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Full text of "Zeitschrift für Kinderforschung"

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Zeitschrift für 



Kinderforsch... 



Deutscher Verein 
zur Fürsorge für 
Jugendliche ... 



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SCHOOL OF EDUCATION 
LIBRARY 



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Zeitschrift für Kinderforschung. 



XV. 



Zeitschrift für Kinderforschnng 



mit besonderer Berücksichtigung 



der pädagogischen Pathologie 



Im Verein mit ~ 

Dr. G.Anton und Dr. E. Martinak 



herausgegeben von 

J. Trüper und Chr. Ufer 

Direktor des Erziehungsheims und Kinder- Rektor der Südstädtischen Mittelschule 
auf der Sophienhfihe bei Jena für Midcfaen in Elberfeld 



Fünfzehnter Jahrgang 




• . - - - • - • 



Langensalza 

Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann) 



Sachs. Hof 

1910 



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Alle Rechte vorbonalten. 



Inhalt. 



A. Abhandlungen: Soito 
Anton, Über 22 Qehirnoperationen mittelst Balkenstiohes gegen Wasserkopf 

und Birngesohwülste 97 

Barbier, Drei Falle motorischer Aphasie 17 

Berhhan, Otto Pöhier, das frühlesende Brauoschweiger Kind 166 

Berkhan, Das Wanderkind Christian Heinrich Heineken 225 

Carbi«, Die psychopathisch Minderwertigen in der 8trafrechtspflege .... 33 

Deutsch, Ursachen der Kinderverwahrlosung 83 

Deutsch, Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher 353 

Dkkuen, Wie ich mit Hilfsschülern Naturgeschichte treibe 229 

0 rossmann, Welche Klassen unter den Ausnahmskindern können ohne Abschluß 

Ton der Oesellschaft erzogen werden? 108 

Heuer, Psychopathische Mittelschüler 257. 289 

Kalfebs, Die Preußische Fürsorgeerziehung im Rechnungsjahre 1906 . . . 296 

Kuhn -Kelly. Lüge und Ohrfeige 72. 101 

Künzfeld, Über den gegenwärtigen 8tand der Kunsterziehungsfrage in Öster- 
reich 1. 40. 65 

Landsbkrq, Ist die Praxis der Jugendgerichte eine schwächliche Justiz? . . 161 
Mac Millan, Die geistig-körperliche Untersuchung der Kinder in den »Public 

Sohools« von Chicago . . . . • 193 

Maemnel, Aus dem Vorentwurf e zu einem Deutschen 8trafgesetzbuche ... 138 

Meter, End und Kunst 129 

Moses, Zum zehnjährigen Bestehen der Fürsorgeerziehungs-Gosetzgebung . . 321 
von Närat-Szabo, Eine neue staatliche Anstalt für Unterricht und Erziehung 

nervöser Kinder in Ungarn 1?1 

Rössel, Das Anschauungsbild im Unterrichte abnormer Kinder 361 

Silbernagel, Die kantonalen Einführungsgesetze zum schweizerischen Zivil- 
gesetzbuch und die Jugendfürsorge 327 

Whjceh, Verbotene Schülerpoesie £70 

B. Mitteilungen: 

Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung 22. 247 

Der erste öechische Kongreß f. Schwachsinnigenfürsorge und Hilfsschulwesen 

in Prag (Juni 1909) 24 

Über die gesundheitlichen Erfolge der Schülerwanderungen 29 

Ein selten gutes Buch 45 



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YI Inhalt. 



Zur Fragt; der sexuellen Aufklärung 52 

Das Alter der ehelichen und unehelichen Mütter 55 

Die Entwicklungsgeschichte eines Zuchthäuslers 57 

Gottlieb Friedrich f 59 

Über krankhaften Sammeltrieb bei Kindern und Jugendlichen 87 

Zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur 90 

Ein Beispiel zur Feststellung von Schwierigkeiten bei der Reproduktion der 

Zahlvorstellung durch das Zahlwort l J2 

>Die Humanität« 93 

Professor Casare Lombroao t ^ 

Die Ausschusse für Jugendfürsorge im Amtsgeriohtsbezirke Lennep .... 122 
"Was kann in größeren Schalgemeinden zur Förderung von Kindern mit 

Sprachfehlern geschehen? 145 

Eine notwendige Schulreform 151 

Über die Entwicklung der Charlottenburger Schulkindergärten 153 

.Schulerzeugenaussagen 155 

Die Ergebnis.se der deutschen Krüppelstatistik vom Jahre 1900 184 

Unfallversicherung und psychopathische Minderwertigkeiten 189 

Die vierte österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge in Wien . 189 

über psychopathisohe Minderwertigkeiten 204 

Gymnasiastenselbstmorde 211 

Schaffendes Lernen in dar Hilfsschule 213 

Aus dem Sexualleben Jugendlicher 214 

Zur Krüppelfürsorge in Halle 216 

Fortbildungskursus für Jugendfürsorge 2 IG 

Der III. Internat. Kongreß für Schul-Hygienc 217 

Eine Studienreise Dach den Vereinigten Staaten von Nordamerika .... 217 

Ein Kursus zur Ausbildung von schlesischen Hilfsschullehrern 217 

Vereinigung für Kinderforschung in Mannheim 218 

Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler 238. 366 

Zur Frage der Abiturientenprüfungen . . . . 248 

Jugendfürsorgeorganisationen ...» 252 

Friedrich Wilhelm Schröter t 254 

Ein Besuch im Institut f. experimeutollo Psychologie u. Pädagogik in Leipzig 277 

Vierte österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge . . . . 270. 300 

Ein Allgemeiner Fürsorge-Erziehnngs-Tag 282 

Der II. Deutsche Jugendgerichtstag 283 

Preisausschreiben 283. 342 

Urteile der Kinder über den Arbeitsnnterricht 306 

In Nordamerika 310 

Eine Anerkennung der Kinderforschung 311 

Antialkoholunterricht in Schweden 312 

Zwischen vierzehn und achtzehn« . . , , , , , , , , , , . . . 331 

Die Tätigkeit des Berliner Jugendgerichtes 337 

Das Farbenbenennungsvermögen als Intelligenzprüfung bei Kindern .... 338 

Eine psychologische Klinik 341 

Über eine wunderbare Heilung von gänzlicher Sprachlosigkeit 373 

Frauen als Vormünde rinnen 37fi 

Der II. Deutsche Jugendgerichtstag 37B 



Inhalt. 



VII 



€. Literatur: Seite 
Axent, Zar Geschichte der Deutung der ersten Kinderworte (Intellektualismus 

und Voluntarismus) 223 

Akens, Wie fördert die Schule die Sprachfähigkeit der Kinder? 383 

Auer, Verhandlungen der VII. schweizerischen Konferenz für das Idioten- 
wesen in Altdorf am 5. und 6. Juli 1909 314 

Aus dem pädagogischen Universität.s-Seininar zu Jena 190 

J. II Basedows Elomentanverk mit den Kupfertafeln Cbodowieckis u. a. . . 382 

Blocheb, Zweisprachigkeit. Vorteile und Nachteile 384 

1>ith>e, Schülerselbstmorde 348 

Die Schundliteratur . s , , . , , , , , , , . . , . . , , , . 342 

Die deutsche Arbeitsschule 380 

Eingegangene Schriften 319. 351. 384 

Ejcaächopulos, Das athenische und spartanische Erziehungssystem im 5. und 

6. Jahrhundert v. Chr 383 

FlCoel, Die Idee des Rechts und der Gerechtigkeit bei Homer und Hesiod . 383 

Friz. Dr. Barnardo. der Vater der Xieinandkinder 315 

Qoebel, Im Märchenlande der Kinder 221 

U koms, Das Seelenleben des Kindes 25") 

H.UiTMAxy. Die Analyse dos kindliehen Gedankenkreises UM 

Hatmask. Kinderaussagen 128 

FIkkmann. Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psycho- 
pathischer Minderwertigkeiten) beim Kinde 128 

Iio>KMA>N, Lesebuch für den Stimmbddungsunterricht 381 

Jahresbericht 190819 über die schulärztliche Tätigkeit in den stadtischen 

Volksschulen zu Worms . . . . , , , , . , , , . . . . . 152 

Kiklhorn, Kr/.iebung und Unterricht schwachbefähigter Kinder lf>l> 

Krukenbehg, Jugenderziehung und Volkswohlfahrt 349 

Lewaxdowski, Ausübung und Ergebnisse der Schulhygiene in den Volksschulen 

des Deutschen Reichs nach dem Stande vom Sommer 1908 .... 379 

von Lim'Hf.im. Saluti senectutis % 

Lomkakd, Zweisprachige Schulen im h'eichslande 3S-1 

Lo.mbroso. D;ls Leben der Kinder j)5 

Lots, Nervöse Zustände 224 

M.ua, Die Sprache des Kindes und ihre Störungen 32 

Xetkk, Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter 347 

Pamtwitz, Der Volksschullchrer und die deutsche Kultur 382 

I'hktzki., Schulaufsicht und Schulleitung in den deutschen Staaten .... 318 

Proletarier- Autobiographien , , . . , 28-i 

KANScumJitfi. A gyermeki elme (Der kindliche Geist) 30 

Kjh.kk, Uber Apparate in dem Hirn 150 

h'< 'T.mf.k. Die Kunst des Krankenbesuchs 221 

SniArm, I'opuläi-Psychiatrie des Sokrates ridivivus 224 

8' how. The movement for reform in the tc.nching of religion in tbe public 

schools of Saxoiiy 316 

Schreiber, Die religiöse Erziehung des Menschen im Lichte seiner religiösen 

Entwicklung 61 

Schültze, Die jugendlichen Verbrecher im gegenwärtigen und zukünftigen 

Strafrecbt 377 



)ogie 



Inhalt. 



Seite 



Silbebxaqfx, Keform des Strafverfahrens gogen Jugendliche 317 

SiMtm, Die Erziehung zur Selbstbeherrschung, ein pädagogisches Problem . . 32 

HrtngTMA vy, Ärztlich-pädagogische Vorschule 160 

Stkqhmayeb, Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalte ra fftr 

Mediziner und Pädagogen 222 

Thomson, Elisabeth Kahnann 218 

Tlochoe, Der UniTerealerbe 64 

Verhandlungen der IX. Jahresversammlung des allgemeinen deutschen Vereins 

für Schulgosundheitspflege 1908 in Darmstadt 96 

Vwt, Die Epilepsie im Kindesalter 377 

TV ähnelt, Kindersprache und Altersmundarten 314 

Wolgast, Ganze Menschon! 319 

Wulff kx, Psychologie des Verbrechers 59 

Ziehen, Die Erkennung des Schwachsinns im Kindesalter 29 

Zoltän de Bosnyök et Cte L, EniLSHEDK-GYCLAi, Le droit de l'enfant abandonne 

et le Systeme hongrois de protection de reufanoe 192 





A. Abhandlungen. 



1. Über den gegenwärtigen Stand der Kunst- 
erziehungsfrage. 

Vortrag, gehalten in der ö&terr. Gesellschaft für Kinderfurschung am 11. Mai 1908. 

Von 

Prof. Alois Kunzfeld -Wien. 
(Hierzu 1 Doppeltafel.) 

Es ist mir die ehrende Aufgabe zuteil geworden, in dieser Ge- 
sellschaft, die sich die Erforschung der Gesetze der körperlichen und 
geistigen Entwicklung der heranwachsenden Jugend zum Ziele gesetzt 
hat, über den gegenwärtigen Stand der Kunsterziehungsfrage in 
Österreich zu berichten. Mag es auch manchem unzeitgemäß er- 
scheinen, gegenwärtig wieder eine Frage aufzurollen, die erst vor 
wenigen Jahren alle Geister bewegte und alle Herzen aufflammen 
ließ, heute aber in tiefem Schlafe ruht, so möge man bedenken, daß 
eine Frage von so großer Bedeutung für die Erziehung, wie die 
Schönheit und die Kunst es ist, immer wieder in den Beratungen 
der Schulmänner und Erzieher auftauchen muß, bis sie ihre end- 
gültige und glückliche Lösung gefunden. Auch der Umstand, daß 
wir am Beginn einer Reform der Mittelschulen und der Lehrer- 
bildungsanstalten stehen und daß die Beratungen der Lehrpläne für 
den Zeichenunterricht an Volks- und Bürgerschulen gegenwärtig an 
der Tagesordnung sind, ließ mir die Erwägung dieses Gegenstandes 
als zeitgemäß erscheinen. 

Da das Thema der Kunsterziehung in diesem Kreise bisher noch 
nicht zur Besprechung gelangte, will ich es nach Wunsch der Leitung 

Zeitschrift für Kindorforschung. XV. Jahrgang. 1 



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2 A. Abhandlungen. 

der Gesellschaft übersichtlich behandeln und folgende drei Fragen zu 
beantworten suchen. 

1. Welches sind die Ursachen für die Entstehung der Frage 
der künstlerischen Erziehung? 

2. Welche Entwicklung hat der Gegenstand bisher genommen? 
a) im Ausland, b) in Österreich. 

3. Was wollen wir von der Zukunft in bezug auf die künstle- 
rische Erziehung fordern? 

Alle großen Fragen, welche die Welt auf irgend einem Gebiete T 
sei es ein wissenschaftliches oder ein künstlerisches, bewegen, finden 
auch auf dem Boden der Schule ihren Widerhall. Und selbst wenn 
man bestrebt wäre, die Schule freizuhalten von dem Streite der 
Meinungen, immer wird der Gedanke, daß die Schule ja die Welt 
der Zukunft ist, das Bestreben zeitigen, unserer Schuljugend, den 
Männern und Frauen der Zukunft, die neuen Wege auf wissenschaft- 
lichem oder künstlerischem Gebiete zu weisen. 

Wie die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts arm war 
an eigenem künstlerischem Schaffen, wie insbesondere die Architektur 
und die verwandten Zweige des Kunstgewerbes sich mit einer Wieder- 
holung der historischen Stilarten begnügten und von der deutschen 
Renaissance ausgehend durch Barock-, Rokoko- und Imperialstil zum 
Biedermeierstil gelangten, so begnügte sich auch der Zeichenunter- 
richt der Volks-, Mittel- und Fachschulen mit der Nachahmung ver- 
gangener Stilarten. Als aber nach Erschöpfung der historischen Stile 
im Kunstgewerbe der Ruf erscholl »Rückkehr zur Natur<, die zu 
allen Zeiten die beste Führerin und Lehrerin gewesen, da wurde 
derselbe Ruf im Zeichenunterrichte erhoben und auf das Kopieren 
der Ornamente folgte das Studium der Natur. 

In der Kunst und im Kunstgewerbe machte man jedoch neuer- 
dings die uralte Erfahrung, daß das Naturstudium selten Selbstzweck 
sein kann, daß es meistens nur ein Mittel ist, die Gesetze zu er- 
kennen und zu erfahren, auf welchen sich in natürlicher und folge- 
richtiger Weise ein Gebilde aufbaut, das bestimmten Zwecken dient; 
das künstlerische Schaffen aber müsse frei aus der Seele des Künstlers 
quellen. Und schon mehren sich die Stimmen, daß auch in einem 
Zeichenunterrichte der künstlerisch erziehend wirken soll, das Natur- 
studium nur Mittel zum Zwecke, das freie Schaffen aus der Seele 
des Kindes, aus seiner Vorstellungskraft heraus, Hauptziel sein müsse. 

Auf die Wichtigkeit des Selbstschaffens nicht nur für die Ent- 
wicklung der zeichnerischen Fertigkeit, sondern für die ganze Er- 
ziehung, hat schon unser unvergleichlicher Fröbel, der Schöpfer der 



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Eünzfkld: Der gegenwärtige Stand der Kunsterziehungs fragu in Österreich. 



3 



Kindergarten und des Handfertigkeitsunterrichtes, hingewiesen und 
er bat diese seine Ansicht durch Wort und Tat begründet Nun ist 
es aber köstlich zu erfahren, daß die Ideen Fröbels, die bei uns nur 
ganz spärlich und langsau zur Entwicklung kommen, im Auslande 
insbesondere in Finnland und Frankreich, auf fruchtbaren Boden ge- 
fallen sind, denn hier ist der Handfertigkeitsunterricht bereits obli- 
gatorisch oder mindestens fakultativ eingeführt Auch aus Amerika 
sind uns die Ideen Fröbels in neuem Gewände zurückgekommen. 
Louis Prano und seine Mitarbeiter haben sie zu einem vollständigen 
System der künstlerischen Erziehung ausgearbeitet. Der erste, der 
auf die hervorragende Wirksamkeit Prangs hingewiesen, war Professor 
Dodel aus Zürich im Jahre 1889 in Dittes Pädagogium. Dann folgte 
eine Würdigung seiner Arbeiten durch den Fachlehrer Laug in der 
»Wiener pädagogischen Gesellschaft«. Um dieselbe Zeit erfolgte auch 
eine warme Empfehlung der Methode Prang durch die Broschüre des 
Professors Hiersche in Komotau unter dem Titel »Auf zur Um- 
gestaltung des Zeichenunterrichtes«. Die erste Übersetzung der Werke 
Prangs ins Deutsche rührt von dem Zeichen inspektor Schulrat Lukas 
her und erschien im Jahre 1899. Seit jener Zeit haben jedoch die 
Herren Richard Bürknkr und Karl Elsner in Dresden im Auftrage 
des »Vereines deutscher Zeichenlehrer« eine mustergültige Über- 
setzung aus dem Englischen geliefert und darin besonders jene Teile 
berücksichtigt, die für Deutschland Interesse haben. Das außer- 
ordentlich schön ausgestattete Buch ist im Jahre 1902 unter dem 
Titel »Prangs Lehrgang für die künstlerische Erziehung« im Müller- 
Fröbelhaus in Dresden erschienen und hat in kurzer Zeit drei Auf- 
lagen erlebt Die Methode Prangs, die auf den Zeichenunterricht 
Deutschlands und Österreichs hervorragenden Einfluß genommen, ist 
eine sinnvolle Verbindung von Geistestätigkeit und Handfertigkeit. 
Das Sehen und Fühlen wird in innige Verbindung gebracht; das 
Modellieren, das Ausschneiden, das Malen, das Zeichnen, das Illu- 
strieren, die Bildbetrachtung, sie bilden ein harmonisches Ganze. 
Prang gruppiert die darstellende Tätigkeit der Schüler nach drei 
Richtungen, nach der Konstruktion, Repräsentation und Dekoration. 

Neben Prang hat der Amerikaner Liberty Tadd, der Direktor 
der Kunstgewerbeschule in Philadelphia, einen bedeutenden Einfluß 
auf die Entwicklung des deutschen und österreichischen Zeichen- 
unterrichtes genommen. Das von ihm im Jahre 1899 in New- York 
und London herausgegebene Werk: »New Methods in Education« 
wurde von der Hamburger Lehrervereinigung zur Pflege der künstle- 
rischen Bildung unter dem Titel: »Neue Wege zur künstlerischen 

1* 



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4; Ahhnrui Innren . 



Erziehung der Jugend« ins deutsche übersetzt und hat eine große 
Verbreitung erfahren. So ausgezeichnet seine allgemeinen Grundsätze 
sind, so leidet seine Methode doch durch eine gewisse Einseitigkeit, 
indem er das Zeichnen allzusehr als mechanische Handfertigkeit aus- 
bilden will. »Der Schüler soll so automatisch zeichnen lernen, als 
er schreiben lernt« Seine Freiarm- oder Handgeläufigkeitsübungen 
haben vielseitige Nachahmung gefunden, nicht immer die von ihm 
gepflegte »Beidhändigkeit«. Besondere Beachtung verdienen jene 
beiden Abschnitte seines Werkes, welche vom Modellieren und Holz- 
schnitzen handeln. 

Fast gleichzeitig mit den amerikanischen Reformbestrebungen 
machten sich auch in England Versuche bemerkbar, die vom South- 
Kensington - Museum gegebenen Vorschriften über den Zeichen- 
unterricht zu durchbrechen und an Stelle des Kopierens von Tafel- 
zeichnungen, Vorlagen und Gipsmodellen selbsttätige Versuche der 
Schüler, sei es in Freiarmtibungen oder freien Pinselübungen zu 
setzen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war Cooke mit seinem 
»ABC of drawing«. Es muß bemerkt werden, daß die englischen 
freien Pinselübungen, die man sehr gerne als von Japan beeinflußt, 
hinstellen will, mit japanischer Zeichenmethode nichts geraein haben, 
da ihr Charakter vorwiegend mechanisch technischer Natur ist, wie 
aus der von Muthesius veröffentlichten Broschüre über den Zeichen- 
unterricht in den Londoner Volksschulen deutlich hervorgeht An 
der Entwicklung des englischen Zeichenunterrichtes in künstlerischer 
und kunstgewerblicher Richtung haben Männer wie Walter Crane u. a. 
hervorragenden Anteil. 

Während auf diese Weise in England und Amerika teilweise 
unter deutschem Einfluß ein neuer Zeichenunterricht Boden gewann, 
bereiteten sich in Deutschland selbst große Umwälzungen auf dem 
Gebiete des Zeichenunterrichtes vor und der Ruf nach künstlerischer 
Erziehung wurde immer lauter und dringender. 

Einer der ersten Vorkämpfer auf diesem Gebiete war Dr. Georg 
Hirth, der in seinen »Ideen über den Zeichenunterricht und künstle- 
rische Berufsbildung«, München 1887 den Zweck des Zeichenunter- 
richtes in folgender Weise darstellt: »Der begabte Schüler ist dahin 
zu führen, daß er mit einer gewissen Leichtigkeit die Gegenstände 
der Natur auch die Bewegungen lebender Wesen richtig skizziere 
und die Einfälle der eigenen Phantasie klar darstellen kann.« Er 
wünscht, daß das Zeichnen zur mühelosen Formenschrift werde und 
legt dadurch den Grund zu den bereits erwähnten Freiarmübungen. 
»In den ersten Jahren komme es nicht darauf an, wie das Kind 



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Kfvzfeld: Der gegenwärtige Stand der Kunsterziehungsfrage in Österreich. 5 



zeichne, sondern daß es gerne und viel zeichne.« Er verlangt die 
Entwicklung des »Augenmaßes« und des »Gedächtniszeichnens«, emp- 
fiehlt für die unteren und mittleren Stufen die »Pinseltechnik«, auf 
den höheren einen häufigen Wechsel des Materials. 

Ein zweiter Kämpfer war Dr. Wilhelm Rein, Professor an der 
Universität Jena, der den Zeichenunterricht seines allgemein bildenden 
Charakters wegen gepflegt wissen will. »Der Zeichenunterricht soll 
ohne jede andere Nebenabsicht nur dem großen Zwecke der künstle- 
rischen Erziehung dienstbar gemacht werden.« 

Den Nachweis, wie sehr das deutsche Volk in künstlerischen 
Fragen erziehungsbedürftig sei, hat Langbehn in seinem im Jahre 
1890 erschienenen Buche »Rembrandt als Erzieher« geliefert, das be- 
rechtigtes Aufsehen hervorrief. Die daraus für den Schulunterricht 
sich ergebenden Folgerungen hat Dr. Konrad Lange, derzeit Professor 
der Kunstgeschichte an der Universität Tübingen, in seinem berühmten 
Werke »Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend« (Darm- 
stadt, Bergsträßer, 1893) gezogen. Wenn auch die meisten der von 
Dr. Lange gegebenen Anweisungen für die Erteilung des Zeichen- 
unterrichtes nach den neuen Ergebnissen und Erfahrungen als nicht 
entsprechend bezeichnet werden müssen, so die Trennung des Zeichen- 
unterrichtes vom Anschauungsunterrichte, das Vorzeichnen des Lehrers 
auf der Unterstufe, die vielen künstlich hergestellten Zeichenmodelle, 
so sind seine Anschauungen mit überzeugender Wärme vorgetragen, 
doch von großem Einfluß auf die Entwicklung des Zeichenunterrichtes 
geworden. Die von ihm geforderte Einführung der Schüler in das 
Verständnis von Kunstwerken, gegründet auf gefühlsmäßige Belebung 
des Scheinbildes durch die Phantasie ist seither als eine der wich- 
tigsten Forderungen der Kunsterziehung betrachtet worden. 

Für die praktische Erprobung und Durchführung der Forderungen 
Hirths und Langes ist die Lebrervereinigung zur Pflege der künstle- 
rischen Bildung in Hamburg die erste Stelle gewesen. Die Lehrer- 
schaft Hamburgs hatte in dem Direktor der dortigen Kunsthalle 
Alfred Lichtwark einen begeisterten Führer, der bereits seit dem 
Jahre 1887 die Lehrer durch die Führung einer höheren Mädchen- 
klasse in der Kunsthalle praktisch anleitete mit den Schülern Bild- 
betrachtungen vorzunehmen. Die dabei gewonnenen Erfahrungen er- 
schienen in dem außergewöhnlich anziehendem Werke: »Übungen in 
der Betrachtung von Kunstwerken«, deren 3. Auflage bei Kühtmann 
in Dresden 1900 erschien. Die Hamburger Lehrervereinigung unter 
ihrem rührigen Obmann Karl Götze hat den Versuch gemacht, das 
ganze Unterrichtsgebiet, Sprache, Jugendliteratur, Theatervorstellungen, 



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6 



A. Abhandlungen. 



Musikaufführungen, Gesang, Turnen usw. in den Dienst der künstle- 
rischen Erziehung zu stellen, und die bezüglichen äußerst interessanten 
Erfahrungen in der Broschüre »Versuche und Ergebnisse« veröffent- 
licht Zur Weiterentwicklung der Methode des Zeichenunterrichtes 
trugen außer dem genannten Obmann noch Müller und Schwarz, 
ferner der Leiter der Lehrerfortbildungskurse, Maler Sibelist, und 
ror allem der viel befehdete Fritz Kuhlmann durch eine Reihe von 
methodischen Abhandlungen bei. 

Die preußischen Lehrpläne für den Zeichenunterricht an Volks- 
schulen, Mittelschulen und Lehrer-Seminarien vom Jahre 1901 und 
die Durchführungsverordnungen vom Jahre 1902 sind ein treues 
Spiegelbild der Entwicklung des Zeichenunterrichtes um diese Zeit 
und der Einfluß der Hamburger Lehrervereinigung deutlich erkennbar. 

Ebenso scheint das Zustandekommen des ersten deutschen Kunst- 
erziehungstages zu Dresden, September 1901 auf die Anregungen der- 
selben Lehrervereinigung zurückzuführen. Die Ergebnisse dieser be- 
deutungsvollen Tagung, die einen glänzenden Verlauf nahm, wurden 
in einem Bande »Kunsterziehung« betitelt, bei Voigtländer in Leipzig 
1902 veröffentlicht Es sei mir gestattet aus dem schönen Buche 
einige Worte des Schulrates Grüllich über die Wirkung der Kunst 
zu zitieren: 

»Die Kunst, sagt er, soll ja nicht bloß einzelne hervorragende 
Geister der Menschheit oder einzelne Kreise des Volkes beglücken, 
nein, sie soll die ganze Erde, auch die Hütte und Seele des ärmsten 
Mannes verklären. Die Wissenschaft ist bloß für einen kleinen Kreis 
Auserwählter bestimmt, die Kunst für die große Mehrzahl der Menschen; 
am wenigsten möchte ich den Mühseligen und Beiadenen ihren Sonnen- 
schein entzogen wissen. Wo die Kunst hintritt, da bringt sie den 
Sonnenschein mit, sie läutert das Gemüt und das Rohe und Gemeine 
weicht vor der wahren Kunst scheu zurück. Das flüchtige Schöne 
hält sie fest zu dauernder Freude; unser Heim schmückt sie uns 
traulich und anmutig aus; nationale Gedanken und Stimmungen ver- 
körpert sie uns zu steter Erhebung in Stein und Erz, in Worten, 
Tönen und Farben, und dem tiefsten und höchsten Sehnen des 
Menschenherzens und der Antwort darauf von oben errichtet sie 
heilige Tempel.« 

Die Abhaltung des Kunsterziehungstages in Dresden beweist, daß 
um diese Zeit auch hier bereits der Gedanke einer künstlerischen 
Erziehung Platz gegriffen hatte. Die Idee eines auf natürlicher Grund- 
lage beruhenden Zeichenunterrichtes wurde in Sachsen namentlich 
von Männern wie Karl Elsner, Paul Hermann und Richard Bürkner 



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Kunzfkld: Der gegenwärtige Stand der Kunsterziehungsfrage in Österreich. 7 



aufs kräftigste gefördert. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen sind 
bereits an dem neuen * Lehrgange für den Zeichenunterricht an den 
königlich sächsischen Seminaren« berücksichtigt Der Lehrplan weist 
viele Ähnlichkeiten mit den preußischen auf, aber auch einige sehr 
bemerkenswerte Unterschiede, auf welche näher einzugehen ich mir 
heute versagen muß. 

Im letzten Jahrzehnte des vorigen und zu Beginne dieses Jahr- 
hunderte« regt es sich aber auch in den anderen Staaten. Die Franzosen, 
welche mit ihrer Weltausstellung im Jahre 1900 eine Reihe von 
Kongressen verbunden hatten, haben auch zum ersten Male die gesamte 
Zeichenlehrerschaft der Erde zu einem internationalen Kongreß ver- 
einigt Hier wurden nun in mehrtägigen Redeschlachten die Prinzipien 
eines natürlichen und künstlerischen Zeichenunterrichtes auf allen 
Stufen der Erziehung und des Unterrichtes erörtert. Die diesbezüglich 
aufgestellten Forderungen, die fast durchweg französischen Ursprunges 
sind, weisen große Fortschritte auf, wenn sie auch nicht so rasch in 
die Tat umgesetzt wurden, als sie gefaßt worden sind. Der II. inter- 
nationale Zeichenkongreß fand dann vor vier Jahren in der Bundes- 
hauptstadt Bern in der Schweiz statt Man hatte hier Gelegenheit, 
neben den französischen auch die englischen und amerikanischen 
Methoden kennen zu lernen, Deutschland war schwach vertreten, 
Österreich bloß durch die schönen Schülerarbeiten Prof. Bocdas und 
durch Zeichnungen aus meinen Lehrerfortbildungskursen. Unter den 
Schweizer Reformen trat besonders Dr. U laich Diem hervor, der einen 
ausgezeichneten Vortrag über das Oedächtniszeichnen hielt und der 
auch seit jener Zeit durch eine Reihe methodischer Schriften viel zur 
Entwicklung des gegenwärtigen Zeichenunterrichtes beigetragen hat- 
Der 1TI. internationale Zeichenkongreß findet in den Ferien des heurigen 
Jahres zu London statt 

Während man nun in fast allen Ländern mit Feuereifer die 
Entwicklung des Zeichenunterrichtes in der Schulstube und im Zeichen- 
saaie förderte, wurde den Pfadfindern auf diesem Gebiete eine mächtige 
Unterstützung durch die mittlerweile kräftig emporgewachsenen kinder- 
psychologischen Forschungen zuteil In keinem Lande der Welt findet 
die Kinderforschung eine so eifrige Pflege als in Amerika. Um bei 
den amerikanischen Lehrern Interesse für diesen Gegenstand zu er- 
wecken, finden kinderpsychologische Ferien-Kurse für die Lehrer an 
den Universitäten in Worcester, zu Chicago, Phyladelphia und a.a.O. 
statt Seit 1894 gibt Stanley Hall jedes Jahr Fragebogen heraus, um 
Lehrern und Kinderfreunden, welche sich der Kinderforschung widmen 
wollen, Anleitung zu geben. Durch unmittelbare Mitarbeiterschaft der 



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8 



A. Abhandlangen. 



Lehrer und Lehrerinnen wird nun eine große Menge Stoff über die 
Entwicklung des kindlichen Geistes gesammelt und auch an den 
nordamerikanischen Lehrerbildungsanstalten verwertet Neben Stanley 
Hall entfaltet insbesondere Earl Barnes in den Vereinigten Staaten 
eine umfassende Tätigkeit auf diesem Gebiete. 

Auch in England sind durch James Sully kinderpsychologische 
Ferienkurse für Lehrer an den Universitäten zu Cambridge und Edin- 
burgh errichtet worden. Die Werke von Sully und Tracy, die von 
dem Seminarlehrer Dr. Stmpfl übersetzt wurden, dürften für deutsche 
Lehrer die beste Quelle für kinderpsychologische Vorstudien sein. 

Von den deutschen Kinderpsychologen ist es Wilhelm Preyer, 
der in seinem bahnbrechenden Werke »Die Seele des Kindesc die 
immer reicher sich entfaltende Geistesentwicklung des Kindes schildert 
(5. Auflage, Leipzig 1900). Die überreiche Fülle seiner scharfsinnigen 
Beobachtungen bildet die Grundlage fast aller neueren Forschungen 
auf diesem Gebiete, trotzdem er nur den Zeitraum bis zum vollendeten 
dritten Lebensjahre in Betracht zieht 

Was die Entwicklung der zeichnerischen Darstellungskraft und 
des künstlerischen Ausdrucksvermögens anbelangt, so sind außer dem 
schon genannten Werke »Untersuchungen über die Kindheit« des 
englischen Forschers Sully noch der Franzose Bernard Perez mit 
seiner Schrift »L'art et la poesie chez Tenfantc und der Italiener 
Corrado Ricci mit einem Bändchen »L arte dei BambinW (vor zwei 
Jahren in deutscher Übersetzung bei Voigtländer in Leipzig erschienen) 
besonders zu erwähnen. Unter den Deutschen hat die Hamburger 
Lehrervereinigung diesem Kapitel große Aufmerksamkeit gewidmet 
und die erste Ausstellung von Kinderzeichnungen in der Hamburger 
Kunsthalle veranlaßt Auf den Boden der Untersuchungen Sullys 
stehend, hat Dr. Siegfried Löwenstein 1905 ein Buch »Kinderzeichnungen c 
veröffentlicht, in welchem er interessante tabellarische Übersichten 
über die Entwicklung der verschiedenen Ausdrucksformen gibt und 
die dazu gehörigen ethnographischen und kulturhistorischen Parallelen 
zieht Gleichzeitig mit diesem Buche bat der Schulrat Dr. Kkrschen- 
oteiner ein prachtvolles Werk erscheinen lassen »Die Entwicklung 
der zeichnerischen Begabung«, in welchem er die Ergebnisse der 
Untersuchung von mehr als 300000 freien Schüler Zeichnungen über- 
sichtlich zur Darstellung bringt und die Schlußfolgerungen für einen 
auf natürlicher kinderpsychologischer Grundlage beruhenden Zeichen- 
unterricht aufstellt Dieses Werk ist eine der bedeutungsvollsten Er- 
scheinungen sowohl auf dem Gebiete der Kinderforschung, als auch 
auf dem des Zeichen- und Kunstunterrichtes. 



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Kukotld: Der gegenwärtige Stand der Knnsteraehungsfrage in Österreich. 9 



Österreich hat den Wandlungen auf diesem Gebiete nicht untätig 
zugesehen. Es hat sie mehr oder weniger alle am eigenen Leibe 
erlebt Zunächst stellte sich eine große Unzufriedenheit mit dem 
Betriebe und den Ergebnissen des Zeichenunterrichtes ein, der Kampf 
gegen die Stigmen dauert bereits ein Vierteljahrhundert und ist 
heute noch nicht ganz beendigt Das ausschließliche Nachzeichnen 
der Vorzeichnungen des Lehrers, der Wandtafeln und Schülervorlagen 
förderte wohl eine gewisse Handfertigkeit, ließ aber eine selbständige 
Lösung einer Aufgabe seitens der Zöglinge nicht aufkommen. Als 
Heilmittel wurde eine stärkere Betonung und ein vernünftigerer 
Betrieb des Körperzeichens empfohlen, das Naturzeichnen wurde 
langsam herangezogen, aber man konnte sich, angeblich aus 
ästhetischen Gründen von dem Kopieren klassischer Ornamente nicht 
trennen. Auf diesem Standpunkte stehen beispielsweise die Lehr- 
pläne für das Freihandzeichnen an den österreichischen Realschulen 
vom 23. April 1898, denen im folgenden Jahre eine sehr ausführliche 
Instruktion folgte. Es war ein Glück, daß man um diese Zeit nicht 
auch einen Lehrplan für Volks- und Bürgerschulen erließ, sondern 
daß man eine zuwartende Stellung einnahm und der Lehrerschaft 
gestattete, selbständige Erfahrungen auf diesem Gebiete zu machen. 
Mit Feuereifer wurde dieser Gegenstand nun in allen Lehrer- 
versammlungen und Fachzeitschriften beraten und die ersten praktischen 
Versuche in der Schulstube gemacht Aber man erkannte bald, daß 
an eine gedeihliche Lösung der Frage nicht geschritten werden könne, 
solange die Lehrerschaft selbst nicht besser ausgerüstet sei, den An- 
forderungen des neuen Zeichenunterrichts nachzukommen. Nachdem 
ich diesen Gedanken anläßlich eines Vortrages in der Wiener päda- 
gogischen Gesellschaft im Jahre 1899 Ausdruck gegeben hatte, 
meldeten sich sofort einige Lehrerinnen als erste Teilnehmerinnen 
eines Fortbildungskurses im Zeichnen. Die Errichtung war aber 
zunächst mit großen Schwierigkeiten verbunden, welche sich jedoch 
mit Beharrlichkeit besiegen ließen. Die Ergebnisse dieses ersten 
Fortbildungskurses wurden 1902 in einer Ausstellung in Wien im 
IX. B. der Öffentlichkeit vorgeführt und riefen fast ebensoviel Auf- 
sehen hervor, als die Ausstellung von Schülerarbeiten, die Herr Fach- 
lehrer B lach fellneb kurz vorher veranstaltet hatte. In den folgenden 
Ferien errichtete der Vereiu österreichischer Zeichenlehrer unter 
Leitung der Professoren Strasser und Cizek einen Fortbildungskursus 
für Lehrer, dessen Ergebnisse in einer glänzenden Ausstellung im 
VII. B. gezeigt wurden. Diese ersten Ausstellungen und noch manche 
folgende entfesselten einen lebhaften Kampf der Meinungen, der der 



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10 



A. Abhandlungen. 



Entwicklung der neuen Unterrichtegrundsätze nur förderlich sein 
konnte. Im folgenden Jahre gelang es mir, die Gemeinde Wien zur 
Errichtung eines zweijährigen Fortbildungskurses zu bewegen. Die 
erste Leitung desselben wurde mir übertragen, während nach meiner 
definitiven Berufung an das Offizierstöchter- Erziehungsinstitut Herr 
Fachlehrer Jaxoschek die Leitung übernahm. Auch in verschiedenen 
anderen Städten entstanden um diese Zeit Fortbildungskurse, denn 
das Interesse der Lehrerschaft war erwacht und der Ruf nach Fort- 
bildungskursen wurde immer allgemeiner. 

Immermehr trat nun auch die Frage der künstlerischen Erziehung 
in den Vordergrund und entfachte einen Sturm der Begeisterung, der 
Alt und Jung mit sich fortriß; da war keine Lehrerkonferenz, keine 
Versammlung, wo nicht dieses Thema verhandelt wurde. So hielt 
ich allein in den Jahren 1901 — 1903, wo die Bewegung den höchsten 
Punkt erreichte, mehr als 20 Vorträge in Wien und fast allen größeren 
Städten des Reiches. Im Jahre 1902 eröffnete die Wiener Künstler- 
vereinigung » Hagen bund« eine Ausstellung von künstlerischem Wand- 
schmuck, künstlerisch ausgestatteten Bilderbüchern und Kinder- 
zeichnungen, meist englischen Ursprungs. Die Sammlung rührte vom 
deutschen Buchgewerbeverein her. Diese Wanderausstellung, welche 
von einem großen Teil der Wiener Lehrerschaft besucht wurde, gab 
Veranlassung, daß die Wiener Lehrmittelzentrale sich des künstlerischen 
Wandschmuckes annahm und da sie nicht ausschließlich Abnehmerin 
deutscher Verleger bleiben wollte, die Entstehung österreichischer Wand- 
bilder ins Auge faßte. Im Vereine mit dem deutsch-österreichischen 
Lehrerbunde und der k. k. Staatsdruckerei und mit Unterstützung des 
k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht wurde zur Herausgabe von 
Steindrucken österreichischer Künstler geschritten. Die eingereichten 
Skizzen und ausgeführten Arbeiten wurden von einer Doppel -Jury, 
bestehend aus Schulmännern und Künstlern beurteilt Wenn die 
Ergebnisse dieses Unternehmens auch nicht nach jeder Richtung 
befriedigende waren, so kamen doch auf diese Weise einige hervor- 
ragend schöne Wandbilder zustande; es ist also sehr zu bedauern, 
daß sich das Unternehmen nach der Veröffentlichung der zweiten 
Serie zerschlug. 

Die Ausstellung im Hagenbunde hat auch nach einer anderen 
Richtung hin befruchtend und anregend gewirkt Man wandte sich 
auch in Österreich mit neuem Eifer kinderpsychologischen 
Forschungen zu, indem man die amerikanischen, englischen und 
deutschen Schriften auf diesem Gebiete studierte und selbständige 
Studien machte. Zur Erforschung der Entwicklung des zeichnerischen 



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Künzfkld: Der gegenwärtige Stand der Kunsterzieh angsfrage in Österreich. H 



Ausdrucksvermögens und der sich daraus ergebenden Folgerungen 
für einen auf natürlicher und künstlerischer Grundlage beruhenden 
Zeichenunterricht und für die Gesamterziehung hat sich die »Ver- 
einigung zur Förderung der Jugendkunstc gegründet, welche unter 
dem Vorsitze des Fachlehrers Blachfkllner und unter Mitwirkung 
Professor Cizeks mit besonderem Fleiße dem Studium dieser überaus 
wichtigen Frage obliegt Um Ihnen, hochgeehrte Damen und Herren, 
einen kleinen Einblick in die Arbeiten auf diesem Gebiete zu ge- 
währen, habe ich aus einer 8ammlung von mehreren tausend Kinder 
Zeichnungen einige typische Blätter ausgewählt, mit der Absicht an 
denselben in Kürze den Entwicklungsgang des zeichnerischen Aus- 
drucksvermögens darzustellen. 

Die ersten Zeichen versuche kleiner Kinder treten kaum vor dem 
Abschlüsse des zweiten Lebensjahres auf und zeigen sich in einem 
»Wirrwarr« verschiedenartig gekrümmter Linien, entstanden dadurch, 
daß das Kind dem Bedürfnis nach Muskeltätigkeit folgend, spielend 
die Erwachsenen im Schreiben oder Zeichnen nachahmt. Der kleine 
Knabe Preyen* antwortete auf die Frage was er tue: »Lokopotive 
raiben« (Lokomotive schreiben), womit er ausdrückte, daß ihm Schreiben 
und Zeichnen noch identische Begriffe seien, wie sie es ursprünglich 
auch gewesen sind. 

Alle Zeichnungen kleiner Kinder, welche kein erkennbares Merk- 
mal eines dargestellten Gegenstandes aufweisen, lassen sich nach 
Lukens (die Entwicklungsstufen beim Zeichnen) zusammenfassen unter 
Stufe I »Gekritzel«. 

Unter Stufe II dann jene, welche annähernd erkennbare Merk- 
male des Vorbildes aufweisen, jedoch nicht in zusammenhängender 
oder logischer Weise angeordnet sind. Lukens nennt diese Stufe 
die der »lokalen Anordnung«. Ich halte dafür, daß es besser 
wäre, sie die Stufe der »unlogischen« Anordnung zu nennen. 
Dr. Kerschenstetner weist die interessante Tatsache nach, daß der 
größte Teil der schwachsinnigen Kinder zeit ihres Lebens auf dieser 
Stufe stehen bleibt. 

Als m. Stufe wäre dann diejenige zu bezeichnen, auf welcher 
sich das Kind zu einer, wenn auch noch so schematischen Dar- 
stellung durchringt Lukens nennt sie die Stufe des »einfachen 
Umrisses«. 

Das Kind wählt für seine ersten Darstellungen die Dinge, die 
es am meisten interessieren und die es am liebsten hat Das sind 
in der Regel Vater und Mutter, Bruder und Schwester. Die Schwierig- 
keiten, die der Erwachsene in der Wiedergabe der menschlichen Ge- 



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12 



A. Abhandlungen. 



stalt erblickt, sind für das Kind nicht größer, als es die Darstellung 
der einfachsten geometrischen Form wäre. Es zeichnet ja nicht nach, 
sondern schafft frei aus seiner Vorstellungskraft heraus, darum gentigt 
es, wenn es imstande ist, einige annähernde gerade und einige frei- 
gebogene Linien zu zeichnen, welche ihm dann schon Ausdrucks- 
mittel für alles innerlich Geschaute werden. 

Freilich die ersten Versuche werden solange nicht gelingen, bis 
der Geist die Herrschaft über die Hand erreicht hat, d. i. soweit bis 
jetzt die Erfahrung vorliegt, vor Vollendung des dritten Lebensjahres 
nicht der Fall. 

Die Figur 1 diene als Beispiel für die L Stufe der kindlichen 
Darstellung, des »Gekritzels«. Sie ist einer der fleißigen Versuche 

eines zweijährigen Knaben, seinen Vor- 
stellungen Ausdruck zu verleihen, ohne 
daß es in einer Weise gelungen wäre, die 
für uns erkennbar ist 

Die 2. Figur mag als typisches Bei- 
spiel für die II. Stufe, die der »unlogischen 

Anordnung« gelten. Die 
kleine Zeichnerin war 
2 8 / 4 Jahr alt Sie zeich- 
nete zuerst den Kopf, in 
der Mitte darinnen die 
beiden Augen, an den 
Kopf fügte sie nach unten 
ganz logisch den Bauch 
und die beiden Füße, 
welche durch ein Strich- 
Jein verbunden werden, 
eine leise Ahnung, der 
sich normal an die Beine 
anschließenden Füße. In der Nähe des Kopfes findet sich eine Hand, 
welche auch die Kleine hoch oben anbringt. Darauf aufmerksam ge- 
macht, daß der Mensch ja zwei Hände habe, werden die beiden 
Hände nochmals auf der anderen Seite des Kopfes hingesetzt 

Die folgenden Zeichnungen gehören sämtlich der Stufe III, der 
des »einfachen Umrisses« an. Alle Kinder beginnen mit der Vorder- 
ansicht (en face-Stellung) des menschlichen Antlitzes und des mensch- 
lichen Körpers. Erst im weiteren Verlaufe ihrer zeichnerischen Ent- 
faltung gelangen sie zur Seiten- (Profil -)Stellung, ein Entwicklungs- 
gang, den sie mit allen Ur- und Naturvölkern gemein haben. 





Fig. 1. 



Fl*. 2. 



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Kunztcld: Der gegenwärtige Stand der KunsterzienuBgsfrago in Österreich. 13 



Die Figur 3 rührt von einem fünfjährigen Wiener Mädchen 
her un3 weist alle bezeichnenden Merkmale einer ersten Umriß- 
zeichnung in der Vorderansicht aul Der Kopf nimmt mehr als die 
Hälfte der Größe des Bildes in Anspruch. Die Augen sind hoch in 
die Stirne gerückt, weil noch viel anderes im Antlitz steht, das auch 
gezeichnet werden muß. In der Mitte des Gesichtes sitzt das kecke 
Stumpfnäschen, unter ihm der geöffnete Mund mit blitzender Zahn- 
reihe. Auch die Ohren, von Anfängern wenig beachtet, sind an der 
richtigen Stelle angebracht Die Beine wurden hier, wie es alle An- 




Fig. 8. Fi«. 4. 



fänger tun, direkt an den Kopf angesetzt; die Füße stehen in Seiten- 
stellung. Die Arme sind noch entbehrlich, sonst würden sie wie ans 
ähnlichen Beispielen zu ersehen, wohl ebenfalls unmittelbar an den 
Kopf befestigt worden sein. 

Die 4. Figur, das Werk eines vierjährigen Künstlers, zeigt 
weitere Fortschritte. Im Gesichte treffen wir dieselben typischen 
Merkmale, aber das Haupt ist bereits mit einem stattlichen Haarwald 
geschmückt Auch ein Rumpf ist schon vorhanden und gliedert sich 
in Hals, Brust und Bauch. Der letztere ist durch den kräftigen 
Nabel in nicht mißzuverstehender Weise gekennzeichnet Arme und 
Beine sitzen nahezu an der richtigen Stelle; die Hände halten die 
Mitte zwischen dem Rechenschema und dem Vogelfußschema, die ab- 
sichtlich verlängerten Füße verraten große Standfestigkeit 

Auf einer gewissen Entwicklungsstufe werden nun alle Zeich- 



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14 



nungen in ähnlicher Weise ausgeführt. Die kleinen Zeichner be- 
rühren sich mit unseren großen Künstlern darin, ihre Figuren zuerst 

nackt darzustellen. Dabei sei erwähnt, 
daß sie Geschlechtsmerkmale nicht zur 
Darstellung bringen, da sie sie nicht 
kennen. Ein sechsjähriges Mädchen, 
welches ihren kleinen Bruder und ihre 
kleine Schwester in vollkommen gleicher 
Weise gezeichnet hatte, wurde gefragt, 
welches von beiden die Schwester sei? 
Und die reizende Kleine, von sexueller 
Aufklärung noch unberührt, zeichnet 
der einen Figur rasch einen langen 
Zopf. Figur 5. Ich habe unter vielen 
Tausenden von Kinderzeichnungen nicht 
eine gefundon, welche die spezifischen 
Geschlechtsmerkmale aufgewiesen hätte 
und bin mit Dr. Levtnstein der Ansicht 
daß Zeichnungen dieser Art gewiß von unflätigen Erwachsenen oder 
halbwüchsigen jungen Leuten herrühren. 

Sollen Figuren bekleidet dargestellt werden, so geschieht dies 
zumeist ganz einfach, indem der kleine Zeichner auf den nackten 
Leib Knöpfe setzt, oder indem er seinen Gestalten ganz logisch 
Röcke und andere Kleidungsstücke über den nackten Körper anzieht 
Figur 6, welches von einem fünfjährigen Mädchen herrührt und auch 




Fig. 6. Fig. 7. 



schon deutlich die Freude kleiner Mädchen an Verzierungen (Spitzen 
an der Schürze) zum Ausdruck bringt. 

Wie sehr die Zeichnungen der Naturvölker denen unserer 

kleinen Kinder ähneln, möge die Figur 7 veranschaulichen. Es sind 



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Kunifkld: Der gegenwärtige Stand der Kunsterriehungsfrage in Österreich. 15 



einige Figuren, welche dem Skizzenbuche Dr. Kochs in Berlin ent- 
nommen sind und von brasilianischen Indianern herrühren. Die ersten 
beiden Figuren stellen den Dr. Koch und seinen Diener dar, die 
beiden folgenden Figuren, welche von einem anderen Indianer ge- 
zeichnet wurden, bezeichnen eine Frau und einen Mann. Die erste 
ist in ähnlicher Weise hergestellt, wie unsere Mädchenfigur 6. Die 
männliche Figur zeigt den Zeichner auf so primitiver Stufe, daß er 
die Füße noch unmittelbar an den Kopf anschließt Und doch zeigt 
sie ganz besondere Merkmale, z. B. die durch das vorspringende Joch- 
bein hervorgerufene Vertiefung der Wange und die Uhrkette, welche, 
da die Füße unmittelbar am Kopfe angesetzt wurden, zu einer Hals- 
kette wurde. 

Der Übergang in die Profilstellung vollzieht sich nur durch Über- 
windung großer Schwierigkeiten. Der Anlaß zu Darstellungen im 
Profil dürfte die vorspringende Nase 
sein, welche sich in der Vorderansicht 
nur schwer wiedergeben läßt Sie ist 
es, die zuerst ins Profil rückt, während 
der Mund und die beiden Augen an 
ihrem früheren Platze bleiben (Bei- 
spiel Figur 8, die Zeichnung eines 
sechsjährigen Mädchens, welche in 
ihr die Frau Lehrerin darstellen 
wollte). Der Nase folgt dann der 
Mund in die Profilstellung, da sich 
das Kind überlegt, daß ja der Mund 
unter die Nase gehört Von den 
beiden Augen aber trennt sich der 
kleine Zeichner am schwersten, was der große Kinderkenner Wilhelm 
Büsch in die trefflichen Verse kleidete: »Zwei Augen aber fehlen 
nie, denn die, das weiß er, haben sie« — und auch, wenn sich das 
Kind endlich entschließt, nur ein Auge zu zeichnen, so bleibt es in 
der Vorderansicht 

Daß die Ur- und alten Kulturvölker einen ähnlichen Entwicklungs- 
gang durchgemacht haben, beweist am besten das in der enface- 
Stellung verbleibende Auge, auch wenn alles Beiwerk bereits eine 
sehr hoch entwickelte Darstellungstechnik verrät Als Beispiel möge 
die Figur 9 dienen. Sie ist der Bemalung eines ägyptischen Sarkophag- 
deckels entnommen, der sich gegenwärtig im kunsthistorischen Museum 
in Wien befindet Dieselbe Wahrnehmung kann man auch an der 
Figur 10 machen. Das Lichtbild wurde nach einem assyrischen 




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16 



A. Abhandlungen. 



Relief, das sich im Museum der Akademie der bildenden Künste in 
Wien befindet, aufgenommen. 

Ist die Wendung des Kopfes aus der en face- in die Profilansicht 
endlich gelungen, so bietet die Drehung des Rumpfes ebenso große 
Schwierigkeiten und er bleibt daher noch lange in der Vorder- 
ansicht, wenn auch schon die Drehung des Kopfes und der Beine 
vollzogen ist. Ein Beispiel bietet Figur 11, die Zeichnung eines 
sechsjährigen Mädchens, einen Jäger darstellend. Auch hier finden 
wir eine Analogie bei den alten Kulturvölkern, wie aus den beiden 
in Figur 9 und 10 vorgeführten Abbildungen zu ersehen ist Auch 

die mittelalterlichen Miniaturen und andere 




Yig. U. Fig. 13. 



Fast gleichzeitig mit der Darstellung der menschlichen Gestalt 
tritt auch die des Tieres auf und zeigt einen ähnlichen Entwicklungs- 
gang. Die ersten Tiergestalten tragen menschliches Antlitz und zeigen 
den Kopf in Vorderansicht. Erst dann folgt die reine Profilstellung 
und auch hier wie beim Menschen nach links gekehrt Es würde 
hier zu weit führen, auf die verschiedenen Stufen der Entwicklung 
näher einzugehen. Möge der Hinweis genügen, daß sich auch hier 
ein weitgehender Parallelismus zwischen den Kinderzeichnungen 
einerseits und denen der Ur- und Naturvölker anderseits nachweisen 
läßt Ein bezügliches Beispiel gestatte ich mir in den Figuren 12 



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Basbier: Drei Fälle motorischer Aphasie. 



17 



ond 13 vorzuführen. Die erste Figur entstammt dem Rechenhefte 
eines sechsjährigen Knaben, bei dem der Drang nach Wiedergabe des 
in der Erinnerung aufsteigenden Elefanten mächtiger war, als die 
Anteilnahme an dem eben erteilten Rechenunterricht. Die Figur 13 
stellt die bekannte Gravierung auf einem fossilen Mamutszahn vor, 
gefunden in der Höhle La Madelaine (Perigord) in Südfrankreich. 

(Schluß folgt.) 



2. Drei Fälle motorischer Aphasie. 

Voc 

Karl Barbier, Frankenthal. 

Es dürfte gewiß keine alltägliche Erscheinung sein, daß mau 
Gelegenheit hat, drei Fälle ausgesprochener motorischer 
Aphasie fast gleichzeitig zu beobachten und unterrichtlich zu be- 
handeln. Mir wurde dieses für den Heilpädagogen seltene Glück in 
den Schuljahren 1906/07 und 1907/08 als Lehrer der Artikulations- 
klasse hiesiger Taubstummenanstalt zu teil. 

Über Ursache und Wesen der motorischen Aphasie brauche ich 
mich den Lesern der »Zeitschrift für Kinderforschung « gegenüber 
wohl nicht allzu ausführlich zu äußern. Ich verweise in dieser Be- 
ziehung auf die umfangreiche Abhandlung: »Sprachstörungen, von 
Dr. X. Wetterwald« im 7. Jahrgang unserer Zeitschrift Nur ganz 
kurz möchte ich bemerken : Alle anatomischen Untersuchungen apha- 
sischer Personen haben mit ziemlicher Bestimmtheit ergeben, daß die 
motorische Aphasie an Läsionen der dritten, linken Stirnwindung ge- 
bunden ist Hier haben wir den Sitz 'des motorischen Wortzentrums, 
in dem die beim Sprechen entstehenden Sprechempfindungen oder 
Bewegungserinnerungen gesammelt werden, zu suchen. Findet eine 
Verletzung oder Zerstörung dieses Zentrums durch Krankheit, Schlag 
oder Fall statt, so verliert der betreffende Patient ganz oder teilweise 
die Fähigkeit zu sprechen, da das erkrankte motorische Wortzentrum 
auf die vom Begriffs- oder vom Klangbilderzentrum kommenden Im- 
pulse nicht mehr reagiert und die nötigen Befehle an den Sprech- 
mechanismus nicht mehr weitergeben kann. Das Sprach Verständnis 
ist' vielfach vollständig intakt, ebenso die Fähigkeit zu schreiben und 
zu lesen. So haben wir vor einigen Jahren ein 11 jähriges Mädchen 
in Behandlung gehabt, das durch Meningitis aphasisch geworden war, 
über ein Jahr kein Wort mehr sprechen, wohl aber das Gesprochene 
verstehen, lesen und schreiben konnte. Sie kam übrigens bald wieder 
in den vollen Besitz ihrer Sprache. 

Zeitschrift für Kindorforechung. XV. Jahrgang. 2 



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18 



A. Abhandlungen. 



Bei den drei Fällen, mit denen wir uns heute beschäftigen wollen, 
ist die Ursache der Aphasie weder Krankheit noch äußere Verletzung, 
wenigstens können die Eltern in dieser Hinsicht nicht die geringsten 
Andeutungen raachen. Also müssen wir annehmen, daß es sich 
hier um angeborene Aphasie handelt Allerdings ist auch die Zer- 
störung des sprachmotorischen Zentrums durch eine schlecht beob- 
achtete Erkrankung im 1. Lebensjahre möglich. Für diese Annahme 
fehlt uns indes jeder Beweis. Eine Mutter gibt als mutmaßliche Ur- 
sache für die Stummheit ihres Kindes heftigen Schreck 3 Tage vor 
der Geburt an. 

Die 3 aphasischen Kindor, 1 Knabe und 2 Mädchen, sind alle 
1899 geboren, stehen also jetzt im 10. Lebensjahr. Der Knabe wurde 
im Schuljahr 1906, die beiden Mädchen wurden 1907 in unsere 
Anstalt verbracht. Daß die Kinder noch gut hörten, wußten die 
Eltern, jedoch der Grad ihrer Hörfähigkeit und die Ursache ihrer 
Stummheit waren ihnen unbekannt. Wir selbst hielten die Kinder 
anfangs für schwerhörig, waren aber ungemein erstaunt, daß sie alle 
kein einziges Wort mitgebracht hatten. Schon in den ersten Tagen, 
die in der Artikulationsklasse mehr dem Spiel als dem Unterricht 
gelten, fiel mir indes auf, daß die Kinder auf meine Worte mit denen 
man oft unwillkürlich die Gebärden begleitet, merkwürdig rasch rea- 
gierten und daß bei Scherzen meist ein verständnisinniges Leuchten 
über ihre Gesichter zog, besonders bei den beiden Mädchen. Das 
machte mich stutzig. Ich nahm die Kinder einzeln vor, stellte 
systematische Übungen an und kam schon nach kurzer Zeit zu dem 
Schluß: Sowohl der Knabe wie die beiden Mädchen besitzen nor- 
males Gehör, ihre Stummheit ist vermutlich bedingt durch motorische 
Aphasie. 

Geistig am tiefsten steht unstreitig der Knabe. Er ist psycho- 
pathisch minderwertig, nach Ludwig Strümpell eine jener Kinder- 
naturen, bei denen die Gesamternährung (Vegetation) noch ziemlich 
gut funktioniert, dagegen die Gesamtmuskeltätigkeit (Irritabilität) und 
Gesamtnerventätigkeit (Sensibilität) starke Defekte zeigen. Wir haben 
hier den Typus des Phlegmatikers, dem jede geistige und körperliche 
Arbeit verbaßt ist. Diese abnorme Kindernatur genügt indes m. E. 
nicht, die völlige Stummheit zu begründen. Sein Sprach Verständnis 
war zwar nicht bedeutend, aber immerhin so umfangreich, daß ohne 
eine sprachraotorische Störung ganz gewiß ein kleiner Wortschatz vor- 
handen gewesen wäre. Ich hielt ihn auch von Anfang an für bildungs- 
fähig, obwohl in der ersten Zeit alle meine Anstrengungen an seinem 
Starrsinn scheiterten. Wenn er seinen dicken Kopf, der einem 



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Barbieh: Drei Jfclle motorischer Aphasie. 



19 



Hydrocephalus verzweifelt ähnlich sieht, schüttelte, dann waren alle 
meine Versuche, ihn nur zum Bewegen der Lippen oder zum Halten 
des Griffels zu bewegen, vergeblich. Deshalb ließ ich ihm möglichst 
viel Freiheit. Wenn es ihm in meiner Schule nicht mehr gefiel, 
durfte er bei den Kollegen Besuche machen, soviel er wollte. Und 
er war überall ein gern gesehener Gast, denn er konnte eine gerade- 
zu ausgelassene Lustigkeit entwickeln, sobald er merkte, daß man 
keine Arbeit von ihm verlangte. Seine Fortschritte im Schreiben und 
Sprechen waren die denkbar geringsten, da er allen meinen Ver- 
suchen, ihn zu den einfachsten Lautier» oder Schreibübungen zu be- 
wegen, eine unüberwindliche passive Resistenz entgegensetzte. Trotz 
alledem gab ich die Hoffnung nicht auf, daß es eines Tages doch 
gelingen werde, die entgegenstehenden Hemmungen zu überwinden 
und den Knaben zum Schreiben und Sprechen zu bringen. Dazu 
veranlagte mich einmal sein langsam wachsendes Sprach Verständnis 
und zum andern sein verhältnismäßig gut entwickeltes Gefühlsleben, 
sowie sein langsam erwachendes Ehrgefühl. Nach und nach führte 
er einzelne Befehle sicher und willig aus — auf Schreiben oder 
Sprechen durften sie sich allerdings nicht beziehen — und zeigte leb- 
hafte Freude, wenn man ihm von allerhand eßbaren Dingen, von Tieren, 
von der Eisenbahn oder von Vater und Mutter erzählte. Rührend 
ist seine Liebe zur Heimat, wie zu Vater und Mutter. Das Heim- 
weh plagte ihn so stark, daß er oft nachts aufstand, sich anzog und 
weinend auf sein Bett setzte. Wenn «ein Sonntag herankommt und 
sein Vater ist nicht da, dann ist er den ganzen Tag ungenießbar. 
Mir, der ihn 2 Jahre unterrichtete, bewahrt er eine große Anhäng- 
lichkeit und geht mir in den Aufsichtsstiinden nicht von der Seite. 
Auch sein Ehrgefühl erwachte allmählich. Zu seinen vielen Mängeln 
besaß er nämlich auch noch die Untugend, daß er sich anfangs in 
der gröblichsten Weise gegen die Gesetze der Reinlichkeit verging. 
Die erziehliche allseitige Einwirkung schaffte hier bald Wandel, und 
heute ist er soweit, daß er mir, wenn ihm über Nacht wieder ein- 
mal ein kleines Malheur passiert, in weitem Bogen ausweicht, andern- 
falls aber mit hohem Stolz seine tadellose Führung mit den Worten 
verkündet: »Gut, nicht Schwein«. Seine sozialen Instinkte sind sehr 
gering. Kameraden kennt er nicht, entweder er hält sich bei dem 
Lehrer auf, oder er spielt einsam in irgend einer Ecke. 

Das ist das geistige Porträt eines Kindes, das zudem noch an 
einer starken motorischen Sprachstörung leidet Für die Erlernung 
der Sprache scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten, und doch 
wurden sie überwunden. Aasdauer, Energie und planmäßige Ein- 

2" 



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20 



A. Abhandlungen. 



Wirkung trugen über mangelnde Intelligenz, Arbeitsunlust und Aphasie 
den Sieg davon. In den ersten beiden Jahren waren die Erfolge 
allerdings mehr als bescheiden. Über einige Laute und kleine Wörter, 
sowie das Nachmalen einiger Buchstaben kam der Knabe nicht hinaus. 
Erst im dritten Jahr sollte das große Werk gelingen. Im wesent- 
lichen auf demselben Weg wie das ganz taube Kind, also unter 
Zuhilfenahme von Gefühl und Absehen erwarb unser langjähriger 
Rekrut mit vieler Mühe sämtliche Sprachlaute, eine Reihe von Wörtern 
und Sätzen und lernte das Gesprochene auch schreiben. Die Störung 
hegt bei ihm auch auf dem schriftmotorischen Gebiet; denn er lernte 
das Schreiben womöglich noch schwerer als das Sprechen. Seine 
Sprache ist gut verständlich und angenehm; doch braucht er zur 
Beherrschung eines neuen Satzes stundenlange Übung. So schwer 
läßt sich bei einem solchen Kind ein neues motorisches Wortzentrum 
bilden. Wo dieses Zentrum entsteht, in der Umgebung des gebrauchs- 
unfähigen linksseitigen oder in der rechten Hemisphäre, entzieht sich 
leider unserer Kenntnis. Zu einer normalen Kindernatur wird sich 
dieser Knabe niemals entwickeln. Doch eine Bildung in bescheidenen 
Grenzen läßt sich auch bei ihm ermöglichen. 

Wesentlich leichter zu behandeln waren die beiden Mädchen M. 
und L. M. ist die geistig schwächere von den beiden, aber recht leb- 
haft und willig. Außer ihrer Aphasie liegt bei ihr auch eine Störung 
in der Irritabilität vor. Sie ist nämlich körperlichen Übungen, Laufen 
und Springen außerordentlich »abgeneigt und bekundet z. B. beim Be- 
steigen eines Stuhles eine geradezu komische Ängstlichkeit Wie bei 
dem Knaben ist auch bei diesem Mädchen mit der Aphasie eine 
ziemlich schwere Störung auf schriftmotorischem Gebiet verbunden. 
Ihr Gehör weist nicht den geringsten Defekt auf, trotzdem war sie 
nicht imstande, auch nur das kleinste Wort zu sprechen. Ihr Sprach- 
verständnis ist außerordentlich umfangreich und umfaßt den ganzen 
Anschauungskreis eines Kindes vom Lande. Selbstverständlich konnte 
sie anfänglich nur die Dialektsprache verstehen. Bei unsern schon 
kurze Zeit nach der Aufnahme einsetzenden Artikulationsübungen 
machte sie bald große Schwierigkeiten. Die Vokale sprach sie rasch 
nach, ebenso bewältigte sie nicht allzuschwer eine ganze Reibe von 
Konsonanten. Sobald aber ein Konsonant mit einem Vokal verbunden 
werden sollte, versagte sie total. Weder »ba< noch »ab« konnten 
von ihr zusammenfließend gesprochen werden, sondern wurden stets 
auseinandergerissen. Ebenso ging es bei den Wörtern »Anna«, 
»Emma« usw., die stets als » A . . . n . . . n . . . a« und »E . . . m . . . m . . . a« 
erschienen. Das Übel war so hartnäckig, daß ich bald den Mut ver- 



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Barbier: Drei Fälle motorischer Aphasie. 



21 



loren hätte. Endlich Dach wochenlanger intensivster Übung konnte 
die Hemmung überwunden werden, und mit überglücklichem Gesicht 
sprach das Kind ziemlich fließend die ersten Wörter. Noch mehr 
Schwierigkeiten als das Sprechen machte das Schreiben. Sie konnte 
schon eine ganze Reihe von Wörtern sprechen, als sie noch immer 
einzelne Buchstaben nachmalte und ihre taubstummen oder schwer- 
hörigen Mitschüler schon die meisten Schreib- und Druckbuchstaben 
des Alphabets beherrschten. Fast ein halbes Jahr dauerte der hart- 
näckige Kampf gegen ihre Unfähigkeit, die Bewegungserinnerungen 
der schon hundert- und tausendmal geschriebenen Buchstaben auf- 
zuspeichern und nach Bedarf wieder lebendig zu machen. Doch auch 
hier trat allmählich eine Besserung ein, und als endlich der Bann 
gebrochen war. machte sie so rasche Fortschritte, daß sie mit den 
übrigen Kindern weitergeführt werden konnte. Wider alles Erwarten 
erreichte sie das Ziel der 1. Klasse, durfte in die 2. aufsteigen und 
kann heute als ziemlich gute Schülerin bezeichnet werden. Ihre Sprache 
ist kräftig, fließend, gut verständlich, klingt aber etwas monoton. 
Weder ihr Ohr noch das neugeschaffene motorische Zentrum sind 
scheinbar imstande, die Feinheiten der modulierten und betonten 
Sprache aufzufassen. 

Das dritte Kind L. bot die wenigsten Schwierigkeiten. L. ist 
körperlich und geistig gut entwickelt, hat normales Gehör, hohes 
Sprach Verständnis, konnte indes ebenfalls kein Wort sprechen. Der 
Grad ihrer sprachmotorischen Störung war wesentlich geringer als 
bei ihren beiden Leidensgefährten, von einer Hemmung auf schrift- 
motorischem Gebiet konnte ich nichts entdecken. Die einzelnen 
Sprachlaute erlernte sie verhältnismäßig rasch, ebenso leicht ging die 
Zusammenfügung der Einzellaute zu Wörtern und Sätzen. Auch 
Schreiben und Lesen fielen ihr nicht schwer, stets hielt sie gleichen 
Schritt mit den bestbegabten tauben und schwerhörigen Schülern. 
Eine Entdeckung machten wir im Laufe des Schuljahres, die außer- 
ordentlich merkwürdig ist. L. entpuppte sich nämlich als Sängerin. 
Daß schwerhörige Kinder öfter zu »singen« versuchen, d. h. wahllos 
und unschön höhere und tiefere Töne aneinanderreihen, ist bekannt 
Aber eines Abends hörte die Lehrerin, die neben dem Schlafsaal der 
Mädchen ihr Zimmer hat, deutlich die Melodie eines evangelischen 
Kirchenliedes, natürlich ohne Worte. Sie ging dem Gesang nach und 
entdeckte unsere L. Bei der Prüfung, die ich daraufhin mit L. vornahm, 
fand ich, daß sie mehrere Kirchen- und Kinderlieder vollständig rein und 
rhythmisch sicher singen kann, daß sie überhaupt ein gutes musikalisches 
Gehör hat Es ist ihr nämlich ganz gleich, ob man ihr den Ton eine 



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22 



B. Mitteilungen. 



Sekunde, eine Terz, eine Quart höher oder tiefer angibt, stets baut 
sie die Melodie tadellos sicher auf. Nachdem sie sprachlich ent- 
sprechend weit gefördert war, gab ich ihr den Text zu dem Lied: 
»Alle Vögel sind schon da«, und nach einigen Übungen sang sie 
ganz sicher und rein die altbekannte Melodie mit dem ihr neuen Text 
Wenn ich im Laufe meiner Darlegungen, namentlich in dem 
letzten Fall, öfter davon sprach, »daß die Sprache verhältnismäßig 
leicht erworben wurde«, so ist das natürlich nur zu verstehen in 
Hinsicht auf die ganz tauben oder schwerhörigen Schüler. Verglichen 
mit dem hörenden normalen Kind erwirbt auch das bestbegabte 
aphasische Kind seine Sprache außerordentlich schwer, und selbst 
dann, wenn die Elemente der Sprache erlernt und ihre Verbindungen 
gut geübt sind, fällt dem aphasischen Kind die Beherrschung eines 
neuen Wortes viel schwerer als dem normalen Kind. An dieser Er- 
scheinung sehen wir, daß das neu entstehende links- oder rechts- 
seitige motorische Wortzentrum nicht entfernt so vorzüglich 
funktioniert wie das zerstörte oder von Geburt an nicht 
ausgebildete in der 3. linken Stirnwindung. Woran das liegt, 
wissen wir nicht, leider ist es Tatsache. Aus diesem Grund ist es 
auch nicht möglich, gutbegabte aphasische Kinder nach 2 oder 3 Jahren 
ihrer hörenden und redenden Umgebung zurückzugeben, da Gefahr 
besteht, daß sie infolge der ungenügenden Übung eine verstümmelte 
Sprache erwerben. Doch der eine hohe Trost bleibt diesen Kindern 
und ihren Angehörigen, daß sie im Laufe der Jahre ihre tauben und 
schwerhörigen Genossen weit überflügeln, daß ihre Sprache flüssig, 
angenehm und leicht verständlich wird, daß sie nicht auf das Absehen 
angewiesen sind, sondern in ihrem vorzüglichen Gehör ein Mittel be- 
sitzen, den Verkehr mit ihrer Umgebung ohne besondere Schwierig- 
keiten aufzunehmen und somit leichter und sicherer durchs Leben 
zu kommen als ihre unglücklicheren Gefährten. 



B. Mitteilungen. 



1. Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. 

(Vereinsjahr 1908/1909.) 

Der Vortragszyklus wurde eingeleitet durch ein Referat des Sekretärs 
Wilhelm Boerner über Moralpädacogik, das in dieser Zeitschrift in 
extenso zum Abdruck gelangt ist. Dr. Siegfried Weiß hielt einen Vor- 
trag Über Säuglingsschutz und Säuglingsfürsorge. Zunächst er- 



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1. österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. 



23 



brachte er Daten Ober Säuglingssterblichkeit, die bewiesen, daß diese in 
Österreich eine Oberaus große sei; einschneidende Reformen können nicht 
länger hinausgeschoben werden. Die Erfahrungen anderer Länder, besonders 
Deutschlands, sprechen dafOr, daß eine entsprechende Säuglingsfürsorge 
die Säuglingssterblichkeit bedeutend herabzumindern geeignet sei. Der 
Vortragende trat der Anschauung entgegen, als ob die Säuglingssterblichkeit 
als natürliche Auslese wirke. Untersuchungen verschiedenster Art haben 
die Notwendigkeit und Unersetzlichkeit der Brusternährung nachgewiesen. 
In Österreich sind erst die Anfänge einer Säuglingsfürsorge vorhanden. 
Der Vortragende sprach die Erwartung aus, daß diesen Bestrebungen aus 
den anläßlich des Regierungsjubiläums gesammelten Beträgen reichliche 
Unterstützung zufließen werde. Hof rat Escherich setzte sich mit vollem 
Nachdruck hierfür ein und bemerkte, daß die systemlose Art der Jugend- 
fürsorge eine nicht zu unterschätzende Gefahr für alle einschlägigen Be- 
strebungen bedeute. Zunächst müsse den Kindern die Existenz gesichert 
werden. Die Säuglingsfürsorge ist als das Fundament der gesamten Jugend- 
fürsorge anzusehen. Hofrat Escherich wies darauf hin, daß in Oster- 
reich auch gegnerische Stimmen sich erheben und zeigte, wie haltlos die 
vorgebrachten Argumente sind. — Ein Demonstrationsvortrag des Grazer 
Arztes Dr. Potpeschnig über ärztliche Erfahrungen an Hilfsschulen ist 
im Berichte über die Grazer Konferenz für Schwachsinnigenffirsorge bereits 
besprochen worden. — Von größter Bedeutung erscheint eine Aktion der 
österreichischen Gesellschaft für Kinderforschung, den vom österreichischen 
Justizministerium ausgearbeiteten Entwurf eines Fürsorgeerziehnngsgesetzee 
betreffend. Universitätsprofessor Dr. Reicher erstattete das Referat Er 
wies nach, daß in dem Entwurf Fürsorgeerziehung und Strafvollzug in 
unhaltbarer Weise vereinigt sind. Die Zusammensetzung der Landes- 
kommissionen, in denen Ärzten und Pädagogen nur beratende Stimmen 
zukommen, erwecke auch ernste Bedenken. Trotz unleugbarer Vorzüge 
entspreche das Gesetz in der vorliegenden Form nicht den berechtigten 
WQnschen der Jugendfreunde. In der Diskussion kamen Vertreter der 
Blinden-, Taubstummen-, Schwachsinnigen-, Epileptiker- und Krüppelfürsorge 
zum Wort. Alle wiesen nach, wie traurig es um die Fürsorge für minder- 
wertige Kinder in Österreich bestellt 6ei. Die Vernachlässigung anormaler 
Jugendlicher erscheint als eine Hauptui Sache der Verwahrlosung. Ein Redner 
sprach sich dahin aus, daß zurzeit ein Jugendfürsorgegesetz, das den 
geschilderten Mängeln abhelfe, notwendiger sei als ein Fürsorgeerziehungs- 
gesetz. — Den Schluß des Vortragszyklus bildete ein Referat von Professor 
Dr. Longo über Landerziehungsheime. Die anschließende Debatte gelangte 
bald auf das Gebiet der Schulreform. Von den verschiedenen Diskussions- 
rednern wurde der Wunsch ausgesprochen, daß die Schule mehr als bisher 
der Individualität der Schüler gerecht werde, daß die körperliche Erziehung 
mehr in den Vordergrund trete und dem Bedürfnis der Zeit nach prak- 
tischer Ausbildung der Schüler entsprochen werde. — Der Vorsitzende 
stellte die Einberufung einer besonderen Sitzung in Aussicht, in der vom 
Standpunkt der Kinderforschung Stellung zu den Fragen der Schulreform 
genommen werden solle. — 



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24 



B. Mitteilungen. 



An Stelle des zum Direktor des Kinderkrankenhauses in Baltimore 
ernannten Privatdozenten Dr. Freiherrn von Pirquet wurde der Assistent 
der Kinderklinik Dr. Robert Dehne zum Schriftführer ernannt. In den 
Vorstand trat der Professor der Pädagogik an der Wiener Universität Dr. 
A. Hoefler ein. Dem Präsidenten der Oesellschaft, Professor Dr. Friedrich 
Jodl, wurde zu seinem sechzigsten Geburtstag eine künstlerisch ausgeführte 
Adresse überreicht, die als Vertreter der Gesellschaft für Kinderforschung 
Hofrat Professor Escherich gefertigt hatte. 

Dr. Theodor Heller. 



2. Der erste cechische Kongreß für SchwachBinnigen- 
fürsorge und Hilfsschulwesen in Prag (Jnni 1909). 

Von Robert König, Lehrer in Prag. 

Das Interesse für die geistigen Anomalien des Kindes ist in Öster- 
reich bisher nicht groß gewesen. Während man im Ausland schon seit 
langem eingesehen hat, daß eine rationelle Fürsorge für die Schwachsinnigen 
bei dem Kinde zu beginnen habe, hat man bei uns in dieser Richtung fast 
nichts unternommen. 

Darum ist es zu begrüßen, daß in Böhmen die iechischen Interessenten- 
kreise, die Vereinigung »Komensk?« und das »Ceohische Landes- 
komitö für Kinderschutzc einen Kongreß einberufen haben. Er fand 
am 27., 28. und 29. Juni im Rathause zu Prag statt Seine Bedeutung 
liegt vor allem darin, daß mit ihm der erste große Schritt in Böhmen 
getan ist, um die Aufmerksamkeit der Staatsorgane und der breiten Öffent- 
lichkeit auf den lange vernachlässigten Gegenstand zu lenken. Der Kon- 
greß hat Psychiater, Juristen und Pädagogen zu gemeinsamer Arbeit ver- 
einigt. 30 Referate wurden gehalten und eine Ausstellung zeigte viel 
Interressantes. 

Die Eröffnung erfolgte durch den Bürgermeister der Stadt, die das 
Protektorat übernommen hatte. Dann erörterte der Präsident, Univ. -Prof. 
Dr. <$ada, den Zweck des Kongresses und begrüßte die erschienenen Ver- 
treter der Unterrichtsbehörden, des Landes, mehrerer Städte und Vereine. 
Nach den v Ansprachen der Delegierten begannen die Verhandlungen. 

Dr. Ca da hielt einen gediegenen Vortrag über »Bedeutung der 
SchwachsinnigenfÜr6orge«. Er setzte sich mit den Gegnern der 
Fürsorge auseinander, indem er die gänzliche Unhaltbarkeit ihrer Argu- 
mente bewies und sprach über die große Wichtigkeit der Fürsorge in 
pädagogischer und sozialer Hinsicht Dann wurde die Ausstellung eröffnet. 
Sie enthielt Photographien kranker Kinder, Modelle von Gebissen, statistische 
Tabellen, Erzeugnisse der Werkstätten usw. Das Prager »Ernestinum« 
hat den größten Anteil an ihrem Zustandekommen. Nachmittags fanden 
sich die Lehrer zu einer Beratung über die Hilfsschule zusammen. Lehrer 
Storch (Prag) erstattete das Referat, an das sich rege Debatten schlössen. 

Der zweite Tag brachte zuerst einen Vortrag des Psychiaters, Univ.- 
Prof. M. ü. Dr. Kufner, »Die Grenzen des Schwachsinnesc Er 



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2. Der erste öechische Kongreß für SchwachsinnigenfürBorge. 25 



erwähnte die manchmal unzuverlässigen äußeren Anzeichen des Schwach- 
sinnes, besprach dessen Grade und die Übergangstypen, krankhafte Kompli- 
kationen und die nötigen Vorkehrungen. 

Hierauf sprach M. U. Dr. Pelnäf Ober »Die allgemeingefähr- 
lichen Schwachsinnigen«. Mit Hilfe einer Statistik von 128 Fällen 
wies er nach, daß die Schwachsinnigen nicht allein bedauernswerte, sondern 
auch gefährliche Individuen sind, und forderte die Inangriffnahme dieses 
vor allem sozialen Problems, zugleich mit dem der Alkoholiker, Epilep- 
tischen und Degenerierten überhaupt. Univ.- Prof. Dr. MiriÖka sprach 
über »Die Schwachsinnigen im Straf rechte und verlangte das Vor- 
gehen gegen die Schwachsinnigen nach besonderen Paragraphen, sorg- 
fältigste Individualisierung und das Verbüßen von Strafen in besonderen 
Gefängnisräumen, Unterbringung in Arbeiterkolonien und bei Familien. 
Sodann hielt Dr. Anton Heveroch einen Vortrag: »Die klinischen 
Formen des erworbenen Schwachsinnes.« Er unterscheidet: 

L Schwachsinn als Folgeerscheinung von Hirnkrankheiten: 

a) Schwachsinn nach Entzündung des Gehirns oder dessen Häute. 

b) Schwachsinn nach Eklampsie. 

c) Schwachsinn bei Leibeslähmungen. 

d) Schwachsinn mit Hydrocephalie. 

e) Schwachsinn bei Epilepsie. 

f) Schwachsinn nach Verletzungen des Kopfes. 

IL Schwachsinn als Folge von Allgemeinerkrankungen: 

a) nach Infektionskrankheiten. 

b) als Folge von Alkoholismus. 

c) als Folge von Unterernährung. 

d) bei Rachitis. 

e) Kretinismus, Myxoedem. 

HI. Schwachsinn aus Unzulänglichkeit der Erziehung. 
Es folgte nun ein Vortrag des Bezirksschulinspektors Zern an: »Die 
pädagogische Bedeutung der Hilfsschulen«. Darin wurde in aus- 
gezeichneter Weise die große Bedeutung der Hilfsschule erschöpfend klar- 
gelegt. M. U. Dr. Hüttel, Schul- und Kinderarzt in Prag, sprach Über 
»Die Prager Hilfsschulen, ihre Schüler und die Forderungen 
vom Standpunkte des Schularztes«. In Prag gibt es 5 Hilfsschulen, 
die den allgemeinen Volksschulen angegliedert sind, mit 116 Schülern 
(69 Knaben, 47 Mädchen). Lehrer Sedläöek referierte über »Schwach- 
sinnige Kinder in Mähren«, sodann M. U. Dr. Herfort, der Direktor 
des bekannten »Ernestinums« in Prag, über »Einrichtung von Anstalten 
für Schwachsinnige«. Er verlangt die moderne Ausstattung,, der 
Anstalten (Pavillonsystem, Werkstätten, Wirtschaftshof usw. Dr. Simsa 
sprach über »Alkoholismus und sein Einfluß auf die Entwicklung 
des Schwachsinnes« und sagte, daß der Staat, der den Verkauf vou 
Alkohol unterstütze, sich auch um dessen Opfer sorgen möge. Inspektor 
Zern an weist im Anschluß daran darauf hin, daß im Gebiete des böhmisch- 
mährischen Höhenzuges die Herstellung von Haarnetzen seit etwa 20 Jahren 
ein Zweig der Heimarbeit geworden ist Die Kinder werden auch hier 



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B. Mitteilungen. 



zur Arbeit verwendet. Es wird von 4 Uhr morgens bis 8 Uhr, und nach 
Schluß des Unterrichts bis 1 1 Uhr nachts gearbeitet Schläge und Alkohol 
dienen zur Aufmunterung der übermfldeten Kinder, die auf diese Weise 
systematisch zugrunde gerichtet werden. Schon vierjährige Kinder müssen 
bei leichteren Arbeiten behilflich sein. Am Samstag, wo abgeliefert wird, 
sind die Klassenzimmer halb geleert. Da den Eltern aus dieser Kinder- 
arbeit ein Verdienst von wöchentlich 5 Kronen per Kind erwächst, so 
werden Strafen für versäumten Schulbesuch gern gezahlt Trotzdem die 
Lehrerschaft der beteiligten Bezirke Flugschriften herausgegeben hat und 
auch die Behörden sich darum interessierten, ist eine Besserung nicht zu 
verzeichnen. Der Redner schließt mit der innigen Bitte an die Kommission 
für Kinderschutz um Abhilfe und sagt die weitgehendste Unterstützung 
der Lehrerschaft zu. Univ.-Prof. Dr. Haäkovec referierte nun über 
»Prophylaxe des Schwachsinnes«. Der Redner faßt den Begriff 
des Schwachsinnes in des Wortes weitester Bedeutung und unterscheidet 
pränatalen und postnatalen Schwachsinn. 

I. Pränataler Schwachsinn: 

a) erblicher (direkt, indirekt, kolateral, atavistisch). 

b) angeborener (kongenitaler) und zwar: 

1. wegen Schadhaftigkeit der sperraalen oder ovularen Zelle. 

2. als Folge eines schädlichen Einflusses während der Frucht- 
entwicklung embryonaler Schwachsinn. 

Als Ursache des erblichen Schwachsinnes gibt H. an: Unzulänglichkeit 
der Geschlechtszellen, Degeneration (durch Alkohol, Syphilis, Toxikosen, 
Autointoxikation, mangelhaften Stoffwechsel, sich wiederholende Nerven- 
krankheiten). Die Prophylaxe besteht im Kampfe gegen die Degeneration 
durch Volksbildung. Verbot von Ehen zwischen Degenerierten. Anti- 
alkoholbewegung. 

Die Ursache von kongenitalem, spermalen oder ovularen Schwachsinn 
bilden abermals Alkohol, Lues usw., Autointoxationen (Blei, Quecksilber), 
Phosphor, Tabak, Morphium, Diabetes), auch Infektionskrankheiten (Influenza, 
Phlegmone) der Eltern. Hier besteht die Prophylaxis in hygienischer Be- 
lehrung des Volkes (Schule), Belehrung über das Geschlechtsleben (dessen 
biologische, ethische, nationalökonomische und soziale Bedeutung), Warnung 
vor den verschiedenen Abtreibungsmitteln, Verbot an notorische Säufer, 
Syphiliker und an Tuberkulose Leidende, zu heiraten, trotz der Möglich- 
keit illegaler Ehen; es könnten auch Gesundheitszeugnisse der zu Ver- 
ehelichenden verlangt werden. Embryonaler Schwachsinn kann auch durch 
Verletzung der schwangeren Mutter oder der Frucht bei der Gehurt ent- 
stehen. In diesem Falle kann den daraus entstehenden Blutungen und 
Entzündungen des Gehirnes durch Alkohol, Lues usw. ein locus minoris 
resistentiae bereitet werden. Seelische Depression der Mutter kommt als 
Ursache nicht so sehr in Betracht, wenn deren Einfluß im Prinzip auch 
nicht zu leugnen ist Auch da zeigen sich meist als wichtigere Ursachen 
Alkohol usw. Prophylaxe: Schwangere sind zu schützen (Fabrikarbeit usw.), 
dem Volk ist Achtung vor der sich entwickelnden Frucht beizubringen. 



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2. Der erst* öechische Kougreß für Schwachsinni^nfürsorpe. 



27 



II. Postnataler Schwachsinn. 

Bei Kindern mit noch unvollkommen entwickeltem Gehirn und später, 
zur Zeit der Pubes. Es treten auf: 

a) Entzündungen der Gehirnhäute und des Gehirnes nach Infektions- 
krankheiten (Scharlach, Diphtherie usw.). 

b) Eigentliche cerebrospinale Meningitis. 

c) Apoplexie, Trom bösen, Gehirnerweichung nach Verletzung, Per- 
tussis usw. 

d) Selten Vergiftungen (Alkohol, Brom, Tabak). 

e) öfter Gehirn Syphilis, Geschwülste u. a. 

f) Krankheit der Schilddrüse, unmäßige Onanie. 

Auch hier spielt die Heredität immer eine große Rolle. Prophylaxis: 
Richtige Ernährung und Lebensführung, Schutz vor ansteckenden Krank- 
heiten, Säuglingsfflrsorge und alle anderen sozial -humanen Institutionen 
sind planmäßig und im großen durchzuführen. Tüchtige Willensbildung, 
sexuelle Aufklärung in jedem Lebensalter. Das Volk ist zur Reinlichkeit 
an zueifern, die öffentlichen Gebäude seien ein Muster hierin. Energische 
Bekämpfung des Alkohols bei Kindern. Ein Resutne beschloß den lehr- 
reichen Vortrag. 

J. U. Dr. Tuma stellte sich die Frage »Wer hat die Auslagen 
zur Erziehung und Versorgung der Schwachsinnigen zu tragen?« 
und kommt zu dem Schlüsse, daß dazu das Land, die Bezirke und Ge- 
meinden verpflichtet sind. Auch die private Wohltätigkeit ist wichtig. 

Dir. Kral sprach nun Über »Die Ergebnisse der Arbeit für 
die Schwachsinnigen im Pardubitzer Bezirk« und beklagte sich 
über die 1901 gemachten Versprechungen seitens vieler Korporationen, 
von denen keine eingelöst wurde. 

Univ.-Prof. M. U. Dr. Scherer setzte nun die »Beziehungen der 
Eklampsie des frühesten Kindesalters zum Schwachsinne aus- 
einander. Eklampsie, die im frühesten Kindesalter der Schwachsinnigen 
auftritt, ist nicht als Ursache, sondern als Symptom des Schwachsinns an- 
zusehen; es kommt aber häufig genug vor, daß Kinder im ersten Jahre 
typische Eklampsie zeigen, ohne daß diese später das seelische oder körper- 
liche Heil beeinträchtigt. Lehrer Sedläöek sprach nun von der »Organi- 
sation der Hilfsschulen«, und Pater Flusek, Taubstummenlehrer, 
über »Schwachsinnige Taubstumme«. Hierauf ergriff Zahnarzt Ziika 
das Wort: »Ober die Unregelmäßigkeiten, in der Entwicklung der 
Zähne und Gebisse« (Hypoplasie). Lehrer Cerväöek berichtete von den 
»Fortschritten der Schwachsinnigenfürsorge im Auslande und 
bei uns«. Dozent Dr. Kailab referierte über: »Die Behandlung 
jugendlicher Schwachsinniger nach dem gültigen Strafrecht 
und die Forderungen der modernen Kriminologie.« Er beantragt 
die Gründung einer Kommission, bestehend aus einem Juristen, einem 
Arzt und einem Pädagogen zur Überprüfung der österreichischen Jugend- 
gerichtsnovelle mit Rücksichtnahme auf die Schwachsinnigen angenommen. 

Am dritten Tage sprach zuerst M. U. Dr. Herfort: »Die Schwach- 
sinnigen vom Standpunkt der Biologie«. Herfort betrachtet den 



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B. Mitteilungen. 



Schwachsinn als Entwicklungastörung, da er den Menschen wahrend seiner 
Entwicklung befällt (als Embryo. Krankheiten während der Frucht- 
entwicklung, Geburt oder in früher Einderzeit). Deshalb ist das schwach- 
sinnige Kind vom biologischen Standpunkt ein Problem der Eutwicklungs- 
mechanik oder der pathologischen Embryologie. 

Prof. Dr. Scherer referierte über »Einfluß der Lues auf Neu- 
geborene« und findet, daß die Natur durch die große Sterblichkeit der 
luetischen Kinder einen Ausgleich herstelle. 

J. ü. Dr. Tom an, Richter, verlangte Berücksichtigung der Schwach- 
sinnigen im Vortrag:« »Schwachsinnigen vom Standpunkt des Zivil- 
rechtes.« Hierauf sprach M. U. Dr. Jed Ii öka: »Ober einige Beziehungen 
des Knochen Wachstums zur Idiotie.« Infantilismus, Gigantisms u. a. 
Lehrer Silha schilderte die Zustände im mährischen Bezirk von Walachisch- 
Meseritsch: »Ober sohwachbegabte Kinder im walachischen Be- 
zirk.« Es folgte ein Referat des Schularztes Dr. Panfrek: »Die Ur- 
sachen der moral insanity in der Schule.« Dozent Dr. Jansky 
entwirft in seinem Vortrage »Ober familiäre Abarten der Idioten« 
ein klinisches Bild der zuerst von Sachs beobachteten infantilen familiären, 
amaurotischen Idiotie und unterscheidet sie von der Vogtschen juvenilen 
amaurotischen Idiotie : die infantile Idiotie (Sachs) komme meist bei 
jüdischen Kindern vor, sei charakterisiert durch einen eigenen inneren 
Augenbefund, befalle Kinder im frühesten Alter und nehme einen rapideren 
Verlauf. Die Vogtsche Idiotie zeige sich bei der jüdischen Rasse seltener, 
weise bloße Atrophie der Pupille auf, beginne im späteieh Lebeosalter und 
nehme einen längerea Verlauf. Lehrer Rohlena referierte über: »Schwach- 
sinnigenfürsorge in England« und Dozent Dr. Prochazka über: »Ver- 
sorgung der Schwachsinnigen in Siechenhäusern.« Es erweist 
sich als dringend notwendig, öffentliche, allgemeine Siechenhäuser mit be- 
sonderen Abteilungen für Schwachsinnige zu errichten, die ein ansehnliches 
Prozent siecher Pfründner bilden. Lehrer Storch trug »Momente aus 
der Hilfsschulpraxis« vor, wo er die Mängel der Prager Hilfsschule 
aufdeckte. 

Eine Resolution forderte die Errichtung von Hilfsschulen und stellte 
Grundsätze dazu auf. Es ist zu hoffen, daß in Bälde Hilfsschulen ent- 
stehen, da 42 Gemeinden die Auslagen bestreiten wollen. Der nächste, 
zweite Kongreß findet 1911 in Brünn statt. Es wird ein Kongreßprotokoll 
herausgegeben. 

Dem Kongreß kommt große Bedeutung zu. In Böhmen leiden alle 
Bestrebungen unter der nationalen Uneinigkeit Auf dem Gebiete der 
sozialen Fürsorge ist ein einträchtiges Vorgehen herbeizuwünschen. Da 

gibt es eben keinen schwachsinnigen Deutschen oder Gcchen , sondern einen 
schwachsinnigen Menschen, ein Individuum, das die Hilfe anderer be- 
nötigt, um das aber auch die Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse zu 
sorgen hat. — Die Deutschen in Böhmen stand bis jetzt der überaus 
wichtigen Frage »der Schwachsinnigenfürsorge fern und wenn über kurz oder 
lang die staatliche Aktion einsetzen wird — die Zeit kann nicht mehr fern 
sein — , so wird sie besonders die deutschen Lehrer unvorbereitet finden. 



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C. Literatur. 



29 



Den beteiligten Kreisen dieses Kongresses gebührt für ihre Pionier- 
dienste vollste Anerkennung. Wir wünschen von Herzen, daß ihre Arbeit 
immer dieselbe Begeisterung finde, wie beim Kongreß, und reiche Früchte 
trage. 



3. Über die gesundheitlichen Erfolge der Schüler- 

wandernngen 

berichtet Dr. H. Roed er- Berlin in einem Artikel »Wandertour und Ferien- 
kolonie« in der »Wochenschrift für Soziale Hygiene und Medizin« 1909 
Nr. 26. 56 Volksschulkinder, Knaben und Mädchen, im Alter von 11 
bis 13 Jahren, welche an den von dem Verein Berliner Ferienkolonien, 
den Ortsgruppen des Vereins für Volkshygiene, dem Verein Wanderlust, 
dem Charlottenburger Verein für Kinderausflüge und verschiedenen Turn- 
vereinen veranstalteten Wandertouren teilnahmen, wurden vor der Tour 
genau untersucht und nach der Tour drei Monate weiterhin beobachtet 
Die Touren erstreckten sich auf 6 Tage und gingen ins Gebirge (Harz, 
Sächsische Schweiz, Riesengebirge), an die See und in die Wälder Thüringens, 
der Mark und Mecklenburgs; auch Kinder mit schwächlicher Konstitution, 
wenn nur Herz und Lungen normal befunden wurden und nicht schwere 
nervöse Störungen wie Chorea, Epilepsie u. a. vorhanden waren, wurden 
für wanderfähig erklärt. Bei den Untersuchungen fand sich nun, daß das 
Körpergewicht in den der Tour folgenden drei Monaten bei 50 der Kinder 
erheblich zunahm: von 3 — 13 Pfd., in einem Falle sogar 22 Pfd. Eine 
Gegenüberstellung von 12 Mädchen einer Klasse mit 12 Nichtwanderern 
derselben Klasse ergab eine durchschnittliche Zunahme von 6,7 : 4,8 Pfd. 
Auch gegenüber den in Bädern und Sommerfrischen gewonnenen Zahlen 
ergibt sich für die Schülerwanderungen ein besseres Resultat, sodaß viel- 
leicht für die Ferienkolonien ein Ausbau in dieser Richtung, mehr Sport 
und Spiel, kleinere Wanderungen, erwünscht scheint, soweit der körper- 
liche Zustand der Kinder es gestattet. In kürzerer Zeit könne ein größerer 
Erfolg erreicht werden. Die erreichten Gewichtszunahmen seien, wie auch 
Untersuchungen von Zuntz ergaben, als Eiweißansatz aufzufassen und die 
intensive Nachwirkung derartiger Wanderungen namentlich bei Jugendlichen 
in der Beeinflussung des Nervensystems, in dem besonderen Anreiz des 
Appetit 8 zu suchen. 

Elberfeld. Dr. G. Mallinckrodt. 



C. Literatur. 



Ziehen, Die Erkennung des Schwachsinns im Kindesalter. Nach einem 
Vortrag für Eltern und Lehrer. Berlin, 8. Karger, 1909. Preis 60 Pf. 

Das Heftchen soll dem Laien die frühzeitige Erkennung des kindlichen Schwach- 
sinns ermöglichen. In Karze werden die körperlichen Abweichungen, Degenerations- 
zeichen usw. besprochen und dann, ebenfalls kurz, die Gedächtnisschwäche, die 
mangelhafte Begriffsentwicklnng, die Urteilsschwäche nebst den besten Methoden, 



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.°>0 



C. Literatur. 



sie zu prüfen. Ausführlicher sind dieselben in dem Beft: Die Prinzipien und 
Methoden der Intelligenzprüf nng von Ziehen (Karger, Berlin. 1,50 M) 
dargestellt, das dem Heilerzieher sehr empfohlen werden kann. Den »moralischen 
Schwachsinn« sieht Ziehen als die leichteste Form der Debilität an und vermeidet 
den irreführenden Namen ganz, da sich die Gefühlsroheit viel allgemeiner, auch auf 
ästhetischem Gebiet zeige. Gleichwohl stellt er aber die »psychopathischen Konsti- 
tutionen«, bei denen Anomalien des Fühlens bestehen, in einen gewissen Gegensatz 
zum intellektuellen Schwachsinn, und das mit Recht. (Es kann auch heilpädagogisch 
unmöglich gleichgültig sein, ob bei einer seelischen Anomalie Schwaohsinn oder Voll- 
sinnigkeit besteht D. Ref.) 

Merzig a. d. Saar. Dr. Hermann. 

Ranschburg, Dr. Paul, A gy ermeki elmo. (Der kindliche Geist.) II. wesentlich 
vermehrte Auflage. Budapest, Verlag Athenaeum-Gesellschaft, 1908. 

Der Verfasser beginnt mit einer eigenen Einteilung des kindlichen Geistes- 
lebens, die dessen stufenartige Entwicklung berücksichtigt und folgende Zeitabschnitte 
aufweist: den ersten, während dessen das Kind sich die geordneten Wahrnehmungen 
und Bewegungen erwirbt. Die nächste Altersgrenze beschließt das sechste Jahr 
und ermöglicht im Wege des Spielens Erfahrungen zu sammeln. Die dritte Periode 
währt bis zum 15. Jahre und gilt als eigentliche Schulzeit und endlich die letzte 
befestigt sich zwischen den Jahren von 16—20, wo die jugendliche Individualität 
ihre Entfaltung erlangt Hierauf bespricht Verfasser die gesamte Gestaltung des 
Gehirns von der Geburt an bis hinauf ins reife Alter; zergliedert das ganze Nerven- 
system, reflektiert überall auf dessen gesunde und regelmäßige Funktion; verweilt 
bei den gemeinsamen Bedingungen und Störungen der geistigen und leiblichen Ent- 
wicklung und legt noch die Bedeutung der Sinne und deren Organe klar. 

Sodann untersucht Verfasser den Gang der Sprache und führt beim Wort- 
vorrate die Resultate an, die er mittels seiner eigenen »verkürzten Methode« erreichte. 
Er bediente sich hierbei eines »Allwissenden Bilderbuches« von Farago, welches 
heute bereits in mehreren ausländischen Instituten benutzt wird. Aus einer an- 
gefügten Tabelle ist zu ersehen, daß die in die Schule eintretenden Kinder fast 
durchweg die konkreten Begriffe kennen und richtig benennen, hingegen das ab- 
norme Kind mit den Symbolen der Begriffe nur selten im reinen ist 

In dem vierten langen Kapitel beschäftigt Verfasser sich mit der Gedanken- 
welt des Kindes, bezw. mit den Vorstellungen, der Auffassung und der Reproduktion. 
Was die Hemmnisse der beiden letzteren betrifft, erfahren wir, daß das eigentliche 
Vergessen nach einer gewissen Gesetzmäßigkeit erfolgt Foruer prüfte er mittels 
seiner Wortpaarmethode die Ideenverknüpfungen, und gelangte zu dem Ergebnisse, 
daß eine beträchtliche Zahl der aus nicht geistiger Verwandtschaft entstehenden 
Assoziation auf eine ärmliche Intellektualität, nämlich geringere Fähigkeit folgern 
läßt. Bei der Ranschburgisohen Methode bedient man sich geistig zusammen- 
gehörender Wortpaare, deren Erneuerung derart zuwege kommt daß der Examinator 
das Merkwort jedes einzelnen Wortpaares vorsagt und der Zögling immer das 
fehlende Wort aus dem Gedächtnisse hinzufügt Um diesen Prozeß richtig zu be- 
werten, darf nicht außer acht gelassen werden, daß in jedem Falle die dazu be- 
nötigte Zeitdauer eine maßgebende Rolle spielt Die Fertigkeit des Geisteslebens 
ist mithin teils von der Qualität des verlaufenen Prozesses, teils von dessen 
Sohneiligkeit abhängig. Sowohl zwischen dem Umfang als auch der Geschwindigkeit 
des Gedächtnisses und der allgemeinen Intelligenz des Kindes läßt sich eine enge 



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C. Literatur. 



31 



Verbindung feststellen. Bei Untersuchungen der Auffassungs- und Gedächtnis- 
fertigkeit bediente sioh Verfasser seines Apparates, des Rausch burgischen Mne- 
mometere. 

Etwas kürzer behandelt Verfasser die Aufmerksamkeit und das Bewußtsein. 
Das Selbstbewußtsein entfaltet sich schrittweise, vorerst die Vorstellung der Indi- 
vidualitat, wohin des Kindes gesamtes Empfinden sich einschaltet; nebst diesem 
erscheint dann mit der Zeit das sekundäre, das eigentliche geistige Ich, worin schon 
die Seele der Persönlichkeit wurzelt. Die stetige Offenbarung der Aufmerksamkeit 
zeigt sich insbesondere in dem Interesse, das Verfasser nach dem Buche Ladislaus 
Nagys auseinandersetzt. 

Wieder ausführlicher läßt sich Verfasser in dem Kapitel über die Fehler und 
Abnormitäten des kindlichen Geistes aus. Zuerst erteilt er zuverlässige Auskunft 
hinsichtlich der vorübergehenden Mangelhaftigkeiten, dann aller Unzulänglichkeiten; 
wobei die praktisch wichtigen Abnormitäten laut Einteilung, Ursachen und äußerer 
Merkmale vorgeführt werden. Er verweilt bei der Psychologie der Geistesschwachen 
und Schwachbefähigten und liefert auf Grund eigener Erforschungen betreffs des 
Voretellangs- und Wortschatzes der Schwachsinnigen wertvolle Beiträge. Auch 
hierbei benutzte er das Allwissende Bilderbuch von Faragö samt seiner verkürzten 
Methode, nämlich er wählte 200 Bilder aus, die er zu diesem Zwecke verwendete; 
die langwierigen Beobachtungen bezeugten, daß unter 18 schwachbefähigten Schülern 
rwischen 9— 15 Jahren mehr als 50% die Bilder richtig benannten, hingegen 
von 10 normalen Zöglingen der jüngsten Klasse schlechthin 70% dieselben Bilder 
richtig zu bezeichnen wußten. Vorstellungen, welche am leichtesten zustande 
kommen, gehören fast durchweg dem Alltagsleben an. Der Umfang des Gedächtnisses 
bezuglich des unmittelbaren Rückerinnems ist nur um 20°/ 0 schwächer als bei 
normalen Kindern. Mit mehreren Daten veranschaulicht Verfasser die mangelhafte 
Konzentration der Aufmerksamkeit von Schwachsinnigen. Die Zeichnungen solcher 
Armseligen sprechen deutlich von der Unvollkorornenheit ihrer Vorstellungen und 
Unzulänglichkeit ihrer Urteilskraft Vielfache Prüfungen stellte Verfasser zwecks 
Ergrundung der Rechenfähigkeit bei Geistosschwächeren an, worüber drei reichhaltige 
Tabellen orientieren. Die vorzüglichsten Rechner der V.— VI. Klassen der Hilfs- 
bcbule vermochten nicht die Schnelligkeit der vier Rechenarten betreffend jene 
Mittelzeitdauer zu erreichen, welche wir bei den schwächsten Rechnern der 
Hl. Klasse in der Normalschule gewahren. Dieso Unfähigkeit dokumentiert sich 
erat recht offensichtlich gelegentlich des Gebrauchs von Kombinationen der 
Rechnungsarten. 

Das Schlußkapitel ist dem Schutze des kindlichen Geistes gewidmet Es er- 
örtert zuvörderst die verursachenden Faktoren, wie die Erzeuger der Schwach- 
befähigten, erbliche Belastung, ansteckende Krankheiten, Alkohol usw. Verfasser 
nimmt offen Stellung gegen jedwede Überbürdung. Er weist auf die heutigen 
Schulen hin, die sich um die Entwicklung des kindlichen Geistes nahezu gar nicht 
kümmern; gleichfalls die Lehrer, die die Grundsätze der Pädagogik auch nicht 
mittels Studiums des kindlichen Geistes sich erwerben, sondern höchstens aus der 
Geisteslehre der bereits vollständig Erwachsenen ihre Kenntnisse schöpfen. Die 
ßeelenkunde der Individualität wird weitaus vernachlässigt. Endlich bringt der Ver- 
fasser noch einiges über den Schutz der der Verwahrlosung ausgesetzten verlotterten 
und verbrecherischen Kinder, u. a. einen Bericht, wie einerseits das Kinderschutz- 
komite des Budapester Advokatenklubs, sowie die Kinderliga gesellschaftlich er- 
sprießlich wirken, andrerseits nicht minder die Ungarische Gesellschaft für Kinder- 



32 



C. Literatur. 



forschung emsig arbeitet, deren wissenschaftliches Material über den kindlichen 
Geist alsdann das königl. ung. ht'ilpädagogisehe und psychologische Laboratorium 
verwertet, dessen Direktor der Autor dieses Werkes ist 

Budapest. K. G. Szidon. 

Maas, Dr. Paul» Die Sprache des Kindes und ihre Störungen. Würzburg, 
Verlag v. Curt Kabitzsch (Hubers Verl.). Preis 2 M 80 Pf. 

Die kindliche Sprache und ihre Störungen sind Gebiete, die den Arzt in 
gleicher Weise wie den Pädagogen interessieren müssen. Die Materie ist aber so 
schwierig, und es existiert eine so umfangreiche Literatur über dieses Grenzgebiet 
von Medizin und Pädagogik, daß es dem ärztlichen Praktiker in gleicher Weise wie 
dem pädagogischen willkommen sein muß, wenn ihm der Gegenstand in klarer, 
faßlicher, kurzer Weise mundgerecht gemacht wird. Dies hat der Verfasser in 
meisterhafter Weise verstanden. Als besonders gelungen ist das erste Kapitel von 
der kindlichen Sprachentwicklung zu bezeichnen, in dem auch die neuesten Arbeiten 
z. B. das epochemachende Werk von William und Clara Stern: »Die Kioder- 
sprache« berücksichtigt ist Im II. Kapitel über »Bau und Tätigkeit der Sprach- 
organe« findet sich eine fesselnde, klare Popularisierung der Anatomie der 
Respirationsorgane. Auch die übrigen Kapitel, die vom Stottern, Poltern, Stammeln, 
von der Taub- und Hörstummheit und den Sprachstörungen schwerhöriger Kinder 
handeln, sind für den Nichtmediziner in leicht verständlicher, fesselnder Sprache 
geschrieben. Man kann das treffliche Buch getrost auch Eltern warm empfehlen, 
die durch Beherzigung der Lehren des Verfassers manches Unheil von ihren 
Kindern abwenden können, indem sie ihre Schützlinge rechtzeitig ärztlicher Hilfe 
überweisen. Besonders lehrreich und nutzbringend ist das Studium des Buches für 
den Lehrer, aber auch der Arzt wird mit größtem Interesse die streng wissen- 
schaftlich gehaltenen Ausführungen des Verfassers studieren. 

Frankfurt a/M. Dr. Alb. Feuchtwanger. 

Simon, Chr. Rud., Frankf. a/M., D,ie Erziehung zur Selbstbeherrschung, 
ein pädagogisches Problem. Langensalza, Hermann Beyer k Söhne (Beyer 
& Mann). Preis 50 Pf. 

Die kleine Schrift ist als 339. Heft des »pädagogischen Magazin« erschienen. 
Verfasser berührt sich in vieler Beziehung mit den neuen, aktuellen Arbeiten des 
Züricher Moral pädagogen Förster. Wohltuend macht sich der auf jeder Seite 
des kleinen Buches hervortretende Sinn des Verfassers für die Geschichte der 
Pädagogik geltend. Die Hinweise auf Kant, Herbart, Fichte, Comenius, Salzmann, 
Fröbel, Rousseau usw. machen die Lektüre besonders angenehm. Hätte jeder Päda- 
goge den historischen Sinn des Verfassers, so würden die Reformbesrrebungen in 
gemäßigterer Sprache sprechen und mehr Aussicht auf Erfolg haben. Das kleine 
Buch, das auch eine Fülle von psychologischen Details enthält, wird jeder päda- 
gogisch Interessierte mit großem Genosse lesen. 

Frankfurt a/M. Dr. Alb. Feuchtwanger. 



Druck von Hermann iloyer & Söhn« (Beyoi k Mann) in UiigoaMüza. 



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A. Abhandlungen. 



1. Die psychopathisch Minderwertigen in der 

Strafrechtspflege. 

Von 

W. Carrie, Hamburg. 
Die Tatsache, daß psychopathisch Minderwertige im späteren 
Leben gar leicht mit den Strafgesetzen in bedenkliche Konflikte ge- 
raten, veranlaßte mich schon vor 3 Jahren, in den »Kinderfehlem« 
(Heft 3, 1906) einen Vorschlag zu veröffentlichen, der es ermöglichte, 
diese Minderwertigen, soweit sie aus einer »Hilfsschule« hervor- 
gegangen sind, dem Strafrichter ins rechte Licht zu stellen. Be- 
kanntlich werden ja an den Hilfsschulen über jeden einzelnen Schüler 
Personalbogen geführt, die genaue Aufzeichnungen über Art und Grad 
des geistigen Defektes des Hilfsschülers enthalten. Sie geben zuver- 
lässige Auskunft über etwaige erbliche Belastung, Charakterfehler und 
Charakterschwäche, über die intellektuelle und ethische Entwicklung 
in der Schule, über normwidriges Verhalten, u. a. m. Es ist klar, daß 
diese Bogen in hohem Maße geeignet sind, ein deutliches Bild des ganzen 
Individuums zu geben, denn sie werden von Lehrkräften, die eingehende 
Kenntnisse in der Psychopathologie besitzen müssen, sowie von Hilfs- 
schulärzten gemeinschaftlich eingerichtet und fortgeführt bis zur Schul- 
entlassung des in geistiger Hinsicht anormalen Schülers. Den Militär- 
ersatzkommissionen wird schon jetzt infolge meiner im Jahre 1905 
an den Reichstag gerichteten Petition betreffs Befreiung geistig Minder- 
wertiger vom Militärdienst dieser Bogen zugestellt; dadurch wird 
verhütet, daß dem Heere geistig minderwertige Leute als Rekruten 
eingereiht werden, zum großen Vorteil auch für das Heer, das da- 
durch auf ein qualitativ höheres Niveau erhoben wird (vergl. meine 
Mitteilung in Heft 12, 1906 der »Kinderfehler«). Aber ebenso lästig 

Zeitschrift für Kinderforechong. XV. Jahrgang. 3 

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I 



34 A. Abhandlungen. 



wie beim Militär sind die ehemaligen Hilfsschüler auch in der Rechts- 
pflege. Zwar erscheint es keineswegs angängig, die Straftaten psycho- 
pathisch Minderwertiger dem Strafrichter ohne weiteres ganz zu ent- 
rücken. Diese darauf gerichteten Bestrebungen müssen schon im 
Interesse der Allgeraeinheit entschieden bekämpft werden. Deshalb 
fordert auch Trüper, der seit vielen Jahren als Bahnbrecher auf diesem 
Gebiete mit Eifer und Geschick tätig gewesen ist, daß die Verurteilung 
der psychopathisch Minderwertigen, sobald sie eben kriminell geworden 
sind, in den meisten Fällen auch unbedingt erfolgen muß. Aber sie 
gehören dann in eine Heilanstalt, die aber zugleich auch Zwangs- 
anstalt sein muß. Gerade »gegen die psychopathischen Verbrecher, 
deren Zahl sicherlich nicht gering ist, müssen wir doppelt geschützt 
werden; es sind und bleiben die rückfälligsten und gefährlichsten, c 
(Vergl. Tbüpkr, Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von 
Gesetzesverletzungen Jugendlicher.) 

Zweifelsohne aber liegt es im Interesse der Rechtspflege, daß dem 
Strafrichter bei der Beurteilung von Vergehen Minderwertiger mög- 
lichst genaue Angaben über Art und Grad ihres geistigen Defektes 
vorliegen, und gerade nach dieser Richtung hin können die an den 
Hilfsschulen für Schwachbefähigte geführten Personalbogen den Ge- 
richten ganz wesentliche Dienste leisten, denn sie bieten eine wert- 
volle Unterlage zur Beurteilung der Persönlichkeit und der ihr zu- 
zumessenden Verantwortlichkeit, die auch dann von Wichtigkeit sein 
kann, wenn Verdacht auf Simulation vorliegt. Den Gerichten kann 
dieser Bogen durch folgende Maßnahme zugänglich gemacht werden: 

Auf Grund einer Bundesratsverordnung vom Jahre 1882 wird 
bei den Justizbehörden — in den meisten Bundesstaaten beim Ersten 
Staatsanwalt — ein Straf register geführt. Von jeder Bestrafung 
wird der Strafregisterbehörde im Geburtsorte des Verurteilten eine 
sogenannte Strafnachricht zugesandt, worin die ganzen Familien- 
verhältnisse des Betreffenden, sowie das erkannte Strafmaß angegeben 
•ind. Umgekehrt wird aber auch vor jeder strafrechtlichen Unter- 
suchung eine Strafauskunft von der Strafregisterbehörde des 
Geburtsortes eingezogen. Wenn nun die Hilfsschulen für Schwach- 
befähigte nicht nur den Militärersatzkommissionen, sondern auch diesen 
Strafregisterbehörden Abschriften der Personalbogen zur Verfügung 
stellen, so würde der Staatsanwalt, der später eventuell eine Straf- 
sache gegen den ehemaligen Hilfsschüler zu bearbeiten hat, auf seine 
Anfrage nach den Vorstrafen mit der Strafauskunft auch gleichzeitig 
den Personalbogen der Hilfsschule erhalten können. Vielleicht würde 
es auch schon genügen, wenn den Justizbehörden nur ein nament- 



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Carrik: Die psychopathisch Minderwertigen in der Straf recbt&pf lege. 35 



liches Verzeichnis der aus der Hilfsschule entlassenen Zöglinge über- 
reicht würde, da dann nur im Bedarfsfalle eine Abschrift des Personal- 
bogens auszufertigen wäre. In der Strafauskunft müßte dann unter 
der Rubrik »Bemerkungen« eine Angabe gemacht werden, wo und 
wann der Hilfsschüler die Hilfsschule besucht hat und von welcher 
Schulbehörde eine Abschrift des Personalbogens einzufordern ist 
Auf Grund des auf diesem Bogen ausgestellten ärztlich-pädagogischen 
Gutachtens, das sich auf mehrjährige und sachkundige Beobachtung 
stützt, könnte dann der Strafrichter sofort dem etwaigen Zweifel in 
die geistige Gesundheit des Angeklagten nähertreten. Nach ärztlich- 
wissenschaftlicher Auffassung sind ja manche Kriminelle infolge 
geistiger Minderwertigkeit zu dem geworden, was sie sind, ohne daß 
wir sie deshalb für unzurechnungsfähig im Sinne des geltenden Straf- 
rechts halten dürfen und können, um so mehr aber liegt es im 
Interesse der Rechtspflege, daß dem Strafrichter bei der Beurteilung 
von Vergehen geistig Minder wertiger möglichst genaue, von sach- 
kundiger Hand festgelegte Aufzeichnungen über Art und Grad der 
abnormen Erscheinungen im Seelenleben des Angeklagten vorliegen. 
Dazu eignen sich aber die Auszüge aus den Personalbogen der 
Hilfsschüler in ganz besonders hohem Maße. Es handelt sich also 
bei diesem Vorschlage um eine Ausgestaltung oder auch nur 
Ergänzung des Strafregisters auf Grund der Urteile, die von 
Lehrern und Hilfsschulärzten über Art und Grad des geistigen Defektes 
des Hilfsschülers aufgenommen sind. Um diesen Vorschlag zu ver- 
wirklichen, sind zwei Maßnahmen notwendig, die sich schon auf dem 
Verwaltungswege durchführen lassen: die Schulbehörden müssen an- 
gewiesen werden, nach jeder Schulentlassung von Hilfsschülern den 
Strafregisterbehörden eine entsprechende Mitteilung zugehen zu lassen. 
Dazu genügt eine Verordnung der obersten Schulbehörde des Staates, 
dem das Kind angehört. Außerdem aber müssen die Staatsanwalt- 
schaften angewiesen werden, die ihnen zugehenden Scbulnachrichten 
bei dem Strafregister aufzubewahren und allen Gerichtsbehörden Aus- 
züge daraus zu erteilen. Dazu ist ein Beschluß des Bundesrates not- 
wendig. Das Deutsche Reich zählt auf Grund einer im Schuljahre 
1905/06 aufgenommenen Statistik rund 522000 geistig Minderwertige 
im Alter von 14 und mehr Jahren. Aus dieser sicherlich hohen 
Zahl geht wohl zur Genüge hervor, daß sich die Verwirklichung des 
oben gemachten Vorschlages wohl lohnen würde. 

Diese Maßnahmen haben auch in einem Bundesstaate bereits 
praktische Bedeutung gewonnen, nämlich in Hamburg. Auf meine 
Veranlassung hin hat die hamburgische Senatskommission für 

3» 



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36 



die Justizverwaltung schon im vorigen Jahre die ihr unterstellten 
Strafverfolgungsbehörden darauf hingewiesen, daß über »Hilfsschüler« 
besondere Personalbogen geführt werden, aus denen Art und Grad 
ihres geistigen Defektes ersichtlich sind, und daß sie in geeigneten 
Fällen zwecks Erlangung einer Abschrift dieser Personalbogen sich 
an die Oberschulbehörde wenden mögen. Durch diese Maßnahmen 
sind die hamburgischen Justizbehörden meinem Vorschlage bis an die 
Grenze der Möglichkeit entgegengekommen, da, wie schon angedeutet 
wurde, zu einer generellen Anordnung in dieser Angelegenheit 
allein der Bundesrat zuständig ist Notwendig wird es bei der in 
Hamburg getroffenen Maßnahme freilich sein, daß sich die Straf- 
verfolgungsbehörden, wie ich es eingangs in Vorschlag gebracht habe, 
nach der jedesmaligen Schulentlassung ein Verzeichnis der entlassenen 
Hilfsschüler einreichen lassen, da sonst die ernste Gefahr besteht, 
daß ehemalige Hilfsschüler bei etwaigen Konflikten mit den Straf- 
gesetzen von dem Richter gar nicht als solche erkannt werden. Die 
Hilfsschule ist eben ein integrierender Bestandteil der Volksschule, 
und ihre Zöglinge dürfen sich daher später bei einem eventuellen 
Verhör vor dem Strafrichter mit vollem Recht als ehemalige Volks- 
schüler bezeichnen. Im Interesse der Sache muß man wünschen, 
daß die in Hamburg getroffenen Maßnahmen bald gleiche oder ähn- 
liche in den andern Bundesstaaten zur Folge haben; denn dadurch 
würde bewirkt, daß ehemalige Hilfssohüler vom Gericht erst dann 
verurteilt werden können, nachdem der Strafrichter Einsicht in den 
Personalbogen der Hilfsschule genommen hat Dafür bestehen zurzeit 
auch gute Aussichten. Die Angelegenheit ist nämlich zu Anfang 
dieses Jahres von mir bearbeitet und auf meine Veranlassung durch 
den Reichstagsabgeordneten Dr. Semler dem Reichsjustizamt unter- 
breitet worden, und der Staatssekretär im Reichsjustizamt Excellenz 
Nieb erdinq hat darauf geantwortet, daß die von mir in Vorschlag ge- 
brachten Maßnahmen bei der bevorstehenden Reform der Straf- 
prozeßordnung auch in Erwägung gezogen werden sollen. 
Das ist gewiß recht erfreulich. Auch im Reichstage ist die Ange- 
legenheit bereits zur Sprache gekommen und zwar in der Sitzung am 
19. Januar d. Js. gelegentlich der Beratung über den Etat der Reichs- 
justizverwaltung. Dort wurde nach dem stenographischen Bericht 
von dem Abgeordneten Dr. Heckscher über die in Frage stehende 
Materie folgendes ausgeführt: 

»In dem gleichen Zusammenhange gestatten Sie mir, eine An- 
regung eines Hamburger Hilfsschullehrers, namens Carrie, zu er- 
wähnen. Man hat in Hamburg und auch in andern Städten Deutsch- 



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- 

Cüuuk: Die psychopathisch Minderwertigen in der Straf rechtspflege. 37 



lands sogenannte Hilfsschulen für schwachsinnige Kinder eingeführt 
Diese haben sich außerordentlich gut bewährt. Der Lehrer Carriö 
hat nun mit Recht angeregt, man solle bei der Staatsanwaltschaft 
oder bei den sonst zuständigen Behörden Register über die geistige 
und sonstige Entwicklung der Schwachsinnigen führen. Dadurch 
würde eine Unmenge von Strafprozessen verhindert und vor allem 
würde man, wenn es einmal zum Strafprozeß kommt, ihn für den 
Angeklagten in das richtige Geleise bringen. Soweit ich unterrichtet 
bin, hat der Herr Staatssekretär die Liebenswürdigkeit gehabt, meinem 
Kollegen Semler schon in dem Sinne zu antworten, daß der Herr 
Staatssekretär diesen Bestrebungen sympathisch gegen- 
übersteht. Ich weiß ferner, daß die Militärverwaltung diese Listen 
benutzt hat, und daß die Verwaltung mit der Benützung der Listen 
außerordentlich zufrieden ist.« 

Somit bestehen also für diejenigen geistig Minderwertigen, die früher 
eine Hilfsschule besucht haben, recht günstige Aussichten. Aber wie 
steht es mit denjenigen minderwertigen Individuen, deren Defekte 
weniger auf dem Gebiete des Intellektes, sondern vorzugsweise auf 
dem Gebiete des Fühlens und Wollens liegen? Ihre Intelligenz ist 
oft nicht derartig geschwächt, daß ihre Überweisung in eine Hilfs- 
schule geboten erscheint, und doch beruhen auch ihre ethischen 
Defekte vielfach auf krankhafter Veranlagung. Sie stellen er- 
fahrungsgemäß im späteren Leben ein Hauptkontingent zum Ver- 
brechertum. In vielen Fällen Hegt bei ihnen erbliche Belastung vor. 
und ihre abnorme Beschaffenheit erklärt sich dann auch dem Laien 
und wird von ihm eher anerkannt Unerklärlich sind ihm dagegen 
die Fälle, in denen er sich sowohl in intellektueller, als auch in sitt- 
licher Hinsicht einwandfreien Eltern gegenübersieht. Muß auch das 
Urteil über manchen zunächst hierher zu rechnenden Zögling später 
dahin abgeändert werden, daß es sich doch nicht nur um alleinigen 
Defekt auf sittlichem Gebiet, sondern um angeborene allgemeine 
Geistesschwäche handelt, so bleiben doch immerhin sehr viele übrig, 
die sich so vorzüglicher Kenntnisse, eines so scharfen Urteils, einer 
so guten Fähigkeit zur Abschätzung der Grenzen des Erlaubten er- 
freuen, daß sie unter keinen Umständen auf den Schutz des § 51 
des Strafgesetzbuches Anspruch erheben können. Und doch gehören 
solche Fälle in das Gebiet des Abnormen. Solche Zöglinge sind 
eben psychopathisch veranlagt; hierher gehören ferner die Imbezillen 
mäßigen Grades, die Epileptiker im weiteren Sinne mit reizbarer 
Schwäche, Hysterische usw. 

Alle diese Individuen stehen ebenfalls in großer Gefahr, mit 



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38 



A. Abbandlangen. 



dem Strafrichter in unangenehme Berührung zu kommen. l ) Deshalb 
müßten auch die Zwangs-(Fürsorge)-Erziehungsanstalten, denen solche 
Elemente zahlreich überwiesen werden, Anweisung erhalten , den 
Straf registerbehörden ebenfalls Charakteristiken über diejenigen Zög- 
linge einzureichen, die offenbar psychopathisch veranlagt sind. Ein 
hoher Prozentsatz aller Fürsorgezöglinge ist mehr oder minder psychisch 
nicht einwandfrei. Die Eltern legten ihnen vielfach schon in die 
Wiege das Erbteil der eigenen Minderwertigkeit Die komplizierten 
Erscheinungen ihres Seelenlebens lassen sich nur in großen Zügen 
gruppieren. Die Grenzen sind so fließend, der Abweichungen, Misch- 
formen sind so viele, daß ein Überblick über die mannigfach ver- 
schlungenen Pfade des anormalen Seelenlebens kaum darzustellen 
ist Ein großer Teil leidet offenbar an innerem Gleichgewicht, Miß- 
verhältnis zwischen Gefühls- und Verstandesleben, Reiz und Reaktion, 
Erregbarkeit und Ermüdung. Diese Zustände sind von Koch und 
Tküper sehr treffend mit psychopathischer Minderwertigkeit bezeichnet 
worden. Mit eintretender Pubertät werden die auf Grund psycho- 
pathischer Minderwertigkeit basierenden Charakteräußerungen immer 
unangenehmer auffällig, so daß sie nicht vor groben Verletzungen der 
Sittlichkeit zurückschrecken. Je näher das Endo der Pubertät heran- 
rückt, desto mehr fällt bei den derartig Degenerierten die Disharmonie 
des Seelenlebens, das Unstete, Sprunghafte, Triebartige, der Mangel 
an Ernst und sittlichem Empfinden auf. 

Es ist besonders wertvoll und hochbedeutsam, daß nicht allein 

') Der Herausgeber dieser Zeitschrift, Dir. Trüpbr, hat im Verein mit seinem 
auf diesem Gebiete so sehr verdienstvollen früheren Mitherausgeber, dem verstorbenen 
Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch (Die psychopathischen Minderwertigkeiten 1892/93. 
— Die Bedeutung der psychopathisehen Minderwertigkeiten für den Militärdienst), 
in dieser Zeitschrift wie in den »Beiträgen zur Kinderforschung« und an andern 
Orten wiederholt und nachdrücklich sowohl auf die Notwendigkeit des Studiums der 
ethischen Minderwertigkeiten als psychopathische Erscheinungen als auf ihre große 
Tragweite für Erziehung, jugendl. Verbrechertum, Militärdienst usw. hingewiesen 
(Militärische Mißhandlungen als psychopathische Erscheinungen. Hamb. (Korrespondent 
1892. — Psychopath. Minderwertigkeiten im Kindesalter. Gütersloh 1893. — Zur 
Frage der Erziehung unsrer sittlich gefährdeten Jugend. 1900 [Beitr. H. 5]. — Die 
Anfänge abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. Altenburg 1900. — 
Psychopath. Minderwertigkeiten als Ursache jugendl. Gesetzesverletzungen. 1904 
[Beitr. H. 8]. — Zur Frage der eth. Hygiene. Altenburg 1904. — Zur Frage der 
Behandlung unsrer jugendl. Missetäter. * 1905 [Beitr. Heft 20). — Das Verhältnis 
der päd. Theorie zur Behandlung der Verfehlungen von Kindern und Jugendlichen. 
[Kulturparlament Heft 3/4] N. a. a. 0. m.). — Ebenso sind in der Sammlung »Bei- 
trägt) z. Kinderforschung u. Heilerziehung« noch eine lange Reibe von Abhandlungen 
verwandten Inhaltes erschienen, die bei der Erörterung dieser Frage volle Beachtung 
verdienen, Abhandlungen von Schinz, Möbius, Piggott, Flügel, Polligkeit. Moses, Reicher, 
Fiebig, Kulemann, ßaginsky, Fetisch, Dix, von Rohden, Agahd. Kuhn-Kelly, MaenneL 
Petersen u. a. Es sei darum nachdrücklich auf diese umfangreiche und vielseitige 
Behandlung dieser Frage durch die »Zeitschrift« und die »Beiträge« hingewiesen. 



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Caärie: Die peychopathisch Minderwertigen in der 8trafrechtspflege. 39 



von Psychiatern, sondern auch von Fürsorgepädugogen aus eigener 
Erkenntnis die Notwendigkeit erkannt worden ist, in erster Linie 
über das seelische Verhalten des Fürsorgezöglings in irrenärztlichem 
Sinne als Grundlage für den ganzen Erziehungsplan informiert zu 
sein. Ich verweise dabei in erster Linie auf die einschlägigen Schriften 
von Koca und Trüper, die nach dieser Richtung hin geradezu bahn- 
brechend gewirkt haben. Deshalb werden jetzt auch an den Fürsorge- 
anstalten, ebenso wie an den Hilfsschulen, sogenannte Personalbogen 
geführt über den geistigen und körperlichen Gesundheitszustand, 
Schulbildung, erbliche Belastung usw. Die darin enthaltenen Angaben 
über intellektuelle und ethische Defekte können ebenfalls ein geradezu 
klassisches Material zur Beurteilung des seelischen Verhaltens, für 
die gesamte Individualität des Zöglings darbieten. Vorausgesetzt muß 
dabei freilich werden, daß die Eintragungen in die Personalbogen 
nur von solchen Pädagogen gemacht werden, die mit einem be- 
sonders scharfen und praktischen Blick für die anormalen Erschei- 
nungen im jugendlichen Seelenleben ausgestattet sind. Durch Schärf ung 
des Verständnisses gegenüber Erscheinungen anormaler Gehirntätigkeit 
und Heranbildung einer psychiatrischen Denkweise müssen sie in- 
stand gesetzt werden, ein einigermaßen unanfechtbares Urteil über 
einen Zögling fällen zu können. 

Dadurch, daß die in den Personalbogen fixierten seelischen Cha- 
rakteristiken der Fürsorgezöglinge ebenfalls den Strafregisterbehörden 
zugänglich gemacht werden, würde nicht nur den einzelnen Individuen, 
sondern auch der Rechtspflege ein sehr wertvoller Dienst erwiesen 
werden. Ausgeschlossen von dieser Maßnahme müßten freilich die 
Fürsorgezöglinge werden, die mit gutem Intellekt und gesunder 
ethischer Veranlagung lediglich wegen mißlicher äußerer Verhältnisse 
der Fürsorgeerziehung überwiesen werden mußten, weil sie in Gefahr 
standen, infolge von Erziehungsmängeln zu verwildern. Diese müssen 
später für ihr Tun und Lassen vollverantwortlich gemacht werden. 
Die in den Fürsorgeanstalten untergebrachten psychopathisch Ver- 
anlagten dagegen können ebenfalls durch die eingangs erwähnten Maß- 
nahmen den Justizbehörden gegenüber ins rechte Licht gestellt werden. 

Auch diese Maßnahme müßte meines Erachtens angesichts der 
bevorstehenden Reform zur Strafprozeßordnung an den maßgebenden 
Stellen in Anregung gebracht werden. Dazu ist aber jetzt keine Zeit 
mehr zu verlieren, da sich der Reichstag vielleicht schon in nicht 
allznferner Zeit mit der Strafprozeßordnungsreform zu beschäftigen 
haben wird. Was den intellektuell Minderwertigen recht ist, ist den 
sonst psychopathisch Veranlagten billig. 

Wer hilft mit? 



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40 



A. Abhandlangen. 



2. Über den gegenwärtigen Stand der Knnst- 

erziehungsfrage. 

Vortrag, gehalten in der österr. Gesellschaft für Kinderforschung am 11. Mju 1908. 

Von 

Prof. Alois Kunzfeld- Wien. 
(Fortsetzung.) 

Die Darstellung von Bäumen, Blumen und anderen Pflanzen 
kommt in den Kinderzeichnungen nur vereinzelt vor und meist nur 
dann, wenn sie zu den dargestellten Menschen und Tieren in 
unmittelbare Beziehung treten. Ebenso verhält es sich mit der 
Wiedergabe von Gegenständen. Von einer perspektivischen Darstellung 
kann natürlich keine Rede sein. Diese Zeichnungen sind eine Nieder- 
schrift dessen, was ein Kind von einem Gegenstande weiß, nicht, 
was es von ihm sieht. Daher kommt es sehr häufig vor, daß 
beispielsweise Häuser von außen gezeichnet werden und gleichzeitig 
die in ihnen befindlichen Hausgeräte, daß der Schiffer entweder über 
dem Kahne oder in ihm mit sichtbaren Beinen dargestellt wird. 
Auch hier würde die Darlegung des Entwicklungsganges und der 




Fig. 14. 



Vergleich mit der Kunst der alten Kulturvölker sehr interessante 
Aufschlüsse gewähren, doch müssen wir für heute darauf ver- 
zichten. 

Die Figur 14 soll uns nur zeigen, wie weit ein noch nicht schul- 
pflichtiges Kind in der Darstellung seiner Vorstellungs- und Gedanken- 
welt kommen kann. Sie rührt von einem fünfjährigen Mädchen her, 
welche hier mit wenigen aber charakteristischen Strichen erzählt, wie 
ein Bauer sein Getreide einfährt. Das Ziehen des Pferdes ist schon 
sehr gelungen zum Ausdrucke gebracht. Einige Schritte weiter 
geht der Herr Pfarrer, ehrsam und würdig. Ihm entgegen läuft ein 



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Kotzfeld: Der gegenwärtige Stand der Kunsterziehungsfrage. 41 



Knabe, der schon von weitem die Mütze vom Kopfe genommen hat, 
um ihm dann ehrerbietig die Hand zu küssen. 

Mit diesen kurzen Erläuterungen über die Entwicklung der 
zeichnerischen Ausdrucksfähigkeit im vorschulpflichtigen Alter hoffe 
ich Sie, meine aufmerksamen Damen und Herren, überzeugt zu haben, 
daß man über Kinderzeichnungen nicht als über »sinnlose Kritzeleien« 
mit einem Witze oder einem Lächeln hinweggehen kann, wie es noch 
häufig geschieht, sondern daß dieses märchenhafte Seelenleben unserer 
Kleinen, das uns auch aus ihren Augen entgegenleuchtet, ebenso 
ernsten Studiums wert ist, wie die Entfaltung der kindlichen Sprache, 
weil sich ein naturgemäßer Unterricht nur auf das Verständnis dieser 
natürlichen Entwicklung aufbauen kann. 



Wenn wir uns nun fragen, können wir auch etwas vorkehren, 
um diese natürliche Entwicklung zu fördern und in kunsterziehlichem 
Sinne zu beeinflussen? Da müssen wir uns zunächst darüber klar 
werden, was man denn unter künstlerischer Erziehung versteht 
Häufig wird statt »künstlerische Erziehungc auch der Ausdruck 
»ästhetische Erziehung« gebraucht und es ist interessant, daß 
gerade die Wurzel dieses Wortes *ala&dvo^i(U€ auf das Empfinden 
und die sinnliche Wahrnehmung hinweist. Ein *atofrijTix6<;€ ist ein 
empnndungsfähiger und fühlender Mensch. Daher führt der Weg der 
künstlerischen oder ästhetischen Erziehung über die Empfindung und 
sinnliche Wahrnehmung zur Beobachtung und durch diese zur freien 
Gestaltung von Ideen. 

Der Mangel an geschulter Beobachtung hat sich bei allen höheren 
Studien, die auf gründlicher und feiner Beobachtung beruhen, 
in bedauerlicher Weise fühlbar gemacht. Wiederholt haben hervor- 
ragende Professoren der Technik und der medizinischen Wissen- 
schaften u. a. Prof. Tschermak in Wien und Prof. Vogt in Genf, 
darauf hingewiesen und dieser Übelstand wurde auch behördlicherseits 
erkannt Man hat versucht, denselben durch einen vermehrten An- 
schauungsunterricht und durch Veranlassung einer aufmerksameren 
.Naturbeobachtung entgegen zu wirken, aber nach und nach hat man 
einsehen gelernt, daß diese Versuche nicht den Kern der Sache selbst 
treffen, daß das Anschauen nicht durch Unterrichten allein erworben 
werden kann. Wie sollen auch Lehrer, die selber nicht zum Sehen 
erzogen worden sind, Kinder darin unterrichten? Es ist demnach leicht 
zu begreifen, daß der Anschauungsunterricht fast ganz in den Dienst 
des Sprachunterrichts gestellt wurde. Man vergaß und vergißt noch 



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42 



A. Abbandlangen. 



i 

I 
i 

i 



immer, daß die Anschauung eines Gegenstandes nur durch selbständige 
Tätigkeit des Schülers erworben werden kann. Dieses selbständige 
Schaffen ist ein Lebensbedürfnis des Kindes und die Grundlage jeder 
künstlerischen Erziehung. Dr. Kersch ensteiner sagt: »Die Sage erzählt, 
daß Antäos, der Sohn des Poseidon, der gewaltige und unüberwindliche 
Riese war, wenn und solange er mit dem Fuße die Erde berührte. 
Die Sage ist typisch für die wahre Bildung. Die wahre Bildung muß 
stets auf dem Boden der Arbeit stehen, sie schöpft ihre Kraft nur 
aus der ernsten, intensiven, praktischen, produktiven Tätigkeit« 

Soll der Unterricht sich in den Dienst der künstlerischen Er- 
ziehung stellen, oder soll die Kunst den ganzen Unterricht durch- 
tränken, ihn bekömmlicher, genuß- und erfolgreicher gestalten, so 
sind vor allem zwei Grundsätze festzuhalten: 

1. Der Unterricht muß den Kindern in der schönsten Form, er 
muß ihnen als Kunstwerk geboten werden. 

2. Der Unterrichtsstoff muß von den Schülern, soweit als möglich, 
durch sinnliche Anschauung und Wahrnehmung erfaßt und durch 
eigene Beobachtung und Erfahrung, durch eigenes Arbeiten und 
Schaffen zum bleibenden Eigentum gemacht werden. 

Wie den angeführten Grundsätzen in allen einzelnen Unterrichts- 
gegenständen Rechnung getragen werden kann, das ausführlich dar- 
zustellen, würde über den Rahmen meiner heutigen Darlegungen weit 
hinausreichen, es seien mir jedoch zur besseren Verständigung einige 
Beispiele anzuführen gestattet: 

Die Muttersprache tritt uns als vollendetes Kunstwerk in den 
Schöpfungen unserer großen Dichter entgegen. Die Dichtungen dieser 
Meister der Sprache sollten den Kindern aber auch ganz und 
unverkümmert, unzerstückelt und unzerpflückt geboten werden, nur 
dann werden sie imstande sein, in bestimmender Weise auf das Gefühls- 
leben der Kinder einzuwirken und jenen Segen zu verbreiten, der 
von echten Werken der Kunst allezeit ausgeht. 

Die Muttersprache tritt uns dann auch im Kinde selbst entgegen, 
eine zarte Pflanze, deren Entwicklung beobachtet, deren gesundes 
Wachstum gehegt und gepflegt werden soll, nicht durch allzu häufiges 
Beschneiden und Verbessern — das würde dem selbständigen Wachs- 
tume nur schaden — , sondern durch Förderung der Eigenart jedes 
Kindes in seinem Gedankenausdruck. Dann wird auch der schriftliche 
Aufsatz gedeihen und entzückende Bilder von naiver und kindlicher 
Anmut entstehen lassen. Das wird um so früher der Fall sein, je 
mehr die Aufgaben nicht allgemein gültige Sentenzen, die den Er- 
lebnissen der Kinder fern liegen, behandeln, sondern Vorkommnisse 



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Kunzfeld: Der gegenwärtige Stand der Kunsterziehungsfrage. 



43 



und Begebenheiten, die mit dem persönlichen Leben des Kindes in 
innigem Zusammenhang stehen. 

Auch die Jugendschriften können in hervorragender Weise 
künstlerisch erziehend wirken, wenn sie, je nach der geistigen Reife 
des Kindes, die Perlen unserer Literatur enthalten und nicht allzu viel 
von jenen sentenziösen Fabrikaten, welch eigens für Kinder zurecht- 
geschnitten werden. Es ist selbstverständlich, daß für die Illustration 
von Jugendschriften nur Meister ersten Ranges herangezogen werden 
sollten. 

Wenn die künstlerische Erziehung durch die Muttersprache auch 
von der Bühne aus gefördert werden könnte, würde es gewiß mit 
Freuden zu begrüßen sein, freilich nicht durch die oft unsäglich 
albernen und kindisch gemachten »Märchenaufführungen«, die zumeist 
gerade den süßen Zauber, den die Märchen im Kindesberzen entfalten, 
austilgen, sondern durch die Aufführung der erhabenen Meisterwerke 
unserer großen Dichter vor unserer der Schule entwachsenden Jugend. 

Die Grundbegriffe der Geographie können am besten auf Aus- 
flügen in die nächste Umgebung, sowohl in der Ebene als auch im 
Gebirge erworben werden. Die Schüler sind anzuleiten, nicht nur 
scharf zu beobachten, sondern auch das Beobachtete in richtigen 
Skizzen wiederzugeben: Bodenerhebungen, Flußläufe mit Brücken 
und Wegen, Wegkreuze, Bildsäulen, Schlösser und Ruinen, die bild- 
liche Lage von Dörfern, Städten usw. Das nach der Natur Skizzierte 
wird hierauf im Lehrzimmer in die kartographische Zeichensprache 
übertragen. Es ist besser ein kleines Gebiet zu behandeln, als weite 
Landstrecken oberflächlich. 

In ähnlicher Weise kann auch geschichtlicher Stoff erworben 
werden. Z. B. ein altes Schloß, aus romanischer Zeit stammend, wird 
besucht und der Geist des frühen Mittelalters wird aus diesem stummen 
Zeugen großer, geschichtlicher Ereignisse unmittelbarer und packender 
sprechen als es das geistvollste Lehrbuch der Geschichte tun könnte. 
Die Anlage und der Aufbau des Schlosses werden skizziert, das 
Charakteristische der romanischen Bauweise wird von den Schülern 
selbst entdeckt und zeichnerisch und schriftlich festgehalten. Ebenso 
wird der Besuch einer entsprechenden Kirche in das Verständnis des 
gotischen Stiles unmittelbar und sicher einführen. Die ganze Stimmung 
der Kreuzzüge und der tiefgehenden religiösen Begeisterung der da- 
maligen Zeit ist hier in wunderbarer Harmonie zu Stein geworden. 
Auch die technische Geschicklichkeit der herrlichen Einzelheiten eines 
solchen Baues, die man erst beim Nachzeichnen so recht bemerken 
kann, wird die jungen empfänglichen Seelen mit ungeteilter Be- 



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44 



A. Abhandlangen. 



wunderung für das künstlerische Wirken einer uns so fern liegenden 
Zeit erfüllen. Die bezüglichen Notizhefte, welche gleichzeitig Skizzen- 
bücher sind, werden lebendigen, allezeit wirksamen Stoff enthalten, 
weil er selbst gesammelt und verarbeitet worden ist 

Kein Gegenstand wird für die künstlerische Erziehung wichtiger 
sein, keines wird aber auch von dem »Kunststudium« mehr befruchtet 
werden, als der naturkundliche Unterricht Auf diesem Gebiete 
insbesondere wird viel zu viel unterrichtet, noch viel zu wenig angeschaut 
und am wenigsten selbst erarbeitet. Es genügt nicht, die Kinder 
stundenlang über alle merkwürdigen Eigenschaften eines Gegenstandes 
zu unterhalten, ihnen denselben in die Hand zu geben und ihn durch 
den Gesichts- und Tastsinn wahrnehmen zu lassen, ist schon mehr, 
eine allseitige Anschauung wird aber nur dann erreicht, wenn der 
Gegenstand auch dargestellt wird, sei es im Räume oder in der Ebene. 
Die Apperzeption fördert das Wissen noch nicht, es muß sich auch 
die Reproduktion dazu gesellen. 

Es sind in jüngster Zeit außerordentlich interessante Versuche 
darüber angestellt worden, wie wenig die Kinder z. B. von dem Tiere 
wissen, das in der Schule in herkömmlicher Weise unterrichtlich 
behandelt wurde, wenn sie es aus dem Gedächtnisse zeichnen sollen 
und wie ausgezeichnet die Ergebnisse, wenn dieses Studium nicht 
allein auf bloßer Anschauung aufgebaut, sondern auch von der er- 
klärenden Zeichnung des Lehrers und der mitarbeitenden Skizzierung 
des Schülers begleitet war. Daher wäre es wünschenswert, den natur- 
geschichtlichen Unterricht für alle Kinder in freier Natur zu er- 
möglichen, wobei Gelegenheit wäre, die Schüler zu beständigem Schauen 
und Beobachten anzuleiten, sowie dazu, daß sie die Beobachtungen 
durch Zeichnung oder plastische Darstellung festhalten. Für Stadt- 
kinder insbesondere müßten Versuchsgärten. Aquarien, Terrarien, 
Vogelkäfige usw. Anlaß zu intensivem Selbststudium bieten. 

Wie in der Unterrichtssprache das Gedicht, muß im Gesang- 
unterricht das Lied, namentlich das einfache und echte Volkslied als 
Kunstwerk behandelt werden und die Wirkung auf das kindliche 
Gemüt wird eine noch mächtigere und innigere sein, als im ersteren 
Falle. Wo es möglich zu machen ist, daß in eigenen Konzerten die 
heranreifenden Schüler der obersten Altersstufe mit den Meisterwerken 
unserer großen Tonkünstler bekannt werden, wird die künstlerische 
Erziehung durch dieselben eine wesentliche Förderung erfahren. Musik 
und Gesang erhalten übrigens an unseren Schulen und im Elternhause 
eine weitaus bessere Pflege, als die bildenden Künste, und die Be- 
merkung Lichtwarks, daß für hundert Kinder, die mit dem 7. Jahre 



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1. Ein selten gutes Buch. 



45 



ans Klavier gespannt werden, oft nicht eines privatim Zeichenunterricht 
genieße, gilt nicht nur für die Hamburger Verhältnisse, sondern auch 
für die unsngen. 

Auch beim Turnunterricht kann die künstlerische Erziehung 
gefördert werden, wenn sich der Lehrer stets vor Augen hält, daß er 
berufen ist, das vollendetste Kunstwerk der Schöpfung, den mensch- 
lichen Körper, zu entwickeln, weiter zu bilden und zu pflegen im 
Sinne Lions, der die Aufgabe des Turnunterrichtes in dieser Hinsicht 
in die schönen Worte kleidet: >Die Turnkunst ist die Poesie des 
Leibes; denn gleich wie der Geist sich in höchster Lust auf den 
Wellen der Dichtkunst wiegt, so fühlt man sich auch körperlich nie 
besser und wonnereicher, als wenn sich des Leibes Gewandtheit und 
Schönheit im freiesten Spiel der Glieder ungehemmt entfaltet« 

Es ist wohl nicht nötig erst darauf hinzuweisen, daß ein wohl- 
geleiteter Handfertigkeitsunterricht, der den gestaltenden Kräften 
der Schüler freien Spielraum zur Entwicklung bietet und je nach der 
geistigen Entwicklungsstufe des Kindes, das Modellieren, die Papp- 
arbeiten, die Holzschnitz- und Metallarbeiten usw. heranzieht, ein 
wesentlicher Faktor der künstlerischen Erziehung ist. (Schluß folgt) 



B. Mitteilungen. 



1. Ein selten gntes Bnch. 

Jugendrecht und -Gericht ist der Titel des Doppelheftes 3/4 des 
»Kulturparlamentes«, welches — von Dr. Otto Neumann-Hofer heraus- 
gegeben — im Deutschen Verlagshause Vita zu Berlin -Charlottenburg 
soeben erschien. — Preis 2 M. 

In dem Hefte erhält Amtsgerichtsrat Eöhne als erster das Wort 
über: Die Probleme. Nach einem interessanten Hinweis auf die ge- 
schichtlichen Anfänge von Fürsorgeerziehung geht er .den Ursachen der 
Verwahrlosung unserer Jugend nach. Die Not und die sittlichen Gefahren, 
welche die Jugend unserer Zeit bedrohen, haben sich durch die Um- 
gestaltung der modernen wirtschaftlichen Verhältnisse, der Arbeitsweise 
und Bevölkerungsgmppierunjr zu chronischen Übeln entwickelt Der Fabrik- 
betrieb wirkt lockernd auf den Familien verband. Enges Zusammen wohnen 
erhöht mannigfache Verführungen. Ganze Erwerbszweige widmen sich 
der Darbietung von Freuden und Genüssen. Schreiende und bunte Reklame 
stellt das Verlockende vor das Kinderauge. Schundlektüre und Automato- 
grapben verwirren seine sittlichen Begriffe. Dazu Abnahme der Autorität 
über Kinder. So bedarf jugendliche Verwahrlosung und jugendliches Ver- 



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46 



Ii. Mitteilungen. 



brechertum unstreitig der sorgfältigsten Behandlung, sowohl repressiv als 
präventiv. 

Die Repression stellt schwierige Pob lerne auf dem Gebiete des Straf- 
rechtes, des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung. 

Soll man das Alter der Strafmündigkeit bis zum 14. Lebensjahre 
heraufsetzen? — Soll man die Strafbarkeit in der Zeit bedingter Straf- 
mündigkeit lediglich von der Intelligenzentwicklung abhängig machen, 
oder auch von der Stufe der Gemüts- und Charakterbildung? — Soll auch 
der Strafrichter, oder nur der Vormundschaftsrichter über die Art der 
Fürsorgeerziehung bestimmen? — Wird der gerichtliche Verweis — vom 
Jugendrichter ausgesprochen — wirksamer werden? — Sind kurze Ge- 
fängnisstrafen für Jugendliche geeignet? — Wie sind Verhandlungen 
gegen Kinderschändung pädagogisch richtig zu führen? — Wie kann gegen 
unzüchtige und rohe, ihre Kinder quälende oder vernachlässigende Eltern 
straffer als bisher vorgegangen werden? — Welcher Widerspruch liegt 
darin, einen Staatsanwalt und ein 12 jähriges Kind als dem Gesetze nach 
ebenbürtige Gegner miteinander kämpfen zu lassen? — Welche anderen 
Mißstände drängten noch zur Errichtung von Jugendgerichten? — Wie 
ist die Fürsorgeerziehung besser auszugestalten? — 

Das sind die Probleme, die Kühne in das rechte Licht stellt — 

Dann nimmt Professor Stern-Breslau das Wort über »Kinder und 
Jugendliche als Zeugen«. 

Es ist falsch, daß man vom minderjährigen Zeugen Aussagen über 
Vorgänge verlangt, denen sie keinerlei Aufmerksamkeit schenkten, daß 
man dem Unerwachsenen jene Selbstkritik zutraut, welche den eigenen 
Anschauungen kritisch entgegentritt. Vor allem bedeukt man nicht des 
Unerwacbsenen außerordentlich starke Beeinflußbarkeit. Des Kindes Aus- 
sagen richten sich nach der Autorität des Fragers und werden oft durch 
Suggestivfragen erzeugt. Oft zerrt auch die Gerichtsverhandlung das Kind 
aus glücklicher Unwissenheit in den Schmutz miterlebten Verbrechens, 
macht ihm dasselbe erst bewußt. 

Um den verschiedenen Mißständen zu begegnen fordert man bessere 
psychologische Schulung der Juristen, altersgemäßere Behandlung der 
jugendlichen Zeugen, Heraufrückung der Eidosmündigkeit (16 Jahre) auf 
18 Jahre. Kinder sollten nur bei schweren Straffällen, jedenfalls aber nie 
vereidlicherweiso als Zeugen herangezogen werden. Ihre Vernehmung 
sollte nur einmal und zwar in der Voruntersuchung stattfinden. Deshalb 
wäre die Funktion der Jugendrichter dahin zu erweitern, daß sie als 
Untersuchungsrichter für Kinder und jugendliche Zeugen tätig wären, 
auch in solchen Prozessen, die im übrigen nicht vor die Jugendgerichte 
gehören. Dem wörtlichen Protokolle mitsamt den Fragen des Richters 
wäre ein Urteil über die Glaubwürdigkeit des kindlichen Zeugen bei- 
zufügen. Reicht in der Hauptverhandlung die Verlesung des Protokolls 
nicht aus, so sollte der Jugendrichter persönlich vernommen werden; erst 
wenn auch das nicht genügt, nochmals das Kind. 

Dr. med. Fürsten heim -Karlshorst bei Berlin — weist dem Arzte 
beim Jugendgericht seine Arbeit weniger während als vor den Gerichta- 



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1. Ein selten gutes Buch. 



47 



Verhandlungen an. Es bangt ihm freilich vor der Konsequenz, daß jeder 
angeklagte Jugendliche dem Jugendgerichtsarzte vorgestellt werden müßte. 
So weitgehende Maßnahmen erscheinen auch ihm kaum durchführbar. 
Deshalb mochte er die Fälle auf die »Vergehen« unter Ausschluß der 
»Übertretungen« beschränkt sehen. Aber zweifellos ist ihm als Arzt be- 
kannt, daß nicht die Größe der Straftat, sondern das Krankhafte an ihr 
der ärztlichen Beurteilung bedarf. Nicht die Kosten würde man scheuen, 
einem Jugendgerichtsarzte alle Angeklagten vorzustellen. Es steht dieser 
Einrichtung vielmehr die Wahrscheinlichkeit entgegen, daß die erdrückende 
Mehrzahl der Fälle dem Arzte nichts Bemerkenswertes böten. Dagegen 
dem Pädagogen in jedem Falle. Das Jugendgericht ist in der Haupt- 
sache eine Erziehungsfrage, welche von der Psychiatrie mit beleuchtet, 
aber nicht beherrscht wird. So braucht das Jugendgericht vor allem päda- 
gogische Berater. 

Doch darf keineswegs verkannt werden, daß es dem Nichtmediziner 
schwer fällt, die pathologische Veranlagung der Angeklagten in jedem Falle 
zu erkennen und für Zuziehung — nicht eines beliebigen Arztes — 
sondern sachverständigen Mediziners einzutreten. Deshalb taugt auch nicht 
jeder Pädagoge zum Beirate für Jugendgerichte. Tätigkeit an Schwach- 
sinnigen- oder Besserungsanstalten, an Hilfsschulen machen ihn besonders 
dafür geeignet 

Prof. Dr. Klumker tritt für den alten Namen »Zwangserziehung« 
ein. Der Zwang richtet sich nicht gegen das Kind selbst, sondern gegen 
die Erziehungsberechtigten. Fürsorgeerziehung ist ein inhaltloses Wort; 
denn jede Erziehung ist Fürsorge — Neben der Zwangserziehung gibt es 
mancherlei Formen von Ersatzerziehung, die mit Einverständnis der Eltern 
statthaben. 

Der erste und bedeutendste Schaden liegt in den vielerlei Rechts- 
formen, die Ersatzerziehung annehmen kann, und in den vielerlei Vereinen 
und Behörden, die neben- und gegeneinander an ihrer Durchführung tätig 
sind. Also Streben nach Einheitlichkeit! 

Zwangserziehung wird durch folgende Behörden veranlaßt: 

Erstens vom Strafrichter. Ein Jugendlicher, der zwischen dem 
12. und 18. Lebensjahre eine strafbare Handlung begeht, aber nicht die 
erforderliche Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung besitzt, soll von 
dem Strafrichter entweder seiner Familie, oder einer Erziehiings- und 
Besserungsanstalt überwiesen werden. 

Zweitens von der Landespolizeibehörde. Wird eine weibliche 
Person wegen gewerbsmäßiger Unzucht verurteilt und der Landespolizei- 
behörde überwiesen, so kann diese sie statt in einem Arbeil«hause in 
einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt unterbringen ; ist die Person noch 
nicht 18 Jahre, so darf die Unterbringung nicht im Arbeitshause erfolgen. 
— In beiden Fällen trägt der Staat die Kosten. 

Drittens vom Vormundschaftsrichter. Er hat, falls das leib- 
liche oder geistige Wohl des Kindes durch die Elitern gefährdet wird, 
die erforderlichen Maßregeln zu treffen. — Ich breche ab. — In so über- 
sichtlicher Weise lichtet Klumker das Durcheinander der Möglichkeiten 



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48 



B. Mitteilungen. 



von Zwangserziehung. — Die notwendige Arbeitsteilung zwischen Veieinen 
und Behörden würde sachlich so sein, daß die Vereine der vorbeugenden 
Arbeit ihre ganze Kraft zuwenden, wahrend die Behörden die ihnen gesetz- 
lich gestellte Aufgabe ausfüllen. Elumker spricht noch über geringe 
staatliche Unterstützung der Privaterziehungsanstalten in Preußen, wie über 
Organisation und Beaufsichtigung der Zwangserziehung. 

Strafanstaltssekretär von Ba ehr- Sonnenburg Äußert sich über Straf- 
vollstreckung an Jugendlichen und bietet zunächst statistische An- 
gaben über ihre Bestrafungen. 

Es werden verurteilt: 
im Jahre 1905 45 498 Jugendliche = 733 auf 100 000 Jugendliche 
„ „ 1906 55 277 „ = 764 „ „ 

In 24 Jahren (1882—1906) ergibt das eine Steigerung der Kriminalität 
der Jugendlichen um 34,5%- 

Es wurden verurteilt zu 

Zuchthaus 3 | 

Gefängnis 27 668 } — 27 687 

Haft 16 j 

Geldstrafe 10 529 

Verweis 17061 

55 277 

Die verhängten Freiheitsstrafen gruppieren sich 
in 5605 Fällen auf unter 4 Tage 
„ 5831 „ „ „ 8 „ 

v < '198 M .. 30 „ 

in 18 634 Fällen auf weniger als 1 Monat. 

*/ 8 aller Freiheitsstrafen waren aber so kurz bemessen, daß ein 
erzieherischer Erfolg durch die Strafe kaum erreicht werden konnte. 

Strafaussetzungen wurden in Preußen bewilligt: 

1899 für 3374 jugendliche Verurteilte, 
1906 ,, 9284, also beinahe 3 mal soviel. 

Baehr spricht für Einrichtung von Jugendgefängnissen, äußert sich 
über Erziehung und Arbeit, Kost und Bewegung in frischer Luft, über 
Züchtigung und Belohnung der jugendlichen Sträflinge und ihre Aufsicht 
nach der Entlassung. 

Nun entschleiert Amtsgerichtsrat Lands berg- Lennep die Unzuläng- 
lichkeit des Strafgesetzes gegen Mißbrauch der elterlichen 
Gewalt. 

Der Vormund kann das Gericht schon auf den bloßen Verdacht seiner 
Unfähigkeit entlasson. Dem Vater muß erst ein Verschulden nachgewiesen 
werden ; dieser Nachweis ist nicht leicht. Die §§ 1666 und 1680 des B. G.-B. 
genügen keineswegs zum Schutze des Kindes. Denn einmal erfährt das 
Vormundschaftsgericht sehr wenig von Kindervernachlässigungen und sitt- 
lichen Gefährdungen. Dann muß der Fall auch schon so liegen, daß eine 
Gefahr für die Zukunft mit Sicherheit anzunehmen ist, sonst kann 



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1. Ein selten gutes Buch. 



49 



§ 1666 nicht angewendet werden. Zudem fürchten gerade die schlimmsten 
Mißbraucher der elterlichen Gewalt die angedrohten Folgen nicht, freuen 
sich vielmehr, wenn Staat oder Armenbehörde ihnen das Kind abnimmt. 

Man muß Landsbergs ans Herz greifende Schilderung der Schutz - 
losigkeit von Kindern unnatürlicher Eltern Wort für Wort lesen, um mit 
ihm schließlich darin übereinzustimmen : Das Jugendgericht muß auoh 
den Jugendschutz haben. 

Konsistorialrat Dr. von Rohden -Steglitz stellt sich dem in dem 
deutschen Strafrechta noch festgehaltenen Rechtsbegriffe entgegen und 
vertritt auf theologischer Basis fußend den Erziehungsgedanken. In 
diesem Sinne ist in dem Gefangnisse vor allem Scheidung der Jugend- 
lichen von den Erwachsenen und auch eine Klassifizierung der letzteren 
durchzuführen. Freilioh bekannte sich selbst Wichern-Hamburg rück- 
haltlos zur Gerechtigkeits- und Vergeltungstheorie über den Strafvollzug, 
doch dürfe der Richter den Übeltater nicht noch mehr demoralisieren. 
Der Rechtsbrecher müsse vielmehr in eine positiv sittliche Gemeinschaft 
und Lebensführung versetzt werden, also sittlich-religiös gebildete Gefangen- 
aufseher und Fürsorger für die Strafentlassenen, wie für die Familien der 
Gefangenen. 

Das Ideal der modernen Kriminalistik ist die Verhütung sittlicher 
Verkommenheit Erziehungsmittel beim Strafvollzuge sind der Verweis, 
die bedingte Begnadigung, die vorläufige Entlassung nach Verbüßung von 
3 / 4 der Strafzeit Ja bei mangelnder sittlicher Einsicht des Jugendliehen 
kann das Gerioht sogar die Strafe durch Unterbringung in einer Erziehungs- 
oder Besserungsanstalt ersetzen. Freilich gelangen zufolge dieser Be- 
stimmung bisweilen sittlich fast einwandfreie Schulkinder in eine Besserungs- 
anstalt, wahrend ihre Verführer mit einem Verweis oder einer kurzen 
Freiheitsstrafe wegkommen. 1 ) 

Durch die so bedingten schiefen Erziehungsmaßregeln des Staates 
wird das Rechtsbewußtsein des Volkes verletzt. Die pädagogische Wohltat 
wird vom Volke und vom Betroffenen um so mehr als Wehetat empfunden, 
je geringer das Straf übel gewesen, an dessen Stelle die Erziehungs- 
maßregel trat, und je weniger sie für die Persönlichkeit des Jugendlichen 
oder des Kindes paßt. Man erkennt, wie auch die edelste gesetzgeberische 
Absicht ohnmächtig ist gegen die Brutalität der Tatsachen. 

