzensernft. Diejen heiligen Ernft der Gefinnung 
halten wir für den Grundzug der deutichen Litteratur, welcher fie auf das jchärfite von 
den Fitterariichen Erzeugniffen anderer Nationen während der legten hundert Jahre 
unterſcheidet.“ 


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Der Mifuafer Des Denffchen Hafionaltereins. 


Eine der „gefragteſten“ Bücher in deutichen Landen ift unftreitig das Oftoberheft 
der „Deutichen Rundſchau“ wegen der indisfreten Veröffentlichung jener angeblid) 
faijerlihen Tagebuchblätter. Die Nummer ift mit Bejchlag belegt und jelten. Die 
Verleger werden ſich durch die ungeheure Reklame vermutlich über diefen Verluſt getröftet 
finden, ob aber aud) das jenjationsbedürftige große Publikum? Und wenn diejes nur 
erſt die ganze Größe feines Verluftes fennte! Denn ihm ift ja micht mur dies Tage: 
buch in feiner Vollftändigkeit entgangen, jondern noch ein anderer Aufja eines illuftren 
Autors. Herzog Ernft II von Koburg:Gotha hat darin ein Stüd aus dem 2. Band 
jeiner Erinnerungen veröffentlicht, von denen man jagt, ihre weitere Bekanntmachung 
jei nicht alljeitig erwünſcht. 

Man erkennt auch aus diefem Aufjab des hHerzoglichen Autors: „Ein litterarijch- 
politijcher Verein“, S. 127—147 der „Rundſchau“ nicht ohne Rührung, daß Deutjchland 
noch lange nicht alles weiß, was es dieſem Fürften verdankt. Daß er der geijtige 
Vater des deutſchen Nationalvereins geweſen ift, das fteht nach diejer Veröffentlichung 
feft. Und daß der Nationalverein ganz allein die deutjche Frage gelöft hat, das wird 
doc) wenigſtens von manchen Leuten immer noch geglaubt, 3. B. von jenen Herren der 
DOppofition in der preußiichen Sammer vor und nad) 1862. Es war daher eine 
(obenswerte Selbftüberwindung des fürftlichen Litteraten (und nur mit dem Litteraten 
haben wir es hier zu thun, nicht mit dem Fürſten), über viele Bedenken fich hinweg: 
jegend, jeine eigene centrale Stellung für die neuere deutfche Geſchichte ins rechte Licht 
zu jchieben. Leicht mag es ihn ja nicht angekommen fein, Dinge zu veröffentlichen, 
die ihm perſönlich jo jehr zum Ruhme gereihen müfjen, und nur die Ueberzeugung, 
dem Kultus der Nation ein unverfälichtes Stüd Gejchichte zurüdzugeben, mag ihn 
tröftend bejtärkt haben. Denn es wäre wirklih unangenehm für einen weniger 
unbefangenen Geift, bei eigenen Lebzeiten jo jtarfe Lobpreiſungen zu veröffentlichen, wie 
fie in den Briefen Guftav Freytags vorliegen, und die S. Hoheit hier eben aud) not: 
gedrungen haben mitteilen müſſen, als 3. B.: „Dürfte doch das ganze Volk willen, 
wie warm ein Fürftenherz für Deutſchlands Glück und Ehre ſchlägt.“ „Als ich Ihre 
Mitteilung mit einem Gemilch von Bewunderung und Rührung las, wurde mir Elar, 
dab die jorgfältigite Prüfung der Sachlage für alle Freunde Ew. Hoheit Pflicht ift, 
bevor die Thatkraft und die Ehre eines jo ritterlichen Herrn einer ſo folgenſchweren 
Sache verpfändet wird.“ Gleich darauf wird S. Hoheit mit einem „ſchönen, edlen 


1324 Der Mitvater des deutfchen Nationalvereins, 


Menjchenteben” bezeichnet. Von anderen Selbftüberwindungen des Autors, wo er von 
engliichen Subfidien jpricht, werden wir berichten, nachdem wir jet ein Nejiimee Des 
Inhalts gegeben haben. 

Auch in der Seele des Herzogs feimte die nach dem Erfurter Parlament nicht 
ganz fern liegende Fdee, zwijchen die extremen Barteien der Revolution und der Reaktion 
eine mittlere hineinzujchieben, die eine nationale und Eonftitutionelle Entwidelung 
Deutjchlands durch Litterariiches Wirken befördern und zugleich allerdings auch Der 
engliichen Politik gegen die rufjische dienen jollte. Unter der Reaktion aber verftand 
man wejentlich das Minifterium Manteuffel.*) Nun gab es damals viele edle Menjchen, 
die, von unwürdigen Polizeifchergen verfolgt, unter den Palmen der Friedensvaje Koburg— 
Gotha Holde Zuflucht gefunden hatten, und dieſe Thatjache legte anno 1853 dem Herzog 
den Gedanken nahe an einen Verein, der wie ein Tugendbund aus allen Beten ſich 
zuſammenſchlöſſe und litterariich für das Gute wirfen jollte. Es waren zunächjt vier 
Bundesbrüder: Francke, Beder, Freytag und Sammer, die dafür warben. Und allmählich 
zog nad) Goethes Worten ein edler Menſch noch andre Edle an; aber doch wird uns 
nicht gejagt, wieviele jolche den Keil zwiſchen Neaftion und Revolution gebildet haben. 
Immerhin waren ihrer einmal 15—20 beifammen und erregten der Kgl. preußijchen 
Polizei die bangften Befürchtungen. Ihren Koran bildete eine etwas wortreiche, aber 
wohlgejinnte Denkſchrift des Stifters. Aber dem jchön aufblühenden Verein nabete 
inneres Verhängnis. Sein Geburtsjahr fällt zufammen mit dem Beginn des Krimfrieges 
und da unjer hoher Autor die Gleichung anjegt: Frankreich-Revolution, Rußland-Reaktion, 
England:Konftitution, jo war es natürlich, daß der Verein fich in letzter Linie engliſchen 
Intereſſen hingeben mußte, oder, etwas unbejcheidener und Leichtgläubiger ausgedrüdt, 
die englischen Interefien denen des Vereins (von 15—x Mitgliedern) dienen mußten. 
Zur Gründung eines in diefem Sinne wirkenden Journals wollte das britiiche Kabinett 
Ltr. 12000 jpenden. Da wurden einige Vereinsmitglieder doch ftußig. „ES mangelte 
nicht an gründlichjter Erörterung der Frage, und die Liberalität, mit welcher Lord 
Clarendon erhebliche Mittel in die Hände des Vereins zu legen fich bereit erflärt hatte, 
Ichien dieſen Antrag jelbft der ſtrengſten deutſchen Gewiſſenhaftigkeit immerhin beherzigens: 
wert zu machen.” Allein es jcheint — es „Ichien“ nur jo. An dieſem Punkte iſt 
offenbar der Berein gejcheitert. Es hieße die Skepſis zu weit treiben, wollte man 
jagen, Lord Clarendon habe englisches Geld gut anbieten fünnen, da er es in den 
Händen des Herzogs ganz wohl angelegt wußte, dem engliſch und deutſch jo gan; 
zufammenfiel, was Lord Glarendon beſtens acceptiert in den Worten: „the liberal 
movement which is now taking place in Germany renders the present moment 
singularly propitious for raising a standard against Russian influence and advocating 
the cause of national freedom.* 

Seit dem Datum diejes Schreibens, 6. Oktober 1855, wird ein weiteres Lebens: 
zeichen des litterarijch.politiichen Vereins nicht mehr angeführt, jo daß es den Anschein 
hat al wären jene „gründlichen Erörterungen” ein Anfang vom Ende geweien. Auch 
der gejuchte Anſchluß an die Partei des „preußiichen Wochenblattes“ jcheiterte an deren 
fejter evangelich:pofitiver Haltung. Man denke aljo nicht, daß der Verein unter der 
Ungunft der Zeit irgend etwas Erhebliches Ieiftete, er hielt nur das Banner hoch. 
Streng auf legalen Wegen wandelte er und befämpfte auch die revolutionär-demofratiiche 
Richtung. Freilich nicht immer konſequent, denn bei der erhabenen Vorurteilslofigkeit 
des durch preußiiche Bajonette hinreichend gejchüsten Herzogs flo mancher Gnadenbeweis 


....”) Sehr gelinde geht der hohe Autor mit dem genannten Minifter gerade nicht um. „Wirklich 
berichtete man mir, daB alles beim alten (d. h. Manteuffel Minifter) bliebe, denn the king has more 
than ever his own way with Manteuffel. Er weiß zuviel von Manteuffel und hält ihn bei mehr 
als einem Strid um den Hals. Manteuffel ift völlig äme damnde, mithin brauchbarer als eine äme 
non damnee, denn die äme damnde thut alles, während die andere doch mitunter bodt.” Diejes recht 
ehniiche Korreipondenzftüd dürfte wohl einen englifchen Diplomaten zum Berfafier haben, 


Der Mitvater des beutichen Nativnalvereins. 1325 


auch auf echt demokratiiche Häupter. Der fürftliche Schriftiteller jchließt mit den Worten: 
„Wie die Sachen in Deutjchland ftanden, Ließ fich eine Erwartung von ſolchen Vereini: 
gungen patriotifcher Männer hauptſächlich nur deshalb hegen, weil die einfache Exiſtenz 
derjelben jchon geeignet war, das erfannte Bedürfnis einer Veränderung der deutichen 
Staatsverhältniffe nicht einjchlummern und das Vertrauen in die Zukunft nicht unter: 
gehen zu laſſen. Und in diefem Sinne joll man es wahrlich feinem jener Männer 
vergejien, daß fie in Gefahren und unverdroffener Arbeit ihren guten Anteil an dem 
ſchließlichen Erfolge der Heritellung des Reiches hatten.” 

Nun, es trifft fich glücklich, daß derartige Verdienfte um die Herjtellung Deutſch— 
lands jet noch bekannt werden; die Hijtorie wird vielleicht davon foviel nicht reden, 
jondern wird die einfache Thatjache hinstellen, daß die Aufrichtung Deutjchlands von der 
preußifchen Krone ganz allein und auf Wegen, die den Beifall jenes litterarifch-politischen 
Vereins durchaus nicht hatten, erwirkt worden ift. Wenn ein Verdienft der genannten 
Männer bejteht, jo ift es jenes, fich in ein in diefer Form unerwünſchtes Reſultat mit 
guten Mienen Hineingefunden zu haben, wie auch befannte Demokraten (Freiligrath, 
Kinkel, Auge, Schurz u. a.) ſich hineingefunden haben. Wir dürfen als Schlußformel 
aufitellen, daß Herzog Ernſt nicht unter den Litteraten des Nationalvereins umd nicht 
mit dem Schügenhut auf dem Haupte, jondern erjt von 1866 an fich um Deutjichland 
Verdienſte, wenn man fie jo nennen will, erworben hat. 


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Bur Philofophie der Mlufik. 


Bon 
Martin Greif. 


Bon jeher hat den Menjchen ein aus Neugier und Widerftreben gleichmäßig 
gemischtes Gefühl bejchlichen, wenn er Zeuge ſeeliſcher Kundgebungen ward, welche mit 
unjerem normalen Sinnenleben nicht im Einklang ftehen und zu deren Verſtändnis 
daher auch jeine Faſſungskraft nicht zugureichen jcheint. Gleichwohl hat es nie an 
jochen gefehlt, welche von Wiſſensdurſt getrieben oder irgend einem erhofften Gewinn 
zu Liebe dieſe uns angeborene Schen überwanden und unerichroden in die geheimnisvolle 
Region, aus der fie ein Strahl getroffen, einzudringen verfuchten. Was fie auf diejem 
ungemeinen Wege erforicht und erſchaut, das haben fie, je nad) den Ausdrudsmitteln, 
die ihnen zu Gebot ftanden, nicht jelten auch anderen mitgeteilt, und jo ift eine durch 
die Jahrhunderte angewachiene myſtiſche Litteratur entjtanden, welche viele Bände 
umfaßt und zu ihrer Bewältigung ein eigenes mühefames Studium erfordert. Die 
gemeinhin als Wifjenichaften bezeichneten Disziplinen haben ſich jedoch diejes reiche 
Material, unter dem jich natürlich) auch viel Trügerifches befindet, bisher großenteils 
entgehen laſſen oder es höchſtens zu Nebenzwecen verwertet. Diefe Vernachläſſigung 
hat außer der im Eingang jchon betonten allgemeinen Urjache auch noch ihren bejonderen 
Grund. Vor allem ift die Verwertbarfeit ſolcher überfinnlicher Erfahrungen für das 
praftijche Leben nicht allein eine verhältnismäßig geringe, jondern jogar eine Ent: 
fremdung diejem gegenüber infolge der Vertiefung in ſolche Spekulationen mehr als 
naheliegend. Die Gelehrten find aber in der Regel weltlicher geſinnt als man von 
ihnen glaubt und als jie gemeinhin auc) zugeben. Sodann jchmeicheln auch die auf 
jolhe Weife gewonnenen Erfenntnifje feineswegs immer der menschlichen Natur und 
nod; weniger der Selbftgenügjamfeit einer auf ftolzen WBernunftichlüffen erbauten 
Gedankenwelt. Endlich dienen diejelben auch mehr dazu, manche der bislang gewonnenen 
Rejultate wiſſenſchaftlicher Forſchung wieder in Frage zu ftellen als zu erhärten, jo daß 
die Fortführung des ſchon zu ftattlicher Höhe gediehenen Wiſſensbaues durch entgegen: 
fommende Rüdjichtnahme auf den von dorther erhobenen Widerſpruch ernftlich) bedroht 
würde. So ijt es jowohl Geringihägung als auc eine natürliche Voreingenommenheit, 
welche Denker und Gelehrte nicht nur argwöhniich gegen den myſtiſchen Philoſophen 
macht, jondern fie vielmehr ſogar in ihm ihren natürlichen Feind erbliden läßt, daher 
e3 denn auch dahin gekommen ift, daß jowohl Philojophen als auch Naturforicher, 
welche im Fortgange Ihrer Denkthätigfeit, oft ganz ahnungslos, auf myſtiſche Bahnen 


Zur Philoſophie der Myſtik. 1327 


gerieten, von da ab von ihren eigenen Kollegen als verrüct gewordene Männer 
behandelt wurden, wenn fie auch vorher das größte Anſehen genofjen hatten und ihre 
älteren Verdienfte auch nach ihrer angeblichen Geftesverwirrung nicht zu leugnen waren. 
Wir brauchen nur an die Namen eines Wallace, Fechner oder Zöllner zu erinnern, 
um diefe Behauptung ummwiderlegbar bewiejen zu haben. 

Was ijt aber nur das jo Verfängliche, das die Meyftif lehrt? 

Im Grunde behauptet fie nichts, als was alle Höheren Religionen als oberjte 
Mahrheit aufftellen und verfünden, die zweifellofe Eriftenz der Seele und ihr gefichertes 
TFortleben nad) dem Tode. 

Bu diefem Belenntnis gelangt fie aber, indem fie die Thatjachen der DOffenbarungen 
durch den beglaubigten Nachweis von dem Hereinragen der Geifterwelt in die körperliche 
zu betätigen jucht, daher fie den auf dem Felde der Gotteögelehrtheit geernteten 
Früchten in ihren Errungenschaften auch am nächiten fommt. Gleichwohl ſteht fie 
thatjächlich mit dieſer auch in einer nicht nur freundlichen Berührung. Und hier fönnen 
wir an das oben angedeutete Widerftreben anknüpfen, das der auf Gott und die Weis: 
heit jeiner Einrichtungen vertrauende Menſch angeſichts dieſer Verſuche, die geheime 
Ordnung der Dinge durch menjchlihen Fürwig zu ergründen und zweifellos mit einer 
gewilfen Berechtigung empfindet. Denn daß uns fein eigentliche® Organ zur 
Ergründung diejer höchften Probleme verliehen ift, daß wir alfo mit unzulänglichen 
Kräften und Organen und daher mit einer gewiſſen Gewaltjamfeit darangehen, in dieje 
Tiefen der Natur einzudringen, dieſes iſt ebenjo unbeftreitbar, als andererſeits die 
ſtumpfe Gleichgültigkeit gegenüber den höchiten Fragen des Lebens dem Adel der menſch— 
lichen Natur durchaus widerjtreitet. 

Sp ift e3 alfo jehr jchwer, gegen den Myſtiker gerecht zu werden, weil er auf 
jublimen und dod) gewillermaßen aud) auf verwegenen Pfaden wandelt. Aber jedenfalls 
hat er den von der Vorficht in ihn gepflanzten Trieb der Forihung für ſich anzu: 
führen, wenn er dermaleinft zur Verantwortung für feine Vermefjenheit gezogen werden 
jollte und zumal, wenn er lediglich aus lauterem Streben nad) Erkenntnis ſich das 
Entdecerrecht in jenem geheimnisvollen Gebiete zugejprochen hatte. Auch wird es für 
ihn jchwer in das Gewicht fallen, wenn er in einer Zeit des Unglaubens und 
materialiftiichen Anfichten jein Wort erhebt und für die höchſten geiftigen Güter der 
Menschheit unerichroden eintritt umd ohne Rückſicht auf herrichende Lehrmeinungen. 
Und in einer jolchen Zeit leben wir befanntlich, daher vielleicht auch ſelbſt der pofitiv 
Gläubige von jenen geäußerten Bedenken ausnahmsweije Umgang zu nehmen vermag. 

Dürfte doc jelbjt eine Unterftügung diejer teils theoretiichen, teils experimentellen 
Unterfuchhungen bis zu einem gewiſſen Grade in jeinem und feiner Gfleichgefinnten 
Intereſſe liegen, da er das ihm gewilje Heil auch feinen zweifelnden Brüdern erichlofien 
wünjchen muß. Darum ift die Thatjache an fich ſchon lebhaft zu begrüßen, daß ſich 
in München vor Fahresfrift eine jogenannte pſychologiſche Gefellichaft gebildet hat, 
welche in ftetigem Wachstum begriffen, als Sammelpunft für alle einfchlägigen 
Beitrebungen gelten will. Als das geiftige Haupt derjelben hat man aber wohl den 
unter uns wohnenden, weithin befannten Philvjophen Karl du Prel anzufehen, auf 
deſſen beide hierher gehörige Hauptwerfe „Die Philoſophie der Myſtik“ und die 
„moniftiiche Seelenlehre” (Leipzig, Ernjt Günthers Verlag) wir nunmehr einen kurzen Blick 
werfen wollen. 

Es ijt befannt, daß Sommambulen, wenn fie in den jogenannten Hellichlaf verſetzt 
werden, ihrem eigenen Ich gewiliermaßen fremd gegenüberftehen, injofern, als fie Dinge 
über fi ausjagen, welche fie im wachen Zustand ebenjowenig zu wifjen vermöchten, 
als fie den Antrieb fühlen werden, über diefelben Geftändniffe abzulegen. So verordnen 
fie fih in Krankheiten die entiprechenden Heilmittel, weil fie ihre Organifation plaftijch 
vor ſich entfaltet jehen und fie jprechen nicht jelten den Willen aus, ungeachtet ihres 
vorausgejehenen jpäteren Widerftandes zur Beobachtung ihrer Vorfchriften angehalten 


1328 Zur Philofophie der Myſtik. 


zu werden. Auch wiljen fie den fünftigen Verlauf ihres Leidens genau anzugeben, 
gleichviel, ob fie gejunden oder nicht, jowie Jahr und Tag ihres oft viel jpäter erit 
erfolgenden Todes. Genaue Beobachtungen aber haben ergeben, daß fie in der That 
allemal das Richtige erkannt und dementiprechend prophezeit hatten. Dieje erftaunliche 
Selbftihau, welche der Bejchränktheit menschlicher Einficht jpottet, beweilt, daß Leib 
und Seele in uns in einer noch ganz anderen Wechjelbezichung ftehen als der bloße 
Augenjchein lehrt oder vielmehr, um in der Sprache du Prels mich auszudrüden, daß 
das orgnifierende und denfende Prinzip in uns identiich ift. Da fih nun aber aud 
bei den Produkten der organischen Natur überhaupt, jowie bei denen der Technif und 
Kunst eine ſolche Uebereinftimmung zwiſchen Hervorgebradhtem und Hervorbringendem 
vorfindet, wie die von Kapp entdeckte Organprojektion jowie das von Zeifing nach: 
gewiejene Geſetz des goldenen Schnittes darthun, jo folgt aus allen diejen Beiſpielen, 
daß Geift und Natur überhaupt fich nur in unferen Begriffen jondern, und daß Der 
Materie die Bejeelung nirgends abgeiprochen werden kann. Wenn aber unjere Yeiblichkeit 
gewillermaßen der Bernunft jelbjt jchon nicht entbehrt, und wir doch andererjeits Diele 
auch wieder außer und über unſerem jtofflichen Teil erbliden, jo müſſen wir unſer 
Selbjt oder „das transjcendentale Subjeft in uns” als eine geſchloſſene Einheit 
betrachten, deren Dajeinsgrund aus unergründlichen Tiefen hervorbridt. Es iſt Daher 
folgerichtig, wenn ſich der Menjch im diefer Anichauungsweile gewijjermaßen als den 
Urheber jeiner jelbjt, ja mehr nod) als den Berordner jeines eigenen Schidjals betrachtet 
und in jich, jozujagen, die Welt beſchloſſen wähnt. Aber mit diefem Berufen auf fich 
jelbjt würde derjelbe aufhören, ein moraliiches Wejen zu jein, als weldem ihm im 
Grund allein eine befondere Stellung in der Natur zufommt. Es iſt das Gewiſſen, 
welches den Kern in uns ausmacht und dieſes fordert eine Abhängigkeit von einer 
Macht, welche ihm verwandt, aber nicht identisch mit ihm jein fanı. Sp wenig wir 
aljo das Vorhandensein myftiicher Erjcheinungen leugnen, wie fie fid) im Somnambulismus, 
Hypnotismus und Spiritismus bezeugt finden, jo fünnen wir uns doch mit einer von 

ott als dem Schöpfer und Erhalter aller Dinge abjehenden Philojophie nicht in allen 
ihren Stonjequenzen einverftanden erflären. Die Thatjache der Eriftenz vor der Geburt 
wie umjerer FFortdauer nad) dem Tode fann uns an fich nicht tröften, wir brauchen nur 
im Gemüte Beruhigung zu finden, der Darlegung des Zwedes unjeres Dajeins, der 
ein guter und heilfamer jein muß und der daher einen allmächtigen Urheber der Dinge 
vorausjegt, einen gütigen Schöpfer und Bater aller Wejen. Wenn nun die heutige 
Myſtik, weil fie nur Nachweisbares feititellt, uns den legten Troſt jchuldig bleibt, jo 
müſſen wir ihre Ehrlichkeit zwar anerkennen, müſſen aber auch auf fie den Satz 
anwenden, daß alles menjchliche Willen Stückwerk ift. Das große und unvergängliche 
Verdienſt muß aber du Prel von jedem Gerechten beigemejjen werden, daß er in einer 
Zeit der materialiftiichen Yeugnung alles Geiftigen nicht nur diejes in den Augen der 
philoſophiſch Denkenden wieder zu Ehren gebracht, jondern auch die Grundlage der 
Individualität tiefer gelegt hat als feine philojophiihen Vorgänger. 


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Moanatsfchan. 


Politik. 


Die parlamentarische Thätigkeit hat mit dieſem Monat nad) längerer Pauſe wieder 
ihren Anfang genommen. 

Die Thronrede, mit der der Kaiſer jelbjt perfünlich den Reichstag eröffnete, 
läßt die Lage des Neiches nad) außen und nad) innen um etwas geficherter und 
befriedigender erjcheinen, als dies lange Zeit der Fall gewejen ift. Die Ausficht, in 
nächiter Zeit vor äußeren Störungen gejichert zu fein, iſt aber auch um jo notwendiger, 
als e3 nur dann möglich ift, in Ruhe, ohne Ueberſtürzung und Uebereilung die großen 
Aufgaben, welche dem Reiche auf dem Gebiete der inneren Politif und der Entwidelung 
jeiner inneren Einrichtungen noch obliegen, zu löjen. Nur im Frieden kann mit Aus: 
ſicht auf Erfolg weiter gearbeitet werden an der Bekämpfung der alle Staaten gleid)- 
mäßig bedrohenden jozialen Revolution, an der Verſöhnung der Taujende von Arbeitern, 
die heute Grimm und Groll im Herzen gegen jeden begen, der fich in einer 
günftigeren Lage befindet als fie, und die Stunde herbei wünjchen, wo ihnen ihre 
Führer das Signal zum Kampf geben. Daß es im Inland und Ausland in weiten 
Kreifen der Arbeiterbevölferung wirklich jo ausfieht, ift traurige Wahrheit; daß es 
überhaupt jo weit hat fommen können, die Schuld daran trifft gleichmäßig die Staaten, 
die Kirchen und jene einzelnen Perjonen und Körperjchaften, die durch Stand, Beruf 
oder Amt berufen, verpflichtet und im ftande gewejen wären, in Bethätigung der chrift- 
lichen Nächitenliebe an der Hebung des Arbeiterftandes in materieller und geijtiger 
Beziehung mitzuwirken. Wegen dieſer allgemeinen Verjchuldung wird die Löſung der 
fozialen Fragen auch nicht anders möglich fein, als wenn Staat, Kirche und Privat: 
initiative Hand in Hand an der Löſung derjelben fich beteiligen. 

Mit Freuden begrüßen wir e3 daher, daß der Kaiſer in jeiner Thronrede einerjeits 
als ein teures Vermächtnis feines Großvater die Fortführung der jozialpolitiichen 
Gejeßgebung übernommen hat, daß er andererjeit3 aber die iibertriebenen Hoffnungen, 
welche von einigen Seiten auf das Eingreifen des Staates auf den „Staatsjoztalismus“ 
gejet find, zurückweiſt. „Durch geſetzgeberiſche Maßregeln laſſen die Not der Zeit und 
das menjchliche Elend ſich nicht aus der Welt jchaffen, aber Aufgabe der Stantsgewalt 
ift e8, auf die Linderung vorhandener wirtichaftlicher Bedrängniſſe nach Kräften hinzu- 
wirken und durch organische Einrichtungen die Bethätigung der auf dem Boden des 
Chrijtentums erwachjenden Nächftenliebe als eine Pflicht der ftaatlichen Gejamtheit zur 
Anerkennung zu bringen.“ Mehr vermag der Staat nicht. Was darüber hinaus liegt, 
iſt Sache der Kirche und der hriftlichen Nächitenliebe ihrer einzelnen Glieder. 


1330 Monatsſchau. — Deutjchland. 


Der Reichstag wird fi auf dem Gebiet der Wrbeitergejeggebung zunächſt mit 
der vom Bundesrat befchloffenen Alters: und Invaliditäts-Verficherung der Arbeiter zu 
beichäftigen haben. Außerdem wird aus der Mitte des Reichstages heraus die eigentliche 
Arbeiterichußgeleßgebung wohl wieder in Angriff genommen werden. Xeider hat Der 
Bundesrat die bisherigen hierüber gefahten Beſchlüſſe des Neichstages erſt neuerdings 
wieder abgelehnt. Offiziös wird dies damit begründet, daß die praftiiche Durch: 
führbarfeit derjelben, wie das bei Gefehesvorjchlägen einer jo großen Körperſchaft jehr 
leicht der Fall jei, Starken Zweifeln unterliege. Man kann dies in gewilfem Umfang 
al3 begründet anerkennen. Aber es hätte ja ıichts im Wege geftanden, dat der Bundesrat 
die Vorſchläge und Refolntionen des Reichstags feinerjeits als Material zur Ausarbeitung 
praktiſcher Gejegesvorichläge benußt hätte. Denn das unterliegt feinem Zweifel mehr, 
daß der Reichstag mit feinen Vorfchlägen den wundeſten Punkt in unjeren Arbeiter: 
verhältniffen berührt hat. Ohne eine durchgreifende Arbeiterichußgejeßgebung ift eine 
Bekämpfung der Sozialdemokratie unmöglih. Die Verſicherungsgeſetzgebung ift gut 
und heilfam, aber fie allein gemügt nicht. Nicht die Fraufen, alten, invaliden 
Arbeiter füllen die Scharen der Socialdemofraten, jondern die jungen, kräftigen 
und rüftigen. Diefe werden durch die Aussicht auf Unterjtügung im Alter, in Kran: 
heit und Unglücsfällen allein nicht der Sozialdemokratie abjpenjtig gemadt. Wer 
denkt, wenn er jung und gejund ift, an das Alter, an Krankheit und Unfall? 
Auch find die dann gejeglich geficherten Hülfen nicht jo reich bemefien, daß die Ausficht, 
fie einft zu erhalten, über die gegenwärtige Not hinweg hilft. Gerade auf dieje weiſt 
der gewerbsmäßige Agitator mit zündenden Worten bin, ihre baldige Beleitigung läßt 
er hoffen. Damit macht er Eindrud und erzielt Wirkung. Denn die Not der Sonn: 
tags», der Frauen: und Kinderarbeit fieht und fühlt der Arbeiter dauernd. Bei diejen 
täglich id) aufdringenden Notftänden muß eingejeßt werden, um der Sorialdemofratie 
den Boden unter den Füßen fortzuziehen. Die kaijerlichen Worte der Thronrede werden 
hoffentlich neuen Verſuchen der konjervativen Partei und des Gentrums auf dem Gebiet 
der Arbeiterjchußgefeggebung eine befjere Aufnahme, als bisher im Bundesrate bereiten. 
Etwaige Rüdfichten auf die diefen Beſtrebungen kühl gegemüberjtehenden Nationalliberalen 
werden wenigitens Hoffentlich jet nicht mehr die preußiſche Negierung an einer ent- 
gegentommenderen Haltung hindern, nachdem die jo viel von dei preußischen Offiziöjen 
eritrebte Mittelpartet bei den Wahlen zum preußiichen Abgeordnetenhaus jo Häglich im 
die Brüche gegangen ift, und die nationalliberalen Blätter, jetzt jchärfer denn je, den 
von der nationalliberalen Partei zu vertretenden „liberalen Gedanken” betonen. 

