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Full text of "Pädagogische Studien"

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Pädagogische 
Studien 


HARVARD  UNIVERSITY 


LIBRARY  OF  TBE 

GRADUATE  SCHOOL 
OF  EDUCATION 


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rX  ^  HARVARD  UNIVERSITW 

^  P'  GRADUATE  SCHOOL  OF  EDUCATKMt 
V-  LM-I^J  LIBRARY 


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Pädagogische  Studien 


Neue  Folge 


Herausgegeben 


von 


Dr.  W.  Rein 

Pro/msor  an  der  Univertität  tu  Jma. 


XII.  Jahrgang 


Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer 
(Paul  Th.  Kaemmerer.) 


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Inhaltsverzeichnis 

des  XII.  Jahrganges  (1891). 


A.  Abhandlungen. 

1.  Prtf.  Dr.  W.  Rein,  Rembrandt  ab  Erzieher  S.  1 —  15 

3.  A.  Lomberg,  Sachrechnen  (Fortsetzung  u.  Schlufs)  .    .   .   .  „  16—  32 

und  „  65—  73 

3.  K.  Bodenstein.  Zum  „System"  im  Geschichtsunterricht    .    .  „  129—146 

4.  Semlnardirector  Dr.  R.  Steide,  Zur  Anwendung  der  Formal- 

stufen im  Religionsunterricht  „  193 — 205 

B.  Mitteilungen. 

1.  H.  6ro8«e,  Fr.  Wilh.  Lindner  —  ein  Vorläufer  der  Kulturstufen- 
idee. —  P.  Zillig,  Die  Vereinigung  von  Freunden  der 
Pädagogik  Herbart-Zillers  in  Unterfranken.  —  Vom  griechi- 
schen Schulwesen.  —  Herbart  in  Amerika.  —  J.  Tews,  Der 
erste  deutsche  Lehrertag  in  Berlin.  A.  Lomberg,  Verein 
für  Herbartische  Pädagogik  in  Rheinland  und  Westfalen.  — 
Von  der  Benderschen  Erziehungsanstalt  in  Weinheim  a.  d. 
Bergstrasse  —  Aus  „Lichtenbergs  ausgewählten  Schriften". 

—  Die  Unterrichtsverfassung  der  preufsischen  Gymnasien 

vom  12.  Januar  1816.  —  Thrändorf,  Selbstanzeige   .   .   .  „    32 —  58 
3.  H.  Grosse,  Fr.  Wilh.  Lindner  —  ein  Vorläufer  der  KuTturstufen- 
idee.  —  Job.  Trfiper,  Zum  Kampf  um  die  Schule  (Fortsetzung). 

—  Seminarkonferenz  zu  Barby. —  Der X. deutsche  Kongrefs 
für  erziehliche  Knabenhandarbeit  in  Strafsburg.  —  Zeit- 
schrift für  den  evangelischen  Religionsunterricht.  —  Die 
HI.  Hauptversammlung  des  allgemeinen  deutschen  Sprach- 
vereins. —  Finanzminister  Miquel,  über  die  Schutfrage.  — 
Die  Volksschule  in  Frankreich  und  Deutschland.  —  Prof. 
Dr.  Gastav  Teichmüller,  Pädagogiaches  —  Prof.  Dr.  Eucken, 
Fragen  der  Schule  —  Fragen  der  Zeit.  —  Ober  die  Aus- 
sprache des  Griechischen  in  unseren  Gymnasien.  —  Ge- 
meinschaftliche Sitzung  der  Zweigvereine  Altenburg,  Halle, 

Jena,  Leipzig  zu  Weissenfeis.  —  Herbart  in  Amerika    .  „    73 — 125 
3.  F.  Hornemann,  Der  deutsche  Einheitsschulverein  im  Jahre  1890. 

—  Dr.  Rod.  Menge,  Lehrgänge  und  Lehrproben  aus  der 
Praxis  der  Gymnasien  und  Realschulen  —  6.  Dehio,  Die 
Schulreform  und  das  Auge  —  H.  Chili,  Die  Mittelschulen 
in  Preufsen.  —  J.  L  Jetter.  Die  Herbartsche  Pädagogik  in 
Württemberg.  -  F.  W.  D.  Krause,  Begehren  und  Wollen.  — 
Die  Pädagogische  Vorbildung  der  Kandidaten  für  das 
höhere  Schulamt  in  Baiern.  —  Herbartverein  in  Eisenach. 

—  Oster-Programme  1891.  —  Aus  dem  Pädag.  Universitäts- 
Seminar  zu  Jena.  —  Dr.  Beyer,  Hauptversammlung  des 
Vereins  für  Knabenhandarbeit.  —  Job.  Trfiper,  Zum  Kampf 

um  die  Schule  (Fortsetzung)  146—188 


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-    IV  - 


4.  R.  Biirkner,  Baumgarten,  Evangel.-soziale  Streitfragen.  - 
Dr.  B  Maennel,  Zur  Litteratur  des  Naturgeschichtsunter- 
richts. -  Neue  Bahnen.  —  E.  Sohotz,  Ist  die  Unkenntnis 
der  neuesten  Geschichte  ein  besonderes  Merkmal  der 
deutschen  Jugend?  —  Neudrucke  pädagogischer  Schriften. 
—  Stichlina,  Aus  53  Dienstjahren.  —  H.  Chili,  Verbreitung 
der  Knabenhandarbeit  in  Deutschland.  H.  Chili,  Zwangs- 
erziehung verwahrloster  Kinder  in  Preufsen.  —  Joh.  Trüper, 
Zum  Kampfe  um  die  Schule  (Fortsetzung).  -  23  Haupt- 
versammlung des  Vereins  für  wissenschaftl.  Pädagogik  .  S.  205—245 

C.  Beurteilungen. 

t.  Otto  Fischer,  Leben,  Schriften  und  Bedeutung  der  wichtigsten 

Pädagogen  bis  zum  Tode  Pestalozzis  (Eisenhofer)  .    .    .  „     58 —  60 

2.  Fr.  W.  D.  Kraute,  Die  Kant-Herbartsche  Ethik  (O.  Foltz)    .  „    60—  63 

3.  Dr.  Max  Schilling,  Quellenlektüre  und  Geschichtsunterricht 

(Dr.  Göpfert)  ,,     63 —  64 

4.  Dr.  Joh.  Barchudariao,  Inwiefern  ist  Leibnitz  in  der  Psychologie 

ein  Vorgänger  Herbarts  (O.  Foltz)   126—128 

5.  Dr.  Albert  Schwegler,  Geschichte  der  Philosophie  im  Umrifs 

(H.  Grofse)  188—189 

6.  Ernst  Lüttge,  Adolph  Diesterweg  in  seiner  Bedeutung  für  die 

Hebung  des  Volksschullehrerstandes  (F.  Hollkamm)   .    .  ,,   189  —  190 

7.  Franziskus  Hähnel,  Einer  für  Alle  (F.  Hollkamm)  190— 191 

8.  Otto  Bismarck,  Das  Kartenzeichnen  und  Kartenskizzen  für  den 

Unterricht  in  der  Erdkunde  (Maennel)  ,   191  — 192 

9.  Höhlbaum,  Das  Buch  Weinsberg  (Ziegler)  ,,  192 

10.  Kurt  Adelfels,  Das  Lexikon  der  feinen  Sitte  (Bliedner)  .    .  ,,  245 — 247 

11.  Wartenberg,  Lehrbuch  der  lateinischen  Sprache  als  Vorschule 

der  Lektüre  (Haupt)  „  247 — 248 

12.  Gast  Frdoh.  Pfisterer,  Pädagogische  Psychologie  (Eisenhofen)  „  248—252 

D.  Anzeigen. 

1.  Moderne  Kunst  64 


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Pädagogische  Studien 


Neue  Folge. 


Herausgegeben 

ron 

Dr.  W.  Rein, 

Profwar  a.  <i.  Uuiwnitüt  Jena. 
XII.  Jahrgang.    Erstes  Heft 


Inhalt: 

A.  Abhandlungen:  i.  Prof.  Dr.  W.  Rein,  Rcmbrandt  als  Erzieher. 
2.  A,  Lombcrg,  Sachreehnen  .'Fortsetzung). 

B.  Mitteilungen:  i.  H.  Grosse,  Fr.  Wilh.  Lindner  —  ein  Vorläufer 
der  Kulturstufenidee.  2.  P.  Zill  ig,  Die  Vereinigung  von  Freunden 
der  Pädagogik  Herbart-Zillers  in  Unter  franken.  3.  Vom  griechischen 
Schulwesen.  4.  Herbart  in  Amerika.  5.  J.  Tcws,  Der  achte  deutsche 
Lehrertag  in  Kerlin.  6.  A.  Lomberg.  Verein  für  Herbartischc 
Pädagogik  in  Rheinland  und  Westfalen.  7.  Von  der  Benderschen 
Erziehungsanstalt  in  Weinheim  a.  d.  Pergstrasse.  8.  Aus  ,, Lichten- 
bergs ausgewählten  Schriften".  9.  Die  Unterrichtsverfassung  der 
preussischen  Gymnasien  vom  12.  Januar  i8H>.  10.  Thrändorf, 
S< dbstanze  ige. 

C.  RenrtellniiKen:  i.Otto'Fischer  (Eisenhofer).  2,  Fr.  W.  D  Krause 
(Foltz).   3.  Dr.  M.  Schilling  (Göpfert). 

D.  Anzeigen:  Moderne  Kunst. 


— 


Dresden. 

Verlag  von  Bleyl  A  Kaemmerer 
<p««i  Tfc.  Kmmmmr.) 

IMt. 


'fr.  ) 


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pirtage  giftet  Örrlag  s.  filtql  4  fiatmmtrcr  <}>.  tl).  «atmmttf  r)  in  Drrrtrn. 


(Ileue  ) 
herausgegeben  von 
pcofejfor  Dr.  $P.  gUitt  in  3«na. 

preis  bes  einjelnen  §eftes:     m.  20  pf. 

Drrjeidjmö  oer  gröjlrren  3Lbt)anMnna,eu  Her  bereits  erfdpenenen 

Jahrgänge. 

3ab,rgang  1880. 

$eU    L   Dr.  S.  v.  Sa Itwürf,  Dber1$u(rat  in  ftarMrufte    »oufieau*  Stellung  "»  »«bogogtl 
unb  in  bfr  <Bri$iditr  bet  »to<.goglf. 
w    IL   Dr.  ttiftarbStaube,  Stbulblreftet  in  «ifena*.  Ulf  tuIrurbiftorifaVii  Stufen  im  Unter- 
ria>t  bei  Solttfcftule. 

.  Ul.  9.  *.  Sfraet,  Cberleljrer  am  Mnigl.  ßebrertnueu;  Seminar  in  Drrtben.    Dotbtetb  unb 
bie  Äfaffenfeage. 

„   IV.   Dr.  «arl  S.  9uft  in  «ltenburg.   Die  Sfu$ptogie  im  8ei>er>6eminar.   «in  »ertrag  jur 
«ulbilbung  ber  SWmiflenfAaften. 

3abrgang  1681. 

fceft    I.  Dr.  Ibranbort ,  Seminartefcrer  in  «uerbod»  i.  S.,  ftrittifte  Setradmingen  über  bie  „Run* 
tatectoe." 

„    U.  C.  gl« gel  in  64odm>ife.  über  bie  metaptoflfa,e  «runblage  ber  Sfuc$olo«te  fterbart«. 
in.  Dr.  «.  ».  Sairmflrr.-CberWulrat  in  ftttrWtufc.  Die  TOufterfdjute  in  öruffel.  («om 

pdbagogHiten  R<mg«6  1880). 
„  IV.  Dr.  IB.  Mein,  Aber  bie  Organisation  ber  ßebjerbilbung  in  Deutid>lanb.  Borrrag  Behalten 

auf  ber  Semtnarleftterberlommlung  w  Berlin  im  $erbfl  1881. 

9aftrgana  1882. 

fcfft    I.  Dr  .  «  .  »liebner,  «ifena*.  Serfuflj  einer  fcmcentratian  be«  litterarurtunMtdRm  Unter» 
tiefet  8. 

„    n.  3.  $etm,  Semtnarbireftor  in  6d,w«bad>,  Uber  ben  smufifunterrtAt  an  ben  Sefeterbilbuna,« 
«nftalten. 

„    Iii.    1.  w.  Jö  1 11  ni t ,   iLDerif ijrcr  ui  notptMi,    »ium  wn<aictt9uinfvnrt5t  auf  ben  ©ennnart'it.  — 

t.  D.  Steiner  ib.,  Über  bie  Soncenttation  be*  Untectidjt*. 
«   IV.   Dr.  W.  Sd»iUina,  Die  fabago««  «afebott*  in  ibm  etbifdVn.  reli^i?*  ^  tmb  9fttd>o(ogvid)en 

iÖcbctt  t  uriii 

,  Jahrgang  1883. 

4ft      I.   1.  Dr.  ZferÄnborf,  Die  Rtrdie  unb  ber  Aeltgiontunrerritfit  bet  <ft)ietung«fd>ule.  —  2.  ffi. 

«eil,  Überfidjt  Ober  bie  beutige  ^artogutobje 
.     II.    Retter  $.  fBinjer,   3ft  bie  $etmattunbe  ein  felfrfianbiger  Untrtricbttgegenftanb  ?  — 

8.  Ctto  tB.  Ben  er,  bie  «aturhmbe  im  erjiebenben  Unterriat. 
„    III.  1.  «.  cjeinetfe,  bie  »Übung  be«  ttngefftbU.  -  3.  Dr.  «Jofert,  Über  bie  SRetftobe  be« 

gcpgraptjif rticrt  Unterrid)t«. 
,    IV.  Dr.  ©.  »ein,  «inige  Semerrungen  ju  bem  «eferat  be«  ©erm  Dr.  grid:  3n  wie  weit  finb 

bie  fterbart*,  BiOer^  StoDfdjen  bibaft.  «runtfd*  für  ben  Unterd«t  an  ben  ^dberen  €*ulen 

ju  bcrwerren? 

3ab.rgang  1884. 

Wt    I.  *orn  in  Drfoö,  bie  «atbematit  in  ben  8el>rerbtlbung«anftalten. 
„    II.  3<Kig,  ein  neuer  SBerfud»,  bie  »äbagogif  al«  JBtfienjcJjaft  &u  populariffereu. 
„  ID.  Dr.  S.  »ubinftein,  Über  Soiaru«  „Beben  ber  Seele."  -  8.  «  Stiel.  SrÄttoroHonen 

au«  ber  matbcmattfcbfii  Weoaratiliif 
„    IV.  Dr.  3ufl,  jur  «infü^rung  in  8»0*t«  ötwr. 


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A.  Abhandlungen. 
L 

Rembrandt  als  Erzieher. 

Besprochen  von  W.  Rein  in  Jena. 

Ein  sonderbares  Buch;  anziehend  und  abstofsend,  aufregend 
und  abspannend,  fesselnd  und  ermüdend.  Durch  und  durch  sub- 
jektiv, formlos,  maniriert,  reich  an  phantastischen  Gebilden,  voll 
paradoxer,  verwegener,  übertriebener  Urteile,  daher  oft  Anlafs 
gebend  zu  allerhand  Ärgernissen.  Dabei  in  nicht  wenigen  Partieen 
überzeugend,  beinahe  hinreifsend ,  dicht  daneben  Darstellungen, 
aus  denen  man  den  Ton  einer  geistvoll  geschriebenen  Bierzeitung 
zu  hören  meint.  In  einem  nervösen  Zeitalter  geboren  predigt  es 
zwar  Ruhe,  macht  aber  den  Leser  selbst  nervös,  sobald  derselbe 
versucht,  mehrere  Seiten  nach  einander  zu  lesen.  Das  Buch  kann 
nur  in  homöopathischen  Dosen  genofsen  werden ;  sonst  sättigt 
es  den  Menschen  in  einer  Weise,  dafs  Überdrufs,  ja  beinahe  Ekel 
sich  einstellt.  Ist  es  die  Fülle  der  Gedanken  vielleicht,  die  ein 
längeres  Verweilen  schwächlichen  Geistern  verbietet  ?  Oder  #ist 
Stil  und  Deduktion  so  gekünstelt,  dafs  selbst  stärkere  Naturen 
sich  abgestofsen  fühlen?  Though  this  be  madness,  yet  there  is 
method  in  it,  kann  man  mit  Polonius  sagen.  Und  diese  Methode 
ist  aufreibend.  Nicht  jeder  kann  das  fortwährende  Zerren  an 
seinen  Gefühlen  bald  hierin,  bald  dorthin  vertragen,  nicht  jeder 
mag  die  Sprünge  vom  Hundertsten  ins  Tausendste  längere  Zeit 
mitmachen.  Dazu  reicht  bei  vielen  Atem  und  Spannkraft  der 
Muskeln  nicht  aus.  Dann  ist  die  Verdammnis  nahe :  Ungeniefs- 
bares  Zeug;  weg  damit.  Was  gut  ist  in  dem  Buch,  ist  schon 
gesagt,  und  besser.    Also  schweigen  wir  lieber. 

*)  Leipzig,  Hirschfeldt  1890.    19.  Auflage. 

Pädagogische  Studien.    I.  J 


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—     2  — 


Andere  aber  schweigen  nicht,  sondern  verkünden  laut,  wie 
sehr  sie  sich  abgestofsen  fühlen  durch  schroftc  Urteile,  durch  die 
grelle  Beleuchtung,  unter  welche  so  vieles  gerückt  erscheint.  Der 
gläubige  Katholik  fühlt  sich  verletzt  durch  die  Verherrlichung 
Luthers  und  verschreit  das  Buch  als  ein  Werk  des  Antichrists. 
Der  orthodoxe  Protestant  ereifert  sich  an  der  Zeichnung  des 
grofsen  Nazareners.  Der  Professor,  dessen  Weg  übrigens  (nach 
einem  Zitat)  mit  Gemeinheit  gepflastert  sein  soll,  steht  der 
Emporhebung  des  Künstlers  mindestens  skeptisch  gegenüber ; 
der  moderne  Künstler  aber  stöfst  sich  an  der  Verdunkelung 
seiner  Sterne,  Piloty,  Makart  u.  a. ;  der  Amerikaner  ärgert  sich  an 
der  wegwerfenden  Art,  womit  die  gesamte  amerikanische  Bildung 
betrachtet  wird;  Holländer  und  Däne  schrecken  gleichmäfsig  vor 
den  Umarmungen  des  Pangermancn,  der  von  den  vereinigten 
deutschen  Staaten  träumt,  zurück;  der  Preufse,  besonders  der 
Berliner,  wie  auch  der  Venetianer,  werden  sich  höflichst  bedanken, 
aber  die  Urteile  des  Verfassers  als  einseitig  zurückweisen  —  kurz, 
wer  bleibt  denn  übrig,  dem  das  Buch,  welches  so  viele  wunde 
Punkte  aufreifst  und  so  viele  schmerzende  Stellen  zurückläfst,  un- 
bedingtes Wohlgefallen  einflöfst? 

Aber  darauf  hat  es  der  unbekannte  Verfasser  gewifs  auch 
gar  nicht  abgesehen.  Wo  scharfe  Pfeile  treffen,  pflegen  Schmcrzens- 
schreie  zu  ertönen.  Wo  der  Finger  in  offene  Wunden  gelegt 
wird,  stellen  sich  keine  Lustgefühle  ein.  Wegwerfenden  und 
gänzlich  absprechenden  Urteilen  gegenüber  würde  der  Verfasser 
wahrscheinlich  ruhig  lächelnd  auf  die  19.  Auflage  zeigen.  Er  hat 
den  Erfolg  für  sich.  Was  das  bedeutet,  weifs  man  ja  in  unsrer 
Zeit  zur  Genüge,  und  in  unserem  Land,  wo  man  bekanntlich 
die  Bücher  zu  leihen,  nicht  zu  kaufen  pflegt.  Doch  woher  der 
Erfolg?  Das  Werk  ist  allerdings  sehr  billig;  beinahe  20  Bogen 
in  guter  Ausstattung  für  2  Mark !  Aber  die  Billigkeit  allein  dürfte 
den  Erfolg  kaum  rechtfertigen:  oder  wäre  der  geistige  Verfall 
unseres  Volkes  bereits  so  weit  vorgeschritten,  dafs  es  seine  Bücher 
nach  der  Elle  kaufte?  Eher  schon  könnte  man  annehmen,  dals 
die  glänzende  Darstellungsweise,  der  vornehme,  pikante,  oft  epi- 
grammatische Stil,  das  lebhafte  Kolorit  der  Sprache  die  Käufer 
anzo^.  Aber  auch  die  blendende  Form  dürfte  kein  ausreichender 
Grund  sein;  es  sei  denn,  dafs  unser  Volk  schon  daran  gewöhnt 
wäre,  an  der  glänzenden  Aufsenseite  sichs  genug  sein  zu  lassen. 
Nun,  dann  sind  es  vielleicht  die  grundgescheiten  Gedanken,  die 
feinen  Beobachtungen,  die  grofse  Belesenheit  und  die  merkwürdige 
Besehenheit  des  Verfassers,  welche  das  Publikum  zum  Kauf  an- 
regte? Vielleicht  auch  der  pikante  Titel,  der  einen  Künstler  als 
Erzieher  empfiehlt,  welchen  man  bislang  von  dieser  Seite  her  noch 
nicht  kennen  gelernt  hatte?  Oder  gereichen  die  überscharfen, 
schneidigen  Urteile,  die  anerkannte  Gröfsen  über  sich  ergehen 


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—  3 


lassen  müssen,  der  lästersüchtigen  Masse  zu  besonderer  Freude? 
Dies  alles  mag  mitgewirkt  haben  —  aber  erklärlich  wird  die 
Thatsache  dadurch  nicht.  Das  Buch  mufs  einen  besonderen 
Kitt  an  sich  tragen.  Und  so  ist  es.  Dieser  Kitt  ist  das  Blut. 
Das  will  sagen,  dafs  die  nationale  Begeisterung  des  Verfassers, 
die  vielleicht  nicht  frei  von  Überspanntheit  ist,  nationalen  In- 
stinkten und  Unterströmungen  Ausdruck  giebt,  welche  das  Volk 
tiefer  bewegen,  als  die  glatte  Oberfläche  ahnen  läfst.  Und  weiter 
will  es  sagen,  dafs  das  Gefühl  der  Unzufriedenheit,  ein  dunkler 
Drang  nach  Änderung,  verbunden  mit  der  klaren  Überzeugung 
von  der  Hohlheit  manches  Bestehenden  nach  Deklamationen  zu 
greifen  auffordert,  die  den  Ausblick  auf  ein  neues  glücklicheres 
Dasein  eröffnen.  Der  mystische  Zug,  der  das  Buch  durchströmt, 
trifft  auf  verwandte  Stimmungen  in  der  Volksseele.  Die  gesell- 
schaftlichen Ideen,  welche  die  Zeit  beherrschen,  spiegeln  sich  in 
dem  Werke  wieder.  In  dem  Zeitalter  sozialer  Triebkräfte  steht 
zwar  der  Individualismus  i.  a.  nicht  hoch  im  Kurs  und  stark  aus- 
geprägte Persönlichkeiten  ecken  genugsam  an,  aber  sie  werden 
auch,  falls  sie  nur  Grofses  leisten,  auch  grofsartig  geehrt,  oft  mehr, 
als  nötig,  so  dafs,  wenn  es  so  weiter  geht,  im  Reich  bald  ganze 
Alleen  von  Bildsäulen  berühmter  Männer  ihre  Schatten  werfen. 
Auch  der  Verfasser  beugt  sich  willig  vor  den  Gröfsen  in  Harmonie 
mit  dem  Zeitgeist,  der  wiederum  Gedanken  an  ein  kommendes 
künstlerisches  Zeitalter  starke  Sympathicen  entgegen  bringt. 
Sollte  allerdings  die  letzte  Münchener  Kunstausstellung  als  ein 
Vorläufer  desselben  sich  vorstellen,  so  dürfte  ein  Gebet  nicht 
als  Lästerung  erscheinen,  welches  in  dem  Wunsche  gipfelt,  mit 
Blindheit  geschlagen  zu  sein,  wie  Piglheims  glückliche  Blinde, 
die  sich  durch  das  blühende  Mohnfeld  tastet,  ahnungslos,  welch' 
schreiende  Pracht  sie  umgiebt.  — 

Doch  der  Erfolg  des  Buches?  Wir  leiten  denselben,  kurz 
gesagt,  im  wesentlichen  davon  ab,  dafs  es  trotz  aller  Mängel, 
die  ihm  anhaften,  Gedanken  und  Stimmungen  Ausdruck  giebt, 
welche  die  heutige  Gesellschaft  bewegen.  Man  darf  sich  nicht, 
wundern,  dafs  ein  Erzeugnis,  welches  die  ausgeprägtesten  Züge 
der  Gegenwart  an  sich  trägt  und  in  ganz  bewufster  Weise  ihnen 
Ausdruck  giebt,  so  günstige  Aufnahme  bei  ihr  findet. 

Betrachten  wir  zunächst  das  Äufsere,  die  Form.  Das  Inhalts- 
verzeichnis ist  allein  schon  geeignet,  gelinden  Schwindel  zu  erregen. 
So  ziemlich  alles,  was  zwischen  Himmel  und  Erde  sich  bewegt,  er- 
scheint hier  wohl  oder  übel  zusammengepackt :  Mystik,  Akustik, 
höchste  Mathematik,  Politik,  Historik,  Musik,  Taktik  berührt  sich  mit 
Individualismus,  Archaismus,  Bildungsaristokratismus,  Spezialismus, 
Hypnotismus,  Spiritismus  und  dieses  wieder  mit  Abschnitten,  die 
in  buntem  Wechsel  darbieten :  Musikalisches,  Christliches,  Platt- 
deutsches, Urprcufsisches,  Klassisches,  Japanisches,  Nordwestliches, 


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—    4  ~ 


Deutsch-griechisches,  Südnördliches,  Helldunkles,  Zimbrisches,  Er- 
zieherisches, Physiognomisches,  Männliches  und  Weibliches.  Be- 
sondere Besprechung  erfahren  Rembrandt,  Winkelmann,  Zola, 
Darwin,  Kepler,  Ihering,  Dubois-Reymond,  Mommsen,  Leonardo, 
Wagner  sowie  die  Paare :  Bild  und  Buchstabe,  Musen  und  Museen, 
Künstler  und  Professor,  Schiller  und  Preufsen,  Goethe  und  Kotze- 
bue,  Berlin  und  Nordamerika,  Deutschland  und  Berlin,  Rembrandt 
und  Berlin,  Holland  und  Preufsen,  Symmetrie  und  Rythmus,  Shak- 
speare  und  Rembrandt,  Luther  und  Lessing,  Lessing  und  Rem- 
brandt, Luther  und  Goethe,  Propheten  und  Professoren,  Luther 
und  Erasmus,  Epigonen  und  Progonen,  Faust  und  Hamlet,  Kunst 
und  Preufsentum,  Athene  und  Brunhild,  Bau  und  Musik,  Kaiser- 
tum und  Christentum,  Holland  und  Griechenland,  Mann  und  Masse, 
Blut  und  Gold  u.  s.  w.  Nimmt  man  noch  dazu  Blutmischung, 
Achsendrehung,  Verholländerung,  Abtönung,  Zweierlei  Holländer, 
Dreierlei  Kunst,  Preufsichc  Geister,  Lichtwirkungen,  Volksseele, 
Hellmalerei,  Friede,  Genie,  der  heimliche  Kaiser,  Körperpflege, 
Erbfeind,  Blut  und  Wiedergeburt  —  so  wird  man  begreiflich 
finden,  dafs  ein  gelinder  Schrecken  den  Leser  befallt,  welcher 
das  Buch  aufschlägt.  Und  die  ganze  grofse  Speisekarte  wird  in 
fünf  Schüsseln  aufgetragen:  I.  Deutsche  Kunst,  2.  Deutsche 
Wissenschaft,  3.  Deutsche  Politik,  4.  Deutsche  Bildung,  5.  Deutsche 
Menschheit.  /\ber  in  jeder  Schüssel  steckt  alles;  und  die  Dar- 
bietung selbst  giebt  auch  die  Fünfteilung  auf  ;  abschnittlos  wird 
der  Leser  von  Anfang  bis  Ende  durchgejagt.  Warum  diese  Form- 
losigkeit? Wo  die  deutsche  Volksseele  ganz  unbefangen  auftritt, 
sagt  der  Verfasser,  tritt  sie  formlos  auf.  Wie  bei  Goethe  die 
naiv-unrcgelmäfsige  Form  sich  zu  einer  kunstvoll-unrcgelmäfsigen 
gestaltet,  so  will  des  Verfassers  Form,  wie  es  scheint,  von  innen 
nach  aufsen,  nicht  von  aufsen  nach  innen  sich  verdichten. 

Und  wenn  weiter  der  Verfasser  wünscht,  dafs  die  deutsche 
Bildung  etwas  weniger  Form  und  etwas  mehr  Farbe  bekäme,  und 
meint,  dafs  sie  mit  der  Farbe  auch  Seele  bekommen  würde,  so 
wünschen  wir  umgekehrt,  sein  Buch  möge  etwas  an  lebhaftem  Kolorit 
einbüfsen,  dafür  aber  an  Form  gewinnen.  Der  Deutsche  soll  nach 
dem  Verfasser  zum  Übertreiben  geneigt  sein,  sei  es  aus  Gewissen- 
haftigkeit, sei  es  aus  Mangel  an  Sclbstbeschränkung.  Dies  sei  der 
barbarische  Zug  in  seinem  Charakter.  Diesen  Zug  verleugnet  auch 
der  Verfasser  nicht.  Das  Buch  konnte  nur  in  Deutschland  ge- 
schrieben werden.  Die  unerläfslichen  individuellen  Vorbedingungen 
zu  jedem  geistigen  Prozess  treffen  vollkommen  zu ;  und  doch  ist 
das  Ganze  mehr  geistreich  als  wahr.  Das  Individuelle  wird  hier 
zu  einer  formellen  Übertreibung,  so  dafs  etwas  weniger  innere 
Wärme  und  etwas  mehr  Lessingsche  Kälte  dem  Ganzen  nur 
nützen  könnte.  Und  zwar  schon  bei  dem  Index.  Doch  wollen 
wir  nicht  zu  viel   aus  dem  Verzeichnis  folgern.    Es  hiese  sonst 


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—    5  — 


vielleicht :  sapiunt  ex  indicibus,  d.  h.  ich  hätte  meine  Weisheit 
aus  dem  Register  und  nicht  aus  dem  Buch  selbst. 

Aber  wie  der  index  schon  vielfache  Wiederholungen  aufweist, 
so  noch  mehr  die  Ausführung.  Was  man  dem  gesprochenen 
Worte  verzeiht,  sieht  man  dem  gedruckten  nicht  nach.  So  er- 
wünscht die  Wiederholung  bei  der  Rede  sein  mag,  um  bestimmte 
Gedanken  recht  nachdrücklich  in  die  Vorstellungswelt  der  Hörer 
hinein  zu  drücken  und  die  dazu  gehörigen  Nervenbahnen  recht 
gehörig  auszufahren,  so  lästig  wirkt  in  dem  Buche  die  Wieder- 
holung. Und  dabei  setzt  sich  der  oft  vorgetragene  Gedanke  noch 
nicht  einmal  fest,  da  er  in  immer  neuer  Beleuchtung  gesehen, 
von  so  viel  mitschwingenden  Vorstellungen  begleitet  wird,  dafs 
schliefslich  ein  magisches  Helldunkel  entsteht,  welches  den  Bildern 
einen  gewissen  Reiz  verleiht,  den  Köpfen  aber  höchst  gefährlich 
ist.  So  würde  Rembrandt,  der  Meister  des  Helldunkels  in  der 
Farbe,  als  Erzieher  in  den  Händen  des  Verfassers  nur  zur 
Warnung  dienen.  Der  Gesamteindruck  des  Buches  wird  für  die 
meisten  Leser  kein  andrer  sein  können.  Die  Masse  der  Farben, 
die  der  Verfasser  aus  seinem  Pinsel  hinwirft,  sind  nicht  kunstvoll 
abgetönt,  wie  es  Rembrandt  in  seinen  Bildern  so  meisterhaft 
zeigt;  sie  sind  nicht  konzentriert  und  unter  scharfer  Beleuchtung 
zu  stimmungsvoller  Gesamtwirkung  vereinigt,  wie  es  der  grofse 
Niederländer  versteht.  Die  Palette  des  Verfassers  ist  so  reich, 
wie  die  des  Holländers;  aber  er  bleibt  an  dem  Farbenbrett 
hängen,  während  letzterer  daraus  sein  Kunstwerk  gestaltet.  Und 
endlich  so  formlos  das  Ganze  erscheint,  so  ist  es  doch  zugleich 
so  stark  maniriert.  dafs  es  die  Verspottung  geradezu  herausfordert. 
Sie  ist  ja  auch  nicht  ausgeblieben.  Besonders  hervorstechende 
Merkmale  des  Stils  sind  die  oft  wiederkehrenden  Wortspiele  und 
Etymologien,  welche  die  Lachmuskeln  erregen  und  öfters  kaum 
ernst  zu  nehmen  sind,  das  Aneinanderreihen  berühmter  Namen 
wie  das  Aufreihen  edler  Perlen  an  einer  Schnur  und  vor  allem  die 
Einführung  Rembrandts  gerade  da,  wo  man  nicht  an  ihn  denkt. 
E^s  erinnert  dies  an  den  Hanswurst  im  Volkstheater,  der  wie  ein 
deus  ex  machina  immer  da  erscheint,  wo  er  am  wenigsten  er- 
wartet wird.  Schopenhauer  sagt  einmal,  dafs  eine  gefafste  Hypo- 
these Luxaugen  verschaffe  für  alles,  was  etwa  zu  ihr  passen 
könnte.  Das  trifft  ohne  Zweifel  auf  unsern  Verfasser  zu.  Denn  es 
grenzt  beinahe  ans  Wunderbare,  welche  Gedankenbeziehungen  die 
Hypothese  »Rembrandt,  der  Erzieher  des  deutschen  Volkes«  in 
ihm  wachgerufen,  welche  Assoziationen  dadurch  veranlafst,  wie 
seine  ganze  Vorstellungswelt  in  dieser  Idee  ihren  Hauptknoten- 
punkt findet. 

So  wäre  also  doch  ein  Mittelpunkt  vorhanden;  das  zerstreute 
Licht  wäre  an  einer  Stelle  vereinigt,  von  wo  wie  in  Rembrandts 


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—    6  — 


Meisterwerken  die  Lichtwirkungen  und  Reflexe  bis  in  die  zartesten 
Abtönungen  hinein  wirken  ? 

Dies  nötigt  uns  nun,  dem  Inhalt  des  Buches  unsere  Auf- 
merksamkeit zu  schenken.  Dabei  lassen  wir  die  Hypothese,  aut 
welcher  das  Ganze  beruht,  einstweilen  aus  dem  Auge  ;  sie  möge 
auf  ihre  Zuverlässigkeit,  Möglichkeit  und  Brauchbarkeit  hin  am 
Schlüsse  kurz  berührt  werden. 

Wo  von  Erziehung  die  Rede  ist,  da  wird  man  immer  an  das 
Streben,  ein  Besserwerden  hervorzurufen,  denken.  Und  wirklich 
fafst  der  Verfasser  nicht  nur  das  Besserwerden  einzelner  Indivi- 
duen ins  Auge ;  nein  er  will  wie  Fichte  eine  Umänderung  der 
Nation  vornehmen,  nur  allein  von  innen  heraus,  nicht  durch  die 
Allgewalt  des  Staates.  An  diesen  glaubt  der  Verfasser  in  Wahrheit 
nicht;  er  wendet  sich  an  weniger  greifbare,  aber  darum  nicht  minder 
wirksame  Mächte ;  an  die  tiefen  Unterströmungen,  welche  die  Ge- 
sellschaft durchfluten  und  ihre  Entwicklung  bestimmen. 

Wer  aber  bessern  will,  mufs  vor  allem  die  vorhandenen  Zu- 
stände deutlich  vor  Augen  haben.  Hier  liegt  nun  die  Gefahr 
nahe,  dafs  der  Weltverbesserer  nicht  klaren  Blickes  dieselben 
mustert,  sondern  durch  eine  schwarz  gefärbte  Brille  sieht.  Und 
unser  Verfasser,  der  bebrillte  Augen  nicht  leiden  mag,  greift 
selbst  dazu.  So  wird  der  Hintergrund  seines  Gemäldes  ein  aufser- 
ordentlich  düsterer,  von  dem  sich  dann  das  Gerüst  mit  den 
Figuren,  welche  die  Heilmittel  verkaufen,  allerdings  wirkungsvoll 
abhebt  -    aber  auf  Kosten  der  Wahrheit. 

Denn  welches  Gemälde  der  gegenwärtigen  Kulturzustände  in 
Deutschland  entwirft  er?  In  seinem  Gehirn  spiegeln  sich  die- 
selben in  folgenden  Zügen:  Die  heutigen  Deutschen  stehen  unter 
dem  Einflufs  einer  falschen  Kultur,  das  militärische  und  politische 
Leben  ausgenommen.  Das  geistige  Leben  ist  dem  Verfall  preis- 
gegeben. Die  Wissenschaft  ist  ohne  schöpferische  Kraft  und  Herz, 
verknöchert  in  Doktrinarismus  und  Spezialismus.  In  der  Kunst 
macht  sich  ein  Plebejertum  als  Brutalismus  geltend.  Überall  Mangel 
an  epochemachenden  Individualitäten.  Keine  Architektur,  keine 
Philosophie.  Der  Begriff  und  die  Bcthätigung  echter  Vornehmheit 
fehlt  durchgängig.  Und  dieser  Mangel  ist  ein  wesentlicher,  denn 
er  schliefst  den  eines  feineren  geistigen  Lebens  in  sich.  Reiner 
Wein  und  reine  Bildung  sind  jetzt  in  Deutschland  selten  ge- 
worden. Das  Denken  ist  durchweg  spezialistisch  und  das  Fühlen 
durchweg  materiell  Die  heutige  deutsche  Bildung  wendet  sich 
an  den  Verstand;  sie  ist  seelenlos;  zentralistisch  und  international, 
verstandesmäfsig  und  gelehrt,  antiindividuell,  darum  römisch.  Die 
Deutschen  als  Volk  genommen,  sind  stark ;  aber  wohlerzogen  nur 
teilweise  und  fein  noch  weniger.  Denn  ihre  Bildung  ist  unecht, 
und  das  Unechte  ist  nie  fein.  Der  geistige  und  gemütliche  Ge- 
halt der  jetzigen  deutschen  Gesellschaft  ist  bedeutend  zurück  ge- 


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-    7  - 


gangen ;  sie  hat  sich  veräufserlicht ;  man  verlangt  materiell  weit 
mehr  und  leistet  ideell  weit  weniger  als  noch  vor  40  Jahren  ;  Fach- 
gespräche, Vergnügungssucht,  mündlich  ausgetauschte  Zeitungs- 
lektüre überwiegen.  Das  Plebejcrtum  ist  obenan ;  es  äufsert  sich 
in  der  Kunst  als  Brutalismus,  in  der  Wissenschaft  als  Spezialis- 
mus, in  der  Politik  als  Demokratismus,  in  der  Bildung  als  Doktri- 
narismus, gegenüber  der  Menschheit  aber  als  Pharisäismus. 

Dieser  Verfall  des  deutschen  Lebens  schreibt  sich  her  vom 
Jahr  1870.  Der  gewünschte,  erwartete  geistige  Aufschwung  trat 
nicht  ein.  Dies  erklärt  sich  teilweise  aus  dem  belastenden  Druck, 
den  eine  lediglich  nach  Aufsen  gerichtete  Thätigkeit  stets  auf  das 
Innere  eines  Menschen  oder  Volkes  ausüben  mufs.  Das  periklcische 
Zeitalter  begann  50  Jahre  nach  der  Schlacht  bei  Marathon;  so 
lange  wird  auch  Deutschland  warten  müssen,  ehe  es  einer  neuen 
Hochblüte  des  Geisteslebens  entgegen  sehen  kann.  Inzwischen 
gilt  es,  den  Boden  dafür  frei  zu  machen.  Jetzt  ist  die  Zeit  der 
Pflugschar ;  die  Ernte  kommt  später. 

So  schwarz  also  der  Verfasser  die  gegenwärtigen  Zustände 
schildert,  so  hält  er  sie  doch  nicht  für  hoffnungslos.  Nein;  das 
moderne  deutsche  Geistesleben  hat  sich  noch  lange  nicht  aus- 
gelebt. Aus  der  geistigen  Mifs Wirtschaft  mufs  und  wird  das  heutige 
Deutschland  herauskommen.  Und  woher  die  Hülfe?  Aus  sich  selbst. 
Auf  die  eigenen  Urkräfte  mufs  zurückgegriffen  werden.  Die  zer- 
stückelte moderne  Bildung  mufs  sich  wieder  zum  Ganzen  abrunden; 
Gliederung,  nicht  Zergliederung,  mufs  die  Losung  der  kommenden 
Zeit  sein.  Individuell  in  der  Kunst,  organisch  in  der  Wissenschaft, 
rythmisch  in  der  Politik  soll  sich  das  Leben  des  deutschen  Volkes 
entfalten.  Die  jetzige  deutsche  Bildung  bedarf  einer  Wiedergeburt  ; 
Wiedergeburt  kann  nur  stattfinden  nach  den  Prinzipien  der  Geburt 
und  diese  nur  nach  den  Prinzipien  der  Persönlichkeit.  So  kann 
die  sinkende  Bildung  wieder  zu  einer  steigenden  werden. 

Die  Bessern  in  der  Nation  blicken  auch  bereits  nach  neuen 
Zielen  aus,  oder  da  es  sich  um  Persönlichkeiten  handelt,  nach 
neuen  Führern.  Dante,  dem  Dichter  der  Hölle,  würde  das  hastige 
und  hitzige  Treiben  unserer  Gegenwart  als  ein  treffliches  Mittel  zur 
Veranschaulichung  infernaler  Zustände  gedient  haben.  Verglich 
er  doch  einst  das  Treiben  seiner  Unterweltsgeister  mit  demjenigen 
der  zahllosen  Arbeitermassen  im  Arsenal  von  Venedig.  Er  be- 
leuchtet dadurch  die  soziale  Frage  von  heute  mit  dem  Lichte  der 
Hölle.  Aber  wie  Dante  durch  die  dunkeln  und  glühenden  Tiefen 
des  Jenseits  nur  mit  Hülfe  eines  kundigen  Führers,  des  einge- 
borenen Vertreters  einer  angeerbten  Bildung,  Vergils  sich  durch- 
fand, so  soll  sich  der  heutige  Deutsche  durch  den  Schwall  und 
Drang  und  Dampf  einer  falschen  Bildung  hindurcharbeiten  unter 
der  Führung  eines  künstlerischen  Bildungsträgers.  Und  der  sei 
Rembrandt. 


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Will  sich  der  Deutsche  dem  geistigen  Elend  der  Gegenwart 
entziehen,  so  bieten  sich  ihm  als  Heilmittel  an:  Bescheidenheit, 
Einsamkeit,  Ruhe,  Individualismus,  Anstokratismus,  Kunst  —  all 
dies  ist  in  Rembrandt  verkörpert.  Nicht  ohne  Kampf  lassen  sich 
die  genannten  Güter  erringen;  insbesondere  werden  Kunst  und 
Wissenschaft  sich  darüber  auseinandersetzen  müssen,  welcher  von 
ihnen  die  Herrschaft  im  deutschen  Geistesleben  zukommt. 

Dem  Verfasser  ist  dies  in  keiner  Weise  zweifelhaft.  Wie  ein 
roter  Faden  zieht  sich  durch  das  ganze  Buch  der  Gedanke :  Das 
wissenschaftliche  Zeitalter  ist  vorüber,  jetzt  kommt  das  künst- 
lerische; der  Professor  hat  abgewirtschaftet,  jetzt  erscheint  der 
Künstler ;  das  papierne  Zeitalter  ist  dahin,  jetzt  Rückkehr  zur  Farbe, 
zur  Einheit,  zur  Freiheit,  zur  künstlerischen  Weltanschauung. 
Das  Volk  der  Forscher  soll  sich  verwandeln  in  ein  Volk  der 
Künstler.  Die  Überlegenheit  künstlerischer  Bildung  über  gelehrte 
ist  offenkundig.  Der  Künstler  steht  dem  Herzen  des  Volks  weit 
näher  als  der  Gelehrte  und  darum  vermag  er  weit  erzieherischer 
auf  das  Volk  einzuwirken,  als  der  Gelehrte.  Der  Künstler  ist 
Mensch,  der  Gelehrte  eine  Mumie.  Die  kulturhistorische  Ent- 
wicklung durchläuft  nach  des  Verfassers  Meinung  drei  Stadien : 
Aus  der  Vogelperspektive  des  18.  Jahrhunderts  ist  eine  Frosch- 
perspektive geworden;  aus  dieser  soll  sich  die  menschliche  Per- 
spektive entwickeln.  Idealismus,  Spezialismus,  Individualismus  be- 
zeichnen den  Fortschritt. 

Und  noch  in  anderen  Wendungen  kehrt  bei  dem  Verfasser 
der  Dreischritt  wieder :  Naives  Zeitalter,  wissenschaftlich-bewufstes, 
künstlerisches  oder  naiv  bewufstes.  Oder:  Ritterzeit,  Professoren- 
zeit, Menschenzeit.  Der  Deutsche  hat  sich  militarisiert;  er  mufs 
sich  nun  auch  zivilisieren.  Das  deutsche  Volk  soll  eine  schöne 
Familie  bilden,  die  den  höheren  menschlichen  Interessen  dient. 
Das  Menschliche  gehört  überall  an  die  Spitze,  sonst  ist  die  Kultur 
nicht  frei. 

Die  Aufgaben,  welche  der  Verfasser  der  modernen  Erziehung 
stellt,  sind  damit  i.  a.  umschrieben,  aber  keineswegs  erschöpft. 
An  mehreren  Stellen  werden  dieselben  noch  genauer  formuliert. 

Der  Erzieher  hat  einen  dem  katholisch-kirchlichen  advocatus 
diaboli  entgegengesetzten  Beruf;  er  ist  der  Anwalt  der  bessern 
Natur  im  Menschen.  Dies  gilt  vom  Volkserzieher  so  gut  wie 
vom  Einzelerziehcr.  Die  eigentliche  Aufgabe  aller  Erziehung  soll 
sein ,  den  Menschen  dasjenige  mit  vollem  Bewufstsein  und 
möglichster  Überlegung  thun  zu  lehren,  wozu  das  Beste  und 
Eigenste  und  Tiefste  seiner  Natur  ihn  ohnehin  schon  instinktiv 
treibt.  Individualismus  und  Anschauung  gehören  hierzu;  dies 
darum  das  nächste  Ziel,  das  der  Erziehung  vorschweben 
mufs.  Will  man  die  deutsche  Bildung  auffinden,  so  hat  man  den 
Spuren  der  Geschichte,  wie  des  Volkscharakters  zu  folgen.  Das- 


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jenige  Volk  hat  den  gröfsten  Vorteil  über  die  andern,  welches 
aus  seiner  eigenen  Vergangenheit  am  meisten  lernt.  Wie  aber 
Selbsterziehung  die  beste  Erziehung  ist,  so  ist  auch  die  Erziehung, 
welche  ein  Volk  sich  selbst  durch  seine  grofsen  Männer  ange- 
deihen  läfst,  die  beste  Volkserziehung.  Die  Wissenschaft  fuhrt 
in  ihrem  letzten  Grund  auf  den  Menschen:  der  Mensch  auf  das 
Sittliche.  Christus  ist  der  reine  Mensch.  Das  Christentum  prak- 
tisch ins  tägliche  Leben  zu  übertragen,  wird  immer  eine  Haupt- 
aufgabe des  Deutschen  bleiben.  Und  das  deutsche  Volk  wird 
beim  Christentum  beharren  müssen,  so  lange  es  keine  bessere 
Grundlage  für  sein  geistiges  Dasein  besitzt.  Bis  jetzt  ist  dies  nicht 
der  Fall.  In  Christus  hat  sich  die  Natürlichkeit  zu  völliger  Selbst- 
losigkeit und  die  Vornehmheit  zu  völliger  Erhabenheit  gesteigert. 
In  dem  persönlichen  Charakter,  in  dem  persönlichen  Wollen, 
in  der  persönlichen  Leistung  Christi  liegt  der  Schwerpunkt. 
Also  auch  hier  entscheidet  die  Persönlichkeit,  die  Individualität. 
Die  Stellung,  die  der  einzelne  zu  Christus  einnimmt,  ist  der  Prüfsteiin 
für  seinen  Menschenwert,  für  seinen  Charakter.  Die  Bildung 
des  Charakters  aber  steht  im  Vordergrund.  Gesundheitspflege, 
Kunstpflege,  Charakterpflege  sind  die  drei  Gebiete,  auf  denen  sich 
die  innere  Entwicklung  des  künftigen  deutschen  Reichs  zu  voll- 
ziehen hat.  In  dem  Charakter  ist  das  Sittliche  das  Herrschende. 
Wenn  die  geschichtliche  deutsche  Vergangenheit  die  Bildungs- 
schule für  die  Zukunft  sein  soll,  mufs  das  ethische  Moment 
offen  an  die  Spitze  gestellt  werden. 

So  willig  wir  diesen  Gedanken  folgen,  so  wiederspruchsvoll 
scheint  uns  die  Zuspitzung  derselben,  das  ideale  Heilmittel  in 
einem  Künstler,  in  Rembrandt,  zu  suchen.  Die  Kultur  des  Schönen 
soll  die  Rettung  bringen,  während  die  Liebhaber  des  Schönen  so- 
wohl im  Denken  als  Handeln  nicht  selten  durch  den  Geist  der 
Frivolität.  Oberflächlichkeit  und  Spielerei  sich  hervorthun?  Und 
Rembrandt  selbst?  — 

Doch  lassen  wir  dies  noch;  denn  ehe  wir  verstehen,  wie  der 
Verfasser  dazu  gekommen,  gerade  ihn  an  die  Spitze  seines  Reform- 
planes zu  stellen,  ist  es  notwendig,  die  treibenden  Gedanken  des 
Ganzen  in  noch  schärleres  Licht  zu  rücken. 

Das  gröfste  Problem  der  Gegenwart  ist  nach  dem  Verfasser, 
den  so  gewaltig  klaffenden  Rifs  zwischen  Gebildeten  und  Un- 
gebildeten zu  überbrücken.  Damit  berührt  er  die  soziale  Frage. 
Mittelst  der  bisherigen  Bildung  lasse  sich  dieselbe  nicht  lösen. 
Nur  wenn  der  Volksboden  seine  schöpferischen  Tiefen  aufthue, 
könne  neues  geistiges  Leben  in  Deutschland  erblühen.  Nur  von 
unten  nach  oben  kann  gebaut  werden,  nur  von  innen  nach  aufsen. 
Vorschriften,  Versuche,  Muster  von  aufsen  her  helfen  zu  nichts ; 
nur  aus  der  Erde  kann  ein  Baum  entwachsen.  An  den  Geist  der 
deutschen  Erde  mufs  sich  die  neue  Bildungsepoche  halten.  Das 


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—     IO  — 


ist  das  mystische  Element  in  ihr.  Dies  aber  ist  notwendig;  denn 
das,  was  man  Intuition  nennt,  ist  für  die  höchsten  wissenschaft- 
lichen Leistungen  nicht  nur  förderlich,  sondern  sogar  unentbehrlich. 
Was  der  Spezialismus  getrennt  hat,  kann  der  Mystizismus  wieder 
verbinden.  Die  deutsche  Wissenschaft  hat  das  innere  Schauen  zu 
sehr  vernachlässigt;  sie  mufs  sich  demselben  wieder  nähern. 

Und  ebenso  kann  die  Kunst  des  mystischen  Elements  nicht 
entbehren.  Eine  auf  äufsere  wie  innere  Anschauung  gegründete 
Bildung  ist  die  beste  Volkserziehung.  Anschauung  steht  höher 
als  Erkenntnis;  aller  Glaube  ist  innere  Anschauung.  Die  konkrete 
und  die  abstrakte  Geistesthätigkeit  des  Menschen  kreuzen  sich 
in  einem  Punkt,  in  der  Kunst.  Religion  ist  Kunst,  der  höchste, 
innerlichste  Grad  von  Kunst.  Jede  schöpferische  Bildung  ist  eine 
künstlerische.  Diese  dem  Erdboden  entstammende  Kraft  ist  die 
höchste  irdische  Kraft,  die  es  giebt.  Darum  mufs  der  Kunst  der 
erste  Platz  innerhalb  des  deutschen  Geisteslebens  zugeschrieben 
werden.  Die  Künstler  sind  die  Propheten,  die  Vertreter  einer 
Herzensbildung  gegenüber  den  Gelehrten,  welche  einer  blofsen 
Verstandesbildung  huldigen.  Was  innerlich  ersten  Ranges  ist,  hat 
auch  äufserlich  den  Ton  anzugeben,  das  deutsche  Herz.  Nur  eine 
Bildung  und  eine  Kunst,  welche  das  deutsche  Herz  als  höchste 
Autorität  anerkennt,  kann  dem  innern  Leben  der  Deutschen  eine 
glückliche  Zukunft  verbürgen.  Hier  ist  der  Puls  des  geistigen 
Lebens. 

Also  zurückgehen,  zurückgreifen  auf  die  eigenen  Urkräfte. 
Die  tiefste  Seite  des  deutschen  Wesens  ist  aber  der  Individualis- 
mus. Das  eigentlich  Dauernde  im  Leben  eines  Volkes  sind  nur 
die  festen  wiederkehrenden  Züge  seiner  Individualität.  Man  wird 
am  ehesten  auf  das  Volk  erziehlich  einwirken,  wenn  man  ihm 
die  einzelnen  Züge  seiner  Individualität  selbst  vorhält.  Das  oberste 
aller  Gebote  heifst  für  den  Erzieher:  individualisieren.  Deshalb 
müssen  auch  für  die  verschiedenen  Lebensalter  eines  Volks  oder 
der  Menschheit  verschiedene  Erzieher  und  verschiedene  Erziehungs- 
methoden gefordert  werden.  Dafs  jeder  nach  seiner  Weise  selig 
werden  soll,  ist  ein  echt  deutscher  Grundsatz  ;  er  fafst  kurz  und  gut 
den  Grundzug  alles  deutschen  Wesens  zusammen,  den  Individua- 
lismus. Individualität  haben,  heifst  Seele  haben.  Die  Individualität 
eines  Menschen  ist  seine  Seele;  hier  ist  der  springende  Punkt, 
von  dem  alle  künstlerischen  Bestrebungen  ausgehen  müssen.  Denn 
die  Bedeutung  aller  Kunst  liegt  im  Persönlichen.  Die  Deutschen 
sind  das  vorzugsweise  individuelle  Volk:  aber  der  Gang  der  mo- 
dernen Bildung  hat  die  individuellen  Züge  verwischt,  darum  ist 
die  gesamte  Bildung  verbogen  und  herabgezogen.  Losungswort: 
Rückkehr  zum  Individualismus. 

Und  der  Führer  auf  diesem  Wege  kann  kein  anderer  sein  als 
der  Künstler,  welcher  die  ausgeprägteste  Individualität  besitzt. 


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1 1  — 


Das  ist  Rembrandt.  Darum  ist  er  das  Ideal  für  die  nächste  Zeit, 
für  das  gesamte  deutsche  Geistesleben  der  Gegenwart.  Aber  es 
kann  sich  dabei  nicht  etwa  um  Nachahmung  seiner  Kunstübung 
handeln ,  sondern  um  prinzipielle  Nachahmung  seiner  Kunst- 
gesinnung. Sein  Vorbild  bedeutet  Rückkehr  zur  Natürlichkeit,  zur 
Bescheidenheit,  zu  nationaler  Individualität  und  Volkstümlichkeit, 
zu  künstlerischer  Ausbildung  des  ganzen  Lebens  und  der  Wissen- 
schaft. Rembrandt  ist  Mystiker,  subjektiv,  individuell  und  frei. 
Er  hat  alles,  was  den  Deutschen  jetzt  fehlt.  Er  ist  auch  eine 
antiphilologtsche  Erscheinung;  daher  für  überphilologische  Aus- 
schweifungen recht  zu  empfehlen  als  ein  wirksames  Gegenmittel. 
So  wird  er  zum  Erzieher  der  Erzieher.  Caesar  non  est  supra 
grammaticos  —  aber  Rembrandt  soll  es  entschieden  sein.  Lessing 
war  der  Sturmvogel  der  kritischen  und  litterarischen  Periode,  in 
der  wir  uns  noch  befinden;  Goethe  ist  der  Sturmvogel  der  pro- 
duzierenden und  künstlerischen  Periode,  der  wir  entgegen  gehen. 
Und  das  Muster  für  sie  bleibt  Rembrandt. 

In  ihm  kommt  der  Geist  der  höchsten  Individualität  zur  Er- 
scheinung; er  bedeutet  den  höchsten  und  reinsten,  freiesten  und 
feinsten  Ausdruck  des  volkstümlichen  deutschen  Geistes.  Soll 
derselbe  sich  wieder  auf  sich  besinnen,  so  mufs  er  auf  denjenigen 
Künstler  schauen,  in  dem  auf  allerschärfste  Weise  die  künstlerischen 
Tugenden  ausgeprägt  erscheinen,  welchen  der  Deutsche  der  Zu- 
kunft nachstreben  soll. 

Nun  wird  niemand  leugnen,  dafs  Rembrandt  eine  ungemein 
ausgeprägte  Künstlereinscheinung  ist;  ob  aber  von  solcher  Be- 
deutung, wie  der  Verfasser  sie  ihm  beilegt  —  dies  ist  mindestens 
zweifelhaft.  Die  Würdigung  Rembrandts  durch  den  Verfasser  ist 
vielfach  neu  und  überraschend;  stets  geistvoll  und  von  glühender 
Begeisterung  für  den  Künstler  getragen,  hervorgegangen  aus  ge- 
nauester Kenntnis  seiner  Werke,  verbunden  mit  feinstem  Ver- 
ständnis für  das  Wesen  der  Kunst.  Die  begeisterten  Rembrandt- 
darlegungen  haben  gewifs  viele  veranlafst,  die  Werke  des  Künstlers 
eingehend  zu  studieren.  Ein  grofser  Erfolg.  In  der  Rembrandt- 
Litteratur  wird  demnach  für  die  vorliegende  Schrift  immer  ein 
ehrenvoller  Platz  gesichert  sein.  Ob  aber  darüber  hinaus?  —  Die 
gesunden  Gedanken  sind  vielfach  so  eingewickelt,  so  übertrieben 
vorgetragen,  mit  so  vielem  Entlegenen  phantastisch  verbunden, 
dafs  es  nicht  leicht  ist,  den  Kern  derselben  herauszuschälen. 

Was  ist  das  Ergebnis  des  Ganzen  —  diese  Frage  drängt  sich 
immer  wieder  auf.  Wo  von  Erziehung  und  von  Reform  derselben 
die  Rede  ist,  will  man  mit  Recht  ein  bestimmtes,  greifbares  Programm. 
Die  geistvollen  Wendungen  blenden  zwar,  aber  befriedigen  nicht 
auf  die  Dauer.  Allerdings  bleibt  der  Verfasser  auch  hierin  wieder 
sich  selber  treu.  Ihm  ist  das  Programm  der  Programmlosigkeit 
künstlerisch  und  politisch  das  Beste,  was  es  giebt.    Er  folgt  eben 


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Cromwells  Wort :  Der  kommt  am  weitesten,  der  nicht  weifs,  wo- 
hin er  geht.  Dies  scheint  ihm  eine  wahre  Leuchte,  kein  Irrlicht, 
wie  es  andern  vorkommen  könnte.  Sein  Held  ist  also  Parcival, 
der  reine  Thor,  der  in  sich  Versunkene,  der  Unerfahrene,  der 
das  stille  Heimatsgefühl  und  den  dunkeln  mächtigen  Trieb  in  die 
Ferne  noch  ungeschieden  in  sich  trägt  und  aus  dem  Waldesdüster 
hinausreitet,  er  weifs  nicht  wohin.  Das  Helldunkel,  das  ihn  um- 
giebt,  bleibt  sein  ganzes  Leben  über  ihn  ausgebreitet,  das  Hell- 
dunkel, das  so  oft  sich  einstellt,  wo  Tiefe  der  Empfindung  und 
äufsere  Beschränkung  gegenübergestellt  wird  einer  weiten  Aussicht 
in  eine  Welt  voll  Pracht  und  Farbenglanz,  von  Ereignissen  und 
Thaten.  Ihn,  den  Parcival,  müfste  der  Verfasser  folgerichtig  an 
die  Spitze  stellen;  er  zeigt  den  Grundzug  des  deutschen  Wesens 
am  besten,  am  reinsten.  Werdet  alle  reine  Thoren,  das  mufs  das 
Losungswort  der  künftigen  Deutschen  werden.  Man  braucht  nicht 
zu  lachen;  die  Sache  ist  ernst  genug.  Wäre  die  Mehrzahl  des 
Volkes  auf  dem  Wege  ihr  Bildungs- Ideal  in  raffinierten  Be- 
rechnungsmaschinen zu  sehen,  so  wäre  das  angegebene  Stichwort 
am  Platz.  Ob  es  freilich  etwas  helfen  würde?  Wenn  die  Un- 
befangenheit verloren  und  die  Unschuld  dahin  ist  —  wie  will  man 
das  Entschwundene  zurückrufen,  das  in  dem  Augenblick  unerbitt- 
licher Weise  dahin  sinkt,  in  dem  das  Auge  für  die  Dinge  dieser 
Welt  aufgethan  wird?  Welch  innerer  Widerspruch:  Ein  ebenso 
berechnender,  als  bewufst  vorgehender  Schriftsteller  will  sein  Volk 
zur  Unbefangenheit  zurückführen,  dabei  aber  selbst  nicht  wissen, 
wohin  der  Weg  führt! 

Doch  eine  tiefgehende  Anregung  zum  Nachdenken  über  Ziele 
und  Wege  der  Volks-  wie  der  Einzelerziehung  gegeben  zu  haben, 
dies  Verdienst  wird  niemand  dem  unbekannten  Verfasser  ab- 
sprechen wollen.  Manches  Positive,  was  er  bringt,  ist  übrigens 
schon  Besitz  der  neueren  Erziehungswissenschaft:  die  Betonung 
der  Gesundheit  auf  physischem  und  geistigem  Gebiet;  die  Pflege 
der  Individualität  und  das  Hochhalten  des  Persönlichen;  die  Sorge 
für  die  künstlerische  Erfassung  des  Lebens;  das  Entgegenwirken 
gegen  den  übertriebenen  Wissenskultus  und  gegen  alles  trockene 
Registrieren  und  Spezialisieren;  das  Hervorheben  der  Gemüts- 
bildung gegenüber  der  rein  verstandesmäfsigen  Auffassung;  der 
Fortschritt  vom  Konkreten  zum  Abstrakten  und  von  hier  aus 
wieder  das  Herabsteigen  zum  Einzelnen,  und  anderes. 

Dafs  dies  alles  aber  auch  einmal  von  einem  Laien  sub  specie 
aeterni  vorgetragen  wird,  in  einer  ohne  Zweifel  geistvollen  Art, 
kann  gewifs  nur  willkommen  geheifsen  werden.  Fast  möchte  man 
im  Interesse  der  Sache  wünschen,  dafs  die  Darstellung  weniger 
bestechend  wirkte;  denn  überraschende  Einfälle,  treffende  Zitate, 
Bilder,  reiche  Vergleiche  jagen  einander  förmlich.  Die  Belesenheit 
des  Verfassers  ist  eine  ungemein  grofse,  seine  künstlerische  An- 


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—    13  — 

schauung  eine  umfassende  und  durchweg  selbständige ;  seine  wissen- 
schaftliche Bildung  anfechtbar,  wohl  reich  und  vielseitig,  aber  nicht 
auf  strengem  Wahrheitssinn  beruhend.  Venedig,  eine  deutsche 
Kolonie,  diese  Darlegung  ist  z.  B.  ein  wahres  Nest  von  Phantasterei! 
Überhaupt  ist  der  Enthusiasmus  des  Verfassers  grofs.  Der  Deutsche 
beherrscht  nach  ihm  als  Aristokrat  bereits  Europa;  als  Demokrat 
Amerika,  es  wird  nicht  lange  dauern,  bis  er  als  Mensch  die  Welt 
beherrscht.  Denn  der  Deutsche  schickt  sich  jetzt  wieder  einmal 
an,  Epoche  zu  machen  unter  dem  Wahlspruch :  Sei  Mensch. 

Dieser  deutefzweifellos  auf  den  Einflufs  Goethes  hin,  wie  die 
Entstehung  des  Buches  überhaupt  mit  innerer  Wahrscheinlichkeit 
auf  eine  Anregung  Goethes,  der  eine  kurze  Abhandlung,  Rem- 
brandt  als  Philosoph,  schrieb,  zurückzuführen  ist.  Ja,  fast  möchte 
man  sagen,  dafs  der  Titel  des  Buches  mit  vielleicht  gleichem 
Rechte  »Goethe  als  Erzieher«  lauten  könnte.  Jedenfalls  würde 
er  weit  weniger  Widerspruch  erfahren,  denn  der  Künstler  Goethe 
steht  zweifellos  höher,  als  der  Maler  Rembrandt,  wenn  letzterer 
vielleicht  r.uch  dem  Geist  der  Erde  näher  steht,  als  der  Dichter 
des  Faust,  dessen  erzieherischer  Einflufs  unbestritten  ein  gewaltiger 
ist,  nicht  blofs  auf  den  Verfasser  des  vorliegenden  Buches. 

Daher  wäre  vielleicht  eine  kleine  Achsenverschiebung,  die  der 
Verfasser  ja  so  sehr  liebt,  bei  seinem  Werke  am  Platz.  Ihm  sind 
verschiedene  Achsen  bekannt,  da  er  verschiedene  Gegenpole  kennt. 
Gegenpole  sind  immer  durch  eine  Achse  verbunden.  In  dem 
einen  Fall  heifst  die  Achse:  Philosophie  als  Kunst.  Die  Achse 
der  echten  deutschen  Bildung  führt  von  Bismarck  durch  Rem- 
brandt zu  Shakespeare.  Vom  Zenith  bis  zum  Nadir  reicht  die 
Weltachse.  Der  Mensch,  als  ein  aufrechter  Bindestrich  zwischen 
Himmel  und  Erde,  ist  der  Abschnitt  einer  solchen  Weltachse.  Die 
bisherige  europäische  Bildungsachse  reicht  von  Griechenland  bis 
Niederdeutschland,  von  Homer  bis  Shakespeare,  von  Phidias  bis 
Rembrandt.  Die  beiden  Pole  des  niederdeutschen  Wesens,  Kunst 
und  Politik  sind  in  der  Ähnlichkeit  zwischen  Lenbachschen  Skizzen 
des  Bismarckkopfcs  und  Rembrandtschcn  Selbstportraits  sichtbar- 
lich  durch  die  Achse  der  äufscren  typischen  persönlichen  Er- 
scheinung verbunden.  Die  Achse  der  deutschen  Bildung  mufs 
nun  jetzt  eine  Wendung  vornehmen;  sie  mufs  sich  auf  die  Nord- 
see richten.  Jede  grofse  Achsenverschiebung  im  Dasein  eines 
Volkes  bedeutet  einen  Akt  der  Wiedergeburt.  Ein  Organismus 
lebt  nur  dadurch,  dafs  er  wächst ;  und  er  wächst  nur  dadurch, 
dafs  er  stetig  innere  Achsenverschiebungen  erfahrt.  Wenn  eine 
Achse  sich  verschiebt,  so  kreuzt  sie  sich  selbst ;  so  streitet 
sie  mit  sich  selbst ;  daher  ist  kein  Wachstum  ohne  Ausein- 
andersetzung des  betreffenden  Organismus  mit  sich  selbst  zu 
denken.  Auf  das  vorliegende  Werk  angewendet:  Hätte  dasfelbe, 
einem  Organismus  vergleichbar,  insofern  es  mit  jeder  neuen  Auf- 


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14  — 


läge,  wenn  nicht  äufserlich,  so  doch  innerlich  zunehmen  konnte,  mit 
jedem  neuen  Erscheinen  eine  Achsenverschiebung,  d.  h.  eine 
Wiedergeburt  vorgenommen,  so  wäre  es  in  einem  grofsartigen 
Wachstum  begriffen  vielleicht  dazu  gekommen,  die  Drehung  an 
Rembrandt  vorbei  zu  einem  gewaltigeren  Pol  zu  nehmen. 

Denn  wie  sehr  die  Hypothese  »Rembrandt  der  Erzieher 
des  deutschen  Volkes«  anfechtbar  ist,  braucht  nicht  gezeigt  zu 
werden.  Eine  eingehende,  vorurteilsfreie  Analyse  seiner  Werke 
würde  dies  bald  lehren.  So  wunderbar  seine  Portraits  sind  —  ich 
erinnere  nur  an  das  Bild  des  Rabbiners  im  Berliner  Museum  — 
in  seine  biblischen  Bilder  mufs,  wenige  ausgenommen,  erst  viel 
hineingetragen  werden,  ehe  sie  so  erzieherische  Wirkungen 
von  sich  geben  können,  wie  der  Verfasser  meint.  Allerdings  er- 
innere ich  mich  eines  tiefen  Eindrucks,  den  ein  Christusbild 
von  Rembrandt  auf  mich  machte,  und  der  insofern  für  mich 
charakteristisch  wurde,  als  er  mir  die  Kunst  der  Alten  und  der 
Neuesten  in  hellem  Lichte  zeigte.  Das  Rembrandtsche  Bild  war 
kleinsten  Formats;  bequem  mit  zwei  Händen  zuzudecken.  Der 
Gekreuzigte,  die  einzige  Figur  des  Bildes,  hob  sich  wirkungsvoll 
vom  dunkeln  Gewölk  ab,  das  hinter  dem  schräg  abfallenden  Hügel 
heraufzog.  Keine  Effekthascherei;  es  war,  als  müfste  es  so  sein; 
darum  der  Eindruck  überwältigend  in  Einfachheit  und  Erhaben- 
heit des  Vorgangs.  Die  Tiefe  der  Empfindung,  die  das  Kunst- 
werk erschuf,  geht  bald  auf  den  Beschauer  über  und  ruft  jene 
innere  Stille  hervor,  in  welcher  das  wahrhaft  Grofse  uns  unmittel- 
bar zu  berühren  scheint:  Die  Höhe  von  Golgatha  mit  dem  Ge- 
kreuzigten ein  Wendepunkt  in  den  Geschicken  der  Menschheit 
und  ein  Höhepunkt  in  der  geistigen  Entwicklung  der  Völker.  Nie 
ist  in  mir  das  Gefühl  von  der  weltumfassenden  Bedeutung  dieser 
Stätte  so  stark  gewesen,  als  bei  der  Betrachtung  des  kleinen 
Bildes  —  dagegen  eine  bekannte  moderne  Darstellung  mich  bis 
ins  Innerste  erkältete.  Diese,  einige  Meter  Leinwand  einnehmend, 
zeigt  in  phantastischer  Darstellung,  das  Kreuz  in  Wolken  gerichtet, 
wie  der  Todesengel  sich  überbeugend  dem  Gekreuzigten  die  Seele 
vom  Munde  küfst.  Hier  Dekoration,  Effekthascherei,  innere  Un- 
wahrheit —  dort  Wirklichkeit,  Wahrheit,  Leben,  ein  Stück  von 
der  Seele  des  Künstlers.  Da  fühlen  wir  in  der  That,  wie  sein 
Blick  auf  das  Ganze  der  Welt  gerichtet  ist,  wie  er  Himmel  und 
Erde,  den  Menschen  und  die  Landschaft,  das  Leblose  und  das 
Lebendige  in  gleichem  Mafse  umfafste. 

Und  so  hätte  der  Verfasser  doch  Recht?  Ja  und  nein.  Immer 
wieder  empfangen  wir  dieselben  Eindrücke.  Es  geht  uns  mit  dem 
Buch,  wie  mit  manchen  Personen.  Einmal  fühlen  wir  uns  von 
ihnen  aufs  stärkste  angezogen,  das  andremal  können  wir  nur  mit 
Abneigung,  ja  mit  geheimen  Ingrimm  ihrer  denken,  ohne  uns  des 
Grundes  recht  bewufst  zu  sein.    Das  eine  Mal  hören  wir  in  dem 


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Werke  die  Stimme  eines  Weisen,  das  andere  Mal  will  es  uns 
scheinen,  als  spräche  ein  nicht  ganz  Nüchterner  zu  uns  und  es 
überkommen  uns  Gefühle  ähnlich  wie  im  Schlosse  zu  Herrn- 
chiemsee, wo  der  Gehirnzwirn  des  unglücklichen  Königs  an  Wänden 
und  Decken  plastisch  in  Erscheinung  getreten  ist. 

Nur  mit  gemischten  Gefühlen  können  wir  uns  von  dem  Werke 
verabschieden.  Es  übt  somit  eine  ähnliche  Wirkung  aus  wie  die 
Musik  Wagners.  Und  das  erscheint  nicht  wunderbar,  weil  es  aus 
der  Gegenwart  geboren,  von  deutschem  Geist  getragen,  innerlich 
mit  allen  bedeutenden  Erscheinungen  der  Gegenwart  sich  berührt. 
Sein  Leitmotiv  ist  Rembrandt,  der  deutscheste  der  deutschen 
Künstler.  Dieses  Leitmotiv  kehrt  unter  den  mannigfachsten  Variatio- 
nen wieder ;  es  klingt  überall  an,  es  wird  bis  zur  Ermüdung  tot 
gehetzt.  Eine  Masse  von  Tonmitteln  ist  in  Bewegung  gesetzt, 
um  den  Hörer  nicht  zur  Ruhe,  den  Leser  nicht  zum  Atmen 
kommen  zu  lassen.  Beides,  Buch  und  Musik,  überreizen  die  Nerven 
und  reizen  zum  Widerspruch.  Bei  beiden  hat  man  den  Wunsch: 
etwas  weniger  Blech  und  weniger  Getöse,  mehr  Ruhe,  mehr  Ein- 
fachheit, Klarheit  und  Durchsichtigkeit.  Zu  viel  Kopf  und  zu 
wenig  Herz  wirkt  nicht  erquickend;  aber  umgekehrt  wirkt  zu  viel 
Herz  und  zu  wenig  Kopf  abschreckend.  Die  Tumbheit  mag  im 
Frühjahr  gut  sein,  aber  wir  haben  doch  nicht  das  ganze  Jahr  hin- 
durch den  Lenz.  - 

Mit  einem  Widerspruch,  so  scheint  es,  mufs  ich  schliefsen. 
Er  erklärt  sich  aus  dem  alten  Satz :  Wo  viel  Licht,  da  pflegt  auch 
starker  Schatten  zu  sein,  in  Personen,  in  Bildern  und  in  Büchern. 
Welches  von  beiden  hier  vorherrscht;  ich  will  dies  nicht  ent- 
scheiden. Das  Rembrandtsche  Helldunkel  umfliefst  meine  Stim- 
mung; andere  fühlen  vielleicht  die  Lichtwirkung  überwiegen, 
während  die  dritten  im  Bewufstsein  von  den  starken  Schatten- 
seiten des  Buches  nicht  fassen  können,  dai's  man  sich  so  eingehend 
mit  ihm  beschäftigen  und  soviel  Worte  über  dasfelbe  machen  kann. 
Deshalb  ist  es  Zeit  die  Feder  hinzulegen  —  sonst  nimmt  man 
auch  noch  an  dem  Rezensenten  Ärgernis. 


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16  — 


II. 

Sachrechnen. 

Von  A.  Lomberg  in  Elberfeld. 
III.*) 

Damit  ist  aber  der  Kreis  der  Sachgebiete  noch  keineswegs 
abgeschlossen.  Es  fehlt  noch  das  ganze  Gebiet  der  rein  theore- 
tischen Kenntnisse,  der  geschichtlichen,  geographischen  und  natur- 
kundlichen Lehren.  Auch  diese  Dinge  haben  ein  Anrecht  darauf, 
in  das  Rechnen  hereingezogen  zu  werden.  Die  Zahlen  bringen 
nämlich  die  sachlichen  Verhältnisse  jener  Wissensgebiete  in  schärfere 
Beleuchtung  und  vertiefen  und  läutern  die  Einsicht.  Die  Aus- 
nutzung dieser  Stoffe  für  die  Zwecke  des  Rechnens  empfiehlt  sich 
um  so  mehr,  als  der  gleichzeitige  Sachunterricht  schon  die  Klar- 
stellung des  Thatsächlichen  bewirkt  und  das  Interesse  für  die 
Sache  lebhaft  geweckt  hat.  Die  sachunterrichtlichen  Aufgaben 
finden  also  empfänglichen  Boden  im  kindlichen  Geiste  und  be- 
dürfen, um  erfafst,  verstanden  zu  werden,  keiner  weiteren  Er- 
läuterungen. So  entsprechen  sie  vollauf  den  Anforderungen, 
welche  an  schulgcmäfse  Rechenaufgaben  zu  stellen  sind.  Das 
Kind  findet  sich  im  Gewände  der  Aufgaben  sofort  zurecht,  sein 
Blick  bleibt  frei  und  offen  und  richtet  sich  gcradeswegs  auf  das 
Ziel.  Erscheint  dagegen  die  Einkleidung  der  Zahlen  in  dunkler 
Gestalt,  so  wird  die  Auffassung  des  Sachlichen  schief  und  ver- 
worren sein,  Unmut  wird  rege,  der  Geist  kann  sich  nicht  frei 
bethätigen  und  läfst  die  Flügel  fallen,  ehe  das  Ziel  erreicht  ist. 

Es  möge  uns  nunmehr  ein  Gang  durch  die  verschiedenen 
sachunterrichtlichen  Lehrfächer  zeigen,  in  welcher  Weise  dieselben 
sich  für  das  Rechnen  ausnutzen  lassen,  und  wie  durch  die  Heran- 
ziehung derartiger  Aulgaben  die  Zwecke  des  Sachunterrichts  ge- 
fördert werden.    Wir  beginnen  mit  der 

Naturkunde. 

Sie  ist  diejenige  Disziplin,  bei  welcher  das  Rechnen  den  engsten 
Anschlufs  findet.  Die  Mathematik  bildet  ja  die  formale  Seite 
der  Naturwissenschaften.  »Zahl,  räumliche  Gestalt  und  Be- 
wegung, diese  mathematischen  Grundformen,  kommen  in  der 
That  bei  allen  Naturgegenständen  und  Naturerscheinungen  vor, 
und  diese  können  nicht  scharf  und  deutlich  aufgefafst  werden, 
wenn  nicht  zugleich  gezählt,   gemessen  und  gewogen  wird.«**) 

*)  I.  u.  II.  in  Heft  IV.  1890. 

*•)  Zill  er,  Allgemeine  Pädagogik.    2.  Aufl.    S.  220. 


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-    17  — 


Auch  die  Naturgesetze,  welche  eine  Menge  gleichartiger  Natur- 
erscheinungen zu  einer  Einheit  zusammenfassen,  werden  auf  Mafs 
und  Zahl  zurückgeführt,  und  in  mathematische  Formeln  gebracht, 
weil  diese  den  Gesetzen  einen  weit  bestimmteren  und  übersicht- 
licheren Ausdruck  geben  als  es  die  blofsen  Worte  vermögen.  So 
stehen  denn  Mathematik  und  Naturwissenschaften  in  engstem  Zu- 
sammenhange. Ursprünglich  waren  sie  auch  gar  nicht  als  ge- 
sonderte Betrachtungsweisen  vorhanden,  wie  denn  noch  jetzt  bei 
jüngeren  Kindern  die  mathematischen  Vorstellungen  den  natur- 
kundlichen vollständig  beigemischt  sind  und  erst  allmählich  sich 
von  diesen  abheben.  Es  liegt  also  im  Wesen  der  Sache  tief  be- 
gründet, wenn  wir  das  Rechnen  an  die  Naturkunde  anzuschliefsen 
suchen.  Herbart  sagt  in  diesem  Sinne:  »Die  mathematischen 
Studien  —  vom  gemeinen  Rechnen  bis  zur  höheren  Mathematik 
hinauf  —  müssen  sich  der  Naturkenntnis  und  hiemit  der  Er- 
fahrung anschliefsen,  um  Eingang  in  den  Gedankenkreis  des  Zög- 
lings zu  gewinnen.  Denn  auch  der  gründlichste  mathematische 
Unterricht  zeigt  sich  als  unpädagogisch,  sobald  er  eine  abge- 
sonderte Vorstellungsmasse  für  sich  allein  bildet.« 
Fragen  wir  zunächst  bei  der 

Physik 

an.  Wir  finden  des  Stoffes  die  Menge;  denn  fast  jedem  Kapitel 
läfst  sich  eine  mathematische  Betrachtung  abgewinnen.  Freilich 
können  die  Aufgaben  immer  nur  einfacher  Art  sein,  da  der  physi- 
kalische Unterricht  der  Volksschule  sich  des  gelehrten  Apparates 
entschlagen  mufs  und  auf  die  streng  wissenschaftliche  Betrachtung 
nicht  eingehen  darf.  Aber  es  ist  auch  nicht  nötig,  dafs  verwickelte 
Aufgaben  gesucht  werden  ;  je  einfacher  sie  sind,  ein  desto  gröfserer 
Gebrauch  kann  von  ihnen  gemacht  werden.  Zum  Rechnen  bieten 
Anlafs:  die  Wirkungsweise  der  einfachen  Maschinen,  die  Ein- 
richtung der  aus  diesen  Maschinen  aufgebauten  Apparate  wie 
Krämer-,  Schnell-  und  Brückenwage,  Flaschenzug,  Wasserrad, 
Schrotleiter,  Schraubenpresse,  ferner  das  Kapitel  vom  spezifischen 
Gewicht,  die  Pendelgesetze,  die  Lehre  vom  Luftdruck,  das  Baro- 
meter, die  Geschwindigkeitsgrade  der  Fortbewegung,  die  Aus- 
dehnung der  Körper  durch  die  Wärme,  die  verschiedenen  Thcrmo- 
meterscalen.    Wir  geben  zur  Erläuterung  einige  Beispiele: 

1.  Eine  Last  von  100  kg  wird  von  einer  Kraft,  die  12,5  kg 
beträgt,  im  Gleichgewicht  gehalten.  Wie  lang  ist  der  Lastarm, 
Avenn  der  Kraftarm  eine  Länge  von  75cm  hat? 

2.  Mittelst  eines  Flaschenzuges,  der  in  jeder  Flasche  3  Rollen 
hält,  soll  eine  Last  von  1200  kg  gehoben  werden.  Welche  Kraft 
ist  dazu  erforderlich,  wenn  jede  Rolle  6  kg  schwer  und  zur  Über- 
windung der  Reibung  noch  der  Kraft,  welche  der  gesamten 
Last  das  Gleichgewicht  hält,  notwendig  ist? 

Pätla«ogi*cht  Studien.    I.  2 


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—    18  — 


3.  Eine  Landstrafse  steigt  auf  je  100  m  Länge  um  5  m. 
Welche  Kraft  mufs  angewendet  werden,  um  eine  Last  von  3000  kg 
bergan  zu  fahren,  wenn  die  Überwindung  der  Reibung  eine  Kraft 
von  '/*o  der  ganzen  Last  verlangt? 

4.  Durch  den  Strom  allein  wird  ein  Schiff  in  der  Sekunde 
1,5  m  weit  getrieben,  aber  der  Wind,  welcher  gegen  den  Strom 
geht,  hält  das  Schiff  um  0,4  m  in  der  Sekunde  zurück.  In  welcher 
Zeit  legt  das  Schiff  20  Meilen  zurück? 

5.  Der  Brunnen  auf  der  Festung  Königstein  ist  190  m  tief. 
Wie  lange  fallt  ein  Stein,  ehe  er  das  Wasser  erreicht? 

6.  Ein  Pendel  vollendet  in  3  Sekunden  4  Schwingungen. 
Wievielmal  so  lang  ist  ein  Pendel,  welches  in  3,  i1/,  Sekunden 
eine  Schwingung  macht? 

7.  Das  spezifische  Gewicht  des  Goldes  beträgt  19,  das  des 
Kupfers  9.  Wieviel  wiegt  ein  Zwanzigmarkstück  im  Wasser,  wenn 
das  Gewicht  desselben  in  der  Luft  8  g  beträgt? 

8.  Das  spezifische  Gewicht  des  Quecksilbers  ist  13,6.  Wie 
hoch  ist  die  Wassersäule,  welche  dem  Druck  der  atmosphärischen 
Luft  das  Gleichgewicht  hält? 

9.  Ein  Knabe,  dessen  Puls  in  der  Minute  80  mal  schlug, 
zählte  zwischen  Blitz  und  Donner  am  Anfange  des  Gewitters  15,. 
nach  einiger  Zeit  5,  später  25  Pulsschläge.  Welches  war  in  jedem 
Falle  die  Entfernung  des  Gewitters? 

10.  Wieviel  Grad  Reaumur  sind  30 0  C,  und  wieviel  Grad 
Celsius  sind  30  ü  R? 

Wie  aus  allem  ersichtlich,  erfüllen  solche  und  ähnliche  Bei- 
spiele auf  beste  den  Zweck,  die  entwickelten  Lehren  zu  illustrieren 
und  einzuüben. 

Spärlicher  fliefst  der  Rechenstoff,  welcher  der 

Chemie 

zu  entnehmen  ist.  Das  hat  seinen  Grund  in  der  engen  Begrenzung,, 
in  welcher  in  der  Volksschule  dieser  Unterrichtszweig  zu  halten 
ist.  Immerhin  finden  sich  einige  Gelegenheiten,  wo  das  Rechnen 
mit  Erfolg  einsetzen  kann.  Zu  rechnerischer  Behandlung  bieten 
besonders  die  chemischen  Verbindungen  und  Mischungen  Anlafs. 
Einige  Beispiele  mögen  dies  beweisen: 

1 .  Die  atmosphärische  Luft  besteht  aus  79  °,0  Stickstoff  und 
21  °/o  Sauerstoff.  Wieviel  von  jeder  Luftart  ist  in  unserem  Schul- 
zimmer enthalten? 

2.  Das  Schiefspulver  ist  ein  Gemenge  von  75  Raumteilen 
Salpeter,  10  Raumteilen  Schwefel  und  15  Raumteilen  Kohlen. 
Wieviel  von  jedem  Stoffe  sind  in  550  kg  Pulver  enthalten? 

3.  Glockenmetall  besteht  gewöhnlich  aus  77%  Kupfer,  21  °/o 
Zinn  und  2  °/0  Antimon;  wieviel  von  jedem  Stoffe  enthält  die  aus 
französischem  Geschützmetall  gegossene  Kaiserglocke  im  Dom  zu 
Köln,  die  2500kg  wiegt? 


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4.  Die  Kupfermünzen  bestehen  aus  95  *'/0  Kupfer,  4  °/0  Zinn 
und  1  °/0  Zink,  die  Nickelmünzen  aus  75  °/0  Kupfer  und  25  °/0 
Nickel;  wieviel  von  jedem  Stoffe  ist  in  einem  Zweipfennigstück, 
von  denen  3  Stück  10  g,  und  in  einem  Zehnpfennigstück,  von 
denen  4  Stück  20g  wiegen,  enthalten? 

5.  Durch  das  Glühen  im  Kalkofen  verliert  der  kohlensaure 
Kalk  seine  Kohlensäure,  die  n/5{5  seines  Gewichts  ausmacht. 
Wieviel  gebrannten  Kalk  erhält  man  demnach  aus  200  kg  kohlen- 
saurem Kalk?  — 

Ergiebig  an  Rechenstoff  ist  besonders  das  Gebiet  der 

beschreibenden  Naturwissenschaften. 

Ein  naheliegendes  Beispiel  aus  der  Botanik,  das  eine  grofse 
Zahl  von  Variationen  zuläfst,  führt  Dörpfeld  an.  Er  sagt:  »Die 
Kinder  fassen  gewöhnlich  zuerst  nur  für  diejenigen  Pflanzen  ein 
Interesse,  welche  sich  durch  ihre  farbige  Blumenkrone  bemerklich 
machen.  An  den  Dolden,  die  auch  durch  ihre  steife,  sperrige 
Gestalt  sich  nicht  empfehlen  können,  gehen  sie  daher  meist  teil- 
nahmlos vorüber.  Erst  wenn  sie  auf  die  Eigentümlichkeit  des 
Blütenstandes  aufmerksam  gemacht  werden,  fangen  sie  an,  diese 
Pflanzen  etwas  respektvoller  anzusehen.  Nun  mufs  aber  auch  noch 
die  Zahl  hinzutreten;  denn  die  Form  des  Blütenstandes  fordert 
geradezu  zum  Zählen  auf.  Da  zählt  man  auf  einem  Zweige  etwa 
20  Hauptdoldenstiele,  auf  einem  dieser  Stiele  etwa  18  Stielchen 
zweiten  Grades,  —  macht  also  in  Summa  auf  dem  einen  Zweige 
(durchschnittlich  gerechnet)  20x18  =  360  Blüten.  Besitzt  nun 
die  Pflanze  etwa  8  Zweige,  so  geben  das  insgesamt  8  X  360  =  2880 
Blüten.  Wie  reifsen  die  Kinder  die  Augen  auf,  wenn  solche 
Zahlen  herauskommen  ! «  *) 

Wir  geben  noch  einige  andere  Beispiele: 

1.  Die  Tucheier  Heide  umfafst  16  Forstreviere;  in  jedem 
Reviere  sind  in  diesem  Jahre  (1889)  etwa  300  hl  Maikäfer  ge- 
sammelt worden.  Wieviel  Maikäfer  wurden  in  der  ganzen  Heide 
zusammengebracht,  wenn  auf  1  1  450  Käfer  zu  rechnen  sind? 

2.  Ein  Maulwurf  mufs  täglich  im  Durchschnitt  20  Engerlinge 
zu  seiner  Sättigung  haben.  Wieviel  Engerlinge  vertilgt  ein  Maul- 
wurf, wenn  er  vom  I.  März  bis  zum  1.  November  auf  dem  Felde 
thätig  ist? 

3.  In  dem  Nistkästchen  eines  Stars  befinden  sich  5  Junge; 
jedes  derselben  braucht  täglich  im  Durchschnitt  50  Raupen  zu 
seiner  Sättigung.  Nun  dauert  die  Fütterung  der  Jungen  rundweg 
30  Tage.  Wenn  nun  jede  von  diesen  7500  Raupen  täglich  nur 
eine  Blüte  abfrifst,  um  wieviel  Früchte  würden  uns  dann  jene 
Raupen  in  den  30  Tagen  bringen? 


*i  Dörpfeld,  Grundlinien  zur  Theorie  eines  Lehrplans,  Seite  $2. 

2* 


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20  — 


4.  Der  Kartoffelkäfer  zeichnet  sich  durch  eine  ganz  ausser- 
ordentlich starke  Vermehrungskraft  aus.  Jedes  Weibchen  legt 
etwa  900  Eier;  in  4  Wochen  haben  sich  aus  diesen  Eiern  voll- 
ständig entwickelte  Käfer  gebildet.  Berechne  die  Abkömmlinge 
dieses  jungen  Geschlechts,  und  nimm  dabei  die  Hälfte  der  Käfer 
als  Eierleger  an!  Berechne  weiter  auch  die  Nachkommenschaft 
des  dritten  Geschlechts ! 

5.  Die  Menge  Honig,  welche  eine  Biene  bei  einem  Ausfluge 
heimbringt,  nennt  man  eine  Bienentracht.  240  solcher  Bienen- 
trachten liefern  I  g  Honig.  Wieviele  Bienentrachten  gehen  auf 
ein  Liter  Honig,  welches  1250g  wiegt? 

6.  Die  Bienenkönigin  legt  täglich  etwa  1800  Eier.  Wieviel 
Eier  legt  sie  in  der  Zeit  vom  1.  Mai  bis  zum  15.  Juni? 

7.  Der  Cocon  des  Seidenspinners  liefert  einen  Faden,  der 
eine  Länge  von  800  m  hat.  400  solcher  Cocons  geben  ein  Kilo- 
gramm Rohseide.  Wie  lang  wird  der  Faden  sein,  der  diesem 
Gewicht  entspricht? 

8.  Man  nimmt  an,  dafs  eine  Eiche  500  Jahre  leben  kann. 
Stellen  wir  uns  vor,  dafs  sie  in  dieser  Zeit  5omal  Früchte  trage 
und  jedesmal  500  Eicheln  liefere;  wieviele  Früchte  erhielte  man 
dann  von  dem  einen  Baume?  Jede  dieser  Eicheln  hat  die  Anlage, 
wieder  ein  solcher  Baum  zu  werden.  Zu  wievtclen  Bäumen  würde 
sich  nun  eine  Eiche  in  der  2.  Abstammung  vermehren? 

9.  Die  Blutmenge  eines  Erwachsenen  bildet  ungefähr  den 
13.  Teil  seines  Körpergewichts.  Berechne  darnach  die  Blutmenge 
eines  Menschen,  der  71,500  kg  wiegt? 

10.  In  einer  Sekunde  legt  der  Mensch  im  Schritt  1,25  m,  ein 
Schnellläufer  7,1  m  zurück.  Wieviel  mal  so  grofs  ist  die  Ge- 
schwindigkeit einer  Brieftaube,  die  in  derselben  Zeit  eine  Strecke 
von  27  m,  und  die  einer  Schwalbe,  die  in  einer  Sekunde  67  m 
zurücklegt? 

Unserem  vorgesetzten  Ziele  gemäfs  haben  wir  in  dem  letzthin 
ausgezogenen  Rechenstoff  nur  die  rein  theoretische  Anschauungs- 
weise der  Natur  berührt.  Eine  andere  Betrachtungsweise  war  in 
der  hergebrachten  Unterrichtspraxis  nicht  üblich.  Nun  macht  sich 
neuerdings,  angeregt  durch  Ziller  und  Beyer,  eine  Reform- 
bewegung im  naturkundlichen  Unterrichte  geltend.  Stärker  als 
alle  anderen  Methodiker  des  naturkundlichen  Unterrichts  haben 
diese  Männer  den  Gedanken  betont,  dafs  es  mit  der  rein  theo- 
retischen Betrachtung  nicht  sein  Bewenden  haben  könne,  sondern 
dafs  auch  umfassende  B  etrachtungen  volkswirtschaftlicher 
Art  aufzutreten  hätten.  Es  liege  in  diesen  das  bildendste  Moment, 
die  wesentlichste  Seite  der  schulgemäfsen  Naturbetrachtung. 
Beyer  hebt  in  seiner  Schrift:  »Die  Naturwissenschaften  in  der 
Erziehungsschule«,  den  Begriff  der  Arbeit  geradezu  als  den  Grund- 
begriff des  naturkundlichen  Unterrichts  hervor.    Der  Unterricht 


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solle,  so  verlangt  Beyer,  in  erster  Linie  die  Beziehungen  der 
Natur  zum  Menschen  klarlegen,  er  solle  Aufschlufs  geben  über 
die  Mittel  und  Kräfte,  durch  welche  sich  der  Mensch  die  Be- 
dingungen für  seine  Existenz  und  für  das  Gelingen  seiner  Thätig- 
keit  verschafft  und  sichert.  Beyer  nimmt  daher  nur  solche  Ob- 
jekte in  unterrichtliche  Behandlung,  welche  in  volkswirtschaftlichem 
Sinne  bedeutungsvoll  sind. 

Mag  in  Zukunft  auch  einiges  aus  diesen  Forderungen  ge- 
strichen werden,  so  werden  wir  doch  fernerhin  d  -j  m  Gedanken 
volle  Beachtung  schenken  müssen,  dafs  der  naturkundliche  Unter- 
richt mehr  als  bisher  praktisch  zu  gestalten  sei,  dafs  er  insonder- 
heit volkswirtschaftlichen  Belehrungen  Spielraum  gestatten  müsse. 
Es  wird  ins  Auge  gefafst  werden  müssen,  dafs  alles  das,  was  das 
Erwerbsinteresse  des  Menschen  herausfordert  und  worauf  sich 
darum  dessen  Mühen  und  Schaffen  richtet,  das  nächste  Anrecht 
darauf  hat,  unterrichtlich  klar  gestellt  zu  werden.  Manche  Lieb- 
linge der  seitherigen  Praxis  werden  in  Wegfall  kommen  müssen, 
um  geräumigen  Platz  demjenigen  zu  machen,  das  wegen  seiner 
Bedeutung  für  die  menschliche  Arbeit  einen  gerechtfertigten  An- 
spruch auf  unsere  Kenntnisnahme  hat.  Es  wird  nicht  mehr  gut- 
geheifsen  werden  können,  dafs  im  Unterricht,  wie  es  seither  geschah, 
die  Unkräuter  des  Ackers  mehr  kultiviert  werden  als  die  Nähr- 
und Nutzpflanzen  desfelben. 

Doch  warum  nehmen  wir  Anlafs,  den  Ziller-Bey ersehen 
Reformgedanken  ins  Licht  zu  rücken?  Wir  wollten  zu  erkennen 
geben,  wie  durch  die  Verwirklichung  der  uns  notwendig  erschei- 
nenden Reform  der  Gedanke  des  Sachrechnens  eine  ungemein 
grofse  Förderung  erhält.  Voraussetzung  für  ein  fertiges  Sachrech- 
nen ist  der  Einblick  in  die  sachlichen  Verhältnisse  der  Aufgaben. 
Die  sachlichen  Belehrungen  dürfen  nicht  kurzerhand  dem  Rechen- 
unterricht zugewiesen  werden,  denn  dieser  würde  dadurch  mit 
einer  Überfracht  belastet,  die  ihn  nicht  vom  Flecke  brächte.  Die 
Klarstellung  des  Sachlichen  ist  vielmehr  zum  grofsen  Teile  Aufgabe 
des  Sachunterrichts.  Die  Lehrfacher  müssen  aufeinander  Bezug 
nehmen;  denn  in  der  gemeinsamen  Arbeit  liegt  die  erhöhte  Wirk- 
samkeit derselben.  Es  könnten  nun  die  volkswirtschaftlichen  Be- 
lehrungen, die  wir  bei  den  Aufgaben  über  den  Haushalt,  die  Land- 
wirtschaft, die  Handwerke  und  Gewerbe  und  das  Verkehrswesen 
angeführt  haben,  zum  grofsen  Teile  dem  naturkundlichen  Unter- 
richt zugewiesen  werden.  Wir  erhielten  dadurch  eine  breite  und 
feste  Grundlage,  auf  dem  das  Sachrechnen  sich  mit  Erfolg  ent- 
wickeln könnte.  Die  Hindernisse  in  der  Auffassung  würden  ver- 
mieden, der  sachliche  Inhalt  der  Aufgaben  käme  jedem  Schüler 
sofort  zur  Einsicht,  ued  das  Nachdenken  könnte  sich  ohne 
weiteres  auf  das  Verhältnis  der  Zahlen  zu  einander  werfen. 

Wie  die  Sache  freilich  jetzt  steht,  kann  der  Rechenunterricht 


vor  der  Hand  noch  nicht  auf  eine  solch  weitgehende  Unterstützung 
rechnen.  Er  mufs  sich  begnügen  mit  dem,  was  der  Naturunter- 
richt für  das  Sachrechnen  gegenwärtig  leistet,  und  das  ist  ja,  wie 
wir  gesehen  haben,  immerhin  eine  dankenswerte  Beihilfe;  im 
Übrigen  aber  mufs  er  die  noch  fehlenden  Kenntnisse  aus  der  Volks- 
wirtschaft auf  eigene  Hand  beitreiben. 

Mit  der  Naturkunde  nahe  verwandt  ist  die 

Geographie. 

Sie  beschreibt  die  Erdoberfläche  und  hebt  besonders  deren  Be- 
ziehungen zu  dem  Dasein  und  Wirken  der  Menschen  hervor.  Um 
genaue  Schätzungen  vorzunehmen,  bedarf  sie  überall' der  Zahlen. 
Es  giebt  kein  geographisches  Objekt,  das  sich  der  zahlenmäfsigen 
Behandlung  entzöge.  Der  Schulunterricht  mufs,  um  klare  Vor- 
stellungen zu  erzeugen,  einen  umfassenden  Gebrauch  von  solchen 
Zahlen  machen.  Freilich  ist  mit  der  Zahl  an  und  für  sich  die 
dazugehörige  Gröfsenvorstellung  noch  nicht  gegeben.  Es  ist  ein 
Irrtum  zu  glauben,  dafs  mit  den  Angaben :  der  Mont  Blanc  erreicht 
eine  Höhe  von  4800  Meter,  die  Halbinsel  Arabien  ist  50,000  Quadrat  - 
meilcn  grofs,  der  Äquator  hat  eine  Länge  von  5400  Meilen  die 
Sache  klargestellt  sei.  Der  Schüler  merkt  sich  solche  Zahlen  zwar 
schnell  und  kann  auf  Befragen  auch  die  richtigen  Antworten  geben. 
Aber  das  blofse  Einstimmen  in  die  Worte  und  Sätze  des  Lehr- 
vortrages ist  keineswegs  die  Bürgschaft  dafür,  dafs  der  Unterricht 
verstanden,  zum  geistigen  Eigentum  geworden  ist.  Die  blofsen 
Zahlen  sind  dem  Schüler  nicht  viel  mehr  als  leere  Wortschälle. 
Es  gilt  ein  Verfahren  anzuwenden,  durch  welches  man  sie  mit 
einem  bestimmten  Inhalte  füllt.  Man  wird  auf  die  bekannten 
Gröfscnvorstellungen  der  Heimat  zurückgreifen  müssen.  Sie  bilden 
die  Mafse  für  alles  Fremde  und  Entlegene.  Rechnend  mufs  fest- 
gestellt werden,  in  welchem  Verhältnisse  diese  zu  den  Gröfsen- 
verhältnissen  entlegener  Gebiete  stehen.  Somit  ist  das  geographische 
Rechnen  von  höchster  Bedeutung  für  den  Unterricht  und  sollte 
darum  in  aller  Sorgfalt  gepflegt  werden. 

Das  geographische  Rechnen  hat  mit  der  Heimat  einzusetzen. 
Nach  allen  wesentlichen  Richtungen  hin  mufs  diese  rechnend 
durchdacht  werden.  Die  blofse  Anschauung  thuts  nicht,  die  Zahlen 
müssen  heran,  und  es  mufs  gerechnet  werden.  Da  ist  zunächst 
die  Höhenlage  der  heimatlichen  Berge  und  Thäler,  über 
welche  die  Schüler  genau  orientiert  werden  müssen.  Wir  geben 
ihnen  die  Aufgabe :  Der  Fahrdamm  der  Wallstrafse  in  Elberfeld 
liegt  143  m,  das  Landgericht  148  m,  der  Döppersberger  Bahn- 
hof 156  m,  die  Elisenhöhe  auf  der  Hardt  219  m,  der  höchste  Punkt 
des  Nützenberges  261m,  des  Kiesberges  284  m  und  des  Hahner- 
berges  322  m  hoch.  Berechne  den  Abstand  sämtlicher  Höhen- 
punkte von  der  Wallstrafse,  von  der  Elisenhöhe,  vom  Hahnerberge 
aus !  Bestimme  ebenso  den  Abstand  je  zweier  aufeinanderfolgender 
Punkte !  Die  gefundenen  relativen  wie  auch  die  angegebenen  ab- 


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soluten  Höhen  verwerten  wir  später  bei  der  Betrachtung  entlegener 
Hochflächen,  Bergspitzen  und  Tiefebenen.  Die  Berechnung  ist  hier 
um  so  mehr  am  Platze,  als  die  Vorstellungsthätigkeit  die  Kinder 
auf  diesem  Gebiete  vollständig  im  Stiche  läfst. 

Eine  gleiche  Berücksichtigung  wie  die  Berg-  und  Thalhöhen 
verdienen  die  Höhen  hervorragender  Gebäude.  Der  weithin 
sichtbare  Tölle-Turm  im  Barmer  Walde  hat  eine  Höhe  von  25  m; 
sein  Fufspunkt  liegt  325  m  über  dem  Meeresspiegel.  Wie  hoch 
ragt  die  Spitze  desselben  über  das  Meer  empor?  —  Der  Turm 
der  zweiten  retormierten  Kirche  zu  Elberfeld  ist  65,60  m  hoch,  die 
Türme  der  benachbarten  Laurentiuskirche  haben  eine  Höhe  von 
47,80  m.  Um  wieviel  werden  sie  von  den  Kölner  Domtürmen 
überragt,  die  eine  Höhe  von  156  m  haben? 

Um  einzusehen,  wie  das  Bergische  von  der  westfälischen 
Grenze  an  bis  zum  Rhein  hin  abgedacht  ist,  berechnen  wir  das 
Gefälle  der  heimatlichen  Flüsse,  insbesondere  der  Wupper. 
Wir  haben  folgende  Zahlen  nötig:  Quelle  der  Wupper  359m, 
Hückeswagen  248  m,  Beyenburg  201m,  Isländerbrücke  zu  Elber- 
feld 143  m,  Sonnborn  131m,  Burg  93  m,  Leichlingen  54,  Ein- 
mündung in  den  Rhein  36  m.  Hückeswagen  und  Burg  sind  zwei 
Städte  an  der  Wupper,  die  in  gerader  Linie  nicht  ganz  I  8/4  Meilen 
von  einander  entfernt  sind;  durch  Berechnung  läfst  sich  feststellen, 
dafs  sich  der  Wupperspiegel  zwischen  diesen  Städten  um  155  m 
senkt.  Auch  die  Krümmungen  unseres  Flusses  fassen  wir  ins 
Auge.  Die  gerade  Entfernung  von  Hückeswagen  bis  zur  Mündung 
beträgt  nur  30  km,  der  Lauf  der  Wupper  aber  beträgt  auf  dieser 
Strecke  83  km.  Wieviel  Kilometer  entfallen  auf  die  Krümmungen  ? 
Wie  oft  ist  die  gerade  Strecke  in  der  Länge  des  Flufslaufs  ent- 
halten? Wieviel  beträgt  das  Gefälle  der  Wupper  durchschnittlich 
auf  1  km? 

In  den  Kreis  des  heimatskundlichen  Rechnens  mag  auch  der 
jeweilige  Wasserstand  der  Wupper  gezogen  werden.  Die  er- 
forderlichen Zahlen  sind  dem  »Täglichen  Anzeiger«  zu  entnehmen; 
besser  noch  ist  es,  wenn  ein  stadtkundiger  Knabe  beauftragt  wird, 
sie  auf  dem  Pegel  an  der  Isländerbrücke  abzulesen  und  dann  der 
Klasse  mitzuteilen.  Wir  warten  für  Rechnungen  dieser  Art  am 
besten  die  Zeit  einer  Hochflut  ab,  weil  dann  die  Augen  der  ge- 
samten Jugend  aut  die  Wupper  gerichtet  sind.  Es  ergeben  sich 
dann  Aufgaben  wie  folgende:  Die  Wupper  hatte  in  den  Tagen 
vom  7.  bis  zum  12.  Januar  1888  zu  Eberfeld  Wasserstände  von 
0,64;  0,85;  1,10;  1,30;  1,10;  0,95  m.  Berechne  das  Steigen  und 
Fallen  des  Flusses!  Das  Interesse  ist  jetzt  auch  empfanglich  für 
die  Wasserstände  des  Rheins;  denn  das  Kind  hört  erzählen  von 
Überschwemmung  und  Wassersnot.  Wir  nutzen  dieses  Interesse 
für  die  Zwecke  des  Rechnens  aus  und  stellen  Aufgaben  wie 
folgende:   Der  Rhein  hatte  in  den  Tagen  vom  7.  bis  12.  Januar 


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1 888  zu  Düsseldorf  Wasserstände  von  2,20;  2,07;  2,29;  2,93; 
3.50;  3,68  m.  Um  wieviel  ist  der  Strom  jedesmal  gestiegen  oder 
gefallen? 

Zum  Gegenstand  des  Rechnens  bieten  sich  aus  der  Heimats- 
kunde  weiter  die  Entfernungen  zwischen  den  einzelnen  Ort- 
schaften an.  Die  erforderlichen  Zahlen  lesen  wir  auf  den  Schul- 
wanderungen von  den  Wegweisern  und  den  Nummersteinen  der 
Landstrafsen  ab.  Eine  Aufgabe  dieser  Art  ist  folgende:  Auf  dem 
Hatzfelder  Wegweiser  steht  geschrieben:  Nach  Witten  23,6  km, 
nach  Elberfeld  4,8  km,  nach  Barmen  3,2  km.  Wieviel  Zeit  braucht 
man,  um  diese  Strecken  zu  durchwandern,  wenn  man  in  einer 
Stunde  4  km  zurücklegt? 

Anlafs  zu  heimatskundlichen  Berechnungen  bietet  besonders 
die  Eisenbahn.  Einige  Beispiele  mögen  dies  zeigen:  Die  Eisen- 
bahnstrecke von  Elberfeld  nach  Düsseldorf  ist  27,6  km  lang,  die 
Strecke  von  Elberfeld  nach  Deutz  ist  16,9  km  länger.  Wie  lang 
ist  diese?  —  Ein  gewöhnlicher  Eisenbahnzug  legt  in  einer  Minute 
450  m  zurück.  In  welcher  Zeit  fährt  ein  solcher  Zug  von  Elber- 
feld nach  Düsseldorf?  In  welcher  Zeit  von  Elberfeld  nach  Deutz?  — 
Ein  Schnellzug  legt  in  einer  Minute  850  m  zurück.  Wieviel  Zeit 
gebraucht  er  zu  einer  Fahrt  durch  die  vorhin  angegebenen  Strecken? 
—  An  Fahrgeld  wird  für  die  Strecke  eines  Kilometers  für  die  erste 
Wagenklasse  8,  für  die  zweite  6,  für  die  dritte  4  und  für  die 
vierte  2  Pfg.  angerechnet.  Was  werden  demnach  die  betreffenden 
Fahrkarten  für  eine  Reise  a)  nach  Düsseldorf,  b)  nach  Deutz 
kosten?  —  Die  Rückfahrkarten  sind  um  die  Hälfte  teurer.  Wie- 
viel werden  sie  kosten?  -  Wie  teuer  würden  die  oben  ange- 
gebenen Reisen  mit  der  Post  sein,  die  für  die  Strecke  eines  Kilo- 
meters 10  Pfg.  berechnet;  —  Auf  dem  Bahnhof  Elbcrfeld-Döppers- 
berg  kamen  im  Jahre  1886:  l  097  897  Personen  an,  und  es  fuhren 
von  dort  1072  041  Personen  ab;  wieviel  sind  das  durchschnittlich 
täglich?  —  Die  Pferdeeisenbahn  von  Elberfeld  nach  Barmen  be- 
förderte im  Jahre  1 886 :  4  444  447  Personen ;  wieviel  also  durch- 
schnittlich täglich?  —  Es  wurden  im  Jahre  1887  aus  Elberfeld 
6523382  Briefe,  817  711  Packcte  und  76556  Briefe  und  Packete 
mit  Wertangabe  abgesandt.  Wieviel  Briefe  und  Packete  waren 
täglich  zu  befördern?  —  In  ähnlicher  Weise  kommen  wir  auch 
auf  den  Güterverkehr  zu  sprechen:  Ein  Kohlenhändler  aus  Elber- 
feld erhält  aus  Dortmund  einen  Doppelwaggon  (200  Ztr.)  Kohlen, 
welcher  an  der  Zeche  85  M.  kostet.  Für  die  Beförderung  wird 
auf  den  preufsischen  Staatseisenbahnen  für  die  Strecke  eines  Kilo- 
meters 2,20  bis  2,60  Pfg.  berechnet;  dazu  kommt  die  Abfertigungs- 
gebühr, welche  für  die  Strecke  von  10  km  80  Pfg.,  für  eine  Strecke 
von  11  —  100  km  90  Pfg.  beträgt.  Nun  ist  Dortmund  von  Elber- 
feld 45  km  weit  entfernt.  Wie  teuer  wird  dem  Händler  a)  der 
Doppelwaggon,  b)  ein  Zentner  Kohlen?   Wie  teuer  mufs  er  den 


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Zentner  verkaufen,  wenn  er  2O°/0  daran  verdienen  will?  —  Nicht 
selten  kann  auch  die  Höhenlage  der  Eisenbahn  in  Rechnung  ge- 
zogen werden.  Die  Schienen  auf  der  Sonnborner  Eisenbahnbrücke 
liegen  152,35  m  über  dem  Meeresspiegel,  der  mittlere  Wasser- 
stand der  Wupper  hat  hier  eine  Höhe  von  131,30  m.  Wie  hoch 
fahren  die  Eisenbahnzüge  über  der  Wupper  hinweg?  —  Die 
Bergisch-Märkische  Eisenbahn  steigt  von  Erkrath  bis  Hochdahl 
steil  den  Berg  hinan.  Das  untere  Ende  der  schiefen  Ebene  da- 
selbst ist  53,55  m,  das  obere  Ende  136,90m  hoch.  Wie  grofs  ist 
die  Steigung? 

Zahlenmäfsig  liegen  in  der  Heimatskunde  weiter  die  Ein- 
wohnerzahlen der  Städte  vor.  Um  uns  ein  Bild  von  dem  Aut- 
schwung und  raschen  Wachstum  der  heimischen  Stadt  zu  ent- 
werfen, geben  wir  dem  Schüler  folgende  Einwohnerzahlen:  Elber- 
feld hatte  1810:  18783,  1820:  22508,  1830:  30279,  1840: 
39384,  1850:  48801,  1860:  54002,  1870:  69x29.  1880:  93600 
und  gegenwärtig  zählt  es  1 2  5  000  Einwohner.  Wir  berechnen  den 
Zuwachs  in  den  einzelnen  Zeiträumen  und  suchen  festzustellen,  in 
welcher  Zeit  sich  die  Stadt  verdoppelt,  verdreifacht,  vervierfacht 
hat.  Die  Einwohner  scheiden  sich  nach  den  einzelnen  Konfessionen, 
deren  Verhältnis  wir  in  möglichst  kleinen  Zahlen  auszudrücken 
suchen.  Zum  Vergleiche  mit  allem  ziehen  wir  die  Bevölkerungs- 
zahlen der  Nachbarstadt  Barmen  heran. 

Eine  eigentümliche  Beleuchtung  erhalten  die  früheren  Jahr- 
hunderte, wenn  wir  auf  das  Alter  der  heimatlichen  Städte 
eingehen.  Zur  Stadt  erhoben  wurde  Elberfeld  im  Jahre  16 10, 
Barmen  1808,  Solingen  1374,  Lennep  1276,  Ronsdorf  1745, 
Wülfrath  1827,  Düsseldorf  1288.  Wie  alt  sind  die  einzelnen 
Städte?  Ordne  sie  nach  dem  Alter!  Welches  ist  die  älteste,  die 
jüngste  Stadt?  Um  wieviele  Jahre  ist  Lennep  älter  als  jede  der 
übrigen  bergischen  Städte? 

Es  ist  ferner  in  der  Geographie  gebräuchlich,  die  Gröfse 
der  Länder,  Meere,  F  lufsgebiete,  Gebirgssysteme  in 
Quadratmeilen  anzugeben.  Soll  sich  das  Kind  bei  solchen  An- 
gaben etwas  rechtes  denken,  so  mufs  immerfort  Bezug  aut  die  ihm 
nächstliegenden  Verhältnisse  genommen  werden.  Die  Gröfse  der 
entlegenen  Gebiete  mufs  durch  Vergleichung  gewonnen  werden. 
Wir  beginnen  also  mit  dem  heimatlichen  Kreise,  dem  Stadtkreise 
Elberfeld,  der  von  einem  seiner  hochragenden  Berge  überschaut 
werden  kann  und  dem  Kinde  die  Vorstellung  von  einer  halben 
Quadratmeile  gewährt.  Wir  stellen  ihn  vergleichend  zusammen 
mit  den  Nachbarkreisen,  dem  Stadtkreise  Barmen,  der  fast  ebenso 
grofs  ist,  dem  Kreise  Mettmann,  der  41,,  Quadratmcilen  zählt, 
dem  Kreise  Solingen,  der  eine  Gröfse  von  5%  Quadratmeilen 
hat,  endlich  dem  Regierungsbezirk  Düsseldorf,  der  99  Quadrat- 
meilen grofs  ist.    Dieser  ist  uns  dann  der  Mafsstab,  mit  dem  wir 


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die  Rheinprovinz  messen,  die  Rheinprovinz  aber  dient  uns  als 
Grundmafs  für  das  deutsche  Reich.  Wie  hier  so  stützen  wir  in 
allen  Dingen  den  geographischen  Kenntnisbau  auf  den  tragfesten 
Untergrund  einer  wohlangelegten  Heimatskunde.  Die  Zahlen  und 
Aufgaben,  die  wir  in  den  Unterricht  hereinziehen,  werden  die 
geographischen  Lehren  in  einem  Mafse  durchsichtig  machen,  wie 
es  die  blofsen  Worte  nie  vermögen.*) 

Noch  auf  eine  reichhaltige  und  wichtige  Partie  des  heimats- 
kundlichen  Unterrichts  mufs  aufmerksam  gemacht  werden,  die  für 
das  Sachrechnen  von  nicht  minder  hoher  Bedeutung  ist  als  die 
oben  berührte  topographische  Heimatskunde;  wir  meinen  die  Ge- 
sellschaftskunde. Leider  wird  sie  zu  gunsten  der  Gegend- 
beschreibung erheblich  vernachlässigt  in  unseren  Schulen.  Aber 
in  immer  weiteren  Kreisen  kommt  man  zur  Erkenntnis,  dafs  Be- 
lehrungen dieser  Art  unumgänglich  notwendig  sind  und  ein  wesent- 
liches Glied  der  Volksbildung  ausmachen.  Schon  Comenius  ver- 
langte, dafs  den  Kindern  der  Blick  in  die  soziale  Ordnung  des 
Lebens  eröffnet  werde.  Neuerdings  ist  es  besonders  unser  bergischer 
Landsmann  Dörpfcld,  der  mit  Nachdruck  diese  Forderung  er- 
hebt. In  seinem  »Repetitorium  des  naturkundlichen  und  huma- 
nistischen Realunterrichts  <  giebt  er  einen  Abschnitt  über  den 
sozialen  Organismus  der  Arbeit,  der  das  dringend  Notwendige 
enthält,  und  der,  wie  von  Sachkennern,  so  jüngst  noch  von 
Provinzialschulrat  Kannegiefser  in  Kassel,  zugestanden  wird,  vor- 
züglich gelungen  ist.  Dörpfcld  gliedert  das  gesellschaftliche  Leben 
nach  den  Begriffen  Landesschutz,  Rechtsschutz,  Gesundheit,  Wohl- 
stand, Bildung,  Seelenheil,  bespricht  dann  näher  die  Arbeiten  für 
den  Wohlstand,  die  Volkswirtschaft,  und  wendet  sich  endlich  zu 
einer  eingehenden  Betrachtung  der  verschiedenen  Gesellschaften, 
insbesondere  der  bürgerlichen  Gemeinde  und  des  Staates.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  dafs  Unterweisungen  solcher  Art  die  beste  Unter- 
lage für  das  Sachrechnen  geben,  dafs  sie  förmlich  zu  rechnerischen 
Untersuchungen  hindrängen  und  also  den  Geist  des  Kindes  in  die 
denkbar  günstigste  Stimmung  für  den  Rechenunterricht  versetzen. 

Wir  können  diesen  Abschnitt  nicht  beschliefsen,  ehe  wir  nicht 
auch  einen  Blick  in  dasjenige  Gebiet  der  Geographie  geworfen 
haben,  welches  wegen  seiner  vielen  und  engen  Verknüpfungen 
mit  der  Mathematik  sogar  den  Namen  von  dieser  angenommen 
hat,  nämlich  die  mathematische  Geographie.  Nirgendwo  hat 
sich  die  mathematische  Betrachtungsweise  so  ergiebig  erwiesen,  als 
in  diesem  Wissenszweige,  nirgendwo  ist  selbst  dem  Laien  die 
Fruchtbarkeit  und  Tragweite  der  mathematischen  Abstraktion  so 
ersichtlich,  wie  gerade  hier;  sie  vermag  ihm,  wie  Willmann**) 

*)  Vergl.  Lombcro,  125  Rechenaufgaben  für  das  4.  Schuljahr  im  An- 
schlufs  an  den  geographischen  Unterricht.    Evang.  Schulb!..  1S89.  Heft  6  u.  8. 
**)  Willmann,  Pädagogische  Vorträge.    2.  Aufl.    S.  106. 


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-    2;  — 


sagt,  eine  »Ahnung  von  der  Bedeutung  der  mathematischen 
Exaktheit«  zu  geben.  Ist  es  nicht  ein  erhebender  Gedanke,  dafs 
der  menschliche  Geist  in  seiner  Entwickelung  zu  einer  solchen 
Stufe  der  Vervollkommnung  fähig  ist,  dafs  er  die  fernsten  Himmels- 
bahnen mit  der  strengsten  Genauigkeit  abmessen  kann?*)  Die 
mannigfache  Gelegenheit  zu  rechnerischen  Übungen,  die  durch  den 
Unterricht  in  der  Himmelskunde  gegeben  ist,  sollte  von  jedem 
Lehrer  reichlich  genutzt  werden.  Während  uns  die  Distanzen 
zwischen  der  Erde  und  den  Himmelskörpern  in  die  gröfsten  Zahlen- 
räume hineinführen,  weist  uns  das  geographische  Gradnetz,  welches 
die  Erde  und  den  Himmclsraum  überspannt,  auf  die  geographischen 
Ortsbestimmungen  hin.  Eine  schier  unerschöpfliche  Anzahl  wirk- 
lich praktischer  Probleme  läfst  sich  diesem  Gebiete  abgewinnen; 
überhaupt  werden  wir  in  die  Lage  gesetzt,  Rechnungen  in  allen 
vier  Spezies,  in  Dezimalen  und  Brüchen,  in  Proportionen  und 
Gleichungen  ausführen  zu  lassen.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
dafs  durch  solche  Berechnungen  die  mathematisch -geographische 
Einsicht  eine  Förderung  erhält,  die  durch  nichts  anderes  auf- 
gewogen werden  kann.  L eicht  wäre  es,  eine  Sammlung  geeigneter 
Aufgaben  vorzuführen.  Wir  enthalten  uns  indes  aller  näheren 
Ausführungen,  da  wir  in  der  glücklichen  Lage  sind,  auf  ein  Buch 
hinweisen  zu  können,  das  allen  Ansprüchen  gerecht  wird;  wir 
meinen  das  »methodische  Lehrbuch  der  mathematischen  Geographie« 
von  Heckenhayn,  Schul  Inspektor  in  Koburg,  das  allein  217 
solcher  Aufgaben  aufführt. 

Es  erübrigt  nun  noch,  beim 

Geschichtsunterricht 
nach* Rechenstorr  anzufragen.  Der  Unterricht  in  der  Geschichte 
steht  unmittelbar  im  Dienste  der  Gesinnungsbildung;  er  hat  es  mit 
dem  Wollen  und  Handein  des  Menschen  zu  thun  und  unterwirft 
dasselbe  der  ethischen  Beurteilung.  Es  hat  den  Anschein,  als  ob 
hier  kein  Stoff  zum  Rechnen  vorliege;  denn  an  Gedanken  und 
Gesinnungen  haftet  nichts  Mathematisches.  Wir  müssen  uns  aber 
vergegenwärtigen,  dafs  die  einzelnen  geschichtlichen  Erzählungen 
auch  eine  Menge  durchaus  konkreter  Materialien  mit  sich  führen, 
die  sich  auf  die  natürlichen  Bedingungen  des  Geschehens  beziehen. 
Wir  lernen  die  Bedürfnisse,  Einrichtungen,  Zustände  und  Arbeits- 
probleme der  vergangenen  Zeiten  kennen.  Es  wäre  verkehrt, 
wenn  der  Unterricht  diese  Momente  ignorieren  wollte.  Er  bliebe 
in  seiner  Wirkung  um  einen  wesentlichen  Teil  verkürzt.  Denn 
das  innige,  wohlgcsicherte  Verständnis  der  vorgeführten  Willens- 
verhältnissc  und  die  charakterstärkende  Erwärmung  unseres  Herzens 
im  Ethischen  verdanken  wir  zu  einem  nicht  geringen  Teile  der 
ausführlichen  Darlegung  des  Hintergrundes  der  Geschichte.  Auf 


*i  Nahlowsky,  Allgcm.  Ethik.    S.  126. 


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—      28  - 


ihm  gewinnen  die  geschichtlichen  Personen  erst  wahres  Leben  und 
wahre  Gestalt.  Die  kulturhistorischen  Momente  sind  es  oft  ganz 
allein,  welche  der  Aufmerksamkeit  die  Pforten  öffnen  und  Sinn 
und  Gemüt  für  den  ideellen  Gehalt  einer  historischen  Begebenheit 
empfänglich  machen.  Wir  verlangen  darum  die  genaue  Klarstellung 
dieser  Momente. 

Die  besondere  Form,  in  welcher  diese  das  äufsere  Gerüst  der 
Handlung  bildenden  Stoffe  erläutert  werden,  wird  verschieden  sein; 
sie  wird  sich  richten  nach  dem  jeweiligen  Charakter  derselben. 
Bald  ist  das  kulturhistorische  Anschauungsbild,  bald  der  Hinweis 
auf  die  verwandten  Zustände  der  Gegenwart  am  Platze;  wo  es  sich 
aber  um  Mafs-,  Wert-  und  Gewichtsbestimmungen  handelt,  da  wird 
das  Rechnen  die  besten  Dienste  leisten.  Die  veralteten  Mafse, 
Münzen  und  Gewichte  müssen  in  moderne  umgerechnet  werden, 
und  der  Schüler  mufs  diese  Überführung  selbst  vollziehen.  Ebenso 
sind  den  allgemeinen,  ott  in  grofsen  Worten  einherschreitenden 
Kulturschilderungen  bestimmte  Zahlen  gegenüberzustellen,  und  es 
mufs  damit  gerechnet  werden.  Dadurch  wird  der  schweifenden 
Phantasie,  die  sich  so  gern  über  Zahl  und  Mafs  hinwegsetzt,  ein 
Zügel  angelegt;  die  Gedanken  bleiben  der  Wirklichkeit  nahe,  und 
der  geschichtliche  Stoff  gewinnt  an  Klarheit. 

Die  Stoffe  des  Gesinnungsunterrichts  liegen  im  Bereiche  teils 
der  biblischen,  teils  der  profanen  Geschichte.  Sollen  nun  Rechen- 
aufgaben auch  an  die  biblische  Geschichte  angeschlossen 
werden?  Die  gebräuchlichen  Rechenbücher  weisen  sie  von  sich. 
Es  scheint  also,  dafs  die  Sache  keine  Anerkennung  findet.  Viel- 
leicht empfindet  manches  Gemüt  auch  eine  innere  Scheu,  die 
profane  Arbeit  des  Rechnens  an  solch  heiligem  Stoffe  vorzunehmen. 
Aber  wir  meinen,  dafs  uns  in  der  biblischen  Geschichte  die  Zahlen 
oft  vor  die  Füfse  gelegt  würden,  und  dafs  die  mannigfaltigen 
biblischen  Raum-,  Gewichts-  und  Wertangaben  die  rechnerische 
Behandlung  geradezu  verlangten.  Das  Kind  soll  sich  bei  Angaben 
dieser  Art  doch  etwas  rechtes  vorstellen;  das  kann  es  aber  nur 
dann,  wenn  es  sie  auf  die  ihm  geläufigen  modernen  Anschauungen 
überträgt.  Die  Umrechnung  ist  um  so  nötiger,  als  die  in  der 
Bibel  gebräuchlichen  Bezeichnungen  »Elle,  Pfund,  Mafs.  Scheffel, 
Pfennig,  Groschen«  etwas  ganz  anderes  bedeuten,  als  die  Kinder 
darunter  sich  vorzustellen  gewohnt  sind. 

Wir  geben  ihnen  also  Aufgaben  wie  folgende: 

1.  Die  Arche  Noahs  war  300  Ellen  lang,  50  Ellen  breit  und 
30  Ellen  hoch.  Wieviel  macht  das  nach  unserem  Längenmafs, 
wenn  die  Elle  gleich  48,4  cm  zu  setzen  ist? 

2.  Abraham  begrub  sein  Weib  Sarah  in  einer  Höhle,  die  er 
für  400  Sekel  Silber  von  Ephron,  dem  Hethiter,  gekauft  hatte. 
Wieviel  kostete  dieselbe  nach  unserem  Gelde?  (  I  Sekel  =  2,60  M.; 


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beachte  bei  der  Ausrechnung,  dafs  das  Geld  damals  einen  achtmal 
so  hohen  Wert  hatte  wie  heute). 

3.  Die  fromme  Ruth  las  aut  dem  Felde  bei  einem  Epha 
Gerste;  später  erhielt  sie  von  Boas  noch  6  Mafs  Gerste  zum  Ge- 
schenke. Wieviel  ist  das  nach  unseren  Trockenmafsen?  (1  Epha  = 
3  Mafs,  1  Mafs  =  6,5  1). 

4.  Zur  Einrichtung  der  Stiftshütte  sind  verwendet  worden: 
20  Zentner  730  Sckel  Gold,  100  Zentner  1775  Sekel  Silber,  70 
Zentner  2400  Sekel  Erz.  Wie  schwer  war  dieses  Metall  nach 
unserem  Gewicht,  und  welchen  Wert  hatte  das  zur  Stiftshütte  ver- 
wandte Gold  und  Silber?  (1  Zentner  hatte  3600  Sckel  und  wog 
58,932  kg;  sein  Wert  in  Gold  betrug  135,000  M.  und  in  Silber 
7800  M  ). 

5.  Goliaths  Panzer  wog  5000  Sekel,  das  Eisen  seines  Spiefses 
war  600  Sckel  schwer;   wieviel   ist  dies  nach  unserem  Gewichte? 

6.  Salomo  mufste  täglich  zur  Speisung  haben  30  Kor  Semmel- 
mehl und  60  Kor  anderes  Mehl.  Wieviel  ist  dies  nach  unserem 
Gewichte?  (1  Kor  200  I).  Wieviel  Personen  konnten  an  seinem 
Tische  gesättigt  werden,  wenn  man  auf  eine  Person  täglich  durch- 
schnittlich 2  Eiter  rechnet? 

7.  Salomo  gab  dem  Könige  Hiram  während  der  siebenjährigen 
Bauzeit  des  Tempels  jährlich  20,000  Kor  Weizen  und  20  Kor  ge- 
stofsen  Ol;  dazu  kamen  später  noch  120  Zentner  Gold.  Wieviel 
ist  dies  nach  unserem  Mafs  und  Geld? 

8.  Das  eherne  Meer  im  Vorhofe  des  Tempels  mafs  2000  Bath. 
Wieviel  Hektoliter  sind  das,  wenn  I  Bath  gleich  20  Liter  zu 
setzen  ist? 

9.  Zu  Kana  in  dem  Hause,  wo  die  Hochzeit  gefeiert  wurde, 
standen  6  steinerne  Wasserkrüge,  und  es  gingen  in  jeden  2 — 3 
Mafs.  1  Mafs  ist  gleich  39  1.  Wieviel  Hektoliter  und  Liter  fafsten 
demnach  die  Krüge? 

10.  Der  barmherzige  Samariter  gab  dem  Wirte  2  Groschen. 
Wieviel  ist  dies  nach  unserem  Gcldc,  wenn  1  Groschen  gleich 
65  Pfg.  zu  setzen  ist?  Für  einen  Groschen  erhielt  man  dazumal 
Lebensmittel  auf  6  Tage;  für  wieviel  Tage  hatte  der  Samariter 
den  Wirt  im  Voraus  bezahlt?  *) 

Das  rechnerische  Durchdringen  des  geschichtlichen  Stoffes 
empfiehlt  sich  in  gleicher  Weise  für  die  Profangeschichte.  Wir 
werden  solche  Aufgaben  wählen,  welche  historisch  bedeutsame 
Stoffe  behandeln.  Wir  bestreben  uns,  die  auf  diesem  Gebiete  so 
üppig  sprossenden  hochstelzigen  Ausdrücke  möglichst  fernzuhalten, 
und  bringen  dafür  die  Gröfsenverhältnisse  in  scharf  begrenzte 
Zahlen.    Zur  Berechnung  eignen  sich  besonders  die  Gewinne  oder 


*)  Vcrgl.:  Jetter,  Bibl.  Rechenaufgaben.  Praxis  der  Erziehungsschule. 
Bd  III,  S.  86. 


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Verluste  eines  Staates  bei  einem  Kriege,  die  Brandschatzungen 
eroberter  Städte,  die  Kosten  für  die  Anwerbung  und  Verpflegung 
eines  stehenden  Heeres,  die  in  früheren  Jahrhunderten  übliche 
Beschwerung  der  Stromschiffahrt  durch  die  verschiedenen  Bicncn- 
zölle,  die  Belastung  des  hörigen  Bauers  durch  den  Zehnten,  die 
Hand-  und  Spanndienste,  die  Zinshühner  und  Zinseier  und  den 
Wildschaden,  die  Beschwernisse  des  früheren  Postverkehrs,  die 
Vorteile  der  vermehrten  Landstrafsen  und  Kanäle.  In  allen  diesen 
Dingen  müssen  die  Zahlen  herbeigeholt  werden;  sie  geben  immer 
mehr  Licht  als  die  blofsen  Worte. 

Wir  lassen  nachstehend  nun  einige  Aufgaben  über  den 
dreifsigjährigen  Krieg  folgen,  die  uns  die  Kricgsfuhrung  und 
beispiellose  Verwüstung  des  vaterländischen  Bodens  zahlenmäfsig 
vor  Augen  führen  sollen. 

1 .  Im  Geschichtsunterricht  kommt  der  Satz  vor :  Der  Kaiser  war 
oft  nicht  imstande,  den  Soldaten  den  Sold  auszahlen  zu  lassen.  Da 
liegt  die  Frage  nahe,  was  denn  zu  jener  Zeit  die  Verpflegung 
eines  gemeinen  Soldaten  kostete.  So  erhalten  wir  die  Gelegenheit, 
mit  folgender  Aufgabe  einzusetzen:  Zur  Zeit  des  dreifsigjährigen 
Krieges  bekam  ein  gemeiner  Kriegsknecht  monatlich  4  Gulden, 
ein  Musketier  monatlich  10  Gulden  Sold.  300  Gulden  hatten  da- 
mals soviel  Wert  wie  gegenwärtig  666  Thaler.  Wieviel  nach 
unserem  Gelde  betrug  die  Löhnung  jährlich?  Was  kostete  dem 
Kaiser  ein  Fähnlein  Soldaten,  das  1 5  Musketiere  und  300  Gemeine 
zählte  ? 

2.  Im  Unterricht  wird  ferner  Wallensteins  Prachtliebe  und  fürst- 
liche Hofhaltung  erwähnt.  Das  giebt  uns  Veranlassung,  folgende 
Aufgabe  rechnen  zu  lassen:  Zu  Wallensteins  Hofstaat  gehörten 
46  Heerwagen  je  zu  6  Pferden,  46  Kaleschen  je  zu  4  Pferden, 
7  Leibkutschen  je  zu  6  Pferden,  dazu  noch  1 20  Reitpferde.  Wie- 
viel Pferde  waren  danach  täglich  zu  unterhalten?  Wie  hoch  beliefen 
sich  die  Atzungskosten,  wenn  wir  für  das  Pferd  täglich  1,25  M. 
ansetzen  ? 

3.  Im  Lehrtext  kommen  ferner  die  Sätze  vor:  Wallenstcin  stellte 
ein  Heer  auf,  das  nach  einem  grofsartigen  Kontributionssysteme 
in  den  Ländern,  wo  es  stünde,  sich  selbst  erhalten  sollte.  Er  ist 
der  gröfste  und  furchtbarste  der  Bandenführer  des  Krieges.  Wir 
illustrieren  diese  Sätze  durch  folgende  Aufgabe :  Die  Stadt  Schwerin 
in  Mecklenburg  mufste  innerhalb  4  Tage  aufser  der  Verpflegung 
der  Truppen  für  Wallensteins  Hothalt  liefern:  6  Ochsen,  16  Kälber, 
60  Hammel,  48  Lämmer,  sämtlich  gut  und  feist,  dazu  50  Gänse, 
120  alte  und  junge  Küken,  20  Paar  Tauben,  30  Schock  Eier, 
2000  Commifsbrotc,  90  Tonnen  Bier,  44  Schock  frische  Fische, 
120  Pfd.  Stockfisch  und  noch  vieles  andere.  Stelle  nach  den 
jetzigen  Preisen  die  Rechnung  für  diesen  Küchenzettel  auf! 

4.  Bei  der  Zerstörung  Magdeburgs  kommt  die  Rede  auf  das  ent- 


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1 

I 


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setzliche  Blutvergiefsen  der  entmenschten  kaiserlichen  Kriegs- 
scharen. Wir  schliefsen  folgende  Aufgabe  an:  Bei  der  Zer- 
störung Magdeburgs  bleiben  von  35  000  Einwohnern  nur  5000  am 
Leben.  Wieviel  Prozent  der  Gesamtbevölkerung  wurden  ermordet? 

5.  Es  wird  im  Lehrvortrage  den  Schülern  weiter  gesagt:  Der 
dreifsigjährige  Krieg  hatte  Deutschlands  Wohlstand  völlig  ver- 
nichtet; nicht  allein,  dafs  die  feindlichen  Heere  sich  auf  Kosten 
des  Landes  unterhielten,  es  schleppten  die  ausländischen  Heer- 
führer auch  Berge  von  Reichtümern  in  ihre  eigenen  Taschen.  Hier 
ist  der  Punkt,  mit  folgenden  Rechenbeispielcn  einzusetzen :  1 .  Der 
schwedische  Graf  Königsmark  war,  als  er  nach  Deutschland  kam, 
blutarm,  hat  aber  so  viel  geraubt,  dafs  er  seiner  Familie  eine 
jährliche  Rente  von  975  000  M.  nach  jetzigem  Geldwert  hmtcrliefs. 
Welches  Kapital  hat  er  aus  Deutschland  geraubt,  wenn  wir  einen 
Zinsfufs  von  5°/0  annehmen?  2.  Die  Mark  Brandenburg  berechnete 
schon  1630  den  Schaden,  den  sie  an  Abgaben  und  Leistungen 
für  das  fremde  Heer  erlitten,  auf  29  Millionen  Thaler.  Wenn  das 
Kapital  erhalten  geblieben  wäre,  wieviel  Zinsen  hätte  das  Land  bei 
dem  damals  üblichen  Zinsfufse  von  6°/0  gehabt? 

6.  Der  Unterricht  berührt  ferner  den  Rückgang  der  Bevölkerung. 
Wir  stellen  dies  zahlenmäfsig  fest  nach  folgenden  Angaben:  Die 
Grafschaft  Henneberg  hatte  im  Jahre  1631  noch  60000  Einwohner, 
im  Jahre  1648  war  diese  Zahl  auf  18000  herabgesunken;  Böhmen 
sank  von  3  000  000  auf  800  000,  Württemberg  von  400  000  auf 
50  000,  die  Pfalz  von  500  000  auf  48  ooo,  Augsburg  von  90  000 
auf  6000,  die  Stadt  Löwenberg  in  Schlesien  von  6500  aut  200, 
Berlin  von  25000  auf  600,  ganz  Deutschland  von  17  Millionen  auf 
4  Millionen.  Wieviel  Prozent  betrug  die  Verminderung  der  Be- 
völkerung in  jedem  einzelnen  Falle? 

7.  In  gleicher  Weise  wird  der  Notstand  der  Landwirtschaft  er- 
wähnt. Es  heifst  da:  Die  Äcker  lagen  verödet  da;  es  fehlte  an 
Saatkorn  und  Zugvieh.  Güter,  die  vor  dem  Kriege  2000  Gulden 
wert  waren,  wurden  nach  demselben  für  70  bis  80  Gulden  ver- 
kauft. Wir  stellen  fest,  um  wieviel  sie  im  Preise  gesunken  waren, 
und  was  jene  Summen  nach  dem  heutigen  Geldwerte  betragen. 

8.  Das  Lehrgespräch  lenkt  sich  endlich  noch  auf  die  mächtige 
Gestalt  des  grofsen  Kurfürsten.  Kraft  des  von  ihm  geschaffenen 
stehenden  Heeres  übte  er  auf  die  Friedensverhandlungen  zu  Münster 
und  Osnabrück  einen  solchen  Einflufs  aus,  dafs  er  seinen  Staat, 
der  bis  dahin  1472  Quadratmeilen  zählte,  um  533  Quadratmeilen  ver- 
gröfserte.  Wir  rechnen,  aus,  wie  grofs  Brandenburg  nun  war,  um 
wieviel  Prozent  es  sich  vergröfsert  hatte,  und  in  welchem  Ver- 
hältnis es  zu  dem  jetzigen  Königreiche  Preufsen  stand.  

Wir  sind  am  Ende  unseres  Streifzuges  durch  die  verschiedenen 
Sachgebiete.  Wir  wurden  von  dem  Streben  geleitet,  den  Rechen- 
aufgaben einen  bedeutungsvollen  und  würdigen  Inhalt  zu  geben; 


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32  - 


derselbe  sollte  nicht  als  willkürliche  Einkleidung  der  Zahlen  er- 
scheinen, sondern  den  thatsächlichen  Verhaltnissen  entsprechen. 
Mit  besonderem  Eiter  durchforschten  wir  diejenigen  Vorstellungs- 
gebiete, welche  der  anderweitige  Unterricht  zu  bearbeiten  hat. 
Unsere  Mühe  blieb  nicht  ohne  Erfolg.  In  jedem  Stolilkreise  fanden 
sich  zahlreiche  Partieen,  aus  denen  das  Rechnen  sich  die  kräftigsten 
Antriebe  und  Stützen  holen  konnte,  ja  es  that  sich  sogar  die  Mög- 
lichkeit auf,  das  gesamte  Rechnen  dem  Sachunterricht  unterzu- 
ordnen. Voraussetzung  war  dabei  freilich,  dafs  der  naturkundliche 
Unterricht  einer  Reform  im  Sinne  des  volkswirtschaftlichen  Ge- 
dankens unterzogen  würde.  So  lange  diese  Reform  noch  nicht 
durchgeführt  worden  ist,  kann  von  einer  solchen  umfassenden 
Konzentration  der  Lehrfächer  noch  nicht  die  Rede  sein.  Aber 
abgesehen  davon  kann  schon  jetzt  ein  weitgehender  Anschlufs  des 
Rechnens  an  den  Sachunterricht  hergestellt  werden.  Ganze  Gruppen 
von  gehaltvollen  und  interessanten  Aufgaben  können  sich  aus  der 
Mitte  der  sachunterrichtlichen  Fächer  erheben.  Es  ist  in  erster 
Linie  Sache  der  Bearbeiter  von  Rechenbüchern,  die  nötigen  Zahlen 
aufzuspüren  und  sie  für  den  praktischen  Gebrauch  bereitzustellen. 

(Srhlufs  f«..lgt;-. 

(Im  4.  Heft  S.  21  j.  Z.  io  v.  u.  bitten  wir  zu  b«.  richti^  r. :  physiologischen  in 
psycholog.;  S.2H.Z.4  v.  u.  Individualitätsw arme  in  Indiv.duaütätssphäre). 


B.  Mitteilungen. 

1.  Fr.  Wilh  Lindner  —  ein  Vorläufer  der  Kulturstufenidee. 

Von  11.  Grosse  in  Halle  a.  S 

Dr.  thcol.  Friedrich  Wilhelm  Lindner,  ordentlicher  I'rofessor  der 
Katechetik  und  Pädagogik  an  der  Universität  und  Lehrer  an  der  Bürger- 
schule zu  Leipzig*),  ein  namhafter  Pädagog,  wurde  geboren  den  u.  De- 
zember 1779  in  Weida.  Er  besuchte  die  Zeitzcr  Stifts-  und  Kloster- 
schule, wo  ihm  als  Primaner  der  Rcctor  Müller  bei  Vakanzen  oft  Wochen 
und  Monate  lang  in  den  unteren  Klassen  Lehrstunden  übertrug,  wodurch 
seine  Neigung  zum  Lchrfache  Nahrung  erhielt.    In  Leipzig  studierte  er 

*i  VrI.  Hergangs  »rädagogischc  Kc.il-Encykliip.'iJie«  a  Aull.  nUy»;  II.  Hand  S.  215  ff  und 
Konvcrs;uion*-Lcxikon  von  Bruckhau»,  Leipzig;  djjl.  »Lexikon  der  Pädagogik»  von  ¥.  Sander. 

2.  Aufl.  (1ÖJJ9).  l>ie  .Eticyklopiidie  des  rcs.  En.-  11.  Uiilcrrichtswe-icns«  von  Scbmid  erwähnt 
Lindner  (fclcjjcntlich  einmal  H.  IV,  S.  956  fr.  i  j.  AulI.L  Einen  liesonderii  Artikel  ül>er  Lindner  sucht 
man  in  der  2.  Aufl.  vergeblich.  Auch  G.  A.  L'uidners  »Encykl.  Handbuch  der  Krziehungs- 
kundc«  (2.  u.  3.  Aull.  Wien)  übcri-chr  Fr.  Wlii.  Liudncr.  Von  item  in  Ltipsig  lebenden  Verwandten 
unsere*  Auturs,  Prof.  1.  ,  habe  ich  nient*  Weiteres  in  Eriahrunj;  bringen  können. 


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anfangs  hauptsächlich  Philologie  und  später  besonders  Theologie.  Nach 
Vollendung  seiner  theologischen  Studien  und  Prüfungen  begann  er  seine 
pädagogische  Laufbahn  in  dem  Tillichschen  Institut  in  Leipzig  als  Mit- 
arbeiter an  demselben.  Bei  Eröffnung  der  allgemeinen  Bürgerschule  in 
Leipzig  (1804)  wurde  ihm  die  Stelle  eines  Hilfslehrers  an  derselben  über- 
tragen; 1806  erhielt  er  (unter  Direktor  Gedike)  die  Stelle  eines  konfir- 
mierten ordentlichen  Lehrers.  Im  Jahre  1808  habilitierte  er  sich  als  Privat- 
docent  der  Philosophie  und  Pädagogik  an  der  Universität  Leipzig  durch 
Verteidigung  seiner  Schrift:  »de  methodo  genetica  in  utroque  genere 
institutionis,  cum  inferiori  tum  altiori  adhibenda,  dissertatio  philosophico- 
paedagogica.«  Nachdem  Lindner  ehrenvolle  Rufe  nach  Basel,  Königsberg 
und  Stettin  abgelehnt  hatte,  wurde  er  auf  Empfehlung  der  philosophischen 
Fakultät  1815  ausserordentlicher  Protessor  der  Philosophie*),  im  Jahre  1825 
erhielt  er  auf  Empfehlung  der  theologischen  Fakultät  die  ordentliche 
Professur  der  Katechetik  und  Pädagogik.  Beim  Antritt  dieser  Nominal- 
professur hielt  er  eine  lateinische  Rede:  de  methodo  soeratica  limitanda 
in  institutione  catechetica,  und  schrieb  eine  dissertatio  theologica-paeda- 
gogica:  de  finibus  et  praesidiis  artis  paedagogicae  secundum  prineipia 
doctrinae  christianae.  (Leipzig  1826  Reclam).  Im  Jahre  1826  erhielt  er  von 
der  theologischen  Fakultät  zu  Königsberg  die  theologische  Doktorwürde. 
Einen  Ruf  nach  Dorpat  lehnte  Lindner  ab.  Seit  der  Zeit,  vorzüglich  seit 
1833,  wurde  er  mehrmals  aufgefordert,  eine  Schulratsstelle  in  Prculsen  an- 
zunehmen, er  konnte  sich  aber  nicht  entschliefsen,  sein  engeres  Vaterland 
zu  verlassen.  Um  die  Organisation  der  Leipziger  Bürgerschule  hat  er  sich 
viele  Verdienste  erworben;  sein  Plan  zu  einer  zweckmäfsigen  Organisation 
des  gesamten  Schulwesens  in  Sachsen  (1828)  kam  aber  infolge  der  Er- 
eignisse des  Jahres  1830  nicht  zur  Ausführung. 

Lindner  suchte  die  Pädagogik  als  Wissenschaft  auf  das  Haupt- 
prinzip des  Christentums  zu  gründen.  Seine  seit  1808  öffentlich  gehaltenen 
pädagogischen  Vorlesungen  **)  teilte  er  —  wie  »ein  dankbarer  Schüler  von 
ihme  in  Hergangs  En«yklopädie  II,  216  berichtet  —  in  sechs  Abschnitte; 
im  ersten  gab  er  eine  geschichtliche  und  kritische  Übersicht  der  pädago- 
gischen Hauptrichtungen  bei  den  namhaften  Völkern  vor  und  nach  Christi 
Geburt;  im  zweiten  die  Geschichte  der  Bemühungen,  die  Pädagogik  zur 
Wissenschaft  zu  pestalten;  der  dritte  enthielt  die  theoretische  Pädagogik, 
der  vierte  die  Didaktik,  der  fünfte  die  spezielle  Methodik  nebst  der  Lehre 
von  der  Disziplin,  der  sechste  die  Anleitung,  alle  Arten  von  Schulen  zweck- 
mäfsig  zu  organisieren  und  zu  verwalten.  Prof.  Lindner  lehrte:  1)  Man  hat 
bisher  das  Ganze  der  Erziehungslehre  noch  nicht  zur  selbständigen  Wissen- 
schaft erheben  können,  sondern  hat  ihr  Wesen  entweder  philosophisch 

•)  Lindner  war  also  ein  Amtsvorgänger  Zillers. 
•*)  Nach  einer  Angabe  im  »Ailg.  Bacher-Lexikon«  von  Heinsius  III.  Teil  (1835;!,  deren 
Richtigkeit  ich  bi»  jeut  nicht  bestätigen  kann,  erschienen  Lindners  »Pädag.  Vorlesungen« 
in  Leipzig  iftoS,  a.  Aufl.  1810,  und  die  »Statuten  der  pädagogischen  Gesellschaft  nebst 
einer  Einleitung  (Iber  das  Ziel  der  wahren  Pädagogik  und  den  Mitteln  dafür«  1619  (Leipzig).  Ich 
habe  diese  beiden  Werke  bis  heute  jedoch  nicht  erlangen  können.  Vielleicht  diene  diese  Not» 
dazu,  dafs  einer  oder  der  andere  Leser  über  dieselben  Auskunft  giebt. 

Pädagogische  Studien.    I.  3 


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konstruiert  (Kant,  Fichte,  Sendling,  Herbart,  Hegel)  oder  ihr  auf  empirischem 
Wege  ein  selbständiges  Gebiet  angewiesen  mit  seinen  eigenen,  von  keiner 
andern  Wissenschaft  erborgten  Grenzen.  2)  Eine  Wissenschaft  (im  strengea 
Sinne  des  Wortes)  bleibt  für  die  Erziehungskunst  ein  Ideal,  sowie  sie  selbst ; 
sie  wird  nie  zu  einem  Systeme  werden,  das  im  strengen  Sinne  Philosophie 
ist.  3)  Das  Prinzip  für  die  Erziehungswissenschaft  kann  kein  selbständiges 
(apriorisches),  sondern  mufs  ein  aus  dem  Christentum,  der  Völker- 
pädagogik, entlehntes  sein.  4)  Das  Christentum,  die  göttliche  Er- 
lösungsanstalt, ist  die  wahre  Pädagogik  der  zu  erziehenden  und  zu  bildenden 
Menschheit,  daher  mufs  auch  das  oberste  Prinzip  des  Christentums  das 
Prinzip  aller  und  jeder  Pädagogik  sein.  5)  Das  Prinzip  des  Christentums: 
»Du  sollst  Gott  deinen  Herrn  lieben  von  ganzem  Herzen,  von  ganzer  Seele, 
von  ganzem  Gemüt  und  von  allen  deinen  Kräften«  (Matth.  22,27)  mufs  auch 
das  Prinzip  der  Pädagogik  für  jedes  christliche  Volk  sein.  •) 

Lindners  Bedeutung  als  Didaktiker  und  Methodiker  beruht  sodann 
darauf,  dafs  er  es  gewesen  ist,  der  die  genetische  Methode  als 
die  vorherrschende  für  alle  Lehrgegenstände  empfahl;  darauf  haben  bereits 
Pestalozzi  (ausgewählte  Werke,  von  Mann  herausgegeben  III.  B.  S.  371)**), 
Gräfe  (Allgemeine  Pädagogik)***)  und  P  a  1  m  e  r  in  Schmids  Encyklopädie 
IV.  B.  S.  95b  hingewiesen.  Nachdem  er  die  genetische  Methode  mehrere 
Jahre  praktisch  geübt  hatte,  empfahl  er  sie  Öffentlich  in  seiner  Habilitations- 

•t  Von  diesem  Standpunkte  au«  hat  er  die  Freimaurerei  beurteilt;  er  gedachte  nie  nach 
christlichen  Grundsätzen  umzugestalten.  Ali  man  auf  seine  Ansichten  nicht  einging,  schied  er  au« 
dein  Bunde  aus  und  »chrieb  das  Buch:  »Mac  Ben  ac,  er  lebt  im  Sohn,  oder  das  Positive  der 
Freimaurerei-  (Leipiig,  1617,  3.  Aurl.  1819,  mehrfach  überbeut ">.  l.indncr  toll  sich  dadurch  viele 
Feinde  unier  den  Freimaurern  gemacht  haben. 

(  her  die  organisch-genetische  Methode,  ihren  Zweck  und  ihre  Naturgemäfsheit  sagt 
Pestalozzi  1  Niederer  ri  in  der  Rede:  -Iber  die  Idee  der  Elementarbildung«  t,  1800,  2  Aufl.  1831) 
J$.  b  »Sie  die  von  mir  bezweckte  Erziehungsweise}  ist  und  soll  elementarisch  und  als  Ele- 
liientarmeihode  organisch-genetisch  sein. 

Icii  nenne  die  Methode  o  r  g  an  i  s  c  h  -  genetisch  Im  Gegensätze  gegen  den  Begriff  einer 
historisch-genetischen,  weil  dieser  Begriff  zu  der  Ansicht  führen  könnte,  als  müsse  die  Entwicklung 
und  der  Unterricht  alle  die  Umwege,  Krümmungen  und  Verirrungen  durchlaufen,  oder  wenigstens, 
mehr  oder  minder  darstellen,  um  zur  Wahrheit  und  Selbständigkeit  iu  gelangen,  die  das  Menschen- 
geschlecht, wenn  es  blofs  nach  »einem  empirischen  Gange  ins  Auge  gefafst  wird,  durchlaufen  hat. 
[Über  diesen  Hauptpunkt  haben  die  Forderungen  und  Ansichten  der  neueren  Pädagogik  vorzüglich 
zu  grofsen  Mils\ crstfliidnissen  und  Fehlgriffen  Anlafs  gegeben.  Am  offenbarsten  wurde  dieser  Mifs- 
verstand  in  dein  Widerspruch,  der  Ober  die  Elemente,  d.  h.  die  absoluten  Anfangspunkte  der 
Bildung  und  des  Unterrichts  entstund,  iu  der  wunderlichen  Trennung,  die  man  da  in  die  kindliche 
Natur,  o  ier  vielmehr  als  durch  das  reine  Auffassen  und  Festhalten  jener  Anfangspunkte  in  ihr  ent- 
stehend, »ich  hineindachte,  und  in  der  Art,  wie  man  die  Geschichte  au»  diesem  Gesichtspunkte 
mit  ebenso  unhistorischcin  als  unpädagogischem  Geiste  ins  Auge  fafste  und  erklärte.  Man  »ehe 
darüber  und  über  den  Begrifi  Methode  auch  -  Lindner,  Tiber  die  historisch-genetische  Methode, 
Leipzig  bei  Griiff,«  ein  aus  einer  umfassenden  Anschauung  hervorgehendes  Werk,  in  dem  sioh  eben 
nach  unserer  Überzeugung  der  Empirismus  vom  Organismus,  das  rein  faktische  vom  pädagogischem 
Prinzip  noch  nicht  genug  geschieden  hat.  Übrigens  »chlielit  der  Begriff  des  Organischen  den  des 
Genetischen  und  Historischen  schon  wesentlich  in  sich,  so  wie  der  Begriff  des  Historischen,  rein 
gefafst.  mit  .lein  des  Genetischen  zusammenfällt!.  Vgl.  Pestalozzis  Ausgewählte  Werke  von 
Fr.  Mann  III.  Band  {3   Aull.  1884)  S.  371. 

»l»«:r  genetische  Lehrgang  oder  die  genetische  Methode  spielt  seit  Pestalozzi  und  sei 
Lindners  Dissertation  .de  methodo  historicagenetica  etc.«  eine  bedeutende  Rolle  in  der  Pädagogik. 
(Gräfe  a  a-  0.  11,  S.  193;  vgl.  194  u.  »07). 


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schrift:  »Dcmethodo  gcnetica  etc.«  (1808);  diese  Schrift  erschien  auch  deutsch 
unter  dem  Titel:  >Über  die  genetische  Methode.«*)  Ihm  ist  die  genetische 
Methode  diejenige,  welche  einen  Gang  nimmt,  der  möglich  gleich  ist  dem 
Gange,  in  welchem  wir  die  Gegenstände  des  Unterrichts  selbst  entstehen 
und  sich  allseitig  entwickeln  und  gestalten  sehen,  sie  versetzt  die  Kinder  so 
in  den  Gegenstand,  dafs  sie  mit  dem  innern  und  äufsern  Auge  zusehen,  wie 
er  entsteht,  sich  entwickelt  und  vollendet ;  sie  ist  so  veranschaulichend,  dals 
sie  den  ganzen  Menschen  bethätigt  und  fesselt«  **).  Lindner  wurde  auf 
diese  Methode  durch  Bacos  Organon  geleitet;  dieser  spricht  von  einer 
initiativen  Methode,  die  darin  besteht,  dafs  sie  vor  unserm  innern  und 
äufseren  Auge  das  Leben  in  der  Wissenschaft  und  Kunst,  im  Denken 
und  Handeln  durchscheinen  läfst.  Er  machte  mit  dieser  Methode  zuerst 
Versuche  in  Elementarklassen,  später  versuchte  er  sie  in  allen  Gegen- 
ständen des  Unterrichts,  und  der  Erfolg  übertraf  seine  Erwartung.  Der 
erste,  der  nach  ihm  Notiz  von  der  genetischen  Methode  genommen  hatte, 
war  der  Dichter  und  Schulmann  Vofs,  der  bei  der  Beurteilung  des  bayerschen 
ersten  Schulplanes  (von  Wismayr)  sie  empfahl  ***).  In  der  neueren  Zeit  hat 
sich  Dicsterwegf)  ihrer  vorzüglich  angenommen  (Hergang  a.  a.  O.  II,  218). 
Auch  Magert!)  hat  sich  lange  und  eingehend  mit  dem  Problem  beschäftigt. 

Lindner  wollte  die  genetische  Methode  angewendet  wissen  in  allen 
Lehrformen,  in  den  dialogischen  und  akroama tischen ;  für  den  Elementar- 
unterricht empfahl  er  die  historisch-genetische,  für  den  folgenden  Unter- 
richt die  erotematisch-genetische  und  für  den  höheren  Unterricht  die 
akroamatisch  -  genetische ;  das  Genetische  bleibt  das  Vorherrschende. 
Im  Geiste  der  genetischen  Methode  hat  Lindner  selbst  mehrere  Disziplinen 
bearbeitet.  Er  wendete  diese  Methode  zuerst  auf  den  Religionsunterricht 
an  [Conversationslexicon  (1815),  Aufsätze  in  Guts-Muths  pädagog.  Zeit- 
schrift und  in  Tzschirmers  Mcmorabilien] ,  dann  behandelte  er  den  Gesang- 
unterricht nach  derselben  in  der  Leipziger  Musik-Ztg.  1805,  in  Guts-Muths 
pädg.  Zeitschrift  1810,  in  seinem  weit  verbreiteten  Musikal.  Jugendfreund, 

*)  Beide  Schriften  sind  sehr  sehen.  l>ie  Kgl.  Bibliothek  Berlin,  die  Hof-  u.  Staats- 
Bibliothek  München,  die  Universitäts-Bibliotheken  zu  Leipzig,  Halle,  Berlin,  Güttingen, 
Breslau,  Bonn,  München,  Prag,  Wien,  Bibliothek  der  Comenius-Stiftung  in 
Leipzig,  Bibliothek  der  Franckeschen  Stiftungen  in  Halle  u.  a.  besitzen  kein  Exemplar  davon,  wie 
Verfasser  durch  bez.  Anfragen  festgestellt  hat.  An  den  genannten  Orten  sind  auch  Lindner» 
>Päd.  Vorlesungen«  und  die  »Statuten  der  päd.  Gesellschaft  etc.«  nicht  vorhanden. 

**)  Hergang  a.  a.  O.  II,  S.  »i8. 
♦••)  Jen.  Allg.  LlttcratnrZi'itang,  April  1806.    Vgl.  Joh.  Heinrich  Vofs  von  Herbit  II,  9«;  Vofs 
«Ob  Schulmann  in  „Deutsche  Bl.  f.  erzieh.  Unt."  1889,  No.  12—20;  Kritische  Blätter  von  Vofs  IT,  Gl; 
Her  bar  U  PKd.  Schriften  von  Willmann  II,  14«;  Paulsen,  (ieschlchte  des  gelehrten  Unterrichts  S.  448. 

f)  Oer  bedeutendste  Verfechter  der  genetisch  entwickelnden  Methode,  welche  er  «llc  „elemen- 
tsrhuhe"  nennt,  ist  Die  st  er  weg.  Er  sagt:  „Die  Einsichten,  die  Wissenschaften  sind  dein  Lernen- 
den nicht  zu  goben,  sondern  er  Ist  an  veranlassen,  dafs  er  sie  finde,  sich  selbstthätlg  Ihrer  be- 
mächtige. Diese  Lehrmethode  ist  die  beste,  freilich  auch  die  schwierigste,  dio  seltenste.  Nicht 
das  Vollendete,  Fertige  gehört  vor  die  Lernenden,  sondern  diu  einzelne,  das  Word  ende"  (siehe 
O.  A.  Lindner,  Encyklop.  Handbuch  etc.  S.  311. 

ff)  K.  W.  Mager,  uie  genetische  Methode  des  sehulrnüfslgen  Unterrichtes  in  fremden 
Sprachen  und  LUieratnren,  nebst  Darstellung  und  Beurteilung  üer  analytischen  und  synthetischen 
Methoden  (ZUrlch,  1S46). 

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4  Hefte,  Leipzig  181S  ff.  und  in  der  Schrift:  »Das  Notwendigste  und  Wissens- 
werteste aus  dem  Gesamtgebiet  der  Tonkunst  für  den  Unterricht  und  die 
Selbstbclehrungc  (Leipzig  1839,  Vogel).  Über  den  Unterricht  in  der  Geo- 
graphie schrieb  Lindner  in  Guts  -  Muths  »Bibliothek  der  pädagogischen 
Litteratur«  1806:  Beiträge  zu  einer  bessern  und  zweckmäfsigen  Methode 
für  den  geographischen  Unterricht  (Bd.  I.  265)*);  schon  1805  beabsichtigte 
er  einen  Schulatlas  in  der  Form  des  Stielerschen  herauszugeben.  Im  Geiste 
der  genetischen**)  Methode  bearbeitete  er  auch  den  Unterricht  in  der  Natur- 
beschreibung, in  der  Arithmetik  (vgl.  die  2.,  besonders  die  3.  Auflage  von 
Tillichs  Lehrbuch  der  Arithmetik  1836)  und  in  der  deutschen  Sprache  (vgl. 
pie  kleine  Sprachlehre,  die  der  2.  Aufl.  der  »Mustersammlung  aus  deutschen 
Klassikern«  Leipzig  1827,  2  Bände  angehängt  wart.  Der  bekannte  Prof. 
Max  Wilh.  Götzinger,  der  eine  Zeit  lang  Famulus  bei  Lindner  war  (später 
wandte  er  sich  Herbart  zu)***),  wurde  durch  Lindners  Vorlesungen  über 
die  Methodik  des  deutschen  Sprachunterrichts,  die  er  hörte,  für  die  Thätig- 
keit  auf  diesem  Gebiet  gewonnen.  Den  Geschichtsunterricht  für  Schulen 
hat  Lindner  nach  christlichen  Grundsätzen  bearbeitet  und  erteilt f)- 

Was  Lindners  theologische  Wirksamkeit  anbelangt,  so  hat  er  sich  seit 
1825  vorzüglich  der  praktischen  Theologie  gewidmet,  indem  er  aufser  den 
Vorlesungen  über  Pädagogik ,  Didaktik  und  Methodik  und  aufser  den 
katechetischen  Übungen  noch  Vorlesungen  hielt  über  Pastoraltheologie  in 
ihrem  ganzen  Umfange,  über  populäre  Dogmatik,  praktische  Exegese, 
Apologetik,  christliche  Altertümer,  über  die  Geschichte  der  Apostel  und 
über  die  Reformation.  Sein  Werk  über  »die  Lehre  vom  Abendmahl  nach 
der  Schrift«  (Leipzig  1831)  wurde  im  ganzen  sehr  beifällig  aufgenommen, 
erfuhr  aber  auch  abweichende  Heurteilungen. 

Was  uns  vcranlafst,  auf  Lindner  und  sein  Werk  über  die  genetische 
Methode  hier  zurückzukommen,  ist  bereits  in  der  Überschrift  angedeutet 
worden.  Lindner  gebührt  das  Verdienst,  das  Prinzip  der  kultur- 
historischen Stufen  —  wir  sehen  dabei  ganz  ab  von  der  Ausprägung 
derselben  durch  Ziller  —  in  seiner  Schrift  »Die  historisch -genetische 
Methode«  klar  und  deutlich  ausgesprochen  zu  haben.  Diese  Thatsache 
wurde  bis  jetzt  übersehen,  weil  Lindner  der  Vergessenheit  fast  anheim  ge- 
fallen ist.    Prof.  Vaihinger  hat  in  seiner  trefflichen  Schrift:  »Naturforschung 


*)  Vgl.  „Genetische  (historisch-genetische)  Methode  in  Hergang*  PXd.  Real-EncTklopadle 
I.  B.  (1851,  S.  Anfl.)  S.  759. 

*♦)  Vgl.  Mager:  Die  genetische  Metbode  dei  schul  maTsigen  Unterrichte  in  fremden  Sprachen 
u.  Litt.  etc.  —  Gräfe  a.  a.  0.  8.  193.  —  Walts,  Allg.  Pädagogik  (9.  Aufl.  von  WUlmano) 
8.  330.  —  0.  A.  Llndnere  Enoyklop.  Handbuch  der  Ersiehunjskunde  S.  808  ff.  —  Will  manu, 
Didaktik  I,  78  u.  II,  8.  847  ff. 

•••)  Vogel.  Rcal-BUrgereohule  1859,  1  u.  2;  Schwei«.  Blatter  für  er«,  ünt.  VIII.  (1889  90), 
Ko  7,  S.  881. 

t)  Da«  Konversatlons-Lealkon  der  Gegenwart  (Leipalg,  1840,  B.  III,  S.  3«)  sagt  ron  Lindner: 
„Jede  öffentliche  Prüfung,  welche  er  in  der  Bürgerschule  su  halten  hat,  wird  als  eine  praktische 
Anleitung  aar  Anwendung  der  genetischen  Methode  betrachtet,  und  die  Lehrer,  die  ihm  suhören, 
bilden  sich  mehr  oder  weniger  nach  ihm.  Seine  öffentlichen  Prüfungen  sind  die  besuchtesten,  sein 
didaktisches  Talent  fesselt  Alt  und  Jung;  dies  müssen  selbst  seine  Gegner  bekennen." 


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and  Schule  *)  nachgewiesen,  dafsder  Grundgedanke  der  kultur- 
historischen Stufen  ein  Gemeingut  der  besten  und  be  • 
deutendsten  Geister  Deutschlands  ist.  Wir  finden  die  Idee 
der  Analogie  zwischen  der  individuellen  und  der  generellen  mensch- 
lichen Entwickelung  bei  den  Litteraturheroen  Lessing,  Herder, 
Goethe  und  Schiller,  bei  den  Philosophen  Kant,  Fichte,  Sendling, 
Hegel,  A.  Co  mte,  beiden  Pädagogen  Rousseau,  Pestalozzi, 
Fröbel,  Diesterweg,  vor  allem  bei  Herbart,  Ziller  und  seinen 
Schülern,  bei  den  klassischen  Philologen  F  A.  Wolf,  Niethammer, 
Dissen,  Lübker,  bei  den  Theologen  Clemens  von  Alexandrien, 
Augustin,  Schleiermacher  und  endlich  bei  den  Darwinisten 
Huxley,  Herbert  Spencer.  G.  Jäger  u.  a.  Den  von  Vaihinger 
genannten  Pädagogen  kann  sich  auch  Fr.  Wilh.  Lindner  anschliefsen. 

Der  Forderung,  dafs  die  Gesinnungsstoffe  auf  jeder  Stufe  dem  Ver- 
ständnis des  Kindes  entsprechen,  wird  auf  naturgemäfse  Weise  dadurch 
genügt,  dafs  man  jene  Stoffe  im  allgemeinen  in  derselben  Reihe 
auftreten  I  ä  f  s  t ,  in  der  sie  die  aufeinanderfolgenden 
Hauptstufen  in  der  kulturgeschichtliche  n  Entwickelung 
der  Menschheit  zum  Ausdruck  bringen  **).  In  diesem 
Sinne  sprechen  wir  von  einer  kulturgeschichtlichen  Ent- 
wickelungsreihe  der  Gesinnungsstoffe  ***)  und  berühren  den  bedeut- 
samen Gedanken,  dafs  der  Einzelne  die  Hauptstufen 
der  abgelaufenen  menschlichen  Kulturen t Wickelung,  nur  zu- 
sammengezogen und  verkürzt,  durchzumachen  hat.  Goethe  sagt  in  den 
Gesprächen  mit  Eckermann :  >Wenn  auch  die  Welt  im  Ganzen  vorschreitet, 
die  Jugend  mufs  doch  immer  wieder  von  vorn  anfangen  und  als  Individuum 
die  Epochen  der  Weltkultur  durchmachen.«  Und  bei  Lindner  finden  sich 
folgende  Stellen.  S.  44:  »Jeder  einzelne  Mensch  rauls  in  eben 
der  Stufenfolge  zur  vollkommensten  Religion  [zur  Ver- 

•)  Xaturforscnung  und  Schule.  Eine  Zurückweisung  der  Angriffe  Preyers  auf  da« 
(ryuinjuinin  vom  Standpunkt«  der  Entwickelnngslehre.  Ein  Vortrag  in  der  S.  allg.  Sltaung  der 
61.  Versammlung  deutsch.  Naturforscher  und  Ärzte  an  Köln  am  22.  Sept.  1888  gehalten  von  Dr.  H. 
Vaihinger,  a.  o.  Professor  dar  Philosophie  an  der  Universität  Halle.  KSln  und  Lelptig,  Albert 
Ahn  1889  <XI1  u.  64  S.). 

*•)  Capeslus,  Die  hauptaachl.  Forderungen  des  eis.  Unterrichts  (1887)  S.  18. 
*•*)  Litteratur  aur  Frage  der  kulturhistorischen  Stufen:  Herbart,  Päd.  Schriften  v.  Willmann  I, 
»84,  291,  844,  4*6  ff.,  439  ff.,  677;  II,  260,  470  ff.;  Zill  er  Grundlegung  (5i.  Aufl.)  S.  165  f.  u  4M  ff,; 
Ders. :  Allg.  Pädagogik  (2.  Aufl.)  146  ff.,  191  ff.,  S.  216  ff.,  242  ff;  Zlller-Bergner,  Materialien 
sur  speziellen  Pädagogik  (1886)  8  .  20  f.;  Ziller,  Jahrbuch  des  Vereins  f.  wie«.  PKd.  IV,  178  ff., 
VI,  HS  f.,  XIII,  IIS  ff.  nebst  Erläuterungen  X11I,  66  ff.;  Willmann,  Die  Odyssee;  Derselbe,  Der 
elementare  Geschichtsunterricht;  Staude,  iMc  kulturhistorischen  Stufen  „In  PHd.  Studien"  1880, 
2.  Heft,  1881,  2.  H«ft,  1884,  2  Hoft;  Rein,  Pickel  und  Scheller,  Theorie  und  Praxis  des  Volks- 
schulunter. I,  (4.  Aufl.)  8.  2  ff.;  SallwUrk,  Üeclnnnngsunterricbt  und  Kulturgeschichte  (1887); 
Rein:  Uealnnungsunterricht  etc.  in  „Päd.  Studien"  1888,  2.  Heft;  Staude  das.  1888,  3.  Heft; 
t.  Sali  wtirk  In  „Rbeimache  Blätter"  1888,  Hoft  III  u.  1889,  Heft  V;  Capestus,  Oeaamtentwiekelung 
uad  Einsalentwickelung  iu  Jahrbuch  d.  V.  f.  wlas.  PKd."  1889,  B.  21,  8.  117ff.;  Preyer,  Natur- 
forschung  und  Schule  (1887),  Vaihinger  s.  o. ;  Haufe,  Die  natürliche  Ersiehung  1880;  Wlgge 
und  Martin,  Die  Unnatur  der  modernen  Schule  (1888);  Holtsch,  Bewegungen  der  Gegenwart 
auf  p*d.  Gebiet  (1889.. 


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-  3« 


ehrung  Gottes  im  Geist  und  in  der  Wahrheit]  erzogen  werden,  in 
welcher  die  ganze  Menschheit  nach  und  nach  heraufge- 
bildet worden  ist.  Jeder  Mensch  ist  der  Repräsentant  des  Ganzen, 
und  das  Ganze  der  jedes  Jndividuums.«  S.  81:  »Was  die  Menschheit  im 
Grolsen  überall  so  einstimmig  deutlich  ausgesprochen  hat,  mufs  auch  bei 
jedem  Individuo  angewendet  werden.  Die  Nachkommen  müssen  gleichsam 
von  neuem  ihre  Bildung  beginnen  —  das,  was  als  Stoff  für  diese 
Bildung  gebraucht  wird,  mufs  die  Nachkommen  in  eben  der 
Form  wieder  ansprechen,  in  welcher  es  die  Vorfahren  aus- 
sprechen.« S.  86:  >Ich  habe  mir  den  Gang  der  Erziehung  der  Individuen 
aus  der  Geschichte  der  gesamten  Menschheit  geschöpft  .  .  .  Eine  klare  An- 
sicht der  Kultur  der  ganzen  Menschheit  und  ein  sorgfältiges  anhaltendes 
Erforschen  des  Ganges  derselben  giebt  den  Erziehern  weit  mehr  Ausbeute, 
als  alle  die  Erziehungsschriften,  die  immer  und  ewig  sich  nur  mit  dem  Ein- 
zelnen beschäftigen,  ohne  sein  Verhältnis  zu  dem  Ganzen  genauer  erwogen 
zu  haben.  Das  Ganze  ist  mir  durchaus  die  Multiplicierung  der  Individuen, 
und  die  Individualität  die  Division  der  Totalität;  alle  Teile  haben  die  Form 
des  Ganzen,  und  das  Ganze  vergegenwärtigt  die  Form  der  gesamten  Teile.«  — 

(Schtufs  folgt.) 


2.  Die  Vereinigung  von  Freunden  der  Pädagogik  Herbart- 
Zillers  in  Unterfranken. 

Seit  bald  einem  Jahre  besteht  in  Unterfranken  eine  Vereinigung  de* 
Freunde  von  Herbart-Zillers  Pädagogik. 

Der  Gedanke  an  eine  solche  Vereinigung  wurde  schon  länger  gehegt. 
Aber  in  die  Wirklichkeit  wurde  er  erst  durch  den  verdienten  Hauptlehrer 
Steinmann  in  Kitzingen  hinüber  geführt,  indem  derselbe  gelegentlich  der 
vorjährigen  Versammlung  der  unterfränkischen  Lehrer  in  Würzburg  alle 
der  Pädagogik  Herbart-Zillers  zugethanen  Kollegen  zu  einer  besonderen 
Besprechung  einlud,  aus  welcher  die  erwähnte  Vereinigung  hervorging. 

Die  Vereinigung  bekam  folgende  Einrichtung.  Es  wurde  eine  all- 
gemeine Verbindung  geschaffen,  welche  die  Anhänger  der  Pädagogik  Herbart- 
Zillers  in  ganz  Unterfranken  umfassen  soll.  Innerhalb  dieser  weiteren  Ver- 
bindung wurde  aber  die  Bildung  kleinerer  Gruppen  ins  Auge  genommen, 
welche  die  Strebensgenossen  an  demselben  Orte  oder  doch  in  nachbar- 
licher Nähe  aufnehmen  sollen.  Beiderlei  Vereinigungen  sollen  durchaus 
freie  sein.  Nichts  anderes  soll  deren  Angehörige  zusammen  führen  und 
zusammen  halten,  als  der  erziehliche  Eifer. 

Als  Aufgabe  schwebt  1.  vor  die  geistige  Durchdringung  der  Voraus- 
setzungen von  Herbart-Zillers  Pädagogik  wie  dieser  selbst  von  bestimmten 
individuellen  Entwickelungen  ans  und  2.  die  Bethätigung  von  Ober- 


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39 


legungen  zur  Anwendung  der  genannten  Pädagogik  unter  g  egeb  enen 
festen  Verhältnissen. 

Von  Jahr  zu  Jahr  sollen  aus  dieser  grofsen  Aufgabe  gewisse  Arbeits- 
gebiete genau  abgesteckt  werden.  Es  besteht  der  Plan,  nach  einander  die 
Ethik,  die  Psychologie,  die  allgemeine  Pädagogik  und  die  Methodik  vor- 
zunehmen. Die  letztere  soll  den  Brennpunkt  aller  Bemühungen  ausmachen. 
Den  Studien  sollen  keine  »leicht  fafslichen«  Schriften,  sondern  die  »Quellen« 
oder  doch  gediegene  wissenschaftliche  Werke  zugrunde  gelegt  werden. 
Vorläufig  soll  im  Jahre  eine  Zusammenkunft  der  Mitglieder  der  gröfseren 
Vereinigung  stattfinden;  jene  der  kleineren  Gruppen  sollen  so  oft,  als  es 
ihnen  Verhältnisse  und  Umstände  erlauben,  mit  einander  arbeiten.  Die 
Gruppen  sollen  sich  in  den  Gegenstand,  der  jeweils  zur  Beschäftigung  aus- 
ersehen ist,  möglichst  vertiefen.  Auf  der  Jahresversammlung  dagegen  soll 
nur  über  die  Kernpunkte  der  Sache  verhandelt  werden,  wobei  die  Absicht 
hauptsächlich  auf  Klärung  und  Ausgleichung  etwa  von  einander  abweichender 
Auffassungen  zu  richten  ist. 

Für  das  erste  Jahr  war,  in  Angemessenheit  zu  dem  angedeuteten 
Arbeitsplan,  Nahlowskys  Ethik  zur  Durcharbeitung  in  den  Gruppen  gewählt 
worden.  Als  Unterlagen  für  die  Auseinandersetzungen  auf  der  Jahresver- 
sammlung sollten  dienen:  i.  die  Wertschätznng,  2.  die  Charakteristik  der 
Einzelideen  und  3.  die  Charakteristik  der  gesellschaftlichen  Ideen.  Es 
sollen  darüber  kurze  Leitsätze  von  eigens  dazu  bestellten  Vertretern  ge- 
geben und  diese  Leitsätze  dann  eingehend  erörtert  werden. 

Die  erste  Jahresversammlung  fand  denn  nun  auch  heuer  am  zweiten 
Pfingsttage  dahicr  im  Hauger  Schulhause  statt.  Sie  war  gut  besucht,  ein- 
zelne Teilnehmer  waren  von  weiter  Ferne  hergekommen,  auch  hatten  sich 
Gäste  aus  dem  hiesigen  Lehrerkreise  eingefunden.  Die  Besprechungen  er- 
streckten sich  auf  die  Wertschätzung,  die  innere  Freiheit  und  das  Wohl- 
ergehen ;  der  übrige  Teil  der  Unterlagen  konnte  leider  nicht  erledigt 
werden.  Ich  deute  aus  den  Besprechungen  die  folgenden  Fragen  an:  Wo- 
durch wird  bei  der  relativen  Wertschätzung  und  wodurch  bei  der  absoluten 
der  Wert  festgestellt?  Woher  stammt  eine  jeder  Giebt  es  ein  unwandel- 
bares Schöne  und  Gute?  Worin  ist  das  Werturteil  vom  Erkenntnisurteil 
verschieden,  worin  berührt  es  sich  mit  ihm?  In  welcher  Beziehung  stehen 
absolute  Wertschätzung  und  innere  Freiheit,  relative  Wertschätzung  und 
innere  Unfreiheit  zu  einander?  Wie  gelangt  der  Mensch  zum  sittlichen 
Begriff?  Giebt  es  nicht  eine  Anlage  für  die  Erkenntnis  des  Guten?  Ge- 
fällt nicht  schon  ein  einzelner  Ton?  — 

Welches  sind  die  Stufen  in  der  Entwickelung  zur  inneren  Freiheit? 
Innere  Freiheit  —  logische  Freiheit  —  psychische  Freiheit?  Welche  Be- 
deutung hat  die  innere  Freiheit  für  die  Harmonie  des  Sittlichkeitsstrebens?  — 
Kann  die  Selbstliebe  den  Anfang  in  der  Entwickelung  zum  Wohlwollen 
bilden?  Welches  ist  der  psychologische  Zusammenhang  von  Wohlwollen, 
innerer  Freiheit  und  Willensstärke? 

Für  das  zweite  Jahr  wurde,  abermals  nach  dem  gebilligten  Plane,  das 
Studium  von  Ballauffs  Psychologie  für  die  Gruppen  beschlossen.    Auch  sind 


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sogleich  die  Unterlagen  für  die  Verhandlungen  der  nächsten  Johannisver- 
sammlung festgesetzt  worden. 

Ich  hege  die  Hoffnung,  dafs  bald  auch  in  den  übrigen  Kreisen  Bayerns 
solche  Vereinigungen,  wie  die  nun  in  Unterfranken  bestehenden,  gegründet 
werden,  ja  dafs  noch  über  das  Land  hin  eine  Verbindung  unter  den  zahl- 
reichen Freunden  der  Pädagogik  Herbart  Zillers,  zum  Segen  der  bayerischen 
Schulen,  entstehe. 

Würzburg,  15.  August  1890.  P.  Zillig. 


I 
I 

3.  Vom  griechischen  Schulwesen. 

Eine  Mitteilung  aus  Athen. 

>Es  ist  in  der  That  lange  Zeit,  dafs  ich  Ihnen,  hochg.  Herr  Prof.,  nichts 
über  unser  Schulwesen,  besonders  über  das  Volksschulwesen,  meinem  Ver- 
sprechen gemäfs,  mitgeteilt  habe.  Der  Grund  davon  ist,  dafs  ich  über  das 
letztere  nichts  erfreuliches  zu  melden  hatte. 

Eine  kurze  Blütezeit,  die  unsere  Volksschullehrerseminare  gehabt  haben, 
und  besonders  das  Seminar  in  Athen,  nahm  nach  dem  Jahre  1884,  als  Herr 
Prof.  Papamarkos  zum  Direktor  des  athenischen  Seminars  ernannt  worden 
war,  schnell  ab,  um  sich  zuletzt  in  einen  ganz  abnormen  Zustand  umzu- 
wandeln. Auf  welche  Weise  dies  zu  Stande  gebracht  worden  ist,  erklärt 
die  den  Lesern  der  »P.  Studien«  schon  bekannte  Denkschritt  des  Herrn 
Dr.  Them.  Michalopulos  an  den  griechischen  Kultusminister  „/legi  xijg 
xaraordofiog  tov  iv  ^d-^vaig  didaoxaktlov"  tvtofivijfta.  (S.  Pädag. 
Studien  1890,  S.  189). 

Wenn  es  dem  Herrn  P.  mit  der  Direktion  des  Seminars  so  sehr  mifs- 
glückte,  so  scheint  unser  Marineminister  und  interimistische  Kultusminister 
Herr  G.  Theotokis  gedacht  zu  haben,  dafs  er  sich  als  Gesetzgeber  und 
Reformator  unseres  Schulwesens  auszeichnen  könnte.  Zu  diesem  Zwecke 
ernannte  er  im  vorigen  Herbst  Herrn  P.  zum  Direktor  des  gesamten  griech. 
Volksschulwesens.  Dabei  mufs,  wenn  nicht  die  Wahl,  so  doch  die  gute 
Absicht  des  Herrn  Ministers  entschieden  gelobt  werden. 

Einige  Monate  darauf,  d.  24.  Dez.  1889,  brachte  in  der  That  der  Herr 
Kultusminister  in  die  Kammer  nach  einer  begeisterten  Rede  9  Gesetzent- 
würfe ein,  deren  7  vom  Herrn  P.  geschrieben,  die  Reform  des  Volksschul- 
wesens zum  Zwecke  hatten. 

Bei  allen  den  Mängeln  unseres  jungen  Staatswesens  und  bei  dem  leider 
in  allen  Ländern  der  Erde  immer  vorhandenen  Vorrat  von  Leuten,  die  sich 
irren,  sollen  Sie  doch  nicht  glauben,  dafs  bei  uns  jede  unglückliche  Idee 
auch  ungehindert  zu  ihrer  Verwirklichung  gelangen  kann. 

Zur  Ehre  meines  Landes  erwähne  ich,  dafs  nicht  nur  angesehene  De- 


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41  - 


patirte  aus  allen  Parteien,  selbst  aus  der  Regierungspartei,  sich  sofort  gegen 
diese  Gesetzentwürfe  erklärt  haben,  sondern  auch  unter  den  Gelehrtenkreisen, 
die  in  Athen  sitzende  »Gesellschaft  für  Wissenschaft«  und  ebenso  der 
»Griechische  Lehrerverein«  zur  Prüfung  derselben  besondere  Kommissionen 
gebildet  haben,  die  sich  alle  einstimmig  dahin  äufserten,  dafs  die  betreffenden 
Gesetzentwürfe  sowohl  in  wissenschaftlicher  als  auch  in  praktischer  Hinsicht 
kein  gesundes  Werk  seien  und  dafs  also  deren  Genehmigung  von  der 
Kammer  statt  eines  Fortschrittes  einen  sicheren  Rückgang  in  unserem 
Schulwesen  bedeuten  würde. 

Andererseits  ernannte  die  Kammer  eine  aus  24.  Deputirten  bestehende 
Kommission  mit  der  besondern  Aufgabe,  über  den  Wert  der  Gesetzent- 
würfe Bericht  zu  erstatten.  Diese  Kommission,  präsidiert  vom  Abgeordneten 
Herrn  Steph.  Skuludis,  ersuchte  den  >Griech.  Lehrerverein«  Vertreter 
aus  seiner  Mitte  zu  senden,  um  die  Meinung  des  Vereins  über  die  Gesetz- 
entwürfe auseinanderzusetzen.  Der  Verein  wählte  zu  diesem  Zweck  sechs 
seiner  Mitglieder*).  Aufser  diesen  wurden  zu  den  Diskussionen  ebenfalls 
der  Seminardirektor  in  Athen**)  und  zwei  Universitätsprofessoren***)  ein- 
geladen. 

In  mehreren  Sitzungen  und  in  Anwesenheit  des  Herrn  Kultusministers 
wurde  nun  vorigen  Januar  und  Februar  über  die  Bedürfnisse  unseres  Schul- 
wesens diskutiert  und  viele  wertvolle  Meinungen  darüber  ausgetauscht. 
Herr  P.  hat  seine  Vorschläge  zwar  mit  Wärme,  leider  aber  durch  sachlich 
zu  schwache  Argumente  verteidigt.  Dabei  hat  es  sich  in  deutlicher  Weise 
gezeigt,  wie  weit  die  Gesetzentwürfe  davon  entfernt  waren,  einer  gesunden 
Jugenderziehung  dienlich  sein  zu  können.  Unter  den  vielen,  welche  sich 
an  den  Diskussionen  beteiligten,  war  nur  einer,  Herr  Professor  Pantazides, 
der  für  die  Gesetzentwürfe  gesprochen  hat. 

Der  »Griech  Lehrerverein«  überreichte  nach  den  Debatten  der  Kammer- 
kommission auch  schriftlich  seine  Meinung,  in  einem  Bande,  welcher  den 
Titel  trägt:  ,,/VtD/ia/  ror  tE)J.rivr/.ov  didaaxaktxoi  Iv't.köyov  ntQi  tiüv 
ixnatötvTixwv  Nofwayriiiov"*)-  Desgleichen  hat  Herr  Professor  Chr. 
Papadopulos  eine  leider  bis  jetzt  noch  nicht  veröffentlichte  Denkschrift 
an  die  Kammerkommission  gegen  die  Gesetzentwürfe  gerichtet,  wie  auch 
Herr  Seminardirektor  Papasotiriou  an  den  Kultusminister  selbst. 

•)  Herrn  Prof.  Tbeod.  Papadttnitrakopnlos,  Verfasser  des  bekannten  Werke«:  I16QI 
TlQGtf  OQÜg  Tl%«  «XAlJWX/^  ylu>OUl]Z,  Herrn  Gvmnaalaldlrektor  Papanastasi  ou ,  Herrn 
PrW&tdocenten  G.  Derbos,  Herrn  Prof.  Bl.  Skordella  Ft.  Seminardirektor  In  Tripoll«,  Herrn 
P.  Oekonomos  Fr.  Direktor  d.  Volksschule«  Im  Ministerium,  u.  Herrn  Dr.  Them.  Mlchalopaloa. 
••)  Herrn  Dr.  G.  Papasotlrloo. 
•••)  Der  ehrwürdige  Professor  der  Philosophie  Herr  Dr.  Chr.  Papadopulos  und  der  Prof.  für 
griech.  Philologie  Herr  Dr.  S.  Pantasldes,  der  aueh  padag.  Vorlesungen  halt. 

f)  Der  erste  Teil  dieses  Buches  (aueh  in  Separatabdruck  erschienen)  (ström  tiyinnosUMiroktor 

entwtlrfe;  der  aweite  (ebenfalls  in  Separat« hdrnck  erschienen    anter  dem  Titel:     Tlt  7ltQl 
jJldaOXU/LltlUV  TIOV  UQQ^VtüV  NofÄOöyiÖlCt   n.  s.  f.)  vom  Herrn  Dr.  Them.  Hicha- 
opulos,  Referent  Uber  die  auf  Lehrerseminare  «ich  besiehenden  Gesetzentwürfe,  und  der  dritte  vom 
Hern»  Prof.  Oekonomo«.  Referent  Uber  die  auf  Volksschule  etc.  bezüglichen  Gesetzentwürfe. 


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—  42 


Nach  allem  dem  wurden  die  berühmten  Gesetzentwürfe  selbst  von  der 
Regierung  verlassen,  somit  in  aller  Stille  begraben.  Der  sonst  geistreiche 
Kultusminister  hat  sich  mit  Demütigung  vor  seinen  Kollegen  in  einer  seiner 
besten  Unternehmungen  hart  getäuscht  gesehen,  auf  die  er  die  sichersten 
Hoffnungen  gesetzt  hatte. 

Eben  aber,  weil  ein  solches  das  Ende  der  in  Rede  stehenden  Gesetz- 
entwürfe gewesen  ist,  halte  ich  es  nicht  mehr  für  zweckmäfsig,  dieselben 
im  einzelnen  zu  besprechen.  Sonst  finden  Sie  auch  die  Erörterung  in  der 
oben  genannten  „l  yc-juat  tot  tKjj,iivrAoi  öidua^ah/LOi  1t Xkuytn  .  .  ." 
Auch  ist  in  der  Zeitschrift  ,t'.li}i  viC  (Band  II,  Heft  2)  der  »Gesellschaft 

für  Wissenschaft«  ein  sehr  lesenswerter  Aufsatz  erschienen  über  den  von 
den  das  Gymnasiumwesen  betreffenden  und  wie  es  lautet,  vom  Herrn  Prof. 
Pantazides  verfafsten  Gesetzentwürfen  zu  gering  geschätzten  Wert  des 
Lateinischen,  geschrieben  vom  Professor  der  lateinischen  Philologie  an  der 
Universität  Herrn  Dr.  Sp.  Bassist 


4.  Herbart  in  Amerika. 

Es  wird  ohne  Zweifel  die  Leser  der  Studien  interessieren,  etwas  über  die 
Fortschritte  zu  hören,  welche  die  Hcrbartsche  Pädagogik  in  den  letzten 
Jahren  in  Amerika  gemacht  hat.  Vor  fünf  Jahren  hörte  man  dort  von 
Herbart  so  gut  wie  nichts.  Prof.  De  Garmo,  dessen  Name  schon  seit 
Jahren  in  dem  Mitgliederverzcichnis  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Päda- 
gogik als  der  einzige  Vertreter  des  Vereins  in  Amerika  gestanden  hat,  war 
der  erste  unseres  Wissens,  welcher  den  Versuch  machte,  dieses  System 
dort  zu  verbreiten.  Er  veröffentlichte  im  vorigen  Jahre  ein  kleines  Buch, 
betitelt  »Wesentliche  Züge  der  Methode«  *).  In  diesem  Buche  versucht  De 
Garmo  Herbarts  Lehre  von  den  formalen  Stufen  wiederzugeben.  Die 
beiden  anderen  Grundideen  der  neueren  Didaktik,  Kulturhistorische  Stufen, 
und  Konzentration,  berührt  er  nur  beiläufig. 

Das  zweite  Buch,  welches  sich  die  Darlegung  der  Herbartschen 
Prinzipien  zur  Aufgabe  macht,  ist  die  in  diesem  Jahre  erschienene  Arbeit 
von  Dr.  Charles  Mc.  Murry.  Dieselbe  ist  betitelt:  »Wie  man  zu  unter- 
richten hat«  **).  Nach  einer  kurzen  Darlegung  der  Hauptideen  in  Herbarts 
Didaktik,  illustriert  der  Verfasser  dieselben  an  einigen  Beispielen  aus  der 
Naturkunde  und  dem  Sprachunterricht.  Am  Ende  folgt  eine  Übersetzung 
aus  Prof.  Reins  »Das  erste  Schuljahr«. 

•}  EnentUU  of  Metbod.    D.  C.  Hcttb  A  Co.    Ntw-York  vm. 
••)  How  to  couduot  th<?  Reoiutlon.    E.  L.  Kellogg  H.    N«w-York,  18»0. 


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Das  dritte  und  bis  jetzt  das  letzte  erschienene  Werk  derart  ist 
gleichfalls  ein  kleines  Buch.  Es  ist  von  Dr.  Th.  B.  Noss,  Seminar- 
direktor in  California,  Pennsylvania,  und  führt  den  Titel  »Umrifs  der  Psy- 
chologie und  Pädagogik«*). 

In  erster  Linie  ist  dieses  Buch  für  den  Gebrauch  in  des  Verfassers 
eigener  Klasse  bestimmt.  In  demselben  findet  man  mehr  Anregung  zum 
selbständigen  Nachdenken  als  eine  Darlegung  von  fertigen  Prinzipien.  In 
dem  zweiten  Teil,  welcher  von  Hermann  T.  Lukens  geschrieben  ist,  be- 
findet sich  eine  kurze  Zusammenstellung  der  Hauptpunkte  des  Herbartschen 
Systems.  Dies  ist  der  Hauptsache  nach  das  Material  von  Prof.  Reins 
Vorlesungen  über  »die  psychologische  Grundlage  des  Unterrichtsver- 
fahrens« in  den  Fortbildungskursen  für  Lehrer,  gehalten  in  Jena  September 
1889. 

Ein  gröfseres  Werk,  welches  sich  aber  nur  beiläufig  mit  der  Herbarti- 
schen  Pädagogik  beschäftigt,  ist  das  Buch  von  Dr.  Klemm**).  Weil  nun 
dasfelbe  für,  weitere  Kreise  bestimmt  ist,  und  in  einer  anerkannten  guten 
Folge  (International  Education  Scries)  vom  Haupte  des  amerikanischen 
Kultusbüreaus  herausgegeben  ist,  verdient  es  besondere  Beachtung.  Der 
Verfasser  hat  Theorie  und  Praxis  der  Herbartischen  Schule  in  den 
Franckeschen  Stiftungen  in  Halle  kennen  gelernt.  Es  findet  sich  nun  weiter 
im  24.  Hefte  von  >L ehrproben  und  Lehrgänge«  von  Dir.  Frick, 
eine  Obersetzung  des  betreffenden  Kapitels,  nebst  einer  Berichtigung  der 
Mifsverständnisse,  welche  in  dem  Buche  vorkommen.  Das  Buch  ist  auch 
im  4.  Heft  »Praxis  der  Erziehungsschule«  von  Direktor  Just  be- 
sprochen worden.  Dr.  Klemm  giebt  in  seinem  Bericht  als  Beispiele  eine 
Lektion  in  der  Botanik,  eine  in  der  Naturbeschreibung,  eine  im  Gesinnungs- 
unterricht, und  eine  in  Sprachunterricht  wieder.  In  der  Theorie  hebt  er 
das  Prinzip  der  Konzentration  ganz  besonders  hervor,  ohne  von  den  formalen 
oder  den  kultui historischen  Stufen  ein  Wort  zu  sagen.  In  seinem  Urteil 
über  das  System  sagt  er  »Aufrichtig  gestanden  bezweifle  ich,  dafs  die 
Herbartsche  Schule  wirklich  im  Stande  ist,  uns  das  Rezept  zu  einer  so- 
fortigen Verbesserung  unsere  r>  Schulen  zu  bieten,  aber  gerne  gebe  ich 
zu,  dafs  wir  bedingungslos  für  die  Annahme  ihrer  Grundsätze  eintreten 
könnten,  wenn  alle  unsere  Lehrer  so  wären  wie  die  vorzüglichen  Lehrer, 
die  ich  in  den  Franckeschen  Stiftungen  in  Halle  habe  unterrichten  hören.« 

Unter  allen  den  genannten  Werken  wird  vielleicht  das  letzte  sich  der 
gröfsten  Verbreitung  freuen. 

Ausserdem  ist  das  Interesse  an  der  Pädagogik  Herbarts  in  Amerika 
jedenfalls  im  Zunehmen  begriffen.  ***)  Noch  aber  fehlt  es  an  einem  grund- 
legenden Werke,  welches  die  Theorie  so  wohl  wie  auch  die  Praxis  in  ein- 
gehender Weise  darlegen  sollte. 


*)  OutliOM  of  Piycbology  and  Podagogy.   Susrenaon  and  Joater.   Pituburgh,  1890. 
**)  European  SctiooU,  or  what  mw  In  th«  achooli  of  Germany,  Franc«,  Auatrla  and  Swltxer- 
Und.   Bjr  L.  R.  Klamm  Ph.  D.    New- York  1889. 

•♦*)  8.  naaordinga  Dr.  Hall,  Notea  of  th«  German  achool.  189«. 


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5.  Der  achte  deutsche  Lehrertag  in  Berlin*). 

Von  J.  Tews  in  Berlin. 

Über  den  achten  deutschen  Lehrertag  ist  schon  eine  solche  Unsumme 
von  Berichten  mehr  oder  weniger  objektiver  Natur  und  von  Beurteilungen 
mit  mehr  oder  weniger  Parteieingenommenheit  veröffentlicht  worden,  dafs 
wir  diesen  Äufserungen  nicht  noch  eine  gleichartige  hinzufugen  wollen. 
Es  soll  vielmehr  einzig  und  allein  unser  Bemühen  sein,  die  Erscheinungen 
auf  dem  Lehrertage  selbst  und  seine  bereits  hervorgetretenen  und  wahr- 
scheinlich zu  erwartenden  Folgen  einer  ruhigen  und,  soweit  dies  überhaupt 
möglich  ist,  gänzlich  parteilosen  Besprechung  zu  unterziehen. 

Auf  dem  achten  deutschen  Lehrertage  waren  ca.  60000  deutsche 
Lehre  r  ordnungsmäfsig,  d.  h.  durch  die  in  den  einzelnen  Vereinen  Deutsch- 
lands gewählten  Abgeordneten  vertreten.  Wenn  man  nun  die  Zahl  sämt- 
licher Volksschullehrer  im  deutschen  Reiche  auf  100 — 105000  annimmt  — 
eine  Statistik  liegt  nicht  vor,  aber  wenn  Preufsen  mit  60  Proz.  der  Be- 
völkerung des  deutschen  Reiches  (28,3  Mill.  von  46,7  Mill.)  im  Jahre  1886 
56000  Lehrer  hatte,  so  kann  die  Gesamtzahl,  auch  bei  Berücksichtigung 
der  ungünstigeren  preufsischen  Verhältnisse,  nicht  weit  über  100000  an- 
genommen werden  —  so  war  in  Berlin  zweifellos  die  Mehrheit  der 
deutschen  Lehrerschaft  vertreten  und  allem  Anscheine  nach  wird  die 
Mehrheit,  die  sich  auf  den  deutschen  Lehrertagen  vertreten  läfst,  demnächst 
noch  eine  erheblich  stärkere  werden.  Wenn  ferner  an  der  Versammlung 
4000  Lehrer  aus  allen  Gauen  des  Vaterlandes  persönlich  teilnahmen,  so 
darf  wohl  behauptet  werden,  dafs  ein  recht  grofser  Teil  der  Lehrerschaft 
an  den  dort  beratenen  Gegenständen  ein  erhebliches  aktuelles  Interesse 
hat.  Diese  Thatsache  ist  wichtig,  denn  es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel, 
dafs  nur  derjenige  mit  seinen  pädagogischen  Vorschlägen  und  Anregungen 
auf  dem  nächsten  Wege  zur  allgemeinen  Beachtung  gelangt,  der  diese 
Organisation  zu  benutzen  weifs.  Keine  andere  Schöpfung,  keine  päda- 
gogische Zeitschrift  reicht  so  weit,  als  die  Organisation  des  deutschen 
Lehrertages  und  des  deutschen  Lehrervereins.  Wir  würden  es  lebhaft  be- 
dauern, wenn  sich  die  Führer  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  dieser  That- 
sache verschliefsen  und  es  versäumen,  oder  gar  verschmähen  würden,  zu 
den  Lehrervereinen  Beziehungen  anzubahnen,  um  hier  ihre  Ideen  und 
Resultate  zum  Ausdruck  zu  bringen,  zum  Wohl  der  Schule  und  des  Lehrer- 
standes. 

In  den  Vereinen,  besonders  in  den  gröfseren,  werden  wenige  be- 
deutungsvolle Gedanken  geboren.  Die  eigentliche  Geburtsstätte  der 
reformatorischen  Gedanken  ist  die  Studien-  oder  die  Schulstube. 


•)  Vwgl.  hlerro:  Evangel.  Scbulblatt  von  Dörnfeld,  Augnstheft  1880 :  Lernt,  denn  Ihr  seid  ge- 
warnt Ton  A.  Rade.  Ferner  :  Grabt,  Dr.  Dltte*  ror  dem  Urteil  angesehener  Pädagogen.  Deutucbe 
Lehreraeltong  MS  n.  «W. 


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45 


Aber  die  Vereine  geben  dem  in  die  Tiefe  gehenden  Forscher  wie  dem  ge- 
schickten methodischen  Arbeiter  oder  dem  talentvollen  praktischen  Päda- 
gogen Gelegenheit,  durch  das  lebendige  Wort  seine  Genossen  für  seine 
Ideen  zu  gewinnen,  zu  hören,  wie  seine  Bestrebungen  von  der  grofsen 
Menge  beurteilt  werden,  sie  bieten  Gelegenheit,  andere  Versuche  und  Er- 
fahrungen entgegenzunehmen  und  dementsprechend  entweder  mit  wertvollen 
Hilfskräften  verbunden  weiter  zu  arbeiten,  neue  Agitationsmittel  aufzusuchen, 
oder  auch  wohl  nach  reiflicher  Überlegung  einen  Gedanken  als  einen  Irr- 
tum abzustofsen.  Die  Lehrervereine  sind  die  eigentlichen  pädagogischen 
Schulen  für  die  im  Amte  befindlichen  Lehrer,  und  wenn  jemand  an  ihnen 
vorüber  gehen  wollte,  so  wäre  das  ebenso  lächerlich  als  die  Mühen  bei 
seinen  religiösen  Übungen  zu  vermeiden. 

Dafs  für  den  diesjährigen  Lehrertag  Berlin  als  Versammlungsort  ge- 
wählt wurde,  geschah  in  Rücksicht  auf  die  Wirksamkeit  Adolf  Dicster- 
wegs  hierselbst.  Und  man  darf  auch  wohl,  ohne  sich  einer  einseitigen 
Beurteilung  schuldig  zu  machen,  behaupten,  dafs  die  Versammlung  unter 
dem  Banner  Diesterwegs  sich  entfaltete.  Mag  man  dies  auf  der  einen  Seite 
für  eine  erfreuliche,  auf  der  andern  Seite  als  eine  betrübende  Thatsache 
bezeichnen,  immer  ist  es  ein  Zeichen  geistiger  Erhebung,  wenn  sich  ein 
Stand  seiner  grofsen  Angehörigen  lebendig  erinnert  und  ihr  Andenken  ehrt. 
Freilich  darf  diese  Verehrung  nun  nicht  so  gedacht  und  geäufsert  werden, 
als  sei  man  mit  Leib  und  Seele  Jünger  des  Gefeierten,  denn  dann  würde 
sich  die  jeweilige  pädagogische  Richtung  zwar  nicht  nach  dem  herrschenden 
Winde,  aber  nach  dem  Festkalender  der  einzelnen  Jahre  richten  und  je 
nach  dem  mit  einer  Hundertjahrsfeier  darin  auftretenden  grofsen  Vorfahren 
wechseln.  Wenn  man  grofse  Tote  ehrt,  so  erinnert  man  sich  gern  ohne 
kleinliche  Kritik  ihrer  Thaten  und  Verdienste,  ohne  die  Gefeierten  in 
Denken  und  Handeln  nun  in  jeder  Beziehung  zum  Muster  zu  nehmen.  Es 
erscheint  notwendig,  dies  auch  der  Berliner  Diesterwegfeier  gegenüber  zu 
beachten.  Wer  daran  teil  genommen  hat,  wird  allerdings  darüber  nicht  im 
Zweifel  sein,  dafs  unter  den  heimgegangenen  Pädagogen  Diesterweg  dem 
Herzen  der  deutschen  Lehrer  vielleicht  am  nächsten  steht.  Trotzdem  darf 
man  auch  bei  den  Teilnehmern  keineswegs  eine  gleiche  Zustimmung  zu 
allen  Grundsätzen  Diesterwegs  annehmen.  Wer  das  thut  und  gethan  hat, 
mufs  niemals  Feste  ähnlicher  Art  mitgefeiert  haben.  Es  würde  unseres 
Erachtens  eine  arge  Zerrüttung  unseres  nationalen  Lebens  bedeuten,  wenn 
man  einem  grofsen  Sohne  unserer  Nation  nur  dann  seine  Verehrung  dar- 
bringen könnte,  wenn  man  mit  ihm  in  allen  Punkten  einverstanden  wäre. 
Dann  hörte  das  nationale  Leben  auf,  und  es  gäbe  nur  noch  ein  Partei-, 
ein  Kastenlebcn. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  es,  ob  in  Berlin  der  rechte  Mann 
die  Tribüne  bestiegen  hat,  um  Diesterwegs  Mahnen  zu  feiern. 
Wenn  eine  Festfeier  den  Zweck  hat,  einen  Toten  in  idealer  Verklärung 
den  Feiernden  zu  zeigen,  ihn  abgetrennt  von  dem  Streit  der  Meinungen  des 
Tages  zu  schildern,  das  an  ihm  hervorzuheben,  was  alle  anerkennen,  das 
Abgeklärte,  Bleibende,  so  hat  Dittes  seine  Aufgabe  schlecht  oder  gar  nicht 


L 


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-  46 


erfüllt.  Handelt  es  sich  an  einem  solchen  Tage  aber  darum,  den  Helden 
in  realster  Gestalt  vor  die  Hörer  hinzustellen,  seine  grofsen  Wahrheiten 
und  Irrtümer,  sein  Geistesbrausen  und  seinen  Herzschlag  fühlbar  zu 
machen,  den  grofsen  Menschen,  wie  er  leibte  und  lebte,  auf  eine  Stunde 
aus  dem  Grabe  hervorzuholen,  so  konnte  kein  besserer  als  Dittes  berufen 
werden.  Wer  sich  den  Worten  des  60  jährigen  Kämpfers  nicht  absicht- 
lich vcrschlofs,  wurde  hingerissen  von  dem  Feuer  der  Begeisterung,  und 
wir  haben  Männer  mit  ergrautem  Haare,  die  sonst  in  einer  ganz  andern 
Geisteswelt  leben,  gesehen,  wie  ihnen  die  Thränen  in  die  Augen  traten. 
Der  unbeschreibliche  Jubel,  der  die  Rede  Dittes  begleitete,  galt  nicht  dessen 
Gedanken,  sondern  dessen  machtvollem  Bekenntnis,  dessen,  was  er  an 
Diestcrweg  als  wahr  und  echt  glaubt  erkannt  zu  haben,  und  es  erscheint 
völlig  ungehörig,  nun  hinterher  jedes  Dittessche  Wort  als  ein  Bekenntnis 
des  deutschet  Lchrertages  oder  gar  der  deutschen  Lehrerschaft  hinzu- 
stellen. 

Wir  lassen  es  völlig  dahin  gestellt  sein,  wie  die  Diester wegfeier 
sich  hätte  gestalten  sollen,  in  jeder  Form  wäre  sie  wirksam  möglich 
gewesen,  Realismus  und  Idealismus  erscheinen  uns  wenigstens  in  dieser 
Beziehung  nicht  als  unverträgliche  Gegensätze,  sondern  nur  als  zwei  un- 
gleichartige Kinder  derselben  Mutter,  der  Kunst,  und  es  kommt  vielmehr 
darauf  an,  wie  die  eine  oder  die  andere  Form  gehandhabt  wird,  als  dafs 
man  sich  zu  einer  oder  der  andern  bekennt. 

Dittes  hat  sein  grofses  Ideal,  Diesterweg,  nicht  gefälscht,  er  hat  aller- 
dings seinem  Bilde  vielfach  einen  Rahmen  gegeben,  der  für  einen  Teil  der 
am  pädagogischen  Leben  Beteiligten  störend  ist.  Ob  er  damit  wohlge- 
than  hat,  wissen  wir  nicht,  denn  die  moderne  Schule  zählt  auch  viele 
»Freunde«,  die  ihren  Namen  mit  Unrecht  tragen;  das  mag  man  vielleicht 
auf  Anhänger  und  Gegner  Dittes  in  gleicher  Weise  anwenden  können. 

Neben  der  Diesterwegfeier,  den  auch  durch  einige  andere  Veran- 
staltungen, durch  eine  von  Lehrer  Risch  gedichtetes  und  Lehrer  Ziegler 
komponiertes  Festspiel,  durch  Gesänge  des  >Berliner  Lehrer  -  Sänger- 
bundes«, durch  einen  eindrucksvollen  Festakt  am  Grabe  Dicstcrwcgs,  noch 
hervorgehoben  wurde,  traten  die  übrigen  Arbeiten  des  Lehrer- 
tages merklich  zurück,  wenn  auch  die  Tcilnehmerzahl  sich  annähernd  aut 
derselben  Höhe  hielt. 

Was  die  Verhandlungsgegenständc  selbst  anbetrifft,  so  kann 
man  eine  Bemerkung  nicht  unterdrücken.  In  dem  angenommenen 
Programm  fehlten  die  didaktischen  und  speziell  pädagogischen 
Gegenstände  ganz,  selbst  die  Sc  h  ul  o  rg  a  nisation  wurde  nicht  ge- 
streift, und  es  traten  lediglich  Themen  auf,  welche  die  Aufgabe  der  Schule 
im  Allgemeinen,  besonders  aber  die  Schu  lvcrl  assung  und  die  recht- 
liche und  Standes  rechtliche  Lage  des  Lehrerstandes  behandeln. 
Der  Gründe  für  diese  Erscheinung  mögen  mehrere  sein.  Es  mögen  zu- 
nächst die  eigentlich  didaktischen  und  pädagogischen  Fragen  in  grofsen 
Versammlungen  schwer  zu  behandeln  sein.  Oder  sollte  die  Lehrerschaft 
dafür  nicht  das  nötige  Interesse  besitzen  ?    Diese  Anklage  wäre  unseres. 


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-  47 


Erachtens  völlig  unangebracht,  denn  wer  einen  umfangreichen  Vereins- 
kalender, wie  ihn  beispielsweise  die  >Preufs.  Lehrerzeitung«  bringt,  täglich 
durchsieht  und  Tag  für  Tag  die  Berichte  aus  den  Lokal-,  Kreis-,. 
Gau-,  Provinzial-  uud  Lande  s'vercinen  liest,  bemerkt,  dafs 
die  Verhandlungsgegenstände  in  überwiegender  Zahl  der  eigentlichen 
Schularbeit  entnommen  sind,  dafs  also  in  den  Arbeitsstuben, 
der  Vereine  die  Pädagogik  in  ihrer  vom  öffentlichen  Leben  abgeson- 
derten Form  eine  ausgedehnte  Pflege  findet.  Wenn  indessen  auf  den. 
Lehrertagen,  und  auf  dem  letzten  mehr  als  je,  die  Stellung  der  Schule  und 
des  Lehrerstandes  zu  anderen  Faktoren  des  politischen  und  gesellschaftlichen 
Lebens  fast  ausschliefslich  zum  Ausdruck  gebracht  wurde,  so  erscheint  uns 
das  als  ein  sehr  deutlicher  Fingerzeig,  dafs  in  dieser  Beziehung  vieles  zu 
bessern  ist,  und  ferner  wird  dadurch  deutlich  genug  gezeigt,  dafs  unbe- 
friedigende Verhältnisse  imstande  sind,  einen  Stand  seinen  eigentlichen 
Aufgaben  zu  entfremden  und  ihn  auf  die  Bahn  des  Kampfes  für  äufsere 
Stellung  und  Anerkennung  zu  drängen. 

Die  deutschen  Lehrertage  mit  ihrer  imposanten  Teilnehmer- 
zahl wenden  sich  in  erster  Linie  an  die  Öffentlichkeit,  und  wer 
das  Leben  und  Streben  in  den  Einzelvercinen  kennt,  weifs,  dafs  die  deut- 
schen Volksschulpädagogcn  der  Nation  auch  in  speziell  pädagogischer  Hin- 
sicht manches  bedeutsame  Wort  zu  sagen  hätten,  was  jetzt  ungesagt  bleibt, 
weil  man  mit  den  eigenen  Angelegenheiten  zu  sehr  beschäftigt  ist. 

Die  lautesten  Wünsche  der  Lehrerschalt  lassen  sich  in  zwei. 
Forderungen  zusammenfassen :  Gröfsere  Gehälter  und  gröfsere 
Rechte.  Die  ersterc  Forderung  ist  auf  dem  Lehrertage  kaum  gestreift 
worden,  während  die  letztere  sowohl  in  den  Verhandlungen  über  die  Küster- 
fragc  als  auch  über  die  Schulsynoden,  ja  auch  in  dem  Vortrage  über  die 
sozialen  Aufgaben  der  Schule  zum  Ausdruck  kamen,  allerdings  nicht  ab- 
gesondert, aber  im  Rahmen  der  betreffenden  Materie  mit  sehr  wahrnehm- 
barer Betonung.  Es  sind  lediglich  standesrechtliche  und  pädagogische 
Gründe,  welche  die  Lehrerschaft  veranlassen,  gegen  niederen  Kirchen- 
dienst,  geistliche  Schulinspektion  und  Schulvorstände,  in 
denen  der  Lehrer  nicht  vertreten  ist,  zu  Felde  zu  ziehen. 
Man  hat  in  den  Besprechungen  des  Lehrertages  im  Parla- 
mente, in  Versammlungen  und  in  der  Presse  diesen 
"Wünschen  einen  politischen  und  kirchlichen  Charakter 
aufzudrücken  gesucht.  Das  heifst  die  Bewegung  absichtlich  oder  unabsicht- 
lich verkennen.  Wenn  die  Berliner  Versammlung,  die  sich,  so  weit  die 
blofsen  Teilnehmer  in  Betracht  kommen,  nicht  die  Vereinsabgeordneten, 
immerhin  vorwiegend  aus  den  am  weitesten  nach  links  stehenden  Elementen 
des  Lehrerstandes  man  zusammengesetzt  haben,  über  rein  politische  oder 
kirchliche  Dinge  ein  Urteil  abgegeben  hätte,  so  möchte  dies  besonders  in 
kirchlicher  Beziehung  nicht  sehr  freisinnig  und  in  politischer  Hinsicht  nichts 
weniger  als  radikal  geklungen  haben.  In  jenen  Forderungen  vereinigen  sich 
heute  aber  alle  bewufsten  Glieder  des  Lehrerstandes  ohne  Rücksicht  auf 
kirchliche   und   politische  Stellung,  von  dem   äufsersten   linken  bis  zum 


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4» 


äufscrstcn  rechten  Flügel,  alle  haben  erkannt,  dafs  die  standesrechtliche  Stel- 
lung des  Lehrers  eine  unbefriedigende  und  damit  zugleich  die  Lage  der 
Schule  eine  ungebührlich  unfreie  ist.  Man  darf  dreist  behaupten,  dafs  die- 
jenigen Glieder  des  Lehrerstandes,  die  jenen  drei  Forderungen  nicht  zu- 
stimmen, entweder  in  rein  persönlichen  Interessen  aufgehen  oder  über 
Schulverfafsungsfragen  niemals  nachgedacht  haben.  Es  ist  deswegen  durch- 
aus unzuläfsig,  jene  Angelegenheiten  mit  religiösen  und  kirchlichen,  sowie 
mit  politischen  Fragen  zu  vermengen.  In  der  deutschen  Lehrerschaft  steckt 
ein  reicher  Schatz  von  Religiösität,  von  Idealismus  und  nationalem  Sinn, 
so  dafs  durch  Vergröfserung  ihrer  Rechte  in  keiner  dieser  Beziehungen 
der  Schule  irgend  welche  Gefahr  erwachsen  kann.  Wohl  aber  würde  nach 
Erledigung  dieser  dringenden  Wünsche  die  eigentlich  pädagogische  Arbeit 
auch  auf  den  grofsen  Versammlungen  wieder  mehr  in  den  Vordergrund 
treten.  Und  das  thut  dringend  not.  Die  Nation  hat  ein  Recht  zu  ver- 
langen,  dafs  eine  Vereinigung  von  60000  Volksschullehrern  über  die  bren- 
nendsten Zeitfragen  der  nationalen  Erziehung  ein  wohl  er- 
wogenes Urteil  abgiebt.  So  haben  weite  Kreise  es  z.  B.  bedauert,  dafs  der 
Lehrertag  sich  mit  der  Frage  der  hauswirtschaftlichen  Ausbildung  ärmerer 
Mädchen  nur  in  einer  Nebenversammlung  beschäftigen  konnte.  Hier  giebt 
es  Arbeit,  hier  ist  unser  Platz,  und  es  wird  hohe  Zeit,  dafs  wir  nicht,  wie 
ehemals  die  aus  der  Verbannung  heimkehrenden  Juden,  in  der  einen  Hand 
den  Hammer  und  in  der  andern  das  Schwert  halten,  sondern  dafs  wir  an- 
fangen können,  friedlich  zu  bauen,  zu  pflanzen,  zu  pflegen.  Der  Arbeit  ist 
viel  und  der  Arbeiter  wenige.  Und  wenn  diese  wenigen  noch  durch  äufsere 
Verhältnisse  abgelenkt  und  durch  unangemessene  Beschäftigung  und  Stellung 
in  ihrer  wesentlich  auf  der  Autorität  sich  aufbauenden  Arbeit  behindert 
werden,  so  vermag  die  Schule  ihre  sozialpädagogischen  Aufgaben  nicht  zu 
lösen  und  der  Lehrer  aufserhalb  der  Schule  nicht  denjenigen  fordernden 
und  Einflufs auszuüben,  den  alle  weiterblickenden  Pädagogen  von  ihm  fordern. 

Hätte  der  achte  deutsche  Lehrertag  auch  nichts  weiter  gethan,  als 
diese  Thatsachen  wiederum  Tausenden  vors  Gewissen  gestellt,  so  könnte 
man  ihn  nicht  als  unfruchtbar  bezeichnen.  Aber  er  hat  auch  mehr  als  das 
geleistet.  Er  hat  in  einem  der  Verhandlungsgegenstände  (die  Aufgaben 
der  Schule  gegenüber  der  sozialen  Frage)  die  nächsten  Ar- 
beiten, in  aller  Nüchternheit  und  Sachlichkeit,  welche  der  Schule  bei  der 
Auflösung  des  grofsen  Fragezeichens  der  Gegenwart  zufallen,  gekenn- 
zeichnet. In  den  Nebenversammlung  en  sind  wichtige  pädagogische 
und  didaktische  Fragen  verhandelt  worden.  Vor  allem  aber  hat  der  natio- 
nale Gedanke  wiederum  einen  wahrhaft  grofsartigen 
Ausdruck  erhalten.  Wenn  der  Schwabe  dem  Mecklenburger,  der 
Bayer  dem  Schleswiger  und  der  Pfälzer  dem  Ostpreufsen  seine  Rechte 
entgegenstreckt  und  alle  sich  eins  wissen  in  der  Arbeit  für  das  Gedeihen 
der  jungen  Generation  im  Reiche,  so  fiiefst  dieser  Geist  von  den  Erziehern 
auf  die  Erzogenen  über,  und  die  deutschen  Lehrertage  haben 
nicht  nur  pädagogische  und  schulpotitische,  sondern  auch  eine  hohe 
nationale  Bedeutung. 


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—    49  - 

Schreitet  die  Schule  vorwärts,  so  wird  auch  von  den  deutschen  Lehrer- 
tagen vieles  verschwinden,  was  den  rein  idealen  Pädagogen  heute  stört. 
Eins  wächst  mit  dem  andern  und  durch  das  andere.  Da(s  das  mit  beiden 
Teilen  geschehe,  das  ist  unser  Wunsch  und  unsere  Hoffnung. 


6.  Verein  für  Herbartische  Pädagogik  in  Rheinland  und 

Westfalen. 

Die  n.  Hauptversammlung  des  Vereins,  zu  welcher  etwa  130  Teil- 
nehmer erschienen  waren,  fand  am  26.  Juli  d.  J.  im  »Deutschen  Kaiser«  zu 
Elberfeld  statt  Der  Verein,  der  sich  zum  gröfsten  Teile  aus  den  Herbart- 
kränzchen des  Bergischen,  des  Märkischen,  des  Niederrheins  und  der  unteren 
Ruhr  zusammensetzt,  unter  denen  er  einen  regen  Austausch  der  Gedanken 
zu  vermitteln  sucht,  ist  in  erfreulichem  Wachstum  begriffen ;  die  Zahl  seiner 
Mitglieder  beträgt  gegenwärtig  235,  und  weitere  Anschlüsse  stehen  noch  zu 
erwarten. 

In  seiner  Bcgrüfsungsrede  wies  der  Vorsitzende,  Herr  Rektor  Horn 
(Orsoys  auf  die  Zeitumstände  hin,  die  gegenwärtig  besonders  die  Hoffnung 
belebten,  dafs  die  Art  der  Herbartischen  Schulauffassung  in  unseren  Schulen 
bald  mehr  Raum  finden  würde  als  seither,  nämlich  t)  die  sozialen  Verhält- 
nisse, welche  die  Schule  als  Erziehungsanstalt  dringend  forderten,  2)  der 
Berliner  Lehrertag,  der  die  Frage  nach  der  Organisation  des  Schulwesens 
in  Flufs  gebracht  habe.  Der  Vortragende  ging  sodann  zu  seinem  eigent- 
lichen Thema  über :  Die  pädagogische  Bedeutung  der  Flügeischen 
Schrift:  Die  Sittenlehre  Jesu.  Aus  seinem  Referate  heben  wir  folgende 
Gedanken  hervor: 

1.  Der  Versuch,  die  ethischen  Lehren  Jesu  als  etwas  Selbständiges  zu 
betrachten,  erregt  bei  manchen  Anstofs.  Wenn  Lotze  im  Mikrokosmus  in 
dem  »dem  religiösen  Leben«  gewidmeten  Abschnitt  sich  anschickt,  die 
Lehre  Jesu  einer  gesonderten  Betrachtung  zu  unterziehen,  so  hebt  er  damit 
an  zu  erklären,  dafs  die  Lehre  der  christlichen  Kirche  es  nicht 
verstattet,  den  Inhalt,  der  durch  Christum  offenbart  ist,  von 
dem  Glauben  an  den  geschichtlichen  Vorgang  zu  trennen.  Worin 
ist  der  Grund  dieser  Abneigung  zu  suchen?  Allerdings  weist  die  Ge- 
schichte Erscheinungen  auf,  die  wohl  von  einer  Trennung  der  verschiedenen 
Sekten  des  sittlich-religiösen  Lebens  warnen  können.  Es  hat  Zeiten  ge- 
geben, wo  das  rationale,  andere,  wo  das  ethische  Element,  andere,  wo  die 

Pädagogische  Studien.    I.  4 


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5o 


Rechtgläubigkeit  so  vorwog,  dals  das  christliche  Leben  schwer  darunter 
litt.  Wir  werden  ebenso  wenig  den  räsonnierenden  oder  den  sittenstrengen 
Rationalismus  als  die  mönchische  Beschaulichkeit  oder  orthodoxe  Recht- 
gläubigkeit als  die  wahre  Darstellung  christlichen  Lebens  anerkennen. 
Daraus  folgt  indes  aber  keineswegs  das  Verbot  jeder  getrennten  Betrachtung. 
Dieses  wird  noch  besonders  daraus  gefolgert,  dafs  man  kurzerhand  die 
Existenz  einer  für  sich  seienden  Sittlichkeit  bestreitet,  wobei  man  sich  auf 
das  Wort  stützt:  >\Vas  nicht  aus  dem  Glauben  kommt,  ist  Sünde.«  Dem- 
gegenüber ist  ein  grofses  Verdienst  Flügels,  dafs  er  nachweist,  dafs  auch 
Jesus  eine  selbständige  Ethik  vorausgesetzt  hat. 

Doch  nicht  nur  eine  gesonderte  Behandlung  der  ethischen  Momente 
ist  zu  fordern,  sondern  ebenso  der  metaphysischen,  der  psychologischen 
und  der  im  engeren  Sinne  religiösen.  Es  entspricht  diese  gesonderte  Be- 
trachtung einem  unabweisbaren  Bedürfnis,  dessen  Vorkommen  die  bedenk- 
lichsten Kolgen  haben  kann.  Nach  der  Natur  unseres  Geisteslebens  können 
wir  gar  nicht  anders,  als  dahin  streben,  das  metaphysische,  ethische, 
psychologische  und  religiöse  Material,  was  uns  durch  Unterweisung  und 
Erfahrung  zukommt,  zusammenzufassen  zu  einem  widerspruchslosen  Ganzen. 
Es  ist  nicht  anzunehmen,  dafs  es  Menschen  giebt,  die  nicht  in  ihrer  Weise 
philosophische  Metaphysik,  Psychologie  und  Ethik  treiben,  die  sich  z.B.  nicht 
Gedanken  machen  über  das  Wesen  Gottes  und  sein  Verhältnis  zu  uns,  über 
den  Einflufs  des  Leibes  auf  die  Seele  und  umgekehrt,  über  ihr  Denken, 
Fühlen,  Wollen  und  seine  Beziehungen,  über  den  Zusammenhang  dessen, 
was  sie  für  recht  und  unrecht  halten.  Wollen  wir  nun  als  Lehrer  diese 
Thätigkcit  in  die  rechte  Bahn  lenken,  so  müssen  wir  1)  selbst  richtige 
metaphysische,  psychologische  etc.  Einsicht  haben  und  2)  die  in  unserm 
Unterricht  vorkommenden  einschlägigen  Elemente  so  behandeln,  wie  dies 
im  Hinblick  auf  ihre  spätere  Verarbeitung  erforderlich  ist.  Man  lernt  die 
einzelnen  Gebiete  aber  nur  kennen  durch  eine  gesonderte  Behandlung. 

2.  Es  läfst  sich  nicht  verkennen,  dafs  die  christliche  Erziehung  in 
unseren  Tagen  es  sehr  nötig  hat,  dafs  ihr  auch  das  von  Jesu  dargestellte 
sittliche  Ideal  ernstlicher  vor  Augen  gestellt  und  ihr  die  Aufgabe,  dem  nach- 
zustreben, ins  Gewissen  geschoben  werde.  Denn  wie  geht's  heute?  Weil 
keiner  ist,  der  Gutes  thut,  auch  nicht  einer,  und  so  keiner  aus  dem  Gesetz 
gerecht  wird,  weil  im  Gegenteil  nach  übereinstimmender  Schriftlehre  vor 
Gott  nur  eine  Gerechtigkeit  aus  dem  Glauben  gilt,  so  bemüht  man  sich, 
die  Anbefohlenen  auf  dem  kürzesten  Wege  zu  Christo,  dem  Heilande,  zu 
bringen.  So  rühmen  sich  Kinder  und  Erwachsene  ihres  Gnadenstandes, 
ohne  auch  nur  eine  Ahnung  davon  zu  haben,  was  es  heifst :  »in  Christi 
Tod  getauft  sein.« 

Für  den  sündigen  Menschen  führt  der  Weg  zu  Gott  durch  die  Bufse; 
der  Wert  der  Bufse  aber  ist  abhängig  von  dem  sittlichen  Ideal,  an  dem  ich 
mich  messe;  und  so  ist  auch  die  Qualität  des  Glaubens  durch  die  Sittlich- 
keit bedingt.  Wie  wir  uns  den  glaubensstarken  Apostel  Paulus  nicht  denken 
können  ohne  den  sittlich  ernst  ringenden  Saulus,  so  auch  nicht  den  Glaubens- 


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-    5i  — 


helden  Luther  ohne  den  mit  Aufbietung  aller  Kraft  nach  Gerechtigkeit 
strebenden  Mönch. 

Wo  das  Gesetz  nicht  als  Zuchtmeister  zu  seinem  Recht  kommt,  da 
erhält  es  auch  nicht  sein  Recht  in  der  Heiligung.  Es  ist  eine  ebenso 
traurige  wie  weitverbreitete  Erscheinung  in  der  Christenheit,  dafs  man  sich 
des  Verdienstes  Christi  in  einer  Weise  tröstet,  als  ob  nun  alle  Verpflichtung 
zum  Ablegen  der  Sünde  aufgehoben  sei.  Der  Tod  ist  nach  dieser  Theorie 
der  rechte  Heiland ;  mit  dem  Leibe  wird  auch  alles  Sündliche  ab-  und  die 
Gerechtigkeit  und  Heiligkeit  Christi  angelegt,  wie  etwa  ein  Kleid  gewechselt 
wird.  Wie  der  Schächer  am  Kreuz  noch  rechtzeitig  die  Gnadenhand  Jesu 
ergriff  und  eingehen  durfte  in  die  ewige  Seligkeit,  so  kommt  es  auch  hier 
für  uns  alle  nur  auf  dieses  Ergreifen  und  Festhalten  an;  das  Christo- ähn- 
lich-werden,  Vollkommensein  wie  der  Vater  im  Himmel,  das  kommt  ohne 
unser  Zuthun,  ist  Gnadengabe. 

Dafs  diese  Anschauung  durchaus  nicht  schriftgemäfs  ist,  bedarf  keines 
Beweises;  sie  ist  nichts  weiter  als  eine  grobe  Selbsttäuschung  und  eine 
Konsequenz  der  Anschauung,  die  auch  ohne  Gesetz  glaubt  zu  Christo 
kommen  zu  können. 

Wer  auf  seine  Mitmenschen  religiös  einwirken  möchte,  der  sollte  dies 
zunächst  sittlich  thun.  Der  gemeinsame  Boden  ist  die  allgemeine  Ethik. 
Deshalb  weist  Zahn  in  seinem  Buche  über  die  natürliche  Moral  darauf 
hin,  dafs  es  nicht  wohlgethan  sei,  dafs  die  christliche  Liebcsthätigkeit  so 
manche  Gebiete  für  sich  in  Anspruch  genommen  hat,  wo  alle,  die  ein  Herz 
für  ihren  Nächsten  haben,  zur  Mithilfe  sollten  eingeladen  werden.  Es  ist 
unverkennbar,  dafs  in  den  letzten  Jahren  das  allgemeine  Urteil  über  die 
christliche  Lebcnsbethätigung,  z.  B.  über  äufsere  und  innere  Mission,  die 
Fürsorge  für  Arme  und  Kranke,  ungleich  freundlicher  geworden  ist,  und  ich 
glaube  nicht  zu  irren,  wenn  ich  die  Veranlassung  hierzu  in  der  stärkeren 
Betonung  des  sittlichen  Moments  bei  Handelnden  wie  Urteilenden  suche. 
Mancher  ist  zu  Christo  gekommen,  weil  er  sah,  dafs  Christus  nicht  nur  der 
schönste  unter  den  Menschenkindern  ist,  sondern  auch  sich  ähnlich  werden 
läfst  die,  so  an  ihn  glauben. 

3.  Die  sich  rasch  folgenden  Lehrbücher  der  systematischen  Zoologie, 
Botanik  etc.  beweisen  deutlich,  dafs  jeder  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  des 
Einzelnen  auch  eine  Änderung  des  Systems  notwendig  macht.  Könnte  es 
nicht  mit  der  philosophischen  Ethik  ähnliche  Bewandtnis  haben?  Die  Ethik 
hat  in  der  Person  Jesu  ein  Ideal,  zu  dem  die  Vergangenheit  kein  Gleiches 
bot  und  die  Zukunft  keines  bieten  wird.  Gelingt  es  ihr,  dieser  Persönlich- 
keit gerecht  zu  werden,  sie  unserem  Verständnis  näher  zu  bringen,  so  be- 
sitzt sie  darin  eine  Legitimation,  wie  ich  sie  nicht  besser  denken  kann. 
Ich  weifs  nicht,  ob  andere  Schulen  den  Versuch  gemacht  haben,  die  Sitten- 
lehre Jesu  übersichtlich  und  zusammenhängend  nach  ihrem  System  darzu- 
stellen; das  aber  kann  ich  sagen,  dafs  mir  die  Lehre  Jesu  durch  Flügels 
Arbeit  verständlicher  geworden  ist. 

Wenn  nun  die  Herbartische  Ethik  auf  rechtem  Wege  ist,  so  kann  es 
für  ihre  Schüler  kein  besseres  Fürderungsmittel  ^eben,  als  *ich  zu  vertiefen 

4* 


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-    52  — 


in  das  schönste  aller  Menschenkinder.  Es  wird  sich  schwerlich  feststellen 
lassen,  wie  weit  H  e  r  b  a  r  t  seine  praktische  Philosophie  aus  der  Betrach- 
tung des  Bildes  Jesu  gewonnen  hat;  wer  aber  in  nachchristlicher  Zeit  sich 
ein  Verständnis  schaffen  will  für  das  religiös-sittliche  Leben,  der  mufs 
zurückkehren  zu  seiner  klassischen  Periode,  und  das  ist  die  Zeit  Christi 
und  der  Apostel. 

Aach  ein  Bedenken  inbezug  auf  die  Vollständigkeit  der  Herbartischen 
Ethik  möchte  ich  nicht  verschweigen.  Die  Religion  ist  nach  Flügels  Buch 
ein  Motiv  der  Sittlichkeit.  Ist  sie  nicht  noch  mehr?  David  betet  um  einen 
freudigen  Geist,  Jesus  spricht  zu  Nikodemus  von  einer  Wiedergeburt  aus 
Wasser  und  Geist,  ohne  die  das  Reich  Gottes  nicht  zu  schauen  und  ohne 
die  nicht  hineinzukommen  ist,  und  er  redet  von  dem  Kommen  des  Geistes, 
der  ihn  verklären  werde.  Das  Wesen  unsers  und  alles  Seins  ist  uns  ver- 
borgen. Sollte  nicht  von  Gott  in  das  ihm  ergebene  Gemüt  eine  erneuernde 
Lebenskraft  ausgehen  können,  die  auch  das  sittliche  Sein  verklärt  und  so 
in  einem  gewissen  Sinn  zu  einem  neuen  Lebensprinzip  wird? 

4.  Noch  eines  speziellen  Dienstes,  den  Flügels  Schrift  zu  leisten  ver- 
mag, will  ich  hier  gedenken.  Es  ist  eine  alte  Streitfrage,  ob  die  in  den 
verschiedenen  Perioden  der  Hcilsgcschichtc  zur  Darstellung  kommende 
sittliche  Anschauung  dieselbe  ist  oder  ob  die  Geschichte  einen  Fortschritt 
oder  endlich  nach  einem  schweren  Rückgang  ein  oft  unterbrochenes  und 
gestörtes  Fortschreiten  aufweise.  Nach  dem  öffentlichen  Recht  schützt 
Unkenntnis  nicht  vor  der  Strafe  bei  Übertretung  eines  Gesetzes,  es  sei 
denn  im  Falle  der  Unzurechnungsfähigkeit.  Sonst  aber  gilt:  AVer  da  weifs, 
Gutes  zu  thun,  und  thut  es  nicht,  dem  ist  es  Sünde.«  Die  verschiedenen 
Verhältnisse,  unter  denen  die  Menschen  aufwachsen,  bedingen  ein  so  ver- 
schiedenes Mafs  der  Bildung  nach  Einsicht  und  Gemüt,  dafs  es  ungerecht 
sein  würde,  sie  alle  nach  demselben  sittlichen  Mafs  messen  zu  wollen.  Be- 
trachten wir  nun  die  verschiedenen  Zeiten  nach  ihrer  Rückwirkung  auf  die 
Sittlichkeit,  schätzen  wir  diese  Rückwirkung  z.  B.  in  der  Patriarchenzeit 
nur  nach  dem  Einflufs,  den  die  Vielweiberei,  die  Hörigkeit,  die  Eigentums- 
verhältnisse haben  mufsten,  so  ist  es  aufser  Frage,  dafs  manches  in  den 
verschiedenen  Zeiten  nicht  das  sittliche  Mifsfailen  auf  sich  ziehen  konnte, 
was  nach  Änderung  der  Verhältnisse  getadelt  werden  mufste. 

Erscheint  es  hiernach  ohne  Frage,  dafs  die  Geschichte  der  ver- 
schiedenen Perioden  verschiedene  Beurteilung  verlangt,  so  glauben  andere 
dennoch  eine  Gleichwertigkeit  annehmen  zu  sollen,  weil  derselbe  Gott  vom 
Anfange  der  Tage  sich  der  Menschen  angenommen  und  ihnen  seinen  Willen 
offenbart  hat. 

Flügel  hat  nun  nachgewiesen,  dafs  Jesus  eine  unabhängige  Ethik 
voraussetzt,  und  darnach  ist  sie  überhaupt  für  die  heilige  Geschichte  an- 
zunehmen. Ist  es  hiernach  richtig,  die  Einzelerscheinungen  aus  ihren  Zeit- 
verhältnissen heraus  sittlich  zu  beurteilen,  so  ist  es  auch  weiter  geboten, 
die  von  Aufsen  kommenden  gesetzlichen  Anordnungen,  ebenso  die  An- 
kündigung von  Lohn  und  Strafe  dementsprechend  zu  behandeln.  Die  Heils- 
geschichtc  ist  eine  Erziehungsgeschichte.    Da  kann  es  nicht  auffallend  er- 


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-     53  — 


scheinen,  dafs  bei  beginnender  besserer  Einsicht  diese  durch  von  aufsen 
kommende  gesetzliche  Anordnungen  unter  Ankündigung  von  Lohn  und 
Strafe  geschützt  wird. 

Wendet  man  bei  der  Schätzung  der  Einzelpersönlichkciten  den  von 
Jesu  in  dem  Gleichnis  von  den  verliehenen  Pfunden  gebrauchten  Mafsstab 
an,  wonach  der  Wert  des  Einzelnen  von  der  bewiesenen  Treue  in  der  Ver- 
wendung der  verliehenen  Gaben  abhängt,  so  ist  es  sehr  wohl  zu  verstehen, 
dafs  Abraham  für  alle  Zeit  als  der  Vater  der  Gläubigen  gepriesen  werden 
kann,  weil  er  durch  vollkommenes  Eingehen  in  den  göttlichen  Willen,  soweit 
er  ihn  nach  dem  damaligen  Stand  der  sittlich-religiösen  Entwickelung 
kennen  konnte,  für  immer  vorbildlich  sein  wird. 

So  handelt  es  sich  also  bei  der  Vorführung  jeder  Persönlichkeit  um 
ein  Doppeltes  :  um  die  sittliche  Beurteilung  des  Thuns  und 
um  ihre  Schätzung.  Bei  der  sittlichen  Beurteilung  wird  immer  das 
Geringere  neben  dem  Vollkommeneren  mifsfallen,  die  Gebrechen  können 
aber  in  der  Schätzung  schwinden,  und  die  Persönlichkeit  kann  trotz  ihrer 
hohen  Wert  haben,  wenn  sich  ihre  Fehler  mit  einer  gewissen  Notwendig- 
keit aus  ihren  Verhältnissen  ergeben. 

5.  Wollte  man  Flügels  Gedanken  verfolgen,  so  müfste  man  nicht  nur 
die  sämtlichen  in  der  Schule  zur  Behandlung  kommenden  Aussprüche  Jesu, 
sondern  auch  die  biblischen  Geschichten  auf  ihre  Zugehörigkeit  zu  den 
fünf  Ideeen  ansehen.  Nicht,  als  ob  hiernach  eine  Einteilung  versucht  werden 
könnte  —  davon  würde  schon  der  Umstand  abmahnen,  dafs  wohl  jede  Ge- 
schichte zu  verschiedenen  Ideen  gestellt  werden  mufstc  —  wohl  aber  könnte 
diese  Gruppierung  gute  Dienste  thun  für  die  Gewinnung  der  Lehre  und 
für  die  Anwendung.  Dem  alten  Zahn  ging  es  in  seinem  Unterricht  immer 
um  die  Sicherheit  in  den  Elementen.  Auch  in  neuerer  Zeit  ist  ernstlich 
darauf  hingewiesen  worden,  dafs  wir  namentlich  im  Religions-Unterrichte 
viel  zu  hohe  Dinge  treiben,  dafs  es  sich  vielmehr  darum  handele,  sichern 
Grund  zu  legen  in  sittlicher  und  religiöser  Beziehung.  Nun  giebt  es  für 
die  Sittenlehre  schwerlich  etwas  Elementareres  als  die  fünf  Ideen;  auf  diese 
immer  hinzuweisen,  sie  zu  vertiefen  und  fest  zu  machen,  sie  ins  Leben 
der  Kinder  einzuführen,  das  erachte  ich  als  unsere  Aufgabe. 

Dafs  man  dabei  nicht  von  der  Idee  der  inneren  Freiheit,  Vollkommen- 
heit reden  darf,  versteht  sich  von  selbst,  Die  Form,  unter  der  sie  ein- 
zuführen wäre,  müfste  gesucht  werden.  Vielleicht  eigneten  sich  dafür  kurz 
gefafste  Lehrsätze.  Alle  Gebiete  des  Gesinnungsunterrichts  müfsten  sich 
übereinstimmend  an  dieser  Arbeit  beteiligen,  und  wie  vom  Religionsunter- 
richte zu  ihnen,  so  müfsten  auch  umgekehrt  von  ihnen  zu  jenem  Brücken 
geschlagen  werden,  wodurch  die  zusammenhängenden  Vorstcllungsmassen 
und  Gefühle  zur  einheitlichen  Wirkung  kämen.  Im  Religionsunterricht 
würde  menschlicher  geredet  werden,  und  bei  profanen  Stoffen  würde  der 
Schüler  durch  die  innigere  Verbindung  den  Eindruck  gewinnen,  dafs  es 
überall  heiliges  Land  giebt,  wo  nur  ernst  religiös-sittliches  Leben  ist. 

Das  Schulleben  ist  ein  ärmliches  Übungsfeld ;  doch  wo  die  Schule  noch 
einen  Schulbezirk  hat  und  eine  lebendige  Beziehung  besteht  zwischen  Schule 


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-  54 


und  Interessentschaft,  da  fehlt  es  nicht  an  reicher  Gelegenheit,  das  Wissen 
immer  wieder  in  Thun  umzusetzen,  die  jugendlichen  Kräfte  anzuleiten, 
nicht  nur  Hörer  des  Wortes  zu  sein,  sondern  auch  Thäter.  — 

Der  sich  an  den  Vortrag  anschliefsenden  mehrstündigen  Besprechung 
lagen  folgende  Leitsätze  zu  Grunde  : 

1)  Das  Buch  bietet  dankenswerte  Anregung,  sich  über  die  verschiede- 
nen Aufgaben  des  Religions-Unterrichts,  namentlich  über  die  religiöse  und 
ethische,  Klarheit  zu  verschaffen. 

2)  Es  zeigt,  dafs  eine  gesonderte  (darum  noch  nicht  abgetrennte»  Be- 
handlung der  ethischen  Momente  im  Religions-Unterricht  notwendig  ist, 
wenn  a)  das  Gesetz  ein  Zuchtmeister  auf  Christum  werden,  b)  die  durch 
Christum  geschehene  Erlösung  die  rechten  Früchte  bringen  soll. 

3)  Wie  die  philosophische  Ethik  dem  Religions-Unterricht  gute  Dienste 
leistet,  so  dient  umgekehrt  der  Reltgions- Unterricht  ihr  als  Probierstein 
und  wesentliches  Förderungsmittel. 

4)  Flügels  Buch  ist  ein  treffliches  Hilfsmittel  für  die  Behandlung  der 
biblischen  Geschichte.  Es  hilft  nicht  nur  zum  Verständnis  der  Geschichten 
aus  den  verschiedenen  Zeitaltern,  es  leistet  auch  guten  Dienst  für  die  Be- 
handlung der  Einzelgeschichte,  namentlich  für  die  Stufe  des  Systems  und 
der  Methode. 

5)  Wie  es  eine  einheitliche  Gestaltung  des  Gesinnungsunterrichts  er- 
leichtert, so  regt  es  zu  der  Frage  an,  ob  es  nicht  wohlgethan  sei,  dieser 
Einheitlichkeit  durch  eine  einheitliche  Terminologie  inbezug  auf  die  sittlichen 
Verhältnisse  Ausdruck  zu  geben.  — 

Für  die  Weihnachts-Konferenz  wurden  Themata  vorgeschlagen  wie: 
Ackermanns  Schrift:  Die  formale  Bildung,  Der  geographische  Unterricht, 
Die  freie  Schulgemeinde,  Die  Rechte  der  Familie  an  der'Schule.  Es  wurde 
dem  Vorstande  überlassen,  das  Nähere  zu  bestimmen. 

Elberfeld.  A.  Lomberg. 


7.  Von  der  Benderschen  Erziehungsanstalt  in  Weinheim 

a.  d.  Bergstrasse. 

Es  wäre  ohne  Zweifel  eine  höchst  interessante  und  äufserst  lohnende 
Arbeit,  zu  zeigen,  welche  Förderung  die  Erziehungswissenschaft  aus  den 
privaten  Erziehungsanstalten  gewonnen  hat.  Reiche  Ausbeute  hierfür  würde 
auch  die  Bendersche  Erziehungsanstalt  in  Weinheim  gewähren, 
welche  seit  dem  Jahre  1829  besteht  und  seit  dem  Jahre  1832  in  einer 
grofsen  Anzahl  von  Programmen  Zeugnis  ablegte  von  dem  gesunden,  reichen 
Leben,  das  in  der  Anstalt  herrschte  und  für  die  Entwicklung  der  Pädagogik 


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-    55  - 


von  Bedeutung  wurde.   Wir  erinnern  nur  an  die  Namen  Finger,  Frese- 
nius, Stoy  und  zählen  folgende  Programmarbeiten  auf: 
Finger,  Ober  die  Elementarklassc.  1837. 

Ober  geometrischen  Unterricht.  1839. 
Über  naturgeschichtlichen  Unterricht.  1844. 
Stoy,  Über  deutschen  Sprachunterricht  in  den  ersten  6  Jahren.  1842. 
Fresenius,  Über  mathemathischen  Unterricht.  1847. 

Unsere  Einführung  in  den  geographischen  Unterricht.  1850. 
K.  Bender,  Ober  das  Turnen.  1838. 

Über  das  Reisen  der  Knaben.  1845. 

Unsere  Reise  im  Sommer  1859. 
H.  Bender,  Über  das  Arbeiten  der  Knaben  in  der  Werkstätte.  1846. 
Gilbert,  Zwei  Winterabende  in  der  Anstalt.    1849.  \ 
Langsdorff,  Bilder  von  unserer  Reise  in  den  Harz.  1851. 
Birnbaum,  Über  Zeichenunterricht.    1857  etc. 


8.  Aus  ^Lichtenbergs  ausgewählten  Schriften". 

(Leipzig,  Reclam). 

»Es  war  eine  Zeit  in  Rom,  da  man  die  Fische  besser  erzog,  als  die 
Kinder.  Wir  erziehen  die  Pferde  besser.  Es  ist  doch  seltsam  genug,  dafs 
der  Mann,  der  am  Hofe  die  Pferde  zureitet,  Tausende  von  Thalern  zur  Be- 
soldung hat,  und  die,  die  demselben  die  Unterthanen  zureiten,  die  Schul- 
meister, hungern  müfsen.«  —  (S.  204). 

»Er  hielt  sehr  viel  vom  Lernen  auf  der  Stube  und  war  also  gänzlich 
für  die  gelehrte  Stallfütterung.«    (S.  193). 

»Er  kann  die  Tinte  nicht  halten,  und  wenn  es  ihm  ankommt,  jemand 
zu  besudeln,  so  besudelt  er  sich  gemeiniglich  am  meisten.«    (S.  192). 

»Unter  die  gröfsten  Entdeckungen,  auf  die  der  menschliche  Verstand 
in  den  neuesten  Zeiten  gefallen  ist,  gehört  meiner  Meinung  nach  wohl  die 
Kunst  Bücher  zu  beurteilen,  ohne  sie  gelesen  zu  haben.«    (S.  191). 

»In  jedes  Menschen  Charakter  sitzt  etwas,  das  sich  nicht  brechen  läfst, 
das  Knochengebäude  des  Charakters;  und  dieses  ändern  wollen,  heifst 
immer,  ein  Schaf  das  Apporticren  lehren.«    (S.  94). 

»Der  allzuschnelle  Zuwachs  an  Kenntnissen,  der  mit  zu  wenigem 
eigenen  Zuthun  erhalten  wird,  ist  nicht  »ehr  fruchtbar.  Die  Gelehrsamkeit 
kann  auch  ins  Laub  treiben,  ohne  Früchte  zu  tragen.  Man  findet  oft  sehr 
seichte  Köpfe,  die  zum  Erstaunen  viel  wissen.   Was  man  sich  selbst  er- 


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finden  mufs,  läfst  im  Verstände  die  Bahn  zurück,  die  auch  bei  einer  andern 
Gelegenheit  gebraucht  werden  kann.«    (S.  44). 

»Man  sollte  doch  unterscheiden  lernen  zwischen  dem,  was  ein  Mann 
selbst  gedacht  hat,  und  dem,  was  einer  abschreibt.«    (S.  17). 


9.  Die  Unterrichtsverfassung  der  preussischen  Gymnasien 

vom  12.  Januar  1816. 


VI. 

IV. 

III. 

II. 

I. 

i  Jahr 

i  Jahr  j 

i  Jahr 

>  Jahre 

a  Jahre 

3  Jahns. 

1. 

2 

2  I 

;  . 

2 

2 

2 

2. 

6 

6  1 

4 

4 

4 

4 

3- 

6 

6    '!  8 

8 

8 

8 

4- 

-    :  5 

5 

7 

7 

s. 

Geschichte  und  Erdkunde  .  . 

3 

3 

3 

3 

3 

3 

(Erdk.)  (Geich.) 

i 

6. 

Mathematik  und  Rechnen  .  . 

6 

6 

6 

6 

6 

6 

7- 

Naturwissenschaften  .... 

2 

2 

J  2 

2 

2 

2 

8. 

3 

3  1 

I  2 

2 

9- 

Schreiben  

4 

4  i  - 

1 

Im  ganzen 

32 

32 

32 

32 

32 

32 

Damit  wolle  man  die  Lehrpläne  vom  Jahre  1882  vergleichen!  — 


10.  Selbstanzeige. 

Der  Religionsunterricht  auf  der  Oberstufe  der  Volks- 
schule. Präparationen  nach  psychologischer  Methode  von  Dr.  Thrändorf. 
i.  Teil:  Das  Leben  Jesu  und  der  zweite  Artikel.  Dresden.  Bleyl 
und  Kämmerer.  1890. 

Darf  man  bis  ins  Einzelne  ausgeführte  Präparationen  veröffentlichen?  — 
Ich  selber  habe  früher  die  Frage  einfach  mit  Nein  beantwortet,  aber  die 
Beobachtungen  an  der  Übungschule  haben  mich  nach  und  nach  auf  andere 


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-    57  - 


Gedanken  gebracht.  Wenn  unsre  jungen  Leute  das  Seminar  verlassen,  so 
sehen  sie  sich  mit  einem  Male  in  die  Notwendigkeit  versetzt  in  den  ver- 
schiedensten Fächern  des  Volksschulunterrichtes  zugleich  praktisch  thätig 
zu  sein,  da  ist  es  denn  bei  32  und  mehr  Stunden  in  der  Woche  fast  un- 
möglich, dafs  sie  sich  mit  einem  Schlage  für  alle  Unterrichtsstunden  gründ- 
lich durchdachte  methodische  Praparationen  schaffen  können.  Jeder  der 
länger  im  Amte  steht  und  es  mit  seinem  Berufe  ernst  nimmt  weifs,  wie 
lange  es  dauert,  bis  man  seinen  Präparationen  die  Form  gegeben  hat,  die  das 
pädagogische  Gewissen  einigermafsen  befriedigt,  sollen  nun  unsre  jungen 
Kollegen  immer  wieder  von  vorn  anfangen  und  mit  ihren  Klassen  dasselbe 
Lehrgeld  zahlen,  was  wir  zahlen  mufsten?  Ich  dächte  schon  die  Rücksicht 
auf  die  Kinder  legte  uns  die  Pflicht  auf,  dem  nachwachsenden  Lehrer- 
geschlecht möglichst  bald  zu  einer  gesunden  Praxis  zu  verhelfen.  Aber,  wirft 
man  mir  vor,  der  Faule  wird  deine  Präparationen  als  Ruhcpolster  benutzen 
und  auf  eigenes  Streben  verzichten.  Hier  möchte  ich  mit  einer  Gegen- 
frage antworten:  Was  wird  denn  der  Denkfaule  ohne  solche  Präparationen 
machen?  —  Ich  fürchte,  er  wird  sich  sehr  bald  mit  sehr  unvollkommenen 
Präparationsentwürfen  begnügen  und  den  Schaden  trafen  die  Kinder.  Das 
gestehe  ich  offen:  Mir  graut  bei  dem  Gedanken,  dafs  mein  Buch  in  die 
Hände  solcher  Mietlinge  kommen  sollte,  die  da  meinen,  nun  sei  ihnen  die 
Arbeit  abgenommen.  Ich  bin  aber  der  guten  Zuversicht,  dals  der  bei 
weitem  gröfstc  Teil  derer,  die  mein  Buch  benutzen  werden  mich  nur  als 
Mitarbeiter  oder  Handlanger  ansehen  wird,  der  einen  Teil  der  Arbeit  ab- 
nimmt, damit  der  andere  Teil  um  so  besser  gethan  werden  kann.  Dieser 
andere  wichtigste  Teil  besteht  in  der  Anpassung  an  die  individuellen  Ver- 
hältnisse der  Schule,  in  der  der  betreffende  Kollege  arbeitet. 

Dals  ich  das,  was  etwa  Gutes  an  meinen  Präparationen  ist,  den  beiden 
Meistern  Herbart  und  Zillcr  verdanke,  brauche  ich  den  Lesern  dieser  Zeit- 
schrift wohl  nicht  besonders  zu  versichern.  Die  höchst  verdienstlichen 
Arbeiten  des  Herrn  Direktor  Staude  verdrängen  zu  wollen  ist  mir  nicht  in 
den  Sinn  gekommen,  vielmehr  würde  ich  es  am  liebsten  sehen,  wenn  man 
meine  Präparationen  neben  den  Staudeschen  benutzte,  denn  so  wäre  der 
Benutzende  am  besten  vor  Einseitigkeiten  bewahrt.  Der  Unterschied 
zwischen  uns  beiden  besteht  darin,  dafs  ich  aus  meinen  Einheiten  auf 
Grund  des  2.  Artikels  und  der  Lutherschen  Erklärung  einen  speziali- 
sierten Katechismus  herausgearbeitet  habe.  Aufscrdem  bin  ich  in  der 
methodischen  Handreichung  etwas  weiter  gegangen,  in  dem  ich  nicht 
nur  die  Hauptfragen  (Konzentrationsfragen),  sondern  auch  eine  ziem- 
liche Menge  von  Spezialfragen  angegeben  habe.  Das  möchte  ich  nicht 
so  verstanden  wissen,  als  ob  diese  Spezialfragen  stets  in  dieser  Weise  ge- 
stellt werden  müfsten,  vielmehr  wünschte  ich,  dafs  immer  zunächst  eine 
Gesamtantwort  auf  die  Hauptfrage  vom  Schüler  gefordert  wird,  an  die  der 
Unterricht  dann  berichtigend  und  weiterführend  anzuknüpfen  hat.  Erst 
wenn  diese  Antwort  auf  die  Hauptfrage  ausbleibt,  und  das  wird  bei  Schülern, 
die  früher  katechetisch  unterrichtet  wurden,  anfangs  häufig  geschehen  — 
erst  dann  sind  diese  Spezialfragen  anzuwenden. 


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-    58  - 

Dafs  meinem  Versuche  schon  deshalb,  weil  er  in  dieser  Form  der 
erste  ist,  noch  viele  Mängel  anhaften  werden,  glaube  ich  wohl,  ich  hoffe 
aber,  dafs  eine  gründliche  und  sachliche  Kritik  mich  in  die  Lage  setzen 
wird,  es  künftig  besser  machen  zu  können.  Ob  ich  den  Lehrern  mit 
meiner  Veröffentlichung  einen  Dienst  erw  iesen  habe  mögen  die  entscheiden, 
die  mein  Buch  in  der  Praxis  benutzt  haben. 

Dr.  Thrändorl. 


C.  Beurteilungen. 


L 

Otto  Fischer,  Leben,  Schriften  und 
Bedeutung  der  wichtigsten  Päda- 
gogen bis  zum  Tode  Pestalozzis 
übersichtlich  dargestellt.  Ein  Lern- 
buch für  Examinanden.  Gütersloh, 
C.  Bertelsmann  1889.  8".  VII.  219  S. 
Pr.  3  M. 

Vorliegende  Schrift  soll  das  Studium 
des  pädagogischen  Schrifttums, 
namentlich  vom  Jahre  1500  ab,  er- 
leichtern. Demgcmäfs  hat  der  Ver- 
fasser versucht,  »möglichst  genaue 
Gliederungen  der  pädagogischen 
Schriften,  eine  zusammenhängende, 
gedrängte  Darstellung  ihrer  Kernge- 
danken und  meist  auch  einige  Hin- 
weise auf  ihren  Wert  zu  geben.  > 
Dies  seien  die  Momente,  welche  bei 
pädagogischen  Prüfungen  mit  zu 
den  Hauptforderungen  gehörten. 
Zur  Erlangung  der  'Sicherheit  im 
Wissen«  soll  das  vorliegende  Buch 
als  Hilfsmittel  dienen,  und  der  Ver- 
fasser glaubt,  damit  einem  thatsäch- 
lich  gefühltem  Bedürfnisse  entgegen- 
zukommen. Wir  unsererseits  können 
dieses  Bedürfnis  nicht  anerkennen. 
Denn  abgesehen  davon,  dafs  zu  dem 
vom  V  erfasser  angeführten  Zwecke 
verschiedene  Hilfsmittel  existieren, 
sind  wir  der  Ansicht,  dafs  nur  die 
selbst  erarbeiteten  Gliederungen  und 
Inhaltsangaben  wirklichen  Wert  be- 
sitzen.   So  liegt  die  Gefahr  nahe, 


dafs  die  in  gutem  Glauben  unter- 
nommene Darstellung,  hauptsächlich 
da  sie  sehr  weitläufig  angelegt  ist, 
einer  bequemeren  Vorbereitung  auf 
die  Examina  Vorschub  leistet  und 
zu  einein  Wissen  verhilft,  das  nicht 
länger  vorhält,  als  die  Prüfung  dauert. 

Wir  geben  in  nachstehendem  zu- 
nächst eine  Gliederung  des  Buches. 
Vorausgeschickt  sind  einige  einlei- 
tende Bemerkungen  über  die  Be- 
deutung der  historischen  Pädagogik. 
Hie:  wären  eher  einige  Worte  über 
Begriff,  Auffassung  und  Litteratur, 
sodann  auch  über  die  Quellen  der 
Geschichte  der  Pädagogik  am  Platze 
gewesen. 

Der  1.  Hauptteil  (S.  2—28)  ist  dem 
Erziehungs-  und  Unterrichtswesen 
vor  Christus  gewidmet,  während  der 
2.  umfangreichere  (S.  29 — 216)  die 
Zeit  nach  Christus  umfafst 

Vor  Christus:  A  Die  Pädagogik 
des  Heidentums. 

1.  DicGriechcn:  Die  dorische 
Erziehung  in  Sparta  —  die 
jonische  Erziehung  in  Athen  — 
berühmte  griechische  Pädagogen 
(Pythagoras,  Sokratcs,  Plato, 
Aristoteles) 

2.  Die  Römer:  Das  Familien- 
leben das  Schulwesen  —  be- 
rühmte römische  Pädagogen 
tSeneca,  Quintilian). 

y  Die  alten  Deutschen: 
das  Familienleben. 


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-    59  — 


B.  Die  Pädagogik  des  Judentums. 

Nach  Christus:  A.  Die  Zeit  von 
Christus  bis  auf  Luther. 

I  Die  altchristliche  Päda- 
gogik (bis  zu  Kar!  d.  Gr.): 
Jesus  Christus  die  Apostel  — 
die  Schulen  in  den  ersten  christ- 
lichen Jahrhunderten  —  Basilius 
d.  Gr.--  Chrysostomus  Hiero- 
nymus —  Augustin  —  Kloster- 
schulcn  —  Kirchenschulen. 

II.  Die  Pädagogik  des  Mittel- 
alters (von  Karl  d.  Gr.  bis 
Luther) : 

Karl  der  Grofse  —  Alkuin 
Hrabanus  Maurus  —  das  Schul- 
wesen   im  nachkarolingischen 
Mittelalter. 
B.  Die  Zeit  von  Luther  bis  jetzt: 

I.  Luther  tS.  46—50;  —  Mclanch- 
thon  —  Bugenhagen  —  Zwingli 

—  Calvin  —  Trotzendorf  -  Sturm 

—  Die  Jesuiten  (S.  57  —  60)  — 
Baco  —  Ratkc  (S.  62—71)  — 
Comenius  (S.  71—91)  —  Herzog 
Ernst  der  Fromme  —  Spener  — 
Francke  —  Fönclon  (S.  101  — 106). 

II.  John  Locke  i'S.  106 — 1091  — 
Rousseau  (S.  109—121)  —  Base- 
dow (S.  122— 130)  Salzmann  13« 
bis  144}  —  Campe  —  Rochow 
(S.  147—  154)  —  Pestalozzi  (S.  154 
bis  2i  6). 

Warum  das  Buch  gerade  mit  Pesta- 
lozzi abschliefst,  ist  uns  unerklärlich. 
Es  ist  dies,  wie  es  scheint,  dieselbe 
Schrulle  mit  der  Wilhelm  Schcrer 
seine  Geschichte  der  deutschen  Lit- 
teratur  mit  Goethe  abgeschlossen 
hatte. 

Unstreitig  die  schwächste  Partei 
des  Buches  ist  die  Darstellung  der 
Zeit  vor  Luther.  Ungenaue  Angaben, 
veraltete  Anschauungen,  die  sich 
zumteil  längst  als  Sagen  und  Mythen 
erwiesen  haben,  u.  dgl.  lassen  ver- 
muten, dafs  sich  der  Verfasser  ganz 
im  Fahrwasser  der  Geschichts- 
schreiber der  Pädagogik  alten  Styls 
bewege.  Das  Todesjahr  des  Pytha- 
goras  z  B  ist  falsch  bestimmt;  er 
starb  nicht  470  v.  Chr.  sondern  etwa 
505—495  v.  Chr.  Weiter  bringt  der 
Verfasser  noch  die  durch  nichts  auf- 
recht zu  erhaltende  Vermutung  grofser 
Reisen  des  Pythagoras  nach  dem 
Orient  als  Thatsache.  Desgleichen 


ist  ihm  der  pythagoräische  Bund 
»eine  dorisch-aristokratische  Gesell- 
schaft« ;  diese  kurze  Bezeichnung 
könnte  die  irrtümliche  Auffassung 
des  pyth.  Bundes  als  eines  rein  poli- 
tischen Vereines  zur  Folge  haben; 
vielmehr  ist  er  zunächst  durch  die 
ethisch  reformatorische  Tendenz  ge- 
kennzeichnet; dafs  er  dann  auch  zur 
politischen  Reform  hinneigte,  erklärt 
sich  zur  Genüge  aus  der  damaligen 
Zeitlage. 

Auch  die  Darstellung  der  plato- 
nischen und  aristotelischen  Lehren 
zeigt  manche  Unklarheiten  und 
Mängel.  Bei  Aristoteles  wird  unter 
den  Lehrfächern  die  Musik  vermifst. 
Gerade  über  sie  ergeht  sich  Aristo- 
teles sehr  ausführlich.  Hätte  der 
Verfasser  auf  diesen  Punkt  mehr 
Gewicht  gelegt,  so  wäre  ihm  die 
schiefe  Behauptung  (S.  iS),  dafs  die 
griechische  Erziehung  dii  Herzens- 
bildung vernachlässigt  habe,  nicht 
unterlaufen  Dort  (Pol.  VIII,  5.  7), 
wo  Aristoteles  von  der  vierfachen 
Bestimmung  der  Musik  redet,  er- 
wähnt er  ihren  Einflufs  auf  Gemüt 
und  Charakter:  sie  erzeugt  das  \  !hi$ 
noutv,  sie  dient  zur  »Reinigung« 
(/M^ciQtft^).  Auch  die  tiefe  Einsicht 
des  Aristoteles  in  das  Wesen  der 
Erziehung,  die  sich  darin  ausspricht, 
dafs  Kunst  und  Bildung  das  der 
Natur  Mangelnde  ( T<)  uooiü.ü  t  ov 
11^  rpt'oeitg)  ergänzen  solle,  durfte 
sich  der  Verfasser  nicht  entgehen 
lassen. 

Auch  die  Sophisten  erfahren  eine 
nicht  genügend  objektive  Beurteilung. 
Dem  .^i'uvixov  %{)tlu(in.oi1  }n-f^>v 

üvÜ-Qio.i  (V  folgt  die  recht  unglück- 
liche Erläuterung-  »Hiermit  meinten 
sie  jedoch  nicht  das  allgemeine 
Wesen  des  Menschen,  sondern  seine 
subjektive  Meinung.«  Auch  die  Be- 
hauptung, dafs  sie  auf  die  griechische 
Erziehung  höchst  verderblich  ein- 
gewirkt hätten,  dürfte  nicht  so  ganz 
zutreffend  sein.  Sie  haben  im  Gegen- 
teil ein  nicht  geringes  Verdienst  an 
dem  Stande  der  allgemeinen  Bildung 
in  Athen,  indem  sie  »oinc  Fülle  all- 
gemeinen Wissens  unter  das  Volk 
geworfen«,  eine  Reihe  sprachwissen- 


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6o  - 


schaftlicher  Untersuchungen  be- 
gründet und  das  allgemeine  Interesse 
für  viele  wichtige  Fragen  erregt 
haben. 

In  der  Darstellung  der  Quintilian- 
schen  Pädagogik  findet  sich  der  Satz: 
»Ziel  der  Erziehung  ist  der  gute 
Redner«  (!). 

Je  näher  wir  der  Neuzeit  kommen, 
desto  mehr  läfst  sich  ein  Zurück- 
gehen auf  die  Oucllenschriftcn  er- 
kennen. Einzelne  Kapitel,  z  B.  über 
Ratke  und  Comcnius  sind  mit  grofser 
Umsicht  bearbeitet. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  über 
die  jedes  Kapitel  beschliefscnden 
»Beurteilungen«.  Abgesehen  davon, 
dafs  sie  mitunter  mit  der  syste- 
matischen Darstellung  der  Haupt- 
gedanken in  keinem  Zusammenhange 
stehen,  zeigen  sie  so  recht,  wie 
wenig  geeignet  der  fast  katechismus- 
artige Vortrag  einer  historischen 
Materie  ist  Indem  dieses  Zwitter- 
ding zwischen  Lehrbuch  und  Repe- 
titorium  das  Fazit  mit  den  Kate- 
gorien »Vorzüge«  und  »Mängel«  zieht, 
thut  es  bisweilen  den  pädagogischen 
Lehren  Gewalt  an;  so  bezeichnet 
die  »Beurteilung«  Salzmanns  als 
»Mangel«:  »Speziellen  Unterricht  in 
der  christlichen  Religion  ver- 
langte er  erst  nach  dem  12.  Jahre 
des  Jünglings.«  — 

H  J.  Eisenhofer. 
II 

Die Kant-Herbartsche Ethik.  Kritische 
Studicvon  Fr. W.O. Krause,  Gotha. 
Thienemanns  Hofbuchhand- 
lung. 1889.  1,80  M. 