Nur ein Mittel gibt es, dem allen zu steuern: Rechtzeitiges Beginnen 
der staatlichen Erziehung von sittlich gefährdeten Kindern. Schon mit 
6 Jahren, oder noch früher müßte man sie aus den sittlichen Pesthöhlen 
herausnehmen. Die Erziehungsmaxime muß grundlegend werden. Weil 
man eine medizinisch -wissenschaftliche Deputation über die Bestimmung 
der Strafmündigkeitsgrenze entscheiden ließ, werden heute 12- und 13jährige 
Schulkinder strafrechtlich behandelt Die Stimme der Pädagogik konnte 
nicht durchdringen. Die Gesellschaft ist der vernachlässigten Jugend das 
an ihr Versäumte schuldig: Die Erziehung. 



l ) Der Unterzeichnete macht hier auf das Fehlen einer graduellen und indivi- 
duellen Steigerung der pädagogischen Maßregeln des Staates aufmerksam. 

Zeitschrift f&r KbKlorforechai*. XV. Jahrgang. 4 



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B. Mitteilungen. 



Der theologisch-erzieherische Standpunkt stellt die christliche Persön- 
lich keitsidee in den Vordergrund, betrachtet also nioht die Tat, sondern 
den Täter als Gegenstand der Strafe, steht zwar dem Vergeltungsgedanken 
bei der Rechtsprechung nicht fremd gegenüber, verlangt aber vor allem 
Verhütung der jugendlichen Verwahrlosung. Dem Kindesalter bis zum 
16. Jahre gelten vorzugsweise die Präventiv-, dem Jünglingsalter die 
Repressivmaßregeln. Der frühzeitige Beginn für Anwendung der Erziehungs- 
maxime ist das Lebensinteresse der ganzen Reform. 

Nun erwägt Direktor Trüper-Jena das Verhältnis der päda- 
gogischen Theorie und Praxis zur Behandlung der Verfehlungen 
von Kindern und Jugendlichen. Auch er betont: Das Problem der 
Bekämpfung des jugendlichen Verbrechertums ißt ein Erziehungsproblem. 
Seine Lösung erscheine leicht, weil jeder erzogen wurde und jeder Vater 
wieder erzieht Deshalb wird die Pädagogik von Theologen und Ärzten, 
Juristen gering gewertet, ist auf den deutschen Universitäten das kaum 
bemerkbare Aschenbrödel. Man vergißt, daß die individuelle Pädagogik 
auch eine soziale Seite hat, daß ein besser gebildetes und erzogenes Volk 
auch mit besserer Arbeit und ihren Produkten den Weltmarkt erobert. 

Nicht überein stimmt mit der Erziehungsidee die absolute Straf- 
unmündigkeit von Kindern unter 12 Jahren. Nun will man das straf mündige 
Alter bis zu 14 oder 16 Jahren hinausschieben. Es gibt eine ungeheure 
Zahl von Kriminalfällen bei Kindern dieses Alters. Jeder Erzieher billigt 
es, daß sie nicht vor den Strafrichter kommen sollen. Aber ungerügt 
dürfen die Vergehen nicht bleiben. Was soll erziehlich geschehen? Der 
Staat bleibt die Antwort schuldig. 

Ob ein Kind im Alter von 12 — 18 Jahren straf mündig ist, hängt 
von dem Urteil des Strafrichters über die Einsicht des Angeklagten ab. 
Aber weniger die Einsicht — weit mehr das Begehren, das Interesse, die 
Liebe, der Haß, der sinnliche Trieb, der Geschmack usw. geben die Im- 
pulse für das Handeln. Das Ausschlaggebende beim Begehen einer straf- 
baren Handlung ist nicht die intellektuelle, sondern die ethische Reife. 
Man kann ihr Vorhandensein schwerlich von den jetzt bestehenden Alters- 
grenzen (12, 14, 16, 13 Jahren) abhängig machen. Die Pädagogik ver- 
langt individuelle Entscheidung von Fall zu Fall. 

Am wenigsten pädagogisch zu billigen ist, daß dem jugendlichen 
Gesetzverletzer eine Bestrafung von Seiten des Richters als Schandfleck 
sein Leben lang anhaftet daß er seinen Fehltritt auch durch die tadelloseste 
Führung nicht wieder gut machen kann. Wir müssen aus erziehlichen 
Gründen diese öffentliche Brandmarkung Jugendlicher für gebüßte Sünden 
als eine Beraubung der Scham vor Verbrechen verwerfen. 

Und die Strafart? — Was macht sich ein verwildertes Kind aus 
Geldstrafen, die doch die Eltern bezahlen müssen! Haftstrafen, kurze Ge- 
fängnisstrafen befriedigen oft nur seine Abenteuerlust Schon Gerichts- 
verhandlungen haben für manche Jugendliche einen außergewöhnlichen 
Reiz. Und was macht sich ein derber Junge, der für weit harmlosere 
Vergehen von Eltern und Lehrern eine Züchtigung erfahren hat, aus 
einem Verweis! — Die Prügelstrafe, die weit abschreckender wie jede 



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1. Ein selten gutes Buch. 51 



Gefängnisstrafe wirken würde, lehnt die Justiz ab, und so bleibt ihr 
eigentlich kein Strafmittel übrig, das bessernd und erzieherisch wirken 
würde. 

Wir wenden uns auch gegen die vermehrte Freisprechung Jugend- 
licher von Schuld und Strafe und — bei Mangel an Einsicht des An- 
geklagten — gegen die Überweisung solcher in Besserungsanstalten. 
Welcher Widerspruch! Man diktiert denen, die man straffrei spricht, die 
härteste Strafe: Zwangsweise Entfernung aus dem Elternhause. Unser 
Oesetz hat auch andere schwere Mangel, es schützt die Kinder bei weitem 
nicht genug gegen Mißhandlungen und Ausbeutungen durch Erwachsene 
— nicht vor dem sexuellen und kriminellen Schmutze in Wort und Bild — 
nicht gegen Alkohol, Syphilis u. a. m. 

In den Fürsorgeerziehungsanstalten herrscht noch vielfach der Geist 
des Zwanges. Über die schwierigsten pädagogischen Probleme sollen noch 
heute Vormundschaftsrichter , Landrat, Magistrat, Vorstand der Polizei- 
verwaltung — also im wesentlichen Juristen entscheiden, nicht Päda- 
gogen. — Die Forderung eines Reichsschulamtes ist auch von Studienrat 
Julius Ziehen -Groß -Lichterfelde 1 ) erhoben und eingehend begründet 
worden. Wir bedürfen überhaupt eines Reiohsgesetzes, grundlegend für 
die Lösung der Jugenderziehung und Jugendfürsorge. Das Gesetz muß 
die ethischen Werte in vollem Umfange anerkennen und schützen. Es 
muß psychologischer gestaltet und geübt werden. So hat die Tatsache 
verminderter Zurechnungsfälligkeit in der Rechtsprechung Berücksichtigung 
zu finden, so muß man für Heilerziehung geeignete Kräfte vorbilden und 
Veranstaltungen treffen. 

Zuletzt faßt Geb. Justizrat Dr. von Liszt-Berlin in meisterhafter 
Art die Grundideen des Buches zusammen. Er erklärt die Um- 
wandlung unserer Rechtsanschauungen aus der Umwertung der ethischen 
Werte. Die individual-ethische Auffassung wird verlassen, die sozial-ethische 
suchen wir zunächst auf dem Gebiete des Jugendrechtes zu realisieren. 
Wir erkennen in der stark angeschwollenen Kriminalität der Jugendlichen 
ein Kollektivverschulden der Gesellschaft. Da darf vergeltende Strafe nur 
selten platzgreifen, sie muß auch dann der Eigenart der Jugend Rechnung 
tragen und als Sonderverfahren ausgestaltet werden. Wir verlangen folge- 
richtig auch Schutz der Kinder gegen strafbare Handlungen der Er- 
wachsenen, auch der Eltern, rechte Auffassung und Behandlung des Kindes 
als Zeugen und wünschen diese Forderungen durch ein umfassendes 
Reichsgesetz, durch ein Jugendgericht gesichert zu sehen. 

Das vorliegende Doppelheft des Kulturparlamentes ist ein 
selten gutes und zeitgemäßes Buch. Es enthält bedeutsame 
Anregungen und Aufklärungen über das wichtigste soziale 
Problem unserer Zeit, an dem kein Gebildeter unseres Volkes 
gleichgültig vorbeiirren darf. Delitsch. 



») Jetzt 8tadtschulrat in Frankfurt a/M. 



4* 



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52 



B. Mitteilungen. 



2. Zur Frage der sexuellen Aufklärung. M 

Während noch der deutsche Arztetag im Juni 1908 bei einer Dis- 
kussion Ober die Frage der sexuellen Aufklärung mit allen gegen 
44 Stimmen zu einem Antrag kam, der besagte: »...Die Frage der Mit- 
wirkung der Schule bei der sexuellen Aufklärung ist noch nicht spruch- 
reife, dürfte man jetzt so ziemlich allgemein doch von der Notwendigkeit 
der sexuellen Jugendaufklärung überzeugt sein. Wenigstens in den Kreisen 
aller vorurteilslosen Pädagogen und Mediziner, sowie der Eltern, die über- 
haupt an den Wandlungen der Zeit und den Reformen (im weitesten 
Sinne gefaßt!) der Pädagogik teilgenommen haben. So bezeichnete auch 
der Rektorentag der Provinz Sachsen 1908 die sexuelle Aufklärung als 
erwünscht und namentlich in den Großstädten als notwendig. Und wenn 
man die Fülle der Abhandlungen über diese Frage zu Gesichte bekommt, 
sollte man doch meinen, daß sie spruchreif ist, wenn auch nicht in der 
Weise, daß nun schon die letzte Entscheidung zu treffen wäre. Wie ja 
überhaupt unsere pädagogischen Grundsätze nicht unwandelbar sind. 

Eine andere Frage ist nun freilich die, ob jeder Lehrer und jede 
Lehrerin den zur Aufklärung erforderlichen feinen künstlerischen Takt 
hat, auf dessen Notwendigkeit ja auch Agahd (bei Gelegenheit seiner 
und Kühnes Besprechung von Molls »Sexualleben des Kindes«*) hin- 
gewiesen hat Und die Notwendigkeit dieses künstlerischen Taktes tritt 
auch in fast allen Aufsätzen mehr oder weniger zutage, die sich in dem 
vom Dürerbund zusammengestellten Hausbuch 8 ) finden. Ihn aber von 
allen Menschen verlangen zu wollen, wäre ebenso töricht, wie das Ver- 

') Anmerkung der Schriftleitung: Wir haben bisher zu dieser Frage 
keine bestimmte Stellung eingenommen. Wir stimmen aber im allgemeinen (iberein 
mit den Ausführungen unseres verstorbenen Mitherausgebers Koch in seiner die 
Frage mit einer seltenen Keuschheit behandelnden Schrift: »Die Vermehrung 
des Lebens c Ein Wort an die Eltern für die Kinder (Stuttgart, Oundert) und 
mit dem in gleichem Geiste gehaltenen Ausführungen in der Abhandlung von Dr. 
Moses, Zur Frage der sexuellen Jugendbelehrung, Jahrgang 1906, lieft 6 
und Dr. Heller, Über die sexuelle Aufklärung der Kinder, Jahrg. 1908, 
Heft 9. Gegen die moderne auch hier im Titel gewählte Fragestellung müssen wir 
uns jedoch erklären. Über das Zeitalter der »Aufklärung« sind wir glücklicherweise 
hinaus und erwarten darum auch hier nicht das Heil von der Aufklärung, so not- 
wendig eine keusche Belehrung in bestimmten Fällen und auf bestimmten Alters- 
stufen auch ist Das Wissen an sich bessert keine Sitten, das tut nur die Pflege 
der Sittlichkeit, die Gemüts- und Willensbildung. Es ist das besondere Verdienst 
Försters (Sexuelle Erziehung) dieses einmal nachdrücklich betont zu haben. 
Die schamlose sexuelle Aufklärung der Tagespreise, — es sei nur an den Fall 
Eulenburg erinnert — der schöngeistigen Literatur degenerierter Schriftsteller, der 
Kinematographen und Schaustellungen verschiedenster Art usw. haben sogar die 
sexuelle Frage zu einer der bedenklichsten in der Jugendfürsorge werden lassen. 

Tr. 

*) Diese Zeitschrift, XIV, 8, S. 255. 

•) Am LebensquelL Dresden, A. Köhler, 1909. 



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2. Zur Frage der sexuellen Aufklärung. 



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langen, daß jeder Mensch ein großer Künstler sei. Es ergibt sich daraus 
die Forderung, daß für die sexuelle Jugendaufklärung eben nur solche 
Künstler herangezogen werden dürfen, mögen sie nun Ärzte, Lehrer 
oder Lehrerinnen sein. — An sich wäre es ja nun wünschenswerter, da 
doch gerade bei dieser Aufgabe rein individualistisches Vorgehen not- 
wendig ist, wenn das Elternhaus der Schule diese Arbeit abnehmen 
würde. Aber dem steht zweierlei entgegen: der Mangel an tiefsinniger 
Harmonie zwischen Eltern und Kind, der sich trotz aller Widerreden 
nicht abstreiten läßt; dieses ideale Vertrauensverhältnis zwischen Mutter 
und Kind besteht leider nur noch in seltenen Fällen, woraus man freilich 
nicht — wie gewisso Dialektiker es tun — auf den Verfall alles Familien- 
lebens schließen sollte. Eher liegt in der modernen Familie ein rein 
politisch-soziales Moment, das die Gefühlswerte zurückgedrängt hat Aber 
gerade beim Studium des erwähnten Dürerbundbuches hat man doch das 
Empfinden, daß namentlich zwischen Mutter und Kind diese tiefinnerliche 
Harmonie wieder aufzuleben beginnt. Und wenn das der Fall ist, ver- 
spreche ich mir von dieser Belehrung durch die Eltern mehr als von der 
durch die Schule. Vorausgesetzt natürlich — und damit käme ich zu 
dem zweiten Punkt — daß die Eltern, insbesondere die Mütter, neben 
dem künstlerischen Takt auch das erforderliche Wissen haben. Und da 
hapert's noch gewaltig, weil unserer jetzigen Mütter-Generation im großen 
und ganzen die Biologie noch ein ganz unbekanntes Wissensgebiet ist 
Weil sie selbst nichts von Aufklärung wußten und wissen, können sie 
sich auch nur schwer mit ihr befreunden. In sorglosester Weise lassen 
sie die erste Brautnacht auch die erste Aufklärung bringen. Und dann 
ist's oft genug zu spät! 

In diesem »Wann?« liegt meines Erachtens der strittigste Punkt 
mit bei der ganzen Behandlung der in Bede stehenden Frage. Die Ant- 
worten gehen weit auseinander: so früh wie möglich, so spät wie möglich; 
im letzten Schuljahr, beim ersten Fragen; beim Eintritt in die und die 

Klasse, bei der Entlassung, usf Die alleinseligmachende Antwort 

laßt sich hier am allerwenigsten geben. Man kann nur sagen: individuell 
▼erschieden. Persönlich wiederum möchte ich raten: möglichst früh. 
Denn auf Grund meiner Beobachtungen kann ich sagen: im allgemeinen 
tritt das Interesse für das sexuelle Leben viel früher ein als man ge- 
meiniglich erwartet. Und leider dokumentiert es sich fast immer als ein 
Hehr niedriges Interesse. Neun- und zehn jährige Jungen finden ein 
Gefallen darin, das Wort > Kutte« mit dem symbolischeu Zeichen überallhin 
zu malen; als elf- und zwölfjährige wurde bei uns — und zwar be- 
zeichnenderweise im Turnunterricht — die Prostituierte besprochen. Und 
so oft unser Weg daran vorbeiführte, galt dem Freudenhaus ein schüchterner 
Seitenblick. In diesem Moment ist es schon zu spät, mit sexueller Auf- 
klärung beginnen zu wollen. Wenngleich natürlich durch ein frohes und 
mutiges Wort noch viel gerettet werden kann. 

Und noch später wird die Sache immer komplizierter. Fünfzehnjährige 
treiben die gemeinsten Zotereien. Ein einziger Fall von Onanie in einer 
Klasse ruft, da gerade den Onanisten oftmals eine große Schamlosigkeit 



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B. Mitteilungen. 



eignet, ein Dutzend Fälle und mehr hervor. Denn die Macht der Suggestion 
ist auf sexuellem Gebiete eine unheimliche. ') Und ebenso schwer wie 
es hält, die Onanisten herauszufinden , ebenso schwer hält es (oder noch 
schwerer) die Schüler herauszufinden', die sich der Prostitution hingeben. 
Daß solche Fälle vorkommen, ist unbestreitbar. Ebenso: daß sie öfter 
vorkommen, als die große Öffentlichkeit davon Kenntnis erhält Nur von 
Zeit zu Zeit werden mal Fälle von Relegationen infolge sexueller Ver- 
fehlungen bekannt. Ich habe schon wiederholt in Vorträgen auf die 
eminente Gefahr aufmerksam gemacht, die hier in Schülerverbindungen, 
-vereinen und -klubs liegt. So wurde mir aus einer literarischen Ver- 
einigung bekannt, daß ein großer Teil der Beteiligten nach fröhlichem 
Zechgelage — ohne aber betrunken zu sein — zum Freudenhaus pilgerte.') 
Zahlenmäßig angeben lassen sich Daten darüber nur schwer. Auffallend 
aber ist es doch, daß nach einer Statistik in der »Zeitschrift zur Be- 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten« unter den Abiturienten der Gym- 
nasien und Realschulen Böhmens 8% geschlechtskrank waren, und zwar 
durch sexuellen Verkehr infiziert. 8 ) Dabei ist der Prozentsatz in den 
Pruvinzialmittelschulen noch höher als der in Prag. Und wieviele Schüler 
mögen infolge Beobachtung der betreffenden Vorsichtsmaßregeln ohne In- 
fektion davon gekommen sein! Ich will diese Zahlen durchaus nicht 
allgemein anwenden. Aber von vornherein würde ich der Versicherung, 
daß in einer Schule keine sexuellen Verfehlungen vorkämen, doch nur mit 
allergrößtem Skeptizismus begegnen. Wünschenswert wäre es, wenn eine 
ärztliche Untersuchung aller Abiturienten eingeführt würde, die (namentlich 
im Verein mit einer Untersuchung beim Eintritt in die Schule) äußerst 
wertvolle Ergebnisse nicht nur in dieser Hinsicht zeitigen dürfte. 

Mit einigen Worten wäre noch auf das »Verhältnis« des Schülers 
einzugehen. Ich möchte auch dieses nicht zu den Seltenheiten zählen, es 
auch nicht nur auf Pensionäre beschränken. Es kommt, namentlich als 
regelmäßiger sexueller Verkehr mit Dienstboten doch recht oft vor, ist 
aber auch mit jugendlichen Angestellten (Ladenmädchen, Kontoristinnen. 
Telegraphistinnen usw.) möglich. So dürfte z. B. ein jüngst erschienenes 
belletristisches Werk*) durchaus nicht allein auf dichterischer Phantasie 
beruhen, sondern eher auf äußerst drastischem Realismus. 

In anbetracht dieser Tatsachen muß denn doch die sexuelle Auf- 
klärung als dringend notwendig erscheinen, und zwar in einer mög- 
lichst frühen Epoche des kindlichen Lebens. Zahlenmäßig festlegen läßt 
sie sich natürlich nicht. Man kann nur immer wieder die individuelle 
Verschiedenheit betonen. Denkbar wäre es ja, daß wir durch möglichst 
zahlreiche und eingehende Untersuchungen über das erste Auftreten von 
Gesprächen über und Fragen nach sexuellen Begebenheiten zu einer einiger- 
maßen zuverlässigen Minimalaltersgrenze kämen. Bis dahin halte 



*) Vergl. Plecher, diese Zeitschrift, XIV, 10, S. 303—304. 

*) Vergl. auch die Szene in Stilgebauers »Götz Krafft*. Berlin, Bong, Bd. !• 

*) »Die neue Generation c, 1908, Jahrg. IV, 9, S. 355. 

*) A. de Nora, »Maxi Bierjung«. Leipzig, Stackmann. 



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3. Das Alter der ehelichen und unehelichen Mütter. 



ich es aber doch für angebracht, das Kind vor seinem Eintritt in die 
Schule wissen zu lassen, daß es aus der tiefen Liebe von Vater und 
Mutter geworden, daß es von der Mutter unter ihrem Herzen getragen 
und an ihrer Brust gestillt ist. Dieses Wissen gibt dem Kinde nicht 
neue Rätsel auf und erregt nicht seine Fragelust In den meisten Fällen 
wird es damit zufrieden sein, daß es weiß: ich bin mit meiner Mutter 
durch wunderbare Harmonien verknüpft. Und in solchem Bewußtsein 
würde das Kind bald kommen, wenn neue Bedenken vor ihm auf- 
treten. 

Es scheint mir überhaupt die Frage nach der — wenn ich mich so 
ausdrücken darf — »idealen Familie« bei der Erörterung über die sexuelle 
Aufklärung nicht genügend berücksichtigt zu sein. Die Schule allein 
wird hier am allerwenigsten die Entscheidung geben können, ebensowenig 
wie gewisse Leute das ganze sexuelle Problem mit der richtigen Er- 
nährung lösen zu können meinen. Das freilich mag unumwunden und 
offen zugestanden werden : die richtige Ernährung spielt eine wichtige Bolle. 
Mit Wein und Bier, mit Tee und Kaffee steigern wir nur die sexuellen 
Gefühle. Aber Dr. Marseilles 1 ) Ausspruch: »Die Sache ist nicht in der 
Predigtstube zu machen, sondern in der Küche, nicht mit Predigen, 
sondern mit Kochen« ist doch wohl etwas zu plump -materialistisch. Der 
Mensch ist eben doch nicht, was er ißt Auch sein Sexualempfinden 
hat seelische Mitklänge. Dr. Karl Wilker. 



3. Das Alter der ehelichen nnd unehelichen Mütter. 

Im Anschluß an den vorstehenden Artikel mögen noch die folgenden, 
auch für die Kinderforschung schlechthin beachtenswerten Ausführungen 
der »Deutschen Ztg.«' hier Platz finden. 

Dio Statistik, die die Häufigkeit der unehelichen Geburten in den verschiedenen 
europäischen Staaten angibt, zeigt, daß das Deutsche Reich, abgesehen von 
Österreich und Schweden, die größte Zahl zu verzeichnen hat Und unter den 
deutschen Staaten hatten die höchsten Ziffern das Königreich Sachsen und 
Bayern rechts des Rheines. Während in der Schweiz, in England, in den Nieder- 
landen nur etwa 4 v. H. aller Geburten unehelich sind, werden im Deutschen 
Reiche unter 100 Kindern 8,5, in Sachsen und in Bayern rechts des Rheines 13,4 
unehelich geboren (in der Pfalz dagegen nur 5,7). 

Die unehelich Geborenen stellen, so führt im Anschluß an diese Zahlen 
Dr. med. Alfons F i 8 c h e r - Karlsruhe im »B. T.« aus, für den Staat in gesund- 
heitlicher und moralischer Hinsicht eine Gefahr dar. Damit ist nicht gesagt, daß 
jedes uneheliche Kind seine Volksgenossen bedroht, auch nicht, daß die Gefahr in 
der Tatsache der unehelichen Niederkunft an sich liegt Aber die Statistik zeigt, 
daß die unehelichen Kinder weniger oft als die ehelichen gestillt werden, daß sie 
mithin nicht nur eine größere Sterblichkeitsziffer besitzen, sondern auch 



') Erziehungsschule Schloß Bischofstein bei Lengenfeld unterm Stein (Eichs- 
feld). Selbstverlag, 1908. 



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B. Mitteilungen. 



infolge geringerer Widerstandsfähigkeit für die Ansteckung mit allen möglichen 
Krankheitserregern mehr empfänglich und daher zur Verbreitung von Seuchen mehr 
veranlagt sind. Die unehelichen Kinder — im allgemeinen — sind aber nicht nur 
in gesundheitlicher Hinsicht gefährlich, sondern auch in moralischer. Dias beweist 
die Häufigkeit der von ihnen verübten Verbrechen; in Württemberg zum Beispiel 
waren unter den Zuchthäuslern 27 v. H., in Bern 14 v. H. Uneheliche. Und dieser 
hohe Prozentsatz findet sich, obwohl doch durch die große Sterblichkeit unter den 
Unehelichen ihre Zahl wesentlich verkleinert wurde. 

Da ist es nun jwohl eine Pflicht der Sozialhygieniker und Sozialethiker, auf 
Mittel zu sinnen, um die Häufigkeit der unehelichen Geburten zu vermindern. Doch 
hierzu ist es notwendig, das vorhandene Übel in allen seinen Einzelheiten zu er- 
kennen und zu überschauen. Einen Schritt vorwärts auf diesem noch viel zu wenig 
bearbeiteten Gebiet kommen wir, wenn wir an der Hand der Statistik nach dem 
Alter, in dem die unehelichen Mütter niederkommen, fragen und Vergleiche 
mit dem Alter der ehelichen Mütter anstellen. In Berlin wurden im Jahre 1906 
in einem Alter unter 20 Jahren fast doppelt soviel uneheliche als eheliche Mütter 
entbunden. Mit Grauen hört man, daß sogar vier Mädchen unter 15 Jahren und 
24 unter 16 Jahren Mütter geworden sind. Doch dies sind Ausnahmeerscheinungen. 
Aber die Tatsache, daß von den Müttern im Alter von 15—20 Jahren 2000 un- 
verheiratet und nur 1116 verheiratet waren, redet eine deutliche Sprache, besonders 
wenn man noch bedenkt, daß unter den Verheirateten gewiß eine große Zahl solcher 
gewesen sein mag, die zur Zeit der Konzeption noch nicht getraut waren. Von 
besonderem Werte für die Beantwortung der uns beschäftigten Frage ist eine soeben 
bekannt gegebene Statistik aus Hessen. Es wurde berechnet, wieviel Prozent der 
Niederkünfte vor dem 20. Lebensjahre stattfinden. Und da zeigte es sich, daß von 
den 35 563 ehelichen Müttern nur 1 v. H. vor diesem Lebensalter, von den 2756 
unehelichen Müttern aber 21,8 v. H. niederkamen. 

Nun wird man vielleicht fragen, ob es nicht im Interesse der Rassenverbesse- 
rung wünschenswert ist, daß die Frauen in einem noch jugendlichen Alter Mütter 
werden. Gewiß ist dies vom hygienischen Standpunkte aus als zweckmäßig zu er- 
achten; aber die untere Grenze für dieses Alter ist hierbei auf das 20. Lebensjahr 
zu verlegen; denn man weiß, daß die unter 20 Jahre alten Mütter viel häufiger 
lebensschwache Kindor gebären als die älteren. 

Was ist nun aus der Tatsache, daß die unehelichen Entbindungen verhältnis- 
mäßig zwanzigmal öfter als die ehelichen bei so jugendlichen Personen statt- 
haben, zu schließen? Ich meine, daß man daraus folgern kann, daß diese 
jugendlichen Mädchen ohne, ja sogar in den allermeisten Fällen gegen 
ihren Willen Mütter wurden. Gewiß sind viele von ihnen aus Not zu ihrem 
Unglück gelangt, aber viele jedenfalls auch aus Unverstand und Unkenntnis über 
die Tragweite ihres Leichtsinns. Da tritt nun die Frage auf, ob nicht bei solcher 
Sachlage eine Änderung der Gesetzgebung geboten ist Vor allem aber wird man 
noch weit mehr als bisher für die geschlechtliche Aufklärung bei den Mädchen wie 
bei den Knaben zu sorgen haben; und in Anbetracht der Tatsache, daß die in 
Deutschland so häufigen unehelichen Niederkünfte in großer Zahl bei jugendlichen, 
also geistig noch nicht reifen Personen stattfinden, wird man von der Belehrung 
über geschlechtliche Fragen ganz besonders großen Nutzen erwarten können. 

Tr. 



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4. Die Entwicklungsgeschichte eines Zuchthäuslers. 



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4. Die Entwicklungsgeschichte eines Zuchthäuslers. 

Am 14. Oktober hatte sich vor dem Schwurgericht iD Rudolstadt 
der Dienstknecht Albert Martini wegen Notzucht und Unzucht zu ver- 
antworten. Der Angeklagte war beschuldigt, einmal am 12. Juli 1909 
im Tautenburger Forst bei den Poxdorfer Fichten sich an einem 12 jährigen 
Mädchen aus Tautenburg vergangen zu haben, außerdem wurde ihm zur 
Last gelegt, am 26. Juli im Walde bei Heilsberg unweit Rudolstadt die 
2 9 jährige Holzarbeiterfrau Sp. durch Drohung sich zu Willen zu machen 
versucht zu haben. Martini erklärte sich auf die Frage des Gerichts- 
vorsitzenden im allgemeinen der ihm zur Last gelegten Taten schuldig. 
Die Erörterungen zu seinen Personalien entrollten ein trübes Bild 
sozialen Elends. Da diese Entwicklungsgeschichte so typisch ist für 
alles, was wir an dieser Stelle seit je über die Frage des jugendlichen 
Verbrechertums gesagt und geklagt haben, sei sie auch hier nach dem 
Berichte der Jen. Ztg. mitgeteilt: 

Der erst 23jährige ist schon dreimal wegen Sittlichkeitsverbrechens vorbestraft, 
einmal sogar mit Zuchthaus. Er ist 1886 in Lausigk bei Leipzig als uneheliohes 
Kind einer Magd geboren worden und wuchs bei fremden Leuten unter traurigsten 
Verhältnissen auf; sein Pflegevater war trunksüchtig, hatte selbst 12 Kinder, eine 
Tochter von ihm dazu zwei uneheliche Kinder. Schon als Knabe wurde er so zum 
Bchnapstrinken verführt, mußte sich das Essen mit seinem ebenfalls unehelichen 
Bruder von dritten Leuten schaffen, wenn sie satt werden wollten. Die Mutter 
hat sich so gut wie nicht um den Knaben gesorgt, wenn sie das Ziehgeld brachte, 
verlangte sie nicht einmal, ihre Kinder zu sehen. Das Lernen ist dem Angeklagten 
ziemlich schwer gefallen, er ist eine zurückgebliebeneErscheinung mit niedriger 
Stirn und flachem Hinterkopf. Nach beendeter Schulzeit kam er nach Leipzig als 
Schneider in die Lehre, diese Arbeit fiel ihm schwer, sein Meister gab ihm ein 
gutes Zeugnis, rügte nur seine Vergeßlichkeit. Als der Meister den Lehrling eines 
Ta^es zu Besorgungen ausgeschickt hatte, kehrte er nicht zurück, sondern hatte 
sich von einer Zigeunerband e entführen lassen, mit der er mehrere Tage zog. Ein 
Herr, der sah, daß er nicht zu dieser Gesellschaft gehört, veranlaßte, daß er in 
polizeilichen Gewahrsam genommen und dem Meister zugeführt wurde; dieser aber 
entließ ihn, zumal seine Konstitution zum Schneidergewerbe nicht taugte. Seine 
Mutter braohte ihn nun als Fabrikarbeiter in einer Lackfabrik unter, da er aber 
hier, wie er angibt, immer blasser und schmaler wurde, vertauschte er diese Arbeit 
mit landwirtschaftlicher Tätigkeit. Erst 17 jährig, verübte er einen Notzuchtversuch 
an einem 9jährigen Mädchen und erhielt in Forberg dafür 7 Monate Gefängnis. In 
Ansehung seiner Jagend gewährte man ihm 3 Jahre Strafaufschub in Form von 
bedingter Begnadigung, doch die endgültige Begnadigung wurde ihm versagt, weil 
er es bald unterlassen hatte, die maßgebende Aufsichtsbehörde über seinen Aufent- 
halt zu unterrichten. Er gab an, seinen Arbeitgebern wollte er nicht gestehen, 
daß er unter Aufsicht stand. Als er dann eine Vorladung in der Saohe erhielt, 
lief er aus seiner Stellung weg, verbüßte aber schließlich die Strafe bis zum Juli 
1904. Danach kam er zu seiner Muttor, doch diese wies ihm für immer die Tür; 
verschiedene Stellungen gab er nun bald wieder auf, da ihm seine Strafe täglich 



J ) Eine Ergänzung zu den Aufsätzen dieses Heftes von Carrie und Delitsch. 



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B. Mitteilungen. 



vorgeworfen wurde, und während er nun länger umherstreifte, verging er sieb 
abermals in Sittlichkeitsverbrechen; jetzt verurteilte ihn das Schwurgericht zu Gera 
zu 1 Jahr Gefängnis, und 1907 bestrafte ihn das Schwurgericht zu Rudolstadt wegen 
eines Falles von versuchter Notzucht mit 1 »/, Jahr Zuchthaus und 5 Jahren Ehr- 
verlust; bis 1. Sept. 1908 hatte er die Strafe, deren er sich schon am 1. Tage nach 
seiner Entlassung schuldig machte, verbüßt. Hit der im Zuchthaus ersparten Bar- 
schaft von 31 Mark wandte er sich jetzt nach Tirol, arbeitete hier in verschiedenen 
Orten als Knecht, doch seine nervösen Kopfschmerzen brachten ihn öfter zu 
Zank und Streit, infolgedessen er mehrfach fortgeschickt wurde; im Streit will er 
oft so gerast haben, daß er sich seiner nicht mehr bewußt gewesen und erst von 
dritter Seite darüber aufgeklärt worden sei. So gings dann auch im Bayrischen. 
Als Ursache für diese Anfälle führte er das frühzeitige Schnapstrinken, sowie 
sein starkes Rauchen, außordem einen Sturz vom Heuboden auf die Tenne im 
Alter von 16 Jahren an. In Oberfranken habe er dann kurz vor der Heirat mit 
einem wohlhabenden Bauernmädchen gestanden, dessen Eltern freilich forderten, er 
solle katholisch werden und dazu den Segen soiner Mutter haben; diese wies das 
aber von sich und so habe er das Mädchen lassen müssen. Über Hof und Gera 
kam er von da nach Jena, vorher war er in Mötzelbach bei Rudolstadt in Dienst 
gewesen, mußte aber, da der letzte Dienstherr seine Papiere innebehalten, bald 
wieder gehen. Er nahm jetzt den Namen eines Eberhard an, eines Reisekumpans, 
auf don man fahndete; angeblich wollte er durch diesen Tausch bald dingfest ge- 
macht und so aufs einfachste in den Besitz seiner Papiere kommen; daß er den 
Eberhard dadurch begünstigen wollte, stellt er in Abrede. Unter diesem Namen 
war er kurz in Wogau, dann bei Paul Vogt in Poxdorf, wo er schon 1905 diente, 
in Stellung, dann bei Anton Krieg in Döbschütz bei Eisenberg. Hier ist er wegen 
Betrugs von seinem Dienstherrn angezeigt worden; er hatte ihm gesagt, seine 
Papiere habe er noch bei Vogt, Krieg fuhr ihn daher eines Tages nach Poxdorf 
und kurz vor dem Orte sprang er ihm vom Wagen, angeblich um Vogt, als welchem 
er einen des Wegs kommenden Bauer bezeichnete, gleich mit seinem Anliegen be- 
kannt zu machen. Martin hat sich, so aus seiner fatalen Lage gebracht, in den 
Wald geschlagen und traf hier eine Frau beim Beerensuchen, die er anging, offen- 
bar um sie zu vergewaltigen, von der er aber abließ, als auf ihr Rufen nach dem 
Ehemann einige Signale aus dem Forste klangen. Von da wandte er sich nach den 
Poxdorfer Kiefern im Tautenburger Forste und traf auf die 12jährige H. und zwei 
etwa gleichaltrige Schulknaben aus Tautenburg, die Erdbeeren suchten. Nach der 
Bekundung des Kindes hat er nach einigen Redensarten über die Gefälligkeit ihrer 
Erscheinung sich nach dem Alter erkundigt und dann unter der Drohung, sie er- 
stechen zu wollen, den Knaben aufgegeben, ruhig stehen zu bleiben, das Mädchen 
aber sich durch die gleiche Drohung völlig willfährig gemacht, schließlich noch den 
Kindern Stillschweigen geboten und sich entfernt. Auch in diesem Falle gibt der 
Angeklagte gern atles zu, was durch Zeugnis belegt ist, verneint aber, irgend etwas 
bewußt getan zu haben. Auf dem Wege nach Jena soll ihm dann mit dem Kopf- 
schmerz die Bewußtlosigkeit geschwunden sein. Martin war dann in Studnitz bei 
Rudolstadt in Dienst, aber auch nur einige Tage, weil ohne Papiere. Bezirksarzt 
Dr. Rüdel-Weimar untersuchte uud beobachtete den Angeklagten mehrfach, 
konnte aber nichts feststellen, was die von ihm angeführte Bewußtlosigkeit zu er- 
klären vermöchte. Für epileptische Anfälle seien die charakteristischen Anzeichen 
nicht zu finden gewesen. Der Angeklagte sei neurasthenisch veranlagt, daher Kopf- 
schmerzen und vielleicht auch Schwindel, was aber keine Unzurechnungsfähigkeit 



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C. Literatur. 



59 



im Sinne des Strafgesetzbachs bedinge. Ohne Frage sei er geistig minderwertig 
und ein Produkt seiner traurigen Jugendzeit Der Spraoh der Geschworenen lautet 
auf schuldig der versuchten Notzucht in zwei Fällen und im ersten Falle nach der 
Vornahmo unzüchtiger Handlungen an einer Minderjährigen; die Zubilligung 
mildernder Umstände wird versagt. Der Staatsanwalt beantragt darauf eine Zucht- 
hausstrafe von 7 Jahren und 10 Jahr Ehrverlust Der Angeklagte bittet, noch 
einmal einen Versuch zu machen, ihn auf bessere Wege zu bringen. Der Gerichtshof 
yerurteilt ihn zu 5 Jahren Zuchthaus, Tragung der Kosten und 10 Jahren Ehrverlust. 

Der Fall illustriert aufs neue unsere wiederholt ausgesprochene Be- 
hauptung, daß die Vorsorge zehnmal nützlicher, besser und billiger ist 
als die Fürsorge und die gerichtliche Bestrafung. 

Was kostete schon dieser Verbrecher dem Staate und den Gemeinden 
an Geldopfern? und was an seelischen Opfern? Und was wird er bei 
einem längeren Leben noch kosten? Oder glaubt man, daß er nach fünf 
Jahren ein Engel sein wird? Muß nicht seine weiteste Umgebung er- 
schrecken, wenn es heißen wird: Martini ist wieder frei? Wieviel billiger 
und besser wäre es gewesen, als es noch Zeit war, für eine gute Er- 
ziehung zu sorgen? Und wie dringend geboten ist es, die Gesellschaft 
dauernd vor ihm zu schützen! 

Und hätte sich bei der Erziehung herausgestellt, daß er gemeingefährlich 
sei, wäre es dann nicht für ihn selbst und die Gesellschaft weit zweck- 
mäßiger gewesen, ihn nicht frei zu lassen? Allerdings Zuchthäuser sind 
keine Bewahranstalten. Trüper. 



5. Gottlieb Friedrich f. 

Am 9. Oktober starb nach längerem Leiden im 84. Lebensjahr der 
k. k. Gymnasialprofessor Gottlieb Friedrich in Teschen. Friedrich ge- 
hörte der Herbartischen Schule an und war ein fleißiger Mitarbeiter im 
> Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik <. Noch im Jahr- 
buch von 1907 finden wir von ihm eine Abhandlung über »Die Aus- 
bildung des ethischen und ästhetischen Urteils im Dramac, und 
noch Pfingsten 1905 nahm der fast erblindete Greis in Begleitung seiner 
Tochter an den Verhandlungen in Weimar teil. 

Aber auch unsere Spezialbestrebungen der Einderforschung widmete 
er gleich so zahlreichen andern Herbartianern und wie Ludwig Strümpell 
noch in dem hohen Alter von 80 Jahren sein besonderes Interesse. Unter 
andern veröffentlichte er in unsern »Beiträgen« (Heft 17) »Psychologische 
Beobachtungen an zwei Knaben« (seinen beiden Enkeln). 



C. Literatur. 



Wulffeil, EL, Psychologie des Verbrechers. Bd. I u. TL der Encyklopädie 
der modernen Kriminalistik. Groß- Lichterfelde, Dr. P. Langenscheidt. 448 und 
546 8. Geb. 30 M. 

Unter den Kriminal - Psychologien nimmt neben den Werken von Baer, 

Kurella, Sommer und Aschaffenburg das vorliegende von Staatsanwalt 



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C. Literatur. 



Wulffen in Dresden eine hervorragende Stellang ein. Die Hauptkapitel der um- 
fangreichen und subtilen Arbeit enthalten Physiologie und Psychologie, Psychiatrie, 
Anthropologie, Statistik, Ethik, Charakterologie, Psychologie des Verbrechens und 
Verbrecherspezialisten, Psychologie im Strafverfahren und im Strafvollzug. Diese 
Abschnitte sind nicht alle gleichwertig; während in der letzteren Hälfte der Ver- 
fasser sich als selbständiger Forscher zeigt, bietet die erstere im wesentlichen nur 
Auszüge aus den Werken von Wundt, Engelmann, Krafft-Ebing, Lombroso, 
Forel; es sind zum Teil, so namentlich die Physiologie, nur skizzenhafte, mit fach- 
männischen Ausdrücken reich durchsetzte Referate, die für den medizinisch Nicht- 
gebildeten wenig verständlich und genießbar, für den Psychiater aber nicht nutz- 
bringend sind. Wulffen bekennt selbst: >Ich kann nicht den Ehrgeiz haben, eine 
Darstellung der physiologischen Psychologie nach eigenem Rezept zu verabreichen. 
Meine eigene Arbeit in diesem Kapitel und in dem ganzen Buche liegt dennoch in 
der Art und Weise meiner Darstellung und Benutzung der vorhandenen Literatur.« 
Als Leserkreis denkt sich Wulffen »nicht nur die juristischen Kriminalisten, Richter, 
Staatsanwälte, Polizeibeamte, Rechtsanwälte, Kandidaten und Studierende, sowie 
Strafanstaltsbeamte; auch Mediziner, Philologen und Theologen, die in mühsamer 
Praxis stehen, haben heutzutage ein Anrecht, sich über die Wissenschaft der Ver- 
brecherpsychologie in einem zusammenhängenden, die bisherigen Ergebnisse zu- 
sammenfassenden Werke unterrichten zu können, da ihnen ein Sammeln und Sichton 
der verstreuten Literatur noch weniger möglich ist« Sein Ziel ist: »dem Laien in 
allen Gesellschaftskreisen eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Verbrecher- 
psychologie in einer möglichst gemeinverständlichen Fassung zu bieten« und Ihnen 
zu sagen : »Siehe, das ist der Verbrecher in Wirklichkeit, der dir von anderer Seite 
in anderor Weise, überschätzt und unterschätzt, gezeigt worden ist. Vergleiche du 
nun und revidiere dein Urteil I« Als Wirkung der Aufklärung des "Volkes »über 
die wirklieben inneren Zustände des rechtbrechenden Menschen« denkt sich Wulffen, 
daß sie »notwendigerweise auf das Volk und seine eigene Kriminalität wohltätig 
zurückwirke , wenn es deren Ursachen deutlich zu sehen gelernt habe.« »Das 
aufgeklärte Volk aber wird sich mit den notwendigen Forderungen an den Staat, 
an den Oesetzgeber wenden und dabei seine eigene unentbehrliche Mitarbeit nicht 
mehr aus irrtümlichen Günden versagen. So kann die kriminalpsychologische Auf- 
klärung ein Werkzeug in der Hand der so dankbaren Verbrechensverhütung werden, 
der ja alle unsere Bestrebungen gelten.« 

Von dieser vornehmen und edlen Absicht erfüllt, sichtet und bearbeitet Wulffen 
das reichhaltige, aber zerstreute kriminalistische Material unter dem Gesichtspunkte, 
daß der Lehre Lombrosos von dem geborenen Verbrecher nicht beizupflichten ist, 
daß zwischen der seelischen Beschaffenheit des normalen und der des recht- 
brechenden Menschen nur ein fließender Unterschied besteht und »zwischen beiden 
Breiten das umfangreiche Gebiet der latenten Kriminalität liegt, d. h. derjenigen, 
die im Bereiche der Vorstellungen verblieben, nicht aber in die Tat umgesetzt 
worden ist« Solche latente Kriminalität ist eine weitverbreitete, fast jeder Mensch 
ist ihrer fähig. Eine Fülle von geschickt gewählten und überzeugend wirkenden 
Beispielen verbrecherischer Handlungen dienen zur Illustration und Bestätigung der 
Anschauungen des Verfassers. 

Als feiner Psychologe und scharfer Beobachter offenbart sich Wulffen in den 
Abschnitten über »Gefühl für Verbrechen« und »Charakterologie des Kindes und 
Jugendlichen«, wo er unermüdlich betont: »die Verbreitung von ethischer Herzens- 
büdung ist ein Haupterfordernis unserer Zeit. Ihr auffälliger Mangel in gewissen 



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C. Literatur. 



(51 



niederen Schichten unseres Volkes ist ganz gewiß mit eine Hauptursache ihrer 
Kriminalität« Unter dieser Herzensbildung versteht er: »die durch Befruchtung 
von Oemüt und Geist erlangte Befähigung des Menschen, ethische Eindrücke und 
Einwirkungen nicht nur oberflächlich aufzufassen, sondern dauernd festzuhalten 
und im Innern dergestalt zu verarbeiten, daß diesen ethischen Geboten und Ver- 
boten auch praktisch, durch Betätigung im realen rauhen Leben, nachgegangen und 
nachgelebt werden kann; mit anderen Worten, Herzensbildung ist die Befähigung 
zur Umsetzung empfangener ethischer Eindrücke in die wirkliche ethische Tat« 
Auf diesem Wege erhofft er wesentlich mit eine Verminderung der Kriminalität; 
allerdings muß zu dem Zwecke aber auch die Pädagogik andere Wege als bisher 
gehen. > Es ist eine Auffälligkeit in unserem Erziehungswerke am Kinde, daß die 
Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten fast ausschließlich herrscht und die Aus- 
bildung der ethischen Befähigungen mehr nebenhergeht und sich selbst überlassen 
wird.« 

Wer das Werk Wulffens — es umfaßt nahezu 1000 Seiten — sorgfältig 
durchgelesen hat, legt es nicht ohne dankbare Gesinnung für den Verfasser aus der 
Hand; bietet es auch dem Fachmanu im Verhältnis zu seinem Umfang nur wenig 
Neues, so findet dagegen der gebildete Laie hier eine zusammenfassende, ziel- 
bewußte Bearbeitung der bisher erschienenen in- und ausländischen Literatur mit 
einer Fundgrube praktischer Beispiele, die einen tiefen Einblick in die Psyche des 
Verbrechers gewähren; Wulff en macht die Verbrecherpersönlichkeiten vom Boden 
der allgemeinen und pathologischen Psychologie und Sittlichkeit aus verständlich 
und weist dabei nach, daß »wir nach unserem heutigen Maßstabe alle die Ver- 
brecher zu hart beurteilen, die, weil unsere heutige Eigentumsordnung, Arbeits- 
zuteilung und Bildungsgelegenheit den Anforderungen einer gesteigerten Sittlichkeit 
nicht mehr entsprechen können, zufolge dieser Faktoren zu Verbrechen kommen.« 
Ans diesen Darlegungen, und dies ist Wulff ens Absicht, gewinnt der Leser die 
Überzeugung, nicht bloß eine Revision der Strafgesetzgebung ist erforderlich, 
sondern auch: ich kann und muß an meinem Teile mitarbeiten zur Verminderung 
der Kriminalität Dr. Eichhorn. 

Schreiber, H., Die religiöse Erziehung des Menschen im Lichte seiner 
religiösen Entwicklung. Leipzig, Quelle & Meyer, 1908. 244 S. Preis 
geh. 3,00 M, geb. 3,40 M. 

Mit diesem Werke hat der auf dem Gebiete der Schulreform längst bekannte 
Verfasser eine Arbeit geleistet, für die er sich gewiß den Dank der Lehrerschaft 
erwerben wird. Man merkt es dem Buche an, daß es hervorgegangen ist aus einem 
jahrelangen Suchen nach dem richtigen Wege, auf dem unsre Jugend zum Frieden 
und zur Kraft eines frommen Gemütes geführt werden sollte. Der Verfasser fühlt 
zu sehr die Widersprüche in der heutigen religiösen Führung. Er empfindet, daß 
unsre Kinder geradezu seufzen »unter dem heutigen Religionsunterricht der ihr 
Innerstes angreift und dauernd verletzt«. Wenn wir in den protestantischen deutschen 
Staaten auch nicht ganz in diesen herben Notschrei mit einstimmen können, so fühlen 
doch auch wir noch immer genug, wie sehr uns die Möglichkeit genommen ist, 
einen verinnerlichenden Religionsunterricht zu treiben. Durch die gegenwärtig noch 
bestehende Anordnung des Lehrplans nach konzentrischen Kreisen, durch den Mangel 
an Konzentration zwischen den einzelnen Unterrichtsfächern und durch den »didaktischen 
Materialismus, der das Gedächtnis belastet und das Herz nicht weiter berührt«, wird 
die Wirksamkeit des Pädagogen noch immer eingeengt. »Dem gegenwärtigen 



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62 



C. Literatur. 



Religionsunterrichte fehlt der goldene Schein. Er läßt die Kinder mit Worten um- 
gehen, die nur erlaubt sind bei einer feineren Stimmung der Seele. Er weiht das 
Gemüt nicht und tut nichts zur Aufrichtung einer unerschütterlichen Macht im 
Mittelpunkte der Seele.« Man bietet dem Kinde eine Geistesspoise dar, die für den 
reifen Menschen gewachsen ist in einem langen, langen Zeiträume. 

Der Verfasser ist offenbar mit den bedeutendsten Schriften auf dem Gebiete des 
Religionsunterrichtes bekannt. Ferner steht ihm eine jahrelange, eingehende, viel- 
seitige Beobachtung an Kindern zur Verfügung. Auf allgemein wissenschaftlicher 
und psychologischer Grundlage will nun Schreiber den Weg zeigen, auf dem der 
religiöse Geist erwacht, sich stärkt und vollendet Darum veranlaßt er den Leser, 
sich zunächst einmal ganz in das Wesen der Religion zu vertiefen. Dann führt er 
uns eine Entwicklungsgeschichte der Religion im Leben der Völker wie im Leben 
des Einzelnen vor. Daraus leitet er die > Pädagogischen Folgerungen* ab, die die 
Grundlage zu den neuen Wegen der religiösen Führung abgeben könnten. — Im 
zweiten, dem »Praktischen Teile« legt der Verfasser dar, wie zunächst das Familien- 
leben direkt und indirekt auf Gott hingestimmt sein muß, dann wie die Schule das 
Haus unmittelbar unterstützen und durch die übrigen Unterrichtsfächer sowie durch 
ihre ganze Organisation der werdenden religiösen Persönlichkeit dienen soll, endlich 
zum Schlüsse, wie die Kirche diesos Werk vollenden kann. Ob Schreiber erreicht, 
was er in Aussicht stellt? In Glaubenssachen läßt sich schwer streiten. Je nachdem 
die Lebenserfahrungen der einzelnen Menschen verschieden sind, werden auch ihre 
religiösen Anschauungen andere sein. Darum ist es wohl Pflicht, daß man mög- 
lichst objektiv die Lehrmeinungen (Dogmen) seiner Konfession gebe, so daß dem 
Nachdenken des Zöglings genug übrig bleibe, sich spater in gereiften Jahren eine 
eigene Weltanschauung zu bilden. Es wird aus obigem Grunde vielleicht auch 
mancher, der mit Schreiber auf streng konfessionellem Standpunkte steht, doch nicht 
in allen Punkten mit ihm übereinstimmen. Ich erinnere an seine Ausführungen 
über die Lehre von der Dreieinigkeit und über das Gebet. Hinsichtlich des letzteren 
scheint sich Schreiber dessen bewußt zu sein, denn er verwahrt sich selbst dagegen, 
daß man annehmen könne, er wolle den Eltern zeigen, wie sie aus ihren Kindern 
Betbrüderchen machon sollten. Doch werden wir ihm wieder näher kommen, wenn 
wir an späterer Stelle lesen: »Das Beten um irdische Dinge muß sich aber in dem 
Fortschreiten der Herzensbildung immer mehr verlieren.« Ich möchte noch hinzu- 
fügen, der Erzieher möge sieh wohl vorsehen, daß er nicht Menschen heranzieht, 
die alles vom Gebet erwarten, und die versäumen, selbst zu handeln; die auch dort 
noch göttliche Hilfe erwarten, wo sie nach den Naturgesetzen nicht mehr erfolgen 
kann. Sodann vermisse ich noch sehr, daß Schreibor nichts davon spricht, daß er 
den Zögling soweit führon will, das Gute zu tun um des Guten willen, statt auf der 
niederen Stufe stehen zu bleiben, es nur um des Lohnes willen zu tun. Wenn 
Schreiber in einem der ersten Kapitol dagegen ankämpft, daß wir noch immer ver- 
pflichtet werden, die kirchlichen Glaubenssätze zu lehren, so verstehe ich nicht, 
warum er sich nicht selbst davon frei macht in seinem Schulgebet. Warum weist 
er dort die Kinder immer wieder auf den Ort der Seligkeit hin? Man kann doch 
unmöglich von wahrer Religiosität reden, wenn jemand das Gute (nur! d. Schriftl.) 
tut in der Hoffnung, dann dereinst die Seügkeit zu ererben. Das sieht zu sehr 
einem Vortrage ähnlich, den man mit Gott schließen will. 

Führen wir doch vielmehr die Kinder so, daß sie die Kräfte kennen lernen, 
die in ihnen ruhen, und geben wir ihnen soviel Gelegenheit, als wir können, diese 
Kräfte zu entfalten und so zu stärken, daß die entgegengesetzten Kräfte zurück- 



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C. Literatur. 



gedrängt werden, also gar nicht erst zur Entfaltung kommen können; daß jeder 
also erst wirklich sich selber mit allen seinen Kräften lieben lerne. Es ist sonderbar, 
daß diese zweite Hälfte jenes größten und vornehmsten Gebotes Christi so wenig 
beachtet wird. 

Daß der Religionsunterricht nicht eine Sache des "Wissens sein könne, daß die 
Kinder nicht sollen auf den Gedanken kommen können, »daß Religion in Büchern 
stehe und aus Büchern gelernt werden könne«, wie es Schreiber sehr bezeichnend 
ausdrückt, daß er vielmehr zu einem Erleben, zu einem Einleben und sodann zum 
Nachleben werden muß, dieser Überzeugung sind wohl alle neueren Methodiker; 
aber wie dies geschehen könne, darüber hat eine ausreichende Antwort bisher gefehlt 
Es ist kein geringes Verdienst Schreibers, hier bis ins einzelne Wege gezeigt zu 
haben. Nur will mirs scheinen, als ob er dabei auf die Beachtung der religiösen 
Sitten denn doch zu großes Gewicht lege. 

Durch die Vertiefung in die religiöse Einzeleutwicklung führt er den Leser zu 
der Erkenntnis, daß das Kind nicht ein erwachsener Mensch im kleinen, sondern 
ein Individuum für sich ist; daß es demnach auch eine individuelle Kinderreligion 
gibt, von der der Unterricht auszugehen hat, und daß demnach eine Schulung des 
kindlichen Urteils, der kindlichen Sprache und Phantasie dem eigentlichen Religions- 
unterrichte vorausgehen muß. Er legt dar, an welchen Stoffen dies am zweck- 
mäßigsten geschehen sollte und versäumt nicht, seine Ansicht psychologisch zu be- 
gründen. Daß ein solcher Vorkursus unbedingt nötig ist, auch darüber sind sich die 
Pädagogen aller Richtungen einig, aber auf wie lango Zeit er sich erstrecken soll, 
darüber gehen die Meinungen noch sehr auseinander. Man wird auch hier nicht 
eher zu endgültigen Resultaten kommen, als bis man mit Schreiber den psychologischen 
Malistab angelegt hat. Dann fällt auoh Reukaufs Einwand gegen den fortschreitenden 
Lehrplan der Zillerschen Schule, daß nämlich ein regelrechter Religions-Unterricht 
schon in den ersten Schuljahren nötig sei, weil es im Elternhause oft an Religiosität 
mangele. 

Nach der praktischen Seite ist ein Vorzug der Arbeit Schreibers, daß er 
auch denen, die noch nicht eingehender vertraut sind mit den gegenwärtigen Reform- 
bestrebungen auf dem Gebiete der religiösen Unterweisung, über fast alle Einzel- 
fragen, die etwa auftauchen könnten, Antwort erteilt. Es gibt kaum einen Punkt, 
den er nicht erwähnt, für den er nicht einen Wink oder Rat zu geben wüßte. Alle 
wesentlichen Streitfragen verwebt er in seine Betrachtung, z. B. die Frage der Schul- 
bibel, der konfessionslosen Schule, der Beibehaltung der alttestamentlichen Geschichten. 
Fast immer beleuchtet er sie vom geschichtsphilosophischen und psychologischen 
Standpunkte aus. Für die wichtigsten Maßnahmen gibt der Verfasser sogar aus- 
geführte Beispiele, z. B. von einer Erbauungsstunde, von einem Schulgottesdienste, 
von einer Unterrichtslektion. Was die Durcharbeitung der relig. Unterrichtsstoffe 
anbetrifft, so kann man aus Schreibers Darlegungen erkennen, wie die Anwendung 
der formalen Stufen sich immer mehr als unbewußt wirkendes psychologisches 
Prinzip geltend machen sollte, so daß jene gar nicht einmal als äußere Form, noch 
weniger als etwas Erzwungenes, Unnatürliches erscheinen können. Alles in allem, 
Schreiber zeigt für die religiöse Erziehung des Kindes in Daus, Schule und Kirche 
einen Weg. der durchaus gangbar und gar wohl imstande ist ein Kindergemüt zu be- 
glücken und religiöse Persönlichkeiten heranzubilden. Wenn dazu noch eine kirchliche 
Organisation kommt wie sie der Verfasser unter Anlehnung an Dörpfelds »Fundament- 
stück einer gerechten, gesunden, freien und friedlichen Schul Verfassung« wünscht dann 
dürfte das Ideal einer religiösen Erziehung auf protestantischer Grundlage erreicht sein. 

Halle a. S. Arno Grundig. 



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64 



Tluchor, Der Universalerbe. Eine Erzählung. (Sexuelle Aufklarung 
für heranwachsende Männer.) 108 8. Wien, Karl Gräser & Co. Jahr und Preis- 
angabe fehlen. Und 

Die Grille. Eine Erzählung. (Sexuelle Belehrungen für heranwachsende 
Mädchen.) 55 S. Ebenda. 

Der Verfasser dieser beiden Büchlein, der sich schon durch Herausgabe einer 
belehrenden Flugschrift »Worte der Eltern an die schulmündigen Söhne«, 
Wien 1906, verdient gemacht und der auch in dieser Zeitschrift im 14. Jahrgange, 
S. 269 ff. über »Erziehungsstörungen durch Sensationstexte und Bilder« dankenswert 
berichtet hat, hat in der viel diskutierten Frage von der sexuellen Aufklärung und 
Belehrung den Weg der Erzählung betreten, wie er vor ihm auch schon vielfach 
versucht worden ist; ich erinnere nur an Oker Bloms »Beim Onkel Doktor auf dem 
Lande«, autorisierte Übersetzung von Leo Bürgerst ein, Wien und Leipzig 1905. 

Gedacht sind die Erzählungen für aus der Bürgerschule entlassene Jünglinge 
und Mädchen. 

In dem ersten der beiden Büchlein, der »Universalerbe«, ist die Einkleidung 
recht geschickt, die eingeflochtene sexuelle Aufklärung erscheint durch den Zu- 
sammenhang der Erzählung motiviert; der Ausgang, daß der »Gute belohnt« und 
der »Böse bestraft« wird, ist ja wirklich nicht zu vermeiden. Mir scheint dieses 
Geschichtchen insbesondere für solche junge Leute wertvoll, denen sonst Führung 
und Belehrung sowie auch bildender Einfluß mangelt. Der Ringkampf, der schließ- 
lich für das Lebensglück des jungen Mannes entscheidende Bedeutung gewinnt, ist 
allerdings ein etwas rohes Motiv, mag aber in manchen Kreisen gerade recht gut 
wirken. 

Im Ganzen ist ein so warmer Ton angeschlagen und durchzieht die ganze Dar- 
stellung eine so rüstige Freude an Kraft, Gesundheit und Reinheit, daß man das 
Buch nur in der Hand möglichst vieler Jünglinge wissen möchte, die in der gefähr- 
lichsten Zeit des Lebens führerlos den größten Versuchungen ausgesetzt sind. 
Dabei ist die sexuelle Frage nicht im Vordergrunde, vielmehr bietet das Buch über- 
haupt den Kern einer ganz vortrefflichen Ethik, die insbesondere für eine geschickte 
und planmäßige Willensschulung und redliche Selbsterziehung eintritt; dadurch ist 
das Aufdringliche so mancher »sexuellen Aufklärung« vermieden und sind die 
sexuellen Pflichten eben in den größeren Zusammenhang der sittlichen Forderungen 
überhaupt gerückt 

Dio für heranwachsende Mädchen bestimmte Erzählung »die Grille« ist weitaus 
kürzer aber viel krasser: sie enthält die ungeschminkte Darstellung des Elendes ver- 
führter und schließlich in Schande und Krankheit verkommender Mädchen. Dabei 
ist die Einkleidung so zart und von echtem Mitleid durchweht, daß man die Tragik 
um so herber empfindet Mit diesem Büchlein müßte man begreiflicherweise vor- 
sichtig Bein. Für Mädchen, deren "Weg sorgsam behütet ist würde ich eine mildere 
Form der — auch erst später notwendig werdenden — Aufklärung empfehlen. Dort 
aber, wo ein Mädchen nach der Schulpflicht rat- und stützelos ins Leben gestoßen 
wird, ist das Büchlein gewiß ganz vortrefflich am Platze, da kann es segensreich 
wirken. Da dies nun leider doch so oft dor Fall ist d er Verfasser gewiß auch 
hiermit einen guten Griff getan. Der beste Erfolg ist ihm, noch mehr aber der 
von ihm verfochtenen guten Sache zu wünschen! 

E. Martinak. 



Druck von Henuna B#y« & S4ho« (Borei Sc Mann) in Lan^onsAlai. 



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5 BDU'iATXON 

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A. Abhandlungen. LBUNu Sl ANrÜBl 

% junuih üMivKusrry 

L Zeitfragen. * ^- . . 

Vom Herausgeber. 
III. Gegen das Pfäftische in Wissenschaft und Leben. 

Goethe klagte einmal, »daß man in Künsten, Wissenschaft und 
sonst vielfach im Leben das Pf äff is che heranschleichen sehe, wie 
es den menschlichen Schwächen sich fügend, einen Tag nach dem 
andern sich anzueignen, bildsame Jünglinge zu umspinnen, den Eigen- 
sinn der Männer zu stärken und so eine bequeme Herrschaft 
sich einzuleiten wisse«. 

Goethe hätte heutzutage mehr denn je Grund, nicht bloß in 
Hinblick auf kirchliche Gebiete, sondern auch auf viele andere diese 
Worte mit Nachdruck zu wiederholen. 

Der Gegensatz vom Pfaffentum ist das Laientum. Beide Be- 
griffe enthielten ursprünglich nichts Verächtliches. Sie bezeichneten 
nur Gegensätze. Das ist allmählich anders geworden. Sie haben 
eine verächtliche Bedeutung bekommen. Der Ausdruck »Laie« wird 
zwar noch häufig gebraucht, ohne daß man sich immer des Gegen- 
satzes und seines Ursprunges bewußt geblieben ist, aber nur allzuoft 
hat man Anlaß genug, wenn uns in Wort und Schrift das Wort Laie 
entgegentritt, an das Goethesche Wort vom »Pfäffischen« mit der 
Einleitung einer »bequemen Herrschaft « zu denken. Duldsame, 
dünkelfreie Menschen sprechen nicht mißachtend von »Laien«, son- 
dern von Irrtümern und Unrichtigkeiten in der Saclve. Die Herr- 
schaft ist dann zwar weniger »bequem«, aber: 

Gar leicht gehorcht man einem höh ren Herrn, 
Der überzeugt, indem er uns gebietet. 

Zeitschrift für Kindorfor>chung. IG. Jahrgang. 5 



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66 



A. Abhandlnngeu. 



Für das Arbeitsgebiet unserer Zeitschrift ist diese Frage von 
allergrößter Tragweite. Hier sind so viele Berufskreiso zur gegen- 
seitigen Handreichung aufeinander angewiesen, daß wir gegen alles 
Pfäffische nicht scharf genug zu Felde ziehen können. 

Erfreulicherweise geht durch unsere ganze moderne Kulturwelt 
neben der wachsenden kastenartigen Abschließung einzelner Wissen- 
schaften und Berufsstände mit der energischen Abweisung jeder so- 
genannten Laienmitwirkung ein anderer großer Zug, das ist das 
Streben nach gesetzlich anerkannter Mitwirkung des so- 
genannten Laienelementes und dio Ablehnung alles einseitigen 
Pfaffentums mit seiner ganzen dünkelhaften Überhebung, oder zeit- 
gemäßer ausgedrückt: das Streben nach konstitutioneller Verfassung 
und Betätigung auf allen Lebensgebieten. 

Das haben wir auf dem politischen Gebiete in den konstitutio- 
nellen Verfassungen und in dem Streben nach Wahlrechten, die die 
Konstitution nicht zu einer Schein konstitution, zu einer bürokratischen 
Hierarchie, hinabsinken lassen, sondern auch eine wirkliche, segens- 
reiche Mitwirkung der > Laien« (oder nach unserer Auffassung: der 
Staatsbürger) in ihren eignen Angelegenheiten gewährleisten. Ja, es 
wendet sich niemand schärfer gegen das Staatspfaffentum der Büro- 
kratie als der größte deutsche Staatsmann des letzten Jahrhunderts 
in seinen »Gedanken und Erinnerungen«:. 

Das spricht sich aus in dem lebhaften, wenn auch durch die 
Schuld der Priesterhterarchie ins Extrem gedrängten religiösen Leben 
und Streben, an der Wegfindung zu seinem Gotte selbst mitarbeiten 
zu dürfen, 1 ) in der zum Teil vollständigen Ablehnuug der Kirche 
bei so vielen, tiefreligiösen Naturen, sowohl auf liberaler, wie auf 
streng konservativer Seite. Es sei in dieser Hinsicht nur auf die große 
sogenannte Gemeinschaftsbewegung und die Heilsarmee hingewiesen. 

Das erleben wir auf dem Schulgebiete, wo Elternvereine, Ärzte, 
Juristen, Volkswirte u. a. dem Schulpfaffentum immer energischer zu 
Leibe rücken. 

Dasselbe macht sich geltend auf dem medizinischen Gebiete, wo 
die Natu rheil vereine mit ihren Hundcrttausendeu von Mitgliedern mit 
ungemeiner Schärfe gegen das medizinische Pfaffentum kämpfen, 
nicht selten das Kind in demselben Maße mit dem Bade ausschüttend, 



') Schon Luther sagt: »Es ist eines jeden eignes Risiko, was er glaubt, und 
er muß in eignem Interesse zusehen, daß er recht glaubt. ... In einem christ- 
lichen Volke soll und kann kein Zwang sein; denn wenn man die Gewissen mit 
richterlichen Gesetzen aufilngt zu binden, so geht bald der Glaube und das christ- 
liche Wesen uuter.« 



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1. Zeitfragen. 



67 



wie es auf der gegnerischen Seite geschieht, wo man alles, was noch 
nicht oder nicht nachträglich von der Schulmedizin geaicht worden 
ist, als Kurpfuschertum und ähnliches mehr bezeichnet, und verlangt, 
daß es reichsgesetzlich unterdrückt werden soll. 

Und wiederum sehen wir denselben Kampf auf dem großen 
wirtschaftlichen Gebiete, wo die Arbeitnehmerschaft ringt um die 
Mitwirkung eines Mitbestimmungsrechtes auf dem Arbeitsroarkte, 
wiederum in das andere Extrem verfallend, die Erfahrung, die tiefere 
Durchbildung, das organisatorische Geschick und die Verantwortlich- 
keit, welche der Besitz der wirtschaftlichen Mittel jedem wahren 
Menschen auferlegt, mißachtend beiseite drängt 

Die Gegensätze auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete 
liegen der Jugendkunde im allgemeinen fem. Gegen das Schul- 
pf äffen tum ist die Tendenz unserer ganzen Zeitschrift gerichtet Auch 
das kirchlich -theologische Gebiet wollen wir nicht weiter erörtern. 
Der Kampf zwischen Pfaffentum und Laien tum ist hier uralt, und 
wenn Luther auch mit seiner Lehre vom allgemeinen Priestertum und 
Zwingli und Calvin mit ihren Forderungen, daß die Priester nach 
Paulus Worten nicht Herren des Glaubens, sondern Diener der Ge- 
meinde (d. h. der Gemeinschaft, der »Gemeinen« oder »Laien«) sein 
sollen, den falschen Gegensatz prinzipiell beseitigten, so ist der Prote- 
stantismus doch keineswegs vom Pfäffischen freigeblieben, auch dort 
nicht wo er sich »entschieden liberal« nennt, denn das Pfäffische 
steckt nicht in erster Linie in der Doktrin, sondern in der Ge- 
sinnung. Die Jugenderziehung und insbesondere die Schule hat 
seit je schwer darunter gelitten. 1 ) 

Auch die Auswüchse auf medizinischem Gebiete, die die Be- 
strebungen dieser Zeitschrift so oft zu unterdrücken und zu karri- 
kieren versuchten, wollen wir erst in einem späteren Artikel näher 
beleuchten und einstweilen nur den Entwurf des sogenannten Kur- 
pfuschergesetzes unsern Lesern zur sorgfältigen Beachtung emp- 
fehlen. 

Dagegen wollen wir uns diese Entartung für heute etwas näher 
in Rechtspflege ansehen, da Strafrechtsreform und Jugend- 
gerichte endlich Gegenstand einer erneuten Gesetzgebung werden 
sollen und Jugendkunde wie Heilerziehung in hohem Maße dabei 
interessiert sind. 

Die Dringlichkeit einer Reform in der Rechtspflege wird in den 
weitesten Kreisen immer entschiedener betont Die Klagen über die 



*) Siebe Dörpfeld, Leidensgeschichte der Volksschule. 

5* 



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68 



A. Abhandlungen. 



Entartung des Fachgelehrtentums gegenüber dem sogenannten gesunden 
Menschenverstände sind hier allgemein. Sie bilden seit Jahrzehnten 
eine ständige Rubrik in der Tagespresse. Auch wir haben wiederholt 
Anlaß gehabt, in diese Klagen einzustimmen, soweit die Behandlung 
der Jugendlichen in Frage kommt. 

Die zahlreichen Schriften zugunsten des »juristischen Modernis- 
mus«, die im Laufe der letzten Jahre von hervorragenden Fachleuten 
veröffentlicht wurden, beweisen aber erfreulicherweise, wie tief unsere 
Juristenwelt selbst fühlt, daß Reformen not tun. 

Die stärkste und nachhaltigste Bewegung gegen das Pfäffische 
auf allen Lebensgebieten setzte ein mit der ersten der 95 Thesen, 
die der Wittenberger Mönch am 31. Oktober 1517 an die Schloß- 
kirche zu Wittenberg schlug, und worin erforderte, »daß das ganze 
Leben eine stete Bußec oder Erneuerung sein solle. Die Selbst- 
kritik ist immer der Anfang vom Ende des Pfäffischen. Und da ist 
es nun eine wahre Freude, zu sehen, wie unsere modernen Juristen 
in den schärfsten Worten diese Selbsterziehung üben, wie gewisser- 
maßen die vor 400 Jahren eingesetzte Reformation mit dem Streben 
nach Befreiung vom römischen Joche nun endlich aus der eigenen 
Mitte heraus such mit Macht an die Pforten der Rechtspflege pocht 
Die Jugend rechtspflege bedarf hier vor allem der Reform. Darum 
sind auch wir so lebhaft dabei interessiert 

Großes Aufsehen erregten schon vor vier Jahren die Aufsätze 
des Frankfurter Oberbürgermeisters Adickes, der damals schrieb: 

»Weite, vom Klassenkampf und seiner Theorie unbeeinflußte Kreise erheben 
lebhafte Beschwerde darüber, daß unser Berufsrichtertum zu wenig Fühlung mit 
dem wirtschaftlichen und sozialen Leben und zu wenig Verständnis für die ver- 
wickelten Vorgänge, die psychologischen Grundlagen und die treibenden Anschau- 
ungen der Gegenwart besitze.« 

Hier in Jena warf in seiner Antrittsrede der Oberlandesgerichts- 
präsident Dr. Viktor Börngen 1 ) die Frage auf: 

>Ist im Hause der Frau Justitia alles so bestellt, wie es sein sollte, ist alles 
so, wie wir es wünschen müssen? .... Gewiß, alles Menschliche ist Stückwerk, 
aber könnte nicht so manches nicht doch besser sein, als es ist?« 

Und mit rückhaltloser Offenheit und Schärfe geißelt er die Rück- 
ständigkeiten und Entartungen, wie sie im Juristendeutsch,*) in 

') Blätter für Rechtsplege in Thüringen nnd Anhalts. Jena, Hermann Pohle, 
1910. Bd. 57. S. 2 ff. 

') Meine Bemerkungen über unser »Gelehrtendeutsch« im letzten Heft 
S. 61 sind nicht allen Lesern nach dem Sinn gewesen. Das Pfäffische lehnt sich 
gegen solche Forderungen immer entrüstet auf. Da war es mir interessant, 
hinterdrein aus dem autoritativen Munde eines Börngen mein Urteil bestätigt zu 



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1. Zeitfragen. 



69 



der Langsamkeit der Justiz, die er mit der alten Postkutsche 
vergleicht, im Verfahren, wo man das Prinzip mästet und die Ge- 
rechtigkeit den Hungertod leiden läßt, wo man oft nicht die Grund- 
sätze der gesunden Vernunft gelten läßt, und so Vernunft Unsinn, 
Wohltat Plage wird, im materiellen Recht, wo der Tempel der 
Tbemis geschändet wird, indem ein Anwalt gläubig Gehör finden 
kann mit dem Ausruf: »Hier handelt es sich um das römische Recht 
und nur um das römische Recht, und das hat mit dem gesunden 
Menschenverstände nichts zu tun.< 

Und die in demselben Verlage erschienene Schrift: »Erfahrungen 
und Anregungen zur Kunst der Rechtspflege für Thüringer 
Juristen von Auch Einem t rügt mit noch schärferen Worten 
»Weltfremdheit, Buchstabengläubigkeit, Formalismus, bürokratisches 
Wesen, Prozeß verschleppungc 

Daß die Entartung der Rechtspflege soweit kommen, das juristische 
Pfaffentum so ins Kraut schießen konnte, liegt vor allem an der Aus- 
schaltung des Laientums, was fast gleichbedeutend ist mit der Ver- 
drängung des germanischen Rechtes durch das römische. Mit- 
wirkung des Laientums in der Rechtspflege! lautet darum 
die Parole der Reformer. Für die Jugendrechtspflege dürfte sie die 
größte Bedeutung haben, weil der Jurist als solcher der Jugendseele 
ferner denn jeder andere Berufsvertreter steht 

hören. Börngen sagt — und »Aach Einer« tat es in noch drastischerer, aus- 
führlicherer Weise — : »Die Klage über das Juristendeutsch ist nicht un- 
begründet Hier lastet noch ein Stück Mittelalter auf uns. Früher standen die 
Regierenden und die Regierten sich unvermittelt gegenüber. Die Regierenden, die 
Bürokratie, war eine besondere, streng abgeschlossene Kaste. Sie hob sich in Sitten, 
Tracht und Sprache ab von den Regierten. Sie sprach und schrieb, wie sie es in 
den veralteten Lateinschulen gelernt hatte, und was sie sprach und schrieb, die 
Regierten verstanden es nicht, aber in gläubiger Verehrung nahmen sie es hin als 
höhere Weisheit Jetzt ist das anders geworden. Die Regierten sind an Intelligenz 
gewachsen, sie wollten teilnehmen an der Regierung. Auch in der Justiz regieren 
sie schon mit, und wo sie nicht mittaten können, da wollen sie mitraten. Alles 
wird einer scharfen Kritik unterzogen. Ist es in einer solchen Zeit noch am Platze, 
um nur einiges hervorzuheben, auch da, wo man einfache Dinge zu sagen hat, ge- 
schraubt, gekünstelt und auf 8telzen einherzugehen ? Dürfen wir jetzt noch unsere 
Oedanken in Schachtelsätzen zusammendrücken und in Bandwurmsätzen aneinander- 
ketten, dürfen wir jetzt noch ein Deutsch schreiben, das nicht den Namen eines 
Deutsch verdient, sondern ein lateinisch -deutsches Kauderwelsch ist?« .... »Be- 
denken wir doch, wir haben nichts gemein mit Cicero, unsere Volksgenossen sind 
Goethe, Lessing und wie sie alle heißen. Ihnen wollen wir nachstreben! Man 
wende nicht ein, das sei eine Äußerlichkeit Äußerlichkeiten haben Bedeutung für 
den einzelnen und für den Staat, und dann steht das Äußerliche — namentlich gilt 
das vom Stil — immer im Zusammenhang mit dem Innern.« 



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70 



A. Abhandlungen. 



Unter der Überschrift: »Strafprozeßreform und Laien- 
richter« veröffentlichte »das Kulturparlament« (Vita, Deutsches 
Verlagshaus, Berlin) in dem Doppelheft 5/6 eine lange Reihe zum 
Teil sehr interessanter Abhandlungen, die sich direkt mit diesem 
Laienproblem beschäftigen. 

Unsere besondere Beachtung beansprucht eine Abhandlung des 
durch seine umfangreiche Schrift über die »Psychologie des 
Verbrechens« bekannten Dresdner Staatsanwaltes Dr. Brich 
Wulffen über »Laienrichter in allen Instanzen!«. 

Wulffen sagt: 

»Weil wir die Mitarbeit de9 Gemütes versäumten, vollzieht sich heute die 
seltsame Wandlung, daß der berufsmäßige Strafrichter mehr zum juristischen Sach- 
verständigen hinabsteigt, während der juristische Laie, der Vertreter des gesunden 
und nurmalen Volksempfindens, vom Richteramte Besitz ergreift. Deutlicher kann 
es die Rechtsgeschichte uns Lebenden nicht vor Augen führen, daß der bloßen, 
sogenannten Juristerei in der Strafrechtspflege nur die Bedeutung eines technisch- 
fachmännischen Hilfsmittels zukommt, das mit dem wahren Wesen der Rechts- 
empfindung nur etwas Äußerliches gemein hat In dieser Richtung zeigt der Weg- 
weiser der Rechtsgeschieht«. Keine Fakultät hat sich so gesträubt, die Mitwirkung 
des Laienelementes anzunehmen. Wer ließe sich seine religiöse Erbauung bloß von 
den Theologen vorschreiben? Am Erziehungswerke der Jugend arbeiteten Hoim und 
Haus in Gemeinschaft mit Schule und Universität In der Persönlichkeit des echten 
Arztes arbeitet neben der Wissenschaft seiner Kunst, ein gemütvolles Laientum, 
das manchmal die größeren Wunder vollbringt. Und ein Volk sollte nicht berufen 
sein, sich strafrechtlich selbst zu richten ?< 

Das sind eigentlich sehr ^ ketzerische« Ansichten, die wir aller- 
dings an diesem Orte doppelt zu unterstreichen haben, da über uns 
mehr als einmal ein Ketzergericht ergangen ist, weil wir ähnliche 
Anschauungen auf unserm großen, geraeinsamen Arbeitsgebiet des 
Studiums der Jugend und ihrer erziehlichen Behandlung vertreten 
haben und uns gezwungen sahen, um noch einmal mit Goethe zu 
reden, alles Pfäffische, mochte es eindringen, von welcher Seite es 
wollte, energisch abzuweisen und das Recht der vollen Mitarbeit 
aller derer zu vertreten, die das Leid und die Last zu tragen haben, 
wenn die Jugend mißverstanden wird und bei falscher Behandlung 
mißrät. 

Staatsbeamte und vor allen Dingen Staatsanwälte pflegen aber 
gewöhnlich konservativen Anschauungen zu huldigen, und genau be- 
sehen sind es auch konservative Anschauungen, die Wulffen vertritt, 
konservative d. h. Staats- und volkserhaltende Anschauungen, auch 
in dem Sinne, als es uralte deutsche Anschauungen sind und keine 
römischen, die unser deutsches Volk nicht bloß auf religiösem, sondern 
vor allen Dingen auch auf dem Gebiete des Rechtslebens zu knechten 
versucht haben. 



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1. Zeitfragen. 



71 



Ich habe an dieser Stelle, und in den Beiträgen ist es von 
Maennel und Kuhn -Kelly geschehen, wiederholt nachdrücklich 
betont, daß die ganze Reform der Jugendgerichtsbarkeit, auch wo 
unsere deutschen »Antilaienrichter« sie vertreten, ausgegangen ist, 
nicht von sogenannten Fachmännern, sondern von oft nur mit Volks- 
schulbildung ausgestarteten Laien, von denen einer auch von den 
Fachjuristen als ihr Vorbild gepriesen wird, ohne daß manche ahnen, 
daß er ein nicht einmal akademisch gebildeter Laie ist, ich meine den 
amerikanischen Jugendrichter Lindsey, der hier Bahn gebrochen und 
die Jugend vor den Folgen des Pfäffischen in der Rechtspflege ge- 
schützt hat. Wir haben hier wiederholt die Ansicht vertreten, daß 
diejenigen, welche sich am meisten und nachhaltigsten mit der normalen 
wie abnormen Jugend zu beschäftigen haben, die Eltern und die 
Lehrer, den naturgemäßesten und besten Gerichtshof für die Jugend 
bilden, wobei ja gern ein berufsmäßiger Richter die technisch -fach- 
männische Bearbeitung übernehmen mag. Leider sind aber Gesetz- 
geber und Juristen, welche anfangs die amerikanischen Vorbilder 
sehr lobten und eine starke rechtlich anerkannte Mitwirkung der 
Lehrer und sonstigen Erzieher in der Jugendrechtspflege forderten, 
allmählich wieder mehr ins Formalistische zurückgefallen. Der Lehrer 
soll ausschalten als Schöffe, er soll auch im Jugendgericht keinen 
sonderlichen Einfluß bekommen. 1 ) 

Es ist mir darum ein besonderer Genuß gewesen, diesen Auf- 
satz des Staatsanwaltes Wulff en, der ja das »Pfäffische«, was sich in 
die Rechtepflege geschlichen hat, und wovon wir ja im Interesse der 
Jugend an dieser Stelle Proben genug gebracht haben, aus eigner 
Erfahrung sattsam kennen muß, zu lesen. Ich möchte ihn auch 
unsern Lesern angelegentlichst empfehlen. 



') So meldet die »Saale-Zeitung« (Nr. 548 vom 23. Nov. 1910) : 
>Zahlreiohe Lehrer Halles richten an den Reichstag eine ausführliche Peti- 
tion, in der sie um Zulassung der Volksschullehrer zu den Ämtern eines Schöffen 
und Geschworenen bitten. 

Die Petition weist darauf hin, daß durch Hinzutritt der Volksschullehrer die 
Zahl der zum Laien rieh teramt Berufenen nicht unerheblich zunehmen müßte und 
deshalb auch die Einberufung der Lehrer zu diesen Ämtern verhältnismäßig selten 
erfolgen werde, so daß eine Beeinträchtigung des Schulbetriebes an mehrklassigen 
Schulen überhaupt nicht stattfinde und selbst bei den einklassigen Schulen nur ganz 
geringfügig sein würde. Der Vorteil, der dem Gesamtinteresse aus der Heran- 
ziehung der Volksschullehrer zur Mitwirkung bei der Rechtsprechung erwachse, 
dürfte ganz erheblich sein. Die gewerblichen Kreise, die jetzt vielfach über zu 
häufige Heranziehung klagen, würden fühlbar entlastet Die Volksschullehrer würden 
unzweifelhaft den Erwartungen, die der Entwurf von den zu Laienrichtern Berufenen 



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72 



A. Abhandlungen. 



Ein paar Satze seien aber noch angeführt, welche in treffendster 
Weise Kritik üben an der Rechtsverderbnis durch das mit »Klassischer 
Bildung« ausgerüstete Fachjuristentum und nachweisen, daß die 
Schäden, welche Börngen, v. Liszt, Deinhardt u. a. rügen, in 
der Mißachtung des Laientums ihren tieferen Grund haben. 

»Es bat mir immer ein Lächeln abgenötigt, wenn ein Angeklagter in den ersten 
beiden Instanzen freigesprochen and erat in der dritten verurteilt wurde, nachdem 
in allen Instanzen die Richter stundenlang über Recht und Unrecht beraten hatten. 
Wie soll der Staatsbürger einem Gesetze nachleben können in der Hast seines wirt- 
schaftlichen Daseins, wenn erst das Grübeln Dreier, sich überdies widersprechender 
Gerichtshöfe dieses Recht auszuschöpfen vermag V« 

»Der Laie wird für ein gekünsteltes Recht nicht zu haben sein. Eine Aus- 
legung, welche dem Sinne des Gesetzes Zwang antut, wird er ablehnen. Anderer- 
seits wird er nicht am Buchstaben kleben und einer sinngemäßen, vernünftigen 
Interpretation das Wort reden. In solchem Sinne wird er die Judikatur günstig 
beeinflussen. Wir werden endlich den Ballast über Bord werfen, der das Schiff 
unserer Rechtsprechung fest in den Grund zu ziehen droht. Eine einfache, un- 
gekünstelte, sinngemäße, vernünftige und auch — gemütvolle, nicht herzlos kalte 
und sozial grausame Gesetzeserklärung, die uns so sehr not tut, werden wir endlich 
unser eigen nennen .... man wird daran gehen, den Wortlaut der einzelnen Straf- 
bestimmungen in eine vernünftige, verständliche, syntaktisch und grammatikalisch 
richtige Sprache — die heute vielfach fehlt — zu fassen.« 

»Das Gerechtigkeitsgefühl des normalen Volksgenossen war zu allen Zeiten 
und ist auch bei uns im allgemeinen ein feineres als beim berufsmäßigen Straf- 
richter. Das ist gar kein Wunder. Das Gerechtigkeitsgefühl des Laien erhält sich 
leicht unberührt, es kann sich schonen.« 

»Der Mangel an psychologischen Studien ist ja das Schmerzenskind unserer 
ganzen heutigen Kultur.« 

Interessant ist es, wie die Ausführung dieses Staatsanwaltes 

ergänzt werden durch eine Reihe Abhandlungen anderer Autoren, 

worunter auch ein Sozialdemokrat zu Worte kommt; denn die juristische 

Entartung in der sogenannten Klassenjustiz erläutert uns psycho- 

hegt, daß sie durch Kenntnis persönlicher und örtlicher Verhältnisse, insbesondere 
der Ausdrucks weise der Bevölkerung, mitunter auch durch ihre Bekanntschaft mit 
örtlichen und beruflichen Anschauungen und Gewohnheiten, den Richtern wertvolle 
Aufklärungen geben und bei der Urteilsfällung zu einer dem Volksempfinden ent- 
sprechenden Entscheidung beitragen können, im weitesten Maße entsprechen. 

Da die Lehrer aller anderen Schulgattungon von der Berechtigung, Schöffen 
und Geschworene zu werden, nicht ausgeschlossen sind, würden weite Volkskreise 
den Grund für den Ausschluß der Volksschullehrer nicht in dem Lehramte als 
solchem suchen, sondern daraus eine geringe Eignung gerade der Volksschullehrer 
zur Teilnahme an der Rechtsprechung folgern. Die Volksschullehrer empfanden die 
Ausnahmestellung, die ihnen eins der wichtigsten Staatsbürgerrechte versagt, als 
eine kränkende Zurücksetzung. 

Aus diesen Gründen bitten die Petenten den Reichstag, dafür eintreten zu 
wollen, daß der bisher für den Volksschullehrer bestehende Ausnahmezustand be- 
seitigt werde.« 



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1. 



73 



logisch der Reichstagsabgeordnete Rechtsanwalt Wolf gang Heine 
in seinem Artikel »Schwurgericht oder Schöffengericht«. In 
dieser Frage steckt zugleich ein volkspsychologisches wie volks- 
erzieherisches Problem. Darum wollen wir auch darüber den Juristen 
selbst hören. 

Er sagt darüber unter anderem: 

»Man spricht heute viel von »Klassenjustiz 4 . Es ist eine böswillige und 
kindische Entstellung, wenn Juristen kreise behaupten, man wolle ihnen damit den 
Vorwurf der Bestechlichkeit und der .bewußten Rechtsbeugung' zugunsten der Be- 
sitzenden machen, und wenn sie auf die Lauterkeit des deutschen Richters in Geld- 
sachen hinweisen. Vorwürfe dieser Art hat niemand erhoben. Man kann nicht 
einmal sagen, daß die Urteile, die als Klassenjustiz empfunden werden, vorwiegend 
auf Sympathie mit den reicheren Klassen als solchen beruhten. Nach meiner Er- 
fahrung kommt in solchen Urteilen vielmehr zur Geltung, daß in den gesellschaft- 
lichen Kämpfen der Wohlhabende zugloich als die Antoritätsperson, als der Arbeit- 
geber, als der Betriebsleiter oder wenigstens als der sogenannte Gebildete den 
arbeitenden und ungelehrten Volksmitgliedern gegenübersteht Unsere gesamte 
Bürokratie wird trotz ihrem nicht nur fortwährend betonten, sondern häufig wohl 
auch ehrlich empfundenen Mitgefühl mit den wirtschaftlich Schwächeren die Vor- 
stellung nicht los, daß es ihre Aufgabe sei, das Ansehen des Herrschenden vor 
jedem Angriff zu schützen. 

Ganz besonders prägt sich dieses Autoritätsgefühl natürlich da aus, wo es sich 
um Konflikte zwischen Mitgliedern des Beamtenkörpers und Bürgern handelt Hier 
empfindet der beamtete Richter häufig genug jede Kritik peinlich, als eine Er- 
schütterung der Gesellschaft selbst, auch wenn sie sich gegen noch so fragwürdige 
Einrichtungen oder gegen sehr unwürdige Träger der Autorität wendet 

Bei den unausbleiblichen Verschiebungen, die die gesellschaftlichen Einrich- 
tungen und ihre Bewertung in der öffentlichen Meinung im Laufe der Zeit er- 
fahren, wird die Bürokratie naturgemäß geneigt sein, auf Seiten des Beharrenden 
zu stehen und das Werdende mit Mißtrauen anschauen. 

Laienrichter pflegen, selbst wenn sie den herrschenden Klassen angehören, in 
diesen Beziehungen freier zu denken, weil sie das Leben unter wesentlich andern 
Gesichtspunkten kennen als der Beamte.« 

Leider verabsäumt aber Heine, die Klassenjustiz durch die 
Sozialdemokratie in gleichem Maße zu kennzeichnen. Sie richtet 
noch mehr Unheil an und ist mit noch stärkeren Vorurteilen gegen 
die bürgerliche Gesellschaft behaftet. — 

Wie wir vorhin schon sagten, haben wir es nicht bloß mit Klassen- 
justiz in unserm öffentlichen Leben zu tun, sondern mit Klassen- 
und Berufsvorurteilen allerlei Art Und es ist wohl schon mancher 
ernst denkende Leser bei solcher Gelegenheit erinnert worden an das 
Lessingsche Epigramm vom »bürgerlichen und adeligen Rat« 1 ), nur 

') Adeliger Rat: Mein Vater, der war Reichsbaron, und Ihrer? 

Bürgerlicher Rat: Der war so gemein, daß, sicher, wären Sie sein Sohn, 

Sie hüteten die Schwein. 



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74 A. Abhandlungen. 



daß heute das Bürgerliche und das Adelige nicht allein die Gegen- 
sätze bilden, sondern der sogenannte berufs wissenschaftliche Standes- 
dünkel eine erheblich größere Rolle spielt und ein Wesentliches dazu 
beiträgt daß der bedauerliche und bedenkliche Riß in unserra mächtig 
aufstrebenden Volke nicht bloß auf dem Gebiete des kirchlich Kon- 
fessionellen, des rein wirtschaftlichen Erwerbslebens und der Politik 
liegt, sondern noch tiefer und bedenklicher ist und es immer mehr 
wird auf dem ganzen Gebiete des Kulturlebens. 

Diese Kluft wird nur überbrückt durch die psychologische Ver- 
senkung in das nicht zur eigenen Berufsklasse gehörende Laientum 
mit seinen gemütlichen, geistigen und wirtschaftlichen Befähigungen. 

Nirgend aber ist das so notwendig, als beim Studium und der 
erziehlichen Behandlung der Jugend. Politisches wie konfessio- 
nelles Partei unwesen, das die Andersgläubigen nicht verstehen kann 
und will, und Gelehrtenhochmut, der die »Laien« -Seele nicht zu 
werten vermag, sofern er nicht noch obendrein im »Kampf um den 
Futterplatz« sieb geltend macht, benachteiligen aufs schwerste auch 
die Entwicklung des Ethos unserer Jugend und damit unseres deut- 
schen Volkes. 

Die Strafrechtsreform bat eine gesunde Reaktion dagegen in Fluß 
gebracht. Hoffen wir, daß sie sich auch auf den übrigen Gebieten 
geltend mache, denn unendlich wichtiger als die verbreche- 
rische Jugend ist uns die körperliche, geistige, sittliche 
und wirtschaftliche Gesunderhaltung der übrigen Kinder 
und Jugendlichen. 



2. Das Schlittenfahren in der Erziehung schwach- 
veranlagter Kinder. 

Von Fr. Rössel, Hamburg. 
In der Erziehung schwachveranlagter Kinder sind alle Veranstaltungen, 
die einen günstigen Einfluß auf die psychische und physische Enwicklung 
versprechen, willkommen. Will man einen wirklichen Einfluß auf diese 
Kinder gewinnen, so muß die ganze Erziehungsarbeit auf eine recht breite 
Grundlage gestellt werden, d. h. das ganze Leben der Kinder muß unter 
dem Einfluß des Heilpädagogen im Lichte der Erziehung aufgefaßt und 
dementsprechend verwertet werden. Jede Beeinflussung, die sich nur auf 
einige Stunden am Tage erstreckt, ist ein halbes Ding. Es müssen auch 
über die Schulzeit hinaus Wege gesucht und gefunden werden, auf denen 
das Kind seine schwachen Kiäfte entfalten und Üben kann. Es will so- 
gar scheinen, als ob die Veranstaltungen außerhalb der eigentlichen Schul- 
arbeit, zweckm&ßig geleitete Spiele, Arbeiten aller Art, Ausflüge, bei vielen 
schwachsinnigen Kindern die größte Aussicht auf Erfolg für die Entwick- 



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i 



Rossel: Da» Schlittenfahren in der Erziohang schwachveranlagter Kinder. 



75 



lung haben. Nicht durch das Drücken von Schulbänken werden die Kinder 
zu einigermaßen brauchbaren Menschen erzogen, sondern durch Anleitung 
zu selbständigem Handeln. Als eine günstige Gelegenheit zu selbständigem 
Handeln ist das Schlittenfahren anzusehen, und mehrjährige Beobachtungen 
haben folgendes gezeigt. 

Schon die Bedingung zum Schlittenfahren, der Schnee, hat einen ganz 
besonderen Zauber für die Kinder. Wenn die ersten Flocken fallen und 
alles umher, was sie eben noch in den verschiedensten Farben sahen, nach 
und nach von einer weißen Decke eingehüllt wird, so ist dies ein Natur- 
ereignis, welches auch auf recht schwache Kinder einen Eindruck maoht 
Noch wirksamer ist der Eindruck, wenn der Schnee in der Nacht fällt, 
und die Kinder am Morgen die weiße Landschaft vor sich sehen. Ein 
Gang nach dem ersten Schneefall durch Wald und Feld ist einer von den 
seltenen Spaziergängen, wo auch bei ihnen Interesse, Aufmerksamkeit und 
Staunen nicht schwinden. Und wenn erst die Schlitten vom Boden ge- 
holt werden, dann kennt der Jubel fast keine Grenzen. 

Die einen schreien und johlen, die anderen lächeln still vor sich hin, 
wieder andere zappeln und tanzen umher; jeder verleiht seiner Freude 
einen entsprechenden Ausdruck. Da sieht man die im Unterrichte so oft 
schmerzlich vermißten glänzenden Augen, die Spannung im Gesichtsaus- 
druck, zugreifende Hände und noch manches andere mehr, das man vielen 
Kindern als ständige Attribute wünscht. 

Aber das Schlittenfahren ist nicht so leicht, es muß erst gelernt 
werden. Da will eben einer abfahren. Er setzt sich wie andere Kinder 
auf den Schlitten. Anfangs geht die Sache ganz gut, denn die Fahrt ist 
noch langsam. Jetzt kommt er mehr in Schwung, der Schlitten weicht 
von der Bahn ab und fährt gegen die Randmauer. Er kippt um, und 
der Knabe liegt im Schnee. 

Wie kommt es, daß andere glatt hinabfahren, ioh aber nicht? Wie 
machen es die andern? Wenn der Schlitten sich nach links wendet, 
kratzen sie mit dem rechten Bein. Neue Fahrt Wieder fährt der Schlitten 
nach links. Diesmal bremst der Knabe mit dem rechten Bein. Er fährt 
zwar noch in den Schnee, aber er kippt nicht um. Einige weitere Ver- 
suche, und die Schwierigkeit ist überwunden. Auf dieselbe Weise wird 
dem Rechtsfahren des Schlittens begegnet Es muß dann mit dem linken 
Bein gebremst werden. 

Es wird sich naturgemäß die Erlangung dieser Fertigkeiten je nach 
der Intelligenz und Geschicklichkeit auf kürzere oder längere Zeit er- 
strecken. Die Überlegungen werden auch nicht immer bewußt auftreten, 
sondern es wird oft ein Ausprobieren sein, bis das Zweckmäßige erkannt 
ist, manche werden es auch gar nicht allein lernen, sondern Anleitung 
von einem Erwachsenen brauchen. 

Sehr wichtig ist das Abschätzen des Raumes beim Ausweichen 
and Anhalten vor unvorhergesehenen Hindernissen. Fast immer werden 
die Kinder im Anfange die Strecke, die zum Ausweichen nötig ist viel 
zu kurz abschätzen. Erst im letzten Augenblicke, gerade wenn sie vor 
dem Hindernisse stehen, wollen sie bremsen oder zur Seite fahren. Dann 



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7<> 



A. Abhandlungen. 



erfolgt natürlich der unvermeidliche Zusammenstoß. Das Abmessen einer 
Strecke erfordert ziemlich komplizierte psychische Tätigkeiten. Vor allem 
müssen räumliche Vorstellungen vorhanden sein. Diese fehlen jedoch in 
vielen Fällen. Immerhin kommen doch die meisten Kinder soweit, durch 
die beständigen Wiederholungen das richtige Ausweichen zu lernen. Manche 
Kinder verfallen in einen anderen Fehler, sie biegen viel zu früh aus. 
Wenn jemand am Ende der Bahn steht, fangen sie schon ganz oben an, 
zu bremsen und »Bahne oder »aus« zu rufen. Aber auch dies verliert 
sich nach und nach, und nur tiefstehende Kinder lernen die zum Aus- 
weichen richtige Abschätzung nicht. 

Die Tatsache, daß die meisten Kinder, imbezille und debile, durch, 
die vielen Wiederholungen der Fahrten erfahrungsgemäß die richtige Ab- 
schätzung von Strecken lernten, legte den Versuch nahe, die gewonnenen 
Vorstellungen auch unterrichtlich zu verwerten, in der Weise, daß zu- 
nächst die Beziehungsvorstellungen: fern, nah, näher, weit, weiter, kurz, 
kürzer, lang, länger usw. durch zahlreiche Übungen und Abschätzungen 
aller Art mit richtigem Inhalt versehen werden sollten, um dann zum ob- 
jektiven Messen mit dem Metermaß überzugehen. Jedoch versagten die 
Anknüpfungspunkte in den meisten Fällen, da einmal die Zahlvorstellungen 
nicht ausreichten und zum andern die zu diesen Betrachtungen erforder- 
lichen Abstraktionen selbst durch die häufig vorhergegangenen Handlungen 
nicht erzeugt worden waren. Es zeigte sich deutlich, daß die Kinder, 
die dem Unterrichte folgen konnten, fernerhin wesentliche Fortschritte auf- 
wiesen, während die anderen an den Beziehungsbegriffen scheiterten und 
auch auf diese Weise nicht auf die Wege zu höheren psychischen Tätig- 
keiten geleitet werden konnten. 

Wohl aber wurden auf anderen Gebieten Einflüsse bemerkbar. Das 
Ausweichen und das Anhalten vor Gefallenen oder anderen Hinder- 
nissen sind Situationen zu augenblicklichem Handeln. Die Asso- 
ziationen müssen rasch vor sich gehen, und Entschlüsse und Urteile müssen 
sofort in die Tat umgesetzt werden. 

Der Einfluß auf Kinder mit verlangsamter Ideenassoziation liegt auf 
der Hand. Anfangs fehlt es nicht an Unglücksfällen, aber die Erinne- 
rungen an Zusammenstößen, Umkippen und den kalten Schnee führen 
nach und nach eine Beschleunigung der Assoziationen herbei, so daß die 
Handlungen zur rechten Zeit stattfinden. Die ständige Wiederholung dieser 
raschen Gedankenverbindungen greift auch auf andere Gebiete über und 
gibt dem ganzen Wesen größere Lebendigkeit und Frische. Es konnte 
immer wieder beobachtet werden, daß diese Gruppe von Kindern im Winter 
den günstigsten Zustand darbot. 

Andererseits müssen Kinder mit Neigung zur Ideenflucht ihre 
Gedanken in Zucht nehmen. Das Ziel darf nicht außer acht gelassen 
werden. Die Aufmerksamkeit muß ständig wach bleiben. Vor der Fahrt 
wird eine Zielvorstellung geweckt, und die Kinder haben sie gewissermaßen 
im Auge und in der Hand. Diese Zielvorstellung, der eine sehr lebhafte 
Gefühlsbetonung zukommt, weckt eine Reihe von anderen dazu gehörigen 
Vorstellungskomplexen, so daß die Haftbarkeit der Aufmerksamkeit, die 



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Rössel: Das Schlittenfahren in der Erziehung schwachveranlagter Kinder. 77 



sonst so sehr herabgesetzt ist, erhöht -wird. Ihren ideenfluchtigen Nei- 
gungen wird eine kräftige Hemmung entgegengestellt, und es ist ein- 
leuchtend, daß nur auf solchen Wegen auch mit der Zeit mehr oder 
weniger eine Erstarknng der Aufmerksamkeit auf unterrichtlichen Gebieten 
zu erreichen ist. 

Mit Hemmungen behaftete und sauertöpfische Kinder werden 
nach glatten Fahrten munter und bekommen einen fröhlicheren und freudi- 
geren Gesichtsausdruck. Dasselbe gilt für Ängstliche und schüchterne 
Kinder. Diese können in ungezwungener Weise zu Mut, Entschlossenheit 
und Selbstvertrauen erzogen werden. Man wird solchen Kindern zunächst 
eine kürzere Bahn, wenn es möglich ist, zuweisen, oder sie einem sicher 
fahrenden Kinde oder Erwachsenen mitgeben, daß Freude an der Fahrt 
erzeugt wird. Mißlingt eine Fahrt, so spornt ein freundlicher Zuruf oder 
Scherz seitens des Lehrers weiter an. Mehrere gelungene Fahrten ver- 
stärken die Lustgefühle und führen eine günstige Stimmungslage herbei. 
Dazu kommt der Einfluß des ganzen Milieus. Überall Heiterkeit, Freude, 
Jubel, Jauchzen und Sonnenschein. Das hilft Aber Hemmungen hinweg, 
macht Sauertöpfische und Mißmutige fröhlich, reißt Ängstliche und 
Schüchterne mit fort. Das Selbstvertrauen wächst, der Glaube an das 
Können wird stark, die Kinder gehen aus ihrem passiven Verhalten her- 
aus und kommen zum Handeln. 

Auch Kinder, die gern vor sich hinträumen, über jeden Stein stolpern, 
die der Umwelt wenig Aufmerksamkeit schenken, kommen beim Schlitten- 
fahren auf ihre Rechnung. Träumen sie auf der Bahn, so wird bald ein 
anderer sie an- oder umfahren, und ein Fall in den kalten Schnee und 
der Schmerz hinterlassen bald einen solchen Eindruck, daß sie fernerhin 
aufpassen, um unangenehmen Karambolagen zu entgehen. Außerdem 
helfen auch die Mitfahrenden wirksam, die Aufmerksamkeit des Träumen- 
den zu konzentrieren. 

Noch ein wichtiges Moment verdient hervorgehoben zu werden. Beim 
Schlittenfahren müssen sich die Kinder einer bestimmten Ordnung 
fügen. Sie können nicht denselben Weg hinaufgehen, den sie eben ab- 
wärts gefahren sind. Es muß ein Seitenweg eingeschlagen werden. Beim 
Abfahren heißt es, einer nach dem anderen, wer zuletzt gekommen ist, 
muß auch zuletzt fahren. Vordrängen gibt es nicht Will sich einer 
nicht fügen, so sind die anderen rasch dabei, ihn zur Ordnung zu bringen. 
Der Schnee bietet ein vorzügliches Mittel dazu. Diese unscheinbaren 
Dinge sind in ihrer Gesamtheit bei Schwachbegabten Kindern sehr wichtig. 
Sie müssen sich der Fahrtordnung fügen, sie müssen sich der Allgemein- 
heit unterordnen, sie müssen den Egoismus, der gerade bei diesen Kindern 
so oft auffällig hervortritt, unterdrücken, sie lernen, daß ihre Person nur 
ein Teil der Gesamtheit ist, und erfahren, daß nichts gedeiht, wenn nicht 
Ordnung besteht. Die Schlittenfahrenden bilden gewissermaßen einen Or- 
ganismus, und es ist hier in der Tat eine günstige Gelegenheit gegeben, 
grundlegende soziale Begriffe zu übermitteln. Gewiß, auch in der Schule, 
bei Spielen und auf Spaziergängen muß Ordnung herrschen, aber es macht 
sich doch meistens mehr oder weniger ein äußerer Zwang seitens der Er- 



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78 B. Mitteilunpeu. 



ziehenden geltend, beim Schlittenfahren hingegen tritt jedes einzelne Kind 
als selbständig handelndes Glied eines Ganzen auf. — 

Vor allem bringt natürlich der Aufenthalt in staubfreier, frischer 
Winterluft und die ständige Bewegung eine Kräftigung des Körpers und 
des Geistes. Die Kinder arbeiten sich aus, schlafen gut, entwickeln einen 
reichen Appetit, sind frischer und aufnahmefähiger. Die Aufmerksamkeit 
wird erhöht, und die lustbetonte Stimmung bildet eine gute Grundlage für 
den Unterricht Ferner werden eine Menge von Vorstellungen gekräftigt 
und neu gebildet, mancherlei Beziehungen und kausale Verknüpfungen 
werden hergestellt, Erlebnisse finden statt, so daß wichtige Bausteine für 
eine gedeihliche psychische Entwicklung gewonnen werden. Fast für 
alle Unterrichtsfächer fällt etwas ab. Immer war für den Unterricht, der 
sich auf diese Vorstellungskomplexe stützte, Interesse da, weil sich mit 
ihnen Lustgefühle assoziiert hatten, und Interesse wecken ist auch bei 
schwachsinnigen Kindern eine Hauptaufgabe. — 

Der Wert des Schlittenfahrens für schwachveranlagte Kinder liegt haupt- 
sächlich in den vielen Gelegenheiten zum Handeln. Jede Fahrt stellt eine 
selbständige Betätigung dar. Die Kinder müssen selbst urteilen, Ent- 
schlüsse fassen und diese in die Tat umsetzen. Es kann von den er- 
ziehenden Personen nur Auleitung gegeben werden, im übrigen sind die 
Kinder auf sich selbst angewiesen. Die verschiedensten Fehler der Kinder 
können auf der Schlittenbahn unter richtiger Führung wirksam bekämpft 
werden. Psychische und physische Tätigkeiten werden gefördert und 
ausgebildet. Eigene Handlungen stehen im Mittelpunkt, und alles, 
was sioh um Handlungen gruppiert, hat die größte Aussicht, wirksam in 
die Entwicklung einzugreifen. 

Diese Gründe genügen, um das Schlittenfahren als ein vortreffliches 
Erziehungsmittel bei Schwachbegabten Kindern anzusehen, auch bei aus- 
gesprochen schwachsinnigen. 



B. Mitteilungen. 

1. Der sittliche Wert der kindlichen Vorstellungstypen. 

Aus Holland geht uns ein Schreiben zu, das eine Antwort erbittet 
auf eine Reihe klar und deutlich gestellter Fragen. Wir halten sie für 
so wichtig, daß wir an Stelle unserer Antwort sie zunächst den Lesern 
dieser Zeitschrift unterbreiten mit der Aufforderung, sich alle an ihrer 
Beantwortung zu beteiligen. 

1. Welchen sittlichen Wert können die einzelnen Vorstellungstypen be- 
sonders im negativen Sinne erlangen, wenn man die Ergebnisse der 
wissenschaftlichen Untersuchungen der kindlichen Vorstellungswelt 
berücksichtigt? 

2. Wie und wann können auch pädagogisch richtige Mittel unsittlich 
auf die Vorstellungen einwirken? 



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2. Die Willenskräfte des Menschen. 



79 



3. Können Strafen und Belohnungen auf die Vorstellungen der Kinder 
gleichfalls unsittlich "wirken? 

4. Behaupten sich die unsittlichen jugendlichen Vorstellungstypen, be- 
sonders die erotischen, bis in das späte Alter, wie das oft gesagt wird? 

5. Was ist über eine angeborene und erworbene Veranlagung zu un- 
sittlichen Vorstellungen zu sagen? 

6. Inwiefern kann auch das Tastgefühl für die unsittlichen Vorstellungen 
in Betracht kommen? 

7. Welche Rolle spielt bei allen diesen Fragen die Psychopathologie? 

Einzelne der vorstehenden Fragen sind in unserer Zeitschrift sowohl 
wie in unsern Beiträgen behandelt worden, wenn auch nicht in ausführ- 
licher Weise, so doch oft bei der Erörterung ähnlicher Fragen. Wir weisen 
an dieser Stelle hin auf Ufers Aufsätze über »Die sittliche Entwicklung 
des Kindesc (Jg. V, S. 77) und »Professor Cesare Lombroso und Sanitäts- 
rat Dr. Baer über die moralische Natur des Kindes« (Jg. I, S. 74), auf 
die Erörterungen über die Prügelstrafe von Hafen (Jg. XIV, S. 25), 
Feuchtwanger (Jg. XIV, S. 28), von Kügelgen (Jg. XIV, S. 125), ferner 
auf unsere Beitragshefte 1, 5, 7, 27, 44, 49, die den einer, oder andern 
Punkt der oben gestellten Fragen berühren. Jede Antwort — auch solche 
auf nur eine Frage — ist uns willkommen. Die Antworten sollen, soweit 
das möglich ist, in unserer Zeitschrift mitgeteilt werden. Wir bitten 
nochmals alle Leser um ihre Unterstützung. 



2. Die Willenskräfte des Menschen. 1 ) 

Von Rosa Oppenheim. 

Jeder von uns weiß, daß wir uns an einem Tage lebendiger fühlen 
als an einem andern; und jeder weiß auch aus eigener Erfahrung, daß 
noch schlummernde Kräfte in ihm sind, die bei den Anforderungen des 
gewöhnlichen Lebens nicht zutage treten, die er aber entfalten könnte, 
falls größere Ansprüche an ihn herantreten. Mit dem verglichen, was 
wir sein sollten, sind wir nur halbwach; wir benutzen nur einen kleinen 
Teil aller unserer geistigen und körperlichen Hilfsmittel. 

Die wissenschaftliche Psychologie kann teilweise erklären, warum 
wir nicht mit unserer ganzen Lebenskraft arbeiten. Das ist eine Folge 
der Hemmung, die ein Teil unserer Oedanken auf die andern ausübt. 
Das Gewissen macht uns alle zu Feiglingen. Gesellschaftliche Sitten 
hindern uns daran, die Wahrheit nach Art der Helden und Heldinnen 
von Bernhard Shaw zu sagen. Unser wissenschaftliches Ansehen hält 
uns davon zurück, die mystischen Triebe unserer Natur frei ausleben zu 
lassen. Ja, bei manchen Menschen geht das soweit, daß es ganz unmög- 
lich ist, Themen, die nicht in ihren einseitigen Gesichtskreis passen, vor 
ihnen zu erörtern. 



') Nach einem Vortrage über »The energies of men«, von dem jüngst ver- 
storbenen amerikanischen Psychologen Prof. William James gehalten in der 
American Pbilosophical Association at Columbia Univcrsity. (Phil. Review. Janr. 1907.) 



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80 



B. Mitteilungen. 



Nur in wenigen von uns unterdrückt der Gebrauch der einen Funk- 
tionen nicht den der anderen. G. T. Fechner ist eine solche Ausnahme, die 
die Regel bestätigt: bei ihm kommen alle Kräfte ins Spiel, er konnte zugleich 
seine wissenschaftlichen wie seine mystischen Fähigkeiten gebrauchen, er 
war zugleich sehr kritisch wie fromm. Das bringen, wie mir scheint, 
nur wenige Gelehrte fertig, die meisten können mit »Gott« in keiner 
lebendigen Beziehung bleiben. So liegen in uns allen Kräfte, die vom 
Gebrauch ausgeschaltet sind. 

Daß wir indessen ein wirkliches »Reservoire von Kräften haben, 
zeigen uns außergewöhnliche Gelegenheiten. In der Regel hören wir mit 
unserer Arbeit auf, sobald wir die erste Ermüdung spüreo. Wir haben 
dann »genüge gespielt oder gearbeitet und brechen ab. Durch diese Er- 
müdung wird unser gewöhnliches Leben beherrscht. Zwingt uns aber eine 
ungewöhnliche Notwendigkeit, weiter zu arbeiten, so machen wir eine 
überraschende Erfahrung. Die Müdigkeit nimmt bis zu einem gewissen 
kritischen Punkt zu, dann aber geht sie allmählich oder plötzlich vor- 
über, und wir fühlen uns frischer als vorher. Wir haben augenscheinlich 
ein neues Kraftniveau erreicht, das gewöhnlich hinter dem Hindernis — 
der Ermüdung, der wir nachzugeben pflegen — verborgen bleibt Diese 
Erfahrung kann man wieder und wieder machen, auch noch ein drittes 
und viertes Kraftniveau berühren. Diese Erscheinung zeigt die geistige 
Tätigkeit ebenso wie die körperliche, und in Ausnahmefallen können 
wir einen Höhepunkt von Leichtigkeit und Kraft erreichen, von dem wir 
uns nie träumen ließen, und Kraftquellen benützen, die sonst nie 
angegriffen wurden, weil die ersten Hindernisse niemals überwunden 
wurden. 

Durch Gefühlserregungen, V orstellungen und Anstrengungen 
überwinden wir diese Schranken. Wir lassen uns aus Gewohnheit schon 
durch ganze leichte Grade von Ermüdung hemmen, viele von uns lernen 
indessen die Grenze ihrer Kraft weiter hinauszuschieben und leben sehr 
behaglich auf einem viel höheren Kraftniveau. Das Leben der Stadt- und 
Landbewohner illustriert diesen Unterschied. Das lebhafte Leben und 
Treiben der Großstadt und die vielen Dinge, an die beschäftigte Männer 
und Frauen dabei zu denken haben, scheinen einem Bruder vom Lande 
ungeheuerlich. Er kann nicht sehen, wie man dabei überhaupt leben 
kann. Aber sobald er selbst ein biß zwei Jahr in einer großen Stadt lebt, 
hat er sich, vorausgesetzt, daß er jung ist, vollständig eingelebt und leistet 
jetzt in einer Woche mehr als vorher in zehn. Die Physiologen zeigen, 
daß man bei ganz verschiedenen Mengen von Nahrung im Gleichgewicht 
bleiben kann, ohne zu- oder abzunehmen. So kann man auch bei erstaun- 
lich verschiedenen Mengen von Aibeit im »Kräfte-Gleichgewicht« bleiben 
(weder Kraft verlierend , noch Kraft gewinnend , nachdem einmal das 
Gleichgewicht erreicht worden ist) gleichviel, ob es sich um physische 
oder geistige Arbeit handelt. Natürlich gibt es Grenzen: Die Bäume 
wachsen nicht in den Himmel. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß 
alle Menschen Vorräte an Kraft besitzen, die nur außergewöhnliche In- 
dividuen in vollem Maße entfalten. 



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2. Die Willenskräfte des Menschen. 



81 



Gefühlserregungen, die unsere Kräfte auslösen, sind: Liebe, Zorn und 
Verzweiflang. Eine neue verantwortungsvolle Stellung wird, falls sie den 
Mann nicht erdrückt, meist zeigen, daß er die auf ihn gesetzten Erwar- 
tungen noch Obertrifft. Wir sind oft Zeugen davon, wie eine hohe poli- 
tische Stellung noch neue Kräfte in solchen Männern erzeugt, die schon 
vorher Tüchtiges leisteten. Die krafterzeugenden Wirkungen der Liebe, 
die aller Hindernisse und Widerstände spotten, sind schon oft geschildert 
worden. 1 ) Aber auch bei großen Gefahren, wie Kriegen 8 ) und Schiffs- 
untergängen, zeigen die Menschen, was für Kräfte in ihnen schlummern. 
Cromwells und Grants Laufbahn zeigen, was der Krieg aus einem 
Mann machen kann. 

Wenn wir jedoch von allen außergewöhnlichen und abnormen Ver- 
anlassungen absehen, so gibt es nur einen Weg, um zu einer größeren 
Entfaltung von Kräften zu gelangen: durch den Willen. Die Schwierig- 
keit besteht nur dariu, eben diese Willenanstrengung auszuführen. Aber 
sobald wir sie einmal vollbringen (oder ein Gott, sei es auch nur Gott 
Zufall, sie durch uns ausführt), so wirkt sie wenigstens für einen Moment 
krafterzeugend. Eine einzige erfolgreiche Anstrengung des sittlichen 
Willens, wäre es auch nur ein »Nein« gegenüber einer gewohnten Ver- 
suchung, oder das Vollbringen einer mutigen Tat kann einen Menschen 
für Wochen auf ein höheres Kraftniveau heben und ihm ganz neues Kraft- 
gefühl geben. 

Da solche Willensakte aber nur immer vereinzelt auftreten, so sind 
kluge Menschenkenner darauf gekommen, systematische Willensübungen zu 
ersinnen, bei denen auch die verborgeneren Kraftquellen immer in Wirk- 
samkeit bleiben. Berühmt ist vor allem die asketische Methode des 
Ignatius Loyola, die zahlreiche Anhänger gefunden hat. Aber noch 
mehr wird das indische Togasystem gerühmt, das, wie unparteiische Be- 
urteiler zugeben, Charakterstärke, Macht der Persönlichkeit und Un- 
erschütterlichkeit der Seele bewirkt. Bei der Unzuverlässigkeit aller in- 
dischen Berichte ist es sehr wertvoll, daß sich ein hochgebildeter Euro- 
päer, ein Freund von James selbst, diesem Yogasystem unterworfen hat 
Er ist in jeder Beziehung sehr begabt, hat aber ein sehr schwaches 
Nervensystem, so daß bei ihm auf drei Wochen lebafter Tätigkeit meist 
eine Woche tiefer Niedergeschlagenheit folgte, die er im Bett zu ver- 
bringen pflegte. Nachdem er von europäischen Spezialisten erfolglos be- 
handelt worden war, versuchte er halb aus Neugier, halb aus Verzweiflung 
des Togasystem. Sein Grundgedanke ist: »Übe tüchtig; ob du lebst oder 
stirbst, ist gleichgültig.« Er fing mit Aushungern an; erst beschränkte 
er sich auf zwei Mahlzeiten am Tage, dann auf eine. Auch die Menge 
der Nahrung wurde vermindert, ohne Rücksioht auf die chemischen Theo- 
rien über die Notwendigkeit des Eiweißes in der Nahrung; manchmal 



*) Jamew führt hier ein neues englisches Buch »The Empire Builder« an, das 
auch die Tatkraft der Liebe zum Gegenstand hat 

*) Man lese nur Gustav Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südweste, 
das zeigt, wie der Krieg die Kräfte im Menschen weckt 

Zeitschrift für Kinderforechung. 16. Jahi*ang. 6 



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82 



B. Mitteilungen. 



lebte er nur von Olivenöl und Brot oder nur von Früchten, manchmal 
von Reis und Milch. Von allem nahm er geringere Mengen zu sich, als 
sonst bei jeder Mahlzeit am Tage. Er fing an, abzunehmen und verlor 
in wenigen Wochen 20 Pfund an Gewioht. Aber das alles konnte ihn 
nicht von seinem Unternehmen abbringen. Daneben übte er Asana, das 
sind Stellungen, bei denen er beinahe seine Arme und Beine brach. So 
mußte er auf dem Boden sitzen und seine Knie küssen, ohne sie zu 
beugen, oder die Hände auf dem gewöhnlich unerreichbaren oberen Teile des 
Rückens verschränken oder die Zehe des rechten Fußes an sein linkes 
Ohr bringen, ohne die Knie zu beugen. Das sind leichte Stellungsvor- 
schriften für einen Yogi. Daneben gingen noch Atemübungen: Atem an- 
halten, in verschiedenen Rhythmen und Stellungen atmen. Konzentration 
der Gedanken auf verschiedene Teile des Körpers und die darin vor- 
gehenden Prozesse, Ausschluß aller Gemütsbewegungen. Als geistige Diät 
diente trockene logische Lektüre und das Ausarbeiten logischer Probleme. 
Nach einigen Wochen brach er zusammen und geriet in einen schlimmeren 
Zustand von Niedergeschlagenheit als je. Sein junger Diener, der sich 
ebenfalls diesen Übungen unterzogen hatte, blieb durch sein Schicksal un- 
erschüttert und übte weiter, und sobald er wieder das Bett verlassen 
konnte, nahm er alle Übungen wieder auf, entschlossen und überzeugt, es 
diesmal durchführen zu können. Er unterzog sioh den schwersten Übungen, 
beschränkte Schlaf und Nahrung — und blieb gesund. Den Zustand, in 
dem er sich dabei befand, schildert er so: »Meine Einsicht wurde durch 
diese Übungen entwickelt, es kam ein bis dahin nie gekanntes Gefühl der 
Sicherheit über die dem Körper und Geist notwendigen Dinge über mich, 
und der Körper lernte gehorchen, wie ein wildes Pferd, das gezähmt 
worden ist. Ebenso fügsam wurde der Geist, und der Verlauf der Ge- 
danken und Gefühle wurde durch meinen Willen bestimmt. Ich meisterte 
Hunger und Schlaf und den Lauf der Gedanken und lernte einen nie ge- 
kannten Frieden kennen. Eine ruhige Gewißheit zweifellosen Erfolges bei 
jedem Unternehmen verlieh mir große und wirkliche Kraft.« Er meint, 
daß Wiederholung, Veränderung, Periodizität u. a. höchst wichtige Gesetze 
dabei sind. »Ich bin sicher«, fährt er fort, »daß jeder, der imstande ist, 
seinen Willen und sein Denken au konzentrieren und überflüssige Gefühle 
auszuschalten, früher oder später Herr seines Körpers wird und jede Art 
von Krankheit überwinden kann. Diese Wahrheit liegt allen Seelenkureo 
zugrunde. Unsere Gedanken haben eine gestaltende Macht über den Körper.« 

Hier sehen wir, daß sich das Yogasystem mit unserer »suggestiven 
Heilmethode« berührt Wir können diese ganzen Übungen als ein Experi- 
ment in methodischer Autosuggestion ansehen. Da wir nicht imstande 
sind, gleich die schwierigsten Dinge zu vollbringen, so müssen wir uus 
Treppen bauen, die zu ihnen hinaufführen. Außer Gemütserregungen und 
Anstrengungen können auch Vorstellungen unsere aufgespeicherten 
Kräfte frei machen. Es gibt Vorstellungen, welche großen Einfluß auf 



') Als Nebenprodukt dieses Experimentes schrieb er ein Handbuch der Logik, 
das im März 1906 erschienen ist. 



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3. Worin sind die Unterschiede im Farbenbenennungsvermögen des Kindes. 83 



das Leben des Einzelnen haben können; »Vaterland«, »Wahrheit«, »Wissen- 
schaft«, »Freiheit«, für Garibaldi das Motto »Rom oder der Tod« sind 
Bolche kraftaus lösende abstrakte Vorstellungen. Diese Schlagworte ver- 
danken ihrer sozialen Natur einen wesentlichen Teil ihrer Wirkungs- 
kraft. Diese ist unübertroffen, aber immer nur auf gewisse Gruppen von 
Mensohen beschränkt Versprechen und Gelübde jeder Art haben auch 
eine sehr kräftigende Wirkung. Starken Naturen genügt es, sich selbst 
das Ehrenwort zu geben, in diesem Falle nur so und nicht anders zu 
handeln, um ihren Willen zu zwingen. 

Durch Bekehrungen, seien sie politischer, wissenschaftlicher, philo- 
sophischer oder religiöser Natur, wurden auch viele eingedämmte Kräfte 
frei. Die neue Idee macht meist einem vorherigen inneren Zwiespalt ein 
Ende und vereinigt alle Kräfte. 



3. Worin sind die Unterschiede im Farbenbenennungs- 
vennögen des Kindes begründet? 

Wie schon an anderer Stelle von Dr. War bürg 1 ) berichtet wurde, 
zeigen sich im Farbenbenennungsvermögen d. h. in den > Assoziationen 
zwischen der Empfindung der Farbe und dem Farbennamen« einige Unter- 
schiede, deren Gründe »in der Möglichkeit einer Farbenuntüchtigkeit, in 
der Geschlechtsart, in der Art der Umgebung und der bisherigen Erziehung 
des Kindes« zu suchen sind. Doch sind es diese Einflüsse nicht allein, 
denen das Vermögen der Bezeichnung von Farben beim Kinde auegesetzt 
ist. Diese anderen Einwirkungen aufzudecken, will nachstehende Aus- 
führung versuchen. 

In meinen Klassen einer Landschule bei 6 — 8 jährigen Kindern habe 
ich bezüglich der Intelligenzprüfung mit Hilfe des Farbenbenennungs- 
vennögens einige Versuche angestellt. Die Ergebnisse dieser Prüfung 
gründen sich auf eigens zu diesem Zwecke angestellte Experimente, auf 
besondere Beachtung von Farbenbezeiohnungen beim Unterrichte und speziell 
beim Anschauungsunterricht, sowie auf gelegentliche Äußerungen der Kinder 
über Farben. 

Bei den Experimenten mußte ich mir zunächst Klarheit darüber ver- 
schaffen, ob die Kinder die Farbennamen kannten, sie also schon gehört 
hatten. Und siehe da! Die allermeisten Namen waren der überwiegenden 
Mehrheit der Schüler unbekannt. Wie nun aus einem Nest Eier holen, in 
das keine gelegt sind! Die Aufmerksamkeit galt also nun dem Einlernen 
der Namen, natürlicherweise immer in Verbindung mit dem Zeigen der 
betreffenden Farbe. Bei der genannten Arbeit stieß ich auf die Schwierig- 
keit, daß die Kinder sich Mühe geben mußten, daß einige es erst nach 
vielem Wiederholen fertig brachten, die Namen auszusprechen. Die Ur- 
sache für diese Erscheinung kann in schlechtem Hören, also im unreinen 
Auflassen des Wortes, nicht Schwerhörigkeit etwa, begründet sein, sie kann 



') Diese Zeitschrift, Jg. XV, 11, 8. 338-341. 

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84 



B. Mitteilungen. 



aber auch in der Schwierigkeit des Aussprechens der Wörter liegen. Die 
Spraohorgane stehen dem Kinde eben nicht zu unbeschränkter Verfügung, 
oder anders gesagt, das Kind vermag das Wort nicht so hervorzubringen, 
wie es vielleicht es tun mochte. Oder es kann sohlechtes Hören und 
Sprechen zusammentreffen. 

Hier könnte der Einwand erhoben werden, daß, wenn das Kind den 
Farben naraen auch nicht vollkommen richtig höre und ausspräche, man 
doch wissen könne, was es meiue. Ja, gewiß! Aber das Kind zieht es 
oft vor, eine leichte, bequem auszusprechende Farbenbezeiohnung zu wählen, 
selbst auf die Gefahr hin einen falschen Namen gebraucht zu haben. 
Zweitens: Das Lernen und Behalten wird kaum durch das mangelhafte 
Hören und Aussprechen eine Förderung erfahren. 

Worin liegt nun das Mangelhafte des Hörens und Aussprechens be- 
gründet? 

Den eigentlichen Grund für das fehlerhafte Auffassen und Vonsich- 
geben bildet wohl ein Fehler oder irgend ein anderer Maugel in den Hör- 
und Sprichorganen. Ist diese Ursache mehr subjektiver Art, so iBt die 
zweite mehr objektiver aufzufassen. Sie liegt in dem Objekt, dem in Frage 
Btehenden Gegenstande verankert. Ete sind dies die Lautzusammen- 
Setzungen. Es ist eine bekannte Tatsache, die von jedem Lehrer, der 
den Schreib - Leseunterricht erteilt, beglaubigt werden kann, daß das Zu- 
sammenziehen zweier Mitlaute wie g und r in »grün« — »graue — b 
und r in »braun« — b und 1 in »blau« — den Kindern oft große 
Schwierigkeiten bereitet. Nun könnte der Einwand erhoben werden, die 
Bezeichnung »schwarz« müßte den Schülern erst recht schwer fallen aus- 
zusprechen, da hier ja eine Konsonantenhäufung stattfindet. Gewiß! Aber 
das führt uns zum nächsten Punkt 

»Weiße und »schwarz« ! Welche anderen Farben beherrschen den 
Geist des Kindes mehr als diese beiden? Ja, in ihnen kommt dei ganze 
Inhalt ihres Farbenlebens zum Ausdruck. Was eben für das Kind nicht 
weiß ist, das ist schwarz, oder umgekehrt Dafür folgende Beispiele. Ich 
zeigte den Kindern einen blauen Lappen. Das Kind bezeichnete die Farbe 
des Lappens mit schwarz. Auf meinen Einwand hin und den Hinweis 
auf die schwarze Farbe sagte der Schüler: »weiß«. En anderer Versuch. 
Ich zeichnete auf einem Bogen weißen Papiers mehrere Rechtecke, die 
folgendes Aussehen hatten. Das erste Rechteck war mit »tiefschwarz« 
ausgefüllt jedes folgende etwas heller bis rein »weiß«. Ich verlangte nun 
von den Kindern, sie sollten mir zeigen, welches Feld »schwarz« und 
welches »weiß« war. Prompt wiesen sie auf das »tiefschwarze« und 
»weiße« Band. Auf meine weitere Frage, wie denn die anderen aussähen, 
stutzen beinahe sämtliche Kinder. Woher kommt nun diese Erscheinung? 
Ich nehme folgende Erklärung an. 

Erstens: Das Kind bezeichnet eben mit »schwarz« alles »Dunkle« 
und mit »weiß« alles »Helle«. Die Grenze, an der »schwarz« und »weiß« 
sich trennen, wird bei jedem Kinde und vielleicht bei jeder Gelegenheit 
verschieden sein. 

Zweitens: Das Kind hat das Wort »schwarz,« und auch »weiß«, un- 



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4. m. internationaler Kongreß für häusliche Erziehung. 35 



zählige Male aussprechen hören und auch selbst ausgesprochen, so daß die 
Wortaussprache dem Kinde weiter nicht schwer fällt. 

Drittens: »Blaut, »graue, »grüne, »braune beginnen mit einem dauer- 
losen Mitlaut. Am Anfange von »schwarz« stehen dauernde Konso- 
nanten. Es ist bekannt, daß diese letzte Art von Lautzusammenziehungen 
den Schülern nicht so schwer fallen. 

Viertens: »Weiß« und »schwarz«. Der Unterschied zwischen beiden 
Farben ist für das Kind großer als bei irgend zwei anderen Farben. Und 
die Kontrastwirkimg trägt wohl wesentlich dazu bei, den Kindern das 
Wortklangbild einznpiägen. 

Eine andere Schwierigkeit für das Farbenbezeichnen liegt in dem 
Oleichklang der Worte: »grau«, »blau« und »braun«. Eine Verwechselung 
der Farben namen liegt auf der Hand. 

Auch das Gefühlsleben des Kindes spielt beim Farbenbenennen eine 
nicht geringe Rolle. Zu Hause ist Vaters oder Mutters Geburtstag. Oder 
das Kind feiert sein eigenes Wiegenfest Wir wissen, welche Freude in 
den Kinderherzen an solchen Tagen auflodert. Da9 ganze Gefühlsleben 
perät in Aufregung, es ist gereizt und gesteigert: »zum Überlaufen voll«. 
Ein unaussprechliches Lustgefühl beherrscht das Tun des Kindes. Bei- 
nahe jede Tätigkeit des Kindes wird lustbetont Das kleine Mädchen legt 
an diesem Jubeltage sein Feierkleid an, und es ist wohl erklärlich, daß 
sich diese Gefühlsbetonung auch auf die Feiertagsgewänder und selbst auf 
deren Farbe überträgt Sie, die Farbe, wird seine »Lieblingsfarbe«. Dar- 
aus erklärt sich wohl, daß diese Farbe leichter gelernt und behalten wird. 
— Erinnern mochte ich noch an das überaus starke Unlustgefühl beim 
Anblick eines Leichenzuges. So wie das Lustgefühl im »Festtagskleide« 
das Farbenbenennungsvermögen fördert, so auch das entgegengesetzte Un- 
lustgefühl bei Erscheinen des Trauerzuges. 

Nun wissen wir, es gibt Schüler, die Hervorragendes im Gebrauch 
der » Erkennensseele« leisten, deren »Gefühlseele« aber oft recht armselig 
ist, und umgekehrt. Und doch kann bei beiden Arten von Kindern das 
Vermögen, die Farben richtig zu bezeichnen, gleich stark sein. 

Als letzte Bemerkung möchte ich noch hinzufügen, daß das Kind die 
Farbennamen dann besonders leicht lernt und behält, wenn es an dem 
Gegenstände oder überhaupt an Farben ein reges Interesse besitzt. 
Eickfier. Ad. Wachtel, Lehrer. 



4. m. internationaler Kongress für häusliche 

Erziehung. 

(8chluß.) 

Sektion IV: Häusliche Erziehung während des schulpflichtigen Alters. 

An den Verhandlungen dieser Sektion beteiligte sich vor allem der 
katholische Klerus, der es dabin zu bringen wußte, daß ihre Versammlungen 
zum unwürdigsten gehörten, was man erleben kann. 

Die ersten Vorträge behandelten die Kindergartenfrage. In der Debatte 



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B. Mitteilungen. 



bemerkte einer der bekanntesten Brüsseler Schulmanner. der liberale Sluys, 
daß man in wenigen Wochen nicht eine gute Kindergärtnerin werden 
kann. »Wir haben gute Seminarschulen nötige — dieser Ruf trug ihm 
von zahlreichen Seiten Beifallskundgebungen ein. In einer Resolution 
entschied man sich für Vermehrung der Seminarkurse wie der Seminar- 
schulen. 

Fraulein Pelseneer (Gent) hält im Gegensatz zu den klerikalen 
Elementen des Kongresses die Koedukation für eine große Hilfe für die 
Charakterbildung der Mädchen. 

Ein Antrag Fräulein Boreuxs zugunsten des obligatorischen Unter- 
richts unter Einbeziehung des hauswirtschaftlichen Unterrichts für die 
Mädchen wurde abgelehnt. Dagegen sprach sich die Versammlung für 
ärztliche Schulinspektion aus. 

Weitere Vortrüge behandeln die Mädchenpensionate; Internate; Dienst- 
boten und Gouvernanten [Brück (Bochum J wiederholt seinen Bericht ans 
der dritten Sektion fast Wort für Wort; Frau Trimborn (Köln) erstattet 
den ihren in französischer Sprache]; die Bildung der Erzieher und Er- 
zieherinnen; Charakterbildung; ästhetische Erziehung [von dem Abt Lisin 
(Ferneres) sogar im Zusammenhang mit der Landflucht erörtert]; Hand- 
fertigkeitsunterricht. Sie bieten alle wenig neues und beachtenwertes. 

Hüne rege Diskussion entfesselte ein Vortrag Driesens (Petersburg) 
über den Einfluß des Theaters auf die russische Schuljugend. Man nahm 
einen Antrag an, dahin lautend: Die Eltern dürfen ihre Kinder nur in 
Theatervorstellungen führen, die den Anforderungen der Hygiene, Ästhetik 
und Moral genügen. 

Sluys (Brüssel) stellte in der Diskussion einen Antrag zugunsten 
des obligatorischen Unterrichts, der in Belgien immer noch nicht eingeführt 
ist. Der klerikale Advokat Brifaut wollte diesen Antrag mit der Be- 
gründung abweisen, daß damit der Boden der Neutralität verlassen und 
politische Probleme berührt würden. Auoh hätte der belgische Elementar- 
unterricht enorme Fortschritte gemacht, was freilich die Majorität energisch 
bestritt. 1 ) Smelten (Brüssel) bezeichnete diese Frage — und das unseres 



*) Nach amtlicher Statistik sind in Belgien 12°/ 0 der Erwachsenen des Losen* 
und Schreibens völlig unkundig, während nach einer Statistik, auf die sich die 
»Kölnische Volkszeitung« beruft, um den »drohenden Bankrott der französischen 
Laienschule« zu beweisen, 10°/ 0 der franzoschen Rekruten »der elementarsten Kennt- 
nisse teils ganz bar, teils nur in unzureichendem Maße mächtig sind«. Wir fragen: 
wo steht es um die Schule nun besser? Wir wollen aber aus einer sehr lesens- 
werten Arbeit D. von Hansemanns über »Die Freiheit der Wissenschaft« (Die 
Grenzboten, Jg. 69, 1910, Heft 21 und 22) noch das folgende zur Vervollständigung 
nachtragen (S. 397): »In den Jahren 1900—1910 hat in den industriellen Haupt- 
städten Belgiens ein starkes Drittel der Arbeiter gar keinen Schulunterricht ge- 
nossen. Nur 20°/ 0 der schulfähigen Kinder überhaupt besuchen die Schule 6 Jahre 
lang. 80 7 0 gehen nur 6 Monate während dreier Jahre in die Schule. Von 
12280 Rekruten, die sich im Jahre 1905 stellten, konnten 1010 weder lesen noch 
schreiben, 709 konnten lesen, aber nicht schreiben. Auf 1000 Rekruten zählen 



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I 



4. III. internationaler Kongreß für häusliche Erziehung. 



87 



Erachtens mit Recht — als eine Frage des Rechts für das Kind, als eine 
Frage der Humanität. Dem widersprachen die zahlreichen römischen 
Kleriker, die auf alle Befürworter dieses Antrags das »Schimpfwort« 
»Freimaurer« anzuwenden beliebten. Es kam zu stundenlangen Tumult- 
szenen in der dichtgedrängten Menge inner- und außerhalb des Saales, 
die sich kaum beschreiben lassen, — auf einem wissenschaftlichen Kon- 
greß: das klerikale Präsidium legt sein Amt nieder. Ein liberales Präsidium 
tritt an seine Stelle. Zahlreiche Mönche und Geistliohe verschwinden. Mit 
großer Majorität wird folgender Autrag Sluys' angenommen: »In anbetracht 
dessen, daß die gute häusliche Erziehung die Grundlage des sittlichen 
Wohlstandes der Nationen ist, daß sie aber nur möglich ist, wenn Väter und 
Mütter genügend Mittel besitzen, um ihren Kindern die Nahrung, die Kleidung, 
die Wohnung und die hygienische Sorgfalt zuteil werden zu lassen, die 
nötig ist, ihre normale Entwicklung zu sichern, wenn die Zeit ihnen er- 
laubt, sich täglich mit Erziehung und Unterweisung ihrer Kinder zu be- 
schäftigen, und wenn der Unterricht erteilt wird, der nötig ist, mit Sach- 
kenntnis diese Erziehung und Unterweisung zu leiten, spricht der Kon- 
greß den Wunsch aus, es möchten wirksame Maßnahmen sozialer Gesetz- 
gebung getroffen werden: 

1. um jedem Haushalt ein genügendes Familieneinkommen zu sichern; 

2. um die Arbeit der Männer und Frauen derart einzuschränken, daß 
es ihnen möglich ist, ihre Bildung zu vervollständigen und sich mit 
der Erziehung ihrer Kinder zu beschäftigen; 

3. um den Volksschul- und Fortbildungsunterricht bis zum 14. Lebens- 
jahre obligatorisch zu machen und wirksam zu organisieren und bis 
zur Erreichung von 1 und 2 den armen Kindern die Nahrung und 
die Kleidung zu sichern, die unerläßlich ist für einen ersprießlichen 
Besuch der Volksschule; 

4. um die Zulassung der Kinder in Bergwerke, Fabriken, Werkstätten 
usw. bis zum Ablauf des 14. Lebensjahres zu verhindern und die 
Gewerbe-Lehrzeit für die arbeitende Klasse ernsthaft zu organi- 
sieren.« 

Was den katholischen Klerus zu dem heftigsten Widerstand gegen 
die beiden letzten Punkte dieser doch von Humanität und Nächstenliebe 
zeugenden Resolution veranlaßte, kann man wohl nur erkennen oder ahnen, 
wenn man bedenkt, daß das belgische Schulwesen sozusagen vollständig 
in den Händen der römisch-katholischen Geistlichkeit und Klösterbrüder- 
und -schwesterschaften liegt. Um deren übergroße Empfindlichkeit, die 
sich freilich oft genug nur als Intoleranz zu erkennen gibt, nicht allzu 
schwer zu verletzen, wurde am andern Tage Punkt 3 dieses Antrages 
durch folgende Fassung Molitors (Lille) ersetzt: »Wiewohl der Kongreß 



Analphabeten: Deutschland 0,7, Schweden 0,8, Dänemark 2, die Schweiz 20, die 
Niederlande 23, England und Irland 37, Frankreich 46, das ultramontane Belgien 
aber 101. Übertroffen wird Belgien nnr von Italien und Rußland. Das ist das 
Ergebnis eines klerikalen Regiments von nur 25 Jahren unter der Devise Freiheit 
und Paritat« 



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88 



B. Mitteilungen. 



dio gesetzgeberische Autonomie aller auf ihm vertretenen Lander achtet» 
spricht er den Wunsch aus, daß alle Länder alle pädagogischen und 
sozialen Maßnahmen treffen, die notwendig sind, um das Recht des 
Kindes auf Unterricht zu sichern.« Sluys erklärte sich mit dieser 
Fassung, die inhaltlich ja mit seiner These übereinstimmt und nur das 
fürchterliche Wort obligatorisch vermeidet, einverstanden. So wurde 
sie einstimmig angenommen. Wir wollen Über diese Angelegenheit nur 
noch den Ausspruch der »Kölnischen Zeitung« (Nr. 926 vom 26 Aug. 
1910) anführen, der auch unsere Ansicht wiedergibt: »Vor der zivilisierten 
Welt haben sich die belgischen Klerikalen damit allerdings ein schlimmes 
Armutszeugnis ausgestellt« — wir fügen hinzu: und ihre Unfähigkeit 
zu einer streng sachlichen Behandlung pädagogischer Fragen öffentlich dar- 
getan. 

Sektion Vt Häusliche Erziehung nach dem schulpflichtigen Alter. 

Den Verhandlungen wurde nur geringes Interesse entgegengebracht 
Nicht weniger als 16 Referate, von denen aber nur einige vorgetragen wurden, 
beschäftigten sich hauptsächlich mit der Erziehung der Mädchen für den 
Mutterberuf (darunter ein sehr ausführlicher Bericht der Leiterin des Ver- 
bandes katholischer Vereine erwerbstätiger Frauen und Mädchen Deutsch- 
lands, Amalie von Sc halacha-Ehren felds, Berlin), 1 ) 7 weitere mit 
der sozialen Erziehung, andere mit künstlerischer Erziehung, mit Knaben- 
handarbeiten im Hause, mit dem Besuch von Erziehungsheimen, mit Schul- 
reisen, Kinderaustausch usw. 

Endlich nahm diese Sektion nach einem längeren Vortrag de Ribemonts 
(Couvin) eine Resolution an, in der der Wunsch ausgesprochen wird, daß 
sich die europäischen Regierungen zusammenschließen, um möglichst bald 
eine internationale Hilfssprache — das Esperanto — in die Erziehung 
einzuführen. Also auch dafür war Zeit vorhanden! 

Sektion Vit Die Erziehung der anormalen Kinder. 

Neben der ersten Sektion leistete diese wohl die ergiebigste wissen- 
schaftliche Arbeit. Eine Klassifikation der anormalen Kinder suchte 
Decroly (Brüssel) zu geben; doch fand diese keine endgültige Annahme 
durch die Versammelten. — Maes (Gent) verlas in monotoner Weise 
seinen langen, ja schon gedruckt vorliegenden Bericht über die Leistungen 
der »Congregation des freres de la Charit^« in der Erziehung anormaler 
Kinder, in der Belgien keineswegs hinter andern Ländern zurückstehe. 

Sehr interessant war der Vortrag Goddards, der sich auf die reichen 
Erfahrungen aus der von ihm geleiteten Anstalt für geistig schwache 
Kinder in Vineland (New- Jersey) stützte, die zur Zeit in 25 Gebäuden 
400 Pensionäre zählt, die dort »ein sehr glückliches Leben« führen. Dem 
Direktor stehen fünf Assistenten zur Seite. Die Erziehung erfolgt in 



*) Dieselbe spielte z. Z. der Drucklegung eine nicht unbedeutende Rolle in 
dem Streit zwischen der Kölner und Berliner Richtung des Zentrums. 



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4. III. ioternatioBaler Kongreß für häusliche Erziehung. 



89 



erster Linie durch llandfertigkeitsunterricht. Intellektuelle Anstrengungen 
haben wenig Erfolg: auf 248 Kinder, die in Vineland lesen lernen sollten, 
kamen nur 25, die den Erwartungen der Lehrer entsprachen. Goddard 
ist auch der Ansicht, daß man die Fortpflanzung anormaler Individuen 
verhindern müsse. Er würde sie deshalb am liebsten in Asylen unter- 
bringen, wo man sie mit Liebe und Güte behandle. Übrigens schrecke 
man in Amerika auch vor gewissen operativen Eingriffen (Vasektomie) zur 
Verhinderung der Vermehrung nicht zurüok. 

Charakter und Zweck von Spezialschulen für zurückgebliebene Kinder 
wies Monroe nach: die Klassen dürfen nur 12 bis 15 Kinder umfassen, 
am ein Individualisieren zu ermöglichen; die Lehrer sollten neben dem 
Studium der pathologischen Psychologie und allgemeinen Pädagogik auch 
klinische Kurse durchgemacht haben; für die Kinder sollten Spezialkurse 
für die einzelnen Fächer eingerichtet werden; die motorischen Kräfte und 
die Handfertigkeit müssen besonders ausgebildet werden; großer Wert ist 
auch auf die Entwicklung der Sprache zu legen. 

Marquant und Boyaval (Lille) wünschen in ihrem Bericht für 
anormale Kinder vom 6. bis zum 13. Lebensjahre Spezialunterricbt in 
Sonderklassen, vom 13. bis zum 16. Jahr in Internaten, die in jedem 
Bezirk einzurichten wären. Außerdem fordern sie die Erzieher dieser 
Kinder auf, ihre Gedanken und Erfahrungen auch in der Tagespresse mit- 
zuteilen, um die öffentliche Meinung von der Notwendigkeit der Erziehungs- 
arbeit an anormalen Kindern zu überzeugen. Endlich sollen Gesellschaften 
zum Schutz der anormalen Kinder gegründet werden. 

Von Jonckheere (Brüssel) liegt eine Notiz vor über die Ausbildung 
von Abnormenlehrern, in der gewünscht wird, daß alle Lehrer und Lehre- 
rinnen einen obligatorischen Kurs in Anormalen-Pädagogik durchmachen, 
und daß die Mediziner an den Universitäten einen Kurs über Hygiene der 
Erziehung besuchen sollen. 

Das schwierige Thema der Zusammenarbeit zwischen Pädagogen und 
Mediziner erörtete Ley (Brüssel). Jeder Lehrer soll eine gewisse Zeit 
seiner Schularbeit dem Kinderstudium widmen dürfen, ja müssen, und 
seine Erfahrungen mit dem Arzte austauschen. Nur auf solche Weise er- 
halte man die Kenntnis vom Kinde, auf die sich jede rationelle Pädagogik 
gründen müsse. 

Schaffung von Erziehungsheimen für degenerierte Kinder, vor allem 
für Trinkerkinder, verlangt Boddaert (Amsterdam), um diese vor dem 
Gefängnis zu bewahren, um in ihnen jede Tendenz zum Verbrechen zu 
zerstören. 

Decroly forderte, daß sioh die öffentlichen Mächte ernsthaft mit den 
vorschulpflichtigen Anormalen beschäftigen, um eventuelle Heilungen 
rechtzeitig zu ermöglichen. Ihm schloß sich Herlin an. An der Dis- 
kussion beteiligten sich unter andern noch Goddard, Bonnevie, 
Duperreux (Gent), Beauvisage (Lyon), Ley. Nach langen Debatten 
kam man zu der Einsicht, daß die meisten Familien ihren erzieherischen 
Aufgaben anormalen Kindern gegenüber nicht gerecht würden, was Nyns 
(Brüssel) veranlaßte, einen Antrag zugunsten des obligatorischen ünter- 



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B. Mitteilungen. 



richte vorzulegen, der mit einer Majorität von 5 Stimmen angenommen 
wurde. 

Also auch hier wieder das Schauspiel: selbst auf diesem Gebiete 
gehen bei der Minderheit kirchenpolitische Gesichtspunkte allen andern vor. 

Sektion VII» Verschiedene Arbeiten, die auf die Kindheit beiug haben. 

Nach mehreren Berichten über Ferienkolonien trat man für eine 
Resolution ein, die derartige Einrichtungen für alle Kinder verlangt. Über 
die Tätigkeit der Vereinigungen gegen den Alkohol ismus berichtete 
Molitor, Aber den Schutz sittlich verwahrloster und illegitimer Kinder 
Monod und Remy. Nach einem kurzen Meinungsaustausch entschied 
man sich für Einführung gesetzlicher Maßnahmen zum Kinderschutz. 

Für die in Belgien noch so gut wie unbekannten Jugendgerichtshöfe 
trat in besonders warmer Weise Frau Carton de Wiart (Brüssel) ein. 
Die Richter müssen eine große Erfahrung besitzen und ihres Amtes in 
vorwiegend väterlicher Weise walten. Die Sektion gab dem Wunsche 
Ausdruck, daß in allen Ländern baldigst besondere Jugendgerichtshöfe ge- 
bildet werden möchten. 

Recht merkwürdig berührt eine dem Bericht eingefügte Notiz des 
Prälaten Tremp (St. Gallen), der für das »Seraphische Liebes werk zur 
Rettung religiös und sittlich gefährdeter Kinder« Propaganda macht; 
gegen Zahlung von 1,20 Frs. jährlich bietet er folgende »geistliche Vor- 
teile« an: »jährlich 1896 heilige Messen« und außerdem tägliche Gebete 
von »vielen hundert Kindern«. — Wir fragen: gehören derartige Dinge 
auf diesen Kongreß, der Neutralität auf allen Gebieten der Philosophie 
und der Weltanschauung als seine vornehmste Pflicht bezeichnet? haben 
derartige Dinge irgendeine pädagogische Berechtigung? 

Sektion VIII: Die Literatur In bezug auf die häusliche Erziehung 

Das Interesse für die Verhandlungen dieser Sektion war sehr genug, 
die vier gedruckt vorliegenden Berichte belanglos. Stainier (Brüssel) 
bot ein Verzeichnis der Literatur über häusliche Erziehung, das nach 
Vervollständigung durch die Kongreßmitglieder veröffentlicht werden soll 
Otlet (Brüssel) schlägt die Einrichtung einer internationalen Zentral- 
bibliothek, die namentlich den Kongressen zugute kommen soll, vor. Nyns 
(La Gye) befürwortet die Einrichtung von besonderen Kinderbibliotheken 
und vou Katalogen mit kurzen Notizen über jedes Buch. Weiter möchte 
er überall öffentliche Bibliotheken oder Wanderbibliotheken haben. Er 
schlug dann eine Resolution vor, in der der Wunsch ausgesprochen wird, 
daß die Regierungen alle Schritte tun, damit alle Kinder lesen lernen. Sie 
wurde angenommen, da sich die klerikale Partei von den Verhandlungen 
dieser Sektion ganz fernhielt. Endlich forderte Rency (Brüssel), daß man 
den Kindern nur Bücher von literarischem Wert in die Hand gebe. Aber 
von dem Interesse, daß man in Deutschland schon seit Jahren der Jugend- 
schriftenfrage entgegengebracht hat, war nichts zu merken. 

* * 



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5. Der erste Hilfsschulkursus in Breslau. 



91 



Unter gleich großer Beteiligung, wie er eröffnet war, wurde der Kon- 
greß am Nachmittag des 24. August 1910 geschlossen. Ober eine Stunde 
wahrte die Verlesung der Resolutionen, die in den einzelnen Sektionen ge- 
faßt waren. Und — kaum glaublich — noch mehrere Male wurde das ge- 
fahrliche Wort »obligatoirec diskutiert, bis es allüberall dem Heben 
belgischen Klerus zu willen verschwunden war. 

Dann folgten die Üblichen Danksagungen und Ansprachen der Ver- 
treter fremder Regierungen. Die meisten Belgier aber schienen von dem 
Verlauf des Kongresses sehr erbaut zu sein. 

Nicht so die Pädagogen und Kinderforscher anderer Länder! Ameri- 
kaner, Engländer, Holläuder haben uns gegenüber wenigstens unverhohlen 
ihr Mißfallen über diese Art, wissenschaftliche Fragen zu behandeln, aus- 
gedrückt. 

Wir würden versuchen, zusammenzustellen, was für künftige Kon- 
gresse aus diesem ELI. Kongreß zu lernen war, wenn wir nicht glaubten, 
wenigstens für ein würdigeres Gelingen des IV. Kongresses die Garantien 
zu haben darin, daß er in den Vereinigten Staaten von Nordamerika statt- 
finden wird. Zwei Männer, deren Arbeiten auch bei uns in Deutschland 
geschätzt sind, Brown und Monroe, haben die vorläufige Leitung über- 
nommen. Ihre Namen bürgen uns dafür, daß man auf dem IV. Kongreß 
für hansliche Erziehung wirkliche wissenschaftliche Arbeit leisten wird, 
von der auf diesem dritten, wie man aus unserem Bericht entnehmen 
möge, in zahlreichen Referaten nicht allzuviel zu merken war. 

Zehlendorf. Dr. Karl Wilker. 



5. Der erste Hilfsschulkursas in Breslau. 

Der Kursus, über dessen Einrichtung in dieser Zeitschrift Jg. XV, 7, 
S. 217, berichtet wurde, fand vom 10. bis 29. Oktober 1910 unter Be- 
teiligung von 126 Personen statt. Einen längeren Bericht darüber in der 
Schleeischen Schulzeitung (Jg. 39, Nr. 45 vom 10. Nov. 1910, S. 772 
bis 774) entnehmen wir die folgenden Bemerkungen, flilfsschulrektor 
Schenk behandelte in 15 Vorträgen die Hilfsschule und ihre Schüler 
unter Zugrundelegung seiner Studien im In- und Auslande, die den Lesern 
dieser Zeitschrift ja nicht unbekannt sind. 1 ) Stammeln und Stottern und 
ihre pädagogische Behandlung war dos Thema eines 5 stündigen Vortrags- 
kursus des Rektors Hübner, dem die Oberleitung der städtisohen Sprach- 
heilkurso übertragen ist Über kindliche Sprachstörungen vom medi- 
zinischen Standpunkte sprachen die Spezialärzte Dr. Pasch und Dr. Görke. 
In einander ergänzender Weise führten Professor William Stern in die 
Psychologie der Kindheit und des Jugendalters und Hilfsschularzt Dr. 
Chotzen in die Anatomie und Physiologie des kranken Gehirns ein. 
Letzterer gab auch einen Überblick über die Schulgesundheitspflege in 
der Hilfsschule. 

Neben diesen Vorträgen leitete Hilfsschullehrer Schwinge einen 
praktischen Kursus im Modellieren. Verschiedene Anstalten, denen der 

») VergL Jg. XIV, S. 274-281, 314-318, 338-345. 



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92 



Erzieher von Hilfsschulkindern großes Interesse entgegenbringen mußte, 
-wurden besucht. Das gute Gelingen dieses ersten Kursus, dem hoffentlich 
weitere folgen werden, ist in erster Linie Stadtschulinspektor Ki onka und 
den Rektoren Hübner und Schenk zu danken. 



6. Eine Vereinigung für Koedukation. 

Im Anschluß an eine Diskussion Aber die Koedukation, die unter den 
Mitgliedern der ersten Sektion des III. internationalen Kongresses fSr 
Volkserziehung in Brüssel stattfand, hat sich in der Sitzung vom 
31. August 1910 eine Vereinigung gebildet zu dem Zweck, Wege und 
Mittel zu erforschen, die geeignet sind, die Vorurteile, die gegen die Koe- 
dukation herrschen, zu zerstören und dieser Erziehungsweise mehr und 
mehr Eingang in unsere Sitten zu verschaffen. 

Der neu begründeten Vereinigung schlössen sich bisher pädagogisch 
interessierte Frauen und Männer aus Deutschland, Frankreich, Belgien und 
Portugal an. In der ersten Sitzung vom 2. September 1910 wurde das 
Bureau gewählt und beschlossen, alle Arbeiten, Abhandlungen usw. biblio- 
graphischer, statistischer, psychologischer oder anderer Art über die Koe- 
dukation, soweit das möglich ist, zu sammeln, damit Personen, die sich 
Aber diese Frago unterrichten wollen, wissen, wohin sie sich wenden 
können. Die Vereinigung hat sich der belgischen Oesellschaft für Pädo- 
technik angeschlossen. Sie richtet an alle Personen, die sich mit Er- 
ziehungsfragen beschäftigen, die Bitte, die folgenden Fragen möglichst ge- 
nau zu beantworten: 

I. Sind Sie Anhänger oder Gegner der Koedukation? 

II. Auf welche Gründe stützen Sie Ihre Ansicht? 

III. Haben Sie die Koedukation praktisch durchgeführt gesehen? 

IV. Welche Beobachtungen haben Sie dabei gemacht? 

Es wird gebeten, alle Antworten (wie auch Anfragen und Beitritts- 
erklärungen) aus Deutschland zu richten an Dr. Karl Wilker, Zehlen- 
dorf bei Berlin, der einstweilen das Sekretariat der Vereinigung für Deutsch- 
land übernommen hat 

Die neue Vereinigung betrachtet die Koedukation als einen der wich- 
tigsten Erziehungsfaktoren. Wenn sich Knaben und Mädchen immer ge- 
kannt haben, so steht viel weniger zu befürchten, daß zu Zeiten der Ge- 
schlechtsreife die ungesunde Obererregbarkeit, die das Urteil fälscht und 
schlimmes Unglück herbeiführt, Platz greift, als wenn die Geschlechter 
völlig getrennt aufwachsen. 

Die Erfahrung beweist, daß die Koedukation zur normalen Entwick- 
lung der jedem Geschlecht eigentümlichen Fähigkeiten in intellektueller 
wie moralischer Hinsicht beiträgt 

Das System der Koedukation muß selbstverständlich mit der größten 
Vorsicht durchgeführt werden. Gute Bedingungen sind die notwendigen 
Grundlagen für einen Erfolg. Vor allem müssen die Erzieher die höch- 
sten moralischen Qualitäten und vorzügliches Taktgefühl besitzen. Weiter 
erscheint es notwendig, die Koedukation von Jugend auf durchzuführen. 



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C. Literatur. 



93 



Die bisher mit der Koedukation gemachten Erfahrungen lassen uns 
ihre weitere Verbreitung sowie ein unvoreingenommenes und gründliches 
Studium der Frage als wünschenswert und notwendig erscheinen. Wir 
bitten deshalb um allgemeine Unterstützung der Vereinigung. 



7. Internationale Gesellschaft für Schulhygiene. 

Um die internationalen schulhygienischen Bestrebungen zu unter- 
stützen und zu fordern und die persönlichen Beziehungen zwischen den Be- 
teiligten aller Nationen zu pflegen und auszubauen, wurde auf dem III. inter- 
nationalen Kongreß für Schulhygiene, welcher vom 2.-7. August ds. Js. 
in Paris tagte, eine mit den internationalen Schulhygiene-Kongressen in 
Verbindung stehende > Internationale Gesellschaft für Schulhygiene« ins 
Leben gerufen. 

Die Gesellschaft wird vom permanenten Komitee unter dem Präsidium 
des alle drei Jahre wechselnden Präsidenten dieses Komitees und der Kon- 
gresse geleitet Zum amtlichen und wissenschaftlichen Organ des per- 
manenten Komitees und der Gesellschaft wurde die internationale »Viertel- 
jahrsschrift (Archiv) für Schulhygiene« bestimmt. Sie erscheint im Um- 
fange von ca. 640 Seiten pro Jahresband in 4 vierteljährlichen Heften von 
ca. 10 Druckbogen. 

Der Mitgliedsbeitrag für die Internationale Gesellschaft beträgt 2 M 
jährlich, der Bezugspreis für das »Archive 10 M pro Jahresband. Diese 
letztere Summe wird sich mit wachsender Mitgliederzahl noch bedeutend 
ermäßigen. Ober den aus den Mitgliedsbeiträgen gesammelten Fonds ver- 
fügt, auf Vorschlag des permanenten Komitees, die Generalversammlung 
der Gesellschaft, weiche alle drei Jahre während des internationalen Schul- 
hygiene-Kongresses abgehalten wird. Alle Angelegenheiten des permanenten 
Komitees und der Gesellschaft sowie eine Liste der Gesellschaftsmitglieder 
werden im »Internationalen Archiv für Schulhygiene« veröffentlicht. 

Anmeldungen zum Eintritt in die Gesellschaft und zum direkten Be- 
zug des »Archivs« sind zu richten an den Sekretär des internationalen 
permanenten Komitees für die Internationalen Schulhygiene-Kongresse und 
der Internationalen Gesellschaft für Schulhygiene 

Dr. med. et phil. H. Griesbach 
Professor und Universitätsdozent, Mühlhausen-Basel 
Postadresse: Mülhausen i. Eis., Colmareretraße 48. 



C. Literatur. 



Meitzer, Abnorme Geisteszustände beim Soldaten und bei der 
Trappe. München, Otto Gmelio, 1910. 48 Seiten. Preis 1 M. 

Scheinbar gehören beide Vorträge nicht in das Kapitel der Jugendpsychologie, 
and doch verdienen sie unsere Beachtung. 

Der erste Vortrag beschäftigt sich mit abnormen Geisteszuständen beim 



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94 



C. Literatur. 



Soldaten , während der zweite in unverkennbarem Zusammenhang damit einen 
sehr interessanten Beitrag »Zur Kenntnis und Verhütung der Panik« liefert 
Es ist noch nicht sehr lange her, seitdem man hier leicht abnorme Geistes- 
zustände erkannte und vor allen Dingen anerkennen wollte. Man hat ja noch 
alle Jahre die fast unglaubliche Notiz durch die Zeitungen gehen lassen, daß 
sich unter den Rekruten nur noch so und soviel Prozent Analphabeten befinden. 
Die gedankenlose Tagespresse hebt dann noch hervor, daß diese Statistik beweise, 
wie die Kultur im industriellen Westen unseres Vaterlandes doch wesentlich höher 
steho als im agrarischen Osten. Tatsächlich beweist sie aber nur, wie ich hier 
schon einmal dargelegt habe, daß die Auahebungskommissionen des Ostens weit 
weniger von Jugendpsychiatrie verstehen als die des Westens, daß sie hochgradig 
Schwachsinnige — denn nur solche können bei dem heutigen Stand unseres deut- 
schen Schulwesens noch Analphabeten sein — also geistige Krüppel, für »tauglich 
zum Dienst mit den Waffen« erklären. Früher wurden auch Epileptiker einfach 
eingestellt und erst wieder entlassen, wenn sie wegen schwerer Anfälle sich als 
untauglich erwiesen. 