Die Wahlen zum preußiichen Abgeordnetenhauje find anders ausgefallen, 
als die einen gefürchtet, die anderen gehofft. Die Konfervativen treten fajt in alter 
Stärke wieder in das Haus ein. Nur ein Wahlkreis ift wirklich im Kampfe verloren. 
Die anderen Sie find vor der Wahlichlacht frenvillig und ohne Grund den Mittel: 
parteilern abgetreten. Unter den Konfervativen, die wiederfehren, befinden fich die viel 
befehdeten „Extrem-Konſervativen,“ das ftarfe Rückgrat der fonjervativen Partei, in 
unveränderter Zahl. Troß diejer der preußischen Regierung wohl nicht gerade ange: 
nehmen Thatſache kann diejelbe mit dem Ausfall der Wahlen doch jehr zufrieden jein. 
Sie wird in den nächiten 5 Jahren immer über eine ftarfe Mehrheit gebieten. Sie kann 
eine ſolche aus Konfervativen, Freitonjervativen und Nationalliberalen auf der einen, 
und aus SKonfervativen und Centrum auf der anderen Seite bilden. Ber eriterer 
Kombination brauchen ſogar die Ertrem-Ktonjervativen gar nicht mitzuwirken und Die 
Regierung verfügt!doch über eine fichere Mehrheit. ES ift daher ſchwer begreiflid, was 
die Negierungsblätter veranlaßte, ſich ſo viele Mühe zu geben, um die gemäßigten 
Liberalen wieder in den Sattel zu heben. Sollte die Löſung diejes Rätſels etwa darin 
liegen, daß in gewiffen Regierungskreiſen die von der fonjervativen Partei je mehr und 
mehr betonte hriftliche Weltanschauung und die demgemäß jtärfere Vertretung Firchlicher 
Intereſſen unangenehm berührt, oder glaubt man, daß die Mitwirkung des gebildeten, 


Monatsſchau. — Deutjchland. 1331 


reichen, angeſehenen Bürgertums nicht zu entbehren iſt, und daß dieſes bei ſeiner im 
großen und ganzen allerdings leider vorhandenen Unkirchlichkeit ſich nicht für 
chriſtlich konſervative Ideen erwärmen laſſe? Iſt diefe Annahme wirklich) zutreffend, 
jo jollte der Ausfall der Wahlen in Berlin für die leitenden Kreiſe doch wohl 
Beranlajjung werden, ihre Wahlpolitit einmal einer Nevifion zu unterziehen. In 
Berlin Hat der gemäßigte Liberalismus den Boden volljtändig verloren, für 
fonjervative Ideen dagegen ijt ein großes Feld gewonnen. Der Charakter der Berliner 
Bewegung iſt aber ein ausgejprochen chriftlicher und antijemitischer. Vordem hatte die 
fonjervative Partei in Berlin gar feine Bedeutung und war der radifaljte Liberalismus 
Alleinherricher. Heute ijt ein Drittel der Berliner Bevölkerung königstreu und firchen- 
freundlih. Die hrijtlichen, deutjchen, antijemitischen Ideen, die diefer Umjchwung dort 
hervorgebracht, werden fi) auch anderswo unter geſchickter Führung kräftig erweijen. 
Auch die Berliner Bewegung wäre längjt weiter, wenn ihr nicht von mittelparteilicher 
Seite immer Steine in den Weg geworfen würden. Diesmal jollte die alte Berliner 
Bewegung vernichtet, Stöcker bejeitigt und das Kartell zur Herrichaft gebracht werden. 
Mit Hochdruck wurde für dasjelbe gearbeitet. An Geld und Gunst fehlte es nicht. 
Aber die Berliner hielten feit an ihrem „Stöder.” Nirgends hat das Kartell eine 
ſolche Niederlage erlitten, als in Berlin. 

Das „Kartell“ war geichloffen zu einem Kampf gegen Sozialdemokraten, Frei— 
finnige und Gentrum unter gegenjeitiger Achtung und Wahrung des Beſitzſtandes der 
Kartellparteien. Dies ift der gejunde und richtige Gedanke besjelben. Die National: 
liberalen und ihre konſervativen „SKartellbrüder” fjuchen aber einen Strid für Die 
Konjervativen daraus zu drehen. Dies werden fich diefelben hoffentlich für die Zukunft 
noch mehr gejagt jein laſſen, als fie es in der Vergangenheit getan. Hat es dod) die 
von der Walderjee-Verfammlung her genügend befannte Berliner „Bot“ in ihrem 
blinden Kampf gegen „Stöderei und Muckerei“ fertig befommen, ihre Barteigenofjen im 
Navensbergiichen dringend zu ermahnen, nicht für Stöder, jondern für einen Fortſchritts— 
mann zu ftimmen. Die Konjervativen werden alſo nad) diefer Probe von Gefinnungs: 
tüchtigkeit gutthun, fich zur Abwehr des „umgekehrten Kartells” zu rüften und jich nur 
auf die eigene Kraft zu verlafien. 

Die Zeche des ganzen Wahltampfes haben faft ausschließlich die Fortichrittsleute 
bezahlen müfjen. Darüber ift in ihrem Lager große Erregung. Nach dem Verräter 
wird eifrigit gejucht und jchon wird als jchuldiges Haupt von einigen ihrer PBarteiblätter 
Eugen Richter, der Herausgeber der „Freifinnigen Zeitung“, bezeichnet. Doc) 
dürfte der Vater diejes Gedankens wohl hauptjächlich der Konkurrenzneid jein. Einen 
geichicteren Wühler und Agitator als ihn befigt die freifinnige Partei nicht. Im 
Madenzie- Schwindel, in hämiſchen VBerdächtigungen des Monarchen haben die übrigen 
Fortichrittsblätter der „Freiſinnigen“ nicht nachgeitanden. Der Niedergang der frei: 
finnigen Partei ift nur eine Folge der Thatjache, dak das Volf im großen und ganzen 
fich zufrieden fühlt und daß es fich abwendet von der fortdauernden Negation, Nör— 
gelei und Verſpottung alles deſſen, was ihm lieb und wert ift, wie Dies von der 
freifinnigen Partei fortdauernd in Wort und Schrift geichieht. Daher auch die 
faiferlihe Verwarnung an die Berliner Stadtbehörden viel Befriedigung hervor: 
gerufen hat, wenn andererjeits (jelbft zur Rechten) nicht umerhebliche Bedenken laut 
geworden find. 

Wir unjeren Teils zählen ung mehr der eriten Kategorie zu. Mean vergegen- 
wärtige fich die Lage: Während in den Berliner Fortichrittsblättern dag wüſteſte Spiel 
mit dem Andenken des toten Kaiſers Friedrich getrieben ward, während in den Volks— 
verjammlungen von Berliner Stadtverordneten abgerijiene Worte des ſterbenden 
faiferlichen Vaters zum Programm gegen die Politik jeines Sohnes und Nachfolgers 
gemacht werden, spricht die Stadtverwaltung Berlind den italienischen Behörden 
telegraphiich ihre Anerkennung aus für die freundliche Aufnahme des Kaiſers. Als der 


1332 Monatsſchau. — Deutichland. 


Kaiſer heimgekehrt in ſeine Hauptſtadt, überreichen Magiſtrat und Stadtverordnete, die 
mit jener Preſſe in engſter Verbindung ſtehen und zu den Führern der Fortſchrittspartei 
gehören, eine unendlich ſchwülſtige Adreſſe und jchenten ihm einen Brunnen. Da verliert 
der Kaiſer, die Geduld, er nimmt den Herren die Maske der Scheinloyalität mit raſchem 
Griff und jugendlicher Entichloffenheit vom Geficht, erinnert fie daran, was fie zu thun 
vermögen und verpflichtet find und weist zurüc, was fie reden. 

Das Gegenſtück zu dieſer jcharfen Mahnung bildet der Auftrag des Kaijers an 
den freifinnigen Oberbürgermeifter von Breslau, den Einwohnern der Stadt für „die 
guten Wahlen“ derjelben jeinen königlichen Dank auszuſprechen. 

Beide füniglichen Handlungen, die ohne Zuziehung eines verantwortlichen Minifters 
erfolgten, zeigen, daß der Kaifer ſelbſt regieren will, joweit die Verfaſſung ihm nicht 
Schranfen gezogen hat, daß er jelbjt die Verantwortung für jeine Handlungen tragen 
will. Dieje Selbjtverantwortlichkeit unferer Fürften ift uns ein teures Gut, das wir 
für die Eonftitutionelle Verantwortlichkeit der Minifter nicht dahin geben. 

Die dritte Kundgebung des Kaiſers als König von Preußen, welche den beiden 
eben beiprochenen an Wichtigkeit nicht viel nachjteht, ift die Antwort, welde dem 
preußische Epijfopat auf feine Adreffe zu teil geworden ift. Die Bilchöfe jchließen 
ihre Begrüßung mit dem Ausdrud der Hoffnung, daß die friedlichen und wohlwollenden 
Beziehungen zwiichen Kirche und Staat, deren erfte Strahlen die legten Lebensabende des 
hochjeligen Großvater verjchönerten, ſich befejtigen und ausgejtalten werden al® der 
jichere Hortiin der Sturmflut der umfturzdrohenden Lehren und Ideen der Gegenwart. 
Die Königlihe Antwort hierauf aber lautet: „Daß ich die Glaubeusfreiheit meiner 
fatholiichen Unterthanen durch Recht und Geſetz gefichert weiß, ftärft meine Zuverficht 
auf dauernde Erhaltung des kirchlichen Friedens.” Dieje fühle kurze Antwort, ohnedies erft 
erteilt, nachdem man die Herren einige Wochen hatte warten laſſen, redet mehr als Bände. 


Für die weitere Entwidelung unjerer folonialen Verhältniſſe an der ojt- 
afrikanischen Küfte ift der abgelaufene Monat von großer Bedeutung gewejen. Nachdem 
durch die Berichte des deutjchen Generalfonjuls in Sanfibar feitgeftellt war, daß wejentlich 
die arabiichen Sklavenhändler, die ihren einträglichen Handel mit Menſchenfleiſch bedroht 
jahen, die Ermordung und Vertreibung der deutjchen Beamten der oftafrifanischen 
Gejellichaft, jowie die Zerjtörung des deutichen Eigentums veranlaßt haben, wird nach 
gemeinfamer Uebereinfunft zwiichen Deutjchland und England, die ojtafrifanijche 
Küſte, ſoweit der Aufſtand ſich erjtrecdt, zur Verhinderung der Waffen-Einfuhr und der 
Sklaven-Ausfuhr in Blofadezujtand verjegt werden. Wortugal wird ſich den beiden 
Großmächten anſchließen. Frankreich wird fi) an der Blofade zwar nicht beteiligen, 
aber doc wenigjtens ein Schiff abjenden, damit ein Mißbrauch der franzöjiichen Flagge 
verhindert'wird. Die Thronrede ftellt weitere Verhandlungen auch mit anderen befreundeten 
und beteiligten Regierungen und Vorlagen an den Reichstag in Ausficht. In welcher 
Richtung ſich diefe Vorlagen bewegen werden, und ob eine prinzipielle Menderung der 
Kolonialpolitit des Neiches beabfichtigt wird, läßt ſich zur Zeit nicht jagen. „Erit 
Mägen, dann Wagen” hat von derjelben bisher im beiten Sinne des Wortes gegolten. 
Ohne fejte Grundlagen wird daher auch jegt ſchwerlich ein Schritt vorwärts gethan 
werden. 

Eine Sache für ſich ift es, wenn völlig unabhängig von der ojtafrifanijchen 
Gejellichaft und von dem Schuß, den etwa diejelbe vom Weich zu erwarten hat, nun 
dennoch eine Emin-Paſcha-Expedition zu ftande kommt, die verjuchen will, unter 
Führung des Lieutenant Wißmann mit fleiner Heeresmacht in die Aequatorialprovinz 
vorzudringen. Beſchloſſen ijt eine jolche Unternehmung von der deutjchen Kolonial: 
gejellichaft, und zwar joll diejelbe unverzüglich ins Werk gejeßt werden. Ob fie Aus: 
ſichten hat oder nicht, ihr Ziel zu erreichen, entzieht fich jelbftredend jeder Berechnung. 


* * 
* 


Monatsjchau. — Auswärtige Lage. 1333 


Ueber die auswärtige Yage jagt die faijerliche Thronrede: „Unjere Beziehungen 
zu allen fremden Regierungen jind friedlich, und meine Bejtrebungen unausgejegt dahin 
gerichtet, diejen Frieden zu befejtigen“, und „das Vertrauen, welches mir und meiner 
Bolitit an allen von mir bejuchten Höfen entgegengefommen ift, berechtigt mic) zu der 
Hoffnung, daß es mir und meinen Bundesgenofjen und Freunden mit Gottes Hülfe 
gelingen werde, Europa den Frieden zu erhalten.” So die Thronrede, die für die 
Beurteilung der gegenwärtigen Lage zunächſt maßgebend jein muß. Nichtet man jein 
Augenmerk nur auf diefe Worte, jo erjcheint die gegenwärtige äußere Lage freilich in 
einem überaus rojigen Licht. Das Bild nimmt aber jofort eine dunklere Farbe an, 
wenn man jeine Augen auch auf die in der Thronrede nicht erwähnten aber gleichfalls 
offiziellen Ihatjachen richtet, dal nämlich Für Feitungsbauten und ‚andere militärijche 
Zwecke einige 50 Millionen und für Zwede der Marine über 130 Millionen Mark 
verlangt und im wejentlichen auc) werden bewilligt werden müjjen. Wir feben einmal 
nicht in einem geficherten Frieden, jondern in einem bewaffneten Waffenſtillſtand, dejjen 
Verlängerung immer nur durd erneute Geldopfer erfauft werden fanıı. Mit Freuden 
iſt e8 darum auch zu begrüßen, daß in Dejterreich: Ungarn eine erhebliche Verſtärkung 
der Wehrkraft vorgenommen wird. Die diesbezüglichen Vorlagen der Kaiſerlichen 
Negierung werden nad) dem Verlauf der bisherigen Verhandlungen in den Delegationen 
ohne wejentlihe Aenderungen mit großer Mehrheit angenommen werden aus denjelben 
Sründen, aus denen auch der deutjche Reichstag nicht in der Lage fein wird, die weitere 
Verſtärkung unjerer Wehrkraft abzulehnen. Wiewohl die offiziellen Beziehungen der 
Mächte nad) außen Hin befriedigende find, jo iſt doch wohl unter der Oberfläche nicht 
alles jo gewejen, wie es hätte jein jollen. Wer in die geheimen Verhandlungen der 
Tiplomatie Rußlands, Frankreichs, Spaniens und des Batifans einen Einblid thun 
könnte, wirde wohl mehr als eine Wolfe jehen. Lebhafter denn je iſt von diejer Seite 
aus gegen den mitteleuropätichen Dreibund gearbeitet. Zu den alten Feinden, Rußland 
und Frankreich, hat ſich der Batifan gejellt, der wohl jobald nicht die bei der Romreije 
des Kaiſers erfahrenen Enttäufchungen vergejlen wird. Die in das Stoden geratenen 
Verhandlungen zwiſchen dem ruſſiſchen Hofe und dem Vatikan find jofort nach der 
Abreije unjeres Ktaijers von Rom wieder aufgenommen und jollen einem Abjchluß nahe 
fein. Wenn zwilchen Rußland und der Kurie ein Frieden zu ſtande kommt, jo können 
es nur feindjelige Abjichten gegen Deutichland fein, welche die den Abſchluß des Friedens 
ermöglichenden ruſſiſchen Konzeſſionen veranlafjen. Seit Jahrzehnten hat Rußland die 
in jeinen weiten Weich wohnenden 8 Millionen Katholiken gequält und gepeinigt. Die 
ruſſiſche Staatsmaxime, daß die Ausbreitung des orthodoren Staatsfirchentums zu den 
Hauptaufgaben der Regierung gehöre, fteht heute mehr in Geltung als jemals. Wenn 
heute plötzlich die ruſſiſche Regierung glaubt, die Katholiken und Polen in gute Laune 
verjegen zu müſſen, jo find hierfür doc) gewiß nicht veligiöje Gründe beſtimmend gewejen, 
jondern allein die Möglichkeit eines Krieges mit Deutjichland. 

So lange der Herenfefjel in Paris brodelt, jo lange jeder Tag uns neue mer: 
wartete Ueberraſchungen von dort bringen kann, jo lange werden wir auch immer auf 
das unerwartete Ausbrechen eines Krieges gefaßt jein müſſen. Die ruſſiſchen Groß— 
fürften Wladimir und Alexis werden auf ihrer angeblichen Vergnügungsreije nad) 
Baris wohl mit eigenen Augen geprüft haben, ob Frankreich in jeinem gegemvärtigen 
Zuſtande ein annehmbarer Bundesgenojje für Rußland ist; daß Frankreich es gern jein 
möchte, werden ihnen die ſtürmiſchen Rufe „vive la Russie“, mit denen fie empfangen 
find, gezeigt haben. Wielleiht imponiert aber die Ruhe der Gardetruppen in Berlin, 
das Großfürſt Wladimir auf jeiner Nücreife bejuchen will, doch mehr als das Bei- 
fallsgejchrei auf den Pariſer Boulevards. 

In Paris macht es übrigens fajt den Eindrud, als ob Boulanger eigentlic) 
der einzige Menich in Frankreich ift, der weiß, was er will. Seine legten Biele weiß 
freilich niemand, und ebenjo wenig genau, woher er die großen Geldmittel nimmt, die er 

Allg. koni, Monatsfchrift 1888. XII, 85 


1334 Monatsihan. — Auswärtige Lage. Balfanländer. 


braucht, um jeine Nolle zu jpielen. Unter jeiner Leitung hat aber die Strömung, welche 
den extremen Barlamentarismus bejeitigen und die auf allen Gebieten zu tage tretende 
Anarchie himvegfegen joll, zweifellos au Terrain gewonnen. Die liberalen und radifalen 
Barteibildungen, deren innerliche Verderbtheit der Prozei Numa Gilly wieder erneut 
an das Tageslicht gebracht hat, zerjegen fich je mehr und mehr. Die Royaliften und 
die Imperialiſten machen gleichzeitig Bonlanger den Hof. Die Royalijten, die ſich nicht 
joweit demiütigen wollen, find ganz ohne Einfluß oder, wie der Herzog von Aumale, 

in den Händen der Juden. Wie eine heilſame Umgeftaltung der Verhältniſſe unter 
ſolchen Umſtänden möglich ſein ſoll, iſt ſchwer zu ſagen. Die Vorahnung eines Staats— 

ſtreichs laſtet auf allen Gemütern. Caſſagnae und Boulanger klagen Floquet des beab— 
ſichtigten Attentates an und die Opportuniſten verfehlen nicht, mit der gleichen Beſchuldigung 
zu antworten. Wird ein Staatsſtreich noch verhindert, ſo dankt Frankreich dies ſeiner 
Armee, an deren Spitze ſich Männer, wie General Sauſſier, befinden, die keine Politik 
treiben, ſondern nur ihre Pflicht thun. 


Gegenüber dieſem Chaos in Frankreich erfolgt die ſonſt ſo oft ſtürmiſche Entwidelung 
der Balfanländer zur Zeit in ruhiger Weife, jo daß, wenn feine Störungen von aufen 
eintreten, die Hoffnung nicht ungerechtfertigt ericheint, daß dieje Yänder doch noch zu 
einer inneren Feltigung gelangen. In Serbien hat der König unter feinem eigenen 
Vorſitz einen Ausihuß aus allen irgendwie hervorragenden Männern und Politikern des 
Landes zujanmenberufen, um den Verſuch zu machen, auf dem Wege einer durchgreifenden 
Berfaflungsrevifion die inneren Verhältniſſe des Landes auf neuer Grundlage zu befejtigen. 
In Bulgarien und Griehenland haben jich die Vertretungsförper verjammelt. 
In den Thronveden, mit welchen Prinz Ferdinand einerjeits und König Georg anderer: 
jeits die Seſſionen röffnet haben, konnte auf eine ruhig fortſchreitende Entwickelung der 
beiden Länder, auf eine Beſſerung der Finanzen, auf eine Bewältigung mannigfacher 
Schwierigkeiten, kurz auf bedeutſame Erfolge friedlichen inneren Wirkens hingewieſen 
werden. König Georg konnte mit Stolz und Freude darauf hinweiſen, daß es ihm 
vergönnt geweſen, 25 Jahre lang das griechiſche Staatsſchiff durch viele Fährlichkeiten 
zu ſteuern, und daß ſich Griechenland in dieſem Zeitraum ſichtlich gehoben habe. 

Gleichzeitig mit dem Sohn feierte ſein Vater, König Chriſtian IX., in Kopenhagen 
ſein 25jähriges Regierungsjubiläum unter vielen Sympathiebezeugungen der Mächte. 
Gedanken ſchmerzlicher Art werden ſich freilich mit dieſem Jubiläum für den König 
verbunden haben. Die Erinnerung an den Berluft von Schleswig:Holftein und der 
fortdanernde Konflikt mit der Landesvertretung geben hierzu Grund genug. Die Blüte 
und die Wohlfahrt des Landes hat ſich aber in dieſem Zeitabjchnitt fichtlich gehoben. 
Für uns Deutjche iſt es beionders erfreulich, daß auch gelegentlich dieſes Jubiläums die 
Bejlerung der Beziehungen zwiſchen dem Berliner Hof und dem von Kopenhagen ſichtlich 
hervorgetreten iſt. Eine dauernde Beſeitigung der Irrungen zwiſchen uns und dem 
kleinen, aber tüchtigen und uns ſtammverwandten Volk der Dänen würde ein ſchöner 
Erſtlingserfolg der Regierung Kaiſer Wilhelms II. ſein. 

Wir ſchließen unſeren Monatsbericht mit dem kurzen Hinweis darauf, daß in den 
nordamerikaniſchen Freiſtaaten mit der Wahl des Generals und Advokaten Harriſon 
zum Präſidenten die Herrſchaft von den Demokraten wieder zu den Republikanern 
übergeht. 


Monatsichan. Wirtſchaftspolitik. 1335 


Wirtſchaftspolitik. 


Die Thronrede Sr. Majeſtät bei Eröffnung des deutſchen Reichstags hat die 
Förderung der jozialen Gejebgebung auf der Grundlage der Botichaft wailand jeines 
faijerlichen Großvaters bejonders hervorgehoben und die Hoffnung ausgedrücdt, daß es 
gelingen werde, jchon durch) die gegenwärtige Neichstagsverfammlung das Alters: und 
Invalidenverforgungsgefeg zum Abſchluß zu bringen. 

Der Entwurf zu diefem Geſetz hat inzwijchen erhebliche Verbefjerungen erfahren, 
wenn auch nicht in jo weiten Umfange, als insbejondere auch in den induftriellen 
Streifen gewünjcht wird und zum Teil auf Grund jehr beachtenswerter jachverftändiger 
Erwägungen, wie 3. B. diejenige der Handelsfammer zu Barmen, welche jowohl eine 
Erhöhung der Rente als auch die Berücfichtigung der bejonderen Verhältniſſe dringend 
empfiehlt, Punkte, denen wir vollkommen beiftimmen. Bejonders, was unjeren Stand: 
punkt betrifft, jo haben wir jchon öfter und eingehend dargelegt, daß die fehlerhafte 
Richtung der modernen Wirtjchaftlichfeit und MWirtichaftspolitif darin liegt, daß man 
viel zu wenig als wirtjchaftlichen Zwed den zweckmäßigen Verbrauch, als die Kapitalifierung 
der Werte im Auge hat. Wir fordern aber eine mindeftens gleiche Berüdfichtigung 
beider wirtichaftlichen Seiten; und wenn wir fir die eine diefer Seiten etwas mehr 
übrig haben jollten als für die andere, jo ift es ficher die des Verbrauchs. Die Kapi— 
talifierung der Arbeitserträgnifie joll nur vor fi) gehen unbeschadet des Verbrauchs, 
welcher der Erhaltung und Pflege der nationalen Kraft und Gedeihlichkeit dient. Es 
ift nach diefer Seite hin ein jehr bemerfenswertes Zeichen der Zeit, daß der öjterreichijche 
Wehrgejegentwurf, der joeben die gejegliche Feititellung erfährt, den Eintritt in das 
Heer um ein Jahr verjchiebt mit der ausdrüdlichen Begründung, daß die durchichnitt- 
liche Entwidelung der Kraft der Bevölkerung unter dem Drud des Anduftrialismus 
jehr ſtarke Rückſchritte mache. 

Wenn wir aber die Gegenwart behaupten wollen, jo dürfen wir freilich auch des 
Alters nicht vergefien, denn es gehört zur Gegenwart. Bon diefem Gejichtspunft aus 
betrachten wir die Frage der Alters: und Invalidenverfidherung einer: 
ſeits; amdererjeitS aber betrachten wir fie vom Standpunkt des wirtichaftlichen Ver: 
brauchs. Nicht gedrückt joll der Verbrauch werden, jondern gehoben. Und hierzu 
gehört, daß diejenigen Bevölferungsteile, welche gegenwärtig durch den Fapitaliftijchen 
Induſtrialismus hinfichtlich ihres Verbrauches gedrüct find, eine freiere Stellung erhalten 
und einige wirtjchaftliche Worteile, die ihnen an das Kapital verloren gegangen find, 
wieder erlangen. Daher wünſchen wir, daß es zu ermöglichen fein wird, zwar einen 
Minimalſatz für die Invaliden- und Altersrente feftzuhalten, aber zu ermöglichen, 
daß der Berficherte durch freiwillige Steigerung jeines Beitrags jeine Rente 
erhöhen fan. Hiermit würde die befte Sparkafje, die denkbar ift, geichaffen werden. 
Wie der Kapitalift die Kapitalanlage, welche er in Lebens: oder Nentenverficherung 
machen will, nad) Belieben erhöhen fann, jo jollte es auch dem Arbeiter ermöglicht 
werden, fir jein Alter durch erhöhte Zurüclagen von feinem Arbeitsertrag fein Alter 
jorgenfreier zu geftalten. Diejer Punkt ericheint uns als der jocialwichtigjte und wir 
halten eine eingehende Prüfung desfelben als höchſt notwendig. Dagegen legen wir 
weniger Gewicht auf den Neichsbeitrag. Es jcheint uns, als fünnte durch wirfjame 
Mafnahmen für die Erhaltung des Arbeitsgebiets der Nation nach diejer Nichtung hin 
genug leilten, um den Betrieben zu ermöglichen, die Löhne jo zu erhöhen, daß die Arbeiter 
die volle Ausgabe für die Invaliden- und Altersverficherung leiſten können. Denn 
wenn die Schußzölle und ähnliche Einrichtungen nur dienen jollten, den Kapitalismus 
zu erweitern, Kapital zum Verleihen an das Ausland zu bilden, jo könnten wir ung 
damit nicht einverstanden erffären. In allem muß Maß gehalten werden. Und wenn 
das Neid) einerjeits die Induftrie durch Schußzölle begünftigt, jo muß es andererjeits 

85* 


1336 Monatsſchau. — Wirtſchaftspolitik. 


dafür ſorgen, daß nicht der ganze daraus für die Induſtriellen und für das Kapital 
fi) ergebende Gewinn fapitalifiert und meift exportiert werden fann, jondern daß auch 
ein angemeffener Teil dem Verbrauch zufließe. Und dieſes Ziel läßt ſich auf Femme 
einfachere Weije erreichen als dadurch, daß die allgemeinen Wohlfahrtseinrichtungen zweck 
entiprechend und wirkſam hergejtellt werden; insbejondere alſo auch die Alters: und 
Invalidenverficherung. 


Daß Induftrie und Handel fi unter den Schußzöllen in Deutjchland 
jehr wohl befindet, das ergiebt fi), abgejehen von den koloſſalen erworbenen 
Kapitalien, welche für das Ausland bei jeder Emiffion flüjfig gemacht werden, daraus, 
daß die Verkehrseinrichtungen und die Betriebsmittel der Eijenbahnen in feiner Weiſe 
zulangen. 