Die  vorliegende  Schrift  zerfallt  in 
fünf  Abschnitte.  In  den  vier  ersten 
Kapiteln  liefert  der  Verf.  eine  Dar- 
stellung und  Kritik  der  Ethik  Kants 
und  Herbarts.  Im  letzten  Teile 
(S.  131  —  1 58)  will  er  »bezüglich  des 
Aufbaues  eines  Systems  der  Ethik 
positive  Aufstellungen  zum  Vorschlag 
bringen.«  Sein  Endurteil  über  die 
Ethik  Herbarts  lautet  (S.  128): 
»F.inc  leicht  und  sicher  verwend- 
bare Bestimmung  des  Guten  mufs 
zweifellos 

1.  so  klar  und  einfach  sein, 
dafs  sie  von  jedem  Menschen  ver- 


standen werden  kann,  auch  von  dem 
auf  niedriger  Stufe  geistigen  Er- 
kennens stehenden, 

2.  mit  den  wirklichen  und 
realen  Verhältnissen  des 
Lebens  rechnen  und  darf  sich 
nichts  für  ihre  Zwecke  gerade  Pas- 
sendes konstruieren.  Nach  meiner 
Überzeugung  aber  leistet  die 
Herbartschc  Bestimmung  des 
Guten  weder  das  eine  noch 
das  andere,  und  deshalb  kann 
ich  sie  nicht  für  die  richtige 
halten.«  Wir  beschränken  uns 
dein  gegenüber  auf  die  Bemerkung, 
dafs  He  rba  rteinc  philosophische 
Ethik  schreiben  wollte,  dafs  kein 
Verständiger  ihm  das  Recht  dazu 
bestreiten  wird,  dafs  demnach  selbst- 
verständlich nicht  jeder  Mensch  ihn 
verstehen  kann,  dafs  endlich  seine 
Ethik  in  ihrer  Anwendung  auf  die 
»wirklichen  und  realen  Verhältnisse 
des  Lebens«  zu  den  fruchtbarsten 
Resultaten  führt.  Wenden  wir  uns 
nunmehr  zueiner kurzen  Besprechung 
der  »positiven  Aufstellungen«  des 
Verfassers. 

Der  Verfasser  hält  es  für  unum- 
stöfslich  sicher,  dafs  seit  Kant  ein 
Fortschritt  auf  dem  Gebiete  der 
Ethik  nur  insofern  noch  eintreten 
kann,  als  klar  und  bestimmt,  vor 
allem  aber  unanfechtbar  die 
Frage  beantwortet  wird:  »Welcher 
Wille  ist  der  gute5«  In  der  »Freu- 
digkeit vollständiger  Überzeugung« 
giebt  er  die  Antwort  kurz  dahin : 
»Der  freie  vernünftige  Wille 
ist  der  gute.«  Er  will  nur  diesen 
Satz  erläutern  und  begründen,  indem 
er  erstens  untersucht,  welchem 
Willen  diePrädikate  »frei«  und 
»vernünftig«  zuerkannt  werden 
müssen,  und  zweitens  den  Nach- 
weis führt,  dafs  der  so  und  so 
bestimmte  freie  und  vernünf- 
tige Wille  auch  wirklich  der 
gute  sei. 

Welchem  Willen  also  müssen  die 
Prädikate  »frei«  und  »vernünftig« 
zuerkannt  werden?  Der  Verfasser 
sagt  (S.  132):  »Der  Mensch  ist  ein 
Doppelwesen,  halb  Tier,  halb  Engel;« 
»zwei  Seelen  wohnen  in  seiner 
Brust;«  er  sieht  »ein  anderes  Gesetz 


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—    6i  - 


in  seinen  Gliedern,  das  da  wider- 
streitet dem  Gesetze  in  seinem  Gc- 
müte«.  .  .  .  >Als  Basis  für  meine 
Gedankenentwicklung  stelle  ich 
darum  den  nicht  zu  bestreiten- 
den, weil  von  der  Erfahrung  ge- 
gebenen und  durch  sie  getragenen, 
alseine  allgemeine  Thatsache 
des  menschlichen  Bewufstseins  auch 
allgemein  giltigen  Grundsatz  auf, 
dafs  sich  am  Menschen  zwei 
in  vollkommenem  Gegensatz 
stehende,  nie  in  einander  über- 
gehende und  deshalb  deutlich 
trennbare  Seiten  unter- 
scheiden lassen.  Nach  dereinen 
Seite  gehört  der  Mensch  der  natür- 
lichen, nach  der  andern  der 
geistigen,  der  intelligenten  Welt 
an.  In  der  znvörderst  genannten 
Welt  herrscht  der  Zwang,  in  der 
andern  die  Freiheit.«  Obgleich  der 
Verfasser  seinen  »Grundsatz«  für 
einen  nichtzube  streiten  den 
hält,  müssen  wir  ihm  doch  schon 
hier  w  idersprechen.  Eine  allge- 
meine Thatsache  ist  der  Gegen- 
satz zweier  Naturen  im  Menschen 
durchaus  nicht.  Was  weifs  ein  un- 
schuldiges Kind  von  dem  Gesetze 
in  seinen  Gliedern,  das  da  wider- 
streitet dem  Gesetze  in  seinem  Ge- 
müte?  Nichts,  schlechterdings  gar 
nichts.  Sorglos  und  unbekümmert, 
nicht  berührt  von  der  leisesten 
Ahnung  eines  Widerstreits  der  beiden 
Seelen,  die  in  Fausts  Brust  wohnen, 
lebt  es  in  glücklicher  Harmonie  mit 
sich  selbst  dahin.  Kinder  sind  doch 
aber  auch  Menschen  sozusagen  ; 
und  wer  wollte  behaupten,  dafs  alle 
erwachsenen  Menschen  (die  Wilden 
nicht  zu  vergessen !)  den  Kampf 
zwischen  Pflicht  und  Neigung,  idealem 
Wollen  und  Naturtrieb  aus  eigener 
Erfahrung  kennen  ?Die  »zwei  Seelen« 
sind  nicht  eine  ursprüngliche  Mitgift 
der  menschlichen  Natur,  sondern  ein 
Ergebnis  der  Erziehung  und  Bildung  ; 
wäre  die  Erziehung  allmächtig,  so 
würden  unsere  Zöglinge  wie  mit 
Faust  ausrufen :  »Zwei  Seelen  wohnen, 
ach!  in  meiner  Brust!«  Und  inwie- 
fern stehen  dann  die  geistige 
(intelligente)  und  die  natürliche 
Welt  in  vollkommenem  Gegen- 
satze  zu  einander!    Herrscht  im 


Gebiete  des  Geistes  schranken- 
lose Freiheit,  vollkom- 
mene Willkür?  Vollziehen  sich 
die  geistigen  Vorgänge  nicht  auch 
nach  bestimmten  Gesetzen? 
Können  wir  denken,  fühlen,  wollen, 
was  wir  wollen?  So  gar  fest 
scheint  uns  demnach  die  Basis 
der  Gedankenentwiklung  des  Ver- 
fassers nicht  gerade  zu  sein.  Doch 
hören  wir  ihn  weiter. 

»Beide  Welten  bemühen  sich,  dem 
Menschen  für  sein  Entschliefsen  und 
Thun  Anstofs  und  Richtungsangabe 
zu  erteilen.  Je  nachdem  nun  die 
Bemühung  der  einen  oder  der  andern 
von  Erfolg  begleitet  ist ,  befindet 
sich  der  Mensch  entweder  im  Zu- 
stande des  Gebundenseins  an 
die  Natur  oder  in  dem  der 
inneren  Freiheit....  dem 
Menschen  ist  die  Möglichkeit  gegeben, 
sich  über  die  Natur  zu  erheben, 
sich  selbst  zu  bestimmen  .  .  .  Dieser 
Zustand  des  Gelöstseins  vom  Natur- 
zwange, dieser  Zustand  des  durch- 
sich-sclbst-bestimmt-seins  ist  die 
innere  Freiheit.  S.  133.  135. 
Der  Verfasser  meint,  sein  Begriff  der 
inneren  Freiheit  stimme  überein  mit 
der  ersten  praktischen  IdeeHcr- 
barts;  das  ist  aber  ein  Irrtum. 
Mit  der  Beherrschung  der  natür- 
lichen Begierden  allein  ist  es  nicht 
gethan,  es  kommt  auf  die  Motive 
an,  durch  wrlchc  das  Streben  nach 
der  Zügelung  derselben  bestimmt 
wird.  Bei  H  e  r  b  a  r  t  geht  dies  Be- 
streben aus  dem  Entschlufs  hervor, 
der  besten  Einsichtgcmäfs 
zu  leben,  und  darum  ist  die  innere 
Freiheit,  die  er  im  Auge  hat,  eine 
Tugend.  Der  Verfasser  aber 
übersieht,  dafs  man  auch  aus  selbst- 
süchtigen ,  verwerflichen  Beweg- 
gründen seine  Begierden  im 
Zaume  halten  und  sich  selbst  be- 
herrschen kann.  Der  Ausdruck 
»innere  Freiheit«  bezeichnet  bei 
ihm  nur  eine  psychologische 
Fähigkeit,  die  als  solche  noch 
keine  Würde  für  sich  beanspruchen 
darf.  Wer  im  stände  ist,  sich  selbst 
zu  beherrschen,  braucht  deshalb 
nicht  gut  zu  sein,  sondern  kann  sich 
nach  ethischer  kücksicht  in 
einem  Zustande  grofscr  Unfrei- 


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—     62  — 


heit  befinden.«  (Vgl.  Allihn,  Allg. 
Ethik.  S.  97  ff). 

Der  Verlasser  fährt  fort  (S.  136): 
>Das  Etwas,  welches  die  innere 
Freiheit  in  die  Wirklichkeit  treten 
läfst,  ist  der  Wille.  Eine  weit- 
läufige Erörterung  darüber,  was  der 
Wille  sei,  ist  hier  nicht  an  der  Stelle. 
Kurz  sei  folgendes  gesagt:  Ich  kann 
nicht,  wie  die  Herbartianer  es 
thun,  den  Willen  für  eine  A  r  t  des 
Begehrens  halten,  nämlich  für 
eine  solche,  die  z  u  r  Bethätigung 
strebt.  Nach  meiner  Auffassung 
zeigt  jede  Vorstellung,  die  zum  Be- 
gehren wird,  das  Streben  zur  That 
hin.  Das  aber,  was  aus  dem  Menschen 
heraus  unter  Umständen  das  Be- 
gehren hindert,  zur  That  zu  werden, 
ist  eben  der  Wille.  Dieser  — 
begehrt  nichts  und  —  hat 
nichts  Gleichartiges  mit 
dem  Begehren.«  Dafs  die  »Her- 
bartianer« den  Willen  für  eine  Art 
des  Begehrens  halten,  ist 
richtig ;  allein  welcher  Herbartianer 
erblickt  die  Eigenart  des  Willens  in 
der  Thatsache,  dafs  derselbe  zur 
Bethätigung  strebt?  Welcher 
Herbartianer  hat  jemals  in  voll- 
ständiger Verkennung  der  allerersten 
Anfangsgründe  jeder  Theorie  des 
Begehrens  vergessen,  dafs  jede  Be- 
gierde zur  >  Bethätigung«  strebt,  dafs 
also  dies  »zur  Bethätigung  streben« 
unmöglich  das  unterscheidende  Kenn- 
zeichen des  Willens  sein  kann  ?  So 
viel  uns  bekannt  ist,  erklären  alte 
»Herbartianer«  der  Willen  für  ein 
Bekehren,  welches  mit  der  Vor- 
aussetzung der  Erreich- 
barkeit des  Begehrtensich 
verbindet.  Wie  lauten  doch  die 
klassischen  Worte  Herbarts  in 
der  Allg.  Pädagogik  ?  »Eine  Aufregung 
ohne  Bestimmtheit,  ein  blofses  Sich 
-  Hinneigen  zu  einem  Gegenstande, 
ohne  die  Voraussetzung,  man 
werde  ihn  erreichen,  mag  Begierde 
heifsen,  oder  Verlangen.  Wer  da 
spricht :  Ich  will  !-dcr  hat  sich  des 
Künftigen  in  Gedanken  schon  be- 
mächtigt; er  sieht  sich  schon  voll- 
bringend, besitzend,  geniefsend. 
Zeigt  ihm,  dafs  er  nicht  könne- 
er  will  schon  nicht  mehr,  indem  er 
auch  versteht.«    (Vgl.  Herbart. 


W.  X.  S.  127).  Vermutlich  ist  der 
Verfasser  zu  seinem  sonderbaren 
Mifsvcrständnis  durch  die  Erklärung 
Herbarts  verleitet  worden:  »Die 
That  erzeugt  den  Willen  aus 
der  Begierde.«  Und  was  soll  man 
gar  zu  der  Behauptung  sagen,  der 
Wille  habe  nichts  gleichar- 
tiges mit  dem  Begehren?  Der 
Wille  strebt  also  nicht  über  die 
Gegenwart  hinaus,  hat  kein  Ziel, 
will  demnach  nichts?  Und  dieser 
nichtswollende  Wille  soll  die  »innere 
Freiheit  in  die  Wirklichkeit  treten« 
lassen  ?  Das  ist  dem  Rez.  zu  stark, 
und  er  hält  sich  nicht  für  verpflichtet, 
den  Ausführungen  des  Verfassers 
noch  weiter  im  Einzelnen  nachzu- 
gehen. Der  Fortschritt  der  Unter- 
suchung mag  durch  folgende  Sätze 
kurz  bezeichnet  werden. 

»Die  unablösbare  Eigenschaft 
des  Willens  ist  die  Freiheit.« 
1  36.  »Aller  Wille  ist  vernünf- 
tig«. 137.  »Der  Wille  ist  die  Ver- 
nunft selbst,  soweit  sie  thätig  in 
das  natürliche  Vorstellungsgetriebe 
eingreift  .  .  .  Die  Freiheit  der 
Vernunft  ist  eine  Thatsache  des 
menschlichen  Bewufstseins 
und  bedarf  aus  diesem  Grunde  keines 
Ursprungszeugnisses.«  138.  »Die 
Wesen>eigentümlichkcit  des  Ver- 
nünftigen ist  die  Rücksichtnahme, 
das  Wohlwol len  «  14t.  Wer  dem- 
nach überhaupt  etwas  will,  der  ist 
nach  der  Ansicht  des  Verfassers 
frei,  vernünftig,  wohlwollend, 
gut.  So  einfach  hatte  sich  gewifs 
keiner  von  unsern  Lesern  die  Be- 
antwortung der  erwähnten  Frage  ge- 
dacht: »Welcher  Wille  ist  der 
gute?«  Wir  alle  waren  bisher  der 
Meinung,  es  gebe  auch  einen  bösen 
Willen,  der  unbeschadet  seiner 
ethischen  Verwerflichkeit  doch  alle 
Merkmale  eines  echten  Willens 
an  sich  trage. 

»Das  Wohlwollen  ist  das  Auf- 
gehen in  der  Gesamtheit  und 
ein  unter  diesem  Gesichtspunkte 
stehendes  Sich-hingebcn  an  das 
einzelne  Glied,  auch  an  sich;  denn 
in  dem  eben  entwickelten  Sinne  kann 
man  ebenso  gut  gegen  sich 
wohlwollend  sein,  als  gegen 
andere,  was  H  er  ba  rt  bekanntlich 


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-    63  - 


bestreitet« .  (Wir  bestreiten  das  eine ; 
Wohlwollen  gegen  sich  selbst  nennt 
man  sonst  Ei ge nlieb e)  142.  »Wenn 
alles  aus  dem  Gebundensein  an  die 
Natur  Hervorgehende  böse  ist,  sind 
wir  dann  nicht  gezwungen,  Böses  zu 
thun?     Nein.     Ein    Begehren  und 
Thun  an  sich  ist  weder  böse  noch 
gut;  die  eine  oder  die  andere  Eigen- 
schaft   giebt    ihm   allein   die  Ge- 
sinnung, aus  der  es  hervorgeht. 
Ein  Beispiel  map  das  zeigen.  Das 
Aufnehmen  von  Nahrung  ist  sowohl 
dem  unvernünftigen,  als  auch  dem 
vernünftigen   Menschen  notwendig. 
Im  Begehren  und  Aufnehmen  der 
Nahrung  liegt  weder  etwas  Böses, 
noch  etwas  Gutes.     Wie  benimmt 
sich  aber  das  unvernünftige  Wesen 
im  Zustande  des  Hungers,  und  wie 
das  vernünftige?   Der  unvernünftige 
Mensch  steht  wie   das  Tier  unter 
dem    Naturzwange      Er  wird  also 
in  jenem  Zustande  das  Aufnehmen 
von  Nahrung  als  das  an  sich  Wich- 
tige empfinden,  dem  er  alles  Minder- 
kräftige unterordnet  und  zu  dessen 
Erreichung  er  die  Mittel  rücksichts- 
los  wählt    und    so  vernunftwidrig, 
böse  handelt.    Rez.  mufstc,  als  er 
diese   Worte  las,    unwillkürlich  an 
sein      zweijähriges  Töchterchen 
denken,  das  ganz  offenbar  das  Auf- 
nehmen  von   Nahrung  als  das  »an 
sich   Wichtige«    empfindet,  dem  es 
alles  »Minderkräftige«  (z.  B.  die  Lust 
am  Spiel)  unterordnet,  und  zu  dessen 
Erreichung  es  die  Mittel  rücksichts- 
los wählte,  so  rücksichtslos,  dafs  es 
zuweilen  mit  dem  Händchen  in  den 
Teller    hineingreift.     Und  deshalb 
soll  ich  mein  Kind  fiir  böse  halten? 
Ich  soll  ihm  zürnen,  als  hätte  es 
eine   Sünde    begangen?    Das  ist 
denn  doch  eine  geradezu  ungeheuer- 
liche Zumutung.    So  rächt  sich  an 
dem    Verfasser    die  Gleichsetzung 
der  psychologischen  mit  der 
sittlichen    Freiheit.     Der  ver- 
nünftige Mensch  fühlt  das  stark  auf- 
tretende Bedürfnis  der  Nahrung  auch. 
Er  wird  sich  aber  demselben  nicht 
überlassen,  sondern  seine  Vernunft 
befragen,   ob   er   ihm  entsprechen 
dürfe.    Diese  sagt  ihm,  dafs  er  in 
Rücksicht  auf  die  Erhaltung  seines 
Körpers  Nahrung  aufzunehmen  habe. 


Er  wird  die  Mittel  zur  Stillung  seines 
Hungers  vernünftig  wählen  und  so 
gut  handeln.«  146.  —  An  solchen 
Anschauungen  gemessen,  mag  ein 
alter  Geizhals  wohl  als  ein  trefflicher 
Mann  erscheinen;  denn  er  wird 
nur  essen,  weil  es  zur  Erhaltung 
des  Lebens  notwendig  ist;  er  wird 
die  Mittel  zur  Befriedigung  seines 
Nahrungsbedürfnisses  nicht  rück- 
sichtslos, sondern  jedenfalls  mit 
Rücksicht  auf  seinen  Geldbeutel 
wählen  und  darum  -  gut  handeln; 
Genug,  der  Verfasser  bekundet  ein 
ernstes  und  redliches  Streben  ;  seine 
Gesinnung  ist  vortrefflich;  dafs  es 
ihm  aber  gelungen  wäre,  in  seinen 
Anschauungen  über  die  Grundlagen 
der  philosophischen  Ethik  zur  Klar- 
heit durchzudringen,  können  wir 
nicht  zugeben. 

Eisenach.  O.  Foltz. 

III. 

Quellenl  ktüre  und  Geschichtsunterricht. 

Eine  pädagogische  Zeit-  und  Streit- 
frage. Erörtert  von  Dr.  Max 
Schilling,  Oberlehrer.  Berlin 
1890.  R.  Gaertners  Verlagsbuch- 
handlung. Hermann  Hcyfelder. 
SW.  Schönebergerstrafse  26.  Gr.  8. 
48  S. 

Es  mehren  sich  die  Anzeigen,  dafs 
man  in  neuster  Zeit  dem  Geschichts- 
unterricht eine  erhöhte  Teilnahme 
schenkt.  Der  Grund  hierfür  kann 
nur  darin  gefunden  werden,  dafs  die 
bisherige  Methode ,  nach  welcher 
man  auf  den  Schulen  —  es  handelt 
sich  in  erster  Linie  um  die  höheren 
Schulen  —  Geschichte  treibt,  als  un- 
zulänglich empfunden  wird. 

Da  es  nun  nicht  jedem  so  ohne 
weiteres  möglich  ist,  die  zugehörige 
Litteratur  sich  zu  verschaffen  und 
zu  studieren,  um  volle  Klarheit  zu 
erlangen,  so  ist  es  gewifs  ein  Ver- 
dienst des  Verfassers,  in  dem  vor- 
liegenden Büchlein  diejenige  Frage 
eingehend  und  klar  erörtert  zu  haben, 
die  wohl  als  eine  der  Hauptfragen 
in  dem  Streit  über  die  Methode  des 
Geschichtsunterrichts  angesehen  wer- 
den kann. 

Der  Inhalt  zerfällt  in  drei  Teile: 
1.  Geschichtlicher  (  erblick.    2.  Ge- 


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-  64 


Sichtspunkte,  nach  denen  die  Quellen- 
lektüre zu  würdigen  ist.  3  Didaktische 
Behandlung  der  Quellenicktüre. 

Bei  einer  zweiten  Auflage  würde 
der  Verfasser  sich  vielleicht  ent- 
schliefsen,  den  auf  S.  44  fehlenden 
>Vortrag  des  Lehrers«  einzufügen, 
um  so  eher,  da  er  selbst  die  Lücke 
zu  fühlen  scheint.  Erst  dann  wird 
man  sich  völlig  klar  darüber  werden 


können,  wie  er  sich  das  Verhältnis 
des  Vortrags  zu  seiner  Art,  Ge- 
schichte zu  lehren,  denkt.  Dafs  auf 
S.  8  in  der  Mitte  das  Wort  »nicht« 
überflüssig  ist,  während  es  auf  S.  31 
fehlt,  und  dafs  hier  der  Ausdruck 
»Mangelan  Zeit«  unlogisch  gebraucht 
ist,  wird  der  Verfasser  selbst  schon 
bemerkt  haben. 

Eisenach.  Dr.  Göpfert. 


D.  Anzeigen. 


Moderne  Kunst.    Illustrierte  Monats- 
schrift mit  Kunstbeilagen  in  Meister- 
holzschnitten. Monatl.  1  Lieferung. 
Pr.  1  M.    Kerlin,  Richard  Bong. 
Von  diesem  Werk  liegen  uns  zwei 
Lieferungen  vor.    (Jahrgang  IV,  1  u. 
2).    Darnach  stehen  wir  nicht  an, 
dasselbe  warm  zu  empfehlen.  Der 
Inhalt  der  Hefte  ist  ein  aufserordent- 
lich  reicher,  die  Vervielfältigungen 
sind  sehr  gelungen,  zumteil  künst- 
lerisch vollendet.    Um  einen  Begriff 
von  der  Reichhaltigkeit  der  Hefte 
zu  geben,  sei  der  Inhalt  der  beiden 
vorliegenden  kurz    skizziert.  Von 
gröfseren  Blättern  finden  sich :  B 1  a  a  s, 


Rosina;  M.  Stone,  In  Liebe; 
E che  na,  Simson  u.  Delila;  Knaus, 
Reigen;  Makowski,  Der  Zar  wählt 
die  Braut;  Maffei,  Kämpfende  Auer- 
hähne; Lieck,  Liebestraum;  Garn- 
b a ,  Der  Kufs ;Sicmiradzki,  Phryne 
in  Eleusis;  Tejedor,  Die  Taufe; 
Anderscn-Lundby,  Früher  Win- 
ter ;  Martens,  Traumbilder ;  B  r  i  d  g  - 
man,  Sommerabend.  Daneben  im 
Text,  welcher  aufser  Novellen,  li- 
terarische und  kunstgeschichtliche 
Darlegungen  bringt,  eine  Reihe  klei- 
ner Holzschnitte,  die  sich  der  ge- 
schmackvollen Gesamt- Ausstattung 
würdig  einfügen. 


Druck  von  G.  Fat«  in  Naumburg  a.  ». 


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Jnbagogifdjfv  Orrlog  ö.  ßlrqU'  fiofmrafrfr(>.  5:i).iQfmmfrer)  in  Breden. 


3al»rgan<J  1885. 

jpcft     I.       0rabS,  ffemetlungen  ju  beut  Vuffate  beS  Seminarlebrcr»  Sdincoet  Soburg,  „Der 

«     II.   Dr  H.  (Mpfert,  ftrtbtfertigung  einiget  pabagogif<bet  (Bebanten  flitlrr*. 

„    III.    i.gtrb  Senn,  Stwi  pdboooflildK  Wnflft»friamtnlunfl«t    8.  Dr.  ftatt  3uft,  Die  (»tnetaU 

Detfammlung  be«  «errin*  füt  »iftrnfcbaftlid>r  «abagogif  *u  «fingften  1885  in  balle  o.  6. 
.    IV.   l.  Dt.  ©.  Wetn,  tfemertungen  *u  ber  S4tift  be»  $erm  <£.  »  SaOroürf:  $anbel  unb 

©anbei  bet  pabag.  6d)ule  $etbarH    «.  Tbfob.  «Sogt,  *r  bie  Witglirbet  be«  «etein« 

für  nriffenldiaitl.  ^abagogit.  a.  Dr.  S  <b  n  n  b  e  r  Entgegnung. 

3ttbrgang  1K8* 

$eft     I.   1.  *.  £e{cf)te.  Die  etbifae  uub  dftbrtifcbe  Bebeutung  M  lurnen*.   H.  Dr.  «liebner, 
S.  5*.  Stoa  unb  bat  päbagogifdK  UniPrtfuatafrminar. 
.     II.   Dr  «aber,  Die  Wctftobe  ttbtißi. 

„  CU.   1.  $tof.  Dr    Wenge,  Die  Anfänge  be«  2atein'Unterri<ftt«  in  Seyta    2.  Sbr.  Ufer, 

Über  bie  Seirung  bon  Konferenzen  bee  SebrerfoHegtum« 
M    rv.   «.  «I6dner«8db»ig,  8u  Düte«'  ffritif  ber  «etbarrfdjen  $äbagogtt. 

^abrgang  1887. 

fceft     I.       (Stabe,  «ermag  bet  S»eligion»unterrid)t  ber  beiben  erften  S4wl|abtr  iftne  «runblage 

für  bie  ftttlifrteligiofe  ©Übung  \u  bieten  ? 
„    II.   $tof.  Dr.  Wenge,  ber  beutle  »inbeit«f<tiutoetem.  —  fcr'uno  Warnnel.  übet  Den  affo= 

dietenben  Straftet  bet  ttrbtunbe. 
„   III.   C.  ftolb,  difenaib.  Übet  batftrDenbrn  Unterti^t. 
.    IV.   Dr.  fcotlenbadi,  ber  tteftenuntftriät  im  erften  Scbuljatjr 

;lobrgang  1888. 

£eft     I.   Dr.  Waller,  ttameniu«.  ein  Spftematitet  in  bet  ^abagogit. 
„     U.   $r«f.  Dr.  tö.  Mein,  (Befinnungounterrtajt  unb  fculturgddn«bte. 

„   III.   Dr.  9i.  Staube,  Kritifdy  «emetfungen  ju  ben  Oauptpunften  ber  o  SaQroürf  icben  ©d>tift 

,  9efinnung<untettid)t  unb  ftulturgefdjtdue." 
„    IV.   91.  6  4> ofmann,  Soffen,  bft  Keltgionfuntrttidlt  in  gebliebenen  Säulen  uaä  ben  Ö. 

tßangemann'färn  Stfttiften. 

3abtgang  1889. 

£«ft     I.   $.  <9rab#,  ßut  aefrtplantbeotie  mit  «ejtebung  auf  bie  «olWdiule  I.   1.  $rof.  Dr. 
33.  Sein,  Strt  nntei  Scminarbucb. 
II.  «botf  «u»»e,  8ut  tBunbtjdpn  «pperjeption«le&te. 
„     III.  9.  $idel,  SRocb,  einmal  ba*  SSeimatlftbe  Seminarbudj. 

IV.  $.  9iol(ec$ot)eneiä)e,  Die  Selbftdnbigtett  ber  Scbule  inmitten  pon  Staat  unb  »tobe. 

3abtgang  1890. 

$eft     I.       (Stab«,  »tiiit  einiget  «orfälftge  jut  fiebtplantefotm. 
U.  «bolf  «übe,  8u«  «pperjeption. 
„    IIL   Cbuatb  b.  jpattmann.  Rann  bet  $effimi«mul  er^teb.!»*  roirlen  ? 
,,   IV.    l.  Dr.  «.  «ille,  4>etbart*  Crjiebungfvfl  auf  feinen  perftfliebenen  trntwirfluiiglftufen. 
2.  «.  ßombetg,  @a$recbnen. 


Neu  eingegangene  Schriften. 

Alge,  Leitfaden  f.  d.  ersten  Unterricht  im  Französischen.  2.  Aufl.  St.  Gallen 

Jetter,  Erzieh.  Unterricht.    Altenburg,  Pierer. 

Mass,  Zeittafel  der  Geschichte  der  Pädagogik.   Weimar,  Krüg«r. 

Baumgartner,  Lehrgang  der  engl.  Sprache.    Zürich.  Füssli. 

Steokel,  Zwei  Posthefte.    Halle,  Schroedel. 

Schwatm,  Sohulliederbuch.    Breslau,  Becher. 

Müller,  De  viris  Ulustribus.    Hannover,  Meyer. 


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Dr.  M.  Murry.  Herbert.  Spencers  Krziehungslehre.    Gütersloh.  Bertelsmann. 

Sprockhoft  Schul-Naturlehre.    Haunover.  Meyer. 

Janke.  Gmndriss  der  Schulhygiene.    Hamburg  u.  Leipzig,  Voss. 

Dörpfeld,  Gesellschaftsknnde.    Gütersloh,  Bertelsmann. 

Magnus.  Deutsche  Geschäftsaufsätze.    Halle.  Sehn  »edel . 

Lattmann  Eine  ausgleichende  Losung.  Gottingen,  Vandenhoeck  n.  Ruprecht. 

Mittenzwey,  40  Lektionen  über  Gesetz.-skunde  uml  Volkswirt schaftslehre. 

Gotha,  Belnend. 
Steger.  M  Lebensbilder.    Halle.  Sehroedel. 

Meyer.  Lesebuch  der  Erdkunde  für  Schule  u.  Haus.  H  Bde.   (iotha,  Behren*!. 
Ehrke,  Au*  Deutschlands  grosser  Zeit.    Magdeburg,  Klotz. 
Krüger.  Kirchengeschichte.    Leipzig,  Badeker. 
Falßke-FÖrater.  Religionsbuch.    Halle,  Sehroedel. 

Stecket,  Einrichtung  der  Brief«  u.  amtl.  Schrift  .-tu«  kV.    Halle.  Schroedel. 

Dörpfeld,  Repetitorium  d.-r  Gesellschat'tskumle.    Gütersloh,  Bertelsmann. 

Bräutigam.  Der  Elementarkurs.    Weimar,  Krüger. 

Sallwürk.  Das  Staatsseminar  für  Pädagogik.    Gotha,  Behrend. 

Juling.  Das  Gymnasium     Hannover.  Mey.r. 

Perthes.  Die  Notwendigkeit  einer  durchgreifenden  Umgestaltung  unseres 
Schulwesen*.    Gotha.  Perthes. 

Sprockhoffs  Physik  für  Volksschulen.    Hanover.  Meyer. 

Triiper.  Die  Schule  und  die  sozialen  Fragen.  2  Hefte.  Gütersloh,  Bertels- 
mann. 

Schuster,  Lehrbuch  der  Poetik.    Halle.  Mühlmanti. 

Pädagog.  Sammelmappe.  12'».  i:U  Heft.  Leipzig,  Sigismund  u.  Volkening. 
Lattmann-Müller.  Grieth.  Übungsbuch.  Güttingen,  Vandenhoeck  u.  Ruprecht. 
Lattmann-Müller..  Kurzgefaßte  lat  Grammatik,    Güttingen,  Vandenhoeck  n. 

Ruprecht. 

Alumneumaerinnerungen.  Von  einem  alten  Krenzschüier.  Leipzig,  Fr.  W. 
Grunow. 

Hauffe.  Benekes  Psychologie.    Borna-Leipzig.  Jahnke. 

Geyer,  Der  deutsche  Aufsatznnterricht.    Hannover.  Meyer. 

Piel,  Lehrgang  für  den  Gesangunterricht,  V  Aufl.  Düsseldorf,  Schwann. 

Aua  aller  Welt.    Nlustr.  Jugendschrift.    Stuttgart.  Glaser, 

Thrändorf.  Der  Religionsunterricht.    1.  Teil.    Dresden,  Kämmerer. 

Langenberg,  Meine  Erinnerungen  an  Diesterweg.    Frankfurt.  Diesterweg. 

Richter.  Diesterweg*  Wegweiser.    6.  Aull.    Frankfurt.  Dieaterweg. 

Kohl,  Griechisches  Übungsbuch.    Halle.  Waisenhaus. 

Florin.  Teil-Lesebuch     Davos.  Richter. 

Florin,  Die  Unterricht I.  Behandlung  von  Schillers  W.  Teil.   Davos,  Richter. 
6uter60hn,  Zur  Methodik  des  fremdspr.  Unterrichts.    Karlsruhe,  Braun. 
Rein.  Pädagogik  im  Grundriß.    Stuttgart.  Göschen. 

Diesem  Hefte  Hegen  3  Prospekte  über  Verlagswerke  der  Kesselringschen 
Hofbuchhandlung  in  Frankfurt  a  M..  von  Emil  Roth  in  Gießen  und  Franz 
Vahlen  in  Berlin  bei,  welche  wir  geneigter  Beachtung  empfehlen. 

1>ie  Verlagsbuchhandlung. 

*  I>m  -k  von  G.  l'Ktz  :n  Naumburg  ».  S. 


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Pädagogische  Studien. 


Neu  e   F  o  1  g  e. 


Herausgegeben 

von 

Dr.  W.  Rein, 

Professor  41.  il.   Unii-uxität  Ja,«. 

XII.  Jahrgang-    Zweites  Heft. 


Inhalt: 

A.  Abhandlungen:  A.  l.ombcrg,  Sachrechnen  (Schlufs). 

B.  Mitteilungen:  i.  H.  Grosse,  Fr.  Wilh.  Lindner  —  ein  Vorläufer 
der  Kulturstulenidee.  2.  Joh.  Trüper,  Zum  Kampf  um  die  Schule 
(Fortsetzung).  3.  Seminarkonterenz  zu  Barby.  4.  Der  X.  deutsche 
Kongrefs  für  erziehliche  Knabenhandarbeit  in  Strafsburg.  5.  Zeit- 
schrift für  den  evangelischen  Religionsunterricht.  6.  Die  III.  Haupt- 
versammlung des  allgemeinen  deutschen  Sprachvereins.  7.  Finanz- 
minister  Miqucl  über  die  Schulfrage.  S.  Die  Volksschule  in  Frank- 
reich und  Deutschland.  9.  Professor  Dr.  Gustav  Teichmüller, 
Pädagogisches.  10.  Professor  Dr.  Eucken,  Fragen  der  Schule — 
Fragen  der  Zeit.  11.  Uber  die  Aussprache  des  Griechischen  in 
unseren  Gymnasien.  12.  Gemeinschaftliche  Sitzung  der  Zwcigvcreine 
Altenburg,  Halle,  Jena,  Leipzig  zu  Weifsenfeis.  13.  Herbart  in 
Amerika. 

C.  BenrteUniigeii :  Dr.  Barch u dar i an.  (0.  Foltz-Eiscnach.) 


Dresden. 

Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer 

(Paul  Th.  Kaomnierer.) 

1991. 


r.  :  


! 


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paönaofxifdyrr  »erlog  d.  flltnl  &  fiartnmrrrr  (J).  &%.  ftormmerrr)  in  Drr&ftrn. 


XXIII,  3afy:bucfj  bes 
Vereins  für  u?iffmfdjaftlid^c  pdbaqo^tf. 

Die  2IbfyanMungen  öes  25.  3<*t?rbudj  ftnfc  tor  Heirjenfolge  nadj 
folgende : 

I.  Xtyrähberf,  präparationen  für  bte  öelfanblung  ber  Seit  ber  Jlnfflatung. 

II.  leupfer,  Das  Hedmen  im  3u>eiten  Sdroljaln-. 

III.  $«u6mann,  Bemerfuugen  3«  IPilf'fdjen  Arbeit  im  2\.  3aforbu4>. 

IV.  WilP,  ^ufaQ  3n  Dorfteb,enben  23emer?ungen. 

V.  2Bilf,  Allgemeine  nnb  befonbere  8emerfungen  jum  Unterrid>t  in  ber 
Algebra. 

VI.  ^oüfamra,  feln-pfan  ffir  einfaa>e  Dolfsfdjulcn  auf  ber  örunblage  bes 
5iflerfd>en  febrplanfyflems. 

VII.  Xbeober  m%tt,  peflalo33i  nub  t>erbart. 


^täpaxafioncn  für  ben  ^fjofiß-^lntemd)! 

in  3Wßs-  iinb  pttfcCfdjufen. 

ZTadj  fjerbart'fdjen  (Srunbfatjen 

bearbeitet 

Don 

§J.  <£onvab> 

»ieal|«uHe^rcr  in  St.  fflaflrn. 

I.  Ccil: 

iflcdjanik  nnb  Akuftik. 

preis:  Hl. 

Der  Derfaffer,  n>eld?er  lange  /$ett  am  ^iller'fct?cn  Seminar  in  £eipjig  als 
(Oberlehrer  tfyätig  n>ar,  be3Ctdjuct  biefe  präparationen  als  einen  Perfudj,  fcjerbart« 
giüerfdje  <Brunbfä$e  allgemeiner  Hatur,  oorncbmlid?  bie  3bec  ber  ^ormalfrnfen, 
ffir  ben  pb.yftfanterrid^t  nutzbar  3U  machen.  EPir  tnüffen  ben  Perfudj  als  einen 
fel?r  gelungenen  be3eid?nen  unb  glauben,  baß  ein  Untcrridjt  nadf  foldjen  Porbtlbern 
oon  einem  fnr  feinen  (Segenftanb  erfüllten  £eb,rcr  erteilt,  olme  ^rucifel  bas  3ntercffe 
bes  Sdjfilers  mädjtig  anregen,  bcnfelben  im  fdjarfen  Denfcn  ftdjtlicb  förbem  unb 
ib,m  bas  IDarum  t»on  Rimberten  von  pbyftfalifajen  (Erfdfeinungen,  roooon  er 
täglid)  geuge  ift,  in  befriebigenber  XUeife  erflären  wirb. 


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A.  Abhandlungen. 

Sachrechnen. 

Von  A.  Lomberg  in  Elberfeld. 
IV.*) 

Dafs  die  Konzentration  der  Lehrfächer  in  Wahrheit  eine 
pädagogische  Heilsidee  ist,  dafs  sie  als  eine  allgemeine  Bedingung 
für  die  erziehliche  Kraft  des  Unterrichts  betrachtet  werden  kann, 
das  ist  schon  oft  ausgesprochen  worden  und  wird  gegenwärtig  auch 
in  immer  weiteren  Kreisen  erkannt.  Schon  Comenius  sagt:  »Es 
kann  nichts  gediegen  sein,  als  was  in  allen  Stücken  zusammen- 
hängt.« Und  von  Goethe  haben  wir  das  schöne  Wort:  »Beim 
Wissen  kommt  alles  auf  den  Zusammenhang  an.«  Herbart  aber, 
der  die  psychologische  Beweisführung  dafür  antrat,  spricht:  »Die 
Vorstellungsmassen  sollen  einander  stets  durchdringen;  was  ein- 
zeln stehen  bleibt,  hat  wenig  Bedeutung,  c  Und  in  Beziehung  zu 
unserem  speziellen  Thema  sagt  er:  »Der  pädagogische  Wert  des 
gesamten  mathematischen  Unterrichts  hängt  hauptsächlich  davon 
ab,  wie  tief  er  in  das  Ganze  des  Kreises  der  Gedanken  und 
Kenntnisse  eingreife.«  Dafs  das  Rechnen  sich  dem  in  allen  diesen 
Sätzen  ausgesprochenen  Konzentrationsgedanken  auch  fügt,  glauben 
wir  zur  Genüge  nachgewiesen  zu  haben. 

Betrachten  wir  nunmehr  in  Summa  den  unterrichtlichen  Vor- 
teil, der  aus  dem  nachbarlichen  Verkehr  des  Rechnens  mit  dem 
Sachunterricht  für  beide  Teile  erwächst.  Schon  mehrfach  wurde 
hervorgehoben,  dafs  der  Vorteil  des  Sachunterrichts  vor  allem 
darin  besteht,  dafs  die  sachlichen  Verhältnisse  bestimmt 
und  deutlich  werden.  Die  allgemeinen  Vorstellungen  erhalten 
in  den  Zahlen  und  Berechnungen  feste  Stützen;  die  superlativischen 
Ausdrücke,  die  in  den  Köpfen  der  Kleinen  oft  so  bunte  Deutung 
erfahren,    werden  auf  ein  genaues  Mafs  gesetzt.    Dörpfeld  sagt 


*)  L  u.  II.  im  4.  Heft  1890,  III.  im  1.  Heft  1891 

Pädagogische  Studien.  U. 


5 


—    66  — 

in  diesem  Sinne:  »Durch  das  Hineinleuchten  der  Zahlen  werden 
die  betreffenden  Verhältnisse  klarer,  anschaulicher.  Es  ist  ein 
eigentümliches  Ding  um  die  Zahl:  es  wohnt  ihr  eine  eigenartige 
Leuchtkraft  bei.  Bei  den  Zahlen  hört  nicht  nur  —  wie  man  zu 
sagen  pflegt  —  die  »Gemütlichkeit«  auf,  sondern  auch  das  Nebeln 
und  Schwebein ;  sie  bringen  Klarheit,  Bestimmtheit.«*)  Ein  nicht 
unwesentlicher  Vorteil  besteht  ferner  auch  darin,  dafs  die  sach- 
lichen Vorstellungen  immerfort  reproduziert  und  dadurch  fester 
eingeprägt  werden. 

Noch  gröfser  aber  sind  die  unterrichtlichen  Vorteile  für  das 
Rechnen.  Es  ist  im  allgemeinen  von  durchschlagender  Bedeutung, 
mit  welchen  Gefühlen  das  Kind  an  die  Lösung  einer  Aufgabe 
herantritt.  Je  fremdartiger  und  ungewohnter  ihm  die  Einkleidung 
der  Aufgabe  erscheint,  desto  gröfser  dünkt  ihm  die  Beschwer 
des  Rechnens,  und  desto  unsicherer  geht  das  Schlüssebilden  von 
statten.  Erblickt  es  dagegen  in  dem  sachlichen  Inhalte  der  Auf- 
gaben gute,  alte  Bekannte,  die  ihm  vielleicht  irgendwo  schon  ein 
besonderes  Interesse  abgenötigt  haben,  so  kann  man  sicher  sein, 
dafs  sich  die  geistigen  Kräfte  in  aller  Energie  regen 
werden,  und  dafs  das  Nachdenken  gcradeswegs  zum  Ziele  fort- 
schreitet. Dies  wird  am  meisten  der  Fall  sein  bei  den  sachunter- 
richtlichen  Aufgaben.  Der  Schüler  empfindet  eine  freudige  Hin- 
gabe an  den  Stoff  und  eine  lebhafte  Neigung,  sich  mit  demselben 
zu  beschäftigen  ;  er  fühlt  sich  gefesselt,  er  rechnet  mit  Lust  und 
Behagen,  zumal  er  ein  Resultat  erwartet,  dafs  seine  Einsicht  noch 
vermehren  und  klären  wird.  Die  Zahlen,  die  ihm  ohne  den  sach- 
lichen Hintergrund  gleichgültig  sein  würden,  nötigen  ihm  nun  ein 
lebhaftes  Interesse  ab;  das  im  Sachunterricht  bereits  erworbene 
Kapital  geistiger  Kraft  wuchert  fort  und  trägt  doppelte  Zinsen. 
Die  Folge  wird  sein,  dafs  das  Interesse  für  das  Rechnen  über- 
haupt gesteigert  wird.  Eine  solche  Wirkung  sollte  sich  kein  Er- 
zieher entgehen  lassen. 

Ein  weiterer  Vorteil  der  Verknüpfung  liegt  darin,  dafs  die 
allgemeine  Nützlichkeit  des  Rechnens  stärker  hervor- 
tritt. Die  sachlichen  Aufgaben  legen  dem  Schüler  dar,  dafs  es 
sich  beim  Rechnen  um  eine  wichtige  Angelegenheit  und  unent- 
behrliche Kunstübung  handelt.  Die  Überzeugung  von  diesem 
Werte  verleiht  dem  Rechnen  Dauer  im  Geiste.  Die  formalistisch- 
leeren Aufgaben  dagegen  verleiten  den  Schüler  zu  der  Meinung, 
es  sei  das  Rechnen  weiter  nichts  als  eine  witzige  Spielerei,  die 
man  später  vergessen  und  mit  den  Kinderschuhen  hinter  sich 
werfen  dürfe.  Sie  schaffen  eine  blofs  mechanische  Fertigkeit,  die 
für  das  Leben  von  keiner  Bedeutung  ist.  Aber  wir  müssen 
praktische,  anstellige  Köpfe  heranbilden.     Darum  ist  mit  dem 

*)  Dörpfeld,  Grundlinien  zur  Theorie  eines  Lehrplans.  S.  79. 


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67  - 


formalistischen  Wust  aufzuräumen;  die  nackten  Zahlen  müssen  ein- 
gekleidet werden.  Es  ist  immer  im  Auge  zu  halten,  dafs  nur  der  Sach- 
rechenunterricht den  Namen  des  wahrhaft  pädagogischen  Unterrichts 
verdient.  Th.  Wiget  sagt  über  ihn:  »Die  Kinder  lernen  nicht 
nur  rechnen  im  arithmetischen  Sinne,  sie  lernen  auch  rechnen  in 
dem  Sinne,  wie  man  das  Wort  braucht,  wenn  man  sagt:  Der  ver- 
steht zu  rechnen.  Erst  durch  die  Verknüpfung  des  Rechnens  mit 
dem  übrigen  (sachlichen)  Gedankenkreise  vermag  dasselbe  wahr- 
haft praktisch  zu  werden,  erst  dadurch  erhalten  die  Zöglinge  Be- 
griffe von  Werten,  von  Erträgen  u.  s.  w.,  in  denen  später  für  jede 
Berufsart  der  Impuls  liegt,  nicht  durch  blofses  Glauben  und  Meinen, 
sondern  durch  Berechnung  sich  zu  orientieren^*) 

Ein  weiterer  Vorteil  der  Verknüpfung  liegt  darin,  dafs  das 
Rechnen  mannigfaltiger  und  belebter  wird.  Das  ein- 
tönige, immerwährende  Kaufen  und  Verkaufen  von  Kattun,  Zanella, 
Öl,  Seife  u.  drgl.,  welches  in  manchen  Rechenbüchern  einen  so  breiten 
Raum  einnimmt  und  sich  mit  jedem  neuen  Kapitel  wiederholt, 
ermüdet  auf  die  Dauer  den  Geist  und  befördert  die  Langeweile. 
Die  sachunterrichtlichen  Aufgaben  bringen  in  diese  Einöde  eine 
erfrischende  Abwechselung.  Eine  andere  Folge  wird  sein,  dafs  die 
Rechenfertigkeit  erhöht  wird,  denn  *die  Wirksamkeit  einer  Vor- 
stellungsmasse wächst  mit  ihrer  Ausbreitung  und  mehrfachen  Ver- 
knüpfung.« **)  Man  sage  also  nicht,  der  Rechenunterricht  werde 
durch  die  Behandlung  sachunterrichtlicher  Aufgaben  i  elastet,  er 
wird  in  Wahrheit  dadurch  gehoben. 

Eng  damit  zusammenhängt  ein  ethisches  Moment.  Der  Rechen- 
unterricht steht  in  dem  Rufe,  dafs  er  dem  nacktesten  Nützlichkeits- 
prinzipe  huldige  und  das  Kind  vorzeitig  in  eine  seiner  Natur  wider- 
sprechende Anschauungsweise  hineinzöge.  Dieser  Vorwurf  ist  nicht 
ganz  unberechtigt.  Denn  in  der  That  ist  in  dem  herkömmlichen 
Schulrechnen  übermäfsig  viel  die  Rede  von  Gewinn  und  Verlust,  von 
Verdienst  und  Handel,  von  Zins  und  Kapital,  von  Provision  und 
Dividende.  Als  der  bekannte  Provinzial-Schulrat  Landfermann 
einst  bei  Gelegenheit  der  Visitation  einer  Realschule  dem  Rechen- 
unterricht beigewohnt  hatte,  brach  er  in  die  Worte  aus:  >  Immer 
Geschäft,  immer  Geld!  Bieten  sich  nicht  auch  andere  Objekte  der 
Berechnung  dar?  Dieses  einseitige  Hervorkehren  des  Geldes  ist 
geradezu  unsittlich;  es  sieht  ja  aus,  als  ob  der  Rechenunterricht 
des  Geldes  wegen  da  sei,  so  unverschämt  treten  die  Geldforderungen 
in  den  Vordergrund.«  Wird  das  Rechnen  zu  einem  wesentlichen 
Teile  an  den  Sachunterricht  angeschlossen,  so  sind  wir  in  die 
Lage  gesetzt,  die  Geldrechnungen  angemessen  zurück- 
zudrängen. 


*}  Bündner  Seminarblätter,  Bd.  V,  S  iSS. 
**)  Herbart.  Päd.  Schriften.    Ausfj.  v.  Willmann.    TV.  II,  S.  607. 

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Auch  noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin  macht  sich  ein 
ethischer  Einfiufs  geltend.  Das  Prinzip  des  Sachrechnens  ist  die 
Thatsächlichkeit  in  den  Verhältnissen  und  die  Genauigkeit  in  den 
Zahlen.  Die  Berechnungen  stützen  sich  auf  vorliegende  Bedürfnisse, 
selbständige  Erfahrungen,  zuverlässige  Angaben  und  statistische 
Erhebungen.  Ausgeschlossen  sind  die  beliebigen  und  zufälligen 
Zahlen  und  die  fingierten  Verhältnisse,  an  denen  die  gebräuch- 
lichen Aufgabensammlungen  so  über  die  Mafsen  leiden.  Immer 
bleibt  das  Rechnen  dem  Anschauungskreise  des  Kindes  möglichst 
nahe.  So  geht  ein  höherer  Zug  der  Wahrheit  durch  das 
Rechnen,  der  seine  Wirkung  auf  die  sittliche  Wahrhaftigkeit 
schon  ausüben  wird. 

Als  letzte  erfreuliehe  Folge  des  Wechsel  Verkehrs  zwischen 
dem  Sach-  und  Rechenunterricht  führen  wir  an,  dafs  durch  den- 
selben der  Zusammenhang,  die  Einheit  des  Gedanken- 
kreises befördert  wird.  Die  verschiedenen  geistigen  Be- 
thätigungen  des  Kindes  haben  denselben  Beziehungspunkt,  und 
alle  Gedanken  richten  sich  auf  ein  Objekt.  Es  wird  dadurch  eine 
Geschlossenheit  der  Gedanken  hervorgerufen,  die  notwendig  ist, 
wenn  sich  das  innere  Leben  energisch  regen  soll.  Heterogene 
Vorstellungen  dagegen  hemmen  sich  in  ihrer  Wirkung  und  ver- 
flachen die  geistige  Thätigkeit. 

Alles  in  allem  —  die  sachunterrichtlichen  Aufgaben 
schliefsen  eine  solche  Fülle  des  Anregenden  und  Bilden- 
den in  sich,  wie  sie  anderweitig  nicht  anzutreffen  ist.  Es 
ist  das  Rechnen  darum  soviel  wie  möglich  aus  seiner 
isolierten  Stellung  herauszuheben  und  dem  Konzen- 
trationsgedanken dienstbar  zu  machen. 

V. 

Es  entsteht  für  unsere  Untersuchung  nun  noch  die  Frage,  wie 
sich  nach  dem  Prinzipe  des  Sachrechnens  das  Lehr  verfahren  im 
Rechenunterricht  zu  gestalten  hat. 

Wie  alle  Lehrstoffe,  so  ist  auch  der  Stoff  des  Rechnens  in 
eine  Reihe  methodischer  Einheiten  einzuteilen.  Die  Aufeinander- 
folge derselben  richtet  sich  nach  den  einzelnen  Zahloperationen, 
nicht  aber  nach  dem  Fortschritt  des  Sach  Unterrichts.  Das  hängt 
mit  dem  streng  stufenmäfsigen  Entwickelungsgange  des  Rechnens 
zusammen,  nach  welchem  jede  vorangehende  Übung  die  Grund- 
lage für  die  nachfolgende  abgiebt.  Daraus  geht  eine  Beschränkung 
für  die  gliedliche  Verbindung  der  in  Betracht  kommenden  Lehr- 
fächer hervor.  Die  Klarstellung  sachlicher  Verhältnisse  mit  Hilfe 
des  Rechnens  kann  immer  nur  innerhalb  des  schon  durchgearbeiteten 
Zahlgebictes  vorgenommen  werden,  und  die  Berechnung  mufs  auf- 
geschoben werden,  sobald  der  Schüler  für  die  auszuführenden 
Operationen  die  erfordertliche  Anleitung  noch  nicht  erhalten  hat. 


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69 


An  der  Spitze  der  methodischen  Einheit  steht  als  Unterrichts- 
ziel eine  angewandte  Aufgabe,  welche  den  Charakter  und  den 
Umfang  der  ganzen  Einheit  bestimmt  und  darum  von  grundlegen- 
der Bedeutung  für  dieselbe  ist.  Ihrem  sachlichen  Inhalte  nach  ist 
sie  dem  Sachunterricht  oder  dem  eigenen  Erleben  und  Erfahren 
des  Schülers  entnommen.  Die  konkrete  Fassung  derselben  trägt 
dazu  bei,  dafs  der  Schüler  sich  das  Ziel  in  aller  Deutlichkeit  denken 
kann;  der  mit  lebhaftem  Gefühle  entgegengenommene  sachliche 
Inhalt  derselben  aber  bewirkt,  dafs  das  Interesse  geweckt  und  der 
Untersuchungseifer  angespornt  wird.  Sie  hat  den  Vorzug  vor  jeder 
abstrakten  Zielaufstellung;  denn  Ankündigungen,  wie  etwa  folgende: 
Wir  wollen  heute  lernen,  wie  man  Dezimalbrüche  mit  einander 
multipliziert!  verlaufen  matt  und  wirkungslos  bei  den  Schülern. 

Die  erste  Arbeit,  welche  der  Unterricht  nun  zu  vollenden  hat, 
ist  die  Lösung  der  grundlegenden  Aufgabe.  Analyse  und  Syn- 
these teilen  sich  gleichmäfsig  in  diese  Arbeit.  Die  Analyse  hat 
zunächst  die  in  Betracht  kommenden  sachlichen  Verhältnisse  zu 
verdeutlichen.  Oft  sind  dabei  die  persönlichen  Erfahrungen  zu 
wecken,  oft  auch  die  Ergebnisse  des  anderweitigen  Unterrichts 
ins  Bewufstsein  zu  rufen.  Die  Klarstellung  des  sachlichen  Hinter- 
grundes der  Aufgabe  ist  um  so  nötiger,  als  den  sachlichen  Be- 
ziehungen die  logischen  Gründe  für  die  vorzunehmenden  Zahl- 
operationen anhaften.  Die  Besprechung  aber  mufs  sich  in  engen 
Grenzen  halten;  sie  hat  nur  das  Wesentliche  hervorzukehren  und 
darf  nicht  den  Charakter  des  Sachunterrichts  annehmen.  An  die 
sachliche  Analyse  wird  sich  in  den  meisten  Fällen  eine  formale 
anschliefsen.  Diese  fafst  das  Verhältnis  der  Zahlen  ins  Auge  und 
setzt  die  zur  Lösung  der  Aufgabe  erforderlichen  rechnerischen 
Operationen,  soweit  sie  dem  Schüler  schon  geläufig  sind,  in  Be- 
reitschaft. Sollen  die  Schüler  z.  B.  in  die  Berechnung  der  Quadrat- 
wurzeln eingeführt  werden,  so  haben  sie  sich  zunächst  zu  ver- 
gegenwärtigen, dafs  sie  aus  einer  ansehnlichen  Reihe  von  Zahlen, 
nämlich  den  Quadratzahlen,  die  Quadratwurzeln  schon  vom  Ein- 
maleins her  kennen  oder  doch  leicht  aufspüren  können;  sie  werden 
bei  einigem  Nachdenken  sodann  zu  der  Erkenntnis  kommen,  dafs 
bei  allen  anderen  Zahlen  das  Erraten  aufhören  mufs,  und  dafs 
hier  ein  besonderes  arithmetisches  Problem  vorliegt.  So  empfinden 
sie  eine  Lücke  in  ihrem  seitherigen  Wissen,  die  schwebenden 
Punkte  der  neuen  Lektion  springen  deutlich  hervor,  und  das 
alles  giebt  ihnen  die  Nötigung,  sich  mit  dem  Probleme  näher  zu 
befassen. 

Nachdem  auf  diese  Weise  durch  die  Analyse  ein  der  Erfassung 
des  Neuen  günstiger  Bewufstseinsinhalt  bewirkt  worden  ist,  bringt 
die  Synthese  die  Darbietung  des  Neuen.  Die  Hindernisse, 
welche  sich  der  Lösung  entgegenstellten,  werden  beseitigt,  und 
diese  selbst  wtrd  zum  Ziele  geführt.    Vor  allem  ist  darauf  zu 


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achten,  dafs  bei  der  Gewinnung  des  Neuen  die  Schüler  zur  vollen 
Mitarbeit,  zum  Selbstfinden  und  Selbstbeurteilen  herangezogen 
werden.  Der  Lehrer  hat  nur  anzuregen  und  Fingerzeige  zu  geben, 
wenn  sie  auf  falsche  Fährte  geraten.  Zum  Behufe  der  Einprägung 
ist  sodann  das  Verfahren  der  Lösung  in  eine  knappe  und  durch- 
sichtige Form  zu  bringen  und  mehrfach  zu  wiederholen.  Ist  dem 
Schüler  das  Ganze  geläufig  geworden,  so  geht  die  Synthese  zu 
ähnlichen  Aufgaben  über,  die  unter  dasselbe  Lösungsverfahren 
fallen.  Die  Zahlen  werden  mehr  und  mehr  abgeändert,  wogegen 
die  sachlichen  Verhältnisse  nur  in  gewissen  Grenzen  variieren. 

Allmählich  findet  dann  ein  Übergang  von  der  Synthese  zur 
Assoziation  statt.  Die  Auflösung  gut  gewählter  Aufgaben  wird 
noch  eine  Weile  fortgesetzt;  aber  es  wird  nun  auch  das  Augen- 
merk auf  die  Gleichheit  des  Verfahrens  gelenkt.  Auf  diesem 
Wege  erhält  der  Schüler  zuletzt  einen  Überblick  über  das  Gemein- 
same der  einzelnen  Fälle,  und  es  entsteht  in  ihm  die  Überzeugung 
von  der  Gesetzmäfsigkeit  und  Allgemeingültigkeit  des  Verfahrens. 
Er  ist  nun  soweit  gefördert,  dafs  er  die  neue  Rechenregel  selbst- 
thätig  aufstellen  kann. 

Auf  der  Stufe  des  Systems  handelt  es  sich  um  die  völlige 
Heraushebung  des  Begrifflichen  und  Gesetzmäfsigen,  welches  bei 
der  Assoziation  noch  mit  den  Einzelfällen  behaftet  ist.  Von 
diesen  mufs  es  sich  scharf  unterscheiden;  es  mufs  als  das  Allge- 
meine, als  die  Rechenregel  erkannt  werden.  Die  begriffliche 
Fassung  erfolgt  in  kurzen  und  knappen  Sätzen.  Es  empfiehlt  sich, 
die  entwickelte  Regel  auch  schriftlich  zu  fixieren  und  ihr  die 
grundlegende  Aufgabe  als  Musterbeispiel,  als  Typus  für  eine  ganze 
Reihe  von  Aufgaben  beizufügen.  Der  Schüler  gewinnt  dadurch 
nach  und  nach  gewissermafsen  eine  Rechengrammatik  mit  Bei- 
spielen. 

Es  bleibt  nun  noch  als  letzter  Schritt  bei  der  Bearbeitung  des 
Stoffes  die  Anwendung  des  Gelernten  übrig,  und  in  ihr  ruht 
der  Schwerpunkt  des  Rechenunterrichts.  Der  Schüler  mufs 
den  Beweis  ablegen,  dafs  die  gewonnene  Einsicht  wirklich  in  sein 
völliges  geistiges  Eigentum  übergegangen  ist.  Zu  diesem  Zwecke 
sind  ihm  zahlreiche  Aufgaben  vorzulegen ,  an  denen  er  seine 
geistigen  Kräfte  zu  erproben  hat.  Die  Übung  mufs  so  lange  fort- 
gesetzt werden,  bis  ein  gewandtes  und  trefflicheres  Können  er- 
reicht ist.  Anfanglich  bildet  die  Regel  den  festen  Stützpunkt  für 
die  zu  entwickelnden  Lösungen;  sie  tritt  bei  fortgesetzter  Übung 
aber  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund,  bis  sie  endlich  ganz  aus 
der  Helle  des  Bewufstseins  verschwindet  und  den  Rang  der  mit- 
schwingenden Vorstellungen  einnimmt.  Der  Lehrer  möge 
dieses  Verhältnis  beachten;  er  lasse  nicht  immerfort  nach  Regeln 
rechnen;  es  hiefse  dem  Geiste  Fesseln  anlegen,  wollte  man  ver- 


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-  71 


langen,  dafs  sich  das  Kind  bei  allen  Operationen  zunächst  die 
Regeln  vorstellte. 

Die  zu  lösenden  Aufgaben  sind  verschiedenen  Sachgebieten 
zu  entnehmen;  doch  müssen  in  erster  Linie  immer  die  Stoffe  aus 
dem  Sachunterricht  herangezogen  werden.  Die  einzelnen  Auf- 
gaben sind  nach  ihrer  sachlichen  Verwandtschaft  gruppenweise 
zusammenzustellen,  und  es  ist  darauf  zu  sehen,  dafs  dabei  die 
früher  erlernten  Fertigkeiten  immer  wieder  Anwendung  finden. 
Eine  reichhaltige  und  nach  richtigen  methodischen  Grundsätzen 
bearbeitete  Aufgabensammlung  vermag  auf  dieser  Stelle  die  besten 
Dienste  zu  leisten.  Freilich  leiden  die  in  unseren  Schulen  ge- 
bräuchlichen Rechenbücher  fast  allesamt  an  demselben  Fehler,  der 
es  verschuldet,  dafs  der  sachliche  Inhalt  der  Rechenaufgaben  bei 
den  Schülern  so  wenig  Beachtung  findet.  Dieser  Fehler  besteht 
in  der  bunten  Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Übungen.  Die  Auf- 
gaben sind  aus  allen  möglichen  Gedankenkreisen  durcheinander 
gemengt,  und  fast  mit  jeder  nächsten  Aufgabe  wird  das  Kind  in 
ein  neues  Sachgebiet  geführt.  Vom  Preise  der  Fleisch  waren  springt 
man  über  zur  Schneiderrechnung,  von  der  Gartenmiete  gehts  auf 
die  Einwohnerzahlen,  von  den  Futterkosten  einer  Kuh  auf  die 
Geschwindigkeit  eines  Schnellzuges.  Ein  solches  Durcheinander 
ist  dem  Streben  nach  Konzentration  aufs  äufserste  entgegnngesetzt. 
Die  Gedanken  werden  notwendig  zerstreut,  statt  gesammelt.  Es 
kommt  keine  Klarheit  in  die  Köpfe;  der  Stoff  der  Aufgaben  er- 
scheint dem  Kinde  als  eine  völlige  Nebensache.  Soll  es  in  dieser 
Beziehung  besser  werden,  so  mufs  an  die  Stelle  des  bunten,  ver- 
worrenen Sachalierleis  eine  wohlberechnete  Einheitlichkeit  in  den 
Aufgabengruppen  treten.  Die  Übungsbeispiele  innerhalb  einer 
methodischen  Einheit  sind  nach  ihren  sachlichen  Beziehungen  zu 
ordnen,  und  es  mufs  mit  Fleifs  darauf  gehalten  werden,  dafs  auch 
der  sachliche  Inhalt  der  Aufgaben  beachtet  wird.  Überhaupt  mufs 
die  Ausnutzung  der  Sachgebiete  nach  einem  wohlerwogenen  Plane 
geschehen;  jedem  Schuljahre  ist  ein  bestimmtes  Pensum  zuiuweisen. 
Dann  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  dafs  der  Gedanke  des  Sach- 
rechnens zum  vollen  Durchbruch  kommt. 

Die  Stufe  der  Anwendung  ist  nun  auch  die  Stelle,  wo  Auf- 
gaben in  reinen  Zahlen  auftreten  können  und  sollen.  Es  empfiehlt 
sich,  sie  eng  an  die  eingekleideten  Aufgaben  anzuschliefsen  und 
aus  diesen  abzuleiten.  Sie  werden  dann  zum  Teil  noch  getragen 
von  den  sachlichen  Verhältnissen  jener,  und  der  Schüler  weifs,  wo 
Übungen  dieser  Art  hingehören  und  welchem  Zweck  sie  dienen. 
Sie  dürfen  aber  nicht  gehäuft  auftreten;  niemals  darf  das  Rechnen 
stunden-  oder  gar  wochenlang  rein  formalistischen  Übungen  nach- 
gehen. Es  giebt  nichts  Langweiligeres,  Abspannenderes  für  den 
Geist,  als  eine  schier  unendliche  Reihe  nackter  Rechenaufgaben ; 
sie  sind  in  Wahrheit  eine  Geifsel  für  die  Kindesseele.  Möge 


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-    72  — 


der  Lehrer  doch  immer  bedenken,  dafs  das  praktische  Leben  keine 
Aufgaben  in  leeren  Zahlen  kennt. 


Damit  sind  unsere  Ausführungen  abgeschlossen.  Wir  haben 
darzulegen  versucht,  welche  Bedeutung  dem  Prinzipe  des  Sach- 
rechnens innewohnt,  und  wie  sich  dessen  praktische  Durchführung 
gestaltet.  Wir  forderten  die  planmäfsige  Ausnutzung  der  Sach- 
gebiete für  alle  Stufen  des  Rechenunterrichts  und  traten  dadurch 
in  Gegensatz  zu  der  hergebrachten  Praxis,  die  auf  den  sachlichen 
Inhalt  der  Rechenaufgaben  oft  gar  keinen  Wert  legt.  Nach  unserem 
Dafürhalten  liegt  also  das  Bedürfnis  einer  Umgestaltung  des 
Rechenunterrichts  vor.  Die  lawinenartig  sich  auftürmenden  Zahl- 
massen der  abstrakten  Aufgaben  sind  aus  unseren  Rechenbüchern 
zu  entfernen,  die  dürftigen  Umhüllungen  und  die  täuschenden 
Masken  vieler  scheinbar  eingekleideter  Aufgaben  genügen  auch 
noch  nicht,  es  mufs  Platz  geschaffen  werden  für  methodisch  be- 
arbeitete Sachrechenaufgaben. 

Wir  verkennen  nicht,  dafs  mit  einer  solchen  Reform  zahlreiche 
Schwierigkeiten  verbunden  sind;  aber  wir  dürfen  sie  nicht  zum 
Vorwande  nehmen,  die  Hände  in  den  Schofs  zu  legen;  denn  was 
schwierig  durchführbar  ist,  ist  darum  nicht  weniger  notwendig. 
Es  mufs  sich  ein  reger  Sammeleifer  entfalten,  der  die  einzelnen 
Sachgebiete  auf  ihre  Verwendbarkeit  für  das  Rechnen  prüft.  Bei 
rechter  Sorgfalt  wird  man  Material  zur  Genüge  finden,  ja  er- 
staunt sein  über  die  Fruchtbarkeit  der  Idee.  Was  der  Verwirk- 
lichung der  Reform  aber  besonders  im  Wege  steht,  das  ist  die  in 
weiten  Kreisen  verbreitete  Meinung,  der  Rechenunterricht  sei  das 
leichteste  Lehrfach  der  Schule  und  das  best  bestellte  Feld  der 
Pädagogik,  und  die  daraus  abgeleitete  Behauptung,  man  könne 
sich  der  Mühe  entschlagen,  für  dieses  Fach  noch  besondere  Studien 
zu  machen,  zumal  ja  das  Rechenbuch  über  alle  Fälle  sichere  Aus- 
kunft gej^e  und  als  Krückstock  die  besten  Dienste  leiste.  Wir 
wollen  mit  dieser  verkehrten  Anschauung  nicht  weiter  ins  Gericht 
gehen,  sondern  zum  Schlüsse  nur  noch  einmal  hervorheben,  dafs 
alle  Mühen  und  Opfer,  welche  die  Pflege  des  Sachrechnens  er- 
fordert, hundertfach  aufgewogen  werden  durch  die  grofsen  Vor- 
teile, die  der  Unterricht  gewinnt,  und  durch  den  reichen  Segen, 
der  angesammelt  wird  fürs  Leben. 

Zusammenfassend  können  wir  das  Ganze  nochmals  in  der 
Form  folgender  Leitsätze  vorlegen: 

1 .  Das  Rechnen  ist  auf  allen  Stufen  an  bestimmte  Sachgebiete 
anzuschliefsen. 

2.  Eine  solche  Anlehnung  entspricht  dem  Wesen  des  Rechnens, 
denn  alles  Rechnen  ist  eine  Arbeit  des  Denkens,  welches  der 
Stütze  konkreter  Anschauungen  bedarf;  sie  wird  ferner  verlangt 


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vom  Interesse,  das  ursprünglich  nur  an  den  Sachen  haftet  und 
von  diesen  auf  die  Zahlen  übertragen  werden  mufs;  sie  wird 
drittens  gefordert  durch  die  Rücksichtnahme  auf  die  Anwendung 
des  Rechnens  im  praktischen  Leben,  welches  nirgendwo  mit  nackten 
Zahlen  operiert. 

3.  Der  sachliche  Inhalt  der  Rechenaufgaben  darf  nicht  als  eine 
zufällige  und  beliebige  Einkleidung  der  Zahlen  erscheinen,  sondern 
mufs  den  thatsächlichen  Verhältnissen  entsprechen. 

4.  Der  Rechenunterricht  mufs  seiner  praktischen  Bedeutung 
wegen  seinen  Stoff  vorzugsweise  dem  Arbeitsgebiet  des  Menschen 
entnehmen,  nämlich  dem  Haushalt  und  der  Werkstatt,  dem  Markt 
und  dem  Kaufladen,  der  Handelswelt  und  der  Landwirtschaft,  der 
Gemeinde-  und  der  Staatsverwaltung. 

5.  Das  Konzentrationsprinzip  fordert,  dafs  ein  wesentlicher 
Teil  der  Rechenaufgaben  auch  dem  Sachunterricht  (Naturkunde, 
Geographie,  Geschichte)  entnommen  werde. 

6.  Eine  solche  Konzentration  kommt  beiden  Teilen  zu  gute; 
die  sachlichen  Verhältnisse  werden  durchsichtiger,  das  Rechnen 
aber  gewinnt  an  Interesse  und  Mannigfaltigkeit. 

7.  Durch  den  Wechselverkehr  zwischen  dem  Sach-  und  dem 
Rechenunterricht  wird  ferner  die  Einheit,  der  Zusammenhang  des 
Gedankenkreises  befördert. 

8.  Die  einzelnen  methodischen  Einheiten  im  Rechenunterricht 
sind  durch  grundlegende  Aufgaben,  die  ihren  Stoff  einem  be- 
stimmten Sachgebiete  entnehmen,  einzuleiten. 

9.  Es  ist  darnach  zu  streben,  dafs  in  den  einzelnen  Aufgaben- 
gruppen sachliche  Einheitlichkeit  herrsche. 


B.  Mitteilungen. 
I.  Fr.  Wilh.  Lindner  —  ein  Vorläufer  der  Kulturstufenidee. 

Von  H.  Grosse  in  Halle  a./S. 
(Fortsetzung.    S.  Päd.  Studien,  1.  Heft  1891.) 

Nun  mag  ein  genauer  Auszug  aus  Lindners  Werk  über  die  historisch- 
genetische Methode  folgen.*)  Wenn  derselbe  umfangreicher  ist,  als  es  für 
den  nächsten  Zweck  nötig  erscheint,  so  möge  als  Grund  dafür  der  Umstand 
gelten,  dafs  Lindners  Buch  sehr  selten  und  so  gut  wie  unbekannt  ist. 
Dasselbe  führt  den  Titel : 


•)  Dafs  wir  mit  unserer  V« öflfentlichung  Zitier  nicht  etwa  des  Plagiats  beschuldigen  wollen, 
sei  absichtlichen  Mifsverstlndnissen  gegenüber  besonders  hervorgehoben.  Es  zeigt  sich  auch 
Wer  wieder,  welch  tiefblickender  Geist  Ziller  war! 


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-    74  - 


„Über  die  historisoh-geoetlseliB  Methode.    Ein  Beytrag  zur  Ver- 
besserung und  Vereinfachung  des  Unterrichts  sowohl  in 
höhern,  als  niedern  Schulen,  als  Einladungsschrift  zu  den  von 
Ostern  1808  zu  haltenden  sowohl  theoretischen,  als  auch  praktischen, 
pädagogischen  Vorlesungen  von  Friedrich  Wilhelm  Lindner, 
Doctor  und  Privatlehrer  der  Philos.  und  Pädagogik  an  der  Universität 
zu  Leipzig,  und  ordentl.  Lehrer  an  der  neuen  Bürgerschule  daselbst. 
Leipzig,  1808  bey  Heinrich  Gräff  (XVI  u.  88  S.). 
Lindners  Werkchen  zerfällt,  wenn  man  von  der  Vorrede  (S.  V— XVI) 
und  der  Einleitung  (S.  1— 14)  absieht,  in  drei  Abschnitte:  1)  Begriffs- 
bestimmung einer  historisch-genetischen  Methode  (S.  15—56). 
2)  Welchen  Nutzen  hat  diese  Methode?  Ist  er  überwiegend  gegen 
den  der  vorhandenen?    (S.  57 — 72).*)    3)  Nähere  Begriffsbestim- 
mung dieser  historisch-genetischen  Methode  (S.  73 — 88). 

Zur  leichteren  Orientierung  des  Lesers  stellen  wir  einige  Be- 
merkungen über  den  Gedankengang  Lindners  voran. 

Lindner  geht  aus  von  der  Natur.  Die  Natur  zeigt  uns  alles  als 
werdend,  lebendig,  wachsend,  sich  entwickelnd.  Lindner  zeigt  das  speziell 
am  Pflanzenleben  und  erinnert  mit  Vorliebe  an  den  Baum,  der  aus  dem 
Keim,  wurzelnschlagend  herauswächst,  und  sich  in  Asten  und  Blättern  ent-  ^ 
faltet.  Dieses  biologische  Gesetz  des  Werdens,  Wachsens  und  Sich-Ent- 
wickelns  wendet  er  auf  das  Geistesleben  an,  speziell  aber  auf  das  Werden 
des  menschlichen  Geistes  im  Kinde.  Es  zieht  daraus  die  Konsequenz: 
Unterrichten  und  Erziehen  mufs  das  natürliche  Werden  des  mensch- 
lichen Geistes  leiten.  Deshalb  dürfen  die  Unterrichtsstoffe  nicht  blofs 
einfach  dem  Kinde  gegeben  werden,  sondern  sie  müssen  in  ihm  werden 
und  wachsen ;  die  Unterrichtsstoffe  müssen  in  der  heranwachsenden 
Generation  selbst  allmählich  heranwachsen  und  allmählich  anschliefsen ;  man 
darf  dem  Kinde  das  Wissen  nicht  als  ein  Fertiges  geben,  sondern  mufs  es 
selbst  in  ihm  entstehen  und  wachsen  lassen. 

Auf  die  Frage,  wie  dieser  Forderung  am  besten  genügt  werde,  ant- 
wortet Lindner:  Die  Unterrichtsstoffe  müssen  im  Kinde  so  werden  und 
wachsen,  wie  sie  frü  her  selbst  geworden  und  gewachsen  sind. 
Der  historische  Entdeckungs-  und  Entwickelungsgang  einer  Wissenschaft 
ergiebt  also  auch  im  allgemeinen  den  einzuhaltenden  Unterrichtsgang.  Jede 
Wissenschaft  mufs  entsprechend  ihrem  eigenen  kulturhistorischen  Werde- 
gang im  Zögling  wiederholt  werden  und  so  in  ihm  also  allmählich  heran- 
wachsen. Die  Reihenfolge  des  Lehrinhaltes  mufs  sich  also  nach  jenem 
kultu rhistorischen  Gange  richten.  Dies  nennt  Lindner  die  historische 
Methode. 

*)  Wie  der  Verfasser  S.  73  seines  Buches  bemerkt,  hat  er  von  S.  15  bis  an  das  Ende  der 
Abhandlung  von  seiner  Methode  mehr  eine  Entwickelung  —  eine  Erklärung  derselben  ia 
Beispielen  su  geben,  als  den  Begriff  selbst  su  bestimmen,  versucht.  Er  sagt  S.  74:  »Um  vielleicht 
manchem  verständlicher  su  sein,  hätte  ich  das  von  S.  1$  bis  ans  Ende  Vorgetragene  lieber  Er- 
klärung die  ser  Methode  durch  Beobachtungen  und  Bey  spiele  nennen  sollen:  oder 
Aufsählung  aller  der  Beobach  tungen  und  Erfahrungen,  welche  in  mir  diese  Methode 
begründeten.« 


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-    75  - 


Nun  ist  Lindner  ferner  der  Anschauung,  dafs  dieser  historische  Gang 
im  Werden  einer  Wissenschaft  im  Grofsen  und  Ganzen  der  natürlichen 
Entwickelung  des  Zusammengesetzten  und  Höheren  aus  dem  Einfachen  und 
Niederen  entspreche.  Was  die  Menschen  historisch  zuerst  gefunden  hätten, 
sei  auch  sachlich  das  Erste  und  Einfachste;  und  was  dann  in  natürlicher, 
logischer  Entwickelung  aus  diesem  Ersten  und  Einfachsten  herauswächst, 
das  haben  die  Menschen  auch  historisch  in  der  sachlich-richtigen  Reihen* 
folge  gefunden.  Diese  sachliche  Reihenfolge ,  welche  vom  Einfachen 
wiederum  zum  Zusammengesetzten,  Höheren  geht,  nennt  Lindner  die 
genetische  Methode. 

In  diesem  Sinne  also  spricht  Lindner  von  der  historisch-gene- 
tischen Methode. 

Lindner  hat  nun  damit  noch  einen  anderen  dritten  Gedanken- 
gang verquickt,  den  er  nicht  immer  streng  von  den  beiden  anderen 
scheidet,  wie  überhaupt  seine  Darstellung  an  manchen  Unklarheiten  und 
Inkonsequenzen  leidet.  Er  sagt  nämlich:  So  wohl  das  Studium  der  Kindes- 
natur als  auch  das  der  Kulturgeschichte  ergebe,  dafs  der  Menschennatur  auf 
ihren  früheren  Stufen  die  historisch-dramatische  Einkleidung  aller 
Stoffe  am  meisten  zusage.  Am  Anfang  des  Unterrichts  müsse  daher  der 
Lehrer  möglichst  alles,  was  er  zu  geben  habe,  in  eine  dramatisch  belebte 
Erzählungsform  kleiden.  Bei  allen  Völkern  sei  am  Anfang  ihrer  Ent- 
wickelung die  Überlieferung  der  Stoffe  in  solcher  historisch  und  dramatisch 
belebter  Form  erfolgt  und  daher  gefalle  diese  Form  auch  am  besten  der 
Kindesnatur.  Die  Anwendung  dieses  Prinzips  führt  aber  wiederum  auf 
jenen  ersten  Gedanken  zurück,  dafs  der  Stoff  den  Kindern  nicht  als  ein 
Fertiges  gegeben  werden  soll,  sondern  der  Lehrer  soll  durch  Erzählung, 
wie  die  Menschen  im  Laufe  der  Zeiten  zu  jenem  Wissen  gekommen  sind,  den 
Stoff  vor  den  Augen  und  vielmehr  der  Seele  des  Kindes  selbst  wachsen  lassen. 

Nachdem  dies  vorausgeschickt  ist,  wird  der  Leser  in  dem  folgenden 
wörtlichen  Auszuge  leichter  die  verschiedenen  durcheinander  gehenden 
Fäden  auseinander  halten  können. 

Aus  der  >Vorrede<  (S.  V — XVI)  heben  wir  folgende  Sätze  hervor.*) 

»Dafs  es  nur  eine  einzig  wahre  Methode  geben  mufs,  vermöge  welcher 
sowohl  alles  Endliche,  als  auch  Unendliche  erzogen  wird,  diefs  ist  mir  zu 
deutlich  geworden,  als  dafs  ich  mich  scheuen  sollte,  diefs  hier  öffentlich  zu 
bekennen.  Ein  Gott  hat  Alles  geschaffen,  und  Alles  von  ihm  Geschaffene 
wird  nach  einem  und  demselben  notwendigen  Gange  erzogen  — 
seiner  Bestimmung  näher  gebracht  —  zu  seiner  Vollkommenheit  erhoben. 
Die  Form,  nach  welcher  alles  Geschaffene  sein  Leben  beginnt  und  vollendet, 
ist  nur  eine  und  dieselbe,  ewig  unveränderliche;  allein,  das  in  dieser 
Form  Leben  beginnende,  Lebende  und  Leben  endigende  ist  ver- 
schieden; verändert  aber  dadurch  nie  die  Form  im  Ganzen.  .  .  .  (S.  VIII). 
Diese  Urform,  diese  Urmethode,  diese  einzig  wahre  Grundregel 

*)  Orthographie  ist  beibehalten.  E*  wurde  das  Exemplar  der  Stadtbibliothek  tu 
Leipiig  (Katalog  der  Politischen  Bibliothek  8.  a6  No.  1638)  benutzt,  dessen  Mitteilung  dem  Herrn 
Oberbibliothekar  Dr.  Wust  mann  Verdankt  wird. 


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76 


mufs  gefunden  werden ,  und  ist  diese  so  ergriffen ,  dafs  in  ihr  sich  die  ge- 
samte Erziehung  rein  und  klar  abspiegelt,  so  ist  und  mufs  sie  zur  einzigen, 
nothwendigen  erhoben  werden.  Nennt  man  nun  diesen  aufgefundenen 
Gang  alles  Lebendigen  Methode,  so  mufs  man  zum  Unterschiede  alle  jene 
vielen  Bemühungen,  diese  von  Ewigkeit  her  immer  nur  geahndete  Ur- 
methode  in  irgend  einer  Form  zu  verwirklichen,  nicht  mehr  Methoden, 
sondern  Manieren  oder  Art  und  Weise  nennen,  durch  welche  man  diese 
Methode  darstellen  will  .  .  .  (X).  Es  mufs  eine  einzig  wahre  Ur- 
methode  —  einen  Urtypus  alles  Erziehens  —  geben,  zu  dem  sich 
alle  bisherigen  und  zukünftigen  Bemühungen  verhalten,  wie  die  Strahlen 
zur  Sonne.  Ist  diefs  nicht  zu  leugnen,  so  darf  man  freylich  auch  alle  jene 
vorgeschlagenen  Wege  nicht  Methode  selbst  nennen,  sondern  nur  mehr 
oder  minder  hellleuchtende  und  erwärmende  Strahlen  jener  Urmethode.  — 
Es  ist  nun  ganz  natürlich,  dafs  die  Kopien  dem  Originale  (die  Manieren  der 
Methode)  entweder  ähnlicher  oder  unähnlicher  sind.  Je  mehr  nun  eine  vor- 
geschlagene Manier  der  Urmethode  selbst  gleichkommt ,  je  treuer  und 
natürlicher  sie  dieselbe  verwirklicht,  desto  leichter  ist  die  Gefahr,  diese 
Manier  für  die  Methode  selbst  zu  halten  (XIII).  Dals  ich  selbst  von  dieser 
Gefahr  nicht  frey  gewesen  bin,  beweist  der  Titel  dieses  Versuches.  Auch  ich 
glaubte,  wie  alle  meine  Vorgänger,  durch  vielseitige  Beobachtungen  und 
Erfahrungen  geleitet,  endlich  einen  Weg,  einen  Gang  in  der  Erziehung 
wahrgenommen  zu  haben,  welcher  mehr  als  die  übrigen,  die  Eigentüm- 
lichkeit der  wahren  Urmethode  in  sich  verwirkliche  —  welche  durch  seine 
gröfsere  Ähnlichkeit  der  einzig  nothwendigen  Methode  mehr  verwandt  sey, 
als  die  bis  jetzt  für  allgemein  gültig  erklärten.  Zum  wenigsten  glaube  ich, 
dafs  durch  keine  bis  jetzt  vorgeschlagene  Manier  die  Individualität  weniger 
beeinträchtigt,  ja  vielmehr  ganz  frey  erhalten  wird,  als  durch  diesen  historisch- 
genetischen Gang.  —  Denn  nur  hier  wird  alles  das,  was  der  menschliche 
Geist  von  Ewigkeit  her  geschaffen  hat  (alle  Künste  und  Wissenschaften)  als 
Produkt  behandelt  (S.  XIV).  Alle  Wissenschaften  und  Künste  werden 
hier ,  als  Pflanzen ,  entsprossen  aus  dem  menschlichen  Boden ,  betrachtet, 
von  deren  jeder,  wenn  sie  auf  dem  frischen  Boden  (das  ist  jede  neue  Gene- 
ration) soll  noch  einmal  wachsen,  zuerst  der  Saame  in  den  Boden 
eingestreut  werden  muls.  Jede  neue  Generation  ist  ein  neuer  frischer 
Boden,  auf  welchem  jede  Wissenschaft,  jede  Kunst  als  Pflanze  wachsen 
mufs.  Die  Individualitäten  in  der  Erziehung  heilig  zu  achten,  war 
(nach  Lindner)  längst  die  Hauptansicht  Piatos ;  in  unseren  Zeiten  ist  dieser 
Grundsatz  vorzüglich  von  Schwarz,  Herbart  und  Jean  Paul  wieder  in  An- 
regung gebracht  werden.»    (S.  XV).*) 


*)  Lindner  beruft  sich  hier  auf  Her  hart,  aber  nicht  hinsichtlich  seines  Prinzips  der 
historisch-genetischen  Methode,  was  tu  beachten  ist.  S.  37  heifst  es  aber :  »Diese  Art 
des  Vortrags  (die  historisch-genetische  Methode)  ist  das  einzige  Mittel,  die  Individualität  aller 
Zöglinge  zu  achten  (was  Herbart  so  nerzlich  wünscht  und  iwar  mit  Recht).«  Vgl.  besonders 
Herbarts  >Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf  die  Pädagogik  (s.  auch  das  Register 
in  der  Willmannschen  Ausgabe).  Desgl.  Ziller:  Grundlegung  zur  Lehre  vom  erziehenden  Unter- 
richt (a.  Aufl.  von  Prof.  Vogt)  %  ao,  S.  467  ff.  und  »Allg.  Pädagogik«  (2.  Aufl.  von  Just)  g  7—10. 


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—    77  — 

Aus  der  »Einleitung«  (S.  i  -14)  erscheint  uns  folgendes  beachtenswert. 
»So  wie  sich  viele  Menschen  —  sagt  der  Verf.  S.  3  —  bey  der  Pflege  des 
Pflanzenreichs  in  der  Zeit  des  Keimens  —  des  ersten  Werdens  — wenig 
oder  gar  nicht  um  die  Pflanze  bekümmern,  ebenso  sorglos  sind  Erzieher 
und  Eitern  gegen  die  Keime  des  Menschengeschlechts.  Nur  dann  erst, 
wenn  die  Verkrüppelung  der  Äste  sie  zwingt,  daran  zu  denken,  glauben 
sie,  dafs  es  Zeit  sey,  zu  ziehen  .  .  .  Ergreife  ich  den  Keim  und  pflege 
diesen,  so  erlange  ich  dadurch  einen  Einflufs  auf  den  ganzen  Baum. 
Werfe  ich  aber  meine  Sorge  und  Pflege  auf  irgend  einen  Ast,  und  wenn 
er  auch  ein  Hauptast  wäre,  so  wird  der  ganze  Baum  demohngeachtet 
meinen  Wünschen  nicht  entsprechen  können,  denn  alle  Verbesserungen  von 
oben  und  von  den  Seiten  (das  war  bis  jetzt  unsere  ganze  Er- 
ziehung) können  nichts  bewirken,  weil  sie  von  jeher  nichts  bewirkt 
haben  .  .  .*)  Wir  finden,  dafs  die  älteren  Erzieher  zugleich  Kenner  der 
heilbringenden  Natur  waren  (der  Erzieher  Chiron  im  Homer  war  zugleich 
Arzt).  Es  kann  also  nicht  anders  seyn,  sie  müssen  die  Natur  abgelernt 
haben,  dafs  alles  seine  Zeit  hat,  dafs  das  Erste,  folglich  Einfachste 
der  Grund  aller  künftigen  Möglichkeiten,  und  dafs  das  Vielfache,  Zer- 
streute, wenn  man  es  zum  Ersten  erhebt,  der  Grund  aller  künftigen  Un- 
möglichkeiten ist.  Das  Werdende,  Lebendige  der  Natur  und  ihre 
Mufenfolge  leitete  sie  auch,  da  sie  überhaupt  mehr  Ehrfurcht  gegen  sie 
fühlten,  als  wir,  ihren  Gesetzen  zu  gehorchen  ...  So  bald  man  sich  von 
der  Natur  entfernte,  so  entzog  man  sich  auch  ihrem  bildenden  Einflüsse, 
und  weg  war  die  Liebe,  die  Natur  in  seinem  Kreise  nachzuahmen  .  .  . 
\S.  10)  Geleitet  von  den  Ideen  redlicher  und  braver  Männer,  welche  hier 
und  da  schon  bekannt  worden  sind,  und  geführt  von  meiner  eigenen  An- 
sicht der  Natur,  und  gedrängt  und  gezwungen  von  der  Vorbildung  der 
Menschheit,  der  Folge  einer  verkehrten  Erziehung  im  Allgemeinen,  wage 
ich  es,  mein  Zeitalter  liebevoll  mit  Muth  und  Kraft  und  eigner  Aufopferung 
derselben  zurückzurufen  zu  jener,  schon  von  Alters  her,  hier  und  da  aus- 
geübten, aber  von  den  Nachkommen  nicht  richtig  genug  verstandenen  und 
noch  nicht  zum  klaren  und  deutlichen  Bewufstseyn  gebrachten  Methode  des 
Erziehens,  ich  meyne,  zur  historisch-genetischen  .  .  .  (S.  12.)**)  Reine 
Wirklichkeit,  ächte  Einfachheit  der  Natur  ist  es,  worauf  ich  aufmerksam 
zu  machen  gedenke.  Den  Weg  will  ich  aufsuchen,  auf  welchem  man  den 
Menschen  als  ein  Ganzes  in  einer  gemessenen  Steigerung  erziehen  kann; 
zeigen,  dafs  der  Gang  und  die  Gesetze,  die  die  Natur  an  allen  ihren  Kindern 
in  Ausübung  bringt,  wenn  sie  nach  ihrem  Willen  und  in  ihrer  Zucht  ge- 
raten sollen,  auch  der  Gang  in  der  Erziehung  der  menschlichen  Natur  seyn 
müsse«  (S.  13).***) 

Im  ersten  Kapitel  des  Lindnerschen  Buches  mit  der  Überschrift: 
»Begriffsbestimmung  einer  historisc  h-ge  net  is  c  hen  M  e  t  h  ode« 
(S.  15—56)  heifst  es  §  I:   »Das  ganze  menschliche  Leben  besteht 

•)  Vgl.  Lindner  S.  3s,  45,  80. 
*•)  Vgl.  Lindner,  S.  5a  u.  88. 

»*•'.  Vgl.  Pestalorii,  den  Lindner  mehrfach  ritiert:  S.  7,  36  u.  6a;  dgl.  TlUicb  S.  6a. 


I 


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-    78  - 

(erscheint)  in  einem  Werden.    Die  Bildung  des  menschlichen 
Geistes  ist  und  soll  in  einem  immerwährenden  Wachsen  be- 
griffen seyn(S.  15).    »Jeder  mufs  von  Vorne  beginnen  sein  Werk«  (S.  16). 
—  §  II:  Alles,  was  nun  ein  solches  Leben  hervorrufen,  befördern,  er- 
höhen und  befestigen  soll,  mufs  daher  auch  in  dieser  werdenden  Form 
vorgeführt  werden.    Alle  Nahrung  des  menschlichen  Geistes,  der 
in  einem  beständigen  Werden  begriffen  ist,  mufs  ihm  in  der  wer- 
denden Form  dargeboten  werden  ...  So  erscheint  jede  Wissenschaft  als 
Werdendes...    Sie  schreitet  von  ihren  ersten  Elementen  aufsteigend 
bis  zu  ihrem  Ganzen...  (S.  18).    Dieser  Weg  könnte  manchen  zu 
lang  vorkommen,  allein  er  ist  der  kürzeste,  gewisseste  und 
natürlichste.   Alle  Dinge  in  der  Welt,  welche  die  eigentlichen  Objekte 
des  Wissens  ausmachen,  erscheinen  mehr  oder  minder  [in  einer  und  der- 
selben Folge,  in  einem  und  demselben  Bilde  des  Werdens«  (S.  19).  — 
§  III:   »Ich  mufs  den  Menschen  in  Wechselwirknng   mit  der  Aufsenwelt 
setzen  und  beobachten,  welche  Kraft,  welcher  Sinn  zuerst  sein  Daseyn  und 
sein  Werden  verräth,  welche  Formen  zuerst  von  dem  Geiste  der  Menschen 
geschaffen  werden,  welche  also  zuerst  dem  Kinde  auch  (als  Erbgut  der 
Vorfahren)*)  vorzuführen  sind.    Unter  allen  Sinnen  des  Menschen  äufsert 
sich  der  Gesichtssinn  zuerst-    Das  Auge  unterstützt  durch  die  innere  not- 
wendige Wirkung  der  Geisteskraft,  giebt  also  zuerst  Formen.  Diejenigen 
Wissenschaften,  denen  das  Auge  zum  Grunde  als  Element  liegt,  wären 
also   die  ersten.    Mathematik    würde   daher    den  Cyklus  anfangen« 
(S.  20).**)   —  §  IV:  Lindner  nennt  seine  Methode  die    »historisch - 
genetische«:  historisch,  insofern  sie  die  Zeit  fixiert,  wenn  und  in 
welcher  das  Objekt  dem  Kinde  vorzulegen  ist;  genetisch,  insofern  das 
Objekt  da  anfängt,  wo  es  angefangen  hat,  und  da  endet,  wo  es  geendet 
hat,  und  das  in  einer  lückenlosen  Reihe  .  .  .  Sollte  man  durch  ein  ge- 
naueres Erforschen  der  Stufenfolge  der  Krystallisation  nicht  hie  und  da 
in  den  Stand  gesetzt  werden  können,  diesen  genetischen  Gang   in  der 
Mathematik,  der  noch  sehr  lückenhaft  ist,  vollständig  zu  machen?  Ich 
glaube  es  gewifs.    Einen  noch  sicheren  Weg  würde  das  genauere  Erforschen 
der  mathematischen  Thätigkeit  und  ihrer  Stufenfolge  der  früheren  Mensch- 
heit gewähren.    Alle  Reste  des  Alterthums  für  diesen  Zweck  müfsten  von 
einer  sorgfältigen  Hand  gesichtet  werden,  und   zur  Bestätigung  des  im 
Alterthum  aufgefundenen  könnte  eine  kindliche  oder  freie,  aber  strenge 
Aufmerksamkeit  auf  die  Entwickelung  unserer  Kindervveit  viel  gewähren, 
da  doch  jeder  Mensch  der  Repräsentant  des  Ganzen  ist  .  .  .  Wäre  dies 
ausgemittelt,  dann  hätte  man  eine  feste  notwendige  im  Werden  herauf- 


•)  Es  fragt  »ich,  ...  »ob  man  das  errungen«  Gut  der  Voreltern  gehörig  als  ein  Erleichterungs- 
und Hebtmgsmittel  bey  der  tu  ergebenden  Nachkommenschaft  gebrauchte.«  (Lindner,  S.  16  ff.)  — 
>I&t  des  Men»chen  reines,  produktives  Vermögen  in  der  notwendigsten  Stufenfolge  gefördert 
worden,  dann  kann  er  nicht  amiers,  er  mufs  mit  eigener  gewonnener  Kraft  das  Erbgut  der  Vor- 
fahren in  »ich  aufnehmen,  und  dankbar  damit  wuchern  »um  Frommen  teiner  und  der  Nachwelt- 
(S.  38  ff  ).  Vgl.  auch  Ltndner  S.  46,  S.  64  und  S.  -o\ 
•*)  V~l.  S.  57,  so.  20,  ai. 


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—    79  — 

geführte  Elementarmathematik  (23).  —  §  V:  »Das  erste,  was  der  Mensch 
schul  war  Vokalmusik  .  ..*)  Sprechen,  Lesen,  Deklamiren,  Singen,  diese 
Dinge  sind  im  Wesentlichen  nur  Modificationen  der  Ur  musi  k  des  Menschen, 
des  Schaftens  des  innern  Geistes  vermittelst  des  Gehörs >  (28).  Der  Er- 
zieher mufs  psychologisch  erörtern:  welches  sind  und  waren  die  ersten 
Töne,  die  ersten  Toncombinationen,  die  ersten  Gefühle,  die  der  Mensch 
durch  Töne  verwirklichte,«  (S.  29).  —  §  VII :  »Dafs  alle  Redner  auf  diesem 
Wege  (durch  Poesie)  gebildet  werden  müssen,  dafür  habe  ich  keinen  andern 
Beweis,  als  den  aus  der  Menschengeschichte:  dafs  bey  allen  Völkern  der  Erde 
erst  nach  den  Dichtern  die  Redner  kommen.«  Es  ist  dies  das  sich  überall 
aufdringende  Resultat  des  Geschichtsstudiums  §  VIII:  Anwendung  auf  Musik 
(33).  —  §  X:  ». . .  Das  Beispiel  der  Vorfahren,  die  Schöpfungen  der  Ahnen 
erwecken  in  dem  Enkel  die  nemliche  Kraft  zu  ähnlichen  Thaten  und  ent- 
flammen, je  länger  er  dabei  verharrt,  das  Innere  zu  gleichem  und  noch 
grölserem  Wirken.  Seine  ganze  schöpferische  Thätigkeit  wird  aber  nur 
durch  jenen  Stufengang  der  Sachen  an  sich  und  ihrer  Zeitfolge  bewirkt 
und  zeitiger  und  leichter  gehoben.«  (S-  38).  —  §  XI:  »Bei  dem  Aufnehmen 
dessen,  was  der  Vorfahren  Sinn  erforschte  und  erkannte,  findet  eben  die- 
selbe Stufenfolge  statt,  wie  bei  dem  eigenen  Schaffen«  (S.  38).  —  §  XII 
giebt  die  Anwendung  auf  die  Geschichte  (undeutlich).  — §  XIII :  »Ebenso 
genetisch  mufs  bei  dem  R  eligio  nsunterr ic  ht  verfahren  werden.  Jeder 
einzelne  Mensch  mufs  in  eben  der  Stufenfolge  zur  voll- 
kommensten Religion  (zur  Verehrung  Gottes  im  Geist  und  in  der 
Wahrheit)  erzogen  werden,  in  welcher  die  ganze  Menschheit  nach 
und  nach  heraufgebild  e  t  worden  ist.  Jeder  Mensch  ist  der 
Repräsentant  des  Ganzen,  und  das  Ganze  der  jedes  Individu- 
ums. Alle  Religion  ging  von  Furcht  aus,  folglich  mufs  auch  die  Religion 
jedes  Individuums  davon  ausgehen.  Sic  wurde  dann  Bewunderung,  Ehr- 
furcht, Achtung  und  endlich  kräftige  Gegenliebe.  In  derselben  Ordnung 
tnuis  der  Lehrer  die  Religion  in  dem  Herzen  des  Zöglings  wachsen  lassen, 
diese  Reihe  darf  er  weder  trüben,  noch  stören.  —  Es  ist  deswegeu  noch 
nicht  nötig,  auch  dieselben  Mittel  ...  zu  wählen.  Die  Mittel  und  die  Art 
können  und  müssen  verschieden  seyn ;  allein  die  Stufenreihe  der  sich 
immer  höher  und  höher  bildenden  Religion  darf  und  kann  nicht  verändert 
werden  :  der  Volkslehrer  mufs  sie  streng  beobachten,  weil  sie  von  Ewigkeit 
her  sich  in  der  Geschichte  der  religiösen  Cultur  aller  Nationen  auf  eine 
gleiche  Weise  ausgesprochen  hat  (S.  44  ff.)  Wenn  wir  nicht  durch  eine 
genetische  Methode  die  Religion  in  unsern  Kindern  begründen,  so  wird 
sie  auch  nie  der  beschützende  Baum  werden«  (S.  45).  —  §  XIV :  ».  . .  Die 
Schöpfungen  der  Voreltern  werden  den  Enkeln  vorgeführt,  um  ihre  [eigene) 
Schöpferkralt  dadurch  ans  Licht  zu  fördern;  und  dies  ist  eigentlich  für  die 


*)  S.  »7:  »Zunächst  dem  Auge  wird  bey  einem  Kind«  das  Ohr  in  Thätigkeit  gesetit,  und  dies 
steht  so  in  unmittelbarer  Berührung  mit  der  Kehle,  dafs  der  Unterriebt  für  das  Gehör  durchaas 
bewirken  mufs,  dal»  ihm  die  Kehle  repetirt  oder  das  Gehörte  (Angeklungenc)  vermöge  der  Kehle 
wieder  hörbar  darstellt«  (Naturphilosophie  —  Scbelling). 

Wichtige  Stelle!    Name:  »Stufen«,  »Kultur«  (Kulturstufen). 


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—    8o  — 

zu  erziehende  Jugend  ein  geschichtlicher  Unterricht  in  der  eigentüm- 
lichsten und  engsten  Bedeutung  des  Wortes.  Ist  nun  die  Kraft  der  Nach- 
kommenschaft von  den  Produkten  der  Vorwelt  geweckt  und  zur  eignen 
Schöpfung  geschickt  gemacht  worden ;  so  waltet  und  herrscht  nun  dieser 
Geist  nach  den  von  ihm  als  nothwendig  anerkannten  Gesetzen,  und  nimmt 
nun  so  viel  auf,  als  seine  Natur  erfordert,  und  in  der  Ordnung,  für  die 
er  erzogen  worden  ist«  (S.  46).  —  §  XV:  *)  »Jeder  aufmerksame  Erzieher 
wird  bemerkt  haben,  dafs  die  Kinder  für  nichts  mehr  Interesse  zeigen,  als 
für  das  Historische.  Erzähle  mir  etwas,  ist  die  Forderung  der 
gesammten  Jugend  (S.  47)  •  •  Kinder  h  ö  r§e  n  aber  nicht  blos 
gern  Geschichte ;  sie  selbst  erzählen  auch  gern,  entweder  ihren 
kleinern  Geschwistern,  oder  ältern  Personen.  In  diesen  Äufserungen 
der  Kinderwelt ,  die  sich  so  mannichfaltig  und  beharrlich  zeigen, 
liegt  für  die  Erzieher  der  deutlichste  Wink  für  die  Form,  in  welcher 
der  zu  erziehende  Mensch  belehrt  seyn  will.  —  Alles,  was  man  dem 
Kinde  als  Belehrung  mittheilen  will,  mufs  ihm  in  der  Form  einer  Geschichte, 
eines  begonnenen  und  vollendeten  Lebens,  in  der  Form  des  Werdenden 
vorgeführt  werden  (S.  48  ff.).  Es  ergeht  in  allen  Stunden  des  jugendlichen 
Lebens  an  ihn  Lden  Lehrer]  die  Forderung  von  den  Zöglingen  selbst,  immer 
historisch  mit  ihnen  zu  verfahren.  ...  —  Warum  gefallen  den  Kindern  die 
Fabeln,  die  Märchen,  die  Parabeln  so  sehr?  Wie  sie  alles  das,  was  sie  dem 
jugendlichen  Herzen  kund  thun,  in  der  ächt-historischen  Form  in  einer  Ge- 
schichte ,  (in  welcher  ein  Anfang,  ein  Ende  ist,  ein  Werden,  ein  kurzes, 
aber  ganzes,  lückenloses  Leben)  offenbaren.  Man  trage  ihnen  die  nem- 
lichen  Wahrheiten  in  einem  andern  Gewände  vor,  und  das  Interesse  wird 
nicht  erregt  werden ,  was  das  Geschichtliche  in  den  Menschen  zu  jeder 
Zeit  hervorgerufen  hat  .  .  .  (S.  49).  Alles,  was  der  Mensch  mit  seiner  Kraft 
erzeugt,  erscheint  in  einer  ebenso  lückenlosen  und  nothwendigen  Stufenfolge, 
als  das,  was  die  Kraft  der  Natur  produciert:  ist  diese  nothwendige  Reihe 
nicht  beobachtet,  dann  wird  das  Kind  auch  nach  und  nach  ermattet,  weil 
das  Willkürliche,  Ersonnene  und  Erdichtete  nicht  bekräftigt,  und  der  Sinn 
für  das  ächt  Historische,  streng  und  nothwendig  Aufeinanderfolgende  wird 
abgestumpft.  (Jede  Geschichte  mufs  in  die  ihr  eigentümliche  und  noth- 
wendige Causalreihe  gebracht  werden,  sonst  verliert  sie  das  Erziehende, 
was  in  ihr  liegt  und  liegen  mufs  (S.  50).  —  Durchgehen  wir  vom  Anfang 
bis  zum  Ende  den  Stufengang  in  der  Geschichte  selbst,  so  finden  wir,  dals 
jede  Geschichte  von  Märchen  und  Mythen  zu  Fabeln,  von  Fabeln  zu  Gleich- 
nissen, Parabeln  und  endlich  zur  reinen,  weniger  bildlichen  Darstellung  der 
Facta  fortschreitet.  Daher  die  Kinder  für  die  ersteren  Theile  der  Ge- 
schichte (nicht  für  die  letztere),  für  Märchen,  Fabeln,  Gleichnisse  und  Pa- 
rabeln so  vieles  Interesse  beweisen,  was  ich  so  häufig  beobachtet  und  als 
allgemein  gültig  gefunden  habe.    Kommt  der  Erzieher  zur  eigentlich  sogc- 


*)  Verf.  hat  bis  dahin  seine  Gründe  für  die  historisch-genetische  Methode  a)  aus  der  Natur 
des  Menschen  an  sich,  b;  aus  ihrem  Verhältnifs  tu  den  Objekten  (Geschichte?)  geschöpft.  JeUt 
wendet  er  sich  c)  der  Erfahrung  an  den  Kindern  tu. 


1 


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nannten  Geschichte,  so  darf  er  mit  keinem  andern  Theile  derselben  als  mit 
der  Heldengeschichte  anfangen*),  und  dann  in  der  natürlichen  Stufen- 
reihe fortgehen  (S.  51  ff.).    Diese  Stufenfolge  sowohl  der  Form,  als  auch 
des  Inhaltes  darf  nicht  getrübt  werden,  weil  dann  jeder  Theil  nur  frag- 
mentarisch erscheint,  und  nicht  das  Bildende  und  Fortschreitende  der 
Kraft  bewirkt«  (S.  52).    Dieser  historische  Gang  ist  bisher  von  vielen  be- 
folgt worden,  allein  nicht  »mit  völligem  Bewufstseyn  des  Zweckes  und  der 
Nothwendigkeit ,  mit  Hinsicht  auf  den  darauf  folgenden  Unterricht« ;  dieser 
Gang  ist  nicht  allgemein  zum  herrschenden  erhoben,  seine  Nothwendigkeit 
ist  noch  nie  gezeigt  worden,  seine  wiederkehrende  Anwendung  bey  jedem 
Zweige,  sowohl  des  höheren,  als  auch  des  niederen  Unterrichtes,  noch  nie 
dringend  anempfohlen  worden.    Einzelne  Äufserungen  dafür  findet  man  hier 
und  da  mitgetheilt.   Plato  (in  seiner  Republik)  legt  auf  die  Fabeln  und 
Gleichnisse  als  Unterrichtsmittel  betrachtet,  einen  grofsen  Werth  und  em- 
pfiehlt sie  sehr  angelegentlich  für  den  ersten  Unterricht,  nur,  meint  er,  müsse 
der  Inhalt  ganz  der  kindlichen  Natur  entsprechen  (S.  53).   Die  Kinderwelt 
selbst,  freylich  unbewufst,  verlangt  »eine  historische  Methode,  oder  eine 
acht  historische  Behandlung  (keine  willkührliche  Erzählung)  aller  der  Objekte«, 
durch  deren  Kenntnifs  ihre  Kraft  bethätigt  und  gehoben  werden  soll.  Kein 
Erzieher  darf  diesen  Wink  verkennen,  sondern  mufs  demselben,  vom  An- 
fange bis  zum  Ende  des  wissenschaftlichen  Lebens  seiner  Zöglinge  mit  Be- 
wufstseyn und  Beharrlichkeit  folgen.  —  Die  geschichtliche  (historische)  Form 
fesselt  den  Menschen  nicht  allein  in  der  Jugend,  sie  ist  auch  die  immer- 
währende Begleiterin  und  ewige  Bildnerin  des  aufstrebenden  Menschen  in 
allen  folgenden  Perioden  seines  Lebens.   Der  Mensch  mufs  daher  vom  Anfange 
bis  zum  Ende  seines  Lebens  in  dieser  Form  gebildet  und  erzogen  werden; 
allein  mit  dem  Steigern  und  Läutern  der  Kraft  in  dem  Menschen  mufs  auch 
die  erziehende  Form  (die  historische)  gesteigert  und  geläutert  werden,  so 
wie  auch  das  in  der  Form  Enthaltene.    Ganz  anders  wird  diese  Form  für 
den  Schüler  auf  Gymnasien  seyn  müssen,  ganz  anders  für  die  Zöglinge  einer 
Universität;  allein  die  Verschiedenheit  beruht  einzig  und  allein  nur  auf  dem 
Minder  und  Mehr,  oder  auf  den  der  jedesmaligen  Bildung  des  Menschen 
Entsprechendem   derselben  (S.  54).     Die  Erfahrung  spricht   aber  nicht 
nur  für  die  historische  Methode  (für  die  Beobachtung  einer  natur- 
gemäfsen  Zeitfolge  in  dem  Unterrichte;,  sondern  auch  für  die  genetische} 
(tür  die  stufenweise  natürliche  Anreihung  der  Objekte  und  ihrer  Theile  in 
der  Zeit)  .  .  .  Ar  ithmetik  ,  Geometrie,  Musik,  alle  diese  Wissenschaften 
wurden  in  der  angegebenen  Ordnung  von  der  menschlichen  Kraft  erzeugt, 
und  in  derselben  Reihe  auch  wieder  von  den  Erziehern  (z.  B.  von  Plato, 
Quintilian  etc.)  als  Bildungsmittel  anempfohlen.    Vergleichen  wir  die  Über- 
reste der  frühern  Geschichte  aller  alten  Völker,  so  finden  wir  überall  diese 
Stufenfolge  in  den  Wissenschaften  hervorleuchtend.    In  dem  Sprachunter- 
richte empfiehlt  Plato  die  nämliche  Stufenfolge,  welche  ich  vorher  an- 


•1  Beachtenswert '. 
Pädagogische  Studien.  II 


deutete  .  .  .  (S.  55).  In  dem  Unterrichte  der  Grammatik  mufs  auch  eine 
solche  Genesis  beobachtet  werden.  Quintilian  ertheilt  hier  und  da  einige, 
obschon  noch  dunkle  Winke  dafür,  Die  Wörter,  welche  in  der  Sprache 
die  ersten  waren,  müssen  wieder  die  ersten  seyn.  Die  Combinationcn, 
welche  die  Menschen  zuerst  aus  den  vorhandenen  Sprachelementen  schufen, 
müssen  im  Unterrichte  auch  den  ersten  Platz  einnehmen,  und  dann  das 
Folgende  naturgemäfs  angereihet  werden.  Dies  bestätigt  sich  bey  allen 
Völkern,  von  deren  Geschichte  wir  noch  einige  Fragmente  erhalten  haben« 
(S.  56).  *) 

Das  zweite  Kapitel  der  Lindnerschen  Schrift  (S.  57 — 7a)  ist  über- 
schrieben: »Welchen  Nutzen  hat  diese  Methode?  Ist  er  über- 
wiegend gegen  den  der  vorhandenen?« 

§  1 :  »Fängt  die  Erziehung  mit  der  Mathematik  an,  so  fafst  sie  zuerst 
das  einfachste  Element  aller  menschlichen  Thätigkeit«  (S.  57).  —  §  II: 
(Pestalozzische  Methode  -  Tillich).  §  III:  Die  historisch-genetische  Methode 
ist  es,  welche  »einzig  und  allein  ihn  zum  Beförderer  und  Verbesserer  des 
Errungenen  der  Vorfahren  erziehet.  Wenn  jeder  Lehrer  zur  bestimmten 
Zeit  und  in  der  bestimmten  Ordnung  den  Zöglingen  alles  das  giebt,  was 
die  Vorfahren  geschaffen  haben :  so  werden  sie  zu  Beschauern  alles  dessen, 
was  noch  einmal  in  seinem  Werden  ihnen  vor  das  Auge  tritt,  gebildet 
(S.  64).  Die  Menschheit  kann  dann  auch  ruhiger  seyn:  denn  wenn  auch 
edle  und  brave  Denker  und  festwirkende  Herzen  die  Erde  verlassen;  so 
weils  sie,  dafs  es  allgemeines  Gesetz  der  Nachkommen  ist,  vermöge  dieser 
Ansicht  des  Erziehens  und  Unterrichtens  wahrhaftig  in  die  Fufsstapfen  der 
Voreltern  zutreten«  (S.  65).  —  g  IV:  »Nichts  ist  nach  meiner  unerschütter- 
lichen Überzeugung  geeigneter,  den  Menschen  für  die  eigentliche  praktische 
Religion  zu  erziehen,  (für  das  religiöse  Handeln,  für  das  Wirken  in  und 
durch  Gott)  als  diese  Methode,  welche  den  Menschen  auf  allen  Schritten 
so  leitet,  dafs  er  mit  Freyheit  die  Wege  Gottes  wählt  .  .  .«  (S.  66).  »Diese 
hier  erörterte  Methode  des  Unterrichtes  ist  nicht  nur  auf  niedern,  sondern 
auch  auf  höhern  Erziehungsanstalten  anzuwenden;  denn  auch  der  akademische 
Unterricht  muls  historisch-genetisch  seyn;  er  mufs  alle  Wissenschaften  in 
dem  historischen  Gewände  vorführen.«  (S.  68  t.  Bey  dieser  genetischen 
Methode  kann  nie  ein  selbstsüchtiges  Behaupten,  nie  eine  sclavische  Nach- 
beterey  entstehen:  denn  der  Lehrer  nimmt  überall  die  Zuhörer  als  Zu- 
schauer des  Gewordenen  mit.  In  solchen  Vorträgen  sieht  der  Lehrer 
nicht  allein,  sondern  alle  sehen  mit  ...  Sie  würden  aul  diese  Weise 
alle  mit  einer  freyen  Thätigkeit  das  Errungene  der  Vorfahren  sich  zu  eigen 
machen,  und  dasselbe  entweder  verbessern  oder  höher  heben«  (S.  70). 

Im  dritten  Kapitel  will  der  Verlasser  eine  »nähere  Begriffs- 
bestimmung idieser  histo risch  -  genetischen  Methode«  geben 
(S.  73-8*)- 

Er  sagt  in  §  2 :  »Ich  nenne  die  vorgeschlagene  und  nachgewiesene 
Methode  historisch,  d,  h.  sie  soll  alles  das  von  den  Menschen  Ge- 


•)  Wertvoll ! 


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-    83  - 

schaffenc  in  der  Erziehung  jeder  neuen  Generation  wieder  so  vorführen, 
als  es  geschehen  ist,  also  geschichtlich.    Dieses  Geschichtliche 
ist  nun  nicht  sowohl  auf  die  Reihenfolge,  nach  welcher  das  Vorzutragende 
hervortreten,  als  auch  auf  die  Form,  in  welcher  es  mitgetheilt  werden  soll, 
zu  beziehen«   (S.  74).    Diese  Methode  soll  in  dem  Unterrichte  alles  als 
etwas  Geschehenes  (geschichtlich  Erzeugtest  vortragen.    Sie  soll  aber 
nicht  blos  eine  Reihenfolge  in  dem  Vortrage  beobachten,  sondern  auch 
das  Vorzutragende  wieder  in  eine  Geschichte  (in  ein  Drama)  einkleiden, 
weil  es  in  dieser  Form  gebildet  und  ver vollkommt  wurde.    Alle  von  den 
Menschen  geschaffene  Dinge  begonnen  geschichtlich,  lebten  geschichtlich 
und  endeten  (relativ  genommen)  geschichtlich.   Er  [der  Lehrer]  soll  durch 
die  geschichtliche  Einkleidung  den  Kindern  alles  mehr  verlebendigen,  und 
so  dem  Unterrichte  das  eigentümliche  Interesse  gewähren«  (S.  75).  Als 
Beispiel  werden  die  Entstehung  des  Zeitrechnens  (S.  75  u.  76)  und  der 
Religionsunterricht  angeführt.    »Ich  will  meinen  Kindern  zeigen,  wie 
die  Menschen  nach  und  nach  die  Mittel  für  die  Zeitberechnung  vervoll- 
kommt  haben.    Ich  fange  also  an  zu  erzählen,  dafs  ein  Hirte  den  Schatten 
sowohl  im  Ab-  als  auch  im  Zunehmen  aufmerksam  beobachtet  habe.  Er 
habe  sich  diesen  Schatten  abgesteckt  und  sich  die  Orte  bemerkt,  wo  der 
Schatten  gleichsam  gestanden  hätte.    (Hier  erwähne  ich  nun  das  Wort 
Stunde,  und  die  Erklärung  desselben  liegt  in  dieser  vergegenwärtigten  Ge- 
schichte).   Nach  diesen  bemerkten  Abständen  lasse  ich  die  Menschen 
(also  erzählend)  die  Sand-  und  Wasseruhren  abtheilen.    Die  Sonnenuhren 
werden  künstlich  nachgeahmt,  indem  ich  die  Menschen  selbst  redend  ein- 
führe und  nachdenken  lasse,  wie  diefs  wohl  am  besten  zu  machen  sey.  Vor 
den  Augen  meiner  Kinder  steht  alles  lebendig  da  —  sie  hören  im  Geiste 
die  Menschen  über  diese  Dinge  sich  ihre  Gedanken  mittheilen.   Ehe  ich 
auf  manchen  guten  Vorschlag,  auf  manche  wichtige  Frage  in  einer  solchen 
Geschichte  antworten  lasse,  hat  vielleicht  schon  im  Stillen  das  Kind  selbst 
geantwortet,  und  freut  sich,  wenn  ich  dann  eben  so  antworten  lasse« 
(S.  76).    »Im  Religionsunterrichte  lasse  ich  die  Menschen  vor  den  Augen 
der  Kinder  auf  Gott  aufmerksam  werden,  lasse  sie  Schlüsse  ziehen,  die 
ganz  der  Kinderwelt  anpassend  sind,  lasse  gleichsam  in  fortlaufender  Er- 
zählung die  ungebildete  Menschheit  anfangen  zu  reflektiren,  und  die  ge- 
bildetere enden.    In  einer  solchen  kurzen  bündigen,  so  viel  als  möglich 
jener  geschilderten  Menschennatur  analogen  Geschichte  theilen  sich  die 
Mcnchen  einander  ihre  erworbenen  Ansichten  mit,  widerlegen  und  ver- 
bessern sie  selbst,  und  so  führe  ich  in  dieser  Geschichte  zugleich  noch 
einmal  die  Zeit  vor,  innerhalb  welcher  das  Vorzutragende  geschehen  ist 
—  ich  vergegenwärtige  noch  einmal  in  einem  solchen  Vortrage  den  Zeit- 
raum, in  welchem  diefs  alles  geschah.    Daher  sagte  ich  in  den  vorher- 
gehenden Erklärungen:  historisch  heifst  diese  Methode,  in  so  fern  als 
sie  die  Zeit  beobachtet,  oder  vielmehr  noch  einmal  im  Vortrage  vergegen- 
wärtigt, innerhalb  welcher  ich  diefs  alles  als  geschehen  annehme  (S.  77). 
Hier  werden  mir  viele  einwenden,  dafs  ich  bey  allen  Gegenständen  keine 
wahre  Geschichte  auffinden  könne.    Diefs  ist  wahr,  allein  es  schadet  nichts, 

6* 


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-    84  - 


wenn  auch  di-se  geschichtliche  Horm  aus  Wahrscheinlichkeiten  zusammen- 
gesetzt ist,  wenn  nur  das,  was  durch  sie  dem  Kinde  interessanter,  lebendiger 
und  anschaulicher  wird,  wahr  ist  und  in  sich  fest  begründet  steht.  Die 
geschichtliche  Form  soll  nichts  anders  zum  Zweck  haben,  als  die  Causal- 
reihe  sprechend  und  lebendig  dem  Zöglinge  vorführen.  Keine  Form 
vergegenwärtigt  so  anschaulich  das  Werdende  und  Geschehene,  als 
die  geschichtliche,  denn  sie  sucht  in  der  natürlichen  Reihenfolge  noch  ein- 
mal die  Veranlassungen  zu  jedem  neuen  Fortschritt  zu  vergegenwärtigen« 
(5.  78  .  —  Eine  jede  solche  Geschichte,  welche  irgend  einen  Theil  einer 
Wissenschaft  in  sich  fafst,  mufs  kurz  und  bündig  seyn,  ohne  alle  Weit- 
schweifigkeit, sie  muls  nur  die  Theile  des  Vorzutragenden  kurz  au!  einander 
folgen  lassen,  (als  Ursach  und  Wirkung)  jedoch  lebendiger  dargestellt  durch 
die  bündigste  Erzählung.  Der  Erzieher  mufs  so  viel  Kraft  und  Phantasie 
besitzen,  das  bey  der  Vervollkommnung  irgend  einer  Wissensehaft  ver- 
handelte Leben,  so  viel  als  möglich  ist,  noch  einmal  darzustellen  (ohne 
Gestikulation).  So  ist  z.  B.  die  ganze  christliche  Religion  in  eine  Geschichte 
eingekleidet  .  .  .  Man  darf  sich  nur  die  Hauptpunkte  der  gewordenen 
Wissenschaft  hinstellen,  und  sich  die  Reihenfolge  gehörig  bekannt  gemacht 
haben,  so  ist  es  dann  nicht  schwer,  diese  Dinge  in  eine  passende  Ge- 
schichte, die  sich  aus  der  erforschten  Stufenfolge  von  selbst  ergeben  mufs, 
zu  bringen.  Wenn  jeder  Theil  der  Wissenschaften  gleichsam  ein  kurzes 
bündiges  Drama  so  will  ich  die  Erzählung  nennen,  in  welchen  ich  die 
Menschen  noch  einmal  handeln  lasse)  vor  den  Augen  der  Kinder  spielt, 
so  wird  dadurch  ihr  ganzes  Wesen,  ihre  ganze  Seelenthätigkeit  in  Anspruch 
genommen.  Dafs  die  geschichtliche  Form,  oder  vielmehr  enger  genommen, 
die  historische  Einkleidung  der  Wissenschaften,  auf  Akademien  anders 
seyn  mufs,  als  auf  niedern  Schulen,  dafs  sie  aber  schon  dadurch  im  Wesent- 
lichen immer  noch  beybehalten  wird,  wenn  die  Lehrer  alle  Wissenschaften 
als  etwas  Geschehenes  vortragen,  diefs  wird  Niemand  läugnen  können. 
Allein  wo  es  möglich  ist,  die  Veranlassungen  und  Ursachen  jeder  Ver- 
besserung und  Vervollkommnung  der  Theile  der  Wissenschaft,  welche  ge- 
lehrt wird,  mit  anzugeben,  da  verschweige  man  sie  ja  nicht,  denn  diese 
die  Causalreihe  verlebendigende  Foim  ist  die  erziehendste,  bildendste,  und 
in  sofern  die  fesselndste  für  den  ganzen  Menschen  (S.  79  ff.)  —  Zu  dieser 
Methode  forderte  mich,  wie  die  Leser  gesehen  haben,  zuerst  [a|  die  Natur 
im  Grolsen  auf,  weil  sie  mir  alles  Gewordene  gleichsam  in  einer  Biographie 
darstellte  —  weil  sie  mir  alles  der  Form  nach  in  einer  Pflanzheit  zeigte  — 
weil  sie  mich  analog  schliefscn  liefs,  dafs  die  Produkte  des  menschlichen 
Geistes  in  der  Hauptform  ihres  Lebens  den  der  grofsen  Natur  ganz  ähnlich 
sind,  folglich  im  Ganzen  auch  so  behandelt  werden  müssen  (S.  80).  Meinen 
Entschlufs,  diese  längst  geahndete  Methode  als  die  richtigste  zu  wählen, 
befestigte  endlich  [b]  eine  vielseitige  und  sorgfältige  Beobachtung  der 
Kinderwelt.  In  der  Aufserung  der  Kinder  fand  ich,  dafs  sie  nicht  allein 
aik-s  als  etwas  Geschehenes  wollen  vorgetragen  haben,  sondern  dasselbe 
auch  in  der  Form  einer  wirklich  verhandelten  Geschichte,  gleichsam  noch 
einmal  vergegenwärtigt  'verlebendigt,  dramatisiert!  hören.  Die  Geschichte 


-    85  - 

der  Menschheit  sagte  mir  [c|  sehr  deutlich,  dafs  ich  mich  in  dieser  Be- 
obachtung nicht  getäuscht  hätte,  denn  alle  früheren  Völker  hätten  ihre 
ersten  Handlungeu  dramatisirt  (in  Geschichten  gekleidet)  dargestellt  S.  Si). 
—  Man  lese  die  ganze  Genesis  im  A.  T.  oder  vielmehr  das  ganze  A.  T., 
und  es  wird  nicht  schwer  seyn,  überall  die  Beweise  zu  dieser  Behauptung 
zu  finden.  Woher  das  Streben  der  früheren  Menschheit,  in  Mythen,  in 
Fabeln  und  Parabeln  zu  sprechen?  Alle  Versuche  des  Geistes  des  frühesten 
Alterthums,  so  viel  die  Zeit  uns  noch  davon  aufbewahrt  hat,  sind  in  dieser 
lebendigen  (geschichtlichen)  Form  dargestellt  und  vergegen- 
wärtigt ...  Was  die  Menschheit  im  Grofsen  überall  so  ein- 
stimmig deutlich  ausgesprochen  hat,  mufs  auch  bey  jedem  In- 
dividuo  angewendet  werden.  Die  Nachkommen  müssen  gleich- 
sam von  neuem  ihre  Bildung  beginnen  —  das,  was  als  Stoff  für 
diese  Bildung  gebraucht  wird,  mufs  die  Nachkommen  in  eben 
der  Form  wieder  ansprechen,  in  welcher  es  die  Vorfahren  aus- 
sprachen*). Die  Erzählung,  das  Geschichtliche  hat  auch  seine  Stufen- 
folge. Erst  ist  die  Erzählung  mythisch,  episch,  lyrisch,  in  Fabeln  und 
Parabeln  vergegenwärtigt,  dramatisch,  endlich  rein-faktisch  ohne  alle  Ein- 
kleidung **).  Dieser  Stufengang  des  Geschichtlichen  wechselte  sowohl 
in  Hinsicht  des  vorzuführenden  Stoffes,  als  auch  des  zu  erziehenden  In- 
dividuums (S.  82).  —  Verfasser  stellt  am  Schlufs  des  §  die  Frage:  »Ob 
nicht  diese  Data  sowohl  aus  der  Kinderwelt,  als  auch  aus  der  Geschichte 
der  Kultur  der  gesammten  Menschheit  entlehnt,  mehr  als  zu  sehr  gegen 
den  frühern  Gebrauch  katechetischer  Formen***)  und  blofser  logischen  Zer- 
gliederungssysteme in  dem  frühern  Unterrichte  sprechen?«  (S..83). 

§  3:  »Ich  habe  aber  diese  Methode  nicht  blos  historisch,  sondern  auch 
genetisch  genannt,  und  das  zwar  aus  folgenden  Gründen.  —  Es  können  bei 
der  historischen  Methode  alle  einzelnen  Theile  einer  Wissenschaft  in  Form 
einer  Geschichte  vorgetragen  werden,  ohne  dafs  zwischen  diesen  Thcilen 
die  nothwendige  Causalverbindung  beobachtet  wird.  Damit  nun  nicht  will- 
kührlich  jeder  beliebige  Theil  einer  Wissenschaft,  oder  irgend  eine  Wissen- 
schaft ergriffen  werde,  um  sie,  in  eine  historische  Form  eingekleidet,  dem 
zu  Erziehenden  bekannt  zu  machen,  so  wünschte  ich,  dafs  in  einem  solchen 
Unterrichte  auch  darauf  möchte  gesehen  werden,  dafs  alle  Theile  des 
vorzuführenden  Ganzen  wie  Ursache  und  Wirkung  aus-  und 
aufeinander  folgten.  Alle  Theile  der  vorzutragenden  Wissen- 
schaft müssen  in  eine  nothwendige  natürliche  Causalreihe  ge- 
bracht (diefs  nenne  ich  genetisch,  auseinander  geboren,  erzeugt)  und 
dann,  wenn  sie  in  diese  enge  natürliche  Stufenfolge  geordnet 
sind,  in  ein  his  torisches-geschichtliches  Gewand  eingekleidet, 
(diefs  nenne  ich  historisch,  erzählend)  den  Zöglingen  bekannt 
gemacht  werden«  (S.  84).!)  —  Es  ist  ein  Versuch,  der  sich  theils  auf 

*)  Beachtenswert! 
••)  Vgl.  Lindner  S.  51. 

••*)  PestaloMi,  A.  W.  Gruhe,  Ziller,  Thrändort. 
t)  Vgl.  S.  22  ff;  S.  54,  55  11.  87. 


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—    86  - 


pie  Analogie  der  Natur  im  Grolsen,  theils  und  das  vorzüglich,  auf 
die  genauere  psychologische  Beo bachtung  der  menschlichen 
Natur  gründet.  Dafs  mit  der  richtig  aufgefundenen  Genesis  alles  von 
den  Menschen  Geschaffenen  zugleich  auch  die  Anleitung  gegeben  ist,  ein 
dieser  Stufenfolge  nothwendig  entsprechendes  geschichtliches  (histori- 
sches) Gnwand  zur  Belebung  des  Gegenstandes  für  den  Unterricht  zu 
erfinden,  und  dafs  eine  solche  Geschichte  nicht  eher,  als  nach  der  voll- 
endeten Fixirung  der  Causalreihe  der  Theile  jedes  Objektes  für  den 
Unterricht,  gebildet  werden  darf,  wenn  sie  anders  nützlich  und  richtig 
bildend  seyn  soll,  ist  zu  einleuchtend,  als  dafs  es  darüber  noch  mehrere 
Worte  bedürfe«  (S.  85). 

Lindner  schliefst  mit  folgenden  Worten  (S.  86  ff):  »Ich  habe  mir 
den  Gang  der  Erziehung  der  Individuen  aus  der  gesammten 
Menschheit  geschöpft,  es  kommt  nun  darauf  an,  ob  ich  die  Form,  in 
welcher  das  Ganze  erzogen  worden  ist,  richtig  auigefafst  und  in  diesen  Ver- 
suchen richtig  übertragen  habe.  Eine  klare  Ansicht  der  Cultur  der 
ganzen  Menschheit  und  ein  sorgfältiges  anhaltendes  Er- 
forschen des  Ganges  derselben,  giebt  dem  Erzieher  weit  mehr  Aus- 
beute, als  alle  die  Erziehungsschriften,  die  immer  und  ewig  sich  nur  mit 
dem  Einzelnen  beschäftigen,  ohne  sein  Verhältnifs  zu  dem  Ganzen  genauer 
erwogen  zu  haben.  Das  Ganze  ist  mir  durchaus  die  Multipli- 
cirung  der  Individuen,  und  die  Individualität  die  Division 
der  Totalität;  alle  Theile  haben  die  Form  des  Ganzen,  und  das  Ganze 
vergegenwärtigt  die  Form  der  gesammten  'L  heile  ...  (S.  87).  So  wenig  diefs 
alles,  was  ich  über  diesen  Gegenstand  gesagt  habe,  neu  ist,  so  hat  es  mich 
demohngeachtet  so  mächtig  belebt  und  beseelt,  dals  ich  alle  die  Fehler, 
welche  ich  vielleicht  gegen  eine  streng-systematische  Ordnung  in  dieser 
Abhandlung  mir  habe  zu  Schulden  kommen  lassen,  einzig  und  allein  jener 
Lebendigkeit  zuzuschreiben  bitte,  mit  welcher  dieser  einfache,  alte  und 
natürliche  Weg  des  Erziehens,  der  bis  jetzt  nur  noch  nicht  streng  und 
aufstufend  genug  befolgt  wurde,  mein  ganzes  Wesen  erfüllt  hat«  (S.  88).*^ 

•)  Heft  I,  Seite  3a  (Anmerkung),  a.  Zeile  von  unten  ist  tu  erg&nsen:  J Sehers  »Gelehrten- 
Lexikon«  und  die  »Allg.  deutsche  Biographie«  haben  Fr.  Wllh.  Lindner  nicht  berücksichtigt.  In 
der  >Ailg.  Encyklopftdle«  von  Ersch  und  Gruber  (43.  Teil  der  II.  Serie,  1889)  findet  sich  kein 
Artikel  über  L  ;  auch  In  dem  im  Drack  befindlichen  44-  Teile  ist  ein  solcher  von  der  Redaktion 

S.  33,  Z.  »7  von  oben  Ist  ansufUgen:  Lindner  starb  i.  J  1864.  Verfasser  kennt  bis  jetzt 

nur  e  i  n  Exemplar  der  Lindnerschen  Schrift  »Über  die  historisch-genetische  Methode«; 
es  befindet  sich,  wie  bereits  S.  75  bemerkt  wurde,  in  der  mit  der  Sudtbibliothek  vereinigten 
Politischen  Bibliothek  in  Leipcig.  Die  K.  Bibliothek  tu  Dresden  hesittt,  wie  Herr  Ober- 
bibliothekar Dr.  Schnorr  von  Carolsfeld  mir  auf  eine  Anfrage  mitteilte,  die  Schrift  in  lateinischer 
Sprache  (s.  S.  34  35  untrer  Arbeit»  Vielleicht  hat  einer  der  Leser  Kenntnis  von  dem  Vorhanden- 
sein eines  anderen  Exemplars,  Es  ist  mir  tro«  jahrelangen  Bemühens  nicht  gelangen,  das  voll- 
ständig vergriffene  Büchlein  antiquarisch  su  erlangen. 


-    87  - 


2.  Zum  Kampf  um  die  Schule. 

Von  Joh.  Trüper  in  Jena. 

II.  Zur  Rechtsfrage  im  Schulkampfe. 

(Fortsetzung.)-) 

Wer  sich  unterrichten  will,  wie  vor  dem  Windthorstschen  Antrage 
selbst  mild  denkende  und  friedfertige  evangelische  Theologen  über  das 
Verhältnis  der  Schule  zur  Kirche  dachten,  den  verweise  ich  auf  die  Schrift: 
„Die  deutsche  Schule  in  ihren   verschiedenen  Formen  und  Ab- 
stufungen und  P*re  Stellung  zur  christlichen  Kirche.    Von  Pastor  em. 
(und  früherem  Seminardirektor)  Dr.  E.  Weber.    (Band  X,  Heft  3  der 
»»Zeitfragen  des  christlichen  Volksleben««.  Heilbronn,  Gebr.  Henniger. 
1885);« 

sowie  auf  meine  Beurteilung  derselben  im  »Ev.  Schulblatt«  1888,  No.  3. 
S.  110 — 116. 

Wie  andere  Geistliche  denken,  lehrt  der  „Neue  Beitrag  zur  Leidensgeschichte 
der  Volksschule"  von  Dörpfeld;  ebenso  der  Aulsatz:  „Was  ist  die  Schule?"  von 
Professor  Dr.  Klaus  Harms  in  Kiel  im  »Süddeutschen  Schulboten«  von 
1857,  No.  25  und  die  Beurteilung  der  Dörpfeldschen  Leidensgeschichte  von 
seinem  jetzigen  Redakteur,  Herrn  Dekan  Kübel  in  EfsHngen,  Jhrg.  1883, 
No.  15,  16  und  17. 

Ein  aufs  tiefste  beschämendes  Zeugnis  wider  die  württembergische 
protestantische  Geistlichkeit  liefert  auch: 

„Die  wurttembergisohe  Volksschulgesetzgebung  im  fünfzigsten  Jahre 
ihres  Bestandes.  Eine  Vergleichung  ihrer  Bestimmungen  mit  den 
Bedürfnissen  der  Zeit.  Vom  Ausschusse  des  Württembergischen  Volks- 
eohuftehrervereins    Stuttgart.    Karl  Auer  Verlag.    1886.    162  S. 

»Neuundvierzig  Jahre«,  so  lautet  am  Schlüsse  (S.  160)  die  in  vielen  Punkten 
sehr  begründete  Klage,  »sind  seit  dem  Erscheinen  des  Schulgesetzes  ver- 
flossen, und  uoch  ist  die  Volksschule  eine  arme  Magd  (der  Kirche,  ;  neun- 
undvierzig Jahre  lebte  die  Volksschule  in  armseligen  Verhältnissen,  und 
noch  liegt  sie  im  Kampf  ums  Dasein ;  neunundvierzig  Jahre  klagt  der  Volks- 
schullehrerstand über  Not  und  Entbehrung,  und  noch  ruft  er  um  Hilfe; 
neunundvierzig  Jahre  schon  >hat  die  Kirche  gegenüber  der  Volksschule  die 
weltliche,  die  Administrativ-  und  Justizgewalt  in  ihrer  Hand«  und  noch  ist 
das  Verlangen  nach  der  Sonderung  der  Schule  von  der  Kirche  nicht  ge- 
stillt.« Dafs  das  alles  nicht  geschehen,  das  haben  nach  der  Schrift  leider 
zumeist  die  evangelischen  Geistlichen  und  ihre  Freunde  im  Landtage  ver- 


*;  S.  Päd.  Stud.  1890  1.  u.  4.  Heft.  Vergl.  hierzu  die  Schriftrn  des  Herrn  Trüper,  die 
Fanulienrechte  an  der  ÖCTentl.  Erziehung.  Langensalza  1890  u.  Die  Schute  u.  die  socialen  Fragen 
unserer  Zeit.    3  Hefte.   Gütersloh  1890.    D.  Red. 


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-  88 


schuldet,  —  der  >rö mische  Sauerteig«  in  der  evangelischen  Kirche,  sagt 
Pastor  Zahn. 

Beyschlag  urteilt  anders  und  ist  für  die  Sonderung.  Ja,  er  läfst 
sich  zu  Äufserungen  hinreifsen,  die  ihm  viele  evangelische  Geistliche  ge- 
wils  verargen  werden.  So  bekämpft  auch  er  die  Fabel  von  der  Mutter 
und  Tochter,  indem  er  sagt:  »Herr  Windthorst  hat  in  dieser  Sache  manches 
unwahre  Wort  geredet,  aber  kein  unwahreres,  als  da  er  ausrief:  ,Die  Kirche 
hat  die  Schule  geschaffen  und  mittelst  derselben  die  Kultur  verbreitet, 
welche  im  deutschen  Vaterlande  war.'  Es  ist  von  der  Volksschule  die 
Rede,  Herr  Windthorst,  nicht  von  der  Gelehrtenschule;  treiben  Sie  nicht 
Taschenspielerei!  Die  katholische  Kirche  hat  im  Mittelalter  wohl  Gelehrten- 
schulen gegründet;  an  eine  Volksschule,  an  eine  Schule  für  alle  hat  sie 

gar  nicht  gedacht.«  —  »Der  Gedanke  der  Volksschule  ist  ein 

eigentümlicher  Gedanke  der  Reformation;  wenn  eine  Kirche  als  Mit- 
stifterin  moralische  Anrechte  an  die  Volksschule  hat,  so  ists  die  prote- 
stantische«. —  »Aber  auch  die  evangelische  Kirche  hat  es  nicht  über 

Ansätze  und  Anregungen  hinausgebracht.«  —  »Der  Staat  —  —  ist  der 
eigentliche  Schöpfer  dessen,  was  wir  Volksschule  nennen,  der  öffentlichen 
Bildungs-  und  Erziehungsanstalt  für  alle«.  Die  Schule  ist  für  Beyschlag 
Staatsanstalt  und  nichts  als  eine  Staatsanstalt. 

Im  »Zweiten  Abschnitt«  :  Recht  und  Pflicht  des  Staates  an  der 
Volksschule  in  Preufsen«  verteidigt  Jiittlng  in  seiner  Schrift  gani 
wie  Beyschlag  die  Rechte  des  Staates  gegenüber  der  Kirche,  aber  er  ist 
»kirchlicher«  als  der  Theologe,  und  wir  sind  es  mit  ihm.  Unter  Staat  ver- 
steht er  nicht  »die  organisierte,  wohlgegliederte  menschliche  Gesellschaft 
eines  Landes  unter  einem  Oberhaupte  zum  Schutze  des  Rechts  und  Be- 
sitzes wie  zur  Förderung  allgemeiner  Wohlfahrt«,  sondern  »nichts  anderes 
als  die  Staatsregierung  samt  ihren  Organen,  den  Staatsbehörden, 
und  zwar  mit  spezieller  Beziehung  auf  das  Schulwesen,  also  das  Kultus- 
ministerium und  seine  Schulorgane«.  »Der  preufsische  Staat,  also 
die  königliche  Staatsregierung,  erhebt  den  Anspruch  darauf,  die  Schule, 
und  zwar  die  ganze  Schule  samt  den  in  ihr  gelehrten  Fächern,  ausschliefs- 
lich  zu  beaufsichtigen  und  zu  leiten,  ist  aber  zur  Erreichung  der 
pädagogischen  Aufgaben  allezeit  bereit  gewesen,  den  Organen  der  bürger- 
lichen und  kirchlichen  Gemeinden  einen  gewissen  Anteil  an  Schulrechten 
und  Schulpflichten  zu  übertragen,  indes  doch  nur  so,  dafs  ihm  stete  die 
Oberaufsicht  und  Oberleitung  verbleiben.  Zu  dieser  Oberhoheit  hat  der 
Staat  ein  wohlbegründetes  historisches  Recht.«  (S.  43).  »Was  Geist- 
liche und  Nichtgeistliche  zur  Förderung  des  Schulwesens  gethan  haben,  das 
haben  sie  im  Sinne  und  Geiste  ihrer  Landesherren  und  zumeist  auf  deren 
ausdrückliches  Geheifs  gethan.«  (S.  45.)  Dafür  liefert  Jütting  ähnlich  wie 
Beyschlag  den  historischen  Beweis.  Von  »Staatsschulen«  redet  Jütting 
aber  nicht.  Ja,  wir  lesen  auf  S.  52:  »Auf  den  dem  Herrn  Minister  (Falk)  im 
Herrenhause  gemachten  Vorwurf,  dafs  er  durch  den  Schulaufsichtsentwurf 
die  Schule  von  der  Kirche  trenne,  bemerkt  dieser:  Das  Wort  Trennung 
der  Kirche  von  der  Schule  ist  gefallen.    Es  handelt  sich  bei  diesem  Ge- 


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-    89  - 


setze  nicht  um  Trennung  der  Schule  von  der  Kirche,  sondern  um  eine 
genauere  Abgrenzung  der  Rechte  des  Staates  und  der  Kirche 
von  der  Schule,  um  nichts  anderes,  insbesondere  nicht  um  eine  Lösung 
des  Zusammenhangs  zwischen  Kirche  und  Schule.«  »Die  Schulen  als  Ver- 
anstaltungen des  Staates«  des  »Allg.  Landrechts«  sind  in  der  Verfassung 
von  1850  verschwunden.  Hier  stehen  sie  nur  nach  Artikel  23  »unter  der 
Aufsicht  vom  Staate  ernannter  Behörden.« 

Noch  mehr  als  Jütting  hat  aber  Beyschlag  in  seiner  Broschüre  treffend 
nachgewiesen,  wie  Windthorst  es  durch  seine  bewundernswerte  taktische 
Kunst  versteht,  »durch  das  Dogma  die  Geschichte  zu  besiegen«,  um 
so  seinen  Antrag  historisch  rechtfertigen  zu  können.  Dieselbe  Methode 
finden  wir  aber  auch  im  entgegengesetzten  Lager  angewendet,  um  die 
reine  Staatsschule  zu  rechtfertigen.    So  in  der  Schrift: 

Die  Schule  in  ihrem  Verhältnis  zu  Staat  und  Kirche.  Kulturhistorisch- 
Pädagogische  Studie  von  C.  Neeee.  Berlin.  1889.  Hermann  Brieger. 
32  S.    Preis  50  Pf. 

Neesc  verteidigt  also  wie  Beyschlag  die  Staatsschule,  oder  da  man  mit 
Recht  die  Windthorstsche  Schule  »Priesterschule«  nennt,  so  mufs  diese 
gemäfs  Jüttings  Definition  —  Bureaukraten-  oder  Staatsbcamtcnschulc  ge- 
nannt werden.  Aber:  »der  Beweggrund  zur  Herausgabe  dieser  kleinen 
Schrift  liegt  in  der  sicheren  Voraussicht,  dafs  die  moderne  Staatsmacht 
noch  einmal  gezwungen  sein  wird,  in  absehbarer  Zeit  den  Kampf  mit  einem 
nach  Hegemonie  strebenden  Klerus  beider  Konfessionsanstalten  auf- 
zunehmen. Dieser  Kampf  gilt  nicht  speziell  kirchlichen  Interessen,  sondern 
er  wird  geführt  werden  um  die  Herrschaft  auf  dem  Gebiete  der  Schule, 
insbesondere  der  Volksschule.«  (Vorwort.) 

»Von  jeher  ist  keine  menschliche  Institution  so  viel  umworben  und 
noch  mehr  umstritten  worden  als  das  Gebiet  der  Schule.  Familie,  Ge- 
meinde (welcher  die  bürgerliche,  die  kirchliche  oder  —  die  Schulgemeinde ?), 
Staat:  —  sie  alle  erhoben  seit  Jahrhunderten  und  erheben  noch*  heute,  jeder 
dieser  Gemeinschaftsfak'oren  für  sich  und  alje  gemeinsam  angeblich  voll- 
berechtigte Ansprüche  an  dieselbe,  oft  ein  ausschlicfsliches  Recht  mit 
völliger  Hintenansetzung  der  Rechte  des  Andern.-  (S.  5.)  Aber  weil  »in 
dem  modernen  Kulturleben  die  Bedeutung  der  Familie  hinter  den  Staats- 
gedanken zurücktritt  *),  und  bei  konsequenter  Weiterentwickclung  desselben 
(doch  nur  nach  französischem  oder  nach  sozialistischem  Vorbilde?)  auch 
die  Bedeutung  der  Gemeinde  eine  Einschränkung  erleiden  mufs,«  so  bleiben 
»inbezug  auf  die  Schule  nur  noch  die  beiden  grofsen  Gemeindewesen,  Staat 
und  Kirche  übrig,  von  denen  jedes  vollen  Rechtsanspruch  erhebt«.  (S.  6.) 
Nun  soll  »die  schwebende  Rechtsfrage  (zwischen  Staat  und  Kirche  S.  32) 
an  der  Volksschule  vom  historischen  Entwickelungsstandpunkte  Beleuchtung 
erfahren,«  und  »dieser  Standpunkt«  soll  nach  dem  Vorwort  für  den  Ver- 
fasser »entscheidend  sein«. 

Wie  ist  es  nun  mit  demselben  bestellt? 


*  Richtiger  wäre:  gewaltsam  «urückgeschohen  wird. 


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-    9o  — 

r 

♦  Der  ursprünglich  und  geschichtlich  älteste  Boden,  auf  welchem  sich 
seiner  Zeit  die  Erziehung  der  Jugend  ausschliefslich  bewegte,  ist  die 
Familie.«  (S.  7.)  Doch  »Moses  schon  wurde  unterwiesen  in  aller  Weis- 
heit der  Ägypter  ;  Daniel  auf  Staatskosten  in  der  Magie  und  andern  chal- 
däischen  Wissenschaften  ausgebildet  und  zwar  in  dem  königlichen  (!)  Er- 
ziehungsinstitut zu  Babel«  u.  s.  w.  »Hier  haben  wir  also  schon  die  Staats- 
schule  (!):  die  Erziehung  der  \\)  Jugend  ist  nationale  Erziehung.»  (S.  8.) 
Der  Verfasser  verschweigt  durchaus  nicht,  dafs  die  Griechen  stets  gegen 
die  Staatscrzichungsidee  zu  Gunsten  der  Familienrechte  mit  Erf  ol  g  gekämpft 
haben.  Und  »in  Rom  blieb  die  Erziehung  des  künltigen  Staatsbürgers 
Sache  der  Familie,  war  Sache  des  Hauses.«  Wo  die  Staatserziehungsidee 
»auftauchte,  war  sie  von  vornherein  totgeboren.  So  lehrt  denn  die  Ge- 
schichte der  alten  Kulturstaaten,  dafs  man  hier  schon  sehr  früh  erkannte, 
wie  wichtig  es  sei,  dafs  der  Staat  sich  um  die  Erziehung  der  Jugend 
kümmere,  sie  womöglich  selbst  in  die  Hand  nehme  und,  wie  in  Sparta*), 

auch  durchführe.  Nirgends  findet  sich  das  prinzipielle  Streben,  dem 

Staate  das  Recht  der  Jugenderziehung  streitig  zu  machen.«  (S.  10  f.)  »Das 
Christentum  überträgt  auch  ihm  als  höchstem  Inbegriff  des  Familien-  und 
Gemeindewesens  die  Rechte  und  Pflichten  beider  in  weitestem  Umfange 
und  damit  auch  das  Recht  und  die  Pflicht  der  Jugenderziehung.«  (S.  12.) 
Vom  Christentum  wird  die  Kirche  streng  unterschieden.  Sie  ist  blofs 
»Konfessionsanstalt«.  Wann  und  wo  ist  nun  aber  jene  Übertragung  ge- 
schehen? Christus  hat  wahrscheinlich  Hcrodes  und  Pilatus  die  Staatsschule 
zur  Pflicht  gemacht  und  Paulus  dem  Kaiser  Nero.  So  schreibt  man  »kultur- 
historisch-pädagogische Studien«  oder  richtiger:  so  besiegt  man  durch  das 
Dogma  von  der  Staatserziehung  die  Geschichte,  wie  Windthorst  durch  das 
der  Priestererziehung.  Richtig  ist,  wie  auch  Jütting  und  Beyschlag  nach- 
weisen, dals  vom  Grofsen  Kurfürsten  ab  die  Brandenburg  -  Preufsischen 
Regenten  »die  Schulen  als  Staatsanstalten  betrachtet  wissen  wollten.« 
(S.  19).  Thatsächlich  haben  sie  sie  aber  nie  als  Staatsanstalten  betrachtet, 
wenigstens  nicht  behandelt,  denn  sonst  würden  sie  sie  doch  nicht  von  den 
Kirchen-,  Schul-  oder  bürgerlichen  Gemeinden  haben  ernähren  lassen.  Ein 
solcher  Rabenvater  ist  der  preufsische  Staat  nie  gewesen,  dafs  er  eine 
»Tochter«  (S.  24)  von  andern  Gemeinschaften  hätte  versorgen  lassen  können. 
Die  »Staatsanstalt«  ist  frommer  Wunsch  geblieben  und  in  Artikel  23  und  24 
der  preufsischen  Verfassungsurkunde  von  1850  ist  auf  das  Staatsmonopol 
durchaus  Verzicht  geleistet,  nur  nicht  in  dem  Sinne,  wie  Windthorst  es 
wünscht.  Und  einmal  angenommen:  durch  die  Erklärung  der  Staatsregenten 
seien  die  Schulen  im  vollsten  Sinne  Staatsanstalten  geworden,  wäre  das 
entscheidend  für  unsern  Standpunkt?  Gewifs,  dem  Herkommen  gemäfs 
hätte  dann  der  Staat  das  Recht,  auf  welches  Recht  sich  auch  ja  Windthorst 
steift.   Wir  haben  aber  nach  dem  moralischen  Recht  und  nach  dem 

*>  Spart*  ist  Mutter  für  Neese.  Denn:  »Ohne  allen  Zweifel  hat  die  Ersiehung  der  sparta- 
nischen Jugend  auf  Grund  jener  Staatsgesetse  für  unsere  heutige  Zeit,  wie  die  Verhältnisse  sich 
nun  einmal  gestaltet  haben,  etue,  wenn  auch  nicht  materielle,  so  doch  immerhin  prinzipielle  Be- 
deutung erlangt.«    (S.  101. 


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—   9i  — 


Zweckmäfsigen  zu  forschen  und,  uns  voll  in  das  Bestehende  fügend,  mit 
legitimen  Mitteln  dahin  zu  streben,  dafs  das,  was  zweckmäfsig,  was  recht 
und  billig  ist,  auch  als  Recht  zur  gesetzlichen  Anerkennung  gelange.  Im 
andern  Falle  ist  es  auch  ein  schreiendes  Unrecht  gewesen,  dafs  man  die  absolute 
Fürstenmacht,  die  Leibeigenschaft  und  die  Sklaverei  aufgehoben  hat  und 
noch  heute  gegen  letztere  Kreuzzüge  in  fremde  Erdteile  veranstaltet.  Sie 
hatten  alle  drei  das  Recht  des  historisch  Gewordenen  für  sich.  Ja  die 
Sklaverei  hatte  sogar  durch  den  heiligen  Augustin  »christliche«  Sanktion 
erhalten. 

Doch: 

»Die  unvermutet  freundliche  Aufnahme  der  kleinen  Schritt:  ,Die 
Schule  in  ihrem  Verhältnis  zu  Staat  und  Kirche',  das  günstige  Urteil  der 
deutschen  Presse  aller  Schattierungen,  vor  allem  aber  die  an  den  Ver- 
fasser gerichteten  Wünsche,  speziell  die  preufsisch-deutschen  Schulvcrhält- 
nisse  in  ihrer  nationalpolitischen  Ausgestaltung  und  namentlich  die  Frage 
der  Schulaufsicht  unter  Beleuchtung  zu  stellen,  haben  Veranlassung  ge- 
boten, mit  (auch  uns  zur  Besprechung)  vorliegender  Schrift  in  die  Öffent- 
lichkeit zu  treten.«    So  beginnt  das  Vorwort  einer  zweiten  Schrift: 

,Dle  preuMisch-deutsche Volksschule  ihr  Streben  nach  nationaler 

Selbständigkeit  und  Einheit  und  die  Schulatifslehtsfrage  seit 

1807  bis  zur  Jetztzeit  von  C.  Nee»e.    2.  Auflage.    Berlin  1889.    IV  u. 

72  S. 

Und  wirklich,  der  Verfasser  hat  recht.  »Der  deutsche  Reichs- 
anzeiger und  preufs.  Staatsanzeiger«,  das  »Berl.  Tagebl.«,  die  »Bert. 
Zeitung«,  die  »K  ieler  Zeitung«,  das  »Hamburger  Fremdenblatt« 
spenden  der  Schrift  das  gröfste  Lob,  wie  »Auszüge«  auf  dem  Umschlage 
bekunden.  »Die  Broschüre  ist  mehr  als  eine  blofse  »Studie«,  sie  ist  eine 
historisch-wissenschaftliche  Untersuchung  und  Klarstellung  einer 
Rechtsfrage  zu  Gunsten  des  Staates.«  So  der  »Reichsanzeiger«,  ähnlich 
so  die  übrigen.  Wir  greifen  uns  wie  Beyschlag  an  die  Stirn  und  fragen 
verwundernd:  Woher  kommt  das?  Der  »Reichsanzeiger«  giebt  die  beste 
Erklärung:  »Derjenigen  Anschauung,  welche  dem  S  t  aa  t  e  auf  dem  Gebiete 
der  Schule  keine  irgendwie  nennenswerte  Rolle  zuerkennt,  tritt  die  obige, 
soeben  erschienene  Schrift  in  dankenswerter  Klarheit  und  Schärfe  ent- 
gegen.« 

Hätte  Neese  die  Fragen  untersucht,  ohne  gegen  die  Geschichte  und 
die  Logik  zu  fehlen,  so  würden  auch  wir  ihm  das  Lob  des  »Reichs- 
anzeigers« nicht  vorenthalten  können.  Allerdings  den  Anwalt  des  Staates, 
der  Kirche  oder  mächtiger  politischer  Parteien  zu  spielen,  ist  eine  dank- 
bare Aufgabe.  Man  kann  die  haarsträubendsten  Schlufsfolgerungen  machen 
und  wird  wegen  seiner  Wissenschaftlichkeit  gelobt.  Man  kann  heilige 
Rechte  mit  Füfsen  treten'  und  man  hat  Rechtsfragen  klargestellt.  Wer 
aber  weder  nach  links  noch  rechts  sieht,  der  mufs  sich  zufrieden  geben, 
wenn  er,  wie  Dörpfeld,  von  allen  Seiten  der  Mächtigen  unbeachtet  bleibt, 
und  sich  dafür  der  Verheifsung  getrösten  :  »Die  Wahrheit  wird  euch  frei 
machen«  und  doch  endlich  den  Sieg  davon  tragen. 


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Doch  in  der  zweiten  Schrift  geht  Neesc  einen  wesentlichen  Schritt 
weiter,  gerät  aber  dabei  in  eigenartige  Widersprüche.  Er  will  »die 
nationalpolitische  Stellung  der  preufsisch-deutschen 
Volksschule  innerhalb  der  Grenze  des  Staatsbegriffs« 
behandeln.  \S.  III.)  Weil  »beide  Schriften  mit  einander  in  engster  Ver- 
bindung stehen«  und  >ein  organisches  Ganz«  bilden  sollen,  so  wollen  wir 
sie  auch  in  dieser  Verbindung  betrachten.  Zu  einer  Betrachtung  aber 
kann  uns  für  diese  auch  nur  der  Umstand  nötigen,  dafs  sie  innerhalb  eines 
erst  halb  verflossenen  Jahres  zwei  Auflagen  erlebt  hat  und  wir  es  mithin 
mit  einer  weitverbreiteten  Anschauung  zu  thun  haben. 

Im  Gegensatz  zur  ersten  behauptet  diese  zweite  Schrift :  »Auf  den 
Trümmern  von  Jena  und  Auerstädt  wurde  die  preufsische  Volksschule 
geboren!«  Jene  hat  sie  nämlich  schon  durch  das  »Allg.  Landrecht«  für 
eine  Staatsanstalt  erklären  lassen  (S.  21),  nachdem  sie  es  eigentlich  schon 
durch  die  Erziehung  des  Moses  thatsächlich  gewesen  sein  soll.  Auch  die 
»Staatsschule«  verwandelt  |sich  S.  31  plötzlich  in  »eine  Tochter  des 
Volkes,  der  Nation«,  in  »eine  Nationalanstalt«,  welche  Ansicht  der 
unsrigen  sehr  nahe  käme,  wenn  sie  nicht  Volk  und  Nation  als  völlig  gleich- 
bedeutende Begriffe  hinstellen  wollte.  Weiter:  Die  Schule  als  Staatsanstalt 
kann  unseres  Erachtens  nicht  selbständig  sein,  sie  bleibt  eben  Staats- 
anstalt; doch  die  zweite  Schrift  lehrt:  »Nein,  die  Schule  ist  ein  selb- 
ständiges Kulturinstitut,  geschaffen  durch  den  Staatsgedanken  (d.  h.?}, 
dienend  der  Kulturgesellschaft,  deren  Verkörperung  der  Kulturstaat  ist.« 
(S.  56).  Oder  soll  Windthorst  auch  das  Recht  haben,  seine  Anschauung 
zu  erklären  :  Die  Schule  ist  ein  selbständiges  Kulturinstitut,  geschaffen 
durch  den  Kirchengedanken  usw.?  Die  erste  Schrift  erörterte  die  Frage, 
ob  die  Schule  dem  Staate  oder  der  Kirche  gehöre.  Staat  und  Kirche 
waren  also  zwei  einander  ausschliefsende  Begriffe.  Die  zweite  sagt  eben- 
falls auf  S.  68 :  »Die  Schule  gehört  der  allgemeinen  Lebensgemeinschaft, 
d.  h.  dem  Staate,  voll  und  ganz  ohne  irgend  welche  Einmischung  von 
Seiten  der  Kirche«,  aber  S.  66:  »Die  Schule  und  ihre  Lehrer  sind  im 
Organismus  des  Staates  ebenso  selbständige  Faktoren,  wie  Kirche  und 
Klerus.«  Demnach  mufs  auch  die  Kirche,  die  für  den  Verfasser  eine  »Kon- 
fessionsanstalt« ist,  wie  die  Schule  zugleich  »Staatsanstalt«,  also  dem  Staate 
untergeordnet  sein.    Das  sind  aber  logische  Widersprüche. 

In  der  ersten  Schritt  müssen  wir  der  Abhängigkeit,  hier  aber  dem 
Grade  der  Selbständigkeit,  den  Schule  und  Lehrer  besitzen  sollen, 
leider  entgegentreten,  wenn  der  Verfasser  fortfährt:  »Die  Stellung  des 
Volksschullehrers  in  der  Gesellschaft,  im  Staate,  in  der  Gemeinde  ist 
eine  ebenso  freie  und  unabhängige  wie  die  des  Geistlichen«,  nnd  wir 
sind  gespannt,  was  der  »Reichsanzeiger«  zu  dieser  zweiten  »historisch- 
wissenschaftlichen  Untersuchung  und  Klarstellung  einer  Rechtsfrage«  sagen 
wird.  Denn  das  soll  nicht  etwa  blofs  heifsen :  beide  Stände  sind  mit  dem- 
selben Mafse  zu  messen,  sondern  :  für  Schule  und  Lehrerstand  ist  die  Kirche 
mit  dem  Klerus,  die  hierarchische  Verfassung,  mafsgebend.  Denn  auf 
S.  23  lesen  wir  mit  gleichem  Druck  ausgezeichnet:    »Die  freien  Schulen 


93 


müssen  unter  Beamten  stehen,  die  aus  der  Mitte  der  Volksschulmänner 
hervorgehen.  De  r  Volksschullehrer  übt  dami  t  ei  n  ihmgehöriges 
Recht  aus.  Kreis-  und  Lokal-Inspektoren  gehen  aus  Wahlen  hervor. 
Ein  freier  Stand  wählt  frei  seine  Beamten.«*)  Das  haben  aller- 
dings »die  Schulmänner  des  Jahres  48«  geredet,  die  »die  Gabe  und  Kraft 
der  freien  Gedankenäufserung  besafsen,  vor  der  sich  kein  Parlamentarier 
hätte  zu  genieren  brauchen« ;  aber  in  einer  Fufsnote  zum  letzten  Satze 
identifiziert  der  Verfasser  seine  Wünsche  damit,  wenn  er  sagt:  »Wie  weit 
sind  wir  heute  von  diesem  Ziele  entfernt!«  Doch  Gott  wolle  nicht  blofs 
die  deutsche  Volksschule  und  ihre  Lehrer,  sondern  das  gesamte  Bildungs- 
wesen vor  dieser  Scholarchie  mit  ihrem  Schulpfaffentum  in  Gnaden  be- 
wahren !  Dafs  unsere  Vater  in  ihrem  Rausche  des  Jahres  48  sich  einmal 
zu  solchen  Äusserungen  verstiegen  haben,  wollen  wir  ihnen  gern  nachsehen. 
Es  war  eine  ganz  natürliche  Reaktion  gegen  die  plötzlich  abgeworfen  ge- 
glaubten drückenden  Fesseln  der  bis  dahin  nach  Willkür  herrschenden 
Staats-  und  Kirchenpfaffen.  Wie  man  aber  heute  mitten  im  konsti- 
tutionell e  n  Staats-  und  sich  entwickelnden  synodalen  Kirchenleben 
solche  illiberale  Ziele  im  Auge  haben  kann  und  noch  dazu  den  öffentlichen 
Beifall  rinden,  ist  schwer  zu  begreifen.  Die  Extreme  berühren  sich  auch 
hier:  der  radikale  Ultramontanismus  auf  kirchlichem  und  der  radikale 
Liberalismus  auf  scholastischem  Gebiete  haben  im  Grunde  dieselben  Prin- 
zipien und  auch  auf  ihrem  Gebiete  dieselben  Ziele. 

»In  diesem  Zeichen  der  Freiheit  wird  die  Volksschule,  wird  der 
preufsisch-deutsche  Lehrerstand  siegen  und  sich  in  immer  aufsteigender 
Linie  bewegen.  Ein  anderes  Zeichen  giebt  es  für  sie  und  für  ihn  nicht!« 
So  schliefst  der  Verfasser  seine  Schrift.  Wird  der  Sieg  gelingen,  dann  hat 
•die  (auf  S.  71  citierte)  Prophetenstimme«  von  1848:  »An  einem  schönen 
Morgen  wird  man  ausgehen,  die  Kirche  zu  suchen  und  wird  die  Religion 
(welche  r)  finden.  Darum,  Ihr  Volksschullchrer,  seid  ruhig,  Ihr  seid  unsre 
Erben!«  insofern  recht,  als  sie  die  Erben  der  römisch-katholischen 
Hierarchie  sein  werden,  und  die  »preufsisch-deutsche  Volksschule  innerhalb 
der  Grenzen  des  Staatsbegriffs«  dieselbe  »national-politische  Stellung« 
einnehmen  wird,  welche  die  römisch-preufsisch  katholische  Volkskirche  jetzt 
bekleidet. 

Dies  Schul-Utopien  könnte  man  schlicfslich  von  der  scherzhaften  Seite 
fassen ,  aber  es  hat  eine  sehr  ernste ;  denn  diese  oder  doch  ähnliche  For- 
derungen sind  die  einfachen  Konsequenzen,  die  aus  der  »historisch-wissen- 
schaftlichen Untersuchung  und  Klarstellung  einer  Rechtsfrage  zu  Gunsten 
des  Staates«  hervorgehen.  In  diesem  Punkte  hat  der  Verfasser  im  Gegen- 
satz zu  Beyschlag,  der  auf  halbem  Wege  stehen  geblieben,  »dankenswerte 
Klarheit  und  Schärfe«  entwickelt,  und  es  sollte  uns  freuen,  wenn  der 
»Reichsanzeiger«  auch  dies  anerkennen  würde.  Der  Verfasser  hat  die 
Frage  »von  einer  selbständigen  Stellung  der  Volksschule  und  ihres  Lehrer- 


•..  Sehr  richtig;  aber  die  Beamten  der  Schule,  die  er  ineint,  sind  nicht   »seine«  Beamten. 
Lehrervercinsprs*identcn  etc.  hat  er  sich  immer  frei  wählen  können.    Die  meint  d.  V.  aber  nicht. 


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Standes«  und  >die  Schulaufsichtsfrage«  thatsächlich  »auf  dem  politisch- 
historischen Entwickelungsboden  belassen«  (S.  IV.).  Auf  diesem  Boden 
hat  er  gezeigt,  dafs  der  Dualismus  zwischen  Kirche  und  Staat  auf  die 
Dauer  unhaltbar  ist  und  seit  jeher  die  nationalen  Kulturinteressen  geschädigt 
hat,  gleichviel  ob  dieser  Dualismus  in  dem  »Kondominat«  besteht,  den 
Beyschlag  leider  nur  bei  den  »Römisch-Katholischen«  sieht,  oder  ob  er 
dadurch  erzeugt  wird,  dafs  der  Staat  wegen  der  Unfähigkeit  seiner  eigent- 
lichen (nur  juristisch  und  staatswissenschaftlich  gebildeten)  Beamten  oder 
wegen  Nachgiebigkeit  gegen  die  Geistlichkeit  die  von  Neese  mit  vollem 
Recht  zurückgewiesene  un fachmännische  geistliche  Aufsicht  und  Leitung 
aufrecht  erhält.  Dieser  unhaltbare  Dualismus  kann  auf  jenem  Boden  nur 
schwinden,  entweder  wenn  »die  preufsisch-deutsche  Volksschule  und  ihr 
Lehrerstand  nicht  länger  ein  Anhängsel  der  Kirche  bleiben,  sondern  der- 
selben absolut  entzogen«  (S.  70),  d.  i.  Schule  und  Kirche  vollständig  von 
einander  isoliert  werden,  wie  es  in  Frankreich  geschehen,  wo  deshalb  nach 
Neese  Ansicht  »die  äufsere  Stellung  der  Volksschule  entschieden  weiter 
ist«  (S.  71);  oder:  wenn  der  Centrumsantrag  realisiert  und  der  Staat  das 
innere  Schulleben  der  Kirche  ganz  überläfst  und  sich  mit  der  Sorge  für 
die  Unterhaltung  begnügt.  In  jenem  von  Neese  gewünschten  Fall  mufs  der 
Staat  schliefslich  eine  Hierarchie  von  fachmännisch  gebildeten  Schulbeamten 
schaffen  an  Stelle  der  Geistlichen.  Der  Staat  kann  seiner  Natur  nach 
kein  Vaterherz  für  die  ihm  von  Neese  angedichtete  »Tochter«  haben. 
Das  hat  Neese  mit  dankenswerter  Klarheit  dargestellt.  Denn  seit  Jena  und 
Auerstädt,  wo  die  eigene  Not  den  Staat  zur  Zeugung  getrieben  haben 
soll,  bis  zum  heutigen  Tag  hat  nach  Neese  ihm  alles  von  den  Lehrern  ab- 
gebettelt und  von  den  Volksvertretern  abgedrängt  werden  müssen.  Was 
Falk  gethan,  bleibt  nach  Neeses  Ausführungen  lediglich  ein  persönliches 
Verdienst.  Der  Staat  kann  kein  Herz  und  daher  auch  nicht  viel  Geld  für 
die  Schule  übrig  haben,  oder  es  müfste  denn  eine  Schule  für  seine  Zwecke, 
seine  Beamten,  also  etwa  eine  Kadattenanstalt,  eine  Universität  etc.  sein. 
Infolgedessen  werden  die  Schularbeiter,  die  Lehrer,  zur  politischen  Partei- 
nahme gedrängt  werden  und  die  der  Volksschule  geraten  so  natur- 
gemäfs  den  oppositionellen  Parteien  in  die  Arme.  Eine  rein  staatliche 
Verwaltung  kann  zudem  des  Bureaukratismus  sich  nicht  entäufsern,  um  so 
der  Natur  der  Schule  gerecht  zu  werden  und  den  Lehrerstand  zu  befriedigen ; 
sie  mufs  dem  Wesen  des  Staates  zufolge  von  oben  herab  durch  In- 
struktionen regieren,  und  in  den  meisten  ihrer  Verwaltungszweige  geht  es 
auch  thatsächlich  kaum  anders.  Das  Post-,  das  Telegraphen-,  das  Eisen- 
bahn-, das  Polizei-,  das  Militärwesen  u.  s.  w.  kann  das  ertragen,  das  Er- 
ziehungsgeschäft nicht.  Denn  es  ist  an  zu  viele  individuelle,  intellektuelle  und 
moralische  Mannigfaltigkeit  gebunden  und  entzieht  sich  daher  ähnlich  wie 
die  Kunst  aufsenstehender  Beurteilung.  Es  folgt  daraus  die  Notwendigkeit 
eines  gewissen  Grades  von  Freiheit  für  die  Lehrer,  und  zwar  inbezug  auf 
die  Schularbeit  sowohl,  als  inbezug  auf  die  davon  untrennbare  Schulleitung, 
eine  Freiheit,  die  der  Staat  seinen  Beamten  nicht  gewähren  kann.  »Weckung 
des  Bcwufstseins  der  Selbstverantwortlichkeit  des  Lehrers  durch  Gewährung 


95  — 


der  Möglichkeit,  die  Standesehre  in  der  Schularbeit  und  in  der  Schulleitung 
zu  behaupten«,  ist  aber  eine  unabweisbare  Forderung.  Weil  nun  obendrein 
der  Staat  für  seine  legitimen  Anstalten,  für  das  Militärwesen  mit  den 
Militärschulen,  für  das  Postwesen  und  seine  Anstalten  u.  s.  w.  stets  Geld, 
für  die  Volksschule  es  aber  nie  gehabt  hat,  so  ist  es  »kein  Wunder,  dafs 
eine  grofse  Zahl  von  Lehrern  von  der  negativen  Politik  eines  Richter 
das  Heil  erhofft,  welches  ihm  die  besseren  Parteien  versagen«;*)  sie 
müssen  auf  die  Parteien  bauen,  die  das  Wort  »Freiheit«  und  die  »Volks- 
interessen« wenigstens  auf  ihre  Fahne  geschrieben  haben,  so  himmelweit 
sie  auch  sonst  von  der  echten  Liberalität  entfernt  sein  mögen  ,  sie  müssen 
auf  dem  weiten  Umwege  der  grofsen  Politik  nach  ihrem  Ziele  streben,  so 
lange  durch  eine  vernünftige  Ausgliederung  des  Schulwesens  ihnen  diese 
Möglichkeit  genommen  und  die  berechtigten  Forderungen  gewährt  werden. 
»Der  Lehrer  hat  eben  auch  Anteil  an  den  konstitutionellen  Errungen- 
schaften der  Gegenwart.  Er  wählt  und  —  so  sehr  er  sonst  ignoriert  wird 
—  die  politischen  Parteien  buhlen  um  seine  Gunst;  denn  sie  wissen,  dafs 
die  Tausende  von  Lehrern  im  Reich  nicht  ohne  Einflufs  auf  die  Wahlen 
sind«,**)  so  wenig  auch  dem  Lehrer  und  der  Schule  diese  Art  von  Be- 
achtung nützt,  da  sie  tumultuarischer  Natur  ist  und  nicht  aufbaut,  sondern 
schadet,  wie  nach  Jütting  (S.  30)  das  belgische  Schulwesen  so  eindringlich 
uns  predigt. 

Allen  diesen  für  den  Staat  wie  für  die  Schule  gefährlichen  Klippen 
entgeht  man  nur  dann,  wenn  man  dem  Staate  nicht  mehr  zuspricht,  als 
ihm  historisch  wie  nach  Recht  und  Billigkeit  zukommt,  und  nicht  mehr 
von  ihm  verlangt,  als  seine  Natur  zuläfst  und  er  gewähren  kann;  wenn 
man  einsieht,  dafs  die  Schule  keine  »Tochter«,  nicht  einmal  eine  Anstalt 
des  Staates  ist,  so  sehr  er  sich  ihrer  in  den  Zeiten  der  Not  auch  um 
seinetwillen  angenommen  hat  und  hoffentlich  sich  ihrer  auch  fortan  in 
seinem  eigenen  und  seinen  Unterthanen  wohlverstandenen  Interesse  an- 
nehmen wird,  indem  er  ihr  zu  einer  ihrer  Aufgabe  und  ihrem 
Wesen  entsprechenden  Verfassung  verhilft  und  sie  nament- 
lich, da  schützt  und  unterstützt,  wo  sie  schwach  ist,  also  seine  sozial- 
politische Gesetzgebung  auf  dem  Gebiete  der  Volksschule  fortsetzt. 
Dafs  die  Schule  seiner  Aufsicht  unterstellt  bleibt,  ist  dabei  selbstverständ- 
lich. Diese  Aufsicht  bleibe  aber  eine  blofse  Aufsicht.  Dafs  der  Staat 
(d.  h.  wie  immer  das  Staatsbeamtenwesen)  zum  Schulehalten  und  -leiten 
keinen  Beruf  hat,  beweist  auch  die  übermächtige  Reformbewegung  auf  dem 
Gebiete  des  höheren  Schulwesens,  dessen  »ganzes  System«,  wie  der  Kaiser 
selbst  sich  ausdrückt,  den  Bedürfnissen  der  Zeit  keinerlei  Rechnung  zu 
tragen  wufste. 

Das  ganze  Schulwesen  bedarf  einer  Erneuerung  seiner  Verfassung. 
Die  Lehrplan-  und  Schuleinrichtungsfragen,  womit  die  Reformbewegung 

•)  Pastor  Detlev  Zahn,  Pädagogisch«  Lesefrüchte.    Ev.  Schulbl.  1885,  No.  3  S  .68  f. 

Ströfer,  Ober  die  Notwendigkeit  einer  Reform  der  hergebrachten  Schulverwaltung.  Gotha. 
Behrend.    18S5.   S.  6. 
*•  Zahn,  a.  a.  O. 


96 


sich  fast  ausschliefslich  beschäftigt,  sind  nur  symptomatische  Erscheinungen. 
Das  ursächliche  Übel  liegt  in  der  überlebten  bureaukratischen  Schulver- 
fassung,  welche  auch  der  neue  preufsische  Volksschulgesetzentwurf  treulich 
konservieren  helfen  will,  sowie  in  dem  Kastengeiste,  welcher  das  Schul- 
wesen nicht  als  ein  ganzes  und  ein  einheitlich-nationales  zu  erfassen  ver- 
mag oder  es  nicht  will,  sondern  das  » höhere *  Schulwesen  und  das  »Volks«- 
Schuhvesen  zum  Schaden  beider  als  vollständig  isolierte  Gebiete  behandelt. 
Und  das  wird  anscheinend  leider  so  lange  dauern,  bis  auch  hier  die  Sozial- 
demokratie gefährlich  wird  und  das  Blatt  umzuwenden  droht. 


3.  Seminarkonferenz  zu  Barby. 

28.  August  1890. 

Die  diesjährige  Volksschullehrerkonfercnz  am  Seminar  zu  Barby  war 
für  die  in  Magdeburg  und  Umgegend  wohnenden  Anhänger  der  Pädagogik 
Herbarts  von  hohem  Interesse  Der  neuernannte  .Seminardirektor  Herr 
Vogt  hatte  »Die  Bedeutung  der  Pädagogik  Uerbarts  für  unser  Volksschul- 
wesen zum  Thema  seines  Vortrages  gewählt.  Der  Inhalt  desselben  war 
in  acht  Leitsätze  zusammengetäfst. 

1.  Die  Hcrbartsche  Pädagogik  betrachtet  als  letzten  Zweck  alles 
Unterrichtes  die  Bildung  zur  Sittlichkeit;  diese  Zweckbestimmung  ist  die 
denkbar  tiefste  und  fruchtbarste;  sie  erträgt  in  keiner  Weise  eine  Er- 
weiterung und  ist  auf  der  andern  Seite  einer  nähern  Bestimmung  nicht 
bedürftig. 

2.  Die  metaphysischen  Voraussetzungen ,  aus  denen  jene  Zweck- 
bestimmung abgeleitet  wird,  sind  nicht  frei  von  Widersprüchen  und  sind 
für  die  Begründung  der  bezüglichen  Bestimmung  durchaus  entbehrlich. 

3.  Die  Herbartsche  Pädagogik  selbst  hat  in  der  Lehre  von  dem  viel- 
seitigen gleichschwebenden  Interesse  für  die  Verwirklichung  jenes  Zweckes 
die  psychologische  Vermittlung  nachgewiesen. 

4.  Die  Herbartsche  Pädagogik  hat  in  der  Theorie  von  den  Lehrformen 
und  von  den  formalen  Stufen  in  unanfechtbarer  Weise  den  Weg  bezeichnet, 
auf  welchem  das  Interesse  gebildet  und  damit  die  Verwirklichung  des 
letzten  Zwecks  ermöglicht  wird. 

5.  Die  Forderung  der  kulturhistorischen  Stufen  und  der  mit  denselben 
gefafsten  Konzentration  des  Unterrichts  stellt  sich  eben  so  sehr  als  eine 
Überspannung  wie  als  eine  Veräufserlichung  bestimmter  Grundgedanken 
des  Systems  dar.  Dieselbe  beruht  zudem  auf  teils  unbewiesenen,  teils 
irrigen  Voraussetzungen  und  zeigt  sich  endlich  als  praktisch  undurch- 
führbar. 


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—   97  — 


6.  Es  bleibt  fortschreitender  Arbeit  vorbehalten,  das  trotzdem  be- 
deutende Moment  der  Wahrheit,  das  jener  Forderung  innewohnt,  herauszu- 
heben und  praktisch  fruchtbar  zu  gestalten. 

7.  Die  innere  Gröfse  der  Herbartschen  Pädagogik  zeigt  sich  endlich 
in  der  Bedeutung,  die  dieselbe  für  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  hat 
Sie  schärft  ihm  vor  allem  das  Gewissen,  giebt  seinem  Streben  eine  ein- 
heitliche Richtung  und  eine  scharf  umgrenzte  Grundlage,  erhebt  seine 
Arbeit  über  die  Stufe  einer  blofs  äufserlichen  Betriebsamkeit  und  stellt 
ihm  die  bestimmte  Aufgabe,  an  den  höchsten  Zielen  der  Menschheit  an 
seiner  Stelle  mitzuarbeiten. 

8.  Aus  allem  diesen  ergiebt  sich,  dafs  die  Herbartsche  Pädagogik 
nach  ihrem  wesentlichen  Inhalt  die  Elemente  in  sich  trägt,  deren  die  Volks- 
schule der  Gegenwart  zu  ihrer  innern  Weiterbildung  bedarf. 

Die  Besprechung,  an  der  sich  aufser  dem  Referenten,  Herrn  Seminar- 
direktor Vogt,  besonders  Pastor  Müller  zu  Barby,  Rektor  Ecke  aus  Löder- 
burg,    Rektor  Felsch- Magdeburg  und  Lehrer  Hollkamm-Drakenstedt  be- 
teiligten, drehte  sich  um  drei  Hauptpunkte,  um  die  Metaphysik  Herbarts 
und  um  ihr  Verhältnis  zu  seiner  Psychologie  und  Pädagogik,  sodann  um 
die  Formalstufen,  besonders  um  die  Zielangabe,  und  endlich  um  die  Ideen 
der  kulturhistorischen  Stufen  und  der  Konzentration  des  Unterrichts.  Bei 
Beginn  der  Debatte  machten  allerdings  einige  Redner  noch  den  Versuch, 
Diesterweg  als  denjenigen  hinzustellen,  auf  dessen  Schultern  die  Herbartsche 
Pädagogik  ruhe.   Dieser  Versuch  wurde  jedoch  mit  leichter  Mühe  zurück- 
gewiesen durch  den  Hinweis  darauf,  dafs  Diesterweg  zwei  Jahrzehnte  nach 
Herbart  gelebt  habe.    Jene  Redner  meinten  offenbar  die  Herbart-Zill  ersehe 
Pädagogik,  sprachen  das  jedoch  weder  klar  aus,  noch  verwandten  sie  es 
zu  ihrer  Verteidigung.    Seminardirektor  Vogt  machte  jeder  weiteren  Er- 
örterung über  diesen  Punkt  dadurch  ein  Ende,  dafs  er  betonte,  er  habe 
in  seinem  Vortrage  nicht  den  geringsten  Anlafs  zur  Besprechung  der  histo- 
rischen Frage  gegeben ,  wie  sich  das  Verdienst  Diestcrwegs  zu  dem 
Herbarts  verhalte.     Man  könne  dann  auch  fragen,  ob  nicht  Pestalozzis 
oder  Frankes  oder  Comenius  Verdienst  das  gröfsere  sei  und  gelange  leicht 
zu  dem  unfruchtbaren  Standpunkte  zu  sagen,  es  sei  alles  schon  dagewesen, 
also  solle  alles  beim  alten  bleiben.    Da  der  erste  Leitsatz  keinen  Wider- 
spruch fand,  so  wandte  man  sich  dem  zweiten  von  den  metaphysischen 
Voraussetzungen  der  Pädagogik  Herbarts  handelnden  Satze  zu    Die  Aus- 
führungen des  Vortrages  deckten  sich  so  ziemlich  mit  dem,  was  Oster- 
mann gegen  die  Metaphysik  Herbarts  vorgebracht  hat.    Dieselbe  wurde 
zwar  nicht  eigentlich  verteidigt,  doch  wiesen  die,  welche  zu  dem  zweiten 
Leitsätze    das  Wort  ergriffen,   einerseits   darauf'  hin,  wie  vielfach  die 
Herbartsche  Metaphysik  raifsverstanden  sei,  wie  selten  man  ihr  ein  gründ- 
liches, vorurteilsloses  Studium  gewidmet  habe,  andererseits  machten  sie 
geltend,  dafs  Herbarts  Psychologie  und  Pädagogik  nicht  allein  auf  seiner 
Mcthaphysik,  sondern  zumeist  auf  dem  breiten  Boden  der  Erfahrung  ruhe, 
aus  der  sie  hauptsächlich  die  Beweise  für  ihre  Richtigkeit  entnehme.  Die 
Metaphysik  suche  ihrerseits  nur  die  in  den  Erfahrungsbegriffen  enthaltenen 

Pädagogische  Studien.    II.  7 


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98  - 


Widersprüche  zu  heben,  sei  also  für  das  Studium  der  Psychologie  und 
Pädagogik  entbehrlich.  Darum  habe  ihr  Herbart  in  seinem  >Lehrbuche 
der  Psychologie«  nur  einen  ganz  kurzen  Abschnitt,  in  seinem  Hauptwerke 
>Psychologie  als  'Wissenschaft«  gar  keinen  besondern  Abschnitt  gewidmet. 
Bei  demjenigen  Teil  der  Debatte,  welcher  die  Formalstufen  zum  Gegen- 
stande hatte,  wurde  die  Frage  nach  der  Notwendigkeit  der  Zielangabe  auf- 
geworfen und  energisch  bejaht,  ferner  wurden  die  Mängel  der  sogenannten 
katechetischen  Lehrform  hervorgehoben  und  endlich  wurden  die  formalen 
Stufen  gegen  den  oft  an  anderer  Stelle  erhobenen  Einwand  verteidigt,  als 
legten  sie  dem  Lehrer  unerträgliche  Fesseln  auf.  Auch  darauf  wurde  auf- 
merksam gemacht,  dafs  die  Formalstufen  sich  nur  sehr  unvollkommen  aus- 
führen liefsen,  wenn  man  die  Ideen  der  Konzentration  und  der  Kulturstufen 
ablehne.  Dies  hatte  der  Vortragende  gethan.  Leider  hatte  er  dabei  die 
erste  unvollkommene  Gestalt  im  Auge,  welche  Ziller,  als  er  jene  beiden 
Ideen  zu  verwirklichen  suchte,  seinem  Lehrplane  notgedrungen  geben 
mufste,  so  lange  die  Ausdehnung  der  Idee  der  kulturhistorischen  Stufen 
auf  die  Stofffolge  von  Geschichte,  Naturkunde  und  Zeichnen  noch  nicht 
möglich  war,  weil  die  dazu  nötigen  Untersuchungen  fehlten.  Seit  den 
Arbeiten  von  Zillig,  Beyer  und  Menard,  so  wurde  dem  Referenten  entgegen- 
gehalten, bezeichneten  die  Anhänger  Zillers  selbst  seinen  ersten  Konzen- 
trationsbegriff als  einen  überwundenen  Standpunkt,  redeten  von  Anklebe- 
konzentration u.  s.  w.  Man  habe  nie  gefordert,  es  solle  der  gesamte 
Unterricht  im  Gesinnungsunterricht  aufgehen,  aber  mehr  als  früher  betone 
man  die  relative  Selbständigkeit  eines  jeden  Faches,  daneben  natürlich 
auch  die  zentrale,  herrschende  Stellung,  die  der  Religionsunterricht  ein- 
nehmen müsse.  Auch  wurde  darauf  hingewiesen,  wie  schwierig  eine  all- 
seitige Begründung  der  Idee  der  kulturhistorischen  Stufen  sei  und  wieviel 
Zeit  nötig  wäre,  eine  solche  Arbeit  auszuführen.  Damit  wurde  die  Be- 
sprechung geschlossen. 

Einige  bemerkenswerte  Einzelheiten  der  Konferenz  sind  noch  hervor- 
zuheben. Der  Vertreter  der  Königl.  Regierung,  Herr  Regierungs-  und 
Schulrat  Schönwälder-  bemerkte  in  seiner  Begrüfsungsrcde  unter  anderm 
auch,  dafs  derjenige,  welcher  sich  noch  jetzt  gegen  die  Ideen  der  Pädagogik 
Herbarts  verschliefse,  entweder  eigensinnig  oder  ein  Ignorant  sei.  Erfreu- 
lich war  die  Art  und  Weise,  in  welcher  Herr  Seminardirektor  Vogt  für  die 
Herbartschc  Pädagogik  eintrat.  Wenn  er  von  ihren  Anhängern  rühmte, 
dafs  sie  die  Ideen  ihres  Meisters  mit  einer,  in  unserer  ideenarmen  Zeit  fast 
befremdlichen  Begeisterung  vertreten  hätten,  so  galt  das  Gleiche  von  ihm 
selbst.  Begreiflich  war  es  daher,  dafs  kein  eigentlicher  Gegner  Herbarts 
auftrat.  Der  einzige,  welcher  es  zu  sein  schien,  bezeichnete  sich  wenigstens 
als  ein  »Zwei-Drittel«  Herbartianer.  Die  Konferenz  war  von  mindestens 
500  Lehrern  und  Geistlichen  besucht.  Die  Mitglieder  der  beiden  Herbart- 
vereine Magdeburg  und  Eichenbarleben  waren  fast  vollzählig  erschienen. 
Unzweifelhaft  bedeutet  die  Konferenz  einen  Erfolg  unserer  Sache,  und  es 
wird  durch  dieselbe  das  Interesse  für  Herbarts  Pädagogik  sicher  eine  be- 
deutende Steigerung  erfahren.  H. 


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4.  Der  X.  deutsche  Kongress  für  erziehliche  Knaben- 
handarbeit in  Strassburg.*) 

Am  24.  und  25.  August  fand  in  Strafsburg  der  X.  Kongrefs  für  erzieh- 
liche Knabenhandarbeit  statt.  Aus  allen  Gauen  des  deutschen  Vaterlandes 
waren  Vereinsmitglieder  erschienen,  um  an  den  Beratungen  teilzunehmen. 
Viele  deutsche  Regierungen  und  Städte  hatten  sich  vertreten  lassen.  Der 
Kanton  Basel  und  der  schweizerische  Verein  für  Knabenhandarbeit  hatten 
ebenfalls  einen  Vertreter  gesandt.  Um  1 1  Uhr  wurde  der  Kongrefs,  welcher 
im  grofsen  Aubettesaale  stattfand,  eröffnet.  Der  Vereinsvorsitzende  Herr 
Lammers  aus  Bremen  begrüfste  die  Versammlung  und  verlas  hierauf  die 
Namen  der  vertretenen  Regierungen  und  Städte.  Nachdem  er  den  Er- 
schienenen noch  für  das  bekundete  Interesse  gedankt  hatte,  erteilte  er 
dem  geheimen  Oberschulrat  Dr.  Albrecht  aus  Strafsburg  das  Wort. 

Derselbe  begrüfste  die  Anwesenden  im  Namen  des  Herrn  Staats- 
sekretärs von  Puttkamer  und  des  Kaiserlichen  Oberschul rates.  Er  wies  hin 
auf  die  gleichen  Ziele,  welche  Verein  und  Schulverwaltung  verfolgen.  Beide 
wollen  nicht  blofses  Kennen,  sondern  vor  allem  tüchtiges  Können.  Kr 
schlofs  mit  dem  Wunsche,  dafs  reicher  Segen  aus  den  Verhandlungen  her- 
vorgehen möge. 

Herr  Beigeordneter  Hochapfel  aus  Strafsburg  rief  den  Kongrefs- 
besuchern  im  Namen  der  Stadt  ein  herzliches  Willkommen  zu.  Er  wies 
hin  auf  die  Freude,  welche  die  Nachricht  hervorgerufen  habe,  dafs  der 
Verein  für  erziehliche  Knabenhandarbeit  hier  seinen  Kongrefs  abhalten 
wolle.  Er  sehe  die  Wahl  Strafsburgs  als  Kongrcfsort  als  eine  Anerkennung 
der  Bemühungen  unserer  Stadt  zur  Hebung  der  Handarbeit.  Der  Arbeit 
des  Vereins  diene  im  letzten  Grunde  dem  Ausbau  des  soaialen  Friedens. 

Herr  Unterstaatssekretär  Braun-Behrens  begrüfst  den  Kongrefs  im 
Namen  des  Herrn  Ministers  des  Innern,  der  mit  regem  Interesse  den  Be- 
strebungen des  Vereins  folge.  Diese  seien  idealer  Natur  ;  sie  gehen  darauf 
hinaus,  den  Mensch  immer  harmonischer  auszubilden.  Als  Beweis  der  Not- 
wendigkeit harmonischer  Ausbildung  führte  er  Goethe  an,  der  ja  auch  dazu 
beigetragen  habe,  den  Boden  Strafsburgs  zu  einem  klassischen  zu  machen. 
Er  freue  sich,  den  Verhandlungen  beiwohnen  zu  können,  da  er  von  der 
Wahrheit  und  Idealität  der  Vereinsbestrebungen  erfüllt  sei.  Die  Aus- 
stellung enthalte  viel  erstaunliches  und  erfreuliches. 

Herr  Oberschulrat  Wallraff  in  Karlsruhe  entbietet  dem  Kongrefs  einen 
freundnachbarlichen  Grufs  aus  Baden,  als  dessen  Vertreter  er  hier  stehe. 
Auch  in  Baden  sei  schon  ein  kleiner  Anfang  gemacht  worden.  Der  Land- 
tag habe  eine  bedeutende  Summe  bewilligt,  wodurch  die  Sache  der  Knaben- 
handarbeit eine  wirksame  Förderung  erfahren  werde.  Man  strebe  gegen- 
wärtig in  seinem  Lande  hauptsächlich  darnach,  den  Unterricht  in  methodisch 
richtigerer  Weise  zu  erteilen,  als  dies  bisher  geschah.    Er  betonte  haupt- 

•l  Vergl.  da*  3.  Heft  »Au*  dem  I'äd.i^og.  LnivcrMUt^Vitn'm.tr  zu  Jtin..  Langem..!/.-. 
Beyer.   (I».  Red.) 

7* 


IOO  — 


sachlich  die  Forderung  der  Freiheit  und  Freiwilligkeit  inbezug  auf  Ein- 
führung und  Teilnahme  an  diesem  Unterrichtsfache. 

Aus  den  Beyrüfsungsw  orten  des  geheimen  Oberschulrates  Greim  aus 
Darmstadt  ist  ersichtlich,  dafs  in  Hessen  zwar  noch  wenig  geschehen  sei; 
dafs  aber  trotzdem  auch  dort  die  Idee  der  Knabenhandarbeit  Eingang  ge- 
funden und  festen  Fufs  gefafst  habe. 

Ks  wurde  nun  zur  Wahl  des  Vorstandes  geschritten.  Herr  Hoch- 
apfel aus  Strafsburg  übernahm  den  Vorsitz  und  erteilte  Herrn  Lammers 
aus  Bremen  das  Wort  zur  Festrede.  Herr  Lammers  gab  einen  kurzen 
Überblick  über  die  bisherige  Thätigkeit  der  Kongresse.  Man  habe  bisher 
vorzugsweise  Süddeutschland  aufgesucht,  weil  die  Idee  der  Knabenhand- 
arbeit in  Norddeutschland  schneller  Boden  gefafst  habe,  als  in  Süddeutsch- 
land und  hier  infolgedessen  die  Agitation  notwendiger  sei  als  dort.  Das 
Zentral-Komitee  wurde  im  Jahre  1881  gegründet.  1886  ging  man  nach 
Stuttgart,  wo  der  Verein  für  erziehliche  Knabenhandarbeit  ins  Leben  gc- 
rufen,  und  die  Gründung  einer  Lehrerbildungsanstalt  unter  der  Leitung  des 
Herrn  Oberlehrers  Dr.  Götze  beschlossen  worden  ist.  1887  (and  der  Kongrefs 
in  Magdeburg  statt,  18S8  in  München,  1889  in  Hamburg  und  dieses  Jahr 
nun  in  Strafsburg.  Aufgabe  des  diesjährigen  Kongresses  ist  es,  über  die 
Einführung  der  Knabenhandarbeit  in  ländlichen  Schulen  zu  beraten  und 
endgültige  Entscheidung  über  die  Art  und  Weise  des  Fortbestehens  der 
Lehrerbildungsanstalt  in  Leipzig  zu  treffen. 

Herr  Oberlehrer  Dr.  Götze,  der  bisherige  Leiter  der  Lehrerbildungs- 
anstalt in  Leipzig  spraeh  nun  über  das  Thema :  Wesen  und  Ziele  des 
deutschen  Knabenhandarbeitsunterrichtes.  An  die  Spitze  seines  Vortrages 
stellte  er  die  Worte  Pestalozzis:  »Wer  aus  dem  Wissen  sein  Handwerk 
macht,  der  hat  sehr  acht  zu  geben,  dafs  er  das  Thun  nicht  verlernt.«  Da 
der  Hauptwert  aller  Erziehung  in  der  Entfaltung  der  Individualität  des 
Zöglings  zu  suchen  ist,  so  müsse  man  dahinstreben,  dafs  der  Schüler  sich 
an  seiner  Erziehung  selbst  bethätige,  weil  diese  Selbstbethätigung  ein  höchst 
wichtiger  Faktor  iSt,  um  jene  zu  erreichen.  Redner  ^führte  hierauf  eine 
Reihe  von  Warnungen  vor  der  Oberschätzung  des  blofsen  Wissens  an.  So 
sagt  z.  B.  Comenius:  Nur  durch  Thun  gelangt  der  Mensch  zum  wahrhaften 
Sein.  Der  erziehliche  Wert  des  Handarbeitsunterrichtes  ist  ganz  besonders 
zu  betonen.  Daneben  laufen  aber  noch  eine  ganze  Reihe  von  Neben- 
crfolgen  her,  welche  nicht  unterschätzt  werden  dürfen:  Übung  von  Auge 
und  Hand,  Lntwickelung  des  Farben-  und  Formensinnes,  EinHufs  auf  Ge- 
sundheit u.  s.  w.  Alle  Richtungen,  welche  sich  bis  jetzt  geltend  gemacht 
haben,  sei  es  in  Bezug  auf  Lehrcrpersonal,  Methode,  Unterrichtsgegen- 
stände u.  s.  w..  einigen  sich  in  der  Betonung  der  hohen  erzieherischen  Be- 
deutung. Zwar  sei  noch  viel  zu  thun,  bis  das  Ideal,  allgemeine  Einführung 
des  Knabenhandarbeitsunterrichtes  in  allen  Schulen,  erreicht  sei.  Aber 
man  hege  die  feste  Zuversicht,  dals  auch  auf  diesem  Gebiete  ein  Um- 
schwung eintreten  werde.  Schon  oft  haben  sich  in  den  verschiedenen 
Jahrhunderten  die  Erziehungsideale  verschoben.  Man  denke  nur  an  den 
Kampf  zwischen  Humanismus  und  Realismus.    Auf  beiden  Seiten  wurde 


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mit  grofser  Erbitterung  gefochten.  Doch  verschaffte  sich  die  Ansicht,  dafs 
das  Wortwissen  leerer  Schall  sei,  dals  nicht  die  Bücher,  sondern  die  Sinne 
die  Vermittler  der  Erkenntnis  sein  sollen,  immer  mehr  Ansehen  ;  besonders 
war  dies  der  Fall  seit  Entwickelung  der  naturwissenschaftlichen  Forschung. 
So  konnte  es  auch  geschehen,  dafs  die  Bemühungen  Pestalozzis  dem  An- 
schauungsunterricht in  der  Schule  Einlafs  zu  verschaffen,  nicht  erfolglos 
waren.  Dieser  grofse  Bahnbrecher  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  habe 
aber  seine  Gedanken  nur  zur  Hälfte  in  Anwendung  gebracht.  Derselbe 
fordere  noch  eine  Ergänzung,  die  Handarbeit.  Diese  sei  ein  gesteigerter 
Anschauungsunterricht.  Fröbel  hat  diesen  Gedanken  in  seinen  Kinder- 
gärten in  die  Praxis  übersetzt  und  es  sei  nun  Autgabe  des  Vereines  für 
erziehliche  Knabenhandarbeit,  seinen  hohen  erzieherischen  Wert  auch  für 
das  vorschulpflichtige  Alter  nutzbar  zu  machen.  Drei  Fächer  sind  es, 
welche  ganz  besonders  dem  Thätigkcitskreis  der  Schüler  Rechnung  tragen: 
Turnen,  Zeichnen  und  als  ergänzendes  Binde-  und  Mittelglied  die  Hand- 
arbeit. Wie  die  beiden  erstgenannten  Fächer  nicht  erst  durch  theoretische 
Erörterungen  in  »den  Lehrplan  gelangt  seien,  so  dürfe  auch  der  Hand- 
arbeits-Unterricht nicht  auf  scholastischem  Boden  wachsen.  Immer  mehr 
mache  sich  die  Forderung  der  Bethätigung  in  allen  Schulgattunaen  geltend, 
in  den  höhern  Lehranstalten  sowohl  als  in  den  Elementarschulen.  Es  ge- 
nügt ein  Blick  auf  die  Art  und  Weise  des  heutigen  Universitätsstudiums, 
des  heutigen  Lehrverfahrens  in  höhern  Lehranstalten,  Seminarien,  Volks- 
schulen u.  s.  w.  Wie  sehr  der  Unterricht  durch  Nutzbarmachung  des 
Thätigkeitstriebes  gewinne ,  ist  einleuchtend.  Zwar  werde  dadurch  das 
Fortschreiten  etwas  gehemmt,  doch:  Wenig  und  gut,  ist  besser  als  viel 
und  schlecht. 

Höher  als  dieser  unmittelbare  Gewinn  ist  der  unmittelbare  Einflufs 
auf  die  Erziehung.  Sie  entwickelt  die  Willenskraft  durch  stufenweises  Vor- 
wärtsschreiten, erzieht  zur  Ausdauer  und  Zähigkeit.  Welch  reicher  Gewinn 
für  unsere  Zeit,  die  so  sehr  willensstarker  und  energischer  Männer  bedarf. 

Die  Idee  des  Handarbeitsunterrichtes  ist  in  einem  Zeitraum  vor  lo 
Jahren  durch  fast  ganz  Europa  gezogen,  überall  festen  Fufs  fassend.  Nord- 
amerika und  selbst  Japan  haben  sich  mit  dieser  Frage  beschäftigt.  Das 
ist  ein  Beweis  dafür,  dafs  die  Handarbeit  ein  wichtiges  Erziehungsmittel 
ist  und  dafs  es  nicht  verschwinden  wird,  wenn  auch  Schlendrian  und  Vor- 
urteil versuchen  werden,  die  neue  Idee  im  Sumpfe  der  Gleichmütigkeit  zu 
begraben.  Ihre  Freunde  werden  sich  bemühen,  die  Handarbeit  hochzuhalten» 
denn  sie  trägt  dazu  bei,  dafs  der  Satz  den  Sieg  behalte :  Und  sie  (die 
Menschheit  und  ihre  Gesittung)  bewegt  sich  doch. 

Oberlehrer  Dr.  Götze  hatte  folgenden  Leitsatz  aufgestellt  :  In  Er- 
wägung, dafs  der  erziehliche  Knabenhandarbeitsunterricht  die  Reihe  der 
bisherigen  Bildungsmittel  erweitert,  indem  er  zu  dem  vorzugsweise  auf  die 
Ausbildung  der  geistigen  Kräfte  hinzielenden  Schulunterricht  systematische 
Übungen  in  der  werkthätigen  Arbeit  hinzufügt,  und  in  Erkenntnis  der  That- 
sache,  dafs  es  bei  dem  heutigen  Stande  des  Kulturlebens  notwendig  ist, 
die  Anlagen  und  Kräfte  der  heranwachsenden  Jugend  zu  allseitigerer  Ent- 


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Wickelung  zu  bringen,  erachtet  der  X.  Kongrefs  es  für  wünschenswert,  dafs 
die  leitenden  deutschen  Schulverwaltungen  den  erziehlichen  Knaben-Hand- 
arbeits-Unterricht in  den  Lehrplan  der  Volksschulen  wie  der  höheren  Lehr- 
anstalten als  einen  freiwilligen,  und  in  den  Lehrerbildungsanstalten,  —  zur 
Gewinnung  der  erforderlichen  Lehrkräfte  und  im  eigenen  Bildungsinteresse 
des  Seminaristen,  —  als  einen  Pflichtgegenstand  allmählich  einführen. 

Herr  Landtagsabgeordneter  von  Schenckendorff  aus  Görlitz,  der  zu- 
gleich Geschäftsführer  des  Vereines  ist,  behandelte  dieselbe  Frage,  nahm 
aber  besonders  Rücksicht  auf  die  ländlichen  Kreise  der  Bevölkerung.  Jene 
Charaktereigentümlichkeit,  der  die  Deutschen  den  Namen  eines  Volkes 
der  Denker  verdanken,  habe  trotz  seiner  hohen  Vorzüge  auch  seine  Schatten- 
seiten Sie  verhindern  zu  häufig  ein  rasches,  entschiedenes  Handeln.  Um 
nun  auch  zu  diesem  zu  erziehen,  verlange  der  Verein  Einführung  des 
Knabenhandarbeitsunterrichtes.  Dieser  Gedanke,  den  viele  Städte  bereits 
verwirklicht  haben,  eigne  sich  aber  auch  für  die  ländlichen  Verhältnisse. 
Redner  warnt  aber  entschieden  davor,  seine  Ausführungen  so  aufzufassen, 
als  wolle  er  den  sogenannten  Hausfleifs,  der  durch  Clauson  Kaas  in 
Schweden  und  Dänemark  eingeführt  worden  sei,  auch  bei  uns  einbürgern. 
Der  Schule  müsse  vor  allen  Dingen  der  Charakter  einer  Erziehungsanstalt 
gewahrt  bleiben.  Da  dies  ein  Grundpfeiler  der  Brestrcbungen  des  Ver- 
eines sei,  so  sei  hieraus  schon  ersichtlich,  dafs  er  etwas  ganz  anderes 
wollte  als  Clauson  Kaas. 

Die  Bemühungen  des  Vereines  haben  eine  hohe  soziale  Bedeutung. 
Der  Minister  des  Innern  hat  dieselbe  anerkannt,  darum  trete  er  auch  ent- 
schieden für  die  Vereinsbestrebungen  ein.  Wenn  nun  die  Bewegung  auch 
auf  ländliche  Gebiete  übertragen  werden  sollen,  so  müsse  man  hier  ganz 
besonders  vorsichtig  ans  Werk  gehen,  sonst  könne  leicht  das  Vorhaben 
an  dem  Widerspruch  der  Landwirte  scheitern.  Gar  manche  Schwierig- 
keiten seien  zu  berücksichtigen  :  So  die  schwerwiegenden  Hindernisse,  mit 
denen  die  Landwirtschaft  zu  kämpfen  habe,  so  der  Zug  der  ländlichen  Be- 
völkerung nach  den  Städten,  der,  wie  man  irrtümlicherweise  annimmt, 
durch  Einführung  des  Knaben  Handarbeits- Unterrichtes  noch  verstärkt 
werden  würde.  Endlich  sei  die  ländliche  Bevölkerung  im  allgemeinen  allen 
Neuerungen,  besonders  wenn  der  Geldbeutel  in  Anspruch  genommen  wird, 
abhold. 

Um  bei  seinen  Vorschlägen  nicht  irre  zu  gehen,  habe  er  sich  von 
Autoritäten  auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft  Urteile  eingeholt.  Aus 
einem  Briefe  des  Herrn  Schultzc  aus  Lupitz,  einem  der  bedeutendsten 
Landwirte  Deutschlands  geht  hervor,  dafs  derselbe  die  Wichtigkeit  des 
Knabenhandarbeitsunterrichts  für  Landschulen  anerkennt,  dafs  man  jedoch 
in  dem  landwirtschaftlichen  Kreise  befürchte,  durch  denselben  werde  Ab- 
neigung gegen  den  ländlichen  Beruf  erzeugt.  Um  diesem  Vorwurfe  zu 
entgehen,  müsse  in  den  Landschulen  der  Unterricht  dergestalt  betrieben 
werden,  dafs  Lust  und  Liebe  zum  Ackerbau  erweckt  und  die  ländliche 
Bevölkerung  immer  geschickter  in  der  Ausübung  ihres  spätem  Berufes 
werde.    Dieser  Gedanke  habe  den  Redner  zu  der  Ausarbeitung  einer  Denk- 


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schrift  veranlagst,  welche  er  dem  Landwirtschaftsminister  unterbreitet 
habe.  Dieselbe  sei  dem  Landesökonomie-Kollegium  zur  Erwägung  vor- 
gelegt worden. 

Es  sei  natürlich  nicht  zu  verlangen,  dafs  spezieller  Unterricht  in  Land- 
wirtschaft erteilt  werde.  Derselbe  müsse  mehr  in  der  Form  von  Beispielen 
erscheinen,  ähnlich  wie  dies  auch  für  Volkswirtschaftslehre,  Verfassungs-, 
Gesetzes-  und  Gesellschaftskunde  verlangt  werden  mufs.  Es  sind  dies 
Wissensgebiete,  die  bis  jetzt  noch  fast  gar  nicht  in  der  Schule  gelehrt 
worden  seien  trotz  ihrer  grofsen  Bedeutung  und  trotzdem  Männer  wie 
Dörpfeld  sehr  deren  Einführung  betont  haben.  Dörpfetd  habe  kürzlich  in 
neuer  Aurlage  ein  schönes  Werkchen  herausgegeben:  Die  Gcscllschafts- 
kunde,  eine  notwendige  Ergänzung  des  Geschichtsunterrichtes.  Er  könne 
dessen  Lektüre  den  Besuchern  des  Kongresses  nur  auf  das  Dringendste 
empfehlen.  Die  obengenannten  Fächer  sollen,  wie  schon  gesagt ,  nicht 
selbständig  behandelt  werden,  sondern  an  geeigneter  Stelle  in  die  übrigen 
Unterrichtsgegenstände  eingefügt  werden.  Der  landwirtschaftskundliche 
Stoff  könne  sehr  leicht  in  der  Naturgeschichte,  Geographie,  im  Rechnen, 
in  Geometrie  und  im  Sprachunterricht  verwertet  werden.  Nachdrücklich 
sei  aber  davor  zu  warnen,  die  ländliche  Volksschule  zur  Fachschule  zu 
machen.  Der  Lehrer  müsse  darauf  achten,  derselben  den  Charakter  einer 
Erziehungsanstalt  zu  wahren,  wenn  er  auch  die  verlangte  Rücksicht  auf 
Landwirtschaftskunde  nimmt. 

Was  nun  die  Prinzipien  anbelangt,  nach  denen  der  Unterricht  im 
ländlichen  Handarbeitsunterricht  erteilt  werden  soll,  so  sind  sie  dieselben  wie 
in  der  Stadt.  Bei  Auswahl  der  Handwerke  hat  natürlich  die  Landwirt- 
schaft ein  Wort  mitzusprechen.  Es  wird  sich  empfehlen,  Holz-  und  Metall- 
arbeiten,  Korbmacherei  und  Strohflechterei  besonders  zu  berücksichtigen. 
Auf  die  Notwendigkeit  der  Handbildung  hinweisend,  las  Redner  noch  eine 
Stelle  aus  den  Briefen  von  Schultze-Lupitz  vor,  aus  welcher  ersichtlich  ist, 
dafs  die  Handgeschicklichkeit  in  bedenklichem  Rückgange  begriffen  sei. 

Der  Gewinn,  den  ländliche  Schulen  aus  dem  Knabenhandarbeitsunter- 
richt ziehen  können,  läfst  sich  im  folgenden  Punkten  zusammenfassen: 

1.  Es  wird  die  Neigung  der  heranwachsenden  ländlichen  Jugend  für 
den  landwirtschaftlichen  Beruf  geweckt,  die  Liebe  zur  Heimat  wird 
lebendig  und  ein  allgemeines  Interesse  für  den  landwirtschaftlichen  Betrieb 
geschaffen. 

2.  Die  Befähigung  zur  Ausübung  der  landwirtschaftlichen  'Arbeit  wird 
gestärkt,  indem  der  Landmann  auch  zu  praktischen,  körperlichen  Arbeiten 
erzogen  und  seine  Geschicklichkeit  zur  Handhabung  der  landwirtschaftlichen 
Geräte  gehoben  wird. 

3.  Als  Nebenerfolg  ergiebt  sich  aus  dieser  die  landwirtschaftlichen 
Verhältnisse  berücksichtigenden  Erziehung  gröfsere  Unabhängigkeit  von 
fremder  Hilfe,  Entwöhnung  von  Zeitvergeudung,  Beschäftigung  in  Haus  und 
Hof  besonders  während  ungünstiger  Witterung  und  im  Winter  gröfsere 
Fesselung  an  das  Haus  und  dadurch  indirekt  eine  Bekämpfung  des  über- 
mäfsigen  Wirtshausbesuches,  sowie  Begünstigung  des  Familienlebens,  direkt 


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und  indirekt,  Verbesserung  der  landw  irtschaftlichen  Verhältnisse,  der  länd- 
lichen Arbeiter  und  endlich  allgemeine  Hebung  der  Widerstandskraft  der 
landwirtschaftlichen  Bevölkerung  in  ihrem  wirtschaftlichen  Kampf. 

Da  die  Zeit  schon  sehr  weit  vorgeschritten  war,  so  wurde  der  Antrag 
eingebracht,  auf  die  Debatte  zu  verzichten,  was  aber  abgelehnt  wurde,  sie 
wurde  auf  den  folgenden  Tag  verschoben. 

Zum  Schlufs  brachte  Stadtschulrat  Fürstenau  aus  Berlin  die  Gewogen- 
heit des  dortigen  Magistrats  für  die  Vereinsbestrebungen  noch  zum  Ausdruck; 
er  warnte  aber  vor  der  Einführung  eines  neuen  Lehrgegenstandes  in  die 
Schule. 

Um  21/«  Uhr  wurde  der  Kongrefs  geschlossen. 

Den  Rest  des  Tages  füllte  Festessen,  Bengalisches  Feuer  u.  s.  w.  aus. 

Am  25.  August  fand  die  Fortsetzung  des  Kongresses  und  der  eigent- 
liche Vereinstag  statt.  Zunächst  verlas  Herr  Ober -Realschul -Direktor 
Nöggerath  aus  Hirschberg  i.  Schi,  den  Bericht  über  die  wirtschaftliche 
Lage  des  Vereins.  Die  Einnahmen  betrugen  17726  M.,  die  Ausgaben 
12227  M.,  daraus  ergiebt  sich  also  ein  Einnahme-Überschufs  von  rund 
5500  M.  Der  Reservefonds  für  die  Lehrerbildungsanstalt  beläuft  sich 
gegenwärtig  auf  ungefähr  9600  M.,  dank  einer  hochherzigen  Gabe  des  Ge- 
heimen Kommerzienrates  Gruson  aus  Magdeburg-Buckau.  Um  das  zur 
Unterhaltung  der  genannten  Anstalt  nötige  Kapital  von  30,000  M.  zu  erhalten, 
mögen  die  Vereinsmitglieder  sich  eifrig  mit  Sammlungen  bei  günstig  ge- 
stimmten Behörden  und  Privaten  beschäftigen. 

Bei  der  nun  eintretenden  Ergänzungswahl  in  den  Ausschufs  wurden 
die  Herren  Dr.  Albrecht  in  Strafsburg  und  Dr.  Robert  Simon  in  Königsberg 
neu  gewählt. 

Hierauf  berichtete  der  Vorsitzende  Herr  Lammers  über  die  Anstellung 
des  Oberlehrers  Dr.  Götze  als  Direktor  der  Lehrerbildungsanstalt  in  Leip- 
zig. Dieselbe  sei  notwendig,  um  die  Gesundheit  des  Herrn  Götze  zu 
schonen,  ferner  weil  es  ihm  von  Seiten  der  sächsischen  Regierung  nicht 
mehr  gestattet  werden  kann,  beide  Ämter  zugleich  zu  verwalten.  Endlich 
würde  die  Anstalt,  das  Vereinsorgan  bedeutend  durch  die  Anstellung  ge- 
winnen, weil  sich  Herr  Götze  dann  ausschliefslich  mit  diesen  Dingen  be- 
schäftigen könnte.  Der  Antrag  wurde  hierauf  durch  Abstimmung  zum  Be- 
schluis erhoben. 

Baron  Schenkendorff  teilte  hierauf  mit,  dafs  ein  Antrag  auf  Verleihung 
der  körperschaftlichen  Rechte  tür  den  Verein  bei  der  preufsischen  Regie- 
rung eingebracht  worden  sei;  dafs  aber  infolge  dessen  der  Vorstand  auch 
ermächtigt  werden  müsse,  einen  Artikel  der  Statuten  dementsprechend 
umzuändern,  was  auch  geschieht 

Nun  begannen  die  Debatten  der  am  vorhergehenden  Tag  aufgestellten 
Thesen.  Dieselbe  war  äulserst  eingehend  und  lebendig.  Unter  den  5  im 
Laufe  der  Diskussion  eingereichten  Thesen,  wovon  eine  vor  der  Abstim- 
mung zurückgezogen  wurde,  gelangte  der  Antrag  Götze-Rohmeder  in  fol- 
gender Form  zur  Annahme:  In  Erwägung,  dafs  der  erziehliche  Knaben- 


los  - 


Handarbeits-Unterricht  die  Reihe  der  seitherigen  Bildungsmittel  erweitert,  in- 
dem er  zu  dem  vorzugsweise  auf  die  Ausbildung  der  Geistes-Krätte  hinzielenden 
Schulunterricht  systematische  Übungen  in  der  werkthätigen  Arbeit  hinzufügt 
und  in  Erkenntnis  der  Thatsache,  dafs  es  bei  dem  heutigen  Stande  des 
Kulturlebens  notwendig  ist,  die  Anlagen  und  Kräfte  der  heranwachsenden 
Jugend  zu  allseitigerer  Entwickelung  zu  bringen,  erachtet  der  X.  Kongrefs 
es  für  wünschenswert,  dafs  die  leitenden  deutschen  Schulverwaltungen  den 
erziehlichen  Knaben-Handarbeits-Unterricht  in  den  städtischen  Volksschulen 
wie  den  höheren  Lehranstalten,  besonders  in  den  Lehrer-Bildungsanstalten 
überall  da,  wo  die  Voraussetzungen  dazu  gegeben  sind,  als  wahlfreier 
Unterrichtsgegenstand  allmählich  einzuführen. 

Nach  einer  Pause  von  Stunde  begann  die  Besprechung  der  These 
II  und  III,  welche  Herr  von  Schenkendorß  auf  Grund  seines  Vortrages  auf- 
gestellt hatte.  An  Stelle  der  These  II  brachte  Herr  von  Schenkendorff 
gleich  zu  Anfang  eine  abgeänderte  ein.  Dieselbe  lautet:  Der  Vorstand 
wird  ermächtigt,  zu  erwägen,  auf  welche  Weise  allmählich  auch  die  Land- 
teile in  den  Kreis  unserer  Bestrebungen  gezogen  werden  können.  An  der 
Besprechung  nahmen  die  Herren  Brinkmann-Königsberg,  Pabst-Hannover, 
Groppler-Berlin  teil,  worauf  dieselbe  zur  Annahme  gelangt. 

Die  nun  zur  Besprechung  gelangende  3.  These  lautet: 

Es  ist  dahin  zu  wirken,  dafs  die  für  die  Schülerwerkstätte,  sowie  für 
Ausbildung  der  Lehrer  in  Leipzig  erwachsenden  Kosten,  soweit  es  sich 
um  kommunale  Anstalten  oder  deren  Lehrer,  bezw.  um  Vereins-  oder 
Internatseinrichtungen  handelt,  zur  Hälfte  vom  Staat  getragen  werden. 

Durch  die  Debatte  wurde  in  den  Schlufssatz  noch  das  Wort  womöglich 
eingefügt. 

Nun  wurde  mit  der  Besprechung  der  Vorschläge  für  die  Fassung  der 
Grundzüge  des  erziehlichen  Knaben-Handarbeitsunterrichtes  begonnen.  Die- 
selbe wurde  jedoch  unterbrochen,  um  zuerst,  vielfachem  Wunsche  gemäfs, 
den  Vortrag  des  Herrn  Groppler-Berlin  anzuhören.  Derselbe  lautet:  Ist  der 
Handarbeits-Unterricht  zu  einem  selbständigen  Unterrichtsgegenstande  zu 
entwickeln  oder  soll  er  nur  zur  Förderung  anderer  Unterrichtsgegenstände 
in  den  Dienst  derselben  gestellt  werden?  Er  behandelte  das  Thema  in 
sehr  gekürzter  Form,  weil  die  Zeit  schon  vorgerückt  war,  und  schon  viele 
Punkte  desselben  in  den  Besprechungen  ihren  Ausdruck  gefunden  hatten. 
Er  zeigte  zunächst,  wie  der  K.-H.-A.-U.  als  Prinzip  aufgeläfst  den  theore- 
tischen Unterricht  beleben  könne.  Derselbe  müsse  aber  ein  selbständiges 
Unterrichtsfach  sein. 

Nun  wurde  die  unterbrochene  Besprechung  der  Grundzüge  tortgesetzt 
Die  i,  2  und  7  gaben  Anlafs  zu  Änderungen  ;  die  übrigen  wurden  ange- 
nommen, wie  sie  vorgeschlagen  waren. 

Um  4  Uhr  wurde  die  Versammlung  geschlossen,  nachdem  man  noch 
ein  Hoch  auf  die  Stadt  und  den  Orts-Ausschufs  ausgebracht  hatte. 

K.  F. 


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5.  Zeitschrift  für  den  evangelischen  Religionsunterricht 

herausgegeben  von  Prof.  Dr.  F.  Fauth  u.  Dr.  Jul.  Köster.    I.  Jahrgang, 
Heft  1— III.    Berlin,  H.  Reuthers  Verlagsbuchhandlung. 

Vor  uns  liegen  die  drei  ersten  Hefte  der  neubegründeten  Zeitschrift 
für  den  Religionsunterricht.  Wieder  eine  neue  Zeitschrift  für  ein  einzelnes 
Unterrichtsfach,  nachdem  erst  vor  einigen  Jahren  dem  deutschen  Unterricht 
ein  besonderes  Organ  geschaffen  wurde.  Fortschreitendes  Spezialisten- 
tum auch  auf  dem  Gebiete  des  Schulwesens!  So  hat  gewifs  mancher  ge- 
dacht, der  unvorbereitet  und  uneingeweiht  das  erste  Heft  der  Zeitschrift  in 
die  Hand  nahm.  Was  soll  daraus  werden,  wenn  für  jedes  Fach  des  Gvm- 
nasialuntcrrichtes  ein  besonderes  Arbeitsfeld  abgesteckt  wird,  so  dafs  der 
Überblick  über  das  ganze  Gebiet  des  höheren  Unterrichts  verloren  geht2 
Wie  soll  die  Einheit  gewahrt,  ja  die  Vereinfachung  des  Schulplanes  erreicht 
werden,  wenn  jedes  Fach  nach  einer  Sonderexistenz  ringt?  Dem  Lehrplan 
unserer  Gymnasien  fehlt  die  Einheit  des  Grundgedankens,  er  ist  nicht 
mehr  Ausdruck  einer  Idee,  wie  er  es  ehedem  war,  sondern  eine  musivische 
Zusammensetzung  der  Bildungselcmentc  unserer  Zeit.  Kein  Wunder,  dafs 
nicht  allen  alles  gefallt,  sondern  den  einen  dieses,  den  anderen  jenes  ver- 
stimmt. Ode»-  mufs  vielleicht  die  Entwickelung  diesen  Gang  nehmen,  dafs 
erst  die  Zerstückelung  eintritt,  damit  eine  Neugestaltung  möglich  wird.  — 
dals  die  einzelnen  Territorialmächte  als  selbständig  anerkannt  werden,  da- 
mit eine  dieser  Mächte  den  Krystallisationspunkt  für  die  Neubildung  ab- 
giebt,  wie  sich  an  einen  Teil  des  zerfallenen  deutschen  Reiches  der  neue 
Staat  gegliedert  hat: 

Ein  Blick  in  die  Zeitschrift  lehrt,  dafs  man  die  Aufgabe  praktisch  an- 
greift und  bemüht  ist,  Erkenntnisse  in  die  That  umzusetzen.  Theoretisch 
ist  über  die  Aufgaben  des  Unterrichts  so  viel  Vortreffliches  gesagt  und  ge- 
schrieben worden,  dafs  der  Grund  der  Verstimmung  nur  in  der  unvoll- 
kommenen Ausführung  gesucht  werden  kann.  Nun  ist  ja  eine  solche  Zeit- 
schrift auch  noch  lange  nicht  die  Ausführung,  aber  sie  ist  ein  Spiegel  der 
Praxis,  der  ein  zwar  idealisiertes,  aber  doch  lehrreiches  Bild  zurückwirft. 
Den  Vorwurf  der  Selbstbcspiegelung  aber  wird  niemand  mehr  erheben, 
seitdem  man  allgemein  eingesehen  hat,  dafs  der  Lehrer  nicht  minder  wie 
sein  Schüler  am  besten  durch  das  Beispiel  gefördert  wird. 

Es  kommt  hinzu,  dafs  wir  es  mit  einer  Zeitschrift  für  den  Religions- 
unterricht zu  thun  haben,  dem  in  unserer  Zeit  unvermerkt  ganz  be- 
sonders schwierige  Aufgaben  zugefallen  sind.  Je  reicher  den  Schülern 
unserer  Gymnasien  das  Wissen  zuströmt,  um  so  mächtiger  und  breiter  wird 
die  Grundlage  für  ihre  Weltanschauung,  um  so  stärker  mufs  der  Schwung 
sein,  der  sie  über  die  Kausalitätsbetrachtung  hinweg  zur  teleologischen 
Weltbetrachtung  emporhebt.  Je  stärker  aber  das  Lern-  und  Erkenntnis- 
vermögen der  Jugend  in  Anspruch  genommen  wird,  um  so  schwächer 


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—    107  — 

scheint  die  Schwungkraft  des  Gefühls  und  des  Willens  zu  werden  Und 
doch  müssen  die  Geister  gelöst  und  befreit  werden,  dafs  ihnen  der 
Flug  gelingt,  der  sie  hinüberführen  soll  über  die  Kluft  zwischen  Denken 
und  Religiosität.  >Wird  eine  der  Entwicklungsstufe  der  Gegenwart  ent- 
sprechende Einigung  des  Denkens  und  der  Frömmigkeit  gefunden  werden, 
welche  alle  edlen  Geister  unter  Gebildeten  und  Ungebildeten  zu  überzeugen 
und  zu  lichtem,  warmem  Leben  zu  erwecken  vermag  ?  Ich  weifs  es  nicht, 
finde  es  auch  unnütz,  darüber  Vermutungen  aufzustellen.  Es  kann  ja  sein, 
dafs  zur  rechten  Zeit  ein  Prophet  erscheint,  der  durch  ein  erlösendes  Wort 
Ordnung  in  die  ringenden  Gedanken  bringt,  wie  es  schon  manchmal  in  der 
Weltgeschichte  sich  ereignet  hat.  Es  kann  auch  aus  dem  Kampfe  der 
Geister  ein  neuer  Geist  der  Zeit  hervorgehen  und  die  ersehnte  Wahrheit 
ans  Licht  bringen.  Das  liegt  aber  in  der  Zukunft.  Wir  stehen  jetzt  im 
Streit  der  Gegensätze  und  müssen  uns  rciHich  überlegen,  wie  wir  uns  darin 
zu  verhalten,  und  was  wir  an  unserm  bescheidenen  Teile  zu  thun  haben, 
damit  unser  Volk  ohne  Schaden  in  dieser  Zeit  bestehe  und  einer  besseren 
den  Weg  bereite.»*) 

Welches  der  Unterrichtsfächer  im  Gymnasium  ist  aber  berufen,  den 
Jüngling  aus  dem  Wirrsal  widerstreitender  und  einseitiger,  unvollkommener 
und  unbefriedigender  Lehrmeinungen  herauszuführen  auf  einen  Standpunkt, 
der  fest  und  hoch  genug  ist,  um  der  Seele  Frieden  zu  geben,  wenn  es 
nicht  der  Religionsunterricht  ist?  Das  Bewufstsein  dieser  besondern  Auf- 
gabe hat  sich  in  den  Kreisen  der  Religionslehrer  schon  längst  geregt  und 
sie  bestimmt,  in  einzelnen  Provinzen  zu  gemeinschaftlichen  Beratungen  zu- 
sammenzutreten. In  der  Rheinprovinz  wurde  diese  Einrichtung  zuerst  ge- 
troffen, schon  im  Jahre  1878,  und  fand  Nachahmung  in  Sachsen,  Westfalen 
und  Schleswig-Holstein.  Auch  in  Berlin  besteht  seit  nahezu  zehn  Jahren 
eine  theologische  Gesellschaft,  welche  sich  mit  den  Aufgaben  des  Religions- 
unterrichtes beschäftigt. 

I. 

In  der  vorliegenden  Zeitschrift  sehen  wir  uns  darum  zuerst  um  nach 
solchen  Mitarbeitern,  welche  etwas  bieten  für  diese  hohe  Aufgabe,  eine 
Weltanschauung  zu  begründen.  Jedes  der  drei  Hefte  enthält  eine  Arbeit, 
die  auf  dieses  Ziel  gerichtet  ist.  Am  bedeutendsten  unter  ihnen  ist  Dr. 
O.  Kutzners  Aufsatz  im  III.  Heft:  »Die  apologetische  Seite  des  Religions- 
unterrichtes an  höheren  Lehranstalten«.  Kutzner  bringt  hier  fast  alle  ein- 
schlägigen Fragen  zur  Sprache  und  bietet  mit  kundiger  und  sicherer  Hand 
eine  wertvolle  Grundlegung  für  die  Arbeit  des  Religionslehrcrs,  dem  es 
darum  zu  thun  ist,  dem  Schüler  zu  einer  teleologischen,  d.  h.  religiösen 
Weltanschauung  zu  verhelfen.  Diese  Arbct  verdient  eine  solche  Beachtung, 
dafs  es  sich  nicht  verlohnen  würde,  einzelnes  herauszugreifen,  sondern  jeder 
Religionslehrer  auf  die  Lektüre  verwiesen  werden  mufs. 

Im  ersten  Heft  bietet  Fauth,  der  eine  der  beiden  Herausgeber,  einen 
Vortrag,  den  er  bei  der  Eröffnung  der  ersten  westfälischen  Religionslehrer- 

♦)  Im  Kampf  um  die  Weltanschauung.    BekenuuiUite  eines  Theologen.    S.  ö9. 


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Konferenz  gehalten  hat  über  >die  Aufgaben  des  Religionsunterrichtes 
auf  höheren  Lehranstalten,  mit  Berücksichtigung  der  Bedürfnisse  der  Ge- 
genwart«. Es  gelingt  dem  Verfasser,  die  Wichtigkeit  der  Aufgabe  des  Re- 
ligionsunterrichts zu  ermessen  und  lichtvoll  darzustellen.  Wie  die  Religion 
den  ganzen  Menschen  ergreifen  soll,  so  wirkt  auch  der  Religionsunterricht 
auf  das  gesamte  Seelenleben.  Er  will  eine  geläuterte  Vorstellung  von  Gott 
schaffen,  welche  die  Auseinandersetzung  mit  den  Ideen  der  Wissenschaft 
nicht  scheut.  Er  stimmt  das  Gefühlsleben  so,  dafs  der  Mensch  in  der 
Wertschätzung  der  Güter  nicht  irre  geht  und  sucht  drittens  dem  Wollen 
und  Handeln  die  gute  Richtung  zu  geben  und  die  Kraft  dazu  an  der  bese- 
ligenden Persönlichkeit  Christi  zu  entzünden.  Wenn  dieses  das  Ziel  ist,  so 
kann  auch  der  Religionsunterricht  das  Seine  dazu  beitragen,  dafs  die 
Volksgenossen  übereinstimmen  in  den  wichtigsten  Vorstellungen,  dafs  sie 
einig  sind  über  die  höchsten  Güter  des  Lebens  und  im  Wirken  nicht  wider 
einander  stehen.  Es  ist  also  die  Wohlfahrt  des  Staates,  der  auch  der  Re- 
ligionsunterricht dient. 

Fauth  leitet  mit  diesem  Schlufs  die  Arbeit  des  Religionslehrers  nicht 
aus  einer  religiösen  Idee,  sondern  aus  dem  Staatsgedanken  her.  Darum 
liegt  es  in  unserer  Zeit  nahe  für  ihn,  in  einem  Anhang  noch  ausführlicher 
die  Frage  zu  behandeln:  >Können  wir  im  Religionsunterricht  etwas  zur 
Lösung  der  sozialen  Frage  mit  beitragen?«  Er  beantwortet  sie  durch  An- 
führung einiger  Abschnitte  aus  seinem  Buche  »Die  wichtigsten  Schulfragen 
auf  dem  Boden  der  Psychologie  erörtert«  Gütersloh  1878,  welche  darthun, 
wie  grofs  das  Interesse  eines  Volkes  daran  ist,  dafs  die  Volksgenossen  in 
einer  einheitlichen  Weltanschauung  aufwachsen ,  damit  nicht  verschiedene 
Wcltauflfassungen  und  Wertschätzungen  der  Güter  des  Lebens  die  Klassen 
einer  Nation  verfeinden.  »Steht  hier  Weltanschauung  gegen  Weltanschau- 
ung, so  steht  Mann  gegen  Mann,  Partei  ge^en  Partei,  Gesellschaft  gegen 
Gesellschaft  im  Kampf  zum  Verderben  des  Vaterlandes.« 

Dieselbe  Befürchtung  war  es,  welche  den  Gedanken  der  Einheitsschule 
ins  Leben  rief,  und  es  ist  bezeichnend  tür  unsere  Zeit,  dafs  auch  die  Re- 
ligionslehrer ihre  Arbeit  bewufst  und  ausdrücklich  in  den  Dienst  der  öffent- 
lichen Wohlfahrt  stellen.  Und  wenn  sie  sich  das  Ziel  so  stecken,  wie  es 
Fauth  thut,  Begründung  einer  Weltanschauung,  so  bieten  die  Religionslehrer 
dem  Staate  viel,  sehr  viel!  Man  sieht  aber  auch  an  dieser  Stelle,  wie  viel 
sich  der  schroffste  Vertreter  des  Staatsgedankens,  Paul  Güfsfeldt,  entgehen 
läfst,  wenn  er  seiner  Zukunftsschule  den  Religionsunterricht  entzieht,  und 
sieht  ferner  noch  bei  diesem  Vergleich,  wie  flach  Güfsfcldts  Staatsgedanke 
ist,  da  er  das  Glück  und  den  Zusammenhalt  des  Staates  erwartet  von  der 
Einführung  solcher  Formen,  die  dem  Militarismus  nachgebildet  sind,  damit 
diese  Formen  den  rechten  beglückenden  nationalen  Geist  schaffen,  während 
Fauth  den  rechten  Geist  im  Volke  heranbilden  will,  damit  dieser  sich  die 
Form  schaffe.  Fauth  hat  recht;  denn  »es  ist  der  Geist,  der  sich  den 
Köipcr  baut.« 

Es  ist  nicht  zu  verwundern,  dafs  der  dritte  Aufsatz  über  dieses  Thema 
(II.  Heft  S.  94)  hinter  den  beiden  ersten  zurücksteht,  denn  er  bietet  eine 


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Arbeit  aus  dem  Jahre  1846.  Pfarrer  Fay  giebt  nämlich  in  einem  Vortrag, 
den  er  in  der  vorjährigen  Versammlung  evangelischer  Religionslehrer  der 
Rheinprovinz  gehalten  hat,  eine  »Darstellung  der  Anschauungen  Land- 
fermanns  über  den  Religionsunterricht  an  den  höheren  Lehranstalten«. 
Dieses  Gutachten  Landfermanns  giebt  das  Bild  eines  gewifs  vorzüglichen 
Religionsunterrichts,  von  dem  noch  viel  zu  lernen  ist.  Doch  scheint  mir 
die  Bildung  einer  religiösen  Weltanschauung  noch  nicht  nachdrücklich  ge- 
nug betont  zu  sein.  Die  Aufgaben  des  Religionslehrers  an  einer  höhern 
Schule  und  des  Gemeindeseelsorgers  sind  doch  recht  verschieden.  Dieser 
hat  vorzüglich  zu  zeigen,  w  ie  das  Leben  der  Menschen  mit  seinen  freudigen 
und  traurigen  Schickungen  über  sich  selbst  hinausweist  in  eine  Welt  der 
Vollendung  und  Ewigkeit.  Der  Schüler  kennt  und  empfindet  das  Leben 
noch  viel  zu  wenig,  dagegen  werden  ihm  fort  und  fort  Erkenntnisse  und 
Ideen  zugeführt,  welche  die  grolsartige  Gesetzmäfsigkeit,  die  Kausalität  der 
Erscheinungen  deutlich  machen,  so  dafs  für  einen  Gott  kein  Raum  zu  sein 
scheint.  Hier  gilt  es,  wie  schon  bemerkt,  über  die  Kausalitätserkenntnis 
hinauszugehen  zur  teleologischen. 

II. 

Nächst  diesen  grundlegenden  Arbeiten  dürften  am  meisten  die  Ver- 
suche der  Ausführung  interessieren.  Direktor  Ritter  bietet  eine  geschickte 
Lehrprobe  über  Johannes  den  Täufer  (I.  Heft,  S.  30).  Die  Lektüre  und 
Besprechung  der  bezüglichen  Stellen  findet  ihren  Abschlufs  in  einem 
Charakterbilde  des  Johannes,  welches  der  Lehrer  gemeinschaftlich  mit  den 
Schülern  planvoll  erarbeitet.  Mit  Recht  wird  verlangt,  dafs  im  Religions- 
unterricht eine  Reihe  solcher  Persönlichkeiten  zur  phantasievollen  An- 
schauung und  zur  lebendigen  Aneignung  gebracht  werden,  woraus  sich  die 
weitere  Forderung  ergiebt,  dafs  die  Eigenart  besonders  deutlich  heraus- 
gestellt und  durch  Vergleichung  bestimmt  wird. 

Der  Vergleichung  des  Täufers  mit  Elias,  welche  das  II.  Heft  S.  140 
bringt,  fehlt  die  planvolle  Gliederung,  welche  nötig  ist,  damit  der  Schüler 
die  Ähnlichkeiten  finden,  behalten  und  zusammenhängend  darstellen  kann. 
Der  Verfasser  M.  kann  in  dieser  Richtung  von  Mehlhorn  lernen,  der  im 
II.  Heft  S.  114  eine  kunstgerechte  und  wohlgegliederte  >Lehrprobe  über 
Mk.  11,  15 — 18«  bietet. 

Von  demselben  M.  rührt  her  im  II.  Heft  S.  142  der  Aufsatz  »Die  Ver- 
suchung Jesu«,  der  auch  den  zweiten  Titel  .Vorbereitung'  trägt:  soll  es  die 
Vorbereitung  des  Lehrers  bedeuten  oder  soll  es  die  auf  die  Versuchungs- 
geschichte vorbereitende  Stunde  sein?  Der  wertlose  Aufsatz  versieht  es 
unter  anderem  darin,  dafs  er  die  Begriffsbestimmung  vorausnimmt,  anstatt 
sie  aus  dem  Vorgang  abzuleiten. 

Kösters  Lehrprobe  (I.  Heft,  S.  44t  »Zur  Einprägung  des  Kirchenjahres« 
ist  ganz  danach  angethan,  den  Stoff  anschaulich  zu  machen  und  durch  An- 
schaulicheit  zu  interessieren.  Was  Dix  und  Schultze  im  II.  Heft,  S.  142 
für  denselben  Gegenstand  nachtragen,  ist  ziemlich  wertlos. 


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I 


—     I  IO  — 

Einen  ganzen  Lehrplan  für  den  Religionsunterricht  in  Sexta  bis  Quarta 
legt  Zange  vor  im  ersten  Aufsatz  des  III.  Heftes:  >Wie  ich  auf  der  Unter- 
stufe, Sexta  bis  Quarta,  den  Katechismusunterricht  mit  dem  Unterricht  in 
der  biblischen  Geschichte  verbinde.«  Es  ist  ihm  darum  zu  thun,  dafs  die 
Teile  des  Religionsunterrichtes:  biblische  Geschichte,  Spruch,  Lied  und 
Katechismus  untereinander  in  einen  organischen  Zusammenhang  gebracht 
werden  in  der  Weise,  dafs  die  biblische  Geschichte  den  Kern  des  Unter- 
richts und  für  den  Schüler  gleichsam  das  Ergebnis  bildet,  aus  dem  Er- 
kenntnisse in  Form  von  Sprüchen,  Empfindungen  in  Gestalt  von  Liedein, 
Lehren  in  Ausdrücken  des  Katechismus  erwachsen.  Nachdem  Direktor 
Zange  diese  Gedanken  bereits  der  ersten  Versammlung  der  Religionslehrer 
der  Provinz  Sachsen  vorgelegt  hatte  im  Jahre  i88<\  waren  sie  im  Jahre  18S8 
auf  der  Direktorenkonferenz  der  Provinz  Pommern  gelegentlich  der 
Verhandlungen  über  den  Katechismusunterricht  Gegenstand  lebhafter 
Auseinandersetzungen  gewesen  und  zumeist  unfreundlich  abgewiesen 
worden.  Gegen  die  Vorwürfe,  die  in  dieser  Konferenz  laut  wurden,  ver- 
teidigt sich  Zange  und  bietet  zum  Schlufs  eine  Schilderung  seines  Ver- 
fahrens in  Sexta,  wo  er  Geschichten  des  Alten  Testamentes,  das  erste 
Hauptstück,  ausgewählte  Sprüche  und  Lieder  in  jener  angedeuteten  Weise 
organisch  verbindet.  Die  Berechtigung  von  Zanges  Verfahren  kann  nicht 
bezweifelt  werden,  und  er  hat  Grund  zu  der  Anschuldigung,  dafs  er  von 
den  Gegnern  nicht  verstanden  sei.  Diese  scheint  es  am  meisten  befremdet 
zu  haben,  dafs  Zange  auch  die  Gebote  und  Artikel  stückweise  je  nach  dem 
zufälligen  Inhalt  der  Geschichten  bietet,  um  erst  später  diese  Stücke  zu- 
sammenzusetzen und  systematisch  festzulegen.  Aber  Zanges  LehrpLn  be- 
weist ja,  dafs  er  kein  Verfahren  wünscht,  was  dem  Prinzip  der  Induktion 
sklavisch  gehorcht,  sondern  Freiheit  und  Beweglichkeit  bewahrt. 

III. 

Besonders  schwierig  ist  es  im  Religionsunterricht  gewisse  religiöse 
Ideen  z.  B.  die  der  Inspiration  der  Jugend  so  mitzuteilen,  dafs  sie  nicht 
ergebungsvoll  und  doch  zweifelnd  hingenommen,  sondern  auch  wirklich 
gewürdigt  und  empfunden  werden.  Frühere  Zeitalter  haben  sie  in  dog- 
matische Formeln  gefafst,  welche  um  ihres  harten  und  scharfkantigen  Aus- 
drucks willen  ein  junges  Gemüt  eher  zum  Widerspruch  reizen  als  gewinnen. 
Es  gilt  den  Geist  der  Lehren  zu  entbinden,  dafs  er  verständlich  zu  den 
Geistern  spricht.  Auch  für  diese  eigenartige  und  feine  Arbeit  des  Religions- 
lehrers erteilt  die  Zeitschrift  manchen  Rat.  Prof.  Spitta  in  Strafsburg  i.  E. 
lenkt  die  Aufmerksamkeit  in  dem  kurzen  Wort  »Zum  Unterricht  über  die 
heilige  Schrift«  (I.  Heft  S.  28)  auf  die  wichtige  Frage:  wie  können  wir  bei 
den  Schülern  die  rechte  Auffassung  für  den  eigenartigen  Wert  der  Bibel 
erzielen,  deren  Schriften  Menschenwerke  und  doch  von  einem  besondern 
göttlichen  Geiste  erfüllt  sind?  Wie  ist  der  rechte  Mittelweg  zwischen 
Inspirationslehre  und  Bibelkritik  zu  finden?  Er  empfiehlt  die  göttliche 
Heilsoffenbarung  in  Christo  als  den  Inhalt  der  Schrift  gleichsam  voraus- 
zusetzen, und  es  begreiflich  zu  machen,  dafs  für  diesen  Inhalt  jede  Form, 


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III  — 


die  von  Menschen  und  für  Menschen  ist,  unzulänglich  und  darum  der 
Kritik  unterworfen  sein  mufs.  Sollte  aber  für  unsere  höheren  Schulen, 
besonders  für  die  obersten  Stufen,  der  umgekehrte  Weg  nicht  minder  er- 
folgreich sein,  dafs  man  an  ein  Bibelbuch  —  theoretisch  gesprochen  — 
voraussetzungslos  herangeht  wie  an  einen  Dialog  des  Piaton  oder  an  eine 
Tragödie  des  Sophokles.  Hier  wie  dort  sucht  man  die  erhabenen  Gedanken 
bewundernd  zu  verstehen  und  hegt  das  Zutrauen,  dafs  Christi,  Pauli  und 
der  übrigen  Apostel  Gedanken,  mit  dem  rechten  Geist  gedeutet,  siegreich 
aus  der  übrigen  Gedankenwelt  sich  erheben!  Also  auf  höheren  Stufen 
nicht  so  regelmäfsig  von  der  Offenbarung  zur  Kritik  herabsteigen,  nicht 
die  Wertbestimmung  aufstellen,  um  sie  nacher  zn  beschränken,  sondern 
die  Geister  prüfen,  den  Ewigkeitsgehalt  erkennen  und  behalten. 

Einen  recht  gesunden  Gedanken  spricht  Conz  aus  in  seinem  Aufsatz 
über  »Die  Heidenwelt  und  die  biblische  Offenbarung«.  (II.  Heft  S.  119t 
Er  verlangt,  dafs  im  Religionsunterricht  nicht  ein  feindlicher  Gegensatz 
zwischen  der  Offenbarungs-Religion  und  den  heidnischen  Religionen  ge- 
schaffen werde,  sondern  vielmehr  alle  Religionen  der  Menschheit  erkannt 
werden  als  Strebungen  nach  Gotteserkenntnis,  unter  denen  sich  dann 
Christi  Gotteserkenntnis  desto  sicherer  als  die  erste  erweisen  wird.  Gewifs 
kann  das  Christentum  nicht  besser  zum  Verständnis  und  zur  Empfindung 
gebracht  werden,  als  wenn  bei  der  Lektüre  Piatos,  des  Herodot,  des 
Sophokles,  des  Horaz  gezeigt  wird,  wie  nahe  olt  die  Ideen  heidnischer 
Geister  an  die  israelitischen  und  christlichen  Lehren  heranreichen,  ohne 
doch  ie  Christi  Worte  zu  erreichen,  geschweige  Christi  Leben,  wie  ehr- 
furchtgebietend doch  auch  dieses  Ringen  heidnischer  Geister  ist.  Bei 
diesem  Verfahren,  was  die  jungen  Christen  recht  oft  aus  der  Tiefe  zur 
Höhe  des  Christentums  hinautblicken  läfst,  dürfte  viel  Apologetik  gespart 
werden  können.  Spitta  hätte  sich  auch  geradezu  auf  Paulus  Rom.  1,  19 
berufen  können,  wenn  er  den  Heiden  auch  Offenbarung  zuerkennt,  und 
man  braucht  wirklich  nicht  zu  fürchten,  dafs  bei  solchem  Verhalten  die 
unvergleichliche  Stellung  des  semitischen  Volkes  Israel  oder  gar  die  Hoheit 
Christi  leidet. 

Geistvoll  spricht  Brückner  im  1.  Heft  S.  36  »Über  Deut.  18,15.  18«. 
über  Offenbarung  und  Prophetentum.  »Es  giebt«,  so  meint  er,  »thatsäch- 
lich  göttliche  Offenbarung  nur  in  dem  Geistesleben  hervorragender  Persön- 
lichkeiten, durch  welche  Gott  seinen  Willen  kund  thut.«  Wir  fügen  hinzu, 
dafs  sich  dieser  Oftenbarungsbegriff  durch  die  Vergleichung  mit  dem  gott- 
begnadeten Genie  dem  Schüler  noch  deutlicher  machen  läfst  als  durch  die 
von  Riehm  auf  die  Bahn  gebrachten  Analogieen  der  lebendigen  Glaubens- 
überzeugung und  der  Vergewisserung  über  die  Gebetserhörung.  —  Was 
Brückner  sonst  über  Deut.  18,  15.  18  sagt,  dafs  die  Stelle  eine  messianische 
Deutung  nicht  verträgt,  wird  im  IL  Heft  S.  137  von  Hoppe  angefochten, 
im  III.  Heft  S.  232  von  Trumpert  bestätigt,  beidemal  ohne  greifbares 
Ergebnis. 

Jacobson  hält  es  in  seinem  Aufsatz  über  >den  Religionsunterricht  und 
die  neutestamentliche  Kritik*  (II.  Heft,  S.  134)  für  nötig,  dafs  die  neu- 


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testamentliche  Kritik  den  Unterricht  beeinflufst,  und  er  erläutert  sein  eigenes 
Verfahren  durch  Beispiele.  Schwerlich  wird  jemand  die  Berechtigung  seines 
Verfahrens  bezweifeln  und  um  den  Erfolg  eines  wissenschaftlich  ange- 
hauchten Unterrichts  bangen,  wenn  durch  das  kritische  Verfahren  dem 
Lehrer  die  künstlerische  Gestaltung  des  Stoffes  nicht  gestört  wird  und  das 
kritische  Gestrüpp  nicht  so  lästig  wird,  dafs  es  zu  einem  ausgestalteten 
Bilde  Christi  und  Pauli  etwa  gar  nicht  kommt.  Überhaupt  ist  gar  nicht 
einzusehen,  warum  in  dieser  Frage  es  sich  immer  nur  um  Angriff  und  Ver- 
teidigung handeln  soll,  warum  nicht  lieber  überhaupt  von  der  Schwierigkeit 
einer  kritischen  Überlieferung  aus  den  Kreisen  der  tieferregten  Apostel 
ausgehen  und  mit  Bewunderung  und  Dank  das  hinnehmen,  was  uns  trotz 
alledem  so  reichlich  geboten  wird. 

IV. 

Aufser  jenen  Beispielen  und  Grundsätzen  erteilt  die  Zeitschrift  noch 
manchen  praktischen  Wink  in  Kragen,  die  jeden  Religionslehrer  beschäftigen. 
Der  bairische  kirchenregimentliche  Erlafs  über  den  Religionsunterricht  an 
höheren  Schulen  im  I.  Heft  S.  jS  verdiente  darum  mitgeteilt  zu  werden, 
weil  er  nicht  allgemeine  Mahnungen  bietet,  sondern  mehrere  wahrhaft 
praktische  Ratschläge  über  die  Verwertung  des  neutestamentlichen  Urtextes 
in  den  oberen  Gymnasialklassen,  über  die  biographische  Methode  im  kirchen- 
geschichtlichen Unterricht  und  über  das  Verhältnis  der  Schule  zum 
Gemeindegottesdienst.  Der  erste  Punkt,  die  Lektüre  des  N.  T.  in  der  Ur- 
sprache, wird  in  der  Zeitschrift  noch  einigemal  berührt  und  ganz  verschieden 
beurteilt.  Diese  Frage  hat  ihre  Erledigung  noch  nicht  gefunden.  Der  letzte 
Punkt  dagegen,  das  Verhältnis  der  Schüler  zum  Gemeindegottesdienst 
wird  in  ansprechender  Weise  behandelt  von  Eichhoff  III.  Heft  S.  224 :  »Die 
seelsorgerische  Wirksamkeit  des  Religionslehrers  an  den  Schülern.«  Er 
verwirft  den  Grundsatz,  »den  Schüler  zum  Besuch  jedes  Gemeindegottes- 
dienstes durch  einen  starken  moralischen  Druck  anzuhalten.  Es  ist  eine 
heilige  Pflicht  des  Religionslehrers,  den  jugendlichen  Herzen  die  Liebe  zur 
Kirche  einzupflanzen  und  den  Segen  christlicher  Gemeinschaft  vorzuhalten 
und  auf  diese  Weise  indirekt  zum  fleifsigen  Besuch  des  Gotteshauses  zu 
mahnen.«  Wir  glauben  jedoch,  dafs  mit  Vorhaltungen  und  Mahnungen  sich 
hierin  wenig  erreichen  läfst,  in  dieser  Sache  mufs  viel  tiefgründiger  ge- 
arbeitet werden.  Es  gilt  in  den  Religionsstunden  den  Blick  oft  hinüber- 
zulenken  nach  der  Kirche  und  blofs  nach  dem  Gotteshaus,  auch  auf  die 
Einrichtungen,  die  Sitte  der  Kirche,  nicht  der  Gemeinde,  auf  die  Kunst  im 
Kirchenbau  und  in  den  Geräten:  diese  sinnenfälligen  Formen  erwecken  um 
ihrer  Geschichte  willen  Ehrfurcht,  und  es  ist  für  den  Schüler  viel  gewonnen, 
wenn  ihm  jene  Einrichtungen  interessant  und  bedeutend  werden.  Darum 
sollte  man  nicht  blofs  die  wichtigsten  Perioden  und  Männer  der  Kirchen- 
geschichte lehren,  sondern  auch  mit  jeder  Generation  einmal  die  Kirche 
der  Gemeinde  studieren.  Wie  interessant  vermag  eine  durch  Kunst,  Kultur- 
und  Kirchengeschichte  getragene  Belehrung  dem  Schüler  den  Altar,  den 
Chor,  die  Orgel,  die  Glocken,  den  Turm,  ja  selbst  die  Kirchenfenster  zu 


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—    H3  ~ 

machen!  Die  Mitteilung,  dafs  in  jener  Periode  der  Kirchengeschichte  der 
Rundbogenstil,  zu  späterer  Zeit  der  Spitzbogenstil  im  Schwang  war,  leistet 
herzlich  wenig.  Eben  horchen  die  Schüler  auf  und  es  tritt  das  Bild  einer 
Kirche  vor  ihre  Seele,  da  ist  auch  die  Sache  schon  erledigt.  Hier  gilt  es 
nun  nicht  etwa  mehr  derartige  interessante  Notizen  zu  bieten,  sondern  es 
gilt,  aus  dem  reichen  kunst-  und  kulturgeschichtlichen  Stoffe  des  ganzen 
Vaterlandes  und  besonders  auch  der  Heimat  mit  sicherer  Hand  dasjenige 
zu  wählen,  was  das  Angeschaute  verstehen  hilft.  Wenn  wir  Protestanten 
auch  die  Idee  mehr  lieben  als  ihren  immer  unvollkommenen  Ausdruck,  um 
der  Jugend  willen  müssen  wir  die  sinnenfällige  Form  nicht  verachten.  Hat 
doch  Luther  ausgesprochen,  dafs  eigentlich  unter  den  rechten  Gläubigen 
Gottesdienst  gar  nicht  nötig  sei,  nur  um  der  heranwachsenden  Jugend 
willen  mufs  er  bestehen. 

Übrigens  ist  das  Bedürfnis,  das  Studium  der  Vergangenheit  doch  nun 
auch  wirklich  der  Gegenwart  zu  Gute  kommen  zu  lassen,  mehrfach  von 
Mitarbeitern  der  Ztschr.  gefühlt  worden,  so  von  Noak,  der  im  II.  Heft 
S.  123  »Bemerkungen  und  Vorschläge  zur  Behandlung  der  Kirchengeschichte 
auf  höheren  Schulen«  nachdrücklich  auffordert,  die  Kirchengeschichte  stets 
in  Beziehung  zu  setzen  zu  den  kirchlichen  Erscheinungen  und  Einrichtungen 
der  Gegenwart,  damit  der  junge  Mann  aus  der  Schule  als  ein  mündiges 
Glied  in  die  Gemeinde  eintritt. 

Hiermit  berührt  sich  der  Rat,  den  Oberlehrer  Boesche  in  der  Berliner 
theologischen  Gesellschaft  am  21.  Mai  1889  in  12  Thesen  ȟber  den  Reli- 
gionsunterricht der  höheren  Lehranstalten  in  seinem  Verhältnis  zum  Kon- 
firmandenunterrichtc  erteilt  hat.  I.  Heft,  S.  61  ff.:  der  Konfirmandenunter- 
richt soll  nicht  versäumen,  nach  Art  des  alten  Katechemenats  auch  in  das 
kirchliche  Gemeinschaftsleben  einzuführen,  indem  er  über  Kultus,  Verfassung, 
das  sittlich-soziale  Leben,  äufsere  und  innere  Mission,  Gustav-Adolf-Verein 
u.  a.  belehrt.  Dieser  Rat  Boesches  verdient  Beachtung.  Zwar  möchten 
wir  dem  Gymnasium  das  Recht,  für  solche  Bethätigung  des  evangelischen 
Christentums  Interesse  zu  wecken,  durchaus  unverkürzt  erhalten  sehen, 
indessen  ist  es  doch  auch  für  die  Kirche  im  allgemeinen  eine  Lebensfrage, 
dafs  die  Katechumenen  nicht  ohne  Kenntnis  und  Verständnis  des  Gemeinde- 
lebens hinziehen.  Warum  nur  die  Lehren  und  Ideen  besprechen,  ohne 
auch  liebevoll  die  Einrichtungen  und  Versuche  zu  betrachten,  in  denen 
die  Ideen  Gestalt  angenommen  haben?  — 

V. 

Ganz  nahe  kommt  die  Schule  der  kirchlichen  Aufgabe  bei  ihren  An- 
dachten und  Schulfeiern.  Auch  hierfür  bietet  die  Zeitschrift  gute  und 
lehrreiche  Exempel.  Im  ersten  Heft  S.  19  klingt  zu  uns  herüber  ein 
weihevoller  Klang  aus  dem  Schulleben  der  Franckischen  Stiftungen.  Der 
frühere  geistliche  Inspektor  derselben,  Palmid,  bietet  vier  liturgische 
Schulandachten  dar,  welche  zur  Feier  der  Geburts-  und  Todestage  der 
beiden  hochseligen  Kaiser  gehalten  worden  sind.   Es  ist  sehr  richtig,  dafs 

PldagogUche  Studien.    II.  8 


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-     II4  - 


für  diese  Andachten  die  liturgische  Form  gewählt  ist,  weil  durch  die 
Mannigfaltigkeit  derselben  und  die  aktive  Teilnahme  der  .Schulgemeinde 
das  Interesse  der  Schüler  für  die  Feier  lebendiger  wird  als  durch  eine 
Form,  bei  welcher  die  Schüler  nur  zuhören.  Auch  die  beiden  kurzen  An- 
sprachen zum  Gedächtnis  der  beiden  Kaiser  wird  jeder  gern  lesen  und 
besonders  der  ersten  das  Lob  einer  formvollendeten  Leistung  zollen. 
Nicht  ohne  Wert  für  die  Praxis  des  Lehrers  ist  auch  die  Schulandacht, 
welche  Oberlehrer  Uhlig  in  Leipzig  im  II.  Heft,  S.  i,  mitteilt.  Endlich 
aber  hat  es  die  Zeitschrift  zu  ihrer  Gewohnheit  gemacht,  auch  der  Ge- 
meinde der  Religionslehrer  selbst  mit  jedem  Heft  eine  würdige  und  er- 
hebende Andacht  zu  bieten.  So  finden  wir  im  I.  Hctt  S.  i  ein  warm 
empfundenes  Vorwort  des  Generalsuperintendenten  der  Prov.  Westfalen, 
Dr.  Nebe,  wodurch  er  ausgehend  von  der  schwierigen  Aufgabe  des  Reli- 
gionsunterrichts dem  Lehrer  diese  Zeitschrift  als  Freund  und  Helfer  zu- 
führt. Im  II.  Hefte  S.  i  wird  eine  »Rede«  geboten,  >gehalten  zu  Michaelis 
1887  bei  Einführung  neuer  Mitglieder  in  den  Kandidatenkonvikt  am  Kloster 
U.  L.  Fr.  zu  Magdeburg«  von  Prof.  Bornemann.  Er  wendet  auf  die  Thä- 
tigkeit  des  Religionslehrers  sehr  hübsch  an  das  Wort  Christi  vom  Schrift- 
gelehrten, der  gleich  einem  Hausvater  aus  seinem  Schatze  Neues  und  Altes 
hervorträgt. 

Nur  mit  einer  der  beigesteuerten  Arbeiten  vermag  ich  gar  nichts  an- 
zufangen; das  ist  der  Aufsatz  von  Rinn  >Stimmcn  der  bedeutenderen 
Dichter  Deutschlands  im  12.,  13.,  14.  Jahrhundert  über  das  Christentum«, 
ein  Aufsatz,  der  sich  schon  durch  zwei  Hefte  zieht  und  auch  noch  weiter 
fortgesetzt  zu  werden  droht.  Es  ist  gar  nicht  einzusehen,  wem  diese  un- 
geordnete Sammlung  dienen  soll.  Wollte  der  Verfasser  charakterische 
Urteile  deutscher  Dichter  und  Denker  sammeln  über  Christentum  und 
Kirche  im  Mittelalter,  so  wäre  ja  diese  Absicht  durchaus  zu  billigen,  weil 
solche  Sammlung  belehren  kann.  Aber  dann  gälte  es,  wahrhaft  be- 
deutende Zeugnisse  einsichtig  auszuwählen  und  planvoll  zu  verwerten. 
Wem  sollen  die  ausgeschütteten  Schnitzel  eines  Zettelkastens  nützen  ?  Über- 
dies ergab  sich  mir  die  Ungenauigkeit  auch  dieser  Citate,  ohne  dafs  ich 
verglichen  habe:  so  führt  Rinn  aus  Hartmanns  Erec  einen  Ausspruch  über 
die  Ehe  an,  den  ich  mir  einstens  in  meinem  Gregorius  angestrichen  habe. 

Überblicken  wir  den  reichen  Inhalt  der  drei  ersten  Hefte  und  legen 
an  das  Ganze  jenen  Mafsstab,  den  wir  zu  Anfang  bestimmten,  so  müssen 
wir  dankbar  anerkennen,  dafs  die  Hauptsprecher  der  Zeitschrift  sich  der 
hohen  und  eigenartigen  Aufgabe  ihres  Unterrichts  bewufst  sind,  dafs  die 
einzelnen  Arbeiten  manches  zur  Erfüllung  dieser  Aufgabe  beitragen  und 
dafs  die  Zeitschrift  die  Berechtigung  ihres  Daseins  erwiesen  hat  Deshalb 
darf  sie  sich  der  besten  Wünsche  aller  beteiligten  Kreise  versichert  halten. 

Jena.  Dr.  Rausch. 

(Die  Besprechung  des  4.  Heftes  und  der  beiden  Hefte  vom  IL  Jahrg. 
soll  später  erfolgen.) 


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6.  Die  III.  Hauptversammlung  des  allgemeinen  deutschen 

Sprachvereins 

gab  zu  München  am  28.  Mai  aus  Anlafs  ihrer  Verhandlungen  über  die 
Frage:  »Was  erwarten  wir  von  der  Schule  im  Sinne  unserer 
Bestrebungen?«  folgende  Erklärung  mit  voller  Einhelligkeit  ab. 

1.  Die  deutsche  Jugend  soll  durch  Lehre  und  Vorbild  angeleitet 
werden,  entbehrliche  Fremdwörter  zu  vermeiden.  Sie  soll  es  als 
ein  Unrecht  gegen  die  Muttersprache  empfinden,  fremdsprachlichen  Aus- 
drücken den  Vorzug  vor  deutschen  Wörtern  zu  geben  ;  sie  soll  durch  Ver- 
meidung der  Fremdwörter  dahin  geführt  werden,  den  Reichtum  der 
Muttersprache  zu  erkennen  und  den  eigenen  Wortvorrat  zu  erweitern  ; 
sie  soll  durch  die  Forderung,  gut  deutsch  zu  reden,  genötigt  werden,  gut 
deutsch  zu  denken.  So  wird  die  Bekämpfung  der  entbehrlichen  Fremd- 
wörter ein  bedeutsames  Förderungsmittel  geistiger  Bildung  und  nationaler 
Erziehung. 

2.  Die  deutsche  Sprache  soll  der  Mittelpunkt  des  gesamten 
Unterrichts  sein.  In  allen  Lehrfächern  sollen  Lehrende  und  Lernende 
sich  bemühen,  gut  deutsch  zu  sprechen  und  zu  schreiben.  Namentlich  bei 
Übersetzungen  aus  fremden  Sprachen  halte  man  streng  auf  echt  deutschen 
Ausdruck  und  suche  die  Eigenart  des  Deutschen  durch  den  Gegensatz  der 
fremden  Sprache  klar  zu  machen. 

2.  Besonderes  Gewicht  ist  auf  den  mündlichen  Gebrauch  der 
deutschen  Sprache  zu  legen.  Schönes  ausdrucksvolles  Lesen  soll  auch  an 
fremden  Sprachen  geübt  werden.  Gelegenheit  zu  freiem  Gebrauche  der 
Muttersprache,  zu  zusammenhängendem  Sprechen  werde  womöglich  in  allen 
Fächern  geboten.  Man  gewöhne  die  Schüler  auch  an  eine  gute  Aus- 
sprache, die  sich  im  ganzen  möglichst  an  die  Sprache  der  Bühne  an- 
schliefscn  soll,  ohne  durch  das  Streben  nach  Vermeidung  aller  mundart- 
lichen Anklänge  ins  Gezierte  zu  verfallen. 

4-  Der  Unterricht  in  der  deutschen  Sprachlehre  soll  die  Schüler 
dazu  anleiten,  das  Deutsche  nicht  als'Jeine  tote  Büchersprache,  sondern 
als  eine  geschichtlich  gewordene,  stetig  sich  fortentwickelnde,  lebendige 
Sprache  anzusehen.  Darum  soll  der  Unterricht  mehr  als  bisher  an  die 
heimischen  Mundarten  anknüpfen  und  zur  Erläuterung  der  jetzigen  Sprache 
auf  die  älteren  Sprachformen  zurückgreifen.  Die  Sprache  des  Nibelungen- 
liedes und  Walthers  von  der  Vogclweide  soll  keinem  Schüler  einer  höheren 
Lehranstalt  unbekannt  bleiben. 

5.  In  den  Aufsatzübungen  sehe  man  besonders  auf  Klarheit, 
Einfachheit,  Volkstümlichkeit ;  leere  Redensarten  sind  nicht  zu  dulden.  Bei 
Fragen  der  Sprachrichtigkeit  vermeide  man  ebenso  engherzige  Kleinlichkeit 
wie  regellose  Ungcbundenheit. 

8* 


I 


—    n6  — 

6.  Der  Unterricht  in  der  deutschen  Sprache  soll  den  Schülern 
ein  lebendiges ,  sicheres  Sprachgefühl  entwickeln ,  das  Sprachgewissen 
schärfen  und  durch  die  Erkenntnis,  dafs  die  Muttersprache  eines  der  köst- 
lichsten Güter  unseres  Volkes  ist,  die  Begeisterung  für  deutsches  Volkstum 
und  Vaterland  wecken  und  stärken. 


7.  Finanzminister  Miquel  über  die  Schulfrage. 

Der  Vorstand  des  Preuis.  Landeslehrervereins  hatte  im  Jahre  1875 
mehreren  Abgeordneten  seine  Wünsche  zu  dem  damals  erwarteten  Schul- 
gesetze vorgetragen     Ein  Mitglied  des  Vorstandes  wandte  sich  nun  an 
Herrn  Miquel,  und  dieser  antwortete  in  einem  längeren  Schreiben.  Er 
erklärte,  eine  Agitation,  welche  dahin  ziele,  dafs  Dotation  und  Verwaltung 
der  Schulen  ausschliefslich  dem  Staate  zugewiesen  würden,  für  durchaus 
unpraktisch  und  selbst  gefährlich.    Mit  dem  Ausdrucke  des  Landrechtes, 
dafs  die  Schule  eine  staatliche  Anstalt  sei,  sollte  nach  Ansicht  Miquels 
nur  die  weltliche  Natur  der  Schule  im  Gegensatze  zur  kirchlichen  aus- 
gedrückt werden.     Selbst  wenn  es  nach  vielen  langen  und  schweren 
Kämpfen  gelänge,  die  historische  Entwickelung,  welche  die  Schule  der 
politischen  Gemeinde  zuweise,  umzuwerfen  und  der  Staat  andere  Organe 
für  die  unmittelbare  Schulverwaltung  fände,  so  wäre  sehr  zu  bezweifeln, 
ob  damit  dem  Interesse  der  Schule  in  materieller  und  ideeller  Beziehung 
gedient  wäre.   Jedenfalls  wäre  so  viel  gewifs,  dafs  die  Gleichmacherei  und 
der  blofse  Mechanismus  an  die  Stelle  der  jetzigen  wohlberechtigten  Man- 
nigfaltigkeit treten  würden.    Auch  würde  die  Möglichkeit  jedes  Schutzes 
gegen  verkehrte  Mafsregeln  der  Minister  dahin  sein.    Miquels  Ansicht  nach 
müfste  das  Schulwesen  etwa  auf  folgenden  allgemeinen  Grundsätzen  auf- 
gebaut werden:  »1)  Die  Schul-  und  Lehrerdotation  ist  grundsätzlich  Sache 
der  Gemeinde.    Die  Schulgemeinde  ist  möglichst  grofs  zu  bilden.  Wo 
nicht,  wie  in  den  alten  Provinzen,  am  Rhein  die  Bürgermeistereien,  in 
Westfalen  die  Ämter,  in  Hannover  die  Stadtgemeinden  oder  hinreichend 
starke  Einzelgemeinden  bestehen,  mufs  man  durch  Zusammenlegung  helfen. 
2)  Für  die  unter  gleichartigen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  lebenden  Ge- 
genden (Provinzen,  Regierungsbezirke,  Kreise  u.  s.  w.),  also  nicht  gleich  in 
der  ganzen  Monarchie  müssen  in  gesetzlich  geordneter  Weise  Minimalsätze 
für  die  verschiedenen  Lehrerstellen  nach  Beschaffenheit  der  Schule  und 
der  Stelle  bestehen.    3)  Kann  eine  Gemeinde  das  gesetzliche  Erfordernis 
nicht  erfüllen,  so  tritt  subsidiarisch  der  Kreis  ein.   4)  Für  die  Ordnung  des 
Pensionswesens,  der  Wittwen-  und  Emeriten-Dotationen,  sowie  für  die 
Alterszulagen  hat  entweder  der  Staat  oder,  was  ich  vorziehen  würde,  die 
Provinz  einzutreten.    5)  Der  Staat  beaufsichtigt  das  Pensionswesen  und 
leitet  die  inneren  Angelegenheiten  durch  das  Zentralorgan,  Kultusministerium, 


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-    i!7  - 


durch  das  provinzielle  Organ,  Oberschulkollegium,  durch  das  Lokalorgan, 
Kreisschulinspektor.  Letzterer  müfste  in  Schulsachen  Sitz  und  Stimme  im 
Kreisausschufs  haben.  —  Die  unmittelbare  Lokalverwaltung,  namentlich  der 
äufseren  Angelegenheiten  steht  innerhalb  der  gesetzlichen  Schranken  den 
Gemeindeorganen  zu.  Bildung  besonderer  Schulausschfisse,  an  welchen 
der  Ortsgeistliche  und  der  Lehrer  teilnehmen,  ist  nicht  ausgeschlossen.« 


8.  Die  Volksschule  in  Frankreich  und  Deutschland. 

■ 

Wir  fühlen  uns  in  Deutschland  selten  veranlafst,  in  Angelegenheiten 
der  Volksschule  Uber  die  Grenzen  des  Landes  hinauszublicken  ;  wir  denken 
mit  Stolz  daran,  dafs  unsere  Volksschulen  und  ganz  besonders  die  von 
Berlin  als  Musteranstalten  in  allen  Teilen  der  Welt  anerkannt  werden. 
Um  so  bemerkenswerter  ist  es,  was  Dr.  Max  Weigert  in  einem  Hefte 
der  bekannten  »Volkswirtschaftlichen  Zeitfragen«  (Berlin,  Leonhard  Simion) 
mitteilt;  das  Thema  ist  im  Titel  gegeben:  die  Volksschule  und  der  ge- 
werbliche Unterricht  mit  besonderer  Berücksichtignng  des  Schulwesens  von 
Paris.  Weigert,  welcher  auf  volkswirtschaftlichem  Gebiete  rühmlichst 
bekannt  und  als  Stadtrat  von  Berlin  durchaus  in  der  Lage  ist,  die  heimi- 
schen Verhältnisse  zu  übersehen,  kommt  zu  dem  überraschenden  Ergeb- 
nisse, dafs  Paris,  welches  den  Volksunterricht  eigentlich  erst  seit  zehn 
Jahren  ernstlich  übernommen  hat,  in  wichtigen  Punkten  bereits  Berlin 
überflügelt  hat,  der  soziale  Zug,  welcher  sich  auch  bei  uns  in  dem  Schul- 
zwang und  in  der  Unentgeltlichkeit  des  Unterrichts  ausspricht,  hat  sich  dort 
nach  oben  und  unten  hin  weit  stärker  entfaltet.  Vom  dritten  Lebensjahre 
an  kann  der  Pariser  sein  Kind  dem  öffentlichen  unentgeltlichen  Unterricht 
übergeben.  Die  Kindergärten,  welche  bei  uns  überwiegend  Wohlthätigkeits- 
anstalten  sind,  beginnen  dort  als  dcoles  maternelles  den  staatlichen  Unter- 
richt ;  in  denselben  wird  nicht  vorwiegend  gespielt ,  sondern  es  wird  in 
zweckmässiger  Weise  der  künftige  Unterricht  vorbereitet.  Die  eigentliche 
Volksschule  umfafst  die  Knaben  und  Mädchen  vom  6.— 13.  (bei  uns  meistens 
bis  14.)  Jahre. 