Als anfangs der neunziger Jahre die Militärmißhandlungen in der Presse wie 
im Reichstag ein ständiges Thema heftigen Zankes der Parteien bildeten, habe ich 
bereits in dem »Hamburger Korrespondenten« in einem auch sonst durch die Presse 
gegangenen Artikel kurz darauf hingewiesen, daß der Streit ein zum Teil unfrucht- 
barer sei, denn es handle sich bei den Mißhandelnden wie den Gemißhandelten um 
abnorme Geisteszustände, nicht bloß um einfache Schwachsinnszustände, wenigstens 
nicht bei den mißhandelnden Offizieren, sondern hier in den meisten Fällen um 
psychopathisehe Minderwertigkeiten, die aber recht erkannt sein wollten, um sie 
recht werten zu können. 

Im Jahre 1893 schrieb ebenso unser Freund Koch, der Mitbegründer dieser 
Zeitschrift, seine beachtenswerte Schrift »Die Bedeutung der psychopathischen 
Minderwertigkeiten für den Militärdienst« (Ravensberg, Otto Maier, 1894). 
Seit der Zeit ist denn auch die Frage in Fluß gekommen, und die Psychiatrie mit 
Einschluß der Jugendpsychiatrie hat bei den Militärärzten besondere Beachtung ge- 
funden. Manche von ihnen haben sich auch umgesehen auf dem Gebiete der 
Jugend Psychopathologie (so haben z. B. auoh mehrere in unserer Anstalt hospitiert). 
Später hat dann die Bewegung der Hilfsschule unter der Führung von Hauptlehrer 
Kielhorn in Braunschweig und von unserem Mitarbeiter Carrie in Hamburg 
einen unverkennbaren Einfluß auf unser Heerwesen ausgeübt, wie auch Meitzer 
S. 7 verständnisvoll und anerkennend hervorhebt. Auch der Militärarzt Dr. Stier 
hat dasselbe Thema auf dem Hilfsschultage in Charlottenburg vom militärärztlichen 
Standpunkte aus behandelt! 1 ) Damit ist unsere Armee um ein ganz wesentliches 
verbessert worden. Es ist meines Erachtens aber nur erst ein Anfang. Meitzer 
verweist mit Recht auf das japanische Heer. Wenn unsere Truppen sich in 
dieser Hinsicht noch verbessern sollen, dann bedarf es doch noch eines größeren 
Verständnisses in den weitesten Kreisen, die sich mit den Heeresproblemen zu be- 
schäftigen haben. Ich kenne z. B. einflußreiche Beamte, die im Hurrapatriotismus 
voran sind und in der Lobpreisung des Heeres sich nicht genug tun können, aber 
im gleichen Maße und nicht selten durch das eigene schlechte Beispiel an vater- 
ländischen Gedenktagen zur Vermehrung des Alkoholismus im Volksleben ein wesent- 



l ) Ewald Stier, Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der 
geistig Minderwertigen. Beiträge zur Kinderforschung, Heft 42. 



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C. Literatur. 



95 



liebes beitragen, anstatt dafür zu sorgen, daß jeder Alkoholist als untauglich zum 
Dienst mit den Waffen sowohl bei Mannschaften wie bei Offizieren ausgeschlossen 
verde. Erst recht aber taugen solche Individuen nichts als Fuhrer in Krieger- 
vereinen, der Reserveoffiziere usw. Das Vaterland verlangt als Opfer auf seinem 
Altare Nüchternheit und Wachsamkeit. Meitzer sagt mit Recht S. 15: 
»Je nüchterner aber ein Volk ist, desto wehrhafter, desto energischer, desto höher 
wird es im allgemeinen in ethischer und ästhetischer Beziehung stehen. An der 
Nüchternheit der Japaner kann sich der Deutsche ein Muster nehmen. Welchen 
miserablen Eindruck haben dagegen Erzählungen aus den russischen Feldlagern, wo 
der Alkohol in Strömen floß, gemacht? Er läßt nicht nur die für den Augenblick 
adrige Selbstbeherrschung und Wachsamkeit vergessen, er schwächt auch Geist und 
Körper für die am folgenden Tage vielleicht zu ertragenden Strapazen und dämpft 
dadurch das Feuer der Begeisterung und den Elan, der zu großen Erfolgen 
nötig ist.« 

»Je mehr die höheren Stände deu niedern in Nüchternheit und Mäßigung mit 
gutem Beispiel vorangehen, desto rascher wird es auch bei uns besser werden. 
Nicht soll übrigens verkannt werden, daß heute sowohl die jungen Offiziere wie die 
Studenten schon lange nicht mehr so sehr den Tirnksitten huldigen, wie dies vor 
etwa 10—20 Jahren der Fall war. — Immerhin werden doch in Deutschland noch 
angeheuere Massen alkoholhaltiger Getränke verzehrt. Wenn nur ein Teil davon in 
Steuerkraft umgesetzt würde, wie könnte man damit rasch unsere Rüstung zur See 
vervollkommnen!« 

Wenn Meitzer bemerkt, daß nach GrafHaeseler 90% der disziplinellen 
Vergehen im Heere durch den Alkohol veranlaßt sind, so muß noch 
hinzugefügt werden, daß der Alkohol in den Offizierkorps eine ebenso gefähr- 
liche Rolle als bei den Mannschaften spielt. 

Die alkoholischen Minderwertigkeiten sind aber nur eine Gruppe unter den 
psychopathiseben. Diese wollen in ihrer Gesamtheit gewertet sein. Wir wollen 
darum nicht verfehlen, diese beiden Vorträge Meitzers unseren Lesern angelegent- 
lich zu empfehlen, dem Lehrer, der es mit der Jugend zu tun hat, wie denjenigen 
Lesern, die selbst direkt oder iadirekt zum Heerwesen in Beziehung stehen. 

Trüper. 

Frankel, Dr. med. Manfred, Wert der doppelhändigen Ausbildung für 
Schule und Staat mit Berücksichtigung der Vorteile der Steilschrift, nebst 
einem praktisch-didaktischen Teil »Zur doppelhändigen Ausbildung« von F. Tronin au, 
Stadt- und Kreisschulinspektor, Königsberg. Mit 33 Abbildungen im Text und 
3 Tafeln. Berlin, Rieh. Schoetz, 1910. 150 8. Preis geb. 5 M. 

Das jeden Erzieher interessierende Problem behandelt Verfasser, ein Char- 
lottenburger Arzt, in 2 Teilen, dem ein 3., gewissermaßen als Bestätigung seiner 
Darlegungen, von Tromnau, dem Königsberger Stadtschulinspektor, folgt. 

Verfasser führt wie ein echter Optimist in seinem mit viel literarischem 
Fleiße geschriebenen Buche mehrfach wiederholend dieselben oder auch ähnliche 
Beobachtungen an und zieht aus ihnen dieselben oder ähnliche Schlösse. Letztere 
klafen sich derartig (Zusammenstellung S. 132/33), daß im Leser der Gedanke des 
Absichtlichen entstehen kann, zum Schaden seines immerhin nicht unwichtigen 
Problems. 

Das Dargebotene eröffnet dem Schulmanne wohl nachzuprüfende Gedankenreihen. 
Vor allem hat der Hilfsschullehrer und jeder Heilpädagog Veranlassung, sich 
Bit Fraenkels Buche bekannt zu machen. Allerdings darf er nicht zu der An- 



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C, Literatur. 



sieht sich bekennen, die 0. Boodstein (Die Erziehungsarbeit der Schale an 
Schwachbegabten, 1906, 8. 199) kundgibt, wie folgt: »Eine andere Feststellung 
neuerer Zeit sucht den Zusammenhang der Linkshaadigkeit mit geistiger Minder- 
wertigkeit zu erklären, da es Tatsache sei, daß beide Eigentümlichkeiten sich bei 
Idioten oder geistig Schwachen sehr viel häufiger finden als bei Normalbeanlagten. 
Auch bei uns zeigten unter den für die Hilfsschule Angemeldeten sehr viele die 
Neigung, sich der linken Hand zu bedienen, und ließen sich solches auch ziemlich 
schwer abgewöhnen, obwohl mit allem Ernste darauf gehalten wurde, 
«lall die rechte Hand gebraucht würde;« vielmehr muß es für sie jetzt heißen: auch 
der Linkshänder ist zu einem Doppelhändcr auszubilden ! — Ferner ist zu versuchen, 
die alten Forderungen der Steilschrift und der Antiqua (a. d. nies. Hilfsschule 
1901/02 ein prakt. Versuch unternommen!; zu verwirklichen und mit dem Arzte zu 
erwägen, ob sie in der Tat Vorbeugungsmittel der Wirbelsäulen-, Augen- und 
Lungenschäden, sowie des Muskel- und Schreibkrampfes sind. Auch dürfte es den 
Heilpädagogen auf das lebhafteste interessieren, aus der Praxis Belege dafür zu 
erbringen, ob wirklich ein tägliches Üben der linken Hand bei einem geistig 
minderwertigen Kinde den schlafenden Funken der Geistesarbeit zu entfachen ver- 
mag (S. 111), und ob der schwerwiegende Schluß des Verfassers (S. 111) berechtigt 
ist, daß wir so die erschreckend große Zahl Geisteskranker und Schwachsinniger, 
das Heer der geistig Abnormen mit all den Abarten der pervers Veranlagton, die 
Legion von Verbrechern infolge geistiger Abnormitäten vermindern können. Wäre 
da nicht eine Ermunterung gegeben, in der Hilfsschule und in Heilerziehungs- 
anstalten systematische Beobachtungen zu sammeln? 

Ob nun aber auch jeder andere Lehrer »die doppelhändige Ausbildung einmal 
die wertvollste Neuerung im Unterrichtsplane unseres Zeitalters« (S. 74) nennen 
wird? — Mir erscheint eine bejahende Antwort gewagt Zunächst wird schon von 
Werte sein, daß in allen vorbezeichneten Anstalten die Anregung aufgenommen 
wird: Der linken Hand, dem Stiefkinde bisher in der Entwicklung, 
muß der Platz erobert oder wiedergegeben werden, der ihr von der 
Natur nach ihren Fähigkeiten und ihren Anlagen bestimmt ist und 
gebührt (S. 69) — ja, der ihr auch gebührt nicht bloß um gewisser Unglücks- 
falle (Lähmungen u. a. m.) willen, sondern auch um Gelegenheit zu bieten, des 
jugendlichen Menschen volle geistigen und körperlichen Fähigkeiten zu entwickeln 
und jene geistige und körperliche Arbeit, die bei einem Rechtshänder nur auf einer 
(Hirn-) Seite ruht, gleichmäßig auf zwei Felder zu verteilen und so den eifrigen 
Arbeiter vor der Ermattung, in die er sonst häufig fällt, zu ratten. 

Diese Anregung, so gering sie Verfasser zu bewerten geneigt sein wird, ver- 
mag schon Lust zu schaffen, daß hier und da, wie bislang zu London, Königsberg 
und a. a. 0. freiwillige Proben mit Schulkindern unternommen werden. Es kann 
dem begeisterten Apostel der Doppelhändigkeit geglaubt werden, daß diese Proben 
nicht abschreckend ausfallen werden. 

Daß Steilschrift und besonders Antiqua Erleichterungen in der Schularbeit 
überhaupt bieten können zum Segen auch der körperlichen Gesundheit unserer 
Schüler, ist bereits so oft erwiesen, daß nur gewünscht werden kann, die be- 
treffenden Auseinandersetzungen im bez. Buche würden von den maßgebenden Schal- 
aufsichtsbehörden endlich einer Berücksichtigung unterzogen. (Vgl. J. Trüper, Zur 
Vereinfachung der Schrift unserer Schwachbegabten. Kinderfehler, 1898. 8. 44 ff.) 
Halle a. S. Dr. B. Maennel. 

Druck tob Hermann Beyer * Sihne (Boro» ii Mano) in Um-onnaUa. 



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A, Abhandlungen. 



L Über 22 Gehirnoperationen mittelst Balkenstiches 
gegen Wasserkopf nnd Hirngeschwülste. 

(Bericht nach einem Vortrage bei der Vereinsvereammlung der mitteldeutschen 
Psychiater und Neurologen, Jena 24. 10. 09.) 

Von 

Prof. G. Anton, Halle a. 8. 

Die freie Kommunikation der Flüssigkeit in den Gehirnhöhlen 
und dem Subduralraum des Gehirns und Rückenmarks scheint eine 
Notwendigkeit für die intakte Ernährung und für die ungestörte 
Funktion der Nervenkomplexe. 

Die freie Strömung der Flüssigkeit und der richtige Konnex 
zwischen Hirnhöhlen und Subduralraum zeigt sich bei den verschie- 
densten Gehirnerkrankungen oder bei fehlerhafter Anlage gestört. 

Es ist daher eine große Reihe von Versuchen anzuführen, welche 
dieses ärztliche Problem behandelten und welche den Zweck hatten, 
die Störung der Flüssigkeitsströmung mit ihren verhängnisvollen physi- 
kalischen und chemischen Wirkungen zu beseitigen. 

Wie wenig befriedigend die bisherigen Erfolge sind, geht klar 
hervor aus den interessanten Abhandlungen von Prof. Krausch l ) über 
Hydrocephalus der kleinen Kinder und der umfassenden Arbeit von 
Hippel 1 ) über die Palliarivtrepanation der Stauungspapille. 

Angesichts des täglichen und dringenden Bedürfnisses habe ich 
mit Prof. v. Bramann es unternommen, ein möglichst vereinfachtes 
Verfahren zu erproben und vorzuschlagen, welches geeignet sein soll, 

*) Archiv f. Chirurgie. Bd. 87. 

*) Palliativtrapanation bei Stauungspapille. Leipzig 1909. 
Zeitschrift für Kintleriorachonfr. XV. Jahrgan*. 7 



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98 



A. Abhandlungen 



die Beschwerden auch der Hoffnungslosen zu lindern, aber auch den 
pathologischen Prozeß mit seiner Folgenreihe zu bekämpfen. 

Das Verfahren selbst will ich hier kurz schildern, jedoch be- 
züglich der theoretischen und praktischen Begründung auf frühere 
Publikationen *) verweisen. 

Das Verfahren besteht in folgendem: 

Es wird hinter der Koronarnaht, meistens rechts, nahe der Sagital- 
naht eine kleine Trepanöffnung angelegt oder aber mittelst Fraise 
von Doyen ein ovales Loch gebohrt 

Nach geringer Spaltung der Dura wird nahe der Mantelkante 
eine Kanüle eingeführt bis zum falx cerebri, entlang des faLx cerebri 
wird die Kanüle hinabgeführt bis zum Gehirnbalken; dieser wird 
durchstoßen, wodurch man in das Vorderhorn der Ventrikel gelangt. 

Nach Abfließen der mehr oder minder gespannten Flüssigkeit 
wird mittelst der Kanüle die Öffnung im Balken erweitert und da- 
durch eine Körperhöhle mit einer anderen, d. h. der Ventrikel mit 
dem ganzen Subduralraum in Kommunikation gesetzt 

Es wird dadurch ein Ausgleich der örtlichen Druck Verhältnisse 
angebahnt, andrerseits aber sind für die gestörte Resorption der 
Flüssigkeit neue weitere Räume und besonders intaktere Wandungen 
zur Verfügung gestellt 

Für die aus irgend welchen Gründen nicht resorbierte Flüssig- 
keit sollen Bedingungen geschaffen werden, welche die Resorption 
besser ermöglichen, insbesondere durch die Venen und Venensinus, 
durch die zahlreichen Lymphspalten des Subduralraumes. 

Die Bewegung und die Druckverhältnisse der Gehirnflüssigkeit 
stehen aber in innigem Konnex mit der venösen und arteriellen 
Zirkulation und mit den allgemeinen Gehirnbewegungen- 

Die Öffnung im Balken soll vermittelst der eingeführten Kanüle 
vor- und rückwärts erweitert werden, um für möglichst lange Zeit 
die verlangte Kommunikation zu ermöglichen. 

In den Fällen, welche wir dieser Behandlung zuführten, ent- 
leerte sich die Flüssigkeit entweder sichtbar unter hohem Drucke 
herausschießend, oder sie floß ab in mehr oder weniger rascher 
Tropfenfolge. Sämtliche 22 einschlägigen Fälle wurden durch Prof. 
v. Bramakx operiert 

Bei den operierten Hydrocephalen — es waren dies 8 Fälle — 
entleerten sich sehr ausgiebige Flüssigkeitsraengen, wodurch die Vor- 
wölbung der Fontanellen beseitigt wurde, aber die Gesamtbewegungen 



*) v. Bua.vu.vx und AüftW, Münch, med. Wochenschr. Nr. 32. 



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A*to*: Cher 22 Gehirn Operationen mittelst BAlkenstiohes gegen Wasserkopf. 99 



des Gehirnes viel deutlicher sichtbar wurden und offenbar einen 
anderen Typus annahmen. 

In diesen Fällen floß auch reichlich Flüssigkeit neben der Kanüle 
vorbei, so daß die Menge der aus den Ventrikeln entleerten Flüssig- 
keiten sich nicht genau bestimmen ließ. 

Da beim Hydrocephalus die Druckatrophie der Marksubstanz 
vorwiegend den Balken betrifft und zwar mehr den Tapeten der 
Ventrikel als den freien Balkenkörper, so ist in diesen Fällen die Er- 
öffnung des Corpus callosum so leicht, daß der Moment der Durch- 
trennung durch das Tastgefühl genauer kontrolliert werden muß. 

Bei den Tumoren — 12 an der Zahl — hat sich der Gang der 
Operationen und der Erfolg sehr verschieden gestaltet 

In den meisten Fällen — 7 mal — war die erhöhte Spannung 
schon an der Dura wahrnehmbar, auch hier mitunter wegen der hohen 
Spannung eine Pulsation des Gehirnes nicht wahrnehmbar, während 
nach Vollzug des Balkenstichos die normale Gehirnpulsation evident 
wurde. 

In jenen Fällen, wo durch den Tumor ein Hydrocephalus bedingt 
war, schoß die Flüssigkeit im Bogen hervor, und es wurde bei solchen 
Füllen auch für das Befinden des Kranken fast stets eine länger 
dauernde Entlastung Ton Kopfschmerz und Schwindel erzielt 
Dem Detailbericht kann folgendes vorangescbickt werden* 
Obwohl vielfach schwerste Fälle zur Operation gelangten, ist durch 
die Balkenstichoperation selbst keiner der Patienten zugrunde ge- 
gangen. 

Die Operation selbst wird vielmehr gut vertragen, wie wir ins- 
besondere bei einem Patienten nachweisen konnten, bei welchem nur 
mit Lokalanästhesie und bei wachem Bewußtsein die Operation aus- 
geführt wurde. 

In den Fällen, wo die Operation bereits im Zustande hochgradiger 
Benommenheit und Bewußtseinstrübung vorgenommen wurde, hat sich 
der Gesamtzustand nach der Entleerung der herausschießenden Flüssig- 
keit ganz rapid gebessert, so daß der Zustand der Klarheit und 
Vigilität wieder zutage trat 

Bei den meisten Fällen der operierten Tumoren ging die Stauung 
und Blutfülle des Augenhintergrundes nachweislich zurück. 

Selbstverständlich konnte durch die Operation selbst das Wachs- 
tum und die weitere Entwicklung des Tumors nicht aufgehalten 
werden. 

In einzelnen Fällen blieb längere Monate hindurch die Erblindung 
aus, was sich wohl zum Teil durch den Rückgang der Hyperämie 

7* 



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I 

', 

( 

J 

100 iL Abhandlungen. j 

und Stauung erklärt, letzterer Erfolg wurde in 7 Fällen auf der 
Augenklinik nachgewiesen. 

Fast alle Kranke wurden durch die Operation von den dauern- 
den und intensiven Kopfschmerzen erleichtert oder sogar gänzlich 
befreit. 

Allerdings muß letzterer Ausspruch eingeschränkt werden, als 
die Zeit der Beobachtung noch eine relativ kurze ist 

Was die Persistenz der gesetzten Öffnung im Balken betrifft, so 
konnte wenigstens bei 2 Fällen, die an interkurrenten Erkrankungen 
starben, nachgewiesen werden, daß nach 4 und 6 Monaten die Öffnung 
noch deutlich erhalten war. 

Von den Symptomen, welche auffällig und in der Mehrzahl der 
Fälle sich besserten, sind noch zu nennen : Schwindel, Erbrechen nnd 
gestörte Körperbalance. 

Dies traf zu sowohl bei den Tumor-Kranken wie bei den Hydro- 
cephalen. 

Unter den Fällen befanden sich auch 2, welche Stauungsneuritis 
mit Turmschädel darboten. 

In dem einen Falle wurde durch Balkenstich das Sehvermögen 
um das Doppelte verbessert 

Wenn auch hier die Verallgemeinerung eines Falles noch in 
keiner Weise gestattet ist, darf jedoch bei der Trostlosigkeit dieses 
Leidens bei ähnlichen Fällen die Operation in Betracht gezogen 
werden. 

Nach den mitgeteilten Erfahrungen und Ergebnissen glaube ich 
folgende Vorschläge formulieren zu können: 

1. Die Operation der Balkeneröffnung erscheint angezeigt bei 
stärkerem Hydrocephalus der Kinder, wobei eine Schädelverbildung 
und eine Atrophie und Verdünnung des Großhirnes, ev. eine Drack- 
atrophie des Kleinhirns verhindert werden soll. 

2. In jenen Fällen von Gehirngeschwülsten, wo es zu Hydro- 
cephalus internus des Gehirnes kam, ist die Operation imstande, die 
Stauung und Hyperämie des Sehnerven auf längere Zeit zum Rück- 
gang zu bringen. Die quälenden Kopfschmerzen, Schwindel uud Er- 
brechen wurden in einer großen Zahl von Fällen rasch und günstig 
beeinflußt. 

Die Symptome des Tumors werden durch die Beseitigung des 
allgemeinen Druckes diagnostisch deutlicher. Es wird durch diese 
Operation ev. Zeit gewonnen durch Hinausschieben der Erblindungs- 
gefahr die operative radikale Behandlung des Tumors zu erwägen 
und durchzuführen. 



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Kotw-Külly: Lüge und Ohrfeige. 



101 



3. Wahrend des Balkenstiches selbst ist es auch möglich, die 
Ventrikel zu sondieren und etwaige Formveränderungen oder abnorme 
Resistenz daselbst zu eruieren. 

4. Die geschilderte Verbindung von Ventrikel und Subduralraum 
empfiehlt sich mitunter als Hilfsoperation bei Schädeleröffnungen, 
wenn bei Gehirnschwellung eine Gehirnhernie oder ein Durchreißen 
der Gehirnoberfläche zu befürchten steht 

5. Diese Form der Operation darf weiterhin versucht werden 
bei jenen nicht seltenen Erkrankungen des Sehnerven, welche bei 
Turnischädeln und ähnlichen Deformitäten entstehen. 



2. Lüge und Ohrfeige. 

Eine Studie auf dem Gebiete der psychologischen Kinderforschung und der 

Hoilpadagogik 

Von 

Kahn -Kelly, Präsident u. Kinderinspektor der Gemeinnützigen Gesellschaft 

der Stadt St. Gallen. 

(8chkß.) 

II. Die Methode. 

Wenn ich schon betont habe, daß zur Bekämpfung der Lügen- 
haftigkeit bei Kindern nur eine gewisse Methode allein, und wenn 
sie noch so vorzüglich und originell sein sollte, nicht hinreichen 
wurde, um zu dem vorgesteckten Ziel zu gelangen, sondern ein 
hauptsächliches Miterfordernis in der Persönlichkeit des Erziehers 
liege, so will ich ergänzend auch das Wesentliche über die Methode 
erwähnen, wie sie mir für die in Frage stehende, ganz eigenartige 
und schwierige Erziehungsangelegenheit als Heilungsprozeß vor- 
schwebt 

Und wenn ich auch kaum anzunehmen mir getraue, daß jeder- 
mann damit einverstanden sein werde, so soll mich das doch nicht 
abhalten, sie möglichst anschaulich zur Darstellung zu bringen, auch 
wenn ich dabei, nach der Meinung mancher, ganz schlecht abschneiden 
sollte. 

Zuvörderst möchte ich die verehrten Leser bitten, mich im Geiste 
in eine Volksschule begleiten zu wollen. 

Es sei dies beispielsweise eine Schule von etwa 40 Kindern 
beiderlei Geschlechts, das 4. und 5. Schuljahr umfassend. An- 
genommen, es befinde sich ein vor kurzer Zeit eingetretenes Mädchen 
Ida in der 5. Klasse. Lehrer und Kind sind einander noch ziemlich 
fremd. Die Schülerin kennt Art und Methode des Lehrers noch 



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102 



A. Abhandlungen. 



nicht, und dieser ist über Wesen und Charakter des Mädchens auch 
noch im Unklaren. Nun beobachtet er ganz zufällig, daß Ida und 
ihre Nachbarin Fanny unruhig sind, einander grollende Blicke zu- 
werfen und zwischen beiden irgend etwas Ungerades los sein muß. 
Plötzlich zerrt Ida der Fanny heftig am Zopfe und arbeitet dann 
weiter, als ob nichts passiert wäre. »Aue ruft diese und klagt es 
laut dem Lehrer, der also, unbeachtet von beiden, Zeuge des Vorfalles 
gewesen ist Er stellt Ida zur Rede und fragt sie, ob und warum 
sie das getan habe? »Ich habe es nicht getane, war die Antwort 
Der Lehrer befiehlt den Schülern, aufmerksam zuzuhören. Er er- 
zählt, was nach Fannys Aussage geschehen sei, und daß Ida, 
wie sie gehört haben, die Sache leugne. Entweder hat nun Fanny 
gelogen, oder Ida, und das wollen wir jetzt untersuchen. Er ruft 
Ida zu sich, faßt sie freundlich an beiden Händen, zieht sie etwas 
zu sich heran, schaut ihr ins Gesicht und fragt in ganz ruhigem 
Tone: »Hast du Fanny heftig am Zopfe gerissen«? »Nein.* »So, du 
hast es nicht getan?« »Nein.« »Gewiß hast du dies nicht getan?« 
»Nein.« »Du hast ihr vielleicht nur ganz schwach aus Mutwillen 
am Zopfe gezogen?« »Nein.« «So, also nicht einmal schwach?« 
»Nein.« »Also gar nicht?« »Nein.« »Fanny, was sagst du dazu?« 
Diese beharrt auf der Aussage. »Und du Ida?« »Ich habe es nicht 
getan.« »Die Sache scheint mir etwas schwierig zu sein« meint der 
Lehrer. »Eine von beiden muß gelogen haben, und die Frage ist 
nun die, welche nicht mit der Wahrheit umgeht, und das muß her- 
ausgebracht werden.« Inzwischen hat Ida ihr Köpflein gesenkt und 
die Augen niedergeschlagen. Eine leise Hoffnung für den Lehrer. 
Er faßt sie sanft am Kinn, hebt ihr den Kopf in die Höhe, was 
etwas zähe geht, und sagt ganz freundlich: »Liebes Kind, schau mich 
an.« Ida sträubt sich. »Schau mich ruhig an«, repetiert er. Dies 
geschieht etwas widerwillig, verlegen, schüchtern. »Nun Ida« frage 
ich dich nochmals: »Hast du Fanny am Zopfe gerissen, oder nicht?« 
»Besinne dich wohl.« Keine Antwort. »Also nicht einmal eine 
Antwort gibst du mir, bin ich denn einer Antwort nicht wert?« 
Pause. Ida kämpft innerlich, es kommen Tränen. Sie reibt sich mit 
dem Nastuch heftig die Augen und — schweigt. Alle Schüler befinden 
sich in gespanntester Aufmerksamkeit über den Ausgang der Sache. 
Unheimliche Stille herrscht. 

»Gut für heute«, sagt der Lehrer in ganz ruhigem Tone, »da du 
mir nicht einmal Antwort auf meine Frage gibst, so will ich dir bis 
morgen Zeit lassen, du kannst dich über Nacht besinnen, ob du dann 
mit der Wahrheit umgehen willst, oder nicht« Er hütet sich natür- 



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Kton-Kklly: Lüge und Ohrfeige. 



103 



lieh sehr wohl, ihr zu sagen, daß er ihr Tun beobachtet habe; er 
muß sie im Glauben lassen, daß er es nicht wisse. »Wenn du morgen 
zur Schule kommst (vielleicht kommt sie nicht), werde ich dich wieder 
fragen, und es wird sich dann zeigen, ob du dich entschlossen hast, 
mir die Wahrheit zu sagen. Wenn es sich aber herausstellt, daß 
Fanny dich fälschlich angeklagt hat, so soll sie Strafe treffen. Also 
genug für heute.« Der Unterricht wird fortgesetzt, als ob gar nichts 
dazwischen gekommen wäre. Nach Schluß der Schule muß Ida dem 
Lehrer die Hand bieten und er sagt ihr ganz freundlich: »Adieu« 
Ida, also morgen wieder.« Kleinlaut erwidert sie und verläßt unter 
dem Eindruck besonderer Aufmerksamkeit seitens ihrer Mitschüler 
und Schülerinnen das Schullokal. Was wird nun das Kind von 
seinem Lehrer denken und welcher Art mag wohl seine bisherige 
Erziehung gewesen sein? muß man sich fragen. Wahrscheinlich ist 
das bedauernswerte Kind in höchst gemüts- und liebloser Weise er- 
zogen worden und man darf füglich die Vermutung hegen, daß es 
fürs Lügen, worin es offenbar große Gewandtheit besitzt, hart ge- 
züchtigt und ihm die Lüge ins Gemüt hineingeschlagen worden ist. 
Wird es nun morgen bekennen? Das ist noch sehr ungewiß. Der 
Lehrer aber darf überzeugt sein, alle Anzeichen sprechen dafür, daß 
er die harte Kruste noch durchbrechen und siegen wird, wenn er 
sein Ziel mit Konsequenz im Auge hat und ihm zustrebt Es ist 
nun bei dieser Methode wohl zu beachten, daß der Lehrer, wie schon 
bemerkt, ein Mann sein muß, der das vollste Vertrauen seiner Schüler 
bez. seines Gerechtigkeitsgefühles besitzt, ein Mann, den sie hoch- 
achten, verehren und lieben. Das Bewußtsein muß bei ihnen lebendig 
geworden sein, daß es ein Unrecht wäre, ihm auf irgend welche 
Art Herzeleid zu verursachen, was ja allerdings geschähe, wenn man 
ihn anlöge. Dann muß er aber auch bei der Vornahme einer so 
heikein Prozedur, wie ich sie eben geschildert habe, seiner Sache 
völlig gewiß sein; ist er dies nicht, so darf er es nicht wagen, eine 
solche vorzunehmen. Er wird viel besser tun, ohne viel Aufhebens 
in derartigen Fällen die Sache stillschweigend zu übergehen und die 
nächste Gelegenheit abzuwarten; sie wird sich schon zeigen, und 
wenn es ihm als opportun erscheint, wird er Wege finden, sie ge- 
schickt und unauffällig herbeizuführen. Aufs Glatteis darf er sich 
in Angelegenheiten der Lüge ja nicht begeben, er könnte verunglücken, 
und das wäre für ihn sehr fatal. 

Beim Beginn der Schule am folgenden Morgen (Ida hat sich 
doch eingefunden) steht der Lehrer am Pulte und fordert die Schüler 
auf, sie sollen wieder wie gestern aufmerksam zuhören. »Fanny« 



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104 



A. Abhandlungen. 



beginnt er, »beharrst du auf deiner Aussage, daß dich Ida am Zopf 
gerissen hat«? »Ja.« »Und diese hat, wie ihr gestern alle gehört 
habet, auf meine mehrmalige Frage geantwortet, sie habe es nicht 
getan. Es handelt sich nun heute darum, festzustellen, weiche von 
beiden mich angelogen hat »Ida, komm zu mir her und biete mir 
zum Gruße die Hand.« Sie schleicht zaghaft und schüchtern mit 
gesenktem Kopfe heran, reicht dem Lehrer die Hand und spielt dann 
unruhig mit den Fingern und harrt der Diage, die da kommen werden. 
»So Kind«, beginnt der Lehrer, »hast du dir die Sache überlegt und 
bist du heute willens, mich weiter anzulügen, oder mir die Wahrheit 
zu sagen«? Stillschweigen. »Mir scheint, du habest das Sprechen 
verlernt, aber ich werde denn doch von dir eine Antwort erwarten 
dürfen, so denke ich.« »Also Ida, nochmals frage ich dich aufs 
Gewissen: »Hast du gestern deiner Mitschülerin Fanny am Zopfe ge- 
rissen, oder nicht«? »Jetzt will ich von dir eine Antwort haben.« 
Pause. »Nun, wird's bald«? Und etwas akzentuierter und lauter 
fragt er: »Hast du es getan«? Noch eine kleine Pause und dann 
ein ganz leises »ja«. 

»So, also ja«, und zu der Klasse gewendet: »Da haben wir's, 
Ida hat mich also gestern angelogen.« Bewegung und Gemurmel 
unter den Schülern, denn sie empfinden innerliches Weh, daß man 
einen solchen Lehrer so anlügen kann. 

Jetzt kommt der große Moment: Was wird nun Ida nach bis- 
heriger Erfahrung erwarten? Zunächst eine gehörige Strafpredigt und 
dann — empfindliche Züchtigung. Nichts von aUedem. Kein Wort 
des Tadels, keine bösen Blicke, keine Drohung und auch — keine 
8trafe. Ist das nicht auffallend? Gewiß, wird sich mancher Leser 
sagen. Das ist sogar mehr als auffallend, das verstößt gegen alle 
Vernunft und grenzt beinahe an Unsinn, ja Blödsinn. Nur ein bißchen 
Geduld! Der Lehrer nimmt das Kind an beiden Händen und sagt: 
»So Ida, glaubst du, du habest mir mit deinem so hartnäckigem Lügen 
eine große Freude gemacht? Ein sehr schwaches »nein«. »Nun 
aber sage ich dir, du würdest mir doch eine mächtige Freude bereiten, 
wenn du so artig sein wolltest, mich morgen, oder die nächsten Tage, 
wie es dir gerade paßt, wieder recht dreist anzulügen; ich erwarte 
dies von dir des ganz bestimmtesten; hast du mich verstanden«? 
»Jetzt darfst du an deinen Platz gehen.« 

Der Unterricht beginnt, wie wenn nichts Besonderes passiert 
wäre. Der Lehrer benimmt sich Ida gegenüber nicht im mindesten 
auffällig, er behandelt sie im Unterrichte genau wie die andern 
Schüler und hütet sich wohl, innere Erregung zu verraten, falls sie 



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Ktthx- Kellt: Lüge und Ohrfeige. 



105 



vorhanden sein sollte. Was wird nun Ida von ihrem Lehrer halten, 
welches Urteil werden die Schüler im Stillen über sie fällen, nnd 
werden sie dem Lehrer gegenüber nicht ein inneres Etwas empfinden, 
das Ähnlichkeit mit Mitleiden hat? Darüber mag sich der Leser 
sein eigenes Verslein machen. 

Ich aber behaupto, daß diese Prozedur im Innern 
des Kindes eine gewisse Wandlung zum Bessern ge- 
schaffen hat Es muß offenbar erstaunt sein, daß die Sache gegen 
alle Erwartung, ja Befürchtung, so gelinde abgelaufen ist Und wie 
denkt wohl Ida über den Wunsch des Lehrers, sie solle ihn nächstens 
aar wieder anlügen? Wird sie sich befleißigen, diesem Wunsche 
nachzukommen, oder wird sie nicht viel eher darüber nachdenken, 
was der Lehrer eigentlich damit habe sagen wollen, und es ist mit 
Sicherheit anzunehmen, daß sie nicht gewillt sein wird, seinen » Wunsche 
zo erfüllen, weil sie zur Ansicht kommen muß, daß ihr Lehrer mit 
diesem »sonderbaren« Wunsche das Gegenteil bezwecken wollte, d. h. 
daß sie nicht: weiter lüge. Soviel Überlegungsfähigkeit ist einem Kinde 
dieses Alters schon zuzutrauen. Werden nun nicht im Herzen dieses 
Madchens Gefühle von Zuneigung und Liebe zu diesem freundlichen, 
guten Lehrer zu keimen beginnen und die ersten Spuren von An- 
hänglichkeit und Gehorsam wachgerufen? Wird die ganze Affäre 
nicht bleibenden Eindruck sowohl auf die Lügnerin, als auch auf alle 
Schulkinder hinterlassen? Es wird dies gewiß keiner, der sich mit 
Kinderforschung befaßt, bestreiten wollen. Wird nicht bei Ida und 
den übrigen Schülern die Ansicht Boden fassen müssen, daß es nicht 
nur zwecklos, sondern sehr unrecht sei, einen solchen Lehrer an- 
zulügen? Es steht auch gewiß außer Zweifel, daß dieses Vorgehen 
in diesem schwierigen Erziehungsproblem seitens des Lehrers die 
Lüge in seiner Schule ihren Reiz nach und nach verlieren, ihr die 
Spitze gebrochen und sie, wenn auch nicht gänzlich verschwinden, 
so doch zu großer Seltenheit werden wird. Dieses »negative« Ver- 
fahren, wie man es nennen könnte, hat tiefere Wirkung auf das 
Seelen- und Gemütslebens des Kindes als a posteriori jedes andere 
mit mehr oder weniger Applikationen dieser oder jener Art 

Nun hätte ja allerdings auch der Fall eintreten können, daß Ida 
am zweiten Tage auf die Frage des Lehrers wieder, vielleicht mehr 
als einmal, geleugnet hätte, und wäre dann der Lehrer nicht schließ- 
lich gezwungen gewesen, sein Spiel verloren zu geben und Ida wäre 
Siegerin geblieben? Mit nichten. Aber was dann? Sehr einfach. 
Dann hätte der Lehrer die Frage mit Umkehrungen und Variationen 
repetiert, bis das Mädchen, müde und mürbe gemacht, endlich bei- 



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100 



A. Abhandlungen. 



gegeben hätte. Wäre dies aber dennoch nicht der Fall gewesen, so 
hätte er in aller Seelen ruhe die Fortsetzung auf den folgenden Tag 
verschoben, oder aber er hätte mit Ida noch einen andern Versuch 
machen können, ihr erklärend, aber so, daß es alle Schüler hören: 
»Weißt du was Ida, nach Schluß des Unterrichtes bleibst du noch 
eine Weile da. Wir werden dann miteinander unter vier Augen 
über die Sache reden.« Es ist nun leicht möglich, daß das Mädchen, 
wenn es mit dem Lehrer allein ist, ohne Umschweife Farbe bekennt, 
möglich, daß dies noch nicht geschieht In diesem Falle wird der 
Lehrer, ohne die Ruhe zu verlieren, sich nicht lange Mühe geben, 
sondern das Kind mit der Hinweisung auf die Fortsetzung auf morgen, 
entlassen und zwar ohne jede weitere Bemerkung. Auf alle Kalle 
aber muß er am folgenden Tage seinen Schülern über das Resultat 
der Unterredung unter vier Augen Bericht erstatten. Hat Ida ein- 
gestanden, so ist die Sache nach gestrigem Muster abgemacht Ist 
dies nicht der Fall, so wird das Vorhör am nächsten Morgen vor 
Anfang des Unterrichtes fortgesetzt Dieses >ganz eigenartige 
Verfahren« möchte aber ins Endlose und ins Blaue hineinführen, 
mag eingewendet werden und schließlich wird der Lehrer doch noch 
kapitulieren müssen, hat dann mehr verloren, als gewonnen, und der 
Triumph ist auf Seite der Lügnerin. Wieder mit nichten, denn es 
ist eine psychologische Unmöglichkeit, daß ein Kind dieses 
Alters (es mag auch jünger, oder älter sein), wenn es schuldbewußt 
ist, auf die so vielmal gestellte gleiche Frage nicht endlich kleinlaut 
beigibt, besonders einer geachteten Persönlichkeit gegenüber, und 
ganz besonders dann, wenn diese es versteht, durch geschickte Wen- 
dungen und Umkehrungen derselben Frage das Kind mit der größten 
Gelassenheit so in die Enge zu treiben, daß es unterliegen muß und 
<lie Nutzlosigkeit seiner Renitenz zu begreifen beginnt In des Er- 
ziehers stoischer Ruhe liegt seine faszinierende Stärke. 
Es braucht zwar für ihn unter Umständen einige Überwindung, um 
eines hartnäckigen Lügners wegen nicht aus dem »Hau sie zu ge- 
raten«, wie man zu sagen pflegt, und soviel Zeit zu opfern, aber 
der Siegespreis ist für ihn so wertvoll und der erzieherische 
Gewinn von so großer Bedeutung für die Lügnerin und seine 
Schüler alle, daß er die Geduldsprobe wohl wert ist, er es mit aller 
Ruhe durchsetzen muß und vermöge seiner pädagogischen Kunst auch 
wird, dessen bin ich vollendet überzeugt, wie ich auch überzeugt 
bin, daß bei dieser Methode die heilpädagogischen Erfolge wahr- 
scheinlicher zu erwarten sind, als bei jeder anderen mit Anwendung 
von > ungebrannter Holzasche« in verschwenderischer Menge. 



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Kühn-Küxt: Lüge and Ohrfeige. 



107 



Nicht nur wird bei dieser Manier dem lügenhaften Kinde viel eher 
Sinn für Wahrhaftigkeit and Abscheu vor der Lüge eingepflanzt 
werden können, als mit der Züchtigung, sondern der erzieherische 
Einfluß des Lehrers auf alle Schüler wird bei diesem »öffentlichen 
Verfahrene wesentlich gehoben und sein Ansehen bei ihnen ge- 
steigert 

Ich habe zur Veranschaulichung der Methode mit Absicht den 
demonstrativen Weg mittelst Beispiel gewählt, in der Meinung, sie 
so am deutlichsten zur Darstellung zu bringen. Die Vorkommnisse 
können aber so mannigfaltiger Art sein, daß sich eine Menge von 
Variationen von selbst ergeben und es dem Takte des Erziehers über- 
lassen werden muß, sich seine strategischen Maßnahmen für jeden 
einzelnen Fall nach Gutfinden zurecht zu legen. Allerdings ist Vor- 
aussetzung dabei, daß dazu nicht nur etwa ein Berufspädagog, 
sondern der geborene Pädagog erforderlich ist Sein Erfolg wird 
seinem Talent für diese ganz spezielle, schwierige und heikle Er- 
ziehungsfrage entsprechen. 

Wird nun aber die Lüge aus der Volksschule nach der 
einen oder andern Methode gänzlich zu verbannen sein? 
frage ich schließlich. Ich denke kaum. Solange Eltern, Lehrer und 
Pastoren, Vetter und Basen, Onkel und Tanten, Großväter und -Mütter, 
Geschwister, Dienstboten und Gassenbuben an der Erziehung eines 
und desselben Kindes arbeiten, nicht, d. h. niemals. Ein schwieriges 
Kapitel wird die Lügenhaftigkeit unter Kindern (und Erwachsenen) 
stets mehr oder weniger sein und bleiben. Insonderheit werden solche 
Kinder, die zu Hause nicht korrekt nach pädagogischen Grundsätzen 
lieblos und inkonsequent behandelt und erzogen werden, in der Schule 
auch dem geachteten Lehrer gegenüber aus Gewohnheit, Furcht, 
Schwäche, Unbedacht, Übereilung usw. unterliegen, gelegentlich zur 
Lüge greifen und die pädagogische Kunst des Erziehers auf die Probe 
stellen. Es haben leider Tausende und aber Tausende von Kindern 
das große Unglück, Eltern anzugehören, welche aus Unverstand, Un- 
kenntnis, Zeitmangel, Gereiztheit, Ungeduld, Trunksucht, Launenhaftig- 
keit, Zorn, Armut, Herz- und Gemütslosigkeit und anderen Ursachen 
mehr ihre Kinder seelisch und gemütlich derart mißhandeln, daß 
einem das Herz bluten möchte. Und wenn hierbei auch nicht immer 
böswillige Absichtlichkeit vorliegt, so ändert dies weder den Tatbestand 
noch die bedauernswerten Folgen an den unglücklichen Kindern, die, 
schuldlos an ihrem traurigen Dasein, unter andern Verhältnissen und 
Umständen die liebenswürdigsten und geratensten Kinder geworden 
wären, wie man sich solche netter, heimeliger nicht wünschen möchte. 



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108 



Die seelische Not, die so viele durchzumachen und die Qualen, die 
sie unschuldigerweise zu erleiden haben, sind in vielen Fällen ge- 
radezu jammervoll und erwecken unwillkürlich den Gedanken tiefen 
Bedauerns, daß sie >atmen im rosigen Licht«. Wenn alle Gut- 
gesinnten wüßten, welche Unmasse von Kindern unbeachtet, seelisch, 
gemütlich und physisch malträtiert und zugrunde gerichtet werden, 
so müßten sich ihre Seelen im Leibe umdrehen. Das so sehr ge- 
priesene und gesetzlich anerkannte »Recht der Eltern auf ihre 
Kinder«, wird für unzählige der letztem zum wahren Fluche. 

Des Kindes Schuld ist es ja nicht, wenn Elternhaus und Um- 
gebung niederreißen, was die gute Schule mit aller Sorgfalt aufgebaut 
hat Soll sie, d. h. der Lehrer und Erzieher, nicht um so eher Nach- 
sicht mit dem lügenhaften Kinde haben, als es nicht selten in die 
verzweifeiste Zwitterstellung gelangt? Sollen solche Kinder, die schlecht 
erzogen und deshalb schon gestraft genug sind, und denen zu Hause 
das Lügen gleichsam imprägniert worden ist im Straucheinsfalle noch 
extra dafür gezüchtigt werden ? Soll es die Sünden seiner Eltern und 
Umgebung in der Schule büßen müssen? Nein, da soll es für die 
außerhalb der Schule erlittene Unbill durch liebreiche Behandlung, 
wie es recht und billig ist, entschädigt werden. 

Die Schule soll und muß mit Anwendung delikatester 
Mittel Herz und Gemüt veredeln und nicht durch Züchti- 
gung noch mehr verhärten. 

So behandelte Schüler, dafür wollte ich bürgen, werden dies nie 
vergessen, stets gerne an ihre Schuljahre zurückdenken und bleiben- 
den Wert für ihr Leben davon tragen, auch dem Lehrer stets sym- 
pathische Gefühle bewahren. 



3. Welche Klassen unter den Ausnahmskindern können 
ohne Abschluss von der Gesellschaft erzogen werden? 

Von 

Dr. päd. Maximilian P. E. Groß mann, Plainfield, N. J. 

Wenn wir uns über die Methoden klar werden wollen, welche 
in der Erziehung von Ausnahmskindern angewandt werden müssen, 
die nicht von der Erziehung mit anderen Kindern ausgeschlossen zu 
werden brauchen, so müssen wir uns vor allem darüber verständigen, 
was man unter solchem Ausschluß versteht, und zweitens darüber, 
was uns als Maßstab dazu dienen soll, über Ausschluß oder Nicbt- 
aufcischluß zu entscheiden. 



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GüoesiuNs: Welche Klassen unter den Ausnahmskindern usw. 109 



Der Ausschluß, die Separierung von anderen Kindern, kann ent- 
weder dauernd oder nur zeitweise notwendig sein; die Kinder mögen 
einfach in Bewahranstalten oder besonderen Erziehungsinstituten unter- 
gebracht werden, oder sie bedürfen eines vollständigen Abschlusses 
mit Sonderpflege und Bewachung. Bei den schlimmsten Fällen 
degenerativer Entwicklung, bei den Imbecillen, Idioten, Wahnsinnigen, 
moralisch Verworfenen und dergl. ist solch vollständiger Abschluß 
natürlich geboten ; sie bilden eine unausweichliche Bürde der mensch- 
lichen Gesellschaft. Es ist meistens durchaus fraglich, ob diese Klasse 
auch nur die Kosten ihrer Erhaltung ersetzen kann. In alter Zeit 
überließ man diese Unglücklichen sich selbst oder tötete sie im kind- 
lichen Alter, soweit man ihre Eigenart verstand. Die Humanität der 
heutigen Zeit sorgt auch für sie, so daß sie wenigstens Schutz und 
menschenwürdige Unterbringung genießen. 

Kinder, die in Erziehungs- und Bewahranstalten untergebracht 
werden können, entwickeln oft genug Produktivkraft, um für ihre 
Erhaltung ganz oder teilweise Oegenwert zu leisten. 

Für solche Ausnahmskinder, welche keines vollständigen Ab- 
schlusses dieser Art bedürfen, müssen nichtsdestoweniger ebenfalls 
besondere Vorkehrungen getroffen werden. Für manche genügt 
individuelle Berücksichtigung in Schule und Haus, so daß ihre Eigen- 
art zur Entfaltung kommen kann; manchmal muß der Arzt oder der 
Chirurg mitwirken, oder eine besondere körperliche und geistige 
Hygiene mag Wunder tun. Viele hingegen bedürfen der Unter- 
bringung in Spezialschulen und Pensionaten, die von dazu besonders 
befähigten Erziehern und Ärzten geleitet werden, so daß sie, wenigstens 
während einer gewissen Frist, den Vorteil vollständig ihrer Indivi- 
dualität angepaßter Methoden in Unterricht und Lebensweise, Be- 
handlung und Disziplin genießen können. Für andere hat man Spezial- 
klassen in den Volksschulen eingerichtet, worin der Lehrgang ihrem 
Können angepaßt ist Es hängt eben davon ab, ob es sich nur um 
unterrichtliche, oder um allgemein erziehliche, vielleicht auch um 
körperliche und seelische, pathologische und hygienische Schwierig- 
keiten handelt Alles dies bedarf durchaus individualisierende Be- 
rücksichtigung. 

Vollständiger Abschluß und Ausschluß kann also nur auf die 
Kinder Anwendung finden, welche infolge ihrer schweren Störungen 
temporär oder dauernd aus der menschlichen Gesellschaft entfernt 
werden müssen. 

Was bis jetzt eine klarere Würdigung des Problems der Aus- 
nahmskinder erschwert hat, war der willkürliche und unbestimmte 



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110 



A. Abhandlungen. 



Gebrauch von Bezeichnungen und Ausdrücken, mit denen man die 
verschiedenen Arten und Klassen dieser Gruppe zu benennen ver- 
sucht hat. Zugleich fehlte die Perspektive in der Bestimmung der 
Abweichungsgrade. Man war sich über das Verhältnis des Ausnahms- 
kindes zu den Ansprüchen normaler und typischer Entwicklung nicht 
klar. Diese Unbestimmtheit der Terminologie hat viel Verwirrung 
in der Diagnose mit sich gebracht 

Um diesem Übel abzuhelfen, gestatte ich mir eine versuchsweise 
Klassifizierung und Terminologie zu unterbreiten, welche bereits von 
einer Anzahl Ärzte und Pädagogen als ein Schritt in der rechten 
Richtung begrüßt worden ist Sie hat natürlich auch die Kritik 
herausgefordert, und es wird an ihr noch vieles zu verbessern sein. 
Aber sie dürfte wenigstens dazu dienen, daß man beginne, sich auf 
eine klarere Würdigung der Sachlage zu vereinigen, eine feste 
Terminologie zu schaffen und den rechten Gesichtspunkt zu rinden. 
Mein Versuch mag wenigstens den Wert einer Staffel in Anspruch 
nehmen, auf der man zur volleren Aussicht aufsteigt 

Zum besseren Verständnis dieser Klassifizierung mag das hier 
eingefügte Diagramm ein Hilfsmittel sein. 

Es ist notwendig, die folgenden Punkte nicht zu vergessen: 

Erstens. Selbstverständlich ist alles Menschenwerk Stückwerk, 
und es dürfte kaum möglich sein, alle Einzelfälle in eine einzige 
Klassifizierung hineinzuzwängen. Eine solche darf kein Prokrustes- 
bett sein. Manche Typen haben ein so labiles Gleichgewicht, daß 
sie zu verschiedenen Zeiten ganz andere Eigenheiten zeigen; andere 
sind Mischtypen, in welchen Eigenheitskomplexe auftreten, welche 
eine strenge Definition unmöglich machen. So gibt es blinde Kinder, 
die zugleich schwachsinnig sind; neurotische Kinder, die zugleich 
krankhafte Körperbildungen zeigen, und dergl. mehr. Die Zahl der 
Mischtypen ist sehr groß. 

Zweitens ist es natürlich sehr schwer, eine Norm so klar zu 
bestimmen, daß Mißverständnisse ausgeschlossen bleiben. Wir müssen 
uns daher mit gewissen Axiomen begnügen, die, wie viele mathe- 
matische und philosophische Axiome, ohne weitere Erklärung hin- 
genommen werden müssen. 

Drittens. Abweichungen von der Norm bedeuten keineswegs 
immer eine entsprechende Verringerung des Kulturwertes der be- 
treffenden Individuen. Oft ist das Gegenteil der Fall. Blinde und 
verkrüppelte Kinder können zu Wohltätern der Menschheit heran- 
wachsen. Und es ist ganz besonders die neurotische Gruppe, welche 



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Grosrminw: Welche Klassen unter den AusnahmskiDdern aav- 



III 



dem Menschengeschlecht seine Führer und Genies geliefert hat: 
Denker und Dichter, Erfinder, Patrioten, Enthusiasten. 

Es ist das oft eine Sache der Umstände: mit anderen Worten, 
die Einflösse der Umgebung bestimmen nicht selten die Richtung, 
nach welcher sich das Individuum entwickelt, oder wohin der Schwer- 
punkt seiner Entwicklungspotentialen gelegt wird. Hierbei spielen 




die Gesellschafts^ruppe, in welcher das Individuum aufwächst, sein 
politisches und soziales Milieu, das Staatsganze, dem es angehört, und 
die in ihm wirkenden Kräfte entscheidende Rollen. Man hat die 
Behauptung aufgestellt, daß der Einbrecher, der ein kompliziertes 
Schloß aufzubrechen imstande ist, ebensoviel mechanische Geschick- 
lichkeit und Erfindungsgabe besitzen muß, wie der Schlosser, der 
den eigenartigen Mechanismus zu konstruieren fähig war. Der Dichter 



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112 A. Abhandlungen. 



und der Lügner tun im Grunde dasselbe: sie erdichten Dinge, die 
so, wie sie beschrieben werden, nicht existieren. Aber sie tun es 
von diametral auseinanderliegenden Motiven. Und es ist von einem 
berühmten Chirurgen Prankreichs erzählt worden, daß in ihm die 
Instinkte des Mörders und Torturknechtes schlummerten, nur daß sie 
in seiner individuellen Entwicklung zu Motiven geadelt wurden, 
welche ihn befähigten, Leiden zu stillen anstatt zu verursachen. 

Es zeigt sich also, daß ein Kind, wenn seine Potentialen oder 
Entwicklungsmöglichkeiten, nicht in der Richtung konstruktiver, posi- 
tiver Betätigung entfaltet werden, in Gefahr steht, daß es infolge 
verderblicher Erziehungseinflüsse ein destruktives, negierendes Element 
werde. So haben wir denn auf der einen Seite die Verlorenen, die 
Verbrecher, die Irregehenden, die in Wahnvorstellungen Ausartenden; 
und auf der anderen das Genie und den Welterlöser. In ihren Cr- 
Sprüngen standen sie einander nahe, und es hing eben davon ab. 
welche Einflüsse das Zünglein der Wage so oder so wendeten. Das 
zeigt den furchtbaren und oft unterschätzten Einfluß der Umgebung, 
der oft viel, viel größer ist, als der der Vererbung und der so- 
genannten Anlagen. 

Viertens. In Einzelheiten möchte ein verschiedener Gesichts- 
punkt auch zum Vorschlag anderer oder neuer Bezeichnungen für 
besondere Gruppen führen. Manchmal ist es nur eine Sache einer 
anderen Benennung; manchmal will man anders gruppieren, oder 
man will neue Gruppen einführen. In meiner Korrespondenz mit 
Fachleuten sind eine ganze Anzahl solcher Vorschläge gemacht worden. 
So hat man empfohlen, in der atypischen Gruppe neben den 
neurasthenischen Kindern auch solche zu unterscheiden, welche man 
psychasthenisch, oder psychopathisch, nennen sollte. Man hat auch 
den Ausdruck »paratypisch« anstatt pseudo- atypisch vorgeschlagen. 
Andere wollen die »unterdrückten Klassenc mit den pseudo-atypi- 
schen auf eine Stufe stellen. Es ist kein Grund vorhanden, diesen 
Meinungsverschiedenheiten ihre Berechtigung abzusprechen. Es kann 
ja überhaupt nur auf dem Boden eines Meinungsaustausches die volle 
Wahrheit gefunden werden. In meiner Klassifizierung sind psychische 
Eigenschaften neurologisch gefaßt worden, d. h. ich habe sie als 
Funktionen des Nervensystems dargestellt. Und ich habe meine ur- 
sprüngliche Einteilung beibehalten, weil noch zu wenig Einigkeit 
unter den abweichenden Meinungen herrscht 

Fünftens. Meine Einteilung bezieht sich auf Kinder, nicht 
auf Erwachsene. Illustrieren wir diesen Unterschied an einen! Bei- 
spiel. Von Geburt an wahnsinnige Kinder sind offenbar anormal. 



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Grosssiann: Welche Klassen unter den Ausnahmskindern usw. H3 



Ein geistesgestörter Erwachsener hingegen kann ursprünglich normal 
gewesen sein. Sein Wahnsinn war vielleicht die Wirkung einer 
Krankheit, oder der Vernachlässigung gewisser Krankheitssymptome 
im Entstehen oder auch neurasthenischer Zustände im Kindheitsalter. 
Solche neurasthenische Zustände sind charakteristisch für die Gruppe 
von Kindern, die ich atypisch genannt habe. Neurotische und neurasthe- 
nische Kinder zeigen Symptome eines unbeständigen Gleichgewichts 
im Nervensystem und im Geistes- und Gefühlsleben. Durch Vernach- 
lässigung oder ungünstige Umgebungseinflüsse können sie echte Psychosen 
entwickeln, wenn vielleicht nicht dauernd so doch temporär. 

Sechstens. Meine Einteilung involviert keine Typenstarrheit 
Individuen tieferstehender Klassen können nicht selten zu höherer 
Stufe entwickelt werden, wenn auch nur innerhalb gewisser Grenzen. 
Das ist besonders anwendbar auf die in der normalen Gruppe 
ein begriffenen Individuen. Die unterdrückten Klassen, sowie die- 
jenigen, welche hier als rudimentär oder atavistisch bezeichnet sind, 
können allmählich höherer Kulturentwicklung zugeführt werden. Das 
bezieht sich, allgemein gesprochen, auf die sogenannten »unteren 
Schichten« der Bevölkerung in allen Kulturstaaten; in Amerika be- 
sonders auf das Negerproblem und die Einwanderungsfrage; und in 
der Weltpolitik auf die Entwicklung der minderwertigen Kassen in 
den Kolonialländern, welche Kipling »tbe white man's bürden« — 
die Verantwortlichkeitsbürde des weißen Mannes — genannt hat 

Freilich ist auch ein Zurückfallen aus höheren in tieferstehende 
Gruppen häufig genug. Mangelhafte Erziehung oder sonstige un- 
günstige Umgebungseinflüsse sind die Ursachen. Selbst »typische« 
Kinder können ihr Gleichgewicht verlieren, sich fehlerhaft entwickeln 
oder verdorben werden. 

Die Erkenntnis dieser zwei Vorgänge, des Aufsteigens und des 
Absteigens auf der Entwicklungsleiter, bedeutet zugleich die Fest- 
stellung des größten und schwierigsten aller gesellschaftlichen Probleme. 

Noch ein Wort in bezug auf die hier gebrauchte Terminologie. 
Sie ist neu nur in dem Sinne, daß sie mit jedem Worte einen ganz 
bestimmten Ideenkomplex verbindet und die verschiedenen Bezeich- 
nungen streng differenziert Wörterbuch -Definitionen sind ziemlich 
unklar; doch sind die hier gebrauchten Ausdrücke im wesentlichen 
so angewandt, daß sie dem Sprachgebrauch entsprechen. Ohne daß 
man sich bemüht, jedes Wort eben nur in einem ganz bestimmten 
Sinne zu gebrauchen, sind wissenschaftliche Definitionen und Ein- 
teilungen schlechterdings unmöglich. Persönliche Vorliebe muß da 
sachlicher Klarheit weichen. 

Zoitichnft fftr Kinderforachung. XV. Jahrganj:. 8 



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114 A. Abhandlungen. 



Das Diagramm repräsentiert den Umkreis oder Umfang der 
menschlichen Gesellschaft Außerhalb des Kreises steht das anormale 
Kind, gleichsam die nicht- menschliche Gruppe. Anormale Kinder, 
solche die von Geburt aus schwachsinnig, irre, verbrecherisch usw. 
sind, können strenggenommen nicht in den Kreis menschlicher Be- 
tätigung und menschlichen Wettbewerbes eintreten. Viele unter ihnen 
können vielleicht, wie oben gezeigt wurde, ganz oder teilweise selbst- 
erhaltend werden, wie das schließlich ja auch unsere Haustiere sind; 
sie bedürfen aber unausgesetzt der Fürsorge in besonderen Anstalten, 
in denen sie zeitlebens interniert werden müssen. 

In der Mitte des Kreises, wie im Zentrum einer Scheibe, dem 
Ziele menschlicher Entwicklung, steht das in seinen Anlagen voll- 
ständige, im rechten Gleichgewicht stehende Kind des 
zwanzigsten Jahrhunderts, der Typ moderner Zivilisation. Inner- 
halb der Grenzen des mittleren Gleichgewichts aller seiner Potentialen 
gibt es natürlich eine große Anzahl Variationen. Jedes einzelne Kind 
unterscheidet sich bis zu gewissem Grade von dem sogenannten 
Durchschnitt und zeigt Eigentümlichkeiten: Vorzüge, Fehler und Ent- 
wicklungsverhältnisse, die ihm eben eigentümlich sind. Es ist ja all- 
bekannt, daß es nicht zwei Individuen gibt, die einander völlig 
gleichen. Immerhin aber herrscht ein genügender Ausgleich von 
Gegensätzen, daß Exzentrizität oder Entgleisung vermieden werden. 
Tritt eine so große Störung im normalen Gleichgewicht ein, daß das 
Pendel nicht mehr richtig zurückschwingt, dann beginnt die Ent- 
wicklung zum Ausnahmskinde. 

Die konzentrischen Kreise oder Ringe des Diagramms repräsen- 
tieren ebenso viele verschiedene Strata oder Schichten der mensch- 
lichen Gesellschaft. Sie zeigen relative Entfernungen oder Ab- 
weichungen von der menschlichen Norm, wie sich diese in dem 
Kinde mit normalem Gleichgewicht manifestiert. Weder die in dem 
Diagramm dargestellten Entfernungen vom Mittelpunkte noch die 
Flächeninhalte der Ringe entsprechen den wirklichen Verhältniszahlen 
auch nur annähernd, da die bis jetzt zur Verfügung stehenden 
statistischen und qualitativen Daten durchaus ungenügend sind. 
Immerhin ist es so gemeint, daß der Grad der Entfernung eines 
Ringes vom Zentrum den Grad der Abweichung von der Norm 
wenigstens andeuten soll. 

Manche dieser Abweichungen zerstören nicht die Möglichkeit 
einer mehr oder weniger normalen Entwicklung; sie gefährden sie 
nur. Alle Kinder, bei denen es sich also nur um eine solche Ge- 
fahr handelt, sind in der normalen Gruppe mit eingeschlossen. Sie 



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Grossmaito: Welche Klassen unter den Ausnahmskindern obw. H5 



weisen nur solche wirkliche oder scheinbare Abweichungen auf, welche 
die Kinder von dem Typ moderner Zivilisation unterscheiden, nicht 
aber von der eigentlichen menschlichen Norm. Es sind diese Kinder, 
welche ganz besondere Aufmerksamkeit seitens der Erzieher, Ärzte, 
Soziologen und Eltern verdienen; und es kann gesagt werden, daß 
in den Archiven moderner Forscher viele Fälle solcher Kinder ver- 
zeichnet stehen, denen durch rechtzeitigen Eingriff die Möglichkeit 
gesunder Entfaltung gewährleistet wurde. 

Da ist zunächst die Gruppe derer, die hier als »pseudo- 
atypisch ec bezeichnet sind, d. h. derjenigen, welche nicht an wirk- 
lichen pathologischen Abweichungen oder Schwächen kranken. Sie 
bedürfen der Abtrennung von den normalen und »typischen« Kindern 
nur in ganz geringem Maße, wenn überhaupt In einer ganzen An- 
zahl amerikanischer Schulen ist man dem Beispiele Deutschlands und 
Englands gefolgt und hat Spezi alklassen für solche Schüler eingerichtet, 
welche durch Schulwechsel zurückgeblieben oder in ihrer Entwicklung 
ausnahmsweise langsam sind, ohne gerade pathologisch verlangsamt 
zu sein. Manche Kinder sind durch Krankheit zurückgehalten worden; 
Lahme und Krüppel, Schwachsichtige und Schwerhörige, und sonst 
mehr oder weniger Leidende können durch solche Sonderklassen, in 
welchen ein mehr dem Individuum angepaßter Unterricht erteilt wird, 
den verlorenen Boden leicht wieder gewinnen. Durch Zusammen- 
wirken von Schul- und Hausarzt, Klinik- und Hospitalbehörden und 
ähnlichen Experten mit den Schulbehörden und den Eltern kann in 
diesen Fällen viel Segen gestiftet werden. In Amerika kennt man 
auch die Einrichtung von Schulpflegerinnen, geprüften Krankenpflege- 
rinnen, welche der Leitung der Schulbehörden und Gesundheitsämter 
unterstehen und in den Schulhäusern und den Wohnungen kranker 
Schulkinder ihren schönen Beruf ausüben. 

Es gibt nun auch eine Gruppe Kinder, deren Zustand selten als 
besonderer Fürsorge bedürftig begriffen wird und die doch häufig in 
der Gefahr körperlicher und geistiger Entgleisung stehen. Das sind 
diejenigen, welche sich zu schnell entwickeln. Da eine zu rasche 
Entwicklung selten sehr gleichmäßig vor sich geht, zeigt sich bald 
eine Spannung des Systems, die der ernstesten Beachtung würdig ist. 
Diese Kinder brauchen eine sorgfältig angepaßte Methodik des Unter- 
richts in Sonderklassen, und eine ausgleichende Behandlung im all- 
gemeinen. Man hüte sich nur, diese Klasse mit einer später be- 
schriebenen, der der i frühreifen Kinder, zu vermengen. Dann gibt 
es schwer erziehbare und vernachlässigte Kinder, welche des Zu- 
sammenwirkens von Schule und Haus, von Physiologen, Neurologen 

8* 

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116 



A. Abhandlungen. 



und Soziologen, von Kindergerichten und Rettungsanstalten bedürfen, 
ohne längere Zeit von den anderen Kindern separiert werden zu 
müssen. Ein Wechsel der Umgebung, das Übertragen in ein anderes 
erzieherisches Klima, sozusagen, tut hier manchmal Wunder. 

Zwei Punkte sollten hier besonders erwähnt werden. Der eine 
ist die spezielle Funktion der Sonderklasse, oder Hilfsklasse. Wo 
solche Klassen in Schulsystemen organisiert worden sind, hat man 
sie oft als eine Art Ablagerungsstätte für alle solche Kinder miß- 
braucht, mit denen man in den regelmäßigen Klassen nichts anzu- 
fangen wußte. Wenn ich mir die Sache recht vorstelle, sollte die 
Sonderklasse in einer Schule eine Art Ausgleichsbörse sein, die unter 
ganz besonders fähiger Leitung steht und im engsten Zusammenhange 
mit allen anderen in Betracht kommenden Faktoren arbeitet: dem 
Schularzt, dem Pathologen, dem Psychologen usw. Aus der Sonder- 
klasse wird das nur pseudo- atypische Kind verhältnismäßig rasch in 
die regelmäßige Schulklasse zurückkehren können. Andere Kinder, 
deren besonderer Zustand dort leichter festgestellt werden kann, werden 
aus ihr in solche Anstalten versetzt werden, die ihren Bedürfnissen 
entsprechen: in Besserungsanstalten, Erziehungsheime und päda- 
gogische Heilstätten, Internate, Asyle, Idiotenanstalten und dergl. mehr. 

Der andere Punkt bedeutet eine Warnung. Nur zu oft begnügt 
man sich mit einer bloßen medizinischen Kur. So z. B. bei Fällen 
von adenoiden Wucherungen. Es ist oft beobachtet worden, wie an- 
scheinend dumme, ja sogar boshaft angelegt scheinende Kinder da- 
durch von ihren Fehlern erlöst wurden, daß man ihnen diese Wuche- 
rungen oder die krankhaft vergrößerten Mandeln ausschnitt. Nun 
will ich von der Möglichkeit der Wiederkehr dieser Wucherungen 
gar nicht reden, obwohl sie oft genug vorkommt, da diese krankhaften 
Gebilde tieferen körperlichen Ursachen ihr Entstehen verdanken, so 
daß also nach ihrer Entfernung wohl eine besondere Lebeushygiene 
befolgt werden muß. Aber es gibt noch eine andere Erwägung. 
Während der Zeit, da das Kind an diesem Übel litt, war es ge- 
zwungen, sich an seine Umgebung anzupassen und schlecht und 
recht sich mit den Anforderungen abzufinden, die Haus und Schule 
an es stellten. Das war nun nicht leicht, da sein besonderer Defekt 
und seine besondere Schwierigkeit oft nicht erkannt wurden und man 
ihm als Widerspenstigkeit oder Dummheit auslegte, was nur die Folge 
seines Leidens war. Dieses Leiden bringt oft Apathie, Gehörstörungen, 
Störungen des Blutumlaufs und des Nervensystems usw. mit sich. 
So wurde das Kind entweder trage oder aufsässig, je nach sonstiger 
Charakteranlage, und entwickelte gewohnheitsmäßige Reaktionskomplexe, 



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Grossmanw: Welche Klassen unter den Ausnahmskindern usw. 117 



die durchaus verändert oder beseitigt werden müssen, wenn das Eind 
normal zu reagieren lernen soll. Das geschiebt aber nicht so leicht 
und schnell wie man glauben möchte. Daher ist sehr häufig eine be- 
sondere Erziehung nötig, und der Übergang geschieht oft am besten 
außerhalb des Elternhauses, da in diesem die alten Gewohnheiten 
leichter haften. 

Die Gruppe der atypischen Kinder ist besonders interessant. 
Für die neurotischen und neurasthenischen Kinder ist das Elternhaus 
meistens der schlechteste Platz. Sie werden am besten zeitweise 
separiert und in besonderen Anstalten untergebracht, welche den 
Charakter von Kindersanatorien tragen und wo ihre ganze Lebens- 
weise neu reguliert werden kann. Nervöse Kinder werden von ihrer 
Umgebung schwer verstanden und leiden fast immer durch Vernach- 
lässigung und direkten Antagonismus seitens derjenigen, die ihnen 
eigentlich sympathisch zur Seite stehen sollten. Sie kommen nur zu 
selten rechtzeitig in die Hand des Arztes oder Spezialpädagogen. Sie 
leiden an instabilem Gleichgewicht — d. h. ihre Potentialen sind 
unsicher balanciert. Sie sind Ausnahmskinder in dem Sinne, daß sie 
nicht nur unter das Durchschnittsniveau herabsinken, sondern sich 
auch hoch über dasselbe erheben können. Sie können glänzende 
Eigenschaften entwickeln und zu fortschrittlichen Führern werden — 
oder sie bleiben am Wege liegen und entfalten negative und zer- 
störende Tendenzen. Sie können sich zum Gipfel der Ekstase und 
der Genialität erheben, oder in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung 
und des Verbrechens versinken. Welch eine Aufgabe für die Ver- 
treter des Fortschritts im Kulturleben, für die Organe der Regierung, 
für Schulbebörden, Ärzte und Erzieher im allgemeinen! Diese Kinder 
verdienen es in ganz besonderem Maße, daß alle einschlagenden 
Faktoren in ihrem Interesse zusammenwirken. 

Bei manchen Kindern ist die Entwicklung pathologisch ver- 
langsamt Dann ist es eine Frage der Zeit, wann sie die normale 
Reife erlangen können. Neuerliche Untersuchungen New -Yorker 
Forscher haben gelehrt, daß man einen Unterschied machen muß 
zwischen dem, was man das physiologische und psychologische 
Alter eines Kindes nennen kann, und dem bloß chronologischen 
Alter. D. h. die Entwicklung eines Kindes ist keineswegs immer 
seinem Alter in Jahren parallel. Die Wichtigkeit dieser Unter- 
scheidung ist klar. 

Beobachtungen haben gezeigt, daß langsam reifende Kinder gelegent- 
lich eine plötzliche Verschnellerung ihrer Entwicklung aufweisen. Das 
geschieht namentlich in gewissen Entwicklungsperioden, wie der 



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118 A. Abhandlungen. 



Pubertätszeit und Adoleszenz. Doch gewöhnlich tritt die Reife ver- 
spätet ein und es erfordert die volle Aufmerksamkeit und Zusammen- 
wirkung der Erzieher, Ärzte und Eltern, um es zu vermeiden, daß 
eine bloße Verzögerung nicht in eine wirkliche Entwicklungshemmung 
ausartet 

Von den Kindern der subnormalen Gruppe sind die Fälle 
einer einfachen ünvollständigkei t der Potentialen, d. h. der 
mit eigentlichen Entwicklungsfehlern behafteten Kinder, am hoffnungs- 
vollsten. Freilich, da bei ihnen ein oder mehrere Sinne oder Be- 
tätigungsmöglichkeiten ausgeschieden sind, können sie niemals die 
volle Lobonsnorm erreichen. Aber es ist doch in jüngster Zeit mög- 
lich geworden, soviel für die Erziehung von Epilektikern, Blinden, 
Taubstummen und Krüppeln zu tun, daß der Beweis geliefert worden 
ist, daß sie nicht nur selten von normalen Kindern abgetrennt zu 
werden brauchon, sondern sicherlich in vielen Fällen zu nützlichen 
Gliedern der menschlichen Gesellschaft heranwachsen. 

Die schwierigste Klasse dieser Gruppe sind natürlich die epilep- 
tischen Kinder. Diese scheinen in besonderen Kolonien und Heim- 
stätten am besten behandelt werden zu können. 

Bei Kindern, deren Entwicklung dauernde Hemmungen und 
Unterbrechungen aufweist, ist der Versuch von Präventivmaßregeln 
von zweifelhaftem Werte. Man kann natürlich versuchen, die be- 
sonderen Ursachen, wie Krankheit, Schreck und Unfälle zu vermeiden 
— aber so leicht ist das ja nicht. Die anderen Fälle sind seltener 
zu kontrollieren. Es ist nur möglich, ihre Lage zu mildern, die 
Wirkungen ihrer Krankheit oder ihrer Nervenerschütterung teilweise 
zu schwächen. Arzt und Erzieher können da durch gemeinsames Vor- 
gehen viel erreichen, namentlich, wenn es gelingt, auch die Behörden 
und Wohltätigkeitsgesollschaften zur Mitwirkung heranzuziehen. Immer- 
hin aber handelt es sich hier eben um mehr oder weniger perma- 
nente Entgleisung, und Abtrennung und Isolierung sind in den meisten 
Fällen geboten. 

Das Gleiche muß von den Kindern gesagt werden, deren Ent- 
wicklung rudimentär oder atavistisch ist. Es existieren noch 
ganzo Rassen, welche von dem Fortschritt moderner Zivilisation un- 
berührt geblieben und in welchen die gesellschaftlichen Instinkte nur 
mangelhaft entwickelt sind. Sie stehen an dor äußersten Grenze der 
Kulturvölker der heutigen Zeit. Sie bilden >the white man's btirdenc 
Und zwar handelt es sich keineswegs immer nur um Rassen, die in 
fernen Ländern wohnen. Amerika hat sein Negerproblem und sein 
Einwanderungsproblem. Damit sind nicht nur die asiatischen Ein- 



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Grossimnk: "Welche Klassen unter den Ausnah mskindem usw. 



119 



wanderer, die Kulis und Japanesen, gemeint, sondern auch gar viele 
Gruppen von Einwanderern, deren Zahl in die Hunderttausende geht, 
aus den europäischen Kulturländern. Denn diese Länder haben 
keineswegs eine einheitliche Bevölkerung. In dem langen geschicht- 
lichen Prozeß des Völkeraufbaus hat eine Rasse die andere unter- 
jocht und sich dann zum Teil mit den Unterjochten vermischt. Aber 
nur zum Teil. In jedem Lande sind ganz leicht erkennbare Schichten 
vorhanden, die nur äußerlich soziale Schichten sind, in Wirklichkeit 
aber historische Perioden und Rassen unterschiede erkennen lassen. 
So kann man die französische Revolution in gewissem Sinne als einen 
Aufstand der unterjochten Gallier gegen die fränkischen Herren auf- 
fassen. Auch in deutschen Landen herrschen noch heute ähnliche 
Verhältnisse. Überall gibt es Schichten, die vom Kulturfortschritt 
nur äußerlich, wenn überhaupt berührt worden sind und nur teil- 
weise assimiliert erscheinen. Sie repräsentieren primitive Instinkte 
und Lebensäußerungen, geistig, sittlich und gesellschaftlich. 

Dann erscheint auch in einzelnen Kindern gelegentlich ein selt- 
sames Naturspiel, wenn man es so nennen darf, obwohl Eltern und 
Verwandte keinerlei Defekte aufweisen, die sich etwa als erbliche 
Belastung auf ein solches Kind übertragen könnten. Der Zustand ist 
vielmehr ein »Atavismusc, d. h. ein mehr oder weniger unerklärlicher 
Rückfall in primitive Entwicklungsstufen, wie sich ja auch manchmal 
in dem körperlichen Wachstum solche Atavismen zeigen. 

Im allgemeinen ist das Problem der subnormalen Kinder nicht 
ein Problem des Individuums, welches in der kurzen Lebensspanne, 
die einem Menschen zugemessen ist, gelöst werden könnte. Es ist 
vielmehr ein sozialpolitisches Problem, ein Problem der ganzen Gruppe. 
Was nicht im Individuum verwirklicht werden kann, kann vielleicht 
in einer oder mehreren Generationen erreicht werden, wenn die dazu 
nötigen Lebens- und Entwicklungsbedingungen geschaffeu werden. 

So ist denn auch bei den tiefststehenden Gruppen innerhalb der 
menschlichen Gesellschaft die Hoffnung des Aufsteigens vorhanden. 
Und wenn schon die Möglichkeit fortschrittlicher Entwicklung für 
primitive Völker, für die unterdrückten Klassen, und für die 
eigentlich defektiven Gruppen gegeben ist, um wieviel hoffnungs- 
freudiger müssen wir dem Problem des atypischen und pseudo- 
atypischen Kindes gegenüberstehen. Hier sind ungeheure Entwick- 
lungsmöglichkeiten, gewaltige Aufgaben für den Erzieher, den Axzt, 
den Philanthropen und die Behörden, so daß man wohl sagen darf, 
eine Lösung dieser Frage wird wesentlich dazu beitragen, unser 
Kulturleben in ungeahnter Weise fortschrittlich umzugestalten. 



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120 A. Abhandlungen. 



Mein Versuch einer wissenschaftlichen Klassifizierung 
der Ausnahmskinder ergibt also folgendes Schema: 

A. Normale Kinder. 

(Solche, die der Norm des menschlichen Wesens entsprechen.) 

1. Typische Kinder. 

Diese entsprechen dem Durchschnittstyp menschlicher Entwicklung dur 
Gegenwart, und repräsentieren die gegenwärtig erreichte Stufe der Kultur 
und Zivilisation. 

2. Pseudo-atypische Kinder. 

Diese weichen nur scheinbar vom Durchschnittstyp ab. 

a) Kinder, deren Schulfortschritt aufgehalten wurde durch: 

1. Schulwechsel; 

2. Langsamere Entwicklungsstufe, ohne pathologische Verlangsamung; 

3. Krankheiten; 

4. Leichte körperliche Gebrechen, wie Lahmheit und leichtere Miß- 
bildungen, Seh- und Hörschwache, adenoide Wucherungen usw. 
Diese letzte Klasse ähnelt Gruppe 2 der pathologischen Klassen der sub- 
normale Gruppe; nur mit dem Unterschiede, daß sie verlangsamte, 
anstatt unterbrochene Entwicklung darstellt. 

b) Kinder von ungewöhnlich rascher Entwicklung, ohne echte, pathologische 
Frühreife. 

c) Schwer erziehbare Kinder. 

Unartige, widerspenstige, verzogene Kinder, ohne echte Perversität. 

d) Vernachlässigte Kinder. 

Pseudo-atypische Kinder können verhältnismäßig rasch zu normalem 
Gleichgewicht zurückgeführt werden. 

3. Eigentlich atypische Kinder. 

Diese weichen vom Durchschnittstyp der Gegenwart ab. 

Die Ursachen sind teils erbliche, teils vorgeburtliche und teils naeh- 
geburtliche Einflüsse. 

a) Neurotische und neurasthenische Kinder. 

Überreizung und Frühreife. Reizbarkeit. Übermäßige Einbildungskraft 
und ein Fehlen des Gleichgewichts im Geistes- und Gemütsleben. 
Hysterie. Mangel an Konzentration der Aufmerksamkeit. Negativismus. 
Pathologische Widerhaarigkeit und Perversität Geschlechtliche Frühreife. 
Angstneurosen und Zwangsvorstellungen. Mangelhafte Selbstbeherrschung. 
Tic. Bewegungsstörungen. Vasomotorische, Empfindung«- und trophische 
Störungen. 

b) Kinder, deren Entwicklung pathologisch verlangsamt ist. 
Mangelhafte Auffassungsfähigkeit infolge verlangsamter Gehirnentwicklung. 
Physiologische Verlangsamung des Wachstums. Besondere körper- 
liche Ursachen: chronischer Katarrh, chronische Ernährungsstörungen, 
schwere chronische Schwächung des Gesichts und Gehörs, venerische Au- 
steckung usw. 

Individuen aller dieser Klassen können auf ein niedereres Niveau herabsinken, 
wenn ihre Besonderheiten vernachlässigt oder sie ungünstigen Umgebungseinflüssen 
ausgesetzt werden. Mit anderen Worten, sie können ihre normalen Eigenschaften 
verlieren und bleibende Entwicklungsfebler erwerben. Jedes Individuum hat 
bestimmte Potentiale (Anlagen oder Entwicklungsmöglichkeiten), und es hängt 



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Grossmann: Welche Kla&sen unter den Ausnahmskindern usw. 121 



ganz davon ab, nach weloher Richtung dieselben zur Entwicklung kommen. 
Andrerseits, da atypische und psendo- atypische Kinder die normalen Anlagen 
besitzen, können sie im großen Ganzen zum normalen Gleichgewicht zurück- 
geführt werden. 

B. Sabnormale Kinder. 

Kinder, deren Anlagen unvollständig oder unterentwickelt sind. 

1. Kinder mit eigentlichen Entwicklungsfehlern. 
Erbliche und vorgeburtliche Ursachen. 

Epileptiker, Blinde, Taubstumme, Mißgebildete, Gelähmte, Krüppel usw. 
Diese Kinder können niemals die volle Lebeosnorm erreichen, da ihre 
Potentiale unvollständig sind, obwohl sie sonst in manchen Fällen nützliche 
Glieder der Gesellschaft werden mögen. 

2. Kinder, deren Entwicklung dauernd unterbrochen worden ist. 
Erworbene Anormalität oder Fehlerhaftigkeit. 

a) Pathologische Fälle. 

Kinder, die anscheinend normal geboren wurden, deren Entwicklung aber 
gehemmt wurde durch: 

1. Erbliche Ursachen, die in gewissen Entwicklungsperioden zum Vor- 
schein kommen; 

2. Besondere Ursachen, wie Krankheit, Schreck, Unfälle usw. 

Die Entwicklungshemmung mag nur eine teilweise sein, z. B. wenn 
Kinder durch einen Unfall verkrüppelt werden ; dann entsteht einfach ein 
Zustand der Unvollständigkeit, wie in Gruppe l dieser Klasse. 

b) Unterdrückte Klassen. 

Umgebungseinflüsse haben diese Kinder daran verhindert, ihre volle 
körperliche und geistige Reife zu erwerben. 

Kinder, deren Entwicklung dauernd gehemmt ist, werden stets subnormal 
bleiben, gleichviel wie erfolgreich sie innerhalb ihrer Grenzen erzogen 
werden. 

Man beachte den Unterschied zwischen Entwicklungsstörung oder 
Entwicklungsverlangsamung und Entwicklungshemmung. 
Bloße Störung und Verlangsamung schließt die Möglichkeit nicht aus, daß 
das betreffende Kind geistig weiter wächst, selbst wenn eine Lebenszeit 
nicht ausreichen sollte, die volle Reife zu entwickeln. Eine Hemmung 
dagegen bringt die Entwicklung zu irgend einer gegebenen Periode im 
Wesentlichen zum Stillstand. 

3. Kinder, deren Entwicklung rudimentär oder atavistisch ist 
Der primitive Typ, mit geistigen, sittlichen und sozialen Instinkten und Be- 
tätigungen, die auf der Stufe des Wilden, Barbaren und außerhalb moderner 
Zivilisation stehen. Tieferstehende Rassen. 

Atavistische Individuen. Diese stehen der anormalen Stufe nahe. Sie zeigen 
einen Rückfall in Instinkten und Anlagen auf früheren Entwicklungsstufen, 
obwohl sie von anscheinend normalen Eltern geboren sind. 

— Die Gruppen A und B setzen die menschliche Gesellschaft 
zusammen. — 

C Anormale Kinder. 

Diese weichen nicht nur vom modernen Menschentyp, sondern von der mensch- 
lichen Nonn überhaupt ab und stehen außerhalb der menschlichen Gesellschaft 
Erbliche und vorgeburtliche Ursachen. 



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122 B. Mitteilungen. 



Cretin8 und Cretinoide; Mikro-, Makro- und Hydrocephale; Idioten, Idio- 
imbecille, lmbecille una Schwachsinnige; Wahnsinnige; geborene Verbrecher; 
moralisch Schwachsinnige und moralisch Verworfene. 

Diese Kinder bedürfen dauernder Unterbringung in Instituten und 
häufig Abschließung mit besonderer Beaufsichtigung. 



B. Mitteilungen. 



Die Ausschüsse für Jugendfürsorge im Amtsgerichts- 
bezirke Lennep. 

In dem Zentralblatt für Vorm und schafts wesen , Jugend- 
gerichte und Fürsorgeerziehung, Orgau des Allgemeinen Fürsorge- 
erziehungstages, unter Mitwirkung des Archivs Deutscher Berufsvormünder 
herausgegeben von Dr. Adolf Grabowky und Dr. Franz Recke (Carl 
Heymanns Verlag Berlin W), I. Jahrg. Nr. 9 wird von dem vortrefflichen 
Amtsgerichtsrat Landsberg-Leonep über diese Ausschüsse folgendes be- 
richtet: 

In Nr. 1 des Zentralblatts spricht Petersen die Befürchtung aus, die Für- 
sorgeausschüsse könnten den Gemeindewaisenrat aus seiner gesetzlich festgelegten 
Stellung verdrängen und ihm Aufgaben vorwegnehmen, welche der Gemeinde- 
waisenrat ebenso gut erfüllen könnte. Ob diese Befürchtung anderwärts begründet 
ist, wage ich nicht zu entscheiden. Für unsere rheinischen Fürsorgeausschüsse 
trifft sie aber keineswegs zu. Vielmehr sind die Gemeinden mit Fürsorgeausschüssen 
(FA.) stets auch diejenigen, in welchen der Gemeindewaisenrat (GWR.) am besten 
arbeitet. Beide Einrichtungen stehen nämlich nicht im Gegensatze zueinander, 
sondern in organischer Verbindung, wie zwei Beamte der gleichen Behörde. Im 
Amtsgerichtsbezirke Lennep handelt es sich um fünf Gemeinden mit sechs Aus- 
schüsssen, die je nach den örtlichen Verhältnissen kleine Verschiedenheiten auf- 
weisen. Sie entstanden in anderer Weise, als der GWR., enthalten aber die päda- 
gogisch befähigten Elemente des GWR. Den Vorsitz führen die Bürgermeister, 
welche ihn auch im GWR. führen. Die Waisenpflegerinnen sind zugleich Mitglieder 
des FA. und in Lennep wohnt der Vormundschaftsrichter sowohl den Sitzungen des 
GWR. wie des FA. regelmäßig bei. Sobald ein Mitglied des GWR. über einen den 
FA. beschäftigenden Fall näher Bescheid weiß, wird er an der Beratung des FA. 
beteiligt. Der FA. verbindet die freie Beweglichkeit eines Vereins mit der Sicher- 
heit und Routine einer Behörde. 

Abgesehen von einigen Nebenaufgaben erfüllt der FA. folgende Ilauptfunktionen: 

1. Er macht für eine Reihe gefährdeter, verwahrloster, straffälliger Kinder 
und Jugendlicher die gerichtliche Verhandlung entbehrlich. 

2. Er hilft dem Vormuudschaftsgericht, der Staatsanwaltschaft und dem 
Jugendgericht bei Erfüllung ihrer Aufgaben an denjenigen Kindern und Jugend- 
lichen, welche von der Justiz behandolt werden müssen. 

Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, bedarf der FA. in der Regel Er- 
mittlungen. Sie erfolgen in verschiedener, stets dem einzelnen Fall angepaßter 
Weise, in der Regel durch ein einzelnes beauftragtes Mitglied, welches aber nicht 
durch den Zwang, Protokolle aufzunehmen, behindert ist. Alles beruht auf persön- 



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Die Ausschüsse für Jugendfürsorge im Amtsgerichtsbezirke Lennep. 123 



lieber, unmittelbarer Kenntnisnahme. Die Fälle zerfallen in »eigene< und »ge- 
gebene« . Der »eigene« Fall beruht auf einer an den FA. direkt aus dem Leben 
herangetretenen Kenntnisnahme. Ein FA.-Mitglied sieht z. B. einen Knaben bei 
Tiermißhandlung. Der gegebene Fall geht, in der Regel mit Akten, seitens der Be- 
hörden ein: von Polizei, Staatsanwaltschaft, Schulbehörde, Vormundschaftsrichter, 
Jugendgericht, auswärtigen Organisationen 1 ), oder auch vom GWB. Der »eigene« 
Fall wird leicht folgenden Verlauf nehmen: Der Beauftragte erkundet die Familie, 
meist durch eigenen Besuch. Stellt es sich heraus, daß die Eltern ordentliche 
Leute sind, so werden sie mit ihrem Kinde bestellt. Dann wird die Lage mit ihnen 
beraten. Es ist bisher nicht vorgekommen, daß Eltern der Bestellung nicht folgten. 
Wenn sie nicht erscheinen, soll sie der Vonnundschaftsrichter nach Abrede in das 
Berarungslokal dos Ausschusses laden. Die häufigbte Ix>sung der »eigenen« Fälle 
ist dann die, daß die Eltern die Erziehungsbeihilfe durch regelmäßige Besuche eines 
Helfers oder einer Helferin des FA. erhalten, daß dem Kinde gewisse Kegeln auf- 
erlegt werden, z. B. Verbot des Ausgehens nach 8 Uhr abends, Verbot oder Gebot 
eines bestimmten Verkehrs. Oft wird auch Lektüre beschafft und positiv gegen 
das Üble gekämpft. Aber auch »eigene« Fälle gestalten sich oft so, daß der FA. 
sie an die Behörde abgeben muß, um die für das eine beteiligte Kind oder andere 
zunächst unbeteiligte Kinder bestehende Gefahrdang zu beseitigen. Die zumeist in 
Betracht kommende Behörde ist das Vormundschaftsgericht Zu Strafanzeigen ist 
der FA. nicht verpflichtet. Sobald eine Sache an das Vormundschaftsgericht geht, 
wird das bisher gesammelte Material notiert, meist gleich von dem als Gant an- 
wesenden Vormundsohaftsrichter selbst. Dieser macht das Gehörte aktenkundig und 
kann in der Regel ohne weitere Ermittlungen, wenn auch nach Erfüllung der 
Formalien, unmittelbar zur Anwendung der §§ 1606, 1838 BGB. oder des FEG. 
übergehen, natürlich auch zu milderen Maßregeln, wenn sie Erfolg verheißen. 

Die »gegebenen« Fälle treffen jetzt meist von der Staatsanwaltschaft des 
Landgerichts Elberfeld selbst ein, mit der Aufforderung, ein Gutachten darüber zu 
erteilen, ob ein Jugendlicher bei Begehung seiner Straftat die zur Erkenntnis der 
Strafbarkeit seiner Handlung erforderliche Einsicht besessen habe. Dadurch ent- 
stehen für den FA. zwei Aufgaben: 

1. die Unterlagen für ein Gutachten zu beschaffen, 

2. sich darüber schlüssig zu werden, welche Fürsorge dem Verurteilten oder 
Freigewordenen später zuteil werden soll, um ihn für ein geordnetes Leben 
zu erhalten oder zurückzugewinnen. 

Hierzu werden der persönliche Seelsorger, der Lehrer, der Arbeitgeber, und, 
wenn geeignet, auch Kameraden des Betreffenden zu Hilfe gezogen. Zugleich sucht 
der Ermittlungsbeaaftragte in persönlicher Fühlung mit Familie und Person des Be- 
schuldigten dessen Charakter, Entwicklung, soziale Lage, Miliou, Umgang und 
Neigungen zu ergründen. In einer formlosen, aber in ihren Hauptzügen protokol- 
lierten, Hauptversammlung wird das Gutachten für die Staatsanwaltschaft abgesetzt. 
Der Vormundschaftsrichter erhält Abschrift des Protokolls und lausebt mit der 
Staatsanwaltschaft (Amtsanwaltschaft) eiligst Gedanken und Material aus. Das Gut- 
achten enthält vorab die Äußerung Ober die Einsichtefrage und sonstige etwa von 
der Staatsanwaltschaft gestellte Fragen, Ferner aber werden andersartige Ansichten 
über den Straffall ruhig mit geäußert, z. B. solche über den Strafaufschub, über 
den Gesamtcharakter, über weitere Strafausschließungs- , Milderungs- oder Er- 



l ) Die Ausschüsse leisten einander auch Rechtshilfe. 



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124 



i 



schwerungsgründe, manchmal auch über Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit de» 
einen oder des anderen Straf- oder Behandlungsmittels. Die Staatsanwaltschaft 
ist an diese Gutachten ebensowenig gebunden wie das Gericht. Dennoch pflegt die 
Staatsanwaltschaft dem Gutachten entsprechend entweder Anklage zu erheben oder 
das Verfahren einzustellen und die Akten an das Vormundschaftsgericht abzugeben. 
Die Befugnis der Staatsanwaltschaft, wegen »mangelnder Einsichtc einzustellen, ist 
mit Rücksicht auf den Wortlaut des § 56 StGB, bestritten worden. Indessen ist 
nach der Ansicht bedeutender Rechtslehrer ') die Einsicht im Sinne des § 56 StGB, 
nichts anderes als ein wesentlicher Bestandteil der Zurechnungsfähigkeit 
Bei fehlender Vollständigkeit der Zurechnuugsfähigkeit braucht aber die Staats- 
anwaltschaft keine Anklage zu erheben; darüber werden wir wohl alle einig sein. 7 ) 

Erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage und kommt die Sache vor das Jugend- 
gericht, so verbindet der Jugendrichter die Verhandlung über die Straf frage mit 
der Verhandlung über die Fürsorgefrage. Er ladt die ihm schon bekannten, best- 
informierten Mitglieder des FA. in die Verhandlung als Sachverstandige. Hier be- 
teiligen sie sich an der öffentlichen Verhandlung, geben ihre Auskünfte, welche den 
Schöffen ja noch unbekannt sind und beraten mit dem Jugendgerichte geheim über 
die etwa zu ergreifenden Erziehungsmaßnahmen. Letztere werden dann meist auch 
gleich angeordnet und ausgeführt. Das vom FA. als Erziehungspfleger in Vorschlag 
zu bringende Mitglied — meist einer der Sachverstandigen — ist zugegen und tritt 
auf Erfordern sofort sein Amt an. 

Nach der Rechtskraft der Entscheidung geht die Sache wieder an den FA. 
zurück, der nun, mit der vollendeten Tatsache rechnend, seine weiteren Maßnahmen 
trifft oder solche beim Vormundschaftsgericht, der Annenbehörde oder einer 
sonstigen Organisation anregt. 

Die Fürsorgeausscbüsse sind nun schon soweit geübt, daß sie auch erweiterten 
Aufgaben gewachsen sein würden. So sehr ich aber auch für die Beteiligung der 
pädagogischen Elemente an der forensischen Behandlung der Jugend bin, so würde 
ich es doch für unheilvoll halten, sollte der Jurist zugunsten des Pädagogen aus 
dieser Arbeit ausgeschaltet werden.*) Das Heil liegt im Zusammenwirken beider 
Elemente. 4 ) Neben dieser ihn mit der Justiz verknüpfenden Arbeit leistet der FA. 
auch noch vorbeugende Tätigkeit anderer Art. So kämpft er eben eineu heftigen 
Angriffskampf gegen die Schundliteratur, welche unsere Jugendlichen seelisch ver- 
giftet. Die Buchhändler haben sich zunächst gefügt. Da aber immer wieder der 
Versuch gemacht wird, die bedenkliche Ware in irgend einer Form an die Jugend 
heranzubringen, so wird von dem FA. der Vertrieb von guteu Volksbüchern durch 
eine Art Einkaufsgenossenschaft augeregt. Die Beamtenvereinigung hat sich diesem 
Gedanken bereits zur Verfügung gestellt. 



*) Oetker im »Gerichtssaal« 1909, 8. 386 ff . 

*) Vergl. dazu die Ausführungen von Staatsanwalt Wellenkamp auf dem 
Jugendgerichtstag, Nr. 4 S. 40 des Zentralblatts. 

*) Wenn Kuhn-Kelly in Beiträgen für Kinderforschung die Jugendgerichte 
durch Fürsorgeausschüsse, Jugendschutzkommissionen ersetzen will, so bedeutet das 
keine solche Ausschaltung, da im FA. ein Richter mitwirken würde. 

4 ) Das ist auch von uns seit je auf das nachdrücklichste betont worden. Von 
einer andern juristischen Seite wurde zwar am Anfang der Bewegung die Koordi- 
nation beider Kreise anerkannt, allmählich wurde aber der Erzieher wieder als nicht 
maßgebend beiseite geschoben, zum Unheil der Jugend. Tr. 



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Die Ausschüsse für Jugendfürsorge im Amtsgerichtsbezirke Lennep. 125 



Statistisch sei noch hinzugefügt, daß im Jahre 1908 die Zahl der vor das 
Schöffengericht gestellten Jugendlichen um nahezu die Hälfte heruntergegangen ist 
Genau die dieser Differenz entsprechende Zahl von Fallen fand in den Fürsorge- 
ausschüssen eine für die Jugendlichen vorteilhaftere, harmlose und doch wirkungs- 
volle Lösung. 

Satzung des Lenneper Ausschusses für Jugendfürsorge. 1 ) 

§ 1. 

Zweck des Ausschusses ist: 

1. sich der Kinder derjenigen Eltern anzunehmen, die infolge von 
Krankheit, Bedürftigkeit, Abwesenheit von Hause und aus anderen Gründen 
ihre elterlichen Pflichten nicht erfüllen; 

2. bei strafbaren Handlungen, die von Jugendlichen im strafmündigen 
Alter begangen werden, vor Einleitung des Strafverfahrens bezw. bevor 
Anklage gegen sie erhoben wird, ein Outachten darüber abzugeben, ob 
die Jugendlichen bei Begehung der strafbaren Handlung das Maß der 
Einsicht besessen haben, das zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforder- 
lich ist; 

3. die Jugendlichen, die nach dem Urteil der zustandigen Behörde 
diese Einsicht nicht besitzen und in ihrer Familie verbleiben dürfen, sowie 
auch diejenigen, die vom Strafgerichte verurteilt sind, in geeignete Für- 
sorge zu nehmen; 

4. dem Vormundschaftsgericht in geeigneten Fallen die erforderlichen 
Anzeigen zu machen und sich mit ihm in Verbindung zu setzen. 

§ 2. 

Der Ausschuß besteht ans folgenden stimmberechtigten Mitgliedern: 

1. dem Bürgermeister als Vorsitzenden oder dem von ihm beauf- 
tragten Beigeordneten als Stellvertreter; 

2. dem evangelischen Geistlichen, der jeweilig den Vorsitz im Pres- 
byterium führt; 

3. dem leitenden katholischen Geistlichen; 

4. dem dienstältesten katholischen Elementarschulleiter; 

5. dem dienstältesten evangelischen Elementarschulleiter; 

6. bei Kindern höherer Schulen in Lennep dem Leiter der betreffen- 
den Schule an Stelle der genannten Elementarschulleiter; 

7. zwei Bürgern der Stadt uud zwei Frauen, die von der Stadt- 
verordnetenversammlung auf je drei Jahre gewählt werden, sowie einer 
Waisenpflegerin. 

§ 3. 

Die Einladungen zu den Ausschußsitzungen, die in der Regel im 
Amtsraum des Büigermeisters stattfinden sollen, erläßt der Vorsitzende. 



') In der Fassung vom Januar 1909. Die erste Satzung war am 10. Dezember 
1907 angenommen worden. Zuvor wurde ohne Satzung von Fall zu Fall gearbeitet 
Ähnliche Statuten haben die Fürsorgeausschüsse in K ade vorm wald (Amtsgerichts- 
bezirk Lennep) und Solingen. 



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128 C. Literatur. 



errungen wurde, was aber die Juristerei der Bureaukratie immer wieder 
mit allen Mitteln zu beseitigen strebte, und daß nun gerade ein Jurist 
es ist, der Dörpfelda Ideale greifbar zu verwirklichen beginnt. Tr. 



C. Literatur. 



Dr. med. Hermann, Anstaltsarzt in Merzig, Grundlagen für das Verständnis 
krankhafter Seelen zustände (psychopathischer Minderwertigkeiten) beim 
Kinde in 30 Vorlesungen für die Zwecke der Heilpädagogik, Jugendgerichte und 
Fürsorgeerziehung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1910. 
Mit 5 Tafeln. Xll und 180 Seiten. Preis 3 M, geb. 4 M. 

Es ist ohne Zweifel ein Verdienst um die Heilpädagogik, wenn das Wissens- 
werteste aus der neueren Psychiatrie in seiner Anwendung auf das Gebiet der Er- 
ziehung klar und übersichtlich zusammengestellt wird und jederzeit leicht nach- 
geschlagen werden kann, ohne daß weitere fachmännische Kenntnisse vorausgesetzt 
werden. Diese Aufgabe hat der Verfasser offenbar recht befriedigend gelöst 

Besonders wertvoll ist die vorwiegende Betonung der leichteren krankhaften 
Soelenzustände, die im praktischen lieben eine außerordentlich viel größere Rolle 
spielen, als die eigentlichen Geisteskrankheiten. 

Im einzelnen können wir freilich nicht allem bedingungslos zustimmen. Da£ 
»die psychischen Fehler abnormer Kinder nur vom naturwissenschaftlichen, nicht 
vom moralisierenden Standpunkt aus betrachtet werden können,« gilt gewiß für die 
Geisteskranken, aber gerade für die psychopathisch Minderwertigen nicht, sonst hätte 
ja die Heilpädagogik das Feld ganz zu räumen. Auch die Unterscheidung zwischen 
angeborenen und erworbenen krankhaften Seelenzuständen ist keineswegs immer so 
leicht, ab dies nach der Darstellung erscheinen könnte, und die sogenannten »Ent- 
artungszeichen« stellen sich gar nicht selten eher als erfreuliche denn als un- 
erfreuliche Zeichen für den Laien dar. Trotzdem wird kein Leser das Buch aas 
der Hand legen, ohne eine Fülle von Anregung daraus gewonnen zu haben. 
Stuttgart. San.-Rat Römer. 

Haymann, Dr. med., Kinderaussagen. (Samml. zwangloser Abhandl. Hoche, 
Bd. VIII, H. 7.) Halle a. S., Verlag von Marhold, 1909. 1 M. 

Die äußerst anregende Schrift faßt in vorzüglicher Weise alles über das Thema 
Bekannte und Erforschte zusammen, ist allgemein verständlich und für den Lehrer 
normaler wie abnormer Kinder von großem Interesse. Der Anfänger findet außer- 
dem lehrreiche psychopathologische Hinweise, der Vorgeschrittene wertvolle Be- 
ziehungen zur normalen Kinder Psychologie einerseits, zu den psychopathischen 
Minderwertigkeiten andrerseits. Vortrefflich ist die Darstellung der Lüge und ihre 
Abgrenzung gegen pathologische Formen. Die zahlreichen experimentellen Be- 
obachtungen der Literatur werden in fesselnder und kritischer Art gewürdigt und 
ein höchst bemerkenswerter Fall von induzierter (durch psychische Ansteckung von 
dem geisteskranken Vater übernommener) sexueller Falschbeschuldigung bei zwei 
psychopathischen Kindern angeschlossen. Die Arbeit bietet in jeder Hinsicht soviel 
Wertvolles in mustergültig klarer und exakter Form, daß sie warm empfohlen 
werden kann. Dr. med. Hermann. 

Druck von Humana Beyer 5c Sökwu (Boy« k Mann) in Langensalza. 



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Bruno Meyer- Berlin. 



Unter den verschiedenen Richtungen, die die moderne Pädagogik 
zum Zwecke einer Verbesserung unseres Unterrichtes und unserer 
Erziehung eingeschlagen hat, nimmt auch die Richtung auf die 
Herbeiführung eines intimeren Verhältnisses des Kindes zur Kunst, 
schon von seinen frühesten Tagen an, einen breiten Raum ein, und 
es ist nach dieser Richtung Erhebliches, wenigstens an Umfang, ge- 
schehen. Ob man das Geleistete auch in Rücksicht auf seinen inneren 
Wert durchaus billigen kann, ist eine andere Frage, die nicht mit 
einem harten Ja oder Nein beantwortet werden mag, sondern in 
folgenden selbständigen Betrachtungen eine Lösung, soweit sie augen- 
blicklich möglich erscheint, finden soll. 

Der Mensch kann, wie zu allem, auch zu der Kunst in einem 
zwiefachen Verhältnisse stehen, nämlich als Aufnehmender und als 
Gestaltender, und in beiden. Richtungen kann auch die Erziehung die 
Kunst in ihren Kreis ziehen; und sie hat es getan, mit Bevorzugung 
der zweiten Richtung bis zu einem Grade, daß man empfohlen hat, 
die Grundlage jeder künstlerischen Technik, das Zeichnen, sogar dem 
Schreiben vorangehen zu lassen, um die erste Übung der Hand, die 
angeblich durch die Schrei bbewegungen zu künstlich in Anspruch 
genommen werde, durch die angeblich leichtere Eingewöhnung mit 
Hüfe zeichnerischer Gestaltungen zu erleichtern. Ich will nicht in 
die Streitfrage eintreten, ob dies grundsätzlich vollkommen richtig ist 

ZetUchnft für Kinderforachong. XV. Jahrgang. 9 



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130 



A. Abhandlungen. 



Daß ich nicht ganz davon überzeugt bin, habe ich durch das zweimal 
gebrauchte »angeblicht hinreichend dokumentiert Richtig scheint 
mir an der Sache dies, daß die Zeichenbewegungen bei dem Kinde 
ohne Schaden viel früher veranlaßt werden können, als dies mit den 
Schreibübungen der Fall ist Denn so auffällig das vielleicht auch 
im ersten Augenblicke klingen mag: die Schreibübungen, welche in 
die Eindeserziehung hineingehören, sind sehr viel ernsthafter als 
die Zeichenübungen. Die Schreibübungen werden zu einem wesent- 
lichen Zwecke in der gesamten menschlichen Fortbildung gebraucht, 
und die Fertigkeit muß bis zu einem erheblichen Grade gesteigert 
werden, so daß von einer sonderlichen Nachsicht mit der kindlichen 
Schwäche hierbei nicht die Rede sein kann. Bei den zeichnerischen 
Übungen aber liegt die Sache so, daß kein verständiger Mensch von 
Kindern überhaupt verlangen kann, daß das, was sie mit dem Zeichen- 
stifte hervorbringen, irgend einer ernsthaften Nachfrage standhält 
Selbst was hochbegabte Künstler in ihren Kindheitstagen zeichnerisch 
zustande gebracht haben, ist zu allermeist von einer solchen Un- 
vollkomroenheit, daß damit sehr viele, an deren künstlerischer Be- 
gabung recht erhebliche Zweifel erlaubt sind, ihrerzeit ganz wohl 
hätten in die Schranken treten können. Auch ist es ja für die spätere 
Erziehung und Bildung des Kindes nicht absolut notwendig, daß es 
im Zeichnen zu einer so für den Zweck genügenden Fertigkeit gelangt, 
wie sie im Schreiben gefordert und abgesehen von der zwar recht 
schätzbaren, aber doch nicht unumgänglichen Schönheit der Schrift- 
züge leicht und sicher allgemein erreicht wird. 

Nun handelt es sich also darum, was man sich bei den frühen 
Zeichenübungen des Kindes zu denken hat Diejenigen, die sie be- 
fürworten und ausgeführt haben, behandeln sie so, als wenn damit 
eine wirkliche Berührung des Kindes mit der Kunst stattfände. Dies 
ist ein Grundirrtum, der unbedingt beseitigt werden muß. Die Hand- 
übungen des Kindes in zeichnerischen Formen sind lediglich als eine 
Ergänzung zu den beiden elementarsten Hilfsmitteln jeder mensch- 
lichen Bildung, Schreiben und Lesen, zu betrachten, in dem Sinne, 
wie vor einer langen Reihe von Jahren der verstorbene berühmte 
Chemiker Lothar Meyer das ausgesprochen hat, wenn er es als ein 
notwendiges Ingrediens jeder ausreichenden menschlichen Allgemein- 
bildung hinstellte, daß der gebildete Mensch die Fähigkeit haben muß, 
seinen Gedanken im mündlichen, schriftlichen und zeichnerischen 
Ausdrucke Gestalt geben zu können. Also lediglich zu dem 
Zwecke, eigenen Gedanken, die sich als Raumgestaltungen darstellen 
und in Worten nicht ausreichend gekennzeichnet zu werden ver- 



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I 



Meto: Kind und Kunst 131 



mögen, einen angemessenen Aasdruck geben zu können, muß das 
Kind als zukünftiger gebildeter Mensch dazu angeleitet und geübt 
werden, für diese Art von Gedanken sich der zeichnerischen Dar- 
stellung bedienen zu können, und nur in diesem Sinne können die 
frühen Übungen gelten. Das bat mit Kunst gar nichts zu tun, 
— man müßte denn als Kunst alles gelten lassen, was überhaupt 
gemacht wird. Bis zu einem gewissen Grade hat das ja einen Sinn; 
denn überall, mag es sich um Formen oder um Worte oder um Töne 
handeln, überall werden Vorstellungen nach der Auffassung des In- 
dividuums in einer sinnlich wahrnehmbaren Weise festgelegt Aber 
das wäre ja ein müßiger Streit um Worte. Wenn das alles Kunst 
ist, dann brauchte man ja von einer Erziehung mit der Kunst und 
zu der Kunst keine Worte zu verlieren; denn in diesem Sinne könnte 
man ja gar nichts mit dem Kinde vornehmen, was es nicht mit der 
Kunst in Berührung brächte. 

Wir müssen uns schon bequemen, um nicht uns selbst und andere 
in Irrtümer zu verstricken und so falsche Vorstellungen zu erwecken, 
wir müssen uns dazu verstehen, unter Kunst eine wirkliche Produktion 
mit einer gewissen abgerundeten Beherrschung der zu ihr gehörigen 
technischen Mittel als eine bewußte Tätigkeit zu verstehen. Alsdann 
wird es einleuchten, daß die kindlichen Zeichen versuche mit einer 
produktiven Kunstäußerung desselben nichts zu schaffen haben, nicht 
einmal da, wo das Kind diese seine noch ganz unvollkommene Fähig- 
keit zu zeichnerischer Gestaltung dazu benutzt, um eigene Phantasie- 
vorstellungen sich selbst und anderen zu vergegenwärtigen. 

Man hat nämlich auf Übungen dieser Art sehr großes Gewicht 
gelegt, und in dasjenige, was die Kinder hierbei zutage gefördert 
haben, wunder welche Herrlichkeiten hineingesehen. Das ist einfach 
als Veretändnislosigkeit für künstlerische Dinge gänzlich von der Hand 
zu weisen. Man braucht nur in diese Übungen einen an künstlerischen 
Dingen geschulten Blick zu werfen, um zu sehen, daß das abgesehen 
von der mechanischen Übung der Handfertigkeit im angegebenen 
Sinne gar keinen Wert hat Es wird nämlich selbst dem nicht so 
gut vorbereiteten Beschauer sehr bald klar, daß die Kinder bei solchen 
Gelegenheiten lediglich Gedanken darstellen, die ihnen aus dem Sprach- 
verkehre geläufig sind und sein können, aber keineswegs solche, 
welche der künstlerischen, zeichnerischen Darstellung adäquat sind 
und ihrer zum Ausdrucke bedürfen. Sie machen mit ein paar kaum 
kenntlichen Strichen ganz niedliche — Witze. Aber man übersieht 
gern hierbei, daß die zeichnerischen Gestaltungen, selbst wenn man 
sie als charakteristische im Sinne unserer Witzblätter zulassen und 

9* 



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132 



A. Abhandlungen. 



betrachten wollte, nicht den allermindesten Anforderungen entsprechen, 
sondern lediglich allzu bereitwillig der Wille für die Tat genommen, 
und in das ganz Unzulängliche etwas hineingelegt wird, was zwar 
darin sein könnte, aber nicht tatsächlich darin ist 

Diese falsche Einschätzung des ganzen Betriebes kommt von der 
Verstandoislosigkeit der meisten Leitenden für das Wesentliche in der 
Kunst her. Ich will dafür nur ein Beispiel anführen. Einer der 
all ereifrigsten auf diesem Gebiete, der Professor Stern in Breslau, 
der eine Unmasse derartiger Dinge in dem Kongresse für Kinder- 
forschung vor zwei Jahren ausgestellt hatte, tat sich ganz besonders 
etwas darauf zugute, daß er den Kindern das Märchen vom Schlaraffen- 
land e in ihrer Weise darzustellen aufgegeben hatte. Denn, sagte er, 
da wäre ihre Phantasie sicherlich am selbständigsten, da Darstellungen 
des Schlaraffenlandes in den landläufigen künstlerischen Schöpfungen 
kaum überhaupt vorkommen. Er ahnt also nicht, daß dieser Stoff 
eben gänzlich auf sprachliche Darstellung angewiesen ist, und deshalb 
kein vernünftiger Künstler jemals daran gegangen ist, diese Dinge, 
die einfache Dummheiten werden und Un Verständlichkeiten, wenn 
man sie räumlich gestaltet vorführt ohne das erklärende Wort, zu 
einem Gegenstande für sich zu erwählen. Und indem man nun 
Kinder auf so ein unmögliches Thema hetzt, glaubt man künstlerische 
Erziehung bei ihnen zu prästieren! Kein Wunder, daß sich dann 
dieses mangelhafte Verständnis für künstlerische Dinge auch in der 
Wertung alles von den Kindern Geleisteten ausspricht, so daß der 
genannte Pädagoge sich von einem künstlerisch Geschulten in öffent- 
licher Versammlung durchaus berechtigterweise sagen lassen mußte, 
daß in keiner einzigen der ausgestellten Zeichnungen sich auch nur 
eine Spur von wirklichem Talent zu künstlerischer Gestaltung er- 
kennen läßt. 

Da wird also Zeit und Mühe vertan, um auf Zwecke, die ganz 
unmöglich sind, loszuarbeiten, statt daß man sich Rechenschaft dar- 
über gibt, was notwendig und zugleich im Bereiche der Möglichkeit 
ist Statt also den Kindern Gegenstände zu geben, die der Dar- 
stellung geradeswegs widerstreben, müßte die Aufgabe dahin verstanden 
werden, sie mit Aufgaben vertraut zu machen, die sich ganz rein in 
der räumlichen Anschauung bewegen, und wenn sie einigermaßen 
erkennbar durch gezeichnete Formen zu Papier gebracht sind, keiner 
weiteren Ergänzung bedürfen und keine Anleihen zum Zwecke ihrer 
Wirkung bei einem bekannten Ideen vorrate des Beschauers machen; 
— mit einem Worte: das Zeichnen muß strengstens als eine Übung 
der Gedankendarstellung, parallel zu der mittels des gesprochenen 



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Metkr: Kind und Kunst. 



1H3 



und geschriebenen Wortes, mit Bücksicht auf räumliche Gestaltung 
behandelt werden, wobei dann auf dem frühen Standpunkte kindlicher 
Erziehung lediglich auf Deutlichkeit und Erkennbarkeit, durchaus 
aber nicht auf zeichnungstechnische Vollendung gesehen werden darf. 

Denn es ist eine Torheit, zu glauben, daß die letztere sich bei 
derartigen Übungen nebenher von selber herausstellen könnte; oder 
vielmehr — da ja eine solche Auffindung der Technik auch im 
großen, bei der Menschheit, stattgefunden hat — : es ist das nicht 
unmöglich, aber es ist derselbe törichte Umweg, wie wenn man bei 
irgend welchen anderen pädagogischen und methodischen Aufgaben 
alles gewissermaßen von den Kindern selber will finden lassen. Es ist 
eine große Kunst des Pädagogen, den Kindern überall das Gefühl 
beizubringen, als ob sie selber die Dinge finden; aber der Pädagoge 
selber muß wissen, daß er das Heft in der Hand hat und alles, 
was die Kinder zu finden glauben, ihnen erst zu dem Zwecke vor 
die Füße gelegt hat Und er muß ihnen die schwierigen und 
unberechenbaren Ab- und Umwege ersparen, welche bei jeder auto- 
didaktischen Erziehung unvermeidlich sind und dazu noch die unlieb- 
samen Nebenfrüchte zeitigen, die uns Autodidakten meist unausstehlich 
machen, nämlich die Einseitigkeit und die Überhebung. Einseitigkeit, 
weil selbstverständlich, wenn der Einzelne überhaupt nur aus sich 
heraus etwas leidlich Brauchbares zustande bringen kann, er dazu 
jedenfalls nur in einem sehr kleinen Umfange vormögend ist und 
infolgedessen über diesen kleinen Umfang hinaus eben beschrankt 
bleibt; und Überhebung, weil er alles, was er besitzt, nach dem Maße 
der Schwierigkeit taxiert, die ihm die Aneignung verursacht bat; 
— selbstverständlich für jeden auf gebahntem Wege Gebildeten ein 
unbedingt unbrauchbarer Maßstab, da alles einmal Errungene nicht 
noch einmal errungen zu werden braucht, und der ganze Apparat 
des Unterrichtes lediglich dazu aufgeboten wird, um das bereits Er- 
kannte auf möglichst schnelle und leichte und sichere Weise dem 
Lernenden zu vermitteln. 

Die frühen zeichnerischen Versuche von Kindern, die man bei 
ihnen zulaßt oder vielleicht auch herbeiführt, haben also lediglich den 
rein formalen Bildungszweck, sie an die Veranschaulichung räumlicher 
Vorstellungen durch zeichnerische Mittel zu gewöhnen und der Hand 
eine gewisse Gewandtheit und Sicherheit in der Hervorbringung solcher 
Oestaltungen zu verschaffen. Es ist aber ganz unpädagogisch, solange 
hierbei nur ein sehr geringer Grad von Fertigkeit erreicht ist, gleich 
Barstellungen schwieriger Gegenstände, in welche die Kinder gewisse 
eigene Gedanken legen sollen, zu fordern. Das sollte erst geschehen, 



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134 



A. Abhandlungen. 



wenn man in ihre ungezügelten Übungen durch methodische Unter- 
weisung eingegriffen hat, und wenn sie auf diesem Wege wenigstens 
zu einem kleinen Bestände von geordnetem Können gelangt sind. 
Zulassen kann man natürlich auch aus eigenem Antriebe der Kinder 
hervorgegangene Versuche jener schwierigen Art, aber nur, wie man 
in der Frühperiode der Kindheit alles zuläßt, worin sich das geistige 
Leben der Kinder offenbart, — wofern nicht ersichtliche Schädlich- 
keiten vorliegen, die zurückgedämmt werden müssen. 

Macht man es anders, so erzeugt man sehr törichterweise auto- 
didaktischen Hochmut und autodidaktische Urteilslosigkeit Namentlich 
wenn man zu dem Fehler einer falschen Aufgabenstellung noch den 
Fehler einer irreführenden Beurteilung hinzufügt. Die einfache aus 
den Kindern selber hervorgewachsene Technik kann selbstverständlich 
irgend welchen schwierigen Aufgaben sich nicht gewachsen zeigen. 
Und wenn man mit einer gewissen Ernsthaftigkeit solche Dinge 
hervorbringen läßt und sie für etwas Beachtenswertes erklärt, so ge- 
wöhnen sie sich eine Bescheidenheit in bezug auf die Abrundung 
ihrer Arbeiten an, die zunächst unzweifelhaft vorweg schon verheerend 
auf ihr wirkliches Kunstverständnis einwirken und sich ebenso in 
einer ungenügenden Gewissenhaftigkeit in bezug auf ihre gesamte 
Tätigkeit zeigen muß. Gewiß soll der verständige Erzieher Kinder 
nicht durch absprechende Urteile abschrecken und durch Hervor- 
kehrung eines unverständlichen Maßstabes sie verwirren und nieder- 
drücken. Aber er soll eben seine Weisheit darin zeigen, daß er ohne 
merklichen Zwang die Kinder innerhalb von Aufgaben kreisen hält, 
die sie einigermaßen bewältigen können, und dann sein nur ein- 
geschränktes lobendes Urteil so ermunternd in der Form gestalten, 
daß es das Streben nicht etwa niederhält, aber zugleich so klar in 
bezug auf die Ausstellungen, daß keine Selbstüberschätzung auf- 
kommen kann. 

Wenn nun der Übergang zu der Stufe der zeichnerischen Be- 
schäftigungen gemacht wird, auf der die Pflege der Technik einsetzt, 
wo ja dann die Grenze kaum recht aufzuweisen ist, an der das 
wirklich schon Künstlerische beginnt, ist die größte Vorsicht geraten, 
keine übertriebenen Anprüche zu machen. Denn zu dem, was hier 
geleistet werden muß, sind nicht alle befähigt, so wenig wie es einen 
Sinn hat, die Anfertigung von Gedichten zu obligatorischen Aufgaben 
zu machen. An dieser Stelle scheiden sich dann die Geister, und 
nur diejenigen, welche veranlagt sind, lohnen der Mühe der weiteren 
Beschäftigung mit ihnen in dieser Richtung, während man bei den 
anderen nur die Zeit vergeuden und die Liebe zur Kunst bei ihnen 



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Meyeb: Kiud und Kunst. 135 



unterdrücken würde, wenn man sie zu einer unsympathischen Be- 
schäftignng ohne Anlage zwingen wollte. Denn es ist viel leichter, 
ein liebevolles Verständnis für das Wesentliche in der Kunst sich zu 
eigen zu machen, nachdem man im Bewußtsein der eigenen Unfähigkeit 
auf alle selbständigen Versuche verzichtet und sich lediglich auf die 
Hingabe an fremde Werke zurückgezogen hat, als wenn man, wie 
seinerzeit Raphael Mengs, mit Strenge und gewaltsam auf Kunst 
dressiert wird, was sicherlich noch nicht in einem auf hunderttausend 
Fälle einen so guten Erfolg haben wird, wie es bei jenem immerhin 
nicht unerheblichen Künstler gehabt hat; und auch bei dem sind die 
Folgen solcher mißverstandenen Erziehung zur Kunst nicht ausge- 
blieben. Hat man doch — vielleicht etwas scharf, aber nicht unzutreffend 
— gesagt man sehe ihm an, daß er in seiner Jugend zur Kunst 
geprügelt worden ist Diejenigen, denen das Talent für künstlerische 
Formgestaltungen abgeht, werden dann im Rahmen der allgemeinen 
Unterweisung um so stärker angehalten werden müssen, sich mit der- 
jenigen Art von zeichnerischer Darstellung zu befassen, die keinerlei 
künstlerische Anlage erfordert, aber die Fähigkeit, räumliche Gedanken 
anschaulich zu machen, zu immer höherer Fertigkeit steigert, also im 
sogenannten gebundenen Zeichnen, in dem Unterweisung, wie nicht 
erst hinzugesetzt zu werden braucht, im Umkreise der Erziehung auf 
allgemeinen Bildungsanstalten auch denjenigen zuteil werden muß, 
deren besondere künstlerische Anlagen der Pflege wert erscheinen 
und solche Pflege auch erhalten. 

Soweit also die selbsttätigen Übungen in dem, was von der 
technischen Seite her mit der Kunst zusammenhängt und in Zu- 
sammenhang bringt 

Pädagogisch noch schwieriger zu handhaben ist der Verkehr mit 
den fertigen Werken der bildenden Künste zu dem Zwecke, durch 
diesen Umgang mit den Dingen Verständnis und Liebe für ihre 
eigentümliche Natur zu erwecken. 

Zunächst ist es durchaus abzulehnen, in die allgemeinen Bildungs- 
anstalten etwa besondere Unterrichtsstunden für kunstwissenschaftliche 
Dinge einzufügen. Diese Anstalten haben — an welche ihrer ver- 
schiedenen Arten man auch denken möge — so viel dringend Not- 
wendiges zu bewältigen, daß sie ihre Zeit vollständig gebrauchen und 
sich auf nichts einlassen können, was nicht den unbedingtesten An- 
spruch darauf beweisen kann. Ich tue mir beinahe etwas darauf zu- 
gute, daß ich, obgleich Kunsthistoriker von Beruf, von je her ein 
solches Eindringen der Kunstwissenschaft als solcher in den Umkreis 
der Lehrgegenstände für allgemeine Bildungsanstalten entschieden 



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136 



A. Abhandlungen. 



von der Hand gewiesen habe. Bei der leidigen Spezialisierungswut, 
die in unserer Zeit noch immer grassiert, wird leider von allzu wenigen 
ein Unterschied zwischen solchen Dingen gemacht, von welchen mau 
wünschen muß, daß ein junger Mensch, der sich bis zu einem ge- 
wissen Alter bemüht hat, eine gewisse abgerundete und für das 
spätere Leben gut vorbereitende Bildung sich anzueignen, mit ihnen 
auch bekannt sei, und solchen Gegenständen, die als die eigentlichen 
Lehrfächer solcher Bildungsanstalten zu bezeichnen sind, um gewisser- 
maßen ein solides Fachwerk aufzuführen, in welches zu jeder Zeit 
jetzt und später jedes beliebige Können und Wissen mit verhältnis- 
mäßiger Leichtigkeit und Sicherheit eingeordnet werden kann. Es 
fügt sich außerordentlich günstig, daß fast kein solcher Fachunterricht 
existiert, der es nicht notwendig machte, Übungsmaterial heran- 
zuziehen, an dem das eigentliche Fachwissen erprobt werden kann; 
und das ist die Stelle, an der alles dasjenige berücksichtigt werden 
muß und kann, was an sich als Kenntnisstoff — wenn das Wort 
erlaubt ist! — wünschenswert, nicht aber zu einem besonderen 
Lehrfache geeignet ist Hierzu gehört auch alles Kunstwissenschaft- 
liche. Ebenso wie man fordern kann und muß, daß der gesamte 
Unterricht einer Lehranstalt von ethischen Gesichtspunkten durch- 
leuchtet sein muß, ebenso muß auch Künstlerisches als solches überall, 
wo es in den Gang des besonderen Unterrichtes hineinpaßt oder sich 
aus ihm ergibt, eingehend und verständnisvoll berücksichtigt werden. 
Es kommt bei dem Wesentlichsten einer guten ästhetischen Allgemein- 
bildung nicht auf vieles Einzelwissen von kunstwissenschaftlichen Tat- 
sachen an, sondern auf eine gewisse Grundstimmung des Geistes, die 
zur richtigen Aufnahme und Verwertung künstlerischer Eindrücke 
befähigt Dies ist in erster Linie doch eine Erzieh ungsfra^o und 
keine Unteirichtssache; und alles Erzieherische — ich weiß sehr wohl, 
daß ich damit besonders verhätschelten modernen Voreingenommen- 
heiten ins Gehege komme, aber das beunruhigt mich weiter nicht! — 
alles Erzieherische kann nur gelegentlich, beiher, unmerklich erstrebt 
und erreicht werden; alles sieht- und fühlbare Losarbeiten auf Er- 
ziehen verdirbt und verfehlt seine Absicht Es erscheint nicht immer 
auf den ersten Anblick schon ganz so lächerlich wie die in jener 
berühmten Mädchenpension angesetzten wöchentlichen Stunden zu 
„Übungen im Entsagen", aber es ist im Grunde genommen genau so 
lächerlich. Man kann nicht ex officio jetzt „eine Stunde erziehen" 
in irgend einer Richtung; sondern man erzieht nur, indem man 
immerwährend, bei jeglicher Lebensbeschäftigung mit eigenem Zwecke, 
sie mag einen Namen haben, wie sie wolle, den Erziehungszweck 



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^ ss^i # xd^I und J^^m^ st * 



137 



im Auge bat und jede Abweichung von der Richtung auf dieses Ziel 
hin richtig einrenkt Je weniger die Aufmerksamkeit des Zöglinges 
auf diese erzieherische Tätigkeit an sich gelenkt wird, um so höher 
steht der Erzieher, und um so sicherer erreicht er seine Absiebt 
Man kann daher in etwaigen kunstgeschichtlichen Lehrstunden für 
das eigentlich Wesentliche sehr viel weniger erreichen, als wenn man 
das ganze Gebiet der gelegentlichen Berücksichtigung aller Lehrer 
bei jeder sich darbietenden oder herbeizuführenden Veranlassung 
„überläßt", — aber „obligatorisch"! 

Es steht damit genau wie mit dem Religionsunterrichte. In dem 
einen wie in dem anderen kann in besonderen Unterrichtsstunden nichts 
weiter geschafft werden als ein Wissen von palpablen Dingen, von 
Tatsachen, — während es an beiden Stellen im wesentlichen auf eine 
Wirkung nach ihnen ankommt, die nicht auf geradem Wege erreicht 
oder gar erzwungen werden kann und sehr leicht gerade bei einer 
zu intensiven Beschäftigung mit Tatsächlichem, mit dem Gedächtnis- 
krame usw. verfehlt wird. Man muß bedenken, daß trotz aller 
modernen Redensarten von „freudigen Schülern" u. dergl. jeder 
eigentliche Lehrgegenstand einer Anstalt ein gewisses Gefühl der 
Ermüdung, der Abspannung, der Übersättigung, oder wie man es 
sonst ausdrücken will, hervorruft, ganz gleichgültig, welcher Art der 
Gegenstand ist. Denn jeder Gegenstand, der an sich zu irgend einem 
bestimmten Ziele von Können und Wissen hin betrieben werden muß, 
der verlangt eine strenge Ausnutzung der Zeit, verlangt eine um- 
sichtige Kontrolle des bei dem Einzelnen Erreichten usw., lauter Dinge, 
die durchaus nicht dazu angetan sind, um ein besonders fröhliches 
Gefühl bei denjenigen aufkommen zu lassen, die in einen solchen 
Gang hineingebracht sind, — wenn nicht gewisse Höhepunkte des 
Unterrichtes gewonnen werden können, die von solcher Wirkung 
sind, daß sie die unangenehmen Gefühle zurückdrängen und über- 
winden können. Also eine Art von feinem Gewürz des Unterrichtes 
wird gebraucht; und dazu ist nichts geeigneter und nichts wirksamer 
als gerade das Künstlerische. Darum soll man es nicht der Gefahr 
jedes eigentlichen Lehrgegenstandes aussetzen, an welcher Stelle es 
nichts Nennenswertes zu schaffen vermag, sondern man soll es als 
dieses feine Gewürz des ganzen Bildungsganges bebandeln, das überall 
wie eine Blume — wie Champagnerschaum, wenn man will, — in dem 
einfachen, ruhigen und oft auch etwas langweiligen und öden Trott 
des vorschriftsmäßigen Unterrichtes hervoreprießt. 

Man darf auch in bezug auf die Menge des Anzueignenden das 
gar nicht unterschätzen, was sich auf diesem Wege auch an posi- 



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138 



A. Abhandlungen. 



tiven kunstwissenschaftlichen Kenntnissen ergibt; denn es ist selbst- 
verständlich, daß jedes Wort des Lehrers bei jedem ihm begegnenden 
künstlerischen Stoffe dem Schüler ein neues Wissen zuführt, ein 
Wissen, das er auch um so lieber in sich aufnimmt und festhält, 
als es nicht mit einer strengen Aufgabe verbunden ist und sich mit 
einem erfreulichen, nachhaltig in der Vorstellung haftenden äußeren 
Eindrucke verbindet Und diese Eindrücke werden naturgemäß bei 
der Verschiedenheit der Lehrgegenstände und der zufälligen Gelegen- 
heiten so mannigfaltig sein, daß nach allen möglichen Richtungen hin 
gewisse Grundanschauungen festgelegt werden, die für eine spätere 
intimere Beschäftigung mit den Gegenständen ebensogut ausreichen 
können wie die genau genommen ja überall ebenso lückenhaften und 
ungenügenden Kenntnisse in irgend einem anderen, eigentlichen Lehr- 
gegenstande. 

Es kann ja unmöglich die Aufgabe einer allgemeinen Bildungs- 
anstalt sein, nach irgend einer Richtung etwas Abgeschlossenes und 
Vollständiges zu geben, wenngleich sie beanspruchen muß, in ihren 
Hauptdisziplinen zu einer wertvollen Brauchbarkeit des Gelernten zu 
gelangen. Ob nun da in bezug auf einen Gegenstand, der nicht in 
den speziellen Lehrplan hineingehört, und für den kein Pensum vor- 
geschrieben ist und sein soll, ein wenig mehr oder weniger gelernt 
wird, ist ohne Belang, — wenn nur die Fülle der Erfahrungen sich zu 
einer Stimmung des Geistes verdichtet, wie sie gebraucht wird, um 
von dem Künstlerischen in der Welt diejenige Freude zu haben, 
welche aus ihm gezogen werden kann. 1 ) 



2. Aus dem Vorentwurfe zu einem Deutschen Straf- 

gezetzbuche. 

Von 

Rektor Dr. B. Maennel, Halle a. S. 

Es gilt in dieser Zeitschrift als eine oft erwiesene Tatsache, 
daß nicht allein die Seelsorge und die Medizin, sondern auch das 
öffentliche Recht zur Erziehung in Wechselbeziehung zu treten hat 
Neben den psychiatrischen Erkenntnissen haben die von einer 
rationellen Kinder- und Jugendkunde getragenen Erziehungsansichten 
immer zwingender zu der Forderung geführt: der Gesetzgeber soll 
namentlich die junge Menschenseele nicht in einen ertötenden 

') Für "Weiteres verweise ich auf mein Buch »Aus der ästhetischen Pädagogik«. 
Berlin, Gebr. Paetel, 1873. 



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Maknnkl: Aus dem Vorentwurf e zu einem Deutschen Strafgesetzbuche. 139 



Formalismus einzwängen; es muß vielmehr — gerade hier — die 
Vernunft der Sache, d. h. die Vernunft und das Recht der Seele ge- 
wahrt bleiben. Dieser alten Forderung haben die Juristen endlich 
langer sich nicht verschließen können. Es ist nunmehr gelungen, 
die berufenen Staatsstellen zu Änderungsvorschlägen zu veranlassen, 
und zwar zu solchen der Strafprozeßordnung, vom Jahre 1908, sowie 
des Deutschen Strafgesetzbuches, aus dem Jahre 1909. An der Hand 
ihrer Entwürfe möchte, ehe sie zur Verhandlung im Reichstage gelangen, 
an dieser Stelle die Frage beantwortet werden: Wie berücksichtigen 
die beiden amtlichen Vorlagen die Interessen der Jugend- 
lichen? — Im 5., 8., 12., 21., 26., 41., 42., 45., 58. und 59. Hefte 
der » Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung« sind bereits 
die wichtigsten und folgeschwersten Forderungen, die die Erziehung 
im allgemeinen und die Heilerziehung im besondern bei der Straf- 
verfolgung Jugendlicher zu betonen haben, erörtert worden. Der 
Entwurf einer Strafprozeßordnung kann daher bei der folgenden 
Antwort in den Hintergrund treten. 

Aus dem Strafgesetz- Vorentwurf e selbst, wie noch deutlicher 
aus seiner zweibändigen amtlichen Begründung erhellt, wie man an 
maßgebender Stelle auf dem Gebiete der Rechtspflege Neuerungs- 
vorschlägen im allgemeinen gegenüber sich zu verhalten gedenkt 
Der Gesetzgeber hält es für »seine richtig verstandene Aufgabe«, 
in strenger Anknüpfung an das historisch Gewordene das allgemeine 
Strafrecht auf diejenige Stufe zu erheben, die nach den jetzt bei uns, 
wie in den modernen Gesetzesarbeiten anderer Länder, herrschenden 
Überzeugungen als die nächst höhere anzusehen ist In dem den 
Lesern dieser Zeitschrift bekannten Streite der modernen und klassi- 
schen Schule hat die den Vorentwurf bearbeitende Sachverständigen- 
Kommission keine ausschließliche Stellung genommen. Die Bearbeiter 
erklären ausdrücklich: »Der Entwurf wird also nicht in den Rahmen 
einer bestimmten strafrechtlichen Schule passen.« — »Er steht auf 
dem Boden der klassischen Schule, macht jedoch der modernen Schule 
eine Anzahl von Zugeständnissen, die von dem Bedürfnisse der Zeit 
und von der öffentlichen Meinung nicht mit Unrecht gefordert werden.« 
— Die Kompromiß- Arbeit wird insbesondere ersichtlich, wenn ein- 
zelnen, hier in Frage kommenden Sätzen nachgegangen wird. 

Im ersten, allgemeinen Teile sind folgende Paragraphen hervor- 
zuheben. Die absolute Straf Unmündigkeit, deren Grenze das seit 1872 
geltende Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich in § 55 auf das 
12. Lebensjahr festlegte, wird in § 68 auf das 14. vollendete Lebens- 
jahr hinaufgerückt In Zukunft werden also Volksschüler, deren 



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140 



A. Abhandlungen. 



• 

Schulpflichtszeit in der Regel bis zum 14. Lebensjahre reicht, nicht 
mehr vor Gericht kommen. — Nach § 12, 2 will das neue Strafgesetz 
als Jugendliche verstehen: Personen, die das 14., aber noch nicht 
das 18. Lebensjahr vollendet haben. Die Rechtsverletzer dieser Jahr- 
gänge gelten vor Gericht als Erwachsene; ihr Alter bildet keinen 
Strafmilderungsgrund. — Wie man seit langem die weiblichen Ge- 
fangenen von den männlichen trennte, so scheidet der Vorentwurf 
in § 21 auch jugendliche von erwachsenen »vollständig« und be- 
schneidet somit von vornherein das gern üppig wuchernde Gift- 
gewächs der Verführung während der übrigens auch im Entwürfe 
einer Strafprozeßordnung bereits ausgeschlossenen Untersuchungs- 
haft oder im Gefängnisse. Im genannten Entwürfe war auch die 
Sonderung der Hauptverhandlungen von Verhandlungen gegen Er- 
wachsene und die Trennung zusammenhängender Strafsachen, bei 
denen Jugendliche und Erwachsene beteiligt sind, schon vorgesehen; 
schließlich hatte das Gericht allgemein die Befugnis erhalten, bei 
Hauptverhandlungen gegen Jugendliche die Öffentlichkeit auszu- 
schließen. Als mögliche Strafmaßregeln waren dem »Kindergerichts- 
hofe« 1 ) zugesprochen: eine Mahnung und die Überweisung des Jugend- 
lichen in die Zucht seines gesetzlichen Vertreters oder der Schul- 
behörde, oder, falls der Jugendliche bereits unter Zwangserziehung 
steht, der zuständigen Erziehungsanstalt. Der Vorentwurf setzt diese 
Möglichkeiten in Forderungen um. In § 37 heißt es z. B. : Die 
Strafe des Verweises besteht in der Erteilung einer Rüge in münd- 
licher oder schriftlicher Form. Als Strafmilderung wird in § 38 — 41 
die sogenannte bedingte Strafaussetzung eingeführt Sie kommt zur 
Anwendung, wenn der Täter nach den Umständen der Tat und 
nach seinem Vorleben einer besonderen Berücksichtigung würdig 
erscheint und zu der Erwartung berechtigt, daß er auch ohne den 
Vollzug der Strafe sich künftig wohlverhalten werde. Die Straf- 
aussetzung »soll« hauptsächlich jugendlichen Verurteilten gewährt 
werden. Für letztere kommen aber nicht in Anwendung die eine Gruppe 
von »sichernden Maßnahmen« fassenden §§ 42 und 43. Dort heißt 
es: Ist eine strafbare Handlung auf Lüderlichkeit oder Arbeitsscheu 
zurückzuführen, und ist für sie eine mindestens vierwöchige Ge- 
fängnis- oder Haftstrafe verwirkt, so kann das Gericht neben der 
Strafe oder, wenn die Strafe 3 Monate nicht übersteigt, an ihrer 



l ) Vergl. die neuerdings erhobenen Angriffe von Amtsrichter Saab -Ludwigs- 
hafen gegen die Einrichtung von Jagendgerichten in der Deutschen Richterzeitung' 
I, 7 und in den Mitteilungen des Bayrischen Richter- Vereins, II. 



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Makn-kel: Aus dem Vorentwurf e zu einem Deutschen Strafgesetzbuche. 141 



Stelle auf Unterbringung des arbeitsfähigen Verurteilten in ein Arbeits- 
haus auf die Dauer von 6 Monaten bis zu 3 Jahren erkennen, um den 
Verurteilten wieder an ein gesetzmäßiges und arbeitsames Leben zu 
gewöhnen. — Ist aber eine strafbare Handlung auf Trunkenheit 
zurückzuführen, so kann das Gericht neben der Strafe dem Ver- 
urteilten den Besuch der Wirtshäuser auf die Dauer bis zu 1 Jahre 
verbieten. Ist Trunksucht festgestellt, so kann das Gericht neben 
einer mindestens zweiwöchigen Gefängnis- oder Haftstrafe die Unter- 
bringung des Verurteilten in eine Trinkerheilanstalt bis zu seiner Heilung, 
jedoch höchstens auf die Dauer von 2 Jahren anordnen, um den Ver- 
urteilten wieder an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu ge- 
wöhnen. — Wenn auch wohl § 50, der unter bestimmten Voraus- 
setzungen die Wiedereinsetzung der durch eine Strafe verloren ge- 
gangenen Ehren- und anderer einzelner Rechte vorsieht, für Jugendliche 
nicht in Betracht kommen wird, so sind die beiden folgenden Sätze 
(§51 u. 52) um so häufiger für sie anwendbar. Wenn nämlich nach der 
Verbüßung, dem Erlaß oder der Verjährung der verhängten Strafe ein 
längerer Zeitraum verstrichen ist, während dessen sich der Verurteilte 
gut geführt hat, kann das Gericht anordnen, daß die Bestrafung in dem 
Strafregister oder in den sonstigen amtlichen Strafverzeichnissen ge- 
löscht werde. Der Zeitraum beträgt, wenn die Strafe keine schwerere 
ist als eine dreimonatliche Freiheitsstrafe, bei jugendlichen Verurteilten 
mindestens 2 Jahre, und sonst mindestens 5 Jahre. Die angeordnete 
Löschung ist in dem Strafregister und in den sonstigen amtlichen 
Straf Verzeichnissen zu vermerken. Bei Erteilung eines Registerauszuges 
ist die Strafe als gelöscht zu bezeichnen. Bei einer Auskunftserteilung 
auf Grund der anderen Verzeichnisse ist die gelöschte Strafe nicht 
anzugeben. — Selbstverschuldete Trunkenheit wird nicht wie geistige 
Mängel strafmildernd oder straf ausschließend bewertet; erscheint aber 
die Tat eines Jugendlichen hauptsächlich als Folge mangelhafter Er- 
ziehung oder ist sonst anzunehmen, daß Erziehungsmaßregeln er- 
forderlich sind, um den Täter an ein gesetzmäßiges Leben zu ge- 
wöhnen, so kann das Gericht neben oder an Stelle einer Freiheits- 
strafe seine Überweisung zur staatlich überwachten Erziehung an- 
ordnen. Die Art und Dauer der Erziehungsmaßregeln bestimmen 
sich nach den hierfür bestehenden Gesetzen, doch kann das Gericht 
die Unterbringung in eine Erzieh ungs- oder Besserungsanstalt vor- 
schreiben. Die Freiheitsstrafen gegen Jugendliche sind in besonderen, 
für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen zu voll- 
strecken. Dabei sind die voll zurechnungsfähigen Jugendlichen von 
vermindert zurechnungsfähigen vollständig abzusondern. Freiheits- 



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142 



strafen gegen vermindert zurechnungsfähige Jugendliche können auch 
in staatlich überwachten Erziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten voll- 
zogen werden. 

Wenn nun aus den einzeln aufgezählten Beziehungspunkten der 
Jugend zum sogenannten materiellen Rechte das Grundlegende noch 
herausgehoben werden soll, so ergeben sich folgende Hinweise: Erst- 
lich ist die Strafmündigkeitsgrenze — wie schon bemerkt — vom 
12. bis zum 14. Lebensjahre hinaufgerückt Mit dieser Festsetzung 
sind zwar alle der hauptsächlich lautgewordenen Wünsche und 
Forderungen nicht erfüllt 1 ) Vielleicht hat man sich aber nicht mit 
Unrecht der Volksanschauung angepaßt, die den zumeist mit dem 
14. Lebensjahre erfolgenden Austritt der Kinder aus der Volksschule 
als Beendigung des Eindesalters ansieht; es soll dieser Schulabschluß 
sogar als der Beginn der ersten Stufe der bürgerlichen Reife gelten. 
Diese Anschauung gibt der Volksschularbeit eine Würdigung, die sie 
meines Erachtens nach der Seite der staatsbürgerlichen Ausbildung 
erst noch sich verdienen muß; auch die zumeist in der Zeit bis 
zum 14. Lebensjahre sich vollziehende wichtige Körperentwicklung 
dürfte die neue rechtliche Abgrenzung berechtigt erscheinen lassen. 1 ) 

Zweitens sieht der besprochene Vorentwurf zu einem Deutschen 
Strafgesetzbuche von dem im § 56 des alten Strafgesetzbuches auf- 
gestellten Erfordernis ab, daß der Jugendliche, um bestraft werden 
zu können, bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis 
ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen haben müsse. Man 
hat eingesehen, daß der Begriff des sogenannten Unterscheidungs- 
vermögens unklar sei und entweder zu Schwierigkeiten oder zu nur 
rein schematischer Handhabung in der Praxis geführt habe. Die 
Fähigkeit des Verstandes, zwischen Recht und Unrecht zu unter- 
scheiden, bildet deshalb noch keinen genügenden Maßstab für die 

') v. Liszt- Berlin: »Würde unser Vorschlag durchgehen, würde die Alters- 
grenze vom vollendeten 12. auf das 14. Lebensjahr hinaufgesetzt werden, und 
lediglich der Vormundschaftsrichter in seiner "Weise pflichtgemäß einzuschreiten 
haben, dann würden wir die ganze Einrichtung der Children oourts gar nicht 
brauchen, und das einzige, was in Europa imponieren könnte, wäre, daß drüben 
die Altersgrenze zwischen Kindern und Jugendlichen auf 16 Jahre festgesetzt ist, 
die bei uns früher auch gefordert wurde, während sioh jetzt unsere kühnsten Vor- 
schläge mit 14 höchstens 15 Jahren bescheiden.« Päd. Ztg. 14. 3. 1907. 

*) Die neue Strafmündigkeitsgrenze bedeutet ein Ausscheiden von vielen Straf- 
fallen. Wurden doch 1907 weit mehr als 10000 Volksschüler wt*g(jn ^ ergehon 
gegen das Strafgesetzbuch verurteilt (Vergl. die beachtenswerten Ausführungen in 
den Mitteilungen des Evang. - Kirohl. Erziehungs- Vereins der Provinz Westfalen. 
Bethel b. Bielefeld. X, 1/2.) 



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Majotkel: Aus dem Vorentwurfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuche. 143 



strafrechtliche Verantwortlichkeit, weil das Kind wohl in der Regel 
anf Grund unmittelbarer sinnlicher Antriebe und Gefühlo, es augen- 
blicklich beherrschender Affekte und Persönlichkeitsstimmungen zu 
einer Rechtsverletzung gelangt Zudem fordert die Erkenntnis der 
Strafbarkeit heutzutage eine solche vielseitige Kenntnis des positiven 
Rechts, daß der Richter schwer feststellen kann, wo die jugendliche 
Einsicht vorausgesetzt werden konnte oder mußte. Infolge der 
Schwierigkeit dieser Feststellung gestaltete sich die Handhabung der 
Rechtsprechung Jugendlicher selbst nach der Ansicht des peinlich 
vorgehen wollenden Richters als vielfach recht äußerlich und 
schematisch. Somit wird also im Grunde der Jugendliche, wie der 
Erwachsene hier gleichmäßig und gleichwertig behandelt, und sein 
sogenanntes Privileg fällt hier mit Recht außer Betracht 

Drittens ist hinzuweisen auf die Art der sichernden Maßnahmen. 
Wie es in der »Begründung« beißt, mußte sich der Vorentwurf vor 
i radikalen Schritten« hüten; d. h. in diesem Falle: Die Strafe sollte 
immer als Regel, die Erziehung daneben oder in leichteren Fällen 
statt der Strafe eintreten, und nicht umgekehrt die Bestrafung nur 
zur Anwendung kommen, wenn nach der Art der Tat, dem Charakter 
und der bisherigen Führung des Angeklagten anzunehmen ist, daß 
durch Erziehungsmaßregeln die Besserung nicht mehr erreicht werden 
kann. Gewiß befinden sich unter den Jugendlichen genug Elemente, 
die wegen ihrer frühen Verdorbenheit, ihrer Verrohung und ihrer 
Neigung zu Gewalttaten und zum Verbrechen überhaupt den ganzen 
Ernst und die Strenge des Gesetzes herausfordern; vor ihnen muß 
auch die Gesellschaft geschützt, und die Verantwortlichkeit der Jugend 
innerhalb dieser Gesellschaft darf nicht abgeschwächt werden. Alles 
dies zugegeben. Ist aber der jugendliche Verbrecher in Nord- 
amerika höher oder menschlicher zu bewerten, als der deutsche? 
Oder wird das dem Gemein wohle Dienende im Interesse der 
jugendlichen Gesetzesverletzer dort ganz außer Betracht gelassen ? — 
Wer das kürzlich auch in deutscher Übersetzung erschienene »The 
Problem Of The Childrent usw. — A Report Of The Juvenile Court 
Of Denver, 1904 — gelesen hat, wird wissen, in welch' erschreckend 
häufiger Weise die amerikanische Jugend eine Verbindung mit dem 
schlimmsten Verbrechen eingegangen ist, und wie es gerade im 
Interesse der durch diese verbrecherische Jugend bedrohten Gesell- 
schaft und des Staates liegt, nicht allein das Strafverfahren ledig- 
lich durch Erziehung durchsetzen zu lassen, sondern auch die Be- 
strafung geradezu in ein » Ref ormatory « oder Erzieh ungs- System 
zu bringen. Zudem vermag der Amerikaner, der gewiß nicht 



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A. Abhandungen. 



einer schwärmerischen Gefühlspolitik huldigen will, auf praktische 
Erfolge hinzuweisen, die nicht nur zu Denver auf das Konto des 
hervorragenden Lindsay zu setzen sind. Es soll an dieser Stelle 
nicht wiederholt werden, was in den bereits erwähnten Beiträgen 
zur Kinderforschung und Heilerziehung Nr. 58 und 59 dargelegt 
ist; nur sei im Anschlüsse an J. M. Bakrenreithkrs Wort 1 ) erneut 
behauptet: Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht sind nicht isolierte 
Probleme der Gesetzgebung oder Verwaltung, sondern sie sind 
Kulturaufgaben, Aufgaben der Erziehungspolitik, der Entwicklung 
der Volksmoral und der Volksgesundheit Darum wäre es nicht 
ein »radikaler« Schritt gewesen, sondern meines Erachtens vielmehr 
eine staatserhaltende, die Gesellschaft schützende Erziehungspolitik 
würde es bedeuten, wenn man die straffällige Jugend, solange 
sie noch erzogen und gebessert werden kann, nicht zuerst vor ein 
Strafgericht bringt, sondern vor eine Behörde, die überhaupt nur Er- 
zi eh ungs maßregeln und Jugendfürsorge betreibt*) Der berufene Ver- 
treter dieser Behörde, für welche verschiedene Bezeichnungen sich 
eignen können, ist als Erziehungskundiger besser als der Richter in 
der Lage zu beurteilen, welche Art der Nacherziehung einzusetzen 
hat. Und diese Erziehungsmaßnahmen schließen sich dann also nicht 
an den Vollzug der Freiheitsstrafen an (vergL § 65), sondern gehen 
besser ihnen voraus, sofern der Jugendliche als unverbesserlich sich 
zeigen sollte. Alle übrigen Bedenken, die von juristischer Seite genen 
den Wirkungskreis eines die jugendliche Kriminalität gewissermaßen 
erstinstanzlich erledigenden Erziehungsbeamten erhoben sind, werden 
sicherlich schwinden, wenn erst die Erziehungsfragen ebenso wie Rechts- 
fragen als Kulturangelegen beiten gleichen Ranges zur Geltung kommen. 8 ) 
Die Unterscheidung von besonders leichten und schweren Fällen, 
die bedingte Strafaussetzung und Wiedereinsetzung sind als Bestand- 
teile eines sogenannten richterlichen Milderungsrechtes viertens her- 
vorzuheben. Schon weil die erstere Unterscheidung (§§ 81 — 84) eine 
größere Individualisierung dem Richter zuläßt, ihn zwingt, den »ver- 
brecherischen Willen« des Rechtsverletzers zu bewerten, kann sie 

l ) Jugendfürsorge und Strafrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika 
Ein Beitrag zur Erziehungspolitik unserer Zeit Leipzig, Dunoker k Humblot, 1905. 

*) Zu Magdeburg ist neuerdings ein städtisches Jugendfürsorge- Amt errichtet 
worden, das die oben aufgeführten Zwecke mit erfüllt. An der Spitze dieses Amtes 
steht ein erfahrener Schulmann. 

■) Vergl. J. Trüpkr, Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft 
wie im Leben. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung, Nr. 45 und Das 
Verhältnis der pädagogischen Theorie und Praxis zur Behandlung der Verfehlungen 
von Kindern und Jugendlichen. Das Kultur-Parlament. Berlin, Vita. 



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1. Was kann in größeren Schulgeraeinden zur Förderung von Kindern usw. 145 



auch als kinderpsychologisch wertvoll begrüßt werden. Nicht minder 
muß die bedingte Strafaussetzung als eine bedeutsame Rücksichtnahme 
auf das Kind und den Jugendlichen gelten. Gerade der Schüler, 
dem die Schande einer erstmaligen Bestrafung durch das Gericht 
während der Unterrichtszeit erspart wird, kann sich durch gute 
Führung den Erlaß der Strafe verdienen. Und noch segensvoller 
ist zu beißen die in den §§ 50—52 vorgesehene »Wiedereinsetzung«. 
Verschiedene Erfahrungen aus jüngster Zeit haben in geradezu augen- 
fälliger Weise erwiesen, wie hartherzig und un psychologisch zugleich 
die unerbittliche polizeiliche Verfolgung eines besserungswilligen Er- 
wachsenen nach erledigter Strafzeit sich äußert Wenn aber letzterem 
nunmehr gesetzlich zusteht, häßliche und lästige Flecken seiner per- 
sönlichen Ehre allmählich ganz abzuwaschen, gewissermaßen für seine 
Umgebung sich wieder annehmbar zu machen, so ist das insbesondere 
für die Zukunft der Jugend, der noch durch wohlwollende Erzieher 
geholfen werden kann, von größter Bedeutung. Es ist besonders er- 
freulich für den Menschenfreund, daß der Grundsatz der sogenannten 
Rehabilitation im Vorentwurf Boden gefunden hat; und wer die 
Psychologie des Verbrechers kennt, wird diesen Grundsatz zugleich 
als psychologisch und logisch notwendig willkommen heißen. 

Unter den herausgehobenen vier Punkten, die wohl als die 
charakteristischen der Neuschöpfung im Deutschen Strafrechte gelten, 
würde vom erzieherischen Standpunkte nur der dritte zu beanstanden 
sein. Bei ihm steht in Frage, ob das Problem des Jugend-Strafrechts 
im wesentlichen kriminalistisch oder pädagogisch zu lösen ist, und 
ob der Weg des Besserns und Wiederaufrichtens der jugendlichen 
Gesetzesverletzer geht von der Strafe zur Erziehung, oder von der 
Erziehung — wenn sie versagt — zur erziehenden Strafe. Möchten 
bei dieser überaus wichtigen Entscheidung die Volksvertreter auch 
kinderpsychologisch beraten sein! 



B. Mitteilungen. 



h Was kann in grösseren Schnlgemeinden znr 
Förderung von Kindern mit Sprachfehlern geschehen? 

Von Reinhold Horoig, Meißen. 
Die Schulstatistiken haben die Aufmerksamkeit der Pädagogen, Ärzte 
und Behörden auf die Kinder gelenkt, die mit Sprachfehlern belastet sind. 
Ihre Zahl ist eine sehr große. Professor Qu tz mann schreibt in den 
Schlußfolgerungen seiner Schrift »Die soziale Bedeutung der Sprach- 
störungen«: »Statistische Untersuchungen haben ergeben, daß wenigstens 

Zatschrift für Kinderfarechun*. XV. Jahiganjr. 10 



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146 B. Mitteilungen. 



200 000 Schulkinder des Deutschen Reiches an mehr oder weniger schweren 
Sprachstörungen leiden. * Ich glaube, ihre Zahl ist noch weit höher, da 
manche Kinder ihre Sprachfehler recht geschickt zu verbergen wissen. 
Dazu kommt noch die psychologische Tatsache, daß oft schon das ganze 
Wort reproduziert wird, wenn wir einen Teil davon hören. Dafür ein 
interessantes Beispiel. Ein Knabe trug im Osterexamen ein Gedicht vor. 
Die Vortragsweise war gut, er war augenscheinlich einer der besten Schüler 
der Klasse. Alle S- laute jedoch ließ er weg. Nur manchmal hörte man 
ein leises Lispeln. Auf mich machte der Sprachfehler einen peinlichen 
Eindruck. Viele Zuhörer jedoch, mit denen ich unmittelbar nach dem 
Vortrage darüber sprach, hatten von dem Sprachgebrecben niohts gemerkt. 
Selbst dem Klassenlehrer war im Laufe des Jahres nie etwas an der 
Spiech weise des Knaben aufgefallen. Man erkennt daraus, wie wenig das 
Oehör bei vielen für Sprach mängel geschärft ist. Das kommt daher, daß 
man auf eine phonetisch richtige und zugleich hygienische Sprechweise 
viel zu wenig Wert legt. 

Die Durchsicht der Personalbogen, die die Eltern bei der Anmeldung 
schulpflichtiger Kinder Ostern 1909 hier in Meißen an der II. e. B. aus- 
gefüllt haben, ergab, daß von 140 Kindern IG als mit Sprachfehlern be- 
lastet von den Erziehungspflichtigen bezeichnet worden waren. Die Prüfung 
der Kleinen ergab 6 Stotterer, 12 Stammler und 1 mit Gaumenspalte. 

Aus dem statistischen Material ergibt sich, daß sich besondere Maß- 
nahmen notwendig machen, um die Sprachstörungen schulpflichtiger Kinder 
erfolgreich bekämpfen zu können. Behörden, Ärzte und Lehrer müssen 
durch gemeinsame Arbeit das erwünschte Ziel zu erreichen suchen. 

In dankenswerter Weise hat der Stadtrat von Meißen schon seit 
Jahren Mittel zur Abhaltung von Kursen für stotternde Kinder bewilligt 
Zuerst wurden sechswöchentliche Einzelkurse abgehalten, die Michaelis 
1907 in Dauerkurse verwandelt wurden, einer für die Schüler in Meitien 
rechts und einer für Meißen links. Die Schüler werden wöchentlich 
3 Stunden untei richtet. Der Unterricht ist für alle, gleichviel ob sie 
höheren, mittleren oder einfachen Schulen angehören, obligatorisch. Die 
Erfolge waren meist gute, wenn auch die Fortschritte infolge der wenigen 
Übungsstunden nur langsame waren. 

Leider haben sich bei den Dauerkursen auch große Mängel gezeigt. 
Manche Schüler kamen sehr unregelmäßig, andere wurden von den Eltern 
absichtlich zurückgehalten, da sie zu häuslichen Arbeiten gebraucht wurden. 
Darum machten sich häufig Anzeigen an den Stadtrat nötig. Einzelne 
Eltern wurden mit Geldstrafen und ein Vater sogar mit Haft belegt Dazu 
kam noch Mißtrauen, ja sogar von einer Seite, von der man ein Verständnis 
schlechterdings hätte erwarten können. Auch die Überbürdungsfrage be- 
reitete manche Schwierigkeit. Da der primäre Kern des Stotterns meist 
in einer verminderten Leistungsfähigkeit einzelner Nervenfäden im Gehirn 
zu suchen ist (ich verweise hier auf meine Arbeit »Untersuchungen über 
Wesen und Heilung des Stotterns«, die im Mai- und Junihefte der 
medizinisch - pädagogischen Monatshefte veröffentlicht wurde) und alle 
Stotterer mehr oder weniger nervös sind, mußten einzelne Kinder von 



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1. Was kann in größeren Schulgemeinden zur Förderung von Kindern usw. 147 



regulären Unterrichtsstunden befreit werden, um ihnen die Teilnahme am 
Kursus zu ermöglichen. 

Alle die Mängel veranla fiten mich, nach Mitteln und Wegen zu 
suchen, um sie abzustellen. Sie brachten mich auf den Gedanken, alle 
mit Sprachfehlern behafteten Schüler in einer Eleinentarklasse zu ver- 
einigen, um durch planmäßige Übungen dem Obel abzuhelfen. 

Mit Erlaubnis des Herrn Dir. Pabst und des Stadtrates habe ich 
den Plan auch ausgeführt Die 140 in die 2. einfache Bürgerschule auf- 
genommenen Elementarschüler wurden auf vier Klassen verteilt In der 
einen vereinigte ich alle mit Spraobgebrechen belasteten Kinder. Da aber 
bei 19 Schülern die anderen Elementarklassen zu stark werden würden, 
habe ich in die Sprachklasse noch die Kinder mit aufgenommen, die 
zu Sprachkrankheiten disponiert sind, besonders sehr nervöse. So 
beträgt die Zahl der Klasse 27. Als Norm kann wohl gelten: Die Zahl 
der Schüler in einer Sprachklasse möchte 25 nicht weit überschreiten. 
Unbedingt nötig ist es, daß die Kleinen vom Schulärzte untersucht 
werden. Für die Meißener Bürgerschulen sind zwei Schulärzte angestellt 
Der Stadtrat hat auch in diesem Jahre zum ersten Male die Untersuchung 
sämtlicher Elementarschüler angeordnet. Für die Spraohklassen sind be- 
sonders Aufschlüsse über Gehör, Bau der Artikulationsorgane, Atmung und 
Herztätigkeit von großer Wichtigkeit. Die Untersuchungen des Gehörs 
und Gesichtes sind mit großen Schwierigkeiten verknüpft Die Kinder 
sind dem unbekannten Arzte gegenüber meist verlegen und schüchtern und 
geben auf seine Fragen oft keine Antwort. Darum wurden die Gehörs- 
und Geeichtsprüfungen von den Klassenlehrern in der Zeit von Pfingsten 
bis zu den Sommerferien vorgenommen. Auffällig an den Prüfungsresultaten 
der Sprachklasse war die große Zahl der Schüler, die mehr oder weniger 
schlecht sehen. Es waren 12 Kinder, also über 44°/ 0 der ganzen Klasse. 
Solange mir nicht ein mehrjähriges statistisches Material vorliegt, will 
ich aus dieser abnormen Erscheinung noch keine Schlüsse ziehen. Wahr- 
scheinlich stehen aber Kurzsichtigkeit und Sprachfehler im engen Zu- 
sammenhange. Das Gehör war bei den meisten Kindern ganz normal. 
Nur bei zwei Mädchen wurde verminderte Hörfähigkeit festgestellt Die 
Atemführung ist bei vielen Schülern mangelhaft Viele Kinder, Stammler 
sowohl als auch Stotterer, sind so nervös, daß sie bei der geringsten 
Kleinigkeit erschrecken und heftig zusammenfahren. 