Wir verkennen nicht, daß lehteres zum Teil an der Verfehrsverwaltung jelbit 
liegt. Der Berftaatlihung der Eijenbahnen ift leider nicht die Herjtellung des Staats: 
bahnſyſtems gefolgt. Die Eifenbahnverwaltung figt immer noch vollftändig im Aktien— 
wejen darin. Daher fommt es, daß die „Neformjchrift” eines unverfrorenen Plagiators 
über das Eiſenbahnweſen ein gewiſſes Nufjehen erregen konnte. Thatlächlich find Die im 
der Preſſe jo vielfach erörterten Borjchläge des Dr. Engel, joweit fie brauchbar find, den 
bereit3 vor fünfzehn bis zwanzig Jahren erjchienenen Schriften des Eonjervativen 
Schriftftellers Dr. Franz Perrot entnommen; und joweit fie dies vielleicht nicht Find, 
anderen älteren Schriftitellern*). Es bejteht noch heute ein Tarifunweſen, aus dem 
niemand flug werden kann, das ſich in fortwährender Veränderung befindet, wie es 
bei den Privatbahnen bejtanden hat; und ebenjo liegt die Güterbefürderung im Argen, 
obgleich die Expeditionen kaum halbe Sonn: und Feiertage haben. Der Güterdienit 
bedarf der gründlichiten Umgejtaltung in Einrichtung und Betrieb. Die Güterbahnhöfe, 
jelbft die neueften, find vielfach unpraktiſch. Dies gilt ebenjo von den Perjonenbahn:- 
höfen. Die jchwere Kataftrophe bei Hanau Hat dringende Vorjchläge für beſſere Bahn: 
bofeinrichtungen hervorgerufen — wie das neuejte Eifenbahnunglüd bei Frankfurt a. M. 
beweift, ohne Erfolg. Am leßteren Orte ift der neue Bahnhof mit vielleicht dreißig 
Millionen Mark Koftenaufiwand erbaut worden, damit das Gedränge bei den Bahnhof: 
einfahrten und den damit verbundenen jchtweren Gefahren bejeitigt wurden. Und nun 
fommt es, fajt unmittelbar nach der Eröffnung, vor, daß ein Perjonenzug viele Minuten 
lang vor dem Bahnhof warten muß und von dem fajt eine Viertelftunde jpäter fülligen 
Schnellzug ereilt wird, glüclicherweile nachdent fich jener Zug joeben wieder in Bewegung 
ee hat, ſonſt hätte jich das gräßlichite Unglüd, was in Deutjchland jemals vorgekommen 
ift, ereignet. 


Neben den beim Betriebe, bei der Verwaltung und beim Giüterverfehr vorkommenden 
Unzulänglichfeiten treten die Tariffragen des Perſonenverkehrs jelbftverftändfich weit 
zurüd. Immerhin find fie wichtig genug. Wir teilen nun die Verrotiche von Dr. Engel 
anneftierte Meinung keineswegs. Der Transport von Menjchen kann nicht nach den 
Grundſätzen wie der von Briefen und Paketen geregelt werden. Daß aber ich auch 
hier nicht der entferntefte Anjab zur Beſſerung gegen das Privatbahniyftem zeigt, it 
hochbedenflih. Die vierte Wagenklaſſe jollte längst bejeitigt fein; die Grumdtare zu 
1’ Pfennig für den Kilometer und dritte Klaſſe bei gewöhnlichen Zügen müßte längit 
beftehen — dann das Dreifache für zweite und wieder das Dreifache für erjte Klaſſe. 


*) Wie wenig Dr. Engel aud) da, wo er nicht aus Perrot abjchreibt, unterrichtet ift, dürfte ſich 
ergeben durch einen Einblid in die Schriften: „Das Transport-Unmwejen auf den Eijen- 
bahnen in Deutjchland von Emil Richter“. FFrauffurt a. M. 1872 uud „Die Entwidelung 
der Berfehrsgrundlagen Bon Emil Richter. Leipzig 1873. Auch die Perrotjchen 
Schriften find meiſt vor 1873 erjchienen. 


Monatsſchau. — Wirtichaftspolitik. 1337 


Dann brauchte man weder Preisermäßigung für Vergnügungs-, Rundreiſe und Zurück— 
fahrten noch ſonſtige Vergünſtigungen außer dem Freigepäck“). 


Liegen hier bedeutende Aufgaben, ſo dürfte eine andere, nicht minder wichtige, die 
Bankfrage, wider Erwarten den jetzt verſammelten Reichstag wohl kaum beſchäf— 
tigen, da beabſichtigt ſcheint, die Neuwahlen ſchon im nächſten Jahr eintreten zu laſſen. 
Die gegenwärtigen Zuſtände auf dem Börſen- und Finanzgebiet müſſen aber die dringendſte 
Aufmerkſamkeit auf die Bankverhältniſſe hinlenken. Wenn man nod) vor verhältnis: 
mäßig furzer Zeit triumphiert hat über die Erfolge der Geldanhänfung durch die deutſche 
Neichsbant, jo hat man jetzt einigermaßen Grund, jehr Eleinlaut deshalb zu werden. 
Man muß wenigitens einzujehen beginnen, daß nicht die Bankpolitif, jondern ganz 
andere Faktoren den Zu: und Abfluß von Geld bei der Neichsbanf beftimmen. Aller: 
dings hat man bis Mkitte des Jahres 1888 den Goldvorrat bei der Reichsbank mächtig 
anjchwellen jehen. Die Börje hatte auch fein Lagerhaus, wo fie ihre Vorräte für 
bedenkliche Momente oder bejondere Unternehmungen hätte vorteilhafter aufjpeichern 
fönnen, als bei der deutjchen Reichsbank. Denn nirgend anderswo wurden ihr gleid) 
günstige Bedingungen auf Kojten des Bankertrags gewährt. Gegenwärtig aber, wo die 
Börje in eine Menge geipannter Unternehmungen verwidelt ift, und dort das Gold mit 
größerem Vorteil anderwärts verwerten kann, ſchmilzt das Gold der Reichsbank wie 
Butter an der Somme. Betrug der Baarvorrat der Reichsbank zu Mitte Juni 1006 699 000 
Mark gegen 824105000 Mark Mitte Juni 1887, jo war jchon Mitte November diejer 
„Aufſchwung“ faſt wieder verichwunden, während gleichwohl die Bank noch genötigt 
war, ihren Börjendisfont weiter herabzujegen. Uebrigens zeigt der ftarfe Rückgang der 
Giro-Guthaben, daß die Kapitalanjpannung in den legten Monaten jehr jtarf zugenommen 
hat. Dies hat ſich auch gezeigt gelegentlich der lettmonatlichen Börjenliquidationen, 
indem diejelben zum Teil nur unter Kunftgriffen ohne jtärfere Stöße überwunden wurden. 


Freilich hat die Börje noch große Unternehmungen vor. Aber nad) den Banl: 
ausweiſen ift es fraglich, ob ſich dieſelben noch vor der allgemeineren „Abjchüttelung 
der Schwachen Hände“ zu Ende bringen laſſen werden; und die jo lange jchtwebende 
ruſſſiſche Anleihe bleibt, jelbft nachdem ihr Abſchluß als ganz ſicher gemeldet 
wurde, eine auffällige Schwergeburt. 

Die Verhältniſſe des jpefulativen Handels und dev Induſtrie, die im Ganzen 
während der legten Zeit befriedigenden Verlauf hatten und in einigen Induftriegebieten 
jogar Yohnerhöhungen mit ſich brachten, jcheinen in den legten Tagen zum Teil durd) 
jpefulative Eimvirkungen wieder ungünftiger getvorden zu jein; bejonders in England. 
Dieſe Schwankungen werden zunächſt auch andauern. Inzwiſchen hat nun der Mono— 
polismus in aller Form ſeinen Einzug in Großbritannien, dem Lande des freien Handels 
und der induſtriellen Freiheit, gehalten! Neun Zehntel der geſamten Salzwerke 
find in die Hände eines einzigen „Truſt“ gekommen und auch die Werkbeſitzer, welche 
der Unterwerfung noch Widerjtand leiten, werden fich ihr unterwerfen müſſen. Selt— 
jamer Weiſe jcheint man ſich in Kreiſen dev deutjchen Salzgewinnung von dem Vorgang 
Vorteil zu verjprechen; indem man an die Konkurrenzmöglichkeit gegen jenen „Truſt“ 
glaubt. Die Enttänfchung wird nicht ausbleiben. Fejtzuftellen ift aber der Gang des 
Freihandels und dab Notwendigkeit in den Monopolismus Hineinführt — und in 
einen weit jchlimmeren, als es jemals der Staatsmonopolismus jein kann. Die Abficht 
der Leiter des Trust, die englischen Salzpreife um das Vier- bis Fünffache zu. jteigern, 
bezeichnet dies deutlich genug. Wenn aber eine derartige Kapitalverbindung erſt gebifdet 
iſt und ſich — hat, wird es geradezu heroiſcher Mittel bedürfen, um dieſelbe 


* Anne. d. Red. Wir teilen die peſſimiſtiſchen Anſchauungen unſres geehrten Herrn Mit- 
arbeiters nicht, halten im Gegenteil dafür, daß die Perſonenbeförderung allen billigen Anforderungen 
und die Klaſſenverteilung im weſentlichen dem praktiſchen Bedürfnis entſpricht. 


1338 Monatsihan. — Wirtjchaftspolitit. 


zu jprengen oder die wirtichaftlichen Berhältniffe von ihrem Drud zu befreien. Dies 
zeigen die Verhäftniffe in den Vereinigten Staaten, wo der „Zuder-Truft“ troß des 
mannigfachiten Angriffs noc feinen Anschein der Erichütterung zeigt. Daß der Ausfall 
der Präfidentenwahl eine jonderliche Aenderung diejer Berhältniffe in den WBereinigten 
Staaten mit fid) bringen wird, ift faum zu erwarten. Allerdings evjcheint Durch Die 
Wahl die Freihandelspartei geichlagen und es dürfte zunächſt fein Verſuch gemadı: 
werden, die landwirtichaftlichen Schußzölle, wie es in der befannten PBroflamation des 
Präfidenten Cleveland gejchehen, anzutaften. Aber es dürfte auch die Schattenfeite der 
Trufts und Kartelle, die allerdings aud) anderwärts breit genug wirft, in ihrer Ber: 
breiterung nicht gehemmt werden. Ob aber im Lande jelbjt die Bewegung Dagegen jo 
mächtig anfchwellen werde, um eindämmend gegen fie zu wirken, ijt jehr fraglich. Das 
Schidjal der einft jo viel Erfolg verjprechenden Bewegung der „Srangers” iſt fein 
Beijpiel, das viel hoffen läßt. 


In der jüngften Zeit haben die Getreidejpefulationen, welhe auf die 
Getreide-Einjperrung möglichſt aller verfügbarer Getreidemengen hinauslaufen, ſowohl 
dieſeits als jenjeitS des Oceans die ernftere Aufmerkſamkeit auf fich gelenkt. Der 
„Maisring”, der fi in Wien und Peſt gebildet hatte, und dejjen Teilhaber nad) 
den Angaben der Börſenpreſſe meist aus „KRavalieren” bejtand, jcheint zu langſamer Auf: 
löſung gefommen zu jein; was jehr dagegen jpricht, daß Kavaliere ſonderlich Dabei be: 
teiligt waren. Denn dieje wären jicherlich jcharf geprellt worden. Anfcheinend ift die 
aufgejpeicherte Maismenge nach) London überführt und hier nad) und nach verfauft 
worden. Daß der ungarische Maisbau dadurch auch nur den Eleinften Vorteil erlangt 
hätte, wird man nicht behaupten können. 


Sedenfall3 zeigt fich, daß die Verteurung des Brotes durch ganz andere Mittel 
herbeigeführt wird, als durch die Schußzölle Wenn darum die Sozialdemokraten, 
unterftüßt durch die „freifinnige Partei,” im Neichstage einen Antrag auf Bejeitigung 
der Schußzölle ftellen wollen, jo find fie leicht zu schlagen. Denn in England, dem 
Lande des Freihandels, find die Brotpreife noch weit mehr geftiegen, als bei uns in 
Deutichland. Die Steigerung des Weizenpreifes von 284 auf 37 Schillinge in London 
bezeichnet eine Steigerung um achtundzwanzig Prozent binnen acht Monaten trot des 
Freihandels. Dagegen iſt in Deutſchland ſeit März dieſes Jahres geſtiegen: Roggen 
um 20, Weizen, wenn wir die höchſte Notierung nehmen, um nicht ganz 18 Prozent. 
Die Breisfteigerung des Brotpreijes beträgt aljo im freihändlerijchen 
Lande um acht Prozent mehr wie im jchußzöllnerijichen. 


Den Hebel zur Beſſerung joll man lieber da anjegen, wo wirklich Notjtände find, 
3. B. arbeiteten nach dem joeben veröffentlichten Bericht der belgiichen Regierung über 
die dortige Kohleninduftrie in den Kohlenwerken 100973 Arbeiter, darunter nicht 
weniger als 20676 Weiber und Kinder unter jechzehn Jahren, wovon wieder die 
Mehrzahl, nämlich 3201 Frauen, 7920 Knaben und 1032 Mädchen unterirdiich in den 
Gruben. Hier einzujchreiten jollten die Sozialdemokraten ihre freifinnigen und Elerifalen 
— anhalten, die ſich ſeit Jahrzehnten um die Macht der Regierung mit Erbitterung 
treiten 


Monatsihau. — Kirche. 1339 


Nirche. 


Auf dem Gebiet des kirchlichen Barteilebens hat der Fall Harnad eine 
Fortjegung gefunden. Zum Staunen der Welt ijt plöglih Fürft Bismard von der 
theologischen Fakultät der Univerſität Gießen zum Dottor promoviert worden. In 
dem Elogium, welches die Verdienſte des Reichskanzlers um die evangeliiche Kirche 
aufzählt, wird bejonders als jolches die Thatjache hervorgehoben, daß er mit Fleiß 
dafür jorge, daß die evangeliſche Kirche nicht nach katholiſchem Vorbilde, jonderi nach 
ihrer Eigenart vegiert werde, und daß er den theologischen Fakultäten die Freiheit wahre, 
die angeblich für den vechten Dienft in der Kirche unentbehrlich fein joll, die Freiheit, 
die bekanntermaßen darin bejteht, daß jeder Profeſſor das Recht hat, zu thun und zu 
lehren was er will und mag. 

Stöder in feiner Kirchenzeitung weift bereits mit der ihm eigenen erfreulichen 
Offenheit darauf Hin, daß dieje Huldigung der freifinnigen Giehener Theologen ſchwerlich 
einen anderen Erfolg beim Neichsfanzler erzielen werde, als die Mißachtung zu verjtärfen, 
welche Fürſt Bismard als Politiker und in feinem politijchen Handeln von je her 
der evangeliichen Kirche und ihren Wünſchen entgegengebradjt hat. In der That, wenn 
man die Eirchenpolitiiche Thätigkeit des deutſchen Neichsfanzlers zwei oder drei Jahr: 
zehnte zurück durchmuftert, jo ſtößt man auf leidenfchaftliche Kämpfe gegen die römische 
Kirche, ſtößt man auf diplomatijche Bemühungen aller Art, die Gunft der Kurie zu 
gewinnen, ſtößt man auf energiſche Mafregeln, um die Evangelischen einzuichüchtern 
und ihnen von vornherein alle Selbftändigfeitsgelüfte auszutreiben, ja wohl auch auf 
die materialiftiiche Theſe, daß die Sonntagsarbeit zu vertreten jei, weil man an fieben 
Tagen mehr verdiene, als an jechs. Niemals aber ift unjeres Willens irgend ein 
Schritt nachzuweiſen, der als Gunft, als Hilfe, als Stärfung oder Förderung evangelischen 
MWejens ausgelegt werden fünnte, niemals irgend etivas, was Anerkennung oder Dank 
begründen könnte. 

In der That ist von unferem Standpunkte aus die Demonftration der freifinnigen 
Gießener Profeſſoren auf das entichiedenfte zu beklagen. Umſomehr, als Ddiejelbe 
anfnüpft an den Fall Harnad, der ſich am letzten Ende zugejpist hatte zu einer ober: 
biſchöflichen Entjcheidung darüber, ob bei der Berufung von Lehrern, welche den 
firchlichen Nachwuchs heranbilden jollen, die Kirche zu hören jei oder nicht. Die ober: 
biichöfliche Enticheidung ift befanntlich, gleichviel ob aus inneren oder äußeren Gründen, 
zu Ungunften dev Kirche ausgefallen. Mean hätte denfen jollen, daß gerade diejer Fall 
auf die Notwendigkeit hinweiſen müßte, der Kirche ein Einfpruchsrecht zu gewähren und 
jeden evangelischen Chriften antreiben, dies Recht erfämpfen zu helfen; ftatt deſſen 
fommt aber eine Korporation von Profeſſoren, welche die Kirche vertreten, daher, 
ernennt den Vertreter des Staates, der die Kirche herunterdrücdt, zum Ehrendoktor 
und erklärt es gleichzeitig für die „Eigenart“ der evangelischen Kirche, daß in ihr nicht 
die Biichöfe und Aelteſten, jondern die politiichen Minifter und PBarlamentsmehrheiten, 
die zum Teil der Kirche gar nicht angehören, zu regieren haben. Diffieile satiram 
non scribere! 

Die Folge diejes umliebjamen Vorgangs kann in wirklich kirchlichen Streifen nur 
die wachjende Erfenntnis der Notwendigfeit jein, den Kampf um die Verjelbjtändigung 
der Kirche mit neuer Kraft aufzunehmen und energijch weiter zu führen: ein Ziel diejes 
Kampfes find auc akademische Instanzen, welche wirklich auf dem Boden der Kirche 
jtehen. Gewiß will niemand die Wifjenichaft vergewaltigen. Sie joll jo frei bleiben, 
als es das Strafgefeßbuch und der Paragraph vom „groben Unfug” zulaſſen, und es 
wäre jchade, wenn Die jungen Theologen nicht auch bei Darwin Kollegien hören könnten 
über die Affenabjtammung des Menjchen und bei Dubois-Reymond über das „menschliche 
Meuttertier.“ Aber es darf den heranmwachjenden Dienern der Kirche nicht überlafjen 


1340 Monatsſchau. — Kirche. 


bleiben, aus dem Widerftreit von taujend Meinungen ſich irgend etwas herauszufuchen, 
was fie dann als Kirchenlehre verkünden wollen, jondern e8 muß einen Ort und 
muß Perſonen in der Welt geben, bei denen fie erfahren können, was firchlich zuläſſig 
it und was nicht. Wird die Firchliche Gentralinftanz beteiligt bei der Berufung Der 
afademischen Lehrer, jo wird auch am beiten dem Widerſpruch vorgebeugt, daß eine 
Fakultät gegen die andere protejtiert, und daß in Berlin verderbliche Irrlehre jein Toll, 
was in Marburg ohne Anjtand den jungen Studivjen beigebracht werden durfte. 

Diejer Kampf um den Firchlichen Einfluß auf die Fakultäten muß ebenjo fort: 
geführt werden, wie der andere, welcher der Bejeitigung des landesherrlihen Ober: 
biichofamtes gilt. Und er wird fortgeführt und jiegreich beendet werden, wenn nur 
erit der Strom lebendigen firchlichen Bewußtſeins, der in den Gemeinden Fluten Toll 
und muß, zu einer Stärke und Tiefe gelangt ift, daß er in Wahrheit das Biſchofsamt 
nicht nur trägt, jondern auch hebt und fortzieht. 


Dat es vorwärts geht im dieſer Hinficht, davon find die jüngjt jtattgehabten 
Berliner Kirchenwahlen ein erfreuliches Zeugnis. Berlin war anfänglich nad) Ein: 
führung der neuen Synodalordnung die Hochburg der Liberalen. In feiner firchlichen 
Vertretung reihte jid; Skandal an Skandal. Und jeßt haben langjam aber jicher durch 
unermüdliche Arbeit die Poſitiven es dahin gebracht, daß ſie die Mehrheit in der Stadt: 
ſynode erlangen werden. Ohne Zweifel ijt viel an dieſem Erfolge der Politik innerhalb 
der jogenannten „Berliner Bewegung” zu verdanken und es hängt damit zuſammen, 
daß auch manchem „pofitiven” Wähler die Berhätigung feiner Wahlpflicht mehr Partei: 
ſache als Herzensfache jein mag; aber es darf darauf eben jo wenig Gewicht gelegt 
werden, als auf den Umstand, daß gerade da, wo aus den Mitteln der Bofitiven und 
Gläubigen nene Kirchen gebaut und neue Kirchipiele gegründet find, eben dieſe nenen 
Gemeindevertretungen den Liberalen in die Hände gefallen find; das ift traurig für die 
Hegenwart, aber fein Grund zum VBerzagen für die Zukunft. Hat man anderswo 
Fortichritte gemacht, jo find auch hier für die Zukunft Erfolge möglich und die Firchliche 
Organijation, welche die Möglichkeit zu fiegen giebt, ift doc) da. Ob die Vermehrung 
der Kirchjpiele und die Hebung der Firhlichen Verjorgung Berlins, welche offenbar dem 
Kater warm am Herzen liegt, demnächſt lebhaftere Fortſchritte machen wird, als bisher, 
wo der „Fortſchritt“ ſich von völligem Stillſtand wenig unterſchied, kaum nur die 
Zukunft lehren. 

Beiläufig jei übrigens bemerkt, daß auch die Liberalen Gemeindevertretungen in 
Berlin teilweije im Lauf der Jahre jehr viel verftändiger geworden find, als ſie es 
anfänglich waren; fie haben eine gewiſſe Periode, die man „Flegeljahre“ nennen könnte, 
überwunden, ſo daß nun auch poſitive Geiſtliche vielfach in Frieden mit ihnen aus— 
kommen. 

Freilich wird es noch lange dauern, und die Zeit iſt fern, daß die in ſo großem 
Segen wirkende Stadtmiſſion entbehrt werden könnte, die ihrer ganzen Organiſation 
nach als eine auf volle Freiwilligkeit beruhende Veranftaltung vor der Gefahr, den 
firchlichen Liberalen in die Hände zu fallen, einigermaßen Sicher ift. Daß Verſuche 
auch Hierzu gemacht worden find, ift befannt. Die großfapitaliftiichen Firmen, welche 
dem Neichsbanfpräfidenten v. Dechend für den jog. „Eirchlichen Hülfsverein“ größere 
Summen teils zahlten, teils in Ausſicht ſtellten, haben joeben wieder alles aufgeboten, 
um als Entgelt für ihre „milden Gaben“ die Beſeitigung Stöckers zu erwirken. Jetzt, 
nachdem fie erkannt haben, daß es damit nichts iſt, find die Beträge "teil zurücgezogen, 
teils wenigjtens ift in der Preſſe die feierliche Verficherung abgegeben worden: einmal 
und nicht wieder! Diefe Stimmung ift, wie anerkannt werden muß, vom Börſen— 
jtandpunft aus vollfommen berechtigt, für nichts ift nichts. Aber fie weit allerdings 
auc eindringlid; darauf hin, daß man Geld für firchliche Zwecke nicht von denen ein: 
treiben darf, die außerhalb des Schattens der Kirche leben und jterben. Für das, was 


Monatsichan,. — Kirche. 1341 


die Kirche an Liebesgaben braucht, muß jtets auch die Opferwilligkeit ihrer Glieder fic) 
als ausreichend erweijen. 


Die Beziehungen des preußiichen Staates zur Kurie jind im wejentlichen die 
alten geblieben, wenn auch vielleicht nicht ganz jo herzlich, wie im jüngſter Zeit. 
Etwas weniger freundlich, al3 neuerdings landesüblich, lautet die Antwort, welche der 
Kaiſer den römischen Biichöfen in Deutſchland auf eine Kollektiv-Adreſſe erteilt hat. 
Es ift beachtenswert, dal die Biichöfe zunächit viele Wochen auf den faijerlichen Bejcheid 
haben warten müfjen; und dann ift gegenüber den Andeutungen dev Adrefje, daß man 
den firchlichen Frieden als etwas Werdendes anjehe, die Stelle der Antwort beachtens: 
wert, welche den Frieden als etwas FFeitgewordenes und durch Verträge Gefichertes 
binftellt. Selbjtredend find die römijch-Firchlichen Kreiſe und ihre Preſſe über dieje 
Antwort verftimmt und bemühen jich, ihrerjeits nachzuweifen, daß das lebte kirchen— 
politiiche Gejeg nur „der Zugang zum Frieden“, nicht aber der Frieden jelbit jei. 
Eine andere Deutung der Antwort darf ja Herr Windthorjt auch gar nicht zulajjen, 
nachdem er erklärt hat, mit jeinem Kampf um die Schule einen neuen Kulturfampf 
beginnen zu wollen, der mit gleicher Energie und Ausdauer geführt werden jollte wie 
der alte. 


Aus der evangeliichen Diajpora ſind bejonder® aus den baltischen Oſtſee— 
provinzen überaus traurige Vorgänge zu melden. Die ruſſiſche Verwaltung häuft eine 
Gewaltthätigfeit auf die andere und treibt mehr und mehr diejenigen, die jie früher 
zu ihren treueften Unterthanen zählen konnte, in einen Zuſtand der Verzweiflung 
und Erbitterung hinein, der ſich in enticheidender Stunde noc einmal empfindlic) 
rächen kann. 


Beſſer ift es der evangelischen Miſſion in Oft-Afrifa in kritischer Stunde gegangen; 
wie verlautet, haben die Anfänge von Stationen, welche errichtet worden find, den 
Aufftand ohne weientlichen Schaden überdauert, und werden dieſelben hoffentlich fort: 
fahren, die Völfer des dunklen Erdteils allmählich auf diejenige Stufe chriftlicher Kultur: 
entwidelung zu bringen, auf welcher die Sklaverei unhaltbar wird und ihre Aufhebung 
als reife Frucht von jelber abfällt. Wenn jegt die Ultramontanen mit ihrer vordring: 
lichen Renommiſterei fich jo ftellen, als wären fie die einzigen, welche der Sklaverei 
widerjtreben, jo weiß man, was von diefer Prahlerei zu halten ift. Einſtweilen ift die 
generelle Aufhebung völlig unmöglih. Sie würde den Stillftand aller Kultur und 
Civilifation bedeuten, weil das jchwarze Volk dort jchlechterdings nicht veif ift für den 
richtigen Gebrauch perjönlicher Freiheit. Seine Hebung und Förderung ift eine lang 
ausjehende und mühevolle Arbeit, die durch den Kreuzzug des Kardinals Lavigerie ganz 
ficher nicht bejchleunigt werden wird. Diejer Kreuzzug mag als Forſchungs-Expedition 
von Wert werden, für Kirche und Chriftentum aber wird er enden wie alle Kreuzzüge, 
2 rejultatlos. Das Schwert ift nicht die Waffe, mit welcher man das Evangelium 
ausbreitet. 


Wir ſchließen mit dem Hinweis auf ein literarisches Werf von firchlicher Bedeutung, 
auf eine neue Bibel nämlich, welche fich „illuftrierte Hausbibel”*) nennt und weld)e 
man aud) als eine „realiftiiche” Bibel bezeichnen könnte. Gerade von diejem Gefichts: 
punkt aus empfehlen wir fie. Wenn Paulus zu jeiner Zeit fich bemühte, allen alles 
zu werden, den Juden ein Nude und den Griechen ein Grieche, jo ift nicht abzujehen, 
warum nicht in unferem Zeitalter eine realiftiiche Bibel fich Freunde zu erwerben 


ne Illuſtrierte Hausbibel. Nach der Ueberſetzung von Dr. Martin Luther. Mit über 
1000 Abbildungen und Karten, Erläuterungen und einer Familienchronik. Berlin, Friedrich Pfeil- 
ftüder, 1888. (1694 ©. 4.) Geheftet 17,50 M., gebunden von 22,50 bis 40 M. 


1342 Monatsichau. — Kirche. 


tradhten ſollte. Abweichend von den bisherigen Bilderbibeln, welche ſtets ideale Kompo— 
jittonen brachten, it bier zum eritenmale der Verſuch gemacht, das Verſtändnis Der 
Schrift zu befördern durch bildliche Darflellung von realen Dingen, von Gebraudıs- 
gegenftänden, Pflanzen, Tieren, Altertiimern, durch photographilch treue Bilder der 
Stätten und Pläge, auf denen ſich die heilige Gejchichte abjpielt. Der Preis iſt io 
gehalten, da in jedem wohlhabenden Hauje die Auſchaffung möglich it. Der reis 
des gebundenen Eremplars überichreitet nur wenig 20 Mark. So wird das Bud), 
welches eine ganze Archäologie erjet, dem Bibelforjcher von Wert jein und auch Der 
Familie bei ihrem Bibellejen förderſamſt zu ftatten fommen. 





Bum Jahresfchluß. 


Wieder läuft ein Jahr zu Ende und mit ihm ein Band diefer Zeitichrift, welche, 
eboren aus den Wirren der „achtundvierziger” Zeit, nun ſeit mehreren Jahrzehnten 
bemüht und beftrebt gewejen ift, ihren Lejern und Freunden in periodijchen Leber: 
fihten ein Bild der Zeit zu geben. 