Die  Schule  sorgt  in  Paris  in  umfassendster  Weise  Tür  geistige  und  auch 
körperliche  Erziehung ;  ein  ganzer  Stab  von  Sanitätsbeamten  hat  die  Bau- 
lichkeiten und  die  einzelnen  Schüler  zu  überwachen.  In  der  Schule  selbst 
wird  eine  Mahlzeit  eingenommen,  welche  sich  die  Kinder  entweder  mit- 
bringen oder  gegen  Speisemarken  in  der  möglichst  gut  und  billig  herge- 
richteten Schulküche  entnehmen  können.  Diese  Speisemarken  werden 
aufserhalb  der  Schule  von  den  Eltern,  je  nach  ihren  Verhältnissen,  ganz, 
teilweise  oder  gar  nicht  bezahlt ;  in  der  Schule  selbst  sind  alle  Kinder 
völlig  gleich.  Ich  möchte  hier  aus  eigener  Beobachtung  einschalten,  dafs 
auch  in  der  Kleidung  —  und  zwar  lange  vor  den  Zeiten  der  jetzigen  Re- 


—    u8  — 


publik  —  dieses  Prinzip  der  Igalitc*  sich  geltend  macht.    Weitaus  die 
meisten  der  Kinder  der  Volksschulen  tragen  gleichmäfsig  schwane  Blousen, 
die  Kinder  in  den  höheren  Schulen,  ganz  abgesehen  von  den  streng  uni- 
formirten  Lyceen,  nach  Verabredung  schwarze  oder  graue  Kleidung  von 
gleichmäfsigem  Schnitt.    Eine  Ncuschöplung  der  Republik  ist  dagegen  die 
völlige  Trennung  der  Schule  von  der  Kirche,  welche  um  so  schwerwiegen- 
der ist,  als  früher  die  Schule  in  Frankreich  von  der  Kirche  nicht  blofs 
stark  beeinflufst,  sondern  in  weiten  Schichten  völlig  beherrscht  wurde. 
Zur  Zeit  ist  der  Religionsunterricht  aus  der  Schule  gänzlich  ausgeschlossen ; 
für  Erteilung  desselben  nach  Mafsgabe  der  Konfession  und  des  Beliebens 
der  Eltern  ist  ein  bestimmter  Wochentag  —  der  Donnerstag,  vom  Schul- 
unterricht freigelassen.    Der  Verpflichtung  zu  sittlicher  Erziehung  glaubt 
die  Schule  durch  eine  Art  von  Morallehre  nachkommen  zu  können,  in 
welcher  die  Pflichten  gegen  Staat  und  Familie,  gegen  Menschen  und  Tiere 
nach  allgemeinen  Grundsätzen  der  Sittlichkeit  vorgetragen  werden.  Diesem 
Teil  des  Unterrichts,  über  dessen  mnralische  Schwerkraft  die  Ansichten 
jedenfalls  sehr  weit  auseinandergehen   werden,    schliefsen    sich  gewisse 
praktische  Teile  an,  ungefähr  das,  was  auch  in  der  Berliner  Stadtverord- 
netenversammlung als  national-ökonomischer  und  staatsrechtlicher  Unter- 
richt für  die  Volksschule  gefordert,  aber  als  zu  unklar  abgelehnt  wurde. 
In  dem  von  Weigert  ausführlich  mitgeteilten  Programm  erscheint  dieser 
Unterricht  aber  keineswegs  unausführbar.    Es  handelt  sich  um  ganz  greif- 
bare Dinge:  die  allgemeine  Kenntnis   der  Verwaltung  des  Landes;  der 
Bürger,  seine  Pflichten  und  Rechte;  Schulpflicht,  Militärpflicht,  die  Steuern 
das  Stimmrecht,  die  Gemeinde,  der  Kreis,  das  Heer,  der  Staat,  die  Rechts- 
pflege, mit  ihren  Organen.    Die  elementaren  Kenntnisse  des  praktischen 
Rechts,  das  Eigentum,  die  Erbfolge,  die  gebräuchlichsten  Verträge,  Kauf, 
Miete  usw.    Die  einfachsten   Begriffe   der  Volkswirtschaft:   der  Mensch 
und  seine  Bedürfnisse,  die  Gesellschaft,  die  Rohstoffe,  das  Kapital,  die 
Arbeit,  das  Sparen,  die  Versicherungen,  Genossenschaften  usw. 

Der  Verfasser  schliefst  diesem  hier  nur  auszugsweise  mitgeteilten 
Programm  mit  vollem  Rechte  die  Frage  an:  >Hat  einer  unserer  Elementar- 
schüler nur  einen  Begriff  von  diesen  Dingen?«  Ob  es  möglich  ist,  gewisse 
heikle  Teile  dieser  Materie  mit  der  für  die  Schule  unerläfslichen  Objek- 
tivität vorzutragen,  oder  ob  man  nicht  bei  uns  verschiedenes  abstofsen 
müfste,  mag  dahingestellt  sein;  jedenfalls  bleibt  in  diesem  Programm  ein 
tüchtiger  Rest  von  Gegenständen,  welchen  zu  wissen  nicht  nur  dem  Ele- 
mentarschüler, sondern  auch  dem  in  diesen  Dingen  genau  ebenso  unwis- 
senden Gymnasiasten  überaus  nützlich  wäre.  Es  ist  geradezu  erstaunlich, 
mit  welcher  kindischen  Unkenntnis  aller  modernen  Staatsverhältnisse  ein 
Sekundaner,  welcher  konfirmiert  und  mit  dem  Berechtigungsschein  für  den 
Freiwilligendienst  von  der  Schule  entlassen  wird,  oft  in  das  praktische 
Leben  eintritt.*) 

•)  Wir  betitseil  vortreffliche  Hülfs mittel  in  den  Schriften  von  Dörpfeld,  die  Gesellschaft» 
künde,  eine  notwendige  Ergänzung  des  Geschichtsunterrichts.     Gütersloh  1890  und  Repetitonu» 
d„r  Gesellschaftskunde.    3.  AuHage.  Ebendaselbst. 


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—    ii9  — 


Ebenso  lehrreich  wie  diese  Hinweise  sind  in  der  Schrift  von  Weigert 
die  Angaben  über  den  Handwerksunterricht  der  Pariser  Schulen.  Dafs 
unsere  moderne  Industrie  mit  ihrer  bis  in  das  Kleinste  zersplitterten  Ar- 
beitsteilung und  ihren  Werkzeugmaschinen  nicht  mehr  im  stände  ist,  ihre 
Lehrlinge  wie  vordem  in  der  Werkstatt  heranzubilden,  ist  eine  Wahr- 
nehmung, über  deren  Richtigkeit  man  nicht  mehr  zu  streiten  braucht.  An 
den  Staat  und  die  einzelnen  Fachkreise  tritt  die  überaus  schwierige  For- 
derung heran,  jene  alte  selbstthätige  Überlieferung  des  Handwerks  durch 
einen  organisierten  Unterricht  zu  ersetzen,  um  dem  Gewerbe  hinreichend 
vorgebildete  Kräfte  zuzuführen.  Hier  setzt  zunächst  in  der  französischen 
Elementarschule  der  sehr  ausgebildete  Zeichenunterricht,  ferner  der  all- 
gemeine Handfertigkeitsunterricht  ein,  weiter  hinauf  Fachschulen  und 
Fortbildungsklassen,  welche  in  Paris  in  kürzester  Zeit  einen  mächtigen 
Aufschwung  genommen  haben  und  den  Unterricht,  wie  in  den  Volksschulen 
unentgeltlich  erteilen,  ja  sogar  noch  mit  Zuschüssen  aus  allerlei  Hilfskassen 
an  unbemittelte  Schüler. 

Alle  diese  Veranstaltungen  sind,  wie  Weigert  mit  berechtigtem  Nach- 
druck hervorhebt,  erst  während  des  letzten  Jahrzehntes  getroffen,  als  man 
in  Frankreich  gewahr  wurde,  dafs  der  gewerbliche  Aufschwung  der  Nach- 
barn, vornehmlich  Deutschlands,  die  Alleinherrschaft  Frankreichs  in  den 
feinen  und  wirtschaftlich  besonders  lohnenden  Teilen  der  Gewerbe,  vor- 
nehmlich im  Kunstgewerbe,  ernsthaft  bedrohte.  Diese  mächtige  Ausbildung 
des  Volksunterrichts,  besonders  in  Paris,  ist  daher  ein  bestimmter  Abschnitt 
in  dem  friedlichen  aber  sehr  ernsthaften  Kampfe,  den  die  grofsen  Kultur- 
völker um  die  Herrschaft  auf  dem  Weltmarkt  führen.  Weigert  bezeichnet 
in  seiner  Schrift  genau  die  Stellen,  wo  dieser  Wettkampf  im  Unterrichts- 
wesen mafsgebend  einsetzt  und  kommt  zu  dem  sehr  ernsthaft  zu  nehmenden 
Ergebnis,  dafs  wir  auf  dem  Gebiete  der  Volksschule  in  wichtigen  Punkten 
Frankreich  gegenüber  nicht  mehr  Lehrende,  sondern  Lernende  sein  müssen. 
Es  wird  diese  in  engem  Rahmen  sehr  inhaltsreiche  und  übersichtliche 
Schrift  nicht  nur  den  nächstbeteiligten,  sondern  auch  weiteren  Kreisen 
wichtige  Anregung  und  Belehrung  bieten. 

(»Nat.  Z.«  ii.  Juni  90.) 


9.  Professor  Dr.  Gustav  Teichmüller,  Pädagogisches. 

(Dorpat,  Mattiesen  1881.) 

So  anregend  und  überzeugend  nach  verschiedenen  Seiten  hin  die 
Darlegungen  des  Verf.  wirken  können,  so  sind  sie  doch  hinsichtlich  des 
Hauptpunktes  anfechtbar.  Derselbe  betrifft  die  Aufstellung  des  Zieles  für 
die  Gymnasialbildung  (S.  10  f.).   Ganz  im  Sinne  der  herrschenden  Ansichten 


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—  120 


wird  das  Ziel  in  der  Herbeiführung  einer  formalen  Bildung  gesehen, 
d.  h.  in  der  Gewinnung  einer  allgemeinen  oder  formalen  Kraft,  wodurch 
wir  in  Zukunft  jedes  beliebige  Fach  leicht  ergreifen  und  nach  kurzer  Ein- 
gewöhnung es  wissenschaftlich  in  Besitz  nehmen  können,  da  das  Wissen 
schaftliche  in  jeder  Wissenschaft  nichts  anderes  als  gerade  diese  formale 
Bildung  ist. 

Demgegenüber  betont  die  neuere  psychologische  Forschung: 
i)  Die  Möglichkeit  einer  rein  formalen  Bildung  der  geistigen  Kräfte, 
einer  Verstärkung  und  Veränderung  der  Kräfte  an  sich,  infolge  deren  die 
ausgebildete  Kraft  jedem  Objekte  gegenüber  die  gleiche  Stärke  zeigen 
müfste,  mufs  bestritten  werden,  weil  die  Voraussetzung  dafür,  die  Existenz 
bestimmter  realer  Vermögen  der  Seele,  fehlt. 

i)  Die  geistigen  Kräfte  sind  die  Vorstellungen  selbst  und  die  Produkte 
der  Wechselwirkung  derselben,  darum  aber  von  dem  Boden,  auf  dem  sie 
wachsen,  nicht  zu  trennen. 

3)  Die  in  einem  Kreise  ausgebildeten  Geisteskräfte  geben  dem  Geistes- 
leben nach  den  verschiedenen  Seiten  seiner  Erweisungen  ein  bestimmtes 
formales  Gepräge,  welches  auch  auf  die  Auffassung,  die  Durchdringung  und 
die  Verwertung  anderer  Gedankenkreise  einen  Einrlufs  auszuüben  vermag. 
Dieser  Einflufs  reicht  aber  nur  so  weit,  als  zwischen  den 
Gedankenkreisen  eine  Verwandtschaft  besteht,  und  wird 
durch  das  klare  Bewufstsein  dieser  Beziehung  erhöht. 

4)  Das  Obergewicht  der  an  dem  Inhalt  des  Seelenlebens  sich  bildenden 
Kräfte ,  also  des  Gedächtnisses  oder  der  Phantasie  oder  des  Verstandes 
oder  des  Gefühls  oder  des  Willens  und  die  bestimmte  Art  ihrer  Erweisungen 
hängen  sowohl  von  der  rein  formal  zu  denkenden  ursprünglichen  Bestimmt- 
heit der  Seele,  deren  Verschiedenheit  auf  den  höheren  oder  geringeren 
Grad  der  Stärke  und  des  Rythmus  des  elementaren  geistigen  Geschehens 
zurückgeführt  werden  mufs,  als  auch  von  der  Natur  der  Bildungseinflüsse  ab. 

5)  Die  höchste  Aufgabe  der  formalen  Geistesbildung  ist  die  Erzeugung 
eines  reichen,  starken  und  einheitlichen  Willens,  der  die  Vorherrschaft  in  der 
Seele  besitzt  und  die  übrigen  Geisteskräfte  möglichst  beeinflufst.  Je  mehr 
dieser  Wille  den  Gesetzen  der  Ethik  entspricht|,  um  so  höherer  Wert 
kommt  den  Formen  des  Geisteslebens'  zu.«  •) 

Das  Ziel,  welches  nur  in  der  Erreichung  einer  formalen  Geistes- 
bildung gesehen  wird,  genügt  nicht,  da  ja  letztere  ebenso  gut  dem 
Schlechten,  wie  dem  Guten  dienen  kann.  Die  Schulerziehung  kann  kein 
anderes  Ziel  sich  setzen  als  die  häusliche,  nämlich  die  Grundlage  zur  Bildung 
eines  religiös-sittlichen  Charakters  möglichst  fest  und  dauernd  in  die 
jugendlichen  Seelen  zu  legen,  damit  sie  später  als  thätige  Mitglieder  an 
der  Ethisierung  der  menschlichen  Gesellschaft  wirksamen  Anteil  nehmen 


*)  Diese  Sitte  bilden  das  Ergebnis  einer  einsehenden  Untersuchung,  welche  K.  Acker- 
ni nn  in  Eilensen  in  der  Schrift  »Die  formale  Bildung.  Eine  psychologisch  pädagogische  Be- 
trachtung. Langensalza,  Beyer  u.  S.  1889«  angestellt  hat.  VergL  auch  Prof.  Scbmeding,  Zur 
Frage  der  formalen  Bildung,    a.  Aufl.    Duisburg  1863. 


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—     121  — 

können.  Diesem  Ziel  ordnen  sich  alle  Mafsnahmen  des  Erziehers  ein,  vor 
allem  auch  die  unterrichtlichen.  Von  diesem  obersten  Gesichtspunkt  aus 
trifft  er  die  Auswahl  der  Bildungselemente,  ihre  Anordnung  und  ihre  Be- 
arbeitung. Sehr  schön  und  durchaus  im  Sinne  der  neueren  Didaktik 
spricht  sich  Prof.  Teichmüller  inbezug  auf  das  Letztere  dahin  aus,  dafs  das 
Lernen  weder  zu  einer  Zwangsarbeit  werden  dürfe,  unter  welcher  beide 
Teile  stöhnen,  noch  zu  einem  Spiel,  bei  welchem  kindische  Laune  gebietet. 
»Das  Lernen  ist  eine  edle  Arbeit,  die  nur  in  Mufse  und  mit  Freiheit  des 
Geistes  vollzogen  werden  kann.«  (S.  29.)  Vortreflliche  Äufserungen  finden 
wir  auch  hinsichtlich  einzelner  Unterrichtsgegenstände,  so  ist  namentlich 
Aufgabe  und  Stellung  des  Geschichtsunterrichts  im  Dienste  der  Erziehung 
gut  gekennzeichnet. 


10.  Fragen  der  Schule  —  Fragen  der  Zeit. 

Von  Professor  Dr.  R.  Eucken.*) 

Unter  den  unzähligen  Schriften  und  Aufsätzen  zur  Schulreform 
nehmen  die  Aufsätze  des  Herrn  Hofrat  Eucken- Jena  das  Interesse  in 
besonderem  Mafse  in  Anspruch,  insofern  sie  von  einem  hohen  philosophischen 
Standpunkt  aus,  im  Bewufstsein  von  der  einschneidenden  Bedeutung  der 
Erziehungsfragen  für  die  Entwicklung  unseres  Volkes  und  durchdrungen 
von  innerer  Wärme  in  überzeugender  Weise  Gedanken  vortragen,  welche 
gegenwärtig  viele  bewegen,  zu  denen  sich  nicht  wenige  mit  Freuden  be- 
kennen werden. 

Wir  heben  besonders  hervor  die  Darlegungen  über  die  Beseitigung 
des  Maturitätsexamens  im  Zusammenhang  mit  dem  nivellierenden  und 
mechanisierenden  Einflufs  des  Bureaukratismus,  über  den  Mangel  an  Be- 
sinnung auf  das  Reinmenschliche  bei  gesteigerter  Gewinnung  spezialistischen 
Wissens,  ferner  die  überzeugenden  und  eindrucksvollen  Auseinander- 
setzungen über  die  Notwendigkeit  der  klassischen  Studien.  Die  Aufgaben, 
welche  die  Gegenwart  an  das  höhere  Unterrichtswesen  stellt,  seien  schwere 
und  grofse.  Und  dies  erinnere  daran,  wie  nötig  tüchtige  und  thatfreudige 
Persönlichkeiten  seien  zur  Ausführung.  Offenbar  besitze  Deutschland  einen 
vortrefflichen  Lehrerstand.  Um  ihn  zu  erhalten,  müsse  die  äulsere  Lage 
und  Richtung  desselben  als  eine  nicht  angemessene  aufgebessert  werden. 
Dadurch  werde  die  Gefahr  beseitigt,  dafs  die  durchschnittliche  Qualität 
sinke.  In  keinem  Fall  aber  dürfe  man  den  ungeheueren  Erschütterungen 
der  Zeit  auch  noch  einen  Bruch  mit  der  ältesten  Bildungstradition 
unseres  Volkes  hinzufügen. 

*)  Siehe  die  »Beilage  tur  AUgem.  Zeitung  No.  «50,  373,  996.  Zusammenlief afst  in  der 
Brocbüre  Der  Kampf  um  das  Gymnasium.  Gesichtspunkte  u.  Anregungen.  Stuttgart,  1891. 
Cottascbe  Buchhandlung. 


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122  — 


In  einem  zweiten  Artikel  wird  dieser  Standpunkt  durch  Berufung  aut 
Fr.  Aug.  Wolf  und  dessen  Darlegungen  noch  weiter  gestützt  und  begründet. 
So  willig  wir  denselben  uns  hingeben  und  so  hoch  wir  die  Verdienste  des 
grofsen  Philologen  stellen,   so  können  wir  dennoch  nicht  verschweigen, 
dafs  er  selbst  nicht  ohne  Schuld  an  dem  Ansturm  ist.  welchem  die  Gym- 
nasien eegenwärtie  ausgesetzt  sind.    Indem  er  das  Hauptgewicht  auf  die 
fachmännisch-philologische  Bildung  legte,  wurde  er  in  die  Einseitigkeit 
hineingetrieben,  jede  didaktische  Schulung  zu  verachten     Und  diese  Ver- 
achtung hat  sich  bitter  gerächt.    Das  Urteil  des  Engländers  Sidney  Whitman 
trifft   durchaus  den  Nagel  auf  den   K<>]<\:    Deutschland  hat  vorzügliche 
Lehrer  in  Fülle,  aber  wenig  Erzieher.    Daher:   Einseitige  Ausbildung  des 
Intellekts  und   Anhäufung  einer  Masse   Einzelwesens   —  aber  Vernach- 
lässigung der  Charakterbildung.    Und  dies  ist  auch  nieht  anders  möglich, 
wenn  die  Summe  der  pädagogischen  Ausbildung  zusammengefafst  wird  in 
den  wohlfeilen  Satz:   Habe  nur  Gelehrsamkeit,   so  wird  dir  die  Gabe  zu 
lehren  nicht  fehlen.    Oder  in  die  schönklingende,  bestechende  Forderung: 
Habe  Geist  und  wisse  Geist  zu  wecken.    Gewifs,  wer  von  Natur  reich  be- 
dacht ist  mit  dem,   was  keine  Ausbildung  ihm  zu  gewähren  vermag,  der 
wird  von  selbst  sich  die  Wege  bahnen,  auf  mannigfachen  Umw  egen  vielleicht 
und  nach  häufigen  In  fahrten  doch  zum  rechten  Ziel  gelangen.    Aber  auch 
der  begabteste  Lehrer  würde  durch  das  Studium  der  Psychologie  doch 
nicht  in  seinen  Mafsnahmen  gehemmt  und  eingeschränkt  werden,  sondern 
würde  für  dieselben  eist  rechte  Sicherheit  erlangen.    Die  Erweiterung  des 
Blickes  in  das  philosophische  Gebiet  überhaupt  kann  erst  den  Lehrer  auf 
den  Standpunkt  des  Erziehers  heben;  weil  diese  Erweiterung  oft  fehlt,  weil 
der  Lehrer  nur  zu  sehr  in  den  Grenzen  eines  übel  verstandenen  Spe- 
zialistentums festgehalten  wird,  deshalb  bildet  er  sich  wohl  zu  einem  vor- 
trefflichen Schulehalter  —  aber  zu  einem  wenig  brauchbaren  Erzieher  aus. 
Die  Erziehung  ist  aber  die  Hauptsache.   In  ihr  liegt  das  schwierige  Problem 
eingeschlofsen :  Wieweit  kann  überhaupt  ein  Künstler  herangebildet  werden. 
Dies  ist  doch  ungleich  wichtiger  als  die  äufsere  Hebung  des  Standes  in  sozialer 
und  materieller  Hinsicht,  obwohl  nicht  geleugnet  werden  soll,  dafs  hier 
baldige  Erfüllung   dringender  Wünsche  geboten    erscheint,  wenn  noch 
gröfseres  Unheil  verhütet  werden  soll. 

In  einem  dritten  Artikel  legt  Herr  Hofrat  Eucken  die  Forderungen, 
welche  sich  am  meisten  vordrängen,  in  ausführlicher  Weise  dar: 

1.  Befreiung  des  Gymnasiums  von  unnützem  Schulermaterial.  Das 
Freiwilligenrecht  werde  an  die  Absolvierung  der  Schule  geknüpft. 

2.  Umgestaltung  des  klassischen  Unterrichts.  Derselbe  mufs  von  seiner 
formalistischen  Weise  befreit  werden,  der  Hauptzweck:  Menschenbildung 
wieder  mehr  in  den  Vordeigrund  treten. 

3.  Zurückdrängen  des  Bureaukratismus  in  der  Schulverwaltung.  Ab- 
schaffung des  Abiturienten-Examens. 

4.  Besserstellung  der  Lehrer. 


•)  Dm  Kaisert.  Deutschland.    Berlin,  1890.    C.  Ulrich  u.  Co. 


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~    123  — 


Am  Schlüsse  heifst  es:  »Es  wird  mächtiger  Energie  und  überlegener 
Einsicht,  es  wird  einer  grofsen,  zugleich  staatsmännischen  und  geistigen 
That  bedürfen,  wenn  durch  alles  chaotische  Gemenge  der  Meinungen  durch 
aJle  Halbheit  des  Denkens  und  des  Wollens  sich  jene  Ziele  siegt  eich  durch- 
ringen sollen.  Nötig  dazu  ist  allerdings  eine  allseitige  Überlegung  und  Er- 
wägung, weit  nötiger  aber  ein  kühnes  Glauben  und  Wagen,  ein  mutiges 
Vorangehen  und  Durchdringen.  Dafs  an  diesem  wichtigen  Punkte  ein 
glückliches  Schaffen  in  Flufs  komme  und  nicht  mit  kleinen  Augenblicks- 
hülfen  die  Probleme  ein  wenig  beschwichtigt  werden,  das  mufs  die  innere 
geistige  Lage  Deutschlands  jeden  Vaterlandsfrcund  von  ganzem  Herzen 
wünschen  lassen.  Um  von  jener  Lage  befriedigt  zu  sein,  mufs  man  ent- 
weder sehr  gering  von  der  Aufgabe  eines  grofsen  und  alten  Kulturvolkes 
denken,  oder  die  Thatsachcn  sehr  optimistisch  beurteilen.  Der  gewaltigen 
Steigerung  äufscrer  Macht  und  Organisation,  den  staunenswerten  Fort- 
schritten der  Technik,  der  unermüdlichen  Verfeinerung  der  wissenschaft- 
lichen Spezialarbeit  entspricht  bei  weitem  nicht  die  Leistung  auf  dem  Ge- 
biete höherer  Geisteskultur,  wo  der  Mensch  als  Ganzes  und  Inneres  in 
Frage  kommt,  das  produktive  Schaffen  in  der  Kunst,  der  Philosophie,  der 
Religion;  ebensowenig  entspricht  der  Rührigkeit  des  Parteilebens,  der 
Tüchtigkeit  im  privaten  Kreise  und  der  Opferwilligkeit  zu  humanen  Zwecken 
der  sittliche  Ernst,  die  Mannhaftigkeit  und  die  Treue  in  den  grofsen  An- 
gelegenheiten des  gemeinsamen  Lebens.  Was  an  positiven  Kräften  in 
unserem  Volk,  seinen  Überlieferungen  und  Einrichtungen  steckt,  das  kommt 
heute  nicht  genügend  zu  vereinter,  die  Individuen  sammelnder  und  er- 
höhender Wirkung.  Wenn  nun  zugleich,  mehr  noch  von  innen  als  von 
aufsen,  schwerste  Gefahren  drohen,  so  ist  eine  kritische  Lage  unverkenn- 
bar; nötiger  als  je  ist  die  Gegenwart  aller  guten  Geister  der  Nation,  nötiger 
als  je  eine  volle  Belebung  alles  dessen,  was  zur  Erweckung  ursprünglicher 
Geistesthätigkeit  dienen  mag. 

Die  gelehrte  Bildung  ist  hier  nur  ein  Faktor  neben  mancher  anderen, 
aber  unzweifelhaft  greift,  was  hier  gewonnen  wird,  unmittelbar  ein  in  die 
Arbeit  für  die  höchsten  Ziele.  Möge  es  denn  glücklich  gelingen,  die  vor- 
handenen Hemmungen  zu  überwinden,  die  innewohnende  Kraft  voll  zu 
entwickeln  und  so  vom  Punkte  des  Werdens  aus  das  gesamte  Geistesleben 
zu  fördern.« 


II.  Über  die  Aussprache  des  Griechischen  in  unseren 

Gymnasien. 

Unter  den  in  Athen  lebenden  Angehörigen  des  Deutschen  Reiches 
wurde  eine  Eingabe  an  den  deutschen  Kaiser  in  Umlauf  gesetzt,  worin 
Letzterer  ersucht  wird,  in  den  Reformplan  für  den  Gymnasialunterricht 


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auch  die  Änderung  der  bisher  in  deutschen  Gymnasien  üblichen  Aus- 
sprache des  Griechischen  aufnehmen  zu  wollen.  Die  Petenten  suchen 
nachzuweisen,  dafs  die  von  Erasmus  aufgestellte  Aussprache  der  griechischen 
Vokale  eine  ganz  willkürliche  sei,  die  keineswegs  derjenigen  entspreche, 
welche  in  der  klassischen  Zeit  des  Hellenentums  gebräuchlich  war.  Ob- 
gleich daher  heute  die  gebildeten  Griechen  ihre  Sprache  dem  Althellenischen 
wieder  fast  gleichgestellt  hätten  und  jeder  deutsche  Gymnasialabiturient 
ohne  weiteres  Studium  in  der  Lage  sei,  die  neuesten  griechischen  Werke 
zu  verstehen,  so  könne  er  doch  kaum  ein  einziges  griechisches  Wort  richtig 
aussprechen.  Für  die  Mitglieder  des  deutschen  archäologischen  Instituts  in 
Athen  sei  es  beispielsweise  eine  grofse  Pein,  nachdem  sie  in  Deutschland 
so  viele  Jahre  hindurch  das  Griechische  unter  gröfsten  Anstrengungen  ge- 
lernt hätten,  nun  in  Athen  diese  Sprache  noch  einmal  »umzulernen«,  nur 
weil  man  in  den  deutschen  Gymnasien  fast  jedes  griechische  Wort  in  ab- 
weichender Form  ausspreche.  Das  Schriftstück  geht  dann  auf  die  Aus- 
sprache der  einzelnen  Laute  näher  ein  und  sucht  dieselbe  an  der  Hand 
wissenschaftlicher  Forschungen  in  der  Weise  festzustellen,  dafs  sie  dem 
neueren  Griechisch  nahezu  gleichkommt.  Endlich  wird  darauf  hingewiesen, 
dafs  die  Aussprache  des  Erasmus  bereits  in  den  Gymnasien  Italiens,  Belgiens, 
Hollands  und  teilweise  auch  in  England  aufgegeben  'sei,  so  dafs  auch  das 
deutsche  Gymnasium  mit  dieser  alten  Überlieferung  brechen  könnte. 


12.  Gemeinschaftliche  Sitzung  der  Zweigvereine  Altenburg, 
Halle,  Jena,  Leipzig  zu  Weissenfeis.*) 

Sonntag,  den  23.  November  1890  fand  im  Laufe  des  Nachmittags  eine 
Versammlung  der  gen.  Zweigvereine  zur  Förderung  der  Herbartschen 
Pädagogik  statt.  Dieselbe  war  zahlreich  besucht,  aber  weniger  von  Mit- 
gliedern des  Vereins  (von  Altenburg  war  ein  Mitglied  erschienen,  der  Leip- 
ziger Zweigverein  war  gar  nicht  vertreten),  als  von  Gästen  aus  Weissen- 
fels,  Leipzig  u.  a.  O. 

Herr  Dr  Beyer  aus  Jena-Oberkamsdorf  führte  nach  den  getroffenen 
Bestimmungen  (S.  Pädag.  Studien  1888,  Seite  169)  den  Vorsitz  und  leitete 
die  Verhandlungen.  Den  ersten  längeren  Vortrag  hielt  Herr  Conrector 
Ufer  aus  Altenburg.  Er  legte  ausführlich  dar,  was  die  Erziehung  zur 
Bekämpfung  der  Nervosität  thun  könnte  und  wies  überzeugend  unter  An- 
gabe der  Hülfsmittel  die  Notwendigkeit  für  den  Lehrer  nach/ diese  Seite 
seiner  Thätigkeit  nicht  zu  vernachlässigen. 


S.  Pld.  Stud.  18S9,  8.  105;  1S88,  8.  9»  n.  19«. 


—     125  - 

Darauf  sprach  Prof.  Rein  aus  Jena  über  die  Einrichtung  der  Gym- 
nasial-Seminare  in  Preufsen  und  betonte  ihnen  gegenüber  die  Notwendigkeit 
der  Universitäts-Seminare  mit  ihren  eigentümlichen  Vorteilen  und  Vor- 
zügen. 

Es  folgte  sodann  eine  Kritik  der  geograph.  Arbeiten  von  O.  Bismarck 
gegeben  von  Herrn  Dr.  Männel  in  Halle.  Derselbe  konnte  in  den  Bis- 
marck'schen  Anweisungen  keinen  methodischen  Fortschritt  erkennen  und 
vermochte  sich  nicht  den  über  die  betr.  Arbeiten  verbreiteten  Anpreisungen 
anzuschliefsen. 

An  den  Verhandlungen  nahm  die  Versammlung  lebhaften  Anteil. 
Ein  gemeinschaftliches  Essen  hielt  den  engeren  Kreis  der  Herbart-Freunde 
noch  länger  beisammen.  Die  nächstjährige  Versammlung  ist  vom  Zweig- 
verein Leipzig  zu  berufen  und  einzurichten. 


13.  Herbart  in  Amerika. 

Um  den  in  dem  letzten  Heft  der  >Studien«  erschienenen  Bericht 
über  >Herbart  in  Amerika«  zu  ergänzen,  werden  unseren  Lesern 
folgende  weitere  Mitteilungen  willkommen  sein. 

Das  Seminar  für  Lehrer  und  Lehrerinnen  in  Oswego,  NewYork, 
zeigt  sehr  reges  Interesse  lür  die  deutsche  Pädagogik.  Margaret  K.  Smith, 
eine  Lehrerin  an  diesem  Seminar,  wird  in  der  nächsten  Zeit  eine  englische 
Übersetzung  von  Herbarts  »Lehrbuch  der  Psychologie«  besorgen.  Diese 
Psychologie  erscheint  in  der  in  Lehrerkreisen  weitverbreiteten  »Educational- 
Series«,  welche  von  Dr.  Harris  herausgegeben  wird. 

Eine  andere  Pflanzstätte  der  Herbartschen  Pädagogik  ist  die  Staats- 
Universität  zu  Bloomington  in  Illinois.  Hier  ist  neuerdings  eine  eigene 
Professur  für  Psychologie  und  Pädagogik  errichtet  und  Dr.  Charles  de 
Garmo  dorthin  berufen  worden.  Von  der  Thätigkeit  dieses  eifrigen 
Herbartianers  dürfen  wir  in  seiner  neuen  Stellung  sicheren  Erfolg  erwarten.*) 

Auch  aus  dem  Lehrer-Seminar  in  Truro,  Neu-Schottland,  erhalten 
wir  die  Anzeige  eines  bald  zu  erscheinenden  Buches  von  Dr.  J.  B.  Hall 
über  »Pädagogische  Psychologie«.  Dr.  Hall  studierte  Pädagogik  im  vorigen 
Jahre  in  Berlin  uud  Jena  und  beim  Abschied  erklärte  er  sich  bereit,  den 
pädagogischen  Schlummer  in  Kanada  baldigst  zu  stören. 

So  werden  die  Beziehungen  zwischen  der  deutschen  Pädagogik  und 
der  nordamerikanischen  immer  nähere  und  immer  innigere.  Über  den 
weiteren  Fortgang  der  Bewegung  wollen  wir  in  späteren  Heften  Mitteilung 
machen. 

•)  Herr  Ch.  de  Garmo  veröffentlicht  in  der  Educatiooel  Review,  Jan.  91  New- York,  »The 
Herbart ian  School  of  Pedagogica  L«    Ferner:  »Language  Work.    Below  the  high  ScbooL  1—3. 


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C.  Beurteilungen. 


Inwiefern  ist  Leibnitz  in  der  Psychologie 
ein  Vorgänger  Herbarts.  Ein  Bei- 
trag zur  Geschichte  der  Psycho- 
logie. Von  Dr.  Johannes  Bar- 
chudarian.  Jena,  Kromannsche 
Buchdruckcrci.  1889. 
Der  Verf.  hat  sich  die  Aufgabe 
gestellt,  zu  zeigen,  inwiefern  Leib- 
nitz ens  Psychologie  auf  die  Her- 
barts eingewirkt  hat  (S  3).  Er 
wirft  zunächst  einen  vergleichenden 
Blick  auf  die  metaphysische  Grundlage 
der  Psychologie  beider  Forscher  und 
weist  nach,  dafs  die  Monaden  Leib- 
nitzens  mit  den  Realen  Herbarts  in 
manchen  Punkten  übereinstimmen, 
in  anderen  nicht.  Sodann  geht  er 
zur  Untersuchung  der  Frage  über, 
welche  Keime  einer  richtigen  Theorie 
des  Seelenlebens  in  den  Schriften 
Leibnitzens  vorliegen,  welche  Ent- 
wickelung  diese  Keime  in  der  Psycho- 
logie Herbarts  gefunden  haben.  Er 
kommt  dabei  zu  dem  Ergebnis,  dafs, 
»wenngleich  dieser  oder  jener  psy- 
chologische Grundbegriff  bei  Leibnitz 
noch  nicht  ganz  klar  gefafst  erscheint, 
sein  Hauptverdienst  bleibt,  dafs  er 
die  vorstellende  Thätig- 
keit  als  die  ursprüngliche, 
alle  anderen  psychischen  Vorgänge 
aber  als  abgeleitete  Thätig- 
keiten  der  Seele  aufgefafst  hat ; 
wenn  es  ihm  auch  nicht  immer  ge- 
lungen ist,  den  genügenden  Beweis 
für  seine  Behauptungen  zu  liefern, 
so  hatte  er  doch,  als  Herbart  seine 
psychologischen  Arbeiten  aufnahm, 
auf  diesem  Gebiete  so  viel  gethan, 
dafs  es  diesem  dann  möglich  war, 
die  Psychologie  zur  Wissenschaft  zu 
erheben«  (51).  Der  Verf.  ist  dem- 
nach weit  davon  entfernt,  Leibnitzens 
Verdienst  zu  überschätzen,  und  etwa 
den  Satz:  Alles  schon  dagewesen!« 
—  auf  die  Psychologie  Herbarts  an- 
zuwenden. Er  sagt  vielmehr  (S.  6): 
»Abgesehen  von  der  metaphysischen 
Grundlage    bildet   die  Psychologie 


Herbarts  und  die  darauf  gebaute 
Pädagogik  den  Glanzpunkt  seiner 
ganzen  selbständigen  Philosophie. 
Erst  durch  Herbart  ist  die  Bedeutung 
der  Psychologie  klar  geworden.  Erst 
er  hat  sie  zur  völlig  selbständigen 
Wissenschaft  erhoben.  Ein  Blick 
auf  ihren  beklagenswerten  Zustand 
vor  Herbart  zeigt  klar  und  deutlich 
dessen  hohes  Verdienst  auf  genanntem 
Gebiete.  Die  veraltete  Vermögens- 
theorie,  das  Überbleibsel  der  alten 
Philosophie,  die  ihre  Geltung  hart- 
näckig bis  jetzt  bewahrt  hatte,  ver- 
lor durch  ihn  ihre  Macht.  Er  gab 
der  Psychologie  eine  teste,  uner- 
schütterliche Grundlage,  indem  er 
die  Vorstellung  als  Grundphänomen 
und  Erklärungsprinzip  für  alle  Modi- 
fikationen des  Bewufstseins  betrach- 
tete.« Damit  sind  wir  ganz  einver- 
standen. 

Der  Verf.  kann  nicht  umhin,  einige 
Bedenken  gegen  die  Herbartsche 
Metaphysik  zu  äufsern,  und  wir 
möchten  wohl  den  Versuch  machen, 
eine  Verständigung  darüber  mit 
einem  Manne  zu  suchen,  der  im 
Ganzen  und  Grofscn  der  Philosophie 
und  Pädagogik  Herbarts  so  freund- 
lich gegenübersteht.  Es  heifst  S.  14: 
»Bei  Leibnitz  finden  wir  in  der 
Monade  ein  wirkliches  Geschehen, 
ein  wahres  Thun  und  Handeln.  Ist 
nun  bei  Her  bar  t  das  Geschehene, 
welches  auf  der  Wechselwirkung 
der  Realen  beruht ,  ebenfalls  ein 
wirkliches?  Wir  geben  eine  ver- 
neinende Antwort,  denn  die  Selbst- 
cihaltung  ist  »der  Gegensatz  in  den 
Qualitäten  je  zweier  Seienden,  wel- 
chem beide  zugleich  widerstehen«. 
Sie  kann  nicht  die  Produktion  einer 
Kraft,  überhaupt  eine  Kraftäufserung 
sein,  denn  die  Realen  sind  ruhendes 
Sein.  Hier  ist  die  fatale  Stelle  der 
Herbartschen  Metaphysik.  Die 
Realen  ruhen  und  sind  doch  die 
Ursache  des  Geschehens,  sie  wirken 


nicht,  und  doch  bewirken  sie  etwas. 
Der  Widerspruch  steckt  also  in  dem 
engen  Räume  zwischen  zwei  Realen, 
sie  sollen  in  Relation,  und  wiederum 
nicht  in  Relation  stehen«.  —  Diese 
Ausführungen  scheinen  uns  in  mehr 
als  einem  Punkte  unzutreffend  zu 
sein.    Die  Selbstcrhaltung  i  s  t  nicht 
der  Gegensatz  in  den  Qualitäten  je 
zweier  Realen,  sondern  sie  ist  die 
Reaction    gegen  die  Störung 
(Veränderung),  welche  bei  der  Durch- 
dringung entgegengesetzter  Qualitä- 
ten der  einen  wie  der  anderen  zu- 
gemutet wird;  der  Widerspruch  aber, 
auf  welchen  der  Verf  in  den  letzten 
Zeilen  hindeutet,  ist  nur  ein  schein- 
barer.    Zwei  Wesen,  A.  und  B., 
stehen  nicht  in  Relationjzu  einander, 
sofern  nämlich  jedes  dem  Sein  nach 
unabhängig  vom  andern  ist.   A  be- 
darf, um  zu  sein,  nicht  der  Anleh- 
nung an  B.,  und  ebensowenig  B. 
einer  Anlehnung  an  A.,  jedes  besteht 
vollkommen  für  sich.     Wir  halten 
gerade  die  Beweise  Herbarts  für 
den  Satz,  das  Seiende  als  sol- 
ches müsse  von  jeder  Beziehung 
auf  etwas  Anderes  frei  gedacht  wer- 
den, für  unwiderleglich.  Darum  kann 
H  er  b  a  r  t  aber  auch  nicht  zugeben, 
dafs  die  Realen  ursprüngliche 
Kraft wesen  sind,  zu  deren  Natur 
es  gehört ,  thätig  zu  sein.  »Wird 
nämlich  das  Atom  als  ursprüngliches 
Kraftwesen  angesehen,  so  dafs  diese 
Kraft   ursachlos    in   demselben  als 
von    Ewigkeit    her  innewohnende 
Eigenschaft  betrachtet  wird,  so  hört 
das  Wesen  auf,  absolu  t  zu  sein.«*) 
Das  absolute  Sein  wird  aber  nicht 
dadurch  aufgehoben,  dafs  die  Realen 
A.  und  B.  in  Beziehung  zu  einan- 
der treten,  um  ein  Geschehen 
möglich  zu  machen.    Denn  wenn  A. 
gegen  B.,  B.  gegen  A.  wirkt,  sich 
selbst  erhält,  so  ist  doch  diese  Wirk- 
samkeit keine  Beding  ung  seines 
Seins,  wie  es  bei  einem  ursprüng- 
lichen Kraftwesen  der  Fall  sein 
würde.    A.  kann  recht  wohl  sein 
ohne  B.,  aber  es  kann  nicht  thätig 
sein  ohne  eine  Beziehung  zu  B. 


')  Vgl.  Flügel,  Probleme  der  Philosophie, 
a.  Aul!,  d.  61.  Wir  empfehlen  dem  Verl.  das 
ganze  Flügeische  Werk  und  insbesondere  ein 
genaues  Durchdenken  der  §g  33—37. 


Die  Realen  sollen  demnach  in  Re- 
lation stehen,  sofern  sie  die  Trä- 
ger des  Geschehens  sind;  sie 
sollen  aber  nicht  in  Relation  stehen, 
sofern  sie  überhaupt  sind.  Von 
einem  Widerspruch  kann  da  gar 
nicht  die  Rede  sein.  **)  Ruhendes 
Sein  sind  die  Realen  Herbarts 
nicht,  denn  sie  stehen  in  der  ge- 
gebenen Welt  im  Zusammen- 
hang mit  einander,  fordern  sich 
gegenseitig  zur  Thätigkeit  heraus ; 
sie  würden  aber  immer  noch  sein, 
wenn  auch  einmal  alle  Wechsel- 
wirkung zwischen  den  Wesen  und 
damit  alles  Geschehen  aulhören 
könnte. 

Der  Verf.  glaubt  noch  einen  zweiten 
»Widerspruch«  hervorheben  zu  sollen. 
Er  sagt  (S.  19;:  »Wir  wissen  aus  der 
Metaphysik,  dafs  die  Empfindungen 
(Vorstellungen)  verschieden  sind,  folg- 
lich auch  die  Selbsterhaltungen;  dem- 
gemäfs  können  wir  den  richtigen 
logischen  Schlufs  ziehen,  dafc 
die  Seele  sich  selbst  erhält  als 
eine  verschiedene.  Solche  ver- 
schiedene Qualitäten  in  der 
Seele  anzunehmen,  verbietet  uns  aber 
einfach  die  Lehre  des  Seins.« 
Der  »Schlufs«,  den  der  Verf.  hier 
zieht,  dürfte  sich  doch  wohl  bei 
näherem  Zusehen  als  ein  Trug- 
schluls  erweisen,  Gewifs  sind  die 
Selbsterhaltungen  verschieden,  aber 
ebenso  gewifs  ist  es,  dafs  diese  Ver- 
schiedenheit auf  dem  Wege  eines 
»logisch  richtigen«  Denkens  nicht  zu 
der  Annahme  einer  vielfachen  und 
verschiedenen  Qualität  der  sich  selbst 
erhaltenden  Seele  führt.  Die  Selbst- 
erhaltungcn  sind  der  Ausdruck  des 
Gegensatzes  mehrerer  Realwesen, 
die  einander  durchdringen;  folglich 
bedingt  Verschiedenheit  des 
Gegensatzes  auch  eine  ent- 
sprechende Verschiedenheitdes 
Gegenwirkens,  also  der  Selbst- 
erhaltungen (Empfindungen).  A 
wird  sich  anders  gegen  B,  wieder 
anders  g<-gen  C  erhalten,  nicht,  weil 
es  selbst  seine  Qualität  wechselte, 
sondern  weil  der  Gegensatz  ver- 
schieden ist,  welcher  zu  einer  Kraft- 


*)  Vgl  Foltx,  Metaphysische  Grundlage  der 
Herb.  Psych.  S.  89  ff.    (Ü.  Red.) 


—     128  — 


äufserung  gegen  B  und  C  nötigt.*)  Ein 
Widerspruch  mit  den  ontologischen 
Prinzipien  Herbarts  würde  nur 
dann  vorliegen,  wenn  Herbart  lehrte : 
»Die  Seele  erzeugt  alle  ihre  Vor- 
stellungen nicht  nur  aus  sich  selbst, 
sondern  auch  v on  selbst.«  Da  aber 
Herbart  die  Vorstellungen  nicht  aus 
der  Qualität  der  Seele  allein  ab- 
leitet, dieselben  vielmehr  auf  den 
Gegensatz  zu  andern  Wesen  zurück- 
führt, so  vermeidet  er  dadurch  den 
Widerspruch,  mit  dem  der  Verf. 
seine  Lehre  behaftet  glaubt. 

Herbart  sagt  (Hauptpunkte  der 
Metaphysik.  §  13):  »Vorstellungen 
sind  Selbsterhaltungcn;  sie  müssen 
als  Kräfte  angesehen  werden,  die 
mehreren  Thätigkeiten  eines  und 
desselben  Wesens,  die  in  ihm  zu- 
sammen sind,  vernichten  einander 
nicht,  sondern  hemmen  sich  wechsel- 
seitig ;  die  Hemmung  verteilt  sich, 
erfolgt  auch  wohl  halb,  und  darauf 
beruht  die  Möglichkeit  der  Wieder- 
erweckung und  Rückkehr  der  Vor- 
stellungen ins  Bewufstsein.«  Dazu 
bemerkt  der  Verf.  (S  17):  »Zeigen 
diese  Worte  nicht  einen  auffallenden 
Widerspruch  gegen  seine  ersten 
ontologischen  Prinzipien?  Wie  ent- 
stehen diese  Kräfte  in  dem  kraft- 
losen Realen?  Wie  entspricht  denn 
die  Vielheit  der  Zustände  der 
strengen  Einfachheit  und  That- 
1  o  s  i  g  k  e  i  t  der  Qualität  ?  Wie  end- 
lich das  Hemmen  und  Frei- 
werden der  Einfacheit  der 
Qualität?  Lauter  dunkle  und 
widerspruchsvolle  Punkte  in 
der    Herbart  sehen  Metaphysik.« 


•)  Vgl.  Folt«  a.  a.  O.  8.  j*  ff. 


—  Sollten  sich  nicht  einige  Licht- 
strahlen in  dieses  Dunkel  werfen 
lassen  ?  Herbart  nennt  a.  a.  O.  die 
Vorstellungen  Kräfte.  An  vielen 
anderen  Stellen,  z.  B.  im  §  10  des 
Lehrbuchs  zur  Psychologie,  drückt 
er  sich  genauer  aus,  indem  er  sagt: 
»Vorstellungen  werden  Kräfte,  in- 
dem sie  einander  widerstehen  ;  Wider- 
stand ist  Kraftäufserung.  An  sich 
aber  sind  die  Vorstellungen  nicht 
Kräfte.«  Ebenso  sind  die  Realen  an 
sich  nicht  Kräfte,  aber  sie  werden 
Kräfte,  sobald  sie  sich  in  ein  Zu- 
sammen mit  anderen  Wesen  von  ent- 
gegengesetzter Qualität  verwickelt 
sehen.  Wie  nun  Vorstellungen 
in  der  Seele  entstehen,  das  lehrt 
die  Theorie  von  den  Störungen  und 
Selbsterhaltungen.  Wie  diese  Vor- 
stellungen »Kräfte«  werden,  zeigt 
die  Psychologie.  Die  Vielheit  der 
Zustände  verträgt  sich  ganz  wohl 
mit  der  Einfachheit  der  Qualität,  wie 
oben  gezeigt  wurde;  und  wenn  die 
Einfachheit  der  Qualität  ein  viel- 
faches und  mannigfaltiges  Thun  des 
Realen  in  keiner  Weise  hindert,  so 
ist  nicht  abzusehen,  warum  das 
»Hemmen«  und  »Freiwerden«  der 
Vorstellungen  jener  Einfachheit  wider- 
streiten sollte. 

Wir  haben  die  fleifsige  und  von 
echt  philosophischem  Geiste  durch- 
wehte Arbeit  des  Verfassers  mit  Ver- 
gnügen gelesen  und  geben  uns  gerne 
der  Hoffnung  hin,  dafs  ein  tiefer  ein- 
dringendes Studium  der  Herbart- 
schen  Metaphysik  ihn  auch  über 
die  Mifsverständnisse  emporheben 
werde,  die  in  seinem  Schriftchen  hier 
und  da  zu  Tage  treten. 

Eisenach.  O.  Foltz. 


Berichtigung  zu  der  Besprechung  des  Englischen  Lesebuchs  von  Vietor 
und  Dörr.    Jahrgang  1890,  S.  186,  Spalte  2  ist  nicht  zu  lesen:  Für  sie  wäre 
allenfalls  ein  andres  Zeichen  erwünscht,  sondern:  Für  Cd  wäre  u.  s.  w. 


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nadj  fjerbartfcb.cn  (SrnuMatjen  ausgearbeitet 
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Dr.  1».  Mn«t>c,  unb  Dr.  31.  ftojifert, 

€d>uIbueitor  Ii»  ttifena*  Cbcrldiret  tn  IKfenad). 

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Die  porliegenben,  aufs  forgfältigfte  naa>  ^erbart'fdjen  (Sruttbfäfcen  ausge- 
arbeiteten „präpararionen"  3eigen  im  liebevollen  (Einbringen  tu  ben  tiefern  ^ntjalt 
bes  gefd?ia>tlidjen  Stoffs  unb  in  ber  fteten  Hücffid?tnab,me  auf  Sebnrfnis  unb 
^affungsfraft  bes  Schülers  fo  piel  tiefes  Derftänbnis  für  beibes,  ba§  es  für  ben 
(Sefdjidjtsleljrer  eine  £ufi  ift,  fte  mit  prüfenbem  21uge  bnrcbjufehen.  <6ef<bid?tS' 
nnterrid?t  in  ber  hier  porge3eidmeten  tDetfe  mujj  bilbenb  auf  (Seift  unb  <5emüt  ber 
5d?üler  einroirfen;  ber  Stoff  ben  er  bietet,  bleibt  uidjt,  roie  bas  bisher  leiber  fo 
häufig  ber  all  mar,  toter  Äebädjtuisfram,  fonbe»n  belebt  ftd?  unter  ber  gefd>i<f  ten 
^anb  bes  £ebjers  unb  läfjt  li.h  insbefonbere  mertooüe  ethiube  IlTomente  abgeminnen. 
"Da%  übrigens  nidjt  bas  gefamte  für  bie  ITtittelfdpuIe  Porgefa>riebcne  ©efcb.icb.ts. 
material  mit  berfelben  Ausführlichkeit  abgebanbelt  tperben  Faun  unb  foQ,  liegt  auf 
ber  ^anb.  3n&cffen  ift  öer  ^w  gegebene  2Jnftoß  3u  einer  fruchtbaren  (Sefdjichts- 
Beb,anWnng  fo  beadjtens«  unb  banfensu>crt,  bafj  bem  i?udje  ein  weiter  teferrreis 
nid)t  fehlen  fann,  insbefonbere  roenn  es  fpäter  eine  entfprecbenbe  ^ortfetjung 
erfährt.  lüiteraturblatt  ber  Eeutfcben  Uebrfr*fitung.i 

€efebud?  für  ben  beutfcfym  (ße)\tocf}tsuntiHTicfjt 

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IHit  Hedjt  ftrib  bie  CCbüringifdjen  Sagen  ron  £ui»tpig  bem  Springer,  JEubmig  bem 
(Eifernen,  Pom  Sängerfrieg  unb  ber  heiligen  (Elifabctb,  porangeftellt.  Denn  fte  ftnb 
(Semeingut  bes  gan3en  beutfd>en  Dolfes  unb  haben  einen  tiefen  fittlicbeti  (Behalt,  finb 
alfo  in  biefer  f)inftdjt  roeit  über  bie  Sagen  bes  f Iafftfa>en  Altertums  5U  (teilen,  fo  be« 
ftedjenb  Untere  auch,  auf  ben  erften  Anblirf  fein  mögen.  Den  (Ehüringifcben  Sagen 
reirjt  fid?  bie  grofjartige  Hibelungenfage  an  mit  ihren  tief  ergreifenben,  heilige  "Sc- 
geifterung  roerfeuben  S3enen  unb  clbarcrfteren.  bem  bis  jetjt  oorlicgeubeu 

erften  fXeil  bes  £efebua>s  roeht  burebmeg  ein  frifdjer,  ed?t  Fmblicb  naiper,  patriotifeber 
(Seift.  Vie  Spradje  ift  bei  aller  (Einfachheit  unb  Knappheit  bes  Satjbaues  bod?  frei, 
urFräfttg  unb  a>ie  altgermanifcb.en  tPalbesbuft  atmenb.  €in3elne  Ceilc  bes  Hibe- 
lungenliebs  roirfen  burdj  ihre  lebenswahre  Schiiberung  ber  Dorgänge  im  Saferen 
unb  inneren  £eben  ber  fühnen  Herfen  unb  mimiiglichen  grauen  gerabeju  ergreifenb. 
ITlögen  piele  3n  biefem  fdjönen  Büdjlein  greifen  behufs  eigener  <£rfrifcbung  aus  ber 
urnnberbaren  &auberqueüe  paterlänbildjer  Sage  unb  (Erfdjließung  biefcs  ITunber« 
borns  für  bie  lernbegierige  beutfaje  ^ugenb 

tlhteraturblatt  ber  Teutleben  üfbrerjtttungO 


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Neu  eingegangene  Schriften 


Hontschel  Jänicke,  Rechenbuch.    1—6.    Leipzig,  Meraeburger. 
Müller-Brunow,  Tonbitdung  oder  Gesanguuterrieht .  Ebendaselbst. 
Widmann.  Neuer  Weg  zur  Erteilung  den  Gesangunt.  Ebendas. 
Köbrich,  Hills  bibl.  Geschichten.    6.  Aull.  Ebenda«. 
Renneberg.  Grnndriss  der  Erdkunde.    2.  Autl.  Ebendas. 
KÖzle.  Die  allg.  Volksschule.    Stuttgart,  Paulus. 

Witte.  Dr.  Dittes  u.  sein  Ideal  :  Die  konfessionslose  Volksschule.  Ruhrort, 
Andra. 

Hartmann,  Die  Analyse  des  kindl.  Gedankenkreises.    Anuaberg,  Gräser. 
Moser,  Die  10  Gebote  des  Lehrers.     Hamburg.  Kb>ss. 
Freymark,  Der  Charakter.    Bielefeld.  Helmich. 

Polack,  t'her  den  Helfcrdienst  der  Schule  hei  Heilung  der  soz.  Schäden. 

Bielefeld,  Helnii'  h. 
Lenzmann,  Iber  den  schädlichen  EinHnss  der  behinderten  Nasenatmung. 

Ebe  niUis. 

Paust,  Tierkunde,    -i.  Auri.    Breslau,  Hirt. 

Waeber,  Lehrbuch  der  Botanik.  Ebendas 

Knauer,  Handworterbuch  der  Zoologie.    Stuttgart.  Enke. 

Trüper,   Die  Schuh'  und  die  soz.  Kragen   unserer  Zeit.    1  —  3.  Gütersloh, 

Bertelsmann 

Morgenstern,  Engl.  Lest/buch.   I    *">  Aull.     Hannover,  Meyer. 
Mar*in,  Schulgrammatik  der  deutschen  Spracht*.    Breslau,  Hirt. 
Lanümann,  Die  Ent\vi<  keluug  Preussens.    Königsberg,  Bon. 
Raydt,  Das  Jugendspiel.     Hannover.  Mever. 

Erdmann,  Popul.  Abhandlungen  ul»er  Erziehung  u.   Unterricht.  Gotha, 
h>  hrend. 

Kongress  für  ev.  Knaben-Handarbeit.    Görlitz.  Bierling. 
Geyer,  Der  deutsche  Aufsatz- Tut.    Hannover,  Meyer. 
Deutsche  Volksbibliothek  :  Stuttgart,  Greiner  u.  Pfeüfer.    3  Bde. 
Le  Repetiteur.    VIII.  Jahrgang.  '  Berlin.  Bo.-enhaum  u.  Hart. 
Vogel,  Das  Tonsystem  u.  die  Notenschrift.    Leipzig,  Hesse. 
Linge,  Elementare  Gesangschulcn.  Ebendas. 
Boletin  de  Ens»?nanza  Primaria.  Montevideo. 
Rfcvista  de  Instruction  Primaria.  Santiago. 

Schweiz,  pädag.  Zeitschrift.   I,  1.   Zürich,  On  11  Füssli. 

Rethwisch,  Jahresberichte  über  das  höhere  Schulwesen.   4.  Jahrgang.  Berlin, 
Gärtner. 

Böhme.  A.  Diesterweg.  Ebendaselbst.. 

Schmelzer,  Pädag.  Aufsätze.     Leipzig,  Voigtlander. 

Vietor,  Phonet.  Studien.     Marburg,  Ehvert. 

Unsere  höh.  Schulreform.     Berlin,  Schorns. 

6öring,  Die  neue  deutsche  Schule.    Leipzig,  Voigtländer. 

Griesmann,  Der  Bechenunt.  in  der  Volksschule.    Leipzig,  R.  Richter. 

Neudrucke  päd.  Schriften.    1  u.  2,    Leipzig,  Ebendas. 

Baumgarten,  Volksschule  u.  Kirche.    Leipzig,  Grunow. 

Wendt,  Engl.  Brietschule.    Hannover,  Meyer. 

Meyer-Markau,  Sammlung  pädag.  Vorträge.*  Bielefeld,  Helmich.  IIL,2— 5. Heft 

Burger,  Syst    Gliederung  d.  Päd.  Kants.   Leipzig,  Eock. 

Cassel,  Unser  Meister  Ad.  Diesterweg.    Hannover,  Helwing. 

Häuselmann,  Ornament.    Zürich.  Grell  Fii-sli  u.  Co. 

Drescher.  Die  Kindergesundheitsprlege.    Berlin,  Selbstverl. 

Ohlert,  Die  deutsche  Schule.    Hannover,  Meyer. 

Seht  nckendorff.  Arbeitsunt.  auf  dem  Land.    Görlitz,  Vierling. 


Druck  Yon  G.  Päti,  Naumburg  ».  S. 


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*-«y»     —  -  


Pädagogische  Studien, 


Neue  Folge. 

1 

Herausgegeben 


Dr.  W.  Rein, 

Professor  a.  <l.   Universität  Jena. 
XII.  Jahrgang.    Drittes  Heft. 


H 


Inhalt: 

A.  Abhandlungen:  K.  Bodcnstein,  Zum  »System«  im  Geschichts- 
unterricht. 

Mitteilungen:  i.  F.  Hornemann,  Der  deutsche  Einheitsschul- 
verein im  Jahre  1890.  2.  Dr.  Rud.  Menge,  Lehrgänge  und  Lehr- 
proben aus  der  Praxis  der  Gymnasien  und  Realschulen.  3.  G.  D  e  h  i  o  , 
Die  Schulreform  und  das  Auge.  4.  H.  Chili,  Die  Mittelschulen 
in  Preufsen.  5.  J.  L.  Jett  er,  Die  Herbartsche  Pädagogik  in  Württem- 
berg. 6.  F.  W.  D.Krause,  Begehren  und  Wollen.  7.  Die  Päda- 
gogische Vorbildung  der  Kandidaten  für  das  höhere  Schulamt  in 
Baiern.  8.  Herbartverein  in  Eisenach.  9.  Oster- Programme  1891. 
10.  Aus  dem  Pädag.  Universitäts-Seminar  zu  Jena.  11.  Dr.  Beyer, 
Hauptversammlung  des  Vereins  für  Knabenhandarbeit.  12.  Joh. 
Truper,  Zum  Kampf  um  die  Schule  (Fortsetzung). 
Beurteilungen:  1.  Dr.  Alb.  Schwegler  (H.  Grosse).  2.  Adolf 
Diesterweg.  3.  Einer  für  Alle  (Hollkamm).  4.  Otto  Bis- 
marck (Maennel). 


Dresden. 

Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer 
(Paul  Tb.  KMtnmerer.) 

1*91. 


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^roefcniammlutiß  frer  Slnftalt  Vctfyef. 

60.  3of).  6,  12. 

Seit  einiger  3cit  babm  nur  in  unferer  Äolonie  9etbel,  in  toelcher  gegen  1100 
epilepttfdje  «raufe,  aber  aud)  Diele  irrüppel,  Üabme,  93linb€,  3  ne,  Seriaffene,  Sitroen 
unb  SBaifen,  alle«  in  oflem  über  2000  ^erfonen  in  über  100  Käufern  oerpflegt  werben, 
eine  SÖrodenfammlung  erridjtet,  toeldje  tränten  ben  Segen  ber  ftrbeit  unb  unfern 
.öaueljalmngen  mancherlei  (I rleidjterungcn,  ober  bod)  unterer  «äffe  einen  fleinen  &e 
tuinn  öeritbaffen  foH.  Unter  ©roden  üerfteben  wir:  ttigarrenobfebnitte,  (Stgarren* 
riftd?cn,  ©tcmiolfapfeln,  6tablfebern,  alte«  Rotier,  Bettungen,  §efte,  «ften,  JHcibuna> 
ftüde,  3eu9reftc»  Sutnöen,  abgetragene  ©djube  unb  $>anbfcbnbc,  $üte,  ©trumpfe, 
6d)inne,  alte  üampen,  (Sifen  unb  jebeä  anbere  detail,  ©laS  unb  ftlafdjen,  aber  aueb 
abgeftempelte  9Rarfen  unb  jeglidjc  «rt  Don  roertDofleren  ©egenftänben,  bie  im  $>aufe 
unnü$  umherliegen,  |.  ö.  Sammlungen  Don  Sternen,  ^Jflanjen,  SJiünjen.  —  2ln  bie 
Srodenfammlung  idjliefct  fid)  aud)  ein  Antiquariat  an,  —  bie  Sammlung  unb  S$er= 
roertung  jener  alten  Söüdjcr  unb  Sdjriftcn  aller  Art,  roeltbe  fo  bäim.;.  eine  Saft  für 
bie  $auöbaltuugen,  unbenufet  in  ben  l£den  umherliegen.  —  (£3  giebt  oiele  liebe  SBob!» 
t bater,  bie  jroar  nidjt  bares  @clb  fenben,  aber  bod)  mit  einer  folgen  Sammlung  fid) 
unb  ben  ftranfen  eine  ftreube  bereiten  fönnen.  Um  bie  SBobltbat  nidjt  illuforifd)  ju 
machen,  tüirb  bcr^lid)  gebeten,  Die  Sadjen  portofrei  *u  fenben  unter  berÄbreffe:  Än- 
ftalt  »etbd,  23rodenfammlung,  ^oftftation  Wabberbaum,  (£iienbatmftatton  SMelefelb. 

3)er  Worftanb  ber  ttufialt  Bethel. 
D.  5öoöelfd)U)ingb,  ^aftor. 

Fortbildungskurse 

an  der  Universität  Jena 
für  Lehrer  Deutschlands,  Oesterreichs  und  der  Schweiz. 

Es  wird  beabsichtigt,  wie  in  den  Vorjahren  an  der  Universität  Jena 
vom  28.  September  bis  zum  10.  Oktober  die  folgenden  zweiwöchentlichen 
Kurse,  welche  für  akademisch  gebildete  Lehrer  und  Lehrer  an  Seminaren 
l»estimmt  sind,  abzuhalten. 

1)  8—9    Uhr.    Moderne  physikalische  Demonstrationen  (Elektrische  Wel- 

len, Gitterspektrum,  Akkumulatoren,  Photometrie  u.  s.  w.) 
v.  Prof.  Dr.  Auerbach. 

2)  9 — 10     „      Ueber  Bau  und  Lehre  der  Pflanzen  unter  Vorführung 

pflanzenphysiologischer  Experimente,  die  für  den  Schul- 
unterricht wichtig  sind,  v.  Prof.  Dr.  Detmer. 

3)  täglich  Anleitung  zu  botanisch-mikroskopischen  Arbeiten  und 

piianzenphysiologischen  Experimenten,  v.  Prof.  Dr.  Detmer 

4)  10—11     „      Anleitung  zu  physikalischen  Experimenten,  v.  Prof.  Dr. 

Schäffer. 

5i  11  — 12     „      Schulhygiene,  v.  Prof.  Dr.  6ärtner. 

6)  12-1      „      Die  psychologischen  Grundlagen  des  Unterrichtsverfah- 

rens, v.  Prof.  Dr.  Rein. 

7)  3—4      „      Ausgewählte  Abschnitte  der  physischen  Erdkunde,  ver- 

anschaulicht durch  Exkursionen  v.  Dr.  Regel. 

8)  4—5      n      Darwinismus,  v.  Prof.  Dr.  Kükenthal. 

9)  5 — 6      „      Physiologische  Psychologie,  v.  Dr.  Ziehen. 

10)  5-6      „      Die  parasitären  Pflanzenkrankheiten,  v.  Prof.  Dr.  Büsgen. 

11)  6—7      „      Anleitung  zu  Untersuchungen  mit  Spektral-  und  Polari- 

sationsapparaten, v.  Dr.  Gänge 

12)  7—8      n      Uebungen  im  Glasblasen,  v.  Glasbläser  Haak. 

Das  Honorar  für  jeden  Kursus  (10—12  Stunden)  beträgt  15  Mk. 

Diejenigen  Herren,  welche  sich  an  den  Fortbildungskursen  beteiligen 
wollen,  ersuchen  wir,  uns  von  ihrer  Absicht  in  Kenntnis  zu  setzen. 

Auskunft  über  gute  und  preiswürdige  Wohnungen  erhalten  die  Herren 
Teilnehmer  am  Sonntag,  d.  27.  September  im  botanischen  Institut. 

Sonntag,  d.  27.  Sept.  abends  8  Uhr  gesellige  Zusammenkunft  im 
Weimarischen  Hof. 

Anmeldungen  nehmen  entgegen  und  nähere  Auskunft  erteilen 

JENA,  im  Mai  1891 

Prof.  Detmer  und  Prof.  Rein. 


uigmz 


A.  Abhandlungen, 

Zum  „System"  iiu  GescMchtsuntemcht. 

Ein  methodisch-kritischer  Versuch. 
Von  K.  Bodenstein  in  Eisenach. 

Eis  dürfte  gewagt  erscheinen,  die  Aufmerksamkeit  auf  eine  so 
spezielle  methodische  Frage,  wie  sie  diese  Überschrift  bezeichnet, 
hinzulenken,  ja,  man  könnte  einen  solchen  Versuch  geradezu  für 
überflüssig  erklären.  Denn  was  wäre  nach  den  grundlegenden 
Arbeiten  von  Ziller,  den  erläuternden  von  Rein,  Wiget  u.  a.  über 
die  formale  Durcharbeitung  des  Lehrstoffes  im  allgemeinen  noch 
zu  sagen  übrig!  Und  liegen  doch  auch  gerade  für  den  Geschichts- 
unterricht viele  Arbeiten  vor,  welche  die  Anwendung  der  Formal- 
stufen auf  dieses  Fach  erläutert  und  bis  ins  einzelne  ausgeführt 
haben.  Es  sei  nur  erinnert  an  die  Arbeiten  Zilligs  im  Jahrbuch 
d.  V.  f.  w.  P.,  an  die  >Schuljahre«  von  Rein  etc.,  an  die  Präpa- 
rationen von  Hermann  und  Krell  und  die  von  Staude  und  Göpfert, 
von  anderen,  die  als  einzelne  Präparationen  beispielsweise  in  den 
»Deutschen  Blättern  f.  e.  U.«  veröffentlicht  wurden,  zu  schweigen. 
Wenn  eine  solche  Fülle  von  Auseinandersetzungen  über  die 
methodischen  Grundsätze  und  eine  solche  Reihe  von  Anwendungen 
derselben  auch  auf  den  Geschichtsunterricht  vorliegt,  so  ist  wohl 
anzunehmen,  dafs  darüber  so  ziemlich  das  letzte  Wort  gesprochen, 
also  die  Gestaltung  der  einzelnen  formalen  Stufen  gründlich  unter- 
sucht und  klargelegt  sei.  *)  Zudem  begegnet  man  hin  und  wieder 
der  Meinung,  dafs  inbezug  auf  die  methodische  Durcharbeitung 
des  Lehrstoffes  überhaupt  ein  gewisser  Abschlufs  erreicht  sei. 


*)  Vergl.  Reich,  Die  Theorie  der  formalen  Stufen  etc.  Langensalza, 
Beyer. 

•   Pädagogische  Studien.   HI.  9 


Nun  ist  es  immerhin  schon  eine  etwas  auffällige  Erscheinung,  dafc 
gerade  Präparationen  für  den  Geschichtsunterricht  viel  später  er- 
schienen sind,  als  solche  für  die  übrigen  Fächer,  beispielsweise 
für  den  Religionsunterricht.    Sollte  dies  vielleicht  doch  auf  einige 
unklare  Punkte  in  diesem  Fache  zurückzuführen  sein?    Oder  er- 
achtete man  früher  die  Präparationen  für  den  Geschichtsunterricht 
für  überflüssig  und  den  Hinweis,  dafs  die  Profangeschichte  analog 
der  biblischen  Geschichte,  mit  der  sie  so  eng  verwandt  sei,  erteilt 
werden  müsse,  für  hinreichend,  um  diesem  Fache  eine  erspriefs- 
fiche  Durcharbeitung  zu  sichern?  Die  methodischen  Auseinander- 
setzungen, die  bis  jetzt  über  den  Geschichtsunterricht  erschienen 
sind,  beziehen  sich  auch  mehr  auf  die  Aneignung  des  Lehrstoffes, 
als  auf  die  daran  anzuschliefsende  Denkoperation,  auf  die  zu  ab- 
strahierenden Gesetze  und  Begriffe,  z.  B.  Rein,  »zur  Synthese  im 
historischen  Unterricht«  im  17.  Jahrbuch  d.  V.  f.  w.  P.  und  Göpfert, 
»über  die  biographische  Methode  im  Geschichtsunterricht«  in  den 
»Deutschen  Blättern  f.  e.  U.«  1887.    Wenn  ich  mir  nun  trotzdem 
erlaube,  die  Aufmerksamkeit  auf  das  »System«  in  diesem  Fache 
hinzulenken,  so  geschieht  das  in  der  Meinung,  dafs  thatsächlich 
der  Gestaltung  dieser  Stufe  noch  mancher  Mangel  anhaftet. 

Um  diese  Behauptung  zu  rechtfertigen,  ist  es  vor  allem  nötig, 
uns  in  den  oben  angegebenen  Schriften  Belehrung  über  die  4. 
formale  Stufe  des  Geschichtsunterrichts  erteilen  zu  lassen. 

1.  Ziller.  In  seinen  »Vorlesungen«  bezeichnet  er  die  Arbeit 
der  Systemstufe  folgendermafsen :  »Hier  mufs  das  Begriffliche 
und  Gesetzliche  in  der  Gestalt,  die  es  im  Geiste  des  Zöglings  an- 
genommen hat,  für  sich  fixiert  und  annähernd  so  geordnet  und 
mit  anderem  schon  bekannten  Begrifflichen  so  zusammengeordnet 
werden,  wie  es  in  den  Systemen  der  Fachwissenschaft  geordnet 
ist.«  *)  Diese  Worte  auf  den  Geschichtsunterricht  beziehend  sagt 
er:  »Vorläufig  mufs  namentlich  auch  für  jede  methodische  Ein- 
heit des  Geschichtsunterrichts  aus  seinen  ausführlichen  Ent- 
wickelungcn  mit  Abstreifung  alles  nicht  Allgemeingiltigcn  und  ob- 
jektiv Wertvollen  die  Skizze  einer  Geschichtstabelle,  es 
müssen  für  allen  Unterricht  übersichtliche,  von  dem  Nichtnot- 
wendigen entkleidete  Darstellungen  herausgearbeitet  werden.'**; 
Ähnlich  spricht  er  sich  in  den  Materialien  aus.  Hier  heifst  es: 
»Das  chronologische  Gefüge  stellt  dann  wieder  das  System  her, 
nach  welchem  sich  die  ausführliche  Darstellung  der  Methode 
richtet.«***)  »Vollends  bei  den  Skizzen  (mit  Abstreifung  der 
Nebenumstände  und  so  wenigen  Daten,  wie  in  einer  Geschichts- 


*)  Ziller,  Vorlesungen  ü.  A.  P.  S.  255.    1.  Aufl. 
**)  Ziller,  Vorlesungen  S.  259.    1  Aufl. 
•**)  Max  Bergner,  Materialien  2.  spez.  Meth.  etc.  S.  158. 


tabelle),  auf  die  im  System  hinzuwirken  ist,  und  bei  den 
Wiederholungen  mufs  das  biographische  Detail  zurücktreten.«*) 

2.  Zill  Ig.  Im  14.  Jahrbuche  d.  V.  f.  w.  P.  giebt  Zillig  folgen- 
des Beispiel  als  System  für  eine  Einheit  des  Geschichtsunter- 
richts an:**) 

»Friedrich  der  Grofse. 

I.  Streben  nach  Vergröfserung  seines  Königreichs 
I.  Erwerbung  Schlesiens,  a)  Schlesien  wird  Österreich  genommen 

1.  (schles.)  Krieg  1740— 1742.  b)  Schlesien  wird  gegen  Österreich 
behauptet  II.  (schles.)  Krieg  1742+2—1744-1-1.  III.  (7jähr.)  Krieg 
1745-f  104-1 — 1756-T-7.  2.  Erwerbung  Ostfrieslands.  3.  Erwerb- 
ungen von  Polen.    (König  von  Preufsen)  1742+30. 

II.  Stellung  Friedrichs  in  und  zu  Deutschland. 

III.  Regierung  Friedrichs  im  Innern.  1.  auf  Beschaff- 
ung der  Mittel  für  I.  gerichtet  a)  Mafsregeln  zur  Hebung  mili- 
tärischer Kräfte,    b)  Mafsregeln  zur  Hebung  des  Wohlstandes. 

2.  auf  Verknüpfung  der  Länder  zu  einem  Staate  gerichtet  a)  reli- 
giöse Duldung,  b)  gleiches  Recht.  3.  Die  Bildung  unter  Friedrich. 
4.  Die  Einrichtung  seiner  Regierung. 

VI.  Aus  dem  Leben  Friedrichs,  a)  Jugend,  b)  Späteres 
Leben.« 

3.  Die  „Schul  jabre"  geben  folgende  Systeme  an:***) 
»Deutschland  ein  Wahlreich.    Geschichtl.  System:  Heinrich  I, 

König  der  Deutschen,  919 — 936. 

1.  Seine  Wahl.  Eberhardt. 

2.  Vereinigung  der  Herzogtümer  Sachsen,  Franken,  Schwaben, 
Bayern,  Lothringen. 

3.  Kampf  gegen  die  Ungarn.  (Burgen,  Heerbann,  Reiterei)  933. 

4.  Kampf  gegen  die  Wenden.    (Brennaburg,  Meifsen.) 

Aus  einer  anderen  Einheit.f) 
»4.  Stufe. 

I.  Religiös -ethisches  System.  1.  Einigkeit  und  Recht  und 
Freiheit  sind  des  Glückes  Unterpfand.«  2.  Deutschland,  das 
mächtige  Reich  in  der  Mitte  Europas,  ist  der  feste  Hort  des 
Friedens  und  der  Kultur. 

II.  Historisches  System.  1834.  Durch  den  deutschen  Zoll- 
verein wird  ein  enges  Land  geschaffen  zwischen  den  deutschen 
Staaten.  1840—61.  Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preufsen. 
1849.  Der  König  von  Preufsen  lehnt  die  Kaiserkrone  ab.  1861 
wird  Wilhelm  I.   König  von  Preufsen.    Krönung  zu  Königsberg. 


*)  Ebenda.    S.  159. 

*•)  Siehe  Jahrbuch  d.  V.  f.  w.  P.,  14.  Jahrg.    S.  239. 
***)  V.  Schuljahr  v.  Rein  etc.    Assoziation  u.  System.    2.  Aufl.    S.  53. 
Beispiele:  S.  58  f. 

f)  VIII.  »Schuljahr«,  2.  Aufl.    S.  42.    Vergl.  2.  Aufl.  S.  38. 

9* 


Reorganisation  des  Heeres.  1862  Otto  v.  Bismarck  wird  Minister. 
1864.  Krieg  Österreichs  und  Preufsens  gegen  Dänemark.  Düppeler 
Schanzen.  Alsen.  1866.  Krieg  Preufsens  gegen  Österreich. 
14.  Juni,  Ende  des  deutschen  Bundes,  a)  Krieg  in  Böhmen. 
Königgrätz.  b)  westlicher  Kriegsschauplatz.  Langensalza,  Kissingen, 
c)  Friede  zu  Prag.  1867.  Der  norddeutsche  Bund.  1870.  Der 
deutsch-französische  Krieg,  a)  Der  Krieg  gegen  das  Kaiserreich. 
(Saarbrücken,  Weifsenburg,  Wörth,  3  Schlachten  bei  Metz,  Sedan.) 
b)  Der  Krieg  gegen  die  Republik.  Strafsburg,  Metz,  Paris,  a)  gegen 
die  Stadt  selbst,  b)  gegen  die  Entsatzheere  :  Loirearmee  und  West- 
armee, Nordarmee  und  Ostarmee.  1871.  18.  Januar.  König 
Wilhelm  I.  zu  Versailles  als  deutscher  Kaiser  proklamiert.  10.  Mai, 
Friede  zu  Frankfurt  a.  M.« 

4.  Hermann  und  Krell.*) 
»IV.  System. 

1.  Auffassung  des  Thatsächlichen  nach  Überschriften. 

2.  Historische  Reihe. 

Hauptjahr  1 5 1 7 :  Predigt  in  Dresden ;  am  3 1 .  Oktober  Thesen- 
anschlag in  Wittenberg.  1  Jahr  vorher:  Klosterprüfung  in  Dresden. 
34  Jahre  vorher:  1483  Geburt  Luthers  in  Eisleben.  Martin  bis 
zum  14.  Jahre  in  Mansfeld  (Schulknabe).  14 jährig:  nach  Magde- 
burg, 15 jährig:  nach  Eisenach  (Lateinschüler).  18 jährig:  nach 
Erfurt  (Student).  22 jährig:  ins  Kloster  zu  Erfurt  (Mönch).  25  jährig: 
nach  Wittenberg  (Professor).  27 jährig:  Reise  nach  Rom.  29 jährig: 
Doktor  der  heiligen  Schrift.  (Tetzel  und  der  Annaberger  Latein- 
schüler Mykonius.)  3  5  jährig  (1  Jahr  nach  dem  Thesenanschlage): 
Verhandlung  in  Augsburg.  36 jährig  (im  2.  Jahre  darnach :  Unter- 
redungen in  Altenburg  und  Leipzig.  37 jährig:  Schrift  an  den 
deutschen  Adel.    Verbrennung  der  Bannbulle. 

3.  Kulturgeschichtliches. 

Ein  Ketzer  verfiel  dem  Ketzergericht.  Ihn  traf  die  Ver- 
fluchung des  Papstes,  Verfolgung,  Ausschlufs  aus  der  Kirche  und 
vom  Himmelreich,  Verhör,  Einkerkerung,  Verurteilung,  Ver- 
brennung. Bann  und  Interdikt  waren  Kirchenstrafen,  die  das  Volk 
in  Furcht  und  Schrecken  hielten.  Zu  Luthers  Zeit  aber  verloren 
die  Strafen  an  Wirkung. 

4.  Ethisches. 

Satz :  Luther  kämpft  für  die  Glaubenswahrheit  unerschütter- 
lich und  unerbittlich.  Weder  der  Gedanke  an  die  Verdienste  der 
Kirche  und  an  die  ihm  erwiesenen  Wohlthaten,  noch  die  Bitten 
und  Vorwürfe  der  Freunde  vermögen  ihn  von  der  Lossagung 
zurückzuhalten.  Der  Wille  Gottes,  die  heilige  Schrift,  sein  Eid, 
das  Wohl  des  Volkes,  das  ewige  Heil  gilt  ihm  mehr  als  alles 


*)  Hermann  und  Krell,  Präparationen  für  den  deutschen  Geschichts- 
unterricht.  S.  222. 


133  - 


andere.    Sprüche   14,  34.     Gerechtigkeit  erhöhet  ein  Volk  — 
» Matth.  5,  44.    Liebet  eure  Feinde«  u.  s.  w.    »Matth.  10,  32. 
Wer  mich  bekennet  vor  den  Menschen  — « 
Lehrbegriff  der  Kirche. 

Katholisch:  Oberhaupt  der  Papst,  Richtschnur  des  Glaubens 
die  Bibel  und  die  Überlieferung,  Sündenvergebung  durch  Reue 
und  Ablafs,  Erlangung  der  Seligkeit  durch  gute  Werke  u.  s.  w. 

Evangelisch:  Oberhaupt  der  Kirche  Christus,  Richtschnur 
des  Glaubens  allein  die  Bibel,  Sündenvergebung  allein  durch  Bufse, 
^Erlangung  der  Seligkeit  allein  durch  die  Gnade  Gottes  u.  s.  \v.« 

Aus  der  nächsten  Einheit  des  gen.  Werkes,  S.  227  :  

»38 jährig:  1521  vor  dem  Reichstage  zu  Worms. 

3.  Kulturgeschichtliches. 

Der  Reichstag  war  vom  jungen  Kaiser  Karl  V  einberufen 
worden.  Er  war  zusammengesetzt  aus  Kurfürsten,  Herzögen, 
Markgrafen,  Grafen,  Rittern,  päpstlichen  Gesandten,  Bischöfen  und 
städtischen  Abgeordneten.    Das  waren  die  Reichsstände. 

Die  Reichsacht  enthielt  fast  dieselben  Strafen  wie  die  Bann- 
bulle: Verbot  der  Beherbergung  und  Bewirtung,  der  Hilfeleistung 
und  Schutzgewährung«  .  .  . 

4.  Ethisches. 

Satz:  Luther  ein  starker  Glaubensheld,  überzeugungstreu  und 
todesmutig  wie  Hufs  und  Bonifacius.  Spruch:  Matth.  10,  32.  Wer 
mich  bekennt  vor  den  Menschen  —  Aussprüche  Luthers:  Wenn 
ich  gerufen  werde,  will  ich,  so  viel  an  mir  ist  —  Und  ob  sie 
zwischen  hier  und  Worms  ein  Feuer  anzündeten  —  Und  wenn  so 
viel  Teufel  in  Worms  wären,  als  Ziegel  auf  den  Dächern  —  So 
will  ich  denn  eine  Antwort  geben,  die  weder  Hörner  noch  Zähne 
hat:  Es  sei  denn  —  Hier  stehe  ich,  ich  kann  nicht  anders  — .« 

Aus  der  Einheit:  »Der  schmalkaldische  Krieg.«  (Siehe  S.  291 
des  gen.  Werkes.) 

»IV.  System. 

1.  Fürstenreihe:  Kaiser  Karl  V.  Ferdinand  I.,  sein  Bruder. 
Johann  Friedrich  der  Grofsmütige  und  Moritz,  Kurfürsten  von 
Sachsen.  Landgraf  Philipp  von  Hessen.  Markgraf  Albrecht  von 
Brandenburg.  2.  Schlachten:  Mühlberg,  Sie  vershausen.  3.  Kul- 
turgeschichtliches. Schmalkaldischer  Bund.  Passauer  Vertrag. 
Augsburger  Religionsfriede.  4.  Ethisches.  1.  Irdische  Macht 
und  Herrlichkeit  ist  vergänglich.  2.  Eine  feste  Burg  ist  unser 
jGott,  eine  gute  Wehr  und  Waffen.  < 

5.  Staude  und  Ööpfert.*) 
Thüringische  Sagen. 

»IV.    1.  Untreue  schlägt  ihren  eignen  Herrn.    Unrecht  Gut 


*)  Präparationen  z.  deutschen  Geschichie  von  Staude  u.  Göpfert. 
1.  Teil.    S.  65. 


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gedeihet  nicht.  2.  Es  wird  eingetragen:  Um  das  Jahr  500  war 
Thüringen  ein  Königreich.  Die  Franken  und  Sachsen  besiegten 
die  Thüringer  und  teilten  ihr  Reich  Die  Thüringer  waren  noch 
Heiden:  schlechte  Eigenschaften,  gute  Eigenschaften.  Verschiedene 
Trachten  und  Waffen:  Abgeschlossenheit.  3.  Das  Christentum  hat 
die  Thüringer  veredelt.  (Einzutragen;  ebenso:)  4.  Stichworte: 
»Bündnis«;  »Krieg«;  »Angriff«;  »Schlacht«;  »Sieg«;  »Niederlage«; 
»Belagerung«;  »Ausfall«;  »Eroberung«.« 

Aus  den  Präparationen  über  die  Nibelungensage.  *) 
»IV.  1.  Tim,  6,  10.  Der  Geiz  u.  s.  w.  Matth.  5,  9.  Selig 
sind  die  Friedfertigen  u.  s.  w.  Ps.  133,  1.  Siehe,  wie  fein  und 
lieblich  u.  s.  w  Hebr.  13,  16  Wohlzuthun«  u.  s.  w.  »Siegfrieds 
Leben  und  Tod:  I.  Siegfrieds  Jugend  (1.  2.  3.  4).  II.  Siegfrieds 
Werbung  (1.  2.  3.  4).  III.  Siegfrieds  Tod  (1.  2.  3.  4),  Kriem- 
hildens  Leid  (1.  2.  3.  4).« 

Hiermit  mag  es  an  Antührungen  genug  sein.  Man  erkennt 
aus  denselben,  dafs  auf  der  Stufe  des  Systems  vielerlei  auf- 
tritt, nämlich : 

1.  Die  Geschichtszahl,  bezw.  Geschichtstabelle, 

2.  Überschriften  über  den  Geschichtsstoff  der  Einheit  oder 
gröfserer  Stoffganze,  auch  Namenreihen, 

3.  Kulturhistorisches, 

4.  religiöse  Systeme  (Hermann  und  Krell-Luther.) 

5.  ethische  Systeme. 

1.  Wie  aus  obigem  ersichtlich,  ist  auch  Ziller  der  Meinung 
gewesen,  dafs  die  Geschichtstabelle  auf  die  4.  formale  Stufe  ge- 
höre, und  alle  auf  Zillerschem  Boden  stehenden  Kundgebungen 
haben  ihm  darin  beigestimmt.  Wie  kam  das?  Jedes  Fach,  so 
sagte  man,  mufs  sein  bestimmtes  System  haben,  der  deutsche 
Unterricht  ein  deutsches,  d.  h.  sprachliches,  die  Naturkunde  ein 
naturkundliches,  die  Geographie  ein  geographisches,  der  Geschichts- 
unterricht mufs  also  auch  sein  besonderes  Geschichtssystem  haben. 
Und  da  das  System  das  Gerippe  sein  mufs,  so  folgerte  man  daraus, 
dafs  das  Geschichtssystem  von  der  Geschichtstabelle  dargestellt  werde 
und  diese  also  auf  die  IV.  formale  Stufe  gehöre.  Da  man  nun 
in  Herbartischen  Kreisen  den  sehr  richtigen  Gedanken  ausgesprochen, 
der  Geschichtsunterricht  gehöre  zu  dem  Gesinnungsunterricht  und 
nicht  zu  den  Realien,  so  kam  man  zur  Zweiteilung  des  geschicht- 
lichen Systems,  man  unterschied  Ethisches  und  Historisches. 
(Vergl.  dazu  das  obige  Beispiel  aus  dem  »8.  Schuljahr«.)  Man 
sah  also  ein ,  dafs  die  Geschichtszahl  für  die  Stufe  des  Systems 
nicht  genügte,  eben  weil  die  gesinnungbildende  Spitze  fehlte. 
Sollte  das  aber  nicht  auf  den  Gedanken  führen,  dafs  die  Geschichts- 
zahl überhaupt  nicht  auf  die  IV.  Stufe  gehöre?    Man  vergegen- 


*)  Ebenda.   S.  161. 


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wärtige  sieb,  dafs  das  System  das  Ergebnis  der  Abstraktion  sein 
mufs.  Ist  nun  die  Geschichtszahl  ein  Denkresultat,  ein  Ergebnis  der 
Abstraktion,  der  Association?  Mufste  ich,  um  eine  Zahlreihe, 
bezw.  nur  eine  Zahl  zu  behalten,  Vergleichungen  über  die  Zahlen 
anstellen,  sodafs  die  zu  merkende  das  Ergebnis  dieser  Denkübung 
war.  Keineswegs.  Die  Schlacht  bei  Merseburg  war  933.  Punktum. 
Hier  ist  ja  nur  die  eine  Zahl  zu  bemerken  —  womit  könnte  ich 
sie  vergleichen?  Wenn  dann  die  Zahl  955  dazu  tritt,  so  sind 
wohl  Vergleichungen  möglich:  933-  2  Dreien,  955-  2  Fünfen.  In 
beiden  Schlachten  die  Hunnen  geschlagen,  933  von  Heinrich,  dem 
Vater,  955  von  Otto,  dem  Sohne.  Aber  sind  diese  Vergleichungen 
Abstraktionsarbeit?  Nein;  sie  werden  nur  vorgenommen  zwecks 
festerer  Einprägung,  zum  besseren  Behalten  des  Stoffes.  Sie  sind 
mnemonische  Hilfen;  ein  Denkresultat  springt  dabei  nicht  heraus. 
Das  System  ist  etwas  Abstraktes,  die  gewonnene  Einsicht.  Die 
Jahreszahl  aber  ist  nichts  Abstraktes,  sie  ist  etwas  Konkretes,  ge- 
gebener, dargebotener  Stoff.  Die  Geschichtstabelle  ist  eine  kurze 
Zusammenfassung  des  konkreten  Materials,  des  Geschichts- 
stoftes  nach  dem  chronologischen  Gesichtspunkte.  Das  System 
aber  soll  doch  entwickelt,  abstrahiert,  nicht  dargeboten 
werden.  —  Was  ist  denn  auch  in  einer  Geschichtstabelle  weiter 
enthalten,  als  ein  Verzeichnis  von  den  Kriegen,  Schlachten,  Re- 
genten und  ihrer  Regierungszeit  und  die  Lebenszeit  einiger  her- 
vorragender Persönlichkeiten  der  Kunst  und  Litteratur?  Man 
könnte  ebensogut  ein  blofses  Namensverzeichnis  der  Personen, 
der  Orte  etc.,  die  in  dem  betreffenden  Geschichtspensum  enthalten 
sind,  als  System  im  Geschichtsunterricht  ansehen.*)  Zusammen- 
fassungen sind  diese  Reihen  auch,  aber  man  macht  solche  auf 
der  II.  formalen  Stufe  bei  der  Einprägung  und  nicht  auf  der 
Systemstufe.  Denn  halten  wir  fest,  dafs  die  IV.  Stufe  ein  Denk- 
resultat —  Dörpfeld  fafst  ja  mit  gutem  Bedacht  die  Association 
und  das  System  unter  dem  Namen  »Denken«  zusammen  — ,  das 
Ergebnis  von  Gedankenkombinationen  und  Vergleichungen,  also 
etwas  Abstraktes  ist,  so  kann  man  eine  chronologische  Reihe  nicht 
als  System,  sondern  nur  als  eine  Zusammenfassung  auf  der 
II.  Stufe  ansehen.  Das  System  im  übrigen  Gesinnungsunterricht 
enthalt  die  Quintessenz  der  Gedanken,  die  man  aus  dem  vor- 
liegenden Stoff  entwickelt  hat;  die  Geschichtstabelle  enthält  nur 
das  Gerippe  des  vorliegenden  Stoffes  selbst,  nicht  die  Denk- 
resultate, gehört  also  nicht  auf  die  IV.,  sondern  auf  die  II.  Stufe 
und  zwar,  wie  gleich  hinzugefügt  sein  möge,  an  das  Ende  derselben. 
Luthers  Geburt  1483,  Eintritt  ins  Kloster  1505,  Beginn  der  Refor- 
mation etc.,  Schlacht  am  Lech  955,  Schlacht  bei  Merseburg  u.  s.  w. 


♦)  Allerdings  haben  »Hermann  und  Krell <  dies  auch  fertig  gebracht, 
Vergl.  obige  Anführungen:  »Fürstenreihe«. 


• 


-    136  - 

ist  doch  handgreiflich  konkretes  Material.  Und  wollte  man  sagoi, 
dafs  man  die  Zahl  auf  der  II.  Stufe  gar  nicht  erwähnen  walte, 
sondern  erst  auf  der  IV.,  damit  letztere  nicht  eine  blofse  Wieder- 
holung der  ersteren  sei,  so  wäre  zu  entgegnen,  dafs  die  Angabe 
der  Jahreszahl  zur  Vollständigkeit  der  Begebenheit  gehört,  und 
dafs  die  II.  Stufe  unvollständig  ist,  wenn  die  Jahreszahl  unerwähnt 
bleibt.  Die  Denkthätigkeit  aber,  die  nötig  ist,  um  die  Zahl  aus 
dem  übrigen  Material  herauszuschälen,  ist  beispielsweise  eine  noch 
viel  geringere,  als  die  Erarbeitung  von  Überschriften  über  die 
Teile  des  konkreten  Materials,  das  Disponieren  über  den  Stoff. 
Füglich  müfste  jedes  Einteilen  und  Ordnen  des  Konkreten,  sei  es. 
zu  welchem  Zwecke  es  auch  sei,  ein  System  und  zwar  ein  System 
im  Sinne  Zillers  sein. 

Damit  sind  wir  schon  zu  Punkt  2  gekommen,  und  es  fragt 
sich  hier:  Sind  die  Übersichten  über  Stoffganze,  wie  sie  z.  B 
Zillig  über  Friedrich  d.  Gr.  gegeben  hat,  Systeme  im  Geschichts- 
unterricht ?  Auch  dies  mufs  ich  verneinen  und  zwar  aus  denselben 
Gründen,  als  es  bei  Punkt  1  geschehen.  Das  Ordnen  des  kon- 
kreten Stoffes  gehört  nun  einmal  auf  die  II.  Stufe,  eben  weil  er 
auf  dieser  Stufe  dargeboten  wird  und  auch  die  Darbietung  über- 
sichtlich sein  mufs  und  ohne  jenes  Ordnen  nicht  klar  genug  ist 
Wie  die  Darbietung  im  einzelnen  klar  sein  mufs,  so  auch  im 
ganzen ;  diese  übersichtliche  Ordnung  vollendet  erst  die  Klarheit 
gehört  also  auf  die  II.  Stufe.  Wenn  sie  vollendet  ist,  dann  erst 
kann  die  Abstraktion,  das  Denken  beginnen.  Jene  Anordnung 
des  Stoffes  erfordert  ja  wohl  ein  Denken  im  allgemeinen  Sinn,  wie 
ja  auf  allen  Unterrichtsstufen  gedacht  werden  mufs,  aber  diese 
Überschriftensammlung  enthält  weder  etwas  »Begriffliches«,  noch 
etwas  > Abstraktes c,  nichts  »Allgemein-Giltiges«,  nichts  »Objektives 
Im  Religionsunterricht  ist  ja  auch  dieselbe  Thätigkeit,  das  Zer- 
legen des  Ganzen  in  seine  einzelnen  Teile  und  das  Finden  der 
Überschriften,  das  Disponieren  über  die  einzelne  Geschichte  eine 
Arbeit  der  II.  Stufe.  *)  Ob  ich  nun  über  kleinere  oder  gröfscre 
StofTmengen  Überschriften  setze,  sie  zwecks  klareren  Überschauens 
nach  Gesichtspunkten  ordne,  kann  doch  der  Art  nach  nichts  Ver- 
schiedenes, können  doch  nicht  verschiedene  Geistesthätigkeiteri 
sein.  Jene  Dispositionen  und  übersichtliche  Zusammenfassungen 
sind  ja  an  und  für  sich  richtig,  aber  es  ist  falsch,  dafs  man  sie 
als  System  ansieht;  sie  bilden  eben  das  Ende  der  Klarheit.  Wäre 
nun  über  den  betreffenden  Abschnitt  nichts  weiter  zu  sagen  ge- 
wesen, so  hätte  er  eben  nur  2  und  nicht  5  Stufen  gehabt  ;  es  wäre 
also  keine  Einheit  im  Sinne  Zillers  gewesen. 

Dafs  auf  der  IV.  Stufe  noch  viel  konkretes  Material  auftritt, 


*)  Siehe :  Präparationen  für  den  biblischen  Geschichtsunterricht  von 
Dr.  Staude. 


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~    137  — 


ist  sehr  deutlich  auch  aus  den  oben  mitgeteilten  Anführungen 
aus  den  Präparationen  über  die  thüringischen  Sagen  von  Dr.  Göpfert 
ersichtlich.  Da  heifst  es:'  »Um  das  Jahr  500  war  Thüringen  ein 
Königreich.  Die  Franken  und  Sachsen  besiegten  die  Thüringer 
und  teilten  ihr  Reich.  Die  Thüringer  waren  noch  Heiden«  u.  s.  w. 
Das  ist  doch  eine  geschichtliche  Erzählung,  nur  etwas  summarisch, 
aber  doch  konkret.  Sie  ist  ganz  so,  als  wenn  ich  von  den  Kindern 
Israel  erzähle:  Thaten  die  Kinder  Israel  Sünde,  so  gab  sie  der 
Herr  unter  die  Hand  ihrer  Feinde ;  bekehrten  sie  sich  aber,  so 
erweckte  ihnen  Gott  einen  Richter,  der  sie  von  der  Hand  ihrer 
Feinde  befreite.  Das  müfste  dann  ebenfalls  auf  der  Systemstufe 
stehen,  aber  bis  jetzt  ist  dies  wohl  noch  von  niemand  als  System 
der  Richtergeschichte  angesehen  worden.  —  Übrigens:  Was  schliefst 
sich  denn  auch  an  diese  Systeme,  wie  sie  unter  1  und  2  mit- 
geteilt worden  sind,  für  eine  V.  Stufe  an,  von  der  es  heifst: 
»Sie  durchläuft  das  System,  produziert  neue  Glieder  desselben  und 
wacht  über  die  Konsequenz  seiner  Anwendung«?*)  Man  kann 
nach  der  Erarbeitung  solcher  Systeme  nur  ein  Durchlaufen  der 
Geschichtszahlen  vornehmen,  die  Geschichtstabelle  wiederholen 
oder  die  Übersichten  einprägen.  Aber  wo  bleibt  die  Anwendung? 
Hat  der  Zögling  mit  solchen  Systemen  eine  einzige  Einsicht  ge- 
wonnen, nach  der  er  nun  sein  Thun,  sein  Handeln  richten,  und 
an  der  er  seine  Gesinnung,  sei  es  als  Einzelwesen  oder  als  Glied 
eines  Volkes  messen  könne?  Doch  wir  wollen  nicht  vorgreifen. 
Jene  Übersichten  sind  doch  nur  eine  gedrängte  Synthese,  ein  Über- 
blick über  ein  gröfseres  Stoflfganze  (Siehe  oben:  »Siegfrieds  Leben 
und  Tod.  I.  Siegfrieds  Jugend  1.  2.  3.  4«  u.  s.  w.,  ist  eine 
General-Synthese,  also  kein  System).  Darum  nochmals:  Jahres- 
zahlen, Übersichten,  Namenreihen  sind  konkretes  Material  und  ge- 
hören auf  die  II.  und  nicht  auf  die  IV.  Stufe. 

3.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  kulturgeschichtlichen  Material. 
Es  liegt  ja  schon  im  Namen  Kulturgeschichtliches.  Das  Ge- 
schichtliche, das  Geschehene,  die  beglaubigte  Nachricht  ist  doch 
das  wirkliche,  gegebene  Material,  das  im  Unterricht  darzubieten 
ist.  Wenn  das  Kulturgeschichtliche  auch  meist  durch  sog.  dar- 
stellenden Unterricht  an  die  Kinder  herangebracht  wird,  so  ist  es 
deshalb  doch  gegebener  Stoff  wie  jeder  erzählte  Abschnitt,  der 
nun  erst  nach  seinen  Ursachen,  Wirkungen  und  Folgen  durchdacht 
werden  soll.  Dabei  wird  es  sich  finden,  ob  das  Durchdenken  zu 
einem*  allgemeingiltigen  Resultate  führt.  Dasselbe  wäre  dann  das 
geschichtliche,  das  kulturgeschichtliche  System.  So  aber  bricht  in 
obigen  Beispielen  der  Unterricht  vor  der  Abstraktionsarbeit  ab, 
setzt  aber  —  aus  welchem  Grunde,  weifs  ich  nicht  —  III.  und 
IV.  Stufe  in  die  Präparationen.    Man  sehe  nur  jene  aus  den 


')  Herbart,  Allg.  Päd.  S.  39.    (Ausg.  v.  Mann.) 


1 

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13«  ~ 


Präparationen  von  Hermann  und  Krell  mitgeteilten  Stellen  darauf- 
hin an.  »Ein  Ketzer  verfiel  dem  Ketzergericht.  Ihn  traf  die  Ver- 
fluchung des  Papstes,  Verfolgung,  Ausschluss  aus  der  Kirche«  . . . 
bis:  Zu  Luthers  Zeit  verloren  aber  die  Strafen  an  Wirkung.« 
Und:  »Der  Reichstag  war  vom  jungen  Kaiser  Karl  V.  ein- 
berufen worden.  Er  war  zusammengesetzt  aus*  ...  —  ...  »Die 
Reichsacht  enthielt  fast  dieselben  Strafen  wie  die  Bannbulle  u.  s.  w. 

Ich  kann  mir  kaum  eine  ärgere  Begriffsverwirrung  denken, 
als  die,  diese  Sätze  als  systematisches  Material  anzusehen  und  sie 
auf  die  IV.  Stufe  zu  bringen.  Sie  sind  doch  weiter  nichts  als  das 
Hauptsächlichste  aus  dem  konkreten  Material,  aber  darum  doch 
konkret,  und  eben  deshalb  müssen  sie  auf  der  II.  und  nicht  auf 
der  IV.  Stufe  hervorgehoben  werden. 

Man  könnte  nun  einwenden:  Auf  der  II.  Stufe  wird  die  Sache 
viel  breiter,  ausführlicher  besprochen,  da  werden  die  Erklärungen 
viel  weitschichtiger  sein;  hier  auf  der  IV.  Stufe  steht  nur  die 
Hauptsache;  und  um  dies  anzudeuten,  schreibt  man  lieber  gar 
keine  Sätze,  sondern  einfach  Stichworte  hin,  die  sich  die  Kinder 
aus  der  breiten  Unterlage  der  II.  Stufe  »abstrahieren«  sollen. 
(Vergl.  obige  Mitteilungen  aus  Göpfert  und  Staude,  Präpara- 
tionen etc.):  »Bündnis«,  »Krieg«,  »Angriff«  u.  s.  w.  Ja,  könnte 
man  sagen,  Ziller  hat  ja  das  auch  gemeint,  wenn  er  sagt,  das  >  Be- 
griffliche« und  »Gesetzliche«  solle  auf  der  IV.  Stufe  heraus- 
gehoben werden.  —  Was  ist  darauf  zu  erwidern?  Zunächst 
wäre  festzustellen,  ob  diese  Stichworte  wirklich  geschichtliche  Be- 
griffe oder  nur  Hinweisungen  auf  den  vorliegenden  Stoff  sein 
sollen.  Wären  sie  letzteres,  so  wären  sie  konkret,  das  richtete 
sie,  sie  gehörten  dann  auf  die  II.  Stufe.  *  Bündnis«  bedeutete 
dann  weiter  nichts,  als:  Die  Franken  und  Sachsen  schlössen  ein 
Bündnis.  Sollen  sie  aber  geschichtliche  Begriffe  darstellen,  so 
vertreten  sie  eine  mehr  oder  weniger  vollkommene  Definition. 
Ich  denke  mir  alsdann  das  Lesen  dieser  Stichwortreihe  so:  »Bünd- 
nis«. Bündnis  ist  die  Vereinigung  zweier  oder  u.  s.  w.  »Krieg«. 
Krieg  ist  u.  s.  f.  »Schlacht«.  Schlacht  ist  u.  s.  w.  Denn  so  an- 
gesehen, haben  sie  wirklich  eine  abstrakte  Form  und  einen  allge- 
meingiltigen  Charakter,  gehören  also  auf  das  System.  Aber  es 
fragt  sich  nur:  Wollen  wir  solche  Definitionen  in  den  Unterricht 
hineinbringen  ?  Offenbar  ist :  Zweck  haben  sie  nicht.  Wir  können 
uns  vollständig  mit  dem  psychischen  Begriff  zufrieden  geben,  der 
bei  der  Darbietung  und  Erklärung  sich  mit  den  dargebotenen 
Worten  verknüpft.  Im  Religionsunterricht,  dem  nächsten  Ver- 
wandten zu  der  Geschichte,  entwickeln  wir  auch  nicht:  Gottver- 
trauen ist  das  Gefühl  u.  s.  w.,  Demut  ist  u.  s.  f.,  und  doch  lernen 
wir :  Vertrau'  auf  Gott  und  lafs  ihn  walten.  Wozu  also  diese  paar 
geschichtlichen  Begriffe  definieren?  Ich  glaube  gern,  dafs  man  es 
auch  nicht  beabsichtigt  hat,  denn  ich  könnte,  würde  ich  dazu 


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—    U9  ~ 


aufgefordert,  es  jetzt  auch  nicht  und  weifs  doch,  was  Krieg, 
Schlacht  und  dergl.  ist.  Sollen  die  Sprichwörter  aber  nur  be- 
deuten: Manche  Völker  haben  ein  Bündnis  geschlossen  und  mit 
einem  anderen  Krieg  angefangen,  darin  haben  sie  viel  Schlachten 
gewonnen,  dann  halte  ich  sie  für  sehr  überflüssig.  Also  weg 
damit;  sie  sehen  so  geheimnisvoll -wichtig  aus,  und  man  weifs 
nicht,  was  sie  bedeuten  sollen.*) 

4.  Wir  kommen  zu  den  religiösen  Systemen.  Besonders 
Hermann  und  Krell  haben  viele  speziell  religiöse  Systeme  auf- 
gestellt; man  vergleiche  das  von  Luthers  Gottvertrauen  und  dem 
Unterschiede  der  Konfessionen  Gesagte.  Es  ist  hier  die  Grenze 
zwischen  Geschichts-  und  Religionsunterricht,  die  trotz  der  Ver- 
wandtschaft der  beiden  Fächer  doch  gezogen  werden  mufs,  über- 
schritten und  in  der  Geschichte  Religionsunterricht  getrieben 
worden.  Das  soll  nicht  sein.  Vielmehr  hätte  der  Geschichts- 
unterricht nur  die  Besprechung  auf  das  religiöse  Material  ausdehnen, 
die  Gewinnung  des  Systems  aber  in  den  Religionsunterricht  ver- 
weisen müssen;  denn  das  System  drückt  dem  Fache  den  eigen- 
artigen Stempel  auf,  läfst  den  Charakter  des  Faches  erkennen. 


*)  Es  liegt  in  jenen  Systemen  ein  Widerspruch  gegen  die  sonstige 
Gestaltung  dieser  Unterrichtsstufe,  den  Ziller  selbst  durch  den  Paragraphen 
über  Assoziation,  System  und  Methode  in  seinen  Vorlesungen  veranlafst 
hat;  er  ist  auch  in  jenem  Abschnitt  selbst  zu  finden.  Einesteils  hebt  Ziller 
dort  hervor,  dafs  mit  der  III.  Stufe  der  Abstraktionsprozefs  beginne  und 
das  Resultat  desselben,  das  gewonnene,  also  abstrakte  Material,  das  »Allge- 
meingiltige«,  das  »Objektive«  auf  der  Stufe  des  Systems  herausgehoben 
werden  müsse ;  anderenteils  bezieht  er  diese  Worte  auf  offenbar  konkretes 
Material,  auf  eine  Geschichtstabelle,  auf  selbst  erarbeitete  Leitfäden  u.  drgl. 
Diese  letzteren  enthalten  doch  wohl  auch  noch  konkretes  Material.  Es  ist 
doch  nicht  anzunehmen,  dafs  in  ihnen  nur  Abstraktes,  nur  Regeln,  Gesetze, 
Sprüche  und  dergl.  auftreten  sollen.  Wenn  das  Selbsterarbeitete  mit  dem 
Lehrbuch  verglichen  wird,  so  handelt  es  sich  doch  mehr  um  Konkretes, 
als  um  Abstraktes,  denn  das  Lehrbuch  enthält  doch  mehr  des  ersteren  als 
des  letzteren.  Die  Geschichtstabelle  ist  doch  nichts  »Allgemein-Giltiges«, 
nichts  »Objektives«,  wenigstens  nicht  mehr  als  jedes  Kleinste  des  Ge- 
schichtsabschnittes, soweit  es  beglaubigt,  d.  h.  eben  Geschichte  ist.  Be- 
trachte ich  den  Geschichtsunterricht  als  einen  Teil  des  Gesinnungsunter- 
richts, so  ist  die  Geschichtszahl  an  sich  etwas  höchst  Gleichgiltiges,  das 
Ethische  oder  auch  ein  zugrunde  liegendes  Gesetz  der  kulturellen  Ent- 
wickelung  ist  dann  mehr  wert. 

Die  exakte  Zeichnung  im  geoeraphischen  Unterricht  ist  doch  nur  das 
konkrete  Material  in  knappster  Form;  sie  vollendet  erst  die  Klarheit,  die 
'Anschauung  des  Stoffes.  Wie  gehört  sie  also  auf  die  Stufe  des  Systems? 
Es  ergiebt  sich  daraus,  dafs  ZilTers  allgemeine  Worte  über  das  System  im 
Widerspruch  mit  den  von  ihm  selbst  angeführten  Beispielen  stehen,  indem 
seine  allgemeinen  Worte  so  zu  verstehen  sind,  als  ob  auf  das  System  nur 
Abstraktes  gehöre,  während  die  eignen  Beispiele  doch  Konkretes  bringen. 
Sollen  aber  solche  konkrete  Reihen  als  System  angesehen  werden,  dann 
ist  nicht  abzusehen,  wie  vielerlei  auf  der  IV.  Stufe  auftreten  soll,  und  sie 
unterscheidet  sich  dann  nicht  wesentlich  von  der  II.  Stufe.  Vergl.  Prof. 
Gleichmann,  über  Herbarts  Lehre  von  den  formalen  Stufen.  Langensalza. 


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140  — 


Deshalb  müssen  die  religiösen  Systeme  im  Religionsunterricht  ent- 
wickelt werden.  Im  Geschichtsunterricht  lobt  man  das  Gott- 
vertrauen Luthers,  seinen  daraus  entstandenen  Mut,  der  Menschen- 
furcht nicht  kennt,  erhebt  sich  aber  nicht  zu  einem  allgemeinen 
Satz  über  das  Gottvertrauen ;  dies  geschieht  dann  im  Religions- 
unterricht. So  hat  es  auch  Ziller  gemeint,  wenn  er  in  seinen  Vor- 
lesungen sagt*):  »Wo  demnach  die  Bearbeitung  des  sachlichen 
Stoffes«  (aus  einem  anderen  Fache)  »dem  betreffenden  Unterricht 
selbst  überlassen  ist,  da  führt  er  seine  Betrachtungen  bis  zum 
Schlüsse  der  Synthese  so  fort,  als  ob  sie  in  sein  Fach  wirklich 
hereingehörten.  Darüber  hinaus  beschränkt  er  aber  seine  Be- 
arbeitung suf  das  ihm  Eigentümliche,  das  jenseit  seiner  Grenzen 
Liegende  wird  dagegen  den  Lehrfächern  überlassen  und  zuge- 
wiesen, zu  denen  es  wirklich  gehört.  Das  Verfahren  ist  also  dem 
ganz  ähnlich,  wie  es  nach  dem  Früheren  mit  rein  sprachlichem 
und  mathematischem  Stoff  gemacht  werden  mufs,  der  in  nicht 
sprachlichen  und  mathematischen  Fächern  vorkommt.«  Für  den 
Sagenunterricht  hat  das  freilich  keine  Geltung.  In  ihm  dürfen 
religiöse  Systeme  in  Gestalt  von  Bibelsprüchen  und  dergl.  auf- 
treten. Die  Behandlung  der  Sagen  unterscheidet  sich  nicht  von 
der  Behandlung  der  biblischen  Geschichten.  Dagegen:  »Wer  mich 
bekennt  vor  den  Menschen«  etc.,  soll  der  Religionsunterricht  er- 
arbeiten. Zu  Luthers  mutvollem  Auftreten  würde  im  Geschichts- 
unterricht passen:  »Fürchte  Gott,  thue  recht  und  scheue  niemand«, 
oder:  »Wer  sich  vor  Menschen  fürchtet,  der  thut  Sünde.«  **)  Das 
ist  aber  ein  ethisches  System,  und  damit  sind  wir  zum  letzten 
Punkt,  zur  Besprechung 

5.  der  ethischen  Systeme 

gekommen. 

Wie  die  religiösen  Systeme  wirklich  Systeme  waren,  die  ihres 
abstrakten  Charakters  wegen  auf  die  IV.  Stufe  im  Religionsunter- 
richt gehörten,  so  sind  auch  die  ethischen  Systeme,  wie  sie  in 
den  Präparationen  enthalten  sind,  mögen  sie  nun  durch  ein  Bibel- 
wort, einen  Ausspruch  eines  Dichters  oder  durch  ein  Sprichwort 
ausgedrückt  sein,  wirklich  Systeme,  d.  h.  etwas  »Allgemein-Giltiges«, 
»Gesetzliches«,  »Objektives«.  Darin,  dafs  die  Profangeschichte 
ganz  vortrefflich  geeignet  ist,  sittliche  Grundsätze  zutage  zu  fordern, 
besteht  eben  die  enge  Verwandtschaft  zwischen  Geschichts-  und 
Religionsunterricht.  Die  ethischen  Sätze  sind  auch  in  den  Prä-, 
parationen  von  Göpfert  und  Staude  in  mustergiltiger  Weise  ent- 
wickelt und  angewendet  worden.  Dagegen  machen  sich  auch  bei 
dieser  Gelegenheit  Hermann  und  Krell  einer  argen  Verwechselung 
von  Konkretem  und  Abstraktem  schuldig.    Die   obigen  unter 

*)  Ziller,  Vorlesungen  etc.    1.  Aufl.   S.  250. 
**)  Aus  Wildenbruch:  »Ein  neues  Gebot«. 


141 


>  Ethisches  c  angeführten  Sätze  über  Luther  geben  Zeugnis  davon. 
> Luther  kämpft  für  die  Glaubenswahrheit  unerschütterlich  und 
unerbittlich«  u.  s.  w.  bis:  »Das  ewige  Heil  gilt  ihm  mehr  als  alles 
andere « .  » Luther  war  ein  starker  Glaubensheld,  überzeugungstreu 
wie  Hufs  und  Bonifacius«.  Dies  und  die  angeführten  Aussprüche 
Luthers  —  sind  sie  systematisches,  abstraktes  Material?  Die  Zu- 
sammenfassung der  Besprechung  und  Beurteilung  am  Ende  der 
II.  Stufe  würde  diese  Form  haben  können;  aber  die  4.  Stute 
müfste  erst  das  Ergebnis  einer  daran  angeschlossenen  Assoziation 
sein  und  dann  nicht  eine  Beurteilung  des  einen  Falles,  sondern 
eine  allgemeine  Wahrheit,  einen  allgemeinen  Gesichtspunkt,  nach 
dem  alle  ähnlichen  Fälle  zu  beurteilen  wären,  enthalten.  Das 
obige  erste  Beispiel  enthält  die  Beurteilung,  bezw.  das  Lob  Luthers 
—  eine  Arbeit  der  II.  Stufe  —  konkret.  »Man  mufs  Gott  mehr 
gehorchen,  als  den  Menschen«,  wäre  die  entsprechende  IV.  Stufe 
gewesen.  Das  zweite  Beispiel  ist  nur  eine  Zusammenstellung,  wie 
sie  wohl  die  III.  Stufe  zu  besorgen  hat,  aus  der  dann  erst  die 
IV.  Stufe,  die  hier  hätte  heifsen  können:  »Sei  getreu  bis  in  den 
Tod«  etc.,  hätte  abstrahiert  werden  müssen.  Aber  damit  wäre 
man  wieder  in  den  Religionsunterricht  geraten.  *) 

Inbezug  auf  die  ethischen  Systeme  wäre  nur  recht  sehr  zu 
wünschen,  dafs  dabei  unsere  Dichter  und  unsere  Sprichwörter 
mehr  noch  als  bisher  zu  Worte  kommen  möchten.  Sollte  sich  in 
unserer  Litteratur  nicht  ein  auch  in  der  Volksschule  zu  verwerten- 
der Ausspruch  über  Menschenfurcht  und  Überzeugungstreue  finden, 
der  seiner  klassischen  Form  wegen  verdiente,  als  System  im  Ge- 
schichtsunterricht verwertet  zu  werden  ?  Die  Sentenzen  der  Klassiker 
könnten  auf  diese  Weise  gute  Verwendung  finden  und  Einflufs 
auf  das  Volk  ausüben  und  das  um  so  mehr,  als  in  der  Geschichte 
für  diese  allgemeinen  Sätze  ein  noch  besserer  konkreter  Hinter- 
grund vorhanden  ist,  als  in  den  Dichtungen  selbst.  Darum  noch 
mehr  solche  Beispiele  wie : 

»Ans  Vaterland,  ans  teure«  etc. 

»Wir  wollen  sein  ein  einig  Volk«  etc. 

»Einigkeit  und  Recht  und  Freiheit«  etc. 

Das  Sprichwort,  mit  Recht  schon  die  Gassenphilosophie  ge- 
nannt, würde  oft  ganz  geeignet  sein,  den  in  der  Geschichte  liegen- 
den Gedanken  den  rechten  Ausdruck  zu  verleihen.    In  den  Prä- 


*)  Wer  sich  übrigens  das  Buch  von  Hermann  und  Krell,  das  für  die 
II.  Stufe  sehr  schätzenswertes  Material  bietet,  näher  ansehen  will,  wird  bei 
den  übrigen  Präparationen  inbezug  auf  die  HI.  und  IV.  Stufe  denselben 
Ungereimtheiten  begegnen.  (Siehe  die  »Besprechung  einiger  Geschichts- 
präparationen«  von  E.  Scholz,  Päd.  Studien  90,  II.  Heft  und  die  »Grund- 
sätze f.  d.  Beurteilung  von  Präp.  aus  der  Gesch.«,  im  II.  Seminarheft,  Langen- 
salza, Beyer  u.  S.,  1890.) 


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—     142  — 


parationen  über  die  Nibelungensage  ist  es  auch,  wenn  auch  meist 
nur  auf  der  V.  Stufe,  trefflich  herangezogen. 

Nach  den  obigen  Andeutungen,  dafs  der  Geschichtsunterricht 
mit  dem  Religionsunterricht  so  eng  verwandt  sei,  und  dafs  nur 
den  ethischen  Systemen  eine  Berechtigung  für  die  Systemstufe 
im  Geschichtsunterricht  zugesprochen  werden  kann,  könnte  es 
scheinen,  als  sollte  dem  Geschichtsunterrichte  nur  eine  dienende 
Rolle  für  den  Religionsunterricht  zugewiesen  werden,  als  hätte  er 
nur  den  Zweck,  den  Religionsunterricht  als  den  eigentlichen 
Gesinnungsunterricht  zu  unterstützen  und  ihn  nur  mit  dem 
nötigen  konkreten  Material  zu  versehen.  Es  ist  klar,  dafs  dieser 
Dienst  von  einem  blofs  biographischen  Geschichtsunterricht,  ja 
von  einer  zusammenhanglosen  Anzahl  ethischer  Geschichten  aus 
dem  Volksleben,  wie  sie  in  Lesebüchern  zu  finden  sind,  ebensogut, 
vielleicht  noch  besser  geleistet  werden  könnte.  Wie  aber  aus 
dem  folgenden,  worin  es  sich  um  die  Frage  handeln  wird: 

Giebt  es  keine  Systeme,  die  man  als  die  speziell  geschicht- 
lichen ansehen  könnte  ? 

hervorgehen  dürfte,  ist  der  Geschichtsunterricht  nicht  zu  einem 
blofsen  Diener  des  Religionsunterrichts  gemacht,  sondern  es  ist 
ihm  die  bedeutende  Aufgabe  gestellt,  der  Erzieher  seines  Volkes 
zu  werden.  »Die  Geschichte  soll  die  Erzieherin  der  Menschheit 
sein,  und  wenn  sie  es  nicht  wird,  so  tragen  die  Jugendlehrer  der 
Geschichte  einen  grofsen  Teil  der  Schuld.«  *)  Wenn  aber  die 
Geschichte  die  Erzieherin  der  Menschheit  werden  soll,  dann  mufs 
doch  aus  der  Vergangenheit  das  Verständnis  der  Gegenwart  er- 
wachsen —  wie  auch  Öfter  hervorgehoben  wird  — ;  dann  mufs 
uns  die  Vergangenheit  auch  die  Grundsätze  lehren,  nach  denen 
sich  das  Leben  der  Gegenwart,  sagen  wir  deutlicher  das  Staats- 
leben der  Gegenwart  und  das  Leben  des  Einzelnen  im  Staate  zu 
richten  hat.  Diese  Grundsätze  und  Einsichten  würden  das  eigent- 
liche System  des  Geschichtsunterrichts  ausfüllen.  Um  diese  zutage 
zu  fördern,  bedarf  es  freilich  der  Kenntnis  der  Ursachen  und 
Wirkungen  der  kulturellen  Fortschritte;  erst  wenn  eine  klare  Ein- 
sicht in  die  Ursachen  und  Folgen  der  Geschichtsbegebenheiten 
und  -Perioden  erzielt  ist,  werden  daraus  Normen  für  unsere  Gegen- 
wart abgeleitet  werden  können.  Dieie  werden  nun  zum  teil  nur 
für  das  deutsche  Volk  gelten,  also  weniger  allgemeinen  Charakter 
tragen,  zum  teil  für  die  gesamte  Menschheit  Geltung  haben.  Das 
Begriffliche  wird  dabei  fast  ganz  ausgeschieden  sein ;  es  wird  sich 
lediglich  um  Gesetzliches  handeln. 

Wenn  Karls  des  Grofsen  Greuelthaten  gegen  die  Sachsen,  die 
er  zum  Christentume  zwingt,  Karls  V.  Verhalten  gegen  die  Prote- 

• 

*)  Herbart,  Umrifs  päd.  Vorlesungen.    S.  253.    Ausg.  v.  Mann. 


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4 


^  —    143  — 

stanten,  Ferdinands  II.  Grausamkeit  gegen  seine  protestantischen 
Unterthanen  getadelt  werden,   dagegen  Friedrichs  des  Grofsen 
humaner,  duldsamer  Sinn  gegen  jedes  Glaubensbekenntnis,  der 
sich  in  dem  drastischen  Wort  zu  erkennen  giebt:   >In  meinem 
Reiche  soll  jeder  nach  seiner  Facon  selig  werden«,  gelobt  und 
diesem  der  betreffende  Satz  ans  dem  Erlafs  Kaiser  Friedrichs  III. 
bei  seinem  Regierungsantritt,  dafs  Katholiken  sowohl  als  Prote- 
stanten seines  Schutzes  sicher  sein  könnten,  an  die  Seite  gestellt 
wird,  so  wird  man  doch  auch  in  den  einfachsten  Schulverhältnissen 
den  Satz  abstrahieren  können :  Kein  Staat  soll  Glaubens-  und  Ge- 
wissenszwang ausüben.    Das  ist  ein  Ergebnis  der  geschichtlichen 
Entwickelung,  eine  geschichtliche  Lehre  und  darum  ein  System 
im  Geschichtsunterricht.  —  Aus  dem  Vergleich  der  Erfolge  des 
Hufs  und  Luthers  ist  zu  erkennen:  Die  Kultur  schreitet  nicht 
sprungweise  vorwärts;  grofse  Ereignisse  müssen  von  langer  Hand 
vorbereitet  werden.    Die  grofsen  Reformer  haben  ihre  Vorläufer. 
Der  Erfolg  hängt  nicht  nur  von  den  einzelnen  grofsen  Männern, 
sondern  auch  davon  ab,  wieweit  das  Auftreten  der  Männer  im 
Volk  verbreitet  ist.  —  Aus  den  Irrtümern  grofser  Männer,  die 
wir  trotz  ihrer  grofsen  Verdienste  konstatieren  müssen,  ergiebt 
sich :   »Wer  den  Besten  seiner  Zeit  genug  gethan,  der  hat  gelebt 
für  alle  Zeiten.«   —  Schiller  leitet  seine  Geschichte  des  dreifsig- 
jährigen  Krieges  ein  mit  den  Worten:   »Seit  dem  Anfang  des 
Religionskriegs  in  Deutschland  bis  zum  Münsterischen  Frieden  ist 
in  der  politischen  Welt  Europens  kaum  etwas  Grofses  und  Merk- 
würdiges geschehen,  woran  die  Reformation  nicht  den  vornehmsten 
Anteil  gehabt  hätte.«    Dazu:  Religiöse  Bewegungen  haben  Einflufs 
auf  die  Politik.    Auch  das  ist  ein  geschichtliches  System  —  voraus- 
gesetzt,  dafs   die  Kinder  diese   Behauptung   selbst  abstrahiert 
haben.  —   Die  Behandlung  der  Kreuzzüge  würde,  wie  Gustav 
Freitag  hervorhebt,  ergeben,  dafs  die  Kreuzzüge  das  deutsche  Volk 
für  die  christliche  Religion  erst  eigentlich  begeistert  haben.  Dafs 
die  Deutschen  für  ihren  neuen  Gott  —  und  dieser  war  Christus  — 
kämpfen  durften,  dafs  sie  derselbe  wie  einst  der  Gott  der  Ger- 
manen —  Wodan  —  zum  Kampfe  aufrief,  machte  ihnen  das 
Christentum  erst  volkstümlich.    Die  Kreuzzüge  vollendeten  also 
gewissermafsen  erst  die  Bekehrung  der  Deutschen  zum  Christen- 
tum.   Daraus  wäre  zu  erkennen:  Eine  neue  Lehre  findet  um  so 
eher  Eingang,  je  mehr  sie  mit  der  alten  verwandt  ist.  —  Wenn 
die  Kinder  erkennen,  dafs  Bonifacius  neben  und  mit  dem  Christen- 
tum zugleich  das  römische  Joch  gebracht  hat,  das  selbst  die 
Reformation  und  unsere  Zeit  noch  nicht  gebrochen,  so  erfassen 
sie  damit  ein  kulturgeschichtliches  Moment,  das  für  die  Weiter- 
entwickelung der  deutschen  Geschichte  sehr  bedeutungsvoll  ge- 
worden ist.    Der  darin  verborgene  allgemeine  Gedanke  dürfte  von 
Göthe  mit  den  Worten:   »Es  erben  sich  Gesetz  und  Rechte  wie 


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eine  ewige  Krankheit  fort«,  trefflich  ausgedrückt  sein.  »Wo  rohe 
Kräfte  sinnlos  walten,  da  kann  sich  kein  Gebild  gestalten«  etc., 
das  dürfte  das  passendste  Wort  zur  Schreckensherrschaft  der 
französischen  Revolution,  die  ja  auch  Schiller  zu  diesem  Ausspruch 
veranlafste,  sein. 

Zur  Entwickelung  der  patriotischen  Forderungen  erscheint  die 
neuere  preufsisch-deutsche  Geschichte  als  ganz  besonders  geeignet. 
Dabei  können  dieselben  Forderungen  mit  anderen  Dichterworten 
öfter  als  System  auftreten,  ähnlich,  wie  auch  verschiedene  Sprüche 
über  das  Gottvertrauen  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  als  System 
entwickelt  werden. 

Damit  genug.  Es  kann  hier  nicht  meine  Aufgabe  sein,  alle 
Geschichtspartieen  in  dieser  Weise  zu  durchsuchen  und  ihren  all- 
gemein-giltigen Inhalt  zu  abstrahieren.  Die  angeführten  Beispiele 
sollten  nur  den  Zweck  haben,  die  Art  der  Systeme,  wie  sie  der 
Geschichtsunterricht  nicht  entwickelt  hat,  zu  verdeutlichen.  Aus 
ihnen  dürfte  zu  ersehen  sein,  dafs  diese  Systeme  vorzüglich 
zweierlei  enthalten: 

1 .  Entwicklungsgesetze, 

2.  Grundsätze  für  das  Staats-  und  Verfassungsleben.*) 
Wenn  der  Abstraktionsprozefs  solche  Grundsätze  entwickelt 

hat,  dann  wäre  es  als  eine  sehr  fruchtbare  Arbeit  der  V.  Stufe, 
der  Methode  anzusehen,  wenn  auf  derselben  das  entsprechende 
Stück  der  Verfassung  zur  Kenntnis  der  Kinder  gelangte.  Es  will 
mir  scheinen,  als  ob  dadurch  auch  die  Frage  über  die  Einführung 
der  Gesetzeskunde  in  die  Volksschule  ihre  Erledigung  finden 
könnte.  Es  drängt  ja  auch  die  Kinder  dazu,  wenn  die  Vergangen- 
heit sie  einen  solchen  Grundsatz  gelehrt  hat,  zu  fragen:  Wie  ist 
es  jetzt  bei  uns?  Es  erfolge  also  das  Lesen  des  entsprechenden 
Verfassungsabschnittes.  Wenn  die  Schüler  aus  der  freiheitlichen 
Bewegung  unseres  Jahrhunderts  eingesehen  haben,  dafs  das  will- 
kürliche Regiment  eines  freien  Mannes  unwürdig  ist  und  ein  ge- 
reiftes Volk  an  der  Regierung  teilnehmen  soll,  so  müfste  auf  der 
V.  Stufe  die  Einführung  in  unsere  Reichs-  und  Landeskonstitutionen 
erfolgen.  Dabei  könnten  dem  Schüler  so  recht  die  Pflichten  des 
Einzelnen  im  Reich  und  im  Staat  vor  die  Augen  geführt  werden; 
der  Geschichtsunterricht  hätte  damit  für  die  Gegenwart  erzogen. 
Ängstliche  Gemüter  könnten  vor  diesem  Hineintragen  der  Politik 
in  die  Volksschule  zurückschrecken;  aber  es  handelt  sich  hier 
nicht  um  eine  Besprechung  der  Tagespolitik,  sondern  um  eine 
Aufklärung  über  unsere  politischen,  d.  h.  öffentlichen  Angelegen- 
heiten, zu  deren  Besprechung  ein  nach  obigen  Andeutungen  ein- 
gerichteter Geschichtsunterricht  drängt.  —  Es  soll  hier  nur  ange- 

*)  Ein  System  dieser  Art  ist  übrigens  im  8.  Schuljahr,  S.  32  zu  finden, 
nämlich:  »Das  Schicksal  der  Staaten  hängt  weniger  ab  von  ihren  Kräften, 
als  von  wenigen  grofsen  Menschen«  etc. 


deutet  werden,  dafs  ein  solcher  Geschichtsunterricht  recht  wohl 
imstande  sein  dürfte,  der  Sozialdemokratie  in  vorzüglichster  Weise 
entgegenzuarbeiten.  *) 

Kehren  wir  von  dieser  Abschweifung  zu  dem  eigentlichen 
Thema  zurück,  so  wäre  noch  zu  bemerken,  dafs  durch  Erarbeitung 
dieser  Systeme  der  Geschichtsunterricht  mehr  den  Charakter  der 
Kulturgeschichte  annimmt,  als  bisher.  Ein  Anfang  dieses  kultur- 
geschichtlichen Unterrichts  liegt  meines  Wissens  nur  in  Thrändorfs 
Abhandlungen  und  Präparationen  zur  Kirchengeschichte  vor.  Die 
Systeme  unserer  Kulturgeschichte  müfsten  einen  ganz  ähnlichen 
Charakter  wie  die  in  den  Thrändortschen  Präparationen,  sie  müfsten, 
ich  will  einmal  sagen,  einen  philosophischen  Charakter  tragen. 
Denn  »der  Unterschied  zwischen  pädagogischer  Kirchengeschichte 
und  kulturgeschichtlicher  Profangeschichte  ist  ein  fliefsender.  **) 
Obiger  Satz:  Kein  Staat  soll  Glaubens-  und  Gewissenszwang  aus- 
üben, dürfte  den  engen  Zusammenhang  dieser  beiden  Geschichts- 
partieen  deutlich  zeigen. 

Die  Arbeit,  die  also  noch  zu  leisten  wäre,  wäre  die,  dafs  die 
einzelnen  Geschichtsabschnitte  durchforscht  und  ihre  allgemein- 
giltigen  Resultate  dargestellt  würden.  Dafs  es  an  dieser  Arbeit 
bis  jetzt  noch  mangelt,  ist  bereits  von  Prof.  Vogt  in  den  Ver- 
handlungen des  V.  f.  w.  Pädagogik  ausgesprochen  worden  und 
zwar  in  folgenden  Worten***) :  Von  geschichtlichen  Gesetzen  reden, 
wie  Ziller  ...  es  gethan,  weil  ja  das  Kausalitätsgesetz  in  An- 
wendung komme,  dies  kann  man  immerhin  thun  ;  aber  einen  be- 
stimmten Inhalt  würden  jene  Gesetze  erst  gewinnen,  wenn  auf 
Grund  komparativer  Geschichtsforschung  die  Phasen  der 
Ausgestaltung  zu  einem  Typus,  der  bei  verschiedenen  Völkern 
wohl  das  Aussehen,  aber  nicht  sein  Wesen  ändern  kann,  erkannt 
wären.  Die  Gesetze,  wie  ich  sie  nach  obigem  im  Auge  habe, 
tragen  allerdings  einen  elementareren  Charakter,  als  die,  welche  hier 
gemeint  sein  dürften,  aber  auch  sie  sind  bis  jetzt  nirgends  zur 
Darstellung  gekommen.    Vielmehr  ist  es  Thatsache,  dafs  die  Ge- 


*)  Zu  zeigen,  wie  dies  im  einzelnen  geschehen  könne,  dazu  bedürfte 
es  einer  besonderen  Abhandlung.  So  viel  Andeutungen  aber  dürtten  hier- 
über doch  im  obigen  anthalten  sein,  dafs  jene  Behauptung  hier  nicht  als 
blolse  Phrase  erschiene.  Nur  eine  Bemerkung  vermag  ich  zu  diesem  Thema 
nicht  zu  unterdrücken.  Der  Geschichtsunterricht  hat  bisher  dem  Volke 
solche  Grundsätze  Über  Staat  und  Verfassung  nicht  gegeben.  Es  blieb  also 
hier  eine  Lücke.  Dieselbe  füllten  die  Sozialdemokraten  mit  ihren  schmeichel- 
haften, phantastischen  Grundsätzen  aus.  Im  Bewufstsein  des  Einzelnen  war 
also  kein  Moment  vorhanden  —  das  religiöse  von  Gottes  Ordnung  im 
Staate  erwies  sich  allein  als  zu  schwach  — ,  das  den  Kampf  mit  jenen  Irr- 
lehren aufgenommen  hätte.  Ohne  grofse  Mühe  war  daher  der  Mann  aus 
dem  Volke  im  Banne  des  Sozialismus. 

Dr.  Thrändorf  i.  Jahrbuch  d.  V.  f.  w.  P.  XXII.  S.  107. 
*•*)  Erläuterungen  z.  Jahrbuch  d.  V.  f.  w.  P.  XIV.  S.  4». 


—    146  — 

Schichtsforschung  sich  bisher  mehr  auf  die  blofse  Darstellung  des 
wirklich  Geschehenen  beschränkt  und  die  Herausarbeitung  und  Ab- 
leitung allgemeiner  Gesichtspunkte  hintangesetzt  hat.  Es  ist  das 
auch  wohl  mehr  eine  Arbeit  des  Philosophen,  als  des  Geschichts- 
schreibers. Von  wem  sie  aber  auch  geleistet  werden  möge,  die 
Pädagogik,  als  die  Verwenderin  der  Geschichte  zum  Erziehungs- 
zweck, kann  ihrer  nicht  entbehren. 

Damit  bin  ich  am  Schlufs.  Wenn  diese  Zeilen  aul  jenen 
Mangel  aufmerksam  gemacht  und  vielleicht  dazu  beigetragen  hätten, 
dafs  berufenere  Federn  jenen  Punkt  ins  Auge  fassen  und  damit 
dem  Geschichtsunterricht  eine  vollständigere  Gestaltung  und  einen 
gesteigerten  erziehlichen  Wert  verleihen  würden,  so  hätten  sie 
ihren  Zweck  nicht  verfehlt.*) 


B.  Mitteilungen. 
I.  Der  deutsche  Einheitsschulverein  im  Jahre  1890. 

Der  deutsche  Einheitsschulverein  hat  im  vergangenen  Jahre  eine 
Hauptversammlung  nicht  gehalten.  Nach  einem  im  Anfang  des  Jahres  ge- 
fafsten  Beschlüsse  des  Vorstandes  sollte  eine  solche  im  Herbst  zu  Giefsen 
stattfinden,  die  Rücksicht  auf  die  bevorstehende  Berliner  Schulreform- 
konferenz  nötigte  jedoch  dazu  sie  aufzugeben.  Gleichwohl  hat  die  Thäüg- 
keit  des  Vereins  auch  im  vorigen  Jahre  nicht  geruht,  ja  seine  Bestrebungen 
sind  mehr  gefördert  als  in  einem  der  früheren  Vereinsjahre. 

Von  den  Vereins-Schriften  sind  zwei  weitere  Hefte  (das  6.  und  7.}  er- 
schienen, aber  auch  andere  Aufsätze  zur  Schulreform  sind  von  Mitgliedern 
des  Vereins  veröffentlicht.  Im  sechsten  Hefte  der  Schriften  hat  der  Unter- 
zeichnete ein  geistvolles  Werk  von  Nicola  Fornelli  besprochen,  welches 
zeigt,  dafs  es  auch  in  Italien  Einheitsschulbestrebungen  giebt;  namentlich 
aber  hat  Prof.  Dr.  Lothar  Meyer  in  Tübingen  seine  Ansicht  über  die 
Schulreform  klar  und  kurz  vorgeführt.  Er  tritt  hier  für  die  weitere  Fassung 
der  Einheitsschulidee  ein,  welcher  auch  der  Unterzeichnete,  aber  nicht 
alle  Mitglieder  des  Vereins  zustimmen  »Wenn  die  Leiter  und  Vertreter 
des  humanistischen  Gymnasiums  nicht  den  Mut  haben,«  sagt  er  S.  27,  »sein 


*)  Wir  erlauben  uns  hier  auf  eine  interessante  Beleuchtung  des  Ge- 
schichtsunterrichts von  dem  bekannten  Professor  der  Geschichte  O.  Lorenz 
in  Jena  hinzuweisen:  O.  Lorenz,  Der  Geschichtsunterricht  in  »Geschichts- 
wissenschaft« etc.    2.  Teil.    Leipzig  1891. 


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-    147  - 

Gebiet  zu  erweitern,  indem  sie  es  auch  zur  Vorbildung  der  künf- 
tigen wissenschaftlich  gebildeten  Techniker  geeignet  machen, 
so  wird  sich  dieses  Gebiet  sehr  bald  verkleinern  und  enger  begrenzen. 
Stillstand  ist  hier  Rückgang.    Die  angewandte  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft ist  in  unserm  Jahrhundert  eine  Macht  geworden,  mit  der  man  rechnen 
mufs.    Jetzt  sind  auf  diesem  weiten  Gebiete  noch  Männer  thätig,  welche 
den  Wert  der  humanistischen  Schulbildung  zu  schätzen  wissen.    Die  nächste 
Generation  wird  dies  weniger  thun.    Versäumt  man  die  Zeit,  sie  zu  ge- 
winnen, so  fallen  nach  ihnen  sicher  auch  die  Mediziner  ab,  und  im  2osten 
Jahrhundert  verzichten  dann  wohl  auch  die  Juristen  und  vielleicht  sogar 
die  Theologen  auf  die  Kenntnis  des  Griechischen.«    Aber  es  ist  natürlich 
nicht  allein  die  Schulpolitik,  welche  Lothar  Meyers  Urteil  bestimmt,  sondern 
vor  allem  die  Überzeugung,  dafs  kein  innerer  Grund  vorhanden  sei, 
die  technische  Hochschule  anders  zu  behandeln  als  die  Uni- 
versität.   In  dieser  Ansicht  tritt  ihmein  anderes  Mitglied  unseres  Vereins, 
der  Professor  der  Mathematik  Dr.  Alex.  Brill  in  Tübingen,  zur  Seite.  In 
seinem  Vortrage  über  »die  Schulreform  und  den  Unterricht  in  Mathematik  und 
Zeichnen  auf  dem  Gymnasium,«  erschienen  1890  in  Darmstadt  bei  L.  Brill,  sagt 
er  S.  20:  >Wie  die  Technik  selbst  aus  dem  niederen  Stande  handwerksmäfsigcr 
Routine  sich  zu  einer  Anwendung  der  Mathematik,  Physik,  Chemie  empor- 
geschwungen hat,  so  haben  die  technischen  Hochschulen  sich  der  Univer- 
sität an  die  Seite  gestellt  und  verlangen  vom  Staate  gleiche  Pflege  und 
gleiche  Rücksicht,  wie  sie  die  alma  mater  geniefst.   Wenn  es  nun  möglich 
erscheint,  die  Vorbildung  der  Ersten  in  den  technischen  Berufszweigen  dem 
Gymnasium  durch  kleine  Änderungen  des  Lehrplanes  zu  erhalten,  und 
wenn  durch  sie  zugleich  den  Ausstellungen  der  Mediziner  an  der  Universität 
und  aller,  die  an  das  Auge  der  Studierenden  Anspruch  erheben,  Rechnung 
getragen  wird,  so  dürfte  ein  Versuch  in  der  angegebenen  Richtung  sich 
lohnen.«    Die  kleinen  Änderungen  des  gymnasialen  Lehrplans,  die  Brill 
meint,  sind  dieselben  wie  die  auch  von  Lothar  Meyer  empfohlenen:  nicht 
Vermehrung  der  Stundenzahl  in  Mathematik  und  Naturwissenschaften,  aber 
Besserung  der  Methode  in  diesen  Fächern  und  Anerkennung  des  gleichen 
Wertes   einer  mathematisch- naturwissenschaftlichen  Schulung  neben  der 
sprachlich-historischen,  Einführung  in  die  französische  und  englische  Sprache 
(S.  11)  und  vor  allem  Erweiterung  des  Zeichenunterrichts  als  des  besten 
Mittels,  das  Auge  und  die  Anschauung  zu  üben.    Insbesondere  tritt  Brill 
lebhaft  und  überzeugend  dafür  ein,  die  Elemente  der  darstellenden  Geo- 
metrie —  oder,  wie  man  vielleicht  besser  sagt,  die  Projektionslchre  —  in 
den  gymnasialen  Lehrplan  aufzunehmen.    In  der  Münchner  Allgemeinen 
Zeitung  vom  27.  Januar  1S91   hat  er  mit  Rücksicht  auf  die  in  Baiern  ins 
Auge  gefalste  Schulreform  noch  einmal  in  eingehender  Ausführung  diese 
Forderung  begründet. 

Weit  abweichend  wird  der  Grundgedanke  des  Einheitsschulvereins 
ausgestaltet  von  Juling  in  der  Abhandlung  »Das  Gymnasium  mit  zehn- 
jährigem Kursus«  (Heft  7  der  Vereinsschriften)  Sein  Grundsatz  ist:  Jedem 
Schüler  seine  Schule,  jeder  Schule  ihre  Schüler,  und  er  glaubt 

10* 


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ihn  verwirklichen  zu  können  durch  Hinaufschiebung  des  Lateinischen  in 
die  Quarta  und  Herstellung  eines  gemeinsamen  Unterbaus  aller  Schularten 
bis  zur  Quinta  einschliefslich.  Dagegen  erklärt  er  mit  vollem  Recht  den 
sechsjährigen  Unterbau  (die  sog.  einheitliche  Mittelschule)  für  unausführbar, 
ja  er  hält  seinen  eigenen  Vorschlag  nur  dann  für  praktisch,  wenn  man  das 
Gymnasium  von  dem  jetzt  neunjährigen  auf  einen  zehnjährigen  Lehrgang 
erweitert.  Denn  nur  so  wird  es  ihm  möglich,  dem  Lateinischen  noch  acht, 
dem  Griechischen  sechs  Jahrgänge  zu  lassen,  was  er  mit  Recht  für  not- 
wendig erklärt.  Als  Vorteile  dieser  Reform  giebt  er  folgende  an:  Ersten» 
braucht  man  nicht  vor  dem  Eintritt  in  die  Quarta  zwischen 
Gymnasium  oder  Realschule  zu  wählen.  Aber  dieser  Vorteil  ist 
nichtig;  denn  der  elfjährige  Knabe  kann  sich  selbst  ebenso  wenig  für  einen 
Berufskreis  entscheiden  wie  der  neunjährige,  und  wenn  die  Eltern  schon 
frühzeitig  den  künftigen  Beruf  ihres  Sohnes  wissen,  so  ist  das,  wie  Juling 
selbst  anführt,  aus  Gründen  der  Fall,  die  auch  zwei  Jahre  vorher  schon 
ganz  in  derselben  Weise  wirken  müssen  (vergl.  S.  26  unten).  Zweitens 
werden  unbegabte  Kinder  aus  niederen  Ständen  nicht  mehr 
auf  dem  Gymnasium  festgehalten,  und  umgekehrt  werde n  hoch- 
begabte, aber  wenig  bemittelte  Schüler  dem  Gymnasium 
leichter  zugeführt.  Schwache  Schüler,  wes  Standes  sie  auch 
seien,  können  vor  dem  Eintritt  ins  Gymnasium  entfernt  werden, 
tüchtige  finden  den  Weg  dahin  leichter.  Aber  weshalb  ist  hiezu 
ein  Unterbau  nötig?  Es  ist  sehr  leicht,  der  höheren  Bürgerschule  Neben- 
kurse zuzufügen,  welche  die  Notwendigkeit  der  Wahl  selbst  bis  Untertertia 
hinausschieben  und  die  Auswahl  der  tüchtigen  Schüler  für  das  Gymnasium 
noch  mehr  erleichtern  als  Julings  allzu  kleiner  Unterbau.  Und  wird  die 
liebe  Eitelkeit  der  Eltern,  von  der  doch  Juling  selbst  S.  27  spricht,  nicht 
den  bequemen  Weg  zum  Gymnasium  häufiger  als  wünschenswert  betreten? 
Andererseits  wird  das  Gymnasium  dann  immer  am  frühsten  und  sichersten 
ungeeignete  Schüler  entfernen  können,  wenn  es  von  vornherein  auf  seinen 
eigentlichen  Zweck,  Gelehrtenschule  zu  sein,  eingerichtet  wird,  wenn  es 
also  das  Lateinische  in  Sexta  behält.  Aber  wenn  man  auch  für  die  be- 
sonders schwachen  und  die  besonders  begabten  Schüler  zugeben  will,  dafs 
Julings  Reform  einigen  Vorteil  biete :  Die  Entscheidung  über  das  Mittelgut 
der  Schüler  aus  besseren  Ständen,  d.  h.  über  die  grofse  Hauptmasse  der 
Gymnasialschüler,  wird  nach  seinem  eigenen  Zugeständnis  auch  beim  Ein- 
tritt in  Quarta  noch  zweifelhaft  bleiben;  im  grofsen  und  ganzen  sind  also 
die  Vorteile  eines  so  kurzen  Unterbaus  nichtig.  Auch  das  hilft  nicht  weiter, 
dafs  für  die  nächsten  zwei  Jahre  der  Unterschied  beider  Schularten  bei 
Juling  noch  ziemlich  gering  bleibt;  denn  auch  dieses  ist  ohne  Unterbau 
ebenfalls  erreichbar.  Und  wenn  endlich  Juling  ausführt,  dafs  sein  zehn- 
jähriges Gymnasium  wirklich  von  allen  Schülern  in  zehn  Jahren  durch- 
gemacht werden  könne  (vrgl.  bes.  S.  61  f.),  so  bin  ich  fast  zweifelhaft,  ob 
er  das  selbst  glaubt.  Denn  wenn  er  meint,  dafs  in  die  Quarta  wegen 
Sitzenbleibens  häufig  12-,  zum  Teil  13  jährige  Schüler  kommen  werden,  und 
dafs  die  Schüler  seiner  künftigen  höheren  Bürgerschulen  den  Einjährigen- 


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i 


schein  oft  erst  ein  Jahr  später  oder  mit  17—18  Jahren  erreichen  werden, 
sollte  dann  nicht  auch  in  den  Gymnasialklassen  das  Sitzenbleiben  häufig 
vorkommen?  Und  jedenfalls  werden  doch  alle  die,  die  in  Sexta  oder 
Quinta  sitzen  bleiben,  ohne  abzugehen,  mehr  als  zehn  Jahre  für  das  ganze 
Gymnasium  nötig  haben.  In  Wirklichkeit  würde  ohne  Zweifel  das  zehn- 
jährige Gymnasium  auch  das  Durchschnittsalter  der  Abgehenden  etwa  um 
ein  Jahr  erhöhen.  Darauf  aber  wird  niemand  gern  eingehen,  da  ohnehin 
schon  der  Bildungsgang  der  gelehrten  Stände  sehr  lang  ist. 

Trotz  aller  dieser  Bedenken  hat  neuerdings  auch  Fr  ick,  der  früher 
anderer  Meinung  war,  sich  dem  Gedanken  Julings  angeschlossen  und  im 
26.  Hefte  der  Lehrproben  ebenfalls  ein  zehnjähriges  Gymnasium  mit  einem 
zweijährigen  Unterbau,  den  es  mit  allen  höheren  Schulen  gemeinsam  haben 
soll,  verteidigt.  Aber  seine  Begründung  weicht  von  der  Julings  ab.  Er 
findet  den  allgemeinen  Fehler  des  bestehenden  Schulwesens  darin,  dafs  ihm 
der  Charakter  des  Organischen  fehlt,  und  glaubt  durch  den  Unterbau  das 
gesamte  Schulwesen  zu  einem  Organismus  zu  verbinden.  So  sehr  ich  sonst 
mit  ihm  übereinstimme,  hier,  fürchte  ich,  liegt  ein  Irrtum  vor. 

In  der  Naturwissenschaft  heifst  jeder  geformte  und  an  sich  individuelle 
Teil  eines  lebendigen  Ganzen  ein  Organ,  und  jede  Verbindung  einer  An- 
zahl verschiedener  Organe  zu  einem  lebensfähigen  Ganzen  ein  Organismus. 
Die  wesentlichen  Merkmale  des  Organischen  im  Gegensatz  zum  Unorga- 
nischen sind  also  1)  das  Leben,  d.  h.  die  Selbsterhaltung  und  Selbstcnt- 
faltung  der  Gesamtheit  vermöge  der  zusammenwirkenden  Thätigkeiten  der 
zu  ihr  gehörenden  Organe,  und  2)  die  eigentümlich  innige  und  doch  freie 
Verbindung  der  Organe  in  dem  Ganzen,  vermöge  deren  jedes  Organ, 
wenn  es  abgelöst  wird,  eine  tote  Masse  bildet,  ohne  dafs  es  doch  inner- 
halb der  Gesamtheit  die  individuelle  Bestimmtheit  seines  Wesens  verlöre. 
Dabei  bestehen  die  Organe  wieder  aus  einfacheren  Organen  bis  herab  zum 
Elementarorgan  der  Zelle,  so  dafs  jedes  von  ihnen  wieder  einen  dem 
Organismus  ähnlichen  Bau  hat  und  eine  in  der  Gesamtidee  des  Ganzen 
enthaltene  Teilidee  selbstthätig  auswirkt.  Versucht  man  nun  die  Über- 
tragung dieser  naturwissenschaftlichen  Vorstellungsweise  auf  das  Schul- 
wesen, so  leuchtet  zunächst  ein,  dafs  dieses  kein  Organismus  ist,  sondern 
nur  Teilorgan  des  Bildungswesens,  d.  h.  der  Gesamtheit  von  Veranstaltungen, 
welche  der  Sozialkörper  aus  sich  erzeugt,  um  die  kommende  Generation 
auf  die  Bildungshöhe  der  scheidenden  zu  heben.  Das  Bildungswesen 
selbst  ist  aber  ebenfalls  nur  ein  Organ  des  Sozialkörpers;  erst  dieser  ist 
ein  zu  selbständigem  Leben  fähiger  Organismus.  Soll  also  das  Bildungs- 
wesen organisch  gestaltet  werden,  so  mufs  es  erstens  alle  Teilorgane  haben, 
die-  zur  selbstthätigen  Auswirkung  seiner  besonderen  Idee  nötig  sind,  und 
diese  müssen  in  der  rechten  Weise  unter  einander  verbunden  sein;  zweitens 
mufs  es  zu  dem  Sozialkörper  in  jenem  freien  und  doch  innigen  Verhältnis 
stehen,  welches  durch  das  Ineinander  einer  Gesamtidee  mit  ihren  Teilidcen 
aasgedrückt  wird.  Bei  der  Verbindung  der  Organe  unter  einander  und 
mit  dem  Sozialkörper  ist  aber  ein  wesentlicher  Unterschied  von  dem 
natürlichen  Organismus  nicht  zu  übersehen.    Nach  Willmann  (Didaktik  ly 


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-    i5o  — 


S.  50  >st  der  Sozialkörper  nicht  nur  ein  Komplex  geistiger  Kräfte,  sondern 
auch  ein  geistiger  Komplex  von  Kräften  ;  die  Organe  also,  aus  denen  er 
besteht,  brauchen  nicht  wie  die  des  natürlichen  Körpers  mit  einander  in 
einer  räumlichen  und  stofflichen  Verbindung  zu  stehen,  sondern  nur  in 
einer  geistigen  und  ideellen.  Seitdem  nun  die  Gymnasialseminare  einge- 
richtet sind,  hat  das  Bildungswesen  in  Preufsen  alle  zur  Verwirklichung 
seiner  Idee  nötigen  Organe,  nur  fehlt  noch  an  mehr  als  einer  Stelle  ihre 
feste  Fügung.  Das  Gymnasium  mufs  durch  Reform  der  Reifeprüfung  und 
des  gesamten  Unterrichtsbetriebes  der  Hochschule  mehr  genähert  und  zu- 
gleich die  Vorschule  an  das  Gymnasium  enger  angeschlossen  werden,  damit 
diese  für  das  Gymnasium  und  das  Gymnasium  wieder  für  die  Hochschule 
die  vollkommen  entsprechende  Grundlage  bilde;  andererseits  mufs  die 
Hochschule  mehr  als  bisher  Rücksicht  nehmen  auf  die  Bedürfnisse  der 
Schulen,  für  die  sie  die  Lehrkräfte  wissenschaftlich  vorbilden  soll.  Mit 
Hülfe  der  Gymnasialseminare  mufs  ferner  die  akademisch  gebildete  Lehrer- 
schaft mit  dem  gleichen  methodischen  und  pädagogischen  Streben  erfüllt 
werden  wie  die  seminaristisch  gebildete,  und  damit  mufs  ein  organisches 
Zusammenwirken  beider  Teile  des  Lehrerstandes  ermöglicht  werden.  Nur 
so  werden  die  Teilorgane  des  Bildungswesens  fähig,  die  Idee  desselben 
zusammenwirkend  zu  erfüllen;  aber  das  gesamte  Bildungswesen  mufs  auch 
als  Organ  des  Sozialkörpers  zu  diesem  in  organischer  Verbindung  stehen. 
Es  mufs  der  Berufsbildung  nach  allen  Seiten  hin  gerecht  werden  ;  jeder 
Berufskreis  mufs  die  ihm  angemessene  allgemeine  Vorbildung,  jeder  Einzel- 
beruf die  rechte  Fachbildung  erhalten.  Indem  das  Bildungswesen  so  dem 
Gesamtleben  des  Sozialkörpers  dient,  wird  es  ein  wesentliches  Organ  des- 
selben und  erhält  dafür  von  Seiten  der  Gesamtheit  Nahrung  und  Schutz. 
Da  ferner  in  der  menschlichen  Gesellschaft  alle  Kräfte  nur  in  Personen 
leben,  so  gehört  zu  dem  richtigen  Verhältnis  des  Bildungswesens  zum 
Sozialkörper  auch  die  rechte  gesellschaftliche  und  wirtschaftliche  Stellung 
des  Standes  der  Schulmänner  unter  den  übrigen  Ständen  des  Volkes.  In 
allen  diesen  Beziehungen  giebt  es  noch  viel  zu  bessern,  auch  manches  in 
der  Schuiverwaltung ;  denn  dafs  eine  organische  Gestaltung  des  Bildungs- 
wesens auch  auf  diese  einwirken  würde,  liegt  auf  der  Hand. 

Diese  Andeutungen  mögen  genügen,  um  zu  zeigen,  wie  meiner  Auf- 
fassung nach  eine  organische  Gestaltung  des  Bildungswesens,  die  auch  ich 
für  notwendig  halte,  zu  gewinnen  wäre.  Frick  aber  begeht,  wenn  ich  nicht 
irre,  einen  doppelten  Irrtum.  Erstens  erwartet  er  eine  organische  Gestaltung 
des  Schulwesens  von  einer  äufserlich-räumlichen  Verbindung  der  Schularten 
in  einem  allen  gemeinsamen  Unterbau,  während  es  nach  obigem  doch  nur 
auf  ein  ideelles  Zusammenwirken  ankommt;  zweitens  nimmt  er  den  Stand- 
punkt zu  niedrig,  indem  er  nur  von  einem  organischen  System  der  Schulen 
spricht,  während  diese  doch  nicht  mehr  als  Teilorgane  des  Bildungswesens, 
eines  Organes  des  Sozialkörpers,  sind.  Wie  sich  nun  aber  im  natürlichen 
Organismus  die  Organe  nicht  beliebig  zu  Gesamtorganen  verschmelzen 
lassen,  z.  B.  nicht  einmal  die  beiden  Füfse  des  menschlichen  Leibes  oder 
die  Füfse  mit  den  Händen,  ohne  ihre  Wirksamkeit  zu  vernichten,  so  ist  es 


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—    i5i  — 


auch  mit  den  Teilorganen  des  Bildungswesens,  insbesondere  mit  den  beiden 
Schularten.  In  sich  mufs  jede  von  ihnen  organisch  gestaltet  werden,  will 
man  sie  aber  zu  einem  Gesamtorgan  verbinden,  so  gefährdet  man  ihre 
innere  Organisation.  Bisher  klagte  man  über  allzu  verschiedenes  Schüler- 
material in  den  Unterklassen  des  Gymnasiums  und  hielt  die  Beseitigung 
dieses  Mangels  für  eine  Lebensfrage  desselben;  in  dem  von  Frick  em- 
pfohlenen Unterbau  würde  das  Material  noch  weit  verschiedener  sein,  und 
eine  organische  Gestaltung  des  Unterrichts  wäre  so  gut  wie  unmöglich. 
Ferner  begrüfste  man  es  bisher  als  einen  Vorzug,  wenn  ein  Gymnasium 
eine  besondere  Vorschule  erhielt,  weil  dann  der  Elementarunterricht  mit 
den  folgenden  Unterrichtsstufen  in  weit  engere  Verbindung  zu  bringen  ist, 
zum  Teil  sogar  so,  dafs  dieselben  Lehrer  bleiben,  und  weil  den  künftigen 
Schülern  des  Gymnasiums,  die  ja  zu  Hause  weit  bessere  Unterstützung 
haben  als  die  Volksschüler,  auch  entsprechend  weniger  und  anders  ge- 
arteter Unterricht  gegeben  werden  kann.  Fricks  Vorschlag  würde  beides 
unmöglich  machen;  sowohl  der  organische  Anschlufs  des  Schulwesens  an 
die  Gesellschaft,  wie  der  organische  Aufbau  des  Unterrichts  in  der  ein- 
zelnen Schulart  würde  gefährdet.  Denn  die  für  alle  Schularten  bestimmte 
Unterstufe  könnte  keinen  organisch-engen  Anschlufs  an  eine  einzelne  Schul- 
art gewinnen.  Dies  würde  aber  um  so  bedenklicher  sein,  je  umfangreicher 
und  vielgestaltiger  der  Bildungsstoff  ist,  den  unsere  Schulen,  zumal  die 
Gymnasien,  gegenwärtig  verarbeiten  müssen.  Nur  wenn  man  von  An- 
fang an  mit  ganzer  Kraft  und  allen  Mitteln  auf  ein  klar  be- 
grenztes Ziel  hinarbeitet,  wird  die  pädagogische  Aufgabe  des 
heutigen  Gymnasiums  lösbar  bleiben.  Am  besten  wird  das  Bildungs- 
wesen seine  Idee  erfüllen,  wenn  seine  Organe  einheitlich  und  geschlossen 
nach  den  ihnen  im  Zusammenhange  mit  dem  Ganzen  zufallenden  Teilideen 
organisch  gestaltet  sind.  Jede  Vermischung  der  Ideen  aber,  jede  Ver- 
kürzung des  einheitlich  organisierten  Lehrgangs  enthält  bei  der  heutigen 
Lage  der  Dinge  eine  schwere  pädagogische  Gefahr.  Deshalb  glaube  ich, 
dafs  Julings  und  Fricks  Vorschlag  nicht  das  Richtige  trifft.  Vielmehr  ist 
jeder  Unterbau  für  alle  höheren  Schulen  meiner  Meinung  nach  zu  ver- 
werfen. Hiermit  sind  die  eigentümlichen  Ausgestaltungen,  welche  der 
Hauptgedanke  des  Vereins  im  vergangenen  Jahre  gefunden  hat,  erschöpft. 
Daneben  sind  noch  mehrere  Einzelfragen  von  Mitgliedern  des  Vereins 
behandelt.  In  Obereinstimmung  mit  Lothar  Meyer,  der  an  dem  oben 
angeführten  Orte  auch  das  Berechtigungswesen  einer  Besprechung  unter- 
zieht, fordert  Dr.  E.  Lange  im  69.  Hefte  der  Zeit-  und  Streitfragen 
eine  gründliche  Reform  des  Berechtigungswesens,  insbesondere  der 
Bestimmungen  über  die  Berechtigung  zum  einjährigen  Heeresdienst. 
Diese  soll  nach  Lange  und  Lothar  Meyer  nur  in  Verbindung  mit  dem 


*)  Ausgenommen  wohl  der  elementare  Unterbau,  welcher  fllr  alle  Schularten  derselbe 
»ein  K>U  und  sein  kann  und  am  besten  die  vier  ersten  Schuljahre  umfafst.  (S.  »Pädagogik 
üa  Gnmdrifs«,  Stuttgart,  Cdschen  1890,  S.  30  f.  Vergl.  K3ile,  Die  allg.  Volksschule  oder  Bin- 
aeitMchole.   Stuttgart,  E.  Paulus,  1891.   D.  H. 


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-    152  - 

Keifezeugnis  erteilt  werden.  Dann  werde  das  »Ersitzen«  des  Scheines 
aufhören,  kleine  Gymnasien  werden  an  Schulerzahl  abnehmen  und  in 
höhere  Bürgerschulen  übergehen,  die  Unter-  und  Mittelklassen  der  Gym- 
nasien werden  nicht  mehr  so  an  Überfüllung  und  an  ungeeignetem  Schüler- 
material leiden,  die  Überbürdung  werde  daher  auch  geringer  werden 
und  die  Berufsfreudigkeit  der  Lehrer  mit  den  wachsenden  Erfolgen  des 
Unterrichts  zunehmen.  Dafs  die  blofse  Vermehrung  der  Zahl  der  höheren 
Bürgerschulen  schon  entlastend  auf  die  Gymnasien  wirkt  und  auch  das 
Frequenzverhältnis  zwischen  den  unteren  und  oberen  Klassen  verbessert, 
weist  Lange  zahlenmäfsig  nach  an  dem  Beispiele  Sachsens;  natürlich  wird 
diese  Besserung  noch  gröfser  werden,  wenn  man  auch  die  Berechtigungen 
der  höheren  Bürgerschulen  vermehrt. 

Eine  andere  hervorragende  Einzelfrage,  die  Besserung  der  Körper- 
pflege, betrifft  Raydts  Vortrag  :  >Mehr  Erziehung  für  die  deutsche  Jugend«, 
in  welchem  er  aufs  neue  für  die  Gedanken  eintritt,  die  er  in  seinem  be- 
kannten gröberen  Buche  »Ein  gesunder  Geist  in  einem  gesunden  Körper« 
ausführlicher  dargelegt  hat. 

Ich  könnte  noch  manche  andere  Einzelschrift  nennen;  ich  begnüge 
mich  jedoch  hiemit.  Doch  möchte  ich  noch  darauf  hinweisen,  dafs  auch  in 
unserem  Vereine  natürlich  die  Stellungnahme  in  dem  Reformstreit  der 
Gegenwart  ihre  tiefere  Begründung  in  allgemeinerem  pädagogischen  Denken 
findet.  Eine  dahin  gehörige  Arbeit  ist  die  klare  und  umfassende,  durch 
Kürze  und  Übersichtlichkeit  ganz  besonders  ausgezeichnete  »Pädagogik  im 
Grundrifs«  von  Rein.  Auch  die  Reformbewegung  erfährt  in  diesem  Büch- 
lein eine  sehr  instruktive  Darstellung.  Aufscrdem  möchte  ich  aber  noch 
besonders  auf  zwei,  wie  mir  scheint,  hochbedeutende  Werke  hinweisen, 
die  Eucken  1888  und  1890  herausgegeben  hat:  »Die  Einheit  des  Geistes- 
lebens in  Bewufstsein  und  That  der  Menschheit«  und  »Die  Lebensanschau- 
ungen der  grofsen  Denker.«  Ich  kann  auf  den  reichen  und  tiefen  Inhalt 
dieser  Schriften  hier  nicht  näher  eingehen.  Der  Begriff  der  Personalität 
aber,  mit  dessen  Hülfe  Eucken  den  Gegensatz  zwischen  Naturalismus  und 
Intellektualismus  aufzulösen  sucht,  kann  meiner  Meinung  nach  auch  für  die 
Weiterführung  des  pädagogischen  Denkens  grundlegend  werden. 

Doch  die  litterarische  Arbeit  des  Vereins,  so  lebhaft  sie  auch  war,  ist 
im  vorigen  Jahre  nicht  seine  Hauptthätigkeit  gewesen  und  hat  seinen  Er- 
folg nicht  hauptsächlich  bedingt.  Das  Wichtigste  war  vielmehr  seine  Teil- 
nahme an  der  Schulreformkonferenz,  welche  vom  4.  bis  17.  Dezember 
vorigen  Jahres  im  Kultusministerium  zu  Berlin  versammelt  war.  Der  Verein 
war  hier  durch  vier  Mitglieder  vertreten,  den  Geheimen  Oberschulrat  Prof. 
Dr.  Schiller,  den  Professor  und  Gymnasialdirektor  Dr.  Uhlig,  den 
Direktor  der  Franckeschen  Stiftungen  Dr.  Frick  und  den  Unterzeichneten. 
Jeder  von  uns  hatte  ein  Referat  erhalten,  die  Hauptberichte  zu  den  ersten 
drei  grundlegenden  Fragen  waren  in  unseren  Händen.  In  der  That  be- 
zeichnen die  Beschlüsse  der  Konferenz  einen  bedeutenden  Erfolg  unserer 
Bestrebungen,  zumal  Seine  Majestät  der  Kaiser  selbst  sich  im  ganzen  mit 
ihnen  einverstanden  erklärt  und  befohlen  hat,  sie  den  weiteren  Beratungen 


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über  die  Schulreform  zu  Grunde  zu  legen.  Wir  können  deshalb  erwarten, 
dafs  sie  nicht  auf  dem  Papiere  stehen  bleiben  werden.  Völlig  erreicht  ist 
freilich  das  Ziel  des  Vereins,  so  wie  es  der  Unterzeichnete  auffalst,  noch 
nicht,  aber  jedenfalls  wird  die  Entwickelung  unseres  höheren  Schulwesens 
jetzt  auf  den  Weg  geleitet  werden,  den  der  Verein  für  richtig  hält.  Was 
die  Gesamteinrichtung  des  höheren  Schulwesens  betrifft,  so  hat  Seine 
Majestät  der  Kaiser  seine  Willensmeinung  dahin  ausgesprochen,  dafs  das 
Realgymnasium  eingehen  und  das  Gymnasium  nebst  der  lateinlosen  Real- 
schule die  einzigen  Arten  der  höheren  Schulen  werden  sollen.  Die  Kon- 
ferenz hat  in  ihrer  Mehrheit  diesem  Gedanken  zugestimmt  und  dann  die 
Berechtigungen  so  verteilt,  dafs  die  beiden  Schularten  möglichst  gleich- 
wertig erscheinen.  Es  wurden  nämlich  folgende  Sätze  angenommen:  i)  Das 
von  einem  Gymnasium  ausgestellte  Zeugnis  der  Reife  berechtigt  zu 
sämtlichen  Fakultätsstudien  und  zur  Zulassung  zu  den  diese  Studien  voraus- 
setzenden Prüfungen  für  Ämter  im  Staats-  und  Kirchendienst  einschliefslich 
des  medizinischen  Berufs,  sowie  zu  dem  höheren  Berg-,  Bau-,  Maschinen- 
bau-, Schiffsbau-,  Post-  und  Forstfach.  Für  die  Studien  auf  den  technischen 
Hochschulen  ist  das  von  einem  Gymnasium  ausgestellte  Reifezeugnis 
durch  den  Nachweis  hinreichender  Fertigkeit  im  Zeichnen,  eventuell  hin- 
reichender Fertigkeit  in  Mathematik  und  Naturwissenschaften  zu  ergänzen. 
—  2)  Das  von  einer  auf  neun  Jahreskurse  berechneten  Schule 
realistischen  Charakters  ausgestellte  Reifezeugnis  berechtigt  zum 
Studium  an  technischen  Hochschulen,  sowie  zu  dem  höheren  Berg-,  Bau-, 
Maschinenbau-,  Schiffsbau-,  Post-  und  Forstfach,  und,  wenn  an  diesen  An- 
stalten Unterricht  im  Lateinischen  erteilt  wird,  auch  zum  Universitätsstudium 
der  Mathematik  und  Naturwissenschaften.  Für  die  unter  1)  bezeichneten 
Fakultätsstudien  und  Prüfungen  ist  das  von  einer  auf  neun  Jahreskurse 
berechneten  Schule  realistischen  Charakters  ausgestellte  Reifezeugnis  zu 
ergänzen  durch  den  Nachweis  hinreichender  Bildung  in  den  alten  Sprachen. 
So  soll  also  die  technische  Hochschule  der  Oberrealschule,  die  Universität 
dem  Gymnasium  zufallen,  die  Zweiheit  der  Vorbildung  für  die  letztere,  die 
seit  1870  bestand,  ist  aufgehoben,  allerdings  mit  der  seltsamen  In- 
konsequenz, dafs  für  Mathematik  und  Naturwissenschaften  auch  das 
keifezeugnis  der  Oberrealschule  neben  dem  des  Gymnasiums  berechtigen 
soll,  wenn  Latein  an  ihr  betrieben  wird.  Auch  für  die  technische  Hoch- 
schule ist  die  bisher  bestehende  Zweiheit  der  Vorbildung  formell  auf- 
gehoben, da  zunächst  nur  die  Oberrealschule  zu  ihr  hinführt;  doch  wird 
thatsächlich  die  vom  Gymnasialabiturienten  geforderte  Nachprüfung  nur 
selten  jemand  zurückhalten,  da  sie  leicht  ist,  jedenfalls  sehr  viel  leichter 
als  die  Ergänzungsprüfung,  durch  weiche  die  von  der  Oberrealschule  Ent- 
lassenen die  Berechtigung  zu  Fakultätsstudien  erwerben  können.  Wer  also 
auch  für  die  technische  Hochschule  wirklich  Einheit  der  Vorbildung  er- 
strebt, und  noch  mehr,  wer  wie  der  Unterzeichnete  mit  Lothar  Meyer  für 
richtig  hält,  dafs  alle  gelehrten  Berufsarten  einschliefslich  der  technischen 
gleiche  Vorbildung  erhalten,  wird  über  die  Beschlüsse  der  Konferenz  noch 
hinausgehen  wollen  zu  einem  > Einheitsgymnasium«,  welches  zur  Universität 


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und  zur  technischen  Hochschule  gleichmäfsig  vorbereitet,  unter  den  Ver- 
tretern der  technischen  Hochschule  und  den  Technikern  selbst  sind  die 
Meinungen  hierüber  geteilt.  Die  höheren  technischen  Staatsbeamten  streben 
meistens,  entweder  weil  sie  die  humanistische  Vorbildung  auch  Air  den 
Techniker  wünschen,  oder  weil  sie  nicht  anders  und  nicht  geringer  vor- 
gebildet sein  möchten  als  die  übrigen  höheren  Staatsbeamten,  nach  Er- 
weiterung der  unbedingten  Berechtigung  des  Gymnasiums  auch  auf  die 
technischen  Studien  und  nach  Abweisung  der  Berechtigung  der  Oberreal- 
schule zu  dieser.  Die  Privattechniker  dagegen  stehen  in  ihrer  Mehrheit 
auf  dem  entgegengesetzten  Standpunkte.  Da  diese  aber  keine  Staats- 
prüfungen zu  machen  Veranlassung  haben,  so  geht  der  Beschlufs  der  Kon- 
ferenz eigentlich  nur  die  höheren  technischen  Staatsbeamten  an,  die  Hoffnung 
ist  also  vielleicht  nicht  unberechtigt,  dafs  deren  Wünsche  in  der  endgültigen 
Ordnung  der  Berechtigungen  trotz  des  Beschlusses  der  Dezemberkonferenz 
noch  Berücksichtigung  finden.  Dann  würde  also  das  Ziel  des  Vereins  völlig 
erreicht  sein,  auch  in  dem  weiteren  Sinne,  den  die  Beschlüsse  unserer 
Hauptversammlung  zu  Kassel  bezeichneten. 

Aber  der  Verein  hat  es  nie  für  möglich  gehalten,  dem  Gymnasium  so, 
wie  es  jetzt  ist,  diese  umfassenden  Berechtigungen  zu  gewähren.  Als  Be- 
dingung dafür  hat  er  vielmehr  eine  tief  eingreifende  Reform  des  gesamten 
Betriebes  und  in  geringerem  Mafse  auch  der  Stundenverteilung  am  Gym- 
nasium betrachtet.  Auch  in  dieser  Beziehung  bezeichnen  die  Beschlüsse 
der  Schulkonferenz  einen  sehr  bedeutenden  Fortschritt.  Denn  sie  hat 
folgende  Sätze  angenommen:  i)  Eine  Herabsetzung  der  Unterrichtsstunden 
in  den  alten  Sprachen  ist  möglich,  wenn  als  das  Hauptziel  die  Einführung 
in  die  klassischen  Schriftsteller  allgemein  erstrebt  wird,  und  die  gramma- 
tischen Übungen  wesentlich  als  Mittel  dazu  dienen.  2)  Der  lateinische 
Aufsatz  kommt  als  Zielleistung  in  Wegfall;  3)  Die  griechische  schriftliche 
Versetzungsarbeit  für  Prima  kommt  in  Wegfall.  4)  Die  Einführung  des 
Englischen  in  die  Gymnasien  ist  zu  empfehlen,  fakulativ  oder  obligatorisch, 
je  nach  den  örtlichen  Verhältnissen.  5)  Es  empfiehlt  sich,  das  Zeichnen  in 
den  Gymnasien  über  Quarta  hinaus  (bis  Untersekunda  einschliefslich)  obli- 
gatorisch zu  machen.  6)  Es  empfiehlt  sich,  das  Zeichnen  in  Sexta  weg- 
fallen zu  lassen.  7)  Auf  den  Unterricht  im  Deutschen  ist  unter  allen  Um- 
ständen der  gröfste  Nachdruck  zu  legen,  die  Stundenzahl  soweit  thunlich 
zu  vermehren,  vor  allem  aber  die  Vervollkommnung  des  deutschen  Aus- 
drucks in  allen  Lehrstunden  und  insbesondere  bei  den  Übersetzungen  aus 
den  fremden  Sprachen  zu  erstreben.  Wenn  diese  Beschlüsse  ausgeführt 
werden,  sind  der  Hauptsache  nach  die  Forderungen  zugestanden,  die  z  B 
Lothar  Meyer  und  Alex.  Brill  in  den  oben  angeführten  Schriften  wiederum 
aufgestellt  haben.  Die  weitere  Reformarbeit  wird  sich  also  hier  haupt- 
sächlich darauf  beziehen  müssen,  dafs  die  beabsichtigten  Veränderungen 
nicht  äufserlich  bleiben,  dafs  z.  B.  nicht  blofs  die  Stundenzahl  für  das 
Lateinische  beschränkt  und  der  lateinische  Aufsatz  in  der  Reifeprüfung  ab- 
geschafft wird,  sondern  auch  der  gesamte  Betrieb  des  Lateinischen  eine 
entsprechende  Neugestaltung  erfährt.   Es  werden  ferner  die  grofsen  Grund- 


sätze  der  Anschaulichkeit  des  Unterrichts,  des  induktiven  Lehrverfahrens, 
der  Verbindung  des  Sach-  und  des  Sprachunterrichts,  des  Ausgehens  von 
der  Heimat,  der  Konzentration  und  der  Beziehung  alles  Unterrichts  auf 
Anbahnung  eines  geschichtlichen  Verständnisses  der  Gegenwart  mehr  und 
mehr  in  die  Praxis  des  Unterrichts  eingeführt  und  organische  Lehrpläne 
ausgebildet  werden  müssen.  Um  hierauf  zu  wirken,  werden  die  neuen 
Gymnasialseminare  ein  Hauptmittel  sein;  diese  zu  fördern,  ist  daher  eben- 
falls ein  Hauptziel  weiterer  Reformarbeit.  Das  Jahr  1890  hat  für  beide 
Aufgaben  bedeutende  Arbeiten  gebracht,  auf  die  der  Verein  stolz  sein 
kann:  für  die  Förderung  der  neuen  Seminare  teils  einige  Aufsätze  von 
Frick  und  Meier  in  den  Lehrproben,  teils  Schillers  Darlegungen  in  der 
»Sammlung  Pädagogischer  Abhandlungen  von  Frick  und  Meier  Heft  V; 
für  die  Konzentration  aber  in  derselben  Sammlung  Heft  IV  Schillers 
Aufsatz :  »Die  einheitliche  Gestaltung  und  Vereinfachung  des  Gymnasial- 
unterrichts unter  Voraussetzung  der  bestehenden  Lehrverfassung«.  Möge 
der  Verein  auch  auf  diesen  Gebieten  rüstig  weiter  schaffen  und  wirken, 
damit  er  an  seiner  Stelle  dazu  helfe,  dafs  die  neue  Reform  des  Gymnasiums 
mafsvoll  und  doch  nicht  oberflächlich  wird! 

Endlich  hat  die  Berliner  Konferenz  auch  darin  den  Wünschen  der 
Mehrheit  unseres  Vereins  entsprochen,  dafs  sie  jeden  Unterbau  für  Gym- 
nasien und  lateinlose  Realschulen  abgelehnt  hat,  nicht  allein  den  sechs- 
jährigen, den  wir  alle  nicht  billigen,  sondern  auch  den  zweijährigen,  welchen 
Juling  und  Frick  empfehlen.  Dagegen  hat  sie  viel  dazu  gethan,  um  die 
höhere  Bürgerschule  zu  heben,  für  deren  Förderung  sich  auch  unsere  letzte 
Jahresversammlung  in  Jena  entschieden  ausgesprochen  hat. 

So  können  wir  denn  auf  das  vergangene  Jahr  als  auf  ein  sehr  erfolg- 
reiches mit  Genugthuung  zurückblicken  und  daraus  zuversichtliche  Hoffnung 
weiteren  Gelingens  schöpfen.  In  der  1890  erschienenen  Schrift  über  den 
»Kampf  um  die  Schulreform  in  seinen  neuesten  Phasen«  hat  Holzmüller 
auch  über  unseren  Verein  berichtet.  »Die  Idee  dieses  Vereins«,  sagt  er 
S.  47,  »hat  eine  Zukunft  im  Schulwesen  schon  deshalb,  weil  die  Ziele  mit 
denen  des  beobachteten  historischen  Entwickelungsganges  übereinstimmen. 
Der  Verein  greift  nur  voraus,  was  nach  den  Beobachtungen  der  letzten 
Jahrzehnte  die  Zukunft  wahrscheinlich  von  selbst  bringen  wird.«  Möge 
dies  recht  bald  geschehen!  Möge  der  Verein  recht  bald  in  der  Lage  sein, 
seine  Thätigkeit  zu  beschliefsen,  weil  die  Entwickelung  der  Dinge  ihre 
Weiterführung  unnötig  macht!*) 

Hannover,  Februar  1891.  F.  H  o  r  n  e  m  a  n  n. 


•)  Dieser  Fall  ist  nach  der  Überzeugung  einer  weit  überwiegenden  Mehrheit  schon  jetzt  ein- 
getreten; der  Verein  hat  sich  daher  auf  Antrag  des  Unterzeichneten  8m  t.  April  d.  J.  aufgelöst. 

F.  Hornemann. 


■  56 


2.  Lehrgänge  und  Lehrproben  aus  der  Praxis  der 
Gymnasien  und  Realschulen. 

Zur  Förderung  der  Zwecke  des  erziehenden  Unterrichts  .  .  .  heraus- 
gegeben von  DDr.  O.  Frick  und  H.  Meier.  27.  Heft.  Halle  a.  d.  S. 
Buchhandlung  des  Waisenhauses  1891.    128  S.  8°. 

Die  Lehrproben  von  Frick  und  Meier,  auf  deren  reichhaltigen  und 
meist  gediegenen  Inhalt  wir  au  wiederholten  Malen  in  diesen  Blättern  hin- 
gewiesen haben,  sind  unter  allen  Gymnasialzeitschriften  diejenige,  welche 
am  meisten  bemüht  ist  den  Forderungen  der  Zeit  Rechnung  zu  tragen. 
Durch  die  jüngsten  Reformbestrebungen,  welche  von  der  preufsischen 
Regierung  ausgeh n  und  im  wesentlichen  übereinstimmen  mit  der  von  den 
Lehrproben  vertretenen  Richtung,  hat  diese  Zeitschrift  an  Bedeutung  ge- 
wonnen, aber  auch  gewissermafsen  neue  Pflichten,  erhalten.  Denn  es 
ist  etwas  anderes,  ob  man  so  zu  sagen  in  der  Opposition  stehend,  Ver- 
besserungsvorschläge macht,  oder  ob  man,  regierungsfähig  befunden,  mit 
führend  voranschreiten  soll  und  die  Verantwortung  mit  trägt  für  die 
Gestaltung  der  Zukunft.  Das  27.  Heft  zeigt,  dafs  die  Herausgeber  sich 
ihrer  verantwortungsvollen  Stellung  bewufst  sind.  Es  bietet  einen  Inhalt, 
der  geeignet  ist  weithin,  nicht  nur  in  Gymnasiallehrerkreisen,  Interesse  zu 
erregen.  Es  enthält  die  »Urkunden  zur  neuesten  Schulreform« 
und  >die  Beantwortung  der  Kaiserfragen«  und  in  dieser  den  Beweis, 
dafs  nur  durch  eine  auf  Herbartischen  Grundsätzen  beruhende  Didaktik 
der  herrschenden  Schulnot  abgeholfen  werden  kann.*; 

Die  Zusammenstellung  der  »Urkunden«  ist  ein  sehr  glücklicher  Ge- 
danke. Von  den  Verhandlungen  Über  das  höhere  Schulwesen,  welche  vom 
4. — 17.  Dez.  1890  in  Berlin  stattgefunden  haben,  ist  in  die  weiten  Kreise, 
die  diesen  Fragen  Interesse  entgegenbrachten,  nur  wenig  Zusammenhängen- 
des gedrungen.  Sind  nun  jetzt  auch  die  »Verhandlungen  über  die  Fragen 
des  höheren  Unterrichts«  (Berlin.  Wilhelm  Herz,  1891,  800  S.  gr.  8°)  er- 
schienen, so  ist  der  Band  doch  so  umfänglich,  dals  nur  wenige  ihn  durch- 
studieren werden;  den  meisten  liegt  auch  gar  nicht  daran  die  vielen,  durch 
ihren  Inhalt  zum  Teil  hochbedeutenden  Reden  kennen  zu  lernen,  sondern 
blofs  das  Bleibende,  die  amtlichen  Erlasse  und  die  Beschlüsse.  Diese 
aber  sind  nicht  einmal  alle  in  jener  officiellen  Veröffentlichung  enthalten, 
wohl  aber  in  dem  uns  vorliegenden  Hefte.  Dieses  bietet  nämlich  A.  die 
kaiserlichen  Erlasse  a)  vom  13.  Febr.  1890  betreffend  die  Ab- 
änderung der  Lehi  plane  des  Kadettenkorps;  b)  vom  1.  Mai  1889  betr.  den 
Volksschulunterricht.  B.  die  kaiserlichen  Ansprachen  a)  vom  4.  Dez. 
1890,  b.  vom  17.  Dez.  1890  gehalten  in  der  Eröffnungs-  und  Schlufssitzung 
der  Schulkonferenz.  C.  Die  kaiserliche  Kabinetsordre  vom  17.  Dez. 
1890.  D.  Die  sieben  Kaiser  fragen.  E.  Den Erlafs  des Kgl.  Preufsischen 
Staatsministeriums  vom  27.  Juli  1889,  betr.  das  höhere  Schulwesen.    F.  Die 

*)  Vrgl.  die  Besprechung  der  Kaiserfragen  in  den  »Grentboten«,  37.  Heft  1891. 


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—    157  — 


vom  Kultusminister  an  die  Schulkonferenz  gestellten  Fragen.  G.  Die 
diese  Fragen  beantwortenden  Beschlüsse  der  Berliner  Konferenz. 

Nirgends  rindet  man  das  alles  so  bequem  beisammen;  nur  scheint  es 
nicht  zweckmäfsig,  dafs  die  einzelnen  Nummern  dem  Range  nach,  wenn 
man  so  sagen  darf,  statt  der  Zeitfolge  nach  geordnet  sind. 

Die  Kaiserfragen,  welche  die  Aufmerksamkeit  gerade  auf  die 
Punkte  richteten,  wo  entschiedene  Mängel  vorhanden  sind,  liefsen  sich,  da 
sie  erst  der  versammelten  Konferenz  mitgeteilt  wurden,  nicht  bei  Gelegen- 
heit der  Verhandlungen  über  die  ministeriellen  Fragen  genügend  beant- 
worten. Sie  verlangen  aber  dringend  eine  Antwort  und  zugleich  Angabe 
der  Wege,  wie  den  vom  Kaiser  angedeuteten  Mängeln  abgeholfen  werden 
kann.  Es  ist  dankenswert,  dafs  die  >  Lehrproben«  diese  Antwort  zu  geben 
versuchen. 

Frage  i)  >Was  soll  aufser  dem  rationeller  zu  verwendenden  Turnen 
für  die  Schulhygiene  geschehen  ?«  wird  von  Dr.  H.  Schiller  in 
Giefsen  behandelt  Wir  skizzieren  seine  Erörterungen :  Wegfall  des  Nach- 
mittagsunterrichts, 5  Stunden  Vormittagsunterricht  mit  50  Minuten  im  Freien 
zu  verbringender  Pause,  also  thatsächlich  4  Stunden.  Ein  verständiger,  die 
Einförmigkeit  vermeidender  Stundenplan,  Beschränkung  der  häuslichen  Auf- 
gaben  (in  Prima  nicht  über  3  Stunden).  Abschaffung  der  Strafarbeiten,  der 
Nachhilfestunden,  der  Musikstunden  (?).  Herstellung  der  richtigen  Luft-, 
Licht*  und  Sitzverhältnisse  (natürlich  nicht  Versetzen  nach  dem  Ausfall  der 
lateinischen  Extemporalien).  Richtige  Heizung,  Ventilation,  Reinigung. 
Handfertigkeitsunterricht,  Bewegungsspiele,  Unterricht  (z.  B.  naturgeschicht- 
licher, geographischer)  im  Freien.  Nur  beschränkte  Mitwirkung  der  Ärzte. 
Einführung  der  jungen  Lehrer  in  die  allgemeine  und  die  Schulhygiene. 
Verlegung  der  Ferien  auf  die  heifseste  Zeit  und  Abschlufs  des  Schuljahres 
vor  Beginn  derselben.  —  Mit  den  meisten  Punkten  wird  man  gewifs  ein- 
verstanden sein,  aber  mehrere  fordern  Geld.   Wird  es  geschafft  werden? 

Die  Fragen  2 — 7  hat  Fr  ick  selbst  beantwortet  unter  vielfachen  Hin- 
weisen auf  das  »klassische  Werk«  O.  Willmanns  Didaktik.  »2)  Ist  die  Er- 
mäfsigung  der  L  e  h  r  z  i  e  1  e ,  also  die  Verminderung  des  Lehr  Stoffes 
scharf  ins  Auge  gefafst  und  wenigstens  das  Auszuscheidende  genau  fest- 
gestellt? 

3)  Sind  die  Lehrpläne  klassenweis  für  die  einzelnen  Fächer  fest- 
gelegt? 

Antwort:  »Nein«. 

Der  Verfasser  begnügt  sich  nicht  bei  der  Beantwortung  von  Frage  2 
zu  zeigen,  wie  der  Lehrstoff  vermindert  werden  kann,  er  zeigt  auch,  wie 
das  festzusetzende  Lehrziel  unter  geringerer  Belastung  der  Schüler 
erreicht  werden  kann.  Vor  allen  Dingen  mufs  das  erstorbene  oder  mangelnde 
didaktische  Bewufstsein  in  der  Lehrerwelt  der  höheren  Schulen  wieder  er- 
weckt werden.  Das  läfst  sich  ja  als  Frucht  der  neu  eingeführten  Semi- 
narien  erwarten.  Dann  mufs  ernsthaft  an  die  Ausarbeitung  eines  Lehr- 
plansystems  gegangen  werden;  auf  systematische  Vollständigkeit  ist  zu 
verzichten,  blofs  was  erziehlich  wirken  kann,  ist  heranzuziehen.  Fruchtbare 


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158  - 


Wechselwirkung  zwischen  den  verschiedenen  Fächern  ist  anzustreben,  und 
jedes  Fach  ist  besonders  in  der  Richtung  auszunutzen,  nach  welcher  hin 
es  am  meisten  bieten  kann.  So  ist  es  z.  B.  verkehrt  im  Unterrichte  aller 
Sprachen  dieselben  Ziele  zu  verfolgen.  Je  nach  ihrem  Wert  für  die  Er- 
ziehung mufs  sich  die  Zeit  richten,  die  man  den  einzelnen  Fächern  widmet 
(Statik).  So  könne  es  jetzt  an  der  Zeit  sein  den  Schüler  mehr  mit  Vater- 
land und  Gegenwart  vertraut  zu  machen  und  dadurch  seine  innere  Ent- 
wickelung  zu  fördern:  Dies  würde  nötigen  »zu  einer  gewissen  Beschränkung 
der  antiken,  zu  einer  gröfseren  und  gleichmäfsigeren  Berücksichtigung 
der  vaterländischen  Stoffe«.  Ich  glaube  nicht,  dafs  diese  Nötigung  vor- 
liegt. Es  ist  nur  nötig,  dafs  die  ständige  Rücksicht  auf  die  Heimat  und 
Gegenwart  zum  >Unterrichtsprinzip<  erhoben  wird,  und  dafs  dem 
Lehrer  nicht  mehr  der  Vorwurf  gemacht  wird,  er  treibe  Allotria,  wenn  er 
in  der  griechischen  oder  lateinischen  Stunde  vielleicht  die  neuesten  Er- 
eignisse benutzt,  um  alte  Vorgänge  ins  richtige  Licht  zu  setzen,  und  dabei 
zugleich  für  die  Beurteilung  der  Ereignisse  der  Gegenwart  den  richtigen 
Mafsstab  finden  zu  lassen.  Durch  Nebeneinanderstellen  des  Alten  und  des 
Neuen,  des  Fremden  und  des  Heimischen  wird  beides  deutlicher,  und  da 
wir  uns  Gott  sei  Dank  unsers  Volkes  und  unsrer  Geschichte  nicht  zu 
schämen  haben,  so  wird  bei  solchen  Vergleichen  die  Liebe  zum  Vaterland 
von  selbst  gedeihen  und  eine  gesundere  Pflanze  geben,  als  wenn  man  sie 
in  einer  auch  für  den  Schüler  offen  daliegenden  Absicht  zu  »programm- 
mäfsig«  pflegt.  Ich  glaube,  es  ist  mit  dem  »Vaterländischen«  wie  mit  der 
Religion,  und  zwar  nach  zwei  Seiten  hin:  i)  der  schlimmste  Feind  beider 
ist  die  Übersättigung.  2)  Nicht  die  grölsere  Stundenzahl,  die  man 
ihnen  stundenplanmäfsig  zuwendet,  bietet  die  Gewähr  für  die  Entwickelung 
der  gewünschten  Einsicht  und  Empfindung  beim  Zögling,  sondern  der 
Geist,  in  welchem  der  gesamte  Unterricht  erteilt  ist.  Können  wir  also, 
ohne  Vermehrung  der  Stundenzahl  für  vaterländische  Stoffe,  dasselbe  und 
vielleicht  mehr  erreichen  durch  zweckmäfsigen  Unterricht,  warum  die  Zeit 
für  die  antiken  Stoffe  beschränken,  die  uns  Früchte  tragen,  welche  sonst 
auf  keinem  Baume  wachsen  ?  Einverstanden  dagegen  bin  ich  durchaus  mit 
der  Beschränkung  des  grammatischen  Unterrichts  auf  das  notwendige 
Mafs;  aber  unter  dieses  möge  man  ja  nicht  heruntergehn,  und  auf  gröfste 
Sicherheit  in  diesem  Notwendigsten  verzichte  man  nicht,  um  nicht  die  Er- 
folge des  Sprachunterrichts,  selbst  wenn  er  als  »Sachunterricht«  betrieben 
wird,  überhaupt  zu  gefährden.  Sehr  richtig  ist  es,  dafs  der  sinnlichen 
Anschauung  neben  dem  abstrakten  Denken  zu  ihrem  Rechte  verholfen 
werden  mufs,  und  dafs  Zeichenunterricht  hierzu  mehr  thun  kann,  als  viele 
Gymnasiallehrer  glauben.  Ebenso  wichtig  ist  freilich  die  Erziehung  zum 
innern  Sehen,  durch  die  allein  der  leidige  Verbalismus  beseitigt 
werden  kann.  Wie  dieser  noch  wuchert,  ist  kaum  zu  sagen.  Es  giebt 
Schüler,  die  mit  Worten  operieren,  wie  mit  algebraischen  Formeln,  logisch 
richtig,  aber  ohne  jede  innere  Anschauung.  Durch  Pflege  der  äufsern  An- 
schauung kann  man  auch  die  innere  fördern;  deshalb  empfiehlt  auch  Frick 
mit  Recht  den  Unterricht  im  Freien. 


ginzea  oy  ^oog 


Als  das  allerwirksamste  Mittel  einer  Stoftverminderung  wird  bezeichnet 
innere  Stoffverbindung,  wie  sie  z.  B.  durch  die  Parallelgrammatik  und 
durch  die  »Lebenseinheiten«  ermöglicht  wird.  Vor  allen  Dingen  aber  mufs 
der  Lehrer  das  rechte  Verständnis  für  die  Aufnahmefähigkeit  des  zu 
bildenden  Subjekts  haben,  und  nach  dieser  die  Stoffauswahl  und  Stoff- 
anordnung gestalten. 

Die  dritte  Frage  beantwortet  Frick  in  diesem  Sinn:  Wir  dringen  fort 
und  fort  darauf,  dafs  die  Lehrer  sich  des  Schöpferischen  in  der  unter- 
richtlichen Arbeit  mehr  bewufst  werden  sollen.  Somit  würden  wir  einer 
ins  Einzelne  gehenden,  und  allgemein  oder  dauernd  verbindlichen  Fest- 
legung von  Klassenpensen  nicht  das  Wort  reden  können  (S.  61),  sondern 
nur  darum  dürfte  es  sich  dabei  handeln,  im  grofsen  und  ganzen  die  Rahmen 
der  Lehrstoffe  abzugrenzen.  Übrigens  seien  hier  noch  allerlei  Vorfragen 
über  die  zukünftige  Gestaltung  des  Gymnasiums  zu  erledigen.  So 
wünscht  Frick  z.  B.  die  Sexta  freizulassen  vom  fremdsprachlichen  Unter- 
richte und  sie  zu  einer  Vorstufe,  umgekehrt  die  Oberprima  zu  einer 
Oberstufe  zu  machen,  die  einer  »sich  vertiefenden,  den  Gewinn  der  vorauf- 
gegangenen Arbeit  zusammenfassenden  Rückschau  diene«.  Hier  soll  »dem 
Bedürfnis  freier  Bewegung,  dem  Erwachen  individueller  Interessen  und  dem 
Verständnis  für  die  höheren  Bildungsziele«  volle  Rechnung  getragen  werden. 

Für  die  nötigen  Lehrplanarbeiten  stellt  er  als  Beispiele  eine  Anzahl 
Werke  aus  der  Volksschulpädagogik  hin,  so  Reins  Schuljahre,  Dörpfelds 
Didaktischen  Materialismus,  Armstrotfs  Unterrichtsstoff,  R  a  n  i  t  z  s  c  h'  Unter- 
richt in  der  Volksschule.  Schätzenswerte  Vorarbeiten  sind  übrigens  auch  auf 
dem  Gebiete  des  Gymnasialunterrichts  vorhanden,  so  vor  allem  Fricks 
verschiedene  Aufsätze  in  den  Lehrproben  und  Schillers  »Die  einheitliche 
Gestaltung  und  Vereinfachung  des  Gymnasialunterrichts  unter  der  Voraus- 
setzung der  bestehenden  Lehrverfassung«  ein  treffliches  Buch,  das  mich 
nur  in  Unklarheit  darüber  gelassen  hat,  wie  die  daselbst  aufgeführten  Stoft- 
massen  in  erziehlich  wirkender  Weise  verarbeitet  werden  können.  Frick 
selbst  giebt  dann  noch  einige  Winke,  wie  die  Lehrplanarbeit  in  die  Hand 
genommen  werden  kann.  Verwirft  er  auch  im  allgemeinen  den  Zillerschen 
Gesinnungsstoff  als  Mittelpunkt  für  den  Klassenunterricht,  so  sucht  er 
doch  auch  nach  Mittelpunkten  für  den  Unterricht  einzelner  Klassen 
und  nach  Reihen  von  solchen  Mittelpunkten  für  ganze  Klassenfolgen.  Er 
nennt  als  solche  Mittelpunkte  Odyssee  und  Ilias  einerseits,  Heliand  und 
Nibelungen  anderseits;  ferner  grofse  Persönlichkeiten  wie  den  grofsen  Kur- 
fürsten, den  grofsen  König,  den  grofsen  Kaiser,  oder  Klopstock,  Goethe, 
Schiller.  Oder  man  stellt  das  nationale  Leben  in  die  Mitte.  »Auf  den 
Unterstufen,  wo  selbständige  Stoffe  nicht  auftreten,  wird  ein  vaterländisches 
Lesebuch  die  Aufgabe  einer  zentralisierenden  Einigung  übernehmen 
müssen.«  —  Das  ist  alles  gewifs  richtig,  nur  wäre  es  wohl  besser  gewesen, 
das  Wort  »Mittelpunkt«  nicht  zu  verwenden ;  denn  es  kann  sich  fast  überall 
im  Gymnasialunterricht  nicht  um  Aufstellung  von  Mittelpunkten  für  den 
vielverzweigten  Unterricht  einer  ganzen  Klasse  handeln,  sondern  blofs  um 
Reihen,  die  man  untereinander  wieder  in  Beziehung  zu  setzen  sucht. 


4.  Sind  für  die  Lehrmethode  wenigstens  die  Hauptpunkte  auf- 
gestellt ? 

Antwort:  Ja  —  aber  [in  der  Lehrpraxis  werden  sie  im  allgemeinen 
noch  nicht  genügend  beachtet). 

Frick  empfiehlt  nachdrücklichst  die  >FormaIstufen<  als  dasjenige 
Lehrverfahren,  bei  dem  am  sichersten  der  Prozefs  der  Kraftentwickelung 
statt  finde:  »Es  ist  ein  Zeichen  einer  grofsen  Befangenheit  des  Blickes  das 
organische  Gebilde  dieser  Stufen  deshalb  nicht  anzuerkennen,  weil  mecha- 
nische Geister  sie  mechanisch  verwenden  können.«  Durch  Weckung  des 
Interesse  wird  es  möglich  sein  das  Ziel  des  erziehenden  Unterrichts, 
nämlich  die  Charakterbildung  zu  erreichen.  Freilich  müssen  die  Lehrer 
der  höheren  Schulen  erst  ihre  »Methodenscheu«  ablegen.  Sie  dürfen 
nicht  glauben,  dafs  die  blofse  Darbietung  des  Stoffes  ausreichend  sei;  sie 
müssen  sich  besonders  bemühen  anschaulich  zu  unterrichten,  und  nicht 
nach  den  Universitätslehrern  als  nach  ihren  Vorbildern  schauen,  sondern 
vielmehr  von  der  Volksschule  für  ihre  Methode  lernen. 

5)  Ist  der  in  den  Prüfungen  bisher  zu  Tage  getretene  Ballast  für 
immer  beseitigt? 

Antwort:  Nein. 

Einleitend  spricht  der  Verfasser  über  den  an  sich  vorhandenen  Gegen- 
satz zwischen  einem  Examen  und  dem  erziehenden  Unterrichte,  dessen 
Hauptkraft  geradezu  geschädigt  werde  durch  die  Rücksicht  aufs  Examen. 
Die  Prüfung  müsse  also  möglichst  organisch  aus  dem  Unterricht  heraus- 
wachsen. Sie  mufs  sich  auf  den  im  Unterrichte  herausgearbeiteten  Merk- 
stoff beschränken.  Und  auch  nur  auf  eine  Auswahl  von  diesen,  nämlich 
auf  das,  »was  organisch  aus  der  letzten  Arbeit  herausgewachsen  ist«.  Es 
liegt  da  der  Einwand  sehr  nahe,  dafs  es  eine  Prüfung  doch  nicht  blofs 
mit  dem  Abfragen  des  eingeprägten  Merkstoffes  zu  thun  haben  dürfe, 
sondern  es  sehr  wichtig  sei,  wenn  der  Prüfling  zeige,  dafs  er  Fragen,  die 
ihm  in  dieser  Form  noch  nicht  vorgelegt  sind,  für  deren  Beantwortung 
also  das  Material  nicht  fix  und  fertig  im  Merkbuche  bereit  steht,  sach- 
gemäfs  beantworten  kann,  dafs  er  also  zwischen  den  ihm  geläufigen  Vor- 
stellungen sofort  neue  Verbindungen  herstellen  kann.  Denn  es  ist 
doch  ein  klägliches  Wissen,  das,  wie  beim  Klavier  der  Ton  an  eine  be- 
stimmte Taste,  so  an  eine  bestimmte  Frage  gebunden  ist.  —  Ich  habe 
wenigstens  in  der  oben  bezeichneten  Weise  stets  geprüft,  freilich  dann 
auch  gewünscht,  dafs  dem  Prüflinge  die  Zeit  gelassen  werde  zu  denken, 
d.  h.  die  neue  Verbindung  bekannter  Vorstellungen  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  gestellten  Frage  vorzunehmen.  Läfst  man  blofs  auswendig  Ge- 
lerntes her— sagen,  so  geht  es  freilich  rascher,  aber  das  ist  doch  keine 
Reifeprüfung.  Dieser  Einwand  wird  indes  fast  entkräftet,  wenn  man  weiter 
liest:  Zeigt  ein  Schüler  in  der  schriftlichen  oder  mündlichen  Anwendung 
der  Sprache,  dafs  er  über  diese  eine  gewisse  Herrschaft  gewonnen  hat 
und  zu  einem  Können  gelangt  ist,  so  ist  eine  besondere  Prüfung  in  dem 
grammatischen  Wissen  nicht  mehr  nötig,  und  entsprechend  soll  es  bei 
andern  Fächern  sein.    Zu  verlangen,  dafs  der  Prüfling  alles  gegenwärtig 


habe,  was  er  je  auf  der  Schule  gelernt  hat,  scheint  dem  Verfasser  mit 
Recht  verkehrt.  Vieles  dient  ja  blols  als  Leiter,  um  auf  die  Höhe  zu  ge- 
langen, und  kann  wie  diese  weggeworfen  werden,  wenn  man  oben  ange- 
langt ist.  Aber  das  für  immer  Wertvolle,  was  der  Unterricht  geboten 
hat,  soll  durch  rationelles  Repetieren  in  Prima  unter  immer  neuen,  für 
den  erziehlichen  Unterricht  bedeutenden  Gesichtspunkten  durchdrungen 
und  verbunden  werden.  »Die  Prüfung  dürfte  durchaus  nichts  anderes  sein 
als  das  letzte  Glied  in  einer  planvollen  Reihe  von  Rep etitione n,  als 
eine  Schlufsrepetition.«  Einverstanden,  wenn  dafür  gesorgt  wird,  dafs  das 
nicht  eine  mechanische  Hersagerei  wird,  sondern  dafs  der  Schüler  Selbst- 
tätigkeit bei  der  Antwort  beweisen  kann.  Das  wird  mir  nicht  genug 
betont.  Es  genügt  doch  nicht  blofs  die  Fragen  nach  dem  Wertlosen  zu 
beseitigen  wie  z.B.  solche  nach  der  Weinkarte  des  Horaz,  oder:  in  welchen 
Verszeilen  des  Horaz  kommt  Pallas  vor?  oder:  welche  Attribute  hat  das 
Schiff  bei  Homer?  oder:  welche  homerischen  Helden  werden  in  den  Bauch 
getroffen?  u.  s.  w.  Auch  wenn  lauter  Wertvolles  gefragt  würde,  könnte  die 
Reifeprüfung  noch  als  unnatürlich  empfunden  werden,  falls  des  Wertvollen, 
das  der  Prüfling  zur  Verfügung  haben  soll,  zu  viel  wäre.  Diese  Besorg- 
nisse, die  Fricks  Darlegungen  noch  aufsteigen  lassen  könnten,  schwinden, 
wenn  man  seine  Vorschläge  liest,  wie  überhaupt  die  Reite prüfung  um- 
gestaltet werden  soll.  Wir  heben  einige  heraus.  Die  Themen  zu  den 
deutschen  Aufsätzen  müssen  aus  dem  Unterrichte  herauswachsen,  können 
also  auch  nicht  schon  ein  Vierteljahr  vorher  an  den  Prüfungskommissar 
eingeschickt  werden.  Die  Prüfung  darf  nicht  mitten  im  Unterrichtsbetrieb 
des  letzten  Vierteljahres  stattfinden.  Die  Mitwirkung  des  Staates  darf  sich 
nur  als  eine  Oberaufsicht  geltend  machen;  es  mufs  jeder  Eingriff  ver- 
mieden werden,  welcher  die  organische  Verbindung  der  Prüfung  mit  der 
eigentlichen  Unterrichtsarbeit  erschwert.  Mündlich  geprüft  wird  nur  der- 
jenige, dessen  schriftliche  Prüfungsarbeiten  nicht  sämtlich  ohne  Ein- 
schränkung genügend  sind.  Letzter  Satz  besonders,  der  in  dieser  von 
Fricks  Vorschlag  etwas  abweichenden  Fassung  von  der  Berliner  Schul- 
konferenz angenommen  ist,  scheint  mir  wichtig,  denn  wird  er  zur  Geltung 
gebracht,  dann  liegt  kein  Grund  mehr  vor  zu  dem  jetzt  doch  nicht  ganz 
zu  vermeidenden  Einpauken;  zumal  er  ergänzt  wird  von  dem  andern 
Satze:  im  Falle  guter  Klassenleistungen  wird  von  der  (mündlichen)  Prüfung 
in  Rcligionslehre  und  Geschichte  dispensiert.  Schriftliche  Prüfung 
in  diesen  beiden  Fächern  giebt  es  nicht.  Auch  für  die  schriftliche  Prüfung 
in  Deutsch,  Latein,  Griechisch,  Mathematik  macht  Frick  verschiedene 
Änderungsvorschläge,  die  wir  hier  nicht  im  einzelnen  erörtern  können. 

6)  Ist  auch  der  noch  durch  andere  Mittel  zu  bekämpfenden  Ober- 
bürdung  für  die  Zukunft  vorgebeugt? 

Antwort:  Noch  nicht  genügend. 

Als  Mittel  gegen  Überbürdung  wird  empfohlen  Einschränkung  der 
Hausarbeit;  verständiger  Klassenunterricht  nach  den  formalen  Stufen;  An- 
leitung zur  Lösung  der  häuslichen  Arbeiten  und  auf  diese  Weise  zugleich 
Heranbildung  zur  richtigen  Art  zu  arbeiten. 

Pädagogische  Studien.   III.  1 1 


—     162  — 


Der  lateinische  Aufsatz  ist  beseitigt,  wenigstens  als  > Zielleistung« 
und  als  häusliche  Aufgabe;  mathematische  Arbeiten  und  deutsche  Auf- 
sätze werden  nicht  mehr  soviel  Zeit  erheischen,  wenn  sie  naturgemafs 
aus  dem  Unterrichte  herauswachsen.  Gesteuert  werden  mufs  aber  auch 
der  »Extemporalenot«.  Soll  es  doch  noch  immer  Anstalten  geben, 
an  denen  das  unverantwortliche  Unwesen  herrscht,  dafs  jede  Woche 
dem  Schüler  je  nach  der  Zahl  der  im  Extemporale  gemachten  Fehler  — 
die  Vorzüge  der  Arbeit  bleiben  meist  unberücksichtigt  —  sein  Flatz  für 
die  nächste  Woche  angewiesen  wird,  und  nicht  etwa  für  alle  Stunden, 
sondern  blofs  für  die  des  betreffenden  Faches.  Denn  was  dem  Latein 
recht  ist,  das  ist  dem  Griechischen  und  Französischen  billig.  So  hat  denn 
der  Schüler  in  diesen  drei  Fächern  einen  besonderen  von  der  Hauptrang- 
ordnung verschiedenen  Platz  —  ohne  Rücksicht  auf  Körperlänge,  Kurz- 
sichtigkeit  u.  s.  w.  und  vor  jeder  Stunde  findet  eine  kleine  Völker- 
wanderung in  der  Klasse  statt.  —  Minder  bedenklich  finde  ich  es,  wogegen 
sich  Frick  auch  ausspricht,  dafs  Regeln  der  Grammatik  wörtlich  gelernt 
und  autgesagt  werden,  denn  es  giebt  gewisse  Regeln  der  Grammatik  so- 
wohl in  der  Kasus-  als  in  der  Moduslehre,  die  so  geläufig  gewufst  werden 
müssen,  wie  ein  Paradigma,  freilich  nicht  blofs  gewufst,  sondern  auch 
gekonnt.  —  Um  den  Unterricht  so  zu  gestalten,  wie  der  Verfasser  es 
will,  müssen  geeignete  Übungsbücher  geschaffen  werden  und  —  geeignete 
Lehrerpersönlichkeiten.  Diese  letzteren  sollen  durch  die  pädagogischen 
Seminare  gebildet  werden. 

7.  Wie  ist  die  Kontrolle  gedacht,  ohne  welche  das  wohlmeinend 
Geplante  doch  nur  auf  dem  Papiere  bleibt?  Ist  hinreichend  auf  regel- 
mäfsige  und  aufscrordentliche  Revisionen  durch  die  verschiedenen 
Oberbehörden  Bedacht  genommen? 

Antwort:  Nein. 

Es  ist  nötig  Vermehrung  des  Aufsichtspersonals  »aber  nicht  die  gröfsere 
Zahl  ist  das  dringlichste,  sondern  dafs  es  die  rechten  Persönlichkeiten 
sind,«  die  »ein  wirklich  lebendiges  Interesse  auch  an  dem  Ausbau  einer 
rationellen  Didaktik  und  ihrer  Oberführung  in  die  Praxis  haben.«  Sie  sollen 
entlastet  werden  von  der  übergrofsen  Zahl  der  Reifeprüfungen,  um  ihre 
Zeit  auf  gründliche  Revisionen  verwenden  zu  können.  Sie  sollen  immer 
wieder  »auf  grofse,  allgemeine  Gesichtspunkte  und  Ziele  hinweisen,  den 
schöpferischen  Charakter  der  didaktischen  Arbeit  und  damit  die 
idealste  und  dankbarste  Führung  derselben  den  Lehrkörpern  zum  Beuufst- 
sein  bringen.«  Das  viele  Schreibwerk  der  Direktoren  aber  sollen  sie  mög- 
lichst verringern.  Zu  diesen  regelmäfsigen  Revisionen  mögen  ausserordent- 
liche seitens  der  höchsten  Aufsichtsbehörden  hinzutreten. 

Das  sind  die  Hauptpunkte  der  Antworten. 

Beigegeben  sind  aufserdem  dem  Hefte  noch  zwei  sehr  beachtenswerte 
Abhandlungen,  die  mit  dem  Hauptteil  desselben  in  naher  Beziehung  stehen: 
»Zur  Forderung  des  Kaisers :  Das  Deutsche  soll  im  Mittelpunkt  des  ganzen 
Unterrichts  stehn«  von  Dr.  F.  Heufsner  in  Kassel  und  »Das  Wesen  des 
Staates,  Zusammenfassende  Begriffsentwickelung  nach  der  Lektüre  von  Piatos 


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—    163  — 

Kriton«  von  H.  Meier  in  Schleiz.  Die  Rücksicht  auf  den  Raum  verbietet 
es  leider  sie  eingehender  zu  besprechen. 

Jeder  Leser  wird  die  Bedeutung  dieses  27.  Heftes  deutlich  empfinden. 
Es  ist  ein  neuer  Tag  angebrochen  für  die  Arbeit  an  den  deutschen  höheren 
Schulen,  der  deutsche  Kaiser  selbst  hat  die  Ziele  für  die  Arbeit  ge- 
steckt: dies  Heft  beweist,  dafs  auch  die  rechten  Arbeiter  vorhanden  sein 
werden,  welche  von  Einsicht  wie  von  Liebe  zur  Sache  erfüllt  den  rechten 
Weg  zu  diesen  Zielen  bahnen  werden. 

Halle  a.  d.  S.  Dr.  Rud.  Menge. 


3.  Die  Schulreform  und  das  Auge. 

Von  G.  D eh io-Königsberg. 
(Beilage  zur  Allgem.  Zeitung  1890,  No.  336.) 

Mit  wenig  Zeilen  möchten  wir  unsere  Leser  auf  diesen  bemerkens- 
werten Aufsatz  hinweisen,  der  in  Hauptforderungen  mit  denjenigen  über- 
einstimmt, welche  in  den  Kreisen  der  Herbartschen  Pädagogik  schon  lanye 
erhoben  worden  sind. 

>Ich  will  nun,  so  heifst  es  an  einer  Stelle,  ohne  Umschweif,  was  ich 
für  das  wichtigste  Ziel  der  Schulreform  nach  der  formalen  Seite  halte, 
nennen:  Herstellung  des  Gleichgewichts  zwischen  Begriff  und  Anschauung. 
Und  als  Mittel  schlage  ich  vor:  1.  Durchführung  des  Zeichenunterrichts 
durch  alle  Klassen  des  Gymnasiums;  2.  allseitige  methodische  Verwertung 
des  Zeichnens  für  den  Gesamt-Unterricht.  Auf  der  zweiten  Forderung  liegt 
der  Hauptaccent;  wird  sie  nicht  erfüllt,  so  geht,  was  mit  der  ersten  allein 
erreicht  werden  kann,  über  eine  dem  einzelnen  Schüler  immer  nützliche, 
dem  Unterricht  im  ganzen  aber  gleichgültige  Fertigkeit  nicht  hinaus.«  Nach 
dem  bisherigen  Unterricht  gewifs;  aber  nicht  dann,  wenn  der  Freihand- 
Zeichenunterricht  in  den  Dienst  der  Geschmacksbildung  gestellt  wird,  was 
ja  Herr  Dehio  ebenfalls  warm  empfiehlt  und  vom  Herausgeber  d.  Z.  in  dem 
unten  genannten  Aufsatz  ausführlich  begründet  worden  ist.*) 


•)  S.  W.  Rein,   Der  Zeichenunterricht  i.  d.  Gymnasium.    Schriften  des  d.  Einheitschul- 
vereins.   Hannover  1889.    5.  Heft,  S.  71  —  90. 


II* 


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i 


1 


-  164  - 


4.  Die  Mittelschulen  in  Preussen. 

Von  H.  Chili  in  Thorn. 

Nach  der  letzten  Statistik  über  das  Schulwesen  giebt  es  in  Preuiscn 
5:6  öffentliche  Mittel-  und  höhere  Mädchenschulen.  Die  meisten  derselben 
haben  die  Provinzen  Brandenburg  und  Rheinland,  nämlich  83  und  75;  dann 
folgen  Hannover  mit  68,  Westfalen  mit  67,  Sachsen  mit  66,  Ostpreufsen  mit 
44,  Pommern  mit  41,  Hessen-Nassau  mit  39,  Schlesien  mit  26,  Posen  mit  23. 
Schleswig-Holstein  und  Westpreufsen  mit  je  21  und  Ilohenzollern  mit  2 
Schulen. 

Zum  weit  überwiegenden  Teile  gehören  die  öffentlichen  Mittel-  und 
höheren  Mädchenschulen  den  Städten  an.  Auf  dem  Lande  finden  sie  sich 
nur  vereinzelt  vor.    Es  waren  bei  Aufnahme  der  Statistik  vorhanden. 


In  den 

Auf  dem 

Zu- 

Städten: 

Lande : 

samme 

Öffentliche  Mittel-  und  höhere 

Mädchenschulen 

535 

41 

576 

Mit  Klassenräumen 

4051 

107 

4158 

Mit  Unterrichtsklassen 

3709 

109 

3818 

Davon  :  Knabenklassen 

1227 

53 

12S0 

Mädchenklassen 

2271 

9 

2280 

Gemischte  Klassen 

211 

47 

2S8 

Aus  diesen  Zahlen  läfst  sich  erkennen,  dafs  die  meisten  dieser  Schulen 
auf  dem  Lande  noch  wenig  über  einen  guten  Anfang  hinausgekommen  sind. 
Die  Klassenzahl  ist  hier  gering,  und  in  fast  der  Hälfte  der  ünterrichts- 
klasscn  werden  noch  Knaben  und  Mädchen  gemeinschaftlich  unterrichtet. 
Selbst  in  den  Städten  begegnen  wir  noch  ziemlich  vielen  Schulen,  die  erst 
im  Anfange  ihrer  Entwickelung  zu  stehen  scheinen,  wie  folgende  Übersicht 
zeigt.    Es  wurden  gezählt: 


Mittelschulen 

In  den 

Auf  dem 

Zu- 

Städten: 

Lande : 

sammen 

mit 

1  aufsteigenden  Klasse 

35 

»3 

48 

»i 

2           „  Klassen 

40 

9 

49 

>> 

3            >i  1» 

Si 

11 

62 

i» 

4             11  11 

64 

4 

68 

5           11  >f 

65 

2 

67 

6            ,,  „ 

84 

2 

86 

7  und  mehr  aufst.  Klassen 

196 

196 

Demnach  hatten  37  ländliche  und  190  städtische  Mittel-  und  höhere  Mädchen« 
schulen  weniger  als  5  aufsteigende  Klassen.  Es  ist  wohl  kaum  zweifelhart, 
dafs  manche  derselben  noch  nicht  als  wirkliche  Mittelschulen  anzusehen 


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-    i65  - 


sind,  namentlich  auf  dem  Lande.  Fünf  und  mehr  aufsteigende  Klassen  gab 
es  bei  349  Anstalten,  also  bei  etwa  60  Proz  der  Gesamtzahl.  Auf  dem 
Lande  finden  sich  öffentliche  Mittel-  und  höhere  Mädchenschulen  überhaupt 
nur  in  den  Provinzen  Brandenburg  11),  Sachsen  (2),  Hannover  (8),  West- 
falen (14),  Hessen-Nassau  (4)  und  Rheinland  (12)  vor. 

In  allen  öffentlichen  Mittel-  und  höheren  Mädchenschulen  wurden  zu- 
sammen 134  937  Kinder  unterrichtet.  Das  ist  eine  auffällig  geringe  Be- 
nutzung dieser  Anstalten ,  insbesondere  seitens  der  männlichen  Jugend, 
welche  nur  mit  54  024  Schülern  in  der  Mittelschule  vertreten  ist,  während 
in  derselben  81  913  Mädchen  ermittelt  wurden.  Für  das  weibliche  Ge- 
schlecht bedeutet  die  höhere  Mädchenschule  allerdings  dasselbe,  was  die 
höheren  Lehranstalten  für  die  männliche  Jugend  sind.  Letzteren  Lehr- 
anstalten werden  aber  bei  weitem  mehr  Knaben  zugeführt,  als  den  Mittel- 
schulen; denn  auf  den  Gymnasien,  Progymnasien,  Realgymnasien,  Realpro- 
gymnasien etc.,  sowie  auf  den  höheren  Bürgerschulen  Prcufsens  wurden 
151  141  Schüler  ermittelt.  Selbst  wenn  man  den  53  024  Schülern  der  öffent- 
lichen Mittelschulen  noch  die  12625  Knaben  in  Privatschulen  mit  gleichem 
Lehrziele  hinzurechnet,  wird  noch  lange  nicht  der  Besuch  der  höheren 
Lehranstalten  erreicht.  Von  der  gesamten  männlichen  Jugend,  welche  einen 
über  das  Ziel  der  Volksschulen  hinausgehenden  Unterricht  erstrebt,  be- 
suchen nur  30  Proz.  die  Mittelschulen  und  70  Proz.  die  höheren  Lehr- 
anstalten. 

Für  die  weibliche  Jugend  giebt  es  aufser  den  öffentlichen  höheren 
Mädchenschulen  noch  eine  gröfsere  Zahl  privater  Anstalten  ähnlicher  Art. 
In  diesen  befanden  sich  55  748  Mädchen,  so  dafs  im  Ganzen  137  661  Mädchen 
den  über  die  Ziele  der  Volksschule  hinausgehenden  Unterrichtsanstaltcn 
angehören.  Werden  diesen  die  217  190  Knaben  der  Mittelschulen  und 
höheren  Lehranstalten  gegenübergestellt,  so  ergiebt  sich,  dafs  79  529  Mäd- 
chen weniger  als  Knaben  den  höheren  Unterricht  erhalten.  In  Wirklichkeit 
wird  dieser  Unterschied  etwas  gemildert  durch  den  Umstand,  dafs  die 
Mädchen  der  wohlhabenden  Stände  vielfach  in  Pensionaten  erzogen  werden 
und  die  Dauer  des  Unterrichts  auf  den  höheren  Lehranstalten  für  die 
männliche  Jugend  2  bis  3  Jahre  länger  als  auf  den  höheren  Mädchenschulen 
ist.  Immerhin  bleibt  wohl  die  sich  aus  natürlichen  Ursachen  erklärende 
Thatsache  bestehen,  dafs  der  weiblichen  Jugend  in  geringerem  Umfange 
die  höhere  unterrichtliche  Fürsorge  zugewandt  wird.  Es  werden  etwa 
205  bis  207000  Knaben  mit  höherer  Schulbildung  150  bis  155000  Mädchen 
dieser  Art  gegenüberstehen. 

Eine  andere  bemerkenswerte  Erscheinung  ist  die  sehr  ungleiche  Be- 
nutzung der  Mittelschulen  durch  die  verschiedenen  Konfessionen.  Von  der 
Bevölkerung  im  preufsischen  Staate  sind  64,4  Proz.  evangelisch,  34  Proz. 
römisch-katholisch,  0^,3  Proz.  sonstige  Christen  und  1,3  Proz.  jüdisch.  Da- 
gegen finden  sich  unter  134937  Schülern  der  öffentlichen  Mittel-  und 
höheren  Mädchenschulen 

Evangelische  115002  =  85,38  Proz., 

Katholische       9969  —    7,39     „  , 


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-    166  — 


sonstige  Christen      544  =    0,40  Proz., 
Juden  9221  —  6,83 

Demnach  werden  die  öffentlichen  Mittel-  pp.  Schulen  ganz  überwie- 
gend von  der  evangelischen  und  der  jüdischen  Bevölkerung  benutzt,  und  der 
Anteil  der  katholischen  Kinder  an  der  Frequenz  derselben  ist  auffallend 
gering.  Das  Mifsverhältnis  wird  in  etwas  zu  gunsten  der  Katholiken  durch 
die  Benutzung  der  privaten  Mittel-  pp.  Schulen,  die  man  bei  dieser  Be- 
trachtung wohl  nicht  aufser  acht  lassen  darf,  ausgeglichen:  denn  unter 
203310  Schülern  der  öffentlichen  und  privaten  Mittel-  pp.  Schulen  waren 


Evangelische  164  439  =  80,88  Proz., 

Katholische  21  162  =  10,41 
sonstige  Christen  859  =  0,42 

Juden  16  850  =  8,29 


Allein  auch  dann  erreicht  die  katholische  Bevölkerung  noch  nicht  ein 
Drittel  desjenigen  Anteils,  der  ihr  nach  dem  Stärkeverhältnis  in  der  Ge- 
samtbevölkerung zukommt.  Die  evangelische  und  die  jüdische  Be- 
völkerung bleibt  ihr  ganz  erheblich  überlegen.  Einer  ähnlichen  Erscheinung 
begegnen  wir  auch  auf  den  höheren  Lehranstalten  des  männlichen  Ge- 
schlechts und  auf  den  Universitäten.  Dort  waren  18S6  unter  je  100  Schülern 
72,5  evangelisch,  17,6  katholisch,  0,25  sonst  christlich  und  9,7  jüdisch,  und 
unter  den  studierenden  Preufsen  der  preulsischen  Universitäten  waren 
damals  69,64  Proz.  evangelisch,  20,12  Proz.  katholisch,  0,36  Proz.  sonst 
christlich  und  9,58  Proz.  jüdisch.  Hiernach  ist  das  Zurückbleiben  der  katho- 
lischen Bevölkerung  bei  dem  Mittelschulbesuche  nicht  eine  vereinzelte  Er- 
scheinung. Sie  ist  nur  schärfer  ausgeprägt  als  bei  den  höheren  Lehran- 
stalten und  bei  den  Universitäten.  Überall,  am  mittleren,  höheren  und 
höchsten  Unterrichte  ist  die  Beteiligung  der  katholischen  Bevölkerung  ver- 
hältnismäfsig  geringer  als  die  der  evangelischen  und  ganz  erheblich  geringer 
als  die  der  jüdischen  Bevölkerung.  Die  Gründe  dieser  Erscheinung  liegen 
aber  wohl  weniger  in  der  inneren  Wertschätzung  geistiger  Güter,  als  in 
äufseren  Dingen. 

An  den  öffentlichen  Mittel-  u.  höheren  Töchterschulen  waren  als  voll- 
beschäftigte Lehrkräfte  2994  Lehrer  und  1021  Lehrerinnen,  als  Hilfslehrkräfte 
438  Lehrer  und  136  Lehrerinnen  thätig.  Die  Verteilung  derselben  nach  den 
Konfessionen  zeigt  folgende  Übersicht: 

1)  Vollbeschäftigte  Lehrkräfte: 

Lehrer:    Lehrerinnen:  Zusammen: 


a.  evangelisch                          2727  913  3640 

b.  katholisch                             253  101  354 

c.  sonst  christlich                          1  #i  2 

d.  jüdisch                                   13  6  19 

Summa  2994  1021  4015 


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—    i6;  — 


2)  Hilfslehrkrätte  : 

Lehrer:    Lehrerinnen:  Zusammen: 


a.  evangelisch  260  118  378 

b.  katholisch  120  12  132 

c.  sonst  christlich  1  —  1 

d.  jüdisch    57   6   63 

Summa  438  136  574 


Hiernach  machen  die  Lehrerinnen  25  bez.  23  Proz.  der  gesamten 
Lehrkräfte  aus.  Die  Verwendung  weiblicher  Lehrkräfte  ist  also  bei  diesen 
Schulen  eine  wesentlich  höhere  als  bei  den  öffentlichen  Volksschulen.  Die 
ausgiebigste  Verwendung  finden  weibliche  Lehrkräfte  indessen  bei  den  privaten 
Mittelschulen,  wo  von  3126  vollbeschäftigten  Lehrkräften  2422  Lehrerinnen 
waren.  Diese  erklärt  sich  vielleicht  zum  Teil  daraus,  dals  in  den  privaten 
Mittelschulen  die  Mädchenschulen  vorwiegen,  und  dafs  die  weibliche  Lehr- 
kraft für  den  privaten  Schulvorsteher  billiger  ist,  als  die  männliche.  Im 
Gesamtgebiete  der  preufsischen  Volks-  und  Mittelschulen  finden  etwa 
10600  Lehrerinnen  als  vollbeschäftigte  Lehrkräfte  Anstellung  bezw.  Be- 
schäftigung.   Das  sind  etwa  14  V«  Proz.  aller  derartigen  Lehrkräfte. 

Die  Verteilung  der  Schüler  der  öffentlichen  Mittelschulen  auf  die 
Lehrkräfte  ist  im  Durchschnitt  eine  sehr  günstige;  denn  es  kommen  auf 
eine  vollbeschäftigte  Lehrkraft  durchschnittlich  33,6  Schüler. 

Die  Gesamtkosten  der  öffentlichen  Mittel-  und  höheren  Mädchenschulen 
beziffern  sich  auf  10807227  M.  Davon  sind  3692186  M.  sächliche  Auf- 
wendungen. Die  persönlichen  Kosten  im  Betrage  von  7 115  041  M.  ent- 
halten : 

1.  Gesamtstelleinkommen  der  vollbeschäftigten  Lehrkräfte  6429833  M. 


2.  Persönliche  und  Dienstalterszulagen  51796  >. 

3.  Aufwendungen  für  Hilfslehrkräfte  344  398  „ 
4  Pensionen  emeritierter  Lehrkräfte  251470  „ 
5.  Leistungen  für  die  Lehrer-  Witwen-  u.  Waisenkassen         37  544  „ 


Die  Einkommensverhältnisse  der  Lehrkräfte  an  den  Mittel-  und  höheren 
Mädchenschulen  in  den  einzelnen  Provinzen  zeigt  folgende  Übersicht: 


Durchschnittl.  Gehalt      Dazu  Wert  der 
einschl.  der  persönlichen  freien  Wohnung  Summa 
u.  Dienstalterszulagen        u.  Feuerung 


Ostpreufsen 

1386 

Mk. 

263 

Mk. 

1649 

Mk. 

Westpreufsen 

1437 

11 

333 

11 

1770 

" 

Stadtkreis  Berlin 

2669 

■- 

644 

i> 

3313 

m 

Brandenburg 

«423 

270 

1693 

■  1 

Pommern 

1589 

■ 

286 

'• 

1875 

11 

Posen 

»538 

294 

II 

1832 

11 

Schlesien 

«743 

1! 

346 

>■■ 

2089 

Sachsen 

1405 

1» 

290 

" 

•695 

Schleswig-Holstein 

1672 

II 

404 

2076 

<> 

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—    168  — 

Durchschnittl.  Gehalt  Dazu  Wert  der 

einschl.  der  persönlichen  freien  Wohnung  Summa 

u.  Dienstalterszulagen  u.  Feuerung 

Hannover                            1493  Mk.  325  Mk.  1818  Mk. 

Westfalen                             16 14    „  256    „  1870  „ 

Hessen-Nassau                      1892    „  465    „  2357  „ 

Rheinland                             1914    „  320    .»  2234 

Hohenzollern                        1080    „  220    „  1300  ,, 

Rechnet  man  die  persönlichen  und  Dienstalterszulagen,  sowie  den 
Wert  der  Wohnung  und  Feuerung  dem  Stcllcneinkommen  zu,  so  ergicbt 
sich  folgende  Abstufung  des  Einkommens  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an 
den  öffentlichen  Mittelschulen.    Es  hatten  ein  Einkommen 


bis 

000 

Mk. 

55 

Lehrer  und 

•23 

Lehrerinnen 

von 

901 

>■> 

bis 

1050 

Mk. 

118 

11 

■• 

«52 

>» 

1051 

11 

1200 

fi 

187 

■1 

199 

•i 

H 

1201 

1350 

11 

160 

" 

130 

Tl 

>' 

1351 

»» 

1500 

268 

ii 

>> 

132 

II 

1501 

>• 

1650 

>» 

227 

69 

'  ■ 

165 1 

1800 

305 

11 

11 

89 

>< 

1801 

II 

1950 

212 

i» 

29 

" 

1951 

2100 

■ 

306 

" 

" 

45 

" 

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2101 

II 

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2250 

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166 

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25 

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2251 

II 

1 1 

2400 

178 

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1 1 

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2401 

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2550 

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über  3000 

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386 

1  ■ 

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Die  Mehrzahl  der  Lehrer  bezieht  also  ein  Einkommen  von  über 
1800  Mk.,  die  Mehrzahl  der  Lehrerinnen  ein  solches  von  über  1200  Mk. 

Bezüglich  der  in  den  Ruhestand  getretenen  Lehrkräfte  an  den  Mittcl- 
und  höheren  Mädchenschulen  ergab  die  Statistik,  dals  144  pensionierte 
Lehrer  und  103  pensionierte  Lehrerinnen  vorhanden  waren.  Auf  21  voll- 
beschäftigte Lehrkräfte  entfiel  ein  Pensionär,  eine  Pensionärin  aber  schon 
auf  10  vollbeschäftigte  Lehrerinnen.  Die  Durchschnittspension  eines  Lehrers 
betrug  14 16  Mk.,  die  einer  Lehrerin  462  Mk. 

Die  Gesamtkosten  für  eine  Klasse  der  Mittel-  und  höheren  Mädchen- 
schulen beziffern  sich  durchschnittlich  auf  2831  Mk.  und  jedes  Kind  ver- 
ursacht einen  Aufwand  von  80  Mk.  Da  im  Durchschnitt  jeder  Schüler 
36  Mk.  Schulgeld  entrichtet,  so  erfordert  er  einen  Zuschufs  von  ca.  44  Mk- 
Zur  Vergleichung  führen  wir  noch  an,  dafs  jeder  Schüler  der  höheren  Lehr- 
anstalten im  Durchschnitt  etwa  179  Mk.  kostet  und  90  bis  95  Mk.  Zuschufs 
erfordert. 


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16g  — 


5.  Die  Herbartsche  Pädagogik  in  Württemberg. 

Viel  leichter  als  über  Pädagogik  wäre  über  Schulpolitik  in  Württem- 
berg zu  berichten.  Letztere  herrscht  so  sehr  vor,  dafs  der  erstcrcn 
nur  noch  der  Aufenthalt  im  Hintergrund  gestattet  ist.  Denn  die  Schul- 
politiker vom  Fach  fragen  zunächst,  wie  sie  selbst,  dann  erst  (wenns 
überhaupt  soweit  kommt)  wie  die  Schulen  ihrer  Natur  gcmäfs  leben 
können.  Ein  solches  Vorgehen  führt  mancherlei  Widerspruch  und  Kampf 
herbei,  welche  Kraft  und  Zeit  in  Beschlag  nehmen.  Man  befindet  sich  ins- 
besondere in  Widerspruch  und  Kampf  mit  den  Vertretern  der  Kirche, 
welche  bisher  die  amtlichen  Vorgesetzten  der  Schule  waren,  in  Kampf 
auch  mit  demjenigen  kleineren  Teil  der  Volksschullehrerschaft,  welche  von 
einer  Neugestaltung  unserer  Schulverwaltung  eine  Beeinträchtigung  des 
individuellen  Glücks  befürchtend  die  Beibehaltung  der  seitherigen  Schul- 
aufsichtsordnung  besonders  aus  religiösen  Gründen  befürworten.  Ist  so 
alles  in  centrifugale  Bcwegun«  gekommen,  dann  will  eine  Zurückwendung 
zum  Zentrum  als  eine  naturgesetzliche  Unmöglichkeit  erscheinen.  Ver- 
geblich wird  den  Parteien  die  wissenschaftliche  Pädagogik  als  Vereinigungs- 
punkt vorgeschlagen.  Ebenso  scheinen  auch  alle  Anrcizungen  von  amt- 
licher und  privater  Seite  zum  Studium  und  zur  Pflege  der  wissenschaftlichen 
Pädagogik  Herbarts  vergeblich  zu  sein.  Doch  ich  will  nicht  Vermutungen 
sondern  Thatsachen  berichten. 

Eine  vor  4  Jahren  von  der  württembergischen  Oberschulbehörde  ge- 
stellte Preisaufgabe:  »Was  versteht  die  sogenannte  wissenschaftliche  Päda- 
gogik der  Schüler  Herbarts  unter  Konzentration  und  kulturhistorischen 
Stufen  bei  Anordnung  des  Unterrichtsstoffes,  sowie  unter  formalen  Stufen 
beim  Unterrichtsverfahren?  und  inwiefern  sind  die  in  diesen  Ausdrücken 
befafsten  Forderungen  begründet?«  wurde  von  einer  aufsergewöhnlichen 
Anzahl  von  Lehrern  (13)  bearbeitet.  Zwei  der  preisgekrönten  Arbeiten 
sind  auch  in  die  Öffentlichkeit  gedrungen  (»Die  Hauptforderungen  der 
Herbart-Zillerschen  Unterrichtslchrc,  von  Chr.  Schmid  und  »Die  Päda- 
gogische Schule  Herbarts  und  ihre  Lehre,  von  Joh.  Fr.  G.  Közle«).  Gleich- 
zeitig erschien  eine  Schrift  über  die  formalen  Stufen  von  Seytter.  Keine 
dieser  Schriften  vermochte  eine  merkliche  Änderung  in  der  Stellungnahme 
der  württ.  Lehrerschaft  im  allgemeinen  gegenüber  den  pädagogischen 
Lehren  der  Herbartschen  Schule  hervorzubringen. 

Auf  den  amtlichen  Konferenzen  ist  man  mehrfach  auf  die  Lehren 
der  Herbartschen  Pädagogik  zu  sprechen  gekommen.    Im  Konferenzjahr 
1889/90  sind  folgende  diesbezügliche  Themen  teils  in  Aufsätzen,  teils  in 
Referaten  behandelt  worden: 
Die  Herbart-Zillersche  Unterrichtsmethode, 
Die  Konzentration  des  Unterrichts. 
Das  Märchen  und  das  erste  Schuljahr. 


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I 


—    i/o  — 
Die  Herbartsche  Lehre  vom  erziehenden  Unterricht. 

Eine  Lehrprobe  über  den  Hebel  nach  Hcrbart-Zillerschen  Grundsätzen 

schriftlich  auszuarbeiten. 
Die  Psychologie  Herbarts. 

Psychologische  Begründung  der  Herbartschen  formalen  Stufen. 

Die  Betreibung  des  Religionsunterrichts  in  der  Herbartschen  Schule. 

Die  Herbartsche  Pädagogik  im  Verhältnis  zum  Christentum. 

Es  ist  nur  schade,  dafs  man  von  den  Ergebnissen  dieser  Unter- 
suchungen aufserhalb  der  betreflenden  Konferenz  nichts  erfährt.  Eine  Zu- 
sammenfassung derselben  (etwa  in  einem  jährlich  zu  veröffentlichenden 
»Pädagogischen  Konferenzjahrbuch«)  würde  die  Bestrebungen  auf  den  ver- 
schiedenen Gebieten  der  Volksschule  deutlich  erkennen  lassen  und  eine 
zielbewufste  Gesamtarbeit  ermöglichen. 

Weiterhin  nötigen  die  Examenaufgaben  der  II.  Dienstprüfung 
hin  und  wieder  zum  Studium  der  Hcrbart-Zillerschen  Unterrichtslehre.  So 
wurde  z.  B.  kei  der  letzten  II.  Dienstprüfung  'November  1890  die  Aufgabe 
gestellt:  »Die  Hauptgedanken  des  Hei  bart-Zillerschen  Unterrichtssystems 
(übersichtlich)«. 

In  den  Seminaren  wurde  bisher  ein  geringer  Wert  auf  die  Her- 
bartsche Pädagogik  gelegt;  es  geschah  ihrer  wohl  Erwähnung,  aber  zu  dem 
Versuch  einer  Anwendung  ihrer  Lehren  (wenigstens  der  formalen  Stufen' 
ist  es,  soweit  des  Verfassers  Erkundigungen  reichen,  bis  heute  nicht  ge- 
kommen. Doch  unternahmen  voriges  Jahr  zwei  unserer  Seminarmuster- 
lehrer eine  Reise  nach  Altenburg,  um  dort  die  Anwendung  der  Herbartschen 
Unterrichtslchrc  in  der  Praxis  kennen  zu  lernen. 

Seit  einigen  Jahren  wird  auch  von  privater  Seite  aus  das  Interesse 
für  Herbartsche  Pädagogik  in  Württemberg  zu  wecken  gesucht.  (Vgl. 
Pädagogische  Studien  1S89,  II.  Heft.)  Wiederholt  wurde  vom  Unterzeich- 
neten ein  Aufruf  zur  Vereinigung  der  Herbartianer  in  Württemberg  er- 
lassen. Allein  nur  mit  geringem  Erfolg.  Doch  ist  für  das  Winterhalbjahr 
1890/91  in  Winnenden  eine  freie  Konferenz  zustande  gekommen,  welche 
sich  das  Studium  der  Herbartschen  Psychologie  und  Methode  zur  Aufgabe 
gemacht  hat. 

Durch  einige  neuere  Schritten  und  Artikel  in  unserem  (halb- 
amtlichen) Schulwochenblatt  wurde  wiederholt  auf  die  Herbartsche  Päda- 
gogik hingewiesen.  Vom  Unterzeichneten  geschah  dies  mit  besonderer 
Hervorhebung  der  erziehlichen  Seite  in:  »Erziehender  Unterricht,  Verlag 
von  H.  A.  Pierer,  Altenburg.«  Desgleichen  in  einem  Aufsatz  im  württ 
Schulwochenblatt:  »Der  neue  Stuttgarter  Lehrplan  vom  Standpunkt  des 
erziehenden  Unterrichts  aus  betrachtet.«  (Schulwochenblatt  No.  39,  1890. 
•    Verlag  von  Chr.  Bclser  in  Stuttgart.) 

Verfasser  hat  die  Überzeugung  gewonnen,  dafs,  wenn  die  Herbartsche 
Pädagogik  mit  Erfolg  auf  die  Schulpraxis  einwirken  will,  es  ganz  verkehrt 
ist,  mit  dem  Lehrverfahren  beginnen  zu  wollen.  Thut  man  das  dennoch, 
so  findet  man  die  Methode  nicht  nur  nicht  hinreichend  begründet,  sondern 
was  wirklich  verhängnisvoll  ist,  in  vielen  Fällen  praktisch  undurchführbar. 


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I7i  — 


Von  dieser  Lage  aus  wird  dann  die  ganze  Herbartsche  Pädagogik  be- 
urteilt und  man  weifs,  wie  das  blinkt. 

Ohne  Zweifel  ist  es  die  Reform  des  Lehrplans,  was  unseren  Schulen 
not  thut  und  dem  Herbartianismus  die  Thüren  öffnet.  Wenn  auch  die 
Lehrplantheorie  noch  zu  keinem  relativen  Abschlufs  gekommen  ist,  wie 
das  bei  der  Theorie  der  formalen  Stufen  der  Fall  ist,  so  sind  doch  für  die 
Neugestaltung  des  Lehrplans  Anhaltspunkte  (Grundgesetze)  gegeben,  die 
gegenüber  dem  seither  in  dieser  Hinsicht  herrschenden  Eklektizismus  einen 
wesentlichen  Fortschritt  zu  bedeuten  haben. 

Zur  Bethätigung  dieser  Einsicht  bietet  die  württ.  Oberschulbehörde 
durch  die  Stellung  einer  neuen  Preisaufgabc  Gelegenheit.  Die  Preisaufgabe 
lautet:  »Der  Lchrplan  einer  einklassigen,  einer  zwei-  und  einer  drei- 
klassigen  Volksschule  soll  entworfen  werden,  wobei  etwaige  Abweichungen 
vom  Normallehrplan  eingehend  zu  begründen  sind.« 

Endlich  wurde  die  Herbartsche  Pädagogik  als  Vereinigungspunkt  der 
eingangs  erwähnten  streitenden  Parteien  vorgeschlagen.  Da  die  Geistlichen 
nur  unter  der  Bedingung  aus  freien  Stücken  auf  die  Schulaufsicht  ver- 
zichten, wenn  sie  die  Hoffnung  haben  dürfen,  dafs  nach  Erlangung  der 
Fachschulaufsicht  die  Lehrer  nicht  auch  die  konfessionslose  Volksschule 
anstreben,  wies  Verfasser  dieses  in  einem  Artikel  des  Schulwochenblattes 
»Zu  den  Friedenspräliminarien«  nach,  dafs  diese  Befürchtung  thatsächlich 
nicht  begründet  sei,  und  dafs  ihr  auch  für  die  Zukunft  jeder  Boden  ent- 
zogen wäre,  wenn  man  der  wissenschaftlichen  Pädagogik  Herbart-Zillers 
gröfseren  Einflufs  bei  uns  verstatten  würde. 

Ob  nun  diese  vielfachen  Anregungen,  welche  in  vorliegender  Sache 
gegeben  wurden,  eine  entsprechende  Reaktion  hervorzurufen  imstande  sind, 
wird  wohl  die  Zukunft  lehren.    »Gut  Ding  will  Weile  haben.« 

Baach  b.  Winnenden.  J.  L.  Jetter. 


6.  Begehren  und  Wollen. 

Eine  Entgegnung. 

Herr  Otto  Foltz  hat  mir  die  Ehre  erwiesen,  in  der  vorletzten  Nummer 
der  »Pädagogischen  Studien«  meine  Schrift:  »Die  Kant-Herbartsche  Ethik« 
einer  Beurteilung  zu  unterziehen.  Wenn  ich  nun  auch  wünschte,  dafs  der 
Kritiker  in  etwas  freundlicherer  Weise  auf  meinen  Standpunkt  sich  zu  stellen 
versucht  hätte,  so  danke  ich  ihm  doch  aufrichtig  für  die  Mühe,  die  er  sich 
um  meine  Arbeit  verursacht  hat.  Leider  aber  kann  ich  mich  den  Ergeb- 
nissen seiner  Beurteilung  nicht  anschliefsen.  Gar  mancherlei  ist  es,  was 
ich  da  zu  sagen  hätte.    Der  Kürze  wegen  werde  ich  indes  alles  minder 


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172 


Wichtige  beiseite  lassen  und  mich  sofort  zu  dem  in  der  Überschrift  be- 
zeichneten Kernpunkte  wenden. 

Herbart  erklärt  (Werke  V  S.  78)  den  Willen  für  ein  Begehren, 
»verbunden  mit  der  Voraussetzung  der  Erfüllung.«  Mit  dieser 
Erklärung  kann  ich  nicht  übereinstimmen,  und  zwar  aus  einem  formellen 
und  einem  sachlichen  Grunde. 

Zunächst  weifs  ich  mit  dem  Posten  »Voraussetzung  der  Erfüllung«  in 
der  Rechnung:  »Begehren  und  Voraussetzung  der  Erfüllung  =  Wollen«  nichts 
anzufangen;  jene  Voraussetzung  will  sich  mit  dem  Begehren  nicht  zu  einem 
einheitlichen  Begriffe  summieren  lassen.  Sehen  wir  uns  deshalb  die  Sache 
etwas  näher  an  ! 

Das  Begehren  ist  nach  der  Auffassung  Herbarts  eine  be- 
stimmte Vorstellung,  die  mit  einer  ihr  widerstrebenden  in 
ein  Spa  n  n  vn  g  s  v  e  r  hältnis  gerät.    Zeugnis  dafür  geben  die  Worte 
(W.  V  S.  81;    »Es  sind  zuerst  die  Gedanken,  welche  der  gewohnten  Rich- 
tung folgen  und  welche,  wenn  kein  Hindernis  eintritt,  vor  allem  merklichen 
Fühlen  und  Begehren  sogleich  in  Handlung  übergehen.    Stellt  sich  aber 
etwas  in  den  Weg,  alsdann  schwillt  die  Begierde  an,  begleitet  von  einem 
Gefühl  der  Mühe  und  der  angestrengten  Thätigkeit.«    Da  die  widerstrebende 
Vorstellung  zu  der  strebenden  in  demselben  Verhältnisse  steht  wie  letztere 
zu  erstcrer,  die  Natur  beider  also  gleich  ist,  so  charakterisiert   auch  die 
widerstrebende  Vorstellung  sich  als  Begehren,  und  es  befinden  sich,  sobald 
die  Seele  begehrt,  zwei  Begehren  in  derselben,  meinetwegen  das  der  Er- 
füllung und  das  ihm  entgegengesetzte  der  Nichterfüllung.    Als  Beweis  da- 
für, dafs  ich  im  Sinne  Herbarts  rede,  wenn  ich  die  widerstrebende  Vor- 
stellung ebenfalls  als  Begehren  bezeichne,  möchte  ich  daran  erinnern,  dafs 
Herbart  bei  der  Herleitung  seiner  Idee  der  sittlichen  Freiheit  die  »beste 
Einsicht«  als  Willen  zu  einem  andern  Willen  in  ein  Verhältnis  setzt,  sie 
mithin  doch  otTenbar  als  ursprüngliches  Begehren  behandelt.    Zur  Betäti- 
gung, zur  Wirksamkeit  über  das  Streben  gee;en  das  andere  hinaus  wird 
nun  allein  das  Begehren  gelangen  können,  oder,  mit  Herbarts  Worten  aus- 
gedrückt, die  Voraussetzung  der  Erfüllung  kann  sich  nur  mit  dem  Begehren 
verbinden,  welches  sich  als  das   stärkere  erweist,     dadurch  aber  wird 
dieses  zum  Wollen.    Der  Wille  mufs  also  im  Hcrbartschen  Gedankenzuge 
definiert  werden  etwa  als  der  siegende  und  herrschende  Teil  eines 
Begehrungspaares.     Von   diesem  Standpunkte  aus  habe  ich  S.  77 
meiner  Schrift  gesagt:  »Nach  Herbarts  Psychologie  ist  das  Wollen  ein  Be- 
gehren, das  (über  sein  Verhalten  zu  dem  gegnerischen  Begehren  hinaus) 
aktiv  wird«,  und  S.  136:    »Ich  kann  nicht,  wie  die  Herbartianer  es  thun, 
den  Willen  für  eine  Art  des  Begehrens  halten,  nämlich  für  eine  solche,  die 
(über  das  Verhalten  zu  dem  gegnerischen  Begehren  hinaus)  zur  Bethätigung 
strebt  «  —  Das  ist  der  formelle  Grund. 

Zu  dem  sachlichen  hinüber  bringen  uns  meine  zuletzt  zitierten  Worte. 
Ich  vermag  mit  der  Herbartschen  Begriffserklärung  des  Willens  nicht  ein- 
verstanden zu  sein  selbst  in  der  von  mir  vorgeschlagenen  Fassung,  und 
zwar  deshalb  nicht,  weil  es  mir  scheint,  als  sei  dem  Begriffe  »Willen«  Ge- 


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-     i/3  - 


walt  angethan  worden.  Das  »Wollen«  eines  Menschen  setzt  nach  allge- 
meiner Anschauung  die  Zustimmung  der  Persönlichkeit,  des  Ich, 
zu  dem  Erstrebten  voraus,  wie  das  auch  ein  Herbartianer,  Ballauf,  zu- 
giebt,  wenn  er  sagt  (Gründl,  d.  Psych.  S.  86):  »Dadurch,  dafs  zu  einem  in 
mir  hervorgerufenen  Streben  mein  Entschlufs  hinzukommt,  es  auszuführen, 
wird  es  zu  meinem  Wollen.«  Wo  ist  diese  innere  Zustimmung  des  Wollen- 
den bei  Herbart?  Auf  sie  wird  dort  keine  Rücksicht  genommen.  Nur  die 
> Voraussetzung  der  Erfüllung«  des  Strebens  macht  ja  letzteres  zum  Wollen, 
oder  anders  gesagt :  Einfach  das  stärkere  Streben  ist  das  Wollen,  einerlei, 
ob  die  Persönlichkeit  des  Menschen  sich  freundlich  oder  feindlich  zu  dem- 
selben stellt,  dasselbe  zu  fördern  oder  zu  hindern  strebt.  Nach  Herbart 
ist  es  deshalb  auch  unmöglich,  etwas  zu  thun,  was  man  nicht  will,  oder 
etwas  nicht  zu  thun,  was  man  will  (von  äufserem  Zwange  abgesehen). 
Denn  nur  das  Siegende  im  Begehren  kann  zum  Thun  fortschreiten  ,  folg- 
lich ist  alles,  was  man  thut,  jenem  herrschenden  Begehren,  dem  Wollen, 
entsprechend.  Das  aber  steht  wieder  der  allgemeinen  Anschauung  ent- 
gegen. Ein  jeder  wohl  hat  schon  die  Erfahrung  an  sich  gemacht,  deren 
der  Apostel  Paulus  mit  den  Worten  Erwähnung  thut:  »Das  Gute,  das 
ich  will,  das  thue  ich  nicht;  das  Böse  aber,  das  ich  nicht  will,  das 
thue  ich  « 

Sobald  ich  mir  klar  darüber  geworden  war,  in  welcher  Richtung 
ich  die  wahre  Bestimmung  des  Wollens  zu  suchen  haben  würde,  schlug 
ich  den  geeigneten  Weg  ein.  Dabei  drängte  sich  mir  die  Überzeugung 
auf,  dafs  im  nichtkörperlichen  Leben  des  Menschen  eine  deutliche  Schei- 
dung sich  bemerkbar  mache  in  eine  mechanische  Seite  und  eine  solche, 
welche  die  Persönlichkeit  des  Menschen  darstellt.  Ich  ging  zuvörderst  daran, 
diese  Seiten  in  der  Beziehung  scharf  zu  unterscheiden,  und  nannte  sie  die 
»seelische«  und  die  >geistige«.  Der  Begrift  »Seele«  hat  also  bei  mir 
nicht  den  Umfang  wie  bei  Herbart.  Das  Wort  schliefst  bei  mir  die  Per- 
sönlichkeit des  Menschen  und  damit  alle  Erscheinungen  aus,  die  durch 
das  Eingreifen  derselben  in  das  mechanische  Getriebe  der  Seele  in  letzterer 
hervorgerufen  werden.  So  ist  mir  z.  B.  das  Bewufstsein  als  solches  ein 
»seelischer«  Zustand,  ebenso  die  Aufmerksamkeit,  soweit  sie  durch  ihre 
Gegenstände  hervorgerufen  wird,  während  ich  die  Aufmerksamkeit,  welche 
sich  darstellt  als  das  von  dem  Ich  veranlafste  und  dem  Wirken  der  für 
das  gegenseitige  Verhalten  der  Vorstellungen  geltenden  mechanischen 
Gesetze  gegenüber  durchgeführte  Verweilen  bestimmter  Vorstellungen 
in  dem  Bcleuchtungszustande,  den  wir  Bewufstsein  nennen,  als  einen 
»geistigen«  Zustand  bezeichne.  Ähnliches,  wie  auf  dem  Gebiete  des 
Bewufstseins,  läfst  sich  auch  auf  dem  beobachten,  das  gewöhnlich 
als  »Verstand«  angesprochen  wird ;  so  gehört  für  mich  das  »Ab- 
gewitztsein  auf  den  eigenen  Vorteil«,  wie  Kant  sagt,  ausschliefslich  dem 
»seelischen«  Leben  an,  weil  es  rein  nach  mechanischen  Gesetzen  entsteht 
(s.  S.  134  meiner  Schrift). 

Ebenso  scharf  habe  ich  die  Strebungen  in  diesen  beiden  Seiten 
unterschieden  und  die  der  Seele  »Begehren«  genannt,  weil  ihnen  die 


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oben  als  unerläfslich  bezeichnete  Beteiligung  der  Persönlichkeit  fehlt,  die 
des  Geistes  »Wollen«,  weil  bei  ihnen  eben  jene  Beteiligung  vorhanden 
ist.  Um  diese  Unterscheidung  recht  augenfällig  zu  machen,  gebrauchte  ich 
auf  S.  136  meiner  Schrift  die  Worte:  »Dieser  (der  Wille)  begehrt  nichts 
und  hat  nichts  Gleichartiges  mit  dem  Begehren  (eben  weil  er  nicht  dem 
seelischen,  sondern  dem  geistigen  Bereiche  des  menschlichen  Seins  ange- 
hört). Man  kann  ihn  als  den  Polizisten  bezeichnen,  der  nach  der  Weisung 
seines  Gebieters  dessen  Ordnung  dem  blinden  Mechanismus  des  natürlichen 
Seelenlebens  gegenüber  zur  Durchführung  bringt  (oder  wenigstens  zu 
bringen  sucht  .  Er  ist  der  Ausdruck  der  Persönlichkeit  des  Menschen,  die 
Herr  im  eigenen  Hause  sein  darf.«  Wie  wenig  angebracht  im  Hinblick 
hierauf  die  Worte  des  Herrn  O.  F.  sind:  »Der  Wille  strebt  also  nicht  über 
die  Gegenwart  hinaus,  hat  kein  Ziel,  will  demnach  nichts?  Und  dieser 
nichtswollendc  Wille  soll  die  innere  Freiheit  in  die  Wirklichkeit  treten 
lassen?  Das  ist  dem  Rez.  zu  stark,  und  er  hält  sich  nicht  verpflichtet,  den 
Ausführungen  des  Verfassers  noch  weiter  im  einzelnen  nachzugehen«,  wird 
er  wohl  selbst  fühlen.  — 

Nachdem  so  der  Hauptpunkt  erledigt  ist,  seien  mir  nur  noch  wenige 
Worte  gestattet.  Zieht  Herr  O.  F.  in  Rücksicht  erstens,  dafs  der  Wille 
der  geistigen  Seite  des  Menschen  angehört,  zweitens,  dafs  der  Inbegriff 
dieser  Seite  die  Vernunft  ist,  drittens,  dafs  »vernünftig«  und  »gut«  als 
identisch  angesehen  werden  mufs  (wenigstens  habe  ich  mich  in  meiner 
Schrift  bemüht,  den  Nachweis  dafür  ausführlich  zu  erbringen),  so  wird  es 
ihm  nicht  schwer  werden,  zu  erkennen,  woher  die  zunächst  psychisch  be- 
stimmte »innere  Freiheit«  ihre  sittliche  Würde  nimmt.  Ebenso  möchte 
ihm  damit  die  Möglichkeit  geboten  sein,  das  Verfahren  seines  zweijährigen 
Töchterchens  sittlich  richtig  zu  werten.  Andeutungen  dazu  halte  ich  einem 
so  gewiegten  Psychologen  und  Ethiker  gegenüber  für  überflüssig. 

Cöthen.  F.  W.  D.  Krause. 


7.  Die  Pädagogische  Vorbildung  der  Kandidaten  für  das 

höhere  Schulamt  in  Baiern. 

Die  Beschlüsse  des  Bairischen  Ober-Schulrats  in  München  inbezug  aut 
die  pädagogische  Ausbildung  der  Kandidaten  des  höheren  Schulamts  sind 
von  besonderem  Interesse,  da  sie  nicht  die  in  Preufsen  beliebte  Einrich- 
tung nachahmen,  sondern  gerade  das,  was  der  Preufsischen  Organisation 
fehlt,  fordern  und  zwar  in  erster  Linie.  Denn  der  Oberschulrat  stellte  als 
ersten  Satz  hin: 

An  den  drei  Landesuniversitäten   sollen  pädagogische  Vorlesungen 


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—  175 


(Ethik,  Psychologie,  Didaktik,  Geschichte  u.  System  der  Pädagogik  u.  s.  w.) 
gehalten  werden. 

Wie  wenig  ausreichend  an  den  Preufsischen  Universitäten  hierfür  gesorgt 
ist,  möge  man  aus  der  Zusammenstellung  in  den  Päd.  Studien  1889  S.  234 
erkennen.  Wenn  der  Preufs.  Kultusminister  im  Abgeordnetenhaus  sich  aul 
diese  Zusammenstellung  als  einen  Beweis  für  die  ausreichende  Pflege  der 
Pädagogik  an  den  Preufs.  Universitäten  berief,  so  befand  er  sich  hierbei 
in  einem  verhängnisvollen  Irrtum. 

2)  An  die  gründliche  theoretische  Vorbildung,  die  die  Universität 
übernimmt,  schliefst  sich  die  praktische  Ausbildung  an,  die  jedoch  nicht 
über  ein  Jahr  hinaus  ausgedehnt  werden  soll. 

3)  Die  praktische  Vorbildung  soll  nicht  an  einer  zentralisierten  Anstalt 
mit  Musterschule  durchgemacht  werden,  sondern  verschiedene  Rektoren  u. 
Professoren  von  Gymnasien  und  Realschulen  sollten  je  2—5  Kandidaten 
zugewiesen  erhalten. 

4)  Über  die  Aneignung  der  Vorlesungen  an  der  Universität  soll  eine 
Probe  u.Zeugnis  verlangt  werden;  bei  dem  Examen  ist  auch  ein  deutscher 
Aufsatz  pädagogischen  Inhalts  zu  liefern. 

Hoch  erfreulich  ist  es  auch,  dals  der  Baierische  Kultusminister  an 
erster  Stelle  betonte,  dafs  unsere  Gymnasien  E  r  z  i  e  h'e  r  ,  nicht  Gelehrte 
brauchen ;  Männer,  die  mit  voller  Begeisterung  den  Erzieherberuf  ergreifen 
und  festhalten.  *)  Baiern  hat  (Vergl.  Allg.  Zeitung  6.  April  Abendblatt.)  mit 
obigen  Bestimmungen  einen  guten  Schritt  vorwärts  gethan  im  Gegensatz 
zu  Preufsen,  das  merkwürdiger  Weise  auf  die  Grundlegung  der  gesamten 
Erzieher- Arbeit,  die  gar  nicht  anders  als  durch  die  Universität  in  umfassen- 
der und  gründlicher  Weise  verwirklicht  werden  kann,  so  geringen  Wert  zu 
legen  scheint,  dafs  in  den  Bestimmungen  über  die  praktische  Ausbildung 
von  der  theoretischen  Grundlegung  gar  nicht  die  Rede  ist. 

Das  Grolsherzogtum  Weimar  hat  zwar  die  Preufs.  Ordnung  neuer- 
dings angenommen,  hat  aber  durch  die  Heranziehung  der  an  der  Univer- 
sität Jena  für  die  pädagogische  Ausbildung  getroffenen  Einrichtungen  den 
auffallenden  Mangel  der  Preufsischen  Instruktion  zu  beseitigen  gesucht 

(S.  das  Programm  des  Jenaer  Gymnasiums  1891.) 


8.  Herbartverein  in  Eisenach. 

Im  verflossenen  Winterhalbjahr  setzte  der  Verein  die  Durcharbeitung 
von  Zillers  >Allg.  Pädagogik <,  welche  er  im  Winter  1889/90  begonnen  hatte, 
fort.  Die  Sitzungen  fanden  alle  14  Tage  statt.  Zur  Besprechung  gelangte 
die  allgemeine  Unterrichtsmethodik  (S.  259—389).   Von  den  vielen  Punkten, 

•)  Diomn  Standpnnkt  hat  der  ß*iri»cbe  KnltniminlMCT  neuerdings  auf  dem  PhllologonUg  in 
München  wiederum  «Indringlich  Tertreten. 


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— I 


-    i76  - 

4-  Über  den  Anfang  des  Französ.  Unterrichts  von  Ch.  Toussaint  52 — 76. 
5.  Die  Schulreise  als  organ.  Glied  im  Plane  der  Erziehungsschule.  Von 

E.  Scholz.  76—135. 
die  zu  einer  besonders  lebhaften  Diskussion  Anlafs  gaben,  heben  wir 
folgende  hervor:  Bezieht  sich  das  Hauptziel  nur  auf  die  zwei  ersten  oder 
auch  auf  die  weiteren  formalen  Stufen?  (Allg.  Päd.  S.  262).  Was  gehört 
auf  die  Stufe  des  Systems?  Welcher  Unterschied  besteht  zwischen  ur- 
sprünglicher und  appereipicrender  Aufmerksamkeit  ?  —  Bei  der  Erörterung 
der  zweiten  Frage  gelangte  eine  Arbeit  des  Herrn  Bodenstein:  »Zum 
System  im  Geschichtsunterricht«  zum  Vortrag.  In  der  Schlufssitzung  ver- 
suchte Herr  Fack  die  Gründe,  die  füi  die  Märchen  geltend  gemacht 
werden,  als  nicht  stichhaltig  nachzuweisen. 

Leider  hat  der  Verein  zu  Ostern  ein  sehr  geschätztes  Mitglied  ver- 
loren: Herr  Direktor  Dr.  Staude  ist  als  Seminardircktor  nach  Coburg 
gegangen. 


9.  Oster- Programme  1891. 

Unter  den  Oster-Programmcn  des  Jahres  91,  die  uns  zugegangen  sind, 
möchten  wir  unsere  Leser  besonders  auf  folgende  verdienstvolle  Arbeiten 
hinweisen : 

1)  Dr.  Aug.  Nebe -Elberfeld,  Vivcs,  Alstcdt,  Comenius  in  ihrem  Verhält- 

nis zu  einander.    (Progr.  No.  434  ) 

2)  Dr.  A.  Gille-Cottbus,  Aufgaben  und  Methode  der  Pädagogik  als  Wissen- 

schaft.   Halle  a.  S.    (Progr.  No.  229.) 

3)  Dr.  O.  Alten  bürg- Weelcn,  Zur  Lchrplanorganisation  für  die  Prima 

des  humanistischen  Gymnasiums.    (Progr.  No.  207.) 