Der Unterricht kann bei 25 — 27 Kindern nur Massenunterrioht sein. 
Dabei ist natürlich die Individualität des einzelnen Schülers soweit als 
möglich zu berücksichtigen. Um immer einen Überblick über die Sprach- 
fehler der einzelnen Kinder zu haben, legte ich mir eine Tabelle an, deren 
Einrichtung ich durch folgendes Schema andeuten will: 



Name 
des Schülers 




a 


b 


d 


e 


usw. 


8 


USW. 


dr 




usw. 










g 










Pf 










1 




! 
















C 






! 














dr 





10 



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U8 B. Mitteilungen. 



Das ! bedeutet, bei dem Laute stottert das Kind. Der — sagt, der 
Laut kann vom Schüler überhaupt nicht gebildet werden. Ein Buchstabe 
deutet die Verwechselung der Laute beim Stammeln an. Ist ein Sprach- 
fehler behoben, dann wird er in der Tabelle mit dem Rotstifte gestrichen. 
Auf diese Weise habe ich jederzeit einen Oberblick über die Sprachfehler 
der einzelnen und der ganzen Klasse. 

Zur Forderung der Sprechfertigkeit in der Elementarklasse verwende 
ich das Sohreiblesen, besondere Sprechübungen, den Gesang- und An- 
schauungsunterricht. 

Wir erteilen in Meißen den Schreibleeeunterricht nach der Fibel von 
Dr. Bargmann und Hoff mann, die nach phonetischen Grundsätzen auf- 
gebaut ist. Die einzelnen Laute werden zunächst durch kleine Erlebnisse 
gewonnen. Die Bilder in der Fibel stellen die Erlebnisse dar und geben 
zugleich dem Laute den Namen. Das e z. B. ist der Fuhrmann, das o 
ist der, welcher bedauert usw. Die Laute werden dann den Kindern 
mehrmals phonetisch richtig vom Lehrer vorgesproohen. Normal veranlagte 
Kinder lernen jeden Laut ihrer Muttersprache nachahmen, wenn sie ihn 
hören; denn durch jahrhundertlange Vererbung ist das kindliche Gehirn 
so differenziert, daß die Verbindungsbahnen zwischen Hörzentrum und 
motorischem Sprechzentrum schon latent vorbanden sind. Lernt ein Kind 
einen Laut nicht richtig bilden, obwohl er ihm immer richtig vorgesprochen 
wird, so ist das eine abnorme Erscheinung, die ihren Grund in den 
mangelhaft vererbten Assoziationsbahnen des Gehirns hat Sprachfehler 
eind demnach das Zeichen einer beginnenden Degeneration. Darum kann 
man auoh häufig beobachten, daß mit Sprachgebrechen belastete Kinder 
meist in ihrer gesamten geistigen und körperlichen Entwicklung zurück- 
geblieben sind. Ein Vorsprechen der Laute genügt also bei Kindern mit 
Sprachfehlern nicht Eb ist unbedingt nötig, daß die Stellung des Mundes, 
der Zunge usw. genau besprochen wird. Gute Dienste haben mir auch in der 
Elementarklasse einfache Skizzen an der Wandtafel geleistet Vorteilhaft 
sind Modelle von Artikulationsorganen, besonders solche, bei denen der 
Gaumen aus Glas und die Zunge aus einer formbaren Masse gefertigt sind. 

üm die Kinder zugleich an eine hygienische Sprechweise zu gewöhnen, 
lasse ich die Laute nach der Methode des Professors Engel in Dresden bilden. 
Die Kinder kontrollieren ihre Zungenstellung und -bewegung mit einem 
kleinen Spiegel selbst So gewinne ich zunächst die Vokale. Jeder wird 
einzeln geübt Dabei beachte ich immer den leisen Stimmeinsatz, so daß 
der »coup de glotte« vollständig vermieden wird. Dann werden zwei Vokale 
in einem Atemzuge geübt darauf drei usw. bis zwei Vokalreihen entstehen: 

a~e i o"*u ä"ö ü eu ei Hu 

Ein großer Vorzug der Methode des Professors Engel ist es, daß die 
Kinder durch diese Übungen an eine ruhige Atemführung beim Sprechen 
gewöhnt werden. Besondere Atemübungen, wie sie in vielen Werken 
über Stimmbildung angegeben sind, halte ich darum bei Verwendung 
dieser Methode bei den Sprechübungen für überflüssig. Ich unterschätze 
zwar den Wert besonderer Atemübungen nicht und halte sie für ein gutes 



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1. Was kann in größeren Schulpeineinden zur Förderang von Kindern usw. 149 



Mittel, um das Nervensystem der Kinder zu kräftigen, um Oberhaupt die 
Gesundheit zu /Ordern. Darum lasse ich systematische Atemübungen 
nicht im Zimmer, soudern nur bei ruhiger, mäßig warmer Luft auf dem 
Schulhofe ausfahren. Ich beginne mit diesen Übungen erst dann, wenn 
der Arzt die Kleinen untersucht hat. Kinder mit Lungendefekten, Herz- 
fehlern und Unterleibsleiden sind von den Übungen ausgeschlossen. Sind 
die beiden Vokalreihen bis zur Geläufigkeit geübt, dann werden die 
Konsonanten gewonnen. Zuerst werden die Mitlaute geübt, bei denen die 
Zunge die Ruhelage nicht verläßt, wie b, m, w usw., dann solche, bei 
denen sich die Zunge bewegt und zuletzt Konsonantenhäufungen. 

Mit der Bildung des ersten Mitlautes beginnen die täglichen Sprech- 
übungen, wie 

ba , be, bi, bo, b n, bä, l>ö, bü us w. 

ma, me, mi, mo, mu, mä, mö, mü usw. 

Man darf nicht glauben, daß solche Übungen für die Kleinen lang- 
weilig würden. Die Elementarschüler üben sehr gern; denn auf dieser 
Entwicklungsstufe haben die Kinder noch Freude an mechanischer Tätigkeit, 
am Nachahmen von Lauten. Auch werden die einzelnen Lautverbindungen 
zu Wörtern ergänzt. 

Belebt können die Sprechübungen durch den Gesangunterricht werden. 
Es ist sehr zu beklagen, daß man nicht allgemein in der Elementarklasse 
mit einem zielbewußteu Gesangnnterricht beginnt, aufgebaut auf physio- 
logischer Grundlage. Ganz falsch ist es, wenn gleich kleine Lieder 
mechanisch eingeübt werden. Warum läßt man im Schreibleseunterrichte 
nicht auch gleich Kinderreime usw. lesen und schreiben? Hier hat man 
klar erkannt, daß erst einzelne Laute und Formen geübt werden müssen. 
Warum ■ macht man es im Gesangunterrichte nicht auch so? Zunächst ver- 
suche ich, die Klasse auf einen Ton abzustimmen. Ich wähle den, der 
der bequemen Höhenlage der meisten Schüler entspricht Der Ton wird 
mehrmals vorgesungen. Zunächst müssen die Kinder genau hören lernen, 
dann versuchen sie, ganz leise mitzusingen. Dabei müssen sie immer 
kontrollieren, ob ihr Ton genau so klingt wie der des Lehrers. Ist der 
geroeinsame Ton gefunden und genügend befestigt, dann übe ich die 
Quinte. Es werden Treffübungen auf verschiedene Silben gemacht, wie 



aa 


ma 




ma 


1 


5 


5 


1 


a 


na 


a 


na 


1 


5 


5 


1 


h 


na 


Ii 


na 


1 


5 


5 


1 usw. 



Auch Tierlaute werden sehr gern gesungen, wie miau, ia uaw. 
Dann übe ich das Treffen der Terz usw. 

Als Ziel des Gesangunterrichtes für die Elementarklasse habe ich 
mir gesteckt: Die fünf ersten Töne der Tonleiter. Alle Töne werden nur 
vorgesungen. Die Violine, wie überhaupt jedes Musikinstrument, ist aus- 
geschlossen, da allen durch sie erzeugten Tönen der der menschlichen 



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150 



B. Mitteilungen. 



Stimme eigentümliche Vokalklang mangelt. Das Notenverständnis wird 
in der Element ark lasse schon angebahnt. Ich zeichne eine Leiter mit 
fünf Sprossen. Gemeinsam wird gefunden: Wie ich auf der Leiter hinauf- 
und hinabsteigen kann, so können auch die Töne klettern. Ja die Töne 
können auch einzelne Stufen überspringen, bald von unten hinauf, bald 
▼on oben herab. Wir malen die > Tonleiter < ab, wir malen die Töne als 
Ringel. Ich sage den Kleinen: der Ringel ist der geöffnete Mund, ans 
dem der Ton kommt Es werden allerlei Treffübungen an der »Tonleiter« 
gemacht. Dabei verwende ich oft kleine Reime, die die Kinder selber 
mit »dichten« helfen, z. B. Die Kinder rufen im Frühünge: (Anschauungs- 
bild von Hölzel) a a a a der Storch ist da! 

1 5 5 1 1 5 5 1 

Der Fuhrmann sagt: e e e e mein Pferdchen steh'! usw. 

Alle diese Übungen machen den Kindern mehr Freude als das schönste 
Lied, für das auf dieser Stufe meist das Verständnis noch fehlt Um die 
zarten Kinderstimmen zu schonen, wird immer nur kurze Zeit gesungen. 
Alles Schreien ist streng verboten. Eine auf dem Stundenplane festgelegte 
Zeit für das Singen in der Elementarklasse halte ich für unnötig, ja den 
zarten Kinderstimmen fflr schädlich. Anlaß zum Singen gibt mir täglich 
der Schreiblese- und der Anschauungsunterricht. 

Ein Sprachfehler, der häufig in Verbindung mit Stottern und Stammeln 
auftritt und oft mit Stottern verwechselt wird, ist das Faseln. Während 
Stottern meist auf einem Leitungswiderstande in den Nervenbahnen des 
Gehirns beruht, entsteht Faseln durch eine psychische Hemmung im Vor- 
stellungszentrum. Bei Kindern arbeitet das Vorstellungszentrum meist noch 
langsam. Die Kinder wollen oft sprechen, ehe sie wissen, was sie sagen 
wollen. Um Zeit zum Oberlegen zu gewinnen, schieben sie irgend welche 
Silben ein. Einer meiner Schüler z. B. begann jede Antwort mit he 
Fragte man ihn, wie er heißt, so sagte er: He, he, Sch. Zwinge ich 
solche Schüler, erst die Antwort in Gedankon zu bilden, dann kommt 
Faseln nicht mehr vor. Man muß darum den Kindern, besonders denen 
mit Sprachfehlern , vor jeder Antwort zum Überlegen die nötige Zeit 
gewähren. Bei Stotterern mache ich es so, daß die Kinder, wenn sie bei 
einer Frage zur Antwort aufgerufen sind, erst dann reden dürfen, wenn 
ich es ihnen erlaube. 

Kinder mit Sprachfehlern sind oft auch sehr arm an klaren Vor- 
stellungen. Dadurch wird ihr Leiden nur verschlimmert. Ein vorzügliches 
Mittel, den Kindern klare Vorstellungen zu übermitteln, ist der An- 
schauungsunterricht. Hier werden mit den Elementarschülern mündlich 
kleine Aufsätze gebildet, die teils ein Nebeneinander, teils ein Nach- 
einander enthalten. Diese beiden Aufsatztypen werden bis zur Geläufigkeit 
geübt und die Kinder so im bewußten Sprechen gefördert. 

Überblicken wir zum Schlüsse die Arbeit noch einmal! Was kann in 
größeren Schulgemeinden zur Förderung von Kindern mit Sprachfehlern 
geschehen? 

1. Die Behörden müssen durch Statistiken überzeugt werden, wie 
nötig die Gründung von Sprachklassen ist In dankenswerter Weise hat 



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2. Eine notwendige Schulreform. 



151 



der Stadtrat zu Meißen auf Vorschlag des Herrn Dir. Dr. Bargmann 
beschlossen, von Ostern 1910 ab an allen Schulen, soweit es möglich ist, 
die Elementarschuler mit Sprachfehlern in besonderen Sprachklassen zu 
vereinigen. Außerdem finden für Stotterer aus anderen Klassen von Zeit 
zu Zeit Einzelkurse statt. 

2. Das Interesse der Lehrer für den Unterricht an Sprachklassen 
muß geweckt werden. Der Unterricht ist nicht etwa langweilig und geist- 
tötend, wie manche meinen. Er bietet vielmehr denen, die sich besonders 
für Psychologie interessieren, ein fruchtbares Arbeitsfeld. In Sprachklasson 
können Ph&nomene beobachtet werden, die in normalen Klassen sehr selten 
vorkommen. So habe ich in der kurzen Zeit von Ostern bis Sommerferien 
eine große Zahl von wichtigen Zeichen- und Schreibphänomenen gesammelt, 
die demnächst von Prof. Stern in der Zeitschrift für angewandte Psychologie 
veröffentlicht werden. Zweckmäßig ist auch die Ausbildung des Lehrers 
an Sprachklassen in einer hygienischen phonetisch richtigen Sprechweise. 

3. Es ist wünschenswert, daß der Schularzt besonders gut informiert 
ist auf den Gebieten der Sprachphysiologie, Sprachhygiene und der Sprach- 
störungen, so daß er dem Lehrer immer ratend zur Seite stehen kann. 
Gemeinden, Lehrer und Ärzte, frisch ans Werk zur gemeinsamen Arbeit! 

Das Große schafft 
Vereinte Kraft! 



2. Eine notwendige Schulreform. 

Mir geht von einem Schuldezernenten folgendes Schreiben zu: 
»Nach einer Oberpräsidial - Verfügung von Januar 1907 müssen in Westfalen 
zum Ostertermine alle Kinder eingeschult werdon, die bis zum 30. September des- 
selben Jahres das sechste Lebensjahr vollenden. Das hat zur Folge gehabt, daß 
viele Kinder auf Vorschlag des Schularztes ein Jahr zurückgestellt wurden. Viel- 
fach ist es nun so, daß dieso Kinder auf ein weiteres Jahr größtenteils in licht- 
und luftlose Wohnuugen gebannt werden. So kommt es, daß sie nach Jahresfrist 
nicht nur nicht schulfähiger, sondern körperlich und geistig noch mehr verkümmert 
sind. Diese Tatsache hat mich veranlaßt, die hiesige Schuldeputation in einer Ein- 
gabe zu bitten, für diese armen Kinder einen Kindergarten einzurichten, in dem 
sie sich körperlich ertüchtigen können. Außer diesen schulpflichtigen, aber noch 
nicht schulfähigen Kindern möchte ich dem Kindergarten auch die Kinder zu- 
weisen, die der Hilfsschule zugeteilt sind, aber zuvor noch eines Vorkurses be- 
dürften. Die Schuldeputation hat dem Antrage grundsätzlich zugestimmt, aber es 
fehlt mir an Vorbildern für die Einrichtung; ich bitte darum freundlichst um Be- 
antwortung folgender Fragen: 

1. Sind Ihnen ähnliche Einrichtungen, wie ich sie erstrebe, bereits bekannt, 
und wo bestehen sie? 

2. Können Sie mir eine tüchtige Kindergärtnerin empfehlen, die geeignet und 
bereit wäre, hier ev. eine solche Einrichtung zu übernehmen V 

Auch für jede weitere Anregung würde ich Ihnen sehr dankbar sein.« 

Ich habe bereite L J. 1899 (Ev. Schulbl. Nr. 11, S. 444—456) in 
einer Kritik der Siokingerschen Sohulreformvorschläge (Mannheimer 



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152 



System) anter der Überschrift: »Eine Bankerotterklärung des Schul- 
kasernen tum sc als die notwendigste Reform die vorhin gewünschte be- 
zeichnet. Hier in der Elementarklasse liege die erste und Hauptquelle 
der von Sickinger damals gekennzeichneten Mißstände, sowie überhaupt 
in der damit zusammenhängenden Lehrplanfrage. 

Meines Wissens hat man in Charlottenburg diese Reform zuerst versucht. 
Frl. Damrow hat darüber beuchtet in Nr. 4 u. 6, Jahrg. XIII unserer 
Zeitschrift. Sie hielt auch darüber einen interessanten Vortrag auf dem 
Fröbelverbands-Ta^e in Magdeburg im Oktober v. J. Eine Fortsetzung 
jenes Berichtes bringen wir in dem nachstehenden Artikel. 

Unsere Leser aber möchte ich bitten, hier an dieser Stelle Ober 
andere Versuche dieser Art und ihre Ergebnisse ebenfalls zu berichten. 

Ich verhielt mich damals nicht ablehnend gegenüber den Sickinger- 
BChen Vorschlägen, und mein Schlußsatz lautete: »Schulrätliche Arbeiten 
von der Art und der Gründlichkeit der Sickingerschon gehören in der 
pädagogischen Literatur zu den Seltenheiten.« Ich hielt aber Sickiogets 
Reform vorschlage für unzulänglich zur Abstellung der Mißstände, und ich 
tue es noch heute. 

Es dürfte darum nicht überflüssig sein, ein Teil des dort Gesagten 
bei dieser Gelegenheit auch hier zu wiederholen, einmal, weil es gegen- 
über den zum Teil mit großem Kraftaufwande in Bewegung gesetzten 
Reformen auch noch heute seine Gültigkeit behalten hat, und zum andern, 
weil man nun doch endlich beginnt, das einzusehen, was doch auoh schon 
vor 10 Jahren leicht einzusehen war, ja zum Teil schon von Pestalozzi 
erkannt wurde. 

«Nicht voll gewürdigt ist auch die Verschiedenheit des Tempos in der 
natürlichen Entwicklung. Es überraschte mich, den fast überall zum schulregiment- 
lichen Dogma gewordenen Satz auch hier wiederzufinden: daß diejenigen Kinder, 
welche in zwei Jahren nicht aus der untersten Klasse versetzt werden können, 
»krankhaft schwach begabt« sind und dann der sogenannten Hilfsklasse überwiesen 
werden müssen. Ich frage auch hier aufs neue: Brauchen Lehrer, Schularzt und 
Schulinspektor zwei Jahre, um Schwachsinn oder andere psychopathische Minder- 
wertigkeiten bei Schülern festzustellen? 

Das von Herrn Stadtschulrat Dr. Sickinger unangetastet gebliebene erste 
Schuljahr sollte meines Erachtens in allererster Linie einer ganz gründliches 
Reform unterzogen werden. Ich kann hier nicht weiter eingehen auf die 
dringliche Reform des Lehrplans für das erste Schuljahr. Ich will aber darauf bin« 
weisen, daß, wenn irgendwo die Leistungsfähigkeit der Schüler verschieden ist, so 
ist sie es bereits im ersten Schuljahr, ohne daß damit gesagt ist, daß diese Ver- 
schiedenheit im Laufe der Schulzeit durch ein schnelleres oder langsameres geistiges 
Wachstum nicht wieder ausgeglichen werden kann. Von diesem Gesichtspunkte 
aus halte ich es für notwendig, daß bei großen Schulsystemen, in unsern sogenannten 
Schul kasernen, die Kinder gleich beim Eintritt in die Schule in zwei Gruppen geteilt 
werden. In die eine Gruppe sind die zu bringen, die ungefähr reif sind, das her- 
gebrachte Pensum des ersten Schuljahres in geistbildender und nutzbringender Weise 
zu bewältigen. Das wird etwa nur die Hälfte der Eingetretenen sein. Diese be- 
kamen dann von vorneherein gegenüber den andern Schülern eineu Vorsprung von 
einem Jahr und würden so schon von vornherein für die erweiterte Schule pra- 



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3. Über die Entwicklung der Charlottenburger Schulkindergärten. 153 



•iestsniert sein. Die andere Gruppe halte ich für vollständig unfähig, ohne Ver- 
krüppelung ihres Intellekts, ihres Gefühls- und ihres Willenslebens in der landes- 
üblichen Weise nach dem Lehrplan des ersten Schaljahres unterrichtet zu werden. 
Für sie wäre ein Vorkursus notwendig, dessen Plan und Methode dem Kindergarten 
zu entnehmen wäre und der den Wort- und Buchstabenunterricht gänzlich zurück- 
stellte. Unter diesen Kindern würden sich im Lauf des Jahres manche, die im 
Hause arg vernachlässigt worden sind, dermaßen kräftigen, daß vielleicht eine Ver- 
setzung in die erste Abteilung stattfinden könnte. Die Schwächsten und vor allen 
Dingen aach diejenigen, welche man volle zwei Jahre in der untersten Klasse ohne 
Erfolg sitzen lassen will, würden dann auf keinen Fall mehr in der Schule weiter 
geistig verkrüppeln, sondern es würde schon bei einer so verbesserten Ijehrraethode 
auch ihnen verdauliche Geistesnahrung zum Wachstum, ja vielleicht zur Gesundung 
geboten werden.« .... 

»Gegenüber den Sickinger scheu Vorschlägen könnte man aber wohl die Frage 
aufwerten, ob man nicht den ganzen Elementarunterricht mit dem sechsten Schul- 
jahre beschließen sollte, ohne die Schulpflicht abzukürzen. Dann fanden auch die 
schwächer Begabten ihr Recht in der allgemeinen Volksschule; sie dürften im 
Laufe der Schulzeit zweimal eine Klasse wiederholen und erreichten trotzdem ein 
qualitativ abgerundetes Bildungsziel an Stelle jenes Bildungstorso, während den Be- 
fähigteren sich nach Erreichung dieses allen gemeinsamen Zieles die Mittelschule 
wie die erweiterte Volksschule, die der Herr Dr. S. erstrebt, als Fortbildungs- 
schulen eröffneten. 

Vielleicht würde dadurch auch manches Kind bewahrt vor der Überweisung 
in die Hilfsschule für Psychopathische. 

Doch das sollen nur Vorschläge sein, die ich flüchtig hingeworfen habe und 
die mehr das Nachdenken über die Frage anregen, als den Vorschlag des Herrn 
Dr. Sickinger ersetzen sollen.« (S. 454 f.) Trüper. 

3. Über die Entwicklung der Charlottenburger 

Schalkin derg&rten. 

Die Schulkindergärten in Charlottenburg, Aber deren Gründung, Zweck 
und Ziele diese Zeitschrift seinerzeit ausführlich berichtete, 1 ) haben sich in 
erfreulicher Weise entfaltet. Wie erinnerlich, sind die Schulkindergärten 
für sechsjährige schulunreife Kinder gedacht. Diese Kinder sind infolge 
ihrer mangelhaften körperlichen und geistigen Entwicklung oder infolge 
allgemeiner Schwächlichkeit, die aus verschiedenen Ursachen herrührt, 
meist aber durch die ungünstigen häuslichen Verhältnisse bedingt ist, vom 
Schularzt auf ein halbes oder ein ganzes Jahr vom Schulbesuch befreit 
worden. Früher wurden diese Kinder einfach nach Hanse geschickt und 
vegetierten weiter in den licht- und luftlosen Wohnungen bei unzureichender 
oder unregelmäßiger Ernährung. Denn die Mutter kann nicht, wie sie möchte, 
ihre Kinder versorgen, da die Notwendigkeit der Erwerbsarbeit sie auB 
dem Hause treibt So kamen die Kinder nach Ablauf der Zurückstellungs- 
frist wenig schulfähiger, oft noch verkümmerter in die Schule, da in der 
Zwischenzeit nichts geschehen war, die Ursachen des Übels zu beseitigen. 



>) Jahrg. XIII, Heft 4 u. 6. 



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154 



R Mitteilungen. 



Jetzt werden die Zurückgestellten in den Schulkiudergiirten gesammelt 
und vermöge einer dem Schulzweck angepaßten heilpftdagogischea Er- 
ziehung auf die Schule vorbereitet. Im Laufe von etwa drei Jahren sind 
in Charlotten bürg sechs Schulkindergarten gegründet worden. Doch immer 
noch reicht die Zahl nicht aus, alle Zurückgestellten aufzunehmen, da die 
Frequenzzahl 30 nicht überschritten werden soll und die Wege noch viel- 
fach zu weit sind. So ist für das Jahr 1910 die Eröffnung der siebenten 
Klasse vorgesehen. In manchen Semestern ist es dagegen auch vor- 
gekommen, daß einige Plätze noch zu vergeben waren. In diesem Falle 
wurden Kinder von 5 1 /, Jahren zugelassen, deren Eltern um Aufnahme 
gebeten hatten. Dieser Versuch hat sich durchaus bewährt. Denn die 
ärztliche Untersuchung ergibt oft, daß auch hier so manches Kind der 
Fürsorge bedarf, und so kann die Körper uud Geist fördernde Kindergarten- 
behandlung schon ein halbes Jahr früher einsetzen, gewiß nicht zum 
Schaden des Kindes. Die normal entwickelten Kinder aber, die sich 
natüilich auch unter den freiwillig gemeldeten finden, sind für einige 
Stunden den Gefahren der Straße entzogen, beleben die Klasse, wirken 
ansteckend durch ihre gesunde Munterkeit und reißen die Schwächeren 
mit sich fort. 

Die ärztliche und soziale Seite der Schulkindergärten ist seit ihrem 
Bestehen ständig erweitert worden. Sämtliche Kinder werden jetzt in der 
Schulzahnklinik behandelt. Wenn nötig, überweist sie der Schularzt zur 
weiteren Behandlung an die städtischen Spezialärzte oder zwecks Operationen 
an die Kliniken. Die Schwächlichen und Armen erhalten freies Frühstück 
und Mittagessen durch die Schulküchen oder Schulspeisung. Der Unter- 
richt ist mehr noch als früher ins Freie verlegt worden, und auch im 
Winter ist das Turnen, Spielen und Umherturameln im Garten nichts 
seltenes. Nach dem Frühstück ruhen die Kinder auf flachen Liegestühlen, 
im Winter in gelüftetem Räume, im Sommer in der offenen Liegehalle 
oder ganz im Freien. Soweit Verständnis und Kraft der Kinder reichen, 
wird Gartenbau getrieben, und es ist eine Freude, sie an den Beeten arbeiten 
und beobachten zu sehen. 

Ein ärztlicher Gesundheitsschein und ein Bericht der Lehrerin be- 
gleiten das zu entlassende Kind in die Schule und werden hier fortgeführt. 
Die durch die Behörde eingeforderten Berichte der Lehrer haben ergeben, 
daß die früheren Kindergartenzöglinge meist ohne Schwierigkeiten das 
erste Schuljahr überwanden, einzelne sich sogar die ersten Plätze einer 
höheren Lehranstalt eroberten; manche dagegen mußten der B-k lasse oder 
der Hilfsschule überwiesen werden. Wird ein Kind schon im Kindergarten 
als zweifellos hilfsschulreif erkannt, so beantragen Eltern, Lehrerin und 
Arzt die möglichst sofortige Aufnahme in eine Hilfsschule, um kostbare 
Zeit zu gewinnen und dem Kinde unnütze Qualen zu ersparen. 

Die Leitung der einzelnen Kindergärten liegt in den Händen von 
geprüften Kindergärtnerinnen, die nach einem Probejahr auf Privatdienst- 
vertrag aJs städtische Beamtinnen angestellt werden. Auch Lehrerinnen 
haben sich um die Anstellung am Schulkindergarten beworben. Die 
Oberleitung über sämtliche Schulkindergärten führt eine wissenschaftliche 



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4. Schulerzeugenaussagen. 



155 



Lehrerin, der 1906 die Leitung des ersten Schulkindergartens über- 
tragen worden war und die einerseits mit der Fröbelmethode vertraut ist, 
andrerseits durch ihre frühere Tätigkeit an höheren und niederen Lehr- 
anstalten die Forderungen kennt, die die Schule an die kleinen Lern- 
anfänger stellt Jeder Leiterin steht eine Forthildungsschülerin, die sich 
zur Kinderpflegerin ausbildet, als Helferin zur Seite. In solchen Fallen, 
wo die Mutter verhindert ist, ihr Kind zum Arzt oder in die Kliniken zu 
begleiten, steht uns die Schuisch wester zur Verfügung. 

Charlottenburg. M. Damrow. 



4. Schülerzeugenaussagen. 

Von Dr. A. Feuchtwanger, Frankfurt a. Main. 

Die Schüler K. und R. im Alter von 8 und 9 Jahren geraten in Streit. 
Der Ordinarius der Klasse sucht zu eruieren, wer der Schuldige war. Bei 
der Inquisition spricht der achtjährige F. leise vor sich hin: »Der K. hat 
,au' geschrien.« (Dies berichtete F. sofort beim Nachhausekomraen seiner 
Mutter spontan.) K. benützt diese Äußerung des F. zu seiner Ver- 
teidigung dem Lehrer gegenüber. K. und R. bekommen einen Tadel und 
K. soll dies seiner Mutter melden. Die Mutter des K. ruft den F. 
telefonisch an und F. bestätigt seine oben gemachte Aussage zu wieder- 
holten Malen. Für die Tatsache, daß F. obige Äußerung wirklich getan 
hat, sprechen also 

1. der spontane, sofortige Bericht des F. an seine Mutter, 

2. die Benützung derselben von Seiten des K. zu seiner Verteidigung 
dem Lehrer gegenüber, 

3. die wiederholte telefonische Behauptung des F. der Mutter des K. 
gegenüber, dazu kommt noch 

4. daß ein Teil der Mitschüler des F. bei einer erneuten Inquisition 
die Aussage des F. bestätigen. 

Daß K. »au« geschrien hat, wird von einem Teil der Klasse 
bestätigt 

Nach 6 Tagen erklärt F. seiner Mutter kurz vor seinem Gang in die 
Schule, er müsse ihr melden, daß er wegen unwahrer Aussage einen 
Tadel bekommen habe. Dieser Tadel sei durch einen Brief der Mutter 
des K. an den Lehrer veranlaßt worden. Worin die geladelte Unwahrheit 
bestand, weiß F. nicht anzugeben. Er sagte nur, der Ordinarius hätte 
ihn mit Recht getadelt. Die Mutter des F., beeinflußt durch die Lektüre 
der Monographie von Clara und William Stern: »Erinnerung, Aussage 
und Lüge in der Kindheit«, denkt sofort an eine kindliche Erinnerungs- 
täuschung und glaubt, daß der Lehrer durch seine eindringliche Inquisition 
im Kinde eine ungewollte Suggestion hervorgerufen habe. Dieser Verdacht 
der Erinnerungstäuschung bestätigt sich, da es F. völlig aus der Erinnerung 
geschwunden war, daß der Lehrer den Brief der Mutter des K. in der 
Klasse vorgelesen hatte. Nach liebevollem Verhör von Seiten der Mutter 
erklärte F. plötzlich, er habe den obigen Ausspruch des K. nicht gehört 
und darin bestehe die Unwahrheit Ängstlich erklärt er: »Du wirst 



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150 



C. Liteiatur. 



sehen, Mutter, ich bekomme noch zu dem Tadel Arrest« Die Matter 
suchte ihn zu überzeugen, daß er wiederholt dieselbe Aussage gemacht 
habe und daß dies unmöglich eine Unwahrheit gewesen sein könne. 
Darauf sagte F.: Ja, das sei wahr, aber in der Schule könne man das 
nicht sagen. Die Mutter machte ihn darauf aufmerksam, daß der Schul- 
gehorsam nicht verlange, von der Wahrheit abzuweiohen. Am nächsten 
Tage erzählt F. der Mutter, er hätte dem Ordinarius auf Befragen erklärt, 
daß er (F.) die Wahrheit gesagt hätte. Auf die Inquisition des Lehrers, 
warum er dies nicht schon früher behauptet hätte, weiß er keine Antwort 
zu geben. Die Mutter hatte den Eindruck, daß der sonst geweckte, gute 
Schüler F. sich über den Sinn der Beschuldigung, *er hätte die Unwahrheit 
des K. bestätigt« nicht klar war. Die Mutter beobachtet ferner, daß sich 
der 8 jährige Junge der Ehrenrührigkeit der Beschuldigung der Lüge nicht 
bewußt ist. Es mag das zum Teil seine Ursache darin haben, daß die 
Worte »Lüge« und »Unwahrheit« im elterlichen Hause verpönt waren. 

Fragen wir zum Schlüsse nach dem Grunde, warum wir eine so 
kleinlich scheinende Begebenheit in so breiter Weise der Öffentlichkeit 
übergeben? Wir verfolgen damit den praktischen Zweck, die Erzieher ab- 
zuschrecken von der bedenklichen Art der Inquisition, wie sie oft in 
unseren Schulen angewandt wird, um die Schuld eines Schülers zu eruieren. 
»Die Lügen der Kinder sind das Werk der Erzieher«, sagt Rousseau. 

•-- - ' - -- --- 

i 

C. Literatur. 



Rieger, Ober Apparate in dem Hirn. Arbeiten aus der psychiatrischen Klinik 
zu Würzburg. Heft 5. Jena, Gustav Fischer, 1909. Preis 6 M. 

Wir tun hier einen Blick in das geheimnisvolle Walten im Gehirn, das uns 
mit seiner Unzahl von Fädengewirren noch immer das größte Ratsei des Denkens, 
aufgibt. Es sind die Ergebnisse einfacher Unterredungen, Beobachtungen beim 
Bilderbetrachten, Buchstabenlegen, schreiben, buchstabieren, an Kranken mit ab- 
normer Hirntätigkeit gewonnen, also für den Lehrer von Schwachsinnigen alltägliche 
Methoden. Dementsprechend scheinen mir die Resultate für das Verständnis der 
unterrichtlichen Behinderungen bei manchen schwachsinnigen und abnormen Kindern 
von Bedeutung werden zu können. Eine besondere Würdigung erfahren die 
Störungen der sprachlichen Wiedergabe, der sprachlich-begrifflichen, zusammen- 
setzenden und auseinandernehmenden (buchstabierenden!) Tätigkeit, des Benennens 
usw. sowie die sogenannten aphasischen Störungen (Wortstörungen). Neben dem 
»Sprechapparat«, der selbständig für sich arbeitet, treffen wir in der Hirntätigkeit 
auf einen ebenso wichtigen, den räumlich -sachlichen Apparat. Dieser äußert sich 
in dem inneren Schauen und Tasten, dem Raumsinn (bei Taubstummen, Blinden 
hochentwickelt.!), in der Erkennung räumlicher Zusammenhänge z. B. zusammen- 
gesetzter Bilder, der Gesichtseindrücke usf. Über diesen beiden Apparaten wirkt 
ordnend und lenkend, je nach Willen und Erfordernis, der >Lenk- und Stellapparat«. 
In allen diesen Apparaten können isolierte und dann ganz charakteristische Störungen 
bestehen, die sich in der rätselhaften Unfähigkeit, eine gestellte Aufgabe zu lösen, 
kund tun (etwa ähnlich, wie wir es in Fällen von Hörstummheit sehen. D. Ref.). 



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C. Literatur. 



157 



Von pädagogisch interessanten Fällen erwähnt Verfasser solche, die er als »partielle 
(teilweise) Idiotie« bezeichnet. Es besteht z. B. Unfähigkeit zum zusammenhängenden 
Lesen von Wörtern oder Zahlen, Unfähigkeit, lesen und schreiben zu lernen. Im 
Bereich des Musikalischen kommen normalerweise partielle Unfähigkeiten vor. Mao 
versteht die partielle Idiotie (vielleicht auch Fälle von Hörstummheit. Ref.) mit 
Hilfe der Erkenntnis, daß das Zusammensetzen und Auseinandernehmen sehr wichtige 
Vorgänge in den Hirnapparaten sind, wie Verfasser mit Anschaulichkeit darlegt 
So können z. B., was das »Auseinandernehmen« anbelangt, viele Idioten nur das 
fertige Ganze leisten, etwa ihren Namen schreiben, das Ganze aber nicht in seine 
einzelnen Bestandteile zerlegen (buchstabieren u. ähnl.). »Der Idiot hat nur einige 
fertige Stempel.« Im räumlich-sachlichen Apparat gibt es dieselben Störungen, auch 
bei normalem 8prechapparat. So kommt es vor, daß fertige Gesichtseindrücke rasch und 
richtig aufgenommen werden, sobald aber eine räumliche Anordnung geleistet werden 
muß, z. B. Nachzeichnen, Täfelchen, Figuren legen, besteht »Blödsinn«, so intelligent 
der Kranke vielleicht auch disputieren mag. Auf die weiteren Einzelheiten kann 
hier nicht eingegangen werden. Eine andere anregende Unterscheidung ist die der 
Legato- und Staccatobewegungen im Gehirn. Die Legato Vorgänge fließen konti- 
nuierlich, unbekümmert um Einzelheiten, die sie gar nicht bemerken oder fälschen 
(z. B. verlesen!), sie sind nur auf das Ganze gerichtet, etwa einen Satz, Inhalt. 
Werden die Anstöße, etwa zum Sprechen, gebremst, wie z. B. beim Buchstabieren, 
so entstehen Staccatobewegungen. Diese nehmen viel mehr psychische Arbeits- 
leistung und Zeit in Anspruch als die Legatozusammenhänge. Vollgepfropfte Silben 
zusammenzustellen, nimmt nicht mehr Zeit in Anspruch als einen einfachen Sprech- 
laut wiederzugeben. Aber das Zusammenstellen aus den Teilen und Zerlegen in 
die Teile erfordert lange Bremspausen (staccato). 

In dem Hirn sind nicht fertige Silben fixiert, die etwa wie eine Taste an- 
geschlagen werden, sondern die Sprachlaute schießen jedesmal neu zu den Silben 
zusammen. Hierfür sind die Widerstände äußerst gering. Die Zusammenstellung 
geschieht so schnell, gleichgültig ob gewohnte oder ungewohnte Silbe, daß es scheint, 
als ob sie vorher fertig gewesen sei. 

Wer aus diesen wenigen Beispielen, die nur Stichproben sein sollen, ersieht, 
daß das Werk seine Interessensphäre berührt, dem kann das Studium desselben, 
sofern etwas Vorbildung und physiologisch - psychologisches Denken , dem die 
Riegerschen Anschauungen nicht widersprechen, vorhanden sind, empfohlen 
werden. Es kann dann auch für die Heilerziehung, besonders für den Unterricht, 
Früchte bringen, wenn es auch nicht geradezu dafür angelegt ist. Es wirft aber 
etwas Licht in die Tätigkeit der »Apparate in dem Hirn«, an denen der Lehrer 
Schwachsinniger seine Lebensarbeit leistet. 

Merzig a. d. 8aar. Dr. med. Hermann. 

Aus dem Jahresbericht 1908/09 Aber die schulärztliche Tätigkeit in 
den städtischen Volksschulen zu Worms ist für uns hauptsächlich der Einzel- 
bericht des Nervenarztes Dr. Bayerthal (Schularzt der dortigen Hilfsschule) von 
Interesse, da er nicht nur die üblichen Gesundheitsstatistiken, sondern auch eine 
Fortführung der vom Verfasser schon seit einigen Jahren betriebenen Untersuchungen 
der Beziehungen zwischen Kopfdurchmesser und geistiger Begabung 
der Schüler enthält Die Krankheitsstatistik der Hilfsschule gibt dem Verfasser 
einleitend Gelegenheit, einen Blick auf die Ursachen geistiger Minderbegabung zu 
werfen. Ahl solche gelten ihm in erster Linie erbliche Belastung und Keim- 



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160 



C. Literatur. 



und höre, daß in der IV. Klasse — das sind Kinder, die in dieser Klasse kaum 
den Zahlraum bis 10 bewältigen — gesungen werden soll: »Seelen bräutigam, Jesu, 
Gottes Lamm ! Habe Dank für deine Liebe, die für mich aus reinem Triebe starb 
am Kreuzeustamm, Jesu, Gottes Lamm!« 

Das Buch ist kein zuverlässiger Führer auf dem im Titel umschriebenen Ge- 
biet. Das muß gesagt werden, trotzdem die Hilfsschule und die Hilfsschüler dem 
Verfasser so außerordentlich viel verdanken. 

Jena. Richard Wagner. 

Dr. med. Stadelmann, Ärztlich-pädagogische Vorschule. Auf Grundlage 
einer biologischen Psychologie. Hamburg, Leopold Voß, 1909. 5 M. 

Nachdem kein geringerer als Ziehen es unternommen hat, die »Geistes- 
krankheiten des Kindesalters« für weitere Kreise darzustellen, strebt eine moderne 
Richtung der »Medikopädagogik« dahin, dem Erzieher in gründlicher Weise die 
psychischen Grenzzustände und die naturwissenschaftliche Seelenkunde, im wesent- 
lichen das Ergebnis ärztlicher Arbeit, zugänglich zu machen. Der Gedanke, daß 
der Erzieher ohne diesen Einblick doch das Richtige dem abnormen Kinde gegen- 
über treffen könne oder auf ärztliche Anweisung hin müsse, ist zu unhaltbar, als 
daß er praktisch auf die Dauer bestehen bleiben könnte. Die Praxis der Heil- 
erziehung und der Fürsorgeerziehung lehrt, daß wir Erzieher nötig haben, die so- 
weit ärztlich denken können, daß sie den Arzt verstehen und daß sie die Seele 
abnormer Kinder verstehen. Dazu gibt es aber nur einen Weg: Studium, gründ- 
liche Erlernung des Grenzgebietes. Stadelmann greift den ärztlichen Teil dieser 
Aufgabe auf eine sehr glückliche Art an. Er geht von der naturwissenschaftlichen 
Basis aus, der wir nicht nur geläuterte ärztliche und psychologische Erkenntnis, 
sondern im Zusammenhang damit hohe Kulturwerte in echt christlichem Sinne ver- 
danken. Vom Leben der Gehirnzellen, ihrer Arbeit, ihrer Ermüdung führt die an- 
regende Darstellung zu den Gefühlen, Stimmungen, den krankhaften Charakter- 
eigenschaften, Konstitutionen, den seelischen Äußerungen »ermüdungsbeanlagter«, 
d. i. degenerierter Kinder. Jede Seite bietet grundlegende Anschauungen, gerade 
in Gebieten, die — trotz ihrer hohen erzieherischen Wichtigkeit — leider infolge 
der eigenartigen Bedingungen dem Pädagogen und auch dem Arzt oft schwer zu- 
gänglich sind. Die Auswahl ist vorzüglich geeignet und berührt viele interessante 
seelische »Probleme« und viele praktische Fragen, die Darstellung großenteils gut 
verständlich und anregend. Es ist kein Buch zum flüchtigen Lesen, sondern zu 
reifem Nachdonken. Namentlich im Anfang wird es freilich für manchen Mühe 
kosten, sich einzuarbeiten. Dementsprechend wird der Gewinn ein großer sein und 
große, neue Gedanken erwecken. Das ist meines Erachtens das Beste, was der 
Arzt dem Erzieher geben kann. 

Natürlich berührt das großzügige Werk auch Fragen, die Stoff zur Erörterung 
bieten könnten. Der Kenner weiß auch, wieviel Mißverstandenes und Unverstandenes 
bei der Schwierigkeit der Materie selbst aus einer klaren Darstellung herausgelesen 
werden kann. Auch Stadelmann vertritt einige Anschauungen, die nicht von 
allen Ärzten und noch weniger von Laien geteilt werden. — Daran eine kleinliche 
mißverständliche Kritik zu üben, würde das vereiteln, was wir am meisten wollen: 
Verständnis. Daß die Zukunft uns über manches Strittige noch Klarheit bringen wird, 
muß der Arbeit der engeren Fachgelehrten Oberlassen bleiben. 

Merzig a. d. Saar. Dr. med. Hermann. 

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mnnn) in UnRcn«ü/Ji 



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EDUCATfON ■ 

APR 4-]010 S 
A. Abhandlungen. 5 LELA N D Sl a r.)HJ>! 

5 JUNIOR ÜNIVP R5ITV 

1. Ist die Praxis der Jugendgerichte eine schwächliche 

Justiz? 

Von 

Arotegerichterat Landsberg. 

Während man in dem einen oder anderen Blatte zuweilen ent- 
rüstete Worte über angeblich harte Urteile von Jugendgerichten liest, 
gibt es eine andere Gruppe von Fachmännern und außenstehenden 
Kritikern, die dem Jugendgericht überhaupt den Vorwurf »schwäch- 
licher Justiz« machen. Beides ist unbegründet. Die Tadler »harter« 
Urteile vergessen, daß unser materielles Strafrecht über Jugendliche 
leider fortbesteht, daß es daher nicht in der Hand des Jugendrichters 
liegt, dieses Strafrecht als aufgehoben zu behandeln. Wenn der 
Jugendrichter es für noch so bedauerlich hält, daß ein 15 jähriger 
junger Mensch, der trotz eingehender Warnung Bänder gestohlen 
hatte, zu Gefängnis verurteilt werden muß, so kann er doch nicht 
eigenmächtig das Gesetz außer Kraft setzen. Solange es besteht, wird 
es angewandt werden müssen. Das Bedauerliche ist eben, daß es 
entgegen unserer Einsicht immer noch fortbesteht. An diesem Fort- 
bestand hat die Einführung der Jugendgerichte nichts zu ändern ver- 
mocht. Dem Jugendgericht kann man daher aus dieser Tatsache 
keinen Vorwurf machen. 

Weit schwerer ist der Vorwurf einer schwächlichen Justiz. Denn 
zweifellos erheischt das starke Anwachsen der Verbrechen und der 
Unsicherheit der Landstraßen und gewisser Großstadtviertel eine 
wachsende Energie der Verbrechensbekämpfung. Wer diesen Kampf 
aufgeben möchte, der paßt eben nicht in die Reihe derer, die Staat 

Zeitschrift für Kindorforschung. XV. Jahrgang. H 




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162 



und Gesellschaft zum Schutze gegen das anstürmende Verbrechen 
berufen haben. 

Und es besteht meines Erachtens darin kein Zweifel, daß unsere 
Repression gegen die Verbrecherwelt eine schonungslosere werden 
muß. Nicht in dem Sinne, daß die Strafausschließungsgründe weniger 
beachtet werden dürften, vielmehr in dem Sinne, daß über die per- 
sönlichen Rechte des sozial Schädlichen soweit zur Tagesordnung 
übergegangen wird, als nötig, um ihn unschädlich zu machen. Das 
einfachste Mittel ein erziehbares Wesen, also ein Kind, einen Jugend- 
lichen, der bei ihm vorhandenen sozialen Schädlichkeit zu berauben, 
besteht aber zweifellos nicht darin, daß man diesen Übeltäter ins 
Gefängnis steckt, sondern darin, daß man ihn durch Erziehung zu 
einem sozial nützlichen Menschen macht Wenn unsere Justiz es 
aufgibt, die sozial schädlichen Jugendlichen durch Strafen abzu- 
schrecken und es zugleich unterließe, sie erziehlich zu behandeln, so 
wäre sie allerdings eine schwächliche Justiz. Nun haben wir derzeit 
in Preußen einige Einrichtungen, welche eine derart schwächliche 
Justiz herbeiführen könnten. Dahin gehört vorab der Strafaufschub 
mit Aussiebt auf Begnadigung dann, wenn während der Be- 
währungsfrist der Jugendliche hilflos dem weiteren Ver- 
derben ausgesetzt wird, wenn keine Hand gereicht wird, um die 
etwa fehlende Erziehung zu ersetzen. Dazu gehört ferner die allzu- 
reichliche Benutzung des Verweises als Strafmittel auch bei schon 
gar nicht mehr geringfügigen Straftaten. Den Verweis kann nur der 
zweckentsprechend anordnen und erst recht nur der richtig erteilen, 
der den Jugendlichen vollständig kennt, der seine innersten Beweg- 
gründe erforscht hat Das aber kann nur selten ein Richter, auch 
kein Richter beim Jugendgerichte. Wenn ein Junge, das Verbotene 
seiner Handlung genau kennend, aus dem nahen Walde Holz ent- 
wendet, damit er für seine frierenden kleinen Geschwister »Kaffee« 
kochen und heizen kann, wird er sich dabei leicht als ein edel 
Handelnder erscheinen; er opfert sich für seine Lieben und nimm! 
es auf sich, etwas zu tun, was er selbst im allgemeinen verwirft, 
in seinem besonderen Falle aber für besser hält, als die Unter- 
lassung. Diesem Jungen wird gar leicht als Verweis eine Mahnung 
über Mein und Dein erteilt Die Handlung wird also schlecht be- 
zeichnet Dann sind zwei Fälle möglich: entweder der Junge glaubt 
der Mahnung nicht, hält also an der Hochwertung seiner Tat fest, 
dann ist die Mahnung vergebens. Oder, was das Schlimmere ist, er 
glaubt an die Berechtigung der Mahnung, sinkt in seiner eigenen 
Wertschätzung und fühlt in seiner Handlung sich gezeichnet; dann 



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Laiü'sbehg : Ist die Praxis der Jugendgerichte eine schwächliche Justiz? Iß3 



wird sein Widerstand gegen weitere Versuchung geschwächt, ohne 
daß sich mit der neuen Versuchung der abschreckende Gedanke eines 
ernstlichen Widerstandes von Staat und Gesellschaft gegen seine 
wider ihre Ordnung gerichteten Gelüste verbände. Solche Verweise 
unterbleiben besser. Und es ist klar, daß Häufung der Verweise eine 
schwächliche Justiz in der Tat bedeutet Es ist daher zu bedauern, 
daß der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch (§ 37) den Verweis, ent- 
gegen dem K Ohne sehen Entwürfe, als Strafmittel beibehalten möchte. 

Der Strafaufschub, welcher jetzt schablonenmäßig und meist ohne 
irgend eine Sicherungsmaßregel erfolgt, kann gleichfalls alle Folgen 
schwächlicher Justiz haben und er hat sie nicht gar selten. Wenn 
ein Fürsorgezögling fortgesetzt straffällig wird, ohne daß die Fürsorge- 
behörde diesen Taten ein Ende zu setzen vermag, so ist es töricht, 
wegen dieser offensichtlich fehlschlagenden Erziehungsmaßregel die 
Begehung von Straftaten gleichsam freizugeben. Ebenso ungeeignet 
ist es, einen mit liederlichen Gesellen verkehrenden jungen Burschen 
auf die Aufschubliste zu setzen, ohne die Sicherheit erlangt zu haben 
oder zu gewährleisten, daß der bisherige Verkehr unterbunden wird. 
Durch die in einem früheren Aufsatze des Verfassers Heft 2 des 
Zentralblattes für Vormundschaftswesen besprochene Erziehungspfleg- 
schaft (probation) kann dies erreicht werden. 1 ) Nun sagt aber die 
preußische Verordnung über die Bewährungsfrist ausdrücklich: »Eine 
Überwachung findet nicht statt« Zwar ist damit offenbar nur eine 
der Polizeiaufsicht entsprechende Überwachung gemeint; und es ist 
nicht anzunehmen, daß eine Justizbehörde auf Grund dieser Be- 
stimmung die Vollstreckungs- und Vormundschaftsbehörden hindern 
würde, eine der »Probation« entsprechenden Überwachung auszu- 
üben. Indessen wird schon das bloße Bestehen eines solchen Über- 
wachungsverbotes in der Verordnung bei den meisten Vollstreckungs- 
behörden jeden Gedanken an Bestellung von Überwachungspersonen 
ausschließen. Und diese Unterlassung hat bereits nachteilige Erfolge 
gehabt; Rückfälle und Führungsmängel sind fortgesetzt in zahlreichen 
Fällen festzustellen. Der schlimmste Erfolg ist aber das in den be- 
treffenden Teilen des Publikums herrschende Gefühl, als ob die Justiz 
der Jugend alles durchsehe und es mit ihr nicht genau nehme, als 
ob die Justiz die jungen Leute tatenlos ihren Mißbrauch treibenden 
Eltern, Obhutspersonen oder Gefährten überlasse. Kurz, es liegt hier 
der wundeste Punkt für unsere Reformen: die Gefahr als »schwäch- 
liche Justizc den Respekt der antisozialen, nicht rechtzeitig er- 



l ) Vergl. Ztschr. f. Kdl 1910, Heft 4, S. 122 ff. 

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164 



A. Abhandungen. 



zogenen oder uneraehbaren Bevölkerungsteile zu verlieren. Dieser 
Gefahr ist zu begegnen, indem man den Strafaufschub zu einer Er- 
ziehungszeit macht und durch die Überwachung die Lebensführung 
erzwingt, welche man dann doch anstrebt Die Justizbehörde 
täte also gut, wenn sie jenen Satz, der die Überwachung 
ausschließt, striche und durch sein Gegenteil ersetzte: 
»Eine Überwachung ist anzuordnen, sofern nicht besondere 
Gründe gegen sie sprechen. Hat das Vormundschaftsgericht 
sie nicht bereits angeordnet, so hat die Vollstreckungs- 
behörde selbst eine Überwachung mit Hilfe freiwilliger 
Fürsorgeorgane zu veranlassen und zu kontrollieren^ 1 ) 
Die meisten Jugendgerichte werden wohl heute schon die Praxis 
haben, den Erziehungsbedürftigen durch Vermittlung des Vormund- 
schaftsgerichts zur Ersatzerziehung zu verhelfen. Diese Maßregeln 
müßten aber allgemein sein und auch dann erfolgen können, wenn 
weder die Voraussetzungen des § 1666 BGB noch des FEG vorliegen. 

Betrachten wir im allgemeinen den gegen die Jugendgerichte 
vorgebrachten Vorwurf schwächlicher Justiz mit kleinen Einschrän- 
kungen als verfehlt, so läßt sich das gleiche nicht von unserer Justiz 
als Ganzes sagen. Unsere Justiz ist im allgemeinen gegenüber den: 
Gewohnheitsverbrechertum viel zu »vorsichtige, ja geradezu schlapp. 
Und man möchte zuweilen wünschen, es wolle einmal eine Diktatur 
mit Standrecht kommen und mit Gewaltmitteln und ohne Federlesens 
das Land von diesen dauernd unsozialen Elementen säubern. Auch 
die Reform des Vorentwurfes zum StGB scheint da nicht das Rich- 
tige zu treffen. Denn diese zum Widerstande gegen ihre Laster 
und zur normalen Lebensführung unfähig gewordenen wegen einer 
an sich minimalen Handlung, bloß weil sie wiederholt erfolgte, be- 
sonders hart zu bestrafen — wie dies § 89 des Entwurfes vorsieht 
— , wird im Einzelfalle zweckwidrig und ungerecht erscheinen. 
Es wird immer auf das Minimum erkannt werden. 

Die für diese Elemente passende Behandlung ist nicht besondere 
Härte der Strafe, sondern Entmündigung mit dauernder Inter- 
nierung, also dauernde Unschädlichmachung. Das wäre ziel- 
bewußte und das Gegenteil von schwächlicher Justiz! 

Besonders schwächlich ist aber vor wie nach die Art, wie die 
Handlungen gegen das Kind und den Jugendlichen, welche eigent- 
liche Veranlassung zu dessen Entartung oder Verderben geben, der- 

') Dazu ist zu bemerken, daß eine allgemeine Einrichtung von Fürsorge- 
ausschüssen oder Anstellung von Bewährungsbeamten (probation Office rs) eine zweck- 
mäßige Grundlage für eine solche Verordnung abgeben würde. 



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Lahdshbbg: Ist die Praxis der Jugendgerichte eine schwächliche Justi»? 165 



zeit von Oesetz und Justiz behandelt werden. Der Entwurf zum StGB 
schafft darin keine Besserung. § 218, welcher die Aussetzung Hilf- 
loser zum Gegenstände hat, ist keineswegs auf die Verletzung der 
Fürsorgepflicht als solcher ausgedehnt worden, was viel wichtiger 
wäre als die Bestrafung der seltenen echten Aussetzung selbst Bei 
der Mißhandlung ist nach wie vor die Verletzung Angehöriger privi- 
legiert, statt nach ihrem Zweck unterschieden, so daß die jämmer- 
lichen Trunkenbolde, die ihre Familie durch grausame Behandlung 
zerstören, und die Entartung ihrer Nachkommen vorbereiten, dies 
Verfahren ungehindert fortsetzen können. 

Hier sind die Hebel strengster Justiz anzusetzen. Mit den 
schärfsten Strafen muß gegen die Verletzung der Fürsorgepflicht 
durch Obhutspersonen vorgegangen werden. 1 ) ünd die Bestrafung 
dieser Obhutspersonen muß zu den Spezialaufgaben der Jugend- 
gerichte gehören. Gibt man den Jugendgerichten in dieser Richtung 
Machtmittel, so wird man bald nicht mehr von einer schwächlichen 
Justiz, sondern von einer drakonischen Justiz der Jugendgerichte 
reden. Die Kinder schützt man, indem man ihre brutalen Peiniger 
und gleißneri8chen Verderber in den Orkus schickt. Dann wird man 
nicht mehr so sehr die Opfer einer verfehlten Behandlung mit Strafen 
treffen, als vielmehr die wirklich Schuldigen. 

Uber eine schwächliche Strafjustiz« wird man überall da klagen, 
wo man gegenüber den Übeltätern kein völlig reines Gewissen haben 
kann, wo man an eine Mitschuld der Gesellschaft, an Erziehungs- 
sünden der Erzieher, an unverschuldete Willensschwäche der zu 
Behandelnden glaubt, wo das Mitleid die Entrüstung unterdrückt, wo 
man den zu Behandelnden noch erziehen zu können glaubt Eine 
schwächliche Strafjustiz gegen Unschuldige ist kein Fehler. Eine 
schwächliche Strafjustiz gegen Schädlinge ist ein moralisches Verbrechen. 

Nun haben die Jugendgerichte aber nicht nur Strafjustiz zu 
üben. Sie haben vielmehr der Jugend gegenüber in weit 
höherem Maße die Aufgabe, der Erziehung den Weg zu 
bahnen, den Hilflosen auch Hilfe zu vermitteln und zu ver- 
hüten, daß das nötig wird, was die Ängstlichen fordern: 
Eine schonungslose Zermalmung der ursprünglich ohne 
eigene Schuld Entarteten. Man erleichtere den Jugendgerichten 
durch Erweiterung ihrer Macht die Ausführung ihrer erziehlichen 
Aufgaben Dann werden sie weder eine schwächliche noch eine un- 
wirksame Justiz ausüben. 

») Vergl. Uwdsbd» in »Jugend- Recht und Gericht«. Berlin, Verlag Vita, 
1909. 8. 74 ff. 



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I 

166 A. Abhandlungen. 

2. Otto Pöhler, das frühlesende Braunsohweiger Kind. 1 ) 

Von 

I 

Dr. Oswald Berkhan -Braunachweig. 
(Hierzu 1 Tafel.) 

Daß ein Kind l 8 /< Jahre alt deutsche und lateinisch gedruckte 
Worte, ebenso deutsche Zahlen, auch mehrere Worte hintereinander 
zu lesen vermag, ist eine außerordentliche Seltenheit und diese wurde 
bei Otto Pöhler, dem Braunschweiger Kinde, beobachtet Derselbe 
wurde mir in dem genannten Alter vom praktischen Arzt Herrn 
Schucht wegen seiner frühzeitigen auffallenden Begabung im Lesen 
zugeführt 5 Monate später ist der kleine Otto von mir im ärztlichen 
Landesvereine vorgestellt Dann hat mich der junge Otto Pöhler nach 
jahrelanger Abwesenheit von Braunschweig im Alter von 15 und 
wiederum von fast 17 Jahren besucht und ist mir dadurch die weitere 
geistige Entwicklung desselben bekannt geworden. 

Die ungeheure Seltenheit des Falls sowie der weitere Verlauf 
desselben veranlassen mich zu diesem Vortrage: 

Otto Pöhler, geboren den 20. August 1892 zu Braunschweig, 
erstes und einziges Kind des Schlachtermeisters, bekam zu rechter 
Zeit Zähne und lernte zu rechter Zeit laufen und sprechen. Als er 
b / i Jahre alt war, führte ihn die Großmutter vor die Tür und in die 
nächsten Straßen und nannte ihm dabei die Namen, welche auf den 
Haus- und Straßenschildern standen, auch hatten ihm die Angehörigen 
mehrfach seinen Vornamen Otto aufgeschrieben. Als das Kind nun 
eine Zeitung in die Hände bekam, zeigte es den mehrfach in derselben 
gedruckten Namen Otto. Von da ab erklärte ihm die Großmutter 
die Buchstaben und las ihm einzelne Worte vor; dabei ergab sich, 
daß das Kind ein ungeheures Gedächtnis für Buchstaben, Worte und 
Zahlen hatte. 

Als mir der kleine Otto zugeführt wurde, war er wie ich vorbin 
anführte l 8 / 4 Jahre alt Er tat sehr vertraut, kletterte sofort mehrfach 
auf meine Kniee, zeigte sich überhaupt sehr beweglich und unruhig. 
Als er einen neben dem Schreibtisch hängenden Wandkalender er- 
blickte, las er unaufgefordert laut die auf demselben lateinisch groß 
gedruckte Anzeige: April 27. = 

> April zwei sieben, c 

Dann erhaschte er ein auf dem Schreibtische liegendes Buch, 
schlug es auf und las den deutsch gedruckten Titel: 

') Vortrag, gehalten am 2. Dez. 1909 im naturwissenschaftlichen Vereine iu 
Braunschweig. 



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Berkhan: Otto Pöhler, das frühlesaode Braunschweiger Kind. 167 



»Das Stottern und seine gründliche« — dann brach er ab. 

Nur das Wort Stottern machte ihm Mühe, es war, als ob es 
hinausplatzon sollte und nicht konnte. Förmlich unwillig wurde er 
und als es ihm endlich auszusprechen gelang, geschah dies mit einer 
merklichen Dehnung des S und der beiden mittleren tt Sichtlich 
befriedigt eilte er nun auf eine Zeitung los und las aus derselben 
vor, er brach aber wieder und oft ab und nahm die Hauptworte mit 
einer gewissen Vorhebe. Es zeigte sich, daß er dabei einzelne Worte 
stammelte, so sagte er z. B. statt Lübeck = »Lubek«, statt Auktion = 
»Aukschon«. 

So lag das äußerst Wunderbare vor, daß ein l 8 / 4 Jahre altes Kind 
deutsch und lateinisch gedruckte, auch geschriebene Worte, ebenso 
deutsche Zahlen, auch mehrere Worte hintereinander zu lesen ver- 
mochte. 

Die in einer Fibel befindlichen ihm vorgelegten Abbildungen 
einer Uhr, Eule, Windmühle gab er richtig an, vorgezeichnete Striche 
verstand er mit einer Bleifeder nicht recht nachzumachen, ein i nicht 
nachzuschreiben. Wieviel ein vorgehaltener Finger und noch ein 
Finger seien, wußte er nicht, auch nicht, wieviel von 2 ihm vor- 
gelegten Stabchen übrig bleiben, wenn eins fortgenommen würde. 
Für solche Fragen hatte er gar keine Neigung. Farben vermochte 
er nicht zu unterscheiden. 

Er war 86 cm groß, ebenmäßig gebaut, mittelstark. Sein Kopf- 
umfang betrug 48,8, der Längsdurchmesser 17, der Breitendurchmesser 
13, die Wölbung des Kopfes, von einem Ohreingang quer über den 
Kopf bis zum andern Eingang des Ohres mit dem Bandmaße ge- 
messen 28,8. Das Hinterhauptsbein zeigte sich stark hervortretend, 
die Gesichtsknochen regelrecht gestaltet, die Entfernung der Augen- 
axen voneinander etwas über das Durchschnittsmaß hinausgehend. 

Professor Hermann Münk hat nachgewiesen, daß die Windungen 
des Hinterhirns eine innige Beziehung zum Sehen haben, daß dort 
(Sehsphären nennt der Forscher dieses Gebiet) die mittels der Seh- 
nerven gewonnenen Gesichtswahrnehraungen als Erinnerungsbilder 
aufgespeichert werden. 

Nicht unwahrscheinlich ist es nun, daß dem stark hervortretenden 
Hinterkopfe eine stärkere, windungsreichere Anordnung des Hinter- 
hirns entspricht, ein Zentrum der optischen Schriftbilder, d. h. der 
Erinnerungsbilder der gelesenen Wörter, wie denn auch der verhältnis- 
mäßig etwas größere Abstand der Augenaxen einen Rückschluß auf 
eine außergewöhnliche Anordnung der Stirnhirnwindungen erlaubt 



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168 



Eine erbliche Anlage nach irgend einer Richtung hin ist nicht 
nachzuweisen. 

Im Oktober 1894 stellte ich den jungen Otto im Alter von 
2 Jahren und 2 Monaten dem ärztlichen Landesverein vor. Als der- 
selbe nach Beendigung meines über ihn gehaltenen Vortrags in den 
Sitzungssaal geführt wurde, zog einer der Ärzte den Böraerschen 
Medizinal-Kalender hervor mit der Aufforderung, die lateinische Auf- 
schrift zu lesen. Er las fließend: 

Re— ichs Medizinal-Kalender. Begründet von Der Pa— ul Börner. 
Eins acht neun vier. 

Er hatte bedeutende Fortschritte im Lesen gemacht, denn er las 
viel geläufiger als 5 Monate zuvor in meiner Wohnung, ein Stammeln 
war nicht mehr vorhanden. In meinem Vortrage hob ich hervor, 
daß Erbliches im guten wie im ungünstigen Sinne bei ihm nicht 
vorliege, gleichwohl seine auffallende Unruhe mir Sorgen mache. 

Der kleine Otto kam mir dann aus den Augen, die Eltern verzogen 
nach Berlin, von da nach dem Rhein und dann auf Veranlassung 
wissenschaftlicher Kreise, welche die weitere Ausbildung des in- 
telligenten Knaben fördern wollten, wiederum nach Berlin. Einer 
seiner Gönner daselbst, der Professor Dr. Stumpf, lieferte über ihn, 
als er 4 Jahre alt war in der Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung 
vom 10. Januar 1897 einen längeren hochinteresaanten wissenschaft- 
lichen Bericht, dem ich folgendes entnehme: 

»Er ist körperlich nicht stark, aber auch nicht schlecht entwickelt 
Auf den ersten Blick fällt der lange Schädel und der starke Hinter- 
kopf auf. In dem zierlichen Gesicht fesseln kluge, lebhafte Augen, 
die beim Nachsinnen einen merkwürdig ernsten konzentrierten Aus- 
druck annehmen. Eine beständige Unruhe, hauptsächlich Ausfluß 
eines munteren Naturells, hält den ganzen Körper in Bewegung, wenn 
nicht Zureden oder gespannte Aufmerksamkeit entgegenwirkt Im 
ganzen macht er keineswegs den Eindruck eines ungesunden, ab- 
gematteten, sondern eines noch ganz frisch und lustig in die Welt 
schauenden Jungen. Auch darin ist er nicht über sein Alter hinaus, 
daß ihm Spiele aller Art, zumal aber mit Elisenbahnen und Soldaten 
willkommen und dagegen systematisches Lernen zuwider ist, weshalb 
denn auch mit förmlichen Versuchsreihen schlecht bei ihm an- 
zukommen war. 

8eine größte Leidenschaft ist noch immer das Lesen, und das 
Wichtigste in der Welt sind ihm historische, biographische und geo- 
graphische Daten. Er kennt die Geburts- und Todesjahre vieler 
deutscher Kaiser, auch vieler Feldherren, Dichter, Philosophen, zumeist 



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Berkhan: Otto Pöhler, das friiblesende Braunschweiger Kind. 169 



sogar auch Geburtstag und Geburtsort; ferner die Hauptstädte der 
meisten Staaten, die Flüsse, an denen sie liegen u. dergl. Er weiß 
Bescheid vom Anfang und Ende des dreißigjährigen und des sieben- 
jährigen Krieges, von den Hauptschlachten dieser und anderer Kriege. 
Das alles hat er sich nach Aussage der Mutter ohne fremdes Zutun 
durch das emsige Studium eines »patriotischen Kalenders« und ähn- 
licher im Hause vorfindlicher Literatur, auch durch Entzifferung von 
Denkmalsinschriften in den Städten (wofür er besondere Leidenschaft 
hat) angeeignet Als ihm auf zwei verschiedenen Blättern nach- 
einander 2 zwölfstellige Zahlen gezeigt wurden, die sich nur durch 
eine der mittleren Ziffern unterschieden, las er sie sogleich als 
Milliarden und konnte dann, ohne die Blätter wieder anzusehen, mit 
Sicherheit angeben, worin der Unterschied lag. 

Sein Gedächtnis ist aber nicht bloß durch die Vereinigung von 
Raschheit und Dauerhaftigkeit der Einprägung (innerhalb seiner 
Interessenkreise) ausgezeichnet, sondern auch dadurch, daß zur 
Reproduktion schon eine gewisse Ähnlichkeit der reproduzierenden 
Umstände genügt Dies setzt ihn in den Stand, nicht nur Druck- 
sorten sehr verschiedener Art, sondern auch eigenartige und schlechte 
Handschriften zu lesen. Teilweise auf dieser Reproduktion durch 
bloße Ähnlichkeit, teilweise auf eigentlichem Scharfsinn beruht die 
sehr ausgebildete Fähigkeit der Ergänzung. Auf dem Seminarstempcl 
ergänzte er während des Lesens ohne Zögern »d(er) Univ(ersität) z(u) 
Berlin«. Die Abkürzung F. v. Sch. las er Ferdinand von Schill (ich 
hatte Friedrich von Schiller gemeint und erwähnte dies nicht so bald, 
als er schon Datum, Ort und Land der Geburt und des Todes zu nennen 
wußte). Den abgekürzten Satz »In d. großen Schi, bei L. 18. X. 18 . . 
wurde Nap. besiegt« konnte er vollständig entziffern und fügte noch 
bei: »Da wurde Blücher Feldmarschall und Schwarzenberg — der 
war Generalfeld ra arschall.« Zuerst hatte er bei L. Liegnitz probiert, 
aber sogleich bemerkt, daß dies mit dem folgenden nicht stimmte. 

Welch bedeutende Rolle die, neuen Eindrücken entgegenkommende, 
durch frühere Eindrücke geleitete Auffassung auch beim gewöhnlichen 
Lesen spielt, hat Professor Goldscheid er durch schöne Experimental- 
studien über die Schnelligkeit des Lesens gezeigt. Diese entgegen- 
kommende Auffassung, die wir schon als eine eigentliche Intelligenz- 
tätigkeit bezeichnen müssen, ermöglicht denn auch in unserem Falle 
eine fast unheimliche Rapidität des Lesens. Der Knabe überfliegt 
sofort einen ganzen Satz, und wenn er laut liest, verschluckt er oft 
massenweise Silben und Wörter, um vorwärts zu kommen. Dennoch 
haftet auch in solchen Fällen das Gelesene zuweilen wörtlich, wie 



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170 A. Abhandlungen. 



ich mich besondere an Röchlings bekanntem Bilderbuch mit kurzem 
Text über den »alten Fritz« überzeugte, das er in kaum 10 Minuten 
mit wahrer Gier verschlungen hatte; einige wenigstens von den Ge- 
schichten konnte er wörtlich wiedergeben. 

Vom Schreiben hat der Knabe noch keine Ahnung. Nachzeichnen 
von Buchstaben, Linien u. dergL gelang fast gar nicht 

Auch das eigentliche Rechnen ist ihm eine noch unbekannte 
Kunst. Zahlen liest er zwar, wie erwähnt, bis zu Milliarden ab, ohne 
die Ziffern vorher abzuzählen. Sie müssen aber durch Kommata zu 
dreien abgeteilt sein. Er wählt dann die richtigsten Bezeichnungen 
offenbar nach Maßgabe des optischen Eindrucks. Das Einmaleins scheint 
ihm geläufig zu sein, ja er konnte die Multipla von 12 bis zu 12x12 
hersagen. Aber all dies ist noch kein Rechnen. Die Begriffe von 
Addition und Subtraktion scheinen ihm noch nicht aufgegangen zu sein. 

In allem Vorangehenden finden sich schon vielerlei Anhaltspunkte, 
daß das Gedächtnis dieses Kindes nicht ein bloß mechanisches ist, 
sondern auf einer reichlichen Mitwirkung von Intelligenz beruht 
Überhaupt habe ich, ebenso wie Dr. Placzek u. a., die den Knaben 
früher beobachteten, den bestimmten Eindruck eines besondere 
geweckten, rasch und scharf denkenden und zugleich eines gutartigen, 
durchaus liebeuswürdigen Kindes. An den Eltern und zumal an der 
Mutter hängt er mit der größten Zärtlichkeit« Soweit Prof. Stumpf. 

Im Juli 1907 besuchte mich der nun 15 Jahre alte Otto Pöhler, 
Obersekundaner eines Gymnasiums; ich hatte ihn seit Beginn seines 
dritten Lebensjahres nicht wiedergesehen. Er zeigte sich schlank 
gebaut das Hinterhauptsbein aber im Verhältnis nicht so hervortretend 
als in der frühen Kindheit, der Abstand der Augenaxen im Verhältnis 
zur Kopfgestaltung nicht mehr wie vor Jahren als ein etwas größerer 
erscheinend, das Gesicht schmal, die Zahnreihen überbissig, der harte 
Gaumen hochgewölbt Seine Bewegungen waren lebhaft die Sprache 
hastig, zuweilen kaum merklich anstoßend und von leichten Zuckungen 
der Muskeln des Mundes begleitet 

Das gewaltige, Staunen erregende Gedächtnis, der ihm eigene, 
aufgeweckte Geist hatten es ihm leinht gemacht, fremde Sprachen zu 
erlernen und in den verschiedensten Fächern vorwärts zu schreiten. 

Als er mich beinahe 2 Jahre später, April 1909, wiederum be- 
suchte, fiel mir auf, daß beim Reden das zuvor beobachtete, kaum 
merkliche Anstoßen und die leichten Zuckungen der Muskeln des 
Mundes nicht mehr vorhanden waren. Nicht ohne Wert erscheinen 
die Maße des Kopfes, die ich gewonnen, ich will sie zum Vergleich 
mit denen in früher Jugend gefundenen anführen. 



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Xaray-Szabo: Eine neue staatliche Anstalt für nervöse Kinder. 



171 



Körpergröße 86 

Größter Umfang des Kopfes . 48,8 

Wölbung 1 ) 28,8 

Größter Längsdurchmesser . 17 

Größter Breitendurchmesser . 13 



Alter: 1«/« Jahre 



Alter: 16»/ 4 Jahre 
176,5 



56 

19,5 
15 



Das Urteil, das ich zum Schluß über den jungen Otto Pohler 
abgeben möchte, lautet: 

Jetzt, fast 17 Jahre alt, ist er ein intelligenter, mit einem be- 
wunderungswerten Gedächtnis ausgestatteter, kenntnisreicher, sich 
auffallend leicht orientierender junger Mann, der, obgleich in seiner 
Weise vor der Mitwelt bevorzugt, sich ein bescheidenes liebens- 
würdiges Wesen bewahrt hat 

Seit l 1 /, Jahren Primaner, gedenkt er nächstes Jahr, Ostern 1910, 
zur Universität zu gehen, um deutsche Geschichte su studieren. 



3. Eine neue staatliche Anstalt für Unterricht und 
Erziehung nervöser Kinder in Ungarn. 



Die Organisation des Abnormenwesens in Ungarn ist wenigstens 
in großen Zügen vollzogen ; und nunmehr werden außer der extensiven 
Entwicklung nur noch die gesetzlichen Vorkehrungen ins Leben ge- 
rufen werden müssen, welche die Schulpflicht der Taubstummen, 
Blinden, geistig Zurückgebliebenen und mit Sprachfehlern Behafteten 
betreffen. Hier angelangt, hat sich die ungarische Regierung ent- 
schlossen, auch noch eine Anstalt für nervöse Kinder zu er- 
richten, um den Kreis der Heilpädagogik durch entsprechenden Unter- 
richt und Erziehung dieser Art der Fürsorge Bedürftigen zu ver- 
vollständigen. 

Bevor ich die Modalitäten dieses neuen Zweiges der Fürsorge 
näher erörtere, erlaube ich mir, die von der heilpädagogischen Für- 
sorge-Leitung für die Errichtung aller Arten heilpädagogischer In- 
stitute aufgestellten leitenden Prinzipien und Aufgaben in möglichster 
Kürze zu schildern. 



l ) Von einem Oehöreingaog mit dem Bandmaße qaer über den Kopf bis zum 



Von 



Ministerialrat Alexander von Näray-Szabö. 




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172 A. Abhandlungen. 



Bei den mannigfaltigen Aufgaben des Staates schien es ans 
unmöglich, die Fürsorge der Abnormen derart auszudehnen, daß der 
Staat selbst sämtliche Kosten der Erziehung aller Abnormen schul- 
pflichtigen Alters übernimmt 

Es wurde daher als Prinzip aufgestellt, daß der Staat hauptsächlich 
Muster- An stalten errichtet und dieselben so organisiert, daß im 
Falle die Bedingungen, welche zur Gründung einer heilpädagogischen 
Institution erforderlich sind, von Seiten einer Gemeinde erfüllt 
werden, der Staat sich bereit zeigt, die Lehrkräfte nach Bedarf and 
nach Möglichkeit, d. h. nach Haß seiner finanziellen i Kräfte, den 
Kommunalschulen zur Verfügung zu stellen. 

Diese Bedingungen sind: Schullokalitäten, deren Beleuchtung, 
Beheizung, Rein- und Instanderhaltung. 

Die sonstigen Spesen und hauptsächlich die Kostgelder der 
Zöglinge müssen durch die Kommunen usw. selbst gedeckt, oder durch 
ein zu diesem Zwecke zu bildendes Aufsich ts- oder Direktions -Komitee 
gesellschaftlich aufgebracht werden. 

Die nötigen Lehrkräfte aller heilpädagogischen Anstalten werden 
in der heilpädagogischen Lehrer- Bildungsanstalt, über deren Organi- 
sation schon in vorhergehenden Mitteilungen berichtet wurde, heran- 
gebildet 

Für sämtliche Arten heilpädagogischer Anstalten sind Organisations- 
statute entworfen, staatlich begutachtet und ins Leben gerufen worden. 
Ebenso wurden die Lehrpläne festgestellt, welche sich auf die Vor- 
schulen, auf den Elementarunterricht und die Weiterbildung, sowie 
auf die aus den Anstalten ausgetretenen Zöglinge erstrecken. 

Die Fürsorge der letzteren obliegt der Gesellschaft in Verbindung 
mit den Direktionen oder Aufsichtskommissionen der Anstalten. 

Der Unterricht an den Fortbildungskursen und Lehrlingsschulen 
wird von dem Lehrpersonal der Anstalten erteilt und das Honorar 
vom Staate bezahlt 

Die Statistik der Schulpflichtigen wird vom königlichen statistischen 
Amte geführt und jährlich publiziert 

Eltern oder sonstige Angehörigen werden wie bisher durch popu- 
läre Publikationen und Vorträge über die Notwendigkeit einer Schul- 
bildung für Abnorme aufgeklärt, sowie auch über die Aufnahme- 
bedingungen informiert 

Die legislative Regelung der Schulpflicht der Abnormen ist in 
Vorbereitung und wird nebst extensiver Ausbreitung der Schulen an- 
gebahnt. 



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Naray-Szabo: Eine neue staatliche Anstalt für nervöse Kinder. 173 



Wo die von den Aufsichtskomniissionen zu beschaffenden sonstigen 
Mittel nicht ausreichen, erhalten die Kommunalanstalten nach Kräften 
des Staates und nach Bedarf die größte moralische und auch eine 
pekuniäre Unterstützung. 

Nachdem wir soweit vorgeschritten, stellte sich die Notwendigkeit 
der Errichtung einer Anstalt auch für solche Kinder ein, welche an 
den Elementar- oder Mittelschulen infolge ihrer sensiblen psy- 
chischen oder physischen Eigenart nicht mit genügendem Er- 
folge, ja manchmal nicht ohne direkte Schädigung ihrer körperlichen 
und geistigen Entwicklung behandelt und weiter gebracht werden 
können. 

Hierher gehören diejenigen Kinder im Alter von 7 — 15 Jahren, 
welche Koch in dem Begriff der psychopathischen Anlage und Belastung 
zusammenfaßte, während die psychopathisch Degenerierten von solchen 
Anstalten ferngehalten werden müssen. 

Es gehören also hierher nervöse und neurasthenische Kinder, 
welche durch den normalen Schulbesuch und Schulbetrieb infolge 
ihrer reizbaren Schwäche allzusehr ermüdet und aufgeregt werden, 
wodurch sich bei denselben Kopfschmerzen. Schlaflosigkeit, Störungen 
der Magen- und Darmfunktion, choreaähnliche Bewegungen (Tics), 
psychische Depressionen und deren Folgesymptome einstellen, ferner 
Kinder mit Angstzuständen, Zwangsgedanken, Zwangshandlungen, 
sowie auch solche mit leichterer Hysterie, oder mit ganz vereinzelt 
auftretenden leichten Bewußtseinstrübungen. 

Ferner gehören in ähnliche Anstalten Kinder mit disharmonischer 
geistiger Entwicklung, die sich auf einigen Gebieten ganz normal, 
oder auch sehr gut, auf anderen hingegen partiell schwachbefähigt 
zeigen, deren Aufmerksamkeit daher eine derartige Elektivität auf- 
weist, daß die normale Schule derselben keine Rechnung tragen kann. 
Derartige Kinder bleiben in der gewöhnlichen Schule in 1 — 2 Gegen- 
ständen stets zurück, werden in ihrem normalen Fortschritt auf- 
gehalten, auch häufig durchaus als unfähige Schüler gebrandmarkt, 
und gehören trotzdem nicht in die eigentliche Hilfsschule, über deren 
Schüler sie allzuweit hervorragen und welche sich außerdem bisher 
bloß auf den Volksschulunterricht beschränkt, während gerade die 
Disharmonie der Fähigkeiten sich besonders häufig erst gegenüber den 
Aufgaben der Mittelschule auffallend offenbart 

Endlich gehören in solche Anstalten insbesondere Kinder, deren 
häusliche Umgebung infolge der ebenfalls manifesten Nervosität der 
Angehörigen — nicht nur die nervöse Disposition des Kindes aus 
dem latenten Zustande in eine aktive Psychopathie umwandelt, son- 



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174 



A. Abhandlungen. 



i 
l 



dem auch die derart entfachte und eventuell noch durch den Schul- 
besuch gesteigerte Erregtheit und sonstigen nervösen Symptome 
auch in den Ferien oder bei privatem Unterrichte nicht zur Ruhe 
kommen läßt 

Die Erfahrung lehrt, daß ein bedeutender Teil solcher Kinder 
auch in Privatscbulen oder Internaten mit normalem Schulbetrieb 
den gestellten Anforderungen nicht zu entsprechen imstande sind; 
und an und für sich die Umgebung der gesunden Kinder, das nerven- 
schwache Kind seinem chronisch abnormen Zustande nicht zu ent- 
reißen vermag. 

Die Befürchtung, daß in speziellen Anstalten für nervöse Kinder, l ) 
wie die Errichtung solcher am ausdrücklichsten von Stadeijäa^n gefordert 
wurde, das Zusammenleben derartiger abnormer Zöglinge von gegen- 
seitigem schlechten Einfluß derselben aufeinander sein könnte (psychische 
Infektion), ist anscheinend eine nicht ganz unberechtigte. Doch kann 
dieser Gefahr erstens durch die geringe Zahl von Zöglingen, auf 
deren Aufnahme sich die Anstalt beschränkt (bei uns vorderhand: 
zehn), und durch die Auswahl derselben, sowie durch die mindestens 
sechswöchentliche Beobachtungsdauer, welche der endgültigen 
Aufnahme voranzugehen hat, durch die Heranziehung der Angaben 
der vor der ersten Aufnahme schon peinlich vom Hausarzte und den 
Angehörigen auszufüllenden Fragebogen, sowie durch das Recht der 
Anstalt, Zöglinge, bei denen sich verheimlichte Symptome erst nach 
der Beobachtungszeit herausstellen, sofort zu entfernen, eventuell 
anderswo zu internieren, — mit Erfolg vorgebeugt werden. 

Auch wird es wohl zu empfehlen sein, daß sich eine Anstalt 
ausschließlich auf die Aufnahme von Knaben oder von Mädchen be- 
schränke, damit die Schwierigkeiten, die sich auf dem geschlechtlichen 
Gebiete, bei nervösen Zöglingen ohnehin zumeist in erhöhtem Grade, 
einstellen, im voraus reduziert seien. 

Jedenfalls kann die heilpädagogische Erziehung (also nicht 
bloß der Unterricht) nervenschwacher Kinder zu körperlich und geistig 
möglichst harmonisch entwickelten Individuen mit diszipliniertem Ge- 
fühls- und Triebleben, mit normalem Denken und einheitlichem Willen, 
unbedingt leichter in Anstalten erfolgen, deren Lehrplan und ganzer 

') Gemischte Anstalten, Erziehungsheime nnd Jugendsanatorien, für Aufnahme 
schwachbefähigter und nervöser Kinder waren schon früher als Privatinstitute, 
zuerst wohl von Trüpeb in Jena, sowie hernach von Dr. Th. Hjcllkb in Wien ge- 
fordert, bezw. errichtet worden. Das erste spezielle Heilerziehungsheim für 
nervöse junge Madchen war wohl das 1899 gegründete Znoocnsche Pensionat in 
Berlin -Zehlendorf. 



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Naray-Szabo: Eine neue staatliche Anstalt für nervöse Kinder. ]75 



Betrieb diesem Ziele angepaßt, deren Lehrpersonal heilpädagogisch 
and kinderpsychologisch herangebildet ist, und wo nicht bloß das 
rein körperliche Wohlsein, sondern auch das ganze geistige Leben, 
die gesamte psychisch - physische Hygiene des Unterrichtes und der 
Erziehung unter der einander koordinierten Eontrolle eines entsprechend 
vorgebildeten pädagogischen Leiters und eines auch in der Psychiatrie 
des Eindesalters erfahrenen Nervenarztes erfolgt 

So entstand in Budapest im Herbste 1. J. jenseits der Donau am 
Fuße des Ofner Gebirges durch Umgestaltung einer Villa nebst zu- 
gehörigen Baulichkeiten und Garten ein kleines Institut, welches den 
Zweck hat, versuchsweise sich mit den Eindern, welche an oben- 
erwähnten Mängeln leiden, zu befassen und gleichzeitig für die prak- 
tische Heranbildung des nötigen Lehrpersonals und für die Zwecke 
der pathologischen Einderforschung dienlich zu sein. 

Im folgenden versuchen wir es in Kürze eine Schilderung der 
Organisation und des Lehrplanes der Anstalt zu bieten: 

Organisations- Statut (Reglement) der staatlichen heilpädagogischen 
Elementar- und Mittelschule für nervöse und schwach entwickelte 

Kinder In Budapest. 

Allgemeine Bestimmungen: 

Die oberste Aufsichtsbehörde der Anstalt ist das Eönigi. Ung. 
Ministerium für Kultus und öffentlichen Unterricht. 

Zweck der Anstalt ist, Einder, welche ihrer konstitutionellen 
Schwäche — oder Nervosität — oder ihrer geringfügigeren geistigen 
Defekte wegen, in den öffentlichen Elementar- oder Mittelschulen 
nicht vorwärts kommen, zu geistig und körperlich starken, gesunden, 
im praktischen Leben zur Geltung gelangenden Individuen zu erziehen. 

Die Mittelschule der Anstalt paßt sich dem Lehrzwecke und 
Lehrgange der Bürgerschulen an; doch kann dieselbe in geeigneten 
Fällen auch den Lehrplan der Gymnasien oder Realschulen ver- 
wirklichen. 

Die Anstalt bedient sich zur Erlangung ihres Zieles der den 
Regeln der geistigen und körperlichen Hygiene angepaßten heilpäda- 
gogiscben Internatserziehung, des zu den geistigen und körperlichen 
Fähigkeiten der Einder sich anpassenden, ihre speziellen Fähigkeiten 
besonders beachtenden individuellen Unterrichtes, der die körperlichen 
und geistigen Kräfte fördernden praktischen Gärtnerei, der leichteren 
wirtschaftlichen und gewerblichen Beschäftigungen, der Einführung 
in die kommerziellen Vorkenntnisse, der Bäder- Heilgymnastik und 
anderer eventuell notwendigen Heilfaktoren. 



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176 A. Abhandlungen. 



♦ 

Die Aufnahme der Zöglinge geschieht nach vollendetem 7. 
bis zu ihrem nicht überschrittenen 15. Lebensjahr. Ausnahmen 
werden nur in besonders motivierten Fällen auf Grund einer ministe- 
riellen Erlaubnis gestattet 

Schulgelder. Interne Zöglinge zahlen monatlich 200 Kronen, 
Unterricht und ärztliche Behandlung inbegriffen. Außerordentliche 
ärztliche Eingriffe müssen bezahlt werdon. Kleidung und Lehnnittel 
besorgen die Eltern. Halbe Pension (Schulgeld und Mittagessen) be- 
trägt 100 Kronen (die Lehrmittel bezahlen ebenfalls die Eltern). 

Begünstigungen sind dem Ministerium vorbehalten. 

Kinder, die an infektiösen oder an schwereren konstitutionellen 
Krankheiten leideu, Epileptiker, Schwachsinnige, sowie zu Ge- 
walttätigkeiten neigende Kinder sind ausgeschlossen. 

Die Aufnahme geschieht auf Grund einer Begutachtung des Chef- 
arztes der Anstalt und wird erst nach mindestens sechswöchentlicher 
Beobachtung endgültig. 

Bei Meinungsunterschied zwischen Arzt und Anstaltsleiter ent- 
scheidet das Ministerium. 

Zur Aufnahme sind erforderlich: 

a) Geburtsschein oder Matrikelsauszug. 

b) Impfungszeugnis. 

c) Ausführlicher Fragebogen, auszufüllen von den Eltern resp. 
vom Hausarzte. 

d) Im Falle Schulbesuch vorangegangen, Zeugnisse des Besuches 
der Normalschule. 

e) Authentische Erklärung über die Zahlungsfähigkeit 

f) Verpflichtung der Eltern oder Angehörigen, daß sie im Falle 
das Kind nicht entsprechend wäre, dasselbe binnen 8 Tagen aus dem 
Institute entfernen. 

Falls im Zustande der Zöglinge Änderungen auftreten oder Tat- 
sachen bekannt werden, welche mit dem Zwecke oder Geiste der 
Anstalt unvereinbar wären, erlischt die Pflicht der Erziehung von 
Seiten der Anstalt, und die Eltern sind verpflichtet, das Kind aus 
der Anstalt binnen 8 Tagen zu entfernen. 

Wenn es sich herausstellen würde, daß ein Kind instinktiv zur 
Schadenstiftung oder Desertion neigt, oder gewalttätig ist, ist die 
Anstalt berechtigt, bis die Eltern das Kind entfernen, auf Kosten der 
Eltern einen Wärter anzustellen, in schwierigen Fällen für die ent- 
sprechende Plazierung der Kinder zu sorgen. 

An der Spitze der Anstalt steht ein administrativer 
Leiter, der eine heilpädagogische Befähigung besitzen muß. 



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Narat-Szauo: Eine neue staatliche Anstalt für nervöse Kinder. 



177 



Hat die Anstalt Zöglinge, die den Kurs der Mitteischale ab- 
solvieren, so wird der Unterricht derselben von einem entsprechend 
befähigten Lehrer geleitet Lehrkräften, die sich mit heilpädagogischen 
Studien oder mit der Kinderforschung befaßt haben, gebührt bei der 
Anstellung der Vorzug. 

Lehrkräfte für den Elementarunterricht werden in erster 
Reihe aus solchen erwählt, die den heil pädagogischen Lehrerkurs ab- 
solviert oder sich mit der Kinderforschung eingehend befaßt haben. 

Die einzelnen Gruppen werden in allen theoretischen Gegen- 
ständen von einem Lehrer geleitet 

Der Charakter der Anstalt entspricht einem Internate und 
besteht aus 4 Elementar- und 4 Mittelschulklassen. 

Die Mittelschule legt Hauptgewicht auf die Vorbereitung der 
Zöglinge für praktische Laufbahnen. 

Auf Wunsch der Eltern werden die Zöglinge anstatt der ge- 
werblichen, landwirtschaftlichen oder kommerziellen Kenntnisse nach 
dem Lehrplane der Gymnasien oder Realschulen unterrichtet, im Falle 
sie von der betreffenden Kommission als für diesen Unterricht fähig 
erklärt werden. 

Die Klassen sind nicht scharf getrennt Der Schüler kann 
bei entsprechendem Fortschritte mit Ende des Jahres in die nächste 
Stufe übertreten, während er aus den Gegenständen, in welchen er 
wegen seiner spezifischen Anlage schwächer erscheint, solange es für 
nötig gehalten, an den entsprechenden Vorträgen der minderen Stufe 
teilnimmt. 

Aus diesem Grunde sind in den verschiedenen Klassen die ana- 
logen Gegenstände in derselben Stunde vorzutragen. 

Die Arbeitsgruppen bei den landwirtschaftlichen oder gewerb- 
lichen Übungen werden mit Berücksichtigung der Vorbildung, der 
individuellen Befähigung der erreichten Fortschritte und Geschicklich- 
keit gebildet, ganz unabhängig von den in den übrigen Gegenständen 
beobachteten Fortschritten und der Klassenstufe. 

Mit Ende des Schuljahres sind nur diejenigen Zöglinge ver- 
pflichtet eine Prüfung zu bestehen, deren Eltern dies ausdrücklich 
wünschen und die sich an anderen Anstalten benötigte und gültige 
Zeugnisse erwerben wollen. 

Die Anstalt als solche hält keine Prüfungen. 

Bei günstigem Wetter sind die Unterrichtsstunden im 
Freien (im Garten, auf der Veranda, auf der Terrasse der Anstalt) 
abzuhalten. 

Zeitschrift für Klnderforechongr. XV. Jahrguur. 12 



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178 



Besondere die Sprach- und Verstandesübungen (Anschauungs- 
unterricht), die Vorträge aus der Naturwissenschaft, Geographie, Stoff- 
und Warenkunde, aus der landwirtschaftlichen Betriebslehre, aus der 
Geometrie sind, soweit es möglich, in der freien Natur und möglichst 
anschaulich im Wege der aktiven Betätigung der Schüler oder mittelst 
Besuch von Werkstätten, industriellen Einrichtungen, Fabriken, Waren- 
lagern, Gartenbau und landwirtschaftlichen Anstalten und Museen er- 
gänzt werden. 

Der theoretische Unterricht in den Klassen bestehe in der 
Ordnung und Vertiefung der durch Anschauung erworbenen Kennt- 
nisse und sei möglichst kein bloßer Vortrag, sondern diene dazu, den 
Schüler mittels Erzählen und Zusammenfassen dieser Erfahrungen in 
das selbständige Erkennen der Ursachen und Folgen des Zusammen- 
hanges der Einzelheiten, und zu richtigen Schlußfolgerungen anzu- 
leiten. Die einzelnen Gegenstände haben nicht nur dem Erwerb ron 
Fachkenntnissen, sondern auf einem ieden Gebiete auch der Heran- 
bildung der selbständigen Denkart, sowie der Fähigkeit des richtigen 
Urteilens und Handelns zu dienen. 

Zum Zwecke der Selbsterkenntnis und der Charakter- 
bildung haben die reiferen Zöglinge ein Tagebuch zu führen. Das 
Gefühl der Zusammengehörigkeit, andrerseits die Nachsicht gegen- 
seitigen Schwächen gegenüber muß sorgsam gepflegt werden. Haben 
die Kinder ihre Schwächen und Fehler erkannt, so müssen sie die- 
selben auch bekämpfen lernen. Unterricht und Erziehung müssen 
einmütig dahin wirken, daß die Zöglinge zu zielbewußten, willens- 
kräftigen Individuen werden, deren — aus richtigen Verstands- und 
ethischen Gefühls -Motiven entwickelter Wille — gewohnt sei, sich 
in Handlungen erfolgreich zu betätigen. 

Ärztliche Fürsorge. 

Die Aufgaben des Anstaltsarztes werden vom Chef- und 
Assistenzarzte in Übereinstimmung mit dem Anstaltsleiter versehen 

Der Chefarzt hat kinderpsychiatrische Vorbildung nachzuweisen. 
Daher haben bei der Anstellung solche, die im Kgl. heilpädagogischen 
psychologischen Laboratorium gearbeitet und auch in diesem Fache 
eine literarische Tätigkeit aufweisen können, einen Vorzug. 

Der Chefarzt hat außer seiner Funktion bei den Aufnahmen 
und Entlassungen, die Unterrichts- und Arbeitsordnung, die geistige 
und körperliche Hygiene der Zöglinge, die Arbeitseinteilung derselben 
zu überwachen, und dem Anstaltsleiter hierin mit Rat und Tat bei- 
zustehen. 



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Naray-Szaro: Eine 



staatliche Anstalt für nervöse Kinder. 



179 



Bezüglich der in Anwendung kommenden Heilverfahren bat er 
das Recht der Verordnung und der Eontrolle. 

Der Sekundärarzt hat die körperliche Gesundheit der Zöglinge 
täglich zu kontrollieren und die Verordnungen des Chefarztes durch- 
zuführen, führt über seine Verordungen Protokoll und berichtet über 
seine Erfahrungen dem Oberarzte, den er in gegebenen Fällen vertritt 

Der Sekundärarzt muß in der Untersuchung der Sinnesorgane 
geübt sein. Ärzten, die eine schulärztliche Befähigung besitzen, oder 
die sich im psychologischen Laboratorium mit Einderforschung befaßt 
oder an solchen Kursen teilgenommen haben, gebührt bei der An- 
stellung der Vorzug. 

Den Verbältnissen und der Zahl der Zöglinge angemessen w erden 
Einderbewahrer oder Pfleger (Pflegerinnen) angestellt, für deren Aus- 
bildung zeitweise Kurse ins Leben gerufen werden können. Auf der 
untersten Stufe müssen weibliche Pflegerinnen angestellt werden. 
Ebenso auf der mittleren bis zum 14. Lebensjahre der Zöglinge; von 
da an nur mit besonderer Erlaubnis des Oberarztes. 

Lehrplan. 

Auch der Lehrplan und die methodischen Weisungen sind fest- 
gestellt 

In den unteren 4 Abstufungen, d. h. in der Elementarschule, 
fängt der Unterricht mit dem 7. Lebensjahre des Kindes an. 

Die Mittelschule dieser Anstalt entspricht auf der ersten 4 Ab- 
stufungen der Bürgerschule, auf den weiteren 4 Stufen den Gymnasien 
resp. Realschulen. 

Stundenplan der Elementarschule. 







Klasse 






L 


n. 


in. 


IV. 




2 


2 


2 


2 


Ungarische Sprache mit Anschauungsunter- 












8 


8 


7 


7 




5 


5 


5 


5 








2 


2 




2 


2 


2 


2 


Gesangsunterricht 


1 


1 


1 


1 


Landwirtschaftliche Beschäftigung, Garten- 












5 


5 


5 


5 


Handfertigkeit und gewerbliche Übungen . 


5 


5 


5 


5 




3 


3 


3 
12* 


3 



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I. 


TT 

IL 


ITT 

Iii. 


TT' 

IV. 


Religion 


2 


2 


2 


2 


Ungarische Sprache .... 


3 


*> 

3 


3 


3 


Deutsche öpracne 


q 
ö 


q 

ö 


Q 


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Mathematik 


•> 


3 


3 


3 


VT l. l *j 

Naturwissenschaft 




2 


2 


1 


rnysik 








i 
l 


Geographie 


2 


2 


1 


l 


Geschichte 






2 


2 


Schonschrift . 


2 


2 


2 


2 


Zeichnen 


o 
o 


3 


o 
o 


3 


Gesang 


-1 
i 


1 


1 

1 


1 


Turnen 


3 


3 


3 


3 


Einführung in die Lehre vom 










Gartenbau, Weinbau, Forst- 












4 


4 


4 


4 






4 


4 


4 


Landwirtschaftl. Vorkenntnisse . 








2 


Handfertigkeit»- u. gewerbliche 










Übungen 


6 


6 


6 


6 


Stoff- und Warenkunde . . . 


3 


3 


3 


3 



Zusammen 35 41 42 44 

8ohönachrift, Zeich- 

Hiervon Beschäftigungsstunden 9 9 9 

U> M 14 14 Beschäftigungen. 

~""l9 23 23 23 
Effektive Lehrstunden ...16 18 19 21 

Der Lehrplan der Anstalt mit den nötigen Anweisungen ist 
detailliert ausgearbeitet, begutachtet und ministeriell genehmigt, in 
ungarischer Sprache im Druck erschienen. Auf eine ausführliche 
Wiedergabe desselben glaube ich aber an dieser Stelle verzichten zu 
müssen. Die leitenden Prinzipien desselben finden sich ja in den 
mitgeteilten Sätzen des Organisationsstatutes. 



*) Diese Gegenstände erfordern entsprechende Lage und Einrichtung der An- 
stalt und sind, falls sich dieselbe für den wirksamen Unterricht in diesen Fächern 
nicht eignet, durch einfachere Gartenbeschäftigungen, durch Ausflüge, eventuell 
durch Handfertigkeits- und gewerbliche Betätigungen zu ersetzen. 



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Nachschrift des Herausgebers. 



181 



Nachschrift des Herausgebers. 

Es ist kein angenehmes Gefühl, in einer guten, gemeinnützigen 
Sache sein Urheberrecht zu vertreten. Man kommt damit in den Ver- 
dacht, nicht in erster Linie der Sache dienen zu wollen, sondern per- 
sönliche Interessen zu verfolgen. Allein es gibt darin eine Grenze: wo 
das Eigentumsrecht verletzt wird, da gebietet die Ethik zu reden und 
nicht zu schweigen. Hierin längst Versäumtes mag bei dieser Gelegen- 
heit nachgeholt werden. Der vorstehende Artikel gibt namentlich auf 
S. 174 Anlaß dazu. 

Wenn man das Programm meiner im Jahre 1890 gegründeten Anstalt, 
wie ich es eingehend auch für weitere Kreise dargelegt habe in der 
8chrift: 9 Das Erziehungsheim und Jugendsanatorium auf der Sophienhöhe 
bei Jena (9. mit 33 Abbildungen versehene Auflage, Langensalza, Hermann 
Beyer & Söhne [Beyer & Mann]. 1910)«, mit den vorstehenden Dar- 
stellungen wie mit den Ausführungen Kerne nys in den > Deutschen 
Blättern für erziehenden Unterricht« No. 18 d. J. vergleicht, so wird man 
schwerlich einen wesentlich neuen Oedanken in dem Plane der erfreulichen 
Neugründungen in Budapest finden. Und die Dutzende von Ungarn, welche 
meine AnBtalt besuchten — noch im letzten Jahre war ein vom Ministe- 
rium gesandter Schulmann bei uns — werden das bestätigen müssen. 
Die Fußnote auf S. 174 enthält darum ein paar Irrtümer, an deren Auf- 
klärung mir gelegen sein muß. 

Ich nannte meine Gründung zuerst »Anstalt für schwer erzieh- 
bare Kinder«, um den Eltern und Fachleuten in einer Zeit verständlich 
zu sein, wo die Psychopathologie des Kindes noch in den Kinderschuhen 
steckte, wo Strümpell und ioh den Begriff »pädagogische Pathologie« 
und Koch den der »psychopathischen Minderwertigkeiten« neu 
prägten und maßgebende Mediziner noch alles in die große Sammelurne 
> Idiotie« warfen. Der Begriff »schwer erziehbar« war aber wieder nach 
einer andern Seite hin Mißdeutungen ausgesetzt Darum bezeichnete ioh 
alsdann unser Heim genauer als »Anstalt für neuro- und psycho- 
pathisch veranlagte Kinder«, um den manche Eltern schmerzlich be- 
rührenden Ausdruck »minderwertig« zu vermeiden. Die von dem Herrn Ver- 
fasser auch gebrauchte Bezeichnung »Heilerziehungsheim« ist dagegen 
▼on Prof. Zimmer geprägt und von mir schon Mitte der neunziger Jahre 
übernommen worden. Der Begriff >Landerziehungsheim« stammt von 
Dr. Lietz, und er gab ihm auch einen spezifischen Inhalt. Sofern der- 
selbe sich aber auf psychopathische Kinder bezieht, war er bereits zuvor 
im Erziehungsheim Sophienhöhe realisiert, zu dem Dr. Lietz in Beziehung 
stand, als er noch Probekandidat am Gymnasium in Jena war. Die Be- 
zeichnung »Freie Schulgemeinde«, die neuerdings den Begriff »Land- 
erziehungsheim« ersetzen soll, ist ein bereits fast 50 Jahre alter, von 
Dörpfeld in seiner Schrift »die freie Schulgemeinde und ihre An- 
stalten auf dem Boden der freien Kirche im freien Staate« (Gütersloh 
1863) genau umschriebener Begriff und seitdem schon Eigentum der Lehre 
Ton der Schulverfassung. 



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182 



Daß meine Anstalt eine Anstalt für nervöse Kinder war und sein 
sollte, ist von vornherein und wiederholt ausgesprochen worden. Der Mit- 
begründer dieser Zeitschrift, Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch, begrüßte im 
Jahre 1893 ihr Dasein als »einzigartige« Anstalt, insofern sie nicht 
nur die »Schwachen« berücksichtige, denn bekanntlich können unter Um- 
ständen die mit psychopathischen Minderwertigkeiten Behafteten nach 
Koch wie auch nach meinen eigenen zwanzigjährigen Erfahrungen bald 
geistig, bald auch im Willensleben mehrwertig, also einseitig sogar mehr 
als normal begabt sein. 

Den Begriff »geistig zurückgeblieben« habe ich als einen vagen 
und höchst einseitig-intellektualistischen von Anfang an abgelehnt. Gegen- 
über den Anstalten für solche Kinder wollten wir also etwas wesentlich 
Neues bieten. In medizinischen Kreisen, wie namentlich auch in den 
Kreisen der Hilfsschul Vertreter, bat man nun allmählich den Koch sehen 
Begriff entwertet, indem man statt 'psychopathisch minderwertig« immer 
nur von »geistig minderwertig« redet Auch wir haben bei unsern Mit- 
arbeitern immer wieder damit zu kämpfen und bitten sie bei dieser Ge- 
legenheit, diese intellektualistisohe Entwertung zu vermeiden. Es ist doch 
ein tiefgreifender Unterschied zwischen diesen Begriffen. Unterdrückte 
Volksklassen und in der Kultur tiefstehende Völker sind alle geistig 
minderwertig, aber beileibe nicht psychopathisch minderwertig: eher 
das Gegenteil. 

Alle die genannten Begriffe fließen übrigens ineinander über. Die 
Sohwachbefahigten sind z. B. nicht selten nervös und die Nervösen bleiben 
gewöhnlich auch geistig zurück, denn die Nervosität ist weder psychisch 
noch physisch eine Starke, eine Mehrwertigkeit. Die Sohwachbefahigung 
ist wiederum nur ein Unterbegriff des allgemeinen Begriffs Geistesschwäche 
oder »Schwachsinne. 

Prof. Ziehen, den ich nach wie vor als erste medizinische und in 
vielen Beziehungen auch als hervorragende pädagogische Autorität auf dem 
Gebiete der Psychopathologie der Kindheit und der Jugend verehre und 
der sich 10 Jahre hinduroh, wo er Arzt unseres Heims war, auch um den 
heilerzieherischen Ausbau desselben besonders verdient gemacht hat, er- 
klärte sich anfangs gegen Kochs »Psychopathiscbe Minderwertigkeiten«. 
Er hat aber jetzt selbst die »Psychopathische Konstitution« oder »Be- 
lastung«, ein Teilbegriff der Koch sehen * Psychopathischen Minderwertig- 
keiten«, als ein selbständiges Gebiet abgegrenzt und verlangt für die da- 
mit behafteten Kinder ebenfalls besondere »Heilerziehungsheime«, wobei 
es bedauerlich bleibt, daß selbst er Staaten und Städte Deutschlands nicht 
von der Notwendigkeit hat überzeugen können, so daß Ungarn das große 
Verdienst zufallt, uns in der staatlichen Fürsorge voranzugehen. 

Die Bezeichnung »Kindersanatorium« oder »Jugendsanatorium« 
für solche Anstalt stammt ebenfalls von mir, und ich weiß nicht, ob 
irgendwo in der Kulturwelt ein solches Heim für solche Kinder damals 
vorhanden war. Viele Besucher unserer Anstalt, u. a. die weitreisenden 
Amerikaner, ebenso auch Deutsche, Russen, Finnländer, Norweger, Ungarn, 
haben wiederholt betont, daß unsere Anstalt auch in dieser Hinsicht 



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Nachschrift des Herausgebers. 



183 



einzigartig dastehe, und sie wurde bereits vor 10 Jahren in der New- 
Yorker Staatzeitung in einem umfangreichen Artikel dem Staate New- York 
als Muster für eine staatliche Anstalt empfohlen. 

Ans dem Gesagten geht hervor, daß langst vor dem Erscheinen der 
Stidelmannachen Schrift Anstalten für nervöse Kinder nicht bloß ge- 
fordert, sondern auch gegründet wurden. Die meine im Jahre 1890 und 
später Dach ihrem Vorbilde die medizinisch-pädagogische Anstalt von J. A. 
Schreuder in Klein-Warnsborn in Holland, die für nervöse und atypische 
Kinder von Dr. Großmann in Plainfield, N. J., das Heilpädagogium von 
Stelling in Kirchrode bei Hannover, die die Sophienhöhe ihr Vorbild 
nannten, u. a. m., die es nicht taten. Das Zimmer sehe Heilerziehungs- 
heim für nervöse junge Mädchen wurde ebenfalls auf der Sophien- 
höhe geplant und von Prof. Zimmer und mir als eine Ergänzung der 
Sophienhöhe für Mädchen jugendlichen Alters gedacht, wie ioh es seit 
Ostern v. J. hier jetzt selber durch weitere Gliederung des Ganzen aus- 
geführt habe. 

Ein staatliches Heilerziehungsheim mit einer Bildungsanstalt für 
Lehrer abnormer Kinder wurde ebenfalls seit vielen Jahren von mir 
gefordert und von unserm Freunde Dr. Fiebig näher begründet (Beitr. 
i. Kinderforschung u. Heilerz., Heft 22.) Nach 1890, und namentlich in 
den letzten Jahren, sind mehrere Anstalten unter verschiedenen Namen 
gegründet worden, die alle bald mehr, bald weniger unser Programm über- 
nommen, auch wo sie keine Quelle angegeben haben. Wir freuen uns 
über jede Verbreitung einer guten Sache, und was ich nur tun konnte, 
hat« ich durch Wort und Tat dazu beigetragen, aber trotzalledem muß 
man doch an einer sonst Üblichen Forderung auch im Interesse der guten 
Sache selbst festhalten. Wenn obendrein wiederholt gelungene wie miß- 
lungene Versuche gemacht wurden, auf eigenartige Weise von mühsam 
Geschaffenem abzubröckeln und mit dem Abbruch ein Neues zu begründen, 
so ist das eine bedauerliche Erscheinung auf dem Gebiete des Privat- 
erziehungs wesens, dessen Verurteilung durch Dr. Lietz in seinen letzten 
Jahresberichten 1 ) jeder, der nicht auf dem Boden einer relativistischen Ethik 
steht, unbedingt beipflichten muß. Wer darin »nichts finden« kann, über 
dessen ethische Auffassung wollen wir nicht streiten. Das 10. Gebot, 
das jedem das Seine sichern will, behält aber für uns auch hier seine 
volle Geltung. Darüber hinaus aber muß man ebensosehr jede Ver- 
breitung und Fortentwicklung einer guten Sache freudig begrüßen, denn 
Hilfe tut hier noch auf lange Zeit an allen Ecken und Enden not 

Trüper. 



*) Vergl. u. a>: Das zehnte Jahr im Deutschen Landerziehungsheini von 
Hermann Lietz. Leipzig, Voigtländer, 1906. S. 12 ff. 



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184 B. Mitteilungen. 



B. Mitteilungen. 



1. Die Ergebnisse der deutschen Krüppelstatistik vom 

Jahre 1906. 

Von M. Kirmsse in Heidelberg. 

Von den Gebieten der Abnormen fürsorge hat in den letzten Jahren 
namentlich die allseitige Behandlung der Krüppel einen besonderen Auf- 
schwung erfahren. Noch vor einem Jahrzent gab es nur eine geringe An- 
zahl von Krfippelheimen, heute sind es bereits ihrer 40 geworden. Man 
hat erkannt, daB die zweckmäßige Versorgung der KrQppel eine soziale 
Forderung geworden ist, und handelt nun dementsprechend. Wie manches 
ähnliche Gebiet, so ist auch die Kruppelfürsorge in erster Linie von den 
Organen der sogenannten inneren Mission nachhaltig in Angriff genommen 
worden. Manner, wie P. Knudsen- Kopenhagen, P. Hoppe -Nowawes. 
P. D. Schäfer- Altona u. a. haben die größten Verdienste an der Ent- 
faltung der gegenwartigen Fürsorge verkrüppelter Kinder. Ein bemerkens- 
wertes Krüppelheim, wohl einzig in seiner Art, gründete 1897 Super- 
intendent Braun- Angerburg, in Ostpreußen. Dem Grundsätze des Londoner 
Kinderfreundes Dr. Barnardo folgend, nimmt er alle Kinder unent- 
geltlich auf; keine wird abgewiesen, wenn Platz vorhanden ist Zar- 
zeit befinden sich in dem Institut gegen 350 Krüppel, 200 Knaben und 
150 Mädchen. 

In besonderer Weise aufklärend und anregend wirkte P. Schäfer 
durch sein gediegenes »Jahrbuch der Krüppelf ürsorge< l ) und durch 
die Gründung der Konferenz der deutschen Anstalten für K nippelpflege. ! ) 

Seit Jahresfrist gibt nun Dr. K. Biesalski auch eine »Zeitschrift 
für Krüppelfürsorge« 8 ) heraus. 8ie hat den Zweck, das gesamte Ge- 
biet nach seiner wissenschaftlichen Seite zu fundieren. Männer des Faches 
in allen Kulturländern sind eifrig bemüht, gangbare Wege aufzuzeigen und 
der Krüppelfürsorge im Wettbewerbe sozialer Einrichtungen die Stelle zu 
verschaffen, die ihr gebührt 

Vor kurzem ist ferner aus der Feder Dr. Biesalskis ein weiteres, 
höchst bedeutsames Werk erschienen, das geeignet ist, der Sache in nach- 
haltigster Weise zu dienen. Sein Titel lautet: »Umfang und Art des 
jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutsch- 
land.«*) 



l ) Erschienen ist der X. Jahrgang. Verlag der Agentur des Rauhen Hauses 
in Hamburg. Preis 3 M. 

*) Die fünfte Konferenz fand im Juni 1909 zu Hannover statt. Berichte 
jeweils im genannten Jahrbuche. 

•) Verlag von L. VoÄ, Hamburg. Jährl. 4 Hefte zu je 5 Bg. zum Preise 
von 12 M. 

*) Verlag von L. Voß, Hamburg 190Ö. 4« VIII, 316 S. Statistik u. 186 S. 
Text, mit 12 graphischen Darstellungen. Preis 30 M, geb. 32 M. 



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1. Die Ergebnisse der deutschen Krüppelstatistik rom Jahre 1906. 185 



Wie bekannt sein dürfte, wurde im Jahre 1905 auf Anregung 
Dr. Biesalskis von der deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, eine 
Zählung der jugendlichen Krüppel im ganzen Deutschen Reiche in die 
Wege geleitet. Der Zweck des riesigen Unternehmens bestand darin, der 
praktischen Krüppelfürsorge diejenigen Daten zu verschaffen, die sie braucht, 
um der Öffentlichkeit die Größe des Elends und daneben die reiche Fülle 
der Hilfsmöglichkeiten zu zeigen. Ferner sollte durch die Veranstaltung 
der Statistik weiter anregend und aufklarend gewirkt werden. Mit großer 
Bereitwilligkeit haben säratliohe Behörden, die in Betracht kamen, die 1906 
erfolgte Anfnahme der Statistik unterstützt Die Verarbeitung derselben 
hat längere Zeit in Anspruch genommen. Das im Auftrage und mit 
Unterstützung des preußischen Kultusministeriums, der oben genannten 
Zentrale und des Krüppel- Heil- und Fürsorgevereins Berlin-Brandenburg 
herausgegebene, monumentale Werk liegt nunmehr vor. Es enthalt folgende 
Hauptabschnitte: 1. Entstehungsgeschichte und Vorbereitung der Statistik. 
2. Die Zählkarte. 3. Ausführung der Zählung. 4. Technik der Be- 
arbeitung. 5. Tabellenwerk. 6. Erläuterungen der Tabellen. 7. Praktische 
Folgerungen aus der Statistik. 8. Die deutschen Krüppelheime. 9. Grund- 
zflge moderner Krüppelfflrsorgo: a) Umfang der Krüppelfürsorge, b) Das 
Krüppelheim. 10. Bibliographie der Krüppelforsorge. 

Was die ermittelten Zahlen anbetrifft, so sei hier das folgende mit- 
geteilt Im Deutschen Reiohe, jedoch ohne Bayern, Baden und Hessen, 
belief sich die Totalzahl aller Krüppel auf 75 183, davon im vorschul- 
pflichtigen Alter 14 865, im schulpflichtigen Alter 60 318. Nach ärzt- 
lichem Urteil waren von ihnen der Behandlung oder Erziehung in einem 
Krüppelheim bedürftig 42 249, davon im vorsohulpfliohtigen Alter 9045, 
im schulpflichtigen Alter 3H 204. Es haben selbst Aufnahme in ein Heim 
gewünscht 9388, davon im vorschulpfliohtigen Alter 2357, im schul- 
pflichtigen Alter 7031. Die Zahl der Betten in den deutschen Krüppel- 
heimen, ohne Bayern, Baden und Hessen, betrug aber 1908 nur 3125. 
Es kommen auf 10 000 Menschen 15 Krüppelkinder, von denen 8 in ein 
Heim gehören, 12 bedürfen ärztlicher Hilfe. Von der Gesamtsumme 
75183 sind 33 000 als nicht heimbedürftig zu bezeichnen. Von ihnen 
fallen 18 000 der Prophylaxe oder ambulanten Behandlung zu, unter ihnen 
allein 4000 im vorschulpflichtigen Alter. In Bayern, Baden und Hessen 
war die Altersstufe »bis unter 6 Jahre« von der Zahlung ausgeschlossen, 
denn diese beschrankte sich auf die Altersstufen von 6 bis unter 14 Jahre, 
in Bayern 9673, in Baden 2756, in Hessen 1436. Zieht man das Alters- 
jahr 14 — 15 unter Zugrundelegung des Anteilverhältnisses dieser Alters- 
stufe im übrigen Reiche hinzu, so erhält man fürs ganze Reich 74 912 
Krüppelkinder im Alter von 6 — 15 Jahren. Dem Religionsbekenntnis 
nach entfallen auf evangelische 68,1%, auf katholische 30,0%, ™f 
jüdische 0,4% und auf andere 1,5% Krflppelkinder. Die Geschlechter 
waren, das männliche mit 39303, das weibliche mit 35 880 vertreten. 
Die häufigsten Krüppelleiden sind: Lähmung mit 16,4%, Tuberkulose mit 
15,5%, Skoliose mit 12,2%, Rachitis mit 9,5%. Diese vier Gruppen 
machen mit 53,1% mehr als die Hälfte aller Krüppelleiden aus. Einen 



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186 B. Mitteilungen. 



klassischen Beweis für den Zusammenhang des Krüppelelends mit der 
überspannten Industrietätigkeit liefert das Königreich Sachsen, das bei 
Skoliose, Knochen- und Gelenktuberkulose und Rachitis auf der un- 
günstigsten Stufe steht und nur bei Lähmungen eine mittlere Stellung 
einnimmt Hinsichtlich des Vergleiches zwischen angeborener und er- 
worbener Krüppelhaftigkeit ergibt sich folgendes Bild. Es stehen bei 
Fehlen eines Gliedes, eines Glied abschnittes, Verunstaltung eines Gliedes. 
Verrenkung eines Gelenkes usw. 13 034 angeborenen, 9850 erworbene Ge- 
brechen gegenüber; das ist ein Verhältnis von 1,3 : 1. Das vorschul- 
pflichtige Alter zählt 2676 angeborene und 1195 erworbene Fälle. Das 
hier vorherrschende Verhältnis von 2,2 : 1 zeigt, daß mit dem Alter die 
Gefahren des Krüppeltums aus erworbener Ursache wachsen. Die gewiß 
beträchtliche Zahl von fast 10 000 durch Unfall verkrüppelten Kindern 
weist doch auf die Gefährlichkeit des Verkehrs und des industriellen Be- 
triebes hin. Unter den heimbedürftigen Fällen sind 4513 angeborene und 
3073 erworbene. Die letzte Zahl besagt, der dritte Teil der durch Unfall 
verursachten Verkrüppelungen ist so schwer, daß er der Heimbehandlung 
bedarf. Es erschien ferner interessant genug, die angeborenen und er- 
worbenen Krüppelleiden in Vergleich zu stellen mit der Jugend des Deut- 
schen Reiches. Auf 10000 Personen der Bevölkerung, ohne Bayern, Baden 
und Hessen, im Alter von 0 — 15 Jahren entfielen an Krfippelleiden, an- 
geboren 6,19, erworben 4,95, davon heimbedürftig 2,80 und 1,89. Unter 
Vorstehendem sind zunächst die Leiden zu verstehen, die sowohl aus an- 
geborener als erworbener Ursache entstehen können. Total kommen auf 
10000 Schulkinder 35,73 Krüppel des gleichen Alters. 

Außer den Krüppelgebrechen litten zugleich noch an anderen Krank- 
heiten in Summa 6556; davon an Krämpfen 3706, an Taubstummheit 344, 
an Blindheit 226, an Tuberkulose innerer Organe 214, an Blutarmut 107, 
an sonstigen chronischen Krankheiten 1959. Heimbedürftig waren davon 
insgesamt 5294, vorschulpflichtig 955; epileptisch 3148, vorschulpflichtig 
568; taubstumm 304, vorschulpflichtig 76; blind 173, vorschulpflichtig 41. 

Die einzelnen Lebensjahre partizipieren an der Krüppelhaftigkeit: 
unter 1 Jahr 457, 1-2 J. 921, 2—3 J. 1926, 3-4 J. 3032, 4—5 J. 
4006, 5—6 J. 4523, 6—7 J. 5623, 7—8 J. 6447, 8—9 J. 6950, 
9—10 J. 7077, 10—11 J. 7456, 11 — 12 J. 7209, 12—13 J. 7781, 
13—14 J. 7354, 14—15 J. 4421 Kinder. 

In bezug auf die Bildungsfähigkeit wurden folgende Ergebnisse ge- 
wonnen: geistig gesund 68198, gleich ruud 886 von 1000, schulpflichtig 
sind von dieser Zahl 54 336, gleich rund 978 von 1000, vorschulpflichtig 
13 862 und 930 auf 1000, davon heimbedürftig zusammen 35 959. 
Schwachsinnig, blödsinnig, stumpfsinnig 6481, gleich rund 85 von 1000, 
schulpflichtig 90 von 1000, vorschulpflichtig 57 von 1000, davon heim- 
bedürftig 5882. Zu Verbrechen und Böswilligkeit waren geneigt 504, 
davon schulpflichtig 32 von 1000, vorschulpflichtig 12 von 1000, heim- 
bedürftig waren 408. Von den gezählten Schwach- und Blödsinnigen ent- 
fallen auf Preußen 4322, Sachsen 790, Württemberg 310, Elsaß-Lothringen 
255, Thüringen 204, Hamburg 176, MeckL-Schwerin 104, Braunschweig 91, 



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1. Die Ergebnisse der deuteohen Krüppelstatistik vom Jahre 1906. 187 



Oldenburg 68, Anhalt 63, MeokL-Strelitz 6, Waldeck 22, beide Lippe 31, 
Lübeck 4, Bremen 37. 

Von den Erflppelkindern im Alter von 6—15 Jahren haben Unter- 
richt erhalten : keinen 5282, in Volksschulen 27181, in Schulen für 
Schwachbefähigte 741. 

Ihren Aufenthalt bei den Eltern hatten 69095 Kinder. Von ihnen 
wurden aber nur 68 716 zugleich auch von den Eltern unterhalten. Bei 
den heimbedürftigen Fällen sind die entsprechenden Zahlen 37 799 und 
37 297, d. h. 502 Kinder, die in ein Heim gehören, leben im Elternhause 
unter so kümmerlichen Verhältnissen, daß die Eltern ihnen nicht einmal 
aus eigenen Kräften den Unterhalt gewähren können. Als die Unterhalter 
kommen dabei andere Personen und die öffentliche Wohlfahrtspflege in 
Anschlag, vermutlich auch der Bettel 3142 Krüppelkinder, darunter 
1929 heim bedürftige, leben bei anderen Personen, sind also wohl Waisen 
oder uneheliche und eheverlassene Kinder. Die übrigen 2521 Krüppel 
waren 1906 in Heimen untergebracht. 

Blutsverwandtschaft der Eltern und Vererbung spielen eine gewichtige 
Rolle bei den Krüppelleiden. Unter 1000 Krüppeln beflnden sich 11,1 
deren Eltern blutsverwandt waren. Ferner haben unter 1000 Krüppeln 
96,3 solohe, deren Blutsverwandte, Großeltern, Onkel, Tante, Neffe, 
Nichte usw., an krüppelhaften Gebrechen litten, und zwar an den gleichen 
Gebrechen 39,1, an anderen 35,9, an Schwachsinn, Taubstummheit und 
Blindheit 21,3. 

Über Bayern, Baden und Hessen, die wie bemerkt, bei der Zählung 
nicht den gleichen Modus einsohlugen, indem den vorschulpflichtigen 
Krüppeln ein Interesse nicht zugewendet wurde, ergaben sich folgende 
Resultate. 

Bayern zahlte 9673 Krüppel, gleich 8,6 von 1000 der Bevölkerung. 
Männlich 5195, weiblich 4498. Geistig normal waren 8701, schwach- 
sinnig 805, blödsinnig 167. Unterrichtet werden 9234, ohne Schulbesuch 
Wieben 439. 

In Baden fanden sich 2756 Krüppelkinder, das sind 13,7 auf 
10 000 Einwohner. Männlich waren 1589, weiblich 1167. An Krämpfen 
litten 70, an Taubstummheit 31, an Blindheit 7, an Tuberkulose innerer 
Organe 5, an Blutarmut 2, an sonstigen chronischen Krankheiten 59. 
Geistig gesund waren 2501, schwachsinnig usw. 255. Unterricht hatten 
erhalten 2692, keinen 164. Von der Gesamtsumme waren 884 heim- 
bedürftig, 1872 waren es nicht. 

Hessen weist 1436 jugendliche Krüppel auf. Heimbedürftig werden 
546, nicht heimbedürftig 890 gezählt Männlich waren 764, weiblich 
672. Geistig gesund waren 1320 Kinder, schwachsinnig usw. 116. Die 
Schule besuchten 1334, ohne Unterrioht blieben 102. 

Die deutsche Krüppelstatistik sämtlicher Staaten hat eine Zahl von 
89 048 jugendlichen Krüppeln ergeben. Es leuchtet also ohne weiteres 
ein, daß die Arbeitskraft auf diesem Gebiete noch erheblich gesteigert 
werden muß, wenn eine zweckmäßige Abhilfe eintreten soll. Ehe diese 
geschehen kann, ist es notwendig, daß die Begriffe »Krüppel« und 



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188 B. Mitteilungen. 



»Krüppelheim« genau definiert werden, obgleich viele dies für unnötig 
halten, was aber durchaus nicht der Fall ist Von den verschiedenen 
Deutungen darf die von Dr. Biesalski als die treffendste angesprochen 
werden. 

»Krüppelkinder sind Kinder, welche infolge angeborener Fehler oder 
durch Verlust, Verkrümmung oder Lfthmung oder Muskel krampf einzelner 
Körperteile in der Bewegung»- und Gebrauchsfähigkeit ihrer Gliedmaßen 
dauernd beeinträchtigt sind.« »Ein Krüppel ist dann heimbedürftig, wenn 
bei Abwägung seiner sozialen Lage oder etwaiger sonstiger körperlicher 
Schäden gegen das Gebrechen angenommen werden kann, daß seine Er- 
werbsfähigkeit in einem Krüppelheim höher wird gesteigert werden können, 
als wenn er in seiner Umgebung verbleibt.« »Ein Krüppelheim ist eine 
Anstalt, welche über die notwendige Vielheit ärztlicher und pädagogischer 
Einrichtungen 1 ) gleichzeitig verfügt, um die einem heimbedürftigen Krüppel 
verbliebenen, geistigen und körperlichen Kräfte zur höchstmöglichen wirt- 
schaftlichen Entwicklung tu bringen.« Hinsichtlich des verkrüppelten In- 
dividuums ist es aber unbedingt notwendig, daß die verschwommene Vor- 
stellung von »hilflos am Wege sitzen, widerwärtiger Verunstaltung, Leier- 
kastendrehen, Schaustellung usw. aus dem Bewußtsein des Volkes schwinde. 
Ein Krüppel ist ein kranker Mensch, dem geholfen weiden 
kann. Es sollte darum nicht mehr sein, für die Krüppelförsorge mit dem 
»Bettelstock« herum zu gehen. Wenn es wahr ist, »soziale Fürsorge 
ist der Dienst am Individuum, gesehen durch das Interesse 
der Allgemeinheit«, dann hat auch der Krüppel ein Recht hieran. Der 
Nutzen aber liegt klar auf der Hand: »Aus Almosenempfängern 
werden Steuerzahler!« 

Eine der wichtigsten Ergebnisse der Statistik ist auch die, daß »die 
Frage einer erschöpfenden, vor allem aber der zurzeit möglichen 
Krüppelfürsorge letzten Endes nicht durch die Heime allein 
zu lösen ist« Denn ein beträchtlicher Prozentsatz der Krüppelkinder 
ist, wie wir gesehen haben, heilbedürftig, aber nicht heimbedürftig. 
Hier müssen Polikliniken, stationäre Behandlung u. dergl. eintreten. Etliche 
Zahlen der nicht heim bedürftigen Krüppel mögen dies bestätigen. Es 
warten auf Behandlung: 10 000 Kinderlähmungen, darunter 2000 unter 
6 Jahren; 10 000 Knochen- und Gelenktuberkulosen, darunter 4000 unter 
6 Jahren; 6500 angeborene Hüftverrenkungen, darunter 1000 unter 
6 Jahren; 400 Sohlottergelenke, darunter 100 unter 6 Jahren. 

Die Kräfte, die die Arbeit an den jugendlichen Krüppeln zu leisten 
haben, sind einander zu koordinieren. Die erste Stelle nimmt hier der 
Arzt ein, zunächst der Orthopäde und der Chirurg, dann aber auch der 
Kinderarzt, der Nervenarzt (Psychiater) und der Schularzt. »Neben der 
Ärzteschaft steht als ein in gleichem Maße beteiligter Faktor die Lehrer- 
schaft.« »Die dritte Gruppe umfaßt die Geistlichkeit der verschiedenen 



*) Ein vollständiges Krüppelheim muß eine orthopädische und chirurgische 
Klinik, eine systematisch gegliederte Schule, eine Anzahl Handwerksstuben und für 
problematische Falle ein Alteisheim haben. K. 



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2. Unfallversicherung und psychopathische Minderwertigkeiten. 189 



Konfessionen, welche ja in der Wohlfahrtspflege, und nicht zuletzt in der 
Krüppelfürsorge an führender Stelle stehen.« 

Finanziell sind beteiligt Arraendirektionen, Landarmenverbände, Landes- 
direktionen, Landesversioherungsanstalten, Städte und Gemeinden. Bisher 
hat die öffentliche Armenpflege nur 6% zum Unterhalte der Krflppel- 
kinder geleistet, von den heimbedürftigen versorgt sie 9°/ 0 , von den der 
Prophylaxe zufallenden gar nur 2%. 

Den Geldgebern stehen die Oesetzgeber gleichwertig gegenüber, 
Regierung, Parlamente, und hinter ihnen die führenden Sozialpolitiker und 
Rechtsgelehrten. 

Alle Paktoren aber sind wiederum abhängig von dem wohlwollenden 
Entgegenkommen und dem Interesse der gesamten Laien weit. 

So antwortete das, als ein wertvolles Handbuch sich erweisende Werk 
Dr. Biesalskis, auf alle Fragen des Betriebes einer modernen Krüppel- 
fürsorge. Seine weitmöglichste Verbreitung ist vom sozialen Standpunkte 
aus dringend zu wünschen. 



2. Unfallversicherung und psychopathische Minder- 
wertigkeiten. 

»Der Allgemeine Deutsche Versicherungs- Verein in Stuttgart« hat in 
seinen »Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Abteilung II, Kollektiv- 
Unfall- Versicherung Sektion 3: Lit B.« § 1 folgende Bestimmung: 

»Ausgeschlossen von der Versicherung sind Selbstmord und der Ver- 
such desselben und alle Unfälle, welche der Versicherte erleidet 
infolge von Geistesstörung oder Bewußtseinsstörung Irgend 
welchen Grade*.« 

Damit sind also von solchen Versicherungen alle Hilfsschulen, Heil- 
erziehungsanstalten, Fürsorgeerziehungsanstalten usw., denn hier würde bei 
fast jedem Zöglinge immer der gerichtliche Beweis erbracht werden, daß 
eine Bewußtseinsstörung »irgend welchen Grades« vorliegt 



3. Die vierte österreichische Konferenz der Schwach- 

Binnigenfursorge in Wien 

tagt am 21. und 22. Marz 1910 im Festsaale des Lehrerhauses in Wien, 
VnL, Josefsgasse 12. 

Die Konferenz hat folgendes interessante und reichhaltige Vortrags- 
I<rogramm in Aussicht genommen: 

1. »Fortschritte auf dem Gebiete der Schwachsinnigenfürsorgo in Oster- 
reich seit der letzten Tagung.« Referent: k. k. Bezirksschulrat Dir. 
Hans Schiner- Wien. 

2. »Erforschung des Kretinismus.« Referent: Vorstand der psychiatrischen 
Klinik, Hofrat Prof. Dr. Julius Wagner, Ritter von Jauregg-Wien. 

3. »Die weiteren Schicksale der die Anstalten verlassenden schwach- 
sinnigen und epileptischen Kinder.« Referent: Dr. Oskar v. Ho- 
vorka-Gugging. 



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190 



C. Liteiatur. 



4. »Zur körperlichen Erziehung Schwachsinniger in der Schule.« Refe- 
rent : Professor Dr. Hans Spitz y-Graz. 

5. »Das schwachsinnige Kind im Lichte der Biologie.« Referent: Dir. 
M. ü. Dr. tfarl Herfort-Prag. 

6. »Die Intelligenzprüfung bei schwachsinnigen und sehwachbefahigten 
Kindern.« Referent: Dr. Erwin Lasar- Wien. 

7. »Der Musikunterricht bei Schwachsinnigen.« Referent: Dir. Viktor 
Prochaska-Graz. 

8. »Georgens und Deinhardta Levanabestrebungen.« Ein Beitrag z. Österreich. 
Geschichte. Referent: Heilpädagoge Max Kirm 8 se- Heidelberg. 

9. »Ober psychopathische Grenzzustande bei Kindern.« Referent: Uni- 
▼ersitfttsprofessor Dr. Alezander Pilcz-Wien. 

10. »Der Handfertigkeitsunterricht in der Hilfsschule. c Referent: Direktor 
Franz Pulzer-Graz. 

11. »Die Aufgaben des Hilfsschularztes.« Referent: Hilfsschularzt Dr. 
Robert Heschl-Graz. 

12. »Lehrmittel für den Artikulations-, Lese- und Schreibunterricht« 
Referent: Direktor Hans Witzinann-Biedermanusdorf. 

Die Anmeldungen sind bis längstens 1. Marz zu richten an den 
»Konferenzausschuß«, Wien, 18. Bezirk, Anastasius Grüngasse 10. Für 
die Teilnehmerkarte, einschließlich Konferenzberioht , ist ein Betrag von 
5 Kronen einzusenden. Ein Verzeichnis empfehlenswerter Hotels wird 
auf Wunsch zugesendet. 



C. Literatur. 



1. Aus dem pädagogischen Universitär - Seminar zu Jena. Heft XIII. 

Herausgegeben von Prof. Dr. W. Rein. Langensalza, Hermann Beyer & Bohne 

(Beyer k Mann), 1909. Preia 2,40 M. 

Außer den Mitteilungen über das Seminar, einer Stellungnahme seines Leiten 
gegen die bekannten »Gutachten« der bayrischen Landesuniversitftten, einer Zu- 
sammenstellung der (sehr dürftigen) Vorlesungen und (noch dürftigeren) ÜbuDgen 
auf dem Gebiete der Pädagogik und ihrer Grundwissenschaften an den deutschen 
Universitäten im Laufe der Zeit von Ostern 1907 bis Ostern 1909, dem von P. Wolf 
ausgearbeiteten Versuch eines naturwissenschaftlichen Lehrplaos für die Jenaer 
Übungsschule und einigen Bemerkungen zur Öffentlichkeit des Unterrichts von 
A. Lensch bringt das Heft verschiedene speziell für die Kinderforschung be- 
merkenswerte Ausführungen. 

Es handelt sich vor allem um A, Böhms kritische Untersuchung zur Ana- 
lyse des kindlichen Gedankenkreises nach den Vorschlägen Uartmanns 
in dessen gleichbetitelter, weitverbreiteter ßchrift (4. Aufl. 1906). Böhm kommt 
durch Vergleichung seiner und der Annaberger Befragung Hartmanns zu dem 
Ergebnis, daß die zu Anfang des Schuljahres vorgenommene Analyse keine richtigen 
Ergebnisse liefere, daß die Hartmannschen Fragen keine gleichförmige Anwendung 
(etwa auf Land-, Kleinstadt-, Großstadtkinder) finden können, daß eine genaue 
Analyse des kindlichen Gedankenkreises aus Zeitmangel — in unserer Schule doch 



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C. Literatur. 



191 



wohl nur, möchte ich hinzufügen — unmöglich ist Endlich sieht Böhm in der 
Analyse keine Förderung für den Unterricht, weil durch die wenigen Fragen der 
kindliche Gedankenkreis nicht erschöpft werden kann, und auch nicht für die Ge- 
staltung des Individualitäten bilde«, weil der Vorstellungsreichtum nicht zur Indivi- 
dualität gehöre, und die Beobachtungsdauer viel zu kurz sei. Die Untersuchungen 
Böhms bestätigen in der Tat, daß die Kinder vorstellungsreicher zur Schule kommen, 
als es nach Hartmanns Analyse erscheinen mußte. 

Ein weiteres Kapitel befaßt sich mit der Farbenkenntnis der Schulneulinge. 
Das Ergebnis der Untersuchung war: 95*/ 0 der untersuchten 20 Schüler konnten 
die Hauptfarben richtig benennen, während die Neben- oder Mischfarben nur von 
50*/ # alle richtig benannt werden konnten, von 15% 8** nicht, von den übrigen 
nur zum Teil. 

Die Nachforschungen über die Beliebtheit der Unterrichtsfächer in Anregung 
von Lobsiens Arbeit (MonatsbL f. d. evangel Religionsunterricht, Jahrg. I, Heft 3) 
zeitigten vor allem das wichtige Resultat, daß eine unabhängige Neigung der Schüler 
(wie auch ich bestätigen kann) zu einem bestimmten Fache nur mit großer Vor- 
sicht angenommen werden darf. Die Interessen der Schüler können aber des- 
wegen und um ihrer Unbeständigkeit willen für Lehrplan und Lehrstoff nicht be- 
stimmend sein. 

Die weiteren Ausführungen Böhms bringen noch wertvolle Anregungen für 
den Unterricht in Kirchengeschichte, in Erdkunde und Heimatkunde, für die Be- 
schäftigung in Garten und Werkstatt, sowie Erfahrungen aus dem Märchenunter- 
richt. Doch muß hier auf die Arbeit selbst verwiesen werden, die auch noch einen 
Bericht Otto Triebeis über einen Versuch mit der begrifflichen Leselern-Methode 
im ersten Schuljahr enthält, die nach dem Berichterstatter als »Fortschritt in der 
Entwicklung der Leselernmethoden« anzusehen ist Dr. Karl Wilker. 

2. Hartmann, B., Die Analyse des kindlichen Gedankenkreises als die 
naturgemäße Grundlage des ersten Schulunterrichts. Fünfte, durchgesehene und 
ergänzte Auflage. Frankfurt a. M. u. Leipzig, Kesselringsehe Hofbuchhandluug 
(E. v. Mayer), 1910. Preis 3,80 M. 

Nachdem die vierte, 1906 erschienene Auflage, auf die Böhm in seinem vor- 
stehend besprochenen Beitrag »Zur Analyse des kindlichen Gedankenkreises« im 
XIII. Heft aus dem pädagogischen Universität»- Seminar zu Jena zurückgreift, ver- 
hältnismäßig schnell vergriffen war, bringt diese neue Auflage neben den hinlänglich 
bekannten Annaberger Untersuchungsergebnissen eine Ergänzung durch Berück- 
sichtigung der letzten Neuerscheinungen und Fortschritte, insbesondere ein »Vom 
Kongreß für Kinderforschung« Überschriebeoes Kapitel (XLX). H. berücksichtigt 
hierin Ufers Vortrag (»Das Verhältnis von Kiriderforschung und Pädagogik«) nebst 
der Diskussion von Stern, Brahn und Waldapfel; Martinaks Vortrag (»Wesen 
und Aufgabe einer Schülerkundo«). dessen Forderungen sich im wesentlichen mit 
den den Lesern der »Analyse« bekannten Forderungen, die kindliche Individualität 
zu beobachten, decken; Sterns »Grundfragen der Psychose nesis«; Elsenhans' 
Vortrag über die »Anlagen des Kindes« und vor allem Engelspergers »Beitrage 
zur Kenntnis der physischen und psychischen Natur der sechsjährigen in die Schule 
eintretenden Münchener Kinder«, die ihm »die meisten Berührungspunkte« bieten. 
Er wehrt die gegen die »Analyse« gerichteten Angriffe geschickt ab und fordert 
Engelsperger auf, endlich die auf dem Kongreß verschwiegene Hauptsache seines 
Vortrags, die Methoden und Ergebnisse seiner psychologischen Untersuchungen, 



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192 



C. Literatur. 



der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Den Standpunkt Engelspergers, die 
Untersuchungen zunächst nur »vom weiteren Standpunkte der Kinderpsychologie .-, 
das heißt ohne Rücksicht auf ihre »Verwertung für den ersten Schulunterricht« 
vorzunehmen, hat Hartmann früher schon nicht geteilt, teilt ihn »heute, nach 
Einsichtnahme in die Kongreßverhandlungen, aber erst recht nicht, c weil die Ab- 
lehnung der »Pädagogen« seitens der »Psyohologen« eine zu starke ist. Hertmann 
schließt dieses Kapitel mit den Sätzen (S. 222): »Mögen die Psychologen nur fort- 
fahren, die Kinderpsychologie mit Hilfe des Experimentes als reine Kinderpsycho- 
logie weiter zu entwickeln, die Pädagogen werden sie darin gern unterstützen. 
Aber auf ihrem eigenen Gebiete, der Scbulpädagogik, werden es sich die Pädagogen 
nicht nehmen lassen, die ersten zu sein und zu bleiben, d. h. die Kinderpsychologie 
durch Beobachtungen als angewandte oder pädagogische Kinderpsychologie 
weiter auszubauen und — praktisch zu verwerten.« Dr. Karl Wilker. 

Zoltan de Bosnyäk et Cte L. Edelsheim-Gyulal, Le droit de Tenfant aban- 
donne et le Systeme hongrois de protection de l'enfanoe. Avec une 
preface de M. le comte Jules Andrässy. Budapest, imprimerie Athenaeum 
1909, XVI u. 511 Seiten. Preis 12 Kronen. 

Das vorliegende seitens des Ministeriums des Innern herausgegebene Werk: 
»Das Hecht des verlassenen Kindes und das ungarische System des Kinderschutzes: 
hat offenbar die Bestimmung, das Ausland mittels verläßlicher und seitens berufener 
Fachmänner ausgearbeiteter Einzeldarstellungen über die Entwicklung und den der- 
zeitigen Stand der Jugendfürsorge in Ungarn aufzuklären. Das Lob des ungarischen 
Kinderechutzwesens ist im Auslande schon so oft besungen worden, daß wir im 
Lande selbst nachgerade gezwungen werden, die Bedeutung dieses in hoher BlütB 
stehenden Zweiges unserer öffentlichen Verwaltung anzuerkennen. Das Wesen 
dieses »ungarischen Systems« läßt sich in den Satz zusammenfassen: Jedes ver- 
lassene Kind genießt gesetzlichen Anspruch auf die Unterstützung des Staates, in- 
solange es selbst nicht erwerbsfähig geworden ist. In den 17 staatlichen Kinder- 
asylen und den denselben zugehörigen »Kolonien« gab es im Jahre 1903, wo das 
Oesetz ins Leben trat, 12836 Kinder; 1904: 20969-, 1908: 44499; Ende 1909: 52544. 
Das betreffende Budgot stieg von 3 Mill. auf über 8 Mill. Kronen und wird eine 
stetige Steigerung erfahren. Nach einer Mitteilung des Ministerialrates v. Bosnyak 
hat Österreich bisher 1768 Kinder in ungarischen Asylen untergebracht. 

Der umfangreiche mit vielen statistischen Ausweisen ergänzte Inhalt des 
Werkes ist in 4 Teile gegliedert: Das Recht des verlassenen Kindes, Das gestzliche 
System des Kinderschutzes durch den ungarischen Staat, Der Schutz des Kindes 
seitens der ungarischen Oesellschaft, Schutz gegen die Kriminalität der Minder- 
jährigen. Im Rahmen einer knappen Anzeige ist es unmöglich auf Einzelnes ein- 
zugehen, darum mußten wir uns damit begnügen, die Aufmerksamkeit der Fach- 
kreise auf diese Publikation wachzurufen, die den Interessenten eine reiche Fund- 
grube ernster Belehrung und wohltätiger Anregung sein wird. Schade, daß dem 
guten Werk nicht auch einige nette Illustrationen beigegeben sind. Wir achließen 
mit dem folgenden Satz aus dem seitens des früheren Ministers des Innern bei- 
gegebenen Vorwort: Der Kinderschutz allein sichert die Zukunft der Nation, er ist 
daher nicht nur eine Wohltat, sondern zugleich ein Akt der nationalen Verteidigung. 
Budapest. Dir. Fr. Kemeny. 



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A. Abhandlungen LELANu r . 

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Die geistig -körperliche Untersuchung der Kinder 
in den »Public Schools« von Chicago. 

Von 

Dr. D. P. Mac Millan, 

Direktor des Departement of child Study and Padagogic Investigation. 

Angesichts der wachsenden, ans fremden Ländern einlaufenden 
Zahl von Fragen, betreffend die geistige und körperliche Untersuchung 
der Kinder in dem »Public Schools« -System, möchte ich bei dieser 
Gelegenheit einen kurzen Bericht geben über die Einrichtung des 
Werkes, mit dem ich von seinem Beginn an so innig verbunden ge- 
wesen bin. Dieser Bericht beschränkt sich auf eine Betrachtung der 
Ziele und Ideale des Gründers, auf eine kurze Andeutung der zu- 
künftigen Pflichten und Leistungen nebst der Gliederung des Werkes, 
wie es sich tatsächlich im Laufe der Ereignisse entwickelt hat 

»The Department of Child Study and Pedagogic Investigation * 
wurde am 6. Sept. 1899 in den Public Schools in Chicago gegründet 
Es verdankt sein Dasein und sein Gedeihen dem Eifer und der Ein- 
sicht des Dr. Walter Scott Christoph kr. Dieser Arzt, der mehr als 
ortsbekannt war in der Behandlung von Kinderkrankheiten, glaubte, 
daß man sich den Problemen des Lehrens und Regierens der Kinder 
vom Standpunkte des Kindes, das gelehrt und erzogen werden soll, 
nähern müßte. 

Eine ganze Reihe von Jahren vor seiner Berufung an die Er- 
ziehungsanstalt im Jahre 1898 standen die Rätsel des Kindeslebens, 
die er so gerne gelöst hätte, vor seinem Geiste. Er sah voraus, daß 

Zeitschrift für Küidorfortchung. XV. Jahrgang. 

13 



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194 



A. Abbandlangen. 



es wünschenswert sein würde, diese Probleme mit wissenschaftlichen 
Methoden anzugreifen. Er wußte ebenfalls, daß die einzigen Personen, 
die die Schulfragen zufriedenstellend behandeln können, diejenigen 
sein müßten, die ein Recht haben, an die Orte zu gehen, wo die 
Kinder arbeiten und spielen. Nur so würden die herrschenden und 
verderblichen Kräfte und Faktoren im Schulleben, welche ein normales 
Wachstum der Entwicklung hindern, auf die bestmöglichste Weise 
erforscht werden. Er war sich der Tatsache bewußt, daß dieses 
Ziel nicht eher erreicht werden konnte, als bis etwas mehr als der 
Bericht des Schulstubenlebens da wäre. Er brauchte eine wissen- 
schaftliche, vollständige Lebengeschichte des Kindes. In einem Vor- 
trag: »Die Kinder von heute«, den er vor Eltern und Lehrern über 
den Gegenstand hielt und der gedruckt ist in dem Volksblatt tThe 
Childstudy Monthly« im Januar 1896, sagt er in diesem Sinne: »Es 
ist in der Tat sehr wahrscheinlich, daß diese Kleinen sich von ihren 
Eltern körperlich, intellektuell und moralisch sowohl in der Art als auch 
graduell unterscheiden. Die bloße Wahrscheinlichkeit ist nicht genug. 
Wir müssen die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Unterschiedes be- 
stimmt wissen. Die Methoden der modernen Wissenschaft haben 
diesen Weg gezeigt. Experimentelle Forschung kann das Rätsel lösen. 
Ein Kinderforschungslaboratorium muß gegründet werden, in welchem 
das Kind als Wesen erforscht werden soll.c 

Während er noch aktives Mitglied des Komitees an der Normal- 
schule war, erbat er sich die Gunst, vor den Mitgliedern des 
»Komitees für körperliche Ausbildung« zu erscheinen, um einen Plan 
zur Erforschung der körperlichen Gesundheit von Schulkindern auf- 
zustellen. In der regelmäßigen Versammlung der Erziehungsanstalt 
am 8. Februar 1899 wurden die Vorschläge des Komitees an- 
genommen. In der 2 Wochen später stattfindenden Versammlung 
bestimmte die Anstalt zwei Lehrer, die für das Versuchswerk be- 
sonders vorbereitet wurden. Ferner wurde eine gewisse Summe 
Geldes für den Kauf von Apparaten gestiftet, so daß am 6. März 1899 
die einleitende Arbeit der Erforschung wirklich begann. Während 
für den speziellen Forschungsausschuß der wichtigste Punkt eine noch- 
malige Erwägung des allgemeinen Rätsels der Beziehungen zwischen 
der physischen Beschaffenheit und der geistigen Leistungsfähigkeit 
bildete, offenbarten die spezifischen Themen, die sie auseinander 
hielten und die sie angriffen, genauer die Ziele und Begriffe, die 
das Komitee im Interesse des Werkes für wichtig hielt Diese Themen 
bezogen sich auf folgendes: Die körperlichen Unterschiede, die an 
Kindern, welche in demselben Schulzimmer unterrichtet werden, zu 



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Mac Millan: Die geistig -körperliche Untersuchung der Kinder. 195 



beobachten sind, den Verbrauch der körperlichen Kraft bei Kindern 
während des Schultages, die erzieherischen Verdienste der Natur- 
kunde, der Musik, des Turnens, des Handarbeitens, über das Problem: 
zurückgebliebene und träge Kinder, über die Klasse, in der es keine 
Ordnungen nach Leistungen gibt. 

Der vorläufige Bericht über die Erforschung weckte weitverbreitetes 
Interesse und Begeisterung, so daß das Komitee es für höchst wünschens- 
wert hielt, das Werk bis zum beabsichtigten Ziel fortzusetzen. Da 
dies die unbedingte Notwendigkeit eines jahrelangen, ununterbrochenen 
Studiums dieser und ähnlicher Bätsei ergab, gingen die Gedanken 
der Vorsitzenden dahin, ein feststehendes Bureau zur Unterrichtung 
in solchen Sachen zu gründen. Demgemäß berichtete das Komitee am 
6. September 1899 der Erziehungsanstalt über die Ergebnisse seiner 
Erforschungen in bezug auf den Wert der viermonatlichen Arbeit des 
Spezialerziehungsausschusses. In einer Versammlung am 26. Juli 
1899 bestimmte die Anstalt die Einberufung eines Spezialkomitees. 
Es sollte überlegt werden, ob es ratsam wäre, in dem Schulsystem 
von Chicago eine unabhängige Abteilung für Kinderstudium und 
pädagogische Forschung zu gründen. Das so bestimmte Spezialkomitee, 
dessen Mitglieder dieselben waren wie die des schon bestehenden 
Komitees (W. S. Christopher, F. J. Loksch, Clayton Mark, Joseph Stolz) 
und das sich auf die Ergebnisse der ersten Forschung gründete, legte 
der Anstalt bei ihrer Versammlung am 6. September 1899 einen Be- 
richt vor. Dieser wurde ohne Verbesserung angenommen und aus 
ihm ist der folgende Auszug entnommen. 

»In der Pädagogik und im Kindesleben sind viele Rätsel, deren 
Lösung viel Licht werfen kann auf die erzieherischen Maßnahmen 
und die materielle Unterstützung in der Schularbeit Es ist auch 
wünschenswert in dem System einen Mechanismus zu besitzen, um 
wenn möglich den relativen Wert verschiedener pädagogischer Methoden 
zu bestimmen. Die verschiedenen erzieherischen Bedürfnisse unserer 
großen Bevölkerung mit seinen großen Verschiedenheiten in Nationalität 
und sozialen Eigentümlichkeiten sollten durch wissenschaftliches Ver- 
fahren genau erforscht werden; die großen Probleme bezüglich des 
schwachen und zurückgebliebenen Kindes schreien nach einer ernsten 
Forschung; über den Typus des Kindes in den häuslichen Schulen 
sollte auch nachgedacht werden. Aus diesen und andern Gründen 
glauben wir, daß in dem Schulsystem ein Departement für die Er- 
forschung der Rätsel der Erziehung und der Kinderkunde sein sollte. 
Die Arbeit eines solchen Departements sollte sich erstrecken bis auf 
die verschiedenen Probleme, die auftauchen können, und die ein deut- 

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A. ü DDaDQnUlf^On. 



liches pädagogisches Gepräge und erzieherischen Wert haben; seine 
Arbeit sollte geleitet werden nach bewährten wissenschaftlichen 
Methoden, besonders den Methoden der physiologischen Psychologie. 
Es müßte die Pflicht des Departements sein, solche Erforschungen im 
Einderstudium und in der Pädagogik zu machen, die von dem Leiter 
der Abteilung angeregt und von dem Schulinspektor und dem fest- 
stehenden Komitee im Interesse der Abteilung gebilligt werden können. 
Wir empfahlen der Anstalt folgendes zur Annahme: 

> Hierdurch ist in dem Schulsystem zu Chicago eine Abteilung 
gegründet für Einderstudium und pädagogische Erforschung, be- 
stehend aus einem Direktor und mehreren Assistenten. Diese sollen 
von Zeit zu Zeit bestimmt werden, solche psycho -physikalische and 
ähnliche Untersuchungen, die ein pädagogisches Gepräge haben, zu 
machen. Die Untersuchungen werden angeregt und können von dem 
Schulinspektor und dem Eomitee im Interesse des Werkes gebilligt 
werden.« 

Wir geben die folgenden kurzen Andeutungen über die Gegen- 
stände und Leistungen des Departements für Einderstudium und päda- 
gogische Erforschung: 

I. Untersuchungswerk. 

a) Sammlung anthropometrischer und psycho- physikalischer An- 
gaben zwecks Festsetzung von Normen und Bestimmungen von Ver- 
wandtschaften, die der Pädagogik dienlich sein können. 

b) Anwendung streng wissenschaftlicher Methoden für spezifisch 
pädagogische Probleme, besonders um Lehr- und Bestimmungsmethoden 
bezüglich des pädagogischen Wertes der verschiedenen Studien prüfen 
zu können. 

II. Untersuchung einzelner Schüler, um über ihre pädagogische 
Behandlung Aufschluß geben zu können. 

III. Unterweisung in Einderstudium und in Psychologie für Lehrer. 
Bei dem Bestreben, dieses Programm auszuführen, zeigte es sich 

bald, daß ein feststehendes Bureau und Arbeitszimmer für diese Be- 
schäftigung aufrecht erhalten werden mußte. Demgemäß beschloß 
die Anstalt am 1. April 1900 die Gründung eines psycho -physikali- 
schen Laboratoriums in dem Departement und bestimmte eine Summe 
Geldes zum Anbau von weiteren Apparaten. Das Laboratorium wurde 
zuerst in einem ungebrauchten Vorratsraum angelegt, der verbunden 
war mit den Hauptbureaus der Anstalt. Bei seiner Verlegung im 
Mai 1903 in einen bequemeren Teil wurde dem Departement ein 
Raum angewiesen, der neben den anderen Spezialdepartements der 
Erziehungsanstalt lag. 



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Mac Millan: Die treistip- körperliche Untersuchung der Kinder. 197 



So kann man leicht sehen, daß die Pflichten und Leistungen 
des Departements naturgemäß zwei Hauptzüge annahmen: sie kon- 
zentrierten sich auf die mehr oder weniger getrennten Tätigkeiten 
a) der wissenschaftlichen Erforschung, b) der praktischen Anwendung 
von wissenschaftlich festgestellten Tatsachen, um Schul- und soziale 
Probleme klarzulegen. Daß das Departement in den ersten 3 Jahren 
sc in es Bestehens mehr Gewicht auf das Erstore legte, verdankte es 
nicht so sehr der Willkür als der Notwendigkeit. Schon in der Ein- 
leitung zum ersten allgemeinen Bericht war angedeutet worden: »Es 
scheint nur natürlich, daß der Ausgangspunkt zu einem systematischen 
pädagogischen Studium der Schulkinder von Chicago ein Versuch 
sein sollte, die Gesetze ihres Wachstums und der Beziehungen, welche 
zwischen körperlichem Wachstum und geistiger Entwicklung bestehen 
können, zu bestimmen.« Wenn Kinder untersucht und geprüft werden 
sollen, muß irgend ein Maßstab vorhanden sein, nach dem die Zu- 
stände und Defekte eines im Laboratorium untersuchten Kindes genau 
bewertet werden können. Aus diesem Grunde brauchte das Departe- 
ment unbedingt eine Reihe von Normen oder Maßstäben für das 
körperliche Wachstum und die geistige Entwicklung der Kinder, so 
daß Verschiedenheiten der Art und des Grades schnell entdeckt und 
beschrieben werden konnten, und auf diese Aufgabo richtete das 
Departement sofort seine Aufmerksamkeit. 

Normen für das körperliche Wachstum wurden zuerst festgestellt 
Diese bezogen sich auf so definitiv und leicht bestimmbaren Daten 
wie die der Lange, der Sitzlänge, des Gewichtes, der Ausdauer, der 
Kraft, der Lungenfähigkeit, der willkürlichen motorischen Herrschaft, 
der Gesichts- und Gehörsgrenze. Da diese von einer großen Anzahl 
Kinder im Alter von 6 — 18 Jahren (inklusive) aufgenommen worden 
waren, so war anzunehmen, daß die Daten ziemlich maßgebend seien. 
Nachdem das Maß der jährlichen und halbjährlichen Zunahme an 
Wachstum und Entwicklung an diesen verschiedenen Beispielen be- 
stimmt war, wurde die Wechselbeziehung des physischen und psychi- 
schen untersucht Um dieses allgemeine Rätsel des Schullebens zu- 
friedenstellend zu behandeln, muß man an den Beispielen natürlich 
ein gesundes Kennzeichen haben von geistiger Wirksamkeit in Ver- 
bindung mit der bestimmten Tatsache einer gut entwickelten und 
harmonischen körperlichen Verfassung. 

In dem ersten Bericht über geistige Wirksamkeit hielt das 
Departement das Sitzen der Kinder in der Schule nach Leistungen 
für einen Fingerzeig allgemeiner Intelligenz. Es war der Meinung, 
daß die Anordnung nicht immer zuverlässig sei, daß aber die Klassen- 



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19S 



A. Abhandlungen. 



stufe als etwas Ratsames angenommen werden könnte, bis bessere 
Nonnen für das geistige Wachsen festgesetzt werden könnten. Die 
Wechselbeziehung vom Platz in der Schule zu der Größe und dem 
Gewicht (festgestellt von Dr. Porter in seiner Erforschung der Schal- 
kinder in St Louis im Jahre 1892), und die überzeugende Überein- 
stimmung der Mehrzahl an Größe und Fortschreiten in der Schule, 
halfen dazu, den Gedanken der Mitglieder des ursprünglichen Komitees 
eine definitivere Gestalt zu geben. Diese Übereinstimmung verstärkte 
den Wunsch, dem Versuch einen größeren Zweck und Bestimmtheit 
zu geben durch Hinzufügen von mehr wesentlichen und spezifischen 
Merkmalen der geistigen Fähigkeit, ferner durch Benutzung größerer 
Verschiedenheiten von Indexen der physischen Beschaffenheit und 
Veränderung, als bis dahin benutzt worden waren. Die Genauigkeit 
in der Klassenstufe als Maßstab der angeborenen Geisteskräfte ist durch 
viele Faktoren veranlaßt. Indessen ist das wiederholte Zurückbleiben 
eines Kindes hinter dem Fortschritt der großen Mehrheit von Kindern 
seines Alters wenigstens ein mutmaßlicher Beweis, daß ein Umstand 
vorliegt, der erforscht werden sollte. Diese Aufnahmeunfähigkeit kann 
natürlich auf das Vorhandensein großer individueller Eigentümlich- 
keiten in dem Kinde hinweisen, auf defekte Sinnesvermittlung, ge- 
störte motorische Leitung usw. oder in Hinsicht auf den Körper, auf 
den Mangel an korrekter Haltung im Schulzimmer, sofern es nämlich 
in der Schule gewöhnlich bei Lehrern von wenigstens durchschnitt- 
lichen Fähigkeiten war. 

Als eins der ersten Experimente in der Erforschung wurde un- 
abhängig vom Untersucher der bestimmten Stellung des Kindes im 
Schulrang ein Urteil hinzugefügt, gemacht von dem Lehrer eines 
jeden Kindes, über die geistigen Funktionen wie Aufmerksamkeit, 
Gedächtnis, Urteil, und ferner eine Feststellung des besten und des 
schlechtesten Schulfaches und des Schulbetragens des Kindes. Trotz- 
dem dieses Urteil immer von dem Lehrer eines jeden von dem 
Departement untersuchten Kindes gefordert worden war, und ein 
solches Datum sich den Untersuchern bei der Diagnose von Krank- 
heitsfällen als gleichmäßig wertvöll erwiesen hatte, hatte es doch nie- 
mals dazu genützt, leicht oder sicher eine wissenschaftliche Be- 
rechnung zu ergeben. 

Die große Zahl von zusammentreffenden Fällen, die nicht hinein- 
paßten, d. h. die Nichtaufnahmen von Kindern in vorgeschriebene 
Kurse, zwangen den Untersuchern bald die Überzeugung auf, daß 
der Mangel daran, regelmäßige Fortschritte in der Schule zu machen, 
in sich selbst bemessen und gewertet werden mußte. Folglich wurde 



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Mac Mellan: Die geistig- körperliche Untersuchung der Kinder. 199 



es eine unerläßliche Forderung, in annehmbarer Form Normen oder 
Zeichen zu haben für die geistige Entwicklung während des ganzen 
Schuljahres. Bevor irgend eine sogenannte praktische Anwendung 
eines solchen Datums gemacht werden sollte, sollten genaue Messungen 
ernstlich vorgenommen werden. Diese sollten geschehen für eine 
Reihe von Jahren an einer großen Anzahl Kinder, von denen jedes 
von seinem Eintritt in die Elementarschule im Alter von 6 Jahren 
bis zu seinem Austritt aus der hohen Schule halbjährlich zu 
prüfen ist Das Departement setzte Data für einige zuverlässige 
und hauptsächlich geistige Funktionen fest, wie für Empfindung, 
Gedächtnis, Assoziation, Aufmerksamkeit, Einbildungskraft und Urteil 
bei einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Kindern. Diese Data 
haben sich als vollkommen wirksam erwiesen für seine praktische 
Absicht wie für die Lösung der Rätsel, und verbreiten und bewähren 
sich jetzt allmählich. 