Wir bilden uns nun nicht ein, al3 hätten wir wirklich dies Bild der Zeit im 
Mechjel der Jahre mit wahrhafter Unparteilichkeit, wie wir es wünjchten, gegeben. 
Es iſt wenigen vergönnt, ſich aus eigener Kraft hinauszuheben über die Gegenwart, 
in welche fie hineingeftellt find und fich, die Zukunft vorwegnehmend, auf höhere Warte 
zu ftellen, al3 auf die Zinne der Partei. Es fann garnicht ausbleiben, daß, wer fort: 
dauernd die Parteikämpfe der Gegenwart beobachtet, im Laufe der Zeit auch jelbft bis 
zu gewiſſem Grade Partei ergreift für diejenigen, deren Kämpfe er mit Teilnahme 
verfolgt. Und gerade in unjerem deutſchen Waterlande iſt das um jo weniger zu ver: 
meiden, als nicht, wie in England, der chriftliche Glaube die gemeinfame Vorausſetzung 
alles Barteilebens ift, jondern bei uns die politischen Parteien ſich auch nad) religiöjen 
Gefichtspunften jcheiden; und weil doch mit Notwendigkeit für den, der als Chriſt 
gelernt hat, die irdilchen Dinge sub specie aeterni zu betrachten, die Religion zum 
Ausgangs, Mittel: und Endpunkt auch aller politifchen Kritit und Wirkſamkeit fich 
geftaltet. Und von jolcher Erwägung hat ja auch diefe Zeitfchrift im Gegenjah zu 
anderen, welche möglichjt farbloje Titel wählen, eine Barteibezeihnung ſich an die 
Stirn geichrieben, welche die Richtung ihres Weges anzudeuten bejtimmt ift. 


Es wird das hier und da, auch bei unjeren Freunden als ein Mangel angejehen, 
als ein Fehler, der zu verbefjern ſei. Die weitere Bezeichnung werde helfen auch weitere 
Kreiſe gewinnen. 


Wir haben dazu unfererjeit3 wenig Vertrauen. Um die Gunft der Halben werben 
wir nicht, jondern um den Beifall des ruhigen, fachlichen, leidenjchaftslojen Urteils. 
Und da glauben wir doc) jagen zu dürfen, daß ſchwerlich eine andere LZeitjchrift jo 
jehr fich frei Hält von Iandläufigem Barteigetriebe, als wir es auf politijchem, auf 
wirtichaftlihem, auf kirchlichem, auf litterarischem und auf vielen anderen Gebieten zu 


1344 Zum Zahresichluf. 


thun bemüht find. Zu Mitarbeitern juchen wir nur jelbjtändige und unabhängige 
Männer zu gewinnen, welche ihre Anfichten vertreten, unbefümmert darum, ob mit Der 
Unabhängigkeit ihres Urteils nad) oben oder nach unten, nach rechts oder nach Links 
ein Widerjpruch erweckt wird. Und darin erkennen wir den bejtmöglichen Dienft, den 
wir der Monarchie und dem Staatswejen, dem wir angehören, leijten fünnen. Wer nicht 
widerftreben kann, der kann auch nicht ſtützen. 


Fa, wir möchten als charafterijtiich hervorheben, daß wir troß der Bezeichnung 
„tonjervativ” ung faum mit einer anderen Partei und ihrem Programm jo oft im 
Widerjpruch befunden haben, als mit der fonjervativen. Wir willen wohl, daß dieſen 
„Luxus“ der „Wildheit“ ſich der „praktische“ Politiker, der in parlamentarischen Körper— 
Ichaften Einfluß gewinnen will, gejtatten darf; es gilt dort oft, das Erreichbare zu 
nehmen, auch wenn es den eigenen Wiünjchen wenig entipridht. Der unparteiiiche 
Monatsichauer wird immer einmal das Necht haben, fich den Widerftand, der Dem 
Guten entgegenfteht, Hinmwegzudenfen und in Gedanken nahe bei einander wohnen zu 
laſſen, was ſich im Raume unerbittlich jtoßen muß. 


Und es hat ich auch zu dieſem Programm der Programmloſigkeit bisher noch 
jtets in Deutjchland, befanntlih dem Lande der Denker und Dichter, eine Gemeinde 
zujammengefunden, welche groß genug war, das Unternehmen in jeiner jeßigen Aus: 
dehnung auf ihren Schultern zu tragen. Und ſolche Gemeinde it ja heute auch noch 
vorhanden. Aber es wäre dringend zu winjchen, daß fie wüchſe und ſich ausbreitete, 
das Yand zu füllen. 


Wir richten daher am Jahresihluß an alle unjere Lejer und Gönner die Bitte, 
uns ihre Gunſt und ihr Wohlwollen auch für die Zukunft zu bewahren. Nirgends iſt 
ja die Ueberproduftion jo groß und jo erdrücdend, als auf dem Gebiete der Zeitjchriften, 
die ſich gegemjeitig Licht und Sonne rauben, und das Ende diefer Konkurrenz iſt der 
heut jchon vorhandene Zujtand, da nicht nur die Lejer, jondern aud) die litterariichen 
Kräfte ſich ins Umendliche zeriplittern, und daß notwendig die Qualität unter der 
Maſſenproduktion leiden muß. 


Um dennoch nicht nur auf der erklommenen Stufe zu bleiben, jondern vorwärts 
zu kommen, nach Form und Inhalt, fügen wir der ſchon ausgejprochenen Bitte Die 
andere Hinzu, ung doch, wenn möglich, neue Freunde im kommenden Jahre zuführen 
zu wollen. Wer uns Hilft, hilft fich ſelber; denn es kaunn im der That für eine 
Nedaktion feinen größeren Sporn geben, ihr Beſtes daran zu jegen, als wenn jie in 
jtand kommt, den Erfolg ihrer Bemühungen in wachjender Abonnentenzahl mit Händen 
zu greifen. 


Wir thun unjere Bitte in der Hoffnung, daß fie bei unjeren Lejern eine freundliche 
Stätte finden möge, und daß fie ſich entjchließen möchten, auch das fommende Jahr 
der Gnade mit ung gemeinfam durchzuwandern. 


Die Zukunft liegt dunkel und trübe vor dem politischen Blid. Die Welt jtarrt 
in Waffen, wie noch nie zuvor. Wann das Gewitter ſich entladen wird, weiß 
niemand. Aber daß es Sich entladen wird, jcheint nach menjchlichem Ermeſſen 
unvermeidlich. Und das wieder iſt gewiß, daß, wenn es jich entladet, für alle 
Beteiligten — ie mögen Sieger oder Befiegte jein — eine Zeit der größten Trübjal 
anbrechen muß. 


Nun — den Troft, der dem einzelnen gilt, können ſich auch die Völker zu Nutze 


machen. Und wenn ein friedliches Volk, wie das unjere, das jeiner Arbeit ſich in 
Ruhe freuen möchte, und durch Waffenklirren immer wieder darin gejtört wird, mit 


Zum Jahresſchluß. 1345 


unwilliger Lippe fragen möchte: Warum das alles? — ſo gilt auch ihm, was der 
Sänger dem Klagenden zuruft: 


Daß nicht vergeſſen werde, 
Was man ſo gern vergißt, 
Daß dieſe arme Erde 
Nicht unſere Heimat iſt. 


Aber dann freilich gehört auch der Schlußpſalm dazu: 


Hilf du uns durch die Zeiten 
Und mache ſeſt das Herz, 
Geh jelber uns zur Seiten 
Und führe uns himmelwärts. 
Und ift es uns biemieden 

Sp Bde, jo allein, 

O ah in deinem Frieden 
Uns bier ſchon jelig jein. 





SUIUIUIUIULUTBIN ’ 
71 ererreeſt 


Hene Schriften. 


1. PBolitif. 

— Der Deutſche Neichstag. 
ichichte, Organifation, Rechte und Pflichten. Bon 
Glemens Freyer. (Berlin W. 57. Baul Hennig.) 
Motto: Die Aufgabe ift, den Staat im Bolfs- 
bewußtjein zu vollenden. Dahlmann. 

Das Buch, welches dem Präfidenten des Neid). 
tags, Herrn von Webdell-Piesdorf, gewidmet iſt, 
hat — Inhalt: Vom Staate im allgemeinen. 
Zur Deutihen Verfaſſungsgeſchichte. Hauptbe- 
ſtimmungen der Reichäverfaffung: A. Neichsgebiet, 
14. Neichsangehörigkeit, O. Neichsgejeßgebung, 
D. Bundesrat, E. Bundespräfidium, F. Reichstag. 
6, Boll, Handels. und Verkehrsweſen, H. Neid)s- 
friegswejen, J. Reichsfinanzen, K. Strafbejtim- 
mungen, Streitigfeiten und Berfafungsänderungen, 
L. Neichöfanzler und Reichsbehörden. Bon den 
Wahlen zum Reichstage. Politiſche Parteien oder 
Fraktionen. 1. Fraktion der Deutſch-Konſervativen, 
2. Fraktion der Neidjspartei, 3. Fraktion des 
Bentrums, 4. Fraktion der Polen, 5. Fraktion der 
Nationalliberalen, 6. Deutſche Freilinnige Partei, 
7. Sozialdemofraten, 8. Zu feiner Fraktion. Büreau 
des Reichstags. Reichstagsgebäude. Berufung des 
Neichstagd. BZufammentritt und SKonftitwierung 
des Reichstags. Kommiffionen. Vorlagen, An- 
träge, Petitionen. nterpellationen und Adreſſen. 
Plenarfigungen und Beſuch derjelben. Schluß der 
Seſſion und Rüdblid auf die Thätigfeit des Reichs— 
tags. Biographiiche Notizen. Sachregifter. 

Auf 221 Seiten ift dies Alles furz, bequem uud 
handlich dargejtellt, mithin ein Feines Nachſchlage— 
buch geichaften, das ſich bei allen Redakteuren, 
Politikern, Zeitungslejern einbürgern wird. Oh 
Lüden darin find, wird der Gebrauch lehren. Die 
notwendige fortwährende Erneuerung der Auflagen 
macht das Korrigieren leicht. 

— Das Berjammlungs- und Bereins- 
recht Deutſchlands, Inftematifch een 
— von re Dr. 9 
BR von 33 BR en 126 * 

eis: 


Seine Ge | 


Der Artitel 16 der Verfaſſung des deutichen 
Neiches unterwirft das freie Bereind- und Ber 
jammlungswejen der Beaufjihtigung und Gejer- 
ebung des Reiches. Das Neid) hat von Ddiejer 
| Befugnis aber nur in jehr beichränftem Mae 


| | durch Erlaf einiger Spezialgejege Gebrauch gemacht. 


| Einbeitfic geregelt it das Vereins und Ber 
J——— d. h. das Recht der Stantdbürger, 
ic; zur gemein (der gie Verfolgung politijcher 
und nicht botitit er Bwede zu verbinden bezw 
zu verjanmteln, noch nicht. Es ift zwar idon 
lange das Streben der liberalen Parteien re 


auh auf diefem Gebiet durch Eingreifen Der 
Reichsgeſetzgebung Nechtseinheit hergeitellt zu 
jehen. Diejer Wunjch wird aber in abjehbarer 


Zeit wohl nicht in Erfüllung gehen. Die Re 
gierungen werden fich ſchwerlich ohme Not ent- 
ſchließen, durch Vorlage eines Geſetzes zur 
einheitlichen Regelung des Vereins- und Ver— 
rege den freifinnigen Rednern im 

eichstage bequeme Gelegenheit zu Agitationsreden 
zu bieten. 

Es wird aljo bei den Iandesgejeglichen Be- 
ftimmungen hierüber jein Bewenden behalten. 
Notwendig iſt eine einheitlihe Regelung auch 
nicht. Das lehrt die verdienjtvolle Arbeit des 
Bürgermeiſters Maſcher. Mit Ausnahme des 
Gropherzogtums Medlenburg » Strelig und des 
Fürftentums Lippe - Detmold beftehen in allen 
Staaten ausreichliche geſetzliche Vorſchriften über 
das Vereins und Verſammlungsrecht. Die freie 
und Hanſaſtadt Lübed, die zur Zeit der Drud- 
legung der Majcher’jchen Arbeit noch ohne 
Vereinsgeſetz war, hat inzwijchen auch ein joldes 
erlafjen. 

Maſcher giebt in der eriten Abteilung jeines 
Buches die reichsgejeglichen Vorichriften und in 
der zweiten Abteilung die landesgejeglihen Vor— 
Schriften über das Vereind- und VBerjammlungs- 
recht. In Anmerkungen und Erläuterungen zu 
den einzelnen Paragraphen wird der Sinn 
zweifelhafter und unflarer Beftimmungen, joweit 


Neue Schriften. 


wir haben jehen können, im allgemeinen richtig 
far gejtellt und erörtert, Bräjudiz-Entjcheidungen 
der höheren Gerichte und Berwaltungsbehörden 
mitgeteilt und die für die Auslegung in Betradht 
fommenden Ausführungen von Staatsrecdhts- und 
Strafredhtslehrern angezogen. Am ausführlichiten 
find die Vereins und Verſammlungsgeſetze des 
Königreichs Preußen und des Königreichs Sachſen 
behandelt. Manche dort gegebenen Mitteilungen 
find aber auch von Wert für die Auslegung der 
bezüglidien Gejeße der Fleineren Staaten, weil 
dieje zum Teil den preußiichen Beitimmungen 
nachgebildet find. 

Die Anmerkung auf Seite 13 ijt, anjcheinend 
durch Verichiebung der meiften Säße beim Drud, 
unveritändlich geworden. ö 

L. v. 0, 


— Gtaatlih-volfswirtihaftlihe Vor— 
ihule von Paul Karuth, Dberlehrer am 
Gymnaſium Albertinum zu Freiberg i. ©. 

I. Zeil. Das Recht und der Staat. Mit der 
Verfaſſung des deutichen Reichs, dem Wahlgejek 
zum deutſchen Reichstage, jowie mehreren Thron— 
reden, Botichaften und Erlaſſen der Sailer 
Wilhelm I., Friedrich III. Wilhelm II. (Berlag 
Graz u. Gerlach Joh. Stuttuer). Freiberg i. ©.) 

In fortichrittlichen Lehrerverſammlungen ift als 
obligatorijcher neuer Unterrichtsgegenftand für die 
Vollsſchule, mindeitens aber für die Fortbildungs— 
ſchule, schon häufig Geſetzeskunde und Bolfs. 
wirtſchaftskunde gefordert. 
wirtichaftlihe WBorjchule" von Baul Karuth ijt 
nad; einer beigelegten Empfehlung der Berlags- 
buchhandlung gedadıt als Ergänzungsbud für den 


geſchichtlichen Unterricht an höheren Lehranftalten, | 
ganz bejonders aud) an Lehrerjeminarien, joll aljo | 


wohl namentlich als eine Art Leitfaden für den 
zufünftigen Unterricht in Geſetzes- und Volks— 
wirtichaftsfunde in den Volfsjchulen dienen. Wie 
diejer Zufunftsunterricht ausfallen würde, davon 
fann man fich ein genaues Bild machen, wenn 
man diejen Yeitfaden durchblättert. Auf 11 Seiten 
wird das Wejen des Rechts, das üffentliche wie 
das Privat-Kecht, die Gerichtsverfafjung und das 
deutiche Strafrecht gelehrt. Weitere 23 Seiten 
find dann dem „Staate“ gewidmet. Was an der 
„Vorſchule“ gut, das ift nicht neu, und was daran 
nen, das iſt nicht gut; im diefen Worten fann 
man die Kritik derjelben zujammenfallen. Gie 
beſteht mwejentlih aus Auszügen der gangbarften 
Lehrbücher des Nechts, Auszüge, die teils unrichtig, 
teils in ihrer Kürze jchief und mißverjtändlich 
find. Wie die Jurijten der Pädagogik, jo jollten 
die Pädagogen dilettantenhaften Verjuchen auf dem 
Gebiete der Rechtswiſſenſchaft fernbleiben. 
L. v. 0. 

— In dem befannten Germanifus-Berlag in 
sranffurt a. M. iſt das erfte Heft einer jechiten 
Germanikus +» Brojhüre: „Die Banft- und 
Bankiersdiebſtähle und die Auflöjung 
von Eigentum und Bejig in Shein- 
bejig“ erſchienen. Preis 1 M. 50 Pf. 

Wie ihre Vorgänger, die Frankfurter Juden; 
Neuer Börjenjchtwindel; der neuefte Raub; die 
Rothſchildaruppe; der zweite Barijer Krach, weiſt 


Die „Staatlich « volfs- 


pflege. 


— ®olitif. 1347 
fie nad), dal Börſe und Banken ihren volls- 
wirtſchaftlich berechtigten und notwendigen Funf- 
tionen zum großen Teil nicht mehr entjprecen, 
jondern Anftalten geworden find zur Ausbeutung 
des nationalen Wohlitandes zur Wereicherung 
einiger weniger. Verfaſſer ift mit den Vörfen, 
und Banfverhältnifien jehr gut vertraut, jollte 
darum aber nicht die gleiche Vertrautheit 3. B. 
mit börjentechniihen Ausdrüden, wie „Baluta“, 
„Agiotage“, „Schwänze“ u. j. w. bei allen jeinen 
Leſern vorausjegen, vorzüglid da er es mit 
| jeiner Flugſchrift auf Mafenverbreitung abgejehen 
' Bat. Häufig begnügt Berfaffer fid mit zu 
| aphoriftiich Hingemworfenen Bemerkungen, wo zur 
' Klarlegung und zum Beweis der von ihm auf 
' geftellten Behauptungen ein tieferes Eingehen in 
die Sache erforderlicd; gewejen wäre. Beijpielsweije 
legt Berfafier bei Belämpfung der Wrbitrage in 
jehr anichaulicher Weile das Weſen der Wedhjiel- 
arbitrage dar. Gerade dieje ift aber, wie er 
‚ jelbit zugiebt, in gewillem Umfang auch im 
Intereſſe des reellen Handels geboten. Dagegen 
werden auf die mwejentlih den Börjenjoppern 
' dienende Effeftenarbitrage nur einige ftarte Schlag: 
lichter geworfen, während eine eingehende Be 
ſprechung derjelben und ihrer ſchädlichen Wirkungen 
erade im Rahmen jeiner Arbeit gelegen hätte. 
Recht intereflant find unter anderem Die Be: 
merfungen des Verfaſſers über die Beziehungen 
der Preſſe zur Börje und über das Abhängigfeits- 
verhältnis der meiſten Blätter von der Börje und 
‚ den Banken. Für das nächſte Heft werden Ent- 
hüllungen über die Beziehungen der als offiziös 
‚ geltenden Preſſe zur Börje in BRETT i 
/ 





— Bon den im Verlage von Dunder und 
Humblot in Leipzig erjchienenen Schriften bes 
deutijhen Bereins für Armenpflege 
und Wohlthätigfeit liegen ung drei Hefte 
zur Beipredyung vor, nämlich: 

Heft 3. „Die Entwidelung der deut- 
ſchen WUrbeiterfolonien“ von Dr. ©. 
| Berthold. Preis 3 M. 60 Pf. - 

Heft 5. Stenographiiher Bericht über 
die Berhbandlungen der adbten Jahres- 
verjammlung des deutſchen Bereins für 
Armenpflege und Wohlthätigleit am 27. 
und 28. September 1887 in Magdeburg, 
betreffend die Organijation der offenen 
Krankenpflege, Hilfe in außerordent- 
lihen Notftänden, die Beihäftigung der 
Arbeitslojen und den Nahmweis von 
Arbeit als Mittel vorbeugender Armen- 





pflege. Preis 2 M. 80 Pi. 
Heft 6. Fürjorge für bedürftige Ge. 
ı nejende. Die hauswirtſchafthiche Aus— 


bildung der Mädchen aus den ärmeren 
Volftstlajjen Trunktjuht und Armen- 

Die Wohnungsfrage vom 

Standpunfteder Urmenpflege. 

Das erite Heft bietet eine ungemein fleißige 
Arbeit des Gtatiftifers Dr. Berthold - Berlin. 
Der Beſitz dieſes Heftes wird für alle an der 
Sadje der Arbeiterfolonien von Amts oder Vereins 
twegen beteiligten Perſonen unentbehrlich jein, 


1348 


Die Arbeit, die es uns bringt, iſt eine Fortjeßung 
bereits früher erichienener desjelben Berfaliers. 
Dieſelben bezweden ſämtlich die Entwidelung und 
den Einfluß der Arbeiterfolonien auf die Wander- 
bevölferung Kar zu ftellen und an der Hand der 
Statiftif die Leiter und Freunde derjelben auf 
Uebeljtände aufmerkſam zu machen und Fingerzeige 
für die Leitung zu geben. 

Die erite im Jahre 1884 erjchienene Schrift 
des Dr. Berthold: „Beitrag zur Gtatiftif der 
Arbeiterfolonien“, bejchäftigte jich mit den Ber- 
hältniffen der damals bejtehenden 8 Kolonien und 
umfaßte die Zeit von der Eröffnung bis zum 
1. Juli 1884. 

Die zweite 1885 erjchienene behandelte 12 Ko— 
(onien und den Zeitraum vom 1. Juni 1884 bis 
1. April 1885. 

Die jebt vorliegende behandelt 15 Kolonien 
und umfaßt die Zeit vom 1. April 1885 bis 
1. April 1886. Die Bearbeitung des wejentlic) 
von den Leitern und VBorftänden der Kolonien 
gelieferten Materials hat in allen drei Fällen 
nac) gleichmäßigen Gejichtspunften ftattgefunden, 
abgejehen von den in den beiden legten Arbeiten 
hinzugetretenen Erweiterungen. Die lebte Arbeit 
giebt zunächit einen Weberblid über die Gejamt- 
entwidelung der dentichen Arbeiterfolonien, dann 
in einem Anhang hierzu die in Deutjchland vor- 
handenen Berpflegungsitationen und Herbergen 
zur Heimat, endlich folgen allgemeine Tabellen 
und Spezialtabellen über die einzelnen 15 Kolonien, 

Die allgemeinen Tabellen geben eine allgemeine 
Ueberficht über alle jeit dem Beſtehen der 15 
Arbeiterfolonien bis zum 1. April 1856 auf: 
genommenen und entlajjenen Kolv- 
niften; über den Beſtand am Schluß 
jedes Monats in den Wrbeiterfolonien jeit 
ihrer —— bis ult. 1886; über alle ſeit 
Eröffnung der Kolonien bis 1. April 1886 ent- 
lajienen foloniften nah Aufenthaltsort 
und Dauer des Mufenthalts; über 
ale Neuaufnuahmen und Entlajjungen 
vom Beitand am 1. April 1885 in den 15 
Kolonien nah Kalendermonaten vom 
1. April 1885 bis 1. April 1886; über alle 
Entlajjenen jeit Eröffnung der Kolonien 
bis 1. April 1886 nadı dem Grund der 
Entlajjung, dem Aufenthaltsort und 
der Dauerdes Aufenthalts. 

In gleicher ausführlicher Weiſe behandeln die 
Spezialtabellen, für jede der 15 Kolonien getrennt, 
die bejonderen Verhältniſſe der einzelnen Kolonien. 

Die Tabellen find zuſammengeſtellt auf Grund 
von Zählkarten, die in den einzelnen Kolonien 
geführt jind. Die weitere Fortführung und Be: 
arbeitung derjelben ift zur dauernden Kontrole 
darüber, ob die Kolonien auf dem richtigen Wege 
ſich befinden und welde Erfolge jie erzielen, 
dringend erwünjcht. 

Die Arbeiterfolonien in Verbindung mit einem 
zwedmäßig verteilten Web von VBerpflegungs- 
ftationen haben ſich als eine höchſt jegensreiche 
Einrichtung erwiejfen und als wohlgeeignet, die 
Wanderbettelei mit Erfolg zu befämpfen; freilich 
läßt ſich ein direfter Einfluß derjelben auf eine 


Neue Schriften. — Bolitif. 


Abnahme der Wanderbettelei nah den Er 
nittelungen von Berthold ſtatiſtiſch noch nicht 
mit Sicherheit nachweiien. Man mu ſich viel- 
mehr zum Beweis für dieſe Annahme wejentlich 
auf die dieſe Thatſache Fonjtatierenden Berichte 
aus den einzelnen Gegenden berufen. Hierbei ift 
es nicht möglich, feitzuftellen, ob und inwieweit 
nicht aud) andere Urjachen auf die wahrgenonmmtene 
erfreuliche Abminderung eingewirft haben. 

In ihrem Streben, die Wanderbettelei wirkſam 
zu befämpfen und die Koloniften wieder zu 
tüchtigen Gliedern der menſchlichen Geſellſchaft zu 
erziehen, haben dle Arbeiterkfolonien, das beweiſen 
auch die Berthold'ſchen Tabellen und Wach 
weijungen, mit großen Gefahren und Hinderniſſen 
zu fümpfen. Die hohen Prozentjäte der wieder: 
holt aufgenommenen Koloniſten lajlen die dringende 
Befürchtung auffommen, daß die Gemwohnbeits- 
Bagabunden ſich die Arbeiterfolonien als einen 
angenehmen Aufenthalt ausjuchen, wenn die Yeit 
des Winters bheranrüdt und das Wandern auf- 
hört, angenehm zu jein. Die Unterbringung der 
Koloniften in Arbeit Hat ſich bisher als jehr 
ſchwierig erwieſen und, wenn dies gelungen ift, 
jo ijt dod) nur in geringem Maße eine Kontrole 
dariiber geübt, wie lange die Betreffenden die 
ihnen verjchaffte Arbeit behalten haben. Die 
Leiter der Kolonien werden noch große Weisheit 
und praftiiches Geſchick entfalten müſſen, damit 
die ihnen anvertrauten Anjtalten ihr großes Ziel 
erreichen, den heimatslojen Wanderern nad) 
manden Fährlichleiten und Irrfahrten, nad Not 
und Trübjal durch eigene Thätigkeit einem 
geordneten Leben wiederzugeben. 

Die beiden anderen, uns zur Bejprechung über- 
wiejenen Schriften des deutſchen PBereins für 
Armenpflege und Wohlthätigkeit behandeln wicht 
‚ ein jpezielles Thema, wie das bejprodjene dritte 
Heft, jondern geben ein Gejamtbild über die 
Thätigfeit und die Arbeiten des Vereins auf 
jeinen SJahresverjanmlungen. Das fünfte Heit 
‚ bietet einen jtenographiichen Bericht über die 
Verhandlungen des Vereins auf jeiner Zuſammen— 
funft in Magdeburg im vorigen Jahre mit den 
mündlichen Ausführungen der Referenten über 
die einzelnen am Kopfe der Beſprechung auf 
geführten wichtigen VBerhandlungsgegenftände. Das 
jechite Heft enthält die jchriftlichen Ausarbeitungen, 
welche die beitellten Referenten über die ihnen 
zur Bearbeitung überwiejenen, für die Armen- 
pflege, wie jchon der Titel zeigt, bochwichtigen 
Fragen der diesjährigen Nahresverjammlung in 
Karlsrufe zur Beratung und Beichlußfaflung 
unterbreitet haben. 

Der Verein für Armenpflege und Wohlthätigfeit 
jteht jtatutenmäßig nicht auf konfeſſionellem, ja 
nicht einmal anf chriftlichem, jondern nur auf 
einem humanen Standpunkt. Die Humanität, 
die derjelbe aber pflegt, kann nur auf chriftlichem 
Boden erwachjen, und iſt eine Löftliche Frucht des 
Ehrijtentums. Nah dem, dem ſechſten Seit 
beigefügten Meitglieder-VBerzeichnis vereinigt der 
Verein Männer der politiichen und Firchlichen 
‚ Rechten mit Männern der politijchen und fird) 
lichen Linfen. Es ift ein erfreuliches Zeichen 





Neue Schriften. — Kirche. 


gejunden Fortichrittes in unjerer politiichen Ent- 
widelung, daß jo viele Männer der verjchtedenften 
politiihen und kirchlichen Richtungen sich auf 
einem Boden zujammengefunden haben, auf dem 
fie, ohne ihren Grundjäßen etivas zu vergeben, 
gemeinfam an der jchönen Aufgabe, das Wohl 
der Armen unjeres deutichen Volkes zu heben, 
arbeiten fünnen. Gerade auf Kirchlicher, ins 
bejondere auf lutheriicher Seite, hegt man oft 
Bedenken, ſich an rein humanitären Vereinen zu 
beteiligen, aus der Bejorgnis, fich etwas zu ver- 
geben und den eigenen Standpunkt nicht rein und 
unverfälicht aufrecht erhalten zu können. So 
richtig dies auch Häufig jein mag, jo führt es 
doc) in vielen Fällen dazu, daß das Licht, das 
leuchten joll, unter den Scheffel geftellt wird, daß 
Vereine, die an ſich durchaus nicht im unkicchlichen 
Sinne geleitet zu werden brauchten, in unfirchliches 
Fahrwafler geraten, weil die firdjlich Gefinnten, 
die das Salz jein jollten, fehlen. Die großen Ziele, 
die der deutiche Verein für Armenpflege und 
Wohlthätigfeit fich geſteckt hat, laſſen ſich nur 
erreichen, wenn er in allen Teilen Deutſchlands 
tüchtige Mitarbeiter findet. Wir wünſchen ihm 
ſolche, namentlich auch aus firchlich gerichteten 
Kreiſen. Es müſſen aber wirkliche Mitarbeiter 
ſein. Denn die bisherigen Veröffentlichungen 
des Vereins beweiſen, daß in ihm ſehr fleißig 
und ſehr gründlich gearbeitet wird. Ohne uns 
im einzelnen auf eine Kritik der gemachten Vor— 
ſchläge einlafjen zu wollen, verweilen wir hierfür 
unter anderem nur auf den Vortrag des Bezirks: 
präfidenten 3. D. Freiherrn von Neigenftein über 
„die Bejchäftigung der Mrbeitslojen und den 
Nachweis von Arbeit als Mittel vorbeugender 
Armenpflege” ; ferner auf die Referate des Ober— 
bürgermeilterse Ohli in Darmftadt über „die 
hauswirtichaftlihe Ausbildung der Mädchen aus 
ben ärmeren Volksklaſſen“ und des Neid)stags- 
abgeordneten Frig Kalle und des Rechtsanwalts 
Dr. 8. Fleſch über „die Wohnungsnot vom 
Standpunkte der Armenpflege”. 
L. v. 0. 