10.  Aus  dem  Pädag.  Universitäts-Seminar  zu  Jena.*) 

Den  früher  angezeigten  Heften  reiht  sich  das  dritte  kürzlich  er- 
schienene an.  Es  ist  dem  Andenken  an  den  Begründer  des  Seminars, 
Herrn  Schulrat  Stoy,  gewidmet  und  enthält  folgende  Arbeiten: 

1.  Vorwort  von  Prof.  Dr.  Rein.    I— XVI. 

2.  Bericht  über  die  Thätigkeit  des  Seminars.    Von  E.  Scholz.  1—24. 

3.  Ordnung  des  Seminars.    Von  A.  Reukauf.  24—52. 

*.l  Langensalza,  Beyer  u.  S.,  3,50  M. 


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—    177  - 


6.  Girardet-Breling:  Die  Aufgaben  der  öffentl.  Erziehung  gegenüber  der 
sozialen  Frage.    Von  J.  Trüper.  135—154. 

Der  Anhang  enthält  1)  einen  Bericht  über  die  Schulreise  der  Seminar- 
schule in  den  Harz,  Sommer  1889  und  2)  Konzentrations -Tabellen  der 
Quinta  und  Quarta. 

Allen  denjenigen,  welche  Interesse  für  die  Arbeit  des  Päd.  Univer- 
sitäts-Seminars in  Jena  haben  und  mit  derselben  sich  näher  bekannt  machen 
wollen,  bietet  sich  das  dritte  Heft  als  Führer  an. 


II.  5  Hauptversammlung  des  Vereins  für  Knabenhandarbeit. 

Am  23.  und  24.  Mai  d.  J.  fand  im  Gewerbehause  zu  Eisenach  die 
5.  Hauptversammlung  des  deutschen  Vereins  für  Knabenhandarbeit  statt. 
Zunächst  hielt  am  23.  Mai  abends  8  Uhr  nach  einer  Vorstandssitzung  des 
Vereins  Oberrealschuldirektor  Noeggerath  aus  Hirschberg  i.  Schles.  einen 
öffentlichen  Vortrag  über  Bedeutung  und  Ziele  des  Handarbeits-Unterrichts. 
Nach  einem  geschichtlichen  Oberblicke  über  die  Bestrebungen  für  erzieh- 
liche Knabenhandarbeit  hob  der  Vortragende  zunächst  die  verderblichen 
Folgen  einer  einseitigen  Ausbildung  des  Geistes  hervor,  wie  sie  sich  z.  B. 
darin  zeigten,  dafs  von  den  Einjährig-Freiwilligen  bei  der  Aushebung  zum 
Militär  80  %,  von  den  Besuchern  der  Volksschule  höchstens  45  %  zurück- 
gestellt werden  müfsten,  obgleich  doch  die  ersteren  von  Jugend  auf  in 
günstigeren  Lebensbedingungen  aufwachsen,  als  die  letzteren,  und  betonte 
die  Notwendigkeit  des  Gegengewichtes  gegen  diese  einseitige  Ausbildung. 
Freilich  seien  Turnunterricht  und  Jugendspiele  nicht  genügend  als  solches, 
sondern  es  müsse  aufserdem  noch  der  Handarbeitsunterricht  hinzukommen, 
der  nicht  blofs  mechanische,  geistlose  Fertigkeit  erzielen  wolle,  sondern  in 
umsichtiger  Auswahl  vielseitige,  wechselvolle  Aufgaben  stelle  und  durch 
deren  Lösung  zugleich  zu  höherer  Intelligenz  erziehe.  Eine  übcrmäfsige 
Belastung  des  Kindes  werde  durch  ihn  nicht  herbeigeführt,  im  Gegenteil 
eine  Erholung  von  einseitiger  geistiger  Anstrengung;  auch  sei  die  Hand- 
arbeit nicht  etwa  Spielerei,  sondern  bringe  durch  das  Gefühl  der  Be- 
friedigung über  gelungene  Leistungen  eine  entschiedene  Stärkung  des 
Willens  mit  sich.  Ferner  werde  durch  die  Handarbeit  die  Berufswahl  er- 
leichtert und  Interesse  für  die  wirtschaftlichen  Berufsarten  namentlich  auch 
in  den  mittleren  und  höheren  Volksklassen  wachgerufen,  somit  auch  dem 
geistigem  Hochmute  unserer  Kopfarbeiter  wirksam  entgegengearbeitet. 
Dieser  geistige  Hochmut  sei  mit  daran  schuld,  wenn  die  Produktionsfähig- 
keit unserer  Nation  hinter  der  anderer  Völker  zurückgeblieben  sei:  weite 
Schichten  unseres  Volkes  dünkten  sich  noch  jetzt  für  die  Handarbeit  zu 
vornehm.  Darin  vor  allem  liege  die  soziale  Bedeutung  der  Knaben-Hand- 
arbeit.   Wichtig  in  dieser  Beziehung  sei  auch,  dafs  in  Gegenden,  wo  eine 

P&d««ogUche  Studien.    III.  12 


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17» 


arme  Bevölkerung  unter  ungünstigen  Erwerbsverhältnissen  in  altherge- 
brachter, einseitiger  Beschäftigung  verharre  (vgl.  die  Weber  des  Eulen- 
gebirges), derselben  durch  die  Knabenhandarbeit  andere  Arbeitgebiete  ge- 
zeigt und  Neigungen  dafür  schon  in  der  Jügend  geweckt  würden.*) 

Der  Vortrag  war  zahlreich  besucht  und  fand  lebhaften  Beifall.  In  der 
sich  an  ihn  anschliefsenden  Debatte  wurde  insbesondere  betont,  dafs  es 
Ziel  des  Vereins  sei,  den  Handarbeitsunterricht  in  die  innigste  Beziehung 
zum  übrigen  Unterrichte  zu  setzen.  Dabei  fand  übrigens  auch  die  sich 
mit  ihrem  Arbeitsunterrichte  gerade  in  dieser  Richtung  bewegende  Thätig- 
keit  des  pädagogischen  Universitätsseminars  zu  Jena  lobende  Anerkennung. 

Am  24.  Mai  wurde  die  Hauptversammlung  in  demselben  Räume  unter 
ziemlich  zahlreicher  Beteiligung  durch  den  Vorsitzenden  des  Vereins  er- 
öffnet. Schulrat  Eberhardt  -  Eisenach  begrüfste  die  Versammlung  im  Auf- 
trage des  Grofshzgl.  Staatsministeriums,  dessen  regstes  Interesse  für  die 
von  dem  Vereine  vertretene  Sache  er  nachdrücklich  betont,  Bürgermeister 
Wittrock-Eisenach  überbrachte  die  Grüfse  der  Stadt.  Es  folgte  der  Bericht 
über  die  wirtschaftliche  Lage  des  Vereins  und  die  Beschlufsfassung  über 
die  vom  Vorstand  bewirkte  Abänderung  der  Vereinsstatuten,  die  nötig  ge- 
worden war,  weil  der  Verein  inzwischen  körperschaftliche  Rechte  erlang: 
hatte.  Nunmehr  erhielt  zunächst  das  Wort  Bürgerschullehrer  Fr.  Hertel 
aus  Zwickau  in  Sachsen  zu  seinem  Vortrage  über  das  Arbeiten  in  Papier 
und  Karton,  sowie  das  Formen  als  Arbeitsunterricht  für  Knaben  im  Alter 
von  7 — 10  Jahren.  Er  weist  nach,  warum  es  notwendig  sei,  den  Unterricht 
schon  mit  dem  8.  Lebensjahre  zu  beginnen  und  empfiehlt  als  Materialien, 
in  welchen  die  Arbeiten  auszuführen  seien,  Papier,  Karton  und  Plastilina 
(einen  eigens  vorgerichteten  Modellierthon).  Das  Papier  wird  benutzt  zum 
Ausschneiden,  Flechten  und  Falten.  Verlangen  die  auf  diese  Weise  ent- 
stehenden Gebilde  ein  dauerhafteres  Material,  so  wird  Karton  genommen. 
Die  Ausschneidearbeiten  sind  teils  freie,  teils  geometrische.  Beim  Formen 
wird  von  der  Kugel  ausgegangen  und  zunächst  dafür  gesorgt,  dafs  von  ihr 
eine  kräftige  Vorstellung  entsteht.  Dies  wird  erreicht  dadurch,  dafs  sie 
von  allen  Seiten  betrachtet,  gedreht,  gerollt,  gehoben,  geworfen,  geteilt, 
wieder  zusammengesetzt  wird  u.  s.  w.  Diese  Übungen  werden  fortgesetzt, 
bis  volle  Klarheit  der  Vorstellung  erreicht  ist.  Betrachtet  wird  die  Kugel 
an  sich,  im  Verhältnisse  zu  ihrer  Unterlage  und  im  Vergleiche  zu  ab- 
weichenden Formen.  Ist  die  Vorstellung  vollkommen,  so  wird  dieselbe 
verkörpert  in  geeignetem  Material  (das  nicht  immer  Plastilina  zu  sein  braucht, 
sondern  auch  Karton,  Seife  u.  s.  w.  sein  kann).  Dann  folgen  ihre  Dar- 
stellungen in  der  Reihenfolge  vom  Konkreten  zum  Abstrakten  (>Abdruck 
in  feuchtem  Sand,  Abrifs,  Zeichnung,  Darstellung  durch  die  Sprache«). 
Darnach  wird  der  Gegenstand  als  formbildendes  Element  betrachtet:  »Die 
Kugeln  werden  gruppiert  und  die  Abdrücke  werden  gereiht  nach  den  ver- 


•>  In  der  Th*t  l.t  «.  B.  der  Verein  rar  Förderung  de«  Wohl  der  arbeitenden  Klaewn  in 
(faaichupunktc  losgegangen. 


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—    179  — 

schiedenen  Rhythmen  und  Bewegungen.«  >Das  Papierfalten  wird  künftig 
im  Formen  aufgehen.«  An  ausgestellten  Zeichnungen  wird  der  Einflufs  der 
Papier-  und  Formarbeiten  auf  den  ersten  Zeichenunterricht  erläutert:  die 
durch  Falten  gewonnenen  Formen  sind  nachgezeichnet  und  koloriert 
worden.  Ebenso  die  durch  Formen  gewonnenen  Beispiele:  Kugelschicht, 
Kugelabschnitt,  Kugel,  Brot,  Brötchen,  Halbe  Hohlkugel,  Ei,  Eichel,  Kirsche. 
—  Man  sieht,  wie  sich  hier  ein  feiner  Kopf,  dem  methodische  Durch- 
bildung des  Unterrichtsgegenstandes  Bedürfnis  ist,  eines  sehr  dankbaren 
Stoffes  bemächtigt  hat.  Aber  die  Gefahr  liegt  nahe,  dafs  in  diese  ersten 
Übungen  zu  viel  Mathematik  >hineingeheimnist«  wird,  und  dieser  Gefahr 
ist  Vortragender  ebenso  wenig  entgangen,  wie  s.  Z.  Fröbel,  an  den  er  sich 
offenbar  anschliefst.  Immerhin  ist  das  ernste  methodische  Streben  und  die 
sinnreiche  Verwertung  Fröbelscher  Grundgedanken  hoch  anzuerkennen.  — 
Nach  Hertel  sprach  Lehrer  und  Landtagsabgeordneter  Kalb  aus  Gera  sehr 
anziehend  und  sachverständig  über  das  Arbeiten  in  Holz  als  Arbeitsunter- 
richt für  Knaben  im  Alter  von  7  —  10  Jahren.  Der  Vortragende  ging  aus 
von  dem  Bedürfnisse,  das  sich  in  den  von  ihm  geleiteten  Knabenhorte 
geltend  gemacht  hatte,  gerade  Knaben  dieses  Alters  zweckmäfsig  zu  be- 
schäftigen und  hob  hervor,  wie  wichtig  es  sei,  zunächst  mit  dem  einfachsten 
Werkzeuge  und  dem  einfachsten  Materiale  arbeiten  zu  lassen.  Als  solches 
böten  sich  das  Messer  und  die  Abfälle  der  Hobelbank  dar.  Er  habe  also 
die  Knaben  ihre  Messer  aufklappen  lassen,  habe  dann  zunächst  vor  Mifs- 
brauch  des  Messers  gewarnt  und  nun  Versuche  im  Schneiden  machen 
lassen.  Dann  sei  das  Kerbholzschnciden  an  die  Reihe  gekommen,  wovon 
gerade  im  Volke  immer  noch  hier  und  da  Gebrauch  gemacht  werde,  darauf 
Verzieren  des  Holzes  durch  Entrinden  an  re^elmafsig  wiederkehrenden 
Stellen  (spiralige  Verzierung  eines  Weidenzweiges),  dann  Trennen  mittels 
des  Messers:  Spalten  (hierbei  zu  berücksichtigen  die  Natur  des  Holzes  und 
die  Wirkung  des  Keiles).  Die  so  entstandenen  Stücke  hätten  die  kleineren 
Knaben  für  die  gröfseren  auf  Sandpapier  abreiben  müssen.  So  seien 
Stäbchen  entstanden,  wie  zu  Stiefelknechtfüfsen ;  dann  Blumenstäbchen 
(auch  gefärbt)  und  4 kantige  Säulen;  darauf  habe  er  das  Obcrplatten  ge- 
zeigt und  im  Anschlufs  daran  die  Anfertigung  eines  kleinen  Kreuzes  (z.  B. 
für  einen  Blumentopf);  dann  die  Anfertigung  einer  sog.  Schere,  wie  sie 
bei  Volksfesten  (z  B.  Fastnachtsaufzügen)  eine  Rolle  spielt,  etwa  um  von 
der  Strafse  aus  nach  dem  ersten  Stock  zu  langen  (actio  in  disums).  Nun- 
mehr seien  Stücke  aus  Korbweiden  zur  Verwendung  gekommen,  die  ein 
regelrechtes  Holzflechten  gestatten,  also  ein  Übertragen  des  Papierrlechtens 
auf  ein  anderes  Material,  ein  Flechten  in  der  Fläche,  nicht  ein  Flechten 
im  Räume,  wie  beim  Korbflechten.  Auf  diese  Weise  erhalte  man  Vorsatz- 
Stücke  für  Öffnungen  in  Gartenzäunen,  Hürden,  Ställen  u.  s.  w.  Weitere 
Gegenstände  ergäben  sich,  wenn  man  die  Lättchcn  schnitze  und  mit  Nägeln 
verbinde:  so  Zäune  mit  schräg  sich  kreuzenden  Streben,  gewöhnliche 
Zäune,  Thüren  mit  parallel  in  gleichen  Zwischenräumen  neben  einander 
auf  einen  Rahmen  aufgenagelten  Stäben,  einfache  und  doppelte,  Eingänge  zu 
Pflanz-  und  anderen  Gärten.    Wenn  man  die  Korbwpiden  spalte  und  die 

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i8o  — 


so  entstandenen  Halbstäbe  dicht  neben  einander  nach  einem  gewissen 
Muster  auf  eine  Unterlage  aufnagele,  so  gelange  man  zu  hübschen  Ver- 
zierungen, deren  Wirkung  sich  noch  erhöhen  lasse,  wenn  man  die  einzelnen 
Halbstäbe  färbe.  Das  Ziel  dieses  Unterrichtszweiges  sei  die  Herstellung 
eines  zweiräderigen  Karrens,  jedes  Rad  aus  einem  Stück.  An  Werkzeugen 
sei  nur  nötig  ein  gewöhnliches  Taschenmesser,  eine  Kindersäge  und  ein 
Hammer  zu  10  Pfg .;  dazu  brauche  man  noch  etwas  Sandpapier  und  Stifte 
zum  Nageln.  Auch  dieser  Vortrag  fand  verdienten  Beifall.  In  der  nach- 
folgenden Debatte  wurde  der  Antrag  gestellt:  »Die  5.  Hauptversammlung 
des  deutschen  Vereins  für  Knabenhandarbeit  hält  es  für  notwendig,  eine 
Verbindung  zwischen  den  Arbeiten  des  Kindergartens  und  denen  der 
Schülerwerkstatt  herzustellen  und  demnach  den  Arbeitsunterricht  bereits 
auf  Knaben  vom  1.  Schuljahre  auszudehnen.  Sie  begrülst  die  in  dieser 
Richtung  bereits  in  mehreren  Orten  Deutschlands  erfolgreich  unternommenen 
Versuche  mit  Freuden  als  einen  Beweis  dafür,  dafs  eine  solche  Verbindung 
möglich  ist  und  reiche  Früchte  zeitigen  kann.  Sie  empfiehlt  daher  allen 
deutschen  Schulwerkstätten  praktische  Versuche  auf  diesem  Gebiete  zu 
unternehmen ;  um  dadurch  zugleich  eine  weitere  Klärung  über  die  geeig- 
netsten Lehrgänge  für  die  jüngeren  Altersstufen  herbeizuführen.«  Dieser 
Antrag  wird  angenommen. 

Mit  der  Hauptversammlung  war  eine  Ausstellung  von  Arbeitserzeug- 
nissen aus  den  thüringischen  Handfertigkeitsschulcn  zu  Eisenach,  Gotha, 
Watershausen  und  Schncpfcnthal,  Ruhla,  Mehlis  und  Gerstungen,  sowie  aus 
der  Leipziger  Schülerwerkstatt  verbunden.  *)  Aufserdcm  hatten  sich  an 
der  Ausstellung  mit  Erzeugnissen  ihrer  Handgeschicklichkeit  beteiligt:  aus 
Eisenach  Realgymnasiallehrer  Dr.  Eduard  Höhn  (einlache  physikalische 
Apparate)  und  Lehrer  August  Herbart  (allerlei  technische  Schlauheiten), 
aus  Dresden  Lehrer  Kummer  mit  Modellen  für  das  Papierfalten  6— 10 jähriger 
Kinder. 

Ausgestellt  waren  von  Eisenach  lediglich  Papparbeiten,  von  Gotha 
Drahtarbeiten  und  Kerbschnitzereien,  von  Waltershausen  und  Schnepfen- 
thal lediglich  Kerbschnitzereien,  von  Ruhla  Papparbeiten  und  Kerb- 
schnitzereien, von  Mehlis  lediglich  Kerbschnitzereien,  von  Gerstungen  Papp- 
arbeiten, Kerbschnitzereien  und  eingelegte  Holzarbeiten  (Intarsien),  von 
Leipzig  Holzarbeiten  (ohne  Kerbschnitzerei),  Kerbschnitte  in  Modellen, 
Papparbeiten,  Drahtarbeiten.  Ganz  unvertreten  waren,  wenn  man  von 
Leipzig  absieht,  die  reinen  Holzarbeiten  ohne  Kerbschnitzerei,  die  Drechsler- 
arbeiten und  das  Thonmodellieren;  sieht  man  noch  von  Gotha  ab,  so  war 
auch  die  Metallarbeit  nicht  vertreten.  War  so  schon  der  Kreis  der  Arbeiten 
sehr  eng  gezogen,  so  trat  selbst  in  den  ausgestellten  Arbeiten  die  Beziehung 


•)  In  den  Berichten  Uber  die  Versammlung  wird  erwBhnt,  daf«  nach  Ballungen  auf  der  Am 
Stellung  vertreten  gewesen  «ei.  Kef.  hat  aber  davon  nicht«  entdecken  ktlnnen.  In  der  Einladung 
nur  6.  Hauptversammlung  war  allerdings  unter  den  ITandfertigkeitASchnlen,  die  Proben  Ihrer  Arbeits« 
ausstellen  wollten,  nneh  Snlzungen,  mit  aufgeführt,  und  so  mag  der  Name  au*  Veraehen  »einen  *<t 
in  die  betr.  Berichte  gefunden  haben. 


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—    181  — 


zum  Unterricht  nur  verhältnismäfsig  selten  ganz  deutlich  hervor;  im  wesent- 
lichen stehen  die  genannten  thüringischen  Arbeitsschulen,  wenn  man  sie 
nach  ihrer  Ausstellung  beurteilen  soll,  noch  auf  dem  Standpunkte,  wo  man 
die  Übung  in  der  sog.  Handfertigkeit  fast  nur  als  ein  zweckmässiges  Be- 
schäftigungsmittel aufTalst.    Ein  solches  ist  sie  nun  ja  unzweifelhaft  auch; 
aber  ebenso  wenig  unterliegt  es  einem  Zweifel,  dafs  damit  ihre  päda- 
gogische Bedeutung  noch  bei  weitem  nicht  erschöpft  ist.    Ich  habe  mir 
gerade  daraufhin  die  Ausstellung  sehr  genau  angesehen.    Das  persönliche 
Geschick  und  den  guten  redlichen  Willen  der  betr.  Leiter  will  ich  dabei 
vollständig  in  Ehren  halten;  aber  ich  meine,  eine  von  einem  Lehrer  ge- 
leitete Arbeitsschule  müfste  möglichst  bald  über  den  Standpunkt  hinaus- 
zukommen suchen,  als  wenn  es  sich  für  sie  darum  handeln  könne,  die 
Kinder  allerlei  niedliche  Gegenstände  des  täglichen  Gebrauchs  herstellen 
zu  lassen.    Auch  innerhalb  des  heute  geltenden  Lehrplanes  und  auch  bei 
der  gegenwärtig  fakultativen  Stellung  des  Arbeitsunterrichtes  ist  es  sehr 
wohl  möglich,  denselben  in  enge  Beziehung  zum  theoretischen  Unterrichte 
zu  setzen  und  es  dürfte  sich  für  alle  zukünftigen  Ausstellungen  empfehlen, 
nur  solche  Gegenstände  zuzulassen,  die  sich  nach  dieser  Richtung  hin 
ausreichend  legitimieren  können.    Um  nur  einige  zu  nennen,  so  würden 
hierher  gehören  z.  B.  einfache  physikalische  Apparate,  Auschauungsmittel 
für  den  Unterricht  in  der  Geographie,  der  beschreibenden  Natuwissenschaft 
und  dem  Rechnen,  Körpernetze  aus  Draht  und  Körpermodelle  aus  Holz 
oder  Pappe,  Rotationskörper  aus  Holz  oder  Thon  (also  auch  Erzeugnisse 
der  Dreharbeit);  ferner  Gegenstände  für  den  eignen  Bedarf  des  Schul- 
kindes: Lineale,  Federkästchen,  Stundenpläne,  Schulmappen,  Pappdeckel 
für  Schreibhefte,  feste  Notizbücher,  Schreibhefte;  Gegenstände  für  die 
Schulstube:  Thermometer,  Datumzeiger,  Bilderrahmen,  Wandkästchen  aus 
Pappe,  Wandschränkchen  u.  s.  w.    Wenn  alle  die  Veranlassungen,  welche 
das  Bedürfnis  der  Schule  dem  Arbeitsunterrichte  an  die  Hand  giebt,  ge- 
hörig ausgenutzt  werden,  so  wird  wahrscheinlich  gar  nicht  die  Zeit  übrig 
bleiben,  um  solche  Allotria,  wie  Eierbecher,  Messer,  Gabeln  und  Löffel, 
Streichholzhälter,  Serviettenringe  u.  dgl.  noch  anfertigen  lassen  zu  können. 
Wenn  aber  solche  Sachen  gleichwohl  für  eine  Ausstellung  eingesandt 
werden,  so  sollten  sie  für  sich  in  einem  Nebenraume  Aufstellung  finden, 
damit  man  endlich  einmal  zu  einem  Überblick  über  das  käme,  was  in  einem 
gröfseren  oder  kleineren  räumlichen  Gebiete  der  Arbeitsunterricht  lediglich 
zur  Unterstützung  des  übrigen  Unterrichts  geleistet  hat;  dieser  Gesichts- 
punkt ist  auf  allen  Ausstellungen,  die  ich  bisher  zu  sehen  Gelegenheit  ge- 
habt habe,  immer  mit  dem  andern,  eine  Übersicht  über  die  neben  der 
Schule   betriebenen  Handfertigkeiten    der  Kinder  zu  geben,  verquickt 
worden. 

Nach  diesem  Vorbehalte,  zu  dem  mich  mein  pädagogisches  Gewissen 
nötigt,  kann  ich  um  so  unbefangener  vom  technischen  Gesichtspunkte  aus 
die  tüchtigen  Leistungen  der  Ausstellung  anerkennen.  Einzelne  Lehrer- 
arbeiten zumal  zeigten  von  ganz  hervorragenden  Geschicklichkeit.  Als 
stilwidrig  empfinde  ich,  wenn  ich  Kerbschnitzerei  an  einer  Tischplatte  oder 


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182  — 

an  Sitz  und  Lehne  eines  Stuhles  verwendet  finde ;  ebenso,  wenn  eine  an 
die  Wand  zu  hängende  Zeitungsmappe  aus  Holz  behandelt  ist,  als  wäre  sie 
aus  Pappe,  nämlich  rechts  und  links,  wo  bei  der  Pappmappe  die  Lein- 
wand sitzt,  finde  ich  hier  Holz,  aber  wenn  ich  nun  einmal  zusehen  will,  ob 
die  Mappe  auch  hübsch  federt,  entdecke  ich  mit  Unbehagen,  dafs  das 
ganze  Stück  durchaus  starr  ist.  Ferner,  wenn  ein  Behälter  für  Briefbogen, 
aus  starker  Pappe  verfertigt  und  oben  offen,  so  dafs  man  die  Bogen  ein- 
schieben kann,  an  einer  oder  zwei  Ecken  umgebrochen  ist,  wie  etwa  ein 
Liegekragen;  dergleichen  kann  man  sich  erKuben,  wenn  das  Material  Lein- 
wand oder  Papier  ist,  aber  nicht  bei  starker  Pappe.  Endlich,  wenn  mir 
eine  Pappschachtel  ein  Buch  vortäuscht,  wie  das  bei  einer  Leipziger  Arbeit 
der  Fall  war. 

Die  nächste  Hauptversammlung  findet,  zugleich  mit  dem  n.  deutschen 
Kongresse  für  erziehliche  Handarbeit,  in  Königsberg  in  Preufsen  statt. 

Mit  einem  Dankesworte  des  Vorsitzenden  an  den  Ortsausschufs  und 
die  gastfreie  Stadt  Eisenach  schlofs  die  Versammlung. 

Jena,  30.  Mai  91.  Dr.  Beyer. 


12.  Zum  Kampfe  um  die  Schule.*) 

Von  Joh.  Trüper  in  Jena. 

II.  Zur  Rechtsfrage  im  Schulkampfe. 

(Fortsetzung.) 

Eine  andere  »liberale«  Ansicht  tritt  für  die  ..Kommunalschule  ein. 
So  die  Schrift: 

„Die  deutsche  Volksschule  in  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zu- 
kunft dargestellt  von  A.  Reichen  baeh,  Cöthen.  Paul  Schettlers  Ver- 
lag. 1886.  161  S." 

Der  Verfasser  hat  die  Erfahrung  gemacht,  »dafs  es  viele  Leute  giebt 
welche  für  ein  freisinniges  Schulwesen  eingenommen  sind,  Trennung  der 
Schule  von  der  Kirche  und  Ähnliches  wünschen,  über  die  Einzelheiten 
-dieser  grofsen  und  wichtigen  Angelegenheiten  aber  noch  lange  nicht  zur 
nötigen  Klarheit  durchdringen  konnten.  Ja  sogar  Lehrer  lernte  er  kennen, 
welche  nicht  besser  daran  waren «  »Die  immer  kühner  werdende  Be- 
hauptung der  Ultraraontanen  wie  der  protestantischen  Mucker,  die  Volks- 
schule sei  eine  Schöpfung  und  darum  Eigentum  der  Kirche,  welche  die  Em- 
pörung eines  jeden  hervorrufen  mufste,  der  die  Geschichte  kennt,«  veran- 
lafst  ihn,  »den  kurzen  und  allgemein  verständlichen  Beweis  zu  liefern,  dafs 
jene  Behauptung  grundfalsch  und  daher  entschieden  zurückzuweisen  sei.« 
So  charakterisiert  im  Vorwort  der  Verfasser  Ton  und  Tendenz  der  Schrift 

•)  8.  „PMeg.  Studien"  1890,  I.  n.  IV.  Haft,  1891,  II.  Heft. 


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selber.  Wir  möchten  ihn  zunächst  fragen,  was  ein  »freisinniges  Schul- 
wesen« ist.  Eins,  das  nach  Grundsätzen  organisiert  ist,  die  man  durch  ein 
freies,  d.  i.  unabhängiges,  eben  so  wenig  nach  links  wie  nach  rechts 
schielendes  Sinnen  gefunden  hat?  Oder  eins,  das  den  Anforderungen 
derer  entspricht,  die  sich  politisch  freisinnig  nennen,  es  aber  oft, 
wenigstens  auf  dem  Kirchen-  und  Schulgebiete,  durchaus  nicht  sind?*) 
Sagt  doch  der  Verfasser  selber  (S.  2),  dafs  der  Liberalismus  nicht  ein- 
mal in  seinen  Führern  wufste,  was  er  hier  wollte.  Er  mufs  also  über- 
haupt nicht  ernstlich  nachgesonnen  haben,  geschweige  denn  in  freier,  un- 
befangener Weise.  »Die  Schulfrage  ist  viel  zu  sehr  als  eine  Part  ei  an  - 
gelegenheit  behandelt  worden,  statt  als  eine  aus  der  vorhergegangenen 
Entwickelung  sich  ergebende  K  u  1 1  u  rf  r  a  g  e.c  (Ebendas.)  Man  hatte 
auch  unter  der  Ära  Falk  in  Preufsen  „mit  der  ganzen  so  wichtigen  An- 
gelegenheit nur  gespielt,  nur  spielen  wollen  und  spielte  sie  nun  |als 
Schachware  aus." 

Der  Verfasser  nimmt  seiner  liberalistischen  Anschauung  entsprechend 
zunächst  für  die  Staatsschule  gegenüber  der  Kirchenschule  Partei,  gesteht 
aber  hinterdrein  (S.  74)  zu,  dafs  es  mit  der  Erklärung  der  Schule  als 
„staatliche  Anstalt"  sich  „nicht  so  ganz  rein  und  glatt  verhält,  wie  es  den 
Anschein  haben  könnte."  Nicht  nur  ist  es  thatsächlich  eine  eigene  Sache 
mit  dem  Gegensatz  zur  Kirchlichkeit  und  der  Oberaufsicht  (seitens  des 
Staates),  auch  das  „Staatliche  kann  nicht  mit  Unrecht  Bedenken  erregen." 
Diese  werden  denn  auch  später  zum  Ausdruck  gebracht  auf  S.  149  ff.,  wo 
die  Frage  von  der  Erhaltung  und  Selbstverwaltung  der  deut- 
schen Volksschulen  erörtert  wird.  Hier  steht  der  Verfasser  auf  dem 
Standpunkte  von  Gneist:  „Die  Selbstverwaltung  der  Volkschule". 
Er  tritt  für  „Schulgemeinden"  und  Gemeindeschulen  ein.  Im 
Gegensatz  zu  der  pädagogischen  Begründung,  wie  Dörpfeld  sie  geliefert 
hat,  stofsen  wir  aber  leider  hier  vorwiegend  nur  auf  politische  Motive. 
„Die  Übertragung  der  ganzen  Schullast  auf  die  Staatskasse  giebt  der 
Staatsregierung  eine  so  gut  wie  unumschränkte  Macht  über  eine  der  aller- 
wichtigsten  Angelegenheiten  des  Volkslebens  und  dessen  Weiterentwickel- 
ung, macht  die  Fort-  oder  Rückschritte  unserer  Volksschule  abhängig  von 
der  jeweiligen  der  Volksaufklärung  günstigen  oder  ungünstigen  Richtung 
der  Regierung  und  deren  Vertreter,  und  gestattet  dem  Schullehrer  keine 
freie  Überzeugung,  sondern  unterjocht  ihn  dem  jeweiligen  politisch-kirch- 
lichen Standpunkte  von  Oben."  (Reichenbach  S.  150.) 

Die  Gneistscbe  Schrift  vom  Jahre  1872  dreht  sich  um  die  Kernfrage: 
Wie  bringen  wir  das  Geld  auf?  Und  dieser  Frage  ordnen  sich  ihm  alle 
andern  unter.  So  hohe  Beachtung  auch  seine  Vorschläge  verdienen,  so 
zeigen  sie  doch,  wie  dringend  not  es  thut,  dafs  nicht  blofs  Juristen,  selbst 
wenn  sie  von  so  hervorragender  Bedeutung  wie  Gneist  sind,  über  die 


*)  D«r  „freiclnnige"  Berliner  Magistrat  entsieht  s.  B.  einer  deataeb>chrisülcheu  Schulvor- 
tteherin  die  Koocewton  einer  Priratechule,  well  ile  in  dieaer  Prlrataohole  nur  Deutsche  nnd 
Orteten  unterrichten  trill.   Natürlich  geechieht  da«  im  Namen  der  „Tolemna"  und  der  „Freiheit". 


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I84  - 


Schulfrage  zu  Rate  sitzen,  sondern  dafs  vor  allen  Dingen  auch  die  Päda- 
gogik gehört  werde.  Das  Mittel  möchte  sonst  zum  Zwecke  werden. 
Folgender  Einwurf  Gneists  aber  verdient  auch  nach  seiner  pädagogischen 
Tragweite  gewürdigt  zu  werden:  „Die  unmittelbar  von  Staatswegen  be- 
strittene Volksschule  mufste  in  einer  bureaukratischen  Weise  centralisiert 
werden,  die  alles  bisher  Geleistete  übertreffen  würde.  Alle  Erfahrungen 
unseres  Volksschulwesens  weisen  dagegen  auf  Decentralisation 
hin,  als  eines  der  bedeutendsten  Momente  lokaler  Selbst- 
ständigkeit." Dafs  dasselbe  auch  von  den  höheren  Schulen  gilt,  ver- 
schweigt Gneist  jedoch. 

Den  rechten  Weg  weisen  uns,  so  meint  Reichenbach,  die  städtischen 
Schulen  und  Schulverwaltungen:  >Wir  dürfen  weder  die  Volksschule 
gebunden  der  Allgewalt  der  Staatsregierungen  überliefern,  noch 
von  diesen  Beseitigung  der  vorhandenen  Mängel  und  Hebung 
des  ganzen  Volksschulwesens  erwarten,  sondern  die  Bürger- 
schaft mufs  sowohl  in  den  Städten  wie  auf  dem  Lande  die  so 
hochwichtige  Angelegenheit  der  Volksschule  selbst  in  die 
Hand  nehmen;  nur  auf  diesem  Wege  ist  Hülfe  und  Hebung 
für  Schule  und  Lehrerstand  zu  erwarten.«  (S.  152).  »Die  Männer 
der  städtischen  Verwaltungen  sind  selbst  Bürger  und  —  —  wissen  und 
empfinden,  was  notthut  und  was  die  Volksschule  leisten  kann.  Daher 
das  Verständnis  und  daher  die  Opferbereitwilligkeit.  So  allein  ist 
es  denkbar,  dafs  z.  B.  die  Stadt  München,  welche  doch  in  der  Mehrheit 
ihrer  Vertreter  schwarz,  tief  schwarz  ist,  recht  tüchtige  Lehrer  und  sehr 
gute  Bürgerschulen  hat,  auch  von  Jahr  zu  Jahr  bereit  ist,  neue  Schulhäuser 
zu  bauen  mit  vortrefflichen  Schulräumen  und  neue  Klassen  einzurichten.« 
(S.  152.)  »Die  »freie  Schule«  d.  h.  die  Schule  mit  eigener  Ver- 
waltung, aber  stets  unter  O  beraufsicht  des  Staates,  ist  schon 
eine  alte  Forderung  der  Freunde  des  geistigen  Fortschritts.  So  hat  schon 
der  berühmte  Staatsrechtslehrer  Karl  Theodor  Walcker  vor  50  Jahren 
diese  Forderung  in  der  2.  badischen  Kammer  gestellt.«    (S.  154.) 

Das  ist  etwas  anderes  als  die  bureaukratische  Staatsschule  (nach 
Neese  I),  als  die  hierarchische  Kirchcnschule  von  Windthorst  und  Ge- 
nossen, als  die  staatlich -geistlich  geleitete  Schule  Beyschlags  und  die 
staatlich-scholarchische  Schule,  wie  Neese  sie  in  der  zweiten  Schrift 
wünscht.  Das  Rechte  kann  für  uns  aber  auch  diese  Kommunalschule  noch 
nicht  sein,  und  hätte  Herr  Reichenbach  sich  nicht  blofs  an  den  Juristen, 
sondern  auch,  oder  zuvor,  an  den  Pädagogen  gewandt,  der  zudem  Gneist 
gegenüber  durch  zwei  umfangreichere  Schriften  als  die  erwähnte  die 
Priorität  des  Prinzips  der  »Selbsterhaltung  und  Selbstverwaltung« 
der  Schule  besitzt,  so  würde  er  wahrscheinlich  uns  näher  gekommen  sein. 
Die  Frage  nach  der  Erhaltung  der  Schule  kann  doch  nicht  die  durch- 
schlagende sein,  so  wichtig  sie  auch  ist.  Zudem  kann  von  Selbsterhaltung 
und  Selbstverwaltung  bei  der  Kommunalschule  im  eigentlichen  Sinne 
noch  gar  keine  Rede  sein.  Das  »Selbst«  kann  sich  bei  Gneist  nur  auf  Er- 
haltung und  Verwaltung  der  Schule  als  Kommunalangelegenheit  beziehen. 


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-  i«5 


Ist  denn  aber  das  Erziehungswesen  eine  blofse  Kommunalangelegenheit  und 
darf  es  das  sein?  In  der  Begründung  des  später  angenommenen  Entwurfs 
eines  Gesetzes  für  die  Landschulen  des  bremischen  Staates  rangierte  das 
Schulwesen  zwischen  den  kommunalen  Angelegenheiten  des  Löschwesen  und 
dem  Armenwesen.  Mag  das  eine  zufällige  Zusammenstellung  sein;  sie  giebt 
immerhin  zn  denken.  Wie  dieses  Gesetz  nach  Gneistschem  Muster,  das 
die  Schule  vom  Regen  des  Pastors  unter  die  Traufe  des  Dorfschulzen  ge- 
bracht hat,  so  weisen  ähnliche  Kundgebungen  darauf  hin,  dafs  der  Schule 
ein  eigenes  Gedinge  gehört,  und  dals  es  im  Interesse  aller  Schulinter- 
essanten liegt,  wenn  sie  es  bekommt  Und  hätte  Herr  Reichenbach  mehr 
nach  innern  Gründen  gefragt,  warum  die  Schule  nicht  Staatsanstalt  sein 
kann,  so  würde  er  wahrscheinlich  auch  von  selber  auf  die  Dörpfeldschen 
Vorschläge  gekommen  sein,  wie  auch  wir  sie  vertreten. 

Dieselben  hier  darzulegen  kann  nicht  meine  Aufgabe  sein.  Doch  die 
grofse  Zahl  derer,  welche  die  ^eeseschen  Ansichten  und  auch  die  Ab- 
weichungen Reichenbachs  teilen  möchten,  weil  sie  >liberal«  klingen,  sei 
besonders  verwiesen  auf: 

„Die  drei  Grundgebrechen  der  hergebrachten  Schulverfassungen  nebst 
bestimmten  Vorschlägen  zu  ihrer  Reform.    Von  Friedrich  Wilhelm 
Dörpfeld.    Bevorwortet  und  mit  einigen  Thesen  über  die  Pflege  der 
Pädagogik  auf  den  Universitäten  begleitet  von  Professor  Dr.  Ziller 
in  Leipzig,  d.  Z.  Vorsitzender  des  »Vereins  für  wissenschaftliche 
Pädagogik«.    Elberfeld  1869.    R.  L.  Friderichs.«    VIII  u.  130  S. 
Die  Schrift  wendet  sich  auch  wie  Beyschlag  und  Neese  nach  des  Ver- 
fassers Erklärung  an  das  gesamte  Publikum,  so  weit  es  für  die  Erziehung 
Interesse  oder  Beruf  hat,  und  rückt  die  Gebrechen  der  bisherigen  Schul- 
verfassung nackt  und  blofs  vor  die  Augen.  Die  Kritik,  die  Aufzählung 

der  Übelstände  und  Gebrechen,  geschieht  ohne  Rückhalt  und  Schminke ;  — 
die  Reformvorschläge  gehen  vorsichtig  und  nach  konservativen  Grund- 
sätzen vor.  Dafs  diese  Schrift  seit  1869  keine  zweite  Auflage  erlebt,  wirft 
ein  eigentümliches  Licht  auf  die  Leser  solcher  Schriften.  Auch  der 
Schriftsteller  Neese*)  steckt  in  seinem  Vorwort  den  Kopf  in  den  Sand 
wie  der  Vogel  Straufs  und  erklärt:  »Wohl  ist  uns  bekannt,  dafs  die  päda- 
gogische Litteratur  auch  diese  (die  von  ihm  erörterte)  Seite  des  Volks- 
schulwesens streift,  auch  gelegentlich  auf  die  politische  Bedeutung 
desselben  hinübergreift;  aber  diese  flüchtigen  Lichtreflexe  beleuchten 
nur  sehr  unsicher  den  Kern  der  Frage,  um  welche  es  sich  hier 
handelt.  Selbst  die  neuesten  Produkte  der  hier  einschlägigen  Litte- 
ratur, welche  die  Idee  einer  deutschen  Schule  vertreten,  haben  nur  ihre 
innere  Organisation  zum  Gegenstand  der  Erörterung  und  lassen  die 
äufsere  Stellung  der  Volksschule  in  ihrer  nationalpolitischen  und 
darum  (!)  selbständigen,  körperschaftlichen  Bedeutung  inner- 
halb des  öffentlichen  Staats-  und  Gesellschaftslebens  mehr 
oder  weniger  aufser  Betracht.«  Dafs  nun  aber  die  vielen  Leser 
Neeses  sich  dies  haben  weifs  machen  lassen  —  im  andern  Falle  würde 

•)  VgL  „Pidg.  8tu<l."  1891  II.  Heft,  S.  91  ff. 


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-    186  — 

■ 

doch  gcwifs  ein  Protest  gegen  solche  litterarische  Unwissenheit  oder  Un- 
wahrheit uns  zu  Gesicht  gekommen  sein  — ,  das  ist  das  Traurige  an  der 
Sache.  Nach  der  Ursache,  warum  aber  Dftrpfeld  in  gewissen  Kreisen  ab- 
sichtlich totgeschwiegen  wird,  brauchen  wir  nicht  lange  zu  suchen.  Er 
giebt  selber  die  Erklärung  im  voraus,  wenn  er  sagt :  »Eine  Form  des 
Schulregiments  aber,  welche  nicht  allen  beteiligten  Interessenten  gerecht 
wird,  kann  mein  Ideal  nicht  sein;  und  wenn  sie  sogar  im  Namen  der 
Freisinnigkeit  erstrebt  wird,  so  ist  mir  diese  Sorte  von  »Liberalismus! 
ein  Gräuel:  denn  liberal  sein  wollen  und  unter  diesem  Deckmantel 
anderer  Recht«  unterdrücken,  das  stimmt  nur  zusammen  wie  Frömmig- 
keit und  Pharisäismus.  Der  Liberalismus  soll  nicht  blofs  seine  Doktrin, 
sondern  auch  seine  Gesinnung  sehen  lassen  dürfen;  bei  einem  der 
blofs  für  seine  Anschauung,  seine  Intentionen,  seine  Partei  Freiheit 
fordert,  aber  andern  Ansichten  und  Interessen  die  Freiheit  nicht  gönnt, 
—  bei  dem  mag  ich  weder  Anteil  noch  Erbe  haben.  Eine  Schulordnung 
mufs  liberal  sein,  sonst  kann  sie  auch  nicht  zweckmäfsig  sein.  Der 
Hohenzollersche  Wahlspruch  Suum  ctüque  giebt  dafür  den  Rat.  Er  lehrt, 
jede  Lebensgemeinschaft  und  jede  Anstalt  ihrer  Natur  gemäfs  zu  be- 
handeln, und  jedem,  der  bei  dieser  Gemeinschaft  oder  Anstalt  interessiert 
ist,  sein  Recht  zu  gewähren.  Das  sind  auch  die  Hauptgrundsätze  der 
rechten  liberalen  Schulverfassung.«    (S.  7  f.» 

Wer  solchem  Liberalismus  huldigt  oder  auch  nur  huldigen  möchte, 
von  dem  sind  seit  jeher  die  Dörpfcldschen  Vorschläge  anerkannt  worden, 
wie  sie  zuerst  ausgesprochen  sind  in  der  Schrift: 

„Die  freie  Schulgemeinde  und  ihre  Anstalten  auf  dem  Boden  der 
freien  Kirche  im  freien  Staate.    Gütersloh.  1863.« 

So  u.  a.  von  Realschuldirektor  Dr.  Gräfe  in  Lübens  »Pädagogischer 
Jahresbericht«  1863,  S.  497 — 510;  von  Realschulprofessor  Langbein  in 
seinem  »Päd.  Archiv«,  S.  213  ff.;  von  Seminardirektor  Dr.  Die  st  er  weg 
in  seinen  »Rheinischen  Blättern«  1863;  von  Gymnasialdirektor  Dr.  Hollen- 
berg in  Prof.  Mestners  »N.  Ev.  Kirchenzeitung*,  1863  No.  41;  vom  »Ev. 
Gemeindeblatt  für  Rheinland- Westfalen«  1863.  No.  18,  vom 
Vorstande  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Päda- 
gogik, aber  auch  von  dessem  erbitterten  Gegner  Dr.  D  i  1 1  e  s ,  der  nach 
1885  in  seinen  »Pädagogium«  schrieb,  dafs  die  Dörpfeldschen  Retonn- 
vorschläge  so  lange  wiederholt  werden  müfsten,  bis  sie  verwirklicht  seien. 
Für  Herrn  Neese  sind  das  alles  aber  nur  »flüchtige  Lichtreflexe«,  nicht 
einmal  wert,  dafs  man  sie  namhaft  macht:  nur  Diesterweg  wird  genannt, 
dessen  Erbteil  er  zwar  zu  vertreten  vorgiebt,  aber  vielfach  eher  das  gerade 
Gegenteil  vertritt.  Hören  wir  darum  wenigstens  in  einigen  Sätzen  auch 
den  liberalen  Diesterweg  gegenüber  dem  modernen  Pseudoliberalis- 
mus  nach  einem  Artikel  in  den  »Rheinischen  Blättern«  von  1865,  Heft  2, 
betitelt:  »Anregungen  über  die  freie  Schule  im  freien 
Staat«.*) 

•)  Dleaterweg  hat  den  „Boden  dar  freien  Kirche"  nominell  nicht  mit  angenommen,  uotadem 


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-    i87  - 


» i .  Die  gesetzgebende  Staatsgewalt  erläfst  das  Gesetz  für  die  Schule 
und  führt  die  Oberaufsicht. 

2.  Die  Schulgemeinde  oder  Sozietät  (sei  es  eine  kirchliche 
oder  eine  politische  oder  eine  private)  ist,  in  Unterordnung 
unter  dem  allgemeinen  Schulgesetz,  die  eigentliche  Schul- 
herrin. 

3.  Die  die  innere  Verwaltung  und  die  Art  der  Ausführung 
bestimmende  Korporation  bilden  die  Lehre  r.c 

»In  Summa:  die  allgemeine  Schulgesetzgebung  ist  in 
den  Händen  des  Staats,  die  autonomische  Ver- 
waltung in  den  Händen  der  selbständigen  Schul- 
gemeinden,  die  technische  Ausführung  in  den 
Händen  der  Lehrer.    Dafs  der  Staat  nur  Fach- 
männer   zu    Aufsichtsbeamten    ernennen  wird, 
versteht  sich  von  selbst.« 
»In  einem  wohlgeordneten  Staate  geht  die  Anregung  zur  Errichtung 
und  Einrichtung  der  Schule  von  den  Mitgliedern  der  Gemeinde  (der  Schul- 
sozietät)  aus;  sie  stellt  die  betr.  Anträge,  welche  von  der  dazu  angeordneten 
Behörde  geprüft  und  bestätigt  werden.    Gleichviel  nun,  ob  die  Mittel  zur 
Erhaltung  der  Schule  direkt  von  der  Schulgemeinde  oder  indirekt  aus  der 
allgemeinen  Kasse,  der  Staatskasse,  aufgebracht  werden;  das  entscheidet 
nicht  über  das  Wesen  der  Schule.    Der  Gegensatz  von  Kommunal-  und 
Staatsschule  ist  in  diesem  Sinne  ein  gemachter,  kein  in  dem  Wesen 
der  Sache  begründeter.    Die  Frage:  ob  das  Eine  oder  das  Andere? 
hat  daher  in  sofern  keinen  Sinn.  Die  Volksschule  hat  einen  selbständigen, 
allgemeinen  Zweck :  Bildung,  Menschenbildung.    Sie  geht  von  dem  Volke 
aus  und  gehört  dem  Volke.   Über  sie  haben  zuoberst  diejenigen  zu  ver- 
fügen,  welche  sie  errichten,  die  Mitglieder  der  Schulgemeinde,  d.  h.  die 
Eltern  der  ihr  übergebenen  Kinder.    Die  natürlichste 
Verbindung,  welche  die  Schule  eingehen  kann,  ist  die  mit  den 
Familien.« 

Diese  Ansichten  vertreten  die  »Rheinischen  Blätter«  auch  noch  nach 
Diesterwegs  Tode  unter  Wichard  Lange.  In  dem  1.  Artikel  über: 
Die  Schulorganisationsfrage  nach  Dörpfeld«  (Jhrg.  1870. 
Heft  El)  lesen  wir  : 

»Es  möchte  wohl  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  und  auf  verwandten 
Gebieten  mehr  als  eine  Frage  geben,  für  welche  Herr  Dörpfeld  eine  ganz 
andere  Antwort  hätte,  als  etwa  der  Herausgeber  der  Rheinischen  Blätter, 
oder  dessen  ständige  Mitarbeiter,  oder  die  hauptsächlichsten  Stimmführer 
der  allgemeinen  Leserversammlung,  und  um  so  mehr  ist  ein  erfreuliches 
Zeichen  der  Zeit,  dafs  in  ihren  Ansichten  über  die  Grund- 
gebrechen der  hergebrachten  S c h u 1 v e  r  f  a  s s u n g e n  und 
teilweis  auch  in  den  Vorschlägen  zu  deren  Reform  sich  eine 
immer  entschiedenere  0  b  e  r  e  i  n  s  t  i  m  m  u  n  g  aller  derer 
herausbildet,  die  in  einer  ernsten  Gedankenarbeit  und 
einer    von  Nebenrficksic  hten    freien    herzlichen  Hin- 


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—    188  — 

gebung  an  die  Erziehung  unseres  Volkes  die  Schul- 
Organisationsfrage  erwägen  und  mit  männlichen  Frei- 
mute  aussprechen,  was  nach  der  von  ihnen  gewonnenen  Ansicht 
der  Schule  frommt.«  »Mit  einem  Sachverständigen  der  bezeichneten 
Art  haben  wir  es  hier  zu  thun,  und  ich  mache  es  mir  zur  angenehmen 
Pflicht,  die  Leser  der  Rheinischen  Blätter  auf  die  bedeutungsreiche  Schrift: 
,Die  drei  Grundgebrechen  etc.(  aufmerksam  zu  machen.«  Diese  »Grund- 
gebrechen« im  Schulwesen  bestehen  in  den  meisten  Staaten  noch  heute  zo 
Recht.  Wer  darum  in  der  Schulreform  mitsprechen  will,  der  sollte  sich  zu- 
vor mit  diesen  abfinden.  Leider  bleiben  aber  selbst  die  Führer  der  gegen- 
wärtigen Bewegungen  in  der  Regel  bei  der  Betrachtung  der  sympto- 
matischen Erscheinungen  stehen.  Kein  Wunder,  wenn  dann  die  Schulfragen 
in  keinem  Punkte  vom  Fleck  wollen!  (Fortsetzung  folgt.) 


C.  Beurteilungen. 


i. 

Dr.  Albert  Sohwegler:  Geschichte  der 
Philosophie  im  Umriss  Neue  Aus- 
gabe. Durchgesehen  und  ergänzt 
von  J.  Stern.  Leipzig,  Verlag  von 
Philipp  Reclam  jun.  512  S.  1  M. 
(Universal-Bibliothek  No.  2541  bis 

2545')- 

Schweglers  Geschichte  der  Philo- 
sophie erfreut  sich,  als  Leitfaden  zur 
Übersicht  oder  zur  Einführung  in  die 
Philosophie,  besonders  bei  der  stu- 
dierenden Jugend,  ßrolser  Beliebt- 
heit. Sie  ist  seit  dem  Jahre  1848, 
in  welchem  die  erste  Auflage  heraus- 
kam, in  zahlreichen  Ausgaben  er- 
schienen und  in  fremde  Sprachen 
übersetzt  worden.  Die  dritte  ver- 
besserte und  vermehrte  Auflage  be- 
sorgte Prof.  Köstlin  (1857);  1887  er- 
schien eine  neue  Bearbeitung  als 
14.  Auflage,  durchgesehen  und  er- 
gänzt von  Köber.  Der  vorliegenden 
Ausgabe  von  J.  Stern  liegt  die 
noch  von  Schwegler  selbst  besorgte 
zweite  Auflage  des  Werkes  zu  Grunde ; 
spätere  Verbesserungen  wurden  aber 
berücksichtigt. 

Gegenüber  der  7.  Auflage,  die  ich 
zum  Vergleich  heranziehen  kann,  ist 
die  neue  Ausgabe  zunächst  um  zehn 


Paragraphen  vermehrt.  Es  sind  hin- 
zugekommen Artikel  über  Hobbes, 
Schleiermacher,  Beneke,  den  Posi- 
tivismus, Schoppenhauer,  den  Ma- 
terialismus, Fechner,  Lotze,  Hart- 
mann und  Wundt.  Dafs  im  übrigen 
mancherlei  Berichtigungen  und  Er- 
gänzungen eingefügt  sind,  erscheint 
selbstverständlich.  Für  die  Skizze 
des  Lebens  Schweglers  (Vorwort  S. 
5—9)  werden  die  Benutzer  des  Werkes 
dankbar  sein. 

Für  uns  ist  Folgendes  hier  von 
Bedeutung. 

Am  Schlufs  des  Abschnittes  über 
Herbart  (7.  Aufl.  1870,  S.  521)  heifst 
es:  »Im  Ganzen  kann  man  die  Her- 
bartsche  Philosophie  bezeichnen  als 
eine  Fortbildung  der  Leibnitzschen 
Monadologie ,  voll  ausdauernden 
Scharfsinnes,  aber  ohne  innere 
Fruchtbarkeit  und  Entwick- 
lungsfähigkeit.« Wie  manchen 
Studenten  mag  dieses  Urteil  abge- 
schreckt haben,  Herbart  zu  studieren! 

In  der  neuen  Ausgabe  von  Stern 
fehlt  dieser  Zusatz  zunächst.  Dafür 
hat  der  Herausgeber  eine  Seite  Text 
neu  eingefügt.  Es  werden  Herbarts 
praktische  Ideen  (die  ursprünglichen 
und  die  abgeleiteten)  aufgeführt,  und 


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-    i89  - 


seine  Bedeutung  und  Stellung  in  der 
Religionsphilosophie  und  Pä- 
dagogik kurz  charakterisiert.  Es 
heifst  in  der  Sternschen  Ausgabe  S. 
396  ff.:  »Sehr  eingehend  hat  Her- 
bart das  Gebiet  der  Pädagogik 
behandelt.  Die  Pädagogik  ist  nach 
ihm  abhängig  einerseits  von  der 
Ethik,  andererseits  von  der  Psycho- 
logie. Jene  stellt  das  Ziel  der  Er- 
ziehung auf  (die  Tugend),  diese  giebt 
die  Mittel  an.  Die  Erziehung  zer- 
fällt in  Regierung,  Unterricht  und 
Zucht.  —  Herbarts  pädagogische 
Schriften  sind  mit  grofser  sittlicher 
Wärme  geschri  eben  und  zeugen  von 
feiner  psychologischer  Beobachtung. 
Seine  pädagogischen  Lehren  haben 
eine  tiefgehende  Wirkung  ausgeübt 
und  weite  Verbreitung  gefunden; 
dadurch  ist  seine  Philosophie  noch 
heute  lebendig  erhalten,  obgleich  ihr 
metaphysischer  Teil  veraltet  ist. 

Herbart  hat  eine  zahlreiche  Schule 
gemacht,  die  sich  als  die  »realistische« 
bezeichnet.  Die  bedeutendsten  Ver- 
treter dieses  Herbartschen  »Realis- 
mus« sind:  Drobisch,  Harten- 
stein, Lazarus,  Steinthal, 
Thielo,  Volkmann,  Zimmer- 
mann. Durch  Bearbeitung  der  Her- 
bartschen Pädagogik  haben  sich  be- 
sonders verdient  gemacht :  Kern, 
Lindnerj,  Mager,  Stoy,  Strüm- 
pell, Waitz,  Willmann,  Zille r.« 

Die  Verlagsbuchhandlung  von 
Philipp  Reclam  hat  sich  durch  diese 
Ausgabe  des  Schweglerschen  Leit- 
fadens ein  Verdienst  erworben  (in 
eleg.  Ganzleinenband  kostet  das  Werk 
1,50  M.).  Wir  würden  es  mit  Freude 
begrüfsen,  wenn  in  der  sorgfältig 
redigierten  »Universal  -  Bibliothek« 
auch  andere  philosophische  resp. 
pädagogische  Werke,  z.  B.  die  Her- 
barts vor  allen  Dingen,  Aufnahme 
fänden. 

Halle  a.  S.  H.  Grosse. 

a 

Adolf  Diesterweg  in  seiner  Bedeutung 
für  die  Hebung  des  Volksschul- 
lehrerstandes. Von  Ernst  Lüttge. 
Leipzig  bei  Sigismund  u.  Volke- 
ning.    Preis  2  M.  kart.  2,50  M. 

Verfasser  giebt  in  der  Einleitung 


nach  Schriften  von  Schmidt,  Gesch. 
d.  Pädagogik,  Heppe,  Gesch.  des 
Volksschulwesens  und  andern  eine 
Übersicht  über  die  Volksschullehrer- 
Verhältnisse  bis  zum  Anfange  des 
19.  Jahrhunderts.  Sodann  behandelt 
er  in  drei  Abschnitten  Diesterweg 
und  die  Volksschullehrerseminare, 
D.  und  die  Bildungsbestrebungen 
des  Volksschullehrerstandes  und  end- 
lich D.  und  die  Emanzipationsbe- 
strebungen der  Volksschullehrer. 
Den  Scnlufs  bilden  Rück-,  Um-  und 
Vorblicke. 

Verfasser  ist  unermüdlich  im  Her- 
vorheben der  Verdienste  Diester- 
wegs.  Derselbe  hat  »den  Pestalozzi- 
schen  Geist  in  die  Seminare  einge- 
führt und  ihn  durch  die  Hochflut 
der  Reaktion  hindurch  gerettet.«  (S. 
48.)  Er  hat  »den  anlernenden  Schul- 
meister von  ehemals  in  einen  ver- 
ständigen Lehrer  und  Erzieher  um- 
gewandelt.« (S.  68.)  Verfasser  ver- 
steigt sich  sogar  zu  der  Behauptung: 
»Der  deutsche  Volksschullehrerstand 
ist  eine  Schöpfung  Diesterwegs  (S. 
136),  und  im  Schlufswort  bezeichnet 
er  D.  als  einen  Stern  erster  Gröfse 
am  pädagogischen  Himmel,  der,  was 
den  Einflufs  auf  das  Volksschulwesen 
anbelangt,  an  Helligkeit  alle  andern 
Überstrahle. 

Unter  den  Verdiensten,  die  Diester- 
weg zugeschrieben  werden,  sind  ein- 
zelne recht  zweifelhaft.  Seite  36 
heifst  es:  »Es  mufs  als  fast  ausschliefs- 
liches  Verdienst  Ds.  betrachtet  wer- 
den, dals  die  Benekesche  Psychologie 
einen  so  bedeutenden  Einflufs  auf 
die  Lehrerbildung  gewann.« 

Ziemlich  vollständig  sind  auch  die 
Anklagen  gegen  D.  atigeführt.  Ver- 
fasser sucht  dieselben  zu  widerlegen 
oder  D.  so  viel  als  möglich  zu  ent- 
schuldigen. Er  sagt:  (S.  75)  »Dafs 
D.  mit  seinen  religiösen  Anschau- 
ungen dem  Geiste  des  Christentums 
näher  stand  als  viele  seiner  streng- 
gläubigen Ankläger,  das  hat  er  durch 
sein  hingebendes ,  uneigennütziges 
Wirken  im  Dienste  der  Gesamtheit 
hinreichend  bewiesen  «  Nach  dem 
Ausspruche  Wanders  ist  er  nur  »dem 
frömmelnden  Lügengeiste«  der  Zeit 
entgegengetreten.  (Ebenda.)  Der 
Vorwurf  der  Irreligiosität  trifft  ihn 


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also  nicht,  ebenso  wenig  der,  im 
Unterrichte  einen  leeren  Formalis- 
mus gefördert  zu  haben.  Selbst  be- 
züglich der  Raumlehre  ver- 
langt er,  dafs  —  —  überall  die  An- 
wendung aufs  Leben  betont  werden 
solle  «  fS.  78.)  Die  häufigen  Wieder- 
holungen in  seinen  Schriften  werden 
damit  entschuldigt,  dafs  D.  für  Volks- 
schullehrer, also  für  einen  Stand 
schrieb,  der  sich  von  Jahr  zu  Jahr 
durch  immer  neue  Mitglieder  er- 
gänzt.   (S.  57.) 

Zu  einer  Kritik  über  D.  erhebt 
sich  der  Verfasser  nicht.  Augen- 
scheinlich ist  er  in  allen  Punkten  mit 
demselben  einverstanden.  Auch  auf 
Darlegung  der  grofsen  politischen 
und  religiösen  Gegensätze,  (Konser- 
vatismus und  liberaler  Kadikalismus, 
Orthodoxie  und  Rationalismus),  die 
Ds.  Zeit  bewegten  und  bis  in  die 
Gegenwart  hineinragen,  läfst  er  sich 
nicht  ein.  Eine  solche  unparteiische 
Darlegung  wäre  aber  doch  nötig  ge- 
wesen ,  um  nicht  nur  D.,  sondern 
auch  seinen  Gegnern  gerecht  zu 
werden. 

Unsere  Stellung  zu  Diesterweg  ist 
eine  andere,  als  die  des  Verfassers. 
Wir  sind  weit  entfernt,  Ds.  Bedeutung 
für  das  Volksschulwesen,  die  übrigens 
vorherrschend  auf  dem  Gebiete  der 
schola  militans  liegt,  zu  verkennen 
oder  zu  unterschätzen.  Den  gröfsten 
Teil  der  Verdienste,  die  Verfasser 
D.  nachrühmt,  erkennen  wir  gern 
als  solche  an.  Nur  können  wir  uns 
nicht  mit  D.  begeistern  für  die  kon- 
fessionslose Staatsschule  und  können 
uns  nicht  darüber  freuen,  dafs  er 
der  Benekschen  Psychologie  wie  dem 
pädagog  Eklektizismus  Bahn  ge- 
brochen hat.  Dafs  D.  in  seiner  Be- 
geisterung manchmal  Über  das  Ziel 
hinausschofs,  sich  in  seinen  polemi- 
schen Schriften  oft  zu  einer  Schärfe 
und  Bitterkeit  hinreifsen  liefs,  die 
nicht  geeignet  war,  der  Sache  der 
Volksschule  Freunde  zu  gewinnen, 
das  sollte  man  24.  Jahre  nach  seinem 
Tode  doch  zugeben.  Nur  an  einer 
Stelle  seines  Buches  lälst  Verlasser 
merken,  dafs  ihm  diese  Thatsache 
nicht  unbekannt  ist.  Seite  43  heifst 
es :  »In  zahlreichen  Aufsätzen  zieht 
er  gegen  sie  zu  Felde   und  zwar 


nicht  selten  mit  dem  gröbsten 
Geschütz  seiner  litterarischen 
Kampfesweise«.*) 

Aus  dem  Angeführten  geht  her- 
vor, dafs  Verfasser  zu  den  unbe- 
dingten Anhängern  und  Bewunderern 
Diesterwegs  gehört.  Mit  Bezug  aut 
ihn  führt  er  Goethes  Wort  an: 

»Folgt  eines  Meisters  Sinn! 
Mit  ihm  zu  irren*)  ist  Gewinn.« 

Das  hält  ihn  jedoch  nicht  ab,  geh'en 
die  Anhänger  Herbart-Zillers  folgende 
Lanze  zu  brechen:  »Aus  dieser 
grofsen  Wertschätzung  des  persön- 
lichen Charakters  des  Lehrers  ist  es 

auch  zu  erklären,  dafs  D.  keine 

sogenannte  Schule  mit  Jüngern  und 
Adepten  gebildet  hat,  wenigstens 
nicht  in  dem  Sinne,  wie  man  z.  B. 
heute  von  einer  Herbart-Zillerschen 
Schule  redet.  Eine  derartige  geistige 
Abhängigkeit,  wie  sie  in  der  Regel 
die  Jünger  einer  solchen  Schule 
ihrem  Meister  gegenüber  an  den 
Tag  legen,  hat  D.  niemals  erreichen 
wollen.  —  —  —  Ihm  fehlte  die 
Hauptbedingung  für  die  Stiftung 
eines  solchen  Verhältnisses:  Die 
Überzeugung  von  der  eigenen  Un- 
fehlbarkeit.«   (S.  67.) 

Sonst  ist  das  Buch  klar  und  auch 
mafsvoll  geschrieben.  Allerdings 
kommen  manche  Wiederholungen 
vor.  Die  benutzten  Werke  sind 
überall  angegeben.  Auch  ein  Bild- 
nis Ds.  ist  dem  Buche  beigegeben. 
Volksschullehrern,  denen  es  nicht 
möglich  ist,  sich  über  Ds.  Bedeutung 
aus  den  Quellen  selbst  zu  unterrich- 
ten, möchte  es  immerhin  zu  em- 
pfehlen sein. 

III. 

Einer  für  Alle.     Ein  Lehrerfestspiel 
von  Franziskus  Hähne  1.  Leip- 
zig,   Sigismund    und  Volkening 
Preis  75  Pf.  kart  90  Pf 
Das  Festspiel  ist   verfafst  »unter 
besonderer  Berücksichtigung  der  in 
diesem  Jahre  an  vielen  Orten  und 
von  vielen  Kollegen  geplanten  Feier 
des  100.  Geburtstages  Diesterwegs.« 
Sein  Inhalt  ist  kurz  folgender:  In 

•j  In  dem  Bache  nicht  dorch  Druck  ab»¥*- 
zeichnet.    Der  Referent. 


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% 


—    i9i  — 


Neuneck  soll  eine  Konferenz  statt- 
finden. Der  neugewählte  Superin- 
tendent plant  eine  Lehrervereinigung 
und  Pastor  »Lehrfeind«  will  über 
Lehrerdemut  sprechen.  Die  Lehrer 
des  ganzen  Bezirks  sind  dann  auch 
»par  ordre  du  moufti«  nach  Neuneck 
beschieden.  Etwa  100  Lehrer  finden 
sich  zusammen.  Schon  wollen  einige 
in  das  Versammlungshaus  »zur  trüben 
Lampe«  gehen.  Auf  einmal  ver- 
breitet sich  die  Nachricht,  Diester- 
weg  sei  gekommen  und  wolle  in  der 
»goldenen  Sonne«  sprechen.  Natür- 
lich eilt  alles  dorthin;  ein  freier 
Lehrerverein  wird  gegründet  und 
jubelnd  begleitet  man  D.  nach  Laden- 
berg, wo  er  auch  reden  will.  Durch 
geschickte  Veranstaltung  des  Dich- 
ters bekommen  wir  ihn  schon  unter- 
wegs zu  hören  Er  redet  von  dem 
Jubel,  der  ihn  überall  begrüfst  hat, 
spricht  über  Geduld  und  Pflichttreue 
des  Lehrers  und  widerlegt,  was 
Lügner  frech  von  ihm  behauptet 
haben.  Alle  Hörer  sind  begeistert 
und  wollen  ihm  folgen  nicht  nur  bis 
Ladenberg,  sondern  durchs  ganze 
Leben. 

Wen  seine  Begeisterung  für  Diester- 
weg  über  eine  witzlose,  dürftige 
Handlung  hinwegzutragen  vermag, 
der  möge  das  Buch  kaufen  und 
lesen.  Bei  manchen  witzig  sein 
sollenden  Bemerkungen  wird  auch 
ihm  ein  mitleidiges  Lächeln  auf  die 
Lippen  kommen  Es  ist  sehr  zweifel- 
haft, ob  durch  ein  Festspiel  wie  das 
vorliegende  Diesterweg  geehrt  wird. 
Wenn  der  Verfasser  D.  sagen  läfst 

»Nein,  Friede  sei  mit  Euch,  rufe  ich 
den  Lehrern  und  der  Kirche  Die- 
nern ernstlich  zu;  denn  nur  im 
Frieden  wächst  der  Schule  Bestes,« 

so  sind  wir  ganz  derselben  Ansicht, 
können  aber  unmöglich  glauben,  dafs 
das  Produkt  des  Herrn  Hähnel  dazu 
etwas  beitragen  wird. 
Drakenstedt. 

F.  Hollkamm. 
IV. 

Otto  Bismarck,  Das  Kartenzeichnen 
als  Hilfsmittel  des  Unterrichts  in 
der  Erdkunde;  Anleitung  zum  Ge- 


brauch der  Kartenskizzen  und  der 
Skizzenwandtafeln.  Wittenberg 
1890.    Herrosd.    0,40  M. 
Derselbe,    Kartenskizzen    für  den 
Unterricht  in  der  Erdkunde,  a)  für 
Lehrer  und  Schüler,  Kurs.  1  —  3. 
ä  1,20  M.  b)  für  Schulen,  Kurs.  1, 
8  M.    Wittenberg,  Herrose. 
Es    möchte    gewagt  erscheinen, 
gegen  eine  litterarische  Erscheinung 
Stellung  zu  nehmen,  welche  bisher 
in  der  pädagogischen  Presse  nicht 
blofs  günstig  beurteilt,  sondern  sogar 
als  epochemachend  bezeichnet  wor- 
den  ist.     (Vergl    G.  A.  Erdmann- 1 
Annaburg    in    Dittes  Pädagogium, 
1890,  8,  S.  516,  F.  Polack- Worbis  in 
der  Allgem.  deutschen  Lchrerzeitung, 
1890,  31   und  E.  v.  Sallwürk-Karls- 
ruhe  in  Manns  Deutsch.  Blätt.  f.  er- 
zieh. Unt.  1890,  36.)    Folgende  kurz 
angeführten  Gründe  bewegen  uns 
dazu,  unser  den  bez.  Kritikern  leider 
ganz  entgegengesetztes  Urteil  aus- 
zusprechen. 

A.  Inbezug  auf  den  unterricht- 
lichen Gebrauch  der  Wandtafeln  und 
Skizzenbücher: 

1)  Dem  Lehrer  wäre  mit  Karten- 
skizzen nur  gedient,  wenn  diese  die 
Zeichnung  der  Wandkarte  (klassi- 
schen!; in  verkleinertem  Mafsstabe 
wiedergeben 

2)  Der  Schüler  bedarf  keiner 
Zeichenvorlagen;  er  kann  sich  seinen 
Atlas  selbst  zusammenstellen. 

3)  Im  Unterricht  soll  nur  die  Wand- 
karte —  und  nicht  auch  eine  Skizze 

Ausgangspunkt  sein. 

4)  Neben  der  Schulwandkarte 
Skizzenwandtafeln  zur  Einübung  ge- 
brauchen zu  lassen,  verdrängt  erstere 
und  die  bei  Anfertigung  kleiner 
typischen  Skizzen  zu  übende  Selbst- 
tätigkeit des  Schülers. 

B.  Inbezug  auf  die  Anleitung: 

1)  Die  Reihenfolge  der  erörterten 
Punkte  läfst  ein  logisches  Einteilungs- 
prinzip vermissen. 

2)  Dieser  Mangel  bedingt  eine  All- 
gemeinheit und  Dürftigkeit  (1)  des 
Inhaltes,  sowie  eine  Überschätzung  (3) 
einzelner  Mafsnahmen ;  namentlich 
wird  auch  das  Hilfsmittel  des  Zeich- 
nens viel  zu  sehr  betont. 

3)  Die  Skizzen  lassen  die  kaum 
zu  begründende  Verwertung  zweier 


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Anfangsmeridiane  erkennen  (Ferro, 
in  Kurs.  II,  No.  2,  4,  5,  7,  8  u.  Kurs. 
III,  No.  10  und  Grcenwich  in  Kurs. 
III,  7)-. 

4)  Die  Abweichung  der  Luftlinien 
von  natürlichen  Flufs-  oder  Gebirgs- 
richtungen  durch  Winkelmesser  fest- 
stellen und  dann  von  den  Schülern 
in  Graden  merken  zu  lassen,  ist  eine 
unnütze  Gedächtnisbelastung. 

5)  Die  auf  eine  Herbartsche  For- 
derung und  auf  das  Verfahren  bei 
der  Triangulation  gegründete  Mass- 
nahme, alle  Ländergebilde  auf  geo- 
metrische Figuren  zurückzuführen, 
ist  dann  unpsychologisch  angewendet, 
wenn  erzwungene  Hilfsgerüste  em- 
pfohlen werden,  die  auf  apperzeptive 
Vorstellungen  der  Kinder  gar  keinen 
Bezug  nehmen.  In  einen  Irrweg  ist 
der  Verfasser  auch  deshalb  geraten, 
weil  seine  geometrischen  Figuren  oft 
nicht  durch  wichtige  geographische 
Merkpunkte  charakterisiert  sind. 
(Vergl.  Kurs  I,  No  6;  Kurs.  II,  No. 

2,  4,  5.  6,  7,  8;  Kurs.  III,  No   1,  2, 

3.  5.  7). 

6)  Die  Ehrenrettung  des  längst  ab- 
gethanen  dicken  Striches  als  Terrain- 
symbols überzeugt  nicht,  weil  der 
Strich  der  psychologischen  Wahrheit 
widerspricht,  nur  das  verdichten  und 
abstrahieren  zu  lassen,  was  auf  der 
Wandkarte  abgelesen  wurde,  und 
weil  er  total  falsche  Vorstellungen 
hervorruft,  mag  man  auch  mit  Wor- 
ten warnen. 

7)  Die  Kategorieen:  Weltstellung, 
Grenzen,  wagerechte  und  senkrechte 
Gliederung,  Bewässerung  und  Städte 
dürfen  nicht  immer  dieselben  sein 
und  in  derselben  Reihenfolge  wieder- 
kehren|;  das  psychologische  Bedürf- 
nis, das  Interesse,  kann  nur  mafs- 
gebend  sein. 

In  Ansehung  der  Erfahrung,  dafs 
die  gedruckte  Andeutung  eines  Lchr- 
verfahrens  den  Eindruck  einer  Schab- 
lone zu  machen  pflegt,  sei  von  einer 
weiteren  Prüfung  desselben  Abstand 
genommen.    Es  sei  aber  nicht  unter- 


lassen hervorzuheben,  dafs  der  Ver- 
fasser manchen  trefflichen,  praktisch 
verwertbaren  Gedanken  angiebt  Der 
Verfasser  hat  das  Beste  gewollt. 
Jedoch  ist  es  ihm  nicht  gelungen, 
eine  »neue  Methode«  —  »die  einen 
grofsen  Fortschritt  auf  dem  Gebiete 
des  geographischen  Unterrichts  be- 
deutet« (Erdmann)  zu  schaffen  ;  seine 
Manier  ist  eine  sehr  alte  —  aber 
auch  bereits  überwundene. 

Halle  a.  S.     Dr.  B.  Maennel. 
V. 

Höhlbaum,  Das  Buch  Wein&berg.  II.  Bd. 

Leipzig.  Alphons  Dürr 
Im  2.  Hefte  des  Jahrgangs  1890 
dieser  Zeitschrift  habe  ich  den 
1.  Band  des  Werkes  besprochen, 
habe  also  nur  zu  bemerken,  dafs  das 
dort  Gesagte  auch  auf  den  vorliegen- 
den Band  zutrifft.  In  der  Natur  der 
Sache  liegt  es,  dafs  der  Inhalt  des- 
selben mehr  allgemeiner  als  speziell 
pädagogischer  Natur  ist.  Er  bringt 
den  Teil  des  Gedenkbuches,  welcher 
des  Verfassers  »Iuventus«  umfafst, 
zum  Abschlufs,  greift  aber,  um  die 
Denkwürdigkeiten  abzurunden,  noch 
in  die  »Sencctus«,  deren  Veröffent- 
lichung nicht  beabsichtigt  ist,  hinüber, 
dadurch,  dafs  er  das  Bild  »von  der 
gegenwärtigen  Zeit  1.  Jan.  a.  1578«, 
welches  Weinsberg  der  Darstellung 
seines  letzten  Lebensabschnittes  vor- 
ausschickt, enthält.  Alle  Erlebnisse 
und  Mitteilungen,  welche  nicht  all- 
gemeingültiger Natur  sind,  hat  Prof. 
Höhlbaum  unbarmherzig  über  Bord 
geworfen ;  denn  das  Werk  soll  nicht 
eine  Notizensammlung  sein,  es  soll 
eine  typische  Persönlichkeit  zur  An- 
schauung bringen.  Als  Zugabe  ent- 
hält der  Band  eine  Worterläuterung 
und  ein  genaues  Register  über  alle 
Orts-  und  Personennamen  beider 
Bände.  Zahlreiche  Anmerkungen 
legen  Zeugnis  ab  von  der  gewissen- 
haften Forschung  des  Herausgebers. 

Eichen.  C.  Ziegler. 


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Aufruf 


zur 

Feier  des  300jährigen  Geburtstages 

des 

Johann  Arnos  Comenius 
am  28.  M»rz  1892. 

Ausgedehnte  Vorbesprechungen  haben  ergeben,  das»  wir  einem  weit- 
verbreiteten Wunsche  entgegenkommen,  wenn  wir,  wie  es  hiermit  ge- 
schieht, die  Aufforderung  erlassen,  den  HOOjährigen  Geburtstag  des  Arnos 
Comenius  am  28.  März  1892  durch  eine  Erinnerungs-Feier  auszuzeichnen. 

In  Mähren  geboren,  unter  Tschechen.  Deutschen,  Engländern,  Hol 
ländern,  Schweden  und  Ungarn  wirkend,  mit  Franzosen  und  Italienern 
befreundet,  hat  er  durch  sein  Denken  wie  durch  sein  Leben  sich  eine 
universelle  Bedeutung  erworben.  Als  Philosoph  und  Gottesgelehrter 
hat  er  im  Bund  mit  Männern  wie  Andreae,  Duraeus,  Milton  u.  A.  sein 
Leben  einem  Friedenswerk  gewidmet;  indem  er  ,das  Heil  der  Menschheit 
(wie  er  sagte)  höher  stellte  als  das  Ansehen  der  Sprachen,  der  Personen 
und  der  Sekten1  war  sein  Bemühen  allezeit  dahin  gerichtet,  die  streiten- 
den Kirchen,  Völker  und  Stände  von  gewaltsamer  Austragung  der  Gegen- 
sätze zurückzuhalten  und  sie  auf  dem  Grund  altchristlicher  Weltanschau- 
ung zu  Frieden  und  Versöhnung  zu  leiten.  Als  Schulmann  hat  er,  an- 
geregt besonders  durch  Baco,  den  Erfahrung* Wissenschaften  in  den 
r  Lateinschulen",  die  er  vorfand,  ihr  Recht  erkämpft,  die  Muttersprache 
in  den  Kreis  der  Unterrichtsgegenstande  eingeführt  und  den  Gedanken 
der  Körperbildung  in  den  Begriff  der  Schule  aufgenommen.  Durch 
die  Forderung  der  Schulbildung  für  die  gesamte  Jugend,  mit  Einschluss 
des  bisher  zurückgesetzten  weiblichen  Geschlechts,  ist  er  einer  der  Väter 
unserer  Volksschule  geworden. 

Längere  Zeit  war  er  zu  Prerau  und  Fulnek  in  Mähren,  zu  Lissa, 
Elbing,  Säros-Patak  und  Amsterdam  thätig:  aber  auch  Berlin,  London, 
Prag  und  Stockholm,  Danzig,  Eperies,  Görlitz,  Hamburg,  Leiden,  Norr- 
köping,  Stettin,  Thorn  und  manche  andere  können  die  Ehre  für  sich  in 
Anspruch  nehmen,  ihn  beherbergt  zu  haben;  an  den  reformirten  Hoch- 
schulen zu  Herborn  und  Heidelberg  hat  er  seine  Studien  gemacht.  — 

Die  Anregung  und  Förderung  von  Festveranstaltungen  geeigneter 
Art  bleibt  vorbehalten.  Indessen  ist  schon  jetzt  beschlossen  worden,  als 
dauerndes  Erinnerungszeichen  unter  dein  Namen  Comenius-Gesell- 
schaft  nach  Massgabe  getroffener  Vereinbarungen  eine  Gesellschaft  ins 
Leben  zu  rufen,  welche  bezweckt,  das  Verständnis  des  grossen  Manne* 
nioht  blos  den  Gelehrten,  sondern  dem  gegenwärtigen  Geschlecht  über- 
haupt durch  Schrift  und  Rede  zu  erschliessen. 

Nähere  Auskunft  erteilt 

der  Bevollmächtigte 

Archivrat  Dr.  L  Keller 

Münster  i.  Westfalen. 


Neu  eingegangene  Schriften. 

M.  Jost-Paris,  Annuaire  de  l'enseignement  primaire.  1891.  Paris,  A.  Col- 
lin  et  Gie. 

Ernst-Tewa,  Deutsches  Lesebuch  für  Mädchenschulen.  Band  1—3.  Leipzig- 
Berlin,  Klinckhardt 

Ernst-Tewa,  Begleitwort  zum  deutschen  Lesebuch.  Ebendaselbst. 

A.  Key,  Die  Pubertätsentwicklung  und  das  Verhältnis  derselben  zu  den 
Krankheitserscheinungen  der  Schuljugend.    Berlin,  Hirschwald. 

Siegert,  Gesundheitsregeln  für  die  Schuljugend.    Berlin,  Issleib. 

Durouseow,  Über  erste  Erziehung.    Strassburg,  Trübner. 


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Völcker,  Die  Schule  und  die  soziale  Frage.    Schönebeck,  O.  Senff. 
Flösset,  Volksbildung  und  Jugenderziehung.    Leipzig,  R.  Werther. 
Zeitschrift  des  Vereins  östr.  Zeichenlehrer.    Wien,  Reisser  und  Werthner. 
Keferstein,  Die  Konfessionsschule.    2.  Aufl.    Wien,  Pichler. 
Prähmlg-Hecht,  Zionsklänge.    Leipzig,  Merseburger. 
Hentschel,  Liederhain.  Ebendaselbst. 
Engel,  Festmotetten.  Ebendaselbst. 

Sprockhoff,  Grundzüge  der  Mineralogie.    Hannover,  C.  Meyer. 

N.  M.  Butler,  edueational  review.    New- York,  H.  Holt  u.  Co. 

Stiehler,  Das  Lied  als  Gefühlsausdruck.    Altenburg,  Pierer. 

Tromnau,  Das  deutsche  Reich     Halle,  Schrödel. 

Lauczizky,  Lehrbuch  der  Logik.    Wien,  Gerold. 

Meyer,  Neue  Bahnen.    1.  u.  2.    1^91.    Gotha,  Behrend. 

Scherer,  Der  Handfertigkeits-Unt.  in  der  Volksschule.   Bielefeld,  Heinrich. 

Machold,  Ursachen,  Ziele  und  Wege  der  Reform bestrebungen  des  Natur- 

geschichts-Unt.  in  der  Volksschule.  Ebendaselbst. 
Gehaltsverhältnlese  der  rheinischen  Landlehrer.  Ebendaselbst, 
Peitties,  Hoffnungen  und  Befürchtungen  et«-.  Ebendaselbst. 
Gehaltsverhältnisse  der  Lehrer  an  den  Volksschulen  in  Köln  etc.  Ebendas. 
Günther,  Zur  Lehrerbildungsfrage.  Ebendaselbst, 
Boletin  de  ensenanza  primaria.  Montevideo. 

Rabioh,  Psalter  und  Harte  p 
Armstroff,  Ansehauungs-  und  Sprachunterricht.    5.  Aufl.  g 
Andrea,  Uber  Gründe  und  Ziele  Schulreform.  Bestrebungen.  j 
Behl,  Methodik  des  Rechenunterrichts.    3.  Aufl  i  2 

Rein,  Aus  dem  padagog.  Universitats-Seminar  zu  Jena.    ö.  Heft.       I  i 
Gleichmann,  Über  Herbarts  Lehre  von  den  Stufen  des  Unterrichts,  f  ET 
2.  Aufl. 

Thrändorf,  Die  Behandlung  des  Religionsunterrichts.    2.  Aufl. 
Deutscher  Lehrerkalender  1H91. 
Armstroff,  Ev.  Religionsbuch.    ö.  Aufl. 
Bibliothek  padagog.  Klassiker  von  Fr.  Mann,  Langensalza. 

Mittons  padugog.  Schriften  und  Äusserungen.    (J.  B.  Meyer.) 

Herbarts  padagog.  Schriften.    .r>.  Aufl.    (v.  Sallwürk.) 

Salzmanns  ausgewählte  Schriften.  (Ackermann.) 
Voigt,  Die  Bedeutung  der  Herbartsohen  Pädagogik  für  die  Volksschule. 

Schönebeck  a.  E.,  Neumeister. 
Sachse,  Des  Lehrers  Rüstzeug  im  Kampf  der  Schule  gegen  die  Sozial- 
demokratie.   Leipzig.  Max  Hesse. 
Thiene,  Anleitung  zu  Skizzierubungen.    Dresden,  Stangel  und  Markert. 
Prutz-Schlller,  Leitfaden  für  den  geschichtlichen  Unterricht  in  den  oberen 

Klassen  höherer  Lehranstalten.    Berlin,  Grote. 
Sammlung  Göschen,   ä  HO  Ff.    Stuttgart,  Göschen. 

Kauffmann,  Deutsche  Mythologie. 

Lyon,  Abriss  der  deutschen  Grammatik. 

Bender,  Römische  Geschichte. 
Reichau,  Ursprung  und  Wesen  der  Schule.    Magdeburg,  Baensch. 
Willmann,  Die  soziale  Aufgabe  d.  höber.  Schulen.    Braunschweig,  Vieweg. 
Walter,  Algebr.  Aufgaben.    2.  Bd.  Stuttgart,  Union. 
Schiller,  Schularbeit  und  Hansarbeit.    Berlin,  Weidmann. 
Notas,  Ausgesprochene  Gedanken  vieler  Millionen  über  die  Unhaltbarkeit  des 
christlichen  Bekenntnisses  in  seiner  jetzigen  Gestalt.  Leipzig,  Pfau. 
Lehmann,  Das  Kartenzeichnen  im  geogr.  Unterricht.  Halle,  Tausch  u.  Grosse. 
Wiget,  Pestalozzi  und  Herbart.    Dresden,  Kämmerer. 
Nieden,  Das  Recht  der  Frau.    Strassburg,  Lindner. 
Andree,  Schul-Atlas.    Bielefeld-Leipzig,  Velbagen-Klasing. 
Pünjer,  Lehr-  und  Lernbuch  der  französ.  Sprache.    Hannover,  Meyer. 
Thoma,  Das  Drama.    Gotha,  Thienemann. 

Protzen,  Was  kann  die  Schule  thun,  um  den  Sozialist,  u.  komunist.  Ideen 
der  Umsturzparteien  entgegen  zu  arbeiten?  Bielefeld,  Hehnich. 

Beiliegend  ein  Prospekt  von  der  Firma  Wilhelm  Eramer  in  Berlli, 
welchen  wir  Ihrer  besonderen  Aufmerksamkeit  empfehlen. 


Druck  voii  O.  FSt«,  Naumburg  a.  8. 


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I  ■• .  I  I    1.  .11  — ■    -         -  ■   ■■■■  - 


Pädagogische  Studien. 


N  e  xi  (>    Folg  e. 
Herausgegeben 


TOI) 


Dr.  W.  Rein, 

Prnt\s*<,r  u.  d.   Civtnitüt  ./*/,<i. 

XII.  Jahrgang.    Viertes  Heft. 


Inhalt: 


A.  Abhandlungen :  Dr.  Staude,  Zur  Anwendung  der  Formal-Stufen 
im  Religionsunterricht. 

B.  Mitteilungen:  i.R.  Bürkner,  Evangelisch-soziale  Fragen.  2.  Dr. 
B.  Maennel,  Zur  Littcratur  des  Naturgeschichts- Unterrichts. 
3.  Neue  Bahnen.  4.  E.  Scholz.  Ist  die  Unkenntnis  der  neuesten 
Geschichte  ein  besonderes  Merkmal  der  deutschen  Jugend? 
5.  Neudrucke  pädagogischer  Schriften.  6.  Stichling:  Aus53Üienst- 
jahren.  7.  H.  Chili,  Verbreitung  der  Knaben- Handarbeit  in 
Deutschland.  S.  H.Chili,  Zwangserziehung  verwahrloster  Kinder 
in  Preufsen.  9.  Joh.  Trüper,  Zum  Kampf  um  die  Schule  (Fort- 
setzung!. 10.  Hauptversammlung  des  Vereins  für  wissenschaftliche 
Pädagogik. 

C.  Beurteilungen:  1.  Kurt  Adelfels  (Bliedncr  .    2.  Wartenberg 

(Haupt).    3.  Gust.  Frdch.  Pfisterer  f  Eisenhofe  r). 


Dresden. 

Verlag  von  Bldyl  &  Kaemmerer 

(Paul  Th.  Kiwimruerer.) 

.SX.  18»! . 


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torlag  oon  6lrnl  4  fiofmmrrrr  Jtoul  ty.  ftücmmertr)  in  Drts&rn. 


ZTTit  bem  näcbften  fjefte  beginnen  bie 

„päbagogtfcfon  Stubien" 

(Hcuc  5olge) 

i^ren  XIII.  3at?rgang.  €s  gereift  ber  Sdfrtftleitung  unb  ber  Derlags» 
Jjanblung  3ur  befouberen  5reube,  auf  bie  erfdnenenen  sroölf  3<*t?rgänge 
3urücfblicFen  311  fönnen  unb  ibren  DanF  aus3ufpredjen  ben  treuen 
Mitarbeitern  unb  Abonnenten,  trelcb.e  es  ibnen  ermöglicht  traben,  ber 
itfebtung,  meldtet  bie  „päbagogifdjen  Stubien"  qeteibmet  finb,  3um 
5egen  für  unfere  beranroacbjenbe  3ugenb  eine  »eitere  Verbreitung  ,u 
geben.  tTlöd?ten  fie  aud?  im  fommenben  3ar?re  ben  „päbagogifd?en 
Stubien"  treu  bleiben  unb  weitere  Anbänger  für  unfere  Sacfce 
gemimten! 


ftoftfidprid  Der  in  Den  Safirgänflen  I— XII  erfc^ienenen 

«bfjanMungen. 

^übrgang.  lfWO. 

©«ft     I.    Dr.  4.  t».  SallmürT,  Cbmibulrat  in  Starlfrube.    «ouffrau5  Stellung  in  ber  $äbagogtf 
unb  in  ber  <HM<nt<bte  brr  SJabagogif. 
m     Ii    Dr.  «idjarb  Staube,  Seminarbireftor  in  Coburg.  Xie  tultutbiftonfcbfn  Stufen  im  Unter 
nebt  bet  «oir*itt»ulr 

„  HJ.   9.  «.  3ftoel,  Cberlebrrr  am  fcönigl.  ßebrertnnem Seminar  in  treiben,   fcorfifelb  unb 

bir  Rlaffenfragr. 

.   IV.   I>r.  Karl  6.  3uft,  Itrrftor  iu  «Himburg,    lir  $f«d)ologie  im  ßebrer^Sewinar.   tut  «*t= 
trag  w  «uibtlbung  brr  SrIjuIluiflenfdHiften. 

3&brgang  1881. 

$eft     I.   Dr.  1  brciii  Dorf ,  Srminarlebrrr  in  Vuerbad»  i.  5.,  Itritifcbe  ©etradjtungen  über  bir  „Kumt 

tateebefe." 

„     Q.  C.  8  lüget  in  ©anheben.   Über  bie  metaubufMdje  »rnnblage  ber  ^fbäologte  fcerbart«. 
,  UI.   Dr.  f.       Sallwürt,  Cberfdjulrat  in  *arl*rube.    Itfr  «Rufterfcbule  in  Srüffrl.  iSom 


pabag^ogtfcb 


.,  IV.   Dr.  m.  «  ei  11,  Über  bie  Crganifation   ber  Settrrrbiibnng  in 

bauen  auf  ber  Srminarlebrerwrfammlung  »u  Berlin  im  $erbfi  1881. 

Habrgana  I88f. 
rfi     I.   Dr.  «.  »liebner,  «ifenad?,   «Jriiudj  einer 
ridjt». 

.     n    3.  $elm,  Seminarbireftor  i 
«matten. 

.  in.   1.  0 .  ©lume,  Cberlebrer  jn  mtben,   8um  fflefd)td>t«unterr«|t  auf  ben  S 

8.  I.  «einer ib.  Über  bie  ttonerntrarion  brt  Unterrid)«. 
.    IV.   Dr.  W.  S  4  i  1 1 1  n  g ,  Site  *äbagogit  ©afeboto«  in  ibrer  etbHdjen,  rr ligiöfen  unb  »focbologtfdieu 

©ebeutung. 

.uibrgang  188S 

$*ft     L   1.  Dr.  Ibrdnborf,  Die  »trtbe  unb  brr  «eltg.. 

2.  ©.  Steil,  Überfid»  über  bie  beutige  8rartograj>bie. 
.     n.   «error  $.  «8  in  »er,  3fi  bie  äeimatfunbe  etn  fefbftanbiger  Unterrid|t*gegenftanb?  — 


«.Dr.  Otto  «8.  ©eper,<bie«amrfunbe  im  erjiebenbenUnterrtdjt. 
Hl.   1.  «.  $einede.  bie  «ilbung  brt  TOitgefübU.  -  t  Dr.  «flpfert,  Über  bie 

geogratjbiftben  Unterrtdit». 
IV.   Dr.  tB.  «ein,  einige  »emrrfungen  »u  bem  «eferat  brt  $rrm  Dr.  %xid:  3"  mit  weit  fmb 
bie  ^erbart--8i0er  =  Stoofcbet«  bibaft.  »runbfa»e  für  ben  Unterrttbt  an  ben  böfteren  Sdmlrn 


ju  oertoerten? 


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A.  Abhandlungen. 

Zur  Anwendung-  der  Formal-Stufen  im  ! 
Religionsunterricht.  *} 

Eine  Entgegnung  von  Dr.  R.  Staude,  Seminardircktor  in  Coburg. 

Der  Verfasser  genannt.  Schrift  erleichtert  uns  eine  sachliche 
Entgegnung,  da  er  es  »nur  mit  der  Sache  zu  thun«  hat,  da  seine 
Angriffe  nur  einer  »bestehenden,  objektiven  und  .  .  .  falschen 
Methode«  gelten,  und  da  er  ausdrücklich  erklärt,  dafs  es  der  »von 
Herbart  ausgehenden  Schule  um  die  grofse  Sache  sehr  ernstlich 
zu  thun  ist.« 

So  wird  also  das  Ziel,  das  wir  dem  erziehenden  Unterricht 
und  insbesondere  dem  Religionsunterricht  setzen,  von  dem  Gegner 
anerkannt,  aber  unser  Weg  wird  als  ein  falscher,  vom  Ziel  ab- 
führender Weg  verworfen.  Dies  Urteil  ist  hart  und  schwer  genug, 
um  zur  Abwehr  herauszufordern. 

Die  beiden  Hauptteile  der  Schrift  behandeln  den  biblischen 
Geschichtsunterricht  und  den  Katechismusunterricht;  jeder  Teil 
zerfällt  in  einen  kritischen  und  einen  positiven  Abschnitt.  Was 
im  ersten  Teil  über  und  gegen  die  kulturhistorischen  Stufen  und 
die  Konzentration  gesagt  wird,  können  wir  hier  füglich  übergehen, 
da  die  betreffenden  Einwürfe  an  sich  unwesentlich  erscheinen  und 
in  diesen  Blättern  schon  des  öfteren  beleuchtet  worden  sind.  Der 
Hauptangrift  gilt  den  formalen  Stufen  und  ihrer  Anwendung 
auf  den  biblischen  Geschichtsunterricht.  Diesen  Angriff  wollen 
wir  nun  näher  ins  Auge  fassen. 

Sehen  wir  uns  zunächst  nach  den  Unterlagen  des  Angriffes 
um,  so  finden  wir,  dafs  der  Gegner  seinen  Hörern  und  Lesern 


*)  Siehe  A.  H.  Braasch:  »Relorm  des  Religionsunterrichts  in  der 
Volksschule«.    Jena  1891. 

Pädagogische  Studien.    IV.  13 


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—    194  — 


zwei  nach  den  formalen  Stufen  gearbeitete  Präparationen  skizziert 
und  ihnen  dadurch  »volle  Klarheit  über  die  Methode«  geben  will. 
Zur  Erhöhung  dieser  Klarheit  werden  dann  noch  einzelne  bei 
Schulvisitationen  gemachte  Erfahrungen  mitgeteilt.  Und  mit  solchen 
willkürlich  gewählten  Beispielen  und  zufällig  gemachten  Erfahrungen 
soll  nun  eine  psychologisch  so  wohl  fundamentierte  Theorie  als 
falsch  dargethan  werden!  Auch  wenn  dem  Herrn  Verfasser,  wie 
ja  anzunehmen  ist,  weit  mehr  Beispiele  und  Erfahrungen  zu  Ge- 
bote stehen,  so  könnte  damit  auch  im  günstigsten  Falle  nur  be- 
wiesen werden,  dafs  die  die  Theorie  ausführenden  und  anwenden- 
den Personen  sich  vergriffen  und  geirrt  haben. 

Betrachten  wir  nun  den  ersten  Vorwurf,  den  Herr  B.  aut 
Grund  seiner  Unterlagen  den  formalen  Stufen  macht.  Sie  sollen 
eine  unerträgliche  Breite  der  Behandlung  erzeugen  und  zwar  be- 
sonders aut  der  Stufe  der  Vorbereitung ;  dies  geschehe  hauptsäch- 
lich durch  Hineinbringen  fremdartiger  Stoffe,  z.  B.  aus  dem  An- 
schauungsunterricht und  der  Heimatskunde,  und  finde  in  einem 
Mafse  statt,  dafs  die  bibl.  Geschichte  zur  Nebensache,  zur  »Butter 
auf  dem  Brote«  herabgedrückt  werde. 

Dafs  zur  Auffassung  einer  Erzählung  apperzipierende  Vor- 
stellungen vor  Beginn  der  Erzählung  bereit  zu  stellen  sind  (das 
ist  eben  die  Aufgabe  der  Vorbereitung),  hat  Verfasser  mit  der 
obigen  Behauptung  nicht  widerlegt.  Dafs  aber  eine  Vorbereitung 
leicht  zu  breit  werden  kann,  und  dafs  manche  Vorbereitungen 
thatsächlich  zu  breit  sind,  hat  noch  niemand  bestritten.  Aber: 
ahusus  n('ii  tollit  usmn.  Wirkt  die  Vorbereitung  zerstreuend  statt 
sammelnd  und  ist  sie  langweilig  statt  anregend,  so  mufs  eben  der 
ausführende  Lehrer,  der  sich  doch  vom  Prinzip  des  Interesses 
leiten  lassen  will,  das  Falsche  seiner  Ausführung  einsehen  und 
Wandel  schaffen. 

Und  was  insbesondere  die  aus  Reins  i.  Schuljahre  und  aus 
meinen  » Präparationen  c  angeführten  Vorbereitungen  betrifft,  so 
ist  folgendes  zu  bemerken.  Von  der  Vorbereitung  zum  Märchen 
von  dem  Strohhalm  u.  s.  w.  giebt  Verfasser  selbst  zu,  dals  solche 
Vorbereitungen  oft  »recht  lustig*  sein  könnten.  Wenn  sie  lust- 
bringend sind,  werden  sie  aber  auch  in  der  Regel  zweckent- 
sprechend und  also  richtig  sein.  Und  aufserdem  haben  die  Ver- 
fasser der  Schuljahre  in  der  4.  Auflage  bei  dem  betreffenden 
Märchen  die  darstellende  Behandlung  gewählt,  die  bekanntlich  eine 
durchgängige  Vermischung  von  Vorbereitung  und  Darbietung  be- 
dingt. Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  meiner  Vorbereitung  zur 
Schöpfungsgeschichte.  Die  Ausdehnung  derselben  erklärt  sich  ein- 
fach daher,  dafs  ich  —  wie  in  der  Anmerkung  auf  S.  17  f.  aus- 
drücklich erklärt  wird  —  im  wesentlichen  darstellenden  Unterricht 
angewandt  habe,  weshalb  die  Darbietung  des  biblischen  Textes  in 
diesem  Falle  eigentlich  nur  als  Bestätigung  des  schon  Gewonnenen 


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-    195  - 

aufzufassen  ist.  Auch  die  von  Herrn  B.  aus  seiner  Praxis  angeführten 
Fälle  sind  nicht  glücklich  gewählt.  Wenn  ein  Lehrer  bei  einer 
öffentlichen  Schulprüfung  j4  Stunden  zur  Vorbereitung  auf  die 
Geschichte  von  Mosis  Aussetzung  braucht,  so  hat  er  eben  einfach 
aufser  Acht  gelassen,  dafs  bei  der  Wiederholung  einer  schon 
durchgearbeiteten  Geschichte  die  Stufe  der  Vorbereitung  gar  keinen 
Zweck  mehr  hat,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  seine  Ausführung 
derselben  schon  vor  der  ersten  Darbietung  zu  breit  war.  Und 
wenn  ein  anderer  Lehrer  die  Vorbereitung  zu  Jesu  Geburt  in 
geographischen  Unterricht  verwandelt,  so  hat  er  gleichfalls  den 
Zweck  der  Vorbereitung  ganz  aus  den  Augen  verloren.  Dagegen 
kann  ich  in  dem  Hereinziehen  der  Schilderung  eines  Trauerzuges 
bei  der  Vorbereitung  auf  die  Geschichte  vom  Jüngling  zu  Nain  und 
in  dem  Aufzählen  der  verschiedenen  Weidetiere  Abrahams  bei 
der  Erzählung  von  Abraham  und  Lot  nichts  Unrechtes  erblicken, 
sondern  nur  einen  Dienst,  den  man  damit  dem  Prinzip  der  An- 
schaulichkeit leistet.  Überhaupt  ist  das  Verwerten  von  Vor- 
stellungen aus  der  Heimatskunde  und  ^us  dem  Anschauungs- 
unterricht (und  hierzu  fügen  wir  noch :  Geschichte,  Deutsch, 
Naturkunde  und  überhaupt  den  gesamten  Erfahrungskreis  des 
Kindes)  nicht  als  ein  Hereinziehen  fremdartiger  Stoffe  und  Inter- 
essen zu  verurteilen,  sondern  als  ein  notwendiger  Dienst,  den  man 
der  Anschauung,  der  Apperzeption  und  Konzentration  zu  leisten 
hat,  anzuerkennen  und  zu  üben.  Es  ist  nicht  einzusehen,  wie  die 
auch  vom  Verfasser  geforderte  Anschaulichkeit  besonders  bei  der 
Klarstellung  der  thatsächlichen  Verhältnisse  einer  Geschichte  auf 
anderem  Wege  erzeugt  werden  soll  als  durch  Herbeischaffen  und 
Verwerten  der  apperzipierenden  Anschauungen.  Und  gar  die  Vor- 
herrschaft der  religiös-sittlichen  Gedanken  kann  doch  auf  keine 
andere  Weise  methodisch  angebahnt  werden  als  durch  thatsäch- 
liche  Ausübung  dieser  Herrscherstellung  auf  allen  dem  religiös- 
sittlichen Gedankenkreis  unterworfenen  Lebensgebieten.  Hiergegen 
kann  sich  nur  verschliefsen,  wer  die  Würde  und  Heiligkeit  des 
religiös-sittlichen  Gedankenkreises  in  seiner  völligen  Isoliertheit 
erblickt  und  ihn  darum  ängstlich  vor  der  Berührung  mit  profanen 
Gedankenkreisen  zu  bewahren  sucht,  oder  wer  dem  religiösen 
Unterrichtsstoff  die  mystische  Macht  zutraut,  von  selbst  die  Herr- 
schaft über  die  Gefühls-  und  Willensgebiete  des  profanen  Lebens 
zu  erlangen.  Auf  diesem  theologischen  Standpunkt  stehen  wir 
allerdings  nicht.  Wir  sind  vielmehr  der  Meinung,  dafs  Religion 
und  Sittlichkeit  die  geistigen  Lebensäufserungen  durchdringen  und 
normieren  sollen  und  dafs  daher  diese  Durchdringung  und  Beein- 
flufsung  im  erziehenden  Unterricht  nicht  früh  und  kräftig  genug 
ins  Werk  gesetzt  werden  kann.  Doch  wir  kommen  hierauf  noch 
einmal  zurück.  Für  jetzt  stellen  wir  nur  fest,  dafs  allerdings  durch 
das  Hereinziehen  der  genannten  Stoffe  und  Vorstellungen  die  Be- 


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I 


-    196  - 

handlung  einer  biblischen  Geschichte  bei  uns  breiter  und  gründ- 
licher werden  mufs  als  bei  anderen;  doch  wir  glauben,  dafs  dem 
gröfseren  Zeitaufwand  auch  eine  gröfsere  Wirksamkeit  entspricht. 
Aus  dem  »breitangelegten  Unterbau«  folgt  aber  nicht,  dafs  eine 
biblische  Geschichte  »wochenlang  traktiert«  werden  mufs  oder  gar 
dafs  eine  »unerträgliche  Breite <,  eine  tödlich  wirkende  Langeweile 
und  der  beharrliche  Schlaf  der  Kinder  entstehen  mufs.  Meine  Er- 
fahrungen, die  gewifs  von  vielen  Gesinnungsgenossen  bestätigt  werden 
können,  haben  mir  z.  B.  gezeigt,  dals  die  Schüler  sich  gerade  bei  den 
Analysen,  Erläuterungen,  Assoziationen  und  Anwendungsaufgaben 
besonders  lebhaft  beteiligten,  und  öfters  zu  meinem  Bedauern  viel 
lebhafter  als  bei  der  Darbietung  des  schlichten  und  knappen  Bibel- 
wortes, das  sie  eben  in  seinem  Reichtum  und  seiner  Tiefe  noch 
nicht  apperzipieren  konnten.  Durch  das  von  uns  geübte  Herein- 
ziehen anderer  Stoffe  wird  die  biblische  Geschichte  durchaus  nicht 
zur  Nebensache  herabgedrückt;  denn  das  Ziel  aller  Stufen  ist  die 
Erfassung  der  gebotenen  Thatsachen  und  die  Gewinnung  und  Ver- 
wertung der  darin  gegebenen  ethisch-religiösen  Kerngedanken,  so 
dafs  also  die  betreffende  biblische  Geschichte  auf  allen  Stufen  die 
Führerschaft  behält. 

Natürlich  kann  auch  beim  Hereinziehen  der  genannten  Stoffe 
des  Guten  zu  viel  geschehen  und  ist  wohl  auch  in  manchen  Fällen 
zu  viel  geschehen.  Aber  die  verfehlte  Ausführung  einer  Theorie 
ist  kein  Beweis  gegen  ihre  Richtigkeit  und  unsere  Theorie  trä^t 
ja,  wie  schon  bemerkt,  in  ihrem  Grundprinzip  des  Interesses  das 
Prinzip  der  Korrektur  solcher  Fehlgriffe  in  sich.  Wo  das  Inter- 
esse aufhört,  und  die  Langeweile  anfängt,  da  mufs  eben  der  Lehrer 
sich  sagen:  Du  bist  auf  dem  falschen  Weg  —  und  mufs  den 
richtigen  suchen.  Wie  stimmt  übrigens  zu  dem  Tadel,  den  Ver- 
fasser über  das  Hereinziehen  der  genannten  Stoffe  ausspricht, 
das  Lob,  das  er  später  (S.  25)  unserem  Luther  spendet,  weil  er  im 
grofsen  Katechismus  das  »Vertrauen«  an  Beispielen  weiter  aus- 
geführt habe,  >die  frisch  und  fröhlich  aus  dem  Leben  und  der 
Geschichte  gegriffen  sind  —  und  keineswegs  blofs  aus  der  bib- 
lischen Geschichte  «?  Erwähnt  sei  hier  noch  der  Vorwurf,  den  Herr 
B.  der  5.  Stufe  macht,  dafs  sie  nämlich  besonders  gefährlich  sei, 
weil  sie  »einem  flachen,  durch  häufige  Wiederholung  sich  selbst 
abschwächenden  Moralisieren  Thür  und  Thor  öffne.«  Auch  dieser 
Vorwurf  ist  gegenstandslos,  da  fast  in  allen  theoretischen  Er- 
örterungen der  Stufen  gerade  für  diese  Stufe  im  Gesinnungsunter- 
richt grofse  Vorsicht,  Weisheit  und  Mäfsigung  angeraten  wird, 
und  da  die  in  den  Präparationen  gegebenen  Aufgaben  nur  als 
Vorschläge  für  die  Auswahl  des  einem  jeden  Lehrer  Passenden 
aufzufassen  sind. 

Ein  zweiter  Vorwurf,  der  hauptsächlich  die  2.  Stufe  trifft, 
wird  von  Herr  B.  mehr  indirekt  ausgesprochen.    Aus  seiner  Mifs- 


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197  - 


billigung  des  Abschnittemachens,  des  vielen  Erläuterns,  Abfragens 
(übrigens  ist  niemand  mehr  gegen  das  Abfragen  als  wir),  Nach- 
denkenlassens, sowie  aus  seiner  gegensätzlichen  Hervorhebung  der 
begeisternden  Methode  ergiebt  sich  nämlich  der  Vorwurf,  dafs 
wir  schon  auf  der  2.  Stufe  die  Gefühlsseite  vernachlässigten  und 
die  Erkenntnisseite  zu  sehr  betonten.  Das  ist  nun  entschieden 
nicht  richtig.  Wir  erstreben,  wie  nur  irgend  einer,  auf  der  2.  Stufe 
die  volle  Anschaulichkeit  der  Geschichte  mit  allen  Mitteln  der 
methodischen  Kunst :  durch  darstellenden  Unterricht,  durch  Heran- 
ziehen der  ähnlichen  Erfahrungen  und  Anschauungen  des  Kindes, 
durch  Klarlegung  der  thatsächlichen,  der  kulturhistorischen,  geo- 
grapischen  und  psychologischen  Verhältnisse,  durch  Einsicht  in 
den  inneren  Zusammenhang  der  erzählten  Ereignisse,  Aussprüche, 
Stimmungen  und  Handlungen.  Kurz  wir  erstreben  als  Ziel,  dafs 
das  Kind  die  Handlung  und  ihre  persönlichen  Träger  zu  sehen 
glaube,  dafs  es  die  Geschichte  gleichsam  mit  erlebe.  Und  der 
Zweck  dieser  lebhaften  Anschaulichkeit  und  klaren  Einsicht  ist 
uns  die  innere  Teilnahme  des  Schülers  an  den  vorgeführten  Hand- 
lungen und  Personen,  die  lebhafte  Erregung  seines  sittlichen  (be- 
sonders des  sympathetischen)  und  religiösen  Gefühls.  Wir  suchen 
der  nur  künstlichen  Erfahrung,  die  der  Unterricht  bieten  kann, 
möglichst  den  Charakter  der  natürlichen  Erfahrung  zu  verleihen, 
weil  wir  wissen,  dafs  die  in  dem  wirklichen  Umgang  mit  Per- 
sonen gemachten  Erfahrungen  die  sittlichen  und  religiösen  Ge- 
fühle am  kräftigsten  wecken  und  bilden.  So  ist  uns  die  Erkenntnis- 
seite nur  die  unentbehrliche  Unterlage  der  Gefühlsseite.  Und  die 
zweite  Stufe  gilt  uns  als  die  Hauptstufe,  weil  sie  durch  ihre  neuen 
Anschauungsgebilde  den  neuen  Zuwachs  der  Gesinnungsbildung 
in  die  Kindesseele  hineinbringt. 

Dies  führt  uns  auf  den  dritten  und  hauptsächlichsten  Vor- 
wurf, den  Verfasser  unserer  Methode  macht  und  der  ausschliefs- 
lich  der  3.  und  4.  Stufe  gilt.  Er  meint,  wir  trieben  hier  eine 
=  abstumpfende  Begriffs-  und  Abstraktionsarbeit«,  einen  »einseitigen 
Verstandes-  und  Begriffskult ;«  wir  verdürben  den  biblischen  Ge- 
schichtsunterricht »in  einen  Katechismusunterricht  mit  geschicht- 
licher Grundlage«,  indem  wir  sie  »von  vornherein  katechismusartig« 
zuschnitten,  unsere  ganze  Kraft  auf  »das  Herausdestillieren  kate- 
chismusartiger Sätze«  legten  und  demgemäfs  unsere  biblischen  Ge- 
schichtsbücher »durchweg  im  Dienst  des  Katechismusunterrichts« 
ausarbeiteten.  Hieraus  ergebe  sich  offenbar  unsere  »Überschätzung 
der  Erkenntnisseite  in  der  Religion  * 

Der  Grundirrtum  unseres  Gegners  bei  dieser  Anklage  liegt 
in  einem  doppelten  Mifsverständnis.  Er  hat  unsere  besonders  im 
8.  Schuljahre  niedergelegten  Bemerkungen  über  den  Katechismus- 
unterricht mifsverstanden,  und  er  hat  Sinn  und  Bedeutung  der 
gedruckt  vorliegenden  Assoziationen  und  Systeme  mifsverstanden. 


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—    198  — 


Von  dem  letzteren  Mifsverständnis  will  ich  —  soweit  es  meine 
Präparationen  betrifft  —  gern  einen  Teil  der  Schuld  auf  mich 
nehmen.  Das  erste  Mifsverständnis  erkläre  ich  mir  so.  Die 
Grundtendenz  unserer  Bemerkungen  im  8.  Schuljahr  (man  ver- 
gleiche übrigens  die  Anmerkungen  in  der  2.  Auflage !)  war  der 
Nachweis,  dafs  der  übliche  selbständige  Katechismusunterricht  nach 
der  strengen  Theorie  der  formalen  Stufen  überflüssig  sei,  weil 
seine  Elemente  und  deren  Zusammenfassung  schon  in  unserem 
biblischen  Geschichtsunterricht  enthalten  seien.  Dieser  katechismus- 
artige Gehalt  des  biblischen  Geschichtsunterrichtes  wurde  uns  aber 
nicht  etwa  von  irgend  einem  Katechismus,  den  wir  erarbeiten 
wollten,  sondern  von  der  Theorie  der  formalen  Stufen  und  von 
dem  religiös-sittlichen  Gehalt  der  biblischen  Geschichten  geboten 
und  dargeboten  und  im  letzten  Grunde  von  dem  Zwecke  der 
Charakterbildung,  die  ohne  Maximen  und  Regeln  für  das  sittliche 
Handeln  und  die  religiöse  Weltanschauung  nicht  denkbar  ist. 
Unsere  Bemerkung :  »So  schwebt  uns  also  bei  der  Behandlung 
der  biblischen  Geschichte  die  lebensvolle  Aneignung  des  Kate- 
chismusgehaltes als  letztes  Ziel  vor;  der  Katechismus  erhebt 
sich  demnach  aus  der  Reihe  der  zu  verarbeitenden  Unterrichts- 
stoffe zum  Range  einer  den  Religionsunterricht  leitenden  Norm, 
um  schliefslich  als  Resultat  an  das  Ende  des  biblischen  Ge- 
schichtsunterrichtes zu  treten«  ist  also  gemäfs  der  in  der  2.  Auf- 
lage gemachten  Anmerkung  aufzufassen,  wo  es  heifst:  »Wir  denken 
hierbei  nicht  an  einen  bestimmten  kirchlichen  Katechismus,  der 
inhaltlich  die  Norm  des  Religionsunterrichtes  sein  müfste, 
sondern  nur  an  ein  dem  Lehrer  (NB!  im  Dienst  der  Charakter- 
bildung!) als  methodisches  Ziel  vorschwebendes  System  des 
ethisch-religiösen  Gewinnes  des  Gesinnungsunterrichtes,  welches 
selbstverständlich  die  Stoffauswahl  und  die  Richtung  der  einzelnen 
Abstraktionsprozesse  (III.  und  IV.  Stute)  zu  normieren  hat.« 

Natürlich  bleibt  auch  abgesehen  von  dem  zu  starken  Gewicht- 
legen auf  die  Worte  »Ziel«  und  »Norm«  eine  sachliche  Differenz 
zwischen  uns  und  Herrn  B.,  da  er  grundsätzlich  den  Gewinn 
katechismusartiger  Elemente  im  biblischen  Geschichtsunterricht  zu 
verwerfen  scheint.  Nun,  da  steht  eben  Grundsatz  gegen  Grund- 
satz. Wir  legen  allerdings  aus  wohlerwogenen  psychologischen 
Gründen  grofsen  Wert  auf  die  begriffliche  Ausbildung  unserer 
Schüler,  auch  im  Gesinnungsunterricht,  da  wir  klare,  richtige  und 
reiche  Begriffe  und  Begriffsverbindungen,  mit  denen  natürlich  die 
entsprechenden  Gefühle  aufs  engste  verbunden  sind,  für  die 
stärksten  apperzipierenden  Mächte  im  Seelenleben  halten ,  und 
zwar  auch  auf  dem  Gebiete  der  Religion  und  Sittlichkeit.  Wohl 
giebt  es  einen  Weg  »unmittelbar  vom  Gefühl  zum  Willens  aber 
der  Weg  zum  Gefühl  geht  meist  durch  klare  Anschauungen,  Vor- 
stellungen, Erkenntnisse  und  Begriffe.    Natürlich  denken  wir  hier- 


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—    199  — 


bei  nicht  an  logische  Begriffe  oder  gar  a,n  wissenschaftliche  De- 
finitionen, sondern  nur  an  psychische  Begriffe,  die  aus  konkretem 
AnschauungsstorT  selbstthätig  vom  Schüler  erworben  worden  sind, 
und  denen  die  konkreten  Züge,  deren  Haftenbleiben  wir  sogar 
fördern,  frische  Lebendigkeit  und  psychische  Macht  verleihen.  Wir 
wollen  die  zum  Gewinnen  von  Begriffen,  Urteilen  und  Maximen 
nötige  Abstraktionsarbeit,  die  auch  unser  Gegner  nicht  entbehren 
kann  (vergl.  seine  Vorschläge  über  den  Katechismus)  nicht  bis 
zu  den  letzten  Schuljahren  aufschieben  und  dann  in  erdrückenden 
Massen  bringen,  sondern  wir  wollen  das  Eisen  der  Anschauung 
und  Teilnahme  schmieden,  d.  h.  begrifflich  bearbeiten,  so  lange 
es  glüht,  und  damit  jedem  Schuljahr  sein  gemessen  Teil  von  Ab- 
straktionsarbeit zuweisen,  gerade  weil  auch  wir  wissen,  dafs  ein 
Cbermafs  solcher  Arbeit  von  Übel  ist.  Und  dann  bedenke  man 
doch,  dafs  die  Resultate  unserer  Abstraktionen  die  schlichten.  Ge- 
danken einfacher  Bibelsprüche  sind  und  nur  die  Einsicht  erzeugen 
wollen,  dafs  und  wie  die  vorgeführten  Verhältnisse  des  mensch- 
lichen Lebens  von  dem  göttlichen  Wort  getroffen  und  normiert 
werden.  Wenn  auch  Verfasser  im  biblischen  Geschichtsunterricht 
Sprüche  verwerten  will,  so  ist  mir  unverständlich,  wie  er  sie  in 
anderer  Weise,  als  wir  es  thun,  mit  den  Geschichten  verbinden 
will.  Denn  auch  wenn  er  sie  direkt  (also  ohne  Assoziation)  an 
die  einzelne  Geschichte  anschliefsen  wollte,  so  müfste  er  doch  bei 
der  Wiederkehr  desselben  Gesinnungsverhältnisses  in  einer  späteren 
Geschichte  an  die  frühere  von  demselben  Spruch  getroffene  Ge- 
schichte erinnern  und  demgemäfs  wie  wir  assozieren.  Doch  genug 
hiervon.  Die  Bedeutung  der  Begriffsbildung  für  das  geistige 
Leben  ist  schon  von  Männern  der  Wissenschaft  und  der  Praxis 
so  gründlich  nachgewiesen  worden,  dafs  die  Behauptungen  und 
Bedenken  des  Herrn  Verfassers  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft 
und  die  praktischen  Folgerungen  daraus  nicht  umstofsen  werden. 

Das  eine  können  wir  ihm  zugeben,  weil  es  schon  längst 
unserer  eigenen  Meinung  entspricht,  dafs  die  2.  Stufe  auch  im 
Vergleich  zur  3.  und  4.  Stufe  die  Hauptstufe  der  methodischen 
Einheit  ist  und  bleibt.  Hat  die  Erzählung  und  deren  Erläuterung 
nicht  auf  Denkweise,  Gefühl  und  Gesinnung  des  Schülers  gewirkt, 
so  kann  und  wird  auch  der  aus  ihr  gewonnene  allgemeine  Satz 
oder  Spruch  keine  Macht  über  ihn  gewinnen.  Aber  der  Spruch 
ist  und  bleibt  eben  doch  die  wirksame  Verdichtung  und  Konzen- 
tration der  wirksamen  Geschichte. 

Noch  in  einem  andern  Punkte  kann  wenigstens  ich  persönlich 
ein  Zugeständnis  machen,  und  hiermit  komme  ich  auf  das  oben 
erwähnte  Mifsverständnis  und  zugleich  auf  meine  von  Herrn  B. 
so  scharf  getadelten  »Präparationen*  zu  reden.  Eine  ganz  andere 
Frage  nämlich  als  die  nach  der  Notwendigkeit  und  Zweckmässig- 
keit von  Assoziationen  und  Systemen  ist  die  Frage  nach  dem 


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Mafs  und  der  Ausdehnung  der  hiermit  dem  Schüler  aufzuerlegen- 
den Abstraktionsarbeit.  Denn  aus  der  Zweckmäfsigkeit  des  Ab- 
straktionsprozesses folgt  noch  nicht,  dafs  er  auch  bei  jeder  ein- 
zelnen Geschichte  und  im  weitesten  Umfange  eingeleitet  werden 
müsse.  Hier  treten  noch  andere  Rücksichten  mit  bestimmend  ein, 
z.  B.  die  Rücksicht  auf  den  Entwickelungsgrad  der  Denklust  und 
-fähigkeit  bei  den  Kindern  oder  auf  die  Abgrenzung  der  metho- 
dischen Einheiten.  Ich  habe  nun  einem  Winke  Zillers  folgend 
schon  vor  Jahren  (vergl.  Präp.  zur  Apg.  S.  13)  den  Gedanken 
ausgesprochen,  dafs  man  besonders  im  Gesinnungsunterricht  zur 
Frischerhaltung  des  Interesses  wohl  daran  thue,  nicht  sofort  an 
jede  durchgearbeitete  Synthese  die  betreffende  Assoziation  anzu- 
schliefsen,  sondern  hierfür  das  Eintreten  einer  verwandten  Synthese 
abzuwarten,  wodurch  natürlich  die  Gesamtzahl  der  Assoziationen 
vermindert  würde.  Hierin  bin  ich  im  Lauf  der  Jahre  noch  weiter 
gegangen,  indem  ich  in  Rücksicht  auf  die  unleugbare  Schwierigkeit 
und  Trockenheit  des  Abstrahierens  die  Zusammenschiebung  gar 
mancher  von  mir  als  selbständiger  Einheiten  behandelten  Geschichten 
zu  pröfseren  Einheiten  und  Gruppen  noch  mehr  als  früher  befür- 
worte (vergl.  meinen  Aufsatz  über  die  formalen  Stufen  in  den 
Kehr'schen  Blättern)  und  indem  ich  bei  der  Wiederkehr  eines 
schon  mit  einem  Spruche  fixierten  Gesinnungsverhältnisses  den 
betreffenden  Spruch  entweder  direkt  oder  mit  knappester  Repro- 
duktion des  früheren  konkreten  Falles  an  die  Beantwortung  der 
Konzentrationsfrage  anschliefse.  Natürlich  mufs  man  sich  dann 
von  Zeit  zu  Zeit  vergewissern,  ob  die  Haupt-  und  Kernsprüche 
(bezüglich  Katechismusstücke)  noch  alle  auf  sie  bezogenen 
Einzelfälle  der  religiös-sittlichen  Lebensäufserung  umfassen  und 
reproduzieren.  Einem  ähnlichen  Verfahren  war  ich  schon  zur 
Zeit  der  Abfassung  meiner  »Präparationen«  geneigt,  habe  aber 
diese  Anschauung  nur  wenig  auf  mein  Buch  wirken  lassen,  da 
dies  Buch  den  ersten  litterarischen  Versuch  der  Anwendung  der 
Stufentheorie  auf  den  gesamten  biblischen  GeschichtsstofT  dar- 
stellte und  es  also  gerade  darauf  ankam,  zu  zeigen,  dafs  die 
formalen  Stufen  sich  in  jeder  einzelnen  biblischen  Geschichte 
durchführen  lassen.  Ich  habe  aber  des  öfteren  (z.  B.  in  dem  er- 
wähnten Aufsatz)  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  dafs  meine 
reichlichen  Assoziationen  und  Systeme  nur  methodische  Möglich- 
keiten sein  sollen,  die  ich  dem  Lehrer  zur  Auswahl  darbiete.  Da 
ich  nun  noch  nicht  zu  der  geplanten  Umarbeitung  meiner  »Präpa- 
rationen« gekommen  bin,  so  benutze  ich  gern  diese  Gelegenheit 
meinen  jetzigen  Standpunkt  in  dieser  Frage  bekannt  zu  geben. 
Ich  bin  also  für  Verringerung  der  Assoziationen  und  Systeme  nach 
Zahl  und  Umfang  und  demgemäfs  auch  für  Zusammenlegen  ein- 
zelner Erzählungen  zu  gröfseren  Einheiten,  besonders  wenn  diese 
Gruppen   von   den  nämlichen  religiös -sittlichen  Hauptgedanken 


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durchzogen  sind  (z.  B.  die  Josephsgeschichte,  deren  Grundgedanke 
die  Weisheit  der  göttlichen  Weltregierung  ist;  vergl.  auch  meine 
Präparationen  zur  Nibelungensage!).  Das  würde  ja  auch  mit  dem 
Gesichtspunkte  harmonieren,  wonach  der  Umfang  einer  Einheit 
wesentlich  von  dem  darin  verkörperten  System  aus  zu  be- 
stimmen ist. 

Durch  dies  Zugeständnis  nähere  ich  mich  etwas  der  Position 
des  Gegners,  und  wenn  er  seinerseits  mein  Nachlassen  auf  der 
3.  und  4.  Stufe  durch  Zugeständnisse  auf  der  2.  Stufe  erwidern 
würde  (ich  meine  besonders  gröfseren  Raum  für  Anschauen  und 
Nachdenken  und  aufserdem  organische  Verbindung  des  Spruches 
mit  der  Geschichte)  so  wären  wir  gar  nicht  mehr  so  weit  aus- 
einander oder  wenigstens  so  nahe,  als  es  die  immer  noch  bleibende 
prinzipielle  Differenz  gestattete.  Aber  es  könnte  dann  wenigstens 
auf  beiden  Seiten  heifsen:  tolerari  pogsc 

Was  die  übrigen  Vorwürfe  gegen  meine  »Präparationen«  be- 
trifft, so  sei  mit  Erinnerung  an  das  schon  oben  Gesagte  bemerkt, 
dafs  ich  schon  öfters  ihre  Breite  und  Ausführlichkeit  mit  der  Ab- 
sicht begründet  habe,  dem  gedankenarmen  Anfänger  einen  ge- 
wissen Reichtum  von  Stoffen  und  Gedanken  darzubieten  und  dafs 
ich  in  der  Einleitung  zum  III.  Teil  ausdrücklich  erklärt  habe :  »Diese 
Präparationen  sind  nicht  —  so  wenig  wie  die  früheren  —  als 
Musterpräparationen  gedacht  und  gemeint,  die  den  Anspruch  auf 
getreue  Nachahmung  und  unveränderte  Übertragung  in  die  Praxis 
erheben,  sondern  sie  wollen  und  sollen  nichts  anderes  sein  als 
eine  methodisch  durchdachte  Stoff-  und  Gedankensammlung,  die 
sich  dem  Lehrer  als  Hilfe  zur  selbständigen  Vorbereitung  auf  den 
Unterricht  und  zur  Auswahl  des  für  seine  Verhältnisse  Passenden 
anbietet.  Ganz  besonders  habe  ich  auf  diese  selbständige  Aus- 
wahl des  Lehrers  gerechnet  bei  den  vielen  Verknüpfungen  auf 
den  III.  Stufen  und  bei  der  Fülle  der  Aufgaben  auf  den  V.  Stufen.« 

Wenn  mein  Rezensent  das  alles  bedenkt,  so  wird  er  vielleicht 
selber  sein  Urteil,  dafs  meine  »Präparationen«  ganz  in  »diesem 
Geiste  t  der  tödlich  wirkenden  Langeweile  geschrieben  seien,  als 
zu  hart  empfinden.  Und  wenn  nicht,  so  kann  ich  mich  wenigstens 
damit  trösten,  dafs  sicherlich  die  Mehrzahl  der  Käufer  der  fünf 
Auflagen  seinem  Urteil  nicht  beistimmt.  Ich  müfste  mich  ja  auch 
Sünden  fürchten,  auch  nur  noch  eines  dieser  mörderischen  Bücher 
in  die  Welt  hinausgehen  zu  lassen,  zumal  ich  ja  meiner  innersten 
Lehrerindividualität  nach  wohl  kein  Wort  Herbarts  täglich  und 
stündlich  mehr  beachte  und  scheue  als  das  grofse  Wort:  >Die 
Langeweile  ist  die  ärgste  Sünde  des  Unterrichtes.« 

Nun  haben  wir  noch  den  vierten  Vorwurf  des  Herrn  B. 
zu  beleuchten.  Er  behauptet,  unsere  Methode  vertraue  in  Wahr- 
heit nicht  der  biblischen  Geschichte,  sondern  nur  sich  selbst;  sie 
glaube,  sie  müsse  erst  die  biblische  Geschichte  fruchtbar  machen, 


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ohne  ihre  Hilfe  bleibe  jene  wirkungslos,  er  aber  vertraue  auf  die 
innere  heilige  Macht,  welche  die  biblische  Geschichte  in  sich  trage 
und  durch  sich  selbst  auf  junge  unverdorbene  Gemüter  ausübe. 

Sofort  nach  dieser  Behauptung  giebt  aber  Herr  B.  zu,  dafs 
bei  der  Behandlung  der  biblischen  Geschichte  »solche  Hilfsmittel 
wie  Bilder  und  Landkarte  und  knappe,  wirklich  notwendige  Er- 
klärungen und  kurze  Fingerzeige,  welche  der  anschaulichen  Dar- 
stellung dienen,  mit  Nutzen  verwendet  werden  können  ja  er 
verwirft  auch  nicht  die  Fragen,  die  »das  Nachdenken  der  Schüler 
und  ihr  tieferes  Eindringen  in  den  Geschichtsstoff  lördern«,  nur 
müsse  es  »bei  wenigen  Fragen  und  Winken  bleiben,  welche  das 
Interesse  an  der  Geschichte  und  den  Helden  derselben  wirklich 
steigern«.  Umfafst  das  nicht  so  ziemlich  das,  was  auch  wir  an 
Erläuterungen  und  Konzentrationsfragen  zur  Geschichte  hinzufügen, 
nur  dafs  wir  dabei  etwas  intensiver  und  gründlicher  zu  Werke 
gehen?  So  zeigt  sich  auch  bei  unserem  Gegner,  dals  man  nicht 
ungestraft  unter  Palmen  wandelt.  Trotzdem  wir  aber  noch  mehr 
Zuthatcn  zur  biblischen  Geschichte  geben  als  Herr  B.,  so  lassen 
wir  uns  doch  unser  Vertrauen  auf  die  eigene  Macht  derselben 
nicht  abstreiten.  Wir  wissen  recht  wohl,  dafs  den  religiösen  und 
sittlichen  Vorstellungen,  Gefühlen,  Begriften,  Interessen  und  Ideen 
eine  ganz  eigentümliche  Macht  über  das  Menschenherz  verliehen 
ist,  auf  der  im  letzten  Grunde  der  Sieg  des  Guten  auf  Erden  und 
die  Verwirklichung  des  Gottesreiches  gegründet  ist  Und  wir 
danken  Gott  so  sehr  wie  irgend  ein  anderer  für  diese  Offenbarung 
und  Durchführungsweise  seines  heiligen  Willens.  Aber  so  wenig 
wir  deshalb  auf  die  Erziehung  des  heranwachsenden  Geschlechtes 
und  insbesondere  auf  den  erziehenden  Unterricht  verzichten,  so 
wenig  verzichten  wir  in  dem  wichtigsten  Unterrichtsfach  auf  die 
Untersuchung  und  Anwendung  der  psychologischen  Wege  und 
Mittel,  auf  denen  und  mit  denen  religiöse  und  sittliche  Erkennt- 
nisse und  Gefühle  am  richtigsten  erzeugt,  am  kräftigsten  gepflegt 
und  am  sichersten  in  Interessen,  Bestrebungen  und  Willensregungen 
umgesetzt  werden  können. 

Auch  bietet  uns  dabei  der  Gedanke,  dafs  unser  mächtigster 
Lehrstoff,  die  biblische  Geschichte,  gerade  Kindern  gegenüber 
diese  Macht  am  wenigstens  äufsern  kann,  da  er  für  Erwachsene 
berechnet  ist  und  anschauungsarmen  Kindern  gegenüber  meist  zu 
knapp,  schlicht,  ja  sogar  abstrakt  ist,  um  ohne  lebhafte  Veran- 
schaulichung und  eindringliche  Erläuterung  als  wirksamer  Zuwachs 
des  vorhandenen  Erfahrungs-  und  Umgangskreises  dienen  zu  können. 
Wir  ziehen  uns  daher  nicht  zurück  in  thatloses  Vertrauen  auf  die 
mystische  Macht  des  göttlichen  Wortes  und  auch  nicht  in  die 
theologischen  Formeln  der  perspieuita*  und  effimeia  s.  s.,  sondern 
wir  halten  die  Augen  offen  und  die  Hand  bereit,  um  die  uns  ver- 
liehene Waffe  des  göttlichen  Wortes  möglichst  wirksam  und  *mög- 


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liehst  am  rechten  Orte  und  zu  rechter  Stunde  zu  führen.  Wohl 
glauben  wir  auch,  dafs  Gott  und  sein  Wort  das  Beste  thun  mufs, 
aber  wir  glauben  auch,  dafs  Gott  durch  menschliche  Werkzeuge 
und  von  ihm  ergriffene  Persönlichkeiten  für  sein  Reich  wirkt,  und 
dafs  daher  auch  ein  vom  Geist  Christi  erfüllter  und  aus  ihm  heraus 
unterrichtender  Lehrer  ein  Wort  Gottes  an  die  Kinder  ist.  So 
müssen  wir  auch  den  vierten  Vorwurf  unseres  Gegners  als  unbe- 
rechtigt zurückweisen. 

Als  Ergebnis  dieser  Gegenkritik  können  wir  folgendes  fest- 
stellen: Die  Kritik  des  Herrn  B.  ist  zwar  gutgemeint,  aber  völlig 
wirkungslos.  Denn  sie  trifft  nirgends  die  psychologischen 
Oroitfllugen  der  Theorie  der  formalen  Stufen.  Die  Berechtigung 
des  einzuleitenden  Apperzeptionsprozesses  giebt  er  selbst  zu,  die  Be- 
rechtigung des  Abstraktionsprozesses  hat  er  nicht  widerlegt.  Auch 
gegen  die  Notwendigkeit  einer  Vorbereitungsstufe  hat  er  nichts 
Treffendes  vorgebracht,  so  wenig  wie  gegen  die  Erläuterungen 
und  Kernfragen  der  zweiten  Stufe,  die  er  selbst  als  zum  Teil  be- 
rechtigt anerkennt.  Das  Wenige,  was  er  als  Verirrung  und  Ver- 
kehrtheit mit  Recht  bezeichnen  darf,  trifft  nur  die  falsche  oder 
einseitige  Anwendung  und  Ausführung  der  richtigen  Theorie.  Auf 
die  Möglichkeit  und  das  wirkliche  Vorkommen  dieser  verfehlten 
Anwendung  hingewiesen  zu  haben,  ist  ja  verdienstlich,  aber  nicht 
neu.  Die  Korrektur  gegen  übermäfsige  Ausdehnung  der  Vorbe- 
reitung und  der  Erläuterungen,  sowie  gegen  die  allzugrosse  Häufung 
und  Ausdehnung  der  Abstraktionsprozesse  trägt  die  Theorie  mit 
ihrem  Grundprinzip  des  Interesses,  aus  dem  sie  alle  ihre  Forderungen 
abgeleitet  hat,  in  sich  selbst.  Es  ist  nicht  bewiesen,  dafs  die 
Theorie  der  formalen  Stufen  eine  unnatürliche  und  gekünstelte 
Methode  zur  Folge  habe.  Wir  bleiben  also  dabei,  dafs  unsere 
Methode  den  von  der  Natur  des  kindlichen  Geistes  gebotenen 
Lernprozess  ins  Werk  setze  und  dafs  wir  mit  den  formalen  Stuten 
den  Weg  der  Natur  gehen. 

Nun  noch  ein  kurzes  Wort  über  den  positiven  methodischen 
Vorschlag  unsres  Gegners,  den  er  als  den  Weg  der  Natur  be- 
zeichnet. Es  ist  bedauerlich,  dafs  er  nicht  durch  eine  Lehrprobe 
seinen  methodischen  Gedanken  verkörpert,  wie  er  das  beim  Kate- 
chismusunterricht thut.  Aber  aus  seinen  Andeutungen  läfst  sich 
ungefähr  folgendes  Bild  zusammenstellen.  Er  will  ohne  Vorbereitung, 
Abschnitte.  Einprägen  und  Moralisieren  (d.  h.  wohl  ohne  die  ethi- 
schen Urteile  der  2.  und  ohne  die  Anwendungen  der  5.  Stufe)  die 
Geschichte  im  kindlichen  und  herzlichen  Ton  erzählen  und  will 
teils  hierdurch  teils  durch  kurze  Erläuterungen  und  Denkfragen 
die  Kinder  für  die  Personen  der  heiligen  Geschichte,  insbesondere 
für  Christus  begeistern. 

Er  nennt  die  Methode  die  beste  und  vollkommenste,  welche 
diese  begeisternde  Wirkung  erzielt,  welche  die  Kinder  überhaupt 


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204 


fühlen  läfst,  was  heilig  und  gut  ist,  und  will  diese  Wirkung  auf 
das  Gefühl  noch  unterstützen  durch  das  Gebet  des  Lehrers  und 
den  fleifsigen  Gesang  unserer  frommen  Volkslieder. 

Wir  können  uns  mit  diesem  Kennzeichen  der  rechten  Methode 
ganz  einverstanden  erklären,  da  auch  wir  in  dem  Gefühl  für  das 
Heilige  und  Grosse,  in  der  Theilnahme  und  Begeisterung  für  die 
heiligen  und  grofsen  Personen  die  gesinnungbildende  Macht  des 
Religionsunterrichtes  erblicken.  Es  ist  aber  sehr  fraglich,  ob  sich 
diese  Wirkung  mit  so  einfachen  Mitteln,  ohne  stärkere  Heranziehung 
der  Anschauung,  des  Gedächtnisses,  der  Erkenntnis,  des  sittlichen 
Urteils  und  der  sittlich- religiösen  Begriffe  erzielen  läfst.  Wir  glauben 
nicht  daran,  da  die  sittlichen  und  religiösen  Gefühle,  wenn  sie 
wirksam  sein  sollen,  die  Unterlage  einer  reichen  und  im  Gedächtnis 
sicher  bewahrten  Anschauungs-,  Vorstellungs-  und  Begriffswelt  nicht 
entbehren  können.  Insbesondere  wird  man  für  Personen  nicht 
begeistern  können,  wenn  man  nicht  zugleich  Einsicht  in  ihre  Denk- 
und  Handlungsweise,  in  ihre  sittlich-religiösen  Vorzüge  und  über- 
haupt in  die  Ideen,  deren  Träger  sie  sind,  erzeugt.  Ohne  sittliche 
Einsicht  kein  sittliches  Gefühl!  Und  überhaupt  erhalten  Personen 
ihre  Würde  und  Vorbildlichkeit  im  Grunde  doch  nur  durch  die 
Ideen,  deren  Träger  sie  sind.  Aber  eins  ist  richtig  daran:  der 
methodische  Weg  zur  Erfassung  der  Ideen  führt  über  die  persön- 
lichen, anschaulichen  Träger  dieser  Ideen.  Und  diesen  Weg  gehen 
auch  wir.  Herr  B.  übertreibt  also  mit  seiner  Begeistcrungsmethode 
einen  richtigen  Gedanken.  Seine  Methode  hat  aber  nur  das  eine 
Mittel  der  Gefühiserregung,  der  Rührung,  sie  ist  eine  alte  Methode 
und  längst  überwunden  und  ergänzt  durch  die  gerecht  abgewogene 
Rücksicht  auch  auf  die  Erkenntnis-  und  Willensseitc  des  religiösen 
Lebens.  Diese  Methode  mag  in  der  Ausführung  durch  ihren 
Urheber  und  sein  Lehrgeschick  vielleicht  sehr  wirksam  sein,  das 
bestreiten  wir  nicht.  Aber  sie  ist  keine  objektive  Methode  wie 
die  unsere,  welche  die  berechtigten  Richtungen  der  methodischen 
Entwickelung  zusammenfafst  und  die  daher  auch  noch  in  der  Hand 
eines  trockenen  und  nüchternen  Lehrers  leidliche  Erfolge  ermög- 
licht, während  jene  subjektive  Methode  nur  für  Gefühlsnaturen 
pafst.  Wir  können  also  in  dem  methodischen  Vorschlag  unseres 
Gegners  keinen  Fortschritt,  sondern  nur  einen  Rückschritt  in  eine 
überwundene  Einseitigkeit  vergangener  Zeiten  erblicken,  deren 
Erneuerung  gerade  unter  den  heutigen  sozialen  Verhältnissen  und 
Gefahren  keinen  Erfolg  gewährleisten  kann. 

Wenn  wir  zum  Schlüsse  noch  eine  Bemerkung  über  das  machen, 
was  Herr  B.  vom  Katechismusunterricht  sagt,  so  geschieht  dies 
nur,  um  zu  konstatieren,  dafs  er  trotz  mancher  guten  kritischen 
Bemerkung  einen  greifbaren  Vorschlag  über  die  Methode  dieses 
Unterrichtszweiges  nicht  giebt.  Denn  wenn  er  erklärt,  der  eigen- 
artige Charakter  dieses  Unterrichts  sei,  »eine  gedrängte  Zusammen- 


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fassung  der  Heilswahrheit  zu  geben«,  so  zeigt  er  hiermit  höchstens 
ein  Ziel,  aber  keinen  Weg.  Und  aufserdem  liegt  doch  hierin  ein 
Widerspruch  zu  der  von  ihm  empfohlenen  Behandlung  der  biblischen 
Geschichte.  Denn  woher  sollen  die  zusammenzufassenden  Heils- 
wahrheiten kommen,  wenn  im  biblischen  Geschichtsunterricht  keine 
gewonnen  werden  sollen,  sondern  alles  Abstrahieren  von  kate- 
chismusartigen Sätzen,  Sprüchen  u.  s.  w.  verworfen  wird.  Oder 
sollte  Herr  B.  diese  vorbereitende  Abstraktionsarbeit  dem  von  ihm 
so  warm  empfohlenen  Bibellesen  zuweisen  ?  Dunkel  bleibt  mir  auch 
die  Stellung  des  Bibellesens  zu  der  vorausgegangenen  biblischen 
Geschichte  und  die  Forderung,  dafs  die  3  Hauptstücke  nebst 
Erklärungen  vom  3  —6.  Schuljahr  gelernt  werden  sollen,  ehe  der 
Katechismusunterricht  der  beiden  letzten  Schuljahre  eintritt.  In 
welche  Verbindung  sollen  denn  diese  Katechismusstücke  und  die 
noch  aufserdem  zu  lernenden  Sprüche  zu  den  gleichzeitig  behan- 
delten biblischen  Geschichten  treten?  Über  dies  mancherlei  Dunkel 
gewähren  auch  die  zwei  dargebotenen  Lehrproben  keine  Aufklärung. 
Denn  sie  enthalten  zwar  ganz  gute  und  richtige  Gedanken,  aber 
in  methodischer  Beziehung  unterscheiden  sie  sich  von  anderen 
Präparationen  höchstens  durch  ihre  Knappheit. 

So  zeigen  sich  die  positiven  methodischen  Vorschläge  des 
Herrn  B.  auch  in  dieser  Hinsicht  als  wenig  gewinnbringend.  Er- 
freulich und  durchaus  zu  billigen  ist  hier  nur  sein  entschiedenes 
Vorgehen  gegen  die  »theologisierende  Methode«,  in  der  die  meisten 
Religionslehrer  weit  tiefer  stecken,  als  sie  selber  ahnen. 

Wenn  übrigens  unser  Gegner  den  Hauptzweck  seiner  Schrift 
darin  findet,  der  Schule  die  naturgemäfse  Behandlung  der  biblischen 
Geschichte  zurückzuerobern,  so  wird  damit  die  uns  sehr  erfreuliche, 
aber  bis  jetzt  noch  neue  Thatsache  vorausgesetzt,  dafs  unsere 
Methode  schon  grofse  Schulgebiete  erobert  hat.  Hoffen  wir,  dafs 
diese  Voraussetzung  richtig  ist,  und  getrösten  wir  uns  der  Zuver- 
sicht, dafs  solche  Wiedereroberungszüge  an  ihrer  eigenen  Schwäche 
scheitern  werden. 


B.  Mitteilungen. 
I.  Evangelisch-soziale  Zeitfragen. 

Herausgegeben  mit  Unterstützung  des  Evangelisch-sozialen  Kongresses 
von  Prof.  Lic.  Otto  Baumgarten  in  Jena.  Leipzig,  Verlag  von  Friedr. 
Wilh.  Grunow. 

Die  Zeitfragen  werden  in  zwangloser  Folge  in  Serien  von  10  Heften 
erscheinen,  das  Heft  von  2— 5*/t  Bogen  (und  einzeln  käuflich)  zu  50  Pfennig. 


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—     206  — 

In  immer  weitere  Kreise  dringt  nachgerade  die  Überzeugung,  dals  es 
gilt  mit  emsiger  That  an  der  Lösung  der  sozialen  Frage  mitzuwirken,  zu- 
gleich in  der  Gewifsheit,  dafs  diese  Frage  nicht  lediglich  die  Folge 
einer  mürrischen  und  neidischen  Stimmung  im  Volke  ist,  sondern  dafs 
ihr  ernste  und  erwägenswerte  Ursachen,  schwere  Schäden  unserer  jetzigen 
Wirtschafts-  und  Gesellschaftsordnung  zu  Grunde  liegen.  Auch  der  Protestan- 
tismus ist  zur  Lösung  dieser  Frage  verpflichtet.  Dieser  Verpflichtung  an 
ihrem  Teile  nachzukommen  haben  sich  die  evangelisch-sozialen  Zeitfragen 
zur  Aufgabe  gestellt.  Die  sittlich-sozialen  Mafsstäbe  des  Evangeliums  sollen 
wirksam  gemacht  werden,  die  evangelische  Kirche  soll  das  Gewissen  unseres 
Volkes  auch  für  sein  wirtschaftliches  und  gesellschaftliches  Leben  sein. 
Ja,  in  der  sozialdemokratischen  Bewegung  selbst  soll  nach  dem  sittlichen 
oder  idealen  Kern,  nach  der  inneren  Berechtigung  gesucht  werden.  Dem 
Drange  nach  voller  Selbständigkeit,  der  in  dieser  Bewegung  das  Wahre 
bildet,  soll  in  liebevollem  Eingehen  vollauf  Rechnung  getragen  werden. 
Alles  Ungöttliche,  alles  Gemeine  soll  mit  aller  Entschiedenheit  bekämpft 
werden,  >aber  sie  soll  noch  übertroffen  werden  durch  die  Entschiedenheit, 
mit  der  wir  da^  Emanzipationsstreben  des  vierten  Standes  nicht  nur  aner- 
kennen, sondern  befördern  und  zu  unserer  eigenen  Sache  machen.« 

Manchem  wird  solches  Unterlängen  aussichtslos,  manchem  auch  grund- 
falsch erscheinen.  Denn  noch  erblickt  man  vielerort  in  dieser  Bewegung 
nur  ein  wildes  wirres  Drängen,  dem  man  mit  den  Kanonen  ein  jähes  und 
blutiges  Ende  bereiten  müsse.  Aber  das  jüngere  Geschlecht  will  es  ernst- 
lich versuchen,  ob  die  Frage  noch  in  friedlichere  Bahnen  zu  leiten  sei  und 
hat  die  alte  lediglich  verdammende  Art  abgethan. 

Wie  freudig  mufs  daher  ein  Unternehmen  begrüfst  werden,  das  wie 
das  vorliegende  mit  jugendlichem  Feuer  und  idealem  Schwung  sich  in  den 
Dienst  dieser  im  guten  Sinne  modernen  Auffassung  stellt  und  das  zu 
Sprechern  anerkannte  Fachmänner  und  Vertreter  der  interessierten  Kreise 
wählt!  Wer  willens  ist,  sich  ein  wahres  Bild  von  der  Bewegung  zu 
schaffen  und  zugleich  einen  Weg  in  diesem  Gewirr  zu  finden,  der  besser 
zum  Ziele  leitet  als  alles  Gerede  in  der  parteiischen  Tagespressc,  der  greife 
zu  diesen  blauen  Heften  und  es  wird  sich  daran  sein  Pflichtbewufstsein 
stählen  und  vertiefen,  wird  seine  Lebensaufgabe  als  evangelischer  Christ 
erweitert,  wird  sein  Zagen  an  der  Zukunft  unseres  Volkes  schwinden 
sehen.  Möchten  diese  Zeitfragen  viel  Leser  finden,  die  zu  freudigen  Ihätern 
werden! 

Bis  jetzt  liegen  aus  der  ersten  Reihe  folgende  sechs  Hefte  vor: 
i.  Drews,  Lic.  P:  Mehr  Herz  fürs  Volk!    (56  S) 
Kurz  und  siegreich,  manchmal  vielleicht  etwas  allzu  optimistisch,  wird 
herausgestellt,  was  recht  und  gut  und  echt  christlich  bei  den  Emanzipations- 
bestrebungen des  vierten  Standes  ist,  die  Anerkennung  derselben  aber  und 
die  Teilnahme  dafür  wird  den  Besitzenden  und  Gebildeten  als  eine  Pflicht 
der  Liebe  ans  Herz  gelegt.    So  lauten  die  Kapitelüberschriften:  1. 
Liebe  und  ein  soziales  Programm;    2.  Es  fehlt  an  Liebe;    3.  Verkehrt 
mit  dem  Volk!  4.  Gerechtigkeit  gegen  die  Sünden  des  Volkes;  5.  Achtung 


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—    207  — 

vor  der  Arbeit  des  Volks  ;  6.  Achtung  vor  dem  Ehrgefühl  des  Volks.  —  Mit 
warmer  Liebe  zum  Volke  geschrieben  mufs  dieser  Aufruf  warme  Liebe 
wecken. 

2.  Evert,  Regierungsrat  2:  Unsere  gewerbliche  Jugend  und 
unsere  Pflichten  gegen  sie.    (40  S.) 

Es  betsteht  heute  ein  Notstand  unserer  gewerblichen  Jugend,  teils 
aus  dem  verhältnismäfsig  hohen  und  frühen  Verdienst  bei  technisch  ge- 
ringer Ausbildung,  teils  aus  der  vernachlässigten  Charakterbildung  bei  vor- 
zeitiger Unabhängigkeit,  teils  aus  der  späteren  geringen  Steigerung  des 
Verdienstes  bei  hohem  Anfangsverdienste.  Die  Mittel,  die  der  Verf.  zur 
Abhülfe  dieses  Mifsstandes  nennt,  sind  aus  genauster  Kenntnis  der  Sach- 
lage heraus  entstanden  und  aller  Beachtung  wert. 

3.  Baumgarten  Lic.  Prof.  O.:  Der  Seelsorger  unserer  Tage. 
(52  S.) 

Die  Gemeinden  sind  —  das  ist  nur  allgemein  anerkannt  —  neu  zu 
organisieren  nach  Sulzes  Vorschlag.  Daraus  erwächst  aber  für  den  Geist- 
lichen eine  ganz  neue  und  schwierige  Aufgabe.  Er  mufs  der  wirkliche 
Seelsorger  seiner  ganzen  Gemeinde  werden,  und  nicht  nur  der  Prediger 
der  Bourgeoisie.  Viel  neues  mufs  sich  da  gestalten,  und  die  alten  be- 
quemen Geleise  sind  zu  verlassen.  Ein  ernstes  Mahnwort  zumal  an  das 
heranwachsende  Theologengeschlecht.    Möchte  es  nur  beherzigt  werden! 

4.  Lötz,  Prof.  Dr.:  Christentum  und  Arbeiterbewegung. 
(44  S.) 

Ein  Zwiegespräch  zwischen  einem  deutschen  Geistlichen  und  einem 
christlich  gesinnten  englischen  Arbeiterführer.  »England  ist  einer  fried- 
lichen Lösung  der  sozialen  Schwierigkeiten  und  Gegensätze  sicher.« 
Warum?  Weil  der  englische  Arbeiter  eben  vorzugsweise  Arbeiter  ist  und 
sich  auf  das  rein  praktische  Streben  nach  besseren  Lohnverhältnissen  be- 
schränkt, die  nebelhaften  Phantasiegebilde  eines  religionslosen  Volkstaates 
der  deutschen  Sozialdemokratie  aber  ihm  fremd  geblieben  sind.  Und  weil 
sich  unter  der  englischen  Geistlichkeit  von  vornherein  »christlich-soziale« 
Männer  gefunden  haben  (Robertson,  Kingsley  u.  a  m  ),  die  das  Berechtigte 
des  Arbeitervorgehens  erkannten  und  allen  Gegnern  zum  Trotz  lebhaft  ver- 
traten. Wie  anders  so  vielfach  die  Stellung,  die  der  deutsche  Geistliche 
der  Arbeiterbewegung  und  der  sozialen  Frage  gegenüber  einnimmt! 

5.  Stöcker,  Ad.:  Sozialdemokratie  und  Sozialmonarchie. 
(32  S.) 

Was  man  auch  sagen  mag,  Stöcker  ist  der  Vorkämpfer  der  evan- 
gelisch-sozialen Zeitfragen  gewesen.  Und  unser  Volk  ist  ihm  vielen  Dank 
schuldig,  wenngleich  er  es  an  Fehlern  nicht  hat  mangeln  lassen.  Auch  in 
diesem  sehr  empfehlenswerten  Vortrage,  der  zeigen  will,  wie  die  berech- 
tigten Momente  der  Sozialdemokratie  zur  Darstellung  kommen  können, 
fehlt  es  nicht  ganz  an  der  benannten  unglücklichen  Verquickung  von 
Religion  und  Theologie,  von  Wirtschaftlehrc  und  Politik.  Aber  das  Heft 
sollte  trotzdem  fleifsig  studiert  werden,  es  führt  prächtig  in  die  soziale 
Arbeit  unserer  Zeit  hinein. 


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—  208 


6.  Soden,  Pastor,  D.  H.  Freiherr  von:  Reformation  und  soziale 
Frage.    (40  S.) 

Von  Anfang  d.  h.  vom  Bauernkriege  an  hat  der  Protestantismus  die 
richtige  Stellung  zur  sozialen  Frage  eingenommen  und  die  richtigen  An- 
regungen zu  ihrer  Lösung  geboten.  Dagegen  hat  sich  das  Papsttum  un- 
fähig gezeigt,  eine  Retterin  in  den  sozialen  Fragen  zu  sein,  es  hat  vielmehr 
dieselbe  Frage  durch  die  von  ihr  bestimmte  Kntwickelung  der  Dinge  her- 
vorgerufen. Diesen  Zusammenhang  zwischen  der  sozialen  und  religiösen 
oder  konfessionellen  Präge  stellt  der  Verfasser  in  lebhafter  und  geistvoller 
Schärfe  dar.  Und  damit  kommt  auch  das  echt  protestantische  Element 
in  diesen  evangelisch-sozialen  Zeitfragen  zu  seinem  guten  Recht. 

Berka  a.  J.  R.  Bürkner. 


2.  Zur  Litteratur  des  Naturgeschichts-Unterrichts. 

Von  Dr.  B.  Maennel-Halle  a.  S. 

A)  Allgemeines:  Herbarts  Wort:  »Es  müssen  Prinzipien  allgemein 
zugestanden  sein,  von  welchen  aus  die  Gründe  können  entwickelt  und  ge- 
prüft werden«  -  dürfte  das  geeignetste  Leitwort  sein  für  eine  Übersicht 
über  neuere  Erscheinungen  aus  dem  Gebiete  des  naturgeschichtlichen 
Unterrichts.  Welche  Prinzipien  sind  es  aber,  die  allgemein  zugestanden 
werden  gerade  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete?  Immerhin  sind  es 
noch  die  Prinzipien  der  Fachwissenschaft,  von  welchen  aus  die  weiteren 
Massnahmen  entwickelt  worden  sind;  denn  die  vorliegenden  Abhand- 
lungen etc.  wollen  zumeist  auf  dem  Boden  der  »neueren«  Naturwissenschaft 
stehen.  Die  nicht  minder  wichtigen  Prinzipien  der  pädagogischen  Wissen- 
schaft treten  aber  nicht  deutlich  genug  hervor  und  beeinflussen  die 
didaktischen  Erzeugnisse  in  nur  geringem  Malse.  Und  wo  man  bestrebt 
ist,  pädagogischen  Prinzipien  gerecht  zu  werden,  da  geschieht  es  zumeist 
entweder  auf  Kosten  einer  logischen  Entwicklung  der  didaktischen  Grund- 
begriffe —  so  dafs  z.  B.  Zweck  und  Ziel,  Auswahl,  Anordnung  und  Durch- 
arbeitung verschoben  und  verwechselt  werden  —  oder  es  wird  dem  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichte  durch  eine  zu  enge  Beziehung  desselben  zu 
dem  Hauptziele  der  Erziehung  Gewalt  angethan. 

Da  mit  wenigen  Ausnahmen  die  Ideen  Junges  die  neuere  Litteratur 
beherrschen,  und  dieselben  nicht  gerade  die  obersten  grundlegenden  Be- 
griffe der  allgemeinen  Pädagogik,  als  vielmehr  nur  die  Bearbeitung  des 
naturwissenschaftlichen  Lehrstoffes  berücksichtigen,  so  können  hier  nur  die- 
jenigen Prinzipien  als  Mafsstab  zur  Beurteilung  dienen,  welche  die  Durch- 
arbeitung bedingen.  Es  ist  eben  die  »Lebensgemeinschaft«,  das  Gruppen-, 
Landschafts-  oder  Naturbild,  nichts  als  ein  umfassenderes  Unterrichtsziel. 


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—  209 


Die  damit  gegebenen  Individuen  sind  etwa  die  Teilziele,  welche  sodann 
wiederum  als  notwendige  Glieder  des  gröfseren  Ganzen  eingesetzt  werden, 
um  die  Vorstellung  von  einer  Zusammengehörigkeit  innerhalb  einer  Lebens- 
gemeinschaft im  Schüler  entstehen  zu  lassen. 

Selbstverständlich  kann  in  der  Schule  nicht  die  Lebensgemeinschaft 
nach  ihrer  wissenschaftlichen  Auffassung  behandelt  werden ;  auch  darf  nicht 
ausschlaggebend  sein,  ob  das  Zusammenlaben  von  Individuen  reich  oder 
arm  ist,  ob  es  schliefslich  durch  Zufall  oder  menschlichen  Eingriff  sich  zu 
einem  notwendigen  wechselseitigen  entwickelte.    Dem  Schüler  mag  sie  nur 
immer  als  dasjenige  Stück  der  Natur  vorgeführt  werden,  welches  ihm  ein 
Abbild  zu  geben  vermag  von  der  ganzen,  grofsen  Natur.    Die  Erfahrung 
zu  dem  lehrt,  dafs  der  Natur  nicht  ganz  fremde  Kinder  bestimmte  Natur- 
körper stets  in  gewissen  abgegrenzten  Gebieten  finden,   dafs  also  eine 
dunkle  Vorstellung  eines  Verhältnisses  zwischen  Individuum  und  Ort  be- 
steht.   Also  schon  ein  unmittelbares  Interesse  drängt  zur  Klärung  durch 
den  Unterricht.    Aber  auch  mittelbare  Interessen  erheischen  die  Durch- 
arbeitung des  Stoffes  nach  Lebensgemeinschaften.    Gerade  das  vorsichtige 
Darlegen  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  und  Beeinflussung  auf  Grund  von 
vereinfachten  physiologischen  Experimenten  und  unausgesetzter  Betrach- 
tung des  Lebens  der  Individuen  regt  den  kindlichen  Geist  an  zu  einer 
Auffassung  von  Gruppen,  von  Lebensgemeinschaften.    Gegen  diese  Prin- 
zipien ist  Mancherlei  erhoben  worden.    Und  es  gilt  nun,  von  ihnen  aus  die 
Gründe  zu  prüfen!    Da  die  beste  Theorie  von  der  Praxis  noch  nicht  gut- 
geheifsen  wird,  so  liegt  es  auf  der  Hand,  dafs  gerade  die  Prinzipien  Junges 
nach  ihrer  Durchführbarkeit  stark  angezweifelt  werden.  Dals  dieselben  hohe 
Anforderungen  an  den  Schüler  und  an  den  Lehrer  stellen,  ist  unbestritten; 
auch  werden  die  ersten  Versuche  manche  Enttäuschungen  zeitigen  —  das 
darf  aber  nicht  entmutigen.    Wenn  nun  psychologisch  begründete  Aus- 
stellungen gegen  Iurge  ins  Feld  geführt  würden  —  wie  dann?    In  einer 
zuerwähnenden   Schrift   wird   es   z.  B.  als   unpsychologisch  bezeichnet, 
wenn  der  Anfänger  schon  mit  Spekulationen  behelligt  wird,  die  seine  kom- 
binierende Phantasie  erfordern,  ehe  er  in  der  Auffassung  der  Form  sich 
gründlich  bethätigt  hat.    Nun  pflegt  wohl  kein  anderer  wie  Iunge  die  Be- 
trachtung und  würdigt  somit  auch  die  Auffassung  der  Form,  aber  er  ver- 
mag diese  nicht  zu  trennen  von  der  Pflege  anderer  Interessen  des  kind- 
lichen Geistes.  So  ist  z.  B.  auch  das  Kausalitätsbcdürfnis  schon  in  dem  Kinde 
rege ;  man  vergleiche  nur,  was  B.  Sigismund  in  der  Familie  als  Schule  der 
Natur  und  R.  Eucken  in  seinem  philosophischen  Hauptwerke:  Die  Einheit 
des  Geisteslebens  in  Bewufstsein  und  That  der  Menschheit,  S.  148  darüber 
sagen.    Erst  durch  ein  Eingehen  in  das  Kausalitätsbcdürfnis  wird  ein  Boden 
gesichert,  auf  dem  die  Einzelvorgänge  einen  Erkenntniswert  gewinnen  und 
sich  untereinander  verbinden  mögen.    Ein  propädeutischer  Unterricht  also, 
welcher  wesentlich  der  Auffassung  der  Form  nur  dient,  kann  nicht  viel- 
schwebendes Interesse  erzeugen,  mag  er  auch  sonst  der  korrekten  Begriffs- 
bildung förderlich  sein.  —  Mehrfach  tritt  sodann  der  Vorwurf  auf,  als  hätte 

Pädagogische  Studien.    IV.  M 


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—     210  — 


Iunge  in  psychologisch  nicht  zu  rechtfertigender  Weise  biologische  Gesetze 
den  Schülern  aufgedrungen.  Er  Hebt  es,  so  sagt  man,  von  der  einzelnen 
Erscheinung  zu  aligemeinen  Gesetzen  und  von  diesen  womöglich  bis  zu 
den  naturwissenschaftlichen  Hypothesen  fortzuschreiten.  Gegen  diesen 
Vorwurf  ist  Iunge  in  Schutz  zu  nehmen;  ein  solch  verwerfliches  Verfahren 
kann  er  nicht  empfehlen!  Immerhin  ist  aber  zu  behaupten,  dafs  der  Besitz 
einer  ganzen  Reihe  von  Thatsachen  und  ihren  Bedingungen  den  Schüler 
von  selbst  geschickt  macht,  eine  Zugehörigkeit  von  bestimmten  Wirkungen 
und  Ursachen  herauszufinden.  Sein  Geist  will  die  Einzel-Thatsachen  um- 
spannen durch  einen  Satz,  der  einen  gewissen  Grad  von  Allgemeinheit 
besitzt.  Durch  ihn  möchte  er  ausdrücken,  was  er  auf  seinem  jetzigen 
Standpunkte  für  eine  Vorstellung  hat  von  dem  Zusammenhange  der  Er- 
scheinungen. Im  Laufe  der  Zeit  wird  dieser  Satz  so  verändert,  dafs  er  in 
kurzer,  bestimmter  Form  eine  physiologisch-biologische  Wahrheit  wieder- 
giebt.  Dann  mag  er  nach  Iunge  »Gesetz«  genannt  werden  und  ist  psycho- 
logisch durchaus  berechtigt. 

In  der  nicht  immer  gerechten  Würdigung  der  Stellung  A.  Lübens  in 
der  Litteratur  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  meint  man  nicht 
scharf  genug  Stellung  nehmen  zu  müssen  gegen  die  Verwertung  der 
Systematik.  Man  macht  gern  Iunge  für  diese  abweisende  Meinung  verant- 
wortlich und  hält  ihn  für  inkonsequent,  wenn  er  schiiefslich  doch  das 
System  verwertet.  Warum  und  wie  soll  das  System  also  in  der  Volks- 
schule Anwendung  finden?  —  Seitdem  man  bestrebt  ist,  dem  Schüler  die 
Einheit  der  Natur  ahnen  zu  lassen,  kann  das  Systematische  nur  noch  eine 
untergeordnete  Rolle  spielen;  zu  entbehren  ist  es  aber  durchaus  nicht. 
Wer  jahrelang  mit  den  Schülern  Lehrspaziergänge  unternommen  hat,  der 
wird  erfahren  haben,  wie  eine  mafsvolle  betriebene  Schüler-Systematik  für 
das  Behalten  der  Formen  und  für  eine  erwünschte<Erweiterung  der  Formen- 
kenntnis vorteilhaft  ist.  Fehlerhaft  würde  es  nun  sein,  ein  fertiges  System 
an  die  Schüler  heranzubringen  ;  dieselben  sollen  es  vielmehr  sich  erst  selbst 
erarbeiten.  Und  es  wird  hinsichtlich  der  Form  und  Übersichtlichkeit  ein 
ähnlicher  Entwicklungsprozefs  zu  beobachten  sein,  wie  bei  der  Formulierung 
der  biologischen  Gesetze.  Die  Anlage  eines  Systemheftes  dürfte  hierbei 
wesentliche  Dienste  leisten. 

Zu  den  Verirrungen,  welche  wahrscheinlich  durch  eine  unvermittelte 
Beziehung  des  Hauptzieles  der  Erziehung  auf  den  naturwissenschaftlichen 
Unterricht  entstehen,  gehört  die  mehr  als  billig  erhobene  Forderung  einer 
Pflege  des  Ästhetisch-Religiösen.    Entschieden  ist  es  berechtigt,  wenn  man 
ein  gemütvolles  Versenken  in  das  grofse  Ganze  der  Natur  verlangt.  Wie 
entsteht  aber  die  Gemütsbildung  ?  Ist  sie  von  der  Verstandes-  etc.  Bildung 
zu  trennen  ?  —  Es  dürfte  doch  wohl  bekannt  sein,  dafs  ein  verweilendes 
Betrachten  morphologischer  Verhältnisse  am  Einzelnen,  und  das  vorsichtige 
Bezichen  des  Einzelnen  auf  das  Ganze  schon  an  und  für  sich  auf  ästhetische 
Verhältnisse  führt.    Neben  der  Klarheit  des  Gebotenen  wirken  sodann  Lehr- 
spaziergänge zum  Zwecke  der  Einführung  in  das  Verständnis  der  Jahres- 
zeitenbilder in   der  Heimat  mehr  als  andozierte  Redensarten  über  die 


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—     211  — 


Schönheit  der  Natur;  auch  Schulreisen  thun  das  Ihrige.  Lehrt  man  also 
das  Natur-Ganze  richtig  aufTassen  und  verstehen,  so  lehrt  man  auch  Liebe 
zur  Natur  und  zu  dem,  der  sie  hervorgerufen.  Eine  besondere  Betonung 
der  Natursinnigkeit  zur  eigenen  Pflege  des  Gemüts  ist  nicht  blofs  überflüssig, 
sondern  verführt  vielmehr  zu  einem  Phrasentum  auf  Kosten  einer  wirk- 
lichen Bildung. 

Hiermit  wären  diejenigen  Punkte  angedeutet,  welche  in  den  zu  be- 
urteilenden Schriften  eine  wichtige  Rolle  spielen;  es  erübrigt,  sie  nach 
diesen  Andeutungen  als  einem  Mafsstabc  zu  messen. 

B)  Besprechung  einzelner  Schriften; 

Was  seiner  Zeit  \1885}  schon  C.  Ommerborn  in  dem  bei  Siegismund 
u.  Volkening  erschienenen  Büchlein  »Ober  Natursinnigkeit  und  ihre  Pflege« 
bezweckte,  haben  F.  Kiessling  u.  Pfalz,  die  Verfasser  des  vielfach  in 
den  Schulen  verwendeten  »Methodischen  Handbuchs«  und  des  »Wieder- 
holungsbuches« für  den  Unterricht  in  der  Naturgeschichte  insbesondere 
darzulegen  versucht  in  der  Brochüre :  »Wie  mufs  der  Naturgeschichts-Unter- 
richt  sich  gestalten,  wenn  er  der  Ausbildung  des  sittlichen  Charakters 
dienen  soll?«    (Braunschweig,  Bruhn,  1888,  92  S.) 

Ohne  jede  Beziehung  zu  anderen  Lehrfächern  wird  die  Frage  erörtert: 
Wie  soll  'die  im  naturgeschichtlichen  Unterricht  ruhende  ethische  Kraft 
immermehr  erkannt  und  wirksam  gemacht  werden,  unserer  lieben  Jugend 
zum  Heile?«  (S.  V).  Die  Verfasser  bevorzugen  mit  Recht  solche  Objekte, 
die  der  Heimat  ein  bestimmtes  Gepräge  geben.  Es  ist  daher  jeder  Lektion 
ein  »leitender  Hauptgedanke«  vorangestellt,  welcher  von  vornherein  das  zu 
besprechende  Einzelwesen  als  einen  typischen  Faktor  dieses  Gepräges 
kennzeichnen  soll.  Solcher  Hauptgedanken  —  in  dem  Methodischen  Hand- 
buche fettgedruckt  —  sind  aber:  Das  Windröschen  ist  eine  reizende  Gabe 
des  Frühlings  —  Die  Hainbuche  ist  ein  recht  hübscher  Baum  (Kurs.  I)  — 
Die  Brennesseln  sind  recht  stattliche  Gewächse  —  Unter  allen  Gewächsen 
bildet  den  schönsten  Schmuck  unserer  Zimmer  die  Fuchsia,  die  darum 
auch  die  Königin  der  Zierpflanzen  genannt  wird  —  (Kurs.  II)  —  Der  Storch 
erfreut  den  Menschen  —  Neben  recht  ergötzlichen  besitzt  der  Hase  doch 
auch  unrühmliche  Eigenschaften  —  (Kurs.  III).  Die  Liebe  zu  der  Natur 
bekundet  sich  nun  z.  B.  in  folgendem  Merk-Satze:  Als  eine  der  ersten 
Gartenblumen  erfreut  uns  im  Frühjahre  die  farbenprächtige  Tulpe,  deren 
leuchtende,  rotgelbe  Blüten  sich  von  dem  dunklen  Grlin  der  Blätter  schön 
abheben.  (Vergl.  Wiederholungsbuch,  II,  S.  10  u.  Brochüre  S.  64  —  Hahnen- 
fufs!)  Wenn  dazu  noch  der  Proben  gedacht  wird,  welche  den  Schüler  an 
eine  poetische  Auffassungsweise  der  Natur  gewöhnen  und  religiöse  Gefühle 
durch  dieselbe  wecken  wollen  —  Vergl.  Broch.  78  u.  81  — ,  so  ist  die 
Pflege  der  Natursinnigkeit  wohl  genügsam  charakterisiert.  Allerdings  kann 
rühmend  hervorgehoben  werden,  dafs  die  späteren  Kurse  wirklich  mehr 
auf  klares  Verständnis  dringen,  als  aus  den  ersten  ersichtlich  ist.  Daher 
rechtfertigt  sich  auch  die  Einbürgerung  des  methodischen  Handbuches  in 
den  verschiedenen  Schulen. 

Es  ist  aber  nicht  zu  billigen,  dafs  diese  Art  der  Durcharbeitung  nun 

14* 


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—  212 


ihre  Konsequenzen  hat  für  die  Auswahl  des  Stoffes.  Erstlich  schliefsen  die 
Verfasser  die  Besprechung  ausländischer  Objekte  aus,  zweitens  bekämpfen 
sie  mehr  als  nötig  die  Berücksichtigung  des  Systematischen.  Was  den 
ersten,  hier  nur  zu  erörternden  Punkt  betrifft,  so  ist  die  Meinung,  dafs 
ausländische  Pflanzen  und  Tiere  den  Utilitarismus  befördern  könnten,  wohl 
nicht  psychologisch  zu  rechtfertigen.  Bedürfen  diese  vielleicht  keiner  unter- 
richtlichen Behandlung  —  oder  verträgt  der  geographische  Stoff  noch  aller- 
lei Ballast? 

Die  Verfasser  konstruieren  sich  schliefslich  noch  einen  Gegensatz  zu  Jun<;e. 
(Vcrgl.  Broch.  S  45).  Die  Behandlung  von  Lebensgemeinschaften  erscheint 
ihnen  nämlich  nicht  blofs  für  alle  Stufen  des  Unterrichts  zu  schwierig, 
sondern  auch  in  hohem  Grade  unpraktisch,  ja  sie  teilt  nahezu  alle  Nach- 
teile derjenigen  nach  dem  Systeme.  »Die  Ordnung«  (besser  Durcharbeitung!) 
des  Unterrichtsstoffes  hat  also  weder  nach  einem  System  zu  geschehen, 
noch  sind  Wesen  aus  verschiedenen  Gruppen  neben-  und  durcheinander 
zu  besprechen:  sondern  es  sind  Wesen  einer  Gruppe  nach  einander  und 
zwar  zu  verschiedenen  Jahreszeiten  voi zuführen.«  —  Der  mit  Junges  An- 
sichten vertraute  Leser  wird  aus  dem  zweiten  Teile  dieser  Erklärung 
schwerlich  einen  Gegensatz  zwischen  ihm  und  dem  Verfasser  herauslesen 
können,  während  der  erste  Teil  Anklagen  enthält,  die  Junges  Darlegungen 
gar  nicht  veranlafst  haben  können.  Und  wenn  vielleicht  damit  die  Be- 
arbeiter hallischer  Lehrpläne  oder  der  Schreiber  dieses  gemeint  werden 
sollten,  so  möchte  da  sicherlich  ein  wichtiges  Moment  übersehen  worden 
sein:  Die  vorbereitende  Beobachtung,  welche  analytisches  Material  für 
spätere  Besprechungen  ansammelt. 

An  Kiefsling  u.  Pfalz  schliefst  sich  aufs  engste  an  W.  Machold  in 
seinem  Vortrage  über  »Ziele  und  Wege  der  Reformbestrebungen  des  Natur- 
geschichts-Unten  ichts  in  der  Volksschule,«  November-Heft  der  W.  Meyer- 
Markauschen  Sammlung  pädagogischer  Vorträge,  Bielefeld  Helmich,  1S90, 

13  s. 

In  kurzen  Zügen  wird  dem  Leser  ein  Überblick  geboten  über  die 
neueren  Bestrebungen  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts.  Die  Reform- 
bewegung gilt  dem  Verfasser  als  eine  Reaktion  der  Wissenschaft  gegen  den 
Stillstand  oder  Rückschritt  in  der  Schule  und  als  eine  Reaktion  des  Ge- 
müts gegen  den  nüchternen  Verstand.  (!)  Von  den  zielsetzenden  Schul- 
männern wird  Lüben  als  der  die  Einheit  der  Form  betonende,  Junge  als 
der  die  Einheit  des  Lebens  anstrebende  bezeichnet.  Kiefsling  u.  Pfalz  sind 
die  Verbündeten  Junges,  welche  aber  statt  der  schwer  zu  entwickelnden 
biologischen  Gesetze  einfachere  und  leichter  verständliche  einführen.  Aus 
diesem  Grunde  schliefst  sich  Verfasser  Kiefsling  u.  Pfalz  an,  fafst  auch  wie 
diese  die  Lebensgemeinschaft  als  Gruppenbild  und  deutet  einen  Lehrgang 
nach  ihrem  Vorbilde  an.  Die  am  Schlufs  angeführten  Leitsätze  —  in  Form 
und  Reihenfolge  dem  ehrwürdigen  Dekalog  nachgeahmt!  —  dürften  als 
wohl  beherzigenswert  erscheinen. 

Eine  mehr  selbständige  Meinung  entwickelt  F.  Baade,  Zur  Reform 


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—    213  - 


des  Naturgeschichtsunterrichts  in  der  Volksschule,  Spandau-Berlin,  Oester- 
witz, 1888,  34  S. 

Verfasser  wendet  sich  gegen  eine  direkte  Bildung  der  Natursinnigkeit 
und  will  sich  nur  mit  der  Durcharbeitung  des  Lehrstoffes  beschäftigen. 
Jedoch  glaubt  derselbe  berechtigt  zu  sein  zu  Ausstellungen  an  dem  Begriff 
der  Lebensgemeinschaft  und  an  der  Formulierung  biologischer  Gesetze. 
Und  zwar  bekundet  sich  in  diesen  Ausstellungen  ein  in  der  Praxis  be- 
währter Schulmann.  Das  beweisen  die  Anforderungen  an  die  Lebens- 
gemeinschaft. Dieselbe  mufs  von  Menschenhand  wenig  verändert  —  über- 
schaubar —  nicht  zu  arm  und  nicht  zu  reich  an  Tieren  und  Pflanzen  sein 
—  nicht  zu  weit  ab  vom  Schulhause  liegen,  und  die  gewählten  Lokalitäten 
müssen  die  Hauptformen  der  heimatlichen  Landschaft  repräsentieren.  Nun 
können  aber  freilich  diese  aus  der  Praxis  heraus  entstandenen  Bedenken 
unmöglich  eine  fachwissenschaftlich  begründete  und  didaktisch  berechtigte 
Theorie  aufheben.  Bietet  die  Heimat  arme  Lebensgemeinschaften  —  die 
Überschaubarkeit  und  Veränderung  derselben  durch  Menschenhand  können 
wohl  nicht  als  wesentlich  gelten  —  oder  fehlt  diese  oder  jene  der  er- 
wünschten Gruppen,  so  mufs  man  eben  mit  dem  Wenigen  zufrieden  sein, 
welches  der  Beobachtung  zugänglich  ist.  Es  ist  dann  doch  eine  Grundlage 
gegeben,  auf  welcher  weiter  zu  bauen  ist  durch  Schulgarten,  Aquarium, 
Zimmcrkultur  und  planvoll  betriebene  Schulreiscn.  Die  auf  S.  27  ff.  er- 
wähnten Bedenken  gegen  die  Formulierung  von  Gesetzen  sind  bei  psycho- 
logischem Verfahren  hinfällig. 

Engeren  Anschlufs  an  Junge  erstrebt  R.  Seyfert,  Der  gesamte  Lehr- 
stoff des  naturkundlichen  Unterrichts.    Leipzig.  Wunderlich,  1888,  170  S. 

Verfasser  will,  die  neueren  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  des  natur- 
kundlichen Unterrichts  insbesondere  nach  ihrer  methodischen  Seite  be- 
arbeiten und  ihre  praktische  Durchführbarkeit  nachweisen.«  Wohl  sollte 
nach  des  Verfassers  Meinung  das  Ziel  des  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richts in  Beziehung  zum  Hauptziel  alles  Unterrichts  gebracht  werden;  aber 
»rein  praktische  Gründe«  verhindern  ihn,  das  erstere  aus  dem  zweiten 
logisch  zu  entwickeln,  sowie  eine  Gliederung  der  die  »harmonische  Aus- 
bildung des  Schülers«  bezweckenden  Einzel- Forderungen  vorzunehmen. 
Derselbe  logische  Mangel  offenbart  sich  in  dem  Abschnitte  »Anordnung 
des  Stoffes«,  in  welchem  die  Prinzipien  der  Auswahl,  Anordnung  und  Durch- 
arbeitung nebengeordnet  aufgeführt  werden.  Es  ist  anzuerkennen,  dafs  bei 
seinen  Forderungen  das  religiöse  und  ästhetische  Interesse  in  den  ge- 
bührenden Hintergrund  treten.  Zudem  erklärt  der  Verfasser  entgegen  der 
Ansicht  Baades,  nach  welcher  »unser  Volk  allgemeine  Übersichten  nicht 
begehrt  und  braucht,«  im  engsten  Anschlufs  an  Junge  :  »Das  Leben  eines 
Wesens  zeigt  sich  aber  nicht  nur  in  seiner  eigenen  Entwicklung,  sondern 
auch  in  seinen  Einwirkungen  auf  seine  Umgebung  und  in  seiner  Abhängig- 
keit von  derselben.  Demnach  ist  nicht  blofs  das  Einzellcben,  sondern  vor 
allem  auch  das  Zusammenleben  zu  beachten  —  die  Anordnung  nach  den 
Lebensgemeinschaften  führt  von  selbst  auf  die  Herausarbeitung  von  Lebens- 
gesetzen.«   (S.  12.)   Dafs  diese  auf  dem  Wege  des  Formalstufen-Ganges 


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214  — 


gewonnen  werden,  möchte  nicht  unerwähnt  bleiben,  wenn  auch  die  An- 
wendung  dieses  psychologisch  begründeten  Lernprozesses  zu  mancherlei 
Ausstellungen  Veranlassung  geben  könnte.  Von  Interesse  sind  die  An- 
forderungen, die  Verfasser  an  den  Lehrer  der  Naturkunde  mit  Recht  stellt 
(S.  18);  auch  verdient  der  Hinweis  auf  das  Beobachten  als  der  notwendigen 
Voraussetzung  des  naturkundlichen  Unterrichts  volle  Beachtung  (S.  21  ff  ). 
Schlicfslich  entfalten  die  beigefügten  Lehrpläne  für  einfache  und  gegliederte 
Volksschulen,  sowie  zahlreiche  »Entwürfe«  manches  Wertvolle,  so.  dafs  das 
Buch  für  den  Anfänger  im  naturkundlichen  Unterrichte  wohl  zu  empfehlen  ist. 

Während  in  den  vorstehenden  Schriften  die  Psychologie  im  ganzen 
wenig  berücksichtigt  wurde,  so  findet  man  vorwiegend  psychologische  Er- 
örterungen bei  F.  Schiesheim,  Die  Methode  des  Anschauungs-Unterrichts 
auf  psychologischer  Grundlage,  durchgeführt  an  der  Botanik.  69  S.  Samm- 
lung pädagogischer  Abhandlungen  I,  herausgegeben  von  O.  Frick  und 
H.  Meyer,  Halle,  Waisenhaus,  1889. 

Wer  dem  belesenen  Verfasser  in  seiner  schätzenswerten  Abhandlung 
etwa  nur  bis  S.  48  folgt,  kann  wohl  leicht  zu  dem  Urteile  gelangen:  Hier 
handelt  es  sich  um  eine  vortreflliche  psychologische  und  logische  Begrün- 
dung der  A,  Lübenschen  Gedanken.  Iii  den  ersten  Unterrichtspensen  soll 
nämlich  eine  Begriffsscala  vorbereitet  werden  durch  Auffassung  und  Be- 
schreibung von  einfachen  Gesetzmäfsigkeiten  der  Form  (S.  15V  Daher 
findet  daselbst  die  Beschreibung  ihren  Abschluls  in  der  Entwicklung  von 
Formel  und  Diagramm  (S.  45).  In  einem  weiteren  Lernprozesse  sind  sodann 
die  Schüler  nach  logischen  Prinzipien  von  Begriffen  niederer  Gattung  zu 
denen  höherer  Gattung  schreiten  zu  lassen  behufs  Ausbaus  eines  Systems 
(S.  44—48).  Jedoch  erklärt  Verfasser  ausdrücklich  auf  S.  52,  dafs  für  seinen 
Unterrichtsgang  die  Entwicklung  des  Systems  selbst  niemals  mafsgebend 
sein  kann.  Denn  der  Unterricht  soll  doch  auch  Bezug  nehmen  auf  Junges 
Lebensgemeinschaften  —  wie  aus  S.  29,  49 — 52  und  61—64  hervorgehen 
dürfte.  Und  zwar  hat  die  Lebensgemeinschaft  nicht  als  ein  Zentrum  des 
Unterrichts  aufzutreten,  wie  bei  Junge,  sondern  als  eine  Art  Zusammen- 
fassung des  Stoffes  auf  allen  Stufen.  Dabei  wird  zuerst  das  Individuum 
und  später  die  Familie  als  Mittelpunkt  der  Lebensgemeinschaft  gewürdigt 
tS.  61). 

Die  Betonung  der  Gesetzmafsigkeit  der  Form  und  die  gekennzeichnete 
Stellung  zu  Junge  entsprechen  ganz  den  psychologischen  und  logischen 
Darlegungen,  die  mit  Sorgfalt  entwickelt  wurden.  Ja,  man  könnte  geneigt 
sein,  die  vom  Verfasser  beliebte  Abstufung  des  naturwissenschaftlichen 
Unterrichts  in  Botanik  als  einer  Formenlehre  und  in  Naturgeschichte  als 
einer  biologischen  Disziplin  zu  teilen.  Denn  nicht  blos  für  höhere  Schulen, 
aus  deren  Praxis  heraus  das  lesenswerte  Schriftchen  geschrieben  wurde, 
ist  eine  möglichst  breite  Sinnlichkeit  als  Grundlage  einer  späteren  Begriffs- 
bildung notwendig.  Wird  Verfasser  durch  seinen  Lehrgang  aber  nicht  nur 
der  Seele  des  Kindes,  sondern  auch  der  Naturbetrachtung  Gewalt  anthun 
logischen  Schematismen  zuliebe?  Durch  feine,  säuberliche  Mosaikarbeit 
wird  allerdings  Ordnung  geschaffen  ;  ein  gleichschwebendes  Interesse  erzeugt 


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-     215  — 


und  bethätigt  sich  dabei  wohl  nicht.  Und  dieses  ist  selbst  in  einem  pro- 
pädeutischen Unterrichte  zur  Geltung  zu  bringen.  Jedoch  beansprucht  die 
Arbeit  des  Verfassers  volle  Aufmerksamkeit  und  verdient  von  jedem  Lehrer 
fleifsig  gelesen  zu  werden. 

Während  Schickhelm  in  beherzigenswerter  Weise  einen  möglichst 
langsamen  Entwicklungsgang  der  Begriffsbildung  empfiehlt,  mutet  eine 
Veröffentlichung  von  G.  Stange  dem  Schüler  eine  zuweilen  vorschnelle 
Abstraktion  zu.  Sein  Buch  heifst:  Naturgeschichte  für  mehrklassige  Volks- 
schulen, Heft  I,  Hannover,  Helwing,  1889,  68  S. 

Ohne  jede  theoretische  Erörterung,  ja  ohne  Vorrede,  bringt  Verfasser 
Monatsbilder  für  die  Gartenpflanzen  und  Gruppenbilder  der  Haustiere ; 
auch  Schreib-  und  Brennstoffe,  sowie  Münzen  werden  als  dem  I.  Kursus 
zugehörige  Stoffe  aufgezählt.  Im  IL  Kursus  sollen  die  Schüler  den  Garten 
nach  seiner  Erscheinung  in  den  verschiedensten  Jahreszeiten  und  Zwecken 
kennen  lernen.  Im  Anschlufs  an  Haus  und  Hof  werden  sodann  allerlei 
Tiere  —  bis  auf  Bücherskorpion  und  Wanderratte!  —  Küchengeschirr, 
das  Salz,  sowie  die  Beleuchtung  beschrieben.  Die  »Rückblicke«  lassen 
erkennen,  dafs  es  Verfasser  nur  um  ein  vollständiges  System  zu  thun  war. 
Wohl  nur  um  der  Systematik  willen  werden  z.  B.  auch  die  Mineralien  be- 
trachtet. Welche  psychologischen  Beziehungen  zwischen  »Rückblicken« 
und  den  Einzelbeschreibungen  bestehen,  möchte  durch  folgendes  Beispiel 
gekennzeichnet  sein:  Schon  im  I.  Kursus  werden  die  Amphibien  charak- 
terisiert (S.  20),  obwohl  die  Beschreibung  auf  S.  14  nicht  die  geringste 
Grundlage  dazu  bietet.  Dafs  auch  die  Ideen  Junges  noch  nicht  befruchtend 
gewirkt  haben,  dürften  am  besten  die  Abschnitte  III.  und  IV.  beweisen; 
eine  geistbildende  Betreibung  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts  ist  durch 
den  Verfasser  nicht  angebahnt  worden. 

Im  Gegensatz  zu  Stanges  litterarischer  Gabe  steht  nun  eine  Abhand- 
lung von  Ii.  Bode,  Die  Naturgeschichte  in  der  Volksschule.  Kritische 
Würdigung  der  Jungeschen  Methode.  32  S.  Heft  134  der  Pädagogischen 
Sammelmappe,  Leipzig,  Siegismund  und  Volkcning. 

Sich  nicht  mit  Lehrplänen  oder  Stoffsammlungen  beschäftigend,  will 
Verfasser  nur  Junges  Ideen  würdigen  und  zum  Gemeingut  der  Lehrerschaft 
machen.  Und  wohl  keine  unter  den  vielfachen  Abhandlungen,  welche  mit 
Junges  Ideen  sich  beschäftigen,  ist  mehr  geeignet,  die  vielfachen  Schwan- 
kungen und  Mifsverständnisse  zu  beseitigen  als  die  von  K.  Bode.  Junge 
selbst  hat  in  seiner  Naturgeschichte,  Teil  Ii,  1891,  S.  VII  die  Urteile  des 
Verfassers  als  zutreffend  bezeichnet.  Die  vorstehenden  allgemeineren  Be- 
merkungen finden  durch  Bode  nur  eine  Ergänzung  oder  Bestätigung. 

Der  Verfasser  bezeichnet  Junge  nicht  als  den  intellektuellen  Urheber 
seiner  Methode  (Lehrganges?  Prinzips?),  sondern  nennt  seinen  »Dorfteich« 
den  prägnanten  Ausdruck  seiner  Zeit ;  das  ist  das  ganze  Geheimnis  seiner 
Bedeutung  (S.  5)!  Und  zwar  liegt  ihm  daran,  die  Erkenntnis  von  Grund 
und  Folge  —  oder  das  Kausalitätsprinzip  —  im  naturgeschichtlichen  Unter- 
richt zur  Geltung  zu  bringen.  Dies  Prinzip  ist  zwar  vielfach  früher  schon 
als  wertvoll  anerkannt,  aber  erst  durch  die  derzeitige  Wissenschaft  zu  einem 


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aligemein  notwendigen  erhoben  worden.  Wenn  nun  das  Kausalitätsprinzip 
in  der  heutigen  Wissenschaft  geltend  ist,  so  hat  dies  auch  die  Schule  zu 
berücksichtigen.  Der  verdienstvolle  A.  Lüben  hat  die  Verwertung  desselben 
wohl  theoretisch  gutgeheifsen,  aber  in  Wirklichkeit  nicht  durchgeführt 
(S.  n).  Männer  der  Wissenschaft  wie  Möbius,  Reichenbach,  Rofsmäfsler, 
welche  mit  der  Schule  Fühlung  behielten,  haben  daher  gegen  einen  Still- 
stand der  Schul-Naturgeschichte  etwa  bei  Lübens  Auffassung  ihre  Stimme 
erhoben  —  aber  erst  Junge  war  es  vorbehalten,  eine  allgemeinere  Fort- 
entwicklung anzubahnen.  Seine  Ideen  werden  mit  der  Zeit  weiter  entwickelt 
oder  fallen  gelassen  werden,  je  nachdem  sie  der  herrschenden  wissen- 
schaftlichen Auffassung  noch  entsprechen  oder  nicht.  —  Bis  hierher  (S.  14) 
beschäftigt  sich  Verfasser  mit  der  Theorie ;  die  folgenden  Erörterungen 
berühren  auch  praktische  Fragen.  So  wird  die  Frage  :  Hat  das  System 
in  Junges  Unterrichte  Bürgerrecht?  durch  folgende  Sätze  erledigt:  Wer 
das  System  gänzlich  verbannt,  entreifst  der  sicheren  Eikenntnis  eine  not- 
wendige Grundlage;  Junge  dagegen  läfst  auf  jeder  Stufe  sich  aus  dem 
Unterrichte  soviel  System  ergeben,  wie  das  Bedürfnis  nach  Ordnung  in  den 
Einzelvorstellungen  erheischt  (S.  16).  —  Die  Erkenntnis  von  Ursache  und 
Wirkung  wird  zu  Gesetzen  zusammengefafst,  die  —  wenn  psychologisch 
erarbeitet  —  weder  zu  schwierig  sind,  noch  Gefahren  für  die  religiöse 
Bildung  des  Kindes  mit  sich  bringen.  —  Verfasser  erklart  mit  Recht,  dafs 
das  Jungesche  Ziel  nicht  erst  am  Ende  des  Unterrichts  steht,  sondern  auf 
allen  Stufen  denselben  durchdringt.  Sodann  werden  die  Gegner  der 
»Lebensgemeinschaften  beruhigt  und  an  die  Beobachtung  der  sich  eben 
darbietenden  Natur  erinnert,  als  dem  treibenden  Faktor  bei  dem  natur- 
geschichtlichen Unterrichte.  Es  ist  nun  die  Pflicht  der  Lehrenden,  diesen 
geistbildendcn  Unterricht  Junges  an  der  Jugend  zu  versuchen,  damit  es 
nicht  von  diesen  heifst:  Sie  verstehen  nicht  den  Geist  der  Zeit  und  füllen 
nicht  die  Stelle  aus,  die  sie  im  Entwicklungsgange  der  Menschheit  einzu- 
nehmen haben  (S.  31  und  32)!  —  -  Wahrlich,  von  einem  gröfseren  Gesichts- 
punkte aus  konnten  Junges  Ideen  nicht  kritisch  gewürdigt  werden!  Möchte 
das  Schriftchen  Bodes  Heifsig  gelesen  und  noch  fleifsiger  für  die  Jugend 
nutzbar  gemacht  werden  zum  Heile  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts! 

L.  Busemann.  Chemie  für  die  Volksschule.  Hannover-Linden,  Verlags- 
Anstalt  von  C.  Manz,  1881,  63  S. 

L.  Bu«emann,  Chemiestunden  in  der  Volksschule.  Lchrerheft  zur 
>Chcmie  für  die  Volksschule«.    Ebendaselbst.    1891.    52  S. 

Wer  jemals  in  Volksschul-Oberklassen  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richt erteilt  hat,  der  wird  von  der  Notwendigkeit  überzeugt  sein,  den 
Schülern  auch  Kenntnis  von  der  Chemie  zu  vermitteln.  Aber  nicht  blos  am 
Ende  der  Schulzeit  tritt  diese  Notwendigkeit  auf.  Eine  Naturbetrachtung 
nach  Jungeschen  Ideen  giebt  schon  früher  Gelegenheit,  die  Aufmerksamkeit 
der  Schüler  auf  elementare  Prozesse,  namentlich  physiologischer  Art  zu 
lenken.  In  den  Oberklasscn  erweitert  sich  naturgemäfs  dieser  Gedanken- 
kreis durch  eine  besondere  Berücksichtigung  der  praktischen  Lebensver- 
hältnisse —  falls  man  eben  dieselben  nicht  in  allen  Schuljahren  für  not- 


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—     217  — 


wendig  erachten  sollte.  Auf  jeden  Fall  haben  die  letzten  Schuljahre  eine 
Bestätigung  und  nähere  Erklärung  durch  Experiment  und  Schlufsfolgerung 
von  dem  zu  geben,  was  früher  beobachtet  und  nicht  spekulativ  weiter 
verfolgt  werden  konnte.  Und  zu  diesem  Zwecke  sind  Hilfsbüchcr  stets 
willkommen  zu  hcifscn.  Allerdings  weist  die  bez.  Litteratur  schon  die 
gröfseren  klassischen  Werke  von  Arendt  und  Wilbrand  auf ;  jedoch  können 
auch  die  Darbietungen  schlichterer  Art  noch  wünschenswert  erscheinen. 
Zu  solchen  sind  zu  zählen  die  Bücher  von  Busemann. 

Die  Auswahl  ist  sachgemäfs;  denn  es  werden  alle  diejenigen  Stoffe 
und  Prozesse  zur  Kenntnis  gebracht,  welche  die  Erhaltung  des  menschlichen 
Körpers  und  den  der  wichtigen  Tiere  und  Pflanzen  beeinflussen,  das  mensch- 
liche Leben  verschönern  und  den  Wohlstand  heben.  (Vergl.  VITI.  Schul- 
jahr S.  71.)  Das  Lehrerheft,  welches  u.  a.  mehr  Gewicht  legt  auf  die  sach- 
liche Durchführung  der  Experimente,  läfst  allerdings  gerade  die  wichtigen 
pflanzenphysiologischen  Prozesse  vermissen.  —  In  den  meisten  Fällen  geht 
Verfasser  vom  Versuche  aus  und  läfst  zuweilen  das  Gebotene  durch  An- 
geben von  Merkworten  verdichten;  durchweg  sollen  Wiederholungsaufgaben, 
die  gelegentlich  auch  dem  Rechnen  dienen ,  das  Hauptsächlichste  des 
vorangehenden  Unterrichts  befestigen.  Die  Vorzüge,  die  Buscmanns  Bücher 
aufweisen,  dürften  leicht  vermehrt  werden,  wenn  Verfasser  z.  B.  Beobach- 
tungsaufgaben jedesmal  getrennt  der  Besprechung  voraufgehen  und  dann 
das  Ergebnis  derselben  mehr  hervortreten  lälst.  Auch  dürfte  die  Abbildung 
Nr.  12  der  Wirklichkeit  nicht  ganz  entsprechen,  sowie  die  Bezeichnung 
bereits  veraltet  sein.  Im  übrigen  sind  die  Darbietungen  wegen  ihrer  Sach- 
lichkeit und  Deutlichkeit  wohl  zu  empfehlen. 

Halle  a.  S.  Dr.  B.  Maennel. 


3.  Neue  Bahnen. 

Reform-Zeitschrift  für  Haus-,  Schul-  und  Gesellschaftserziehung.  In 
Verbindung  mit  vielen  hervorragenden  Schulmännern  herausgegeben  von 
Johannes  Meyer.  Monatlich  erscheint  ein  Heft  im  Umfange  von  min- 
destens 48  Seiten,  vierteljährlich  eine  Gratisbeilage:  »Pädagog.  Bücher-  und 
Zeitungsschau«  von  mindestens  12  Seiten.  Preis  für  das  Vierteljahr  1  M.  50  Pf. 
Verlag  von  Emil  Behrend  in  Gotha. 

Diese  Zeitschrift  will  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Volks- 
schule einen  einheitlichen  Mittelpunkt  darbieten  für  alle  Bestrebungen, 
welche  die  Herbeiführung  einer  zeitgemäfsen  Gestaltung  der  Erziehung  und 
des  Unterrichts  zum  Ziele  haben.  Eine  Erweiterung  ihres  Arbeitsfeldes 
ißt  im  2.  Jahrgang  insofern  eingetreten,  als  der  Herausgeber,  ausgehend  von 
der  Erkenntnis,  dafs  die  Reform  der  Schulerziehung  allein  uns  noch  nicht 


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zu  gesunden  Zuständen  führen  kann,  auch  die  Haus-  und  Gesellschaftser- 
ziehung in  den  Kreis  seiner  Betrachtung  ziehen  wird.  Der  Herausgeber 
verspricht  rastlos  für  die  Vervollkommnung  der  Zeitschrift  bemüht  sein 
zu  wollen,  und  wir  zweifeln  nicht  daran,  dafs  er,  wie  in  dem  ersten  Jahr- 
gange,  so  auch  in  dem  neuen  seinen  Versprechungen  nachkommen  wird. 
Wir  können  die  Zeitschrift  empfehlen.  Sie  bringt  interessante  Aufsätze  und 
giebt  gute  orientierende  Übersichten  über  die  Reform-Litteratur. 


4.  Ist  die  Unkenntnis  der  neuesten  Geschichte  ein  be- 
sonderes Merkmal  der  deutschen  Jugend? 

Fast  will  es  scheinen,  als  ob  diese  Frage  bejaht  werden  sollte.  Dafs 
ein  Mangel  an  historischen  Kenntnissen,  besonders  an  solchen  über  die  un- 
mittelbare Gegenwart  vorliegt,  wird  in  jüngster  Zeit  lebhaft  empfunden. 
Nachdem  diesem  Gefühl  seitens  des  Kaisers  in  einem  Gespräche  mit  den 
abgeordneten  Professoren  der  Göttinger  Universität  in  Hannover  im 
Herbste  d.  J.  1889  und  später  im  Schulkongress  zu  Berlin  Ausdruck  ge- 
geben worden  ist,  bildet  der  Gedanke  vielfach  das  Thema  lebhaft  geführter 
Erörterungen.  Dabei  geschieht  es  auch  hie  und  da,  besonders  in  der 
Tagespresse,  dafs  auf  unsere  Nachbaren  im  Westen  hingewiesen  wird,  denen 
angeblich  ein  lebhafterer  Sinn  für  die  Fragen  der  Gegenwart  eigen  ist- 
Der  Grund  wird  darin  gesucht,  dafs  man  in  Frankreich  auf  die  National- 
geschichte, und  zwar  besonders  auf  die  neueste  Zeit,  im  Unterrichte  mehr 
Wert  legt  und  auf  das  sichere  Beherrschen  derselben  durch  die  Jugend 
mehr  Sorgfalt  verwendet.  Entspräche  dies  der  Wirklichkeit,  so  würde  das 
pädagogische  Gewissen  der  deutschen  Lehrerschaft  durch  diesen  Ver- 
gleich nicht  eben  sehr  gehoben,  da  doch  gerade  auf  didaktischem  Gebiete 
Deutschlands  Schule  nicht  am  schlechtesten  bestellt  ist. 

Es  dürfte  daher  nicht  ohne  Interesse  sein,  aus  authentischer  Quelle 
zu  erfahren,  wie  es  mit  Rücksicht  auf  den  Unterricht  in  der  neuesten  Ge- 
schichte in  Frankreich  bestellt  ist. 

Fast  zu  gleicher  Zeit  mit  jenen  Bemerkungen  des  Kaisers  in  Hannover 
erschien  eine  Publikation  des  Pariser  Schulinspektors  Delapierre  über 
die  Ergebnisse  des  Geschichtsunterrichtes  in  französischen  Volksschulen. 
Eine  kurze  Wiedergabe  derselben  finden  wir  in  dem  November  -  Heft 
der  „Revue  ptdayogique"  vom  J.  1889  unter  den  Titel  „Cumment  T*c»U  primam 
enteigne-t-eUe  Vhiatoire  moderne  aux  futurs  citoyens  fran<;aisi" 

Für  unseren  Zweck  genügt  es ,  aus  der  Veröffentlichung  hier  nur 
wenige  Zeilen  wiederzugeben.  Delapierre  hat  vielfach  Gelegenheit  gehabt, 
an  die  eben  die  Schule  verlassenden  Schüler  Fragen  über  jene  Gebiete  der 


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■ 


—     2IQ  — 

Geschichte  zu  stellen,  welche  sie  am  besten  kannten  oder  kennen  sollten. 
Das  Resultat  lautet  mit  ganz  geringen  Ausnahmen  folgendermafsen: 

.,Notu  puuvons  aßirmer  que  paa  un  ne  -%e  auitrient,  non  seulement  de  l'kistoir*  de 
In  Monarchie  francmse,  utaia  encore  de  l'hiatoire  du  dix  -  neuvikme  nikcU:  ceat  mrm<t 
eur  et  demier  chapüre  qu'ils  tont  U  plus  ignoranU*  Das  ist  ein  offenes  Bekennt- 
nis, welches  der  Berichterstatter  noch  mit  den  Worten  bekräftigt,  es  sei 
durchaus  keine  Übertreibung.  Ja  selbst  in  den  damals  noch  bestehenden 
Prüfungen  zur  Erlangung  des  Einjährigfreiwilligen  X  Rechtes  {.,examen  du 
roionttiriat")  habe  er  ähnliche  traurige  Erfahrungen  gemacht.  An  200  junge 
Männer  hat  er  geprüft,  welche  Xunter  anderen  —  Antworten  gaben  wie: 
Louis  XVIII  war  der  Sohn  Louis  XVI.  —  Louis  Philipp  war  ein  Ver- 
wandter Napoleons.  —  Die  Schlachten  von  Alma,  Magenta,  Solferino  sind 
in  den  Kriegen  der  Revolution  geliefert  worden.  —  Am  2.  December  1851 
wurde  Napoleon  III.  zum  Kaiser  gewählt  u.  s.  w.  Den  Regierungswechsel 
seit  1789  anzugeben,  war  niemand  im  Stande.  Ja,  viele  der  Kandidaten 
kannten  selbst  die  Thatsachen  nicht,  welche  der  Centenalfeier  des  J.  178g 

ZU  Grunde  lagen,  Mi7*  ont  feie,  »ans  mvoir  pourqut>if  hs  dutes  du  j  mai,  du  20  juin, 
du  4  aoüt." 

Und  auch  er  schliefst  an  diese  Erfahrungen  die  bei  uns  oft  ange- 
stellten Betrachtungen  an:  >Und  das  sind  junge  Leute,  welche  nach 
Leistung  ihrer  militärischen  Pflichten  Besitz  ergreifen  werden  von  ihren 
bürgerlichen  Rechten ;  sie  werden  teil  nehmen  an  den  Reichstagswahlen  und 
werden  das  Geschick  ihres  Vaterlandes  in  den  Händen  halten.  Sie  ent- 
senden in  die  Kammer  Vertreter,  welchen  die  Aufgabe  zufallt,  die  Ge- 
schichte ihrer  Zeit  zu  machen,  und  sie,  die  Wähler,  haben  nicht  die  ge- 
ringste Idee  von  der  Geschichte  der  vorausgegangenen  Epochen.  Es  ist 
dies  eine  Thatsache,  deren  Richtigkeit  niemandem  entgehen  wird.« 

Das  sicherste  Mittel  zur  Beseitigung  des  Mifsstandes  erscheint  ihm 
eine  Verkürzung  des  historischen  Stoffes  früherer  Jahrhunderte  zu  Gunsten 
der  Geschichte  von  der  Revolution  bis  zur  Gegenwart  zu  sein.  Nur  durch 
eine  gründlichere  Vertiefung  in  diese  Zeit  werden  sie  befähigt,  denkend 
zu  handeln.  »Sie  werden  sich  später  entweder  für  die  Erhaltung  des 
Gegenwärtigen,  oder  für  den  Fortschritt,  oder  für  die  Rückkehr  zum  Ver- 
gangenen erklären,  aber  sie  werden  wenigstens  in  voller  Kenntnis  der 
Gründe  handeln.  —  Man  kann  heutzutage  nicht  sagen,  dafs  sie  ein  Bewufst- 
sein  dessen  hätten,  was  sie  thun.« 

Der  Berichterstatter  der  Revue  ptdag.  findet  diese  Ausführungen  ^tout 
ö  fait  judicieuse*u .  Er  nennt  die  eben  aufgezeigte  Unkenntnis  der  Welt,  in 
der  der  Schüler  lebt,  eine  beständige  Gefahr  für  das  Vaterland  und  fordert 
ebenfalls  deren  Beseitigung. 

Wir  sehen  aus  dieser  kurzen  Mitteilung,  dafs  es  in  Frankreich  —  zu- 
nächst so  weit  das  niedere  Schulwesen  in  Frage  kommt  -  nicht  im  ge- 
ringsten besser  bestellt  ist,  als  bei  uns.  Das  soll  kein  Trost  sein,  er  wäre 
ein  billiger  und  schlechter.  Aber  derselben  Erscheinung  werden  jedenfalls 
dieselben  Ursachen  zu  Grunde  liegen.  Der  historische  Stoff  häuft  sich 
eben  für  alle  Kulturvölker  und  für  deren  Schulen  in  einer  Weise,  welche 


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—     220  — 

eine  Bewältigung  ungemein  schwierig  macht.  Durch  sie  werden  wir  immer 
von  Neuem  auf  eine  Beschränkung  des  Stoffes  verwiesen,  die  dennoch  die 
unumgänglich  notwendige  Vertiefung,  welche  die  Bedingung  für  das  Ver- 
ständnis der  Gegenwart  ist  und  bleibt,  nicht  ausschliefst.  Dafs  beides  er- 
möglicht werde:  die  Anbahnung  der  Einsicht  in  die  bisherige  Entwicklung 
des  Geschehenen  zum  Zwecke  einer  tieferen  und  gründlicheren  Erfassung 
der  Gegenwart,  dazu  wird  wohl  eine  sorgfältige  Auswahl  und  Durcharbeitung 
der  wichtigsten  Perioden  der  deutschen  Geschichte  unbedingt  notwendig 
sein.  Erstere  müssen  wir  von  der  Geschichtswissenschaft  erwarten;  erst 
wenn  sie  vorliegt,  kann  die  Didaktik  deren  schulmäfsigc  Behandlung  iin 
Angriff  nehmen. 

Dafs  dies  Arbeiten  sind,  welche  langandauernden  Fleifs,  tiefe  Ober- 
legungen  erfordern,  ist  für  den  Einsichtigen  keine  Frage.  Daher  denn 
wohl  auch  die  vielfach  vorgebrachten  Vorwürfe  nicht  immer  in  erster 
Linie  den  Lehrer  und  die  Schule  treffen. 

Jena.  E.  S  c  h  o  1  z. 


5  Neudrucke  pädagogischer  Schriften.*) 

Herausgegeben  von  Albert  Richter. 

I.  Rochow,  Geschichte  meiner  Schulen.  M.  0,80. 

II.  Schlez,  Gregorius  Schlaghart.  ,,  0,80. 

III.  Schupp,  Der  deutsche  Lehrmeister.  „  0,80. 

IV.  Kursächsische  Schulordnungen.  „  o,So. 

Die  »Neudrucke  pädagogischer  Schriften«,  von  dem  auf  pädagogischem 
Gebiete  wohl  bekannten  Herausgeber  mit  ausführlichen  Einleitungen  versehen, 
zeichnen  sich  vor  anderen  Ausgaben  älterer  pädagogischer  Werke  zunächst 
durch  einen  sehr  billigen  Preis  aus.  Sie  sollen  aufserdem  in  erster  Linie 
nicht  Schriften  bringen,  die  schon  in  zahlreichen  anderen  Ausgaben  zu- 
gänglich sind,  sondern  solche,  von  denen  jetzt  sehr  selten  noch  ein 
Exemplar  zu  erlangen  ist.  Ferner  sollen  nicht  nur  sogenannte  »päda- 
gogische Meisterwerke«  berücksichtigt  werden,  sondern  auch  Schriften,  die 
für  die  Geschichte  der  Schule  und  für  die  Kulturgeschichte  im  allgemeinen 
als  Quellenschriften  zu  betrachten  sind. 

*)  Verlag  von  Richard  Richter  In  Lcij./.f. 


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221 


6.  Stichling:  Aus  53  Dienstjahren. 

(Weimar,  Böhlau,  1891.) 

Der  um  das  Weimarische  Land,  besonders  um  das  Weimarische  Schul- 
wesen hochverdiente  Staatsminister  Dr.  G.  Th.  Stichling,  ein  Enkel 
Herders,  hat  in  den  Aufzeichnungen  aus  seinem  Leben,  die  kurz  vor 
seinem  Tode  erschienen,  auch  der  Bestrebungen  und  Errungenschaften 
gedacht,  die  auf  dem  Gebiet  des  Schulwesens  seiner  langen,  thatenreichen 
Wirksamkeit  zu  verdanken  sind. 

Den  Lesern  der  »Studien«  werden  die  Kapitel  »Synodal -Ordnung*, 
»Staat-  und  evangel.  Kirche«,  »Schulwesen«  von  besonderem  Interesse  sein. 

Letzteres  schliefst  mit  folgenden  Worten: 

»Den  Schlufsstein  meiner  Bestrebungen  im  Bereiche  des  Schulwesens 
bildet  das  in  Jena  errichtete  und  an  die  Universität  angelehnte  päda- 
gogische Seminar,  mit  der  Bestimmung,  einerseits  den  Studierenden  der 
Theologie  die  nötige  Vorbildung  für  ihren  künftigen  Beruf  als  Oberschul- 
aufseher in  der  Volksschule  zu  geben,  andererseits  die  künftigen  Lehrer 
an  höheren  Lehranstalten  mit  der  Methode  des  Lehrers  vertraut  zu  machen, 
endlich  auch  einzelnen,  seminaristisch  gebildeten  Lehrern  ihrem  Wunsche 
entsprechend,  eine  angemessene  höhere  Weiterbildung  zu  geben. 

Selbstverständlich  ward  dieser  Anstalt  eine  Übungs- 
schule beigegeben.  Den  ersten  Grund  zu  ihr  hatte  Prof.  Stoy  in 
einem  Privatunternehmen  gelegt;  ich  habe  dasselbe  auf  den  Staat  über- 
nommen und  weiter  ausgebildet,  die  an  der  Universität  beteiligten  Herzogl. 
sächs.  Regierungen  zur  Mithülfe  herangezogen,  mit  der  Stadtgemeinde  Jena 
die  nötige  Vereinbarung  getroffen  und  solchergestalt  die  Anstalt  auf  feste 
Füfse  gestellt  und  für  weitere  Ziele  dienstbar  gemacht.«  *) 


7.  Verbreitung  der  Knaben -Handarbeit  in  Deutschland. 

Der  deutsche  Verein  für  Knaben -Handarbeit  hat  umfangreiche  stati- 
stische Erhebungen  über  den  Stand  und  die  Ausbreitung  des  Arbeitsunter- 
richtes in  Deutschland  angestellt  und  die  Resultate  derselben  in  einer 
Broschüre  niedergelegt.  Wir  teilen  daraus  Folgendes  mit.  Die  gröfste 
Zahl  der  Arbeitsschulen  besteht  im  Königreich  Sachsen,  nämlich  42.  Dann 
folgen  die  Provinz  Schlesien  mit  17,  die  Thüringischen  Staaten  mit  16,  die 
Freien  Städte  mit  13,  die  Provinz  Sachsen  mit  10,  Brandenburg  und 


*)  Ver*l.  PBdag.  Studien  1891,  3.  Heft  8.  174. 


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—     222  — 


Hannover  mit  je  9,  Elsafs- Lothringen  mit  7  und  Bayern  mit  6  Schülerwerk- 
stätten. Ferner  giebt  es  über  50  vereinzelte  Arbeitsschulen  in  den  anderen 
Landesteilen.  Im  Ganzen  wurden  186  Schülerwerkstätten  in  120  ver- 
schiedenen Orten  ermittelt.  Ganz  fehlen  dieselben  z  B.  in  Anhalt,  Mecklen- 
burg, Pommern  und  Westlalen.  Hieraus  ergiebt  sich,  dafs  die  meisten 
Schülerwerkstätten  vorhanden  sind  in  Orten  mit  hoch  entwickelter  In- 
dustrie. Auch  hat  die  Knaben-Handarbeit  in  Gebirgsgegenden  (Eulenge- 
birge, sächsische  Schweiz!  Eingang  gefunden,  wo  sie  den  kümmerlichen 
Erwerbsverhältnissen  aufzuhelfen  bestimmt  ist.  In  Landwirtschaftsgebieten 
dagegen  hat  der  Arbeitsunterricht  noch  keine  nennenswerten  Erfolge  er- 
rungen. 

Von  den  186  gezählten  Schülerwerkstätten  verfolgten  einige  in  der 
Provinz  Schlesien  und  im  Königreich  Sachsen  nur  erwerbliehe  Zwecke.  Die 
Mehrzahl  dienten  aber  erziehlichen  Zwecken.  67  Schülerwerkstätten  waren 
selbstständig;  107  standen  mit  einer  öffentlichen  oder  privaten  Anstalt  in 
Verbindung.  So  hatten  12  Schullehrerseminare  (6  im  Königreich  Sachsen) 
den  Arbeitsunterricht  eingeführt,  ferner  15  Waisenhäuser,  44  Knabenhorte, 
10  Besserungs-,  5  Blinden-  und  7  Taubstummen-Anstalten.  —  Die  Be- 
gründung der  Schülerwerkstätten  begann  im  Wesentlichen  im  Jahre  1879 
und  wurde  angeregt  durch  die  rührige  Thätigkeit  des  Rittmeisters  Clauson 
von  Kaas,  der  1880  in  Emden  und  später  in  Dresden  Lehrer  für  den  neuen 
Unterrichtszweig  ausbildete.  Von  dieser  Zeit  an  sind  als  Begründer  von 
Schülerwerkstätten  verschiedene  Faktoren  thätig.  Aufser  Vereinen  und 
einzelnen  Personen  lassen  sich  auch  Staats-  und  städtische  Behörden  die 
Förderung  des  Arbeitsunterrichts  angelegen  sein.  Im  Jahre  1884  waren 
gegen  50  Schülerwerkstätten  vorhanden,  und  diese  Zahl  hat  sich  bis  1888 
mehr  als  verdreifacht.  In  ähnlicher  Weise  ist  die  Zahl  der  Schüler  ge- 
stiegen, die  am  Arbeitsunterrichte  teilnehmen.  1884  waren  es  2080,  1888 
besuchten  die  Schülerwerkstätten  schon  5678  Schüler.  Die  Mehrzahl  der- 
selben, 76  Proc.  waren  Volksschüler;  24  Proc.  waren  Zöglinge  der  Mittel-, 
Realschulen,  Gymnasien  und  Seminare. 

Bezüglich  der  von  Schülerwerkstätten  aufgenommenen  Unterrichts- 
gegenstände ist  zu  bemerken,  dafs  in  erster  Linie  Papparbeiten,  Holz- 
schnitzerei und  Hobelbankarbeiten  betrieben  werden.  80  Proc.  der  Werk- 
stätten haben  die  Papparbeiten  aufgenommen,  63  Proc.  die  Holzschnitzerei 
und  60  Proc.  Hobelbankarbeiten.  7  Schülerwerkstätten  betreiben  auch  leichte 
Metallarbeiten  und  3  das  Modellieren.  Vereinzelt  treten  noch  auf:  Holi- 
malerei,  Holz-  und  Metallsägen,  Drechslerei,  Rohrstuhlbeziehen,  Bürsten- 
binden, Korbmacherei ,  Strohdeckelflechten,  Deckenknüpfen  und  Filet- 
stricken. Von  den  Schülern  beschäftigen  sich  43  Proc.  mit  Papparbeiten, 
32  Proc.  mit  Holzschnitzen  und  31  Proc.  mit  Hobelbankarbeiten. 

Der  Unterricht  in  den  Schülerwerkstätten  wurde  im  Ganzen  von 
208  Lehrern  und  48  Handwerkern  erteilt.  Die  Frage,  ob  derselbe  von 
Handwerkern  oder  von  Lehrern  gegeben  werden  soll,  ist  durch  die  Praxis 
als  gelöst  zu  betrachten.  Von  1880  ab  gestaltete  sich  das  procentuale 
Verhältnis  der  Unterrichtenden  wie  folgt: 


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—     223  — 


i88o:  1882:  1884:  1886:  1888: 

Lehrer  29  pCt.       50  pCt.      61  pCt.      72  pCt.      81  pCt. 

Handwerker  71     „         50    „         39    „         28    „         19  „ 

Die  Zahl  der  Lehrer,  welche  an  Werkstätten  unterrichten,  hat  sich 
also  allmählich  auf  81  pCt.  gesteigert,  während  die  Zahl  der  unterrichtenden 
Handwerker  eine  entsprechende  Verminderung  erfuhr.  In  den  Schüler- 
werkstätten mit  erziehlichen  Zwecken  unterrichten  fast  nur  Lehrer.  Ver- 
schiedene Anstalten,  die  noch  Handwerker  als  Handfertigkeitslehrer  be- 
schäftigen ,  erklären  offen ,  dafs  ein  technisch  ausgebildeter  Pädagog 
vorzuziehen  sei.  Im  Mangel  derartiger  Lehrkräfte  ist  also  häufig  die  Ver- 
wendung von  Handwerkern  begründet  Anderer  Art  sind  die  Verhältnisse 
in  den  Schülerwerkstätten  mit  erwerblichen  Zwecken.  Hier  sind  fast  aus- 
nahmslos Handwerker  thätig,  doch  hat  es  sich  ebenfalls  gezeigt,  dafs  die 
Leitung  der  Anstalt  einem  Pädagogen  übertragen  werden  mufs,  wenn  er- 
spriefsliche  Erfolge  erzielt  werden  sollen.  Von  allen  Seiten  wird  aber 
unumwunden  die  unentbehrliche  Mitarbeit  der  Handwerksmeister  an  der 
Ausbildung  der  Handfertigkeitslehrer  anerkannt.  Diese  war  anfangs  recht 
mangelhaft.  Durch  besondere  Lehrerkurse  und  durch  die  Lehrerbildungs- 
Anstalt  des  deutschen  Vereins  für  Knabenhandarbeit  ist  diesem  Übelstande 
nach  Kräften  abgeholfen  worden.  Seit  1888  wurden  ca.  1000  Lehrer  und 
ca.  60  Nichtlehrer  für  den  Handfertigkeitsunterricht  an  verschiedenen  Orten 
vorgebildet. 

Nicht  unbeträchtlich  sind  die  Summen,  welche  die  Einrichtung  und 
Erhaltung  der  Schülerwerkstätten  erfordert.  Sie  werden  aufgebracht  durch 
Behörden,  Vereine,  Private  und  freiwillige  Beiträge,  Schulgeld  und  Schenkun- 
gen. Die  im  Jahre  1888  für  die  Schülerwerkstätten  aufgewendeten  Geldmittel 
dürften  sich  nach  ungefährer  Schätzung  auf  50000  Mk.  belaufen. 

Thorn.  H.  Chili. 


8.  Zwangserziehung  verwahrloster  Kinder  in  Preussen. 

In  der  Zeit  vom  Inkrafttreten  des  Gesetses  über  die  Zwangserziehung 
verwahrloster  Kinder  (1.  Oktober  1878)  bis  zum  31.  März  v.  Js.  sind  im 
preufsischen  Staate  16964  Kinder  in  Zwangserziehung  untergebracht  worden. 
Davon  sind  inzwischen  654  widerruflich,  4559  unwiderruflich  entlassen,  439 
verstorben  und  447  anderweitig  in  Abgang  gekommen,  so  dafs  am  31.  März 
v.  Js.  noch  10865  Kinder  in  der  Zwangserziehung  verblieben.  Wie  sich 
dieselben  auf  die  einzelnen  Provinzen  verteilen  und  welcher  Art  die 
Unterbringung  der  Kinder  ist,  ergiebt  folgende  Zusammenstellung: 


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—     224  — 


Zahl  der  Kinder  in 

DftroD  wai 

icht  in 

Familien-, 

Kommunal-,  P 

rlvtt-Anrtaltta 

Ostpreufsen 

833 

303 

— 



530 

Westpreufsen 

505 

222 

— 

205 

78 

Berlin 

348 

250 

— 

75 

2  3 

Brandenburg 

959 

434 

— 

198 

327 

Pommern 

753 

372 

— 

33 1 

Posen 

432 

285 

5 

56 

S6 

Schlesien 

1959 

802 

— 

299 

858 

Sachsen 

9ii 

469 

— 

148 

294 

Schleswig-Holstein 

522 

495 

— 

27 

Lauenburg 

7 

3 

— 

4 

Hannover 

851 

565 



— 

286 

Westfalen 

590 

220 

Kassel 

627 

489 

«38 

Wiesbaden 

346 

200 

4 

142 

Rheinprovinz 

1216 

645 

1 

570 

Hohenzollern 

6 

6 

Summa  10865 

5754 

5 

982 

4120 

Von  Interesse  sind  auch  die  Angaben  über  die 

Kosten  der  Zwangs- 

erziehung.    Seit  dem 

Inkrafttreten  des  Gesetzes  bis 

zum  31. 

März  v.  Js. 

sind  dafür  1 1  915266 

Mk.  aufgewendet 

worden 

und 

im  letzten 

Etatsjahre 

1410439  Mk.  Diese  Ausgaben  werden  vom  Staate  und  den  ProvinzialVer- 
bänden  zu  gleichen  Teilen  getragen.  Welche  Aufwendungen  in  dieser 
Hinsicht  die  einzelnen  Provinzen  zu  machen  hatten,  zeigt  folgende  Zusammen- 
stellung der 


Aufwendungen  der  Kommunal- Verbände  für  die  Zwangserziehung 

a)  vom  1.  Oktober  1878  bis  31.  März  1890:    b)  pro  1889/90: 


Ostpreufsen 

266  244 

Mk. 

46184  Mk. 

Westpreufsen 

241496 

35<>32  „ 

Berlin 

274611 

33  448  „ 

Brandenburg 

426071 

48499 

Pommern 

378 19» 

>• 

37  534  1. 

Posen 

281 218 

M 

34616  „ 

Schlesien 

1 058662 

1  1 

129376  „ 

Sachsen 

528052 

'» 

62337  » 

Schleswig-Holstein 

294  819 

'> 

28689  „ 

Lauenburg 

7  736 

II 

1  138  „ 

Hannover 

484216 

'1 

51004  „ 

Westfalen 

342654 

l> 

40153 

Kassel 

317770 

II 

31648  „ 

Wiesbaden 

209 152 

II 

2473»  -. 

Rheinprovinz 

856634 

•  ! 

100583  „ 

Hohenzollern 

3166 

" 

568  „ 

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—     225  — 


Die  durchschnittlichen  Verpflegungskosten  für  ein  Kind  auf  die  Dauer 
eines  Jahres  waren  in  den  einzelnen  Provinzen  sehr  verschieden.  Bei 
Unterbringung  in  Familien  stellten  sie  sich  am  niedrigsten  in  Westfalen 
(73  Mk.)  und  Westpreufsen  (75  Mk.)  und  am  höchsten  in  der  Rheinprovinz 
(189  Mk.)  und  in  Berlin  (223  Mk.);  bei  Unterbringung  in  Anstalten  dagegen 
am  niedrigsten  in  Posen  (135  Mk.)  und  in  Hohenzollern  (146  Mk.)  und  am 
höchsten  in  Hannover  (300  Mk.)  und  in  Lauenburg  (360  Mk.).  —  Zum  Schlufs 
bemerken  wir  noch,  dafs  im  letzten  Etatsjahre  der  Zuwachs  der  in  Zwangs- 
erziehung gegebenen  Kinder  1615  oder  io1/*  pCt.  beträgt. 

Thorn.  H.  Chili. 


9.  Zum  Kampfe  um  die  Schule.*) 

Von  Joh.  Trüper  in  Jena. 

II.  Zar  Rechtsfrage  im  Schalkampfe. 

(Fortsetzung.) 

Leider  gehören  nicht  blofs  N  e  e  s  e  und  Reichenbach,  sondern  zahllose 
andere,  die  mit  ihnen  auf  diesem  Gebiete  unter  der  Flagge  »liberal«  segeln 
und  dem  Hafen  des  »Fortschritts«  zuzusteuern  meinen,  zu  denen,  welche 
in  ihren  Vorschlägen  und  Beurteilungen  nicht  allen  bei  der  Schule  beteiligten 
Interessenten  gerecht  werden  und  vielfach  auch  nicht  gerecht  werden 
können.  Diese  beiden  Interessenten  sind  die  Familie  und  die  Kirche. 
Das  aber  verhindert  sie,  im  Kampfe  mit  der  Kirche  um  die  Schule  je  zum 
Frieden  zu  kommen.  Eine  Verständigung  ist  so  unmöglich,  da  die 
>Kirchen«-Partei  in  genau  denselben  Fehler  verfällt.  Der  offene  Kampf 
kann  wohl  zeitweilig  eingestellt  werden,  wie  es  jetzt  teilweise  in  Frankreich 
der  Fall  zu  sein  scheint,  weil  die  eine  Partei  sich  zu  schwach  fühlt,  aber 
im  günstigen  Augenblick  wird  er  mit  erneuter  Heftigkeit  wieder  ausbrechen. 
»Wie  Hunde  wird  man  uns  vertreiben ;  aber  wie  Adler  werden  wir  uns 
wieder  verjüngen«,  so  prophezeite  der  Jesuitengeneral  Borgia.  So  ist  es 
aber  auch  mit  dem  Liberalismus,  wie  Belgien  zeigt.  Das  arme  Volk  aber 
mufs  durch  die  Schule  an  Bildung  und  Gesittung  wie  an  Geld  die  Kriegs- 
kosten zahlen. 

Wir  müssen  darum  Schulreformen  erstreben,  welche  einen  dauernden 
Frieden  ermöglichen;  die  wenigstens  Revolutionen,  wie  wir  sie  in 
Belgien  kennen,  unmöglich  machen  und  die  Schule  so  weit  wie  irgend 
möglich  dem  Wellenschläge  der  hohen  Politik  und  Kirchenpolitik  ent- 
rücken. 

*)  8.  MM.  Stadien  1890,  1.  u.  4.  H.:  1891,  3.  u.  3.  H. 

Pädagogische  Studien.   IV.  15 


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226  — 


Wir  haben  bis  jetzt  mit  dem  politischen  und  kirchlichen  Liberalismus 
die  Herrschergelüste  der  Hierarchie  zu  Gunsten  des  Staates  und  der  bürger- 
lichen Gemeinde  abgewiesen.  Dieser  Liberalismus  gerät  aber  in  eine  ebenso 
verwerfliche  Einseitigkeit.  Gegen  diese  Einseitigkeit  gilt  es  darum  nicht 
minder  Verwahrung  einzulegen  und 

d as  Recht  der  Kirche,  die  Wahrung  des  religiös-ethischen  {konfessionellen 
Charakters  der  Schule, 
zu  verteidigen  gegenüber,  den  einseitigen  staatlichen  wie  bürgerlichen 
Forderungen. 

Wir  haben  zugestimmt,  dafs  die  Kirche  nicht  die  Mutter  der  Volks- 
schule sei.  Diese  sei  in  ihrer  jetzigen  Gestalt  ein  Produkt  der  Gesamt- 
kultur,  von  der  die  Kirche  aber  nur  eine  Seite  vertritt.  Wenn  aber  Neese 
und  Reichenbach  diese  eine  Seite  abweisen,  so  verzichten  sie  auf  das 
pädagogische  Prinzip  Pestalozzis  von  der  harmonischen  Bildung  und  aul 
das  Herbartsche  von  der  Pflege  der  Vielseitigkeit  des  Interesses.  Neese 
sagt  allerdings:  »Die  Pädagogik  hat  es  in  der  Volkschule  weder  mit  Pro- 
testanten oder  Katholiken,  sondern  allein  mit  dem  Mensehen  an  sich  xu 
thun:  die  Volksschule  soll  Menschen  erziehen,  aber  nicht  Katholiken  oder 
Protestanten,  Juden  oder  Heiden.  Unterricht  und  Erziehung  erstrecken 
sich  also  auf  das  allgemein  Menschliche  und  in  diesem  liegen  auch  die 
tiefen  Wurzeln  der  Religion.«  —  »Keine  gesunde  Vernunft  wird  doch  be- 
haupten können,  dafs  der  Mensch  bereits  als  Christ,  als  Heide  oder  als 
Muhamedaner  geboren  wird.  Er  ist  Mensch  vom  Menschen  in  Natur- 
beschaffenheit, in  Anlage  und  Bestimmung  unter  einander  gleich,  alle  von 
gleicher  religiöser  Anlage.«  (II,  S.  50.)  Ähnliches  lesen  wir  tagtäglich  in 
der  Tagespresse. 

Doch  der  Unsinn  der  »allgemeinen  Religion«  springt  jedem  sofort 
in  die  Augen,  sowie  er  den  Gedanken  auf  andere  Gebiete  überträgt. 

Der  Mensch  wird  auch  nicht  als  Deutscher,  Franzose  oder  Chinese 
geboren,  sondern  nur  als  »Mensch«.  Entwickeln  wir  nun  diese  »mensch- 
lichen« Anlagen,  ihn  deutsch-national  erziehen,  wäre  Sünde.  Der  Mensch 
wird  auch  nicht  mit  einer  bestimmten  Sprache  geboren.  Wohlan,  lehren  wir 
ihn  nicht  deutsch,  englisch  u.  s.  w.  reden,  sondern  entwickeln  wir  nur  diese 
Anlage  des  sprachlichen  allgemeinen  Menschen.  Vielleicht  redet  der  Er- 
zogene dann  die  allgemeine  Ursprache  der  Menschheit.  Überhaupt  lassen 
sich  so  nach  Rousseauschem  Wunsche  überall  einige  Jahrtausende  der 
bösen  Kulturentwickelung  in  der  Phylogenie  durch  solche  Leitung  der 
Ontogenie  abschneiden,  um  das  Paradieseszeitalter  der  Menschheit  wieder 
zu  erreichen! 

Im  Grunde  genommen  sind  solche  »fortschrittliche«  Ansichten  nichts 
als  eine  entsetzliche  Reaktion,  mindestens  ein  Rückschritt  um  ein  Jahr- 
hundert zu  den  Ansichten  der  > Aufklärungszeit«. 

Reichenbach  und  Genossen  berufen  sich  zwar  auf  Diesterweg.  Allein 
dieses  Epigonentum  macht  Diesterweg  keine  besondere  Ehre.  Gerade  in 
der  von  Reichenbach  zitierten  Schrift  Diesterwegs :  Beiträge  zur  Ldeuag  der 
Lebensfrage  der  CivMsation  (Essen  1837*  sagt  dieser  (S.  211)  u.  a.: 


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—     227  — 


Für  die  Rettung  aus  leiblichem,  geistigem  und  sittlichem  Elend  giebt 
es  nur  ein  Mittel:  die  Religion,  »nichts  als  die  Religion,  nichts  als  das 
Christentum.  Denn  dafs  es  hier  nicht  mit  einer  Naturreligion,  mit  dem 
Stoicismus,  der  allenfalls  auf  dem  Schlachtfelde  oder  in  Bürgerkriegen,  wo 
die  Thatkraft  gilt,  ausreicht,  dafs  nur  die  Religion  des  Kreuzes  die  ge- 
ängstigten und  zerschlagenen  Menschenherzen  tröstet  und  beruhigt:  das 
liegt  auf  flacher  Hand.«    U.  s.  \v. 

Die  Ansicht,  2000  Jahre  Kulturentwickelung  in  religiöser  Beziehung  in 
der  Volksschule  zu  ignorieren  und  sie  in  ihrem  Bekenntnis  auf  den  Stand- 
punkt des  alten  Testamentes  oder  noch  weiter  zurückzuschrauben,  die  ist 
uns  im  letzten  Jahrzehnt  öfter  begegnet.  Hegen  Israeliten  solche  Forde- 
rungen, so  halten  wir  sie  für  die  Erziehung  ihrer  Kinder  berechtigt.  Für 
die  Erziehung  christlicher  Kinder  müssen  wir  aber  um  so  entschiedener 
dagegen  protestieren,  wenn  diejenigen,  welche  sie  stellen,  ihre  Konfession 
nur  negativ  bestimmen. 

Reichenbach  verweist  übrigens  die  ganze  »Biblische  Geschichte» 
aus  der  Volksschule.  »Was  haben  denn  die  altjüdischen  Erzväter  mit  dem 
Unterrichte  unserer  Kinder  zu  thun?«  fragt  er  S.  118. 

»Das  sittliche  Element  aber,  welches  der  Lehrer  als  Erzieher  bedarf, 
hat  die  Philosophie  und  philosophische  Pädagogik,  also  die  Wissenschaft 
zu  liefern.«  (S.  121)  Aber  welcher  Die  sophistische  oder  die  platonische, 
die  christliche  oder  die  stoische,  die  des  Thomas  von  Aquino  oder  die  von 
Giordano  Bruno,  die  von  Kant  oder  die  von  Schopenhauer?  Ohne  »Kon- 
fession« geht  es  leider  auch  hier  nicht. 

Wir  sagten  im  ersten  Artikel,  dafs  wir  Windthorst  und  Genossen  von 
Herzen  dankbar  sein  müssen  für  die  Einbringung  ihres  Antrages,  weil  er 
die  protestantischen  Geistlichen  mit  einem  Schlage  nach  370  Jahren  wieder 
zur  Besinnung  darüber  gebracht  hat,  dafs  die  Religion  Jesu  nicht  an  das 
Kirchengebäude  und  an  die  Kirchendiener,  den  geistlichen  Stand,  gebunden 
ist,  sondern  dem  Sauerteige  gleicht,  der  den  ganzen  Teig  durchdringt;  dafs, 
wenn  die  Kirche  als  religiöse  Gemeinschaft  rechter  Art  ist  und  rechtes 
Leben  besitzt,  die  Schule,  die  nach  der  religiös-sittlichen  Seite  auf  ihrem 
Boden  steht,  ohne  jegliche  Gefahr  der  besonderen  Aufsicht  eines  Geist- 
lichen nicht  nur  entraten  kann,  sondern  sogar  besser  ohne  dieselbe  auch 
in  dieser  Hinsicht  fährt. 

Einen  gleichen  Dank  schulden  das  Centrum  samt  Herrn  Stöcker  und 
Genossen  den  letztgenannten  Schriften  wie  dem  letzten  Berliner  Lchrertagc 
in  seinem  Hauptwortführer.*)    Denn  sobald  die  gesamte  bayrische  Lehrcr- 


•)  Die««  vorliegenden  Bemerkungen  find  vor  dem  Berliner  Lehrertage  niedergeschrieben 
worden.  Dieser  bat  aber  die  Frage  plüttlictt  In  den  Vordergrund  de«  In  lereres  gerückt  Untere 
Anrieht  geben  wir  hier  unbeeinflußt  von  Ditte«  Auftreten.  Von  den  Schriften  Air  und  (fegen  Dittes 
und  den  LehTertag  machen  wir  vorläufig  auf  die  beachtenswerte  Uten  hier  aufmerksam  und  behalten 
ons  vor,  auf  die  eine  oder  die  andere  bei  Gelegenheit  «urllckzukomraen. 

1.  Was  lehrt  der  VIII.  Deutsche  Lehrertag?  von  Fr.  Zillessen,  iiauptieiter 

der  „Deutschen  Lehrer-Zeltong".  Berlin.  1890.  Verl<\£  der  Buohhandluui:  der  „Deutschen  Lehror- 
Zeitnng".    Fr.  Zilleuen.) 

«5* 


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—     228  — 


schaft  auf  die  Seite  des  Herrn  Reichenbach  aus  München  offenkundig  ge- 
treten ist,  und  die  gesamte  preufsische  Lehrerschaft  sich  zur  Konfessioc 
von  Dittes  bekennt,  haben  die  Klagen  von  Windthorst  und  Genossen  über 
die  »Entchristlichung  der  Schule«,  »über  das  gottlose  Lehrergeschlecht«, 
gegen  das  er  einmal  zu  Anfang  der  8oger  Jahre  sogar  die  Mütter  auf- 
reizte, in  den  Augen  vieler  kirchenfreundlicher  und  »gläubiger«  Abge- 
ordneten —  ja  wenigstens  einen  triftigen  Scheingrund. 

Solche  Behauptungen  liefern  den  betreffenden  Parteien  im  preufsischen 
Abgeordnetenhause  nur  willkommenes  Material  für  die  Begründung  ihrer 


Z.  halt  d«n  Teilnehmern  desselben  ein«  Art  Kapnxinerpredtirt.  Sie  »eitft  «in«  selbst,  wie  4er 
„•rute  Ton"  der  Berliner  „Deutsohfrelginnljren"  und  „Antisemiten"  nebst  allerlei  persönlichem  Gezink 
auch  In  der  Berliner  pUdajrutfsc-hen  Presse  Mlben  wie  drtiben  «eine  BiUten  treibt.  Der  Kern  4er 
An«ehuldis:nn;:  i«t  aber,  wie  Baumirarten  »I«  Fr e and  der  „Lehrer*!*;."  (a.  u.  a.  O.  8.  »  11 
zeigt,  ein  dnri'h  „Parteilichkeit  entstellter." 

2.  F.lne  „er n«i e  M a hn n n g"  und  „drillende  Bitte"  einea  kirchlich  gesinnten,  an  Dittei  im 
Gc^en*atzo  stehenden,  in  Zi  Hessen«  Z<:itun>r  mitarbeitenden  Lehren«  an  die  Geistlichkeit: 
„Holtet  Umkehr!  lUltct  EinMUk!"  hat  In  der  „Lehrerztif."  keine  Herberge  gefunden.  Sie  «lebt 
Im  „Et.  Sc  hu  lhl.  vnn  DJ.rpfeld,  Auslieft  1890: 

Lernt  denn  Ihr  seid  gewarnt  I   von  Adolf  Rüde. 
3.  Der  Achte  deutsche  Lehrertag  und  seine  Gegner,    von  J.  Tews.  Hewu- 

K «geben  vom  ( ■rtsau*se.hu«j>e  des  VIII.  deutschen  Lehrertnges.  '£.  Aull.  Leipzig:.  Klinkhardt.  18»- 
Tew«  will  die  im  preuf»Uchcn  Abfieorduetenhauae,  in  Veraamm  Inngen  and  in  der  Prewt  »0 
vielfach  nnd  unbegründet  erhobenen  AngrliVo  tiud  Anfeindungen  auf  Ihren  wahren  Wert  zurück- 
fUhren.  Er  ülaut't  »l<ht  *<harf  trenn^r  enl'/i  L-tiet  zn  haben,  weil  er  lieh  schämt,  anf  einen  frohen 
Klotz  der  grobe  Kell  zn  «ein.  Nun,  wer  den  groben  KloU  und  den  «Ich  er  harnenden  Kell  kenoen 
lernen  will,  findet  hier  sattaaui  Gelegenheit.  A)  er  auch  die  deutsche  Ehrlichkeit  und  Aufrichtigkeit 
und  Anständigkeit  unacrer  T.i»;c«prt!«*R,  voran  die  «i<-h  „christlich"  nennende,  kann  maa  hier  vor- 
trefiib  b  studieren.  Da  lesen  wir  t.  B. :  „Ein  Skandal  sondor  Gleichen",  „Nledertracb:i|fkei!fc, 
„pomadl*icrte  Nihilisten  und  Anarchisten  im  Frack4-,  „«lottesverllchter  Dittes",  „Brandrede",  .Pro- 
phet Beizebub«-',  „unglüubk'o  radikale  Cli.iiie",  dl»?  «Ich  „erfrecht",  Bande"  etc.;  nnd  aU  Antwort 
darauf:  „Welt  der  nemelneten  VerloLcnl  elt,  <llo  »icli  «lenken  läfi,"  „um  mit  eioor  derartigen  Ver- 
logenheit und  Frivolität  in  wirksamer  Weine  cn  kämpfen,  reicht  da*  Wörterbuch  eine»  anitindiftn 
Menschen  nicht  aus,'  u.  d«l.  ni. 

t.  Nun,  da  freut  man  »ich,  daf«  Professor  Baun>>rarton  ea  unternommen  hat,  durch  Inhalt  und 
Ton,  durch  Offenheit  und  Wahrheitsliebe  die  Streitfrage  wieder  in  ein  ruhigere«  Fahrwasser  n 
leiten  durch  seine  Schrift: 

Volksschule  und  Kirche.   Auch  eine  soziale  Frage,  eid  Beitrag  zur  nieuer- 

weK-Feier  von  ProfoMor  Lio.  OttO  Baum  garten,  Waleenhnuspredlger  (je»«*  »•  °-  pro" 
fo«»or  der  Theologie  in  Jana).  Sonderabernck  an«  der  „Christlichen  Welt1-.  Leipzig 
Gmnow.    18!»0.    62  8. 

En  Ist  ein  grofae«  Verdienet  der  Schrift,  daf«  ale  das,  um  waa  ea  «ich  handelt,  zlelch  bei» 
rechten  Namen  nennt:  .^ozlale  Frage";  aber  anch  der  liebevolle,  versöhnende  Ton,  die  volle  Wür- 
digung gegnerischer  Anhebten,  anch  der  rollten  Stelinn?  Dlentcrwetf«  und  Dittes',  die  Bofrpredljt 
an  «eine  Stande«-  uud  (>eslnnun(.r»veur>««en,  <iaa  sind  Eigenschaften,  die  nicht  blnf«  in  der  eozlsl- 
demokratischen,  sondern  nueb  in  clor  sogenannten  „christlichen"  Tagespreise  selten  geworden  «ind, 
«obald  «  «ich  hier  um  die  Volkaschnllehrer  handelt.  Auch  wenn  man  mit  uns  nicht  in  all«« 
Baumsarten  anstimmt,  so  wir  doch  trewif«  jeder  Lehrer  in  die  dargebotene  Hand  einschlagen,  uad 
hei  gutem  Willen  wird  si<:h  denn  auch  wohl  diene  soziale  Frage  anf  friedlichem  Wojte  lösen  lassen. 

Wie  ich  zu  der  Streitfrage  «tehe  und  wie  meine«  Erachten«  der  einzige  Ausweg  für  beide 
Teile  zn  finden  ist,  das  habe  ich  dargelegt  im  dritten  Abschnitt  meiner  Schrift: 

,0ie  Aufgaben  der  öffentlichen  Erziehung  angesichts  der  sozialen 
Schäden  der  Gegenwart."   Gütersloh  ih»». 


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—  229 


klerikalen  Wünsche.    Dafs  der  Religionsunterricht,  den  sie  zu  erhalten 
wünschen,  solchen  Liberalismus  gebiert,  das  werden  sie  allerdings  ver- 
schweigen.   In  dem  »schwarzen«  München  oder  doch  in  dem  >katholischen 
Bayern«  des  Herrn  Windthorst  ist  anscheinend  die  eine,  und  dort,  wo  die 
lutherischen  >Pfaffen  und  Junker«  herrschen,  mutmalslich  die  andere  An- 
sicht gezeugt  wrerden.   Beide  sind  eben  nichts  anderes,  als  eine  natürliche 
Reaktion  gegen  den  Dogmatismus  im  hergebrachten  Religionsunterricht 
und  eine  Abneigung  gegen  alles  Konfessionelle  infolge  der  Überfütterung 
mit  unverstandenen,  abstrakten  Lehren  von  den  »Herren  ihres  Glaubens», 
die  nicht  »Diener  der  Gemeinde«  sein  mögen.    Die  moderne  katholische 
wie  ein  Teil  der  protestantischen  Geistlichkeit  erntet  hier  somit,  was  sie 
gesäet  hat:  die  Identificierung  von  Geistlichkeit  und  Kirche,  von  Kirche 
und  Christentum  und  von  veränderlichen  dogmatischen  Formen  mit  dem 
ewigen  Inhalte  der  christlichen  Religion,  der  in  den  verschiedenen  Kon- 
fessionen bald  mehr,  bald  weniger  rein  sich  auslebt.    Diese  Geistlichkeit 
hat  bis  heute  stets  gepredigt:  ohne  dafs  wir  die  Schule  leiten,  wird  der 
konfessionelle,  ja  der  ethisch-religiöse  Charakter  überhaupt  gefährdet.  Die 
erdrückende  Mehrzahl  der  Lehrer  und   auch  manche  recht  und  billig 
denkende  Geistliche  erkennen  in  der   geistlichen  Aufsicht  nicht  blofs 
eine  unzweckmäfsige,  sondern  sogar  eine  unmoralische  Institution,  wie 
Dörpfeld  nachgewiesen.  Jene  »liberalen«  Lehrer  schliefscn  darum  ganz  nach 
der  Logik  jener  Geistlichen:  ist  der  konfessionelle  Charakter  identisch 
mit  dem  Einfluls,  den  diese  Geistlichkeit  in  der  Schule  ausübt  und  aus- 
geübt hat,  so  verwerfen  wir  aus  kulturellen  wie  moralischen  Gründen  den 
konfessionellen  Charakter.  —  »Wer  Wind  säet,  wird  eben  Sturm  ernten.«  *) 
Diese  Punkte  sind  trefflich  beleuchtet  worden  in  der  Abhandlung: 
„Zwei  Hauptfragen  aus  der  Lehre  von  der  Schulverwaltung:   I.  Die 
technische  Beaufsichtigung  und  Leitung  der  Schulen.   II.  Der  religiös- 
ethische Charakter  der  Schulen.   Von  F.  W.  Dörpfeld.   VI.  Jahrbuch 
des  Vereins  für  weisse nschaftl.  Pädagogik.    S.  31—85. 
Über  die  konfessionelle  Schule  aber  liegt  noch  eine  besondere  päda- 
gogische Monographie  vor  in: 

„Zwei  pädagogische  Gutachten  über  zwei  Fragen  aus  der  Theorie 
der  Schuleinrichtung:   1.  Die  vierklassige  und  die  achtklassige  Volks- 
schule (von  Dörpfeld);   2.  Die  confessionelle  und  paritätische  Volks- 
schule (vom  Hauptlehrer  Schumacher).  Auf  Veranlassung  mehrerer 
Stadträte  und  Schulinteressenten  in  Wermelskirchen  bearbeitet  von 
dem  Vorstande  der  allgemeinen  bergischen  Lehrerkonferenz.  Gütersloh 
Bertelsmann.  1878.«  XII  und  68  S. 
Jene  Geistlichen  haben  allerdings  diese  Arbeiten  totgeschwiegen,  weil 
sie  den  »römischen  Sauerteig«  nicht  unerwähnt  lassen;   die  »liberalen« 
Lehrer  aber,  weil  sie  sich  für  immer  den  Magen  und  den  Appetit  ver- 


•)  Vergl.  meinet*  Aufc.t«:  „Über  <tnj  rk-htlft  Verhfiltnie  »wUchen  Schule  nn.1  Kirche".  Re- 
m:nii(-eni«n  aus  der  XXV.  »11g.  dtich.  Lehrerverwmmlung  in  Bremen.  Kv.  Schlbl.  von  DörpfelU. 
1884,  No.  4.    8.  126  ff. 


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—    230  — 


dorben  haben  an  dem  ihnen  dargereichten  konfessionellen  Brote,  das  mit 
diesem  Teig  durchsäuert  worden.  Zu  unserer  grofsen  Freude  trat  hier 
nun  kurz  vor  seinem  Scheiden  durch  seine  frühererwähnte  Schrift  der  alte 
Kämpe  Jütting  *)  noch  einmal  wieder  auf  den  Kampfplatz  für  die  Volks- 
schule, um  sie  auch  vor  solchen  »Freunden«  zu  schützen  wie  gegen  jene 
Feinde  mit  schneidigen  Waffen  zu  verteidigen. 

Windthorst,  Necse  und  Reichenbach  gegenüber  verteidigt  Jütting 
den  konfessionellen  Religionsunterricht  als  Hauptrechte  der  Schule  und 
damit  der  Lehrerschaft.  »Unsere  Lehrer,  katholische  wie  evan- 
gelische, erkennen  gottlob  längst  den  in  romanischen  Ländern  begangenen 
Fehler  der  Doppclherrschaft  in  der  Schule  und  den  der  Preisgabe  des 
Religionsunterrichts.  Sie  wissen,  welchen  pädagogischen  Schatz  sie 
an  der  Religion  auch  in  ihrer  konfessionellen  Färbung  besitzen.  Sie 
werden  sich  ihrer  Mehrzahl  nach,  des  sind  wir  versichert,  lieber  aus  dem 
Amte  verdrängen,  als  sich  in  der  täglichen  Arbeit  das  von  dieser  Sonne 
ausgehende  Licht  und  Leben  rauben  lassen,«  wenngleich  >auch  neuerdings 
selbst  nationalgesinnte  öffentliche  Blätter  an  die  Möglichkeit  des  Aus- 
schlusses der  Religion  aus  der  Schule  gedacht  haben.« 

»Die  Unterrichtsverwaltung  ist  darin  mit  der  ganzen  Lehrerschaft  eins: 
sie  wollen,  was  sie  bisher  hatten,  den  konfessionellen  Religions- 
unterricht für  die  Schule  festhalten,  aber  sie  wollen  ihn  unter  thun- 
lichster Berücksichtigung  der  Wünsche  der  Kirchen  nach  einheitlichen 
pädagogischen  Gründen  gestalten,  und  zwar  sowohl  dem  Inhalte  wie 
der  Form  nach.«  Dabei  soll  überall  betont  werden,  was  in  Glaubens- 
und Sittenlehre  die  verschiedenen  Konfessionen  gemeinsam 
haben,  damit  die  Grundsätze  der  Humanität  und  Toleranz  von  der  Schule 
nach  Gebühr  gepflegt  werden.«    (S.  64  f.) 

»Seit  einigen  Jahrzehnten  wünscht  kein  deutscher  Lehrerverein  einen 
s.  g.  allgemeinen  Religionsunterricht  (für  verschiedene  Konfessionen 
gemeinschaftlich)  mehr,  noch  weniger  aber  den  Ausschlufs  des 
Religionsunterrichts  vom  öffentlichen  obligatorischen  Schulunterricht. 
Ein  dahin  zielender  Beschlufs  der  Schulverwaltung  oder  der  Schulgesetz- 
gebung wäre  bei  uns  wenigstens  der  Hierarchie  gegenüber  ein  ebenso 
grofser  politischer  und  pädagogischer  Fehler,  und  für  die  Lehrer 
beider  Konfessionen  eine  unverantwortliche  und  sträfliche  Vergewal- 
tigung. Man  weifs  in  Lehrerkreisen  hüben  wie  drüben,  dafs  man  mit 
solcher  Vcrzweiflungs  -  Mafsregel  in  katholischen  Ländern  die  denkbar 
schlechtesten  Geschäfte  gemacht  hat.«  Dem  Lehrer  in  dem  wichtigsten 
und  einflufsreichsten  Zweige  des  Unterrichts  Schweigen  aufzulegen,  »das 
wäre  grausam  und  politisch  fürwahr  noch  unklüger  als  die  Beiseitestellung 
der  Waffen  gegen  die  römische  Kirche,  die  man  zur  Sicherung  des  Vater- 
landes zu  Falks  Zeit  für  notwendig  erachtet  hatte.«  —  »Eine  für  den  Volks- 


•)  „Von  dem  Kampfe  uro  die  Volktarhule  in  Prenfaen  uud  von  der  Stellage 
und  Beaoldan*  Ihrer  Lehrer.  Von  Dr.  W.  JUttlng,  Semiaar.llrektor  a.  D.  PreU  1  Mk. 
80  Pf.    Berlin,  Wlefrandt  u.  Schotte.  1889. 


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—    231  — 


erzieher  höchst  bedenkliche  religiöse  und  vielleicht  ebenso  gewifs  politisch- 
nationale Indifferenz  und  damit  eine  offenbare  Verschlechterung,  weil 
Verknöcherung  des  Unterrichts  in  der  Moral,  der  vaterländischen  Geschichte 
und  der  Litteratur.«    (S.  63.)*) 

Diese  Rechte  der  Lehrer,  im  Unterrichte  die  religiöse  Überzeugung 
zu  vertreten,  welche  das  Bekenntnis  der  religiösen  Gemeinschaft  ist,  der 
er  nach  freier  Überzeugung  angehören,  die  geraten  gerade  bei  der  Staats- 
und der  Kommunalschule  in  Gefahr,  so  lange  Staat  und  Gemeinde  das 
Prinzip  der  Religionsfreiheit  hochhalten;  und  wo  das  nicht  geschieht,  wo 
der  Staat  eine  bestimmte  Konfession  oder  Religion  zum  obligatorischen 
Staatsbekenntnis  erhebt,  da  wird  dem  Lehrer  im  Unterrichte  dieses  Recht 
befohlen  und  die  Freiheit  wird  zum  Bekenntniszwang. 

Beyschlag  rät,  den  Katholiken  ihren  Willen  zu  geben,  d.  h.  den  Geist- 
lichen den  Religionsunterricht  aufs  erhalb  der  Schule  freizugeben,  aber 
für  die  Protestanten  am  Hergebrachten,  am  einheitlichen,  vom  Lehrer  zu 
erteilenden  Gesamtunterricht  festzuhalten,  also  die  Parität  in  Preufsen  auf- 
zuheben. Ncese  und  Reichenbach  kommen  Windthorst  und  Genossen  noch 
mehr  entgegen:  der  ganze  konfessionelle  Religionsunterricht  ist  aus  der 
Schule  zu  verweisen  und  den  Geistlichen  zu  überlassen.**}  Das  Centrum 
würde  mit  dieser  Abschlagszahlung  einstweilen  schon  sehr  zufrieden  sein. 
Beyschlag  stellt  seine  Forderung  im  Interesse  des  Protestantismus,  Neese 
und  Reichenbach  im  Interesse  des  Fortschritts.  Alle  drei  aber  geben  da- 
mit die  heiligsten  Rechte  der  Lehrer  preis. 

Beyschlags  Vorschlag  kann  doch  auch  nur  für  Preufsen  gelten.  Wie  soll 
sich  die  Schulfrage  aber  in  vorwiegend  katholischen  Ländern  gestalten?  In 
Österreich  ist  sein  Prinzip  der  Staatsschule  seit  1869  zur  Anwendung  ge- 
kommen, natürlich  ohne  die  von  Beyschlag  gewünschte  und  für  Preufsen 
begründete  Bevorzugung  der  Protestanten.  Und  das  ist  geschehen  im 
Sinne  von  Neese  und  Reichenbach,  im  Namen  des  Fortschritts.  Was 
uns  die  Erfahrung  hier  lehrt,  das  finden  wir  in  der  Schrift: 

Die  Entwicklung  des  evangelischen  Schulwesens  in  Österreich  seit  1869. 

Vortrag,  gehalten  in  der  deutschen  Sektion  des  evangelischen  Lehrer- 
vereins für  Böhmen  und  Mähren  von  Georg  Repp,  Lehrer  an  der 
evangelischen  Schule  in  Reichenberg.  Herausgegeben  vom  evan- 
gelischen Lehrerverein  für  Böhmen  und  Mähren.  Preis: 
30  kr.  Reichenberg.  Im  Selbstverlage.  —  Druck  von  Gebrüder 
Stiegel.  1888.  48  S.***) 
Die  >liberale<  Staatsschule  hat  die  375  evangelischen  Schulen  Öster 


*)  In  gleichem  Sinne  hat  auch  die  liberale  „Allg.  dtsch.  L  e h r er z e I tu nga  (Jhrg.  1809. 
No.  42  n.  43:  Zur  8 c h n l ve r fasan n g*t rage")  da*  „hSlaerne  Elsen"  eine*  allgemeinen  kon- 
feMlons-,  d.  h.  farblosen  Religionsunterrichts  im  Anachlofs  an  Dörpfelde  „G randgebrechen''  ent- 
schieden rerworfeti. 

•*)  Wie  es  mit  der  konfessionellen  Geschichte,  Litteratur  etc.  werden  toll,  nagen  sie  nicht 
Ich  glaobe  aber  schwerlich,  dafa  sie  die  Geechlchte  dar  protestantischen  (also  einer  kon» 
fettloaellen)  Kultnr  und  Litteratur  aoaschllefsen  möchten  xu  Gunsten  des  Katholiclsmns. 
•••)  Ebenso  in  einem  Artikel  ron  Burk  im  „Et.  Schulbl."  von  Dörnfeld.    1888,  8.  4*0. 


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reichs  in  der  Zeit  von  1869 — 1S88  auf  234  reduziert  und  die  481  evan- 
gelischen Lehrer  auf  355.  (S.  31  f.)  »Und  doch  ist  die  Zahl  der  Kirchen- 
gemeinden gewachsen,  denn  es  gab  i.  J.  1869  193  Gemeinden  und  i.  J.  1879 
2i6  und  die  Zahl  der  Protestanten  war  in  diesem  Jahrzehnt  —  —  am 
nahezu  16%  gestiegen.«    Das  ist  das  nackte  Resultat. 

Gegenüber  dem  Centrumsantrag  fragt  Bey schlag  (a.  a.  O.)  mit 
Recht:  »Was  soll  aus  unserem  Lehrerstande  werden?«  (S.  4  u.  5.) 
Bei  Repp  finden  wir  eine  Antwort  inbezug  auf  die  Staatsschale: 
»Ich  will  nur  in  Erinnerung  bringen,  dafs  infolge  des  §,  welcher  die  Kon- 
fession des  Schulleiters  von  der  Konfession  der  Majorität  der  Schulkinder 
abhängig  macht,  in  Böhmen  allein  15  evangelische  Lehrer  der  Notwendig- 
keit preisgegeben  zu  sein  glaubten,  zur  katholischen  Kirche  überzutreten, 
von  den  Einzelfällen  zu  schweigen,  die  nicht  öffentlich  bekannt  gegeben 
worden  sind.«  (S.  30.)  »Es  ist  indes  nicht  abzusehen,  ob  die  Schulgesetz- 
novelle nicht  noch  weitere  Opfer  fordert.«  (S.  31.)  Die  Evangelischen 
wünschen  natürlich  diesen  §  aus  dem  Unterrichtsgesetze  fort,  aber  der 
Staat  kann  ihn  nicht  preisgeben;  er  ist  eine  notwenige  Konsequenz 
des  konstitutionellen  Staatsprinzips  und  des  freiheitlichen  Schulgesetzes. 
Beyschlag  will  selbstverständlich  die  protestantisch-konfessionelle  Schule 
nicht  preisgeben  und  für  Preufsen  mag  sie  auch  nie  in  Gefahr  kommen, 
so  lange  der  Staat  seine  Schulgeschäfte  gröfstenteils  durch  kirchliche  Organe 
oder  doch  durch  Theologen  besorgen  läfst  und  damit  den  von  Beyschlag 
so  arg  getadelten  Dualismus  im  Schulwesen  zu  Recht  bestehen  läfst.  Sollte 
jedoch  in  einem  reichsdeutschen  Staate  die  Staatsschule  das  selbst  för  den 
Katholizismus  zur  Folge  haben,  was  das  Reichsvolksschulgesetz  in  Öster- 
reich für  den  Protestantismus  zur  Folge  gehabt  hat,  so  verbietet  es  ans 
die  protestantische  Moral,  für  sie  einzutreten.  Die  Glaubens-  und  Ge- 
wissensfreiheit, die  wir  für  uns  beanspruchen,  gebührt  jeder  anderen  Kon- 
fession als  religiöse  Gemeinschaft.  Anders  verhält  es  sich  allerdings  mit 
einer  zweiten  kirchlich  -pol  i  tisc  he  n ,  römisch  oder  international  gesonnenen 
Gemeinschaft  auf  dem  Boden  einer  national-politischen  Gesellschaft.  Darin 
hat  Beyschlag  recht.  Und  so  lange  die  römischen  Katholiken  eine  poli- 
tische Partei  bilden,  kann  kein  Staat  nach  dem  Prinzipe  der  Selbst- 
erhaltung ihr  die  Jugendbildung  oder  auch  nur  das  Herz  derselben,  den 
Religionsunterricht  freigeben.  Nur  in  dem  Mafsc,  als  die  Katholiken  sich 
als  religiöse  Gemeinschaft,  als  Konfession,  von  der  politischen 
Partei  und  ihren  Prefsorganen  emanzipieren,  sollte  ihnen  eine  Gleich- 
berechtigung mit  den  Protestanten  zugestanden  werden.  Daraus  würde 
aber  gerade  das  Umgekehrte  folgern,  was  Beyschlag  daraus  folgert:  nicht 
den  heutigen  Katholiken,  sondern  den  Protestanten  kann  der  Unterricht 
freigegeben  werden.  Hören  wir,  was  die  teure  Schule  der  Erfahrung  unsere 
österreichischen  Glaubensgenossen  gelehrt  hat,  soweit  sie  darin  haben 
lernen  wollen:  »Es  kam  das  Reichsvolksschulgesetz  vom  14.  Mai  1869.  Die 
ganze  liberale  Welt  jubelte  ob  dieser  schier  unerwarteten  Gabe  der  Re- 
gierung. Jetzt  sind  wir  endlich  frei  vom  kirchlichen  Joche,  hiefs  es,  jetzt 
darf  endlich  unsere  Jugend  unter  dem  Banner  des  Fortschritts  durch  ihre 


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—    233  — 


schönen  Jahre  gehen,  geschützt  vom  Staate,  entledigt  dunkelmännischer 
Gewalt.  Längst  hätte  es  erkannt  werden  sollen,  dafs  die  Schule  nur  unter 
der  Leitung  des  Staates  wohl  gedeihen  kann  ;  nun  ist  die  Wahrheit  doch 
durchgedrungen,  und  wir  haben  eine  öffentliche,  eine  konfessionslose 
Schule  !>  —  >Es  war  das  Reichsvolksschulgcsctz  dem  guten  Österreicher- 
herz eine  edle  Sühne  für  manche  bittere  Empfindung.  Einen  so  gewaltigen 
Ruck  nach  vorwärts  im  bisher  wenig  betretenen  Geleise  freiheitlicher  An- 
schauungen hatten  viele  nicht  vermutet.  Und  die  Protestanten,  die  so  gerne 
ihr  Religionssystem  als  den  eigentlichen  Boden  des  Fortschritts  feiern,  die 
Freiheit  des  Glaubens,  des  Gewissens,  der  Forschung  als  die  unerläfslichen 
Vorbedingungen  menschlicher  und  christlicher  Wohlfahrt  ehren,  und  in- 
sonderheit die  österreichischen  Protestanten,  denen  noch  die  Worte  des 
Menschenfreundes  auf  dem  Throne,  Maximilians  II.,  in  den  Ohren  klingen 
mufsten,  die  er  zu  dem  verfolgungssüchtigen  Olmützer  Bischof  Prusinowsky 
sprach:  >Es  ist  keine  gröfserc  Sünde  als  die,  über  die  Gewissen  herrschen 
zu  wollen,«  —  sie  sollten  ein  freiheitliches  Schulgesetz  als  ein  Unglück 
empfinden?  —  Es  wäre  sündhaft,  dies  behaupten  zu  wollen.  Nie  und 
nimmer  empfinden  die  Protestanten  dieses  Gesetz  in  seiner  Totalität  als 
ein  Unglück.  Die  Bestimmungen  desselben,  Paragraph  für  Paragraph,  alinm 
für  aiittea,  waren  ihnen  vielmehr  herzlich  willkommen,  soweit  sie  das  innere 
Leben  der  Schule  angingen,  und  freudig  haben  sie  dieselben  eingewoben 
in  ihre  Schulorganismen.  Allein  das  eine,  dals  ihre  Schulen  von  nun  an 
als  Privatschulen  gelten  sollten,  wenn  sie  ihrer  fruchtbringenden  Natur  für 
die  Gemeinden  nicht  entsagen  wollten,  dafs  das  beste  Erhaltungs- 
mittel, di  e  Bürgschaft  derZukunft  des  österreichischen  Prote- 
stantismus dem  Worte  »öffentlich«  (=  staatlich)  in  der  Schul- 
gesetzgebung zum  Opfer  fallen,  mit  einem  kurzen  »Hilf  dir  selber« 
ins  Ungewisse  hinausgestofsen  werden  sollte,  das  konnten  die  Evangelischen 
nicht  verwinden.  Schon  die  Bezeichnung  »Privatschule«  als  solche  mufste 
frappieren.  Denn  Hegt  nicht  eine  ebenso  grausame  wie  unverdiente  De- 
mütigung darin,  Schulen,  welche  ungeachtet  der  mannigfachsten 
Schwierigkeiten  von  den  Gemeinden  dennoch  unter  Darbietung 
schwerer  Opfer  aus  Gewissensgründen  erhalten  würden,  in  eine 
Linie  gestellt  zu  sehen  mit  jenen  Anstalten,  die  von  ihren  Eigentümern 
zum  Zwecke  der  Nutzniefsung  errrichtet,  als  melkende  Kuh  betrachtet 
werden?  Doch  bedenklicher  war  der  Schaden  in  konfessioneller  Hin- 
sicht. Bis  1869  gab  es  nur  konfessionelle  Schulen.  Sie  wurden  von  kon- 
fessionellen Schulgemeinden  erhalten  und  standen  in  ihrer  Eigenschaft  als 
konfessionelle  Schulen  unter  der  Aufsicht  des  Staates  *),  so  dafs  die  Be- 
zeichnung »öffentlich«  auf  jede  einzelne  mit  Fug  und  Recht  angewendet 
werden  konnte.   Jetzt  bekam  diese  Bezeichnung  einen  ganz  anderen  Ge- 


•)  K«  will  wobl  gemerkt  so  In,  dnfs  „unter  Aufsieht  de«  Staat«!  stehen"  etwa«  wesentlich 
andere«  lat,  als  „StaatMchul«"  «ein.  Durch  die  Aufsicht,  die  «ich  Ja  weit  semig  erstrecken  kann,  kann 
der  Staat  alle  «eine  InteroMeu  an  der  Schale  wahren,  dadurch  aber,  dafs  er  Schulherr  wird  und 
die  Scholen  innerlich  leitet,  TerleUt  er  andere  Rechte,  insbesondere  die  der  Familie. 