Sogar an der Hand so bestimmter Tatsachen muß daran erinnert 
werden, daß der Untersucher der Kinder genötigt ist, seinen Maßstab 
zu ergänzen durch eine vollständige Familiengeschichte des Indivi- 
duums, einschließlich des Kindes Erbteil, seines gesunden Gedächt- 
nisses und des Entwicklungsgrades seiner fundamentalen Lebenskräfte. 

Mit einem wissenschaftlich aufgestellten und entsprechend ein- 
gerichteten Kodex von physischen und geistigen Normen, bestätigt 
durch tausende von Kindern, hatte die Erfahrung gezeigt, daß der 
Untersucher jedes Kind, das unter der Beobachtung steht, durch ver- 
gleichende Stellung sicher messen und die Wahrscheinlichkeiten an- 
deuten kann, die es in bezug auf Wachstum und Kraft erreichen 
kann und die die Grenze seiner Veranlagung möglich macht 

Da es über einige Hauptnormen verfügt und sich diese in dem 
Maße, wie das Werk fortschreitet, vergrößert haben, hat das Departe- 
ment mehr und mehr die praktische Arbeit übernommen. Das 
Departement tat dies in der Hoffnung, daß, wenn einst diese Formen 
seiner Pflichten eingeschränkt werden sollten, der genauen wissen- 
schaftlichen Untersuchung wieder mehr Zeit gewidmet werden kann. 
Das bedeutet indessen nicht, daß dem Erforschungsgrundzug unseres 
Werkes keine Aufmerksamkeit mehr gewidmet werden soll. Im Gegen- 
teil, über ein allgemeines Problem wird fortwährend nachgedacht, und 
jedes dieser Studien bildet Hauptthema eines Spezialberichtes. Ein 
Bericht dieser Art wies auf die geistigen und physischen Gesetze 
der 200 tauben Kinder in unsern Schulen hin, ein anderer bezog 
sich auf den Zustand und die Erziehung der großen Zahl der zurück- 
gebliebenen Kinder, und noch andere konzentrieren sich auf eine 



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200 



Untersuchung besonderer Gegenstände des Studienganges normaler 
Kinder. 

Im allgemeinen ist indessen die praktische Arbeit ein weit wich- 
tigerer Faktor unserer Aufgabe geworden. Dieser Übergang war ein 
allmählicher und hat seine eigene Geschichte, auf welche man nicht 
näher einzugehen braucht 

Das erste Schulzimmerproblem, unternommen im zweiten Jahre 
des Bestehens des Departements, hatte Beziehung auf die Schulhygiene 
Wir wurden gefragt, welche Größen von Tischen für die Schüler 
jeder der verschiedenen Stufen die geeignetsten wären und welches 
Verhältnis der Tische am richtigsten sein würde. Ein anderes 
Problem ähnlicher Natur hatte den Zweck, den Verlauf der Kraft 
während des Schultages von Kindern, welche regelmäßig arbeiten, zu 
bestimmen, so daß diesen Kindern zu der Zeit des Tages, wo sie die 
meiste Energie besitzen, die schwierigste Aufgabe gestellt und von 
ihnen die erschöpfendste Arbeit erwartet werden kann. 

Die Forschungen nahmen bald einen mehr pädagogischen Cha- 
rakter an. Eine Untersuchung der Gesichtskonstruktionsvorstellungs- 
kraft wurde unternommen in Hinsicht darauf, eine bestimmte Aus- 
kunft zu erlangen über die Kraft der Schüler in den oberen Klassen 
der Elementarschule und in den unteren Klassen der höheren Schulen, 
Gegenstände und Beziehungen nach Entfernung (in Abwesenheit) 
dieser Gegenstände und der sich darauf beziehenden Bilder zu er- 
fassen und zu konstruieren. Wieder wurden die schweren Probleme 
des Buchstabierens in Angriff genommen und eine Analysis aufgestellt 
von den gewöhnlichen Fähigkeiten von Schulkindern in dieser Übung, 
und von den Wegen, Buchstabieren zu lehren, da diese sich auf die 
verschiedenen Gedächtnisarten beziehen, und auf die Methoden des 
Studiums, das diese Lehrkraft verlangt 

Ein anderes Problem, auf welches das Departement etwas Licht 
zu werfen unternahm, war eine Betrachtung über den vergleichenden 
Wert des mündlichen Gedankenlesens der Kinder als ein Mittel, in 
ihren ersten Schuljahren Belehrung zu erhalten. Bei dem Übergang, 
der stattfindet in den Fortschritten des Erlangens von Wissen zwischen 
den natürlichen Unterhaltungsmethoden in dem ersten Leben des 
Kindes zu Hause und den künstlichen Wegen im Schulleben, in dem 
des Kindes redende Person meistens im »kalten Buchstaben er- 
scheint, fand man, daß es unklug und unsicher ist, sich ganz auf das 
leise Lesen zu verlassen, um bekannt zu werden mit den vielen Be- 
lehrungen, was im allgemeinen, als mit dem Lehrer eins, als lohnend 
angesehen wird. 



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MacMxllan: Die geistig- körperliche Untersuchung der Kinder. 20t 



Weiter wurde auf denselben Linien der Forschung das Schul- 
problem des Schreibens untersucht Man fand , daß die einzige 
Schriftart, mehr oder weniger genau gelehrt in dem Chicagoschul- 
System, die Steilschrift, ziemlich schnell von den Kindern verworfen 
wurde, sobald es unter gute Eontrolle kam und die Aufmerksamkeit 
der Schüler naturgemäß bald abgelenkt wurde von den Sinnbildern 
auf das Versinnbildlichte. Das ist ausführlich das, was erreicht wird, 
wenn man menschliche Tätigkeit bemeistert, aber man fand, daß es 
in dieser verhältnismäßig einfachen Reihe von menschlichen Be- 
wegungen wie Schreiben so offenbar sei, daß der Versuch, seine 
Richtung zu bestimmen und vorzuschreiben, als besonders wertvoll 
für Schreiblehrer angesehen wurde; und daß es wertvoll war, die 
Aufmerksamkeit auf diesen Wechsel von der Steilschrift zu gewissen 
Formen der Schrägschrift gezogen zu haben, wurde bewiesen durch 
die Tatsache, daß die Vermutungen und Empfehlungen des Departe- 
ment zwei Jahre später in der ganzen Stadt im wesentlichen an- 
genommen wurden. 

Zusammen mit diesem Wechsel in dem Charakter des erforschten 
Subjekt, ist von Jahr zu Jahr eine bemerkenswerte Vergrößerung vor 
sich gegangen in der Zahl von Kindern, die zu einer psycho -physi- 
kalischen Untersuchung durch das Departement überwiesen wurden, 
so daß diese höchst praktische pädagogische Ausübung immer aus- 
gedehnter geworden ist. Eine solche Untersuchung sollte jedem Schul- 
kinde mindestens einmal im Jahre zuteil werden, aber da dies aus 
einleuchtenden Gründen bedeutungslos ist, so ist die einzige Form 
einer solchen Untersuchung für alle Kinder, mit denen das Departe- 
ment zu tun hat, die Aufsicht über die jährliche Prüfung des Gesichts 
nnd Gehörs der Elementarschüler. Diese vorläufige Prüfung wird 
vorgenommen von den Lehrern der Schule, und solche Kinder, die 
verdächtigt werden, an Defekten oder Störungen dieser Sinnesorgane 
zu leiden, werden nachher in das Laboratorium zur weiteren Hilfe 
gesandt und kommen unter die Liste der Spezialfälle. 

Im allgemeinen kann man sagen, daß die nachfolgenden Arten 
von Fällen in das Laboratorium gebracht oder von dem Departement 
in den Schulen untersucht worden sind. Erstens, normal begabte 
Kinder, von dem Schulleiter gesandt oder noch öfter von den Eltern 
des Kindes gebracht. Das können frühreife Kinder sein, an deren 
körperliche Kraft und körperliches Wohlbefinden die natürliche Wiß- 
begier oder der aufgebürdete Studiengang in der Schale und die Lebens- 
ordnung im Hause scheinbar zu große Anforderungen stellen können. 
In solchen Fällen werden den Eltern und Erziehern gegenüber Vor- 



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202 



A. Abhandlungen. 



schläge gemacht die auf die Ursachen und die möglichen Maßnahmen 
weisen, die gewöhnlich angenommen werden können, um Zustände 
zu beseitigen oder zu bessern. Wieder bei gewissen Kindern mangelt 
es an Fortschritt in gewissen Fächern, und sie werden in das Zentral- 
laboratorium gebracht, damit die körperlichen und geistigen Ursachen 
dieser Spezialmängel bestimmt werden. Viele Eltern, Leiter und 
Lehrer bringen es den Kindern bei, die Natur und Größe ihrer 
Sinnesdefekte zu lernen. Wenn diese Kinder mehr Aufmerksamkeit 
beanspruchen, als das öffentliche Amt bietet, oder ihr Fall medizinische 
oder chirurgische Behandlung verlangt, so werden sie dem Hausarzt 
oder einer öffentlichen Poliklinik überwiesen. 

Die zweite Gruppe von Spezialfällen, die die Aufmerksamkeit 
des Departements verlangt, ist die ziemlich große Zahl der abnormen 
Kinder. Bei der Untersuchung kann man finden, daß diese auf einem 
so niedrigen geistigen Stufe stehen, daß sie nur schlecht über den 
zweiten oder höheren Schwächegrad hinausgebracht werden. Wenn 
dies einmal der Fall ist, legt das Departement in seinem Bericht an 
den Schulinspektor die Tatsache dar und schlägt vor, daß das Schul- 
leitungskomitee, insoweit als sie praktische Schwierigkeiten bieten und 
dem eifrigen Lehrer immerwährend Anlaß zu Befürchtungen geben 
und sowohl den Fortschritt der andern Kinder der Klasse sichtbar 
schädigen als auch einen ökonomischen Verlust und eine Verschwen- 
dung von Kraft im Lehrkörper bedeuten, die anderen Schüler schützt 
indem sie diese von den Schulen unter ihrer Leitung ausschließen. 
Durch seine ungezwungene Verbindung mit der Kinderhospitalgesell- 
schaft und dem Wohltätigkeitsbureau erstreckt das Departement im 
Namen der Eltern oder Vormünder dieser Kinder seine guten Werke 
darauf, daß es sie zuläßt zu den öffentlichen staatlichen Anstalten 
oder zu privaten Organisationen, die geeignet sind für solche Zög- 
linge. Es ist unser großes Unglück, daß die Zahl solcher nützlichen 
Anstalten so klein und die Einrichtungen so beschränkt sind, «laß 
nur ein sehr kleiner Teil dieser ganzen Zahl von Fällen zurzeit be- 
friedigend versorgt werden kann. Wenn man andrerseits an diesen 
abnormen Kindern entdeckt daß sie einen solchen Grad von Geist 
besitzen, der zu der Hoffnung berechtigt daß sie im Alter von 
14 Jahren unter Spezialerziehung imstande sein werden, den Wert 
des vierten Grades zu erreichen, werden sie auf unsere Empfehlung 
in die Klassen für abnorme Kinder gesandt welche Räume einen 
vollständigen Teil des öffentlichen Schulsystems in Chicago bilden. 
Über jedes so abgegebene Kind wird an den Klassenlehrer ein ein- 
facher spezieller Bericht gesandt, der die Eigentümlichkeiten des 



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Mao Miixan: Die geistig. körperliche Untersuchung der Kinder. 



203 



Körpers und Geistes ins kleinste beschreibt and Methoden und Rat- 
schläge angibt, mit denen seinen Eigenheiten entgegengetreten worden 
kann. Es muß bemerkt werden, daß diese Kinder gewöhnlich in 
eine Klasse kommen mit den sogenannten zurückgebliebenen Kindern. 
Man wird indes bei einer sorgfältigen Untersuchung einer solchen 
allgemeinen Gruppe finden, daß, obgleich alle abnormen Kinder in 
Kenntnissen zurückgeblieben sind, der Umgang nicht in demselben 
Sinne es ist Ein abnormes Kind kann aufgehalten worden sein in 
der Entwicklung oder zurückgeblieben in der geistigen Entfaltung 
oder es kann ungleichmäßig geistig gewachsen sein, welche Zustände 
nur überlegene (große) Sorgfalt und Einzelerziehung bessern können, 
während das zurückgebliebene Kind, das im Alter von 14 Jahren 
auf oder über dem fünften Grade steht, heilbar ist in des Wortes 
vollster Bedeutung, und gewöhnlich wird dies erreicht durch eine 
Konzentration derselben Kräfte und pädagogischen Künste, die bei 
dem durchschnittlich normalen Kinde erfolgreich angewandt werden. 
Dies zwingt dazu, eine kleinere Anzahl von Kindern zusammenzutun 
und gewisse Vorkehrungen zu treffen, so daß die spezifischen Ur- 
sachen des Zurückgebliebenseins an jedem Beispiel erkannt und er- 
folgreich bekämpft werden können. 

Die nächste Gruppe von Einzelfällen, welche das Departement 
untersucht, sind die tauben Kinder und Kinder mit defektem Gehör. 
Jedes Kind, das eins der Zimmer für die Erziehung tauber Kinder 
betritt, macht eine psycho - physikalische Untersuchung durch, und 
wenn das Kind normal ist in geistiger Beschaffenheit und als taub 
oder so defekt im Hören befunden wird, daß es eigentlich taub ist, 
wird der Fall in gewöhnlicher Weise dem Schulinspektor berichtet, 
und das Kind wird für die regelmäßigen Schultage der tauben 
Kinder in einem der Räume zugelassen. 

Dieselbe Methode der Prozedur herrscht in Rücksicht auf die 
noch weit unglücklichere Gruppe von Kindern, die verkrüppelt sind. 
Jedes Kind, um dessen Aufnahme in die Räume für verkrüppelte 
Kinder seine Eltern oder Vormund anfragen, muß von dem Departe- 
ment untersucht werden außer der regelmäßigen Untersuchung des 
Schulmedizinalinspektors. Der Inspektor stellt fest^ ob das Kind ein 
Krüppel ist und die freie Benutzung eines Omnibusses, der es hin 
zur Schule und wieder zurückfährt, und das Departement entscheidet, 
ob es geistig fähig ist, in dem Unterricht, den die Erziehungsanstalt 
in diesen Räumen gibt, zu profitieren. Ferner hat das Departement 
einen, in der Schule verwalteten Zweig seines Werkes, so daß jedes 
träge und unverbesserliche Kind einer psycho -physikalischen Unter- 



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204 



. Mitteilungen. 



suchung übergeben wird, wenigstens zweimal während seines Aufent- 
haltes, zuerst bei oder kurz nach seiner Aufnahme in die Schule und 
dann vor seiner Entlassung. Der Untersucher hilft ferner dem Lehr- 
körper und den FamilienangesteUten , die Eigenheiten eines jeden 
Knaben zu studieren. 

Endlich erstreckt sich die praktische Arbeit des Departements 
auf Kinder, die in das Jugendgericht gebracht werden. Während 
der ersten Woche des Februar 1905 sandte der Richter des Hofes, 
in seinem Bestreben alle mögliche Auskunft über diese kleinen Zög- 
linge zu erhalten, zwei Kinder, deren Botragen und Aussehen einen 
gewissen Verdacht aufkommen ließen in bezog auf ihren gesunden 
Verstand und ihren normalkörperlichen Zustand, in das Laboratorium 
des Departement Daß der Bericht an den Gerichtshof über die 
psycho-physische Untersuchung, die in diesen Fällen vorgenommen 
worden war, Wichtiges bewirkt hatte, mag geschlossen werden aus 
der Tatsache, daß in den folgenden 7 Wochen ungefähr 70 Fälle 
zu dem Zwecke untersucht wurden. Zurzeit kann das Departement 
nicht alle Fälle von verbrecherischen Anlagen und Faulheit, an welchen 
der Gerichtshof interessiert ist, behandeln, aber es wirkt gern mit 
diesem Jugendgerichtshof, mit dem es im Grunde soviel gemeinsam 
hat, zusammen, um ein Rätsel lösen zu helfen, und ferner ist es der 
jetzige Plan aller interessierten Parteien, einen regelrechten Zweig 
des Departement in dem neuen Jugendgerichtsgebäude zu gründen, 
so daß der geistige und körperliehe Zustand jeden Kindes sorgsam 
erforscht werden kann, bevor eine endgültige Bestimmung über den 
einzelnen Fall getroffen ist 



B. Mitteilungen. 



1. Über psychopatbische Minderwertigkeiten. 

Von Dr. med. Hermann. 

Jeder, der der Fülle psychopathischer Einzelerscheinungen ratlos 
gegenübersteht, wird den Wunsch empfunden haben nach einem »ruhenden 
Pol in der Erscheinungen FluchU. Und in diesem Wunsch gipfelt zugleich 
der heilpädagogische Wert der Frage: was gegenüber den Äußerungen 
psychopathischer Minderwertigkeit von erzieherischer Seite geschehen kann 
und soll. Der Erzieher will und muß dio Seele bis auf den Gmnd sehen. 
Wir dürfen uns keiner Täuschung darüber hingeben, daß die Heilpäda- 
gogik hier noch vor einem Fremdland steht, in dem sie keine Erfolge, 
keinen kleinen Sieg aufzuweisen hat, wenn wir Fälle von sogenannter 
Nervosität (Psychasthenie, Schulmüdigkeit), einzelne Fälle von Hysterie und, 



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I 

I 



1. Über psyehoimthische Minderwertigkeiten. 



205 



wie das selbstverständlich sein sollte, alle Zustande von unkompliziertem 
Schwachsinn leichtesten und schwereren Grades (»Denkbehinderungc, 
»Schwachbefäuigung«) sinngemäß ausschließen, denn auf diesen Gebieten 
feiert die Iteilpädagogik Triumphe. Solange der Heilpädagoge sich nicht 
gewOhnt, Störungen der Intelligenz gesondert und prinzipiell von Störungen 
des Wollens und Fühlens auseinanderzuhalten, werden sich klare Vor- 
Stellungen Über das wahre Wesen der sittlichen Defekte bei den einzelnen 
Kindern und damit über ihre Bewertung und Behandlung nicht ausbreiten. 
Auch in diesem Sinne mögen die folgenden Ausfahrungen wirken, indem 
sie nur Gebiete behandeln, die mit intellektuellen Störungen (Schwach- 
sinn) nicht das mindeste zu tun haben, ebensowenig aber mit eigentlichen 
Geisteskrankheiten und die trotzdem zweifellos das Gepräge des » Abnormen c 
tragen. Der eigentliche Zweck der Ausführungen ist aber, dem Leser 
einen Einblick zu verschaffen in die modernen Versuche, die psycho- 
pathische Minderwertigkeit auf ihre grundlegenden psychologischen Mecha- 
nismen zurückzuführen, und zwar lehnen sie sich eng an zwei Kapitel 
aus einer genialen Arbeit von Otto Groß 1 ) an, die im Original so ge- 
gebaltvoU ist, die so viele psychiatrische Literaturkenntnis voraussetzt, 
daß ihr Verständnis nur einem engen Leserkreis möglich ist Da es sich 
aber lediglich um Fragen handelt, die auch zum Lebensmark einer fort- 
schrittlichen Heilpädagogik gehören, so mögen Autor und Leser mir den 
nachfolgenden Auszug (unter starker Vereinfachung der Ausdrucksweise) 
gestatten. 

Dnser fortschreitendes Denken kommt durch die Vorstellungsver- 
knüpfungen zustande (Assoziationen) und es ist ein bekanntes Gesetz, daß 
die einzelnen Vorstellungsinhalte sich untereinander beständig anregende 
oder hemmende Kräfte zusenden (sogenannte Konstellation). Mit 
andern Worten: Wenn eine Vorstellung sich im Bewußtsein befunden hat, 
verschwindet sie nicht spurlos, sondern hinterläßt außer der Gedächtnisspur 
eine anregende Kraft (Energie), die auf gebahnten Wegen (Assoziationsfasern) 
zu einer inhaltlich verwandten Vorstelluog überläuft, so daß nunmehr 
diese Vorstellung in die Helligkeit des Bewußtseins tritt. Auf diese 
Weise entsteht die inhaltliche und formelle Ordnung, das Leben und Fort- 
schreiten unseres Gedankenganges. Wir nennen diese Kraft, die das Denken 
zusammenhält, die »zusammenhaltende« oder »Kontraktiv-Kraft«. 
Die geistige Leistungsfähigkeit wird durch diese Kraft wesentlich mit- 
bestimmt. Je stärker sie wirkt, um so geordneter, in sich geschlossener 
wird der Gedankengang, je schwächer und flüchtiger sie ist, um so loser 
wird der Zusammenhang (echte Zerstreutheit!). Die Intensität dieser an- 
regenden Kraft ist auch von Gefühlswerten abhängig. Vorstellungen, die 
ein starkes Gefühl erregen oder erhalten (Interesse, Strafe!), beherrschen 
mit größerer Zähigkeit den Donkablauf, als gleichgültige. Am zäbesten 
liaften schmerzliche, unlustbetonte Vorstellungen. Die Größe der Kon- 
traktivkraft wechselt also mit den Gefühlslagen. Sie ist aber auch für 



») Dr. med. Otto Groß, Über psychopathische Minderwertigkeiten. Leipzig, 
Verlag von Braumüller, 1909. 



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20« 



J5. Mitteilungen. 



jeden Einzelnen durchschnittlich verschieden, sie ist eine von Person zu 
Pereon veränderliche Größe, je nach Verschiedenheit der angeborenen An- 
lage. Auf Grund ererbter minderwertiger Gehirnanlage kann diese Kraft 
abnorm verkürzt sein. Die Folge ist dann schon beim Schulkind, daß das 
Bewußtsein von wechselnden, nur lose zusammenhängenden, hinfälligen 
und nirgends vertieften Vorstellungsinhalten ausgefüllt wird (Zerbtreut- 
heit). Oft ist damit noch eine dauernde Erleichterung der Voretellungs- 
verknüpfungen verbunden, die gesetzmäßig mit Lustgefühlen einhergeht 
(sanguinische Minderwertigkeit, pathologischer Leichtsinn). Infolge dieser 
ungemein häufigen Veranlagung ist das Kind nicht imstande, bei einem 
Thema entsprechend zu verharren, es auszuholen. Es vermag Fragen, 
die dies erfordern würden, nicht fertig zu verarbeiten und wird daber 
gerade den wichtigsten und höchsten Fragen (ästhetische, moralische!) nicht 
gerecht. Dagegen erfaßt es kleine und nebensächliche Angelegenheiten, 
da dies in kurzer Zeit möglich ist, oft besonders rasch und gut, verknüpft 
auch lebhaft und kann dadurch geistreich erscheinen. Da es aber die 
höchstwertigen Fragen stets umgeht, legt es ihnen auch einen viel zu ge- 
ringen Gefühlswert bei, während die wohlbegriffenen Nebensächlichkeiten oft 
lebhafte Affekte hervorrufen. Die Folge ist eine Unfähigkeit, Wesentliches 
vom Unwesentlichen zu unterscheiden, als Folge der falschen Gefühls- 
betonung; wir, die wir dieses Mißverhältnis im Affektleben beobachten, 
sprechen dann von affektiver Kritiklosigkeit. Mit der Herabsetzung 
der zusammenhaltenden Kraft (Kontraktivkraft) geht auch alles verloren, 
was wir als » Sammlung c bezeichnen. Die aus der Außenwelt auf das 
Gehirn einstürmenden Reize sind stärker als die Kraft, die die Vor- 
stellungen zusammenhalten sollte, das Kind wendet sich ungehemmt mit 
seiner Aufmerksamkeit den äußeren Beizen zu, es ist erhöht ablenkbar. 
Durch die erhöhte Aufmerksamkeit für die Umgebung und die hier fast 
ausnahmslos vorhandene erleichterte Vorstellungsverknüpfung besteht meist 
eine sehr prompte und unmittelbare Auffassung der Umgebung. Auch das 
momentane Sichzurechtfinden in verwickelten Situationen wird oft sehr gut 
geleistet, da das Auftauchen zahlreicher und verschiedenartiger Vorstellungen 
innerhalb eines kurzen Zeitraumes besonders leicht von statten geht. Da- 
her verfügen solche Individuen fast ausnahmslos über Geistesgegenwart 
und Verwegenheit Wir werden uns daher nicht wundern, wenn diese 
Kinder nls schlau, verschlagen, von guter Haltung in Äußerlichkeiten sieb 
zeigen. In starkem Gegensatz dazu steht die geringe Fähigkeit, Wahr- 
nehmungen zu verarbeiten und dauernd dem Bewußtsein einzuverleiben. 
Die Anglioderung von Erinnerungsmaterial an früher Erworbenes ist er- 
schwert, da die einzelnen Vorstellungen zu wechselnd und flüchtig auf- 
tauchen, um einen tieferen Eindruok im Gehirn zu hinterlassen. Die Un- 
fähigkeit, komplizierte Gedankengänge zu Ende zu verfolgen, der rasche 
Wechsel des psychischen Inhaltes, die Kritiklosigkeit, die hemmungslose 
Ablenkbarkeit durch äußere Reize, das rasche und nachwirkungslose Hin- 
durchgehen aller Vorstellungen durch das Bewußtsein bringen es zustande, 
daß die Gefühlsbetonung gerade die höherwertigen Vorstellungsgruppen, 
die zu ihrer Ausbildung einer gewissen Vertiefung und umfassender 



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1. Über psychopathische Minderwertigkeiten. 



207 



geistiger Verarbeitung bedürfen, zu gering bleibt Infolgedessen fehlt 
dieser Gruppe, auch wenn sie rein verstandesmäßig vorhanden ist, der be- 
stimmende Einfluß auf Fühlen und Handeln (Moral!). Es kommen über- 
haupt keine leitenden, überwertigen Vorstellungen zustande, die Gefühls- 
betonung bleibt dem Augenblick überlassen, ein dauernd gefestigter Cha- 
rakter bildet sich nicht aus: »Diese psychische Konstitution liegt 
daher in den meisten Fällen dem degenerativen Charakterbild 
zugrunde, das wir als ,moralischen Schwachsinn' bezeichnen 
hören. Diese Minderwertigkeit ist so recht eigentlich der Verbrecher- 
typus überhaupt.« Die Unfähigkeit zur Ausbildung höherer Vorstellungs- 
gruppen, übergeordneter Wertgefühle läßt alle inneren Hemmungen weg- 
fallen, so wie die Unfähigkeit überhaupt zu längerdauernden und voraus- 
gerichteten Einstellungen (Schwäche der zusammenhaltenden Kraft!) auch 
die äußeren Hemmungen, die Furcht vor Strafe außer Wirkung setzt. Die 
typische Verschlagenheit und Geistesgegenwart erleichtern die Verbrechen, 
der pathologische Leichtsinn und die pathologische Leidenschaftlichkeit 
geben den Anstoß. Das subjektive Kraftgefühl verleiht dabei jeder einzelnen 
Handlung erhöhte Energie und Rücksichtslosigkeit durch momentan erhöhte 
Gefühlsbetonung bei fehlender Hemmung. Hechnet man die Fähigkeit zu 
lange vorausschauenden und unbeirrbaren Entschlüssen zur Willenskraft, 
so erscheint diese herabgesetzt (Haltlosigkeit!). 

Fast entgegengesetzte Verhältnisse treffen wir an, wenn die zusammen- 
haltende Kraft der Gedanken (Kontraktivkraft) abnorm verstärkt ist. Dann 
wird jedes einzelne Denkthema lange festgehalten und kann intensiv, freilich 
nur innerhalb enger Grenzen, ohne weitschauende Vergleiche und Ver- 
knüpfungen, verarbeitet werden; der Übergang auf ganz neue Gebiete ist 
aber erschwert. Dadurch schließt sich das jeweilige Denkthema gegen den 
übrigen Bewußtseinsinhalt ab. Ein Vergleichen ist dadurch wieder er- 
schwert, insbesondere hinsichtlich der Gefühlsbetonung. Wie starke Affekte 
die zusammenhaltende Kraft erhöhen, so ruft umgekehrt die Verstärkung der 
zusammenhaltenden Kraft Affekte, und zwar im allgemeinen der Unlust, 
hervor, man wird mit seinen Affekten, mit Zweifeln und Grübeln nicht 
fertig, es kommt zu trauriger Verstimmung und Selbstquälereien. Das 
Gefühl für den Vergleichswert der Dinge geht verloren, es entsteht also 
wiederum, aber auf ganz andere Art wie oben, affektive Kritiklosig- 
keit: dort durch Unterschätzung, hier durch Überschätzung. Bei Erhöbung 
der zusammenhaltenden Kraft besteht auch eine Art Zerstreutheit, aber in 
allen dem eigentlichen Denkthema abgewandten Gebieten. Daher sind 
diese Individuen meist einseitig, unpraktisch, weltfremd. Die Erschwerung 
im Eingehen auf äußere Reize kommt auch zum Ausdruck in schweren 
Verlegenheitszuständen, in Mangel an Geistesgegenwart, wenn viele und 
mannigfaltige, in kurzer Zeit einwirkende äußere Reize einstürmen. Die 
vielen sich durchkreuzenden Gedanken, die alle zähe haften und nachhalten, 
bilden eine peinliche Überanstrengung des Gehirns. Auch entsteht daraus 
der Hang zur Einsamkeit Früh tritt Menschenscheu auf (Schüchternheit!). 
Die Nachhaltigkeit der Affekte und ihre erhöhte Auslösbarkeit durch innere 
Vorgänge disponiert zu einem verfeinerten Gemütsleben, zur Sensivität 



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208 



B. Mitteilungen. 



Zu Verbrechen kommt es durch die krankhafte Wertüberschätzung einzelner 
Vorstellungskomplexe, z. B. * fanatische c Handlungen. 

Wir sahen seither die affektive Kritiklosigkeit, eine fehlerhafte Wert- 
schätzung auf zwei einander entgegengesetzte Arten zustande kommen, ein- 
mal im Sinne der Verflach ung, sodann im Sinne der Einengung der Be- 
wußtseinstätigkeit. Es gibt aber noch mehr Möglichkeiten für fehlerhafte 
affektive Wertschätzung, denen wir uns nun zuwenden wollen. Bei der 
psychopathischen Minderwertigkeit im engeren Sinne ist der größte Teil 
der geistigen Funktionen in Ordnung und man kann die krankhafte Störung 
ganz genau umgrenzen auf ein bestimmtes, aber für die Persönlichkeit 
wichtigstes Gebiet: Die affektive Kritik. Diese seelische Funktion hat 
mit der verstandesmäliigen (logischen) Urteilsfähigkeit, mit Intelligens 
und Gedächtnis gar nichts zu tun. Sie bestimmt vielmehr, als eine an- 
geborene, sehr hochstehende Fähigkeit die Wichtigkeit der einzelnen Vor- 
stellungsgruppen gegeneinander, mißt also in kritischer Weise jeder einzelnen 
Vorstellungsgruppe die ihr zukommende Affektgröße (die Gefühlsbetonnng, 
den Wert) zu, daher: affektive Kritik. »Wir wissen aus der täglichen Er- 
fahrung, daß es uns bis zu einem gewissen Grade gelingt, die Affektwerte 
verschiedenster Qualität (Lust, Unlust usw.) auf einen gemeinschaftlichen 
Nenner zu bringen und quantitativ miteinander zu vergleichen, wir sprechen 
von der größeren oder geringeren »Wichtigkeit«. Diese Vergleichsgröße 
der gesamten affektiven Vorgänge ist es, auf der alle wertende und 
schätzende Tätigkeit beruht und von der die letzte und feinste Ent- 
scheidung Qber die Einstellung des Individuums zur Umwelt 
bedingt ist. Es ist selbstverständlich, daß die affektive Kritik in allen 
Fragen der Ethik und Ästhetik, des Taktes und Geschmacks, Oberhaupt 
alles Fühlens und Wollens die letzte und entscheidende Bedeutung hat 
{Charakter, Temperament!). Die affektive Wertverteilung bedingt die 
normalen Verschiedenheiten des Charakters, also im Gebiet des Fühlens 
und Wollens; ihre Störung, die affektive Kritiklosigkeit, entwickelt sich 
also in ununterbrochener Folge aus Übertreibung normaler Ver- 
schiedenheiten. Wenn die Fähigkeit, das gegenseitige Größenverhältnis 
der den einzelnen psychischen Inhalten zukommenden Affektwerte zweck- 
mäßig zu regulieren, Störungen zeigt, so sprechen wir also von affektiver 
Kritiklosigkeit Auf sie müssen wir alle Äußerungen der psycho- 
pathischen Minderwertigkeit im letzten Grunde zurückführen. 
Sie hat mit der Intelligenz gar nichts zu tun, kann sich aber mit 
Schwachsinn gleichzeitig vorfinden. »Intelligenz ist die Summe aller 
spezialisierenden und zusammenfassenden Kräfte, die uns als psychische 
Mittel zur Erreichung eines Zweckes zur Verfügung stehen. Die zweck- 
setzenden Kräfte aber sind die affektiven Funktionen und die Regulierung 
der Zwecksetzung ist die affektive Kritik.« Wenn wir die Quellen fehler- 
haften, etwa moralisch defekten Verhaltens nicht im Intellekt finden und 
wir die Erscheinung durch Worte und Gedankengänge nicht erklären, sie 
nicht in ihrem logischen Zusammenhang darstellen können (etwa durch 
Milieu, Gelegenheit, Verführung usw.), dann liegt meistens der Fehler be- 
gründet in der falschen Affektwertung, er kann nur »gefühlte, aber nicht 



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1. Über psychopathische Minderwertigkeiten. 



209 



logisch dargestellt werden. Und darum ist man noch heute allgemein so 
ablehnend gegenüber den krankhaften Mängeln des Fflhlens, man will 
außer Schwachsinn und Verwirrtheit keine Ursache für krankhafte Äuße- 
rungen, z. B. krankhafte moralische Defekte anerkennen. Der Pädagoge 
muß es aber tun, noch eher als der Jurist, um seinen schwierigsten Schutz- 
befohlenen, den sittlich Abnormen, gerecht zu werden und vielleicht neue 
Wege zu finden, um ihnen zu helfen — denn die allgemein üblichen 
Methoden können nur denjenigen Verwahrlosten helfen, die ihrer Anlage 
gemäß die vollwertige Seele eines normalen Kindes besitzen. Die Un- 
stetigkeit des Minderwertigen, die ihn oft zu Wanderungen treibt, ist eben- 
falls ein Ausfluß der abnormen Affektbewertung. Jeder Normale hat 
Motive gleicher Art, aber er gibt ihnen eine viel ruhigere und wichtigere 
Gefühlsbewertung, sie veranlassen ihn nicht zu kopflosem Handeln, er 
steht über ihnen. Will man den Minderwertigen, der dem Trieb, davon- 
zulaufen, erliegt, verstehen, so muß man ihm »nachfühlen«, während 
man Mängel des Verstandes »erklären« könnte. Zu den verbreitetsten 
Erscheinungen psychopathischer Minderwertigkeit gehört auch die Willens- 
schwäche (Haltlosigkeit). Sie ist eigentlich im Grunde nichts anderes 
als die affektive Kritiklosigkeit. Nur kommt bei der Willensschwäche im 
allgemeinen der Gegensatz zwischen Wollen und Können mehr zum Be- 
wußtsein. Zwar kann er weitgehend verdeckt werden, bei krankhaftem 
Leichtsinn, bei fanatischen Ideen, aber es besteht im Grunde auch bei 
diesen Zuständen Willensschwäche. Der Leichtsinnige vermag keine 
richtunggebenden Leitvorstellungen und Ziele festzuhalten infolge der hin- 
fälligen Gefühls wertung, die ihn auszeichnet; der von einer fanatischen 
Idee Erfaßte vermag keinen Widerstand zu leisten, die Idee ist von dem 
übrigen Vorstellungsinhalt abgetrennt und damit der gesunden Kritik ent- 
zogen. In einer vollsinnigen Seele besteht ein kunstvoller und wunder- 
barer Aufbau, zum Teil das Werk der Erziehung. Die einzelnen Vor- 
stellungsgruppen haben ihren besonderen Gefühlswert, der genau ent- 
sprechend der Zweckmäßigkeit abgestuft ist. Infolge einer kritisch fein 
arbeitenden Hemmungskraft werden lebhafte Gefühlsbetonungen ge- 
spart und nur an verhältnismäßig wenigen, aber wichtigen Stellen lokali- 
siert, aber stets im engsten Zusammenhang mit dem ganzen übrigen nach 
unten zu immer weniger gefühlsbetonten Vorstellungsmaterial. Dieser Auf- 
hau zeigt bei einer gewissen Konstanz (Moral, Gesinnung), gleichwohl Leben 
und beständig fließt affektive Kraft nach oben wie nach unten ab, um 
stets das Gleichgewicht in dem sinnvoll ordnungsmäßigen Aufbau zu er- 
halten. Die Affektgrößen konzentrieren sich also in bestimmten Sammel- 
punkten, aber umfassen dabei stets nach unten hin in einer bestimmten 
gesetzmäßigen Abstufung die gesamte Persönlichkeit (ausgeglichene, har- 
monische, im Gleichgewicht befindliche Seele des Vollwertigen). Einerseits 
müssen feststehende und führende Werte vorhanden sein, andrerseits muß 
die relative Affektgröße von diesen dominierenden Werten bis zu den 
kleinsten herab in einem regelmäßigen Verhältnis abgestuft sein. Die 
Unmöglichkeit, dieses abgestufte Verhältnis herzustellen, be- 

Zeitschrift für KindarforRchung. XV. Jahrgang. 14 



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210 



B. Mitteilungen. 



deutet psychopathische Willensschwäche. Willenskraft ist nichts 
anderes als der vollendete Aufbau der Gefühlswertabstufung. Bei der 
psychopathischen Willensschwäche fehlen entweder kräftige Willensimpulse 
(Apathie), oder ein Ziel schwebt vor, aber die nachhaltige Konzentrierung 
des Willens mißlingt und hindernde Impulse, die niederzuhalten die Kraft 
versagt, schieben sich zwischen Wille und ZieL Die Unfähigkeit, an- 
schwellende Affekte, aufschießende Impulse zu hemmen, ist so recht das 
Wesen der psychopathischen Minderwertigkeit Durch dieses Versagen 
der hemmenden Kraft wurde es schon unmöglich, den abgestuften Aufbau 
der richtunggebenden Gefühle zu gewinnen (Schwererziehbarkeit in sitt- 
licher Hinsicht!). Also auch hier in letzter Linie wieder fehlerhatte 
affektive Kritik. Die verbrecherischen und unsozialen Äußerungen der 
psychopathischen Minderwertigkeit sind nur der äußerlich sichtbare Aus- 
druck der Anlage, die bald mehr dem Typus der affektiven Kritiklosigkeit, 
bald dem ihr nahe verwandten der Willensschwäche entspricht Das 
fehlerhafte Ergebnis in der Konkurrenz affektiver Energie- 
größen (bewertender affektiver Kräfte) wird in allen Fällen das ge- 
meinsame charakteristische sein. Die Unfähigkeit, den antisozialen 
bezw. verbrecherischen Impulsen Widerstand zu leisten, ist eine Teil- 
erscheinung der allgemeinen Unfähigkeit, auf irgend etwas nicht zu 
reagieren. Ob eine Störung in dem Aufbau der abgestuften Wert- 
giuppieruug vorliegt (Unerziehbarkeit!), wird im Einzelfall zu ergründen 
sein gegenüber den nicht krankhaft bedingten oder durch andere Krank- 
heiten bedingten Formen des Verbrechens. 

Wir haben bisher zahlreiche Störungen auf die affektive Kritiklosigkeit, 
die allerdings die verschiedenartigsten Wurzeln haben kann, zurückgeführt. 
Fügen wir noch hinzu, daß auch Wertübererhöhung einzelner Vorstellungs- 
gruppen mit Lustgefühlen oder besonderen Stimmungen einhergehen können, 
so dürfen wir auch die krankhafte Lügesucht, den krankhaften Egoismus, 
das krankhaft mißtrauische und nörgelnde Wesen und ähnliches auf die 
affektive Kritiklosigkeit bezw. die Unfähigkeit, Gefühlszustände zu hemmen, 
zurückführen. 

Es bleiben immerhin noch einige Äußerungen psychopathischer Minder- 
wertigkeit übrig, die der Erklärung bedürfen (Periodizität, Zwangs vorgange, 
Befürchtungen, Ermüdungsanlage). Um auch diese Erscheinungen zu er- 
klären, müßten wir einerseits biologische Kenntnisse heranziehen, 1 ) andrer- 
seits die Lehre vom » Unbewußten c, beides Gebiete, die sich die Heilpäda- 
gogik einer ferneren Zukunft zweifellos mit Nutzen noch erschließen muß. *) 
An dieser Stelle würde uns ihre Erörterung zu weit führen. Der Pädagoge, 
insbesondere der Erzieher sittlich schwer erziehbarer Kinder (Füreorge- 
zöglinge), möge aus den mitgeteilten Anschauungen Anregung schöpfen zu 



l ) Stadelmann, Ärztliche pädagogische Vorschule. Hamburg, Leopold Vofi, 
1909. Besprechung siehe Heft 5, S. 160. XV. Jahrg. 

*) Vergl.: »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben der Kinder. YUT. Jahn;., 
1906, S. 129 dieser Zeitschrift und, Pfister, Psychoanalyt Seelsorge und ex- 
perimentelle Moralpädagogik. (Referat.) XIV. Jahrg., S. 220 dieser Zeitschrift. 



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2. Gynmasiastonselbstmorde. 



211 



einer Beurteilung der >Un er zieh barkeit«, die mit der Zeit vielleicht auch 
in praktischer Hinsicht Früchte tragen wird. Man vergesse nicht, daß es 
sich um Zustande handelt, die sich ohne scharfe Grenze in die Gesund- 
heitsbreite verlieren. 



2. Gymnasiastenselbstmorde. 1 ) 

Von Dr. Theodor Heller, Wien-Grinzing. 

Die Verteilung der Semestraizeugnisse hat tieftraurige Geschehnisse 
zur Folge gehabt. Drei junge, den besten Kreisen entstammende Schüler 
haben ihrem Leben gewaltsam ein Ende bereitet. Die Öffentliche Meinung 
wendet sich, wie dies in solchen Fallen schon als eine Art Gewohnheits- 
recht zu betrachten ist, fast einmütig gegen die Mittelschulen und die 
Mittelschullehrer. Die Zeitungen sind erfüllt mit Klagen gegen die Mittel- 
schulen, denen alle erdenklichen Vorwürfe gemacht werden. Die Ent- 
gegnung eines Mittelschullehrers hat fast keine Beachtung gefunden. Und 
doch ist das, was der betreffende Fachmann sagt, zweifellos richtig und 
soll an dieser Stelle wörtlich wiedergegeben werden: 

»Wir glauben die Marchetsche Beform so zu verstehen, daß sie für 
die Fähigkeit und ja nicht für die Unfähigkeit vorsorgt, ünd man sehe 
sich nur die Verhältnisse an unseren Gymnasien an, wo es eine Un- 
masse von Schülern gibt, deren Verständnis nicht an die Intelligenz eines 
besseren Handwerkers heranreicht. Es wäre daher Pflicht der Eltern, die 
Augen zu öffneu und richtig sehen zu wollen. Es wäre ihre heiligste 
Pflicht, das Kind zu prüfen und es jener Ausbildung zuzuwenden, welcher 
sich seine Geistesverfassung am ehesten anpaßt. Die Sache verhält sich 
durchaus nicht so, daß das Gymnasium die Schüler quält, vielmehr sind 
die Eltern die Quälgeister ihrer eigenen Kinder, denn sie zwingen sie zu 
Studien, gegen die sich die Veranlagung, das ganze Wesen der Kinder 
wehrt. Aber der Eltern Schuld ist noch viel größer, als man denken 
sollte. Der ungünstige Studienerfolg, welchen der Schüler in der Regel 
doch nur auf Grund gerechtester Erwägungen davonträgt, bringt ihn aus 
Furcht vor der zu Hause seiner gewärtigen Strafe, aus Überdruß vor end- 
losen Vorwürfen, zur Verzweiflung. Schreiber dieser Zeilen erlebte selbst 
folgenden Vorfall: Einem erwachsenen Jungen sagt die Mutter am Tage 
der Zeugnisverteilung, er möge sich im Falle eines ungünstigen Resultates 
den Strick kaufen. Zwei Stunden später entleibt sich der Unglückliche 
am Grabe seiner Schwester! Die Eltern sind es gewohnt, ihre heftigsten 
Vorwürfe gegen die Schule zu schleudern. Die Anklagen aber, die wir 
ihnen entgegenhalten, sind zumindest ebenso berechtigt.« 

Der eine der Selbstmörder, der siebzehnjährige Gymnasiast S., ist der 
Typus des Psychasthenikers. *) Im Oktober 1909 habe ich in der öster- 



*) Vergl. Trüper, Zur Frage d. Schülerselbstmorde. Ztschr. f. Kdf . XIV. Jahrg. 
S. 75 ff. — Neter, Der Selbstmord im kindlichen und jugendlicheu Alter. Beitr. 
z. Kdf. u. Heilerz. Heft 70. 

5 S. meinen Vortrag »Psychastheoische Kinder, Beiträge z. Kinderforschung 
u. Heilerziehung, Heft 29. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 

14» 



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212 B« Mitteilungen. 



reichischen Gesellschaft für Einderforschung ein ausführliches Referat Ober 
Psychasthenie erstattet und hierbei ausdrücklich auf die Selbstmordgefahr 
bei Psychasthenikern hingewiesen. Dem Referat folgte eine Diskussion, 
an der sich zunächst der Realschulprofessor Dr. Ludwig Singer be- 
teiligte. Er wies darauf hin, daß sich unter seinen Schülern eine große 
Zahl zweifellos psyehopatbischer junger Leute befunden habe. Dieses 
Schülermaterial bedeutet nicht bloß eine außerordentliche Erschwerung 
des Schulbetriebes, sondern auch eine Gefahr insofern, als das Studium 
auf den Geisteszustand der Psychopathen nicht günstig einwirke und 
Komplikationen entstehen können, die dann ausschließlich der Schule 
und den Lehrern zur Last gelegt werden. Prof. Singer führte weiterhin 
aus, daß viele Eltern sich den wohlmeinenden Mahnungen des Lehrers 
gegenüber ablehnend verhalten und oft gar nicht zu der Erkenntnis zu 
bringen sind, daß ihr Sohn geistig nicht normal sei. Er schloß mit der 
Forderung, daß an Mittelschulen psychiatrisoh vorgebildete Schulärzte den 
Lehrern zur Seite stehen und kraft ihrer Autorität den Eltern Weisungen 
hinsichtlich der häuslichen Behandlung und Erziehung jugendlicher Psycho- 
pathen geben sollten. Dr. Friedjung machte darauf aufmerksam, daß 
in vielen Fällen die Psychasthenie durch die ganz und gar unzweckmäßige 
Behandlung der Kinder im Elternhause geradezu gezüchtet werde. Ihm 
stimmte der Vorsitzende, Hofrat Professor Escberich, bei, der auf die 
Mängel der häuslichen Erziehung, auf die immer mehr sich geltend 
machende Frühreife der Kinder hinwies und die vorzeitige Beteiligung 
der Jugendlichen an dem Genußleben der Großstadt als besondere Gefahr 
kennzeichnete. — 

Der Mittelschulreform, die eine gewisse Grenze nicht überschreiten 
darf, wenn nicht ein geistiges Proletariat großgezogen werden soll, muß 
eine Reform der häuslichen Erziehung parallel gehen. Es kann kein 
Zweifel darüber bestehen, daß die heutigen Prinzipien, welche Kindern 
und Jugendlichen fast nur Rechte, nicht aber Pfliohten vindizieren, 
früher oder später zu allgemeiner Degeneration führen müssen; ein Land, 
dem alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden, das niemals Mühe, 
Arbeit, strenge Pflichterfüllung kennen gelernt hat, muß versagen, wenn 
es zum erstenmal vor größere Anforderungen gestellt wird. Ihm er- 
scheinen unangenehme Erlebnisse, Schwierigkeiten irgend welcher Art 
unüberwindbar. Unter diesen Umständen ist es nicht unbegreiflich, daß 
ein solcher Jugendlicher in Erkenntnis seines Unvermögens, die ihm durch 
das herrschende Erziehungssystom aufgezwungen wird, zum Revolver greift. 

Vielleicht bewegt sich auch die Mittelschulreform nicht ganz auf der 
richtigen Bahn. Nicht sowohl eine Herabsetzung der Anforderungen, als 
eine Änderung des Schulbetriebes erscheint hier notwendig. An die Stelle 
der Lernschule müßte die Erziehungs- und Arbeitsschule treten. Es würde 
zu weit führen, hier auf Einzelheiten einzugehen. Die besten Kräfte der 
Jugendlichen liegen bei dem heutigen Schulbetrieb brach. Das Schöpfe- 
rische, Produktive, die herrlichsten Seiten der Begabung, rinden fast keine 
Förderung, und mancher impulsive Geist stößt sich allerorts an den 
Schranken, welche die heutige Lern- und Prüfungsschule umgibt. Aber 



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3. Schaffendes tarnen in der Hilfsschule. 213 



die Schuld an den letzten, traurigen Vorfallen nur der Schule beizu- 
messen ist ein verkehrtes und nicht ungefährliches Beginnen. Selbst 
wenn der gegenwärtige Schulbetrieb nicht allen Individualitäten entspricht, 
so ist doch die absolute Unfähigkeit, sich bestehenden Verhältnissen anzu- 
passen, als ein Symptom psychopathischer Veranlagung oder als Produkt 
falscher elterlicher Erziehung anzusehen. 



3. Schaffendes Lernen in der Hilfsschule. 

Von Rioh. Hennings, Hambarg. 

»Unser ganzes Schulwesen«, sagt Naumann, »muß viel mehr auf 
praktische Tätigkeit herausgebildet werden, das Volk braucht Kunst, d. h. 
Menschen, die etwas können.« Zum Können sollen wir auch unsere 
8chwachbgabten Kinder bringen. Unterschätzen wollen wir das geistige 
Können nicht, auch das soll natürlich gepflegt werden. Ebenso wichtig, 
vielleicht noch wichtiger ist aber die Aufgabe, den Hilfsschulzögling auch 
praktisch soweit zu fördern, daß er imstande ist, später möglichst selbst 
seinen Unterhalt zu verdienen. Diese Erkenntnis führte auch dazu, daß 
die Hilfsschule mit als erste den Handfertigkeitsunterricht einführte. »Hand- 
fertigkeit« sagte man anfänglich und auch jetzt noch findet man die Be- 
zeichnung immer wieder. Ich kann mir nun wirklich keine unglücklichere 
Benennung denken. Die Hand soll fertig gemacht werden. Wozu denn 
fertig? Was heißt überhaupt Fertigkeit? Ist's in dem Sinne gemeint wie 
etwa Fingerfertigkeit, Mundfertigkeit usw.? Ist das die Hauptaufgabe des 
von uns geforderten Arbeitsunterrichtes, die Hände geschickt zu machen? 
Ich denke, Kräfte wollen wir lösen, physische und intellektuelle Anlagen 
und Fähigkeiten wollen wir pflegen und entwickeln. Da ist es doch nichts- 
sagend, einen Unterricht, der die Vielseitigkeit der Schülerindividualität in 
all ihren Regungen, Äußerungen, Bedürfnissen und Entwicklungsmöglich- 
keiten in sich schließt, einfach mit der Bezeichnung »HaDdfertigkeit« 
abzuspeisen. Wir sagen zwar auch Arbeitsunterricht, Werkunterricht usw.! 
Doch Arbeitsunter rieht finden wir auch in einer ritterschaftlichen Schule, 
wenn der Patron kommandiert: »Marsch, angetreten zum KartofTelsarameln 
oder Rübenziehen I« Auch der Wormser Werkunterricht bringt uns nicht 
das, was wir wollen. Er ist auch durchaus keine Neuerscheinung. Er 
zeigt eine Verbindung einiger Leipziger Lehrgänge mit dem Hertelschen 
Formen. Besonders das Formen genießt in Worms eine Bevorzugung, oft 
zum Schaden der andern Arbeitsarten. Neu ist nur das vom Schulrat 
Scher er geprägte Wort »Werkunterricht«. Wollen wir überhaupt be- 
sonderen Unterricht? Nicht außerhalb des übrigen Unterrichtes ist das 
Schaffen zu betreiben, sondern in enger, lebendiger, wechelseitiger Ver- 
knüpfung mit dem übrigen Unterricht. Nicht so ist das schaffende Lernen 
zu verstehen, als eine nützliche Beschäftigung zur Herstellung von Ton- 
vasen, Aschbechern, Hampelmännern, Lampenschirmen, Hackebretteru und 
Stiefelknechten; nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck 6oll es sein. 
Nicht den Fachunterricht müssen wir zu sehr in den Vordergrund drängen, 



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214 



B. Mitteilungen. 



sondern das Arbeitsprinzip müssen wir erst einmal haben. In jeder Unter- 
richtsstunde muß ich die Freiheit haben, die Kinder schaffen zu lassen, 
sei es nun Religion, Erdkunde oder Naturgeschichte. Doch nein, nicht 
ich muß das Recht haben, sondern das Kind hat ein heiliges Recht darauf, 
schaffend zu lernen, wo immer die Umstände dazu zwingen. Immer wieder 
wird mir die Frage nach einem Lehrgange entgegengebracht Das eben 
ist der Fluch der besonderen Stunde, daß sie fortzeugend den Lehrgang 
muß gebären. Dann steht nachher fein säuberlich zu lesen: > Kugel, Hantel, 
Apfelsine usw.« »Lehrgang ist Unfugc, schrieb ich einem Kollegen, der 
sich bei mir nach einem solchen erkundigte. Natürlich ist diese Äußerung 
anfechtbar und ich will sie auch durchaus nicht in ihrer Allgemeinheit 
aufrecht erhalten. Wenn ich aber sehe, wie in so manchen Schulen 
immer wieder die gleichen Arbeiten angefertigt werden, wie alles so schön 
nach einer Schablone geht, da ist's entschieden Unfug. Auch ich komme 
dazu, von einer ganzen Klasse hin und wieder denselben Gegenstand 
arbeiten zu lassen, aber auf einem andern Wege. Es geht mir hier gerade 
so wie beim Zeichenunterricht. Wenn meine Jungen mit den Buntstiften 
arbeiten, so kommen sie nie auf den Oedanken, zuerst z. B. eine Kaffee- 
kanne zu malen, dann etwa die Kanne an der Wand hängend und dann 
schließlich die Kaffeekanne auf dem Geburtstagstisch. Umgekehrt geht der 
Weg! Der Gegenstand hat für sie erst Interesse in seiner Umgebung. 
Nun kann der Fall eintreten, wenn bei dieser Darstellung auf Schwierig- 
keiten gestoßen wird, daß dann die Kanne — um bei dem Beispiel zu 
bleiben — von der ganzen Klasse gezeichnet wird. Dann ist aber auch 
das Interesse für den Gegenstand da. So ist's auch bei dem schaffenden 
Lernen. Aus einer großen Gemeinschaftsarbeit kann wohl eine besondere 
Einzelarbeit herauswachsen, die dann von jedem Schüler angefertigt wird. 
Nie aber sollten wir vom Kinde verlangen, daß es etwas anderes aus- 
drücken soll, als seine lebendigen Vorstellungen. Wir können vollkommen 
beruhigt sein, auch auf diesem Wege gelangen unsere Jungen zu der 
praktischen Tüchtigkeit, die sie fürs Leben gebrauchen. 



4. Aus dem Sexualleben Jugendlicher. 

Eine Illustration zu meinen Ausführungen im Novemberheft dieser 
Zeitschrift, die namentlich auf das Wann? in der sexuellen Jugendbelehrung 
(um dieses Mal den von Trüper wohl mit Recht gerügten, vielleicht 
wegen seiner Kürze aber modern gewordenen Ausdruck »Aufklärungc zu 
vermeiden) hinwiesen, mag folgende Mitteilung bieten; dieser Fall wurde 
anläßlich der Diskussion eines Vortrages von Professor Flesch in der 
Ortsgruppe Berlin des Deutschen Bundes für Mutterschutz am 16. Nov. 
1909 vorgelegt von einem Berliner Spezialarzt für Haut- und Geschlechts- 
krankheiten. Es wurden ihm von dem Schularzt vier Zöglinge einer 
Gemeindeschule Berlins im Alter von 10 bis 12 Jahren übergeben, die 
sämtlich an Gonorrhoe erkrankt waren. Die Jungen, die in Begleitung 
ihrer Mütter erschienen und durchweg anständigen Familien entstammten, 
waren, wie sie selbst zugaben, von ein und demselben Mädchen, einer 



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4. Aus dem Sexualleben Jugendlicher. 



215 



elfjährigen Schülerin verführt. Während des Spielens hatte diese die 
Jungen nacheinander mit in ihre Wohnung genommen; ihnen vorgeredet, 
die Mutter sei gerade ausgegangen und komme so bald nicht wieder, da 
könnten sie tun, was sie wollten. Sie hatte dann den Coitus mit den 
Jungen vollzogen und sie dabei infiziert. Und das Mädchen? Äußerst 
schwierige Feststellungen ergaben schließlich, daß sie von ihrem sechzehn- 
jährigen Bruder gleichfalls bei Vollzug des Coitus angesteckt worden 
war. 1 ) Diese beiden Kinder entstammen einer Familie, die dem Alkohol 
sehr zugetan ist 

Es handelt sich dabei nicht um vereinzelte Fälle jugendlicher Ver- 
irrungen, es sind aus Berliner Gemeindeschulen mehrere bekannt geworden, 
so die Infektion eines elfjährigen Knaben durch ein sechzehnjähriges 
Ladenmädchen, und andere. In diesem speziellen Falle scheint mir, da 
es sich um Zöglinge einer Schule handelt, suggestiver Einfluß nicht aus- 
geschlossen zu sein. Dem Mädchen und ihrem Biuder sind sicher die 
Eltern vorbildlich gewesen, was jedem, der das Elend der Berliner Woh- 
nungen kennt, ja nicht weiter erstaunlich scheinen wird. 

In diesem Falle wäre eine Belehrung durch die Lehrer — am besten 
wohl an jeden Jungen einzeln gerichtet — sehr notwendig gewesen, da 
den in Frage kommenden Eltern das notwendige Wissen und der erziehe- 
rische Takt fehlen dürfte. Der Mangel an Sittlichkeit in diesen Volks« 
schichten, in denen oft 7 bis 10 Menschen in einem Zimmer leben — 
Tag und Nacht, ist wohl verständlich aus dem fürchterlichen sozialen 
Elend. 

Dieser Fall interessiert aber noch von einer ganz anderen Seite auch 
die Kinderforschung, nämlich von der juristischen. Man wird das Mäd- 
chen nicht in der Anstalt belassen wollen, aber .... Die Schweigepflicht 
macht dem behandelnden Arzte eine dahingehende Eingabe ganz unmög- 
lich, wenn er nicht einer möglichen Bestrafung ausgesetzt sein will. Das 
Mädchen kann immer neue Infektionen bewirken. So wurde z. B. ein 
Arzt wegen Übertretung der Schweigepflicht verurteilt, weil er eine junge 
Mutter gewarnt hatte, als er gerade dazu kam, wie die in seiner Be- 
handlung befindliche geschlechtskranke Schwester derselben in derselben 
Badewanne badete, in der die Mutter ihre beiden kleinen Kinder zu baden 
pflegte. Das Urteil ist freilich in der letzten Instanz vom Reichsgericht 
aufgehoben, weil es in diesem Falle die Schweigepflicht niedriger ein- 
schätzte als die Menschenpflicht. Solange darüber aber keine definitiven 
Entscheidungen vorliegen, können wir keinem Arzte das Übertreten der 
Schweigepflicht zumuten, so sehr das im Interesse der ganzen Menschheit 
zu wünschen wäre. Eine Bewegung, wie die von Professor Flesch- 
Frankfurt ins Leben gerufene, eine Reform in dem Gebot der Schweige- 
pflicht herbeizuführen, verdient deshalb unsere lebhafteste Unterstützung, 



') Ein ähnlicher Fall wird dem Berl. Lok.-Anz. aus Kassel gemeldet (Nr. 794 
vom 0. Dez. 1909): In einem Hause der Luisenstraße gebar ein fünfzehn- 
jähriges Mädchen heimlich und tötete das Kind. Der 20jährige Bruder des 
Mädchens wird der Vaterschaft beschuldigt 



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B. Mitteilungen. 



ja sie ist geradezu notwendig, wenn wir das Einderstudium hinsichtlich 
hereditärer und erworbener Belastungen zu einem ergiebigen gestalten 
wollen. 1 ) Dr. Karl Wilker. 

5. Zur Krüppelfürsorge in Halle. 

In der Kette der Jugendfürsorge- Bestrebungen hat sich am 30. Nor. 
vergangenen Jahres zu Halle a. S. noch ein sehr notwendiges Glied end- 
lich gebildet: Ein Krüppel-, Heil- und Bildungsverein. Wenn man 
bedenkt, daß in der Provinz Sachsen gezahlt wurden 3957 Krüppel unter 
15 Jahren, von denen 2761 nach ärztlichem Urteile heimbedürftig waren, 
und daß die im Gebiete der Provinz schon bestehende Anstalt zu Cracau 
ihre Betten für heimbedürftige Krüppel fast ganz besetzt hat, so wird 
man diese in erster Linie einer Anstalt, welche der Stadt Halle und dem 
Regierungsbezirke Merseburg dienen soll, als sehr zeitgemäß begrüßen müssen. 
Mit Hilfe eines bereits am Gründungstage gesammelten stattlichen Anfangs- 
kapitales ist zu Halle (Sophienstraße 38) ein reoht geeignetes Grundstock 
erworben worden, so daß nun im laufenden Jahre begonnen werden kann 
mit der Lösung folgender Aufgaben: 1. Ausgiebige orthopädisch -chirurgische 
Behandlung mit möglichster Verhütung des Krüppeltums 2. Erziehung 
zu den Zielen der Volksschule. 3. Ausbildung in gewerblicher Tätigkeit, 
welche dem Krüppelleiden angepaßt ist und zu wirtschaftlicher Selbständig- 
keit führt. 4. Versorgung und Beschäftigung der nicht voll Erwerbs- 
fähigen. — Es besteht die bestimmte Hoffnung, daß nunmehr aus den 
armen Krüppeln, den Unglücklichen und Verbitterten, die ohne Beruf ihrer 
Familie und der Gemeinde für ihr ganzes Leben schwere Kosten ver- 
ursachen, arbeitsfrohe glückliche Menschen gemacht werden — ein An- 
sporn für Behörden. Gemeinden und alle Freunde werktätiger Hilfe, dein 
großen und guten Werke zu einem vollen Gelingen zu verhelfen. 
Halle a. S. Dr. B. Maennel. 



6. PortbildungskursuB für Jugendfürsorge. 

Die Frage des Jugendgerichts, der Jugendgerichtshilfe und 
der Beruf 8vormund schaft, das heißt also Grundfragen der Hilfstätig- 
keit für die gefährdete und verwahrloste Jugend, werden in ausführlicher 
Weise bei dem Fortbildungskursus besprochen, den die Zentrale für private 
Fürsorge in Frankfurt a. M. für die Praktiker auf dem Gebiete der Kinder- 
und Jugendfürsorge in diesem Jahre vom 2. bis 12. Mai veranstaltet. Die 
Fortbildungekurse, die jeweils verschiedene Fürsorgegebiete betrefTen, finden 
nun schon seit Jahren mit stetig wachsendem Erfolge statt und werden 
von freiwilligen und beruflich tätigen Kräften der öffentlichen und privaten 
Fürsorge besucht. Der diesjährige Kursus umfaßt eine große Reihe von 
Besichtigungen, Vorträgen und Besprechungen. Ausführliche Programme 
sind bei der Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M., Stift- 
straße 30, erhältlich. Anmeldungstermin bis 10. April. 

') Veig). auch: Welander, Über den Einfluß der venerischen Krankheiten auf 
die Ehe sowie über ihre Übertragung auf kleine Kinder. Beitr. z. Kdf. u. Heilerz. H. 55. 



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7. Der III. Internat Kongreß für Schul-Hygiene. 



9. Ein Kursus usw. 217 



7. Der III. Internat. Kongress für Schul- Hygiene 

wird dieses Jahr in der Zeit vom 2.-7. August zu Paris unter dem 
Ehrenvorsitze des gegenwärtigen Unterrichtsministers abgehalten. Mit dem 
Kongresse ist eine Ausstellung verbunden. Anfragen sind zu richten an 
das Generalsekretariat, Paris, Boulevard Magenta, 10. Zur Besprechung 
in den Oesamtsitzungen gelangen: Vereinheitlichung der Methoden bei der 
körperlichen Untersuchung in den Schulen, Sexuelle Erziehung, Vor- 
bereitung und Wahl des Schularztes. In elf Abteilungs-Sitzungen werden 
zur Sprache kommen folgende Tagesfragen: Ober die öffentlichen Schul- 
gebäude und ihre Ausstattung; über Internatshygiene, ärztliche Schul- 
aufsicht und Förderung der persönlichen Gesundheitspflege; Aber Vor- 
beugungsmaßregeln gegen ansteckende Krankheiten in der Schule und 
der aus dem Schulbetriebe herrührenden Krankheiten ; über Freiluftschulen 
und Ferienkolonien, Hygiene des Lehrkörpers und dessen Beziehungen zu 
Familie und Schularzt, sowie über hygienische Unterweisungen für Lehrer, 
Schüler und Familie, Beziehungen der Lehrmethoden und — Anordnungen 
zur Schulhygiene, Sonderschulen für anormale Kinder, und endlich über 
Hygiene des Gesichts, des Gehörs, des Mundes und der Zähne. — Die im 
Programme angegebenen einzelnen Vortragsgegeo stände sind durchweg 
von solch' hohem Interesse, daß es die Besucher bedauern werden, bei 
der Fülle des Gebotenen, einer oder der anderen Sonder- Versammlung 
fernbleiben zu müssen. 

Halle a. S. Dr. B. MaenneL 



8. Eine Studienreise nach den Vereinigten Staaten 

von Nordamerika 

unternimmt diesen Sommer Herr Rektor Alwin Schenk. Von dem 
Königl. Preuß. Unterrichtsministerium ist ihm ein Staatszuschuß bewilligt 
worden. Aus dem gleichen Anlaß hat auch der Magistrat von Breslau 
einen Reisezuschuß gewährt Am 17. Mai soll die Ankunft in New York 
erfolgen. Anfang Juli soll Rektor Schenk auf Einladung des Nationalen 
üeutÄchamerikani8chen Lehrerbundes auf dem 38. Lehrertage in Cleveland 
einen Vortrag halten. Zum Thema hat er sich gewählt: Die soziale Be- 
deutung der Fürsorge für die geistesschwachen Kinder. Ober seine Be- 
obachtungen werden wir später berichten. 



9. Ein Knrsns znr Ausbildung von schlesischen 

Hilfsschullehrern 

wird im Oktober d. J. von der städtischen Schulverwaltung in Breslau 
eingerichet werden. Die wissenschaftlichen Vorträge aus der Psychologie 
und aus der Psycho- Pathologie hat Universitätsprofessor Dr. William 
Stern übernommen. Hilfsschularzt und Oberarzt an der städtischen Nerven- 
heilanstalt Dr. Chotzen wird eine Reihe von Vorträgen aus dem Gebiete 
der Psychiatrie halten. Prof. Dr. med. Brieger wird über die Sprach- 
heilkunde sprechen. Ferner soll eine Einführung in die methodische Be- 



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218 



C. Literatur. 



handlung der Sprachgebreohen und in die Arbeit der Hilfsschule geboten 
werden; dieselbe soll erfolgen durch den Leiter der Stadt. Stammler- und 
Slottererkurse Volksschulrektor W. Hübner, bezw. von Hilfssohulrektor 
Alwin Schenk. Hieran werden sich praktische Arbeiten in den Hilfs- 
schulen und in Stammler- und Stottererkursen, ein Modellierkursus und 
eine Reihe von Besichtigungen anschließen. Ein genauer Arbeitsplan wird 
spater herausgegeben werden. 



10. Vereinigung für Kinderforschung in Mannheim. 

Die Arbeiten der letzten drei Jahre umfaßten folgende Gegenstände: 

1907. Dr. Blum, Direktor der Reformschule: Über die Reform der 
höheren Knabenschulen. — Dr. med. Fritz Kaufmann: Hysterie im 
Kindesalter. — Teilnahme an dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Mannheim über das Thema: 
Sexualpädagogik. — Fr). Hanna Mecke- Kassel: Fröbels Einfluß in der 
Pädagogik. — Frl. Marie Zentmayer, Hauptlehrerin: Fürsorgeerziehung 
in England. 

1908. Dr. med. Julius Moses: Die psychologischen und patho- 
logischen Grundlagen des Sohulschwanzertums und der jugendlichen Vaga- 
bondage. — Hauptlehrer M. Enderlin: Die neue Zeit und die Schule. 

— Dr. med. Eugen Neter: Die Behandlung der straffälligen Jugend. — 
Besichtigung der Erziehungsanstalt > Jugendheim« des Herrn Dr. Cron in 
Heidelberg mit orientierendem Vortrag des Leiters. — Dr. Cron -Heidel- 
berg: Heilerziehung und formale Bildung. — Dr. med. Max Friedmann: 
Über heilbare Geistesstörungen im Kindesalter. 

1909. Hauptlehrer Laoroix: Kunstempfanglichkeit im Kindesalter. 

— Stadt Schularzt Dr. Stephani: Über Vererbung. — Besichtigung der 
Strafabteilung für Jugendliche im Großherzogl. Landesgefängnisse in Bruchsal 
mit orientierendem Vortrage des Direktors Geh. Regierungsrat Lenhard. 

— Oberlehrer K. Lauer: Die Gefahren der Schundliteratur und ihre Be- 
kämpfung. — Dr. med. Eugen Neter: Schülerselbstmorde. 

Den Vorstand des Vereins bilden: Herr Dr. med. Julius Moses, 
Herr Hauptlehrer Max Enderlin, Frl. Hauptlehrerin Marie Zentmayer. 

Dr. Moses. 

C. Literatur. 



Thomson, Emil, Elisabeth Kulmann. Sonderabdruck aus dem Jahresberichte 
der Schule der Reformierten Gemeinden in St. Petersburg für das Schuljahr 1906/9. 
St Petersburg, Druck der Gesellschaft R. Golicke & A. Willborg, 8wenigorodskaja 
11, 1909. 

Die interessante Arbeit Berkhans über das frühlesende Braunschweiger Kind 
in Heft 6 gibt uns Anlaß, auf diese Mitteilungen über ein früh dichtendes Mädchen 
hinzuweisen. 

Elisabeth Kulmann war ein eigenartiges Kind, ein sogenanntes Wunderkind. 
Sie starb 17 Jahre alt Ihren Grabstein schmücken Inschriften in 11 Sprachen, die 



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C. Literatur. 



219 



sie beherrscht haben soll and in denen sie dichtete. Sie wurde seinerzeit in ganz 
Europa gefeiert »Schon 1832 lag der Akademie der Wissenschaften, die damals 
anter des Admirals Schischkow Leitung stand, ein Antrag vor, die Kulmann sehen 
Dichtungen in russischer, deutscher und italienischer Sprache herauszugeben, und 
die Kommission, der diese Vorlage zur Prüfung übergeben worden war, gab fol- 
gendes Gutachten ab: Die H. Mitgl., nachdem sie diese Gedichte untersucht haben, 
erteilen ihnen einmütig die ausgezeichnetsten Lobsprüche, und da sie in ihnen eine 
ungewöhnliche Kunst der Erfindung, Fülle der Phantasie, anziehenden Reiz der 
Erzfthlnng, eine fließende Schreibart, eine geschmackvolle und täuschende Nach- 
ahmung der alten griechischen Dichter und Adel der Gefühle anerkennen, äußern 
sie den Wunsch, daß diese Dichtungen, die der russischen Literatur zu keiner ge- 
ringen Zierde dienen können, durch den Druck der Welt bekannt, und der Gefahr, 
ein Opfer der Vergessenheit zu bleiben, entrissen werden möchten. — Schischkow 
erklärte sich mit diesem Urteil völlig einverstanden und der Druck auf Staatskosten, 
doch wohl eine der seltensten Auszeichnungen, wurde bewerkstelligt. « (8. 10.) 

Thomson macht uns verschiedene sehr interessante Enthüllungen über, ich 
möchte sagen, die geistige Mißhandlung eines gut begabten oder sogenannten 
Wunderkindes. Er will dem Werdegang dieses Kindes noch in einer besonderen 
Schrift nachgehen, eine Schrift, die für die Kinderforschung von hohem Interesse 
sein wird. 

Aus den in obiger Schrift bereits vorliegenden Ausführungen mögen hier aber 
die Worte Platz finden, die er wohl mit Recht über die geistige Mißhandlung dieses 
begabten Kindes, das 100000 Verse diohtete, die in mehreren Auflagen veröffent- 
licht worden sind, ausspricht: 

»Elisabeth NUdtenko sagt, und ihr Lehrer Großheinrich bestätigt es: »Sie hat 
der Schule durchaus nichts zu verdanken!« Ja, das meine ich auch! — Was aber 
hat die Erziehung an diesem herrlichen Gottesgeschöpfe verschuldet? — Sein Ver- 
ständnis für die Dichtung wurde an verstaubte, abgelebte Vorbilder gewöhnt, in 
seinem Geiste wurde der Sinn für organisches Werden ebenso erstickt wie für 
lebendiges Sein, — es war augehalten worden, alles Große und Schöne in einem 
fremden Volke zu suchen, und dabei hatte niemand es dieses Volk kennen gelehrt, 
— es sprach fast ein Dutzend Sprachen, aber kannte keine in ihrem Wachstum 
und in ihrem Charakter, — es übersetzte aus mehreren Sprachen und in mehrere 
Sprachen, aber der Geist der Völker blieb ihm unbekannt, die Formen ihrer Dichtung 
verstand es nicht; — es beherrschte fast jede Wissenschaft, aber nur soweit sie 
beschreibt: die Geographie zeigte ihm keine Welt, sondern zeichnete ihm eine 
Tapete, und Mineralogie und Botanik und alles andere noch häuften malerischen 

Zubehör für seine bunten Poesien Es wäre eine Unfreundlichkeit gegen 

Elisabeth, wenn wir uns bei einer Wanderung durch den Irrgarten ihrer 100000 Vorae 
auf Großheinrich als Wegweiser verlassen wollten. Es ist wobl keiner weniger 
dazu geeignet. der Mann, der kritiklos diesen poetischen Wirrwarr von 817 Ge- 
dichten angehäuft hat, nachdem einmal sein zopfiges Bedenken gegen ihre Reime 
durch den offenbaren Anklang bei den Lesern besiegt worden war. Nun kam er 
auf den unglücklichen Gedanken, durch die Masse Eindruck machen und von dem 
dichterischen Werte überzeugen zu wollen, stäufte die Gedichte wie ein Mühlenwehr 
das Wasser und erreichte damit Verblüffung und Langeweile an 8telle der ehe- 
maligen Begeisterung. Und doch finden sich im ersten und noch im zweiten 
Kililersaale Liederehen, an deren kindlicher Harmlosigkeit man viele Freude haben 
kann! BelinsJdj gründete sein ablehnendes Urteil natürlich nur auf die russischen 



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220 C. Literatur. 

Gedichte, von den deutschen wußte er nichts, und er wollte ja auch nur die 
russische Dichterin beweisen, die Nikitenko als Genie vorgestellt hatte. Die Kenntnis 
der Miniaturen hätte ihn allerdings auch wohl kaum zum Geständnis vermocht, sie 
sei also doch eine Dichterin, wohl aber hätte er vielleicht zugegeben, daß dem Kinde 
dann und wann ein sehr liebes Liedchen gelungen sei, das einem Schumann wert 
vorkommen durfte. Gerade dieser hat mit künstlerischem Empfinden die Blüten 
gepflückt, aus denen sich ein Strauß binden ließ. Viel mehr Gedichte, als die von 
ihm komponierten, weiß ich auch nicht für poetischen Genuß vorzuschlagen. Sie 
aber dürfen gefallen. Als gültiges Beispiel setze ich folgendes her: 

Der Zeisig. 

Wir sind ja, Kind, im Maie, 
Wirf Buch und Heft von dir! 
Komm einmal her ins Freie 
Und sing ein Lied mit mir. 
Komm, singen fröhlich beide 
Wir einen Wettgesang 
Und wer da will, entscheide, 
Wer von uns besser sang. 

Nur hüte man sich vor dem Schluß: so also sind ihre »sämtlichen Dichtungeu*. 
Keineswegs! So sind sie nicht, aber dieses Liedchen mag wohl zeigen, was man in 
dem lieblichen Kinderherzen ertötet hat, um durch ständige unbelehrbare Berufung 
an die reizbare Schwäche der Armen die krankhafte Erscheinung des dichtenden 
Wundermädchens heranzuzüchten, das elf Sprachen und alle Wissenschaften »kannte«. 

Ich meine also, daß Elisabeth Kulmann nicht so sehr vergessen wäre, wie 
sie es ist, wenn ihre Freunde nicht so mit Blindheit geschlagen gewesen wären. 
100000 Verse von ihr der Ewigkeit aufbewahren zu wollen! 

leb glaube nicht auf die andern Lehrer Elisabeths, auf den Staatsrat Meder 
und den Priester Abram Abramow eingehen zu müssen ; beide haben mehr Liebe 
und Edelsinn in ihr Handeln gelegt, als unter Menschen gewöhnlich ist, und beide 
haben ohne es zu wollen, zu ahnen und zu begreifen, ihr mehr aufgebürdet, als 
eine junge Kraft tragen kann. Wenn der Obstbaum zu frühzeitig Knospen zu 
treiben beginnt, schneidet der Gärtner sie sorgfältig ab, damit er nicht vor seiner 
Zeit Früchte trage und sich zum Sterben erschöpfe, und hier, wo einem jungen 
Menschenleben dasselbe droht, stand alles jubelnd über das Wunder dabei und befliß 
sich, nach Kräften das seine zu tun, um sie gewisser in ihren Untergang zu stürzen. 
Und als es dann soweit war, dann sagte man ergeben: »Gott hat sie uns nur ge- 
liehen, nicht geschenkt-, — or wollte an ihr auf Erden die Größe seiner Werke 
weisen. 

Irgendwo habe ich einmal gelesen: Elisabeth Kulmann war ein unerfüllte 
Versprechen der Natur. — Nein! Dafür habe ich sie nie halten können: eine wahr- 
gemachte Drohung der Natur war sie. Wie ein altes trauriges Märchen will es 
mir klingen : Es war einmal ein Mädchen, das war klug und schön vom Tage seiner 
Geburt an. Da trat eine böse Fee an seine Wiege und sagte: in der Blüte deiner 
Jahre wirst du sterben! — Die Menschen erschraken allesamt, denn sie wußten, 
was die Fee sprach, war wahr! — und sie mühten sich darum, was ihre kleine 
Menschenkraft erlaubte, dem Kinde in Liebe darzubringen und es groß und stark 
und glücklich und unsterblich zu machen. Und sie begriffen es nicht, daß alle*, 
was sie begannen und mit ihrem kleinen, kleinen Menschensinne taten, nur geschah, 



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C. Literatur. 



221 



am der Fee Drohung zu erfüllen. Und als dann die Zeit gekommen und das Kind 
eine Jungfrau war, da neigte es das Haupt und starb. 

Mich aber verlangt es, von Elisabeth Kulmann keine Mär zu erzählen, sondern 
die Geschichte ihres Lebens, wie ich sie verstehe, eine Geschichte, durch die es 
trotz Untergehens und Trauer, voll Lust und Zuversicht klingt: das Kind ist nicht 
gestorben, es schläft.« Trüper. 

Qoebcl, Met*, u. Ferdinand, Im Märchenlande der Kinder. Ein Buch für 
Kinder und Kinderfreunde. I. und II. Auflage. Berlin, Schwertverlag, 1909. 
Preis 2 H. 

Zu der zweiten Folge der »Märchen ohne Worte«, die im Verein mit 
der »Freien Lehrer- Vereinigung für Kunstpflege in Berlin« von der Münchener 
»Jagend« herausgegeben wurden, bringt dieser Band 21 Märchen, von Kindern im 
Älter von 8—15 Jahren erdichtet Die Sammlung könnte auf hohen Wert Anspruch 
haben, wenn sie aus anderen Gesichtspunkten heraus entstanden wäre. So aber 
haben wir unsere schwerwiegenden Bedenken dagegen: nach dem Vorwort zur 
IL Auflage handelt es sich um einen Wettbewerb unter den Kindern, den wir 
durchaus nicht befürworten können. Weiter befürchten wir, daß aus der Publikation 
mit vollem Namen für mehr als ein Kind eine Quelle der Selbstüberhebung und 
Eingebildetheit, vielleicht sogar der Anlaß zum »Schriftsteller werden wollen« wird. 
Für Zwecke der Kinderseelenkunde hätte es genügt, Alter und Wohnort und außer- 
dem (was wir sehr vermissen) Schule, Beruf der Eltern usw. anzugeben. Ferner 
wäre es sehr wichtig zu erfahren, ob das Kind sich von den in der erwähnten 
Sammlung vereinigten Bildern das ihm zusagendste auswählen durfte, oder ob es 
— wie es den Anschein hat — sein Bild zugesandt bekam, um nun hierzu sein 
Märchen schreiben zu sollen. Wir können deshalb keinerlei Rückschlüsse auf die 
Vorliebe für irgend ein Motiv ziehen. — Die Auswahl aus den vielen hunderten 
Ton Märchen (1300 Bilder wurden verteilt) ist wohl nur nach ästhetischen Gesichts- 
punkten getroffen. Die der jüngsten Kinder sind am interessantesten. In denen 
der Älteren vermuten wir wiederholt Anregungen von Seiten der Eltern oder auch 
aus Büchern. Viele haben einen stark literarischen Beigeschmack (so vor allem das 
zweite einer dreizehnjährigen Berlinerin). Fast in keinem findet sich eine liebe- 
volle Vertiefung in den Bildinhalt Meistens ist nur die erste Anregung davon aus- 
gegangen, während über alle Bilddetails hinweggegangen wird. Wie weit die Vor- 
stellungs- und Gedankenwelt der Großstadtkinder von denen unserer Dörfer und 
Kleinstädte abweicht, läßt sich nicht sagen: 14 Märchen sind von Hamburger 
Kindern, 3 von Berlinern; je eins stammt aus Jena, Wilhelmshaven, Mellingstedt 
and Parchim. — 

Über den Wert der rhantasiebetätigung zu reden, dürfte hier überflüssig sein. 
Aber gegen eine Ausnutzung derselben zum ästhetischen Ergötzen für Eltern, 
Kinderfreunde und andere Kinder möchten wir uns auf das energischste verwahren. 

Dr. Karl Wilker. 

Roemer, Dr. med. Sanitätsrat in Stuttgart, Die Kunst des Krankenbesuchs. 
Dritte, neubearbeitote Auflage. Berlin, Reuther 4 Reichard, 1910. 68 S. IM. 
In seinem bekannten Buche »Psychiatrie und Seelsorge« (1899) lehrte Verfasser 
die auf christlicher Lebensanschauung begründete Beeinflussung des Gehirnkranken 
and seiner Umgebung durch den Arzt und den Seelsorger. Die im laufenden Jahre 
zum dritten Malo aufgelegte, oben bezeichnete Veröffentlichung stellt einen will- 



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222 



C. Liteiatur. 



kommenen Wegweiser in der Behandlang aller Kranken dar. Roemer richtet 
dabei seine Lehren nicht allein an die Ärzte and Seelsorger, sondern auch an alle, 
die da krank oder nicht krank zurzeit sind. Mancher gerade der letzteren wird 
das Gebiet der unberuflichen Krankenpflege gemeinhein weder physisch noch 
psychisch hoch werten wollen; der feinsinnige und menschenfreundliche Arzt spricht 
aber hier mit Recht von einer Kunst, die jeder lernen muß, der nicht eines Ver- 
antwortlichkeitsgefühls gegen seinen erkrankten Nächsten bar ist Mit der Be- 
antwortung der vier Fragen: 1. Ist es eine Kunst, Kranke zu besuchen? 2. Worin 
besteht diese Kunst? 3. Wie erlernt man sie? 4. Wie übt man sie am besten aus? 
— soll zugleich erwiesen werden, daß jeder Gebildete sie nicht allein erlernen muß, 
sondern auch erfolgreich erlernen kann. Wessen Beruf im weiten Gebiete der Er- 
ziehung liegt, wird zu diesen Lernenden sich auch gern rechnen wollen. U&i 
braucht noch nicht im Dienste der Heilerziehung direkt zu stehen, und man wird 
immer einmal kranke oder doch kränkelnde Kinder erziehlich zu beeinflussen haben, 
die entweder offen und vielleicht noch dazu in gesteigertem Maße, oder auch ver- 
borgen und verblaßt das psychische Bild zeigen, das Roemer vom erwachsenen 
Kranken dem Leser deutlich vor die Augen stellt (S. 27 -38). Wohl dem Kranken, 
der so verstanden wird von seinem Arzte, und dessen andere Besucher sich so 
harmonisch in die Pflichten ihm gegenüber teilen und diesen unterordnen (8. 41/43 
u. 49/50); wohl aber auch dem kränklichen Schüler, dessen Erzieher seine geistigen, 
moralischen und zuweilen auch religiösen unnormalen Entwicklungsstände so zu 
würdigen vorsteht, wio Verfasser das andeutet! Es wird aber keinem der einem 
Kranken oder Kränkelnden Nahestehenden eine leichte Aufgabo zugewiesen: Der Int 
muß psychiatrisches Interesse und Verständnis mit ans Krankenbett bringen; ihm 
darf es aber auch nicht an der Gabe einer psychologischen Fein-Beobachtung fehlen. 
Der Seelsorger, der mit seinem Dienste am Nächsten zugleich den Dienst vor Gott 
im Auge hat, wird zu vermeiden haben, daß er seine Heiligungsbemühungen in 
einen engeren Zusammenhang mit der Heilung des Erkrankten stellt. Und wiederum 
von jedem andern Gebildeten aus der Umgebung des Kranken erwartet Verfasser, 
daß er versteht, nicht allein auf den Leidenden beruhigend und veredelnd einzu- 
wirken, sondern auch durch seine Besuche selbst persönlich an Edelgütern reicher 
zu werden (S. 65 — 68). Durch diese letztere Anforderung an den Krankenbesucher 
stempelt Verfasser sein Büchlein zu einem überaus wichtigen sozial- erzieherischen 
Leitfaden. Wohl keiner der Leser, sei er Arzt, Seelsorger oder Erzieher, wird ihm 
ohne Gewissensschärfung folgen; möchten ihn — diesen sozial-erzieherischen Leit- 
faden — doch auch lernend lesen die Besucherinnen der sogenannten Frauen- 
schulen, die zukünftigen Pflegerinnen, Erzieherinnen und Mütter der kommenden 
Geschlechter unseres Volkes! 

Halle a. 8. B. Maennel. 

Strohmayer, Dr. Wilhelm, Privatdozent in Jena, Vorlesungen über die 
Psychopathologie des Kindesalters für Mediziner und Pädagogen. 
Tübingen, Lauppsche Buchhandlung, 1910. Preis geb. 7 M. 

Welch großes Interesse der Psychopathologie des Kindesalters heutzutage ent- 
gegengebracht wird, erhellt wohl am besten daraus, daß fast gleichzeitig zwei große 
Monographien erschienen sind. Die erste von Dr. Hermann wurde jüngst schon 
besprochen, die zweite liegt hier vor. In zwölf Vorlesungen wird das gesagte 
Gebiet der Psychiatrie und ihre Anwendung auf die Pädagogik abgehandelt. Der 
Verfasser ist Arzt an der Trüper sehen Anstalt in Jena, und man spürt bei ihm 



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C. Literatur. 



22H 



überall die persönliche Erfahrung auf diesem Gebiete durch. "Wertvoll sind nament- 
lich die zahlreichen eingestreuten Krankengeschichten, die dem Leser besser als 
viele theoretische Auseinandersetzungen die psychiatrische Lehre veranschaulichen; 
namentlich die >Hysterie und Epilepsie im Eindesalter« sind eingehend gewürdigt 
und enthalten manche wichtige und selbständige Aufstellungen. 

Auch über das Verhältnis zwischen Medizin und Pädagogik sind in der Ein- 
leitung beachtenswerte Winke enthalten; doch kann man hier nicht überall so be- 
dingungslos beistimmen. Wer die einschlagige Literatur nicht näher kennt, muß 
aus der Darstellung des Verfassers den Eindruck bekommen, daß der Pädagoge 
L. Strümpell und der Psychiater Koch auf diesem Gebiete viel Unheil gestiftet 
hätten, und doch sind es gerade diese beiden Männer gewesen, die in der Wissen- 
schaft und Praxis den großen Umschwung zugunsten der Heilpädagogik herbeigeführt 
haben. Die Kochscho Lehre von den. psychopathischen Minderwertigkeiten wird 
beschuldigt, daß sie der Ausgangspunkt zu absichtlicher und unabsichtlicher Grenz- 
verwischung sei und verwirrend wirke, und doch hat gerade diese Aufstellung es 
den Pädagogen erst ermöglicht, sich an den psychiatrischen Fragen ernstlich zu 
beteiligen. Die schwereren Psychopathien, d. i. die eigentlichen Geisteskrankheiten, 
sollen grundsätzlich der Psychiatrie allein überlassen bleiben; aber die leichteren 
Psychopathien, d. i. die psychopathischen Minderwertigkeiten, bilden das gemeinsame 
Gebiet der Medizin und Pädagogik. Die Kochsche Begriffsbildung hebt nicht, wie 
der Verfasser sagt: »die saubere Scheidung auf«, sondern führt sie gerade erst ein, 
und durch diesen Versuch einer sorgfältigen Grenzregelung hat Koch offenbar sich 
auch das große (Vertrauen weitester pädagogischer Kreise erworben. Daß in der 
Praxis hierbei allerlei Fehler mitunterlaufen, soll nicht geleugnet werden, aber die 
Fehler dürfen nicht bloß auf pädagogischer Seite gesucht werden. Nur durch 
beiderseitiges wohlwollendes Eingehen auf den andern Standpunkt kann die hoch- 
nötige Verständigung zwischen Medizin und Pädagogik im Interesse der psycho- 
pathischen Kinder erzielt werden. 

Stuttgart. San.-Rat Dr. med. Römer. 

Ament, Dr. W., Zur Geschichte der Deutung der ersten Kinderworte 
(Intellektualismus und Voluntarismus). Bamberg, C. C. Buchners Verlag, 
1909. 0,60 M. 

Im dem vorhegenden Sohriftchen wendet sich Dr. Ament gegen die Auf- 
fassung und Ansicht Pro! Möllmanns über die Entstehung der ersten Wort- 
bedeutungen beim Kinde. Meumann erklärte sich in seiner Kritik auf dem Gebiete 
dem Kindersprache-Forsohung gegen die älteren Fachmänner, so gegen Preyer u. a., 
daneben auch gegen Aments »Entwicklung vom Sprechen und Denken beim Kinde«, 
Leipzig 1899. Der strittige Punkt, um den es sich handelt, ist der, daß Meumann 
die ersten Kinderworte nicht als intellektuelle Bedeutungen, sondern als Affekt- 
und Wunschworte bezeichnet. Weiter behauptet Meumann, daß die emotionelle 
Sprachstufe des Kindes bei den bisherigen Nachforschungen, also auch von Ament 
ganz übersehen worden sei. Letzterer wendet sich gegen diese Unterstelinngen. 
da ja Meumann nach seinem Geständnis keine eigenen Beobachtungen gemacht habe. 
Im übrigen beleuchtet der Verfasser, in welcher "Weise sein Gegner den Streit- 
gegenstand weiter behandelt — 

In seinem Schriftchen kündigt der Verfasser ferner eine demnächst er- 
scheinende Geschichte der Kinderseelenkunde an, die eine Ergänzung zu jeder Ge- 
schichte der Philosophie, Psychologie und Pädagogik bilden wird. Wir sehen ihr 
mit Interesse entgegen. 

Idstein i. Taunus. M. Kirmsse. 



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224 



C. Literatur. 



Dr. med. Lote, Friedrichsroda, Nervöse Zustände. Neue Wege zu ihrer Er- 
kenntnis und Behandlung. Berlin W, Verlag von 0. Seile. Preis 1,50 M. 
Die Literatur über »Nervosität« schwillt bedenklich an, besonders Schriften, 
die für den Nichtf achmann bestimmt sind. Mancher »nervöse« Laie sucht sich aus 
solchen Büchern Belehrung über seinen Zustand zu verschaffen, nicht immer tu 
seinem Nutzen. In der vorliegenden Schrift sucht der Verfasser neue Pfade, die 
von der gewöhnliche« »breiten Straße des Wissens« abweichen. Wenn man nun 
auch mit den gewagten wissenschaftlichen Hypothesen des Autors absolut nicht 
einverstanden sein kann, so enthält das (warm geschriebene Buch doch soviel nütz- 
liche Winke betreffs der Hygiene des Nervensystems, daß es besonders für den 
Erzieher unserer Kinder lesenswert ist Die Bemerkungen über den modern ge- 
wordenen Vegetarianismus, über den Alkohol, das vorletzte Kapitel über die Be- 
ziehungen der Ernährung zu der Nervosität, wo der Autor gegen die früher so be- 
liebten Mastkuren zu Felde zieht und den Nervenschwachen zur Mäßigkeit ermahnt, 
können voll und ganz gebilligt werden. Auch das letzte Kapitel über die Bekämpfung 
der Nervosität enthält für den Pädagogen manches Beachtenswerte. In der heutigen 
Zeit, wo die Nervosität unter unserer Schuljugend so bedenkliche Dimensionen 
annimmt, muß der Lehrer über die »nervösen Zustände« unterrichtet sein, um sich 
rechtzeitig mit dem Arzte verständigen zu können. 

Frankfurt a. M. Dr. Alb. Feuchtwanger. 

Schäfer, Dr. H., Populär - Psychiatrie des Sokrates redivivus. Ge- 
spräche über den kleinen Unverstand. Würzburg, A. Stubers Verlag (Curt 
Kabitzsch), 1908. 

Man kann darüber streiten, ob die Form der sokratischen Dialektik geeignet 
ist, den Nichtmediziner (Pädagogen, Geistlichen, Richter usw. usw.) in psychiatrische 
Dinge einzuführen. Referent möchte die Berechtigung dieser Methode in diesem 
Falle bestreiten. Trotzdem muß es mit großer Freude begrüßt werden, wenn ein 
erfahrener Psychiater die Grenzgebiete zwischen »Gesund« und »Krank«, die ja oft 
fließend ineinander übergehen, das Kapitel »über den kleinen Unverstand« in 
fesselnder Sprache, oft in satirisch witziger Form behandelt. Dem Pädagogen 
demonstriert der Autor schöne Beispiele von kindlichem Schwachsinn, von Kinder- 
mißhandlungen, von unerziehbaren Kindern, und von Tierquälern und Leichen- 
schändern. Er erwähnt die Hilfsschulen für geistig minderwertige Kinder, be- 
handelt das wichtige Kapitel der schwachsinnigen Phantasten, die Schülerselbstmorde, 
lauter Kapitel, die den Pädagogen ebenso wie den Pädiater und Psychiater angehen. 
Es sind solche populäre Schriften über Psychiatrie in hohem Grade geeignet, das 
Interesse der maßgebenden nicht medizinischen Kreise, die an der Erziehung unserer 
Jugend beteiligt sind, zu wecken und zu fördern. Auch der Jurist, der sich in die 
Frage der Jugendgerichte vertiefen will, wird in dem kleinen Buche manche An- 
regung finden. 

Frankfurt a. M. Dr. Alb. Feuchtwanger. 



Druck von Hermann Beyer & Söhne (lieyet Sl Mann) in Langensalza. 



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DEPARTMENT OF 
EDUCATION. 
Rtociveo 

AUG 2 9 1910 



LELAND STANFORD 

JUNIOR UN1VERSTTY. 



Xeituchrifl für Kinder forschung. Jahrgang 1910. lieft 8. 




Verla* vna Hermann Bevor & S '.hno (Beyer k Mann) in Landen»*!!». 



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A. Abhandlungen. 



1. Das Wanderkind Christian Heinrich Heineken. 

Von 

Dr. Oswald Berkhan -Braunschweig. 
(Hierzu 1 Tafel.) 

Im Märzheft dieser Zeitschrift ist ein Vortrag von mir veröffent- 
licht worden über das frühlesende Braunschweiger Kind Otto Pöhler, 
welches im Alter von l 3 /* Jahren deutsche und lateinische Druck- 
und Schreibschrift zu lesen vermochte und sich später durch ein er- 
staunliches Gedächtnis auszeichnete. Es veranlaßt mich dieser außer- 
gewöhnliche Fall, ein anderes Wunderkind ähnlicher aber einziger 
Art hier zu besprechen: Christian Heinrich Heiueken. Das über den- 
selben berichtende, höchst selten gewordene Buch führt den Titel: 

> Leben, Taten, Reisen und Tod eines sehr klugen und sehr 
artigen 4jährigen Kindes Christian Heinrich Heineken aus Lübeck. 
Beschrieben von seinem Lehrer Christian von Schöneich.« Zweite 
veränderte Auflage. Göttingen 1779. 

Christian Heinrich Heineken, Sohn eines Malers, ward am 6. Febr. 
1721 zu Lübeck geboren. Die Mutter konnte das Kind selbst nicht 
stillen, sie nahm daher eine Soldatenfrau zur Amme an. In den 
Armen dieser Amme ist das Kind bis ins fünfte Jahr, in welchem 
es starb, verblieben. 

Der kleine Heineken war ein schönes niedliches Kind, heißt es 
in dem Buche, und daß in diesem kleinen schönen Körperchen ein 
noch schönerer Geist wohnte, entdeckte man schon, ehe es noch 
10 Monate alt wurde und dies bei folgender Gelegenheit: 

Zeitschrift für Kindorforachung. XV. Jahrgang. 15 



226 A. Abhandlungen. 



tln der Stube, worin der kleine Heineken sich befand, waren 
die Wände auf Gold en Grotesque bemalt; auch stand ein weißer 
Ofen darin, auf dem gleichfalls allerhand Figuren vorgestellt waren. 

Den 3. Dezember 1721 bemerkte man zuerst, daß das Kind diese 
Figuren hin und her, eine Zeitlang ohne Unterlaß ansah und seine 
Äugelchen auf eine derselben gleichsam anklebte. Man sagte ihm 
daher die Namen dieser Figuren, das sei eine Katze, das ein Turm, 
ein Schafchen, ein Berg. Den andern Tag, den 4. Dezember, fragte 
man es wieder, wo die Katze, der Berg, das Schäfchen wäre und 
siehe da, das Kind deutete mit seinen kleinen Fingerchen hin und 
traf immer das rechte Bild, das man ihm genannt hatte. Noch mehr, 
nun gab es sich Mühe, die ihm vorgesagten Wörter: Katze, Berg, 
Turm selbst nachzusprechen: es sah daher mit unverwandten Blicken 
dem Redenden nach dem Munde, gab auf die Bewegung der Lippen 
und der Zunge desselben beständig acht, lallte das Wort nach und 
wiederholte dies so oft, bis es endlich eine Silbe nach der andern 
herauspreßte.« 

Es ist hier der Beginn des erstaunlich frühen Lesens der Bilder- 
schrift und des Absehens vom Munde des Sprechenden so schön 
wiedergegeben, daß ich diesen Vorgang, wie er in dem kleinen Werke 
über Heineken geschildert wird, wortgetreu wiedergegeben habe. Es 
erinnert diese Schilderung an den Vorgang des frühen Lesens bei 
dem Braun schweiger Kinde Otto Pöhler, wie er von mir im März- 
Hefte mitgeteilt wurde. Heineken lernte gegen Ende seines ersten 
Lebensjahres durch Vorsagen die Bilder in seiner Stube lesen, Pöhler 
Anfang seines zweiten Lebensjahres, durch Vorsprechen die Worte 
und Namen, welche an den Straßenecken und an den Häusern auf 
den Schildern zu sehen waren. 

Und nun zeigte sich wie bei Pöhler, aber früher, das erstaun- 
lichste Gedächtnis bei dem so jungen Heineken. Es erhellt dies aus 
dem weiteren Berichte seiner Lebensgeschichte: 

»Wie man diese frühe Fähigkeit bei dem Kinde bemerkte, gab 
man ihm einen ordentlichen Lehrer, der es weiter unterrichten sollte. 
Dieser fing nun biblische Geschiohte mit ihm an und ehe es noch 
ein Jahr alt war, hatte es fertig alle die vornehmsten Historien in 
den 5 Büchern Mose nach der Ordnung gelernt Und von der 
Schöpfung konnte es ziemlich vernehmlich folgende Verse hersagen: 

Den ersten Tag wards Lieht Darnach stand hoch und ferne 
Der Himmel, dann die Erd', am vierten Tag die Sterne. 
Am fünften kamen Fisch und Vögel aus dem Meer. 
Der sechste gab das Vieh wie auch den Menschen her.« 



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Rehkhan: Das Wunderkind Christian Heinrich Heineken. 



227 



Im 13. Monate seines Lebens lernte das Kind die übrigen bibli- 
schen Geschichten aas dem Alten Testamente. Und im 14. Monate 
hatte es alle Geschichten des Neuen Testamentes gefaßt. 

Diese ganze Zeit über lebte es von der Milch seiner Amme, 
gegen andere Speisen hatte es einen Widerwillen. 

Um dasselbe allmählich auch an andere Speisen zu gewöhnen, setzte 
man es beim Essen mit an den Tisch, aber anstatt zu essen, lernte 
es nur. Wie es die mancherlei Gerichte sah, fragte es bestandig, wie 
die Gerüchte hießen, woher sie kämen, was man sonst noch aus den 
Sachen machte und ruhte nicht eher, als bis es über alles Bescheid 
erhalten hatte. 

Bei dieser Lebensart, da es bloß saugte und lernte, immer fragte 
und behielt, blieb es stets fröhlich und guten Muts. Nur wenn man 
ihm bisweilen nicht mehr antworten wollte, damit ihm das zu viele 
Behalten nicht schaden möchte, betrübte das Kind sich sehr. 

Nun fing sein Lehrer mit ihm die Weltgeschichte an. Von 
seinem 15. Monate an, bis es 2 Jahr 6 Monate alt geworden, wurde 
ihm die Geschiebte der Hebräer, Ägypter, Asyrer, Perser, Griechen 
und Römer beigebracht, so daß es auf alles, was man derart fragte, 
sogleich Bescheid geben konnte. 

Unter stetem Lernen war der Stand seines Wissens im 4. Lebens- 
jahre folgender: 

»Es konnte gedruckte und geschriebene Sachen lateinisch und 
deutsch lesen. 

Schreiben konnte es noch nicht, seine Fingerchen waren zu 
schwach dazu. 

Das Einmaleins konnte es in und außer der Ordnung hersagen. 
Auch numerieren, subtrahieren, addieren und multiplizieren ver- 
mochte e& 

Im Französischen kam es soweit, daß es ganze Historien in dieser 
Sprache erzählen konnte. 

Im Latein lernte es über 1500 gute Sprüche aus lateinischen 
Autoren. 

Plattdeutsch hatte das Kind von seiner Amme, von der es nicht 
lassen wollte, gelernt 

In der Geographie fuhr es fort, das Merkwürdigste eines jeden 
auf der Landkarte stehenden Ortes zu fassen. c 

Es hatte sich nun der Ruf von dem Wunderkinde durch halb 
Europa verbreitet und eine Menge Leute kamen, es zu sehen und 
zu hören. 

Als der kleine Heineken, der öfter kränkelte, durch einen lang- 

16* 

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228 



wierigen Durchfall heruntergekommen war, wurde ihm eine Seereise 
verordnet, die auf seinen Wunsch nach Kopenhagen zum König aus- 
geführt wurde. Die Reise gab ihm oft zu Bemerkungen Anlaß, nicht 
selten auch in lateinischem Ausdruck: 

Als ein gewaltiger Sturm das Schiff mit Wellen bedeckte, den 
Fock zerriß, und einer der Mitreisenden vom Verdeck eiligst in die 
Kajüte gelaufen kam und rief: betet ein Vaterunser, wir sind alle 
verloren, wandte sich das Kind lächelnd zu ihm und sagte: qui nescit 
orare, discat navigare, sang dann andächtig mit den übrigen einige 
, Kirchenlieder und machte später, als das Schiff glücklich vor Anker 
ging, die Bemerkung: amchora navis sistitur; deserit nie suos nun- 
quam, qui cuncta gubernat Als dann eine Reihe mitgefahrener 
Arbeiter, ihren Reisesack auf dem Rücken, das Schiff verließen, sagte 
es: viator portat humeris in bulga, quod capere nequit funda vel mar- 
supium, der Wanderemann trägt auf dem Rücken im Reisesack, was 
die Tasche nicht fassen kann. 

In der Audienz bei König Friedrich IV. hielt der Kleine eine 
längere Ansprache an denselben, an deren Schluß er sagte: »Permettez 
moi Sire, que je baise la main de Votre Majeste et le bord de Votre 
habit Royal, f Dann verlangte er nach seiner Amme und sog. 
Währenddem gab ihm der König seinen Orden in die Hand und 
fragte, was das wäre? Indem er noch an der Brust lag, wandte er 
den Orden etlichemal mit beiden Händchen und sagte: »c'est l'Ordre 
d'Elephant, garni de Diamant Das ist der Elephas, was hat er nicht 
für einen proboscis, Rüssel !« und die Diamanten betrachtend, sagte 
er: Les Bijoux sont precieux, mais la vie du Roi est plus precieuse.c 

Bei der weiteren Unterredung riefen die geschichtlichen und 
geographischen Kenntnisse des erst 3 l / Ä alten Knaben nebst seinen 
daran geknüpften Bemerkungen allgemeine Bewunderung hervor. 

Nach der Rückkehr in seine Heimat begann der ohnehin schwache 
Knabe wieder an zu kränkeln und starb in einem Alter von 4 Jahren 
und 4 Monaten, ein Wunder für alle Zeiten. — 

Die erste Ausgabe des Chr. H. Heineken behandelnden Buches 
vom Jahre 1726 enthält eine hier wiedergegebene Abbildung, welche 
den Kleinen in einem Lehnstuhl sitzend zeigt. Sein Gesicht erscheint 
zart, die Augen klug bückend, die Stirn gewölbt, breit und hoch, die 
Kopfbildung überhaupt kugelförmig, an Wasserkopf leichten Grades 
erinnernd. In der Umgebung des Kleinen sind auf dem Bilde an- 
gebracht: Bücher, ein Segelschiff, ein Himmelsglobus und ein mensch- 
liches Gerippe, letzteres, weil das Kind nicht nur alle Knochen des- 
selben, sondern auch alle dazu gehörigen Muskeln zu nennen wußte. 



■ 

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Dehmkv. Wie ich mit Hilfeachülera Naturgeschichte treibe. 229 



Es sei nur zum Schluß noch ein Vergleich der beiden Wunder- 
kinder erlaubt, des früher in dieser Zeitschrift besprochenen Otto 
Pöhler und des hier jetzt behandelten Chr. H. Heineken. Beide 
zeigen Ähnliches und Gleiohes. 

Beide lernten früh lesen, Pöhler auf der Straße, indem er die 
Benennungen auf den Haus- und Straßenschildern insgesamt auffaßte 
nach Art des Franzosen Jakotot, der nach Worten und ganzen Sätzen 
lesen lehrte, Heineken in seiner Stube sozusagen durch Bilderschrift, 
vergleichbar der hieroglyphischen Schrift der alten Ägypter. 

Bei Beiden zeigte sich früh eine förmliche Sucht zum Lesen 
und Fragen, um ihr Wissen zu bereichern. 

Beiden gemeinsam ist das so früh hervortretende staunenswerte 
Gedächtnis. 

Hervorzuheben ist ferner die Frühreife bei Pöhler wie bei 
Heineken insofern, als Jeder derselben schon in den ersten Lebens- 
jahren unbefangen und freimütig Jedermann mit seinem Wissen ent- 
gegentrat 



2. Wie ich mit Hilfsschülern Naturgeschichte treibe. 

Von 

J. Derlien- Hamburg. 

Wohl nicht mit Unrecht nennt man unser Zeitalter das Jahr- 
hundert der Kinder. Die Besten unseres Volkes stellen ihre Kräfte 
in den Dienst der heranwachsenden Jugend. Was sie selber vielleicht 
nicht erreichen konnten, das hoffen sie einst bei ihren Zöglingen 
vollendet zu sehen. Der Weg zur Vollendung aber, den wir unsern 
Kindern zeigen wollen, führt durch die Natur, durch die schöne 
Natur, die unsern Großstadtkindern leider immer mehr entfremdet 
wird. Das eine, was ihnen so notwendig ist, der ständige Umgang 
mit der Natur fehlt unsern Kindern, speziell unsern Hilfeschulkindern 
in den allermeisten Fällen. Gerade unsere Hilfsschüler, die so wenig 
Interesse für ihre Umgebung zeigen, sollten mit allen nur möglichen 
Mitteln auf die Schönheit und auf das Leben der Natur hingewiesen 
werden. Es ist diesen Kindern so besonders notwendig, daß sie 
durch den steten Umgang mit der letzteren ein wenig Liebe für die- 
selbe gewinnen. Viele unserer Konfirmanden gehen hinaus aufs Land, 
um dort in irgend einer Weise beschäftigt zu werden. Sind sie dann 
in der Schule mit dem Leben in der Tier- und Pflanzenwelt in 
richtiger Weise vertraut gemacht worden und haben sie auf solche 
Weise Interesse für das Landleben gewonnen, so werden sie zunächst 



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230 



A. Abhandlungen. 



»gerne«, und das ist schon ein sehr wichtiger Faktor, der Großstadt 
den Rücken kehren und weiter werden sie den neuen Verhältnissen 
nicht gar so ratlos gegenüberstehen. 

Ja, wenn es uns gelingt, bei den Kindern wahre Liebe zur Natur 
zu erwecken, so wird ihnen dies ein starkes Gegengewicht gegen die 
Versuchungen mancherlei Art, denen unsere Hilfsschüler ja in be- 
sonders großer Zahl zum Opfer fallen, bieten. 

Der stete Umgang mit der frischen, belebenden Natur ist aber 
in erster Linie auch aus gesundheitlichen Gründen für unsere Schüler 
von großer Wichtigkeit Wie wir ja alle wissen, lassen bei den Hilfs- 
schülern nicht nur die geistigen Fähigkeiten zu wünschen übrig, 
sondern häufig gehen körperliche und geistige Schwachheit Hand in 
Hand. Die häuslichen Verhältnisse sind oft so, daß die Eltern sich 
um ihre Kinder wenig kümmern können, da muß eben die Schule 
eingreifen, der nicht nur das geistige, sondern auch das körperliche 
Wohl seiner Zöglinge am Herzen liegen soll. 

Anschauung und immer wieder Anschauung, das ist die Parole, 
die an der Hilfsschule für alle Fächer ausgegeben wird, ganz be- 
sonders wichtig aber ist sie für den NaturgeschichtsunterrichL Es 
genügt nicht, daß ein paar abgerissene Pflanzen und Zweige in die 
Schule gebracht werden. Ein Kind, und am allerwenigsten ein Hilfs- 
schulkind, kann sich an der Hand eines halb vertrockneten Zweiges 
nicht die hohe schlanke Ulme vorstellen, und das bescheidene, stüle 
Veilchen oder das Vergißmeinnicht wird ihnen ebensowenig ver- 
ständlich, wenn es aus seiner Umgebung herausgerissen ist Ein 
Präparat, Modell oder gar ein Bild kann mir das lebende Anschauungs- 
objekt nie ersetzen. 

Wenn daher das Wetter es irgend gestattet, gehe ich mit meinen 
Kindern in den Naturgeschichtsstunden hinaus in die Natur und 
unterrichte dort Nun ist natürlich in der Stadt nicht jede Schule 
so günstig gelegen, daß man in einer Stunde hinausgehen, unterrichten 
und rechtzeitig zur nächsten Stunde wieder zurück sein kann. Auch 
meine Schule liegt nicht so günstig, obgleich sie draußen in der Vor- 
stadt gelegen ist Ich helfe mir da in folgender Weise und werde 
von meinem Leiter und Inspektor in der entgegenkommensten Weise 
unterstützt Geographie und Naturgeschichte vereinige ich im Sommer 
miteinander, und habe auf diese Weise immer 2 Stunden zur Verfügung. 
Im übrigen aber steht es mir auch frei, in besonderen Fällen den 
ganzen Vormittag zu Hilfe zunehmen. Nun soll man sich aber sehr 
vor dem planlosen Hinausgehen hüten, der Erfolg wird stets ein ge- 
ringer sein. Der Lehrer muß vorher draußen gewesen und genau 



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Derliüx: Wie ich mit Hilfsschülern Naturgeschichte treibe. 



231 



orientiert sein, was augenblicklich von Interesse für die Kinder sein 
könnte, und wo es zu finden ist Auch bereite ich meine Schüler 
regelmäßig auf den Ausflug vor und gebe Zweck und Ziel an. Die 
Kinder werden dann nicht in dem Maße durch die Fülle des Neuen 
vom Thema abgelenkt und konzentrieren von vornherein ihr Augen- 
merk mehr auf dieses. 

Schon gleich nach den Osterferien beginne ich mit diesen 
Wanderungen. Zunächst geht es in die Anlagen, um hier das Knospen 
und Keimen an Ort und Stelle zu beobachten. In der Schule wird 
alsdann das Gesehene durch Formen und Zeichnen befestigt Auch 
werden mit Bohnen, Erbsen usw. Keimversuche angestellt In diesem 
Jahre ziehen meine Schüler z. B. in großen Kasten auf dem Balkon 
vor unserer Klasse alle Sorten Bohnen, Erbsen, Kartoffeln, Kresse, 
Suppenkräuter usw. Später geht es dann ins Moor. Hier sind es 
die Sumpf pflanzen und vor allen Bingen die Bewohner der Tümpel 
und Gräben, die unser Interesse erheischen. Unser Sumpfaquarium 
haben wir nur mit hiesigen selbstgesuchten Pflanzen besetzt. Frosch- 
laich wird in genügender Menge mitgenommen, teils um es als Fisch- 
futter zu verwenden, hauptsächlich aber, um die Entwicklung des 
Frosches zu zeigen. Es ist uns bisher auch stets gelungen, eine 
ganze Anzahl Frösche großzuziehen. Ebenfalls müssen einige Stich- 
Ii nge mit ins Aquarium wandern. Die Kinder haben wirklich reiche 
Freude an diesen raub- und kriegslustigen Gesellen, ganz besonders 
erregt der Nestbau und die alsdann wunderbare Farbenpracht des 
Männchens ihr Interesse. In ähnlicher Weise werden Gelbrand, 
Libellenlarve, Köcherfliegen usw. beobachtet Wie sollte ich wohl 
meinen Kindern die Atmung des Fadenschwimmkäfers und die Ge- 
fräßigkeit der Larven klar machen, wenn sie nicht alles mit eigenen 
Augen gesehen hätten! Sobald der Mai naht, erfordert die Vogelwelt 
besonderer Beachtung. Zu dem Zwecke nehmen wir einen Vormittag 
zu Hilfe und fahren mit der Straßenbahn nach Ohlsdorf. Der große, 
schöne Friedhof ist für die Vögel eine wahre Freistätte geworden, 
und wer hier die Orte kennt, kann seinen Schülern fast alle hiesigen 
gefiederten Sänger auf verhältnismäßig kleinem Raum in ihrer Natür- 
lichkeit vor Augen führen. Hier achte ich darauf, daß die Kinder 
den Vogel nicht nur zu Gesicht bekommen, sondern sie hören seinen 
Gesang, beobachten ihn beim Futtersuchen, beim Nest, mit Jungen, 
auch mache ich auf die verschiedenen Lock- und Warnrufe aufmerk* 
sam. Dies ganze Leben der Vögel wird ihnen dann später nochmals, 
möglichst an ihnen bekannte Vorgänge anschließend, klargelegt Ich 
glaube nicht, daß Kinder, die auf solche Weise einen Einblick in 



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232 



A. Abhandlungen. 



das Leben der lieben Sänger gewonnen haben, imstande sind, mut- 
willig ein Nest zu zerstören. Hier mag ein kleines Beispiel zeigen, 
wie diese Ausflüge auch den übrigen Unterrichtsfachern zugute 
kommen. Wir hatten vor längerer Zeit das Gedicht von R. Reime 
gelernt: »Wie ist doch die Erde so schön l* In der 2. Strophe heißt 
es dort von den Flüssen und Seen, »sie malen im klaren Spiegel die 
Gärten, die Städte und Hügel und die Wolken, die drüber gehn.« 
Trotz Erklärung durch Wort und Zeichnung konnten die Kinder sich 
keine rechte Vorstellung von dem geschilderten Bild machen, weil 
sie es eben noch nicht gesehen hatten. Auf dem Friedhof stand die 
ganze Schar an einem Teich, um die Goldfische zu sehen; plötzlich 
begann eine Schülerin, scheinbar ganz unvermittelt, die genannte 
Stelle des Gedichts zu deklamieren. Hier hatten sie das Bild vor 
Augen, nun waren alle Erklärungen überflüssig. 

Kurz vor Pfingsten freuen wir uns der Blütenpracht der Obst- 
bäume und Ziersträucher. Zwischen Pfingsten und den großen Ferien 
geht es meistens ins freie Feld, auf Äcker und Wiesen hinaus. Hier 
ist ja nun eine Oberfülle von Schönheit und Pracht, und wie vieles 
möchte man nicht dem Verständnis seiner Zöglinge als wertvoll und 
interessant nahe bringen. Doch hier gilt es sich bescheiden, ganz 
besonders bei den Hilfsschülern ist ein Übermaß nur vom Übel. Es 
muß genügen, wenn die Kinder nur nicht mehr so ganz achtlos an 
dieser Ptacht vorübergehen, wenn sie die Arbeit des Landmanns 
überhaupt nur sehen, später wird ihnen dann vielleicht auch ein 
Verständnis aufgehen über den hohen Wert derselben, und sie werden 
selber, so gut es geht, sich in diesem Beruf nützlich erweisen. Weiter- 
hin interessierte uns das Kornfeld, die Ernte, die Kartoffelaufnahme usw. 
Im Herbst verfolgen wir das allmähliche Hinsterben und die Vor- 
bereitungen der gesamten Natur zum Winterschlaf. 

Außer diesen Touren, die in der Regel nur 1 — 2 Stunden er- 
fordern, unternehmen wir, wie schon erwähnt, noch einige größere 
Ausflüge, die einen halben oder ganzen Tag in Anspruch nehmen. 
In den Zoologischen Garten gehen alljährlich alle Hamburger Hilfs- 
schüler. Wir waren außerdem noch nach Hagenbecks Tierpark, nach 
Ohlsdorf und auf einer Tagestour in die weitere Umgegend Hamburgs. 
Manche dieser Wanderungen könnten natürlich erspart werden, wenn 
jede Schule einen Schulgarten hätte. Erfreul icherweise kann ich be- 
richten, daß an unserer Hilfsschule seit kurzer Zeit ein solcher vor- 
handen ist. Leider konnten sich bis jetzt noch nicht alle Klassen an 
der Gartenarbeit beteiligen, doch hoffe ich, daß im nächsten Jahre 
die Mängel, die jetzt noch die Mitarbeit sämtlicher Schüler aus- 



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Dkrjjjw: Wie ich mit Hüfaschülern Naturgeschichte treibe. 233 



schließen, beseitigt sein werden. Leider ist dies in Hamburg der 
einzige Schulgarten für Hilfsschüler. 

Zu dem Unterricht im Freien möchte ich noch bemerken, daß 
er anfangs Schülern und Lehrer manche Schwierigkeit bietet Ganz 
besonders störend wirkt in der ersten Zeit das mitunter reichlich 
starke Interesse des Publikums. Doch ist es nur die erste Zeit, die 
Gewohnheit hilft auch hier, wie so oft, über alle Fährlichkeiten hin- 
weg. Mehr ablenkend sind die vielen neuen Eindrücke, die den 
Kindern auf diesen Ausflügen entgegentreten. Ich betone daher noch- 
mals, Vorbereitung ist unumgänglich notwendig, und sei es auch nur 
die Angabe des Zweckes der Wanderung, die Kinder richten dann 
eben ihre Gedanken mehr auf einen Punkt 

Wenn dieser Unterricht im Freien in erster Linie nur dem 
Schauen und Beobachten gewidmet ist, so schließt das natürlich nicht 
aus, daß die Hauptarbeit, die Arbeit in der Schule, nicht ebenfalls 
auf reine Anschauung gegründet ist. Als Anschauungsmittel dienen 
hier Zimmerpflanzen, Aquarium, Terrarium und Voliere. 

Die Blumenpflege ist Lehrern und Schülern schon so oft empfohlen 
worden, daß man sich wundern muß, wie wenig diese Vorschläge 
befolgt werden. In welche Schule man auch kommen mag, fast 
immer starren einem die kahlen Fenster entgegen. Schwierigkeiten 
und Kosten erfordert die Blumenpflege wenig und für den Natur- 
geschichtsunterriobt ist sie nach meiner Ansicht garnicht zu ent- 
behren. Kleine Ableger, Töpfe und Erde bringen die Schüler selber 
mit Es bedarf von Seiten des Lehrers nur der Anweisung inbezug 
auf Einpflanzen und Pflege. Meine Klasse hat außerdem noch den 
Vorzug, einen großen, sonnigen Balkon zu besitzen. Derselbe wird 
ebenfalls für die Naturgeschichte ausgenutzt 

Eine Reihe von Aquarien, wenigstens ein großes und mehrere 
kleinere, sollte jede Schule besitzen. Die Beinhaltung derselben und 
die Fütterung der Tiere überlasse ich den Schülern. Das Aquarium 
bietet den Kindern Gelegenheit, einmal die Wasserpflanzen in ihrer 
Eigentümlichkeit, dann aber auch die verschiedenen Wassertiere in 
Ruhe zu beobachten. Unser großer Behälter beherbergt außer einer 
Reihe von Weichflossern und Schnecken einen ziemlich großen Aal. 
Letzterer ist der besondere Freund der Kinder, er lebt schon reich- 
lich 2 Jahre bei uns in der Gefangenschaft und fühlt sich, nach der 
reichlichen Futtervertilgung zu urteilen, sehr wohl bei uns. Die 
Schüler versorgen ihn täglich zur Befriedigung seines regen Appetits 
mit den fettesten Regenwürmern. Das Sumpfaquarium dient augen- 
blicklich den Stichlingen als Wohnung. Daß auch diese ihre frühere 



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234 



A. Abixündlixn^on« 



Heimat nicht entbehren, zeigt deutlich ihr munteres Spiel und ihr für 
die Kinder besonders interessanter Nestbau. Die kleineren Aquarien 
dienen hauptsächlich zur Beobachtung von Käfern, Larven, Kaol- 
quappenentwicklung usw. 

Ein sehr geräumiges Terrarium nennen wir ebenfalls unser eigen. 
Seine Insassen sind zurzeit 2 Ringelnattern, 2 Blindschleichen, mehrere 
Salamander und Molche, (es enthält selbstverständlich einen großen 
Wasserbehälter) 1 Schildkröte, 4 Eidechsen, eine Kröte und mehrere 
Frösche, darunter 2 Laubfrösche. Zum größten Teil fingen wir die 
Tiere auf unsern Ausflügen selbst Im vorigen Jahre hatten wir die 
besondere Freude, daß unsere beiden Blindschleichen, kurz nachdem 
sie gefangen waren, 3 resp. 4 Junge bekamen. Die kleinen, blanken 
und gewandten Tiere waren natürlich die besonderen Lieblinge aller 
Schüler. Leider endeten nacheinander 3 im Bassin und die übrigen 
fielen der Gefräßigkeit unserer Kröte zum Opfer, die ich infolgedessen 
nur mit Mühe vor einer Lynchjustiz bewahren konnte. Als wir aber 
neulich lasen, »Wozu die Kröte gut ist«, da stimmten alle darin über- 
ein, daß sie im Garten wohl ein nützliches Tier sein könne, aber im 
Terrarium dürfe man sie nicht halten, denn sie fresse uns ja nicht 
nur im Handumdrehen den Regenwurmtopf leer, sondern das Vieh 
verzehre ja sogar unsere jungen Blindschleichen. 

Eine Voliere haben wir uns erst im letzten Sommer eingerichtet 
Sie enthält die hiesigen bekannten Waldvögel. Vorläufig haben wir 
nur Körnerfresser, weil diese leichter zu halten sind, später werden 
wir auch Weichfresser aufnehmen. Hier halte ich es nicht nur für 
nötig, daß die Kinder die Vögel kennen lernen, sie sollen vor allem 
die sachgemäße Pflege und Behandlung in der Gefangenschaft er- 
lernen. Wie unendllich viele Singvögel müssen elendiglich im un- 
praktischen Bauer und bei falschem Futter umkommen. Hier sollte 
die Schule ihr Teil zur Aufklärung beitragen. Die Kinder sehen es 
häufig so schwer ein, daß ein Vogel bei reichlichem Futter doch noch 
Qual erleiden kann. Hierzu ein Beispiel. Ein Kind hatte im Früh- 
jahr eine Lerche mitgebracht Wir setzten sie in ein großes Bauer, 
versorgten sie reichlich mit Futter, aber das Tier flog trotzdem immer 
wieder gegen das Gitter, um seine verlorene Freiheit zurückzuerobern. 
Da sie sich auch bei der ruhigsten Behandlung nicht zähmen lassen 
wollte, empfahl ich den Kindern, sie fliegen zu lassen. Ich stieß 
aber auf ganz entschiedenen Widerstand. Alle Vorstellungen nutzten 
nichtB. Da zog ich ihr Mitleid zur Hilfe heran. Unser Lesebuch 
enthält ein Stück, betitelt »Das Gänseblümchen«. Es schildert in 
ergreifender Weise die Qualen und den Tod einer gefangenen Lerche. 



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Dkrliin : Wie ioh mit Hilfsschulen! Naturgeschichte treibe. 



235 



Diese Geschichte las ich ihnen vor. Am Schluß tönte mir aber fast 
einstimmig, ohne daß ich ein Wort erwähnt hatte, entgegen: »Wir 
wollen unsere Lerche lieber fliegen lassen.« Dieser Plan wurde denn 
auch sofort mit großer Begeisterung zur Ausführung gebracht. Eine 
ganz besondere Freude bereitet uns augenblicklich ein Zeisig, der 
sich mit einem Kanarienweibchen gepaart hat. Letzteres hat bereits 
4 Eier gelegt und ist sehr eifrig beim Brüten. Wenn es nun gar 
noch Junge gäbe, so würde die Freude erst groß werden. 

Ich darf hier noch bemerken, daß die Furcht der Störung durch 
Vögel in der Klasse unbegründet ist In den ersten Tagen schenken 
die Kinder den Vögeln natürlich mehr Beachtung als notwendig ist, 
aber nach einiger Zeit bildet selbst der laute Finkonschlag für uns 
keine Ablenkung mehr. 

Möchte die Zeit nicht mehr ferne sein, in der alle Hilfsschulen 
diese Anschauungsmittel, wie ich sie hier in bunter Reihenfolge er- 
wähnt habe, als unumgänglich notwendig für sich beanspruchen. 

Wenn unsere Hilfsschüler durch den ständigen Umgang mit der 
Natur nur ein wenig Liebe zu ihr und hohe Achtung vor derselben 
gewinnen, dann ist die mühsame Arbeit, die ein solcher Unterricht 
mit sich bringt, reichlich belohnt 

Im folgenden mag eine kleine Lehrprobe aus der Praxis heraus 
zeigen, wie ich mir den Unterricht denke. Es handelt sich um 
20 Schüler und Schülerinnen im Alter von 12 — 13 Jahren (Kl. TU). 

Es ist kurz vor Pfingsten, daher lautet das Thema: 

Die Birke. 

Die Kinder kennen die Birke alle als sogenannten Maibusch, es 
sind dies die Zweige der Birke, die zu Pfingsten in Hamburg zum 
Schmuck der Türen und Stuben viel gekauft werden. 

1. Vorbereitung in der Schule: 
L. Welches Fest feiern wir am Sonntag? 
Sch. Das Pfingstfest, dann kriegen wir frei! 
L Was rufen die Straßenhändler am Tag vor Pfingsten immer? 
8ch. Maibusch, Maibusch!! 
L Wozu wird der Maibusch gebraucht? 

Sch. Der wird vor die Tür in eine große Konservendose mit Wasser 
gestellt 

Sch. Wir hingen die Büsche in die Stube. 
L. Warum tut man das wohl? 
Sch. Das siebt fein aus. 

Sch. Die Leute freuen sich, daß es wieder grün wird draußen 



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236 



A. A bh&ndlu.n££n« 



L. Woher hat der Händler den Maibusch? 

Sch. Den holt er vom Felde. 

L. Habt ihr schon Maibusch gesehen draußen? 

Es melden sich nur wenige Schüler, bei denen es aber auch 
sehr zweifelhaft erscheint, ob sie wirklich schon den Baum gesehen 
haben. 

L. Morgen gehen wir ins Feld and suchen uns auch Maibusch. 
Sch. Damit schmücken wir dann unsere Klasse. 
Sch. Der Zeisig muß auch einen kleinen Busch haben. 
L. Das Abschneiden ist aber verboten, vielleicht schenkt uns aber 
der Bauer ein paar Zweige. 

Am nächsten Morgen nach der 2. Stunde gehen wir fort; in 
ungefähr einer halben Stunde haben wir unser Ziel erreicht Die 
Schüler suchen auf dem Wege schon in jedem Strauch, der nur ein 
wenig grünt, den Maibusch zu erkennen. Recht ungläubige Gesichter 
gibt es, als ich endlich vor einem ziemlich hohen Baum stehen bleibe 
und ihnen den als ihren Maibusch vorstelle. Ein paar junge Bäume 
in der Nähe überzeugen sie aber bald von der Richtigkeit meiner 
Behauptung. 

Sch. Das ist ja gar kein Busch, das ist ja ein Baum. 
Sch. Da können wir lange suchen, der muß ja Mai bäum heißen. 
L. Der Baum heißt auch gar nicht Maibusch, sondern er heißt Birke. 
L. Warum wird er wohl Maibusch genannt? 

Sch. Wir kriegen in Hamburg ja man kleine Büsche davon zu sehen. 
Sch. Und weil er im Mai in der Stadt verkauft wird. 
L. Kennt ihr die Birke wohl wieder, wenn ihr sie mit andern Bäumen 
zusammen seht? 

Sch. Die kann man gleich wieder kennen, die sieht ja ganz weiß aus. 

L. Der ganze Baum ist aber doch nicht weiß? 

Scb. Nur der Stamm ist weiß, und denn sind immer so schwarze 

Striche dazwischen. 
L. Wie nennen wir das, was hier weiß aussieht? 
Sch. Das ist die Rinde, die hier weiß ist 

Sch. Wir haben auf unserm Land eine Laube, die ist ganz von 
solcher Rinde vollgenagelt, das siebt fein aus! 

L. Gewiß, auch Blumenkörbe macht man aus solcher Rinde. — Aus 
dem sehr harten Holz macht der Drechsler allerlei schöne 
Sachen. 

L. Was arbeitet denn wohl der Drechsler daraus? 
Sch. Buntes Holz zu Stühlen. 



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I 



Dkrlikn: Wie ich mit Hilfssohülern Naturgeschichte treibe. 237 



Sch. Mein Vater bat einen bunten Pfeifenkopf, der ist auch aus 
Birkenbolz. 

L. Die feinen dünnen Zweige werden aber nicht bloß zum Maibusch 

gebraucht — Wozu auch noch? 
Sch. Davon hat der Weihnachtsmann seine Rute. 
Sch. Als ich noch lütt war, kriegte ich auch immer was mit der 

Rute; nun nimmt Vater den Spannriemen. 
Sch. Da werden auch Besen draus gemacht 

Sch. Meine große Schwester hat Birkenwasser, damit wäscht sie sich 

immer das Haar, ist das hier auch her? 
L. Ja, im Frühjahr bohrt man Löcher in den Stamm der Birke, dann 

kommt ein gelblicher Saft heraus, das ist das Birkenöl. 

Aus diesem öl wird Haarwasser bereitet, ja man kann sogar 
Wein draus machen, es kommt dann Zucker usw. dazu. 

Sch. Oh, hier sitzen Kätzchen an der Birke. 

L. Gewiß, die Birken haben Kätzchen, das sind ihre Blüten. — 

Welcher Strauch hat auch solche Kätzchen? 
Sch. Der Haselstrauch hat auch Kätzchen. 

Sch. In den Anlagen beim Krankenhaus steht eine Birke, die läßt 

ihre Zweige ganz auf die Erde hängen. 
L. Das ist die Trauerbirke. — Jetzt wollen wir uns ein paar kleine 

Zweige mit Kätzchen abschneiden, die sollt ihr dann zeichnen. 
Sch. Ich kann die ganze Birke zeichnen! 

Es ist natürlich selbstverständlich, daß die Kinder unterwegs 
noch eine ganze Reihe anderer Beobachtungen machen. Ich weise 
nichts zurück, suche aber möglichst immer wieder auf das Thema 
hinzulenken. Auf dem Wege hat man reichlich Gelegenheit, das auf 
früheren Wanderungen Gesehene zu wiederholen oder in einem 
neuen Stadium zu beobachten. 

In der Schule werden die mitgebrachten Zweige ins Wasser ge- 
stellt und nach einigen Tagen haben wir den schönsten Blütenstaub. 
Die Schüler müssen jetzt zusammenhängend erzählen, was sie gesehen 
haben, auch lasse ich es meistens auf die Tafel oder in die Kladde 
niederschreiben. Einige Arbeiten werden auch in Reinschrift ge- 
schrieben. 

In der nächsten Zeichenstunde lautet das Thema: »Die Birke«. 
Einige zeichnen die Zweige mit den Kätzchen, die meisten aber aus 
dem Gedächtnis den ganzen Baum. Die weiße Rinde hat es ihnen 
angetan, die muß notwendig mit darauf. Daß ich auch Formen mit 
Naturgeschichte verbinde, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. 



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238 



i 
I 



Den Schluß mag eine kleine Arbeit eines Schülers raachen, die 
ich im Anschluß an diese Wanderung als freiwillige Hausarbeit auf- 
gegeben hatte. 

Die Arbeit, die ich im Original wiedergebe, stammt ron einem 
Schüler, der eine rege Phantasie besitzt und für einen Hilfsschüler 
ein sehr gutes Deutsch schreibt, im übrigen aber nur wenig leistet. 

Die Birke. 

Pingsten rufen die Leute ümmer Maibusch! Maibusch! Vater 
kauft 2 große Büsche, die haben wir in Eimer gestellt und vor die 
Tür gestellt. Wir waren mit der Schule nach dem Retter (Redder). 
Da haben wir Maibusch gesehen. Das ist aber ein großer Baum. 
Er heißt Birke. Er sieht weiß aus und darum kann man ihm immer 
wieder kennen. Aus den kleinen Ästen werden Besen und Ruthen 
gemacht Die Leute kaufen ümmer Maibusch, warum sie sich freuen, 
das es Frühling ist Aus der Birke wird auch Wein gemacht 



B. Mitteilungen. 

1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler. 1 ) 

Von Richard Sohauer, Herlin. 
L 

Nach dem Bericht der städtischen Schuldeputation zu Berlin sind im 
Jahre 1008 nur 43,32 v. H. der abgegangenen Schiller nach vollendeter 
Schulpflicht aus der 1. Klasse der Gemeindeschule entlassen worden. Wenn 
man dazu berücksichtigt, daß unter diesen ein recht beträchtlicher Teil 
nur ein Seinestor lang die 1. Klasse besucht hat, so erscheint der Nutz- 
effekt des Achtklassensystems noch geringer. Polemische Betrachtungen 
über den Wert dieser Schulorganisation sind überflüssig, wenn die Tat- 
sachen selbst eine so deutliche Sprache reden. Bei unbefangener Be- 
urteilung muß jeder zugestehen, daß eine öffentliche Wohlfahrtseinrichtung, 
wie die Volksschule, ihren Zweck nicht erfüllt, wenn bei weitem nicht 
die Hälfte derjenigen, für die sie bestimmt ist, vollen Nutzen davon hat. 
Daß hier Reformen notwendig sind, wird wohl von jedem Urteilsfähigen 
eingesehen; aber hoffentlich geht man diesmal bei der Verbesserung der 
Schulorganisation nicht wieder von vorgefaßten Meinungen, sondern von 
der Erkenntnis der gegebenen tatsächlichen Verhältnisse aus. Wenn man 
ein Übel beseitigen will, so muß man zunächst die Ursachen kennen 



') Man vergleiche damit: Dr. Bernhard, Zar Kenntnis der ErnUhrungs- 
vorhUltnis.se Berliner Gemeindeschüler. Beiträge z. Einderf. u. Heilerz. Heft 71. 
Langensalza, Hermann Beyer k Söhne (Beyer & Mann). Preis 45 Pt 



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1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler. 



239 



lernen, von denen es bedingt wird. Einen Beitrag zur Kenntnis dieser 
wirklichen Tatsachen wollen nachstehende Ausführungen bieten; sie gründen 
sich auf systematische Beobachtung von 65 Schülern, die seit Oktober 
1905 bis Ende September 1910 meine II. M.-Klasse besucht haben bezw. 
noch besuchen und mit vollendeter Schulpflicht und sogar darüber hinaus 
nicht die I. Klasse erreicht haben. Es handelt Bich dabei also, nach Ab- 
zug der wenigen von auswärts zugezogenen Knaben, um Berliner Oemeinde- 
schüler, die wahrend der acht Schuljahre mindestens zweimal, aber auch 
mehrmal nicht versetzt worden sind. Als Grundursachen ergaben sich 
durchgängig individuelle Hemmungen, denen unsere Schulorganisation 
nicht Rechnung trägt. Die kritische Verarbeitung der durch dieses Tat- 
sachenmaterial dargestellten Erfahrungen ermöglicht aussichtsreiche Ver- 
besserungsvorschläge, sowie eine Berichtigung landläufiger Irrtümer. Zum 
bessern Verständnis der Gesichtspunkte, die bei der Analyse und Gruppierung 
der untersuchten Fälle geltend gemacht worden sind, seien einige theo- 
retische Bemerkungen vorausgeschickt. 

Die Erziehbarkeit und Bildungsmöglichkeit beruht auf der Anpassungs- 
fähigkeit der menschlichen Natur an alle Verhältnisse, die auf den Men- 
schen einwirken, eine Fähigkeit, die ein normales, gesundes Kind in 
weitgehendem Maße besitzt. Für unsere Betrachtungen scheiden nun so- 
gleich die Kinder aus, deren Bildungsfähigkeit infolge Schwachsinns ab- 
norm gering ist; unabhängig von jedem Schulsystem, sind sie besonderen 
Klassen zu überweisen, wobei nur zu wünschen ist, daß von den Berliner 
Gemeindeschülern auch jedes schwachsinnige Kind rechtzeitig den An- 
schluß an die Nebenklasse findet Wenn nun bei den übrigbleibenden 
bildungsfähigen Kindern die Unterriohtserfolge gradweise verschieden sind, 
so können solche Unterschiede nach dem Vorhergesagten nur durch zwei 
Umstände bedingt sein, nämlich 

1. bei gleicher Bildungsfähigkeit der Kinder durch Verschieden- 
artigkeit der Unterrichts Verhältnisse; hierher gehören die 
zurückgebliebenen Schüler, die von auswärts aus weniger entwickelten 
Schulsystemen zugezogen sind. 

2. Gleichartige Unterriohtsbedingungen vorausgesetzt, erklärt 
sich ihre ungleichartige Wirkung nur aus der verschiedenartigen 
Bildungsfähigkeit der einzelnen Schüler, also einer psychischen 
Eigeuart, die man in pädagogischer Bewertung als Leistungsfähig- 
keit bezeichnen kann. 

Die Erwägung, daß bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von 
Schülern die von ihnen verlangten Leistungen, also die Teilziele des Lehr- 
plans, wesentlich in Betracht zu ziehen seien, soll vorläufig zurückgestellt 
werden. Dafür sei sohon jetzt bemerkt, daß die Leistungsfähigkeit eines 
Kindes nicht durch eine vereinzelte Stichprobe festzustellen ist, sondern 
nur aus einer längeren Boobachtungsreihe erschlossen werden kann; dieser 
an sich richtigen Feststellung wird in der Bekämpfung der Versetzungs- 
prüfungen gewöhnlich eine übertriebene Bedeutung beigelegt; denn in 
Wirklichkeit entscheidet eine oberflächliche Prüfung gar nicht über die 
Versetzung eines Schülers, sondern diese hängt von der Beantwortung der 



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240 



B. Mitteilungen. 



Frage ab: Wird das Kiud nach seinen bisherigen Leistungen 
mit Erfolg am Unterricht der nächsthöheren Klasse teilnehmen 
können? Indem man somit eine pädagogische Forderung auf ihre psycho- 
logische Voraussetzung zurückführt, kommt man zu dem Ergebnis, daß 
der Hauptgrund zum Zurückbleiben der Schüler in bestimmten 
Mängeln ihrer psyohischen Funktionen liegt. Die intellektuellen 
Mängel sind nur zum geringsten Teil materialer Art (Wissen), sondern 
vorwiegend funktionelle Schwächen in den Leistungen, von denen 
der Erfolg des Unterrichts bedingt wird, nämlich 1. Aufmerksamkeit, 
2. Gedächtnis, 3. Übung, 4. Ermüdung. Mangelhafte Leistungen 
sind der Ausdruck einer mangelhaften Leistungsfähigkeit, und 
so sind die im Unterricht, bei Prüfungen und in den häuslichen Arbeiten 
der Kinder erscheinenden Fehler nichts anderes als Anzeichen von Störungen 
in jenen vier Gebieten und haben auch nur als solche eine wesentliche 
Bedeutung im Leben des Kindes, im Unterricht sowohl wie außerhalb der 
Schule. 

Von welchen Bedingungen hängen aber die Schwächen psychischer 
Funktionen ab? Neben rein psychischen Wechselbeziehungen, wie sie durch 
Erziehung, Unterricht, Umgang, Lektüre und überhaupt äußere Erfahrung 
gegeben sind, wirken als Hauptursache gewisse physiologische Eigen- 
tümlichkeiten; die angeborene oder erworbene physische Beschaffenheit 
des Kindes ist sogar von ausschlaggebender Bedeutung für seine gesamte 
Leistungsfähigkeit. Erworben wird eine ungünstige physiologische Konsti- 
tution entweder durch Krankheit oder durch ungünstige Lebeos- 
bedingungen. Damit sind wir aber an der Grenze der pädagogischen 
Wirksamkeit angelangt 

Die systematische Analyse unsere Themas ergab bisher vier Fragen 
mit ihren Antworten: 

1. Warum bleiben so viele Schüler zurück? — Nur aus pädagogi- 
schen Gründen, nämlich wegen ihrer mangelhaften Leistungen. 

2. Worin sind ihre mangelhaften Leistungen begründet? — Wesentlich 
in psychologischen Ursachen, nämlich in ihrer mangelhaften 
Leistungsfähigkeit 

3. Wodurch werden mangelhafte psychische Funktionen bedingt? — 
Hauptsächlich durch angeborene oder erworbene physiologische 
Eigentümlichkeiten. 

4. Wie werden jene ungünstigen physiologischen Bedingungen erworben? 
— Durch Krankheit oder ungünstige Lebensverhältnisse. 

In dieser Kausalreihe wird also ein pädagogisches Problem auf 
Psychologie, diese auf Physiologie und diese wieder auf Biologie 
zurückgeführt. Es ist ein Verstoß gegen die logische Ordnung der Ge- 
danken, wenn man von vornherein, wie es oft geschieht minderwertige 
Schülerleistungen auf sogenannte »soziale Verhältnisse« zurückführen wilL 
Abgesehen davon, daß sich hinter diesem Schlagwort häufig eine mangel- 
hafte Begriftsbildung verbirgt, kommen wirkliche soziale Notstande als 
Ursachen ungenügender Scbülerleistungen nur insofern in Betracht, als sie 
entweder unmittelbar oder durch Beeinflussung der physiologischen Be- 



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1. Zurückgebliebene Berliner (lomeindeschüJer. 



241 



dingungen auf die psychischen Fähigkeiten des Kindes einwirken. Eine 
zwingende logische Konsequenz besitzt aber jene weitausgreifende Schluß- 
reihe nicht, wenn diese notwendigen Zwischenglieder unberücksichtigt 
bleiben. Die eingehende Analyse der Einzelfalle ergibt vielmehr sehr 
häufig das überraschende Resultat, daß nicht die äußeren Bedingungen 
der Erziehung und des Unterrichts, sondern die ganz subjektive Art der 
psychischen Reaktion des Individuums auf die äußeren Umstände den 
bestimmenden Faktor in dem Endprodukt der Erziehung darstellt; die 
individuelle Eigenart ist die eigentliche Dominante, die äußeren Be- 
dingungen haben nur die Bedeutung von Gelegen hei tsureachen. Es ist 
durchaus notwendig, die Aufmerksamkeit auf diese Fehlerquelle zu lenken, 
damit man nicht aus falsch gedeuteten Tatsachen Schlüsse zieht, die nicht 
allgemeingültig sind und deshalb zu Maßnahmen führen können, welche 
nicht die erwarteten Wirkungen haben, weil sie nicht die wahre Grund- 
ursache des Übels berühren. 

Nach den dargelegten Gesichtspunkten gliedern sich die 65 zurück- 
gebliebenen Schüler in folgende Oruppen: 

A. Mangelhafte Vorkenntnisse bei der Einschulung aus einem andersartigen 

Schulsystem (Zuzug von außerhalb): 4 Fälle. 
E Mangelhafte Leistungen infolge von verminderter Leistungsfähigkeit, 

L auf physiologischen Ursachen beruhend: 

a) Angeborene oder frflherworbeoe Intelligenzsohwäohe: 8 Falle. 

b) Abnorm leichte Ermüdbarkeit der Ideenassoziation, 

1. bedingt durch Blutarmut: 12 Fälle. 

2. auf nervöser Konstitution beruhend: 19 Fälle. 

3. bedingt durch Entwicklungshemmung nach Krankheiten : 12 Fälle. 

4. hervorgerufen durch andauernde Überanstrengung des Körpers: 
2 Fälle. 

IL auf ungünstigen häuslichen Erziehungsverhältnissen beruhend: 7 Fälle 
HL Unbekannte Ursache: 1 Fall. 

Die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung, die Bedeutung und 
Entwicklung der verschiedeneu Fehler lehren erst die einzelnen Fälle 
grandlich kennen. Es seien deshalb die typischen Züge noch im besondern 
dargelegt : 

L Gruppe: Mangelhafte Vorbildung bei der Einschulung von 
außerhalb. 1 ) 

1. 0. 08. L Kam aus einer Kleinstadt, Bürgerschule, vorzügliche 
Sprachbildung, dagegen Rechnen und Realien durchaus mangelhaft; 
schwächlich und nervös; tadellos erzogen. Lernt Kaufmann und 
befindet sich jetzt als Lehrling im Warenhaus des Westens. Sein 
gewinnendes Auftreten hat bisher, trotz seines Abganges aus der 
IL Klasse, als beste Empfehlung gewirkt. 

2. 0. 09. V. Kinklassige Dorfschule Deutsch, Rechnen, schriftliche 
Arbeiten! Skrofulöse, Gelenkrheumatismus. Molkereibetrieb des Vaters. 



') Statt der Namen der Sohüler sind hier ihre Bezifferungen in meinen 
ItidividualitätenheftHn angegeben. 

Z-tachnft für Kinderforsch un*. XV. Jahr«*!* 16 



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242 



B. Mittoilungt?n. 



3. M. 10. I. War auf dem Dorf, in Posen, Rixdorf, ist jetzt in der 
sechsten Schale. Guter Schüler, von Gebart an Bluthusten. Die 
Schulzeit reicht nicht aus. 

4. M. 10. IX. Kam vom Lande, normale Intelligenz, nur langsames 
Denken. 

II Gruppe: Mangelhafte Leistungsfähigkeit, bestehend in er- 
schwerter VorsteUungs- und Urteilsbildung, durchgehende 
intellektuelle Minderwertigkeit, an der Grenze des Schwachsinns, debil 
oder dement. 

1. M. 06. I. Sehr verlangsamte Entwicklung, ohne eigene Urteils- 
fähigkeit, begreift sehr schwer, ist aber sehr artig, schreibt sehr 
gut. Bruder schwachsinnig. 

2. M. 06. V. Bei guter Körperentwicklung durch Gehirnerschütterung 
und Schädel Verletzung geistig geschädigt (seit dem 11. Jahr), Ohn- 
macbtsanfälle; in allen Fächern apathisch und gehemmt Defekte 
Sprache, Agrammatismus und Perseveration. Von ihm selbst ge- 
bildete, typische Beispiele: »Schiller war ein Mann, wo die Jugende:; 
und Gedichten begeisterten.« »Benjamin Franklin war ein Mann, 
wo die Nordamerikaner und die Freiheiten zu verdankten.« Eüi 
langsam vorgesprochener, inhaltlich erklärter Satz wird so nach- 
gesprochen: »Das HarzBtein ist ein Harz, den die Ostsee in den 
Bernstein auswirft — Der Bernharzstein ist ein Bernstein, die 
die See in Mengen auswirft« Traumatische Demenz. — Wird 
ungelernter Arbeiter. 

3. 0. 07. 4. Besucht die Schule ein Seraester länger. Beständige 
Denkhemmung auf allen Gebieten; sehr oft krank; immer nieder- 
gedrückt. 

4. M. 08. 4. Gute Körperentwicklung, aber jede einzelne Leistung 
in jedem Fach völlig ungenügend, da wirkliche Gedächtnisschwache, 
Apathie und Urteilslosigkeit besteht Not Vater nervenkranker 
Rentenempfänger, verblödet 

5. M. 08. VII. In der Körper* und Geistesentwicklung zurück- 
geblieben, schwachsichtig. Häusliche Armut 

6. 0. 09. IV. In jeder Beziehung sehr zurückgeblieben, Leistungen 
in allen Fächern gleichmäßig schlecht Häusliche Armut 

7. M. 09. I. Saß zwei Jahre in der IL Klasse. Ideenflüchüg, 
kindisch-albern, urteilsschwach. Litt ebenso wie seine beiden 
Brüder an parenohymatischer Augenentzündung, sehr langwierig, 
mit Verdichtung der Hornhaut; sehr verminderte Sehschärfe. Gräß- 
liche schriftliche Arbeiten! Wohlhabende, aber wenig gebildete 
Eltern. 

8. M. 09. V. Durch schlechte Veranlagung und höchst ungünstige 
Lebensverhältnisse arg gehemmt, besonders geringe Sprachentwick- 
lung. Lungentuberkulöser Vater, schoß bei einem Selbstmord- 
versuch dem damals fünfjährigen Knaben ins Bein, starb einige 
Wochen später. Bitterste Not und Sorge, zahlreiche Familie, Mutter 
arbeitet außer dem Hause; Kinder unter »Aufsicht« einer völlig 



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1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeechüler. 



243 



blinden Nachbarin, der der Kuabe vorlesen muß; so hat er wenig- 
stens einigermaßen lesen gelernt. Proletarierelend! Und doch nicht 
moralisch entartet, — aber intellektuell verkümmert! 

HL Gruppe: Mangelhafte Leistungsfähigkeit, bestehend in funktio- 
nellen Störungen der Aufmerksamkeit, des Interesses, der Ideenasso- 
ziation, hervorgerufen duroh abnorm leichte Ermüdbarkeit 
infolge von Blutarmut 

1. M. 06. IV. Allgemeine Hemmung, ohne Defekt; viel Kopfweh. 

2. M. 07. VIL Zurückgebliebene Gesamtentwicklung, ideenflüchtig; 
schriftliche Arbeiten stets unbrauchbar. Nach der Schulentlassung 
Privatschule. 

3. M. 07. VHJ. Beständige Denkhemmung, viel Kopfweh; sehr 
schwächlich. 

4. 0. 08. L Rhachitis, viel Kopfweh, oft Erbrechen. Im letzten Halb- 
jahr Besserung. 

5. M. 08. IIL Zeitweite sehr starke Denkbemmung; Unterernährung 
aus Not. Beide Eltern an Tuberkulose gestorben. Wird Schiffs- 
heizer. 

6. M. 08. V. Sehr schnell gewachsen, aber abnorm matt; viel Kopf- 
weh, schläft oft im Unterricht; allgemeine Denkhemmung. 

7. M. 09. II. Allgemeine Entwicklungshemmung; angeborene Anämie. 

8. M. 09. IV. Große psyohische Zartheit; erschwerte Auffassung. 

9. M. 09. VH. Bis zum 13. Jahre allgemeine Entwicklungshemmung, 
angeborene Anämie; genau 1 Jahr nach dem kräftigen älteren 
Bruder geboren. (Erschöpfung der Mutter.) 6 Kinder, kein 
Nahrungsmangel. — Neigung zum Agrammatismus; spräche am 
liebsten in Wurzelwörtern! Zwei Jahre in der 2. Klasee; zuletzt 
mit starkem Wachstum energische Besserung. 

10. M. 09. X. Halbwaise. Rhachitis. Allgemeine Entwicklungshem- 
mung. Not 

11. O. 10. II. Halbwaise. Zwei Jahre in der HI. Klasse; kein In- 
telligenzdefekt, nur abnorm hohe Ermüdbarkeit; zurückgebliebene 
Entwicklung, erschwerte Einstellung der Aufmerksamkeit Schrift- 
liche Arbeiten und Rechnen! Macht aber Fortschritte. 

12. M. 10. VIL Allgemeine Entwicklungshemmung, immer müde; 
macht aber langsam Fortschritte. 

IV. Gruppe: Neurasthenische Konstitution mit äußerst schwan- 
kender Leistungsfähigkeit (reizbare Schwäche). 

1. O. 06. I. Starke Denkhemmung im Rechnen; sehr eutschlußunfllhig. 

2. 0. 06. IL Starke Dispositionsschwankungen; nervöse Herastörun- 
gen, vom Turnen befreit. Im Rechnen ungenügend (Aufmerksamkeit). 

3. O. 06. HI. Erhebliche Schwankungen, willkürliche Sperrung der 
Aufmerksamkeit Seit früher Kindheit heftige Affaktkrisen. 

4. M. 06. HL Dauerermüdung, Kopfdruck, ängstliche Depression; 
wird durch jede Anstrengung verwirrt Häusliche Sorge. Wird 
dispensiert. 

16* 



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244 



B. Mitteilungen. 



5. M. 06. VI. Stets aufgeregt, hastige, schlecht artikulierte Sprache, 
schwankt sehr. 

6. 0. 07. L Zusammenhangsloses Denken; liest sinnlos, Aufsätze! 

7. 0. 07. IL Denkhemmung mit starker Neigung zur Perseveration; 
in allen Fächern unter genügend. Unterernährt, häusliche Not 

8. M. 07. I. Nach ärztlichem Attest: Neurasthenie. In jeder Be- 
ziehung um einige Jahre in der Entwicklung zurückgeblieben. 
Mutter leidet an Optikusatrophie, ist völlig erblindet, Vater geistes- 
krank. Entsetzliohes Familienleben! 

9. M. 07. V. In den ersten Lebenswochen durch Brechdurchfall sehr 
herabgekommen. Denkhemmung im Wechsel mit Ideenflucht In 
jeder Hinsicht, auch in moralischer, durchaus unzuverlässig. Mangel- 
hafte Erziehung, heftige Affekte, obszöne Phantasie. 

10. M. 07. VI. Schielt und stottert; rechnet gut; aber Diktat und 
Aufsatz! 

11. 0. 08. IL Rhachitis, Dauerermüdung. Bleibt wegen allgemeiner 
Schwächlichkeit vorläufig noch zu Hause. 

12. 0. 08. IV. Stottert, schwere Herzstörungen. Aufmerksamkeit! 

13. 0. 08. VL Beständige Depression; verlangsamte, doch stetige Ent- 
wicklung. 

14. M. 08. II. Seit früher Kindheit starke Reizbarkeit und hohe Er- 
müdbarkeit; ganz unberechenbare Leistungen. Zunehmende Kurz- 
sichtigkeit Besucht die Sohule ein Semester länger. — Gute 
Lebensverhältnisse. 

15. 0. 09. m. Von früher Kindheit sehr nervös, häufig langwieriger 
Lungenkatarrh, abnorm mager. Links erblindet (Leucome totalis). 
Furchtbare Orthographie! 

16. M. 09. VI. Sehr schnell gewachsen, sehr leicht ermüdbar, stottert; 
häufig Schlafstörungen. Trotz guter Spraohbildung schlechte Aufsätze. 

17. M. 10. IV. Infolge von Gefühlsanomalien früher oft hinter die 
Schule gegangen; kein Intelligenzdefekt, aber starke Dispositions- 
schwankungen. 

18. M. 10. VIII. Apathie, nach Angabe der Mutter sehr nerven- 
schwach, stammt aus epileptischer Familie. Die Mutter beschäftigt 
sich viel mit ihm und verbildet seine Sprache in den Aufsätzen 
durch verschrobene Wendungen. 

19. 0. 10. I. Sehr klein geblieben, leicht abgelenkt und ermüdbar. 
Kinderreiche Familie; ungünstige Lebensverhältnisse. 

V. Gruppe: Verminderte Leistungsfähigkeit infolge von Ent- 
wicklungshemmungen nach Krankheiten (gewöhnlich er- 
schwerte Auffassung). 

1. 0. 07. III. Verlangsamte Ideenassoziation nach Scharlach. 

2. M. 07. IL Herabgesetzter Gefühlston. Denkhemmung. Lungen- 
katarrh, dann Lungenentzündung, danach sehr schwach. Vater starb 
an Tuberkulose. 

3. M. 07. HI. Körperschwäche nach gehäuften Krankheiten, zuletzt 
Lungenentzündung. Chorea minor. 



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1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler. 



245 



4. 0. 09. I. Starke Entwicklungshemmung durch Skrofulöse; schwere 
Sehstörung, links fast blind, rechts geringe Sehschärfe infolge von 
Hornhautflecken. 

5. 0. 09. II. Fortgeschrittene Lungentuberkulose, Vater tot. aus 
tuberkulöser Familie, Trotz Heilstätten behandlu Dg nicht mehr 
schul- oder erwerbsfähig. 

6. M. 09. III. Durch gefährliche Bauchfellentzündung stark gehemmt. 

7. M. 09. VIII. Durch Gehirnerschütterung gehemmte Entwicklung, 
dann langwieriger Lungen ka tarrh ; Kurzsichtigkeit Abnorm er- 
müdbar. 

8. M. 09. IX. Neurasthenie und Lungenkatarrh. Nervöse und tuber- 
kulöse Familie. Proletarierelend! 

9. O. 10. HI. Durch Skrofulöse gehemmte Entwicklung; Bauchfell- 
entzündung. 

10. M. 09. IX. Sieht bei der Schulentlassung etwa wie neunjährig 
aus. ErbsyphiliB. Uneheliches Kind. Große Armut. 

11. M. 10. V. Durch Nierenentzündung sehr gehemmt, aber recht gut 
erzogen. Rechnen, schriftliche Arbeiten, Orthographie! 

12. M. 10. II. Durch Diphtheritis und Nasen Wucherungen gehemmt. 
VI. Gruppe: Verminderte Leistungsfähigkeit infolge von Dauer« 

ermüdung nach körperlicher Überanstrengung. 

1. O. 08. 5. Schreckliche Familien Verhältnisse : Der Vater leidet an 
Delirium tremens, drangsaliert die Angehörigen Tag und Nacht. 
Der Sohn muß mit der Mutter den Lebensunterhalt der Familie 
verdienen. Unterernährung; am Morgen nervöses Erbrechen; — 
müde, aber sehr brav! 

2. M. 08. I. Normal entwickelt, Sohn eines Tischlermeisters, der die 
Arbeitskraft des Kindes rücksicktslos ausnützt Ein Beispiel für 
seine gehemmte Urteils- und Sprachbildung bieten folgende von 
ihm erfundenen Sätze: (Präpositionen mit dem 2. Fall:) »Das Haus 
steht unweit. Unser Kaiser ist sehr vermöge. Der Schutzmann 
hat den Dieb ungeachtet. < 

Vü. Gruppe: Verminderte Leistungsfähigkeit infolge von un- 
günstigen häuslichen Erziehungsverhältnissen (Verwahr- 
losung). 

1. M. 06. II. Intelligenter, sehr kräftiger Rollwagenjunge. Zu schwache 
Mutter, brutale Behandlung durch den Vater; imponiert durch 

2. M. 08. VI. Sohn eines arbeitsscheuen Alkoholikers, von der Mutter 
verzogen, vom Vater täglioh grundlos gemißhandelt; flieht aus 
Furcht die Wohnung der Eltern und treibt sich mit halbwüchsigen 
Strolchen umher. Intelligent und sehr wohl besserungsfähig. 

3. M. 08. VIR Sohn einer Witwe, ideenflüchtig und stets lustig, 
d. h. bodenlos leichtsinnig. Zu Hause findet >man« nichts dabei, 
man ist ebenso. 

4. M. 08. IX. Sohn einer Witwe (Kuhmelkerin), durch den be- 
ständigen Eindruck von Krankheit und Not deprimiert; gutartig. 



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246 



5. M. 09. XII. Sohn einer Witwe (Analphabetin), die den Jungen 
furchtbar mißhandelt; er war früher in Waiaenpflege, bleibt aus 
Furcht vor der Mutter tagelang von Hause weg, ohne daß jene 
danach fragt; stets apathisch, merkwürdigerweise für Religion leb- 
haftes Interesses und eigenartige Dankbarkeit gegen alle, die ihn 
freundlich bebandeln. 

6. M. 10. HI. Vater tagsüber abwesend, Mutter führt ein Geschäft; 
der unbeaufsichtigte Junge wurde durch schlechte Gesellschaft ver- 
führt, hat sich nun aber merklich gebessert. 

7. M. 10. VI. Vater arbeitet oft außerhalb; der Junge hat eine Lauf- 
burschenstelle und vernachlässigte seine Arbeiten; jetzt Besserung. 

Anhangsweise sei der eine Fall erwähnt (M. 07. L), bei dem trotz 
recht günstiger Bedingungen die Leistungen des Knaben unter seiner be- 
ständigen Denkträgheit litten; wahrscheinlich war der Junge überfüttert 

Man kann die vorstehend angeführten Gruppen und Fälle als typisch 
für die zurückgebliebenen Schüler in den Berliner Gemeindeschulen an- 
sehen. Daraus soll man nun aber durchaus nicht den Schluß ziehen, daß 
dagegen die Leistungen der Kinder, die aus der ersten Klasse abgeben, 
otwa ausnahmslos erstklassig wären, die Kinder selbst aber durchgehend» 
gesund, hervorragend veranlagt seien und in glänzenden Verhältnissen leben 
müßten! Das wäre ein arger Trugschluß in jeder Beziehung. Vielmehr 
trifft man auch bei diesen Kindern dieselben Mängel, nur nicht in dem- 
selben Stärkegrade und der gleichen Kombination. Die genaue 
Beobachtung und psychologische Analyse ergibt die sehr beachtenswerte 
Tatsache, daß eine vereinzelte funktionelle Störung allein nicht genügt, 
um einen dauernden Mangel hervorzurufen, da sich allmählich Gegen- 
wirkungen herausbilden lassen, die sie langsam kompensieren. (Schwere 
organische Veränderungen, Defekte bilden davon Ausnahmen.) Wenn sich 
erhebliche Mängel ergeben haben, so können sie sich auf die Dauer nur 
durch das Zusammenwirken mehrerer Ursachen behaupten; dabei 
gibt der Grad der individuellen Anpassungs- oder Widerstandsfähigkeit, 
d. h. ein Komplex angeborener Eigenschaften, den Ausschlag. 
Je nach der Stärke und Zahl dor Schädlichkeiten, die auf ein Kind ein- 
wirken, wird es in seiner Entwicklung mehr oder minder gehemmt, und 
danach verteilen sich die abgehenden Schüler auf die verschiedenen 
Klassen; je tiefer, desto unglücklicher. Das ist ja aber gerade das Elend 
des Proletariats und seiner Kinder, die wir ausnahmslos in den Volks- 
schulen haben, daß sich hier die ungünstigen Bedingungen häufen 
können, ohne daß sie durch ausgleichende Gegenwirkungen gemildert 
werden. Wir können im Schulbetriebe nur durch die konsequente Be- 
rücksichtigung dieser Grundtatsachen weiterkommen. Verbesserung aller 
Lebensbedingungen, energische Gesund heits- und Körperpflege, Stärkung 
der natürlichen Geisteskräfte, das sind die eigentlichen Vorbedingungen 
für bessere pädagogische Erfolge. Die pädagogische Kunst allein kann 
nicht alle Schäden heilen. 