2. Kirche. 


— Bredigten von E. Nind, weil. Paſtor 
an St. Anjchar in Hamburg. erlag der nieder- 
jächliichen Gejellichaft in Hamburg. (3 Mk. geb. 
4 Me. und 4,50 Mi.) 

Bu den gejegnetiten Berjönlichkeiten Norddeutjc)- 
lands in den leßten Jahrzehnten hat gewiß; der 
jelige Nind gehört. Um jeine Kanzel jammelte 
ſich alljonntags eine zahlreihe Gemeine, das 
Lebenswort zu hören. Aber jeine Kanzel jtand 
nicht bloß in St. Anjchar. Sie ftand auch im 
Nachbar, und wie groß war da jeine Gemeine. 
Und im Kinderfreund hatte er noch eine bejondere 
Kanzel für die Meine Welt. Es iſt natürlich, 
daß man den Wunjch hegt, aus dem Munde eines 
jolden Mannes noch ein Zeugnis von jenjeits des 
Grabes zu hören. Man hat Fleiß gethan, die 
Predigten, von denen man allerdings feine Grund- 
ihrift hatte, zur Herausgabe herzurichten. Ein 
kurzer Lebensabriß ijt vorangeftellt. Die Predigten 
jind über die Hamburgiichen Sonderperifopen ge 


Ulg. font. Monatsfchrift 1888. XII. 


1349 


halten, Evangelien und Epifteln; man hat dieſen 
den Vorzug gegeben, weil dieje Terte jonjt nicht 
zur Verwendung gelangen. Indeſſen ſchließen jich 
diejelben doc auch dem Kirchenjahr an, tragen 


alſo 3. B. in diefen Wochen endegejchichtlichen 








| 








Charakter, bringen in der Noventszeit Advents- 
Hänge; bie und da finden fich auch die Firdhlich 
aufgenommenen Leſeſtücke. Die Form it eine freie. 
Nind band fich nicht jonderlich an die Schulregeln 
der Homiletif. Häufig giebt er nach Hamburger 
Sitte eine Einleitung vor dem” Scriftwort, aber 
nicht immer. Das eine Mal ſetzt er einen Haupt- 
gedanken aus dem Tert in Geftalt eines Themas 
heraus, das andere Mal verfährt er mehr nach 
Weije einer Homilie oder einer ganz freien Ans 
ſprache. In jeiner Kugend ift Nind ein Erwedungs: 
prediger gewejen. Erwedungspredigten im eigent- 
lichen Sinne jind dieſe nicht mehr, auch nicht 
Lehrpredigten, durchgehend aber ift die Betonung, 
das Chriſtentum müjje Leben, neues Leben jein, 
und zwar Leben, welches aus dem Herzen quillt 
und welches fich in allem Wandel wirkſam erzeigt. 
Wie die Form frei ift, jo bewegt ſich der Prediger 
auch bezüglich der Gedankenwelt, aus welcher er 


ſeine Predigt füllt, in völliger Freiheit, immer in 


dem Streben, der gläubigen Gemeinde, die er vor 
fich jieht, das GSotteswort zum Verftändnis, ins 
Herz, zur Anwendung zu bringen. Er gebraucht 
dabei auch wohl einmal eins von den Fremd— 
worten, die zur Sprache des modern gebildeten 
Menſchen gehören, aber er thut es mit Maß. Er 


' verjchmäht jenen Realismus, welcher der Predigt 


heute jo gefährlich ift, indem er diejelbe, wohl in 
der Meinung, fie volfstümlich, anfaßlich zu machen, 
gemein zu machen droht. So hoch man die Gabe 
der voltstümlichen, anfahlichen Nede zu ichäten 
weiß, wird es doch geboten bleiben, daß die Predigt 
jih einen ideellen Charakter bewahre, daß fie die 
richtige Syntheſe von Fdealismus und Realismus 


‚ beritelle, jowohl in ihrer Weiſe zu benfen, als 


auch in der Weije, wie fie ihre Gedanken ausdrüdt. 
Das darf man aber von der Nind’jchen Predigt 
nicht erwarten, daß fie neue Bahnen einjchlägt. 
Es ift mit ihnen wie mit jo vielen gedrudten 
Predigten der Gegenwart: fie werden gedrudt um 


der Perjönlichfeit willen, die fie gehalten, um der 


Gemeine willen, die fie gehört hat. Und darin 
liegt ja gewiß eine Berechtigung in dem Wunſch, 
das gehörte Wort einer en Berjönlichkeit 
nach deren Tode noch weiter zu hören. Da nun, 
wie wir jahen, Ninds Name weithin einen guten 
Klang und jeine Perjönlichkeit einen großen Wir 
fungsfreis hatte, wird es jeinen Predigten gewiß 
an dankbaren Leſern nicht fehlen, wiederum aber 
auch den Lejern nicht an Erbauung aus den 
Predigten. D. 

— Miflionsftunden. Bon Dr. Warned 
und Dr. Grundemann. Zweiter Band: Die 
Mijjion in Bildern aus ihrer Gejidhichte. 
Zweite Abteilung: Njien und Amerika. 
Von Dr. Grundemann. Gütersloh. €. Ber 
telömann. 1888 XIV und 299 ©. 4,20 M. 
Geb. 5,20 M. 

In Warneds Arbeit ijt jein Freund Grundemann 
eingetreten, um das Werk fortzuführen, was jener 


86 


1350 


aus verjchiedenen Gründen bisher nicht fortführen | 


konnte. Wenn dieſe Mijjtonsftunden in mancher 
Beziehung von den früheren abweichen, jo liegt 
darin jo wenig eine Störung des ganzen Werts, 
als es vielmehr eine Förderung it, „denn es find 
mancherlei Gaben, aber es iſt ein Geiſt.“ Dr. 
Grundemanns Weberzeugung vom Weſen der 
„Miffionsitunde.” ift die, da fie der vor der 
mijlionierenden Gemeinde erjtattete Bericht über 
das Wert der Miſſion jei. Damit wird das 
Richtige getroffen jein, denn die Mifjionsgemeinde 
in Stadt und Land liejt verhältnismäßig wenig 
Miſſionsblätter und Berichte und die fie lejen, 
find doc; meiſt nicht imftande, fich ein Geſamtbild 
von dem Stande der Sache auf den einzelnen 
Miſſionsfeldern zu bilden. Daß er in jeiner Ge 
meinde die „Stunde“ bat fallen lajien nnd an 
deren Stelle monatliche Berichte im Anjchluß an 
die Predigt des Hauptgottesdienftes giebt, darüber 
wollen wir mit ihm nicht rechten, jo wenig er uns 
tadeln wird, wenn wir die „Stunde“ beibehalten. 
In diejer Beziehung wird jeder Prediger thun, 
was ſich für jeine Gemeinde am beiten jchidt. 
Jedenfalls können viele an diejen hier vorliegenden 
Mijlionsitunden lernen, wie man die Sache an- 
fangen muß, und wenn man die Sadhe anfaht, 
wie Dr. Grundemann, jo wird fein Menſch über 
Langeweile Hagen. Wir haben 3. B. die Kunden 
über die Betuffommijjion in Sumatra, den Beſuch 
in Pangkoh auf Borneo, Einft/und Jet in der 
Minaheßa, ein Sonntag unter den NRothänten 
gelejen und obwohl wir wenig neues fanden, jo 
jind wir doc dem Verf. mit dem größten Ver: 
gnügen gefolgt. Es iſt fein geringer Vorzug des 
Budes, daß der Erzähler jeinen Standpuntt lokal 
und individuell zu wählen verjteht, worauf wir 
bejonders hinweiſen möchten, denn es entiteht 
dadurd) eine lebendige Verknüpfung heimijcher und 
fremdländiſcher Zuftände. Daß nur der es ihm 
nachthun kann, der jelbjt fleißig Mijfionsblätter 
liejt, liegt auf der Hand. Statt jeder weiteren 
Anpreijung jagen wir: totte, lege. —T. 


— Beiträge zur Erklärung des Buches 
Daniel. Heft I. Dan. 2-6. Bon Lie. J. 
Meinhold, Dozent a. d. Univ. Greifswald. 
Leipzig. Fraufe 70 S. Brojd. 1,60 M. 

Ein zu den bekannten alten hinzugefügter neuer 
Verſuch, die Abfafjungszeit des Buches Daniel in 
eine andere Periode zu verlegen, als die jüdiſche 
Synagoge und die chriftliche Kirche bis in das 
vorige Jahrhundert allgemein thaten. Während 
der Berf. mit anderen Kritikern Ep. 1, 8—12 


der maffabäijchen Zeit zuweiſt und für Ep. 7 die | 


tage noch offen läßt, findet er, dah Ep. 2—6 
etwa in die mafedonische Zeit gehört, Feinenfalls 
ipäter als 300-250. Der Berfafler von Ep. 
1, 8—12 hatte Ep. 2--6 jchon vor ſich. Die 
„Zendenz“ des Verfaflers von Ep. 2, 4b—6 ift 
folgende: „Die Kämpfe, in welde die Anhänger 
der ehovareligion mit der Heidenwelt gebradıt 
werden, jollen dazu dienen, auch die Heiden zu 
Verehrern des Gottes in Israel zu machen. Die 
große Pflicht des Gottesvoltes iſt, durch treues 
Anhangen an jeinen Gott auch die Heiden zu ge 


Neue Schriften. — Kirche. 


| winnen, im übrigen der Heidenwelt mit Liebe 
ı und Wohlwollen entgegen zu kommen.“ Dies 
glaubte der Verf. jamt der obenerwähnten Zeit- 
beftimmung nachgewiefen zu haben. Uns find 
| derartige Verſuche der neueren und neueſten Kritif 
‚ ganz recht, jie beweijen uns immer aufs nene, 
| wie zuverläjjig die „Rejultate“ diejer Art Schrift- 
forſchung eigentlich find und jo fünnen wir es 
‚ ruhig abwarten, bis die Gelehrten es zu einiger 
‘ Einigkeit unter ſich gebracht haben werden. 


—r. 
‚  — Die innere Mijjion in Deutihland. 
‚ Erftes Buch. Handbuh der im Dienjte der 
| Wohlthätigkeit ftehenden Anftalten in Deutichland. 
Zum Nachſchlagen zujammengeftellt von Ewald 
Schneider, Baitor in Braunichweig. Bei €. 
A. Schwetzke & Sohn. (3,60 ME.) 
Der Verfafler beruft ſich zur Rechtfertigung 
' jeines Buches auf einen wiürttembergiichen Re— 
gierungserlaß, welcher der Wahrnehmung Ausdrud 
giebt, daß die Lokalbehörden oder die,Berater der 
Bedürftigen oft von dem Beitehen und den Zwecken 
der wohlthätigen Anftalten oder von den Boraus- 
jeßungen der Erlangung der Hülfe nicht unter- 
richtet jeien. Dieje Wahrnehmung kann man aud) 
anderswo machen. Inſofern ift die Herausgabe 
eines Handbuches gewiß jehr erwünjcht. Soweit 
ich es überjehe, find auc die Gruppen ziemlich 
vollitändig. Vielleicht hätten die Paramenten- 
vereine noch erwähnt werden jollen. Anders iit 
es mit der Nusfüllung derjelben. Ich bejcheide 
mich auf das Land, dem ich angehöre, auf Medlen- 
burg. Da habe ich leider jo. viele Ausfälle und 
| Ungenauigfeiten zu verzeichnen, daß ih mur 
| wünſchen kann, die andern landesfirchlichen Gebiete 
möchten jorglicher behandelt fein. Der Berfafler 
‚ bittet jelbjt um Berichtigungen. So gebe ich, was 
| mir aufgejtoßen ift, indem ich noch bemerte, daß 
ich mich freuen würde, wenn mir aud) das zweite 
| Buch zugeftellt würde. Da id den praftijchen 
Wert des Unternehmens voll anerfenne, trage ich 
' gern dazır bei, daß eine zweite Auflage möglichit 
| fehlerfrei und vollftändig geraten fünne. Das 
Buch will ja doch eine Art von Statiftif vom 
Gebiet der innern Miflion jein. Die Statiſtik 
aber muß voran mit jichern Angaben arbeiten. 
Als unrichtig muß ich bezeidinen, daß Gehlsdorf 
ein Seminar habe, auf welchem Schulfehrer völlig 
ausgebildet werden. P. 87. Als falih die Be- 
zeichnung, Sülze bei Yubwigsluft; die Kinderheil- 
| anjtalt Bethesda ſteht allerdings in Verbindung 





nit dem Stift Bethlehem in Ludwigsluſt, liegt 
aber doc eine ganze Strede Weges von da ent: 
fernt. Auch die Bedingungen find nicht genau 
angegeben; das Koftgeld beträgt für 4 Wochen 
45 ME, für Bemittelte 60 ME. B. 173. Inter 
den Kinderkrankenhäuſern vermiffe ich das Anna- 
Hoipital in Schwerin. P. 160, P. 185 fehlt die 
Blindenanftalt in Neukloſter, B. 203 die Idioten⸗ 
Anftalt bei Schwerin, P. 233 die Fachbibliothek 
des Vereins für innere Miffion in Roſtock unter 
Leitung des Profefiors Hashagen. Die Diakonifien- 
Anſtalt Stift Bethlehem in Ludwigsluſt ift zwar 
P. 11 mit aufgeführt, aber ohne die Zahl der 
Schweſtern; leßtere beträgt jet 127 Diakonifien 


Neue Schriften. — Kirche. 


und 46 Probeichweitern. Die Vorbildungsanitalt, 
die Marienjchule, ift ganz ausgelajien; als Kranfen- 
haus ift nur das Sohanniter-Hojpital aufgezählt, 
während doc das Stift ein eigenes Krankenhaus 
bejigt, welches in Summa über 100 Betten hat. 
B. 24 und P. 159. 8.53 fehlt Stift Emmahus, 
P. 137 das Auguftenftift in Schwerin, Man fieht 
aus diejen Anführungen, dab Medlenburg doch 
auc) einiges auf dem Gebiet der Liebesthätigleit 
bejigt und leijtet. Der Verfaſſer wird für eine 
neue Auflage jedenfalls gut thun, fi mit den 
leitenden Organen für die einzelnen Landes- und 
Provinzialficchen in Verbindung zu jegen, damit 
jein Buch den Charakter der Vollftändigkeit und 
Zuverläjjigfeit gewinne, den er ihm gewiß am 
lebhafteiten wünjcht, der aber grade auf dieſem 
Gebiete nicht ganz leicht zu erreichen jteht. Er 
wolle obige Bemerkungen als einen Beitrag zu 
jeiner mühjamen, aber jehr danfenswerten Arbeit 
anjehen. 2 


— Ueber 3. G. Hamanns Stellung 
zu Neligion und Chriftentum. Vor— 
trag am 21. Juni dem hundertjäh— 
rigen Todestage Hamannspvon R. F. 
Grau. Gütersloh C. Bertelsmann. 
1888. 24 © 40 Pig. 


Es iſt nicht nur ein Genuß, auf diefen wenigen 
Blättern die geiftige Gejtalt des „Wurzelmanns“ 
Hamann am fich vorübergehn zu laflen, wir em- 
pfangen auc eine lebhafte Anregung zu den 
Schriften diejes einzigen Mannes zurüdzufehren, 
der wie fein anderer in den „Stylus Curiae“ des 
Himmelreich8 einzuführen verfteht und der doch 
nichts anderes jein wollte, als „eine Lilie im Thal, 
den Geruchdes Erkenntniſſes verborgen auszuduften,“ 
ganz in dem Gedanfen lebend, wie Fr. Roth jagt: 
Die Wahrheit macht uns frei, nicht ihre Nahahmung. 


— Das Wejen der perjönliden Be 
fehrung zu EChrifto und ihbreNotwen- 
digfeit. Bortrag aufderfirdliden 


are in Greifswald gehalten 
von Th. Ehmalenbad. Gütersloh. 
GE. Bertelsmann. 1888. 158.30 Pf. In 


Partien billiger. 

„Jeſus der Gefreuzigte, dies ift der einzige 
Gegenitand, für den uns der Trieb der Neugierde 
von Gott eingepflanzt ift; dies ift der einzige 
Gegenjtand, der deimfelben genugthun kann, der 
unjere Neugierde in Weisheit verwandelt. Dies 
iſt ein Durft, den wir ungeachtet unjerer Erbjünde 
fühlen, den alle irdiijhen Brunnen nur vermehren 
und den nur die lautere, himmlische Quelle ſtillt. 
Je mehr man davon trinkt, deſto reicher wird der 
Zufluß und es ift unmöglich, davon zu viel zu 
trinken.“ Diejes Wort Hamanns hätte der Berf. 
jeinem Vortrage einfügen können, denn es ftimmt 
jachlich genau mit jeiner Definitia vom Wejen der 
Belehrung als der perjönlichen, bewußten Ergreifung 
und Gewinnung des einigen wirklichen, von Gott 
egebenen Ehrijtus. Möchte der Vortrag reichen 

rag für das Leben vieler Lejer bringen! 

—T, 


1351 


— EtilleStunden.Aphori 
Rihard Rothe's hbandidr 
Nachlaß. Zweite, durd ei „neue 
Folge“ vermehrte Auflage Bremen. 
Heinjius. 1888 372 und 120 ©. 

Es bedarf feiner bejonderen Empfehlung der 
zweiten Auflage diejes Buches. Denen, welche wie 
Rothe einmal von fich jagt, in der Arbeit wohl 
matt und müde, aber nicht ftumpf werden und die 
etwas bejferes kennen, als oberflächliche Unterhaltung 
in müden Stunden, werden dieſe von dem tiefen 
Geiſte des vollendeten Theologen zeugenden Apho— 
rismen neuen Antrieb zu geiftigem Schaffen bieten. 
Wir können bier nicht einmal die Kategorien 
nennen, unter die der Serausgeber die furzen, 
—— Sätze geordnet hat. Erwähnt ſei nur, 
daß die neu beigefügten Briefe, Tagebuchblätter 
und Beiträge zur Charakteriſtik Rothes eine weitere 
wertvolle Gabe find. WVielfah bieten die Apho- 
rismen anregenden Stoff zu Beiprehungen, daß 
wir aber manchen Ausjprüchen über das Wejen 
der heil. Schrift, der Kirche, über das Verhältnis 
von Staat und Kirche u. j. mw. widerſprechen 
müfjen, wird manchem unjerer Leſer jelbitverjtändlic 
ericheinen. Das beeinträchtigt indeſſen unjere Em- 
pfehlung des Buches durchaus nicht. —T, 


— Heinrih W. J. Thierſch's Briefe an 
einen evang. Geijtlihen. Zum Bejten jeiner Amts- 
brüder herausgegeben von Friedrid Dehminger, 
er (Augsburg. Verlag von Richard Preyß.) 

.1.— 


Briefe von Profeſſor Dr. Thierjh an einen 
Geiſtlichen der Züricher Landeskirche und zumal 
Privatbriefe im engiten Sinne des Wortes — das 
iſt ein wichtiger Beitrag zur Charakteriſtik diejes 
vielbefannten und vielverfannten Gelehrten. Hier 
dürfen wir tiefe Blide in jein Herz thun, bier 
ſpricht er fich unter vier Augen über mande Frage 
aus, die ſonſt in jeinem regen vieljeitigen Umgang 
wenig berührt wurde. Achtunggebietend tritt einem 
hier Thierjch's reiche Erfahrung und Weisheit in 
der Seeljorge, jowie jeine innige Liebe zu Gottes 
Volk entgegen. Ein offener Sinn für wahre 
Wiflenjchaft, rege Teilnahme an allem, was in dem 
Gebiete der Theologie vor ſich ging, ein weites 
dert, das find Züge, welche bligähnlich aus der 
vorliegenden Briefiammlung hervorleucten. Be— 
jonders mwohlthuend iſt es, darin verfolgen zu 
fönnen, wie Thierſch, wiewohl, oder vielleicht beſſer 
gejagt, weil ein treuer Belenner des „apoftolijchen 
Wertes” fich jo ganz eins wußte und fühlte mit 
der allgemeinen chriſtlichen Kirche. Da iſt feine 


smenaus 
iftlidem 
ne 


ſektiereriſche Engherzigleit, kein Heinliches Berur- 


teilen anders Denfender, aber nad) dem Maße ihres 
Lichtes treuer Chriſten. Nur gegen eine Kategorie 
macht Thierijh mit Recht und entichieden Front, 
das ijt die der Leugner der evangeliihen Wahr- 
heit. Mancher Kummer wurde dur dieje Briefe 
geſtillt, mande Heimjuchung gemildert und ein 
Diener des Herrn ermutigt, auf der Bahn des 
lebendigen Zeugniſſes für den ewigen Sohn Gottes, 
jowie in der mühevollen Arbeit der Seelſorge 
auszuharren. Die Streiflichter, welche da und dort 
auf befannte Männer der Gegenwart, wie Glöter, 


80* 


1352 


Sanı-Zeller, Bilmar u. a. fallen, find höchit inter 
eſſant. Auch an Humor fehlt es mitunter nicht, 
jo im XX. Briefe über die „Teppichmacherei.“ 

Man muß es Herrn Pfarrer Dehminger Dant 
willen, daß er die Korrejpondenz veröffentlichte, ja 
daß er auch da nicht damit zuritchielt, wo perjön« 
lihe Berhältnifje und Nöten intimjter Art be 
handelt werden. 

Mancher Geijtliche, der in Sorgen und Kämpfen 
fteht und dem jein Amt zumeilen jchtwer werden 
will, wird in dieſer Broſchüre reichen Troft, Nat 
und Ermunterung befommen. Es ijt zu wünjchen, 
diejelbe fände ihren gejegneten Eingang in das 
Studierzimmer vieler Diener Chriſti; aber auch 
gebildete Laien werden fie mit Genuß lejen. 


— Ratholif oder Protejtant? eine Frage 
des Gewiſſens und der Geſchichte. Material zur 


Beantwortung derſelben dargeboten von Dr. 
Heinrich Krag. (Hanau, G. M. Albertis Hof- 
buchhandlung. 1888.) 35 ©. 


Die Katholiken, welche fich befanntermaßen jeit 
dem Kulturkampf in jehr lebhafter Angriffsitimmung 
befinden, überjchütten gegenwärtig den deutjchen 
Büchermarft mit einer Fülle von Zeitjchriften, 
Flugichriften und Büchern, welche alle den kon— 
feſſionellen Gegenjat zwiichen Nom und Witten. 
berg zum Gegenitande haben. Bon evangelijcher 


Seite ijt darauf bisher im ganzen wenig geant- | 


wortet worden und mit Necht, denn eben Diejer 
Gegenſatz ift nach allen Richtungen hin längjt jo 
völlig Har gelegt, daß es im Grunde Eulen nad) 
Athen tragen heißt, die vielen alten, zum Teil 
vortrefflihen Werke evangeliicher Polemik um neue 
iu vermehren, Trotzdem kann die vorliegende 
feine Schrift, welche auf 36 weit gedrudten Seiten 
das alte Thema neu behandelt, überall da empfohlen 
werden, wo es fi) etwa darum handeln könnte, 
einen Katholifen zum Nachdenken anzuregen. Die 
Frage konnte naturgemäß in jo gedrängter Kürze 
nur aphoriſtiſch behandelt werden, aber die Apho- 
rismen des Verfaflers find vielfach geiftvoll und 
treffend. Wenn man nicht ohne weiteres jeder 
Behauptung in vollem Umfang zuftimmt, jo find 
doc alle zum mindejten wohl geeignet, auf den 
entiheidenden Unterjchied Hinzufünren und zur 
Diskuffion anzuregen. 


— Jeſus Chriftus und die Wiflenjchaft der 
Gegenwart. Bon Moriz Garriere. Leipzig, 
F. A. rs 1888. VI. u. 92 ©. 

Der Berfaljer blidt auf eine 40 jährige Thätigkeit 
als Lehrer und Schriftiteller zurüd, die der immer 


! 


| 





— — — — 


tieferen und breiteren Begründung einer theiſtiſchen 


Philoſophie gewidmet war und noch iſt. Von 
Hegels Lehre ausgegangen erkannte er früh deren 
Mangel in der VBernadhläffigung des Moments 
der Perſönlichkeit. Bei den philoſophiſchen 
Moitifern und myſtiſchen Philoſophen, die der 
Entfaltung des durch die Namen Leibniz und 
Spinoza bezeichneten Gegenjabes voransgingen, 
fand er dann die feimkräftige urjprüngliche Syn- 
theje von Deismus und Bantheismus und in deren 
Wiederherftellung das fernere Ziel jeiner Spefula- 
tion wie das der modernen Philojophie überhaupt. 


‚ Natur- und Gejchichtstenntnifien, 
ſchauung der Gegenwart in Zujammenhang zu 
| bringen, wie es die Kirchenväter mit der Wiflen- 


Neue Schriften. — Kirche. 


Dieje Wiederherftellung jehte die Aufnahme und 
Verarbeitung aller inzwiichen gewonnenen wijien- 
ichaftlichen Erfenntnis voraus, auf weldher Grund- 
lage der Verf. fie in jeinem Buche „die fittliche 
Weltordnung“ 1877 auszuführen verſucht hat. 
Ausführlicder als es in den Rahmen diejes Buches 
fich fügte, entwidelt er in der vorliegenden Heinen 
Schrift jein philojophiich wiſſenſchaftliches Ver— 
ftändnis des Chriftentums. Der Titel könnte 
eine Darjtellung des Verhaltens der gegenwärtigen 
Wiffenjchaft in ihren verjchiedenen Richtungen zu 
dem Begründer und Gegenjtand unjeres Glaubens 
erwarten laffen; fie giebt in der That dasjenige 
wiſſenſchaftliche Denken über Chriftus, das der 
Verf. für das richtige hält. Sie giebt den Abriß 
einer Philojophie des Chriftentums. Für Hegel 
war einjt die Religion eine Vorftufe der Philo- 
jophie, fie galt ihm für überwunden, indem das 
philojophiiche Denken jich ihres Gegenjtands be- 
mächtigte; Carriere läft fie, mit warmem perjöns- 
lihen Anteil, als praftiiches Verhältnis gelten, 
das fich niemals in theoretiiches Denken auflöfen 
kann. Aber die Gedanfenwelt, in der fie wohnt, 
fann freilich feine abgejonderte von derjenigen 
jein, die das wiſſenſchaftliche Erkennen überhaupt 
für uns erbaut hat; und dad fie dies in der That 


| für die meiften Gebildeten und Halbgebildeten ift, 


ehört zu den jchwerften Leiden der Gegenwart. 
arriere bezeichnet es als Lebensfrage des 
Chriftentums: das Evangelium ebenjo mit den 
der Weltan- 


Ichaft der Griechen gethan.“ Man kann dem ent- 
gegen jegen: für das Chriftentum giebt es nur 
die eine Lebensfrage, ob es realifiert werde oder 
nicht. Gewiß, ob von vielen oder wenigen be- 


' Taunt, wird es leben und die Hütte Gottes unter 


den Menjchen bleiben. Aber eine Kulturmacht, 
ein großes Moment für das Staats und Boll“ 
leben wird es nicht bleiben oder wieder werden, 
ohne dem gemeinen wiflenjchaftlihen Denten neu 
vermittelt zu fein; und es joll und will doch ein 
Saß jein gegen die einer jeden trdiichen Kultur 
unvermeidlid; drohende Fäulnis. Jeder ernithafte 
Verſuch einer ſolchen Vermittelung jollte daher 
auf die prüfende Teilnahme weiterblidender Ehriften 
rechnen fünnen, und ihr jei die Heine, aber inhalt- 
ſchwere Abhandlung des Münchner Philojophen 
beitens empfohlen. Vor allem mutet er uns zu, 
die VBorftellung eines Gottes fahren zu laſſen, der 
irgend einmal, nachdem er vorher allein Dageweien, 
aus nichts eine Welt gejchaffen und ihr Ein- 
richtungen und Gejege gegeben habe; wir jollen 
den Kosmos als ewige Selbjtentfaltung des un— 
endlichen Wejens erfennen, das dennoch zugleich 
jelbftberwußter Geiſt iſt. Von diejfem Standpunft 
aus findet Garriere die Möglichkeit einer ver- 
nichtenden Kritit des Materialismus. Es ijt die 
Anjchauung von Gott und Natur, die einft Herder 
und Goethe naiv aus ihrem Spinoza heraus ver- 
ſtanden, während neben ihnen große Technifer 
der Spekulation fih in den reinen Pantheismus 
hinein arbeiteten. „Dieje Idee“, jagt der Berf., 
„des ſowohl der Welt einwohnenden als in und 


Neue Schriften. — Kunit. 