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—    234  - 


halt.  Das  Gesetz  von  1869  kannte  keine  Schulgemeinde  mehr,  sondern 
stellte  sich  klar  und  rein  auf  den  Begriff  »Ortsgemeinde«,  also  auf  einen 
politischen  Organismus.*»  Und  dieses  politische  Moment  des  Gesetzes 
konnte  die  Zustimmung  der  Evangelischen  nicht  finden.  Der  Begriff  »inter- 
konfessionell t  war  darein  inkarniert,  und  dieser,  auf  dem  Gebiet  der  Schule 
zur  Anwendung  gebracht,  birgt  schwere  Gefahr  für  eine  kirchliche  Mino- 
rität. —  —  Man  kann  leicht  sagen:  »Ja,  die  katholische  Kirche  und  das 
Judentum  waren  durch  das  Gesetz  ebenso  betroffen.«  Aber  wenn  man  das 
1869er  Gesetz  als  ein  lichtvolles,  dem  Sonnenschein  vergleichbares  Ver- 
mächtnis betrachten  will,  so  ist  doch  immerhin  gewifs,  dafs  dieser  Sonnen- 
schein das  Tröpflcin  des  Protestantismus  leichtXaufzusaugen 
imstande  war,  das  Tröpflein  des  Mosaismus  nicht,  denn  dies 
hat  eine  eigenartige  Konsistenz,  und  das  Meer  des  Katholicis- 
mus  nie.  So  wurde  die  Staatsschule  ein  verhängnisvolles  In- 
stitut für  die  Protestanten.**)  In  den  Orten,  wo  die  Evangelischen  in 
der  Majorität  waren,  entschlossen  sie  sich  häufig,  ihre  Schulen  des  kon- 
fessionell evangelischen  Charakters  zu  entkleiden  und  in  öffentliche  umzu- 
gestalten.« U.  a.  verschwanden  bis  Anfang  1872  in  Kärnten  von  54  evan- 
gelischen Schulen  29.  Das  Umtaufen  der  Schule  erschien  infolge  des  frei- 
heitlichen Hauches  des  Schulgesetzes  nur  »als  ein  Namenswechsel,  dem 
eine  den  Protestantismus  bedrohende  Tragweite  scheinbar  mangelte. 
Aber  im  Schulgesetz  selbst  mufs  der  Standpunkt  auffallen,  der  urplötzlich 
von  einem  bestimmenden  Einflufs  der  Konfessionen  auf  die  Schulen  nichts 
mehr  wissen  wollte  und  damit  auf  einem  Gebiete  Prinzipien  durchbrach, 
die  doch  auf  andern  Gebieten  treulich  erhalten  blieben.  Warum  in  der 
Schule  Unterschiede  verwischen  wollen,  die  anderweitig  gesetzlich  bestehen 
müssen?  Klar  war  es  doch,  dafs  bei  der  Machtstellung  der  Kirche  aller- 
orten in  keiner  anderen  Hinsicht  als  der  räumlichen  der  interkonfessionelle 
Gedanke  zum  Durchbruch  gelangen  konnte.  Das  haben  die  Jahre  nach 
1869  gezeigt,  das  hat  die  Schulnovelle  bestätigt.***)  Man  hätte  die  Kon- 
fessionslosigkeit  der  Lehrer  aussprechen  müssen,  wenn  man  vollkommen 
konsequent  hätte  vorgehen  wollen.  So  lange  der  Lehrer  einer  bestimmten 
Kirche  angehört,  liegt  ein  kirchlicher  Einflufs  auf  die  Jugend  im  Bereich 


*)  Ich  niOchte  di«  Anwälte  der  Staataschule  Tragen,  ob  diese  Vergewaltigung  mit  der  Rechu- 
Idee  vereinbar  Lat,  auf  die  sie  sich  berufen. 

**)  Der  Protestantismus  Ut  diu  Prinzip  der  Freiheit,  anch  auf  religiösem  Gebiet.  Wenn  «r 
auf  dem  Gebiete  der  Ju^cndbildung  diesen  Ast,  auf  dem  er  sitat,  »elber  absägen  hilft,  so  muut  er 
fallen.  Durch  die  nnfreiere  SUatssihule  mufs  allemal  der  römische  Kathollcisroos  gewinnen, 
entweder  direkt,  wenn  er  sie  beherrscht,  oder  indirekt,  wenn  er  sie,  wie  in  Prenfsen,  bekämpfen 
kann  mit  der  ungeheuren  Macht  Uber  die  gefesselten  GemUter. 

•••)  Dafs  die  Macht  der  Konfessionen  dem  Staate  Schmerlen  bereiten  kann,  liegt  klar.  Sein 
Bestreben  Ist  darum  oft,  durch  Verwlschonfr  der  Konfeeaionalität  die  Macht  au  schwächen.  Die 
Procedur  läfet  sich  aber  nur  an  den  Kindern  vornehmen,  und  mit  Erfolg  nur  dann,  wenn  der  Stasi 
ein  spartanischer  geworden,  d.  i.  im  vollsten  Sinne  omnipotent  ist.  Sonst  arbeiten  Familie  und 
Kirche  nmsomehr  und  nm  so  einseitiger  an  der  Aueprägung  des  Konfessionellen  Und  geling»  « 
ihm  ja,  so  wurde  diese  erreichte  KonfessionslosigkeÜ  allerdings  helfen,  aber  wie  die  ZahBloiigkelt 
gegen  Zahnschmerz  hilft. 


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der  Möglichkeit,  wenn  auch  nicht  der  Notwendigkeit.«  —  >Wohl  wird 
geltend  gemacht,  dafs  es  sich  nicht  um  ein  Verwischen  der  konfessionellen 
Unterschiede  gehandelt  hat,  sondern  dafs  lediglich  der  edle  Grundsatz  der 
Toleranz  die  Zusammenführung  der  verschiedenen  Konfessionen  von  Kindes- 
beinen an  unter  neutraler  Oberhoheit  nahegelegt  habe.  Doch  was  hilft 
diese  Toleranz,  wenn  im  sonstigen  Leben  der  kirchliche  Einflufs  nicht  zu 
beseitigen  ist,  wenn  der  Mann  in  allen  Sphären  seines  Lebens  kategorisch 
daran  erinnert  und  gemahnt  wird,  in  welche  kirchliche  Gemeinschaft  er 
gehört?  Es  pafst  hierher  ein  Wort  Hasners:  »Nur  der  Reiche  kann  Mittel 
und  Wege  einschlagen,  um,  wenn  ihm  die  Schule  nicht  recht  ist,  seine 
Kinder  im  Hause  oder  anderweitig  zu  erziehen.  Wenn  der  Arme  aber  ge- 
zwungen ist,  seine  Kinder  in  eine  Schule  zu  geben,  wo  er  für  das  religiöse 
Interesse  nicht  die  nötigen  Garantieen  zu  haben  glaubt,  so  ist  das  gewifs 
keine  freiheitliche,  sondern  eine  un freiheitliche  Institution. c  Also 
wenn  eine  Zurückstellung  der  kirchlichen  Interessen  gerechtfertigt  war,  so 
raufste  sie  überall  platzgreifen,  nicht  auf  einem  Gebiete  allein,  so  dafs  einer 
kirchlichen  Minorität  bitter  weh  gethan  wurde.  Dazu  mufste  eben  die 
Zeit  ihr  Ja  und  Amen  sprechen.  Und  da  weifs  ich  nicht,  ob  1869  das  Ver- 
ständnis für  die  Allegorie  Lessings  von  den  drei  Ringen  so  grofs  war,  dafs 
man  ihm  in  Österreich  das  Schulwesen  getrost  anvertrauen  konnte.«  — 
»Das  sah  die  erdrückende  Mehrzahl  des  Volkes  für  einen  Anachronis- 
mus an.« 

Die  evangelische,  auf  dem  Familicnprinzip  sich  auferbauende  Gemeinde  - 
schule  aber  vertreten  die  evangelischen  Lehrer  Böhmens  als  Protestanten 
»aus  freier  Selbstbestimmung,  die  sie  sich  nicht  durch  die  Verlockungen 
des  Opportunitätsprinzips  umdüstern  lassen  wollen«  (S.  36)  und  in  dem 
Bewufstsein ,  dafs  »die  evangelische  Kirche  seit  jeher  der  Hort  des 
Fortschritts«  gewesen  ist.  »Es  ist  immer  das  innerste  Wesen  des 
Protestantismus  gewesen  und  wird  es  fernerhin  sein,  dem  Intellekt  freie 
Bahn  zu  halten,  Belehrung,  Aufklärung,  geistigen  Aufschwung  zu  verbreiten 
allenthalben,  und  nie  wird  wohl  der  Tag  erscheinen,  an  welchem  man  sagen 
könnte :  Der  protestantische  Kultus  hat  den  Unterricht  erschlagen.  Ein 
Gefangenhalten  der  Geister  im  Kerker  der  Einfalt  ist  selbst  das  Streben 
unserer  Intolerantesten  nicht.  Übrigens,  wie  viel  mehr  stehen  denn  wir 
protestantischen  Lehrer  im  Dienste  der  Kirche  als  die  öffentlichen?  Das 
kirchlich  Accidentielle  kommt  ja  den  öffentlichen  Lehrern  gerade  so  zu  wie 
ans.«  Aus  diesen  Gründen  haben  die  protestantischen  Lehrer  auf  den 
Einwurf:  »Wie  könnt  ihr  auf  dem  unterminierten  Boden  der  Konfessions- 
schule stehen  bleiben,  euch  der  Kirche,  der  Geistlichkeit  unterordnen! 
Das  ist  Rückwärtserei!«  —  ein  Recht  zu  antworten:  »1.  Der  Vorrang  des 
Katholicismus  macht  sich  geltend  in  Stadt  und  Land,  am  sichtbarsten  in 
den  klerikalen  Ländern.  Wir  Protestanten  vermissen  die  Wahrheit,  Durch- 
führbarkeit und  Lebensfähigkeit  des  interkonfessionellen  Prinzips  in  Öster- 
reich. 2.  Wir  empfinden  es  nicht  als  Reaktion,  dafs  wir  uns  in  die  Richtung 
der  protestantischen  Kirche  stellen«  (S.  36  ff.). 


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—  236  — 


Mit  Absicht  haben  wir  Repp  im  Namen  österreichischer  evangelischer 
Lehrer  selber  und  so  ausführlich  reden  lassen.  Er  bewegt  sich  nicht  aut 
dem  Boden  »grauer  Theorie«,  er  spricht  aus  den  Lebenserfahrungen 
des  österreichischen  Protestantismus,  des  Prinzips  des  Fort- 
schritts, heraus.  Insbesondere  aber  möchten  wir  das  Schriftchen  allen 
Mitgliedern  des  Gustav  Adolf-Vereins  wie  auch  des 
Deutschen  Schulvereins  dringend  empfehlen.  Mit  Geldunter- 
stützungen  allein  rettet  man  weder  den  Protestantismus  noch  das  Deutsch- 
tum in  Österreich.  Vor  1869  hätte  man  mit  einer  besseren  Schulver- 
fassungstheorie,  falls  man  überhaupt  sich  eine  Theorie  gebildet  hatte,  den 
Protestantismus  noch  ohne  besondere  Unterstützung  retten  können.  Und 
eine  solche  Theorie  lag  in  scharf  ausgeprägten  Zügen  vor  in  Dörpfelds 
»S  c  h  u  1  g  e  m  e  i  n  d  e«  (Gütersloh,  1865).  Man  hätte  sie  sich  nur  anzueignen 
brauchen.  Zudem  erschienen  in  dem  Jahre  1869,  vielleicht  noch  rechtzeitig 
genug,  seine  »Grundgebrechen  der  hergebrachten  Schulverfassungen  nebst 
Vorschlägen  zur  Reform  derselben. <  In  den  20  Jahren  trauriger  Erfahrung 
haben  nun  die  Evangelischen  sich  ähnliche  Ansichten  gebildet,  wie  die 
beiden  Schriften  sie  vertreten  und  wie  sie  in  der  kürzesten  Form  zum 
Ausdruck  gekommen  sind  in  den  dem  preufsischen  Abgeordnetenhause 
unterbreiteten  »Wünschen  und  Vorschlägen  der  Schulvorsteher  und  Schulinter- 
essenton (d.  s.  Mitglieder  der  Schulvorstände  und  Lehrerwahlkollegien  der 
Schulgemeinden  in  den  Kreisen  Elberfeld,  Barmen  und  Mettmann)  In  Be 
treff  des  neuen  Untorrichtogesetzeo.«  (Elberfeld  bei  Friderichs  1869.)  Sie 
bitten,  was  die  Lok al- Schulgemeinde  betrifft,  »im  wesentlichen  um  das, 
was  die  Schulinteressenten  hier  an  Niederhein  (wie  die  protestantischen  in 
Österreich)  seit  der  Reformation  besitzen,  was  sich  in  einen  Zeitraum  von 
mehr  als  zwei  Jahrhunderten  bewährt  hat,  —  was  sie  aus  Erfahrung  kennen 
und  um  seiner  Bewährung  willen  lieb  gewonnen  haben.« 

Jetzt  ist  das  für  Österreich  zu  spät.  Der  Ultramontanismus  wartet 
ohnehin  schon  auf  die  Stunde,  wo  es  gilt,  die  »liberalen«  Früchte  einzu- 
heimsen. In  der  III.  Generalsynode  der  Protestanten  Österreichs  stellte 
die  Majorität  den  Antrag,  die  Regierung  um  ein  konfessionelles  Schulgesetz 
zu  bitten.  Die  Synode  aber  ging  mit  25  gegen  10  Stimmen  über  diesen 
Antrag  zur  Tagesordnung  über,  nachdem  die  Minorität,  deren  Mund  der 
Seminardirektor  Jaap  in  Bielitz  war,  betont  hatte:  »Man  dürfe  jene  andern 
nicht  vergessen,  welche  das  Nämliche  verlangen,  aber  zu  andern  Zwecken. 
Die  Aufrichtung  eines  konfessionellen  Schulgesetzes  hiclse  die  katholische 
Dogmatik  und  die  Anschauungen,  wie  sie  im  Syllabus  und  in  der  Encyclika 
ihren  Ausdrucke  finden,  zur  Grundlage  der  Lehrerbildung  machen,  den 
Lehrerstand  wieder  in  das  frühere  Abhängigkeitsverhältnis  von  der  Geist- 
lichkeit zurückführen.«  (Repp,  S.  24.)  Das  war  im  Jahre  1877.  Den  schon 
14  Jahre  früher  von  Dörpfeld  empfohlenen  Ausweg  acheint  also  nicht  ein- 
mal der  protestantische  Seminardirektor  gekannt  zu  haben.  Und  doch 
durfte  es  kaum  einen  andern  geben,  der  die  Jugenderziehung  zwischen  der 
Scylla  der  Priestcrschule  und  der  Charybdis  der  nivellierenden  und  darum 


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in  Österreich  katholisierenden*)  Staatsschule  hindurch  führt,  keinen  andern 
um  die  heiligen  Rechte  der  Kirche,  des  Lehrerstandes  und,  wie  wir  gleich 
sehen  werden,  der  Familie  zu  schützen,  aber  auch  keinen  andern,  um 
Protestantismus  und  Deutschtum  als  Bollwerk  der  Kultur  in 
den  slavischen  Ländern  zu  erhalten.  Und  darum  sei  es  nochmals 
gesagt:  es  thut  not,  dafs  jene  beiden  Vereine  sich  um  eine  gesunde 
Schulverfassungstheoric  kümmern.  Damit  sie  aber  dem  Satze  der  Moral 
>Was  dem  Einen  recht,  ist  dem  Andern  billig«  nicht  widerstreite,  gilt  es 
zunächst,  für  deren  Verwirklichung  auch  in  den  reichsdeutschen  Ländern 
einzutreten,  besonders  in  »dem  Lande  der  Schulen«,  in  Preufsen. 

So  ergiebt  sich  aus  unserer  kritischen  Betrachtung  der  verschiedenen 
Ansichten  im  Schulkampfe,  dafs  weder  die  reine  Staatsschule,  noch  die 
reine  Kommunalschule,  noch  die  Kirchenschule  unser  Ideal  sein  kann. 
Wir  müssen  einen  Ausweg,  ein  Neutrales,  als  Drittes  suchen.  Dieser 
Faktor  ist  die  Familie,  die  zudem  das  meiste  Herzeleid  und  die  gröfstc 
Last  zu  tragen  hat,  wenn  die  Kinder  durch  die  Schule  mifsraten. 

Wie  die  Familienrechte  gegenüber  den  Ansprüchen  des  Staates  und 
der  Kirche  in  der  Schulverfassung  zur  Geltung  zu  bringen  sind,  haben  wir 
an  einem  andern  Orte  eingehend  dargelegt.**)  Es  genügt  hier  darum  der 
Hinweis. 


10.  Hauptversammlung  des  Vereins  für  wissenschaftliche 

Pädagogik. 

Der  V.  f.  w.  P.  hielt  seine  diesjährige  Hauptversammlung  in  Magde- 
burg ab.  Die  daselbst  gepflogenen  Verhandlungen  werden  in  bekannter 
Weise  unter  dem  Titel  »Erläuterungen  zum  Jahrbuch  des  Vereins  etc.«  ver- 
öffentlicht werden,  wir  bringen  aber  hier  einige  vorläufige  Mitteilungen. 

In  der  Versammlung  —  am  2.  Pfingsttag  abends  8  Uhr  —  wurden 
die  Erschienenen  im  Namen  des  Herbartvereins  Magdeburg  durch  Herrn 


*)  „Dies  beseugt  der  als  höchst  notwendig  erkannte  Antrag  Jene«  Schulauaachusse* :  ,Dlc 
Generalsynode  wolle  be*ehllefaen,  au  das  hohe  k.  k.  Mlnlstorinm  für  Koitus  und  Unterricht  ein  Ge- 
ftpeh  zn  richten  am  Feststellung  and  Einführung  solcher  Gebete  ftir  die  Öffentlichen  Volksschulen 
welche  keiner  der  Tora  Staate  anerkannten  Konfessionen  Anstof*  geben.'  —  Das  Gebot  ist  hänfig 
konfessionell  katholisch  n.  s.  w."  (Bepp,  S.  25.)  Wie  dagegen,  wenn,  wie  der  Fall  Rohr- 
weg seigt,  In  einer  Staatsschnl«  Luther  nicht  als  „Sohn  Lucifers"  gefeiert,  sondern  einiges  zu  seinem 
Lobe  gesagt  wird? 

*•)  Die  Familien  rec  hte  an  der  öffentlichen  Ersiehung.  Ein  kritischer  Rückblick 
über  die  Fortentwickelnng  de«  Famillenprinslps  In  der  SchnlTerfasaanfrstheorie  der  neneren  Päda- 
gogik.   Von  J.  Trttper.    Langensalia  1890. 


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Goldschmidt  begrüfst.  —  Der  Vorsitzende,  Herr  Prof.  Vogt  aus  Wien, 
führte  ungefähr  folgendes  aus:  In  unseren  Versammlungen  sind,  der  rein 
wissenschaftlichen  Tendenz  des  Vereins  entsprechend,  alle  Gattungen  des 
Lehrstandes  vertreten.  In  dieser  Hinsicht  steht  unser  Verein  wohl  einzig 
da  und  ist  gegenüber  den  Spaltungen  der  Gegenwart  geradezu  von  socialer 
Bedeutung.  Aber  da  wir  Politik  und  Pädagogik  streng  auseinander  halten, 
so  erörtern  wir  hier  sociale  Fragen  zunächst  in  Hinsicht  auf  das  Indivi- 
duum. Durch  wissenschaftliche  Gründe  suchen  wir  auf  feste  Überzeu- 
gungen hinzuwirken  welche  dann  weiter  im  Stande  sein  werden,  Be- 
geisterung für  den  Beruf  hervorzubringen.  Sie  erwarten  vielleicht  von  mir. 
dafs  ich  der  Berliner  Konferenz  und  der  kaiserlichen  "Worte  an  dieselben 
gedenke.  Wir  freuen  uns  gewifs,  wenn  aus  so  erlauchtem  Munde  die  Be- 
deutung der  Erziehungsfragen  anerkannt  und  dadurch  der  Geringschätzung 
pädagogischer  Bemühungen  entgegengearbeitet  wird;  wenn  die  höchste 
gesellschaftliche  Autorität  die  Initiative  ergreift,  um  Übelstände  im  Schul- 
wesen zu  beseitigen.  Immerhin  hat  aber  die  Hoffnung,  die  man  auf  solches 
Vorgehen  setzen  darf,  ihre  Grenzen.  Denn  unmittelbar  wirken  auf  die 
Jugend  neben  den  Eltern  die  Lehrer  und  Erzieher,  und  es  ist  nicht  aus- 
geschlossen, dafs  die  Mafsnahmen  eines  Monarchen  oder  einer  Regierung 
nicht  den  beabsichtigten  Erfolg  haben  oder  nur  äufserlich  wirken,  wenn 
die  vermittelnden  Faktoren  von  anderen  Anschauungen  beherrscht 
werden.  Dafs  dagegen  durchgebildeter  Überzeugung  und  echter  Begeis- 
terung im  Kampfe  gegen  widrige  Strömungen  des  Zeitgeistes  der  endliche 
Erfolg  nicht  fehlt,  lehrte  das  Beispiel  Pestalozzis  und  Herbarts. 

Das  vergangene  Vereinsjahr  war  wieder  ein  durchaus  friedliches. 
Wir  haben  eine  allerdings  nicht  nennenswerte  Zunahme  an  Mitgliedern  zu 
verzeichnen.  Herr  Hollkamm  hat  schriftlich  Vorschläge  gemacht,  in  welcher 
Weise  wir  regsamer  sein  könnten,  um  unsere  Vereinsarbeit  fruchtbringen- 
der zu  machen.  (Diese  Vorschläge  wurden  am  folgenden  Tage  in  einer 
besonderen  geschäftlichen  Sitzung  näher  beraten.) 

Es  folgen  nun  Mitteilungen  aus  Magdeburg  und  Umgegend,  aus 
Dresden,  Auerbach, !  Halle,  Leipzig,  Braunschweig  u.  a.  O.,  aus  denen  wir 
Folgendes  herausheben.  Auf  unsere  Arbeit  läfst  sich  vielfach  anwenden, 
was  Liebig  in  den  Chemischen  Briefen  (Ausg.  v.  1852)  sagt:  Neue  Wahr- 
heiten haben  in  der  Regel  zunächst  zwei  harte  Proben  durchzumachen. 
Zuerst  wird  bewiesen,  dafs  sie  nicht  wahr  und  nichts  wert  sind.  In  einer 
zweiten  Periode  wird  bewiesen,  dafs  sie  nichts  Neues  sind,  sondern  längst 
Geltung  haben.  Erst  in  der  dritten  Periode  tragen  sie  die  rechten  Früchte. 
—  Von  mehreren  Seiten  wird  ausgesprochen,  dafs  der  Einflufs  der  Arbeit 
des  Vereins  weiter  reiche  als  das  —  Mitgliederverzeichnis.  Allerdings, 
wird  von  anderer  Seite  ausgeführt,  ist  die  Arbeit,  welche  noch  gethan 
werden  mufs,  sehr  grofs,  indem  einerseits  die  > zerstörenden  Mächte«  un- 
ablässig thätig  sind  und  anderseits  mifsliche  äulsere  Verhältnisse  (über 
120  Kinder  in  einer  pädagogischen  Hand!)  es  nicht  zum  gedeihlichen  Aul- 
bauen kommen  lassen.  Die  Herbart'sche  Pädagogik  hat  die  Aufgabe,  diesen 
Kindern  eine  bessere  Zukunft  zu  bringen! 


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—    239  — 


In  den  beiden  Hauptversammlungen  (Dienstag  und  Mittwoch) 
kamen  nun  die  Aufsätze  des  23.  Jahrbuchs  in  der  Folge  zur  Besprech- 
ung, dafs  die  Gegenstände  principieller  Art  den  Anfang  bildeten  und  bei 
den  methodischen  Aufsätzen  die  untersten  Stufen  den  Schlufs  bildeten. 
1.  Vogt,  Der  Pessimismus  und  die  wissenschaftliche  Pädagogik. 
Vogts  Ausführungen  beziehen  sich  hauptsächlich  auf  F.  v.  Hartmanns 
Aufsatz  in  den  >Päd.  Studien<  1890,  S.  129  ff,  und  zwar  auf  die  ethische 
Seite  der  Sache.  Der  Inhalt  der  Debatte  läfst  sich  um  folgende  Punkte 
gruppieren. 

a)  Die  »Erfahrung«  Hartmanns,  welche  den  eudämonologischen  Pessi- 
mismus nachweist,  ist  eigentlich  eine  metaphysische  Voraussetzung. 

b)  Die  Begriffe  »Lust«  und  »Leid«  werden  »nur  quantitativ  betrachtet« 
(Prof.  Lazarus)  und  so  bestimmt,  dafs  man  fast  nur  an  den  Besitz  äufserer 
Güter  denken  kann. 

c)  Der  Pessimismus  lenkt  den  Blick  des  Handelnden  zu  sehr  auf  Lus. 
und  Leid  —  ein  Rückschlag  ins  18.  Jahrhundert!  Er  lehrt  allerdings  eint 
dringlich,  dafs  Lust  nicht  der  Leitstern  für  ethisches  Denken  und  Handeln 
sein  dürfe,  und  wirkt  dadurch  auf  manche  Gemüter  gewifs  in  heilsamer 
Weise  ein.  Aber  wer  sich  bemüht,  von  seinen  Mitmenschen  das  »abstell- 
bare« Leid  abzuwenden,  wer  zu  diesem  Zwecke  vielleicht  sich  selbst  Ent- 
behrungen auferlegt  und  Undank  und  Verkennung  erträgt,  der  handelt 
nicht  blofs  in  Rücksicht  auf  Verminderung  des  Leides,  sondern  er  folgt 
einem  höheren  Gesetze,  nenne  er  dasselbegnun  Sittengesetz  oder  praktische 
Idee  oder  den  Willen  Gottes.  Hartmanns  Weg  von  seinem  eudämonolo- 
gischen Pessimismus  hinüber  zu  dem  gewöhnlichen  Denken  und  Handeln 
ist  also  kein  notwendiger,  allgemeingiltiger,  sondern  nur  gerade  der  Weg, 
den  er  thatsächlich  gegangen  ist,  der  Weg  zur  Selbstverneinung  oder 
zurück  zur  Genufssucht  ist  subjectiv  ebenso  berechtigt  und  wird  auch  that- 
sächlich beschritten. 

d)  Warum  soll  man  sich  eigentlich  bemühen,  »durch  Leidverminderung 
die  Leistungsfähigkeit  der  Menschheit  für  den  Kulturprocefs  zu  erhöhen«, 
wenn  man  mitHaitmann  erkannt  hat,  dafs  erstens  dieser  Prozefs  nach  dem 
ontologischen  Monismus  mit  Notwendigkeit,  also  auch  ohne  mein  Zuthun 
erfolgt?  Dafs  zweitens  eben  dieser  Monismus  die  »Wesenseinheit  aller  In- 
dividuen unter  einander  und  mit  dem  absoluten  Subject  des  Weltprocesses« 
lehrt  und  der  Leidvermindernde  also  mit  dem  Leidenden  »wesenseins«  ist? 
Dals  drittens  die  »sogenannte  Schöpfung  ein  Hautausschlag  am  Absoluten« 
ist  und  daher  der  ganze  »Weltprocefs«  eine  Förderung  kaum  verdient?  Warum 
soll  man  sich  bemühen  ?  Die  bewegende  Kraft,  die  Hartmanns  evolutionistischer 
Optimismus  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  stammt  also  nicht  aus  dem  onto- 
logischen  Monismus,  sondern  aus  dem  Gottesglauben,  aus  dem  praktischen 
Idealismus,  und  wirkt,  wie  uns  die  Frfahrung  zeigt,  nicht  nur  bei  dem,  der 
durch  viele  Leiden  abgehärtet  ist,  sondern  auch  bei  dem  im  gewöhnlichen 
Sinne  Glücklichen  und  —  beim  Kinde!  —  Mehrfach  wurde  bedauert, 
dafs  Herr  Prof.  Vogt  nicht  ausführlichere  Darlegungen  gegeben  habe. 


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—    240  — 


2.  Theod.  Wigct,  Pestalozzi  und  Herbart. 

Das  vorliegende  Jahrbuch  enthält  von  der  Arbeit  Wigets  nur  die  Ein- 
leitung, sodann  die  Darstellung  der  teleologischen  Principien  Pesta- 
lozzis, und  von  seiner  Methodologie  die  intellektuelle  und  die  physische 
(leider  wegen  Raummangels,  nicht  auch  die  sittliche)  Bildung.  Der  Verf. 
wies  zunächst  auf  sein  Verfahren  der  Darstellung  hin,  indem  er  nicht 
Pestalozzis  Gedanken  nach  einem  diefem  selbst  fremden  Systeme  geordnet, 
sondern  sich  bemüht  habe,  den  Zusammenhang  zu  finden  und  aufzuzeigen, 
den  Pestalozzis  Gedanken  in  seinem  eignen  Kopfe  hatten.  Dies  Verfahren 
wurde  von  keiner  Seite  angegriffen.  Überhaupt  fand  ein  Redner  die 
Arbeit  »leider  so  gut,  dafs  sich  wenig  daran  aussetzen  lasse.«  (So  pflegte 
sich  Ziller  im  Theoretikum  mitunter  auszudrücken!)  In  der  That  brachte 
die  Debatte  fast  nur  Zusammenfassungen  und  kleine  Ergänzungen. 

Welche  pädagogischen  Ziele  Pestalozzi  verfolgte  und  welche  Gründe 
ihn  bestimmten,  das  ist  bis  jetzt  noch  nie  so  klar  dargelegt  worden  wie  in 
der  vorliegenden  Arbeit.  Der  Strömung  des  18.  Jahrhunderts  folgend, 
forderte  P.  1)  Menschlichkeit  im  Sinne  der  Aufklärung,  also  freie  Ent- 
faltung der  Kräfte,  Abschüttelung  des  Druckes.  Manche  verfolgten  dieses 
Ziel  einseitig,  so  z.  B.  Fr.  A.  Wolf,  welcher  es  als  perfectio  humanitatis  be- 
zeichnete und  nun  meinte,  es  sei  Sünde,  Religion  und  Sittlichkeit  als  Haupt- 
sache des  Gymnasiums  zu  betrachten. 

Bei  P.  trat  aber  Humanität  im  Sinne  des  Christentums,  also  Ver- 
edlung der  Herzenskraft,  zu  jener  ersten  Forderung  hinzu.  Das  Verhältnis 
zu  dieser  ist  schwer  zu  bestimmen,  vielleicht  kann  man  2  den  qualitativen 
Faktor  zu  1  nennen. 

Dem  gesunden  Menschenverstände  folgend,  nahm  aber  P.  ferner 

3)  Rücksicht  auf  die  Individuallage  und 

4)  auf  die  historisch  gegebenen  Berufsstände.  Dadurch  wurde  das 
abstrakte  Menschheitsideal  noch  weiter  eingeschränkt.  Das  Verhältnis 
dieser  vier  Zielpunkte  bestimmte  P.  nicht  begrifflich  genau,  hielt  sie  aber 
neben  einander  fest,  und  zwar,  wie  Wigct  hinzufügt,  in  allen  seinen 
Schriften  ohne  wesentliches  Schwanken.  Die  verschiedene  Ausdrucksueise 
erklärt  sich  aus  der  Verschiedenartigkeit  der  Veranlassung  oder  des  Publi- 
kums, an  das  er  sich  wandte,  indem  er  z.  B.  Theologen  oder  Aristokraten 
gegenüber  die  allgemeine  Menschlichkeit  besonders  betonte  u.  s.  w.  Das 
Zerwürfnis  mit  Niederer  ist  daraus  zu  erklären,  dafs  letzterer  in  seiner 
weiteren  Entwickelung  immermehr  in  die  Einseitigkeit  des  abstrakten 
Menschheitsideals  hineingeriet  und  in  P.,  der,  trotzdem  er  sich  auch  weiter 
entwickelte,  doch  nicht  in  diese  Einseitigkeit  fiel,  einen  dem  Grundge- 
danken untreu  Gewordenen  erblicken  mulste.  Praktische  Versuche  hat 
P.  fast  nur  mit  Kindern  der  Armen  und  Ärmsten  gemacht  und  den  Unter- 
richt für  die  höhern  Stände  nur  nebenbei  erörtert,  was  er  gelegentlich  selbst 
für  eine  von  andern  noch  auszufüllende  Lücke  erklärt.  Über  den  Streit 
für  die  Gelehrtenschulen  (Gymnasien)  einerseits  und  für  die 

Realschule 

anderseits  findet  man  also  bei  ihm  keine  ausdrückliche  Entscheidung. 

Bei  der  Methodologie  der  intellektuellen  Bildung  wird  besonders  das 


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—    241  — 


Verhältnis  zwischen  Wort  und  Erkenntnis  erörtert.  Ist  das  Wort  be- 
reits eine  Erkenntnis?  Oder  noch  nicht?  Nach  P.  ist  beides  der  Fall 
(s.  S.  247,  258,  261  des  Jahrbuchs).  Er  eifert  gegen  die  Wortanalyse  der 
Katecheten,  verwirft  (S.  262)  die  isolierten  Denkübungen,  läfst  aber  selbst 
ohne  Absicht  auf  einen  bestimmteu  Stoff  Übungen  anstellen  und  treibt  mit- 
unter Verbalismus.  Den  wirklichen  Anfang  wirklicher  Erkenntnis  bilden 
Empfindungen,  Anschauungen,  das  Ende  die  Realdefinitionen,  und  bei  dieser 
Entwickelung  dient  die  Sprache  als  Mittel.  Diesen  Gang  soll  der  Unter- 
richt als  bewufste  Thätigkeit  befolgen.  In  der  Kinderstube  aber  und 
überall  dringen  Worte  an  des  Kindes  Ohr,  die  es  mit  der  dem  Kinde 
eigenen  Lebendigkeit  zwar  auffasft,  aber  doch  vielfach  keinen  oder  nicht 
den  richtigen  Erkenntnisinhalt  damit  verbindet.  Solche  Worte  lordern  dann 
zum  Denken  auf.  Man  kann  sie  mit  Netzen  oder  Stäben,  auch  mit  Saat- 
körnern vergleichen,  und  der  mit  Bewufstsein  geleitete  Unterricht  greift 
dieses  Material  auf  und  bildet  es  weiter. 

3)  Thrändorf,  Präparationen  für  die  Behandlung  der  Aufklärungszeit 
in  höheren  Schulen.  (Friedrich  d.  Gr.,  Rochow,  Rousseau ;  Holbach, 
französische  Revolution.) 
Man  nimmt  daran  Anstofs,  dafs  z.  B.  Friedrichs  ethischer  Standpunkt 
zu  bestimmt  schon  aus  einem  einzigen  Ansprüche  deduziert  wird,  und 
fordert  »intensive  Vollständigkeit  der  Quellen« ,  d.  h.  eine  zur  Urteils- 
bildung ausreichende  Zahl  typischer  Beispiele.  Thrändorf  entgegnet,  er 
habe  mit  seinem  kirchenpolitischen  Lesebuche  nur  einen  Anfang  machen 
wollen  und  biete  dem  Lehrer  stets  noch  Gelegenheit  zu  mündlichen 
Ergänzungen.  Die  Grenze  zwischen  dem  Notwendigen  und  Entbehrlichen 
sei  nicht  in  alten  Schul  Verhältnissen  dieselbe  und  müsse  also  konkret 
nachgewiesen  werden.  So  sei  z.  B.  Luthers  Toleranz  nicht  aus  den 
Marburger  Verhandlungen  zu  erkennen.  Unter  keinen  Umständen  dürfe 
man  sich  mit  der  blofsen  Vorführung  begnügen  und  die  ethische  Beur- 
teilung (seitens  der  Schüler)  unterlassen,  müsse  aber  überhaupt  die  Schüler 
an  den  Gedanken  gewöhnen,  dafs  diese  ethische  Beurteilung  sich  mit 
bestimmten  historischen  Kenntnissen  verbindet  und  eine  Berichtigung 
oder  Bereicherung  unserer  historischen  Kenntnis  einer  Person  auch 
andere  ethische  Beurteilung  fordern  kann.  Man  habe  bei  Behandlung 
hervorragender  Personen  das  Erhebende,  Vorbildliche  stärker  hervor- 
zuheben als  das,  was  unsere  Kritik  herausfordert. 

Es  wurde  auch  gewünscht,  dals  auf  die  aus  philosophischen  Lehren 
folgende  »Wahrscheinlichkeit«  des  Gottesglaubcns  kein  Wert  gelegt  und 
den  religiösen  Problemen  völlige  Selbständigkeit  gelassen  werde.  Leider 
sei  aber,  wurde  entgegnet,  um  die  sog.  »Beweise  für  das  Dasein  Gottes< 
nicht  ganz  herumzukommen,  und  dann  sei  das  Ergebnis  der  Philosophie, 
dafs  religiöse  Ansichten  zulässig,  denkbar  seien,  nicht  ganz  ohne  Wert. 

Herrn  von  Rochow  hielt  man  nicht  für  einen  geeigneten  Vertreter 
der  deutschen  Aufklärungspädagogen.  Er  habe  durch  sein  hingebendes 
Wirken  (»philanthropischer  Zug«)  Bedeutung  für  das  Schulwesen  erlangt, 

Pädagogische  Studien.    IV.  l6 


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—     242  — 


indem  er  zur  Gründung  von  Landschulen  anregte.  Aber  der  Hauptirrtum 
der  Philanthropen:  »Zeigt  dem  (Menschen  seine  Pflichten,  und  er  erfüllt 
sie !«  tritt  gerade  bei  Rochow  nicht  hervor.  —  Jawohl ,  aber  diese  Typen 
behandelt  die  Pädagogik :  Rochow  lag  der  Kirchengeschichte  nahe ,  weil 
er  Erziehung  als  Pflicht  der  christlichen  Gesellschaft  ansieht.  —  Aber  es 
darf  nicht  Erziehung  eine  »Funktion  der  Kirche«  genannt  und  daneben 
gesagt  werden,  dafs  sie  von  Einzelnen  ausgeübt  wird.  Die  Aufklärungs- 
zeit  hat  vielmehr  den  Gedanken  in  den  Vordergrund  gerückt,  jdafs  Er- 
ziehung Sache  des  Staates  sei,  und  die  Philanthropen  (auch  Friedrich  d.  Gr.) 
wurden  nicht  durch  christliche,  sondern  durch  »humane«  (s.  oben)  Gedanken 
zur  Erziehungsthätigkeit  getrieben.  Es  soll  aber  die  Kirche  und  der  Staat 
und  der  Einzelne  thätig  sein;  die  vorwiegende  Thatigkeit  der  staatlichen 
Organe  hat  die  Zucht  zurückgedrängt  und  das  examinierbare  Wissen 
vorgeschoben.  Darum  ist  es  verständlich,  dafs  Liebknecht  im  sächsischen 
Landtage  sagen  konnte:  Für  Bildungszwecke  bewilligen  wir  Alles,  denn 
das  kommt  uns  zu  Gute.  —  Die  »Frömmigkeit«  der  Aufklärung  war 
theoretisch  eigentlich  blofse  Klugheit,  und  unsere  Socialdemokraten  sind 
eigentlich  konsequente  Aufklärer,  wenn  sie  ihre  Zwecke  ohne  den  lieben 
Gott  zu  erreichen  suchen. 

Die  Ausführungen  über  Holbach  veranlassen  Zweifel  darüber,  ob  eine 
derartige  Behandlung  der  schwierigsten  philosophischen  Probleme  durch- 
führbar sei.  Aufserdem  pafsten  die  Formalstufen  wohl  kaum  dazu,  denn 
es  werde  in  den  Holbachschen  Sätzen  bereits  Lehre  vorgelegt.  —  Hierbei 
findet  aber  eine  weitere  Auflassung  der  Formalstufen  statt;  vgl.  z.  B.  die 
Behandlung  der  Bergpredigt  Jahrb.  XVII.,  S.  17  ff. 

Thrändorfs  Behauptung  in  der  10.  Präparation,  dafs  die  Revolution 
Rechtsverhältnisse  breche,  giebt  Veranlassung,  an  Schillers  Worte:  »Wenn 
der  Gedrückte  nirgends  Recht  kann  finden«  u.  s.  w.  (Teil  II,  2)  zu  erinnern. 
Die  Rechtsverletzung  liege  oft  viel  mehr  auf  Seite  der  Unterdrücker. 
Thrändorf  spricht  aber  nur  von  der  französischen  Revolution,  die  1789 
begann,  und  hier  lassen  sich  zahllose  und  grauenvolle  Rechtsverletzungen 
gar  nicht  leugnen.  Andere  Erhebungen  sind  allerdings  z.  T.  anders  zu 
beurteilen.  Aber 

»Schrecklich  immer, 
auch  in  gerechter  Sache,  ist  Gewalt«.    (Schiller  ebenda.) 

Gesellschaft  und  Schule  stellen  sich  daher  mit  gutem  Grunde  auf  den 
Standpunkt  des  positiven  Rechts,  Revolutionen  aber  sind  »Ereignisse«, 
aus  denen  Gesellschaft  und  Schule  lernen  sollen. 

Soviel  über  den  Inhalt  der  Thrändorfschen  Präparationen.  An  der 
methodischen  Form  wurden  nur  geringfügige  Ausstellungen  gemacht. 

4.  Wilk,  Über  den  Unterricht  in  der  Algebra. 

Man  hält  die  Notwendigkeit  der  Algebra,  von  Wilk  im  weiteren  Sinne 
des  Wortes  verstanden,  nicht  für  genügend  nachgewiesen;  der  reinste 
sittliche  Charakter  könne  neben  einem  sehr  kleinen  Mafse  mathematischen 
Wissens  bestehen.  Behufs  Vervollständigung  dieses  Beweises  könne  man 
an  mehrerlei  denken.    Die  Pädagogik  findet  die  Mathematik  als  Bildungs- 


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—    243  — 


mittel  und  als  ein  Wissensgebiet,  das  bestimmte  Berufskreise  lordern,  vor 
und  sucht  nun  diesen  Unterricht  auch  in  den  Dienst  der  Erziehung  zu 
stellen.  Sie  findet,  dafs  der  Knabe  oder  Jüngling  nirgends  so  wie  hier 
lernen  kann  ,  was  »Wahrheit«  und  »Beweis«  ist,  und  erblickt  also  in  dem 
mathematischen  Unterrichte  ein  Mittel  zur  Bekämpfung  des  Zweifels  an 
aller  Wahrheit  und  zur  Stärkung  der  Gewissenstreue.  Hieraus  würde  aber 
wohl  folgen,  dafs  man  auf  exakte  Definitionen  hinarbeiten  müsse  und  nicht 
wie  Wilk  gegen  psychologisch  naheliegende  Ungenauigkeiten  nachsichtig 
sein  dürfe.  —  Man  kann  weiter  daran  denken,  dafs  nach  den  Forderungen 
des  Kultursystems  Durchdringung  der  Gedankenkreise,  d.  h.  gegenseitiges 
Verstehen  zu  erstreben  ist  und  der  Wert  der  Wissenschaft  und  Wissen- 
schaftlichkeit auch  z.  B.  dem  Kaufmann  nicht  zu  unbekannt  sein  darf. 
Man  könnte  auch  voraussetzen ,  dafs  gewisse  Sachgebiete  nur  mit  Hilfe 
algebraischer  Kenntnisse  genügend  aufzufassen  seien.  Aber  die  Pädagogik 
soll  ja  nicht  der  Gesellschaft  und  der  Mode  blindlings  folgen,  und  umgekehrt 
ist  durch  die  möglichen  sittlichen  Wirkungen  eines  Unterrichtsfaches  noch 
nicht  dessen  Notwendigkeit  dargethan.  So  begnügte  man  sich  mit  dem 
Ergebnis,  dafs  eine  erschöpfende  positive  Begründung  für  den  herrschenden 
Betrieb  der  Algebra  nach  zu  erbringen  sei,  fand  dagegen  an  den  spezielleren 
Ausführungen  so  gut  wie  nichts  auszustellen. 

5.  Hausmann,  Bemerkungen  zu  Wilks  Arbeit  im  21.  Jahrbuch  (die 
4  Grundoperationen  mit  absoluten  Zahlen)  und 

Wilk,  Zusätze  zu  Hausmanns  Bemerkungen. 

Hausmann  beurteilt  Wilks  Ausführungen  blofs  fachwissenschaftlich 
(S.  91);  Wilk  (S.  94)  will  nichts  Falsches  mitteilen,  aber  den  Forderungen 
der  psychologischen  Methode  folgen :  Ist  das  ein  Gegensatz  (Dr.  Hartmann j  ? 
Wilk  legt  allerdings  den  Knaben  Zusammenfassungen  in  den  Mund ,  die 
fachwissenschaftlich  angreifbar  sind,  und  soweit  die  Debatte  darauf  einging, 
schien  man  zu  glauben,  dafs  die  von  Hausmann  gerügten  Fehler  sich 
vermeiden  liefsen. 

Den  Ausdruck  »Enthaltensein«  durch  »Messen«  ganz  zu  verdrängen 
hält  man  mehrfach  nicht  für  rätlich;  »2  m  in  10  m  =  5  mal«  sei  dem  kleinen 
Kinde  leichter  als  »10  m  :  2  m  =  5  mal«.  Dr.  Hartmann  hat  aber  gerade 
entgegengesetzte  Erfahrungen  gemacht ,  wobei  allerdings  Tillichs  Rechen- 
kasten benutzt  wurde. 

Hinsichtlich  der  beiden  Zahlbegrifle  hielt  man  es  für  richtig,  die  Zahl 
zuerst  als  Summe,  später  (bei  Wilk  von  der  4.  Präparation  an)  als  Koeffizient 
zu  fassen. 

Heifst  »4  mal  gröfser«  =  »5  mal  so  grofs«  ?  Nach  Sanders  nicht,  doch 
entspricht  es  dem  Sprachgesetz  am  besten,  zu  sagen:  »4  mal  so  grofs  wie«. 

6.  Teupser,  das  Rechnen  im  zweiten  Schuljahre.    (Schluss  zum 
21.  Jahrbuche.) 

Die  Debatte  zeigt  tiefgreifende  Meinungsverschiedenheit.  In  Erfurt 
schon  handelte  es  sich  um  die  Frage:  Soll  man  nach  kulturgeschichtlichen 
oder  nach  rein  rechnerischen  Gesichtspunkten  fortschreiten?  Denkbar 
wäre  es,  dafs  ein  sachlicher  Stoff  auch  die  streng  Folye  der  Rechenfälle 

16» 


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—    244  — 


zuliefse,  aber  der  Robinson  —  das  zeigt  die  Ausführung  —  sei  ein  solcher 
Stoff  nicht,  und  für  die  weiteren  Stufen  sei  noch  keiner  vorgeschlagen 
worden.  Also  solle  man  den  ersteren  Gedanken  gleich  von  unten  an  fallen 
lassen.  Teupser  verfolgt  aber  mit  seiner  Art  psychologische  Entwickelung 
des  Zahlbcgriffes  und  Verwertung  des  Sachlichen  im  Rechnen.  In  den 
unteren  Klassen  würde  die  Anknüpfung  an  das  Sachliche  vorwiegen  und 
in  dem  Mafse  zurücktreten  können ,  als  das  Rechnen  seinen  eigenen  Stoff 
vermehrt.  Der  Robinson  sei  sehr  reich  an  Anregungen,  und  wer  die 
anregende  Kraft  dieses  Stoffes  kennen  gelernt  habe,  werde  dieselbe  nicht 
ungenützt  liegen  lassen  mögen.  Trotzdem  habe  er  (S.  60,  68)  auch  andere 
Sachen  herbeigezogen.  —  Indessen  wird  die  Entfernung  vom  natürlichen 
Gange  des  Rechenstoffes«  wiederholt  gerügt  und  gezeigt,  dafs  schwerere 
(zusammengesetztere)  Fälle  vor  leichteren  (einfacheren)  auftreten.  Aber, 
meint  Teupser,  jeder  Fall  kann  da  auftreten,  wo  das  Kind  ihn  bewältigen 
kann  Ich  will  im  Rechnen  nicht  blofs  Zahl-,  sondern  auch  Zeit-,  Raum- 
und  Wertvorstellungen  er-  und  bearbeiten,  und  wenn  also  ein  Fall  nach 
dem  rein  rechnerischen  Gange  an  einen  anderen  Platz  gehört,  so  ist  damit 
doch  noch  nicht  nachgewiesen,  dafs  in  Hinsicht  auf  alle  Gesichtspunkte 
ein  Fehlgriff  gethan  worden  ist. 

Ob  die  Auseinandersetzungen  eine  Annäherung  zur  Folge  haben 
werden,  hängt  wohl  hauptsächlich  davon  ab,  inwieweit  Einer  den  Andern 
versteht  oder  sich  verstanden  glaubt.  Unserer  Meinung  nach  sollte  man 
für  »Rechnen«  einen  kurzen  deutschen  Namen  suchen,  der  den  Gedanken 
es  handle  sich  allein  um  Zahlvorstellungcn,  unzweideutig  ausschliefst.  Auch 
Hartmanns  Vorschlag ,  in  Präparationen  zuerst  den  Zusammenhang  der 
Systeme  sichtbar  zu  machen ,  würde  den  streitenden  Methodikern  die 
Arbeit  abkürzen  und  erleichtern. 

7.   Hollkamm,  Lehrplan  für  einfache  (d.  h.  einklassige)  Volks- 
schulen auf  Grundlage  des  Zillerschen  Lehrplansystems. 

Die  Arbeit  enthält  aufser  dem  Lehrplan  auch  Erörterungen  über  das 
Lehrverfahren  und  allgemein  methodische  Anregungen.  Dr.  Wiget  hält 
die  eingehende ,  liebevolle  Behandlung  der  einklassigen  Schule,  des  »Stief- 
kindes der  Didaktik«,  für  sehr  verdienstlich.  Man  könne  aber  fragen,  ob 
diese  Schulart  überhaupt  einen  pädagogischen  Unterricht  ermögliche,  und 
solchen  Einrichtungen  gegenüber  sei  es  nicht  rätlich,  sofort  mit  allgemeinen 
Forderungen,  mit  dem  »mufs«  zu  operieren.  Viele  Fragen,  die  man  stellen 
möchte,  liefsen  sich  nur  durch  Beobachtungen  und  Versuche  beantworten. 

Man  solle  also,  so  führt  Teupser  aus,  der  früher  an  einer  zweiklassigen 
Schule  thätig  war,  die  Unterrichtsfächer  in  drei  Gruppen  zerlegen: 

a)  Der  Stoff  ist  allen  Stufen  zu  gleicher  Zeit  zuführbar,  nur  in  ver- 
schiedener Weise  und  Ausdehnung:  Aufsatz,  Orthographie,  Singen,  Hand- 
arbeit u.  a. 

b)  Der  Stoff  zeigt  ein  Verhältnis  einzelner  Teile  wie  a,  A,  A'  u.  s.  w.: 
Grammatik,  Naturkunde. 

c)  Der  Stoff  widersteht  derartiger  Zerlegung:  Geschichte. 

Nach  diesen  Gruppen  läfst  sich  Möglichkeit  und  Grenze  der  Zusammen- 


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-    245  - 


legbarkeit  der  Fächer  leichter  Überblicken.  Es  bleiben  aber  Zweifel  darüber, 
ob  sich,  wie  der  Verf.  der  Arbeit  will,  für  jedes  Unterrichtsfach  ein  fester 
Gang,  den  jedes  Kind  so  durchläuft,  aufstellen  lassen  wird;  inwieweit  die 
für  den  Gesinnungsunterricht  eingerichteten  Klassen  für  die  anderen  Fächer 
giltig  sein  können  u.  a.  m. 

Gleichmäfsige  Kürzung  der  Formalstufen  sei  vielleicht  nicht  der 
beste  Ausweg.  An  den  Anschauungsoperationen  dürfe  man  es  am  wenigsten 
fehlen  lassen,  und  ein  starkes  Hervortreten  der  Übung  bedinge  die  Schulart. 
Das  Ineinandergreifen  des  mündlichen  Unterrichts  und  der  stillen  bezw. 
schriftlichen  Beschäftigung  sei  in  Florins  Methodik  der  Gesamtschule  aus- 
führlicher dargelegt. 

Der  Behauptung  S.  169,  dafs  nicht  jeder  Stoff  nach  den  Formalstufen 
zu  behandeln  sei,  während  Herbart  dies  fordere,  wird  hinzugefügt,  dafs  die 
Herbartschen  Stufen  überall  anzuwenden  seien,  die  Zillerschen  aber  nicht, 
vgl.  die  Schrift  von  Gleichmann. 

Damit  war  die  Tagesordnung  (oder  wenigstens  die  Arbeitskraft  der 
Teilnehmer)  erschöpft ,  und  die  Versammlung  u  urde  mit  einem  Hoch  auf 
den  Vorsitzenden  geschlossen.  Die  rührigen  Kollegen  und  Mitglieder  aus 
Magdeburg  u.  s.  w.  haben  durch  ihre  vielfältigen  Bemühungen  vor  und 
während  der  Versammlung,  aber  auch  durch  ihre  erfolgreiche  Thätigkeit 
für  den  Verein  Überhaupt  den  wärmsten  Dank  verdient ! 

Pfingsten  1892  will  der  Verein  in  Zwickau  zusammenkommen. 

Leipzig.  F.  Franke. 


C.  Beurteilungen. 


1 

Kurt  Adelfels.  Das  Lexikon  der  feinen 
Sitte.  Praktisches  Hand-  und  Nach- 
schlagebuch für  alle  Fälle  des  ge- 
sellschaftlichen Verkehrs.  Zweite 
verm.  u.  verb.  Aufl.  Stuttgart, 
Levy  u.  Müller.  317  S.  Preis  geb. 
4.50  M. 

Was  hat  wohl  die  Verlagsbuch- 
handlung bewogen,  ein  Buch  wie  das 
obige  der  Redaktion  einer  päda- 
gogischen Zeitschrift  zur  Bespre- 
chung zu  übersenden  ?  Sollte  es  viel- 
leicht die  nicht  ganz  zu  bestreitende 
Thatsache  sein,  dafs  der  sog.  An- 
stand bisweilen  gegen  die  Pädagogik 


verstöfst  und  die  Pädagogik  nicht 
selten  den  Anstand  verletzt?  Doch 
wie  dem  auch  sei,  es  bestehen  zwi- 
schen Pädagogik  und  guter  Sitte 
mannigfache  Beziehungen.  Eine 
solche  ist  schon  dadurch  hergestellt, 
dafs  das  Kapitel  von  der  Wohlan- 
ständigkeit unter  die  von  der  Ethik 
zu  behandelnden  Fragen  gehört  und 
die  Ethik  eine  der  Grundwissen- 
schaften der  Pädagogik  ist.  Die  Be- 
griffe Lebensklugheit  und  Sittlichkeit 
müssen  von  der  theoretischen  Ethik 
grundsätzlich  erörtert  werden.  Aber 
auch  im  alltäglichen  Leben  der 
Schule  kommen  zahlreiche  Fälle  vor, 
in  denen  Anstand,  guter  Ton,  Höf- 


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—    246  — 


lichkeit ,  Zuvorkommenheit  u.  s.  w. 
eine  Rolle  spielen.  Man  denke  an 
das  Aufstehen  der  Kinder  beim  Ein- 
treten des  Lehrers,  an  das  Grüisen, 
an  anständigen  Sitz,  und  was  den 
Unterricht  selbst  betrifft,  etwa  an  die 
Äufserlichkeiten,  welche  der  Lehrer 
für  Abfassung  eines  Briefes  vor- 
schreibt u.  s.  w.  Das  in  Rede 
stehende  Buch  hat  sich  selbstver- 
ständlich, seinem  Titel  gemäfs,  einen 
weiteren  Zweck  gesetzt,  als  etwa  nur 
Vorschriften  über  die  gute  Sitte  im 
Schulleben  zu  geben,  es  soll  ja  ein 
Nachschlagebuch  für  alle  Fälle  des 
gesellschaftlichen  Lebens  sein.  Eine 
tiefer  gehende  Erörterung  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Sittlichkeit  und 
Sitte  finden  wir  nicht;  doch  äufsert 
sich  der  Verf.  S  VIII  ff  des  Vor- 
wortes über  die  Aufgabe,  die  er  sich 
gestellt,  folgendermafsen :  »Sollen  die 
Auswüchse  derSittc  verhütet  werden, 
so  gilt  es,  den  Zwiespalt  zwischen 
Sittlichkeit  und  Sitte  zu  versöhnen, 
die  Sitte  auf  das  höhere  Niveau  der 
Sittlichkeit  zu  erheben,  sie  mit  dem 
Geiste  der  Vernunft,  des  Wahren, 
Guten  und  Schönen  zu  durchdringen, 
sie  in  stetem  Flufs  zu  erhalten  und 
vor  Verknöcherung  zu  bewahren. 
Es  gilt,  die  Sitte  ethisch  zu  adeln 
und  andrerseits  der  Sittlichkeit  den 
Stempel  gesellschaftlicher  Pflicht  auf- 
zuprägen.« Dafs  die  Sitten  nichts 
einbülsen,  wenn  sie  ethisch  geadelt 
werden,  ist  gewifs  richtig ;  ob  aber 
die  Sittlichkeit  unter  dem  Stempel 
gesellschaftlicher  Pflicht  nicht  leidet, 
ist  eine  andere  Frage.  Es  giebt 
manche  an  sich  sittliche  Handlungen, 
die  ihren  Wert  verlieren,  wenn  da- 
bei irgend  welche  Rücksichten  ge- 
sellschaftlicher Art  mafsgebend  waren. 
Indes  spricht  es  der  Verf  an  vielen 
Stellen  aus,  dafs  in  zweifelhaften 
Fällen  die  Sittlichkeit  vor  der  Sitte 
den  Vorzug  verdiene  Um  so  mehr' 
jedoch  ist  man  zu  der  Erwartung 
berechtigt,  dafs  er  es  vermeiden 
werde,  Gegenstände  des  religiösen 
und  des  sittlichen  Lebens  in  den 
Bereich  seiner  Betrachtungen  zu 
ziehen.  Diese  Erwartung  geht  nun 
freilich  nicht  in  Erfüllung;  denn  wir 
finden  Artikel  über  Religion,  Abend- 
mahl. Charakter,  Humanität  u.  s.  w. 


Auch  bei  vorsichtigster  Fassung  wird 
es  kaum  zu  vermeiden  sein,  dafs 
derartige  Gegenstände  an  i  hrer  Würde 
verlieren,  sobald  sie  vom  Standpunkte 
der  »feinen  Sitte«  aus  betrachtet 
werden.  Unserem  Gefühle  wenig- 
stens widerstrebt  eine  Belehrung, 
wie  sie  der  Verf.  beispielsweise  über 
das  Abendmahl  giebt:  »Beim  Besuche 
des  Abendmahls  vermeide  man  auf- 
falligen Luxus  und  lebhafte  Farben, 
erscheine  vielmehr  in  ernster  Feier- 
kleidung (schwarz  oder  doch  dunkel- 
farbig) ,  der  Würde  der  heiligen 
Handlung  angemessen.  Höchst  un- 
ziemlich wäre  es,  beim  Gange  zur 
Kirche  oder  nach  Verlassen  derselben 
zu  scherzen,  zu  rauchen  und  dergl., 
was  die  Beteiligung  an  dem  gottes- 
dienstlichen Akt  als  blofse  Formali- 
tät erscheinen  liefse.«  Bei  vielen 
Artikeln  ist  jedoch  rückhaltlos  anzu- 
erkennen, dafs  der  Verf.  nahe 
liegende  Klippen  glücklich  umschifft 
hat.  Er  geifsclt  die  Auswüchse  der 
Mode,  das  Phr  isentum  der  Gesell- 
schaft, die  Eitelkeit,  die  Ziererei, 
die  Neugier  u.  a.,  ohne  dabei  in  die 
Rolle  eines  lästigen  Sittenrichters  zu 
verfallen.  Bezeichnend  sind  seine 
Äusserungen  über  die  Notlüge  in  den 
Artikeln  »Aufrichtigkeit«  und  »Lüge«. 
Er  sagt  S.  20:  »Ls  giebt  Fälle,  wo, 
um  die  Betreffenden  nicht  zu  ver- 
letzen, eine  Notlüge  entschuldbar  ist, 
so  z.  B.  wenn  uns  ein  Kranker  fragt, 
was  wir  von  seinem  Zustand  halten, 
oder  wenn  Eltern  ein  günstiges  Urteil 
über  das  Aussehen  ihrer  Lieblinge 
provozieren.  Wahrhaft  sittlichen 
Naturen  ist  aber  jede  Lüge  verhafst, 
und  sie  entschließen  sich  zu  solchen 
Notlügen  nur  mit  innerem  Wider- 
streben und  mit  dem  Bewufstsein, 
dafs  ein  Ausnahmefall  vorliegt.« 
Schließlich  sei  noch  auf  einige 
Artikel  hingewiesen ,  die  sich  mit 
pädagogischen  Fragen  näher  be- 
rühren. Sehr  verständig  klingt  der 
Artikel  über  > Lektüre«.  In  ihm  wird 
unter  anderem  jeder  Familie  em- 
pfohlen, »allabendlich  eine  Lesestunde 
festzusetzen  und  über  das  Gelesene 
eingehend  zu  diskutieren.«  Für  die 
belletristische  Lektüre  ist  dabei  ver- 
wiesen auf  Normann,  Perlen  der 
Weltliteratur.      Als  Familienbuch 


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247  — 


dürfte  sich  wohl  Hottingers  »Die  Welt 
in  Wort  und  Bild«  geeigneter  er- 
weisen Ein  kräftiges  Wörtlein  gegen 
das  Lesen  von  Schundromanen  hätte 
hierbei  nichts  schaden  können  Nicht 
weniger  als  zwölf  Seiten  nimmt  «1er 
Artikel  »Briefe  ein.  Hier  ist  ganz 
geschickt  alles  zusammengestellt,  was 
beim  Briefschreiben  zu  beobachten 
ist.  Für  manche  Lehrer  dürfte  es 
nicht  überflüssig  sein,  sich  diesen 
Artikel  einzuprägen  und  bei  Gelegen- 
heit in  der  Schule  davon  Anwendung 
zu  machen.  Denn  dafs  man  mit- 
unter, selbst  von  sonst  nicht  unge- 
bildeten Personen,  Briefe  erhält,  die 
in  ihrem  Äufseren  wenig  von  feiner 
Sitte  verraten,  ist  doch  darauf  zurück- 
zuführen ,  dafs  den  Betreffenden 
während  ihrer  Schulzeit  keine  dies- 
bezüglichen Belehrungen  zuteil  ge- 
worden sind.  Im  grotsen  ganzen  ge- 
hört das  Buch  jedenfalls  zu  den 
besseren  seiner  Art.  Einen  guten 
Eindruck  machen  auch  die  vielen 
treffenden  und  geschickt  angebrachten 
Citate  sowie  die  äufsere  Ausstattung. 

Eisenach. 

Dr.  A.  Bliedner. 
II. 

Wartenberg,  Lehrbuch  der  lateini- 
schen Sprache  als  Vorschule  der 
Lektüre.  Kursus  der  Sexta.  Han- 
nover, Norddeutsche  Verlagsanstalt. 
Für  den  Verfasser  der  vorliegen- 
den Arbeit  war  laut  Vorwort  vor 
allem  die  Erwägung  mafsgebend,  dals 
der  ersten  Schullektüre  energisch 
vorgearbeitet  werden  müsse  und  dafs 
deshalb  der  zu  verwendende  Übungs- 
stoff nichts  enthalten  dürfe,  was  nicht 
bei  jener  sofort  Verwendung  findet. 
Diesem  richtigen  Grundsatz  zufolge 
ist  der  gesamte  Wortschatz  dieses 
Übungsbuches  gestaltet  worden.  In 
erster  Linie  haben  denselben  die 
gelesensten  Lebensbeschreibungen 
des  Cornelius  Nepos  geliefert ;  bilden 
doch  diese  mit  gutem  Rechte  den 
Gegenstand  der  ersten  Lektüre.  Da- 
her fallen  einerseits  viele  Wörter 
und  Formen  weg,  die  in  anderen 
Übungsbüchern  noch  immer  aufge- 
führt zu  werden  pflegen,  obwohl  sie 
nie  oder  doch  erst  sehr  spät  vor- 


kommen; andrerseits  wird  dadurch 
die  Schwierigkeit,  welche  die  erste 
Lektüre  bereitet,  bedeutend  ver- 
ringert. 

Die  mit  diesem  Wortschatze  ge- 
bildeten Übersetzungsbeispiele 
haben  alle  —  und  das  verdient  be- 
sondere Anerkennung  —  einen  wirk- 
lichen, den  jugendlichen  Geist  an- 
sprechenden Inhalt.  Nichtssagende 
und  thörichte  Sätze,  wie  ich  sie 
kürzlich  an  einem  anderen  Orte  zu 
rügen  hatte,  findet  man  in  dem  vor- 
liegenden Übungsbuche  nicht.  Doch 
hätten  die  Einzclsätze  mit  leichter 
Mühe  um  einen  gemeinsamen  Mittel- 
punkt gruppiert  werden  können,  wie 
das  auch  Seite  49  f.,  80  ff.  und  bei 
sämtlichen  deutschen  Übungsbei- 
spielen mit  viel  Geschick  und  Glück 
versucht  worden  ist.  Denn  dafs  über 
dem  Sezieren  der  logische  Zusammen- 
hang verloren  geht  und  dafs  eine 
amüsante  Erzählung  den  Schüler  zur 
Unachtsamkeit  verleitet,  ist  eine  arge 
Übertreibung. 

Was  nun  den  grammatischen 
Lehrstoff  betrifft,  so  sollte  vom 
Leichten  zum  Schweren  vorge- 
schritten werden  ohne  Rücksicht  auf 
das  allerdings  nebensächliche  Nume- 
rieren der  Deklinationen  und  Konju- 
gationen. Wenn  der  Verfasser  die 
vierte  Konjugation  vor  der  dritten 
bespricht  und  das  Präsens  der 
zweiten  vor  dem  der  ersten,  um 
nicht  den  Schüler  durch  die  Un- 
regelmäfsigkeit  in  der  1.  sing.  ind. 
und  im  ganzen  coni.  gleich  beim 
Beginne  zu  beunruhigen :  so  wird 
ihm  daraus  niemand  einen  Vorwurf 
machen  —  im  Gegenteil.  Dafs  er 
aber  Deklination  und  Konjugation 
stückweise  bunt  durch  einander 
würfelt,  das  kann  nicht  entschieden 
genug  getadelt  werden.  Die  gram- 
matische Anlage  des  Buches  ist  ganz 
und  gar  verfehlt  und  bedarf  sorg- 
fältiger Umarbeitung.  Wie  die  zer- 
rissene Darstellung  den  Beifall  an- 
gesehener Schulmänner  hat  finden 
können,  ist  mir  unbegreiflich.  Die 
erste  Anforderung  an  ein  Schulbuch 
ist  Klarheit  und  Übersichtlichkeit; 
sonst  entsteht  in  den  jugendlichen 
Köpfen  eine  heillose  Verwirrung,  die 
nie  wieder  gut  zu  machen  ist.  Einen 


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—  248 


Einblick  in  den  Bau  des  Verbums 
wird  der  Schüler  bei  dieser  Dar- 
stellung nun  und  nimmermehr  ge- 
winnen. Die  nötige  Klarheit  und 
Übersichtlichkeit  vermisse  ich  auch 
bei  der  Darbietung  der  dritten  Dekli- 
nation, deren  Umfang  dem  Sextaner 
schon  an  und  für  sich  grofse  Schwie- 
rigkeiten bereitet.  Hier  hätte  das 
Unregclmäfsige  von  dem  Regel  - 
mäfsigen  streng  geschieden  und  dem 
Pensum  der  Quinta  zugewiesen  wer- 
den sollen  Auch  davon,  dafs  die 
gewählte  Fassung  der  Geschlechts- 
regeln nach  dem  Stammauslaut  besser 
und  praktischer  wäre  als  die  alte, 
hat  mich  der  Verfasser  nicht  zu 
überzeugen  vermocht. 

Die  beigegebene  Entwicklung 
der  Sprachformen  soll  aufser  dem 
Gedächtnis  den  Verstand  schulen 
und  durch  Erkenntnis  der  Formen- 
bildung das  Lernen  erleichtem.  Da- 
rum ist  der  Verfasser  in  der  Angabe 
von  Erläuterungen  auch  in  Bezug 
auf  das  Deutsche,  besonders  da,  wo 
die  gebräuchlichsten  lateinischen  und 
deutschen  Grammatiken  seiner  An- 
sicht nach  zu  wenig  bieten,  weiter- 

gegangen  als  es  sonst  üblich  ist. 
»ie  Vorteile  einer  solchen  Methode 
springen  in  die  Augen.  Es  mufs  je- 
doch dem  Ermessen  des  Lehrers 
anheimgestellt  bleiben,  wie  weit  er 
hier  zu  gehen  gedenkt.  Ich  kann 
z.  B  nicht  finden,  dafs  das  Verstehen 
und  Lernen  dem  Schüler  erleichtert 
würde,  wenn  er    [*]»un»i    «[»!••  «»^t, 

pon[i>,  re|K«]x,  celeber  u.  a>  m>  jn  seinem 

Buche  gedruckt  findet.  Auch  die 
sonstigen  Richtlinien,  die  dem  Lehrer 
gegeben  werden:  die  Übungen  im 
Deklinieren  und  Konjugieren,  in  der 
Veränderung  der  Person,  des  Nume- 
rus, des  genus  verbi;  die  Fragen  im 
Anschlufs  an  das  gelesene  Stück 
u.  ä.  sollten  gestrichen  werden,  wenn 
anders  der  Lehrer  nicht  nebensäch- 
lich, ja  überflüssig  erscheinen  soll. 

Der  Anhang  auf  Seite  85  ff. 
handelt  zunächst  vom  Geschlecht 
der  Hauptwörter  und  bringt  dann 
die  Paradigmata  der  Numeralia  und 
der  Pronomina,  während  alle  anderen 
Musterbeispiele  samt  den  dazu  ge- 
hörigen   Vokabeln    den  einzelnen 


Übungssätzen  voraufgedruckt  sind. 
Sollte  es  sich  nicht  empfehlen, 
Grammatik,  Vokabular  und  Uebungs- 
beispiele  von  einander  zu  trennen? 
Unter  einem  Einband  können  sie  ja 
trotzdem  bleiben. 

Auf  Seite  91  ff.  findet  sich  ein 
lateinisch-deutsches  und  ein  deutsch- 
lateinisches Wörterverzeichnis. 
Das  erste re  ist  nach  den  Wortarten 
geordnet  und  beginnt  mit  den  Sub- 
stantiven, deren  Geschlecht  jedoch 
nicht  mit  angegeben  ist;  darauf 
folgen  der  Reihe  nach  die  Eigen- 
namen ;  die  Adjektiva,  einschliefslich 
der  als  Substantiva  gebrauchten; 
die  Verba,  bei  denen  aut  die  Seite 
oder  den  Paragraphen  verwiesen 
wird,  wo  das  a  verbo  steht;  schliefs- 
lich  die  nebenordnenden  und  unter- 
ordnenden Konjunktionen.  Das  Ver- 
zeichnis der  Pronomina  findet  sich 
Seite  65  ff  und  90  f;  das  der  Ad- 
verbia  auf  S.  72  ff.  Man  sieht,  die 
Benutzung  eines  solchen  Verzeich- 
nisses ist  für  den  armen  Sextaner 
sehr  umständlich  und  zeitraubend. 
Das  deutsch-lateinische  Wörterver- 
zeichnis ist  zum  Glück  nicht  nach 
diesen  Unterabteilungen  angelegt 
worden. 

Druck  und  Ausstattung  ist  sehr 
gut. 

Annaberg.       Ernst  Haupt. 
III. 

Gust.  Frdch.  Pfisterer,  f  Seminarrektor 
in  Efslingen,  Pädagogische  Psycho- 
logie. Ein  Versuch.  2.  Aufl.  Güters- 
loh, C.  Bertelsmann  1889.  VII, 
340  S.  8.    Pr.  6  M. 

Das  Verhältnis  zwischen  Pädago- 
gik und  Psychologie  ist  in  den  letz- 
ten Dezennien  so  häufig  erörtert 
worden ,  dafs  man  meinen  sollte, 
über  den  Dienst,  den  die  letztere  der 
ersteren  zu  leisten  habe,  und  dem- 
entsprechend über  die  systematische 
Behandlung  derselben  vom  pädago- 
gischen Gesichtspunkte  aus,  vor  allem 
aber  über  die  Tragweite  und  das 
für  die  Praxis  zu  wünschende  Maafs 
psychologischer  Bildung  herrsche 
völlige  Klarheit  und  in  gewissem 
Sinne  Einigkeit.  Die  fundamentale 
Bedeutung    psychologischer  Unter- 


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—  249 


suchungen  für  die  Pädagogik  wird 
zwar  heute  nicht  mehr  ernstlich  be- 
stritten werden.  Auch  ist  zur  Zeit 
die  psychologische  Bildung  der  Leh- 
renden und  Erziehenden  verbreiteter 
und  im  allgemeinen  auch  umfassen- 
den als  ehedem.  Gleichwohl  ist  der 
dermalige  Zustand  der  Psychologie 
als  pädagogischer  Hilfswissenschaft 
ein  wenig  erfreulicher.  Die  frische, 
fröhliche  Begeisterung  der  Hcrbart- 
schen  Schule,  die  im  Sinne  ihres 
grofsen  Meisters  am  Ausbau  des 
Systems  und  an  der  praktischen 
Verwertung  der  Resultate  erfolgreich 
arbeitete,  wurde  nicht  überall  ver- 
standen und  gewürdigt.  Anstatt  ihre 
Anregungen  dankbar  aufzunehmen 
und,  mit  kritischer  Besonnenheit  an 
der  Fortführung  der  begonnenen 
wissenschaftlichen  Untersuchungen 
sich  zu  beteiligen,  liebte  man  es, 
sich  in  behaglicher  Weise  auf  dem 
unfruchtbaren  Boden  pädagogischer 
Gemeinplätze  hcrumzutummeln,  oder, 
statt  das  System  auf  seine  innere 
Folgerichtigkeit,  auf  seine  Haltbar- 
keit gegenüber  den  physiologischen 
Errungenschaften  der  Neuzeit  zu 
prüfen,  es  mit  den  einem  fremden 
System  entnommenen  Waffen  zu  be- 
kämpfen. In  beiden  Fällen  war  das 
Verfahren  höchst  unkritisch,  und  es 
ist  befremdlich,  dafs  die  heftigsten, 
nicht  immer  sachlichen  Angriffe  ge- 
rade von  der  Seite  kamen,  von 
der  eher  Anerkennung  und  Dank  für 
den  Versuch,  Erziehungslehre  und 
-geschäft  psychologisch  zu  fundieren, 
zu  erwarten  gewesen  wäre.  Man 
verlor  sich  in  zumteil  nutzlose  Strei- 
tigkeiten über  (vom  Standpunkte 
der  Pädagogik  aus)  untergeordnete 
Punkte.  Man  warf  den  Herbartianern 
dogmatische  Befangenheit  und  Starr- 
heit vor  und  vergafs  ganz,  dafs  ge- 
rade die  hervorragendsten  Vertreter 
die  Fortbildungsbedürftigkeit  der 
Psychologie  betont  haben. 

So  entstand  einesteils  in  den 
Reihen  der  Pädagogen  ein  skepti- 
scher Zug  gegenüber  psychologischer 
Erwägungen,  der  sich  in  der  Praxis 
vielfach  recht  deutlich  erkennen  läfst 
und  oft  auf  die  unangenehmste  Weise 
sich  fühlbar  macht,  andernteils  aber 
das    Bestreben,    das  Hcrbartsche 


System  durch  Entgegensetzung  eines 
andern  Systems  oder  durch  Eruierung 
der  psychologisch  -  pädagogischen 
Grundgedanken  aus  dem  Zusammen- 
hange eines  andern  philosophischen 
Lehrgebäudes  zu  verdrängen. 

Dabei  mehren  sich  die  Versuche, 
die  Resultate  der  Forschung  mit  voll- 
ständiger Preisgebung  ihres  wissen- 
schaftlichen Charakters  zu  populari- 
sieren. Gegen  solches  Unterfangen 
kann  jedoch  nicht  energisch  genug 
protestiert  werden,  und  es  wäre  hier 
eine  im  ganzen  wachsamere  Kritik 
am  Platze. 

Was  speziell  den  Stand  der  bis- 
herigen Versuche  einer  »pädagogi- 
schen Psychologie«  anlangt,  so  hat 
uns  E.  die  Auffassung  derselben  als 
einer  rein  praktischen  Lehre,  als 
einer  angewandten  Psychologie  im 
Gegensatze  zur  reinen,  theoretischen 
Psychologie  eine  Verschiebung  und 
falsche  Beurteilung  des  Grundver- 
hältnisses zwischen  Psychologie  und 
Pädagogik  hervorgerufen.  Man  dachte 
sich  vielfach  das  Verhältnis  so, 
dafs  eine  pädagogische  Psychologie 
schlechterdings  nichts  anderes  sei 
als  die  Summe  der  praktischen  Kon- 
sequenzen aus  einer  so  oder  so  ge- 
arteten Psychologie,  ob  nun  dieselben 
in  kurzen  Imperativen  oder  sogen. 
Grundsätzen  oder  in  redseliger  Breite 
nach  Art  einer  wässerigen  Popular- 
philosophie  oder  wissenschaftlich  be- 
hutsam als  Richtlinien  vorgetragen 
werden.  Indem  man  sich  so  an 
wissenschaftliche  Resultate  anlehnt, 
wird  zwar  dem  Psychologisieren  auf 
eigene  Faust  der  Boden  entzogen, 
aber  über  dem  Hineilen  zu  päda- 
gogisch-praktischen Forderungen, 
wird  meistens  die  tiefere  wissen- 
schaftliche Begründung  versäumt 
und  damit  der  wichtigste  Zweck 
psychologischer  Belehrung  aufser- 
achtgelassen.  Letzterer  kann  nie  in 
Mitteilung  von  blofsen  Resultaten  in 
kompendiarischer  Vollständigkeit, 
sondern  nur  darin  bestehen,  dafs 
der  »psychologische  Blick«  geschärft 
werde,  dafs  der  Erzieher  psycho- 
logisch denken  lerne.  Darnach  wird 
die  Zweckdienlichkeit  der  meisten 
bis  jetzt  bestehenden  sogen  päda- 


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—  250 


gogischen  Psychologien  in  Frage  ge- 
stellt werden  müssen. 

Auszunehmen  hiervon  sind  einzelne 
Monographien,  z.  B.  Dörpfeld,  Lange. 
Es  scheint  fast,  als  könne  die  Psycho- 
logie unter  pädagogischem  Gesichts- 
punkt zur  Zeit  eine  systematische 
Behandlung  nicht  ertragen,  als  ver- 
liere sie  durch  das  Medium  des  päda- 
gogischen Denkens  etwas  von  ihrer 
Elastizität  und  ihrer  erhellenden  Kralt. 
Wenigstens  verträgt  sich  schwerlich 
die  nicht  immer  zu  vermeidende 
Dogmatisierung  und  die  Zurück- 
führung  auf  knappe,  für  den  Prak- 
tiker gewöhnlichen  Schlags  brauch- 
bare Formeln  mit  der  feinen ,  von 
den  verschiedensten  Faktoren  ab- 
hängigen und  demnach  nur  der  ge- 
wandtesten Analyse  erkennbaren 
Struktur  des  vielgestaltigen  Geistes- 
lebens. Die  Psychologie  unter- 
scheidet sich  eben  dadurch  von 
anderen  Wissenschaften,  die  der 
praktischen  Verwertung  bequemere 
Handhaben  bieten.  Man  mufs  sich 
weiter  daran  erinnern,  dafs  der  Päda- 
goge ein  Künstler  sein  mufs  und  dafs 
der  Künstler  immer  nur  aus  einem 
grofsen ,  leicht  beweglichen  Ge- 
dankenkreise heraus  schafft.  In 
diesem  Znsammenhange  sei  eines 
Ausspruches  von  H.  Cohen,  dessen 
Anwendung  auf  die  soeben  berührte 
Frage  nahe  liegt,  gedacht:  »Die 
Psychologie  mufs  überall  die  je 
schweigsamere,  desto  treuere  Be- 
gleiterin wie  des  ästhetischen 
Schaffens,  so  der  ästhetischen 
Rechtfertigung  sein.« 

Aus  diesen  Gründen  sind  gegen- 
wärtig psychologische  Monographien, 
welche  »an  einem  interessanten  psy- 
chologischen Hauptstücke  zeigen,  wie 
den  Begriffen  und  Gesetzen  derSeelen- 
lehre  die  fruchtbarste  Anwendung  auf 
pädagogischem  Gebiete  gesichert 
werden  könne«*),  wünschenswerter 
und  als  Bausteine  zu  einer  den  päda- 
gogischen Bedürfnissen  entspre- 
chende Psychologie  ungleich  wich- 
tiger als  systematische  Darstellungen 
des  ganzen  Gebietes.  Die  Forde- 
rung    Drobisch's    nach  psycholo- 


Lange,  Über  Apperzeption.  Vorw.  «.  1  Aufl. 


gischen  Monographien,  die  er  vom 
fachwissenschaftlichen  Standpunkte 
aus  stellte,  gilt  daher  nicht  weniger 
auch  für  die  pädagogischen  Zwecke.*) 

Aber  noch  von  einer  anderen  Seite 
her  mufs  die  Psychologie  für  die  Päda- 
gogik fruchtbar  gemacht  werden.  Soll 
sie  nicht einblofserZierrat.ein  unnützer 
Apparat,  ein  Schattenspiel  mit  mehr 
oder  weniger  rückständigen  Begriffen 
sein,  so  mufs  auch  die  Forderung 
Magers***  erfüllt  werden.  Er  verlangt 
als  Grundlage,  nicht  als  blofse  Propä- 
deutik derPädagogik  einePsychologie, 
die  den  Geist  als  Entwickelung  fasse, 
die  es  mit  der  zeitlichen,  empirischen, 
von  tausend  Umständen  und  Äufser- 
lichkeiten  bedingten  Entwickelung 
des  Menschen  zu  thun  habe.  »DerPäda- 
gogc  braucht  eine  pädagogische  Psy- 
chologie nach  genetischer,  nicht 
nach  dialektischer  Methode,  und  diese 
ist  nicht  etwa  nur  Grundlage,  sondern 
integrierender  Teil  seiner  Wissen- 
schaft.« Hierzu  sind  bereits  wichtige 
Vorarbeiten  gemacht:  Kinderbilder, 
psychologische  Beobachtungen  an 
Schülern ,  Tagebücher  u.  dgl.  sind 
in  verschiedenen  Zeitschriften  zer- 
streut. Desgleichen  sind  die  gehalt- 
vollen ,  psychologischen  Briefe«  von 
Th.  Vogt  in  den  ersten  Jahrgängen 
der  »Dtsch  Bl.  f.  erz  Unterr.«  zu 
erwähnen;  auch  Bahnsens  »Charak- 
terologie« u  a.  Schriften  verdienen 
volle  Würdigung.  So  läuft  eine 
Reihe  von  Versuchen  auf  die  Be- 
gründung einer  deskriptiven,  der 
thatsächlichen  Entwicklung  Rech- 
nung tragenden  Psychologie  hinaus. 
Diese  mufste  als  »empirische  Psycho- 
logie von  der  »reinen« ,  philosophi- 
schen unterschieden  werden ,  wie 
dies  auch,  freilich  von  anderen  Vor- 
aussetzungen aus,  Paul  Natorp  in 
seiner  »Einleitung  in  die  Psychologie 
nach  kritischer  Methode«***)  ge- 
than  hat. 

Gehen  wir  nun  nach  diesen  einlei- 
tenden Bemerkungen  zurBesprechung 
des  vorliegenden  Buches  über.  Das- 
felbc  ist  ein  unveränderter  Abdruck 
der  1880  erschienenen  1.  Auflage. 


*)  Empirifche  Psychologie,  Vorwort. 
•♦)  Die  deutsche  BUxpertchule,  Aug.  ron  Ehr- 
hardt png.  5  f 

••*)  Frelburg  I.  B.  1888. 


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—  251 


In  dem  richtigen  Gefühle  von  der 
Schwierigkeit  und  Unzulänglichkeit 
des  Unternehmens  nannte  es  der 
nunmehr  verstorbene  Verfasser 
»einen  Versuch«.  Er  war  weniger 
dazu  bestimmt ,  »unmittelbar  dem 
Unterrichte  zu  Grunde  gelegt  zu 
werden«  ,  als  vielmehr  zum  Selbst- 
studium und  zur  ausführlicheren  Be- 
gründung der  gleichzeitig  erschie- 
nenen »Grundlinien  der  pädago- 
gischen Psychologie« ,  eines  Leit- 
fadens zunächst  für  den  Gebrauch 
in  Schullehrerseminaren. 

Der  Verfasser  erkennt  die  viel- 
fache Forderung,  welche  die  Päda- 
gogik der  Herbart'schen  und  Beneke- 
schen  Psychologie  verdankt,  bereit- 
willig an,  sieht  sich  jedoch  aufser- 
stande,  einfach  von  dem  einen  oder 
dem  anderen  Systeme  auszugehen, 
da  ihm  dieselben  durch  die  neueste 
Psychologie,  welche  an  die  Namen 
Lotze,  Ulrici,  I.  H.  Fichte, 
Wundt,  Trendelenburg,  Sig- 
wart,  Lazarus,  Horwicz  und 
andere  geknüpft  sei,  in  ganz  wesent- 
lichen Punkten  Überholt  zu  sein 
scheinen.  Namentlich  hebt  er  in 
der  Vorrede  hervor,  dals  nach- 
herbartsche  und  nachbenekesche 
Psychologie  (und  Erkcnntnislehre) 
für  eine  Lösung  der  pädagogischen 
Fragen  geeigneter  sei  als  die  Psycho- 
logie (und  Erkenntnislehre)  Herbart's 
und  Beneke's.  Den  Beweis  hierfür 
bleibt  er  uns  freilich  schuldig.  Ihm 
ist  die  pädagogische  Psychologie 
nichts  anderes  als  eine  angewandte 
Psychologie  im  Unterschiede  von 
den  reinen,  wissenschaftlichen.  Da 
es  aber ,  wie  der  Verfasser  unter 
Berufung  auf  ein  Wort  Rümelins 
(Reden  und  Aufsätze,  S.  177)  anführt, 
bis  jetzt  noch  keine  allgemein  aner- 
kannte wissenschaftliche  Psychologie 
gebe,  so  sei  dadurch  die  Arbeit  der 
pädagogischen  Psychologie  in  hohem 
Grade  erschwert  Daher  hält  es  der 
Verfasser  für  geraten,  seinen  eigent- 
lichen pädagogisch-  psychologischen 
Ausführungen  eine  summarische 
Skizze  seiner  psychologischen  Grund- 
anschauung vorauszuschicken.  Die- 
selbe umfafst  (mit  den  Anmerkungen 
und  Citaten)  nahezu  30  Seiten  und 
ist,  den  Systemen  von  H.  Lotze, 


I.  II.  Fichte  und  H.  Ulrici  am  nächsten 
stehend,  im  ganzen  eklektisch.  In 
der  Vorrede  heifst  es  sogar:  »So 
durfte  ich  nicht  nur,  sondern  ich 
mufste  eklektisch  verfahren,  indem 
ich  geflissentlich  aus  den  verschie- 
denen Schriften  nur  das  nahm  und 
aushob,  was  zu  meiner  eigenen  Dar- 
stellung pafste  und  worin  die  ver- 
schiedenen Schriftsteller  in  der 
Hauptsache  einig  sind.«  So  trägt 
diese  Arbeit  einen  fast  kompilato- 
rischen  Charakter.  Die  Citate  machten 
nahezu  die  Hälfte  des  ganzen  Buches 
aus;  hätten  sie  denselben  gröfseren 
Druck  wie  der  Haupttext,  so  würde 
sich  sogar  das  Verhältnis  zwischen 
den  ersteren  und  dem  letzteren  wie 
3  zu  2  stellen. 

Zu  des  Verfassers  psychologischen 
Grundanschauungen  im  einzelnen  in 
diesem  Zusammenhange  Stellung  zu 
nehmen,  halten  wir  für  überflüssig. 
Wir  bemerken  nur,  dafs  er  sich  un- 
umwunden zu  den  althergebrachten 
Unterscheidung  der  sog.  drei  Seelen- 
vermögen (oder  der  formalen  Triebe 
des  Erkennens,  Fühlens  und  Wollens) 
bekennt.  Es  ist  ihm  nicht  unbewufst, 
»wie  abschätzig  gerade  diese  psycho- 
logische Überlieferung  heutzutage  von 
vielen  behandelt  wird.«  Er  fährt 
dann  fort:  »Wir  glauben  aber,  dafs 
wie  überall  so  auch  hier  der  Mifs- 
brauch  einer  Sache  die  Sache  selbst 
nicht  authebi.  Es  ist  ja  gewifs  eine 
grofse  Verkehrtheit,  wenn  man,  wie 
allerdings  nicht  selten  geschah,  die 
drei  Seelenvermögen  als  drei  in  sich 
abgeschlossene  und  ganz  äufserlich 
neben  einander  liegende  Kammern 
und  Abteilungen  der  Seele  ansieht 
und  behandelt;  aber  nicht  minder 
verkehrt  ist  doch  auch  der  Herbart- 
Beneke'sche  Versuch,  das  ganze 
Seelenleben  auf  die  Vorstellungs- 
thätigkeit  zurückzuführen  und  somit 
auch  das  Fühlen  und  Wollen  nur 
als  eine  eigentümliche  Gestaltung 
und  Abänderung  des  Vorstellens  zu 
bezeichnen.  Erkennen,  Fühlen 
undWollen  sind  vielmehr  drei 
wesentlich  und  ursprünglich 
verschiedenen  Arten  des  Ver- 
haltens der  Seele  zu  dem  ihr 
gegebene  Inhalt,  von  welchen 
sich  keine  auf  die  andere  zurück- 


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—     252  — 


(Uhren  oder  aus  ihr  ableiten  läfst. 
Sie  hängen  freilich  aufs  engste  unter 
sich  zusammen ,  so  dafs  Iceine  für 
sich  allein  und  losgetrennt  von  den 
andern  wirksam  werden  kann  und 
darf,  vielmehr  so  oft  eine  einzelne 
von  ihnen  in  Wirksamkeit  tritt,  mehr 
oder  weniger  deutlich  auch  die  beiden 
andern  alsGrund  oderFolge  mitklingen 
und  begleitend  nebenhergehen.« 

Schon  aus  diesen  Andeutungen  kann 
man  ersehen,  dafs  Pfisterers  Grund- 
anschauungen teilweise  von  höchst 
fragwürdiger  Art  sind.  Dagegen 
verdient  volle  Anerkennung,  dafs  er 
das  Wesentliche  der  pädagogischen 
Psychologie,  den  genetischen  Ge- 
sichtspunkt, klar  erfafst  hat  und  dafs 
er  ihr  als  eine  Hauptaufgabe  zuweifst, 
»die  allmähliche,  zeitliche  Ent- 
wicklung und  Entfaltung  des 
kindlichen  Seelenlebens  zu  be- 
leuchten.« Zur  Erreichung  dieses 
Zieles  stehen  nach  den  Darlegungen 
des  Verfassers  zwei  Wege  offen:  i)  Die 
sachlich- begriflüche  Anordnung  der 
gewöhnlichen  Psychologie«  wird  bei- 
behalten und  innerhalb  der  einzelnen 
psychologischen  Erscheinungen  ihr 
Werden  verfolgt.  2)  Oder  es  läfct  sich, 
>eine  sozusagen  biographisch- 
chronologische An  ordnung«  zu- 
grundelegen. Der  Verfasser  entschei- 
det sich  für  die  letztere  und  unter- 
scheidet demgemäfs  die  drei  Haupt- 
stufen des  Säuglingsalters,  des 
Kindesatters  und  des  schul- 
pflichtigen Knaben-  und  Mäd- 
chenalters. Er  mufs  zwar  gestehen, 
dafs  diese  letztere  Art  der  Behand- 
lung vielleicht  weniger  wissenschaft- 
lich sei,  als  die  erstere,  aber  weil  sie 
praktischer  sei  und  sich  mehr  der  un- 


mittelbaren Wirklichkeit  anschliefse, 
zieht  er  sie  vor.  Eine  solche  Behand- 
lung aber  scheint  uns  didaktisch  un- 
fruchtbar zu  sein,  weil  auf  diese  Weise 
die  psychologischen  Erscheinungen 
nicht  in  ihrer  Totalität  erkannt  werden 
können,  indem  sie  zu  verschiedenen 
Malen  und  dann  nicht  immer  in  der 
wünschenswerten  Einfachheit  und 
Deutlichkeit  auftreten.  Sie  setzt  ein 
nicht  geringes  Mafs  psychologischer 
Bildung  voraus.  Nur  unter  einer 
Bedingung  könnten  wir  daher  das 
Verfahren  des  Verfassers  billigen: 
unter  der  nämlich,  dafs  diese  Be- 
handlung nicht  den  Anfang  psycho- 
logischer Unterweisung  der  künftigen 
Erzieher,  sondern  den  Schlufsstein 
bilde.  Was  Herbart  von  der  Päda- 
gogik überhaupt  sagt*),  gilt  nicht 
zum  wenigsten  auch  von  der  päda- 
gogischen Psychologie. 

Unser  Gesamturteil  über  das  vor- 
liegende Buch  lautet:  Mit  grofsem 
Fleifs  und  mit  Gründlichkeit  ist  hier 
der  Versuch  gemacht,  in  der  päda- 
gogischen Psychologie  dem  gene- 
tischen Gesichtspunkt  Rechnung  zu 
tragen.  Schon  aus  diesem  Grunde 
allein  kann  niemand,  der  es  künftig- 
hin unternimmt,  eine  den  pädago- 
gischen Bedürfnissen  dienende  Psy- 
chologie zu  schreiben,  an  diesem 
»Versuche«  vorübergehen,  so  un- 
vollkommen derselbe  auch  ist,  so 
problematisch  die  Grundanschau- 
ungen, so  verfehlt  Darstellung  und 
Anordnung  auch  sind. 

Ludwigshafen  a.  Rh. 

H.  J.  Eisenhofen 


•)  Umritt  pld.  Vorl.,  g  7. 


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flrrlag  nou  ßltnl  ft  ftormmrrrr  ipaul  dl},  fiacmmfrrr)  in  Dice&n.. 


3abrgang  1884. 

«eft  I.  dorn,  Reftor  in  Crfoq,  bie  Diatüfmaht  in  ben  &rprerbitbung«anftatren 
„  II.  Hilf  ig,  ein  neuer ©erfucb,  bie  Uabagogtl  aU  SBiffenfdjaft  ju  populartfieren 
,,  in.   Dr.  6.  ftubinftein.  Ob«  8a§aru«  w8eben  ber  Seele."  —  2  «   «itfrl  «rapararionen 

auf  ber  matbrmatifdu'n  (»eograpbte 
B    IV.   Dr.  3ufx,  §ur  (Sinfttprung  in  &iOex*  «tpit. 

3aprgang  1886. 

«<f     I.  «.  «rab«,  ©emertungen  »u  bem  *uffa»e  be«  Semtnarleprer«  Sdinron,  ttoburg,  „Ter 
erfte  ReUgion«unterrwpt." 
„     n.   Dr  «.  «opfert,  Rechtfertigung  einiger  pabagogifcprr  «ebanten  Siliert, 
iv    HI.   l.fcerb  üeuj,  Swet  päbagogifcbe  Uftngftoerfammlungen.  *.  I>r.  Karl  3uh.  tie  «eneraloer 

fammlung  be*  ©rretn«  für  n>iffenfd,a»tlidie  «abagogtt  *u  Wingften  1885  in  «aar  a.  S. 
.    IV.   i.  Dr.  SB.  »ein,  ©emerhingen  *u  ber  Sdjrift  be«  «mn  «.  »  SaQroürt :  »anbei  unb 
«Banbel  ber  päbag.  SAule  «erbart«.   2.  ipeob.  «ogt,  »r  bte  Witgliebrt  be«  «erein*  für 


roiffenf*oftI.  fdbagoail.  8.  Dr.  Schweiber. 

^abrgang  1886 

«eft    I    l.  S.  ßefcpfe,  Sie  etpifd>e  unb  äftpettfcpe  ©ebeutung  be*  Junten*.   2.  Dr  ©liebner, 
(£.  ©.  St oq  unb  ba«  pabagogifcpe  Untoerfttättfcminar. 
.     II.   Dr  Rafcer,  Sie  TOetbobe  epnfri. 

m  VL   L  $t«f.  Dr.  Wenge,  Ste  ttnfange  be«  aatetn*Unterti<qt«  in  Sejtc.   2.  ttbr  Ufer, 

Uber  bie  SJeitung  »on  fconferenjen  be«  ßrprrrtollegtum« 
.    IV.   «.  i  1 1 1  n  e  r .  >Jeip*tg.  S«  Düte«'  ftxitif  ber  «erbarrfdjen 


3abrgang  1887. 

«e|t    L  «.  »rab«,  ©ermag  ber  Religionsunterricht  ber  beiben  erflen  Sdmliabre  eine  Okunblage 
für  bie  fittlicb-retigtöfe  ©Übung  mi  bieten? 
,    II.   ©rof.  Dr.  Stenge,  ber  beutle  4inbeit«id,ulBetein.  —  ©runo  Waennel.  über  ben  afioci- 
ierrnben  Qbaraftrr  ber  (trbtunbe. 
«eft  iii    O.  (Jifenatb,  Uber  bürftttlrn&m  Untern  djr 

„   IV.   Dr.  «ollenbad>,  ber  RedKnumerritnt  im  erfren  Scbuljarjc 

3aprgang  1888. 

«eft    L  Sr.  W üllcr,  domeniu«,  ein  Softematifer  in  ber  UJdbagogif. 
„     II.   ©rof.  Sr.  fB.  «ein,  ffleftmtitPgsunterriiljt  unb  aulturgefcpicbte. 

„  III.   Dr.  R.  Staube,  ftrittfdie  ©emerfungen  §u  ben  «auptpunften  ber  o.  Saüroürf'jdien  Sdjrift 

„»efinnung«unterridit  unb  Hulturgefdncpte." 
„    IV.   «.  «.  «ofmann,  «offen,  ber  Religionsunterricht  in  gealieberten  Sdrolen  na«  ben  8 


3aprgang  188». 

«eft    I.   l.  «.  flfrab«,  Sur  Üeb>planibeorie  mit  ©e&iequng  auf  bie  ©olMftqule  I.   2  Uro  f.  Dr. 
SB.  Rein,  Sin  neu«;«  Semtnarbutb 
n.  Üb  ol  f  ttube,  B»c  tBunbtfdjen  apper.vptiou«lebre. 

III.  9.  $idel,  Rod)  einmal  ba«  fBeimariftbe  Seminarbud). 

IV.  «.  «olle.«obeneid»e,  Sie  eelbftfinbigteit  ber  Sdjule  inmitten  oon  Staat  unb  Ätrdje. 


m 


3abrgang  1890. 

«eft     I.   «.  »rab«,  ftttti!  einiger  «orfdjlage  »ur  Bebtplanreform. 


I.   b.  »rab«,  fttiti!  einiger  «orfdjlage 
II    Kbolf  »übe    flur  «pperjeption. 
m  «buarb  b.  «artmann,  Sann  ber 


ber  ©effimiimu«  erjtebltdj  mirfen  V 
„  IV.  1.  Dr.  «.  ®'ilie,  «erbärt»  drjiebung^icl  auf  feinen  oericpiebenen  «rninn<flung«uufeu. 
2.  ffl.  SJomberg,  ®aa)red»nen. 


CUbrgang  1891. 

«eft  I.     1.  »rof.  Dr.  Sä.  Rein,  Rembranbt  als  drjieber.   2.  «.  CuiHöerfl.  Sadjredjncn.  ».  «. 
©rofec,  Sr.  «BUb.  ßinbner  —  ein  «orlaufrr  bet  ftulturftufenibee. 
„    II.   1.  «.  Cornberg,  Sadjredinen.    2.  «.  «rofje,  gr.  «äilp.  Siinbner  —  ein  «orldufer  Der 
ftulturftufenibee. 

„   UI.  St.  »oben ft ein,  3um  „Sbftem"  im  0Md)icbt4unteridJt. 

,.  IV.   Seminarbircft  or  Dr.  R.  Staube,  .']nr  «nroeubung  bor  J^ormalftufen  im  Reliaton*« 


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Neu  eingegangene  Schriften. 

Lehr-  und  Lernmittel-Magazin.  Graz. 

Zimmermann,  Handbuch  für  den  Anschauungs-Unt.  u.  die  Heimatskunde. 

Brannschweig,  Bruhn. 
Schumann-Heinze,  Leitfaden  der  preuss.  Geschichte.    Hannover,  Mever. 
Kaeller,  Wesen  und  Bedeutung  der  nationalen  Bildung  Ebendaselbst. 
Gruner,  Die  gewerbl.  Buchführung.    Stuttgart,  Bonz  u.  Co. 
Müller,  Latein.  Lehr-  u.  Übungsbuch  für  Sexta.    Altenburg,  Pierer. 
Fecht.  Griechisches  Übungsbuch  für  Obertertia.    Freiburg,  Herder. 
Albert,  Liederbuch  für  Schule.    Altenburg,  Bonde. 

Heehsenberg,  Wie  gewinnt  die  Schule  Einflusn  auf  die  Gestaltung  des  Lebens 

ihrer  Schüler.    Gütersloh,  Bertelsmann. 
Sprockhoff,  Schulnaturge.schichte.    Hannover,  Meyer. 
Twiehausen,  Naturlehre.    Halle,  Schroedel. 
Meyer,  Neue  Bahnen.    Gotha,  Behrend. 
Sachse,  Des  Lehrers  Rüstzeug.    Leipzig,  Hesse. 
Patuschka,  176  sozialpol.  Rechenaufgaben.' Gotha.  Behrend. 
Mittenzwey,  Die  Darstellungsformen  im  Rechnen.  Ebendaselbst 
Dietrich.  Fibel.    Braunschweig,  Bruhn. 
Vogel,  Die  Mittelschule.    Gütersloh.  Bertelsmann. 
Lohberg.  Kaiser-Anekdoten.    Züllichau,  Liebich. 
Dörpfeld,  Ev.  Schulblatt.    Gütersloh,  Bertelsmann. 
Richter,  Neudrucke.    3.  u.  4.    Leipzig,  Richter. 
Zopf,  Natur-  u.  Erdkunde.    Breslau,  Kern. 
Revista  de  Instruction  primaria.    Santiago  de  Chile. 
Medlcus,  III.  Prlanzenbuch.    Kaiserslautern,  Gotthold. 
Sinnarz,  8  Tage  aus  dem  Lehrerleben.    Minden.  Marowsky. 
Römpler,  Die  Form  des  Unterrichts.    Plauen,  Kell. 

Matthaei,  Das  bewusste  Sehen  in  der  Schule.  Giessen,  Riedersche  Buchh. 
Linde,  Die  Muttersprache  im  Elementarunterricht.   Leipzig,  Klinkhardt. 
Wesendonck,  Über  die  neueste,  freie  religiöse  Bewegung.  Leipzig,  MaxSpohr. 
Heinrich,  Die  religiöse  Frage.    Leipzig,  Max  Spohr. 
Die  Religion  der  kommenden  Zeit.    Leipzig,  Max  Spohr. 
Umhoefer-Ktintz,  Fibel  nebst  Begleitwort.    Halle,  Heynemann. 
Kuntz,  Normalwort  etc.    Halle,  Ebendaselbst. 

Lehmann,  Vorlesungen  über  Hülfsmittel  und  Methode  des  geogr.  Unter- 
richts.   7.  Heft.    Halle,  Tausch  u.  Grosse. 
Siegert,  Die  Periodizität  in  d.  Entwickig.  der  Kindesnatur.  Leipz,  Voigtländer. 
Butler,  Educational  Review.    June  1891.  New-York. 
Boletin  da  ensenanza  primaria.  Montevideo. 

Pünjer,  Lehr-  und  Lernbuch  der  franz.  Sprache.    II.    Hannover,  Prior. 

Scherer,  Welche  Anforderungen  stellt  unsere  Zeit  an  die  Organi- 
sation der  Volksschule.    Bielefeld,  Anders. 
Grundscheid,  Das  Schulwesen  Englands. 
Meyer-Markau,  Was  uns  eint. 

J.  Bona-Meyer,  Temperament  und  Temperamentsbehandlung. 
Wald,  Vereinfachung  der  deutschen  Rechtschreibung.    Bielefeld,  Anders. 
Anastasius  Vorwärt«,  Grundpfeiler  für  moderne  Schulreform.    Linz  1891. 
Jäger,  Der  Schwahenlandsturm  zur  Berliner  Schulreform.  Ludwigeburg, 

Eichhorn. 

Willmann.  Die  soziale  Aufgabe  der  höh  Schulen.  Brannschw.,  Viehweg. 
Cyrlax,  Über  Erziehung.    Leipzig,  Mutze. 

Räther,  Theorie  u.  Praxis  d.  Rechnungsunterrichts.  Breslau,  Morgenstern. 

Deutschmann,  Deutsche  Eigenart  etc.    Hannover,  Meyer. 

Müller.  Unterrichtsbriefe  zur  Erlernung  der  Gabelsbergschen  Stenographie. 

Barmen,  Wendt. 
Fornelli,  l'adattamento  nell'  educazione.    Bologna,  1891. 
Schweizerische  pädag.  Zeitschrift.    Zürich,  Orell  Fttasli. 


Druck  voii  G.  PSt«,  Naumburg  *.  3. 

- 

m' 

/. 

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L-    ^_ 


Pädagogische  Studien 

Neue  Folge 


Herausgegeben 
von 

Dr  W.  Rein 

Profestor  an  der  Universität  zu  Jena 


XIII  Jahrgang 

*****  W\1AAA 


Dresden 

Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer 
(Paul  Th.  Kaemmerer) 
1802 


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Inhaltsverzeichnis 

des  XIII.  Jahrganges  (1892). 


A.  Abhandlungen. 

1.  Fritz  Lehmensick,  Der  Lese-Unterricht  auf  der  Oberstufe  der 
einfachen  Volksschule  nach  Ziel  und  Methode  .... 

8.  F.  W.  D.  Krause,  Der  Pessimismus  £.  v.  Hartmanns  und  die 
moderne  Pädagogik  

3.  M-  Ftok,  Zur  Beurteilung  des  Langeschen  Buches  über 

Apperzeption  

Dr.  K.  Lange,  Erwiderung  

4.  Dr.  Karl  Ernet,  Theorie  und  Praxis  im  pädagogischen  Seminar 

B.  Mitteilungen. 

1.  Dr.  Thrändorf,  Religionsunterricht  und  Sozialdemokratie.  — 
P.  Zillig,  Die  zweite  Jahresversammlung  der  Vereinigung 
von  Freunden  der  Pädagogik  Herbart-Zillers  in  Unter- 
franken.  —  H.  Chili,  Das  Privatschulwesen  in  Preufsen. 

—  H.  Chili,  Die  Preufsische  Schuljugend  mit  fremder 
Familiensprache,  namentlich  der  polnischen  .... 

a.  Prof.  Dr.  H.  Steinthal,  Der  Philosoph  Johann  Friedrich  Her- 
bart. —  Über  den  Beginn  des  Schuljahres.  —  Eine  neue 
amerikanisch-pädagogische  Zeitschrift.  —  Leibesübungen 
und  Turnspiele  in  alter  und  neuer  Zeit.  —  III.  Haupt- 
versammlung der  Freunde  Herbartscher  Pädagogik  aus 
Schlesien  und  Posen.  —  Versammlung  der  Zweigvereine 
Altenburg,  Halle,  Jena,  Leipzig  in  Weifsenfeis.  —  Verein 
für  Herbartsche  Pädagogik  in  Rheinland  und  Westfalen. 

—  Zum  Comenius- Jubiläum.  28.  März  189a.  —  Verein 
für  Herbartsche  Pädagogik  in  Thüringen  und  Sachsen. 

—  Pref.  Dr.  Menge,  Nekrolog  von  Dr.  O.  Frick.  —  Selbst- 
anzeige von  J.  Triiper  

3.  Fr.  Franke,  Stimmen  aus  Sachsen  über  Reform  des  Religions- 

unterrichts. —  Fr.  Franke,  Etwas  vom  Lesen  und  vom 
Lesebuch  in  der  Volksschule.  —  C.  Kahle,  Die  tür  die 
Schule  bearbeiteten  Pilzwerke.  —  »Verein  von  Herbart- 
freunden« im  Eisenacher  Oberland  

4.  C.  Ziegler,  XI.  Kongrefs  für  erziehliche  Knabenhandarbeit  zu 

Frankfurt  a.  mT  —  Fr.  Franke,  Hauptversammlung  des 


Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik.  —  Mathen-Alzey, 
Der  geographische  Unterricht  aut  der  IV.  Stufe.  —  Dr. 
B.  Maennel,  Vom  IX.  Deutschen  Lehrertage  zu  Halle  a/S. 
—  Hernart,  Ideen  zu  einem  pädag.  Lehrplan  für  höhere 
Schulen.  —  t.  Keller,  Der  grüne  Heinrich,  Berlin  1889. 
Aus  dem  Pädagog.  Universitäts-Seminar  zu  Jena  .    .  . 


S.      1— 16. 

65—86. 

„  129—140. 
„  140—149. 
„  193—223- 


17—26. 


„    86 — 122. 


149—164 


„  223—251. 


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-  III  — 


C.  Beurteilungen. 

1.  W.  Armstroff,  Evangel.  Religionsbuch  f.  d.  Hand  d.  Schüler 

(Dr.  Thrändorf)   S.  26. 

2.  6.  Voigt,  Die  Bedeutung  der  Herbartschen  Pädagogik  f.  d. 

Volksschule  (H.  Grabs)   „  26—28. 

3.  H.  Scherer,  Der  Handfertigkeitsunterricht  in  der  Volks- 

schule (E.  Scholz)    28—29. 

4.  Dr.  Karl  Hartfelder,  Philipp  Melanchthon  als  Präceptor  Ger- 

maniä  (Adolf  Rüde)   „  29 — 31. 

5.  Ch.  6.  Salzmanns  ausgew.  Schriften  herausgegeb.  von  Ed. 

Ackermann  1.  Band  (H.  J.  Eisenhofer)   „  31. 

6.  F.  Leute,  Lehrbuch  der  Erz.  u.  d.  Unterr.  f.  Leser  u.  Lese- 

rinnen.  II.  Teil.    2.  Aufl.  (H.  J.  Eisenhofer)    .    .    .   .  „  32. 

7.  Hern.  Mehlist,  Volksschulkunde.    1  —3.  Teil  (Hollkamm)  .  „  32—34- 

8.  Harre,  Kleine  lateinische  Schulgrammatik  (Ernst  Haupt)  .  ,,  34 — 35. 

9.  0.  Janke,  Grundrifs  der  Schulhygiene  (Dr.  Gärtner)   35—36. 

10.  Dr.  Fr.  Junge,  Leitf.  f.  d.  Geschichtsunterricht  (Dr.  Göpfert)  „  36. 

11.  Dr.  Susanna  Rubinstein.  Aus  der  Innenwelt  (H.  Grofse)  .    .  „  36—37- 

12.  Dr.  P.  Schubert,  Ober  Hettlage  und  Schriftrichtung  (Grabs)  „  37. 

13.  Dr.  Willi  Medions,  Flora  v.  Deutschland  (Büsgen)  .    .   .    .  „  37. 

14.  Franz  Schleichert,  Anltg.  z  botanischen  Beobachtungen  und 

pflanzenphysiologischen  Experimenten  (Büsgen)    .    .    .  „  37—38. 

15.  Chr.  Ufer,  Geistesstörungen  in  der  Schule  (Leutz)    .    .   .  ,,  38 — 39. 

16.  Frledr  Junge,  Naturgeschichte  II  (Winzer)   „  39—4». 

17.  Emma  Schubaok,  Frauencharakter  und  Frauenbildung  (Dr. 

W.  Buchner)     .    .    .   ,   „  41—42. 

18.  Dr.  Job.  Mieden,  Das  Recht  der  Frau  (Dr  W.  Buchner)     .  „  41—42. 

19.  Karl  Moser,  Die  zehn  Gebote  des  Lehrers  (Winzer)  .    .   .  „  42—43. 

20.  0.  Kriigel,  Einiges  aus  dem  Leben  u.  Wirken  des  Dr.  Fr. 

Otto  (Dr.  W.  Rein)   „43. 

21.  Dietrich,  Fibel  nach  der  Schreiblese-  und  Normalwörter- 

methode (M.  Fack)   .    .    .    .  „  43 — 45. 

22.  Dr.  Georg  Müller-Frauenstein,  Handb.  f.  d.  deutschen  Sprach- 

unterricht.   2  Teile  (Dr.  A.  Bliedner)  »45—47- 

23.  A.  Ebeling.  Luthers  kleiner  Katechismus  (Dr.  A.  Bliedner)  „  47 — 48. 

24.  H.  Sehwochow,  Methodik  des  Volksschulunterrichts  (C. 

.  Ziegler)   48-49. 

25.  Tb.  Polaok,  Lehrplan  m.  Pensenverteilung  etc.  (C.  Ziegler)  „  49. 

26.  Ernst  Haupt,  Lateinische  Formenlehre  (Dr.  Unrein)  .    .    .  „  49—50. 

27.  W.  Seytter,  Materialien  z.  Heimatkunde  (H.  Grofse)  .    .    .  „  50—52. 

28.  Liiders,  Der  Volksschulunterricht  (C.  Ziegler)   „  32, 

29.  Dr.  Theod.  Walter,  Method.  Untersuch,  auf  dem  Geb  der 

elementaren  Mathematik  (H.  Weifsenborn)       .   .    .    .  „  52 — 54. 

30.  Dr   Theed.  Walter,  Algebraische  Aufgaben.    II.  Bd.  (H. 

Weifsenborn)    ,  52—54. 

32.  A.  Ernst  u.  J.  Tewe,  Lesebuch  f.  Mädchenschulen  (A.  Folz)  „  54—56. 

32.  H.  Scherer,  Welche  Anforderungen  stellt  unsere  Zeit  an  die 

Organisation  der  Volksschule?  (Dr.  B  Männel)     .    .   .  „  57. 

33.  W.  Meyer-Markau,  Was  uns  eint  (Dr.  B.  Männel)  ,  57—58. 

34.  Frledr.  Deutschmann,  Deutsche  Eigenart  (Dr.  B.  Männel)    .  „  58—59. 

35.  Andr.  Baumgarten,  Lehrgang  der  engl.  Sprache  (Georg 

Kemlein)   „  59—61. 

36.  Prüf.  Dr.  Th.  Ziegler,  Die  soziale  Frage  eine  sittliche  Frage 

(Dr.  W.  Rein)   61-63. 

37-  Ohlert,  A.,  Die  Lehre  vom  französischen  Verb  (Ludw. 

Baetgen)   „  122—123. 


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—    IV  — 


38.  Ohler!  A.,  Die  Behandig.  der  Verbalflexion  (Ludw.  Baetgen;   S.  122—123. 

39.  Dr.  0.  Stiehler,  Neusprachliche  Reformbewegung  123—126. 

40.  Dr.  0.  Stiehler,  Methodik  des  neusprachl.  Unterrichts  (Ludw. 

Baetgen)   „  123-126. 

41.  Max  Walter.  Der  französische  Klassenunterricht    I.  Stufe 

(Ludw.  Baetgen)  „  126—127. 

42.  Joh.  Rauschenfels,  Methodik  des  franz.  Sprachunterrichts 

(Ludw.  Baetgen'    127. 

43.  Dr.  Herrn.  Soltitan n,  Der  fremdsprachl.  Unterricht  (Ludw. 

Baetgen)  .  ,128. 

44.  8.  Alfle,  Leitf.  f.  d.  erst.  Unterr.  i.  Französischen  (Ludw. 

Baetgen)   .  12S. 

45.  Jul.  6utersohti,  Reform  des  neusprachl.  Unterrichts  (Ludw. 

Baetgen)  ,  164—166. 

46.  Jul.  Gntersohn,  Methodik  des  fremdsprachlichen  Unterrichts 

(Ludw.  Baetgen)  ,164—166. 

47.  Bottfr.  Ebeners  französ  Lesebuch  (Ludw.  Baetgen"   .    .    .    „  166—167. 

48.  Chr.  Ufer,  Französ.  Lesebuch  z  Gesch   d.  deutschen  Be- 

freiungskriege (Ludw.  Baetgen)  „  167 — 168. 

49.  Charles  Toussaint,  Üb.  d.  Anfang  des  franz.  Unterrichts 

(Ludw.  Baetgen^  „  168. 

50.  Joh.  Volkelt  Einführ.  i.  d.  Philosophie  der  Gegenwart  (Dr. 

W.  Rein)  „  168-170. 

51.  Prot  Dr.  Th.  Zlefller,  Fragen  der  Schulreform  (Dr.  W.  Rein)    „  170—172. 

52.  Hone  Schliepmann,  Betrachtungen  über  Baukunst  (Dr.  W. 

Rein)  ,  172—173. 

53.  W.  Pfeifer.  Theorie   u.  Praxis  der  einklassigen  Schule. 

(Hollkamm)  ,  17.?— »76 

54.  Wartenberu,  Lehrbuch  der  lat.  Sprache  (Ernst  Haupt)  .   .    „  176—177. 

55.  W.  Muller,  Lat  Lehr-  u.  Übungsbuch  I.  II.   Ernst  Haupt)    „  178. 

56.  Dr.  Hans  Muller,  De  viris  illustribus.    Lat.  Lesebuch  (Ernst 

Haupt)  ,  179—180. 

57.  Dr.  8.  Stephan,  Häusl.  Erziehung  im  achtzehnten  Jahrhundert 

(Ackermann)    „  180 — 181. 

58.  Pädagog.  Sammelmappe,  125.  Heft  (Dr.  Göpfert)      .    .    .   .    „  181  —  183. 

59.  A.  Renneberg,  Grundrifs  der  Erdkunde.  2.  Aufl.  (Dr  Göpfert)   „  183. 

60.  Dr.  Matthias  Drhal,  Lehrbuch  der  empirischen  Psychologie. 

5.  Aufl    (H.  Grosse)  „  183 — 184. 

61.  W.  Kaiser,  Schweiz,  geogr.  Bilder-Werk  (H.  Grosse)  .    .    .    „  184—185. 

62.  F.W.  Dörpfeld,  Enchiridion  der  biblischen  Geschichte.  15.  Aufl. 

(H.  Grofse)  ,  185—186. 

63.  Karl  Grundscheid,  D.  Schulwesen  Englands  (Dr.  B.  Maennel)    „  186—187. 

64.  Custav  Wustmann,  Allerlei  Sprachdummheiten  (Adolf  Rüde)    ,,  187—189. 

65.  H.  Zemmrioh,  Bedarf  die  Volksschule  einer  Vermehrung 

der  Religionsstunden?  (Fr.  Franke)  ,,  189—190. 

66.  C.  Jaoobi,  Bibel-Atlas  zum  Gebrauche  an  Lehrerseminarien 

u.  s.  w.  (E.  Scholz)  ,  190 — 191. 

67.  Dr.  Joh.  Nleden,  Deutsche  Gedichte  (Winzer)    191  —  192. 

68.  Robert  Wernecke,  Praxis  der  Elementarklasse  (F.  Hollkamm)   „  251—252. 

D.  Anzeigen. 

1.  Joh.  Meyer,  Lesebuch  der  Erdkunde.    3  Bände  „  63. 

2.  H.  Prafs,  Herbarts  Pädagogik  „  63—64. 

3.  Ad.  Diesterwegs  ausgew.  Schriften  von  Langenberg  .    .    .    „  64. 

4.  Alumneums-Erinnerungen  von  einem  alten  Kreuzschüler  .    ,,  192. 

5.  Müller  u.  Pilling,  Deutsche  Schulflora   192 


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I 


»  


Pädagogische  Studien 


Neue  Folge 
Herausgegeben 


B 


Dr.  W.  Rein 

f'raftssor  u.  r/.   Universität  Jena 


XII I. Jahrgang    Erstes  Heft 


Inhalt 

Abhandlungen:  Fritz  Lehmensick,  Der  Lese-Unterricht  auf  der 
Oberstufe  der  einfachen  Volksschule  nach  Ziel  und  Methode. 
Mitteilungen:  1.  Thrändorf,  Religionsunterricht  und  Sozial- 
demokratie. 2.  P.  Zillig,  Die  zweite  Jahresversammlung  der  Ver- 
einigung von  Freunden  der  Pädagogik  Herbart-Zillers  in  Unter- 
franken.  3.  H.  C  h i  1 1 ,  Das  Privatschulwesen  in  Preufsen.  4.  H.  C  h  i  1 1 , 
Die  Preufsische  Schuljugend  mit  fremder  Familiensprache,  nament- 
lich der  polnischen. 
C  Beurteilungen:  1.  W.  Armstroff  (Thrändorf).  2.  G.  Voigt  (Grabs). 
3.  H.  Scherer  (Scholz).  4.  Dr.  K  Hartfelder  (Rüde).  5.  E. 
Ackermann.  6.  F.  Leutz  (Eisenhofer).  7.  H.  Mehlifs  (Holl- 
kamm).  8.  Harre  (Haupt).  9.  O.  Janke  (Gärtner).  10.  Dr.  F. 
Junge  (Göpfert).  11.  Dr.  S.  Rubinstein  (Grosse).  12.  Dr.  P. 
Schubert  (Grabs).  13.  Dr.  W.  Medicus.  14.  F.  Schleichen 
(Büsgen).  15.  Ch.  Ufer  (Leutz).  16.  F.  Junge  (Winzer).  17.  E. 
Schuback,  Dr.  J.  Nicden  (Buchnerj.  18.  K.  Moser  (Winzer). 
19.  O.  Krügel  (Rein).  20.  Dietrich  (Fack).  21.  Dr.  G.  Müller- 
Frauenstein  (Bliedner).  22.  A.  Ebeling  (Bliedner).  23.  H. 
Schwochow.  24.  Fr  Polack  (Ziegler).  25.  E.  Haupt.  26.  W. 
Seytter  (Grosse).  27.  Lüders  (Ziegler).  28.  Dr.  Th.  Walter 
(Weilsenborn).  29.  J.  Tews  (Foltz).  30.  31.  W.  Meyer-Markau. 
32.  F.  Deutschmann  Maennel).  33.  A.  Baumgarten  (Kemlein). 
34.  Prof.  Fr.  Th.  Ziegler  (Rein). 
D  Anzeigen:  J.  Meyer.    H.  Prass.    Adolph  Diesterweg. 


'  Dresden 

Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer 
(Paul  Th.  KMmmerar) 


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Gesellschaft  für  deutsche  Erziehung-  und 

Schulgeschichte. 

Längst  sind  in  Deutschland  zahlreiche  wissenschaftliche  Gesell- 
schaften t  hat  ig,  uns  die  Vergangenheit  unsers  Volkes  in  Staatslehen, 
Litteratur  und  Kunst  zu  erschliessen.  Bisher  fehlte  aber  noch  eine  Ver- 
einigung, welche  den  Boden  durchforschte,  aus  dem  das  ganze  geistige 
Leben  des  deutschen  Volkes  ununterbrochen  Nahrung  und  Gestaltung 
gewonnen  hat. 

Nur  eine  planmässige  Erforschung  der  gesamten  deutschen  Er- 
ziehungs-  und  Schul^eschichte,  von  der  Universität  bis  zur  Dorfschule, 
durch  Sammlung,  Sichtung  und  Veröffentlichung  des  weitzerstreuten, 
zum  grossen  Teil  noch  verborgenen  Materials  wird  die  Quellen  der 
geistigen  und  sittlichen  Bildung  vergangener  Zeiten  ganz  aufdecken 
können. 

Eine  Aufsuchung,  Prüfung  und  Bearbeitung  der  Quellen,  wie  sie 
für  die  Staatsgeschichte  des  Mittelalters  durch  die  „Monument*  Germa- 
niae  Historicau  erreicht  wurde,  muss  auch  für  die  Erziehungsgeschichte 
unseres  Volkes  von  ihren  ersten  Anfängen  an  bis  zur  Gegenwart,  erstrebt 
werden. 

Diese  würdige  Aufgabe  kann  in  wissenschaftlich  genügender  Weise 
nur  gelöst  werden  durch  das  Zusammenwirken  vieler  Kräfte.  Es  gilt, 
den  vereinzelten  Bemühungen  auf  diesem  Gebiete  einen  Mittelpunkt  zu 
schaffen,  durch  die  Veröffentlichungen  den  Weg  der  deutschen  Bildung 
die  Jahrhunderte  hindurch  zu  erleuchten  und  den  pädagogischen  Bestre- 
bungen der  Gegenwart  Nutzen  zu  bringen. 

Zu  solchem  Zwecke  hat  sich  die  Gesellschaft  für  deutsche  Erzie- 
hungs-  und  Schul geschichte  in  Berlin  gebildet.  Sie  ladet  hierdurch  alle 
Freunde  deutscher  Kulturgeschichte  ohne  Unterschied  des  religiösen  oder 
politischen  Bekenntnisses  ein,  sich  ihren  Bestrebungen  anzusch  Ii  essen. 
Da  Jahrhunderte  hindurch  Bildungsmittel  und  Bildungsformen  in  weitem 
Umfange  den  Nationen  des  Abendlandes  gemeinsam  waren,  werden  die 
Arbeiten  der  Gesellschaft  auch  für  die  ausserdeutsche  Geistoswelt  Be- 
deutung gewinnen.  Durch  die  geplanten  Veröffentlichungen  wird  zugleich 
die  Geschichte  der  einzelnen  Fachwissenschaften  mannigfache  Förde- 
rungen erfahren. 

Die  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte 
legt  ihre  Arbeiten  nieder  in  den  Bänden  der  Monumenta  Germaniae 
Paedagogica  und  in  periodisch  erscheinenden  Mit  teilungen. 

Der  Jahresbeitrag  beträgt  5  Mark.  Die  Mitteilungen  werden 
den  Mitgliedern  kostenfrei  zugestellt.  Die  Satzungen  sind  zu  beziehen 
durch  Dr.  K.  Kehrbach,  Berlin  W,  Ansbacherstr. 56,  welcher  Beitritts- 
meldungen anzunehmen  bereit  ist. 

Uber  die  demnächst  in  Berlin  stattfindende  Hauptversammlung 
werden  die  „Päd.  Studien"  Bericht  erstatten. 


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A.  Abhandlungen. 


Der  Lese-Unterricht  auf  der  Oberstufe 
der   einfachen  Volksschule   nach  Ziel  und 

Methode. 

Von  Fritz  Lehmensick,  Dresden. 

»Der  Buchstabe  tötet. 
Der  Geist  macht  lebendig.« 

Die  sinnliche  Anschauung,  das  ist  die  Grundlage  aller 
Geistesbildung.  Die  Gesamtheit  konkreter  Vorstellungen 
bildet  das  Stammkapital  der  Menschenseele.  Alles  Bilden  ge- 
schieht an  diesem  Stoffe,  alles  Neue  baut  sich  daraus  auf. 

Diese  Bauarbeit  wird  veranlafst  durch  die  Sprache.  Worte 
erklingen  und  werden  gehört  und  rufen  die  Vorstellungen,  die  an 
sie  geknüpft  sind,  ins  Bewufstsein.  Es  sind  die  alten  Vor- 
stellungen. Aber  sie  bleiben  nicht  vereinzelt,  sie  verbinden  sich 
in  mannigfacher  Weise.  Neue,  wertvolle  Gebilde  entstehen  aus 
dem  alten  Stofife. 

Sind  die  Bausteine  die  anschaulichen  Vorstellungen  und  die 
fortbewegenden  Wagen,  Rollen  und  Hebel  die  Worte,  so  ist  das 
Gebäude,  das  aufgerichtet  werden  soll,  der  sittliche  Charakter, 
so  ist  der  Baugrund,  auf  dem  es  sicher  stehen  mufs,  die  Kultur 
der  Gegenwart.  Oder  nichtbildlich  gesprochen:  der  Zögling  soll 
so  werden,  dafs  er  den  sittlichen  Ideen  folgen  will  und  dafs  er 
ihnen  in  seinem  Wirkungskreise  auch  Geltung  zu  schaffen  vermag. 
Sittliche  Gesinnung  setzt  seinem  Willen  das  Ziel,  Verständnis  der 
Gegenwart  ermöglicht  ihm  die  Wahl  der  Mittel;  beides  ist  für 
einen  thätigen  Charakter  nötig.  Die  Schule  mufs  dem  Zöglinge 
eine  von  sittlichen  Ideen  durchdrungene,  der  Kulturhöhe  seiner 
Zeit  entsprechende  Charakterbildung  verschaffen. 

Pädagogische  Studien.   I.  I 


Wodurch  vermag  sie  das? 

Sie  würde  an  der  Erfüllung  ihrer  hohen  Aufgabe  verzweifeln 
müssen,  wenn  eines  nicht  wäre:  die  jahrhundertelange  Vorarbeit 
des  ganzen  Volkes  und  die  Ergebnisse  dieser  Entwickelung ,  der 
Schatz  des  Wissens  und  der  Erfahrung,  von  berufenen  Geistern 
niedergelegt  in  den  geschriebenen  Denkmälern  der  nationalen 
Bildung,  in  der  Litteratur.  Daran  kann  sie  den  Geist  des 
Zöglings  erquicken,  begeistern,  veredeln,  bilden.  Dieser  Schatz 
ist  das  wertvolle  Erbe  der  Söhne  der  neuen  Zeit. 

Dieser  Schatz  mufs  gehoben  werden.  Solange  das  nicht  ge- 
schieht, ist  er  wertlos.  Sein  Wert  besteht  in  der  Wirkung,  die 
er  ausübt  auf  die  Seele  dessen,  der  ihn  hebt:  in  neuen  Vor- 
stellungsverbindungen ,  Begriffen ,  geistigen  Anschauungen ,  Ge- 
fühlen, Willensantrieben,  die  durch  ihn  erzeugt  werden. 

Was  überliefert  wird ,  ist  zunächst  weiter  nichts  als  eine 
Menge  äufserer  sichtbarer  Zeichen.  Wer  den  Schatz  heben  und 
dadurch  reich  werden  will,  mufs  die  tote  Hyroglyphe  umzuwan- 
deln verstehen  in  das  lebendige  Gebilde  der  Vorstellung,  der  mufs 
lesen  können. 

Lesefertigkeit  ist  also  schon  erforderlich  für  den  Zögling, 
damit  er  durch  Sichversenken  in  den  Geist  verklungener  Zeiten, 
durch  Aufnehmen  der  Errungenschaften  der  Vergangenheit  die 
Höhe  der  Bildung  erlangen  könne,  die  seiner  Zeit  würdig  ist.  Er 
mufs  aber  die  Fähigkeit  zu  lesen  auch  besitzen,  um  an  dem  Fort- 
schritte seines  Volkes  teilnehmen  zu  können  in  der  Gegenwart, 
um  an  dem,  was  seine  Zeit  Grofscs  und  Edles,  Erhabenes  und 
Begeisterndes  erzeugt,  seinen  Geist  zu  veredeln,  seinen  Willen 
zu  kräftigen. 

Der  Charakter  soll  sich  aber  nicht  allein  vervollkommnen,  er 
soll  sich  auch  bethätigen.  Um  das  zu  können,  mufs  man 
verstehen,  mit  andern  Geistern  zu  verkehren.  Eins  der  wichtigsten 
Mittel  geistigen  Verkehrs  ist  die  Schrift.  Um  Geschriebenes  zu 
verstehen,  mufs  man  lesen  können. 

Aus  diesen  Gründen  mufs  die  Volksschule  es  als  eine  ernste 
Aufgabe  betrachten,  alle  ihre  Zöglinge  dahin  zu  bringen,  dafs  sie 
lesen  können,  d.  i.  durch  Schriftzeichen  veranlafst,  entsprechende 
Vorstellungen  zu  reproduzieren  und  sie  in  der  durch  die  Sprach- 
Formen  erforderten  Weise  zu  verknüpfen. 

So  wichtig  diese  Aufgabe  ist,  so  schwierig  ist  ihre  befriedigende 
Lösung.  An  ihr  arbeitet  die  Schule  von  der  ersten  Zeit  des 
Unterrichtes  an  bis  zum  Schlüsse  der  Schulzeit.  Sie  entläfst  den 
Zögling  mit  der  ernsten  und  wohlgemeinten  Mahnung :  das  Leben 
sei  nun  deine  Schule,  dein  Lehrmittel  sei  das  Buch,  die  groisen 
Geister  deines  Volkes,  sie  seien  deine  Lehrer! 

»Was  du  ererbt  von  deinen  Vätern  hast, 
Erwirb  es,  um  es  zu  besitzen!« 


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I 


Hat  die  Schule  ein  rechtes  Interesse  erzeugt,  so  wird  der 
Zögling  der  Mahnung  folgen  wollen;  um  es  auch  zu  können,  dazu 
gehört  aber  noch  mehr. 

Zu  erreichen,  was  dazu  gehört,  das  ist  das  Ziel  des  Lese- 
unterrichts der  einfachen  Volksschule;  den  Lese-Unter- 
richt so  weit  zum  Abschlufs  zu  bringen,  ist  ihre  Aufgabe  für  die 
Oberstufe. 

Welches  ist  nun  das  Ziel  des  Lese-Unterrichts  für 
die  Oberstufe  der  einfachen  Volksschule? 

Wie  der  Sprach-Unterricht  überhaupt,  so  hat  der  Lese-Unter- 
richt im  Besonderen  eine  doppelte  Seite:  Er  soll  den  Schüler  be- 
fähigen einmal  zur  Aufnahme  fremder  Gedanken,  das  andre  Mal 
zum  Ausdrucke  der  eignen.  Oder  anders  gesagt :  Er  soll  erzeugen 
und  ausbilden  sowohl  Sprach  Verständnis,  als  auch  Sprachfertigkeit. 
Beides  soll  geschehen  vermittelst  der  Schriftzeichen  des  Buches. 

Als  erstes  Ziel  ergiebt  sich  allgemein  ausgedrückt :  Die  Schule 
hat  den  Zögling  zu  befähigen,  gedruckte  und  geschriebene 
Worte  und  Sätze  in  Gedanken  umzuwandeln.  Sie  hat  ihn 
also  dahin  zu  bringen,  dafs,  sobald  sein  Auge  die  Schriftzeichen- 
gruppen erblickt,  in  seiner  Seele  Vorstellungen  aufsteigen  und  er 
diese  in  der  vom  Schriftsteller  gewollten  Weise  verbindet.  War 
seine  Geistesarbeit  eine  rechte,  so  mufs  er  durch  dieselbe  eine 
Kenntnis  von  den  da  behandelten  Dingen  erlangt  haben.  (Schrift- 
zeichen, Worte,  Gedanken,  Dinge.)  Er  mufs  sich  aus  dem  Lesen 
ein  Wissen  erarbeiten  können.  Hält  er  nun  in  sprachlichen 
Formen  die  neuerworbenen  Gedanken  fest,  so  ist  seine  Seele  in- 
haltlich bereichert,  und  so  mufs  es  auch  sein:  aus  dem  blofsen 
sinnlichen  Zeichen  mufs  er  neuen  geistigen  Inhalt  zu  gewinnen 
imstande  sein. 

Lesen  ist  also  thatsächlich  ein  Sammeln,  nämlich  ein  Sam- 
meln in  die  Scheuern  des  Geistes.  Aber  es  ist  nicht  ein 
blofses  Sammeln  der  Buchstaben.  Diese  Arbeit  ist  durch- 
aus nicht  Wesen  der  Sache,  sondern  nur  Vorbedingung.  Aber 
weil  die  Vorbedingung  unerläfslich  ist,  mufs  sie  erfüllt  werden. 
Die  Worte  sind  die  Reproduktionshilfen  für  die  Vorstellungen  in 
der  Seele.  Soll  die  Vorstellung,  welche  an  das  Wort  geknüpft  zu 
sein  pflegt,  das  gedruckt  dort  steht,  im  Zöglinge  wach  werden,  so 
mufs  er  die  Buchstabengruppe  umwandeln  können  in  ein  Laut- 
gebilde, das  geschriebene  Wort  in  ein  gesprochenes.  Dazu  gehört 
nicht  allein  Kenntnis  der  Schriftzeichen  und  der  Namen  für  die 
Laute,  dazu  gehört  auch  eine  durch  langjährige  Übung  erworbene 
Fertigkeit  im  Verbinden  derselben.  Die  Fähigkeit,  die  ge- 
schriebenen und  gedruckten  Zeichen  geläufig  zu  Wortbildern  zu 
vereinigen,  ja  ganze  Satzteile  mit  einem  Blicke  zu  erfassen,  muls 
auf  der  Oberstufe  der  Volksschule  zu  einer  hohen  Ausbildung  ge- 
bracht werden.    Die  Aufmerksamkeit  darf  durch  die  mechanische 


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Beschäftigung  mit  den  Zeichen  nicht  abgelenkt  werden,  diese  Seite 
des  Leseaktes  soll  in  der  That  mechanisch  —  wie  von  selbst  — 
sich  vollziehen,  damit  der  Geist  sich  ganz  und  voll  in  den  Zu- 
sammenhang der  Gedanken  vertiefen  kann.  Soll  ja  der  Schüler 
auch  später,  ohne  den  Zwang  der  Schule  aus  freiem  Antriebe  die 
in  den  Schriften  seines  Volkes  liegenden  Bildungselemente  sich 
erarbeiten.  Ist  der  Schüler  aber  nicht  imstande,  die  mechanische 
Arbeit  beim  Lesen  ohne  besondere  Mühe  abzuthun,  so  wird  gar 
bald  sein  Interesse  unter  der  Last  der  Zeichen  erlahmen. 

Es  läfst  sich  also  aus  der  Natur  des  Lesens,  wie  aus  dem 
Ziele  des  Unterrichtes  gleichzeitig  die  eine  Forderung  ableiten: 
Die  Volksschule  verschafft  dem  Zöglinge  eine  grofse  Fertigkeit  in 
der  mechanischen  Arbeit,  die  eine  Seite  des  Lesensausmacht. 

Als  sicherer  Prüfstein  des  Erfolgs  kann  die  erlangte  Fertigkeit 
im  Lesen  nicht  betrachtet  werden,  sondern  »die  Fähigkeit  selb- 
ständig über  das  Gelesene  zu  denken*  (Fürst  Bismarck) 
Die  Hauptsache  ist  ja  die,  dafs  die  Schüler  befähigt  werden,  in 
den  geistigen  Inhalt  des  Vorliegenden  einzudringen,  an  ihm  sich 
zu  bereichern,  über  ihn  zu  verfügen.  Sie  müssen  imstande  sein, 
die  neugewonnenen  Vorstellungsgebilde  festzuhalten,  sie  mit  den 
in  der  Seele  schon  eingelebten  in  Vergleich  zu  setzen,  beide  auf 
ihren  Inhalt  zu  prüfen  und  nach  ihrer  inhaltlichen  Verwandtschaft 
zu  verbinden  und  zu  trennen,  etwaigen  Widerspruch  zu  unter- 
suchen, bisherige  Irrtümer  zu  berichtigen,  mangelhaftes  Wissen  zu 
ergänzen  und  die  wertvollen  Ergebnisse  dieser  Geistesarbeit  im 
Gedächtnisse  aufzubewahren,  damit  sie  früher  oder  später  bei 
anderen  Gedankenbewegungen  fördernd  in  Wirksamkeit  treten 
können. 

Das  Wissen,  das  erworben  wird,  soll  ja  ein  lebendiges  sein. 
Also  mufs  der  Zögling  befähigt  werden,  es  lebensvoll  zu  erfassen 
und  die  neuen  Erwerbungen  zu  einem  Teile  seines  thätigen  Ich 
zu  machen. 

Leben  heifst  aber  nicht  blofs  thätig  sein.  Zum  Leben  gehört 
auch  leiden  und  geniefsen.  Es  reicht  nicht  aus,  wenn  der  Zög- 
ling sich  den  Sinn  des  Gedruckten  verstandesgemäfs  vergegen- 
wärtigt, wenn  er  das  Gelernte  wieder  verwertet  und  benutzt.  Das 
Gelesene  darf  ihn  nicht  gleichgiltig  lassen.  Er  darf  nicht  kalt 
wie  der  Geizhals  seine  Schätze  sammeln  und  anhäufen.  Er 
würde  bei  allem  geistigen  Reichtum  doch  in  seinem  Gemüte  arm 
bleiben.  Der  Schüler  mufs  die  Gedanken  mit  seinem  Ich  in  eine 
solche  Beziehung  setzen,  dafs  Gefühle  in  ihm  erwachen.  Er  mufs 
sich  hineinleben  in  die  erzählte  Lage  der  Personen,  in  ihr  Wohl 
und  Wehe.  Er  mufs  sich  hineinversenken  können  in  die  Tiefe 
ihres  Gemütes  und  ihnen  nachfühlen.  Lesen  ist  ja  auch  ein 
Sammeln  der  aufsteigenden  Gefühle  zum  Gemütszu- 
stande. 


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Das  Lesen,  das  so  unzählbare  und  reichfliefsende  Quellen 
froher  und  weher  Gefühle  erschliefst,  soll  selbst  die  Quelle  eines 
Gefühles  werden:  die  Quelle  der  Freude  regen  Interesses  und 
fröhlichen  Fleifses.  Soll  des  Zöglings  inneres  Leben  in  rechter 
Weise  gefördert  werden,  so  mufs  er  oft  und  mit  lebhafter  Freude 
der  Thätigkeit  des  Lesens  sich  hingeben.  Gute  Bücher  sollen 
seine  treuen  Freunde  werden.  Seine  Freunde,  indem  er  sie  lieb- 
gewinnt, sie  oft  aufsucht  und  mit  ihnen  gern  verkehrt,  Und  wenn 
ihn  alle  andern  draufsen  verlassen,  dann  soll  er  wissen,  dafs  sie 
ihm  treu  bleiben,  dafs  er  bei  ihnen  Trost  und  Erhebung  findet. 
Darum  soll  auch  er  ihnen  eine  Liebe  bewahren,  du  nimmer  auf- 
hört. Und  die  Lust  daran  soll  sich  vergröfsern,  je  mehr  der 
Kreis  sich  erweitert.  Mit  neuen  Freunden  soll  er  neue  Freuden 
erwerben.  Einsam  ist  er  dann  nicht  allein,  denn  ihn  umschwebt 
die  Gesellschaft  grofser  und  edler  Gedanken, 

Und  dazu  mufs  auch  die  Volksschule  die  Grundlagen  schaffen: 
Der  Leseunterricht  hat  im  Zöglinge  ein  selbstthatiges  Interesse 
an  den  Geistesschätzen  seines  Volkes  zu  wecken  und  die  l  iebe 
zur  Litte  rat ur  zu  pflegen. 

Liebe  hat  ihre  Grundlage  nicht  allein  in  dem  Bewußtsein  der 
Verwandtschaft  der  Gefühle  und  Gedanken,  in  der  sittlichen  Wert- 
schätzung, in  der  Hochhaltung  geistiger  Vorzüge  Liebe  wird 
mächtig  verstärkt  durch  das  Wohlgefallen  an  der  aufsein  Form. 

Das  Organ  dieser  Erkenntnis  ist  der  ästhetische  Ge- 
schmack. Diesen  hat  der  Leseunterricht  zu  bilden  und  zu  ver- 
edeln. Er  mufs  den  Schüler  lehren  die  Angemessenheit  und  Ein- 
fachheit des  Ausdrucks  zu  würdigen.  Er  darf  nicht  dabei  stehen 
bleiben  zum  Verständnisse  des  dichterischen  Vergleichs  diesen 
auf  seine  nackte  Bedeutung  zurückzuführen;  er  mufs  den  Zögling 
befähigen,  dafs  er  an  der  Schönheit  des  Gedankens  eine  wahre, 
lebhafte  Freude  empfinde. 

Auch  für  den  sinnlichen  Zauber  der  Poesie  muf-  sein  Ohr 
und  sein  Geist  geschärft  werden.  Der  volltönende  Klang  der 
Worte,  die  Nachahmung  der  Natur  durch  die  Laute,  das  Hervor- 
springen übereinstimmender  Klänge  in  gemessenen  Zeitabschnitten 
(der  Reim),  das  sich  gleichbleibende  Gesetz,  der  ruhende  Fol  in 
der  Flucht  der  Worterscheinungen  (der  Rythmus:,  mufs  ihm  zum 
Bewufstsein  kommen,  damit  sich  alles  zu  einer  stillen,  aber  mach 
tigen  Wirkung  in  seiner  Seele  vereinige,  so  dafs  er  von  dem 
Dichter  sagen  kann: 

»Seines  Geistes  hab*  ich  einen  Hauch  verspürt.  - 

Aber  nicht  blofs  begeistert  soll  er  werden.  Von  diesem 
Geiste  soll  auch  ein  gut  Teil  übergehen  in  sein  Inneres. 

Der  Zögling  soll  sich  das  Gelesene  zu  eigen  machen,  dafs  es 
ein  Teil  wird  seines  thätigen  Ich.  Er  soll  sich  veranlafst  fühlen  in 
seiner  Weise  den  Vorbildern,  die  er  kennen  gelernt  hat,  nachxu- 


—    6  — 

eifern.  Das  Lesen  kann  dieses  Streben  im  Zöglinge  nur  anregen. 
Es  zu  fördern,  ihm  Gelegenheit  zu  seiner  Ausbildung  zu  geben, 
das  ist  die  Aufgabe,  die  der  Unterricht  im  Stil  zu  lösen  hat. 
Der  werdende  Mensch  soll  sich  gewöhnen ,  alles ,  was  er  gedacht 
hat ,  zum  charakteristischen  Ausdruck  zu  bringen :  einfach  und 
klar,  was  einfach  und  klar  in  seiner  Seele  lebt.  Wenn  er  aber 
etwas  warm  empfunden  und  tief  gefühlt  hat,  da  soll  ihm  auch 
nicht  der  angemessene,  schöne  Ausdruck  fehlen,  der  die  gleiche 
Wirkung  ausübt  auf  die  Seelen  anderer. 

Denn  bei  allem  Reichtume  fühlt  sich  der  rechte  Mensch 
arm,  wenn  er  anderen  davon  nichts  mitteilen  kann.  Der  erworbene 
Schatz  erhält  für  ihn  erst  rechten  Wert,  wenn  er  ihn  verwerten 
kann,  wenn  er  andere  dadurch  besser,  weiser,  glücklicher  zu 
machen  vermag.  Das  Herz  bedarf  ein  zweites  Herz,  mit  dem  es 
seine  Freude  teilt  und  dadurch  die  eigene  verdoppelt. 

Dies  aber  kann  nicht  geschehen,  wenn  der  Zögling  durch 
den  Leseunterricht  blofs  befähigt  wird  Eindrücke  zu  gewinnen. 
Der  Mensch  mufs  auch  des  Ausdrucks  der  Gedanken-  und  Ge- 
mütszustände mächtig  sein. 

Ist  die  Seele  in  der  rechten  Weise  von  dem  Erworbenen  er- 
füllt und  erregt,  so  drängen  die  Gefühle  von  selbst  zum  Ausdruck. 
Sie  können  nicht  mehr  verborgen  und  still  drinnen  ruhen,  sie  treten 
durch  die  Pforte  der  Sprache  hervor  und  werden  laut.  Wefs  das 
Herz  voll  ist,  davon  geht  der  Mund  über. 

Die  Mitteilung  des  Seelisch  -  Erlebten  ist  also  dem  Menschen 
natürlich.  Sic  vollzieht  sich  von  selbst,  wozu  da  noch  der  Arbeit 
und  Mühe? 

Es  ist  zu  bedenken :  die  Seele  kann  nicht  unmittelbar  mit 
der  andern  Seele  verkehren.  Die  Brücke,  die  hinüberführt,  ist 
die  Sprache.  Diese  fafst  der  andere  auf.  Die  Schalleindrücke,  die 
ich  hervorbringe,  sind  die  Anregungen  in  seinem  Geiste.  Nicht 
wie  sehr  ich  bewegt  bin,  sondern  wie  viel  ich  von  meiner  Ge- 
mütsbewegung seiner  Seele  mitzuteilen  vermag,  davon  hängt  die 
Wirkung  ab. 

Darum  bedarf  es  auch  besonderer  Veranstaltungen  zur  Aus- 
bildung der  Sprachfertigkeit.  Darum  darf  auch  das  Lesen  nicht 
stehen  bleiben  beim  Erkennen,  es  mufs  übergehen  in  ein  bewufstes 
Schaffen,  in  ein  Können. 

Der  Zögling  mufs,  was  er  liest,  laut  werden  lassen  können  und 
dabei  (gebunden  zwar  an  die  gegebenen  Worte)  seiner  eignen  Auf- 
fassung,  seinen  Gedanken  und  Gefühlen  Ausdruck  verleihen  in 
den  Schallgebilden  durch  die  Betonung,  so  dafs  andere,  sofern 
sie  nur  die  appereipierenden  Vorstellungen  besitzen  und  der 
geistigen  Aufnahme  von  Neuem  fähig  sind,  durch  das  tönende 
Wort  eingeführt  werden  in  den  Gedankeninhalt  des  Gelesenen, 
wie  in  die  Gemütsverfassung  des  Lesenden. 


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Zunächst  ist  also  nötig,  dafs  durch  das  Vorlesen  im  Hörenden 
ein  Verständnis  für  das  Gelesene  entstehe. 

Es  sollen  Vorstellungen  wach  werden.  Die  Reproduktions- 
mittel  sind  die  gesprochenen  Worte.  Der  Vorlesende  mute  also 
imstande  sein  im  Augenblicke  die  Zeichengruppen  in  Lautreihen 
zu  verwandeln  und  sofort,  nachdem  sein  Auge  das  Wortbild  erfafst 
hat,  das  ihm  entsprechende  Schallgebilde  durch  seinen  Mund  laut 
werden  zu  lassen.  Sollen  die  gesprochenen  Worte  die  reprodu- 
zierende Kraft  haben ,  so  müssen  sie  klar  und  deutlich  in  die 
Seele  anderer  treten.  Sie  müssen  also  in  rechter  Weise  hervor- 
gebracht werden :  die  Vokale  rein,  die  Konsonanten  scharf,  die 
Laute  in  rechter  Weise  zur  Silbe  verschmolzen ,  die  Silben  ar- 
tikuliert.  (Mechanische  Arbeit  beim  lauten  Lesen.) 

Der  Vorleser  will  aber  doch  vor  allem  einführen  in  den  In- 
halt des  schriftlich  Niedergelegten.  Die  in  der  Seele  des  Hörers 
erweckten  Vorstellungen  sollen  sich  verbinden,  andere  sollen  sich 
trennen  und  einander  gegenüberstellen.  Einzelne  sollen  besonders 
hervorgehoben  und  verstärkt  werden,  sie  sollen  den  Mittelpunkt 
von  Vorstellungsgruppen  bilden,  die  Knotenpunkte  der  Reihen- 
gewebe, während  andere  nur  als  Hilfen  dienen  und  stützend  zur 
Seite  treten.  Damit  dies  kunstvolle  Zusammensetzen  der  Vor- 
stellungsgruppen sich  vollziehe  und  zwar  in  rechter  Weise,  dazu 
sind  noch  andere  Anforderungen  an  das  Vorlesen  zu  stellen ;  die 
Stammsilben  als  die  Träger  des  Sinnes  sind  im  Tone  zu  ver- 
stärken, die  Worte,  deren  sachliche  Vorstellungen  zusammenge- 
hören, müssen  in  gleicher  Weise  durch  Betonung  hervorgehoben 
werden.  Auch  die  Höhe  des  Tones  dient  als  Ausdrucksmittel: 
er  hebt  sich  bei  der  Frage,  als  wollte  die  unabgeschlossene  Vor- 
stellungsreihe hineilen  zu  dem  noch  fehlenden  Gliede  (welches 
durch  die  Antwort  gebracht  wird),  er  senkt  sich  beim  Punkte,  die 
Ruhepause  im  Gedankenflufs ,  den  Abschlufs  der  vorhergehenden 
Vorstellungsreihe  andeutend.  Der  Gedankenbewegung  entspricht 
auch  die  schnellere  oder  langsamere  Tonbewegung,  deren  Unter- 
brechung, die  Pause,  die  Scheidung  der  organischen  Glieder  des 
Satzes  bewirkt  und  das  Trennen  des  inhaltlich  Nichtzusammen- 
gehörigen wie  das  Verbinden  des  Verwandten,  also  das  Denken 
erleichtert.  Das  Lesen  mufs  nicht  allein  lautrichtig,  es  mufs,  soll 
auf  leichte  Weise  ein  Verständnis  im  Hörer  erzeugt  werden,  auch 
sinnrichtig  (logisch)  sein. 

Doch  damit  nicht  genug.  Das  Können  soll  sich  bis  zur  Grenze 
der  Kunst  erheben.  Auch  die  Gefühlsstimmungen,  der  gemessene 
Ernst,  wie  die  sorglose  Lebenslust,  die  frohe  Befriedigung  wie  der 
tiefempfundene  Seelenschmerz,  sie  alle  sollen  ihren  Ausdruck  finden, 
in  den  Klängen  der  Sprache,  um  Eindruck  hervorzurufen. 

Wie  mächtig  wird  hier  der  Leser  durch  den  Reichtum  der 
Gedanken,  durch  die  Schönheit  der  sprachlichen  Form  unter- 


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stützt !  Es  ist  die  höchste  Stufe,  die  der  Leseunterricht  erklimmen 
kann,  wenn  er  den  Schüler  zu  ausdrucksvollem  (ästhetischem) 
Lesen  befähigt,  wenn  er  ihn  befähigt,  aus  seinem  Innern  heraus 
seine  Gefühle,  wie  sie  der  geistige  Gehalt  und  die  poetische  Ge- 
stalt des  Stückes  wachgerufen,  hinüberklingen  zu  lassen  in  die 
empfängliche  Seele  des  Hörers,  dafs 

>Des  Sängers  Lied  aus  dem  Innern  schallt, 
Und  wecket  der  dunklen  Gefühle  Gewalt, 
Die  im  Herzen  wunderbar  schliefen.« 

Wir  haben  die  Aufgabe  der  Volksschule  als  eine  ernste  und 
wichtige  und  das  Ziel  des  Leseunterrichts  als  ein  hohes  und  er- 
strebenswertes erkannt.  Verheifsungsvoll  winkt  es  in  weiter  Ferne. 
Aber  wie  ist  es  zu  erreichen  ? 

Die  Wege,  die  dahin  zu  führen  scheinen,  sind  unzählbar,  doch 
es  sind  gar  viele  Irrwege  darunter.    Wie  den  rechten  finden  ? 

Unsre  Landkarte,  auf  der  wir  uns  die  Pfade  suchen,  sei  die 
Psychologie,  unsre  Wegweiser  sollen  die  grofsen  Männer  sein,  deren 
Lebt  n  und  Wirken  dem  Heile  der  Jugend  geweiht  war.  So  wollen 
wir  mit  unserer  schwachen  Kraft  versuchen,  den  kürzesten  Weg 
dahin  aufzuspüren:  die  Methode. 

Wollen  wir  den  Zögling  in  den  Stand  setzen,  dafs  er  durch 
die  Schriftsprache  seinen  Geist  bereichere,  wollen  wir  bewirken, 
dafs  wertvolle  und  edle  Gedanken  eine  Heimstätte  in  seiner  Seele 
finden,  so  müssen  wir  unser  Augenmerk  richten  auf  den  Stoff, 
der  gelesen  werden  soll.  Das  kann  kein  beliebiger  sein.  Wir 
müssen  aus  der  Fülle  des  Vorliegenden  die  rechte  Auswahl 
treffen.  Des  Zöglings  Geist  soll  gebildet  werden,  also  mufs  der 
Stoff  ein  inhaltlich  wertvoller  sein.  Der  Schüler  soll  die  Ge- 
dankenkreise lieb  gewinnen,  sich  mit  ihnen  gern  beschäftigen,  der 
Stoff  mufs  interessant  sein.  Des  Zöglings  Denken  und  Sprache 
soll  durch  die  Lektüre  veredelt  werden  :  der  Stoff  mufs  auch  seiner 
Form  nach  vollendet  sein.  Aber  da  ihn  der  Schüler  in  sich  auf- 
nehmen soll,  so  darf  er  auch  nicht  seine  Auffassungskraft  über- 
steigen ,  er  muls  ihr  angemessen  sein.  Auch  soll  der  werdende 
Mensch  in  den  Geist  seiner  Nation  eingetaucht  werden  und  soll 
die  grofsen  Dichter  seines  Vaterlandes  lieb  gewinnen :  der  Stoff 
mufs  volkstümlich  sein,  er  mufs  auch  die  Perlen  der  vaterländischen 
Dichtung  und  Sage  in  sich  bergen.  Und  wenn  er  nicht  allein 
geeignet  sein  soll,  des  Zöglings  Interesse  zu  wecken,  sondern 
auch,  es  zu  erhalten  und  fortzuleiten,  so  mufs  er  grofse,  unzer- 
stückte  Gedankenmassen  in  des  Lesers  Seele  ausbilden :  der  Stoff 
sei  ein  Ganzes  oder  schliefse  an  ein  Ganzes  sich  an. 

Bedeutungsvoll  ist  die  Auswahl,  wichtig  auch  derAnschlufs 
des  zu  Lesenden.  Der  Zögling  soll  die  fremden  Gedanken  zu 
den  seinigen  machen.    Er  mufs  diese  Gebilde,   veranlafst  durch 


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die  Worte,  in  sich  nachgestalten.  Er  muis  sie  zusammensetzen 
aus  solchen  Vorstellungen,  über  die  er  verfügt,  die  sein  geistiges 
Eigentum  durch  Anschauen  und  Denken  geworden  sind.  Da  ist 
denn  offenbar :  Er  mufs  die  dem  fremden  Stoffe  zu  gründe  liegen- 
den Vorstellungen  besitzen.  »Nur  wer  da  hat,  dem  wird  ge- 
geben!« Und  doch  sollen  es  nicht  blofs  bekannte  Stoffe  sein, 
auch  Neues  zu  erwerben  soll  der  Zögling  befähigt  werden.  Da 
mufs  denn  der  Lehrer  die  Stoffe  für  das  Lesen  wählen,  für  welche 
der  sachliche  Hintergrund  schon  durch  den  übrigen  Unterricht 
geschaffen  worden  ist.  Er  hat  solche  Stoffe  auszusuchen,  welche 
erwachtes  Interesse  weiterführen,  Altes  zum  Abschlufs  bringen, 
Neues  vorbereiten.  Aber  immer  mufs  eine  Fülle  sachlicher, 
konkreter  Vorstellungen  in  der  Schülerseelc  wohnen,  welche  dem 
Neuen  eine  gute  Aufnahme  sichert;  diese  Vorstellungen  erst  zu 
erzeugen,  das  ist  nicht  die  Aufgabe  des  Leseunterrichts.  Er  mufs 
sie  fertig  vorfinden,  um  sie  zu  verwerten. 

An  den  Geschichtsunterricht  sind  prosaisch  oder  poetisch 
dargestellte  Sagen  (Roland)  und  historische  Gedichte  (Wie  Kaiser 
Karl  Schulvisitation  hielt)  anzuschliefsen ,  oder  sie  sind  der  ge- 
schichtlichen Einheit  voranzustellen,  wo  es  methodisch  zulässig 
ist  und  empfehlenswert  erscheint.  Auch  Biographien  (Karl  der 
Grolse)  und  Bilder  aus  dem  Volks-  und  Kulturleben  (Karl  des 
Grofsen  Staatseinrichtungen  und  Familienleben),  wo  solche  vor- 
handen sind,  bieten  willkommenen  Lesestoff,  der  zu  keiner  anderen 
Zeit  so  lebhaft  erfafst  wird,  als  zu  der  Zeit,  in  welcher  die  im 
Geschichtsunterricht  gewonnenen  Vorstellungen  noch  frisch  und 
lebendig  im  Vordergrunde  der  Seele  stehen. 

Lange  vor  der  Behandlung  der  Geschichte  diese  Stücke  zu 
lesen,  würde  zumeist  wertlos  sein,  sie  aber  lange  Zeit  danach  erst 
auftreten  zu  lassen,  das  würde  unnötig  die  Arbeit  (das  Wachrufen 
der  schon  sehr  verdunkelten  Vorstellungen)  vergröfsern  und  den 
Nutzen  verringern,  denn  die  festesten  geistigen  Gebilde  entstehen 
durch  Verschmelzen  von  auf  der  Höhe  des  Bewufstseins  stehenden, 
klaren,  lebhaften  Vorstellungen.  Die  geographische  Erkenntnis  ist 
zu  beleben  durch  Reisebeschreibungen,  durch  wertvolle  und  in- 
teressante Schilderungen  von  Land  und  Leuten.  Jede  neue  Jahres- 
zeit soll  auch  eine  neue  Blüte  lyrischer  Poesie  dem  kindlichen 
Verständnisse  aufgehen  lassen. 

Das  Verständnis  für  das  Gelesene  soll  der  Unterricht  dem 
Zöglinge  erschlicfsen.  Da  mufs  denn  auch  die  rechte  Behand- 
lung des  Stoffes  dazukommen.  Es  genügt  nicht,  dafs  die  ver- 
wandten Vorstellungen  in  der  Seele  des  Schülers  sich  irgendwo 
vorfinden,  sie  müssen  auch  gegenwärtig  sein,  sie  müssen  klar  sein, 
sie  müssen  bereit  sein,  das  Neue  mit  sich  zu  verbinden.  »Der 
neudargebotene  Unterrichtsstoff  wird  vergeblich  an  die  Seelen- 
thür klopfen,  wenn  nicht  die  alten,  verwandten  Gedankenreihen 


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herbeieilen  und  Pfortnerdienst  verrichten.  Sie  müssen  das  Thor 
öffnen  und  den  Fremdling  einlassen,  sie  müssen  ihm  Aufnahme 
bereiten  und  ihn  veranlassen,  dafs  er  sich  heimisch  fühlt  und 
bleibt,  sie  allein  können  es.« 

Durch  eine  Aufgabe,  ein  Ziel  ist  der  Zögling  auf  das  sachlich 
Neue  hinzuweisen  und  zu  veranlassen,  die  verwandten  Vor- 
stellungen, die  in  seiner  Seele  wohnen,  durch  sprachlichen  Aus- 
druck auf  die  Höhe  des  Bewufstseins,  zur  Klarheit  zu  erheben. 

Dies  letztere  geschieht  in  der  vorbereitenden  Besprechung, 
in  der  das  Bekannte  reproduziert,  berichtigt,  ergänzt  und  geordnet 
wird.  Die  Vorstellungen  sind  so  zu  gruppieren,  dafs  eine  Er- 
wartung auf  das  Neue  entsteht.  Es  sind,  wo  es  thunlich  ist, 
Anfänge  von  Vorstellungsreihen  herzustellen,  deren  Fortgang  der 
Schüler  ahnen  kann  (Vermutung),  deren  Übereinstimmung  mit 
der  Wirklichkeit  der  Schüler  wünscht  (Hoffnung)  oder  fürchtet 
(Besorgnis).  Es  ist  auf  das  Unbestimmte,  Mangelhafte,  das  zu 
Ergänzende  ausdrücklich  hinzuweisen  und  der  Wunsch  nach  Be- 
friedigung des  Verlangens  zu  erwecken  (durch  Fragen). 

Ja,  rechter  Unterricht  ist  eine  Kunst  und  ihre  Ausübung  ist 
eine  schwere  Sache.  Aber  war  das  Arbeiten  hier  nach  der 
rechten  Art,  sind  alle  Naturgesetze  des  geistigen  Geschehens  be- 
rücksichtigt, so  wird  dem  Lehrer  schon  hier  eine  grofse  Freude 
zu  teil,  die  andern  Künstlern  erst  am  Ende  ihrer  Arbeit  winkt. 
Er  wird  sehen,  wie  im  Schüler  alles  nach  Befriedigung,  nach  Be- 
antwortung drängt,  wie  obzwar  in  geordnetem  Zuge  und  nicht 
wild  und  ungestüm,  so  doch  lebhaft,  mit  Lebendigkeit  und  Kraft 
die  Vorstellungsreihen  ablaufen,  wie  sie  immer  mehr  und  immer 
andere  Verstärkungen  herbeirufend,  dem  Neuen  entgegeneilen. 

Ist  nun  so  die  Seele  in  eine  der  'Aufnahme  des  Neuen 
günstige  Verfassung  versetzt,  so  ist  der  rechte  Zeitpunkt  ge- 
kommen, das  Neue  darzubieten.  Es  wird  abschnittweise  ge- 
lesen und  zwar  von  den  Schülern  selbst. 

Mag  auch  das  Verständnis  erleichtert,  der  Gemütseindruck 
verstärkt,  die  Fähigkeit  rechten  Nachahmens  vergrölsert  werden, 
wenn  zunächst  der  Lehrer  das  Lesestück  dem  Schüler  vorliest,  — 
mag  das  alles  sein,  wie  man  behauptet,  wir  können  nicht  von  der 
Forderung  ablassen,  dafs  der  Schüler  der  Oberstufe  zuerst  selbst 
an  die  schwierige  Arbeit  der  Entzifferung  der  Schriftzeichen  und 
ihrer  Umwandlung  in  Gedanken  sich  wage.  Das  ist  ja  gerade, 
was  er  im  Leseunterricht  lernen  soll.  An  das  gehörte  Wort 
Reproduktionen  von  Vorstellungen  und  Gedankenverbindungen 
anzuschliefsen,  das  kann  der  Schüler  schon  aus  den  übrigen  Unter- 
richtsgebieten her,  er  kann  auch  durch  rechten,  warmen,  herzlichen 
Ausdruck  in  der  Rede  des  Sprechenden  bewegt,  innige  Gefühle 
in  seiner  Seele  nachgestalten,  vielleicht  ist  er  sogar  imstande,  den 
Gemütszustand  der  durch  das  gehörte  Wort  in  seinem  Innern  sich 


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ausgebildet  hat,  charakteristischen  Ausdruck  durch  rechte  Be- 
tonung der  Worte  zu  verleihen.  Er  kann  das  im  Anschlüsse  an 
Gehörtes.  Der  Fortschritt,  welcher  durch  den  Leseunterricht  ge- 
schieht, ist  der:  Der  Schüler  lernt  das  alles  nun  auch  im  Anschlüsse 
an  Geschautes,  veranlafst  durch  die  Schriftgebilde  des  Buches. 
Diese  Schrift  zeichen  sollen  die  sachlichen  Vorstellungen  in  der 
Seele  wachrufen,  die  Buchstaben  sollen  den  Schüler  veranlassen, 
die  richtigen  Gedankenverbindungen  herzustellen,  die  toten  Hiero- 
glyphen sollen  die  Gemütsbewegung  in  ihm  hervorbringen.  Wenn 
der  Lehrer  dem  Schüler  das  Neue  vorliest,  ist  es  aber  anders; 
da  sind  die  Wortklänge,  die  der  Lehrermund  hervorbringt  die 
Reproduktionshilfen  für  die  Vorstellungen,  das  Vorlesen  er- 
schliefst dem  Schüler  das  Verständnis,  der  Lehrer,  nicht  das 
Buch  spricht  zu  seinem  Herzen.  Die  Arbeit  ist  dem  Schüler  er- 
leichtert, das  ist  gewifs;  aber  darin  liegt  gerade  die  Gefahr.  Wenn 
er  jetzt  liest,  ist  seine  Geistesarbeit  eine  ganz  andere.  Nicht  aus 
den  Tiefen  der  Seele  hat  er  die  Vorstellungen  herbeizuschaffen, 
sondern  aus  der  Erinnerung  an  das  soeben  Gehörte ;  nicht  selb- 
ständig wandelt  er  seinen  eignen  Weg,  er  liest  nach,  was  andere 
ihm  vorgelesen  haben.  Der  Schüler  soll  lernen,  durch  Schrift- 
zeichen  veranlafst,  einen  Gedankenaufbau  in  seinem  Innern  selbst 
herzustellen.  Ehe  er  aber  die  Schriftzeichen  sieht,  kommt  man 
seinem  Eifer,  seinem  auf  das  Neue  gerichteten  Interesse,  dessen 
Stärke  und  Kraft  auch  grofse  Schwierigkeiten  zu  überwinden  ver- 
spricht, zuvor  und  giebt  ihm  auf  eine  andere  Weise,  was  er  doch 
gerade  auf  diesem  Wege,  auf  dem  des  Lesens,  erwerben  soll! 
Man  beseitigt  damit  beinahe  alle  Schwierigkeit  —  aber  er  soll 
doch  daran  gewöhnt  werden,  dafs,  ob  auch  das  Lesen  ihm  an- 
fangs Mühe  und  Schwierigkeit  bereitet,  dafs  beharrlicher  Fleifs 
und  selbständiges  Nachdenken  am  Ende  ihm  die  ftifse  Frucht  des 
Verständnisses  und  des  ästhetischen  Genusses  reifen  läfst.  Er 
wird  ein  andermal  die  saure  Arbeit  verschmähen,  wenn  man  die 
Früchte  ihm  vorher  achtlos  in  den  Schofs  wirft.  Man  rühmt  sich, 
dafs  man  dadurch  den  Schüler  so  schnell  dazu  bringe,  daft  er 
sinngemäfs  und  ausdrucksvoll  das  Vorgelesene  dem  Lehrer  nach- 
lesen kann.  Aber  hat  das  einen  Wert?  Der  Lehrer  mit  seinem 
reichen  Geistesleben,  mit  seiner  schnellen  Auffassungsweise,  mit 
seiner  sorgfältigen  Vorbereitung  auf  den  vorliegenden  Stoff  steht 
auf  der  Höhe  der  Lage.  Mächtig  wogen  in  ihm  die  Gefühle. 
Mit  ganzer  Hingabe  seiner  Seele  bringt  er  seinen  Gemütszustand 
zum  Ausdruck.  Er  irrt  sich,  wenn  er  meint,  den  Schüler  in  Be- 
geisterung mit  fortreifsen  zu  können.  Dazu  fehlen  in  der  Schüler- 
seele zunächst  noch  alle  Vorbedingungen.  Sie  zu  schaffen,  dazu 
ist  gerade  die  langsame  Arbeit,  wie  sie  durch  das  Selbstlcsen,  das 
der  Schüler  zu  Haus  ausübt,  das  Selbstbesinnen  auf  den  Inhalt, 
das  Selbstsammeln  seiner  Gefühle,  zu  dem  er  später  veranlaist 


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wird,  günstig.  Das  schöngesprochene  Wort  vermag  nicht  mit 
einem  Zauberschlage  diesen  Geistesprozefs  zu  erregen  und  voll- 
enden, zum  mindesten  nicht  im  Kinde.  Ehe  aDer  das  Verständ- 
nis für  das  Gelesene  erzeugt  ist,  ehe  die  Gefühle  auch  in  der 
Schülerseelc  wachgeworden  sind,  ist  es  sehr  gefährlich,  zur  Nach- 
ahmung schöner  sprachlicher  Darstellung  anzuregen.  Das  ist  für 
den  Stil  schon  oft  zugegeben  worden,  es  gilt  aber  auch  für  die 
Betonung.  Man  vergesse  nicht:  Es  giebt  auch  eine  volltönende 
Rede,  in  der  eine  grofse  Begeisterung  sich  ausspricht,  obwohl 
die  Seele  des  Sprechenden  ganz  gleichgiltig  ist.  Es  giebt  auch 
eine  Heuchelei,  die  im  herzlich  warmen  Tone  der  Stimme  einen 
andern  Seelenzustand  darstellt  als  den  wirklich  vorhandenen,  und 
wahrlich,  die  klingende  Phrase,  die  blofs  im  Tonfalle  liegt  und  — 
lugt,  sie  ist  nicht  die  harmloseste.  Und  ist  es  nicht  in  gleicher 
Wr.se  eine  Unwahrheit,  wenn  der  Schüler  mit  seinem  Munde  die 
schöne  Darstellung  nachahmt,  in  der  etwa  die  Bewunderung  für 
eine  grofse  Persönlichkeit  im  Wortklang  und  Tonfall  durch  den 
begeisterten  Lehrer  zum  Ausdruck  kam,  wahrend  des  Schülers 
Hei  z  von  jener  Begeisterung  noch  nichts  verspürt,  weil  die  Geistes- 
arbeit, ja  erst  begonnen  hatte,  deren  Endergebnis  dieser  Seelen- 
zv.  tand  nur  sein  kann?  Die  Schüler  mögen  dann  noch  so  schön, 
sinngemäss  und  ausdrucksvoll  das  Vorgelesene  nachahmen,  es  gilt 
do'.h  für  sie  das  harte  Wort:  »Dies  Volk  nahet  sich  mir  mit 
seinem  Munde  und  ehret  mich  mit  seinen  Lippen,  aber  ihr  Herz 
ist  ferne  von  mir  und  vergeblich  dienen  sie  mir.« 

So  lange  diese  Gründe  noch  nicht  widerlegt  sind  und  zwar 
durch  sorgfältige  psychologische  Untersuchung,  solange  mufs  auch 
die  Forderung  aufrecht  erhalten  werden  :  Der  Schiller  der  Ober- 
klasse hat  zuerst  das  Neue  selbst  zu  lesen,  mag  auch  die  Leistung 
noch  mangelhaft  sein.  Er  soll  mit  steigender  Lust,  mit  wach- 
sendem Eifer  arbeiten.  Das  kann  er  nur  dann,  wenn  es  mit  zu- 
nehmendem Erfolge  geschieht.  Dazu  soll  ihm  gewifs  der  Lehrer 
reichliche  Handbietung  und  Hilfe  leisten.  Aber  selber  soll  der 
Schüler  versuchen,  was  er  lernen  soll:  den  unverständlichen  Schrift- 
gel.ilden  Verständnis  und  Gedanken  zu  entlocken. 

Ob  die  Aufnahme  der  im  Lesestücke  niedergelegten  Gedanken 
\vi:  klich  erfolgt  ist  und  wie  der  Aufbau  der  Vorstellungen  sich 
vollzogen  hat,  das  erfährt  der  Lehrer  durch  die  mündliche 
W  iedergabe  des  Gelesenen  von  Seiten  der  Schüler.  Bei  dieser 
ist  dem  individuellen  Ausdrucke  freiester  Spielraum  zu  gewähren. 

Die  dabei  auftauchenden  Fehler  und  Unklarheiten  gaben  Ver- 
anlassung zur  Besprechung,  die  in  den  Inhalt  des  Gelesenen 
einführt.  Die  gedruckten  Worte  waren  einmal  Gedanken,  sie 
sollen  auch  wieder  in  Gedanken  verwandelt  werden ,  nämlich  in 
Gedanken  des  Schülers.  Aber  wieder  nicht  in  beliebige  Gedanken, 
sondern  in  solche,  wie  sie  der  Schriftsteller  hatte,  der  einst  das 


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niederschrieb.  Die  Schlüssel  zum  Verständnisse  hat  der  Schüler 
in  seinem  Vorstellungsschatze.  Man  veranlasse  ihn,  aus  demselben 
die  rechten  auszuwählen  und  zu  gebrauchen.  Man  rege  ihn  an, 
den  sinnlichen  Hintergrund  der  Bilder  selbst  zu  suchen  und  auf 
die  poetische  Redeweise  anzuwenden.  Man  ermuntere  ihn,  das 
weiter  auszumalen,  was  der  Schriftsteller  mit  treffender  Sinnfülle, 
also  durch  einen  kurzen  bündigen  Ausdruck  gekennzeichnet  hat. 
Der  Schüler  mufs  so  gewöhnt  werden ,  dafs  wenn  er  nur  Worte 
sieht,  er  sich  immer  selbst  fragt,  was  sich  dabei  wohl  möge  denken 
lassen.  Der  Lehrer  hat  die  Besprechung  daher  nur  zu  leiten  und 
die  rechte  Erklärung  geschieht  nicht  über  die  Köpfe  hinweg,  nicht 
in  die  Köpfe  hinein,  sondern  aus  den  Köpfen  heraus. 

Sind  sämtliche  Abschnitte  so  bearbeitet,  so  sind  sie  zu  einem 
Gedankenganzen  zu  vereinigen  in  einer  Gesamtauffassung.  An 
dieser  Darstellung  des  Ganzen  haben  sich  möglichst  viele  Schüler 
zu  beteiligen.  Ist  sie  gelungen ,  so  ist  die  Aufnahme  der  neuen 
Vorstellungen  nach  ihrer  gleichzeitigen  Verknüpfung  gesichert. 

Nun  ist  aber  nicht  das  Lesen  als  solches,  sondern  die  Fähig- 
keit, selbständig  über  das  Gelesene  zu  denken  von  Wert.  Denken 
heifst,  Vorstellungen  verbinden  und  trennen  ihrem  Inhalte  ent- 
sprechend. Die  gewonnenen  Vorstellungen  müssen  daher  nun 
auch  nach  ihrer  Gleichartigkeit  verknüpft  werden. 

Dazu  wird  der  Zögling  veranlafst  durch  zusammenfassende 
Hauptfragen,  Anregungen,  die  ihn  auf  den  Kern  der  Sache  leiten,  die 
ihn  schliefslich  nötigen,  die  gewonnenen  Ergebnisse  seines  Nach- 
denkens zum  Hauptgedanken  des  Ganzen  zu  verdichten.  Dies  ist 
eins  der  wichtigsten  Stücke  der  Unterrichtsarbeit  und  ein  solches, 
das  bei  der  Vorbereitung  der  sorgfältigsten  Überlegung  bedarf. 

Was  der  Schüler  auf  diese  Weise  durch  sorgfältiges  Nach- 
denken sich  erarbeitet  hat,  das  kann  er  auch  tief  erfassen  und 
empfinden.  Jetzt  wird  er  die  Lage  der  handelnden  Personen  ver- 
stehen, jetzt  wird  ihn  Mitfreude  und  Mitleid  bei  der  Betrachtung 
ihres  Schicksales  ergreifen.  Jetzt  kann  er  auch,  geleitet  durch 
den  Unterricht,  ein  sittliches  Urteil  über  die  dargestellten 
Willensäufserungen  aussprechen.  Das  geschieht,  und  es  erfolgt 
die  Gesamtwiedergabc  des  geistigen  Inhalts  des  Lesestückes 
durch  den  Schüler,  ganz  nach  seinem  individuellen  Erfassen. 

Nun  hat  der  Unterricht  Sorge  zu  tragen,  dafs  durch  Ein- 
prägung  des  Inhaltes  ein  Reichtum  klarer,  zusammenhängender 
Gedanken  in  des  Schülers  Seele  zurückbleibt,  dafs  das  Wissen 
sich  lebendig  erhalte  durch  Verknüpfen  des  Erarbeiteten  mit 
andern  Gegenständen  des  betreffenden  Faches,  dafs  durch  Auflösen 
und  Wiederanderszusammenstellen  neue  Gebilde  entstehen  und  so 
zum  Interesse  am  Stoffe  die  Herrschaft  über  den  Stoff  hinzutrete. 

Im  Sachunterrichte  sind  die  hier  angefangenen  Fäden  Weiter 
fortzuspinnen.    Eine  einfache,  aber  doch  möglichst  anschauliche 


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schriftliche  Darstellung  des  Inhalts  schliefst  diesen  Teil  der  Schul- 
arbeit ab.  Wird  mit  dieser  Schülerarbeit  das  Werk  des  Schrift- 
stellers verglichen ,  so  tritt  lebhaft  zu  Tage  bei  gleichem  Inhalte 
die  Verschiedenheit  der  sprachlichen  Gestalt. 

Durch  einen  solchen  Vergleich  erst  kann  der  sprachliche 
Ausdruck,  den  der  Schriftsteller  gebraucht  hat,  recht  erkannt 
werden  als  das  passende  Kleid  des  Gedankens,  und  es  tritt  nicht 
allein  die  Angemessenheit,  sondern  auch  die  Srhönheit  der  Form 
ins  hellste  Licht. 

Die  Einführung  in  die  Würdigung  der  sprachlichen  Gestalt 
des  Lesestückes  darf  nur  so  weit  gehen,  dafs  der  Zögling  ihren 
Zauber  recht  empfinde,  nicht  so  weit,  dafs  durch  die  theoretischen 
Gedanken  die  ästhetischen  Gefühle  gestört  werden. 

Bei  Gedichten  mufs.  ehe  ihre  äufseren  Schönheiten  besprochen 
werden  dürfen,  erst  der  Wortlaut  dem  Gedächtnisse  eingeprägt  sein. 

Bei  diesen  Betrachtungen  sind  auch  die  poetischen  Ausdrücke 
zu  sammeln  und  zu  merken. 

Wenn  auf  diese  Weise  Geist  urd  Gemüt  des  Zöglings  durch 
Inhalt  und  Form  des  Gelesenen  bereichert  worden  ist,  wie  er- 
heben wir  seine  natürliche  Anlage,  von  solchem  Reich- 
tume  auch  andern  mitzuteilen  zur  Fertigkeit,  Sinn  und 
Bedeutung,  die  er  aus  den  Schriftwerken  sich  herausgelesen,  Stim- 
mung und  Gemütsbewegung,  die  seine  Seele  dabei  ergriffen,  durch 
den  flüchtigen  Klang  des  lebendigen  Wortes  auch  in  anderer 
Stelen  hinüberklingen  zu  lassen,  dafs  sie  dort  mächtig  und  wirk- 
sam werden? 

Um  dies  zu  beantworten,  müssen  wir  uns  vergegenwärtigen, 
dafs  wir  den  lebendigen  Zauber  des  gesprochenen  Wortes 
empfinden,  ohne  uns  bewufst  zu  werden,  worauf  eigentlich  seine 
Wirkung  beruhe,  ja  dafs  diese  mächtige  Wirkung  sich  bei  den 
meisten  Menschen  nur  so  lange  ungeschwächt  erhält,  als  wir  die 
Ursache  nicht  in  ihre  Elemente  zergliedern. 

Recht  vorlesen  ist  eben  eine  Kunst,  und  keine  Kunst  erblüht 
aus  Regeln  und  Anweisungen,  jede  Kunst  nimmt  ihren  Ausgang 
vom  Vorbilde.  Dieses  giebt  hier  der  Lehrer  in  seinem  Vorlesen. 
In  der  reinen  Form  der  Sprachlaute  soll  der  Sinn  des  Gelesenen 
wie  der  Gemütszustand  des  Lesenden  zur  angemessenen,  natur- 
wahren Darstellung  kommen.  Das  Lesen  soll  dem  Schüler  als 
Muster  gelten.    Also  mufs  es  mustergiltig  sein. 

Von  selbst  wird  im  Schüler  die  Lust  zur  Nachahmung  er- 
wachen. Wogen  doch  auch  in  seinem  Innern  Gefühle,  die  zur 
That  drängen.  Er  wird  die  Darstellung  versuchen,  und  sie  wird 
—  mifslingen.  Denn  Lesen  ist  keine  leichte  Sache,  recht  Vor- 
lesen ist  eine  Kunst.  Sie  auszuüben,  dazu  gehört  mancherlei. 
Den  Schüler  dazu  anzuleiten, .  dazu  bedarf  es  der  geschicktesten 
Führung,  und  zu  dieser  gehört:  Einsicht  und  Geduld. 


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Der  Lehrer  mufs  wissen,  dafs  es  für  den  Schüler  nichts 
Leichtes  ist,  Schriftzeichen  in  Gedanken  und  Gefühle  und  diese 
wieder  in  Bewegungsreihen  zu  Schallgebilden  umzusetzen.  Er  mufs 
ihm  die  unerläfsliche  Bedingung  dazu,  die  Herrschaft  des  Willens 
über  die  Sprachwerkzeuge  und  den  Ausatmungsstrom  anzubahnen 
suchen.  Er  mufs  sprachliche  Fehler  unverdrossen  verbessern,  die 
mundartlichen  Trübungen  der  Laute  unablässig  bekämpfen,  die 
rechte  Betonung,  das  sinngemäfse  Lesen  nicht  blofs  durch  Vor- 
thun, sondern  auch  durch  Begründung  aus  dem  Sinne,  wie  durch 
kurze  einleuchtende  Anweisung  erstreben. 

Den  Ausdruck  der  Gefühle  kann  er  nicht  erzwingen,  dazu 
kann  er  nur  anregen  und  begeistern,  den  von  selbst  hervor- 
sprudelnden Quell  aber  eindämmen  und  ihm  seinen  rechten  Weg 
zeigen. 

Er  darf  jedoch  nimmer  vergessen:  Was  zur  Fertigkeit  werden 
soll,  das  kann  es  nur  werden  durch  häufige  und  andauernde  Übung. 
Deshalb :  viele  Lesestunden  auf  der  Oberstufe,  fleifsige  Benutzung 
aller  Schulbücher,  Anregung  zum  häuslichen  Lesen  guter  Bücher. 
Der  Lehrer  soll  jedem  Einzelnen  seine  Kraft  und  seine  Liebe 
zu  teil  werden  lassen,  er  darf  über  dem  Einzelnen  aber  auch  wieder 
nicht  das  Ganze  aus  dem  Auge  verlieren.  Daher :  häufiges  Chorlesen 
mit  rechter  Betonung  und  mit  Halten  der  Satzzeichen  im  Wechsel 
mit  Einzellesen  der  guten  Leser  als  Muster  für  die  andern,  der 
schwachen  zur  Übung.  Diese  schwachen  Schüler  sind  auch  zum 
Lesen  besonderer  Stücke  zu  Haus  durch  tägliche  Aufgaben  anzu- 
halten, bis  ihre  Fertigkeit  die  der  anderen  Schüler  erreicht. 

Die  beste  Übung  aber  für  gute  Aussprache,  rechte  Betonung 
und  warmen  Ausdruck  ist  das  (vom  Buche)  freie  Vortragen  des 
Gelernten.  Was  verstanden  worden,  was  durch  Versenken  der 
Seele  in  den  Inhalt  dem  Schüler  lieb  geworden  ist,  das  mufs  nun 
auch  seiner  auswendigen  Seite,  seiner  Wortfolge  nach  eingeprägt, 
das  mufs  —  wie  man  sagt  —  auswendig  gelernt  werden,  damit 
es  oft  im  Chore  oder  von  einzelnen  zum  schönen  Ausdruck 
gelange. 

Das  sind  die  Höhepunkte  im  Schulleben,  wenn  bei  festlichen 
Gelegenheiten  aus  hellem  Kindesmunde  so  einfach  und  doch  so 
ergreifend  des  Dichters  Wort  erklingt,  so  dafs  es  mit  seiner 
schönen  Form  und  seinem  reichen  Inhalt  im  Gemüte  Gefühle  der 
Lust  und  Begeisterung  wachrufend,  der  feierlichen  Stunde  die 
rechte  Weihe  giebt. 

Wie  oft  haftet  es  unverlöschlich  fest  in  der  Seele  und  wenn 
andere  Töne  längst  ungehört  verhallt  sind,  da  schallt  es  empor 
aus  der  Tiefe,  ein  vergessener  Klang  aus  der  Kindheit  goldnen 
Tagen,  wie  eine  leise  Mahnung  an  Unschuld  und  Herzensreinheit 
—  und  bleibt  es  ungehört?  —  Lafst  uns  vertrauen,  dafs  es  wahr 
sei,  was  der  Dichter  sagt: 


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»Wunder  wirkt  oft  im  Gemüte 
Ein  geweihtes  Dichterwort.« 

Damit  haben  wir  in  kurzen  Zügen  den  Weg  dargelegt,  auf 
dem  nach  unserer  Überzeugung  der  Zögling  am  sichersten  dahin 
geführt  werden  könne,  was  wir  als  Ziel  des  Leseunterrichts  hin- 
gestellt haben,  zu  der  Fähigkeit,  dafs  er  aus  den  im  blofsen 
Schriftdrucke  vorliegenden  Geistesschätzen  einen  tiefen  Ein- 
druck sich  selber  erarbeite,  den  er  dann  auch  durch  die  Sprache 
zum  Ausdrucke  zu  bringen  vermag. 

Es  ist  selbstverständlich,  dafs  nicht  der  ganze  hier  dargelegte 
Gang  bei  jedem  einzelnen  Lesestücke  durchlaufen  werden  darf. 
Wir  haben  versucht,  die  Gesamtheit  der  Veranstaltungen  im  Lese- 
unterrichte darzulegen. 

Durch  unsere  Untersuchung  sind  wir  uns  der  ganzen  Schwierig- 
keit unserer  Aufgabe  bewufst  geworden.  »Wie  schwer  sind  doch 
die  Mittel  zu  erwerben,  durch  die  man  zu  den  Quellen  steigt,*  so 
zieht's  auch  uns  durch  den  Sinn. 

Da  ist  denn  die  rechte  Zeit,  dafs  wir  in  unserm  Bewufstsein 
der  Schwierigkeit  der  Arbeit  gegenüberstellen  ihre  Wichtigkeit, 
dafs  wir  uns  besinnen  auf  den  unsagbar  grofsen  Nutzen,  den 
die  Arbeit  der  Schule  dem  Kinde  bringt,  auf  die  mächtige  För- 
derung, welche  das  Geistesleben  des  Menschen  erfährt,  dadurch 
dafs  er  —  lesen  lernte. 

Durch  das  Lesen  wird  dem  Menschen  das  Thor  zum  Tempel 
der  Weisheit  erschlossen.  Das  tote  Wort  bringt  ihm  aus  ver- 
klungenen  Tagen  lebensvolle  Kunde,  er  wird  ein  Zeitgenosse  aller 
Zeiten,  und  was  andere  erlebt  und  erfahren,  davon  geht  ein  gut 
Teil  auf  ihn  mit  über. 

Er  lernt  sie  verstehen  die  grofsen  Bewegungen,  die  Fort- 
schritte seiner  Tage,  die  nationale  Erhebung  seines  Volkes.  Das 
Lesen  öffnet  die  Pforte,  durch  die  aus  der  Seele  Vorurteil  und 
Aberglaube  fliehen,  durch  die  das  Jahrhundert  mit  seinen  grofsen 
Geistern,  den  Trägern  edler  und  erhabener  Ideen,  seinen  Ein- 
zug hält. 

»Und  was  auch  äufseres  und  inneres  Schicksal  Trübes  und 
Unfreundliches  bringen  mag,  der  Mensch  hat  noch  eine  stille 
Siedelei,  in  die  er  sich  zurückziehen  kann,«  wohin  die  bösen 
Menschen  und  die  tobenden  Stürme  nicht  dringen.  Nicht  in  der 
Lust  der  Welt  braucht  er  seine  Befriedigung  zu  suchen.  Ein  gutes 
Buch  wird  ihm  Trost  und  Erhebung  und  eine  Fülle  reiner  Genüsse 
aus  seinem  eigenen  Herzen  erblühen  lassen  und  ein  Glück  — 

»Es  ist  nichtdraufsen,  da  sucht  es  der  Thor, 
Es  ist  in  dir,  du  bringst  es  ewig  hervor.« 


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B.  Mitteilungen. 


I.  Religionsunterricht  und  Sozialdemokratie. 

Um  »die  volle  Wahrheit  über  die  Gesinnung  der  arbeitenden  Klassen, 
ihre  materiellen  Wünsche,  ihren  geistigen,  sittlichen  und  religiösen  Charak- 
ter« kennen  zu  lernen  und  darauf  weiteres  Studium  und  spätere  Arbeit  zu 
bauen,  hing  der  Kandidat  Göhre  im  Juni  1890  den  Kandidaten:  ocic  an  den 
Nagel  und  zog  als  Fabrikarbeiter  nach  Chemnitz.  Dort  hat  er  unerkannt 
als  gewöhnlicher  Handarbeiter  fast  3  Monate  lang  in  einet  grofsen  Maschinen- 
fabrik »mit  den  Leuten  täglich  elf  Stunden  gearbeitet,  mit  ihnen  gegessen 
und  getrunken,  als  einer  der  ihrigen  unter  ihnen  gewohnt,  die  Abende  mit 
ihnen  verbracht,  sich  die  Sonntage  mit  ihnen  vergnügt  und  so  ein  reiches 
Material  zur  Beurteilung  der  Arbeiterverhältnisse  gesammelt  <  Was  er  er- 
lebt hat,  teilt  er  nun  in  einem  hochinteressanten,  von  warmer  Liebe  zu 
seinem  Volke  zeugenden  Buch  unter  dem  Titel  »Drei  Monate  Fabrik- 
arbeiter und  Handwerksbursche«*)  dem  Publikum  mit.  Auf  den 
reichen,  besonders  für  Lehrer  in  Grofsslädtcn  und  Fabrikdürfern  sehr  be- 
herzigenswerten Inhalt  nach  allen  Seiten  näher  einzugehen,  ist  hier  nicht 
der  Ort;  dagegen  ist  es  sicher  die  Pflicht  einer  pädagogischen  Zeitschrift, 
nachdrücklich  auf  die  Beobachtungen  hinzuweisen,  welche  Göhre  inbezug 
auf  den  Erfolg  des  üblichen  Religionsunterrichtes  gemacht  hat  Die  Haupt- 
gedanken sind  lolgende:  Die  Dorfschulbildung  zeigt  sich,  das  ist  ihr  oberstes 
Charakteristikum,  als  durchaus  religiös  und  konfessionell  dogmatisch  be- 
stimmt. Der  kleine  Schatz  von  Wissen,  den  der  schlichte  Handarbeiter 
vom  Land  besitzt,  beschränkt  sich  auf  das  Gebiet  des  profanen  Wissens 
der  Schrift  und  ist  von  dem  Stande  ihrer  geistigen  Bildung  durchaus  ab- 
hängig. Der  biblische  Schöpfungsbericht  ist  ihm  nach  wie  vor  die  eigent- 
liche Quelle  seiner  Naturauffafsung,  der  einzige  mafsgebende  Ausgangspunkt 
seiner  Gedanken  über  die  Welt.  Dazu  kommt,  »dafs  heutzutage  in  der 
Schule  dieHeilsthatsachen  des  Evangeliums  nie  In  als  persön- 
liche Lebenswahrheiten  unmittelbar,  sondern  als  Lern-  und 
Memorierstoff  lehr-  und  schulmäfsig,  wie  sie  im  Katechismus  for- 
muliert sind,  nicht  den  Herzen,  sondern  den  Köpfen  der  Kinder 
übermittelt  zu  werden  pflegen.  Der  Religionsunterricht  ist  hier  also  vor- 
wiegend Verstandesunterricht  anstatt  Erziehung  des  Charakters; 
die  christliche  Heilswahrheit  kalter  Lernstoff  anstatt  warme,  alles 
durchdringende  Lebenskraft;  Jesus  Christus  —  nach  dem  Vor- 
gange des  Dogmas  —  mehr  ein  metaphysisches  Rätsel  als  eine 
historische    gottvolle   Persönlichkeit.«     Diese  Bildung    wird  für 


•)  Leipzig,  Grunow  1891.  aaa  Seiten.  Preis  2  Mark. 
Pädagogische  Studien.  1. 


■ 


—    18  — 

den  Landbewohner,  wenn  er  in  die  Fabrik  eintritt,  die  Ursache  einer 
schweren  intellektuellen  und  religiösen  Krisis  und  mufs  fast  immer  Bankerott 
und  einer  andern  Bildung  Platz  machen.  In  den  Bürgerschulen  ist  zwar 
der  Religionsunterricht  »genau  wie  in  der  Dorfschule  vorwiegend  Kate- 
chismusunterricht, sein  Gegenstand  ist  das  logisch  mit  den  Mitteln  einer 
antiken  längstveralteten  Wissenschaft  aufgebaute  Lehrgebäude  des  kirch- 
lichen Dogmas  ...  —  und  all'  das  unter  selbstverständlicher  Anerkennung 
der  wörtlichen  Inspiration  der  heiligen  Schrift;  aber  man  erlaubt  sich 
hinsichtlich  des  letzteren  in  der  Praxis  eine  starke,  wenn  auch  still- 
schweigende Korrektur,  indem  man  in  den  übrigen  Unterrichts* 
fächern  eben  diese  nach  logischer  Notwendigkeit  allgemeingültige 
Autorität  eliminiert  und  die  moderne  Erkenntnis  hier  als  Autorität 
anerkennt  und  benutzt,  ohne  jedoch  in  eine  klare  Auseinander- 
setzung dieses  innern  Widerspruches  einzutreten.«  Wird  dann 
später  dem  Industriearbeiter  dieser  innere  Widerspruch  in  seiner  geistigen 
und  religiösen  Bildung  fühlbar  —  dafs  das  geschieht,  dafür  sorgt  die  Sozial- 
demokratie — ,  so  hat  er  gleichfalls  eine  Krisis  durchzumachen,  aus  der  er 
ebenfalls  meist  für  immer  als  ein  anderer  hervorgeht,  und  die  er  vor  allem 
»mit  der  Darangabe  des  ganzen  ihm  gelehrten  un'd  bisher  autori- 
tativen Christentums  zu  bezahlen  pflegt«.  An  die  Stelle  der  über- 
wundenen christlichen  Bildung  tritt  die  neue,  aus  »der  Wissenschaft«  ge- 
schöpfte sozialdemokratische  Bildung.  Die  Sozialdemokratie  hat  den 
Wissensdrang  der  untern  Stände  wie  niemand  belauscht  und  in  ihrer  Weise 
benutzt,  sie  hat  mit  kühnem  Griffe  die  moderne  Wissenschaft  popularisiert, 
gefälscht  und  gestrichen,  was  ihr  gut  dünkte,  alles  in  die  Farbe  der  Partei 
getaucht  und  auf  den  Kampf  mit  der  christlichen  Weltanschauung  zuge- 
schnitten. Diesem  Anstürme  vermag  das  vorwiegend  veistandesmäfsig 
(besser  gedächtnismäfsigj  angeeignete  Christentum  nicht  Stand  zu  halten; 
»vor  der  Kritik  des  modernen  realistisch  geschulten  Menschen  fallen  die 
metaphysischen  Spekulationen  des  überlieferten  Dogmas,  in  das  man  die 
Wahrheit  des  Christentums  bisher  hauptsächlich  setzte,  über  den  Haufen.« 
Nachdem  Göhre  diese  allgemeine  Thatsachc  durch  eine  Reihe  zum  Teil 
wahrhaft  ergreifender  Einzclerfahrungen  illustriert  und  ganz  besonders  das 
Trostlose  und  Hoffnungslose  dieses  materialistischen  Standpunktes  an  ein- 
zelnen Zügen  aus  dem  Leben  trefflich  nachgewiesen  hat,  schliefst  er:  »Nun 
wächst  eine  Welt  ohne  Gott  da  unten  herauf,  zieht  ihre  immer  gröfseren 
Kreise,  zwingt  die  noch  Ringenden,  Zagenden,  Schwankenden,  die  im  Grunde 
nichts  wissen  wollen  von  den  öden  Glaubenslehren  der  materialistischen 
Weltanschauung,  immer  von  neuem  in  ihren  eisigen  Bann.  Von  der 
eigenen  Kirche  ohne  Hilfe,  ohne  Aufklärung,  ohne  Führung  und  Stärkung 
gelassen  und  von  der  Atmosphäre  sozialistischer  Ideen  unentrinnbar  um- 
geben, sterben  sie  alle  einen  langsamen,  oft  qualvollen  geistigen  Tod.«  Wer 
Ohren  hat,  der  höre,  thue  die  Augen  auf  und  sehe  selbst,  was  neben  ihm 
vorgeht,  bat  er  Herz  für  sein  Volk  und  Vaterland,  dann  wird  er  auch 
freudig  Hand  anlegen,  damit  die  Verwüstung  unsers  Volkslebens  nicht  noch 
weiter  um  sich  greift.    Thrändorf. 


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—    i9  - 


2.  Die  zweite  Jahresversammlung  der  Vereinigung  von 
Freunden  der  Pädagogik  Herbart-Zillers  in  Unterfranken. 

Nachdem  an  dieser  Stelle*)  über  die  Entstehung,  Einrichtung  und 
i.  Jahresversammlung  oben  genannter  Vereinigung  Mitteilung  gemacht 
worden,  wird  es  als  Pflicht  empfunden,  auch  über  die  zweite  Jahresver- 
sammlung der  angeführten  Vereinigung  wenige  Worte  verlauten  zu  lassen. 

Um  sogleich  des  äufseren  Verlaufs  kurz  zu  gedenken,  sei  erwähnt, 
dafs  die  Versammlung  am  15.  Juli  dieses  Jahres  im  »Falken<  dahier  unttr 
erfreulicher  Beteiligung  hiesiger  wie  auswärtiger  Lehrer  stattfand.  Leider 
war  der  um  Pflege  und  Ausbreitung  der  Pädagogik  Herbart-Zillers  viel  ver- 
diente Hauptlchrer  Steimann  von  Kitzingen  diesmal  durch  Angcgriffenheit 
verhindert,  die  Verhandlungen  zu  leiten;  für  ihn  unterzog  sich  Lehrer 
Conrad  von  Kitzingen  dieser  Aufgabe.  Die  Zeit  des  Zusammenseins  war 
lediglich  angestrengter  Arbeit  gewidmet. 

Mit  der  letzteren  Bemerkung  ist  bereits  der  eigentliche  Zweck  dieser 
Zeilen  gestreift,  schlicht  anzuzeigen,  welches  Gegenstand  und  Gehalt  der 
heurigen  gemeinsamen  Besprechung  war.  Auf  den  Gegenstand  ist  schon 
früher  andeutend  hingewiesen  worden.  Wie  das  erste  mal  hauptsächlich 
der  Angelpunkt  der  Ethik,  die  Wertschätzung,  so  war  dieses  zweite  mal 
der  Angelpunkt  der  Psychologie,  die  Apperzeption,  der  Vorwurf  für  die 
Auseinandersetzungen.  Und  zwar  wurden  erörtert:  1.  Die  Apperzeption 
als  innerer  Vorgang,  2.  die  Apperzeptionsvorgänge  beim  Unterricht,  3.  die 
Apperzeptionsstufen  beim  Kind  und  bei  der  Menschheit.  Zu  allen  drei 
Punkten  waren  einlässige,  gründliche  Unterlagen  dargeboten.  Bei  der  Be- 
sprechung des  ersten  wurde  sodann  noch  das  folgende  ins  Auge  gefafst: 
Wahrnehmung  und  Apperzeption  der  Wahrnehmung.  —  Setzt  der  Über- 
gang von  der  Pcrzeption  zur  Apperzeption  eine  ursprüngliche  Anlage  dazu 
in  der  Seele  voraus?  —  Die  innere  Aktivität  beim  Vorgang  der  Apper- 
zeption. —  Wundts  Auffassung  der  Apperzeption  als  Funktion  des  Willens. 
—  Sein  Willensbegriff.  —  Unterscheidung  der  Vorgänge  blofser  Reproduk- 
tion von  Vorgängen  der  Apperzeption.  —  Die  assoziativen  und  apperzep- 
tiven  Verbindungen  unter  den  Vorstellungen.  —  Die  kennzeichnenden  Züge 
der  Apperzeption. 

Beim  zweiten  Punkt  wurde  erwogen:  Welcher  Art  ist  die  Apperzeption 
auf  jeder  Hauptstufe  in  der  methodischen  Einheit?  —  Der  Vorgang  der 
Wölbung  und  Zuspitzung  auf  der  Klarheitsstufe.  —  Fehler  inbezug  darauf 
beim  Unterricht.  —  Der  Weg  zur  Bildung  der  Begriffe  einerseits  im  Ge- 
biete der  Erfahrungen,  andererseits  im  Bereiche  des  Sittlichen  —  Grund- 
verschiedenheit darnach  zwischen  Naturkunde  und  Gesinnungsunterricht.  — 
Der  Zusammenhang  in  der  methodischen  Einheit.  — 

Endlich  beim  dritten  Punkt  wurde  überlegt:  Der  Übergang  des  Kindes 


•)  P.  St.  1891,  I.  H ,  38  f. 

2 


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von  der  phantasiemäfsigen  zur  tatsächlichen  Auffassung  in  seinem  Zu- 
sammenhang mit  der  Ausbildung  des  Selbstbewufstseins.  —  Decken  sich 
die  Entwickelungsstufen  eines  Volkes  in  praktischer  Hinsicht,  welche  Vogt*) 
annimmt,  mit  den  kulturgeschichtlichen  Stufen  der  allgemeinen  gesell- 
schaftlichen Ent Wickelung,  welche  Ziller**)  aufstellt?  —  Der  Einflufs  der 
geschichtlichen  Mächte  auf  das  Kind  in  seiner  Wichtigkeit  für  die  Er- 
ziehung. -  Beobachtung  des  Volkes,  —  Ungünstige  Rückwirkungen  der 
grofsen  Schulen  und  der  grofsen  Klassen  auf  eine  individualisierende  Er- 
ziehung. — 

Zurückschauend  auf  die  ganze  zweite  Generalversammlung  der  Freunde 
der  Pädagogik  Herbart-Zillers  in  Unterfranken,  mufs  man  wohl  gestehen: 
Es  wurde  das  Zeugnis  gegeben  von  dem  redlichen  Bemühen,  die  ernsten 
Fragen,  deren  Erwägung  die  Erziehung  verlangt,  auch  mit  Ernst  anzu- 
greifen und  nach  bestem  Vermögen  zu  durchdringen.  Dadurch  wird  aber 
die  Zuversicht  genährt  und  befestigt,  dafs  das  Wesen  und  die  Bedeutung 
der  Pädagogik  Herbart-Zillers  bei  uns  zunehmend  klarer  erkannt  und  rich- 
tiger beurteilt  w'crden,  und  dafs  ihr  Einflufs  auch  auf  unsere  Schulen  stetig 
wachse. 

Würzburg,  23.  Juli  1891.  P.  Zillig. 


3.  Das  Privatschulwesen  in  Preussen. 

In  der  Zeit,  als  die  Fürsorge  für  die  öffentlichen  Schulen  noch  nicht 
so  ausgiebig  war  wie  heute,  hatte  das  Privatschulwesen  in  Preufsen  einen 
breiteren  Boden  als  jetzt  und  private  Schulen  ersetzten  in  gröfserem  Um- 
fange die  öffentlichen.  In  den  alten  Provinzen  des  preufsischen  Staates 
befanden  sich  im  Jahre  1861  84021,  im  Jahre  1864  88064  Kinder  in  Privat- 
schulen; im  Jahre  18S6  war  jene  Zahl  auf  63  144  herabgegangen,  und  im 
Staate  jetzigen  Umfanges  sank  der  Besuch  der  Privatschulen  von  107  121 
Schülern  im  Jahre  1871  auf  77  136  im  Jahre  1886.  Insbesondere  sind  die 
kleineren  Privatschulen  mehr  und  mehr  eingegangen:  im  Jahre  1871  zählten 
die  vorhandenen  durchschnittlich  2,39  Klassen  und  57,3  Kinder,  1886  aber 
3,13  Klassen  mit  63,8  Kinder.  Die  gröfste  Privatschulc  befindet  sich  im 
Regierungsbezirke  Düsseldorf;  dieselbe  hatte  1886  1266  Schulkinder. 

Die  Privatschule  mit  dem  Lehrziele  der  Volksschule  hat  in  Preufsen 
kaum  noch  eine  Bedeutung;  im  Jahre  1886  zählten  die  248  Schulen  dieser 
Art  im  ganzen  Staate  zusammen  nur  8763  Kinder,  darunter  3693  Knaben 


•)  Erläuterungen  i.  Jahrb.  d  V.  f.  w.  P.  XVI,  S.  40  f. 
♦♦)  Jahrb.  d.  V.  f  w.  P.  YIII,  117  f. 


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—     21  — 

und  5070  Mädchen,  welche  von  233  vollbeschäftigten  Lehrkräften,  nämlich 
129  Lehrern  und  204  Lehrerinnen,  unterrichtet  wurden.  Dagegen  sind  die 
Privatschulen  mit  dem  Ziele  der  Mittelschule  noch  jetzt  ein  schätzbares 
Glied  unseres  Unterrichtswesens;  sie  überwiegen  der  Zahl  nach  sogar  die 
öffentlichen  Mittelschulen,  erreichen  aber  allerdings  nicht  deren  Umfang: 
während  in  576  öffentlichen  Schulen  dieser  Art  134  937  Kinder  unterrichtet 
wurden,  sind  in  den  961  privaten  Mittelschulen  nur  68373  Kinder  ermittelt, 
und  jede  derselben  zählte  im  Durchschnitt  nur  wenig  über  71  Kinder. 
Diese  Schulen  dienen  ganz  überwiegend  zur  Ausbildung  der  weiblichen 
Jugend;  denn  unter  den  68  373  Schülern  derselben  waren  nur  12  625  Knaben, 
dagegen  55  748  Mädchen,  und  auch  wenigstens  ein  Viertel  der  Knaben  hält 
sich  jedenfalls  nur  vorübergehend  in  diesen  Anstalten  auf;  denn  3016  Knaben 
und  3030  Mädchen  wurden  in  gemischten  Klassen  unterrichtet,  ohne  Zweifel 
Kinder  jüngsten  Alters,  von  denen  die  Knaben  nach  Zurücklegung  der 
ersten  Schuljahre  sicherlich  ausnahmslos  auf  andere  Lehranstalten  über- 
gehen. 

An  den  privaten  Mittelschulen  unterrichten  3126  vollbeschäftigte  Lehr- 
kräfte, darunter  704  Lehrer  und  2422  Lehrerinnen,  aufserdem  2994  Hilfs- 
lehrkräite  und  826  Handarbeitslehrerinnen. 

Trotz  ihrer  verminderten  Bedeutung  haben  die  Privatschulen  noch 
heute  eine  wichtige  Stellung  [im  öffentlichen  Leben:  sie  bieten  einem 
grofsen  Teile  des  weiblichen  Lehrpersonals  eine  wenn  auch  oft  bescheidene 
Unterkunft,  und  das  ist  in  Anbetracht  der  sonstigen  Lage  desselben  durch- 
aus nicht  zu  unterschätzen.  Die  öffentlichen  Volks-  und  Mittelschulen 
zählen  unter  58  765  vollbeschäftigten  Lehrkräften  nur  7869  oder  etwas  über 
1 1  Proz.  Lehrerinnen ;  in  den  entsprechenden  Privatanstaltcn  dagegen  be- 
finden sich  unter  3459  dergleichen  Lehrkräften  2616  oder  rund  76  Proz. 
Lehrerinnen.  Die  öffentliche  Volksschule,  namentlich  auf  dem  platten 
Lande  und  insbesondere  in  den  überwiegend  evangelischen  Gegenden,  ver- 
hält sich  gegen  die  Anstellung  von  Lehrerinnen  so  ablehnend,  dafs  im 
ganzen  Staatsgebiete  z.  B.  nur  442  evangelische  Lehrerinnen  in  den  öffent- 
lichen Volksschulen  auf  dem  platten  Lande  arbeiten,  während  2304  katho- 
lische ebenda  vorhanden  sind,  hiervon  allerdings  nicht  weniger  als  2092  in 
Rheinland  und  Westfalen.  Einzelne  rühmliche  Ausnahmen,  darunter  die 
Reichshauptstadt  und  die  Provinz  Schleswig-Holstein,  vermögen  die  allge- 
meine Lage  der  Lehrerinnen  nicht  gründlich  zu  bessern,  sie  können 
höchstens  und  werden  hoffentlich  vorbildlich  wirken.  Deshalb  aber  hat  die 
Privatschule  ihre  besondere  Bedeutung,  weil  sie  neben  der  Stellung  als 
Erzieherin  im  Hause  eine  sehr  schätzbare  Zufluchtsstätte  für  geprüfte 
Lehrerinnen  ist,  und  von  diesem  Standpunkte  aus  wird  vielleicht  mancher 
grundsätzliche  Gegner  der  Privatschule  ihr  doch  einiges  Interesse  zuwenden 
dürfen. 

Thorn.  H.  Chili. 


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22  — 


4.  Die  Preussische  Schuljugend  mit  fremder  Familien- 
sprache, namentlich  der  polnischen. 

Dir  letzte  Statistik  des  Schulwesens  hat  sich  auch  auf  die  Familien- 
s;  rar  lu  t|Cr  Schüler  erstreckt.  Es  wurde  ermittelt,  welcher  Sprache  sich 
.In  Kinder  in  ihren  Familien  gewöhnlich  bedienen.  Das  Ergebnis  dieser 
Au'n,ihim;n  ist  von  hohef'Wichtigkeit.  Einerseits  zeigt  es  die  Verbreitung 
un<l  M:üke  der  fremdsprachlichen  Elemente  im  Volke  und  andererseits 
Lust  <  rrkennen,  wie  sehr  der  Unterricht  in  manchen  Bezirken  und  Kreisen 
durch  < L ie  sprachliche  Verschiedenheit  beeinträchtigt  werden  mufs.  Wir 
v. nllr-i  kshalb  an  der  Hand  der  Statistik  einen  Überblick  über  die  Vcr- 
Im< um;  <  der  Schuljugend  mit  fremder  Familiensprache  geben. 

['.<■'.  Aufnahme  der  Statistik  befanden  sich  in  den  öffentlichen  und 
pnvairii  Volks-  und  Mittelschulen  und  in  den  sonstigen  niederen  Schulen 
Srni  ii  i  Übungsschulen,  Blindenanstalten  etc.)  im  ganzen  5  082  252  Schüler. 
rarr.rKrr  in  den  öffentlichen  Volksschulen  4838247  Kinder.  Von  diesen 
^].rar:u'i,  in  ihren  Familien: 

Aus  allen  niederen      Aus  den  öffentlichen 
Schulen:  Volksschulen: 


1 

Nu  deutsch*) 

4  426  679  -— 

87,10  Proz. 

4  188  857  — 

86,58 

\  1  polnisch 

503064  = 

9.9t> 

» 

500  315  - 

io,35 

i 

I    I  lisch  und  deutsch 

72  740  = 

i,43 

> 

70  868  — 

1,46 

•t 

Nu!  litauisch 

12754  = 

0,25 

• 

12752  = 

0,26 

Litauisch  und  deutsch 

8  393  - 

0,17 

> 

8372  — 

0,17 

wendisch 

9961  ~ 

0,20 

9961  -= 

0,20 

\Y  ndisch  und  deutsch 

4  419  — 

0,09 

» 

4  419  = 

0,09 

■ 

Nur  sonst  slavisch 

8761  = 

0,17 

> 

8  760  — 

0,18 

s.m-.v-i  slavisch  u.  deutsch 

2828  = 

0,06 

> 

2  823  — 

0,06 

10. 

Nut  dänisch 

24651  = 

0,49 

» 

24  08S  — 

0,50 

1 1 

1 1   •  ch  und  deutsch 

1  627  = 

0,03 

> 

1  380  — 

0,03 

12. 

N  u    ine  andere  nicht 

«Lutsche  Sprache 

4  538  - 

0,09 

» 

4  049  = 

0,08 

'  v 

I    u  mdere  nicht  deutsche 

^[ 'räche  und  deutsch 

1  837  = 

0,04 

* 

l  603  — 

0,03 

Auf  dem  platten  Lande,  woselbst  die  Schwierigkeiten  der  unterricht- 
lithcn  Versorgung  ohnehin  schon  gröfser  sind  als  in  den  Städten,  sind  die 
sprachlichen  Verschiedenheiten  noch  beträchtlicher.    Dort  wurden  in  allen 


*i  Im  einem  Mißverständnis  cler  Zahlen  tu  begegnen,  mag  ausdrücklich  bemerkt  werden, 
i..f  .|u  Kinder,  welche  al*  polnisch  oder  slavisch  oder  dänisch  und  deutsch,  oder  als  nur 
[.■a,:,  mir  slavisch,  nur  dänisch  redenden  Familien  entstammend  aufgeführt  sind,  selbstvcr- 
•u.isi-.!l:c:i    ihrerseits  der   deutschen  Sprache  im  vierten  Schuljahre   mächtig  werden  resp.  ge- 


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—    23  — 


niederen  Schulen  gezählt  3353443  Schüler,  darunter  3334341  der  öffent- 
lichen Volksschulen.    Von  diesen  sprachen  in  ihren  Familien: 

Aus  allen  Schulen  :       Aus  den  öffentlichen 

Volksschulen : 


I 

Nur  deutsch 

2  780  1 19 

82,90 

Proz.  2  761  687  = 

82,83 

2. 

Nur  polnisch 

448  468 



13,37 

> 

448  268  — 

1 3,44 

.v 

Polnisch  und  deutsch 

52  029 

— 

'.55 

> 

51   863  = 

4. 

Nur  litauisch 

12  730 

0,38 

> 

12  730  ~ 

0,^8 

Litauisch  und  deutsch 

8  287 



0,2s 

8  286  = 

0,2s 

6. 

Nur  wendisch 

9867 

0,29 

> 

9867  = 

0,30 

7- 

Wendisch  und  deutsch 

3  988 

0,12 

: 

3  988  = 

0,12 

8. 

Nur  sonst  slavisch 

8257 

0,25 

> 

8257  = 

0,25 

9- 

Sonst  slavisch  u.  deutsch 

2  533 

0,08 

» 

2  531  :r- 

0.05 

10. 

Nur  dänisch 

21  144 

0,63 

> 

21  125  = 

0,63 

11. 

Dänisch  und  deutsch 

967 

0,03 

> 

933  =- 

0.03 

12. 

Nur  eine  andere  nicht 

deutsche  Sprache 

3  592 

0,11 

> 

3  3^7  = 

0,10 

13. 

Eine  andere  nicht  deutsche 

Sprache  und  deutsch 

1  462 

0,04 

> 

1  439  = 

0.04 

Demnach  waren  von  sämtlichen  Schülern  der  niederen  Schulen  655  573 
oder  12,9  Proz.  der  Gesamtzahl  aus  Familien,  in  denen  man  sich  einer 
fremden  Sprache,  und  zwar  meistens  derselben  ausschliefslich  bediente. 
Auf  dem  Lande  war  das  sogar  bei  17,1  Proz.  der  Schüler  der  Fall.  Nun 
verteilen  sich  die  fremdsprachlichen  Elemente  über  das  Staatsgebiet  sehr 
ungleich.  Während  sie  in  manchen  Bezirken  weit  über  den  Durchschnitts- 
satz hinausgehen,  haben  andere  Landesteile  nur  wenig  oder  gar  keine 
Schüler  nichtdeutscher  Familiensprache.  Zu  den  letzteren  ^gehören  die 
Provinzen  Pommern,  Sachsen,  Hannover,  Westfalen  und  Hessen- Nassau, 
sowie  der  Regierungsbezirk  Potsdam  und  die  Stadt  Berlin.  Die  anderen 
Provinzen  resp.  Bezirke  weisen  Gebiete  mit  starken  fremdsprachlichen 
Elementen  auf.  Die  polnische  und  slavische  Sprache  ist  in  den  Provinzen 
Posen,  Schlesien,  Ost-  und  Westpreufsen  vertreten.  Das  Litauische  hat 
seinen  Sitz  in  Ostprcufscn,  das  Wendische  in  den  Regierungsbezirken 
Frankfurt  a.  O.  und  Liegnitz  und  das  Dänische  in  Scheswig-Holstein.  In 
letzterer  Provinz,  sowie  in  Rheinland  finden  sich  noch  andere  fremdsprach- 
liche Elemente. 

Wie  aus  den  obigen  Tabellen  zu  ersehen,  nimmt  die  polnische  Sprache 
bei  der  sprachlichen  Mischung  der  Bevölkerung  die  erste  Stelle  ein.  Sie 
verbreitet  sich  über  ganze  Regierungsbezirke  und  Provinzen.  Die  anderen 
fremden  Sprachen  findet  man  dagegen  nur  in  kleineren  Gebieten.  So  ent- 
fallen die  26278  Schüler  aus  dänisch  sprechenden  Familien  namentlich  auf 
die  4  Landratskreise  Hadersleben,  Sonderburg,  Apenrade  und  Tondern. 
In  den  ersten  beiden  beträgt  die  Zahl  der  nur  dänisch  sprechenden 
Schüler  aber  94  und  93  Proz.  und  in  den  letzten  beiden  noch  87  bezw. 
54  Proz. 


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Das  Gebiet  der  wendischen  Sprache  umfafst  die  Kreise  Hoyerswerda 
und  Rothenburg  im  Regierungsbezirk  Liegnitz  und  die  Kreise  Kottbus, 
Knlau,  Guben  und  Spremberg  im  Bezirke  Frankfurt  a.  0.  Am  stärksten 
vcrlu citet  ist  sie  auf  dem  platten  Lande  der  Kreise  Kottbus  und  Hoyers- 
werda In  ersterem  gab  es  58,  in  letzterem  42  Proz.  Schüler  aus  nur 
wendisch  sprechenden  Familien.  Dazu  kamen  noch  12  bezw.  10  Proz.  mit 
wendischer  und  deutscher  Familiensprachc. 

Tue  litauische  Sprache  hat  ihren  Hauptsitz  im  Landgebiete  der  ost- 
prcnlsivchen  Kreise  Memel,  Tilsit,  Heydekrug,  Ragnit,  Pillkallen,  Niederung 
und  Fabiau.  In  den  ersten  beiden  wurden  je  43  Proz.  Schüler  mit  nur 
litauischer  Familiensprachc  ermittelt,  in  Heydekrug  37  Proz.  und  in  den 
anderen  zwischen  9  und  13  Proz.  Dazu  kam  noch  eine  Anzahl  litauisch 
und  deutsch  redender  Kinder.  Geringe  litauische  Elemente  fanden  sich 
noch  in  den  Städten  der  Kreise  Memel,  Tilsit,  Ragnit,  Stallupöhncn,  Inster- 
tnir*r  und  Goldap. 

Die  polnische  Sprache  hat  die  stärkste  Verbreitung  im  Regierungs- 
bezirk Tosen  und  in  Oberschlesien,  sodann  in  der  südlichen  Hälfte  Ost- 
preufsens,  im  Regierungsbezirk  Bromberg  und  in  Westpreufsen.  In  der 
Pr-'vinz  Posen  wurden  189  135  Schüler  rein  polnischer  und  13  149  gemischter 
1- Vun il hm  spräche  gezählt.  Die  Mehrzahl  derselben  entfiel  auf  den  Re- 
Hi<  run^sbezirk  Posen,  denn  es  waren  vorhanden  im  Regierungsbezirk: 

aus  nur  polnisch  aus  polnisch  und  deutsch 

sprechenden  Familien: 

lVs.cn  135666  Schüler  =  64,16  Proz.    8074  Schüler  =  3,82  Proz. 

Bremberg  53  4*>9        *        "  46,92     »        5<>75        »       ~  4.45  » 

Wahrend  also  im  Regierungsbezirke  Posen  67,98  Proz.  aller  Schüler 
aus  Familien  waren,  in  denen  die  polnische  Sprache  im  Gebrauch  ist,  galt 
dns  im  Bezirk  Bromberg  nur  von  51,37  Proz.  der  Schuljugend  oder:  Aus 
nur  deutsch  sprechenden  Familien  stammten  im  Regierungsbezirke  Posen 
\2.o2  Proz.,  im  Bezirke  Bromberg  48,63  Proz.  der  Schüler  der  Öffentlichen 
und  privaten  Volks-  und  Mittelschulen.  —  In  der  Provinz  Schlesien  gab  es 
10s  j  t,o  Schüler  aus  Familien  mit  nur  polnischer  Sprache  und  27240  aus 
Familien  mit  polnischer  und  deutscher  Sprache.  Dieselben  entfielen  fast 
ausschliefslich  auf  den  Regierungsbezirk  Oppeln,  und  auf  die  Kreise 
Namslau,  Wartenberg,  Strehlen  und  Bricg  im  Regierungsbezirk  Breslau. 
In  den  anderen  Kreisen  des  letzteren  und  im  Bezirk  Liegnitz  ist  das 
polnische  Element  verschwindend  gering.  In  den  4  Kreisen  Namslau, 
Wartenberg,  Strehlen  und  Brieg  waren  von  36  171  Schülern  der  öffentlichen 
und  privaten  Volks-  und  Mittelschulen  zusammen  8372  (23,1  Proz.)  rein 
polnischer  und  4466  (12,3  Proz.)  polnischer  und  deutscher  Zunge,  so  dafs 
hier  über  35  Proz.  der  Schuljugend  aus  polnisch  redenden  Familien 
stammen.  Im  Regierungsbezirk  Oppeln  waren  unter  281  984  Schülern  der 
Volks-  und  Mittelschulen  159828  (56,6  Proz.)  aus  nur  polnisch  sprechenden 
und  22  661  (8  Proz.)  aus  polnisch   und  deutsch  sprechenden  Familien.  — 


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In  Ostpreufsen  ist  die  polnische  Sprache  im  südlichen  Teile  verbreitet,  in 
den  Kreisen  Rastenburg,  Rössel,  Allenstein,  Ortelsburg,  Neidenburg  und 
Osterode  des  Regierungsbezirks  Königsberg  und  in  den  Kreisen  Angerburg, 
Goldap,  Oletzko,  Lyck,  Lotzen,  Sensburg  und  Johannisburg  des  Bezirks 
Gumbinnen.  In  den  genannten  6  Kreisen  des  Bezirks  Königsberg  waren 
von  67424  Schülern  der  Volks-  und  Mittelschulen  36669  (54,3  Proz)  rein 
polnischer  und  6060  (8,9  Proz.)  polnischer  und  deutscher  Zunge,  so  dafs 
hier  über  63  Proz.  der  Schuljugend  aus  polnisch  redenden  Familien 
stammen.  In  den  genannten  7  Kreisen  des  Bezirks  Gumbinnen  ist  das 
polnische  Element  etwas  schwächer.  Hier  wurden  unter  56715  Schülern 
24  757  (43,6  Proz.)  mit  ausschliefslich  polnischer  und  9969  (17,5  Proz.)  mit 
gemischter  Familiensprache  gezählt,  mithin  waren  über  61  Proz.  aus 
polnisch  redenden  Familien.  —  In  Westpreufsen  giebt  es  ein  kleines  Gebiet 
ohne  polnische  Sprache,  nämlich  die  Kreise  Stadt  Danzig ,  Danziger 
Niederung  und  Elbing.  In  den  anderen  Teilen  der  Provinz  wurden 
31  191  Schüler  (32,9  Proz.)  aus  Familien  mit  nur  polnischer  Sprache  und 
14  260  (5,6  Proz.)  aus  Familien  mit  polnischer  und  deutscher  Sprache 
gezahlt.    Von  denselben  entfallen  auf  den  Bezirk: 

nur  polnisch         polnisch  und  deutsch 

sprechende  Kinder 

Marienwerder:     55  960  (36,1  Proz.)  9633  (6,2  Proz.) 

Danzig:  27224(43,2     »    )  4503  (7,1     »  ) 

Line  leicht  zu  erklärende,  aber  nichtsdestoweniger  bemerkenswerte 
Erscheinung  ist  es,  dafs  in  allen  Landesteilen  mit  polnischer  Bevölkerung 
die  polnische  Sprache  auf  dem  platten  Lande  viel  stärker  vertreten  ist, 
als  in  den  Städten.  Wie  bedeutend  die  sprachliche  Verschiedenheit  in 
dieser  Beziehung  ist,  zeigen  folgende  Zahlen.  Es  wurden  ermittelt:  a)  nur 
polnisch,  b)  polnisch  und  deutsch  in  den  Familen  sprechende  Schüler  der 
Volks-  und  Mittelschulen: 

in  den  polnischen  Landesteilen  der  Regierungsbezirke 
Posen:  Bromberg:       Breslau:  Oppeln: 

ab  ab  ab  ab 

In  den  Städten:  42,4  4,7  Proz.  36,4  6,i  Proz.  0,9  1,3  Proz.  18,5  15,4  Proz. 
Auf  dem  Lande:  72,3  3,4     »     51,1  3,7     >    28,4  14,9     »     65,4    6,3  » 

Königsberg:  Gumbinnen:  Danzig:  Marienwerder: 
ab  ab  ab  ab 

In  den  Städten:    11,0  16,5  Proz.  6,1  22,4  Proz.  7,7  i3,4Proz.  17,9  7,6  Proz. 

Auf  dem  Lande:  63,5    7,3     »    48,1  17,0    >     48,0    6,3    »     40,95.8  > 

Die  Ergebnisse  der  Statistik  lassen  erkennen,  wie  die  polnisch  redende 
Bevölkerung  bereits  ihren  Zug  nach  Westen  begonnen  hat;  denn  keine 
Provinz  entbehrt  derselben  mehr  ganz.  Geringe  polnische  Elemente  finden 
sich  in  jeder  derselben.  Selbst  Berlin  zählt  103  Kinder,  welche  in  ihren 
Familien  nur  polnisch,  und  415  Kinder,  welche  polnisch  und  deutsch  reden. 


—     26  — 


Dieser  Umstand  ist  ein  neuer  Sporn  für  die  Unterrichtsverwaltung,  die 
deutsche  Sprache  in  den  Schulen,  welche  von  Kindern  polnischer  Familien- 
sprache besucht  werden,  zu  pflegen.  Was  sich  in  dieser  Beziehung  bei 
dem  Entgegenkommen  der  Bevölkerung  erreichen  läfst.  mag  die  Thatsache 
beweisen,  dafs  in  den  masurischen  Kreisen  des  Regierungsbezirks  Gum- 
binnen,  wo  43,65  Pror.,  in  den  Landschulen  sogar  48,14  Proz.  der  Kinder 
nur  polnische  Kamiliensprache  haben,  der  Konfiermandenunterricht  nur  in 
deutscher  Sprache  erteilt  wird. 

Thorn  H.  Chili. 


C.  Beurteilungen. 


L 

Evangelisches   Religionsbuch    für  die 

Hand  der  Schüler,  enthaltend:  Ge- 
bete, Biblische  Geschichten,  Kir- 
chengeschichte, Bibelkunde,  Kate- 
chismus und  Kirchenlied  Be- 
arbeitet von  W.  Armstroff, 
Stadtschulinspektor  iu  Duisburg. 
Ausgabe  B.  Preis  dauerhaft  ge- 
bunden 80  Pf.  5  Aurl  Langen- 
salza, Beyer  ü.  Söhne  1891. 

So  lange  wir  für  unsere  Schulen 
keine  brauchbare  Schulbibel  haben 
und  die  treffliche  schweizerische 
>  !•  amilienbibel«  nicht  einführen  dür- 
fen, wird  man  für  die  Behandlung 
defl  alten  Testamentes  sicher  zu  einer 
sogenannten  »Biblischen  Geschichte« 
greifen  müssen,  für  die  eigentliche 
Heilsg«  schichte  dagegen  sollte  man 
entschieden  die  Bibel  selbst  zu 
Grund«  legen,  denn  es  ist  doch  sicher 
eine  Hauptaufgabe  der  Schule,  dafs 
sie  die  Zöglinge  zu  eigenem,  selb- 
ständigen Forschen  in  der  Schrift 
anregt.  Die  von  A.  vorgeschlagene 
konzentrische  Anordnung  der  Ge- 
schichten, bei  welcher  »die  Schüler 
der  3  unteren  Stufen  nur  einzelne 
Z  u  g  e  gewisser  Persönlichkeiten 
kennen  lernen,«  kann  ich  aus  nahe- 
liegenden psychologischen  Gründen 
nicht  billigen.  Dafs  der  Katechismus- 


unterricht nicht  neben  der  bib- 
lischen Geschichte  hergehen  darf, 
sondern  aus  derselben  herauswachsen 
mufs,  ist  richtig,  doch  würde  ich  die 
Bibelsprüche  nicht  den  Geschichten 
beifügen,  sondern  sie  vielmehr  unter 
Hinweis  auf  die  zugehörige  Ge- 
schichte in  den  Katechismus  ein- 
reihen. Die  Bilder  aus  der  Kirchen- 
geschichte scheinen  mir  den  sonst 
üblichen  leitfadenmäfsigen  Ton  ziem- 
lich glücklich  vermieden  zu  haben. 
Eine  Bibelkunde  in  der  gebotenen 
Form  ist  überflüssig. 

Dr.  Thrändorf. 
D. 

G  Voigt,  Die  Bedeutung  der  Herbart- 
schen  Pädagogik  fui  die  Volks- 
schule. Schönebeck  a.  d  E.  R. 
Neumeister.    1,20  M.    82  S. 

Der  Verfasser  ist  Seminardirektor 
in  Barby  a.  d.  E.  und  steht,  was 
seine  philosophischen  Anschauungen 
anlangt,  nicht  auf  herbartischem 
Boden.  Er  gehört  jedoch  zu  den- 
jenigen Kritikern,  die  an  die  Be- 
urteilung der  Herbart  -  Zillerschen 
Pädagogik  mit  ebensoviel  Ernst  und 
Gerechtigkeit  als  Besonnenheit  und 
Vorurteilslosigkeit  hervortreten,  die 
ganze  Schrift  durchweht  das  Bewufst- 
scin,  dafs  der  Schule  hohe  Aufgaben 


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—     27  - 


gestellt  sind  und  ein  warmes  päda- 
gogisches Interesse.  Dadurch  sticht 
dieselbe  sehr  vorteilhaft  ab  von  den 
Arbeiten  anderer  Nichtherbartianer. 
die  schnell  zum  Absprechen  fertig 
sind  und  in  ihre  Urteile  aufserdem 
Spott  und  Galle  mischen. 

Der  Verfasser  hat  sich  seine  Be- 
urteilung nicht  leicht  gemacht,  son- 
dern er  ist  an  die  Quellenschriften 
Herbarts  gegangen  und  hat  dieselben 
seinen  Studien  untergelegt.  Doch 
gewinnt  man  den  Eindruck,  als  ob 
er  Ziller,  den  bedeutendsten  Nach- 
folger Herbarts,  nicht  ebenso  fleifsig 
gelesen,  bezw.  nicht  voll  und  ganz 
gewürdigt  habe  Dies  ist  insofern 
nachteilig,  weil  Ziller  die  Ideen  des 
letzteren  fortgeführt  und  praktisch 
ausgebaut  hat  und  aufserdem  als  der 
beste  Interpret  Herbarts  angesehen 
werden  mufs.  —  Beginnen  wir  zu- 
nächst mit  demjenigen,  worin  Voigt 
sich  der  Herbartschcn  Pädagogik 
gegenüber  zustimmend  verhält.  Er 
anerkennt  dankbar  die  weitergehende 
Zwecksetzung  des  Unterrichts  durch 
Herbart  gegenüber  der  gewöhn- 
lichen, dafs  die  Schule  nur  Kennt- 
nisse und  Fertigkeiten  anzueignen 
und  aufserdem  zu  erziehen  habe.  — 
Sodann  spricht  er  neidlos  aus,  dafs 
Herbart  es  gewesen  ist,  der  die 
Pädagogik  wissenschaftlich  begründet 
hat  (S.  17).  —  Bei  der  Untersuchung 
der  Frage:  Wie  wirkt  man  durchs 
Vorstellen  aufs  Wollen?  zieht  der 
Verfasser  den  Begriff  »Interesse*  in 
seine  Untersuchungen  hinein  und 
sagt,  dafs  die  Herbartsche  Pädagogik 
denselben  ganz  bedeutend  vertieft 
und  hinsichtlich  der  ihm  gebühren- 
den Stellung  umgestaltet  habe.  Seine 
Auslassungen  hierüber  (S.  37  u.  f) 
sind  sehr  beachtenswerte.  Hinsicht- 
lich der  Forderung  des  vielseitigen 
gleichschwebenden  Interesses  stimmt 
er  voll  und  ganz  zu  und  verlangt 
auch  für  die  Volksschule  erziehen- 
den Unterricht  und  die  glcichmäfsige 
Pflege  aller  Interessen  Das  Interesse 
erkennt  er  als  denjenigen  Punkt,  in 
welchem  das  Vorstellen  in  Wollen 
übergeht  oder  doch  im  Übergange 
zu  demselben  begriffen  ist;  weil  der 
letzte  Zweck  für  alle  Schulthätigkcit 
in  der  Bildung  zur  Sittlichkeit  liegt, 


so  sei  die  durch  das  Interesse  be- 
wirkte Bewegung  des  Willens  die 
erste  unentbehrliche  Voraussetzung 
für  jenen  Zweck  (S.  52J. 

Des  Weiteren  beschäftigt  sich  Ver- 
fasser damit  darzuthun,  wie  die  Her- 
bartsche Pädagogik  auch  die  Ele- 
mente aufweise,  durch  deren  Zu- 
sammenwirken der  Unterricht  be- 
fähigt werde,  jenes  Interesse  zu 
begründen;  gleichzeitig  anerkennt  er 
in  den  sogen.  Formalstufen  die  rich- 
tige Theorie  für  das  Lehrverfahren 
(S.  57-68). 

Besonders  verdient  noch  der  Er- 
wähnung, dafs  Voigt  eine  Umge- 
staltung des  Katechismusunterrichts 
auf  Grund  psychologischer  Erwäg- 
ungen fordert,  ganz  im  Sinne  Zillcrs, 
Thrändorfs,  Staudes,  von  Rhodens 
u.  a.  Er  sagt:  »Da  der  Katechismus 
ein  System  von  Systemen  ist,  so 
kann  es  für  die  zusammenfassende 
Behandlung  desselben  nur  eine 
Stelle  geben,  nämlich  am  Ende  des 
gesamten  Unterrichts  in  der  Religion, 
wenn  es  darauf  ankommt,  die  nach 
einander  gewonnenen  allgemeinen 
Ergebnisse  zu  einem  abschliefsenden 
System  zusammenzufassen  Für  diese 
Stelle  ist  der  Katechismus  unent- 
behrlich; für  jede  andere  aber  ist 
die  systematische  Behandlung  des- 
selben mit  den  psychologischen  Ge- 
setzen unvereinbar  (S.  61).  S.  63 
wirft  Verfasser  die  ernste  Frage  auf, 
ob  die  unbestreitbare  Thats;:chc, 
dafs  der  Religionsunterricht  für  die 
religiöse  Bildung  der  Massen  sich 
nicht  annähernd  so  fruchtbar  erweist, 
wie  man  es  von  der  Gotteskraft  des 
Evangeliums  erwarten  sollte,  nicht 
in  der  Verfrühung  und  dem  schlicfs- 
lichcn  Überwiegen  des  Katechismus- 
unterrichts, sowie  in  seiner  forma- 
listischen Behandlung  mit  begründet 
sei. 

Der  Verfasser  hat  am  Schlüsse 
sowie  inmitten  seiner  Untersuchungen 
wiederholt  die  hohe  Bedeutung  der 
Herbartschen  Pädagogik  unumwun- 
den anerkannt,  er  hat  die  eingangs 
gestellte  Frage,  ob  jene  imstande 
sei,  der  Volksschule  der  Gegenwart 
zu  bieten,  dessen  diese  bedarf,  be- 
jaht (S.  St).  Wenn  er  dies  nicht 
rückhaltlos  thut,  sondern  gegen  ein- 


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—     28  — 


zelnc  Teile  der  Herbartschen  Theorie 
Widerspruch  erhebt,  so  verdient  sein 
abweichendes  Urteil  vollste  Beach- 
tung und  gründlichste  Prüfung.  Als 
Rezensent  kann  ich  den  hiefür 
nötigen  Raum  nicht  beanspruchen, 
ich  hoffe,  dafs  dies  an  anderer  Stelle 
in  einer  eingehenden  Arbeit  ge- 
schehen werde.  Hier  mufs  es  ge- 
nügen, die  wichtigsten  Einwendungen 
anzuführen.  Dieselben  richten  sich 
zunächst  gegen  die  metaphysischen 
Voraussetzungen  Herbarts.  Verfasser 
bestreitet  die  Einfachheit  und  Un- 
verändcrlichkeit  des  Scclenwcsens; 
er  meint  ferner,  die  Seele  werde 
nach  der  H. sehen  Erklärungsweise 
gegenüber  dem  psychischen  Ge- 
schehen zu  einem  thatenlosen  Zu- 
schauer degradiert  H.  sei  es  nicht 
gelungen,  die  Gesamtheit  der  psy- 
chischen Vorgänge  so  zu  deuten, 
dafs  für  diese  nach  ihrem  ganzen 
Umfange  ein  einheitlicher  Grund 
empirisch  -  psychologisch  nachge- 
wiesen wäre  (S.  20),  die  Herbartsche 
Analyse  der  psychischen  Prozesse 
sei  demnach  als  mifslungen  zu  be- 
trachten; in  der  Thatsachc,  dafs  die 
Seele  vorstellt,  könne  kein  Grund 
dafür  erblickt  werden,  dafs  sie  fühle 
oder  begehre,  vielmehr  müsse  die 
Ursache  hierzu  in  einer  ursprüng- 
lichen Fähigkeit  gesucht  werden. 
Auf  diese  Weise  wird  Verfasser  ver- 
anlagst, auf  das  absolute  Werden  sich 
zu  stützen.  Wenn  es  ihm  in  Anbe- 
tracht der  reichen  Geistesentwicklung 
als  eine  Ungereimtheit  erscheint,  die 
Seele  für  unveränderlich  anzusehen, 
so  ist  dies  wohl  darauf  zurückzu- 
führen, dafs  Verfasser  Geist  und 
Seelenwcscn  nicht  scharf  auseinander- 
hält. Weiter  behauptet  er,  dafs  die 
Metaphysik  H.  den  wichtigsten  In- 
teressen widerstreite  (24  j,  ja  sogar 
die  Unmöglichkeit  der  Willensfrei- 
heit in  sich  schliefse  (2(>  u.  f.).  Ein 
anderer  Irrtum  sei  Herbarts  Meinung, 
den  Willen  selbst  bilden  zu  können; 
es  führe  zu  Enttäuschung,  anzu- 
nehmen, dafs  irgend  eine  Gestaltung 
des  Gedankenkreises  die  Macht  bc- 
säfsc,  den  Willen  mit  psychologischer 
Notwendigkeit  einem  bestimmten 
Ziele  zuzulenken  (33)  u.  a.  m.  In 
pädagogischer   Hinsicht   meint  der 


Verfasser,  die  Forderungen  der  Kon- 
zentration des  Unterrichts  sowie  die 
der  Stoffanordnung  gemäfs  des  kultur- 
historischen Fortschritts  ablehnen  zu 
müssen ,  trotzdem  er  den  Mangel 
eines  für  Stoffwahl  und  Ordnung 
notwendigen  durchgreifenden  Prin- 
zips zugiebt  und  daneben  die  Zer- 
splitterung des  Geistes  infolge  des 
üblichen  Unterrichts  beklagt.  Auch 
die  hinsichtlich  dieser  Punkte  er- 
hobenen Bedenken  erfordern  eine 
gründliche  Berücksichtigung  und  ein- 
gehende Beantwortung. 

Glogau.  H.  Grabs. 

III. 

Der  Handfertigkeitsunterricht  in  der 
Volksschule.  Von  H.  Scherer, 
Schulinspektor  in  Worms. 
Erschienen  in  der  Sammlung  pä- 
dag.  Vorträge  von  W.  Meyer- 
Markau,  Heft  o    Preis  40  Pf. 

Der  Verfasser  des  vorliegenden, 
im  Lenrervcrein  zu  Worms  gehaltenen 
Vortrages  ist  einer  von  den  Wenigen, 
welche  gegen  die  jetzt  herrschende 
Strömung  in  der  Frage  der  Knaben- 
Handarbeit  Stellung  nehmen.  Schon 
während  der  Verhandlungen  über  die 
genannte  Frage  in  einer  Nebenver- 
sammlung des  8  deutschen  Lehrer- 
tages zu  Berlin  betonte  der  Verfasser 
die  seiner  Ansicht  nach  vom  rein 
erziehlichen  Standpunkte  aus  mafs- 
gebenden  Leitsätze  für  den  Unter- 
richt in  der  Knaben-Handarbeit.  Diese 
liegen  uns  nun  in  erweiterter  Form 
vor.   Es  sind,  kurz  gefafst,  folgende: 

Der  Handfertigkeitsunter- 
richt schliefst  sich  enge  an 
den  anderen  Unterricht  an.  Er 
ist  die  Anwendung  jener  erwor- 
benen Kenntnisse,  welche  eine  Dar- 
stellung (bes.  eine  körperliche)  durch 
die  Hand  zulassen.  Er  wird  so  zum 
ABC  der  Kunst  im  Volksschul- 
unterrichte. Die  Übungen  sind  nach 
dem  Grundsatz  >Vom  Leichten  zum 
Schweren<  zu  ordnen.  (S.  5.)  Als 
richtige  Ergänzung  des  Unter- 
richtes ist  diese  Art  des  Arbeits- 
unterrichtes allgemein  einzuführen. 
Eine  obligatorische  Einführung  des 
Arbeitsunterrichts  als  besonderer 
Lehrgegenstand  und  in  derWcise 


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-  29 


wie  ihn  der  »Verein  für  Knaben- 
Handarbeits-Unterricht«  vertritt ,  ist 
aber  abzuweisen.  (S.  9  )  —  Die  letztere 
Form  derselben  gehört  in  die  Fort- 
bildungsschule. (S.  8.)  —  Schon 
in  jener  Vorversammlung  wurde  dem 
Verfasser  nur  schwach  zugestimmt 
und  auch  jetzt  dürfte  er  mit  seinen 
Anschauungen  ziemlich  vereinzelt  da- 
stehen. 

Wir  finden  aber  gerade  darin 
den  Wert  des  Schriftchens,  dafs  es 
vom  ausschliefslich  pädagogischen 
Standpunkte  die  Frage  erörtert, 
selbst  auf  die  Gefahr  hin,  in  der 
fast  unbedingt  herrschenden  Tages- 
strömung gänzlich  zu  verhallen.  Wir 
teilen  die  prinzipielle  Auffassung  des 
engen  Anschlusses  des  Handfertig- 
keitsunterrichtes an  die  anderen 
Fächer  durchaus,  wie  wir  das  auch 
an  anderer  Stelle  theoretisch  ver- 
treten haben  und  es  an  der  Seminar- 
Übungsschule  zu  Jena  praktisch 
üben.  Recht  Schade  ist  es,  dals  der 
Verfasser  des  Schriftchens  diese 
prinzipielle  Frage  nicht  mehr  ver- 
tieft hat  und  dafs  er  auf  die  Dar- 
stellung der  von  ihm  gemachten 
praktischen  Erfahrungen  nicht 
näher  eingegangen  ist.  Solcher  be- 
darf es  jetzt  vor  allem.  Doch  ver- 
spricht er  Erfahrungen  zu  sammeln 
und  späterhin  einen  Lchrplan  auf- 
zustellen. Wir  sehen  ihm  mit  In- 
teresse entgegen.  Die  auf  S.  n 
mitgeteilten  Versuche  sind  zu  allge- 
meiner Natur,  als  dafs  sich  über  die- 
selben ein  endgültiges  Urteil  fällen 
liefse.  -  Zum  Schlüsse  macht  der 
Verfasser  auf  ein  neu  erschienenes 
Werk  »Anschauung  un  l  Darstellung 
von  Joseph  Kumpa.  Mit  48  Figurcn- 
tafeln.  Selbstverlag  des  Verfassers. 
Darmstadt  1890«  aufmerksam,  dessen 
Verfasser  in  ähnlichem  Sinne  den 
Handarbeitsunterricht  auffafst ,  wie 
hier  dargelegt  worden  ist  und  der 
alljährlich  in  Darmstadt  einen  Kursus 
für  Lehrer  über  »Bildung  des  Farben- 
sinns, Körpersinns  und  Darstellung 
von  Körpern«  abhält.  Wir  kommen 
auf  das  Schriftchen  und  diese  Kurse 
vielleicht  gelegentlich  noch  zurück. 

Jena. 

E.  Scholz. 


IV. 

Dr.  Karl  Hartfelder.  Philipp  Melanch- 
thon  als  Praeceptor  Germaniac.  7. 
Bd. der  MonumentaGermaniae 
Paedagogica.  (Schulordnungen, 
Schulbücherund  pädagogische  Mis- 
cellaneen  ausden  Landen  deutscher 
Zunge.  Unter  Mitwirkung  einer  An- 
zahl von  Fachgelehrten  herausge- 
geben von  Karl  Kehrbach.)  Ber- 
lin, A.  Hofmann  &  Komp  1S8S. 
XXIV.  u  687  S.  Lexikon-Oktav. 

Der  Inhalt  des  Buches  wird  um- 
grenzt durch  die  Bezeichnung  Me- 
lanchthons  als  Praeceptor  Germaniae. 
Es  soll  mithin  weder  eine  Biographie, 
noch  eine  allseitige  Würdigung  Me- 
lanchthons  sein  Sein  Leben,  sowie 
seine  theologische  und  juristische 
Wirksamkeit  ist  nur  insoweit  be- 
trachtet, als  der  angestrebte  Zweck 
es  gebot. 

Den  Unterschied  seiner  Darstellung 
von  den  früheren  sieht  der  Verfasser 
darin,  dafs  er  glaubt,  »Melanchthon 
in  seiner  Eigenschaft  als  Praeceptor 
Germaniae  historisch,  d.  h.  im  Zu- 
sammenhang mit  seiner  Zeit  gewür- 
digt zu  haben.  So  verdienstlich  Ar- 
beiten wie  die  von  Planck,  Schlott- 
mann u  a.  sind,  sie  leiden  fast  aus- 
nahmslos an  dem  Fehler,  dafs  sie 
Melanchthon  zu  sehr  lostrennen  von 
der  älteren  Generation ,  von  der  er 
gelernt  hat,  und  von  den  mitstreben- 
den Zeitgenossen,  denen  er  gegeben 
und  von  denen  er  empfangen  hat. 
Insbesondere  aber  hatten  die  meisten 
früheren  Bearbeiter  nur  eine  sehr 
mäfsige  Kenntnis  der  humanistischen 
Bewegung,  und  doch  ist  Melanchthon 
Humanist,  ehe  er  Reformator  wird. 
Noch  fremder  als  der  Humanismus 
war  sodann  vielen  die  Geschichte 
des  Schulwesens  und  hauptsächlich 
der  Hochschulen,  und  doch  ist  die 
Bedeutung  Melanchthons  als  des 
Organisators  und  Rcorganisators 
höherer  und  niederer  Schulen  nicht 
kleiner,  wie  die  des  Theologen.« 

Polemik  ist  von  der  Darstellung 
ferngehalten.  Die  Nachprüfung  der 
letzteren  wird  durch  zahlreiche  li- 
terarische Nachweise  und  im  Wort- 
laute angeführte  Belegstellen  er- 
möglicht. 


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30  — 


Beigegeben  ist  ein  Bild  Melanch- 
thons:  die  Wiedergabe  eines  Kupfer- 
stiches seines  Freundes  Albrecht 
Dürer  mit  der  Unterschrilt: 

•  Viventis  potuit  Durerius  ora  Phi- 
lippi ,  Mentem  non  potuit  pingere 
docta  manus.«  Das  darunter  stehende 
Fac^imile  ist  die  Wiedergabe  einer 
im  Archiv  zu  Weimar  befindlichen 
Vorlage. 

Dem  Verfasser  war  von  dem  badi- 
schen Ministerium  ein  Reisestipen- 
dium  zuteil  geworden,  um  ihm  für 
sein  Werk  die  Ausnutzung  der  in 
Betracht  kommenden  Archivalien  zu 
Weimar  und  der  handschriftlichen 
und  bibliothekarischen  Schätze  der 
Hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München 
zu  ermöglichen.  In  unserem  Werke 
liegt  die  Frucht  der  angestrengten 
Arbeit  vieler  Jahre, ein  Produkt  echter 
deutscher  Gründlichkeit  und  Gelehr- 
samkeit vor,  wofür  wir  reichlich  zu 
dai  ken  alle  Ursache  haben.  Welche 
umfangreichen  Vorstudien  der  Ver- 
fasser für  sein  Werk  getrieben  hat, 
ersrhen  wir  schon  aus  dem  16  Seiten 
umfassenden  Verzeichnis  der  Titel 
dei  benutzten  Schrifl.cn  und  Aufsätze. 

I  >er  Inhalt  des  Buches  ist  folgender: 

I.  Melanchthons  Bildungsgang  und 
geistige  Entwickelung. 

II.  M.  als  akademischer  Lehrer. 

III  M.  und  sein  humanistischer 
Freundeskreis. 

IV  M.s  Ansicht  von  dem  Wesen  der 
einzelnen  Wissenschaften. 

V,  Ms  Leistungen  als  Gelehrter. 
VI  M.  als  Stilist  und  Dichter. 

VII.  M.s  pädagogische  Grundbegriffe. 

VIII.  M.s  Auffassung  von  Schule  und 
Lehrerberuf. 

IX.  Organismus  der  Schulen. 

X.  Melanchthon  als  Organisator  und 
Reorganisator  verschiedener  Schu- 
len. 

XI.  Schlufsbetrachtung. 

XII.  Verzeichnis  der  Vorlesungen 
Melanchthons. 

XIII  Bibliographie. 
XIV.  Einige  Jugendgedichte  Melanch- 
thons. 

XV  Nachträge  und  Berichtigungen. 
XVI.  Namen-  und  Sachregister. 

Von  hervorragender  Bedeutung 
sind  die  Kapitel  über  Melanchthons 
pädagogische  Grundbegriffe,  seine 


Auffassung  von  Schule  und  Lehrer- 
beruf, den  Organismus  der  Schulen. 

Das  Ideal  pädagogischer  Thätig- 
keit  sieht  Melanchthon  darin,  dafs 
die  Schüler  eloquentes  im  spezi- 
fisch humanistischen  Sinne  werden. 
Nun  hatten  die  Humanisten  von  dem 
klassischen  Aitertume  eine  so  über- 
aus hohe  Meinung,  dafs  man  es  für 
unmöglich  hielt,  ein  Mensch  der 
neuen  Zeit  könne  reden  lernen  wie 
die  homerischen  Helden,  die  Gröfsen 
der  attischen  Agora  oder  des  römi- 
schen Forums.  Es  klingt  wie  ein 
Axiom,  wenn  Melanchthon  in  der 
Einleitung  zu  Veigils  Georgica  sagt: 
>Zu  jener  glänzenden  Beredsamkeit 
der  Alten  kann  in  unserer  Zeit  und 
mit  unseren  Studien  niemand  ge- 
langen «  Melanchthon  versteht  mit 
Agricola  und  Erasmus  unter  Elo- 
quentia  das  Verstehen  der  Worte 
und  Sachen,  grammatische  Einsicht 
und  Realkenntnis,  verbunden  mit 
der  Fähigkeit  der  klaren  Darstellung. 

Aber  Melanchthon  hat  nicht  nur 
ein  pädagogisches  Ideal  aufgestellt, 
sondern  auch  den  Weg  zur  schnellen 
Erreichung  desselben  gekennzeichnet. 
Leider  besitzen  wir  keine  systemati- 
sche Darstellung  seiner  Grundsätze. 
Melanchthon  ist  ein  principieller 
Gegner  alles  unmethodischenLernens. 
Er  bedauert ,  dafs  namentlich  die 
Deutschen  in  ihren  Studien  weder 
eine  bestimmte  Reihenfolge  noch  eine 
vernünftige  Methode  innehalten. 

Pädagogische  Hilfsmittel  sind  nach 
Hartfelder  für  Melanchthon  folgende: 
Beispiel,  Wiederholung,  die  Regel 
»Non  multa,  sed  multum«,  Quellen- 
studium, Ordnung  im  Lernen. 

MelanchthonsAuffassung  vonSchule 
und  Lehrerberuf  gipfeln  in  dem  reli- 
giösen Gesichtspunkte.  Melanchthon 
kennt  Leid  und  Freude  des  Lehrer- 
berufes. Je  nach  dem  Anlafs  zeigt 
er  Avers  oder  Revers  der  Münze. 
Die  Thätigkeit  des  Lehrers  bezeichnet 
er  als  nicht  blofs  notwendig  und 
nützlich,  sondern  auch  heilig.  Man 
soll  den  Lehrer  anständig  bezahlen. 
Zwar  sei  es  nicht  nötig,  dafs  das 
Gehalt  allzu  reichlich  sei  (wegen  der 
Gefahr  des  Müfsigganges  und  der 
Üppigkeit),  doch  dürfe  es  auch  nicht 
zu  wenig  sein. 


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-    3i  — 


In  der  Schlufsbetrachtung  des 
Buches  heifst  es:  »Melanchthon  ist 
kein  schöpferischer  Genius,  wie  ihn 
die  Weltgeschichte  in  vielen  Jahr- 
hunderten blois  einmal  hervorbringt. 
Er  ist  vielmehr  ein  sammelnder,  sich- 
tender und  verarbeitender  Geist. 
»Melanchthon  ist« ,  sagt  W.  Gals, 
»der  reflektierende  Mensch ,  das 
Entwerfen  und  Gestalten  ist  seine 
Sache.«  Von  der  Natur  ist  er 
ausgerüstet  mit  allen  Gaben,  die 
den  grofsen  Gelehrten  machen. 
Ein  gutes  Gedächtnis,  ein  seltenes 
formales  Talent,  eine  gediegene 
sprachliche  Bildung,  die,  mit  Kennt- 
nis der  Realien  gepaart,  ihm  eine 
ungemeine  wissenschaftliche  Sicher- 
heit verleiht ,  arbeiten  in  seinem 
Geiste  harmonisch  zusammen.  Seine 
Gelehrsamkeit,  die  eine  erobernde 
Kühnheit  besitzt  und  vor  keiner  wis- 
senschaftlichen Schwierigkeit  zurück- 
schreckt, ist  freilich  oft  nicht  so  tief 
als  breit.« 

Die  Bibliographie  umlafst  eine  Aus- 
gabe der  Werke  Melanchthons  und  Er 
gänzungen  dazu,  ein  chronologisches 
Verzeichnis  der  Arbeiten  Melanch- 
thons, ein  Verzeichnis  der  Arbeiten 
über  Melanchthon.  Das  Verzeichnis 
der  Arbeiten  Melanchthons  ist  zwar 
vollständiger  als  alle  früheren,  kann 
aber  (wie  der  Verfasser  selbst  be- 
merkt), nicht  den  Anspruch  auf  wün- 
schenswerte Vollständigkeit  machen. 

Etwas  Lobendes  über  die  Be- 
deutung des  Werkes  hinzuzufügen, 
unterlassen  wir.  Das  Werk  empfiehlt 
sich  Einsichtigen  nach  dem  bisher 
Gesagten  von  selbst. 

Schulitz  (Posen). 

Adolf  Rüde. 

V. 

Ch.6.  Salzmanns  ausgewählte  Schriften. 
Mit  Salzmanns  Lebensbeschreibung 
herausgegeben  von  Eduard  Acker- 
mann. Erster  Band.  Langensalza, 
H.  Beyer  &  Söhne.  XLVI,  249  S. 
Preis  2,50  M. 

Vorliegende  Schrift  bildet  den  29. 
Band  der  ausgezeichneten  Mann'schen 
»Bibliothek  der  pädagogischen  Klas- 
siker«. Sie  enthält  das  »Krebsbüch- 
lein« (S.  1  —  122)  und  »Über  die  wirk- 


samsten Mittel,  Kindern  Religion  bei- 
zubringen« (.S.  123—249).  In  beiden 
Fällen  lagen  dem  Abdruck  die  Aus- 
gaben letzter  Hand  zu  Grunde,  und 
zwar  beim  Krebsbüchlein  die  vierte 
vom  Jahre  1806  und  bei  der  zweiten 
Schrift  die  dritte  vom  Jahre  1809. 
Die  Behandlung  des  Textes  ist  im 
ganzen  eine  schonende,  nur  inbetreff 
der  Orthographie  und  der  Inter- 
punktion sind  die  dermaligen  Be- 
stimmungen in  Anwendung  gebracht. 
Dagegen  läfst  sich  nichts  einwen- 
den; denn  die  Treue  gegen  den  Autor 
auch  auf  die  Beibehaltung  der  Ortho- 
graphie und  Interpunktion  auszu- 
dehnen, scheint  uns,  in  dem  vor- 
liegenden Falle  wenigstens,  mehr 
oder  weniger  nebensächlich  zu  sein. 
Doch  dürfte  ein  anderer  Punkt,  auf 
welchen  Referent  ds.  an  einer 
anderen  Stelle  aufmerksam  gemacht 
(Fr.  Pfalz.  Lehrerzeitung  Jahr- 
gang 1889,  Nr.  14),  erwähnenswert 
sein.  Derselbe  betrifft  die  in  Klam- 
mern beizufügende  Paginierung  der 
Originalausgaben,  wie  sie  die  Kehr- 
bachschenKantausgaben  (desgleichen 
die  im  Erscheinen  begriffene  Her- 
bartausgabe) aufweisen.  Von  den 
übrigen  von  Kchrbach  befolgten 
Grundsätzen  scheint  uns  einer  wenig- 
stens auch  für  die  Herausgabe  »päda- 
gogischer Klassiker«  von  Wert  zu 
sein,  nämlich  der.  nach  welchem 
immer  die  erste  Ausgabe  als  Grund- 
lage zu  behandeln  ist,  während  die 
Abweichungen  der  übrigen  Auflagen 
in  entsprechender  Weise  angemerkt 
werden.  Freilich  verfolgen  die  Aus- 
gaben »pädagogischer  Klassiker«  zu- 
nächst und  hauptsächlich  einen  di- 
daktischen Zweck  (nämlich  den  päda- 
gogischen Gedankenkreis  der  Lehrer 
zu  bereichern  und  zu  befruchten), 
doch  könnten  dieselben  durch  die 
in  Vorschlag  gebrachten  Änderungen 
auch  für  rein  wissenschaftliche  Zwecke 
nutzbar  gemacht  werden. 

Die  mit  ebensoviel  Sachkenntnis 
als  Wärme  geschriebene  Einleitung 
über  Salzmanns  Leben  und  Wirken 
aus  der  Feder  Eduard  Ackermanns 
verdient  besonders  hervorgehoben  zu 
werden. 

Ludwigshafen  a.  Rh. 

H.  J.  Eisenhofen 


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—    32  - 


VI. 

F.  Leutz,  Seminardirektor  in  Karls- 
ruhe, Lehrbuch  der  Erziehung  und 
des  Unterrichts  für  Lehrer  und 
Lehrerinnen.  II.  Teil :  Die  Unter- 
richtslehre. 2.  umgearbeitete  Auf- 
lage. Tauberbischofsheim.  J.  Lang. 
1890.  VIII.  443  S.  Pr.  5,80  M. 

Die  i.  Aurlage  des  vorliegenden 
Buches  (1885)  wurde  seiner  Zeit  in 
den  >Päd.  Studien«  (Jahrg.  1886, 
S.  123  f.)  vom  Herrn  Herausgeber 
gewürdigt.  Damals  wurde  ihr  das 
Lob  gespendet,  dafs  sie  »eine  klar 
geschriebene,  umsichtige  und  den 
bestehenden  Verhältnissen  Rechnung 
tragende  Unterrichtslehre«  biete.  Die 
2.  Auflage  ist,  namentlich  in  ihrem 
allgemeinen  Theile,  mannigfach  um- 
gearbeitet und  in  ihrem  speziellen 
Teile  um  die  Methodik  des  (evan- 
gelischen) Religionsunterrichts  (S.  122 
bis  171)  vermehrt.  Der  18  Seiten 
umfassende  Abriss  der  Logik,  welcher 
der  allgemeinen  Unterrichtslehre  vor- 
ausgeht, dürfte  dem  Umfange  nach 
für  den  Zweck  des  vorliegenden 
Buches  genügen;  doch  sollten  für 
weitergehende  Bedürfnisse  einige 
Schriften  namhaft  gemacht  werden, 
wie  dies  der  Verfasser  in  den  übrigen 
Partien  des  Buches  mit  grofsem  Glück 

rthan  hat.  Verkehrt  ist  es,  wenn 
14  die  Logik  als  ein  Teil  der 
Psychologie  aufgefafst  wird ,  noch 
bedenklicher  ist  es,  wenn  es  heifst: 
»Diese  bildet  (die  Logik)  die  psycho- 
logische Grundlage  des  Unterrichts.« 

Die  Methodik  der  einzelnen  Unter- 
richtsfächer ist  auf  historischerGrund- 
lage  aufgebaut.  Mit  grofsem  Geschick 
hat  der  Verfasser  aus  der  Geschichte 
der  Methodik  diejenigen  Momente 
ausgewählt,  welche  zum  Verständnis 
des  gegenwärtigen  Standes  der  Me- 
thodik notwendig  sind;  nur  weniges 
kann  verbessert  werden,  so  z.  B.  ist 
es  nicht  zutreffend,  wenn  S.  416  be- 
hauptet wird,  dafs  sich  in  den  infolge 
derReformationentstandcnenSchulen 
der  Unterricht  im  Gesänge  nur  auf 
die  Einübung  kirchlicher  Gesänge 
beschränkt  habe.  Die  Methodik  des 
Sprachunterrichts,  so  vorzüglich  sie 
auch  in  ihrer  Art  ist,  leidet  jeden- 
falls an  dem  Fehler,  dals  die  Kon- 


zentration innerhalb  der  sprachlichen 
Disziplinen  viel  zu  wenig  betont  wird. 
Gerade  hier  dürfte  die  Aufstellung 
einer  Stoffverteilung  nicht  zu  umjjehen 
sein.  S.  343  ist  nicht  einmal  R.  Hilde- 
brand's  ausgezeichnetes  Buch :  <  Vom 
deutschen  Sprachunterricht«  aufge- 
führt*) Ebenso  fehlt  S.  237  Matzat's 
»Methodik  des  geographischen  Unter- 
richts«. Die  Art,  mit  welcher  der 
•Verfasser  S.  226  das  Zeichnen  im 
geographischen  Unterricht  abthut, 
kann  kaum  gebilligt  werden. 

Ludwigshafen. 

H.  J.  Eisenhofer. 

VII. 

Volksschul künde  von  Hermann  Mchlifs, 
Kreis-Schulinspcktor  zu  Bassum. 

1.  Teil.  Die  äufscren  Verhält- 
nisse d.  Volksschule.  124  Seiten. 
1,60  M. 

2.  Teil.  Die  Erziehung  in  d. 
Volksschule.    108  S.    1,40  M. 

3.  Teil.  Der  Unterricht  in  d. 
Volksschule.  Ausgabe  A.  ,48  S. 
4  M. 

Das  Werk  ist  in  zwei  Ausgaben 
erschienen,  von  denen  die  vor- 
liegende Ausgabe  A.  für  einklassige, 
Ausgabe  B  für  mehrklassige  Schulen 
bestimmt  ist.  Doch  sind  die  zwei 
ersten  Teile  beiden  Ausgaben  ge- 
meinsam. In  Teil  I  giebt  er  zuerst 
statistische  Übersichten,  dann  han- 
delt er  von  Organisation,  Beaufsich- 
tigung und  Unterhaltung  der  Volks- 
schulen, von  den  Anforderungen  an 
ihre  Lehrer  und  endlich  von  der 
zweck  mäfsigen  Einrichtung  von  Schul- 
haus und  Schulzimmer  Teil  II  redet 
zuerst  von  der  Schuldisziplin,  sodann 
von  der  Gemüts-  und  Charakter- 
bildung der  Zöglinge.  Teil  III  ent- 
hält aufser  allgemeinen  Grundsätzen 
und  Regeln  der  Unterrichtsichre 
(über  Stoff  beschränkung,  Wieder- 
holung, über  Methoden  etc.)  noch 
spezielle  Angaben  für  jedes  Fach. 
Dieselben  beziehen  sich  auf  unter- 
richtliche Behandlung,  geben  Stoff- 
verzeichnisse und  Pensenverteilungen 
und  bringen  endlich  einen  Oberblick 


•>  S.  auch  Linde,  Die  Muttersprache  im 
Elementarunterricht.    Leipiig,  1B91 


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▼ 


I 

—    33  — 


über  die  Littcratur  der  einzelnen 
Fächer.  Ein  Nachwort  enthält  des 
Verfassers  Ansichten  über  Besoldung 
der  Lehrer  und  über  ihre  Fort- 
bildung im  Amte.  Zugleich  nimmt 
es  Veranlassung,  dem  Lehrer  die 
erziehliche  Aufgabe  der  Schule  recht 
dringend  ans  Herz  zu  legen. 

Anerkennung    verdient  zunächst, 
dafs  den  äufseren  Verhältnissen  der 
Schule  ein  besonderer  Teil  gewidmet 
ist.    Viele  Verfasser  pädagogischer 
Werke  ziehen  es   vor  über  diese 
Verhältnisse  zu  schweigen,  da  die- 
selben meist  trauriger  Art  sind.  Zwar 
schweigt  auch  das  vorliegende  Werk 
von  manchen  Obelständen  der  äufse- 
ren Verhältnisse  z.B.  von  den  Mängeln 
der     gegenwärtigen  Schulaufsicht, 
wahrscheinlich  weil  der  Verfasser, 
der  dieselbe  aufrecht  erhalten  wissen 
will,  das  Vorhandensein  dieser  Mängel 
nicht  anerkennt.    Andere  Übelstände 
z.  B.  die  Oberfüllung  der  Schulklassen 
(Teil  l.    S.  19)  das  geringe  Interesse 
vieler  Gemeinden   am  Schulwesen 
(S.  60),  sogar  die  »in  unserem  Stande« 
—  »Verfasser  ist  Theologe  —  »so 
seltene  Konsequenz   und  Energie«, 
werden  ernstlich  getadelt.  Ferner 
ist  es  anerkennenswert,  dafs  die  Er- 
ziehung in  der  Volksschule  ebenfalls 
in  einem  besonderen  Teile  behandelt 
ist.    In  diesem  wie  im  letzten  Teile 
werden  die  Anhänger  der  Herbart- 
schen  Pädagogik    manches  finden, 
was  ihnen  zusagen  wird.    Dahin  ge- 
hört die  Trennung  von  Disziplin  und 
Gemüts-     resp.  Charakterbildung, 
(Regierung    —    Zucht)    ferner  die 
häutige  und  eindringliche  Hervor- 
hebung der  erziehlichen  Aufgabe  der 
Schule ,  die  Verwerfung  der  kon- 
fessionslosen Schule  und  die  hohe 
Wertschätzung   des  Religionsunter- 
richts,   der    im   Mittelpunkte  aller 
Fächer  stehend  eine  herrschende 
Stellung  einnehmen  soll.  Auch  dringt 
der  Verfasser  mit  Recht  auf  eine 
Verknüpfung  der  Lehrfächer.  Nur 
ist  zu  bedauern,  dafs  er  meist  auf 
halbem  Wege  stehen  bleibt.    So  wird 
(Teil  III,  S.  35)  getadelt,  dafs  sich 
der  Religionsunterricht  in  fünf  bis 
sechs  Lehrgänge  zersplittere.  Allein 
der    eigentliche    Grund    der  Zer- 
splitterung, die  Trennung  von  Kate- 

Pädagogiscbc  Studien.  L 


chismus  und  bibl.  Geschichte  bleibt 
bestehen.  Zwar  liest  man :  Eins  mufs 
in  das  andre  greifen  usw.,  allein  das 
hindert  nicht,  Religion  und  Ge- 
schichte durch  eine  Reihe  von 
Fächern  zu  trennen.  Auf  ein  Zu- 
sammentreffen verwandter  Stoffe  der 
Geschichte  und  Geographie  ist  fast 
gar  keine  Rücksicht  genommen, 
ebenso  wenig  darauf,  Beziehungen 
zwischen  der  Naturkunde  und  den 
übrigen  sachunterrichtlichen  Fächern 
herzustellen.  Seite  4  rät  der  Ver- 
fasser zwar:  »Nicht  von  allem  ein 
klein  wenig«.  Das  Verzeichnis  der 
in  Erdkunde  zu  behandelnden  Stoffe 
zeigt  jedoch,  dafs  er  dem  Ency- 
klopädismus  huldigt  und  jeden  deut- 
schen Staat,  jedes  europäische  Land, 
jeden  Erdteil  behandelt  wissen  will, 
anstatt  minder  wichtige  Stoffe  ganz 
auszuschlicfscn.  Mit  dem  Dringen 
auf  Stoff  beschränkung  ist  nicht  zu 
vereinigen  die  Forderung,  den  reli- 
giösen Memorierstoff  über  das  gesetz- 
liche Mafs  hinaus  zu  vermehren. 