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2. österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. 



247 



2. Österreichische Gesellschaft für Kinderforsohung. 

In der am 16. März d. J. unter dem Vorsitze des Herrn k. k. Uni- 
versitätsprofessors Dr. A. Hoefler abgehaltenen 33. Versammlang der 
Osterreichischen Oesellschaft für Kinderforschung sprach Direktor Max 
Fischer Ober Erziehungsanstalten für vorschulpflichtige Kinder. Er führte 
einleitend aus, daß die Fürsorgebewegung sich bisher nur solcher Kinder 
angenommen habe, die im schulpflichtigen Alter stehen, daß dagegen die 
Sorge für Kinder des Vorschulalters sich auf solche Anstalten beschränkt, 
welche sich an die Namen Ober 1 in, Fröbel und Harbeau knüpfen, speziell 
aber bei uns in Österreich eine verhältnismäßig geringe Verbreitung ge- 
funden haben. Der Vortragende bespricht nun die Notwendigkeit der Er- 
ziehung bereits vor der Schulzeit, sowie das Bedürfnis, daß diese Erziehung 
in Anstalten erfolge, um einerseits die Eltern, die ihren Kindern keine 
oder eine nicht geeignete Erziehung angedeihet) lassen können, zu ent- 
lasten, andrerseits die zur Erziehung des Menschen zu einem nützlichen 
Oliede der Oesellschaft notwendige Pflege des Gemeinsinnes frühzeitig an- 
bahnen zu künnen. Die Erkenntnis dieser Bedürfnisse führte zur Gründung 
der Kleinkinderbewahran8talten durch Friedrich Oberlin und zur Ver- 
breitung seiner Idee zunächst in England und dann in allen anderen 
Kulturländern. Wenn nun auch diese Anstalten unbestreitbare Erfolge 
aufzuweisen hatten, die in der teil weisen Entlastung armer Eltern von der 
Erziehungspflicht, in der moralischen Besserung der Kinder und in der 
Herabminderung der Sterblichkeit in den ersten Lebensjahren bestanden, 
so standen diesen Erfolgen auch Nachteile gegenüber, die in der fehlenden 
Vorbereitung der Wartepersonen für ihre Aufgabe, in dem Mangel an ge- 
eigneten Beschäftigungen der Kinder und in dem Umstände lagen, daß 
zumeist eine für die Schule unerwünschte Vorbereitung der Kinder in den 
Bewahranstalten platzgriff. Erst der Fröbelsche Kindergarten brachte neues 
Leben in die Bewahranstalten. Es gibt zwar heute noch solche, welche 
sich von den durch Fröbel gestellten höheren Aufgaben abschließen, die 
meisten haben aber ihre Umwandlung in Volkskindergärten vollzogen, die 
neben der humanitären Tendenz auch erziehliche Zwecke verfolgen. Redner 
schildert sodann die Organisation der Bewahranstalten, die ihre Aufgabe 
als Fürsorgeanstalten nur dann vollständig erfüllen können, wenn in ihnen 
den Kindern Gelegenheit geboten wird, während der ganzen Zeit, wo die 
Eltern ihrem Berufe nachgehen, Aufnahme, Pflege und Erziehung zu 
finden. Wohl nur in dem Sinne, daß die Erziehungslast der in der Regel 
für die Erziehung ihrer Kinder nicht vollständig geeigneten Eltern zwischen 
diesen und der Anstalt geteilt wird, wodurch der geistigen Verwahrlosung 
der Kinder schon vor der Schulzeit entgegengearbeitet werden kann, sind 
auch die Kindergärten als Fürsorgeanstalten zu betrachten. Auch hier 
bespricht der Vortragende zunächst die historische Entwicklung der Idee 
Fröbels, sodann die Gegnerschaften, die der Kindergarten noch heute viel- 
fach findet. Er widerlegt die Vorwürfe, die dem Kindergarten in der 
Richtung gemacht werden, daß er die Familienerziehung schwäche, daß 
die Kindergärten Infektionsherde bilden, daß hygienische Bedenken gegen 



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248 



B. Mitteilungen. 



verschiedene in den Kindergärten eingeführte Beschäftigungen der Kinder 
obwalten und daß die Kinder in einer Zeit, da die Entwicklung des Ge- 
hirnes noch nioht vollendet sei, mit Kenntnissen und Fertigkeiten über- 
laden werden, anstatt daß ihnen noch völlige Freiheit gewährt werde. 
Übergehend auf die divergierenden Urteile der Lehrerschaft über den 
Kindergarten findet der Vortragende die Ursache für diese darin, daß der 
Lehrer nicht homogene Elemente in die Elementarklasse bekommt, wes- 
halb es wünschenswert wäre, daß mit jeder Schule ein Kindergarten 
organisch verbunden werde, sowie darin, daß die Kluft zwischen Schule 
und Kindergarten zu groß sei. Diese Kluft müsse dadurch ausgefüllt 
werden, daß die Kontinuität der Erziehung an beiden Erziehungsstätten 
hergestellt werde und daß zumindest in der Elementarklasse der Übergang 
vom Spiele, von der fortwahrenden Tätigkeit im Kindergarten zum wirk- 
lichen, ernstlichen Lernen zu einem unmerklichen werde. Bei dieser 
Gelegenheit betont der Vortragende, daß auch die Ausbildung der Kinder- 
gärtnerinnen eine größere Beachtung finden müsse, als es bisher der Fall 
ist. Die zahlreichen Gegnerschaften sind, wenn ihnen auch eine innere 
Berechtigung mangelt, der Grund, warum die Kindergärten noch nicht 
jene Verbreitung gefunden haben, die ihnen zukommen sollte, und warum 
namentlich Staat und Land sich bisher der Kindergartensache nicht in 
gleicher Weise wie des Volksschulunterrichtes angenommen haben. Cnd 
doch wäre der Aufbau der Erziehungsanstalten nur dann ein vollständiger, 
wenn Krippe, Volkskindergarten und Schule eine organische Einheit bildete, 
wodurch der Weg gebahnt würde, der zur Volksgesittung, zur Volks- 
tüchtigkeit und zum Volksglücke führt. 



3. Zur Frage der Abiturientenprüfungen. 

In Gnesen haben die Oberprimaner versucht, sich in den BesiU der 
vom Provinzialschulkollegium für das Abiturientenexamen eingegangenen 
Prüflingsaufgaben zu versetzen, und zwar auf dem Wege eines Einbruchs. 
Sie wurden dabei ertappt, sind relegiert und jetzt zum Teil, wie es beißt, 
zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt Das ist gewiß nur ein Fall von 
vielen, die in der Zeit der Prüfungen stattfinden. Und sicherlich nicht 
einmal der raffinierteste. Ich kann unter anderm von einem Fall be- 
richten, in dem mit Hilfe der Söhne und Pensionäre des betreffenden 
Mathematiklehrers, während dieser bei seinem Dämmerschöppchen saß, 
Mappen und Schränke mit Nachschlüsseln geöffnet und sämtliche Mathe* 
matikaufgaben — an Zahl etwa 150 — , die im mündlichen Examen ge- 
stellt werden sollten und auch wurden, »erbeutete und abgeschrieben 
wurden. Zufällig, ohne daß es jemand merkte! Heute sind die Teilnehmer 
zum Teil Lehrer; gewiß denken sie an ihre Tat, wenn sie etwa in die 
Lage kommen sollten, über solche »Attentäterc zu Gericht sitzen zu 
müssen. — Es steht also fest, daß derartige Versuche öfter vorkommen, 
als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist. 

Sie lassen sich auch nicht allzu schwer erklären. Steht schon das 
ganze letzte Schuljahr an den höheren Anstalten unter dem Zeichen des 



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3. Zur Frage der ÄbiturientenprüfuDgen. 



249 



bevorstehenden Elzamens, so erst recht die letzten Wochen, in denen dieses 
geradezu zum drohenden Schreckgespenst wird, woran leider die Lehrer 
nicht unschuldig sind. Es liegt mir fern, ihnen irgendwie Lust zum 
Schikanieren vorzuwerfen. Wesentlich bemächtigt sich auch ihrer eine 
gewisse Eiregung, die sie mehr als nötig ausrufen laßt: »Ja, wenn das 
im Examen nicht geht, was soll dann aus Ihnen werden!« Daduroh wird 
gar mancher Schüler völlig eingeschüchtert. In einem Vortrag in der 
Münchener psychologischen Gesellschaft »Zur Psychologie des Examens« 1 ) 
hat C. Andreae sehr richtig gesagt: »Ängstliche Gemüter leiden an 
einer permanenten Unruhe, die sie ihres Lebens nicht froh werden läßt,c 
und »phantasievolle Naturen sehen bei jeder mißglückten Aufgabe das 
Gespenst des kommenden Examens; der pessimistisch angelegte Schüler 
malt 8ioh sein Mißgeschick in den schwärzesten Farben c. Das aber ent- 
geht der weitaus größten Mehrheit aller heutigen Gymnasiallehrer bei detn 
geringen Interesse, das sie der Psychologie des Kindes (und sei es auch 
ein Oberprimanet) entgegenzubringen für gut befinden. Ein Umstand, der 
wiederum zurückzuführen ist auf die Geringschätzung, die man an deutschen 
Universitäten der Pädagogik als Wissenschaft widerfahren läßt. 8 ) Denn 
mit dem Anhören eines Kollegs über Psycholgie (das ja aus den ver- 
schiedensten Gesichtspunkten gelesen werden kannl), wie es wohl in 
Preußen für die Lehramtskandidaten vorgeschrieben ist, glaube man doch 
nicht, schon genug geleistet und gelernt zu haben. 

Hand in Hand mit der psychischen Depression, die das bevor- 
stehende Examen auslöst, geht natürlicherweise auch eine physische 
Schwächung, die sich klar in einer Herabsetzung des Körpergewichts 
ausdrückt, wie sie z. B. Ignatieff 8 ) bei 79% der von ihm untersuchten 
Schüler im Durchschnitt für jeden Schüler zu 1516 g beobachten konnte. 
Ähnliche Ergebnisse hatten Kosinzoffs 4 ) Untersuchungen. Weitere Re- 
sultate veröffentlichte Burgerstein. 6 ) Ignatieff 6 ) vergleicht »unter den 
gegebenen Umständen die Examina in ihrer Wirkung auf den jugendlichen 
Organismus einer schweren Krankheit, c »welche bedeutende Stöiungen der 
Ernährung und der Gewebe zur Folge hat und jedenfalls auch dasjenige 
Organ nicht unberührt läßt, welches während der Examinationsperiode am 
angestrengtesten arbeitet, das Gehirn.« — Im übrigen kommen die gleichen 
Zustände, wenn auch häufig weniger ausgeprägt, vor jeder Versetzung 
nnd bei jedem sogenannten Extemporale vor. Was da au Betrügereien 
von Seiten der Schüler geleistet wird, ist schwer zu sagen. Mir sind 
jedenfalls Fälle bekannt, in denen im größten Umfange in solchen Arbeiten 



*) Abgedruckt in »Zeitschrift für Schulgeaundheitspflege« 1899, 8. 416. 

*) Vergl. auch: J. Trüper, Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissen- 
schaft wie im Leben. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung, Heft 45. 
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1907. 

■) Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 1898, S. 244. 

<) Ebenda 1899, 8. 205. 

») Notizen zur Hygiene des Unterrichts und des Lehrerberufes. Jena 1901. 
•) A. a. 0. 



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250 



B. Mitteilungen. 



Korrekturen vorgenommen wurden, wenn an freien Nachmittagen Orchester- 
Übungen in der Schule stattfanden, während derer das Lehrerzimmer, in 
dem die Extemporalehefle der meisten Lehrer unverschlossen lagen, un- 
beaufsichtigt offen stand; andere, in denen Jungen, die die Hefte in des 
Lehrers Wohnung tragen sollten, diese unterwegs, ja sogar in dem Post- 
gebäude korrigierten. Und doch ließe sich, wenn nun einmal das Ex- 
temporale-Schreiben in seinem ganzen heutigen Umfang und Wesen bei- 
behalten werden soll, so leicht jede Verführung für den Schüler beseitigen, 
indem der Lehrer die Hefte sofort und selbst mit nach Hause nimmt oder 
zuverlässig verschließt. Denn was bei Abiturientenexamen gewagt wird 
— Einbruch, Nachschlüssel — , das wagt noch nicht jeder um eines Ex- 
temporales, um einer Versetzung willen! 

Dieselben Motive, die die einen zu ungesetzlichen Mitteln treiben, treiben 
andere schließlich auch in den Tod. Es ist mir nie eingefallen und wird 
mir auch nie einfallen, die Schule allein für alle »Schülerselbstmorde« 
zur Verantwortung zu ziehen. Daß aber das System — und nur um ein 
solches handelt es sich hier — der Schulprüfungen, -Zeugnisse und -ex- 
temporalien nicht unschuldig ist an diesen bedauerlichen Vorkommnissen, 
kann nur ein ganz einseitig verrannter und unzugänglicher Schulmann 
behaupten. Jedenfalls waren nach Baer 1 ) in den Jahren 1883 — 1888 
laut offizieller Statistik unter 62 Schülern höherer Anstalten, die Selbst- 
mord begingen, 15 oder 24,2 °/<m bei denen als Beweggründe »Examen- 
furcht«, »Nichtversetzung«, »nicht bestandenes Examen« angeführt waren. 
Unter 104 Kindern aus niederen Schulen fand sich das gleiche Motiv nur 
ein einziges Mal. Leider ist in der Statistik Examen von Versetzung 
nicht getrennt aufgeführt. Nebenbei bemerkt mußten wir aus Wien in 
diesen Tagen wieder zwei derartige Fälle registrieren. 

Ganz falsch ist es nun, solche Fälle nur an sich minderwertigen 
Kindern zuschreiben zu wollen. In den angeführten Fällen waren oft die 
besten Schüler (nicht nur die intellektuell am hosten veranlagten, sondern 
auch die im Betragen der Note »sehr gut« für würdig befundenen) 
Hauptschuldige oder Mitschuldige, Jungen, die sonst jede ehrlose Hand- 
lung weit von sich weisen würden. Man muß sich nur völlig klar 
sein über den psychischen Zustand im Augenblick der Tat, den wir 
kaum als völlig normal werden bezeichnen dürfen. Im Schüler sind in 
diesem Augenblick alle Gedanken nur auf einen Punkt konzentriert: Wie 
schneide ich am besten ab? Wie kann ich mir dazu verhelfen, durch- 
zukommen? wie, wie ... ? Und unter diesen Erwägungen verschwinden 
alle Betrachtungen über das gute oder schlechte, das erlaubte oder un- 
erlaubte Handeln. »Wer wagt, gewinnt!« Plötzlich ist die Frage des Ver- 
setztwerdens, des Bestehens eine Lebensfrage in jedem Sinne geworden. — 
Man hat viel anläßlich des eingangs erwähnten Gnesener Falles darüber 
diskutiert, ob die Schüler eine Einsicht in die Tragweite ihrer Tat gehabt 
hätten. Ja, wenn man sie heute danach fragt, werden sie kaum leugnen, 



*) Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine sozial-hygienische Studie. 
Leipzig 1901. 



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3. Zur Frage der Abiturienteoprüfungen. 



251 



daß ihnen das Ungesetzliche ihres Handelns bewußt sei oder auch gewesen 
sei. Aber ihnen im Augenblick dieses Handelns, in einer Zeit der 
psychischen Depression, volle Einsicht dafür zuschreiben zu wollen, mutet 
uns unpsychologisch an! 

Er fragt sich nun, ob eine Relegation oder gar eine Gefängnisstrafe 
angebracht war zur Sühnung dieses — wie er sich doch in vielen Augen 
darstellt — Dummenjungenstreiches? Wir glauben diese Frage verneinen 
zu müssen; denn eine derartige Strafe trifft in erster Linie die Eltern, 
von denen gar manche ihre liebe Not gehabt haben werden, ihren Jungen 
bis zur Prima zu bringen. Und die nun die ganze Frucht ihrer Arbeit 
vernichtet sehen sollen! Für den Jungen aber ist so ein ganzes Leben 
verpfuscht, er ist sozusagen gesellschaftlich (im weitesten Sinne) vernichtet 
und gezwungen, sich durch neue Arbeit womöglich in fremdem Lande 
eine neue Position zu schaffen. Das mag ja fflr viele eine glückliche 
Aufgabe werden, aber eine natürliche ist es keinesfalls. — Vom Stand- 
punkt der obersten Schulbehörde und des Gerichtes könnte man allenfalls 
noch einwenden: auch wir wissen, daß immer wieder derartige Versuche 
gemacht werden, sich in den Besitz von Prüfungsaufgaben zu versetzen, 
darum hielten wir es für nötig, einmal ein Exempel zu statuieren. Darüber 
laßt sich ja verschiedenes denken! Jedenfalls wäre aber diese Abschreckungs- 
methode völlig erfolglos, wenn man nicht vor dem nächsten Examen sie 
in allen Einzelheiten vor den Schülern wieder aufrollen will. Das ver- 
mögen wir allerdings nicht gut zu heißen. Wenn man strafen wollte 
und mußte, wäre es vielleicht am einfachsten gewesen, die Übeltäter zu 
ihrem Vorteil noch ein Jahr in der Schule zurückzubehalten, ich sage: 
vielleicht; denn möglicherweise können andere bessere Vorschläge machen. 
— Aber daraufkommt es letzten Endes garnicht an! Wir haben vielmehr 
ein System beschuldigt als Kausalmoment, und dieses zu beseitigen sollte 
unser Ziel daher sein. Eb lassen sich von verschiedenen anderen Gesichts- 
punkten noch gewichtige Bedenken gegen die Abiturienten examina sowohl 
wie gegen das übertriebene Zensieren, Zeugnisschreiben usw. vorbringen. 
Aber sie interessieren uns hier nicht so sehr, weil sie das ganze Wohl 
der Schüler weniger gefährden. Wenn nun eine derartige Aktion gegen 
eine alte und durch über ein Jahrhundert gewissermaßen schon sanktionierte 
Institution Erfolg haben soll, dann wäre es wünschenswert und er- 
forderlich, eine Summe von Einzelbeobachtungen und -mitteilungen in 
einer Denkschrift zu vereinen, die einzelnen Fälle zu prüfen und psycho- 
logisch aufzuhellen (es brauchen garnicht Öffentliche »Fället zu sein, auoh 
die un aufgedeckten gelangen oft zur Kenntnis des einen oder andern) und 
diese Denkschrift den Kultusministerien sowie den ProviozialschulbehÖrden 
zu übergeben mit der Bitte, auf Grund der hier niedergelegten Beob- 
achtungen und der vorerwähnten ärztlichen Untersuchungen nun einmal 
an eine ernste Prüfung Über den Wert der Abiturientenexamina zu gehen. 
Man müßte dann doch zu der Ansicht kommen, daß sie, zum mindesten 
wie sie heute sind, nicht verdienen, erhalten und gepflegt zu werden. 

Dr. Karl Wilker. 



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T"l — 

Ij, AI 1 1 TP 1 III DE C Ii. 



4. Jngendfürsorgeorganisationen. 

Unser Bericht über die Erziehungsvertretnngen in Lennep in Heft 4 
gab Anlaß zu Mitteilungen über ahnliche Organisationen. 

1. Auch in Mannheim ist zum Ausbau der den Jugendlichen zu- 
gewendeten Fürsorge ein Jugendfürsorgeausschuß, Abteilung des 
Bezirksvereins für Jugendschutz und Gefangenenfürsorge Mann- 
heim, gegründet. 

Der Jugendfürsorgeausschuß bezweckt 

a) Jagendliche Verwahrloste und Bestrafte beiderlei Geschlechts durch 
rechtzeitiges Eingreifen und fortgesetzte Beaufsichtigung dauernder 
Besserung zuzuführen. 

b) Den mit dem Vollzug des Z\vangserziehung?gesetzes betrauten Be- 
hörden fördernd und unterstützend zur Seite zu stehen. 

Darüber hinaus dient er der Unterstützung des Jugendrichters und 
der Vormundschaftsrichter und will einen Mittelpunkt bilden für alle von 
ihm als nützlich anerkannten lokalen Bestrebungen auf dem Gebiete der 
Jugendfürsorge. 

Er betrachtet es ferner als seine wichtige Aufgabe, durch vorbeugende 
Maßregeln gerichtliches und polizeiliches Einschreiten gegen Jugendliebe 
zu verhüten. 

Er will endlich eine Stelle der Vermittelung sein zwischen Ver- 
einen, Privatpersonen und den genannten Behörden und ist zur Übernahme 
von Ermittelungen über Jugendliche bereit 

Was der Verein bezweckt, ist der Niederschlag praktischer Er- 
fahrungen, die seit über Jahresfrist in freier Hilfstätigkeit an der ge- 
fährdeten und straffälligen Jugend von berufenen Vereinen und Einzel- 
personen gemacht worden sind. Seine Satzungen stellen nur den äußeren 
geschäftlichen Rahmen dar für eine lebendige Arbeit, die sich freihält von 
jeglichem Bürokratismus und sich nicht ängstlich an tote Paragraphen 
klammert Weil aus der Praxis langsam und mühsam herausgewachsen, 
trägt der hiesige Jugendfürsorgeausschuß sein besonderes den lokalen Be- 
dürfnissen und Verhältnissen angepaßtes Gepräge. Die Tendenz des Aus- 
schusses geht dahin, unter Ausschaltung jeder sportsmäßig betriebenen 
Wohltätigkeit alle in der Stadt vorhandenen geeigneten Kräfte für das 
Rettungswerk an der kriminellen Jugend zu mobilisieren und sie in 
innigen Kontakt zu bringen zu den maßgebenden Behörden des Staates 
und der Stadtgemeinde. Die tüchtige Arbeit der hiesigen Frauenvereine 
auf obaritativem Gebiete fand ihre Anerkennung in der Heranziehung der 
Frauen zu dem Ausschusse und in der Besetzung des Präsidentenamtes 
durch eine Dame. Die Anlehnung des Jugendfürsorgeaus&chuRses an den 
über ganz Baden verbreiteten sehr rührigen Verein für Jugendschutz und 
Gefangenenfürsorge war eine naturgemäße. Die konfessionellen Verbinde 
fanden ihre angemessene Vertretung. Bemerkenswert ist, daß die hier 
seit 5 Jahren bestehende Vereinigung für Kinderforschung zur Mitarbeit 
beigezogen wurde; in der Zu wähl ihres Vorsitzenden in die Verwaltong 



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253 



dee Ausschusses erhielt letzterer gleichzeitig einen ärztlichen Berater. Es 
wurde von vornherein besonderes Gewicht darauf gelegt, die Lehrerschaft 
für die Arbeiten dee Ausschusses zu gewinnen; der Ausschuß hat seit 
seinem Bestehen sich der tätigen Mithilfe der Pädagogen zu erfreuen; 
Vertreter der Lehrer und Lehrerinnen sitzen in dem Jugendfürsorgeaus- 
schusse. Vielleicht darf gerade in der Mitwirkung des pädagogischen und 
ärztlichen Elementes eine Schutzmaßregel gegen eine Schematisierung und 
Bürokratisierung des Jugendfürsorgeausschusses erblickt werden. Ärzte 
und Lehrer, an eine individualisierende Behandlung des ihnen anvertrauten 
MenschenmaterialB gewohnt, müssen Feinde der gerade auf dem Gebiete 
der Jugendfürsorge gefährlichen Schablone sein. 

In der kurzen Zeit seines Bestehens konnte der Ausschuß noch nicht 
alle Aufgaben seines weitverzweigten Tätigkeitsgebietes aufnehmen. Der 
Schwerpunkt seiner Tätigkeit lag in der Jugendgerichtshilfe, in der Be- 
ratung des Jugendrichters, der sioh des Ausschusses in allen Fällen be- 
dient, die vor seinen Richterstuhl kommen. Dem Ausschusse obliegt auf 
Grund seiner Erhebungen das Votum darüber, ob ein verurteilter Jugend- 
licher für den bedingten Strafaufschub empfohlen werden soll. Es ergab 
sieh im Verlaufe der bisherigen 'Wirksamkeit, daß sich der Jugendrichter 
mit dem Ausschusse in der Anschauung begegnet, daß kurzfristige Ge- 
fängnisstrafen für Jugendliohe möglichst vermieden werden müssen. Der 
Schwerpunkt der Ausschußtätigkeit ruht in der Einleitung und Durch- 
führung geeigneter Erziehungs- und Besserungsmaßnahmen in inniger 
Fühlungnahme mit den in Betracht kommenden staatlichen und kommunalen 
Behörden. 

Bei aller Bereitwilligkeit der großzügigen Mannheimer Armenver- 
waltung, an diesen Aufgaben hilfreich und tatkräftig mitzuarbeiten und 
bei vollem Verständnis der richterlichen und Verwaltungsorgane für die 
Bedeutung der erzieherischen Behandlung jugendlicher Gefährdeten scheitern 
die Bemühungen des Ausschusses leider nicht selten an den Klippen der 
gesetzlichen Bestimmungen über die Fürsorgeerziehung. 

Zu Erhebungen in der Voruntersuchung wurde der hiesige Jugend- 
fürsorgeausschuß im Gegensatz zu anderen Städten bis jetzt nicht heran- 
gezogen. 

Die Lücken, die unsere Ausschußtätigkeit noch aufweist, werden sich 
wohl erst vollkommen schließen, wenn die Gesetzgebung die ganze Materie 
des Jugendrechtes neu geregelt haben wird. Aber heute schon kann man 
sagen, daß es dem Zusammenwirken' der in dem Ausschusse in glücklicher 
Mischung der verschiedenen Stände und Berufsarten vereinigten Personen 
und Vereine in der kurzen Zeit gelungen iet, Hunderte von gefährdeten 
Jugendlichen einer förderlichen Erziehung zuzuweisen. Allerdings hat es 
auch an Enttäuschungen nicht gefehlt. 

Mannheim. Dr. Moses. 

2. Am 13. Januar er. haben die Stadtverordneten zu Magdeburg 
einer Magistrate vor läge zugestimmt, die die Errichtung eines städtischen 
Jugendfürsorgeamtes für Ostern 1910 vorsieht An die Spitze dieser 



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254 



B. Mitteilungen. 



städtisch-sozialen Einrichtung wird der zu Magdeburg im Gebiete des 
Jugendschutzes und der Jugendfürsorge allgemein geschätzte HilfBSchullehrer 
W. Busch gestellt werden. Seiner warten — wie der Magistratsvorlage 
zu entnehmen ist — folgende Aufgaben: Innerhalb der stiidisehen Armen- 
Direktion wird eine Zentralstelle geschaffen zum weiteren Ausbau einer 
zweck mäßigen Waisen- und Jugendfürsorge. Diese hat in erster Linie die 
Aufgabe, die zu Magdeburg bestehenden Vereine, die die Förderung der 
Jugendfürsorge sich zum Ziele gesetzt haben, zu gemeinsamer Hitarbeit 
heranzuziehen und die zahlreichen Hilfskräfte, die diesen Vereinen in ge- 
eigneten Helfern und Helferinnen zur Verfügung stehen, im Dienste der 
Zentralstelle nutzbar zu machen. Diesem Amte werden auch obliegen die 
gesetzlichen Aufgaben des Gemeindewaisenrates, also der Benennung ge- 
eigneter Vormünder, Gegenvormünder, Pfleger, die gutachtliche Äußerung 
über die zu diesen Amtern vorgeschlagenen Personen, die Aufsicht über 
das persönliche Wohl der Mündel und deren Erziehung und Unterbringung. 
Ferner sind zu übernehmen die Pflichten der Berufsvormundschaft, die 
Säuglingsfürsorge, die Vorbereitung und Stellung des Antrages auf Für- 
sorgeerziehung, die Arbeiten zur Unterstützung des Jugendgerichts und 
die Unterbringung von Kindern in geeigneten Stadt- und Land pflegen. 
Schließlich liegt dem städtischen Jugendfürsorgeamte ob die Sorge für die 
— auch schulentlassene — Jugend überhaupt. 

Auf keinem Gebiete ist eine Zentralisation von Bestehendem so not- 
wendig, als auf dem der Wohltätigkeit und Fürsorge. Und gerade eine 
Großstadt muß bei den vielseitig verschuldeten und nicht verschuldeten 
Notständen seiner Bewohner Zentralstellen haben, zur nachhaltigen Hilfe . 
sowohl der Erwachsenen, wie der Jugend. Bislang hat es an solchen 
Stellen für die großstädtische Jugend gefehlt. Daß die Stadt Magdeburg 
sich den wenigen deutsohen Städten mit amtlichen Jugendwohlfahrtsstellen 
angeschlossen hat, wird ihr sioher zu großem Segen gereichen. 

H. M. 



5. Friedrich Wilhelm Schröter f. 

Am 3. Februar starb Friedrich Wilhelm Schröter, Begründer und 
bisheriger Leiter der Erziehungsanstalt für geistig Zurückgebliebene in 
Dresden, Begründer und bisheriger Herausgeber der Zeitschrift für die 
Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer und einer der Mitbegründer 
der Konferenz für das Idiotenwesen Deutschlands. 

Schon allein die Tatsache, daß die Zeitschrift ihren 30. Jahrgang 
begonnen hat und daß sie bis vor wenigen Jahren die einzige auf diesem 
Gebiete war, sagt genug, was der Name Schröter für die Schwachsinnigen- 
Fürsorge bedeutet. In den 30 Jahren ist ein reichhaltiges Material für 
die Kenntnis und die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer unter 
Schröters Schriftleitung hier gesammelt worden. Nicht minder hat die 
Konferenz von Schröter und den Mitarbeitern an seiner Anstalt manche 
wertvolle Anregung bekommen, und solange die Staaten und Kommunen 



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C. Literatur. 



255 



keine besondere Fürsorge für Schwachsinnige getroffen hatten, hatte das 
Dasein seiner Anstalt auch noch eine besondere Bedeutung. 

Schröter war wie wir stets bestrebt, eine vereinigte Arbeit von 
Ärzten, Lehrern und Geistlichen auf dem Gebiete der Abnormenfürsorge 
herbeizuführen. Früher war darum Sanitätsiat Dr. Wildermuth, ur- 
sprünglich mitleitender Arzt der Epileptiker- und Idiotenanstalt Stetten, 
Mitherausgeber und nach dessen Tode ist es der Oberarzt der Königl. 
Strafanstalt Waldheim und früherer Oberarzt der Idiotenansalt Altendorf 
bei Chemnitz, Dr. Meitzer, beides Männer, die ein Verständnis auch für 
die pädagogische Seite der Abnormenfürsorge bekundeten und die das Neben- 
einander- und Miteinanderarbeiten in Theorie und Praxis mit uns für not- 
wendig hielten. 

Schröter schien unsere Zeitschrift anscheinend als ein Konkurrenz- 
unternehmen zu betrachten, was sie aber trotz vieler ßerührungspunkto 
durchaus nicht sein sollte und auch nicht geworden ist. Er war darum 
uns gegenüber stets sehr zurückhaltend, vielleicht lag es aber auch in 
seiner Charakteranlage und seinem Gesundheitszustande. Als jedoch von 
unsern Gegnern der Versuch gemacht wurde, seine Zeitschrift zu der 
unseren in Gegensatz zu bringen, hat Schröter mit aller Entschiedenheit 
solches Ansinnen abgelehnt, auch dem Versuche, die Zeitschrift gegne- 
rischen Händen zu übergeben, hat er trotz Alter und Kränklichkeit 
widerstanden. Wir haben darum besonderen Grund, Dr. Meitzer zu 
wünschen, daß es ihm gelingen möge, einen tüchtigen, auch für die 
medizinische Seite der Schwachsinnigenfürsorge und für das Hand-in-Hand- 
arbeiten von Pädagogik und Medizin interessierten Nachfolger von Schröter 
zu gewinnen, der die segensreiche Arbeit Schröters in Harmonie mit 
Meitzer in gleichem Geiste fortsetzt. Uns aber soll das Gedächtnis des 
Kollegen, der mit Umsicht, Erfahrung und Sachkenntnis in rastloser Tätig- 
keit die pädagogische Pathologie und Therapie in Theorie und Praxis ge- 
fördert hat, in Segen bleiben. 



C. Literatur. 



Das Seelenleben des Kindes. Ausgewählte Vorlesungen von Dr. Karl Oroos, 
Professor der Philosophie an der Universität Gießen. Zweite, umgearbeitete und 
vennehrte Auflage. Berlin W. 9, Verlag von Reuther & Reichardt Gr. 8°. VI 
u. 260 8eiten. 3,60 M, in Leinen geb. 4,50 M. 

Die vorliegende Neoausgabe der Vorlesungen von Groos über Kinderpsycho- 
logie unterscheidet sich von der ersten Ausgabe durch zahlreiche Verbesserungen 
und Erweiterungen; hauptsachlich sind die gesicherten Ergebnisse der neuesten 
Forschung hineingearbeitet, die uns die experimentelle Psychologie geliefert hat 

Da die erste Auflage des Groo Sachen Buches in unserer Zeitschrift nicht an- 
gezeigt worden ist, möchte ich jetzt neben jenen besonderen Vorzügen anf einen 
allgemeinen nachdrücklich hinweisen. 



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256 



C. Literatur. 



Oroos bietet im vorliegenden Werke der Lehrerschaft ein Werk von hervor- 
ragender Bedeutung. Nicht jeder Lehrer hat Zeit and Last, sich in große Gebiet« 
selbständig einzuarbeiten; — da bietet sieb ihm für ein »modernes» Wissenschafts- 
gebiet Oroos, der Einderpsychologe, als ein vertrauenswürdiger Führer an. Er ist 
es besonders dadurch, daß er nicht allein die Vorgänge des Erkennen* und Deokons 
in vorzüglicher Weise behandelt, sondern auch die Lehre vom Gefühl iu 
ihrem Rechte kommen laßt. 

Deshalb sind die Erörterungen über die Zweiteilung des Seelenlebens 
(S. 24 ff ) höchst beachtenswert, die Groos gewinnt, nachdem er eine äußerst klare 
begriffliche Orientierung über den vorliegenden Gegenstand gegeben hat 
Auch die Kapitel II und III über die Aufgaben der Kinderpsychologie und 
die Methoden der Beobachtung verdienen Beachtung. Eins der wichtigsten 
Kapitel ist das vom Gedächtnisse (X, 8. 118 ff.); wir finden darin die neuesten 
Forschungen über diese rätselhafte Seelenerscheinung verarbeitet, über die Er- 
scheinung, in der «das ganze Geheimnis unsrer Psyche überhaupt steckt«. 

In bezug auf das Gefühl liegen nun freilich keine experimentellen Forschungen 
vor; denn in diese Abgründe des Seelenlebens ist der menschliche Verstand noch 
nicht eingedrungen. Aber Groos läßt doch in seiner Einteilung des Seelenlebens 
einen Standpunkt erkennen, der meines Erachtens in der Wissenschaft der Psycho- 
logie dürftig vertreten war und der zur idealen Seite neigt Groos unterscheidet 
nämlich das Was — die Vorstellungsseite oder den Mechanismus deutlich und scharf 
vom Wie - von der Wertungsseite oder den Freitätigkeiten, bei denen das 
Oefübl herrscht und ausschlaggebend ist. 

Dabei wird der Begriff des Wertes genau bestimmt, womit kein Wert- 
halten, Schätzen oder Gernhaben gemeint ist, sondern die Relativität aller äeelec- 
erscheinungen, die sich in dem charakteristischen Gegensatze von wertvoll 
und wertwidrig d. h. von Zuneigen und Ablehnen äußert. In welchen Haupt- 
formen sich dieses Zu- und Aboeigen zeigt, mag man in den geistvollen Aus- 
führungen bei Groos (S. 29 ff ) selbst nachlesen. 

Herbartkundige Leser unserer Zeitschrift wissen, daß Groos mit diesen Ge- 
danken auf dem Boden der nach her bartischen Schule steht Strümpell und 
Lotze sind die wichtigsten Fortbildner dieser Ansichten gewesen. Deswegen muß 
ich das Studium des Buches nicht nur dringend empfehlen, sondern wünschen, daß 
die Herbartfreunde sich eingehend damit beschäftigten. Auoh andere jud alogische 
Kreise müssen das vortreffliche Buch über die wichtigste Hilfswissenschaft der 
Pädagogik lesen, — über das Gebiet, das Groos mit einem lieblichen Bilde »ein 
neuentdecktes Goldlandc nennt in das sich Berufene und Unberufene in 
der Hoffnung auf glänzende Schätze eindrängen, — aus dem aber auch viele 
mit leeren Händen oder mit gleißenden und wertlosen Fundstücken heimkehren.« 
Er erhebt deshalb seine warnende Stimme angesichts dieses »wissenschaftlichen 
Goldf iebers«. 

Die äußere Ausstattung des Buches ist vorzüglich und erhebt sich angenehm 
über das Gewöhnliche. 

Rudolstadt Dr. phiL Hugo 8chmidt 




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«iE NT OF i 



A. Abhandlungen. 



EDÜCATION 

AUG 2 9 1910 

LELAND 31 AN KORD 
JUNIOR UNTVERSITY 

L Psychopathische Mittelschtilec^m^^i^^^^^^^ 

Von 

Dr. phiL Theodor Heller, Direktor der Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 

Meine heutigen Ausführungen sind veranlaßt durch außerordent- 
lich traurige Vorkommnisse der letzten Zeit. Ungünstige Semestrai- 
zeugnisse haben drei Mittelschüler, Söhne geachteter Familien, be- 
wogen, ihrem jungen Leben ein Ende zu machen. Wer selbst 
Kinder hat, sie liebt und ihr Bestes erstrebt, wird ermessen können, 
in welch tiefe Trauer die Eltern dieser unglücklichen Söhne gestürzt 
sind. Je älter wir werden, desto mehr bezieht sich unser Hoffen und 
Wünschen auf die Kinder. Ihr Wachsen und Gedeihen ist uns reich- 
lichster Lohn, ihr Zurückbleiben trifft uns von allen Enttäuschungen, 
die das Leben bringt, vielleicht am schwersten. So werden wir es 
begreiflich finden, daß sich der Elternkreise eine tiefgehende Er- 
regung bemächtigt hat, wir werden es aber auch begreiflich finden, 
daß im Überschwang der Gefühle manches Wort gefallen ist, das bei 
ruhiger und sachlicher Prüfung der Tatbestände sicherlich nicht in 
dieser Härte gesprochen worden wäre. 

Ks ist unmittelbar klar, daß der Schüler nicht ausschließlich ein 
Produkt der Schule ist Einer unserer hervorragendsten Pädagogen, 
Professor Martinak in Graz, hat eine höchst anziehende Schrift über 
Schülerkunde 1 ) veröffentlicht und in dieser gezeigt, wie verschieden- 
artig die Faktoren sind, die auf den Schüler einwirken, sein Wesen 
und sein Verhalten bestimmen. Der Schüler kommt ja nicht als 
ein unbeschriebenes Blatt zur Schule. Schon von der Stunde der 
Geburt an, ja in gewissem Sinne schon vor dieser hat eine Unzahl 
bestimmbarer und unbestimmbarer Verhältnisse auf ihn eingewirkt 

') Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde. Heft 25 der »Beiträge zur Kdf. 
u. Heüerziehung.c Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer A Mann), 1906. 
Zeitschrift für Kinderforachung. XV. Jahrgang. 17 



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258 



A. Abhandlungen. 



und seiner körperlichen und seelischen Entwicklung eine bestimmte 
Richtung gegeben. Und während der Schulzeit lebt der Schüler in 
seinem häuslichen Milieu unter der Einwirkung von Personen und 
Verhältnissen, die sein Geistesleben mindestens ebenso beeinflussen, 
wie die Schule und das Schulwesen. Ich glaube mit der Behauptung 
nicht zu irren, daß das Verhältnis eines Schülers im wesentlichen 
bestimmt wird durch die Erziehungseinflüsse, die vom Elternhaus 
ausgehen. Was wir im Interesse des Schülers dringend wünschen 
müssen, ist die volle Übereinstimmung der Erziehung in Elternhaus 
und Schule. Diesem Zweck dienen die Elternabende und Eltera- 
kouferenzen, die an vielen Orten bereits zu einer ständigen Ein- 
richtung geworden sind. — Wenn die Erziehung im Elternhaus in 
einem gewissen Gegensatz zu den Zielen und Zwecken steht, welche 
die Schulerziehung anstrebt, dann ist an ein entsprechendes Fort- 
kommen in der Schule nicht zu denken, die Schuld daran trifft aber 
sicherlich nicht die Schule und die Lehrer allein, wenn sie auch 
vielfach dort gesucht wird. 

Ich bin kein Lobredner vergangener Zeiten. Aber mir scheint, 
daß das frühere System, nach welchem der Schüler zu allererst 
Schüler war, d. h. die Pflichten der Schule gegenüber in erster Reihe 
standen, und die gesamte häusliche Erziehung sich diesem Prinzip 
unterordnete, besser gewesen sei als die heute übliche Gewöhnung 
der Schüler an Freuden und Genüsse der Erwachsenen, ein System, 
das nur ungesunde Frühreife zeitigt, die zweifellos auch ihren An- 
teil hat an den zunehmenden Selbstmorden jugendlicher Personen. 

Kein geringerer als Pausen spricht sich über diesen Gegensatz 
moderner und »veraltetere Jugenderziehung in folgender Weise aus: 
»Die Jugend von heute, das Produkt der zärtlichen, weichen, nachgiebigen 
Erziehung, fühlt sich unglücklich, gedrückt, unverstanden, mißhandelt, 
während die strengere Behandlung mit Gelassenheit, ja Heiterkeit 
hingenommen wurde. Man kam sich keineswegs bemitleidenswert 
vor, während die jetzige Jugend voll Unzufriedenheit mit der Welt 
ist obwohl sie von allen Seiten umschmeichelt und durch Mitgefühl 
mit ihren Leiden fetiert wird. Überall begegnet man der Pose des 
großen Einsamen, der unverstanden und ungewürdigt durch die Welt 
gehen muß, dessen Freuden und dessen Schmerzen dem Durchschnitts- 
menschen — und Erzieher und Lehrer sind immer Durchschnitts- 
menschen — ewig unverständlich bleiben.« 1 ) 

') Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlichkeit. Berlin, Renther 
k Reichard, 1908; ritiert nach Nbibr: Der Selbstmord im kindlichen und jugend- 
lichen Alter. S. Literaturverteichnis. 



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Heller: Psychopathische Mittelschüler. 259 



Vieles ließe sich noch über die Bedeutung des Milieus, ins- 
besondere der häuslichen Erziehung sagen. Aber ich darf nicht all- 
zuweit von meinem Thema abschweifen. 

Es hat eine Zeit gegeben, in welcher man an die Allgewalt der 
Erziehung und demnach an die Möglichkeit glaubte, aus einem Kind 
durch planmäßige Einwirkungen erwachsener Personen das zu machen, 
was dem Erzieher als Ideal vorschwebte. Dieser unpraktische Idea- 
lismus liegt längst hinter uns. Wir denken heute nicht geringer über 
Erziehung und Erzieher, wenn wir uns vor Augen halten, daß die 
Erziehung im wesentlichen nichts anderes sein kann als die Bildung 
und Formung angeborener Anlagen oder — vielleicht besser gesagt 
— Entwicklungsdispositionen. Sehr treffend bringt Rückort diesen 
Anteil natürlicher Anlagen und der Erziehung zum Ausdruck: 

»Etwas liegt in der Art, die Gott dem Keim verliehen, 
Und etwas auch daran, wie du ihn wirst erziehen. 
Das erste ist die Gunst, womit der Himmel schaltet, 
Das andre ist die Kunst, mit der der Gärtner waltet.« 

"Wenn das zu erziehende Kind an Leib und Seele normal, wenn 
der Erzieher eine zielbewußte, verständige Persönlichkeit ist, so muß 
das Erziehungswerk zu einem günstigen, erfreulichen Ergebnis führen 
unter der Voraussetzung, daß jene Erziehungsstörungen, die gleich- 
sam von außen eindringen und auf deren Schädlichkeit in letzter 
Zeit mit [voller Berechtigung hingewiesen worden ist, verhütet oder 
ausgeschaltet werden können. — 

Diesen zum Glück für die Menschheit noch in erfreulicher Mehr- 
heit vorhandenen gesund sich entwickelnden Kindern steht eine nicht 
geringe Zahl von Jugendlichen gegenüber, die in der einen oder der 
andern Hinsicht von der Norm abweichen. Je schwerer der Defekt, 
desto früher tritt er in die Erscheinung. Das idiotische Kind ist als 
solches bereits in den ersten Lebensmonaten, oft sogar in den ersten 
Lebenstagen erkennbar. Aber schon die leichteren Formen des 
Schwachsinns sind erst auf einer späteren Stufe der Kindheit mit 
Bestimmtheit nachzuweisen und die das Gemüts- und Willensleben 
betreffenden Anomalien, die in ihren ersten Anfängen leicht über- 
sehen oder für unverfängliche Kinderfehler gehalten werden können, 
treten zumeist deutlich erst zur Zeit der Entwicklung hervor. 

Das idiotische Kind ist von jedem Schulbesuch ausgeschlossen. 
Es ist im wesentlichen Gegenstand der Pflege und der ärztlichen 
Fürsorge und hat uns hier nicht näher zu beschäftigen. Die Kinder, 
welche Schwachsinn mittleren Grades aufweisen, die sogenannten 
Imbezillen, werden gegenwärtig in Schulen unterrichtet, die ein 

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260 A. Abhandlungen. 



reduziertes Lehrziel unter Zugrundelegung von Methoden anstreben, 
welche den Grundsatz größtmöglicher Anschaulichkeit verwirklichen. 
Die Erfolge der Hilfsschulen sind sehr erfreuliche. Nach der deutschen 
Statistik gelingt es bei 84% der Schüler, ihnen die wichtigsten und 
grundlegenden Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln und sie für 
das praktische Leben — allerdings in bescheidenen Wirkungskreisen — 
geeignet zu machen. In Österreich ist das Hilfsscbulwesen kaum in 
seinen ersten Anfängen entwickelt Es besteht daher die Notwendig- 
keit, eine Unzahl von imbezillen Kindern in der öffentlichen Volks- 
schule zu belassen, wo sie keine Fortschritte machen und die Disziplin 
oft arg gefährden. Diese unerzogenen, unwissenden, für keine prak- 
tische Tätigkeit zu verwendenden Imbezillen werden erfahrungsgemäß 
später häufig kriminell, gefährden die öffentliche Ordnung oder fallen der 
Armenpflege dauernd zur Last So führt der Mangel an Hilfsschulen 
zu einer schweren Schädigung der öffentlichen Interessen, zu drücken- 
den Belastungen der öffentlichen Kassen. Ich muß hervorheben, daß 
Wien über eine einzige Hilfeschule mit 9 Klassen verfugt, während 
z. B. in Berlin 144 Hilfsschulklassen bestehen. 1 ) 

Es dürfte nur ganz vereinzelt vorkommen, daß ein imbezilles Kind 
in die Öffentliche Mittelschule gelangt Mir ist ein derartiger Fall nicht 
bekannt. Ganz anders verhält sich dies mit den leichtesten Formen 
des kindlichen Schwachsinns, der Debilität Ein solches Kind hat 
in der Regel kein auffallendes körperliches Entartungszeichen. Unter 
den Debilen finden wir sogar sehr hübsche Kinder. Auch in geistiger 
Hinsicht machen sie zunächst auf den Laien keinen ungünstigen Ein- 
druck. Die leicht erregte Art dieser Kinder wird häufig als Frische, 
Lebhaftigkeit, Ursprünglichkeit gedeutet Derartige Kinder reden viel 
prahlen mit dem, was sie angeblich können und machen bisweilen 
sogar Witze und Späße, die den eigenen Angehörigen am meisten 
imponieren. Sehr eigenartig ist der psychische Mechanismus dieser 
Kinder; sie haben ein oft erstaunliches Gedächtnis. Dieses Gedächtnis 
ist zudem nicht selten spezialisiert Wenn ein Debiler z. B. über ein 
großes Zahlengedächtnis verfügt und sich die Grundrechnungsarten 
mechanisch zurechtgelegt hat so kann er ganz gute Bechenleistungen 
aufweisen, solange eben keine spezifische Denkarbeit verlangt wird. 
Es ist manchmal sehr schwer, hier einen klaren Einblick zu gewinnen, 

') Am 10. Februar d. J. ist im nö. Landtag über einen Antrag des Abg. Muchs 
u. G. betreffend die Errichtung von Hilfsschulen, bezw. Hilfsklassen für schwach- 
sinnige Kinder verhandelt worden. Ein auf die Errichtung und Erhaltung von Hilfs- 
schulen und Hilfsklassen für bildungsfähige schwachsinnige Kinder schulpflichtigen 
Altere bezüglicher Antrag wurde angenommen. 



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Heuler: Psychopathische Mittelschüler. 



261 



denn die Debilen haben häufig die Fähigkeit zu mechanisieren, d. h. 
Dinge, die ein anderes Kind verstandesmäßig erfaßt und bearbeitet, 
lediglich mit assoziativen Gedächtnishilfen zu leisten. So kannte ich 
ein solches debiles Kind, das einfache Schlußrechnungen auf Grund 
eines Schemas, das es sich selbst zurechtgelegt hatte, ganz gut und 
sicher ausführte. Wir dürfen uns über solche Leistungen nicht 
wundern, wenn wir z. B. von den ans Wunderbare grenzenden Pro- 
duktionen eines riefstehenden Imbezillen hören, der zu jedem Datum, 
gleichviel welchen Jahres, sogleich und scheinbar ohne viel nach- 
zudenken den richtigen Tag hinzusetzen konnte. Auch die sogenannten 
Rechenkünstler, die öffentlich Proben ihrer Geschicklichkeit ablegen, 
sind vielfach Imbezille und Debile. Ein gewisses Formgefühl ist den 
Debilen gleichfalls häufig eigen. Es ist also immerhin möglich, daß 
debile Kinder die Aufnahmsprüfung bestehen und tatsächlich in die 
öffentliche Schule gelangen. Hier wird aber der Schüler bald seine 
Eigenart offenbaren. Zunächst ist der Mangel an Ruhe und Aufmerk- 
samkeit auffallend. Die debilen Kinder sind in der Regel recht störend. 
Unfähig, dem Unterricht zu folgen, necken sie ihre Mitschüler, be- 
schäftigen sich in läppischer Weise mit Dingen, die dem Interesse 
zehn- und efjähriger Kinder sonst schon ziemlich ferne liegen, 
geben absolut nicht acht und sind daher fast nie imstande, auf eine 
allgemein gestellte Frage präzis zu antworten. Die Hausaufgaben 
sind unordentlich, flüchtig und verraten, soferne nicht daheim 
nachgeholfen wird, daß der Schüler mit dem Lehrstoff ganz und 
gar nicht vertraut ist Ein oberflächliches Interesse ist nur durch an- 
schaulich dargebotene Stoffe zu erzielen. Der psychologisch inter- 
essierte Pädagoge kann an den Debilen mit fast experimenteller 
Sicherheit erkennen, wieviel ein Schüler rein gedächtnismäßig zu 
leisten imstande ist Dort, wo der Debile versagt und seinem Wesen 
nach versagen muß, fängt der eigentlich wertvolle, weil die Verstandes- 
funktionen in Anspruch nehmende Unterricht an. 

Es ist schwer, von vornherein zu bestimmen, wie lange ein Debiler 
mitkommen kann. Einige sind so störend, daß sie gleich anfangs aus 
Gründen der Schuldisziplin entfernt werden müssen. Andere, ruhiger 
geartete, werden vielleicht länger verbleiben können; viel hängt von 
der . Nachsicht und Geduld des Lehrerkollegiums ab. 

Leider fehlt den meisten Eltern die klare Einsicht in den Zu- 
stand ihrer eigenen Kinder. Wird das debile Kind aus der einen 
Mittelschule entfernt, so suchen es die Eltern oft in einer andern 
unterzubringen. Mit diesen Versuchen, die selbstverständlich nie zu 
einem Resultat fuhren, gehen kostbare Jahre verloren. Dabei haben 



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262 



A.. Abhandlungen. 



sich die schlechten Eigenschaften der Debilen immer mehr befestigt, 
und ratlos stehen die Eltern einem Sohn gegenüber, bei dem za den 
Erscheinungen intellektueller Minderwertigkeit ethische Ausfallserschei- 
nungen hinzutreten, die für die Zukunft nichts Gutes erwarten lassen. 

Hier sei ausdrücklich auf den Unterschied zwischen schwach- 
sinnigen und schwachbefähigten Kindern hingewiesen. Bei den 
letzteren bleiben die gesamten psychischen Leistungen mehr oder 
minder hinter dem Durchschnitt zurück. Bei den ersteren ist das 
psychische Bild ein ganz anderes, das Abnorme, Pathologische, steht 
durchaus im Vordergründe. Dabei haben alle Symptome einen be- 
denklichen Charakter, sie werden im Laufe der Zeit eher schlechter 
als besser, namentlich wenn der Debile nicht einer besonderen, heil- 
pädagogischen Behandlung zugeführt wird. Ich möchte davor warnen, 
bei den schwachbefähigten Kindern eine unter alleu Umständen un- 
günstige Vorhersage zu machen. Ich habe Fälle erlebt, in welchen 
schwachbefähigte Kinder, und hier scheinen die mäßig großköpfigen, 
hydrozephalen, vor allem in Betracht zu kommen, späterhin ein recht 
auffälliges geistiges Fortschreiten zeigten und schließlich einen ganz 
normalen Bildungsgang nahmen. Man spricht hier auch von »spater 
Entwicklung« ; daß diese bisweilen sogar zu höchsten Stufen der Voll- 
kommenheit führen kann, beweist das Beispiel von Männern wie 
JüSTU8 Likbio u. a. 

Jedenfalls wird man schwachsinnige und schwachbefähigte Kinder 
nicht mit einem Maß messen dürfen. Das Mittelschulstudium wird 
in jenen Fällen auszuschließen sein, in welchen die Fähigkeiten eines 
Kindes weit hinter denen gleichaltriger Schüler zurückbleiben. Wenn 
aber dieses Zurückbleiben ein nur geringes ist, und als Korrelat für 
die mangelnden Fähigkeiten Fleiß und ernstes Streben vorhanden 
sind, was bei nicht wenigen derartigen Kindern konstatiert werden 
kann, so erscheint der Eintritt in eine Mittelschule bei weitem nicht 
so aussichtslos, wie boim Debilen, insbesondere wenn bei kleiner 
Schülerzahl eine individualisierende Behandlung des Kindes möglich 
ist Auch bereiten bisweilen einige Jahre privaten Studiums zweck- 
mäßig den Besuch einer öffentlichen Mittelschule vor. 

Ich gelange nun zu einer großen Gruppe von Schülern, bei denen 
weniger die intellektuellen Fähigkeiten, als das Gefühls- und Willens- 
leben beeinträchtigt erscheinen. Als Sammelname für diese psychi- 
schen Abnormitäten wird die Bezeichnung psychopathische Minder- 
wertigkeiten verwendet 1 ) Der Psychiater Koch (gestorben 1908) hat 

') Psychopathische Minderwertigkeiten gibt es in gleichem Matte anf dem Ge- 
biete des Intellekte, wie Koch und ich seit 1890 wiederholt dargelegt haben. Tbüpdl 



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Heller: Psychopathische Mittelschüler. 



263 



als erster eine zusammenfassende Darstellung derselben gegeben, der 
ehemalige Leipziger Pädagoge L. von Strümpell, der Vater unseres 
berühmten Klinikers, di« pädagogische Seite der Koch sehen Lehre 
beleuchtet l ) 

Nicht unerwähnt möchte ich es lassen, daß ein Wiener Mittel- 
schulprofessor, Dr. Ludwig Singkb, über diesen wichtigen Gegenstand 
schon auf dem fünften deutsch -österreichischen Mittelschultage 1894 
referiert und eine Anzahl von Thesen vorgelegt hat, die heute noch 
ernster Beachtung wert scheinen. 

Gestatten Sie mir, Ihnen aus der bunten Reihe der psycho- 
pathisch Minderwertigen zunächst einen Typus vorzuführen, dessen 
Studium mich seit Jahren beschäftigt, den Psychastheniker. Diese 
Voranstellung wird auch dadurch motiviert erscheinen, daß einer der 
Mittelschüler, der vor wenigen Wochen Selbstmord verübte, sicherlich 
diesem Typus angehört hat 

Das Gefühlsleben des Menschen vollzieht sich innerhalb zweier 
gegensätzlichen Pole, der Lust und Unlust Es ist klar, daß das 
normale Individuum nach Lustgefühlen strebt und Unlustgefühlen zu 
entgehen sucht. Ganz besonders gilt dies für Kinder und Jugend- 
liche. Frohsinn und heitere Laune, ein mächtiges Streben nach Lust- 
gefühlen charakterisieren die Blütezeit des Lebens. Im auffallenden 
Gegensatz zu diesem für normale Jugendliche charakteristischen 
Streben nach Lustgefühlen macht sich beim Psychastheniker frühe 
schon ein Überwiegen unlustbetonter Empfindungen bemerkbar. Dies 
trifft ganz besonders bei körperlicher und geistiger Arbeit zu. 

Auch der normale Schüler tritt nicht an jede Arbeit gerne heran. 
Aber die anfänglichen Unlustgefühle werden überwunden, sie machen 
allmählich jenen angenehmen Gefühlen Platz, die sich aus dem Er- 
kenntnisprozeß, aus dem Interesse für den Fortgang der Arbeit, aus 
der Freude an der gedeihlichen Lösung ergeben. Ganz anders beim 
Psychastheniker. Hier bleiben die unangenehmen Anfangsgefühle 
nicht bloß besteben, sie verdichten sich sogar und wirken daun der- 
art ermüdend und ermattend auf den Schüler ein, daß er nicht mehr 
die zur Anfertigung der Aufgabe notwendige Willensenergie auf- 
zubringen in der Lage ist So kommt es, daß solche Schüler mit 
ihren Hausaufgaben nicht zu Endo gelangen, oft wahllos von einer 
zur andern übergehen und schließlich unvorbereitet zur Schule kommen. 

') Bekanntlich haben unabhängig von Strümpell, Trüpkb und Urea auf die 
pädagogische Bedeutung der Lehre von den psychopathischen Minderwertigkeiten 
hingewiesen. Leider ist Trüpkrs im Jahre 1893 erschienene Schrift »Die psycho- 
pathischen Minderwertigkeiten im Kindesalter« seit langem vergriffen. 



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264 A. Abhandlungen. 



Die sich stetig steigernden Unlustgefüble begleiten das ganze 
Schulleben. Oft treten bei besonderen Anlässen arge Angstgefühle 
auf, insbesondere bei Schularbeiten. Auch der erwartete Aufruf zur 
Prüfung löst nervöse Zustände von solcher Art aus, wie sie Kraepeldj 
unter dem Namen Erwartungsneurose beschrieben hat. 

Alle diese Unlustgefühle steigern sich schließlich bis zur Un- 
erträglichkeit und können zu Ereignissen führen, die ich als psych- 
asthenischen Krisen bezeichnet habe. Fluchtartige Entweichungen 
(fugues) kommen nach Pick bei Psychasthenikern am häufigsten vor. 
Die traurige Gemütsverfassung, in welcher sich die meisten jugend- 
lichen Psychastheniker befinden, macht die relative Häufigkeit von 
Selbstmorden begreiflich. Merkwürdig ist die Tatsache, daß sich die 
Verstimmung des Psychasthenikers fast immer nur auf die Schule be- 
zieht, die er aus tiefster Seele haßt. Im häuslichen Kreise, im Ge- 
sell schaftsieben ist der Psychastheniker gewöhnlich ein normal sich 
benehmender, ruhiger und umgänglicher Mensch. Die krankhafte 
Abneigung des Psychasthenikers gegen Arbeit und Pflichterfüllung 
treffen wir übrigens auch in einfacheren Verhältnissen an. Der 
psychasthenische Lehrling, der nirgends aushält, seinen Lehrherren 
davonläuft, schließlich Hand an sich legt, gehört leider zu den regel- 
mäßig wiederkehrenden Großstadtypen. 

Nicht zum mindesten sind es die Psychastheniker, die Anlaß zu 
Angriffen gegen die Mittelschule und deren Lehrer geben. Wie leicht 
machen sich nicht Eltern und sonstige Angehörige den Haß jugendlicher 
Psychopathen gegen die Schule zu eigen. Der Gegensatz zwischen 
dem Verhalten des Jungen außerhalb der Schule und in derselben gibt 
Anlaß, die Schule für alle beängstigenden Erscheinungen im Seelen- 
leben des Jugendlichen, an dessen Normalität die Angehörigen nicht 
zweifeln, veranwortlich zu machen. Die Schule ist schuld an der Ver- 
stimmung des Jungen, sie hat ihn in die Flucht getrieben, ihm die 
todbringende Waffe in die Hand gedrückt Sicherlich wirkt hier die 
Schule lediglich als auslösende Ursache. Der tiefere Grund ist in 
der seelischen Eigenart des Jugendlichen zu suchen, in seiner psycho- 
pathischen Konstitution. Daß die häusliche Erziehung und die häus- 
lichen Zustände die Psychasthenie oft geradezu künstlich hervorbringen, 
ist an früherer Stelle bereits gesagt worden. 

Für den Mittelschullehrer sind ferner jene psychopathisch Minder- 
wertigen von besonderem Interesse, deren Phantasietätigkeit eine 
ungesunde Richtung und Intensität aufweist Wir wissen, 
daß Kinder eine Periode ihrer geistigen Entwicklung durchmachen, in 
der die Phantasietätigkeit im Vordergrund steht. Es ist die Zeit, in 



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Heller: Psyehopathische Mittelschüler. 



265 



der Kinder an Märchen und phantastischen Erzählungen das größte 
Vergnügen haben, das Gehörte in ihre Spiele verweben, auch buntes, 
phantastisches Zeug selbst erfinden und es mit der Wahrheit in ihren 
Erzählungen und Angaben nicht gerade genau nehmen. Diese phan- 
tastische Periode wird aber alsbald von dem gesunden Kind über- 
wundei, sobald Sinn und Verständnis für die umgebende Wirklich- 
keit erwachen und das Denken sich fast triebartig an realen Verhält- 
nissen übt Die Möglichkeiten interessieren in dieser Zeit mehr als 
die Unmöglichkeiten, wenn auch bei vielen Kindern eine, ich möchte 
fast sigen ästhetische Freude an Sagen und Märchen lange noch 
zurückbleibt Das Mögliche und Unmögliche, das Wirkliche und das 
Erfuniene werden aber im Bewußtsein deutlich auseinandergehalten. 

lei einer nicht geringen Anzahl von Kindern erfolgt aber die 
RückHldung und Umbildung der Phantasietätigkeit nicht in der oben 
angegebenen Weise. Die Phantasie bleibt die herrschende Seelen- 
kraft und drängt alle anderen Funktionen weitaus in den Hintergrund. 
Der gekannte Mannheimer Schularzt Moses erzählt uns vom Seelen- 
binien leben dieser Kinder, die er zum Gegenstand eines besonderen 
Studums gemacht hat. Sie leben in einer unwahren, erträumten 
Wel und lassen sich nur ungern und mit innerem Widerstreben zur 
Erbnntnis des wirklich Vorhandenen, zur praktischen Arbeit führen. 
Die ungesunde Phantasietätigkeit wird noch wesentlich bestärkt durch 
die Lektüre, welche diese Kinder suchen. Es sind die aufregenden 
Räber-, Indianer- und Verbrechergeschichten, die von Knaben be- 
vozugt werden, die sentimentalen, süßlichen, von Erotik nicht freien 
Bckfisch- und Pensionatsgeschichten, die von Mädchen oft massenhaft 
vrschlungen werden. Der große Schaden, den eine solche Lektüre 
airichtet, erklärt sich zum Teil daraus, daß diese Machwerke ein 
Bblikum finden, bei dem schlechte, zersetzende Keime auf einen 
empfänglichen Boden fallen. 

Es gibt im allgemeinen zwei pathologische Reaktionsweisen auf 
iese Schädlichkeiten, je nach Temperament und sonstiger Veranlagung 
er Kinder: Entweder wird das Gelesene, phantastisch Aufgenommene 
u Motiven für das Handeln und es ergeben sich daraus Tatbestände, 
rie die romanhaften Entweichungen, die räuberischen Überfälle durch 
Cinder, die in letzter Zeit erschreckend häufig vorkommen, Liebes- 
ieziehungen, die ganz junge Mädchen anknüpfen und die nicht selten 
m vorzeitigem Geschlechtsverkehr führen, u. a. m. 

Eine andere Reaktionsweise ist das stille Insich versinken , die 
gänzliche Hingabe an die Phantasietätigkeit, das »Wachträumen«, wie 
es treffend genannt worden ist Ein solches Verhalten führt zur 



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266 



A. Abbaodlaügen. 



völligen Vereinsamung der Kinder, die sich gegen jeden Verkehr mit 
Altersgenossen sträuben, es sei denn, daß sie auf ein gleichgestimmtes 
Wesen stoßen, mit dem sie dann schwärmerische Freundschaft ver- 
bindet. Diese Kinder lassen in ihrer stillen Art oft kaum ahnen, 
was in ihrer Seele vorgeht 

Auch in der Mittelschule treffen wir diese beiden Kategorien 
phantastischer Schüler nicht selten an, wenngleich die höhere Alters- 
stufe, die größere Reife bisweilen andere Erscheinungsbilder hervor- 
bringen. Der impulsiv-phantastische Schüler kümmert sich 
wenig um Schule und Pflichterfüllung. Er ist mit irgend welchen, 
oft rasch wechselnden Hirngespinsten beschäftigt Er hat sich in die 
Idee hineingelebt, dereinst ein großer Entdecker zu werden und die 
Anwesenheit eines Sven Hedin, eines Shackleton, die das Tagesgespräch 
bilden, geben diesen Ideen neue Nahrung. Er verschafft sieh die 
einschlägigen Bücher, zieht aber den Beschreibungen wirklich er- 
folgter Entdeckungsreisen die phantastischen Erzählungen eine* Karl 
May und anderer derartiger Autoren vor. Bisweilen leben sich die 
jungen Leute in die sich selbst zugeteilte Rolle derart hinein, daß 
sie den Zusammenhang mit der Wirklichkeit völlig verlieren. Die 
Schulflucht, das Umgehen der Schule ist bei solchen Jugendliche! an 
der Tagesordnung. In einer Studie über den Wiener Prater erählt 
ein Autor, daß er bei seinen Vormittagswanderungen durch die 
Donauauen wiederholt Jünglinge getroffen habe, die sich in diser 
wild-romantischen Umgebung offenbar ganz den Schauern erträunter 
phantastischer Erlebnisse hingaben und sehr wenig erfreut waen, 
durch das Erscheinen eines zivilisierten Wieners aus ihren Hiner- 
walderlebnissen aufgeschreckt zu werden. 

Den passiven Typus des Phantasten repräsentiert der ästhd- 
sierende Schwärmer. Er ist überaus häufig und zeigt wie eine (as 
Jünglings- uud Jungfrauenalter charakterisierende schöne und ede 
Anlage l ) krankhaft verzerrt und verändert sein kann. Die Schwarmea 
für Kunst und Literatur nimmt hier Dimensionen an, die jedes weitee 
Interesse ersticken und sich der harmonischen Ausbildung des Jugenl- 
lichen als fast unüberwindliches Hindernis in den Weg steilen, fe 
gibt Jugendliche, die für nichts anderes Sinn und Vorliebe haben as 
für das Theater und alle Vorgänge, die damit — oft rein äußerlich - 
verknüpft sind. Es erwacht der Wunsch, sich der Bühne zu widmeL 



') Treffend bemerkt Groob (Das Seelenleben des Kindes; Berlin, Reuth* 
& Reichard, 1909): .Das normale Jünglingsalter ist die Blütezeit der enthusiasti 
sehen Apperzeption.« 



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Hkller: Psycbopathische Mittelschüler. 



267 



and in diesem Streben wird das Studium aufs gröblichste vernach- 
lässigt Hunderte unglücklicher Schmieren komödianten, die ein elendes 
Dasein fristen, noch mehr schiffbrüchige Existenzen, die nach den 
ersten mißglückten Versuchen als zu keinem Lebensberuf geeignet 
sich erwiesen haben und als verkannte Oenies unbeirrt an ihrer 
eigenen hohen Mission festhalten und die schnöde Welt verachten, 
sind pathologische Naturen, deren Phantasieleben von früher Kindheit 
an abnorme Züge aufgewiesen hat Wenn wir die verunglückten 
Literaten, Maler, Bildhauer, Musiker hinzuzählen, so ist die Zahl der 
Personen, die an ihrem krankhaften Phantasieleben zugrunde gehen 
und oft auch andere mit verderben, Legion. 

In welchem Maße diese abnorme Phantasieanlage die Sittlichkeit 
eines Jugendlichen in Mitleidenschaft zu ziehen imstande ist, mag 
ein Fall beweisen, in welchem ein Junge, dem die häufigen Theater- 
besuche von seinen Eltern untersagt und die Mittel hierzu entzogen 
worden waren, zunächst seine Schulbücher verkaufte, dann seinen 
Angehörigen Geldbeträge und Wertgegenstände stahl, schließlich einem 
Kaufmann Waren zu unberechtigtem Wiederverkauf entlockte und die 
hierdurch erlangten Beträge zum Besuch von Theatervorstellungen ver- 
wendete, denen er, um daheim nicht aufzufallen, oft nur während 
weniger Szenen beiwohnte. In einem anderen Fall wurden Geld- 
beträge gestohlen, um einer verehrten Schauspielerin anonym Blumen 
ins Theater schicken zu können. 

Solchen pathologischen Charakteren gegenüber ist die Schule 
vollständig machtlos, hier hat die häusliche Erziehung einzusetzen. 
Wenn man auch für Entartungserscheinungen, wie ich sie obon ge- 
kennzeichnet habe, die Schule verantwortlich macht und behauptet, 
sie sei zu nüchtern, biete der Phantasie der Schüler zu wenig Be- 
wegungsfreiheit und zwinge sie hierdurch, außerhalb der Schule Be- 
friedigung zu suchen, so beruht dieser Einwurf auf einer gründlichen 
Verkennung der Aufgaben des höheren Unterrichtes. 

Sehr häufig begegnen wir der psychischen Instabilität, die 
aus den verschiedensten Ursachen hervorgehen kann. Sie ist oft 
Folge nervöser Schwäche, Begleiterscheinung von Blutarmut und 
Muskelschlaffheit, die wir unter den Mittelschülern der Großstädte 
leider so häufig antreffen. Hinsichtlich solcher Jugendlichen muß 
vor allem der Rat des Arztes eingeholt werden. Ein gewisses Maß 
körperlicher Rüstigkeit erscheint mir als notwendige Vorbedingung 
für den Besuch einer öffentlichen Mittelschule. Für körperlich zarte, 
besonders für lungenschwache Kinder, deren Begabung außer Zweifel 
steht, sollten auch in Österreich sogenannte Schulsanatorien errichtet 



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208 



A. Abhandlangen. 



werden, wie sie in der Schweiz und neuerdings in Deutschland be- 
stehen; hier wird in erster Linie die Kräftigung der Gesundheit an- 
gestrebt, das Studium jedoch nicht hintangestellt Österreich in seinen 
klimatisch bevorzugten Teilen (Südtirol, Görz, die gesamte öster- 
reichische Riviera) hätte für solche Schulsanatorien ganz ausgezeichnet 
geeignete Plätze zur Verfügung, die auch Lehrkräften, die nur in 
günstigen klimatischen Verhältnissen leben sollen, die Möglichkeit 
pädagogischen Wirkens böten. 

Die psychische Instabilität zeigt sich in der großen Ungleich- 
mäßigkeit der Leistungen, der raschen Ermüdbarkeit und der völligen 
Abhängigkeit von der jeweiligen Disposition. Wir finden diesen Zu- 
stand nicht bloß bei den oben gekennzeichneten Schwachen und in 
der körperlichen Entwicklung Rückständigen, sondern auch bei Jugend- 
lichen, die das Bild blühender Gesundheit darbieten. Die französischen 
Psychiater legen auf diesen Symptomenkomplex besonderes Gewicht und 
bezeichnen ihn als Merkmal beginnender Degeneration. Dem kundigen 
Pädagogen werden die Instabeln unter seinen Schülern bald bekannt, 
wenn er die Schwankungen in ihren Leistungen in Betracht zieht, 
die, in Kurvenform verzeichnet, sich bald hoch über die Durch- 
schnittslinie erheben, bald tief unter dieselbe herabsinken. 

Allerdings kann die Instabilität auch durch die häuslichen Ver- 
hältnisse, durch den häuslichen Unterricht veranlaßt sein. Es gibt 
Familien, die sich im Privatunterricht ihrer Kinder gar nicht genug 
tun können und ohne Rücksicht auf die Anforderungen der Schule 
noch Sprachen- und Musikunterricht erteilen lassen. Besonders der 
Musikunterricht an oft ganz Unbegabte ist ein Unfug, bedeutet ledig- 
lich unnütze Zeitvergeudung und unnütze Anstrengung. Ein be- 
sonderes Wort verdient auch die Art und Weise des Betriebes körper- 
licher Übungen in vielen Familien. In dieser Hinsicht hat vor mehreren 
Jahren der Prager Obersanitätsrat Dr. Altschul sein fachmännisches 
Gutachten abgegeben und insbesondere vor jeder Übertreibung sport- 
licher Übungen gewarnt. Man nimmt noch vielfach an, daß körper- 
liche Betätigung nach geistiger Arbeit erholend wirke, und schickt 
die Schüler, nachdem sie in unmittelbarem Anschluß an die Schule 
ihre Aufgaben gemacht und Privatunterricht in verschiedenen Gegen- 
ständen genommen haben, »zur Erholung« zum Turnen, auf den Spiel- 
oder Sportplatz. Ermüdungsmessungen haben gelehrt — und in diesem 
Punkte stimmen alle überein — , daß körperliche Betätigung im gleichen 
Sinne wie geistige Arbeit ermüdend wirke. Die fortwährend, wenn 
auch im Wechsel zwischen geistiger und körperlicher Arbeit be- 
schäftigten Jugendlichen stehen unter dem Einfluß beständiger 



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Hkllkb: Psychopathische Mittelschüler. 



269 



schwerer Überbürdung, die oft eine so große ist, daß die normale 
Schlafzeit kaum genügt, um den Organismus wieder frisch und 
arbeitsfähig zu raachen. In solchen Fällen müssen wir die Instabilität 
als Ermüdungs- und Überbürdungserscheinung ansehen und es würde 
unter solchen Verhältnissen oft genügen, wenn man die häusliche 
Beschäftigung auf das zuträgliche Maß zurückführte, um in der Schule 
bessere, mindestens aber gleichmäßigere Leistungen zu erzielen. Nicht 
selten ist das Übermaß häuslicher Beschäftigung nur eine Folge höchst 
unzweckmäßiger Einteilung. Das Zusammendrängen der für den Haus- 
unterricht in Betracht kommenden Bildungsstoffe gereicht vielen 
Jugendlichen zu schwerem Schaden, und sicherlich trifft hier die 
Behauptung des bekannten Berliner Nervenarztes Oppenheim zu, daß 
die Überbürdung durch den häuslichen Unterricht häufig viel ärger 
ist als die Überbürdung durch die Schule. 

Nervös veranlagte Kinder und Jugendliche brauchen eine streng 
geregelte Lebensweise, vor allem ausgiebigen Schlaf. Alle sogenannten 
Genußgifte (Alkohol, Nikotin, Kaffee) sind von ihnen ferne zu halten. 
Wieviel in dieser Richtung gesündigt wird, habe ich in einer langen 
heilpäd alogischen Tätigkeit erfahren. Wenn ein durch des Tages 
Arbeit ermüdeter Schüler, der aus einer schwer nervösen Familie 
stammte, bis in die späten Nachtstunden aufbleiben und dann noch 
bis zum grauenden Morgen im Bett irgend ein interessantes Buch 
lesen konnte, dann erscheint es eigentlich ganz selbstverständlich, 
daß dieser übrigens hochbegabte Junge in der Schule versagte. — 
Ich führe diesen Fall auch darum an, weil er zeigt, wie eine durch 
nervöse Anlage hervorgerufene Instabilität durch fehlerhafte häusliche 
Erziehung unverhältnismäßig gesteigert werden kann. Umfragen nach 
den Schlafzeiten der Schüler in verschiedenen Mittelschulen haben 
ergeben, daß die Jungen in der Regel viel zu lange aufbleiben und 
deshalb nicht genügend ausgeruht und erfrischt zur Schule kommen. 
Um nur die jüngsten und empfindlichsten Schüler zu erwähnen, be- 
dürfen nach Axel Key zehn- und elfjährige eines zehn- bis elf- 
stündigen, zwölf- und dreizehnjährige eines zehnstündigen, vierzehn- 
jährige eines Schlafes in der Dauer von neun ein halb Stunden. 

Die Betrachtung der Instabilität zeigt uns, daß manche Schwierig- 
keiten in der Schule ihrem Wesen nach nicht erkannt und deshalb 
nicht beseitigt werden können ohne entsprechende Beziehungen zum 
Elternhaus und zur häuslichen Erziehung. Auch aus diesem Grunde 
erachte ich die Abhaltung von Elternkonferenzen für eine An- 
gelegenheit von höchster Wichtigkeit, die gleichermaßen im Interesse 
der Schüler, der Eltern und der Lehrer gelegen ist (SchlaB fol^t.) 



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270 



A. Abhandlungen. 



2. Verbotene Schülerpoesie. 

Schon seit Jahren haben die Direktorenkonferenzen das Thema * Ver- 
bindungswesen c unter den Schülern auf ihrem Programm stehen. Die 
verschiedensten Mittel sind zur Anwendung gekommen, um es zu be- 
kämpfen, bald milde Verweise, bald die (namentlich für die Eltern) grau- 
same Entlassung. Nichts hat eine wesentliche Änderung oder Besserung 
der Sachlage herbeiführen können: sie sind geblieben wie sie sind, ja, 
durch mancherlei Zeitumstände noch schlimmer geworden. Man wird, wie 
ich nebenbei bemerken möchte, ganz andere Wege gehen müssen als die 
des Verbietens; man muß den Schülern andere Bedürfnisse, andere Genüsse 
angewöhnen, statt selbst zur Verherrlichung der Trinksitten beizutragen. 
Aber das nur nebenbei! — Ich möchte im folgenden einige Proben vor- 
legen, die Aufschluß geben über die Höhe der geistigen Beschäftigung in 
derartigen Vereinen. Auf diese traurige Wertlosigkeit aller Schriftstücke, 
die dabei gefunden wurden, hat Pilgrim sowie auch Nath 1 ) schon auf- 
merksam gemacht. 8ie wissen auch von der Existenz der sogenannten 
Bierzeitungen, können aber keine Beispiele aus denselben zum Beleg für 
ihre Ausführungen bieten. 

Es mag dies darin seinen Grund haben, daß äußerst selten derartige 
Produkte in die Hand eines Lehrers gelangen, nachdem man gegen sie 
auch ein Verbot erlassen hat, das sich natürlich der muntersten Über- 
tretungen erfreut. Denn es gab eine Zeit, in welcher diese Zeitungen bei 
den allgemeinen Kneipen, wie sie die Abiturienten zu veranstalten pflegten 
und leider noch pflegen, an alle Teilnehmer verteilt wurden. Da aber der 
Inhalt nur zu bald alle Grenzen, die man noch hätte stecken können, 
überschritt, so sah man sich genötigt, zu verbieten. Natürlich umsonst. — 
Ich kann hier nicht alle Aufzeichnungen derartiger Machwerke zum Ab- 
druck bringen. Es würde das auch zu schade um den verfügbaren Kaum 
sein. Zudem darf ein Hauptteil des Inhaltes nur lokales Interesse und 
Verstand nis beanspruchen. Die formalen Werte lassen sich zur Genüge 
aus ganz wenigen Proben erkennen. Ich habe deshalb aus drei ver- 
schiedenen Bierzeitungen, die zufällig in meine Hände gelangten, zusammen- 
gestellt, was sich auf Rauchen, Trinken, Lieben bezieht, also ganz all- 
gemeines Verständnis beanspruchen darf. 

Folgende Schülercharakteristiken finden sich in einer 1905 von etwa 
zwanzigjährigen Gymnasiasien herausgegebenen Zeitung. 

»Er tut gern für's Extreme schwärmen 

im Trinken, Rauchen und im Pennen; 

er ist kein Freund von vielem Lernen, 
will oft die dickste Wand einrennen.« 

Ich glaube, der hier dargestellte Typ eines Primaners gehört zu den 
am schwersten lenkbaren: eine Schlafmütze und ein Dickkopf in einer 
Person, wie man wohl zu sagen pflegt 



') Max Nath. Schülerverbindnogen und Schülervereine. Erfahrungen, Studien 
und Oedanken. Leipzig 1906. 



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Wilmr: Verbotene Schülerpoesie. 



271 



Sehr viele Schwierigkeiten für die Beurteilung kann dem Lehrer der 
folgende Schüler machen: 

»Bald faul und bald sehr fleißig, 
heut nüchtern, morgen dun; 
Tabak bat er stets bei sich 
und immer was zu tun.« 

»Dun« ist eine zarte Umschreibung für »besoffen«; also ein äußerst 
wankelmütiger Gesell, mit dem wir's da zu tun haben; einer, der uns 
gewaltig über seine wahren Leistungen täuschen kann. — Gutmütig ist 
dagegen ganz sicher folgender Junge: 

»Schwer ist er von Gewicht, 

viel streben tut er nicht, 

schimpft auf die Lehrer wie ein Spatz, 

beim Kneipen hat er 'nen Ehrenplatz.« 

Eine einseitige Begabung verrät der folgende: 
»Math'matik, Deutsch, Mädel, Bier! 
Was soll ich wählen von den vier? 
Mit dreien will ich mich begnügen, 
das Deutsche lasse ich abseits liegen.« 

Ein tüchtiger Trinker ist der durch folgenden Satz in der »Bücher- 
schau« betroffene. 

»Kokteal: Wie brane ich meinen Punsch? — 
(Jeder Zeile merkt man es an, daß der Verfasser sein Metier 
versteht nnd aus Erfahrung spricht).« 

Wie wenig Verständnis dagegen für Mäßigkeit oder Abstinenz vor- 
handen ist, beweisen folgende Worte: 

> . . . . Die verderblichen Einflüsse des Nikotins und des Alkohols. — 
(Pur Nichtraucher und Antialkoholiker unschädlich, dagegen andern Sterb- 
lichen nicht anzuempfehlen).« 

Im allgemeinen verraten diese poetischen Ergüsse noch eine gewisse 
Mäßigung im Inhalt wie in der Form. Auffallend ist dagegen die oft an 
Cyuismus grenzende Art, mit der fünfzehnjährige Sekundaner ihrem Dichter- 
herzen Luit machen; denn daß sie eine »Einjährigen-Kneipe« veranstalten 
mit denselben geistigen und leiblichen Genüssen, wie die Herren Primaner 
sie zu bieten pflegen nnd noch mehr die Herren Studenten, ist selbst- 
verständlich. Natürlich ist's eine verbotene Kneiperei; und danach hat 
sich die Wahl des Lokales zu richten. Über die daraus entstehenden 
Schädigungen will ich nicht sprechen, sie werden sowieso dem nicht 
verborgen bleiben, der die folgenden Machwerke in einer 1909 erschienenen 
»Kneipzeitung« von Untersekundanern (etwa 14 — 15 Jahre alt) liest. Ich 
habe selten eine einfachere und kürzere Beschreibung von einer Kneipe ge- 
funden, als sie folgender »Börsenbericht« darin gibt: »Abends 10 Uhr: 
trotz stärkerer Zufuhren behauptet sich die Stimmung, da bei der sehr 
guten Auswahl die Konsumenten Gelegenheit nehmen, ihren nötigen Bedarf 
zu decken. Manche tun sich bedeutende Pöstchen ein. — Abends 12 Uhr: 



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1>72 



A. Abhandlungen. 



Stimmung gehobener. Mehrere ala leistungsfähig bekannte Häuser können 
sich nicht mehr halten. — Schlußbericht (Morgendämmerung): Umsätze 
sehr bedeutend, Kaffee steigend. Wetter neblig. — [Am folgenden Tage!] 
Morgens 3 Uhr: Stimmung äußerst matt, schwache Frage nach Brause. — 
Morgens 9 1 /, Uhr: Die Flaue hält an, etwas Geschäft in Selters waaser. 
— Mittags 1 Uhr: Starke Nachfrage nach Sardellen und Heringen; alter 
Korn und Bier sehr begehrte 

Ich muß gestehen: die Treffsicherheit des Verfassers dieses »Börsen- 
berichtes« ist eine frappante. Und nun drängt sich eine Frage auf: Woher 
diese Kenntnis? Ich glaube: es ist nicht allzu schwer zu erkennen, daß 
dieser Kneipe andere ähnliche vorausgegangen sind, ja, daß geradezu eine 
* systematische« Kneiperei besteht. — Eine gute Ergänzung über die Vor- 
gänge in der beginnenden Morgendämmerung gibt folgende »Polizeirer- 
Ordnung« (aus derselben Zeitung): »Die Einwohner von . . . werden hier- 
durch aufgefordert, für die Nacht vom . . . zum ... die Rinnsteine saaber 
zu fegen, Leitseile an ihren Häusern anzubringen, gefundene Gegenstände, 
als da sind: eingetriebene Hüte, Mützen, Papierkragen, zerbrochene Klemmer, 
Handstöcke usw., abzuliefern, und dafür zu sorgen, daß, wenn etwa Personen 
darin aufgefunden werden, dieselben an einem trockenen Orte solange 
liegend aufbewahrt werden, bis selbige in der Lage sind, sich selbst weiter 
zu befördern.« — Es ließen sich gar nicht so sehr wenige Fälle anführeD, 
die diese Worte beweisen konnten, oft genug werden Schüler in schwer 
zu beschreibendem Zustande unter freiem Himmel ihren Bausch ver- 
schlafend gefunden. Darin geben sie jedenfalls den Studenten unserer 
deutschen Universitäten nichts nach. 

Auch folgendes Opus ist nicht Übel, so leid es einem tun kann, wie 
die Jünglinge, die einen Schiller begeistert verehren sollten, ihn statt dessen 
parodieren in einer ziemlich niedrigen Weise. Es entstammt gleichfalls 
der Feder eines Sekundaners aus diesem Jahre: 

»Der Jammer. 

Wohltätig ist des Bieres Macht, 

wenn's wird genossen mit Bedacht. 

Zu jedem Werke, das man schafft, 

verleiht es Liebe, Mut und Kraft 
Doch wehe, wenn im blinden Wahn 
des Guten wird zu viel getan. 
Wehe, wer vom Rausch befallen, 
selbst verlieret den Verstand, 
aus der Kneipe düstern Hallen 
wälzt den ungeheuren Brand. 1 ) 

Aus dem Auge brechen Tränen, 

in dem Auge strahlet Glut, 

glotzt die Wut. 

Hört, ihr Schönen in der Kammer, 
das ist Jammer. 

*) »Brande ist eine Umschreibung für Bausch. 



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Wilkeb: Verbotene Sohülerpoesie. 



273 



Finstre Nacht umgibt da« Auge, 
das ist Dicht des Wassers Macht. 

Welch ein Grausen! 

MuDd gebt auf, 

Bier wallt auf, 

wütend zieh'n Gambrinus" Waffen 

durch des Magens enge Gassen, 

um den Körper zu verlassen. 
Schäumend aus dem weiten Rachen 
bricht's hervor mit lautem Krachen. 

Durch die Kehle zieht der Strahl 

kommt die Zahl zu vieler Schoppen. 

Hoch im Bogen spritzen Ströme 

Stoß auf Stoß, — hoffnungslos 

liegt er da, ein Mann der Schmerzen: 

Bier, — läßt niemals mit sich scherzen.« 

Es ist oft nicht leicht, sich in den Sinn dieser »Dichtung« hinein- 
zufinden, weil sie sinnlos an vielen Stellen ist. Übrigens ist das Aufkommen 
einer sexuellen Regung nicht gerade edelster Art in den Worten »Hört, 
ihr SchOnen in der Kammer« bemerkenswert, wenn sie auch nicht sehr 
ausgeprägt ist. An anderen Stellen wimmeln diese »Bierzeitungen« oft von 
<Jen gemeinsten Zoten und noch mehr von Doppelsinnigkeiten, die bei . 
Schülern sehr beliebt sind. Auf die Wiedergabe derartiger Stellen muß 
ich verzichten, da sie oft Persönliches, allzu Persönliches enthalten, nament- 
lich auch Ober das Eheleben (oder besser wohl Sexualleben) der Lehrer. 
Man sollte allmählich davon überzeugt sein, daß die Schüler die schärfsten 
Beobachter — wie überhaupt alle Kinder — sind, und sioh danach richten. 
So enthalten z. B. alle mir zu Gesicht gekommenen »Bierzeitungen« oft 
Stenogrammen ähnliche Aufzeichnungen über Unterrichtsstunden irgend- 
welcher Lehrer, die oft die wunderbarsten Schlaglichter auf Unterrichts- 
praxis mancher Erzieher werfen. Es würde viele zur Vorsioht mahnen, 
wenn sie einmal lesen könnten, was sie achtlos aussprachen — und was 
die Schüler natürlich mit größter Freude aufgriffen. (Schon aus Mangel 
an Raum kann ich derartige Aufzeichnungen nicht veröffentlichen, wenn 
sie auch wertvolle Schlüsse auf die Auffassungsgabe der Schüler zulassen.) 

Aber noch weitere »Herzensergüsse freiheitsdürstender Sekundaner«! 
Eine eigenartige Auffassung vom Menschenleben dokumentiert folgendes 
Poem, das gewissermaßen als Willkommensgruß gilt; jedenfalls ziert es 
das Titelblatt einer Ostern 1909 erschienenen »Bierzeitung«: 

»Was mit dieser Welt gemeint, 
scheint mir keine Frage. 
Alle sind wir hier vereint 
froh beim Festgelage. 
Setzt Euch her und schaut Euch um: 
voll sind alle Tische; 
keiner ist von uns so dumm, 
daß er nichts erwische. 
Zeitschrift für Kiadorforechong. XV. Jahrgang. 18 



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274 



A. Abhandlungen. 



Stoßet an! Die Wonnekraft 
möge selig walten, 
bis die Zeit uns fortgerafft 
zu dem Chor der Alten. 
Dann so tragt mich nur beiseit 
in die dunkle Kammer, 
auszuruhn in Ewigkeit 
ohne Katzenjammer. € 

Zur Charakteristik der so bewillkommneten Kneipkumpanen mögen 
folgende Verse dienen. Da heißt es zunächst sehr prophetisch von einem: 

» Bier, Tabak und Rundgesang 

wird er lieben lebenslang.« 

Mir ist nicht froh zumute, wenn ich eine derartige Prognose lese 
oder höre, da der Betroffene wohl nie über seine Stammtischinteressen 
hinauskommen wird. Ein recht tüchtiger Kueipgesell wird uns folgender- 
maßen vorgestellt: 

»N. N., dieser Knab' so hold, 
ist jedoch ein Trunkenbold. 
Hat er seinen Zweck erreicht, 
sich bis oben voll gepumpt, 
ist sein Körper schief geneigt; 
leise vor sich hin er summt: 
Ich bin voll wie eine Unke!« 

während der folgende Schaler ein regelrechter Quartalssäufer ist, wie ich 
sie schon verschiedentlich angetroffen habe: 

9 Wenn auch im ganzen mäßig, 
treibt er's mitunter gar toll; 
dann trinkt er alle Tage 
und ist alle Tage voll.« 

Mit dem Trinken Hand in Hand muß auch für die Sekundaner schon 
das » Lieben c gehen, wenn auch vorerst noch in etwas unschuldigerer Form: 

>In der Schule ist er rühmlich, 
dooh auch sonst nicht schlecht; 
poussieren kann er riemlich 
und's Biertrinken erst recht« 

Die Anweisung, den Mädchen zu gefallen, ist in folgenden Worten 
enthalten : 

> er ist wahrhaftig nioht blöde. 

von hübschen Magdlein kennt er jede; 
das kommt: ihr könnt ihn fein und schon 
stets abends auf dem Bummel sehn. 
Es ist bekannt, daß er viel raucht 
und auch recht häufig sich beschlaucht.« 

Noch einige weitere Proben, die ich einer Ostern 1907 erschienenen 
Kneipzeitung entnehme; sie beginnt mit folgendem »Festgesangc : 



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Wilker: Verbotene 8chülerpoesie. 



275 



»Lafit Lieder klingen, wer es kann, 
mit Hausmusik und Flöton. 
Wir wollen heute alle Mann 
uns einen tücht'gen loten. 1 ) 
Vergoßt jetzt alle Sorgen, 
denn unser guter Gerstensaft 
bringt allen immer Mut und Kraft, 
und denket nicht an morgen.« 

Bezeichnend für die Begriffe von Mäßigkeit anter unseren Gymnasiasten 
sind folgende Verse: 

»Hast Du 'ne Last, die drückt dich hier, 
verscheuche die Gedanken. 
Denn desto bossor schmeckt das Bier, 
Je mehr die Eniee wanken.« 

Ein ganz anschauliches Bild des Heimwegs von der Kneipe: 
»Im Sturm und Regen um halb eine 
verlaftt die Kneip' der Pennalist. 
So selten kreuzen sich die Beine, 
wenn er nur erst im Hause ist 
Schon ausgelöscht ist die Laterne, 
und Schwefelhölzer hat er nicht 
Er sah im Schloß den Schlüssel gerne, 
da spricht er seufzend: Licht, mehr Licht!« 

Allerdings machen die Lehrer es oft nicht besser. Vor mir liegt ein 
Lied, das gesungen wurde bei einem GymnasiaUehrerfestmahl; sein letzter 
Vers lautet also: 

»Und geht das Kollegium 
Heut* nach Hause schief und krumm. 
Ruf ich grade früh und spät: 
Hoch die KoUegialitätN 

Was soll man dazu sagen?! Doch zurück zur Schülerpoeaie, und zwar 
wieder zu den Charakterversen: 

»N. N., ein großer Dichter, 
interessiert aich nicht für Wichter, 
ist aber ein Jager vor dem Herrn. 
In Schnaps besäuft er sich sehr gern.« 

Leider stimmte das allzu sehr, wie auch die folgenden Zeilen: 
»N. N. gleichet einem Faß, 
das nie trocken steht 
Raucht dabei ohn' Unterlaß, 
bis ihm 's Geld ausgeht« 

Oder folgende Anzeige: »Ein Reisender für Spiritus, der auch mit 
Schnaps vertraut ist, wird gesucht.« Dazu ist unter Nennung eines 
Namen 8 bemerkt: 



Uns t)Gtnnk0n. 

18* 

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276 



A. Abhandlungen. 



«Du bist bekannt an allen Orten 

als Kenner vieler Branntweinsorten, 

du verkehrst viel in Destillen. 

Melde dich! Du wirst den Plate ausfüllen.« 

Der also Gekennzeichnete war ein kleines, im Wuchs hinter seineo 
Kameraden stark zurückgebliebenes Barscheben im Alter von 15 Jahren. 
Seine Sohulleistungen waren sehr dürftig. 

Wie es Jungen gehen kann, die den Mut haben, sich gegen diesen 
Unfug aufzulehnen, mag folgendes Zwiegespräch, das vielleicht am besten 
die ganze Denkweise unserer Gymnasiasten hinsichtlich ihrer Stellung zum 
Alkohol beleuchtet, zeigen: 

»Sohn: Du, Vatter, dat is de Untersekundaner vom . . ., der nur 

Milch oder Quatsch 1 ) trinkt. 
Vater: Dat is ne wahre Schmach. Dat will en Sekundaner sein. Den 

Menschen muß ich mir genauer ansehn.« 

Denselben Jungen treffen die Worte: 
»N. ist auch antialkohol, 
tut sich am Hier nicht laben. 
Wenn's blaue Kreuz bestehen soll, 
muß es auch Leute haben.« 

Und spöttelnd heifit es von einem andern Jungen: 
»Schwimmen kann er auch sehr fein, 
nur im Saufen bleibt er klein.« 

Es bleibt mir nicht viel mehr zu bemerken: ich veröffentliche diese 
Proben verschiedener Kneipzeitungen, um einem weiteren Kreise die Unter- 
lagen zu geben und den Beweis dafür, wie berechtigt unsere Klagen Über 
diese geistesarmen Produkte sind. Aber schließlich können wir nicht bei 
der Klage stehen bleiben und auch nicht beim Verbot Die einzige 
Möglichkeit ist: Veredelung der Genüsse. Eine solche herbeizuführen 
dürfte bei einigem guten Willen nicht schwer halten, vor allem wenn sich 
die Lehrerschaft selbst allmählich zu einem endgültigen Bruche mit der 
althergebrachten Trinksitte und Kneipenpoesie entschließen könnte, und 
wäre es schließlich nur: um unseren Jungen mit dem richtigen Beispiele 
voranzugehen. Sie selbst würde einen nicht geringen Gewinn haben durch 
die erhöhte Leistungsfähigkeit der Zöglinge, durch die Vermeidung von 
Zeit- und Kraftaufwand, den doch immer jede Störung im Organismus 
des Kindes beansprucht Im ganzen also würde sich eine Erleichterung 
der gesamten Erziehungsarbeit herbeiführen lassen. Und gleichzeitig könnte 
sich das Individualitätenbild unserer Zöglinge um ein bedeutendes ver- 
schärfen. 

Zehlendorf- West bei Berlin. Dr. Karl Wilker. 



l ) Lemon Squash. 



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1. Ein Besuch im Institut für experimentelle Psychologie und Pädagogik. 277 



B. Mitteilungen. 

1. Ein Besuch im Institut für experimentelle 
Psychologie und Pädagogik in Leipzig. 

Von Dr. phil. Hugo Schmidt-Radolstadt 

Seit 1906 unterhält der Leipziger Lehrerverein io seinem schönen 
Heime in der Krameretraße als besondere Einrichtung ein Institut für 
experimentelle Psychologie und Pädagogik. 

Dieses liegt in der zweiten Etage des Lehrerhauses und umfaßt im 
ganzen acht Räume, unter denen ich neben den Arbeitszimmern und 
der Dunkelkammer für photographische Arbeiten besonders die zwei Hör- 
säle nennen möchte, deren größter 100 Personen faßt Dort ist zugleich 
die Bibliothek des Vereins untergebracht, die freilich noch nicht allen 
Anforderungen gerecht werden kann. Nach dem mir vorliegenden Bücher- 
verzeichnisse sind wichtige Gebiete der psychologisch-pädagogischen Literatur 
gar nicht vertreten; ich denke z. B. nur an die Literatur über die Ent- 
wicklung der Kindersprache, die augenblicklich mit Eifer erörtert und 
bereits nach besonderen Metboden erforscht wird; ferner ist die patho- 
logische Pädagogik ganz unberücksichtigt geblieben, und aus der umfang- 
reichen Literatur über das Hiifsschulwesen ist gar nichts vertreten — 
sogar die am meisten gelesenen Zeitschriften fehlen ganz. Diesem Mangel 
laßt sich aber leicht abhelfen, mit geringen Geldmitteln wird viel aus- 
gerichtet; auch stehen den Leipzigern die Schatze der Pädagogischen 
Zentralbibliothek (Comeniusstiftung) und der Universitätsbibliothek jederzeit 
zur Verfügung. Einrichtung und Beschaffung der Apparate mögen wohl 
auch die finanziellen Mittel zunächst verschlungen haben. 

Das führt mich auf die Erörterung der finanziellen Seite des 
Unternehmens. Da der jährliche Aufwand des Institutes 3 — 4000 M 
beträgt, mußte zunächst der Leipziger Lehrerverein kräftig einspringen. 
Er hat bis jetzt 12 000 M für das Institut aufgewendet. Das Sächsische 
Ministerium des Kultus spendete einmalig 500 M, — ebenso bewilligte der 
Sächsische Lehrerverein dieselbe Summe als jährliche Beihilfe. Andere 
Geldmittel fließen aus den Beiträgen der Mitglieder, die entweder ständig 
im Institute arbeiten oder sich an Einführungs- oder Ferienkursen be- 
teiligen. 

In diesen Kursen wird hauptsächlich der Zweck des Institutes 
verwirklicht. Seine Hauptaufgaben sind: 

1. Einführung in die Methoden der experimentellen Psychologie und 
Pädagogik und 

2. experimentelle Untersuchungen pädagogischer und psychologischer 
Fragen. 

Im sogenannten Einführungskursus werden die wichtigen 
Apparate und Methoden der experimentellen Psychologie vorgeführt. 
Außerdem finden für die Institutsmitglieder monatliche Diskussions- 
abende statt, an denen z. B. folgende Aufgaben behandelt wurden: 



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278 



R. Mitteilungen. 



Begabungsunterschiede, 

Die Ermüdung. 

Die Kinderzeichnungen. 

Meumanns Vorlesungen zur Einführung in die experimentolle Pädagogik. 
Über den Zeitpunkt des Schulanfanges usw. 

In einem der Neben kurse wird eine englische Kinderpsychologie 
übersetzt, in einem anderen die dreibändige Wundtsche Psychologie durch- 
gearbeitet, in einem letzten endlich werden die Mitglieder in die höhere 
Mathematik eingeführt, die zur genauen und einwandfreien Ausdeutung 
der Resultate nötig ist. 

Daneben können auch Einzel arbeiten von den Mitgliedern aus* 
geführt werden. Im letzten Semester wurden z. B. untersucht: 

Der Einfluß der Frage auf die Antwort. 

Die Aussagesicherheit. 

Der Einfluß von Empfindungen und Gefühlen auf Puls und Atmung. 

Die Wahrnehmung einfacher Raumformen. 

Die Ermüdung und ihr Einfluß auf die körperliche Arbeit 

Die Auffassung der Zahlen. 

Die Entwicklung des Farbensinnes usw. 

Die Resultate dieser Untersuchungen sollen künftighin vom Institute 
in ausführlicher Weise veröffentlicht werden. 

Als erste Veröffentlichung des Institutes im weitesten Sinne des 
Wortes kann man das Buch von Rudolf Schulze ansehen: 

Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und 
Pädagogik. Leipzig, R. Voigtländers Verlag, 1909. X und 
292 Seiten. 

Der Verfasser ist einer der Gründer und eifrigsten Arbeiter des 
Institutes. Sein Buch enthält eine Beschreibung der wichtigsten Apparate, 
und es dient dadurch Lehrern, Seminaristen usw. zugleich zur Einführung 
in die Methoden der experimentellen Psychologie und Pädagogik. Besonders 
wertvoll sind die zahlreichen Abbildungen, die zum Verständnisse der 
Apparate und ihrer Handhabung wesentlich beitragen. Doch soll hier 
von einer Kritik des lesenswerten Buches abgesehen werden; hingegen 
fordern einige prinzipielle Fragen eine Erörterung heraus. 

Zunächst muß man sich von ganzem Herzen freuen über die Erfolge 
der Gründer, die den Gedanken faßten und verwirklichten — sich freuen 
über die gedeihliche Entwicklung, die das Unternehmen bisher genommen 
hat und noch nimmt. Man hat bei der Gründung des Institutes offenbar 
eine Zeitströmung richtig erkannt und mit praktischem Blicke und sicheret 
Hand Wege und Mittel zu ihrer Verwirklichung gefunden. Das Wort 
vom »Jahrhundert des Kindes« scheint also nicht nur eine leere Phrase 
zu bleiben wie viele andere, mit denen man gewöhnlich an der Jahr- 
hundertwende aufwartet; dazu hat der Leipziger Lehrerverein mit seiner 
Gründung kräftig mitgeholfen. Gerade in Leipzig war der Boden vorbereitet 
durch den berühmten Psychologen der Universität, Wilhelm Wundt 

Aber gerade in diesem Umstände scheinen die Anfänge zu bedenklichen 
Abirrungen zu liegen. Das Institut steht gegenwärtig unter der Leitung des 



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2. Vierte österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfursorge. 



279 



Herrn Dr. Brahn, eines Arztes, — und das Hauptwerk Wundts ist die 
schon genannte dreibändige > Physiologische Psychologiet. Diese An- 
deutungen mögen genfigen, um einen schulfremden Zug an der ganzen 
Arbeit zu konstatieren. Gewiß spielt die innige Verbindung von Leib und 
Seele bei der psychologischen Entwicklung des Kindes eine große Holle, 
aber die Haupttätigkeit des Lehrers liegt in der Ausbildung des In- 
tellekts und des Gefühls, womit zwei Gebiete bezeichnet sind, die der ex- 
perimentellen Bearbeitung durch Apparate fast unzugänglich sind. Anders 
liegt die Sache, wenn man den Begriff »pädagogisches Experiment« so 
weit faßt, daß man jeden Versuch — mit Beobachtung verbunden — 
darunter versteht; in diesem weiteren Sinne kann ich jede pädagogische 
Maßnahme als ein Experiment bezeichnen; ein solches liegt vor, wenn ich 
die Wirkung meiner Tätigkeit auf das Kind beobachte und den Erfolg 
abwarte. Aber diese Fragen sind durchaus noch nicht geklärt. 

Lay hat meines Wissens den Begriff »didaktisches Experiment« 
geprägt und im Ausbau desselben einen Weg eingeschlagen, der viel inniger 
mit der Schule in Verbindung steht als die experimentelle (physiologische) 
Psychologie. In Lays Sinne arbeitet Gutzmann und die französische 
Kinderpsychologie unter Binets Führung; Experimente dieser Art kann 
man in Trüpers Erziehungsheim Sophienhöhe bei Jena 1 ), in den Land- 
erziehungsheimen und anderswo täglich sehen; — diese Art von Ex- 
periment hatte Ostwald im Sinne, als er sein Büchlein schrieb »Wider 
das Schulelendc*) Durch das didaktische Experiment können 
meines Erachtens brennende Fragen der Gegenwart sicherer gelöst werden 
als durch die Experimente der physiologischen Psychologie. 

Das Institut für experimentelle Psychologie und Pädagogik zu Leipzig 
hat bereits einen guten Ruf erworben, — u. a. erfreut es sich eines an- 
dauernden, guten Besuches; es hat ferner allgemeine und offizielle, d. h. 
behördliche Anerkennung gefunden. Damit ist aber auch die Meinung 
nahegelegt, die dort vertretene psychologische Riohtung sei die »allein- 
seligmachende«. Das ist durchaus nicht der Fall; denn die Pädagogik 
schöpft aus vielen anderen, ebenso wichtigen Quellen brauchbare päda- 
gogische Erkenntnisse. 



2. Vierte österreichische Konferenz der Schwachsinnigen- 
fursorge. 

Von Dr. Theodor Heller. Wien-Grinzing. 
Am 21. und 22. März 1910 tagte im Josefssaal des Wiener Lehrerhaus- 
vereines die vierte österreichische Konferenz für Schwachsinnigenfursorge. 
Der Minister für Kultus und Unterricht, Graf Stürgkh, eröffnete die 
Konferenz in feierlicher Weise und führte in seiner Begrüßungsansprache 
folgendes aus: 

*) Vergl. hierzu Trüper, Das Erziehungsheim und Jugendsanatorium auf der 
Sophienhöhe b. Jena. 9. Aufl. Langensalza, H. Beyer k Söhne (Beyer & Mann), 1910. 

•) »Wider das 8chulelendt. Ein Notruf von Wilhelm Ostwald, Akademische 
Veriagsgesellschaft Leipzig. 1 M. 



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280 



B. Mitteilungen. 



Die ünterrichtsverwaltung hat Interesse an der Ausgestaltung des 
heimischen Fürsorgewesens für schwachsinnige Kinder. Gewiß ist die 
Schule nicht allein an dieser Frage interessiert, diese ist vielmehr zum 
großen Teil eine soziale Frage, die zu allererst die Eltern schwachsinniger 
Kinder selbst berührt, sodann die Pflegeschaftsbebörden , die Gemeinden 
und Länder, beziehungsweise jene Faktoren, denen es zukäme, für die 
dauernde Versorgung der erwerbsunfähig gebliebenen Schwachsinnigen 
Vorkehrung zu treffen ; schließlich aber auch den Arzt, der mitzusprechen 
hat, wenn es gilt zu entscheiden, ob und inwieweit ein schwachsinniges 
Kind noch das Beiwort »bildungsfähige verdient In ganz hervorragendem 
Maße aber interessiert diese Frage die Ünterrichtsverwaltung, da sie dazu 
berufen erscheint, jene Einrichtungen zu schaffen und auszugestalten, deren 
Bestimmung es ist. die schwachsinnigen Kinder ihrem Jammerdasein zu 
entreißen. Die Erkenntnis, daß auch das schwachsinnige Kind, wenn es 
überhaupt bildungsfähig ist, zu einer gewissen geistigen Reife gebracht 
werden könne, hat sich durchgerungen. Für eine erkleckliche Anzahl von 
Kindern bestehen auch bereits die geeigneten Unterrichtsvorkehrungen in 
Gestalt von Speziallehranstalten usw. Es kann auch keinem Zweifel unter- 
liegen, daß die Zahl dieser Einrichtungen sich bei uns weiter mehren wird. 
Das unverrückbare Endziel aber muß immer sein, daß diese Wohltat, die 
jetzt und wohl auch in nächster Zeit bei uns nur einem Teile der 
schwachsinnigen Kinder zugute kpmmt, schließlich allen vorhandenen 
schwachsinnigen Kindern zuteil werde. An der Mitwirkung der Ünterrichts- 
verwaltung wird es beim Anstreben dieses Zieles in keiner Weise fehlen ; 
dafür wird in erster Linie durch Veranstaltung von einschlägigen Fort- 
bildungskursen für Lehrer gesorgt, dafür wird durch die Herausgabe ge- 
eigneter Lehrbehelfe Vorsorge getroffen und auch an materieller Hilfe hat 
es, um den schulerhaltenden Faktoren die Kosten der Errichtung solcher 
Unterrichtsvorkehrungen leichter tragen zu helfen, bisher nicht gefehlt 
und wird es nach Maßgabe der verfügbaren Mittel auch in Zukunft nicht 
fehlen. Dieser Konferenz kann die Bedeutung nicht abgesprochen werden, 
daß durch die Erörterung der einschlägigen Fragen in der Öffentlichkeit 
auch die Eltern schwachsinniger Kinder, die leider vielfach noch gegen die 
Abgabe ihrer Kinder in solche Anstalten Stellung nehmen, aufgeklärt und 
belehrt werden. Der Minister wünschte namens der Regierung und ins- 
besondere im Namen der Unterrichtsverwaltung den Beratungen der Kon- 
ferenz den allerbesten Erfolg. — Prinzessin Auersperg begrüßte mit 
herzlichen Worten namens des St. Anna- Frauen Vereines, des Gründers und 
Erhalters der Pflege- und Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder 
»Ernestinnm« in Prag, den Kongreß. 

Von den sonstigen Begrüßungsansprachen wurde besonders warm und 
herzlich die des Vertreters des deutschen Hilfsschulverbands, Stadtschulrats 
Dr. Wehr h ahn aus Hannover aufgenommen. 

Nach einem Bericht des Direktors der Wiener Hilfsschule Hans 
Sohiner, der besonders auf die erfreuliche Entwicklung des Hilfsschul- 
wesens in Österreich hinweisen konnte, nahm Hofrat Professor Wagner 
von Jauregg das Wort zu einem Referat über den Kretinismus. 



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2. Vierte österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. 281 



Der Redner wies darauf hin, daß außer dem Vorkommen des 
Kretinismus in den Alpenländern die Erkrankung sich auch in einigen 
Bezirken der Sudetenlander, ferner in großer Ausbreitung in Galizien an 
der ganzen nördlichen Abdachung der Karpathen findet. Auch die Ebene 
ist nicht frei von der kretinischen Endemie. Als Beispiele führt Redner 
die Insel Schüft in Ungarn und die Muriosel an der Grenze von Steiermark 
und Ungarn an. Die Zahl der Kretinen in Österreich ist eine außer- 
ordentlich hohe und wird von der amtlichen Statistik auch nioht an- 
nähernd angegeben. In Steiermark z. B. sind mit Bestimmtheit mehr als 
10 000 Kretins vorhanden, während die amtliche Statistik nur 2500 bis 
3000 anführt. Die außerordentlichen Unterschiede in den angegebenen 
Daten erklären sich daraus, daß die amtliche Statistik die leichten Formen 
des Kretinismus nicht zählt, obzwar diese die häufigsten sind und der 
Therapie die günstigsten Aussichten eröffnen. Der Vortragende besprach 
weiter den gesetzmäßigen Zusammenhang von Kretinismus, Kropf und 
Taubstummheit und kam sodann auf die Behandlung des Kretinismus zu 
sprechen, bei der Arzt und Lehrer einträchtig zusammenwirken müssen: 
ersterer durch die medizinische Behandlung mittels Schilddrüsensnbstanz T 
ein Erfolg, der nur durch die so verlästerte Vivisektion erreichbar war; 
letzterer, iodem er dem durch die medizinische Behandlung Gebesserten 
einen seinen Geisteskräften angemessenen Unterricht in der Hilfsschule an- 
gedeihen läßt Der Vortrag des hervorragenden Gelehrten wurde mit 
starkem Beifall aufgenommen. 

Dr. Oskar v. Hovorka (Wien-Gugging) führte in seinem Vortrag: 
»Die weiteren Schicksale der die Anstalten verlassenden 
schwachsinnigen und epileptischen Kinder« folgendes ans: 

Zu den wichtigsten Aufgaben der Schwachsinnigenfflrsorge gehört die 
Versorgung der schwachsinnigen und epileptischen Kinder nach ihrem 
Austritte aus den Anstalten. Ihre weiteren Schicksale zu ermitteln, wäre 
die Aufgabe einer einschlägigen Statistik; doch an einer solchen mangelt 
es bei uns beinahe noch vollkommen, teilweise deswegen, da uns ja die 
Gesamtzahl noch ganz unbekannt ist, teils darum, weil sie auch un- 
gemein schwer durchzuführen ist. Tatsache ist, daß es noch bis heute 
nur eine ungenügende Anzahl von entsprechenden Anstalten gibt, in welchen 
die schwachsinnigen Kinder untergebracht werden können. Im ganzen 
bestehen jetzt solche Anstalten in Österreich und zwar in Niederösterreich 8, 
Oberösterreich 2, Steiermark 2, Salzburg, Kärnten, Krain, Tirol, Voral- 
berg, Böhmen, Mähren je 1. Ungarn besitzt zwei Anstalten, sowie eine 
ausschließlich für Epileptische bestimmte Anstalt in Wolfs (Bali). 

Die Art der Beschäftigung in diesen Anstalten, sowie die Ausbildung 
der Pfleglinge ist je nach ihrem psychischen Gesundheitszustande ver- 
schieden. In der Kinderanstalt zu Gugging, der größten in der Monarchie, 
in welcher zumeist hochgradig schwachsinnige Kinder, Idioten und Kretins, 
untergebracht sind, gelangt eine große Anzahl in Irrenanstalten (29°/ 0 ), 
ein Teil (20%) w ""d in häusliche Pflege übernommen, ein anderer wird 
in einer Versorgungsanstalt untergebracht, die mehr Befähigten (30%) 
kommen in höher organisierte Anstalten; 10% gehen mit dem Tode ab 



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282 B- Mitteilungen. 



und zwar zumeist durch Tuberkulose, epileptischen Dauerkrampf oder Lungen- 
entzündung. In den höheren Anstalten für Schwachsinnige werden einige 
soweit ausgebildet, daß sie nicht nur genossenschaftlich aufgedungen, 
sondern sogar als Gehilfen der verschiedenen Handwerke freigesprochen 
werden. Doch auch die in den verschiedenen Irrenanstalten untergebrachten 
jugendlichen Pfleglinge verrichten eine ganz erhebliche Arbeit; so waren 
in den Irrenanstalten Gugging im Jahre 1909 im ganzen 227,% ^er 
dort untergebrachten, meist pflegebedürftigen Irrsinnigen mit den ver- 
schiedensten Arbeiten beschäftigt. Eino besondere Art der Beschäftigung, 
welche unter dem Sammelnamen »Beschäftigungstherapie« bekannt ist, be- 
steht in der nö. Landesirrenanstalt in Mauer-Öhling. Im allgemeinen ist der 
Grundsatz aufzustellen, daß sich die Pfleglinge der Schwachsinnigen- 
anstalten zumeist am besten zur Ausbildung als landwirtschaftliche Arbeiter 
eignen, wodurch nicht nur infolge des dauernden Aufenthaltes an der 
frischen Luft den Schwachsinnigen am besten gedient, sondern auch einem 
tatsächlichen Bedürfnisse bei dem bekannten Mangel an Landarbeitern am 
billigsten abgeholfen wird. (Schluß folgt) 



3. Ein Allgemeiner Fürsorge-Erziehungs-Tag, 

einberufen von der freien Konferenz der Berufsarbeiter und Freunde des 
Fürsorge-Erziehungswesens, findet vom 27. bis 30. Juni 1910 zu Rostock statt 
Ober folgende Gegenstände wird verhandelt: 

1. Erzietiungs- Inspektor P. Thiele-Magdeburg: »Mitteilungen über 
Bedeutung, Erfolge und Mißerfolge der Fürsorge -Erziehung.« 

2. P. Studem und -Schwerin: »Aus der Mecklenburgischen Fürsorge- 
Erziehung.« 

3. P. Disselhoff- Kaiserswerth: »Die Arbeit der evangelischen 
Magdalenen - Asyle. « 

4. Pastor Becker, Prov.-Erziehungs- Anstalt, Rheindahlen: »Die 
katholisohen Fürsorge - Erziehungsanstalten. « 

5. Pastor Backhausen, Stephansstift, Hannover: »Werkstattlehre,« 

6. Landesassessor Hartmann, Hannover: »Unsere Wünsche zum 
Entwurf der Strafprozeß- und Strafrechtsreform hinsichtlich der Fürsorge- 
Erziehung.« 

7. Besichtigung der Rettungsanßtalt Gehlsdorf. 

8. Direktor Pastor Fritz Jahn-Züllchow: »Beschäftigungs- und 
Gesellschaftsspiele als wichtige Erziehungsmittel in Anstalten, Kolonien 
und Familien.« 

9. Vortrag über die Behandlung der schwererziehbaren Fürsorge- 
Zöglinge: a) »Vom psychiatrischen Gesichtspunkt.« Dir. Dr. med. Kluge- 
Potsdam. b) »Vom pädagogischen Gesichtspunkt.« Anstalts - Vorsteher 
P. Bredereck -Strausberg. 

10. Pastor Becker: »Jugendfürsorge im Lübecker Staat« 

Die Ausstellung von Erzeugnissen der Werkstätten von 29 Anstalten 
für schulentlassene männliche Fürsorgezöglinge kann jederzeit während der 
Tagung im Tivoli, Alexandrinenstraße 1, besichtigt werden. 



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4. Der II. deutsche Jugendgerichtstag. 



— 5. Preisausschreiben. 



283 



Näheres durch den Vorsitzenden P. Seiffert, Direktor der Proviuzial- 
Schul- und Erziehungsanstalt zu Strausberg in Brandenburg. 



4. Der II. Deutsche Jagendgerichtstag 

wird auf Einladung des Magistrats zu München in der Zeit vom 29. September 
bis l. Oktober 1910 in der hayerischen Hauptstadt abgehalten werden. 
Die Deutsche Zentrale fflr Jugendfürsorge lädt zur Teilnahme die beteiligten 
und interessierten Behörden, Vereine und Privatpersonen Deutschlands 
sowie der deutschen Teile Österreichs und der Schweiz ein. Auf dem 
Jugendgerichtstag soll zunächst eine Obersicht über den Stand der Jugend- 
gerichtsbewegung in Deutschland, Österreich und der Schweiz durch 
A. G. R. Dr. Könne- Berlin, Staatsminister Baern reit her- Wien, eventuell 
0. L. G. R. Warhan ek- Wien, Professor Hafter-Zürich gegeben werden. 
Es steht ferner auf der Tagesordnung: Das Jugendgericht im Vorverfahren, 
Organisation und Zuständigkeit der Jugendgerichte. Besonderheiten des 
Verfahrens. Strafe und Erziehungsmaßnahmen sowie deren Abgrenzung, 
und endlich Zusammenwirken der Jugendgerichte mit anderen Behörden, 
Vereinen und freiwilligen Helfern. Als Referenten sind bisher gewonnen: 
0. A. R. Pem er 1- München, A. R. Dr. Hertz -Hamburg, Landrichter Stoll- 
Stuttgart, die Staatsanwälte Rupprecht- München, Wulffen -Dresden und 
Stahlknecht-Bremen, Reg. -Rat Dr. Lindenau- Berlin, Rechtsrat Grieser- 
München. 



5. Preisausschreiben 

der beachtenswertesten Lehrmittel zwecks Gewinnung eines Ver- 
zeichnisses für heilpädagogische Schulen und Anstalten ist der »Lehr- 
mittelwarte« ein Betrag von 50 M in bar zur Verfügung gestellt. Das 
Verzeichnis soll neben den einzelnen Lehrmitteln auch den Preis, Verlag 
resp. Fabrikanten oder die Bezugsquelle angeben und am Ende eine ganz 
kurze Begründung der Aufstellung bringen. Der Betrag von 50 M ge- 
langt in drei Preisen zur Verteilung — ein 1. Preis zu 25 M, ein 2. Preis 
zu 15 M und ein 3. Preis zu 10 M. Bei der Preiszuerkennung wird 
weniger auf den Umfang des Verzeichnisses als vielmehr auf die Einfach- 
heit, praktische Zweckmäßigkeit, den Sondercharakter der Lehrmittel, wie 
auch auf die Begründung der Zusammenstellung gesehen werden. Die 
Arbeiten dürfen nicht mehr als fünf Druckseiten der Lehrmittelwarte um- 
fassen und sind bis zum 1. Juli 1910 an den verantwortlichen Schriftleiter 
der Lehrmittel warte, Herrn Hauptlehrer Frenzei in Stolp i. Pommern. 
Wallstr. 7, einzusenden. 



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284 



C. Liteiatur. 



C. Literatur. 



Proletarier - Autobiographien. 

I. Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin. Von ihr selbst erzählt Mit ein- 
führenden Worten von August Bebel. München, Verleg von Ernst Rein- 
hardt, 1909. 1 M. 

II. Erinnerungen eines Waisenknaben. Von ihm selbst erzählt. Mit Vor- 
wort von Professor August Forel. München, Verlag von Ernst Reinhardt, 
1910. 1 M. 

III. Ich suche meine Mutter. Die Jugendgeschichte eines »eingezahlten Kindes«. 
Diesem nacherzählt von Max Winter. München, Verlag von Ernst Reinhardt. 
J910. 1 M. 

IV. Proletariers Jugendjahre. Herausgegeben von Dr. Adolf Levenstein. 

Berlin, Verlag Eberhard Frowein, 1909. 1,50 M. 

V. Die Lebenstragödie eines Tagelöhners. Von Georg Meyer. Mit 
Vorwort von Dr. Adolf Levenstein. Berlin, Verlag Eberhard Frowein, 1909. 
2,50 M. 

VI. Adolf Levenstein, Aus der Tiefe (Arbeiterbriefe). Beiträge zur Seelen- 
Analyse moderner Arbeiter. Berlin 1909. 1 M. 

Das, was diesen sechs Büchern gemein ist, ist ihr Ursprung: sie entstammen 
den tiefsten Schiebten unseres Volkes wie der Kulturmenschheit überhaupt, sie sind 
Lebensäußerungen. deren Wert wir nicht hoch genug anschlagen können. Freilich 
liegen die wesentlichen Ergebnisse auf anderen Gebieten als auf dem der Kinder- 
forsohung, die aber au« vielen einzelnen Bemerkungen wertvolle Bereicherung er- 
fährt. Das, was man gegen die Ausnutzung dieser Darstellungen zu pädagogischen 
Zwecken vielleicht sagen könnte, wäre: in den Jahren, die seit der Schulzeit dieser 
Proletarier vergangen sind, ist doch vieles besser und anders geworden. Gewiß — 
aber vieles ist auch unverändert geblieben. Vor allem aber kann uns nichts besser 
das Werden und Entwickeln der Seele des Proletarierkindes andeuten als diese Auf- 
zeichnungen, die oft in die frühesten Jugendjahre zurückweisen, was ein Arbeiter 
so zu erklären sucht: ». . . Die furchtbare Not, in der ich als Kind ständig gelebt 
habe, wird wohl mit bewirkt haben, daß alles meinem Gedächtnis erhalten geblieben 
ist« (IV, S. 52). Und die Kindheit sollte sonnig und glücklich sein, statt elend 
und dunkel! 

Die Forschung darf auch nicht vor politischer Gesinnung zurückschrecken. 
Dali aus diesen Blättern der Wille zur Sozialdemokratie spricht, ist fast selbst- 
verständlich. Aber sollte man sie darum unbeachtet lassen? Ich glaube, wir können 
aus ihrer Beachtung nur Vorteile gewinnen, insbesondere die, welche den Kindern 
des niedersten Volkes nahe stehen. Jedenfalls aber müssen wir auf diese Bücher 
zurückgreifen, wenn wir das Werden der Anschauungen in den Volkskreisen, die 
uns zum großen Teil noch fremd sind, wenn wir die geistige Entwicklung, die 
Interessensphären dieser Kinder kennen lernen wollen. Die für unser Wissens- 
und Forschungsgebiet wichtigsten Momente seien im folgenden hervorgehoben. 

I. Die Erzählerin verliert früh ihren Vater. Die Mutter, ein Waisenkind, 
hat keine Schule besucht und ist deshalb eine Feindin der >neumodischen Gesetze«, 
der Schulpflicht Sie hält, so oft die Not es gebietet, ihre Kinder der Schule fern, 



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C. Literatur. 



285 



auch dieses, ihre jüngste Tochter, obwohl die Lehrer richtig die gute Befähigung 
des Mädchens erkennen, das gern viel gelernt hatte, um Lehrerin zu werden, nach 
dreijährigem Besuch einer Volksschule mit 10 Jahren durch Unterlassung der 
polizeilichen Anmeldung aber der Schule ganz entzogen wird, um nach jahrelanger 
Arbeit in Werkstättun und Fabriken schließlich als sozialdemokratische Rednerin 
und Agitatorin aufzutreten und Befriedigung zu finden. 

Die Wohuungsverhältnisse sind jämmerlich: kein eigenes Bett; Mutter und 
Tochter (zeitweise noch ein obdachloses Dienstmädchen) schlafen zusammen und 
im gleichen Zimmer ein erwachsener Bruder mit einem Schlafburschen, dem erst 
gekündigt wird, als er nächterlicherweile sich der Vierzehnjährigen zu nahen ver- 
sucht. Dadurch gerät das arme Wesen in furchtbare Angst, die über dem ganzen 
Jugendleben drückend lagert. Möglicherweise spielt hier die Schundlektüre eine 
Rolle mit: wahllos wird geliehenes und für die von der Nahrung abgesparten Pfennige 
zusammengekauftes und -geborgtes verschlungen. »Neben Räuberroman <?n, die mich 
besonders fesselten, interessierte ich mich lebhaft für die Geschicke unglücklicher 
Königinnen« (S. 14). Dadurch fühlt sich die Vierzehnjährige »der Wirklichkeit ent- 
rückt«, sie identifiziert sich mit den Heldinnen ihrer Bücher. Mit 13 Jahren liest 
sie vollkommen harmlos die frivolsten französischen Erzählungen, auch fühlt sie 
sich abgestoßen von dem Verkehr der jungen Männer und Mädchen in deu Fabriken. 
Im Krankenhanse lernt sie Schiller und Daudet kennen, später Lonau, Wieland, 
ChamisMo; Goethe fand sie damals »unmoralisch«. 

Neben dieser Kennzeichnung geistiger Interessen ist vor allem die religiöse 
Entwicklung interessant: zuerst fromme Katholikin, die durch unzählige Gebete und 
durch Wallfahren von Gott Linderung der Not erhofft. Darauf folgt nicht etwa 
sofort vollkommener Zweifel ; immer wieder betet, zweifelt, betet sie. Erst allmählich 
wird sie »frei von allen religiösen Vorstellungen« (8. 65), zum Teil wohl infolge der 
Bekanntschaft mit sozialdemokratischen Ansicbton, die sie au» Zeitungen kennen 
lernt. Im Gegensatz zu den sonstigen Lesebedürfnissen interessieren sie hierin vor 
allem die politischen Nachrichten: »Alle anderen Dinge, von denen man sagt, daß 
um ihretwillen Frauen Zeitungen lesen, ließen mich kalt, ich überflog sie kaum« 
(8. 59). — Zu erwähnen bleibt endlich noch, daß das Gedächtnis bei diesem Mädchen 
■ehr gut ist Auch hier begegnet uns die Bemerkung, daß die düstere Tragik der 
Jugendjahre sie in allen Einzelheiten unvergessen mache. 

II. Erlebnisse aus dem Waisenhaus, datierend von der Aufnahme des fünf- 
jährigen Jungen an. Sie geben viel zu denken über diese Institutionen, in denen 
eine äußerst seltsame Pädagogik oftmals zu herrschen scheint: neben einer fast 
pietistischen Frömmigkeit ein Prügelsystem widerlichster Art; des öfteren findet 
die Exekution vor den versammelten Schülern statt, die sich »mit totenblassen Ge- 
sichtern« anstarren. Neben Prügel spielen Hungernlassen , Entziehung des Aus- 
gangs und vor allem seltsame Freiübungen, wie sie von den Aufsehern (ehemaligen 
Unteroffizieren) betrieben werden, als Erziehungsfaktoren die Hauptrolle. Daß das 
in den Zöglingen Rachegedanken schlimmster Art erweckt, daß es alle ethischen 
Gefühle über den Haufen wirft, kann nicht wundernehmen. Gleichzeitig beweist 
aber die Anhänglichkeit der Kinder an einen gütigen Lehrer, daß in ihnen ein 
starkes Gefühl für die Menschen ist, die sie richtig anzufassen verstehen. Sehen 
wir ab von der Erörterung der Lektüre, Details der Straf Vollziehung und ihrer 
Wirkung (S. 47: »Viele dieser 8trafen empfand ich als hart und ungerecht, das 
machte mich gleichgültig und trotzig«), auch von der Schilderung des vierzehn 
Monate währenden Aufenthaltes im Hospital, das von dem Knaben bei weitem dem 



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286 



C. Literatur. 



Waisenhause vorgezogen wird, um einzugehen auf das Wachwerden der Geschlechts- 
lust Mit zehn Jahren redeten »wir Buben wohl heimlich, aber sehr oft über ge- 
Bchlechtliohe Fragen«. Das Hospital mit den vielen Wärterinnen macht dem Knabvn 
zunächst reine Freude. Durch die lockeren Sitten des Personals erfahrt aber das 
Kind mehr als gut ist: eine Wärterin läßt den noch nicht Zwölfjährigen unter ihre 
Röcke sehen; »Ich weiß nicht, was mich ankam, aber ich lief ihr nach und wollte 
in ihr Zimmer hinein« (8. 77). Dem Spitaiaufenthalt folgt das Kosthaas, in dem 
die jagendlichen Kräfte ausgenutzt werden. Die Kosteltern »waren mit eiserner 
Strenge hinter meiner Schultätigkeit her« (8. 101), und »es krankte mich, wenn 
ich bei einem Aufruf (in der Schule) eine Frage nicht beantworten konnte« (S. 102). 
— Die äußerst seltsame Onanio-Geschichte muß in dem Buche selbst nachgelesen 
werden: eine derartige »Aufklärung« ist das größte Verbrechen an Kindern, und 
den Verdächtigungen des Lehrers ist es zuzuschreiben, wenn in kürzester Zeit »die 
halbe Klasse dem Laster der Onanie ergeben« war (8. 106). Die Wohnungs- 
verhältnisse sind jämmerlich: zeitweise schläft der noch unreife Junge mit einem 
jungen Mädchen (sonst immer mit seiner Kostmutter) in demselben Bette: sie (das 
Mädchen) »drückte sich oft so enge an mich, daß ihr heißer Atem mir unmittelbar 
ins Gesicht drang und die Wärme ihrer Glieder sich den meinen mitteilte. Oft war 
sie auch ganz unbedeckt, so daß ich knapp vor meinen Augen Teile ihres nackten 
Körpers hatte. Da konnte ich dem Verlangen nicht widerstehen, ihren Husen oder 
die Beine scheu und ganz leise abzutasten. Später wurde ich kühner. Ich zog der 
Schlafenden langsam selbst die Decke vom Körper und trachtete dann ihr Hemd 
recht zu verschieben. ... Ich freute mich auf die Nacht und schob, wenn ich 
neben dem Mädchen lag, meinen Schlaf so weit als möglich hinaus, um das Ver- 
gnügen, das mir mein Beginnen bereitete, recht lange zu haben« (8. 114). Diese 
Autobiographie endet mit dem Abgang aus der Schule; der Junge wird Zeichcer 
und Graveur. 

Wie die vorige und die folgende Biographie ihren 8chauplatz in Österreich 
(wesentlich in Wien) haben, so auch diese. Darum sei bemerkt, daß Fräulein 
von Wolfring in Wien (wie im Vorwort auch Forel bemerkt) neuerdings den 
Versuch macht, Waisen- und Kostkinder in familienartig angelegten Gruppen bei 
braven kinderlosen Ehepaaren unterzubringen. Moglicherweise lassen sich so viele 
Kinderschicksale besser gestalten. 

DI. Am ergreifendsten wirkt das Schicksal dieses Kindes, das seine Matter 
sucht — und hofft, es durch Veröffentlichung dieses »Romans« zu erhalten. Es 
handelt sich um den am 26. April 1876 in der Gebäranstalt zu Wien geborenen 
Otto D. Hier konnten — ein Rettungsmittel gegen den Kindermord — bis vor 
kurzem noch Mütter auf dem Zahlstock »in der Maske gebären«, wenn sie eine 
Taxe von 110 Gld. hinterlegten für die Verpflegung des Kindes his zum 14. Jahre. 
Der Name des Kindes wurde in einem verschlossenen Kuvert bestimmt; er spricht 
oft für sich allein mehr als genug: Kaviar, Sherrybrandy. Kognak, Faschingsmoutag 
.... sind in den Akten als Hausnamen angegeben und eingetragen. Die Oebir- 
mögiichkeit in der Maske ist in den neuen Reformen 1 ) beibehalten, doch müssen 
zur Feststellung der Identität die nötigen Dokumente beigebracht werden. — Um 
ein solches Kind handelt es sich hier. Was es von seiner Mutter weiß, ist: sie 
war — nach den Aussagen der Ziehmutter — bei der Geburt 15 oder 16 Jahre alt. 



») Vergl. die Mitteilung darüber in: Die neue Generation. Jahrg. V, Heft 10. 
S. 448, 449. 1909. 



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C. Literatur. 



2S7 



mehr Kind noch als Frau, von vornehmster Abstammung. — Die ersten Jugend- 
jahre sind verhältnismäßig glücklich. In der 8chule wird der rege Junge auf die 
»Eselsbank« gesetzt und beinahe für schwachsinnig erklärt, überall als eine merk- 
würdige Existenz betrachtet und mit Legenden umwoben. Die Äußerungen jugend- 
lichen Hasses gegen einen ungerechten Lehrer mögen übergangen werden, obwohl 
sie für das Denken und Handeln zehnjähriger Knaben bezeichnend genug sind. Mit 
10 Jahren kommt der Junge nach Wien. Im ersten Kosthaus: völlige Verwahr- 
losung, nach deren Gründen kein Lehrer forscht, die aber dann zur Entfernung aus 
dieser Schule und Übergabe an neue Kosteltern führt. Diese haben ein Ix>kal, »wo 
unermüdlich der Dreieinigkeit Wein, Weib, Gesang gehuldigt wird«, wo der Junge 
aber an Abenden als Kellner allerhand verdient; sein Klassenlehrer ist »allnächtlicher 
Gaste in diesem Lokal. Die nächsten Zieheltern, wieder Wirtsleute, huldigen aus- 
giebig der Prügelpädagogik, so daß der Dreizehnjährige durchbrennt Zurückgeholt 
kommt er zu einem Blumenhändler, der die Arbeitskraft des Kindes noch mehr 
ausnutzt, so daß dieses, um den Prügeln des Lehrers zu entgehen, von seinem 
Nachbar die Schulaufgaben für zwei Kreuzer, die er von Trinkgeldern für Blumen- 
austragen nimmt, machen läßt: »So entging ich wohl den Prügeln, aber meine 
Lernerfolge waren gleich Null« (8. 65). Und nun beginnt die Tragik immer größer 
zu werden: Vom 15. Geburtstag an kümmert sich kein Mensch mehr um den 
Jungen, er zieht allein durch die Welt Arbeit und Arbeitslosigkeit; Obdachlosen- 
asyl, Arbeitshaus, Polizeiwachen, dunkle Spelunken und Höhlen — das alles wechselt 
miteinander ab. Mit Verbrechern und Dirnen kommt er zusammen. Das Ver- 
langen, zu erfahren, wer seine Mutter sei, treibt ihn dazu, einen Einbruch in die 
Sakristei der Kirche zu versuchen: in den Büchern muß doch stehen, wer sie ist 
Von dieser Zeit an ist das Leben voll von Wirrnissen, die erst nach und nach ein 
wenig geordneter werden. Jetzt ist der Mann Ansiedler und Handwerker in Torn- 
quist (Argentinien). — 

Während diese drei Einzeldarstellungen hauptsächlich und eingehend das 
Jugendsohicksal ihrer Schreiber darstellen und durch die Einblicke, die uns in 
das Denken und Fühlen, in die Lebensbedingungen derselben gegeben werden, für 
die Kinderforschung nach allen ihren Zweigen hin Beachtung erfordern, umfassen 
die beiden folgenden Werke mehr ganze Lebensschicksale, an Wirrungen und 
Irrungen womöglich noch reicher, als die vorerwähnten, weil, wenn man das 
»Proletariat« überhaupt noch gliedern kann, die hier erzählenden den tiefsten 
Schichten entstammen. 

IV. In diesem Buche erzählen jetzt meist Dreißigjährige von ihrer Jugend. 
So gibt uns das Leben eines Handschubmachers Aufschluß über jugendliche Ver- 
brechen, das eines Hausierers über Heimarbeit und deren Einfluß auf die Schul- 
arbeit, das eines Eisendrehers über die kindlichen Zweifel an Gott infolge Nicht- 
erhörens der Gebete, das eines Feilenhauers und eines Kanalarbeiters über die 
elenden Wo hnungs Verhältnisse von Kindern. Dabei haben die Aufzeichnungen dieses 
letzten geradezu kulturhistorische Bedeutung: packender hat wohl kaum jemand das 
Elend seiner Jugend in Masuren geschildert als dieser Mann mit seiner unbeholfenen, 
schweren Sprache, an der dank der Einsicht des Herausgebers keinerlei Korrekturen 
vorgenommen sind; daraus dürften sich für Sprachlehrer an Volksschulen nament- 
lich manche Urteile ergeben. Im allgemeinen spricht aus diesen biographischen 
Notizen nur Liebe zur Schule, oft Bedauern, nicht mehr gelernt zu haben. 

V. Das Schicksal eines verarmten katholischen Jungen, der Priester werden 
sollte, der aber als Tertianer die Schule verläßt, weil er den Spott und Hohn seiner 



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C. Literatur. 



Kameraden Ober seine zerlumpte Kleidung nicht mehr ertragen, weil er keine 
Bettelsuppen mehr essen, keine Stipendien mehr genießen will. Er wird Schreiber, 
dann aber, im Jugendalter noch, Fremdenlegionär. In düsterster Tragik setzt sich 
das Leben weiter fort, kann aber als außerhalb des Jugendalters liegend übergangen 
werden. Nur auf diesen einen Zug in dieser Jugend muß nachdrücklich hingewiesen 
werden: wie Spott und Hohn der Mitschüler ein Leben vernichten können; freilich: 
es kommen noch andere (wirtschaftliche) Faktoren hinzu. Dabei steckt eine tiefe 
Ethik in allen Äußerungen dieses Mannes. Er beobachtet zudem scharf und weiß 
daraus seine Schlüsse zu ziehen. Hier nur eine Probo: »Es will mir doch keiner 
weiß machen, daß ein Spitzbube, ein Mörder oder sonst ein Bösewicht als solcher 
geboren worden, daß das Verbrechertum auf natürliche Veranlagung zurückzuführen 
ist. Erst die Verhältnisse, die gesellschaftlichen Zustände und eine verfehlte 
Erziehung zeitigen Laster und Verbrechen im Menschen« (S. 116). 

VI. Wenn ich an dieser Stelle auf ein Buch hinweise, das anscheinend nichts 
mit der Kinderforschung zu tun hat, so muß es doch schon einen besonderen Grand 
haben. Und das ist dieser: fast alle dieser kleinen Selbstbekenntnisse bringen 
Aufzeichnungen über die genossene Erziehung, über die den Kindern jetzt zuteil 
werdende Erziehung, über Erziehung im allgemeinen. Vor allem die Schicksale 
des Bergmanns Max I/>tz sind bemerkenswert: uneheliohe Geburt, Verwahrlosung, 
ohne geordnete Erziehung, jugendlicher Verbrecher, Erziehung im »Korrektions- 
hause«; dabei ist der Wissensdrang und der Wille dieses Mannes bewundernswert. 
— Zu denken geben die Aufzeichnungen vor allem auch über die uneingeschränkte 
Geburtenzahl bei völlig unzureichenden Ernährungsverhältnissen, über die Aufzucht 
und Beschäftigung dieser Kinder usw. Ferner sind verschiedene Bemerkungen 
über religiöse Entwicklung sehr beachtenswert. Eines ist natürlich: diesen Menschen, 
die selbst vom edelsten Wissenstrieb erfüllt sind, die nach Büchern eine große 
Sehnsucht in sich tragen, die oft in elendster Not um ihr Leben kämpfen müssen, 
die die soziale Ungleichheit als die größte Ungerechtigkeit brandmarken, ihnen allen 
wohnt ein gewisser Haß gegen alles Bestehende und Herrschende inne. Aber 
lassen wir das — namentlich der Volkssohulpäda^oge wird wertvolle Anregungen 
aus dum kleinen Werke entnehmen. 

Möglicherweise — und wir wünschen es sehr — vermögen diese Bücher noch 
manchen gleichgültigen Erziehor aufzurütteln zu der Erkenntnis, daß wir alle Er- 
stehung nur auf die genaueste und eindringendste Kenntnis unserer Kinder gründen 
dürfen, nicht auf eine hergebrachte Handhabung irgend eines Erziehungsschemas, 
und daß es noch weite Betätigungskreise gibt, wenn wir allen Volksschichten, allen 
Kindern eine ihrer würdige, das heißt die beste Erziehung zuteil werden lassen 
woUcn. Dr. Karl Wilker. 



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Dr. phil. Theodor Heller, Direktor der Heilerziehungsanstalt Wien-Grinzing. 

(Schluß.) 



Wir gelangen nunmehr zu einem psychischen Krankheitszustand, 
der noch viele ungelöste Rätsel in sich schließt, zur Hysterie. Sie 
wurde früher — wie auch der Name zeigt — für eine Krankheit 
ausschließlich des weiblichen Geschlechts gehalten; gegenwärtig ist 
man zu der Überzeugung gelangt, daß auch eine männliche Hysterie 
existiert. Die Hysterie auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, die 
mit Krämpfen und körperlichen Begleiterscheinungen scheinbar der 
schwersten Art einhergeht, kommt für das Schulleben kaum in Be- 
tracht. Auch jene Form der Hysterie, die mit Trübungen des Be- 
wußtseins und mit Wahnvorstellungen verbunden ist, das sogenannte 
hysterische Irresein, kann hier übergangen werden. Doch sei aus- 
drücklich darauf hingewiesen, daß leichte Formen der Hysterie in 
schwere und schwerste übergehen können und daß schon aus diesem 
Grunde jedes hysterische Kind und jeder hysterische Jugendliche im 
Auge behalten werden muß. 

Die Hysterie kann auch lediglich auf psychischem Gebiet ab- 
laufen und ergibt dann einen eigenartigen Charakterbefund. Das 
Wesen und Betragen hysterischer Kinder und Jugendlicher ist un- 
echt und unwahr. Sie heucheln Gefühle, die sie nicht haben, können 
Rührkomödien aufführen, die ihre Umgebung zu Tränenströraen hin- 
reißen, und bleiben innerlich kalt, die Wirkung beobachtend und ab- 
messend. Die Hysterischen üben einen sonderbar suggestiven Ein- 
fluß auf ihre Umgebung aus. So kommt es, daß manches Kind seine 

Zeitschrift für Kindorf orechung. XV. Jahrgang. 19 



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290 



Ä. Abhandlungen. 



Eltern, Geschwister, seine Aufsichtspersonen vollkommen beherrscht 
und alles erreichen kann, was in seinem Belieben liegt Von einer 
Erziehung ist in allen diesen Fällen nicht die Rede, die üblen Eigen- 
schaften des Hysterischen schießen üppig in die Halme und seine 
antisozialen Eigenschaften entwickeln sich nicht selten schon im Jugend- 
alter zu bedenklicher Höhe. In der Schule übt der Hysterische oft den 
denkbar schlechtesten Einfluß auf seine Mitschüler aus. Sie sind ihm 
mit ganz wenigen Ausnahmen untertänig, wagen nicht, sich gegen 
ihn aufzulehnen, lassen ihn die Hausaufgaben ohne Widerspruch ab- 
schreiben, helfen ihm bei seinen großen und kleinen Schwindeleien. 
Wie groß der suggestive Einfluß Hysterischer ist, von denen oft 
eine Art psychischer Ansteckung ausgeht, beweisen die sogenannten 
Schulepidemien, in welchen sich irgend eine hysterische Unart, z. B. 
Räuspern, Spucken, Husten von Schüler zu Schüler, selbst von Klasse 
zu Klasse überträgt, ganze Schulen, oft ganze Schuldistrikte verseucht 
Wenn diese Epidemien auch hauptsächlich von Mädchen ausgehen 
und in Mädchenschulen herrschen, wobei das zartere Nervensystem des 
weiblichen Geschlechtes und dessen geringere nervöse Widerstands- 
fähigkeit in Betracht zu ziehen sind, so besteht doch kein Zweifel 
darüber, daß auch Knaben Träger psychischer Epidemien sein können. 
Ein historisches Beispiel hierfür bietet der Kinderkreuzzug (1212). 

Was uns an hysterischen Kindern am wenigsten anmutet, das 
ist die Tatsache, daß sie, bildlich gesprochen, zwei Gesichter tragen. 
Nach der einen Seite überaus höflich, fast kriecherisch demütig, jedem 
zu Gefallen redend, sind sie nach der anderen Seite brutal, ordinär 
und quälen Menschen, die ihnen ausgeliefert sind, bis aufs Blut Die 
Lügenhaftigkeit der Hysterischen ist bekannt, sie steht oft im Ein- 
klang mit der Sucht, Verwirrungen anzurichten, zu intriguieren, 
Ordnung und Regelmäßigkeit zu stören. Sehr treffend ist diese de- 
struktive Tätigkeit der Hysterischen als Minierarbeit bezeichnet worden. 
Wenn sich in der Schule alle Bande der Disziplin unter dem Ein- 
flüsse eines hysterischen Schülers gelockert haben, wenn der Lehrer, 
um seine Autorität, um seinen Einfluß auf die Schüler besorgt, nach- 
sieht, von welcher Seite diese Störungen ausgehen, dann steht der 
Hysterische oft mit der Miene des Schuldlosen abseits und weiß 
die Angelegenheit so zu drehen, daß schließlich ein anderer Schüler 
als der Schuldige erscheint und zur Verantwortung gezogen wird. 

Hysterische Kinder finden fast immer unter den Erwachsenen An- 
wälte, Verteidiger, Fürsprecher. Sie verstehen zu blenden, führen 
oft Leute, die nur nach Äußerlichkeiten urteilen, durch ihr sicheres 
Auftreten, ihre Frühreife, ihre Gabe zu reden, ihr komödiantenhaftes 



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Hkllkr: Psychopathische Mittelschüler. 



291 



Benehmen irre. Unter diesem Deckmantel, getragen von der Gunst 
solcher Beschützer, gestützt auf die unbedingte Unterordnung von 
Kameraden, entwickeln sich die antisozialen Eigenschaften der Hyste- 
rischen immer weiter und führen schließlich zu jenen Existenzen, 
denen wir in allen Großstädten immer wieder begegnen, den Nichts- 
tuern, die auf fremder Leute Kosten behaglich leben, den Schwindlern, 
Betrügern, Hochstaplern, die sich fast ausschließlich aus Hysterischen 
rekrutieren. Der Lehrer, der einen hysterischen Schüler oder eine 
hysterische Schülerin in seiner Klasse hat, ist wahrlich zu bedauern, ihm 
wachsen die disziplinaren Schwierigkeiten gleichsam aus dem Boden. 
Dazu kommt noch, daß die hysterischen Kinder und Jugendlichen zu- 
meist sexuell frühreif sind, oft perverse Neigungen haben und auch 
in dieser Hinsicht ihre Mitschüler oder Mitschülerinnen gefährden. 
Ich halte hysterische Kinder für die größte Gefahr in einem Schul- 
betrieb. Unter Umständen wäre es ein Gebot dringendster Notwendig- 
keit, sie zu entfernen, bevor sie ihren demoralisierenden Einfluß auf 
Mitschüler ausgeübt haben. Leider bietet sich hierzu in weitaus den 
meisten Fällen keine Handhabe. Ich kenne Fälle, in denen hysterische 
Schüler und Schülerinnen jahrelang ihr Unwesen treiben konnten, 
bevor sie in ihrer krankhaften Eigenart erkannt wurden. Schulstrafen 
haben auf solche Kinder und Jugendliche keinen Einfluß. Eine 
Möglichkeit, diese Psychopathen dahin zu bringen, wohin sie gehören, 
in Heilerziehungsanstalten, hat die Schule nicht 

Man sollte nun glauben, daß der Schule seitens des Elternhauses 
entgegengekommen wird, daß dort nach Erkennung der Eigenart 
hysterischer Kinder alles Erforderliche geschieht, um ein solches 
Kind, einen solchen Jugendlichen von seinen schlimmen Eigenschaften 
zu befreien. Dies ist aber in der Regel nicht der Fall. Vor allem 
fehlt die Voraussetzung für die richtige Behandlung, die Erkennung 
des hysterischen Charakters. Ich habe bereits dargelegt, daß die 
Hysterie eine psychische Infektionskrankheit ist. Die Hysterie erwerben 
die Kinder zumeist von ihren nächsten Angehörigen. Professor Bruns 
in Hannover, einer der genauesten Kenner der Kinderhysterie, sagt: 
» Hysterische Kinder haben hysterische Mütter, c Dies trifft in vielen 
Fällen zu, aber bisweilen begegnet man auch hysterischen Eltern, und 
manchmal ist die ganze Familie so verseucht mit Hysterie, daß man 
sich fragen muß, wie ein Zusammenleben unter diesen Verhältnissen 
überhaupt möglich ist 

Noch ein anderer Umstand kommt hier in Betracht Man ist 
gegenwärtig in vielen Familien gewohnt, sich von den Kindern viel 
gefallen zu lassen. Die Übergriffe hysterischer Kinder werden mit 

19* 



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292 



A. Abhandlungen. 



einer Geduld ertragen, die nur in einer Zeit schwindender elterlicher 
Autorität begreiflich ist Man nimmt von den Kindern alles hin und 
findet für alle ihre Fehler und Unarten Entschuldigungen und Er- 
klärungen. Und da man an die eigene Schuld, an die fehlerhafte 
Veranlagung der Kinder nicht glauben will, so macht man eben dritte 
Personen dafür verantwortlich. Welche unglückselige Rolle spielen 
nicht in solchen Familien Hauslehrer oder Gouvernanten, wie pein- 
lich wird nicht oft Lehrern oder Lehrerinnen der Verkehr mit den 
Angehörigen solcher Kinder! 

Die Hysterischen stellen ein relativ hohes Kontingent zu den jugend- 
lichen Selbstmördern (Gaüpp). Hysterische Kinder sind unberechenbar; 
die Selbstmorde Hysterischer sind gekennzeichnet durch den Mangel 
eines hinreichenden Grundes. Recht charakteristisch ist in dieser Hin- 
sicht ein Fall, der einen einjährig-freiwilligen Infanteristen betraf, 
der sich aus Enttäuschung darüber entleibte, daß er nicht bei der 
Kavallerie dienen durfte, deren Uniform zu tragen sein höchster 
Wunsch gewesen war. 

Ich muß es mir versagen, auf dieses Kapitel näher einzugehen 
und über die interessanten Erfahrungen zu berichten, die ich bei der 
Erziehung hysterischer Kinder gemacht habe. Hier konnte ich tiefe 
Einblicke gewinnen und hatte nicht selten gefunden, daß sich die 
Hysterie durch Generationen unter den verschiedensten Gestalten fort- 
erbt Ich habe auch feststellen können, daß hysterische Kinder sich 
auffallend oft in der Nachkommenschaft bedeutender Menschen finden. 
Die Hysterie erscheint mir als eine Form psychischer Degeneration. 
Sie ist zweifellos in kolossaler Zunahme begriffen und wird vielleicht 
einer kommenden Generation den Stempel aufdrücken. 

Auch die Epilepsie kommt für das Schulleben in Betracht 
Man hat gewöhnlich, wenn man von Epilepsie spricht, den mit 
schweren Anfällen behafteten, verblödeten oder der Verblödung 
entgegengehenden Kranken vor Augen. Es gibt aber, wenn 
auch vereinzelt, hochgradig begabte, selbst geniale Epileptiker. 
Napoleon litt an dieser Krankheit. Talleyrand war Zeuge eines 
schweren epileptischen Anfalles, von dem Napoleon in seiner An- 
wesenheit heimgesucht wurde. Neben den bekannten großen An- 
fällen gibt es bei Epileptikern auch kleine Anfälle, die in kurz- 
dauernden Zuständen von Bewußtlosigkeit ohne krampfartige Er- 
scheinungen bestehen und so still verlaufen können, daß sie nur bei 
genauer Beobachtung bemerkt werden. Zornmütigkeit, Zerstreutheit 
und Gedächtnisschwäche sind für die meisten Epileptiker charakte- 
ristisch. Oft bleiben derartige Kinder dem Unterricht ferne und 



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Heller: Psychopathische Mittelschüler. 293 



treiben sich außerhalb der Schule ziel- und planlos herum. Vielen 
Epileptikern geschieht in der Schule unrecht, wenn man sie wegen 
der scheinbaren Vernachlässigung ihrer Pflichten zur Verantwortung 
zieht Die Eltern wissen oft selbst nichts von der Krankheit ihres 
Kindes, wenn diese lange Zeit ohne deutliche Anfälle einhergeht, 
oder sie verschweigen den Zustand aus falscher Scham oder in der 
Befürchtung, ihr Kind in der Schule unmöglich zu machen. Die 
Meinungen darüber, ob ein epileptisches Kind zur Schule geschickt 
werden soll oder nicht, sind geteilt. Ich halte den Schulbesuch epi- 
leptischer Kinder nur in seltenen Ausnahmen für ratsam und bin der 
Meinung, daß epileptische Kinder und Jugendliche schon darum in 
Heilanstalten untergebracht werden sollten, weil hier die Heilungs- 
aussichten am größten sind, während die Kuren, die im Elternhause 
unternommen werden, in der Regel fehlschlagen. In diesen Heil- 
anstalten könnten Jugendliche je nach Art der Erkrankung und der 
vorhandenen Begabung auch angemessenen Unterricht erhalten, ja 
selbst das Mittelschulstudium ließe sich hier ermöglichen. Ich kenne 
einen Fall, in dem ein Epileptiker, der daheim und in der Schule 
unmöglich geworden war, in einer Heilanstalt sein Betragen sehr 
zu seinem Vorteil geändert hatte und erfolgreich regelmäßigen Unter- 
richt in Gymnasialfächern empfing. Allerdings handelte es sich hier 
um einen Sohn aus reicher Familie, für den die notwendigen Ver- 
anstaltungen zum Privatunterricht ad hoc getroffen werden konnten. 

Wenn man die verhältnismäßig große Zahl von Epileptikern und 
ihr trauriges Schicksal in Familie und Schule bedenkt, so wäre die 
Begründung von Schulsanatorien für diese unglücklichen und be- 
mitleidenswerten Kinder dringend zu befürworten. In Deutschland 
und in der Schweiz bestehen solche Anstalten — allerdings bei 
weitem noch nicht in hinreichender Zahl — und bewähren sich vor- 
trefflich. In Österreich erscheint die entsprechende Unterbringung 
bildungsfähiger, nicht der Verblödung entgegengehender Epileptiker 
derzeit unmöglich. Dies ist um so mehr zu bedauern, als gerade die 
Epileptiker außerordentlich leicht der Verwahrlosung anheimfallen und 
infolgedessen zu antisozialen Elementen werden können. 

Ich muß in diesem Zusammenhange noch zwei Krankheitszustände 
erwähnen, die in ihrem Anfangsstadium oft verkannt werden und zu 
recht traurigen Irrtümern Veranlassung geben können. 

In erster Linie möchte ich auf eine im Anschluß an die Pubertäts- 
entwicklung nicht selten sich einstellende, unheilbare, gewöhnlich mit 
völliger Verblödung endigende Geisteskrankheit hinweisen, die unter 
dem Namen Hebephrenie oder Dementia praecox bekannt ist 



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294 



A . Abhandlung^ n . 



i 



Sie kann mit offenkundigen Krankheitserscheinungen einsetzen und 
den psychischen Habitus des Jugendlichen derart verändern, daß über 
die schwere Geistesstörung kein Zweifel obwalten kann. Ebenso oft 
aber ist der Verlauf anfangs ein schleichender, der Umgebung kaum 
erkennbarer. Die Kranken vernachlässigen ihr Äußeres, werden un- 
sauber, vergeßlich, machen ihre Aufgaben nicht, erscheinen nicht 
rechtzeitig zum Unterricht oder bleiben tagelang ohne Entschuldigung 
fern. Ermahnungen fruchten nichts, Strafen haben keinen Erfolg. 
Gegen solche Jugendlichen sind oft alle verfügbaren Disziplinannittel 
in Anwendung gebracht worden, bevor man erkannte, daß man es 
mit Kranken zu tun habe. 

Ähnlich verhält es sich mit einer nicht seltenen Nervenkrankheit, 
dem Veitstanz oder der Chorea. Auch im Anfangsstadium der- 
selben ist eine irrtümliche Beurteilung der Schüler möglich. Sie 
werden mürrisch, gleichgültig, bringen keine Aufgaben fertig und die 
äußere Form der Arbeiten wird so unordentlich und nachlässig, 
daß sie die Veranlassung zur schlechtesten Klassifizierung geben 
kann. Ich kenne einen Jungen, dem dieses traurige Schicksal be- 
schieden war, und der sich darüber derart aufregte, daß die Krank- 
heit nach dem Vorstadium sogleich in beängstigender Höhe einsetzte. 

Erfahrungen dieser Art rechtfertigen die Forderung nach Bestellung 
von Schulärzten, die speziell für Mittelschulen unbedingt eine 
psychiatrische und neurologische Vorbildung haben müßten. Diese 
Schulärzte hätten das Schülermaterial in nicht zu langen Intervallen 
zu überprüfen, auch außerhalb der Untersuchungen zur Verfügung 
zu stehen, wenn ein Mitglied des Lehrkörpers an einem Schüler Auf- 
fälliges zu bemerken glaubt. Den Konferenzen hätte der Schularzt 
beizuwohnen und sich nach den Darstellungen der Professoren ein 
Urteil darüber zu bilden, ob nicüt Fällen schlechten Fortganges oder 
schlechten Betragens ein psychischer Krankheitszustand zugrunde 
liegt Eine unmittelbare Untersuchung dieser Schüler wird dann 
lehren, ob die Vermutung den Tatsachen entspricht In einigen 
Fällen wird die Verständigung zwischen Schularzt und Lehrern er- 
geben, in welcher Weise der Schüler, soferne er in der Schule ver- 
bleiben kann, am zweckmäßigsten zu behandeln wäre. Im allgemeinen 
muß jedoch gesagt werden, daß die Mittelschulen keine Heilanstalten 
sind, und daß sie andere Aufgaben zu erfüllen haben als die An- 
wendung der Psychotherapie. 

Eine wichtige Seite der schulärztlichen Tätigkeit ist die Be- 
lehrung der Eltern. Ich muß mich dafür aussprechen, daß die Be- 
lehrungen nicht bloß mündlich erfolgen, sondern in einem eigenen 



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Heller: Psychopathische Mittelschüler. 



295 



Protokoll eingetragen und von den Eltern oder deren bevollmächtigten 
Vertretern unterschriftlich bestätigt werden. Dieses Elternprotokoll 
müßte diskret und in der Weise geführt werden, daß bei Vorlage 
desselben nur die auf den einzelnen Fall bezügliche Eintragung er- 
sichtlich ist 

Vielleicht üben die Belehrungen des Schularztes auch einen ge- 
wissen Einfluß auf die häusliche Behandlung der Psychopathen aus. 
Viel ist in dieser Hinsicht nicht zu hoffen, da ja nicht wenige Psycho- 
pathien Jugendlicher entstanden sind, weil manchen Eltern jedes Ver- 
ständnis und jede Fähigkeit für die Erziehung ihres Kindes, das sich 
nicht nach der Norm entwickelt, fehlt In einigen Fällen wird der 
Schularzt die Anregung geben müssen, daß Jugendliche, die ihre Mit- 
schüler gefährden, deren Zustand den Besuch einer öffentlichen Schule 
ausschließt, die Störung des Schullebens oder eine katastrophale 
Wendung befürchten läßt, entfernt werden, eine Maßregel, die zu 
allererst im Interesse des betreffenden Schülers selbst gelegen ist 
Es erscheint mir humaner, einen Psychastheniker von den Qualen 
des Schulbesuches zu befreien, bevor er unter diesen zusammenbricht 
oder seinem Leben ein Ende macht Wenn man durch rechtzeitige 
Entfernung eines jugendlichen Hysterikers erreicht, daß seine Mit- 
schüler von dem psychischen Kontagium verschont bleiben und in 
sittlicher Hinsicht keinen Schaden leiden, so ist das eine gewiß voll- 
kommen berechtigte Maßregel. Die Schule wird eine Bildungs- und 
Erziehungsstätte der Gesunden sein und bleiben, nach innen und 
außen erhöhtes Ansehen gewinnen und nicht mehr so häufig der 
Ausgangspunkt von Ereignissen sein, die wir in der letzten Zeit 
schaudernd miterlebt haben. 

Sache der Eltern ist es, für ihre psychopathischen Kinder ent- 
sprechend zu sorgen. Heutzutage, da die Medizin sich mit den 
geistigen Abnormitäten des Kindes- und Jugendalters immer mehr 
vertraut macht, und ein besonderer Zweig der Pädagogik, die Heil- 
pädagogik, die spezialistische Erziehung der psych opathischen Jugend- 
lichen mit immer größerem Erfolg ausübt, Heilerziehunganstalten in 
wachsender Zahl erstehen, die alle Behelfe zur Behebung geistiger 
Rückständigkeiten und Fehlbildungen in sich vereinigen, 1 ) haben 

l ) Einen bedeutsamen Schritt auf diesem Gebiete hat Ungarn durch Errichtung 
der ersten staatlichen Heilerziehungsanstalt getan, in der in erster Linie psycho- 
pathische Mittelschüler Aufnahme finden. (Vergl. die Mitteilung von NaiuY-8zaBO 
in der Zeitschrift für Kinderforschung, XV. Jahrgang, Heft 6, März 1010; Kwcfcrr, 
Eine staatliche Volks- und Mittelschule für nervöse Kinder. Pädagogisches Magazin. 
404. Heft Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer k Mann], 1910.) 



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296 



A. Abhandlungen. 



Eltern Gelegenheit genug, die richtigen Vorkehrungen zur Bettung 
ihrer bedrohten Kinder zu treffen, wenn sie hierzu den ernsten 
Willen besitzen. Aber hieran fehlt es noch vielfach. Es ist kaum 
begreiflich, warum Eltern sich die Tatsache, daß ihr Kind psycho- 
pathisch ist, oft nicht eingestehen wollen, mit allen Kräften opponieren, 
das Richtige zur richtigen Zeit zu tun und so lange warten, bis das 
unter solchen Umständen Unvermeidliche eingetreten und eine derart 
bedrohte Existenz in Selbstmord, Irrsinn, Not oder Verbrechen unter- 
gegangen ist. 