über ihr bei fich felbit fjeienden Gottes, des in 
jeiner Entfaltung Unenblihen und doch in ſich 
Einen — — ift uns die Grundlage für das Ver- 
ftändnis der religiös-fittlihen Erfahrung von 
Wiedergeburt und Verſöhnung“; und er findet fie 
bei Baulus und Johannes, wenn ihre Worte recht 
verjtanden werden, ausgedrüdt. E& würde den 
Raum der gegenwärtigen Beiprehung weit über- 
jchreiten, wenn die Konjequenzen jener Grundlage 
in der Kritif der gejamten kirchlichen Glaubens: 
lehre, in der Modifitation aller chriftlichen Ideen 
jollten aufgezeigt werden; wir bejchränfen ung 
darauf, die auf den Wunderbegriff bezügliche 
Konjequenz hervorzuheben. Die Voritellung eines 
unmittelbaren jouveränen Eingriffs unter vorüber: 
gehender Suspenſion der Naturgejeße hört natür- 
lih auf. Someit Gott reicht, reicht auch die 
Natur; beide fünnen nicht getrennt gedacht werden; 
es find nur Bezeichnungen derjelben Sache aus 
verichiedenem Gefichtspuntt. Alles was als That 
oder Zeichen Gottes berichtet wird, müßte aljo 
aud) unter den Gefichtspuntt des Naturborganges 
fallen können. Unter dieſen bringt der Berf. 
wirklich, wie andre vor ihm, die Heilungswunder 
Jeſu, befonders die an Beſeſſenen; ein pſychologiſcher 
Einfluß, der Glaube, hat fie gewirkt, oder gar 
ein phyliologijcher, aus der Berührung mit der 
jeinem geiftigen Weſen entſprechend gejunden 
Leiblichleit des Arztes; und jo erjcheinen fie 
wiſſenſchaftlich annehmbar. Schwerlich dürfte eine 
jolhe Theorie bei unjern Medizinern, die mit 
befannten, dem Erperiment unterliegenden Natur- 
geiegen arbeiten, Gnade finden. Wollen wir bei 
diejen Fällen den Gejichtspunft des Naturvorganges 
feithalten, jo müſſen wir eben dod) bereits an eine 
unbelannte Natur appellieren, die mit ihren 
Wirkungen in die uns bekannte hereinragend zu- 
weilen wahrgenommen, aber nicht willenichaftlich 
beobachtet werden fann. Noch mehr jind wir in 
diejem Falle, wenn wir bei Beurteilung der 
Auferitehung mit dem Berf., den die reine Viſions— 
bupotheje nicht mehr befriedigt, an einen Verfehr 
des abgeichiedenen Geiſtes Jeſu mit den Hinter- 
bliebenen denken, deſſen Seelenberührungen den 
Schein von Einneswahrnehmungen erzeugen; und 
doc werden wir damit dem wohlbezeugten ge 
ſchichtlichen Vorgange nicht gerecht, zu dem es 
wejentlich gehört, da Jeſu Leichnam am Morgen 
nah dem Sabbath nicht mehr gefunden ward. 
Kann man einem Wunderberichte von jeiten der 
hiftorischen Kritif, die vor allem zu jprechen be: 
rufen iſt, nichts anhaben, jo mag man immerhin 
aus Gründen der metaphniiichen Theorie 
Forderungen feithalten, dab das Berichtete ſich im 
Lichte des Naturvorgangs zeigen müſſe, wenn 
unjere Erfenntnis weit genug dazu reichte, aber 
die Willenjchaft der Gegenwart jollte auf einem 
Gebiete, wo fie doch nichts erfennen kann, Sich 
hüten, das eine für möglich und das andere für 
unmöglich zu erflären, weil ihr zu dem einen 
analoge, wenngleich ebenjo unverjtandene Er- 
icheinungen befannt find, zu dem andern nicht. 


Hier fteht jie vor dem verjchleierten Bilde, vor | 


das fie jchließlich auf jedem ihrer kühnſten und 
fernjten Gänge geführt wird. Das Wunder der 


die | 


1353 


Wunder bleibt doch immer bie — 

Natur Jeſu, wie fie ſich im Spiegel feines Selbit- 
| bewußtjeins zeigt, und dies iſt ein Punkt, mit 
‚ dem jid) der Verf. nicht zur Genüge abgefunden 
' hat. Zum Wefen eines jeglihen religiöjen Ber. 

haltens gehört vor allem das freatürliche Gefühl 

der Ferne von Gott, das ſich unter allem Streben, 
| bei ihm in Gnaden zu fommen, erhält, und diejes 
| Streben immer neu erzeugt. Je höher ber Stand» 
punkt genommen, je feiner das Gewiſſen aus: 
| gebildet ift, deſto jchärfer wird diejes Gefühl, und 

wir erwarten von einer hervorragenden religiöjen 
| Berjönlichteit nichts andres, als daß der Sünden. 
ı jchmerz bei ihr Iebharter als bei —— 
| Menjchen hervortrete. Was jollen wir da zu Jeſus 

jagen, der diefem Gefühl bei andern als Heiland 
| entgegenfommt und im fich jelbit auch garnichts 
von ihm weiß? Und wäre es mit nichts jonft, 
jo überwächſt er damit für uns allen menjd- 
| lihen Maßſtab. Er thut es in jeiner eignen Ans 
| ficht, mag er fih nun des Menſchen Sohn oder 

Gottes Sohn nennen. Dem Verf. ift er in der Weije 
‘ Gottes Sohn, wie wir alle durch ihn Kinder 
Gottes werden jollen und fünnen; möchte er ein- 
mal erwägen, worauf es beruht, daß Jeſus von 
„meinem Bater“ und von „eurem Vater“, aber 
nie von „unjerm Water” redet, und jo nur jeine 
Jünger im Gebete reden lehrt. Will man diejes 
Wunder Ehrifti, das er jelbjt ift, durch analog 
geheimnisvolle Erjheinungen beleuchten, jo findet 
man fich nicht ſowohl an andre weltgejchichtliche 
Genien, als an das erjte Auftreten des Organtichen 
in der Natur, der Empfindung im Organismus, 
des Selbitbewußtjeins im empfindenden Natur: 
wejen erinnert. Es iſt das „Findlih große Ge- 
heimnis“, das die Kirche zu formulieren, nicht zu 
löjen gewußt hat, auch die Wiſſenſchaft muß am 
Ende bejcheiden vor ihm ftehen bleiben. Dieje Aus- 
einanderjegung mit dem Verf. joll nicht den Schein 
erweden, als vermöchte ich ihm nicht einen langen 
Weg zu folgen und mit ihm zu denfen. Er iſt 

es gewohnt, den einen für einen Ungläubigen, den 

andern für einen Frömmler zu gelten. ber die 
‚ Vertreter der Kirchenlehre jollten es nicht, ver. 
jhmähen, einen Denker, der in jeiner Weije jo 
ernitlich nach dem Himmelreid) tradhtet, anzuhören, 
und für manche juchende Seelen, denen noch mit 
feiner Führung gedient war, könnte er ein Führer 
werden, wie er es für manche längjt — 





3. Kunſt. 

— Geſchichte der chriſtlichen Malerei. 
Von Dr. Erich Frantz, Profeſſor an der königl. 
Akademie zu Münſter i. W. Erſter Teil. Frei— 
burg i. B. Herder'ſche Berlagshandlung.) 1887. 
575 ©. Broſch. 8,50 M., geb. "ı od. 11 M. 

Der Verfaſſer vorliegender Arbeit vertritt mit 
Geſchick und Mäßigung die katholiſche Anſicht in 
Auslegung der älteſten Kunſtdenkmäler im Gegen- 
ja zu jener Deutung, die, was von Symbolik in 
der riftfichen Kunst vorhanden ijt, nur aus einer 
Kombination bereits gegebener formen mit crijt- 
‚ lichen Ideen hervorgehen läßt. Die goldene 
Mitte, wie jie Leute wie Piper, Schulge, Pohl 


1354 


halten, läßt jowohl den Einfluß der Antife, ala 
auch die jchöpferijche Geftaltungsfraft des Chriften- 
tums in Geltung. Im einer jehr gut geichriebenen 
Vorrede faht der Verfaſſer jeine grundlegende 
Anficht dahin zufammen, daß wie in der geichicht« 
lihen Darftellung nur der wahre Pragmatismus, 
die Unterordnung der Erjcheinungen unter ein 
höheres Prinzip im Lichte des göttlichen Heils— 
planes, fruchtbringende Nejultate von dauerndem 
Wert zu erzeugen vermag, jo auch die Kumit- 
geichichte ohne höhere Ideale und ohne dieje ein- 
heitliche, fonjequent durchgeführte Auffaffung wenig 
mehr als eine Aufzählung äußerer Momente ift. 


Es fommt dem Berfafler jehr zu ftatten, daß 
er aus den Duellen zu jchöpfen im ftande war 
und daß er, da er jelbit längere Zeit malte, auch 
die ſonſt häufig jo jehr vernachläjfigte technijche 
Seite der Kunſt gebührend würdigen konnte. 
(Bgl. ©. 410 fig) Am Urteil ift er dabei, jo 
begeiitert er auch für die religiöjen Kunftichäge 
ericheint, meilt maßhaltend und bejonnen, jo ver- 
wirft er ©. 56 die Gleichitellung von Legenden 
und biftoriichen Quellen, was ja eigentlich jelbit- 
veritändlich ift, aber bei jeinem jonjtigen Stand: 
punkte bemerlenswert. Wie jehr gerade in Kunft- 
ſachen, wo der perjönliche Geſchmack jo viel mit- 
zuſprechen hat, das Urteil der Kunftrichter von 
einander abweicht, beweift die ©. 313 erwähnte 
Thatjache, daß Burdhardt das Mojaikbild in der 
Apfis von ©. Maria Maggiore zu Nom eine der 
größten vorgiottesfen Leiltungen nennt, bei der 
zu der jchönen jchwungvollen Formenbildung noch 
ein wahrhaft holder Ausdrud und eine hohe und 
dekorative Fülle und Freiheit kommt, während 
Erowe uud Eavalcajelle folgendermaßen abiprechen: 
„Die Jungfrau ift ein bürftiges, großlöpfiges 
Weib, die en ee find lang, mager, lahm in der 
Haltung. Dank dem ungeheuren Maßſtabe des 
Moſaiks treten alle Mängel aufs deutlichjte hervor.“ 
Höchſt intereflant ift die Notiz ©. 404, daß unter 
den in der Schedula des Theophilus im 12. Jahr: 
hundert aufgezählten Bindemitteln jich „cervisia*, 
Bier, befindet. ein Umstand, der entichieden für 
deutſche Herkunft des Theophilus ſpricht. 


Die Sprache des Werks ift anſchaulich und jorg- 
fältig. Eine feine Ungenauigfeit des Ausdruds 
findet fih ©. 337: „Ste (die Palajtbeamten) find 
viel Heiner als der Monarch, ein Gebrauch. der 
jeit dem Ende des 10, Jahrhunderts üblich wird.” 
©. 538 bietet das jeltene Wort „Geriemſel“ — 
Riemenwert? Die Ausitattung des Werts, Die 
nur gelobt werden kann, wird noch bedeutend 
gewinnen, wenn die in der Vorrede in Ausficht 
geitellten Illuſtrationen dazu erjcheinen, wobei 
nur zu wünſchen ift, dab bei Auswahl derjelben 
das Augenmerk des Verfaſſers ich bejonders auj 
diejenigen Bildwerfe richten möge, die nicht ſchon 
in allen anderen Kunſtgeſchichten zugänglich find. 
Einen wirfliden Wert würde dieje Sammlung, 
da fie gejondert zu haben jein wird, auch für 
ſolche erhalten, die den Tert nicht bejigen. 


Sch.Ke. 


| 





| 
| 








Neue Schriften. — Poeſie. 


4. Poeſie. 

— Adolf Hellberg. Scaujpiel in vier Auf- 
zügen von Betty Dorieur-Brotbed. (Leipzig. 
Verlag von Reinhold Werther.) 1888. 122 ©. 

Sehr vornehme, jehr langweilige Gejellichaft, 
deren Jutereſſen fich fait ausichließlih um Mufik 
drehen, die in weitläufigen Dialogen behandelt 
wird. Handlung jo gut wie gar feine, man müßte 
denn ein gelegentliches Treffen oder Berfehlen, 
ein Klavieripiel oder eine Einladung dafür nehmen 
oder — das dramatijchite Moment — die Er- 
zählung von Adas Sturz vom Pferde, der die 
Löſung des eigentlich nicht vorhandenen Konflikts 
bherbeiführt. Das Ganze ift in überjhwenglicher 
Spradye abgefaft, wofür ala Probe die Worte 
Emmas ©. 119 dienen mögen, als fie fi glüdlich 
mit Hellberg, dem großen Mufifgenie, verlobt: 
„sc liebe ja in dir nicht den Autoren; ich liebe 
den Künftler. Mir ift es Wonne, wenn ſich deine 
Lebensempfindung im jchöpferiichen Gedanten und 
Werfen gipfelt. Ob du jedoch die Welt damit in 
Staunen jeßeft, oder ob es dir nur vergönnt fein 
wird, glei einem Schwan auf blauen Gewäſſern, 
eine jonnendurdhglübte, aber mild verglimmende 
Spur zu ziehen, nicht das eine umd nicht das 
andere fann meine Liebe ändern.” Auf eine ſolche 
Sprade hin hätte Hellberg, wenn er nicht jelbit 
gerade jo überjpannt wäre, die Verlobung rüd- 
gängig machen fünnen. — 

Mit einem Worte: eine gutgemeinte Damen- 
arbeit, die jedoch höchitens für jehr beſcheidene 
Mufiffreunde genießbar ift. 

Falſche AJuterpunktion jtört S. 35 nach „Weſen“ 
und ©. 43 nach „geben“. Sch.“K. 


— Boris. Trauerſpiel. Von Profeſſor Schreyer 
in Schulpforta, dem wir den ausgezeichneten Fanit- 
Kommentar, Dietrichs Ausfahrt und die Naufila 
verdanken, ift zu einem neuen Zeichen der hoben 
dichteriichen Begabung des Verfaſſers ein Trauer- 
ipiel Boris erjchienen, welches den Nihiliamus 
in hervorragender Weije behandelt. 

Zwei junge Leute, Wanda und Boris, 
wacjen in dem Hauſe eines ruffiichen Unter. 
beamten Wajjili, der zu den Leibeigenen des 
Fürften Darkoff gehört, mit einander als Ge 
ichmwilter auf. Boris hochitrebendem Geifte die 
erforderlihe Nahrung zu geben, bejchließt der 
Fürſt, welcher nad) einer jtandesgemähen Ehe, 
der ein Sohn Alerander entiproffen, vertitwet, 
jeine Straße in einer glänzenden Stellung einfam 
zieht, zur weiteren Ausbildung Boris zur Unis 
veriität nach Moskau zu geben. Diejer vertraut 
vor jeiner Abreiſe der Geipielin Wanda, daß, 
nach verjchiedenen Andentungen der Nachbarn und 
Genoſſen, über feiner Geburt ein Geheimnis ruhe, 
das ihm Wajlili mit den Worten gelüftet habe: 
„er möge durch Thaten beweiien, dab er edel jei.* 
Unter ſolchen Umständen wird die gejchwijterliche 
Liebe von Boris und Wanda zur bräutliden an 
gefacht. — 

Gleichzeitig mit Boris geht Sergei, der 
Sohn eines höheren richterlichen Beamten, der 
nit Boris die Schule beſuchte, nach Moskau, ein 
lebenstluger ehrgeiziger Intriguant, der auf die 


Neue Schriften. — Poeſie. 


Stellung feines Vaters pocht, während Boris 
ftürmijch jeinen Idealen nacjagt. Bei jolder 
Beanlagung von Jugend auf Rivalen, tremnt 
beide auch ihre Liebe zu Wanda. 

Während einer längeren Wbwejenheit 
Studiengenofjen mähert fich Sergei aufs neue 
der Wanda, entreißt ihr einen zärtlichen Brief, 
den fie an Boris gejchrieben und entwendet ihr 
heimlich ein Kreuz, das Boris ihr beim Abjchied 
als fein koftbarites Familienſtück verehrte. 

Boris war inzwiſchen mit einer großen Preis» 
aufgabe bejchäftigt, deren Löſung ihm eine glän- 
zende GStaatsitellung und damit die Ausficht er- 
öffnete, fih mit Wanda zu vereinigen. Schon 
war ihm mitgeteilt, dab er aus dem Wettitreite 
als Sieger hervorgegangen, als der Preis durd) 
Beſtechung dem Sergei zufällt. Diejer erjcheint 
nun dem Boris, zeigt ihm Kreuz und Brief mit 
dem lügneriichen Vorgehen, daß er beides als ihr 
zulegt Erforner von Wanda erhalten und täujcht 
ihm mit tenflifcher Lift. Arglos und übereilt wird 
Boris irre an der Geliebten und glaubt an ihre 
Untreue. Er fordert Sergei; diejer entzieht fich 
dem Zweikampf, indem er jeinen Gegner dem 
Gericht überliefert. Nun auch an jeiner Ehre 
gefränkt, verzweifelt Boris an Gott und Welt. — 

As Boris fih noch in jeinen Hoffnungen 
wiegte, war der Verjucher zu einem Geheimbunde, 
welder den Tyrannen den Tod geichworen, an 
ihn herangetreten. Obwohl jchon damals über- 
zeugt, dab nicht alles im Staate dem allgemeinen 
Belten fromme, widerftand Boris dem Antrage, 
weil ihm das Geheimmisvolle zumider, und er 
auch vor dem Bunde gewarnt war. Zu einer 
Rettung ihm fremder Damen aus großer Gefahr 
jet er jein Leben ein, verihmäht aber den Danf 
aus dem Munde der Hauptperjon, einer ebenjo 
geiftreichen als anmutigen, reichen und vornehmen 
Gräfin. Als dieje jich jedoch als eine ver- 
ihworene Feindin der bejtehenden Gejellichafts- 
ordnung entpuppt, zu der zerrüttete Familien- 
verhältnifie jie gemacht, vermag er ihrem gleis- 
neriichen Worgeben, dem Bunde beizutreten, um 
das Glüd der Armen und Bedrängten zu jchaffen, 
nicht zu widerftehen. Von allen jozialen Banden 
losgelöjt ift die Gräfin übrigens noch Frau genug, 
Boris mit ihren Neizen zu umijtriden, mährend 
der Arm der weltlichen Gerechtigkeit ſich ſchon 
nad ihr als einer Nihiliftenführerin ausitredt. — 

Boris erhält von Bunde den Befehl, die 
inzwijchen gefangen geießte Gräfin zu reiten. 
Der Umstand, dab jie der Obhut jeines Pflege: 
vaters Wajjili übergeben worden, erſchwert 
ihm den Entichluß, hält ihm aber, den Eiden 
gegenüber, welche er als Verſchworener geleijtet, 
nicht ab, Gehorjam zu leiften. Er zieht mit 
einigen jeiner Genofjen der Heimat zu. 

Unterwegs findet er in einer Kapelle die Leiche 
des als Wüſtling veritorbenen Alerander Dartoff, 
defien Vater, der Fürſt, Boris zu jeinem Erben 
beftimmt. 

Sergei verrät den ihm zufällig befannt ge 
wordenen Weberfall der Nihiliften. Vergeblich 
bittet Boris jeine Genoſſen, jedes Blutvergiehen 
zu meiden, insbejondere Wauda und Wajlili zu 


des 


1355 


| ſchonen, legterer wird in dem Handgemenge durch 
| einen Dritten tödlich verwundet, Boris tötet Sergei, 
| old aber mit den anderen Berjchworenen ge 
| fangen. 

' Wanda hat dem Geliebten die Treue bewahrt 
und fleht den Fürften an, fich Boris zu retten ; 
diejer muß aber dem Gerichte freien Lauf laſſen, 
das unter dem Vorſitz von Gergeis Vater die 
Verjhworenen zum Tode verurteilt. Boris zu 
befreien eilt Wanda in der Nacht zu ihm in den 
Kerker, und dedt den Betrug Sergeis auf. Boris 
fallen die Schuppen von den Augen. Schon hat 
er das Werfehlte jeines Lebens erfannt und er 
wacht in ihm das alte Vertrauen zur Geliebten. 
Seinem Schidjal mag er ſich aber nicht durch die 
Flucht entziehen, da jeine Genojien dem Tode 
verfallen. Boris und Wanda nehmen Gift, 
letztere jtirbt. 

Es erjcheint num der Fürft, Boris die Pforten 
des Kerkers zu Öffnen und entdedt ihm, daß er 
jein Sohn aus einer zweiten, heimlichen Ehe mit 
einer Schweiter Waijilis, den er mit Wanda cr: 
ziehen ließ, damit diefer von „Herzen rein und 
brad mie eine junge Tanne in den Wäldern 
ichlant und ohne Fehl“ emporwachſe. Boris jtirbt 
unter Hinweis auf die Liebe, welche Himmel und 
Erde verbindet, während hier die Menden Schuld 
und Schickſal trennt. — 

Die dramatiſche Entwickelung erſcheint uns bis 
auf wenige Uebergänge, welche weniger vorbereitet, 
meiſterhaft. Die Perſonen ſind lebenswahr, ſcharf 
und fein gezeichnet. Sie nehmen das Intereſſe 
des Leſers in Anſpruch. Die Sprache iſt edel, 
die Dichtung ſinnig und gedaukenreich. 

Nach Art der alten Schickſalstragödien zieht 
ſich das Unglück in furchtbarer Weiſe über Boris 
und Darkoff in einem Augenblick zuſammen, wo 
fie Befleres erwarten durften. Die Motive Boris 
gegenüber erjcheinen uns nicht Fräftig genug, indem 
die Wurzel jeines Uebels nicht Schidjalsichläge 
oder eine fittlihe Schuld, jondern der Irrtum. 
So glaubt Boris ohme zwingenden Grund an bie 
Untreue jeiner Geliebten. 

Der Nihilismus ift im geiftreiher Weiſe in 
feiner Sinn. und Gittenlofigfeit dargeftellt und 
auf Wurzeln zurüdgeführt, wie die Neligions- 
lofigteit des Boris und die Pietätlofigkeit der in 
zerrütteten Familienverhältnifien erwachſene Gräfin. 
Zwiſchen den Heilen erfennt man, daß die Halb- 
bildung der Boden iſt, auf weldyem der Nihilismus 
gedeihet, jo daß Boris namentlid den Eindrud 
eines noch unreifen Studenten madt. 

Es fehlt nur an der ausreichenden Sühne. 
Allerdings zeigt Wanda, was Liebe und Treue 
vermag. Sie geht dem Geliebten damit bis zu— 
legt nach, überwindet jeinen Irrtum und giebt 

ihm einen gewiſſen Glauben an Gott und Menſchen 
| zurüd, wie ein Vergleich jeines Strebens mit dem 
| der Gräfin, welcher er nichts glaubt und mit den 
eigenen Aeußerungen am Sarge des jungen Darkoff 
ı deutlich macht. Auch trifft ihn der Tod als Sühne 
' für jeine Schuld in dem Augenblide, wo fich ihm 

auf dem Wege der hiftoriichen Entwidelung für 
' feine Gaben eine großartige Wirkſamkeit er- 
öffnete. 





u u Er — — — 


1356 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


Aber auch Wanda legt Hand am ſich und be- , Die ergreifende Darftellung deſſen, was dieſer 


ftimmt Boris dazu, ſich von der Schmad; des 
Senfertodes zu retten und von diejem werden 
beide Verbrechen verherrlicht. 

Boris erſcheint damit aufs neue der ewigen 
Gerechtigkeit verfallen. Unter dieſen Umſtänden 
fonnte diejer Mann die verſöhnenden Schlußworte 
nicht jprechen, ohne dem fittlichen Standpunkte zu 
nahe zu treten. 

Da unjeres Erachtens das eigentlich Tragiiche 
in dem Konflitt des Gehorſams gegen Gott und 
den Geheimbund liegt und dieſer Konflikt nur 
die Wahl läßt, die ewige Seligkeit oder die 
bürgerlicdie Exiſtenz preiszugeben, mußte Boris, 
die fittliche Freiheit wiederzugewinnen, vor allem 
jeinen Bundesgenoſſen bedingungslos den Rücken 
fchren. G. E. 


5. Unterhaltungslitteratur. 


— Salz und Wein, Roman von Ludovica 
Hejekiel (Berlag von Georg Böhme, Leipzig), 
ijt ein gehaltvoller, ernjter Roman, den wir jehr 
empfehlen fünnen, und an dem nur Kleinigkeiten 
auszujegen jind. Beilpielsweije wäre wohl nicht 
eine jedesmalige jo genaue Toilettenbeichreibung 
ber auftretenden Perjonen erforderlid, wie Ver— 
faſſerin fie zu geben liebt. 

Der Noman umfaßt einen Zeitraum von 48 
Jahren. Er beginnt im Jahre 1541 und endet 
im Jahre 1609. Es ijt die gewaltige Werdezeit 
der evangelijch-Iutheriichen Kirche Deutſchlands, die 
den Hintergrund desjelben bildet, und deren große 
Berjönlichfeiten mehr oder minder handelnd in 
die Erzählung eingreifen. Den Mittelpunkt von 
„Salz und Wein“ — den Namen hat der Roman 
von dem Salz, das in der Saline zu Sulza in 
Thüringen gewonnen ward und von dem Wein, 
den jeine mit edlen Neben bepflanzten Berge 
lieferten — bilden die wechſelnden Schidjale, das 
fallen und Wiederaufitehen des Bornknechtes, 
jpäteren Bergrates Gotthard Eſchner und jeine 
Beziehungen zu den drei hauptiädhlichiten Frauen— 
geiiaiten des Nomans, dem einfachen, frommen 
Bauernmädcen Alma Heyland, der gefalljüchtigen 
falſchen Anna Eleve, und der edlen, hochgebildeten, 
findlich gläubigen Frau Caritas Ehlert. In ihren 
wechielnden Lebensichidjalen fommen die jittlichen 
Grundmotive des Romans zum NAusdrud: 

Des Vaters Segen baut den Kindern Häuſer; 
treue Pilichterfüllung mit Gebet heilt auch ein 
zerbrochenes Herz und verhilft zu einem harmo— 
nischen Lebensabichluß; der Charakter des Chrijten 
ift erjt völlig entwidelt und vollendet, wenn er 
mit der That jeinen bitterjten Feinden ihre Schuld 
vergeben kann, wie Gotthard Eſchner jeinem 
Weibe, das jeine Ehre mit Füßen getreten, und 
ihrem Berführer, vergeben. 

Der Eintritt Gotthard Eſchners in den Dienjt 
des Nurfürften Johann Friedridy des Großmütigen 
von Sachſen bringt eine Darjtellung des Lebens 
an dieſem frommen, evangelischen Hof von jelbit 
mit jich. Als der Kurfürft nach der für ihn 
unglüdlich verlanfenen Schlacht von Miühlberg in 
faijerlihe Gefangenichaft geriet, teilte Eſchner als 
treuer Diener das Los jeines fürftlihen Herren, 


| 


| 


ee —— — — — — — — 





edle Fürſt und ſein Volk, um der Treue zu dem 
evangeliſchen Bekenntnis willen, erlitten und 
erduldet haben, gehört zu dem beſten Teilen des 
Romans. Möge derſelbe viele dankbare Leſer 
finden! L. v. O 


— In Flur und Wald. Aus dem Franzöſiſchen 
der Gräfin Gasparin. Nutorijierte Ueberjegung 
von Elijabeth Klee. (Leipzig. Kommiſſionsverlag 
der Buchhandlung des Vereinshauſes. H. ©. Wall- 
mann. 1888.) 259 Geiten. 