In  psychologischer  Beziehung 
scheint  Herr  M.  noch  auf  dem  Stand- 
punkte der  Vermögenstheorie  zu 
stehen  (Vergl.  Teil  II,  S.  29).  Daher 
erklärt  es  sich,  dafs  den  vorge- 
schlagenen Mafsnahmen  durchweg 
die  psychologische  Begründung  fehlt. 
Die  Lehre  von  den  Seelenvermögen 
ist  eben,  da  sie  die  seelischen  Vor- 
gänge nicht  erklärt,  für  die  Päda- 
gogik unbrauchbar.  Verfasser  ver- 
fährt nun  etwa  so:  Er  stellt  eine 
Behauptung  auf,  giebt  eine  erklärende 
Umschreibung  derselben  und  fügt 
zum  Beweise  ein  Sprichwort,  eine 
Bibelstelle  oder  ein  Citat  aus  einem 
Schriftsteller  hinzu.  So  heifst  es 
Teil  II,  S.  13.  »Schulordnung  ein- 
führen ist  jedoch  leichter  als  sie  er- 
halten. Das  vorzüglichste  Mittel  sie 
zu  erhalten  ist  die  Konsequenz  von 
seiten  des  Lehrers.  Alle  Erziehung 
ist  Gewöhnung.  Wie  kann  aber  dort 
eine  Gewöhnung  eintreten,  wo  nicht 
dasselbe  oft  und  regelmässig  wieder- 
kehrt? damit  die  Gewöhnung  komme, 
mufs  ja  eben  der  Lehrer  konsequent 
sein. 

»Gute  Sprüche,  weise  Lehren, 

Soll  man  üben,  nicht  blofs  hören.« 

3 


l 


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1 


—    34  - 


Die  Darstellung  ist  sehr  wortreich. 
S.  16  steht  der  Satz:  «Diese  Dis- 
ziplinarmittel  müssen  natürlich 

nun  aber  in  rechter  Weise  ange- 
wendet werden,  wenn  sie  nützen 
und  nicht  etwa  gar  schaden  sollen.« 
Neben  der  Kürze  des  Ausdrucks 
vermifst  man  besonders  präzise  Be- 
griffserklärungen, logisch  geordnete 
Gedankengänge,  sorgfältige  Be- 
gründung der  vorgebrachten  Behaup- 
tungen. Desto  reicher  ist  das  Buch 
an  Abschweifungen  und  Wieder- 
holungen. Seitenlange  Anmerkungen 
begleiten  besonders  im  II.  Teile  den 
Text.  Ihr  Inhalt  hat  oft  nur  sehr 
entfernte  Beziehung  zur  Sache.  Was 
hat  es  z.  B.  mit  der  Gcmütsbildung 
viel  zu  thun,  dafs  im  alten  Rom  die 
Strafsen  gesprengt  wurden,  was  in 
Jlannovcr  erst  vor  zwei  Jahren  be- 
gonnen ist-  Der  Verfasser  hat,  wie 
sein  Buch  zeigt ,  viel  über  päda- 
gogische Fragen  nachgedacht  und 
noch  mehr  darüber  gelesen.  Er 
bringt  nun  alles,  was  mit  seinem 
Gegenstande  in  irgend  einer  Be- 
ziehung steht,  in  sein  Buch  hinein, 
ohne  dabei  Nebensächliches  mit  der 
notigen  Strenge  auszuscheiden.  Das 
hat  zur  Folge,  dals  der  Leser  er- 
müdet und  das  Buch  unnötig  ver- 
teuert wird.  Noch  bedauerlicher  ist 
es,  dafs  das  Huch  so  wenig  auf  die 
einklassi<^e  Volksschule  Rücksicht 
nimmt.  Die  für  ihre  Lehrer  so  wich- 
tigen Fragen  von  der  Gliederung 
der  Schülermasse  in  Abteilungen, 
von  den  stillen  Beschäftigungen  und 
von  den  Helfern  werden  auf  nur 
zwei  Seiten  (Teil  III,  S.  15-  16) 
abgemacht  Eine  Erklärung  für  diese 
und  andre  Mängel  des  Buches  giebt 
die  offene  Erklärung  des  Verfassers 
(Teil  I,  S.  3),  dafs  dasselbe  >in  arbeits- 
reicher Zeit  so  nebenbei  (!)  verfafst 
werden  mufste.  Wir  wünschen  Herrn 
M  herzlich,  dafs  er  Mufsc  linden 
möge  zu  gründlicher  Umarbeitung 
des  Werkes,  damit  dasselbe,  nament- 
lich im  11.  Teile,  seinen  predigtähn- 
lichen Charakter  verliere,  ohne  jedoch 
an  Lebendigkeit  und  Volkstümlich- 
keit einzubüfsen.  In  seiner  jetzigen 
Gestalt  möchte  es  den  Lehrer  viel- 
fach mehr  verwirren  als  fördern 
Drakenstedt.       Hollk  am  m. 


VIII. 

Harre.  Kleine  lateinische  Schulgram- 
matik. Berlin,  Weidmannsche  Buch- 
handlung. 1890.  VI  und  144.  M.  1,60. 

Die  vorliegende  lateinische  Gram- 
matik ist  in  erster  Linie  für  Real- 
schulen, Realgymnasien  und  solche 
Anstalten  bestimmt,  an  denen  man 
es  vorzieht,  den  Schülern,  sei  es  für 
den  Anfangsunterricht  oder  für  die 
Wiederholung,  ein  möglichst  kurzes 
Lehrbuch  in  die  Hand  zu  geben. 

Die  Pcnsa  der  einzelnen  Klassen 
sind  wie  in  den  bekannten  Haupt- 
rcgcln  durch  römische  Ziffern  abge- 
grenzt worden.  In  der  Formen- 
lehre hätte  das  lieber  durch  ver- 
schiedenen Druck  geschehen  sollen; 
für  die  Syntax  ziehe  ich  die  Buch- 
staben (J,  T  und  S  vor,  zumal  gerade 
darüber  die  Ansichten  sehr  schwan- 
ken dürften,  ob  eine  Regel  schon  in 
111b  oder  erst  in  lila  durchgenom- 
men werden  soll 

Uneingeschränktes  Lob  dagegen 
verdient  das  Bestreben  des  Ver- 
fassers, alle  Einzelheiten  über  Bord 
zu  werfen,  so  p>ater  familias,  deabus, 
filiabus,  triumvirum,  sestertium,  sa- 
tur,  oriens,  litium,  acra,  poematis, 
tribubus,  cenatus,  queo.  nequeo  u.  a.  m. 
Aber  auch  Acncas,  Perses;  beum. 
bubus;  as.  aejuilo,  pugio,  papaver; 
febris;  regula  und  speeimen  können 
entbehrt  werden.  Dasselbe  gilt  von 
den  Paradigmen  vir,  domus  und  dies. 

Die  allgemeinen  Geschlechtsregeln 
hatte  der  Verfasser  in  seiner  gröfscren 
Sprachlehre  trefflich  gefafst,  und  mit 
glücklichem  Griffe  das  Genus  getrennt 
von  der  Deklination  behandelt.  Die 
Vorteile  dieses  Verfahrens  springen 
derart  in  die  Augen,  dafs  man  nicht 
begreifen  kann,  warum  die  äufserst 
praktische  und  übersichtliche  An- 
ordnung in  dem  vorliegenden  Buche 
wieder  aufgegeben  worden  ist.  Auch 
das  halte  ich  für  einen  Rückschritt, 
dafs  die  Geschlechtsausnahmen  nicht 
mehr  mit  einem  Adjektivum  ver- 
bunden aufgeführt  werden.  Dagegen 
ist  es  entschieden  als  Fortschritt  an- 
zuerkennen, dafs  die  Ausnahmen  jetzt 
nach  dem  Geschlecht,  nicht  nach  der 
doch  nebensächlichen  Abweichung 
von  der  Hauptregcl  geordnet  worden 


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sind.  Die  neue  Fassung  derselben 
aber  erscheint  mir  nicht  glücklich. 
Vor  allen  bin  ich  dagegen,  dafs  die 
Wörter  auf  o  schlankweg  als  weib- 
lich hingestellt  werden,  wie  das  auch 
Bromig  und  Scheindler  gethan  haben. 
Auch  gegen  §  15,8  habe  ich  schwere 
Bedenken.  Der  Schüler  darf  nur  a 
sapienti  viro  schreiben;  a  sapiente 
viro  ist  und  bleibt  für  ihn  ein  Fehler, 
sonst  verliert  er  den  Boden  völlig 
unter  den  Füssen. 

Matt  der  Regel  über  die  Steigerung 
der  Adjektiva  auf  dicus,  ficus  und 
volus  *ind  §  22  als  Besonderheiten 
nur  die  Gradus  von  magnificus  an- 
gegeben. Da  aber  laut  Vorwort  auch 
die  Formen  von  honorificus  öfter  vor- 
kommen, so  wäre  wohl  die  ange- 
deutete Fassung  (Adjektiva  auf  ficus) 
vorzuziehen. 

Die  Musterbeispiele  zu  den  vier 
Konjugationen  und  die  verba  ano- 
ma!a  hätten  übersichtlicher  gedruckt 
werden  sollen.  Im  übrigen  verdient 
moneo  aus  naheliegenden  Gründen 
als  Paradigma  vor  delco  den  Vorzug. 
Im  Vcrbalverzeichnissc  sind  seltenere 
Wörter  gestrichen  worden,  so  cieo, 
wofür  der  Schüler  excito,  moveo, 
voco  zu  gebrauchen  hat.  Andere 
Verba,  die  ich  auch  beseitigt  wünschte, 
sind  wohl  in  Rücksicht  auf  die  in 
Gebrauch  befindlichen  Übungsbücher 
in  kleinerem  Druck  oder  in  eckiger 
Klammer  anmerkungsweise  angef  ührt 
worden. 

Die  Syntax  enthält  wie  die 
grdfsere  Satzlehre  zunächst  einige 
Vorbemerkungen  über  die  einzelnen 
Satzteile  und  den  Satz  selbst.  Darauf 
wird  das  Nomen  und  das  Vcrbum 
im  Satze  durchgenommen.  Es  folgt 
eine  ausführliche  Besprechung  der 
Fragesätze,  der  Relativsätze  und  der 
Konjunktionalsätze.  Mit  musterhafter 
K  irze  wird  die  abhängige  Rede  be- 
handelt. Den  Schlufs  bilden  die  bei- 
ordnenden Konjunktionen. 

Auch  hier  ist  vieles  beseitigt  wor- 
den: die  Präpositionen  coram,  dam, 
tenus;  abhinc;  nedum;  sector  und 
aequo  te;  dono  dare  und  aeeipere; 
ad  eam  impudentiam  progredi,  nihil 
antiquius  habere  quam,  tantum  abest 
ut,  in  eo  est  ut,  temperare  mihi  non 
possum  quin,  facere  non  possum  quin, 


fieri  non  potesi  quin  u.  s.  u  .  Khenso 
könnten  piget  und  :  •>.•..  1  male  dico 
und  supplico  iad.  u. 

Der  Ablativ  d.  r  l'.:g<  t:-e!iad  ^ 
der  Ablativ  bei  Ad:i  k: :••.;>:  i;  ;.;  d.-r 
Ablativ  des  Pn  -  ;  unMni  nhnr. 
triftigen  Grund  ■-  ^  h  ■  ■  r-,  erv  ■  1  drin*  lene- 
tiv  besprochen  i  »<  r.  .d i'.div:--  nl >s< »- 
lutus  aber  §  im  -du  1  •  J x  d>  I  i  <-  in-.u-r 
den  Partizipialki  /     :      ..  i;.,  n  ^  ns. 

Im  übriger  n:tt  1 « •  .<\w'a  hu-.-  m» 
manches  prakiiM  !  c<  dt  n.-'-a  a  ri  - 
den sollen.  Den-:  gerade  durch  über- 
sichtliche An(.-:  iiu:;  wird  du:-  Ye;"- 
ständnis  und  <•  e  <  .rd.udiMi.- 
mein  unterstütz : 

Der  beigegel  h ua    A  :  1  Ii  :  i.  :i  ^  lanan- 

delt  in  kurzer.  V, ...  1  ;:i-:iln  hn  \Y  •.  e 

§  I65   ZUnächsl   <Iu:  Muuntd.it  Miilllll!) 

den  Hexameter.  !*•  ;.i«it  du  und  1  ;  i - 
meter ;  §  166  be  •••.•r:r!;;  K.demh-r  <  ,,-ld. 
Gewicht  und   d  d- 

Ein  Register  . -  Iii l  .dn  .  Itureh 
Hinzufügung  d< u>Hd. n  wnnlc  <lie 
Grammatik,  du'  m  nun:  au>M  idads- 
lich  als  Lerril'-iih  gcd.irlu  dt.  an 
Brauchbarkeit  m-rh  .ji-wmuen  An 
W Wissenschaftlich!  ■  1  u ed  / n  •.  ei  ki^-dg- 
keit  übertrifft  >u-  tu:-./,  ihn  K ü  1  /.<■ 
alle  anderen. 

Annaberg        [     .   :  Haupt. 
[.\ 

0.  Janke.  Grundriß  d<u-  -t. diulhy.dene 
Zusammengestellt  inr  L.  hier  und 
Schulaufsicht  I  <<  :<r.\\<  I  [atr.i  u:rg- 
Lcipzig.  Vos      i  vi I   -      1  ;  1  M 

Der  von  den:  I :  aer, >.  < •  r r r . ;  j :  ♦  • 
Zweck  ist  in  de-  Y.-.n  ed.  I  d.e  :[*■'.<•.;' 
Janke  beabsick; ag  v.r..:--:  :n  u.-  l'n,- 
bleme  aufzusU :.'<  n  ■■■.<.  d«.  r.  ge- 
wundenen Pfa'U  ;:  r  :i  1:.-  ig»*hi-:i.  iiai'i; 
welcher  die  W  <  i  m  1  die  i  ,e- •  < t,-«.- 
der  Schulhygiene  verii.lgSf  -.er  U-guiigt 
sich  vielmehr  in  k.u:q.].rr.  h;-.mi",rher 
Form  die  anei '  1  ■  •■  1:  \V;d:r:i.-.t<:n 
der  Schulgest'. r.d':i.-:t-].;:i  ge  />na:n- 
menzustellen  umi  -hm  i.t-iin  r  die 
schulhygieniscii<  :i  i-.-.,di  rmig.  1-  in 
verständlicher,  f  mtaeh  ■;.  r\Y<  >,  ■,  (,r-- 
zuführen  Dural-  I ...  -/t.  ;u  -  I h.umn:. 
das  Büchlein  >  n  >  ;i  m  tu  mde 
Gestaltung,  es  ; ie- 1  ,u  d  1  1  s  den 
»Reglements*,  a  1  ••.  ;i  m>-  in  ;:e  > i  1 1 1  - 
tär  gewohnt  m;  d  indes^-n  m.vht.-n 
wir  nicht  annehm«  ;.    l.iis  ...nn  '  .mr.d- 


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rifs  daraus  ein  Nachteil  erwächst,  wir 
meinen  vielmehr,  es  ist  für  diejenigen 
Lehrer,  welche  eine  schulhygienische 
Bildung  noch  nicht  besitzen,  ange- 
nehm ,  wenn  sie  auf  die  gestellte 
Frage  eine  gewisse  Antwort  erhalten, 
auch  ohne  dafsdie  Motivierung  immer 
streng  angeführt  ist;  denn  in  der 
Motivierung  liegt  oft  der  Grund  zum 
Zweifel,  dem  Vater  der  Unentschlos- 
senheit  und  des  Nichtsthuns.  Wir 
glauben  bestimmt,  dafs  das  Büchlein 
dem  von  ihm  selbst  begrenzten  Zweck 
völlig  entspricht  und  wünschen  dem- 
selben  eine  möglichst  rasche  Ver- 
breitung. 

Dr.  med.  Gärtner, 
o.  ö.  Professor  der  Hygiene  an  der 
Universität  zu  Jena. 

X. 

Leitfaden  f  ürdenG  es  chic  ht  sunt  er- 
richt  in  den  oberenKlassen  höherer 
Töchterschulen.  Bearbeitet  mit  Be- 
nutzung von  David  Müllers  Leit- 
faden zur  deutschen  Geschichte 
von  Prof.  Dr.  Friedrich  Junge,  Di- 
rektor der  Guerickeschule  (Ober- 
realschule mit  Realgymnasialklas- 
sen) zu  Magdeburg.  Mit  9  ge- 
schichtlichen Karten  und  5  Bilder- 
tafeln zur  Kunstgeschichte.  Berlin 
1889.  Verlag  von  Franz  Vahlen. 
W.,  Mohrenstrafsc  13. 14.  224  Sei- 
ten. 8°.  Preis  3  Mark. 

Der  Verfasser  wird  sich  den  Dank 
vieler  damit  verdient  haben,  dafs  er 
in  der  Weise  der  Geschichtsbücher 
von  David  Müller  und  im  engen  An- 
schlufs  an  sie  einen  Leitfaden  zu 
dem  gesamten  Geschichtsstoff  für 
die  höhere  Mädchenschule  geschaffen 
hat.  Die  Vorzüge  der  Mülierschen 
Darstellung  sind  bekannt.  Freilich 
ist  auch  mit  diesem  Buche,  wenig- 
stens ist  das  meine  Meinung,  die 
Frage  nach  den  geeignetsten  Hilfs- 
büchern für  den  Geschichtsunterricht 
noch  nicht  gelöst. 

Ganz  vorzüglich  sind  die  nach  An- 
gabe des  Verfassers  (S.  IV.)  gezeich- 
neten »leeren«  Karten ,  auf  denen 
doch  die  Gebirge  angedeutet  sind.  — 
Weniger  kann  ich  mich  einverstan- 
den erklären  mit  den  Darstellungen 
auf  den  Bildertafeln.  Wenn  ich  auch 


damit  auf  manchen  Widerspruch 
stofsen  werde,  so  scheue  ich  mich 
doch  nicht,  die  in  mehrjähriger  Praxis 
gewonnene  Meinung  auszusprechen, 
dafs  die  Vorführung  von  Abbildungen 
unbekleideter  Statuen  auch  für  die 
oberen  Klassen  einer  Mädchenschule, 
oder  gerade  für  diese,  unpassend  ist. 
Ferner  scheinen  mir  die  Abbildungen 
wenig  gelungen  zu  sein. 

Eisenach.         Dr.  Göpfert. 
XI. 

Dr.  phil.  Susanna  Rubinstein.  Aus  der 

Innenwelt.  Psychologische  Stu- 
dien. Leipzig,  Druck  und  Verlag 
von  Alexander  Engelmann,  Uni- 
versitätsbuchhändler. 1888  211  S. 
4  M. 

Dr  Susanna  Rubinstein,  ist  den 
Lesern  der  »Päd.  Studien«  bereits 
vorteilhaft  bekannt  als  Verfasserin 
der  geistvollen  »Psychologisch-ästhe- 
tischen Essays«  (Heidelberg,  Winter. 
2  Bde.,  1878  u.  1888)*)  sodann  durch 
den  schönen  Aufsatz  »über  Lazarus' 
Leben  der  Seele«  im  Jahrgang  1884, 
Heft  3. 

Jetzt  hat  diese  Philosophin  der 
Hcrbartschen  Schule  unter  dem  Titel  : 
»Aus  der  Innenwelt«  eine  neue 
Reihe  psychologischer  Studien  her- 
ausgegeben ,  welche  Beachtung  ver- 
dient. Das  Buch  hat  folgenden  In- 
halt: i  .Charakter.  2.  Gemüt.  3.  Mit- 
gefühl. 4.  Zum  ästhetischen  Gefühl. 
5.  Der  Schlaf  und  das  Nachtleben  der 
Seele.  6.  Empfindungen  im  Allge- 
meinen. 7.  Ober  zwangsmäfsige  Far- 
benempfindungen. 

Was  Prof.  Vaihinger  früher  (»Allg. 
Ztg  «  1878) von  derVerfasserin  rühmte, 
zeigt  sich  auch  in  deren  neuster 
Publikation.  »Sie  besitzt  eine  nicht 
gewöhnliche  synthetische  Begab- 
ung neben  feinsinnigster  analytischer 
Kraft,  gründlicheGclehrsamkeit  neben 
künstlerisch  vornehmer  Darstellungs- 
gabe, ergreifendes  sittliches  Pathos 
neben  Zügen  schalkhaften  Humors, 
lehrhaften,  logisch  zergliederten  Vor 
trag  neben  sprudelndem  Konver- 
sationstalent ,  männlicher  Verstand 


•)  Die  Recen»ion  der  E«*ays  in  dieser  Zeit- 
schrift 1884  (Bd.  IV),  Heft  4,  S.  »9  ff. 


37  - 


neben  weiblicher  Anmut  und  Zart- 
heit«. »Doch  wozu  diese  letzte  Be- 
merkung?« fügt  er  hinzu,  »wir  halten 
es  mit  La  Bruycre:  Wenn  Gelehr- 
samkeit und  Bildung  sich  bei  einem 
Menschen  vereinigt  finden,  so  frage 
ich  nicht  nach  seinem  Geschlecht  — 
ich  bewundere  ihn«.  Man  darf  billig 
darüber  staunen,  dafs  die  trockene 
und  ernste  Philosophie  Herbarts  ein 
weibliches  Gemüt  zu  so  hoher  Be- 
geisterung fortreifsen  konnte  —  ohne 
Zweifel  ein  günstiges  Zeichen  für  die 
Herbartsche  Philosophie  und  ein  noch 
besseres  für  die  Verfasserin. 

Auf  selbständige  Forschung  erhebt 
S.  Rubinstein  keinen  Anspruch.  Sie 
hat  aber  aus  der  einschlägigen  Litte- 
ratur  das  Beste  mit  feinem  Verständ- 
nis ausgewählt  und  in  ihre  Dar- 
stellung verwebt.  Überall  zeigt  sich 
eine  bescheidene  und  doch  höhere 
Urteilsweise,  eine  zarte  und  natür- 
liche Empfindung.  Manches  Bekannte 
und  Geläufige  tritt  dem  Leser  ja 
entgegen,  aber  alles  ist  mit  einer 
Kraft  und  Grazie  dargestellt,  die  uns 
entzückt.  Das  Buch  hat  einen  un- 
widerstehlichen Reiz  für  philoso- 
phisch angelegte  Naturen 

Halle  a.  S.  H.  Grosse. 

XII. 

Dr.  med.  P.  Schubert,  Augenarzt  in 
Nürnberg ,  Über  Heftlage  und 
Schriftrichtung.  Hamburg  u.  Leip- 
zig.   Leop.  Voss.    1890.    28  S. 

Die  vorliegende  Schrift  »st  ein  er- 
weiterter Abdruck  eines  Aufsatzes 
aus  der  von  Dr.  Kotelmann  her- 
ausgegebenen Zeitschrift  für  Schul- 
gesundheitspflege (Heft  2.  1889).  Sic 
behandelt  eine  wichtige  Frage,  welche 
die  beteiligten  Kreise  seit  10  Jahren 
beschäftigt,  die  Frage,  welches  die 
gesundheitlich  beste,  Wirbelsäule  und 
Augen  des  schreibenden  Kindes  am 
wenigsten  gefährdende  Heftlage  sei. 
Verfasser  redet  der  geraden  Mitten- 
lage und  der  Steilschrift  das  Wort 
und  zwar  aus  klaren  hygienischen 
Gründen.  Der  grofse  Vorzug  dieser 
Hcftlage  und  Schriftlage  ist  der,  dafs 
sie  nicht  in  sich  selbst  »die  Keime 
birgt  zu  Schiefsitz,  Schiefwuchs  und 
Kurzsichtigkeit,   wie   dies   bei  der 


heute  üblichen  Schiefschrift  der  Fall 
ist.«  Verfasser  hat  mir  aus  der  Seele 
gesprochen. 

Glogau.  Grabs. 

xm. 

Flora  von  Deutschland.  Illustriertes 
Pflanzenbuch.  Anleitung  zur  Kennt- 
nis der  Pflanzen  nebst  Anweisung 
zur  praktischen  Anlage  von  Her- 
barien von  Dr.  Wilh.  Medicus  K  aisers- 
lautern.    Aug.  Gotthold.    Kl.  8  °. 

Das  Buch,  dessen  erste  Lieferung 
vorliegt,  enthält  Abbildungen  von 
wohl  über  200  einheimischen  Ge- 
wächsen auf  vielen  bunten  Tafeln 
nebst  kurzen  Diagnosen,  welchen 
auch  Angaben  über  Nutzen  und 
Schaden  der  betreffenden  Pflanzen 
beigefügt  sind.  Man  braucht  sich 
durch  die  der  Lieferung  beigeheftete 
Subskriptionsliste,  welche  »das  bil- 
ligste, am  herrlichsten  und  naturge- 
treuesten  ausgestattete  Pflanzenwerk« 
in  Aussicht  stellt  und  jedem,  der  50 
Subskribenten  sammelt,  ein  Frei- 
exemplar verspricht ,  nicht  ab- 
schrecken zu  lassen,  es  zur  Hand  zu 
nehmen,  wenn  man  die  deutschen 
und  lateinischen  Namen  unserer  ge- 
wöhnlichsten Pflanzen  nebst  einigen 
ihrer  auffallendsten  Merkmale  auf  be- 
queme Weise  zu  erfahren  wünscht. 

XIV. 

Anleitung  zu  botanischen  Beobach- 
tungen und  pflanzenphysiologischen 
Experimenten.  Ein  Hilfsbuch  für 
den  Lehrer  beim  botanischen 
Schulunterricht.  Unter  Zugrunde- 
legung von  Detmers  »pflanzen- 
physiologischem Praktikum«  be- 
arbeitet von  Franz  Schleichet. 
Lehrer  in  Jena.  Langensalza,  Her- 
mann Beyer  u.  Söhne.  1891.  Kl. 
8°.  152  S.  52  Holzschnitte  im 
Text. 

Die  gut  ausgestattete  kleine  Schrift 
verfolgt,  laut  Vorwort,  »die  Aufgabe, 
den  mit  den  Grundzügen  der  allge- 
meinen Botanik  vertrauten  Lehrern, 
insbesondere  den  an  Mittelschulen, 
Seminaricn  und  Ackerbauschulen, 
sowie  auch  an  Volksschulen  thätigen, 
eine  Anleitung  zur  Anstellung  bota- 


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-    3»  - 


nischer  Beobachtungen  und  pflanzen- 
physiologischer Experimente ,  die 
sich  im  Unterricht  verwerten  lassen, 
zu  gewähren  und  dieselben  zum 
weiteren  Selbststudium  anzuregen. < 
Sie  sucht  dieses  Ziel  zu  erreichen, 
indem  sie,  wie  das  rühmlichst  be- 
kannte Praktikum  Detmers,  eine 
gröfsere  Anzahl  von  Experimenten 
nebst  einigen  wichtigen  mikrosko- 
pischen Präparaten  beschreibt  und 
an  deren  Hand  die  wichtigsten  Er- 
gebnisse der  PflanzenphysioTogic  vor- 
trägt. In  den  drei  Kapiteln  des 
Buches  wird  der  Leser  auf  diese 
Weise  in  die  Lehre  von  der  Er- 
nährung der  Pflanzen,  dem  Wachs- 
tum und  den  Reizbewegungen,  der 
vegetativen  Vermehrung  und  der 
sexuellen  Fortpflanzung  eingeführt. 
Besonderes  Gewicht  ist  hierbei  einer- 
seits darauf  gelegt,  dafs  die  anzu- 
stellenden Experimente  leicht  und 
mit  möglichst  einfachen  Hilfsmitteln 
auszuführen  sind,  andrerseits,  dafs 
die  theoretischen  Erläuterungen  nicht 
das  f  ür  den  oben  bezeichneten  Leser- 
kreis geniefsbare  Mafs  überschreiten. 
Inbezug  auf  den  letzteren  Punkt 
scheint  mir  die  Grenze  sogar  manch- 
mal zu  eng  gezogen  zu  sein.  Bei- 
spielsweise wird  in  dem  Kapitel  über 
die  Tötung  der  Pflanze  durch  schäd- 
liche äufsere  Einflüsse  als  lehrreich 
ein  Versuch  beschrieben,  welcher 
das  Weichwerden  der  Kartoffeln  beim 
Wiederauftauen  nach  dem  Erfrieren 
darthut.  Eine  Andeutung  über  die 
näheren  Ursachen  des  Weichwerdens, 
die  den  Versuch  doch  erst  »lehr- 
reich« machen  würde,  ist  aber  nicht 
gegeben.  Sehr  richtig  ist  es,  dafs 
der  Verfasser  vielfach  an  die  pflanzen- 
physiologischen Vorkommnisse  des 
täglichen  Lebens  anknüpft  —  Ref. 
hätte  selbst  noch  ein  Mehr  in  dieser 
Richtung  gerne  gesehen  —  ,  und  auch 
das  mufs  hervorgehoben  werden,  dafs 
die  Biologie  die  ihrem  pädagogischen 
Werte  entsprechende  Berücksich- 
tigung erfahren  hat.  Die  p.  83  an- 
geführten Versuche  mit  Pflanzen  und 
Schnecken  und  die  Bestäubungsver- 
suche im  46stcn  Abschnitt  tragen 
gewifs  ebensoviel  zum  Erwecken  von 
Liebe  und  Verständnis  für  die  uns 
umgebende  Organismenwelt  bei  wie 


die  der  chemischen  und  physika- 
lischen Physiologie  gewidmeten  Teile. 

So  sei  denn  das  im  Grofsen  und 
Ganzen  wissenschaftlich  genaue  und 
praktisch  sehr  brauchbare  Buch  den 
beteiligten  Kreisen  warm  empfohlen. 
Zweifellos  verdient  es  einen  hervor- 
ragenden Platz  unter  den  Mitteln, 
welche  den  Fortschritt  der  noch 
immer  nur  beschreibenden  und  be- 
nennenden Schul-  und  Volksbotanik 
zu  einer  allgemeineren  Betrachtung 
des  Lebens  der  Pflanze  zu  befördern 
geeignet  sind. 

Jena.     Prof.  Dr.  M.  Büsgen. 
XV. 

Ch.  Ufer,  Geistesstörungen  in 
der  Schule.  Ein  Vortrag  nebst 
15  Krankenbildcrn.  Wiesbaden  bei 
Bergmann.  50  S.  1891.  Preis 
M.  1,20. 

Der  Verfasser,  welcher  bereits  in 
einer  früheren  Schrift:  »Nervosität 
und  Mädchenerziehung«  bewiesen 
hat,  dafs  er  nicht  nur  in  der  Lite- 
ratur der  Schulhygiene  bewandert 
ist,  sondern  auch  einen  scharfen  Blick 
hat  für  die  Erfordernisse  der  leib- 
lichen Gesundheit  der  Jugend  und 
die  Mifsstande  bezüglich  derselben 
in  Schule  und  Haus  wohl  kennt, 
bietet  uns  in  der  neuen  Schrift  eine 
Anregung  auf  einem  Gebiete,  das 
allerdings  nach  unserer  Erfahrung 
noch  wenig  beachtet  worden  ist. 
Die  Schrift  ist  hervorgegangen  aus 
einem  Vortrag ,  gehalten  auf  der 
ZweigversammTung  des  Vereins  für 
wissenschaftliche  Pädagogik  in  Weis- 
senfcls.  In  den  pädagogischen  Lehr- 
büchern wird  hingewiesen  auf  die 
Notwendigkeit,  dafs  der  Lehrer  die 
Charaktere  seiner  Schüler  studiere, 
sowohl  Ziller  als  Stoy  haben  die  Wich- 
tigkeit solcher  Untersuchungen  be- 
tont und  Bilder  von  Kinderindivi- 
dualitäten von  ihren  Schülern  ver- 
langt; allein  wie  oft  wird  der  indi- 
viduellen Entwicklung  zu  wenig 
Sorgfalt  seitens  der  Lehrer  gewidmet 
und  sie  kann  auch  nicht  gewidmet 
werden  bei  der  grofsen  Zahl  von 
Schülern,  die  ein  Lehrer  zu  unter- 
richten hat!  Wie  oft  wird  geklagt 
über  Kirdcr,  welche  durch  ihr  Ver- 


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—    39  — 


halten  Eltern  und  Lehrer  zur  Ver- 
zweiflung bringen,  bei  welchen  man, 
wie  man  sagt,  jeden  Tag  mit  einer 
Tracht  Prügel  beginnen  sollte,  »die 
aber  krank  sind  und  daher  kein 
Gegenstand  des  Zürnens  und  der 
Strafe,  sondern  des  Mitleids  und  der 
liebenden  Fürsorge  sein  sollten.« 
Wenn  unser  Auge  geschärft  ist  für 
die  pathologischen  Verhältnisse  unse- 
rer Kinder,  wenn  wir  uns  bemühen, 
einigen  Aufschlufs  über  die  körper- 
liche und  geistige  Entwicklung  der 
Schüler  zu  erhalten,  so  würden  wir 
manche  Fehler  und  Härten  im  Unter- 
richt und  in  der  Erziehung  vermeiden 
und  würden,  was  wir  als  Eigensinn, 
Bosheit  dem  Kinde  schwer  anrechnen, 
oft  als  psychische  Störungen  kennen 
lernen  und  dieselben  nicht  durch 
Mafsregeln  der  Zucht,  sondern  durch 
rationelle  Psychiatrie  zu  heilen  suchen 
Man  denke  hierbei  auch  an  so  manche 
überspannte  Anforderungen  der  El- 
tern an  ihre  Kinder,  welche  jenen 
niemals  nachkommen  können;  wie 
oft  sind  wir  in  der  Lage,  die  armen 
Schüler  zu  bedauern,  welche  von 
den  in  diesem  Punkte  nicht  zu  über- 
zeugenden Eltern  zum  Besuch  höherer 
Schulen  und  zu  Berufsarten  ge- 
zwungen werden,  wofür  die  geistige 
Veranlagung  absolut  nicht  vorhanden 
ist!  Auf  solche  Dinge  macht  der 
Verfasser  aufmerksam,  dazu  dient 
der  Anfang  mit  13  interessanten 
Schilderungen  von  psychisch  kranken 
Kindern. 

Die  schwierige  Frage  bleibt  frei- 
lich, neben  dem  genauen  Studium 
der  Individualitäten,  wie  soll  sich 
der  Lehrer  die  psychiatrischen  Kennt- 
nisse erwerben?  Herr  Ufer  meint, 
die  Lehre  von  den  psychischen 
Störungen  sollte  in  den  Grundzügen 
im  Anschlufs  an  die  Psychologie  im 
Seminare  gelehrt  werden ;  dabei  sei 
freilich  selbstverständlich,  dafs  nicht 
das  ganze  Gebiet  durchzuarbeiten 
wäre,  wozu  schon  die  Zeit  fehle, 
sondern  nur  diejenigen  Erschei- 
nungen ,  welche  dem  Kindesalter 
eigentümlich  sind,  die  Vorgänge  und 
Krankheitszufälle,  denen  der  Mensch 
im  Kindesalter  unterworfen  ist.  So 
wenig  wir  auch  die  Richtigkeit  dieser 
Sätze  verkennen,  so  ist  uns  immer 


bei  der  jetzigen  Gestaltung  unserer 
Seminarien,  welche  sie  noch  lange 
nicht  als  Berufsanstaken  erscheinen 
läfst,  und  bei  dem  unreifen  Alter  der 
Zöglinge,  eine  Vermehrung  des  Lern- 
stoffs bedenklich.  Die  Lektüre  dieses 
erweiterten  Vortrags  giebt  jedenfalls 
vielfache  Anregung  und  Fingerzeige 
und  giebt  uns  auch  zum  weiteren 
Studium  die  besten  medizinischen 
Werke  über  die  psychischen  Störun- 
gen an  die  Hand. 

Karlsruhe,  Jan.  1891. 

Leutz,  Seminardir. 

XVI. 

Naturgeschichte.  II.  Die  Kulturwesen 
der  deutschen  Heimat  nebst  ihren 
Freunden  und  Feinden,  eine  Le- 
bensgemeinschaft um  den  Men- 
schen. I.  Die  Pflanzenwelt.  Von 
Friedrich  Junge,  Hauptlehrer  in  Kiel. 
Kiel  und  Leipzig.  Lipsius&  Tischer. 
1891.    Geh   3  M.,  geb.  3,80  M. 

Nicht  jedem  Buche  ist  es  beschie- 
den, eine  so  tiefe  und  weitgehende 
Bewegung  der  ganzen  pädagogischen 
Welt  hervorzurufen,  wie  es  bei  Junges 
»Dorfteich«  der  Fall  war.  Ref  ist 
—  und  das  soll  gleich  hier  bemerkt 
sein  —  nicht  mit  Junges  Grund- 
prinzip, der  Lebensgemeinschaft,  ein- 
verstanden, aber  trotzdem  glaubt  er, 
dafs  der  Einflufs  des  Buches  ein  wohl- 
thuender  gewesen  ist  und  auch  blei- 
ben wird. 

Mit  viel  Spannung  wurde  der  hier 
vorliegende  zweite  Teil  erwartet. 
Viele  werden  von  ihm  enttäuscht 
sein :  Die  (äufsere)  Anordnung  nach 
Lebensgemeinschaften  fehlt.  Aber 
diese  mögen  bedenken ,  dafs  es  ein 
Unding  ist,  die  gesamte  Naturge- 
schichte in  Lebensgemeinschaften 
bearbeitet  so  vorzulegen,  dafs  sie 
für  alle  Verhältnisse,  für  jede  Gegend 
und  jeden  Ort  pafst.  Derartige 
Lebensgemeinschaften  giebt  es  nicht. 
Der  Verfasser  giebt  den  Stoff  nach 
dem  natürlichen  System  angeordnet; 
jeder  soll  sich  wählen,  was  für  ihn 
pafst.  Aus  der  äufseren  Anordnung 
aber  schlicfsen  wollen,  der  Verfasser 
habe  eingesehen,  die  Lebensgemein- 
schaft gehöre  nicht  in  den  Volks- 
schulunterricht,   würde   sicher  ein 


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—    40  — 


Fehlschlufs  sein.  Ref.  allerdings  ist 
auch  heute  noch  der  Oberzeugung, 
dafs  nach  jenem  Begriffe  eine  Aus- 
wahl des  in  der  Schule  zu  behan- 
delnden Stoffes  nicht  vorgenommen 
werden  kann  und  dafs  seine  Er- 
örterung weit  über  die  geistigen 
Grenzen  der  Schüler  hinausgeht ;  die 
Lebensgemeinschaft  also  überhaupt 
nicht  in  die  Schule  gehört.  Auch 
das  auf  dem  Titel  gebrauchte  Wort 
»eine  Lebensgemeinschaft  um  den 
Menschen«  ist  nicht  klar  und  scharf 
und  der  naturgeschichtlichen  Lebens- 
gemeinschaft entgegen. 

Aber  trotzdem  hat  das  Buch  noch 
viele  Vorzüge,  es  ist  im  echt  natur- 
wissenschaftlichen Geiste  abgefafst 
und  erhebt  sich  schon  dadurch  über 
sehr  viele  seiner  Genossen. 

Der  Verfasser  behandelt  die  Pflan- 
zen, welche  von  Bedeutung  für  den 
Menschen  sind  ,  von  den  vollkom- 
mensten an  bis  zu  den  Pilzen  Ein 
allgemeinerRückblickgiebt  Aufschlufs 
über  Aufenthalt,  Ernährung  und  Ent- 
wickelung  des  Pfianzenlcbens  und  über 
die  Pflanze  als  Glied  des  Ganzen. 
Für  jede  Schule  sind  zur  Behandlung 
vorgeschlagen:  Getreide-  (und  Ge- 
webe-)pflanzen,  Kartoffel,  Obstbäume, 
Beerenobst,  Erbse,  Bohne  und  andere 
Gartengewächse,  Wald-  und  Zier- 
bäume und  andere  derartige  Pflanzen, 
ferner  die  sich  breit  machenden  Un- 
kräuter und  heimischen  Giftpflanzen, 
soweit  sie  durch  Frucht  oder  Kraut 
gefährlich  werden  können.  Für  die 
verschiedenen  Gegenden  sind  auch 
bestimmte  Vorschläge  gemacht.  Voran 
steht  immer  das  praktisce  Leben  der 
Heimat,  also  Pflanzen  stehen  obenan 
von  technischer,  kommerzieller,  ästhe- 
tischer, individueller  Bedeutung.  Hier- 
nach hat  sich  der  Verfasser  ganz  den 
Grundsätzen  Prof.  Zillers  angeschlos- 
sen. Wohl  sagt  er  'S.  31  Anmerkg.): 
Die  Naturdinge  sollen  dem  Menschen 
nicht  dienen,  der  Mensch  >mufs  durch 
körperliche  und  geistige  Anstrengung 
sich  in  den  Stand  setzen,  dals  er 
Blüten  und  Früchte  im  weitesten 
Sinne  des  Wortes  für  sich  einheim- 
sen kann.«  Aber  Ziller  hat,  wenn 
er  die  menschliche  Arbeit  als  Aus- 
gang der  naturkundlichen  Erörterung 
nimmt,   auch   nicht  die  »subjektive 


Nützlichkeit«  vornan  gestellt,  son- 
dern vor  allen  Dingen  den  sittlich- 
religiösen Willen,  welchen  auch  Junge 
mit  Recht  betont,  heben  und  för- 
dern wollen. 

Auch  in  der  Bearbeitung  des  Ein- 
zelnen ist  das  Buch  gut  Zillerisch. 
Das  für  den  Menschen  Bedeutungs- 
volle steht  zuerst ,  häufig  genug 
vor  jeder  naturgeschichtlichen  Be- 
merkung. Die  naturgcschichtliche 
Beschreibung  schreitet  natürlich 
nicht  von  der  Wurzel  bis  zur  Frucht 
vorwärts.  Das  erste  Individuum  ist 
gleich  mit  so  grofser  Rücksicht  auf 
das  praktische  Leben  behandelt,  dafs 
man  die  Darlegung  fast  in  einer  An- 
weisung tür  Gärtner  suchen  möchte. 
Von  manchen  Individuen  (z.  B.  die 
Johannisbeere)  ist  überhaupt  nur  die 
praktische  Bedeutung  genannt.  Diese 
Verwertung  der  ganzen  Pflanze  oder 
ihrer  Teile  ist  dem  Verf  so  wichtig, 
dafs  er  darüber  einen  Austausch  zwi- 
schen Nord-  und  Süddeutschland  ver- 
anlafst. 

Ein  grofser  Vorzug  des  Buches 
liegt  in  seinen  Anleitungen  zu  Ver- 
suchen. Diese  sind,  nach  des  Verf. 
eigenem  Geständnis,  nicht  schlecht- 
weg andern  Büchern  entnommen, 
sondern  zum  grofsen  Teil  erst  er- 
dacht worden.  Es  mag  schwierig 
sein ,  diese  in  allen  Verhältnissen 
anzustellen.  Aber  das  blofse  Mit- 
teilen der  Ergebnisse  der  Versuche 
durch  den  Lehrer  hat  einen  so 
niedrigen  Wert,  dafs  es  gut  unter- 
bleiben kann.  Auch  hier  soll  die 
Naturgeschichte  anschaulich  sein.  Das 
ist  sie  aber  noch  nicht,  wenn  der 
Schüler  beim  Unterrichte  die  Pflanze 
und  das  Tier  wirklich  (oder  im  Bilde) 
vor  sich  hat.  In  der  Ausdehnung 
und  Zweckmäfsigkeit  wie  bei  Junge 
ist  auf  naturgeschichtliche  Versuche 
(auf  pflanzenphysiologische  Anschau- 
lichkeit) noch  nirgends  eingegangen 
worden.  Hier  zeigt  sich  der  Ver- 
fasser gleich  ausgezeichnet  als  Pä- 
dagog  und  als  Vertreter  der  Wissen- 
schaft. Dasselbe  gilt  auch ,  weil  er 
das  Mikroskop  im  Volksschulunter- 
richt gebraucht,  Ausflüge  macht  und 
ein  gut  Stück  Naturgeschichte  im 
Freien  vorbereiten  und  erarbeiten, 
auch  besondere  naturgcschichtliche 


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—    41  — 


Tagebücher  von  den  Schülern  an- 
legen und  führen  läfst. 

Eine  weitere  vorteilhafte  Eigen- 
tümlichkeit des  Buches  besteht  in 
den  vielen,  kulturgeschichtlichen  und 
volkswirtschaftlichen  Anfügungen ; 
auch  die  Gesetzes- und  Haushaltungs- 
kunde ist  mehrfach  berührt.  Viele 
dieser  Bemerkungen  sind  sofort  zu 
gebrauchen,  andere  müssen  je  nach 
der  Gegend  verändert  werden,  wie 
das  Buch  überhaupt  studiert  sein  und 
nicht  Handlangerdienste  übernehmen 
will.  —  Die  ganze  Arbeit  ist  die  eines 
erfahrenenSchulmanncs,  der  manchen 
für  die  Schule  vorteilhaften  Blick  über 
seinen  Unterrichtszweig  hinausthut 
und  seine  Schüler  nach  jeder  Seite 
fördern  will. 

Die  Arbeit  sollte  noch  mehr  im 
Dienste  der  Erziehung  stehen,  sollte 
manches  präziser  bringen  und  auch 
die  Konzentration  des  Unterrichts  in 
der  von  Ziller  betonten  Weise  berück- 
sichtigen 

Das  Buch  ist  aber  als  eine  wissen- 
schaftliche Arbeit,  wie  sie  für  die 
Volksschule  noch  nicht  vorlag, 
dringend  zu  empfehlen. 

Neustadt  a.  O.  Winzer. 
XVII. 

Frauencharakter    und  Frauenbildung. 

Vortrag,  gehalten  im  Bildungsver- 
ein zu  Düsseldorf  am  4.  März  1S91 
von  Frau  Emma  Schuback.  Düssel- 
dorf. L.Voss  &  Co.  1891.  16  S.  8°. 

Das  Recht  der  Frau.  Von  Dr.  Joh 
Nieden,  Konrektor.  Vortrag,  ge- 
halten in  Strassburg  i.  E.  am  8.  April 
1891.  Strassburg,  Lindner.  32  S.  8°. 

Zwei  Schriftchen,  welche  sich  über 
die  vielbesprochene  Frage  äufsern, 
welches  die  Aufgabe  der  Fraucn- 
bildung  in  der  Gegenwart  sei.  In 
dem  ersteren  äufsert  sich  eine  Frau 
selbst  über  Eigenart  und  Erziehung 
ihres  Geschlechtes,  und  sie  besitzt 
dazu  doppelte  Befähigung  infolge 
ihrer  vieljährigen  Thätigkeit  als  Lei- 
terin einer  hochgeachteten  ^Mädchen- 
anstalt,  welche  Thätigkeit  sie  mit 
dem  Wirken  einer  trefflichen  Haus- 
frau wohl  zu  vereinigen  wufste.  So 
ist  es  denn  sehr  erklärlich,  dafs  sie 
mit  dem  Streben  mancher  ihrer  Ge- 


schlechtsgenossinnen, in  der  Gesell- 
schaft genau  dieselbe  Stelle  einzu- 
nehmen ,  wie  der  Mann ,  gar  nicht 
einverstanden  ist.  Sie  verwirft  denn 
auch  diese  Strebungen  mit  echt  weib- 
lichem Zartsinn,  weist  sogar  der  Frau 
die  Aufgabe  zu,  des  Mannes  Gehülfin 
zu  sein.  Gegenüber  den  unklaren 
Urteilen,  welche  ab  und  zu  von  son- 
derbaren Käuzen  über  die  Frauen- 
welt der  Gegenwart  ausgesprochen 
werden  ,  weist  sie  hin  auf  die  Ver- 
ehrung, welche  die  Frauen  im  Alter- 
tum, bei  den  Germanen  und  im  Mit- 
telalter gefunden,  und  meint,  es  seien 
den  heutigen  Frauen  schwerlich  die 
guten  Eigenschaften  abhanden  ge- 
kommen ,  welche  vormals  jene  Ver- 
ehrung hervorgerufen.  »Noch  ist  das 
deutsche  Haus,  im  ganzen  und  grofsen 
genommen,  die  Stätte  von  Zucht  und 
Sitte,  der  Friedenshafen,  in  den  der 
Mann  nach  des  Tages  Last  und  Ärger- 
nissen freudig  einkehrt,  das  Heilig- 
tum der  Erinnerung,  das  den  Jüng- 
ling schützt  im  Kampf  mit  den  tau- 
sendfachen Versuchungen;  denn  die 
Ehrfurcht  vor  dem  reinen  Auge  seiner 
Mutter,  vor  der  keuschen  Unschuld 
seiner  Schwestern,  kurz  die  Gesin- 
nung, die  er  aus  dem  Elternhausc 
mitbringt,  ist  mafsgebend  für  sein 
ganzes  Leben.  Das  deutsche  Haus 
ist  die  Stätte  der  Gemütlichkeit,  edler 
Einfachheit,  schlichter  Frömmigkeit, 
der  Selbstverleugnung,  der  Geduld, 
der  Demut,  der  reinen  echten  Lie- 
benswürdigkeit, welche  der  Schmuck 
des  Weibes  sind. 

Wie  aber  mufs  die  Bildung  unserer 
Töchter  sein,  um  solche  Charaktere 
zu  erziehen?  Wer  soll  sie  erziehen? 
Natürlich  die  Eltern.  Das  kann  aber 
nur  geschehen,  wenn  dieselben  un- 
ablässig sich  selbst  in  Zucht  nehmen, 
stets  Hand  in  Hand  gehen.  Die 
Kinder  müssen  erzogen  werden  zum 
Gehorsam,  zur  Wahrheitsliebe;  ihr 
Gemüt  mufs  gebildet  werden  zu 
Selbstverleugnung  und  Freundlich- 
keit gegenüber  den  Hausgenossen, 
zur  Überwindung  spöttischen  Sinnes, 
nicht  zum  Ehrgeiz,  aber  zur  wahren 
Ehrliebc;  sie  müssen  angeleitet  wer- 
den zu  gründlich  ernstem  Thun,  zur 
Tüchtigkeit,  zur  Treue  im  Kleinen. 
Dazu   ist   eine   treue   Helferin  die 


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42  - 


Schule,  welche  diese  Tugenden  weckt 
und  nährt  ,  durch  Übung  des  Ver- 
standes und  Nachdenkens  jedem  ver- 
nunftwidrigen Reden  und  Handeln 
entgegenarbeitet.  Nichts  aber  hin- 
dert mehr  eine  gesunde  und  tüchtige 
geistige  Entwickelung  als  die  endlose 
Zerstreungs-  und  Vergnügungssucht 
unserer  Zeit ,  über  welche  mit  Fug 
und  Recht  ein  scharfes  lTrteil  ge- 
sprochen wird ,  das  Verschlingen 
wertloser  Romane.  Als  Bestes  und 
Wichtigstes  für  die  Bildung  der  weib- 
lichen Jugend  wird  am  Schlüsse  her- 
vorgehoben die  Pflege  des  religöscn 
Gefühls  Man  könnte  meinen,  das 
alles  sei  selbstverständlich  und  nicht 
gerade  neu,  und  das  mag  teilweise 
der  Fall  sein.  Aber  auch  das  Selbst- 
verständliche kann  nicht  zu  oft  ge- 
sagt werden,  denn  es  gibt  gar  viele 
verschrobene  Köpfe,  denen  das  Selbst- 
verständliche gar  nicht  so  selbstver- 
ständlich erscheint;  es  kann  jenen 
seichten,  von  den  verbildeten  Schich- 
ten grofsstädtischer  Bevölkerungen 
hergeleiteten  giftigen  Urteilen  über 
das  weibliche  Geschlecht  unserer 
Tage  nicht  oft  und  scharf  genug 
entgegengetreten  werden;  es  kann 
das  sittliche  Ziel  der  weiblichen 
Bildung  der  Gegenwart  nicht  leuch- 
tend genug  hingestellt,  auf  die  Not- 
wendigkeit eines  gediegenen  häus- 
lichen Lebens  nicht  nachhaltig  genug 
hingewiesen  werden ;  und  wenn  das 
eine  Frau  mit  echt  weiblichem  Sinne 
thut,  durch  welcher  immer  das  ernste 
Gemüt ,  der  klare  Verstand,  ab  und 
zu  auch  ein  anmutiger  Humor  durch- 
scheint, so  liestsichdasschr  nett  Das 
Heft  ist  besonders  unseren  Frauen 
bestens  zur  Beherzigung  zu  empfehlen. 

In  anderer  Tonart  spricht  das 
Heftchen  von  Nieden;  es  ist  nicht 
blofs  vom  doppelten  Umfange  des 
vorigen ,  es  ist  auch  ein  Mann, 
welcher  spricht  für  das  Recht  der 
Frau  zu  reicherer  Teilnahme  am 
öffentlichen  Leben,  als  sie  den  Frauen 
bisher  von  der  Gesellschaft  zuge- 
standen worden.  Er  findet,  wie  Iphi- 
genie, der  Frauen  Zustand  beklagens- 
wert, nicht  blofs  im  Altertum,  nicht 
blos  bei  Heiden  und  Muhamcdanern, 
sondern  auch  in  Deutschland.  Die 
Frauen  fordern  gleiche  Berechtigung 


mit  dem  Manne  unter  Hinweis  auf  die 
Gleichwertigkeit  beiderGeschlechter ; 
der  Verfasser  prüft  dieselbe  und  ist  der 
Ansicht,  dafs  das  Weib  dem  Manne  in 
Bezug  auf  physische  Leistungsfähig- 
keit wie  auf  intellektuellem  Gebiete 
nachstehe ;  er  findet  die  Ursache 
dieser  Erscheinung  darin  ,  dafs  den 
Mädchen  nie  so  viele  Mittel  zur  Ent- 
wickelung ihrer  geistigen  Fähigkeiten 
geboten  wurden  wie  den  Knaben. 
Er  verlangt  daher  Erweiterung  der 
Rechte  der  Frau  und  zugleich  die 
Gelegenheit  zur  Aneignung  einer 
gründlicheren  Bildung,  sowie  die  Zu- 
lassung zu  allen  Berufsarten,  in  wel- 
chen sie  etwas  zu  leisten  vermag, 
ohne  dadurch  das  echt  Weibliche 
preisgeben  zu  müssen.  Der  Beruf 
der  Lehrerin  steht  ihr  schon  offen; 
Nieden  verlangt  dazu  noch  Frei- 
gebung des  ärztlichen  und  Apotheker- 
berufes für  die  Frauen.  Für  ersteres 
haben  sich  schon  um  der  kranken 
Frauen  willen  viele  Stimmen  erhoben  ; 
den  Frauen  das  verantwortungsvolle 
Amt  des  Apothekers  zu  eröffnen, 
möchte  doch  sein  Bedenken  haben. 
Dann  müfste  aber,  fährt  Nieden  fort, 
für  die  erforderliche  Vorbildung  ge- 
sorgt werden  durch  Gründung  einer 
eigenen  medizinischen  Hochschule 
für  Frauen,  oder  wenigstens  beson- 
derer Kurse  an  einer  schon  vorhan- 
denen Hochschule.  Daran  knüpfen 
sich  weitere  Wünsche,  die  sich  auf 
Einrichtung  von  Fortbildungskursen 
besonders  in  den  grofsen  Städten 
beziehen,  wie  anderseits  der  Verfasser 
den  erwachsenen  Jungfrauen  ver- 
möglicher Stände  lebendigere  Unter- 
stützung volksfreundlicher  Anstalten, 
wie  Kinderhorte  etc.  empfiehlt.  Das 
Heft  bringt  viel  Verständiges  und 
Richtiges  ;  es  unterscheidet  sich  aber 
vom  vorigen,  wie  sich  der  nüchterne 
klardenkende  Geist  des  Mannes  von 
dem  gemütvollen  sinnigen  Denken 
einer  klugen  Frau  unterscheidet;  es 
ist  bezeichnend  ,  dafs  die  letztere 
von  den  Pflichten,  der  Mann  von  den 
Rechten  der  Frau  spricht. 
Crefeld.       Dr.  W.  Buchner. 

XVIII 

Die  zehn  Gebote  des  Lehrers  Von 

Karl  Moser.    Entwurf  einer  Re- 


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.  al  


~    43  — 


form  des  Schulwesens.  Mit  Muster- 
lcktioncn.  Hamburg.  Konrad  Kloss. 
1891.    Pr.  2  M. 

Das  Buch  empfiehlt  wegen  der 
Klagen  über  die  Überbürdung  der 
Schüler  und  über  die  daraus  ent- 
stehenden Folgen  direkt  auf  den 
Unterricht  bezügliche  Reformen; 
nämlich  1.  die  Aufstellung  des  Freu- 
denprinzips beim  Unterricht ;  2.  Ver- 
bannung der  abstrakten  Sprachform 
(welche  Reform  der  Verfasser  als 
Hauptsache  an  seinem  Buche  ansieht) 
und  3.  Reformen,  welche  die  eigent- 
liche Methodik  betreffen.  Die  aufge; 
stellten  zehn  Gebote  des  Lehrers  sind 
zumeist  sehr  allgemein  gehalten,  z.  B. 
1.  Bete  an  die  Natur  und  liebe  die 
Kinder  mehr  als  dich  selbst.  Manches, 
was  das  Buch  bringt,  ist  falsch,  z  B. 
>der  Geist  hat  von  Natur  das  Ver- 
mögen des  Wissens,  wie  überhaupt 
der  Mensch  alle  anderen  Vermögen 
und  Kräfte  besitzt.«  In  den  Lek- 
tionen wird  zu  wenig  die  Selbst- 
tätigkeit der  Schüler  angerufen,  z.  B. 
»der  Lehrer  erklärt  das  Kartenbild 
und  erzählt  den  Schülern  das  Wich- 
tigste über  die  betrachteten  Länder;« 
S.  73  steht:  >der  Lehrer  steht  an 
der  Wandkarte  und  hält,  indem  er 
zugleich  alles  Betreffende  auf  der- 
selben zeigt,  den  nachfolgenden  Vor- 
trag« (über  die  Bewässerung  der 
Apenninen-Halbinsel). 

Die  Lektionen  nehmen  überhaupt 
den  gröfseren  Teil  des  Buches  ein. 
Die  psychologische  Begründung  der 
aufgestellten  Gesetze  fehlt  fast  immer; 
wenn  sie  zu  geben  versucht  wird,  ist 
sie  mangelhaft.  Trotzdem  enthält  das 
Buch  manchen  beachtenswerten  Ge- 
danken und  ist  jedenfalls  aus  voller 
Liebe  zu  den  Schulkindern  nieder- 
geschrieben worden. 

Neustadt  a/O.  Winzer. 

XIX. 

0.  Krilgel,  Einiges  aus  dem  Leben 
und  Wirken  des  Dr.  Fr.  Otto  weil. 
Rektor  in  Mühlhausen  in  Thüringen. 
Jena,  Mauke.  1891. 

Es  ist  freudig  zu  begrüfsen,  dafs 
das  Andenken  an  den  vortrefflichen 
Schulmann,  dessen  Schriften  für  viele 
eine  Quelle  der  Belehrung  geworden 


sind,  durch  ein«  n  >nnn  Schuh  :  m 
warmer  und  Würdig  r  Weise  cnn-.in". 
worden  ist.  Seite  i-t  eun  K - 1  n k 
Ottos  nach  eim  1  l'i  ^heh - 1 : r i « m  ah-je- 
druckt,  die  sehr  eh.sraUi  ei  a.stist  \:  \>x 
für  die  Klarheit  Sieht  i  heit  und 
Phrasenlosigkcit  de-  M;dillua>er 
Rektors.  Diese  «-ine  Aussprache 
würde  genügen,  um  Intmajsse  für  Im 
Mann  zu  fasser.  seine  Stellung 
in  der  Geschichte  de--  dr nischcn 
wie  des  Zeichen  I 'ntei  r  xhts  ist  hin- 
reichend bekannt  um  das  l'r.tcr- 
nehmen  zu  rech:  tn -;ir;i:n  ein  Um /es 
Lebensbild  den  <U  m-eium  Lehrern 
vorzulegen.  E-  sei  lr.ci  mit  v.avtn 
empfohlen. 

Jena.  W.  \<  e  ; 

Dietrich,  Fibel  nach  der  Schreiblesp  u. 

Normalwortmethorie    hr.vuusciv.  -  ig, 

Appelhans  u  l'Unni^t  t;1.  ism. 

gr.  S°.    112  S.  M 

Diese  Fibel  /<  1  fallt  ir  zwei  Ah- 
teilungen.  Wie  -uehdic--  Ahu  ilur.._;en 
gliedern,  zeigt  sich  i:i  f'>:.;ciidcr  l'l  er- 
sieht : 

I.  Ah'cumm. 

A)    Die     kleine::      huch-tahci  in 

Schreibschrift    S.    ;  I!  ine 

kleinen  Buchstal h  n  in  I  >: uirUsr  n; alt 
(S.  23 — 29).     C)  Im-  1  r  osdumhst  1  hen 

in  Schreib-  und  i  >•  ucUseiu  1  r c  >  m 
— 53).  Nach  und  r.  11  Ii  einiiin;  zur 
Erledigung  :  Gramm  '  In  s/ea  :i - n .-, 
Phonetisches  und  !  m:  h<  .m ■;ipiiiM'iirs. 
(Wechsel  zwischen  Uhunm-n  in  \\\>v- 
tern,  in  Sätzen  und  m  U leinen  Lest  ■ 
stücken).  D)  Eiufüh'miie;  in  die  Iie- 
tonung.  Alphabet  -S.  >t,,- 

II.  Ahtciluim. 

Zusammenhänge  11  di  1  .csesü:cM-  in 
Poesie  und  Pro-a  unter  !o!ge  ideii 
Überschriften:  1  An  liehen  Or.cn. 
2)  An  frohen  Zeiten.  An  U  -.'?  -n 
Tagen.  4)  Von  alten  Hck. muten. 
5)  In  unserem  '.atten  Krumn:^. 
6.  Auf  weiten  >\  - ; .:  u  m  -.  :s,,m- 
mer) :  a^  Auf  dem  I' \  lde  l>  Am  der 
Wiese,  c)  Am  Was-,  r.  d  Im  Walde. 
7)  Von  süsser  Kruchten  iS.  Mit 
lateinischen  Buchet  ahen  <a.  V-m 
hohen  Himmel  1X1:14111'  10  \'<>n 
schönen  Märchen 


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—    44  — 


Dietrich  legt  also  seinem  Unter- 
richte Normalwörter  zu  Grunde  und 
zwar  Normalwörter  in  der  Schreib- 
schrift. Warum  mied  er  die  Druck- 
schrift? Die  Fibel  sagt  es  nicht  und 
konnte  es  nicht  sagen.  Es  ist  über- 
dies ungemein  schwierig  zu  ent- 
scheiden, ob  man  dem  Normalwörter- 
verfahren in  der  Form  von  Lese- 
schreiben oder  in  der  Form  von 
Schreiblesen  das  Wort  zu  reden 
habe ;  und  so  oft  ich  auch  das  Für 
und  Wider  hinsichtlich  beider  er- 
wogen, immer  und  immer  schien 
mir's,  als  habe  keine  Form  viel  vor 
der  andern  voraus,  und  als  invol- 
viere die  eine  Form  nicht  viel  weniger 
Schwierigkeiten  als  die  andere.  Da- 
rum mag  man's  getrost  der  Indi- 
vidualität des  Lehrers  anheimstellen, 
sich  für  diese  oder  jene  Form  zu 
entscheiden,  und  man  mag  es  dem 
Lehrer  umsomehr  überlassen,  als  der 
Glaube  an  die  Vorzüglichkeit  der 
Methode  wenn  auch  nicht  Wunder, 
so  doch  wenigstens  etwas  Ähnliches 
zu  wirken  vermag,  und  als  der  Wider- 
wille gegen  ein  Verfahren  auch  das 
beste  in  seinem  Erfolge  beeinträchtigt. 

Die  Normalwörtcr  überhaupt  aber 
will  Dietrich  nicht  entbehren.  Er  ist 
sich  dabei  wohl  bewufst  gewesen, 
dafs  die  Normalwörter  neben  den 
Vorteilen,  die  sie  bringen,  auch  Nach- 
teile im  Gefolge  haben;  und  sein 
Streben  mufste  daher  dahin  gerichtet 
sein,  diese  Nachteile  von  jenen  Vor- 
teilen zu  sondern.  Ist  ihm  dies  ge- 
lungen.' Sehen  wir  zu.  Er  beseitigt 
die  Druckschrift.  Aber  er  geht  noch 
weiter.  Er  beseitigt  auch  die  Grofs- 
buchstaben,  um  die  Schwierigkeiten 
der  schriftlichen  Darstellungen  auf 
ein  Minimum  zu  reduzieren.  Und 
noch  einen  Schritt  thut  er  beherzt 
vorwärts.  Um  mit  ganz  elementaren 
Formen  beginnen  zu  können,  läfst 
er  von  den  ersten  Normalwörtern 
nur  die  Anfangsbuchstaben  schreiben. 

Die  erste  der  nnderungen  will  mir 
etwas  gewagt  erscheinen;  denn  die 
Kinder  prägen  sich  die  Normal- 
wörter, wie  ja  ganz  natürlich,  so  fest 
ein,  dafs  es  später  nicht  geringe 
Mühe  kosten  wird ,  eine  Anders- 
schreibung anzueignen  und  dienst- 
bar zu  machen.    Die  zweite  Ände- 


rung ist  mit  der  ersten  so  eng  ver- 
knüpft, dafs  sie  miteinander  stehen 
und  fallen.  Da  hätten  wir  also  zwei 
Obelstände,  welche  der  Dietrichseben 
Fibel  anhaften.  Aber  man  bedenke, 
dafs  jede  Fibel,  wende  sie  auch  diese 
oder  jene  »Leselehrart«  an,  mit 
Fehlern  behaftet  ist;  wir  haben  dem- 
nach nur  zwischen  verschiedenen 
Übeln  zu  wählen.  Als  Normalwörter 
sind  diese  aufzuzählen:  i(gel),  e{sel), 
ei,  n(est),  s(eil),  m(ühle),  u(hr),  leine, 
eule,  o(fen),  a(dler),  rose,  wein,  maus, 
feile,  löwe,  hase,  eiche,  schaf,  beil, 
taube,  kühe,  düte,  pudel,  geige,  jäger, 
ziege,  fufs,  buch  und  faust.  Es  läfst 
sich  nicht  leugnen,  dafs  diese  Normal- 
wörterreihe  mit  gutem  Bedachte  ge- 
wählt ist. 

Die  Bilder  dazu  sind  zumeist  sauber 
ausgeführt  und  nicht  (wie  in  manchen 
Fibeln)  vieldeutig. 

Die  Auswahl  des  Übungsstoffes  in 
der  ersten  Abteilung  mufs  als  be- 
sonders gelungen  anerkannt  werden. 
Da  finden  wir  von  den  »Dornen  und 
Disteln«,  die  sich  in  vielen  Fibeln 
breit  machen,  fast  keine.  Dafs  mög- 
lichst früh  Sätzchen  und  kleine  Lese- 
stücke zur  Anwendung  kommen, 
ist  ein  Vorteil  ,  den  man  nicht 
hoch  genug  anschlagen  kann.  Solcher 
Übungsstoff  macht  nicht  allein  dem 
kleinen  Völklcin  grofse  Freude ;  nein, 
er  ist  auch  unbedingt  erforderlich. 
Wer  jemals  nach  einer  Fibel  unter- 
richten mufste,  die  in  dem  Normal- 
wörterkursus nur  mit  Silben  und 
Wörtern  operiert  und  von  diesem 
Normalwörterkursus  zu  dem  Lesen 
zusammenhängender  »klassischer« 
(nicht:  »bearbeiteter«)  Stücke  fort- 
schreitet, der  hat  gewifs  bitter  er- 
fahren müssen,  dafs  in  diesem  Falle 
die  Kinder  auf  solche  Leistungen 
nicht  genugsam  vorbereitet  sind,  dafs 
daher  zu  lange  Zeit  und  zu  viel 
Mühe  auf  das  Aneignen  einer  ein- 
zelnen Nummer  verwandt  werden 
mufs,  wodurch  die  Freudigkeit  des 
Könnens  zum  guten  Teile  verloren 
geht.  Durch  Einfügung  besagten 
Übungsstoffes  wird  sothanem  Übel- 
standc  ein  Ende  gemacht  *) 

*)  Vgl.  auch:  Rein,  Bltedner,  Pickel  u.  Schaller, 
Das  erste  Leachuch. 


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—    45  — 


Die  Nachsilben  cl,  er  und  en  treten 
mit  Recht  als  »Monogramme«  auf; 
solche  »Monogramme«  erleichtern 
die  Orthoepik  und  beschleunigen 
das  Lesen. 

Die  seltener  vorkommenden  Buch- 
staben c,  x,  y  u.  s.  f.  finden  erst 
spät  Verwendung,  nämlich  zu  einer 
Zeit,  in  der  gröfsere  Lesepensen  be- 
wältigt zu  werden  vermögen,  in  der 
also  jene  Buchstaben  so  oft  vor- 
kommen, dafs  ihnen  eine  öftere 
Reproduktion  gesichert  ist. 

Mit  Freuden  begrüfsen  wir  es,  dafs 
es  der  Verfasser  gewagt  hat,  Hand 
an  die  »geheiligte  klassische  Form« 
mancher  Stücke  zu  legen.  Ich  sage : 
gewagt  hat  ;  denn  heute  gehört  dazu 
Mut.  Thut  man  doch,  als  gält's,  die 
Kleinen,  die  kaum  über  das  Abc 
hinausgekommen  sind,  schon  zu 
> Schöngeistern«  erziehen  zu  müssen. 
Die  Umarbeitungen  sind  zumeist  mit 
feinsinnigem  Verständnis  vollzogen: 
es  sind  die  Schwierigkeiten  für  die 
Aneignung  gemindert;  aber  der 
poetische  Gehalt  ist  nicht  verringert. 
Die  Neu-  bez  Nachbildungen  des 
Verfassers  sind  nicht  minder  treff- 
lich. (Das  Lesestück  mit  der  Über- 
schrift »Der  Jäger  und  das  Rebhuhn« 
and  dem  Schlüsse:  »Weifst  du  denn 
nicht,  dafs  jeder  Mutter  ihre  eigenen 
Kinder  am  besten  gefallen?«  —  sollte 
freilich  gestrichen  sein.) 

Dietrich  selbst  bezeichnet  als  einen 
Vorzug  der  Fibel  »die  seines  Wissens 
völlig  neue  Bezeichnung  der  Reihen 
"bez.  Seiten  durch  Punkte,  Kreuze 
u.  s.  f.,  welche  den  Kindern  das  Auf- 
finden, dem  Lehrer  die  Kontrolle 
erleichtern  soll.« 

Mit  Recht!  Doch  ist  dieses  Orien- 
tierungsmittel nicht  «völlig  neu«,  wie 
ein  Blick  in  Wursts  Schreiblescfibel 
zeigt. 

Die  Dietrichsche  Fibel  nimmt 
natürlich  auf  den  Sachunterricht 
nicht  unmittelbar  Rücksicht*),  ent- 
behrt daher  auch  gewisser  Vorteile. 


•)  Vgl  dagegen  da«  bereit«  erwähnte  *i 
»«  von  Rein  etc.    Wer  e»  ein 

mag,  dem  werden  die  Vorteile 
die  ein  Le  hrplaniy  »tem 


Rekapitulieren  wir,  so  ergiebt  sich: 
Die  Dietrichsche  Fibel  ver- 
dient allgemeine  Beachtung. 

Eisenach.  M.  Fack. 

XXI. 

Or.  Georg  Müller- Frauenstein.  Hand- 
buch für  den  deutschen  Sprach- 
unterricht in  den  oberen  Klassen 
höherer  Lehranstalten.  Hannover, 
Norddeutsche  Verlagsanstalt  (O. 
Gondel)  1889  und  1890.  I.  Teil: 
Zur  Sprachgeschichte  und  Sprach- 
lehre, 203  u.  VIII  S.  II.  Teil:  Zur 
Vers-,  Stil-,  und  Dispositionslehre, 
180  u.  IV  S. 

Ein  mit  grofser  Liebe  und  Sach- 
kenntnis bearbeitetes  Schulbuch! 
Allerdings  nur  Stoffsammlung,  keine 
methodische  Bearbeitung,  aber  reich 
an  methodischen  Winken  und  prak- 
tischen Vorschlägen ,  die  einen  Ver- 
fasser verraten,  der  auf  langjährige 
Schularbeit  zurückblicken  kann.  Der 
geschichtliche  Abschnitt  des  ersten 
Teiles  führt,  sich  nur  auf  das  Not- 
wendigste, aber  Charakteristische 
beschränkend,  in  sehr  klarer  Weise 
den  Leser  Schritt  für  Schritt  von 
einer  Erörterung  über  die  Sprache 
überhaupt  zum  indogermanischen 
Sprachstamme,  zu  den  germanischen 
Sprachen  und  endlich  zur  hoch- 
deutschen Sprache,  wobei  die  Ge- 
schichte der  Schrift,  der  Sprachlehre, 
derRechtschreibung  und  der  Zeichen- 
setzung eine  gesonderte  Behandlung 
erfahren.  Ein  dankenswerter  An- 
hang beschäftigt  sich  mit  »den  heute 
geltenden  Hauptregeln  der  Recht- 
schreibung und  Zeichensetzung.«  Er 
ist  geeignet, diejenigen  eines  besseren 
zu  belehren,  welche  in  wohlgemein- 
tem, aber  mehr  oder  weniger  unver- 
ständigem Eifer  das  bekannte  Büch- 
lein »Regeln  und  Wörterverzeichnis 
zur  deutschen  Rechtschreibung«  zu 
verurteilen  pflegen.  Doch  ist  der 
Verfasser  keineswegs  blind  gegen 
gewisse  Schwächen  des  offiziellen 
Schriftchens,  Schwächen,  die  heut  zu 
Tage  von  jedem  einsichtigen  Schul- 
manne schwer  empfunden  werden. 
Das  geht  z.  B.  aus  seinen  Fragen 
S.  49  hervor:  »Soll  wirklich  »»die 
kölnischen   Bahnhöfe««    klein,  die 


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46  - 


»»Hamburger««  aber  grofs  geschrie- 
ben werden?    Also  nacheinander  in 
Berlin  der  Lehrter   und  der  schle- 
sische,  in  Dresden  der  Leipziger  und 
der  böhmische?   Der  Pfälzer  Wein 
grofs,  der   pfälzische   aber  klein ;« 
Und  ebenso  geht  es  aus  den  Äufse- 
run^en  S.  51  hervor:   »Die  in  dem 
Regelbuchc    und    dem  Wörterver- 
zeichnisse enthaltenen  Beispiele  und 
Ratschläge  würden,    sollten  sie  in 
den  Schulen  alle  eingeprägt  werden, 
geradezu    dem    Sprachgefühle  Ab- 
bruch thun,  da  man  dann  gegen  1500 
Fremdwörter  einlernen  und  erklären 
müfste.«    Den  gröfsten  Raum  nimmt 
naturlich  der  zweite  Abschnitt  »Zur 
Sprachlehre«  ein.     Er  bietet  keine 
systematische  Grammatik,  giebt  aber 
troUdem  über  alle  wichtigeren  gram- 
matischen    Erscheinungen  hinrei- 
chende Auskunft.    Diese  ist  um  so 
belehrender,    als    sehr    häufig  die 
Fäden  klar   gelegt  werden,  durch 
welche     ein     heute  herrschender 
Sprachgebrauch    oder     eine  jetzt 
geltende    Regel    mit    solchen,  die 
früheren  Perioden   unserer  Sprache 
angehörten,  verbunden  werden.  Doch 
scheint  uns  der  Verfasser  in  einigen 
Fällen   zu   grolsc   Nachsicht  gegen 
Ausdrucksweisen  obwalten  zu  lassen, 
denen  man  zwar,  selbst  bei  besseren 
Schriftstellern,  nicht  selten  begegnet, 
die  man  aber  doch  als  das,  was  sie 
sind,  als  falsch  oder  unschön,  be- 
zeichnen  sollte.     S.  105   heifst  es: 
»Eine  weitverbreitete  Nebenform  des 
Genetivs  zeigen  die  auf  einen  Zisch- 
laut oder  auf  ein  unbetontes  c  aus- 
gehenden  Personennamen,  nämlich 
ens  neben  s:  Luisens  neben  Luises. 
Doch  herrscht  heute  wohl  die  regel- 
mäfsige  Endung  vor,  und  man  fügt 
bei  den  Zischlauten  in  der  Schrift 
gewöhnlich    nur  ein   Häkchen  an: 
Max',  Fritz'     Dieser  letztere  Weg 
wird  jetzt  auch  schon  bei  den  be- 
treffenden Länder-  und  Ortsnamen 
eingeschlagen,  bei  denen  sonst  auch 
das    Vcrhältsniswort    aushilft:  Die 
Garnison  Metz'  oder  von  Metz.«  Wir 
meinen,   eine   Ausdrucksweise  wie 
»die  Garnison  Metz  «   sei  durchaus 
unschön  und  verwerflich  und  müsse 
deshalb  in  den  Schüleraufsätzen  als 
Fehler  bezeichnet  werden.  Freilich 


hat  hier  das  »Regel-  und  Wörter- 
verzeichnis« mit  seinem  »Vofs'  Luise« 
in    trauriger    Weise  vorgearbeitet 
Also  wir  wollen  nicht  lehren:  »Die 
Garnison   Metz'  oder    von  Metz«, 
sondern:    »Die  Garnison  von  Metz 
oder   der  Festung  Metz«.     S.  127 
sagt  der  Verfasser:    »Ebenso  bleibt 
es  ungewöhnlich,  dergleichen  Ver- 
bindungen auf  Personen  zu  beziehen, 
etwa:  Die  Leute,  womit  ich  zu  Tische 
safs,  obgleich  »wovon«  auf  sächliche 
Personenwörtcr,  wie  das  Kind,  und 
auf  Personen  in  der  Mehrzahl  schon 
nicht  mehr  so  selten  bezogen  wird. 
Trotzdem  ist  es  nicht  empfehlens- 
wert zu  sagen:  »Die  Mädchen,  wo- 
von   die    einen   hell,  die  anderen 
dunkel  gekleidet  waren.«    Auch  in 
diesem  Falle  sind  wir  der  Ansicht, 
es  müfsten  derartige  Verbindungen 
nicht    nur   als   ungewöhnlich  oder 
nicht  empfehlenswert,    sondern  als 
falsch  bezeichnet  werden.    Der  in 
grammatischen  Dingen  leider  schon 
allzu  breit  sich  machenden  Willkür 
wird  sonst  erst  recht  Thür  und  Thor 
geöffnet.  Das  letztere  geschieht  auch, 
wenn  S.  1S6  der  Satz  aufgestellt  wird: 
»Sodann  steht  an  Stelle  des  Indi- 
kativs der  unabhängigen  Rede  der 
Konjunktiv   der  Gegenwart  in  der 
abhängigen  Rede,  gleichviel  ob  eine 
Gegenwart  »oder  eine  Prätcritalform 
im    Hauptsatze    steht.«     Hat  die 
deutsche  Sprache  wirklich  keine  con- 
secutio  temporum  ?  Daraus ,  dafs  so 
viele  Tagcsschriftstellcr  sie  nicht  be- 
achten, folgt  doch  wohl  noch  nicht, 
dafs  keine  da  ist.    In  den  Sätzen 
des  Verfassers:  »Ich  glaubte,  ich  sei 
wieder  hergestellt«  und  »Ich  fragte, 
ob  der  Arzt  da  sei,   und  bat,  er 
möchte  eintreten«  halten  wir  das 
»sei*   für  durchaus  ungerechtfertigt 
und  vermögen  nicht  einzusehn,  wes- 
halb hier  nicht  der  consecutio  tem- 
porum gemäfs  »wäre*  stehen  sollte. 
Uebrigens  setzt  der  Verfasser  in  dem 
zweiten    der    erwähnten  Beispiele 
neben  den  conj.  pracs.  »sei«  gegen 
seine  Regel  den  conj.  imperf.  »möch- 
te«.   Das  ist  doch  Verwirrung  stif- 
tend.   Gerade  Ausländer,  für  die  er 
ja  sein  Buch  mit  bestimmt  hat,  wer- 
den ihm  für  derartige  Willkürlich- 
keiten wenig  Dank  wissen.  Aufser 


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-    47  - 


dem  Erwähnten  ist  uns  noch  aufge- 
fallen, dafs  S.  87  »Speisekarte«  als 
aus  zwei  Hauptwörtern  bestehend 
hingestellt  wird,  während  es  doch 
wohl  richtiger  ist,  den  ersten  Teil 
des  Wortes  als  Zeitwort  zu  betrach- 
ten  und    sich  die   Entstehung  zu 
denken  wie   bei  »Zeigefinger«  und 
>Badehaus«,  welche  Wörter  ebenfalls 
einen    Zeitwortstamm    mit  einem 
Hauptworte  durch  den  Bindevokal  >e« 
verbinden.  Dafs  Rechen-  und  Zeichen- 
buch richtiger  ist  als  Rechnen-  und 
Zeichnenbuch  (S.  88),  dafür  fehlt  die 
allerdings  nahe  liegende  Begründung. 
S.  104,  wo  von  der  Gcnctivbildung 
der  Eigennamen  die  Rede  ist,  ver- 
missen   wir    Beispiele    wie  »Die 
Schwester  Götzens  von  Berlichingen« 
oder  »Friedrich  von  Schillers  Ge- 
dichte; denn  gerade  solche  Fälle 
pflegen   dem    Anfänger  Schwierig- 
keiten zu  machen.    In  dem  Satze 
auf  der  nämlichen  Seite  :  »Es  ergiebt 
sich    also ,    dafs    heute  männliche 
Hauptwörter  entwedei    stark  oder 
schwach  oder  gemischt,  weibliche 
und  sächliche   nur  stark  oder  ge- 
mischt gebeugt  werden  können<  liegt 
wohl  nur  ein  Druckfehler  vor,  es 
müfste  denn  sein,  dafs  der  Verfas- 
ser   weiblichen    Hauptwörtern  die 
schwache  Beugung  abspricht,  weil 
sie  sich  gegenwärtig  (abgesehen  von 
den  bekannten  Ausnahmen)  nur  noch 
in  der  Mehrzahl  zeigt.    Der  zweite 
Teil  bringt  in  seinem  ersten  Ab- 
schnitte einen  gedrängten  Abrifs  der 
Poetik.     In  ihm  finden  sich  zwar 
viele  der  in  allen  Poetiken  ange- 
führten Beispiele,  jedoch  auch  manche 
neue  oder  wenigstens  nicht  so  all- 
gemein bekannte.    Etwas  kurz  weg- 
gekommen  ist  der  §  24  über  die 
Dramatik.      Hier   wäre    wohl  am 
Platze  gewesen,  den  Bau  eines  Dra- 
mas nach  Exposition,  Schürzung  und 
Lösung  des  Knotens  an  einem  oder 
einigen  unserer  klassischen  Stücke 
im  einzelnen  darzulegen.    Die  Lehre 
von  den  Tropen  und  Figuren  hat 
der    Verfasser    dem    zweiten  Ab- 
schnitte »Zur  Stillehre«  eingeordnet. 
Sehr  lehrreich   ist   der  dritte  Ab- 
schnitt »Zur  Dispositions-  und  Auf- 
satzlehre«. Erzählung,  Beschreibung, 
Schilderung,  Charakterzeichnung,  Be- 


trachtung, Vergleich,  Entwickelung 
und  Abhandlung  werden  der  Reihe 
nach  untersucht,  wobei  eine  Menge 
von  Beispielen  aus  klassischen  Schrift- 
stellern herangezogen  und  besonders 
nach  ihrer  Disposition  beleuchtet  wer- 
den. Auf  Einzelheiten  sei  hier  nicht 
weiter  eingegangen;  man  kann  über 
manche  ganz  anderer  Ansicht  sein 
und  sich  doch  mit  dem  Verfasser  als 
auf  gleichem  Grunde  stehend  fühlen. 
Nur  kommt  es  uns  vor,  als  ob  der 
Verfasser  die  Schwierigkeiten  unter- 
schätze, die  demjenigen  Schüler  er- 
wachsen, der  als  Einkleidung  seines 
Aufsatzes  die  Form  des  Gespräches 
wählt.  Es  will  uns  scheinen,  dafs 
man,  selbst  in  höheren  Lehranstalten, 
nur  in  seltenen  Fällen  die  dialogische 
Einkleidung  von  den  Schülern  ver- 
langen dürfe.  Bei  einer  etwaigen 
neuen  Autlage  möge  die  Ungleich- 
mäfsigkeit  in  der  Schreibung  des 
Wortes  »einander« ,  wenn  es  mit 
Präpositionen  verknüpft  ist,  beseitigt 
werden  ! 

Eisenach.    Dr.  A.  Blicdner. 
XXII. 

A.  Ebeling.  Dr.  AI.  Luthers  kleiner 
Katechismus.  Urtext  mit  Angabe 
der  Abweichungen  bis  1580  und 
in  der  hannoverschen  Landeskirche, 
nebst  Vorschlägen  zu  sprachlichen 
Änderungen  und  Anmerkungen. 
Hannover,  C.  Meyer  (G.  Prior), 
1890.    53  S.    Preis:  1,20  M. 

Dafs  noch  gegenwärtig,  allerdings 
in  anderem  Sinne  als  zuweilen  früher, 
eine  Katechismusnot  besteht,  davon 
weils  |eder  Lehrer,  dem  die  Erklärung 
und  Einprägung  des  Lutherschcn 
Katechismus  obliegt,  ein  Liedlein  zu 
singen.  Nicht  zum  geringsten  liegen 
die  Schwierigkeiten  in  der  sprach- 
lichen Form.  Vieles  von  dem,  was 
zu  Luthers  Zeit  allgemein  verständ- 
lich war,  ist  es  heutigen  Tages  nicht 
mehr.  Ln  Rechtschreibung  und  Zei- 
chensetzung haben  sich  allerdings  die 
Katechismen  der  einzelnen  Landes- 
kirchen der  Fortentwickelung  der 
deutschen  Sprache  wohl  oder  übel 
anpassen  müssen.  Die  Zugeständ- 
nisse jedoch,  die  man  der  Grammatik 
und  dem  Ausdrucke   gemacht  hat, 


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-    48  - 


sind  ziemlich  geringe.  Die  Folge 
davon  ist,  dafs  entweder  —  und  das 
ist  noch  der  günstigere  Fall  —  in 
den  Religionsstunden  eine  unverhält- 
nismäfsig  lange  Zeit  auf  Erklärung 
des  rein  Sprachlichen  verwendet 
werden  mufs,  oder  dafs  die  Kinder 
mit  dem  Auswendiglernen  von  Un- 
verstandenem gemartert  werden.  Im 
letzteren  Falle  ist  es  dann  wirklich 
so,  wie  der  Verfasser  bemerkt,  dafs 
es  viel  Zeit  und  Mühe,  ja  viele 
Tnränen  den  heute  lebenden  Kindern 
kostet,  den  Katechismus  zu  lernen. 
Ein  weiterer  Obelstand  besteht  darin, 
dafs  die  Textgestaltung,  wie  sie  sich 
in  den  einzelnen  Landeskirchen  nach 
und  nach  gebildet  hat,  verschieden- 
artig ist.  Die  sog.  Eisenacher  Kon- 
ferenz hat  im  Anfange  des  vorigen 
Jahrzehnts  eine  neue  Textgestaltung 
besorgt.  Doch  hat  diese  keineswegs 
allgemeine  Annahme  gefunden.  Unser 
Verfasser  wirft  ihr,  unzweifelhaft  mit 
Recht,  vor,  dals  sie  auf  halbem  Wege 
stehen  geblieben  sei.  Er  selbst  hat 
sich  nun  die  Aufgabe  gestellt,  eine 
weitergehende  und  den  Ansprüchen 
der  heutigen  Schule  entsprechendere 
Textgestaltung  aufzustellen.  Nach 
einer  sehr  lesenswerten  Einleitung, 
in  welcher  die  eben  angedeuteten 
Mifsstände  eingehend  erörtert  wer- 
den, stellt  er  neben  den  Originaltext 
des  Enchiridions  der  Wittenberger 
Ausgabe  von  1542  die  von  ihm  vor- 
geschlagene Textfassung,  alle  Änder- 
ungen in  beigefügten  Noten  aus- 
führlich begründend.  Von  diesen 
Änderungen  seien  hier  einige  der 
wichtigeren  namhaft  gemacht.  In  der 
Erklärung  des  ersten  Gebotes  ist 
vor  »vertrauen«  der  Dativ  »ihm« 
eingesetzt,  in  der  des  achten  steht 
»ihm  Übles  nachreden«  statt  »after- 
reden«,  in  der  des  zehnten  »ablocken« 
statt  »abspannen«,  in  der  Erklärung 
der  fünften  Bitte  »nichts  als  Strafe« 
statt  »wohl  eitel  Strafe«  und  »für- 
wahr« statt  des  Lutherschcn  »z war- 
ten« ,  im  vierten  Hauptstück  »die 
Taufe  ist  nicht  nur  Wasser«  statt 
»die  Taufe  ist  nicht  allein  schlecht 
Wasser«  und  »im  letzten  Kapitel  des 
Matthäus«  und  »im  letzten  Kapitel 
des  Markus«  statt  »Matthäi  am  letzten« 
und  »Marci  am  letzten«  u.  s.  w.  Auch 


das  »Vater  unser«  hat  er  geändert 
in  »Unser  Vater«.  In  pädagogischen 
Kreisen  würde  es  sicherlich  freudig 
und  dankbar  begrüfst  werden,  wenn 
diese  Änderungen  eingeführt  würden. 

Eisenach.     Dr.  A.  Bliedner. 
XXIII 

H.  Schwoobow,  Methodik  des  Volks- 
schulunterrichts in  übersichtlicher 
Darstellung.  Ein  Lern-  und  Wieder- 
holungsbuch zur  Vorbereitung  aut 
pädagogische  Prüfungen,  insbeson- 
dere für  Lehrer  und  Lehrerinnen, 
sowie  für  Kandidaten  des  Schul- 
und  Predigtamtes.  2.  vermehrte  und 
verbesserte  Autlage.  285  S.  8*. 
Gera  1888  Th.  Hofmann.  2,60  M. 
Das  Buch  hat  einen  ausgesprochen 

praktischen  Zweck,  der  bei  der  Be- 
urteilung im  Auge  behalten  werden 
mufs.  Es  kann  sich  also  nicht  darum 
handeln,  festzustellen,  ob  es  dem 
heutigen  Standpunkte  der  pädagogi- 
schen Wissenschaft  in  allen  Punkten 
entspricht,  sondern  ob  es  den  Exa- 
minanden in  den  Stand  setzt,  den 
Anforderungen  zu  genügen,  welche 
in  den  Prüfungen  durchschnittlich  an 
ihn  gestellt  werden.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  mufs 
das  Werk  als  eine  gelungene  Lei-  • 
stung  bezeichnet  werden.  Wer  sich 
den  Inhalt  angeeignet  hat,  der  kann 
den  Prüfungssaal  »sonder  Furcht  und 
Grauen«  betreten.  Denn  er  verfügt 
über  den  Inhalt  der  preufsisch-offi- 
ziellen  Pädagogik. 

Auf  folgende  Punkte  hat  der  Ver- 
fasser besonderes  Gewicht  gelegt: 

I.  auf  eine  übersichtliche  Anordnung 
des  Stoffes,  2  auf  Berücksichtigung 
der  preufsischen  amtlichen  Vor- 
schriften, welche  meist  zum  Aus- 
gangspunkt genommen  werden,  5 
auf  kurze  Darlegung  des  geschicht- 
lichen Entwickelungsganges,  4.  auf 
eingehende  Kritik  und  5.  auf  an- 
schauliche Vorführung  des  Unter- 
richtsverfahrens. Der  1.  Abschnitt 
enthält  die  allgemeine  Methodik  in 
folgenden  Kapiteln:  Auswahl  und  Ver- 
teilung des  Stoffes;  Darbietung  und 
Auffassung  des  Unterrichtsstoffes ; 
Einübung  des  Stoffes;  der  Lehrer. 
Ein  Anhang  bringt  auf  1  V,  S.  die 


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—    49  - 


geschichtliche  Entwickelung  und  auf 
2  ijt  S.  die  formalen  Stufen.  Der 
2.  Abschnitt  enthält  die  spezielle 
Methodik  der  in  Preufsen  obligatori- 
schen Fächer. 

Nach  S.  to  scheint  es,  als  ob  die 
Vertreter  der  Herbartschen  Pädagogik 
bei  der  Geschichte  Abrahams  als 
Analyse  >eine  ausführliche  Schilder- 
ung der  Tierwelt  des  Morgenlandes, 
sowie  des  Nomadenlebens  und  der 
damaligen  Kulturverhältnisse«  vor- 
ausschickten, ein  Irrtum,  der  gewifs 
nicht  mehr  vorzukommen  brauchte. 

Eichen.  C.  Zjiegler. 

XXIV. 

Fr.  Polack,  Lehrplan  mit  Pensenver- 
teilung, Lehrbericht,  Lektions- 
plänen und  Schulchronik  für  ein- 
bisdreiklassige  evangelische  Volks- 
schulen. Nach  dem  Grundsatze 
der  Stoffzusammengehörigkeit  auf- 
gestellt. 3.  umgearb.  Auflage.  78  S. 
Gera  1888.    Th.  Hofmann.    1  M. 

Diese  neue  Auflage  des  Polack- 
schen  Lehrplanes  erscheint  in  ganz 
neuer  Gestalt.  »Die  Erfahrung,«  sagt 
Polack,  lehrt,  dafs  zusammenhangslose 
Lernstoffe  sich  leicht  verzetteln, 
keine  nachhaltige  Erziehungswirkung 
ausüben  und  selten  zu  Bildungs-  und 
LebensstolTen  werden.  Wie  Stoff- 
beschränkung, Stoffverbindung,  Stoff- 
durchdringung und  Stoffverwertung 
die  Losung  der  Unterrichtsarbeit 
sind,  so  müssen  sie  auch  die  leiten- 
den Grundsätze  für  die  Aufstellung 
eines  Lehrplanes  und  eine  Pensen- 
verteilung werden.  Die  Lernstoffe 
müssen  nach  dem  Bildungsbedürf- 
nis der  Schüler  ausgewählt,  auf  das 
Nötige  und  Mögliche  beschränkt, 
nach  innerer  Verwandtschaft  auch 
äusserlich  zusammengestellt  und  in 
innige  Verbindung  gebracht  werden, 
damit  sie  sich  gegenseitig  ergänzen, 
erklären,  vertiefen  und  festhalten 
helfen.  Nicht  der  Drache  der  Voll- 
ständigkeit soll  die  Lernstoffe 
auswählen,  und  nicht  mit  dem  künst- 
lichen Fangnetze  des  Systems 
sollen  sie  geordnet  werden,  sondern 
pädagogische  Erfahrung  und  Einsicht 
soll  wählen  und  ordnen.  Was  nicht 
durch  klare  Anschauung  zur  Vor- 

Pndagojiisclie  Studien.  I. 


Stellung  geworden,  in  seinem  Zu- 
sammenhange nicht  begriflen.inseiner 
sprachlichen  und  geistigen  Bedeu- 
tung nicht  verstanden,  in  einer  be- 
stimmten Form  nicht  festgehalten 
und  in  seiner  Beziehung  zum  Leben 
nicht  verwertet  wird,  das  hilft  wenig 
oder  nichts  zur  Bildung.« 

Diese  Grundsätze  werden  aber 
nicht  nur  ausgesprochen,  sondern 
auch  befolgt  Der  Polacksche  Lehr- 
plan enthält  nichts  Geringeres  als 
den  Versuch,  unter  den  jetzt  gelten- 
den gesetzlichen  Bestimmungen  das 
Prinzip  der  Konzentration  im  Lehr- 
plan durchzuführen.  Übrigens  hätte 
der  Verfasser  es  auch  ruhig  aus- 
sprechen dürfen,  dafs  der  Grund- 
satz der  Stoffzusammengehörigkeit 
ein  Stück  Herbartscher  Pädagogik 
und  nicht  ein  Resultat  der  > Erfah- 
rung« schlechthin  ist. 

Eichen.  C.  Zieglcr. 

XXV. 

Ernst  Haupt,  Kurzgcfafste  lateinische 
Formenlehre.  Berlin,  Friedberg  & 
Mode.  1890.  VIII  und  52. 

Die  vorliegende  lateinische  Formen- 
lehre ist  für  die  beiden  unteren 
Klassen  bestimmt  und  wie  die  von 
Perthes  als  Lernbuch  gedacht.  Vor 
dem  Perthes'schen  Buche  hat  sie  den 
entschiedenen  Vorzug  sorgfältigerer 
Sichtung  und  engerer  Begrenzung 
des  Stoffes  voraus:  alle  selteneren 
Wörter  und  Formen  sind  unerwähnt 
geblieben.  Dem  Charakter  als  Lern- 
buch entsprechend  hat  der  Verfasser 
auf  übersichtliche  Anordnung  und 
Darstellung ,  wodurch  ja  das  Ver- 
ständnis und  das  Gedächtnis  unge- 
mein unterstützt  wird,  grofses  Ge- 
wicht gelegt:  wo  irgend  angängig, 
ist  nach  dem  bewährten  Beispiel  von 
Bromig  und  Scheindlcr  die  tabella- 
rische Form  angewandt.  Das  Pen- 
sum der  Sexta  ist,  soweit  erforder- 
lich, durch  gröfseren  Druck  von  dem 
der  Quinta  abgehoben  worden. 

Die  Genusregeln  behandelt  der 
Verfasser  nach  dem  Vorgang  von 
Harre  (Lat.  Schulgrammatik)  von  der 
Declination  getrennt  und  unterschei- 
det natürliches  Geschlecht,  das  er 

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mit  richtigem  Blicke  weiter  fafst 
als  es  in  den  landläufigen  Gramma- 
tiken geschieht,  und  grammatisches 
Geschlecht,  wobei  er  die  Ausnahmen 
und  zwar  mit  einem  Adjektivum 
verbunden  in  einem  besonderen  Ab- 
schnitt nach  dem  Geschlecht,  nicht 
nach  der  doch  nebensächlichen  Ab- 
weichung von  der  Hauptregel  geord- 
net aufführt. 

Die  Musterbeispiele  zu  den  5  Dec- 
linationen  sind  recht  übersichtlich 
gedruckt:  eine  praktische  Verein- 
fachung für  den  Sextaner  bildet  die 
Wcglassung  des  Vokativs,  der  erst 
später  bei  Gelegenheit,  von  ,mi  fili' 
(8  10)  nachgeholt  wird.  Dass  der 
Vei  fasser  in  der  III.  Deklination  die 
von  Perthes  vorgeschlagene  und  für 
den  Sextaner  so  aufserordentlich 
einfache  und  einleuchtende  Unter- 
scheidung von  substantivischer  und 
adjektivischer  Deklination  wieder  auf- 
gegeben hat,  halte  ich  für  einen 
Nachteil,  der  wohl  durch  die  ge- 
trennte Behandlung  des  Adjektivs 
herbeigeführt  worden  ist.  Auch 
würde  es  sich  vielleicht  bei  einer 
neuen  Herausgabc  des  Büchleins  em- 
pfehlen, die  Endungen  der  Deklina- 
tionen und  Konjugationen  gesondert 
voranzustellen,  da  doch  wohl  eine 
Anzahl  Collegen  nach  der  neuer- 
dings wieder  von  Waldeck  (Lehr- 
proben XXII.  82  ff)  vorgeschlagenen 
Methode  verfahren,  dem  Schüler  die 
Endungen  und  nicht  Paradigmata  ein- 
zuprägen. 

Dals  die  Nominalformen  des  Ver- 
bums, soweit  sie  dem  Sextaner  noch 
nicht  fafsbar  sind,  (Verfasser  rechnet 
dahin  die  Part,  und  Inf.  Futuri  und 
Perfccti)  erst  im  Zusammenhang  mit 
den  syntaktischen  Regeln  besprochen 
werden,  ist  durchaus  zu  billigen.  Ob 
jedoch  Verf.  mit  der  Neuerung,  statt 
des  Supinum  das  Perfcctum  Passivi 
als  Stammform  aufzuführen,  durch- 
dringen wird,  erscheint  mir  zweifel- 
haft; der  Vorschlag  hat  wohl  mehr 
die  Theorie  als  die  Praxis  für  sich. 
—  Ein  Verbalverzeichnis  hat  der 
Verf.  absichtlich  weggelassen ,  da 
nach  seiner  Erfahrung  die  Schüler 
aus  dem  Übungsbuch ,  nicht  aus 
der  Grammatik  lernen:  ob  dieser 
Satz  jedoch   auf  alle  Übungsbücher 


und  alle  Lehrmethoden  auszudehnen 
ist,  möge  dahin  gestellt  bleiben; 
jedenfalls  würde  man  bei  einer  neuen 
Auflage  des  Buches  ein  solches  Ver- 
zeichnis ungern  missen. 

Doch  das  sind  alles  Kleinigkeiten, 
durch  welche  die  Brauchbarkeit  des 
Buches  unsencs  Erachtens  nur  —  er- 
höht werden  würde,  von  denen  sie 
aber  keineswegs  abhängig  ist.  Auch 
in  der  vorliegenden  Gestalt  erscheint 
uns  diese  Formenlehre  als  eine  recht 
verdienstliche  Arbeit,  auf  welche  die 
Collegen  nachdrücklich  hinzuweisen 
wir  für  unsere  Pflicht  halten:  die 
Vereinigung  von  Gedrängtheit  und 
Übersichtlichkeit,  in  welcher  päda- 
gogisches Geschick  und  pädagogische 
Erfahrung  augenfällig  zu  Tage  treten,, 
würde  allein  schon  genügen,  der 
Hauptschen  Formenlehre  den  Vor- 
rang vor  vielen  anderen  Büchern 
dieser  Art  zu  sichern. 

Und  wenn  wir  die  allgemeine  Seite 
der  Erscheinung,  wie  sie  sich  uns 
darstellt ,  herausheben  sollen ,  so 
möchten  wir  der  Meinung  sein,  dafs 
solche  praktische  Versuche ,  den 
grammatischen  Stoff  im  Sprachunter- 
richt zu  vereinfachen  und  auf  das 
rechte  Mafs  zurückzuführen,  die  Geg- 
ner des  altsprachlichen  Unterrichts 
eher  beschwichtigen  und  leichter  be- 
kehren werden,  als  manche  salbungs- 
volle Rede  mit  schwungvollen  Re- 
densarten und  manche  langatmige 
Broschüre  mit  allgemeinen  Betrach- 
tungen und  Erörterungen. 

Jena  Dr.  Unrein. 

XXVI 

W.  Seytter:  Materialien  zur  Hei- 
matkunde.    Im    Anschlufs  an 
Stuttgart    und    Umgebung  bear- 
beitet.   Stuttgart,  Verlag  von  Emil 
Paulus  1890.  —  163  S.  —  2  M. 
Die  vorliegende  Materialiensamm- 
lung zur  Heimatkunde  ist  mit  Freu- 
den zu  begrüfsen.    Sie  hat  sich  die 
Aufgabe  gestellt,  dem  Heimatkunde 
erteilenden  Lehrer  eine  praktische 
Handhabe  zusein  bei  der  Lösung 
der  heimatkundlichen  Aufga- 
be:  Kenntnis  der  Heimat  zu 
übermitteln,  dem  geographi- 
schen Unterricht  durch  Ent- 


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 j  _  


5i  — 


uicklung  der  wichtigsten  Be- 
griffe dieser  Disziplin  und  Ein- 
führung  in  das  Verständnisder 
Karte  eine  Grundlage  zu  be- 
reiten und  zur  Herzens-  und 
Gemütsbildung  unsererjugend 
beizutragen. 

Über  die  Entstehung  und  den  Ge- 
brauch des  Buches,  das  überall  das 
pädagogische  Verständnis  des  Ver- 
fassers erkennen  läfst,  lesen  wir  im 
Vorwort:  »Die  ersten  Anfänge  dieser 
vorliegenden  Sammlung  von  Materi- 
alien für  die  Heimatkunde  entstan- 
den aus  dem  ureigensten  Bedürfnis 
des  Verfassers  selbst.  Erst  im  Laufe 
der  Zeit  fügte  derselbe,  nachdem  er 
sich  in  und  um  Stuttgart  mehr  und 
mehr  umgesehen  und  in  die  Auf- 
gabe, Bedeutung  und  Behandlung 
des  heimatkundlichen  Unterrichts 
praktisch  und  theoretisch  tiefer  ein- 
gelebt und  eingearbeitet  hatte,  Stein 
um  Stein  dem  ersten  Aufbau  hinzu. 
Er  hatte  bei  dieser  seiner  erweitern- 
den Thätigkeit  das  Ziel  vor  Augen, 
eine  Sammlung  von  heimatkund- 
lichem Stoff  zusammenzutragen,  wel- 
che alle  Objekte  unserer  Heimat  um- 
fassen sollte,  die  geeignet  wären, 
einen  Beitrag  zur  geistigen  Bildung 
unserer  Jugend  zu  liefern.  ...  Es 
sei  zum  voraus  bekannt,  was  ja  aus 
der  oberen  dargelegten  Entstehung 
des  Buches  sich  ergiebt,  dafs  letz- 
teres nicht  nur  für  diese  oder  jene 
Schule,  diese  oder  jene  Klasse,  für 
diese  oder  jene  Schulverhältnisse 
und  -Bedürfnisse  angelegt  und  ge- 
schrieben worden,  sondern  dafs  es 
allen  Schulen  Stuttgarts  in  gleichem 
Mafse  dienen  will.  Demzufolge  wird 
der  Lehrer  der  Stoffsammlung  nur 
das  entnehmen,  was  er  für  seine 
Schulanstalt  und  seine  Klasse,  bezie- 
hungsweise die  Altersstufe  seiner 
Schüler,  für  nötig  erachtet.  Auch  ist 
es  nicht  die  Meinung  des  Verfassers, 
dafs  alles  hier  gegebene  Material  in 
der  sogenannten  geographischen  Hei- 
matkunde gegeben  werden  müsse. 
Er  hält  dafür,  dafs  alle  Fächer  ihren 
gewissen  Beitrag  zur  Heimatkunde 
liefern  sollten«. 

Die  Reichhaltigkeit  des  Werkchens 
ist  aus  folgender  Inhaltsangabe  er- 
sichtlich. 


I.  Teil.  Vom  Himmel  und  seinen 
Erscheinungen.  (S.  i — 41). 

Von  der  Sonne:  1.  Zur  Hin- 
leitung in  die  Heimatkunde.  2.  Vom 
Himmelsgewölbe  und  den  Himmels- 
körpern. 3.  Vom  Horizont.  4  Vom 
täglichen  Lauf  der  Sonne.  5.  Haupt - 
himmclsgegcndcn.  6.  Nebenhim- 
mclsgcgenden.  7.  Der  Schatten: 
Richtung  und  Länge  —  Erdschatten. 
8.  Sonnen- und  Schattenseite  9.  Die 
Winde.  10.  Die  Windrose,  n.  Von 
der  Magnetnadel.  12.  Vom  Orien- 
tieren. 13.  Tägliche  Änderung  der 
Wärme.  14.  Vom  Kreislaut  des 
Wassers. 

Vom  Monde:  1.  Vollmond. 
2.  Lctzes  Viertel.  3.  Neumond. 
4.  Erstes  Viertel.  5.  Vollmond. 
(2.  Betrachtung)  Vom  Mondwechsel. 

Von  den  Sternen:  1.  Stern- 
bilder des  nördlichen  Teiles  un- 
seres Himmels.  2  Bewegung  der 
Sterne  am  nördlichen  Teil  unseres 
Himmels.  3.  Sternbilder  des  süd- 
lichen Teils  unsres  Himmels.  4.  Be- 
wegung der  Sterne  am  südlichen 
Teil  unsres  Himmels. 

II.  Teil.    Unser  Heimatort  (S. 
41-88). 

Unser  Schulhaus  und  seine  aller- 
nächste Umgebung.  Zur  Kenntnis 
des  Stadtplans.  Von  den  Bewoh- 
nern Stuttgarts  und  ihrer  Beschäf- 
tigung. 

III.  Teil:  Die  nächste  Umgebung 
Stuttgarts  (S.  88—136;. 

Von  den  Bergen.  Von  den  Thä- 
lern  und  Gewässern.  Von  Feld  und 
Flur. 

IV.  Teil:  Die  weitere  Umgebung 
Stuttgarts  (S.  136—163). 

Von  besonderem  Wert  ist  die  vor- 
liegende Matcrialansammlung  selbst- 
verständlich für  die  Schulen  Stutt- 
garts resp.  Württembergs.  Vieles 
läfst  sich  aber  mit  einigen  Verän- 
derungen auch  auf  andere  Gegenden 
übertragen  Der  Inhalt  des  ersten 
Teiles  ist  überdies  an  keine  Örtlich- 
keit gebunden. 

Zu  loben  ist  der  im  Buche  einge- 
haltene methodische  Gang.  Jede 
Lektion  knüpft  an  einen  mit  den 
Schülern  unternommenen  Spazier- 
gang an.  Verständiger  Weise  sagt 
der  Verfasser    in  dieser  Hinsicht: 

4* 


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—    52  — 


»Obwohl  die  Spaziergänge  eine  wich- 
tige Stelle  im  heimatkundlichen 
Unterricht  einnehmen  und  so  oft  wie 
möglich  ausgeführt  werden  sollten, 
so  will  doch,  wenn  am  Eingang  der 
Lektionen  von  einem  Spaziergang 
die  Rede  ist,  damit  nicht  gesagt  sein, 
dafs  für  die  betreffende  Lektion 
eigens  ein  solcher  zu  unternehmen 
sei.  Ein  Spaziergang  kann  den  Stoff 
mehrerer  Lektionen  berücksichtigen, 
obwohl  hier  wieder  vor  dem  »Zuviel« 
gewarnt  werden  mufs!  Jeder  Unter- 
richtsabschnitt (Einheit?)  teilt  sich 
in  drei  Teile.  I.  Das  Unterrichtsob- 
jekt wird  angeschaut,  beobachtet 
event.  geprüft,  gemessen,  versucht, 
untersucht.  IL  Die  Resultate  wer- 
den auf  Grund  dieser  Anschauungen 
meist  in  entwickelnder  Weise  ge- 
wonnen und  übersichtlich  zusammen 
gestellt.  III.  Das  Gelernte  kommt 
zur  Anwendung  und  Einübung  (Auf- 
gaben, Rätsel,  Beschreibungen,  Zeich- 
nungen). Die  vom  Verfasser  darge- 
botenen Zeichnungen  sind  oft  origi- 
nell. Geschichten,  Sagen,  Verschen, 
Lieder,  Rätsel  sind  an  passender 
Stelle  eingefügt.  Die  wertvollen  An- 
gaben über  Höhen,  Längen,  Flächen, 
Räume  etc.  im  »Anfang«  lassen  sich 
auch  sehr  gut  im  Rechenunterricht 
verwenden,  wenn  derselbe  der  For- 
derung der  Konzentration  Rechnung 
trägt. 


Halle  a.  S. 


H.  Grosse. 


XXVII. 

Lüders,  der  Volksschulunterricht.  sein 
Ziel,  sein  Stoff  und  seine  Methode. 

Lehrplänc  für  evangelische  Schulen 
und  Vorträge  aus  Lehrerkonferen- 
zen. 140  S.  Leipzig  1SS2.  Merse- 
burger. 1,50  M. 

Der  Verfasser,  Rektor  in  Wollin, 
empfiehlt  sein  Buch  »der  freundlichen 
Beachtung  kundiger  Genossen  des 
Berufes  bestens« ;  leider  vermögen 
wir  uns  dieser  Empfehlung  nicht  an- 
zuschliefsen.  Dem  Buche  fehlt  die 
Existenzberechtigung,  weder  die  in 
ausgefahrenen  Geleisen  sich  bewe- 
genden Lehrpläne  noch  die  so  über- 
aus dürftigen  Vorträglein  können 
eine  solche  begründen.  Kundigen 
Genossen  des  Berufes  zu  sagen,  dafs 


es  »ratsam«  sei,  während  des  Reli- 
gionsunterrichts »nicht  im  Schul- 
zimmcr  wie  der  Löwe  im  Käfig«  hin 
und  her  zu  spazieren,  ist  einfach 
eine  Beleidigung.  An  anderen  Stellen 
freilich  merkt  man ,  dafs  kundige 
Leser  vorausgesetzt  werden.  Über 
die  Rücksichtnahme  auf  Ethik  und 
Ästhetik  im  naturkundlichen  Unter- 
richt z.  B.  äufsert  sich  Lüders,  wie 
folgt:  »Zwar  darf  man,  wenn  man  bei 
dieser  Unterweisung  ethische  und 
ästhetische  Zwecke  verfolgen  will, 
nicht  plump  zufassen  ;  man  mufs  aber 
auch  nicht  zu  subtil  verfahren,  weil 
sonst  der  erwünschte  Erfolg  eben- 
falls ausbleibt.  Man  sei  nicht  zu  be- 
sorgt, es  kann  in  dieser  Hinsicht 
nicht  leicht  zu  viel  geschehen.«  Wer 
vorher  nicht  wulste,  wie  zu  verfah- 
ren ist,  weifs  es  jetzt  sicher!  Füge 
ich  noch  an,  dafs  der  Verfasser  bei 
dem  Unterrichte  in  den  Realien, 
»abgesehen  von  der  eigentlichen 
Veranschaulichung,  vier  Hauptthätig- 
keiten  unterscheidet,  nämlich  das 
Lesen,  das  ergänzende  Hinzuthun 
seitens  des  Lehrers,  das  zusammen- 
fassende Abfragen  und  darlegende 
Antworten  und  das  Notieren  von 
wegweisenden  Wörtern  behufs  An- 
fertigung einer  häuslichen  Ausarbei- 
tung«, so  werden  die  Leser  gewifs 
auf  weitere  Darlegungen  verzichten 
und  sich  mit  mir  wundern,  wie  je- 
mand den  Mut  haben  kann,  so  et- 
was drucken  zu  lassen. 

Eichen.  C.  Ziegler 

XXVIII. 

Dr.  Theodor  Walter,  Direktor  der 
Grofsherzogl.  Hessischen  Real- 
schule zu  Bingen  a.  Rh.:  Metho- 
dische Untersuchungen  aus 
dem  Gebiete  der  elemen- 
taren Mathematik.  Stuttgart, 
Berlin,  Leipzig.  Union  Deutsche 
Verlagsgesellschaft.  1891.  8.  A. 
u.  d.  T.: 

Dr.  Theodor  Walter,  Direktor  der 
Grofsherzogl.  Hessischen  Real- 
schule zu  Bingen  a.  Rh.:  Alge- 
braische Aufgaben.  Zweiter 
Band.  Quadratische  Bewegungs- 
aufgaben. Bewegungsaufgaben  mit 
mehreren  Unbekannten.  Kreisbe- 


jd  by  Goo 


f. 


—    53  ~ 


wegung.  Spezifisches  Gewicht. 
Ausfluß.  Arbeit.  Stuttgart.  Ber- 
lin, Leipzig.  Union  Deutsche  Ver- 
lagsgesellschaft. 1891.  8°. 
Von  dem  in  > Jahrgang  1890,  Erstes 
Heft,  p.  54—57«  bereits  angezeigten 
Werke  ist  nunmehr  auch  der  zweite 
Band  erschienen.  Referent  glaubt, 
mit  Rücksicht  auf  die  Ausführlich- 
keit, mit  der  er  den  ersten  besprochen 
hat,  sich  hier  kürzer  fassen  und  nur 
Änderungen,  welche  den  Plan  des 
Buches  oder  sonst  wesentliche  Dinge 
betreffen,  erwähnen  zu  brauchen  und 
zu  sollen.  Indem  er  daher  nur  der 
Vollständigkeit  halber  mitteilt,  dals 
das  Inhaltsverzeichnis  sich  auf  den 
ersten  und  zweiten  Band  bezieht, 
erscheint  es  ihm  bemerkenswert, 
dafs  nicht  allein  der  Verleger  ein 
anderer  geworden,  sondern  auch  der 
frühere  Zusatz  auf  dem  Titel :  »Für 
den  Schul-  und  Selbstunterricht«  weg- 
gefallen ist,  dafs  Tabellen  nicht  mehr 
fertig  gegeben  sind,  ihre  Aufstellung 
vielmehr,  wie  aus  der  Vorbemerkung 
zu  §  1  zu  ersehen,  dem  [nicht  »Schü- 
ler«,  sondern]  »Leser«  überlassen 
bleibt.  Desgleichen  ist  das  Rechnen 
mit  Logarithmen,  dessen  Nutzen 
früher  so  gerühmt  worden  war,  jetzt 
unterblieben,  und  geradezu  falsche 
Ausdrücke  im  ersten  Bande,  wie 
»Weg  sei  x«  kommen  im  zweiten 
nicht  ferner  vor,  dafs  aber  die  an- 
dere Form:  »Der  Weg  von  A  nach 
B  beträgt  x  Längeneinheiten«  die 
durchaus  richtige  wäre  und  durch- 
gehends  gebraucht  werden  dürfe,  ist 
nicht  gesagt,  denn  die  Zahl  der 
Längeneinheiten  x  ist  eine  unbe- 
kannte und  willkürlich  angenommene, 
daher  die  letztere  Form  zwar  immer- 
hin »besser«  als  die  erstere,  allein 
um  ganz  richtig  zu  sein,  mufste  das 
Verbum  im  Conjunctiv  stehen, 
also  »betrage«  statt  »beträgt«  heifsen, 
behauptet  wird  ja  weder,  dafs  die 
Zahl  x  sei,  noch  das  Folgende,  son- 
dern nur,  dafs,  wenn  die  gesuchte 
Zahl  x  ist,  das  Folgende  statt  haben 
mufs.  Wenn  die  Sonne  scheint,  so 
wird  es  warm.  Ebenso  hat  Referent 
nicht  vermocht  zu  erkennen,  nach 
welchen  Regeln  der  Logik  Ein- 
teilungen gemacht  sind,  wie  die  fol- 
genden: Ȥ  1.  Aufgaben,  in  denen  die 


Geschwindigkeit  vorkommt.  Erstes 
Muster.  Um  9  Uhr  vormittags  fährt 
auf  der  Main-Neckar-Bahn  ein  Schnell- 
zug von  Darmstadt  ab  nach  Heidel- 
berg, und  um  dieselbe  Zeit  ein  Per- 
sonenzug von  Heidelberg  ab  nach 
Darmstadt.  An  der  Kreuzung  be- 
trägt der  Weg  des  Schnellzugs  14 
Kilometer  mehr  als  der  Weg  des 
Personenzugs.  Der  Schnellzug  braucht 
von  der  Kreuzung  bis  Heidelberg 
noch  29  Minuten,  der  Personenzug 
von  der  Kreuzung  bis  Darmstadt 
noch  75  Minuten.  Wieviel  ganze 
Kilometer  beträgt  die  Entfernung 
von  Darmstadt  bis  Heidelberg  : 
I.  Vorbemerkung.  II.  Vor  der  Kreu- 
zung. III.  Übergangsnotiz.  IV.  Nach- 
der  Kreuzung.  V.  Obungsbeispiele. 
Zweites  Muster.  Miles  Bland,  Alge- 
braische Gleichungen,  Halle  1863. 
Seite  ^54,  No.  47.  A  und  B  reisen 
von  C  nach  D  mit  gleichen  Ge- 
schwindigkeiten. A  geht  früher  weg 
und  hat  Vorsprung!  Am  50.  Meilen- 
stein von  D  holt  A  eine  Herde 
Gänse  ein,  deren  Geschwindigkeit 
2  Meilen:  Stunde  beträgt.  Ein  Fracht- 
wagen begegnet  ihm  8  Stunden  später, 
der  von  D  nach  C  fährt  mit  der  Ge- 
schwindigkeit r°T,  Meilen:  Stunde. 
B  holt  die  Gänsenerde  am  45.  Meilen- 
stein ein.  B  begegnet  auch  dem 
Frachtwagen.  Von  der  Begegnung 
mit  dem  Frachtwagen  hat  B  noch 
2  Stunden  40  Minuten  zu  reisen,  bis 
er  den  31.  Meilenstein  erreicht. 
Welchen  Vorsprung  hatte  A  vor  B 
und  wie  grofs  ist  die  Geschwindig- 
keit der  beiden  Wanderern  I.  Vor- 
bemerkung. II.  Die  Geschwindig- 
keiten. III.  Die  Gänse.  IV.  Der 
Frachtwagen.  V.  Die  Gleichung. 
VI.  Das  Resultat.  VII.  Zusammen- 
stellung. VIII.  Obungsbeispiele«  etc. 
Von  den  mathematischen  Zeichen 
endlich  wird  ein  ungewöhnlicher  Ge- 
brauch gemacht,  z.  B.  im  obigen 
zweiten  Muster-Beispiel  »Geschwin- 
digkeit £  Meilen  :  Stunde«  ,  »Ge- 
schwindigkeit -f\  Meilen:  Stunde«, 
ein  Gebrauch,  der  vermutlich  (denn 
darüber  bemerkt  ist  nichts)  zur  Ab- 
kürzung dienen  soll,  z.  1.  aber  un- 
richtigist, so  auf  p.45  :  »45  Minuten: 
Meile«  statt  »In  45  Minuten  1  Meile». 
Ferner    ebenda  :     »60  :    x  Meilen 


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(i3o— 2x):    (x— 15)    Meilen«  statt 
Meilen«,  »'3°-~- Minuten«,  denn 

»  X  *^«S 

nicht  mit  »x  Meilen«  oder  >(x  — 15) 
Meilen«  soll  dividiert  werden.  Die 
Benennung  ist  also  nicht  neben  den 
Divisor,  sondern  neben  den  Quo- 
tienten zu  setzen.  Ebenso  leicht  dem 
Mifsverständnis  ausgesetzt  ist  auf: 
p.  137:  >  120  :  x  Fufs  :  Sekunde«,  statt 

'™  Fufs  in  i  Sekunde,  » 120  :  fx -f  10) 
Fuls:  Sekunde«  statt  »  Fuls 

X        4-  IO 

in  i  Sekunde«.  Die  gesetzlich  ge- 
statteten Abkürzungen  bei  Bezeich- 
nungen der  neuen  Maise  und  Ge- 
wichte dagegen  sind  nicht  ange- 
wandt; so  p.  170:  »1)  das  Blcivolum 
beträgt  y:  11,524  Kubikzentimeter, 
2)  das  Verbindungsvolum  betragt 
4000:0,45  Kubikzentimeter,  3)  das 
Korkvolum  betragt  (40,000  y) :  0,24 
Kubikzentimeter«  statt  »betragt  be- 
züglich    4-  cem,    4°-  cem,  40000^ 

**  11,3*4  "MS  u.'4 

cem«,  viclmchrsind  überall, wo  solche 
Mafse  und  Gewichte  vorkommen, 
ihre  Bezeichnungen  ausführlich  an- 
gegeben: Kubikzentimeter,  Kubik- 
meter, Kilogramm,  Kilometer  etc. 

Eisenach.   H.  Weifscnborn. 
XXIX. 

Jeutsches  Lesebuch  für  Mädchenschulen. 

(Mit  Berücksichtigung  des 
hauswirtschaftlichen  Unter- 
richts.) In  drei  Bänden.  Heraus- 
gegeben von  A.  Ernst,  Direktor  der 
Kaiserin  Augusta -Victoria -Schule 
in  Schneidemühl  und  J.  Tews,  städt. 
Lehrer  in  Berlin.  Preis  geb  1,15  M., 
1,45  M.,  2,io  M. 

Das  vorliegende  Lesebuch  will 
einer  Reform  des  Mädchen- 
unterrichts (in  der  Volksschule) 
die  Wege  ebnen  und  ihr  als  Stütz- 
punkt dienen.  Die  Herausgeber 
liefsen  sich  von  dem  Grundsatze 
leiten:  »Das  Lesebuch  soll  die  All- 
gemeinbitdung und  mit  ihr  zu- 
gleich die  Berufsbildung  fördern« 
(Bcglcitwort,  S.  6).  Dieser  Grund- 
satz nötigte  sie,  nach  zwei  Seiten 
hin  Front  zu  machen:  t.  gegen  die- 
jenigen Pädagogen,  die  einen  Unter- 


schied im  Unterricht  der  Knaben 
und  Mädchen  grundsätzlich  ver- 
werfen, und  2.  gegen  die  neuerdings 
vielfach  erhobene  Forderung,  die 
hauswirtschaftliche  Unterwei- 
sung in  den  Mittelpunkt  des  ge- 
samten Unterrichts  zu  stellen.  Mit 
Recht  heben  die  Herausgeber  hervor, 
dafs  die  Mädchenschule  mehr  wie 
die  Knabenschule  auf  den  zukünf- 
Beruf  ihrer  Schülerinnen  Rücksicht 
nehmen  künne ,  weil  fast  alle  einst 
Hausfrauen  werden  und  somit  all- 
gemeine Bildung  und  »Fachbildung« 
oder  »Berufsbildung«  Hand  in  Hand 
gehen  können.  Aufserdem  ge- 
brauchen auch  diejenigen  Mädchen, 
die  den  Hafen  der  Ehe  verfehlen, 
hauswirtschaftliche  Kenntnisse.  Hier- 
nach enthält  das  neue  Lesebuch  so- 
wohl für  die  Jugend  beiderlei  Ge- 
schlechts bewährte  Lesestoffe  aus 
den  Schätzen  der  deutschen  Litte- 
ratur,  als  auch  neue  Lesestücke, 
die  das  Weib  in  seinem  häus- 
lichen Wirken  und  Schaffen 
als  Lehrerin  der  Kinder,  als 
Pflegerin  der  Erkrankten,  als 
Pricstcrin  des  Hauses,  alsGe- 
nossin  des  Mannes  in  Freud 
und  Leid  darstellen  und  dem 
Mädchen  den  Weg  zeigen,  den 
es  arbeitend  und  schaffend 
selbst  einst  wandeln  soll,  um 
die  hohen  Aufgaben  zu  er- 
füllen, die  dem  deutschen 
Weibe  im  deutschen  Volks- 
leben für  Gegenwart  und  Zu- 
kunft gestellt  sind.  (Begleitwort, 
S.  6  und  7). 

Da  das  Lesebuch  für  mehrklassige 
Mädchenschulen  bestimmt  ist,  also 
angenommen  werden  darf,  dafs  für 
die  Realien  besondere  Lehrbücher 
in  den  Händen  der  Schülerinnen  sich 
befinden,  so  haben  die  Herausgeber 
sich  bei  Auswahl  der  geographischen 
und  naturkundlichen  Stücke  Be- 
schränkung auferlegt  (Beglcitwort, 
S.  12).  Nach  unserer  Meinung  hätten 
sie  noch  folgende  Stücke  weglassen 
können:  die  Hauskatze,  die  Ge- 
treidearten,die  Eiche  (Band  II.); 
am  Waschfafs,  die  fetten  Öle; 
der  Zimmetbaum  (Band  Iii). 

In  der  Geschichte  —  namentlich 
der  neuesten  Zeit  —  haben  die  Her- 


—    55  - 


ausgcber  absichtlich  den  Stoff  etwas 
reicher  bemessen,  weil  gerade  für 
unsere  Zeit  der  Geschichtsunterricht 
von  hervorragender  Bedeutung  ist. 
(Beglcitwort,  S.  13).  Nun,  aus  der 
hervorragenden  Bedeutung  des  Ge- 
schichtsunterrichts für  unsere  Zeit 
läfst  sich  zwar  nicht  die  Notwendigkeit 
ableiten,  das  deutsche  Lesebuch 
mit  historischem  Stoff  zu  belasten, 
aber  da  thatsächlich  die  Lehrbücher 
der  Geschichte  gerade  die  neueste 
Zeit  wenig  oder  gar  nicht  berück- 
sichtigen, so  mufs  man  immerhin 
dankbar  sein,  wenn  das  Lesebuch 
die  Lücke  ausfüllt  Wir  nennen  von 
den  hierher  gehörigen  Lesestücken: 
Das  Wirken  der  Frauen  im 
Krieg,  Aus  Kaiser  Friedrichs 
Tagebuch,  Kaiser  Fried- 
rich III.,  Luise,  Grofshcrzogin 
von  Bad  e n  etc. 

Im  Einzelnen  möchten  wir  Folgen- 
des bemerken. 

Wenn  ein  7jähriges  Mädchen  der 
Mutter  erzählt,  dafs  es  gern  zur 
Schule  gehe,  wenn  es  ihr  verspricht, 
aufmerksam  zu  sein  und  Heifsig  zu 
lernen,  so  ist  das  ganz  hübsch;  das 
Lesebuch  aber,  das  in  der  Schule 
gelesen  wird,  darf  den  Kindern  der- 
artige Bekenntnisse  nicht  aufdrängen. 
Das  geschieht  in  den  beiden  Gedich- 
ten: Schuleifer  und  Zur  Schule 
(Band  I).  Da  heilst  es:  »Im  Früh- 
ling und  im  Winter,  geh  ich  zur 
Schule  gern.«  »Nun,  ihr  Leut',  ich 
will  schon  heut'  —  lernen,  dafs  es 
eine  Freud',  —  dafs  es  eine  Lust 
soll  sein,  —  bis  der  Abend  bricht 
herein,  —  dafs  ich  auch,  wenn  ich 
bin  brav,  —  spielen  kann  und  ruhig 
schlaf«  Die  Herausgeber  haben  so 
viele  vortreffliche  Gedichte  ausge- 
wählt und  zusammengestellt,  dafs  sie 
Produkte  von  so  fragwürdigem  Ge- 
halt wohl  hätten  übergehen  können. 

Die  Erzählung  von  dem  »kleinen 
Hausmütterchen«  (B.  I)  schliefst 
mit  der  Frage:  »Bist  du  auch  so  ein 
Hausmütterchen,  kleine  Leserin?«  — 
Rez.  befürchtet,  dafs  die  Mädchen 
der  8.  Klasse  von  vornherein  die 
Absicht  des  Lesestückes  merken 
und  verstimmt  werden. 

In  dem  Lesestück  »Was  das 
Mädchen  an  und  bei  sich  hat« 


heifst  es  u.  a.  »Die  Baumwolle 
kommt  von  einer  Staude  und  steckt 
in  Kapseln,  welche  aufplatzen,  sobald 
sie  reif  sind,  und  welche  die  schönen 
weifsen  Fäden  enthalten,  die  man 
so  vielfach  gebraucht  . .  .  Die  Lava 
ist  aus  einem  feuerspeienden  Berge 
her  ausgeflossen,  flüssig  und  heifs; 
dann  ist  sie  erkaltet  und  zu  Schmuck- 
gegenständen verarbeitet  worden.« 
Belehrungen  über  solche  Dinge 
kommen  doch  zu  früh  für  Kinder, 
denen  man  ein  paar  Seiten  vorher 
die  Gedichtchen  vom  Pudel  (Wer 
hat  hier  die  Milch  genascht?;  und 
vom  Mäuschen  \ Warum  schleppst 
du  dort  mir  das  Stück  Zucker  fort?) 
geboten  hat.    Bd.  I. 

Sehr  wunderlich  nehmen  sich 
im  Munde  der  Kinder  die  Sätze 
aus  (Das  Klcttenkörbchen,  Bd.  I): 
»Mit  der  Klette  treibt  ihr  oft  manche 
Unart,  ihr  werft  sie  euch  neckend 
an  die  Kleider,  wohl  gar  in  die  Haare. 
Man  kann  einen  besseren  Gebrauch 
von  ihr  machen,  liebe  Kinder!« 

Die  Mutter  spricht  zum  Kinde,  das 
gerne  wissen  möchte,  warum  es  stets 
sein  Bild  in  ihrem  Augensterne  sieht: 
»Augen  sind  der  Seele  Fenster,  sind 
des  Lebens  schönste  Zier;  weil  ich 
dich  im  Herzen  trage,  schaust  du 
aus  der  Seele  mir.«  Die  Augen 
sind  des  Lebens  schönste  Zier? 
Weil  die  Mutter  das  Kind  im  Hc  rzen 
trägt,  darum  schaut  es  ihr  aus  der 
Seele?  Sind  Herz  und  Seele  das- 
selbe? Schaut  das  Kind  aus  dem 
Fenster  der  Seele,  wenn  es  aus 
der  Seele  schaut?  Und  das  soll  ein 
Gedicht  sein,  und  noch  dazu  für  7 
bis  Sjährige  Mädchen! 

Das  Lesestück  »Kaiser  Wilhelm  II.« 
(Bd.  I)  hat  nach  unserem  Dafürhalten 
höchstens  für  Berliner  Schulen  eine 
Berechtigung,  und  auch  in  Berlin 
brauchen  die  Kinder  im  2.  und  3. 
Schuljahre  nicht  zu  erfahren,  dafs  der 
Kaiser  Sigismund  den  Burg- 
grafen von  Nürnberg  in  die 
Mark  sandte ,  dafs  Friedrich  i  m 
Jahr  14 12  in  die  Mark  kam,  dafs 
ihm  am  iS.  April  1417  die  Mark 
erb-  und  eigentümlich  zugesprochen 
ward 

Die  Erzählung  »U-Hakcn  und 
J-Punkte«  (Bd.  II)  beginnt  mit  den 


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j 


-    56  - 


'Worten:  >Dic  ganze  Klasse  war  einig 
darüber,  dafs  Trudehen  angerecht 
behandelt  worden  sei.  Neun  Fehler 
hatte  ihr  das  Fräulein  angerechnet, 
und  doch  hatte  sie  in  der  ganzen 
langen  Arbeit  nicht  einen  einzigen 
»richtigen«  Fehler.  Zwei  U- Haken 
und  sieben  J-Punkte  hatte  sie  ver- 
gessen, das  war  alles«  u.  s.  f.  Dem 
Rez.  erscheint  dieser  Anhang  höchst 
geschmacklos,  er  ist  überhaupt  kein 
Freund  von  Erzählungen  aus  dem 
Schulleben,  die  ihren  Zweck  eben 
deshalb  verfehlen,  weil  sie  denselben 
gar  zu  offen  zur  Schau  tragen. 

Auch  das  Märchen  »Blanka  und 
Rosalindc«  würden  wir  ohne  Be- 
dauern in  den  späteren  Auflagen  des 
Lesebuches  vermissen,  weil  es  nur 
geschrieben  Ist  zur  Verdeutlichung 
der  »Lehre« :  »Die  wahre  Glückselig- 
keit besteht  nicht  in  äufsercr  Pracht 
und  Herrlichkeit,  sondern  in  einem 
ruhigen  und  zufriedenen  Lehen» 
(Bd.  II,  S.  106).  Aufserdem  wirkt 
die  Darstellung  des  Verhältnisses 
zwischen  dem  Könige  und  Blanka 
geradezu  abstofsend  Der  König 
sieht  Blanka,  ist  von  ihrer  Schönheit 
bezaubert,  heiratet  sie  bald  hernach, 
läfst  sich  von  den  »Hofdamen«  gegen 
seine  Gemahlin  aufhetzen  (was  die 
neidischen  Schwätzerinnen  eigentlich 
gegen  die  Königin  vorbringen,  erlährt 
man  nicht),  wird  immer  liebloser  in 
seinem  Verhalten  gegen  sie  (man 
weifs  nicht  warum?),  giebt  ihr  mit 
Vergnügen  die  Erlaubnis  zum  Besuch 
ihrer  Schwester  und  —  verzichtet 
bereitwilligst  auf  ihre  Rückkehr,  denn 
»er  liebt  sie  nicht  mehr!«  Von  po- 
etischem Geiste  ist  in  dem  ganzen 
Märchen  auch  nicht  der  leiseste 
Hauch  zu  vernehmen. 

In  einzelnen  Fällen  haben  die  Her- 
ausgeber ein  Gedicht  verkürzt,  zum 
Vorteil  des  Ganzen.  Wir  möchten 
ihnen  noch  eine  andere  Kürzung  vor- 
schlagen. Das  Gedicht:  »Gute 
Nacht«  von  Geibel  gewinnt  an 
innerem  Werte,  wenn  man  die  3  und 
6.  Strophe  wegläfst.  Die  3.  Strophe 
giebt  nur  einzelne  Züge  zu  einem 
Bild,  aber  kein  geschlossenes  Bild. 
Der  Traum  wallet  von  Thür  zu  Thür, 
also  schläft  alles?   Nein,  denn  eben 


verhallet  das  Harfenspiel  im  Palast, 
die  Menschen  wollen  demnach  erst 
zur  Ruhe  gehen,  und  der  Traum 
kommt  zu  früh.  Wie  gelangen  wir 
nun  aus  dem  schimmernden  Palast 
zu  dem  Fergen,  der  im  Nachen 
schläft?  Und  von  dem  Fergen  zu 
den  Hirten,  die  auf  den  Bergen  um's 
Feuer  Rast  halten,  also  nicht 
schlafen  ?  Wie  schön  ist  dagegen 
der  Traum  in  der  5.  Strophe  als 
Trostspender  eingeführt!  —  In  der 
6.  Strophe  tritt  auf  einmal  der  Dichter 
selbst  hervor;  ist  es  denn  wirklich 
so  wichtig  für  uns,  zu  erfahren,  dafs 
nun  auch  er  im  Frieden  ruhen  will, 
»bis  glänzt  der  Morgenstern?«  Doch 
wohl  kaum.  Alles  vorhergehende 
hat  gar  keine  Beziehung  zu  der  Per- 
sönlichkeit des  Sängers ,  und  wir 
wissen  ihm  nicht  Dank  für  sein  über- 
raschendes Erscheinen  zu  einer 
Zeit,  wo  der  Traum  schon  als  lieber 
Gast  bei  uns  eingekehrt  ist. 

»Macht  des  Weibes«  von 
Schiller  (Bd.  III)  ist  für  die  Mädchen 
der  Volksschule  ganz  unverständlich, 
auch  in  der  Oberklasse  werden  alle 
Erklärungsversuche  an  dem  abstrak- 
ten Inhalt  scheitern. 

Die  Erzählung  »Auch  im  Tode 
vereint«  (Bd.  III.)  tritt  als  eine 
wahre  Geschichte«  auf,  und  sie  wirkt 
auch  als  solche,  d.  h.  lediglich  durch 
ihren  Stoff,  von  dem  zu  wünschen 
gewesen  wäre,  dafs  der  Verfasser 
ihn  in  eine  gewisse  poetische  Ferne 
gerückt  hätte. 

Diese  Bedenken  gegen  einzelne 
Lesestücke  wollten  wir  um  so  we- 
niger verschweigen,  da  wir  im  üb- 
rigen dem  neuen  Lesebuche  unsere 
vollste  Anerkennung  zollen.  Es  ent- 
hält eine  solche  Fülle  des  Schönen 
in  Form  von  Gedichten  und  Erzäh- 
lungen und  berücksichtigt  in  so  ver- 
ständiger Weise  den  späteren  Be- 
ruf der  Schülerinnen ,  dafs  wir  es, 
soweit  Volks-Mädchenschulen 
in  Betracht  kommen,  jedem  andern 
uns  bekannten  Volksschullesebuche 
vorziehen.  Druck  und  Papier  lassen 
nichts  zu  wünschen  übrig. 

Eisenach.  O.  Foltz. 


♦ 


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—    57  — 


XXX. 

H.  Seherer,  Schulinspektcr  in  Worms. 
Welche  Anforderungen  stellt  unsere 
Zeit  an  die  Organisation  dei  Volks- 
schule? Sammlung  pädagogischer 
Vorträge  von  W.  Meyer  -  Markau. 
IV.  Bd.  Heft  3.  Bielefeld,  Hel- 
mich.   1891.  S.  12.   Pr.  0,40  M. 

In  wohlabgerundeter  Form  und 
ohne  unsachliche  Gehässigkeit  gegen 
Bestehendes  wird  im  vorliegenden 
Vortrage  ein  alter  Vorschlag  aus  dem 
Jahre  1890  der  deutschen  Lehrer- 
welt von  neuem  dargeboten.  Leider 
fehlt  dem  Gebotenen  jedweder  Hin- 
weis auf  die  Geschichte  dieser  An- 
gelegenheit und  eine  gründliche  di- 
daktische Begründung.  Nur  allein 
das  Zeitgegebene  bietet  Anlafs  und 
Grundlage  der  Auseinandersetzungen 
des  Verfassers.  Derselbe  betont  mit 
Recht,  dafs  nicht  »soziale  und  kirch- 
liche Politik«  getrieben,  sondern  eine 
allerdings  bisher  ungern  berührte 
soziale  Frage,  die  wichtige  Frage 
der  »Volksbildung«  der  Lösung  näher 
gebracht  werde.  Ein  Fortschritt  über 
die  nicht  erwähnten  Magerschen 
Forderungen  läfst  sich  kaum  fest- 
stellen. Denn  Mager  unterschied 
schon  1840  eine  Volksschule ,  in 
welche  die  ganze  Jugend  des  Volkes, 
aller  Stände  bis  zum  10.  Jahre  aut- 
genommen werden  sollten.  Die- 
jenigen, welche  von  den  Schülern 
»Volk«  bleiben  wollten,  vollendeten 
ihre  Bildung  in  einer  sogen.  »Deut- 
schen Schule«,  die  »Gelehrtcnschule« 
war  für  das  Bedürfnis  der  Gebildeten 
des  Volkes  da.  Verfasser  empfiehlt 
folgende  Organisation:  »Die  deutsche 
Nationalschulc  vermittelt  allgemeine 
Menschenbildung  in  nationaler  Form. 
Sie  legt  den  Grund  für  die  gesamte 
Bildungsarbeit  der  Gegenwart  und 
Zukunft  und  befähigt  den  Schüler, 
sich  eine  religiös-sittliche  Weltan- 
schauung zu  bilden,  durch  sie  Ge- 
sinnungstüchtigkeit zu  erlangen  und 
sich  an  der  Kulturarbeit  der  Gegen- 
wart und  Zukunft  mit  Erfolg  zu  be- 
teiligen.« (S.  8)  Aus  der  National- 
schule entwickelt  sich  bei  ihm  auch 
die  Bürgerschule  und  die  Gelehrtcn- 
schule.   Um  zum  Wohle  des  Vater- 


landes nicht  blofs  die  verschiedenen 
Stände,  sondern  auch  die  Konfession 
zu  vereinen,  empfiehlt  er  mit  fast 
»wörtlicher«  Übereinstimmung  des 
|enaer  Superint.  Braasch  (Reform 
des  Religionsunterricht  in  der  Volks- 
schule ,  S.  19)  einen  »christlichen 
Religionsunterricht«  im  Gegensatz 
zu  einem  »dogmatischen«  (S.  7).  Dafs 
Verfasser  die  Lösung  der  »wirtschaft- 
lichen Frage  der  deutschen  Volks- 
schule und  ihrer  Lehrer«  als  Grund- 
lage neuer  Organisationen  der  Volks- 
schule betrachtet,  zeugt  von  einer 
Würdigung  eines  Schlagwortes  von 
Kehr,  welches  etwa  lautet:  Der  Mangel 
an  Realem  ist  der  Tod  des  Idealen! 

Halle.  Dr.  B.  Maennel. 

XXXI. 

Was  uns  eint.  Vom  Herausgeber  der 
pädagogischen  Vorträge,  W.  Meyer- 
Markau,  IV.  Bd.  Heft  2,  Bielefeld, 
Hclmich,  1891,  S.  15.    Pr.  0,40  M. 

Das  kleine  Heft  erinnert  nach 
seinem  Inhalt  lebhaft  an  die  Ge- 
witterschwüle des  grofsen  Lehrer- 
tages zu  Berlin.  Man  hat  es  mit 
einem  Nachgewitter  zu  thun,  das  alte 
und  neu  aufgestaute  Wolken  ver- 
nichten will. 

Wer  bei  Verfolg  der  Entwicklung 
des  preufs.  Volksschulwesens  nur 
für  Leiden  der  Lehrerschaft  Augen 
gehabt  hat,  findet  in  dem  zuweilen 
prickelnd  geschriebenen  Vortrage 
deren  eine  wohlgeordnete  Sammlung. 
Daher  kann  Verfasser  eine  Ver- 
bissenheit schwer  unterdrücken 
Die  oft  eigentümlich  erscheinende 
Darstellung  erhöht  nicht  gerade  die 
Lesbarkeit  des  Gebotenen,  ist  aber 
leider  durch  ärgerliche  Vorkomm- 
nisse veranlafst.  Denn  wer  die 
Prefs-Stimmcn  über  den  VIII.  deut- 
schen Lehrertag  gesammelt  hat,  kann 
selbst  im  Rcichsboten  (Vergl.  No.  132, 
3.  Juni  1890)  von  Unterlassungen 
lesen,  deren  man  sich  im  Laufe  der 
Zeiten  gegen  Schule  und  Lehrer- 
schaft schuldig  gemacht  hat. 

Auf  die  Gefahr  hin,  zu  den  »Lehrer- 
freunden  mit  Gänsefüfschcn«  (S.  6) 
gerechnet  zu  werden,  möchte  den 
Verdächtigungen  gegen  Zillcssen  (S. 


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i  u.  2)  hier  gesteuert  werden.  Neben 
Dörpfeld  tritt  Zillcsscn  energisch  für 
eine  sachgcmäfse  Regelung  der  Schul- 
aufsichtsfrage  ein ;  er  ist  es  auch,  der 
die  vom  Verfasser  mit  Recht  betonte 
Zusammenschliefsung  der  Lehrer- 
reihen anerkennt.  In  seinem  Buche: 
»Was  lehrt  der  VIII.  deutsche  Lehrer- 
tag>«  ist  zu  lesen :  »Die  Lehrervereine 
sind  nicht  blofs  eine  historische  Er- 
scheinung, die  wir  in  vollem  Mafse 
zu  würdigen  wissen,  sondern  sie 
bieten  ihren  Gliedern  auch  namhafte 
Vorteile,  und  sie  mögen  in  Vertretung 
der  äufseren  Interessen  der  Schule 
und  der  Standesinteressen  der  Leh- 
rer auch  noch  fernerhin  ihre  nicht 
zu  unterschätzende  Bedeutung  haben.« 

Welcher  Ausdrucksweise  sich  Ver- 
fasser zuweilen  bedient,  mag  durch 
folgende  Belege  gekennzeichnet  sein: 
»Die  kränkelnde  Pastorenzeitung  mit 
dem  falschen  Namen  gepäppelt«  - 
»Wo  zu  auch  ganz,  um  mit  Herrn 
v.  Hammerstein,  einem  der  Leiter 
des  Blattes,  nachäffend  zu  mauscheln« 
—  »rechten  Patschuli-  und  Rennstall- 
duft«. — 

Ks  werden  die  gemeinsame  Be- 
rufsarbeit, die  widrigen  Verhältnisse, 
unter  denen  die  Lehrer  arbeiten,  und 
die  gemeinsamen  Widersacher  und 
Feinde  als  Gründe  des  Zusammen- 
schlusses angefühlt.  A.  Diesterweg 
beleuchtet  die  hierhergehörigen 
Punkte  objektiv  und  unseres  trach- 
ten« umfassender  als  der  Verfasser 
durch  folgende  Worte :  »Wo  gedeiht 
ein  Lehrcrvercin?  —  Wo  die  rechte 
Gesinnung  die  Mitglieder  beseelt  — 
Worin  sie  sich  zeigt?  —  Es  ist  jeder- 
mann bekannt.  Man  braucht  nur 
daran  zu  erinnern  Es  ist  die  Liebe 
zum  Beruf,  die  Hingebung  an  die 
Zwecke  desselben,  das  Aufgehen  in 
ihm  —  die  Freundschaft  zu  den 
Standesgenossen  —  der  Eifer  sich 
nach  allen  Richtungen  zu  vervoll- 
kommnen —  die  Verwandtschaft  zu 
allem  Innern  und  Geistigen  -■•  das 
Gefühl  der  Liebe  zum  Vaterlande, 
zur  Nation  die  Teilnahme  von 
allem,  was  die  Zwecke  der  Mensch- 
heit fördert,  die  Sympathie  mit  den 
Armen  und  Notleidenden,  Gedrück- 
ten, die  Sehnsucht,  dazu  mitzuwirken, 
dafs    es  auch   durch  uns    in  dem 


Kreise  unseres  Wirkens  immer  besser 
werde.«  — 

Halle.       .    Dr.  B.  Maennel. 
XXXII. 

Friedlieb  Deutsch  mann,  deutsche  Ei- 
genart. Deutsches  Nationalgefühl. 
Deutscher  Patriotismus.  —  Ein 
Zeit-  und  ein  Zukunftsbild.  —  Allen 
Vatei  landsfreunden  und  Erziehern 
gewidmet.  Hannover,  C.  Meyer, 
1891.  S.  30,  Pr.  0,60  M. 

Verlässer  hat  sich  eine  dankens- 
werte zeitgemäfsc  Aufgabe  gestellt. 
Das  Gefühl,  dafs  wir  in  der  Jetztzeit 
lebenden  Deutschen  uns  mehr  denn 
je  unseres  Deutschtums  bewuist  «ein 
müssen,  ist  j.i  durch  den  Vorgang 
unseres  Kaisers  zu  einer  Willens- 
regung  Vieler  geworden.  Es  fragt 
sich,  ob  die  Darlegungen  des  Ver- 
fassers den  berufenen  Fuhrer  offen- 
baren, die  deutschen  Mitbürger  und 
insbesondere  die  deutschen  Erzieher 
zur  Mitarbeit  besonders  anzuregen. 

Rühmend  darf  hervorgehoben  wer- 
den, dafs  der  ungenannte  Vatcrlands- 
freund  einem  nicht  allzu  beengenden 
Patriotismus  das  Wort  redet.  Zu 
einer  philosophischen  Aurfassung 
eines  Victor  Hehn,  welcher  in  einem 
seiner  Werke  sagt:  »Die  gröfste 
Vaterlandsliebe  zeigten  zu  allen 
Zeiten  diejenigen  nationalen  (Führer, 
die  nicht  die  heimische  Eigenart  am 
hartnäckigsten  festhielten,  sondern 
am  offensten  und  bereitwilligsten  auf 
die  Lehren  der  Fremde  und  den 
früher  und  anderswo  erreichten  Kul- 
turgewinn  eingingen«  —  erheben 
sich  allerdings  die  schlichten  Aus- 
einandersetzungen nicht.  Aber  selbst 
unter  dem  Gesichtspunkte  des  Ver- 
fassers, dafs  ein  Volk  gegenüber  an- 
dern Völkern  sein  »nationales  Ge- 
präge« treu  zu  bewahren  habe,  kann 
manches  Gute  entwickelt  werden. 
Und  wenn  es  gilt,  den  sittlich  nicht 
ausgereiften  Landsleuten  im  Auslande  . 
die  Wahrheit  gründlich  zu  sagen,  so 
kann  ihm  sogar  ein  gewisses  Ver- 
dienst nicht  abgesprochen  werden. 
Denn  leider  ist  es  nicht  unwahr, 
»dafs  eine  Umschau  unter  den  Lands- 
leuten da  draufsen  nicht  selten  zu 
einem    Ergebnis    führt,    das  dem 


59  - 


Deutschtum  wenig  Gewinn  verheilst.« 
(S.  5)  Auch  dürfte  es  nicht  über- 
flüssig sein,  wenn  manchem  Inländer 
und  zwar  aus  der  Zahl  der  >oberen 
Zehntausend«  (S.  11)  das  nationale 
Gewissen  geschärft  wird.  Aus  die- 
sem Grunde  kann  es  dem  um  die 
Abstellung  der  erkannten  Mängel 
ernstlich  Besorgten  übersehen  wer- 
den, wenn  er  u.  a  oft  Erörtertes 
wiederholt  und  einzelnen  Erfah- 
rungen allgemeineren  Wert  beilegt 
(S.  10  —  11,  Anmcrk.)  Der  Schwer- 
punkt des  Büchleins  liegt  aber  in 
der  Auseinandersetzung  folgenden 
Gedankens:  »Gerade  die  Erfahrung, 
dafs  der  Deutsche  im  Auslände  für 
eine  Umwcndung  so  leicht  zugäng- 
lich ist,  mufs  einer  hieraufgerichteten 
erziehlichen  Thätigkcit  die  besten 
Aussichten  eröffnen,  und  dies  uinso- 
mehr,  wenn  der  Keim  schon  in  das 
empfangliche  Kindesherz  geprlanzt 
wird.«  1,5.  iS)  Diese  zwei  Drittel  des 
Umfanges  fassende  Auseinander- 
setzung erhebt  sich  über  manche 
der  in  pädagogischen  Zeitschriften 
verschiedentlich  schon  erschienenen 
über  denselben  Gegenstand.  Jedoch 
kann  sie  keinen  Anspruch  auf  er- 
schöpfende Vollständigkeit  erheben. 
Unter  den  Andeutungen  des  Ver- 
fassers über  den  nationalen  Wert 
unserer  Sprache  darf  z.  B.  unter 
keinen  Umständen  die  meisterliche 
Vorrede  zu  J.  u.  \V.  Grimms  deut- 
schen Wörterbuche,  vielleicht  auch 
Du  Bois-Reymonds  Rede  über  eine 
Akademie  der  deutschen  Sprache 
und  des  Reichspostmeisters  Stephan 
bahnbrechende  Bestrebung  übersehen 
werden.  Die  Hinweise  auf  einen 
patriotisch  wirksamen  Sprachunter- 
richt sind  leider  oberflächlich,  desgl. 
die  über  den  geographischen,  ge- 
schichtlichen, Gesangs-  und  Religi- 
onsunterricht. Indessen  verdiene  die 
Forderung:  Es  mufs  stets  Anschau- 
lichkeit mit  Vertiefung  in  die  Ein- 
zelheiten verknüpft  sein  (S.  24.)  — 
Der  Hinweis  auf  den  didaktischen 
Wert  der  Reisen  (S.  34)  und  die  Er- 
ziehung zur  Vaterlandsliebe  sei  eine 
aus  den  Geboten  der  Sittlichkeit 
sich  ergebende  (S  35}  —  volle  Be- 
achtung. Die  an  einzelne  ziemlich 
wertvolle  Gedanken  über  den  Reli- 


gionsunterricht der  Zukunft  sich 
merkwürdiger  Waise  anschließenden 
schulpolitischcn  Ausgriffe  (S.  35) 
stehen  wohl  in  geringem  Zusammen- 
hange mit  der  Aufgabe,  welche  sich 
Verfasser  gestellt  hat.  Die.  Behaup- 
tung, dafs  ein  Lehrer  in  leichtferti- 
gem Scherz  über  manche  Eigentüm- 
lichkeiten seines  Vaterlandes  den 
Stab  bricht«  (S.  36)  dürfte  zum  Glück 
ein  Phantasma  des  Verfassers  sein. 
Eine  gleiche  Vermutung  entsteht, 
so  der  Verfasser  tadelt,  dafs  der 
Lehrer  in  der  Schule  sich  auf  eine 
Vergleichung  der  Völker  einläfst,  um 
dabei  die  Deutschen  herabzu- 
setzen. — «  iS.  31;. 

Halle.  Dr.  B.  Maennel. 

XXXIII. 

Lehrgang  der  englischen  Sprache  von 
Andreas  Baumgarten,  Professor  an 
der  Cantonschule  Zürich,  I.  Teil. 
Dritte  verbesserte  Auflage.  Druck 
und  Verlag  von  Orell  Eüfsli  u.  Co. 
Zürich  1890.  X,  147  S. 

Abteilung  I  handelt  von  der  Aus- 
sprache (S.  1— -23),  Abteilung  II  ent- 
hält englische  Lesestücke,  deutsche 
Uebersetzungsstücke,  Grammatik  (S. 
24— 10S  ,  Abteilung  III  gibteineZusam- 
menstellung  der  Regeln,  eine  Uebcr- 
sicht  der  unregelmäßigen  schwachen 
und  starken  Zeitwörter  in  alphabe- 
tischer Reihenfolge  und  in  Gruppen, 
Paradigmen'  zum  Zeitwort.  Ein  An- 
hang bringt  Lesestücke,  Vokabeln 
zu  den  Lesestücken  von  Abt.  II, 
Aussprache  von  Eigennamen,  ein 
englisch-deutsches  und  ein  deutsch- 
englisches  Wörterverzeichnis.  Zur 
Uebersicht  des  gesamten  gramma- 
tischen Stoffs  dient  ein  systemati- 
sches Verzeichnis  (S.  VIII — X). 

In  dem  Buch  ist  das  Streben  nach 
Uebersichtlichkcit  in  der  Anordnung 
und  Gruppierung  des  Stoffs  durch- 
aus ersichtlich. 

Was  die  Lehre  von  der  Aus- 
sprache angeht,  so  mufs  man  sich 
freuen,  diesem  wichtigen  Kapitel 
grofse  Sorgfalt  zugewandt  zu  finden. 

In  Abt.  II  hat  Verfasser  —  aber 
nur  ganz  im  Anfang  (Kap.  I— V)  — 
die  grammatisierende  Methode  zu 
Hülfe  genommen,  um  den  Schüler 


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i 


möglichst  rasch  ins  Zeitwort  einzu- 
führen. Dann  tritt  die  induktive 
Methode  in  ihr  Recht.  Der  gramma- 
tische Stoff  wird  gewonnen  an  zu- 
sammenhängenden englischen  Stük- 
ken  von  ansprechendem  Inhalte. 
Die  Beispiele,  welche  zur  Veran- 
schaulichung der  Regeln  dienen 
sollen,  werden  in  übersichtlicher 
Weise  hinter  dem  Text  gegeben. 
Doch  hat  Verfasser  —  abgesehen 
von  wenig  Fallen  —  die  Regeln  nicht 
selbst  formuliert,  in  der  richtigen 
Erkenntnis,  dafs  durch  Hinzufügung 
der  Regeln  hinter  die  Beispiele  der 
Zweck  der  Induktion  verfehlt  wird. 
An  Stelle  der  Regel  setzt  er  eine 
blofse  Krage,  damit  die  Selbsttätig- 
keit des  Schülers  nicht  beschränkt, 
und  derselbe  in  seinem  Urteile  nicht 
bceinrlufst  werde.  Das  ist  ein  ganz 
besonderer  Vorzug  des  Buches.  — 
Bezüglich  des  Übungsstoffs  be- 
kennt sich  Verfasser  zu  dem  Grund- 
satz :  Viel  englisches,  wenig  deut- 
sches Übungsmatcrial.  Trotzdem 
bietet  er  reichlich  deutsche  Übungs- 
stücke. Er  erklärt,  dies  gethan  zu 
haben  aus  Rücksicht  auf  solche 
Schulen,  wo  der  Lehrer  gleichzeitig 
mehr  als  eine  Klasse  unterrichten 
müsse  und  gern  Stoff  für  stille  Be- 
schäftigung habe.  Die  deutschen 
Stücke  sind  allerdings  vielfach  un- 
zusammenhängend an  sich,  aber  das 
Material  bezieht  sich  stet*  auf  be- 
reits dagewesene  englische  Stücke. 
Wer  kein  Freund  von  deutschen 
Uebersetzungsstücken  ist,  kann  die 
betreffenden  Stücke  einfach  weg- 
lassen. —  Die  Grammatik  berück- 
sichtigt aufser  der  Formenlehre  häu- 
fige syntaktische  Erscheinungen.  Mit 
unnötigem  Ballast  wird  der  Schüler 
verschont  Dagegen  giebt  ihm  das 
Buch  Gelegenheit,  sich  eine  gute 
Menge  von  echt  englischen  gebräuch- 
lichen Wendungen  anzueignen.  — 
Die  Aussprache  der  Vokabeln 
wird  bezeichnet  durch  eine  sorg- 
fältige Lautschrift. 

In  einigen  Dingen  bin  ich  mit  dem 
Verfasser  nicht  einverstanden  und 
gestatte  mir  daher  etliche  Bemer- 
kungen. 

Laut  und  Schrift  sind  durchweg 
streng  zu  scheiden.    Verfasser  hat 


beide  einige  Male  verwechselt.  So 
nennt  er  a,  e  (ee)  i,  o,  u  in  lute, 
mc,  green,  I,  no,  tunc  lange  Vo- 
kale und  giebt  an,  dafs  langes  a 
wie  f «  (c)  I.  je  wie  i  Ü  (ü)  I.  ±  wie 
ai  1.  o  wie  ö^(i)u)  I.  u  wie  jii,  ü 
(jutt  iiu)  lauten.  Der  Ausdruck  »langer 
Vokal«  schliefst  schon  den  Begriff 
des  Lauts  ein;  nun  kann  natürlich 
ein  langer  a-!aut  nicht  ein  e'-laut, 
ein  langer  i-laut  nicht  ein  ai-laut 
sein  etc.  Es  mufs  heifsen :  a  in  late 
hat  den  Lautwert  von  Diphtong 
c«  (i-t),  i  den  von  Diphtong  ai  etc, 
Natürlich  dürfen  auch  a  in  late  und 
a  in  rat,  i  in  smile  und  i  in  sit,  o 
in  home  und  o  in  not,  u  in  tune  und 
u  in  sun  einander  nicht  als  lange 
und  kurze  Vokale  gegenübergestellt 
werden,  da  von  lautlichen  Ent- 
sprechungen nicht  die  Rede  sein 
kann.  In  long  haben  wir  nicht  den 
Vcrschlufslaut  g,  sondern  einen  Na- 
sal, ausgedrückt  durch  die  Buch- 
staben ng.  Unverständlich  ist  mir 
die  Behauptung,  dafs  der  Vokal  der 
Endsilbe  in  Worten  wie  father,  ho- 
nor,  sugar  pleasur  eigentlich  stumm 
sei  (S.  14),  und  die  Endung  in  lived 
eine  stumme  Silbe  heifst  (S.  130).— 
Ueber  l,  m,  n,  anl.  r  und  ng  be- 
merkt Verfasser:  »Die  durch  diese 
Zeichen  ausgedrückten  Laute  dürfen 
gesprochen  werden  wie  die  ent- 
sprechenden im  Süddeutschen ,« 
wenngleich  er  für  eine  »ganz  ge- 
naue« englische  Aussprache  noch 
besondere  Weisungen  giebt.  Ich 
sehe  es  für  principiell  unzulässig  an, 
dum  Schüler  eine  nicht  ganz  ge- 
naue Aussprache  als  erlaubt  hinzu- 
stellen. Zu  r  vor  Vokalen  war  noch 
zu  sagen,  dafs  es  kein  Schwirrlaut 
ist.  Die  Angabc,  d  und  t  seien  wie 
im  Deutschen  zu  ^bilden  ist  irrefüh- 
rend. Die  englischen  d  t  sind  sup- 
radental. In  one  ist  o  nicht  ö,  son- 
dern mindestens  uö;  der  durch  ö 
bezeichnete  Laut  wird  fälschlicher- 
weise gleichgesetzt  mit  dem  quali- 
tativ und  quantitativ  verschiedenen 
ö  in  world.  word  etc  (S  130).  — 
Eine  allgemeine  Angabe  bezüg- 
lich der  Artikulationsbasis  im  Eng- 
lischen wäre  am  Platze. 

Aus  der  Formenlehre  erwähne 


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ich  einige  wichtige  Fälle,  wo  ich  ge- 
nügende Berücksichtigung  der  laut- 
lichen Geltung  der  Endungen  ver- 
misse. Die  lautliche  Endung  des 
regelmäfsigen  Plurals  ist  i  -f-  stim- 
haftes  s  nach  Zischlauten,  stimmhaf- 
tes s  nach  den  übrigen  stimmhaften, 
stimmloses  s  nach  den  übrigen 
stimmlosen  Lauten  ;  dasselbe  gilt  für 
den  Gcnit.  Sing,  und  den  der  un- 
regclmäfsigen  Pluralc.  Auf  Grund 
von  lcssons  boys  uncles-aunts  wird 
aber  (S.  25)  festgestellt  als  Regel: 
Das  Zeichen  der  Mehrzahl  ist  ein 
lautes  s,  und  arrows  letters  —  cats 
werden  (S.  54)  in  eine  Kategorie  ge- 
setzt. Verwirrend  ist  die  Frage  S.  54 : 
Welches  ist  das  Zeichen  der  Mehr- 
zahl nach  harten  Zischlauten?  (Bei- 
spiele crosses,  watches,  judges,  pa- 
ges.  Beim  Gen.  Sing,  und  dem  des 
unregelmäßigen  Plurals  wird  blofs 
die  Schreibung  (S.  54)  angegeben. 
Als  gewöhnliche  Endung  des  regel- 
mäfsigen schw.  Imperf.  (Beisp.  dres- 
sed,  tied)  bezügl.  des  Part,  der  Verg. 
(Beisp.  lived)  wird  festgestellt  —  ed, 
ohne  Angabe  der  Ausspr.  t,  bezügl. 
d.  -  Von  den  Transkriptionen  ge- 
fallen mir  nicht  ö  für  u  in  hut,  o  in 
none  etc.,  w  für  w,  )  für  den  stimm- 
haften Laut:  der  Laut  in  hut,  none 
ist  nicht  gerundet  und  hat  nichts 
ö-haltiges.  Schüler,  die  bilabiales  w 
zu  sprechen  gewohnt  sind,  können 
durch  die  Transkr.  w  veranlafst  wer- 
den, dies  aufs  Englische  zu  über- 
tragen; i  ist  bedenklich  für  solche, 
die  keinen  Unterschied  im  Deut- 
schen machen  zwischen  f  und  }\  z.  B. 
in  reisen  und  reifsen.  Für  die  Diph- 
tongen  ii  (c«),  ö«  {tß)  sollten  die  ent- 
sprechenden Lautzeichen,  nicht  c  ö 
stehen.  —  Verfasser  sagt,  er  habe 
nur  dann  die  Bezeichnung  der  Aus- 
sprache weggelassen,  wenn  letztere 
sich  von  selbst  verstehe.  Doch  kom- 
men Fälle  vor,  wo  die  A.  bei  fehlender 
Bez.  sich  nicht  von  selbst  ergiebt, 
vgl.  resemble,  resist ,  disappoited, 
excuse,  despise,  noisy,  reason,  wis- 
dom.  Hier  sollte  s  bezeichnet  sein. 
—  Unglcichmäfsigkeiten  in  der  Be- 
zeichnung weisen  auf  dictionary :  — 
ary  «=  cir»  (S.  147)  und  ort  (S.  133), 
thoroughly:  —  54'  (S.  132)   und  o-li 


(S.  146)  bury  =  bc=ri  (S.  143)  und 
bä'=r»  (S.  132.) 

Für  wünschenswert  hielte  ich  es, 
dafs  das  englisch -deutsche,  sowie 
das  deutsch  -  englische  Wörterver- 
zeichnis so  ausführlich  wären,  dafs 
der  Schüler  sich  rasch  jedes  fehlende 
Wort  ins  Gedächtnis  zurückrufen 
könnte,  auch  würde  ich  für  das  ers- 
tere  eine  ausnahmslose  Transskrip- 
tion für  angemessen  halten. 

Druckfehler  sind :  S.  23  ft  =  ö"  st. 
uu,  S.  134:  ow  — ■  0  st.  0. 

Meine  Oberzeugung  geht  dahin, 
dafs  B  s  Werk  wegen  der  angege- 
benen Vorzüge  ein  recht  gutes  Hülfs- 
mittel  für  den  englischen  Unterricht 
sein  wird. 

Delitzsch     Georg  Kemlein. 


XXXIV. 

Prof  Dr.  Th.  Ziegler- Strafsburg,  Die 
soziale  Frage  eine  sittliche  Frage. 
4.  Aufl.  Stuttgart,  Göschensche 
Verlagshandlung  1891. 

Dafs  der  Blick  der  neueren  Ethik 
auch  auf  die  sogen,  soziale  Frage 
gerichtet  ist,  ist  sehr  erfreulich,  da  die 
Ethik  als  Individual  -  Ethik  einer 
wesentlichen  Ergänzung  durch  die 
Sozial-Ethik  bedarf.  Und  insofern 
die  Pädagogik  in  ihrem  praktischen 
Teil  durchaus  auf  letzterer  fufst,  er- 
klärt es  sich,  dafs  auch  die  Er- 
ziehungswissenschaft an  den  sozialen 
Problemen  unserer  Tage  nicht  vor- 
übergehen darf,  wenn  sie  sich  nicht 
dem  Vorwurf  aussetzen  will,  in  blinder 
Einseitigkeit  befangen  zu  sein.  In 
den  gesellschaftlichen  Ideen,  wie  sie 
die  Ethik  Herbarts  darlegt ,  war 
überdies  für  die  Pädagogik  immer- 
fort die  Mahnung  enthalten,  die 
idealen  Aulgaben  der  Erziehung  in 
enger  Fühlung  zu  halten  mit  den 
sittlichen  Strömungen,  die  die  Wirk- 
lichkeit durchfluten.  Ein  Buch,  wel- 
ches sich  die  Aufgabe  stellt,  die  so- 
ziale Frage  als  eine  sittliche  nach- 
zuweisen, mufs  daher  von  vornherein 
das  Interesse  der  Erzieher  in  An- 
spruch nehmen.  Ja  man  kann  ge- 
radezu behaupten,  dafs  die  soziale 
Frage  eine  Frage  der  Erziehung  sei. 


—     02  - 


Referent  hat  diesen  Gedanken  in 
mehreren  Artikeln  in  den  Grenz- 
boten *)  darzuiegen  versucht.  Hierin 
berührt  er  sich  sehr  eng  mit  den 
Anschauungen ,  in  denen  das  vor- 
liegende Buch  sich  bewegt.  >Das, 
um  was  es  sich  handelt ,  sei  im 
Grunde  nichts  anderes,  als  moralische 
Erziehung  des  Menschen  im  Sinne 
einer  Umwandlung  des  individua- 
listischen Geistes  in  den  sozialen, 
die  Erkenntnis  und  Überzeugung, 
dafs  wie  alle,  so  auch  die  materielle 
Kultur  ein  Teil  der  sittlichen  und 
ein  zu  Versittlichendes  sei,  dafs  das, 
was  bisher  von  einzelnen  lediglich 
in  ihrem  eigenen  Interesse  gethan 
wurde,  vielmehr  zur  Erhaltung  des 
Ganzen  bestimmt  sei,  und  dafs  da- 
rum an  die  Stelle  einer  einseitigen 
Berücksichtigung  der  Privatinteressen 
die  höheren  allgemeinen,  der  Blick 
auf  das  Ganze  zu  treten  habe.« 
Ȇberwindung  des  egoistischen  In- 
dividualismus  durch  den  sittlichen 
Sozialismus.  Das  sei  das  Ziel.«  (S. 
a$.)  Es  ist  zu  erreichen  auf  dem 
Weg  der  sozialen  Reform,  voraus- 
gesetzt, dafs  derselbe  zugleich  ein 
Weg  sittlicher  Erziehung,  der  Sieges- 
weg des  sozialen  Geistes  und  seiner 
Verbreitung  in  der  Welt  ist.  <S  29.) 
Sitte  und  Sittlichkeit  sind  langsam 
wachsende  und  werdende  Mächte. 
Darum  Schritt  für  Schritt!  Im  Ge- 
gebenen, am  Gegebenen  umbauen, 
weiterbauen,  auf  dem  alten  Boden 
in  den  neuen  Geist  hinweinwachsen, 
geduldig  arbeiten  und  sich  und  an- 
dere erziehen,  sittlich  erziehen  für 
den  neuen  Geist  und  in  dem  neuen 
Geist  und  uns  so  fähig  machen 
zur  Erfüllung  unserer  sozialen  Auf- 
gaben — :  das  ist  zwar  nicht  so  viel- 
versprechend und  so  morgenschön, 
wie  der  goldene  Traum  vom  Leben 
der  Menschen  in  Utopie ;  aber  es  ist 
praktischer  als  träumen!  (S.  53.)  Was 
aber  kann  auf  dem  Boden  unserer 
heutigen  Staats-  und  Gesellschafts- 
ordnung für  diese  moralische  Auf- 
gabe geschehen?    (S.  57.)    Es  mufs 


>)  J>ie  zukünftigen  Parteien  1890,  13.  lieft. 
Sozialismus  und  Erziehung.  1890,  24.  Heft.  Zur 
Schulrede  de»  Kaisers  Iftgo,  51  H.  Die  sieben 
8chullraKen  des  Kauer*  1891,  16  II.  Militaris- 
mus u.  Schulertiehung  I891,  33  H. 


ein  Erziehungsprozefs  eingeleitet 
werden,  der  sich  auf  den  Arbeiter 
und  auf  den  Arbeitgeber  erstreckt. 
Nichts  anderes  will  auch  P.  Göhre 
in  seinem  vielgelesenen,  packenden 
Buch:  Drei  Monate  Fabrik- 
arbeiter und  Handwerks- 
bursche  (Leipzig,  Fr.  W.  Grunow 
1S91)*):  »Die  Arbeiterfrage  ist  keine 
blolsc  Magen-  und  Lohnfra^e,  son- 
dernauch  eine Bildungs-  und  religiöse 
Frage  ersten  Ranges.  i^S.  S.  212) 
Das  macht  unsere  deutsche  Arbeiter- 
bewegung so  furchtbar  ernst,  zu 
einem  so  vielköpfigen  Ungeheuer. 
Auch  G.  Schmoller  (Aufsätze  zur 
Sozial-  und  Gewerbepolitik  der 
Gegenwart,  S.  247  ff.)  ist  der  Über- 
zeugung, dafs  der  letzte  Grund  aller 
sozialen  Gefahr  nicht  in  der  Dissonanz 
der  Besitz-  sondern  der  Bildungs- 
gegensätze liegt.  Alle  soziale  Reform 
muls  an  diesem  Punkt  einsetzen.  Sie 
mufs  die  Lebenshaltung,  den  sitt- 
lichen Charakter,  die  Kenntnisse  und 
Fähigkeiten  der  unteren  Klassen 
heben.  Nach  Göhre  geschehe  das 
durch  eine  kraftvolle,  tiefgreifende 
Reformarbeit,  durch  die  bedingungs- 
lose Erfüllung  aller  berechtigten 
Wünsche  der  millionenköpfigen  Ar- 
beitermassc,  durch  ihre  Organisation 
zu  einem  besonderen  Stande  und 
durch  dessen  Einpflanzung  in  den 
Rechtsboden  des  modernen  Staates. 
Das  ist  Aufgabe  der  Regierung  und 
der  gesamten  im  Parlament  ver- 
tretenen Gesellschaft.  Die  zweite, 
nicht  geringere  Hälfte  jener  Er- 
zichungsaufgabc  habe  sodann  die 
Kirche  zu  lösen.  Zunächst  müsse 
der  Grundsatz  durch  die  Kirche  zur 
Thatsachc  gemacht  werden,  dafs  auch 
ein  Sozialdemokrat  Christ  und  ein 
Christ  Sozialdemokrat  sein  kann. 
Dazu  mufs  der  sozialdemokratischen 
Weltanschauung  ihr  materialistisches 
Rückgrat  ausgebrochen  werden.  Hier- 
in liegt  der  soziale  Beruf  der  Kirche 
und  der  wahrhaft  Gebildeten  unserer 
Tage. 

Ob  freilich  die  Kirche  wie  sie  jetzt 
ist,  die  Macht  noch  besitze,  scheint 
Prof.  Ziegler  zweifelhaft.  (Vergl.  S. 
72,  107  f.)    Die  Kirche  hat  an  Ein- 

•)  t>.  Mitteilungen  tn  d.  H.,  S.  17. 


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63  - 


fluss  und  Gewalt  über  die  Gemüter 
Schritt  für  Schritt  an  Boden  verloren, 
weil  sie  im  Dienste  der  bestehenden 
Staats-  und  Gesellschaftsordnung 
schon  dadurch  den  unteren  Klassen 
verdächtig  ist.  Und  wenn  sich  gegen- 
wärtig deutlich  zwei  Strömungen  in 
der  Geistlichkeit  unterscheiden  lassen, 
eine  ablehnende,  welche  die  Sozial- 
demokratie aufs  unversöhnlichste  be- 
kämpft und  eine  ihren  Forderungen 
mehr  und  mehr  entgegenkommende, 
die  sich  der  inneren  Verwandtschaft 
mit  ihren  Bestrebungen  bewusst  ist, 
so  ist  doch  sehr  zweifefhaft,  ob  die 
Kirche  den  Sieg  davon  tragen  wird. 
Prof.  Ziegler  befürchtet,  dass  der 
Kampf  auf  die  Dauer  für  beide 
Kirchen  verhängnisvoll  werden  wird. 
Sie  würden  sich  letzten  Endes  doch 
machtlos  erweisen  und  der  Kampf 
werde  dann  nur  den  Prozess  fort- 
schreitender Loslösung  beschleu- 
nigen. Von  den  Massen  als  Gegner 
angesehen  und  verlassen ,  aber  in 
ihrer  Machtlosigkeit  auf  diesem  Ge- 
biet und  darum  nicht  ferner  mehr 
beachtet  und  geschätzt,  würden  sie 
sich  und  das  Christentum  selbst  vor 
die  Existenzfrage  gestellt  sehn.  Wir 


sehen  weit  hoffnungsvoller  in  die 
Zukunft,  vorausgesetzt  dass  die  viel- 
fach in  konventionellen  Formeln  er- 
starrte und  salzlos  gewordene  Kirche 
wieder  Leben  gewinnt  dadurch,  dass 
sie  in  das  Leben  eingeht,  die  be- 
rechtigten Forderungen  der  unteren 
Klassen  zu  den  ihren  macht  und 
durch  rastloses  Aufsuchen  und  Be- 
tonen des  Gemeinsamen  wieder  Ver- 
trauen und  Einflufs  gewinnt,  selbst 
auf  die  Gefahr  hin,  mit  den  Be- 
sitzenden in  Widerspruch  zu  geraten. 
Das  bekannte  Wort,  es  sei  für  den 
Staat  weitaus  am  wichtigsten ,  dass 
die  Millionäre  zufrieden  seien,  das 
gemeiniglich  dem  Fürsten  Bismarck 
zugeschrieben  wird,  könnte  leicht 
für  Staat  und  Kirche  höchst  ver- 
hängnisvoll werden. 

Doch  wir  wollen  diese  Anzeige 
nicht  unnötig  ausdehnen.  Ausdrück- 
lich möchte  ich  noch  meine  volle 
Zustimmung  zu  dem  Abschnitt 
»Familie  und  Frau ;  die  Frauen- 
frage« erklären  und  zum  Schluss 
den  Lesern  der  »Studien«  die 
Zieglersche  Schrift  aufs  wärmste 
empfehlen. 

Jena.  W.  Rein. 


D.  Anzeigen. 


Joh.  Meyer,  Lesebuch  der  Erdkunde 
für  Schule  und  Haus.  3  Bände. 
Gotha,  Behrend  1890. 

Vorl.  geogr.  Lesebuch  stellt  sich, 
wie  andere  Werke  dieser  Art,  den 
Zweck,  als  Ergänzung  zum  Unter- 
richt lebendige  Bilder  von  den  Län- 
dern, ihren  Produkten  u.  s.  w.  in 
dem  Geiste  der  Schüler  hervorzu- 
rufen. Ohne  Zweifel  erfüllt  es  diesen 
Zweck  in  vortrefflicher  Weise,  da  es 
sich  bestrebt,  die  landschaftlichen, 
die  ethnographischen  und  Städte- 
bilder gleichmäfsig  zu  berücksich- 
tigen und  vor  allem,  dem  Bedürfnis 
unserer  Schulen  entsprechend,  unser 
Vaterland  reichlicher  zu  berücksich- 
tigen, als  es  in  ähnlichen  Werken  zu 
geschehen  pflegt.   Der  1.  Band  ent- 


hält: 1.  Bilder  aus  der  aJIgem.  Geo- 
graphie; mathem.  Geogr.,  physikal. 
Geogr.;  Kultur-Geogr.  2.  Bilder  au* 
Asien.  3.  Bilder  aus  Afrika.  4.  Bil- 
der aus  Amerika.  5.  Bilder  aus 
Australien.  Der  2.  Band  umfafst 
Bilder  aus  Europa  mit  Ausschluss 
des  deutschen  Reichs.  Der  3.  Band 
giebt  Schilderungen  aus  dem  deut- 
Reich. 

II. 

H.  Prase,  Herbarts  Pädagogik.  Vor- 
trag.   Strafsburg,  Fr.  Bull.  1890. 

Der  frische,  anziehende  Vortrag 
des  Herrn  Kreisschulinspektors  Prafs 
bespricht  1.  Herbarts  Lebensgang, 

2.  Herbarts   pädagogische  Werke, 

3.  Die  Hauptlehren  der  Herbartschen 


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Pädagogik,  4.  Die  Herbartsche Schule, 
5.  Die  Stellung  der  Volksschule  zur 
Herbartschen  Pädagogik  bez.  zur 
Herbartschen  Schule.  Der  Verfasser 
stellt  12  Hauptichren  und  demge- 
mäis  !2  Hauptfragen  auf,  von  denen 
er  9  mit  Ja,  drei  mit  Nein  beant- 
wortet. Die  letzteren  beziehen  sich 
auf  die  Frage  der  kulturhistorischen 
Stufen,  aul  die  Konzentration  im 
Zillerschen  Sinn  und  auf  das  Ziel 
der  Erziehung  nach  Herbart. 

III. 

Adolph  Diesterwegs  ausgewählte  Schrif- 
ten herausgegeben  von  Eduard 
Langenberg.  Neue,  durchgesehene 
Auflage.  (Vollständig  in  20  Liefe- 
rungen ä  60  Pf  Je  5  Hefte  bilden 
einen  Band.) 

Diesterwegs  ganzes  Leben  und 
Streben,  das  sich  auf  die  Hebung 
und  Förderung  des  Schul-  und  Er- 
zichungswesens,  wie  des  Lehrer- 
standes in  gleicher  Weise  richtete, 
hat  seinen  treuesten  und  bleibend- 
sten Ausdruck  in  seinen  Schriften 
gefunden.  Die  meisten  derselben 
sind  aber  im  Buchhandel  längst  nicht 
mehr  zu  haben,  und  die  40  Jahr- 
gänge der  »R h ein i sehen  Blätter«, 
sowie  die  16  Bände  des  »Pädago- 
gischen Jahrbuchs«,  welche  er 
herausgab,  und  in  welchen  er  seine 
Ansichten  in  fesselndster  und  ent- 
schiedenster Weise  darlegte,  sind 
nur  selten  irgendwo  vollständig  zu 
finden.  Und  doch  vermögen  sie  ge- 
rade über  den  Mann,  der  bei  Leb- 
zeiten aufs  heftigste  angegriffen  und 
dessen  Bild  der  jüngeren  Lehrer- 
schaft oft  durch  schiefe  und  falsche 
Darstellungen  getrübt  worden  ist, 
den  rechten  Aufschlufs  zu  geben 

Daher  ist  die  oben  genannte  Aus- 
gabe, die  1877  zum  ersten  Mal  er- 
schien, freudig  zu  begrüfsen. 

Auszug  aus  dem  Inhalts-Verzeich- 
nis: Ober  das.  oberste  Prinzip  der 
Erziehung.  —  Über  Natur  und  Kul- 
turgemäfsheit.  —  Worin  liegt  das 
Charakteristische  geistanregender 
Lehrer?  —  Über  die  Lehrmethode 
Schleiermachers.  —  Das  Prinzip  des 
Elementarunterrichts.  —  Über  die 


Methode  des  Sprachunterrichts.  — 
Reise  nach  den  dänischen  Staaten. 

—  Lebensfragen  der  Civilisation.  — 
Über  die  Methode  des  Zahtenunter- 
richtes.  —  Über  die  wahren  und  fal- 
schen Erwartungen  von  der  Volks- 
schule. —  Über  den  Unterricht  in 
der  populären  Himmelskundc.  — 
Schiller  für  immer.  —  Hilf  dir  selbst, 
so  hilft  dir  Gott.  —  Goethe  als  Vor- 
bild. —  Jeder  Lehrer  ein  Natur- 
kenncr.  —  Gott  in  der  Natur.  — 
Das  Lehrerbewufstsein.  —  Die  drei 
Nägel  an  dem  Sarge  eines  Lehrers. 

—  Lehrer- Verschiedenheit.  —  Über 
Lehrer  -  Konlerenzen.  —  Von  der 
Stellung  der  Frau  des  Lehrers.  — 
Über  das  Lateinlernen  in  den  höhe- 
ren Bürgerschulen.  —  Daz  Prinzip 
der  modernen  Pädagogik.  —  Über 
die  Schulinspektion.  —  Die  Volks- 
schule von  Luther  bis  jetzt.  —  The- 
sen zu  Disputationen  in  Lchrcrver- 
einen.  —  Die  Erziehung  zur  Gesetz- 
lichkeit. —  Pestalozzi.  —  Über  ln- 
spektion. —  Konfessioneller  Unter- 
richt.—  Über  politische  Partcistellung 
der  Lehrer.  —  Individualität,  Subjek- 
tivität des  Charakters.  -  Astrologie, 
Geologie  und  Gcognosie.  —  Kirchen- 
Ichrc  oder  Pädagogik.  —  Die  innere 
Mission.  —  Der  Formalismus.  —  Das 
Volksschulwesen  in  Vergangenheit 
und  Gegenwart.  —  Die  deutsche 
Nationalerziehung.  —  Das  Prinzip 
der  modernen  Schule.  —  Mein  Re- 
ligionsunterricht. —  Pädagogische 
Blicke  in  die  Gegenwart.  —  über 
den  Ursprung  der  Sprache.  —  Les- 
sing als  Pädagog.  —  Bibel  und  Natur- 
wissenschaft. —  Lcssings  Nathan.  — 
Die  Zukunftsschulc  etc.  etc. 

In  demselben  Verlag  erschien  auch 
die  neue  (6)  Auflage  von  Diesterwegs 
Wegweiser,  zur  Bildung  für  deutsche 
Lehrer  bearbeitet  von  Karl  Richter, 
Ausgabe  in  einem  Bande.  Diese  Ju- 
biläumsausgabe von  Diesterwegs 
bedeutenstem  Werke,  bearbeitet  von 
dem  durch  seine  Schriften  über 
Diesterweg  bekannten  Direktor  Karl 
Richter  in  Leipzig  zu  dem  sehr 
billigen  Preise  von  i1/«  Mark  wird 
gewifs  allseitig  willkommen  geheifsen 
werden. 


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ilakpgif(t)rr  Hrrlug  uou  Slrql  &  fiarmmrrrr  |)anl  tlj.  fiarnnfrrr)  in  Drcobni 

Der  SelLgionsunterrtdft 

auf  ber 

^ßerftufe  hex  ^offtsr^ufe. 

präpar  ationen  nach  pfydfolegifd} er  IHctluuV 

von 

Dr.  u  l|t  ni^ovt. 

Seminarobrrlrbcer. 

€rftcr  (Teil: 

Das  letal  3cfn  unb  ber  weite  Artikel. 

preis:  2,50  III. 
<3tt>eiter  (Ceii: 

Die  Apollelg.efd)id)te  unb  ber  brüte  Artikel. 

preis-  2,50  OTr. 

Xrr  SSerf  affer  bietet  im  oorliegenben  tBerte  mobl  burdjflcarbfititc  Uräparattoiu-n  nali  pindjologi« 
dirr  Wetbobc  bar,  bic  jur  lörbanMunQ  be«  £rben«  3efu  unb  be«  i.  «rtftrl«,  loroic  ber  apoitclgrlcbicbte 
unb  bei  3.  «rttfel«  autb  für  Wicbtanbänger  brr  ,>ormalitufen  von  bobem  4Berte  fein  werben,  \a  fie  bürden 
oicHeicbt  mandieu  fflegner  tum  ftreunbr  tnadien.  tnbrm  fie  Purrti  ben  natürlichen  Uiitrrritbtefortgang  bie 
iHiditigtrit  brr  prinzipiellen  l&runblagen  ibm  Mar  beweifen.  ia«  ganze  *udj  burrbroebt  ritu  roobl« 
tljuenbe  öarntr  Xem  Serfafier  foramt  t«  roentger  barauf  an,  wir  man  brm  3»ülfr  cbrtfilirtic  («laubrn*» 
unb  3<ttenlebrc  in  ben  Scrftanb,  fonbrrn  cbrtftlidira  <ttlauben*Ieben  in«  $erj  bringe  mit*  fo  reit« 

Sibfe*  Xenfcn,  itiiblen  unb  Streben  erjruge.  jLmcau  forbett  er,  baß  ber  fiebrer  frlbft  oom  (Jfcifte  be* 
Äriftrntum»  burdibrungen  fei  unb  ba*  nötige  pfbebologifebe  metbobifrtK  *erftänbni«  brftfee  zjine*  fpc» 
jieBen  Rated)i#mu«unterrirt|t*  bebarf  a  natb  be«  i<rrfaffer«  Vtctbobe  nictit;  u>o  aber  bibl.  (ikidncbi*- 
unb  ftatecbUmueunterricbt  getrennt  erteilt  werben  muffen,  foQ  rornigflen*  ber  innere  3"tanimeiibang 
ftanbig  aufredjt  erbauen  werben.  (OtoertfAt  üebrerjeüung.) 

Neu  eingegangene  Schriften. 

Müller-Pilling.  Deutsche  Schulflora.    Gera,  Hofmann. 

A.  Nebe,  Der  kleine  Katechismus  Lothers.  Stuttgart,  Greiner  u.  Pfeiffer. 
Steger,  Welche  Gründe  sprechen  gegen  eine  unbedingte  Durchführung  der 

Schulklassen.    Halle,  Schroedel. 
Braune,  Rechenbuch.    Halle,  Schroedel. 

Penneweiss-Pansegrau.  Leitfaden  für  den  Rechtschreib  u.  Sprach-Unterricht. 
Halle,  Schroedel. 

Schröer,  Über  Erziehung,  Bildung  und  Volksintere»se  in  Deutschland  und 

England.    Dresden,  Damm. 
Hesse.  Bilder  aus  der  brandenburgisch-preu«isischen  u.  deutschen  Geschichte. 

Hannover,  Meyer. 
Rath,  Das  Rechnen  auf  der  Oberstufe.    Bielefeld,  Helmich. 
Hopp,  Das  Invalidität«-  und  Altersversicherungsgesetz  in  der  Volksschule. 

Bielefeld,  Helmich. 
Kiessling  Pfalz,  Method.  Handbuch  für  den  Unterricht  in  der  Naturgeschichte 

2.  Aufl.  Kursus  4  u.  5.    Braunschweig,  Appelhans  n  Pfenningstorff. 
Falcke,  Einheitliche  Präparationen  für  den  gesamten  Religionsunterricht. 

Halle,  Schroedel. 
Wustmann,  Allerhand  Sprachdummheiten.    Leipzig.  Grunow. 
Guttzeit.  Reinmenschliche  Kindererziehuug.  Leipzig,  Sigismund  u.  Volkening. 
Bax,  Vereinfachte  Volksorthographie.    Erfurt-Leipzig,  B.  Bacmeister. 
Hartmann-Ruhsam.  Rechenbuch.  1—4  H.  Leipzig-Frankfurt  a/M.,  Kesselring= 

sehe  Hofbuchhandlung. 
Liebeskind.  Über  die  Benutzung  von  Quellen  im  Geschichtsunterricht  der 

Volksschule.    Jena,  Mauke. 
Heinzig,  Die  Schule  Frankreichs  in  ihrer  histor.  Entwicklung.  Leipzig- 
Frankfurt,  Kesselringsche  Hofbuchhandlung. 
Jacobi,  Bibelatlas.    Gera,  Hofmann. 

Stephan,  Die  häusliche  Erziehung  in  Deutschland.    Wiesbaden,  Bergmann. 


Biedermann,  Deutsche  Volks-  u.  Kulturgeschichte.  3  Bde.  2.  Aufl.  Wies- 
baden, Bergmann. 

Baumgarten,  Evangel.-soziale  Zeitfragen.  2.  Bd.  i.  u.  2.  Heft.  Leipzig, 
Grunow. 

Borinski,  Grundzüge  des  Systems  der  artikul.  Phonetik.  Stuttgart,  Göschen. 

Hoffmann,  Rhetorik  für  höh.  Schulen.    7.  Aufl.    Halle,  Mühlmann. 

Schliepmann,  Betrachtungen  über  Baukunst.    Berlin,  A.  Seydel. 

Fauth-Köster,  Zeitschrift  für  den  ev  Religionsunterricht.  Berlin,  H.  Reuther. 

Poll,  die  Reform  des  Religion«- Unt.    Weimar,  Bockmann. 

Molkenboer,  die  internat  Erziehung-Arbeit.    Flensburg,  A.  "Westfalen. 

Butler,  Educational  Review.   New -York,  Holt  u.  C. 

Neumann,  Ist  der  bihl.  Gesch.-Unt.  reformbedürftig?  Minden,  Hufeland. 

Reinecke,  Plan  u.  Stoff   für  den   vierstufigen  Naturgeschichtsunterricht. 

Dresden.  Kämmerer. 
Bibliothek,  pädag.  Klassiker.    Langensalza,  Beyer  u.  S. 

v.  Sallwürck,  I.  Fr.  Herbarts  päd.  S  haften.    2  Bd.  5.  Aufl. 

Fr.  Mann,  Pestalozzi«  ausgew.  Werke.   2  Bd.  4.  Aufl. 

Ackermann,  Salzmanns  ausgew.  Schriften.    2.  B.  P 
Grotti.  Aus  meinem  naturgesch.  Tagebuch.  3 
Hoffmann,  Lehrbuch  der  Schulgesundheitapflege.  j1^ 
Kef er  stein,  Aufgaben  der  Schule  in  Beziehung  auf  das  sozialpolitische  I  = 
Leben.  '  £. 

Nadler,  Ratgeber  für  Volkaschullehrer.  S.  Aufl.  /  £ 

Richter,  Die  essbaren  Pilze  Deutschlands.  i'^j 
Wesselhöft.  Der  Garten  des  Bürgers  und  Landmanns.    3.  Aufl  I.» 
Behling.  Hilsinger,  Lleburg,  Prakt.  Spracbbuch  für  Volksschulen.  3  Hefte.  '» 
Rabich,  Psalter  u.  Harfe.  e 
Schumann,  Leitfaden  der  Pädagogik.  |  .x 

Schumann,  Lehrbuch  der  Pädagogik.  Ii53j 
Geyer,  ueutsche  Aufsat/.stoffe.  j«5  § 

Pünjer-Hodgkineon,  Lehr-  und  Lesebuch  der  englischen  Sprache.         J  *  ? 

Albert,  Liederbuch  für  Schulen.    Altenburg,  Bonde. 
Müller,  Ansichten  über  wahre  Bildung.    Pforzheim,  Bode. 
Siegert,  Die  Periodizität  in  der  Entwicklung  der  Kindesnatur. 
Voigtländer. 

Vogelreuter,  Geschichte  des  griech.  Unt.  Hannover,  Meyer. 
Hornemann,  Die  Berliner  Dezemberkonferenz  und  die  Schulreform.  Han- 
nover, Meyer. 

Ufer,  Geistesstörungen  in  der  Schule.    Wiesbaden,  Bergmann. 

Coordee,  Lehrbuch  der  Landkarten-Projektion.    Kassel,  Kessler. 

Ackermann,  Pädag.  Fragen.    1.  Bd  2.  Aufl.    Dresden,  Kämmerer. 

Reinecke,  Plan  und  Stoff  für  den  vierstufigen  Naturgeschichta-Unterricht. 
I  Teil.    Dresden,  Kämmerer. 

Thrändorf,  Der  Religionsunt.  etc.  Präparationen.  2.  Teil.  Dresden,  Kämmerer. 

Herberger-Döring,  Theorie  und  Praxis  der  Aufsatzüf  an  gen  3.  Teil.  Dres- 
den, Kämmerer. 

Harbort,  Sozialdemokratie  und  Volksschule.    Hannover,  Meyer. 
Magnus,  Rechenaufgaben.    Hannover,  Meyer. 

Sterner,  Geschichie  der  Rechenkunst.    1.  Teil.    München,  Oldenburg, 
van  Ekeris,  Der  Geschichtsunterricht.    Bielefeld,  Helmich. 
Eranken,  Die  Kinderhort«   und  deren  erziehliche  Bedeutung.  Bielefeld, 
Helmich. 

Richter,  Neudrucke  pädag.  Schriften    V.  u.  VI.  Bd.    Leipzig,  Richter. 

V.  Almansor,  Der  Kinder  Schulspiegel. 

VI.  Schummel,  Fritzens  Reise  nach  Dessau. 

Mayer,  Übungen  des  lateinischen  Stils.    Freiburg  i.  Br.,  Herder. 

Müller,  Piatons  Apologie  des  Sokrates.    Freiburg,  Herder. 

Waldeck,  Praktische  Anleitung  zum  Unterricht  in  der  latein.  Grammatik. 

Halle,  Waisenhaus. 
Härtung,  Wegweiser  für  Lehrer  zu  den  Sprechübungen  im  Englischen. 

Halle,  Waisenhaus. 
Härtung,  Sprechübungen  im  Englischen.    Halle,  Waisenhaus. 

Druck  von  O.  Vits,  Nauroburf  *.  8. 

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/ 


"LT  BÖS- 


Pädagogische  Studien 


Neue  Folge 


H  erausgegeben 

Ton 

Dr.  W.  Rein 

Profeator  u.  d.  Universität  Jena 
XIII  Jahrgang    Zweites  Heft 


Inhalt 

A  Abhandlungen:  F.  W.  D.  Krause,  Der  Pessimismus  E.  v.  Hart- 
manns und  die  moderne  Pädagogik. 

B  Mitteilungen:  i.  Prof.  Dr.  H.  Steinthal,  Der  Philosoph  Johann 
Friedrich  Herbart.  2.  Ober  den  Beginn  des  Schuljahres.  3.  Eine 
neue  amerikanisch-pädagogische  Zeitschrift  .4.  Leibesübungen  und 
Tumspiele  in  alter  und  neuer  Zeit.  5.  ELI.  Haupt- Versammlung 
der  Freunde  Herbartschcr  Pädagogik  aus  Schlesien  und  Posen. 
6.  Versammlung  der  Zweigvereine  Altenburg,  Halle,  Jena,  Leipzig 
in  Weissenfcls.  7.  Verein  für  Herbartische  Pädagogik  in  Rhein- 
land und  Westfalen.    8.  Zum  Comcnius-Jubiläum.    28.  März  1892. 

9.  Verein  für  herbartische  Pädagogik  in  Thüringen  und  Sachsen. 

10.  Prof.  Dr.  R.  Menge,  Nekrolog  von  Dr.  O.  Frick.  Ii.  Selbst- 
anzeige von  J.  Trüper. 

C  Beurteil u ngen:  1.  A.  Ohlert;  2.  Dr.  phil.  Ernst  O.  Stie[hler; 
3.  Max  Walter;  4.  Johannes  Rauschenfels;  5.  Dr.  Hermann 
Soltmann;  6.  Alge  (Ludwig  Baetgen). 


Dresden 

Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer 

(Paul  Tb.  KunmtwJ 

ItM 


FortbildungH-Kursus 
in  der  deutschen  Sprache 

für  englische  Lehrer  an  der  Universität  Jena  im  Augast  1892. 

Herr  J.  i.  Flndlajr,  früher  Direktor  des  Wesley  College  in  Sheffield, 
wird  im  August  d.  J.  einen  vierwöchentlichen  Kursus  für  englische 
Lehrer  abhalten,  am  sie  in  der  deutschen  Sprache  auszubilden.  An 
diesem  Kursus  können  sich  ebenso  deutsche  Studenten  und  Lehrer  be- 
teiligen, die  sich  in  der  englischen  Sprache  vervollkommnen  wollen. 

Näheres  durch  Herrn  J.  J.  Findlav  in  Jena,  Erfurter  Str.,  Villa 
Bejach. 


Büste  Herbarts. 

Wir  erlauben  uns,  unsere  Leser  darauf  aufmerksam  au  machen, 
daas  die  bekannte  Gipsbüstenfabrik  von  Wilhelm  Pellegrini  in  Chem- 
nitz auf  Veranlassung  und  nach  Anweisungen  des  Herrn  Hauptlehrers 
Adolf  Rüde  in  Schulitz  (Posen)  eine  Büste  Herbarts  hergestellt  und 
damit  einem  vielfach  vermerkten  Bedürfnisse  abgeholfen  hat.  Bisher 
existierte  unseres  Wissens  keine. 

Die  Büste  ist  nach  dem  in  Pichlers  Verlage  erschienenen  trefflichen 
Bilde  Herbarts  modelliert.  Die  Ausführung  ist  ganz  vorzüglich.  Die 
Höhe  beträgt  48  cm  (für  Arbeitszimmer  u.  dgl.  passend).  Die  Büste 
kostet  in  Kltenbeiumnase  18  Mark,  in  Gips  9  Mark-  —  Doch  hat  die 
Fabrik  in  entgegenkommender  Weise  Herrn  Rüde  in  den  Stand  gesetzt, 
den  Verehrern  und  Freunden  Herbarts  die  Büste  mit  10%  Rabatt  zu 
liefern,  wenn  sie  durch  seine  Vermittlung  bestellt  wird.  Herr  Rüde  er- 
teilt auf  Anfragen  gern  Auskunft.  —  Auch  ist  als  Pendent  die  Büste  von 
Comenius  zu  demselben  Preise  zu  haben.  Auf  Wunsch  liefert  die  Fabrik 
passende  Konsolen  dazu  (in  Elfenbeinmasse  4,50  M  ,  in  Gips  1,50  M.). 


Neu  eingegangene  Schriften. 

v.  Zehender,  Vortrage  über  Schulgesundheitspflege.   Stuttgart,  Enke. 
Kratz,  Logik.  | 
„     Aesthetik.  >  Gütersloh,  Bertelsmann. 
Theletik.  J 

Wlrth,  Übungsfragen  zum  Geschichtsunterricht.   Bayreuth,  Heuschmann. 
Patuschka,  Volkswirtschaft!.  Lesebuch.  2.  Aufl.  Gotha,  Behrend. 
Butler,  Kducational  Review  November  1U.  New- York,  Holt. 
Arendt,  Grundzüge  der  Chemie.  3.  Aufl.  Leipzig,  Voss. 

M      Anorgan.  Chemie.  3.  Aufl.  Leipzig,  Voss. 

„     Leitfaden  für  den  Unt.  in  der  Chemie.  3.  Aufl.  Leipzig,  Voss. 
Lüdemann,  Plan  und  Stoff  für  den  deutschen  Sprachunterricht.  Bremen, 

Rühle  u.  Schlenker. 
Duckmeyer,  Füchse  mit  brennenden  Schwänzen.  Berlin,  Rentzel. 
Räther,  Theorie  u.  Praxis  des  Rechenunt.   Breslau,  Morgenstern. 
Braune,  Der  Rechenunt.   Halle,  SchroedeL 

Zimmermann,  Vorschläge  zur  Reform  der  städt.  Schule.    Frankfurt  a/M. 

Reitz  u.  Köhler. 
Tromnau,  Schulgeographie.   Halle,  Schroedel. 

Kurz,  Method.  Lehrgang  der  Stenographie.    Straubing,  Selbstverlag. 


A.  Abhandlungen. 


Der  Pessimismus  E.  v.  Hartmanns  und  die 


Im  Jahrgange  1890  (Heft  3,  S.  129  —  150)  der  > Pädagogischen 
Studien <  hat  E.  v.  H.  eine  Abhandlung  veröffentlicht,  welche  die 
Überschrift  trägt:  »Kann  der  Pessimismus  erziehlich  wirken?« 

Diese  Frage  hat  bereits  seitens  der  Richtung  in  der  modernen 
Pädagogik,  welche  auf  dem  Boden  der  Philosophie  Herbarts  steht, 
ihre  Beantwortung  in  verneinendem  Sinne  gefunden,  und  zwar 
durch  die  Entgegnung  des  Professors  Vogt  im  Jahrbuche  des 
Vereines  für  wissenschaftliche  Pädagogik  (1891)  und  die  an  die- 
selbe sich  anschliefsenden  Verhandlungen  auf  der  vorjährigen 
Hauptversammlung  des  genannten  Vereines  zu  Magdeburg  (s.  Er- 
läuterungen z.  Jahrbuche). 

Wenn  ich  es  nun  ebenfalls  unternehme,  auf  jene  Frage  zu 
antworten,  so  findet  dies  seine  Begründung  in  meinem  von  dem 
soeben  bezeichneten  etwas  abweichenden  Standpunkte.  Dafs  es 
trotz  des  letzteren  Umstandes  mir  verstattet  ist,  an  diesem  Orte, 
an  welchem  seitens  E.  v.  H.s  die  zu  beantwortende  Frage  gestellt 
wurde,  die  Antwort  geben  zu  dürfen,  danke  ich  der  Freundlichkeit 
des  Herrn  Herausgebers  vorliegender  Zeitschrift,  der  mir  die 
Spalten  derselben  geöffnet  hat.  Verarilafst  zu  der  Antwort  fühle 
ich  mich  durch  die  mahnenden  und  tadelnden  Worte,  welche 
E.  v.  H.  am  Schlüsse  seines  erwähnten  Aufsatzes  an  die  moderne 
Pädagogik,  zu  deren  Vertretern  auch  ich  mich  zähle,  richtet:  die- 
selbe möge  in  sich  gehen  und  ihre  Grundsätze  prüfen  an  dem 
Mafsstabe  des  Pessimismus,  mit  dem  sie  bisher  verschmäht  habe, 
irgendwie  Fühlung  zu  gewinnen.  — 

Zunächst  wird  es  tür  mich  nötig  sein,  den  zu  beleuchtenden 
Gedanken  E.  v.  H.s  gegenüber  meinen  Standpunkt  der  Be- 
urteilung kurz  darzulegen. 

Padago«i«chc  Studien.    II.  5 


moderne 


Von  F.  W.  D.  Krause  in  Cöthen. 


—    66  - 
I. 

I.  Seite  130  seiner  Abhandlung  lehrt  E.  v.  H, :  Den  Wert  des 
Lebens  könne  man  an  einem  zweifachen  Mafsstabe  messen,  erstens 
an  dem  der  Glückseligkeit,  die  es  dem  Lebewesen  bereite,  und 
zweitens  an  dem  der  Entwicklung  und  des  Fortschrittes  sowohl 
der  körperlichen,  als  auch  der  geistigen  Organisation  und  der  mit 
ihm  zusammenhängenden  Leistungen.  In  ersterer  Beziehung  be- 
kennt er  sich  zum  eudämonologischen  Pessimismus,  in  letzterer  zum 
evolutionistischen  Optimismus. 

Mir  erscheint  das  Verfahren,  bei  der  Würdigung  des  Lebens 
Glückseligkeit  und  Fortschritt  als  zwei  gleichartige  Mafsstäbe  neben 
einander  zu  verwenden,  nicht  glücklich  gewählt,  und  zwar  aus 
folgendem  Grunde: 

Der  Standpunkt,  von  dem  die  Frage  nach  dem  Lebenswerte 
gestellt  wird,  kann  ein  zweifacher  sein,  der  spekulative  und  der 
empirische. 

Innerhalb  der  Spekulation  kommt  hier  nur  die  idealistische 
Richtung  der  Teleologie  inbetracht,  da  die  materialistische  An- 
schauung, welche  anstelle  des  bewufsten  Zweckes  den  blinden 
mechanischen  Kausalzusammenhang  setzt,  wenig  zu  einer  Wertung 
des  Lebens  sich  eignet.  Die  Würde  eines  Zweckes  aber  kann 
von  den  beiden  hier  inrede  stehenden  Mafsstäben  allein  die  Glück- 
seligkeit beanspruchen  insofern,  als  man  annimmt,  die  Menschheit 
sei  ins  Leben  gerufen,  damit  an  ihr  entweder  sofort  oder  der- 
maleinst die  Glückseligkeit  realisiert  werde,  während  der  Fortschritt 
in  der  körperlichen  und  geistigen  Organisation  nie  Zweck  sein 
kann,  sondern  nur  ein  diesem  oder  einem  anderen  Zwecke 
dienendes  Mittel;  denn  man  ruft  doch  nicht  jemanden  ins  Leben, 
damit  er  fortschreite,  sondern  damit  er  durch  dieses  Fortschreiten 
zu  irgend  einem  Ziele  komme. 

Der  Erfahrungsstandpunkt  kümmert  sich  nicht  um  das  Warum 
und  Wozu;  er  konstatiert  einfach  die  Thatsache  des  Lebens.  Auf 
diesem  Grunde  setzen  dann  naturgemäfs  Erwägungen  darüber 
ein,  ob  und  wie  es  anzustellen  sei,  dieses  Leben,  das  doch  ein- 
mal gelebt  werden  mufs,  möglichst  lebbar  zu  machen,  aus  dem- 
selben die  seinem  ruhigen  Verlaufe  etwa  sich  entgegenstellenden 
Hindernisse  zu  entfernen  und  es  zu  einem  denkbarst  angenehmen 
zu  gestatten.  Die  Glückseligkeit  ist  an  dieser  Stelle  nicht  Lebens- 
zweck ,  sondern  lediglich  erstrebte  Lebensform.  Ihr  gegenüber 
spielt  auch  hier  der  Fortschritt  die  Rolle  des  Mittel-,  durch  das 
jene  Form  erreicht  werden  kann.  Selbst  zu  erstrebende  definitive 
Lebensform  zu  sein,  ist  dem  Fortschritte  nicht  gegeben,  weil  er 
bei  allem  hohen  Werte  doch  den  Charakter  des  Ruhelosen,  Un- 
befriedigten und  Unbefriedigenden  an  sich  trägt  und  es  vom  Stand- 
punkte des  Lebenmüssenden  sinnlos  wäre,  einen  solchen  Zustand 
als  dauernden  zu  erstreben. 


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67 


Man  mag  also  jene  beiden  Mafsstäbe  betrachten,  von  wo 
aus  man  will,  nie  fügen  sie  sich  demselben  Rahmen.  Und  des- 
wegen durften  sie  nicht  als  gleichwertig  neben  einander  gestellt 
werden. 

Eine  eingehende  Prüfung  der  Zweckfrage  ergiebt  nun,  dafs 
alle  Teleologie  den  Zweck  des  Lebens  tiefsten  Grundes  in  der 
Glückseligkeit  suchen  mufs  und  thatsächlich  sucht,  bewufst  oder 
unbewufst,  selbst  die,  welche  unter  dem  Namen  des  praktischen 
Idealismus  als  diesen  Zweck  die  sittliche  Vollendung  oder  Voll- 
kommenheit bezeichnet  und  deshalb  zu  der  Frage  der  Glückselig- 
keit anscheinend  sich  verhält  wie  Feuer  zu  Wasser.  Wenn  mir 
das  jemand  nicht  zugeben  zu  können  vermeint,  so  möchte  ich  ihn 
um  etwas  Geduld  bitten;  vielleicht  gelingt  es  mir  noch,  ihn  zu 
überzeugen.  —  Welche  ausschlaggebende  Rolle  der  Glückseligkeit 
für  die  Beurteilung  des  Lebens  vom  Erfahrungsstandpunkte  zu- 
fällt, bedarf  wohl  weiter  keiner  Erläuterung.  Die  Glückseligkeit 
ist  mithin  von  so  grofsem  Einflüsse  auf  die  Beurteilung  des  Lebens 
von  beiden  denkbaren  Betrachtungspunkten  aus,  dafs  sie  bei  dieser 
immer  in  Rücksicht  gezogen  werden  mufs,  ja  für  ein  abschliefsen- 
des  Urteil  allein  in  Rücksicht  gezogen  werden  kann. 

Diese  Erwägungen  weisen  mir  meine  Stellung  innerhalb  des 
Eudämonismus  an.  Indem  ich  dies  ausspreche,  bin  ich  darauf 
gefafst,  dafs  man  auch  mit3  zu  bedenken  geben  wird,  wie  die  eudä- 
monistischc  Anschauung  eine  tiefere  Stufe  des  Denkens  darstelle 
als  der  bereits  erwähnte  praktische  Idealismus.  Indes  vermag  ich 
die  Wahrheit  dieser  Behauptung  solange  nicht  anzuerkennen,  als 
ich  nicht  davon  überzeugt  werde,  dafs  der  Sittlichkeit  der  bean- 
spruchte »Wert  in  sich  selbst«  auch  wirklich  zukomme.  Bis  da- 
hin gestatte  man  mir,  als  das  einzige,  dem  man  mit  Aussicht  auf 
allgemeine  Zustimmung  einen  Wert  an  sich  beimessen  darf,  die 
Glückseligkeit  anzusehen.  Dafs  ich  mit  dieser  Meinung  mich  nicht 
allein  befinde,  dafür  lassen  sich  die  Belege  inmenge  herbeischaffen. 
Iiier  stehe  von  den  vielen  nur  einer:  »Das  Glück  ist  eigentlich 
der  Schlüssel  aller  unserer  Gedanken.  Jeder  sucht  es  für  sich; 
viele  suchen  es,  wenn  es  der  einzelne  nicht  erreichen  kann,  ge- 
meinsam. Es  ist  der  letzte  Grund  alles  Lernens,  Strebens,  aller 
staatlichen  und  kirchlichen  Einrichtungen.  Man  mag  den  Eudä- 
monismus schelten,  wenn  man  will.  Es  ist  aber  das  Lebensziel 
der  Menschen:  Glücklich  wollen  sie  sein,  um  jeden  Preis.«  (Hilty: 
--Glück*,  S.  I/9-)  Aufserdem  glaube  ich  eine  Form  des  Eudä- 
monismus zu  vertreten,  die  schon  um  deswillen  keinen  Rückfall 
in  die  Anschauungen  des  vorigen  Jahrhunderts  darstellt,  weil  sie 
neu  ist,  die  vielmehr  als  kräftiger  Fortschritt  auftritt  mindestens 
der  alten  Form  des  Eudämonismus  gege  nüber  und  die  auch  dem 
praktischen  Idealismus,  den  ich  keineswegs  gering  achte,  insofern 
gerecht  wird,  als  sie  dessen  Prinzip  in  sich  aufnimmt,  zudem  aber 


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-  68 


in  mehreren  Punkten,  z.  B.  in  der  Sicherheit  ihrer  Fundierung, 
denselben  übertrifft. 

2.  Die  Frage  nach  dem  Werte  des  Lebens  würde  ich  also  in 
der  Form  stellen :  Ist  die  Glückseligkeit  der  dem  Menschen  be- 
stimmte Lebenszweck  oder  die  seitens  des  Menschen  erstrebte 
Lebensform?  Mit  der  richtigen  Beantwortung  dieser  Frage  nach 
der  einen  oder  der  anderen  Seite  hin  wird  dann  zugleich  das 
Urteil  über  den  Lebenswert  ausgesprochen:  Im  ersten  Falle  ist 
das  Leben  als  Mittel  zum  Zwecke  einer  Realisierung  der  Glück- 
seligkeit die  Nebensache,  im  zweiten  die  Hauptsache,  der  sich  die 
Glückseligkeit  als  Form  unterordnet. 

Für  welche  Beantwortung  entscheiden  wir  uns? 

Wenn  man  in  Rechnung  zieht,  dafs  wir  erfahrungsgemäfs 
und  so  mit  denkbarster  Sicherheit  etwas  nur  über  das  Individual- 
leben  wissen  und  zwar  in  seiner  Beschränkung  auf  das  irdische 
Leben,  dafs  inbezug  auf  alles  übrige  uns  also  jene  Gewifsheit  ab- 
geht, weil  eine  solche  uns  zu  geben  keine  Spekulation  imstande 
ist,  und  weiter,  dafs  uns  das  Erdenleben  über  einen  etwaigen 
Zweck  desselben  keinerlei  bestätigenden  Aufschlufs  giebt,  so  kann 
man  die  Würde  einer  gesicherten  Lebensauffassung  nur  der  An- 
sicht zusprechen,  welche  die  Glückseligkeit  als  die  vom  Menschen 
erstrebte  Lebensform  ansieht. 

Daraus  folgt  für  mich,  dafs  ich  jedes  Urteil,  zu  welchem  ich 
im  Ablaufe  der  Gedankenreihe  gegenwärtiger  Arbeit  gelange,  vom 
Erfahr un «4 s Standpunkte  auszusprechen  haben  werde.  Man  sehe 
mir  dies  nach.  Ich  unterschätze  durchaus  nicht  den  Wert  der 
Spekulation.  Aber  ich  darf  sie  hier  nicht  zuworte  kommen  lassen, 
weil  ich  festen  Boden  unter  den  Füfsen  haben  und  jedem  die 
Möglichkeit  wahren  möchte,  die  Richtigkeit  der  von  mir  vorge- 
tragenen Gedanken  aufgrund  des  eigenen  Erlebens  und  Erfahrens 
zu  prüfen.  Der  Nachweis  dafür  wird  freilich  erst  noch  erbracht 
werden  müssen,  ob  es  möglich  sei,  bei  dem  zu  Leistenden  die 
Hilfe  der  Spekulation  zu  entbehren. 

3.  Wer  das  Streben  nach  Glückseligkeit  als  aussichtslos  be- 
trachtet, den  nennt  man  bekanntlich  in  dieser  Hinsicht  einen 
Pessimisten,  denjenigen,  welcher  jenem  Streben  die  Möglichkeit 
des  Erfolge.1;  zuspricht,  einen  Optimisten.  Untersuchen  wir,  ob 
auf  diesem  Gebiete  der  Pessimismus  oder  der  Optimismus  be- 
rechtigt sei. 

Der  Begriff  der  zu  erstrebenden  Glückseligkeit  hat  als  Unter- 
lage die  Glückeslosigkeit,  die  Glückesarmut,  das  Leid  des  Lebens. 

Wer  zur  richtigen  Würdigung  des  Leides  kommen  will,  mufs 
meines  Erachtens  erst  ein  Vorurteil  gründlich  verabschieden,  das 
ihm  tief  im  Blute  zu  stecken  pflegt:  die  Anschauung,  als  ob  die 
Welt  der  Menschheit  wegen  da  sei,  oder  genauer,  jedes  einzelnen 
Menschen  wegen.    Es  ist  noch  gar  nicht  lange  her,  dafs  man  allen 


iL 


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-  69 


Ernstes  annahm,  die  Sonne,  der  Mond  und  die  übrigen  Sterne 
seien  Beleuchtungsvorrichtungen  lür  die  Erde,  will  sagen,  für  den 
Herrn  der  Erde,  für  den  Menschen.  Ja  man  meinte  wohl  gar,  sie 
seien  eine  Art  optischer  Telegraphen,  welche  nicht  nur  der  Mensch- 
heit im  allgemeinen,  sondern  jedem  einzelnen  Menschen  seine 
Schicksale  verkündeten,  wenn  man  nur  die  Zeichen  zu  deuten 
verstände.  Zwar  lächelt  der  Kundige  heutigen  Tages  über  diese 
kindliche  Ansicht ;  aber  ganz  haben  wir  alle  noch  nicht  in  dieser 
Beziehung  die  Kinderschuhe  vertreten.  So  wenig  Angenehmes 
indes  für  den  Herrn  Menschen  der  Gedanke  hat,  er  mufs  aus- 
gesprochen und  mit  allen  seinen  Konsequenzen  als  Wahrheit  er- 
fafst  werden :  Mag  die  Welt  da  sein  zu  einem  Zwecke,  zu  welchem 
sie  wolle,  der  Mensch  repräsentiert  diesen  Zweck  nicht.  Damit 
soll  selbstverständlich  nicht  geleugnet  sein,  dafs  die  Welt  zu  ihrem 
übersehbaren  Teile  im  Menschen  gegenwärtig  die  » Spitze  c  ihrer 
Entwickclung  erreicht  zu  haben  scheine. 

Stellte  sich  im  Menschen  der  Zweck,  d.  h.  der  Endzweck, 
der  Welt  dar,  so  müfste  deutlich  erkennbar  alles  in  der  Weit 
nach  ihm  hin  sich  konzentrieren;  alles,  was  da  ist,  müfste  sich 
ihm  fügen  und  ihm  dienen;  seine  Gesetze  müfsten  es  sein,  die  in 
der  Natur  herrschen.  Wir  sehen  von  alledem  —  nichts.  Die 
Natur  hat  ihre  fest  bestimmten  Ordnungen  und  verzichtet  keinen 
Augenblick  zugunsten  des  oder  gar  eines  Menschen  auf  die  Durch- 
führung derselben,  sondern  setzt  diese  Durchführung  mit  unbe- 
dingter Rücksichtslosigkeit  ins  Werk.  Nirgends  sehen  wir  auch 
nur  die  geringste  Spur  davon,  dafs  die  Natur  geneigt  sei,  im 
Menschen  ihren  Herrn  anzuerkennen.  Der  Mensch  ist  ein  unend- 
lich kleines  Teilchen  der  Natur,  der  letzteren  ebenso  viel  oder  so 
wenig  wert  wie  jedes  andere  Weltteilchcn. 

Die  mannigfachen  in  der  Natur  wirkenden  Kräfte  verhalten 
sich  gegenseitig  durchaus  nach  dem  Gesetze  der  Stärke,  sonst 
vollkommen  so,  als  wäre  die  eine  für  die  andere  nicht  vorhanden. 
Und  da  macht  es  keinen  Unterschied,  ob  diese  Kräfte  in  leblosen 
Körpern  oder  in  lebenden  Wesen  wirken.  So  reifst  die  stärkere 
Säure  die  schwächere  ohne  weiteres  aus  ihrer  Verbindung ;  so 
nimmt  die  lebenskräftigere  Pflanze  der  an  dieser  Kraft  geringeren 
die  zur  Existenz  nötigen  Stoffe  weg ;  so  tötet  das  starke  Tier  das 
schwache,  das  ihm  zur  Nahrung  dienen  soll. 

In  dieses  Widerspicl  der  Kräfte  ist  auch  der  Mensch  gestellt. 
Er  wie  jedes  Lebewesen  hat  das  Bestreben,  sich  so  ausleben  zu 
können,  wie  es  seiner  Natur  angemessen  ist.  Da  findet  er  um 
sich  herum  mancherlei,  was  dieses  Bestreben  zu  fördern  imstande 
ist,  vieles  auch,  was  dasselbe  hindert.  Er  als  fühlendes  Wesen 
bleibt  dabei  innerlich  nicht  unberührt.  Das  Fördernde  wird  ihm 
zum  Angenehmen,  das  Hindernde  zum  Unangenehmen.  Das  erstere 


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7o  — 


gewährt  ihm  Freude ;  das  andere  verursacht  ihm  Leid.  Das  erstere 
schätzt  er  als  Glück,  das  andere  als  Unglück. 

Wie  beides  auf  die  einzelnen  Menschen  verteilt  ist,  bleibt 
hier  aufser  Betracht.  An  dieser  Stelle  haben  wir  es  mit  der  Er- 
forschung des  Durchschnittszustandes  zu  thun. 

Ob  die  Gefühle  des  Angenehmen  und  besonders  des  Unan- 
genehmen mehr  an  der  Oberfläche  bleiben  oder  ob  sie  tief  gehen 
und  zu  gleicher  Zeit  ein  weiteres  Bereich  des  seelischen  Lebens 
unter  ihren  Einflufs  bringen,  das  hängt,  abgesehen  von  dem  Ver- 
hältnisse der  Stärke  jener  Einwirkung  zur  Widerstandskraft  des 
Menschen,  wesentlich  von  der  Anschauung  und  Auffassung  der 
Weltstellung  des  Menschen  ab,  von  der  soeben  die  Rede  war. 

Der  Eindruck  eines  widrigen  Geschehnisses  auf  einen  Menschen, 
der  sich  tür  den  Mittelpunkt  der  Welt  hält,  ist  ein  ganz  anderer 
als  auf  einen,  der  über  diese  Stellung  zur  Klarheit  gekommen  ist 
und  sie  in  dem  von  mir  oben  entwickelten  Sinne  aufiafst.  Der 
erstere  wird  alles  Widrige  als  einen  Eingriff  in  seine  Herrscher- 
stellung betrachten,  gewissermafsen  als  eine  ihm  zugefügte  persön- 
liche Beleidigung;  der  andere  läfst  sich  nicht  übermäfsig  stark 
davon  treffen  und  findet  sich  damit  ab,  so  gut  es  geht.  Für  den 
ersteren  gestaltet  sich  alles  Unangenehme  zum  > Leiden«;  für  den 
anderen  ist  es  nur  unangenehm.  Was  der  erstere  für  ein  grofses, 
ihn  niederschmetterndes  Unglück  hält,  das  ist  dem  anderen  eine 
Sache,  die  nicht  gerade  geringe  Anforderungen  an  seine  Wider- 
standsfähigkeit stellt,  die  aber  ertragen  werden  mufs  und  des- 
wegen ertragen  wird.  Dem  ersteren  ist  die  Erde  ein  Jammerthal, 
dem  anderen  ein  Ort,  auf  welchem  zwar  nicht  alles  geht,  wie  es 
zu  wünschen  wäre,  auf  dem  es  sich  aber  im  grofsen  und  ganzen 
leben  läfst. 

Wenn  wir  nun  beide  bezüglich  ihrer  Anschauungen  klassi- 
fizieren sollen,  so  kommen  wir  hinsichtlich  des  zweiten  in  Ver- 
legenheit. Zu  den  Pessimisten  gehört  er  sicher  nicht,  aber  auch 
nicht  zu  den  Optimisten.  Die  Frage,  ob  Leid  oder  Freude  im 
Leben  überschiefst,  ob  die  gegenwärtige  Welt  die  beste  oder  die 
schlechteste  ist,  existiert  für  ihn  gar  nicht.  Dafs  es  möglich  ist, 
in  ihr  zu  leben,  beweist  ihm  sein  eigenes  Dasein,  und  damit 
genug.  Er  lebt  eben  und  findet  sich  mit  den  Hindernissen  des 
Lebens  ab  wie  ein  guter  Soldat,  der  nach  bestem  Wissen  und 
Können  das  ihm  Übertragene  ausführt,  ohne  weitere  Reflexionen 
daran  zu  knüpfen.  Er  ist  einfach  ein  Mann  der  Pflicht.  Der 
erste  indes  trägt  alle  Kennzeichen  eines  echten  Pessimisten 
an  sich. 

Wessen  Stellung  ist  nun  die  richtige  ? 

Ganz  abgesehen  davon,  was  das  Praktischere  sein  möchte, 
müssen  wir  die  Lebensanschauung  des  ersteren  darum  eine  unzu- 


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-    7i  - 


treffende  nennen,  weil  die  Quelle,  aus  der  sie  fliefst,  als  eine 
trügerische  sich  erweist. 

Diese  Lebensanschauung  aber  giebt  den  Boden  ab,  in  welchem 
.  tiefsten    Grundes    aller    eudämonistische    Pessimismus  wurzelt. 
Letzterer  ist  also  schon  deshalb  zu  verwerfen,   weil  er  aus  einer 
grundfalschen  Auffassung  der  Weltstellung   des  Menschen  ent- 
springt. 

Kurz  mag  auch  erwähnt  werden,  wie  der  körperliche  und 
seelische  Zustand  demselben  Geschehnisse  bezüglich  seiner  Wirkung 
auf  den  Menschen  einen  ganz  verschiedenen  Charakter  geben 
kann.  Was  in  gedrückter  Stimmung  zur  schweren  Bürde  wird, 
das  fühlt  man  bei  Gesundheit  des  Leibes  und  gehobenen  Geistes 
entweder  gar  nicht  oder  erträgt  es  doch  mit  Leichtigkeit.  Zudem 
mag  darauf  hingewiesen  werden,  dafs  es  vor  allem  das  Unge- 
wöhnte vonseiten  des  Leides  (und  der  Freude)  ist,  was  den 
Menschen  tief  berührt. 

Aber  nicht  nur  die  subjektive  Stellung  zu  dem,  was  man 
>Leid<  nennt,  kommt  bei  der  Beurteilung  des  Pessimismus  in- 
betracht,  sondern  auch,  und  zwar  fast  noch  mehr,  die  objektive, 
d.  h.  diejenige,  bei  welcher  es  sich  um  die  Möglichkeit  oder  Un- 
möglichkeit handelt,  dem  Leide  zu  entrinnen.  Die  Möglichkeit 
bis  zu  einem  hohen  Grade  läfst  sich  leicht  erweisen.  Wer  die 
Unmöglichkeit  behauptet,  mufs  seine  Augen  vor  dem  verschliefsen, 
was  auf  der  Hand  liegt. 

Erstens  sucht  alles  Lebende,  und  gewifs  nicht  ohne  Erfolg, 
den  widrigen  Geschehnissen  gegenüber  sich  zu  stärken  und  wider- 
standsfähiger zu  machen.  So  klammert  sich  der  vom  Sturme  oft 
geschüttelte  und  mit  dem  Umstürze  bedrohte  Baum  mit  seinen 
Wurzeln  fest  und  fester  in  den  Boden  ein.  Und  der  Mensch  ver- 
fährt natürlich  ebenso.  Um  den  Unbilden  der  Witterung  besser 
widerstehen  zu  können,  härtet  er  z.  B.  seinen  Körper  durch  Baden 
in  kaltem  Wasser  ab. 

Zweitens  trachtet  alles  Lebende,  ebenfalls  mit  Erfolg,  danach, 
vor  widrigen  Einflüssen  sich  zu  bergen,  soweit  es  geht.  Das  Wild 
sucht  Höhlen  und  dichtes  Gesträuch  auf,  um  sich  vor  Regen, 
Schnee  und  kaltem  Winde  zu  schützen.  Der  Mensch  baut  sich 
Wohnungen  und  verschliefst  die  Öffnungen  derselben  durch  Thüren 
und  Fenster. 

Drittens  gelingt  es  der  Tier-  und  der  Menschcnwelt,  die 
Naturkräfte  in  ihren  Dienst  zu  nehmen.  So  benutzen  die  Zug- 
vögel ihnen  günstige  Luftströmungen  zur  Unterstützung  ihres 
Fluges  beim  Wandern.  Und  wie  der  Mensch  Wind  und  Wasser, 
Dampf  und  Elektrizität  und  was  noch  sonst  alles  sich  dienstbar 
zu  machen  gewufst  hat,  das  lehrt  ein  jeder  Blick  ins  tägliche 
Leben.  Diese  Dienstbarmachung  der  Naturkräfte  erstreckt  sich 
sogar  auf  die  unter  gewöhnlichen  Umständen  feindlichen  und  ge- 


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fährlichen.  So  kreuzt  der  Seemann  gegen  widrigen  Wind  auf  und 
veranlafst  denselben  auf  diese  Weise,  das  Schiff  sich  entgegen  zu 
treiben.    So  benutzt  der  Aizt  die  Gifte  als  Heilmittel. 

Bisher  hat  es  sich  um  das  Leid  gehandelt,  das  dem  Menschen 
durch  die  blind  wirkenden  Naturkräfte  zugefügt  wird.  Wir  haben 
gesehen,  dafs  sich  dasselbe  keineswegs  als  ein  solches  darstellt» 
dem  man  nicht  begegnen  könnte.  Praktische  Erfahrung  und  Ge- 
wandtheit, sowie  theoretisches  Wissen  sind  es  hier,  die  leidver- 
mindernd so  entschieden  wirken,  dafs  bei  bestimmt  zu  erwarten- 
den weiteren  Fortschritten  derselben  das  sogenannte  Leid  auf  ein 
verschwindendes  Minimum  beschränkt  wird. 

Doch  bei  weitem  nicht  alles  Leid  widerfährt  uns  durch  die 
Naturkräfte.    Ein  nicht   geringer  Teil  desselben,   und  gerade  der 
am  unangenehmsten  empfundene,   wird   uns  durch  unsere  Mit- 
menschen zugefügt.    Stellte   sich  nun   schon   das  vorige  als  ein 
solches  dar,  dorn  zu  entrinnen  ist,  so  dieses  erst  recht.    An  dem 
Wesen  der  Naturkräfte  ist  nichts  zu  ändern ;  das  des  Menschen 
zeigt  sich  als  im   hohen  Grade  abänderbar.    Für  die  Menschen 
liegt  die  Möglichkeit  durchaus  vor,   von  ihrer  natürlichen  Rück- 
sichtslosigkeit, die  ihnen  als  Naturwesen  ursprünglich  ebenso  eigen 
ist  wie  allen   übrigen  Naturkörpern  mit  den  in  ihnen  wirkenden 
Kräften,   zu   lassen  und  überzugehen  zur  Rücksichtsnahme,  zum 
Wohlwollen,  aus  Naturwesen  zu  Vernunftwesen  zu  werden.  Und 
war  es  vorhin  Erfahrung  und  Wissen,  was  wir  als  leidvermindernd 
erkannten,  so  tritt  uns  hier  das  sittliche  Verhalten  der  Menschen 
zu  einander  als  geradezu  leiderlösend   entgegen.    Denn  vermag 
uns  Erfahrung  und  Wissen  bezüglich  der  Naturkräfte  im  günstigen 
Falle  nur  auf  ein  Minimum  des  Leides  zu   bringen,   ganz  ver- 
schwinden kann  das  Leid  solange  nicht,  als  wir  noch  im  Leibe 
wallen  und  somit  zu  diesem  Teile  den  Naturgesetzen  unterworfen 
sind,  z.  B.   dem  des  Veigehens,  wenn  letzteres  überhaupt  ein 
Leiden  ist.    Nichts  hindert  uns  aber,  einen  Fortschritt  der  Mensch- 
heit auf  dem  Gebiete  der  Sittlichkeit  bis  zu  dem  Punkte  für  mög- 
lich zu  halfen,  dafs   ihre  Glieder  in   reinem  vernünftigen  Wohl- 
wollen und  so  nach  dieser  Seite  hin  wirklich   leidlos  zusammen 
leben.    Zwar  gegenwärtig  scheinen  wir  noch  ziemlich  weit  von 
diesem  Ziele  entfernt  zu  sein.    Indes  lehrt  ein  kundiger  Blick  in 
die  Geschichte  der  Menschheit,  dafs  trotz  aller  Rückfälle  im  ein- 
zelnen es  im  allgemeinen  mit  der  Sittlichkeit  aufwärts  geht.  Mögen 
die  Schritte  klein  sein,  sie  werden  doch  gethan. 

Aus  dem  letzten  Abschnitte  aber  ergiebt  sich  zweierlei: 
erstens,  dafs  das  Streben  nach  Glückseligkeit  nicht  etwas  der 
Sittlichkeit  Feindliches  ist,  wie  vielfach  besonders  von  dem 
Trachten  nach  eigener  Glückseligkeit  behauptet  wird,  sondern  dafs 
dieses  Streben  die  Sittlichkeit  unausweichlich  fordert,  zweitens, 
dafs  in   dieser  Forderung  der  zwingende  Grund   für  die  Ver- 


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pflichtung  der  Menschheit  im  allgemeinen  und  jedes  Menschen  im 
besonderen  zur  Sittlichkeit  liegt. 

Es  sei  mir  zwischendurch  erlaubt,  hervorzuheben,  dafs  wir 
zu  jener  Form  des  Fudämonismus,  auf  die  ich  oben  als  auf  die 
von  mir  vertretene  neue  hindeutete,  hier  nun  gelangt  sind,  dem  alten 
egoistischen,  unsittlichen  gegenüber  zum  neuen  vernünftigen, 
sittlichen.  Würde  es  sich  darum  handeln,  den  beiden  Arten 
des  Eudämonismus  einen  kurzen,  knappen  Namen  beizulegen,  so 
möchte  ich  mich  dahin  entscheiden,  den  alten  den  des  Habens, 
den  neuen  den  des  Seins  zu  nennen,  obgleich  ich  mir  dessen 
wohl  bewufst  bin,  dafs  diese  Bezeichnungen  als  nicht  ganz  ein- 
wandsfrei  sich  darstellen  um  deswillen,  weil  sich  die  Begriffe 
»haben«  und  >sein«  nicht  rein  genug  von  einander  scheiden.  Wie 
man  das  Haben  von  Geld  ein  Rcichsein  nennen  kann,  so  läfst 
sich  das  Klugsein  als  ein  Haben  von  Klugheit  ansehen.  Und  doch 
glaube  ich  die  Ausdrücke  aus  folgendem  Grunde  festhalten  zu 
dürfen :  Die  beiden  Arten  des  Eudämonismus  unterscheiden  sich 
am  kenntlichsten  darin,  dafs  die  eine  in  der  Erwerbung  von 
Gütern  des  äufsern.  die  andere  in  der  von  solchen  des  innern 
Besitzes  ihre  Erfüllung  sucht.  Das  Wesen  des  Menschen  wirklich 
nachhaltig  zu  beeinflussen,  tiefstinnerlich  zu  ergreifen  und  umzu- 
gestalten, zu  heben  und  zu  veredeln,  ist  aber  die  Erwerbung  von 
Gütern  nur  der  letzteren  Art  imstande.  Unter  diesem  Gesichts- 
punkte wird  man  die  Wahl  der  obigen  Bezeichnungen  nicht  ganz 
unzutreffend  finden. 

Wenn  wir  nun  das  bisher  Gesagte  noch  einmal  an  uns  vor- 
übergehen lassen,  so  werden  wir  zu  der  Überzeugung  kommen 
müssen,  dafs  der  eudämonistische  Pessimismus  nicht  nur  deshalb 
zu  verwerfen  ist,  weil  er  einer  falschen  Anschauung  sein  Ent- 
stehen verdankt,  sondern  nun  weiter  auch  deswegen,  weil  zur 
pessimistischen  Auffassung  der  Leidfrage  jedweder  Grund  mangelt 
sowohl  nach  der  subjektiven,  als  auch  nach  der  objektiven  Seite 
hin,  ja  dafs  wir  nicht  einmal  auf  dem  der  erstcren  Seite  gegen- 
über eingenommenen,  nahe  bei  der  Indifferenz  liegenden  Stand- 
punkte ausharren  dürfen,  sondern  dafs  die  Erwägungen  nach  der 
zweiten  Seite  hin  uns  zu  einer  entschieden  optimistischen  An- 
schauung nötigen. 

Und  somit  habe  ich  dann  den  von  mir  erstrebten  sicheren 
Standpunkt  der  Beurteilung  gewonnen,  und  zwar  im  »eudä- 
monistischen  Optimismus«.  - — 

Auf  diesem  Standpunkte  angelangt,  will  ich  es  unternehmen, 
die  Ansichten  E.  v.  H.s  einer  Prüfung  zu  unterwerfen.  Eine  eigen- 
tümliche Fügung  will  es,  dafs  letzteres  gerade  von  der  Lebens- 
anschauung aus  geschieht,  welche  E.  v.  II.  als  vollständig  unhalt- 
und  unbrauchbar  bezeichnet. 


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^ 


i 

I.  -  *  - 

I  " 

4.  Mit  den  metaphysischen  Erörterungen  E.  v.  H.s,  die  aller- 
dings nicht  ohne  allen  Einflufs  auf  die  Stellung  desselben  zur  Leid- 
frage bleiben,  mich  zu  beschäftigen,  darf  ich  nicht  Veranlassung 
nehmen  erstens  aus  dem  Grunde,  weil  solche  Beschäftigung  ins 
endlose  Weite  sich  dehnen  und  doch  zu  keinem  nennenswerten 
Ergebnisse  führen  würde,  denn  man  kann  über  solche  Sachen 
wohl  viel  streiten,  aber  wenig  ausmachen,  zweitens  darum,  weil 
mir  mein  Beurteilungsstandpunkt  die  Verpflichtung  auterlegt,  diese 
Erörterungen  beiseite  zu  lassen. 

Auch  bezüglich  der  wirklich  zu  beurteilenden  Darlegungen 
E.  v.  H.s  werde  ich  aus  Rücksicht  auf  den  mir  zugebote  stehen- 
den Raum  mich  beschränken  müssen,  und  zwar  mit  Ausnahme 
eines  Falles  auf  das,  was  in  der  oben  genannten  Abhandlung 
seinen  Ausdruck  findet.  — 

Wir  erinnern  uns,  dafs  E.  v.  H.  bezüglich  des  Eudämonismus 
pessimistischen  Anschauungen  huldigt, 

Aus  den  Gedanken,  in  welchen  er  diese  darlegt,  werde  ich 
nur  wenige  der  wichtigsten  herausgreifen.  Es  wird  des  mehreren 
nicht  bedürfen. 

Die  Ausführungen  E.  v.  H.s  zeigen  deutlich  ein  doppeltes 
Bestreben :  erstlich,  das  für  feindlich  gehaltene  Prinzip  des  eudä- 
monistischen  Optimismus  als  unmöglich  hinzustellen,  zweitens,  an 
dessen  Stelle  den  eudämonistischen  (oder  »eudämonologischen«, 
wie  E.  v.  H.  mit  einer  geringen  Änderung  des  Begriffes  sagt) 
Pessimismus  einzuführen  und  demselben  Anhänger  zu  gewinnen. 

In  ersterer  Richtung  läfst  er  sich  Seite  145  so  vernehmen: 
>Hat  der  eudämonologische  Optimismus  recht,  so  hat  der  Eudä- 
monismus unzweifelhaft  das  letzte  Wort  in  der  praktischen  Philo- 
sophie und  läfst  keinen  Raum  übrig  für  eine  autonome  Moral,  die 
nicht  eudämonistisch  wäre,  so  ist  die  Behauptung  einer  echten 
Moral  dieser  unechten  gegenüber  psychologisch  grundlos.« 

Ich  nehme  zunächst  Notiz  von  dem  Zugeständnis,  dafs  dem 
Eudämonismus  in  der  praktischen  Philosophie  unzweifelhaft  das 
letzte  Wort  gebühre,  falls  der  eudämonologische  Optimismus  recht 
habe.  Dieses  Recht  glaube  ich  unantastbar  nachgewiesen  zu  haben 
und  schreibe  nun  dankend  jenes  Zugeständnis  mir  zu  gut. 

Angesichts  des  Wortes,  dafs  der  Eudämonismus  keinen  Raum 
übrig  lasse  für  eine  autonome  Moral,  die  nicht  eudämonistisch 
wäre,  habe  ich  geltend  zu  machen,  dafs  innerhalb  des  Eudämonis- 
mus im  Sinne  E.  v.  H.s,  also  im  egoistischen,  eine  autonome 
Moral  überhaupt  unmöglich  ist.  Die  Begründung  der  Behauptung, 
der  Eudämonismus  sei  zum  Prinzipe  der  Sittlichkeit  unbrauchbar, 
wird  gewöhnlich  kurz  auf  folgende  Weise  geliefert:  Der  Begriff 
des  Glückes  sei  ein  so  schwankender,  dafs  auf  denselben  nichts 


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gebaut  werden  dürfe.  Was  den  einen  glücklich  mache,  sei  dem 
andern  gleichgiltig  oder  wohl  gar  zuwider,  und  was  jemanden 
heute  beglücke,  lasse  ihn  morgen  kalt  und  widerstehe  ihm  über- 
morgen. Dafs  das  Gute  diesen  Wechsel  nicht  mitmachen  dürfe, 
sondern  unveränderlich  in  seiner  Würde  beharren  müsse,  sei  hand- 
greiflich. Vor  allem  aber  liege  für  diesen  Fall  das  Gute  nicht  im 
Menschen  selber,  sondern  in  den  glücklich  machenden  Gegen- 
ständen, t—  Wer  diese  Ausführung  für  richtig  ansieht,  und  das 
geschieht  seitens  E.  v.  H.s  sicher,  dem  enthält  sie  den  Beleg  für 
zweierlei:  einmal  dafür,  dafs  keine  wirkliche  Moral  egoistisch  eudä- 
monistisch  sein  darf,  sodann  dafür,  was  meinerseits  bewiesen 
werden  sollte,  dafs  die  egoistisch  eudämonistische  Moral  nicht 
autonom  sein  kann.  . 

Würde  nun  der  Beweis  geliefert,  dafs  es  einen  andern  Eudä- 
monismus  nicht  gäbe  als  den  egoistischen,  so  wäre  allerdings  über 
den  Eudämonismus  als  Moralprinzip  der  Stab  gebrochen,  und 
E.  v.  H.  hätte  recht,  dafs  die  Behauptung  einer  echten  Moral  der 
unechten  des  Eudämonismus  gegenüber  grundlos  sei. 

Allein  jener  Beweis  ist  meines  Wissens  nie  von  jemandem 
erbracht,  ja  wohl  nicht  einmal  zu  erbringen  versucht  worden. 
Auch  ohne  denselben  hielt  man  die  Sache  für  ausgemacht,  hatte 
in  seinem  berechtigten  Hasse  gegen  den  falschen  Eudämonismus 
keinen  Blick  für  einen  etwaigen  richtigen  und  schüttete  so  das 
Kind  mit  dem  Bade  aus. 

Ich  dagegen  darf  wohl  für  mich  in  Anspruch  nehmen,  nach- 
gewiesen zu  haben,  dafs  es  neben  dem  unechten,  egoistischen 
Eudämonismus  einen  echten,  sittlichen  giebt,  der  seiner  ganzen 
Natur  nach  ebenso  geeignet  ist,  das  Prinzip  einer  autonomen 
Moral  zu  bilden,  wie  der  andere  unbrauchbar  sich  zeigt. 

Von  dem  eudämonologischen  Optimismus  behauptet  E.  v.  H. 
ferner  auf  Seite  148,  dieser  sei  ebenso  untrennbar  verknüpft  mit 
Egoismus,  Utilitarismus  und  praktischem  Materialismus,  wie  Pessi- 
mismus mit  Selbstverleugnung  und  Idealismus.  Ich  dagegen  hoffe 
gezeigt  zu  haben,  dafs  der  Eudämonismus,  freilich  der  echte,  mit 
der  Sittlichkeit  so  untrennbar  verbunden  ist,  dafs  er/ohne  dieselbe 
nicht  bestehen  kann,  wie  anderseits  die  Sittlichkeit  im  Eudämonis- 
mus ihre  eigentliche  Begründung  findet.  Und  was  ich  unter  Sitt- 
lichkeit verstehe,  möchte  ungefähr  das  Gegenteil  von  Egoismus, 
Utilitarismus  und  praktischem  Materialismus  sein,  wenn  ich  sie 
auch  nicht  für  identisch  halte  mit  Selbstverleugnung  und  Idealis- 
mus. Welchen  Inhalt  ich  dem  Begriffe  »Sittlichkeit«  gebe,  deutete 
ich  oben  zu  kurz  an,  um  nicht  mich  verpflichtet  zu  fühlen,  hier 
noch  mit  einigen  Worten  darauf  einzugehen.  Ich  habe  die  Sitt- 
lichkeit in  den  Dienst  der  Glückseligkeit  gestellt  und  von  ihr  ver- 
langt, das  gegenseitige  Verhalten  der  Menschen  so  zu  gestalten, 
dafs  aus  dem  Lebenswege  eines  jeden  die  Hemmnisse  möglichst 


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entfernt,  die  förderlichen  Kräfte  zur  denkbarsten  Entfaltung  ge- 
bracht werden.  Das  aber  setzt  bei  jedem  einzelnen  Menschen 
zweierlei  voraus:  Vernunft  und  Wohlwollen.  Und  diese  beiden 
Stücke,  die  eigentlich  eins  sind,  bilden  denn  auch  für  mich  den 
Inbegriff  der  Sittlichkeit.  Des  weiteren  habe  ich  mich  an  einem 
anderen  Orte  darüber  ausgesprochen.  —  Wie  übrigens  der  Pessi- 
mismus v.  Hartmanns  dazu  kommt,  mit  Selbstverleugnung  und 
Idealismus  untrennbar  verknüpft  zu  sein,  ist  mir  nicht  zum  Ver- 
ständnisse gelangt.  — 

Indem  ich  nun  zu  der  Beleuchtung  einiger  der  Stellen  über- 
gehe, in  denen  K.  v.  H.  seinen  eudämonologischen  Pessimismus 
vertritt,  möchte  ich  zuvörderst  darauf  hinweisen,  dafs  er  in  einer 
seiner  Schriften  den  Versuch  gemacht  hat,  für  die  Richtigkeit 
seiner  Meinung  einen  sicheren  Gewährsmann  zu  stellen,  und  zwar 
keinen  geringeren  als  Kant,  den  er  djn  »Vater  des  eudämono- 
logischen Pessimismus*  nennt.  So  wenig  Wichtigkeit  ich  auch 
diesem  Versuche,  selbst  wenn  er  gelungen  sein  sollte,  beimessen 
kann,  so  sei  es  mir  doch  erlaubt,  dem  Reize  nachzugeben  und 
etwas  Ähnliches  zu  unternehmen,  Kant  frischweg  auch  für  mich 
zu  reklamieren  und  ihm  den  Namen  beizulegen:  ^  Vater  des  eudä- 
monologischen Optimismus  v.  Der  Beweis  für  die  Richtigkeit 
dieses  Vorgehens  soll  mir  kaum  so  schwer  werden,  als  E.  v.  H. 
der  seinige  geworden  ist. 

Kants  Kampf  gegen  den  Eudämonismus  hat  sich  bekanntlich 
so  gestaltet,  dafs  dieser  Philosoph  nachgewiesen  hat,  wie  das 
natürliche  Verhalten  der  Menschen  zu  einander,  der  Egoismus, 
<las  Herausfliefsenlassen  des  Thuns  aus  den  sinnlichen  Gelüsten, 
in  sich  widersprechend  sei.  E.  v.  H.  drückt  das  Seite  146  so 
aus:  »Aller  Egoismus,  wofern  er  sieh  nur  rein  und  voll  auslebt, 
endet  mit  seinem  eudämonologischen  Bankerotte."  Dann  finden 
beide  wohl  ungeteilte  Zustimmung.  Auch  wir  haben  ja  oben  ge- 
sehen, dafs  auf  diesem  Wege  der  Eudämonismus  nicht  zum  Ziele 
kommen  kann.  Wenn  nun  Kant  dem  gegenüber  vom  Menschen 
ein  sittliches  Verhalten  verlangt,  ein  Verhalten,  bei  welchem  das 
Thun  durch  den  vernünftigen  Willen  veranlafst  wird,  so  hat  er 
damit  nicht  mehr,  aber  auch  nicht  weniger  gethan,  als  den  wich- 
tigsten Teil  des  richtigen  Weges  zur  Glückseligkeit  angegeben. 
Und  da  stellt  es  sich  dann  heraus,  dafs  Kant,  der  scheinbar 
gröfste  Gegner  des  Eudämonismus,  in  Wirklichkeit,  freilich  »un- 
bewufst«,  Eudämonist  gewesen  ist.  d.  h.  Gegner  des  falschen, 
unsittlichen,  Anhänger  des  richtigen,  sittlichen  Eudämonismus. 
Und  von  hier  aus  bekommt  nun  sein  Prinzip  der  Ethik,  der  gute 
Wille,  von  dem  er  behauptet,  dafs  er  seinen  Wert  in  sich  trage, 
erst  seine  tiefe  Begründung  als  des  förderlichsten  Mittels  und 
Werkzeuges  im  Dienste  des  echten  Eudämonismus;  im  besonderen 


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werden  von  hier  aus  nun  erst  die  beiden  Formen  seines  kate- 
gorischen Imperativs  recht  verständlich. 

Hinsichtlich  der  Kernfrage  des  Pessimismus,  der  Frage  nach 
dem  Leide,  läfst  sich  E.  v.  H.  auf  Seite  139  folgendermafsen  aus: 
Das  Leid  sei  an  und  für  sich  unentrinnbar;  es  verändere  zwar 
seine  Gestalt,  könne  aber  den  Menschen  nicht  verlassen,  solange 
er  lebe;  eine  positive  Glückseligkeit  sei  dem  Menschen  auch  unter  * 
den  denkbar  günstigsten  Umständen  unerreichbar. 

Zunächst  fällt  mir  bei  diesen  Worten  die  eigentümliche 
Scheidung  ein,  die  E.  v.  H.  Seite  131  innerhalb  des  Leides  vor- 
nimmt. Er  kennt  nämlich  dort  ein  teleologisch  notwendiges  und 
ein  abstellbares  Leid.  Ich  stehe  dieser  Einteilung  ratlos  gegen- 
über, wie  folgende  Fragen  andeuten  mögen :  1 .  Darf  das  Leid  als 
^an  und  für  sich  unentrinnbar«  bezeichnet  werden,  wenn  ein 
»breiter  Betrag«  desselben  als  abstellbar  anerkannt  wird?  2.  Welches 
Leid  ist  teleologisch  notwendig,  welches  abstellbar?  3.  >Kann< 
oder  >darf«  das  teleologisch  notwendige  Leid  nicht  abgestellt 
werden?  Im  ersteren  Falle:  4.  Warum  kann  es  nicht  abgestellt 
werden,  da  es  doch  abstellbares  Leid  giebt?  Worin  liegt  der 
spezifische  Unterschied?  Im  anderen  Falle:  5.  Warum  darf  es 
nicht  abgestellt  werden,  wenn  die  Möglichkeit  dazu  vorliegt,  da 
doch  auf  diesem  Wege  die  Glückseligkeit  zu  erreichen  wäre? 

Sodann  wird  hier  der  Ort  sein,  zu  erwähnen,  dafs  E.  v.  H. 
bei  seiner  Behandlung  der  Leidfrage  insofern  nicht  ausführlich 
genug  zuwerke  gegangen  ist,  als  er  im  wesentlichen  nur  die 
Menge  des  Leides  inbetracht  gezogen  hat,  nicht  aber  die  innere 
Natur  desselben.  Und  das  kommt  daher,  dafs  er  die  subjektive 
Stellung  des  Menschen  zu  dem,  was  man  Leid  nennt,  nicht  ge- 
hörig würdigte.  Wie  der  Eindruck  eines  Geschehnisses  wesent- 
lich abhängig  ist  von  der  persönlichen  Stellung  des  Menschen  zu 
dem  letzteren,  habe  ich  oben  dargelegt.  Ebenso  deutete  ich  an, 
wie  der  von  irgend  einer  Idee  begeisterte  Mensch  mit  Freuden 
die  Mühsale  auf  sich  nimmt,  welche  vor  der  Verwirklichung  dieser 
Idee  überwunden  werden  müssen.  Gewifs  hatte  der  Professor 
Lazarus  recht,  wenn  er  auf  der  Magdeburger  Versammlung  sagte: 
«Es  giebt  einzelne  Momente  im  Leben,  welche  von  einer  so  er- 
habenen uhd  gediegenen  Wcrtfülle  sind,  dafs  sie  viele  Jahre  des 
Leides  aufwiegen  können ;  ja  es  giebt  einzelne  Gesinnungs- 
momente, vermöge  deren  ein  Mensch  alles  Leid  der  Welt  auf 
sich  nehmen  möchte  und  sich  vollkommen  beglückt  fühlt.«  » 

Eingehend  endlich  auf  die  zitierten  Worte  von  der  »Unent- 
rinnbarkeit* des  Leides,  mufs  ich  wiederholen,  dafs  es  mit  der 
Möglichkeit,  dem  Leide  zu  entrinnen,  lange  nicht  so  schlimm 
steht,  wie  es  nach  den  Worten  E.  v.  H.s  scheinen  könnte.  Da  nun 
die  von  mir  nach  dieser  Seite  hin  angestellten  Erörterungen  zu 
nahe  liegen,  als  dafs  nicht  angenommen  werden  müfste,  dieselben 


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wären  auch  von  E.  v.  H.  in  Rücksicht  gezogen  worden,  so  drängt 
sich  die  Frage  auf:  Woher  das  wesentlich  andere  Ergebnis? 

Ich  glaube  den  Grund  dafür  und  somit  für  die  ganze  merk- 
würdige Stellung  E.  v.  H.s  zu  erkennen.  Er  liegt  in  einem 
Rechenfehler,  und  zwar  insofern,  als  E.  v.  H.  bei  der  Frage  nach 
dem  Glücke  'geradezu  ausschliefslich  das  Leid  inbetracht  zieht. 
Für  ihn  ist  von  Glück  erst  dann  die  Rede,  wenn  das  Leid  voll- 
ständig verschwunden  ist.  Es  besteht  nur  in  der  Leidlosigkeit, 
hat  also  lediglich  negativen  Charakter.  Von  diesem  Standpunkte 
aus  will  das  Wort  beurteilt  und  verstanden  sein:  »Eine  positive 
Glückseligkeit  ist  dem  Menschen  auch  unter  den  denkbar  glück- 
lichsten Umständen  unerreichbar.«  Eine  wahrhaft  trostlose  An- 
und  Aussicht !  Wäre  sie  berechtigt,  so  müfsten  wir  alle  unrettbar 
und  unweigerlich  dem  Pessimismus  verfallen,  aus  dem  herauszu- 
ziehen wahrscheinlich  keinem  Optimismus  irgend  welcher  Art,  und 
wäre  es  der  Hartmannsche  evolutionistische,  gelingen  würde.  Aber 
glücklicherweise  ist  sie  eben  ein  —  Fehler. 

Hat  denn  E.  v.  H.  nie  etwas  von  glücklichen  Menschen  ge- 
hört? Da  ist  ja  Glück,  positives  Glück!  Will  er  etwa  behaupten, 
dasselbe  beruhe  auf  Täuschung,  auf  nichts  als  auf  Täuchung? 
Sieht  er  denn  nicht  im  Menschenleben  neben  dem  Hinderlichen 
auch  die  Menge  des  dieses  Leben  positiv  Fördernden,  das  sowohl 
durch  die  Naturkräfte,  als  ganz  besonders  durch  die  Macht,  welche 
das  sittliche  Verhalten  der  Menschen  zu  einander  erzeugt,  dar- 
geboten wird  ?  Wahrscheinlich  nicht.  Denn  sähe  er  es,  er  würde 
merken,  dafs  bei  der  Glückesrechnung  nicht  der  Ansatz  (+  o)  — 
(+  y)  richtig  ist,  sondern  allein  der:  (-}-  x)  —  (-f-  y)*)-  Und 
von  diesem  würde  er  gewifs  nicht  behaupten,  dafs  sich  unter  allen 
Umständen  eine  Minusgröfse  ergäbe.  Zeitweilig  bei  den  einzelnen 
Menschen  wird  dies  zwar  oft  der  Fall  sein;  nun,  dafür  kommen 
andere  Zeiten,  in  denen  die  Rechnung  das  entgegengesetzte 
Resultat  ergiebt.  Im  Durchschnitte  des  einzelnen  Menschenlebens 
mag  es  hier  und  da  vorkommen  ;  stofsen  einem  doch  Menschen 
auf,  die  vom  Unglücke  verfolgt  scheinen.  Für  den  Durchschnitt 
des  Lebens  der  Menschheit  im  allgemeinen  gilt  es  sicher  nicht 
oder  braucht  es  wenigstens,  recht  angesehen  (s.  nächst.  Abschn.), 
nicht  zu  gelten.  Und  dann  vergessen  wir  doch  nicht,  dafs  die 
Menschheit  von  heute  und  morgen  noch  nicht  auf  der  Höhe  der 
Entwickelung  steht !  Letztere  aber  ist  doppeltwirkend.  Mit  der 
Verminderung  des  Leides  geht  Hand  in  Hand  eine  positive  Ver- 
mehrung der  Freude,  des  Glückes.  Und  deshalb  dürfen  wir  ver- 
trauensvoll  in  die  Zukunft  blicken.    Das  Ziel   der  Entwickelung 


*)  x  =  Summe  des  Fördernden, 
y  =  Summe  des  Hinderlichen. 


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-    79  - 


unseres  Geschlechtes  liegt  nicht  unter  Null,  auch  nicht  bei  Null 
sondern  stellt  eine  gewichtige  positive  Zahl  dar. 

Freilich  bezüglich  der  Entwickelung  ist  E.  v.  H.  wieder  ganz 
anderer  Ansicht  als  ich.  Er  giebt  letzterer  in  der  Form  Ausdruck 
(S.  130):  >  Aller  Fortschritt,  auch  wenn  er  gewisse  Arten  des 
Leides  abstellt,  mufs  immer  und  unvermeidlich  mit  Steigerung 
der  Unlust  im  Ganzen  bezahlt  werden.«  Bei  diesen  Worten  läuft 
E.  v.  H.  ein  weiterer  Fehler  unter,  indem  der  Begriff  > Fortschritt«, 
sowie  der  mit  diesem  zusammenhängende  >  Kultur«  als  mit  un- 
richtigem Inhalte  erfüllt  sich  zeigt. 

Ich  will  zunächst  darthun,  was  ich  unter  Fortschritt  und 
Kultur  verstehe,  und  dann  das  dagegen  halten,  was  E.  v.  H.  so 
nennt. 

Nur  das  Schreiten  vermag  ich  als  ein  Fortschreiten  anzusehen, 
das  den  Menschen  weiter  bringt  auf  dem  Wege  zu  seinem  Lebens- 
ziele, der  Glückseligkeit.  Es  ist  uns  auch  dasjenige  schon  be- 
kannt geworden,  was  allein  geeignet  sich  zeigt,  den  Menschen 
diesen  Pfad  zu  führen :  bezüglich  der  Naturverhältnisse  vermehrte 
Kenntnis  und  praktische  Tüchtigkeit,  sowie  hinsichtlich  des  Ver- 
hältnisses zu  unseren  Mitmenschen  vermehrte  Sittlichkeit.  »Klüger, 
tüchtiger  und  besser  werden*  ist  mithin  nach  meiner  Auffassung 
der  eigentliche  Inbegriff  des  > Fortschrittes«,  »klug,  tüchtig  und 
gut  sein«  der  richtige  Inhalt  des  Wortes  >Kultur«. 

Halten  wir  also  fest,  dafs  dieser  Inhalt  ausschlicfslich  dem 
Gebiete  des  Seins  in  dem  von  mir  oben  entwickelten  Sinne  ent- 
nommen ist.  Es  erhellt  sofort,  dals  es  als  eine  ganz  irrige  An- 
sicht bezeichnet  werden  mufs,  diese  echte  Kultur  wirke  unlust- 
steigernd ;  sie  vermehre  die  Bedürfnisse  des  Menschen,  mache  ihn 
unzufrieden  und  sei  nicht  imstande,  ihn  zum  Glücke  zu  führen, 
weil  sie  für  ein  befriedigtes  Bedürfnis  sofort  zehn  noch  zu  be- 
friedigende darbiete,  ja  dafs  nur  ein  Zurückkehren  zu  primitiven 
Zuständen  vermöge  Abhilfe  zu  schaffen. 

Was  E.  v.  II.  im  Auge  hat,  wenn  er  die  soeben  berührten 
Gedanken  ausspricht,  ist  etwas  ganz  anderes.  Für  ihn  ist  nicht 
die  Erleichterung  der  Lebensführung  in  der  von  mir  bezeichneten 
Weise  Fortschritt,  sondern  die  Vermehrung  des  Lebensgenusses. 
Er  sucht  also  die  Kultur  ganz  in  der  Art  des  alten  Eudämonis- 
mus  auf  dem  Gebiete  des  Habens  und  darf  sich  dann  freilich 
nicht  wundern,  wenn  ihn  das  Gefundene  nicht  befriedigt.  Aber 
er  soll  das,  was  er  auszusetzen  hat,  nicht  der  Kultur,  sondern 
seinem  Irrtume  in  die  Schuhe  schieben.  Unkultur  ist  nicht  Kultur, 
wie  ein  Stein  kein  Brot  ist.  Wer  aber  den  Stein  für  Brot  hält, 
der  ist  nicht  geschickt,  den  Nährwert  des  Brotes  zu  beurteilen. 
Nein;  jede  Stufe  der  wirklichen,  echten  Kultur  ist  ganz  sicher  eine 
Etappe  zur  vollen,  d.  h.  überhaupt  möglichen  Glückseligkeit  hin 


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8o  — 


und  jedes  Zurückschrauben  derselben  ebenso  sicher  ein  Rückschritt 
auch  in  eudämonistischer  Beziehung. 

Ich  türchte  nicht,  hier  Widerspruch  zu  finden.  Wer  nur  ein- 
mal das  erhebende  Gefühl  kennen  gelernt  hat,  das  vermehrtes 
Wissen  und  Können  mit  sich  führt,  und  ganz  besonders  das  be- 
seligende Gefühl,  mit  welchem  die  Förderung  in  der  Sittlichkeit 
die  Seele  erfüllt,  der  wird  den  Gedanken  weit  von  sich  weisen, 
dafs  gesteigerte  Kultur  von  einer  Steigerung  der  Unlust  im  Ganzen 
begleitet  sei.  Und  wem  könnte  es  in  den  Sinn  kommen,  ein 
Zurückschrauben  der  Kultur  zu  empfehlen!  Sollte  es  wirklich 
jemanden  geben,  der  wünschen  könnte,  dafs  die  Menschheit  im 
allgemeinen  und  er  im  besonderen  auch  nur  um  ein  Geringes 
untüchtiger,  unwissender  und  weniger  gut  wäre?  Gewifs  nicht. 
Nun,  dann  ist  das  Hinstreben  zur  untersten  Stufe  erst  recht  un- 
denkbar. Was  zurückgeschraubt,  zurückgeschnitten,  ja  ausgerottet 
werden  mufs,  das  ist  die  Unkultur,  die  Schmarotzerpflanze  am 
edlen  Baume. 

Durch  das  soeben  Gesagte  erhält  dann  auch  folgendes  Wort, 
das  ich  als  letztes  in  dieser  Richtung  zitieren  will,  seine  richtige 
Beleuchtung:  »Die  erhöhte  Bildung  rüstet  die  Menschen  nur  mit 
mehr  Ansprüchen  und  gesteigerter  Intelligenz  zu  ihrer  Befriedigung 
aus,  macht  sie  blofs  noch  genufsgieriger,  habgieriger  und  ehr- 
geiziger« (S.  147).  Wir  betreffen  Ii.  v.  H.  hier  wieder  auf  einem 
Irrtume.  Was  er  Bildung  nennt,  ist  nur  ein  Teil  derselben,  zwar 
ein  wichtiger,  aber  nicht  der  wichtigste,  die  Bildung  des  Kopfes, 
die  allerdings  bei  fehlender  Bildung  des  Herzens,  will  sagen  bei 
mangelnder  Sittlichkeit,  naturgemäfs  zu  einem  » Abgewitztsein  auf 
den  eigenen  Vorteil«  wird,  wie  Kant  sagt.  Aber  wer  hält  denn 
den  Teil  für  das  Ganze!  Hätte  E.  v.  H.  jenes  wichtigste  Stück 
der  Bildung,  eben  die  Sittlichkeit,  nicht  übersehen,  so  würde  er 
anders  geredet  haben.  Wie  nötig  die  Bildung,  natürlich  die  ganze, 
ungeteilte,  die  Bildung  des  Kopfes,  der  Hand  und  des  Herzens, 
dem  Menschen  ist  und  wie  segensreich  sie  wirkt,  möchte  auch 
dem  blödesten  Auge  klar  sein.  Sie  ist  es,  sie  allein,  die  den 
wirklichen  Kulturfortschritt  ermöglicht  bezw.  repräsentiert.  — 

5.  Bekanntlich  vergesellschaftet  sich  bei  E.  v.  H.  mit  dem 
eudämonologischen  Pessimismus  eine  zweite  Lebensauffassung, 
welche  dieser  durchaus  heterogen  ist,  der  evolutionistische  Opti- 
mismus. 

Fragen  wir  uns  zunächst,  ob  eine  solche  Vergesellschaftung 
theoretisch  möglich  und  praktisch  durchführbar  sei. 

Sie  kann  es  meines  Erachtens  nur  unter  einer  Bedingung 
sein,  unter  der,  dafs  der  eudämonologische  Pessimismus  lediglich 
als  Negation  seines  Gegenteils,  des  eudämonologischen  Optimismus, 
auftritt.  Es  liegt  dann  nur  jener  allgemein  gekannte  Fall  vor, 
dafs  von  zwei  inbetracht  kommenden  Wegen  aus  bestimmten 


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81  — 


Gründen  der  eine  (hier  der  evolutionistische  Optimismus)  gewählt, 
der  andere  (hier  der  eudämonologische  Optimismus)  gemieden 
wird.  Genau  gerechnet,  dürfte  man  dann  freilich  nicht  von  einer 
Vergesellschaftung  reden. 

So  Hegt  indes  die  Sache  bei  E.  v.  H.  nicht.  Für  ihn  ist 
auch  der  eudämonologische  Pessimismus  eine  Position,  die  sich 
mit  dem  evolutionistischen  Optimismus  verschwistert  zu  gemein- 
samem Wirken.  Bei  ihm  handelt  es  sich  also  nicht  um  das  Be- 
urteilen des  Lebenswertes  von  dem  Standpunkte  des  evolutio- 
nistischen Optimismus  und  somit  nicht  von  dem  des  eudämono- 
logischen  Optimismus,  von  welchem  Falle  wir  bereits  redeten. 
Es  handelt  sich  auch  nicht  um  die  Beurteilung  jenes  Wertes  ein- 
mal vom  Standpunkte  des  eudämonologischen  Pessimismus,  das 
andere  Mal  von  dem  des  evolutionistischen  Optimismus;  das 
wäre  noch  denk-  und  ausführbar,  gerade  wie  wenn  man  von 
jenen  zwei  inbetracht  kommenden  Wegen  jetzt  diesen,  nachher 
den  anderen  benutzte,  und  man  würde  dann  E.  v.  H.  nur  den 
Vorwurf  machen  dürfen,  dafs  seine  Anschauung  keine  einheitliche 
sei.  Nein;  es  kommt  bei  E.  v.  H.  auf  das  gleichzeitige  Einnehmen 
von  zwei  Standpunkten  der  Beurteilung  an;  das  aber  ist  ebenso 
unmöglich,  wie  gleichzeitig  zweien  Herren  zu  dienen,  gleichzeitig 
zwei  Wege  zu  gehen.  Die  Lebensanschauung  E.  v.  H.s  ist  also 
nicht  allein  keine  einheitliche,  sondern  auch  eine  theoretisch  un- 
denk-,  sowie  praktisch  undurchführbare. 