Die Erkenntnis, daß ein großer Teil des Schülerelends in der 
Beschaffenheit des Schülermaterials, in den vielfach einer Reform 
bedürftigen Verhältnissen der häuslichen Erziehung seine Ursache hat 
wird zu einer gerechteren Beurteilung der Schule, insbesondere der 
Mittelschule und ihrer Lehrer führen und manches Mißverständnis 
beseitigen, das zum Schaden der Schüler sich jetzt noch zwischen 
Schule und Elternhaus drängt 1 ) 



2. Die Preussische Fürsorgeerziehung im Rechnung 

jähre 1908. 

Von Referendar J. Kai per» -Lennep. 

Unlängst ist die im Preußischen Ministerium des Innern bearbeitete 
Statistik Ober die Fürsorgeerziehung Minderjähriger und Über die Zwangs- 
erziehung Jugendlicher (§ 56 des Strafgesetzbuches) für das Rechnungs- 
jahr 1908 (vom 1. April 1908 bis 31. März 1909) erschienen. Darnach 
haben am 31. März 1909 insgesamt 48 692 Minderjährige unter besonderem 
Erziehungsschutze gestanden. Allein 44325 Fürsorgezöglinge befanden 
sich darunter. Dabei ist aber der Bestand der von den Vormundschafte- 
gerichten schon in früheren Jahren gemäß den Bestimmungen des B.-G.-B. 
untergebrachten oder von der freien Liebestätigkeit versorgten Minder- 
jährigen nicht in Ansatz gebracht. 

Im einzelnen sind auf Grund der Bestimmungen des B.-G.-B. 
im Berichtsjahre 4367 Fälle vormundschaftsgerichtlichen Einschreitens 
nötig geworden, und zwar waren 2314 weibliche und 2053 männliche 
Personen beteiligt. Mit den Maßnahmen des Jahres 1906 verglichen er- 
gibt sich für das Berichtsjahr im ganzen ein Rückgang um 199, der auf 
die männlichen Jugendlichen entfällt, wohingegen die Zahl der weiblichen 
um 53 gestiegen ist Weitergreifende Schlüsse aus dieser Änderung zu 
ziehen, ist zurzeit noch verfrüht, da für diese Art der vormundschafts- 
gerichtlichen Tätigkeit die Statistik erst zum zweiten Male vorliegt. Man 



») Ein umfangreicheres Literaturverzeichnis wird der Arbeit in Heft 54 der 
> Beitrage für Kinderforechung und Heilerziehung«, wo sie als Sonderabdruck er- 
scheint, naohgefügt Die darauf interessierten Leser seien darauf verwiesen. 



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K alpers: Die Preußische Fürsorgeerziehung im Rechnungsjahre 1908. 297 



geht aber wohl nicht fehl, einen Teil der Abnahme auf die Recht- 
sprechung des Oberver waltun gsgerichtes zurückzuführen, die viele Armen- 
verwaltungen veranlaßt hat, Anordnungen des Vormundschaftsrichters nioht 
mehr zu finanzieren. 

Dagegen ist die Zahl der Fürsorgezöglinge im Berichtsjahre ge- 
waltig gestiegen. Mit einem Zuwachs von 7363 Zöglingen, 4944 männ- 
lichen und 2419 weiblichen, bleibt das Jahr 1908 nur um 424 hinter 
dem Jahre 1901 zurück, in dem seit der Geltung des neuen Gesetzes (vom 
2. Juli 1900) die größte Ziffer der Überweisungen erreicht wurde. Einen 
besondere starken Prozentsatz stellt die Rheinprovinz, wohingegen in Berlin 
ein erheblicher Rückgang zu verzeichnen ist Die Gründe für die ge- 
waltige Zunahme werden zum Teil zweifellos in dem wachsenden Ver- 
ständnis für die segensreichen Wirkungen des Gesetzes und in der Tätig- 
keit der Jugendgerichte, die sich nach dem Berichte zum ersten Male 
fühlbar macht, zu suchen sein, zum Teil auch wird, wie der Oberpräsident 
der Rheinprovinz zutreffend in seinem Berichte ausführt, die wirtschaft- 
liche Notlage der Zeit dahin geführt haben, daß zwar nicht die Verwahr- 
losung der Jugend an sich zunahm, wohl aber die bereits vorhandene 
Verwahrlosung mehr hervortrat und gerichtlich festgestellt werden konnte. 
Als Hauptgrund aber ist anzusehen und wird auch in den Berichten allent- 
halben als solcher bezeichnet die veränderte Praxis der Armen Verwaltungen, 
von der schon oben die Rede war. Die Richter sahen sich infolgedessen 
genötigt, in denjenigen Fällen, wo die Finanzierung vormundschaftsgericht- 
licher, auf Grund der Bestimmungen des Reichsrechts ergehender Be- 
schlüsse nicht anderweitig gesichert erschien, Fürsorgeerziehung direkt 
anzuordnen. Wenn angesichts dieser Sachlage in den Berichten der Ober- 
präsidenten darüber Klage geführt wird, daß das Kammergericht der Auf- 
fassung des Oberverwaltungsgerichtes auch in seiner neuesten Recht- 
sprechung nicht beipflichtet und eine gesetzliche Regelung im Sinne des 
vom Oberverwaltungsgerichte vertretenen Standpunktes gefordert wird, so 
muß dem auf das entschiedenste widersprochen werden. Es kann hier 
nicht der Ort sein, in eine weitere Kontroverse einzutreten. Indessen 
muß unbedingt an dem subsidiären Charakter der Fürsorgeerziehung fest- 
gehalten werden. Nur wenn alle anderen Möglichkeiten ausfallen, hat das 
Fürsorgeerziehungsgesetz Anwendung zu finden. Eine gesetzliche Fest- 
legung müßte daher unbedingt im Sinne der kammergerichtlichen Praxis 
erfolgen. Auch auf der am 15. und 16. Juni 1906 in Berlin tagenden 
Konferenz der Zentralstelle für Jugendfürsorge ist von der Majorität der 
Redner betont worden, eine Änderung der Armengesetzgebung sei 
wichtiger als eine Änderung des Fürsorgeerziehungsgesetzes, 
da viele Armenverbände auf dem Gebiete der Jugendfürsorge 
den rechtmäßig gestellten Forderungen sich keineswegs ge- 
wachsen zeigten. Im übrigen sollte man den Makel der Fürsorge- 
erziehung soweit und solange als möglich der erziehungsbedürftigen Jugend 
ersparen. 

Im Verhältnis zur gleichaltrigen (bis 18 Jahre alten) Bevölkerung 
kamen im Berichtsjahre auf 10000 Personen beim männlichen Geschlechte 



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298 



A. Abhandlungen. 



6,1, beim weiblichen 3,0 Fürsorgezöglinge. Eine besonders starke Zu- 
nahme ist in der Altersklasse von 17—18 Jahren zu verzeichnen, die 
einer systematischen Erziehung die grüßten Schwierigkeiten zu bereiten 
pflegt. Ihre Zahl beträgt bei den männlichen Zöglingen 635 gegen 495 
im Vorjahr, bei den weiblichen 568 gegen 500 im Jahre 1907. Die 
Zahlen mahnen eindringlich zur weiteren Ausgestaltung der Fürsorge für 
die schulentlassene Jugend. Die Mahnung verlangt um so dringender 
Gehör, als gerade die Zahl derjenigen Zöglinge, deren Eltern in der 
Industrie und im Handel beschäftigt sind, oder durch eine übergroße 
Anzahl von Kindern in der Erziehungsarbeit beschwert sind, eine be- 
trächtliche Zunahme erfahren hat. Der Schaffung von Schutzeinrichtungen 
für die unbeaufsichtigte Jugend wird daher in immer steigendem Maße 
Rechnung getragen werden müssen. 

Als ein erfreuliches Moment kann hervorgehoben werden, daß die 
Zahl der unehelich Geborenen unter den Zöglingen im Berichtsjahre so- 
wohl absolut wie relativ erheblich zurückgegangen ist Der Bericht- 
erstatter führt dieses Ergebnis wohl mit Recht auf die Tätigkeit der chari- 
tativen Vereine und den fortschreitenden Ausbau der General- und Berufs- 
vormundschaften zurück. 

Was die Beteiligung der Konfessionen an der Zahl der Überweisungen 
anlangt, so hat die Stellung des katholischen Bekenntnisses gegenüber 
dem protestantischen zahlenmäßig eine Verschlechterung erfahren. Noch 
immer überwiegen naturgemäß die protestantischen Zöglinge mit 58,5 °/ 0 
gegen 41,0 °/ 0 katholische. Jedoch hat ihre Zahl im Vergleich zum kon- 
fessionellen Gesamtverhältnis gegen das Vorjahr um 4,1 °/ 0 abgenommen, 
wohingegen die Zahl der katholischen Zöglinge um 4,2 °/o gestiegen ist. 
Indes weist sohon der Berichterstatter darauf hin, daß diese Verschiebung 
zuungunsten der Katholiken nur eine scheinbare sein dürfte. In der Zeit 
vom 1. Dezember 1900 bis 1. Dezember 1905 wuchs nämlich die katho- 
lische Bevölkerung um 102,26 auf das Tausend, die protestantische da- 
gegen nur um 69,85. Wenn also die katholische Bevölkerung auch 
weiterhin in demselben Maße zugenommen hat, was zunächst doch anzu- 
nehmen ist, so dürfte in dem Verhältnis der beiden Konfessionen zu- 
einander eine Änderung kaum eingetreten sein. 

Die Zahl der vor der Überweisung gerichtlich bestraften Zöglinge ist 
von 1977 im Jahre 1907 auf 2178 gestiegen. Im besonderen erscheint 
es als höchst beklagenswert, daß die noch schulpflichtigen Zöglinge, 
die Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren verbüßt haben, eine Zunahme 
erfahren haben. Der Bericht sieht darin einen schlagenden Beweis 
für die Notwendigkeit der Heraufsetzung des strafmündigen Alters, wie 
sie im Vorentwurf zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuche vorgesehen 
ist. Bei einer derartigen Reform wird aber die Gesetzgebung sich sorg- 
fältig vor einer schwächlichen Justiz hüten und insbesondere bessere 
Garantien zur Unterdrückung antisozialer, unerzogener Elemente gewähr- 
leisten müssen: denn sonst dürfte das in einem Teile des Volkes ohne Zweifel 
jetzt schon vorhandene Gefühl, man behandle die Jugend mit allzugroßer 
Nachsicht und Zurückhaltung, 6ehr leicht die Oberhand gewinnen, und der 



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Kaltehs: Die Preußische Fürsorgeerziehung im Rechnungsjahre 1908. 299 



Vorwurf einer schwächlichen Justiz würde nicht mit Unrecht immer lauter 
erhoben werden. Um dies zu vermeiden, müßten die Befugnisse der 
Jugendgerichte erweitert, vor allen Dingen auch dem Verhalten der Eltern 
oder sonstiger Pflege- und Aufsichtspersonen, auf die zum großen Teile 
Straftaten der Kinder zurückzuführen sind, auch vom strafrechtlichen Ge- 
sichtspunkte aus mehr und kritischer Beachtung geschenkt weideo. Auch 
die Bestimmungen Über den Strafaufschub müßten eine notwendige Er- 
gänzung erfahren, die mit denselben zugleich eine Überwachung verbindet 
und ihm so erst zu einem regelmäßigen Erfolge verhilft. Wir wollen 
uns in diesem Zusammenhang damit begnügen, auf die im Märzheft dieser 
Zeitschrift erschienenen trefflichen Ausführungen des Amtsgerichtsrats Lands- 
berg, Lennep, hinzuweisen. 

Das den Bestrafungen zugrunde liegende Delikt war, wie in früheren 
Jahren, meist einfacher und schwerer Diebstahl. Bei den männlichen Zög- 
lingen kommen sonst noch hauptsächlich in Betracht: Unterschlagung, ge- 
fährliche Körperverletzung, Sittlichkeitsverbrechen, Urkundenfälschung und 
Landstreicben. Die weiblichen Zöglinge, die wegen gewerbsmäßiger Un- 
zucht bestraft sind, haben bedenklich zugenommen. Überhaupt ist die 
Zahl der der Unzucht ergebenen schulentlassenen Mädchen nicht unerheblich 
gestiegen. Bei fast i / s der Zöglinge kann die Verwahrlosung auf laster- 
hafte Neigungen — hauptsächlich Trunksucht und Unzucht — oder geistige 
Minderwertigkeit der Eltern zurückgeführt werden. Die Hälfte der Zög- 
linge sind außerdem wegen der Vorstrafen der Eltern als belastet anzu- 
sehen. Es soll hier jedoch davor gewarnt werden, auf das Moment der 
erblichen Belastung zu viel Gewicht zu legen. Sehr oft liegen die Haupt- 
gründe der Verderbtheit in der späteren Entwicklung. In den weitaus 
meisten Fällen machte die Verwahrlosung der Zöglinge die systematische 
Erziehung in einer Anstalt nötig. Sogar bei noch schulpflichtigen zeigte 
sich diese Notwendigkeit in erschreckender Weise. Grundsätzlich wurden 
die Zöglinge dem § 9 F.-E.-G. und den Ausführungsbestimmungen ent- 
sprechend in einer Anstalt ihres Bekenntnisses untergebracht Auch in 
den 82 Fällen, wo eine derartige Unterbringung nicht angängig war, ist 
die Teilnahme der Zöglinge an dem Gottesdienste ihres Bekenntnisses 
sicher gestellt. 

Was den Bestand der auf Grund des alten Gesetzes vom 13. März 1878 
überwiesenen Zöglinge anbetrifft, so ist dieser mehr und mehr im Schwinden 
begriffen. Immerhin blieben am 31. März 1909 noch 2561 Zöglinge 
gegen 3955 im Vorjahr. Sie waren zum größten Teil als Lehrling, Ge- 
selle oder Dienstbote untergebracht. Der Zugang an Zwangszöglingen, 
die auf Grund des § 56 St-G.-B. eingeliefert wurden, ist allerdings, offenbar 
infolge der regsamen Tätigkeit der an vielen Orten bestehenden Fürsorge- 
ausschüsse und überhaupt des neu erwachten Interesses an vorbeugender 
Jugendfürsorge, etwas größer geworden, jedoch ist ihre Zahl relativ immer 
noch vorschwindend klein. 

Die Gesamtkosten der Fürsorgeerziehung — in Betracht kommen nur 
die Zöglinge auf Grund des Gesetzes von 1900 — betrugen im Berichts- 
jahre 9021931,79 M gegen 8259237,73 M im Vorjahre. Davon trugen 



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300 Mitteilungen 



der Staat, 5970332,73 M, die Kommunalverbande 3051599,06 M. Mithin 
ist der Staat um rund 3 Millionen Mark starker belastet gewesen. Im 
ganzen wurde für 5893 Zöglinge des Jahrgangs 1908 Pflegegeld bezahlt 
Allgemein betragen die durchschnittlichen jährlichen Kosten für den Zög- 
ling 203,54 M. 

Bedauerlicherweise übt die Statistik keine Kritik an der im Abdruck 
vorliegenden Kammergerichtsentscheidung vom 7. November 1904, wonach 
der Kommunalverband als gesetzlicher Vertreter des minderjährigen Zög- 
lings handeln kann. Die Entscheidung entbehrt in diesem Punkte jeder 
rechtlichen Grundlage. Wollte man dem Kommunalverbande schlechthin 
die Eigenschaft eines gesetzlichen Vertreters einräumen, so wären die Be- 
stimmungen über die Anstaltsvormundschaft völlig überflüssig. Nach 
Artikel 78 des Ausführungsgesetzes zum B.-G.-B. kann der Vormundschaft s- 
richter, auch nach Überführung des Zöglings in eine Anstalt mit Anstalts- 
vormundschaft einen Vormund von neuem verpflichten. Maugels einer 
solchen vormundschaftsrichterlichen Anordnung kann der Landeshauptmann 
keinesfalls die Rechte des gesetzlichen Vertreters geltend machen. Die 
Entscheidung ist daher völlig verfehlt Vielleicht bietet sie aber für die 
Gesetzgebung künftig einen Weg, der die immerwährenden lästigen Konflikte 
zwischen Vormundschaftsrichter und Kommunalverband dauernd beseitigen 
könnte. Ob dieser Weg der einzig mögliche und zweckmäßige ist, kann 
an diesem Orte nicht untersucht werden und dürfte demnächst vielleicht 
an anderer Stelle eine eingehendere Würdigung erfahren. 



B. Mitteilungen. 



1. Vierte österreichische Konferenz der Schwachsinnigen- 

fürsorge. 

Von Dr. Theodor Heller, Wien-Grinzing. 
(Schluß.) 

Hierauf hielt Dr. Karl Her fort, Direktor des Ernestinum in Pra^, 
einen sehr beifällig aufgenommenen Vortrag: »Das schwachsinnige 
Kind im Lichte der Biologie.« 

Da der jugendliche Schwachsinn den menschlichen Körper noch zur 
Zeit seiner Entwicklung befällt, handelt es sich bei dieser Geisteskrankheit 
um eine Entwicklungsstörung und daher ist das schwachsinnige Kind vom 
Standpunkte der Biologie ein Problem der Entwicklungsmechanik oder 
pathologischen Embryologie. Ähnlich wie der Experimentator in den 
natürlichen Gang der Entwicklung dadurch eingreift, daß er die äußeren 
und inneren Faktoren der Entwicklung künstlich ändert, um die Gesetze 
der Entwicklung festzustellen, macht im großen die Natur ähnliche Ex- 
perimente, indem sie auf die Keimzellen, die Frucht und das Kind ver- 
schiedene Faktoren der Entwicklung wirken läßt und dadurch Mißbildungen 
(Anomalien, Monstrositäten), die außerhalb der Variationsbreite gelegen sind, 



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1. Vierte österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfursorge. 301 



hervorruft Das schwachsinnige Kind ist als eine solche Anomalie der 
Entwicklung anzusehen, wobei die verschiedenen Ursachen des Schwach- 
sinnes als Außere und innere pathogenetische Faktoren die Entwicklung 
des Gehirns aber auch des übrigen Körpers mehr oder weniger schädigen. 
Die Keimzellen des elterlichen Körpers können krankhafte Keimesanlagen 
besitzen oder durch äußere Ursachen (Blastophthorie) geschädigt werden. 
Der Vortragende erläutert den Unterschied zwischen »angeborene und 
»vererbte und verwirft den Ausdruck hereditärer Schwachsinn. Wichtig 
aind für die Entstehung des Schwachsinns die Korrelationen der Körper- 
organe, die uns am deutlichsten in der Wirkung einer fehlerhaften Anlage 
der Schilddrüse unter dem Bilde des Kretinismus entgegentreten. Botreffs 
der äußeren Entwicklungsfaktoren, die bei der Entstehung des Schwach- 
sinnes mitwirken, verweist der Redner auf seine ausführliche Arbeit Die 
bekannten Ursachen des Schwachsinnes können wir nur als bedingte 
Ursachen ansehen, da wir von keiner einzigen sagen können, daß sie 
unbedingt Schwachsinn zur Folge haben müsse. Sicher ist, daß sie eine 
angeborene fehlerhafte Konstitutionsanomalie besonders de6 Nervensystems 
bewirken, die als ein Zeichen einer allgemeinen Entartung anzusehen ist 
Die Entwicklungsstorungen zeigen sich besonders in Gestalt kongenitaler 
Hypoplasien, die in einer Verringerung der Körpergröße, des Körpergewichtes, 
in Hypoplasien des Gehirnes und der inneren Organe, sowie in den Hypo- 
plasien des Zahnschmelzes und den verschiedenen Formen des Infantilismus 
uns entgegentreten. Die innigen Wechselbeziehungen in der Entwicklung 
des QehirnB und Schädels erklären die zahlreichen Anomalien, die das 
Kopfskelett bei Schwachsinnigen aufweist, mit denen auch andere Ano- 
malien (Strabismus, große Weit- und Kurzsichtigkeit, angeborene Taubheit 
und Taubstummheit, adenoide Vegetationen) in ursächlichem Zusammenhang 
stehen. Die Entwicklungsstörungen des übrigen Skeletts müssen erst durch 
Radiogramme studiert werden. — 

Der Grazer Orthopäde Dozent Dr. Hans Spitzy hielt einen mit 
zahlreichen Projektionsbildern illustrierten Vortrag: »Zur körperlichen 
Erziehung Schwachsinniger in der Schulec. 

In Geist und Körper stellt uns das geistig minderwertige Kind eine 
in der natürlichen Evolution stehen gebliebene Entwicklungsstufe dar. Auoh 
der ganze körperliche Habitus gemahnt noch an jene Stadien der philo- 
genetischen Menschenentwicklung, in welcher der Mensch noch mit Haltungs- 
und Geng8chwierigkeiten zu kämpfen hatte. Daher das späte Aufrichten 
dieser Kinder, das späte Gehenlernen, ihre vornübergebeugte Haltung, ihr 
schwankender Gang. Wenn dazu noch pathologische Momente kommen, 
so verschlechtert sich noch dieses Bild. Die schlechte, meist rundrück igo 
Haltung und die Ungeschicklichkeit, Koordinationslosigkeit der Bewegungen 
Sinti diö Hü u i) t f c 1 1 1 j diö wir daher in der körperlichen Erziehung dieser 
Kinder zu bekämpfen haben. Haupterfordernisse hierzu sind passende, 
vor allem aber bequeme Sitzgelegenheiten, möglichste Einschränkung der 
Sitzarbeit, Einschiebung von Pausen und Obungsfolgen, die teils im Schul- 
zitnmer, im Turnsaal, womöglich aber im Freien vorgenommen werden 
sollen. Die Übungen seien Rumpfübungen, sollen sich ans schwedische 



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B. Mitteilungen. 



Turnen anlehnen und immer auf möglichste Streckung der Wirbelsäule ab- 
zielen. Eine Reihe solcher Übungen, besonders das Tragen von kleinen 
Lasten auf dem Kopfe wird besprochen. Ein besonderer Wert liegt im 
Rhythmus der Bewegungen, der mit Musik unterstützt werden soll. Wegen 
der schlechten Thoraxentwicklung sind die Übungen mit Atemübungen zu 
kombinieren. Gerätturnen ist für diese Kinder unnötig und unzweckmäßig, - 
es kommen nur Freiübungen und besonders Spiele im Freien in Betracht 
Über die Intelligenzprüfung bei schwachsinnigen und 
schwachbefähigten Kindern und ihre Verwertbarkeit zur Be- 
urteilung krankhafter Geisteszustände referierte Dr. Erwin Lazar 
(Wien). 

Bai Intelligenzprüfungen, die man bei jugendlichen Personen vor- 
nimmt, ist man vorzüglich auf das Schulwissen angewiesen. Bei Kindern, 
die noch nicht schulmäßiff crelernt haben, ist deshalb eine präzise B» 3 - 
urteilung des Geisteszustandes wesentlich erschwert und sind Defekte der 
Intelligenz nur bei grobsinnfälligen Ausfallserscheinungen nachweisbar. 
Um die Ergebnisse einer Intelligenzprüfung richtig bewerten zu können, 
hat man diverse Faktoren zu berücksichtigen. Ein verwahrlostes Kind 
benimmt sich beim Lernen anders als ein gut erzogenes Kind und wieder 
anders als ein verzogenes Kind. Das körperliche Befinden des Kindes ist 
in Rechnung zu ziehen, wie auch die Untersuchung der Sinnesorgane von- 
nöten ist, sollen grobe Irrtümer vermieden werden. Ein Intelligenzdefekt 
tritt ein, wenn eine der Funktionen, welche zur Erwerbung und Ver- 
wertung von Wissen in Betracht kommen — das Merken, Erinnern, die 
Bildung und Verknüpfung von Vorstellungen — geschadigt wurde oder 
mangelhaft entwickelt ist. Zwischen rein körperlichen Schwächezuständen 
und der Merkfähigkeit besteht ein auffallender Zusammenhang. Anämische 
Kinder, Kinder in der Rekonvaleszenz, nach Infektionskrankheiten, haben 
Zeiten, in denen sie sich überhaupt nichts merken. In anderen Fällen 
ist die Merkunfähigkeit das Zeichen einer nervösen Erkrankung. Epileptiker 
sind zuweilen ganz merkunfähig. Bei erworbenem Schwachsinn besteht 
häufig Merkdefekt. Einseitige Begabung, die sich stets in einer ver- 
stärkten Merkfahigkeit für einen einzelnen Gegenstand kundgibt, darf nicht 
immer als ein besonders günstiges Symptom angesehen werden Oft wird 
ein Kind für »schwachbefähigt« erklärt, wiewohl es sich bloß um eine 
Verspätung in der geistigen Entwicklung handelt, eventuell verursacht 
durch Vernachlässigung der Sprachbildung und Mangel an geistiger An- 
regung. Bei Überbürdung kommt es oft zu einer Überempfindlichkeit der 
apperzeptiven Zentren, die schließlich damit antworten, daß sie für die 
nächste Zeit überhaupt nichts aufnehmen. Das Fehlen der Erinnerung für 
ganz bestimmte Eindrücke (optische, akustische, sprachliche) deutet in der 
Regel auf eine schwere Läsion einer abgegrenzten Gehirnpartie hin. Bei 
Schwachsinnigen ist nicht das Vergessen schuld am Nichtwissen, sondern 
meist haben sie vom Gegenstande überhaupt nichts gewußt Bei der 
Intelligenzprüfung sind die Ermüdungserscheinungen besonders zu be- 
rücksichtigen. Eine Abnormität bildet ein zu leichtes, zu rasches Er- 
müden. Die Unmöglichkeit, das Interesse einem Gegenstande zuzuwenden, 



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1. Vierte österreichische Konferenz der Schwaohsinnigenfüreorge. 303 



tritt bei manchen Erregungszuständen ein. Hersagen von Reihen darf nie 
als volle geistige Verarbeitung genommen werden. Hingegen fehlt ihnen 
die Gabe, das Essentielle ihres Lernstoffes zu erkennen, den inneren Zu- 
sammenhang ihres reihenartig geordneten Wissens zu finden. 

Der Heilpädagoge M. Kirmsse (Idstein i. Taunus) war durch Krank- 
heit am Erscheinen verhindert. Aus seinem Referat: »Georgens und 
Deinhardts Levanabestrebungen sei folgendes im Auszug mitgeteilt: 

Von den um die Zeit von 1850 gegründeten Instituten darf besonders 
die Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana zuerst in Baden, dann im 
Schloß zu Liesing, später auf dem Kahlenberg und in Wien besonderes 
Interesse in Anspruch nehmen. Die Gründer und Leiter desselben, 
Dr. Georgens, Heinrich Deinhardt und die Schriftstellerin Jeanette 
v. Gayette-Georgens, drei pädagogisch durchgebildete, genial veranlagte, 
in praktischer Hinsicht jedoch und besonders in realen Dingen zum 
mindesten eigenartige Persönlichkeiten, suchten durch die Errichtung dieser 
vielseitigen Institution die Abnormenbildung einerseits, und die gesamte 
Volksschulerziehung andererseits tiefer zu begründen und ihr neue Wege 
zu weisen. Durch ihren Bildungsgang hierzu prädestiniert, empfingen sie 
jedoch die unmittelbare Anregung zur Gründung von dem Wiener 
Pädiatriker Dr. Mauthner v. Mauthstein, der leider, wie auch der 
andere Pate, der Kinderforscher Dr. L 5 bisch, bereits vor Eröffnung starb. 
Die Levana, sowohl für gesunde, wie auch besonders für abnorme Kinder 
bestimmt, hat annähernd 10 Jahre bestanden, ihr Niedergang, aus ver- 
schiedenen Umständen veranlaßt, deren wichtigste jedoch der Mangel an 
Betriebskapital war, war insofern verfehlt organisiert, als sie von Anfang 
an zu viele Ziele zu erstreben suchte, statt sich mit zunächst einer An- 
gelegenheit zu befassen. Die von Georgens und Genossen heraus- 
gegebenen umfänglichen Druckschriften über den Ausbau der Heil- und 
Arbeitspädagogik mit Einschluß der zeitgenössischen Kritik vermitteln uns 
einen anschaulichen Einblick in das Leben und Treiben in der Levana. 
Die methodischen und didaktischen Prinzipien und Ideen tragen den 
Charakter der Ursprünglichkeit an sich; teilweise auf den Anschauungen 
Pestalozzis, Pichtes und besonders Fröbels basierend, werden in erster 
Linie Spiel, Tätigkeit und systematische Gewöhnung an Arbeit als »heilende 
Faktoren« betont, und zwar in der Weiee, daß Arbeit und Unterricht 
organisch miteinander verbunden werden. Das Schülermaterial, gewisser- 
maßen von Geburt an bis hinauf ins Jünglings- und Jungfrauenalter, 
eventuell bis zur Absolvierung eines Lebensberufes, eingeteilt in die Ge- 
sunden- und die Krankenabteilung, in die Säuglings-, Kindergarten-, Schul-, 
Lehrlings- und Übungsschul- Klassen, letztere für angehende Heilerzieher, 
erschien naturgemäß als ein sehr vielseitiges und stellte nicht geringe An- 
forderungen an die Levanapädagogen. Der Eifer der letzteren, so lobens- 
wert er war, ließ indessen das Institut kaum zur Blüte gelangen. Dazu 
kamen persönliche Anfeindungen, so daß das mit so großen Erwartungen 
ins Leben gerufene Unternehmen seine Pforten wieder schließen mußte, 
trotz augenscheinlicher Bedeutung, die es für das Erziehungswesen hätte 
haben können. Wünschenswert wäre es, wenn in der Gegenwart ein ähn- 



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304 B. Mitteilungen. 



liches Institut, natürlich in staatlicher Regie, für Österreich geschaffen 
würde. Dasselbe könnte entschieden die österreichische Schwachsinnigen- 
fürsorge in nachhaltigster Weise fördern und anderen Ländern gleichwertig 
zur Seite stellen. 

Zu den besten Darbietungen der Konferenz gehörte der Vortrag des 
Universitätsprofessors Dr. Pilcz Über psychopathische Greuzzustände 
bei Kindern. Der folgende Auszug aus den trefflichen Ausführungen 
des Redners möge hier Platz finden: 

»Die Bezeichnung ,Grenz zustände* bedarf einer Erläuterung. Die Be- 
ziehungen der Psychopathologie zum normalen Seelenleben sind viel inniger, 
als die der im 6prachgebräuchlichen Sinne körperlichen Krankheiten zur 
physischen Gesundheit. Es hat jemand einen Typhus (leicht oder schwer) 
oder er hat ihn nicht, es hat jemand sich das Bein gebrochen oder nicht, 
aber ,ein bischen' eines Typhus oder eines Beinbruches, das gibt es nicht 
Anders auf dem Gebiete des Seelenlebens. Hier begegnen wir den so- 
genannten Grenzgebieten, d. h. fließenden Übergängen von zweifellos Krank- 
haftem zu unzweifelhaft Gesundem, Grenzfällen, welche einfach kategorisch 
in eine der beiden Schubladen »Krankheit« oder »Gesundheit« einzuzwängen 
ebenso unmöglich ist, wie es etwa dem Auge nicht gelingt, in der Farben- 
skala des Regenbogens auf einen bestimmten Punkt hinzuweisen und zu 
sagen: »Genau hier, und nur hier, hört das Orange auf und beginnt 
das Gelbe.« 

Gerade bei jenen Formen, denen die charitativen Bemühungen des 
Vereins »Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische« hauptsächlich 
gewidmet sind, bei den intellektuellen Defektzuständen, tritt das eben 
Gesagte besonders deutlich zutage. Niemand wird im Zweifel sein, einen 
vertierten Idioten als solchen zu erkennen und zu beurteilen, und niemand 
wird der genialen Größe eines Kant, Goethe, Bismarck u. a. sich ver- 
schließen. Allein zwischen diesen Extremen menschlichen Intellektes gibt 
es keine unüberbrückbare Grenzen, sondern ganz unmerklich und durch 
nur graduelle Verschiedenheiten führen die tiefststehenden Fälle von Idiotie 
durch alle Abstufungen des schwereren, dann des leichteren Schwachsinnes 
hinüber in jenes große Gebiet intellektueller Befähigung, das wir etwa mit 
dem Namen »physiologische« oder »normale« Dummheit bezeichnen könnten, 
in welchem sich ein großer Teil, vielleicht die Mehrheit unserer Mit- 
menschen befindet. Wo hier die Grenzen ziehen? Wer vermag mit Recht 
zu sagen, der Schwerfuhrwerksknecht, der Straßenkehrer usw., wie sie 
kannegießernd auf der Bierbank sitzen, sei nur »beschränkt« oder schon 
»schwachsinnig«? Davon aufwärts geht es durch alle Schattierungen von 
Begabung und Talent bis zu den exzeptionellen Höhen des Genies! 

Es hieße wohl Eulen nach Athen tragen, wollte ich des weiteren 
Worte verliereu über die außerordentliche Wichtigkeit einer möglichst 
frühzeitigen Erkenntnis und Behandlung der psychopathischen Grenzzustände. 
Hand in Hand müssen hier Arzt und Pädagoge gehen, einander wechsel- 
seitig belehrend und unterstützend. Auf eines aber möchte ich doch noch 
ganz kurz hinweisen. So verkehrt, ungerecht und verhängnisvoll es 
unzweifelhaft ist, dort, wo pathologische Geistes- und Charakteranomalien 



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1. Vierte österreichische Konferenz der Schwaohaianigenftireorge. 305 



vorliegen, mit der Zuchtrute des Pädagogen abschreckend und strafend 
dareinfahren zu wollen, so laßt sich anderseits nicht verkennen, daß mit 
dem Schlagworte »Kindernervosität« gerade heutzutage bereits ein gewisser 
Mißbrauch getrieben wird im Sinne süßlich verweichlichender Sentimentalität 
und verderblicher Energielosigkeit, ein Mißbrauch, um — wie Heller ganz 
richtig sagt — »offenkundige Erziehungsfehler zu beschönigen«. Oerade 
darum ist es ja so außerordentlich wichtig, daß der fragliche Zustand 
richtig erkannt wird, und darum wiederhole ich mein ceterum censeo: 
>Arzt und Pädagoge gemeinsam in die Front« Und eins darf bei der 
»Eindernervosität« nioht übersehen werden, was auch von der »Nervosität« 
und den »Anomalien« der Erwachsenen gilt: Ganz normal und gänzlich 
>ohne Nerven« ist eigentlich nur der Durchschnittsbanause. Soll unsere 
ärztliche und pädagogische Kunst der Züchtung nur dieser species hominis 
sapientis allein dienen? Pick hat über diese Frage so treffend sich aus- 
gesprochen, daß ich es mir nicht versagen kann, diesen Autor in extenso 
zu zitieren: »Man wird namentlich lernen müssen, die Abartung der Kinder 
nach aufwärts von der Abartung im Sinne einer Verschlechterung strenger 
zu scheiden . . . ., um nioht etwa die köstliche Frucht verheißender Blüten 
eines nervösen Temperaments mit der Schere einer alles nivellierenden 
Erziehung unheilbar zu verschneiden. Man wird eben Nervosität im Sinne 
von Krankheit streng zu scheiden haben von jenem gesteigerten Nerven- 
lebon dor Gegenwart, das der Historiker Lamprecht ... als »Reizsamkeit« 
bezeichnet . . . ; der Erhaltung und Pflege dieser normalen Nervosität wird 
man ebenso sein Augenmerk zuzuwenden haben, wie die antisozialen 
involutiven Seiten der pathologischen Nervosität zu bekämpfen sein werden 
(Ferri).« Wagner, Böcklin, Goethe, sie waren alle »nervös«, auch schon 
als Kinder! Wehe dem einzelnen nervösen Kinde, dessen Krankhaftigkeit 
erkannt und das mit Härte und Strenge bestraft würde, für etwas, das 
lediglich aus seiner krankhaften Veranlagung hervorgeht. Wehe aber der 
menschlichen Kultur, würde jene vielverheißende sogenannte »Nervosität«, 
wie sie gesteigertem seelischem Innenleben entspricht, stets und allerorts 
mit dem Bügeleisen übereifrigen Gesundheitsfanatismus, sei es ärztlicher- 
oder pädagogischersei ts, geglättet und im Keime erstickt werden.« 

Direktor Viktor Prochaska (Graz) hielt einen Vortrag über Musik- 
unterricht bei Schwachsinnigen. 

Der Vortragende schildert zunächst die Neigung der Menschen zur 
Musik, die Hochschätzung, welcher sich diese Kunst von jeher zu erfreuen 
hatte und die sich in unserer Zeit zu bedeutender Höhe steigerte. Schon 
in alter Zeit erkannte man den eminenten Bildungswert der Musik und 
ihren belebenden wie auch beruhigenden Einfluß. Dioser ist besonders bei 
der Erziehung Schwachsinniger von größter Wichtigkeit. Sehr viel Interesse 
boten die Ausführungen über musikalische Anlage und Über das oft vor- 
kommende voreilige Absprechen derselben. Sodann wurde die ganz aus- 
gesprochene Vorliebe Schwachsinniger und Idioten für bestimmte Unterrichts- 
fächer, namentlich die Liebe zur Musik, besprochen. Zahlreiche Bei- 
spiele, teils auch aus den Erfahrungen am eigenen Sohülermaterial, illu- 

Zeitachnft ftr Kinderfonchui«. XV. J«hrg»n«. 20 



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306 



Ii. Mitteilungen. 



strierten diese Ausführungen. Sodann wurde die Ausnutzung des Sinnes 
für den Rhythmus (Methode Jacques Dalcrozes, Demoore eurhythmisches 
Turnen) und der Einfluß der Musik auf die Bewegungen der Schwach- 
sinnigen besprochen. Dabei wurden die neuesten Errungenschaften auf dem 
Gebiete des Zusammenhanges zwischen Muskelarbeit, namentlich Handarbeit 
und Gehirn berührt und der Nutzen, den die bewußten und regelmäßigen 
Finger- und Handbewegungen bei Erlernung eines Musikinstrumentes auf 
die Zentralorgane, namentlich auf die Teilzentren ausüben, hervorgehoben. 
Auch die Instrumente, die sich für Schwachsinnige besonders eignen, fanden 
Erwähnung. Beim Kapitel Gesang wurde einleitend über das musikalische 
Gehör und den Stimmumfang bei Schwachsinnigen gesprochen. Auch die 
beim Gesangsunterrichte einzuschlagende Methode und die Auswahl der 
Lieder wurde berührt. Von großer Sachkenntnis zeugten die Ausführungen 
über den Nutzen des Singens für den ganzen Organismus und über die 
Verwertung dieses Gegenstandes in der Sprachtherapie. Schließlich schilderte 
der Vortragende eine Reihe von Schwachsinnigen, die ganz gut verschiedene 
Instrumente spielen und sich sogar als Musikanten in kleinen Ensembles 
ihr Brot verdienen. Daß echte Künstlerschaft selbstverständlich aus- 
geschlossen bleibt, erhellt naturgemäß aus dem Umstände, daß diese all- 
seitig hoch entwickelte intellektuelle Aulagen voraussetzt. 

Nach einem trefflichen Vortrag des Grazer Hilfsschuldirektors Franz 
Pulzer über den Handfertigkeitsunterricht in den Hilfsschulen 
erstattete Direktor Hans Witzmann (Biedermannsdorf) das Schlußreferat 
Über Lehrmittel für den Artikulations-, Lese- und Schreib- 
unterricht 

Referent führt die von Antensteiner geschaffenen Typenbilder für den 
Artikulations- und Leseunterricht vor. Hier sind nicht bloß die charakte- 
ristischen Mundstellungen wiedergegeben, sondern auch pantomimische 
Mittel gebraucht, um den Kindern die Hervorbringung der Sprachlaute 
recht deutlich bewußt zu machen. Außerdem macht Referent auf die in 
Biedermannsdorf eingeführten Schreibtafeln aufmerksam, die Anfangs- 
und Endpunkte der Schreibbewegungen vertieft enthalten, so daß nicht 
bloß der Gesichts-, sondern auch der Tast- und Muskelsinn bei diesen 
ersten Schreibübungen beteiligt sind. Statt der vertieften Punkte sind auf 
den Schreibtafeln 7 — 10 gemalte Punkte verwendet. Referent empfiehlt 
dieses Lehrmittel als praktisch und sehr brauohbar. 

Der Besuch der Konferenz war ein sehr ansehnlicher. Mehr als 
300 Mitglieder aus allen Teilen der Monarchie hatten teilgenommen. Hoffent- 
lich erwächst aus den Beratungen auch dieser Konferenz der Schwachsinnigen- 
fürsorge in Österreich reicher Nutzen! 



2. Urteile der Kinder über den Arbeitsunterricht. 

Von K. Wittig, Braunsdorf bei Freiberg i. Sa. 

Es ist nichts Neues, daß wir Freunde des Arbeitsunterrichtes die 
Kinder fast ausnahmslos auf unserer Seite haben. Viele erfüllt die ganze 
Woche über ein freudiges Harren auf den Tag, da sie wieder zur Werk- 



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2. Urteile der Kinder über den Arbeiteunterricht. 



307 



statt kommen dürfen. Wir gedenken eigener Jugend und wissen, daß dem 
Kinde die 2 Stunden meist zu schnell vergehen. 

So ist es bei normalen Kindern. Dürfen wir es auch bei unnormalen 
erwarten? Ich denke jetzt an sittlich verwahrloste Kinder. Da ich solche 
unterrichte, benutzte ich einen Aufsatz »Wie es im Arbeitsunterrichte zu- 
geht« , die Kinder zu einem Urteile über den Arbeitsunterricht zu veran- 
lassen. Stets ist uns der Aufsatz ein Gebiet freier Meinungsäußerung. 
Hier hielt ich's aber für angebracht, die Kinder ausdrücklich darauf hin- 
zuweisen, daß sie ihre wahre Meinung schreiben sollten, daß mir gar 
nichts daran läge, wenn sie den Unterricht nur meinetwegen lobten. Daß 
dem entsprochen wurde, sieht man daraus, daß von 27 Schülern 2 offen 
aussprachen, es gefiele ihnen nioht, dem einen wegen auffallender Un- 
geschicklichkeit, dem andern wegen mangelnder geistiger Fähigkeiten. 

Es mögen im folgenden die Urteile aus den Arbeiten zusammen- 
gestellt werden. »Wenn es Montag ist, da freue ich mich schon auf den 
Unterricht«, schreibt der eine. Ein anderer stimmt ihm zu: »Im Papp- 
unterricht gefallt es mir; ich freue mich jedesmal, wenn der Montag 
herankommt« K. i6t die Stunde zu schnell vorüber, er »wartet schon 
wieder auf den nächsten Sonnabend«, und »wenn es heißt: ,Wir haben 
Holzunterricht 1 , so hört er das gerne; denn diese Sache macht ihm Freude«. 
Und N. erscheint der Sonnabend als ein »lieber Tag« : »Ich warte jeden 
Tag darauf, daß es Sonnabend ist; denn es ist mir ein lieber Tag, weil 
da Holzunterrioht ist« G. beweist seinen Eifer schon vor der Stunde: 
»Ich gehe gern in den Unterricht. Ich bin fast immer der erste im 
Speisesaal« (dient uns als Werkstätte). Und St spricht seine Liebe zum 
Arbeitsunterricht in recht lebendiger und anschaulicher Weise so aus: »Ich 
gehe gern in den Unterricht, denn da habe ich schon vieles gelernt. Ich 
denke immer, wenn es nur schon 1 f t 5 wäre. Endlich schlägt es. Flink 
melde ioh mioh ab (beim Pfleger) und komme sehr schnell herauf« (in 
den Speisesaal). 

Daß der Arbeitsunterricht sich zum Teil größerer Beliebtheit erfreut 
als die täglich geübte und sich im allgemeinen gleichbleibende Werk- 
stättenarbeit ist ja natürlich. Darum schreibt auch Soh.: »Im Arbeits- 
unterricht gefällt es mir besser als in der Schuhmacherstube,« und Kl.: 
»Ich gehe lieber in den Arbeitsunterricht als in die Korbmacherstube.« 
Soviel ich weiß, gehen die Kinder trotzdem noch freudig an die Werk- 
stättenarbeit. Es wäre ja auch ein verfehlter Zweck, wenn der Arbeits- 
unterricht den Trieb zur Werkstättenarbeit im Kinde lahm legen wollte. 
Ergänzen will er sie nur, will den Zögling anleiten, das denkende Arbeiten 
auch auf seine Tagesarbeit zu übertragen. Wie nötig das ist, werden wir 
weiterhin sehen. 

Einen Hauptwert für sittlich verwahrloste Kinder sehe ich in der 
Pflege der Millimetergenauigkeit. Und es freut mich, daß einige Schüler 
davon sprechen, ich nehme an, weil sie die Berechtigung der geforderten 
Genauigkeit eingesehen haben. P. schreibt: »Jetzt haben wir einen Dreh- 
kalender in Arbeit . . da müssen wir auf jeden Millimeter achten.« Und 
Sch. berichtet: »Jetzt sind wir gerade drüber, ein Konsol anzufertigen. 

20* 



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308 B. Mitteilungen. 



Da heißt 68 aufpassen, sonst geht es beim Sägen über die Linie weg. 
Jeder Millimeter ist da zu beachten.« 

Nicht allen ist die Erziehung zum denkenden Arbeiten angenehm. 
Selbst Formen zu suchen und zu finden, verspürt so mancher wenig Lust, 
er will lieber im Herdentritt gehen und nachahmen, was andere vor- 
gemacht Das ist eben ein Kennzeichen verwahrloster Kinder, vielleicht 
aber auch eine unangenehme Folge jeder Anstaltserziehung. Bleibt mac 
nun bei seiner Forderung nach selbständigem Arbeiten, so verliert wohl 
mancher die Lust am Arbeitsunterricht. So sprioht es auch R aus: »Es 
mußte sich jeder die Form der Rückwand (des Konsols) selbst überlegen . . 
So kommt es vor, daß es manchen im Arbeitsunterricht nicht gefällt, 
z. B. mir gefällt es manchmal, andere Male auch nicht« Soll deswegen 
der Erzieher von seiner Forderung abstehen? Keineswegs. 0.8 Urteil 
zeigt, wie doch schließlich mancher trotz anfänglicher Unlust dem denkenden 
Arbeiten Geschmack abgewinnt — zu seinem Heile — : »Erst gefiel es 
mir nicht; aber jetzt mochte ich den ganzen Tag hineingehn (in den 
Arbeitsnnterricht). Das gibt's aber leider nicht.« (Siehe auch weiter unten 
angefühlte Urteile.) 

Zu solcher Festigkeit wie 0. kommen manche leider nur sehr langsam. 
Bei vielen bleibt es lange so, wie Z. schreibt: »Ich habe auch schon 
manchmal gedacht: ,Wenn ich nur nicht in den Unterricht zu gehen 
brauchte'. Aber auch mir ist der Gedanke gekommen: ,Es ist schön, daß 
ich in dem Arbeitsunterricht bin/« Forschen wir nach der Ursache solcher 
Unluststimmungen , so finden wir teils solche, die mit dem Arbeitsunter* 
rieht an sich nichts zu tun haben (schönes Wetter, man mochte lieber 
einen Weg gehen usw.). Bisweilen leitet sich aber die Unlust vom Arbeits- 
unterrichte selbst her, nämlich dann, wenn er Schwierigkeiten oder gar 
Mißerfolge bringt. Beides ist sittlich verwahrlosten Kindern verhaßt 

Um so segensreicher muß der Arbeitsunterricht wirken, wenn er ziel- 
bewußt und unentwegt gegen diese Schwächen des Zöglings arbeitet 
Damit wird er zu einem Mittel zur Weckung und Stärkung des Selbst- 
vertrauens. Gelingt ihm das in der Tat? Nun, die oben angeführten 
Aussprüche, die der Freude am Arbeitsunterricht Ausdruck verleihen, sind 
schon ein Beweis dafür. Zur Bekräftigung seien noch einige Urteile mit- 
geteilt. Sch. schreibt: »Manche Arbeit geht schwer, manche leicht Das 
Schwere muß man auch angreifen, denn ,0hne Fleiß kein Preis'.« IL 
hat den Lohn der Ausdauer bereits empfangen: »Ich habe auch schon 
manchmal gedacht, da wird nichts aus meiner Arbeit Aber ich habe 
mir Mühe gegeben, und es wurde doch etwas daraus. Dann habe ich 
mich darüber gefreut« Ebenso ist es M. ergangen: »Wenn man was ver- 
hunzt so denkt man: ,Wenn nur schon die Stunden um wären 4 . Das 
kostet viel Mühe, Arbeit und Zeit Wenn wir etwas fertig haben, dann 
sind wir jedesmal froh.« Recht anschaulich teilt R. seine Gedanken mit: 
Als ich das erste Mal zur Holzarbeit ging, da gefiel es mir so sehr, daß 
ich sagen mußte, ich möchte den ganzen Tag dableiben . . Wir fingen an, 
Fensterklammern aufzuzeichnen. Das war eine schlechte Sache. Als ich 
die Fensterklaramern aufgezeichnet hatte, war die ganze Sache falsch. Und 



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2. Urteile der Kinder über den Arlwitsuntorricht. 



309 



so ging es ein paarmal. Da gefiel es mir nicht mehr recht. Da 
dachte ich bei mir: ,Hätte ich mich nnr zur Papper bei t gemeldet 1 . Da 
kam mir der Oedanke: ,Aus der Holzarbeit kommst du nicht wieder heraus. 
Da heifit es: besser machen! 1 Jetzt geht es besser als erst, und ich 
habe schon viele Sachen gefertigt . .« Ging R. gleich mit Eifer an die Sache, 
so war L. zaghaft: er fürchtete sich fast, etwas zu beginnen, das er noch 
nie getrieben hatte; also Mangel an Selbstvertrauen! Wäre der Arbeits- 
unterricht für L.S Klasse nicht obligatorisch gewesen, L. hatte »oh wohl 
schwerlich von selbst zum Arbeitsunterricht gemeldet Hören wir, wie der 
Arbeitsunterricht auf ihn gewirkt hat: »Als ich das erste Mal mitging, 
gefiel es mir nicht Als ich das erste Mal hobelte, fiel es mir schwer. 
Nach und nach aber wurde es leichter. Auch das Sagen gefiel mir nicht, 
denn ich hatte das noch nie mitgemacht Da habe ich manche Säge zer- 
brochen. Aber jetzt mache ich es gerne mit und zerbreche auch 
keine mehr. Wenn ich manchmal eine Arbeit machen muß, die mir 
nicht gefallt, so denke ich: ,Wenn ich nur erst fertig wäre. 1 Aber wenn 
ich es fertig habe, freue ich mich darüber. Ich gehe sehr gern in 
den Unterrichte 

Wer das Wesen sittlich verwahrloster Kinder kennt, wer da weiß, 
mit welchem Feuer sie sich meist auf etwas Neues stürzen — weil sie 
etwaige Schwierigkeiten nie mit in Rechnung ziehen — , wer aber auch 
weiß, wie schnell dieses Feuer der Begeisterung bei ihnen nachläßt, ja 
erlöscht — , der wird sich mit mir freuen, Zeugnisse, wie die angeführten, 
aus Kindesmund zu hören. Dürfen wir doch hoffen, daß dieses Selbst- 
vertrauen über die Zeit des Arbeitsunterrichts hinaus dauert und schließlich 
ins Wesen des Zöglings übergeht eine kräftige Arznei für den am Willen 
Kranken. 

Einer ist unter den 27 Schülern, dem das Selbstvertrauen noch gänzlich 
fehlt Er klagt: »Wir haben jetzt einen Drehkalender in Arbeit. Aber 
der ist für mich zu schwer, so daß ich ihn nicht mitarbeiten kann. Ich 
mache auoh einen Kalender, aber nicht zum Drehen, dieser hat die Form 
eines Dreiecks. Ich verliere schon die Lust, ehe ich anfange, denn ich 
weiß, daß ich heute wieder nichts fertig bringe.« Er wird zwar nie zu 
Leistungen kommen wie seine Kameraden; aber Selbstvertrauen muß doch 
noch in ihm geweckt werden. Bei L. ist es gelungen, er weiß zwar, 
-daB er nicht viel bringt«, er kommt aber doch »gern« zum Arbeits- 
unterrioht 

Zusammenfassend können wir wohl aussprechen, daß der Arbeite- 
rin terricht auch den sittlich verwahrlosten Kindern eine Freude ist Er 
wird ihnen ganz besonders zum Segen durch die Pflege der Genauigkeit 
(Gewissenhaftigkeit!), durch Gewöhnung an denkendes Arbeiten und damit 
an Selbständigkeit, durch Steigerung der Schwierigkeiten und damit durch 
Pflege des Selbstvertrauens. (Noch manches ließe sich über den Segen 
des Arbeitsunterrrichts speziell für Sittlich- Verwahrloste und über die Be- 
rechtigung, ja Notwendigkeit desselben neben der sogenannten »Erwerbs- 
arbeit«, wie sie in unsern Werkstätten getrieben wird, sagen, doch würde 
dies über den Rahmen dieser kurzen Mitteilung von Kinderurteilen hinaus- 



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310 



B. Mitteilungen. 



führen. Vielleicht bietet sich dazu ein anderes Mal Gelegenheit) Daß 
Kinder imstande sind, diese Segnungen zu erkennen und zu würdigen, 
wie die angeführten Urteile beweisen, muß die Wirkung des Arbeiteunter- 
richts nur erhöhen. 



3. In Nordamerika. 

Von Alwin Schenk. 
1. City- Home in Verona N.J. 

Daß ich in diesem Jahre meine Schritte nach Amerika lenken wollte, 
ist in der Zeitschrift für Einderforschung bereits mitgeteilt worden. Ab- 
weichend von meinen seitherigen Berichten, die nur von Idiotenanstalten 
und Hilfsschulen meldeten, will ich diesmal auch auf andere Einrichtungen 
eingehen. Den ersten Bericht will ich erstatten über die Anstalt City- 
Home in Verona bei Newark N. J. 

Was ist City-Home? In den Newarker öffentlichen Volksschulen be- 
steht die Einrichtung, daß alle unbotmäßigen Schüler besonderen Schulen, 
den ungradierten Schulen, zugewiesen werden. Entsprechen sie auch 
hier nicht den gestellten Anforderungen, so kommen sie nach City-Home. 
Ebenso kommen nach City-Home alle Jugendlichen im Alter von 8 bis 
18 Jahren, die vom Kindergerichte in Newark wegen strafbaren Hand- 
lungen der Besserungsanstalt zugewiesen werden. City-Home ist also die 
Zwangserziehungsanstalt für Knaben der Stadt Newark. 

In dieser Anstalt wohne ich seit mehreren Tagen. Obgleich ich da- 
durch einen Einbliok in das Leben der Anstalt gewonnen habe, und ob- 
gleich ich mehrfach das gesamte Schülermaterial von 160 Knaben beob- 
achten konnte, habe ich doch niemals das Gefühl gehabt, in einer Besserungs- 
anstalt Wohnung gefunden zu haben. Schon ganz äußerlich betrachtet, 
weist nichts auf die Besserungsanstalt hin. Die Anstalt liegt in der 
Orange Mountains. Keine Mauer, ja keine Einfriedigung umgibt das Grund- 
stück. Wenige Schritte oberhalb und unterhalb der Anstalt liegen ziemlich 
große Waldungen. Auf dem Grundstück, das etwa 120 Morgen Land 
umfaßt, erheben sich — abgesehen von den Nebengebäuden — die sechs 
großen Anstaltsgebäude. Auch in den einzelnen Gebäuden ist nichts vor- 
handen, was an irgend eine Zwangsmaßnahme erinnern könnte. 

So ist die Anstalt nicht immer gewesen. Es gab auch in ihr eine 
Zeit, in der Einzelzellen, streng bewachte Tages- und Schlafräume vor- 
handen waren. Die neuere Zeit will nichts von solchen Zwangsmaßregeln 
wissen. Daß dies möglich ist, liegt an den Grundsätzen, die der Leiter 
der Anstalt, Herr Superintendent Heller, vertritt Er steht auf dem 
Standpunkt, daß die Zöglinge, die hier eingeliefert werden, Opfer ihrer 
ungünstigen häuslichen Verhältnisse geworden sind. Hätte das Elternhaus 
seine Pflicht getan, so wäre eine Oberweisung nicht notwendig gewesen. 
Die Anstalt will nun den Sonnenschein, der dem Kinde zu seiner Ent- 
wicklung gefehlt hat, ersetzen. Sie will die Schüler bessern und zu 
guten Bürgern der großen Republik erziehen. Von diesem Standpunkte 
aus werden alle Maßnahmen getroffen, die für das Kind von Wichtigkeit 



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4. Eine Anerkennung der Kinderforscbung. 



311 



sind. Für unbotmäßige Schüler werden auch Zuchtmittel angewendet. Diese 
bestellen in Verweisen, Entziehung gewisser Vergünstigungen und im 
letzten Falle auch in körperlichen Züchtigungen. Es sind dies Maßnahmen, 
die in jeder Familie, also auch in einer großen Anstaltsfamilie, angewendet 
werden müssen. 

In einigen Zwangserziehungsaustalten hat man zur Erreichung dieses 
Zieles noch besondere Maßnahmen geschaffen : nämlich die Selbstverwaltung 
durch die Schüler. Besonders zeichnet sich die Republik der Jugendlichen, 
gegründet von W. R George in Freewille bei Ithaka im Staate Newyork, 
aus. Die Anstalt, die mehrere Hundert Knaben und Mädchen zählt, ist 
ein Abbild der großen Republik. Wie im öffentlichen Leben, so finden 
wir auch hier die verschiedensten Lebensberufe vereinigt Für die ge- 
leisteten Arbeiten wird den Kindern Lohn gezahlt. Die erforderlichen 
Bedürfnisse werden durch Geld erworben. Vergehungen werden durch 
das von den Kindern gebildete Jugendgericht bestraft. Die Strafe wird 
in dem Kindergefängnisse, das ein besonderes Gebäude der Anstalt dar- 
stellt, verbüßt usw. Über dem Ganzen schwebt der Anstaltsleiter George. 
Diese Form der Erziehung, die ja in einer Reihe von Besserungsanstalten 
Eingang gefunden kat, hat in Verona keine Einführung erlangt. Herr 
Superintendent Heller steht auf dem Standpunkte, daß in der Jugend- 
republik nicht die äußere Form, sondern die unendliche Liebe, die der Anstalts- 
leiter George seinen Pflegebefohlenen entgegenbringt, das Entscheidende sei. 
Infolgedessen hat er auch nicht die äußere Form, sondern den Geist, der 
das Ganze beseelt, übernommen. 

Die Anstalt in Verona findet in der Tätigkeit ein Hauptmittel der Erziehung. 
Infolgedessen sind eine Reihe von Berufen für die Erlernung eingeführt. Diese 
sind die Buchdruckerei, Bäckerei, Schuhmacherei, Schneiderei, Wäscherei, 
Landwirtschaft, Küchen- und Hausarbeit und Heizerdienste in der Zentral- 
heizanstalt Die Schüler sind in diesen Zweigen einmal für die Anstalt 
selbst tätig, zum andern werden sie zur regelmäßigen Arbeit gewöhnt und 
schließlich in einen bestimmten Lebensberuf hineingeführt. 

Mit der praktischen Tätigkeit Hand in Hand geht die Schultätigkeit 
Die Schüler werden in sechs aufsteigenden Klassen unterrichtet und zwar 
3 Klassen des Vormittags und 3 Klassen des Nachmittags. Ziel ist die 
Erreichung des Unterrichtsstoffes des 7. Jahrganges der achtklassigen Volks- 
schulen. Die Schwierigkeit des Unterrichts liegt in der Verschieden- 
artigkeit des Schülermaterials in bezug auf Nationalität und des Alters der 
Zuweisung in die Anstalt 

Die entlassenen Sohüler bleiben unter der Oberaufsicht eines Beamten 
aus der Zentralverwaltung von Newark, der City-Home unterstellt ist 

Der Anstalt war es vergönnt, eine große Zahl seiner Schüler zu 
nützlichen Gliedern der menschliehen Gesellschaft erzogen zu haben. 



4. Eine Anerkennung der Kinderforschung. 

Seinerzeit hatte der preußische Minister Freiherr v. Zedlitz den 
energischen Verteidiger der damaligen pädologi sehen Bestrebungen, E. Ch. 



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312 



C. Liteiatur. 



Trapp, zum ersten und leider auch letzten Professor der Pädagogik in 
Deutschland ernannt. Daran wurde man erinnert, als unifingst der 
ungarische Kultusminister Graf Johann Zichy die Beförderung des 
Ministerialrats Alexander Näray-Szabö zum Staatssekretär des 
Unterrichtsministeriums erwirkte. Näray-Szabö ist Präsident der Ungarischen 
Gesellschaft für Kinderforschnng und den Lesern dieser Zeitschrift nicht 
unbekannt. In Heft 6 berichtete er selbst über die durch seine Be- 
mühung errichtete Schule für nervöse und unentwickelte Kinder auf der 
Elementar- und Mittelstufe. Er war es auch, der das beherzigenswerte und 
lehrreiche Vorwort zu dem früher an dieser Stelle vom Unterzeichneten 
besprochenen Werke Ranschburgs (Der kindliche Geist) schrieb. Naray- 
Szabö ist Doktor der Medizin und seit nahezu dritthalb Jahrzehnte im 
Kultusministerium und seit der Zeit vornehmlich als Förderer des Kinder- 
schutzes mit Leib und Seele tätig. Auf seine Ernennung — am 30. Mai 
— antwortete er: »Kinderforschung und Heilpädagogik bildeten 
bislang meinen Arbeitskreis, sie sollen auch fürderhin mein 
gesamtes Programm abgeben.« 

Budapest. K. G. Szidon. 

5. Antialkoholtmterrioht in Schweden. 

Yom 15. Juni bis 17. August veranstaltet der schwedische Zentral- 
verband für Antialkoholunterricht einen auf 20 Teilnehmer berechneten 
Kursus für Seminarlehrer, vom 13. Juni bis 23. Juli einen solchen für 
Volksschullehrer (100 Teilnehmer) in Stockholm. Den Teilnehmern werden 
die Reisespesen vergütet und außerdem Tagegelder gewährt. Die Regierung 
zahlt zur Beihilfe für den ersten Kursus 25000 Kronen, für den zweiten 
35000 Kronen. Der Unterricht befaßt sich nicht allein mit der Alkohol- 
frage, sondern mehr im allgemeinen mit Gesundheitslehre. 

Dr. Karl Wilker. 



C. Literatur. 



Auer, C, Verhandlungen der \H. schweizerischen Konferenz für das 
Idiotenweaen in Altdorf am 5. und 6. Juli 1909. Stetten i. Remstal, 
Thomm. 1909. 200 8. Preis 1,25 M. 
Die nunmehr 20 Jahre bestehende Konferenz tagte im vergangenen Jahre auf 
klassischem Boden, in der Urschweiz, in dem bekannten Teilorte Altdorf. In der 
Nähe befindet sich auch das Dörfchen 8eedorf, wo der junge Ou^genbühl jenen 
Kretinen sein Gebet murmeln hörte, der dann der Anlaß wurde, daß der menschen- 
freundliche Arzt das Gelübte ablegte: »Der Abhilfe dieses Jammers sein Leben zu 
weihen und eher zu erliegen, als diese Angelegenheit der Menschheit zu verlassen.« 

Etwa 200 Personen hatten sich in Altdorf versammelt, darunter auch Reichs- 
deutsche, um den Verhandlungen ihr Ohr zu leihen. Nach der üblichen Eröffnungs- 
rede, verbreitete sich der Konferenzvorstand, Sekundarlehrer Au er -Schwanden über 
den gegenwärtigen Stand der Fürsorge für geistesschwache Kinder in 



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C. Literatur. 



313 



der Schweiz, mit besonderer Berücksichtigung der in den letzten 
zwei Jahren erzielten Fortschritte. Im März 1909 waren in der Sohweiz 
30 Anstalten mit 1366 Zöglingen vorhanden, von letzteren befanden sich 84°/ 0 
unter, 16°/ 0 üher 16 Jahren. Spczialklassen gab es 80, mit 1708 Schülern und 
82 Lehrkräften. Dazu kommen nooh 73 Orte mit sogenannten Nachhilfeklassen, 
ferner zwei Städte, Basel und St Gallen, mit Förderklassen (Mannheimer System). 

Das erste Referat erstattete Lehrer P. Beglinger-Zürich: Welche Folge- 
rungen ziehen wir aus der bisherigen Arbeit in den Spezialklassen 
für 8chwachbefähigte? Die Berechtigung der Spezialklasse ist erwiesen. Ihre 
Aufgabe besteht darin, das schwachbeanlagte Kind zu möglichst braachbaren Men- 
schen zu erziehen; jedoch muß sie, um dieses Ziel zu erreichen, verwahrloste, 
epileptische und ähnliche mißliebige Elemente von ihrem Besuche ausschließen. 
Für die Erreichung der gesteckten Ziele ist es aber unbedingt notwendig, daß sie 
zu einer besonderen, der Volksschule gleichwertigen Organisation ausgebaut, und 
namentlich auch die Erziehung zur Arbeit mit Eifer und Sachkunde betrieben 
wird. Die intensive Entlassenenfürsorge hat alsdann den Kreis der Aufgabe dieser 
sozial wirkenden Institution zu schließen. Die Korreferenten, ein Hilfsschullehrer 
und eine Hilfsschullehrerin, daneben die lebhaft einsetzende Diskussion, ergänzten 
das wichtige Thema in vielseitiger Weise. 

Prof. N ager- Altdorf, sprach dann über die Behandlung der Anormalen 
bei der Rekrutenaushebung. In der Schweiz wird die Einstellung der Militär- 
pflichtigen von einer zu bestehenden Intelligenzprüfung abhängig gemacht. In den 
Jahren 1899—1908 mußten von 272475 Rekruten 2009 Mann wegen Schwachsinn 
zurückgewiesen werden. Allerdings bat sich auch ergeben, daß manche der geistig 
minderwertig jungen Leute ganz brauchbare Soldaten geworden sind. Eine Aus- 
schließung der Hilfsschüler vom Militärdienst ist mithin nur von Fall zu Fall, nach 
sorgfältiger Beobachtung und Prüfung zu beschließen. 

Am zweiten Konferenztage hielt zunächst Pfarrer Alt her- Regensdorf einen 
geschichtlichen Vortrag: J. J. Guggenbühl und seine Abendbergstiftung 
im Schatten traditioneller Vorwürfe und im Lichte einer akten- 
mäßigen Rechtfertigung. Die mit reichen archivalischem Material belegten 
Darbietungen ergaben zur Evidenz, daß Guggenbühl weder ein Schwindler noch ein 
Charlatan gewesen ist Im Gegenteil, seine Absichten waren sehr löblicher, 
menschenfreundlicher und sozialer Natur. Daß er trotzdem ein Opfer der Ver- 
hältnisse wurde, liegt zum größeren Teile an der verständnislosen, teilweise absicht- 
lich verdrehten Beurteilung seiner schweizer Kollegen und einer sensationslüsternen 
Menge. Die in die Öffentlichkeit ausgestreuten Märchen, Guggenbühl habe seine 
Zöglinge hungern und frieren lassen, um sich ein enormes Vermögen zu sammeln, 
seine Behandlungsweise der Kinder sei nur auf den Schein berechnet gewesen usw., 
sind heute endgültig widerlegt Es steht nunmehr fest, daß er einen Fonds mündel- 
sicher angelegt hatte, um den dauernden Bestand des Unternehmens zu sichern, 
daß er weiter seine Anstalt nie ohne ärztliche Aufsicht ließ, und daß er endlich 
an eine kulturelle Heilbarkeit kretinisch und idiotisch veranlagter Kinder fest glaubte. 
Betreffs der Möglichkeit einer Heilung oder doch wenigstens erheblichen Besserung 
der echten Kretinen muß ihm die Gegenwart bereits beipflichten, wie die erlangten 
Resultate beweisen. Daß Guggenbühl auch Fehler beging, ist menschlich zu ver- 
zeihen, jedenfalls waren sie nicht größer als die Mißgriffe anderer Praktiker. Die 
von Alther verfaßte Geschichte des schweizer Idiotenwesens, die demnächst er- 
scheint, wird den Gegenstand in noch klarerer und einwandfreier Weise beleuchten. 



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C. Literatur. 



Ein aktuelles Thema behandelte auch Direktor E. Hase nf ratz- Weinfelden: 
Die moralisch Schwachen. Die vielgestaltige Beschaffenheit der kindlichen 
Psyche macht eine geeignete Behandlung derartiger Elemente sehr schwierig. 
Hieraus ergibt sich, daß ungenügende Kenutnis der pathologischen Erscheinungen 
oftmals falsche Mittel anwenden läßt, und damit statt Besserung Verschlechterung 
erreicht. Referent zeigt an einer Reihe von Beispielen, welche Vorurteile noch im 
Volke herrschen, und daß der Mangel ethischer Gefühle vielfach noch als vorsätz- 
liche Böswilligkeit gewertet wird. Er fordert deshalb, daß es Aufgabe der Seminare 
werden müsse, die angehenden Pädagogen mit den Erkrankungen des jugendlichen 
Geistes und deren Behandlungsmethode bekannt zu machen, daß weiter alle Lehrer 
zum Besuch psychiatrischer Kurse verpflichtet werden, und endlich unheilbare 
Patienten dauernd in geeigneten Anstalten versorgt werden. Der erste Votant, 
Dr. Frank-Zürich betonte ergänzend, die ungenügende psychologische und psychi- 
atrische Bildung der Ärzte und Juristen erschwere die richtige Kenntnis der 
moralischen Idiotie. Aber noch wichtiger und auch aussichtsreicher dürfte der 
Kampf gegen die Entstehung des Elends sein; ihn erfolgreich zu führen, gestatte 
nur ein gemeinsames und zielbewußtes Zusammenstreben aller beteiligten Faktoren. 

Weiter enthält der Bericht ein Resümee über die Mitwirkung der Frauen 
bei der hygienisch - sanitarischen Überwachung der Schulkinder, die für eminent 
wichtig gehalten wird. Im Anhang finden sich ferner Berichte über die Entwick- 
lung der Anstalt für Schwachbegabte Taubstumme in Bettingen - Basel, über die 
Schwachsinn igenf rage am 1. Informationskursus für Jugendfürsorge in Zürich 1908 
(darüber ist ein selbständiger umfangreicher Bericht erschienen, der die 37 Themata 
enthält und von Zürcher & Furrer, Zürich, Preis 10 M, verlegt worden ist), Statuten 
für den Patronats verein für Schwachbegabte Kinder in Burgdorf, und endlich das 
Gesetz bezüglich der Gründung von Hilfsschulen in Frankreich. 

Idstein i. Tauuus. M. Kirmsse. 

Kindersprache und Altersmundarten. Eine Untersuchung von Oskar 
Wahne lt. München, Verlag von Max Kellerers Hofbuchhandlung, 1910. 47 8. 
Preis broschiert 1 M. 

Das vorliegende Büchlein bietet ein Beispiel dafür, wie man eine Bewegung 
in der Wissenschaft nicht behandeln darf. Zunächst vermutet der Fachmann, in 
der Broschüre etwas Neues über das heißumstrittene Thema zu finden, etwa eine 
kinderpsychologische, exaktwissensohaftliche Parallele oder eine neue Methode der 
Untersuchung — statt dessen erklärt der Verfasser auf S. 1 von vornherein, daß 
er »einen kleinen Überblick« geben will, der obendrein »bei der ungeheuren Aus- 
dehnung des Stoffes naturgemäß beschränkt und unvollkommen bleiben muß«. Er 
will »eine ganze Zahl kleinerer und größerer, hier untergeordneter Themata nur 
streifen, ihre Grundzüge nur andeuten und muß es dem Leser überlassen, sie auf 
Grund des angeführten Materials selbständig weiter zu verfolgen.« 

Bleibt aber dem Leser das Einarbeiten in ein so umfangreiches Gebiet der 
Kinderpsychologie »selbst überlassen«, dann braucht er auch das Buch von Wahnelt 
nicht erst zu lesen. 

Was das darin verarbeitete Material betrifft, so ist zunächst zu bemerken, 
daß seine Literaturübersicht am Schlüsse außerordentlich dürftig aussieht. Die 
wichtigsten Werke über den vorliegenden Gegenstand scheint der Verfasser gar 
nicht zu kennen; ich nenne nur einige, deren Kenntnis schon vom angehenden 
Lehrer verlangt wird: 



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C. Literatur. 



315 



Strümpells Psychologische Pädagogik (Anhang: Beobachtungen üher ein Kind). 
Lindner, Aus dem Natorgarten der Kindereprache. 

Clara u. William Stern, Die Eindersprache. Monographien über die seelische 
Entwicklung des Kindes. 

Dr. Tögel, 16 Monate Kindersprache. Beiträge zur Kinderforschung und Heil- 
erziehung. Heraasgeg. von Anton, Martinak, Trtiper u. Ufer. 
Die hierhergehörenden Zeitschriften: 

Zeitschrift für Kinderforschung usw. 
sind gar nicht genannt und verarbeitet; auch die umfangreiche französische Literatur 
über den Gegenstand scheint der Verfasser nicht zu kennen. 

Andrerseits nennt der Verfasser in seinem Literaturverzeichnisse Werke, die 
mit seiner Aufgabe in so losem Zusammenhange stehen, daß sie ungenannt bleiben 
auriieti. 

Aua dem verarbeiteten Materiale zitiert nun der Verfasser frisch darauf los, 
um sich schließlich auf einen vermittelnden Standpunkt zu stellen; er lehnt be- 
sonders den Ottoschen Ausdruck »Stufen« der Altersmundart ab als Ergebnisse 
des Altersunterschiedes, verneint schließlich sogar die Existenz und Berechtigung 
der Altersmundarten (S. 46). kann aber doch nicht unterlassen, auf den Segen des 
angefochtenen Kampfes hinzuweisen; dieser hat uns auch Klarheit gebracht. 

Angesichts dieses Ergebnisses kann man das Buch nur für solche Lehrer 
empfehlen, die noch gar nichts über die Altersmundarten und die Sprachentwicklung 
beim Kinde gelesen haben. 

Rudolstadt. Dr. phü. Hugo Sohmidt. 

Friz, Immanuel, Dr. Barnardo, der Vater der Niemandkinder. Basel, 
Ernst Finkh. Preis 4 M. 

Seht ihr den Leichenzug? — 1500 Knaben vor dem Sarge, und gegen 200000 
trauernde Kinder am Wege in den düsteren Straßen des armen Ostlondons. So 
wurde am 27. September 1905 Dr. Barnardo zu Grabe gebracht. Ein ganzes 
Volk armer Männer und Frauen schaute der Leiche des Vaters der Niemandskinder 
nach. Er hatte sie, die verlassenen Kleinen und Heranwachsenden, in ihren elenden, 
nächtlichen Schlupfwinkeln entdeckt — in Schuppen, auf Dächern, unter Waren- 
planen verankerter Schiffe. Er gewann ihnen einen treuen Helfer in Graf Shaftes- 
bury, der ein großes Schiff zur Erziehungsanstalt für verlassene Knaben einrichtete. 

Barnardo selbst gründete 1870 in mystischer Begeisterung .und frommer 
Überzeugung von der eigenen Mission und von Gottes Beistand sein Knabenheim 
in Stepney mit der Aufschrift »Kein heimatloses Kind jemals abgewiesen«. 1871 
flössen 140000 M, ein Jahr später 300000 M dem Heime zu. 1888 enthält es 
400 Betten für Knaben. Nicht nur in London, auoh in anderen englischen Städten 
wurden Vorasyle für Zuführung von Knaben zu dem großen Heime eröffnet In 
ihm selbst wurden sie am Tage halb mit Unterricht, halb mit Arbeit beschäftigt. 
Alle gelobten fürs Leben Enthaltung von Alkohol. 

Barnardo suohte auch die Eltern zu bessern. Er verwandelte das »Edinburger 
Schloß« — das war eine Schenke übelsten Hufes — zu einer Missionsstätte, in 
welcher er Sonntags 12 gottesdienstliche Veranstaltungen hintereinander abhalten 
ließ, mit einer Durcbschnittsgemeinde von 2500 Personen bei 3200 Sitzplätzen. 

Nach seiner Verheiratung — 1873 — ging sein Wunsch: die Erriohtung eines 
ila/ichenheimes — in Erfüllung. — Bald wandelte er die geplante Mädchenkaserne 



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316 



C Literatur. 



in ein Mädchendorf, nur mit kleinen Familienhäusern, in denen sich um eine gute 
Hausmutter Mädchen von verschiedenem Alter scharten. 

Sich bewährende Knaben und Mädchen übergab der Niemandsvater aus- 
ländischen Farmerfamilien, besonders wenn böswillige Verwandte die Kinder wieder 
in den alten Schmutz zurückziehen wollten. 1887 machte er auch den Versuch, 
330 Knaben zwischen 7 und 9 Jahren in 120 englischen, ländlichen Familien unter- 
zubringen. Die Jahreszahl so versorgter Kinder wuchs 1905 auf über 4000. Wie 
war die Behandlung so vieler auswärtig verpflegter Schützlinge zu übersehen. 
Barnardo schuf kleine Aufsichtsbezirke, denen höchstens je 20 Pflegekinder an- 
gehörten, und gewann für jeden Bezirk eine zuverlässige Aufsichtskommission. 

Die gewaltigen Ausgaben drohten schließlich Barnardos Gründungen Ein- 
schränkungen aufzulegen, denen sich der glaubensstarke Mann nicht fügte. Selbst- 
verständlich konnte Barnardo selbst mit dem Wachstume seiner Heime, seiner 
praktischen Riesenaufgaben sich immer weniger der Aufbringung von Geldmittela 
widmen. Angestellte Wanderredner warben und sammelten. Ein Junghelferbund 
wurde gegründet, dem Kinde Hilfe durch das Kind gebracht Die Beitragsumme 
dieses Bundes überstieg bald jährlich 300000 M. Man steuerte nicht Geld aufs 
Ungewisse, sondern jede Gruppe übernahm die Sorge für ein Bett im Jahre für 
600 M. Dann unternahmen am Waisensamstag 60000 Sammler eine Hauskollekte. 

Wollten Barnardo die Sorgen um das Bestehen seiner Veranstaltungen, um 
das Einkommen der nötigsten Gelder bedrücken, so fand er im Gebete Trost und 
Hilfe. Delitsch. 

Schow, A. B., The movement for reform in the teaching of religion 
in the public schools of Saxony. Washington, United States Bureau of 
Education, 1910. 45 S. 

Das im April d. Jahres von Prof. Dr. E. E. Brown der Öffentlichkeit über- 
gebene Heft des überaus umsichtigen Washingtoner Erziehungsamtes enthält eine 
in Deutschland begonnene Studie, die jeden Schulmann interessieren muß. Es 
handelt sich nämlich um eine, auch durch reichhaltige Literatur- Nachweise gestutzte. 
Charakteristik der im Königreiche Sachsen zutage getretenen Reformbewegung auf 
dem Gebiete des religiösen Unterrichts in den öffentlichen Schulen. Nach einer 
kurzen Schilderung der Bremer und Hamburger Vorstöße wird der Leser vertraut 
gemacht mit den bekannten Zwickauer Thesen. Es folgt sodann eine Darstellung 
der Wirkungen dieser Thesen bei der Lehrerschaft, der Geistlichkeit, bei den Be- 
hörden und der öffentlichen Meinung innerhalb des Königreichs Sachsen. Wir 
erfahren aus dieser Stellungnahme: Die Leute aller Parteien, stimmen im Grunde 
darin überein, daß in der religiösen Unterweisung zurzeit eine Beform dringend 
nötig ist; sie unterscheiden sich nur in der Methode und in der Richtung der 
Reform. Fast unwillkürlich heben sich nach dor Auffassung des Beobachters (Prof. 
8chow) aus dem Meinungsaustausche aber doch auch moderne pädagogische Über- 
einstimmungen hervor, die hier kurz als kinderpsychologische zu bezeichnen sind. 
Sodann ist ein schulverwaltungstechniscber Gesichtspunkt zu erkennen. Er kenn- 
zeichnet sich als das heiße Streben der Lehrerschaft nach Befreiung von kirchlicher 
Bevormundung und nach Freiheit in der Kunst der religiösen Unterweisung. Schließ- 
lich beben sich vier religiöse Richtungen als alle bislang veröffentlichten Reform-Vor- 
schläge beeinflussend heraus; es ist dies einejorthodox-konfessionelle, eine freie christ- 
liche, eine agnostisch- positivistische und eine römisch-katholische Gruppe. — - Der 
Verfasser schließt seine Studie mit folgendem Ausblicke: So lange Religion ein 



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C. Literatur. 



317 



Unterrichts^ egenstand in der Schule ist, müssen die wichtigen Religionsprobleme 
immer ein Echo im 8chnlziromer finden. Eine interkonfessionelle, konfessionslose 
Unterweisung in den allgemeinen religiösen Wahrheiten u. a. m. mag im Prinzipe 
ideell gedacht sein; aber sie ist schwer in der Praxis durchzuführen. — Was 
auch immer der endliche Abschluß der Frage sein mag, er wird wahrscheinlich 
sich als eine Etappe im weiteren Ausgleiche der Beziehungen zwischen Staat und 
Kirche erweisen. Einstweilen wird durch die gegenwärtige Bewegung viel gewonnen 
werden für die Besserung des bestehenden 8ystems und vor allem werden die 
drückenden (8toff- und Gewissens-) Lasten des Lehrers und des Schülers auf dem 
Gebiete des Religionsunterrichtes erleichtert werden. — Vergl. Prof. W. Reins 
»Stimmen zur Reform des Religionsunterrichts« (Pädag. Magazin, Heft 237 u. 269, 
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer ic Mann}) und Achinger, Religions- 
unterricht im Namen der Pädagogik und des Staates. Ev. 8chulblatt, 1910, Heft 
5 und 6. 

Halle a. S. Dr. Maennel. 

Silbernagel, Alfred, Zivilgerichtspräsident in Basel, Reform des Strafver- 
fahrens gegen Jugendliche. Sonderabzug aus dem Jahrbuch der Schweiz. 
Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 1909. Zürich, Zürcher 4 Furrer, 1909. 
S. 369-458. 

Verfasser ist in der Schweiz und darüber hinaus rühmlich bekannt als er- 
fahrener und vielbelesener Rechtspfleger. Insbesondere liegt ihm der Ausbau des 
gesetzlichen Jugendschutzes und der Jugendfürsorge am Herzen. Überall da, wo 
in der Schweiz gearbeitet wird an diesem zeitgemäßen Problem, da steht sein Name 
unter den der ersten Mitarbeiter. Als solcher greift er Bruchstücke auch da auf 
und richtet sie zu seinem Baue zu, wo sonst fachtechnischer Stolz und wissen- 
schaftlicher Hochmut Förderliches nicht finden kann und will. Ihm liegt es viel- 
mehr daran, in allen nur ernstlich ringenden Kreisen jede »Opposition« für sich 
und für die gute Sache zu gewinnen. Auf diese Weise macht es Verfasser sich 
durchaus nicht leicht, sein Problem durchzuführen. Zunächst werden dem Leser 
die Grundgedanken klar vor die Augen gestellt, die die amerikanischen Reformen 
beherrschen. Ihnen wird sodann nachgegangen in den Bemühungen aller Kultur- 
länder, die mehr oder weniger deutlich das amerikanische Vorbild nachahmen. Eine 
eingehende Würdigung erfährt die deutsche Jugendgerichtsbewegung. Dem Ver- 
fasser ist zuzustimmen, wenn er erklärt, daß diese im Meinungskampfe stehende 
Rechtspflege sich einerseits von der Strafprozeßordnung als ein besonderes Verfahren 
erst noch loszulösen, und andrerseits der Erziehungsgedanke und insbesondere die 
Würdigung des Verweises im Strafvollzuge noch mehr als bisher sich durchzuringen 
und zu klären habe, wenn ihr zugrunde liegender guter Gedanke reiche Früchte 
tragen soll. Bei den Schweizerischen Verhältnissen verweilt Verfasser am längsten; 
hier berichtet er zugleich oft als Mitarbeiter und Mitkämpfer. Und zwar beginnt 
er, der Jurist, mit der Würdigung des von jedermann für selbstverständlich er- 
achteten Richteramtes der Lehrer aller Schulen. Dann schildert er das lebhafte, 
tatige Interesse der Schweizerischen Lehrerschaft an der Reform des Verfahrens 
gegen Jugendliche. Er vergißt auch nicht, neben seine Fachgenossen den »tat- 
kräftigsten Vorkämpfer der Jugendfürsorge«, den verdienten Kinderinspektor Kuhn- 
Kelly -St Gallen, als Interessenten und wackerm Helfer zu stellen. Letzterer ist 
den Lesern dieser Zeitschrift auoh als derjenige bekannt, der die Ersetzung des 
Jugendgerichts durch Jugendschutz -Kommissionen empfahl. Verfasser hofft, daß 



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318 



C. Literatur. 



diese im Vorentwurfe zum Schweizerischen Strafgesetzbuche berücksichtigt werden. 
Es besteht ja zwar eine Abneigung gewisser Kreise gegen die Ersetzung des Straf- 
verfahrens bei Jugendlichen durch ein verwaltungsrechtliches Fürsorgeverfahren, weil 
letzteres — wie man angibt — dem volkstümlichen Gedanken der Vergeltung nicht 
Rechnung tragt Verfasser halt aber daran fest, daß doch nicht die Strafe die 
Hauptsache ist, sondern die Rettung vor weiteren Verbrechen, und die durch vor- 
beugende Fürsorge - Maßnahmen zu erzielende Verbrechensbekämpfung überhaupt. 
Der Jugend gegenüber mufi es vor allem heißen: Man beseitige vorerst alle jene 
schädlichen Einflüsse, gegen die der noch nicht gefestigte Wille des Kindes nicht 
genügend aufkommen kann und baue gegenüber einem Jugendstrafrechte ein Jugend- 
fürsorgerecht auf! — Eine solche rettende Fürsorge für die sittlich gefährdete und 
verbrecherische Jugend ist nicht nur ein Werk der Barmherzigkeit, sondern auch 
ein Werk der Selbsterhaltung. — Die Gestaltung des Verfahrens bei Jugendlichen 
über 14 Jahren im einzelnen, das Verfasser schließlich angibt, hat neuerdings Ver- 
anlassung gegeben zu Vorschlägen zur Revision des Strafgesetzes des Kantons 
St. Gallen, dio Kantonsrichter Scherrer in der bei Gebr. Wildhaber - St Gallen ge- 
druckten kleinen Veröffentlichung: »Jugendschutz und Straf rechtspflege im Kanton 
St Gallen« ganz im Sinne Silbernagels und Kuhn -Kellys kurz begründet Von 
weitergehender Anregung ist die bei Orell Füfili- Zürich 1910 erschienene »Eingabe 
der von dem Schweizerischen Lehrerverein, der Schw. Gemeinnützigen Gesellschaft, 
dem Schw. Gemeinnützigen Frauenverein, der Schw. Vereinigung für Kinder- und 
Frauenschutz, der Schw. Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, dem Schw. Zentral- 
verein f. d. Blindenwesen, u. d. Vereinigung der schweizerischen Psychiater ein- 
gesetzten Kommission an die kantonalen Justizdirektionen zu Händen der vor- 
beratenden Kommissionen und der gesetzgebenden Räte betreffend die Kinderschutz- 
bestimmungen in den Einführungsgesetzen zum schweizerischen Zivilgesetzbuch,« *) 
die aufklären will über die reichen Kinderschutzmöglichkeiten, die der schweizerische 
Zivilgesetzgeber in den Einführungsgesetzen zum Segen der schutzbedürftigen Jugend 
bieten soll. Auch bei ihr ist des Verfassers Betätigung wie die Kuhn -Kellys im 
Sinne der vorstehenden Darlegungen ersichtlich. 

Halle a. S. Dr. B. MaenneL 

Pretzel, C L. A., Schulaufsicht und Sobulleitung in den deutschen 
Staaten. Leipzig, Julius Klinkhardt 1909. 120 S. Preis geh, 1,60 M, geb. 2 M. 
Die fleißige Arbeit erscheint als erste der Schriften der statistischen Zentral- 
stelle des Deutschen Lehrervereins, die auch eine Umfrage veranstaltete, deren Er- 
gebnisse benutzt und mit den einschlägigen behördlichen und gesetzlichen Bestim- 
mungen den Ausführungen zogrunde gelegt sind. Die beiden Hauptabschnitte 
bringen das Material über die Schulaufsichtsbehörden und die gesetzlichen und be- 
hördlichen Bestimmungen über die Leitung der roehrklassigeu Schulen in den deut- 
schen Staaten sowie eine vergleichende Übersicht über amtliche Bezeichnung, er- 
forderlichen Befähigungsnachweis, Stundenzahl, Zahl der unterstellten Klassen und 
Besoldung der SchuUeiter. Im zweiten Abschnitt wäre vielleicht eine Hervorhebung 
der Erlasse und Dienstanweisungen, soweit sie im Wortlaut wiedergegeben sind, 
durch besonderen (eingerückten) Druck angebracht gewesen im Interesse besserer 
Übersicht. Im Anhang findet sich eine Zusammenstellung der Beschlüsse von Ver- 



') Vergl. Silbernagels neueste Schrift: Das Schweizerische Zivilgesetzbuch 
und die Jugendfürsorge. Bern, A. Franke, 1910. 88 8. 



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I 



C. Literatur. 3 19 



einen und Versammlungen zu diesem Thema und ein kurzer, interessanter Über- 
blick über Schulleitung und -aufeicht in Österreich, Ungarn, der Sohweiz, Italien, 
Frankreich, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen und den Vereinigten Staaten 
von Nordamerika. Auf einzelne Punkte kann hier nicht näher eingegangen werden. 
— Wir sind überzeugt, daß allen denen, die sich mit 8chulverwaltungs- und Schul- 
regierungsfragen beschäftigen wollen und müssen, in dieser Arbeit ein wertvolles 
und unentbehrliches Nachschlagewerk geboten ist, dem wir deshalb weite Verbreitung 
wünschen. 

Zehlendorf b. Berlin. Dr. Karl Wilker. 

Wolgast, Heinrich, Ganze Menschen! Ein sozial - pädagogischer Versuch. 
138 8. Berün-Schöneberg, Buchverlag der »Hilfe«. Kartoniert 2 M, in Leinen 
gebunden 3 M. 

Die Schrift beantwortet die von einer Gesellschaft mit sozial-ethisohen Zielen 
zur Preisbewerbung gestellte Frage: »Wie kann die Gesundung unseres sozialen 
Lebens durch Volkserziehung im Geiste der Humanität gefördert werden?« Sie geht 
aus von den Schäden der modernen Entwicklung und weist nach, wie die staunens- 
werten Errungenschaften der Gegenwart doch fast alle dahin wirken, das Voll- 
menschentnm im einzelnen zu vernichten, den Menschen klein zu machen. Der 
innere Mensch ist den Anforderungen der neuen Zeit nicht gewachsen, und es ist 
darum eine Aufgabe der neuen Pädagogik, den Typus des modernen Idealmenschen 
aufzustellen und Erziehung und Unterricht demgemäß umzugestalten. 

Wolgast erörtert nun alle möglichen Erziehung*- und Bildungsfragen, die 
individualen wie die sozialen, und gibt damit zugleich eine knappe und vortreffliche 
Zusammenfassung aller Reformbestrebungen auf diesem Gebiete, von Pestalozzi 
und Fröbel bis zur Gegenwart Der Verfasser bekundet Belesenheit, Umsicht, 
eigenes Nachdenken und im allgemeinen auch Besonnenheit, so daß ich seinen 
Ausführungen durchweg freudig zustimmen muß und die Schrift nicht bloß jedem 
Lehrer, sondern jedem Volks- und Vaterlandsfreunde angelegentlich empfehlen 
möchte. Auch der Kinderpsychologie bietet sie wertvolle Anregungen. Tr. 

Eingegangene Schriften. 

Pädagogisches Magazin. Herausgegeben von Friedrich Mann. Langensalza, 
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1909 u. 10. Die folgenden Hefte 
sind auch für die Jugendkunde beachtenswert 

Heft 380: Prof. Dr. H. Schoen, Das Wesen der Sittlichkeit und die Entwick- 
lung des sittlichen Ideals bei den verschiedenen Völkern nach M. Mauxion. 

Heft 382: Rektor Ar ans, Wie fördert die Schule die Sprachfähigkeit der Kinder. 

Heft 384: Otto Bechler, Heimatkundliche Ausflüge und ihre unterrichtliche 
Behandlung (Anschauungsgebiet: die Umgebung Weimars). 

Heft 386: Julian Lombard, Zweisprachige Schulen im Reichslande. 

Heft 385: Eduard Blocher, Zweisprachigkeit Vorteile und Nachteile. 

Heft 361: Marx Lobsien, Beliebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichtsfächer. 

Heft 362: Karl Krambeer, Das Fragen der Schüler als Forderung einer Päda- 
gogik der Tat 

Heft 364: W. Rein, Zur Aufgabe und Stellung der Pädagogik an unsern Uni- 
versitäten mit Beziehung auf die Gutachten der Universitäten Erlangen, 
München, Würzburg. 

Heft 365: Dr. L. Bornemann, Vom Einmaleins. 



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320 



Heft 367: Dr. Edmund Richter, Justus Mosers Anschauungen über Volks- 
und Jugenderziehung im Zusammenhange mit seiner Zeit. 

Heft 368: L. Mittenzwey, Reformversuche auf dem Gebiete der Schal- 
organisation. 

Heft 369: Dr. Johann Grundmann, Die Bedeutung der Phantasietätigkeit im 

Heft 370: Dr. phil. A. Richter, Die geistige Bewegung der Gegenwart an dem 

Begriffe der Persönlichkeit. 
Heft 374: Lit D. Dr. W. Rein, Stimmen zur Reform des Religionsunterrichts. 
Heft 377: Das athenische und das spartanische Erziehungssystem im 5. und 

6. Jahrhundert vor Chr. Ein Vergleich von Dr. phiL Exarchopulos, Athen. 
Heft 360: 0. Flügel, Die Idee des Rechts und der Gerechtigkeit bei Homer 

und Hesiod. 

Tuczek, Prof. Dr. F., Psychopathologie und Pädagogik. Cassel, Hessische Schul- 
buchhandlung, 1910. 

Earl Barnes, Child Study in Relation to Elementary Art Education. Reprint 
from Art Education in the Publio Schools of the United States. American Art 
Annual. 

Lemaitre, Aug., La Vie Mentale de l'Adolesoent et ses Anomalies. Saint-Blaise, 

Foyer Solidariste, 1910. 
Rzesnitzek, Zur Frage der psychischen Entwicklung der Kindersprache. Breslau. 

G. P. Aderholz Buchhandlung, 1909. Preis 90 Pf. 
Wood- Allen, Dr. Mary, Was ein kleines Mädchen wissen muß. Deutsch von 

Dr. P. von Gizycki. Berün W. 35, Johann Witt, 1910. Preis br. 3 M, geb. 

3,75 M. 

Stall, Dr. theol., Sylvanus, Was ein Knabe wissen muß. Ebenda. Preis brosch. 
3 M, geb. 3,75 M. 

yon Sallwürk, Dr. E., John Lockes Gedanken über Erziehung. Bibliothek päda- 
gogischer Klassiker. 22. Band. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer 
& Mann), 1910. Preis 2,50, geh 3,50 M. 

Jean Paul Friedrioh Richters Levana nebst pädagogischen Stücken aus seinen übrigen 
Werken. Mit Richters Biographie herausgeg. von Dr. Karl Lange. Ebenda 
1910. Preis brosch. 3,50 M, geb. 4,50 M. 

Fritzsch, Theodor, J. B. Basedows Elementarwerk mit den Kupfertafeln Chodo- 
wieckis u. a. Leipzig, Ernst Wiegandts Verlagsbuchhandlung, 1909. 

Fritzsch, Dr. Theodor, Philanthropismus und Gegenwart. Ebenda 1910. Preis 
br. 75 Pf., kart. 1 M. 

Roller, Prof. Dr. Karl, Der Gesundheitskatechismus Dr. Bernhard Christoph 
Fausts. Leipzig u. Berlin, Verlag von B. G. Toubner, 1909. Preis 3 M. 

Josephson, Hermann, Die Alkoholbewegung in Deutschland. > Gegen war um- 
fragen t Heft 9. Stuttgart, Druck und Verlag Greiner & Pfeiffer. Preis 50 Pf. 

Neum ann-Neurode, Detlef f, Kindersport, Körperübungen für das frühe Kindes- 
alter. Berlin W. 30, Hermann Walther Verlagsbuchhandlung. Preis 20 M. 

Lindsey, Ben B., Die Aufgabe des Jugendgerichts. Heilbronn, Eugen Salzer, 1910. 
Preis brosch. 1,60 M, geb. 2,20 M. 

Schneider, Dr. jur. Manfred. Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württem- 
berg. Stuttgart, J. B. Metzlersche Buchhandlung, 1909. Preis 2,20 M. 



Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer fc Mann) in Laniiensilra. 



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1. Zum zehnjährigen Bestehen der Fürsorgeerziehungs- 
Gesetzgebung. 1 ] 

Von 

Dr. Julius Moses, Arzt in Mannheim. 

Am 2. Juli 1900 wurde in Preußen das Gesetz über die Fürsorge- 
erziehung Minderjähriger erlassen, unser badisches Zwangserziehungs- 
gesetz trägt das Datum des 16. August 1900. Die übrigen deutsehen 
Bundesstaaten hatten entweder kurz vorher die durch die Einführung 
des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches notwendige Neuregelung ihres 
Fürsorgeerziehungswesens vorgenommen oder sie sind im Verlaufe 
der nächsten Jahre nachgefolgt, das Königreich Sachsen hat noch 
am 1. Februar 1909 ein neues Zwangserziehungsgesetz erhalten. Die 
besten Segenswünsche, die schönsten Hoffnungen der Nation be- 
gleiteten das Erscheinen der Gesetzeswerke, durch die man eine wirk- 
same Waffe gegen die Verwahrlosung und Kriminalität der Jugend 
geschaffen zu haben glaubte. Und das außerordentliche Interesse, das 
man dem Inkrafttreten der Gesetze entgegenbrachte, hielt ununter- 
brochen und unvermindert die Jahre über an. Die Besprechungen, 
Erläuterungen, Kritiken und Reform vorschlage machen eine kaum 
mehr zu überblickende Literatur aus. Vereine und Kongresse und 
vor allem auch die einzelstaatlichen Parlamente zogen die Fürsorge- 
erziehung immer wieder in das Bereich ihrer Diskussionen, ein in 
zweijähriger Folge stattfindender Fürsorgeerziehungstag vereint die 
Berufsarbeiter und Freunde des Fürsorgeerziehungswesens zur Aus- 



*) Einleitung zu der in den Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung 
erscheinenden Abhandlung: Die sozialen und psychologischen Probleme der jugend- 
lichen Verwahrlosung. Heft 73. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer A Mann). 



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322 



A. Abhandlungen. 



spräche über die einschlägigen Probleme. An harter Kritik hat es 
der Fürsorgeerzieh ungs-Gesetzgebung nicht gefehlt; ihr Schuldkonto 
wurde schwer belastet Ein Tollgespickter Wunschzettel harrt seiner 
Erfüllung durch eine Reform der Gesetzgebung. Die Reformvorschläge 
gehen hauptsächlich von jenen Mißständen aus, die den beruflichen 
und freiwilligen Mitarbeitern an der Durchführung des Gesetzes ihre 
Wirksamkeit am meisten erschweren und verekeln können , die for- 
malen Schwerfälligkeiten, die das Verfahren in vielen Fällen 
verzögern oder ganz hintanhalten. Gefordert wird weiter die Aus- 
dehnung der Fürsorgeerziehung auf alle gefährdeten Jugendlichen 
und ein intensiveres Ineinander- und Miteinanderarbeiten der behörd- 
lichen Instanzen und privaten Organisationen. Die öffentliche Meinung 
steht ferner mit einmütigem Mißtrauen, das durch unliebsame Skandal- 
geschichten geweckt wurde, dem Fürsorge anstaltswesen gegenüber 
und verlangt eine durchgreifende Reformierung desselben. 

Indes darf man über der Hervorhebung dessen, was an dem Ge- 
setze und seiner Durchführung als tadelnswert und verbesserungs- 
bedürftig erscheint, nicht vergessen, dankbar der Vorzüge und Er- 
folge des gesetzgeberischen Werkes zu gedenken, das uns das neue 
Jahrhundert geschenkt hat Die Tatsache, daß Tausende jugendlicher 
Individuen aus dem Sumpfe des Verderbens und Verbrechens gerettet 
worden sind, bleibt als erfreuliche Errungenschaft bestehen, selbst 
wenn man schmerzlich gestehen muß, daß die Zahl derer, bei denen 
das Gesetz versagte oder erfolglos blieb, vielleicht größer ist, als die 
Zahl der Geretteten. Was aber besonders als eine kostbare Frucht 
der Fürsorgeerziehungs-Gesetzgebung gepriesen werden muß, ist die 
Aufrüttelung des Öffentlichen Gewissens der armen und gefährdeten 
Jugend gegenüber. Die Erhebungen und Statistiken über die persön- 
lichen und sozialen Verhältnisse der Fürsorgezöglinge haben ein un- 
gemein reiches Material zutage gefördert, das auf unsere wirtschaft- 
lichen und kulturellen Zustände ein scharfes Licht wirft und der 
Wohlfahrtspflege neue Wege vorzeichnet Ein emsiges Streben und 
Wirken, ein edler Wettstreit hat sich in der privaten und charitativen 
Jugendfürsorge entfaltet, die verschiedensten Berufs« und Gesellschafts- 
schichten umgreifend. Es ist möglich, daß dieser Aufschwung der 
Jugendwohlfahrtspflege von den Gesetzgebern nicht vorausgesehen oder 
beabsichtigt war, aber die Geschichte des ersten Dezenniums des 
Fürsorgeerziehungswesens gibt uns wohl ein Recht, die genannten Be- 
gleiterscheinungen auf die Plusseite der zehnjährigen Bilanz zu 
buchen. Hier muß noch eine andere Erscheinung aufgezeichnet 
werden, die uns besonders nahe berührt: der belebende Einfluß des 



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Moses: Zum zehnjährigen Bestehen der Füreorgeerziohungs-Gesetzgebang. 323 



Fürsorgeerziehungswesens auf die Wissenschaft, der wir dienen, die 
Kinderforschung. Die Berufekreise, die sich hauptsächlich in die Be- 
ackerung dieser wissenschaftlichen Disziplin teilen, die Pädagogen und 
Ärzte, wurden mobilisiert zur theoretischen und praktischen Mitarbeit 
zu der Erforschung der jugendlichen Psyche und der Ausgestaltung 
der Erziehungskunst an moralisch defekten Jugendlichen, und die 
jugendliche Krirainalpsychologie und -pathologie erfuhr in ihrem 
Wissensbestande und in ihren Forschungsmethoden reiche Förderung. 
Nun zeigt sich hier einmal wieder eine der bekannten Launen der 
Geschichte. Bei der Gesetzgebung wurden gerade die Disziplinen, 
die heute als unentbehrliche treubesorgte Helfer dem jungen Fürsorge- 
erziehungswesen zur Seite stehen, einfach links liegen gelassen. Schon 
sofort nach Bekanntgabe des Preußischen Gesetzentwurfes haben nam- 
hafte Pädagogen, vor allem Trüper 1 ) Klage darüber geführt, daß der 
erziehliche Faktor im Gesetz nicht genügende Würdigung finde, und 
die Pädagogen stehen seitdem in einem zähen Kampf um die Er- 
ringung der Wertschätzung pädagogischer Grundsätze in dem Fürsorge- 
erziehungswesen. Der Erfolg blieb nicht aus; noch konnte dieser, 
da man bisher einer Novelle zu dem Gesetze widerstrebte, sich nicht 
in der Erfüllung der legislativen Forderungen zeigen, wohl aber ver- 
raten die Beratungen der Konferenzen und Parlamente, daß der Geist 
der Pädagogik Einlaß findet in einem Arbeitsfeld, das ihr eigenstes 
Gebiet sein sollte, in dem ihr aber von der Bureaukratie der Platz 
versperrt wurde. Am meisten hat zu einer höheren Einschätzung der 
Pädagogik im Fürsorgeerziehungswesen ohne Zweifel beigetragen das 
Sinken des Kredites der üblichen Anstaltserziehung. Man darf nicht 
ungerecht sein und muß zugeben, daß Mißhelligkeiten mit jeder An- 
staltserziehung, besonders gar wo es sich um eine verwahrloste, ver- 
brecherische Jugend handelt, verbunden bleiben müssen. Von den in 
der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Skandal äff ären hätte schon 
manche vermieden werden können, wenn endlich der Gedanke, der 
zur Verwirklichung überreif ist, sich in Gesetz und Praxis durch- 
gesetzt hätte, daß vor und während der Fürsorgeerziehung die Zög- 
linge unbedingt vor dem Gefängnisse bewahrt bleiben müßten. Auch 
wäre wohl zu überlegen, ob nicht die Anstaltserziehung zugunsten der 
Familienerziehung eingeschränkt werden könnte; Preußen bevorzugt 
in besonderem Maße die Anstaltspflege, indem fast 70% der Fürsorg e- 

') Zar Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Heft 3 der 
•Beiträge zur Kinderforsohung und Heilerziehung.« Psychopathische Minderwertig- 
keiten als Ursache von Gesetzesverletzungen Jugendlicher. Ebenda Heft 8. Langen- 
salza, Hermann Beyer & 8öhne (Beyer * Mann). 

21* 



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324 



A. Abhandlungen. 



Zöglinge in Anstalten untergebracht sind. Bei uns in Baden sind 
nicht ganz 40% in Anstaltserziehung; vielleicht ist nur aus der Not 
eine Tugend gemacht worden, indem in Baden Mangel an Anstalten 
besteht; aber die Erfahrungen und statistische Nachweise lehren, daß 
die Erfolge der Fürsorgeerziehung bei uns, wo die Familienerziehung 
überwiegt, mindestens nicht schlechter sind, als in den Ländern mit 
vorherrschender Anstaltserziehung, wie Preußen, Bayern. Der er- 
schütterte Kredit der Anstaltserziehung läßt sich nur zurückerobern, 
wenn die Lehre von der Erziehung der moralisch minderwertigen 
Jugend durch Heranziehung der tüchtigsten Erzieher zu jener Höhe 
emporgehoben wird, auf der die in den Hilfsschulen geübte Heil- 
pädagogik an den Geistigschwachen dank der unermüdlichen und ziel- 
bewußen Arbeit der Lehrer steht. Wer die amtlichen Berichte über 
das Fürsorgeerziehungswesen in Preußen und die Verhandlungen der 
Fürsorgeerziehung^ Versammlungen und -Kongresse studiert, wird zu 
seiner Genugtuung finden, daß die Leiter, Lehrer und Aufsichtsbehörden 
der Fürsorgeerziehungsanstalten ein heißes Bemühen beherrscht, den 
Anforderungen der Pädagogik mit allen ihren modernen Errungen- 
schaften gerecht zu werden. In Preußen dürfte vielleicht auch die 
Bestimmung des Gesetzes über das Diensteinkommen der Lehrer und 
Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen vom 26. Mai 1909, wonach 
im Gegensatz zu früher auch die an privaten, den gemeinnützigen 
Zwecken dienenden und auf öffentliche Mittel angewiesenen Anstalten 
zugebrachte Zeit als öffentlicher Schuldienst angerechnet wird, den 
Fürsorgeerziehungsanstalten wertvolle pädagogische Kräfte zuführen. 
Auch die Heranziehung des pädagogischen Elements zu den um die 
Jugendgerichte gruppierten Fürsorgeausschüssen, die vielerorts die Vor- 
mundschaft- und die übrigen mit der Ausführung des Fürsorge- 
erziehungswesens beauftragten Behörden beraten, stellt einen nicht zu 
unterschätzenden Fortschritt in der Entwicklung der Fürsorgepraxis 
dar. Für die fortschrittliche Entwicklung dieser Erziehungspraxis war 
vom größten Belang, daß auch die treue Bundesgenossin der Päda- 
gogik in der theoretischen und praktischen Behandlung der Erziehungs- 
fragen, die abnorme und entgleiste Jugendliche betreffen, die Medizin 
sich ihren Platz an der Sonne zu erobern begann, nachdem man sie 
bei der Gesetzgebung im Schatten hatte stehen lassen. Es lag ein 
unbegreiflicher Anachronismus darin, daß zu einer Zeit, in der wissen- 
schaftliche Beobachtungen und Untersuchungen längst den tausend- 
fältigen exakten Nachweis des innigen Zusammenhangs von Kriminalität 
und körperlicher oder geistiger Minderwertigkeit erbracht hatten, der 
Arzt aus dem Kreise der Personen und Instanzen, denen die Begut- 



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Mosra: Zum zehnjährigen Bestehen der Föreorgeerziehungs-Gesetzgebnng. 325 



achtnng der Zwangserziehungsanträge und die Durchführung des Er- 
ziehungswerkes anvertraut wnrde, so gut wie ausgeschaltet wurde. Zum 
ersten Male nennt das erwähnte jüngste Zwangserziehungsgesetz, das 
des Königreichs Sachsen, den Arzt unter den Personen, die vor An- 
ordnung der Zwangserziehung gehört werden sollen. Die Not des 
Tages drängte tiberall, wo man ein Gesetz zur Bekämpfung jugend- 
licher Verwahrlosung und Kriminalität geschaffen hatte, ohne sich der 
Mitwirkung der Medizin zu versichern, dazu, die immer mehr fühlbar 
gewordene Lücke zu schließen. Aus der Verlegenheit, die die Schwer- 
und ünerziehbarkeit vieler Fürsorgezöglinge bereitete, zeigte sich oft 
kein anderer Ausweg, als die ärztliche Untersuchung. Freilich steht 
als unerfülltes Postulat noch offen die für das gute Gedeihen des 
Bettungswerkes unerläßliche Untersuchung jedes Jugendlichen, für den 
ein Antrag auf Zwangserziehung gestellt ist. Was der preußische 
Justizminister in seiner Verfügung vom 24. Juni 1909 anregt, daß 
die Vormundschaftsgerichte vor Einleitung des Verfahrens sich durch 
Anhören der gesetzlich zu vernehmenden Auskunftspersonen »zuverlässige 
Unterlagen« über den körperlichen und geistigen Gesundheitszustand 
der Zöglinge verschaffen sollen, kann nicht im entferntesten einen Er- 
satz für die ärztliche Untersuchung bieten, ist vielmehr geeignet, in 
vielen Fällen völlig falsche Grundlagen für die Beurteilung der Jugend- 
lichen zu schaffen. Mancherorts wird man der Forderung nach obli- 
gatorischer Untersuchung der Zwangserziehungsfalle dadurch wenigstens 
für die schulpflichtigen Zöglinge gerecht, daß man nach dem s. Z. 
von mir in der Zeitschrift »Der Schularzt« gemachten Vorschlag durch 
die Schulärzte die der Schulverwaltung bekannt werdenden Fälle 
untersuchen läßt. Neuerdings fanden die Ärzte durch ihre Beteiligung 
an den infolge der Jugendgerichtsorganisation entstandenen Fürsorge- 
ausschüssen Gelegenheit, eine Anzahl der kriminell gewordenen Fürsorge- 
erziehungskandidaten zu untersuchen und zu begutachten. Bedeutungs- 
voll für die Nutzbarmachung der medizinischen Wissenschaft im 
Fürsorgeerziehungswesen wurde die seit einigen Jahren besonders in 
Preußen begonnene psychiatrische Durchuntersuchung der Anstalten. 
Wer die von dem preußischen Ministerium des Innern bearbeiteten 
mustergiltigen Berichte über die Fürsorgeerziehung in Preußen aus 
den letzten Jahren durcharbeitet, gewinnt einen Einblick in die tief- 
greifenden Wirkungen, die von diesen ärztlichen Untersuchungen auf 
das ganze Fürsorgeerziehungswerk ausgehen. Die in der offiziellen 
Statistik alljährlich erscheinende, auf die durch nichtärztliche Auskunfts- 
personen gemachten Angaben sich stützende Ziffer von 10%, die die 
mit geistigen Gebrechen behaftete Zöglinge ausmachen sollen, steht 



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326 



A. Abhandlungen. 



als deutlichstes Zeichen der Ulizuverlässigkeit der Erhebungen durch 
Laien in demselben Berichte, der an vielen Stellen von der großen 
Verbreitung geistiger Defekte in den psychiatrisch durchuntersuchten 
Anstalten erzählt, so, daß in den staatlichen Anstalten fast die Hälfte 
der männlichen Zöglinge, in Boppard die Mehrzahl der Mädchen als 
geistig nicht normal befunden wurde. Als praktische Ergebnisse der 
noch längst nicht vollständig durchgeführten Untersuchungen sind jetzt 
schon zu nennen: die Verbringung von auf geistige Defekte ver- 
dächtigen Zöglingen in psychiatrische Vorbeobachtungsstationen, die 
Ausscheidung psychopathischer Zöglinge in eigene Anstalten oder Ab- 
teilungen analog den Hilfsklassen der Volksschulen, die Entmündigung 
geistesschwacher Zöglinge, wodurch diese auch über die Minderjährigkeit 
hinaus unter Schutzaufsicht verbleiben, die Einrichtung von Fort- 
bildungskursen in Psychopathologie und Heilpädagogik für das Lehr- 
und Aufsichtspersonal an Rettungsanstalten, die eingehende Be- 
schäftigung der Konferenzen und Kongresse mit den Problemen der 
Geistespathologie Jugendlicher unter Zugrundelegung medizinisch-fach- 
männischer Referate und Vorträge. So hat die begonnene psychiatrische 
Mithilfe eine reiche und für das Fürsorgeerziehungswesen nützliche 
Ausbeute geliefert, so daß an der allmählichen Überleitung einer ge- 
legentlichen freiwilligen Maßnahme in eine legale obligatorische Ein- 
richtung kaum mehr zu zweifeln ist 

Pädagogik und Medizin haben auch unter den beengenden 
Schranken der lex lata sich zu unentbehrlichen Helfern des Fürsorge- 
erziehungswesens durchgerungen, sie haben die in unserer Zeit so 
eifrig beackerte und geförderte Kinderforschung, die Kenntnis von 
der normalen und anormalen Eigenart der jugendlichen Psyche, 
in fruchtbringender Weise in den Dienst des nationalen Rettungs- 
werkes gestellt Sie waren aber nicht nur Gebende, sondern auch 
Empfangende. Aus der Beschäftigung mit den Problemen des Fürsorge- 
erziehungswesens und mit den letzterem unterstehenden Jugendlichen 
ist der Kinderforschung ersprießlicher Gewinn geworden, ihr Wissens- 
schatz wurde um zahlreiche neue Beobachtungen, Erfahrungen und 
Erkenntnisse gemehrt, und die pädagogischen Heilmethoden erfuhren 
eine erfreuliche Bereicherung und Vertiefung. 

So zwingend sich auch jedem, der sich mit Fällen jugendlicher 
Verwahrlosung uud Kriminalität beschäftigt, die Erkenntnis auf- 
drängen muß, daß die lex ferenda einschneidende Verbesserungen 
schaffen und die ganze Technik des Verfahrens befreien muß von der 
Bleilast verzögernder und einengender Bestimmungen, wenn anders 
die Arbeit, die von beruflichen und freiwilligen Organen begeisterungs- 



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Silbiknaoel: Die kantonalen Einführungsgesetze z. Schweiz. Zivilgesetzbuch. 327 



voll geleistet wird, gedeihen soll, so fest erschließt sich uns aus dem 
Rückblick auf das erste Jahrzehnt der Fürsorgeerziehung die Über- 
zeugung, daß der wesentlichste Fortschritt in der künftigen Entwicklung 
nur liegen kann in der standigen Befruchtung und Durchdringung 
des Fürsorgeerziehungswesens mit dem Geiste der sich auf liebevolle 
Beobachtung und gewissenhafte Erforschung aufbauenden Wissen- 
schaft vom Kinde. Unter diesem Zeichen möge das zweite Jahr- 
zehnt des Fürsorgeerziehungswesens stehen! 



2. Die kantonalen Einführungsgesetze zum schweize- 
rischen Zivilgesetzbuch und die Jugendfürsorge. 

Von 

Dr. Alfred Silbernaget, Zivilgerichtepräsident in Basel. 

Vor einigen Wochen ist an die kantonalen Justizdiroktionen und andere 
kantonale Behörden der Schweiz eine Eingabe versandt worden, die den 
Ausbau der Kinderschutzbestimmungen des schweizerischen Zivilgesetz- 
buches in den kantonalen Einführungsgesetzen empfiehlt. Diese Ein- 
gabe enthält das Resultat der Beratungen einer Kommission, die auf 
Einladung des Vorstandes des schweizerischen Lehrervereins aus 
Delegierten einer Reihe der bedeutendsten schweizerischen gemein- 
nützigen Vereine, wie der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft, 
des schweizerischen Lehrervereins, des schweizerischen gemeinnützigen 
Frauenvereins, der schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Frauen- 
schutz, der schweizerischen Gesellschaft für Schulgeeuudheitspflege, der 
Vereinigung der schweizerischen Psychiater, der Freunde des jungen 
Mannes, des schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen, war 
gebildet worden und der auch bekannte Kinderfreunde wie Kuhn-Kelly 
von St. Gallen und angesehene Erziehungsdirektoren angehörten. Präsident 
der Kommission war der Vorsteher des städtischen Kinderfürsorge- Amtes 
von Zürich, H. Hiestand, Vize-Präsident der Verfasser des Entwurfs des 
kantonalen Zürcherischen Eänführungsgesetzes zum schweizerischen Zivil- 
gesetzbuch, Prof. Dr. jur. Egger in Zürich. — Wohl bringt das schweizerische 
Zivilgesetzbuch auf dem Gebiet der Jugendfürsorge große Fortschritte 
gegenüber dem bisherigen kantonalen Familienrecht; aber in der Absicht, 
die Kantone zu der Mitarbeit heranzuziehen, hat es die Fragen organi- 
satorischer Natur wie die das Verfahren betreffenden Fragen, der Aus- 
gestaltung in den kantonalen Einführungsgesetzen überlassen. So 
ist auch nicht geregelt die Kostentragung bei der Versorgung verwahrloster, 
von den Eltern schlecht behandelter oder infolge körperlicher und geistiger 
Gebrechen einer besonderen Erziehung bedürftiger Kinder, frei gelassen die 
Einsetzung einer Berufs- Vormundschaft und wenigstens zu einem großen 
Teil die Organisation der Vormundschaftsbehörden. Daß der kantonale 
Gesetzgeber aber vielfach die großen Gedanken des Redaktors des 
schweizerischen Zivilgesetzbuches nicht erfassen, das große Gesetzeswerk 



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328 



At Abhandlungen. 



durch seine Ausgestaltung schmälern werde, war zu befürchten, und die 
Befürchtungen bestätigen auch verschiedene kantonale Gesetzesent würfe. 
Um so notwendiger und wertvoller ist darum das Zusammenstehen einer 
Reihe der angesehensten schweizerischen gemeinnützigen Vereinigungen 
für eine möglichst weitgehende Berücksichtigung der Postulate des 
Kinderschutzes in den kantonalen Einführungsgesetzen. Der Zeitpunkt ist 
von folgenschwerer Bedeutung. Wird jetzt eine durchgreifendere Reform 
im Sinne des Einderschutzes versäumt, so ist für lange Jahre hinaus 
an manchen Orten ein neues Eingreifen des Gesetzgebers nicht mehr zu 
erwarten. Zudem ist jetzt auch die beste Gelegenheit, um auch die 
kantonalen Strafgesetzbücher und andere Gesetze so zu revidieren, daß sie 
hinter dem neuen schweizerischen Zivilrecht an weiser Vei Wertung der 
Erfahrungen und der Postulate der modernen Jugendfürsorge nicht zurück- 
stehen. — Unter den Vorschlägen, welche die obgenannte Kommission 
aufstellt und eingehend begründet, seien hier u. a. folgende erwähnt, die 
wohl auch für außerschweizerische Verhältnisse und außer- 
schweizerische Gesetzgebung von Interesse sein mögen. 

1. Kommt bei der Scheidung der Ehe oder der Trennung der Ehe- 
gatten die Zuteilung minderjähriger Kinder in Frage, so soll das Gericht 
der Vormundschaftsbehörde Mitteilung machen. Die Vormundschafts- 
behörde hat von Amtes wegen dem Gericht über die häuslichen Ver- 
hältnisse und die Erziehung der Kinder Bericht zu erstatten. 

2. Die Armenpflege durch die Heimatsgemeinde ist in der Schweiz 
leider ein so eingewurzeltes Prinzip, daß, so sehr auch ihre großen 
Schäden von allen Einsichtigen erkannt werden, ein Verlassen desselben 
für die nächste Zeit nicht zu erwarten ist. Das schweizerische Zivil- 
gesetzbuch bezeichnet als für die vormundschaftlichen Maßnahmen, 
also u. a. die Verfügung einer Versorgung des Kindes, zuständige 
Behörde die des Wohnorts des betreffenden Kindes. Die Kommission 
tritt nun mit aller Entschiedenheit dafür ein, daß nicht nur der Entscheid, 
daß ein verwahrlostes Kind versorgt werden soll, sondern die Versorgung 
selbst wenn immer möglich durch die Wohnsitz-Gemeinde zu 
erfolgen habe. Lasse sich aber dies in einem Kantone nicht durchführen, 
und müsse die Versorgung eines Kindes der Heimatgemeinde übertragen 
werden (die oft seit vielen Jahren keinen Zusammenhang mehr mit dem 
in anderen Kantonen, in anderer Umgebung aufgewachsenen Kinde und 
seiner Familie hat und, weil oft selbst sehr wenig bemittelt, nur ein 
Bestreben kennt, durch möglichst billige Versorgung ihre Versorgungs- 
und Armenlasten zu reduzieren), so sollten die Domizilbehörden 
wenigstens andauernd in Kenntnis von der Versorgung gehalten bleiben 
und ihnen ein Beschwerderecht gegen ungenügende Durchführung der 
erforderlichen Maßnahmen zustehen. Der Kinderschutz selbst soll 
von der Armenpflege möglichst emanzipiert werden. Wenn 
deshalb die Wohnortsgemeinde den Eltern die teuere AnstaltsausbUdung 
gebrechlicher Kinder, wie blinder, taubstummer usw., auferlegt, so sollen 
wenig bemittelte Eltern für diese vom Staat obligatorisch erklärte Er- 
ziehung nicht die demütigende Hilfe der Armenbehörden in Anspruch 



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Silbernagel: Die kantonalen Einfohrungsgesetze z. Schweiz. Zivilgesetzbuch. 32& 



nehmen müssen. So wird denn postuliert, es sollen die Kosten der 
Kinderschutzmaßnahmen kÜDftig von der Wohngemeinde in Verbindung 
mit dem Kanton oder von Wohngemeinde, Heimatgemeinde und Kanton 
getragen werden, aber nicht nach armenrechtlichen Grundsätzen. Die 
Kosten der Versorgung schulpflichtiger Kinder soll nach dem Vorschlag 
der Kommission die Schulkasse tragen, eventuell mit einer Subvention von 
Kanton und Bund. 

3. Von der Wieder Verheiratung des Elternteiles, dem die elter- 
liche Gewalt Aber das Kind aus früherer Ehe zusteht, hat das Zivil- 
Standesamt der Vormundschaftsbehörde Anzeige zu machen. Diese hat 
zu prüfen, ob zur Wahrung der persönlichen oder vermögensrechtlichen 
Interessen des Kindes ein Vormund zu bestellen ist, oder ob andere Vor- 
kehrungen zu treffen sind. 

4. General-Vormundschaft. 

In allen Fällen, wo geeignete Einzel Vormünder nicht vorhanden sind, 
soll die Vormundschaft Über Unmündige einem besondern Vormundschafts- 
Verwalter übertragen werden. 

In den hierzu geeigneten Fällen wird er auch zum Beistand ernannt. 

Insbesondere soll ihm die Beistandschaft oder Vormundschaft Über 
schutzbedürftige uneheliche und vermögenslose verwaiste Minderjährige 
übertragen werden. 

Dem Vormundschaftsverwalter können auch weitere Zweige der 
Jugendfürsorge, wie: die Aufsicht Über die Pflege- und Kostkinder, die 
gefährdeten und versorgten Kinder, die Rat- und Auskunfterteilung in 
Sachen des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge übertragen werden. 

Dem Vormundschaftsverwalter sollen, soweit dies die richtige Durch- 
führung seiner Aufgaben als wünschenswert erscheinen läßt, weibliche 
Gehilfinnen und ein Arzt beigegeben werden. 

Der Vormundschaftsverwalter ist angemessen zu entschädigen. 

Die Gemeinden sind befugt, ständige Amtsvormünder zu ernennen, 
solche können auch für mehrere Gemeinden zusammen bestellt werden, 
sei es auf Grund einer Vereinbarung von Gemeinde zu Gemeinde, sei es 
auf Anordnung der obersten vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde. 

Die vormundschaitlichen Aufsichtsbehörden fördern Vereinigung von 
Vormundschaft8verwaltem und Amtsvormündern, die alljährlich mindestens 
einmal Zusammenkünfte veranstalten zwecks Austausches von Erfahrungen 
und Besprechung von Fragen des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. — 

Dies der Vorschlag der Kommission. 

Eine eigentliche Generalvormundschaft besteht zurzeit nur in Zürich. 
In andern Städten sind Anträge auf Einführung derselben gestellt, und 
es mehren sich auch die Stimmen für ihre Einführung in ländlichen 
Gemeinwesen. Von weiteren Anregungen der Kommission ist hervorzuheben: 

5. Der Vormundschaftsbehörde soll das Pflege- und Kostkinder wesen 
unterstellt werden. Die Vormundschaftsbehörde soll das Organ sein für all- 
fällige weitere Zweige des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. 

6. Der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde erster oder 
zweiter Instanz soll ein besonderes Jugendfürsorgeamt angegliedert 



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330 



A. Abhandlungen. 



werden. Das Jugendfürsorgeamt soll die Aufsicht und Kontrolle über die 
persönliche Fürsorge für die Minderjährigen führen. 

Dem Jugendfüraorgeamt soll die Aufsicht über das Pflege- und Kost- 
kinderwesen zustehen. 

Das Jugendfürsorgeamt Übernimmt, nach dem Vorschlag der Kommission, 
die Organisation allfällig weiterer Fürsorgemaßnahmen zugunsten der 
Jugend, stellt insbesondere die Verbindung unter den Vormundschafts- 
verwaltern und Amtsvormündern her, erteilt Eltern, Beistanden, Vor- 
mündern und weiteren Interessenten in Sachen des Kinderschutzes und 
der Jugendfürsorge unentgeltlich Rat und Auskunft, und fördert alle 
Kinderschutz- und Jugendfürsorgebestrebungen. 

Das Jugendfürsorgeamt besteht, nach dem Vorschlag, aus einem Einzel- 
boa inten oder einem Kollegium. Ärzte, Juristen, Pädagogen und Frauen 
sind in geeigneter Weise heranzuziehen. — 

So der Vorschlag der Kommission. 

In einer Reihe von Kantonen ist Vorm und schaftsbehörde der Gemeinderat 
und Aufsichtsbehörde der Regierungsrat oder vor demselben noch ein 
bezirksweise oder für den ganzen Kanton eingeschaltetes Zwischenorgan, 
so für den Kanton Luzern der kantonale Amtsgehilfe für sämtliche 
vormundschaftlichen Maßnahmen. Dabei tritt die Fürsorge für die 
vermögensrechtlichen Interessen des Mündels stark in den Vorder- 
grund, und die persönliche Fürsorge, besonders da, wo sie nicht mit 
einer Vermögensverwaltung verbunden werden kann, sehr zurüok. Vielfach 
fehlt auch Gemeinderäten, besonders in kleinen Gemeinden, sowohl das 
nötige Verständnis für die persönliche Fürsorge in nicht einfach gestalteten 
Verhältnissen, als auch die nötige Energie gegenüber Vätern, die gleich- 
zeitig einflußreiche Gemeindemitglieder sind. Auch die Aufsichtsorgane 
boten in einzelnen Kantonen durchaus nicht alle wünschenswerten Garantien 
für eine riohtige Kontrolle über die persönliche Fürsorge für die Jugend 
seitens solcher Gemeinderäte. Deshalb entspricht dieses Postulat der 
Schaffung kantonaler Jugendfürsorgeämter und deren Besetzung mit geeig- 
neten Persönlichkeiten einem wenn auch nicht für alle Kantone so doch 
für eine Reihe derselben sehr dringenden Bedürfnis. 

7. Der höhere Rechtsschutz des Kindes im Privat recht ist aber 
nur ein Stückwerk, wenn mit ihm nicht Hand in Hand geht eine 
Revision der geltenden kantonalen Strafrechte im Sinne einer 
höheren Wertung der Interessen des Kindes. Wohl liegt der Vor- 
entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches vor, aber wer die starken 
Strömungen in der Schweiz gegen die bisherigen Entwürfe eines schweize- 
rischen Strafrechts kennt, wer weiß, wie sehr schwer es ist, in einer 
Demokratie mit ganz verschiedenartigen Geistesrichtungen, wie der Schweiz, 
eine Versöhnung der kirchlichen, politischen, ethischen und moralischen 
Gegensätze gerade auf dem Gebiete des Strafrechts, wo jeder sich sach- 
verständig dünkt, zu erzielen, der wird sich zwar freuen, wenn ein 
einheitliches Strafrecht kommt, das die modernen Bestrebungen und die in 
der Gegenwart mehr zutage getretenen Bedürfnisse berücksichtigt; aber 
er wird nicht alles erst von jenem künftigen schweizerischen Gesetzeswerk 



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1. »Zwischen vierzehn und achtzehn.; 



331 



erhoffen, sondern wird schon jetzt alles aufbieten, um schon jetzt das 
geltende Strafrecht jedes einzelnen Kantons auf kantonalem Rechtsboden 
in Einklang zu bringen mit dem Geist der Kinderschutzbestimmungen im 
schweizerischen Zivilrecht Gerade der jetzige Zeitpunkt ist hiefür be- 
sonders günstig. Die Eingabe unserer Kommission empfiehlt deshalb die 
Herübernahme folgender Bestimmungen aus dem Vorentwurf eines schweize- 
rischen Strafgesetzbuches vom April 1908 in die kantonalen Strafgesetze: 

Art. 80 (Schutz der Kinder vor Mißhandlung und Vernachlässigung). 

Art 81 (Schutz der Kinder vor Ausbeutung). 

Art. 245 (Schutz der Kinder vor mißbräuchlicher Verabreichung 
geistiger Getränke). 

Art 264 (Bestrafung und eventuell Versorgung desjenigen, der seinen 
Alimentationsverpflichtungen gegenüber ehelichen oder unehelichen Kindern 
aus Arbeitsscheu oder Liederlichkeit nicht nachkommt). 

Wenn auch leider die Postulate des modernen Kinderschutzes, be- 
sonders wenn er mit Geldopfern verbunden ist, mancherorts in der Schweiz 
leider das nötige Interesse beim kantonalen Gesetzgeber noch nicht ge- 
funden haben und auch trotz aller Bestrebungen in nächster Zeit wohl 
nicht finden werden, so wird doch der von der schweizerischen Presse 
freundlich aufgenommene Appell der schweizerischen gemeinnützigen Ver- 
eine in ihrer Eingabe an die kantonalen Behörden nicht ungehört ver- 
hallen, sondern manchem armen gequälten und vernachlässigten Kinde 
und mancher bisher hilflosen Mutter Erlösung und Hilfe bringen. 



B. Mitteilungen. 



1. »Zwischen vierzehn nnd achtzehn.« 

Daß dieser Zeitraum für unsere Jugend die meisten Gefahren in sich 
birgt, braucht kaum erst bewiesen zu werden, denn das tägliche Leben 
zeigt uns deren ja mehr als genug. Man braucht nur die Augen offen 
zu halten für das Tun und Treiben unserer heranwachsenden Generation. 
Diese Gefahren einzudämmen, bemühen sich die mannigfaltigsten Organi- 
sationen und Körperschaften, bemühen sich Pädagogen und andere Berufs- 
kreise. Wir wollen die letzteren auch gern anhören, denn was sie uns 
zu sagen haben, ist zumeist diktiert von inniger Freundschaft für unser 
Volk. Und zudem kann es auch als Gradmesser dienen für das Interesse 
und Verständnis pädagogischer Arbeit im Volk, wenngleich es aucb bis- 
weilen den Anschein erwecken möchte, daß gerade durch die pädagogische 
Laien -Schriftstellerei die Geringschätzung der Pädagogik als Wissenschaft 
höheren Orts bedingt oder doch mitbedingt wird. Der eine dekretiert: sie 
ist Kunst; der andere: sie ist keine Wissenschaft Und beide weisen 
darauf hin, daß der größere Prozentsatz der pädagogischen Literatur von 
Laien herrührt, wobei man außer acht läßt, daß die Pädagogik, die Wissen- 
schaft von der Erziehung, gerade wichtig genug ist, von allen gekannt 



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332 



B. Mitteilungen. 



zu werden. Wftre sie es, wir hätten vielleicht weniger zu tun mit dieser 
Epoche »Zwischen vierzehn und achtzehn«. Unter diesem Titel ist nämlich 
unlängst bei Fritz Eckardt in Leipzig ein Buch Richard Nordhausens 
erschienen (144 Seiten, Preis 2 M). Vornehmlich ist darin von der Groß- 
stadtjugend, ja man mochte noch spezieller sagen von der Berliner Jugend, 
die Rede. Es sind Beobachtungen und Vorschläge eines Laien, die dieses 
Mal vor allem den Vorzug haben, daß sie nicht mit dem unnötigen, aber 
sehr beliebten Gepolter gegen die Schule vorgetragen werden; sie spüren 
ganz allgemein erzieherischen Problemen nach. Sie greifen auch bisweilen 
fehl, so wenn der Autor die Koedukation abtun zu können glaubt mit 
einem Hinweis auf die zeitlichen Unterschiede in der Reifeperiode beider 
Geschlechter; so in einer sagen wir gelinden Überschätzung der Prügel* 
strafe; so in der Behandlung der Jugenderziehung auf dem Lande. So 
endlich in der Verkennung des vollen Wertes der Alkoholfrage: fast 
könnte es scheinen, daß, wer mit zwanzig Jahren den Rausch noch nicht 
kennt, einem jugendlichen Greisentum verfalle. Das befremdet um so 
mehr, da an verschiedenen Stellen das Kneipenlaufen scharf verurteilt wird. 

Was über Prostitution und Schundlektüre gesagt ist, findet unsere 
volle Anerkennung. Man ist es in Berlin ja gewöhnt, noch schulpflichtige 
Mädchen am Arme kaum erwachsener Jünglinge hängen zu sehen, nicht 
etwa in proletarischen Kreisen, sondern gerade unter den sogenannten 
»Gebildeten«. Zur Illustration mögen hier einige Notizen aus dem »Vor- 
wärts«, der diese Fälle immer äußerst genau aufzuführen pflegt, Platz finden. 
No. 71 vom 25. März 1910 bringt zwei Bilder aus dem Jugendgericht: 

In den Klauen von Buben. Krasse Bilder aus dem Großstadtleben wurden 
iu den letzten Sitzungen des Jugendgerichts Berlin -Mitte entrollt In einem Fall 
handelt es sich um ein erst vierzehn Jahre altes Mädchen, um die Tochter eines 
Kaufmanns aus Leipzig. Vor einiger Zeit kam das junge unerfahrene Mädchen 
nach Berlin. Es geriet hier bald in die Hände eines Zuhälters und der gefährliche 
Bursohe hatte sein Opfer bald derartig in seiner Gewalt, daß es sich seinem Willen 
voll und ganz fügte. Der Unhold sobickte das unerfahrene Geschöpf auf Diebstähle 
aus und verschaffte sich auf diese Weise Geld. Er schwindelte dem Mädchen vor, 
er wolle ein Restaurant eröffnen und brauche Geld dazu. Die Diebereien wurden 
aber schließlich entdeckt, worauf der verbrecherische Bursche von der Bildfläche 
verschwand. Sein Opfer wurde in Fürsorge genommen und hatte sich außerdem 
vor dem Jugendgericht zu verantworten. Es kam mit einem Verweis davon. 

In einem anderen Fall kommt ein Ingenieur, ein hochbegabter Mensch, als 
Zuhälter in Betracht, und sein Opfer war die Buchhalterin B., die bildhübsche 
Tochter eines hiesigen hochachtbaren Bürgers. Der Zeppelintag sollte dem jungen 
Mädchen zum Verhängnis werden. In dem Menschengewühl auf der Straße wurde 
sie von dem Ingenieur, einem gewissen Claus, angeredet. Es entwickelte sich ein 
Verhältnis zwischen den beiden und es dauerte nur wenige Wochen, so hatte C, 
eine völlig willen- und charakterlose Natur, das Mädchen derart umgarnt, daß es 
für ihn auf die Straße gehen mußte. Der Bube lebte nun auf Kosten des un- 
glücklichen Geschöpfs einen herrlichen Tag, und als ihm die Polizei unangenehm 
zu werden schien, verduftete er. Auch gegen diese Verführte erkannte das Jugend- 
gericht mit Rücksicht auf die vorliegenden Begleitumstände nur auf einen Verweis. 
C. wird jetzt von der Polizei eifrig gesucht, da er vermutlich noch andere Straf- 
taten auf dem Kerbholz hat. 



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1. »Zwischen vierzehn und achtzehn.« 



Viel trauriger ist der folgende Fall, der vielfach an Szenen aus den 
von uns hier besprochenen Proletarier- Autobiographien erinnert (No. 69 
vom 23. Marz 1910): 

Folgen des Wohnungaelends entrollte eine gestern vor der 2. Strafkammer 
des Landgerichts II geführte Verhandlung. Angeklagt wegen Sittlichkeits- 
verbreohens im Sinne des § 176,3 St.-G.-B. war der Zementarbeiter Ernesto 
Delpiccolo, wahrend sich die Arbeiterfrau Pikniewska wegen schwerer Kuppelei 
zu verantworten hatte. Die Angeklagte Pikniewska hatte in der Hagelsbergeretraße 
eine aus Stube und Küche bestehende Wohnung inne. In der Küche schlief sie 
mit ihrer jetzt 12jährigen Tochter in einer Feldbettstelle, während in der 
einfenstrigen Stube vier italienische Arbeiter, darunter der Angeklagte, in zwei 
Betten schliefen. Wie in der Verhandlung festgestellt wurde, hatten der Angeklagte 
und ein anderer inzwischen flüchtig gewordener italienischer Arbeiter häufig an- 
stelle der Mutter in der Feldbettstelle in der Küche geschlafen, während die An- 
geklagte ihre Lagerstätte in der Stube aufschlug. Sie duldete, daß hauptsächlich 
der Angeklagte Delpiccolo zu ihrer 12jährigen Tochter in Beziehungen trat, die zur 
Folge hatten, daß das Mädchen sich trotz ihrer Jugend eines gefährlichen gynäko- 
logischen Eingriffs unterziehen mußte. — Der Staatsanwalt beantragte mit Rück- 
sicht auf die ungeheure sittliche und moralische Verworfenheit der Angeklagten 
gegen die Frau P. 1 Jahr Zuchthaus und gegen D. 9 Monate Gefängnis. 
Für Delpiccolo machte Rechtsanwalt Staats geltend, daß in dessen Heimat 
Italien ganz andere Anschauungen herrschen, da dort vielfach schon 12jährige 
Mädchen heiraten. Das Gericht erkannte dies auch an und verhängte gegen D. die 
niedrigste gesetzlioh zulässige Strafe von 6 Monaten Gefängnis unter Anrechnung 
von einem Monat der Untersuchungshaft Gegen die Frau P. lautete das Urteil 
auf 1 Jahr 3 Monate Gefängnis. 

Ich wüßte nicht, was es traurigeres gäbe im Leben dieser Großstadt- 
kinder, von denen wir noch viel zu wenig wissen. Einzelne Andeutungen 
über ihr Seelenleben machen ja gerade Paola Lombrosos »Leben der 
Hindere so wertvoll, wie das auch von Hugo Schmidt in dieser Zeit- 
schrift (Jhrg. XV, S. 95) bei der Besprechung der Arbeit betont wurde. 
Oerade weil uns die Proletarierjugend zwischen vierzehn und achtzehn 
Jahien solche Schwierigkeiten macht, müssen wir alle Quellen, ungeachtet 
politischer Tendenzen, für die Erforschung der Kinderseele heranziehen. 
Und das wird um so notwendiger und zugleioh auch deutlicher, wenn 
wir uns die Kriminalstatistik betrachten. Von 530723 im Jahre 1907 
im Deutschen Reich wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze 
Verurteilten standen 54113 oder 10,2% im Alter von 12 bis unter 
18 Jahren, davon entfallen auf Preußen 33150 (10% a ^ er Verurteilten), 
unter denen 4979 Mädchen (15%) sind. Die folgende Tabelle, die nach 
dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich (Jhrg. XXX, 1909. 
Berlin 1909) und dem Statistischen Jahrbuch für den preußischen Staat 
(Jhrg. VII, 1909. Berlin 1910) von mir aufgestellt ist, läßt die Be- 
teiligung der Jugendlichen an den verschiedenen Verbrechen und Ver- 
gehen erkenuen. In der Zusammenfassung umfaßt a) die §§ 49a, 80 bis 
168, b) die §§ 169—241, c) die §§ 242—330 und d) die §§ 331 bis 
359 des Strafgesetzbuches. Versuch, Anstiftung usw. sind mit zu den 



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334 



entsprechenden Verbrechen gerechnet. Auf einzelne Punkte sei noch be- 
sonders hingewiesen. 

Unter je hundert im Jahre 1907 wegen Verbrechen und Ver- 
gehen gegen Reichsgesetze rechtskräftig Verurteilten waren 
jugendlich (12 bis unter 18 Jahre alt): 



Verbrechen und Vergehen im ganzen Reich in Preußen 

1. Gewalt und Drohung gegen Beamte . 2,4 2,0 

2. Hausfriedensbruch 5,4 5,0 

3. Arrestbruch 0,6 1,0 

4. Münzverbrechen und -vergehen — 9,0 

5. Verletzungen der Eidespflicht ... 3,0 3,0 

6. Falsche Anschuldigung .... — 4,0 

7. Vergehen in bezug auf die Religion . — 15,0 

8. Unzucht, Notzucht 19,2 20,0 

darunter a) Kuppelei — 0,3 

b) Ärgernis durch unzüchtige 

Handlungen — 4,0 

9. Beleidigung 2,4 3,0 

10. Mord und Totschlag 7,4 8,0 

11. Fahrlässige Tötung — 12,0 

12. Leichte Körperverletzung .... 4,7 5,0 

13. Gefahrliche „ .... 7,7 8,0 

14. Fahrlässige „ .... — 14,0 

15. Nötigung und Bedrohung .... 2,9 3,0 

16. Diebstahl 25,4 24,0 

darunter a) einfacher — 23,0 

b) schwerer — 30,0 

17. Unterschlagung 10,5 10,0 

18. Raub und räuberische Erpressung . 23,3 23,0 

19. Hehlerei 16,8 16,0 

20. Betrug 7,6 8,0 

21. Untreue — 9,0 

22. Urkundenfälschung 13,2 13,0 

23. Sachbeschädigung 16,0 14,0 

24. Strafbarer Eigennutz und Verletzung 

fremder Geheimnisse — 6,0 

darunter a) Glückspiel und Lotterie- - 

vergehen — 0,5 

b) Jagd- u. Fisohereivergehen — 9,0 

25. Gemeingefährliche Verbrechen und 

Vergehen — 12,0 

darunter a) Brandstiftung .... 32,5 38,0 

b) Eisenbahntraneport - Ge- 
fährdung — 6,0 

c) wissentliche Verletzung 
von Absperrungsniaß regeln 

bei Viehseuchen ... — 4,0 



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1. »Zwischen vierzehn und achtzehn.« 



335 



Verbrechen und Vergehen 



im ganzen Reich 
1,2 
10.2 



in Preußen 

1,0 
«0,0 



26. Verbrechen und Vergehen im Amte . 

Überhaupt 

darunter a) gegen Staat, öffentliche 



Ordnung, Religion . . . 

b) gegen die Person . . . 

c) gegen das Vermögen . . 

d) Verbrechen und Vergehen 



5,9 
17,9 



2,6 



im Amte 



1,2 



Hervorgehoben sei: über ein Drittel der wegen Brandstiftung Ver- 
urteilten war jugendlich, ein Viertel der wegen Diebstahl, fast ebensoviel 
der wegen Raub und räuberischer Erpressung, ein Fünftel der wegen Un- 
zucht und Notzucht Verurteilten. Auffallend ist ferner, daß in Preußen 
15% der wegen Vergehen in bezug auf die Religion Verurteilten jugend- 
lich war. — Die Gründe, die jeden einzelnen der jugendlichen Verurteilten 
zur Tat bewogen, lassen sieh gar nicht alle so leicht erklären. Auch 
Nordhausen erklart sie nicht alle. Er deutet nur hier und da an, wo 
die Gründe zu suchen sind, er weist vor allem auf die Schundlektüre 
hin, die die Verleger reich macht infolge des rasenden Absatzes bei der 
pikanterien- dürstenden Jugend. Man braucht z. B. nur zu sehen, wie am 
hellen Tage in Berlin (z. B. auf der Friedrichstraße) vier dieser mit halb- 
nackten fetten Weibern geschmückten Bücher für 10 Pfennig in Mengen 
verkauft werden; oder wie Ansichtskartenverkäufer ihre Nudi täten anbieten, 
die derart konstruiert sind, daß einem durch Spiegelung noch »ganz be- 
sondere Genüsse« verschafft werden. Oder: acht Tage lang konnte man auf 
allen Berliner Straßen kürzlich eine Wochenzeitung ausrufen hören mit 
der > sensationellen Entkleidnngsszene im Warenhause«. Oder auch: die 
Kinematographen und ihre Plakate — ein Übel, über das Nordhausen 
in seiner Arbeit seltsamerweise auoh nur streifend hinweggeht. All das 
kann in Berlin vor der Polizei existieren. Und dann wundert man sich 
über die Laster und weiß nicht woher und wohin 1 

Der Erfolg solcher Schundlektüre ist dann etwa ein Fall wie dieser, 
den wir gleichfalls dem »Vorwärts« (Nr. 71 vom 25. März 1910) ent- 
nehmen, zugleich als Dokument dafür, was man nicht alles noch dem 
Religionsunterricht in die Schuhe schieben wird: 

»Lieber Herr Nenmann! Da ich in Geldverlegenheiten bin und immer den 
Armen- und Waise nhüuseru zustecke, darum bitte ich Sie, mir 500 Mark bis zum 
Sonntag überleihen zu wollen. Wenn das nicht tun so werde ich Sie strafen und 
werde über Ihnen den Todesurteü vollstrecken, oder ich laß das Haus anzünden 
oder laß einen Dieb hineinschleichen, der Ihnen dann die ganze Habe nehmen und 
von dieser Sache dürfen Sie niemanden etwas sagen, sonst stech ich Ihnen die 
Augen aus, daß Sie blind sind und Sonntag Nachmittag mit dem 2 Uhrschlag stellen 
Sie eine Zigarrenkiste mit 500 Mark nieder bei Lehmann Hermanns Sandgrube, nioht 
eher oder später wie um 2 Uhr. Und wenn Sie das nicht erfüllen so wissen 8ie T 
welches Urteil über Ihnen fallt. Weh, wenn Sie etwas davon sagen, und wenn Sie 
dies erfüllen, werde ich 8ie noch 15 Jahre leben lassen und wenn Sie noch 15 Jahre 
langer leben wollen, so müssen sie 500 Mark hinlegen nochmals, das sind zusammen 



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B. Mitteilungen. 



1000 Mark and 30 Jahre. Dies schrieb der Allmächtige und Allerhöchste Richter 
im Himmel Herr ZEBAOTH«. — Der Adressat dieses Schreibens, der Handelsmann 
Neu mann übergab das Schreiben der Gendarmerie in Benau, die dem Gemüts- 
menschen, der 15 Jahre Menschenleben mit 500 Mark bewertete, nach altem Muster 
eine Falle stellte. Nachdem sich einige Gendarmen in der Nahe von Lehmanns 
Sandgrube versteckt hatten, wurde eine Zigarrenkiste durch den Adressaten Neumann 
an Ort und Stelle gebracht. Nach kurzer Zeit näherte sich auch ein Radfahrer, der 
die Kiste aufnahm und sioh schleunigst aus dem Staube machen wollte, dabei aber 
den Gendarmen gerade in die Arme lief. Eb war ein 16 jähriger Dienstknecht 
Reinhold Schulz, der wahrscheinlich durch Lektüre von Schundromanen und durch 
den Religionsunterricht zu seinem kindischen Plan verführt worden ist Vor der 
Sorauer Strafkammer erzählte er das Märchen von dem großen Unbekannten, der 
ihm den Auftrag gegeben hätte, eine Kiste von der Sandgrube abzuholen. Das 
Gericht verurteilte ihn unter Zubilligung der Wohltat des Strafaufschubs zu vier 
Monaten Gefängnis. 

Es ließen sich dem noch viele Fälle anreihen, gewissermaßen als 
Illustrationen zu Nordbausens Buch. Aber genug hiermit 

ünd was soll man dagegen tun? Spiel und Sport, erklart Nord- 
hausen. Obligatorische Fortbildung und Stärkung des Körpers. Spiel- 
plätze statt Lektüre. Wandervereine, wie wir deren ja schon mehrere be- 
sitzen, trotzdem noch immer manche Direktoren »prinzipiell gegen alle 
diese Reformen« (so drückte sich mir gegenüber vor etwa 2 Jahren ein 
preußischer Gymnasialdirektor aus!) sind. Nord hausen entwirft auch 
einen Plan, über den sich diskutieren ließe: 

»Der Staat erläßt die erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen, die 
die allgemeine Spielpflicht der Jugend zwischen vierzehn und achtzehn 
festlegen und ihr neben den unbedingt arbeitsfreien Sonn- und Feiertagen 
eine noch zu vereinbarende Zahl von Nachmittags- und Abendstunden für 
Spiel- und Sportzwecke sichern. Eine größere Anleihe bringt die für die 
Schaffung und Einrichtung von Spielhallen, -platzen usw. erforderlichen 
Summen herbei« usw. (a. a. O. S. 69). Weiter wird von ihm (wie das 
auch bereits Friedrich Zimmer, Wilhelm Rein und viele andere 
getan haben) analog dem Dienstjahr der Knaben im Heere ein solches für 
die Mädchen gefordert, das in einem Privathaushalt, in Kranken- und 
Kinderfürsorgehäusern oder im sozialen Rettungsdienst abzuleisten wäre. 

Gewiß sind das alles schöne und nützliche Dinge, deron Einführung 
wir mit Freuden willkommen heißen würden. Aber ob sie allein imstande 
wären, es dahin zu bringen, daß wir keine jugendlichen Verbrecher mehr 
zu strafen hätten, muß doch sehr bezweifelt werden. Brandstiftung, Dieb- 
stahl und Sittlichkeitsdelikte haben sicher auch noch andere Gründe als 
die, von denen die Rede war. Klar werden wir jedenfalls erst sehen, 
wenn wir uns mit allem Eifer auch dem Studium des Proletarierkindes 
außerhalb der Schule widmen, seinem äußeren und inneren Leben daheim 
und auf der Straße. Denn aus diesen Volksschichten stammen die meisten 
derer, die zwischen vierzehn und achtzehn uns arg zu schaffen machen. 

Dr. Karl Wilker. 



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2. Die Ktigkeit des Berliner Jugendgerichts. 



337 



2. Die Tätigkeit des Berliner Jugendgerichtes. 

In der > Deutschen Juristenzeitung« (Jg. XV, No. 9 vom 1. Mai 1910, 
S. 525 — 526) veröffentlicht der Berliner Amtsgerichtsrat Dr. Könne einen 
interessanten Bericht über die Tätigkeit des Berliner Jugendgerichts, aas 
dem wir folgende Zahlen entnehmen. 

Im Jahre 1909 wurden von dem Jugendgericht Berlin-Mitte 1753 An- 
geklagte, darunter 55 zweimal, 8 dreimal, 1 fünfmal abgeurteilt (gegen 
947 im Vorjahr!). Darunter befanden sich 1352 mannliche und 401 
weibliche Personen. 1546 waren ehelicher, 178 unehelicher Geburt (bei 
29 lag darüber keine Nachricht vor). Von den 154G ehelichen Kindern 
waren 378 halb, 39 ganz verwaist. Bei 109 lebten die Eltern getrennt 
215 Kinder waren 12 — 14, 454 14—16, 1084 16—18 Jahre alt Die 
Anklagen verteilen sich im wesentlichen auf folgende Vergehen: 

Diebstahl 734 Fälle, Mundraub 32, Unterschlagung 150, Betrug 60, 
Hehlerei 43, Körperverletzung 54, Hausfriedensbruch 20, Beleidigung 21, 
Bedrohung 6, Übertretung der Straßen polizeiordnung 158, grober Unfug 
144, Oewerbsunzucht 129, Betteln 58, Obdachlosigkeit 46. 

502 Personen wurden freigesprochen, darunter 153 wegen mangelnder 
Einsicht; 877 erhielten einen Verweis, 235 Geldstrafen, 208 Freiheits- 
strafen bis zu 6 Monaten, und nur bei 6 Personen überstieg diese die 
Dauer eines halben Jahres. Bei 99 Personen wurde Strafaussetzung mit 
Aussicht auf bedingte Begnadigung empfohlen. 

Bei jeder Gerichtssitzung war ein Vertreter des Vereins zur Besserung 
der Strafgefangenen anwesend, dem die Mehrzahl der Angeklagten über- 
gehen wurde, und der für Arbeit bezw. Aussöhnung mit den Angehörigen 
sorgte. Die Kontrolle hat gezeigt, daß der größte Teil sich dauernd gut 
geführt hat. Von 484 kontrollierten Verurteilten führten sich 378 gut 
40 zunächst schlecht, später besserten sie sich; 66 führten sich dauernd 
schlecht Die letzte Zahl dürfte noch etwas höher sein, weil einige der 
Verurteilten als Landstreicher dem Gesichtskreis des Jugendgerichts ent- 
zogen waren. Dr. Köhne hat von privater Seite Mittel erhalten, aus 
denen er die ersten Kosten der Unterbringung bestreiten kann, und hebt 
ausdrücklich hervor, daß die Bereitstellung mäßiger Mittel die Jugend- 
richter instand setzen würde, die Kosten der Fürsorgeerziehung und des 
Gefängniswesens erheblich zu vermindern. — Von den im Jahre 1908 
verurteilten 947 Personen sind 42 rückfällig geworden. 

Einige schon von mir wiederholt ausgesprochene Fragen seien aufs 
neue wiederholt. Wovon wurden die 502 freigesprochen? Von der die 
Gesellschaft benachteiligenden Tat? Wahrscheinlich nicht, denn sie war 
begangen und führte zur Anklage. Von der Schuld? Mutmaßlich nur 
ein Bruchteil. Wohl meistens nur von der Strafverbüßung, und zwar 
153 wegen mangelnder Einsicht. Auch diese kann logischerweise nicht 
von der Schuld befreien und keine Tat ungeschehen machen. So bleibt 
beim Jugendgericht immer nur die Frage der Strafverbüßung, während 
die doch nur Mittel zum Zweck bleiben darf. 

Zeitschrift für KiriUorforechuntj. XV. Jahrgang. 22 



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338 



B. Mitteilungen. 



Die Verhütung oder Wiedergutmachung der Tat und die Sühne der 
Schuld für die Benachteiligten, wie z. B. die Rückerstattung des Be- 
fohlenen, bleiben in sehr vielen Fallen auoh beim Jugendgericht noch 
ungelöste Probleme. Trüper. 

3. Das Farbenbenennungsvermögen als Intelligenz 

Prüfung bei Kindern. 

Von Dr. med. F. Warbarg, Köln. 
In einem in der Münchener medizinischen Wochenschrift 1909, No. 49 
veröffentlichten Vortrage geht War bürg näher auf die Frage ein, inwieweit 
der Farbensinn zur Grundlage einer Intelligenzprüfung bei Kindern gemacht 
werden kann, insbesondere bei solchen, die eingeschult oder einer Hilfs- 
schule überwiesen werden sollen. Bei derartigen Prüfungen ist scharf zu 
unterscheiden zwischen der Farbentüchtigkeit d. h. der Fähigkeit 
Farben zu erkennen und zu unterscheiden und dem Farbenbenennungs- 
vermögen. Die Farbentüchtigkeit ist wie die Farbenblindheit (oder besser 
allgemeiner gesagt wie die Farbenuntüchtigkeit) dem Menschen nach all- 
gemeiner Annahme angeboren. Nach Schaefers Darlegungen in den 
»Beitragen zur Kinderforschungc (1907) 1 ) gibt es keine eigentliche Ent- 
wicklung des Farbenempfindens, sondern die Farbentüohtigkeit ist angeboren 
in dem Sinne, daß sie, sobald ein entwickeltes Auge, ein empfindungs- 
fähiges Gehirn und die nötigen nervösen Verbindungen ausgebildet sind, 
als unmittelbar damit gegeben in die Erscheinung tritt. Farbenuntüchtige 
— dazu gehören die total und partiell Farbenblinden und die sogenannten 
Farbeuanomalen — werden durch Übung oder sonst eine Weise nie farben- 
tüchtig werden; die Intelligenz erfahrt durch das Vorhandensein der 
Farbenuntüchtigkeit keine Störung. Es ist daher nicht angebracht, eine 
Intelligenzprobe auf der Farbentüchtigkeit aufzubauen. Dagegen läßt 
sich das Vermögen, Farben zu benennen, zur Unterlage einer Intelligens« 
probe machen, da ja die Fähigkeit, Farben zu benennen nicht angeboren ist, 
und die Kinder die vielen Farbenbezeichnungen um so rascher lernen und 
behalten, je intelligenter sie sind. Warburg stellte nun in dieser Beziehung 
eingehende Untersuchungen an ca. 1800 Kindern an, die teils den Normal- 
schulen — Volksschulen, höheren Knaben- und Mädchenschulen — teils 
den Hilfsschulen angehörten, und prüfte zielbewußt das Farben- 
benennungsvermögen d. h. die Assoziationen zwischen der Empfindung 
und dem Farbennamen, indem er farbige Wollfäden, die auf Kartons ? ) 
geklebt waren, von den zu prüfenden Schülern benennen ließ. Zur Ver> 
wendung gelangten hauptsächlich zwei Farbengruppen, deren erste aus 
Weiß, Schwarz, Rot, Gelb, Grün und Blau zusammengesetzt war, während 
die andere Braun, Grau und Violett umfaßte. Das Ergebnis der Unter- 
suchungen wird in vier Tabellen genauer dargelegt; es seien hier die 



') Prof. Dr. Karl L. Schaefer, Farbe nbeobachtungen bei Kindern. Heft 31 
der »Beitr. z. Kdf. u. Heilerz.« Langensalza, Herrn. Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 

•) Die Farbenkartons sind bei dem Buchbinder des allg. ärztl. Vereins in Köln, 
W. Ferlings, zu haben. 



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3. Das Farbenbenennungsvermögen als Intel 1 igen zprüfung bei Kindorn. 339 



Tabellen der Volksschulen und Hilfsschulen angeführt, deren erste Zeile 
so zu lesen ist, daß in der VII. (untersten) Klasse der Volksschule unter 
51 Knaben mit dem Durchschnittsalter von 6,5 Jahren 100% weiß richtig, 
98 % schwarz, 88% rot, 67% gelb, 57% grün und 49 % blau, 43% 
sämtliche Farben der ersten Gruppe richtig benannten; daß 19% braun, 
10% grau und nur 2% violett (resp. lila) anzugeben wußten und daß 
kein einziger alle Farben beider Gruppen kannte: 

Tabelle L Volksschule. 



Klasse 



l 



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7. 



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3 

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7, 



1 
O 



7o 1 7. 



K naben 



VII 


51 


1 6,5 


100 


98 


88 


67 


i 57 


49 


43 


19 


10 


2 


0 


VI 


46 


7,3 


100 


100 


93 


80 


74 


80 


67 


50 


19 


6 


6 


V 


54 


8,6 


100 


100 


100 


91 


74 


65 


65 


20 


15 


11 


2 


IV 


4» 


9,8 


100 


100 


98 


98 


78 


75 


69 


59 


37 


16 


12 


m 


48 


10,3 


100 


100 


98 


100 


88 


90 


84 


70 


53 


39 


23 


ii 


45 


11,2 


100 


100 


98 


100 


87 


89 


87 


78 


55 


67 


49 


i 


46 


12,5 


100 


100 


100 


100 


9G 


98 


96 


78 


67 


74 


48 




334 




100 


99,7 


m 


90 


79 


78 


73 


53 


36 


30 


20 












Mädchen 














vn 


42 


6,3 


100 


100 


86 


76 


66 


43 


38 


1 31 


19 


7 


5 


vi 


57 


7,4 


100 


100 


100 


93 


72 


81 


61 


38 


19 


5 


5 


V 


50 


8,2 


100 


100 


100 


88 


78 


82 


78 


48 


18 


8 


8 


IV 


5a 


9,9 


100 


98 


96 


94 


93 


98 


92 


51 


41 


53 


28 


m 


46 


10^ 


100 


100 


ICK) 


98 


94 


93 


93 


74 


61 


37 


28 


n 


43 


11,5 


100 


100 


100 


100 


98 


100 


98 


77 


81 


84 


60 


i 


45 


12,7 


100 


100 


100 


100 


100 


98 


98 


89 


95 


98 


87 




336 




100 


99,7 


97 


93 


86 


85 


80 


58 


48 


42 


31 



Tabelle II und TU. Hilfsschule. 





i 


Durchschnitts- 
alter 


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7. 








Knaben 


















Unterstufe 


26 


9,2 (8—12) 


100 


88 


73 


50 


42 


31 


119 


15 


4 


0 


0 




24 


9,2 (7-13) 


92 


92 


87 


92 


67 


54 


45 


17 


0 


0 


0 


M 


24 


8,9 (7—10) 


87 


83 


67 


37 


4 


8 


0 


0 


0 


0 


0 


Mittelstufe 


20 


9,0 (8—12) 


100 


100 


95 


65 


35 


45 


25 


10 


0 


0 


0 


"i 


22 


10,4 (8—14) 


100 


100 


100 


73 


50 


59 


45 


18 


4 


0 


0 




21 


110.7 (8-12) 


100 


100 


90 


81 


62 


52 


48 


33 


14 


0 


0 


ii 


23 


11,0 (10-12) 


100 


100 


96 


91 


57 


48 


39 


43 




o 


0 


n 


25 


11,1 (10-12) 


100 


100 


92 


80 


58 


72 


58 


20 


18 


12 


8 


Oberstufe 


21 


12,6 (11-13) 


100 


100 


100 


76 


76 


52 


52 


33 


19 


43 


9 


24 


12,5 (11—13) 


100 


100 


96 


83 


G2 


54 


50 


33 


33 


19 


12 




230 




98 


96 


89 


73 


51 


47 


38 


22 


9 


7 


3 



22« 



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310 



1>. *M itt (Mimiken. 



Klasse 


.3 


Durchschnitts- 
aityr 


3 


1 

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3 

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53 

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Ol 


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Mädchen 


















Unterstufe 


19 


9,7 (8-11) 


100 


100 


100 


79 


47 


42 


37 


16 


16 


0 


0 




25 


8,8 (7—11) 


100 


96 


84 


64 


20 


20 


20 


12 


4 


0 


0 




IQ 


y,u (o — id) 


79 


89 


84 


DO 


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AI 


3« 




5 


5 


d 


Mittelstufe 


29 


9,6 (8-12) 


100 


100 


97 


80 


69 


69 


58 


41 


14 


0 


0 


11 


26 


10,1 (10—13) 


100 


100 


96 


92 


69 


65 


58 


31 


23 


11 


4 


ii 


19 


9,7 (9—12) 


100 


100 


89 


84 


58 


63 


58 


37 


35 


10 


10 


ii 


25 


10,8 (9—13) 


100 


100 


100 


92 


76 


64 


64 


32 


20 


12 


8 


Oberstufe 


•» 


12,3 (11—13) 


100 


100 


100 


100 


74 


91 


73 


36 


54 


32 


18 




20 


12,7 (11—13) 


100 


100 


100 


100 


95 


95 


95 


80 


60 




44» 




204 




98 


98 


94 


84 


61 


61 


55 


34 


25| 13 


9 



Bei allen Untersuchungen zeigte es sich, daß die Mfidchen besser als 
die Knaben die Farben zu benennen wissen. Dies darf nicht als ein 
Zeichen höherer Intelligenz der Mädchen aufgefaßt werden; zur Erklärung 
dieser Tatsache muß verschiedenes in Betracht gezogen werden, zumal da 
zu berücksichtigen ist, daß auch angeborene Farbenuntüchtigkeit (Farben- 
blindheit) nur zu 0,2 °/ 0 bei Frauen, dagegen über 4% bei Männern yot- 
kommt. 