Vorliegendes Bud) bietet uns eine Neihe kleinerer 
Erzählungen, voll Duft und Poefie, die, jo unbe» 
deutend jie dem Inhalte nad) teils find, dennoch 
in der anjprechenden Art ihrer Schilderungen wohl 
geeignet find, den Lejer oder bejjer die Lejerin zu 
fejleln, denn wie die Damenhand in ihnen unver- 
fennbar ift, jo wird es auch wejentlid die Damen- 
welt jein, die ihren Lejerfreis bilden wird. Aus— 
zulegen hätten wir, wenn wir doch einmal Kritik 
üben jollen an „In Flur und Wald“ wohl, da 
Erzählerin oft fait zu jehr vom Thema abjchweift, 
um ſich ihren Träumereien hinzugeben, auch eine 
reichlich minutiöje Naturjchilderung könnte man 
ermübdend nennen; entichädigt wird man aber 
wiederum durch die Reinheit der Empfindungen, 
die grade dieſe Träumereien auszeichnen und Die, 
wie gejagt, nicht „Ipannenden“ Ereignifie in einen 
Rahmen fleiden, der den Wert des Bildes nur 
erhöhen kann. Daß wir es hier mit einer lleber- 
jegung zu thun haben, vergißt man völlig, and) 

ie hübjche Ausftattung des Heinen Werkes möchten 
wir noch rühmend erwähnen. 


— Jakob, der Lepte. Eine Waldbauerige- 
ichichte aus unjeren Tagen von P. K. Rojegger. 
(Wien. Peſt. Leipzig. A. Hartlebens Verlag. 1888.) 
Es giebt und hat wenig wahre Bolksichriftiteller 
gegeben; die Leute, die fühlen und denken wie 
das Volk denkt, find meiſtens feine Schriftiteller 
und die Leute, die Schriftiteller find, haben meijtens 
die Naivetät der Volksdenkweiſe derart verloren, 


daß fie micht wirkliches, jondern gemachtes und 


erdacdhtes Volk in ihren Werfen jchildern. Ein 
abjchredendes Beiipiel diejer Art ift der befannte 
Berthold Auerbach, deijen Schwarzwälder Bauern 
mit Necht als Theaterbauern charakterifiert worden 
jind. Ein Beijpiel entgegengejepter Art iſt für 
Niederdeutichland Fritz Neuter und für Deiterreid) 
der Verfaſſer des — Buchs, der Deiter: 
reicher Nojegger, der bis ins Mannesalter hinein 
dem Schneiderberuf obgelegen hat. 

Auch das vorliegende Bud) vereinigt in ſich alle 
Vorzüge der Roſegger'ſchen Art; das Volk der 
öfterreichiichen Berge ift mit großer Naturwahrheit 
ejchildert. Die Schilderung ftreift mit ihrem 
Nealismus bisweilen die Grenze des äſthetiſch zu- 
läjfigen, oder überjcjreitet fie auch wohl, jo daß 
das Bud für Mädchen Benfivnate nichts weniger 
wie geeignet iſt; aber andererjeits verjöhnt ſie bei 
aller Derbheit und ein Hein wenig Unſauberlkeit, 


‚ die hier und da in den lauf genommen wird, 
daß nicht dieje Dinge an ſich dem Dichter Freude 


machen, jondern da er fie eben nur vorbringt, 


Neue Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


um das Volk nicht zu jchildern, wie es jein könnte 
und jollte, jondern wie es wirklich ift. 

Das vorliegende Buch ijt ein tief melancholiiches; 
Roſegger jchildert uns, wie ein ganzes Gebirgsdorf 
allmählich untergeht, nicht etwa durch große Natur- 
GEreignifie, jondern es wird und der Prozeh ge 
jchildert, der das flache Yand in England jo viel- 
fach entvölfert hat — die Latifundienbildung. Ein 
reicher Wiener Finanzmann kauft allmählich eine 
ganze Gemeinde aus, indem er den Bauern ihre 
Höfe weit über den Preis bezahlt, das mühjam 
gerodete Aderland, welches eine Menge arbeitjamer 
Menſchen ernährte, wieder in Wald legt und jo 
den Zuſtand herbeiführt, daß in den Jagdgründen 
des Kapitaliften die Menichen durch Hirſche und 
Wildjchweine erjegt werden. Einige Bauern er- 
liegen jofort der Verjuchung, den Hof mit dem 
färglihen Boden dem Käufer zuzujchlagen, bei 
anderen bäumt jich der ariftofratiihe Bauernſtolz 
auf und fie widerjtehen zuerft. Mit der Zeit aber 
vollzieht ſich der Aufſaugungsprozeß dennoch und 
der tapitalismus triumphiert. Das tragijche Ende 
bes ftolzeften Hofes ift der jpezielle Vorwurf des 
zweibändigen Romans, der eine eminent conjer- 
bative Tendenz verfolgt, indem er namentlich zeigt, 
daß die meiften der von Haus und Hof gegangenen 
Bauern aus genügiamen und hart arbeitenden aber 
jelbitbewußten Leuten zu Proletariern werden, die 
das Kapital in anderer Weije ausbeutet. Das Bud 
mit jeinen feinen Charakterjchilderungen wird nie- 
mand ohne tiefe Bewegung aus der Hand legen. 
Es jei bejtens_empfohlen. D. v. 0. 


— Eine Quedlinburger Webtiijin von 
M. von Diestau. (Verlag von Chr. FFriedr. 
Vieweg, Quedlinburg.) Preis 3 Mk. geheftet, 
4 Mt. eleg. gebd. 

Die turmreihe Stadt Quedlinburg, ihr auf 
troßigen Klippen erbautes, von Gejchichte und 
Sage ummobenes Schloß find der Schauplaß diejer 
anjpredienden, einfachen Erzählung. Seit dent 
Jahre 1458 herrichte über Schloß und Stadt 
Quedlinburg als Aebtiſſin des freien, weltlichen 
Neichsitiftes zu Quedlinburg Hedwig, Herzogin zu 
Sachſen, deren Perſönlichkeit und Erlebnifje den 
Vorwurf unjer Erzählung bilden. Sie war eine 
ſtolze und herriſche Fran, die feit an ihrem Rechte 
hielt, jelbft wenn die Bewahrung desielben das 
Blut jeiner Unterthanen fkoftete. Dieje waren nicht 
weniger ftolz, als ihre Gebieterin. Quedlinburg 
fühlte fich ftart als Glied der mächtigen Hana, 
wollte jeiner Fürftin nicht mehr dienjtbar jein, 
jondern wie jeine jtarfen Schwejtern an der Nord— 
und Dftjee als freie Stadt nur noch unter Kaijer 
und Reich jtehen. Zwiſchen der jtolzen Gebieterin, 
die immer die Hand erhoben hielt, um die Wider- 
ipenftigen zu ftrafen, die immer auf der Wadıt 
war, ihr Recht zu ſchützen, und die vergaß, daß 
Milde und Verröhntichteit das Schöne Erbteil der 
rauen ift, und ihren trogigen Unterthanen, die 
ihre Herrichaft nur als Laſt empfanden, und fich 
nicht kümmerten um die beſchworene Treue, mußte 
eö zum Kampfe kommen. Die Empörer werden 
geichlagen, der Roland, das ftolze Wahrzeichen der 
Stadt, wird umgeftürzt. Doch die Siegerin wird 


1357 


ihrer Siege nicht froh. Ihre herzoglichen Brüder 
von Sadjjen, die ihr zum Siege verholfen, laſſen 
fich die Hülfe teuer bezahlen. Endlich entipinnt 
fih im Ordensfapitel Bert unter Führung des 
Stiftähauptmannes von der Sell und der Pröbitin 
Gräfin Kirchberg eine auf ihre Bejeitigung ab» 
zielende Verihwörung. Sie entgeht der drohenden 
Gefahr nur mit Hülfe ihrer getreuen Dienerin 
durch schnelle Flucht. Nach erneuten Demüti— 
gungen wird jie durch ihren Bruder, Herzog 


Albrecht, wieder auf ihren Fürftinfig zurüdgeführt; 
| aber als eine andere fehrt fie wieder. Ahr Eigen: 








wille und ihre Selbftgerechtigkeit ift gebrochen. 
Wo fie bisher nur das jtrenge Necht Hat herrichen 
lajien, da läßt fie jept die Milde walten und das 
edle Gold ihres Herzens kommt geläutert durch 
Trübjal erjt jegt zur rechten Geltung. So ge 
winnt die Erzählung einen harmonifchen Abſchluß. 
Mit den Gejichiden der Aebtijfin eng verbunden 
find die Schidjale zweier Liebespaare, des Rojcu- 
ritters von Swan und jeiner Eva von Kitlitz und 
des Nitters Henning von Grußwig und des Nats- 
heren Graßhof Tochter Elja, welche nach mancherlei 
Fährlichkeiten und Sorgen in den erwünjchten 
Hafen des Glüds einlaufen. 

Mit großem Geſchick find in die Erzählung 
Perjönlichkeiten eingeflochten, die troß der tiefen 
Finſternis, welche auf der römijchen Kirche des 
15. Sahrhunderts ruhte, doch Träger wahrer 
evangelijcher Frömmigkeit find. Als ſolche rechten 
Zeugen evangeliichen Geiſtes, die es allezeit gegeben 
bat, ericheinen die edle, milde, liebreiche Scholaftifa, 
Aebtiſſin des Klofters Gernrode, ans dem fürit- 
lichen Haufe Anhalt, die jo anders geartete Freundin 
der Aebtiſſin Hedwig, und der Pater Klaus, der 
dem mit jehwerer Blutichuld beladenen Spielmann 
Tile kurz vor feiner tödlichen Verwundung durch 
die Verkündigung der freien Gnade Gottes in 
Ehrifto die durch Werfgerechtigfeit eritrebte und 
nicht erreichte Ruhe des Gewiſſens wiedergiebt. 
Ganz verfehlt und unmöglich ift Dagegen die Figur 


der Jungfer Bahlberg, die ewige Nothelferin des 
' Berfaffers oder wohl richtiger der Berfallerin, 





wenn diejelbe in Nöten geraten und um Löjung 


' eines geſchürzten Knotens in Verlegenheit iüt- 


Hiftorisch ſchon iſt dieſe Perſönlichkeit nicht mög- 
lich. Im Mittelalter waren die Stände ſtreng 


' geichieden. Jeder Stand hatte jein Necht und jein 


Standesbewußtjein und achtete das Necht und die 
Ehre der übrigen Stände, aber eine Vermiſchung 
der Stände fand im Mittelalter jelbit im gejelligen 
Verkehr nicht ftatt. Die Tochter eines zünftigen 


‚ Schneidermeifters hat ficherlich nie mit der Tochter 


eines ftolzen Gejchlechters oder mit einem Edel: 
fräulein in jo traulichem, alle Standesunterjchiede 
verwijchenden Verkehr geitanden wie die Jungfer 
Bahlberg in unjerer Erzählung mit der Eva von 
Kitliß und der Elia Graßhof. Aber auc) pſycho— 
logiſch leidet ihre Figur an vielen Mängeln. Wir 
übergehen ihre unausjtehlidhe Geſchwätzigkeit und 
Neugierde, ihr häufiges unerlaubtes Horcden, das 
mit ihrem jonjtigen edlen Sinn jchwer in Einklang 
zu bringen ift. Aber iſt es wohl denfbar, dat 
ein Mädchen, dem joeben exit der Vater durch die 
Krieger der Aebtiſſin erjchlagen ift, jofort nad) 


1358 


jeinem Tode ohne jede Thräne, ohne jedes Wort 
des Vorwurfs mit wahrer Begeifterung dem Nuf 
der Webtijfin, im ihren Dienit zu treten, folgt? 
Berfaflerin schreibt in der Sprache unſerer Zeit 
und bemüht fich nicht, wie 3. B. Guſtav Freytag 
in jeinen Ahnen, durch altertümliche Nedewen- 
dungen und Wusdrüde ihre Erzählung mit dem 
Zauber des Mittelalters zu umkleiden. Es iſt dies 
an jich nicht zu tadeln. Doch gar zı moderne 
Ausdrüde und Redeweiſen jollten in einer hiftori- 
ſchen Erzählung billig vermieden werden. „Es iſt 
eine gute Seele,“ jo hört man wohl in einen 
„Damencafe“ des 19. Kahrhunderts reden, aber 
ihwerlich jprachen jo die rauen des 15. Nahr- 
hunderts. Die „Damen und Herren" unjeres Jahr- 
bunderts „fahren“ von einem „Souper” nach Hauſe, 
die „Nitter und Frauen” des 15. Jahrhunderts 
„Titten“ nach einer Gafterei hoch zu Roß zurüd 
nicht auf ihr „Gehöft“, jondern auf ihre „Burg“, 
oder auf ihr „Schloß”. Troß diejer Ausitellungen 
im einzelnen iſt „eine Quedlinburger Aebtijjin“ 
doc; zu empfehlen und eignet fich namentlich zum 
Borlejen in jedem Familienkreije. 
L. v. O. 


— Das Neſſusgewand. Roman von Fedor 
von Zobeltitz Zwei Bände. (Stuttgart, Leipzig, 
Berlin. Deutſche Berlags-Anftalt.) 1888. 311 ı. 
327 S. I M., geb. 10 M. 


Ein Roman, der troß jeines klaſſiſchen, etwas 
weit hergeholten Titels auf klaſſiſche Eigenichaften 
weiter feinen Anjpruch machen fanı. Modernite 
Sejellichaft zwar, elegantefte Einrichtungen, neueſte 
Toiletten, mit Fremdwörtern gejipidte Sprache 
— chinoiserien, porte- bonheurs, paneelsofas, 
niaiserien, turbulöse, copiöse diners — aber im 
großen und ganzen nur ziemlic mangelhaft 
gezeichnete Charaktere und zwar oft recht Fräftige, 
aber nicht ſehr mwahricheinliche Handlungen. Der 
Name Nejiusgewand ift Bd. I S. 60 erflärt: 
Wie der gewaltige Heraklide, („Heraflide“ lautet 
voller wie das einfache „SDerkules“!) der den 
nemeijchen Löwen und ben Gerberus bezwungen 
und den die hundertlöpfige Hydra nicht Hatte ver- 
nichten können, den fraftjtrogenden Yeib mit der 
glänzenden Hülle bekleidete, da jchlug Sie in 
Flammen auf und verbrannte md eritidte den 
Unjeligen . . . So verbrennt und verjengt unjer 
Herz, jo eritiden wir unter dem Fluch der Ver- 
gangenheit.“ — In der That haben die Haupt 
perjonen des Gtüds alle ein ganz gehöriges 
Nellusgewand — das Volk, jtatt des Gemwandes 
einen Steden als Bild nehmend, hat für dieſes 
Neflusgewand einen zwar nicht jo klaſſiſchen, dafür 
aber um jo draftiicheren Ausdrud — und doch 
verbrennt nur ein Herz unter dem Fluche der 
Vergangenheit, die anderen befinden fich ſchließlich 
ganz wohl. Somit iſt der Titel verfehlt, obgleich 
er ſich jo jchön auf dem Umſchlage ausninmt. 


Auch die Charaktere, jagten wir, jind meijt ver- 
fehlt. Was joll man von dem Haupthelden halten, 
der als erniter, ruhiger, welterfahrener Mann 
nejchildert wird, der aber bereits beim Erjteigen 
ber Treppe des Hotels, die er mit einem Handlungs: 


Nene Schriften. — Unterhaltungslitteratur. 


reijenden hinaufgeht, dieſem wie beiläufig mitteilt, 
daß er jchon in Anftralien, in Amerika ſogar 
Patagonien) und im Afrifa gewejen it! Oder 
wenn er zum Kellner jagt, als ihm die Treppen 
zu viel werden: „An olympiſchen Regionen mag 
fichs für Götter und Halbgötter gut ruhen, wir 
armen Menichenfinder haben aber leider feine 
Flügel, uns federleicht zu den Wollen zu jchwingen.“ 
So hätte der Handlungsreijende in wohlriechenden 
Eijjenzen, Herr Carl Feodor Maier, reden dürfen, 
aber nicht Mr. Harry Newland, der eigentlich 
Freiherr von Neuland heißt, und Bo. II ©. 3 
folgendermaßen geichildert wird: „Seine reden- 
hafte Erjcheinung, das ſtolze Antlig mit den 
glänzenden Augen und der hohen, intelligenten 
Stirn, der tiefe Metallflang jeiner Stimme, jein 
ficheres Auftreten und jein ariitofratiihes Weſen 
ichien ihn dazu zu prädeftinieren, eine gebietende 
Stellung einzunehmen.“ Dabei faulenzt diejer 
Nede in jehr zweidentiger Gejellihaft am Genferjee 
herum. Ebenſo ift im höchiten Grade verfehlt 
— amd auch nicht durch die Bemerfung ©. 298 
motiviert — die Art, in der die jonft jo rejervierte 
Komtejje Clara einem fremden, den fie eben erit 
fennen gelernt hat, intime Mitteilungen über das 
Eheverhältnis ihres Bruders macht. Noch taktlojer 
ift die ihr in den Mund gelegte, an Newland, 
den fie liebt, gerichtete Klage Bd. II ©. 192 
darüber, daß fie den Namen, den fie führt, nicht 
„fortpflanzen“ kann. Newland bricht überhaupt 
zu viele Herzen. 

Oft wird der Mund etwas jehr voll genonmmen. 
Ueber das Leben Newlands in Amerifa wird 
Br. II ©. 45 berichtet: „Bald in mannigfachen 
Stellungen in den Großſtädten thätig, bald mit 
einer Gejellichaft Büffeljäger die Pampas durdj- 
jtreifend, bald im Solddienfte der Regierung gegen 
die aufjtändiichen Caddos und die Fallindianer 
kämpfend, bald nach gleißendem Gold am Safra- 
mento und nach Silberminen in den Yelsichluchten 
der Sierra Nevada grabend — bald da, bald dort 
in hundertfachen Metamorphoijen — jo ver 
floſſen die erſten Jahre.“ In Rußland ging es 
dem geplagten Helden beinahe ebenjo, Bd. I 
©. 63: „In jener Zeit, da er unter zebnerlei 
Verfleidung ſich vor den Schergen des ruſſiſchen 
Bolizeimeijters verjteden mußte, da er auf hober 
See mit dem Tod in den Wellen rang und auf 
den Diamantfeldern Auftraliens mit einem Schwarm 
entlaufener Sträflinge um jeine Beute kämpfte.“ 
Was mag Mr. Newland erit gar in Patagonien 
erlebt haben! — Das heißt man doc; die Farben 
| etwas die auftragen. Doc da es Leute giebt, 
die diejer Luxus nicht jtört, die von einem Romane 
nur verlangen, daß er ihnen die Zeit angenehm 
vertreiben hilft, jo kann ſolchen Xejern das 
„Neſſusgewand“ angelegentlichit empfohlen werden: 
der Roman ift wenigitens nicht langweilig, die 
' Sitwation oft leidlich jpannend und das Hotel. 
‚ leben am Genferjee gut dargeitellt. Dem Ver— 
fajier aber wäre zu wünſchen, daß er juchen 
| möchte, jein zweifellojes Talent etwas zu ver— 

tiefen. Er wird dann imftande jein, weit beilere 

Erfolge zu erringen. 

Scı.K. 








Neue Schriften. — Litteraturgeichichte. 


6. Litteraturgeſchichte. 


— Franz Grillparzer als Dichter des Tragi- 
ſchen. Bon Johannes Volkelt, Profeſſor der 
Philofophie an der Univerfität zu Bajel. (Nörd- 


fingen. H. Bed! 
— kr der E. 9. Bed’ichen Buchhandlung.) 


Als Byron am 12. Januar 1821 in fein Tage | 


buch ſchrieb: „Mitternacht: ich las Guido Sorellis 
italieniſche Ueberſetzung der Sappho des Deutſchen 
Grillparzer. Grillparzer! Ein verteufelter Name, 
aber man wird ihn ausſprechen lernen müſſen“, 
ſprach er ein Wort aus, das damals nicht nur 
für den Ausländer Geltung hatte. Wie langſam 
gewöhnten ſich die Litterarhiftorifer an den Namen, 
den fie nur jehr allmählich und zum Teil wider. 
ftrebend nennen gelernt haben. Bezeichnete doc) Tied 
Grillparzer als einen Dichter für Karaiben! Dann 
fam eine lange Zeit, in der, wenn man fich in den 
betreffenden Litteraturgeichichten über Grillparzer 
unterrichten wollte, man fait überall nur ver- 
werfende Urteile fand, die meift eine verzweifelte 
Nehnlichkeit untereinander bejahen, weil fie eben 
auf eine Quelle zurüdgingen. Erſt als Grillparzer 
nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hatte, 
ward ihm der jo lange vorenthaltene Ruhm end» 
lich zu teil. Und heute: Nennt man die beiten 
Namen, dann wird aud) der jeine genannt. 


Es ift ein wahres Berdienft, das Profeſſor 
Volkelt fich dadurch erworben hat, dab er gerade 
das Tragiiche in Grillparzers Werten, den innerjten 
Kern jeines Schaffens, Har dargelegt und jomit 
den Wert jeiner dramatijchen Dichtung überhaupt 
in das rechte Licht geitellt hat. Bon Einzelheiten 
machen wir nur auf jeine mujtergültige Erörterung 
der Schidjalsidee in der Ahnfrau —— die 
den ſchwer zu deutenden Zwieſpalt zwiſchen der 
Außerung des Dichters über ſein Werk und zwiſchen 
diefem jelbjt in überzeugender Weije erflärt. ©. 
151—171. Sehr ſchön veriteht es der Verfaſſer, 
aus dem eigenen Charakter Grillparzers denjenigen 
feiner Hanptperfonen und ihre Anſchauungen zu 
entwideln. Die Art, wie er dabei überall in wohl. 
erwogenen Urteile, maßhaltig und gerecht, Licht: 
und Schattenjeiten in jelten objeftiver Weile ab- 
mißt, berührt auf's Wohlthuendſte. Ebenjo hat 
uns die volle Würdigung von Grillparzers reizen- 
der Novelle „Der arme Spielmann“, eine der 
beiten Erzählungen, die wir überhaupt beiigen, 
ungemein angeiprochen. Gleichfalls unjeren vollen 
Beifall haben die Schlußtworte, in denen Grill 
parzers richtiger Realismus zu dem des „aller- 
jüngiten Dentichland* in den jchärfiten Gegenſatz 
geitellt erjcheint; „zu dieſer allermodernjten Art, 
welche in dem jchamlojen Hinftellen der krank— 
haften und efelhaften Seiten des gegenwärtigen 
Kulturlebens den Maßſtab für den Wert des 
Dichters jieht und von der menichlichen Ausreifung 
und künſtleriſchen Durchbildung der dichteriichen 
Individualität faum eine Ahnung bat.” 

©. 114 „der geliebte Gegenſtand“ für „die Ge— 
liebte“ ift, wenn auch logiſch jehr richtig, doc 
etwas gar altfränkiſch philiitrös ausgedrüdt. Selt- 
jam ericheint S. 211 die Behauptung, daß, wenn 
auch das weltſcheue Wejen Hero und Leanders zu- 


1359 


gegeben wird, ihnen doc feineswegs die jugend- 
friiche Wageluft verloren gegangen jei und Hero 
„auf Unbefangenheit und Munterkeit Anſpruch 
machen“ könne. Wer auf Unbefangenheit Anſpruch 
macht, ift eben nicht mehr unbefangen, es jei dem, 
daß er es nachträglich zur Nechtfertigung irgend 
einer Handlung oder Unterlaffung thue. 

Das Werk Volkelts erfüllt jeinen Zweck voll. 
fommen, das Verftändnis für den Gehalt und die 
Form der dramatischen Dichtungen Grillparzers zu 
erhöhen und die Erkenntnis immer allgemeiner zu 
machen, dab „die Dentichen im ihm einen großen 
Dramatiker befigen“. Mit Hecht weiſt er darauf 
hin, daß in einer Zeit, wo „auf untergeordnetes 
Zeug und nichtigen Quark (Goethes Wajdzettel!) 
eritaunlich peinliche Erkenntnisbemühungen ver- 
ſchwendet werden, nicht leicht zu viel Sorgfalt auf 
die Erforfchung der großen Züge in der Geijtes- 
arbeit eines unjerer hervorragendften Dichter ver- 
wendet werden kann“. Die Wege Hierzu bahnt 
feine Schrift in vorzüglidher Beile und erleichtert 
die nicht immer einfache Arbeit des Eindringens 
in die Erkenntnis der Abfichten Grillparzers in 
erwünschtefter Weile. Inhaltreihe Anmerkungen 
und ein genaues alphabetijches Regiſter helfen 
dazu mit. 

Das Werk jei deshalb allen, die fich mit Grill 
parzer beichäftigen, allen, die ihn kennen lernen 
wollen, aufs wärmfte empfohlen, damit des Ver— 
fallers Hoffnung in Erfüllung gebe, auf „jene 
Gemüter, die in der Beichäftigung mit der Dicht: 
funft — um mit Grillparzer zu ſprechen — nicht 
bloß ein „Vergnügen“, jondern eine „Erhöhung 
ihres ganzen Daſeins“ genießen, und denen der 
Umgang mit den Dichtern ein „erhöhtes Wachen 
mit glänzenden Gejtalten“ ift; die Hoffnung näm— 
lich, daß unter ihnen ſich einige finden, die, „ei 
es durch Zufall oder aus Vorurteil, Grillparzer 
bisher bei ſeite liegen gelaffen haben, und die ſich 
nun durch jeine Betrachtungen eingeladen und 
gelocdt fühlen, mit dem Dichter vertraute Belannt- 
ichaft zu machen“. Möchten ihrer auch aus dem 
Leſerkreiſe diefer Zeitichrift recht viele jein! 
Johann Georg Zimmer und Die 
Romantifer. Ein Beitrag zur Geſchichte der 
Romantik nebſt bisher ungedrudten Briefen von 
Arnim, Böckh, Brentano, Görres, Marheineke, 
F. Perthes, Savigny, Brüder Schlegel, Tied, 
de Wette u. a. Herausgegeben von Heinrich 

VW. B. Zimmer Mit J. G. Zimmers Bildnis. 

(Rranffurt a. M. Heyder und Zimmer.) 1888. 
VIII u336© 3 M. 


An diefem Buche fejlelt jchon das Titelblatt. 
Johann Georg Zimmer, der Freund ber 
Romantiker (von 1805 bis 1815 Buchhändler in 
Heidelberg, von 1815 bis 1853 Pfarrer in 
Schriesheim, Worms, Lid und Frankfurt a. M.) 
erhält zum Biographen jeinen zweiten Sohn, den 
| verdienjtvollen Verleger Heinrich Zimmer in 

Frankfurt a. M., deſſen Haupt » Lebensaufgabe 

darin bejtanden hat und noch beiteht, Luthers 
| Schriften zu verbreiten. Was der Sohn aus des 
' Vaters Nachlaß, jowie aus eigner Erinnerung 

zujammengejtellt hat, bildet den einen Bejtandteil 


1360 


bes vorliegenden Buches, während der andere aus 
jorgfältigen und fleißigen Auszügen aus litterariſchen 
Beifehriften und Werfen fich zufammenjegt. Der 
Stoff iſt allzu jpröde, als daß eine einheitliche 
Biographie Hätte zu jtande kommen können. 
J. ©. Zimmer war doc) nur ein Jahrzehnt lang 
der Verleger der Romantifer, fait die vierfache 
Zeit war er Pfarrer. Als jolcher ijt er zwar 
ftets in Verbindung geblieben mit den Freunden 
und Beziehungen jeiner Jugendjahre, aber an die 
Stelle des mehr nad außen wirkenden, an die 
große Deffentlichkeit tretenden Lebens des Ber 
legers iſt das mehr nach innen gerichtete, jeiner 
Gemeinde gehörende Leben des Pfarrers getreten, 
zwei höchſt verjchiedene Berufsarten. Zimmers 
geiftiges Leben ift freilich dasjelbe geblieben. 
Er war als Buchhändler derjelbe treue, zuver- 
läjfige, nach dem Höchiten ftrebende Mann, welcher 
er nachmals als Geiftlicher gewejen ift. Unter 
den Buchhändlern jeiner Zeit muß er ſich durch 
Eigenjchaften ausgezeichnet haben, die nicht häufig 
zu finden find. Geine eriten Nutoren waren 
Elemens Brentano und jein Schwager Ludwig 
Adim v. Arnim. Kurz vor jeinem Tode hat 
Brentano von München aus an den Jugendfreund 
geichrieben: „Ihr Andenken ijt mir immer unbe 
jlect lieb und tener. Ein Buchhändler, wie Sie 
es waren, ift jo ehrwürdig, wie eine unjchuldige 
Magd im Wirtshaus!” 