Wir  sehen  denn  auch  in  seinen  Ausführungen,  dafs  er  that- 
sächlich  die  Unmöglichkeit  nicht  überwindet.  Er  täuscht  sich, 
wenn  er  meint,  dafs  er  auf  dem  Boden  des  eudämonologischen 
Pessimismus  stehe  und  den  evolutionistischen  Optimismus  nur  als 
»Ergänzung«  dieser  seiner  eigentlichen  Position  verwende.  Bei 
Licht  besehen,  erweist  sich  auch  für  ihn  nur  der  evolutionistische 
Optismismus  als  tauglich,  der  eudämonologische  Pessimismus  aber 
als  unverwendbar.  E.  v.  H.  ist  in  Wirklichkeit  nichts  weiter  als 
evolutionistischer  Optimist,  woraus  ja  schon  von  selbst  folgt,  dafs 
er  sich  bezüglich  aller  konkurrierenden  Anschauungen  pessimistisch 
verhalten  mufs.  Bei  allem,  was  er  vom  eudämonologischen  Pessi- 
mismus als  einer  positiv  wirkenden  Lebensauffassung  zu  sagen 
weifs,  leuchtet  immer  seine  eigentliche  Stellung  hindurch.  Den 
bezeichnendsten  Beleg  hierfür  liefert  wohl  das  Wort  auf  Seite  132, 
auf  das  ich  soeben  anspielte:  Der  Mangel  eines  evolutionistischen 
Optimismus  lähme  die  Frische  und  Thatkraft  des  Menschen;  des- 
halb fordere  der  eudämonologische  Pessimismus  den  evolutio- 
nistischen Optimismus  als  seine  Ergänzung.  Das  heifst  doch  wohl 
nichts  anderes  als:  »Der  eudämonologische  Pessimismus  läfst  mich 
bezüglich  dessen,  was  er  leisten  soll,  im  Stiche,  und  ich  wende 
mich  deshalb  zu  einer  leistungsfähigen  Anschauung,  dem  evolutio- 
nistischen Optimismus. « 

P&dAfOgUche  Studien.   U.  6 


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—  82 


Fragen  wir  sodann  nach  dem  Ausweise  des  evolutionistischen 
Optimismus  als  einer  brauchbaren  Lebensanschauung. 

Wie  ich  zu  dieser  Frage  stehe,  darauf  möchten  schon  die 
vorangehenden  Worte  hingewiesen  haben.  Doch  mag  zu  genauerer 
Kennzeichnung  meiner  Stellung  noch  Folgendes  gesagt  sein. 

Was  den  Fortschritt  an  sich  betrifft,  so  ist  er  dem  mensch- 
lichen Leben,  solange  es  noch  nicht  zu  seinem  Ziele  gekommen 
ist,  so  unbedingt  nötig,  dafs  dieses  ohne  jenen  nicht  bestehen 
kann.  Wo  der  Fortschritt  mangelt,  da  tritt  unfehlbar  der  Rück- 
schritt ein;  denn  Stillstand  giebt  es  nicht.  Und  dieser  Rückschritt 
endet  mit  dem  Herabgesunkensein  auf  das  Niveau  des  tierischen 
Lebens  und  so  mit  der  Aufhebung  des  menschlichen.  Wer  also 
den  Fortschritt  aus  dem  menschlichen  Leben  herausnimmt,  der 
entzieht  dem  letzteren  die  Sonne,  die  mit  ihrer  Wärme  und  ihrem 
Lichte  das  Leben  erst  möglich  macht  und  ohne  welche  alles  in 
Totenstarre  versinken  mufs. 

Daraus  folgt,  dafs  jede  Beurteilung  des  menschlichen  Lebens 
mit  diesem  Faktor  rechnen  mufs.  Eine  Auffassung  jenes  Lebens, 
welche  sich  indifferent  oder  gar  negierend  gegen  das  Moment  des 
Fortschrittes  verhält,  ist  von  vorn  herein  gerichtet.  Wie  hierdurch 
jeder  Pessimismus  auch  von  dieser  Seite  her  seine  Verurteilung 
erfährt,  so  ergiebt  sich  für  den  evolutionistischen  Optimismus, 
dafs  er  nicht  allein  eine  brauchbare,  sondern  eine  durchaus  not- 
wendige Lebensanschauung  ist.  Ich  befinde  mich  also  in  diesem 
Punkte  mit  E.  v.  H.  in  Übereinstimmung,  was  ich  der  Seltenheit 
wegen  besonders  hervorzuheben  mir  erlaube.  Freilich  bin  ich  ge- 
zwungen, beim  nächsten  Schritte  mich  wieder  von  ihm  abzu- 
wenden. 

Mir  kommt  in  Erinnerung  das  Wort  von  der  Steigerung  der 
Unlust,  die  mit  der  Erreichung  jeder  weiteren  Stufe  des  Fort- 
schrittes verbunden  sein  soll,  und  da  drängt  sich  mir  die  Über- 
zeugung auf,  dafs  ein  solcher  Fortschritt  sich  selbst  verneinen 
müfste ;  denn  die  Steigerung  der  Unlust  wird  schliefslich  auch  den 
Willen  zum  Fortschreiten  ertöten.  Wenn  E.  v.  H.  annimmt 
(S.  132),  dafs  der  Glaube  an  die  Besserung  der  Glückslagc  durch 
den  jeweilig  erstrebten  Kulturfortschritt  nicht  eher  enttäuscht 
werde,  als  bis  die  neue  Errungenschaft  gesichert  sei,  dafs  also  der 
Fortschritt  in  eudämonistischer  Beziehung  ein  fortwährendes  Hinters- 
Licht-geführt-werden  darstelle,  so"  läfst  sich  dem  entgegenhalten, 
dafs  erwicsenermafsen  die  Menschen  nicht  so  thöricht  sind,  wie 
uns  dies  E.  v.  H.  glauben  machen  möchte.  Einmal,  zweimal  mag 
so  etwas  geschehen.  Dann  aber  wird  man  des  Irrtums  gewahr 
geworden  sein  und  das  Fortschreiten  hübsch  lassen,  das  einem 
vermehrte  Unlust  bringt,  die  zu  erstreben  keinem  einfällt  und 
zu  deren  Erstrebung  niemand  verpflichtet  werden  kann.  Man 
sieht,  die  unglückliche  Verqnickung  des  evolutionistischen  Opti- 


83  - 


mismus  mit  dem  unhaltbaren  eudämonologischen  Pessimismus  bei 
E.  v.  H.  zieht  ihre  Kreise  weiter:  Der  ungeratene  Bruder  er- 
schlägt den  wohl  geratenen,  der  ihm  auf  die  Beine  helfen  soll. 

Ich  dagegen  habe  nicht  nötig,  meine  Lebensanschauung,  den 
eudämonistischen  Optimismus  neuer  Fassung,  mit  irgend  einer 
andern  zu  verbinden,  um  etwas  Brauchbares  zu  bekommen.  Der 
eudämonistische  Optimismus,  wie  ich  ihn  verstehe,  enthält  schon 
ganz  von  selbst  den  evolutionistischen  Optimismus,  und  zwar  als 
so  integrierenden  Bestandteil,  dafs  mit  der  Entfernung  des  letzteren 
der  erstere  haltlos  in  sich  zusammenfiele.  Anderseits  findet  der 
letztere  in  dem  ersteren  so  ausschliefslich  seinen  Nährboden,  dafs 
mit  der  Ausscheidung  des  ersteren  der  letztere  ohne  Stütze  zu 
Boden  sinken  und  verkommen  würde.  Meine  Lebensauffassung 
erweist  sich  mithin  als  eine  vollkommen  einheitliche  und  fest  gefügte. 

6.  Jetzt  bin  ich  soweit  gelangt,  mich  der  Beantwortung  der 
Frage  zuwenden  zu  können,  die  E.  v.  H.  als  Überschrift  über 
seinen  uns  hier  beschäftigenden  Aufsatz  gestellt  hat:  »Kann  der 
Pessimismus  erziehlich  wirken?« 

Sollte  etwa  jemand  dieser  Frage  gegenüber  vermuten,  E.  v.  H. 
habe,  wie  sich  das  wohl  hätte  erwarten  lassen,  bestimmte  Vor- 
schläge über  die  Gestaltung  der  Erziehung  im  Zeichen  seines 
eudämonologischen  Pessimismus  gemacht,  so  irrt  er  sich.  Nur 
allgemeine  Andeutungen  finden  wir,  die  weder  imstande  sind,  ein 
erkennbares  Bild  jener  Gestaltung  zu  liefern,  noch  auch  geeignet 
sich  zeigen,  die  Überzeugung  davon  zu  erwecken,  dafs  E.  v.  H. 
auf  dem  Gebiete  der  Erziehung  zuhause  sei.  Denn  wenn  er  z.  B. 
Seite  133  sagt :  Eine  optimistische  Pädagogik,  welche  von  der  Über- 
zeugung ausgehe,  dafs  das  Leben  ein  hohes  Gut  sei  und  dafs 
sein  Besitz  an  sich  schon  eine  positive  Glückseligkeit  verleihe, 
werde  unbedenklich  mit  strengen  Erziehungsmafsregcln  und  harten 
Strafen  ihre  Zwecke  verfolgen,  weil  sie  nicht  daran  zweifele,  dafs 
die  Glückseligkeit  des  Lebens  trotz  der  durch  diese  Erziehungs- 
mittel zugefügten  Unlust  den  Zöglingen  einen  hinreichenden  Lust- 
überschufs  lasse.  Eine  pessimistische  Pädagogik,  welche  das  Leben 
ohnehin  als  ein  überwiegend  leidvolles  betrachte,  werde  Bedenken 
tragen  müssen,  zu  den  vielen  unvermeidlichen  Übeln  noch  neue 
hinzuzufügen,  —  so  vermögen  dem  kundigen  Erzieher,  der  seine 
erzieherischen  Mafsnahmen  nach  ganz  anderen  Gesichtspunkten  zu 
treffen  gewohnt  ist,  solche  Worte  nur  ein  Lächeln  abgewinnen. 

Ich  habe  mich  also  lediglich  mit  dem  eudämonologischen 
Pessimismus  als  dem  seitens  E.  v.  H.s  empfohlenen  neuen  Prin- 
zipe  der  Erziehung  auseinanderzusetzen. 

Dabei  werde  ich  mich  unter  Berücksichtigung  des  Voran- 
gehenden kurz  fassen  dürfen.  Wie  meine  Antwort  auf  die  obige 
Frage  ausfallen  mufs,  darüber  befindet  sich  wohl  niemand  im 
Zweifel. 

6* 


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84 


Der  Pessimismus  E.  v.  H.s,  welcher,  wie  wir  gesehen  haben, 
als  Lebensauflfassung  einer  haltbaren  Begründung  entbehrt  und 
zudem  als  vollständig  unbrauchbar  sich  erweist,  kann  selbstver- 
ständlich bei  der  Erziehung  schon  um  deswillen  in  keiner  Weise 
Berücksichtigung  finden. 

Bedenken  wir  ferner,  wie  geradezu  feindlich  der  Pessimismus 
zu  allem  Fortschritte  und  somit  zu  aller  Bildung,  aller  Kultur  sich 
stellt,  so  liegt  auf  der  Hand,  dafs  die  Erziehung  diese  Lebens- 
anschauung mit  allen  Kräften  von  sich  tern  zu  halten  bemüht 
sein  mufs. 

Ich  befinde  mich  da  zum  zweiten  Male  mit  E.  v.  H.  in  Über- 
einstimmung. Auch  für  ihn  ist  ja  der  Pessimismus  das  allem 
Fortschritte  feindliche  Prinzip.  Als  Beweis  für  diesen  über- 
raschenden Umstand  steht  sein  uns  schon  bekanntes  Wort  da: 
Der  Mangel  eines  evolutionistischen  Optimismus  lähme  die  Frische 
und  Thatkraft  des  Menschen.  Dasjenige  aber,  was  so  recht  als 
der  Inbegriff  dieses  Mangels  auftritt,  was  seiner  innersten  Natur 
nach  die  Frische  und  Thatkraft  des  Menschen  zu  lähmen  bestimmt 
zu  sein  scheint,  ist  eben  —  der  eudämonologische  Pessimismus 
v.  Hartmanns. 

Wozu  mag  dann  aber  E.  v.  H.  jene  Frage  nach  der  Erzieher- 
fähigkeit des  eudämonologischen  Pessimismus  gestellt  und  sich 
zudem  mit  einer  bejahenden  Beantwortung  derselben  abgemüht 
haben,  wenn  er  selbst  sich  den  Boden  unter  den  Füfsen  weg- 
ziehen wollte?    Ich  weifs  es  nicht. 

Meine  Aufgabe  ist  nur,  mit  aller  Entschiede nhe it  zu 
betonen.  Der  Pessimismus  kann  nicht  erziehlich  wirken; 
er  verhält  sich  auch  nicht  etwa  indifferent,  sondern 
direkt  feindlich  gegen  die  Erziehung,  und  deshalb 
haben  Pessimismus  und  Erziehung  keinerlei  Gemein- 
schaft mit  einander. 

7.  Dann  bleibt  mir  noch  eins  zu  thun  übrig.  Wenn  ich  oben 
sagte,  der  Nachweis  dafür  wurde  noch  erbracht  werden  müssen, 
ob  es  möglich  sei,  bei  dem  hier  zu  Leistenden  die  Hilfe  der 
Spekulation  zu  entbehren,  so  ist  jetzt  die  Zeit  gekommen,  diesen 
Nachweis  zu  liefern.  Es  liegt  mir  also  noch  ob,  meine  Lcbens- 
anschauung  als  Prinzip  der  Erziehung  zu  prüfen  und  die  Frage 
zur  Beantwortung  zu  bringen  :  Kann  der  eudämonistische  Optimis- 
mus, wie  ich  ihn  lehre,  erziehlich  wirken? 

Wer  wollte  darauf  nicht  mit  einem  überzeugungsvollen,  fröh- 
lichen »Ja<  antworten,  wenn  er  auch  nur  einen  kurzen  Rückblick 
auf  das  Vorgeführte  geworfen  hat!  Und  ich  füge  hinzu:  Der  eudä- 
monistische Optimismus  wirkt  nicht  nur  so  obenhin  gesagt  erzieh- 
lich vielleicht  neben  manchem  andern,  von  dem  man  dasselbe 
sagen  könnte.    Nein;  er  allein  ist  es,  welcher  der  Erziehung  Ziel 


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-  85 


und  Wege  so  sicher  und  umfassend  angiebt,  dafs  neben  ihm  nichts 
weiter  zu  Worte  zu  kommen  braucht  und  vermag. 
Das  bedarf  einer  Begründung. 

Die  Erziehung  im  weiteren  Sinne  ist  die  Einwirkung  auf  die 
Menschheit  zu  dem  Zwecke,  sie  ihrem  Entwickelungsziele  näher 
zu  bringen,  im  engeren  Sinne  die  Einwirkung  auf  die  Jugend  in 
der  Absicht,  dieselbe  in  wenig  Jahren  annähernd  auf  die  Höhe 
der  Kultur  zu  heben,  bis  zu  welcher  die  Menschheit  während  der 
langen  Zeit  ihres  Lebens  in  den  einzelnen  Kulturschichten  gelangt 
ist.  Aus  dem  letzteren  folgt,  dafs  Kulturentwickelung  und  Er- 
ziehung Ziel  und  Weg  zu  diesem  Ziele  gemeinsam  haben  müssen. 

Hieran  läfst  sich  nun  ersehen,  ob  beides  klar  erkannt  ist  und 
in  den  richtigen  Bahnen  läuft.  Der  Begriff  der  Kultur  wird  richtig 
gefafst  sein,  wenn  letztere  der  Erziehung  ein  würdiges,  erstrebens- 
wertes Ziel  bietet.  Die  Erziehung  wird  die  richtigen  Mittel  wählen, 
wenn  diese  den  Entwickelungsmitteln  der  Kultur  gleichartig  und 
imstande  sind,  auf  geradem  Wege  zu  jenem  Ziele  zu  führen. 

Legen  wir  diesen  Mafsstab  an  den  eudämonistischen  Optimis- 
mus, immer  selbstverständlich  an  den,  welchen  ich  vertrete. 

Dieser  sucht  das  Entwickelungsziel  der  Menschheit  in  der 
Glückseligkeit  derselben.  Ist  dieses  auch  für  die  planmäfsige  Er- 
ziehung ein  würdiges  und  erstrebenswertes  Ziel?  Es  läfst  sich 
nach  meinem  Urteile  etwas  Schöneres  und  Herrlicheres  nicht  er- 
denken. Wird  in  dieser  Form  das  Ziel  umfassend  angegeben, 
oder  kann  man  sich  etwas  vorstellen,  was  neben  demselben  er- 
strebenswert wäre?  Mir  wenigstens  ist  dies  nicht  möglich.  — 
Bieten  ferner  die  für  den  Kulturfortschritt  bezeichneten  Wege 
auch  für  die  Erziehung  die  richtigen  Bahnen  dar?  Für  mich  liegt 
der  Kulturfortschritt  darin,  dafs  die  Menschen  in  der  Sittlichkeit, 
im  Wissen  und  im  Können  immer  tüchtiger  werden,  weil  dieses 
die  Bedingungen  der  Glückseligkeit  sind,  wie  wir  oben  gesehen 
haben.  Eine  Erziehung  also,  die  sich  diesen  Prinzipien  anbe- 
quemte, müfste  darauf  ihr  Absehen  richten,  ihre  Zöglinge  zu 
guten,  kenntnisreichen,  körperlich  und  geistig  starken  und  ge- 
wandten Menschen  zu  machen.  Ob  diese  Erziehung  in  den  rich- 
tigen Bahnen  laufen  würde?  Ich  höre  das  überzeugungsvolle, 
fröhliche  »Ja«,  auf  welches  ich  oben  rechnete. 

Glücklicherweise  nun  ist  es  gar  nicht  nötig,  die  Erziehung 
nach  diesen  Prinzipien  zu  reformieren,  nicht  die  Erziehung  im 
weiteren  Sinne  —  denn  der  in  meinen  Augen  berufenste  Erzieher, 
der  Staat,  betrachtet  als  Ziel  seines  Wirkens  einzig  und  allein, 
seinen  Bürgern  das  Glück  zu  bringen,  und  sucht  dies  ganz  im 
Sinne  des  wahren  eudämonistischen  Optimismus  auf  dem  Wege 
zu  erreichen,  dafs  er  durch  seine  Veranstaltungen  die  ihm  Ange- 
hörigen sittlich  tüchtig,  kenntnisreich,  sowie  körperlich  stark  und 
gewandt  zu  machen  strebt,  —  auch  nicht  die  Erziehung  im  engeren 


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Sinne,  wenigstens  soweit  die  Schulerziehung  inbetracht  kommt  — 
denn  das  Wissen  und  Können  erstrebte  schon  die  alte  Lern- 
schule; die  sittliche  Erstarkung  und  seelische  Tüchtigkeit  schreibt 
die  besonders  durch  Pädagogen  Herbartscher  Richtung  ins  Leben 
gerufene  Erziehungschule  auf  ihre  Fahnen,  und  in  der  neuesten 
Gestaltung  dieser  Schule  ist  man  nun  auch  bemüht,  der  Vervoll- 
kommnung in  körperlicher  Kralt  und  Gewandtheit,  sowie  im  prak- 
tischen Können  einen  breiteren  Raum  zu  gewähren. 

Kann  ich  also  für  mich  nicht  das  Verdienst  in  Anspruch 
nehmen,  der  Erziehung  neue  Wege  zu  zeigen,  so  doch  vielleicht 
jenes,  zu  den  mit  klarem  Blicke  von  der  Erziehung  betretenen 
richtigen  Bahnen  im  sittlichen  Eudämonismus  das  wahre 
Prinzip  aufgezeigt  zu  haben.  Und  damit  möchte  dann  auch 
der  Beweis  der  vollständigen  Zulänglichkeit  dieser  Lebens- 
anschauung geliefert  sein. 


B.  Mitteilungen. 
I.  Der  Philosoph  Johann  Friedrich  Herbart.*) 

Von  Professor  Dr.  H.  Steinthal  in  Berlin. 

Ja  wohl,  für  einen  Philosophen,  der  vor  nunmehr  50  Jahren,  den 
14.  August  1841,  aus  der  Zeitlichkeit  geschieden  ist,  wage  ich  es,  die  Auf- 
merksamkeit des  Lesers  in  Anspruch  zu  nehmen.  Ich  weifs  es,  wie  un- 
günstig gegenwärtig  die  Stimmung  der  deutschen  Gelehrten  gegen  die 
Philosophie  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  ist;  wie  dieselbe  teils 
verachtet,  teils  gehafst  wird.  Vielleicht  aber  haben  diejenigen  Recht,  welche 
im  deutschen  Nationalgeist  schon  Zeichen  eines  Umschwunges  zu  erkennen 
glauben,  und  welche  eine  Neubelebung  des  deutschen  Idealismus  als  nahe 
bevorstehend  erwarten. 

Als  meine  Meinung  oder  Hoffnung  ab^er,  oder  als  meinen  Wunsch  will 
ich  gleich  am  Anfang  aussprechen,  dafs,  wenn  die  erwartete  Sinnesänderung 
eintreten  wird,  dann  nicht  wieder  die  nächste  Vergangenheit  völlig  ver- 
leugnet und  dafür  eine  entgegengesetzte  ältere  Anschauungsweise  gepflegt, 
sondern  die  wahrhaften  Ergebnisse  früherer  und  späterer  Zeiten  zusammen- 
gefaßt und  fortentwickelt  werden  mögen;  dafs  die  Jugend  nicht  wieder  in 
üblicher  Unart  kurzweg  spreche:  nicht  so,  wie  unsere  Eltern,  sondern  ent- 
gegengesetzt; dafs  sie  vielmehr  in  gründlicher  Kritik  den  Grundsatz  be- 
thätige:  Prüfet  alles  und  behaltet  das  Beste,  d.  h  nicht  das  Beste  von 
allem,  sondern  das  Beste  in  allem;  behaltet  alles,  insofern  Gutes  darin  ist 

*)  Avt  lum  Beiblatt  xum  Berliner  Ta^ebUtt :  Der  Zeitgeist,  18«!  No.  33. 


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-  8; 


Und  in  Herbart  ist  viel  Gutes.  Sein  gröfstcs  Verdienst,  das  ich  vor- 
anstellen mufs,  ist  dies,  dafs  er  die  Psychologie  begründet  hat. 
Wenn  hiermit  allerdings  behauptet  wird,  dafs  man  in  den  früheren  Jahr- 
hunderten eine  Wissenschaft,  welche  den  Namen  Psychologie  verdient  hätte, 
noch  gar  nicht  gekannt  habe,  dafs  sich  nur  hier  und  da  und  nicht  gerade 
immer  bei  den  berühmtesten  Denkern  einzelne  glückliche  psychologische 
Lichtstrahlen  finden:  so  dürfte  ich  hiergegen  kaum  Widerspruch  zu  fürchten 
haben.  Eher  dürfte  bestritten  werden,  dafs  Herbart  wirklich  der  Schöpfer 
der  Psychologie  sei. 

Dieser  Zweig  der  Wissenschaft  gehörte  früher  zur  Philosophie;  und 
wie  nun  jeder  Philosoph  oder  jede  philosophische  Schule  ihre  Metaphysik, 
ihre  Ethik  u.  s.  w.  hatte,  so  hatte  sie  auch  ihre  Psychologie,  welche  von 
den  anderen  Schulen  nicht  anerkannt  werden  konnte.  Was  dies  besagen 
will,  kann  man  sich  leicht  vorstellen.  Kein  Physiker  oder  Mathematiker 
schafft  und  lehrt  seine  Physik,  seine  Mathematik,  sondern  er  arbeitet  an 
der  Physik,  d.  h.  an  der  Physik  aller,  an  der  einzigen,  welche  Aufgabe  des 
menschlichen  Erkennens  ist,  und  deren  Sätze,  wenn  sie  richtig  sind,  oder 
insofern  sie  deren  Autor  dafür  galten,  auch  von  allen  anderen  Physikern 
dafür  anerkannt  werden  sollen  und  müssen.  —  Erst  dann  ist  eine  Disziplin 
geboren,  wenn  sie  dahin  gediehen  ist,  dafs  ein  Grundstock  von  Lehrsätzen, 
welche  sie  aufstellt,  von  allen  angenommen  wird,  die  sich  um  sie  bemühen, 
und  wenn  diese  Männer  im  Eifer  ihre  Wissenschaft  zu  fördern,  einander 
in  die  Hände  arbeiten,  sodafs  der  Eine  da  beginnen  kann,  wo  der  Andere 
aufgehört  hat;  wenn  also  der  glückliche  Fund  des  Einen  von  allen  als  glück- 
lich gepriesen  wird. 

Gerade  so  aber  verhält  es  sich  mit  der  Psychologie,  seitdem  Herbart 
ihr  die  Grundlage  gegeben  hat.  Er  hat  diese  geschaffen  nicht  für  sich  und 
seine  Schule;  sondern  wer  auch  immer  diese  Wissenschaft  betreibt  oder 
in  Zukunft  betreiben  wird,  mufs  sich  auf  den  Boden  stellen,  den  Herbart 
derselben  bereitet  hat,  und  ist  dann  sicher,  dafs  sein  Anbau  nach  den 
Grundsätzen  geprüft  werde,  nach  denen  er  selbst  verfahren  ist.  Wie  also 
jemand,  der  von  der  Mathematik  eines  Pythagoras  oder  Thaies  berichtet, 
ewig  geltende  Wahrheit  darlegt,  wie  weit  sich  auch  seit  jenen  Männern 
Mathematik  und  Astronomie  entwickelt  haben  mögen:  so  legt  auch,  wer 
von  Herbarts  Psychologie  berichtet,  die  unumstöfslichen  Prinzipien  der 
Psychologie  dar. 

Von  allem  was  geworden  ist,  gilt,  dafs  es  nicht  aus  nichts,  sondern 
aus  etwas  geworden  ist,  aber  aus  etwas  ganz  anderem,  als  nun  das  neu 
Entstandene  sich  zeigt.  So  ist  auch  die  Psychologie  in  Herbarts  Geist  aus 
der  ganz  unpsychologischen  Metaphysik  seines  Lehrers  Fichte  erwachsen. 
Das  von  Fichte  gestaltete  Problem  des  eine  Aufsenwelt  setzenden  Ich  (ein 
Problem,  welches  seine  Zeitgenossen  in  eine  der  heutigen  Welt  ganz  unbe- 
greifliche Aufregung  versetzte)  veranlafste  Herbart  zu  der  Frage:  und  was 
st  denn  dieses  Ich?  und  führte  ihn  weiter  zu  einer  Zersetzung  aller  dahin 
einschlägigen  Begriffe.  So  ergab  sich  ihm  für  das  Ich,  dafs  dasselbe  nichts 
anderes  sei,  als  die  Beziehung  der  vielen  Vorstellungen  einer  Person  zu 


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einem  einheitlichen  Bewufstsein.  Es  ist  weder  eine  Substanz  noch  eine 
Kraft  ;  sondern,  dafs  jemand  weifs,  er  denke  und  wolle,  was  er  gestern  ge- 
dacht und  gewollt  hat,  oder  auch  er  denke  und  wolle  heute  anders  als 
gestern;  dafs  jemand  weifs,  er  besitze  jetzt,  was  er  in  vergangenen  Tagen 
erworben  habe,  oder  auch  er  besitze  es  nicht  mehr,  weil  er  es  verloren 
habe;  kurz,  dafs  jemand  weifs,  wie  er  war,  und  so^ar  hofft,  wie  er  sein 
werde  —  dies  ist  sein  Ich. 

Dies  führte  nun  weiter  zur  Ansicht  von  einer  Welt  von  Vorstellungen, 
welche  im  Bewufstsein  eines  Menschen  leben,  und  welche  sich  hier  nach 
eigentümlichen  mechanischen  Gesetzen  gegen  einander  bewegen.  Was  wir 
Verstand,  Phantasie  u.  s.  w.  nennen,  sind  nicht  Kräfte  und  Mächte,  welche 
Gebilde  verschiedener  Art  schaffen;  es  sind  nicht  gesonderte  Fähigkeiten 
der  Seele,  Erkenntnisse  und  Gedanken  solcher  Art  zu  schaffen;  sondern 
es  sind  nur  die  mannigfachen  Formen  oder  Weisen,  wie  sich  Vorstellungen 
mit  einander  verbinden. 

Niemand  glaubt  heute  noch,  dafs  es  in  der  Natur  eine  besondere 
Kraft  gebe,  Lebenskraft  geheifsen,  welche  die  lebenden  Wesen  schaffe  und 
erhalte,  indem  sie  sich  die  leblosen  Stoffe  eigenmächtig  unterwerfe.  Die 
Naturforscher  haben  vielmehr  gezeigt,  dafs  das  Leben  schliefslich  ein  Er- 
zeugnis derselben  Stoffe  und  Kräfte  ist,  welche  sich  auch  in  der  leblosen 
Natur  wirksam  zeigen,  nur  dafs  dieselben,  um  Leben  hervorzubringen  in 
gewissen  Mafsen  und  in  gewisser  Weise  mit  einander  verbunden  sein  und 
in  einem  System  von  Wechselwirkung  stehen  müssen.  Längst  aber,  bevor 
es  den  Naturforschern  gelungen  war,  die  falsche  Annahme  einer  Lebens- 
kraft zu  verbannen,  hatte  Herbart  erkannt,  dafs  Vernunft,  Verstand,  Ur- 
teilskraft u.  s.  w.  nicht  Kräfte  seien,  welche  den  Menschen  vernünftig,  ver- 
ständig u.  s.  w.  machen,  so  wenig  die  Lebenskraft  lebendig  macht ;  sondern 
es  ist  eine  gewisse  Beziehungsform  und  Verbindung  der  Vorstellungen,  deren 
Ergebnisse,  uns  vernünftig,  verständig  erscheinen,  und,  was  die  Hauptsache 
ist,  Ergehnisse  welche  zu  Strebungen,  Willen  geworden,  sich  als  fähig  er- 
wiesen, sich  in  der  Natur  durch  Praxis  zu  verkörpern. 

Um  zu  solcher  Erkenntnis  zu  gelangen,  war  es  denn  nötig,  wie  der 
Chemiker  die  Natur -Körper  in  Elemente  zerlegt,  der  Physiker  die  Natur- 
Ereignisse  auf  einfachste  Gesetze  zurückführt,  so  auch  das  ausgebildete 
Bewufstsein  der  Menschen  aus  den  ursprünglichsten  Gebilden  zusammen- 
zusetzen und  entstehen  zu  lassen.  So  erwies  sich  die  Vorstellung  vom  Ich 
auf  den  verschiedenen  Stufen  der  geistigen  Entwickelung  und  nach  der 
Eigenheit  der  Charaktere  von  sehr  verschiedenem  Gehalt;  und  wie  das 
Ich,  ergaben  sich  alle  Kategorien  der  Metaphysik  und  Logik,  wie  Ding 
und  Eigenschaft,  Substanz  und  Accidens,  Ursach  und  Wirkung,  auch  Zeit 
und  Raum,  nicht  als  eine  fertige,  der  Seele  angeborene  Mitgift,  sondern 
als  in  der  Geschichte  der  Menschheit  und  im  einzelnen  Menschen  erzeugte 
Formen  der  Vorstellungs-Bewegungen. 

So  ist  die  Psychologie,  wie  Herbart  sie  gegründet  hat,  ganz  unab- 
hängig von  seiner  Metaphysik  und  hat  nicht  mehr  Voraussetzungen  als  die 
Physik  und  als  sich  durch  die  Thatsachen  in  jedem  Augenblick  bestätigen 


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lassen;  sie  ist  eine  wirkliche  empirische  Wissenschaft.  Der  Sache  wegen 
mufs  ich  hinzufügen,  dafs  dieselbe  durch  die  Bemühungen  der  Physiologen 
nach  unten  hin  eine  wertvolle,  notwendige  Ergänzung  gefunden  hat  in  der 
Theorie  der  Siunes-Empfindungen  und  der  sinnlichen  Wahrnehmungen, 
kurz  in  dem,  was  mit  Recht  physiologische  Psychologie  genannt  wird.  Auf 
diesem  Gebiete  ist  die  Thätigkeit  des  Bewufstseins  so  sehr  von  den  Funk- 
tionen der  Nerven  und  des  Gehirns  bedingt,  dafs  nur  die  Vereinigung  von 
Physiologie  und  Psychologie  die  hier  gestellten  Aufgaben  zu  lösen  vermag. 
Dafs  hier  auch  das  Experiment  zur  Mitwirkung  herangezogen  wird,  genau 
so  wie  es  in  der  Physik  und  Physiologie  überhaupt  geschehen  mufs,  ist 
selbstverständlich.  Dafs  z.  B.  der  eigentümliche  Klang,  welcher  bei  dem 
Violinspiel  ein  anderer  als  beim  Flötenspiel  u.  s.  w.  ist,  durch  die  Zu- 
sammenfassung einfacher  (Ober-  und  Unter-)  Töne  im  Ohre  entsteht,  läfst 
sich  nur  durch  das  Experiment  erweisen,  welches  die  über-  und  Unter- 
Töne  gesondert  darstellen  und  zusammenfassen  kann.  In  neuester  Zeit 
aber  hat  man  auch  für  das  der  Psychologie  ganz  besonders  angehörende 
Gebiet  der  zusammengesetzten  Vorstellungen  das  Experiment  zu  Hille 
herangezogen.  Ich  will  diese  Bemühungen  nicht  ohne  weiteres  verurteilen ; 
ich  will  sie  als  einen  Versuch,  wie  weit  man  damit  kommen  mag,  gelten 
lassen.  Nur  finde  ich  hier  viel  jugendlichen  Enthusiasmus  und  jugendliche 
Überhebung,  welche  meint,  auf  die  Selbstbeobachtung  der  Psychologen 
mit  voller  Verachtung  herabsehen  zu  können.  Doch  das  Weitere  gehört 
nicht  an  diesen  Ort. 

Herbart  selbst  hat  versucht,  mathematische  Rechnung  in  ganz  eigent- 
licher Form  in  die  Psychologie  einzuführen,  und  ein  Mathematiker  von 
Fach,  Drobisch,  hat  diese  Versuche  aufgenommen  und  fortgesetzt.  Auch 
hierüber  enthalte  ich  mich  des  Urteils.  Nur  bin  ich  dem  Leser  schuldig, 
zu  erwähnen,  dafs  es  Herbart  als  Ideal  vorschwebte:  mit  derselben  Sicher- 
heit und  Bestimmtheit,  mit  welcher  der  Astronom  die  Bewegungen  und 
Stellungen  der  Gestirne  berechnet,  psychologisch  auch  die  Bewegungen 
und  Stellungen  der  Vorstellungen  im  Bewufstsein  zu  berechnen.  Hatte  er 
sich  hier  einer  täuschenden  Hoffnung  hingegeben,  so  war  es  die  Täuschung 
eines  grofsen  wissenschaftlichen  Sinnes. 

Der  Leser  hat  nun  wohl  gesehen,  dafs  der  Philosoph  Herbart,  dessen 
leibliches  Leben  die  Mitte  unsres  Jahrhunderts  nicht  erreicht  hat,  geistig 
immer  noch  zur  Gegenwart  gehört.  Dasselbe  soll  nun  ein  Blick  auf  die 
Pädagogik  zeigen,  deren  eigentliche  wissenschaftliche  Behandlung  geschaffen 
zu  haben  ebenfalls  ein  Verdienst  Herbarts  ist.  Es  hat  vor  ihm  verdienst- 
volle Pädagogen  gegeben ;  ich  will  nur  an  Rousseau  und  Pestalozzi  er- 
innern, und  auch  an  Niemeyer.  Indessen  geben  diese  Männer  in  ihren 
Schriften  dem  Erzieher  und  Lehrer  doch  immer  nur  vortreffliche  Rat- 
schläge und  Winke,  die  aber  der  theoretischen  Begründung  entbehren, 
welche  nur  die  Psychologie  geben  kann.  Die  Aufgabe  des  Erziehers  ist 
ganz  analog  der  des  Gärtners.  Dies  wird  vom  allgemeinen  Bewufstsein 
schon  durch  die  Worte  >Baum-Schule«  und  >Kinder-Garten«  in  hinläng- 
licher Klarheit  ausgesprochen.   Der  Gärtner  soll  den  Pflanzen,  die  seiner 


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Pflege  anvertraut  sind,  die  Lebens-Bedingungen,  wenn  die  Natur  dieselben 
versagt,  künstlich  zuführen,  wie  Feuchtigkeit,  Wärme,  die  geeignete  Erde; 
der  Lehrer  mufs  den  Zögling  innerhalb  doch  verhältnismäfsig  nur  weniger 
Jahre  in  eine  Lage  setzen,  dafs  derselbe  fähig  wird,  sich  auf  das  Durch» 
Schnitts  -  Mafs  der  nationalen  Bildung  zu  erheben.  Dazu  bedarf  jener 
botanischer  Kenntnisse,  dieser  psychologischer  Einsicht. 

Noch  wichtiger  aber  als  der  Weg  des  Unterrichts  und  der  Erziehung 
ist  das  Ziel.  Ich  kann  mich  nicht  enthalten,  hier  die  Rede  zu  zitieren, 
die  Lazarus  auf  Herbart  bei  der  Enthüllung  des  Denkmals  in  Oldenburg 
zum  too jährigen  Geburtstag  am  4.  Mai  1876  gehalten  hat,  und  in  der  er 
ein  glänzendes  Bild  von  der  Persönlichkeit  und  den  Schöpfungen  Herbarts 
entworfen  hat.  (Ideale  Fragen,  3.  Aufl.  S.  9):  »Psychologie  ist  die  Mutter 
der  Pädagogik.  Wenn  wir  die  Gesetze  des  Geschehens,  die  Normen  des 
Werdens  im  innern  Leben  des  Menschen  erkennen,  dann  sind  wir  auch 
imstande,  die  gegebenen  Kräfte  zu  gedeihlicher  Entwickelung  zu  leiten. 
Aber  .  .  :  nicht  blofs  für  den  äufseren  Nutzen,  nicht  zum  Schein  und 
Schmuck,  nicht  zur  flüchtigen  Befriedigung  oder  herrschenden  Überlegen- 
heit soll  gelernt  werden,  was  gelernt  wird;  sondern  aller  Unterricht  soll 
einen  erziehenden  Einflufs  üben.  Den  Charakter  zu  bilden,  den  sittlichen 
Willen  zu  reinigen  und  befestigen,  das  Interesse  des  Menschen  zu  er 
weitern,  zu  erhöhen  und  von  der  Enge  und  Dürre  des  Eigenlebens  zu  be- 
freien; dem  Geiste  edle  Nahrung  und  Regsamkeit  zu  geben,  im  Gemüt 
Wärme  und  Tiefe  zu  erzeugen;  jede  Menschenseele  durch  die  Erkenntnis 
ewiger  Wahrheit  zu  veredeln,  aber  auch  durch  die  Wahrheit  des  Ewigen, 
Unendlichen  und  Heiligen  zu  weihen  und  zu  erheben;  —  dies  alles  hat 
Herbart  als  den  Gegenstand  einer  Erziehung  erkannt,  welche,  in  sich  völlig 
geeinigt,  auf  die  Bildung  des  ganzen,  sittlichen  und  selbsttreuen  Menschen 
gerichtet  sein  soll.« 

Dieser  Zweck  wird  der  Erziehung  von  der  Ethik  diktiert.  Hier  tritt 
Herbart  in  recht  auffallender  Weise  in  einen  Gegensatz  zu  der,  seine  Zeit 
beherrschenden  spinozistischen  Richtung.  Spinoza  giebt  in  einem  Werke 
als  streng  zusammengehörende  Teile  seine  Metaphysik  und  seine  Ethik. 
Diese  ist  ganz  auf  jene  gebaut.  Ein  analoger  Zusammenhang  beider  Dis- 
ziplinen, der  nur  äufserlich  nicht  so  schroff  wie  bei  Spinoza  hervortritt, 
zeigt  sich  auch  bei  Kant  und  bei  Schleiermacher.  Herbart  hingegen  hat 
die  Ethik  sowohl  von  der  Methaphysik  als  auch  von  der  Psychologie 
strengstens  gesondert.  Man  kann  also  seine  Ethik  lesen  und  beurteilen, 
annehmen  oder  verwerten,  ohne  im  mindesten  metaphysische  oder  psycho- 
logische Fragen  zu  berühren.  Dennoch  flielst  sie  nicht  minder  aus  der- 
selben Denkweise. 

Es  ist  nämlich  Herbart  eigentümlich,  dafs  er  sich  für  seine  philo- 
sophischen Untersuchungen  die  Probleme  von  der  Erfahrung  diktieren 
läfst.  In  den  Naturwissenschaften  wie  im  gemeinen  Leben  spricht  man 
von  Sein  und  Werden  und  Veränderung,  von  Wesen  und  Schein,  von  Ding 
und  Eigenschaft,  von  Einheit  und  Vielheit,  Verbindung  und  Trennung,  von 
Raum  und  Zeit  und  vom  Ich.   Man  gebraucht  diese  Ausdrücke  ohne  jedes 


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Bedenken.  Soll  man  aber  sagen,  was  dieselben  bedeuten,  welche  Berech- 
tigung sie  haben,  so  gerät  man  in  Verlegenheit,  und  die  Verlegenheit  wird 
um  so  gröfser,  je  länger  und  sorgfältiger  man  über  den  Inhalt  jener  Wörter 
nachdenkt.  Diese  Schwierigkeiten  zu  lösen  ist  die  Aufgabe  der  Metaphysik; 
diese  ist  also  die  Wissenschaft  von  den  Grundbegrifien  unseres  gewöhn- 
lichen wie  unseres  wissenschaftlichen  Denkens. 

In  ganz  analoger  Weise  beginnt  Herbart  auch  die  Ethik  und,  was 
dazumal  besonders  auffällig  war,  zugleich  die  Ästhetik.  Du  lobst  und  du 
tadelst;  du  findest  eine  gewisse  That  gut,  recht,  edel,  und  eine  andere 
böse,  unrecht,  gemein;  du  rühmst  ein  Kunstwerk  als  schön  und  verwirfst 
ein  anderes  als  häfslich.  Warum  thust  du  das  eine  und  das  andere?  Die 
Antwort  hierauf  will  Herbarts  Ethik  und  Ästhetik  geben.  Diese  Dis- 
ziplinen erhalten  wie  die  Metaphysik  die  Anrcgnung  durch  die  tägliche  Er- 
fahrung; die  Ausführung  jedoch  wird  konstruktiv,  apriorisch  Der  Mensch, 
sagt  Herbart,  trägt  Ideen  in  sich;  an  diesen  mifst  er  jede  praktische  That 
und  jedes  künstlerische  Gebilde.  Was  diesen  Ideen  entspricht,  findet  er 
löblich,  was  denselben  widerspricht,  tadelnswert  — •  Aufgabe  der  Ethik  und 
Ästhetik  ist  demnach,  die  Ideen  darzustellen  als  die  Mafsstäbe,  an  denen 
wir  jede  That  und  jedes  Bild  messen,  um  demnach  Lob  oder  Tadel  zu 
erteilen. 

Die  Ästhetik  hat  Herbart  selbst  nie  ausgeführt ;  den  Sinn  seiner  Ethik 
aber  soll  uns  Lazarus  (Ideale  Fragen  S.  8)  aussprechen :  »Mannigfaltig  sind 
die  Bestrebungen  der  Menschen;  .  .  .  aber  völlig  unsrer  Neigung,  unsrem 
Willen,  der  erfinderischen  und  zwecksetzenden  Phantasie  entzogen,  doch 
berufen,  sie  alle  in  den  Dienst  zu  nehmen,  stehen  dem  Menschen  die 
ewigen  Ideen  als  unentrinnbare  Forderung  gegenüber  .  .  .  Die  Gestaltung 
und  Erkenntnis  der  Ideen  ist  in  den  Zeiten  und  Menschen  verschieden,  in 
der  Geschichte  wechselnd  und  fortschreitend,  aber  an  sich  sind  sie  ewig, 
die  treibende  Kraft  des  Fortschritts:  An  die  Stelle  des  Unvollkommenen 
soll  das  Vollkommene  treten;  der  Zug  und  Druck  des  begehrlichen,  ab- 
springenden, widerstreitenden  Wollens  soll  der  inneren  Freiheit  des 
Gemütes  weichen;  Streit  und  Hader  soll  die  Gerechtigkeit  schlichten 
und  gedeihliche  Ordnung  stiften  ;  jeder  menschlichen  Handlung  soll  lohnende 
und  strafende  Vergeltung  folgen  nach  dem  Gesetz  der  Billigkeit;  Wohl- 
wollen soll  den  Eigenwillen  überwinden,  Güte  und  Liebe  soll  den  Eigen- 
nutz und  Eigenwillen  besiegen«  —  dies  sind  nach  Herbart  die  fünf  ethischen 
Ideen,  welche  das  ganze  praktische  Getriebe  unserer  heutigen  Gesellschaft 
bilden. 

Ich  habe  schon  bemerkt,  dafs  Herbart  von  der  Ethik  aufs  strengste 
alles  Psychologische  fernhielt.  Wie  der  Theologe  nicht  danach  fragt,  in 
welcher  Weise  Gott  dem  Menschen  sein  göttliches  Gesetz  geoffenbart  haben 
könne,  so  lehnt  Herbart  eine  Erklärung  des  Ursprungs  der  ethischen  Ideen 
ab.  Er,  der  es  als  eine  entschiedene  Anforderung  an  die  Psychologie  hin- 
stellte, zu  zeigen,  wie  die  metaphysischen  und  logischen  Kategorien  sich  im 
Bewufstsein  des  Menschen  bilden,  begnügt  sich  für  die  ethischen  Ideen 
mit  dem  Ausspruche:  möchte  man  sich  ihren  Ursprung  psychologisch  er- 


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klären  können  oder  nicht,  ihre  Erhabenheit,  die  Würde  ihrer  Gebote  und 
die  Strenge  ihrer  Forderungen  bleibt  immer  dieselbe.  Es  scheint  mir  in 
der  That  die  Scheu  vor  ihrer  Heiligkeit,  welche  ihn  niemals  in  seinem 
Leben  daran  denken  liefs,  die  Ideen  in  ihrem  Werden  zu  zeigen. 

Er  trieb  diese  Scheu  bis  zum  Schaden  seiner  Sache.  Was  konnte  er 
denn  erwidern,  wenn  man  ihm  vorgehalten  hätte,  die  Grundidee,  die  Idee 
der  inneren  Freiheit,  sei  unmöglich,  sei  von  keinem  menschlichen  Gemüte 
ausführbar?  Er  kannte  die  zu  seiner  Zeit  in  gewichtigen  Kreisen  geltend 
gemachte  Vorstellung  von  einer  gründlichen  Verderbtheit  des  Menschen- 
geschlechts, von  einer  Unverbesserlichkeit  böser  Charaktere  und  anderer- 
seits den  Begriff  einer  absoluten  Freiheit  —  beide  bekämpfte  er;  aber 
mir  scheint,  er  habe  sich  dabei  der  tüchtigsten  Waffe  begeben,  nämlich 
des  psychologischen  Nachweises  der  Möglichkeit  der  bedingten  Freiheit. 

Von  der  Psychologie,  der  Pädagogik  und  der  Ethik  aus  hätte  ein 
gerader  Weg  zu  einer  Wissenschaft  der  Politik  geführt.  Auch  hat  Herbart 
in  der  That  ganz  vorzügliche  Grundgedanken  über  das  Leben,  das  Ge- 
deihen und  den  Verfall  der  Völker  geäussert,  aber  doch  nur  in  vereinzelten 
Sätzen.  Wie  mir  scheint,  hat  er  in  seinem  praktischen  Verhalten  völlig 
unter  den  Einflüssen  seiner  Zeit  gestanden.  Er  war  ein  echter  Zeitgenosse 
Goethes,  und  vielleicht  weniger  als  an  diesem  könnte  man  in  Herbarts 
Leben  irgend  einen  unedlen  Zug  auffinden.  Wir  alle  von  heute,  auf  den 
Kampf  gestellt,  haben  für  ein  in  sich  vom  Schönen  und  Wahren  gesättigtes 
Leben  keine  rechte  Würdigung.  Herbart  lehrte  in  Göttingen  als  Kollege 
der  berühmten  sieben  Professoren,  schlots  sich  ihnen  aber  nicht  an.  Ihm 
mochte  es  genug  scheinen,  dafs  er  den  Konflikt  nicht  heraufbeschworen 
habe,  und  er  mochte  das  Wohl  der  Göttinger  Universität,  einer  Bildungs- 
stätte nicht  blos  für  Hannoveraner,  sondern  für  das  gesamte  Deutschland, 
ja  für  alle  Kulturvölker,  nicht  geschädigt  sehen  und  mochte  dieselben  höher 
stellen,  als  die  hannoversche  Verfassung.  Die  Gottlosen,  die  den  Eid  ge- 
brochen hatten  und  den  Lehrer  der  Ethik  wie  viele  andere  Beamte  ver- 
hindert hatten,  dem  von  ihnen  geschwornen  Eide  treu  zu  bleiben,  diese  werden, 
so  dachte  Herbart,  für  ewig  von  der  Idee  des  Rechts  verdammt  werden. 

Ich  komme  zum  Schlufs  Wie  sehr  Herbarts  Gedanken  ein  Ferment 
in  den  gegenwärtigen  Geistern  bilden,  könnte  schon  der  über  Deutschland 
verbreitete  Verein  der  Pädagogen  zeigen.  Indessen,  gerade  darum,  weil 
Herbarts  Philosophie  eine  lebendige  ist,  kann  und  mufs  sie  einer  Kritik 
unterworfen  werden.  Ich  kann  es  nicht  oft  genug  wiederholen  und  nicht 
dringend  genug  namentlich  der  Jugend  ans  Herz  legen,  dafs  Kritik  ganz 
etwas  anderes  ist,  als  Polemik:  diese  ist  im  besten  Falle  zerstörend;  jene, 
die  Kritik,  baut  auf,  ist  schöpferisch,  positiv.  Sie  sucht  den  gedanklichen 
Keim  einer  Theorie  auf  und  entwickelt  diesen  nach  dem  Sinne  hin,  der 
demselben  innewohnt,  bei  fortgesetzter,  immer  tiefer  eindringender  Er- 
forschung der  Thatsachen.*)   Wenn  wir  uns  mit  gerechtem  Stolze  rühmen, 

•)  Sehr  wahr.  Leider  «Cheine o  heutzutage  viele  «r  eine  absprechende  Beurteilung  der 
Leistungen  Herberte  mehr  Interesse  in  haben,  als  an  einer  genauen  Einsicht  In  dl«  Sache  selb« 

Der  Herausgeber. 


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unser  heutiges  Deutschland  sei  nicht  mehr  das,  was  es  vor  50  Jahren  war, 
so  kann  freilich  Herbarts  Ethik  unser  heutiges  Getriebe  nicht  mehr  um- 
schliefsen,  und  auch  seine  Pädagogik  reicht  (vielleicht!)  nicht  mehr  aus, 
wie  auch  seine  Psychologie  eine  Erweiterung  schon  erfahren  hat.  Wie  sehr 
nun  aber  auch  Herbart  der  Ergänzung  bedürfen  mag  (ich  will  darüber  nicht 
urteilen),  was  wir  zu  thun  haben,  das  hat  er  uns  gesagt:  dafür  zu  sorgen, 
dafs  das  deutsche  Volk  »eine  beseelte  Gesellschaft«  werde,  das  heifst  eine 
Gemeinschaft,  in  welcher  jedes  Mitglied  den  Grundgedanken  des  Ganzen 
kennt  und  seine  besondere  Stellung  im  Getriebe  des  Ganzen  weifs  und 
durch  die  That  erfüllt. 


2.  Über  den  Beginn  des  Schuljahres 

an  den  Gymnasien  Frankreichs  hat  der  Pariser  Professor  Lavissc  Ge- 
danken geäufsert*),  welche  alle,  die  es  mit  der  erziehenden  Seite  des 
Unterrichtes  Ernst  nehmen,  aufs  Angenehmste  berühren.  Die  erziehende 
Seite  all  unserer  schulischen  Veranstaltungen  kann  nicht  oft  und  eindring- 
lich genug  betont  werden.  Wir  nehmen  darum  einschlägige  Vorschläge  wo 
immer  wir  sie  linden  und  prüfen  vorurteilsfrei  ihre  Richtigkeit  und 
Brauchbarkeit  für  unsere  Anstalten.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  mögen 
hier  die  Hauptgedanken  des  interessanten  Artikels  Aufnahme  finden. 

Der  Verf.  desselben  hat  selbst  13  mal  die  Rückkehr  nach  dem  Gym- 
nasium am  Beginne  des  Schuljahres  erlebt,  die  letzte  ist  ihm  aber  genau 
so  unangenhm  und  peinlich  erschienen  wie  die  erste.  Er  hat  gegen  diesen 
schroffen  Übergang  aus  der  freien  Ferienzeit  in  das  gebundene  Schulleben 
mit  seiner  schweren  geistigen  Arbeit  einen  heftigen  Widerwillen  behalten, 
welcher  ihm  jetzt  noch  auiserordentlich  lebhaft  vor  der  Seele  steht.  Er 
schildert  diese  Rückkehr  zu  Beginn  des  neuen  Schuljahres  ungefähr  so: 

Die  Zöglinge  kehren  am  Vorabende  des  Schulbeginnes  in  ihre  Anstalten 
zurück.  An  der  Thür  finden  sie  nur  den  Pförtner  und  einen  Lehrer,  der  die 
Rückkehr  beaufsichtigt.  Ihr  erster  Weg  aus  der  Studierstube  führt  nach  dem 
Schlafsaal**),  der  erste  Akt  ihres  neuen  Schullebens  besteht  im  Schlafen. 
Am  nächsten  Morgen  weckt  sie  die  Glocke,  in  kleinen  Gruppen  ziehen  sie 
nach  den  Studierstuben.  Erst  in  der  ersten  Freiviertelstunde  löst  sich  die 
Zunge  der  alten  Bekannten;  die  Neulinge  aber  irren  wie  verloren  umher. 
Dann  folgt  die  Messe,  dann  die  erste  Schulstunde,  in  welcher  Stundenplan 

•)  Zuerst  erschienen  Im  Journal  des  D.  batn  unter  dein  Titel  .La  rentree  de*  claases",  dann 
nuchj-'edriickt  in  verschiedenen  politischen  und  pädagogischen  Zeitschriften,  u.  a.  In  No.  10  der 
Revne  pc*dagogique,  deren  Hedakt.  daxu  die  Bemerkung  in  seht,  die  so  nächst  nur  für  die  Gymnasien 
geltenden  Oedanken  seien  nicht  minder  wert  mit  Rücksicht  auf  die  Volks-  und  Mittelschulen,  so- 
wie die  Seminare  erwogen  und  beherslgt  so  werden. 

♦•)  Mit  den  staatlichen  Gymnasien  Frankreichs  sind  Internate  verbunden. 


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und  Bücherverzeichnis  mitgeteilt  werden.  Das  ist  der  Anfang.  Im  Schul- 
hause aber  herrscht  an  diesem  Tage  ein  aufgeregtes  Treiben.  Man  sieht 
Eltern,  besonders  Mütter,  ihre  Kinder  vom  Direktor  zum  Aufseher  (censeur) 
der  Anstalt,  von  da  zum  Wirtschafter  (l'e'conome)  führen,  im  Warteraum 
noch  einmal  Abschied  nehmen  u.  s.  f.,  alles  in  grofser  Eile.  Mit  derselben 
Eile  erledigen  natürlich  die  Beamten  an  diesem  Tage  ihre  Geschäfte,  alles 
trägt  den  Stempel  der  Hast,  des  Ungemütlichen  an  sich.  Das  kann 
dem  Wiederkehrenden  oder  Neueintretenden  unmöglich  eine  angenehme 
Perspektive  für  das  neue  Schuljahr  eröffnen.  Aber  weit  schlimmer  als  dies 
ist  der  Mangel  an  gemeinsamem  Zusammenwirken,  es  fehlt  der  einheitliche 
Geist,  der  <csprit  de  la  maison»,  welcher  dem  Ganzen  Organismus  das 
wahre,  innere  Leben  giebt.  «Bei  Wiederbeginn  des  Schuljahres  (la  rentree) 
wie  er  heute  üblich  ist,  sind  Zöglinge,  Eltern,  Lehrer,  Beamte  —  alle  auf 
eigene  Rechnung  da,  jeder  für  sich  ....  Aber  die  Anstalt,  der  Gesamt- 
Organismus,  welchersich  aus  allen  diesen  Wesen  zusammensetzt,  und  welcher 
notwendigerweise  aus  all  den  Geistern  einen  Gemeingeist  erzeugen  sollte, 
wo  ist  er,  und  wenn  er  vorhanden  ist,  warum  läfst  er  sich  nicht  ver- 
nehmen ?€  Dem  Verfasser  ist  es  kein  Zweifel,  dafs  dieser  Schulbeginn  eine 
«manifestation  collective  de  la  maison»  sein  müsse.  Zur  Erzielung  der- 
selben macht  er  folgende  Vorschläge: 

Zunächst  sollten  die  Schüler  schon  am  Vorabend  von  dem  Direktor 
oder  dem  Anstaltsaufseher  freundlich  empfangen  werden,  man  sollte  ihnen 
die  Hand  zum  Grufs  bieten.  In  der  Studiersube  machen  sie  sich  mit  dem 
Lehrer  bekannt,  der  die  Neulinge  älteren  Schülern  zur  ersten  Führung  zu- 
teilt. Man  lasse  sie  dann  eine  Stunde  lang  plaudern,  lachen,  sich  kennen 
lernen,  bevor  sie  den  Schlafsaal  aufsuchen. 

Der  nächste  Tag  sollte  einen  festlichen  Stempel  tragen.  Am  Morgen 
noch  keine  Schulstunden ,  dagegen  gegenseitiges  Bekanntmachen !  Der 
Lehrer  des  vergangenen  Jahres  übergiebt  seine  Schüler  dem  Nachfolger, 
jeden  begleitet  mit  einigen  Worten,  sei  es  mit  guten,  sei  es  mit  ermahnenden, 
ernsten.  Nachmittags  kommen  alle  Schüler  mit  ihren  Lehrern  in  der 
Aula  zusammen.  Die  Eltern  und  Vertreter  der  Unterrichtsbehörde  sind 
auch  da.  Der  Saal  ist  festlich  geschmückt.  Musikalische  Aufführungen  er- 
öffnen die  Feier.  Zwei  Redner  wurden  schon  früher  bestimmt,  der  Stoff 
des  Vortrages  vorher  gemeinschaftlich  beraten,  in  erster  Linie  dem  Inte- 
resse der  Zöglinge  angepafst,  nicht  wie  es  am  Ende  des  Schuljahres  bei 
der  Preisverteilung  üblich  ist,  voll  von  Lobeserhebungen  der  Wissen- 
schaften, von  ewig  wiederkehrenden  Gemeinplätzen  und  für  die  Schüler 
unverständlichen  Redensarten.  Am  Abend  endlich  vereinigt  alle  noch 
einmal  eine  gemütliche  Unterhaltung,  in  welcher  besonders  Eltern  und 
Kinder  in  buntem  Durcheinander  die  letzten  gemeinsamen  Stunden  ver- 
bringen. 

Man  wende  nicht  ein,  dafs  diesen  feierlichen  Aktus  am  Nachmittage 
des  ersten  Schultages  die  Feier  der  Preisverteilung  am  Ende  des  Schul- 
jahres ersetze:  die  Teilnahme  an  derselben  ist  nicht  allgemein,  da  sie  den 
Schülern  freigestellt  ist,  Inhalt  und  Form  der  Vorträge  ist  für  die  Akademie 


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berechnet,  die  Auswahl  der  Konzertstacke  willkürlich,  das  Verlesen  des 
«palmares»,  der  Preisliste,  rein  äufscrlichcr  Natur.  Auch  hier  müfste  es 
besser  werden.  Gerade  der  Jahresschlufs  bietet  Anlafs  zu  einer  Fülle  von 
erziehlich  wirkenden  Betrachtungen  über  Studien,  sittliches  Verhalten  Einzel- 
ner und  ganzer  Klassen  u.  s.  f.  Das  «palmares»  ist  überall  dasselbe  und 
man  führt  sich  doch  nicht  überall  gleichmäfsig  auf!  Je  spezieller  diese 
Betrachtungen  wären,  welche  der  Unter-,  der  Mittel-  und  der  Oberstufe 
angepafst  sein  müssen,  desto  mehr  würden  die  Zuhörer  davon  günstig  be- 
einflufst.  Kurz,  der  Schlufs  des  Jahres  müfste  eine  Rechenschaft  des  Ge- 
wissens der  Anstalt  («une  recapitulation  de  conscience»)  bilden. 

Jene  freundliche  Aufnahme  und  gemütvolle  Aufmunterung  zu  Beginn 
des  Schuljahres  und  diese  Rückschau  am  Ende  desselben,  beides  in  festliche 
Formen  gefafst,  müssen  die  Eckpfeiler  des  Schuljahres  bilden.  Sie  werden 
das  Bcwulstsein  von  der  gemeinschaftlichen  Verantwortlichkeit  bei  den 
Lehrern  erhöhen,  die  Schüler  aber  werden  sich  als  Teile  eines  Ganzen, 
als  Glieder  einer  lebenden  Gemeinschaft  fühlen  lernen,  der  «esprit  de  la 
maison»  zum  allgemeinen  Wohle  gefördert  werden.  — 

Diesen  Ausführungen  des  Verfassers,  welche  sein  tiefes  Verständnis 
für  das  innere  Wesen  solcher  Schulorganismen  zeigen,  brauchen  wir  wohl 
nichts  beizufügen.  Was  notwendig  ist,  ist  ein  Vergleich  dieser  Zustände 
mit  denen  daheim  im  engsten  Wirkungskreise  und  eine  Beherzigung  der 
überzeugungsvoll  und  warm  vorgebrachten  Vorschläge.  Das  mufs  aber  dem 
Einzelnen  überlassen  bleiben. 

Jena.  Edm.  Scholz 


Das  herbartische  System  hat  in  Amerika  kürzlich  eine  erweiterte  An- 
erkennung gefunden  in  einer  neugegründeten  pädagogischen  Zeitschrift. 
Es  ist  dies  die  Kducotloual  Review,  welche  seit  dem  ersten  Jan.  1891  in 
New-York  erscheint  (Verlag  von  Henry  Stolt  u.  Co.)  und  von  Dr.  Nich- 
olas  Murray  Buttlcr,  Professor  der  Philosophie  am  Columbia  College, 
N.  Y.,  herausgegeben  wird  Unter  den  Mitarbeitern  befinden  sich  die  be- 
kanntesten und  besten  der  pädagogischen  Denker  Amerikas.  Es  werden 
hier  nicht  nur  Untersuchungen  und  Erörterungen  über  pädagogische  Pro- 
bleme, die  von  unmittelbarem  Interesse  für  das  Schulwesen  Amerikas  sind, 
angestellt,  sondern  es  wird  auch  ein  prüfender  Blick  auf  Systeme  und 
Resultate  fremder  Staaten,  insbesondere  Europas,  geworfen,  und  zwar  in 
einer  viel  fruchtbareren  Weise,  als  es  sonst  bei  irgend  einer  amerikanisch- 
pädagogischen  Zeitschrift  der  Fall  gewesen  ist.    Mit  Ausnahme  des  August 


3.  Eine  neue 


-pädagogische  Zeitschrift 


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und  September  erscheint  die  Review  monatlich.  Der  Preis  des  Einzel- 
heftes beträgt  M.  1,40;  der  jährliche  Abonnementspreis  für  die  zehn  Hefte, 
12  Mk. 

Schon  in  dem  ersten  Hefte  wurde  eine  Reihe  von  Artikeln  über  «Das 
herbartische  System  der  Pädagogik, >  von  Dr.  Charles  de  Garmo. 
Präsident  des  Swarthmore  College  angefangen.*)  Diese  Artikel  stellen  das 
herbartische  System  als  Ganzes  zum  ersten  Male  den  Pädagogen  Amerikas 
dar,  doch  innerhalb  ganz  eng  begrenzter  Umrisse.  Der  Verfasser  hebt 
weiter  die  Bedeutung  des  betreffenden  Systems  für  die  Pädagogen  der  ver- 
einigten Staaten  hervor,  indem  er  den  wissenschaftlichdn  Charakter  des 
Wesens  als  besonders  wertvoll  dem  gegenwärtig  herrschenden  Empiris- 
mus gegenüber  betont.  Zunächst  erwähnt  er  die  Gliederung  der  her- 
bartischen  Philosophie  in  Metaphysik,  Psychologie,  Ethik  und  Pädagogik 
und  fährt  mit  einer  kurzen  Darstellung  der  Hauptzüge  derselben  (mit 
Ausnahme  der  Metaphysik)  fort. 

Behufs  der  Psychologie  hebt  er  die  grofsen  Verdienste  Herbarts,  als  Be- 
gründer der  empirischen  Psychologie  und  Widerleger  der  alten  herkömmlichen 
Hypothese  der  drei  Seelenvermögen  hervor  und  giebt  einen  ganz  kurzen 
Oberblick  der  herbartischen  Psychologie.  Bei  der  Ethik  erwähnt  er  haupt- 
sächlich die  Methode  Herbarts  alle  moralischen  Gesetze  auf  nicht  weiter 
zurückführbaren  Grund  begriffen  aufzubauen.  Dann  zählt  er  die  fünf  Grund- 
ideen auf.  Die  Abhandlung  über  das.  System  der  Pädagogik  nimmt  weitaus 
den  gröfsten  Teil  der  drei  Artikel  in  Anspruch,  obschon  der  Verfasser  in 
so  wenigen  Worten  kaum  mehr  als  eine  Zergliederung  in  den  Haupt- 
punkten geben  konnte.  Hier  zunächst  erwähnt  er  die  Idee  der  «gleich- 
schwebenden Vielseitigkeit  des  Interesses»,  und  die  verschiedenen  Inter- 
essen, die  man  zu  zählen  pflegt.  Dann  berührt  er  die  Dreiteilung  des 
pädagogischen  Gebiets  in  Unterricht,  Regierung  und  Zucht,  und  schliefst 
eine  kurze  Bestimmung  dieser  Begriffe  an.  Endlich  berührt  er  in  ähnlicher 
Weise  die  Prinzipien  der  Konzentrazion  und  der  formalen  Stufen,  und 
die  Pflege  des  religiösen  Gefühls  ohne  Rücksicht  auf  die  dogmatische 
Religion. 

Wir  können  den  Schluls  des  Verfassers  wohl  zugeben,  dafs  es  eine 
schwierige  Aufgabe  sei,  ein  so  wichtiges  und  weit  entwickeltes  System  in 
drei  kurzen  Artikeln,  selbst  in  den  allgemeinsten  Hauptzügen  darzustellen. 
Nichts  desto  weniger  müssen  wir  uns  gestatten  ein  Wort  der  Kritik  anzu- 
schliefsen.    Es   erscheint  uns   nötig,   dafs   ein  Umrifs  der  Hauptzüge 


*)  Prof.  de  Garmo  wurde-  1849  In  Wisconsin  geboren.  Den  ersten  Unterrloht  erhielt  er  in 
den  B&rgerachulen  «eine*  Heimatstaates.  Später  bezog  er  das  Lehrerseminar  von  Illinois,  State» 
Normal,  von  welche  er  1873  abging.  Von  da  ab  war  er  10  Jahre  an  denm  Volksschulen  von  Illinois 
ttt&tlg,  wahrend  weloher  Zeit  er  S  Jahre  den  Sehnten  von  Naples  vorstand.  Im  Jahre  1883  ging  er 
mit  seiner  Frau  ins  Ausland  und  studierte  3  Jahre  auf  den  deot sehen  Universitäten  Jena  nnd  Halle, 
welch  letztere  ihm  1884$  den  Grad  eines  Dr.  Ph.  verlieh.    Nach  Amerika  zurückgekehrt  begab  er 

Sprachen  ein.  Diesen  behielt  er,  bis  er  als  Professor  der  Philosophie  und  Pädagogik  an  die  Staats - 
uuiversit&t  zu  Champalgne  berufen  wurde. 


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-    97  — 

dieses  Systems  vor  allem  das  Ineinandergreifen  und  die  gegenseitige 
Unterstützung  der  Grundwissenschaften  (Psychologie,  Ethik  und  Pädagogik) 
stark  hervorheben  soll.  Unseres  Erachtens  ist  dies  keineswegs  in  den  be- 
treffenden Artikeln  der  Fall.  Im  Gegenteil  ist  z.  ß.  die  Darstellung  der 
Formalen  Stufen  sehr  wenig  im  Einklang  mit  der  Psychologie  Herbarts, 
was  allerdings  der  Fall  sein  soll,  da  die  sogenannten  Formalen  Stufen  keine 
willkürliche  Schabtone,  sondern  eine  durch  die  geistigen  Gesetze  bedingte 
Methode  des  Verfahrens  im  Unterricht  überhaupt  aufzeigen.  Zufolge  dieses 
Mangels  bietet  die  Abhandlung  über  die  Formalen  Stufen  nur  dem  schon 
Orientierten  etwas  Verständliches  dar. 

Betreffs  der  Formalen  Stufen  möchten  wir  betonen,  dafs  diese  gar 
nicht  berührt  werden  sollten  ohne  den  Begriff  der  methodischen  Einheit 
zur  Geltung  zu  bringen,  was  für  eine  vernünftige  Anwendung  und  für  ein 
richtiges  Verständnis  der  Formalen  Stufen  unbedingt  notwendig  ist. 

Um  noch  eines  von  mehreren  Beispielen  anzuführen,  glauben  wir,  der 
Verfasser  habe  noch  lange  nicht  genügend  den  Zusammenhang  der  drei 
Prinzipien  betreffs  des  Nach-  und  Nebeneinanderreihens  des  Stoffes,  und 
der  methodischen  Behandlung  des  letzteren,  hervorgehoben.  Diese  Be- 
dingtheit der  Idee  der  Konzentration  durch  die  der  kulturhistorischen 
Stufen,  und  die  der  Idee  der  Formalen  Stufen  durch  die  Idee  der  Konzen- 
tration wird  sehr  häufig  zu  wenig  beachtet,  während  die  Praxis,  der  Ur- 
heber und  Fortsetzer  des  Systems,  beweist,  dafs  eine  freie  und  vernünftige 
Beobachtung  dieses  Zusammenhangs  dem  Hauptziele  des  erziehenden  Unter- 
richts, bez.  der  Bildung  des  Gesamtcharakters,  am  günstigsten  wirkt. 

Sonst  sind  die  Artikel  des  Hrn.  De  Garmo  klar  und  gut  ge- 
schrieben und  verdienen  die  Beachtung  und  Dankbarkeit  der  amerikanischen 
Pädagogen.  Wir  können  der  Meinung  des  Verlassers  wohl  beistimmen, 
dafs  es  kein  anderes,  so  inhaltreiches  und  bedeutendes  System  giebt.  Ob- 
schon  er  Bedenken  zu  tragen  scheint,  ob  das  ganze  System  in  den  Schulen 
der  Vereinigten  Staaten  angewandt  werden  kann,  glauben  wir  doch,  dafs 
die  Versuche  der  Zukunft  die  Allgemeingültigkeit  der  herbartischen  Grund- 
prinzipien auch  für  diese  Schulen  beweisen  werden.  Im  Schlufs  empfiehlt 
der  Hr.  Verfasser  den  Pädagogen  Amerikas  ein  eingehendes  Studium  des 
in  seinen  Artikeln  im  Umrifs  geschilderten  Systems,  und  bemerkt,  dafs  der 
Kreis  der  amerikanischen  Herbartianer  stets  wächst.  Unter  denselben  be- 
finden sich  einige  der  ernstlichsten  Erzieher  Amerikas,  von  denen  bald 
neue ,  treffende  Auffassungen  und  Dienste  auf  dem  Gebiete  des  Schul- 
wesens zu  erwarten  sind. 


In  dem  Hefte  für  Februar  erschien  eine  Übersetzung  einzelner  Teile 
aus  dem  amtlichen  Bericht  über  die  Rede  des  Kaisers  vor  der  Kommission 
für  Schulreform  in  Berlin. 


Pädagogische  Studien.  U 


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In  dem  März-Hefte  befindet  sich  eine  kurze  Abhandlung  über  »The 
results  of  the  Prussian  Commission  on  School-reform«,  von  Henry  Wood, 
und  im  Hefte  für  April  eine  Diskussion  der  Bewegung  für  eine  Einheits- 
schule in  Deutschland,  von  L.  R.  Klemm.  In  demselben  Hefte  erschien 
eine  sehr  günstige  Anzeige  der  »Pädagogik  im  Grundrifs«  (Sammlung 
Göschen,  Stuttgart  1890)  von  Prof.  Dr.  W.  Rein,  Jena.  Besonders  hervor- 
gehoben werden  die  Klarheit  der  Sprache,  die  besondere  Füglichkeit.  als 
übersichtliche  Einleitung  in  die  Pädagogik  zu  dienen  und  die  trefflichen 
und  reichhaltigen  Literaturnachweise. 


Im  Mai-Heft  erschien  eine  Abhandlung  über  Geschichtsunterricht  in 
den  unteren  Schulen  (The  Teaching  of  History  in  the  Elementary  Schools) 
von  Lucy  M.  Salmon.   

Nach  einer  kurzen  historischen  Einleitung  seit  Diesterweg  zählt  die 
Verfasserin  die  vorhandenen  Mängel  auf,  die  auf  dem  Gebiete  des  Ge- 
schichtsunterrichts vorherrschen.  Unter  den  Richtungen,  die  sich  inbezug 
auf  Geschichtsunterricht  geltend  gemacht  haben,  werden  die  Folgenden 
angestellt:  1.  Ein  wachsendes  Interesse  an  dem  Studium  der  Geschichte. 
2.  eine  Anerkennung  der  Vorteile,  die  man  durch  eine  Vergleichung  ver- 
schiedener Unterrichtsmethoden  gewinnt.  3.  Der  vorherrschende  Einflufs 
der  deutschen  Ideen.  4.  ein  offenbares  Mifsverhältnis  in  dem  Ansehen  der 
Geschichte  in  den  höheren  Anstalt«n  und  in  den  Volksschulen. 

Nach  Angabe  dieser  Punkte,  und  besonders  nach  Hervorhebung  des 
zuletzt  erwähnten  Mifsverhältnisses,  das  sich  in  dem  Mangel  an  Geschichts- 
unterricht überhaupt  in  den  Volksschulen  in  der  kurzen  Zeit,  die  darauf 
in  den  höheren  Schulen  verwandt  wird,  offenbart,  geht  die  Verfasserin  von 
dem  Standpunkt  aus,  dals  dieses  Fach  von  Anfang  an  berücksichtigt  werden 
mufs;  und  zwar  mit  dem  Gedanken,  dafs  ein  Hauptdienst  dieses  Studiums 
sei,  den  Verstand  im  Fällen  von  Urteilen  zu  üben.  Weiter  erwähnt  sie  das 
Prinzip  der  Konzentration  als  eins,  das  irgendwie  angewandt  werden  mufe. 
wenn  je  die  vollen  Kräfte  der  Zöglinge  zur  Geltung  gebracht  werden  sollen. 
Über  das  W  i  e  wagt  sie  aber  nicht  zu  entscheiden.  Durch  ihre  eigenen 
Worte  sieht  man  sogleich,  dafs  die  Verfasserin  schon  unter  dem  Einflufs 
herbartischcr  Gedanken  st.ht.  Es  zeigen  die  in  den  Fufsnoten  von  ihr 
zitierten  Werke,  dafs  sie  schon  eine  gründliche  Leserin  herbartischer 
Schriften  ist.  Im  betreffenden  Artikel  hat  sie  ja  sogar  einige  Hauptprinzipien 
des  Systems  (obschon  nicht  gerade  als  herbärtisch  bezeichnet)  im  Allge- 
meinen für  erforderlich  anerkannt,  obschon  in  einem  Satze  die  folgende 
Meinung  geäufsert  wird:  »Es  kann  sein,  dafs  es  nicht  möglich  noch  klug 
ist,  alle  Fächer  den  ganzen  Schulkursus  hindurch  um  Robinson,  Grimms 
Märchen  und  biblische  Erzählungen  rotieren  (!)  zu  lassen.«  Dieser  Satz 
zeigt  eine  noch  recht  mangelhafte  Auffassung  der  Konzentration,  die  man 
vielleicht  erst  erwarten  kann,  wenn  die  betreffende  Person  Gelegenheit 
gehabt  hat,  das  Prinzip  in  richtiger  praktischer  Anwendung  zu  beobachten. 


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.   


—    99  — 


Trotzdem  will  sie  das  Prinzip  angewandt  sehen  und  fuhrt  einige  treffliche 
Beispiele  an  aus  »dem  dritten  Schuljahr«.  Im  Schlüsse  werden  folgende 
Forderungen  aufgestellt:  i.  Ein  bestimmter,  allgemeiner  Eindruck  des 
Fortschreitens  der  geschichtlichen  Ereignisse,  vaterländischer  und  aus- 
ländischer. 2.  Eine  ziemliche  Anzahl  geschichtlicher  Thatsachen,  als  Material. 
3.  Gebrauch  des  Materials,  —  Assimilation  durch  die  Thätigkeit  der 
Urteilskraft  und  Vernunft.  4.  Endlich,  weit  mehr  Unterricht  in  der  Ge- 
schichte für  die  Elementarschulen  (Volksschulen). 

In  ihren  Schlufsfolgen  und  besonders  in  ihrer  Forderung,  dafs  die 
Geschichte  in  den  Volksschulen  zur  Geltung  gebracht  werde,  sowie  dafs 
die  vollen  Kräfte  der  Zöglinge  durch  das  Prinzip  der  Konzentration  ge- 
weckt werden,  können  wir  der  Verfasserin  beistimmen  und  ihr  und  den- 
jenigen anderen,  die  sich  für  die  Lösung  der  betreffenden  Probleme  inter- 
essieren, ein  weiteres,  gründliches  Studium  herbartischer  Prinzipien  in 
ihrem  Zusammenhang  empfehlen. 

Jena  Van  Liew. 


4.  Leibesübungen  und  Turnspiele  in  alter  und  neuer  Zeit. 

Die  Kräftigung  des  Körpers  durch  Schwimmen,  Bogcnschiefscn,  Ringen 
und  Laufen  war  schon  den  ältesten  Völkern  eigen  und  bildete  den  Haupt- 
bestandteil ihrer  Jugenderziehung.  Waren  doch  Kampf  und  Krieg  des 
Mannes  vornehmstes  Geschäft,  das  erlernt  werden  mufstc.  Mit  diesen 
Äufserungen  einer  allerdings  noch  rohen  und  ungezügelten  Kraft  verband 
die  fortgeschrittene  Kultur  allmählich  höhere,  geistige  Zwecke.  In  dieser 
Hinsicht  gebührt  dem  erleuchteten  Griechenvolke  das  grofse  Verdienst, 
durch  Verbindung  von  gymnastischen  Spielen  und  musischer  Kunst  eine 
harmonische  Ausbildung  des  Menschen  erzielt  zu  haben.  Im  alten  Rom, 
dem  Kriegerstaate  ist  eine  ähnliche  Erscheinung  nicht  wahrzunehmen; 
wohl  wurden  auch  dort  recht  lleifsig  Körperübungen  veranstaltet,  aber  alle 
Thätigkeiten  dieser  Art  dienten  nur  dem  einen  Zwecke:  der  Wehrhalt- 
machung  und  der  Kriegstüchtigkeit.  Nicht  anders  als  der  Römer  fafste 
der  heidnische  Germane  die  Leibesübungen  auf;  das  Werfen  der  Lanze, 
das  Schiefsen  mit  Pfeil  und  Bogen,  Laufen,  Reiten,  Schwimmen  —  dies 
alles  war  nur  Vorbereitung  auf  den  Krieg,  wie  überhaupt  alies  Spielen  der 
Jugend  jener  Zeit  ein  kriegerisches  Gepräge  trug.  Einige  Jahrhundertc 
später,  zur  Zeit  der  Blüte  des  Rittertums,  fanden  Bewegungsspiele  und 
körperliche  Ausbildung  auf  den  Burgen  eifrige  Ptlege;  umfäfste  die  ritter- 
liche Erziehung  doch  nicht  weniger  als  nachfolgende  sieben  Künste  (pro- 
states): Reiten,  Schwimmen,  Pfeilschicfsen,  Fechten,  Jagen,  Schachspielen 

7* 


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und  Verse  machen.  »So  waren  die  Burgen  Anstalten  für  ritterliche  Spiele, 
körperliche  Übung  und  geistige  Kultur.  (Cramcr.)  Wie  aber  sah  es  im 
Mittelalter  mit  den  Leibes  Übungen  aller  derer  aus,  deren  Stand  das 
Kämpfen  im  Felde  ausschlofsr  Von  Bewegungsspielen  kannte  der  gewöhn- 
ic  hc  Mann  eigentlich  nur  das  Ballspiel.  Dies  wurde  bei  allen  Volksfesten 
auf  dem  freien  Wiescnplane,  oder,  und  dies  war  namentlich  in  den  Städten 
späterer  Jahrhunderte  der  Fall,  in  eigens  dazu  erbauten  Häusern,  den 
Ballhäusern,  aufgeführt.  Von  geschichtlicher  Bedeutung  bleibt  wohl  für 
alle  Zeiten  das  Ballhaus  in  Versailles,  in  welches  Bailly  den  dritten  Stand 
führte,  und  woselbst  er  die  Deputierten  schwören  liefs,  sich  nicht  eher  zu 
trennen,  bis  die  Konstitution  des  Königreichs  aul  gediegener  Grundlage 
erbaut  und  gefestigt  sei.  Als  mit  der  Zeit  Musik  und  Ballspiel,  die  früher 
innig  mit  einander  verbunden  waren,  sich  trennten,  blieb  doch  noch  der 
Name  »Ball«  für  unsere  Tanzfestlichkeiten  bestehen.  Man  ersieht  hieraus, 
welche  Bedeutung  genanntem  Bewegungsspiele  beigelegt  wurde.  Andere 
Spiele  waren  dem  niederen  Volke  wenig  oder  gar  nicht  bekannt.  Wie 
konnte  dies  auch  anders  sein  in  einer  Zeit,  in  welcher  die  Ertötung  des 
Fleisches  gewissermafsen  als  Erziehungsmaximc  obenan  gestellt  wurde? 
War  doch  die  Kirche  des  Mittelalters  in  dem  Wahne  befangen,  dafs  das 
sündhafte  Fleisch  auf  eine  hygienische  und  ästhetische  Kultur  keinen  An- 
spruch erheben  dürfe,  dals  der  Christ  nur  dem  Geiste  leben  müsse.  Wohl 
fehlte  es  auch  nicht  an  Pädagogen,  die  mit  Wort  und  Schrift  für  die  leib- 
liche Ausbildung  eintraten.  Erwähnt  sei  nur  Luther,  welcher  die  »Leibes- 
übungen und  das  Ritterspiel  für  nützliche  Künste  hielt,  die  geschickte 
Gliedmafsen  am  Leibe  machten  und  die  Gesundheit  erhielten.«  Auch  Zwingli 
ist  ein  warmer  Fürsprecher  der  »Fechtübungen«.  Montaigne  fordert:  »Es 
ist  nicht  genug,  den  Zögling  geistig  anzustrengen,  auch  die  Muskeln 
müssen  gekräftigt  werden.  Auf  die  Spiele  und  Leibesübungen,  das  Laufen, 
das  Ringen,  den  Tanz  werden  wir  grofsen  Fleifs  verwenden  müssen.  Ich 
wünsche,  dafs  der  äufsere  Anstand  und  ein  gefälliges  Wesen  zugleich  mit 
der  Seele  sich  bildete.  Man  erzieht  nicht  eine  Seele,  nicht  einen  Leib, 
sondern  einen  Menschen,  man  mufs  nicht  zwei  daraus  machen  und  nicht 
das  eine  ohne  das  andere  bilden  wollen,  sondern  sie  wie  ein  Paar  an  einen 
Wagen  gespannte  Pferde  gleichmäfsig  leiten.«  Comenius  suchte  die  Leibes- 
übungen in  das  allgemeine  System  des  Schulunterrichts  einzuführen,  in  dem 
15.  Kapitel  seiner  grofsen  Unterrichtslehre  verbreitet  er  sich  ausführlich 
über  die  betreffende  Materie.  Leider  wurden  die  Wünsche  und  Forde- 
rungen der  soeben  genannten  Männer  nicht  erfüllt,  ihr  Ruf  verhallte  unge- 
hört  in  einer  unruhvollen  und  schweren  Zeit.  Erst  dem  vorigen  Jahr- 
hundert, seiner  philosophischen  und  pädagogischen  Strömung  sollte  es  vor- 
behalten bleiben,  nach  dieser  Seite  eine  Wandlung  zum  Bessern  folgen  zu 
lassen.  Ich  brauche  nicht  lange  bei  der  Ausführung  vorstehender  Behaup- 
tung zu  verweilen,  die  Bestrebungen  eines  Rousseau,  Basedow,  Salzmann 
sind  ebenso  bekannt  wie  die  eines  Jahn  und  seiner  Anhänger,  nicht  minder 
ihre  harte  und  ungerechte  Verurteilung  seitens  der  Regierungen.  In 
unserer  Zeit  ist  es  wieder  besser  geworden.    Lauter  als  jemals  hallt  jetzt 


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der  Rui  nach  Leibesübungen  durch  die  pädagogische  Welt,  namentlich 
seitdem  die  Erörterung  der  Überbürdungsfrage  gezeigt,  dafs  unsere  Jugend 
mehr  spielen  mufs.  >Wenn  unsere  Jugend  spielt,  dann  fällt  auch  die  Über- 
bürdungsfrage.« Das  ist  die  Resolution,  zu  welcher  die  Mitglieder  des 
Schulvereins  der  Rheinlande  und  Westfalens  sich  entschlossen.  Die  Lösung 
einer  hohen  und  herrlichen  Aufgabe  fällt  demnach  den  Bewegungsspielen 
zu,  sie  sollen  sein  ein  Ausgleicher  einer  einseitigen  geistigen  Bildung  durch 
Förderung  körperlicher  Gewandtheit  und  Rüstigkeit.  Aber  auch  die  sitt- 
liche Seite  des  Menschen  sollen  sie  stärken  und  pflegen.  Ein  bekannter 
Freund  der  Leibesübungen  äufsert  sich  ungefähr  in  nachfolgender  Weise: 
»Im  geselligen  Zusammensein  mit  Seinesgleichen  lernt  der  Schüler  allmäh- 
lich einsehen,  dafs  ohne  Unterordnung  des  Einzelnen  unter  das  Ganze 
etwas  Rechtes  nicht  gedeihen  kann;  er  lernt  seiner  Natur  Zwang  anthun, 
sein  eigenwilliges  und  trotziges  Wesen  aufgeben.  Im  Turnen  und  beim 
Spiel  wird  ihm  ein  Mals  gegeben,  seine  Kraftmehrung  zu  erkennen,  eine 
Richterwage  geboten,  seinen  Eigenwert  zu  prüfen,  ein  Spiegel  vorgehalten, 
sich  in  seiner  wahren  Gröfse  zu  schauen.«  So  ist  das  Spiel  einem  sitt- 
lichen Anschauungsunterrichte  vergleichbar,  der  den  zukünftigen  Bürger 
mit  allen  den  Eigenschaften  auszurüsten  sucht,  welche  zum  Leben  in  Ge- 
meinde und  Staat  unentbehrlich  sind.  Pflegen  und  fördern  wir  also  das 
Spielen,  so  stellen  wir  unsere  Thätigkeit  in  den  Dienst  einer  Sache,  die  in 
sozialer  Hinsicht  von  grofser  Bedeutung  ist.  Allerdings  ist  mit  dem  An- 
regen zum  Spiel  und  dem  Spiclenlassen  unsere  Aufgabe  noch  nicht  gelöst, 
wie  in  allen  andern  Fächern,  so  gilt  es  auch  hier,  Lust  und  Liebe  zum 
Ding,  Interesse  für  das  Spielen  zu  erwecken,  dafs  nicht  blofs  die  schul- 
pflichtige, sondern  auch  die  der  Schule  entwachsene  Jugend  noch  spielt. 
In  dieser  Hinsicht  können  wir  von  unsern  Nachbarn  im  Norden,  Westen 
und  Süden  noch  viel,  recht  viel  lernen.  Englands  Rasenplätze,  (bowlinggrecns), 
sind  berühmt,  die  Ballspiele  daselbst  aufserordentlich  mannigfaltig,  sie 
werden  von  den  Frauen  um  die  tansy  cakes  (Wurmkrautkuchen?),  von 
den  Männern  um  Geldsummen,  von  den  Kindern  der  Belustigung  wegen  ge- 
spielt. Neben  England  verdient  Italien  mit  seinen  kostspieligen  Ballplätzen 
und  beliebtem  ginoco  di  ballonc  Erwähnung.  Auch  in  Frankreich  regt  es 
sich  allerorten,  die  reifere  Jugend  zum  Bewegungsspiele  zu  ermuntern;  die 
hitzigsten  und  leidenschaftlichsten  »Patrioten«  stehen  an  der  Spitze  dieser 
Bewegung.  Allerdings  merkt  man  auch  hier  die  Absicht  und  wird  ver- 
stimmt. In  unserm  deutschen  Vaterland  ist  Görlitz  die  Stadt,  welche  be- 
züglich der  leiblichen  Ausbildung  an  der  Spitze  aller  deutschen  Städte 
steht.  Dort  hat  der  Verein  »Handfertigkeit  und  Jugendspiel«  das  Spiel  zu 
wirklichen  Volksfesten  gestaltet,  die  sich  reger  Beteiligung  erfreuen. 

»Nicht  nur  der  gröfste  Teil  der  Schüler  des  Gymnasiums,  des  Real- 
gymnasiums, der  höheren  Bürgerschule  und  der  drei  oberen  Klassen  der 
Gemeindeschule  nimmt  an  den  festgesetzten  Spieltagen  an  den  Übungen 
freiwillig  teil,  sondern  auch  der  Versuch,  die  der  Schule  entwachsenen 
jungen  Leute,  die  Lehrlinge  des  Kaufmanns-  und  Handwerkerstandes  für 
die  Spiele  zu  gewinnen,  ist  in  überraschender  Weise  geglückt.    An  jedem 


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Sonntag  finden  sich  um  3  Uhr  nachmittags  oft  etwa  200  dieser  Lehrlinge 
auf  dem  städtischen  Turnplatze  ein,  um  unter  Leitung  des  Oberturnlehrers 
Jordan  und  einiger  dafür  gewonnenen  Gemeindeschullehrer  sich  der  harmlosen 
Freude  des  Spielens  hinzugeben.  Auch  hat  sich  bereits  eine  Vereinigung 
von  zum  Teile  den  höheren  Standen  angehörigen  Männern  gebildet,  welche 
sich  allwöchentlich  zu  bestimmter  Stunde  zur  Übung  von  geeigneten  Spielen 
auf  dem  städtischen  Turnplatze  zusammenfinden.«  Dr.  Eitner.  Dafs  die 
gute  Sache  immer  weiter  gedeihe,  mufs  der  Wunsch  eines  jeden  Freundes 
wahrer  Volkswohlfahrt  sein. 

Nachdem  ich  einen  kurzen  Überblick  über  Entstehung  und  Bedeutung 
des  Jugendspiels  gegeben,  wende  ich  mich  Jzu  Ausführungen,  die  mehr 
praktischer  Natur  sind.    Diese  Erörterungen  betreffen  die  3  Fragen: 

1.  Welcher  Art  sollen  die  Spiele  sein? 

2.  Welche  Zeit  eignet  sich  zum  Einüben? 

3.  Wie  verhalten  wir  uns  beim  Spiel? 

Die  Beantwortung  der  ersten  Frage  läfst  sich  nicht  genau  fixieren. 
Wie  in  allen  anderen  Disziplinen,  so  gilt  auch  hier  der  Grundsatz:  Indi- 
vidualisiere, beachte  Alter,  körperliche  Entwickelung.  Für  kleinere  Schüler 
eignen  sich  demnach  die  leichtesten  und  einfachsten  Bewegungsspiele 
(Haschen,  Blindekuh  und  ähnliche),  gröfsere  finden  Lust  an  solchen 
Übungen,  die  ihren  Mut,  ihre  Kraft,  List  und  körperliche  Rüstigkeit  heraus- 
fordern. (Ball-  und  Jagdspiele,  Ringen  u.  drgl.)  Es  liegt  aufserhalb  des 
Rahmens  dieser  Arbeit  ein  Verzeichnis  der  für  die  verschiedenen  Klassen 
passenden  Spiele  anzugeben;  bemerkt  sei  nur  noch,  dafs  das  Spiel  jedem 
Schüler  Gelegenheit  geben  mufs,  seine  Kräfte  zu  regen  und  seine  Ge- 
wandtheit zu  zeigen,  dafs  auch  hier  der  Grundsatz  gilt:  »Schliefs*  an  Be- 
kanntes dich  an.»  Die  von  dem  Schüler  mitgebrachten  Spiele  mögen  be- 
nützt werden,  ein  Aufdrängen  fremder  Spiele  dürfte  nicht  ratsam  sein, 
dem  Takte  und  der  richtigen  Auswahl  des  Lehrers  ist  hier  ein  weites 
Feld  eröfinet.    Von  dem  uns  zu  Gebote  stehenden  Material  erwähne  ich: 

Wafsmannsdorf,  Lieder  und  Liederrcigen, 

Dr.  Kloss,  Das  Turnen  im  Spiel, 

Spielbücher  von  Lausch,  Stangenberger  und  Seidel, 

Dr.  Eitner,  Jugendspiele. 

Letztgenanntes  Schriftchen  enthält  nicht  blofs  Spiele  für  Knaben, 
sondern  auch  für  Erwachsene,  im  Anfang  giebt  der  Verfasser  eine  kleine, 
aber  gediegene  Auswahl  recht  gefälliger  Reigenspiele  für  die  oberen  Klassen 
der  Volkschulen. 

Welche  Zeit  eignet  sich  zum  Spiel,  wann  üben  wir  dasselbe? 

In  der  Turnstunde,  wofern  besondere  Spielstunden  auf  dem  Lektions- 
plane nicht  angesetzt  sind.  Über  die  Frage,  welcher  Teil  der  Turnstunde 
der  zum  Spiel  geeignetste  ist,  wurde  schon  öfters  gesprochen.  Jede  vor- 
gebrachte Meinung  hat  ihre  Berechtigung,  doch  dürfte  nach  meinen  lang- 
jährigen Beobachtungen  die  letzte  Viertelstunde  empfehlenswert  sein.  Zu 


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Anfang  der  Turnstunde  oder  in  der  Mitte  derselben  zu  spielen,  ist  nicht 
rätlich,  da  durch  die  mehr  oder  weniger  freie  Bewegung  im  Spiel  eine 
leicht  erklärliche  Aufregung  eintritt,  welche  die  für  das  Turnen  so  nötige 
Strammheit  und  Ruhe  in  bedenklicher  Weihe  absorbiert.  Das  Spiel  zu 
Ende  der  Stunde  giebt  dem  Schüler  noch  einmal  Frische  und  Heiterkeit 
und  schliefst,  da  die  gymnastischen  Übungen  gewöhnlich  die  letzte  Unter- 
richtsstunde ausfüllen,  das  erziehliche  Geschäft  des  Tages  in  schöner  Weise 
ab.  Was  in  der  Turnstunde  gelernt  wurde,  soll  nun  aber  auch  weiter  ge-  . 
übt,  wiederholt  werden.  Dies  führt  mich  zu  der  Forderung,  in  den  gröfsern 
Pausen  die  Schüler  zum  Spielen  anzuhalten.  Mancher  Kollege  hält  dies  viel- 
leicht für  ein  unbilliges  Verlangen,  da  die  Pause  auch  zu  des  Lehrers  Er- 
holung dienen  soll.  Die  Sache  sieht  aber  gar  nicht  so  schlimm  aus,  als  es 
scheint  Unbeaufsichtigt  dürfen  wir  unsere  Schülerschar  nicht  lassen,  wer 
dies  thet,  versäumt  einfach  seine  Pflicht  als  Erzieher.  Nun  wissen  wir  alle, 
dafs  die  Jugend  freie  Bewegung  verlangt  und  liebt,  warum  sollen  wir  also 
unsere  Knaben  und  Mädchen  nicht  anhalten,  anstatt  des  wüsten  Laufens, 
Tobens  und  Schreiens  ein  passendes  Spiel  aufzuführen?  Nur  müssen  diese 
Bewegungen  eine  etwas  freiere  Gestalt  annehmen  als  in  der  Turnstunde. 
Nicht  jeder  Schüler  ist  während  der  sogenannten  Freiviertelstunde  zum  Spiele 
aufgelegt,  ver  aus  irgend  einem  Grunde  Dispens  zu  erhalten  wünscht,  dem  # 
sei  er  gewährt.  Auch  die  Auswahl  des  Spieles  mag  den  Spielenden  über- 
lassen bleibtn,  indem  uns  dadurch  treffliche  Winke  betreffs  Anordnung 
und  Auswahl  des  Spielstoffs  gegeben  werden.  Dafs  auch  bei  Volksfesten, 
grölseren  Auszügen  usw.  gespielt  werde,  füge  ich  nur  der  Vollständigkeit 
wegen  an. 

Nunmehr  vende  ich  mich  zur  Beantwortung  der  letzten  Frage: 
Wie  vernähen  wir  uns  beim  Spiel? 

Nachdem  oie  nötigen  Andeutungen  und  Winke  gegeben,  tritt  der 
Lehrer  mehr  in  c*n  Hintergrund.  Seine  Stellung  ist  hier  eine  andere  als 
im  übrigen  Unterrichte;  selbstverständlich  behält  er  die  Leitung  des 
Ganzen  in  seiner  Hand  und  schlichtet  allenfallsige  Meinungsverschieden- 
heiten und  Streitigkeiten.  Alles  schulmeisterliche  Dreinreden,  alle  Pedanteric, 
die  überall,  auch  du  frohe  Laune  des  munteren  Knaben  zu  rügen  sucht, 
erzeugen  nur  Verstimmung  und  verderben  die  Lust  am  frohen  Spiel.  Ich 
habe  hierdurch  schon  angedeutet,  wie  ich  mich  zu  der  schon  oft  auf- 
geworfenen Frage,  ob  auch  der  Lehrer  mitspielen  soll,  verhalte.  Nicht 
jedem  ist  es  gegeben,  vom  ermahnenden  und  lehrenden  Pädagogen  zum 
heitern  Spielgenossen  seher  Schar  überzugchen,  nicht  jeder  ist  zum  Jugend- 
spiel disponiert.  Der  eriste,  strengere  Charakter  kann  nicht  mitspielen, 
und  er  soll  es  auch  nicht  In  der  Elementarklasse,  die  vorzugsweise  von 
jüngeren  Kollegen  geführt  wird,  mag  es  hier  und  da  einmal  erlaubt  sein, 
je  älter  aber  der  Schüler,  desto  weniger  ist  das  Mitspielen  des  Lehrers 
rätlich  und  angezeigt.  Die  ->ft  gehörte  Behauptung,  durch  die  direkte  Be- 
teiligung des  Lehrers  am  Spei  würde  ein  festes  Band  zwischen  ihm  und 
seiner  Klasse  geschlungen,  wrlerlege  ich  mit  dem  Hinweis,  dafs  wir,  auch 
ohne  mitzuspielen,  unsern  Seitdem  dennoch  zeigen  können,  wie  sehr  wir 


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5.  III.  Haupt-Versammlung  der  Freunde  Herbartscher 
Pädagogik  aus  Schlesien  und  Posen. 

Die  Versammlung  tagte  am  2.  und  3.  Oktober  in  Glogau.  Die  Vor- 
versammlung am  Abend  des  ersten  Tages  wurde  von  dem  Vorsitzenden. 
Gymnasialdirektor  Dr.  Altenburg  in  Wohlau,  cröfnct.  Er  und  der  Vor- 
sitzende des  Glogauer  Herbartkränzchens,  Gymmsiallehrer  Bähnisch,  be- 
grüfsten  die  Erschienenen  herzlichst.  Grüfse  md  Glückwünsche  wurden 
der  Versammlung  durch  Hauptlehrer  Rüde  au?  Schulitz  übermittelt  von 
Lehrer  Francke  in  Leipzig,  Schriftführer  des  Y.  f.  w.  P.,  Seminardirektor 
Dr.  Staude  in  Koburg,  Lehrer  Grosse  in  Falle,  Universitäts  -  Professor 
Dr.  Willmann  in  Prag,  Lehrer  Jetter  in  Baach  (Vürttembcrg),  Lehrer  Ziegler 
in  Eichen,  Schulrat  Professor  Dr.  Ballauf  in  VAre»,  Seminarlehrer  Dr.  Cape- 
sius  in  Hermannstadt  (Siebenbürgen),  Privatdoienten  Dr.  Glöckner  in  Leipzig 
Oberlehrer  Dr.  Göpfert  in  Annaberg,  Semnar- Oberlehrer  Hausmann  in 


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uns  für  ihr  Thun  interessieren;  schon  ein  blofser  Zuruf,  ein  Wort  freund- 
licher Ermunterung  wirkt  wohl  gerade  so  viel  als  thatsächliches  Eintreten 
in  die  Reihe  der  Spielenden  Und  wo  bleibt,  wenn  der  Lehrer  sich  dieser 
oder  jener  Spiclgruppe  angeschlossen  hat,  die  letzte  Instanz,  wenn  Mei- 
nungsverschiedenheiten ausbrechen?  Einer  muls  doch  über  den  Parteien 
stehen :  der  Lehrer.  Darum  also  noch  einmal :  Kein  Mitspielen  seitens  i5es 
Lehrers.  —  Die  andere  Krage,  ob  der  Turn-  resp.  Spieluntcrricht  du  ch 
den  Klassenlehrer  oder  eigens  dafür  ausgebildete  Fachlehrer  erteilt  werden 
soll,  beantwortet  sich  von  selbst  bei  dem  Hinweis  auf  die  Einheitlichkeit 
des  ganzen  Unterrichtsgetriebes. 

Ich  bin  am  Schlüsse  meiner  Ausführungen.  Vermögen  wir  durch  die 
Pflege  des  Bewegungsspieles  die  erziehliche  Aufgabe  von  der  harmonischen 
Ausbildung  des  Körpers  und  Geistes  zu  lösen,  können  wir  der  wirtschaft- 
lichen Sache  einen  Dienst  leisten  durch  Heranziehung  der  reiferen  Jugend 
zum  Spiel,  das  den  verderblichen  Sonntagsvergnügungen,  als  da  sind 
Kartenspiel  und  überreicher  Biergenufs  einen  wirksamen  Damm  entgegen- 
stellt, fördern  wir  endlich  die  nationale  Sache  durch  Heranbilding  eines 
kräftigen  Volkes,  der  besten  Garantie  für  das  Gelingen  grofser  Thaten  in 
schwerer  Zeit:  dann  haben  wir  unsere  Pflicht  nach  Kräften  erfillt.  Wohl 
bleibt  noch  viel,  unendlich  viel  zu  thun  übrig,  der  Erfolg  kann  a*er  schliefs- 
lich  nicht  fehlen,  wenn  wir  uns  bei  allen  Veranstaltungen  leitet  lassen  von 
dem  bekannten  Satze : 

»Für  unser  Volk  ein  Herz.« 
Alzey.  Mathes. 


-    los  - 


Weimar,  Seminardirektor  Helm  in  Schwabach,  Direktor  Dr.  Just  in  Alten- 
burg, Lehrer  Krell  in  Dresden,  Lehrer  Lehmensick  in  Dresden,  Lehrer 
Dr.  Macnncl  in  Halle,  Lehrer  Tews  in  Berlin,  Direktor  O.  W.  Beyer  in 
Wenigenjena,  Lehrer  Trüper  in  Jena,  Seminarlehrer  Pickel  in  Eisenach, 
Oberlehrer  Krusche  in  Leipzig,  Professor  Dr.  Menge  in  Halle,  Pfarrer  Rolle 
in  St.  Graba  bei  Saaifcld,  Professor  Falke  in  Arnstadt,  Schuldirektor  und 
Redakteur  Scyfcrt.  Letzterer  schrieb  an  Hauptlehrer  Rüde:  »Ich  würde 
Ihnen  verbunden  sein,  wenn  Sie  davon  Kenntnis  nehmen  wollten,  dafs  die 
»Deutsche  Schulpraxis«  sich  die  Förderung  der  praktischen  Herbartschen 
Forderungen  jeder  Zeit  angelegen  sein  lassen  wird.«  —  Mittelschullehrer 
Grabs  in  Glogau  bestellte  Grüfsc  vom  Seminardirektor  Schulrat  Spormann 
in  Steinau,  Universitäts-Professor  Rein  in  Jena,  Lehrer  Granos  in  Exin  und 
Lehrer  Korbowicz  aus  Argenau,  z.  Z.  in  Paris,  Rektor  Prüfer  in  Glogau 
überbrachte  Grüfse  von  einer  Anzahl  von  Herbartfreunden  aus  Görlitz  und 
von  Lehrer  Sturm  aus  Breslau. 

Dann  cirkulierten  in  der  Versammlung  Verzeichnisse  der  auf  Herbart 
irgendwie  bezüglichen  Schriften  von  52  hervorragenden  Schriftstellern. 
Den  Herren  Verfassern,  welche  dem  an  sie  gerichteten  Ersuchen  bereit- 
willigst entsprochen  hatten,  drückt  der  Unterzeichnete  auch  an  diesem 
Orte  seinen  wärmsten  Dank  aus. 

Hauptlehrer  Rüde  hatte  unter  erheblicher  Beihilfe  mehrerer  Herren 
aus  Glogau,  sowie  auswärtiger  Herren  und  Verlagsfirmen  eine  Ausstellung 
der  Herbartlitteratur,  soweit  sie  ihm  zugänglich  war,  für  die  Versammlung 
veranstaltet.  Es  sollte  damit  ein  Einblick  in  den  Umfang  und  die  Tiefe 
der  bezüglichen  Litteratur  und  Anregung  zum  Studium  gegeben  werden. 
Das  Unternehmen  war  dem  Veranstalter  eine  Vorarbeit  für  eine  heraus- 
zugebende Herbart-Bibliographic. 

Es  wurde  beraten,  in  welcher  Weise  in  den  beiden  Provinzen  für  die 
Verbreitung  der  Herbartschen  Pädagogik  zu  wirken  sei.  Für  die  Haupt- 
versammlung wurde  die  Tagesordnung  festgesetzt. 

Zum  Schlüsse  der  Vorversammlung  gab  Rüde  einen  Überblick  über 
den  gegenwärtigen  Stand  der  Herbartschen  Bestrebungen  im  Anschlüsse 
an  einige  von  ihm  zum  50.  Sterbetage  Herbarts  in  Ziltcsscns  Deutscher 
Lehrerzeitung  veröffentlichte  Artikel,  welche  demnächst  in  erweiterter  Ge- 
stalt in  dem  Verlage  der  genannten  Zeitung  als  Broschüre  erscheinen. 

Die  Hauptversammlung  am  nächsten  Tage  zählte  gegen  fünfzig  Teil- 
nehmer. Erster  Punkt  der  Tagesordnung  war  Grabs  Vortrag  über  »Die 
Zucht  und  ihre  Mafsregeln  nach  Herbart«.  Der  Vortragende  be- 
handelte mit  der  ihm  eigenen  Gründlichkeit  alle  hierher  gehörigen  Punkte. 
Der  Hauptinhalt  des  Vortrages  findet  sich  in  folgenden  Leitsätzen  ver- 
dichtet: 

1.  Alle  Erziehungssorgen  und  Thätigkeiten  lassen  sich  zusammen  unter 
die  Trias  fassen:  Regierung,  Unterricht,  Zucht.  Letztere  ist  ein  sehr  wich- 
tiges Geschäft;  denn  ihr  Thätigkeitsbereich  ist  das  Gebiet  der  Über- 
zeugungen und  Entschliefsungen. 


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2.  Weil  in  der  Praxis  Regierung  und  Zucht  nicht  genügend  aus- 
einander gehalten  werden,  ist  eine  reinliche  Sonderung  geboten. 

Die  Regierung  schafft  die  Vorbedingungen  für  Unterricht  und  Zucht, 
ihr  ist  es  nur  um  eine  Regelung  des  äufseren  Betragens  durch  Anwendung 
von  ;iufseren,  d.  h.  nicht  ins  Gemüt  eingreifenden  Mitteln  zu  thun,  ihr  Zweck 
ist  Fcrnhaltung  von  Unordnung,  Schaden,  Streit.  Die  Zucht  dagegen, 
A  clche  die  Bildung  des  Charakters  bezweckt,  wendet  sich  stets  ans  Innere 
und  beruht  auf  Wohlwollen,  Vertrauen,  Einsicht  und  freier  Entschliefsung. 

3.  Der  Charakter  ist  konsequentes  Handeln  oder  Erdulden.  Derselbe 
ri wuchst  aus  der  vollen  Hingabe  an  das  sittliche  Ideal,  beruht  auf  dem 
Wilsen  vom  eigenen  sittlichen  Können  und  bedarf  der  moralischen  Wach- 
samkeit und  steten  Zügelung  des  Begehrens. 

4.  Der  Angriffspunkt  der  Zucht  ist  die  Individualität  des  Zöglings, 
ha  her  mufs  das  Charakteristische  derselben  nach  der  objektiven  und  sub- 
lrkuven  Seite  bekannt  sein. 

lUnter  dem  objektiven  Charakter  versteht  man  die  wechselnden  Bc- 
\\  :i  tseinsvorgänge,  die  Einfälle,  Wünsche,  Belehrungen,  Neigungen,  Ent- 
m  l.hefsungen,  welche  ununterbrochen  entstehen,  unter  dem  subjektiven 
ill<  s.  was  der  Zögling  im  Laufe  seines  Werdeprozesses  als  das  Wahre, 
•  iiiic,  Schöne  und  darum  Normierende  erkannt  und  woraus  die  Thätig- 
s<.  !U_n  der  Selbstkritik,  der  Sclbstnötigung,  Selbstbeherrschung  entspringen). 

5.  Aufgabe  der  Zucht  ist  daher  fortgesetzte  Beobachtung  des  Zög- 
lings hinsichtlich  der  Entwickelung  seines  Selbst-,  Ehr-,  Rechts-,  Schön- 
n  us-  und  Mitgefühls,  seiner  Gewöhnungen  und  Grundsätze;  aber  auch  die 
LM-eborne  Anlage  mufs  erforscht  werden,  hauptsächlich  ob  er  Beharrlich- 
st t  des  Wollens  besitzt. 

6.  Da  das  Prinzip  des  Charakters  das  Handeln  ist,  so  mufs  die  Zucht 
!-  n  Zögling  vielfach  zu  gebotenem  Handeln  veranlassen  und  das  Handeln 
.ms  freiem  Willen  begünstigen  und  gestatten.    Ein  vorzügliches  Werkzeug 
■  Ii  i  Zucht  sind  die  Arbeiten  in  der  Schule  und  zu  Hause. 

7.  Für  die  Handhabung  der  Zucht  im  allgemeinen  gilt  folgendes : 

a)  Sie  sucht  Vertrauen  und  Zuneigung  zu  erzeugen,  indem  sie  den 
kindlichen  Frohsinn  erhält  und  den  kindlichen  Gemütsbewegungen  nachgeht 

b)  Sie  ruft  durch  angemessene  Arbeiten,  welche  dem  Zögling  gelingen 
und  Beifall  eintragen,  die  Uberzeugung  vom  eigenen  Leistungsvermögen 
hervor  und  hebt  das  Selbstgefühl  zu  einer  inneren,  sittlichen  Macht  empor. 

c)  Sie  unterstützt  die  Grundsätze  des  Zöglings  im  Kampfe  mit  den 
ik  Gehrungen,  Einfällen,  Affekten,  mit  schlechtem  Umgange. 

d)  Sie  schärft  durch  Mifsbilligung,  welche  durch  eine  Abtönung  der 
1<.  rsönlichen  Begegnung  Ausdruck  erhält,  durch  Tadel  und  Strafe  das 
de  wissen. 

e)  Sie  verstärkt  durch  Wort  und  Beispiel  die  innere  Autorität  der 
sitt!ichen  Maximen. 

f)  Sie  begleitet  den  Zögling  jenseits  der  Schwelle  des  Schulhauses, 
der  Schulzeit  und  wandelt  die  Autorität  zu  Freundschaft. 


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8.  Eine  Hauptforderung  an  den  Lehrer  ist,  dals  er  seine  ganze  Kraft 
auf  das  Erziehungswerk  konzentriere  und  dem  Schüler  die  immer  gleiche 
Stirn  zeige. 

9.  Besondere  Hemmnisse  der  Zucht  sind 

a)  formaler  Natur:  Mangel  an  Festigkeit  des  Wollens  in  vielseitigem 
Interesse,  öftere  Störung  der  Gemütslage; 

b)  organischer  Natur:  Fehlerhafte  Ausbildung  des  Selbstgefühls,  Fehlen 
des  Wahrheitssinnes. 

10.  Besondere  Veranstaltungen  der  Zucht  sind  Schülerausllugc  Kimler- 
gottesdienste,  Individualitätsbilder,  Schulgärten  etc. 

Die  Debatte  erging  sich  namentlich  auf  die  Unterscheidung  von 
Regierung  und  Zucht,  objektivem  und  subjektivem  Charakter  Die  Thesen 
wurden  ohne  Debatte  angenommen. 

Gleich  darauf  sprach  Dr.  Altenburg  über  »Die  Charakterbildung 
in  ihren  Beziehungen  zum  Zeitgeist  und  zur  Reform  des  Schul 
wesens.«    Während  der  erste  Vortrag  ein  ideales  Bild  zeichnete  losgelost 
von  den  gegenwärtigen  Zeitverhältnissen,  behandelte  der  zweite  das  Thema 
der  Charakterbildung  mit  Rücksicht  auf  Zeitbedürfnisse.    Ks  erhebe  sich 
gegenwärtig  fast  allgemein  die  Forderung  nach  Reform  des  Schu-wesen?. 
Da  gelte  es,  in  sich  zu  gehen,  und  so  dränge  sich  denn  auch  die  Krage 
auf:  Haben  wir  nicht  vielleicht  zu  viel  Wert  auf  das  Wissen  gelegt  und  es 
vernachlässigt,  dieses  in  That  umzusetzen?    Und  der  Charakter  der  gegen 
wärtigen  Gesellschaft  bestätige  diese  Vermutung.    Es  fehle  unserem  Ge- 
schlechte  an  Frische  und  Ursprünglichkeit  des  Empfindens,  an  der  Fähig- 
keit, sich  für  etwas  ehrlich  zu  begeistern.    Es  fehle  die  Arbeitsfreudigkeit 
Gewisse  Züge  des  Zeitgeistes,  z.  B.  das  Strebertum,  deuten  auf  den  Wider- 
spruch zwischen  Reden  und  Thun  hin,  der  auf  einem  klugen,  aber  herz 
und  thatenlosen  Wissen  beruhe. 

Zur  Charakterisierung  des  Zeitgeistes  warf  Redner  Schlaglichter  au! 
die  auf-  und  absteigende  Kurve  in  der  moralischen  und  kulturellen  Kn: 
wickelung  der  Griechen  und  der  Römer.  Von  der  hier  zutage  tretenden 
sittlichen  Zersetzung  ging  der  Redner  auf  die  Ideale  des  lho;.hentum- 
und  des  neuen  Testaments  über,  wo  Ganzheit  und  Geschlossenheit  des 
Wesens  als  Grundtypus  des  Charakters  zu  finden  sei.  Diese  Ganzheit  nun 
sei  auch  von  uns  mit  aller  Intensität  anzustreben  Dabei  sei  ein  Zwei 
faches  im  Auge  zu  behalten:  die  Ganzheit  sei  nicht  blols  im  einzelnen 
Menschen  herzustellen,  sondern  auch  im  Verhältnis  des  einzelnen  zur  Ge  - 
samtheit. Zum  Schlüsse  wurden  die  beiden  wichtigen  Begriffe  des  Interesses 
und  der  Konzentration  behandelt. 

Nach  einer  Pause  wurde  zum  dritten  Punkte  der  Tagesordnung  ge- 
schritten, Rüdes  Vortrag  über  »Quellen  im  Geschichtsunterricht 
(mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Kulturgeschichte)«.  Die  Geschichte- 
ist einer  der  jüngsten  Unterrichtsgegenstände,  namentlich  der  Volksschuh 
Daraus  ist  es  auch  zu  erklären,  dafs  ihre  Methodik  verhält msmäfsig  wenig 
ausgebaut  ist.  Erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  hat  man  ihr  besondere 
Pflege  zugewandt,  namentlich  auf  Seite  der  Herbartschen  Schule,  hin 


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gehend  wurden  behandelt  die  Bedeutung  und  die  Stellung  des  historischen 
Unterrichts  in  der  Erziehungsschule,  die  propädeutischen  Kurse  zu  dem- 
selben, die  Fra^c  nach  der  Einführung  bezw.  Eingliederung  der  Kultur- 
geschichte, die  methodische  Behandlung  und  Erarbeitung  des  Geschichts- 
stoffes und  bezüglich  des  letzten  Punktes  besonders  auch  die  Bedeutung 
historischer  Quellcnstoffe.  Diese  Frage  in  Flufs  gebracht  zu  haben,  ist  ein 
Verdienst  der  Herbartschen  Schule.  Der  Vortrag  ging  auf  die  biographisch- 
chronologische Anordnung  des  Geschichtsstoffes  und  auf  die  gewöhnliche 
Art  der  Darbietung,  den  Vortrag  des  Lehrers  ein.  Die  Anwendung  der 
Ouellenstoffe  schliefst  die  rein  biographische  Methode  aus  und  widerstrebt 
der  Darbietung  des  Stoffes  wesentlich  durch  den  Vortrag.  Es  wurden  die 
Vorzüge  und  Nachteile  des  letzteren  und  der  Quellenbcarbeitung  abge- 
wogen. Dann  wurde  auf  die  Geschichte  der  in  Rede  stehenden  Be- 
strebungen eingegangen.  Eingehend  wurde  über  das  Verfahren  Schillings, 
Blums  und  Albert  Richters  an  der  Hand  der  betreffenden  Quellenbücher 
referiert.  Biedermanns  Vorschläge  zur  Betreibung  des  kulturgeschichtlichen 
Unterrichtes  und  der  Standpunkt  der  Zillcrschcn  Schule  in  dieser  Frage 
fanden  genaue  Erörterung.  Weiterhin  hiefs  es:  Politische  und  Kultur- 
geschichte müssen  im  Kausalzusammenhange  geboten  werden.  Bei  Bieder- 
mann tritt  nun  die  erstere  in  allzugrofsc  Abhängigkeit  von  der  letzteren. 
Sie  wird  nur  soweit  behandelt,  als  sie  zur  Erklärung  der  Zustände  dient, 
Dabei  liegt  die  Gefahr  ihrer  Unterschätzung  nahe.  Ein  anderes  Verfahren 
besteht  darin,  dafs  die  Kulturgeschichte  sich  der  politischen  einfügt.  Wo 
die  Ereignisse  ein  Verweilen  bei  den  Zuständen  verlangen  oder  gestatten 
da  wird  auf  dieselben  eingegangen,  sonst  nicht.  Es  ist  ersichtlich,  dafs 
diese  Betrachtungsweise  der  Willkür  einen  grolsen  Spielraum  läfst.  Wir 
selbst  nehmen  folgenden  Standpunkt  ein:  Es  mufs  unbedingt  der  Kausal- 
zusammenhang zwischen  politischer  und  Kulturgeschichte  gewahrt  werden 
Das  Verhältnis  darf  jedoch  nicht  einseitig  aufgefafst  werden,  wie  es  bei 
Biedermann  geschieht,  wenn  er  die  Ereignisse  nur  als  Ursachen  der  Zu- 
stände erscheinen  läfst,  und  wie  es  andererseits  in  einer  Bemerkung  von 
Hermann  und  Krell  hervortritt,  welche  sie  nur  als  Folgen  innerer  Zustände 
betrachten.  Diese  treiben  zu  den  Ereignissen,  und  die  Ereignisse  bewirken 
die  Zustände  oder  bereiten  sie  wenigstens  vor.  Dieser  Gesichtspunkt  sei 
der  leitende  bei  der  historischen  Betrachtung.  —  Zum  Schlüsse  wurde  über 
die  selbständige  Behandlung  der  Quellenstoffe  abgehandelt.  Aus  dem  Vor- 
trage wurden  folgende  Forderungen  gezogen: 

I.  Die  Darbietung  des  geschichtlichen  Stoffes  isowohl  des  politischen 
als  des  kulturgeschichtlichen)  geschieht  neben  der  darstellenden  Form 
wesentlich  durch  das  Lesen  von  Quellen  seitens  der  Schüler,  da  dieses 
Verfahren 

a)  mehr  als  jedes  andere  den  Vorzug  epischer  Breite  und  Anschau- 
lichkeit der  Darstellung  in  sich  schliefst. 

b)  die  Selbstthätigkeit  des  Schülers  in  hervorragendem  Mafse  in  An- 
spruch nimmt, 


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c)  ihn  daran  gewöhnt,  selbständig  zu  lesen  und  die  Belehrung  an  den 
Quellen  zu  suchen. 

II.  Der  Vortrag  seitens  des  Lehrers  tritt  der  Erarbeitung  des  Stofles 
durch  Quellen  ergänzend  zur  Seite. 

III.  Abgerundete  Quellen  stücke  verdienen  vor  Quellensätzen  den 
Vorzug,  da  sie  mehr  als  diese 

a)  eine  geordnete  Totalauffassung  ermöglichen, 

b)  ein  nachhaltiges  Interesse  zu  erzeugen  vermögen. 
Quellensätze  können  zur  Ergänzung  der  Quellenstücke  verwendet 

werden  und  zwar  umsomehr,  je  reifer  die  Verstandesbildung  und  je  nach- 
haltiger das  historische  Interesse  des  Zöglings  ist. 

IV.  Die  Auswahl  der  Quellen  mufs  folgende  Gesichtspunkte  unmittel- 
bar im  Auge  behalten: 

a)  Das  rein  Zuständliche  wird  angängigst  in  ein  Werden  aufgelöst 
oder  wenigstens  an  eine  Handlung  gebunden; 

b)  die  Weckung  eines  gleichschwebenden  vielseitigen  Interesses  als 
nächster  Unterrichtszweck  und 

c)  die  Heranbildung  eines  sittlich-religiösen  Charakters  als  letztes  Er- 
ziehungsziel wird  angestrebt. 

Die  Versammlung  erkannte  die  hohe  Bedeutung  der  Quellenlektüre 
für  den  Geschichtsunterricht  an,  nahm  aber  zu  einzelnen  Fragen  nicht 
Stellung. 

Schulitz.  Adolf  Rüde. 


6  Versammlung  der  Zweigvereine  Aitenburg,  Halle,  Jena, 

Leipzig  in  Weissenfeis. 

Die  diesjährige  gemeinsame  Sitzung  fand  Sonntag  den  8.  November 
in  Weifsenfeis  (Schumanns  Garten)  statt.  Den  Vorsitz  führte  der  Zweig- 
verein Leipzig  (Dr.  Glöckner,  Privatdozent).  Vorträge  wurden  gehalten 
von  Ufer-Altenburg  über  das  Wesen  des  Schwachsinns  mit  besonderer 
Berücksichtigung  von  Sollier,  Psychologie  de  l'idiot  et  de  Hmbdcile. 
Paris,  1891.  An  der  Debatte  beteiligte  sich  namentlich  Trü per- Jena,  der 
Vorsteher  einer  Anstalt  für  schwer  erziehbarc  Kinder.  Inbezug  auf  die 
pädagogischen  Folgerungen,  die  aus  den  psychologischen  Grundlagen  ge- 
zogen werden  können,  kamen  die  beiden  Herren  zu  entgegengesetzten 
Forderungen,  insofern  Ufer  für  Schwachsinnige  die  Dressur,  Trüper  die 
vielseitige  Bildung  empfahl,  wie  bei  geistig  normalen  Kindern.  Scholz- 
Jena  gab  sodann  eine  Kritik  der  Hcimatskunde  des  Hauptmanns  Rott, 
die  dahin  zusammengefafst  werden  kann,  dafs  das  Buch  zwar  ganz  in  den 


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Bahnen  Fingers  und  seiner  Nachfolger  wandelt,  aber  in  starken  Ober- 
treibungen  sich  von  einer  gesunden  psychologischen  Grundlage  so  weit 
entfernt,  dafs  es  nicht  empfohlen  werden  kann.  Dr.  Rofsbac  h-Altenburg 
führte  in  dem  3.  Vortrag  eine  Reihe  geschichtlicher  Unrichtigkeiten  vor 
und  machte  zum  Schlufs  Bedenken  gegen  die  Behandlung  von  historischen 
Gedichten  als  Ausgangspunkten  der  methodischen  Einheiten  geltend.  End- 
lich regte  Dr.  Wohlra be- Halle  bei  schon  vorgeschrittener  Zeit  die  hoch- 
wichtige Frage  der  Lehrerbildung  an,  die  wohl  verdient  in  herbartischen 
Kreisen  einer  erneuten  gründlichen  Prüfung  unterzogen  zu  werden. 

In  den  geschäftlichen  Verhandlungen  wurde  der  Beschlufs  gefafst  für 
Mitteldeutschland  einen  Thüringer  Verein  für  wissenschaftliche  Pädagogik 
ins  Leben  zu  rufen.  In  den  Vorstand  werden  gewählt  Professor  Rein 
und  Dr.  Glöckner.  Als  Bevollmächtigte  werden  ernannt  Dr.  Just-Altcn- 
burg,  Dr.  W  oh  1  r  a  b  e  -  Halle,  Dr.  Beyer- Jena,  Fr.  Francke-Leipzig.  Das 
Recht  der  Erweiterung  durch  Hinzuziehung  neuer  Mitglieder  wird  dem 
Vorstand  übertragen.  (S.  nachstehende  Mitteilung:  Der  Verein  der  Her- 
bartschen  Pädagogik  für  Thüringen  und  Sachsen.) 


7.  Verein  für  Herbartische  Pädagogik  in  Rheinland  und 

Westfalen. 

Zu  der  14.  Hauptversammlung  des  Vereins,  die  am  28.  Dezember  1891 
zu  Elberfeld  stattfand,  waren  mehr  als  200  Teilnehmer  erschienen.  Unter 
ihnen  befand  sich  zur  Freude  aller  Anwesenden  auch  Herr  Rektor 
Dorp  fei  d,  der  Nestor  der  bergischen  Lehrerschaft,  der  trotz  seiner 
68  Jahre  sich  mit  jugendfrischer  Begeisterung  und  Rührigkeit  (an  den  Be- 
sprechungen beteiligte.  Die  Versammlung,  die  von  9*^  Uhr  Morgens  bis 
7  Uhr  Abends  dauerte,  wird  wegen  ihres  erhebenden  Verlaufs  noch  manchem 
lange  in  Erinnerung  bleiben :  ein  älterer  Freund  hielt  sie  für  die  schönste, 
der  er  in  seinem  Leben  beigewohnt  habe.  Bei  Eröffnung  der  Konferenz 
trug  der  Elberfelder  Lehrergesangverein  unter  Leitung  seines  Dirigenten, 
des  Königl.  Musikdirektors  Alfr.  Dreycrt,  zwei  trefflich  gesungene  Männer- 
chöre vor,  nämlich  1.  O  bone  Jesu,  von  Palestrina.  2.  Du  Hirte  Israels,  von 
ßortmanski,  wodurch  der  Tag  in  schöner  Weise  eingeleitet  wurde. 

Als  erster  Verhandlungsgegenstand  stand  auf  der  Tagesordnung  das 
Thema:  Die  freie  Schulgemeinde  im  Licht  der  heimatlichen 
Schulgeschichte.  Wir  wollen  hier  auf  die  Einzelheiten  des  einleitenden 
Vortrages  nicht  eingehen,  da  derselbe  demnächst  im  Druck  erscheinen 
wird.  Er  bildet  nämlich  das  erste  Kapitel  der  von  Herrn  Dörpfcld  ver- 
fafsten  Denkschritt  über  die  Schulgemeinde,  einer  Schrift,  die  durch 


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den  vom  Minister  von  Gofsler  eingebrachten  Schulgesetzentwurf  veranlafst 
wurde.  Sie  enthält  im  ganzen  8  Kapitel.  Das  2.  Kapitel  betrachtet  die 
Schulgemeinde  vom  Standpunkte  des  Familienrechts  an  der  Erziehung,  das 
3.  von  dem  der  Zweckmäfsigkeit,  das  4.  von  dem  der  Gewissensfreiheit, 
das  5.  legt  dar,  was  die  Schulgemeinde  im  Blick  auf  das  Selbstverwaltungs- 
prinzip bedeutet,  das  6.  nimmt  Bezug  auf  den  ewigen  Streit  zwischen  Staat 
und  Kirche  um  die  Schule,  bei  dem  der  Lehrer  seither  die  Kosten  be- 
zahlen mufste,  das  7.  lenkt  den  Blick  auf  die  Bedeutung  der  Schulgemeinde 
für  die  Pädagogik,  das  Schulamt  und  den  Lehrerstand,  das  S.  legt  dar,  was 
die  Schulgemeinde  bedeutet  im  Hinblick  darauf,  dafs  die  Schulverwaltung 
vor  allem  die  Aufgabe  hat,  das  Interesse  für  die  Schulerziehung  zu 
wecken. 

Das  erste  Kapitel,  das  auf  der  Versammlung  zum  Vortrag  kam,  geht 
vom  dem  Gedanken  aus,  dafs  die  Dinge,  die  eine  geschichtliche  Entwicke- 
iung  gehabt  haben,  auch  nach  diesem  ihrem  Entwickelungsgange  betrachtet 
werden  müssen,  wenn  ihr  wahres  Wesen  recht  begriffen  werden  soll.  An 
der  Hand  der  bergischen  Schulgeschichte  wurde  nun  Aufschlufs  gegeben 
über  den  Begriff,  die  Bedeutung,  die  Organisation  und  die  Segnungen  der 
Schulgemeinde.  Das  Ergebnis  der  Untersuchung  gipfelte  in  folgenden 
Sätzen : 

1.  Die  Schulgemeinde  ist  ein  Verband  von  Familien  —  auf  Grund 
des  Elternrechts  —  zur  gemeinsamen  Erziehung  der  Jugend. 

Die  gemeinsame  Erziehung  bedingt,  dafs  die  betreffenden  Familien  in 
den  wichtigsten  Erziehungsgrundsätzen  übereinstimmen,  also  vor  allem 
gewissenseinig  sind. 

2.  Im  Vergleich  zur  Kommunal-  und  zur  Kirchengemeinde-Schule  be- 
zeichnet die  Entstehung  der  Schulgcmcindc  den  Höhepunkt  der  Schul- 
entwickelung. 

Die  beiden  ersteren  Formen  sind  nur  unvollkommene  Vor-  und  Durch- 
gangsstuien. 

Die  zeitliche  Reihenfolge  der  drei  Formen  stellt  auch  genau  ihre 
Rangstufenfolge  dar. 

3.  Nicht  die  kleine  Einzel-Schulgemeinde,  sondern  ein  grösserer  Schul- 
gemeinde-Verband mufs  die  Schullasten  übernehmen,  —  also  zunächst 
der  innerhalb  einer  bürgerlichen  Gemeinde. 

Diese  Weise  der  Schulunterhaltung  hat  daher  lediglich  den  Sinn,  dafs 
die  beteiligten  Schulgemeinden  eine  gemeinsame  Schulkasse  gegründet 
und  deren  Verwaltung  der  Kommunalbehörde  übertragen  haben. 

Der  Letzteren  können  daher  nur  diejenigen  Rechte  der  Schul- 
gemeinden  zufallen,  welche  sich  auf  die  Verwaltung  der  Schulkassc  be- 
ziehen, die  übrigen  Schulrechte  verbleiben  nach  wie  vor  der  einzelnen 
Schulgemeinde. 

4.  Die  Schulgemeinde  ist  von  grofser  erziehlicher  Einwirkung  auf  die 
Bevölkerung : 

a.  sie  belebt  in  den  Familien  das  Interesse  an  der  Schulbildung 
und  ihren  Anstalten,  regt  in  ihnen  den  freien  Opfersinn  an  und 


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wendet  ihn  der  Schule  zu,  stärkt  in  ihnen  das  Bewulstsein  ihrer 
Mündigkeit  in  Erziehungsangelegenheiten,  ermöglicht  ein  ge- 
deihliches Zusammenwirken  von  Schule  und  Haus  und  verleiht 
der  Bevölkerung  das  Geschick  zur  Selbstverwaltung; 
b.  sie  dient  in  gleich  forderlicher  Weise  dem  Schulamte:  sie  ver- 
hilft diesem  zu  der  ihm  gebührenden  Achtung,  wirkt  nachhaltig 
ein  auf  die  berufliche  Tüchtigkeit,  persönliche  Ehren- 
haftigkeit, standesgemäfse  Haltung,  Besonnenheit  und 
Selbständigkeit   des   Lehrerstandes   und    hilft   auch  dessen 
äufsere  Lage  angemessen  aufbessern.  — 
Während  der  Nachmittagssitzung  kam  das  Thema:  Zweck  und  >Auf- 
gabe  der  Elternabende«  zur  Verhandlung,  über  welches  Herr  Danz 
(Barmen-Wichlinghausen)  den  einleitenden  Vortrag  hielt.    Der  Vortragende 
begründete  folgende  Thesen: 

1.  Die  Elternabende  haben  den  Zweck,  eine  Verbindung  zwischen 
Schule  und  Haus  herzustellen  und  dadurch  ein  gedeihliches  Zusammen- 
wirken beider  in  der  Erziehung  zu  ermöglichen. 

2.  Demgemäls  besteht  ihre  nächste  Aufgabe  darin,  über  Ziele  und 
Mittel  der  Erziehung  richtige  Begriffe  zu  vermitteln,  insbesondere 
den  über  die  Schule  verbreiteten  Vorurteilen  entgegenzuarbeiten. 

3.  Die  Elternabende  sollen  ferner  Eltern  und  Lehrer  veranlassen,  die 
an  den  Kindern  gemachten  Beobachtungen  gegenseitig  auszu- 
tauschen und  eine  Verständigung  darüber  zu  suchen,  wie  den  besonderen 
Bedürfnissen  der  einzelnen  Kinder  entgegenzukommen  ist. 

4.  Die  Elternabende  haben  weiter  die  Aufgabe,  ein  Vertrauens- 
verhältnis zwischen  Eltern  und  Lehrern  anzubahnen  und  die  Familien  mit 
dem  für  das  Gedeihen  der  Schulerziehung  notwendigen  Interesse  für 
die  Schule  zu  erfüllen. 

5.  Die  Elternabende  sollen  ferner  den  Eltern  Gelegenheit  geben,  sich 
bei  dem  Lehrer  Rat  zu  holen  in  betreff  der  Berufswahl  und  der  Fort- 
bildung der  der  Schule  entwachsenen  Kinder;  insbesondere  noch  soll 
den  Eltern  die  dringende  Notwendigkeit  einer  Sittenbeaufsichtigung 
der  halbwüchsigen  Jugend  ans  Herz  gelegt  werden.  — 

Auch  an  diesen  Vortrag  schlofs  sich  eine  lebhafte  Besprechung  an, 
in  welcher  von  allen  Seiten  ebenso  die  Notwendigkeit  wie  die  Zweckmäfsig- 
keit  derartiger  Veranstaltungen  betont  wurde.  Herr  Dörpfeld  und  Herr 
Horn  wiesen  dann  noch  in  eingehender  Weise  auf  die  Erfahrungen  hin, 
die  sie  in  früheren  Jahren  bei  diesen  Unternehmungen  gesammelt  hatten. 

Elberfeld.  A.  Lomberg. 

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8.  Zum  Comenius-Jubiläum.   28.  März  1892. 

Verzeichnis  der  über  Comenius  erschienenen  Schriften, 

Bilder  u.  s.  w.*) 

Jul.  Beeger  u.  Fr.  Zoubek,  J.  A.  Comenius,  nach  seinem  Leben  und 

seinen  Schriften  etc.    Mit  Stahlstich-Portrait    Leipzig,  Max  Hesse. 
Bericht  über  die  Vorversammlung  der  Comenius-Gcsellschaft  am  9.  u. 

10.  Oktober  1891.    Münster,  Verlag  der  Comenius-Gesellschaft. 
Bötticher,  W.,  Die  Erziehung  des  Kindes  in  seinen  ersten  sechs  Jahren 

nach  Pestalozzi  und  Comenius.    Znaim  1892 
Briese,  M.  E.,  Pädagogische  Verwandtschaft  zwischen  Comenius  u.  Aug. 

Herrn.  Franckc.  Leipzig,  Sigismund  u.  Volkening  (Päd.  Sammelmappe, 

Heft  102). 

Buddensieg,  Joh.  Wiclif  und  seine  Zeit.  Zum  500  jähr.  Wiclif- Jubiläum. 

Halle  a.  S.    (Schriften  d.  Vcr.  f.  Ref.-Gesch.  8  u.  9). 
Castens,  A.,  Was  muss  uns  veranlassen,  im  Jahre  1892  das  Andenken  an 

Comenius  festlich  zu  begehen?    Znaim  1892. 
Castens,  A.,  Über  »Eins  ist  not«  von  Comenius.    Znaim  1892. 
Comba,  E.,  Histoirc  des  Vaudois  d'ltalic  P.  I.  Avant  la  rdforme.  Paris  1887. 
Reproduktion  des  Kupfertitcls  der  1057  zu  Amsterdam  erschienenen  Opera 

didactica  ommia  des  Comenius,  besorgt  von  R.  Aron    Zu  beziehen 

durch  G.  Nauck  (Fr.  Rühe),  Berlin  SW  12. 
Stahlstich-Portrait  des  Comenius.     Nach  dem  Stich  von  A.  Weger  ir\ 

Leipzig.    Verlag  von  Sigismund  u.  Volkening. 
F>üste  des  Comenius,  65  cm  hoch  bei  K.  Pcllegrini,  Prag,  Ferdinandstr.  136. 
Comenius'  Zehn  Sittengebote.    Entworfen  und  herausgegeben  von  Jos. 

Klika.    Auf  einer  110  X  So  cm  grossen  Wandtafel.    Verlag  v.  K  Jansky 

in  Tabor. 

Comenius'  Schola  ludus  d.  i.  Die  Schule  als  Spiel.  Ins  Deutsche  über- 
tragen von  Wilh  Bötticher.    Langensalza  1S88. 

C  om  e  nius,  Das  Testament  der  sterbenden  Mutter.  Deutsch  mit  Lebens- 
Abrifs  des  Comenius.    Leipzig  1866. 

Comenius,  Passions-,  Oster-  und  Himmclfahrtspredigten.  Herborn  1882 
(£u  beziehen  durch  Schergens  in  Bonn.) 

Comenius,  Panegersie,  deutsche  Übersetzung  in  C.'s  Ausgewählte  Schriften, 
herausg.  von  Beeger  u.  Leutbecher.    Leipzig,  Sigismund  u.  Volkening. 

Comenius"  Mutterschulc.  Mit  einer  Einleitung  hrsg.  von  Alb.  Richter. 
Leipzig  1891. 

Criegern,  Herrn  Ferd.  v.,  Joh.  Arnos  Ccmenius  als  Theolog.  Ein  Bei- 
trag zur  Comcnius-Litteratur.    Leipzig  u.  Heidelberg  1881. 


*)  Ein  Venteiehni*  der  Orifclnalttcliriftcn   des  Comenius  bei   /.otibek  (8.  I0o  f.)  und  be; 
S«  yffurth  (8.  139  f.).    Vorgl.  W.  Müller,  Comenius  uJs  SystPinntlter  der  l'ii •laguiflk. 

Pädagogen*  Studien.    II.  ^ 


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Flathe,  Dr.  Lud  w.,  Geschichte  der  Vorläufer  der  Reformation.  2  Bde. 
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Garbo  vicianu,  P.,  Didaktik  Basedows  im  Vergleich  zur  Didaktik  des 

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Gindely,  A.,  Geschichte  der  böhmischen  Brüder.    Prag  1857. 
Gindely,  A.,  Ober  des  Comenius  Leben  und  Wirksamkeit  in  der  Fremde. 

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Hill  er,  R,  Die  Lateinmethode  des  Comenius.    Zschopau  1883. 

Hoffmeis  t  er,  H.,  Comenius  und  Pestalozzi  als  Begründer  der  Volksschule. 
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Hoffmeistcr,  H.t  Comenii  did.  magna  in  Rücksicht  auf  die  Volkschule. 
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Holtsch,  H.,  Über  die  historische  Darstellung  der  pädagogischen  Idee. 
Mit  besonderer  Berücksichtigung  Rousscaus  und  Comenius.  Löwen- 
burg 1875- 

Kandernal,  Frz.,  Ober  Comenius  und  seine  Didaktik.    Laibach  1867. 
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E.  S.  Mittler  u.  Sohn,  Berlin. 
Keller,  Ludw.,  Ober  Zweck,  Entstehung  und  Entwickelung  der  Comenius- 

Gesellschaft.    Vortrag  bei  der  Versammlung  der  C.-G.  zu  Berlin  am 

10.  Oktober  1891.    Münster,  Verlag  der  Comenius-Gesellschaft. . 
Keller,  Ludw.,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelübersetzungen. 

Leizig,  1886. 

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Kvacsala,  Comenius  und  Baco.  Im  Paedagogium  hcrausg.  von  Dittes.  1888. 
Kvacsala,  Das  Leben  des  J.  A.  Comenius.    Leipzig,  Verlag  von  Julius 

Klinkhardt.    (Unter  der  Presse.) 
Kvacsala,  Joh.,  Über  J.  A.  Comenius'  Philosophie,  insbesondere  Physik. 

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—    Iis  — 


Dr.  F.  B.  Kvet,  Leibnitz  und  Comenius  in  den  Abhandlungen  der  böhm. 

Gesch.  d.  Wissenschaften.    1857.  (tschechisch.) 
S.  S.  Laurie,  J.  A.  Comenius,  Bishop  of  the  Moravians.    2.  Ed.  Cam- 
bridge 1885. 

Leben  des  Comenius.    Aus  dem  Böhmischen.   Leipzig,  Reclam. 
Lechlcr,  G.,  Joh.  v.  Wiclif  und  die  Vorgeschichte  der  Reformation.  2  Bde. 
Leipzig  1873. 

Leutbecher,  J.,  Comenius  Lehrkunst.    Leipzig  1854. 

Loesche,  Georg,  Jan  Arnos  Komensky  (Comenius).  Der  Pädagoge  und 
Bischof.    Populärer  Vortrag.   Wien,  Manz  1889. 

Liepe,  Albert,  Comenius,  Praeceptor  mundi.  Berlin,  Verlag  der  Buch- 
handlung der  >  Deutschen  Lehrerzeitungc  1891. 

Lindner,  Grofse  Unterrichtslehre.   Wien,  Pichler. 

Lindner,  Biographie  des  Comenius.  Neue  Auflage.  Ergänzt  von  Wilhelm 
Bötticher.  Verlag  von  A.  Pichlers  Witwe  u.  Sohn,  Wien.  (Unter  der 
Presse.) 

Lion,  Grofse  Unterrichtslehre.   Langensalza  1891,  3.  Aufl. 
Migot,  Georges,  Jean  Arnos  Comenius,  le  dernier  e"veque  morave.  Etüde 
pddagogique  et  thöologique.    Paris,  Henry  Jouve.   15  nie  Racine  1891. 

Müller,  Jos.,  Die  deutschen  Katechismen  der  böhmischen  Brüder.  (Mon. 

Germ.  Paedag.  IV.)  1887. 
Müller,  Walter.  Comenius,  ein  Systematiker  in  der  Pädagogik.  Eine 

philos.-histor.  Untersuchung.    Dresden  1887. 
Nebe,  Aug.,  Comenius  als  Mensch,  Pädagoge  und  Christ.  Bielefeld, 

A.  Helmichs  Buchhandlung,  1891. 
Nebe,  A.,  Vives,  Aisted  und  Comenius  in  ihrem  Verhältnis  zu  einander. 

Elberfeld  1891. 

Pappenheim,  Eugen,  Grofse  Unterrichtslehrc.    Langensalza,  Grefsler. 

Pappenheim,  Eugen,  Arnos  Comenius,  der  Begründer  der  neuen  Päda- 
gogik.  Berlin,  F.  Henschel,  1871. 

Pappenheim,  Zur  Erinnerung  an  Comenius.    Berlin  1872. 

Peiper,  W.,  Joh.  Arnos  Comenius,  der  grofse  Schulmann  Posens.  Vortrag. 
Koschmin,  R.  Tränkner,  1891. 

Robert,  Ed.,  Noticc  sur  Comen.  et  ses  iddes  humanitaires.  Revue  pe"dag. 
Paris,  Dez.  1881,  Jan.,  Febr.  1882. 

Sander,  F.,  Johann  Arnos  Comenius  (1592—1670)  und  die  Comenius- 
Gesellschaft,  in  der  Beilage  zur  Allg.  Zeitung  vom  5.  November  1891, 
No.  307. 

Seyffarth,  L.  W.,  Johann  Arnos  Comenius.  Nach  seinem  Leben  und 
seiner  pädagog.  Bedeutung    3.  Aufl.    Leipzig,  Sigismund  u.  Volkening- 

Tiemann,  Herrn.,  Johann  Arnos  Comenius.  Ein  Bild  eines  Schulmannes 
aus  alter  Zeit.  Für  Freunde  der  Schule  in  neuerer  Zeit.  Braun- 
schweig 1892. 

Vidrascu,  P.,  Comenii  orbis  pictus.  Charakteristik  und  Würdgiung  des- 
selben.  Dissertation,  Leipzig  1891. 

8* 


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116  - 


Vrbka,  A.,  Leben  u.  Schicksale  des  Comenius.    Znaim  189a. 

Wölk  an,  R.,  Das  deutsche  Kirchenlied  der  böhmischen  Brüder  im  16.  Jahr- 
hundert.   Prag,  1891. 

v.  Zezschwitz,  Die  Katechismen  der  Waldenser  und  böhmischen  Brüder. 
Erlangen  1863. 

Ziegler,  A.,  Beiträge  zur  älteren  Geschichte  des  Gymnasiums  zu  Lissa. 
Lissa  1855. 


9.  Verein  für  herbartische  Pädagogik  in  Thüringen 

und  Sachsen. 

Schon  vor  Jahren  —  auf  der  Vorversammlung  zu  Nürnberg  Pfingsten 
1888*)  —  hat  der  Herausgeber  d.  Z.  darauf  hingewiesen,  wie  notwendig 
es  sei,  die  Organisation  des  Vereins  für  wissensch.  Pädagogik  dadurch  zu 
vervollkommnen,  dafs  das  über  Deutschland  ausgespannte  Netz  von  Zweig- 
vereinen in  verschiedene  Gruppen  zusammengeschlossen  werde,  die  den 
regen  Gedankenaustausch  zwischen  den  Freunden  der  hcrbartischen  Päda- 
gogik innerhalb  bestimmter  Provinzen  und  Landschaften  sich  zur  Aufgabe 
stellen. 

Mehrere  solcher  Gruppen  entfalteten  in  den  letzten  Jahren  ein  reges 
pädagogisches  Leben.  So  der  Verein  für  herbartische  Pädagogik  in  Rhein- 
land und  Westfalen,  in  Posen  und  Schlesien,  in  Unterfranken,  in  der 
Schweiz  u.  s.  w. 

Eine  ähnliche  Verbindung  bildeten  seit  einer  Reihe  von  Jahren  die 
Zweigvereinc  Altcnburg,  Halle,  Leipzig  und  Jena.  Auf  der  letzten 
Zusammenkunft  in  Weifsenfcls  im  Herbst  1891  wurde  der  Gedanke  ange- 
regt, diese  Vereinigung  auf  Thüringen  auszudehnen. 

Unser  Vorschlag  geht  nun  noch  weiter,  insofern  er  dahin  zielt,  eine 
Verbindung  der  Herbartfrennde  in  ganz  Mitteldeutschland,  namentlich 
in  Thüringen  und  Sachsen  herbeizuführen. 

Mit  der  Vorbereitung  auf  die  erste  Thüringische  Versammlung,  die  im 
Herbst  1892  stattfinden  soll,  wurden  Dr.  Glöckner-Leipzig  und  Prof 
Rein -Jena  beauftragt. 

Dieselben  haben  sich  dahin  geeinigt,  für  den  Herbst  92  —  Zeit  und 
Tagesordnung  wird  später  bekannt  gegeben  werden  —  die  Herbartfreunde 
Thüringens  und  Sachsens  zu  einer  Versammlung  nach  Erfurt  einzuladen, 
um  die  endgiltige  Einrichtung  des  Vereins  für  Mitteldeutschland  zu  schaffen. 
Zu  diesem  Zwecke  sollen  nachstehende  Satzungen,  die  dem  Verein  für 


•)  S.  KrlSuterungeu  »uro  J«l  rbnch  XX,  S.  b. 


—    ii7  - 


Rheinland  und  Westfalen  nachgebildet  sind,  der  Versammlung  zur  Be- 
sprechung bez.  zur  Annahme  vorgelegt  werden: 

Satzungen  des  Vereins  für  herbartische  Pädagogik  in  Thüringen 

und  Sachsen. 

I.  Vom  Zweck  des  Vereins, 

§  i.  Der  Verein  hat  die  Förderung  der  Schulerziehung  auf  Grund 
der  Herbartischen  Pädagogik  zum  Zweck. 

§  2.  Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  hält  der  Verein  in  jedem  Jahre 
eine  Hauptversammlung  ab.  Um  für  die  auf  dieser  Versammlung  statt- 
findenden Verhandlungen  eine  gemeinsame,  breite  und  sichere  Grundlage 
zu  gewinnen,  strebt  der  Verein  überall  die  Gründung  von  Ortsvereinen  an. 
Damit  die  Arbeit  derselben  sich  nicht  zu  sehr  zersplittere  und  auch  der 
Gesamtheit  zu  gute  komme,  macht  der  Verein  aufmerksam  auf  Schriften 
und  Aufsätze,  die  sich  zum  gemeinsamen  Studium  besonders  empfehlen. 

II.  Von  der  Mitgliedschaft. 

§  3.  Mitglied  kann  jeder  werden,  der  den  Bestrebungen  des  Vereins 
zugeneigt  ist. 

§  4.  Der  Eintritt  in  den  Verein  geschieht  durch  schriftliche  An- 
meldung bei  den  Vorstandsmitgliedern;  der  Austritt  erfolgt  auf  demselben 
Wege 

III.  Von  den  Beitragen. 

§  5.  Jedes  Mitglied  zahlt  einen  jährlichen  Beitrag  von  1  M.,  der  von 
den  Bevollmächtigten  des  Vereins  erhoben  und  dem  Rechnungsführer  ein- 
gehändigt wird. 

§  6.    Beiträge  sind  im  Januar  jeden  Jahres  zu  entrichten. 

IV.  Von  der  Recbnnngsablagc. 

§  7.  Die  Rechnungsablage  erfolgt  in  der  Herbstversammlung.  Zur 
Prüfung  der  Jahresrechnung  besteht  ein  Ausschufs  von  zwei  Mitgliedern, 
der  alljährlich  von  der  Versammlung  neu  gewählt  wird  und  dieser  über 
das  Ergebnis  der  Prüfung  Bericht  zu  erstatten  hat. 

V.  Vom  Vorstand. 

§  8.  Der  Vorstand  besteht  aus  fünf  Personen:  dem  Vorsitzenden, 
dem  Schriftführer,  deren  Stellvertretern  und  dem  Rechnungsführer. 

§  9.  Die  Vorstandsmitglieder  werden  in  der  Herbstversammlung  auf 
drei  Jahre  gewählt.  Wiederwahl  ist  gestattet.  Die  Wahl  geschieht  durch 
Stimmzettel,  doch  ist,  wenn  kein  Widerspruch  erfolgt,  auch  die  Wahl  durch 
Zuruf  zulässig.  Bei  der  Wahl  entscheidet  absolute  Stimmenmehrheit,  bei 
Stimmengleichheit  das  Los. 

VI.  Von  den  Berolliriiichtijrten. 

§  10.  Der  Vorstand  ist  ermächtigt,  zur  Regelung  der  Vereins- 
angelegenheiten eine  beliebige  Zahl  von  Bevollmächtigten  zu  ernennen. 
Sie  nehmen  die  Vereinsschriften  in  Empfang,  besorgen  deren  Absendung 
an  die  Mitglieder  ihres  Bezirks,  sind  bei  der  Einziehung  der  Jahresbeiträge 
behülflich,  setzen  sich  namentlich  die  Gründung  und  Unterhaltung  vori 


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Ortsvereinen  zur  Aufgabe  und  suchen  überhaupt  auf  alle  Weise  die  In- 
teressen des  Vereins  zu  fördern. 

VII.  Vnn  der  Hauptversammlung. 

§  n.  Alljährlich  wird  eine  Hauptversammlung  abgehalten,  und  zwar 
in  den  Michaelisferien. 

§  12.  Die  jedesmalige  Tagesordnung  wird  vom  Vorstande  einen 
Monat  vor  der  Sitzung  zur  Kenntnis  der  Mitglieder  gebracht  werden. 

§  13.  Zu  der  Hauptversammlung  sind  von  den  Ortsvereinen  besondere 
Vertreter  zu  entsenden.  Diese  haben  über  die  Thätigkeit  der  Ortsvereine 
im  verflossenen  Jahre  kurzen  Bericht  zu  erstatten. 

§  14.    Die  Versammlung  bestimmt  den  nächsten  Versammlungsort.*) 

VIII.  Ton  den  Abänderungen  der  Satzangen. 

§  15.  Abänderungen  der  Satzungen  können  nur  in  der  Hauptver- 
sammlung vorgenommen  werden;  es  entscheiden  dabei  drei  Viertel  der 
Anwesenden. 

Leipzig  und  Jena,  Februar  92. 

Dr.  Glöckner.    Prof.  Rein. 

Anmeldungen  unter  Beilage  des  Jahresbeitrags  von  1  M.  nehmen 
schon  jetzt  die  Unterzeichneten  entgegen.  Es  wird  noch  besonders  darauf 
hingewiesen,  dafs  die  Mitgliedschaft  im  Thüring -sächs.  Verein  nicht  die 
Teilnahme  an  dem  Hauptverein  für  wiss.  Pädagogik  zur  Voraussetzung  hat. 


10.  Nekrolog  von  DDr.  0.  Frick. 

Von  Prof.  Dr.  R.  Menge  in  Halle  a/S. 

Dienstag  den  19.  Januar  1892,  mittags  12  Uhr  verstarb  im  60.  Lebens- 
jahre infolge  von  Influenza  Dr.  theol.  und  phil.  Otto  Paul  Martin  Frick, 
der  Direktor  der  Franckeschen  Stiftungen  zu  Halle  a.  S.,  ein  Schul- 
mann, der  unsern  Lesern  wohlbekannt  ist  als  eifriger  Förderer  des  er- 
ziehenden Unterrichts.  Er  wurde  geboren  am  21.  März  1832  in  Schmitzdorf 
bei  Rathenow,  wo  sein  Vater  Pastor  war.  Nachdem  er  am  Joachimsthalschen 
Gymnasium  Michaelis  1851  die  Reifeprüfung  abgelegt  hatte,  studierte  er 
in  Berlin  und  Halle  Philologie  und  Geschichte.  1855  bestand  er  seine 
Staatsprüfung  und  erwarb  sich  die  Doktorwürde.  1855—1857  verbrachte 
er  in  Konstantinopel  als  Hauslehrer  bei  dem  preufsischen  Gesandten  von 
Wildenbruch.  Hier  unterrichtete  er  den  jetzt  so  berühmten  dramatischen 
Dichter  Ernst  von  Wildenbruch,  der  seinem  Lehrer  stets  grofse  Anhänglich- 

•)  Vielleicht  dürft«  m  aioh  empfehlen,  einfech  zwischen  Erfurt  and  Leipsig  su  wechseln. 
Beide  StUdte  liegen  Im  Mittelpunkt  der  betr.  Länder  und  heben  gnte  Eleenbahnverbindangcn. 


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—    ii9  — 


keit  und  Hochachtung  bewahrt  hat.  Während  seines  Aufenthaltes  am 
Bosporus  wurde  auf  dem  Hippodrom  in  Konstantinopel  von  den  Engländern 
die  bronzene  Schlangensäule  ausgegraben ,  die  einst  den  Untersatz  des 
goldenen  Dreifufses  bildete,  den  die  Griechen  nach  der  Schlacht  bei  Platää 
in  Delphi  aufgestellt  hatte.  Frick  ;war  Zeuge  dieser  Ausgrabung  und  ver- 
öffentlichte nach  seiner  Rückkehr  ins  Vaterland:  Das  Platäische  Weihgeschenk 
in  Konstantinopel,  Leipzig  1859.  Auch  über  den  Bosporus  und  die  Troas 
schrieb  er  mehrere  beachtenswerte  Aulsätze.  Sein  Aufenthalt  im  Orient,  seine 
Kenntnis  Griechenlands  und  Italiens,  die  er  auch  damals  bereist  hatte,  trugen 
ihm  überhaupt  reiche  Früchte,  auch  für  seinen  Unterricht,  in  dem  die  genaue 
äufsere  und  innere  Anschauung  des  Schauplatzes  der  Handlung  stets  eine 
grofse  Rolle  spielte.  Ja  auch  sein  rasches  Aufsteigen  zu  hohen  Stellungen 
brachte  er  selbst  in  Zusammenhang  mit  seiner,  besonders  für  jene  Zeiten, 
so  ungewöhnlichen  Vorbildung.  Nur  sieben  Jahre  war  er  Gymnasiallehrer 
in  Berlin,  Essen,  Wesel,  Barmen.  Bereits  1864  wurde  ihm  die  Gymnasial- 
direktion in  Burg  anvertraut,  wo  er  vier  Jahre  mit  grofsem  Erfolg  thätig 
war.  Nachdem  er  dann  1867—1874  das  Gymnasium  in  Potsdam,  1874— 1878 
das  in  Rinteln  geleitet  hatte,  wurde  er  als  Rektor  der  Latina  an  die 
Franckeschen  Stiftungen  in  Halle  a.  S.  berufen,  deren  Direktor  damals 
Dr.  Adler  war.  Als  dieser  nach  wenigen  Jahren  starb,  wurde  Frick  Michaelis 
1880  Direktor  der  Stiftungen.  War  er  bis  dahin  nur  im  engeren  Kreise 
der  Berufsgenossen  bekannt  gewesen,  so  lenkte  er  jetzt  die  Aufmerksamkeit 
vieler  auf  sich,  indem  er  ernste  Versuche  machte,  die  Unterrichts- 
weise am  Gymnasium  zu  bessern  Er  hatte  richtig  erkannt,  dafs  vor 
allen  Dingen  die  Vorbildung  der  Gymnasiallehrer  für  ihren  Beruf  eine 
zweckmäfsigere  werden  mufste,  und  eröffnete  deshalb  1881  bereits  das  einst 
von  A.  H.  Francke  begründete,  aber  eingeschlafene  Seminarium  praeeep- 
torum.  Auf  der  sächsischen  Direktoren-Konferenz  des  Jahres  1883  hatte 
er  mit  Friedet  das  Referat  über  die  Frage:  Inwieweit  sind  die  Herbart- 
Ziller-Stoyschen  Grundsätze  für  den  Unterricht  der  höheren  Schulen  zu 
verwerten?  Durch  Veröffentlichung  dieses  Referates  brachte  er  Aufregung 
in  weite  Kreise.  Er  fand  zunächst  mehr  Widerspruch  als  Anklang.  Seine 
Gegner  waren  teils  im  Lager  der  strenggläubigen  Theologen,  teils  in  dem 
der  Schulmänner.  Jene  Uelsen  sich  erst  allmählich  überzeugen,  dafs  sich 
gläubiges  Christentum  mit  Herbartscher  Didaktik  vereinigen 
lasse,  diese  bekämpften  eine  Lehrmethode  mit  Eifer,  welche  —  dem  Nicht- 
kenner  —  die  freie  Entwickelung  der  Lehrerpersönlichkeit  zu 
hemmen  schien.  Aber  auch  die  Gleichgesinnten  fanden  sich  zusammen,  und 
von  ihnen  unterstützt  lieis  Frick  seit  1884  erst  mit  Richter-Jena,  später 
mit  Meier-Schleiz  die  Lehrgänge  und  Lehrproben  erscheinen,  deren 
30.  Heft  unmittelbar  vor  Fricks  Tode  ausgegeben  worden  ist.  Wir  haben 
über  diese  Zeitschreift  zu  verschiedenen  Malen  berichtet.  Besonders  die 
Hefte,  welche  Aufsätze  von  Frick  selbst  enthalten,  sind  wertvoll ;  denn  sein 
reicher  Geist  fand  immer  neue  Gesichtspunkte,  unter  denen  er,  sei  es  die 
Lehrtätigkeit  im  allgemeinen,  sei  es  einzelne  Zweige  derselben,  betrachtete, 
und  seine  Leser  zum  Nachdenken  und  zum  Nachprüfen    ihrer  eigenen 


120  — 


Thätigkeit  veranlafste.  Das  Seminarium  praeseptorum  gab  ihm  Gelegenheit 
seine  Theorien  zu  erproben,  und  die  Praxis  brachte  seinen  schöpferischen 
Geist  immer  wieder  auf  neue  Gedanken.  Schon  gereiften  Kollegen  suchte 
er  seine  Theorien  nicht  aufzuzwingen;  aber  niemand  in  seiner  Umgebung 
konnte  sich  dem  Einflüsse  des  unablässig  thätigen  Mannes  entziehen,  und  die 
ganzen  Stiftungen,  welche  Schulgattungen  aller  Art  umschliefsen,  wurden 
mehr  und  mehr  von  seinem  Geiste  durchdrungen,  so  dafs  die  zahlreichen 
Gäste,  welche  fortwährend  aus  allen  Ländern  zu  Besuch  kamen,  das  Wirken 
dieses  Mannes  erstaunt  bewunderten. 

Eifrig  bemüht  war  er  auch  den  Gymnasiallehrplan  aus  dem  Zu- 
stande eines  blofsen  Aggregates  überzuführen  in  den  eines  Organismus 
Der  Schüler  sollte  heimisch  gemacht  werden  in  den  drei  Reichen:  Natur, 
Geschichte,  Gott.  Neben  rechter  Stoffauswahl  und  gründlicher  Stoffdurch- 
dringung sollte  die  Stoftverbindung  angestrebt  werden,  indem  der  ganze 
Unterrichtsstoff  um  grofse  Gedankencentren  gruppiert  würde.  Für  den 
Lehrplan  der  Prima  besonders  hat  Frick  Grundlagen  geschaffen,  die  von 
allen  beachtet  werden  müssen,  die  den  Unterricht  erziehend  gestalten  wollen. 

Wie  er  auch  auf  längst  von  andern  angebauten  Gebieten  neue  Schätze  zu 
heben  wufste,  bezeugen  seine  Erklärungsschriften  zu  deutschen  Klassikern: 
zu  Klopstock,  dessen  Oden  besonders  er  durch  glückliche  Auswahl  und 
sinnige  Erklärung  für  die  deutsche  Schule  wiedergewonnen  hat,  und  zu 
den  >Schuldramen«  von  Lessing,  Goethe,  Schiller,  die  er  ästhetisch  eben- 
sowohl wie  psychologisch  in  einer  Tiefe  erfafst  hat,  wie  wir  es  kaum 
anderswo  finden.  Es  ist  schmerzlich,  dafs  er  dieses,  sein  umfangreichstes 
Werk  nicht  zu  Ende  führen  konnte,  bei  Waüenstein  ist  es  abgebrochen. 

Wollten  wir  ein  Vollbild  des  Verstorbenen  zeichnen,  so  würden  wir 
noch  viele  Seiten  an  ihm  herausheben  müssen  und  würden  doch  hinter 
unserm  Ziele  zurückbleiben.  Denn  solch  eine  reich  entwickelte  Persönlich- 
keit, die  auf  dem  Gebiete  der  Schule,  der  Kirche  und  des  politischen 
Lebens  so  kräftig  gewirkt  hat,  kann  von  einem  Einzelnen  kaum  gewürdigt 
werden.  Wir  verzichten  also  auf  Vollständigkeit.  Aber  eines  seiner  Ver- 
dienste mufs  noch  erwähnt  werden.  Wenn  es  endlich  gelungen  ist,  die 
revidierte  Bibelübersetzung  zustande  zu  bringen ,  die  in  diesem  Jahre  in 
der  Canstcinschen  Bibelanstalt  herausgegeben  wird,  so  ist  das  nicht  zum 
geringsten  ihm  zu  danken.  Er  war  der  Vorsitzende  der  Revisionskommis- 
sion und  hat  durch  verständnisvolle  und  kluge  Vermittelung  die  verschiedenen 
Bestrebungen,  welche  sich  geltend  machten,  zu  einem  Ziele  hin  zu  lenken 
gewufst.  Die  theologische  Fakultät  zu  Halle  hat  ihn  dafür  geehrt,  indem 
sie  ihn  zum  Doctor  theologiae  honoris  causa  ernannte.  Er  selbst  hat  über 
das  allmähliche  Gelingen  des  denkwürdigen  Bibelwerks  noch  vor  wenigen 
Wochen  Zeugnis  abgelegt  auf  der  Generalsynode  in  Berlin,  deren  Mitglied 
er  war,  und  die  Vorrede  zu  dieser  Ausgabe  hat  ihn  bis  zuletzt  beschäftigt; 
noch  unmittelbar  vor  seinem  Tode  ist  sie  im  Druck  vollendet  worden. 

Sein  Geist  war  immer  auf  Erweckung  wahrer  Vaterlandsliebe  und 
Aufbau  des  Reiches  Gottes  auf  Erden  gerichtet.  So  ist  es  eine  schöne 
Fügung,  dafs  sein  Leben  seinen  Abschlufs  gefunden  hat  mit  dieser  Gabe 


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—     121  — 

an  das  deutsche  Volk,  an  seine  evangelischen  Glaubensgenossen.  Gern 
hätte  er  es  noch  erlebt,  dafs  der  deutschen  Jugend  eine  Schulbibel  in  die 
Hand  gegeben  würde;  aber  der  Tod  hat  ihn  abgerufen,  bevor  dieser  Plan 
greifbare  Gestalt  gewonnen  hatte. 


II.  Selbstanzeige. 

„Die  Farn  II  fen  rechte  an  der  öffentlichen  Erziehung." 

2.  Aufl.    Langensalza,  Beyer  &  S. 

In  meinen  früheren  littcrarisch-kritischen  Bemerkungen  »Zum  Kampfe 
um  die  Schule«  habe  ich  die  Leser  d  Bl.  aul  einen  herrschenden  falschen 
Gegensatz  in  der  Schulverfassungsfrage  hingewiesen,  der  sie  nie  zur  Lösung 
kommen  lassen  kann.  Dafs  der  vorausgesagte  Kulturkampf  auf  dem  Schul  - 
gebiete  schon  so  bald  den  hohen  Grad  der  Erregtheit  erreichen  würde, 
den  er  uns  im  preufsischen  Abgeordnetenhause  gezeigt  hat,  und  dafs 
die  preufsische  Regierung  mitsamt  der  deutschkonservativen  Partei 
dabei  ins  Windthorstsche  Lager  übergehen  und  in  der  Schulfrage  den 
Reformationsstandpunkt  preisgeben  würde,  das  habe  ich  allerdings  nicht 
gedacht,  so  verlockend  auch  die  ultramontanen  Scheingründe  für  ein 
evangelisch-konservatives,  dem  landläufigen  Tiberalismus  mit  seiner  Simultan- 
schule und  seiner  kirchlich-religiösen  Gleichgültigkeit  und  Kälte  abgeneigtes 
Gemüt  erachtet  werden  mufsten. 

Anstatt  darauf  zu  sinnen,  wie  sich  die  öffentliche  Jugenderziehung 
vor  dem  starken  politischen  und  sozialen  Wellenschlage,  insbesondere  auch 
vor  dem  direkten  Hasse  der  Sozialdemokratie  schützen  liefse,  hat  die  in 
den  oberen  Kreisen  überhandnehmende  Furcht  vor  dem  roten  Gespenst 
sich  von  dem  Centrum  einen  Schutzgesetzentwurf  diktieren  lassen,  der  die 
Schule  fortan  zu  demselben  Gegenstande  der  Verachtung  und  des  Hasses 
machen  wird,  wie  die  Geistlichen,  die  die  Hüter  aller  Volksbildung  werden 
sollen  und  die  religiösen  Gemeinschaften,  deren  Konfession  in  der  Schule 
besonders  zu  lehren  ist,  in  den  sozialdemokratischen  Massen  es  längst  sind. 

Noch  sind  die  Würfel  nicht  gefallen;  noch  wäre  es  möglich,  die  Bil- 
dung der  Volksmassen  vor  der  Umarmung  römischer  Gelüste  wie  vor  der 
Abneigung  der  Familien  zu  schützen.  Allein  die  politischen  Parteien  wissen 
keinen  Ausweg. 

Wir  kennen  einen  solchen,  und  unsere  pädagogische  Richtung  von 
Herbart  bis  Dörpfeld  hat  ihn  fast  einmütig  als  den  einzig  zweckmäfsigen 
empfohlen.  Dieser  Ausweg  bildet  das  Familicnprinzip  in  der  Schul- 
verfassung, wie  ich  es  in  meiner,  1890  in  erster  Auflage  bei  Beyer  &  Söhne 
in  Langensalza  erschienenen  Schrift:  »Die  Familienrechtc  an  der 
öffentlichen  Erziehung«  in  seiner  Fortentwickelung  dargestellt  habe. 


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i 


122  — 


Dieselbe  erscheint  nun  binnen  Kurzem  in  zweiter,  sehr  erweiterter 
und  mit  einem  Vorwort  von  Herrn  Prof.  Rein  begleiteter  Auflage.  Ins- 
besondere wird  sie  neben  der  Kennzeichnung  der  ultramontanen  Ziele  und 
Gefahren  auch  den  Entwurf  und  seine  Gefahren  beleuchten,  um  dann  auch 
die  genetische  Darstellung  unseres  neutralisierenden  Prinzips  mit  einer 
Reihe  von  »Richtlinien  für  eine  gesetzliche  Regelung  des  Schulwesens« 
abzuschliefsen,  welche  Herr  Prot.  Rein  und  der  Unterzeichnete  dem  hiesigen 
Zweigverein  für  wissenschaftliche  Pädagogik  zur  Besprechung  unterbreitet 
hatten. 

In  der  achttägigen  Hunnenschlacht  des  Abgeordnetenhauses  sind  nur 
die  politischen  und  kirchenpolitischen  Ansichten  zur  Geltung  gekommen. 
Einige  pädagogische  dienten  höchstens  als  Aushängeschild.  Unsere  Schritt 
will  ein  rein  pädagogisches  Prinzip  abermals  zum  Ausdruck  bringen. 

Möge  jeder  Leser  dieses  Blattes  an  seinem  Teile  beitragen ,  dafs  ein 
solches,  von  jedem  unabhängig  denkenden  Pädagogen  als  allein  richtig 
anerkanntes  Prinzip  zum  Heile  des  künftigen  Geschlechtes  in  dem  Kampf 
um  die  Schule  nicht  überhört  werde  !♦> 

Jena,  im  Februar  1892  J.  Trüper. 


C.  Beurteilungen. 


1. 

A.  Ohlert.  Die  Lehre  vom  franzö- 
sischen Verb.  Ein  Hilfsbuch  für 
die  systematische  Behandlung  der 
Verbalflexion  auf  der  Mittelschule. 
Hannover  b.  C  Meyer  1887. 

A.  Ohlert.  Die  Behandlung  der  Ver- 
balflexion  im  französischen  Unter- 
richt. Eine  Begleitschrift  zur  »Lehre 
vom  französischen  Verb.«  Han- 
nover b.  C.  Meyer  1887. 

A.  Ohlert  nimmt  unter  den  Schul- 
männern ,  die  in  der  fremdsprach- 
lichen Reformbewegung  hervorgetre- 
ten sind ,  mit  Recht  eine  hervor- 
ragende Stellung  ein.  Gleich  weit 
von  Extremen  entfernt  wahrt  er 
einen  durchaus  selbständigen  Stand- 


punkt, der  begründet  liegt  in  wissen- 
schaftlicher Beherrschung  sowohl  der 
neueren  Sprachen  als  auch  der  Päda- 
gogik. So  sind  denn  auch  die  vor- 
liegenden beiden  Schriftchen  höch- 
ster Beachtung  wert,  selbst  wenn 
man  nicht  in  allen  Punkten  dem 
Verfasser  vollständig  zustimmen  kann. 
Die  Grundsätze,  die  er  seiner  Lehre 
vom  französchen  Verb  zu  Grunde 
gelegt  hat,  sind  folgende: 

1)  Die    französische  Grammatik 
muss  auch  einer   strengen  Unter- 
scheidung zwischen  Laut  und  Schrift . 
aufgebaut  sein. 

2)  Die  Lehre  vom  französischen 
Verb  ist  auf  die  beiden  allgemeinen, 
die  ganze  sprachliche  Entwicklung 
regelnden  Prinzipien,  das  Betonungs- 


*)  Wir  machen  hier  auglelch  auf  eine  hervorragende  Schrift  untere«  Dörpfeld  aufmerksam  ; 
Dm  FondamenUtfiek  einer  gerechten,  gesunden,  freien  und  friedlichen  Schul  Verfassung.  Hilchen- 
bach, Wlexaud  t8M.    Vergl.  Deutsche  Rundichau,  Aprllheft  1892.    (D.  H.) 


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—     I23  - 


ge8etz  und  das  Verstummungsgesetz 
zu  begründen. 

3)  Diese  allgemeinen  Lautgesetze 
sind  nicht  bei  der  Flexion  des  Ver- 
bums allein  zu  erörtern,  sondern 
in  ihren  verschiedenen  Erscheinungs- 
formen von  der  ersten  Unterrichts- 
stunde an  dem  Schüler  zum  Bewufst- 
sein  zu  bringen,  derart  dafs  die  Eigen- 
tümlichkeiten in  der  Lehre  vom  Verb 
nur  als  die  Konsequenz  längst  be- 
kannter Gesetze  empfunden  werden. 

4)  Ebenso  ist  die  auf  physio- 
logische Gründe  zurückzuführende 
An-  und  Ausgleichung  der  Laute  zu 
behandeln  (Lautvermittelungsgesetz). 

5)  Formen,  die  zu  ihrer  Erklärung 
vulgärlateinische  Grund-  und  alt- 
französische  Zwischenformen  erfor- 
dern, bleiben  unerklärt. 

6)  »Hinweise  auf  das  (klassisch) 
Lateinische  gehören  nicht  in  die 
Grammatik ,  sondern  in  einen  be- 
sondern  Anhang.« 

Mit  diesen  Grundsätzen  kann  man 
sich  gewifs  ohne  grofse  Bedenken 
einverstanden  erklären;  hüten  mufs 
man  sich  nur,  dals  man  (bes.  durch  1 
u.  4)  nicht  zu  systematischer  Behand- 
lung der  Lautphysiologie  und  zur 
Anwendung  der  Lautschrift  sich  ver- 
leiten läist.  Ohlert  scheint  in  letz- 
terer Beziehung  gewisse  Neigungen 
zu  haben ;  es  finden  sich  in  der 
»Lehre  vom  französischen  Verb«  eine 
häufige  Anwendung  phonetischer 
Transscriptionen.  Nach  meiner  Mei- 
nung sollten  sie  aus  allen  Büchern 
für  die  lernende  Jugend  verschwinden. 
—  Manche  Meinungen  und  Forde- 
rungen des  Verfassers  sind  nun  in 
den  seit  Erscheinen  der  beiden  Hefte 
verflossenen  Jahren  teils  in  die  Praxis 
aufgenommen,  teils  doch  so  allge- 
mein anerkannt,  dafs  ihrer  prak- 
tischen Durchführung  kaum  noch 
Hindernisse  im  Wege  stehen,  soweit 
es  auf  die  Lehrerwelt  ankommt. 
Trotzdem  bleiben  diese  beiden  Werk- 
chen noch  in  mancher  Beziehung 
lesenswert,  und  gern  empfehle  ich 
sie  an  dieser  Stelle. 

n. 

Dr.  phil.  Ernst  0.  Stiehler,  Streifzüge 
auf  dem  Gebiete  der  neusprach- 


lichen Reformbewegung.  Marburg 
b.  Elwert  1891. 
0r  phil.  Ernst  0.  Stiehler,  Zur  Metho- 
dik   des  neusprachlichen  Unter- 
richts.   Zugleich  eine  Einführung 
in  das  Studium  unserer  Reform- 
schriften.   Nebst  einem  ausführ- 
lichen Quellenverzeichnisse  Mar- 
burg bei  Elwert.  1891. 
Seit  mehr  denn   10  Jahren  wogt 
nun  der  Kampf  um  die  Reform  des 
Sprachunterrichts    im  allgemeinen, 
des  neusprachlichen  im  speziellen. 
Aus   den  verschiedensten  Ständen 
sind  Kämpfer  hervorgetreten:  Neben 
Pädagogen  und  speziellen  Fachlehrern 
erschienen  Laien,  verschiedenen  Be- 
rufsarten angehörend,  auf  dem  Plan. 
Es  ist  danach  nicht  zu  verwundern, 
wenn  der  Gegenstand  des  Kämpfens 
nachgerade  in  materialer  und  formaler 
Hinsicht  erschöpft  erscheint  und  keine 
eigentlich  neuen  Gedanken  und  Ge- 
sichtspunkte mehr  hergeben  will,  und 
dem  entsprechend  auch  Schriften, 
welche  die  Reform  zum  Gegenstände 
haben,  keine  Ausbeute  mehr  liefern 
an  fruchtbaren  Gedanken,  die  nicht 
schon  bekannt,  nicht  selten  allge- 
meiner anerkannt,  zuweilen  freilich 
noch  verkannt  oder,  wenn  sie  es 
nicht  besser  verdienen,  schon  ein 
für  allemal  abgethan  wären. 

Diese  Überlegung  scheint  mir  auch 
auf  die  vorliegenden  beiden  Schrift- 
chen von  Ernst  Stiehler  zu  passen. 
Dennoch  möchte  ich  sie  hiermit  nicht 
einfach  abgethan  haben.  Sie  geben 
beide  zusammen  ein  recht  voll- 
ständiges und  gerade  darum  dankens- 
wertes Bild  von  der  gesamten  Reform- 
bewegung, zugleich  die  Überzeugung 
weckend,  dafs  die  Geister  mehr  und 
mehr  zur  Ruhe  kommen,  dafs  be- 
sonders eine  mittlere  Partei  mehr 
und  mehr  die  Oberhand  gewinnt  und 
so  das  Durchdringen  einer  mafsvollen, 
besonnenen,  die  Hauptpunkte  der 
Klagen  treffenden  Reform  gewähr- 
leistet, wie  sie  in  den  beiden  ge- 
nannten Schriften  des  Verfassers 
selbst  bedeutend  zum  Ausdruck 
kommt.  Zum  Beweise  führe  ich  die 
Hauptergebnisse  der  Betrachtungen 
Stiehlers  hier  an,  es  den  Liebhabern 
überlassend,  die  Ausführungen  im 
einzelnen    in    den    angenehm  ge- 


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J 


—    124  — 


schriebcncn  Schriftchen  nachzulesen. 
Die  »Streifzüge«  behandeln  im  I.  Teil 
»Die  wissenschaftliche  Grammatik  im 
Sprachunterrichte  und  die  Stellung 
der  Grammatik  bei  den  Reformern 
überhaupt  «  Das  Ergebnis  dieses 
Kapitels  ist.  »Die  französische  wie 
die  englische  Grammatik  ist  auf  das 
für  die  Schüler  unbedingt  Nötige  zu 
beschränken.  Danach  ist  sowohl 
das  Lehrbuch  wie  die  Methode  ein- 
zurichten. Deshalb  ferner,  weil  sie 
durchaus  keine  Zeitersparnis  be- 
deutet, weil  sie  noch  gar  nicht  voll- 
ständig ausgebaut,  endlich  weil  sie 
weder  konsequent  durchgeführt  noch 
durchführbar  ist,  ist  auch  die  soge- 
nannte »wissenschaftliche«  gramma- 
tische Methode  im  praktischen  Schul- 
unterricht nur  bei  den  Kapiteln  zu 
verwenden,  bei  welchen  sie  den 
Schülern  wirklich  ohne  Zeitverlust 
zu  gröfserer  Klarheit  verhelfen  kann.« 

Im  zweiten  Teil  behandelt  Stiehler 
die  Lautphysiologie  im  Schulunter- 
richt und  bekennt  sich  als  energischer 
Gegner  ihrer  systematischen  Ver- 
wendung, desgleichen  als  Gegner 
der  Lautschrift.  Und  hier  freue  ich 
mich  ganz  besonders,  ihn  ganz  als 
ineinen  Kampfgefährten  zu  finden 
und  den  Standpunkt  einnehmen  zu 
sehen,  den  ich  im  Jahre  1886  und 
1890  in  meinen  Arbeiten  »Zur  Neu- 
gestaltung des  französischen  Anfangs- 
unterrichts« und  »Schriftliche  Ar- 
beiten im  neusprachlichen  Unterricht« 
(Programme  des  Grolsh.  Realgym- 
nasiums zu  Eisenach)  mit  besonderem 
Nachdruck  verteidigt  habe.  Ganz 
recht:  unsere  Schulaussprache  des 
Englischen  und  Französischen  ist  ge- 
wifs  nicht  so  schlecht,  wie  ein  Traut- 
mann, Kräuter,  Vietor  u.a. sie  machen 
wollen,  aber  es  kann  und  mufs  ihrer 
Pflege  weit  mehr  Beachtung  ge- 
schenkt werden  als  bisher,  um  zu 
erreichen,  was  hier  erreichbar  ist. 
Das  kann  aber  nicht  durch  Ein- 
führung einer  systematische  Behand- 
lung der  Lautphysiologie  in  den 
Unterricht  geschehen  und  durch  ge- 
sundheitswidriges Drillen  der  Schüler 
in  irgend  einer  Lautschrift.  Die 
Lehrer  mögen,  oder  vielmehr  müssen 
notgedrungen  wenigstens  mit  den 
feststehenden  Ergebnissen  der  Laut- 


hysiologie  bekannt  sein  und  in  der 
taatsprüfung  einen  dahingehenden 
Nachweis  führen,  weil  sie  eben  mit 
allem  bekannt  sein  müssen,  was  ge- 
gebenen  Falls  den  Unterricht  er- 
leichtern, das  Lernen  sicherer  und 
erfolgreicher  machen  kann.  Aus  der 
Schrift  »zur  Methodik  des  französi- 
schen Unterrichts«  führe  ich  beson- 
ders folgende  Sätze  an:  »Die  Forde- 
rung der  Reformer,  die  Lektüre  in 
den  Mittelpunkt  des  Sprachunter- 
richts zu  stellen,  ist  als  berechtigt 
anzuerkennen.  Das  Schulgesetz  ver- 
langt, dafs  auf  sie  das  Hauptgewicht 
gelegt  werde.  Nach  der  jetzigen 
Anlage  unserer  Grammatiken  ist  diese 
Forderung,  falls  die  Stundenzahl  in 
den  neueren  Sprachen  nicht  erhöht  ' 
werden  kann,  nicht  erfüllbar  Es 
mufs  deshalb  der  bisherige  ausge- 
dehnte grammatische  Unterrricht  ein- 
geschränkt werden;  namentlich  sind 
syntaktische  Feinheiten  durchaus  der 
Lektüre  zuzuweisen.  Was  diese 
selbst  angeht,  so  sind  Einzelschrift- 
steller nur  in  den  Oberklassen  zu 
lesen,  von  ganz  leichten  abgesehen, 
die  vielleicht  der  Untersekunda  zu- 
zuweisen wären  ;  in  die  Mittel-  und 
Unterklassen  gehört  das  Lesebuch. 
In  den  letzteren  wird  das  Lese- 
buch zunächst  durch  das  mit  zusam- 
menhängenden fremdsprachlichen 
Übungsstücken  versehene  gramma- 
tische Lehrbuch  ersetzt.  Die  poe- 
tische Lektüre  der  Geistesheroen 
unserer  Nachbarvölker  darf  dem 
Primaner  eines  Gymnasiums  oder 
Realgymnasiums  keinesfalls  ver- 
schlossen bleiben  «  Das  Obersetzen 
in  die  fremde  Sprache  glaubt  Stiehler 
nicht  entbehren  zu  können.  Seine 
Gründe  dafür,  die  alten,  allbekannten, 
leuchten  mir  freilich  nicht  ein,  und 
ich  mufs  auf  dem  in  meiner  Abhand- 
lung: »Die  schriftlichen  Arbeiten  im 
neusprachlichen  Unterricht«  (Pro- 
gramm 1S90)  durchaus  verharren. 
Stiehler  sagt:  »Leichte,  dem  Ver- 
ständnisse des  Schülers  angepafste, 
jede  Zweideutigkeit  im  Inhalte  aus- 
schliefsende deutsche  Ubersetzungs- 
stückc  sind  für  höhere  Lehranstalten, 
die  es  ja  mit  bewufster  Spracherler- 
nung zu  thun  haben,  ihrer  formal- 
bildenden Kraft  wegen  nicht  zu  ent- 


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—  »25 


behren,  besonders  auch  deshalb 
nicht,  weil  durch  sie  erst  der 
Schüler  innc  wird,  inwieweit 
ersieh  den  fremdsprachlichen 
Stoff  zu  eigen  gemacht  hat!« 
Dafs  die  formale  Bildung  hier  wieder 
figuriert ,  ist  durchaus  nicht  über- 
raschend, denn  sie  nimmt  unter  den 
menschlichen  Vorurteilen  noch  einen 
zu  festen  Platz  ein,  um  sobald  ver- 
trieben werden  zu  können  selbst 
durch  so  kräftige  Angriffe  wie  die 
des  Direktors  Ackermann.  Verwun- 
derlich sieht  es  auch  aus,  die  »be- 
wufste  Spracherlernung«  als  einen 
Grund  für  das  Übersetzen  in  die 
fremde  Sprache  angeführt  zu  sehen. 
Man  weifs  kaum  recht,  was  man 
daraus  machen  soll  Gehört  das 
Übersetzen  in  die  fremde  Sprache 
zu  den  notwendigen  Merkmalen  einer 
bewufsten  Spracherlernung  ?  oder 
dokumentiert  sich  die  Sprachcrler- 
nung  der  Schüler  in  dem  Ubersetzen 
als  eine  bewufste?  Ich  wüfste  nicht, 
wie  sich  beides  erweisen  liefsc.  Soll 
das  Lernen  an  sich  idurch  Über- 
setzen) ein  bewufstes  sein  oder  soll 
nur  die  Übung  des  auf  welchem 
Wege  immer  Gelernten  eine  bewufste 
(durch  Übersetzen)  sein  ?  Aber  möge 
der  Sinn  sein  welcher  er  wolle  — 
sollte  dem  Verfasser  nicht  das  An- 
fertigen freier  Arbeiten  mehr  gefallen, 
gerne  vorausgesetzt,  dafs  auf  der 
jeweiligen  Stufe  das  Erlernte  zu  einem 
bewufsten  d.  h.  systematisch  geord- 
neten und  beherrschten  Wissen  ge- 
worden ist?  Das  letzte  Argument 
für  die  Übersetzungen,  dafs  nämlich 
der  Schüler  inne  wird,  inwieweit  er 
sich  den  fremdsprachlichen  Stoff  zu 
eigen  gemacht  hat,  entbehrt  jedes 
festen  Untergrunds  und  beweist  nur, 
wie  sich  der  Verfasser  im  Irrtume 
befinden  mufs  bezüglich  der  that- 
sächlichen  Geistesthätigkeit  des 
Schülers  beim  Übersetzen  in  die 
fremde  Sprache.  Dafs  übrigens  der 
Verfasser  seine  »nicht  zu  entbehren- 
den deutschen  Übersetzungsstücke, 
die  den  fremdsprachlichen  jedesmal 
folgen  müssen,«  nicht  aus  Einzcl- 
sätzen, sondern  aus  zusammenhängen- 
den Texten  bestehen  lassen  will,  die 
der  jeweiligen  Bildungsstufe  des 
Schülers  angepafst  und  in  gramma- 


tischer, lexikographischer  und  phra- 
seologischer Hinsicht  sich  möglichst 
an  die  vorausgehenden  fremdsprach- 
lichen Stücke  anschliefsen  müssen«, 
beweisen,  dafs  er  auf  diesem  Gebiete 
der  Reformfrage  keineswegs  ganz 
veralteten  Anschauungen  huldigt 
Aber  ich  zweifle,  ob  er  sich  ganz  die 
Schwierigkeiten  klar  gemacht  hat, 
die  gerade  seine  Forderungen  be- 
züglich des  Übersersetzens  für  den 
Leh  rer  sehr  schwer,  wenn  überhaupt 
in  genügenderWciseerfüllbar  machen. 
Wie  sich  der  Verfasser  eine  Lektion 
für  die  Unter-  und  Mittelstufe  denkt, 
giebt  er  uns  in  folgender  an:  i)  Zu- 
sammenhängender französischen  eng- 
lischer) Text:  Anekdote,  Fabel,  Er 
Zählung  oder  Beschreibung  Im  Fran- 
zösischen bis  nach  Überwindung  der 
Lautlehre  für  die  ersten  Lektionen 
Sätze,  die  aber  nicht  ohne  allen  Zu- 
sammenhang sein  dürfen;  im  Eng- 
lischen ein  kleines  zusammenhän- 
gendes Lesestück  von  Anfang  an. 

2)  In  Anlehnung  an  den  fremd- 
sprachlichen Text  ein  Questionnairc 
oder  Fragen  in  der  Fremdsprache, 
auf  welche  die  Antworten  selbst  vom 
Schüler  zu  finden  sind.  3)  Im  An- 
schlufs  hieran  ein  zusammenhängen- 
des deutsches  Übersetzungsstück, 
welches  sich  in  späteren  Lektionen 
vom  gegebenen  fremdsprachlichen 
Texte  unabhängiger  gestalten  darf 
4)  Genaue  Angabe  der  Art  einer  ver- 
langten Umformung  des  an  der  Spitze 
stehenden  fremdsprachlichen  Textes; 
z.  ß.  Erzähle  die  obige  Anekdote  in 
der  ersten  Pers.  Plur.  d.  Passe  döf. 
wieder!  5)  Hinwcisaufein bestimmtes, 
eng  begrenztes  Gebiet  der  Gram- 
matik, welches  durchzunehmen  ist, 
oder  der  entsprechende  grammatische 
Text  selbst.«  Wie  ich  über  die  For- 
derung 3  denke  habe  ich  im  Vorher- 
gehenden genügend  angedeutet.  Zu 
1  möchte  ich  bemerken,  dafs  die 
Aussprache  an  sich  kaum  ein  Grund 
sein  dürfte,  nicht  mit  einem  zu- 
sammenhängenden Stück  —  wie  im 
Englischen  —  anzufangen.  Eine 
andre  Frage  wäre,  ob  ein  solcher 
Anfang  praktisch  ist,  ob  es  sich  nicht 
mehr  empfiehlt,  Anschlufs  zu  suchen 
beim  Apperzeptionsstoff  der  Schüler, 
d.  h.  bei  den  Schülern  bekannten 


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-     126  — 


aus  dem  französischen  stammenden 
Fremdwörtern.  Ich  habe  vor  5  Jahren 
selber  einen  dahingehenden  Versuch 
gemacht  und  vollkommen  befrie- 
digende, ja  überraschende  Ergebnisse 
erzielt;  mit  Rücksicht  auf  das  mir 
vorgeschriebene  Lehrbuch  mufste 
ich  diese  Art  Anfangsunterricht  auf- 
geben. Einen  aufserordentlich  über- 
zeugenden und  wohldurchgeführten 
derartigen  Anfangsunterricht  hat 
Charles  Toussaint  (aus  Amiens)  im 
dritten  Heft  vom  >Aus  dem  päda- 
gogischen Seminar  zu  Jena,  heraus- 
geg.  v.  Prof.  Rein,  geliefert;  ich 
empfehle  allen,  die  sich  für  diesen 
Weg  im  Anfangsunterricht  inter- 
essieren, den  kleinen  Aufsatz  zu 
lesen.  Zu  5  wäre  zu  erwähnen,  dafs 
diese  Forderung  schärfer  zu  fassen 
ist.  Mit  einem  blofsen  Hinweis  auf 
die  Grammatik  ist's  nicht  gethan;  es 
mufs  ein  ganz  bestimmtes  Stück  von 
den  Schülern  erarbeitet  und  sich 
zum  Bewufstsein  gebracht  werden 
(bewufste  Spracherlernung!);  sonst 
wird  auch  über  die  eingeschränkteste 
Grammatik  keine  sichere  Herrschaft 
erlangt. 

III. 

Max  Walter.  Der  französische  Klassen- 
unterricht I.  Stufe.  Entwurf  eines 
Lehrplans.  Marburg  b.  El  wert  1888. 

Orau,  Freund,  tit  alle  Theorie. 

Das  Unterrichten  ist  eine  so  emi- 
nent praktische  Arbeit,  dass  man 
sich  schier  verwundern  mufs,  wie 
es  möglich  war,  dafs  sich  in  einer 
Ecke  dieses  Arbeitsfeldes ,  näm- 
lich auf  dem  Gebiete  des  Sprach- 
unterrichts ein  theoretischer  Kampf 
erheben  konnte,  der  Jahrlang  dauerte, 
bevor  der  Versuch  gemacht  wurde, 
durch  praktische,  thatsächliche  Aus- 
führungen zu  zeigen,  wie  die  theore- 
tischen Auseinandersetzungen  eigent- 
lich gemeint  seien,  wie  sie  sich  in 
der  Anwendung  ausnahmen.  Es  ist 
das  ja  immer  noch  etwas  Anderes, 
als  einen  wirklichen  Versuch  mit 
einem  methodischen  Grundsatz  in 
der  Schule  zu  machen.  Denn  das 
ist  den  meisten  beteiligten  Lehrern 
nicht  möglich,  weil  es  mit  einst- 
weilen noch  bestehenden  Lehrvor- 
schriften, denen  sie  nachkommen  müs- 


sen ,  sieht  nicht  vereinbaren  läfst, 
weil  Lehrbücher  und  Pensen  vor- 
geschrieben   sind,  womit  »ich  das 
Neue  nicht  zusammenfügen  will,  oder 
was   sonst  im  Wege  stehen  mag. 
Es  ist  auch  recht  gut,  dafs  nicht 
ohne  Weiteres  die  Schüler  zum  Ver- 
suchsobjekt aller  möglichen,  oft  genug 
abenteuerlichen  methodischen  Theo- 
reme gemacht  werden  können.  Da- 
tieren ist  es  sehr  wünschenswert 
dafs,  wenn  jemand  glaubt,  bestimmte 
theoretische  Korderungen  erheben 
zu  müssen,  er  selber  durch  Entwurt 
eines  Plans  die  Ausführbarkeit  und 
die  Vorzüge  seiner  Vorschläge  dar- 
zuthun  versucht.    So  wird  die  Prü- 
fung dieser   wesentlich  erleichtert 
und  ihr  eventueller  Sieg  und  allge- 
meine Annahme  und  Durchführung 
rascher  gesichert  und  erlangt  Auf 
dem  Gebiete  der  neusprachlichen 
Unterrichtsreform  haben  nun  im  gan- 
zen bisher  die  theoretischen  Schriften 
überwogen;  erst  in  den  letzten  Jahren 
haben  sich  berufene  Männer  daran 
gemacht,  zu  untersuchen,  inwieweit 
sich  die  Anforderungen  der  Theorie 
im  Klassenunterrichte  bewähren  und 
verwenden  lassen.  Unter  denjenigen, 
die  hier  vorangegangen  sind,  mufs 
neben  Kühn  in  erster  Linie  Max 
Walter  (Direktor    in  Bockenheim' 
genannt  werden,  der  sich  mit  seinem 
Schriftchen » Der  französische  Klassen- 
unterricht« den  Dank  aller  Freunde 
der  Reform  verdient  hat.  Der  hierin 
mitgeteilte  Entwurf  eines  Lchrplans 
für   die  Unterstufe  hat  noch  den 
Vorteil,  dafs  er  aus  der  Schulpraxis 
herausgewachsen,  in  ihr  bewährt  ist. 
Denn  der  Herr  Verfasser  war  in  der 
glücklichen  Lage,  sowohl  in  Cassel 
an  der  Realschule,  als  auch  in  Wies- 
baden am  königlichen  Realgymnasium 
mit  Genehmigung  seiner  vorgesetzten 
Behörde  nach  Grundsätzen  der  Rc- 
formbestrebungen  unterrichten  und 
so  seine  praktischen  Vorschläge  selbst 
vorher  erproben  zu  können.  Eine 
eingehende  Besprechung  des  Lehr- 
plans würde  hier  wohl  zu  weit  führen, 
ohne  den  Lesern  doch  genügenden 
Nutzen  zu  bringen ;  denn  es  gilt  hier 
mehr  wie  je :  Lies  selber.    Ich  be- 
gnüge mich  daher  mit  einer  allge- 
meinen Empfehlung,  welche  die  Ar- 


i. 


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—    127  — 


beit  in  aufserordentlichem  Mafse  ver- 
dient. Es  braucht  darin  noch  nicht 
zu  liegen,  dafs  man  in  allen  Punkten 
unbedingt  mit  dem  Verfasser  in  allem 
übereinstimmt;  dafs  nicht  manches 
anders  und  ebensogut,  vielleicht 
besser  gemacht  werden  könnte.  So 
z.  B.  glaube  und  hoffe  ich,  dafs  der 
Verfasser  sich  im  Lauf  der  Zeit  noch 
anders  zur  Lautphysiologie  und  Laut- 
schrift stellen  wird,  will  sagen,  dafs 
er  zur  Ueberzeugung  gelangt,  diese 
beiden  Dinge  seien  von  der  Schule 
zurückzuweisen. 

Einstweilen  wollen  wir  es  ihm 
schon  anrechnen,  dafs  er  kein  fana- 
tischer, nicht  einmal  ein  unbedingter 
Förderer  ist.  Wie  ich  über  den  An- 
fang des  Unterrichts  mit  zusammen- 
hängenden Stücken  denke;  ist  be- 
kannt, ich  glaube  eben,  dafs  sich 
überhaupt  der  neusprachliche  Unter- 
richt am  vorteilhaftesten  mit  analy- 
tischem Material  etwa  in  einem 
propädeutischen  Kursus  anfangen 
läfst. 

Ganz  besonders  verdient  nach 
meiner  Meinung  allgemeinen  Beifall 
der  Abschnitt  über  die  schriftlichen 
Arbeiten,  bezüglich  deren  die  Reform- 
gedanken vielleicht  noch  am  wenig- 
sten allgemeinere  Annahme  gefunden 
haben,  und  in  deren  Form  noch  am 
schärfsten  die  alte  gramatisierende 
Methode  des  Sprachunterrichts  zum 
Ausdruck  kommt,  ja  bei  denen  selbst 
sonst  der  Neuerung  gewonnene 
Männer  die  alte  Methode  als  not- 
wendig und  zu  recht  bestehend  an- 
sehen und  fordern. 

IV. 

Johanne«  Rauschenfels,  Methodik  des 
französischen  Sprachunterrichts  in 
Mittel-  und  Bürgerschulen.  Leip- 
zig b.  Brandstetter.  1890. 

Der  Verfasser  ist  der  Meinung, 
dafs  in  den  bisher  erschienenen 
methodischen  Schriften,  die  den  fran- 
zösischen Unterricht  betreffen,  die 
Mittelschule  und  ihre  nächsten  Ver- 
wandten nicht  in  genügender  Weise 
berücksichtigt  worden  sind,  und  es 
darum  nicht  überflüssig  sei,  auch  für 
diese  Schulen  einen  einschlägigen 
Führer  zu  schatten. 


Prinzipiell  mufs  ich  hier  gleich  aus- 
sprechen, dafs  ich  einen  wesent- 
lichen Unterschied  in  der  Methode 
des  Sprachunterrichts,  zumal  im  Be- 
ginn, zwischen  höheren  und  Mittel- 
schulen nicht  zugeben  kann.  Das 
Ziel  im  Sprachunterricht  der  letzteren 
ist  ein  anderes  als  bei  den  höheren 
Schulen,  aber  doch  nur,  sozusagen, 
quantitativ;  die  letzteren  können  und 
sollen  mehr  erreichen,  weil  sie  mehr 
Zeit  für  den  Unterricht  zur  Ver- 
fügung haben.  Sie  werden  daher 
die  von  der  Behörde  aufgestellten 
Ziele  eher  erreichen  als  Mittelschulen 
Übn  <*ens  würde  ich  diesen  Zielen 
gegenüber,  soweit  sie  die  mündlichen 
und  schriftlichen  Bethätigungcn  der 
Schüler  anlangt,  nicht  so  kleinmütig 
sein,  wie  der  Verfasser.  Ich  glaube, 
es  läfst  sich  auch  in  sechsklassigen 
und  solchen  achtklassigen  Schulen, 
die  erst  mit  dem  fünften  Schuljahr 
den  französischen  Unterricht  be- 
ginnen, mehr  erreichen  als  auswendig 
gelernte  bonjour-Tiraden  und  me- 
chanisches Kopieren  von  gegebenen 
Briefmustern.  Freilich  um  auf  diesem 
Gebiete  mehr  zu  erreichen,  ist  frühere 
Übung,  Übung  von  Anbeginn  des 
Unterrichts  an,  nötig.  Das  kann 
oder  thut  der  Herr  Verfasser  bei 
weitem  nicht  in  hinreichender  Weise. 
Das  liegt  z.  T.  daran,  dafs  er  zu  sehr 
an  dem  >Satz<  festhält  und  nicht 
rasch  genug,  oder  besser,  von  An- 
fang an  zusammenhängende  Stücke 
hat,  an  dem  von  vorneherein  mannig- 
fache Übungen  mündlich  wie  schrift- 
lich, sich  vornehmen  lassen.  Ich 
möchte  dem  Verfasser  dringend  die 
Arbeiten  von  Kühn  und  Walter  ans 
Herz  legen;  ich  glaube  er  würde  • 
zu  anderen  Ansichten  über  diesen 
Punkt  gelangen.  Auch  denke  ich, 
dafs  er  dann  besonders  seine  Mei- 
nung und  Wertschätzung  der  Über- 
setzungsübungen zu  Gunsten  freier 
Arbeiten  ändern  wird.  Abgesehen 
von  diesen  Aussetzungen  mufs  ich 
sagen,  dafs  mir  diese  Methodik  nicht 
übel  gefallen  hat.  Gerade  für  den 
Anfang  könnte  der  Verfasser  die 
Sache  für  Lehrer  und  Schüler  wesent- 
lich erleichtern,  wollte  er  analytisches 
Material  verwerten,  am  besten  zu 
kleinen  Stücken  verarbeitet 


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128  — 


V. 

Dr.  Hermann  Sortmann,  Der  fremd- 
sprachliche (französische)  Unter- 
richt an  der  höheren  Mädchen- 
schule.   Leipzig  b.  G.  Fock.  1889. 

Verfasser  möchte  sich  an  dem 
Meinungsaustausch  mit  seiner  Schrift 
beteiligen,  der  sich  über  die  Reform 
des  Sprachunterrichts  entsponnen 
hat.  Üas  gelingt  ihm  in  schätzens- 
werter Weise.  Zwar  irgend  welche 
neue  Gedanken  sind  mir  bei  ihm  nicht 
entgegengetreten.  Daraus  mache 
ich  ihm  aber  keinen  Vorwurf,  da  das 
Thema  durchaus  allseitig  und  voll- 
ständig durchgearbeitet  erscheint 
Das  hindert  aber  durchaus  nicht, 
immer  und  immer  wieder  ein  ceterum 
censeo  vernehmen  zu  lassen,  um 
Verstockte  zu  erweichen,  Schwan- 
kende ganz  zu  gewinnen,  Feste  mit 
dem  frohen  Bewufstsein  zu  erfüllen 
und  zu  stärken,  dafs  sie  sich  auf 
dem  Wege  nicht  allein  befinden.  Und 
ich  meine,  die  Schrift  von  Soltmann 
kann  nach  diesen  Seiten  hin  wirksam 
sein.  In  angenehmer  Form  und 
klarer  Zusammenstellung  fafst  sie  die 
Kerngedanken  zusammen ,  die  bis 
jetzt  in  Sachen  der  Reform  des 
Sprachunterrichts  ans  Licht  getreten 
sind  und  giebt  in  meist  erschöpfender 
Weise  die  Gründe  für  und  wider 
dazu,  um  zum  Schlufs  selbst  eine 
bestimmte  feste  Stellung  einzuneh- 
men. Diese  Stellung  ist  auf  Seiten 
der  Reform,  für  die  er,  ohne  sich  in 
Extreme  zu  verlieren,  entschieden 
und  wirkungsvoll  eintritt.  Dafs  er 
gerade  die  Mädchenschule  vertritt, 
hängt  mit  seiner  persönlichen  Thätig- 
keit  zusammen.  Er  mag  übrigens 
auch  wohl  recht  haben  ,  dafs  die 
Kolleginnen  noch  mehr  als  bei  dem 
scharfen  Blick,  den  das  weibliche 
Geschlecht  für  das  praktisch  Gute 
und  Brauchbare  so  hervorragend  be- 
sitzt, recht  verständlich  ist,  sich  von 
den  Reformbestrebungen  fern  gehal- 
ten haben.  Indessen  giebt  es  lobens- 
werte Ausnahmen  wie  ich  hier  in 
Eisenach  weifs;  auch  ein  praktischer 
Versuch,  der  alle  Beachtung  verdient, 
ist  von  Frl.  v.  Schmitz-Aurbach  ge- 
macht worden  und  nicht  ohne  schö- 
nen Erfolg  geblieben. 


VI. 

S.  Alge,  Leitfaden  für  den  ersten- 
Unterricht  im  Französischen.  Unter 
Benutzung  von  >Hölzels  Wand- 
bildern für  den  Anschauungs-  und 
Sprachunterricht«  und  mit  Auf- 
gaben zum  Selbstkonstruieren 
durch  die  Schüler.  Zweite  Auf- 
lage. St.  Gallen  b.  Huber  &  Cie. 
1890. 

In  den  »Begleitworten«  zu  vor- 
stehendem Leitfaden  äufsert  sich  der 
Verfasser:  »Das  vorliegende  Lehr- 
mittel hat  speziell  die  Bedürfnisse 
der  schweizerischen  Secundar-  oder 
Bezirksschule  (Realschule)  und  ähn- 
licher Institute  im  Auge.  Schülern 
solcher  Anstalten  will  das  Lehr-  und 
Lernbuch  dazu  verhelfen,  dafs  sie  ein- 
fach Geschriebenes,  das  sachlich  und 
sprachlich  nicht  über  ihren  Ideenkreis 
hinausgeht,  verstehen,  mit  Hülfe  des 
Wörterbuchs  leichte  Erzählungen  und 
Beschreibungen,  die  vorgelesen  und 
besprochen  worden  sind,  sowie  eigene 
Erlebnisse  und  Briefe  einfach  und 
ohne  allzugrobc  Verstöfsc  nieder- 
schreiben, sowie  in  den  elementar- 
sten Redewendungen  des  täglichen 
Lebens  sich  einigermafsen  bewegen 
können.«  Zur  Erreichung  dieses  Ziels 
hält  Verfasser  vor  allen  Dingen  die 
Aneignung  eines  zweckmässigen  Wort- 
schatzes und  der  unentbehrlichsten 
Gesetze  der  Formenlehre  und  Syntax 
für  notwendig.  Die  Methode,  die 
der  Verfasser  beim  Unterricht  ein- 
schlägt, ist  ganz  geeignet,  zum  Ziele 
zu  führen.  Er  benutzt  auch  die 
Wandbilder  von  Holzel,  die  ja  viel- 
fach, zumal  im  Anfangsunterricht  als 
Hilfsmittel  dienen;  wie  denn  ja  über- 
haupt die  Benutzung  von  Bildern 
nicht  etwas  ganz  Neues  ist,  ich  er- 
innere an  Lehmann,  Ducotterd,  Böhm. 
Erfreulich  ist,  dafs  Alge  die  Aus- 
sprache auch  ohne  Lautphysiologie 
fertig  bringt  und  an  schriftlichen 
Übungen  nur  freie  Arbeiten  der 
Schüler  verlangt,  dagegen  die  Über- 
setzungen als  nutzlos  verwirft. 

Eise  nach,  Ende  März  1891. 

Ludwig  Baetgen. 


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I 


Fauth-Köster,  Zeitschrift  für  den  ev.  Relig.-Unt.  III,  2.  Berlin,  Reuthersche 
Verlagshandlung. 

6.  Hlrth,  Aufgaben  der  Kunstphysiologie.    2  Teile.    München,  Hirths 

Kunstverlag. 
E.  Heim,  Praktische  Violinschule.   Köln,  Tonger. 
Hohmannsche  Violinschule.   Köln,  Tonger. 

Brümmer,  Deutschlands  Helden.   Stuttgart,  Greiner  u.  Pfeiffer. 
Schneider,  Deutschland  in  Lied,  Volksmund  u.  Sage.  Hilchenbach,  Wiegaud. 
Heinz«,  Prakt.  Anleitung  zum  Disponieren  deutscher  Aufsätze.    5.  Aufl. 

5  Bande.   Leipzig,  Eingelmann. 
Bongaertz,  Zur  Feier  des  Geburtstages  Wilhelm  II.  6.  Aufl.  Düsseldorf, 

Schwann. 

Wagner,  in  die  Natur.   7.  Aufl.   Bielefeld,  Helmich. 
Juling,  Taschenbuch  der  höh.  Schulen  Deutschlands.   Leipzig,  Kummer. 
Adam,  Geschichte  des  Rechnens  u.  des  Rechenunterrichts.  Quedlinburg, 
Vieweg. 

Schulreform  u.  Turnunterricht.   Bielefeld,  Helmich. 
Nebe,  Comenius  als  Mensch,  Padagog  u.  Christ.   Bielefeld,  Helmich. 
Welzhofer,  Sophokles  Antigene.   Berlin,  Seehagen. 
Obly-Kolb,  Im  Liohte  des  Herrn.    Stuttgart,  Greiner  u.  Pfeiffer. 
Heilmann,  Forderungen  der  gegenwärtigen  Zeit  an  den  Volksschulunterricht. 

Halle,  Schroedel. 
Pilllng,  Lehrgang  des  botan.  Unterrichts.   Gera,  Hofmann. 
Feierstunden.   Zum  Besten  des  Jütting-Denkraals.   Bielefeld.  Helmich. 
Grimm,  Wie  hat  sich  der  Geschichtsunt.  zu  gestalten.   Hamm,  Breer  u. 

Thienemann. 

Schmitz,  Gesundheitsspiegel  für  Jedermann.    Freising,  Datterer. 
Grimm.  Wegweiser  für  das  Rektorenexamen.  Hamm,  Breer  u.  Thienemann. 
Grimm,  Wegweiser  für  das  Mittelschulexamen.  Ebendaselbst. 
Butler,  Educational  Review.   New- York,  Dezember  91.  Januar  92. 
Königbauer,  Schemata  u.  Lehrproben.    Bamberg,  Buchner. 
Ommerborn,  Der  Geschichtsunterricht.   Berlin,  Ulrich  u.  Co. 
Lehrer-Prüfnngs-  u.  Informations-Arbeiten.  24.  Heft.  Minden,  Hufeland. 
Grumme,  Die  wichtigeren  Beschlüsse  der  Berliner  Schulkonferenz.  Gera, 
Hofmann. 

Knotne,  Einheitl.  Chorgesangbuch.   Halle,  Schroedel. 
Tromnan,  Erdkunde.   Halle,  Schroedel. 

Eichert,  Schulwörterbuch  zu  den  Commentaren  des  Jul.  Casar  vom  Gall. 
Kriege.   Breslau,  Korn, 
,.   Schulwörterbuch  zu  den  Commentaren  des  Corn.  Nepos.    2.  Aufl. 
Breslau,  Korn. 
Neudrucke  päd.  Schriften. 

VII.  Sohapp,  Vom  Schulwesen.  I  T  •    •„  t>  t>;,.i,*a. 
VIII.  Comenius,  Mutterschule.     /  LeiP«&  R  Echter. 
Müller-Frauenstein,  Von  H.  v.  Kleist  —  Marie  Ebner-Eschenbach.  Hannover, 
Ost. 

Müller-Pilling,  Deutsche  Schulflora.  1.  T.  Hofmann,  Gera. 

A.  Gutzmann  u.  H.  Gutzmann,  Medizin. -pädag.  Monatsschrift  für  die  gesamte 
Sprachheilkunde.    Berlin,  Fischer. 

Butler,  Educational  Review.   New  York,  Holt  u.  C. 

Meyer,  Neue  Bahnen.    Gotha,  Bohrend. 

Dörpfeld,  Evang.  Schulblatt.   Gütersloh,  Bertelsmann. 

Schenckendorff  u.  Schmidt,  Ueber  Jugend-  und  Volksspiele.  Hannover- 
Linden,  Manz  u.  Lange. 

Schulze,  Nicht  versetzt!   Würzen,  Thiele 

A.  Böhmes  Rechenbücher.   Berlin,  Müller. 

Stuckl,  Materialien  f.  d.  naturgesch.  Unt.  Bern,  Schmid,  Francke  u.  Co. 
Stucki,  Das  Rechnen  im  Anschluss  an  den  Realunt.  Ebenda». 


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Wiggo,  Die  Stellang  des  Lehrers  etc.   Bielefeld,  Helmich. 

Müller,  Latein.  Lese-  u.  Übungsbuch.    Altenburg,  Pierer. 

Muller,  Wörterverzeichnis  etc.  Ebendas. 

Janke,  Der  Beginn  der  Schulpflicht.    Bielefeld,  Helmich. 

Elm,  Die  deutsche  Steilschrift.  Ebendas. 

Moltke,  La  guerre  de  1870.    Hannover,  C.  Meyer. 

Lepp,  Wichtige  Gesundheitsregeln.   Augsburg,  Kranzfelder. 

Forst,  Cborgesangschule.    Kiel  und  Leipzig,  Lipsius  u  Fischer. 


Mitteilung  über  den  IX.  Deutschen  Lehrertag. 

Die  alte  Schulstadt  Halle,  welche  vor  mehreren  Jahren  auch  den 
Verein  l'ttr  wissenschaftliche  Pädagogik  beherbergte,  wird  in  den  Pfingst- 
tagen  dieses  Jahres  auch  den  grossen  deutschen  Lehrer- Verein  in  ihren 
Mauern  begrüssen. 

Entsprechend  der  alten  Mahnungen  des  eifrigsten  Förderers  der 
freien  Lehrer-Vereine,  A.  Diesterwegs?  verbindet  der  Deutsche  Lehrer- 
Verein  zur  Zeit  mehr  als  1400  Zweigvereine  mit  gegen  45  000  Mitgliedern. 
Von  dieser  stattlichen  Anzahl  wollen  zahlreiche  Vertreter  eintreffen,  um 
die  Interessen  der  Volksschule,  sowie  die  mit  deren  Hebung  engverbun- 
denen eigenen  Interessen  im  gemeinsamen  Gedankenaustausch  zur  Geltung 
zu  bringen. 

Es  werden  folgende  wichtige  Vorträge  zu  diesem  Zwecke  entgegen- 
genommen und  zur  Besprechung  gelangen :  Schulinspektor  Scherer  -Worms 
über  „Die  allgemeine  Volksschule",  Rektor  Rissmann  Herlin  über  „Die 
Lehrerbildung",  Lehrer  Helmke-Magdeburg  über  „Die  Erziehung  verwahr- 
loster Kinder". 

Wie  der  Berliner  Lehrertag,  nimmt  auch  der  zu  Halle  eine  p&da- 

Sogische  Gedächtnisfeier  in  .seinen  Plan  auf.  Es  wird  die  Feier  der 
00jährigen  Wiederkehr  des  Geburtstages  des  ersten  Svstematikers  unter 
den  Pädagogen,  des  am  28.  März  1592  geborenen  Aaos  Comenius  begangen. 
Die  Gedächtnisrede  hält  der  bekannte  Abgeordnete  und  Lehrerfreund, 
Pastor  prim.  Sei  fTarth  Liegnitz. 


Zum  bevorstehenden  Comenius-Feste  empfehle  ich  ein 

Comenius-Portrait 

68X&B  cm  im  feinsten  Chromo  mit  16  Farben  ausgeführt  zu  Mk.  2.30 
mit  Postversendung  za  Mk.  2.80. 

Dasselbe  am  Blindrahmen  und  auf  Leinwand  autgespannt  in  antiken 
Rahmen  mit  vergoldeten  Friesen  eingesetzt  za  8  Mk.  Kiste  für  ein  Bild 
Mk.  1.20,  für  jedes  weitere  um  Mk.  O.40  mehr. 

Bei  Bestellung  lulle  Bahnstation  anzugeben. 

V.  ÜTenbert: 

Ghromolitograflsche  Kunstanstalt 
Prag-Smlcbow. 


Diesem  Heft  liegt  ein  Prospekt  von  H.  A.  Pierer,  Altenburg  bei, 
welchen  wir  gefälliger  ßerucksigtigung  empfehlen.  ^ 


Druck  von  G.  PMtt  in  Naumburg  ».  8. 


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1 


«5 


Pädagogische  Studien 


N  e  u  e    F  o  1  g  e 


r 


Herausgegeben 

V./U 

Dr  W.  Rein 

l'rnfrw.r  <i.  <l.   I'nirersifüt  .Ana 

XTTI  Jahrgang    Drittes  Heft 
Inhalt 

Abliuiidlinigeii:  i.  M.  Fack,  Zur  Beurteilung  des  Langeschen 
P.uchcs  über  Apperzeption.  2.  Dr.  K.  Lange,  Erwiderung. 
Mitteilungen:  1.  Fr.  Franke,  Stimmen  aus  Sachsen  über  Reform 
des  Religionsunterrichts.  2.  Fr.  Franke,  Etwas  vom  Lesen  und 
Lesebuch  in  der  Volksschule.  5.  C.  Kahle,  Die  für  die  Schule 
bearbeiteten  Pilzwerke.  4-  „Verein  von  Herbartfreunden"  im  Eise- 
nacher  Oberland. 

Ke nr teil  11  tigen:  i.  Jul.  Gutersohn;  2.  G.  Ebener ;  Chr.  Ufer, 
4  Charles  Toussaint  (Baetgen);  5.  Joh.  Voeckelt;  6.  Th. 
Zieglcr;  7.  Hans  Schliepmann  (Rein  ;  S.  W.  Pfeifer  (Holl- 
kamm;; ().  Wartenberg;  10.  VV.  Müller;  11.  Dr.  H  Müller 
Hauptj ;  12.  Dr  G.  Stephan  (Ackermann);  13.  Pädagogische 
Sammelmappe;  14.  A.  Renncbe  rg  (Göpfert) ,  15.  Dr.  Matthias 
Drbal,  16.  W.  Kaiser;  17.  F.  W.  Dörpfeld  Grosse);  i*<.  Karl 
Grundscheid  /Maenneb;  19.  G. Wustmann  (Rüde);  20.  H.Zcmm- 
rich  Kranke:;  2i.f'.Jacobi  (Scholz);  22.  Dr.  J.  Nieden  (Winzer). 
An/eitffn:    1.  Alumneums- Erinnerungen;    2.  Müller  und  Pilling. 


Dresden 

Verlag  von  Bleyl  &  Kaeiumerer 

l'nul  Th.  Kaeminerer) 





— ! — ..I  .  ',  ,, ,  ...  . 


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Erklärung. 

Herr  Seminardirektor  Gleicbmann  hat  id.  Nr.  23  der  Mannschen 
^Deutschen  Blätter  f.  e.  U.u  ein«  Erklärung  veröftent licht,  in  welcher  er 
Herrn  Dr.  Glückner  anlasslich  »einer  im  24.  Jahrbuch  des  Vereins  f.  w. 
P.  abgedruckten  Kritik  der  Gleiohmannachen  Schritt  „Über  Herbarts 
Lehre  von  den  Stufen  des  Unterrichts"  (2.  Auti.  Langensalza  1891)  unter 
Anderem  der  Ehrabschneiderei  beschuldigt  und  der  Generalversammlung 
dos  Vereins  f.  w.  P.  bei  Besprechung  der  Lehre  von  den  Stuten  Anstand 
empfiehlt. 

Hiermit  geht  Herr  Gleichmann  zu  weit  und  ich  kann  diese  Aus- 
lassungen nur  der  Erregung  zuschreiben,  welche  nun  einmal  im  Gefolge 
von  litterarischen  Kritiken  sich  häufig  einzustellen  pflegt.  Nicht  bloss 
desshalb,  weil  Herr  Gleichmanu  von  einem  „Auf  wände  von  Gelehrsamkeit"* 
des  Herrn  Dr.  Glöckner  spricht,  unter  welchem  doch  allgemein  eine 
sachliche  Argumentation  verstanden  wird,  sondern  insbesondere  deshalb, 
weil  HeiT  Dr.  Glöckner  die  Gesinnung  des  Herrn  Gleichmann,  auf  der 
doch  allein  die  zu  schonende  Ehre  beruht,  am  Schlüsse  seiner  Ausfüh- 
rungen ausdrücklich  belobt.  Zuzugeben  ist,  dass  Herr  Dr.  Glöckner  im 
letzten  Teile  seiner  Abhandlung  Herrn  Gleichmann  gegenüber  einige 
sehr  wenig  verbindliche  Ausdrücke  gebraucht;  aber  es  ist  doch  auch  zu 
bedenken,  dass  verbindliche  Formen  zwar  vielleicht  ein  wünschens- 
wertes, jedoch  nicht  notwendiges  Requisit  wissenschaftlicher  Abhand- 
lungen sind.  Was  jedoch  die  „Bitte**  um  Anstand  in  der  Generalver- 
sammlung des  Vereins  f.  w.  P,  betritt*,  so  wäre  ich,  sofern  Herr  Gleich- 
mann einen  versteckten  Vorwurf  damit  erheben  wollte,  genötigt,  Ver- 
wahrung dagegen  einzulegen.  Noch  nie  ist  in  der  langen  Zeit  von  24 
Jahren  eine  diesfällige  Klage  erhoben  worden.  Indessen  dürfte  auch 
diese  Ermahnung  zum  Anstände,  zum  Teil  wenigstens,  auf  Rechnung 
der  innern  Erregung  zu  setzen  sein.  Der  Satz  des  Herrn  Gleichmann 
jedoch,  dass  auch  ausserhalb  Leipzigs  noch  viele  Leute  Herbart  verstehen, 
erinnerte  auch  daran,  das«  hierbei  auch  die  Supposition  eines  Gegen- 
satzes zwischen  den  Schülern  Stoys  und  Zillers,  die  Herr  Gleichmann 
zu  machen  scheint,  von  Einfluss  gewesen  sei. 

Einer  solchen  Supposition  gegenüber  sehe  ich  mich  im  Namen  des 
Vereins  f.  w.  P.  zu  der  Erklärung  verpflichtet,  dass  ein  Gegensatz 
zwischen  den  Schülern  Stoys  und  Zillers  auf  Grund  des  jj  2  der  Satzungen 
nicht  besteht  und  nicht  bestehen  kann.  Wenn  schon  von  einem  Gegen- 
satz die  Rede  sein  soll,  dann  besteht  er  zwischen  Herbart,  Ziller  und 
Stoy  einerseits  und  anderseits  Willmann,  welcher  übrigens,  weil  er  die 
Wirksamkeit  des  Vereins  für  eine  verdienstliche  hält,  weder  aus  dem 
Vorstande  noch  aus  dem  Verein  ausgetreten  ist  und,  wie  ich  glaube, 
auch  nie  austreten  wird.  Weil  aber  die  prinzipielle  Anschauung  der 
Schüler  Stoys  und  Zillers  identisch  ist,  so  erkläre  ich  mich  hiermit 
auch  bereit,  jede  sachliche  Berichtigung  der  Glöcknerschen  Darlegungen, 
sie  mag  von  welchem  ehemaligen  Schüler  Stoys  immer  herrühren,  in 
das  Jahrbuch  aufnehmen  zu  wollen.  Dadurch,  dass  Herr  Dr.  Glöckner 
sich  auf  den  historischen  Standpunkt  stellte,  kann  jene  Berichtigung 
durch  den  Hinweis  auf  die  Quellen  über  jeden  Streit  erhoben  werden. 
Hieran  möchte  ich  mit  Rücksicht  auf  die  Mitteilungen  des  Herrn  Gleich- 
mann die  Bitte  schliessen,  es  möchten,  um  die  Authenticität  zu  erhöhen, 
einige  der  Herren  in  Thüringen,  welche  Stoys  Äusserungen  im  Kolleg 
über  formale  Stufen  kennen,  sich  vereinigen,  um  die  diesbezügliche 
Anschauung  Stoys  zusammenzustellen  und  mir  für  die  Veröffentlichung 
im  Jahrbuch  gefälligst  mitzuteilen.  In  ähnlicher  Weise  verfuhren  ja 
auch  die  Schüler  Hegels  nach  dessen  Tode. 

Zum  Schlüsse  kann  ich  nicht  umhin,  mein  Bedauern  darüber  aus- 
zusprechen, daes  Herr  Gleichmann  aus  dem  Verein  ausgetreten  ist,  und 
zwar  ungefähr  um  dieselbe  Zeit,  als  er  mit  der  Veröffentlichung  seiner 
Abhandlung  über  die  Formalstufen   umging.    Hätte  er  auch  nur  einen 


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i.  z 


ur 


A.  Abhandlungen. 

Beurteilung  des  Langeschen  Buches 
über  Apperzeption.*) 


Von  M.  Fack  in  Eisenach. 


Motto:  »Sagen  Sie  mir  nicht  das,  was  Ihnen  gefällt, 
sondern  das,  was  Ihnen  nicht  gefällt.« 

Mendelssohn. 


I. 


Was  versteht  Lange  unter  Apperzeption?**) 

Es  wäre  leicht,  mit  einer  Definition  zu  antworten.  Allein 
was  würde  sie  uns  bieten?  Jede  Definition  bezieht  sich  auf  das 
genus  pro.rimum,  verdeutlicht  also  einen  Begriff  nur  um  ein  weniges. 
Könnte  sie  aber  auch  mehr  bieten,  d.  i.  könnte  sie  die  Merkmale 
eines  Begriffes  aufzeigen,  es  wäre  uns  dennoch  wenig  damit  ge- 
dient. Wir  verstehen  eben  von  einem  Begriffe  den  Inhalt  nur 
dann ,  wenn  wir  seinen  Umfang  kennen.  Und  noch  eins  ist  zu 
bedenken.  Wer  begriffliche  Ergebnisse  kontrollieren  will,  mufs 
die  konkreten  Grundlagen  dazu  ins  Auge  fassen.  Wir  haben 
also  zunächst  einige  von  den  Apperzeptionsakten  selbst  zu  be- 
trachten. 

II. 

Erstes  Beispiel.    (Vgl.  S.  4,  5  u.  6.) 

Nehmen  wir  an :  Einem  neugebornen  Kinde  (das  sehen  kann) 
bietet  sich  die  Erscheinung  einer  Sonnenfinsternis  dar.  Licht- 
strahlen kommen  von  dem  hellen  Abschnitte  der  Sonnenscheibe 


*)  Über  Apperzeption.  Eine  psychologisch-pädagogische  Monographie. 
Plauen,  Neupert.    1 89 1  * . 
**»  S.  1-33. 

['ad.iyo^isct-.i;  Studien.     III  9 


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-    130  - 


und  fallen  aut  die  Netzhaut  im  Auge  des  Kindes.  (Ein  physi- 
kalischer Vorgang.)  Die  Sehnerven  werden  erregt  und  die  Er- 
regungen bis  zu  den  zentripetalen  Sinnesflächen  fortgeleitet. 
(Ein  physiologischer  Vorgang.)  Das  Kind  erhält  einen  Kom- 
plex von  Empfindungen,  d.  i.  eine  Wahrnehmung.  (Ein  psy- 
chischer Vorgang.)  Dabei  dürfte  das  Kind  (mit  seiner  unaus- 
gebildeten  Seele)  stehen  bleiben.  Anders  bei  dem  Erwachsenen 
(mit  seiner  ausgebildeten  Seele).  Er  sieht  manches,  was  das  Kind 
nicht  sieht,  —  gewinnt  also  eine  vollständigere  Wahrnehmung. 
Da,  wo  das  Kind  nur  Unteilbares  sieht,  unterscheidet  er  —  ge- 
winnt also  auch  eine  deutlichere  Wahrnehmung.  Beides  ist  nur 
mit  Hilfe  alter  Vorstellungen  möglich.  Der  Erwachsene  weifs 
zudem,  wie  es  kommt,  dafs  sich  die  Sonne  verfinstert.  Er  sagt 
sich :  Eine  dunkle  Scheibe  tritt  allmählich  in  das  Lichtfeld  der 
Sonne.  Es  ist  der  Mond,  der  uns  seine  unerleuchtete  Seite 
zuwendet.  Der  Erwachsene  begreift  also  die  Erscheinung  als 
Wirkung  gewisser  Ursachen.  Er  sagt  sich  weiter :  Vorzeiten  regten 
sich  die  Menschen  über  die  seltene  Erscheinung  auf.  Jetzt  thun 
sie  das  nicht  mehr:  sie  wissen,  dafs  es  mit  »rechten  Dingen' 
dabei  zugeht.  Schematisieren  wir  die  Sachlage.  Es  handelt 
sich  zunächst  um  einen  Perzeptionsvorgang.  Der  Erwachsene 
nimmt  das  wahr,  was  das  Kind  auch  wahrnehmen  kann.  Es 
handelt  sich  weiter  um  einen  Apperzeptionsvorgang.  Erster 
Teilvorgang:  Der  Erwachsene  nimmt  (mit  Hilfe  alter  Vorstel- 
lungen) das  wahr,  was  das  Kind  nicht  wahrnehmen  kann.  Der 
Perzeptionsvorgang  und  ein  Teil  des  Apperzeptionsvorganges  voll- 
ziehen sich  m  i  t  einander.  Das  Resultat  beider  ist  eine  ziemlich 
vollständige  und  deutliche  Wahrnehmung.  Wer  nur  perzipiert 
(wie  das  Kind),  gewinnt  eine  unvollständige  und  undeutliche  Wahr- 
nehmung. Wer  zugleich  apperzipiert  (wie  der  Erwachsene),  ge- 
winnt dagegen  eine  vollständigere  und  deutlichere  Wahrnehmung. 
Zweiter  Teilvorgang:  Die  vollständigere  und  deutlichere  Wahr- 
nehmung wird  gewissen  »geistigen  Elementen«  eingefügt.  Er- 
gebnis: Lange  redet  von  einem  Apperzeptionsvorgange,  wenn 
mit  Hilfe  alter  Vorstellungen  eine  vollständigere  und  deutlichere 
Wahrnehmung  (als  es  ohne  die  Hilfe  alter  Vorstellungen  ge- 
schehen könnte)  erworben,  und  wenn  zudem  diese  Wahrnehmung 
gewissen  »geistigen  Elementen«  eingefügt  wird.  Oft  wird  eine 
Wahrnehmung  nicht  (als  Wahrnehmung)  apperzipiert.  Sie  ver- 
wandelt sich  dann  in  eine  Vorstellung.  Wird  sie  später  ge- 
wissen anderen  Vorstellungen  eingefügt,  so  ist  sie  nach  Lange 
ebenfalls  apperzipiert  worden. 

Zweites  Beispiel.    (Vgl.  S.  2.) 

Das  Kind  A  hört  in  einem  Satze  das  Wort  Sperling.  Wie 
reagiert  das  Kind  darauf?    Es  erinnert  sich  alsbald  an  den  Sper- 


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ling,  den  es  täglich  im  Schwalbenneste  am  väterlichen  Hause  ge- 
sehen hat.  Kurz:  Es  ist  ein  Sprachsymbol  gegeben,  und  es  wird 
der  symbolisierte  Inhalt  dazu  aufgesucht.  Damit  ist  die  Wahr- 
nehmung, die  das  Symbol  repräsentiert,  apperzipiert  worden.  Er- 
gebnis: Lange  redet  also  auch  von  einem  Apperzeptionsvorgange, 
wenn  zu  einem  Symbole  das  Symbolisierte  aufgesucht  wird. 

Drittes  Beispiel.    (Vgl.  S.  2.) 

»Wieviel  erzählen  dem  erfahrenen  Menschenkenner  nicht  Ge- 
bärden und  Mienenspiel!«    Verdeutlichen  wir  uns  das. 

Ein  Menschenkenner  sieht  einen  Menschen  mit  auffallenden 
Gebärden.  Er  sagt  sich:  Ich  erinnere  mich,  dafs  ich  zuweilen 
ähnliche  Gebärden  an  mir  beobachtet  habe.  Immer  waren  sie 
der  Spiegel  meiner  Seele,  d.  i.  ich  hatte  diese  Gebärden,  weil 
dies  und  das  mich  in  der  Seele  bewegte.  Nun  sehe  ich  diesen 
Menschen  mit  den  gleichen  Gebärden.  Er  ist  kein  anderer  Mensch 
als  ich,  mithin  mufs  auch  in  seiner  Seele  das  vorgehen,  was  bei 
mir  die  gleichen  Gebärden  erzeugte.  Es  handelt  sich  also  um 
solche  Gedankeninhalte,  die  in  kausaler  Beziehung  zu  einander 
stehen,  d.  i.  um  Ursachen  und  Wirkung.  Die  Wirkung  ist  wahr- 
nehmbar. Die  Ursachen  sind  nur  vorstellbar.  Die  Ursachen 
werden  mit  Hilfe  eines  Schlusses  gefunden.  Ergebnis:  Lange 
redet  also  auch  von  einem  Apperzeptionsvorgange,  wenn  zu 
einer  Wirkung  die  Ursachen  aufgesucht  werden. 

Viertes  Beispiel.  (Vgl.  S.  10.) 
A  sieht  am  Wege  ein  Individuum  von  Poa  annua.  Er  erkennt : 
Es  ist  ein  Gras,  —  subsumiert  also  eine  Wahrnehmung,  d.  i.  ein 
individuelles  Gebilde,  unter  einen  Begriff.  Ergebnis:  Lange 
redet  von  einem  Apperzeptionsvorgange,  wenn  ein  individuelles 
Gebilde  (eine  Wahrnehmung  oder  Vorstellung)  unter  einen  Begriff 
subsumiert  wird. 

Fünftes  Beispiel.    (Vgl.  S.  Ii  u.  29.) 

A  sieht  eine  Linde.  Er  erkennt:  Es  ist  die  Linde,  an  der 
ich  vor  Jahren  den  Bau  der  Knospen  untersuchte.  Es  entstand 
also  eine  Wahrnehmung,  und  eine  Vorstellung  reproduzierte  sich. 
Es  wurde  testgestellt,  dafs  beide  sich  auf  das  gleiche  Objekt  be- 
ziehen. (Wiedererkennen!)  Ergebnis:  Lange  redet  also  auch 
von  einem  Apperzeptionsvorgange ,  wenn  einer  Wahrnehmung 
(oder  Vorstellung)  das  Bewufstsein  hinzugefügt  wird,  dafs  sie  sich 
auf  einen  Gegenstand  bezieht,  von  dem  früher  schon  eine  gleiche 
oder  fast  gleiche  Vorstellung  erworben  wurde. 

Sechstes  Beispiel.    (Vgl.  S.  11.) 

»Dem  Knaben,  der,  Gespenstergeschichten  im  Kopfe  und 
Furcht  im  Herzen,  den  einsamen  Schulweg  über  das  öde  Moor 
wandert,  werden  im  Nu  die  Erscheinungen  seiner  Umgebung  zu 

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—     I32  — 


schreckenden  Spukgeistern.  Im  raschelnden  Laube  vernimmt  er 
den  gespenstigen  Gräberknecht,  im  Knistern  des  Röhrichts  die 
unselige  Spinnerin;  und  wie  es  unter  seinem  Fufse  brodelt,  wie 
aus  dem  berstenden  Moore  das  Wasser  zischend  hervorquillt,  da 
hört  er  die  gespenstische  Melodie  des  ungetreuen  Geigenmannes, 
da  sieht  er  sie  leibhaftig  vor  sich,  die  unglückliche  Frau,  die  um 
ihre  arme,  verlorene  Seele  klagt.  .  .  .«•  In  diesem  Falle  werden 
also  undeutliche  Wahrnehmungen  anderen  Wahrnehmungen  ein- 
gefügt, die  aus  Vorstellungselementen  hergestellt  sind.  (Illusionen!) 
Ergebnis:  Lange  redet  also  auch  von  einem  Apperzeptions vor- 
gange, wenn  undeutliche  Wahrnehmungen  anderen  Wahrnehmungen 
eingefügt  werden,  die  aus  Vorstellungselementen  hergestellt  sind. 

Siebentes  Beispiel.    (Vgl.  S.  16  u.  17.J 

Ein  Kind  hört  aus  einem  Klaviere  einen  Akkord  ertönen. 
Es  nimmt  den  Akkord  als  etwas  Ganzes  auf,  perzipiert  also  blofs. 
Ein  Musiker  dagegen  hört  in  dem  Akkorde  die  Töne  h,  d,  f  u.  gis 
erklingen;  er  hat  die  Wahrnehmung  apperzipiert.  Freilich  gab  es 
auch  für  ihn  eine  Zeit,  in  der  er  den  Akkord  nur  perzipieren 
konnte.  Gegeben  ist  also  ein  Reizkomplex,  d.  s.  verschiedene 
Reize,  die  sich  gegenseitig  beeinflufst  haben.  Und  es  entsteht  in 
der  Seele  des  Musikers  anfangs  eine  Wahrnehmung,  die  dem  Reiz- 
komplexe entspricht,  —  später  aber  eine  solche,  die  gleich  ist  der 
Summe  der  Einzelwahrnehmungen  von  den  Reizen  in  ihrer  Iso- 
lierung. (Es  handelt  sich  auch  hier,  wie  Volkmann  richtig  bemerkt 
hat,  um  Sinnestäuschungen.)  Ergebnis:  Lange  redet  also  auch 
dann  von  einem  Apperzeptionsvorgange,  wenn  in  einer  Wahr- 
nehmung, die  ein  Reizkomplex  erzeugte,  und  die  man  bisher 
nur  als  etwas  Unteilbares  auffassen  konnte,  wenn  in  dieser  Wahr- 
nehmung die  Summe  von  Einzelwahrnehmungcn  wahrgenommen 
wird,  die  die  jenen  Komplex  bildenden  Reize  in  ihrer  Isolierung 
erzeugen  würden. 

Achtes  Beispiel.    (Vgl.  S.  17.) 

Wir  sehen  die  Abkürzungen  »z.  B.^  und  ergänzen  »um  — 
eispiel«.  Wir  nehmen  also  von  einem  Ganzen  nur  Teile  wahr 
und  fügen  die  fehlenden  Teile  in  Vorstclllungsform  hinzu.  Er- 
gebnis: Lange  redet  also  auch  dann  von  einem  Apperzeptions- 
vorgange, wenn  einer  unvollständigen  Wahrnehmung  die  fehlenden 
Teile  oder  Wahrnehmungselemente  in  der  Form  des  Vorstellens 
hinzugefügt  werden. 

Damit  genug  der  Beispiele!*) 

Rekapitulieren  wir.  Lange  redet  von  einem  Apperzeptions  - 
vorgange:    1)  wenn  mit   Hilfe   alter  Vorstellungen   eine  Wahr- 

•  Es  könnten  noch  mehr  Beispiele  aufgezählt  werden.  Dals  diesem 
»Mehr«  eine  gröfsere  Bedeutung  zukommt,  als  man  vermutlich  glaubt,  wird 
sich  bald  ergeben. 


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nehmung  erworben  wird,  und  wenn  zudem  diese  Wahrnehmung 
»gewissen  geistigen  Elementen «  eingefügt  ist,  —  2)  wenn 
zu    einem    Symbole    das    Symbolisierte    aufgesucht    wird ,  — 

3)  wenn  zu  einer  Wirkung  die  Ursachen  aufgesucht  werden,  — 

4)  wenn  ein  individuelles  Gebilde  unter  einen  Begriff  subsumiert 
wird,  —  5)  wenn  einer  Wahrnehmung  (oder  Vorstellung)  das 
Bewufstsein  hinzugefügt  wird,  dafs  sie  sich  auf  einen  Gegenstand 
beziehe,  von  dem  früher  schon  eine  gleiche  oder  fast  gleiche 
Vorstellung  erworben  worden  sei,  —  6)  wenn  undeutliche  Wahr- 
nehmungen anderen  Wahrnehmungen  eingefügt  werden,  die  aus 
Vorstellungselementen  hergestellt  sind,  —  7)  wenn  in  einer  Wahr- 
nehmung, die  ein  Reizkomplex  erzeugte,  und  die  man  bisher 
nur  als  etwas  Unteilbares  auffassen  konnte ,  wenn  in  dieser 
Wahrnehmung  die  Summe  von  Einzelwahrnehmungen  wahrge- 
nommen wird,  die  die  jenen  Komplex  bildenden  Reize  in  ihrer 
Isolierung  erzeugen  würden,  —  und  8)  wenn  einer  unvollständigen 
Wahrnehmung  die  fehlenden  Teile  oder  Wahrnehmungselemente 
in  der  Form  des  Vorstellens  hinzugefügt  werden.  — 

III. 

Da  haben  wir  also  den  Umfang  des  Begriffes  »Apperzep- 
tion«. Nun  ist  dessen  Inhalt  anzugeben.  Um  ihn  zu  finden, 
müssen  wir  auf  das  achten,  was  den  einzelnen  Beispielen,  die  den 
Umfang  des  Begriffes  ausmachen;  gemeinsam  ist.  Also:  Was 
ist  das  Gemeinsame  in  unseren  Beispielen?  Ich  habe  mich  ver- 
geblich bemüht,  es  zu  finden;  die  Beispiele  sind  eben  zu  ver- 
schieden. Doch  Lange  will  das  Gemeinsame  gefunden  haben.  Er 
schreibt:  »Fassen  wir  .  .  .  zusammen,  was  im  Prozesse  der  Apper- 
zeption Wesentliches  sich  ereignet.  Zunächst  gelangt  eine  äufsere 
oder  innere  Wahrnehmung,  eine  Vorstellung  oder  Vorstellungs- 
verbindung ins  Bewufstsein,  die  .  .  .  eine  gröfsere  oder  geringere 
Erregung  der  Vorstellungs-  oder  Gefühlskreise  herbeiführt.  Infolge- 
dessen steigen  (dem  psychischen  Mechanismus  oder  einem  Willens- 
anstofse  folgend)  eine  oder  mehrere  Gedankengruppen  empor,  die 
zu  der  Perzeption  in  Beziehung  treten.  Indem  beide  Massen  mit- 
einander verglichen  werden,  wirken  sie  mehr  oder  weniger  um- 
gestaltend aufeinander  ein;  es  bilden  sich  wohl  selbst  neue  Ge- 
dankenverbindungen, bis  endlich  die  Perzeption  dem  mächtigeren, 
älteren  Vorstellungsverbande  mit  jenem  Denkinhalte  eingereiht 
wird.  Dadurch  gewinnen  alle  beteiligten  Faktoren  an  Erkenntnis- 
und  Gefühlswert;  insbesondere  aber  wird  der  neuen  Vorstellung 
eine  Klarheit  und  Regsamkeit  zu  teil,  die  sie  für  sich  nie  erlangt 
haben  würde.  —  Apperzeption  ist  sonach  diejenige  seelische  Thätig- 
keit,  durch  welche  einzelne  Wahrnehmungen,  Vorstellungen  oder 
Vorstellungsverbände  zu  verwandten  Produkten  unsres  bisherigen 
Vorstellungs-  und  Gemütslebens  in  Beziehung  gesetzt,  ihnen  ein- 


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gefügt  und  so  zu  gröfscrer  Klarheit,  Regsamkeit  und  Bedeutung 
erhoben  werden. *    tS.  32  u.  33.) 

IV. 

Betrachten  wir  diese  Darstellung  zunächst  an  sich.  Sie  ent- 
hält eine  Zusammenfassung,  nämlich  eine  Zusammenfassung  des 
»Wesentlichen«  im  Apperzeptionsvorgange.  Von  Wesentlichem 
hätte  nicht  die  Rede  sein  sollen;  denn  nur  mit  Rücksicht  auf  Zwecke 
kann  Wesentliches  und  Unwesentliches  unterschieden  werden.  Lange 
denkt  offenbar  an  das,  was  allen  Apperzeptionsvorgängen  gemein- 
sam ist.  Unsere  Darstellung  enthält  die  Zusammenfassung  zwei- 
mal, das  eine  Mal  in  freierer  Form,  das  andere  Mal  in  Form  einer 
Definition.  Enthält  aber  auch  die  eine  Form,  was  die  andere  ent- 
hält? Sehen  wir  zu.  In  jedem  Apperzeptionsvorgange  handelt 
es  sich  um  zwei  Gedankeninhalte.  Es  ist  selbstverständlich, 
dafs  diese  Gedankeninhalte  nur  im  Bewufstsein  miteinander  in 
Wechselwirkung  treten  können,  und  es  ist  ebenso  selbstverständ- 
lich, dafs  sie  auf  einem  der  Reproduktionswege  ins  Bewufstsein 
kommen  müssen.  Lange  hatte  also  nicht  nötig,  beides  in  der 
Definition  noch  besonders  anzudeuten;  er  konnte  mithin  die  beiden 
Anfangssätzc  der  ersten  Zusammenfassung  in  der  zweiten  Zu- 
sammenfassung, d.  i.  in  der  Definition,  unberücksichtigt  lassen. 
Weiter.  In  der  ersten  Zusammenfassung  findet  sich  der  Satz: 
»Indem  beide  Massen  miteinander  verglichen  werden,  wirken  sie 
mehr  oder  minder  umgestaltend  aufeinander  ein.«  In  der  zweiten 
Zusammenfassung  fehlt  er.  Er  darf  da  offenbar  nur  dann  fehlen, 
wenn  das,  was  er  ausdrückt,  nicht  allen  unseren  Beispielen  ge- 
meinsam ist.  Ist  das  so,  so  mufs  er  freilich  auch  in  der  ersten 
Zusammenfassung  gestrichen  werden.  Wir  fragen  daher:  Werden 
in  all  den  acht  Beispielen  die  zweierlei  Gedanken  verglichen?  — 
Wir  denken  an  das  zweite  Beispiel:  Das  Symbol  wird  nicht  mit 
dem  Symbolisierten  verglichen.  Wir  denken  weiter  an  das  dritte 
Beispiel:  Die  Ursachen  werden  ebenfalls  nicht  mit  der  Wirkung 
verglichen.  Kurz:  Nicht  in  allen  Beispielen  werden  die  zweierlei 
Gedankeninhalte  verglichen.  Daher  fehlt  der  Satz:  »Indem  beide 
Massen«  u.  s.  f.  in  der  zweiten  Zusammenfassung  mit  Recht  und  mufs 
auch  in  der  ersten  gestrichen  werden.  In  der  ersten  Zusammen- 
fassung steht  weiter  der  Satz:  »Dadurch  (durch  die  Apperzeption) 
gewinnen  alle  beteiligten  Faktoren  an  Erkenntnis-  und  Gefühls- 
wert ;  insbesondere  aber  wird  der  neuen  Vorstellung  eine  Klarheit 
und  Regsamkeit  zu  teil,  die  sie  für  sich  nie  erlangt  haben  würde.« 
Darauf  beziehen  sich  die  Worte  der  zweiten  Zusammenfassung: 
» —  —  —  so  zu  gröfserer  Klarheit ,  Regsamkeit  und  Bedeutung 
erhoben  werden.»  Die  zweite  Zusammenfassung  verschweigt  also, 
dafs  auch  die  apperzipierenden  Gedankeninhalte  durch  den  Apper- 
zeptionsakt an  Erkenntnis-  und  Gefühlswert  gewinnen,  und  dies 


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—    US  - 


mit  Recht.  Die  zweite  Zusammenfassung  verschweigt  zudem,  dais 
der  apperzipicrte  Gedankeninhalt  durch  die  Apperzeption  an  Ge- 
fühlswert gewinnt.  Oder  soll  dies  durch  das  Wort  »Bedeutung; 
angedeutet  werden?  —  Es  könnte  sein;  allein  warum  fehlt  dann 
dieses  Wort  in  dem  Satze  der  ersten  Zusammenfassung:  »Ins- 
besondere aber  wird  der  neuen  Vorstellung  eine  Klarheit  und 
Regsamkeit  zu  teil,  die  sie  für  sich  nie  erlangt  haben  würde?«  — 
Offenbar  liegt  hier  eine  Ungenauigkeit  vor.  Aber  wir  dürfen  diese 
unberücksicht  lassen,  dürfen  auch  dahingestellt  sein  lassen,  ob 
die  apperzipierten  Gedankeninhalte  durch  die  Apperzeption  an  Ge- 
fühlswert gewinnen  oder  nicht;  das  Warum  wird  sich  bald  er- 
geben. Es  bleibt  uns  diese  Definition  übrig:  Apperzeption  ist  die 
Thätigkeit,  durch  die  ein  Gedankeninhalt  (=  Wahrnehmung,  Vor- 
stellung oder  Vorstellungsverband)  einem  verwandten  Gedanken- 
inhalte eingefügt  und  so  zu  gröfserer  Klarheit  und  Regsamkeit 
erhoben  wird. 


Enthält  nun  diese  Definition  wirklich  das  Gemeinsame  in 
unseren  Beispielen?  Deutlicher  wird  der  Sinn  in  zwei  Fragen: 
Erste  Frage:  Wird  in  jedem  der  Beispiele  ein  Gedankeninhalt 
dem  anderen  eingefügt?  Zweite  Frage:  Wird  dem  apperzipierten 
Gedankeninhalte  immer  eine  gröfsere  Klarheit  und  Regsamkeit 
zu  teil?  Wenn  man  bedenkt,  wie  die  gröfsere  Regsamkeit  erzielt 
wird,*)  so  mufs  man  sie  für  alle  Beispiele  zugeben.  Allein  wie 
steht's  mit  der  gröfseren  Klarheit?  —  Lange  selbst  sagt  mit  Rück- 
sicht auf  gewisse  Fälle,  in  denen  >die  Apperzeption  nichts  weniger 
als  gründlich  verfährt  t,  »dafs  in  solchen  Fällen  die  Apperzeption 
die  objektive  Wahrheit  und  Klarheit  der  Wahrnehmung  vermehre, 
werde  man  nicht  behaupten  können.«  (S.  20.)  Und  ein  Blick  auf 
unser  sechstes  Beispiel  lehrt,  dafs  Lange  recht  hat.  Mithin  ist 
das  Wort  »Klarheit«  in  der  Definition  zu  streichen.  Nun  zur 
ersten  Frage:  Wird  in  jedem  der  Beispiele  ein  Gedankeninhalt 
dem  anderen  eingefügt?  Was  heifst  das:  einen  Gedankeninhalt 
einem  anderen  einfügen?  Lange  schreibt:  »Eine  Wahrnehmung 
wird  anderen  Seelenerzeugnissen  eingefügt,  heifst  .  .  .  nur  so  viel 
als:  sie  wird  mit  ihnen  zeitlich  und  inhaltlich  so  intensiv  zu- 
sammengedacht, dafs  fortan  eins  das  andere  regelmäfsig  reprodu- 
ziert.«   (S.   16.)    Sehen    wir  darauf  hin    unsere    Beispiele  an. 


Viertes  Beispiel:  Der  Begriff  Gras  kommt  in  mein  Bewufstsein. 
Erinnert  er  mich  an  alle  Individuen  von  Poa  annua,  die  ich  jemals 


*)  S.  19:  »Durch  ihre  (der  apperzipierten  V.)  Einfügung  in  einen 
gröfseren,  wohlgeordneten,  von  lebhaften  Gefühlen  begleiteten  Gedanken- 
kreis tritt  sie  zu  so  vielen  Gliedern  in  äufsere  und  innere  Beziehung,  dafs 
ihr  eine  regelmäfsige  Reproduktion  gesichert  ist  .  .  .« 


V. 


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-    136  - 


als  Gräser  erkannt  habe?  —  Reproduziert  hier  wirklich  ein  Ge- 
dankeninhalt regelmäfsig  den  anderen?  Die  Erfahrung  sagt:  nein'. 
In  diesem  Falle  sind  also  die  sog.  apperzipierten  Gedankeninhalte 
nicht  apperzipiert  gewesen.  Daraus  folgt:  Lange  darf  die  Apper- 
zeption nicht  als  eine  Einfügung  eines  Gedankeninhaltes  in  einen 
anderen  bezeichnen.  Damit  bricht  seine  ganze  Definition 
zusammen.  Gesetzt  aber  auch,  das  »Einfügen«  wäre  nicht  so 
streng  zu  nehmen,  als  es  Lange  selbst  genommen  hat,  —  gesetzt 
also,  das  »Einfügen«  wäre  so  zu  deuten:  der  eine  Inhalt  wird  mit 
dem  anderen  zusammen  vorgestellt.  Auch  bei  dieser  Annahme 
kann  ich  die  Langesche  Definition  nicht  gelten  lassen.  Hier  der 
Grund  dafür.  Sehen  wir  das  erste  unserer  Beispiele  an.  Lange 
selbst  sagt  zur  Verdeutlichung  dieses  Beispieles:  »Wir  sehen  zu- 
gleich vermöge  der  durch  frühere  Beobachtungen  erlangten  Vor- 
stellungen und  Fertigkeiten  manches,  was  dem  unerfahrenen 
Menschen  verborgen  bleibt,  —  und  wir  fugen  der  Wahrnehmung 
aus  unserem  Inneren  zahlreiche  geistige  Elemente  bei,  die  in  der 
Empfindung  überhaupt  nicht  gegeben  sind.«  (S.  6.)  Der  Apper- 
zeptionsvorgang verläuft  also  in  zwei  Teilvorgängen:  Erster  Teil- 
vorgang: Der  Erwachsene  nimmt  (mit  Hilfe  alter  Vorstellungen) 
das  wahr,  was  das  Kind  nicht  wahrnehmen  kann.  Zweiter  Teil- 
vorgang: Die  vollständigere  und  deutlichere  Wahrnehmung  (das 
Resultat  des  Perzeptionsvorganges  und  des  ersten  Teiles  des 
Apperzeptionsvorganges)  wird  gewissen  »geistigen  Elementen«  ein- 
gefügt. Es  ergiebt  sich  ohne  weiteres:  Lange  hat  in  seiner  De- 
finition jenen  ersten  Teilvorgang  ganz  und  gar  übersehen;  das 
erste  Beispiel  ist  somit  von  der  Definition  ausgeschlossen.  Er- 
gebnis: Die  Langesche  Definition  ist  nicht  für  alle  Beispiele 
gültig,  also  für  die  Beispiele,  die  Lange  selbst  ausgeführt  oder 
angedeutet  hat. 

VI. 

Die  Vorgänge,  die  unsere  Beispiele  vorführen,  sind  eben  zu 
verschieden;  darum  sollten  sie  auch  nicht  mit  dem  gleichen  Namen 
belegt  werden.  Was  wäre  übrigens  damit  gewonnen,  wenn  sich 
irgend  ein  Momentchen  Gemeinsames  nachweisen  liefse,  und  wenn 
dieses  Momentchen  in  einer  Definition  Ausdruck  fände?  —  Was 
wäre  damit  für  das  Verständnis  der  einzelnen  Prozesse  gewonnen? 
Es  wäre  doch  nur  eine  Beziehung  zwischen  ihnen  festgestellt, 
nämlich  die  der  partiellen  Identität,  und  weiter  nichts.*)  Wozu 
auch  einen  Prozefs  als  Apperzeptionsprozefs  bezeichnen!  Ist  es 
nicht  viel  klarer,  z.  B.  zu  sagen :  Der  Schüler  hat  zu  der  Wirkung 
die  Ursachen  aufgesucht  oder  zu  einem  Symbole  das  Symboli- 
sierte? —  Weiter.    Lange  hat  unter  dem  gleichen  Namen  so  gar 


*)  Ein  kleiner  formaler  Gewinn  ist  und  bleibt  das  freilich. 


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-    137  — 


verschiedene'  Prozesse  zusammengefafst.  Kein  Wunder  daher, 
wenn  er  in  der  Charakterisierung  dieser  Prozesse  im  allgemeinen 
dies  oder  das  behauptet,  was  nur  dem  oder  jenem  davon  zukommt,  i 
Der  Gedanke  an  die  so  gar  verschiedenen  Beispiele  drängt  im.; 
auch  den  Satz  auf:  Die  Langesche  Monographie  ist  zum  Teil  eine 
verkappte  Encykl  opädie. **)  Über  die  meisten  der  bereiten 
Elementarprozesse***)  finden  wir  in  jedem  besseren  Kompendium 
der  Psychologie  gleiche  Auskunft.  Zudem  weist  da^  Langesche 
(wie  ganz  natürlich)  diese  Stoffe  in  einer  Anordnung  auf.  die  der 
Aneignung  Schwierigkeiten  bereiten.  In  diesem  Punkte  steht  die 
Langesche  Monographie  einem  Kompendium  noch  nach. 

VII. 

Es  ist  kein  Leichtes,  sich  durch  das  Langesche  Buch  hin- 
durchzuarbeiten, sei's  auch  nur  durch  wenige  Bogen  Lange 
geht  zwar  bei  seinen  Darlegungen  von  Beispielen  aus  Allem 
die  Beispiele  sind  zu  kompliziert  und  daher  für  den  Leser  nicht 
durchsichtig  genug.  Freilich  kann  es  vorkommen,  dal's  man  auf 
die  Benutzung  solcher  Beispiele  eingeschränkt  ist.  AS  »er  dann 
gilt  es,  sie  dem  Leser  bis  ins  einzelnste  zu  verdeutlichen  Auch 
das  hat  Lange  zumeist  versäumt. 

vm 

Dazu  kommt  noch,  dafs  hier  und  da  kleine  Ungenau  ig- 
keiten  mit  unterlaufen.  Einige  davon  deuteten  wir  bereits  an; 
es  mögen  aber  noch  einige  aufgezählt  sein. 

I.  Was  versteht  Lange  unter  Wahrnehmung- 
Erste  Stelle:  »Mit  tausend  Reizen  stürmt  die  Natur  auf 
seine  (des  Menschen)  Sinne  ein  .  .  .  Und  die  Seele  antwortet  auf 
diese  Reize  mit  Empfindungen,  mit  Vorstellungen;  sie  bemächtigt 
sich  der  Aufsenwelt,  indem  sie  dieselbe  wahrnimmt.«  (S.  u  L'nter 
Wahrnehmung  versteht  also  Lange  das  Bewufstw erden  von 
Nervenreizen.  Die  Worte  »Empfindungen«  und  »Wahrnehmungen 
(wahrnehmen) c  sind  identisch  gebraucht. 

Zweite  Stelle:  »Im  Augenblicke  der  Wahrnehmung  ver- 
hält sich  die  Seele  durchaus  aktiv,  indem  sie  .  .  .  auf  Veranlassung 
einer  Nerventhätigkeit  eine  von  dieser  inhaltlich  ganz  verschiedene 
Funktion  vollzieht.  Wie  die  Aufsenwelt  auf  die  Seele  wirkt,  wie 
diese  infolge  bestimmter  Sinnesreize  eine  entsprechende,  ihrer 
Natur  gemäfse  Thätigkeit  entfaltet,  das  ist's,  was  in  den  Em- 


*)  Vgl.  z.  B.  die  beiden  Zusammenfassungen. 

**)  Vgl.  S.  33:  »Sie  (die  Apperzeption)  ist  der  Vorgang  des  Wachstums 
der  Seele,  geistige  Entwicklung«. 

***)  Vgl.  die  angeführten  Beispiele  unter  II. 


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1 


-    13»  - 


pfindungen  uns  unmittelbar  zum  Bewufstsein  kommt.«  (S.  I.) 
Die  Worte  »Empfindungen«  und  »Wahrnehmungen*  sind  wieder 
identisch  gebraucht. 

Dritte  Seile:  »Die  Thatsache  aber,  dals  jeder  der  Wahr- 
nehmenden etwas  zu  der  Empfindung  hinzubringt  und  so  sie  be- 
reichert, verändert  (?),  spricht  zweifellos  für  die  Aktivität  der 
Seele,  die  dem  veranlassenden  Sinnesreize  gegenüber  die  Haupt- 
sache thun  und  die  Wahrnehmung  jenem  Reize  gemäfs  erzeugen 
mufs.«  (S.  3.)  Nach  dieser  Stelle  sind  Empfindungen  und  Wahr- 
nehmungen zu  unterscheiden. 

Vierte  Stelle:  >So  kommt  es,  dafs  bei  fast  allen  neuen 
Perzeptionen  der  bisherige  Seeleninhalt  sich  geltend  macht,  dafs 
wir  in  der  Wahrnehmung  mehr  gewahr  werden,  als  eigentlich  die 
Gegenstände  derselben  uns  darbieten  ...  Es  darf  sonach  der 
Prozefs  der  Wahrnehmung  nicht  als  ein  so  einfacher  gedacht 
werden  .  .  .  Sie  ist  nicht  blofs  das  Bewufstwerden  von  Nerven- 
reizen. Zur  Empfindung  gesellt  sich  vielmehr  in  der  Regel  eine 
Verschmelzung  ihres  Inhaltes  mit  ähnlichen  Vorstellungselementen 
und  Gefühlen.«  (S.  3.)  Die  Wahrnehmung  schliefst  also  aufser 
Wahrnehmungselementen  noch  geistige  Elemente  ein.  Empfin- 
dungen und  Wahrnehmungen  sind  zu  unterscheiden. 

Fünfte  Stelle:  'Natürlich  erhalten  wir  von  der  fortwährend 
sich  ändernden  Sonnenscheibe  verschiedene  Gesichtsempfindungen, 
die  zu  einer  Einheit  verbunden  und  auf  denselben  Gegenstand 
bezogen,  ein  Bild  der  Sonnenfinsternis  geben:  Die  Perzeption  ist 
eine  Wahrnehmung.«  (S.  4.)  Also:  Empfindungen  und  Wahr- 
nehmung schliefsten  wohl  Empfindungs-,  nicht  aber  Vorstellungs- 
elemente ein. 

Sechste  Stelle:  »Er  (der  Mensch  in  den  ersten  Monaten 
seines  Lebens)  wird  dem  gegebenen  Inhalte  nichts  hinzufügen,  ja 
nicht  einmal  alles,  was  zu  sehen  ist,  gewahr  werden.  .  .  .  Ganz 
anders  bei  dem  Erwachsenen.  Er  gewinnt  von  derselben  Natur- 
erscheinung eine  weit  reichhaltigere,  schärfere  und  klarere  Wahr- 
nehmung. Wir  bemerken  nicht  blofs  die  allmähliche  Verfinsterung 
der  Sonne,  sondern  wir  erkennen  auch  zugleich  die  Ursache  der- 
selben .  .  .  Wir  fügen  dem  die  beruhigende  Gewifsheit  hinzu,  dafs 
hierbei  alles  mit  rechten  Dingen  zugehe  .  .  .,  ein  Gedanke,  welcher 
der  ungewöhnlichen  Wahrnehmung  ein  gut  Teil  ihrer  gemütsauf- 
regenden Kraft  nimmt.  Woher  diese  inhaltreiche  und  verhältnis- 
mätsig  sehr  deutliche  Wahrnehmung*).«  .  .  .  (S.  4  und  5).  In 
dieser  Stelle  wird  das  Wort  »Wahrnehmung«  unmittelbar  nach- 


*)  Vgl.  S.  17:  »Wir  erinnern  an  die  durch  eine  Sonnenfinsternis  uns 
übermittelte  Wahrnehmung,  die  gar  manches  enthält,  was  unmittelbar  nicht 
gesehen  werden  kann,  sondern  durch  unser  Denken  in  die  Perzeption  hin- 
eingetragen wurde.« 


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—    J39  — 

einander  in  verschiedenem  Sinne  gebraucht:  Das  eine  Mal  denkt 
Lange  an  das  Bewufstwerden  von  Nervenreizen,  das  andere  Mal 
an  psychische  Gebilde,  die  Wahrnehmungs-  und  Vorstellungs- 
elemente einschlielsen. 

Siebente  Stelle:  »Wir  fügen  der  Wahrnehmung  aus 
unserem  Inneren  zahlreiche  geistige  Elemente  bei,  die  in  der 
Empfindung  überhaupt  nicht  unmittelbar  gegeben  sind.  (S.  f>.  i 
Wahrnehmungen  und  Empfindungen  sind  nicht  zu  unterscheiden. 
Die  Wahrnehmung  schliefst  geistige  oder  Vorstellungselemenie 
nicht  ein.  —  Welches  ist  da  der  rechte  Sinn  des  Wortes  Wahr- 
nehmung (und  des  Wortes  Empfindung)?  — 

2.  Was  versteht  Lange  unter  Perzeption- 

Erste  Stelle:  »Gesetzt,  es  biete  sich  uns  die  selten»  Er- 
scheinung einer  Sonnenfinsternis  dar.  Lichtstrahlen  fallen  aut  die 
Netzhaut  unseres  Auges  .  .  .  Hierdurch  werden  die  peripherischen 
Enden  der  Sehnerven  zu  einer  Thätigkeit  veranlasst  .  .  .  Zu  diesen 
in  dem  Beriche  der  Aulsenwelt  sich  abspielenden  Vorgängen  tritt 
nun  .  .  .  eine  rein  innere  Thätigkeit  .  .  .  Das  ist  der  psychische 
Akt,  mit  dem  die  Perzeption*)  abschliefst .  .  .  Nur  das  neugeborene 
Kind  dürfte  ...  bei  der  Perzeption  des  äufseren  Eindruckes 
stehen  bleiben  ...  Er  (der  Mensch  in  den  ersten  Monaten  seines 
Lebens)  wird  dem  gegebenen  Empfindunghinhalte  nichts  hinzu- 
fügen, ja  nicht  einmal  alles,  was  zu  sehen  ist,  gewahr  werden  .  ,  .« 
(S.  4.)  Der  Erwachsene  gewinnt  also  eine  vollständigere  Wahr- 
nehmung als  das  Kind.  Die  vollständigere  Wahrnehmung  wird 
als  Perzeption  bezeichnet. 

Zweite  Stelle:  »Wir  nehmen  von  der  Sonnenfinsternis 
einmal  nur  das  wahr,  was  wir  der  ursprünglichen  Natur  unserer 
Seele  gemäfs  empfinden  mülsten,  wenn  sie  wie  die  des  Säuglings 
noch  unausgebildet  wäre.  Es  vollzieht  sich  eine  Perzeption.  Aber 
wir  sehen  zugleich  vermöge  der  durch  frühere  Beobachtungen 
erlangten  Vorstellungen  und  Fertigkeiten  manches,  was  dem  un- 
erfahrenen Menschen  verborgen  bleibt,  und  fügen  der  Wahrnehmung 
aus  unserem  Innern  zahlreiche  geistige  Elemente  bei  .  .  Die 
Perzeption  wird  zur  Apperzeption.«  (S.  6.)  Es  ergiebt  sich  Die 
vollständigere  Wahrnehmung  des  Erwachsenen  enthält  mehr  als 
eine  Perzep  tion;  mit  Perzeption  darf  nur  das  bezeichnet  werden, 
was  der  Mensch  in  den  ersten  Monaten  seines  Lebens  von  der 
Sonnenfinsternis  wahrgenommen  haben  würde. 

Dritte  Stelle:  »Manche  schwache,  unklare  und  flüchtige 
Perzeption  würde  fast  unbemerkt  an  unserem  Innern  vorübergehen, 
wenn  nicht  die  hinzutretende  Apperzeptionsthätigkeit  sie  im  Hewufst- 


*)  Vgl.  auch  S.  7,  Zeile  8  ff.  u.  S.  9. 


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—  140 

sein  festhielte.  Diese  schärft  die  Sinne,  d.  h.  sie  verleiht  den 
Sinnesorganen  ein  höheres  Mafs  von  Energie,  so  dafs  das  spähende 
Auge  nun  sieht  und  das  lauschende  Ohr  hört,  was  für  gewöhnlich 
unbeachtet  bleibt.«  (S.  16.)  In  dieser  Stelle  kann  bei  dem  Worte 
Perzeption  nur  an  Sinnesreize  gedacht  werden.  — 

Welches  ist  nun  der  rechte  Sinn  des  Wortes  Perzeption?  — 
3.  Auf  den  zwei  ersten  Seiten  des  Langeschen  Buches  wechseln 
fast  rcgelmäfsig  die  Worte:  Empfindung  (empfinden),  Wahrnehmung 
(wahrnehmen)  und  Vorstellnng  (vorstellen).  Das  Wort  Empfindung 
wird  viermal  gebraucht,  Wahrnehmung  neunmal  und  Vorstellung 
achtmal.  Wozu  dieser  Wechsel,  da  doch  immer  an  die  gleiche 
Sache  gedacht  wird  ?  —  Denkt  der  Leser,  wenn  er  ein  anderes 
Wort  liest,  nicht  auch,  es  müsse  sich  ein  anderes  dabei  vor- 
stellen lassen?  — 

IX. 

Im  Anfange  des  Buches  erörtert  Lange  in  44  Zeilen  das 
Erkenntnisproblem,  d.  i.  die  Streitfrage,  ob  wir  die  Dinge  an  sich 
wahrnehmen  können  oder  nicht.  Ich  mache  geltend:  Der  Gedanke, 
dafs  wir  von  den  Dingen  an  sich  nichts  wissen  können,  oder  dafs 
unsere  Wahrnehmungen  nur  Symbole  für  die  Dinge  an  sich  sind, 
dieser  Gedanke  liegt  dem  gewöhnlichen  Bewufstsein  fern,  ja  sehr 
fern.  Es  ist  daher  bedenklich,  das  Erkenntnisproblem  in  wenigen 
Zeilen  abzuthun;  und  dies  umsomehr,  als  das  Langesche  Buch 
auch  für  Leser  geschrieben  ist;  die  nicht  philosophisch  geschult 
sind.  Es  ist  daher  weiter  bedenklich,  dafs  Lange  die  Erörterungen 
über  das  Erkenntnisproblem  an  den  Anfang  seines  Buches  gesetzt 
hat;  und  das  ist  doppelt  bedenklich  in  einem  Buche,  in  dem  die 
Beachtung  des  Lernprozesses  so  nachdrücklich  gefordert  wird. 
Zudem  behaupte  ich:  Ein  anderes  ist  die  Erkenntnistheorie  und 
ein  anderes  die  Apperzeptionstheorie.  Das  Verständnis  des  einen 
ist  unabhängig  von  dem  Verständnis  des  anderen. 