Die Zahl der benannten Farben steht sowohl bei Mädchen als bei 
Knaben in völligem Einklang mit der Intelligenz. Die Zahl der richtigen 
Antworten steigt von Klasse zu Klasse; und die Intelligentesten einer 
Klasse wissen die meisten Farbennamen. Es ist nicht schwer, in den 
unteren Klassen durch die Farbenbenennungsprobe die besten und die 
sohlechtesten Schüler ohne Mühe herauszufinden. Die Resultate der Farben- 
probe stimmten fast stets — zuweilen überraschend — mit den Erfahrungen 
der Lehrer überein. Die zahlenmäßige Reihenfolge der richtig benannten 
Farben nach Untersuchungen an 1270 Kindern ist folgende: 



Gruppe I: Weiß 99 % 

Schwarz 98,9 ., 

Rot 94 

Gelb 87 

Grün 73 

Blau 71 

Gruppe II: Braun 50 „ 

Grau 36 „ 

Violett 29 .. 



Die Farben der Gruppe II werden bedeutend weniger richtig benannt ; 
um so besser sind sie aber in vielen Fällen zur Beurteilung der Intelligenz 
brauchbar. 

In den Hilfsschulen ist die Farbenbenennung bedeutend schlechter 
als in den Normalschulen, und die geistig schwächsten Kinder haben den 



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4. Eino psychologische Klinik. 



341 



größten Farbenausfall. Auf der anderen Seite gehören 6— 8jährige Kinder, 
die auch die Farben der Gruppe II prompt benennen können, in der 
Regel nicht in die Hilfsschule. Knaben der Vorschulen zu Gymnasien 
und noch mehr die Mädchen der Töchterschulen (alle im 7. Lebensjahre) 
zeigen prozentualer ein bedeutend besseres Farbenbenennungsvermögen als 
die gleichaltrigen der Volksschulen. 

Verfasser kommt zu dem Schlüsse, daß das Farbenbenennungsvermögen 
sehr gut als Intelligenzprüfimg bei Kindern zu verwerten ist. Wie bei 
allen Intelligenzproben hat man auch bei dieser kein Normalmaß. Berück- 
sichtigt man aber die Möglichkeit einer Farbenuntüchtigkeit, die als an- 
geborene Anomalie nichts mit Intelligenz zu tun bat, nimmt man ferner 
Rücksicht auf das Geschlecht des Kindes und namentlich auf die Art der 
Umgebung und bisherige Erziehung, so wird man in der Deutung der 
Ergebnisse der Farbenbenennungsprobe als Intelligenzprüfung sicher nicht 
leicht fehlgehen. 



4. Eine psychologische Klinik. 

Eine psychologische Klinik für zurückgebliebene und geistig defekte 
Kinder ist an der Washington -Universität zu Seattle eingerichtet Die 
Ankündigung besagt: 

Es gibt in jedem großen Schulsystem eine beträchtliche Zahl von 
Kindern, die, ohne bemerkbare Defekte an Sinnesorganen, Nervensystem, 
Knochen oder Muskeln oder irgend eine Spur einer organischen Krankheit 
zu zeigen, nichtsdestoweniger keinerlei besondere Fortschritte in ihren 
Studien machen. Jeder Lehrer hat seine persönliche Erfahrung gehabt 
mit abnorm dummen Kindern, mit chronisch schlecht schreibenden, mit 
Kindern mit Sprachdefekten und unvermögendem Gedächtnis. Solche Fälle 
sind Probleme für die Experimental - Psychologen. Schlechtes Schreiben 
ist ein Zeichen unzureichenden geistigen Schilderungsvermögens; un- 
genügendes Gedächtnis mag schuld sein an mangelndem Unterscheidungs- 
vermugen und am Versagen in der Herstellung geeigneter Assoziations- 
bahnen, und gewisse Sprachdefekte wie etwa die Verwirrung der Kon- 
sonanten und das Stottern sind Symptome fehlerhafter motorischer Kon- 
trolle. Fälle dieser Art fallen bei besonderer Betrachtung nicht in das 
Arbeitsgebiet von Arzt und Lehrer; aber der geübte Psychologe kann 
Resultate von großem Werte erlangen. 

Die Abteilungen für Psychologie und Erziehung an der Washington- 
Universität haben eine Klinik zum Wohle defekter Kinder aus Seattle und 
Umgegend geplant. Es dürfte klar sein, daß diese Klinik in keinerlei 
Weise eingreifen will in die Arbeit der ärztlichen Beaufsichtigung, hin- 
sichtlich derer Seattle eine leitende Stellung einnimmt Die psychologische 
Klinik will diese Arbeit einfach ergänzen, und die Direktoren der Klinik 
wollen in harmonischer Gemeinschaft wirken mit Superintendent Cooper 
von den Städtischen Schulen und mit den ärztlichen Inspektoren, den 
Leitern und Lehrern der Schulen. Die Klinik wird Sonnabend vormittags 
von 9 1 /, bis 12 1 /, Uhr gehalten. 



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342 



C. Literatur. 



Kosten für die Untersuchung erwachsen nicht Schriftliche Anfragen 
sind zu richten an Edward 0. Sisson, Department of Education, Uni- 
versity of Washington. \ 

Die Klinik steht unter der direkten Aufsicht von Professor H. E. 
Stevens, Department of Psychology, und Professor Edward 0. Sisson, 
Department of Education. 

(Übersetzt aus The Training School, Vol. VII, No. 3, June 1910.) 



5. Preisausschreiben. 

»Ein Preisausschreiben aber die Ausgestaltung der Arbeits- 
schule«, das von allen pädagogischen Kreisen zweifellos lebhaft begrüßt 
werden wird, veröffentlicht die Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner in 
Leipzig in dem soeben erschienenen 1. Jahrgang der von ihr heraus- 
gegebenen »Pädagogischen Bücherschauc. Als Preis hat der Verlag 
1000 M für die beste Arbeit zur Verfügung gestellt Preisrichter sind: 
Keller- Frankfurt, Kerschensteiner-München, Rißmann-Berlin, Sall- 
würk- Karlsruhe, Wetekamp- Berlin. Sie bieten die Gewähr, daß nur 
durchaus reife, die Sache erheblich fördernde Arbeiten Aussicht auf Zu- 
erkennung des Preises haben. Für die Behandlung der Aufgabe wird ge- 
fordert, daß das Prinzip des schöpferischen Lernens unter weitgehender 
Heranziehung manueller Betätigung für eine möglichst präzis gehaltene 
Formulierung des Endziels der Volksschularbeit fruchtbar gemacht, und 
seine Verwirklichungsmöglichkeit für alle Stufen der Volksschule am besten 
am konkreten Beispiel eines detaillierten Organisati onsplanes nachgewiesen 
wird, wobei sich die technischen Fertigkeiten organisch in das Gauze ein- 
zugliedern haben. Im besonderen ist klarzustellen, inwieweit die neue 
Unterrichtsweise besser als die bisherige geeignet ist, als Fundament für 
die Erziehung zu einer geschlossenen Lebensgestaltung zu dienen. Als 
Schluß des Einlieferungstermins ist der 15. Dezember dieses Jahres fest- 
gesetzt. 



C. Literatur. 



Die Schundliteratur. 

I. Karl Branner: »Unser Volk in Gefahr!« Ein Kampfruf gegen die Schund- 
literatur. Verlag der Volkstümlichen Bucherei (Leipzig, Hermann Zieger). 
III. Aufl. Pforzheim 1910. 24 S. Preis 0,10 M. 

II. Theodor Just: »Die Schundliteratur, eine Verbrechensursache, und ihre 
Bekämpfung. c In Konimission bei C. Schaff nit. 5.-7. Tausend. Düsseldorf 
1910. 31 S. Preis 0,30 M. 

III. »Im Kampfe gegen die Schund-Druekerzeugnisse.« Erfahrungen. Ratsohläge 
und Materialien. Flugschriften des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes 
in Wort und Bild. No. 5. In Kommission bei Felix Dietrich. Leipzig 1910. 
52 8. Preis 0,20 M. 



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C. Literatur. 



343 



IV. «Fünfter Jahresbericht des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes in 
Wort und Bild.« Erstattet vom geschäftsführenden Ausschuß. Geschäfts- 
stelle des Volksbundes, Berlin NW. 87, Beußelbrücke. 1909. 24 8. 
V. »Die Gefährdung der Jugend durch Schrift- und Bildwerke (.Schmutz und 
Schund 4 ).« Ausschußbericht und Verhandlungen der Bürgerschaft in Hamburg 
am 1., 15., 22. und 29. Dezember 1909. Nach den amtlichen Stenogrammen. 
Hamburg, Heroldsche Buchhandlung, 1910. 160 S. 

VI. HansHyan: »Sherlock Holmes als Erzieher.« Mit einem Vorwort von 
Rechtsanwalt Dr. jur. Halpert Selbstverlag 1909. 62 S. Preis 0,25 M. 

VII. Joseph Lohrer: Vom modernen »Elend in der Jugendliteratur.« Päda- 
gogische Zeitfragen, herausgegeben von Franz Weigl. Heft 6. München 
J. J. Lentner, 1906. 5. Aufl. 51 S. Preis 0,80 M. 

VIII. Franz Weigl: »Karl Mays pädagogische Bedeutung.« Pädagogische Zeit- 
fragen. Heft 22. München. Val. Höfling, 1909. 2. Aufl. 56 Seiten. Preis 
0,60 M. 

IX. Karl Wilker: »Karl May ein Volkserzieher?« Eine dringende Abwehr zum 
Schutze unserer Jugend gegen die Verherrlichung Mays. Langensalza, Her- 
mann Beyer 4 Söhne (Beyer & Mann), 1910. 56 S. Preis 0,90 M. 

X. Hermann Sohachenmann : Jugendschutz gegen Detektivromane und 
Kinematographen. — Hans Muggli: Volk und Jugend in Gefahr! Ein Bei- 
trag zur Bekämpfung verderblicher Literatur. Bern, A. Francke, 1909. 68 S. 
Preis 0,50 M. 

L Im Oktober 1906 richtete Brunner durch die Presse die Bitte an alle 
interessierten Kreise, ihm ihre Erfahrungen auf dem Gebiete der Schundliteratur 
mitzuteilen. Das eingegangene Material ist in der vorliegenden Arbeit zum Teil 
verwertet. 68 verschiedene Titel (z. T. Sammlungen) werden mitgeteilt nach des 
Verfassers eigener Sammlung. Aus Text und Empfehlungen werden Belege gegeben. 
Zahlreiche Zahlen illustrieren die Verbreitung. Und endlich vervollständigen einzelne 
Fälle den Eindruck, den eigentlich jeder schon haben müßte von der Wirkung der 
Schundlektüre auf Jungen und Mädchen. 

II. Diese Arbeit des evangel. 8trafanstaltspfarrera und Geschäftsführers der 
Rheinisch - Westfälischen Gefängnis - Gesellschaft Just stützt sich auf gerichts- 
notorisches Material. Die einzelnen Verbrechensursacheu werden kurz betrachtet. 
Die Schundliteratur ist ein sozialer Anlaß, der bei individueller Disposition Ver- 
brechen auslöst Von einem bloßen Verbot erwartet Just nichts im Kampfe gegen 
dieses Übel. Er empfiehlt: Einwirkung auf die Buchhändler (Papierhändler) durch 
die Lehrer und Schreiben an die Eltern; schärfere Kontrolle der Kolportageliteratur; 
Besteuerung der Hintertreppenromane; Schaffung und Verbreitung gesunder Volks- 
schriften. Ohne auf diese Vorschläge näher einzugehen, möchten wir hier auf den 
von Just (S. 18) mitgeteilten § 175 des Kaiserlich Japanisohen Strafgesetz- 
buches vom 23. April 1907 hinweisen. Er lautet: »Wer unsittliche Schrift, Zeich- 
nung, Abbildung oder andere unsittliche Gegenstände öffentlich ausstellt wird mit 
Geldstrafe ... oder mit Geldbuße (Arbeitshaus) bestraft Das Gleiche gilt für den- 
jenigen, der solche Gegenstände herstellt und besitzt in der Absicht, sie zu ver- 
kaufen.« Sehr wichtig erscheint uns in dieser instruktiven Arbeit die Wiedergabe 
einer französichen Protesterklärung gegen die unsittliche Literatur seitens der 
»SociCte des gens de lettre«« (S. 26 — 30); vergl. dazu VI. 

IQ. Eine reiche Fülle von Anregungen für den Kampf gegen den Schund 
und Schmutz ist hier gesammelt; Amtliche Bekanntmachungen (Preußen, Bayern, 



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344 C. Literatur. 



Düsseldorf, Geestemünde); Eingaben; Mitteilungen von Lehrervereinen. Schul- 
depatationen usw. an die Eltern der Zöglinge ; Aufrufe ; Öffentliche Bekannt- 
macbungen ; verschiedene Rundschreiben u. a. m. Auch ein Verzeichnis der 
Schriften gegen die Schundliteratur ist angefügt. — Auf die einzelnen Maßnahmen 
einzugeben, ist hier nicbt möglich. Um so wärmer mochten wir aber allen, die 
sich irgendwie auf diesem Gebiete betätigen wollen, diese Schrift zur Berück- 
sichtigung empfehlen. So dürfte mancher Umweg erspart bleiben. 

IV. Der Volksbund — ein Werk Otto von Leixner — zählte Ende 1909 
nur 1397 Mitglieder. Eine kleine Schar für eine große Aufgabe! Aus seiner Arbeit 
sei mitgeteilt, daß 62560 Exemplare des Flugblatts »8chrautz und Gift« verteilt 
wurden, daß für eine Petition an den Reichstag 30000 Namen gesammelt wurden, 
daß endlich in Berlin Schritte getan wurden, eine Kinderlesehalle zu schaffen. 
Auffallenderweise gingen von 22 Gemeindeschulen Berlins nur 4 auf die Anregungen 
ein. Es läge gewiß im Interesse unserer Jugend, wenn sich die Lehrer mehr für 
die Bestrebungen des Volksbundes interessieren wollten. 

V. Am 21. März 1908 setzte die Hamburger Bürgerschaft einen Ausschuß 
von 8 Personen ein »zur Prüfung der Frage, durch welche Maßregeln die Jugend 
auf öffentlicher Straße vor Schrift- und Bildwerken, die die Sittlichkeit ge- 
fährden, bewahrt werden kann.« Der ausführliche Bericht des Ausschusses, er- 
stattet von Dr. jur. Hermann M. Popert, sowie die Verhandlungen der Bürger- 
schaft dürfen auf ein allgemeines Interesse rechnen. Es erhellt daraus immer und 
immer wieder, daß jeder, der die Gesetze gegen die Jugendverderber mobil machen 
will, sich «Erzreaktionär« schimpfen lassen muß. Popert hat wohl recht, wenn 
er sagt (S. 98): »Es handelt sich in dieser Frage am letzten Ende um einen scharfen 
Gegensatz der Weltanschauungen und der Persönlichkeiten.« Die Diskussion bewegt 
sich im wesentlichen um juristische Fragen. Endgültig angenommen wurden zwei 
Anträge; der erste, >den Senat zu ersuchen, an zuständiger Stelle dahin zu wirken, 
daß zum Zwecke eines besseren Schutzes der Jugend die Bestimmungen der §§ 184 
und 184a und b des Strafgesetzbuches und §§ 56, 12 und 42a der Reichsgewerbe- 
ordnung ergänzt und entsprechend erweitert werden«, wurde in namentlicher Ab- 
stimmung mit 80 gegen 40 Stimmen angenommen. Es stimmten geschlossen da- 
gegen die Sozialdemokraten und die Vereinigten Liberalen (außer Dr. Popert). Der 
zweite Antrag will positive Arbeit anstreben: bessere Ausstattung der Schüler- 
bibliotheken; Oberweisung von Büchern an die Schulkinder; Förderung der privaten 
Bestrebungen zur Verbreitung guter Literatur usw. Erledigt dürfte die Frage frei- 
lich mit der Annahme dieser Anträge noch keineswegs sein. Unseres Erachtens 
wäre es besser gewesen, wenn die Hambarger Bürgerschaft nicht erst den Umweg 
über die Reichsgesetzgebung gewählt hätte, sondern den direkten Weg: Schaffung 
eines Landesgesetzes zum Wohle unserer Jugend. — Freilich das Gesetz allein tut's 
ja nicht. Aber missen möchten wir es nimmer im Kampf gegen Schund und 
Schmutz. 

VI. Schon der Umschlag verrät, wes Geistes Kind dieses Opus ist, noch mehr 
aber das Motto: »Tua res agitur« ; der Herr Hans Hyan selbst charakterisiert 
sich nämlich so (S. 19): »Es ist mein Bestreben seit einem Dutzend Jahren, das 
Verbrechen in allen seinen Erscheinungen zu studieren, seine tiefen sozialen "Wurzeln 
und Zusammenhänge aufzufinden und zu erklären. Ich leiste damit eine Kulturarbeit, 
die um so wirksamer ist, als ich die Gabe besitze, das Erschaute und als wahr Er- 
kannte in menschliche Formen zu gießen und es von neuem lebendig zu machen.« 
Sic! Die ersten Seiten der einzelnen Kapitel geben den Detektivromanen selbst nichts 



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C. Literatur. 



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oach. Und daran wird dann irgend eine Argumentation gegen die »Clique der 
Dunkelmänner«, gegen die »Hüter der Reaktion« gehängt Und drohende Blitze 
schleudert Hans Hyan gegen Hamburg, wo man seine Hefte vom Straßenhandel 
ausgeschlossen hat. Aber seine Argumente: »Daß diese Druckindustrie tatsächlich 
einen soliden Boden hat, ist der beste Beweis für das vorüegende Bedürfnis« (S. 25), 
das bei Erwachsenen besonders groß sein soll: 90% der abgesetzten Exemplare 
sollen in deren Hände geraten. »Der Beweis für den Fortschritt, der mit den 
Detektivgeschichten in der Volkslektüre eingetreten ist, liegt schon in der Tatsache, 
daß sehr viele Gebildete diese »Hefte 4 lesen . . .« (S. 27). Ebenda: »Der "Verbrecher 
wird nicht verherrlicht, sondern es wird direkt Propaganda gemacht für die Ab- 
schreckungstheorie« usw. Wir könnten diese Blütenlese noch lange fortführen, 
wollen uns aber nur noch gegen zwei Punkte wenden. Herr Hyau führt An- 
erkennungsschreiben von französischen Lehrern an, die ihm für seine bunten Hefte, 
die in französischer Übersetzung auch erscheinen, zu teil wurden. Es mag sein, 
daß es jenseits des Rheins derartige Pädagogen — diesen Namen verdienen sie 
dann allerdings nicht mehr — gibt Wir aber haben ein Interesse daran, mit aller 
Macht dem Export (wie natürlich dem Import) Hyan sehen und anderen Schundes 
entgegegenzutreten. Wir haben bei IL auf den Protest der französischen Schrift- 
steller verwiesen. Wir wollen aber auch im Ausland nicht als die sittenlosen 
Verführer betrachtet werden. Und das dürfen wir noch, dank Herrn Hyan und 
Genossen! — Der zweite Punkt: nicht die Schundlektüre erzeugt Verbrechen, sondern 
der — Alkohol, dessen Antipode eben die Schundlektüre ist. Wenn Herr Hyan 
sich nur die geringste Mühe gegeben hätte, sich mit der modernen Alkoholfrage ein- 
gehend zu beschäftigen, dann würde er gar bald gefunden haben, daß unter den 
Abstinenten der unteren Volksschichten, die zu kennen ich wohl behaupten darf, 
ein ganz anderes Bedürfnis nach geistiger Nahrung ist, als er es sich denkt; und 
daß dies es Bedürfnis eben durch die geistigen Führer der Antialkobolbewegung in 
die richtigen Bahnen gelenkt wurde. Viele der Männer, die gegen den Schmutz 
und Schund ankämpfen, stehen auch in der Antialkoholbewegung an führender 
Stelle. — In dasselbe Horn wie Hyan auch einen Juristen tuten hören, ist ja sehr 
bedauerlich. Wenn dieser sogar meint, daß die Detektivromane »ihre (der Volks- 
massen) Intelligenz fördern und ihre Denkkraft schärfen«, so ist das wohl eine Frucht 
seiner Phantasie. 

Hyan wie Halpert spekulieren äußerst geschickt auf die parteipolitischen 
Instinkte der Masse. Herrlicher Zukunftsstaat, in dem diese beiden Herren als 
literarische Heroen figurieren! 

VII. Wir müssen eine kurze Besprechung dieser Arbeit dei der beiden 
folgenden vorausschicken. Sie ist gegen die »Hamburger Bewegung« vornehmlich 
gegen Heinrich Wolgast gerichtet nachdem sie zuvor alles Lob für das Auftreten 
gegen den Schmutz und Schund auf die Häupter römisch-katholischer Lehrer gehäuft 
hat. Der Kernpunkt ist: »Wir wollen keine ästhetisch -humanistische, wir wollen 
eine entschieden christliche, eine warm katholische und patriotische Jugend- 
schrift« (S. 19). Märchen und Sagen »müssen vor der christlichen Literatur zurück- 
treten« (S. 22). Dann werden Stellen aus »Tendenzwerken schlimmster 
Sorte« (also gedruckt S. 21) angeführt Als solche gelten: »Pole Poppenspäler« 
von Theodor Storm, »Als ich noch der Waldbauernbub war« von Peter 
Rosegger, »Aus Nah und Fern« von Johanna Spyri, »Jugenderinnerungen eines 
alten Mannes« von Kügelgen, Werke von Sohnrey, Frommel, Caspari usw. 
Was die katholischen Lehrer — oder doch ein Teil von ihnen — dafür verlangen, 



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346 



C. Literatur. 



werden wir unter VID und IX sehen. Als »gemeinsame« Kampfgebiete gelten 
Lohr er: Schmutz- und Schundliteratur und sozialdemokratische Literatur sowie 
»das verwerfliche Tendenziöse«. 

VIII. Was nun aber von uns anerkannt werden soll, ist der — um mit 
Wolgast zu reden — »schreckliche Karl May«, dessen volkserzieherische Mission 
darzutun, sich Franz Weigl bemüht hat Einen derartigen Lobe&hymnus, den nur 
ein ganz kritikloser Kopf zusammenreimen konnte, sollen wir hier besprechen V 
Karl May soll bestrebt sein, »fernab vom Haschen nach Augenblickserfolgen und 
nach der Tagesgunst des Publikums, von tiefbegründeten, wohlüberlegten und plan- 
mäßig aufgebauten erzieherischen Tendenzen getragen, die große Mission des 
deutschen Schrifttums zu erfüllen«? Das entspricht zwar alles den Lohre rächen 
Anforderungen. Ob aber auch denen der wahren Forschung? Uns stiegen so viele 
schwerwiegende Bedenken auf, die sich immer mehr häuften und geradezu volks- 
verderbende Gesichtspunkte erkennen ließen, daß wir uns um des Wohles unserer 
Jugend willen entschließen mußten zu der nachfolgend besprochenen Abwehrachnft 

IX. (Selbstanzeige.) Die Arbeit gibt zunächst ein Büd der Persönlichkeit 
Karl Mays auf Grund des Beweismaterials, das der von Karl May wegen Beleidigung 
(begangen durch die Bezeichnung »geborener Verbrecher«) angeklagte Lebius dem 
Gericht vorlegte. Daraus erhellt, daß Karl May zwar alles andere, nur nicht — wie 
Weigl behauptet — ein großer »Volkserzieher« ist Entsprechend der Stellung, die 
Weigl als Pädagoge doch einzunehmen beansprucht, sowie auf Grund seiner »päda- 
gogischen« Arbeit über May, mußte sich unsere Polemik gegen ihn in erster Linie 
richten. Weiter aber mußten alle Arbeiten über May — sämtlich lobpreisende 
(natürlich!) — berücksichtigt werden. Aus allen Unklarheiten, die den einzelnen 
Arbeiten anhaften, kann man doch wahrnehmen, daß die römisch-katholische Tendenz 
es ist die diesen Autor verhimmelt ohne weiter darüber nachzudenken, daß seine 
»Reiseromane« (33 an der Zahl) unsäglichen Schaden an unserer Jugend verursacht 
haben, und daß derselbe Karl May auch Kolportageromane schlimmster Art schrieb 
— und zwar auoh 30 dicke Bände. Der Umstand, daß Karl May und seine Freunde 
erklären : die unsittlichen Stellen stammen von dritter Hand ohne Wissen des Autors, 
ändert prinzipiell niohts. Denn die Tatsache bleibt bestehen, daß diese Kolportage- 
romane von May geschrieben sind. (Einzelheiten über diesen Punkt wolle man in 
der Broschüre nachlesen.) 

Die Verhältnisse gaben es, daß diese Arbeit zugleich eine Arbeit gegen den 
überhandnehmenden Ultramontanismus wurde. Wir mußten protestieren gegen 
den Schimpf und die Schande, die auf uns zu häufen Rom ungestraft sich heraus- 
nehmen konnte. Und wir liaben es getan in dem Bewußtsein, unserer Nation, und 
namentlich unserer Jugend in ihr, damit einen Dienst zu erweisen. Gegen 
die Angriffe, die wir in reichem Maße erwarten, werden wir uns zu 
wehren wissen. Unser gutes Recht ist und bleibt es, als Erzieher unserer Jugend 
nur charakterfeste Persönlichkeiten zu verlangen, nicht aber Leute, denen alle 
ethischen Qualitäten abgehen, wenn sie, wie Karl May, auch der römisch-katholischen 
Kirche nützliche, gern gesehene Dienste erweisen. 

X. Auch die Schweiz rüstet sich zum Kampf gegen die Schund- und Schmutz- 
büoher, die — wio der Verfasser der ersten Arbeit leider mit Recht sagen kann — 
»das Licht der Welt erblicken ... in den großen Kolportage-Buchhandlungen Deutsch- 
lands, in Berlin, Dresden, München usw.« (S. 8). Proben und Inhaltsangaben werden 
mitgeteilt Eingehend beschäftigt sich Sch. dann mit den Kinematographen. In 
Basel bezahlt ein derartiger Betrieb jährlich 15000 Franken Miete; daraus kann man 



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C. Literatur. 



317 



auf die Einnahmen schließen! Die Vorschläge zur Bekämpfung des Schmutzes in 
Wort und Bild, die Sch. macht, sind recht praktisch und beachtenswert. — Gleich 
gründlich wie die erste Arbeit ist auch die zweite. Sie bringt weitere Vorschläge 
zu positiver Arbeit, namentlich für die Schaffung von Lesestuben, Regiments-, 
Gefängnis-, Kranken- und Volksbibliotheken unter steter Berücksichtigung aller ge- 
gebenen Anknüpfungspunkte. Wenn die beiden Arbeiten auch vorwiegend für die 
Schweiz bestimmt sind, so verdienen sie doch weit darüber hinaus beachtet zu 
werden, zumal in ihnen namentlich deutsche Verhältnisse mannigfache Erwähnung 
fanden. Dr. Karl Wilker. 

Neter, Eugen, Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. 
Beitrage zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 70. Langensalza, Hermann 
Beyer & Söhne (Beyer k Mann), 1910. 22 S. Preis 0,40 M. 

Daß die Erziehungsverhältnisse heute weit nachteiliger und verheerender auf 
die Schuljugend einwirken sollen als vor 50 und noch mehr Jahren — wie kommt 
das? Das ist die Frage, aus der heraus diese kleine Arbeit geschrieben ist Und 
die Antwort betrifft nicht eigentlich das Erziehungssystem, sondern sie lautet: 
»Unsere heutige Schuljugend besitzt nicht mehr das robuste Nervensystem und die 
widerstandsfähige Psyche wie in früheren Zeiten« (S. 9). Dafür die Gründe aufzu- 
suchen, bemüht sioh der Arzt Dr. Neter, dem ja Schule und Haus gleich nahestehen. 
Er sucht durchaus nicht die Schule von aller Schuld rein zu waschen, er sucht 
gerecht gegen sie wie gegen das Elternhaus zu sein. Der geringe Einfluß des 
heutigen Familienlebens auf die Charakterbildung, eine pessimistische Lebens- 
auffassung, Verweichlichung der Jugend in allen Volksschichten, mangelnde Willens- 
bildung und Selbstzucht, elterliche Eitelkeit mit allen möglichen Auswüchsen, 
mangelndes Vertrauen der Kinder zu ihren Lehrern (und fügen wir hinzu oft genug 
auch zu ihren Eltern!), die Schmutz- und Schundlektüre in allen ihren Varianten 
— alle diese Punkte müssen für die Beurteilung des Selbstmordes im jugend- 
lichen Alter in Erwägung gezogen werden. Und doch ist es »unmöglich, auch nur 
annähernd die den Schülerselbstmorden zugrunde liegenden Ursachen zu erkennen« 
(S. 20). Oftmals löst dann die Schule den Selbstmord aus. Die disponierenden 
Ursachen sieht Net er in der Veranlagung, im Milieu, in der Erziehung. — Auf- 
fallend ist es, daß der Verfasser über eins fast hinwegsieht Wohl findet sich auf 
S. 19 der Satz: »Manchmal erfolgte auch die Katastrophe im Anschluß an Alkohol- 
exzesse oder unter dem verderblichen Einfluß einer frühzeitigen Nachahmung 
studentischen Verbindungslebens.« Sonst aber ist über dieses Grundübel — um ein 
solches handelt es sich — nichts gesagt, wie in der überwiegenden Mehrzahl der 
früheren Arbeiten (Neters Verzeichnis ist nicht ganz vollständig) auoh. Und dooh 
hat Trüper in dieser Zeitschrift 1 ) bei der Besprechung von Gurlitts Schrift 
»Schülerselbstmorde« mit allem Nachdruck schon auf das Übersehen des 
Alkoholmißbrauchs bei Schülern und Lehrern hingewiesen und erklart: »Mir sind 
hunderte von psychopathischen Kindern durch die Hände gegangen, und wir haben 
doch noch keinen Selbstmordversuch erlebt, und wenn ich einmal eins mit Selbst- 
mordgedanken bekam, so sind sie doch allmählich von selber verschwunden. Wir 
leben enthaltsam, die Schüler der höheren Schulen, nicht selten unter Führung von 
Lehrern, pflegen nach wie vor den Alkoholmißbrauch, so erfreulich es auch ist daß 
endlich auch hier die Antialkoholbewegung einsetzt. Ich habe bereits mehrfach auf 

') Jg. XIV, 1908, S. 75-86. 



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348 C. Liteiatur. 



diese Ursachen hingewiesen. Man hat diesem Umstände aber allgemein viel zu 
wenig Beachtung geschenkt« (8. 79). Und zwei Seiten später äußert Trüper sein 
gerechtes Erstaunen darüber, daß auch in der offiziellen Statistik gar keine Rede 
ist vom Alkoholmißbraach der Eltern und der jugendlichen Selbstmörder, und weist 
darauf hin, daß der Alkohol auch noch eine größere Rolle spiele, als das Eulen- 
burg in seiner Arbeit über =S<:hülerseIbstmorde« andeutet — Gleichzeitig mit 
Trüper und von ihm unabhängig habe auch ich') betont, daß ein Zusammenhang 
zwischen Alkohol und Kinderselbstmorden bestehe, in der Weise, daß als ihr erstes 
prädisponierendes Moment die jugendliche Frühreife in Betracht komme, 
»die freilich ihre wesentlichen Grundlagen im Alkoholgenuß hat«. Selbst- 
morde als Folgen von Alkoholexzessen kommen auch vor, aber gar nicht genug 
kann immer wieder darauf hingewiesen werden, daß der Alkoholismus mit allem, 
was drum und dran hangt, es ist, der vielleicht die Hauptschuld trägt an den jugend- 
lichen Selbstmorden. Nicht allein, weil wir in der Neterschen Arbeit ein näheres 
Eingehen auf diesen äußerst wichtigen Punkt vermissen, sondern weil er in fast 
allen Broschüren und Arbeiten höchstens kurz angedeutet ist, halten wir es für 
angebracht, hier noch einmal mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen. Ein Grund 
zum Verschweigen liegt doch allerhöchstens in irgendwelcher Rücksicht auf das 
Alkoholkapital, dem gegenüber die Wissenschaft doch frei sein sollte ! 

Es mag endlich noch erwähnt sein, daß das statistische Jahrbuch für den 
preußischen Staat für das Jahr 1907 unter 7643 Selbstmördern 62, für 1908 unter 
8231 Selbstmördern 95 im Alter bis zu 15 Jahren aufführt, das heißt 0,81% und 
l,15°/ 0 aller Selbstmörder in Preußen standen im jugendliehen Alter, eine geringe, 
aber doch eine bedauernswerte Zahl. Im übrigen sei auf die Statistiken verwiesen, 
die Neter auf Seite 6 seiner Arbeit anführt. Dr. Karl Wilker. 

Budde. Gerhard, Schülerselbstmorde. 59 S. Hannover, Verlag von Dr. 
Max Jänecke, 1908. Preis 1 M. 

Während Neter in seiner oben von uns besprochenen Arbeit als Mediziner 
den Ursachen des jugendlichen Selbstmordes nachgeht, so Budde als Lehrer, 
hauptsächlich in der Absicht zu zeigen, daß die Schule nicht allein die Schuld an 
dieser traurigen Erscheinung trägt. Die Ideen, die er über das Schullebeu vorträgt, 
sind auch den Lesern dieser Zeitschrift nicht mehr ganz neu, denn sie finden sich 
auch in der Schrift desselben Verfassers »Mehr Freude an der Schule!«, über 
die Dr. med. Alb. Feuchtwanger eine ausführliche Mitteilung veröffentlichte'), 
auf die wir hier verweisen möchten. Was über Extemporalien, Zensuren, Rang- 
ordnung, Versetzungen gesagt ist, verdient unter Eltern wie Lehrern gleiche Be- 
achtung. Die Abiturientenprüfung soll zwar nicht abgeschafft, aber reformiert 
werden. Man kann darüber anderer Ansicht sein.») Eine vorzügliche Behandlung 
wird dem Verhältnis von Lehrer und Schüler zueinander zuteil. Der ganze von 
der Schule handelnde Abschnitt enthält eigentlich nur prophylaktische Maßnahmen 
gegen die Verhältnisse, die zum Schülerselbstmord führen können. Er übertrifft 
nach Umfang und Gehalt die vorhergehenden, deren erster die erbliche Belastung 
als Ursache des Selbstmordes Jugendlicher beleuchtet. Diese freilich in einem 

») Karl Wilker, Die Bedeutung und Stellung der Alkoholfrage in der Er- 
ziehungs-Schule. München 1909. S. 17. 

*) Jg. XIV, 1909, Heft 7, S. 207—211. 

a ) Vgl. unsere Mitteilung in Heft 8, S. 248-251. 



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C. Literatur. 



349 



»engen Zusammenhang mit der materialistischen Lebensauffassung und Lebensführung, 
die in den siebziger Jahren des XIX. Jahrhunderts begann« (S. 12) stehend sehen 
zu wollen, mutet uns etwas gewagt an. Erschöpfend hat Budde dieses schwierige 
Problem nicht behandelt, leider kaum mehr als gestreift Sehr wohltuend berühren 
die Schilderungen der erzieherischen Verfehlungen im Elternhause und des falschen 
elterlichen Ehrgeizes; beiden fällt ein nicht geringer Teü der Schuld an den »Schüler- 
selbstmorden« zu. 

Am wenigsten genügt unseren Anforderungen das Kapitel über die Lebens- 
weise der Kinder. Feilich wird auf alle in Betracht kommenden Momente hin- 
gewiesen : Vergnügungssucht Schundlektüre, Pri vat-(Musik-) unterzieht Prostitution usw. 
— auch auf den Alkoholismus, aber auf diesen in einer Weise, die wir nicht 
billigen können. Es heißt: »Man kann vernünftigerweise nichts dagegen einzuwenden 
haben, daß junge Leute im Alter von 16—19 oder 20 Jahren sich gelegentlich bei 
einem Glase Bier zusammenfinden« (S. 25). Selbst die Müßigkcitsbestrebungen, 
denen Budde gewiß zustimmt, haben jetzt wiederholt Abstinenz für die ganze 
Jugend, also mindestens bis zum 20. Jahre gefordert Und doch dieses Zugeständnis, 
das fast anmutet wie ein Einverständnis mit dem Ausdehnen deutscher Bierbank- 
politik schon auf die Jugend? Die Abstinenz ist nach Budde immerhin berechtigt 
als »Reaktion gegen einen weit verbreiteten Alkoholmißbrauch«. »Wer nicht mit 
Maß zu trinken vermag, kann nichts Besseres tun, als sich dieser Bewegung anzu- 
schließen. Mäßige Naturen, auch die im Jünglingsalter, darf man wohl ohne 
Schaden (?) ihr Glas Bier trinken lassen.« Darüber wollen wir hier gar nicht weiter 
rechten, obwohl wir dem nicht zustimmen können. Aber sehr bedenklich will uns 
der folgende Satz erscheinen: »Man braucht meiner Meinung nach nicht einmal in 
Entsetzen zu geraten, wenn die Jünglinge in vereinzelten Fällen, bei besonderen 
festlichen Gelegenheiten (bei Abiturientenkneipen?), auch einmal einen über den 
Durst trinken . . . .« Wenn man das den Schülern zugesteht, dann hilft aller Kampf 
gegen den Alkoholismus gar nichts, und dieser Kampf ist letzten Endes mehr als 
bloße »philisterhafte Schwarzseherei«: es handelt sioh um eine nationale Aufgabe, 
über die wir Pädagogen uns vollkommen klar sein müssen. Wir verstehen Budde 
hier um so weniger, da er zwei Seiten später ausführlich über die Gefahren der 
Großstadt in Venere spricht, die oft genug dem nur einmal angeheiterten (nicht 
dem total betrunkenen!) Schüler drohen. Infektion und Selbstmord bezeichnet 
Budde selbst als ihre Folgen. Aber wollen wir noch nicht einmal soweit gehen: 
bleibt es bei dem einen gestatteten Rausch? und kann er nicht etwa auf irgend eine 
Weise zum Selbstmord führen? Auf das letztere macht sogar Neter aufmerksam, 
bei dem wir schon darauf hinwiesen, daß der Alkoholismus als ein wesentliches 
Moment bei der Feststellung der Ursachen jugendlichen Selbstmordes nicht über- 
sehen oder zu gering eingeschätzt werden darf. Wir halten es für unsere Pflicht, 
hier nochmal nachdrücklich darauf zu verweisen, besonders, da wir die Budde sehe 
Arbeit hierin völlig versagen sehen, wohl weil ihr Autor, wie das leider oft vor- 
kommt, selbst als Pädagog ein Studium der Alkoholfrage, und wär's nur im geringsten 
Maße, bisher noch unnötig fand. Aber: umgehen läßt es sich nicht, am wenigsten 
zur richtigen Beurteilung jugendlicher Selbstmorde! Dr. Karl Wilker. 

Krukenberg, Elsbeth, Jugenderziehung und Volkswohlfahrt. VII und 
341 S. Tübingen, Vertag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1909. Preis geh. 
4,80 M, geb. 6 M. 

.... wie der Einzelne, wie auch eine größere Gemeinschaft eingreifen kann, 



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350 



C. Literatur. 



um rechtzeitig — vorbeugend, aufklärend, erziehend — zu wirken, das sollen die 
zu einem Band zusammengefügten Vortrage und Aufsitze zeigen.« Und weiter: 
»Auf das Einwirken durch die Familie ist dabei besonderer Wert gelegt« Durch 
diese Worte der Verfasserin wird der Zweck, das Ziel des Buches klar dargelegt 
Die Familie als erste Erzieherin, die sie doch sein sollte, ist in allen Betrachtungen 
in den Vordergrund gerückt Von der Schule wird mit ruhiger Objektivität ge- 
sprochen, wo von ihr geredet werden mufite. Das ist nicht an gar zu vielen Stellen, 
da es sich im wesentlichen um die Erziehung unserer schulentlassenen Knaben und 
vor allem Madchen handelt Gefahren werden aufgedeckt ihre Gründe so tief wie 
möglich verfolgt, Vorbeugungsmafiregeln werden vorgeschlagen, denn durch alle Auf- 
sätze spürt man dieses Motiv: vorbeugen ist besser und auch leichter denn heilen. 
Nicht das Haus oder die Schule allein, beide gemeinsam sollen handeln. Verlangt 
wird hauswirtschaftliche Bildung, Einführung in die Erzieherpflichten, Erweckung 
sozialer Interessen für die Mädchen. Am wichtigsten ist für uns der vorletzte Auf- 
satz: »Vorbeugende Wohlfahrtspflege.« Er gibt einen knappen Überblick 
über Säuglingsfürsorge, Jugendfürsorge; über Bestrebungen, Mütter und Lehrerinnen 
an den Schulkommissionen teilnehmen zu lassen, schulhygienische Maßnahmen in 
den Mädchenschulen zu vermehren, Schulärztinnen einzuführen usw. nebst mannig- 
fachen Anregungen. Der Schulärztin soll auch der Unterricht in Gesundheitslehre 
übertragen werden, unter besonderer Berücksichtigung der «Aufklärung über 
die Folgen des Alkoholmißbrauches« (S. 239). loh hätte lieber den 
klareren Auadruck Alkohol gebrauch an dieser Stelle gesehen, begrüße aber diese 
Forderung an sich schon, da ich immer wieder darauf hinweisen muß, daß unter 
unseren Schulmädchen die Zahl der Trinkerinnen um 2— 4\ die der Trinker über- 
trifft, also nicht allein, weil der Einfluß der in den Schulen heranwachsenden Mütter 
als Bildnerinnen kommender Generationen in der Erziehung nicht zu gering ver- 
anschlagt werden darf, wie K. ihre Forderung begründet (S. 239). Hervorgehoben 
mag hier auch noch der Gedanke werden, daß der für unsere Kinder so verderb- 
liche Handel mit Schokoladen - Schnapsbonbons gleich dem Kleinhandel mit Alkohol 
konzessionspfliohtig gemacht werden sollte. In diesem Zusammenhange sei darauf 
hingewiesen, daß die Alkoholfrage einseitig beurteilt und erläutert ist (vom Stand- 
punkt des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke aus), daß das 
Gemeindebestimmungsrecht nicht ganz gewürdigt ist, daß ferner die Angaben über 
Wandervogel -Vereine, Jugendlesezimmer und Heilerziehungsheime nicht ganz voll- 
ständig sind — kleine Ausstellungen, die den Wert des Buches in nichts herabsetzen 
wollen und sollen. — Zwei Aufsätze handeln von »sexueller Aufklärungsarbeit« 
(hinsichtlich des Ausdrucks muß ich auf Trüpers Bemerkung in dieser Zeitschrift 
XV, S. 52 und auf die meine XV, Heft ? hinweisen). Die Frage nach dem Wann? 
findet ihre Lösung dahin: '»Ich bin für ein Aufklären der Jugend von den ersten 
Kindesjahren an, d. h. ich halte es für richtig, nicht erst falsche Vorstellungen in 
das Kind hineinzupflanzen und sie festwurzeln zu lassen« (S. 144). Die Schule soll 
nur da eintreten, wo das Elternhaus versagt (S. 172), dabei muß es sich weiterhin 
immer darum handeln, die Gedanken des Kindes von sexuellen Dingen abzulenken, 
nie sie zu ihnen hinzulenken. Willenszucht wird gewollt »damit ein gesundes, rein 
empfindendes Geschlecht heranwachse, das — in reinen sexuellen Verhältnissen 
lebend — eine gesunde neue Generation ins Leben zu erwecken imstande ist« 
(S. 203), im Gegensatz zu Fr. W. Förster, der die Willensaskese als Selbstzweck 
will. Die Gründe des vorzeitigen Erwachens sexueller Triebe, die zur Prostitution 
führen, sind wohl vollständig, soweit das möglich ist, erörtert: Wohnungselend, 



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C. Literatur. 



3f,l 



Lohnverhältnisse, anpassende Ernährung, Schundlektüre . Kinematographenwesen, 
Animierkneipen usw. 

Im Anhang findet man ein Verzeichnis der sozialen Frauenschulen nebst An- 
gabe des Lehrplans, der Ziele, der Karsdauer, der Aufnahmebedingungen und Adressen. 
Dadurch gewinnt das Buch an Wert für alle die, die der sozialen Arbeit Interesse 
entgegenbringen, insbesondere aber für Frauen und Mädchen, die geneigt sind, mit- 
zuwirken und sich auszubilden für die große Arbeit der Jugend- und Volkserziehung 
im weitesten 8inne. Dr. Karl Wilker. 

Eingegangene Schriften. 

Gesetz aber die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 nebst Aus- 
führangsbestimmungen vom 18. Dezember 1900. Langensalza, Hermann Beyer 
k Söhne (Beyer k Mann), 1910. 35 8. Preis 25 Pf. 

Zeitschrift für Kinderpflege, Jagenderziehung und Frauenwohl von Kinderarzt Dr. 
Eugen Neter. Berlin V, Brandussche Verlagshandlung, 1910. IV. Jahrgang. 
Preis jährlich <80 M. 

Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege u. Kinderschatz. Korrespondenz- 
blatt der Schweiz. Gesellschaft f. Sohulgesundheiispflego. Beilage zur Schweize- 
rischen Lehrerzeitung. VII. Jahrgang 1909. VIII. Jahrgang 1910. Direkter 
Jahresabonnementspreis 2 Fr. 

Zeitschrift für Jugendwohlfahrt im Auftrage der Deutschen Zentrale für Jugend- 
fürsorge herausgegeben von Dr. Lindenau, Regierungsrat. Leipzig u. Berlin, 
Verlag B. G. Teubner. Jährlich 12 Hefte zu je drei Druckbogen. I. Jahrgang 

1909. Preis für den Jahrgang 12 M. 

Zeitschrift für Jagendwohlfahrt, Jugendbildung und Jugendkunde, Der Säemann. 

Ebenda. Jahrgang 1910. Preis vierteljärlich 2 M. 
Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. Begründet von 

F. Kemsies, herausgegeben von M. Brahn, G. Deuobler, 0. Scheibner. 

Leipzig, Verlag von Quelle k Meyer. 11. Jahrgang. Preis Jahrgang 10 M. 
Eos, Vierteljahrsschrift für die Erkenntnis und Behandlung jugendlicher Abnormer. 

Wien u. Leipzig, Verlag von Karl Gräser k Co. 6. Jahrgang. Preis Jahrgang 

12 K = 10 M. 

American Phyaical Edacation Review. James Huff Mc Curdy, M. D. Editor for the 
American Physical Edacation Association. Vol. XV. 1910. Prioe 50 cents per 
annom. 

Archives de Psychologie publiees par Th. Flournoy et Ed. Claparede. Geneve, 
Librairie Kündig, 1910. Prix 15 Fr. 

Der heilige Garten, Beiträge zur Erforschung der Kindheit, in Verbindung mit dem 
Archiv für Altersmundarten u. 8prechsprache herausgegeben von Carl Rötger 
u. Theodor Scheffer. Leipzig, Verlag von K. G. Th. Scheffer. 5. Jahrgang 

1910. Halbjahrespreis 2 M. 

The School Review. The üniversity of Chicago Press. Edited by the Department 
of Philosophy and Edacation in the üniversity of Chicago. Vol. XVII, 1909. 
Vol. XVIII, 1910. 

El Monitor de la EducarJon Comun. Organo del Consejo Nacional de Edacation. 

Director: Alberto Julian Martinez. Buenos Aires. Jg. 28, 1909. Jg. 29, 1910. 

Inland: 6 $ jährlich, Aaslaad 20 Fr. 
Troll, Max, Das erste 8chuljahr. Ebenda 1910. Preis 3 M. 
Ders., Freie Kinderaufsätze. Ebenda 1909. Preis 1,60 M. 



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352 



C. Literatur. 



Rothenpieler, Wilhelm, Präparationen zu deutschen Prosastücken. 1. Heft 
Ebenda 1909. Preis 3 M. 

Die Poesie in der Volksschule. Deutsche Dichtungen für den Schulgebrauch er» 
läutert von K. Eberhardt. Ebenda 1909. Preis 1,60 M. 

Schäfer, Outav, Kirchengeschichte. Der Entwicklungsgang der Kirche Jesu Chrisü 

in Umrissen und Ausführungen. Ebenda 1910. Preis 2,80 M, geb. 3,80 Ii- 
Bauer, 0., Israelitische Schriftpropheten. Hilfsbüchlein für den evangelisch-christ- 
lichen Religions-Unterricht Ebenda 1909. 

Mann, Friedrich, Kleine Geographie für die Hand der Schüler in Volks- und 
Mittelschulen. Ebenda 1910. 

Methodisches Handbuch für den erdkundlichen Unterricht in der Volks-, Bürger- 
und Mittelschule. Bearbeitet von Richard Fritzsche. I. Teil: Das Deutsche 
Reich. Ebenda 1909. Preis brosch. 4 : 50 M, geb. 5,70 M. 

Kühn, Hugo, Quellen und quellenmäßige Berichte aus Thüringen zur Belebung 
und Ergänzung des Geschichtsunterrichts. Ebenda 1910. Preis 4 M. 

Das Modellieren. Eine Anleitung für Eltern und Erzieher von Albert Reimann. 
Berlin W. 30, Verlag Kunstwerkzeuge, G. m. b. H. Schule Reimann. 

Grimm, Ed., Technischer Unterricht. Lehr- und Modellgang für ländliche Schüler- 
werkstätten und landwirtschaftliche Schulen. Leipzig, Druck und Verlag von 
Frankenstein & Wagner, 1909. Preis 1,50 M. 
Deutsche Jugendbücherei, herausgegeben von den vereinigten Prüfungsausschüssen 
für Jugendschriften. Berlin W. 9 u. Leipzig, Hurmann Hillger Verlag. Preis 
pro Band 0,10 M. 

Frisch, Lesebuch für Soldaten und solche, die es werden wollen. Leipzig, Verlag 
von K. G. Th. Scheffer. Preis 1 M. 

Otto, Berthold, Die Sage vom Dr. Heinrich Faust Ebenda. Preis kart. 3 M, 
in Orig.-Lbd. geb. 4 M. 

Hammars tröm, Nauny, Die Abenteuer zweier Ameisen. München, Etzold k Co. 

»Unser Leben« und »Musik«, der Lebensfreude 3. u. 4. Band. Köln, P. J. Tonger. 
Preis je 1 M. 

Schiller, mein Begleiter. Ebenda. Preis 1 M. 

Kalender 1910, herausgegeben vom Berliner Tierschutz-Verein. 

Tierschutz -Korrespondenz, herausgeg. vom Berliner Tierschutz- Verein, Berlin SW, 
Königgrätzer Straße 4 1/42. (Erscheint viermal jährlich und wird an 7000 Zeitungen 
in Deutschland, Österreich, in der Schweiz, in Amerika und Rußland versandt, 
enthält auch für die Jugendkunde manches Beachtenswerte.) 

Wöllner, Anleitung zur hauswirtschaftlichen Buchführung nebst Übungsheft 
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1910. 

Hesse, E., u. Breternitz, B., Einführung in die Praxis der doppelten Buch- 
führung. Ebenda 1909. 

Dies., Die kaufmännische Korrespondenz IL Ebenda 1909. 

"Wrege, Ferdinand, Der praktische Rechner für Schule, Kontor und Privat- 
gebrauch. Prenzlau, Druck u. Verlag von A. Mieck Verlagsbuchh., G. m. b. H. 

D'ham, Dr. phil. Otto, Aus der Mappe eines Schulaufsichtsbeamten. Langensalz*. 
Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1909. Preis 1,20 M. 

(Forts, folgt.) 



Druck von Hermann Bayer 1c Sohne (Boy« Si Mann) in Langen«! 7« 

i 



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Zur Nachricht. 

Da eine dem Herausgeber in die Ferien nach Brüssel gesandte 
Korrektor mit Manuskript nicht angekommen ist, so mußte die be- 
treffende Abhandlung zurückgestellt und eine andere neu gesetzt 
werden. Die Leser wollen darum die verspätete Ausgabe entschuldigen. 



1. Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. 1 ) 

Von 

J. Delitsch. 
1. Kindervergehen und Erziehung. 

Manchen Eltern fehlt die Zeit zur Kindererziehung, nicht bloß 
den einfachen, armen, fleißigen Fabrikarbeitern und Arbeiterinnen, 
den Tagelöhnern und Scheuerfrauen, auch den vornehmen tatkräftigen 
Männern, die ihre ganze Person einsetzen in die Erfüllung eines Be- 
rufes, auch den Löwen des Tages mit ihren tausenderlei gesellschaft- 
lichen Verpflichtungen. Die deutschen Mütter sind, Gott sei Dank, 
ihren Mutterpflichten noch nicht so entfremdet, wie Schwarzseher 
behaupten. Aber immer weckt es in jedem Kinder- und Volksfreunde 
tiefes Bangen, wenn er wahrnimmt, wie mit der Versäumnis der 
Elternpflichten Verständnis und Neigung, sie zu erfüllen schwinden. 



M Zwei Kapitel aus Heft 75 der Beiträge zur Kinderforschung und Heil- 
erziehung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Preis 60 Pf. 

7, «t«hiift Hb Kmdarforachunt. XV. Jahrptn«. 23 



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354 



A. Abhandlungen. 



Die Kinder entfremden ihren vielgeschäftigten Eltern, die oft un- 
ermüdlich daß Erbe häufen — für ihr unerzogenes, verwöhntes, im 
Niedergang begriffenes Geschlecht 

Die Dame klagt, wenn sich meine Kleinen nur selbst beschäftigen 
wollten! Sie haben so viel und so teures Spielzeug und immer kommen 
sie und fragen mich, was sollen wir spielen. Der Hausherr empört 
sich abends über die Mitteilungen der Vergehen seiner Rangen, 
wähnt sich persönlich beschimpft, verhängt peinliche Strafen, alles 
kurzer Hand, um seinen Abendausgang nicht einzubüßen. — Ja, ahnen 
denn selbst hochgebildete Eltern gar nicht, welche hohe Freuden ver- 
ständnisvolle Beobachtung und Beeinflussung kindlicher Entwicklung 
in unsagbarer Fülle darbieten? — Ich meine nicht das laxe Kosen 
sinnlicher Eltern, nicht das läppische Herabsteigen Erwachsener zum 
Kinde. Das bestrafte Kind ist wahrlich anhänglicher als das um- 
schmeichelte. Aber was für eine Elternseligkeit, die keusche Blüte 
Kind sich entfalten zu sehen, ihr Licht und Leben zu geben, sie im 
Wetter beständig zu finden, sie vor Feinden, vor Frost und Sturm zu 
schützen. Freilich geht bei der Kindererziehung nicht alles glatt ab; 
bange Sorge, selbst durchwachte Nächte fehlen nicht, sind aber nur 
der Schatten, der wirksame Hintergrund für die lichten Erzieher- 
freuden. 

Ein sehr trübes Kapitel ist das über beschränkte Eltern. Der 
Vater ist taubstumm, die Mutter sehr schwachbegabt Beide finden 
schwer einen Erwerb, nur vorübergehend, denn solche Leute be- 
schäftigt man nur im Notfalle. Jedes Jahr bringt der Familie ein 
neues Kind. Wohnung, Kleidung und Nahrung der Familie sind 
minderwertig. Es stirbt ein Kind, die anderen verelenden. Rachitisch, 
blutarm und aller geistigen Anregung bar laufen sie apathisch durch 
die Kindheit und die Schule, landen in einer Schwachsinnigenanstalt. 
Ist es zudem ein Wunder, wenn der arbeitslose Vater von seinem 
Lebenselende ins Wirtshaus getrieben wird? — Gibt es viele be- 
schränkte Eltern in Deutschland ? Dürften wir doch diese Frage ver- 
neinen. Die Begabung der Kinder erlaubt einen Analogieschluß auf 
die der Eltern. 2% aller deutschen Volksschüler gehören in Hilfe- 
schulen, Schwachsinnigen- oder Idiotenanstalten. Mindestens 25% der 
Volksschüler erreichen das Bildungsziel ihrer Schule nicht Rechnen 
wir dazu noch die, welche in späteren Jahren durch sexuelle Aus- 
schweifungen, Tabak- und Alkoholgenuß ihre Begabung selbst ver- 
mindern und die, deren Geist später durch Gehirnkrankheit zerrüttet 
wird, so dürften wir mit der Behauptung nicht zu hoch gehen, daß 
über ein Drittel aller Eltern in Deutschland unter Mittel begabt, 



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Ddjtseh: Ursachen der Verwahrlosung Jagendlicher. 



355 



wenn nicht ganz beschränkt sind Dabei zählten wir die Sinnes- 
defekte noch nicht einmal mit Und wir wissen doch, wie gerade 
blinde und taube Eltern ihrer Erziehungsaufgabe keinesfalls 
gewachsen sind. Die erschreckend hohe Zahl findet ihre Haupt- 
ursache in der in Deutschland unheimlich verbreiteten englischen 
Krankheit. 

Vermöchten doch meine Worte den offenen, energischen Kampf 
wider diese Geißel unseres Volkes zu entfachen, deren Ursachen und 
pathologischen Vorgänge noch nicht einmal genügend erforscht sind 
und deren Behandlung noch ganz im Argen liegt (Gründung eines 
Reichskrankenhauses für rachitische Kinder ist deshalb eine brennende 
Aufgabe der Gegenwart) Wir machen energisch Front gegen die 
Tuberkulose; nun — Rachititis versteift und verengt den Brustkorb 
in der Entwicklung, hindert die Lungenentfaltung. Tausende der 
Rachitiker werden deshalb schwindsüchtig. Wir empfehlen gute 
Zahnpflege für Erhaltung der Gesundheit — ist es wirklich unbekannt, 
daß Rachitis die Entwicklung der ersten Zähne verzögert und zer- 
stört? — Dr. Meltzer, der ehemalige Bezirksarzt der großen Schwach- 
sinnigenanstalt zu Chemnitz- Altendorf bekräftigt: Rachitis wirkt als 
Hauptfaktor bei der Entstehung des Schwachsinns. — Wieviel leichter 
und aussichtsvoller ist es, durch rechtzeitige Behandlung der Rachitis 
den Schwachsinn zu verhüten, als ihn durch pädagogische Behand- 
lung zu mindern! — Noch schlimmer sind nicht selten die Leibes- 
schäden der Rachitis. Vor mir stand unlängst ein durch englische 
Krankheit verelendetes Geschöpf von 5 Jahren, das nur 20 Pfd. wog. 
Auch die meisten Krüppel danken ihr Gebrechen der Rachitis. — 
Trotz dieser offenkundigen Schädigungen dieser Seuche, die unser 
Volk schwächt, verkrüppelt und verdummt, sind den Müttern die 
Frühsymptome der englischen Krankheit ihrer Kinder fremd. Die 
Mütter erkennen die Krankheit erst, wenn sie fast abgelaufen und 
ihre Folgen also nicht mehr abzuwenden sind. Die Plauener Jugend- 
fürsorge machte den ersten Versuch, hier rechtzeitig aufzuklären. 
Man mag unser Merkblatt verbreiten oder nicht, tut eine Gemeinde- 
behörde aber gar nichts für Aufklärung der Mütter über die Rachitis, 
so befleißigt sie sich einer sehr törichten Sparsamkeit. Man blicke 
doch den Eckenstehern, Vagabunden, Säufern, Dieben und Verbrechern 
ins Gesicht, man gewinne Verständnis für ihre rachitischen Schädel. 
Sie reden für den Einsichtsvollen eine beredte Sprache. Lombrosos 
Theorie erscheint auf dieser Folie im besonderen Lichte. — Wie viele 
beschränkte Mütter Pflege und Erziehung ihrer Kinder verabsäumen, 
davon können Ärzte und Lehrer ein Klagelied singen, das ebenso 

23* 

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356 



A. Abhandlangen. 



eintönig wie endlos ist Beschränkte Mütter vergessen die Hälfte der 
guten Ratschläge, wenden sie verkehrt an und lassen sehr schnell 
alles gehen, wie es geht Und solche Eltern sollen Pfleger und Vor- 
mund, Lehrer und Arzt, Staatsanwalt, Jugendrichter und Fürsorger 
für bessere Erziehung ihrer Kinder gewinnen. Denn Beschränktheit 
der Eltern und Vergehen der Kinder, wie innig hängen sie doch zu- 
sammen. — Ein böses Hemmnis für Erziehung ist auch die Nervosität 
der Eltern. Nervöse Apathie der Mutter kältet, nervöse Gereiztheit 
erbittert des Kindes Herz. Es fehlt dann auch an ruhevoller Über- 
legenheit des Erziehers über den Zögling. Was für eine Last sind 
nervöse Lehrer für ihre Schüler ! Hier wie dort entgeht den Kindern 
natürliche Autorität, die bei ihnen ja lange das autonome Gewissen 
ersetzen müßte. 

Weit weher schneiden doch andere Verhältnisse in die Herzen 
der Kilver ein. Wer könnte das Wimmern von Kindern ohne Grauen 
hören, deren trunkener Vater die Mutter prügelt. Trunkene Männer 
sind meist tierisch. Der eine zwingt die Mutter vor den Kindern 
zu nacktem Tanz, der andere zum Zeugungsakt, der dritte tättowiert 
seine Frau, der vierte bedroht sie mit dem Beile, vor dem die ge- 
ängstete sich mit wagehalsigem Sprunge in das schnell vom Nachbar 
geöffnete Fenster der Nachbarstube rettet — Wie die ganze Familie 
auf den Tritt des Heimkehrenden lauscht! Mutter und erwachsene 
Kinder trauen sich nicht ins Bett die Nacht wird zum Tag. Und 
wie gemein egoistisch der Säufer wird! Tag und Nacht arbeiteten 
Mutter und Kinder für die Wohnungsmiete. Johlend raubt der 
Vater das Spargeld und vertrinkt es in einer Nacht Mitleidige 
I.<eiite brachten den bedauernswerten Angehörigen Mittagessen und 
Säuglingsmilch. Hohnlachend vertilgte der Vater alles vor den 
hungernden Seinen. Dann prügelte er sein Weib. Wie sie es wagen 

könne, gegen andere zu klagen. Der armen Frau war nicht 

zu helfen. Scheiden lassen? Der Mann gab sie nicht los, und er 
war gewalttätig. Solche Familien sind morsche Bausteine des Volkes 
und Reiches. Seltsamer- nein natürlicherweise sinkt in den Trinker- 
familien oft auch die Frau. Ihre Sparsamkeit, ihre Ordnungsliebe, 
ihr Fleiß, ihre Geduld, ihr Edelmut — alles nutzt nichts, und Hunger 
tut weh. Sie nimmt auch unehrlich Gut, oder geht doch betteln, sie 
hilft Geld vertun, oft beginnt sie auch mit zu trinken. Solche Leute 
scheuen sich auch nicht, bei den Arbeitgebern ihrer Kinder deren 
Lohn im voraus zu erheben und deren Arbeitsstellung dadurch zu 
erschüttern. Hier ist schwer zu helfen. Wir bemühten uns, die 
traurigen Verhältnisse der Familie M. dadurch zu bessern, daß wir 



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Dkuwch: Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. 



357 



die Mutter in ihrem Bestreben unterstützten, von ihrem trunksüchtigen, 
arbeitsscheuen und gewalttätigen Manne loszukommen. Die Frau lief 
mir ja mit ihren Klagen bis in die Nacht das Haus ein. Ich mußte 
für sie eine ganze Anzahl Wege gehen. (Armenamt, Polizeidirektion, 
Hauswirt usw.) Nachdem sich die Gatten wieder vereint, erhielt ich 
folgenden Brief: »Bekümmern Sie sich nicht um mich. Sie haben 
selbst Fehler, so gut, wie ich, Frau M. Mein Mann ist nicht schlecht. 
Ich war selbst daran schuld gewesen. Ich brauche keinen anderen 
Tormund für meine Kinder. Suchen Sie sich einen, wenn sie einen 
brauchen. Lassen Sie die Vormundschaft vor Gericht gehen und 

ziehen meinen Mann nicht immer im Maule herum. Frau M 

Die Sache beruht auf Unwahrheit gegen meinen Mann, was ich 
Ihnen gesagt habe, über der Vormundschaft, weil Sie sagten, sie 
wollten Vormund werden. Ich brauch keinen Vormund, ich nah 
mein Mann. 

Frau Lina M 

nicht geschiedene M 

Robert Bernhard M « 

Was soll man tun? Über den ältesten Sohn, der sich als Jugend- 
licher in einem Jahre 5 Strafanzeigen zuzog, wurde Fürsorgeerziehung 
eingeleitet Mutter M. bettelt und trinkt. Können in der Kinder- 
herzen derartiger Familien edle Keime wurzeln? Und was wird aus 
den Verbrecherkindern? Viel zu selten entzieht man dem Zucht- 
häusler die elterliche Gewalt über seine Kinder. 

Ja, die Entsittlichung der Kinder durch schlechte Eltern! — 
Martha Sch. sagte zu ihrer Freundin : Wenn meine Mutter nicht eine 
so große H. . . . wäre, würde ich anders werden. — Kinder von 
Dieben brauchen sich vor ihren Eltern der eigenen Unehrlichkeit 
nicht zu schämen; welche starke Hemmung unedler Triebe müssen 
sie entbehren. Man fühle das nach. 

Vor dem Strafrichter steht ein flinker, selbstbewußter reueloser 
Junge. Er ist das uneheliehe Kind einer später verehelichten, dann 
verwittweten, wieder verehelichten, dann geschiedenen und nun 
wieder verehelichten Fabrikarbeiterin. Er kennt keine Autorität an, 
das Elternhaus hat ihm auch keine zu bieten. Daher seine frühreife, 
sittenlose Selbstherrlichkeit. — Oder: Eine Mutter zeigt ihren Sohn 
bei der Polizei an; er hatte ihr eine goldene Uhrkette gestohlen, ein 
Angebinde eines Freundes der verheirateten Frau. Der 17jährige 
Junge hatte die Kette seiner Braut geschenkt. — Sexuelle Anreize 
auf Kinder und Jugendliche wirken meist verhängnisvoll. In tausenden 
von Fällen mögen verfrühte Zeugungsaufklärungen zu geschlechtlichen 



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358 



A. Abhandlungen. 



Unarten führen, die auf Jahre hinaus die geistige Entwicklung hemmen 
und oft den Lebenslauf und die Charakterentwicklung auf das un- 
günstigste beeinflussen. Ein Grauen ergreift mich, wenn ich der 

Familie E gedenke. Der Vater unterhielt mit seinen drei 

Töchtern auf dem Lande ein Bordell. Als die Familie des Orts ver- 
wiesen wurde, ließ sie ihre einzige große Bettstelle zurück, weil diese 
nicht mehr transportabel war. In ihr war die alte Mutter gestorben. 
Man ließ das alte Stroh darin und legte eine neue Schütte darauf. 
Es kamen in dem Bett Kinder zur Welt und starben wieder. Immer 
der gleiche Brauch. Schließlich lagen 7 Lagen Mist in der Bettstelle. 
8ie selbst und die Diele unter ihr waren völlig verfault In diesem 
gräßlichen Gestank wuchs meine spätere Schülerin Frida auf. Ihr 
Bewußtsein war davon so umnebelt, daß sie, mit keinem Kinde 
spielend, auf der Straße stand und ohne geblendet zu werden in den 
hellen Sonnenhimmel starrte. Eine unverehelichte Tante nahm sie 
als Wärterin ihrer neugeborenen Zwillinge zu sich. Dasselbe Elend. 
Die Mutter zog dann in die Stadt, um niederzukommen. Wieder 
war die fast verblödete Frida Kinder Wärterin. Wieder lebte sie in 
dem gleichen Schmutze. Endlich gelang es mir, die beiden Kinder 
der Mutter nehmen zu lassen. Die Mutter aber raubte Frida vom 
Schulwege weg. Sie wurde der Pflegemutter polizeilich wieder zu- 
geführt Die Mutter verleitete Frida nun, ihrer Pflegemutter bös- 
willig die Wäsche zu zerschneiden. Jetzt kam Frida in eine Schwach- 
sinnigenanstalt und wurde später unter Aufsicht eines treuen, un- 
ermüdlichen Vormundes Dienstmädchen. Sie sparte sich etwa 100 M. 
Sobald sie mündig war, nahm die Mutter Frida zu sich, vertat ihr 
Spargeld, erlaubte ihr freie Liebe. Frida kam in den nächsten 2 Jahren 
zweimal nieder. Die Kinder verdarben im Elend. 

Z Kinderbettelei. 

An meiner Eltern Tür klopfte einst eine noch junge stattliche 
Frau, deren feine Gesichtszüge die deutlichen Spuren tiefen Grames 
trugen; sie bat für ihre Kinder. Man merkte es ihr an, das Betteln 
fiel ihr sehr schwer, aber sie sandte keines ihrer sieben Kinder, sie 
kam selbst und allein. Sie trug ihr schweres Schicksal wie eine 
Heldin. Ich werde die hochherzige Frau nie vergessen. 

Bettelt aber eine Mutter mit ihren in Lumpen gehüllten Kleinen, 
oder ein Vater mit seiner krüppelhaften Tochter, so offenbart das 
immer einen hohen Grad von Schamlosigkeit. Die Eltern enthüllen 
damit nicht bloß ihre Not, sondern auch ihre Arbeitsscheu, ihre Gleich- 



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Deutsch: Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. 359 



Gültigkeit gegen ihre Erzieheraufgabe, gegen die Zukunft ihrer Kinder 
und das alles vor diesen selbst. Noch häufiger lassen sie ihre Kinder 
allein betteln gehen, also etwas tun, dessen sie sich selbst schämen. 
Ja, sie weisen ihre Kinder sogar oft an: So erbärmlich müßt ihr 
euch stellen, so kläglich müßt ihr reden, die Lügen müßt ihr raachen, 
danüt die Leute viel geben. Und wenn sie nach Namen und Wohnung 
forschen, so gebt eine falsche Adresse an. Gedankenlose Menschen 
geben ihnen gern, und es ist dann ein leichtes für entartete Eltern 
aus gelegentlichem Kinderbettel ein lohnendes Geschäft zu machen. 
Unbedachte Gaben gewöhnen schon kleine Kinder zum Betteln: Ein 
Bettelbrief ersetzt die noch fehlende Redegabe. Je grausigere Not er 
schildert, je geringere Gaben er erfleht (altes, verschimmeltes Brot, 
Semmelbrocken), um so wirksamer erweist er sich. Diese Briefe 
werden wohl erst nur an wohltätige Bekannte gerichtet Das frühere 
Dienstmädchen, die Wasch- oder Scheuerfrauen betteln bei ihren 
ehemaligen Herrschaften; Arbeitgeber, Geistliche, Lehrer und andere 
werden behelligt. Später geht man straßenweise und sehr planmäßig 
vor. Wenn auch allzu vertrauensselige Menschen, die man eigentlich 
gar nicht bedauern darf, sich noch immer so plump täuschen lassen, 
so ist es doch schon jetzt Sitte geworden, sich erst selbst von der Not 
zu überzeugen, oder einen Verein oder die städtische Fürsorgezentrale 
mit der Erkundung zu betrauen. Das ist freilich den Bettelleuten 
unerwünscht Selbst wenn sie das ärmlichste Logis bewohnen und 
ihre Stube auch nichts weiter enthält als einen Stuhl, den der Vater 
für sich beansprucht, einen kleinen Tisch und einen Kinderwagen, 
der bei den häufigen Umzügen als Möbelwagen benutzt wird, höchstens 
noch in der Ecke einen Haufen Lumpen, der das Bett vertritt, ver- 
dirbt doch der Neid der fragwürdigen Mitbewohner des dürftigen 
Hauses das einträgliche Bettelgeschäft Den Fragenden wird die Un- 
würdigkeit der Bettelfamilie grell geschildert, daneben die eigene 
Not ins rechte Licht gestellt Andrerseits fällt den Bettelfamilien 
mit ihrem zum Teil recht guten Einkommen die Rolle der Besitz- 
losen daheim oft recht schwer. Deshalb die Angabe einer falschen 
Adresse. Wie spotten die Leute über die Leichtgläubigkeit ihrer 
Wohltäter! Wo bleibt da die Erziehung der Kinder zur Dankbarkeit, 
Wahrheitsliebe und Arbeitsfreude, zur Scham vor ehrlosem Wandel? 
— Kann man sich den schlechten Einfluß einer solchen Lebensweise 
auf das Kindergemüt und den Kinderwillen überhaupt arg genug 
vorstellen? — 

Noch etwas verschämte Eltern geben ihren Kindern als Vorwand 
zum Betteln fast wertlose Waren (Streichhölzer, Nadeln, Papierblumen, 



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360 



A. Abhandlungen. 



Papierwandteller) zu hausierendem Verkaufe mit; wer die Ware nicht 
begehrt, mag schenken. — Herzlosigkeit verrät es, wenn Eltern ihre 
Kinder an kalten Wintertagen viel zu leicht gekleidet betteln schicken, 
damit ihr erfrorenes Aussehen das Mitleid erwecke. Wer schenkt 
nicht einem hungrigen und halb erfrorenen, weinenden Kinde reichlich? 
— Solche Eltern sind oft durchaus nicht böse, wenn ihr Kind lügt: 
Mein Vater ist tot und meine Mutter sterbenskrank, wenn ich nichts 
heimbringe, müssen wir alle hungernd zu Bette gehen. — Dabei 
häufen sich oft zu Hause Nahrung und Kleider in zwecklosem Maße. 
Die Leute verkaufen von ihrem Überflusse, altes Brot an den kleinen 
Pferdebesitzer, alte Kleider an den Trödler. Das Bettelnsenden der 
Kinder entspringt oft den niedrigsten Motiven. Ein junger Vater, 
der allnächtlich betrunken die steile Bodentreppe emporklomm, sandte 
jeden Morgen sein 6jähriges Töchterlein in die Gaststuben. Es mußte 
Tropfbier betteln, damit sein noch immer halbtrunkener Vater noch 
im Bette seinen Brand stillen konnte. — Ein später mit Zuchthaus 
bestrafter rüstiger Schuhmacher ging mit seiner netten 9 jährigen 
Tochter betteln. Das Kind mußte Haus für Haus abfechten, während 
der Vater an der nächsten Straßenecke wartete. Er nahm das Geld 
entgegen, vertrank es und prügelte dann abends in seiner Trunkenheit 
Frau und Kinder. Als er später eine Zuchthausstrafe verbüßte, ging 
das Mädchen allein betteln und vernaschte das eingenommene Geld 
Wir ertappten es und schließlich hörte es auf unsere Warnungen. 
Wir brachten es in eine kleine Stellung, die es weder zu sehr be- 
lastet, noch vom Unterrichte abhält. Nun ist der Vater wieder im 
Kreise seiner Familie und rechtmäßiger Vertreter seiner Kinder. Was 
wird werden! — 

Ein Blickschuster suchte seinem Geschäfte dadurch aufzuhelfen, 
daß er einen fremden Betteljungen mit sehr zerrissenem Schuhwerk 
und einem Bettelsacke ausstattete. Der Junge sprach die Hausfrauen 
um altes Schuhwerk an, erhielt täglich reichlich und veräußerte es 
an den Auftraggeber. Als der Junge einmal in einer von ihm an- 
gebettelten Familie mit Kaffee und Kuchen bewirtet wurde, stahl er 
drei Taschenuhren. Da brach der Krug entzwei. 



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Rössel: Das AnsdiauuiiL'sbild im Unterrichte abnormer Kinder. 3fi1 



2. Das Anschanungsbild im Unterrichte abnormer 

Kinder. 

Von 

Fr. Rössel, Hamburg. 

Daß der Unterricht abnormer Kinder eine wesentlich andere Gestalt 
haben muß aJs der in Normalschulen, ist eine von den Erkenntnissen, 
deren Ausführung in der Praxis noch auf schwachen Füßen steht Zwar 
ist man allerorten damit beschäftigt, neue Bahnen zu finden, Unterrichts- 
methoden zu suchen, die sich auf richtiger Erkenntnis der Psyche abnormer 
Kinder begi finden, aber es besteht gar kein Zweifel, daß noch sehr oft 
die Unterrichtsweise von Normalschulen einfach übertragen wird, und daß 
man meint, mit einer äußerlichen Beschränkung der Stoffgebiete dem 
Auffassungsvermögen abnormer Kinder Rechnung getragen zu haben. Diese 
Übertragung hat sicherlich schon manchen Schaden angerichtet, und es 
ist auch schon von ärztlicher Seite nachdrücklich vor diesem Verfahren 
gewarnt worden. Prof. Ziehen schreibt 1 ): »Vor allem muß davor ge- 
warnt werden, ohne weiteres die Unterrichtsmethoden, welche sich bei 
normalen Kindern bewährt haben, auf debile Kinder zu übertragen. Eine 
solche Übertragung hat schon bei vielen debilen Kindern großes Unheil 
angerichtete 

Um nun dem Prinzipe der Anschauung, das auch im Unterrichte ab- 
normer Kinder an allererster Stelle steht, gerecht zu werden, werden noch 
häufig Anschauungsbilder dem Unterrichte zugrunde gelegt und als Aus- 
gangspunkt für Betrachtungen genommen. Können dann die Kinder einige 
Satze nachsprechen, so wird dies als Erfolg registriert und darin ein Fort- 
schritt erbliokt. Sieht man aber genauer zu, so kann man nur finden, 
daß ein Stück Verbalismus getrieben worden ist. Auch hier kann ein 
Wort Ziehens angeführt werden s ) : ^Da8 Verständnis für Symbole ist bei 
dem debilen Kind in der Regel sehr gering. Der Anschauungsunterricht 
mit Hilfe von Wandtafeln bezw. Abbildungen spielt datier bei dem debilen 
Kind eine sehr geringe Rolle. Das normale Kind lernt sehr rasch die 
Assoziationsbrücke vom Bild zum abgebildeten Objekt schlagen. Das debile 
Kind begreift nur sehr schwer den eigenartigen Zusammenhang zwischen 
Bild und Objekt. Meist erschwert man sich durch solche Abbildungen 
geradezu den Unterricht. Dem debilen Kind müssen die Dinge selbst ge- 
zeigt werden. Was man nur in Abbildungen zeigen kann, läßt man besser 
ganz weg.c 

Worin besteht nun der eigenartige Zusammenhang zwischen Bild und 
Objekt? Ohne Frage vor allem in der Übertragung des dreidimensionalen 
Raumes auf die zweidimensionale Fläche. Die dritte Dimension wird auf 
der Fläche durch perspektivische Darstellung, durch Schattengebung, Farben- 
töne usw. erreicht. Um diese Assoziationsbrücke herzustellen, ist die 



*) Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. Heft 1. 8. 70. Berlin, 
Reother & Reichard. 
*) A.. a. 0. 



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362 A. Abhandlungen. 



normale Funktion zweier Sinnesquaiitäten, des Auges und des Tastsinnes, 
erforderlich, und nicht zuletzt spielt die Erfahrung eine wichtige Rolle. Die 
Assoziationen der Gesichtsempfindungon und der Tastempliudungen schaffen 
die räumlichen Vorstellungen, und die Erfahrung lehrt die scheinbare 
Größe der Dinge in der Ferne richtig bewerten. Das normale Zusammen- 
wirken dieser Faktoren schafft die Grundlage für das rechte Verständnis 
eines Bildes, und es wird darauf ankommen, im einzelnen zu prüfen, in- 
wieweit das abnorme Kind diesen Anforderungen entspricht. 

Da können nun schon in vielen Fällen Defekte in den Gesichts- 
empfindungen festgestellt werden und zwar besonders auf dem Gebiete 
der Farben. Nach Ziehen ist es für den angeborenen Schwachsinn ein 
Charakteristikum, daß die Farbenvorstellungen sehr spät und oft Oberhaupt 
nicht erworben werden. 1 ) Ein anderer will von den Defekten in den 
Farbenvorstellungen direkt Schlösse auf den Intelligenzzustand ziehen. 2 ) 

Auch eigene Prüfungen haben mir gezeigt, daß besonders bei Im- 
bezillen der Mangel an brauchbaren Farbenvorstellungen ganz enorm ist 
Mitunter werden die Farben wohl unterschieden, aber nicht mit den 
riohtigen Wortklangbildern assoziiert. Die Empfindung bei >blau« ist also 
eine andere als die bei »rote, jedoch besteht keine Assoziation zwischen 
der Empfindung blau und dem Worte blau, und selbst bei fortgesetzten 
täglichen Versuchen gelingt es oft nicht, diese Verknüpfung herzustellen. 
Bei der Betrachtung eines Anschauungsbildes ist es nun garnicht zu um- 
gehen, daß mit Farbenbezeichnungen operiert wird, und da besonders auf 
den unteren Stufen Anschauungsbilder gebraucht werden, zu der Zeit also, 
wo die Farbenvorstellungen am unvollkommensten vorhanden zu sein 
pflegen, so ist es ohne weiteres klar, daß der Unterricht sich auf dem 
Boden des Verbalismus bewegt, daß von einer Klärung und Neubildung 
von Vorstellungen sowie von der Herstellung brauchbarer Assoziationen 
nioht die Rede sein kann. 

Die Eindrücke, die auf das Auge stattfinden, werden durch die Be- 
grenzungslinien der Objekte zu bestimmten Vorstellungen geordnet Die 
Deutlichkeit der Vorstellung hängt also mit von der Schärfe und der 
Klarheit der Begrenzungslinien ab, vor allem davon, ob und in welchem 
Umfange sie in Beziehung zueinander gesetzt werden. Betrachtet das 
Kind einen Schrank, so wird es für die Auffassung wesentlich darauf an- 
kommen, ob es die Begrenzungslinien der Lange und der Breite in ihren 
Ausdehnungen richtig abschätzt ob es die Differenzen in der Höhe und 
Breite empfindet. Die Erfahrung lehrt aber, daß der Mangel dieser Be- 
ziehungsvorstellungen einen wesentlichen Bestandteil des Schwachsinns 
darstellt. Gleich, ähnlich, größer, kleiner, länger, breiter usw. werden 
häufig nicht richtig gebildet, wenigstens nicht von Imbezillen. Während 
nun am Objekte selbst Schätzungen, Vergleichungen und Messungen vor- 
genommen werden können und somit die Möglichkeit besteht, daß 



*) A. a. 0. S. 26. 

') F. Warburg: Das Farbenbenennungsvermögen als Intelligenzprüfung bei 
Kindern. Umschau 1910, Heft 4. 



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I 



Rüssel: Das Anscbauungsbild im Unterrichte abnormer Kinder. 363 



durch Erfahrungen, auf Grund zahlreicher Wiederholungen, diese Be- 
ziehungen erworben werden können, fällt beim Anschauungsbild diese 
Möglichkeit weg, einmal, weil durch den verkleinerten Maßstab falsche 
Größenverhältnisse, wenigstens für das schwachsinnige Kind, gegeben sind, 
zum andern, weil durch die perspektivische Darstellung eine für die Kinder 
brauchbare Abschätzung und Abmessung vollständig ausgeschlossen ist 

Wenn wir vorhin von Begrenzungslinien sprachen, so ist es natür- 
lich, daß es keine Linien im eigentlichen Sinne des Wortes sind, sondern 
daß die Begrenzungen durch die verschiedene Qualität und Intensität des 
Farbentones des Objektes und durch die Schatten hervorgerufen werden. 
Diese Faktoren sind zugleich hervorragend bei der Entstehung der Tiefen- 
vorstellungen beteiligt Sie, in Verbindung mit der richtigen Beobachtung 
der abnehmenden Schärfe und der schwächer werdenden Farbentöne der 
Objekte in größerer Entfernung, sind die Mittel, welche auf dem Papier 
den Eindruck des Körperhaften und der Tiefe hervorbringen. Als ein 
weiteres Moment für den Maßstab der Tiefe ist die scheinbare Größe der 
Dinge bei zunehmender Entfernung zu nennen. Ein Fundamentalsatz der 
Perspektive ist: Je weiter sich ein Gegenstand von unserm Auge entfernt, 
desto kleiner erscheint er uns. Je kleiner ein Baum auf dem Bilde dar- 
gestellt wird, um so großer wird in uns die Tiefenvoretellung erweckt. 
Welche enorme Tiefe auf der Fläche erzielt werden kann, zeigen die 
Bilder und Skizzen Ernst Liebermanns, auf denen er Netzef lickerinneu 
in Holland darstellt Wir haben schon oft unmittelbar vor einem Baum 
gestanden und haben uns eine Vorstellung von der wirklichen Größe des 
Baumes erworben. Sehen wir nun den Baum von einiger Entfernung viel 
kleiner, so ist mit dieser scheinbaren Größe ein Maßstab für die Tiefe ge- 
geben. Die Entfernungsvorstellung, die die Tiefe ausmacht, ist von der 
Erfahrung abhängig, indem Assoziationen zwischen der wirklichen Größe 
und der scheinbaren Größe der Dinge hergestellt werden. Man kann diese 
Assoziationen auch als Beziehungsvorstellungen bezeichnen. 

Wie steht es nun hiermit beim schwachsinnigen Kinde? Ein ein- 
faches Experiment kann es beweisen. Man zeichne auf ein Blatt Papier 
einen Baum in den Vordergrund, einen in den Mittelgrund, der in Wirklich- 
keit der Größe des ersten entsprechen würde, perspektivisch aber kleiner 
wird, und noch einen in den Hintergruud, der natürlich noch kleiner als 
der mittlere ausfallen muß, deute durch ein paar Striche einen Weg an, 
an dem die Bäume stehen, um den Eindruck eines Bildes zu erwecken. 
Wir gehen also die Straße entlang und fragen nach der Größe der Bäume. 
Immer und immer wieder werden die Kinder antworten, die hinteren 
Bäume sind viel kleiner als der vordere Baum. Die unmittelbaren Ein- 
drücke von der Größe der Bäume, wobei der vordere Baum natürlich viel 
größer als die weiter zurückstehenden Bäume erscheint, werden von der 
Erfahrung nicht dahin korrigiert daß die Bäume nur deshalb kleiner sind, 
weil sie dem Auge weiter entfernt erscheinen sollen. Die scheinbare Größe 
der Bäume gibt keinen Maßstab für die Entfernung und erweckt nicht 
die Tiefenvorstellung. Die Erfahrungen, die normaliter durch die Asso- 
ziationen zwischen der wirklichen und scheinbaren Größe der Bäume den 



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364 



A. Abhandlungon. 



Beziehungsbegriff Tiefe sohaffen, treten nicht in Tätigkeit, selbst wenn sie 
vorhanden sind, denn die Erinnerungsbilder, auf denen die Erfahrung be- 
ruht, haben nicht die Intensität und Kraft, um die unmittelbaren Ein- 
drücke im normalen Sinne zu modifizieren. Ein anderes Beispiel kann 
den Mangel an Tiefenvorstellungen vielleicht noch besser zeigen. Im 
Vordergrund steht eine Hötte, weiter zurück ist ein Dorf mit einer Kirche 
zu sehen. Die Hütte ist viel größer dargestellt als die Kirche, denn sie 
soll ja dem Auge näher liegen. Während in dem normalen Kinde durch 
die kleine Kirche eine Tiefenvorstellung von der Lage der Kirche und des 
Dorfes zu der vorn stehenden Hütte erzeugt wird, das Kind aber auf eine 
Frage ohne weiteres antworten wird, die Kirche ist natürlich viel größer 
als die Hütte, werden viele schwachsinnige Kinder diese Antwort nicht 
finden, sondern die Hütte tatsächlich für größer halten als die Kirche. Es 
soll nun nicht gesagt sein, daß das auf alle schwachsinnigen Kinder zu- 
treffen muß. Ohne Zweifel wird es besonders unter der leichteren Formen 
auch welche geben, die diese Prozesse zu leisten imstande sind. Jedoch 
soll man mit diesen Fällen nicht rechnen, sondern zum mindesten erst 
prüfen, inwieweit die Kinder den Anforderungen genügen. Es geht aber 
aus dem Erwähnten klar hervor, daß man Anschauungsbilder nicht als 
Anschauungsmaterial benutzen und sie für Betrachtungen anwenden kann. 
Wird ein Bild benutzt, so will man doch offenbar auch nicht bei der ein- 
fachen Beschreibung der dargestellten Objekte stehen bleiben, sondern es 
sollen auch einfache Reflexionen stattfinden und kausale Zusammenhänge, 
wenn auch nur in bescheidenem Umfange, gefunden werden. Ein Beispiel 
wird die Schwierigkeiten bei der Bildung von kausalen. Zusammenhängen 
wieder am besten illustrieren. Es handelt sich um ein 14jähriges 
Mädchen A. Sie macht einen sehr geordneten Eindruck, ist folgsam, rein- 
lich und hat einen guten Charakter. Einen kurzen Brief vermag sie selb- 
ständig zu schreiben, auch kann sie sich französisch ganz leidlich unter- 
halten. Die Urteilskraft ist sehr gering. Im heimatkundlichen Unterricht 
wurde einmal vom Schmelzen des Schneees gesprochen (es war die Zeit 
der Schneeschmelze) und es kam darauf an. die Beziehung zwischen der 
zunehmenden Wärme im Freien und dem Schmelzen herzustellen. A. muß 
Schnee in die Hand nehmen und beobachten, was geschieht Sie antwortet 
richtig: der Schnee wird zu Wasser. Die Frage: warum, vermag sie nicht 
zu beantworten. Erst als ihr das Schmelzen auf einer heißen Ofenplatte 
gezeigt wurde, antwortete sie: der Schnee schmilzt, weil der Ofen warm 
ist. A. muß nun zum Fenster hinausschauen. Sie beobachtet richtig: 
draußen schmilzt auch der Schnee. Den Analogieschluß, beruhend auf 
der Frage: warum schmilzt der Schnee draußen? findet sie nicht. Auch 
die Suggestivfrage: wie muß es draußen geworden sein? bringt keine 
Antwort. 

Folgende psychologischen Momente sind zu beachten. 

1. A. beobachtet sowohl das Schmelzen des Schneees in der Hand, 
als auch das Schmelzen im Freien richtig. Vor ihr ist etwas Konkretes. 
Die Gesichtseindrücke verbinden sich in richtiger Weise mit den Kälte- 
emp6ndungen, sie sieht, wie der Schnee schmilzt und empfindet, 



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Rössel: Das Anschauungsbild im Unterrichte abüormer Kinder. 



365 



wie er in der Handfläche zu Wasser wird. Im anderen Falle genügen 
die optischen Eindrücke zu dem Urteile: draußen schmilzt der Schnee. 

2. Den kausalen Zusammenhang zwischen Hand und Schnee findet 
A. nicht gleich. Wie kommt das? Das Konkrete schwindet. Es beginnt 
ein Urteilsprozeß. Hand und Schnee müssen sich in der gegebenen Form 
assoziieren, und das Ursächliche: Wärme, muß gefunden werden. Hierzu 
haucht A. noch Stützen. Die heiße Eisenplatte erzeugt intensive Wärme- 
empfindungen, nicht nur an der Hand, sondern am ganzen Körper, zugleich 
sieht sie den Schnee auf der Platte zerlaufen. Die Empfindungen sind so 
stark, daß nunmehr eine Assoziation zwischen Schnee und Platte (große 
W ärme) vor sich geht und sie zu dem Ergebnis kommt: die große Wärme 
der Platte schmilzt den Schnee. Dies Überträgt sich nun auf Hand und 
Schnee: Der Schnee schmilzt in der Hand, weil diese warm ist. Jetzt 
ist der kausale Zusammenhang da. Sie fand ihn nicht, weil sie nicht 
wußte, daß die Hand warm ist. 

3. Diesen Zusammenhang kann A. nicht auf die Vorgänge im Freien 
übertragen . Warum ? 

a) Weil die Situation sich auf zwei ganz verschiedene Gebiete erstreckt, 

b) weil wir A. an keine Wärmeempfindung im Freien erinnern 
können, die der warmen Platte entspricht. 

Man könnte einwenden, daß die Erinnerung an den Sommer Er- 
innerungsbilder der Wärme wachrufen könnte; dabei ist aber zu bedenken: 
mit der heißen Platte konnte man anschaulich Schnee in Verbindung 
bringen, indem Schnee auf die Platte gelegt wurde, mit Sommer kann 
Schnee nicht in anschaulicher Weise verbunden werden. Es fehlt das 
Anschauungsmaterial und somit das Bindeglied zwischen Grund und Ursache. 
Auch die Sonnenwärme des Frühjahrs war noch nicht so 6tark, als daß 
sie die Assoziation hätte vollziehen können. 

A. findet also kausale Zusammenhänge, wenn sich Gesichtsempfindungen 
mit den Empfindungen eines anderen Sinnes — seien es nun Empfindungen 
des Druckes, der Kälte, der Wärme, des Schmerzes, des Gehörs, des Ge- 
schmackes oder des Geruches — intensiv verbinden können, und die 
Wirkungen am eigenen Körper wahrgenommen werden. Fehlt die Emp- 
findung des anderen Sinnes, so ist die Möglichkeit, einen kausalen Zusammen- 
hang zu finden und Beziehungen zu schaffen, nicht vorhanden. 

Wenn es nun schon schwierig ist, oft auch unmöglich, den Kindern 
an den Objekten selbst, die sie vor sich haben, sie sehen, betasten und 
mit ihnen umgehen können, den Zusammenhang von Ursache- Wirkung, 
Grund-Folge klar zu machen, wie will man sich da vom Anschauungs- 
bilde einen Erfolg versprechen! Ohne Frage werden die Schwierigkeiten 
keineswegs immer so stark vorhanden sein wie im vorliegenden Falle, 
aber man wird doch erkennen können, was alles dazu gehört, um einen 
kauaalen Konnex herbeizuführen. Nur zu leicht läßt man sich durch Worte 
täuschen. Es ist auch nicht möglich, bei jedem Kinde der Klasse im 
einzelnen zu prüfen, ob ein richtiges Verständnis erzielt worden ist, es 
reicht einfach die Zeit nicht aus. Dazu erscheinen uns viele Verbindungen 
und Verknüpfungen als so selbstverständlich, daß wir an ihrem Vorhanden- 



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366 



A. Abhandlungen. 



sein garnicht zweifeln, bis einmal der Zufall uns die Augen öffnet Ganz 
besonders wird das für die Hilfsschulen zutreffen, wo die Lehrer nur im 
Unterrichte und in den Pausen Gelegenheit haben, die Kinder kennen zu 
lernen. Um aber ein vollkommenes Bild von dem Kinde zu erhalten, ist 
es notwendig, auoh sein Verhalten und sein Handeln in der Zeit außer- 
halb der Schule ungestört beobachten zu können, denn da zeigt es Bich 
erst, wie das Kind mit seinem geistigen Besitz umzugehen versteht Auch 
von dieser Erwägung aus scheint die Forderung berechtigt zu sein, den 
Unterricht so einzurichten, daß für alle Kinder die Möglichkeit besteht, 
ihm folgen zu können, und AnschauungsbUder lieber weg zu lassen. 

Wenn das Anschauungsbild als Ausgangspunkt für den Unterricht, 
besonders in den unteren Klassen, abgelehnt werden muß, so ist damit 
keineswegs das Bild aus dem Unterrichte abnormer Kinder verbannt In 
den oberen Klassen wird sich im Unterrichte oft Gelegenheit bieten, ein 
Bild einzuführen. Wenn z. B. im Geschichte- oder Geographieunterricht 
Szenen, Ereignisse oder Landschaften behandelt werden, die ein Maler gut 
dargestellt hat, so werden die Bilder ohne weiteres benutzt werden können. 
Hier besteht ihre Aufgabe im wesentlichen darin, den Unterricht zu beleben 
und zu illustrieren. Das ist aber etwas ganz anderes, als wenn ein Bild 
von der Kuh aufgehängt wird mit den Worten: wir wollen von der Kuh 
sprechen. Dort sollen schon alle Vorstellungen geweckt und verarbeitet 
sein, und das Bild soll nur noch einmal das schon Erlebte in einer be- 
sonders charakteristischen Auffassung vor Augen führen, während hier von 
der papiernen Kuh aus Vorstellungen. Beziehungen, Urteile und Schlüsse 
gewonnen werden sollen. Oder man denke, dem vorhin erwähnten Mädchen A. 
(die Klasse, in der sie sich befand, stand durchschnittlich auf demselben 
Niveau) würde ein Ansohauungsbild vom Frühling vorgeführt! Der Unter- 
schied ist deutlich genug. 

Der Einwand, daß schwachsinnige Kinder doch oft die Gegenstände 
auf dem Bilde erkennen, auch Personen auf Gruppenbildern herauszufinden 
vermögen, ist nicht stichhaltig, denn mit dem Akte des Wiedererkennens 
sind die Bedingungen für einen gedeihlichen Unterricht noch nicht 
erfüllt. 

Noch eine Frage wäre kurz zu erörtern. Wie erziehen wir die Kinder 
dazu, daß sie Bilder in richtiger Art und Weise betrachten lernen? 

Durch den geistigen Zugtand der Kinder ist von vornherein eine Be- 
schränkung gegeben, sowohl in der Art der Bilder, die ihrem Verständnis 
näher gerückt werden könneu, als auch in dem Umfange des Verstehens 
der Bilder. Der Weg zum Ziele führt über fleißiges Modellieren, Zeichnen, 
Ausschneiden und Bauen. Die Dinge müssen selbst gezeigt, dargestellt, 
beobachtet und wenn möglich gebraucht werden. Auf Spaziergängen ist 
es nötig, die Kinder zu Beobachtungen mannigfachster Art anzuhalten. Die 
Beziehungsbegriffe größer, kleiner, breiter, länger, nah, fern u. a. müssen 
in die verschiedensten Verbindungen gebracht werden, um ihnen klaren 
Inhalt zu geben. Die scheinbare Größe der Dinge in der Ferne ist immer 
und immer wieder zu beobachten, Vergleich ungen, Messungen und Ab- 
schätzungen werden vorzügliche Dienste leisten. 



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I 



1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler. 



367 



Die Ausbildung dieser Funktionen ist ohnehin notwendig, denn sie 
stellen einen wesentlichen Teil von jeder geistigen Tätigkeit dar. 

In welchem Umfange das Ziel erreicht wird, hängt selbstverständlich 
von der geistigen Kraft jedes einzelnen Kindes ab. Das eine wird mehr, 
das andere weniger an die normale Gesundheitsbreite herankommen. 
Arbeiten wir aber in der angegebenen Weise, so tragen wir zur 
Fundamendierung des gesamten geistigen Lebens bei und lenken die Ent- 
wicklung auf rechte Bahnen. 



B. Mitteilungen. 



1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler. 1 ) 

Von Richard Schauer, Berlin. 
II. 

Wie die Statistik lehrt, und in noch weit größerem Umfange, wenn 
man die Qualität der Leistungen berücksichtigt, sind zurückgebliebene 
Schüler eine Massenerscheinung, und zwar nicht nur im Berliner 
Schulwesen. Diese Tatsache hat die eigentliche Veranlassung dazu ge- 
geben, daß man sich in den letzten Jahren besonders in den Großstädten 
mit der Reform der Volksschulen beschäftigt, allerdings ohne bis jetzt 
eine völlig befriedigende Lösung dieses pädagogischen Problems gefunden 
zu haben. Ob im besonderen eine schematische Achtklassenorganisation, 
die in Wirklichkeit für etwa zwei Drittel der auf sie angewiesenen Schüler 
gar nicht vorhanden ist, das zweckmäßigste Schulsystem für Großstadtkinder 
darstellt, wird den verantwortlichen Schulmännern allmählich mindestens 
zweifelhaft. Wenn man erwägt, daß Berlin manchem europäischen König- 
reich an Einwohnerzahl gleichkommt, manches aber an kultureller Bedeutung 
sogar übertrifft, so wird man zugestehen müssen, daß die Organisation Beiner 
Gemeindeschulen wegen ihrer Wichtigkeit, aber auch hinsichtlich mehrfacher 
Schwierigkeiten die gründlichste Bearbeitung erfordert. Eine mechanische 
Übertragung anderwärts vorhandener (vielleicht auch dort nicht bewährter) 
Einrichtungen sollte dabei von vornherein ausgeschlossen sein. Besondere 
soziale Bedingungen verlangen eben ein besonderes Schulsystem. Die 
Kernfrage aller Großstadtsorgen aber liegt in dem Problem der Masso. 
Darum ist auch bei der Neugestaltung der Berliner Gemeindeschule die 
Hauptfrage zu beantworten: Wie schaffen wir für die große Masse 
unserer Schüler die zweckmäßigste Organisation? 

Natürlich ist bei der Lösung dieser Frage keinen Augenblick der 
allgemeingültige Grundsatz außer acht zu lassen, daß bei der Erziehung 
stets die beiden Begriffe Kultur und Kind in sachgemäße Beziehung ge- 
setzt werden müssen. Nun sind aber einerseits Inhalt und Forderungen 
der Kultur für uns gegebene Größen; die Erziehung hat sie der kindlichen 
Entwicklung anzupassen. Andrerseits ist das Kind »der reale Bildungs- 

») Vergl. den I. Artikel in Heft 8, 8. 238. 



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1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler. 



3ti9 



berechtigt, den Grund dazu in einer wachsenden Erschöpfung der 
potentiellen Energie zu suchen; sie äußert sich psychisch in allen 
möglichen Fehlreaktionen, in Denkhemmung und Erschöpfung der Gefühls- 
töne. Von meinen 65 zurückgebliebenen Schülern waren bei 45 die 
minderwertigen Leistungen auf die abnorme Ermüdbarkeit zurückzuführen. 
Dali eine derartige Erschöpfung der Kräfte während der Schulzeit massen- 
haft vorkommt, und wodurch sie bedingt wird, das lehren mit steigender 
Zuverlässigkeit die Berichte der Schulärzte. Die Zunahme der Blutarmut 
vom ersten zum zweiten Schuljahr ist erschreckend! Ober die Häufigkeit 
neurast heu ischer Zustände bei Berliner Gemeindeschülern liegen noch keine 
umfassenden Untersuchungen vor; aber Dr. Strohmayer 1 ) sagt gewiß 
nicht ohne Grund: >ünter den blassen, schlecht genährten Proletarier- 
kindern der Großstädte wimmelt es von Nervosität und Psychopathie,« 
Der Zusammenhang zwischen den häufigen Herzleiden und einer Über- 
anstrengung während der Rekonvaleszenz wird vermutet, ihr Einfluß auf 
die psychischen Leistungen aber noch kaum gewürdigt. Dauerermüdung 
ist das Grundleiden der meisten zurückgebliebenen Sobüler. 

Diese Feststellung ist zwar nicht neu, aber noch niemals zur Grund- 
lage einer durchgreifenden Schulreform gemacht worden. Weder eine 
subtile Pausenordnung, noch eine Änderung der Ferien, nicht die viel- 
gerühmte Kurzstunde und auch nicht ein Lehr- und Stundenplan nach 
physiologischen Gesichtspunkten vermögen das einmal vorhandene Übel 
wieder zu beseitigen. Das beste Mittel zu seiner Bekämpfung ist die 
vorbeugende Verhütung der frühzeitigen Erschöpfung der geistigen 
Energie unserer noch wenig entwickelten Kinder. Darum ist als erster 
Keformvorschlag die Forderung aufzustellen: Der Schulbesuch und 
Unterricht darf nicht vor dem vollendeten siebenten Lebens- 
jahre beginnen. 2 ) Ohne diese Forderung sind alle Vorschläge zur 
Reform des ersten Schuljahres nur unzweckmäßige Verlegenheitsideen. 

Wodurch verbraucht der Unterricht am stärksten die geistigen Kräfte 
des Kindes? Ist es wirklich die jetzt soviel (und oft mit Unrecht) be- 
kämpfte Gedächtnisübung? Das lange Sitzen in der Schulluft? Der so- 
genannte Drill oder die schriftlichen Arbeiten? Das alles trifft doch nicht 
den Kern der Sache. Was am meisten Kraft beansprucht, ist tatsächlich 
das Allerwesentlichste und Wertvollste des Unterrichts, nämlich die An- 
strengung der willkürlichen Aufmerksamkeit. Aber gerade diese 
psychische Funktion ist ebenso die unerläßliche Kardinalforderung alles 
Unterrichts wie auch die Voraussetzung aller Bildung überhaupt. Wird 
sie erlassen, so würde ein schwächliches, lebensuntüchtiges Geschlecht 
heranwachsen. Man denke sich aus dem Geistesleben die Aufmerksamkeit 
hinweg, und die Kultur brioht zusammen. Dagegen werden wir mit einem 
Kinde jedes vernünftige Ziel erreichen, wenn es gelingt, willkürliche 



') Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters. S. 70. 

*) Prof. Ziehen fordert eine Verlangsamung der intellektuellen Entwicklung 
auuh in solchen Fallen, »wo eine überraschende Beanlaguiig den Kindern spielend 
in der Schule mitzukommen gestattet« (Psychiatrie, 2. Auflage, S. 293.) 
Zeitschrift für Kinderforachun*. XV. Jahxgmng. 24 



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370 



\\. Mitteilungen. 



Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aber hier liegt eine Grenze der natürlichen 
Erziehungsmögliohkeit: Das Kind muß die physiologischen Bedingungen 
der Aufmerksamkeit täglich mit in die Schule bringen, damit sie hier für 
die Lebensarbeit geübt und ausgebildet werden kann. Darum ist für 
einen erfolgreichen Unterricht nichts wertvoller als die Erhaltung der 
potentiellen Energie unserer Sohüler. 

Während der Kraftverbrauch durch Anspannung der Aufmerksamkeit 
unvermeidlich und auch ökonomisch ist, um die Wirkungen eines wert- 
vollen, erziehenden Unterrichts zu erreichen, gibt es daneben im Schul- 
leben aber eine geradezu sinnlose Verwüstung der geistigen Kräfte durch 
eine mit Affekten verbundene Hast. Das überreizte, affektive Denken 
unserer nervösen Kulturträger hat es augenscheinlich verlernt, die ruhige 
Begriffsbildung als normales Mittel ökonomischer Lebensarbeit zu ge- 
brauchen. Aber nichts schädigt in solchem Maße die Entwicklung und 
Leistungsfähigkeit des Nervensystems, wie die nervöse Hast Daher 
stellen wir im Interesse der Schule und Volksgesundheit die weitere 
Forderung auf: Man lasse den Kindern im Unterricht Zeit zur 
ruhigen Verstandesentwicklung! Es muß auch für die vorüber- 
gehenden Hemmungen der erkrankten Kinder Schonzeiten geben können, 
damit sie uicht dauernd geschwächt werden. Gegenwärtig herrscht aber 
bei uns gerade im wichtigsten Lehrfach, im Deutschen, eine Minuten- 
wirtschaft, die für den Massenunterrioht alles andere sein mag, nur keine 
ökonomische Verwendung der Zeit 

>Aber der Stoff! Das gesteigerte Wirtschaftsleben, die Kultur . . . .« 
Nun, was verlangt und fordert gebieterisch das Leben? Vor allem eine 
rüstige Gesundheit; das weiß man außerhalb der Schulatmosphäre 
im wohl verstandenen Interesse allgemein zu würdigen. Sodann eine 
doppelte Bildung, nämlich eine Berufs- und Allgemeinbildung. Da wir 
nun seit 1905 in Berlin eine obligatorisohe Fortbildungsschule haben, sind 
wir in der glücklichen Lage, der Gemeindeschule nur die Aufgaben der 
Allgemeinbildung zuzuweisen. Darum lautet unsere dritte Forderung: 
Beschränkung der Lehr- und Übungsstoffe auf die Ziele der 
allgemeinen Bildung! Es ist endlich Zeit, in dieser Beziehung eine 
segensreiche Lastenabachüttelung vorzunehmen, aber gründlich, ohne zag- 
hafte historische Rücksichten! Zu den Lehrfächern und Stoffen, die radikal 
amputiert werden müßten, gehören zunächst: Versicherungsrechnung, die 
Rechnungsarten des Bankfaches, die kaufmännischen Geschäftsaufsätze, die 
Rundschrift, das Projektionszeichnen, ein Teil der augenmörderischen weib- 
lichen Handarbeiten. Beseitigt werden müssen auch alle Stoffe, die einer 
Gelehrtenbildung entlehnt sind und durch die subjektive Neigung von 
einflußreichen Schulmännern den Kindern oktroyiert werden, nämlich 
euklidische Geometrie, Algebra, abstrakte mathematische Geographie, syste- 
matische Grammatik. Gerade diese Lehrstoffe vergeuden wahrhaft die 
Energie des kindlichen Gehirns und haben dabei gewöhnlich nur das eine 
Ergebnis: Selbsttäuschung aller Beteiligten! 

Aber wird durch Ausscheidung dieser Fächer und Stoffe nicht etwa 
das Niveau der Volksschule hinabgedrückt? Die Beantwortung dieser Frage 



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1. Zurückgebliebene Berliner Gemeindeschüler. 



371 



hÄDgt davon ab, wie man den Inhalt der lehrplanmäßig verlangten Schul- 
bildung bewertet; dabei darf aber nicht die subjektive Meinung bestimmend 
für die Massenerziehung sein. Einerseits eine ungemein vielseitige Kultur 
mit rasch ver&nderlichen Interessen, Wertungen, Inhalten; — andrerseits 
eine nach Veranlagung, Lebensverhältnissen, Interessen und künftigen 
Schicksalen nicht minder vielgestaltige Einderschar, deren Anpassung an 
die variablen Kursverhältnisse zwangsweise gefordert wird: was ist nun 
das für Erziehung und Unterricht wahrhaft Notwendige und Wertvolle? 
Zweifellos das Allgemein -Menschliche, nämlich die allgemein verbind liehe 
Moral und eine intellektuelle Schulung, die der wechselnden Sachlage 
sofort gewachsen ist, beide natürlich verbunden mit der wirksamen Übung 
im Anwenden. Der Bildungswert der Schule liegt wesentlich im Formalen, 
und darum wird die Volksschulbildung gewiß qualitativ gewinnen, wenn 
man die Forderung gebührend berücksichtigt: Der Unterricht muß 
vor allem die vielseitige psychische Ausbildung der Kinder 
nach Maßgabe der beharrenden, formalen Normen erstreben. 
Der Schwerpunkt der Schularbeit soll also nicht in einem enzyklopädischen 
Wissen, sondern im selbständigen Gebrauch der psychischen Kräfte 
liegen. 

Dabei ist aber nie zu vergessen, daß die produktiven Kräfte des 
Kindes normalerweise sehr schwach sind; eine extreme »Reform des 
Unterrichts vom Kinde aus« dürfte leicht verkennen, daß aller Unterrioht 
für das Kind hauptsächlich ein Lernen und Oben bleiben wird. Im 
Interesse einer Ökonomie der kindlichen Kräfte ist demnach zu fordern: 
Der Lehrgang während der ganzen Schulzeit ist methodisch 
so zu gestalten, daß keine intellektuelle Leistung verfrüht, 
jede aber auf der Stufe ihrer natürlichen Bildungsmöglichkeit 
auch nachhaltig geübt wird. Damit wird also die Beschränkung der 
Schularbeit auf wenige, bestimmte Funktionen während längerer Zeit- 
abschnitte gefordert. Zusammengesetzte Leistungen. Denken in Beziehungs- 
vorstellungen, Bildung längerer Schlußreihen, Abstraktionen bleiben der 
Oberstufe vorbehalten. Das Verfahren soll also möglichst synthetisch ge- 
staltet werden. Wenn man dagegen aber einwenden sollte, daß das 
Geistesleben der Kinder doch viel reicher und umfassender sei, als es 
hier zur Geltung kommen dürfte, so wäre darauf zu erwidern, daß die 
hier vorgeschlagene Methode nichts anderes als eine rationelle, ihre Ziele 
erreichende Arbeitsweise für die große Masse sein soll. Was es 
übrigens mit dem Reichtum der Kindesseele, ihren produktiven Kräften 
und sonstigen Vorzügen auf sich hat, das zeigen uns deutlich unsere zurück- 
gebliebenen Schüler: »Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis.« Aus 
allen vorher aufgestellten Forderungen geht hervor, daß die empfohlene 
Reform sich weit mehr auf eine Differenzierung der Unterrichts- 
stoffe und der Schularbeit, als auf eine Differenzierung der Schüler 
gründet. Letztere besteht schon in Berlin, da für schwachsinnige Kinder 
in wünschenswerter Weise Schuleinrichtungen vorhanden sind. Wenn es 
aber auffällig sein sollte, daß unter meinen 65 zurückgebliebenen Schülern 
nicht weniger als 8 dieser Gruppe mindestens recht nahe standen, so sei 

24* 

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372 



B. Mitteilungen. 



<laran erinnert, daß >allein die Zahl der ausgesprochen Schwach- 
sinnigen in den deutschen Volksschulen mindestens das Zehnfache 
der bereits in Hilfsschulen untergebrachten Kinder ausmacht«. 1 ) Im 
übrigen ist das vorgeschlagene Schulsystem zur Förderung der großen 
Masse gedacht, weil eben bis jetzt das Zurückbleiben eine Massenerscheinung 
war. Auch die von auswärts zuziehenden Kinder werden dabei leichter 
die für sie zweckmäßigste Einordnung finden. Für alle durch schwerere 
funktionelle Störungen oder Hemmungen weit zurückbleibenden Kinder 
sollte eine besondere Abschlußklasse eingerichtet werden; diese ist 
bestimmt für alle, die mit 13 Jahren noch nicht ein Semester die vor- 
letzte Klasse besuchen. Zusammenfassend würde sich folgende Schul- 
organisation ergeben: Die Schu 1 pflioht umfaßt die zweite Kindheits- 
periode, vom Zahn Wechsel bis zum Eintritt der Pubertät, vollendetes 7. bis 
14. Lebensjahr, also sieben Schuljahre. Zweck des Unterrichtes: All- 
gemeine Bildung. Gliederung der Schule in zwei Stufen: 

I. Grundstufe: 3 Klassen, bis zum vollendeten 10. Lebensjahre; 
(Übergang der nur wirklich befähigten Schüler auf höhere Lehranstalten.) 
Grundlegender Unterricht, besonders im Deutschen und Rechnen. 
Konkrete Vorstellungen, kurze Ideenassoziationen. Wöchentlich höchstens 
20 effektive Lehrstunden. 

II. Oberstufe: 4 Klassen, bis zum vollendeten 14. Lebensjahre; 
(Übergang in die Lehre und die Berufsfortbildungsschule.) Allgemein- 
bildende Wissensgebiete, vorwiegend Realien. Entwickelte Ideen- 
assoziationen unter Leitvorstellungen, Ausbildung der Beziehung»- und 
Allgemein Vorstellungen, Darstellung durch Handlungen. Wöchentlich 
höchstens 30 effektive Lehrstunden. 

Zu II.: Sonderklasse für stark gehemmte Schüler im letzten 
Schuljahr. Vorausgesetzt wird dabei, daß alle schwachsinnigen Kinder 
den für sie bestimmten Nebenklassen rechtzeitig zugewiesen werden. 
Diese Schulorganisation ermöglicht die Einführung des Kindergartens und 
läßt den beachtenswerten Vorschlägen des städtischen Oberturnwarts 
Dr. Luckow, nämlich Trennung der Leibes- von der Geistesschulung, 
freien Spielraum zur Verwirklichung. Theoretisch aber hat sie den Vorzug, 
daß sie sich nicht auf das Abstraktum des »idealen Schülers«, sondern 
auf die Entfaltung des wirklichen Lebens unserer konkreten Schulkinder 
gründet, auf die wahren Bedürfnisse der großen Masse zurückgebliebener 
Berliner Gemeindeschüler. *) 



l ) Ludwig Strümpell, »Pädagogische Pathologie«. IV. Aufl., berausgeg. 
von Spitzner. S. 303. 

*) Die gründlichste Aaseinandersetzung aller hierbei in Frage kommenden 
Probleme findet sich in Ludwig Strümpells Werk »Die pädagogische Pathologie«, 
fortgeführt und erweitert von Dr. Alfred Spitzner. IV., bedeutend vermehrte 
Auflage. Leipzig, K. Ungleich, 1910. 844 S. Preis geb. 16,50 M. 



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2. Über eine wunderbare Heilang von gänzlicher Sprachlosigkeit 373 



2. Über eine wunderbare Heilung von gänzlicher 

Sprachlosigkeit 

berichtet Direktor Stelling im 65. Jahresbericht der Taubstummenanstalt 
zu Emden: 

Der Fall ist so eigenartig und so selten und hat weit und breit so- 
viel Interesse erweckt, daß wir glauben, es nicht unterlassen zu dürfen, 
hierüber etwas ausführlicher zu berichten. 

Es war am 10. September 1907, als uns ein kleines 6 jähriges 
Mädchen aus dem Bentheimschen zugeführt wurde, das um Ostern zur 
Schule gekommen war, dort aber bald bei dem Lehrer den Verdacht auf» 
kommen ließ, daß das Gehör nicht in Ordnimg sei. Die Untersuchungen 
durch den Hausarzt und durch einen Spezialisten für Ohrenkrankheiten 
hatten keinen organischen Fehler im Ohr erkennen lassen. Da auch in- 
zwischen die Sprache mehr und mehr zurückgegangen war, ja sich eine 
fast vöLlige Taubheit und Stummheit herausgebildet zu haben schien, 
so lag der Oedanke an eine nervöse Störung nahe. Der Besuch eines 
Solbades brachte keine Heilung; im Gegenteil, bei dem veränderten Zu- 
stande des nun gehör- und sprachlosen Kindes war das von klein auf be- 
stehende aufgeregte Wesen nur noch viel deutlicher hervorgetreten. Ein 
Nervenarzt empfahl daher die Überweisung an eine Sprachheilanstalt. 
Durch das Dazwischenkommen des Direktors einer auswärtigen Taub- 
stummen-Anstalt wurde das Kind dann, da der Vater Ostfriese ist, unserer 
Anstalt übergeben. 

Wohl mit infolge des gänzlich veränderten Zustandes im körperlichen 
und seelischen Befinden des Kindes war die Nahrungsaufnahme in letzter 
Zeit eine mangelhafte gewesen. Dies zeigte sich deutlich bei der Auf- 
nahme. An einen energischen Unterricht war darum auf keinen Fall zu 
denken : erst mußte der kleine Körper wieder gekräftigt werden. Schwer 
war dies manchmal; aber bei Konsequenz und Geduld trat doch bald eine 
erfreuliche Wendung ein. 

Unterrichtlich sollte das Kind zunächst weniger angestrengt werden; 
es erschien richtiger, die Aufnahme zu Ostern 1908 abzuwarten, um es 
alsdann planmäßig mit einsetzen zu lassen. Hauptsächlich war unser 
Augenmerk darauf gerichtet, das Kind angemessen zu beschäftigen und an- 
zuregen. Dabei fiel uns wohl auf, daß es eine sehr verständige und mit 
der Hand geschickte Schülerin war; es entging uns auch nicht, daß es 
kleine Sätze, die mit den Schwachen der l 1 /, Jahr früher aufgenommenen 
Klasse behandelt und eingeübt waren, ohne grobe Fehler aus dem Ge- 
dächtnis niederschrieb. Es wurde aber kein Versuch gemacht, diese Sätzo 
auch zu sprechen oder das Verständnis durch Zeigen und Deuten kund zu 
geben. Weiter haben wir uns aber nichts dabei gedacht; wir glaubten, 
es mit einem kleinen taubstummen Kinde zu tun zu haben, das mit der 
nächsten Aufnahme regelrecht einsetzen müsse, obwohl es ja auffällig war, 
daß die Sprache so schnell und so vollständig verloren gegangen war, 
was sonst bei Kindern, die ertauben, vorher aber schon gesprochen haben, 
nicht der Fall ist. 



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374 



B. Mitteilungen. 



Ostern 1908 kam heran; die neuen Kinder traten ein und für unsere 
kleine Anna begann der eigentliche Taubstummen-Unterricht, der zunächst 
in der Hauptsache Sprechunterricht ist. Doch was war das? Das Kind 
war trotz aller Bemühungen von Seiten des Klassenlehrers nicht zum 
Sprechen zu bringen, obwohl er ihm verhältnismäßig weit mehr Zeit 
widmete, als den übrigen Kindern! War das Trotz, war das Geistes- 
schwäche? Wir standen vor einem Rätsel. Warum lernte die Kleine 
nicht auf dieselbe Weise wie andere kleine Taubstumme sprechen? Sie 
war uns doch als taubstumm Oberwiesen worden. 

Um das Kind auf alle Fälle zum Sprechen zu bringen, ohne es zu 
sehr anzustrengen, wurde es für einige Monate mit den Kindern unter- 
richtet, die wegen langsamer Geistestätigkeit zurückgelassen werden mußten. 
Doch auch jetzt war das Sprechen nicht zu erreichen, obwohl die Fort- 
schritte im schriftlichen Unterricht deutlich zutage traten. Sollte es etwas 
anderes sein, als gewöhnliche Taubstummheit? Sollte es vielleicht nur 
eine Sprachstörung sein? 

Inzwischen hatte sich auch herausgestellt, daß die Kleine die an der 
Wand hängende Uhr schlagen hörte, daß sie das Geräusch der hinter 
ihrem Rücken in Bewegung gesetzten Tischglocke und ebenso die elektri- 
sche Klingel in der Schule vernahm usw. Ganz besonders fiel es im 
Hause auf, daß das Kind, wenn es allein im Zimmer war, sich mit Papel- 
und Lallübungen beschäftigte. Es sprach im Spiel mit der Puppe dadadada, 
lalalala, mamama usw., also Verbindungen, wie man sie bei einem 1- bis 
2 jährigen Kinde antrifft. Dabei wurde in so angenehmer, wohlklingender 
Weise gesprochen, daß man an Taubheit nicht mehr glauben konnte. Weil 
also die Vermutung nahe lag, das Sprechen werde zwar nicht zu er- 
zwingen, aber doch wieder zu gewinnen sein, so mußte im Unterricht 
notgedrungen eine Änderung eintreten. Das Kind kam wieder in die 
A-Abteilung, ohne daß von ihm von vornherein korrektes Sprechen ver- 
langt wurde; auf alle Fälle sollte es im Schreiben Schritt halten, also: 
es wurde nur das verlangt, was erwartet werden durfte. Natürlich nahm 
es auch an den planmäßigen Sprechübungen teil. Und dabei zeigte sich 
denn, daß es bereit war, im Chor mitzusprechen, daß es auch gemeinsam 
mit dem Lehrer zu sprechen gewillt war, jedoch plötzlich abbrach, sobald 
der mitsprechende Lehrer absichtlich und unerwartet aufhörte. Mangel 
des Gehörs konnte nicht mehr die Ursache der Stummheit sein. Dies 
gebt auch schon daraus hervor, daß es richtig leichte Silben und Wörter 
mitsprach, wenn der Lehrer ihm ein Blatt Papier, die Schiefertafel usw. 
vor die Augen hielt, so daß ein Ablesen vom Munde ausgeschlossen war. 

Von diesem Zeitpunkte an ging es mit der Wiedergewinnung der 
Sprache langsam aber stetig weiter. Auch im Hause fing die Kleine an, 
sich, wenn auch verstümmelt, wieder durch die Lautsprache mitzuteilen. 
In der Schul» wurde aber mit aller Konsequenz daran festgehalten, daß 
aller Unterrichtsstoff mehrmals aus dem Gedächtnis niedergeschrieben 
wurde. Mit dem linkshändigen Schreiben, das Professor Dr. Gutztnann- 
Berlin für derartige zentrale Sprachstörungen so warm empfiehlt, haben 
wir keine Versuche gemacht, es ging ja auch so vorwärts. 



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2. Über eine wunderbare Heilung von gänzlicher Sprachlosigkeit 375 



Die Kleine ist dann noch bis zum Schlüsse des Schuljahres bei uns 
geblieben. Plötzlich ist die Sprache nicht zurückgekehrt; aber ein Fortschritt 
von Ferien zu Ferien war festzustellen. Im Verkehr mußte das Kind sich 
manchmal noch besinnen, um das rechte Wort und die richtige Form zu 
finden. Daß es dabei zu kleinen Entgleisungen kam, darf uns nicht 
wunder nehmen. Verständlich war es noch, wenn Anna sagte: »Das hat 
Mimi zerreißt«; schwerer zu verstehen ist schon der Satz: »Ich hat erst 
gekommt«, womit sie sagen wollte, daß auf dem von der Tante für die 
4 Kinder eingegangenen Paket ihr Name obenan stehe. Sachlich also richtig, 
aber in der Form, im Ausdruck falsch. 

So haben wir denn einen Erfolg zu verzeichnen, an den bei der Auf- 
nahme des Kindes niemand gedacht hatte. Unwillkürlich wird sich dem 
Leeer die Frage aufdrängen: »Was war es mit dem Kinde? was fehlte 
ihm?« Diese Frage hat auch uns beschäftigt. Eine bestimmte Antwort 
geben möchte der Berichterstatter nicht, zumal er überzeugt ist, daß dar- 
über auch unter den sich mit derartigen Leiden ausschließlich befassenden 
Ärzten und Sprachheillehrern keine Einigkeit besteben wird. Nach 
seiner Ansicht kann es sich nur um zweierlei gehandelt haben: 

1. um hysterische Taubstummheit oder 

2. um eine zentrale Sprachstörung, die wissenschaftlich 
mit Aphasie bezeichnet wird. 

Die erste Bezeichnung ist verständlich. Mit Aphasie (Sprachlosigkeit) 
benennt man in der Medizin und Sprachheilkunde »diejenigen Zustände, 
in denen jemand den Gebrauch der Sprache ganz oder teilweise verloren 
hat, ohne daß geistige Benommenheit oder ein mechanisches Hindernis in 
den äußeren Sprechwerkzeugon oder Muskellähmung und Krampf oder eine 
Verletzung der nervösen Gebilde, welche die Artikulation (Aussprache) der 
einzelnen Laute vermitteln, vorliegt.« 

Für die hysterische Stnmmheit, bei der lokale Veränderungen im Ge- 
hirn nicht statthaben, spricht der Umstand, daß das Kind von klein auf 
sehr aufgeregt gewesen ist. »Die Aufregungen steigern in einem solchen 
Falle ihre hemmenden Wirkungen so sehr, daß auch der Wille des 
Kranken seinen Einfluß auf die Sprechwerkzeuge völlig verliert und 
schließlich eine Zeitlang völliger Sprachverlust eintritt«. »Eine vorsichtige 
liebevolle Behandlung ist das beste Mittel, um die stockenden Funktionen 
der Sprachbahnen wieder in Gang zu bringen.« Bei der Aphasie nimmt 
man eine Lähmung der dritten linken Stirnwindung an. Durch metho- 
dische Sprechübungen in Verbindung mit Schreib- und Leseübungen wird 
dann die rechte Hirnhälfte eingeübt und so die Heilung herbeigeführt. 
Die verhältnismäßig langsame Wiederkehr der Sprache und die bis vor 
nicht langer Zeit noch vorkommenden Fehler gegen die Formen unserer 
Sprache — in der Sprachheilkunde mit Agrammatismus bezeichnet — 
scheinen in dem vorliegenden Falle von Bedeutung zu sein. 



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376 



B. Mitteilungen. 



3. Frauen als Vormünderinnen. 

Der im März 1905 gegründete Verband für weibliche Vormundschaft, 
E. V., zu Berlin, Französ. Dom, Gendarmenmarkt, regt in einer Mitteilung 
von seiner ersten Vorsitzenden, Dr. jur. Frida Duensing, die Frauen 
aller Kreise an, das im Bürgerlichen Gesetzbuche bereits vor zehn Jahren 
ihnen gewährleistete Recht, die Vormundschaft auch für fremde Kinder zu 
übernehmen, mehr als bisher auszunutzen. — Wir bringen diese außer- 
ordentlich wichtige soziale Anregung gerne zur Kenntnis unserer Leser 
and bemerken, daß der genannte rührige Verband eine Auskunftsstelle 
unterhalt, die zugleich als Beratungsstelle für die Mündelmütter dient. 
Dort wird den Vormünderinnen fachmännische Belehrung in allen 
schwierigen Fällen erteilt; auch werden Unterweisungskurse über die ge- 
setzlichen Rechte und Pflichten des Vormundes und Pflegers, sowie über 
Armenpflege veranstaltet. Alimentenklagen besorgt der Verband. — Im 
Interesse vieler Waisenkinder ist dringend zu wQn&chon, daß sich mehr 
und mehr Frauen finden, die von ihrem Recht, Vormund zu werden, 
Gebrauch machen, du die Scheu vor der Mühe und den Schwierigkeiten 
des Amtes zum großen Teile unberechtigt sind. 



4. Der II. Deutsche Jugendgerichtstag 

findet vom 29. September bis 1. Oktober 1910 zu München, Tonhalle des 
Konzerthauses an der Türkenstraße 5, früher Kaimsaal, statt. 

I. Es sprechen über den Stand der Jugendgerichtsbewegung 

in Deutschland: Amtsgerichtsrat Dr. Köhne-Berlin, 

in Österreich: Oberlandgerichtsrat Dr. Karl Warhanek- Wien, 

in der Schweiz: Professor Dr. Hafter-Zürich, 

in England: Amtsgerichtsrat Dr. Friedeberg- Weißensee. 

II. Über Organisation und Zuständigkeit der Jugendgerichte nach 
bestehendem Recht und den Gesetzentwürfen: Amtsgerichts- Präsident Dr. 
Becker- Dresden und Prof. Dr. Kitzinger- München. 

III. Ober die Jugendgerichte im Vorverfahren: Regierungsrat Dr. 
Lindenau- Berlin und Staatsanwalt Rupp recht- München. 

IV. Ober Besonderheiten des Hauptverfahrens gegen Jugendliche: 
Staatsanwalt Dr. Elwert-Stuttgart und Amtsrichter Dr. Hertz- Hamburg. 

V. Ober Strafe und Erziehungsmaßnahmen sowie deren Abgrenzung: 
Oberamtsrichter Pemerl -München und Staatsanwalt Dr. Wulffen -Dresden. 

VI. Ober Zusammenwirken der Jugendgerichte mit anderen Behörden, 
Vereinen und freiwilligen Helfern: Staatsanwalt Dr. Stahl kn echt- Bremen 
und Rechtsrat Grieser- München. 

Anmeldungen zur Teilnahme werden an die Geschäftsstelle der Deut- 
schen Zentrale für Jugendfürsorge, Berlin C. 19, Wallstraße 89 II, mög- 
lichst bis zum 15. September erbeten. 



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C. Literatur. 3 



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C. Literatur. 



Vogt, Prof. Dr. med., Die Epilepsie im Kindesalter. Berlin, Karger, 1910. 
Preis 6,40 M. 

Der Unterricht und die sittliche Erziehung des epileptischen Kindes hat 
neben dem Hilfsschulwesen eine gesonderte Bedeutung erlangt, vorwiegend durch 
die an Epileptikeranstalten angegliederten Abteilungen für erziehungsbedürftige 
8chulkinder, mit zum Teil reichlichem Lehrerpersonal. Im vorliegenden Werk wird 
auch über die erste eigentliche Epileptikerschule in Braunsohweig berichtet Körper- 
liche Züchtigungsmittel sind gänzlich ausgeschlossen. Ausführlich werden alle päda- 
gogisch wichtigen Fragen aus dem Epilepsiegebiet und aus benachbarten Gebieten 
(Hysterie, Entartung, Schwachsinn) erörtert, z. B. über epileptische Kinder in der 
Normalschule, über das Fortlaufen (Fugues). Bettnässen, über die Beeinträchtigung 
des Verstandes, des Lernens sowie des sittlichen Verhaltens (Eigensinn, Jähzorn, 
Widerspenstigkeit usw.). Diese, durch anschauliche Krankengeschichten belebte 
Darstellung, die auch die brennenden Fragen der Fürsorgeerziehung von ärztlichen 
Gesichtspunkten aus eingehend beleuchtet, baut sich langsam anf einer überaus 
gründlichen, wissenschaftlich exakten Abhandlung der kindlichen Epilepsie auf, die 
in erster Linie für den Arzt bestimmt, jedoch auch vom berufsmäßigen Erzieher 
epileptischer Kinder mit Interesse und Erfolg gelesen werden kann. Das Werk 
stellt eine sehr wertvolle Bereicherung der ärztlichen und der heilpädagogischen 
wissenschaftlichen Literatur dar und wird überall, wo es hinkommt, Klarheit und 
Segen bringen. Dr. med. Hermann. 

Schultze, Prof. Dr. med. Ernst, Die jugendlichen Verbrecher im gegen- 
wärtigen und zukünftigen Strafrecht (Grenzfragen des Nerven- und 
Seelenlebens. Bd. 72.) Wiesbaden, Verlag von Bergmann, 1910. Preis 2 M. 
Der bekannte auf juristischem Gebiet besonders erfahrene Verfasser, Direktor 
der psychiatrischen Klinik in Greifswald, gibt in der vorliegenden Schrift eine aus- 
gezeichnet klare Darstellung der jetzigen und eine wertvolle Kritik der zukünftigen 
Rechtslage des Jagendlichen. Es muß auch den Erfahrenen interessieren, aus so 
berufener Feder über die verbrecherischen Jugendlichen Ausführungen zu lesen, 
die ihre enge Fühlung mit einer reichen Praxis und ihre stete Berücksichtigung 
wissenschaftlicher und amtlicher Quellen auf 8chritt und Tritt verraten, bei ruhiger, 
sachlicher Ausdrucksweise. Es steht zu hoffen, daß gerade die eben erwähnten 
Vorzüge der Schrift auoh den pädagogischen Leserkreis gewinnen werden und damit 
der Vereinigung von Medizin und Pädagogik dienen. Je gründlicher das verbreche- 
rische Kind erforscht wird, um so nachdrücklicher hebt sich ganz von selbst die 
Notwendigkeit dieses Zusammenarbeitens heraus, wofür auch die vorliegende 8chrift 
wieder Zeugnis abgibt. Nach Ansicht des Referenten wird der Heilpädagoge mit 
den erzieherischen Ausführungen des Verfassers einverstanden sein können. Daß 
in der ganzen Gerichtsbarkeit und Strafrechtspflege des Jugendlichen bereits jetzt 
die Persönlichkeit des Täters und die erzieherischen Erfordernisse sehr in den 
Vordergrund treten, berechtigt zu erfreulichen Hoffnungen für die Zukunft. Schnitze 
befürwortet u. a, das erzieherisch so wertvolle »Be währungssystemc. »Darnach 
kann der Jugendliche sich immer größere Bevorzugungen durch sein Wohlverhalten 
verdienen. . . . Derartiges Vorgehen spornt den Jagendlichen zu einem einwand- 
freien Verhalten an, nicht nur innerhalb der Mauern des Gefängnisses, sondern 



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378 



C. Liteiatur. 



auch in der Freiheit. Der auf diesem Wege durch eigne Mitarbeit des 
Jugendlichen errungene Erfolg wirkt nachhaltiger und ist auch höher 
zu bewerten als der nur mit strenger Strafe erreichte. (Dieser Satz ist 
einer der fundamentalsten Grundsätze für die sittliche Ersiehung psychisch ab- 
normer Fürsorgezöglinge und ähnlicher Fälle! D. Referent.) Auch Schultze 
ist dafür, daß ähnliche Maßnahmen bei Försorgezöglingen überhaupt, also bei nor- 
malen Rindern, eine ausgiebigere Anwendung verdienten, »zumal namhafte Päda- 
gogen versichorn, daß es in der Tat ohne harte Prügelstrafen geht.« 

Die bisherigen Erfolge des Fürsorgeerziehungsgesetzes lassen sich noch nicht 
sicher beurteilen. Die Wünsche für die innere Ausgestaltung der Fürsorge- 
erziehungspraxis gipfeln fürs erste wohl in den Worten: »Die Vorstände und Er- 
zieher sollten mit den Grundfragen der Psychiatrie vertraut gemacht werden. Daß 
sie die Feinheiten moderner psychiatrischer Diagnostik beherrschen, wird billiger- 
weise keiner erwarten, vielleicht sogar nicht einmal wünschen. Aber verlangen 
muß man, daß sie wissen, daß Neigung zu Unsauberkeit, zu wiederholtem Fort- 
laufen, zu zwangsmäßigen Handlungen krankhaft bedingt sein können, ebenso wie 
Schwankungen hinsichtlich der Gemütsstimmung und geistigen Leistungsfähigkeit 
Sie müssen die psychischen Abweichungen ihrer Pflegebefohlenen 
vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus als Teilerscheinung 
einer defekten oder abnorm gearteten Organisation begreifen können« 
(dieses ist wohl der fundamentalste Grundsatz für die erfolgreiche Behandlung 
psychisch abnormer Fürsorgezöglinge! D. Referent). Weitere Einzelheiten, an 
denen die Darstellung reich ist z. B. über die Jugendgerichte, Strafmündigkeits- 
grenze, erforderliche Einsicht zur Erkenntnis der Strafbarkeit im Sinne des § 56 
8tr.-G.-B., über die körperlichen Züchtigungen usw. in Anstalten, müssen im Original 
nachgesehen werden. 

Der zweite Teil der Arbeit, der sich mit der zukünftigen Rechtslage befaßt, 
eignet sich noch weniger zu einer genaueren Besprechung, darf aber dafür um so 
mehr im Original empfohlen werden. Es seien nur wenige Punkte herausgegriffen. 
In dem »Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch« ist die Strafmündigkeits- 
grenze aus dem Bereich der Schulpflicht hinaus auf das 14. Jahr hinaufgerückt. 
»Kinder im Alter von 12—14 Jahren sind eben fast durchweg sittlich und geistig 
noch dergestalt in der Entwicklung begriffen und unfertig, daß sie strafrechtlich am 
besten nicht verantwortlich gemacht werden.« Mit Rücksicht auf das Fürsorge- 
erziehungsgesetz wird von der früher vorgesehenen Unterbringung in Zwangs- 
erziehung bei 8trafmündigon verbrecherischen Kindern nicht mehr gesprochen. »Das 
künftige Strafgesetzbuch sieht die Jugendlichen (14—18 Jahr) grundsätzlich als 
vermindert zurechnungsfähig an«, der Grund dieser Bevorzugung liegt aber 
auf rein natürlichem (physiologischem), nicht krankhaftem Gebiet, im Gegensatz zu 
der eigentlichen »verminderten Zurechnungsfähigkeit«, die nunmehr Anerkennung 
finden soll. 

Ein besonderer Fortschritt ist die Ermächtigung der Richter, von Bestrafung 
abzusehen. »Wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend sind und der 
verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen entschuldbar 
erscheint«, darf das Gericht von Strafe absehen oder sie mildern. Es muß also 
der Jugendliche nicht mehr, »weil das Gesetz es verlangt«, bestraft werden. Schon 
der Staatsanwalt kann von Erhebung der Anklage absehen. 

Das Kapitel »Entwurf der Strafprozeßordnung« bringt eine reichhaltige Kritik 
und Besprechung der Jugendgerichte und der Jugendfürsorge. Auch Schultze 



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C. Literatur. 



371* 



spricht für eine enge Vereinigung dieser beiden nach dem Satz, der von einem be- 
kannten Kriminalisten stammt: »Jugendgericht und Jugendfürsorge gehören zu- 
sammen wie Mann und Frau«. 

Man wird erkennen, daß der vorliegende Entwurf, wenn er bringen wird, 
was er verspricht, vieles dem Wohl der Jugend Förderliche in sich birgt, daß die 
Seelenforschung des normalen und abnormen Kindes in reichem Maße berücksichtigt 
wurde und daß die Zeit gekommen ist, wo sie beginnt, Früchte zu bringen. 

Dr. med. Hermann. 

Lewandowski, Dr. JL, Schularzt in Berlin. Ausübung und Ergebnisse der 
Schulhygiene in den Volksschulen des Deutschen Reichs nach dem 
Stande vom Sommer 1908. Im Auftrage der Deutschen Zentrale für Jugend- 
fürsorge (Ausschuß für Gesundheitspflege) bearbeitet. Leipzig, B. G. Teubner. 
32 S. Preis 0,50 M. 

Die ungemeine wichtige Arbeit gibt ein Bild über alle Einrichtungen und 
Maßnahmen, die die deutsche Volksschule im Interesse der Gesundheit ihrer Zög- 
linge bisher getroffen hat, und zwar haben von 524 Orten mit mehr als 10000 Ein- 
wohnern 468 ordnungsmäßig die Fragebogen ausgefüllt. Von Orten mit mehr als 
30000 Einwohnern erteilten keine Auskunft: Buer, Schwerin i. Meckl., Deutsch- 
Wilmersdorf, Münster, Aachen, Crefeld, Frankfurt a. M. Im Interesse der Sache 
ist das sehr zu bedauern. — Aus den Ergebnissen können wir hier nur kurz die 
allerwichtigsten Daten anfuhren, möchten aber jedem die Arbeit zu genauem Studium 
eindringlich empfehlen. An 202 Orten und für 1230 Schulen sind noch keine Schul- 
ärzte angestellt Gymnastische Übungen wurden in den Pausen in 193, in Unter- 
brechungen des Unterrichts in 236 Orten vorgenommen; orthopädischer Turnunter- 
richt für rückgratverkrümmte Kinder fand von Gemeindewegen nur in 22 Orten 
statt. Rudern — für das für höhere Lehranstalten mancherorts beträchtliche 
Summen bewilligt sind — wird in 4 Orten auch unter den Volksschülern zu fördern 
gesucht Spielnachmittage waren an 226 Orten geschaffen. Für schwächliche 
Kinder haben 33 Orte Walderbolungsstätteu, 3 Waldheime, 8 Waldschulen, 3 Wald- 
sanatorien. Über die Ernährungsfrage wurden von der Zentralstelle für Volkswohl- 
fahrt Fragebogen ausgegeben, deren Endergebnis noch aussteht. 3 Orte machten 
darüber noch besondere Angaben, so einer in Ostpreußen, wo Zichorienkaffee mit 
Brot oder Semmel die »Hauptnahrung der Kinder« bildet. Belehrung über die Ge- 
fahren des Alkoholgenusses im Unterricht wurde in 443 Orten erteilt, davon in 
einem sogar lehrplanmäßig. »Nur in 85 Orten (davon in 9 teilweise, in 5 infolge 
Regierungsverfügung) waren seitens der stadtischen Schulverwaltung Anweisungen 
ergangen, Turnfahrten. Schulausflüge usw. ohne den Genuß alkoholischer Getränke 
ausführen zu lassen. In vielen Fällen hatten die Schulleiter und Lehrer dies selbst 
angeordnet, und zahlreiche Anerkennungen besagen, daß dies doch selbstverständlich 
sei« (S. 21). Ein Ort Rheinhessens bezeichnet Ausflügo und Tumfahrten ohne 
Alkoholgenuß als »undenkbar«. Belehrung im Unterricht findet zwar statt, »glaubt 
aber niemand!« — 20 Orte haben bereits Schulzahnkliniken; regelmäßige Unter- 
suchungen der Zähne und des Zahnfleisches der Kinder fanden in 163 statt (in 41 
durch Schulzahnärzte). Schulaugenärzte haben erst 3 Orte. Eine Beratung der die 
Schule verlassenden Kinder für die Berufswahl mit Rücksicht auf die Sehschärfe 
haben leider erst 152 Orte eingeführt Für den Unterricht hochgradig Schwer- 
höriger ist noch sehr wenig gesorgt; 438 Orte geben den Schwerhörigen besondere 
Klassenplätze. Sprachheilkurse gibt es auch nur in 196 Orten. Über Handfertig- 



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380 C. Literatur. 



keitsunterricht and Beseitigung des Nachmittagsunterrichtes ist man sehr uneins. 
Aufsichtsbehörden , Kreisschulinspektor usw. haben bisweilen die Beseitigung des 
Nachmittagsunterrichts verwehrt. Ein Ort will ihn aus hygienischen und pädago- 
gischen Gründen (aus welchen?) nicht abschaffen. Für Schwachbefähigte bestanden 
in 103 Orten Hilfsklassen, in 169 Hilfsschulen. Bezeichnend ist es, daß in einem 
Ort die Einrichtung einer Hilfsschule an konfessionellen Ansprüchen scheiterte. 
»Daß der leidige konfessionelle Gegensatz in unserem Vaterlande bei manchen ge- 
mischten Gemeinden die Beantwortung der Fragen erschwert hat«, wird übrigens 
auch S. 32 bemerkt. 46 Orte haben einen Stellennachweis für Schwachbefähigte. 
1 Ort erat macht an die Militärbehörde Mitteilung. In 238 Orten wurden tuber- 
kulöse oder tuberkuloseverdächtige Kinder durch den 8chularzt festgestellt, in 
109 Orten wurden sie vom Klassenunterricht ausgeschlossen. 

Man wird aus diesen wenigen Zahlen schon einen kleinen Eindruck gewonnen 
haben von der Fülle und der Wichtigkeit der in diesem Heft vereinten Zahlen. Für 
die pädagogische 8tatistik werden sie unentbehrlich sein. 

Die deutsche Arbeitsschule. Organ für eine einheitliche Gesamterziehung des 
heranwachsenden werktätigen deutschen Bürgertums. Mit der Sonderabteilung: 
»Das Lehrlingsheim und der Jugendgerichtshof.« Unter Mitwirkung einer großen 
Reibe von Volkswirten und Schulmännern herausgegeben von Dr. W. Kley, 
Direktor der städtischen Gewerbe- und Handelsschule in Harburg a. d. E. Monat- 
lich erscheinen 2 Hefte. Preis für das Vierteljahr 2 M. Hannover-List, Verlag 
von Carl Meyer (Gustav Prior). 

Einige Mitteilungen aus dem Inhalte dieser im 2. Jahrgange erscheinenden 
Zeitschrift werden am besten über die Bestrebungen orientieren. Der 1. Teil eines 
jeden Heftes bringt Abhandlungen und Aufsätze. Aus dem 2. Jahrgange seien ge- 
nannt: Begabung und Neigung von Otto 8chulze-Elberfeld; der Illustrator von Paul 
Westheim; die Schule der Zukunft von Gansberg- Bremen; Waldschulen von 
Dr. Penzig, Stadtrat in Charlottenburg; Englisches Erziehungswesen — ein Vorbild 
für uns? von Geh. Oberregierungsrat Dr. Matthias; die Idee des Arbeitsunterrichtes 
von Paul Hoche- Wriezen; Richtlinien für den staatsbürgerlichen Unterricht von 
Dr. Otto Richter- Düsseldorf ; Naturalistisches Zeichnen und Kunstunterricht von 
Dr. Hofmann- Augsburg. Im 2. Teile finden wir Mitteilungen und Berichte über 
»Handwerk, Gewerbe und Handel nebst deren Standesvertretungen in ihren Wechsel- 
beziehungen zur Schule«. Es folgen noch: »Arbeita-Handfertigkeitsunterricht, Lehr- 
werkstätte und Fachschule; aus der Praxis der gewerblichen Fortbildungsschule; die 
Mädchenfortbildungs-, Frauen- und Haushaltungsschule; für die Praxis des Lehr- 
lings- und Jugendheims. 

Aus diesem Verzeichnisse ist ersichtlich, daß die Zeitschrift vor allem im 
Dienste der Förderung unserer schulentlassenen Jugend steht. Sie wird ihrer Auf- 
gabe gerecht, indem sie die Fragen und Probleme der Erziehung der schulentlassenen 
Jugend nicht engherzig und einseitig behandelt, sondern sie in den Zusammenhang 
der Gesamterziehung unserer Jugend hineinstellt. Daß die Fragen des Werk- und 
Handarbeitsunterrichtes und der Arbeitsschule besonders betont werden, erscheint 
bei dem Charakter der Zeitschrift als selbstverständlich. Damit ist auch der Titel 
»Die deutsche Arbeitsschule« gerechtfertigt. Manchen Artikeln sind Abbildungen 
beigegeben, die sich durch Klarheit und Deutlichkeit auszeichnen, z. B. Arbeits- 
aufgaben der Schülerwerkstatt von H. Pralle-Hamburg, H. Jahrg. Heft 7; die Aus- 
stellung von Schülerarbeiten der kunstgewerbl. Lehranstalten der Provinzen Rhein- 



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C. Literatur. 



381 



land, Westfalen and Hessen -Nassau im Kunstgewerbe-Museum zu Düsseldorf von 
K. H. Otto, II. Jahrg. Heft 5. Die Hervorhebung der künstlerisch technischen 
Bildung und des guten Geschmackes wird reoht angenehm empfunden. 

Die Zeitschrift Hegt in sauberer Ausstattung vor und wird siohtlich mit großem 
Fleiße und warmen Interesse bearbeitet. Ihre Aufgaben und Ziele raachen eine 
weite Verbreitong über die engeren Interessentenkreise wünschenswert, denn auch 
mancher, der den genannten Bestrebungen ferner steht, wird sie nicht ohne Nutren 
lesen. Rössel-Hamburg. 

Hoffmann, P., Lesebuch für den Stimmbildungsunterricht (Sprach- 
gebrechen, Stimmkrankheit). Auf Grundlage der Stimmbildungslehre des Professors 
E. Engel in Dresden bearbeitet. Halle a. S., Verlag von Gebauer -Schwetschke. 
0,80 M. 

Vorliegendes Büchlein ist ein wertvolles Hilfsmittel für den Sprachheilunter- 
richt und zugleich für die Behandlung Stimmkranker. Die Sprachheilbehaodlung, 
die in den letzten drei Jahrzehnten gebührende Beachtung in der Schule fand, litt 
an Einseitigkeit. Sie war zum Teil aus der Taubstummenpraxis hervorgegangen 
(Gutzmann-Berlin, Stöltzner-Dresden) und betrieb neben der Atemlechnik in erster 
Linie Artikulationsübungen, hinter denen Stimmbildungsübungen weit zurücktraten, 
sich eigentlich nur in Anfängen zeigten (Der gebauchte Summeinsatz, Bindung der 
Wörter eines Sprechganzen, Das sogenannte Brückenschlagen, z. B. Aller Anfang 

ist schwer). Bald aber rückte Gottfring in Kiel die vernachlässigte Seite der 

Heilbehandlung, die Stimmbidung ins Licht, auch Bohrisoh in Hannover pflegt sie. 
In Süddeutschland begann Prof. E. Engel, Lehrer der Vortrags- und Gesangskunst 
und Schüler von Heinrich Panofka (Mailand - Florenz 1807—89), seine Arbeit als 
Stimmbildner und heilte mit überraschendem Erfolge Lehrer, Sänger, Schauspieler, 
Pastoren, Offiziere, Rechtsanwälte u. a. von oft langjährigen HaLskrankheiten allein 
durch sprechtechnische Übungen. Der Grundzug seiner Methode ist: Höchste 
Leistung durch geringste Kraft. Die im Hoffmannschen Lesebuche enthaltenen ein- 
leitenden Erläuterungen machen den Übenden mit der theoretischen Begründung 
der Engeischen Methode kurz und leicht verständlich bekannt Durch Gewöhnung 
der Zunge in den vorderen Teil des Mundes, durch Festhalten eines sogenannten 
Treffpunktes, d. i. eine bestimmte Stelle des vorderen Gaumens, auf die der Sprech- 
strom ständig gerichtet bleiben muß, werden die weichen Teile des Kehlkopfes, 
Rachens und Gaumens entlastet. Durch die Verlegung der Klangfärbung in die 
härteren Gebiete des Ansatzrohres wird der Stimmklang wesentlich verstärkt. Das 
wird besonders dadurch erreicht, daß die Luftsäule möglichst eng geschlossen gegen 
den Treffpunkt geführt wird. Der gleichmäßige Fluß des Luftstromes wird erhalten, 
indem die Vokale der aufeinanderfolgenden Silben in enge Verbindung gebracht, die 
Ansatzstellen der Konsonanten aber möglichst weit in den vorderen Gaumen, fast 
an die Schneidezähne verlegt werden. 

Prof. Engel, seit einer Reihe von Jahren in Dresden wirkend, erfreut sich 
eines täglich größer werdenden , begeisterten Schülerkreises. Den Bemühungen 
seiner Schüler ist es gelungen, dem Stimmbildungsunterrichte in sachs. Seminaren 
und ünteroffizierschulen Eingang zu verschaffen. Andere, z.B. A. Hoff mann in 
Meißen, verpflanzten Engels Methode in den Sprachheilunterriehl, Franz Korony 
brachte sie 1908 nach Wien. P. Hoffmann scheint als Träger derselben für Halle 
berufen zu sein, durch sein Büchlein wird er es für weitere Kreise. Seine Übungs- 
reihen und -Sätze sind aus der Praxis seiner Sprachheilkurse hervorgegangen und 



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382 



C. Literatur. 



bringen nicht ein buntes Tausenderlei, sondern wenig, auf daß nicht Vieles, sondern 
viel geübt werde. Bio gleichen den Fingerübungen des Pianisten. Wie nun im Ge- 
sang oder im Klavier- oder anderem Spiel die beste Theorie ohne praktische Anweisung 
eines sachkundigen Lehrers erfolglos bleibt, so ist zur Erlernung einer gesundheits- 
gemäßen Sprechweise, auch zum Gebrauch des Uoffmannschen Lesebuches ein er- 
fahrener Lehrer nötig. Dann werden Sprachgebrechliche, Stimmkranke und -gesunde 
es mit Erfolg brauchen. Möge das Büchlein der Methode Engels, wie umgekehrt 
Engel dem Buche die Wege ebnen. 

Halle a, S. Fr. Sommer. 

Pannwitz, Der Volksschullehrer und die deutsche Kultur. Borlin- 
Schöneberg, Verlag der »Hilfe«. Prois 3 M. 

Wenn diese Schrift auch nichts von Kinderpsychologie, Psychopathologie und 
Hilfsschulbildung bietet, nichts, was eine Förderung dieser Gebiete bedeutet, so kann 
ich gleichwohl das eigenartig geschriebene Werk allen Lesern der »Zeitschrift für 
Kinderforschung« warm empfehlen, besonders den Volksschullehrern darunter, die 
von einer besseren Zukunft träumen, von einem reichen Lenz, den ihr 8tand er- 
leben soll. Pannwitz unterstützt diesen Traum durch seine geistreiche Vertiefung 
in das Kulturproblem, soweit es der Geschichte und der Gegenwart angehört, und 
durch schöne Zukunftsbilder, in die alles voller Originalität liineingewebt ist was 
die Besten unter uns dem Kinde und dem gesamten Volke wünschen. In vielen 
Stücken ist es radikaler wie alle. »Weltbildung, immer wieder Weltbildung! anstatt 
aller formalen und sozialen Bildung.« Das ist das Ideal des Verfassers, nach dem 
die Volksschullehrer -Kultur ein Kraftspeicher der gesamten Volkskraft werden soll, 
stets darauf ausgehend, frische Kraft zu werben und auszunutzen, anstatt einseitig 
zu übertragen. 

Würzburg. H. Schreiber. 

J. B. Basedows Elementarwerk mit den Kupfertafeln Chodowieckis u. a. 
Kritische Bearbeitung in 3 Bänden heransgegeben von Dr. Th. Fritzsch. Leipzig, 
Ernst Wiegandts Verlagsbuchhandlung. 1909. 

I. Band mit dem Bilde Basedows und einem Faksimile. LXIV und 543 Seiten. 

II. Band mit dem Bilde Chodowieckis. VII und 57t) Seiten. 

IIL Band mit einem Faksimile Chodowieckis und Wolkes. 35 Seiten und 100 Seiten 
Kupferstiche. Folio. 

Preis des Werkes im Stile der Zoit in Halbpergament gebunden 28 M. — Luxus- 
ausgabe in englischem Halbkalbleder 50 M. 

Der Name dos Verfassers verbürgt einen wertvollen Inhalt. Der Leipziger 
Dr. Th. Fritzsch hat sich bereits durch seine wertvolle Dissertation über Trapp 
rühmlich bekannt gemacht. Auch das vorliegende Werk beweist, daß er ein zu- 
verlässiger Kenner des Philanthropinismus ist. Das Werk war in Originalausgaben 
nur noch in Bibliotheken zu finden — einige Private mögen vielleicht die erste 
unvollständige Ausgabe von 1770 besitzen, — der Band mit den Kupferu war aber 
im Handel kaum zu haben und befand sich in den Händen von Liebhabern und 
Sammlern. Deshalb füllt die Neuausgabe tatsächlich eine vorhandene Lücke aus; 
jetzt iBt es jeder Lehrer- und Seminarbibliothek möglich, das Werk anzuschaffen. 

Die Einleitung bringt die eingehende Entstehungsgeschichte der 1. und 2. Auf- 
lage, ferner ein Kapitel über die Wirkung und Bedeutung des eigenartigen Buchos 
bis auf unsere Zeit; diese Teile gehören zu den wertvollsten des ganzen Werkes. 

Vor allen Dingen möchte ich auf einen Umstand hinweisen, der in allen Be- 
urteilungen übersehen wurde. Die vorliegende Ausgabe ist meines Wissens das erste 



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C. Literatur. 



383 



pädagogische Werk, das bibliophilen Ansprüchen genügt, wenigstens im äußeren. 
Es wäre interessant, zu erfahren, ob die vorzügliche äußere Ausstattung des Werkes 
nur schlechthin »im Stile der Zeit< hergestellt wurde oder etwa einem vorhandenen 
Exemplare des Elementarwerkes selbst nachgebildet worden ist. In diesem Falle 
könnte die Neuausgabe dem Bücherfreunde einen Ersatz für das unerreichbare 
Original bieten. Die äußere Ausstattung zeigt echten Halbpergamentband mit Spritz- 
papier in Handarbeit und oben Goldschnitt Wenn dazu auch noch die Drucktype 
dem »Stile der Zeit« angepaßt wäre, könnte dos Buch als ein Kunstwerk gelten. 

Es bleibt aber ein unbestrittenes Verdienst des Herausgebers und der Verlags- 
anstalt, die Neuausgabe eines pädagogischen Quellenwerkes in künstlerischer Aus- 
stattung zu bieten. Das ist durchaus neu — meist wurde in dieser Hinsicht nur 
Schlechtes geboten, und nur die Ausgaben pädagogischer Klassiker von Herrn. Beyer 
& Söhne (Beyer 4 Mann) in Langensalza können verwöhnten Ansprüchen genügen. 
Es ist das erste Mal, daß eine pädagogische Schrift eine gute und würdige Ein- 
kleidung gefunden hat, und es ist somit ein Buch für Freunde guter Bücher. Des- 
halb kann die vorliegende Neuausgabe zugleich ein Wegweiser zum Besseren auf 
dem Gebiete der Verlagsarbeit pädagogischer Werke sein. 

Rudolstadt. Dr. phil. Hugo Schmidt. 

Exarchopulos, Dr. phil. Nicolaus, Das athenische und spartanische Er- 
ziehungssystem im 5. und 6. Jahrhundert v. Chr. Heft 377 des Pädag. 
Magazins. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer k Mann). 151 Seiten. 
Preis 2 M. 

Der Verfasser untersucht die Abnängigkeit der Erziehungsmaßnahmen vom 
Klima, dem Boden, der Staatsverfassung und chaiaktorisiert im Sinne dieser Faktoren 
die gesamte Erziehung in Athen und Sparta. Im ersten Teile findet man die 
allgemeinen, grundlegenden Fragen abgehandelt, im zweiten Teile werden die 
Erziehungsmittel besprochen. 

Der Verfasser hat ein derartig umfangreiches Material verarbeitet, daß die 
Abhandlung auch dem bolesenen Kenner des griechischen Altertums noch Neues 
bietet. Der § 9 über die erziehenden Personen und der § 17 über den Unterricht 
sind außerordentlich lesenswert; ganz neu ist das letzte Kapitel über die Erziehung 
der Mädchen in Athen und Sparta. 

Das Buch ist als Ergänzung zu jeder Geschichte der Pädagogik unbedingt zu 
empfehlen und bietet auch der Jugendforschung wertvolles Material. 

In der gleichen Sammlung erschien als Heft 360 ein Schriftchen von 
Flügel, O n Die Idee des Rechts und der Gerechtigkeit bei Homer und 

Hesiod. Heft 360. Ebenda. 66 S. Preis 80 Pf. 

Der Verfasser bietet uns darin eine interessante Studie aus der griechischen 
Ethik. Flügel, einer unserer besten Herbartkenner, weist dabei einen deutlichen 
Znsammenhang der griechischen Ethik mit den Gedankengangen Herbarts nach. 
Arena, Rektor, Wie fördert die Schule die 8prachfähigkeit der Kinder? 

Heft 387. Ebenda. 30 S. Preis 40 Pf. 

An der Hand von Leitsätzen legt der Verfasser seine Mittet dar, die dem 
Kinde zu einem selbständigen Ausdrucke in seiner Muttersprache verhelfen sollen. 
Er will vor allen Dingen mit dem Gedankon vollen Ernst machen, den mündlichen 
Ausdruck in den Mittelpunkt des gesamten Unterrichts zu stellen; als 
Mittel dazu führt er an: lautphysiologische Übungen, sinnliche Anschauungen, das 
freie Lehrgespräch, die Lehraufgabe anstatt der Lehrfrago und das Hinausschieben 
des Schreibleseunterrichtes in das 2. Halbjahr. In bezug auf das »Wiet und die 



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384 



C. Literatur. 



praktische Durchführung dieser bekannten Prinzipien Läßt uns aber der Verfasser 
im Stiche; er wiederholt nur übersichtlich die Forderungen Hildebrandts, der Kunst- 
erziehungstage usw., ein wirkliches, praktisches und anwendbares Mittel zur Ver- 
wirklichung dieser Grundsätze, wie sie z. B. der Leipziger Direktor Prof. Dr. Oaudig 
in seinen »Didaktischen Präludien« usw. gegeben hat, sucht man vergebens. 
Blocher, Eduard, Pfarrer in Zürich, Zweisprachigkeit Vorteile und 
Nachteile. Heft 385. Ebenda. 14 R Preis 20 Pf. 

Das Schriftchen bildet in gewisser Beziehung die Grundlage zum Verständnis 
des folgenden Heftes, da es die wesentlichen Merkmale des Begriffes Zweisprachig- 
keit erörtert 

Lombard, Julian, Kreisschulinspektor, Zweisprachige Schulen im Reichs- 
lande. Heft 386. Ebenda. 44 S. Preis 40 Pf. 

Lombard klärt uns über die Sprache des Elsässers auf — also zwei ganz 
moderne Schriftchen. Bloch er erörtert die Begriffe natürliche und künstliche 
Zweisprachigkeit die in der Kindheit — und die später erworben wird, ihre Vor- 
teile und Nachteile, schließlich wird sie erzieherisch gewürdigt Lombards Ab- 
handlung zieht die schultechnischen Konsequenzen aus der Zweisprachigkeit des 
Elsässers. Es ist ein Notstand, der seinen Grund in der Geschichte des Landes 
hat und durch verschiedene Maßnahmen überwunden werden muß; — welche diese 
sind, mag der geneigte Leser selbst nachlesen, er wird seine psychologischen und 
politischen Kenntnisse bereichern. 

Rudolstadt Dr. phil. Hugo Schmidt 

Eingegangene Schriften. 

Blätter für die Schulpraxis, begründet von J. Böhm, herausgegeben von A. Fritz. 
Nürnberg, Friedrich Korn sehe Buchhandlung. XXI. Jahrgang. 

österreichischer Schulbpte, Zeitschrift für die Praxis der österr. Volks- u. Bürger- 
schulen (Schriftleiter: Scbulrat Franz Frisch, Direktor d. Landes-Lehrerinnen- 
anstalt in Marburg a. Dr.). Wien, Verlag von A. Pichlers "Witwe & Sohn. Pr. 
vierteljährlich 1,80 K. 

Evangelisches Schulblatt begründet von Fr. W. Dörpfeld. In Verbindung mit E. 
Hindrichs und C. Foltz und Dr. G. von Rohdon herausgegeben von C. 
Achinger. Gütersloh, Druck u. Verlag von C. Bertelsmann, 1909. 53. Jahrg. 
Preis jährlich 6 M. 

Monatsblätter für den evangelischen Religionsunterricht Zeitschrift für Ausbau und 
Vertiefung des Religionsunterrichts und der religiösen Erziehung in Schule, 
Kirche und Haus. Herausgeg. von Heinrich Spanuth. Göttingen, Vanden- 
hoek A Ruprecht. Preis halbjährlich 3 M. 

Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit Herausgeg. 
von Helene Lange. Berlin 3., W. Mosers Buchhandlung. 

Verhandlungen der 10. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Schulgesund- 
heitspflege. Am 1. und 2. Juni 1909 in Dessau. Sonderabdruck aus dem IX. 
Jahrgänge der Zeitschrift Gesunde Jugend. Leipzig u. Berlin, Druck und Verlag 
von B. G. Teubner, 1909. Preis geh. 4 M. 

Revue de Philosophie paraissant tous les mois. Directeur E. Peillaube. Paris, 
Marcel Riviere Sc Co., Editeure. lOe Annee. Prix de 1' Abonnement 25 Fr. 

Aunnaire de l'Universitö de 8ofia. V. 1909-1909. II. Faculte Physico-Mathe- 
matique. Sofia 1910. 

Druck von Hermann Beyer & Sohne (Beyer * Mann) in Langensalza. 



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