Auch dem tüchtigiten Biographen wäre cs 
ichtwerlich gelungen, den in unjerem Buche vor 
liegenden Stoff zu einem abgerundeten, einheit- 
lihen Bild zu gejtalten. Der Verf. hat aud) den 
Verſuch unterlafien, er hat es vorgezogen, zur 
gerechten Würdigung der Nontantifer, bei der ſich 
ihm darbietenden ſchicklichen Gelegenheit, reich— 
lichen Stoff in biographiſcher wie litterar— 
geſchichtlicher Beziehung zuſammenzubringen, damit 
dem jetzt lebenden, von oberflächlichen Köpfen 
vielfach verführten Geſchlechte wieder einmal vor 
Augen geführt wird, was wir an den Roman— 
tikern gehabt haben. U. a. von Bethmann 
Hollwey hat in dieſer Hinficht geäußert: „Es iſt 
zwar jegt Mode, in dem ftolzen Selbjtgefühle, wie 
wir’s jo weit gebradht, und im Nüdblid auf die 
Auswüchſe der romantiichen Schule, dieje gering: 
ichägig zu beurteilen; aber dieſe Epigonen ver- 
geilen, daß unſer großer Dichter, den fie abgöttiſch 
verehren, nah der in Straßburg von Herder 
enipfangenen Anregung, in jeinem Sinn für 


Volkslied und Märchen, in der Bewunderung | 


Shafeipeares und in jeinen Dichtungen: Göt und 
Fauſt, der erjte deutſche Nomantifer war.” (©. 37.) 
Wer geringichägig über die Romantiker urteilt, 
jtellt ji Damit ein Armutszeugnis aus Wer 
ji) aber, frei von Anſchauungen, wie fie der die 
Baden voll nehmende 
Hilfe des vorliegenden Buches über das ver- 
gewillern will, was die Nomantifer gedacht und 
geidhrieben haben, der leſe den einen und den 
anderen litterariichen Schatz, welcher, in ver 
geflenen Zeitichriften vergraben, von dem umfichtigen 
Verf. neu an's Licht gezogen worden ijt; beiipiels- 
weile Unlands Aufiag „Ueber das Romantische” 
(©. 2i) oder die ©. 122 ff. vorzugsweije mit 


I 
N) 


Neue Schriften. — Weihnacdhtslitteratur. 


| geteilte Rezenfion über des Knaben Wunderhorn, 
welche Görres verfaßt hat, oder die ©. 130 ff. 
‚ mitgeteilte Stelle Arnims aus der Vorrede zu 


| feiner Ausgabe von Predigten des alten Magiiter 


Mathefius oder Görres über Arnim ©. 137. 


— €s bedarf feiner bejonderen Verficherung, dat 


die von 9. Zimmer veröffentlichten Briefe der 


| Nomantiter an den Buchhändler J. G. Zimmer, 
‚ ein ganz bejonderes Antereife in Anſpruch nehmen. 


Doc macht die Zahl der Briefe, verglihen mit 
ihrem Inhalt, den Eindrud, als ob eine Menge 
von Briefen verloren jein muß. — Die biogra- 
phiichen Nachrichten über die Nomantifer hat 
9. Zimmer den beiten Büchern entlehnt. Er bat 
ſich feine Mühe verdrießen laflen, den vorhandenen 
Quellen nachzugehen, mandmal mit negativen 
Erfolg, wie das bei derartigen Arbeiten nicht 
ausbleibt. — Wir haben von Haym ein eignes 
Buch über die romantiiche Schule. Wer dasjelbe 
fennt und zu würdigen verjteht, wird finden, daß 
der Wert des Buches über 3. ©. Zimmer dem 
Gegenftand der Romantik näher gelommen iſt als 
Haym. Hier hat der Buchhändler den Schrift: 
jteller von Beruf übertroffen. Das kann ſich der 
Verf. zum Troft dienen lajjen, wenn man ihn 
auch, von der einen oder der anderen Seite, das 
unorganiſche, bruchitüd- umd miojaifartige jeiner 
Schrift vielleicht zum Vorwurf machen — 





7. Weihnachtslitteratur. 


— Nußknacker. Ein illuſtriertes Rätſelbuch 
in zwei Sammlungen, enthaltend 1350 Kinder— 
und Boltsrätjel, Scerzfragen, Rebuſſe, Spiel 
liedchen, Vershen und Gebete. Herausgegeben 
von E. Lauſch. Alnftriert von C. Gehrts. 
Neunte Auflage. (Bremen. Verlag von M. 
Heinfius.) 1887. 156 ©. 

Der Titel jagt, daß das Meine Werf uns reichen 
Anhalt bietet; im übrigen geht ſchon aus der 
Inhaltsangabe hervor, dab es kaum möglich iſt, 
ein Urteil in ein paar Worte zuſammenzufaſſen. 
Wer jolche Bücher kaufen will, muß ſie jehen und 
urteilen, ob fie jeinen Zwecken entiprehen, das 





„Realismus“ hegt, mit 


vorliegende jei der Beachtung empfohlen. Die 
‚ Nusjtattung ijt freundlich und elegant. 
— Deutjher Kinderfreund. Zebuter 


Jahrgang. Herausgegeben von E.Nind. Breis 
pro Quartal 75 MN 

Der deutjche Kinderfreund, der jeinen Jahrgang 
im DOftober beginnt, bringt uns die 12 Nummern 
des vergangenen Jahres wieder in dem befannten, 
hübſch ausgejtatteten Einband zum Buch zufammen- 
geitellt. Faſt jcheint es mus, als ob das ſonſt 
nicht mehr der Empfehlung bedürfende Werk, da 
es befannt und was in dieſem Falle gleidy 
bedeutend, geſchätzt und beliebt in weiten Kreiſen, 
diesmal nod) ein befonderes Wort der Anerkennung 
bedürfe, da es in Wahrheit eine jelten reiche und 
ihöne Sammlung, die ihrem Orundiage: „Für 
die Kinder ift nur das Beſte gut genug“, in jeder 
Weije entipricht. Die Namen der Herausgeber 
und Mitarbeiter: Fries, Nind, Frommel, Funke, 
Steam ıc., ſprechen für ſich jelbit, und ein gleiches 





Neue Schriften. — Weihnadhtslitteratur. 


thut ihre Werk, jo ſei dem deutichen Kinderfreund | 


denn nur gewünjcht, daß er, wo noch nicht bekaunt, 
ſich vorftellen dürfe, um ein Freund des Haujes 
zu werben. 


— Reihnadten in Lied und Bild. 
Eine Sanımlung von Liedern und Gedichten von 
Elemens Brentano, Dieppenbrod, Drewes, Gielhen— 
dorff, Gerok, Louiſe Henjel, Gräfin Hahn-Hahn u. a. 

Herausgegeben von Auguſt Meer. Illuſtriert 


von Peszler, (Drud u, Verlag von €, T. Rifcott | 


in Breslau.) 54 Ceiten, Preis 4,50. | fi 

Eine eigentümliche Liederſammlung, injofern die 
große Mehrzahl derjelben von Konvertiten herrührt. 
Daß auch Karl Gerof in diejer gemijchten Gejell- 
ichaft eine Hütte gefunden, ift wohl auf geichäftliche 
Gründe zurüdzuführen. Die Jlluftrationen jind 
jehr mittelmäßig und der Preis von 4,50 Mart 
ein verhältnismäßig viel zu hoher. Auch iſt es 
ein Mißgriff, dab die immere Umifchlagsieite 
eines Buches von religiöjem Anhalt mit Karrila- 
turen bedrudt ift, tanzenden Elefanten u. dgl. mı. 


— Bon der Sammlung „Preußens Heer — 
Preußens Ehr“ ift im Verlage von Ferdinand 
Hirt u. Sohn (Leipzig) als vierter und legter 
Band und als willtommene Gabe für manchen 
Weihnachtstiſch erichienen: „Am Nod des 
Königs, eine Erzählung aus den Jahren 
1864 bis 1871.” Der reiferen deutſchen 
Jugend ift fie von ihrem Verfaſſer Osfar 
Höder bejtimmt. Der Name desjelben allein 
ihon bürgt dafür, daß unjerer Jugend in ihr 
eine jchöne Gabe dargebradyt wird. Drei Feld— 
züge, der däniſche, der deutich » öfterreichijche 
und der franzöftiche werden dem Lejer vorgeführt. 
Die hiftoriiche Erzählung ift verfmüpft mit der 
Berjon des Gefreiten, Unteroffiziers und endlichen 
eldwebels Wiüppfe, der überall dabei gewejen iſt. 

Die Sprache und die Darjtellung ift entiprechend 
dem gejchilderten gewaltigen Stüd vaterländiicher 
Gejchichte edel und gehoben von patriotijcher 
Geſinnung und EM a Möge „im Nod 
des Königs” einer gleichen Sinn in die Herzen der 
lejenden Jugend pflanzen! 1. 


— Neſthäkchens Zeitvertreib. Ein 
Bilderbuch für unjere Kleinften. Mit 50 bunten 
Bildern von V. P. Mohn und 45 Liedern und 
Neimen von G. Ehr. Dieffenbad. (Bremen. 
M. Heinfius.) 

Eine Sammlung außerordentlich niedlicher und 
gelungener Sinderbilder und Berje, von Talent 
und Gejchmad zeugend, die man gern jedem Kinde 
in die Hand geben wird, ficher dasjelbe damit zu 
erfreuen und gleichzeitig jein Verſtändnis und jeine 
Freude am Schönen zu bilden. Iſt aufs wärmite 
zu enipfehlen. 


— Die Erben von Scharjened, Bilder 
aus der Zeit der Königin Luije von 
Brigitte Auguſti. (Leipzig. Ferdinand Hirt 
und Sohn.) 

Mit diefem Bande erreiht die Sammlung 
„An deutihem Herd” ihren Abichluß. 





| und der Befreiungsfriege. 


1361 


Zweck diejer Sammlung von fulturgejchichtlichen 
Erzählungen aus alter und neuer Zeit war es, 
der hählichen und zwed- und planlos aufichiegenden 
Litteratur für die reifere Jugend, insbejondere 
der jogenannten Mädchenlitteratur, eine wejentliche 
Vertiefung durch einen weitangelegten fultur- 


ı geichichtlichen Hintergrund zu geben. Diejer Zweck 
iſt nach jeder Richtung hin erreicht und die Auf- 
ı gabe, die Verfaflerin und Verlagbuchhandlung ſich 


geitellt haben, voll gelöft. 

Die „Erben von Scharfened” ſpielen ſich ab 
in den Zeiten der großen franzöfiichen Revolution 
An buntem Wechjel 
ziehen an dem Lejer Schilderungen aus dem Hofs, 
Soldaten und Bürgerleben vorüber. Die Königin 
Luije, die idealjte Geſtalt aus jenen Tagen tiefiter 
Erniedrignng und höchiter Erhebung, fteht in dem 
Vordergrund der Erzählung. Ihr gehört dies 
Bud eigentlihh an. Die BVerlagsbuchhandlung 
hat dasjelbe mit vielen, zum größten Zeil jehr 
guten Bildern reich ausgeſtattet. —t2—. 


— Aus dem alten deutichen Reiche. Hiito- 
riiche Erzählungen in romantijcher Form aus dem 
Mittelalter. Für die heranwachſende deutiche Jugend 
von Dr. Franz Heyer, Gymmafial » Direktor. 
Inhalt: Band I: Kaifer Konrad II. Band 11: 
Raijer Heinrich III. Band III: Kaijer Heinrich IV. 
Band IV: Der erjte Kreuzzug (1096—1100). 
Band V: Kaifer Heinrich V. Jeder Band, mit einem 
Titelbilde verjehen, koſtet brojchiert 1 ME., kart. 
1,20 ME., elegant in Leinwand gebunden 1,50 Mt. 
(Verlag von Mar Woywod in Breslau.) 

Der Verleger der „Baterländiichen Gejchichts- 
und Unterhaltungsbibliothef”, welche in 18 bis jegt 


' erjchienenen Bändchen ihre Stoffe ausichließlid aus 
der neueren und neueſten Geichichte Breufens, jeiner 








Herrſcher und Helden genommen hatte, ift auf das 
Anerbieten eines deutihen Pädagogen gern einge 
gangen, den Kreis derartiger Erzählungen zu er 
weitern und unferer Jugend eine Sammlung von 
Erzählungen aus dem Mittelalter zu bieten, jo- 
weit dabei unjer größeres deutjches Gejamtvaterland 
in Betracht fommt. Die fünf erjten Bände find er- 
ihienen. Die Form der Darjtellung hält die Mitte 
era geichichtlicher Erzählung und geichichtlichem 

oman. Die Geftalten der Katjer und der hervor: 
ragenden Perſonen ihrer Zeit find geſchichtlich treu, 
jo wie fie uns aus den zuverläjjigen Quellen des 
Mittelalters entgegentreten, wiedergegeben. Dadurch 
aber, daß dieſe Geftalten handelnd und redend 
eingeführt und in gejchidter Weije mit zum Teil 
ideal gehaltenen, vom Verfafler erfundenen Neben: 
geftalten verfnüpft werden, wird das Ganze zu 
einer bisweilen ſtark romantischen, aber Dramatiih 
bewegten Einheit verbunden. 

Ganz bejonders lobende Erwähnung verdienen 
die als Anhang jedem Bande beigegebenen Be- 
merfungen, weldye einen belehrenden Zwed haben. 
In dem Anhang zu Band I wird 3. B. in ein 
facher, Harer und bündiger Form über die Ent- 
itehung und Bedeutung des Königtums dei den 
Germanen, über Gefolgichaft, Lehns- und Ritter 


‚ wejen, über den Stand der freien Bauern, über 


Fehde, Acht und Bann und über die Kunft des 


1362 


Schreibens Auskunft gegeben. Nach der anregenben 
Lektüre der eigentlichen Erzählung werden die 
Schüler diejen Iehrreichen Bemerkungen ein erhöhtes 
Intereſſe entgegenbringen. 

Wir können daher die Anſchaffung des Heyer'ſchen 
Wertes für die reifere Jugend empfehlen. Nur die 
Bilder ftehen nicht ganz auf der Höhe der Zeit. 


— Jmmergrün von Julius Sturm, illuft- 
tiert von Paul Thumann. 2. Auflage. (Leipzig. 
Amelangs Berlag.) 97 © 6 M. 

Aulius Sturm tft befannt, desgleichen der Künſtler 
Paul Thumann, der zu einem Teile der neuen 
Lieder des heimgegangenen Dichters Alluftrationen 
gezeichnet hat. Wenn unter den Gedichten ſowohl 
wie unter den Jluftrationen einige mehr, andere 


minder anjprecheud jind, jo ift das ein Umftand, | 


den alle Gedicht- und Bilderfammlungen gemein 
haben. Wir lenfen die Aufmerkſamkeit unferer 
Lejer auf das prächtig ausgeftattete Werk. Auf 
diejem Gebiet der Litteratur enticheidet ja mehr 
wie auf allen anderen der individuelle Geſchmack 
und die größere oder geringere Sympathie, die 
man einem Dichter oder Künſtler entgegenbringt. 


8. Berjdhiedenes. 


— Das Geelenleben der Bögel. Charalter- 
bild von Dr. F. Holle. Altona. Berlag von 
F. IThiemann. _ 

Die meiften Menſchen haben wohl ein gewiſſes 
Intereffe an der Vogelwelt. Viele freilih mur 
ein Fanginterejje, welches fie 3. B. im vorigen 
Winter nicht hHinderte, die Not dieſer armen 
Kreaturen Gottes auf unjerm Kirchhofe durd) 
Bogelitellerei auszubeuten, bis man dahinter fam 
und ihnen das traurige Handwerk legte. Hier nun 
ericheint ein Vogelſchutzbuch. Wir laſſen uns das- 
jelbe gern gefallen. Es bringt eine ganze Neihe 
von jinnigen hübjchen Zügen aus der Vogelwelt, 
welche uns dieje befiederten Gäſte anziehend und 
lieb machen können. Was der Verfafler daraus 
für die Bogeljeele ſchließt, iſt mir freilich fraglich. 
Nicht als ftritte ich den Vögeln eine Seele ab. Es 
müßte nur näher beftimmt werden, was denn für 
eine Seele fie haben. Der Begriff Seele ift in 
jeiner Anwendung auf die untermenjchliche Lebens- 
welt ein auffteigender, die Schwierigkeit liegt darin, 
zu jagen, welcden Anteil die Vogelwelt an ihm 
hat. Nehmen wir darum lieber die Holleihe Schrift 
als eine jolche, die ein gutes Wort bei uns für 
die Vögel einlegen will, und empfehlen wir jie 
allen, die eine Liebe zu ihnen und eine Freude 
an ihnen in ihrer Menichenjeele tragen, und 
wünjchen wir, daß deren immer mehr werden 
möchten. Es giebt ja aud) eine ungejunde Stellung 
ur Bögelwelt nach jeiten der Schonung und Für— 
* hin. Halten wir uns davon ebenſo frei wie 
von der grauſamen Verachtung und Verwüſtung 
derſelben. D. 


— Ueber die menſchliche Freiheit. 
Prorektoratsrede von Kuno Fiſcher. Heibdel- 
1, Karl Winters Univerjitäts-Buchhandlung. 


i 


| 


Neue Schriften. — Berjchiedenes. 


Dieje Rede ijt bereits im Jahre 1875 gehalten 
und als akademiſche Drudjcrift verteilt worden. 
Ausgehend von dem Beitreben des erften badiſchen 
Großherzogs Karl Friedrich, jein Voll zur bürger- 
lichen freiheit zu erziehen, fonımt der Verfafier 


zunächſt auf die natürliche freiheit im all- 


'8 





emeinen, auf die akademiſche Freiheit als 
im Beijpiel jeiner, dann auf die Bernunft- 
und Geijtesfreiheit und auf die moralische 
reiheit. „Der natürliche Charakter des Menſchen 
ift von der Selbitliebe nicht bloß bewegt, jondern 
beherrjcht, d. h. er iſt jelbftjüchtig geartet 
und gerichtet. — — Diejenige Geinnungsänderung, 
die einzig und allein That und Zeugnis der Frei- 
heit ift, geichieht nicht an der Oberfläche, jondern 
in der Wurzel, nicht auf der Außenjeite, jondern 
im innerſten Grund des Charalters, fie ändert Die 
von der Selbſtſucht getriebene Millensrichtung, Tie 
ift eine Umwandlung. — — Wenn die menjch- 
liche Freiheit nicht in der Umwandlung beiteht, 
jo fann jie nur in der Vernichtung bejtehen. Hier 
untericheiden fich die beiden größten Religionen 
der Welt: Der Glaube an dieſe Umwandlung, 
die Willenserneuerung von Grund aus iſt das 
EChriftentum; der Glaube und die Hoffnung 
auf diefe Vernichtung it der Buddhismus.” 
Dieje Süße werden ausreichen, um eine ®or- 
ftellung von der Haren, verjtändlichen Form und 
von dem gediegenen Inhalt der Heinen Schrift zu 
geben. O. 8. 


— Der Alkohol als Betrüger und Mör- 
der entlarvt. Ein amerifaniiches Handbuch der 
Temperenz nach Juſtin Edwards D. D. rei ins 
Deutſche übertragen von F. Th. Foncar, Miſſionar 
in China. Johs. Schergend. Bonn. 

Daß der Alfoholismus einer der jchlimmiten 
Feinde des menjchlichen Geſchlechts iſt, wirklich 
ein Betrüger und Mörder, der Taufende und Aber- 
taujende zeitlich und ewig in den Tod bringt, 
darüber ijt wohl feine Verjchiedenheit der Meinung. 
Edwards bringt darüber eine lange Reihe der 
traurigiten Beläge. Darüber aber herrſcht eine 
eig der Meinungen, wie das Uebel zu 
befämpfen jein möchte. Die amerifaniihen Tem- 
perenzler, deren Standpunkt dies Büchlein vertritt, 
wollen gänzliche Enthaltung. Der Alkohol ift nicht 
ein unmittelbares Produft der göttlihen Schöpfung, 
jondern eine Erfindung der jündlichen Genußfucht 
der Menjchen. Er wirft wie ein Gift. Zuerſt 
aqua vitae. Lebenswaſſer, genannt und für ein 
Univerjalmittel gegen alle Krankheiten gehalten, 
iſt er in Wirflichleit ein Todeswaſſer. Darım 
gilt es den Temperenzlern als Pflicht, fih aller 
rlüjfigkeiten zu enthalten, die eine berauſchende 
Wirkung haben. Die Folgerung, welche ein über- 
ſpanntes Temperenzlertum gezogen bat, dab aud) 
der Wein im Abendmahl vermwerflich jei und durch 
eine andere Flüjfigfeit erjegt werden müſſe, iſt 
hier nicht gezogen. Ich muß aber von mir be 
fennen, daß ich diefen in Amerika eingejchlagenen 
Weg der Bekämpfung des Altoholismus nicht 
mitgehe. D. 


Neue Schriften. — Verjchiedenes. 1363 


Neue Schriften, 
welche der Redaktion zugegangen und vorbehaltlich näherer Beſprechung 


zunächit hier angezeigt werden. 


Das Gebet des Herrn. Predigten über das heilige Baterunjer in dev Neſchwitzer Kirche gehalten 
von Georg Jacob, evang. luther. Pfarrer. (Dresden, Heinrid; Morcel.) 1857. W S 

Deutihlands Kampf gegen Frantreih 1870-71. Für — Bolt urb Sagenb 
erzählt von G. Weitbrecht, Stadtdefan in Etuttgart. Mit Titelbild und 25 Tert-Slluftr. 
3. Aufl. (Stuttgart, Buchhandi. der Evang. Gejellich.) 1888. 94 ©. 

Bibelftunden über den Brief des Apoftels Paulus an die Römer Cap. I9—16. Bon Wolfgang 
Friedrich Geh, Doktor der Theologie, Generaljuperintendent a. D. (Baſel, E. Detloffs 
Budhandi.) 1888. 465 ©. . 

Der Alkohol, als Betrüger und Mörder entlarvt. Ein amerilaniiches Handbuch der Temperenz- 
Nah Juſtin Edwards D. D., frei ins Deutjche übertragen von F. Theodor Foucar, 
Miſſionar in China. (Bonn, Joh. Schergens.) 1888. 71 ©. 

Hausandachtsbuch für Tut. Gemeinden. Tägl. Abendandachten nad der Ordnung des Kirchen: 
—* — — Meyer, Paſtor zu Rittermannshagen. 2. Aufl. (Stavenhagen, C. Beholtz. 

und 645 ©. 

Geihihte der Stadt Berlin v. Ostar Schwebel. 7,8,9.u. 15. Liefg. (Berlin, Brad) 
vogel u. Ranft.) 1888. 

Das Protoplasma als Fermentorganismus Ein Beitrag zur Keuntnis der 
Bakterien, der Fäulnis, Gährung :c v. Prof. Dr. Albert Wigand, mail. Geh. Reg.Rat 
und Direktor des botanischen Gartens und des pharmalognoitiichen nftituts zu Marburg. Nach 
dem Tode des Berfallers vollendet und herausgeg. v. Dr. phil. & Deunert, erjter Aſſiſtent 
am bot. Anititut zu Marburg. (Marburg, N. ©. Elwert) 1888. Xu. 2M ©. 

Abenditunden. Slizzen für Führer und Freunde der Jugend von M. G. W. Brandt. Mit 
phototnpiichem Bild u. Handichrift. (Gütersloh, E. Bertelsmann.) 1888. 335 ©. 

Die Allfinge. Altdeutſches Kultur » hiftoriiches Zeitbild. Bon Marie Hanftein Mit eim- 
führenden Worten von Felix Dahn. 2. Band. (Eijenah, 9. Bacmeifter.) 229 ©. 

Dieinnere Mijjion in Deutihland. Erites Bud. Handbuch der im Dienfte der Wohl. 
thätigfeit jtehenden Anftalten in Deutichland. Zum Nacichlagen zujammengeftellt von Ewald 
Schneider. Paſtor in Braunichweig. (Braunſchweig, E. U. Schwetichke u. Sohn [E. Appelhaus).) 
1888. VIII u. 252 ©. 

Das Recht des Schabdbenerjages vom Standpunkte der Nationalölonomie. Bon Dr. Bictor 
Mataja, Privatdozent für politiiche Delonomie an der Wiener Univerfität. (Leipzig, Dunder 
u. Humblot.) 1888. 204 ©. 

Die geltenden Verfaſſungs-Geſetze der evangeliichen deutichen Landesfirhen. Heraus- 
gegeben und geſchichtlich eingeleitet von Dr. Emil Friedberg, Königl. Sächſ. Geh. Hofrat u. 
Profefior an der Univerlität Leipzig. Ergänzungsband I. (freiburg i. B., J. E. C. Mohr 
Paul Siebed].Y 1888. 202 ©. 

Die Gejihidte des dritten Auguft 1833 von Wolf Biiher, Hauptmann a. D. 
N —— Belägen und drei Karten. (Bajel, Felix Schneider Adolf Geering).) 

Andreas Bräm's Briefe an Frauen und Jungfrauen über fragen aus dem praktiſchen Leben. 
In drei Reihen mit dem Bilde des jel. Verfaſſ. herausgeg. v. Gottfried Bott, Inſpektor des 
Erziehungsvereins. (Neukirchen b. Moers, im Selbitverlage des Herausgebers.) 1% © 

Heilig tft die Jugendzeit. Ein Bud) für Jünglinge v. G. Weitbrecht, Defan in Stuttgart. 
Siebente Aufl. (Stuttgart, 3. F. Steintopf.) 1888. 440 ©. 

a = die Medlenb. Landeskirche von einem Laien. (Bonn, Johs. Schergens.) 

33. 64 ©. 

Unter den Hohenzollern. Dentwürdigfeiten aus dem Leben des Generals Oldwig v. Nagmer. 
Allen deutichen Patrioten gewidmet v. Gneomar Ernft v. Napmer. Aus der Zeit Friedrich 
Wilhelms IV. 1. Teil: 1840-1848. (Gotha, 5. U. Perthes.) 1888. VIII u. 288 ©. 

Unjere Gäjte Ein Herbergsbuch fürs Haus. Mit einem begleitenden Worte von D. Emil 
Frommel u. Zeichnungen v. Eliſabeth Reich, geb. Sievefing. (Bajel, E. Dettlof.) 

Schriften des deutſchen Vereins für Armenpflege und Wohltsätigleit. Bon Dr. ©. 
Berthold. 3. u. 5. Heft. (Leipzig, Dunder u. Humblot.) 1887. 

Die Hausinduftrie in Thüringen. Bon Dr. Emanuel Sar. III. Teil. (Jena, Guftav 
Fiſcher) 1888. 152 ©. 


1364 Neue Schriften. — PVerichiedenes. 


Aeſthetiſche Studien für die Frauenwelt von Otto v. Leirner 4 Aufl. (Leipzig. 
Hermann Durjelen.) 1888. 250 ©. 

Die ehte Chriſtin und ihr Wirken Bon Karola Freiin von Eynatten. (Minden, 
Alfred Hufeland.) 1888. 86 ©. 

Sllnftrierte Kulturgeihichte von Friedrih v. Hellwald. Lie. 14—18. (Leipzig, 
Heinric Schmidt u. Karl Günther.) 1887, 

Das preußiſche Königtum und Kaijer Wilhelm I. Eine Hiltorijch-politiihe Studie 
von Dr. Hermann Klee. (Berlin, W. Moejer.) 1888. 168 ©. 

Das Seelenleben * V age Eharakter-Bild) v. Dr. Fr. Holle. (Altona, F. Thiemann 
Mattigihe Buchhandt.).) 1888. 90 ©. 

Die Bankf- und Ba ersten nette und die Auflöjung von Eigentum und Beſitz im 
Scheinbeiip. _ Bon Sermanicus. 1. Heft. Frankfurt a. M., Germanicus Verlag E. Nichter].' 
1888, 69 ©. 

Friedrich IH. als Prinz, Kronprinz u. Herrider v. Dr. Marimilian Shmig, 
Nealjchul-Oberlehrer. (Wolfenbüttel, Julius Zwißler.) 1883. 112 ©. 

Das gute Nedht der evangeliihen Lehre von der Unio mystica und ihre Befehdung 
durch Nitichl und jeine Schule v. AU. Müller, Paſtor in Barby. (Halle a. S., Adolf Kegel 
J. Fricke's Sortim.-Budyh.).) 1888. 78 ©. 

Zweite Auflage der Schrift: Rheiniſche Richter und römijde Brieiter. 
Eine troftreiche Belehrung über die römische Meile. Bon W. Thümmel, Pfarrer in Remſcheid. 
(Barnıen, D. E. Wiemann.) 1888. 108 ©. 

Praftiijde Behandlung der Geographie in Bürger und Bolfsjchulen von E. Frahm, 
Lehrer. Das deutjche Neid. Mit einem Begleitworte dv. Schuldireftor Dr. Gäbler zu Roßwein— 
(Barhim, H. Wehdemann.) 1889. VII u. 166 ©. 

Wie dienst du? Der Gräfin Luife von Uxkull in aufrihtiger Verehrung gewidmet vom Berfaffer. 
(Stuttgart, Chr. Scyenfele.) 152 ©. 

Spzialdemolratie und Chriftentum. Bortrag gehalten auf der Thüringer firchlichen 
Konferenz am 3. Mai 1888 zu Eiſenach von Gotthelf Herrmann, Kirchenrat in Konneburg. 
(Gotha, Gustav Schloefmann.) 1888. 42 ©. 

Norwegijiche Bilder aus der Geichichte der weiblichen Dialonie nebſt anderen Liebeswerken. 
Herausgeg. von N. N. Bevorwortet v. Dr. theol. Max Frommel, Generalſuperintendent zu 
Celle. 2. vermehrte Aufl. (Leipzig, Julius Drejcher.) 1888. 160 ©. 

Theologia sacrosaneta. Grundlinien der Bibliichen Theologie, für wahrheitiuchende Leſer 
der heil. Schrift nacdhgewiejen von Dr, Carl Julius Romheld, Pfarrer. 2, 3. 4. Lie: 
(Gotha, Guftav Schlveßmann.) 1888. 


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