2.  Erwiderung. 

Von  Dr.  K.  Lange  in  Plauen. 

Der  Herr  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  hat  mich  ersucht, 
vorstehender  Kritik  ein  Nachwort  hinzuzufügen.    Hier  ist  es. 

I.  Die  Ausstellungen  des  Herrn  Fack  beziehen  sich  in  erster 


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- 

—    141  — 

Linie  auf  den  von  mir  vertretenen  Begriff  der  Apperzeption,  von 
dem  er  behauptet ,  dafs  er  ganz  verschiedene  geistige  Vorgänge 
unter  einem  und  demselben  Namen  zusammenfasse. 

I.  Zum  Erweise  dessen  sucht  er  zunächst  an  einer  Reihe 
von  Beispielen  den  Umfang  des  Begriffes,  d.  h.  die  Arten  der 
Apperzeption  vorzuführen.  Gegen  seine  Klassifikation  der  ein- 
zelnen Apperzeptionsvorgänge  habe  ich  zuvörderst  einzuwenden, 
dafs  sie  nicht  einem  einzigen,  sondern  zwei  ganz  ver- 
schiedenen Einteilungsgründen  folgt:  einem  logischen  (wie 
z.  B.  bei  den  unter  2 — 4  aufgezählten  Apperzeptionsprozessen) 
und  einem  psychologischen.  Diese  unberechtigte  Ver- 
mischung ganz  entgegengesetzter  Betrachtungsweisen 
verschuldet  es,  dafs  ihm  verwandte  psychische  Vor- 
gänge als  völlig  unvergleichbar  erscheinen.  Sie  bietet 
ihm  weiter  die  Möglichkeit,  die  Reihe  der  Apperzeptionsvorgänge 
ins  Unendliche  zu  verlängern  und  so  dem  Begriffe  der  A.  selbst 
den  Schein  des  Unbestimmten  und  Schwankenden  zu  verleihen. 
Ich  bestreite  keineswegs,  dafs  unter  Umständen  auch  die  logische 
Auffassung,  welche  die  geistigen  Vorgänge  nach  dem  Inhalte  der 
Vorstellungen  einteilt,  zulässig  ist.  Aber  hier,  wo  es  sich  um  die 
Feststellung  des  Wesens  der  A.  handelt,  kann  nur  ein  einziger, 
nämlich  der  psychologische  Einteilungsgrund  mafsgebend  sein,  eine 
Betrachtungsweise,  die  nicht  nach  dem  besonJeren  Inhalte  der 
einzelnen  Vorstellungen,  sondern  nach  der  Art  ihres  Verlaufes 
die  Apperzeptionsvorgänge  gruppiert.  Diese  psychologische  Be- 
trachtungsweise wird  zu  Unterscheidungen  wie  aktive  und  passive, 
innere  und  äufsere  A.,  nimmer  aber  zu  der  achtgliedrigen  Apper- 
zeptionsreihe des  Herrn  Rezensenten  führen.  Und  so  kann  man 
zu  den  von  ihm  angeführten  Beispielen  sich  bekennen  (obwohl 
sie  nicht  durchgängig,  wie  es  doch  billig  gewesen  wäre,  dem  an- 
gegriffenen Buche  entnommen  sind),  ohne  seine  Gruppierung 
der  Thatsachen  als  eine  geeignete  Grundlage  zur  Ge- 
winnung des  Apperzeptions  begri  f  f  es  anzusehen. 

Auch  die  von  Herrn  Fack  gegebene  Deutung  der  Apper- 
zeptionsbeispiele fordert  wiederholt  zum  Widerspruche  heraus. 
So  besteht  beim  5.  Beispiel  der  Apperzeptions  Vorgang  nicht  blofs 
darin,  dafs  einer  Wahrnehmung  das  Bewufstsein  hinzugefügt  wird, 
man  habe  von  dem  Gegenstande  derselben  schon  eine  Vorstellung 
erworben,  sondern  es  stellen  sich  mit  diesem  Bewufstsein  auch 
frühere  Vorstellungen  und  Gefühlselemente  ein,  die  sich  auf  den 
Gegenstand  der  Wahrnehmung  beziehen.  Diese  reproduzierten 
Seeleninhalte  können  unter  Umständen  der  Wahrnehmung  eine 
ganz  neue  Bedeutung ,  einen  besonderen  Gefühlston  verleihen  — 
ein  Beweis,  dafs  mehr  als  ein  Bewufstseinsakt  hinzukam.  Ferner 
wird  bei  der  im  6.  Beispiel  erwähnten  Illusion  die  undeutliche 
Wahrnehmung  nicht  einer  andern  Wahrnehmung,  sondern  einer 


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—     142  — 


Gruppe  starker  und  mit  lebhaften  Gefühlen  verknüpfter  Vor- 
stellungen eingefügt.  Nicht  tritt  neben  die  i.  Wahrnehmung 
eine  2.,  sondern  die  reproduzierten  Vorstellungselemente  geben 
jener  eine  andere,  falsche  Deutung,  so  dafs  der  Knabe  zu  sehen 
und  zu  hören  glaubt,  was  in  Wirklichkeit  nicht  wahrzunehmen  ist. 

Und  wie  hier,  so  bedarf  auch  beim  1.  Beispiel,  wie  unten 
nachgewiesen  werden  soll,  die  Darstellung  des  Kritikers  der 
Berichtigung. 

2.  Nachdem  Herr  Fack  den  Umfang  des  Apperzeptionsbe- 
griffes festgestellt  hat,  prütt  er  die  von  mir  gegebene  Darstellung 
seines  Inhaltes.  Er  findet,  dafs  die  erste  Zusammenfassung  der 
Begriffsmerkmale  mit  der  zweiten,  der  Definition,  nicht  überein- 
stimme. Sehr  richtig  bemerkt  er,  dafs  die  erste  Zusammenstellung 
noch  unwesentliche  Merkmale  aufführe,  welche  die  zweite  »ver- 
schweige«. Und  er  kann  nicht  umhin,  diese  auffallende  Thatsache 
als  eine  Ungenauigkeit  zu  rügen. 

Aber  wie,  wenn  diese  Art  der  Begriffsbestimmung  nun  be- 
absichtigt war,  wenn  es  dem  Verfasser  des  Buches  zunächst  darauf 
ankam,  die  wichtigsten  der  beschriebenen  Apperzeptionsvorgänge 
in  kurzen  Zügen  zu  zeichnen  und  so  dem  Leser  das  Gesamtgebiet 
derselben  möglichst  gedrängt  vor  Augen  zu  führen,  unbekümmert 
darum,  dafs  auch  unwesentliche  Merkmale  noch  mit  unterliefen? 
Wie,  wenn  der  psychologische  Weg  der  Begriflfsbildung  auch  hier 
eingehalten,  wenn  von  der  unvollkommenen  Auffassung  allmählich 
hingeleitet  werden  sollte  zu  der  geläuterten,  von  der  ausführlichen 
Beschreibung  und  Erklärung  der  Hauptbeispiele  zur  endgiltigen 
Feststellung  der  wesentlichen  Merkmale,  zur  Definition?  Gewifs 
hätte  diese  Begriffsentwicklung  noch  ausführlicher,  meinetwegen 
auch  vollkommener  gegeben,  es  hätten  —  was  eine  künftige  Auf- 
lage vielleicht  nachholen  wird  —  die  unwesentlichen  Bcgriffsmerk- 
male  ausdrücklich  als  solche  bezeichnet  werden  können,  statt  dais 
sie  stillschweigend  weggelassen  wurden.  Aber  dafs  hier  der 
Darstellung  nicht  Unklarheit  des  Denkens,  sondern 
ein  bestimmter  didaktischer  Zweck  zugrunde  liegt, 
hätte  doch  de  m  H  errn  Kri  tiker  nicht  so  ganz  verborgen 
bleiben  sollen. 

3.  Nach  diesem  leichten  Geplänkel  richtet  er  die  ganze  Wucht 
seines  Geschützfeuers  gegen  meine  Definition  des  Apperzeptions- 
begriffes. Er  behauptet  zunächst,  dafs  in  ihr  das  Wort  »Klar- 
heit« zu  streichen  sei.  Dafs  ich  es  selbst  für  ein  wesentliches 
Merkmal  nicht  halte,  wird  von  ihm  ausdrücklich  bezeugt.  Wenn 
ich  es  trotzdem  in  die  Erklärung  aufnahm,  so  geschah  es  wieder 
aus  didaktischen  Gründen.  Es  sollte  dem  Bewufstsein  des  Lesers 
die  pädagogisch  wichtige  Thatsache  nahe  gelegt  werden,  dafs 
allerdings  in  den  meisten  Fällen  der  apperzipierte  Seeleninhalt 
durch  die  Aneignung  an  Klarheit  gewinnt.    Um  jegliche  Unklar- 


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—    143  — 

heit  auszuschliefsen ,  hätte  das  Wort  mit  den  folgenden  durch 
ein  >oder<  in  demselben  Sinne  verbunden  werden  können,  wie 
vorher  von  »einzelnen  Wahrnehmungen,  Vorstellungen  oder  Vor- 
stellungsverbänden« gesprochen  wird.  Dafs  auf  diese  Weise  die 
Definition  um  ein  weniges  an  logischer  Strenge  einbüfst,  will  ich 
gern  zugeben.  Aber  wie  wenig  oft  mit  logisch  unanfechtbaren 
Erklärungen  da,  wo  es  sich  um  die  Einführung  in  das  Verständ- 
nis wichtiger  wissenschaftlicher  Begriffe  handelt,  anzufangen  ist 
und  wie  wenig  oder  wieviclerlei  sich  bei  ihnen  denken  läfst,  zeigt 
kein  Begriff  schlagender  als  eben  der  —  der  A.  *)  Und  so  schien 
mir's  hier ,  wo  es  sich  nicht  um  logische  Schulübungen ,  sondern 
um  möglichste  Verdeutlichung  eines  Begriffes  handelte,  im  Interesse 
des  Lesers  geboten,  ein  so  wichtiges  Kennzeichen  gewisser  Apper- 
zeption^akte  mit  aufzuführen. 

4.  Herr  Fack  bestreitet  weiter,  dafs  bei  der  A.  ein  Seelen- 
inhalt  dem  andern  eingefügt  werde.  Denkt  man  sich 
dieses  Einfügen  als  ein  so  intensives  Zusammensein  zweier  Seelen- 
inhalte im  Bewufstsein,  dafs  einer  den  andern  in  der  Folge  regel- 
mäfsig  reproduziere  und  reproduzier en  müsse,  so  scheint 
allerdings  der  im  4.  Beispiele  beschriebene  Vorgang  nicht  unter 
den  Begriff  der  A.  zu  fallen. 

Allein,  man  kann  sich  die  Einfügung  eines  Seeleninhaltes  in 
einen  andern  doch  auch  so  vorstellen,  dafs  der  eine  den  andern 
zwar  nicht  notwendig  und  in  jedem  Falle,  aber  doch  verhält- 
nismäfsig  oft  und  leicht  reproduziert.  So  ist  es  in  der 
That,  und  so  wars  von  mir  auch  im  Grunde  genommen  gemeint. 
Dementsprechend  wird  allerdings,  wie  ich  mit  Vergnügen  dem 
Herrn  Rezensenten  zugestehe,  der  von  ihm  angeführte  Satz  auf 
S.  16  meines  Buches  besser  folgende  Fassung  erhalten:  »Eine 
Wahrnehmung  wird  anderen  Seelenerzeugnissen  eingefügt,  heifst 
daher:  sie  wird  mit  ihnen  zeitlich  und  inhaltlich  so  intensiv  zu- 
sammengedacht, dafs  fortan  eins  das  andere  leicht  zu  reprodu- 
zieren vermag.«  Und  in  gleichem  Sinne  ist  die  S.  19  ent- 
nommene Bemerkung  zu  ändern. 

Giebt  man  dies  zu ,  dann  wird  allerdings  jeder  apperzipierte 
Seeleninhalt  dem  Aneignungssubjekte  eingefügt;  denn  darüber 
besteht  kein  Zweifel,  dafs  die  apperzipierte  wie  die  apperzipierende 
Vorstellung  vor  anderen  sich  leicht  reproduzieren.  Und  so  wird 
es  wohl  dabei  bleiben  müssen,  dafs  d  ie  Ei  n  rc  ih  u  n  g 
eines  Seelenin  ha  Ites  in  andre  verwandte  Vorstellungen 


*)  Vgl.  z.  B.  folgende  Definitionen:  >A.  ist  die  Bewegung  zweier  Vor- 
stellungsmassen  gegen  einander  zur  Erzeugung  einer  Erkenntnis.«  Oder: 
»Sie  ist  das  mittels  reproduzierter  Vorstellungen  vollzogene  Ergreifen  eines 
geistigen  Inhalts.«  »Sie  ist  der  Eintritt  einer  Vorstellung  in  den  Blickpunkt 
des  Bewufstseins.« 


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» 


1 


—    144  — 

• 

ein   wesentliches   Merkmal   des   Apperzeption  s- 
begriffes  ist. 

Dem  Herrn  Kritiker  ist  übrigens  nachträglich  selbst  der  Ge- 
danke gekommen,  dafs  ich,  wie  er  sich  ausdrückt,  »das  Einfügen 
wohl  nicht  so  streng  genommen  habe«  ,  als  er  anfänglich  meinen 
Worten  entnehmen  zu  müssen  glaubte.  Unter  dieser  Voraus- 
setzung scheint  er  seinen  Widerspruch  gegen  die  Aufnahme  dieses 
Merkmals  in  die  Definition  fallen  zu  lassen.  Denn  was  er  sonst 
noch  gegen  letztere  vorbringt,  bewegt  sich  auf  einem  ganz  an- 
deren Gebiete. 

5.  Er  greift  schliefslich ,  um  sie  zu  bekämpfen,  auf  sein 
erstes  Beispiel  zurück,  das  von  der  Wahrnehmung  einer  Sonnen- 
finsternis handelt.  Aber  hier  widerfährt  ihm  ein  recht  fatales 
Mifsverständnis.  Er  legt  sich  nämlich  meine  Darstellung  des  be- 
treffenden Seelenvorganges  so  zurecht ,  als  unterschiede  ich  im 
vorliegenden  Apperzeptionsakte  zwei  sich  zeitlich  getrennt  voll- 
ziehende Teil  Vorgänge:  1.  Der  Erwachsene  nimmt  wahr,  was  das 
Kind  nicht  wahrnehmen  kann.  2.  Die  auf  diese  Weise  aus  der 
Perzeption  entstandene  vollständigere  und  deutlichere  Wahrnehmung 
wird  gewissen  geistigen  Elementen  eingefügt.  Hieraus  ergebe 
sich  »ohne  weiteres,«  dafs  in  meiner  Definition  der  1.  Teilvorgang 
ganz  übersehen  und  dafs  sie  daher  nicht  für  alle  von  mir  auf- 
geführten Beispiele  giltig  sei. 

In  Wirklichkeit  verhält  sichs  anders.   Sobald  der  Erwachsene 
den  betreffenden  Vorgang  an  der  Sonnenscheibe  als  Sonnen- 
finsternis erkennt,  hat  er  bereits  die  Perzeption  (d.  i.  das,  was 
auch  das  unerfahrene  Kind  von  der  Himmelserscheinung  wahr- 
nehmen kann)  apperzipiert,  d.  h.  in  den  Zusammenhang  verwandter 
Vorstellungen  eingefügt.    Denn  diese  sind  es  ja,  welche  der  Per- 
zeption den  Eindruck  des  Unerhörten,  völlig  Fremden  nehmen  und 
sie  als  etwas  Bekanntes  erkennen  lassen.    Das  braucht  im  ersten 
Augenblicke  noch  keine  besonders  tief  gehende  und  abgeschlossene 
A.  zu  sein.    Aber  sofort  treten  andere  zur  apperzipierenden  Vor- 
stellungsgruppe gehörige  Elemente  hinzu,  welche  die  Perzeption 
bereichern  helfen.    Der  Erwachsene  weifs,  dafs  der  Mond  die 
Ursache  der  Sonnenverdunklung  ist  —  und  so  sieht  er,  wie  eine 
dunkle  Scheibe  in  das  Lichtfeld  der  Sonne  eintritt.    Es  fallt  ihm 
ein,  dafs  während  der  seltenen  Himmelserscheinung  leuchtende 
Fackeln  an  der  Sonnenscheibe  beobachtet  werden  können  —  und 
nun  erkennt  das  durchs  Fernrohr  verstärkte  Auge  in  gewissen 
bewegten  Lichtmassen  die  Protuberanzen.   Er  hat  von  einem  die 
Sonne  umgebenden  Lichtkranze  gehört,  und  so  findet  er  die  dem 
gewöhnlichen  Auge  unerkennbare  Corona. 

Wenn  hier  die  A.  sich  in  einem  kurzen,  aber  doch  immerhin 
mefsbaren  Zeitraum  vollendet,  so  werden  dagegen  bei  dem  wohl- 
vorbereiteten Beobachter,  der  im  Zustande  der  Erwartung  alle 


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145  — 


Apperzeptionshilfen  bereit  hält,  Perzeption  und  Apperzeption  in 
einem  einzigen  Akte  der  Wahrnehmung  augenblicklich  vor  sich 
gehen.  So  viel  Einzelwahrnehmungen  aber  auch  der  wohlunter- 
richtete Erwachsene  bei  der  Beobachtung  der  Sonnenfinsternis 
mehr  erhält  als  das  unerfahrene  Kind  —  sie  treten  doch  nur  her- 
vor auf  Veranlassung  entsprechender  reproduzierter  Seeleninhalte. 
Seine  Gesamtwahrnehmung  von  der  Himmelserscheinung  gewann 
an  Klarheit  und  Vollständigkeit,  weil  und  soweit  bei  ihrer  Ent- 
stehung apperzipierende  Vorstellungen  mitwirkten.  Diese  sind  die 
Ursache,  jenes  die  Wirkung.  Je  vollständiger  und  energischer 
sich  die  A.  vollzieht,  desto  reicher  wird  auch  die  Wahrnehmung. 
Was  folgt  hieraus? 

a)  Es  werden  vom  Erwachsenen  nicht  neue  Einzel- 
wahrnehmungen gebildet  und  diese  in  ihrer  Gesamt- 
heit erst  den  verwandten  Elementen  der  Seele  einge- 
fügt, sondern  das  Hervortreten  dieser  geistigen  Ele- 
mente und  die  Entstehung  neuer  Teil  Wahrnehmungen 
ist  in  der  Regel  ein  einziger  Apperzeptionsakt.  Nur  in- 
soweit, als  mehrere  solche  Apperzeptionsakte  in  der  Wahrnehmung 
von  der  Sonnenfinsternis  gegeben  sind,  kann  von  Teilvorgängen 
der  allmählich  fortschreitenden  A.  die  Rede  sein. 

b)  Die  vollständige  und  deutliche  Wahrnehmung 
von  der  Sonnenfinsternis  ist  nicht  der  Gegenstand, 
sondern  das  Ergebnis  eines  Apperzeptionsvorganges. 

c)  Wenn  der  Erwachsene  sonach  im  Gegensatze  zu 
<lem  unerfahrenen  Kinde  die  Perzeption  von  der 
Sonnenfinsternis  apperzipierend  zu  einer  viel  reicheren 
und  schärferen  gestaltet,  so  hat  jene  unzweifelhaft,  wie 
die  angefochtene  Definition  behauptet,  an  Klarheit, 
Regsamkeit  und  Bedeutung  gewonnen.  Damit  ist  zugleich 
erwiesen,  dafs  jener  Begriffserklärung  auch  für  den  besprochenen 
Apperzeptionsvorgang  volle  Giltigkeit  zukommt  und  dafs  der  Herr 
Rezensent  letzteren  mit  Unrecht  von  ihr  ausschliefst. 

Er  hat  eben  bei  ihm,  wie  es  scheint,  an  die  Fälle  der  aktiven 
A.  gedacht,  wo  eine  neueintretende  Wahrnehmung  zunächst  keine 
Apperzeptionshilfen  findet,  an  die  Fälle,  wo  zwischen  der  Per- 
zeption und  ihrer  Einfügung  in  verwandte  Gedankenkreise  ein 
längerer  Zeitraum  liegt.  Aber  hier  trifft  dies,  wie  auf  S.  7  meines 
Buches  ausdrücklich  bemerkt  wird,  durchaus  nicht  zu;  hier  kommt 
jede  Einzelwahrnehmung  wie  die  Gesamtwahrnehmung  zu  stände 
»unter  dem  wesentlichen  Einflüsse  der  A.  und  gleich- 
zeitig mit  ihr.«  Was  also  von  einer  ganz  anderen  Gruppe 
von  Apperzeptionsvorgängen  gilt,  hat  Herr  Fack  irrtümlicherweise 
-auf  vorliegendes  Beispiel  übertragen. 

Pädagogische  Studien.    III.  10 


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i46  - 


Er  hat  weiter  in  dem  von  ihm  angeführten  Satze:  »Wir 
sehen  zugleich  vermöge  der  durch  frühere  Beobachtungen  erlangten 
Vorstellungen  und  Fertigkeiten  manches,  was  dem  unerfahrenen 
Menschen  verborgen  bleibt,  und  wir  fügen  der  Wahrnehmung  aus 
unserm  Inneren  zahlreiche  geistige  Elemente  bei,  die  in  der  Em- 
pfindung überhaupt  nicht  gegeben  sind«  —  die  beiden  Haupt- 
sätze in  ein  ganz  andres  logisches  Verhältnis  zu  einander  gesetzt» 
als  nach  den  vorausgehenden  Darlegungen  zulässig  ist.  Nicht  im 
Verhältnis  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  stehen  die  in  beiden 
Sätzen  behaupteten  Thatsachen,  sondern  in  dem  der  Gleichzeitig- 
keit, der  Wirkung  und  Ursache:  weil  wir  der  Perzeption  aus 
unserm  Innern  zahlreiche  geistige  Elemente  beifügen,  die  in  der 
Empfindung  unmittelbar  nicht  gegeben  sind,  sieht  der  Erwachsene 
manches,  was  dem  unerfahrenen  Menschen  verborgen  bleibt.  Ich 
denke  da  z.  B.  an  die  Vorstellungen  von  der  Art  und  Weise, 
wie  der  Mondschatten  die  Sonnenfinsternis  bewirkt,  an  Seelen- 
inhalte also,  die  nicht  auf  dem  Wege  der  Wahrnehmung,  sondern 
mittelbar  durch  Vergleiche  und  Schlüsse  erworben  werden.  Diese 
führe  ich  in  gedachtem  Satze  neben  den  »durch  frühere  Beobach- 
tungen« erlangten  Vorstellungen  von  der  Sonnenfinsternis  als  eine 
zweite  Art  apperzipierender  Vorstellungen  auf,  worauf  schon  das 
die  beiden  Hauptsätze  verbindende  »und«  hindeutet.  Was  macht 
aber  der  Rezensent  aus  diesem  nicht  miisverständlichem  Satze? 
Er  spricht  von  der  durch  die  A.  bereits  erzeugten  vollständigen 
und  deutlichen  Wahrnehmung,  wo  doch  dem  ganzen  Zusammen- 
hange zufolge  nur  die  Perzeption  gemeint  sein  konnte.  Er  be- 
hauptet, »jene  Wahrnehmung  werde  gewissen  geistigen  Elementen 
eingefügt,«  während  es  doch  umgekehrt  auf  S.  6  meines  Buches 
heifst :  »geistige  Elemente  fügen  wir  der  Wahrnehmung 
(d.  i.  Perzeption)  bei.«  Nur  durch  solche  ge waltsa me  Deu- 
tung und  offenkundige  Verdrehung  des  klaren  Wort- 
lautes konnte  Herr  Fack  dazu  gelangen,  meine  Dar- 
stellung mit  der  Begriffserklärung  in  Widerspruch 
zu  setzen. 

Damit  bricht  aber,  um  mich  seines  Ausdrucks  zu  bedienen, 
sein  ganzes  kritisches  Gebäude  in  sich  zusammen.  Es 
ist  ihm  nicht  gelungen,  zu  widerlegen,  dafs  im  Apper- 
zeptionsvorgange ein  Seeleninhalt  i.  verwandten  Pro- 
dukten unsres  bisherigen  Vorstel lungs -  und  Gemüts- 
lebens eingefügt  und  dadurch  2.  zu  gröfserer  Regsam- 
keit und  Bedeutung  erhoben  wird.  Diese  zwei  wesent- 
lichen Merkmale,  die  wahrlich  mehr  als  »ein  Momentchen  Gemein- 
sames«  einschliefsen,  unterscheiden  die  A.  genügend  von  anderen 
psychischen  Thätigkeiten.  Dafs  sie  bei  aller  Erkenntnisthätigkeit 
und  mittelbar  auch  bei  den  Gefühls-  und  Willensakten  sich  wirk- 
sam erweist,  spricht  doch  nicht  gegen  die  Richtigkeil  ihres  Be- 


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—    147  — 


griffs,  und  wenn  hier  ein  weithin  herrschendes  Gesetz  des  Seelen- 
lebens sich  in  verschiedenster  Anwendung  kundgiebt,  warum  soll 
man  es  nicht  als  solches  anerkennen?  Das  heilst  noch  lange 
nicht,  eine  »verkappte  Encyklopädie«  bieten  —  ein  Vorwurf,  der 
leicht  genug  wiegt,  so  keck  er  auch  allen  Vertretern  der  Apper- 
zeptionstheorie —  also  auch  einem  Leibniz,  Herbart,  Lazarus, 
Lotze,  Wundt  u.  a.  —  entgegen  geschleudert  wird.  Die  »besseren 
psychologischen  Kompendien«  übrigens,  bei  denen  Herr  Fack  sich 
betreffs  der  seelischen  Elementarvorgänge»»  lieber  Rats  erholen 
möchte,  handeln  fast  ohne  Ausnahme  auch  von  der  A.  und  zwar 
meist  in  ähnlichem  Sinne,  als  es  von  mir  geschehen.  Wenn  sie 
hierbei  nachträglich  die  Bedeutung  der  A.  für  viele  jener  elemen- 
taren Prozesse  betonen  und  trotzdem  jene  Elementarvorgänge 
erst  für  sich  darstellen ,  als  gäbe  es  gar  keine  A. ,  so  kann  ich 
darin  weder  eine  besondere  Folgerichtigkeit,  noch  eine  besondere 
Klarheit  der  Darstellung  erkennen'. 

II.  Herr  Fack  behauptet  weiter,  dafs  der  Begriff  der  Wahr- 
nehmung von  mir  in  verschiedener  Bedeutung  gebraucht  worden 
sei.  Zunächst  wird  er  mir  zugestehen  müssen,  dafs  ich  ihn  auf 
S.  4  genau  bestimmt  und  von  der  Empfindung  schart  unter- 
schieden habe,  und  auch  darüber,  wie  sich  zu  beiden  Begriffen 
die  Vorstellung  verhält ,  läfst  die  Abhandlung  nicht  im  Zweitel. 
Es  ist  selbstverständlich  und  leicht  nachzuweisen,  dafs  überall, 
wo  es  darauf  ankam,  jene  3  verwandten  Begriffe  scharf  aus  ein- 
ander zu  halten,  auch  für  den  betreffenden  Begriffsinhalt  das  ent- 
sprechende Wort  gewählt  worden  ist.  Wo  dagegen  eine  solche 
Unterscheidung  nicht  nötig  und  beabsichtigt  war,  wo  etwas  be- 
hauptet wurde,  was  jedem  der  drei  Begriffe  in  gleichem  Mafse 
und  vollem  Umfange  zukam,  da  ist  allerdings  aus  stilistischen 
Gründen,  der  Abwechslung  halber,  öfters  ein  Name  statt  der  an- 
deren gebraucht  worden.  Das  ist  nicht  nur  vollkommen  zulässig, 
sondern  auch  anderwärts  üblich.  Wie  breit  und  umständlich 
müfste  die  Darstellung  werden,  wenn  überall,  wo  etwas  ausgesagt 
werden  soll,  was  sowohl  von  der  Empfindung  als  von  der  Wahr- 
nehmung und  Vorstellung  gilt,  keines  dieser  Wörter  die  anderen 
vertreten  und  der  Leser  die  selbstverständliche  Verallgemeinerung 
nicht  vollziehen  dürfte !  Wenn  daher  der  peinliche  Herr  Inquisi- 
tor mir  vorrechnet,  dafs  ich  auf  zwei  Seiten  das  Wort  Empfin- 
dung viermal ,  Wahrnehmung  neunmal  und  Vorstellung  achtmal 
angewandt  habe,  während  doch  immer  an  die  gleiche  Sache  ge- 
dacht werde ,  so  frage  ich  ihn :  Woher  wissen  Sie  das  letztere  ? 
Es  steht  Ihnen  frei,  bei  jedem  Wort  nur  an  das  zu  denken,  was 
es  eben  zunächst  bezeichnet  —  und  es  wird  auch  bei  solch  pe- 
dantischer Strenge  noch  ein  guter  und  richtiger  Sinn  herauskommen. 
Es  wird  aber  auch  erlaubt  sein,  da,  wo  der  Zusammenhang  keine 
Zweifel  zuläfst ,  ein  Wort  als  den  Vertreter  der  beiden  anderen 

10* 


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—  148 


aufzufassen  und  so  eine  Behauptung  selbstdenkend  zu  verallge- 
meinern. Der  Herr  Rezensent,  der  selbst  einmal  (im  6.  Beispiel) 
von  Wahrnehmungen  spricht,  »die  aus  Vorstellungselementen  her- 
gestellt sind«  (!),  würde  sicher  diese  Thatsachen  nicht  übersehen 
haben,  wenn  es  ihm  eben,  nach  seinem  Motto  zu  schliefsen, 
nicht  darauf  angekommen  wäre,  mir  nur  Unangenehmes  zu 
sagen. 

Inwieweit  und  in  welchem  Sinne  bei  der  Wahrnehmung  von 
der  Sonnenfinsternis  von  Perzeption  die  Rede  sein  kann,  das  ist 
oben  unter  I  5  so  eingehend  erörtert  worden,  dafs  ich  mir  ein 
nochmaliges  Eingehen  auf  diesen  Begriff  wohl  ersparen  darf. 

III.  Was  endlich  die  einleitenden  Sätze  auf  S.  I  — 2  meiner 
Abhandlung  anbelangt,  so  halte  ich  nach  wie  vor  den  Hinweis  auf 
den  subjektiven  Charakter  unsrer  Wahrnehmungen  für  einen  ge- 
eigneten Ausgangspunkt  zur  Einführung  des  Lesers  in  das  Wesen 
der  A.  Natürlich  konnte  mir  nicht  in  den  Sinn  kommen,  da- 
bei »das  Erkenntnisproblem  in  einigen  Zeilen  abthun  zu  wollen <. 
Aber  was  hier  über  die  Aktivität  der  wahrnehmenden  Seele  vor- 
ausgeschickt wurde,  ebnet  in  der  That  der  Einsicht  in  den  Ver- 
lauf der  geistigen  Aneignung  die  Weije.  Zudem  beschränkt  sich 
die  Darstellung  so  auf  das  Allernotwendigste  und  allgemein  Zu- 
gestandene, dafs  jeder  Gebildete,  der  mindestens  über  die  Ent- 
stehung der  Sinnesempfindung  unterrichtet  ist,  den  Ausführungen 
des  Buches  zu  folgen  vermag.  Wenn  daher  der  Herr  Rezensent 
dies  im  Hinblick  auf  die  »nicht  philosophisch  geschulten  Leser < 
bestreitet,  so  scheint  er  mir  doch  die  Bildung  unsres  Lehrer- 
standes zu  unterschätzen.  Kür  Lehrer  ist  ja  das  Buch  vornehm- 
lich geschrieben,  und  wer  von  ihnen  zu  ihm  greift,  wird  sicherlich 
mit  den  Elementen  einer  rationellen  Psychologie  vertraut  und  so 
befähigt  sein,  »sich  durch  das  Buch  hindurchzuarbeiten«. 

Wenn  Herr  Fack  die  (d.  h.  alle)  Beispiele  des  letzteren  zu 
kompliziert  und  doch  auch  wieder  nicht  deutlich  genug  und  bis 
ins  einzelnste  ausgeführt  findet,  so  will  ich  mit  ihm  darüber  nicht 
rechten.  Ich  glaube  ihm  auch  ohne  weiteres,  dafs  «es  ihm  kein 
Leichtes  gewesen  ist,  sich  durch  das  Buch  hindurchzuarbeiten, 
sei's  auch  nur  durch  wenige  Bogen«  —  die  Animosität  seiner 
Kritik  verrät  es  ohnedies.  Aber  dafs  es  allen  oder  den  meisten 
Lesern  so  sauer  falle,  mufs  ich  doch  entschieden  bestreiten.  Zahl- 
reiche Aufserungen  von  Freunden  des  Buches,  sowie  die  That- 
sache,  dals  es  auf  den  Seminaren  den  Schülern  vielfach  zur  Lek- 
türe empfohlen  und  seit  Jahren  in  kleineren  oder  gröfseren  Lehfer- 
vereinigungen  studiert  wird,  beweisen  das  Gegenteil.  Das  sage 
ich  nicht,  um  das  Buch  zu  loben,  sondern  um  dem  Herrn  Kritiker 
zu  zeigen,  dafs  auch  der  Schriftsteller  es  nicht  allen  Leuten  recht 
machen  könne.    Geht  es  mir  doch  mit  seiner  Kritik  ähnlich  wie 


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-    149  — 


ihm  mit  meinem  Buche:  Bei  aller  Anerkennung  des  Scharfsinns 
und  der  dialektischen  Kunst,  die  sie  verrät,  kann  ich  doch  leider 
nicht  sagen,  dafs  sie  mich  erheblich  gefördert  hat  und  dafs  ihr 
selbst bewufster,  herausfordernder  Ton  den  thatsächlichcn  Ergeb- 
nissen derselben  entspricht. 


B. 

I.  Stimmen  aus  Sachsen  Uber  Reform  des  Religions- 
unterrichts. 

Mitgeteilt  von  Fr.  Franke  in  Leipzig. 

i)  Die  amtliche  Leipziger  Zeitung  brachte  kurz  nach  Pfingsten  in<m 
einen  Bericht  eines  Herrn  R.  B.  über  den  Vortrag  des  Superintendenten 
Braasch  aus  Jena  auf  dem  Thüringer  Kirchentag  in  Weida.  Wir  setzen  die 
Hauptforderungen  des  Vortrages  selbst  als  bekannt  voraus"),  wollen  aber 
den  angeführten  Bericht  etwas  ins  Auge  fassen,  da  derselbe  weder  als  Mus' er 
pädagogischer  Überlegung  noch  als  Wiedergabe  der  allgemeinen  Stimmung 
gelten  kann. 

Herr  R.  B.  berichtet:  »Ziel  (des  biblischen  Geschichtsunterrichts,'  s  >ll 
sein,  die  Jugend  für  die  biblischen  Gestalten,  insbesondere  für  den  Herrn 
Jesus  Christus  im  Herzen  zu  erwärmen  und  zu  begeistern«.  Wohl!  es  giebt 
nichts  Höheres  als  dies,  wenn  Herr  R.  B.  unter  Wärme  und  Begeisterung 
nicht  einen  Gefühlsrausch  versteht,  der  an  bestimmten  Orten  oder  bei  ge- 
wissen Anlässen  den  Menschen  erfafst,  bei  Eintritt  in  die  berufliche  Arbeit 
u.  s.  w.  aber  wieder  der  nüchternen  Selbstsucht  Platz  macht,  sondern  eine 
Sinnesweise,  in  welcher  Begeisterung  für  den  Herrn  Jesus  Christus  ^fest« 
geworden  ist.  (Ebr.  13,9.)  Die  Methode  dieser  Erwärmung  und  Be- 
geisterung ist  nun  gewifs  eine  wichtige  Sache;  auch  eine  schwierige- 
Es  scheint  nicht  so:  »Der  Unterricht  in  der  bibl.  Geschichte  mufs  natürlich 
sein,  d.  h.  er  bat  nichts  weiter  zu  thun,  als  die  Geschichte  in  einer  für  die 
Kinder  fafslichen,  womöglich  sie  fesselnden,  anmutigen  Weise  zu  erzählen. 
Das  Abdestillieren  und  Einpauken  katechismusartiger  Sätze  ist  ein  voll- 
kommener Missgriff.«  Also:  falslich  erzählen!  Gut.  Womöglich  fesselnd, 
anmutig,  d.  h.  also,  wenn  nicht  möglich,  dann  nicht  fesselnd  und  nicht 
anmutig.   Bleibt  noch  die  Fafslichkeit!  Aber  wie  steht  es  bei  der  blofsen 


*)  Vgl.  Staude«  Aufsatz  im  4.  Hefte  des  vorigen  Jahrgangs  der  »Päd  Stu>J.< 


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-    i5o  - 

Fafslichkeit  mit  Wärme  und  Begeisterung1  Und  giebt  es  aufser  dem  Er- 
zählen nichts  als  Abdestillieren  und  Einpauken  katechismusartiger  Sätzer 
Was  bedeutet  ferner  neben  solchen  Behauptungen  das  vorausgeschickte 
Zugeständnis,  es  sei  richtig,  >die  Aneignungsfähigkeit  als  bestimmend  für 
den  Gang  des  Unterrichts  anzusehen.«  und  die  Anwendung  der  fünf  Nor- 
malst ufen  auf  jede  Einheit  gehe  von  diesem  richtigen  Grundsatze  aus: 

Herr  Superintendant  Braasch  selbst  stellt  allerdings  neben  das  Er- 
zählen noch  kurze  Erläuterungen  und  Denkfragen,  die  man  wenigstens  als 
Andeutung  dessen,  was  noch  zu  thun  ist,  ansehen  kann.  Nach  Herrn  R.  B. 
dagegen  hat  der  Unterricht  nach  dem  Erzählen  »weiter  nichts  zu  thun.' 
Nun  wird  es  begreiflich,  dafs  er  die  wissenschaftlich  bestimmten  formalen 
Stufen  »Normalstufen«  nennt,  die  Freunde  derselben  aber  als  Pythagoräer 
der  bekannten  Art  glaubt  brandmarken  zu  müssen:  »Wer  eine  Zeit  lang  in 
der  Zwangsjacke  der  Normalstufcn  gesteckt  hat,  der  wird  Braasch  aus 
vollem  Herzen  beistimmen.  Bei  uns  in  Sachsen  macht  sich  die  wissen- 
schaftliche Pädagogik  ja  seit  einigen  Jahren  nicht  mehr  so  breit,  immerhin 
finden  sich  an  jeder  Lehranstalt  noch  vereinzelte  Vertreter  dieser  »Schule<. 
Zu  fürchten  ist  freilich,  dafs  Braasch  bei  ihnen  wenig  Gehör  finden  wird, 
so  wenig  wie  Oskar  Jäger  seinerzeit  mit  seinen  scharf  treffenden  Pfeiler, 
in  seinem  »pädagogischen  Testament«  erreicht  hat:  Das  jurare  in  verba 
magistri  ist  nirgend  so  entwickelt  wie  in  diesen  Kreisen,  und  leider  nirgend 
so  verderblich  wie  in  der  Schule.« 

Herr  B.  würde  wohl  einen  angemesseneren  Ton  gefunden  haben,  wenn 
er  die  Anerkennung  Braaschs.  dais  es  der  »von  Herbart  ausgehenden 
Schule  um  die  grofse  Sache  sehr  ernstlich  zu  thun  ist«,  nicht  seinen  Lesern 
und  sich  selbst  verschwiegen  hätte.  Dafs  Herr  Braasch  auch  gegen  die 
»theologisierendc  Methode«  des  Unterrichts  sich  mit  erfreulicher  Schärfe 
ausgesprochen  hat,  erfährt  der  Leser  gleichfalls  nicht,  obwohl  es  sich  auch 
»bei  uns  in  Sachsen«  gegen  dieselbe  regt,  vgl.  z.  B.  Hempel,  Zum  Kate- 
chismusunterrichte (Leipzig  1885)  S.  3,46,64,75. 

21  Die  Behauptung,  dafs  sich  in  Sachsen  die  »wissenschaftliche  Päda- 
gogik« nicht  mehr  so  breit  macht,  erhielt  eine  unerwünschte  Beleuchtung 
durch  die  Neunte  Allg.  Sächs.  Lehrerversammlung  in  Dresden  (Michaelis 
1891;,  die  Befürchtung  des  Herrn  R.  B.  aber,  dafs  die  ihm  notwendig 
erscheinenden  Reformvorschläge  wenig  Gehör  finden  würden,  wurde  in  un- 
erwünschter Weise  bestätigt.  An  die  evangelisch-lutherische  Landessynode 
war  die  Petition  gelangt,  das  hohe  Kirchenregiment  zu  ersuchen,  auf  ver- 
fassungsmäfsigem  Wege  im  Lektionsplane  der  Elementarvolksschule  für  die 
vier  letzten  Schuljahre  wöchentlich  fünf  (statt  vier)  ganze  Stunden  dem 
Religionsunterrichte  zuzuweisen,  und  die  Synode  hatttc  beschlossen,  diese 
Petition  dem  hohen  Kirchenregimente  zur  Erwägung  zu  überweisen.  Auf 
der  genannten  Versammlung  hielt  nun  Oberlehrer  Zemmrich  aus  Zwickau 
einen  Vortrag  über  die  Krage:  Bedarf  die  Volksschule  einer  Ver- 
mehrung der  Religionsstunden?*)  Er  bestritt  im  allgemeinen  nicht 


•)  In  erweiterter  Form  im  Dru;'c  erjxhlenen.    Zwickau,  1891    47  S.    60  Pf. 


das  Vorhandensein  der  von  den  Petenten  angeführten  Cbelständc,  be- 
kämpfte aber  den  vorgeschlagenen  Weg  zur  Beseitigung  derselben  und 
stellte  dafür  die  Forderung  auf,  dafs  die  intensive  Trefflichkeit,  >die  in  aller. 
Religionsstunden  der  intensiven  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  entsprechet« 
mufs«  (Herbart),  gesteigert  werden  müsse.  (S.  16.)  »Die  Volksschule  bedarf 
zum  Zwecke  der  Vertiefung  des  religiösen  Wissens  einer  Reform  der 
religiösen  Unterweisung.«  (S.  29.)  Er  ist  mit  Seminardirektor  Schöppa 
überzeugt,  >dafs  das  Kind  den  Glauben  und  dem  Glauben  gemäfs  leben 
nicht  durch  Sätze  der  Glaubens-  und  Sittenlehre,  sondern  im  Anschauen 
konkreter  Personen,  vor  allem  der  Person  Christi,  lernt.«  (S.  30.)  Aber 
damit  »das  Kind  in  seinem  Wissen  das  ordnende  Prinzip  nicht  ver- 
misse und  sich  nicht  in  der  Fülle  des  Einzelnen  verliere,  ersteht  noch  die 
Notwendigkeit  der  Zusammenfassung  der  Teile  des  Systems,  des  kleinen 
Katechismus.«  iS.  41.)*)  Weil  ihm  nun  feststeht,  »dafs  der  Katechismus 
nicht  als  eine  Abstraktion  für  sich  gelehrt  werden  kann,  sondern  immer 
im  Zusammenhange  mit  dem  geschichtlichen  Personenleben,  an  welchem 
die  Wahrheit  angeschaut,  erkannt,  ergriffen  und  festgehalten  wird«  (und  weil 
doch  das,  was  mit  Kindern  zus  amm  engefalst  werden  soll,  bei  denselben 
vorhanden  sein  muls),  so  will  Herr  Zemmrich  aus  dem  Vollen  der  bib- 
lischen Geschichte  die  Katechismussätze  ableiten  (oder  wie  man  auch 
sagen  kann,  abdestillieren  und  einpauken)  lassen.  Dann  ist  auch  kein 
Grund  vorhanden,  wie  Braasch  in  den  zwei  letzten  Schuljahren  besonderen 
Katechismusunterricht  zu  treiben;  auf  der  Oberstufe  sollen  beide  vereinigt 
werden  (und  auf  der  Unterrichtsstufe  geschieht  es  eigentlich  meistenteils 
schon,.  »Aus  dem  Nebeneinander  der  derzeitigen  beiden  Hauptzentren 
der  religiösen  Unterweisung  mufs  ein  Ineinander,  ein  Ganzes  gcschatTen 
werden.«  (S.  30.) 

Der  Vortragende  verfocht  somit  kurzgesagt  die  formalen  Stufen  im 
Religionsunterrichte  nebst  den  nächsten  Voraussetzungen  und  Folgerungen. 
Wenn  sich  nun  wirklich,  wie  Herr  R.  B.  sagt,  an  jeder  Lehranstalt  nur 
vereinzelte  Vertreter  der  Zwangsjacke  rinden,  so  mufste  der  Vortrag 
einen  gründlichen  Durchfall  erleben.  Die  Versammlung  aber  nahm  die  zu- 
sammenfassenden Thesen  beinahe  einstimmig  an.  Soweit  es  sich  dabei 
um  Ablehnung  der  Vermehrung  der  Stundenzahl  handelte,  wird  dieses  Er- 
gebnis nicht  überrascht  haben.  Dafs  auch  der  positive  Teil  des  Vor- 
trages Zustimmung  fand,  mag  der  Eine  den  gediegenen  Ausführungen  des 
Redners,  der  Andere  der  inneren  Gewalt  der  Sache  selbst  zuschreiben. 
Jedenfalls  wurde  die  konzentrierende,  lehrplangestaltende  Kraft  der  formalen 
Stufen  überzeugend  dargelegt,  und  zwar  ohne  dafs  die  kurzen  Ter- 
mini gebraucht  wurden.  Wir  sind  daher  auch  weit  davon  entfernt,  Einen 
der  Zustimmenden  gegen  seinen  Willen  zu  »unserer«  Schule  zu  zählen. 
Aber  diese  Schule,  das  ist  klar  geworden,  hat  auch  nicht  nötig,  sich  irgend 


*)  Der  Katechismusunterricht  ist  auch  nach  Braasch  »eint  gedrängte  Zusammenfassung  der 
Heilswahrhelten« . 


Diai 


—     I52  — 


jemandem  zum  Trotze  »breit  zu  machen.«  Vor  einigen  Jahren  mufsten  die 
Freunde  derselben  wie  die  Juden  beim  Baue  des  zweiten  Tempels  in  der 
einen  Hand  immer  die  Waffen  tragen,  und  da  hörte  man  es  wohl  häufig 
klirren.  Waffenschlag  klang  noch  zwischen  die  Worte  des  friedliebenden 
Mannes,  der  auf  der  siebenten  Sachs.  Lehrerversammlung  (Michaelis  1&S4 
in  Freiberg)  über  wissenschaftliche  und  Volksschulpädagogik 
sprach.  In  diesem  Jahre  hat  die  Versammlung  kritisch  -  positive  Dar- 
legungen, die  zwar  nur  ein  einzelnes  Gebiet  beleuchteten,  aber  vom  Stand- 
punkte des  Ganzen  aus,  objektiv -ruhig  und  zustimmend  hingenommen. 


2.  Etwas  vom  Lesen  und  Lesebuch  in  der  Volksschule. 

Von  Fr.  Franke  in  Leipzig. 

Unter  dieser  Oberschrilt  bringt  die  Zeitschrift  lür  den  deutschen 
Unterricht  im  5.  Jahrg.  S.  527  ff  einen  Aufsatz  von  Karl  Strobel  in  Berlin, 
in  welchem  ein  beachtenswerter  Vorschlag  für  Neugestaltung  der  Lese- 
bücher gemacht  wird  »Ruhe  und  Mufse  für  das  Lesen  zur  Unterhaltung 
und  Ergötzung  findet  man  nicht  mehr.  Ein  ganzes  Buch  versteht  unsere 
Zeit  nicht  mehr  zu  lesen  und  in  Ruhe  zu  geniefsen.  Sich  liebevoll  in  den 
Inhalt  hinein  zu  versenken,  ihn  auf  Herz  und  Gemüt  einwirken  zu  lassen, 
langsam  die  genossene  geistige  Nahrung  zu  verdauen,  daraus  Entschlüsse 
zu  festen  Grundsätzen  zu  fassen  und  Begeisterung  für  hohe,  hehre  Thaten 
zu  empfangen:  das  scheint  unserem  Geschlecht  nicht  mehr  möglich  zu 
sein.«  In  dieser  Strömung  schwimmt  auch  die  Schule  mit,  obwohl  man 
merkwürdigerweise  »sich  überall  des  Fehlerhaften,  ja  durchaus  Falschen 
dieser  Richtung  bewufst  ist  (?  f.  unten)  und  im  Wort  und  Schrift  da- 
gegen ankämpft.  Damit  recht  viel  Stoff  des  Bildenden  und  Belehrenden 
aus  allen  Unterrichtsfächern  durchgearbeitet  (?)  werden  kann,  werden  die 
Lesestücke  recht  klein  gemacht,  in  lauter  Häppchen  zerschnitten  und  in 
recht  bunter  Mannigfaltigkeit  dargeboten,  damit  die  Kinder  immer  von 
einer  Stunde  zur  anderen,  oft  gar  in  einer  und  derselben  Stunde,  aus 
einem  Stoff  in  den  andern,  aus  einer  Darstellungsweise  in  die  andere  ge- 
zerrt werden,  damit  sie  nippen  von  allem,  aber  niemals  essen;  naschen, 
aber  niemals  kauen  und  verdauen  lernen.  Es  ist  auch  hier  die  »Häppchen- 
litteratur«,  welche  vorherrscht  und  den  Stoff  liefert.« 

Um  eine  Umkehr  zu  bewirken,  schlägt  nun  Verf.  für  die  kursorische 
Lektüre  in  sechsklassigen  Schulen  folgende  Bücher  vor:  Für 'Klasse  V: 
Kinder-  und  Hausmärchen  der  Gebr.  Grimm  (einige  sind  fortzulassen); 
für  Klasse  IV:  Lokalsagen  der  Stadt,  des  Kreises  oder  der  heimatlichen 


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-    153  — 


Provinz;  für  Klasse  III:  Deutsche  Sagen  (z.  B.  der  Gebr.  Grimm  mit  Aus- 
wahl); für  Klasse  II  und  I  eine  Schulausgabe  in  einem  Bande  von  Gustav 
Freytags  Bildern  aus  der  deutschen  Vergangenheit.  Nach  dieser  Auswahl 
ist  dann  die  Schülerbibliothek  zusammenzustellen;  für  jede  Klasse  soll  eine 
kleine  Anzahl  von  Schriften  in  je  12 — 15  Exempl.  vorhanden  sein  und  vom 
Lehrer  des  Deutschen  (Klassenlehrer)  verwaltet  werden.  Unter  den  vorge- 
schlagenen Büchern  finden  wir  Heys  Fabeln,  Willmanns  Lesebuch  aus 
Homer  und  aus  Herodot;  Goldschmidts  Geschichten  aus  Livius,  deutsche 
Heldensagen,  den  Simplicissimus  u.  a. 

Für  das  statarische  Lesen  wünscht  Verf.  ein  kleines  Litteraturbüchlem, 
welches  den  Fordeiungen  der  Allg.  Bestimmungen  entsprechend  etwa  150 
poetische  und  prosaische  Stücke  enthalten  müfste.  Auch  hier  möchte  er 
für  die  einzelnen  Klassen  Hauptgruppen  bilden,  und  zwar  nach  Autoren, 
und  setzt  daher  als  Hauptstoffe  an:  Für  Klasse  VI  Heysche  Fabeln  ,  für 
Klasse  V  Fabeln  von  Luther  und  Gedichte  von  Hoffmann  von  Fallersleben; 
für  Klasse  IV  Fabeln  von  Lessing  sowie  Fabeln  und  poetische  Er- 
zählungen von  Geliert;  für  Kl.  III  Hebel  und  Uhland:  für  Kl  II  und  I 
Schiller  und  Goethe. 

Diese  Vorschläge  wären  in  der  That  geeignet,  in  die  Lesebuch-I.itte- 
ratur  einen  frischen  Zug  zu  bringen  und  oft  beklagte  Übelständc,  nament- 
lich die  Zusammenhangslosigkeit  zu  beseitigen.  Auch  zeigt  die  Anordnung 
der  Stoße  einen  glücklichen  Blick  für  das,  was  den  Altersstufen  kongenial 
ist.  Leider  aber  unterläfst  es 'Herr  Strobcl  gänzlich,  sich  mit  verwandte  n 
Bestrebungen  aus  einander  zu  setzen,  und  obwohl  er  in  der  Begründung 
unzweifelhaft  auf  thatsächliche  Übelstände  sich  stützt,  so  scheint  uns  sein 
Heilmittel  doch  zu  sehr  auf  den  deutschen  Unterricht  allein  be- 
rechnet zu  sein.  Seine  Vorschläge  sind  unserer  Meinung  nach  sozusagen 
einseitig-gut,  was  wir  durch  einige  Bemerkungen  nachzuweisen  suchen 
wollen. 

Der  Tendenz  der  Zeitschrift  gemäfs  gilt  ihm,  wie  wir  annehmen,  der 
deutsche  Unterricht  wenn  nicht  als  gegenwärtiger,  so  doch  als  zukünftiger, 
d.  h.  notwendiger  Mittelpunkt  des  gesamten  Unterrichts.  Wir  würden 
unsere  Meinung  über  diesen  wichtigen  >Punkt«  anders  fassen,  wollen  aber 
zunächst  nur  vom  Lesebuche  reden.  Dieses  soll  in  der  That  »einen  Mittel- 
punkt bilden  für  den  gesamten  Unterricht,  es  soll  helfen  die  Einheit  in 
dem  Unterrichtsgange  herstellen  und  erhalten,  welche  aufserdem  bei  den 
verschiedenartigen  Lehrfächern,  die  in  der  Schule  zu  treiben  sind,  fort- 
während gefährdet  erscheint«,  und  im  besonderen  soll  es  die  Grundlage 
bilden  für  den  Unterricht  in  der  Muttersprache.  *) 

Denkt  man  nun  sogleich  an  die  beiden  Arten  des  Lesens,  für  die 
es^Stoffe  auszuwählen  gilt',  so  ist  —  abgesehen  von  den  allgemeinen  Be- 
stimmungen—die volkstümlich-klassische  Litteratur,  die  Herr  Str.  zusammen- 
gestellt hat,  gewifs  das  Nächstliegende.    Wir  werden  auch  an  den  Stoffen 


*)  Jahrb.  des  V.  f.  w.  P.  10,  S.  14. 


—    154  ~ 

selbst  nur  wenig  auszusetzen  haben:  aber  der  Standpunkt,  von  dem 
aus  dieselben  angesehen  werden,  bedarf  einer  genaueren  Bestimmung. 
Mit  Ruhe  und  Mufse  zum  Zwecke  der  Unterhaltung  und  Ergötzung  lesen 
zu  lernen,  ist  zwar  sehr  wertvoll,  aber  für  den  Pädagogen,  der  doch  mehr 
ist  oder  sein  soll  als  ein  wohlwollender,  klug  ratender  Freund  in  Sachen 
der  Lektüre,  liegt  dieser  Wert  darin,  dafs  ein  höherer  Zweck  dadurch  ge- 
fördert wird.  Herr  Str.  kennt  dieses  Höhere  gar  wohl  und  nennt  es  beim 
richtigen  Namen.  Soll  aber  der  Knabe  wirklich  geistige  Nahrung  kauen 
und  verdauen  lernen,  soll  Herz  und  Gemüt  genährt,  soll  der  Wille  für 
hehre  Thaten  gekräftigt  werden,  dann  kann  der  deutsche  Unterricht  bez. 
der  Lehrer  des  Deutschen  allein  nicht  die  Auswahl,  Zubereitung  und 
Darbietung  der  Geistesnahrung  bestimmen,  welche  ein  so  wichtiges  Lehr- 
mittel wie  das  Lesebuch  dem  Kinde  zuführen  soll.  Mit  anderen  Worten: 
Der  Inhalt  des  Lesebuches  ist  aus  dem  Ganzen  des  Unterrichts 
heraus  zu  bestimmen,  damit  er  wieder  auf  den  ganzen  Menschen 
wirken  kann. 

Wenn  wir  aber  von  Bestrebungen  sprachen,  die  denen  des  Herrn 
Str.  verwandt  seien,  so  meinten  wir  freilich  den  Ausdruck  Bestrebungen 
strenger,  als  uns  eigentlich  lieb  ist.  Falls  es  nämlich  gilt,  das  gesicherte 
pädagogische  Wissen  der  Gegenwart  an  diesem  einen  Lehrmittel  zu  zeigen, 
mufs  man  gestehen,  dafs  nur  Anfänge  und  vorläufige  Entwürfe  vorliegen. 
Unsere  Grofseltern  vielleicht  noch  hatten  •'in  ihrem  Rochowschen  Kinder- 
freund, in  Hempels  Schulfreund  und  ähnlichen  Büchern  das,  was  wir  unseren 
Kindern  jetzt  geben  möchten :  Ein  einheitliches  ganzes  Buch,  in  das  sie 
sich  liebevoll  versenkten,  aus  dem  sie  für  Geist  und  Herz  Nahrung  sogen, 
aus  dem*)  sie  mit  eigenem  Ergötzen  ihren  Enkeln  vorlasen,  wie  Schreiber 
d.  Z.  selbst  erlebt  hat.  Und  noch  weiter  zurück  waren  Bibel,  Gesangbuch 
und  Katechismus  »die  ganzen  Bücher«,  in  die  man  sich  liebevoll  versenkte, 
die  auf  Herz  und  Gemüt  wirkten,  trotzdem  sie  nicht  blofs  in  den  Kopf, 
sondern  oft  genug  auch  auf  und  an  denselben  kamen!  Andere  Zeiten, 
andere  Lesebücher;  unsere  Zeit  wird  Häppchen  behalten,  so  lange  sie  der- 
selben würdig  ist.    Die  bessere  Einsicht  ist  längst  da,  aber  jedenfalls  nicht 

so  vorbereitet,  wie  Herr  Str.  S.  528  annimmt;  er  hat  da  wohl  von  fernem 
Zukünftigem  geredet  (2.  Sam.  7,19). 

Um  nun  aber  auf  die  »verwandten  Bestrebungen«  in  der  Gegenwart 
zu  kommen,  so  haben  wir  vornehmlich  im  Sinne  von  Rein,  Pickel  und 
Sehe  11  er  das  Lesebuch  für  das  zweite  Schuljahr;  das  Historische 
Lesebuch  für  das  dritte  und  vierte  Schuljahr;  die  Ausgewählten 
Gedichte  für  den  Geschichtsunterricht.  Bezüglich  des  Zweckes  der- 
selben vgl.  man  Rein,  Pickel  und  Scheller:  »Das  dritte  Schuljahr«,  4-  Aufl. 
S.  na,  sowie  die  Lesebuchentwürfe  der  folgenden  »Schuljahre«.  In  diesen 
Lesebüchern  und  Entwürfen  nehmen  die  geschichtlichen  Stoffe  eine 
hervorragende  Stellung  ein,  jedenfalls  aus  denselben  »nationalen  Gründen«, 


•1  Nämlich  aus  dem  früher  selb«  gebrauchten  Exemplar! 


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—    155  - 

•die  Herr  Str.  für  seine  Auswahl  geltend  macht.  Auch  die  Auswahl  im 
Einzelnen  triflt,  wenn  wir  von  dem  Unterschied  zwischen  kursorischem, 
statarischem  und  privatem  Lesen  zum  Teil  absehen,  weil  ja  alle  drei  nach 
demselben  Plane  entworfen  sind,  oft  zusammen,  wahrscheinlich  aus  denselben 
pädagogischen  Gründen,  welche  die  Verf.  anführen,  vgl.  auch  Ziller,  Grund- 
legung, 2.  Aufl.  S.  312:  »Auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  und  Litteratur 
ist  dem  "aus  grauer  Vorzeit  überlieferten,  altbewährten  und  abgeklärten 
Erbgute,  den  mit  unvergänglichem  Leben  erfüllten  Werken  in  klassischen 
Darstellungen  immer  die  erste  Stelle  im  Unterrichte  einzuräumen«.  Nun 
aber  der  Unterschied!  Reins  historische  Stoffe  sollen  gröfstentcils  inhalt- 
lich in  den  Geschichtsstunden  durchgearbeitet  werden,  und  dem  deutschen 
Unterrichte  bleibt  es  dann  überlassen,  in  seiner  Weise  an  dem  Stoffe 
weiter  zu  arbeiten  —  oder  auch  nicht.  Herr  Str.  stellt  aber  diese  Stoffe 
(z.  B.  Grimms  Märchen,  Heimatsagen,  deutsche  Sagen)  für  das  Lesen  auf, 
ohne  danach  zu  fragen,  ob  etwa  der  Geschichts-  oder  besser  der  Ge- 
sinnungsunterricht dieselben  Stoffe  brauche  und  benutze  und  bez.  wann 
dies  der  Fall  sei.  Z.  B.  bilden  zwölf  Grimmsche  Märchen  in  Reins  »Erstem 
Schuljahr«  den  Hauptgesinnungsstoff  für  das  erste  Schuljahr,  wo  sie  zu  er- 
zählen sind,  während  sie  im  Lesebuche  des  zweiten  Schuljahres  als  Lese- 
stoff wiederkehren.  Herr  Str.  verlangt  für  dieselbe  Altersstufe  gleichfalls 
Grimmsche  Märchen  ;  der  ganzen  Richtung  seiner  Arbeit  gcmäfs  soll  aber 
die  inhaltliche  Betrachtung  (soweit  im  kursorischen  Lesen  eine  solche 
überhaupt  zulässig  ist)  bei  diesem  Lesen  selbst  stattfinden,  d.  h.  unserer 
Meinung  nach  in  ungenügender  Weise.  —  So  sollte  man  auch  weiterhin 
über  das  Lesen  von  Heimatsagen  oder  deutschen  Heldensagen  gar  nichts 
ausmachen  wollen,  ohne  einen  beHtiintnten  Plan  im  Geschichtsunterricht 
und  eine  geregelte  Bezugnahme  auf  den  entsprechenden  Stoff  im  Lese- 
buche vorauszusetzen.  Uns  ist  der  wirkliche  Fall  bekannt,  dafs  in  einer 
achtklassigen  Schule  das  fünfte  Jahreslescbuch  eine  ganz  annehmbare 
Prosabearbeitung  der  Nibelungensage  bis  zu  Siegfrieds  Tode  enthält,  das 
sechste  Lesebuch  den  zweiten  Teil  der  Sage  hinzufügt,  im  siebenten 
Schuljahre  der  Geschichtsunterricht  die  Sage  anfasst  und  im  achten  Schul- 
jahre die  »Heldensagen«  in  der  »Litteratur«  daran  kommen!  Das  mag  eine 
hervorragende  Verkehrtheit  sein ,  aber  unrichtig  ist  es  doch  wohl  auch, 
wenn  der  Geschichtslehrer  die  Sage  durcharbeiten  soll,  der  Schüler  die 
Bearbeitung  im  Lesebuche  hat  und  doch  beides  der  Zeit  nach  nicht 
zusammenpafst.  Das  könnte  aber,  wenn  der  deutsche  Unterricht 
allein  den  Inhalt  des  Lesebuches  bestimmte,  nur  dadurch  vermieden 
werden,  dafs  der  Geschichtslehrer  seinen  Plan  nach  dem  Lesebuche  ent- 
würfe. Ob  Herr  Str.  diese  Lösung  will,  ist  nicht  ersichtlich  und  darum 
vorläufig  nicht  anzunehmen;  zur  Regulativzeit  wurde  es  in  Preufsen  bei 
sämtlichen  gemeinnützigen  Kenntnissen  so  gemacht.  Vgl.  übrigens  »das 
dritte  Schulj.«  S.  112. 

Derselbe  Mangel  an  Rücksicht  auf  den  Geschichtsunterricht  würde 
sich  auch  bei  Uhlands  Balladen  u.  s.  w.  (Sttobels  III.  Klasse)  zeigen,  falls 


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-    i56  - 


I 
l 


nicht  die  in  Betracht  kommende  Zeit  des  Mittelalters  in  derselben  Klasse 
vorkommt. 

Wenn  ferner  Schiller  und  Goethe  den  obersten  Stufen  zugewiesen 
werden,  so  ist  das  gewifs  richtig,  obwohl  viele  kleine  Poesien  auf  früheren 
Stufen  möglich  wären.  Aber  nach  welchen  Weisungen  sollen  wir  aus- 
wählen? Und  wird  da  nicht  hinsichtlich  des  Inhaltes  wieder  ein  Vielerlei 
entstehen,  trotzdem  immer  derselbe  Dichter  zu  uns  spricht?  Herr  Strobel 
legt  hier  leider  zu  ausschliefslich  litterarische  Ganze  vor.  Fassen  wir, 
nachdem  wir  über  die  historischen  Stofte  genügend  gesprochen  haben, 
die  Gruppen  des  statarischen  Lesens  besonders  ins  Auge.  Wir  finden 
eine  gewisse  Einheitlichkeit  des  Inhalts,  der  Denkart,  Stimmung  und  Dar- 
stellung vor  und  können  auch  die  Anordnung  (Hey,  Luther,  Lessing, 
Geliert)  vielleicht  nicht  tadeln.  Soll  man  aber  —  und  damit  gehen  wir 
wieder  über  den  litterarischen  Gesichtspunkt  hinaus  —  die  Kinder  wirklich 
mehrere  Jahre  vorwiegend  mit  der  nüchternen  Lebensklugheit  der  Fabeln 
nähren?  Das  ist  wohl  zu  viel.  Hier  sprechen  für  den  Erzieher  Gründe, 
welche  schwerer  wiegen  als  die  litterarische  Ganzheit!  Schon  eine  kleine 
Anzahl  von  echten  Lehrfabeln,  nach  einander  ausführlich  behandelt,  wird 
die  Kinder  sättigen.  Sic  merken  bald,  dafs  es  immer  wieder  auf  das 
>Hellesein«  abgesehen  ist,  und  wo  eine  tiefere  sittliche  Weisung  sich  er- 
giebt,  wie  etwa  in  der  Erzählung  vom  alten  Löwen,  da  bewirkt  die  Ein- 
kleidung nicht  selten  eine  gewisse  Kühle,  welche  der  richtigen  Wert- 
schätzung hinderlich  ist.  Ganz  anders  wirkt  freilich  die  Fabel  dann,  wenn 
sie  sich  in  den  kindlichen  Gedankenkreis  einordnen  läfst  als  neue,  etwa 
lustigere  oder  gröbere  Ausführung  eines  auch  sonst  noch  er-  und  bear- 
beiteten Gedankens,  oder  wenn  sie  gleich  in  einem  gröfseren  Zusammen- 
hange auftritt,  wie  etwa  die  Uneinigkeit  der  Glieder  bei  der  Auswanderung 
nach  dem  heiligen  Berge.  Die  inhaltliche  Behandlung  nicht  nur  der 
grofsen,  sendern  auch  der  kleinen  Stücke  mufs  oft  vom  Sachunterrichte 
besorgt  oder  wenigstens  getragen  und  gestützt  werden.  Man  beobachte 
Knaben,  welche  beim  Ring  des  Polykrates  das  erste  Wort  vom  antiken 
Schicksalsglauben  hören.  Verwerflich  sind  die  einzelnen  und  kleinen  Stücke 
nicht  an  sich,  sondern  nur  insofern  sie  im  Gedankenkreise  des  Kindes 
Häppchen  bleiben,  d.  h.  wenn  sie  sich  an  Hauptstoffe  nicht  anschliefsen 
lassen  oder  wenn  für  diesen  Anschlufs  nicht  genug  gethan  wird.  Es  könnte 
sogar  grofse  Stoffe  geben,  die  im  Kindcsgemüte  > Happen«  bleiben.*) 
Neben  den  persönlichen  Mittelpunkten  für  die  Lektüre,  die  eine  ge- 
wisse Berechtigung  haben,  entstehen  dann  auch  s  ach  Ii  che  Sammelpunkte 
aller  Art,  es  entstehen  Anhaltspunkte  für  Stimmungen,  für  deren  wieder- 
kehrende Erzeugung  dieselben  oder  auch  andere  Poesien  benutzt  werden» 
u.  s.  f.,  wie  aus  den  »Schuljahren«  des  Näheren  zu  ersehen  ist.  Um  es  nun 


*)  Bliedncr  hat  in  »einem  Schillerletcbuch  (Dresden,  1883)  kleinere  Lesest  Qcke  xu- 
sammengestellt,  die  »ich  auf  »eminarien  an  die  Lektüre  Schillerscher  Werke  anschliefsen.  Vgl. 
Päd.  Stud.  1882,  Heft  1,  besonders  S.  94  f.  und  Jahrb.  des  V.  f.  w.  P.  15,  S.  10s  &  Man  ver- 
gleiche Bliednera  Plan  (Stud.  a.  a.  O.  S.  28)  mit  dem  Strobels! 


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157 


kurz  zu  sagen  :  Man  mufs  stets  auf  psychologische  Ganzheit  der  Eindrücke 
hinarbeiten.  Die  I  i  tte  r  a  ris  che  Ganzheit  der  Stoffe  unterstützt 
das,  ist  aber  nicht  immer  vorhanden  und  für  sich  allein  selten  zureichend. 
Ebendarum  ist  die  Entwerfung  eines  besseren  Lesebuchs  nicht  Sache  des 
deutschen  Unterrichts  blofs,  sondern  der  Pädagogik.  Wir  vermuten,  dafs 
ein  so  bearbeitetes  Lesebuch  Herrn  Strobel  gefallen  würde  durch  seine 
Ausscheidung  vieler  Stoffe,  auch  durch  Aufnahme  neuer,  vor  allem  aber 
durch  sachgemäfse  Anordnung,  durch  Konzentrierung  aller  Wirkung  aut 
den  Hauptpunkt:  Bildung  des  ganzen  innern  Menschen.  Von  den  gang- 
baren Lesebüchern  würde  es  sich  vorläufig  auch  dadurch  unterscheiden, 
dafs  es  nicht  —  gehen  wüftie.  Die  noch  frei  bleibende  Zeit  ist  durchaus 
nicht  überflüssig.  Es  liegt  im  Interesse  der  Sache,  dafs  einstweilen  »die 
Litteratur  zu  diesem  Zwecke  durchsucht,  das  passende  Material  aus  der- 
selben ausgehoben,  gesichtet  und  auf  die  einzelnen  Lehrstufen  verteilt 
werde,  um  dasselbe  für  einen  künftigen  Bedürfnisfall  bereit  zu  haben.*  *.i 
Darum  freuen  wir  uns  der  Zusammenstellung  des  Herrn  Str.  und  seines 
Feldzuges  gegen  die  >Häppchen«  und  wollen  an  dieser  Stelle  die  Kunde 
davon  weiter  tragen. 


3.  Die  für  die  Schule  bearbeiteten  Pilzwerke. 

Von  C.  Kahle- Ilmenau. 

Während  man  noch  vor  wenigen  Jahren  die  herrlichen  Fiizgcbilde 
im  Walde  draufsen  achtlos  überging,  das  Urteil  über  ihren  Wert  oder  Un- 
wert den  Pilzkundigen  oder  den  Gourmands  überliefs,  und  in  den  Schulen 
sowohl  durch  den  Mund  des  Lehrers,  als  auch  durch  das  Lesebuch  belehrt 
wurde,  sie  ruhig  stehen  zu  lassen,**)  da  zu  häufig  Vergiftungen  durch  sie 
herbeigeführt  würden,  ist  man  jetzt  ganz  anderer  Ansicht  geworden.  Nach- 
dem nämlich  die  Naturwissenschaft  durch  chemische  Analysen  klar  dar- 
getban  hat,  dafs  die  Pilze  Eiweifs,  Zucker,  Stickstoff,  Gummi,  Apfelsäure, 
phosphorsaure  Salze  und  aufserdem  noch  das  ihnen  eigentümliche  Fungin, 
welches  am  besten  mit  dem  Kleber  des  Roggens  verglichen  werden  kann 
enthalten,  ist  man  auf  die  Pilze  als  Volksnahrungsmittel  aufmerksam  ge- 
worden, und  hohe  und  höchste  Behörden  bemühen  sich,  der  Pilzkenntnis 
Eingang  in  den  Schulen  zu  verschaffen.  So  sind  denn  auf  Anordnung  der 
Behörden  sowohl,  wie  aus  eigenem  Schaffenstriebe  eine  Reihe  sogenannter 
»Pilzbücher  für  Schule  und  Haus«  entstanden,  die  den  Zweck  haben  sollen. 


♦)  »Das  dritte  Schulj.«  S.  112. 
*♦)  »Nimm  dir  vor,  sie  alle  in  Ruhe  tu  lassen«.    Vaterl.  Lesebuch  v.  Frarckt 


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über  den  Wert  der  Pilze  als  Haushaltungsmittel ,  über  ihr  Sammeln  und 
Verwenden  als  Nahrungsmittel  den  Schülern  Aufschi uls  zu  geben. 

Wenn  ich  nun  in  nachfolgenden  Zeilen  versuchen  will  eine  kritische 
Übersicht  der  für  die  Schule  bearbeiteten  Pilzwerke  zu  geben,  so  tritt 
wohl  zunächst  die  Beantwortung  der  Frage  an  mich  heran:  Wie  mufs  ein 
gutes  Schulbuch  über  Pilze  eingerichtet  sein,  um  seinem  Zwecke  zu 
entsprechen  ? 

Ich  beantworte  diese  Frage  dahin:  i.  Es  darf  nicht  zu  viel  enthalten. 
Es  wäre  unnütz  dem  Kinde  ein  Buch  in  die  Hände  geben  zu  wollen ,  was 
in  möglichst  vollständiger  Aufzählung  alle  Pilze  unserer  deutschen  Wälder 
beschreibt,  giftige,  wie  ungiftige,  geniefsbare  ,%wie  ungeniefsbare.  Diese 
Vielheit  würde  nur  verwirren,  nur  Unklarheit,  statt  Klarheit  in  den  Köpfen 
der  Kinder  erzeugen. 

2.  Es  darf  aber  auch  nicht  zu  wenig  enthalten.  Ganz  verfehlt  wäre  es, 
nur  die  efsbaren  Pilze  oder  auch  nur  die  am  häufigst  vorkommenden  eis- 
baren Pilze  in  Beschreibungen  vorzuführen ,  es  mufs  hierbei  eine  Erwei- 
terung durch  Vergleichung  ähnlicher  Pilze  stattfinden.  Gerade  die  genaue 
Vorführung  von  den  unterscheidenden  Merkmalen  sonst'  sich  ziemlich 
gleichender  Pilze  ist  für  die  Schule  von  hohem  Werte,  da  nur  durch  sie 
eine  Verwechselung  schädlicher  und  nützlicher  vermieden  werden  kann. 

3.  Die  Einzelgebilde  müssen  in  klarer  Ausführung,  nicht  stichwörter- 
artig beschrieben  werden;  jeder  einzelnen  Beschreibung  mufs  eine,  mög- 
lichst durch  alle  Abschnitte  durchgeführte  Disposition  zu  Grunde  liegen. 

4.  Eine  einleitende  mehr  wissenschaftliche  Einteilung  darf  wohl  auch 
bei  dem  Schulbuche  erwünscht  sein.  Wenn  auch  längere  Ausführungen 
über  Sporenkeimung,  Sporenlager,  Anhefte  weise  der  Sporen  etc  fehlen 
sollen,  so  mufs  doch  eine  klar  ordnende  Übersicht  der  beschriebenen 
Pilze  nach  den  allgemein  geltenden  Regeln  beigefügt  sein,  damit  der 
Schüler  befähigt  werde,  schon  durch  die  äufseren  Merkmale  schliefsen  zu 
können,  zu  welcher  Art  von  Fruchtträgern  fein  zu  bestimmender  Pilz  zu 
rechnen  ist. 

5.  Es  mufs  eine  übersichtliche,  klare  Anweisung  über  das  Sammeln, 
Trocknen,  Einmachen,  Verwenden  im  Haushalte  etc.  geben.  Dabei  wird 
das  Buch  vorzuziehen  sein,  welches  sich  nicht  in  allgemeinen  Allgemein- 
heiten ergeht,  sondern  womöglich  Einzelrezepte  bietet,  oder  doch  wenigstens 
angiebt,  welche  Pilze  zu  dieser  und  jener  Speise  Verwendung  verdienen. 

6.  Es  soll  von  guten  Abbildungen  oder  noch  besser  von  guten  Mo- 
dellen begleitet  sein.  Die  Anschauungsmittel  müssen  naturwahr  sein  so- 
wohl der  Grösse  als  der  Farbengebung  nach ,  sie  müssen  den  Pilz  nicht 
als  Einzelgebilde,  sondern  in  charakteristischen  Gruppen  in  allen  seinen 
Werde-  und  Vergehensstufen ,  auch  in  der  Zerstörung  durch  seine  Feinde 
betrachten.  Gute  Modelle  sind  guten  Zeichnungen  stets  vorzuziehen, 
da  auch  die  besten  Zeichnungen  den  Pilz  nicht  so  getreu  wiedergeben 
können,  als  ein  Modell,  was  von  einem  wirklichen  Pilze  abgegossen  ist. 


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Pilzbücher  wachsen  jetzt  wie  Pilze  aus  der  Erde  heraus ,  und  zumal 
an  solchen,  die  treue  Ratgeber  für  Schule  und  Haus  sein  wollen,  ist  kein 
Mangel.  Bei  vielen  der  mir  vorliegenden  Werke  und  Wcrkchen  macht 
sich  aber  ein  Überhasten  breit,  das  zu  einer  Oberflächlichkeit  geführt  hat, 
die  kaum  zu  glauben  ist.  Auf  16 ,  20  Seiten,  von  denen  noch  die  Hälfte 
durch  Vorrede,  Art  des  Sammeins  aufgenutzt  wird,  mit  fragwürdigen  Bil- 
dern in  der  Form  der  Neu-Ruppiner  Bilderbogen  und  oft  noch  schlechter 
als  diese  versehen,  soll  da  dem  Schüler  und  der  Hausfrau  die  Erkenntnis 
der  Pilze  geboten  werden,  soll  in  ihnen  Vertrauen  und  Liebe  zu  der  un- 
gewohnten, bis  jetzt  mit  argwöhnischen  Blicken  betrachteten  Nahrung  er- 
weckt werden.  Wiewohl  der  Hauptzweck  meiner  Arbeit  darin  zu  suchen 
ist ,  auf  die  wertvollen  Bücher ,  die  wirklich  brauchbar  sind ,  aufmerksam 
zu  machen,  will  ich  doch  wenigstens  durch  Vorführung  von  zwei  minder- 
wertigen, von  denen  noch  dazu  eins  im  Auftrag  einer  Regierung  verfafst 
ist,  meiner  eben  gemachten  Behauptung  beweisen. 

Von  den  besseren  Pilzbüchern  erwähne  ich: 

1.  Lenz,  nützliche,  schädliche  und  verdächtige  Pilze.  1888,  9.  Aufl. 
224  Seiten  (Thienemann-Gotha.)    6  M. 

2.  Dr.  Roll,  J.,  unsere  efsbaren  Pilze  in  natürlicher  Gröfse  dargestellt 
und  beschrieben  mit  Angabe  ihrer  Zubereitung.  14  Tafeln  in  Farben- 
druck.   3.  Aufl.    (Tübingen  :  Hr.  Laupp.)    2  M. 

2a.  Ferdinand  Werneburg,  Eisenach.  Die  am  häufigsten  vorkommenden 
efsbaren  Pilze.  Im  Auftrage  des  Grofsh.  S.  Staatsministeriums  zu 
Weimar  zum  Zwecke  der  Verbreitung  in  den  Schulen  bearbeitet. 
(Weimar:  Herrn.  Böhlau  1890.)   Preis  0,60  M. 

3.  Praktikus,  der  kleine  Pilzsammler.  1888.  52  Seiten.  (Stuber- Würz- 
burg.)   0,80  M. 

4.  Wünsche,  die  Pilze,  1877,  322  Seiten.    (Teubner-Leipzig.)   4,40  M. 

5.  Arnoldi,  Sammlung  plastisch  nachgebildeter  Schwämme.  1872/87. 
1./21.  Lieferung  Nr.  1  —  290.    (Thienemann-Gotha.)   ca.  180  M. 

6.  Dürfeid,  V.,  Nachfolger,  Pilzkabinet.  117  Nummern,  4  Nummern 
bilden  eine  Lieferung.  Beschreibung  des  Pilzes  auf  das  zugehörige 
Standbrett  aufgedruckt.  (Dürfeids  Nachfolger,  Oschatz,  Sachsen.) 
Preis  der  Lieferung  6  M. 

Nicht  zu  empfehlen  sind: 

7.  Richter,  Max,  die  vorzüglichsten  efsbaren  Pilze  Deutschlands.  1891. 
26  Seiten  und  8  Tafeln.    (Beyer  &  Söhne,  Langensalza.)    1,50  M 

8.  Schlitzberger,  S.,  Unsere  häufigeren  efsbaren  Pilze  in  22  naturge- 
treuen und  fein  kolorierten  Abbildungen  nebst  kurzer  Beschreibung 
und  Anleitung  zum  Einsammeln  und  zur  Zubereitung.  Im  Auftrage 
der  Königl.  Regierung  zu  Kassel.  6.  Aufl.  20  Seiten.  (Cassel  1890, 
Th.  Fischer.)  i,6o  M. 

Das  Lenzsche  Werk  ist  erst  vor  kurzer  Zeit  neu  aufgelegt  und  von 
Prof.  Wünsehe  herausgegeben  worden.  Mit  grofser  Pietät  hat  der  Neu- 
bearbeiter die  Form  dieses  ersten   aller  volkstümlichen  Pilzbücher  zu 


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—    i6o  — 


wahren  gewufst,  während  seine  geschickt  bessernde  Hand  überall  zu  er- 
kennen ist.  Als  Schulbuch  ist  es  zu  breit  angelegt,  auch  entsprechen  die 
farbigen  Abbildungen  nicht  mehr  den  Anforderungen  der  Jetztzeit.  Gar 
manche  Zeichnung  ist  hinsichtlich  der  Ausführung  für  verfehlt  zu  erachten, 
so  Agaricus  melleus.  Marasmius  oreades,  Polyporus  confluens  u.  a.  m.  Die 
volkstümliche  Beschreibung  aber  könnte  sich  jeder  Verfasser  von  Pilz- 
büchern für  Schulzwecke  zu  eigen  machen.  Es  wird  immer  für  die  Hand 
des  Lehrers  eines  der  brauchbarsten  Bücher  bleiben.  Hoffentlich  kommt 
auch  die  Verlagshandlung  dem  so  oft  geäufserten  Wunsche  nach  und  giebt 
zu  dem  trefflichen  Inhalt  bei  der  nächsten  Auflage  auch  treffliche  Bilder. 
Auf  der  Höhe  der  technischen  Wiedergabe  von  Pilzen  in  Farbendruck, 
steht  das  Röllsche  Werk.  Der  Verfasser  ist,  so  weit  meine  Kenntnis 
wenigstens  reicht,  der  erste  nächst  dem  Schlesier  Weberbauer,  der  nicht 
wie  z.  B.  Lenz,  Einzelbilder  bietet,  sondern  charakteristische  Gruppen. 
Freilich  sind  auch  hier  einige  Zeichnungen  für  verfehlt  zu  erachten,  doch 
kann  eine  Verbesserung  in  der  nächsten  Auflage  hierin  leicht  Wandel 
schaffen.  Die  Beschreibungen,  welche,  jedem  Bilde  beigeheftet  sind,  tragen 
eine  einheitliche  Disposition  nach  folgenden  Gesichtspunkten:  Gröfse  und 
Gestalt,  Hut,  Blättchen,  Stiel,  Fleisch,  Standort.  Zeit.  Die  Merkmale  sind 
in  kurzen  Stichwörtern  angegeben,  fast  überall  zutreftend  und  genau. 
Sollte  das  Werk  als  Schulbuch  seiner  schönen  Abbildungen  wegen  zu 
wählen  sein,  so  könnte  ich  doch  meine  Bedingungen  nicht  fallen  lassen. 
Die  Beschreibungen  müssen  für  die  Schüler  ausgeführt  sein.  Die  Ver- 
wirklichung meiner  2.  Forderung  hat  der  Herr  Verfasser  angebahnt,  so 
beim  knolligen  Blätterschwamm,  beim  giftigen  Reitzker.  Doch  sind  diese 
Vergleichungen  noch  nicht  genügend.  Die  Ratschläge  über  Sammeln  und 
Zubereiten  der  Pilze  erhöhen  die  praktische  Bedeutung  dieses  sehr  zu 
empfehlenden  Werkes. 

Das  Werkchen  von  F.  Werneburg,  Sekundarlehrcr  in  Eisenach,  ist 
im  Auftrage  des  Grofsh.  S.  Staats-Ministeriums  zu  Weimar  herausgeben 
und  an  die  Lehrer  des  Grofsherzogtums  verteilt  worden.  Es  steht  ganz 
auf  dem  Boden  des  Röllschcn  Werkes,  gehören  doch  die  dem  Röllschen 
Werke  beigefügten  Bilder  auch  zu  ihm.  So  nahe  es  nun  auch  nach  Ein- 
teilung, Stoffanordnung  etc.  dem  genannten  Pilzbuche  kommt,  so  finden 
wir  in  seinem  Inhalte  doch  ein  gutes,  ja  vortreffliches  Stück  eigener  Arbeit. 
Keine  Beschreibung  ist  schablonenhaft,  am  alt  Hergebrachten  hängend, 
jede  beweist,  dafs  eigenes  Studium,  klares  Anschauen  und  Vergleichen  in 
ihr  geboten  wird.  Vollständig  gelungen  ist  dem  Verfasser  die  vorhebende 
Vergleichung  der  ähnlichen  giftigen  mit  den  efsbaren  Pilzen.  Die  jeder 
Gruppe  vorangeschickte  einleitende  Übersicht  ist  klar  und  durchsichtig  ge- 
arbeitet und  ohne  nennenswerte  Verstöfse.  Auch  die  Regeln  über  Ein- 
sammeln, Trocknen  etc.  sind  gut  geordnet,  wenn  sie  gleich,  wie  auch  Ver- 
fasser fühlt  (Seite  22),  reichhaltiger  sein  könnten,  zumal  ja  das  Buch  für 
die  Schulen  sein  soll.  Es  müfste  wohl  besser  heifsen:  Für  die  Hand  des 
Lehrers;  denn  für  ein  Schulbuch  ist  es  doch  teilweise  zu  skizzenhaft  be- 


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handelt.  (Vergleiche  2  und  5  meiner  aufgestellten  Forderungen.)  Das 
kleine  Pilzbuch  von  dem  Pseud.  A.  Praktikus  (No.  3  des  Verz.)  steht  so 
ziemlich  meinen  Forderungen  für  ein  Schulpilzbuch  zustimmend  gegenüber, 
wenngleich  in  ihm  mancher  Abschnitt  recht  kurz  weggekommen  ist,  z.  B. 
die  ganze  Abhandlung  über  den  praktischen  Wert  der  Pilzkunde.  Die 
schwarzen  eingeschalteten  Holzschnitte  sind  charakteristisch  gearbeitet, 
aber  doch,  weil  farblos,  für  Schüler  mit  wenig  gebildetem  Auge  wertlos. 
Die  Verlagshandlung  machte  sich  um  die  Pilzkunde  recht  verdient,  wenn 
sie  eine  neue  Auflage  herausgeben  und  die  gerügten  Mängel  in  ihr  be- 
seitigen würde.  Wenn  auch  kein  Schalerbuch,  doch  ein  vortreffliches 
Handbuch  für  Lehrer,  ein  mir  besonders  auf  meinen  Pilzausflügen  liebge- 
wordener Freund  ist  das  von  Prof.  Dr.  Wünsche  herausgegebene  gröfsere 
Werk:  Die  Pilze.  (No.  4  des  Verz.)  Ich  kann  mein  in  der  Päd.  Warte 
(No.  6  1891)  gefälltes  Urteil  nur  hier  aufs  neue  bestätigen:  Was  Erfurths 
Flora  von  Weimar  den  Pflanzenfreunden,  das  wird  dieses  Werk  allen 
Pilzfreunden  sein,  vor  allen  Dingen  denen,  die  nicht,  weil  es  die  Mode,  just 
auch  einmal  in  Pilzen  machen  wollen,  sondern  die  diese  in  sich  abge- 
schlossene Wunderwelt  in  der  grolsen  wunderbaren  Welt  so  recht  ge- 
nau verstehen  und  kennen  lernen  wollen. 

Die  unter  5  u.  6  des  Litt.  Verz.  näher  gekennzeichneten  Werke  sind 
keine  eigentlichen  Pilzbücher,  sondern  geben  nur  Anschauungsmittel  für 
den  Unterricht  in  fafslicher  Darstellung  mit  beigefügter  skizzenhafter  Be- 
schreibung und  kurzer  Angabe,  ob  der  dargestellte  Pilz  efsbar  oder 
giftig  ist. 

Das  Arnoldische  Werk  ist  allgemein  bekannt,  aber  wohl  nur  darum 
so  weit  verbreitet,  weil  man  noch  keine  besseren  Pilzmodelle  kannte.  Der 
gröfste  Fehler  an  den  Modellen  ist  der,  dafs  sie  einzeln  geboten  werden. 
Nur  bei  einigen,  z.  B.  beim  Steinpilz,  hat  der  Herausgeber  zwei  Exemplare 
des  einen  Pilzes  geboten.  Viele,  wie  Reizker,  Eierschwamm,  Ringpilz, 
Gichtlorchel  u.  a.  m.,  dürften  eine  Neumodcllierung  vertragen,  die  Farben- 
wiedergabe ist  oft  verfehlt.  Wenn  der  Herausgeber  nicht  seinen  Stolz  in 
der  Menge  der  dargestellten  Pilze  (gegen  300),  sondern  in  getreuerer 
Wiedergabe  der  wichtigsten  in  charakteristischen  Gruppen  suchen  wollte, 
so  wäre  den  Schulen  mehr  als  bisher  mit  seinem  sonst  viel  Liebe  zur 
Sache  zeigenden  Unternehmen  gedient. 

Victor  Dürfeid  Nachfolger,  Oschatz  in  Sachsen,  ist  meiner  Forderung 
bezüglich  der  Gruppierung  näher  gekommen.  Vor  mir  stehen  Steinpilz, 
Ringpilz,  Trüffel,  Semmelpilz,  Filzröhrling  und  Kuhpilz.  Jeder  Pilz  ist  in 
2wei  Exemplaren  auf  einem  hölzernen  Gestell  gegeben.  Das  Stativ  ist  mit 
Moos  beklebt.  Besser  würde  es  sein,  auf  dem  Stativ  den  Standort  eines 
jeden  Pilzes  zu  markieren,  durch  Nadeln,  Gras,  steinigen,  lehmigen  Boden  etc., 
was  ohne  grofse  Schwierigkeiten  geschehen  kann.  Die  Modelle  sind  von 
natürlichen  Pilzen  abgegossen,  die  Farbenwiedergabe  ist  meist  gut,  nur  die 
Lamellen  sind  etwas  flüchtig  behandelt.  Alles  in  allem  ein  für  Schulen 
brauchbares  Werk,  besonders  wenn  eine  passende  Auswahl  vorgenommen 

Pädagogische  Studien.    III.  1 1 


wird.  Die  Trüffel  ist  in  dem  gegebenen  Durchschnitt  falsch  gemalt,  die 
marmorierenden  Adern  sind  nicht  fadenförmig,  sondern  keilig  zugespitzt  zu 
zeichnen. 

Hier  wäre  wohl  auch  das  von  mir  verfafste,  mit  plastischen  Pilzdar- 
stellungen begleitete  Pilzbuch ,  welches  bei  A.  Schenk  (Maukes-Verlag> 
Jena  erschienen  ist,  zu  erwähnen.  Inwieweit  es  mir  gelungen  ist,  den  von 
mir  aufgestellten  Anforderungen  an  ein  gutes  Pikbuch  gerecht  zu  werden, 
dies  zu  beurteilen  überlasse  ich  gern  andern.  Erwähnen  will  ich  nur,  dafs 
ein  hohes  Grofsh.  S.  Staatsministerium  die  Modelle  warm  empfohlen  und 
die  Stadt  Eisenach  dieselben  öffentlich  für  das  Publikum  ausgestellt  hat. 

Von  einer  recht  oberflächlichen  Arbeit  geben  die  beiden  unter  No  7 
und  8  aufgeführten  Pilzbücher  Zeugnis!  S  Schlitzberger  hat  auf  20  Seiten 
die  ganze  Pilzkunde  abgethan  in  einem  Texte,  der  zahlreiche  Härten  und 
Unbestimmtheiten«  aufweist.  Was  sind,  geehrter  Herr  Verfasser,  blutent- 
mischende Surrogater  Haben  Sie  wirklich  selbst  die  zu  beschreibenden 
Pilze  ausgewählt?  Wächst  wirklich  Collybia  esculenta  so,  wie  Sie  dieselbe 
beschrieben  haben,  in  Ihrer  Gegend?  Sind  Sie  nicht  zu  bescheiden,  wenn 
Sic  behaupten,  dafs  Ihre  lithographischen  Darstellungen  den  künstlerischen 
und  pädagogischen  Forderungen  im  höchsten  Mafse  entsprächen?  Kennen 
Sie  Weberbauers  Pilzbilder  und  haben  Sie  vielleicht  dieselben  als  Mafsstab 
bei  Ihrem  Urteile  angelegt?  Sind  Ihre  Ziegenlippe  und  Ihr  Schmerling 
wirklich  Pilze  aus  dieser  Welt?  — -  Ich  kann  nur  warnen  vor  diesem  Pilz- 
werke und  mich  wundern,  wie  die  Königl.  Regierung  in  Kassel  dieses 
Schriftchen  6  Auflagen  hat  erleben  lassen.  Einen  Vorteil  hat  das  Werkchen 
übrigens.    Es  ist  billig,  wenn  auch  schiecht. 

In  demselben  Fahrwasser  steuert  Herr  Max  Richter  mit  seinem  Pilz- 
werke, das  die  berühmte  Schulbuchverlagsanstalt  von  H.  Beyer  und  Söhne 
mit  grofsen  Kosten  herausgegeben  hat.  Beschreibungen  wie  Abbildungen 
sind  äufserst  dürftig,  die  Ratschläge  zum  Sammeln  und  Trocknen  hinterm 
Schreibtische  erfunden,  aber  nicht  der  Praxis  entnommen,  kaum  eine 
Zeichnung  genügend,  viele,  wie  Steinpilz,  Trüffel,  Stoppelpilz.  Semmelpilz, 
ganz  verfehlt.  Es  ist  wirklich  schade  um  die  grofsen  Geldopfer,  die  die 
Verlagshandlung  sowohl  für  die  Bilder,  als  auch  für  den  geschmackvollen 
Umschlag  aufgewendet  hat. 

Jedermann,  der  diese  Werkchen  näher  und  aufmerksamer  prüft,  wird 
mein  zwar  hartes,  doch  gerechtes  Urteil  bestätigt  finden.  Und  alle,  denen 
es  ernst  damit  ist,  die  Förderung  der  Pilzkenntnis  zu  einem  praktischen  Er- 
gebnis zu  führen,  werden  mit  mir  wohl  darin  übereinstimmen,  dafs  bei 
einem  Versuche,  wie  bei  dem,  die  Pilze  trotz  des  natürlichen  Widerwillens 
gegen  sie  nach  und  nach  zu  einem  Volksnahrungsmittel  zu  machen,  alle 
die  Werke,  die  in  ihrer  oberflächlichen  Darstellung  eher  verwirren  als  klären 
mehr  schaden  als  nützen,  nicht  hart  genug  be-  und  verurteilt  werden 
können. 


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3.  „Verein  von  Herbartfreunden"  im  Eisenacher  Oberland. 

Am  26.  November  11*91  wurde  in  Ö  c  hs  e  n  von  Lehrern  des  IV.  Verw. 
Bez.  des  Grofsh.  S.  W.  ein  »Verein  von  Herbartfreunden«  gegründet.  Zum 
Vorsitzenden  wurde  Fuchs-Geisa  ernannt.  Mitgliederanzahl:  9.  Die  Sitzungen 
finden  in  ^tägigen  Zwischenräumen  statt.  Versammlungsort  ist  Ochsen. 
Die  Mitglieder  des  Vereins  sind  zumeist  ehemalige  Schüler  des  Herrn 
Professor  Dr.  W.  Rein  und  sandten  aus  Verehrung  ihrem  Lehrer  herzlichste 
Begrüfsung.  Herr  Schulrat  Kögler,  Schulinspektor  des  IV.  Verw.  Bez., 
hiefs  die  Bestrebungen  des  Vereins  willkommen  und  sicherte  ihm  ein  leb- 
haftes Interesse  zu.  Der  Verein  trat  als  Körperschaft  dem  »Verein  f.  w. 
Päd.«  bei.  Im  Lesezirkel  befinden  sich :  Rein,  Studien  —  Just,  Praxis  — 
»Neüe  Bahnen«  —  Dörpfeld,  Ev.  Schulbl.  —  Mann,  Blätter  f.  erz. 
Unt.  —  Die  Zeitschriften  sind  gröfstenteils  von  Herrn  Prof.  Dr.  Rein  dem 
Verein  freundlichst  geliehen.  —  Seit  Februar  1892  besitzt  der  Verein  eine 
Bibliothek.  Sie  enthält  bis  jetzt  60  Werke.*)  Der  Zweck  des  Vereins 
ist  die  Förderung  des  Verständnisses  für  wissenschaftliche,  speciell  her- 
bartsche  Pädagogik.  Um  die  sich  an  die  Vorträge  anschliefsenden  Be- 
sprechungen möglichst  vielseitig  zu  gestalten,  ist  die  Einrichtung  getroffen, 
dafs  der  Vortragende  acht  Tage  vor  der  Sitzung  jedem  Mitgliede  die 
Thesen  übermittelt.  Ferner  erfolgt  an  jedem  Vereinstage  eine  Um  trage, 
wobei  die  Mitglieder  sich  gegenseitig  auf  litterarische  etc.  Neuigkeiten 
aufmerksam  machen.  —  Die  Versammlungen  waren  —  trotz  Wetter  und 
Weg  —  stets  gut  besucht. 

Am  10.  Dezember  1891  sprach  Röder -Urnshausen  über:  »Meine 
physiologisch-psychologische  Beobachtungstabelle  für  die  Incipicntenklassu 
im  Jahre  1891».  —  Im  Anschlufs  an  die  im  Hartmannschen  Sinne  an- 
gestellten Erhebungen  Röders  wies  Fuchs -Geisa  auf  seine  Beobachtungs- 
tabelle hin,  welche  die  aufsteigende  Körper-,  Geistes-  und  Charakter- 
bildung des  Kindes  während  der  ganzen  Schulzeit  fixiert.  F.  wird  später 
'  ausführlich  darüber  referieren.  —  Am  23.  Dezember  91.  und  14.  Januar  1892 
brachte  Rausch -Ochsen  seine  gründliche  Arbeit  »Wie  wird  die  Hcrbart- 
Zillersche  Richtung  den  psychologischen  Anforderungen  des  I.  Schul- 
jahres gerecht1«  zum  Vortrag.  Anschliefsend  hieran  referierte  Fuchs- 
Geisa  am  28.  Januar  und  11.  Februar  92  über  »Die  Märchen«.  Die  teilweis 
neuen  Gesichtspunkte  und  die  unbedingte  Rückführung  auf  Herbart  gaben 
Anlafs  zu  längeren  Besprechungen.  Zugleich  sprach  Fuchs  über  »Die 
Neue  Deutsche  Schule«  des  Dr.  Göring.  Ferner  am  25.  Februar  über 
«Robinson  und  das  II.  Schuljahr«.  In  diesem  Referat  fordert  F.  streng 
durchgeführte  Konzentration  und  bringt  ferner  in  Vorschlag,  die  biblischen 
Geschichten,  deren  Einstellung  das  Schulgesetz  verlangt,  als  Erzählungen 
Robinsons  auftreten  zu  lassen.  Eingehend  besprach  F.  das  Rechnen  im 
II.  Schuljahre  und  zwar  unter  Berücksichtigung  des  von  ihm  verfassten 
*  Robinsonrechenbuchs«.  —  Am  7.  März  sprach  Goldschmidt- Geisa  über: 

♦)  Den  gutigen  Spendern  staltet  der  Verein  auch  an  dieser  Stelle  herzlichsten  Dank  ab! 
Freunde  det  Sache  werden  um  Umerstiluung  der  Bibliothek  f  t  uudlichsigebeun. 

11* 


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—    164  — 


»Psychologische  Vertiefung  einzelner  bibl.  Geschichten«.  Ref.  wies  nach, 
dafs  in  den  bibl.  Gesch.  der  psychologische  Fortgang  sowohl,  als  auch  die 
ästhetische  Darstellung  der  Welt  ganz  und  gar  gewahrt  sei.  In  seinem 
Einzelbild  »Zwei  Müttcr<  (Hagar  u.  Sarah)  gab  G.  ein  praktisches  Betspiel. 
Auch  brachte  derselbe  mehrere  »Warum-  und  Weilfragen«  aus  der  Natur- 
geschichte zur  Besprechung.  —  Themata  für  die  nächsten  Konferenzen 
sind:  Lchrprobe  in  »Sachrechnen:  Rausch-Öchsen«.  —  »Über  Schulhygieine« 
—  unter  Berücksichtigung  der  schulischen  Einrichtungen  in  Geisa  — :  Herr 
Dr.  med.  J.  Bottmann.  —  »Deutsch  im  I.  Schuljahre« :  Röder-Urnshausen.— 
»Geschichte  im  III.  Schuljahre« :  Tröger- Wiesenthal.  —  »Gesellschaftskundc 
in  der  Volksschule«  und  »Meine  naturkundlichen  Beobachtungshefte»: 
Fuchs-Geisa  etc 

Die  Freude,  mit  der  jedes  einzelne  Mitglied  die  Sache  des  Vereins 
fördert,  ist  der  beste  Beweis  für  die  Wichtigkeit  ähnlicher  Zusammenkünfte. 
Möchte  dem  jungen  Verein  eine  schöne  Zukunft  beschieden  sein. 

Allen  Freunden  der  Herbartschen  Pädagogik  sendet  der  Verein 
herzlichen  Grufs  und  Handschlag' 

Geisa,  März  1892.  F. 


C.  Beurteilungen. 


1. 

Jul  Gutersohn  Zur  Frage  d  1  R  form 
des  nt jusiu i\<  hiiclicn  Unh  ■  u:hls. 
\  ortrag,  gehalten  l'lingi-teii  jS->7 
an  der  Jahi  esve.  Sammlung  d  Ver- 
eins aladnnix  n  .duldet,  ;  1  l.icr 
an  <adtsc.it  n  diitc'sctiul  n,  Karls- 
ruhe hei  .  ,  tun  1SS8 

Jul  Gutersohn  /.*.r  Meth-i  V  iks 
fia mdspraehlichen  Untern-  ,  t  V^-r- 
trag,  gehalu  n  am  l \'  .  .<  [  \.\o- 
logcn-Tage  zu  Stuttgart,  l'i  1  ,-ten 
1890.     Karlsruhe  bei  Ikau  ;   1  SS8. 

Ich  liabe  immer  das  Gcluh?  als  ob 
nebe  n  Münch  vi  n<!rn  in  clerki  li>rni>e- 
Wcguug,  sei  es  für  oder  gegen.  i.if- 
gi  tu  lenen  l'ersönlu  hkciten  .  uim 
Jemand  eine  höln  rr  tVerlM  nat/ung 
veniierte  ais  Jul  ( jut<  i  l  •  ihn.  i>as 
ist  i.icht  unerklärlich  L:  .  ininu  in 
Fragen  der  K<fo.iu  eine  m  lir  selb- 
stan  nge  Stellung  ein  ;  in  \v<  sc ,. fliehen 
Punktin  I  Imt  er  sie  n  u  i.  h  darf 
ich  wohl  sagen   -  ab,  festhakend  am 


Alten.  Das  geschieht  nicht  aus  bor- 
nierter Voreingenommenheit  für  die- 
ses oder  gegen  das  Neue,  sondern 
auf  Grund  sorgfältiger  Überlegungen. 
Denn  «ein  Blick  erscheint  nach  beiden 
Seiten  hin  ungetrübt  und  läfst  ihn 
die  Mängel  des  Alten  so  gut  wie  die 
Besserungen  des  Neuen  sehen.  Was 
er  dagegen  an  Gründen  gegen  manche 
Gedanken  der  Reform  vorbringt,  hat 
Hand  und  Fufs  und  mufs  teils  unbe- 
dingt zugestanden  werden,  und  kann 
teils  nur  durch  weitere  praktische 
Entwicklung  der  noch  zurückge- 
wiesenen Ideen  überwunden  werden. 
Die  vorliegenden  beiden  Vorträge, 
zu  verschiedenen  Zeiten  und  bei  ver- 
schiedenen Gelegenheiten  gehalten, 
sind  im  wesentlichen  gleichen  Inhalts, 
und  begründen  Gutersohns  Stellung 
zur  Reform  und  in  methodischen 
Fragen  des  Sprachunterrichts,  wie  er 
sie  auf  Grund  der  Psychologie  und 
Pädagogik  gewonnen  hat  Folgende 
vier  Punkte  kennzeichnen  diese  Stel- 


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-    i65  - 


lung:  G.  ist  gegen  systematische 
Behandlung  der  Lautphysiologie  in 
der  Schule,  gegen  Einführung  einer 
Lautschrift  in  den  Unterricht,  gegen 
zusammenhängende  Lesestncke  im 
Anfangsunterricht .  gegen  die  Ab- 
schaffung der  Übersetzungen  in 
die  fremden  Sprachen.  In  den 
beiden  ersten  Fragen  hat  er  sicher 
schon  jetzt  die  Mehrzahl  der  Lehrer 
für  sich;  in  den  beiden  andern, 
glaube  ich,  wird  er  selber  über  kurz 
oder  lang  mit  der  Mehrheit  der  Re- 
former gehen.  Er  will  also  den  An- 
fangsunterricht nicht  an  zusammen- 
hängende Lesestücke  anknüpfen,  son- 
dern an  Einzelsätze,  weil  das  Er- 
lernen einer  Fremdsprache  ein 
Apperzeptionsprozefs  sei,  der  wesent- 
lich nur  nach  einem  synthetischen 
Verfahren  zur  Durchführung  gelangen 
könne.  D.  h.  dadurch,  dals  vom  Ein- 
fachen zum  Zusammengesetzten,  vom 
Laut  zum  Worte,  dann  zum  Satze 
und  zuletzt  zum  zusammenhängenden 
Lesestücke  vorwärtsgegangen  wird. 
Sollte  sich  ein  verständiger  Mensch 
finden,  der  dieser  Forderung  nicht 
zustimmen  müfste?  Möge  man  seine 
Methode  nennen  wie  man  will,  dieser 
Weg  mufs  durchlaufen  werden,  will 
man  erspriefslichc  F.rgebnisse  zei- 
tigen; mag  ich  ein  Lesestück,  Satz 
oder  Wort  zu  Grunde  legen,  diese 
Bahn  muss  durchschritten  werden 
Wenn  von  den  Reformern  so  nach- 
drücklich das  Lesestück  gefordert 
wird,  so  geschieht  das  sicher  nicht 
—  wenigstens  ist  das  meine  Auf- 
fassung —  um  diesen  von  der  Psycho- 
logie als  notwendig  vorgeschriebenen 
Gang  zu  verlassen,  sondern  um  ein 
ungeheuer  wichtiges  Moment  in  den 
Unterricht  hineinzubringen ,  nämlich 
das  Interesse.  Dieses  kann  nur 
ein  zusammenhängendes  Lesestück, 
nie  ein  einzelner,  für  sich  beste- 
hender Satz  dem  Lernenden  ent- 
gegenbringen und  wecken.  Das  Inter- 
esse für  irgend  einen  wertvollen 
Inhalt  —  sei  es  auch  in  noch  so  be- 
scheidenen Grenzen  —  soll  dem 
Schüler  helfen,  ihn  führen  und  treiben, 
die  fremde  Form  sich  zu  eigen  zu 
machen.  Es  will  mir  auch  gar  nicht 
in  den  Sinn,  dafs  das  Lesestück  an 
sich  dem  Lehrgange,  den  G.  für  not- 


wendig hält,  im  Wege  sein  sollte. 
Das  Lesestück  besteht  ja  doch  aus 
einzelnen  Sätzen,  die,  soweit  sie  zur 
Betreibung,  Erarbeitung  und  Erler- 
nung der  Grammatik  überhaupt  Ver- 
wendung finden  sollen,  auch  einzeln 
durchgearbeitet  werden  müssen  und 
können,  ganz  nach  dem  Grundsatze 
vom  Leichteren  zum  Schwereren, 
vom  Einfachen  zum  Zusammenge- 
setzten. Ich  weifs  überhaupt  nicht, 
ob  die  Begriffe  analytisch  und  syn- 
thetisch in  der  Methodik  nicht  die 
Schuld  tragen  an  mancherlei  Mifs- 
verständnissen  und  selbst  Irrtümern. 
Das  scheint  mir  daher  zu  kommen, 
dafs  diese  beiden  Begriffe  im  Lern- 
prozefs  so  eng  mit  einander  ver- 
knüpft sind,  in  so  reicher  und  un- 
aufhörlicher Wechselbeziehung  ste- 
hen, sich  gegenseitig  so  durch- 
dringen, dafs  es  nicht  thunlich  er- 
scheint, sie  scharf  zu  trennen. 
>Lernen«  sagt  G.  richtig,  ist  nichts 
weiter,  als  ein  Perzeptions-  und  ein 
Apperzeptionsprozefs  d.  h.  einerseits 
Aufnahme  neuer  Vorstellungen  durch 
sinnliche  Wahrnehmung  und  An- 
schauung ,  andererseits  Aneignung 
neuer  Vorstellungen  durch  deren  An- 
schlufs  an  bereits  bekannte,  ältere 
Begriffe.  Der  Zögling  bringt  zum 
Unterricht  einen  bestimmten  Ge- 
dankenkreis mit,  und  Aufgabe  der 
Lchrthätigkeit  ist  es  nun ,  erstens 
diese  bereits  vorhandenen  Gedanken 
in  ihre  Bestandteile  zu  zerlegen,  dem 
Unterrichtszwecke  gemäfs  zu  ordnen 
und  zu  berichtigen :  zweitens  aber  gilt 
es  dann,  diesen  verhältnismäfsig  be- 
schränkten Kreis  über  seine  Grenzen 
hinausdurch Neues  und  Unbekanntes 
zu  erweitern.  Bei  der  ersteren  dieser 
Thätigkeiten,  der  Zerlegung  und 
Sichtung  des  bereits  Bekannten,  mufs 
der  Unterricht  zergliedernd  und  er- 
läuternd vom  Zusammengesetzten 
zum  Einfachen  schreiten :  er  ist  in 
diesem  Falle  analytisch.  Wenn  es 
sich  aber  darum  handelt,  den  Ge- 
dankenkreis zu  erweitern,  neue  und 
bisher  fremde  Elemente  zu  den  be- 
reits vorhandenen  hinzuzufügen,  so 
ist  der  Unterricht  synthetisch."  - 
Deutlicher  kann  man  die  Nachbar- 
schaft der  beiden  Begriffe  nicht  vor 
die  Augen  stellen,  ihren  inneren  Zu- 


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sammenhang  nicht  klar  legen,  ja  ihre 
gegenseitige  Unentbehrlichkeit  nicht 
nachweisen.  Die  analytische  Zer- 
legung und  Sichtung  des  einschlägigen 
Begriffsmaterialsbei  Beginn  derunter- 
richtlichen  Übermittlung  irgend  eines 
Lerngegenstandes  ist  bei  der  Er- 
weiterung des  Gedankenkreises  not- 
wendig und  jedesmal  vorauszu- 
schicken. Der  Arbeitsprozefs,  der 
nicht  allein  dieser  Erweiterung  den 
Weg  bahnt  und  ihr  dauernden  Er- 
folg verspricht,  sondern  oft  genug 
sie  unmittelbar  bewirkt  und  herbei- 
führt. So  z.  B.,  wenns  man  den  An- 
fangsunterricht im  Französischen  an- 
schliefst an  dasjenige  aus  dieser 
Sprache,  was  der  jugendliche  Geist 
so  nebenher  aufgenommen  hat  und 
mehr  oder  minder  unbewufst  in  sich 
beherbergt,  so  wird  man  ohne  Zweifel 
durch  Zerlegung,  Sichtung  und  Er- 
läuterung, also  auf  analysischem 
Wege,  aus  diesen  toten  Vorstellungs- 
masfen  klare  Begriffe  und  Kennt- 
nisse maehen. 

Doch  genug  von  diesem  Punkte. 
Ich  habe  mich  etwas  länger  und  aus- 
führlicher darüber  ausgelassen,  weil 
ich  für  notwendig  und  nützlich  er- 
achtete, zu  versuchen  zur  Klärung 
eines  höchst  wichtigen  Begriffs  bei- 
zutragen. —  Bevor  ich  die  Be- 
sprechungder  beiden  Vorträge  Guter- 
sohns  schliefse,  berühre  ich  noch 
kurz  seine  Stellung  zu  den  Ober- 
setzungen in  die  Fremdsprachen. 
Er  will  sie  beibehalten;  doch  will 
mir  scheinen,  als  ob  er  nicht  immer 
dabei  beharren  wird  ;  er  erklärt  ja 
jetzt  schon  gelegentliche  freie  Ar- 
beiten für  zulässig  Jedenfalls  ist  es 
erfeulich,  dafs  ein  Mann  wie  Guter- 
sohn  sich  über  die  Reformbewegung 
wie  folgt  ausläfst:  »Es  ist  unzweifel- 
haft, dafs  durch  die  Reformbewegung 
auf  dem  Gebiete  des  neusprachlichen 
Unterrichts  eine  Menge  nützlicher 
und  richtiger  Anregungen  in  das 
Schulleben  hineingetragen  worden 
sind.  Da  aber  die  Ausgestaltung 
des  Lehrverfahrens  im  einzelnen 
noch  vielfach  der  Klärang  und  Er- 
probung unter  verschiedenen  Schul- 
verhältnissen bedarf,  so  ist  es  wün- 
schenswert, dass  dem  Lehrer  die 
nötige  Freiheit  bezüglich  Wahl  der 


Methode  und  der  Lehrmittel  mög- 
lichst uneingeschränkt  gewährt 
bleibe.« 

II. 

Gottfried  Ebeners  französisches  Lese- 
buch für  Schulen  und  Erziehungs- 
anstalten. In  drei  Stufen.  Neu 
bearbeifet  von  Dr.  Adolf  Meyer. 
III.  Stufe.  Neunte,  der  neuen  Bear- 
beitung zweite  Auflage.  Hannover 
b.  Carl  Meyer  iS«*o. 

Die  neusprachliche  Reformbewe- 
gung ist  einer  Gattung  von  Schul- 
büchern, den  Lesebüchern,  günstig 
gewesen,  über  deren  Nutzen  und 
Berechtigung  vor  einem  bis  zwei 
Jahrzehnten  die  Meinungen  sehr  aus- 
einandergingen und  sich  ganz  zu  Un- 
gunsten zu  wenden  schienen.  Die 
Reform  verlangt  von  Anfang  an  zu- 
sammenhängende Lesestücke,  und 
damit  das  Lesebuch,  das  nach  Mei- 
nung sehr  vieler  (und  ich  schliefse 
mich  denen  an)  den  Schüler  durch 
die  ganze  Schule  hindurch  begleiten 
soll.  Freilich  waren  die  vorhandenen 
derartigen  Werke  den  Forderungen 
der  Reform  wenig  oder  gar  nicht 
entsprechend,  so  dafs  eine  Reihe 
neuer  Erscheinungen  ans  Licht  trat, 
um  den  Bedürfnissen  zu  genügen. 
Doch  gaben  die  älteren  Lesebücher 
den  Wettbewerb  keineswegs  auf; 
sie  suchten  sich  zcitgemäfs  zu  re- 
formieren und  neuen  Forderungen 
anzupassen.  Die  III.  Stufe  des  alten, 
wohlrcnnomierten  Ebnerschen  Lese- 
buchs in  seiner  neuesten  Auflage  ist 
ein  Beispiel  dafür.  Die  nicht  un- 
wesentlichen Änderungen,  die  der 
jetzige  Herausgeber,  Adolf  Meyer, 
hier  hat  eintreten  lassen,  zeigen  das 
Betreben,  zwei  Gesichtspunkten,  die 
in  der  Reformbewegung  hervorge- 
treten sind,  Rechnung  zu  tragen. 
Diese  Gesichtspunkte  betreffen  das 
Ziel  des  fremdsprachlichen  Unter- 
richts. Es  soll  eine  möglichst  weit- 
gehende Beherrschung  der  Sprache 
und  zwar  in  ihrer  gegen wär  tigen 
Form  erreicht  werden,  um  dann 
vermittelst  dieser  Herrrchaft  einen 
Einblick,  eine  Einsicht  in  die  Ver- 
hältnisse und  Zustände  des  fremden 
Landes,  in  die  geistige  Bedeutung 


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-    i67  - 


und  Eigenart  des  fremden  Volkes  zu 
gewinnen.  Dementsprechend  soll  der 
Unterricht  sich  vor  allem  mit  der 
heutigen  Sprache  befassen  und  die 
Lektüre  solche  Schriftwerke  um- 
fassen, deren  Inhalt  die  Kenntnis 
des  bctreftcnden  Landes  und  Volkes 
zu  vermitteln  und  zu  fördern  ge- 
eignet sind.  Und  nach  dieser  Seite 
hin  thut  nun  die  vorliegende  III. 
Stufe  des  französischen  Lesebuches 
von  Meyer-Ebener  einen  entschie- 
denen Schritt,  indem  einerseits  eine 
Anzahl  von  Lesestücken  neuerer 
und  neuester  Schriltsteller  ältere  ver- 
drängt haben,  sodann  die  Abschnitte 
aus  der  Geschichte,  Naturkunde, 
Länder-  und  Völkerkunde  vorzugs- 
weise, z.  T.  ausschliefslich  Frankreich 
und  die  Franzosen  behandeln.  Ganz 
neu  hinzugekommen  ist  ein  recht 
umfangreiches  Kapitel,  das  eine  Über- 
sicht über  die  französische  Litera- 
turgeschichte bietet.  Über  die  Be- 
rechtigung einer  solchen  Übersicht 
läfst  sich  wohl  streiten.  Ich  we- 
nigstens zweifle,  dafs  ein  dauernder 
Gewinn  für  die  Schüler  daraus  ge- 
zogeu  werden  kann;  der  ergiebt 
sich  uns  aus  der  Lektüre  der  Werke 
selbst.  Bougeault  sagt  ganz  richtig: 
»Pour  bien  connaitre  l  esprit litte* raire 
d  une  nation,  il  ne  faut  pas  seulement 
laudier  ä  une  certaine  epoque  et 
dans  un  petit  nombre  d  auteurs  dont 
la  perfection  est  cite*ecomme  modele; 
il  faut  encore  remonter  aux  origines 
de  la  langue,  en  discerner  les 
Clements  primitifs  et  la  suivre  ä 
travers  I  histoire ,  dansson  ddveloppe- 
ment  et  ses  progres.«  Das  ist  eben- 
so richtig  wie  für  die  Schule  unaus- 
führbar und  auch  ganz  nutzlos.  Hier 
heifst  es,  sich  weise  beschränken 
auf  das  Allcrwichtigste  und  Beste. 
Weitangelegte  Übersichten  verführen 
uns  zu  leicht  zu  flachem  Phrasen- 
werk. Von  dieser  nach  meiner 
Meinung  wenig  notwendigen  Er- 
weiterung des  Buches  abgesehen, 
kann  ich  es  nur  warm  empfehlen. 

III. 

Chr.  Ufer,  Französisches  Lesebuch 
zur  Geschichte  der  deutschen 
Befreiungskriege.  Altenburg  bei 
Pierer.  1887. 


Chr.  Ufer,  französisches  Lesebuch 
(Beglcitstoffe  zur  Geschichte  der 
Entdeckungsreisen.  Altenburg  bei 
Pierer.  188« 

Nichts  wird  den  Erlolg  des  ge- 
samten Unterrichts  mehr  und  nach- 
haltiger zu  fördern  und  zu  gewähr- 
leisten imstande  sein,  als  die  Kon- 
zentration im  Sinne  der  Herbart- 
Zillerschen  Pädagogik  Dafs  eine 
solche  Konzentration  in  einer  nach 
allen  Seiten  hin  befriedigenden  Weise 
nicht  leicht  herbeizuführen  ist,  be- 
weisen mir  die  vorliegenden  beiden 
Bücher  vom  Ufer  ;  und  das  will 
immerhin  etwas  sagen,  da  doch 
Ufer  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik, 
speziell  als  Vorkämpfer  für  Herbart- 
Zillersche  Gedanken  eines  weiten, 
wohlverdienten  Rufes  sich  erfreut. 
Inhaltlich  läfst  sich  nun  freilich  gegen 
die  Uferschen  Bücher  nichts  Wesent- 
liches einwenden ;  im  Gegenteil,  in 
dieser  Beziehung  zeigen  sie  eine 
gute  Sachkenntnis  und  viel  Takt 
des  Verfassers.  Was  anderes  ist 
aber  mit  der  formalen  Seite  der  aus- 
gewählten Stücke.  In  dieser  Be- 
ziehung zeigen  sie  einen  sehr  ver- 
schiedenen Grad  der  Schwierigkeit. 
Neben  Erckmann-Chatrian,  dessen 
Stil  von  mittlerer  Schwierigkeit  ist, 
stehen  Leute  wie  Thiers,  der  für  die 
oberste  Stufe  höherer  Lehranstalten 
passende  Arbeit  bietet,  Sdgur,  Cha- 
teaubriand u.  a.  Dann  Dichter  wie 
Beranger,  Delavigne,  Victor  Hugo. 
Das  alles  soll  von  ein  und  denselben 
Schülern  gelesen  werden,  und  zwar 
von  Schülern,  die  ungelähr  auf  der 
Mittelstufe  ihrer  französischen  Kennt- 
nis stehen.  Für  die  Realgymnasien 
z.  B.  käme  die  Obertertia  in  Be- 
tracht; ja,  l'Histoire  d'un  Consent 
de  1813  (auch  Waterloo  und  l'Invasion 
desselben  Verfassers)  lese  ich  mit 
meinen  Obertertianern  — aber  Thiers 
oder  gar  Beranger  und  Victor  Hugo 
wage  ich  ihnen  nicht  vorzusetzen. 
Ein  weiteres  Bedenken  scheint  mir 
aus  dem  Anfang  der  Bücher  zu 
entspringen.  Eins  —  und  an  mehr 
ist  nicht  zu  denken  —  raüfste  doch 
in  einem  Schuljahre  gelesen  werden ; 
ich  habe  aber  starke  Zweifel,  dals 
es  möglich  sein  wird,  es  ganz  zu  be- 
zwingen, es  sei  denn,  dafs  mindestens 


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—    168  — 


3  Stunden  wöchentlich  zur  Verfügung 
stünden.  Wenn  aber  nicht  einmal 
eine  der  beiden  Sammlungen,  die 
doch  wohl  nach  dem  Wunsch  des 
Verfassers  am  liebsten  beide  abge- 
than  werden  sollten,  bewältigt  werden 
kann  —  so  fürchte  ich,  dafs  man 
beim  Gebrauch  dieser  Lesebücher 
nicht  so  ganz  aul  seine  Rechnung 
kommt.  Immerhin  sind  die  beiden 
Arbeiten  Ufers  als  ein  beachtens- 
werter Versuch  zu  begrüfsen,  das 
Französische  der  Konzentrationsidee 
dienstbar  zu  machen,  der  sicher 
weitere  und  crlolgreiche  Bemühungen 
im  Gefolge  haben  wird. 

IV 

Charles  Toussaint.  Über  den  Anfang 
des  französischen  Unten  ichts  '  Auf- 
satz im  IU.  Hefte  von  Prof  Reins: 
Aus  dem  pädagogischen  Universi- 
tät^ Seminar  zu  Jena.)  Langen- 
salza bei  Herrn.  Beyer  &  Söhne 
1891. 

Den  hier  angezeigten  kleinen  Auf- 
satz habe  ich  mit  ausserordentlichem 
Interesse  gelesen  und  kann  ihn  allen 
Freunden  eines  wahrhaft  naturge- 
mäfsen ,  d.  h.  auf  psychologischen 
Grundsätzen  beruhenden  Unterrichts- 
ganges in  den  Fremdsprachen, 
dringend  empfehlen.  Er  bringt  einen 
durchgeführten  Versuch,  und  zwar 
einen  erfolgreichen  Versuch,  den 
französischen  Anfangsunterricht  mit 
analytischem  Französisch,  das  den 
Schülern  schon  —  in  Gestalt  von 
Fremdwörtern  —  bekannt  ist  oder 
durch  Leitung  des  Lehrers  leicht 
von  ihnen  selbst  gefunden  werden 
kann.  Für  mich  ist  dieser  Versuch 
deshalb  besonders  interessant,  weil 
ich  selber  einen  solchen  auf  gleicner 
Grundlage  und  auf  ähnlichem  Wege 
mit  Quartanern  gemacht ,  den  ich 
freilich  nicht  zu  Ende  führen  konnte, 
weil  er  mich  hinderte,  das  Pensum 
meines  Lehrbuchs,  an  das  ich  ge- 
bunden war ,  zu  absolvieren ;  der 
mich  aber  die  feste  Überzeugung 
gewinnen  liefs,  dafs  es  ein  guter 
Weg  sei,  um  eine  feste  Grundlage 
zu  gewinnen  für  sichere  Kenntnisse 
im  Französischen.  Hier  finde  ich 
nun  die  vollste  Bestätigung  meiner 


Erfahrung  in  Toussaints  Arbeit,  die 
dadurch  besonders  an  Wert  gewinnt, 
dafs  sie  aus  der  Feder  eines  Fran- 
zosen stammt. 

Dafs  selbstverständlich  der  Vor- 
rat an  analytischem  Französisch  nur 
zu  einem  Vorkursus  ausreicht,  braucht 
nicht  verschwiegen  zu  werden,  und 
zwar  deshalb  nicht,  weil  soviel  ge- 
rade genügend  ist,  um  diejenigen 
Schwierigkeiten  hinwegzuräumen,  die 
den  ersten  Antang  des  fremdsprach- 
lichen Unterrichts  so  hindernd  um- 
geben, und  um  die  Grundmauern 
zu  errichten,  auf  denen  sich  eir. 
festes  Gebäude  verhältnismäfsig  leicht 
wird  ausführen  lassen. 

Eise  nach.  Ende  März  1891. 

Ludwig  Bactgen. 

V. 

Joh  Vockelt,  Vorträge  zur  Einfuhrung 
in  die  Philosophie  der  Gegenwart. 
München  1S92,  C.  H.  Becksche 
Verlagsbuchhandlung.  8°.  230  S. 
4.50  M. 

Bei  dem  engen  Zusammenhang, 
der  zwischen  Philosophie  und  Päda- 
gogik besteht,  kann  es  nicht  be- 
fremdlich erscheinen ,  wenn  die 
Leser  der  >Päd.  Studicn<  auf  eine 
philosophische  Schrift  aufmerksam 
gemacht  werden,  die  sich  die  Auf- 
gabe stellt,  die  Bedeutung  der  Philo- 
sophiein ihrem  Verhältnis  zu  Wissen- 
schaft und  Leben  der  Gegenwart 
einem  weiteren  Kreis  darzulegen. 

Scheinbar  schwebt  die  Philosophie 
oftmals  in  einsamen  Höhen  über  die 
strebenden  und  kämpfenden  Men- 
schen dahin.  In  Wirklichkeit  zieht 
sie  einerseits  aus  dem  Boden  des 
Kulturlebens  mannigfache  Nahrung, 
anderseits  greift  sie  in  die  verschie- 
denen Gebiete  menschlichen  Strebens 
umgestaltend  ein. 

Diese  letztere  Wirksamkeit  ist  es, 
die  den  Erzieher  vor  allem  fesseln 
dürfte.  Daher  empfehlen  wir  in 
erster  Linie  die  Lektüre  des  6.  Vor- 
trags: Philosophie  und  Kultur. 
S.  167  ff.,  unseren  Lesern.  In  dem- 
selben legt  der  Verf  die  Einflüsse 
des  Kulturlebens  auf  die  Philosophie 
in  Kürze  dar;  ausführlicher  sodann 
den    reformatorischen    Beruf  der 


Digjti^d  Üy^Soo 


i  6q 


Philosophie.  Er  tritt  für  denselben 
ein,  weil  er  meint,  nur  übergrofse 
akademische  Vornehmheit  oder  eine 
verkehrte  Ansicht  von  der  Natur 
des  kulturgeschichtlichen  Fort- 
schrittes könnten  es  verkennen 
lassen,  dafs  der  Philosophie  eine 
wichtige  reformatorisch  -  kulturge- 
schichtliche Aufgabe  obliege.  Auch 
Heibart  spricht  ihr  diese  zu,  aller- 
dings unter  gewissen  Einschrän- 
kungen. In  seinem  Lehrbuch  zur 
Einleitung  in  die  Philosophie  (Har- 
tenstein I,  S.  58,  Anmerkung  2.) 
meint  er,  der  einzelne  Denker  solle 
es  niemals  unternehmen,  unmittel- 
bar aul  das  Zeitalter  einzuwirken. 
Das  sei  eine  Anmafsung,  so  lange 
als  noch  die  verschiedenen  Systeme 
der  Philosophie  einander  wider- 
sprechen. Nur  vereinigte  Kräfte, 
gleich  denen  der  Mathematiker  und 
Physiker ,  könnten  eine  so  grofse 
Wirkung  hervorbringen,  die  heilsam 
und  von  selbst  allmählich  und  durch 
viele  Mittelglieder  auf  das  Ganze  der 
menschlichen  Angelegenheiten  über- 
geht. 

Letzteres  triftt  nun  ohne  Zweifel 
da  zu:  wo  eine  Anzahl  von  Erziehern 
von  den  gleichen  philosophischen 
Grundanschauungen  getragen  eines 
Geistes  sich  bemühen,  das  heran- 
wachsende Geschlecht  in  dem  Sinne 
ihres  Ideals  zu  beeinflussen  und  so 
das  geistige  Leben  der  Nation  bis 
zu  einem  gewissen  Grad  zu  be- 
stimmen. 

Die  Philosophie  Herbarts  hat  nun 
dieses  Schicksal  gehabt.  In  den 
Kreisen  der  Fachphilosophen  im 
allg.  als  abgethan  betrachtet  ist  sie 
in  der  That  mehr  als  irgend  ein 
anderes  philosophisches  System  in 
dem  Leben  der  Nation  wirksam, 
wenn  man  die  erzieherischen  Mächte, 
die  in  Bewegung  gesetzt  werden, 
überhaupt  als  wertvolle  Faktoren 
in  der  Entwicklung  der  Völker  be- 
trachten will.  Beweis  dafür  :  Die 
bleibenden ,  wertvolleren  Arbeiten 
auf  dem  Gebiete  des  Erziehungs- 
wesens bewegen  sich  fast  durchweg 
in  der  Richtung  herbartischen  Den- 
kens; eine  Reihe  pädagogischer 
Fachzeitschriften  stellen  sich  die 
Aufgabe,  das  herbartische  Erziehungs- 


system und  damit  auch  seine  philo- 
sophische Gedankenarbeit  zu  ver- 
breiten; und  die  gleiche  Absicht 
verfolgen  eine  grolse  Anzahl  von 
Vereinen.  Ich  nenne  nur  den  Ver- 
ein für  wissenschaftl.  Pädagogik  mit 
750  Mitgliedern,  den  Verein  für 
herbartische  Pädagogik  in  Rheinland 
und  Westfalen  mit  ',50  Mitgliedern 
u.  s.  w.  Immer  mehr  breitet  sich 
das  Netz  dieser  Vereine  über  das 
gesamte  Reich  aus  und  immer  mehr 
dringen  herbartische  Ideen,  obwohl 
von  den  Universitäten  vielfach  aus- 
geschlossen, in  die  Kreise  des  Vol- 
kes ein. 

Diese  Thatsachen  scheinen  von 
dem  Verf.  der  vorliegenden  Schritt 
im  letzten  Vortrag  nicht  gebührend 
gewürdigt  zu  werden ,  ganz  abge- 
sehen davon,  dafs  das  herbartische 
System  durch  die  Pädagogik  auch 
die  aufserdeutsche  Kultur  zu  beein- 
flussen beginnt  und  Fäden  zwischen 
den  gebildeten  Nationen  spinnt, 
die  dazu  dienen  werden,  das  Band 
zwischen  den  Kulturvölkern  immer 
fester  zu  'knüpfen. 

Warum  aber  äufsert  gerade  das 
herbartische  System  diese  Wirkung1 
Einlach  deshalb,  weil  der  Begründer 
es  nicht  verschmähte,  der  Ethik  als 
normativer  Wissenschaft  eine  Kunst- 
lehre anzufügen,  die  Pädagogik,  die 
uns  zeigt ,  wie  das  Ideal ,  das  die 
praktische  Philosophie  gezeichnet 
hat  für  den  einzelnen  wie  für  die 
Gesamtheit,  in  das  Leben  einzu- 
führen sei.  Dafs  sie  hierbei  keinen 
sicheren  Schritt  thun  kann,  ohne 
sich  der  psychischen  Bedingungen 
bewufst  zu  werden,  unter  denen  die 
Einzel-  wie  die  Volksseele  zu  funk- 
tionieren pflegt,  treibt  Herbart  zu 
psychologischen  Untersuchungen  hin, 
die  unbestritten  den  Anfang  einer 
neuen  Entwicklung  der  Psychologie 
bedeuten 

In  der  Ethik  und  in  der  Psycho- 
logie liegt  der  Schwerpunkt  seines 
Systems  Die  Konsequenzen  sind  in 
der  Pädagogik  gezogen.  Heil  dem 
Volke,  wo  sie  Einflufs  gewinnen,  da 
sie  ein  freies  und  frisches  Leben, 
eine  gesunde  und  naturgemäfse 
Erziehung  dem  heranwachsenden 
Geschlecht  verbürgen! 


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- 


—    i;o  — 


Hier  liegt  also  der  mächtige 
Einflufs  eines  philosophisch  -  päda- 
gogischen Systems  auf  die  geistige 
Entwicklung  often  zu  Tage.  Wenn 
daher  der  Verf.  S  175  sagt:  »Auf 
die  Leibniz-Wolrische,  die  Kantischc 
und  Hegeische  Philosophie  ist  dann 
bis  jetzt  keine  weitere  Philosophie 
gefolgt,  die  auch  nur  in  annähernd 
gleicher  Weise  das  Kulturleben  zu 
durchdringen  vermocht  hätte« ,  so 
müssen  wir  dem  entgegen  halten, 
dafs  allerdings  auf  dem  Gebiete  des 
Erziehungswesens  die  Herbartische 
eine  Macht  gewonnen  hat.  die  aller- 
dings mehr  im  Stillen  wirkt,  nicht 
sehr  augenfällig,  aber  darum  nicht 
minder  wirksam. 

Wenn  es  wahr  ist,  dafs  sich  in 
unserem  Jahrhundert  die  Kultur- 
bewegungen weit  mehr  als  ehedem 
unter  der  Mitwirkung  planmäfsig  vor- 
bereitender Arbeit  vollziehen,  wenn 
die  zu  erstrebenden  Fortschritte 
jetzt  zielbewufst  ins  Auge  gefafst 
werden,  so  wird  man  ohne  Zweifel 
der  Erziehung  eine  gröfsere  Bedeu- 
tung zumessen  müssen,  da  ja  sie 
gerade  es  ist,  die  in  durchaus  ziel- 
bewufster  Weise  die  jugendlichen 
Geister  in  eine  Bahn  zu  bringen 
versucht ,  die  bestimmend  für  das 
ganze  Leben  sein  soll  In  solchem 
Verstände  beteiligt  sich  die  Philo- 
sophie als  Erziehungswissenschaft  in 
hohem  Mafse  an  der  Kulturarbeit.  Sie 
will  als  solche  nichts  geringeres  als 
unter  Benutzungder  vorhandenen  Ge- 
müts- und  Willenskräfte  dem  heran- 
wachsenden Geschlecht  ein  Gepräge 
geben,  das  das  sittliche  Leben  der 
Nation  zu  bestimmen  vermag. 

Dabei  kommt  die  doppelte  Auf- 
gabe der  Philosophie,  die  fortschritt- 
liche und  die  konservative  voll  und 
ganz  zur  Geltung,  das  Weitertreiben 
zu  neuen  Zielen  und  das  Hinweisen 
auf  das  Tüchtige  und  Grofse  der 
gegenwärtigen  Kultur,  wie  sie  der 
Verf.  in  vortrefflicher,  anziehender 
Weise  am  Schlüsse  seines  Buches 
schildert,  wobei  die  vortretenden 
Schäden  nicht  verschwiegen  werden 
sollen.  Wie  gern  hören  wir  von 
ihm,  dafs  auf  vielen  Gebieten  des 
öffentlichen  Lebens  das  Uniformieren 
viel  zu  weit  getrieben  wird,  nament- 


lich auf  dem  des  Unterrichts,  dafs 
eine  Hauptsache  für  jede  kraft- 
volle und  reichhaltige  Kultur  darin 
besteht,  dafs  das  Eigenartige  der 
Individualität  nicht  von  allen  Seiten 
her  eingeengt  und  beschnitten,  son- 
dern zu  freier  Entfaltung  gebracht 
werde.  Und  wie  gern  stimmen  wir 
dem  Verf.  bei,  wenn  er  weiterhin 
die  Überschätzung  von  Wissen  und 
Wissenschaft  bekämpft  und  auf  das. 
was  uns  not  thut,  hinweist:  auf  die 
Bildung  des  Charakters.  (S.  195. 
Ist  das  letzte  Kapitel  für  Erzieher 
besonders  anregend,  so  soll  damit 
doch  nicht  gesagt  sein,  dafs  nicht 
auch  die  vorausgegangenen  in  ihrer 
durchsichtigen  und  mafsvollen  Dar- 
stellung das  Interesse  fesseln  wür- 
den. In  denselben  behandelt  der 
Verf.  1.  Die  Philosophie  des  19 
Jahrhunderts.  2.  Aufgabe  der  Philo- 
sophie als  Wissenschaft,  Erkenntnis- 
theorie. 3.  Metaphysik,  Naturphilo- 
sophie ,  Philosophie  des  Geistes. 
4.  Philosophie  und  Leben.  5.  Philo- 
sophie und  Religion.  In  den  An- 
merkungen endlich  S.  199 — 230  ist 
ein  reiches  Material  zeitgenössischer 
Litteratur  mit  treffenden,  kritischen 
Bemerkungen  niedergelegt. 

Jena.  W.  Rein. 

VI. 

Professor  Dr.  Th  Ziegler,  Die  Fragen 
der  Schulreform.  Zwölf  Vor- 
lesungen. Stuttgart,  Göschensche 
Verlagshandlung. 

So  warm  wir  die  Schrift  des  Prof. 
Ziegler»  Die  soziale  Frage  eine  sitt- 
liche Frage«  im  i.  Heft  d.  Z.  em- 
pfehlen konnten,  so  scharf  müssen 
wir  das  vorliegende  Buch  desselben 
Verf.  verurteilen. 

Nicht  als  ob  wir  persönlich  be- 
fangen wären  durch  die  absprechen- 
den Urteile  des  Verf.  hinsichtlich 
der  herbartischen  Pädagogik  und 
besonders  der  Jenenser  Übungs- 
schule. *)  Denn  inbezug  auf  das 
erste  meint  es  der  Verf.  nicht  so 
schlimm,  da  er  in  seinen  »Vor- 
lesungen«   Willraann    und  Schiller 

•)  Ver»l.  »An.  dem  Päda«.  Univenitlts-Se mi- 
liar tu  Jena  Heft  3,  Seite  XIII  f.« 


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rühmend  empfiehlt ,  die  doch  der 
vom  Verf.  verpönten  Richtung  ohne 
Zweifel  sehr  nahe  stehen,  und  inbezug 
auf  das  zweite  fühlt  sich  die  ver- 
urteilte Schule  nicht  getroffen,  da 
sie  den  Verf.  in  diesem  Betracht 
nicht  als  sachverständigen  Beurteiler 
ansehen  kann ,  und  zwar  aus  Grün- 
den, die  in  dieser  Zeitschr.  1889, 
S.  248  bereits  angegeben  wurden. 
Dieselben  wiesen  darauf  hin,  dafs 
Herr  Prof.  Ziegler  in  der  genannten 
Schule  einmal  2—3  Stunden  hos- 
pitiert habe.  Selbst  wer  die  reichste 
Erfahrung  auf  dem  Gebiete  der 
Lehrerbildung  besäfse  ,  würde  sich 
scheuen,  auf  Grund  so  ungenügender 
Beobachtung  allgemeine  Urteile  zu 
fällen  —  und  können  wir  sagen  zu 
wiederholen.  Herr  Professor  Zicgler 
hatte  dabei  nicht  einmal  Kenntnis 
von  den  äufseren  Einrichtungen  des 
Seminars.  Er  verwechselt  in  seiner 
Beurteilung  das  Praktikum  mit  dem 
Theoretikum.  Den  Schwerpunkt  der 
gesamten  Seminar-Arbeit,  das  Kriti- 
kum,  übersieht  er  vollständig.  Auch 
verwechselt  er  den  Begriff  der 
Musterschule  mit  dem  der  Übungs- 
schule  u.  s.  w.  Er  ist  also  auf  diesem 
Gebiet  ein  durchaus  inkompetenter 
Richter. 

Dieser  Eindruck  wird  durch  die 
vorliegende  Schrift  noch  verstärkt. 
Was  Herr  Prol.  Ziegler  z.  B.  über 
Lehrerbildung  redet,  ist  in  höchstem 
Grad  dilettantisch.  Wir  nehmen 
zwar  gern  das  Zugeständnis  an,  dafs 
ein  prinzipielles  Hindernis  seitens 
der  Universität  der  praktisch-päda- 
gogischen Ausbildung  der  Lehrer 
nicht  im  Wege  steht,  können  aber 
seinen  positiven  Vorschlag  nur  be- 
lächeln. In  den  beiden  letzten 
Semestern  des  Universitätsstudiums 
sollen  praktische  Übungen  vorge- 
nommen werden.  »Aber  keine 
Übungschule,  denn  wer  wird  seine 
Kinder  in  einen  solchen  Vcrsuchs- 
taubenschlag  (?)  schicken  mögen?« 
(In  Jena  geschieht  dies  allerdings  seit 
mehr  als  40  Jahren!  Herrn  Prof.  Zieg- 
ler stehen  sehr  gern  Zuschriften  von 
Eltern  zu  Gebote ,  wenn  er  solche 
wünscht,  damit  er  selbst  nicht  weiter- 
hin etwas  thue ,  was  er  andern 
dringend  abrät,  nämlich  ohne  ge- 


nügendes Material  sofort  zu  gene- 
ralisieren.) >Auch  keine  Beteiligung 
am  regelmäfsigcn  Gymnasialunter- 
richt; denn  das  wird  sich  nur 
in  den  seltensten  Fällen  machen 
lassen  und  müfstc  bei  zahlreicher 
Beteiligung  an  diesen  Kursen  eine 
Störung  des  Schulbetriebs  herbei- 
führen.« Was  werden  die  preufsi- 
sehen  Gymnasial  -  Seminare  dazu 
sagen?  »Endlich  auch  nicht  jedes- 
mal ad  hoc  beliebig  und  neu  heraus- 
gegriffene Jungen  bald  aus  dieser 
bald  aus  jener  Schule  und  Klasse, 
zu  denen  sich  kein  Verhältnis  ge- 
winnen läfst.  Sondern  das  ganze 
Jahr  hindurch  müssen  es  dieselben 
acht  bis  zehn  Jungen  sein,  am  besten 
Tertianer,  die  dem  Leiter  der 
Übungen  und  den  teilnehmenden 
Studenten  allmählich  bekannt  werden, 
so  dafs  sich  eine  Art  von  Klassen- 
bewufstsein  und  Klassenverhältnis, 
die  Möglichkeit  disziplinarischer 
Beobachtungen  und  intellektueller 
Beurteilung  des  einzelnen  heraus- 
bildet; sie  werden  dann,  etwa  am 
Mittwoch  Nachmittag,  in  ihren  Schul- 
fächern und  im  Anschlufs  an  das 
eben  in  der  Schule  Behandelte  von 
den  Studenten  unterrichtet,  und 
zwar  von  jedem  stets  in  zwei  auf- 
einander folgenden  Stunden,  damit 
er  das  zweite  Mal  gleich  besser 
mache,  was  er  das  erste  Mal  ver- 
fehlt hat  und  sich  zugleich  durch 
Repetition  oder  Veranstaltung  einer 
kleinen  schriftlichen  Arbeit  über  das 
in  der  ersten  Stunde  durchgenom- 
mene Pensum  überzeugen  kann  von 
dem,  was  die  Jungen  acht  Tage  zu- 
vor bei  ihm  gelernt  oder  nicht  ge- 
lernt haben.« 

Auf  solche  Weise,  versichert  der 
Herr  Verf.,  läfst  sich  »erheblich  mehr 
als  nichts  erreichen«.  Mehr  als 
nichts  geben  wir  zu;  »erheblich« 
mehr,  darüber  hegen  wir  starke 
Zweifel.  Denn  die  vorgeschlagenen 
Mittwochs-Übungen  sind  im  Grunde 
nichts  anderes  als  die  berüchtigten 
katechetischen  Lektionen.  Wer  an 
ihre  Wirkung  glaubt,  ist  entweder 
sehr  naiv,  oder  er  macht  es  wie  der 
Vogel  Straufs,  der  den  Kopf  in  den 
Sand  steckt,  wenn  er  nichts  sehen 
und  hören  will. 


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—    172  — 


Überdies  läuft  die  von  Herrn  Prof. 
Ziegler  vorgeschlagene  Lehrerbildung 
auf  weiter  nichts  als  auf  ganz  aufser- 
liche  Dressur  hinaus,  soweit  man  sie 
in  2  Mittwochsstunden  im  Semester 
andressieren  kann.  Denn  wenn  er, 
wie  es  auf  Seite  152  geschieht,  die 
Pädagogik  nicht  als  Teil  der  Philo- 
sophie gelten  läfst,  sondern  sie  gc- 
wissermafsen  aufteilen  will  an  den 
Philologen,  Neusprachler,  Mathema- 
tiker, Historiker  u  s.  w  ,  so  ist  sie 
ihm  eben  weiter  nichts  als  eine  simple 
Rezeptsammlun^  für  den  Unterricht, 
die  jeder  Beliebige  sich  aneignen 
und  weitergeben  kann. 

Kin  merkwürdiger  Widerspruch, 
zu  dessen  Losung  uns  jeder  Schlüssel 
fehlt,  liegt  hier  vor  Der  Verfasser 
ist  im  Innersten  davon  überzeugt, 
dafs  die  Bildungsfrage  ein  Teil  der 
grofsen  sozialen  Krage  ist,  dafs  in 
ihr  der  sittliche  Krziehungsprozefs 
eingeschlossen  liegt,  der  uns  allen 
not  thut.  I>ie  Wissenschaft  der 
Erziehung  aber,  welche  diese  Bil- 
dungsfrage  prinzipiell  zu  losen  sucht, 
und  nachweisen  will,  wie  der  Er- 
zichungsprozefs  im  einzelnen  und 
in  der  Gesamtheit  einzuleiten  und 
fortzuführen  sei.  die  Pädagogik  also, 
schrumpft  bei  ihm  zusammen  zu 
einem  Präge-  und  Antwortspie!,  ge- 
nannt praktische  Übung,  die  so 
nebenbei  an  einem  Nachmittag  in 
der  Woche  mit  abgemacht  werden 
kann. 

Es  verlohnt  sich  nicht,  mit  einem 
solchen  Standpunkt  sich  des  weiteren 
auseinander  zu  setzen.  Wo  die 
Gegensätze  so  tief  ^ehen  hinsicht- 
lich der  Auffassung  der  Pädagogik 
als  Wissenschaft  dürfte  man  ver- 
geblich auf  eine  Verständigung  hoffen. 
Wo  eine  grofse  Gedankenarbeit 
ohne  weiteres  als  nicht  vorhanden 
betrachtet  und  gesicherte  Ergeb- 
nisse als  falsch  hingestellt  werden 
können,  wie  das  z.  B.  im  zweiten 
Kapitel  >Erziehen  und  Unterrichten« 
in  mehr  als  naiver  Weise  geschieht, 
da  kann  man  eben  nur  warnen  und 


*)  Vergl.  Di  Ii  he  y,  Über  die  Möglichkeit 
einer  allgemein  gültigen  pädagogischen  Wissen- 
schaft. XXXV.  Sltiungbericht  der  K.  I'r.  Aka- 
demie der  Wittenschalten  zu  Berlin. 


sich  wundern,  dafs  ein  so  ernst 
denkender  Mann,  wie  er  uns  in  der 
»Sozialen  Frage«  entgegen  tritt,  mit 
solchem  Leichtsinn  über  Erziehungs- 
fragen sprechen  kann,  wie  er  es  in 
der  vorl.  Schrift  fertig  bringt. 
(S.  14  ff.] 

Einige  Stichproben  genügen:  »Die 
eigentliche  Aufgabe  der  Schule  ist 
der  Unterricht,  und  das  Wesen  der 
von  ihr  geübten  Erziehung  Hegt 
vielmehr  im  Generalisieren,  nicht  im 
Individualisieren.«  »Falsch  ist  auch 
die  Unterscheidung  eines  erziehen- 
den oder  erziehlichen  Unterrichts 
von  dem  übrigen,  vermutlich  (sicj 
also  nicht  erziehenden  Unterricht. 
Dem  muls  das  Wrort  entgegenge- 
stellt werden:  aller  Unterricht  wirkt 
►  erziehlich«,  wenn  er  nur  gut  ist. 
Denn  das  ist  das  ganze  Geheimnis, 
das  ist  die  erste  und  hauptsächlichste 
Pflicht  des  Lehrers,  einen  guten 
Unterricht  zu  geben.«  »Sittlich  wert- 
voll ist  auch  beim  Lernen  immer  in 
erster  Linie  das  Selbsterarbeitete, 
das  nicht  blofs  gedächtnifsmälsig  An- 
geeignete, sondern  das  durch  Nach- 
denken Gewonnene.  Und  das  ist  in 
der  Schule  am  intensivsten  zu  er- 
zielen und  möglich  bei  dem  Unter- 
richt in  fremden  Sprachen  und  in 
der  Mathematik,  und  daher  stehe 
ich  nicht  an,  diese  Fächer  Im  die 
am  meisten  erziehenden  und  mora- 
lisch wirksamsten  zu  erklären.« 

Dies  dürfte  für  die  Leser  der 
»Studien«  genügen  zur  Beantwortung 
der  Frage,  ob  Herr  Professor  Zieg- 
ler das  Recht  beanspruchen  darf, 
in  den  Fragen  der  Schulreform  ge- 
hört zu  werden. 

Jena,  im  Dezember  1891. 

W.  Rein. 

VII. 

Hans  Schllepmann,  Betrachtungen  über 
Baukunst.  Berlin  1891.  Polytech- 
nische Buchhandlung,  A.  Seydel. 
8.  110  S. 

Was  soll  die  Anzeige  dieses  Buches 
in  einer  pädagogischen  Zeitschrift? 
Mehr  als  man  auf  den  ersten  Blick 
meinen  könnte.  Denn  dasselbe  ist 
geschrieben  unter  dem  grofsen  Ge- 
sichtspunkt, durch  die  Kunst  unser 


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-    173    -  . 


Volksleben  zu  verinnerlichen,  zu  ver- 
edeln. Einesteils  soll  unser  Volk  in 
seinen  breiteren  Schichten  zur  Freude 
an  dem  Schönen  erzogen,  andern- 
teils  die  Kunst  auf  gesunden  Boden 
gestellt  werden.  So  geht  durch  das 
Buch  auch  ein  starker  sozialer  Zug. 
Die  Kunst  darf  nicht  blofs  auf  die 
sogen.  Gebildeten  beschränkt  bleiben, 
sondern  sie  mufs  wahrhaft  volkstüm- 
lich sein,  wenn  sie  schöpferisch  auf- 
treten will.  Dabei  soll  sie,  weit  ent- 
lernt, ein  schöner  Zeitvertreib  zu 
sein,  einer  der  höchsten  Krzieher 
des  Volkes  werden.  Wie  hierbei  die 
Schule  mittelst  eines  rationell  ge- 
pflegten Zeichenunterrichtsmitwirken 
kann,  dies  hat  Referent  des  öftern 
nachdrücklichst  betont.  Mit  der 
Schule  Hand  in  Hand  soll  die  Bildung 
des  Schönheitssinnes  im  Hause,  in 
der  Familie  gehen.  Wie  sehr  letzte- 
res, die  Pflege  der  Kunst  mit  Be- 
ziehung auf  die  Architektur,  bei  uns 
im  argen  liegt,  wird  vom  Verfasser 
eindringlich  dargelegt.  Er  deckt  aber 
auch  die  Quellen  auf,  wie  hier  gegen- 
über einer  entnervenden  Modesucht 
durch  Rückkehr  zu  dem  Einfachen, 
Natürlichen,  Bäuerlichen  eine  innere 
Gesundung  herbeigeführt  werden 
kann.  Namentlich  die  Abschnitte: 
>Das  kleine  Haus«  und  >Unser  Zim- 
mer« haben  meinen  vollen  Beifall. 
Es  ist  wahr:  Besitzen  wir  nur  erst 
wieder  ein  Rückgrat  von  natürlicher 
Kunstempfindung  im  Volke,  drängt 
es  uns  erst,  alles  Umgebende  unge- 
künstelt schön  zu  gestalten,  dann 
wird  auch  diese  volkstümliche  Kunst 
das  werden,  was  sie  nach  ihrem 
heiligsten  Berufe  sein  mufs :  Ein  Er- 
zieher des  ganzen  Volkes  zu  edler 
Freude. 

Jena.  W.  Rein. 

VIII. 

W.  Pfeifer,  Theorie  und  Praxis  der 
einklassigen  Schule.     Gotha  bei 
Thienemann.   Teil  I.   Die  theore- 
tische  Grundlegung.    145  Seiten. 
1,60  Mk.    Teil  II     Der  Religions- 
unterricht.   228  Seiten.    3  Mk. 
Verfasser  giebt  im  Teil  I  Allge- 
meines über  Organisation  der  ein- 
klassigen Schulen  überhaupt,  dann 
spricht  er  von  der  Bedeutung  der 


einklassigen  Seminarübungsschulc, 
ferner  von  den  fünf  Hauptstücken 
der  einkJ.  Schule,  nämlich  von  ihrer 
Gliederung  in  Abteilungen,  vom 
Stundenplan,  von  Auswahl  und  An- 
ordnung der  Unterrichtsstoffe,  von 
der  Arbeits-  und  Zeitverteilung  in 
der  einkl.  Schule,  vom  Helfersystem 
und  von  der  Darstellung  des  Unter- 
richts. Ein  Anhang  bringt  eine  Studie 
über  Bcll-Lankaster-Schulen  und  über 
die  wechselseitige  Schuleinrichtung. 
Es  folgen  noch  Anweisungen  über 
Einrichtung  der  Listen  und  Tabellen, 
sowie  die  gesetzlichen  Bestimmungen 
über  die  äufsere  Einrichtung  der 
Volksschule.  Teil  II  behandelt  die 
Grundlinien  des  Religionsunterrichts, 
giebt  Winke  zu  pädagogischer  Ge- 
staltung desselben,  unterzieht  die 
Religionsbücher  einer  kritischen  Be- 
trachtung, skizziert  den  im  Buche 
befolgten  einheitlichen  Lehrgang  für 
den  evang.  Religionsunterricht  und 
ergänzt  die  Skizze  durch  Bemer- 
kungen über  unterrichtliche  Darstel- 
lung. Im  Anhang  finden  wir  eine 
Übersicht  über  die  Litteratur  des  Re- 
ligionsunterrichts nebst  Unterrichts- 
proben aus  derselben. 

Die  Vorzüge  des  Buches  sind 
in  gewisser  Hinsicht  nicht  unbe- 
deutend. Man  sieht  auf  jeder  Seite, 
dafs  der  Verfasser  von  rechter 
Liebe  zur  einkl  Schule  beseelt  ist, 
dafs  er  ihre  Bedürfnisse  aus  eigener 
Erfahrung  kennt,  über  den  Unter- 
richt in  ihr  reiflich  nachgedacht, 
vielfältige  Versuche  darüber  ange- 
stellt, auch  die  Litteratur  dieser 
Schulart  verfolgt  und  die  gemachten 
Vorschläge  auf  ihre  Durchführbar- 
keit hin  geprüft  hat.  Hie  Spezial- 
fragen der  einkl.  Volksschule  finden 
Teil  I,  Seite  47—114  eine  ausführ- 
liche Behandlung,  mit  welcher  dem 
Lehrer  solcher  Schulen  allein  ge- 
dient ist^  Die  Leser  der  Studien 
werden  gewifs  darin  mit  dem  Ver- 
fasserübereinstimmen, dafs  in  erzieh- 
licher Hinsicht  nicht  der  Halbtags- 
schule, sondern  der  einkl.  Schule 
der  Vorzug  gebührt,  dafs  die  Ver- 
einigung der  Geschlechter  in  diesen 
Schulen  im  allgemeinen  eine  För- 
derung des  sittlichen  Lebens  der 
Kinder  bedeutet,  dafs  der  Religions- 


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Unterricht  das  vornehmste  Fach  und 
die  heilige  Schrift  das  w  ichtigste  Buch 
der  Schule  ist,  und  dass  die  Konfes- 
sionsschule der  Simultanschule  vorzu- 
ziehen ist.  Es  wird  das  Buch  für 
die  gegenwärtige,  durch  die 
Verfügungen  der  Unterric  h  ts- 
bchörden  geregelte  Praxis 
desVolksschulunterrichts  den 
Lehrern  einklassiger  Schulen  ein 
zuverlässiger  Ratgeber  sein.  Ja  man 
könnte  es  mit  Benutzung  einer  be- 
kannten Rezensentenphrase  das  beste 
seiner  Art  nennen,  denn  unter  den, 
den  gleichen  Gegenstand  behandeln- 
den Werken  von  Liese,  Mehlifs, 
Hedemann  und  Heinemann  kann 
höchstens  das  letztgenannte  sich  mit 
ihm  messen.  Seine  Bedeutung  be- 
steht vor  allem  darin,  dafs  in  ihm 
der  Versuch  gemacht  ist,  den  Re- 
ligionsunterricht aus  seiner  Zer- 
splitterung zu  befreien  und  seine 
Unterfächcr  zu  einem  einheitlichen 
Lehrgänge  zu  vereinigen.  Dieser 
Versuch  mufs,  soweit  er  im  Rah- 
men der  Anordnung  nach 
konzentr.  Kreisen  und  unter 
Zu grun  d ele g  ung  e  in  es  an  den 
Lauf  des  Kirchenjahres  sich 
anschließenden  Ganges  über- 
haupt gelingen  konnte,  als  ein 
gelungener  bezeichnet  werden.  An 
die  Ur-  und  Patriarchengcschichte 
ist  der  i.  Artikel,  an  Richter-  und 
Königszeit  das  I.  Hauptstück,  an  das 
Leben  Jesu  der  2.  Artikel  nebst  dem 
IV.  und  V.  Hauptstück,  an  Apostel- 
und  Kirchengcschichte  der  3.  Ar- 
tikel und  das  III.  Hauptsttick  ange- 
schlossen. Gleich  passend  sind  den 
einzelnen  Gruppen  BibellesestofTe, 
Kirchenlieder  und  Sprüche  beige- 
fügt. Charakteristisch  ist  dabei,  dafs 
in  einigen  Wochen  die  Behandlung 
der  bibl.  Geschichten,  in  andern 
die  der  Katechismusstücke  über- 
wiegt. So  wird  in  der  i.~ 4.  Schul- 
woche neben  der  Apostel-  und 
Kirchengeschichte  das  3.  Gebot,  in 
der  5.  6.  Woche  der  3.  Artikel ,  in 
der  7 — 8  Woche  das  III.  Hauptstück, 
in  der  9.  Woche  neben  der  Schöpfungs- 
geschichte der  1.  Artikel  behandelt 
u.  s.  w.  Der  Unterricht  durchläuft 
zwei  Kurse  nebst  einem  Vorberei- 
tungskursus,   der    von  Ostern  bis 


Pfingsten  jedes  Jahres  reicht,  und  in 
welchem  mit  den  Kindern  des  1. 
Schuljahres  über  Gott  und  den  Hei- 
land geredet  wird.  Daneben  wieder- 
holen die  Kinder  des  1. — 4.  Schul- 
jahres, »namentlich  durch  Selbstbe- 
schäftigung«, die  Geschichten  aus  dem 
Leben  Jesu.  Von  Pfingsten  an  wird 
das  1.  — 3.  Schuljahr  zu  einer  Abtei- 
lung vereinigt  und  erledigt  den 
Kursus  der  Unterstufe,  nämlich  die 
einfachsten  und  kindlichsten  Erzäh- 
lungen aus  der  Ur-  und  Patriarchen- 
geschichtc,  von  Moses  und  David, 
dann  die  Geburtsgeschichte  des  Hei- 
landes und  die  kindlichsten  Erzäh- 
lungen aus  dem  Leben  und  Wirkeu 
des  Herrn.  Die  Oberstufe  besteht 
von  Ostern  bis  Pfingsten  aus  dem 
5.-8.  von  da  an  aus  dem  4.-8 
Schuljahr.  Sie  erledigt  nacheinander 
Apostelgeschichte ,  Ur-  und  Pa- 
triarchengeschichte usw.  und  schliefst 
mit  der  Passionsgeschichte.  Die 
wichtigsten  Stoffe  werden  alljährlich, 
andere  minder  wichtige  alle  drei 
Jahre  einmal  eingehend  behandelt, 
sonst  nur  wiederholt. 

Lobend  möchte  noch  im  Anhange 
des  1.  Teiles  der  Studie  über  Bell- 
Lankaster-Schulen  zu  gedenken  sein. 
Es  ist  freudig  zu  begrüfsen,  dafs  auf 
diese  Weise  in  den  Lehrern  ein- 
klassiger Dorfschulen  historischer 
Sinn  geweckt  und  ihr  Blick  auf  die 
Vergangenheit  gelenkt  wird,  die  oft 
erst  die  Gegenwart  verstehen  und 
in  die  Zukunft  blicken  lehrt. 

Allein  diese  Vorzüge  dürfen  uns 
nicht  abhalten,  auf  die  Mängel  des 
Buches  hinzuweisen.  Dieselben  be- 
stehen in  der  Anordnung  der  Reli- 
gionsstoffe  nach  konzentr.  Kreisen 
und  in  ihrem  Anschlufs  an  das 
Kirchenjahr.  Verfasserist  ein  wärmer 
Anhänger  jener  Anordnung,  nach 
welcher  in  jedem  Jahre  das  ganze 
Gebiet  eines  Faches,  hier  des  Reli- 
gionsunterrichts, durcheilt  wird.  Ihre 
extremste  Form,  die  einjährigen 
Unterrichtskurse,  verteidigt  er  (Teill, 
Seite  80)  mit  der  Behauptung,  sie 
böten  eine  gröfsere  Bürgschaft  für 
Sicherheit  und  Vertiefung  des  Wis- 
sens und  ferner  »das  Bewufstsein 
erlangter  Sicherheit,  das  mit  der 
Fähigkeit  leichterer  Durchdringung 


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—    175  " 


bei  wiederholter  Vorführung  ge- 
wonnen wird,  schwächt  das  Inter- 
esse keineswegs  ab.«  Hier  ist,  wie 
man  sieht,  Interesse  als  Mittel  zur 
Auffassung  der  Stoffe,  d.  h.  als 
Aufmerksamkeit  gefafst.  Der  Her- 
bartschen  Pädagogik  ist  es  bekannt- 
lich Zweck  des  Unterrichts  und  be- 
deutet jenen  Zustand  geistigen  Le- 
bens, in  welchem  die  Aneignung 
neuer  Vorstellungen  mit  Leichtigkeit 
und  Lust  erfolgt  und  in  dem  die 
rastlose  Erweiterung  des  Vorstel- 
lungsschatzes zu  einem  unzerstör- 
baren Bedürfnis  geworden  ist.  Inter- 
esse in  dieser  Bedeutung  aufgefafst 
kann  nur  durch  machtvolle,  andau- 
ernde Einwirkung  grofser,  unzer- 
stückter  Gedankenmassen  erfolgen. 
Eine  solche  ist  bei  den  konz.  Kreisen 
nicht  möglich,  und  darum  müssen 
wir  sie  verwerfen,  mögen  sie  auch 
wirklich,  was  noch  sehr  fraglich  ist, 
gröfsere  Sicherheit  des  Wissens 
geben,  als  andere  Anordnungen.  Dem 
erziehenden  Unterrichte  liegt  es  eben 
nicht  in  erster  Linie  am  Wissen, 
sondern  an  sittlich-religiöser  Ver- 
edelung der  Zöglinge.  Diese  aber, 
welche  nicht  nur  in  der  Aneignung 
religiöser  Stoffe,  sondern  vor  allem 
in  der  selbsthätigen  Erarbeitung  reli- 
giöser Ideen  aus  denselben  und  in 
der  Anwendung  dieser  Ideen  auf 
Wollen  und  Handeln  der  Zöglinge 
besteht,  wird  durch  die  konzen- 
trische Anordnung  gehindert,  wenn 
nicht  unmöglich  gemacht.  Wie  sollen 
sechs  bis  siebenjährige  Kinder  es 
fertig  bringen,  den  Ideengehalt  auch 
der  kindlichsten  Erzählungen  aus 
dem  Leben  und  Wirken  des  Herrn 
selbstthätig  zu  gewinnen  und  anzu- 
wenden. Zu  einer  solchen  Arbeif 
müssen  sie  erst  fähig  gemacht 
werden,  und  auch  dann  noch  mufs 
der  Ideenfortschritt  der  biblischen 
Erzählungen  sorgsam  beachtet 
werden.  Letzteres  geschieht  aber 
bei  den  konzentr.  Kreisen  nicht,  und 
das  ist  ein  zweiter  Grund,  warum 
wir  sie  verwerfen  müssen,  we- 
nigstens in  der  Ausartung, 
welche  sie  im  Religionsunter- 
richt angenommen  haben  und 
die  eben  im  alljährlichen  Durch- 
laufen des  ganzen  Gebietes  besteht. 


Dieselbe  hat  mit  den  echten  kon- 
zentrischen Kreisen,  wie  sie  sich 
allein  im  Rechnen  noch  rein  erhalten 
haben,  wenig  gemein.  Diesen  letz- 
teren entspricht  Zillers  Anordnung 
der  religiösen  Stoffe  viel  mehr.*) 
Was  würde  Herr  Pfeifer  sagen,  wenn 
man  ihm  empfehlen  wollte,  das 
Leichteste  aus  allen  Zahlenräumen 
im  ersten  Schuljahre  zu  behandeln, 
das  Gelernte  im  zweiten  und  dritten 
Schuljahr  zu  wiederholen  und  als- 
dann, mit  der  Behandlung  des  un- 
begrenzten Zahlenraumes  beginnend, 
vom  4. — S.  Schuljahr  an  alljährlich 
sämtliche  Zahlenräume  zu  behandeln? 
Eine  ähnliche  Anordnung  empfiehlt 
er  im  Religionsunterricht.  (Siehe 
Teil  II,  Seite  52—53.)  Wie  sich  dort 
im  Rechnen  keine  Einsicht  in  die 
Zahlenverhältnisse  der  höheren  Zah- 
lenräume würde  erzeugen  lassen, 
so  in  Religion  keine  Einsicht  in  die 
religiösen  Ideen.  In  beiden  Fällen 
mufs  die  Auffassung  eine  oberfläch- 
liche bleiben.  Ein  liebevolles  Ver- 
tiefen in  den  Stoff  ist  bei  der  An- 
ordnung nach  konz.  Kreisen  undenk- 
bar. Sie  verführt  obendrein  den 
Lehrer,  seine  Schule  im  Religions- 
unterricht weniger  sorgfältig  als  im 
Rechnen  zu  gliedern,  (Teil  I,  S.  52 
bis  33),  hier  vier,  dort  nur  zwei  Ab- 
teilungen zu  bilden.  Mit  der  An- 
ordnung nach  konz.  Kreisen  fällt 
auch  der  Anschlufs  an  das  Kirchen- 
jahr. Bei  demselben  hat  der  Ver- 
fasser zwar  das  Ärgste  zu  vermeiden 
gewufst.  Der  dreimal  wiederholten 
Vorführung  der  einfachsten  Erzäh- 
lungen alten  und  neuen  Testaments 
folgt  nicht  sogleich  die  Apostelge- 
schichte und  dieser  die  übrigen 
Perioden,  sondern  das  vierte  Schul- 
jahr beginnt,  da  es  erst  von  Pfingsten 
an  mit  der  Oberstufe  verbunden 
wird,  mit  der  Patriarchengeschichte. 
Welche  Vorbereitung  aber  die 
Apostelgeschichte  erfährt,  sieht  man 
daraus,  dafs  Ur-  und  Patriarchenzeit 
in  6  Wochen,  der  1.  Artikel  in  2 
Wochen,  Richter-  und  Königszeit 
nebst  dem  1.  Hauptstück  in  9 
Wochen,  das  Leben  Jesu  in  12 
Wochen,  der  2.  Artikel  nebst  dem 


•i'i 
if 


♦)  Siehe  Ev.  Schulblatt  189t  Heft  6. 


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/Sit 


—   176  — 


4.  und  5.  Hauptstück  in  zusammen 
4  Wochen  jahrlich  behandelt  wird 
Verlasser  giebt  sich  einer  Täuschung 
hin,  wenn  er  vielleicht  meinen  sollte 
mehrmals  wiederholte  oberflächliche 
Auffassungen  würden  zuletzt  doch 
eine  gründliche  herbeiführen.  Der 
Gedanke,  die  Schule  und  ihren  Re- 
ligionsunterricht mit  dem  kirchlichen 
Leben  in  Verbindung  zu  setzen,  ist 
ja  an  sich  gut.  Er  läl'st  sich  jedoch 
nur  an  den  Perikopen  ausführen. 
Diese  müssen,  zu  Schulandachten  um- 
gestaltet, jene  Verbindung  bewirken. 
Die  zur  unterrichthehen  Behandlung 
bestimmten  Religionsstoffe  dagegen 
müssen  in  grofsen,  zusammenhängen- 
den, dem  Ideenfortschritt  der  heiligen 
Geschichte  entsprechenden  Stoff- 
gruppen angeordnet  werden,  ganz 
wie  es  Zillers  Anordnung  nach  kul- 
turhistorischen —  — 

Doch  da  fällt  dem  Rezensenten 
eben  ein,  wie  trefflich  sich  Herr  Pf. 
gegen  alle  gewappnet  hat,  die  ihn 
vom  Standpunkte  der  Herbart-Ziller- 
sehen  Pädagogik  anzugreifen  wagen 
könnten.  Leuten  dieser  Art  begeg- 
net er  sehr  von  oben  herab,  setzt 
sich  auts  hohe  Pferd  und  spricht 
wie  folgt :  »Wenn  aber  jemand  so 
klug  ist,  einzuwenden,  es  ginge  wohl 
nient,  dals  man  z.  B.  aus  der  Zeit 
des  ungeteilten  Königreichs  in  dem 
einen  Jahre  nur  das  Lebensbild 
Sauls  betrachte,  weil  dann  die  Ent- 
wickelung  des  Reiches  (Jottes  oder 
die  Kulturentwickelung  des  jüdischen 
Reiches  nicht  gehörig  dargestellt 
werden  könnten  (und  was  der- 
gleichen gelehrte  Redereien  noch 
sein  mögen;,  so  will  ich  mit  ihm 
nicht  rechten.  »Sehe  jeder,  wie  er's 
treibe,  sehe  jeder,  wo  er  bleibe.« 
Meine  Vorschläge  haben  sich  in  der 
dargelegten  Weise  als  völlig  durch- 
führt >ar  im  wirklichen  Schullehen  er- 
wiesen.* (Teil  II,  S.  551  Mit  dem 
Schlufs  scheint  der  Verfasser  auf 
die  vermeintliche  Undurchführbar- 
keit  der  kulturhistorischen  Anord- 
nung in  der  einklassigen  Schule  an- 
zuspielen. Allein  dieselbe  ist  nichts 
als  ein  allerdings  noch  nicht  oft  ge- 
nug wiedcrlegter  Aberglaube.*)  Und 

*i  Siolic  Florin.  Mt-lhodik  der  Gcs.untichule. 
Zürich  bei  Schullhc»s.  und  Hollkainm,  Lehrplan 


ist  die  Durchführbarkeit  vielleicht 
ein  Beweis  für  die  Richtigkeit  einer 
Anordnung?  Der  gröfste  Schlendrian 
ist  oft  sehr  leicht  durchführbar. 
Ziliers  Idee  der  kulturhistorischen 
Stufen  ist  zwar  in  der  einkl.  Schule 
nicht  allzu  leicht  durchzuführen, 
aber  es  ptlegt  beim  Guten  über- 
haupt so  zu  sein,  dafs  seine  Ver- 
wirklichung Mühe  und  Nachdenken 
kostet.  Durchführbar  aber  ist  sie 
und  wirkt  segensreicher  als  die  kon- 
zentr.  Kreise.  Zum  Glück  lassen 
sich  grofse  pädag.  Reformideen  nicht 
mit  dem  leichten  Geschütz  .on 
Redensarten  über  den  Haufen  werfen. 
Auch  wir  lieben  gelehrtes  Gerede 
nicht  und  haben  uns  deshalb  gehütet, 
irgend  welche  Kunstausdrücke  der 
Herbart'schen  Pädagogik  ohne  Not 
zu  gebrauchen.  Die  Sache  läfst  sich, 
wenn  auch  weitläufiger,  ohne  sie 
darstellen  Es  ist  zu  bedauern,  dafs 
Herr  Pf.  diese  Pädagogik  »insbeson- 
dere ihre  vorzügliche  Fortbildung 
durch  Ziller«  *r  so  schief  beurteilt 
und  so  sehr  durch  ihre  Aufserlich- 
ketten  in  seinen  Vorurteilen  gegen 
sie  bestärkt  wird.  {Teil  II,  Seite 
25—26  u.  a  a.  O )  Leid  thut  es 
uns  auch,  das  Wort  »einer  zuchr- 
loscn  Pädagogik,  wie  Stoy  es  nennt, 
I  Encyklopädic,  Par  17,  S.  26)  das 
Wort.  »Sehe  jeder  wie  ers  treibe 
usw.,  in  einein  Werke  angeführt  zu 
finden,  das  seiner  oben  genannten 
Vorzüge  wegen  gewifs  in  viele  Leh- 
rerhände kommt. 

Drackenstedt. 

F.  Ho  II  kämm. 
IX. 

Wartenberg.  Lehrbuchder lateinischen 
Sprache  als  Vorschule  der  Lek- 
türe. Kursus  der  Quinta.  Hannover, 
Norddeutsche  Verlagsanstalt. 

Der  zweite  Teil  des  vorliegenden 
Übungsbuches  schliefst  sich  in  Anlage 
und  Methode  naturgemäfs  eng  an 
den  ersten  Kursus  an,  den  ich  im 
vorigen  Jahrgange  S.  247  f.  besprochen 
habe,  bezeichnet  aber  diesem  gegen- 
für einfache  Volksschulen.  Jahrbuch  XXIII  de» 
Verein»  für  u  i>»cn»chaul.  Päd  .ig   l)re»den  1601. 

l'rof.  l>r  F.  >chul*e  in  d.  Vorred«  *u 
Spencers  Krziehutigslehre. 


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i 


—  177  — 


aber  in  mehrfacher  Hinsicht  einen 
•wesentlichen  Fortschritt. 

Sehr  vernünftiger  Weise  ist  der 
von  der  Grammatik  vorgeschrie- 
bene Gang  des  Unterrichtes  ziemlich 
streng  eingehalten  worden.  Nur 
eine  Umstellung  möchte  ich  befür- 
worten. Ich  halte  es  nämlich  für 
praktischer,  die  Adjektiva  erst  nach 
Absolvierung  aller  Substantiva  zu 
besprechen :  es  müfsten  also  §  7  und 
§  8  ihre  Plätze  wechseln  ;  dann  würde 
sich  auch  die  Steigerung  sofort  an 
die  Eigenschaftswörter  anschliefsen. 

Ferner  hat  der  Verfasser  durch 
zweckmäfsige  Beschränkung  des 
Lernstoffes  dem  Schüler  das  Lernen 
sehr  erleichtert,  doch  bedürfen  die 
Besonderheiten  der  ersten  Deklina- 
tion nicht  einer  so  ausführlichen 
Einübung.  In  der  zweiten  Deklina- 
tion könnte  vulgus  und  der  Vokativ 
<lens  fehlen.  In  der  dritten  Deklina- 
tion, mit  deren  Stammtheorie  ich 
mich  nie  befreunden  werde,  möchte 
fallen:  §  3  lepus,  mas,  mus.  linter; 
§  6  febrim ,  febri ,  sedum  ,  faucium, 
fraudium,  marium,  murium;  §  7,  1 
compos,  pubes,  superstes;  §  S  artus- 
und  acus.  §  7,  2  genügt  es,  inopum 
und  memorum  zu  erwähnen.  Schliefs- 
lich  ist  das  sogenannte  Supinum  in 
§  37  ganz  zu  streichen. 

Auf  eine  langsam  vorschreitende 
Entwicklung  und  verständliche  Dar- 
stellung des  Lernstoffes  ist  besonde- 
res Gewicht  gelegt  worden»  Doch 
bringen  die  §§  20—23,  25  und  32  zu 
viel  Neues  auf  ein  Mal.  Auch  sollten 
die  Kompositia  von  ferre  und  von 
ire  vom  Simplex  getrennt  behandelt 
werden.  In  ähnlicher  Weise  mufs 
§  40  zunächst  das  partieipiumconiune- 
tum  und  erst  dann  der  ablativus 
absolutus  eingeübt  werden. 

Die  Übungsstücke  sind  nach 
sehr  richtigen  Grundsätzen  ausge- 
arbeitet worden.  Einzelsätze  finden 
sich  blofs  §  12,  13,  14,  16,  19,  20,  32, 
35,  36,  und  3<).  Im  übrigen  werden 
nur  zusammenhängende  Stücke  ge- 
boten. Zwar  ist  die  Darstellung  an- 
fangs sehr  einfach ;  aber  je  weiter 
man  fortschreitet,  um  so  mannigfal- 
tiger wird  die  äufsere  Fügung,  um 
so  fester  der  innere  Zusammenhang. 
Dabei  ist  die  richtige  Mitte  gehalten 

Pädagogische  Studien.  III. 


worden  zwischen  einem  zerstreuen- 
den bunten  Vielerlei  und  einem  er- 
müdenden und  den  übrigen  Unter- 
richt nicht  genugsam  fördernden 
Einerlei  des  Inhaltes.  Naturgcmäfs 
sind  Erzählungen  aus  der  römischen 
und  der  griechischen  Geschichte  be- 
vorzugt worden ;  man  findet  aber 
auch  naturgeschichtliche  Beschrei- 
bungen, ethische  Betrachtungen  und 
Ermahnungen,  Aussprüche  berühmter 
Männer  usw.  Deutsche  Stücke  sind 
leider  nur  §  15,  28,  3S,  41  und  44  zur 
Wiederholung  eingestreut  worden. 

Im  grofsen  und  ganzen  ist  also 
der  zweite  Teil  viel  brauchbarer 
als  der  erste.  Ich  kann  ihn  jedoch 
nur  dann  empfehlen,  wenn  1)  Gram- 
matik, Übungsstücke  und  Wortkunde 
getrennt  werden;  wenn  2)  die  Zahl 
der  deutschen  Stücke  vermehrt  wird 
und  zwar  durch  solche,  die  sich  eng 
an  die  betreffenden  lateinischen 
Stücke  anschliefsen ;  wenn  3)  das 
Wörterverzeichnis  zu  einer  Präpara- 
tion in  der  Reihenfolge  der  einzelnen 
Lesestücke  umgearbeitet  wird. 

Annaberg.       Ernst  Haupt. 

X. 

W.  Möller,  Lateinisches  Lese-  und 
Übungsbuch.  I  Für  Sexta.  II  Für 
Quinta.  Altenburg,  H.  A.  Pierer. 
Das  vorliegende,  hübsche  Übungs- 
buch zerlegt  den  grammatischen 
Lehrstoff  in  seinem  ersten,  für  Sexta 
bestimmten  Teile  in  25  Abschnitte: 
I  Erste  Deklination;  II  Zweite  Dek- 
lination; III  Adjektiva  auf  us,  a,  um 
und  er.  a,  um;  IV  Maskulina,  V  Fe- 
minina, VI  Neutra  der  dritten  Dek- 
lination ;  VII  Adjektiva  der  dritten 
Deklination  und  Neutra  auf  e,  al, 
ar;  VIII  sum,  fui,  esse;  IX  Vierte 
Deklination  ;  X  Fünfte  Deklination ; 
XI  Erste  Konjugation;  XII  Regel- 
mäfsige  Steigerung;  XIII  Zweite 
Konjugation;  XIV  Fürwörter;  XV 
Vierte  Konjugation;  XVI  Dritte  Kon- 
jugation. 

Davon  gehören  die  Neutra  auf  e, 
al  und  ar  nach  Abschnitt  VI,  die 
Steigerung  nach  Abschnitt  VII,  die 
Fürwörter  aber  zwischen  die  erste 
und  die  zweite  Konjugation. 

Von  den  nun  noch  folgenden  Ab- 
schnitten (XVII  die  wichtigsten  Aus- 

12 


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—  178  — 


nahmen  von  den  Hauptgenusregeln 
der  dritten,  vierten  und  fünften  Dek- 
lination; XVIII  die  wichtigsten  Aus- 
nahmen von  der  Regel  über  den 
gen  plur.  der  Substantiva  der  dritten 
Deklination;  XIX  pluralia  tantum; 
XX  Apposition,  neutrum  pluralis, 
Infinitiv  als  Subjekt;  XXI  Zahlwörter; 
XXII  Adverbia  und  deren  Steiger- 
ung; XXIII  Präpositionen;  XXIV 
Komposita  von  sum;  XXV  Depo- 
nentia) gehören  lediglich  die  Zahl- 
wörter in  das  Pensum  der  Sexta. 
Denn  es  kann  nicht  oft  genug  und 
nicht  scharf  genug  betont  werden, 
dafs  in  Sexta  einzig  und  allein  die 
regelmäfsige  Formenlehre  zu  behan- 
deln ist,  während  jede,  auch  die  ge- 
ringste Abweichung  nach  Quinta  ver- 
wiesen werden  mufs.  Immerhin 
mufs  anerkannt  werden ,  dafs  das 
vorliegende  Übufigsbuch  vielen  an- 
dern gegenüber  durch  die  Verlegung 
des  Unregelmäßigen  in  einen  beson- 
deren Anhang  einen  grofsen  Fort- 
schritt bezeichnet. 

Der  zweite,  für  Quinta  berech- 
nete Teil  umfafst  13  Abschnitte: 
1  Unregelmäfsigc  Steigerung,  II  Un- 
regelmäßigkeiten der  Deklination 
in  Form  und  Geschlecht,  III  Erste 
Konjugation.  IV  Zweite  Konjugation, 
V  Dritte  Konjugation,  VI  Vierte 
Konjugation,  VII  Zahlwörter,  VIII 
Fürwörter,  IX  verba  anomala,  X 
accusativus  cum  infinitivo,  XI  Parti- 
zipialkonstruktion ,  XII  Supinum, 
XIII  coniugatio  periphrastica. 

Offenbar  steht  Abschnitt  I,  VII 
und  VIII  an  falscher  Stelle  ,  Abschnitt 
XII  aber  gehört  nicht  in  das  Pensum 
der  Quinta.  Dagegen  wird  ein  kur- 
zer Abschnitt  über  die  Konstruktion 
der  Stadtnamen  sehr  vermifst. 

In  beiden  Teilen  verdient  die  Zer- 
legung des  grofsen  Pensums  in  viele 
kleine  Pensa  ganz  besondere  Aner- 
kennung. Ferner  wird  im  ersten 
Teile  mit  Recht  die  vierte  Konju- 
gation vor  der  dritten  behandelt 
und  zwar  wird  hier  praktischer  Weise 
die  Perfektgruppe  vor  der  Präsens- 
gruppe behandelt.  Doch  ist  das 
Verbalverzeichnis  def  dritten  Kon- 
jugation für  Sexta  viel  zu  reichhal- 
tig ausgefallen. 

Der  Verfasser  will  dem  Schüler 


das  Lateinlcrnen  möglichst  erleich- 
tern. Deshalb  bietet  er,  um  vor 
allem  das  Interesse  zu  erwecken, 
nur  zusammenhängende  Stücke, 
die  im  ersten  Teile  in  reicher  Ab- 
wechselung von  Deutschland  und 
Griechenland,  von  Minerva  und 
Diana,  von  den  Töchtern  des  Land- 
manns, von  den  Dichtern,  von  Sizi- 
lien ,  von  dem  Garten  des  Grofs- 
vaters  u  s  w.  handeln.  Auch  von 
Herkules  und  Theseus,  von  den  alten 
Deutschen  und  den  Römern  wird 
in  rliefsender  Sprache  erzählt.  Mit 
besonderer  Vorliebe  und  mit  grofsem 
Geschick  ist  ferner  der  Stoff  aus 
dem  Sagenkreise  der  Ilias  und  Odys- 
see geschöpft  worden.  Dadurch 
läfst  sich  allerdings  eine  fruchtbare 
Verbindung  zwischen  Latein,  Deutsch 
und  Geschichte  herstellen,  sodafs 
der  Schüler  in  diesem  Vorstellungs- 
kreise recht  heimisch  wird.  Aber 
auch  Fabeln,  Briefe  und  Gespräche 
die  dem  Schüler  besonders  will- 
kommen sind,  fehlen  nicht. 

Die  Übungsstücke  des  zweiten 
Teiles  sind  fast  durchgehends  der 
griechischen  Sage  und  Geschichte 
entnommen:  Herkules,  Theseus, 
Jason,  Kadmus,  Kodrus,  Solon,  Cyrus, 
Kambyses,  Darius,  Miitiades,  Leo- 
nidas, Themistokles ,  Alcibiades, 
Sokrates,  Pelopidas,  Epaminondas, 
Alexander  werden  besprochen  — 
aber  leider  nicht  immer  in  der  histo- 
rischen Reihenfolge. 

Die  deutschen  Stücke  sind  wie 
bei  Holzweifsig  durchaus  Umschrei 
bungen  der  entsprechenden  lateini- 
schen Abschnitte;  doch  sind  mit 
Recht  nicht  allen  lateinischen  Stücken 
deutsche  nachgebildet  worden.  Hin 
und  wieder  ist  der  lateinische  und  der 
deutsche  Ausdruck  mangelhaft 

Den  Schlufs  beider  Teile  bildet 
ein  Wörterverzeichnis  in  der 
Reihenfolge  der  einzelnen  Paragra- 
phen, an  dessen  unterem  Rande  syn- 
taktische und  stilistische  Regeln  in 
ziemlicher  Anzahl  beigefügt  worden 
sind. 

Von  den  erwähnten  Bedenken  ab- 
gesehen verdient  das  Buch  empfohlen 
zu  werden.  Auch  Druck  und  Aus- 
stattung ist  sehr  gut. 

Annaberg.       Ernst  Haupt. 


^ 


—    179  — 


XI. 

De  viris  illustribus.  Lateinisches 
Lesebuch  nach  Repos,  Livius  und 
Curtius.  Bearbeitet  von  Dr.  Hans 
Müller.  Hannover,  Carl  Meyer 
(Gustav  Prior). 

Das  vorliegende,  sehr  beachtens- 
werte lateinische  Lesebuch  für  Quarta 
bringt  in  seinem  ersten  Teile  Bil- 
der aus  der  griechischen  Geschichte. 
Als  Grundlage  dient  Cornelius  Ncpos 
d.  h.  aus  seinen  Lebensbeschrei- 
bungen sind  diejenigen  ausgewählt 
worden,  die  hauptsächlich  gelesen 
werden,  nämlich:  Miltiades,  Themi- 
stokles,  Aristides,  Pausanias,  Cimon, 
Lysander,  Alcibiades,  Epaminondas 
und  Pelopidas.  Die  letzteren  müssen 
ihre  Plätze  tauschen.  Aufscrdem 
vermisse  ich  Thrasybul ,  Konon  und 
Agesilaus.  Statt  dessen  findet  man 
eine  sehr  hübsche  Lebensbeschrei- 
bung Alexanders  des  Grofsen,  in  der 
nur  eine  Beschreibung  der  Belage- 
rung von  Tyrus  und  der  Tod  des 
Kütus  fehlt 

Der  zweite  Teil  enthält  Lebens- 
beschreibungen berühmter  Männer, 
die  in  die  Geschicke  des  römischen 
Volkes  mächtig  eingreifen:  Kamillus, 
die  Decier ,  Pyrrhus,  Hamilkar, 
Hannibal  und  Scipio.  Mit  grofser 
Freude  wäre  es  zu  begrüfsen,  wenn 
dieser  Teil,  am  Anfang  und  am  Ende 
vermehrt,  zu  einem  Lesebuche  für 
Quinta  umgearbeitet  würde.  Im 
übrigen  könnten  die  Decier  fehlen; 
ebenso  M  Kalpurnius  Klamma  in 
Abschnitt  XIV,  während  ebenda 
Duilius  und  Regulus  selbständig  zu 
gestalten  sind.  In  der  Lebensbe- 
schreibung des  Hannibal  vermisse 
ich  den  Transport  der  Elefanten 
über  die  Rhone,  die  Ersteigung  der 
Alpen,  den  Zug  des  Klaudius  Nero. 

In  Rücksicht  aut  den  Standpunkt 
der  Klasse,  für  welche  das  Lesebuch 
bestimmt  ist,  und  um  eine  von  Un- 
richtigkeiten jeder  Art  freie  Dar- 
stellung zu  gewinnen,  ist  der  Her- 
ausgeber mit  dem  ursprünglichen 
Wortlaute  sehr  frei  —  meiner  Ansicht 
nach  zu  frei  —  umgegangen.  Immer- 
hin ist  anzuerkennen,  dafs  die  Er- 
zählungen mit  grofsem  Geschicke 
sprachlich  und  inhaltlich  so  gestal- 


tet sind ,  dals  das  Lesen  unbehin- 
dert fortschreiten  kann.  Doch  sind 
einzelne  Sätze  zu  schwer  oder  zu 
lang  geraten  z.  B.  5,16  ff.,  6,30  ff., 
11,33  ff--  i-->5  ff-»  '3-2  ff-  und  32  ff., 
16,13  ff.,  17,33  ff.,  20,32  ff.,  44,15  ff., 
49,29  ff,  50,31  fi.,  51,29  ff. 

Wegfallen  könnten  die  meisten 
Jahreszahlen,  ferner  aus  verschiede- 
nen Gründen  13,21 — 26;  17.21  —  23; 
80,32-  Si ,1 7 ;  87,6  —  30;  aufserdem 
6,14  ab  aliis  tum;  24,4  qui  —  dilige- 
batur;  25,25  qui  —  venerant;  76,19 
quae  —  seiungunt.  Auch  sollte  25,«) 
matrem  in  matrimonium  duxisset  ge- 
lesen werden  anstatt  ex  matre  liberos 
proereavisset. 

Im  einzelnen  ist  mir  das  häufige 
nihil  antiquius  habeo  quam  ut  und 
ita  factum  est  ut  aufgciallen.  Sodann 
steht  öfter  nec  anstatt  neque,  primo 
statt  primum,  plures  statt  complures, 
mox  statt  brevi,  nondum  statt 
noniam,  donce  statt  dum.  cum  tem- 
porale statt  cum  historicum,  qui  mit 
dem  Indikativ  anstatt  mit  dem  Kon- 
junktiv, der  Plural  statt  des  Singu- 
lars, wenn  die  Subjekte  Sachen  sind. 
Ferner  lies  2,17  cum  diceret  statt 
dicens;  40,30  pro  nihilo  puto  statt 
nihili  facio;  54,38  de  Camillo  statt 
Camilli;  62,13  auxilio  statt  admini- 
culum;  65,21  und  33  Humen  statt 
amnem  und  amnis;  93,30  boves  an 
statt  bubus. 

Die  Wortkunde  auf  S.  öS— 12S. 
welche  als  Präparation  gedacht  ist, 
zeigt  leider  viele  Mängel  Vor  allem 
ist  eine  grofsc  Anzahl  Wörter,  die 
der  Quartaner  gar  nicht  wissen  kann, 
unerwähnt  geblieben.  Ich  vermisse 
I  2  regione  potiri,  res  constituere. 
I  8  impetum  sustinere,  I  9  opinio 
est  und  imperii  cupidus ,  II  4  loco 
cedere ,  II  7  dolo  uti,  II  12  orare 
atque  rogare,  III  2  scribere  in  testa, 
contendere,  VI  3  fidem  aeeipere, 
nuntiare  Spartam,  VI  4  crudelitate 
uti,  VII  13  regno  privare,  VII  15 
splendor  et  dignitas,  VIII  1  laude 
dignus,  praetermittere,  ingenii  facul- 
tates,  VIII  4  adire  Epaminondam, 
VIII  8  a  societatc  recederc.  X  2 
patientia  laborum ,  X  3  admiratione 
prosequi,  X  7  se  permittcre  in  fidem, 
X  9  regnum  occupare,  X  13  parri- 
cidium,   X   14    conscriberc ,   X  15 

12* 


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—    i8o  — 


medii  hostes,  vires  corporis  recipere, 
X  i»>  petere  Dareum,  X  19  utribus 
portare,  dtvinis  honoribus  colcre, 
acoptus,  X  22  introducere,  X  23 
inquietam  noctem  agere,  soranum 
capcre,  alto  somno  comprimi,  tem- 
pus  instat,   X  27  animos  recipere, 

X  32  occulerc,  mitigare,  X  34  gratiam 
inire,  tcctis  ignem  adicere,  X  36  vi 
et  armis,  X  40  vox  deficit,  XI  4 
pracdam  concedere,  XI  S  ad  nihilum 
redigere,  XI  »j  animum  accendere, 

XI  16  anseres  alere,  XI  20  indu- 
stria  in  rebus  gcrendis  uti,  egregius 
in  omni  fortuna  ,  XII  3  nox  inter- 
venit,  XII  4  nox  opprimit,  XII  5 
pugnam  inire,  XII  8  extra  ordincm, 

XII  9  ad  sensum  vulneris,  XII  n 
maior  quam  homines  esse  solent, 
XII  12  ardor  anrmorum,  XII  15  proe- 
lio  lacessere,  XIII  <>  in  subsidiis  colto- 
care,  XIV  4  vigor,  XV  2  obicere, 
Alpes  petere,  XV  3  Unter  und  ratis, 

XV  7  sacrorum  causa,  XV  10  ani- 
mos confirmare,  XV  12  satis  magnae 
copiae,  XV  13,  aequo  Marte  disce- 
dere,  magno  impetu  invadere,  XV 
18  consilia  inire,  XV  19  Juppiter 
optitmis  maximus,  XV  22  plures 
praeter  consuetudinem,  XVI  1  infi- 
nitum  est,  XVI  2  omnium  consensu, 

XVI  3  gaudio  cxsultans,  XVI  4  hono- 
rem petere.  rem  agere,  XVI  5  adire 
hiberna,  XVI  10  silentium  facere, 
XVI  13  imperare  frumentum,  XVI 
18  favore  uti,  decernere  provin- 
ciam. 

Öfter  werden  Vokabeln,  die  schon 
früher  vorgekommen  sind,  erst  an 
einer  späteren  Stelle  erwähnt.  So 
gehört  z.  B.  VII  13  magna  pecunia 
nach  VII  11,  X  11  aegre  nach  X  10, 
X  31  prosequi  nach  X  3,  XI  19  in 
contionem  prodire  nach  XI  14,  XIV 
2  cura  nach  XIII  3,  XV  13  extem- 
plo  nach  XV  10,  XVI  5  contionem 
advocare  nach  XVI  4.  Umgekehrt 
gehört  XVI  5  contionem  dimittere 
nach  XVI  9,  und  I  1  devincere  nach 
I  2. 

Innerhalb  der  einzelnen  Kapitel 
ist  die  genaue  Aufeinanderfolge  der 
Wörter  nie  eingehalten  worden. 
Auch  sind  öfter  mehrere  Kapitel 
zusammen  durchgenommen  worden. 

Der  deutsche  Ausdruck  läfst 
mitunter  zu  wünschen  übrig.  Ich  er- 


wähne. Damit  umgehen  dafs,  es 
ist  soweit  dafs ,  zur  Erholung  der 
Körper,  auf  den  Kampf  erpicht, 
behaften  mit,  Truppen  ausschiffen, 
auf  Athen  losgehen,  das  Wasser  bei 
Seite  lassen ,  einer  Strafe  würdig 
sein,  dem  Siege  im  Wege  stehen, 
die  Anschuldigung  des  Mordes  ver- 
nichten, das  Andenken  entstellen, 
sich  vorbeifahren,  einen  Gang  führen, 
einen  Weg  lassen,  den  OberbefcM 
auf  jemand  übertragen.  An  über- 
flüssigen Fremdwörtern  begegnen: 
Litteratur,  Lektüre,  Historiker,  Stu- 
dium, Medizin,  Charakter,  talentvoll, 
Audienz,  Partei,  Terrain,  Signal, 
Depot,  Magazin,  Quartier. 

Schliefslich  sind  mir  folgende 
Druckfehler  aufgefallen:  6,3  Arte- 
simio;  6,18  Graecas;  6,29  certiorum; 
8,22  nave;  21,36  Antaxcrxem  :  25,24 
perniciossimum ;  34,36  conpluribus; 
37,6  coniux;  52,11  miscrunt,  53,17 
Romanit;  58,37  incolume;  59,28  libe- 
raverat ;  67,32  :  280;  85,12  dopo- 
siturum;  02,30  Scipionen;  97,13 
disiderio.  Im  übrigen  ist  Druck  und 
Ausstattung  sehr  gut. 

Annaberg.       Ernst  Haupt 
XII. 

Stephan,  Dr.  G.  Die  hausliche  Er- 
ziehung in  Deutschland  wäh- 
rend des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts. Wiesbaden  J.  F.  Berg- 
mann. 1891. 

Man  hat  das  achtzehnte  Jahrhun- 
dert das  pädagogische  genannt.  Wer 
aber  das  so  auflassen  wollte,  dafs  in 
ihm  die  Erziehungspraxis  einen  be- 
sonders hohen  Entwickclungsgrad 
erreicht  habe,  würde  sich  sehr  irren. 
Jene  Bezeichnung  ist  nur  insoweit 
wahr,  dafs  im  vorigen  Jahrhundert, 
im  Zusammenhang  mit  der  »Aul- 
klärung«, ein  besonders  lebhafter 
Kampf  gefuhrt  wurde  gegen  die 
Thorheiten,  deren  man  sich  in  der 
körperlichen  Pflege  und  der  geistigen 
Bildung  der  Jugend  schuldig  machte. 
Diesen  Kampf  führen  eine  Menge 
von  Erziehungsschriften  und  päda- 
gogischen Aufsätzen,  in  denen  Philo- 
sophen, Schulmänner,  Geistliche  und 
Ärzte  sich  bemühten,  die  Verkehrt- 
heiten der  damaligen  Erziehungs- 


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—    181  — 


praxis  nachzuweisen  und  ein  ratio- 
nelleres Verfahren  zu  empfehlen. 

AVer  Fehler  bekämpfen  will,  mufs 
sie  zunächst  schildern.  Das  ge- 
schieht denn  in  der  pädagogischen 
Litteratur  des  vorigen  Jahrhunderts 
in  so  eingehender  Weise,  dafs  wir 
aus  dem  Studium  jener  Schriften  ein 
sehr  anschauliches  Bild  davon  ge- 
winnen. Wenn  dabei  vorzugsweise 
der  Thorheiten  in  der  häuslichen 
Erziehung  gedacht  wird,  so  erklärt 
sich  das  daraus,  dafs  bei  dem  so 
wenig  entwickelten  Schulwesen  der 
Schwerpunkt  des  gesamten  Erzieh- 
ungsgeschäftes, und  zwar  auch  in- 
betreff  der  geistigen  Bildung,  viel 
mehr  als  jetzt  in  dem  Hause  lag, 
das,  wenn  die  Verhältnisse  irgend 
es  gestatteten,  die  Kinder  durch 
»Hofmeister«  oder  »Gouvernanten« 
unterrichten  liefs.  Wer  durch  Wort 
oder  Schrift  dazu  beitragen  wollte, 
dafs  für  das  heranwachsende  Ge- 
schlecht besser  gesorgt  wurde, 
mufste  bei  der  Reform  der  häus- 
lichen Erziehung  anfangen. 

Es  ist  das  Verdienst  vom  Ver- 
fasser der  obengenannten  Schrift, 
mit  staunenswertem  Fleifse  jene 
reiche  Litteratur  und  aufserdem  eine 
ganze  Menge  Biographieen  studiert 
und  daraus  ein  einheitliches,  an- 
schauliches Bild  von  der  häuslichen 
Erziehung  des  vorigen  Jahrhunderts 
mit  ihrer  allmählichen,  wenn  auch 
sehr  langsamen  Entwickelung  zu 
besseren  Zuständen  zusammenge- 
stellt zu  haben.  Dr.  Stephan  bietet 
damit,  wie  dies  auch  Professor 
Biedermann,  der  Verfasser  der 
>Deutschen  Volks-  und  Kultur- 
geschichte für  Schule  und 
Haus«,  in  einer  vorausgeschickten 
Empfehlung  rühmend  anerkennt,  eine 
Ergänzung  der  Kulturgeschichte  des 
achtzehnten  Jahrhunderts,  die  als 
eine  sehr  wertvolle  anerkannt  werden 
mufs.  Eine  solche  Arbeit  ist  eine 
sehr  dankenswerte  nicht  blofs  des- 
halb, weil  mit  Recht  die  Darstellung 
der  Menschheitsentwickelung  nach 
der  kulturhistorischen  Seite  jetzt 
überhaupt  betont  wird,  und  jede  Er- 
gänzung des  reichen  Stoffes  will- 
kommen geheifsen  werden  mufs, 
sondern  auch,  weil  eine  genauere 


Kenntnis  der  im  ganzen  nun  glück- 
lich überwundenen  mifslichen  Zu- 
stände des  Erziehungswesens  den 
Blick  schärft  für  die  Fehler,  die  man 
jetzt  in  der  Erziehung  macht,  wie 
für  das,  was  uns  hier  not  thut.  Dafs 
nicht  alles,  was  in  der  Erziehungs- 
praxis jetzt  anders  geworden  ist, 
darum  schon  ein  Fortschritt  ist.  dafs 
es  vielmehr  der  »guten  alten  Zeit« 
auch  nicht  an  Lichtseiten  gefehlt 
hat,  bedarf  nicht  erst  eines  Nach- 
weises Die  Geschichte  kann  um  so 
eher  eine  Lehrmeisterin  werden,  je 
mehr  man  aus  ihr  einen  Einblick 
gewinnt  in  das  Detail  der  Zustände 
und  ihrer  Entwickelung.  Wir  können 
daher  die  Dr.  Stephansche  Schrift,  die 
in  folgenden  Abschnitten:  I.  »Allge- 
meines Über  die  häusliche  Erziehung 
in  Deutschland  während  des  i8. 
Jahrhunderts.«  II.  »Die  körperliche 
Erziehung.«  III.  »Die  Bildung  des 
Verstandes  durch  das  Haus.«  IV.  »Die 
Bildung  des  Gemüts  und  des  Willens, 
die  Erziehung  zu  Sittlichkeit  und 
Sitte.«  V.  »Das  Verhältnis  zwischen 
Privat-  und  Schulerziehung.  Die 
Stellung  des  Hauses  zur  Schule«  r  das 
reiche  Material  behandelt,  nicht  nur 
den  Lehrern,  sondern  auch  allen 
andern,  die  den  Erziehungsfragen  ihr 
Interesse  zuwenden,  namentlich  Vä- 
tern und  Müttern,  sehr  empfehlen. 
Namentlich  die  letzteren  können  viel 
daraus  lernen.  Nicht  der  geringste 
Gewinn  würde  die  Einsicht  sein, 
dafs  auch  in  unseren  Tagen,  wo  man 
sich  daran  gewöhnt  hat,  für  Er- 
ziehungsrückstände hauptsächlich  die 
Schule  verantwortlich  zu  machen,  die 
Hauptarbeit  der  Erziehung  vom  Hause 
gethan  werden  mufs,  wie  die  weitere 
Einsicht,  dafs  hier,  wo  man  noch 
vielfach  in  den  Fehlern  vergangener 
Zeiten  stecken  geblieben  ist,  noch 
vieles  als  recht  verbesserungsbe- 
dürftig erweist. 

Eisenach.  Ackermann. 
XIII. 

Pädagogische  Sammelmappe.  Vorträge, 
Abhandlungen  etc.  für  Erziehung 
&  Unterricht.  125.  Heft.  Pädago- 
gische Studien  für  Eltern,  Lehrer 
und  Erzieher.    15.  Heft.  Leipzig, 


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Verlag  von  Sigismund  und  Volke- 
ning. 

Dieses  Heft  der  pädagogischen 
Sammelmappe  enthält  als  ersten 
Autsatz:  Die  Geographie  in  der 
höheren  Mädchenschule  von  J.  G 
Mailänder,  Rektor  der  städt.  höheren 
Mädchenschule  in  Schw.  Hall.  Der 
Aulsatz  gliedert  sich  in  A.  Die  Auf- 
gabe der  Geographie  in  der 
höheren  Mädchenschule;  B. 
die  Behandlung  und  C.  die 
Sto  ffvertei  lun  g. 

Wir  begegnen  durchweg  wertvollen 
Gedanken,  und  jeder  Lehrer  der 
Geographie  wird  bei  der  Lektüre 
des  Aufsatzes  etwas  lernen  können. 
Nur  ist  nicht  recht  einzusehen,  war- 
um der  Verfasser  die  Einschränkung 
in  der  höheren  Mädchenschule  hier 
zugefügt  hat  .dennscincAusführungen 

vielleicht  den  kürzesten  Abschnitt, 
C.  die  Stoffverteilung,  ausgenommen 
—  gelten  für  den  geographischen 
Unterricht  überhaupt.  Nach  dem 
Thema  erwartet  man  eine  Aussprache 
darüber,  wodurch  sich,  der  Natur 
des  weiblichen  Geschlechts  und  der 
Eigentümlichkeit  der  höheren  Mäd- 
chenschule entsprechend,  der  geo- 
graphische Unterricht  hier  von  dem 
auf  anderen  Schulen  unterscheidet. 

Besonders  gut  hat  mir  gefallen, 
was  der  Verfasser  über  die  Be- 
deutung der  geographischen  Heimat- 
kunde sagt  —  >die  Heimat  ist  der 
Spiegel  des  Weltalls«  Freilich  be- 
schränkt er  nicht  schulmeisterlich 
diesen  Zweig  der  Heimatkunde  auf 
einige  Schuljahre,  sondern  er  ver- 
langt stete  Rückkehr  zu  ihr,  wie 
schon  das  angezogene  Wort  beweist. 
Auch  die  Ausführungen  über  Be- 
nutzung der  Karte,  über  das  geo- 
graphische Zeichnen  stehen  auf  der 
Höhe  der  heutigen  Anschauung,  die 
die  fieberhafte  Erregung  über  das 
Zeichnen  als  Allheilkraut,  über  die 
selbstgezeichnete  Karte  glücklich 
uberwunden  hat.  Interessant  ist  die 
Angabe  des  Verfassers,  wonach  er 
selbst  seine  in  früheren  Jahren  ge- 
fertigten Unterstützungsmittel  für 
das  Zeichnen  jetzt  verwirft;  und  so 
wie  ihm  ist  es  ja  gar  manchem  An- 
hänger »der  zeichnenden  Methode« 
ergangen.    Sehr  richtig  finde  ich  die 


Ansicht,  dafs  jeder  Luxus  in  den 
Anschauungsmitteln  unnötig  ist. 

Nicht  einverstanden  bin  ich  mit 
der  Meinung  des  Verfassers  über 
das  Verhältnis  der  Geographie  zur 
Geschichte;  er  will  beide  Fächer 
getrennt  marschieren  lassen.  Er  fragt 
z.  B.  »Was  fangen  wir  mit  den 
Ländern  an,  deren  Geschichte  wir 
überhaupt  nicht  behandeln-«  — Ste- 
hen wir  denn  immer  noch  auf  dem 
encykJopädischcn  Standpunkt,  dafs 
alles  in  der  Schule  behandelt  werden 
müsse!  Für  die  Geschichte  hat  ihn 
der  Verfasser  sichtbar  aufgegeben, 
aber  für  die  Geographie  behält  er 
ihn  noch  bei.  Dann  weiter,  Griechen- 
land und  Italien  soll  in  der  Ge- 
schichtsstunde vor  der  griechischen 
und  römischen  Geschichte  betrachtet 
werden,  »aber  nur  nach  seinen 
historischen  Beziehungen«  —  warum 
nicht  gleich  nach  allen  für  den 
Unterricht  möglichen  Beziehungen- 
Hängt  denn  wirklich  das  Wohl  und 
Wehe  des  geographischen  Unter- 
richts davon  ab,  dafs  ein  Land 
gerade  dann  behandelt  wird,  wenn 
die  zufällig  beliebte  Stoffverteilung 
es  fordert5  Ich  habe  auch  in  dem 
vorliegenden  Aufsatz  vergeblich  nach 
einem  triftigen  Grund  dafür  gesucht, 
warum  man  Italien  in  der  geo- 
graphischen Stunde  behandelt  haben 
solle,  wenn  die  Geschichte  des 
Landes  in  der  Geschichtsstunde  auf- 
tritt. 

Auch  kann  ich  mich  nicht  einver- 
standen erklären  mit  der  logisch 
geordneten  Besprechung  nach  immer 
wiederkehrenden  Gesichtspunkten: 
»i.  Lage;  2.  Grenzen  etc.«,  denn 
dadurch  erhält  der  Unterricht  ein 
schablonenhaftes  Gepräge.  Jedes 
Land  mufs  nach  Gesichtspunkten, 
die  seiner  Eigentümlichkeit  ent- 
sprechen, durchgenommen  werden. 

An  folgenden  Sätzen  habe  ich  An- 
stofs  genommen  :  »Gab  es  doch  eine 
Zeit,  wo  die  Alpen  als  etwas  Häfs- 
liches  bezeichnet  wurden!  Und  welche 
Änderung  hat  hier  ein  geographischer 
Unterricht  herbeigeführt!«  (S.  7.) 
Glaubt  der  Verfasser  wirklich,  dafs 
der  geographische  Unterricht  hier 
Wandel  geschaffen  hat?  —  Wird 
ferner  die  Geographie  beweisen, 


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»dafs  Rom  geringer  ist,  als  das  be- 
scheidene Athen;  und  dafs  es  mehr 
Wert  hat,  die  Felder  anzusäen,  als 
die  Ernte  unter  die  Füfsc  zu  treten 
(5.  8):  —  Mifs verständlich  ist  der 
Satz  (S.  u):  »Wenn  wir  bezüglich 
der  Reliefs  auch  nicht  verlangen, 
dafs  unsere  Mädchen  von  der  Um- 
gebung solche  anfertigen,  wie  sie 
aul  der  Pariser  Weltausstellung  (!) 
von  einer  Töchterschule  angestaunt 
wurden« . . .  Verfasser  meint  doch  nicht, 
dafs  die  Reliefs  von  einer  Töchter- 
schule angestaunt  wurden.  — 


Das  voliegende  Heft  enthält  an 
zweiter  Stelle  eine  ebenfalls  sehr 
lobenswerte  Arbeit  von  Mittelschul- 
lehrer E.  König:  Die  Umge- 
staltung der  methodischen 
Handbücher  und  Leitfäden 
im  physikalischen  Unterricht 
an  Volksmittelschulen. 

XIV. 

Grundrifs  der  Erdkunde.  Ein  geogra- 
phisches Lern-  und  Aufgabenbuch 
für  die  oberen  Klassen  gehobener 
Volksschulen,  für  Mittelschnlen,  die 
unternKlassen  derGymnasäen,  Real- 
und  höheren  Bürgerschulen,  für 
Lehrer-Präparandenklassenetc.von 
A.  Rennebcrg,  Rektor  zu  Mühl- 
hausen in  Thüringen.  Zweite  ver- 
besserte Auflage.  Preis  80  Pfg.  Leip- 
zig, Verlag  v.Carl  Merseburger  1890. 

Dieser  Grundrifs  zeichnet  sich  aus 
durch  seine  Anordnung.  Sehr  oft 
stehen  die  Länder-,  Gebirgs-,  Fluls- 
namen  so  neben-  und  unter  einander, 
dafs  dadurch  das  Kartenbild  in 
etwas  nachgeahmt  wird,  wenigstens 
für  den,  der  die  Karte  kennt.  So 
hat  der  Schüler  für  die  Wieder- 
holung eine  gewifs  wertvolle  Repro- 
duktionshilfe. Die  Hauptsachen  sind 
gut  zusammengestellt. 

Ausstellungen:  (S.  5.)  >Die 
nördliche  Halbkugel  ist  der  Sonne 
abgewandt«  (von  der  Sonne):  (S.  6). 
Der  jährliche  Wechsel  der  Wärme 
ist  eine  Folge  der  schrägen  Stellung 
der  Erdachse«  ich  glaube  nicht, 
dafs  der  Parallelismus  entbehrt 
werden  kann);  »die  astronomischen 


Jahreszeiten,  das  ist  diejenige  Zeit 
des  Jahres,  in  welcher  die  Wärme 
ungefähr  gleich  ist,  sind:  Frühling, 
Sommer,  Herbst  und  Winter».  Mit 
diesen  astronomischen  Jahreszeiten 
stimmen  die  physischen  oder  wirk- 
lichen nicht  überein  und  doch  soll 
die  Wärme  ungefähr  gleich  sein?! 
Die  physischen  Jahreszeiten  heifsen 
auch:  Frühling  etc.!  (S.  8.)  Jede 
Lichtphase  stent  etwa  eine  Woche 
am  Himmel,  (also  z.  B.  der  Voll- 
mond! ;  S.  91.  »Nahe  bei  einander 
stehende  vereinigt  man  zu  Stern- 
bildern, z.  B.  der  Orion«  (ein  solches 
Sternbild  ist  der  Orion) ;  (S.  \o.) 
Man  zählt  jetzt  325  Asteroiden; 
(S.  i2.)  »Die  Bewohner  der  West- 
feste sind  meist  weniger  gewaltig 
und  kolossal,  z.  B.  Tieer  und  Jaguar* 
(»Tiger  und  Jaguar«)  mülsten  ohne 
»z.  B.«  in  Parenthese  gestellt  sein).  — 
Wann  wird  die  politische  Geographie 
den  traurigen  Vorzug  verlieren, 
durch  kleineren  Druck  die  Augen 
der  Kinder  verderben  zu  dürfen! 

Eisenach  Dr.  Göpfert. 

XV. 

Dr.  Matthias  Drbal  (weil.  k.  u.  k.  Landes- 
Schulinspektor):  Lehrbuch  der 
empirischen  Psychologie. 
Zum  Unterrichte  für  höhere  Lehr- 
anstalten sowie  zur  Selbstbeleh- 
rung leichtfafslich  dargestellt. 
Fünfte  verbesserte  Auflage.  Wien 
und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüller, 
k.  k.  Hof-  und  Universitätsbuch- 
händler 1892.  —  X  und  298.  -— 
Preis  geb.  4  M. 

Das  bekannte  Kompendium  der 
Psychologie  von  Drbal  ist  zunächst 
für  den  Unterricht  an  höheren  Lehr- 
anstalten verfafst  und  besonders  in 
Österreich,  wo  in  den  Gymnasien 
ein  philosophisch  -  propädeutischer 
Kursus  vorgeschrieben  ist,  vielfach 
mit  grofsem  Erfolg  in  Gebrauch  ge- 
nommen. Es  soll  aber  ferner  auch 
dem  Selbststudium  dienen.  Und 
dazu  ist  es  vortrefflich  geeignet.  Es 
gilt  als  das  populärste  gröfsere 
Werk  unter  den  systemati- 
schen Darsellungen  der  Her- 
bartschen  Psychologie.  In 
Hinsicht    auf  die  Selbstbelehrung 


—    1 84  — 


bietet  es  eine  leicht  übersichtliche 
Darstellung  der  Erscheinungen 
desgeistigenLebensmitRück- 
sicht  aufihre  Erklärung  dar. 

Das  Buch  erschien  zuerst  i.  J. 
1868 ,  die  vierte  verbesserte  Aurlage 
(1885)  konnte  der  verdiente  Verfas- 
ser noch  selbst  besorgen.  Nach 
seinem  Tode  (1885)  übernahmen  auf 
Wunsch  des  Verlegers  die  bekannten 
Hcrbartianer  Prof.  Cornelius- 
Halle  und  P  Flügel- Wansleben  die 
Bearbeitung  der  neuen  (5.)  Auflage. 
Darüber  kann  man  sich  freuen.  Die 
Bearbeiter  sind  mit  Recht  bemüht 
gewesen,  dem  Drbalschen  Lehrbuch 
der  Psychologie  »seinen  bisheri- 
gen Charakter  im  wesentlichen 
zu  erhalten.«  Demgemäfs  hat 
die  formale  Behandlung  des  Stoffes 
und  der  Umfang  des  Werkes  keine 
erhebliche  Änderung  erfahren,  wäh- 
rend im  einzelnen  ja  zahlreiche 
Ergänzungen  vorgenommen  sind. 
Manche  Weitschweifigkeit  und  Un- 
genauigkeit  wurde  beseitigt,  manche 
neuere  Forschung  hat  Berücksich- 
tigung gefunden.  Die  hinzugefügten 
litterarischen  Angaben  können  sich 
namentlich  denen  nützlich  erweisen, 
welche  den  einen  oder  den  andern 
Punkt  einer  umfassenderen  Unter- 
suchung unterwerfen  wollen.  Trotz- 
dem ist  der  Umfang  des  Werkes 
etwas  geringer  geworden  (die  4.  Auf- 
lage hatte  311  S.,  die  5.  Auflage  nur 
298  S.).  Die  früheren  Vorzüge  des 
Buches  —  klare  und  gründliche 
Darstellung,  treffliche  Beispiele  und 
Citatc  aus  der  Geschichte  und  den 
Klassikern  —  sind  in  der  Bearbei- 
tung von  Cornelius  und  Flügel  ge- 
wahrt worden. 

Halle  a.  S.  H.  Grosse. 

XVI. 

Schweizerisches  geographisches  Bilder- 
Werk  für  Schule  und  Haus  unter 
Mitwirkung  der  Herren  Kunstma- 
ler W.  Benteli  und  Schulinspek- 
tor G.  Stucki  herausg.  von 
W.  Kaiser  (vorm.  Anderen), 
Kunstverlag  Bern.  Preis  für  die 
Tafel  fr.  5=4  M. 

Zu  den  älteren  geographischen 
Bildern  von  Lejh  mann- Leipzig  und 


den  künstlerisch  ausgeführten  Ge- 
ograph. Charakterbildern«  von  Hol- 
zel (Wien)  ist  neuerdings  das 
schweizerische  geograph.  Bil- 
derwerk hinzugetreten.  Da  das- 
selbe in  Norddeutschland  noch  we- 
nig verbreitet  ist,  die  früheren  Samm- 
lungen aber  passend  ergänzt,  so 
dürfte  hier  ein  näheres  Eingehen 
am  Platze  sein. 

Die  Gröfse  der  Tafeln  beträgt 
60:80  cm  (ähnlich  Hölzelj.  Die 
Bilder  sind  in  16  bis  18  Farben  nach 
Original -Ölgemälden  in  feinstem 
Ölfarbendruck  ausgeführt.  Sie 
können  sich  getrost  neben  die  be- 
rühmten Hölzeischen  stellen;  sie 
sind  wie  jene  für  die  Fern  Wirkung 
berechnet,  aber  anmutiger  in  ihrem 
mehr  hellen,  freundlichen  Kolorit 
Während  Holzel  Objekte  aus  allen 
Weltteilen  zur  Anschauung  bringt, 
beschränkt  sich  das  vorliegende  vor- 
treffliche Bilderwerk  in  der  Haupt- 
sache auf  die  Schweiz.  1  Die  Höl- 
zeische Sammlung  hat  nur  ein  aller- 
dings prächtiges  (Doppel-)  Bild  aus 
diesem  Gebiet:  »Das  Berner  Ober- 
land«.) 

Die  erste  Serie  liegt komplet  vor 
und  umfafst  folgende  Bilder: 

1.  Staubbach  mit  Lauterbrunner- 
thal. 

7.  Eiger,  Mönch  und  Jungfrau. 

3.  Genfersec,  Montreux,  Chillon, 
Dent  du  Midi. 

4.  Vierwaldstättersee,  Rüth,  Tells- 
kapelle,  Urirotstock. 

5.  Bern  mit  Aarethal  und  Berner- 
aipen. 

6.  Rhonegletscher,  Furkastrafse. 

Später  sollen  erscheinen: 

Zürich  mit  See  und  Alpen.  Rhein- 
fall. Via  Mala.  St.  Moritz  mit  See 
und  Alpen.  Lugano  mit  San  Sal- 
vatore.    Genf  mit  Mont  Saleve. 

Eine  weitere  Fortsetzung  ist  in 
Aussicht  genommen. 

Zu  jedem  Bild  erscheint  je  ein 
Heft  Kommentar,  deutsch  von  Schul- 
inspektor Stucki  in  Bern,  französich 
von  Prof.  Viret  in  Lausanne.  Das 
Heft  (16  Druckseiten)  kostet  25  Cts. 

Das  Schw.  geographische 
Bilderwerk  ist  ein  den  Unterricht 
belebendesVeranschaulic  hungs- 


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■ 


-  185 


mittel,  es  bietet  eine  Auswahl  von 
Ansichten  der  herrlichsten  Gegenden 
jenes  unvergleichlichen  Landes. 
Aber  die  schönen  und  billigen  Blätter 
sind  auch  als  Schmuck  fürunsere 
Schulräume  und  "Wohnzimmer 
recht  geeignet.  Die  Reproduktion, 
besorgt  von  der  bekannten  Kunst- 
anstalt Frey  und  Konrad  in  Zürich, 
ist  naturgetreu,  plastisch  und  in 
ihrer  Farbenstimmung  so  malerisch, 
dafs  man  seine  wahre  Freude  daran 
hat.  Die  Bilder  bieten  einen  wirk- 
lichen Begriff  von  der  gewaltigen 
Schönheit  der  Hochalpennatur.  Sie 
führen  das  Hochgebirge  treu  und 
wahr  uns  vor  Augen,  mit  Vermeidung 
blofs  äufserlicher  Effekthascherei. 
Herrlich  sind  besonders  der  Staub- 
bach, die  Jungfrau,  der  Vierwald- 
stättersee  und  der  Genfersee. 

In  dem  Kommentar  zu  den 
einzelnen  Bildern  von  Stuck i,  einer 
Autorität  auf  dem  Gebiet  des  geo- 
graphischen Unterrichtes,  wird  zu- 
nächst in  direkter  Erläuterung  zum 
Bild  eine  Schilderung  der  auf  letz- 
teren dargestellten  Naturschönheiten 
gegeben.  Dann  folgen  physikalisch- 
geographische Belehrungen ,  eine 
Uebersicht  der  betreffenden  Gegend 
in  geologischer,  physo-geographi- 
schcr  und  anderer  Beziehung,  eine 
Beschreibung  der  kulturellen  und 
wirtschaftlichen  Bedeutung  des  Ge- 
bietes, ja  auch  ein  Abrifs  der  Ge- 
schichte desselben.  Kurz,  man  er- 
fährt so  vieles  über  das  auf  dem  betr. 
Bilde  dargestellte  Stück  Erde,  als 
sich  sagen  läfst,  und  dies  alles  im 
angenehmen  Erzählerton ,  nicht  in 
der  trockenen  Schulweisheit. 

Die  Herausgabe  dieses  Bilder- 
werkes ist  ein  patriotisches  Unter- 
nehmen, das  wir  allseitiger  Unter- 
stützung empfehlen. 

H.  Grosse. 

XVII. 

F.  W.  Oörpfeld  (Rektor):  Enchiri- 
dion  der  biblischen  Ge- 
schichte oder:  Fragen  zum 
Verständnis  und  zur  Wiederholung 
derselben.  15.  Aufl.  Gütersloh, 
Druck  und  Verlag  von  C.  Berteis* 
mann  1891  (VIII  und  60  S.)  Preis: 
40  Pf. 


Prof.  Witte-  Pfor ta  sagt  im  > Jahres- 
bericht über  das  höhere  Schulwesen« 
1888  (III.  Jahrg.),  Ergänzungsheft, 
über  Dörpfelds  »Enchiridion/  Fol- 
gendes :  »Eine  wahre  Fundgrube 
didaktischer  Weisheit  in  der  Behand- 
lung der  biblischen  Geschichte  für 
reifere  Schüler  bietet  ein  kleineres, 
nur  60  Seiten  umfassendes  Büchlein, 
das  zur  übersichtlichen  Vorführung 
des  Stoffes,  zur  logischen  Gliederung 
und  verständigen  Einprägung  des- 
selben dem  Lehrer  die  dankens- 
werteste Handreichung  thut.  Das 
ist  F.  W.  Dörpfelds  Enchiridion 
der  biblischen  Geschichte... 
In  dem  unscheinbaren  Büchlein 
steckt  eine  ernste  und  anerkennens- 
werte Arbeit.  Jede  biblische  Ge- 
schichte erhält  neben  ihrer  Haupt- 
überschrift noch  Teilüberschriften 
für  ihre  kleineren  Abschnitte,  und 
jeder  Abschnitt  wird  durch  eine 
Reihe  von  Fragen,  die  Nachdenken 
anregen  und  nur  durch  urteilende 
Antworten,  zuweilen  auch  nur  durch 
mehrere  Sätze  erledigt  werden  kön- 
nen ,  in  lichtvoller  und  oft  geist- 
reicher Weise  erläutert.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  welche  Vorteile  eine 
derartige  Behandlung  dem  Lehrer 
für  die  Besprechung  und  dem  Schüler 
für  die  Wiederholung  darbietet« 
(S.  17  fl.). 

Wir  haben  diesem  Urteil  nicht 
viel  hinzuzufügen.  Das  Buch  er-  . 
leichtert  nicht  blofs  das  Einprägen 
des  Stoffes,  sondern  ergiebt  ein 
»solches  Behalten,  dafs  die  Vor- 
stellungen auch  für  denkende  Ver- 
arbeitung möglichst  disponibel  sind.« 
Dörpfeld  bietet  für  jede  biblische 
Geschichte  (seit  der  12.  Aufl.)  zu- 
nächsteine logische  Gliederung; 
sodann  folgen  Repetitionsfragen, 
die  thunlichst  judieiöser  Art  sind 
(also  nicht  abwickelnde  und  zer- 
pflückende Notizenfragen).  Diese 
Frageform  crschliefst,  das  liegt  auf 
der  Hand,  ein  reiferes  und  tieferes 
Verständnis  der  biblischen  Ge- 
schichte. Vor  allem  ist  es  die  Innen- 
seite der  Geschichte,  welche  durch 
die  Dörpfeldsche  Einteilung  und  die 
Unterfragen  aufgedeckt  wird ,  also 
einerseits  der  psychologische  Unter- 
grund der  handelnden  Personen  — 


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-  i86 


ihre  Überlegungen,  Motive  und  Ab- 
sichten —  und  andrerseits  der  Kausal- 
zusammenhang der  Ereignisse.  Da- 
zu sind  die  Fragen  kurz  und  regen 
das  selbständige  Nachdenken  an. 

Eine  Anweisung  zur  Benutzung 
des  Küchleins  rindet  sich  in  der 
methodischen  Bcgleitschrilt :  ►  E  i  n 
Wort  über  Anlage,  Zweck 
undüebrauchdesEnchiridions 
der  biblischen  Geschichte« 
(Gütersloh,  Bertelsmann"; ,  welche  in 
kurzem  in  neuer  Autlage  erscheinen 
wird.  Vielleicht  entschliefst  sich 
der  Verfasser,  jene  Abhandlung  nicht 
wieder  separat,  sondern  mit  einigen 
andern  religionsunterrichtlichen  Auf- 
sätzen, die  früher  im  >Ev.  Schulblatt« 
erschienen  sind,  zusammen  in  einer 
gröfseren  Schrift  herauszugeben.  — 
Die  psychologische  Begründung  der 
betreffenden  methodischen  Grund- 
sätze hat  der  Verfasser  geliefert  in 
der  Schrift:  »Denken  und  Ge- 
dächtnis«, eine  psychologische 
Monographie«  v  Auti  Gütersloh, 
1S861,  -  speziell  für  den  Geschichts- 
unterricht S.  120  -  149. 

H.  Grosse. 

XVIII. 

Karl  Grundsoheid,  Das  Schulwesen 
Englands.  —  Sammlung  päda- 
gogischer Vorträge,  herausg.  von 
W.  Meyer-Markau,  III.  Bd.  Heft  12, 
S.  28,  Pr.  0,75  M  Bielefeld,  Hel- 
mich 1891. 

Einsicht  zu  nehmen  in  das  Schul- 
wesen eines  fremden  Landes  darf 
stets  zu  den  reizvollsten  pädago- 
gischen Bethätigungen  gezählt  wer- 
den. Demjenigen,  welcher  bereits 
eine  klare  Vorstellung  von  heimischen 
Schulverhältnissen  besitzt,  kann  da- 
her nur  geraten  werden,  eine  Um- 
schau über  die  eigenen  vier  Pfähle 
hinaus  zu  thun  schon  im  Interesse 
der  eigenen  pädagogischen  Weiter- 
bildung. Aber  auch  der  Gesamt- 
heit, dem  Lehrerstande,  wie  dem 
Vaterlande,  dütfte  daraus  ein  Nutzen 
entspringen,  zumal  wenn  wirkliche 
Ergebnisse  des  Einblickes  durch 
Druck  veröffentlicht  werden.  Es  ist 
hierbei  zu  erinnern  an  Wieses 
»Deutsche  Briefe  über  englische  Er- 


ziehung« und  Raydts  >Ein  gesunder 
Geist  in  einem  gesunden  Körper; 
englische  Schulbilder  in  deutschem 
Rahmen  « 

Der  Verf.  erhofft  mit  seiner  Ver- 
öffentlichung offenbar  etwas  Ähn- 
liches zu  erwirken.  Und  er  ist  dazu 
berechtigt,  da  er  durch  den  Schul- 
dienst sich  mit  englischem  Schul- 
wesen ziemlich  vertraut  gemacht  hat. 

Seine  Darbietungen  gliedern  sich, 
wie  folgt:  t.  Das  Schulwesen  im  all- 
gemeinen. 2.  Einteilung  der  eng- 
lischen Schulen  und  ihre  Gruudübel. 
3.  Vorbildung  der  Lehrer  und  ihre 
soziale  Stellung.  4.  Die  Wirksam- 
keit des  englischen  Lehrers  in  der 
Schule.    5  Ferien. 

Die  im  ganzen  lesbaren  Darstel- 
lungen des  Verf.  geben  zu  folgenden 
Einwänden  Anlafs: 

!.  Bei  der  Fülle  des  Stoffes  ist  es 
zu  bedauern,  dafs  Verf.  sich  vor- 
nimmt, »das  Schulwesens  Englands« 
auf  knapp  28  Seiten  darzustellen. 
Eine  Überschrift,  etwa  —  Meine  An- 
schauungen über  das  englische  Schul- 
wesen —  wäre  vielleicht 
enttäuschend  gewesen. 

2.  Wenn  man  auch  im  allgemeinen 
sein  Urteil  nicht  abhängig  machen 
kann  und  dar!  von  dem  Zeitpunkte, 
in  welchem  eine  litterarische  Er- 
scheinung auftritt,  so  mufs  doch  in- 
bezng  auf  den  Abrifs  des  Verf.  er- 
klärt werden,  dafs  zur  Bildung  eines 
Urteils  über  das  jetzige  engl.  Schul- 
wesen dessen  Veröffentlichung  un- 
zeitgemäfs  erscheint.  Wer  die  Ent- 
wicklung der  Schulgesetzgebung  ver- 
folgt hat,  wird  die  Wirkungen  der 
in  diesem  Jahre  im  Parlament  be- 
ratenen »Elementary  Education  Bill« 
und  damit  die  Klärung  der  lange 
Zeit  brennenden  Angelegenheit,  ob 
»Free  Schools  and  Public  Manage- 
ment« abwarten,  ehe  er  ein  Bild  des 
heutigen  englischen  Schulwesens 
giebt  Verfasser  hat  scheinbar  eine 
laxe  Durchführung  des  im  Forster- 
schen  Elementarschulgesetze  beton- 
ten Schulzwanges  vom  Jahre  1870 
nur  in  kleineren  Ortschaften  kennen 
gelernt;  Rez.  kann  über  eine  dies- 
jährige Besichtigung  Londoner  Schu- 
len berichten,  die  ihm  eine  schier 
entgegengesetzte    Meinung  bilden 


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-    i87  - 


licls.  Diese  Thatsachen  ergeben 
den  Beweis  für  eine  zur  Zeit  recht 
ungeeignete  Bildung  eines  vorsich- 
.  tigen  und  darum  allgemeingültigeren 
Urteils  über  das  heutige  englische 
Schulwesen.  Auch  hinsichtlich  des 
vom  Verf  gekennzeichneten  zweiten 
Grundübels  in  demselben  darf  auf 
die  El.  Educ.  Bill  hingewiesen  wer- 
den, in  deren  Kostenbewilligungs- 
Paragraphen  eine  Zeitdauer  des  Zu- 
schusses von  10  sh.  für  jedes  Kind 
im  Alter  von  über  3  und  unter  15 
Jahren  vorgesehen  ist,  welche  also 
eine  bedeutsame  Verlängerung  der 
Schulzeit  —  früher  5—13  Jahr  — 
andeutet. 

3.  Erörterungen  über  die  Ein- 
teilung der  englischen  Schulen  hätte 
dem  Verf.  Gelegenheit  bieten  können, 
einesteils  der  recht  zweckmäfsigen 
und  zuweilen  prächtigen  Einrich- 
tungen der  Stiftungsschulen  zu  ge- 
denken, sowie  andernteils  die  für 
unsere  Verhältnisse  so  nachahmungs- 
werten Besserungsanstalten  (Boys 
and  Girls'  Industrial  Homes)  mit  auf- 
zuzählen. 

Bei  den  mit  Recht  zu  geifselnden 
Schattenseiten  bezüglich  der  Lehrer- 
bildung und  der  Zucht  in  der  Schule 
durfte  der  Verf.  in  seiner  Skizze 
nicht  auch  das  Rühmenswerte  im 
englischen  Schulwesen  vergessen. 
Sollte  nicht  die  bauliche  Einrichtung 
eines  Londoner  Volksschulhauses, 
welche  bei  aller  Einfachheit  im 
Äufseren  eine  überraschende  Zweck- 
mäfsigkeit  und  Berücksichtigung  der 
Hygiene  erkennen  läfst,  oder  die 
Thatsache,  dafs  selbst  für  eine 
6  stufige  Schule  mit  6  nicht  gerade 
überfüllten  Klassen  8  Lehrkräfte  zur 
Verfügung  stehen,  ferner  dafs  die 
Kleinkindcrschule  in  die  Volksschule 
eingegliedert,  dafs  schliefslich  den 
Mädchen  der  ärmsten  Volksklasse 
Haushaltungs-  und  Kochunterricht 
erteilt  wird  —  sollten  diese  Punkte 
nicht  hervorzuheben  sein  als  rüh- 
mens-  und  nachahmungswert?  Und 
wenn  Verf.  Londoner  Schulen  nicht 
kennen  gelernt  hat,  sondern  eben 
noch  in  der  Entwicklung  zurück- 
gebliebene in  kleineren  Städten,  so 
war  von  englischen  Schulen  im  all- 
gemeinen wohl  nicht  zu  urteilen.  — 


Unser  deutsches  Volksschulwesen 
hat  zwar  die  Kämpfe  hinter  sich, 
welche  in  England  zur  Zeit  toben; 
aber  es  würde  dem  Vaterlande  ein 
schlechter  Dienst  geleistet,  das  Gute 
im  Auslände  nicht  daheim  anzuer- 
kennen Hat  doch  die  kaiserliche 
Pädagogik  verschiedene  ihrer  For- 
derungen durch  Anschauungen  in 
England  gebildet! 

Halle  a.  S. 

Dr.  B.  Maennel. 
XIX. 

Gustav  Wustmann,  Allerhand  Sprach- 
duntmheiten.  Kleine  deutsche  Gram- 
matik des  Zweifelhaften,  des  Fal- 
schen und  des  Häfslichen.  Ein 
Hilfsbuch  für  alle,  die  sich  öffent- 
lich der  deutschen  Sprache  be- 
dienen. Leipzig,  Fr.  Wilh.  Grunow. 
1891.    Preis  geb.  2  Mark 

Von  der  genannten  Schrift  mufste 
vier  Wochen  nach  der  ersten  Aus- 
gabe das  4.  Zehntausend  gedruckt 
werden.  Einen  derartigen  Erfolg 
hat  in  Deutschland  selten  ein  Buch 
aufzuweisen ;  und  oft  sind  es  noch 
äufserc  Ursachen,  die  einen  Massen- 
absatz bewirken.  In  unserem  Falle 
hat  aber  der  innere  Gehalt  des 
Werkchens  das  allgemeine  Interesse 
wachgerufen. 

Das  Buch  ist  aus  einer  Reihe  von 
Abhandlungen  aus  den  Grenzboten 
entstandan  Schon  diese  Aufsätze 
haben  in  den  interessierten  Kreisen 
viel  Anerkennung  gefunden.  Der 
Verfasser  hat  sie  erweitert  und  er- 
gänzt, den  Stoff  besser  angeordnet 
und  bietet  uns  nun  eine  vollständige, 
kleine  deutsche  Grammatik  des 
Zweifelhaften,  des  Falschen  und  des 
Häfslichen.  Übrigens  darf  man  da- 
bei nicht  an  eine  trockene  syste- 
matische Grammatik  denken.  Die 
Darstellung  atmet  Geist  und  Le\>en. 
Sie  ist  kernig,  hier  und  da  wohl 
etwas  derbe,  aber  der  AusHufs  der 
Begeisterung  für  unsere  schöne 
Sprache,  der  gerechten  Entrüstung 
über  alles  Gesuchte,  Gekünstelte, 
Unschöne  und  Fehlerhafte. 

Der  Verfasser  bekämpft  schon  in 
der  Einleitung  den  sog.  papiernen 
Stil.    Wie  in  anderem,  so  erinnert 


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-    188  — 


uns  das  Buch  auch  hierin  an  Hilde- 
brands treffliches  Werk. 

Die  Schreibsprache  hat  «ich  eine 
Menge  von  Dingen  zugelegt,  die  in 
der  lebendigen  Sprache  Rar  nicht 
vorkommen.  Sie  sagt  welcher  für 
der,  in  welchem  für  worin,  der- 
selbe für  er,  auf  demselben  für 
darauf,  woselbst  für  wo.  Sie 
bringt  dieGlicdmafsen  der  Sprache  in 
eine  verzerrte  Stellung,  schreibt  z.  B. : 
und  hat  das  Direktorium  nach  reif- 
licher Erwägung  sich  entschlossen, 
statt:  und  das  Direktorium  hat  sich 
nach  reiflicher  Erwägung  entschlossen 
u.  s.  w. 

Auch  gegen  das  Aktendeutsch, 
gegen  die  Flickwörter,  gegen  die 
Provinzialismen,  namentlich  die 
Austriacismen,  gegen  die  Galli- 
cismen  und  Anglicismen  spricht 
sich  Wustmann  energisch  aus.  Das 
Kapitel  über  die  Fremdwörter 
überhaupt  gehört  zu  dem  Interessan- 
testen, was  wir  über  diese  Ange- 
legenheit gelesen  haben. 

Als  die  Hauptursache  der  Ver- 
wilderung unserer  Sprache,  den 
eigentlichen  Herd  und  die  Brutstätte 
dieser  Verwilderung  bezeichnet  Wust- 
mann die  Tagespresse.  Die  Zeitungs- 
sprache habe  weiterhin  unsre  ge- 
samte Schriftsprache  angesteckt.  — 
Wustmann  tadelt,  dafs  heute  bei 
einer  Buchbesprechung  so  selten 
die  Darstellung,  der  Stil  des  Buches 
beurteilt  werde ;  der  Inhalt  des  Buches 
sei  alles  geworden,  die  Form  bedeute 
nichts  mehr. 

Das  Werkchen  hat  drei  Haupt- 
abschnitte. Der  erste  handelt  über 
die  Formenlehre,  der  zweite  über 
die  Wortbildungslehre,  der  dritte 
über  die  Satzlehre.  Was  sollen 
wir  aus  dem  reichen  Inhalte  heraus- 
greifen? Wir  geraten  in  die  gröfste 
Verlegenheit.  Altes,  alles  ist  lesens- 
wert und  sehr  interessant.  Man  wird 
von  dem  Buche  nicht  wieder  los- 
kommen, wenn  man  erst  ein  Kapitel 
gelesen  hat.  Und  was  das  beste  ist: 
man  gewinnt  dadurch  ein  weiter- 
dringendes Interesse  für  die  ange- 
regten Fragen. 

Einige  Kapitelüberschriften  wollen 
wir  hier  anführen :  Name  oder  Namen? 
Generale    oder  Generäle?  Verein 


Leipziger  Lehrer.  An  Bord  Sr. 
Maj.  Schiff.  Gedenke  unser  oder 
unsrer 1  Hingebung  oder  Hingabe5 
Speisekarte  oder  Speisenkarte5  Neue 
Wörter.  Modewörter.  Schwulst.  Be- 
dingen. Es  wurde  sich.  Die  statt- 
gefundene Versammlung.  Weimar- 
lose  und  Neapelmotive.  Shakespeare- 
dramen und  Bismarckbeleidigungen. 
Herr  Lammers-Brcmen.  Die  Samm- 
lung Göschen.  Die  Familie  Nach- 
folger. Der  Buchtitelfehler.  Fräu- 
lein Mimi  Schulz,  Tochter  u.  s.  w. 
G.  Fischer,  Buchbinderei.  Seitens. 
Ab  Zwickau.  Aus:  »Die  Grenz- 
boten«. 

Auch,  was  Wustmann  über  den 
fliefs enden  Stil  sagt,  ist  beher- 
zigenswert. »Man  spricht  so  viel 
von  fliefsendem  Stil,  beneidet  wohl 
auch  den  und  jenen  um  seinen 
rliefsenden  Stil.  Ist  das  Sache  der 
Begabung,  oder  ist  es  etwas  erlern- 
bares? Zum  Teil  beruht  das,  was 
man  rliefsenden  Stil  nennt,  unzweifel- 
haft auf  der  Klarheit  des  Denkens 
und  der  Folgerichtigkeit  der  Ge- 
dankenentwicklung, zum  Teil  auch 
auf  dem  Rhythmus  —  es  wird  viel 
zu  viel  stumm  geschrieben,  während 
man  doch  nichts  drucken  lassen 
sollte,  was  man  sich  nicht  selber  laut 
vorgelesen  hat !  Zum  gröfsten 
Teil  aber  beruht  es  auf  gewissen 
technischen  Handgriffen  beim  Satz- 
bau —  Handwerksvortelchcn  könnte 
man  sagen  — ,  die  man  eben  kennen 
mufs,  um  sie  anwenden  zu  können. 
Unbewufst  oder  unwillkürlich  wendet 
sie  niemand  an.  . .  Auf  jeden  Fall  sollte 
jeder  Schriftsteller  die  folgenden 
stilistischen  Haus-  und  Lebensregeln 
beobachten:  i)  Schreibe  Verba,  nicht 
Substantiva !  2)  schreibe  Substantiva, 
nicht  Pronomina!  3)  schachtle  nicht, 
sondern  schreibe  Nebensätze!  4) 
schreibe  laut!  schreibe  nicht  immer 
blofs  für  die  Augen,  sondern  vor 
allem  für  die  Ohren!« 

Auf  Vollständigkeit  kann  das  Buch 
seiner  Anlage  nach  keinen  Anspruch 
machen.  Es  will  nur  anregen,  die 
Augen  öffnen,  das  Sprachgewissen 
anstacheln,  es  will  ein  Notmittel  sein 
gegen  einen  Notstand.  Was  jeder 
richtig  macht,  darauf  geht  es  nicht 
erst  ein.    »Und  wenn  kein  anderes, 


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-  i89 


das  eine  Verdienst  nimmt  dieses 
Büchlein  für  sich  in  Anspruch,  dafs 
es  zum  erstenmale  in  weiterm  Um- 
fange auf  die  lebendige  Sprache  hin- 
gewiesen hat.< 

Wenn  jemand  zur  Abfassung  dieses 
Buches  berufen  war,  so  war  es  Wust- 
mann. Er  war  früher  fünfzehn  Jahre 
lang  an  einem  Leipziger  Gymnasium 
von  der  untersten  bis  zur  obersten 
Klasse  Lehrer  des  Deutschen.  Seit 
elf  Jahren  ist  er  Leiter  der  Stadt- 
bibliothek und  des  Ratsarchivs  der 
Stadt  Leipzig.  Seit  fünfundzwanzig 
Jahren  ist  er  dabei  schriftstellerisch 
und  namentlich  auch  bei  der  Heraus- 
gabe von  Zeitschriften  thätig  ge- 
wesen. Tausende  von  älteren  Schrift; 
stücken,  tausende  von  Manuskripten 
der  Gegenwart,  die  er  zum  Druck 
vorzubereiten  hatte,  sind  durch  seine 
Hände  gegangen  Er  hat  beobachtet 
und  gesammelt,  wie  wenige. 

Im  Heft  12,  1892,  der  Grenzboten 
veröffentlicht  Wustmann  eine  Er- 
klärung gegen  Angriffe,  die  von  ver- 
schiedenen Seiten  gegen  sein  Werk 
gerichtet  worden  sind:  Randbemer- 
kungen zu  Dr.  Wustmanns  Allerhand 
Sprachdummheiten.  Untersuchungen 
über  wichtige  Gegenstände  der  deut- 
schen Sprachlehre  von  Professor  Karl 
Erbe.  Stuttgart,  Adolf  Bonz  u.  Komp., 
1892.  —  Bechstein  in  der  Zeitschrift 
für  den  deutschen  Unterricht  (VI, 
1,  S.  64—72). 

Jüngst  ist  noch  eine  Schrift  er- 
schienen, die  sich  gegen  Wustmann 
wendet:  In  tyrannuneulos!  Streit- 
schrift zur  Verteidigung  der  deut- 
schen Sprachfreiheit  von  Dr.  Karl 
Kaerger.  Berlin,  Gergonne  u.  K. 
1S92.  »Auf  einen  groben  Klotz  ge- 
hört ein  grober  Keil«  ist  das  Motto 
der  Schrift.  Das  sagt  viel.  Noch 
genauer  hätte  der  Verfasser  seinen 
Standpunkt  bezeichnet,  wenn  er 
variiert  hätte:  .  .  .  >gehört  ein 
schmutziger  Keil«.  Die  Schrift  trotzt 
von  Anzüglichkeiten,  so  dafs  man 
sie  nur  mit  Widerwillen  zuende  lesen 
kann.  Einen  besonderen  Hafs  scheint 
Kaerger  auf  die  Schulmeister  ge- 
worfen zu  haben.  Ausdrücke,  wie 
Schulmeisterzunft ,  Schulmeisterei, 
gallige  Schulmeister,  Schultyrann, 
bakelschwingcndes  Tyrannunkelge- 


zücht, scheinen  ihm  so  recht  von 
Herzen  zu  kommen. 

Kaerger  heifst  alle  Neubildungen 
gut,  insofern  sie  nicht  gegen  die 
Logik  verstofsen.  Doch  auch  schlechte 
Neubildungen  will  er  nicht  ausge- 
merzt wissen.  Auch  der  sprachliche 
Bastard  habe  eben  durch  sein  Dasein 
die  Daseinsberechtigung.  Das  sagt 
genug. 

In  der  FreradwÖrterfrage  nimmt 
Kaerger  einen  eigenartigen  Stand- 
punkt ein,  den  er  als  den  Sprach- 
bereicherungsstandpunkt bezeichnet. 

Die  Sprache  Kaergers  ist  gesucht 
originial  und  erinnert  darin  an  Joh. 
Scheer  und  Viktor  Hugo.  Wir  fuhren 
folgende  Ausdrücke  an:  Mitfahrtner, 
zusammengepfennigt,  vollgegellt,  Bu- 
chjeht,  erkecken,  Konkretisierung, 
Verthatsächlichung,  die  nachsiebziger 
Zeit,  Deutschland  hat  auch  in  Über- 
see festen  Fufs  zu  fassen  begonnen, 
jubelnärrisch ,  gelachdonnert  und 
gelachhagelt ,  Entfrcmdwörtcrung, 
Deutschwort,  die  Dürft,  der  Nach- 
fertiger, die  Entthätigung  und  An- 
thätigung.  Erjährung,  Typistik,  Sta- 
tistigramm,  Hundner,  entreinigen, 
verunmöglichen,  Selbstentfriedigung, 
eine  Etlichkeit,  vorbeispielen. 

Für  Leute,  die  mir  und  mich 
nicht  unterscheiden  können,  ist  das 
Buch  nicht  bestimmt;  aber  es  setzt 
auch  nicht  allzuviel  voraus.  Zu- 
nächst ist  es  für  Lehrer  berechnet; 
aber  auch  Schüler  können  es  mit 
Vorteil  benutzen  und  jahrelang  darin 
gesunde  Nahrung  finden.  Jedem, 
jedem,  dem  es  darum  gethan  ist,  ein 
gutes  Deutsch  zu  reden  und  zu 
schreiben,  ist  es  dringend  zu  em- 
pfehlen. 

Schulitz.  Adolf  Rüde. 

XX. 

H.  Zemmrloh,  Oberl.  in  Zwickau:  Be- 
darf die  Volksschule  einer  Ver- 
mehrung der  Religionsstunden1 
Vortrag  u.  s.  w.  Zwickau,  R.  Zück- 
ler.  47  S.  8.  Preis  60  Pf.  — 
Über  Veranlassung,  Inhalt  und 
Schicksal  dieses  Vortrags  s.  oben 
S.  150. 

In  demselben  wird  warm  und,  wie 
wir  glauben,  überzeugend  der  Nach- 


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190  - 


weis  geführt,  dafs  ein'Vorschlag,  der, 
wenn  auch  vielleicht  unbewufster- 
weise,  auf  dem  Boden  des  didak- 
tischen Materialismus  steht,  die  Schä- 
den unseres  religiösen  Lebens  nicht 
heilen  kann.  Herr  Z.  geht  den  noch 
vorhandenen  Erzeugnissen  des  Ency- 
klopädismus  scharf  zu  Leibe  und 
legi  dann  einen  Lehrgang  für  die 
vier  letzten  Schuljahre  dar.  der  in 
den  Grundzügen  mit  Thrändorf  und 
tlen  >Schuljahren«  übereinstimmt. 
Kür  diejenigen,  welche  nicht  unmittel- 
bar bei  der  Vermehrung  der  Stunden- 
zahl interessiert  sind,  ist  dieser  Ab- 
schnitt (S.  30—44)  wohl  der  Haupt- 
teil der  Schrift.  Was  hier  vorge- 
schlagen wird,  läfst  sich  ausführen, 

sobald  die  Lehrer  wollen  oder  

dürfen.  Möge  die  Schrift  nach  beiden 
Seiten  Gutes  wirken! 

Leipzig.  Fr.  Franke. 

XXI. 

C.  Jacobi,  Bibel-Atlas  zum  Gebrauche 
an  Lchrcrseminaricn,  Gymnasien 
und  Realschulen,  sowie  für  Geist- 
liche und  Lehrer.  Siebente, 
vollständig  umgearb.  und  erweiterte 
Aull,  des  >Atlas  zur  bibl.  Ge- 
schichte*.  Gera,  Th.  Hofmann, 
1891.  9  Karten  und  44  S  erklären- 
der Text,  4  °,  Pr.  1.20  M. 

Hilfsmittel  für  den  Religionsunter- 
richt, wie  das  vorliegende,  sind  ein 
Bedürfnis,  welches  noch  lange  nicht 
genügend  erkannt  ist.  Sie  recht- 
fertigen sich  aus  der  didaktischen 
Forderung,  dafs  auch  ein  so  eminent 
gesinnungsbildendes  Fach,  wie  der 
Religionsunterricht,  einer  klaren  Er- 
fassung zunächst  der  äufseren,  vor 
allem  der  kulturellen  Verhältnisse 
bedarf,  wenn  es  seinen  Zweck  voll 
und  ganz  erreichen  will.  Das  ist 
umsomehr  der  Fall,  als  unserem  Em- 
pfinden jene  entfernten  Zeiten  und 
Räume  zunächst  fremd  sind  wir  uns 
mit  Sorgfalt  in  dieselben  einleben 
müssen,  bevor  wir  den  Kern  der 
Handlungen  erfassen  können,  welche 
in  und  auf  ihnen  sich  abspielten. 

Der  Bibel-Atlas  will  indes  nur  die 
geographischen  Seiten  des  Unter- 
richts in  der  bibl.  Geschichte  fördern 
helfen.    Daraus  kann  man  dem  Verf. 


keinen  Vorwurf  machen.  Aber  der 
Gedanke  wäre  bei  einer  neuen  Be- 
arbeitung zu  erwägen,  ob  die  rein 
geographischen  Artikel  des  erläutern- 
den Textes  (es  sind  mehr  als  450I 
nicht  einer  gründlichen  Auswahl 
unterzogen  werden  könnten,  um  an 
Stelle  der  ausgeschiedenen  solche 
über  kulturelle  im  engeren  Sinne) 
Verhältnisse  treten  zu  lassen.  Es 
würde  so  ein  Hilfsmittel  im  kleinen 
entstehen  wie  es  Rieh  ins  biblisches 
Handwörterbuch  im  grofsen  ist. 
Sonst  ist  der  Schüler  der  höheren 
Schule  doch  gezwungen,  das  Fehlende 
sich  auf  andere  Weise  zu  verschaffen. 
Es  wird  sich  bei  genauerem  Zusehen 
gewifs  ergeben,  dafs  viele  unrichtige 
geographische  Objekte  durch  weit 
wichtigere  aus  dem  damaligen  Leben 
ersetzt  werden  können,  ohne  dafs 
sich    der  Umfang  wesentlich  ver- 

Söfsert.  Einige  gute  Cliches  von 
egenständen  der  damaligen  Kultur, 
ohne  die  es  allerdings  nicht  abginge, 
würden  wohl  auch  leicht  zu  erwerben 
sein. 

Zu  dem  Bibel-Atlas,  wie  er  jetzt 
vorliegt,  wäre  aber  noch  in  Kürze 
zu  bemerken  1)  zum  erläutern- 
den Text:  Die  Erläuterungen  sind 
unglcichmäfsig  Athen  und 
Babel  ('S.  11  kommen  beispiels- 
weise viel  schlechter  weg  als  Xaloth 
oder  Zoar  (S.  46t,  ersteres  mit  dürf- 
tigen geogr.  Angaben,  letzteres  mit 
einer  einzigen  ethymologischen  An- 
merkung. Selbst  wenn  man  sich 
auf  eine  eingehende  Behandlung 
dieser  Orte  in  der  Profangeschichte 
berufen  wollte,  so  wären  doch  in 
diesem  Handbuche  mindestens  die 
Punkte  kurz  und  prägnant  anzugeben, 
welche  die  Beziehungen  zur  bibl. 
Geschichte  aufdecken,  bei  Athen 
z.  B.  die  eigentümliche  geistige  Ver- 
fassung der  Gemeinde,  zur  Zeit  der 
Wirksamkeit  des  Paulus,  bei  Babel 
das,  was  einem  Teil  der  Juden  das 
Exil  unerträglich  gemacht,  andere 
ihr  Vaterland  vergessen  liefs  u.  s.  w. 
Ferner  sind  die  Erläuterungen  un- 
vollständig: Samaria  und  Peräa 
sind  gar  nicht  genannt,  Galiläa  und 
Judäa  ausführlich  behandelt.  Und 
doch  ist  Samaria,  selbst  seiner  Lage 
nach    rein  geographisch  aufgefafst, 


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—    I9i  — 


für  so  manche  eigentümliche  Er- 
scheinung im  Verhalten  der  Juden, 
im  Auftreten  Jesu  u.  s.  f.  von  Be- 
deutung. 2)  Zu  den  Karten: 
Warum  fehlt  eine  Karte  von  Ägyp- 
ten? Gosen  ohne  Zusammenhang 
mit  dem  ganzen  Lande  ist  für  das 
Verständnis  schwer  zu  fassen,  auch 
geographisch  abgesehen  von  dem 
kulturellen  Hintergründe.  —  Wie  in 
anderen  Atlanten,  so  fehlt  auch  bei 
der  vorliegenden  Karte  von  Palä- 
stina (No.  4)  bei  der  Darstellung 
der  Depression  eine  Darstellung  der 
raschen  Senkung.  Die  Schichten 
über  dem  Meeresspiegel  werden 
von  200  zu  200  m  mit  anderen 
Farbentönen  bezeichnet,  warum  nicht 
auch  die  unter  dem  Meeresspiegel? 
Diesen  Fehler  findet  man  allgemein. 
—  Für  die  beiden  Stadtpläne  von 
R.  Jerusalem  (No.  6  u.  7)  sind  ver- 
schiedene Mafsstäbe  gewählt.  Das 
erschwert  den  Vergleich  der  Aus- 
dehnung der  Stadt  zur  Zeit  des 
Titus  und  in  der  Gegenwart  ganz 
wesentlich.  —  Karte  No.  VIII  ist  in 
der  Farbengebung  zu  grell.  Die 
Reisen  des  Paulus  durch  Macedonien 
und  Achaia  sind  kaum  kenntlich. 

Doch  mögen  diese  und  manche 
andere  Mängel  in  erster  Linie  auf 
Rechnung  des  niedrigen  Preises  (M. 
120)  zu  schreiben  sein.  Jedenfalls  ist 
die  Erweiterung  dieser  Auflage  durch 
den  Text  und  die  Beigabe  einzelner 
Karten  ein  Fortschritt  und  der  Bibel- 
Atlas  auch  was  die  Ausstattung  be- 
trifft preiswert;  er  kann  zum  Ge- 
brauche auch  schon  in  seiner  jetzigen 
Form  wohl  empfohlen  werden. 


Jena. 


E.  Scholz. 


XXII. 


Deutsche  Gedichte  nebst  einem  An- 
hange von  Sprüchen,  Sprichwörtern 
und  Rätseln  zum  Auswendiglernen. 
Zusammengestellt  und  herausge- 
geben von  Dr.  Johannes  Nieden, 
Konrektor.  Preis:  geb.  1  M.  Strafs- 
burg i.  E.  Verlag  von  E.  Lindner. 
1891.    V  u.  186  S.    8  °. 

Das  Buch,  dessen  Einführung  vom 
Kaiserlichen  Obcrschulrat  gestattet 
ist,  ist  für  Mittelschulen,  besonders 


wohl  für  zehnklassige  höhere  Mäd- 
chenschulen bestimmt.  Es  wird  aber 
auch  Seminaristen  und  Semina« 
ristinnen  sehr  gut  bekannt  machen 
mit  dem  poetischen  Stoß',  in  den 
diese  ihre  zukünftigen  Schüler  ein- 
zuführen haben.  Die  Gedichte  sind 
nach  zuverlässigen  Quellen  der 
Kaiserlichen  Universitäts-Bibliothek 
zu  Strafsburg  i.  E.  herausgegeben; 
einzelne  wurden,  da  es  sich  hier  um 
eine  Schulausgabe  handelt,  gekürzt. 

Die  Ausgabe  bezweckt,  die  sich 
für  die  Schule  eignenden  Gedichte 
stets  beisammen  zu  haben  —  auch 
dann,  wenn  einzelne  Teile  des  Lese- 
buchs abhanden  kamen.  Es  können 
auf  diese  Weise  die  in  früheren 
Schuljahren  gelernten  bequem  wie- 
derholt werden.  Das  Wertvollste 
des  Schullesebuchs  —  das  Dichter- 
wort —  prägt  sich  so  gewisser  ein 
und  ist  in  seiner  Wirkung  sicherer. 
—  Die  Auswahl  der  Gedichte  ist 
bei  den  bestehenden  verschiedenen 
Richtungen  und  Neigungen  nicht 
leicht.  Mancher  vermifst  wohl  auch 
das  eine  und  andere  z  B.  »Der 
Wegweiser«  und  >Der  Winter«  von 
Hebel,  P.  Gerhardts  »Sommerlied«, 
Bürgers  >Lied  vom  braven  Manne«, 
Geroks  »Zum  neuen  Jahr«,  Freilig- 
raths »Löwenritt«,  Körners  »Aufruf«. 
Für  diese  bringt  die  Sammlung 
andere  Goldkörnlein.  Was  sie  giebt 
ist  mit  einem  feinen  Verständnis  der 
Kindesnatur  und  des  reichen  Schatzes 
der  Litteratur  ausgewählt.  Der 
Standpunkt  des  Herausgebers  ist  bei 
allem  Vorwiegen  einer  gesunden 
Religiosität  kein  frömmelnder.  Das 
Buch  giebt  mehrere  Beweise  eines 
solchen,  vorurteilsfreien  Blickes. 
Nicht  alles  Gegebene  ist  in  der 
Schule  bekannt;  aber  alles  dürfte 
sich  bald  Heimatsrecht  in  ihr  er- 
werben. Mit  Recht  sind  Kindes- 
lieder, Sprüche,  Sprichwörter  und 
Rätsel  aufgenommen;  erstere  wer- 
den zu  einer  Erinnerung  an  die 
schöne  Kinderzeit,  häufig  sind  sie 
ein  Schatz  und  Schutz  für  kommende 
bewegte  Tage;  letztere  sind  ein  aus- 
gezeichnetes Mittel,  die  Schüler  in 
Spannung  und  eifriges  Suchen  zu 
versetzen.  —  Das  eine  und  das 
andere  Gedicht  blieb  vielleicht  weg. 


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weil  der  Herausgeber  in  erster  Linie 
weniger  für  Knabenschüler  arbeiten 
wollte. 

Das  Buch  wird  nicht  nur  während 
der  Schulzeit,  sondern  auch  nach 
derselben  von  Segen  sein,  das  Schul- 


buch wird  zu  einem  viel  gebrauchten 
Familienbuche  werden. 

Die  Ausstattung  (Druck  und  Papier), 
welche  für  das  Auswendiglernen  nicht 
bedeutungslos  ist,  ist  recht  gut  und 
der  Preis  ein  niedriger. 


D.  Anzeigen. 


i. 

Alumneuma  Erinnerungen  von  einem 
alten  Kreuzschüler.  Leipzig,  Gru- 
now.    1,50  M. 

Der  Verfasser,  von  1854—1862 
Alumnus  der  Kreuzschule  in  Dres- 
den, schildert  mit  grofser  Treue  die 
häusliche  Einrichtung  und  das  täg- 
liche Leben  der  damaligen  Alumnen, 
die  Verfassung  und  die  mannigfachen 
Pflichten  und  Leistungen  des  Sänger- 
chores unter  dem  Kantor  Julius  Otto, 
endlich  die  Verpflegung  und  die 
bescheidenen  Genüsse  und  Ver- 
gnügungen. Da  viele  dieser  Ein- 
richtungen noch  Reste  alten  Kloster- 
schullebens waren,  die  bald  darauf 
mit  der  Übersiedlung  in  das  neue 
Haus  verschwanden,  so  bildet  das 
Büchlein  einen  höchst  interessanten 
Beitrag  zur  deutschen  Schulge- 
schichte. 

II. 

Müller  und  Piding  Deutsche  Schul- 
flora zum  Gebrauch  für  die  Schulen 
und  zum  Selbstunterricht.  I.  Teil. 
Verlag  von  Th.  Hofmann  in  Gera, 
gr.  8  °. 

I*  lora  von  Deutschland.  Illustrier- 
tes   Pflanzenbuch.     Anleitung  zur 


Kenntnis  d.  Pflanzen  etc.  von  Dr.  W. 
Medicus.    Lief.  2  u.  3.    8  °.  Aug. 

Gotthold  in  Kaiserslautern. 

Das  Müller  und  Pillingische  Werk 
soll  240  unsrer  gewöhnlichsten  ein- 
heimischen Pflanzen  in  bunten  Habi- 
tus-Bildern und  Blütenanalysen  zur 
Anschauung  bringen.  Im  Anschlufs 
daran  erscheinen  2  Texthefte,  die 
von  Bau,  Leben  und  Pflege  der 
Pflanzen,  sowie  von  der  Verwendung 
der  Tafeln  beim  Unterricht  handeln 
werden.  Der  mir  vorliegende  erste 
Teil  enthält  48  Tafeln,  welche  meist 
der  Darstellung  je  einer  Pflanze  ge- 
widmet sind  und  aufser  dem  deut- 
schen und  lateinischen  Namen  und 
dem  Platz  der  dargestellten  Pflanze 
im  Linntischen  System  eine  kurze 
Figurenerklärung  iühren.  Die  Bilder 
sind  in  Farben  und  Zeichnung  sehr 
ansprechend  und  wohl  geeignet,  das 
Interesse  an  der  Pflanzenwelt  zu  be- 
leben und  dem  Laien  ihr  Studium 
zu  erleichtern. 

Den  Abbildungen  der  neuen  Liefe- 
rungen des  Medicusschen  Werkes 
wäre  eine  etwas  sorgfältigere  Aus- 
führung zu  wünschen. 

Jena.  Büsgen. 


halben  Druckbogen  semer  Broschüre  dem  Organ  des  Vereins,  an  dessen 
Adresse  sie  ja  gerichtet  ist,  dargeboten  und  an  der  Diskussion  teilge 
noinmen,  so  wäre  die  schriftliche  Kritik  am  Ende  vielleicht  ganz  über- 
flüssig geworden.  Durch  persönliche  Berührung  kann  gar  mancher  Zwist 
im  Keime  erstickt  werden,  die  Isolirung  aber  leistet  unter  gewissen 
Umständen  der  Entwicklung  von  Feindschaften  Vorschub.  Und  das  ist 
doch  im  Interesse  des  Lehrstandes  zu  beklagen.  Denn  wenn  die  Re- 
gierungen wahrnehmen,  dass  auch  unter  Mannern,  welche  eine  gemein- 
same Grundanschauung  haben,  die  Meinung  derjenigen,  welche  Pädagogik 
für  ein  Aggregat  von  individuellen  Ansichten  halten,  bekräftigt  wird,  dann 
können  sie  sich  für  berechtigt  halten,  zur  Beendigung  des  Streits  auch 
rein  pädagogische  Entscheidungen  zu  treffen  und  die  Standesautonomie 
der  Lehrerschaft  muss  darunter  leiden. 

Wien,  25.  Juni  1892. 

Theodor  Vogt. 


Einstweilige  Anzeige. 

Thüringische  Versammlung 

von 

Freunden  der  tierbartisclien  Pädagogik 
im  Herbst  d.  J.  zu  Erfurt 
Anmeldungen  nimmt  der  Unterzeichnete  entgegen.  Jahres- 
beitrag 1  Mark.    (Siehe  „Pädag.  Studien"  1892,  1.  Heft.) 
Nähere  Mitteilungen  im  4.  Heft  dieses  Jahres.  Tagesordnung: 

1.  Lehrerbildung.    2.  Schul  Verfassung;.    3.  Mitteilungen 
aus  dem  Seminar  Herbarts 

Jena.  W.  Rein. 


Neu  eingegangene  Bücher 

H.  T.  Luken«,  Die  Vorstellungsreihen  u.  ihre  päd  Bedeutung.  Gütersloh, 
Bertelsmann. 

Helmke,  Die  Behandlung  jugendlicher  Verwahrloster  etc.  Halle  Schroedel 
Steokel,  Allg.  Heiniatakunde,  Ebenda». 

Braune,  Ergänzungsheft  zu  d.  Rechenbuch  für  Volksschulen.  Ebenda«. 

De  Garmo,  Ethical  Training  in  the  Public  Schools.    Philadelphia  1SU2. 

L'lntermedialre  des  chercheurs  et  curieux.   Paris  1S92. 

Grohmann,  das  Obererzgebirge  etc.  Annaberg,  Graser. 

Freye,  Mind  Charts.    San  Bernardino  California.  1891. 

Butler,  Educational  Review.  New- York,  Holt  and  Comp. 

The  Forum.   New-York  1891. 

Das  Übersetzen  ins  Griechische  u.  Lateinische.  Berlin  1892. 
Reinhardt,  Die  Frankfurter  Lehrpläne.    Frankfurt  a.  M.,  Diesterweg 
Böhme,  Rechenbücher  7.  u.  b.  H.  Berlin,  Müller. 
Tröger,  Kleine  i'ranzös.  Sprachlehre.  1.  u.  2.  T.  Breslau,  Kern. 
Brandes,  Beschreibung,  Zeichnung,  Modell,  Natur.    Holzminden,  Stock. 
Latt,  Gedächtnisblatt  zum  300jähr.  Geburtstag  des  Comenius.  Bielefeld 
Helmich. 

Schneider,  Die  Schrift  und  der  Schreibnnterricht.  Ebenda». 


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Gressler.  Der  Schulgesetzentwurf.    Bielefeld,  Helmich. 
Tews.  Der  preuss.  Schulgesetzentwurf.    Leipzig,  Klinkhardt. 
Beyschlag.  Gegen  die  neue  Volksschulgesetz-Vorlage.    Berlin,  Walther 
Hacket,  Die  Weltanschauung  des  neuen  Kursus.    Freie  Buhne,  Berlin, 

Fischer. 

Richter,  Gegen  den  neuen  Entwurf  des  Volksschulgesetzes.    Berlin  92. 
Oelbriiok,  Der  preussische  Volksschulgesetzentwurf.    Jena.  Fischer. 
Religionsunterricht  in  der  Volksschule  etc.  Strassburg,  Schmidt. 
Joel.  Moral,  Religion  u.  .Schule.    Stuttgart,  Cotta 

Rein  Zur  Schulgesetzgebung.  Deutsche  Rundschau.  Aprilheft.  Berlin, 
Patel. 

Dörpfeld,  das  Fundamentstück  etc.  Hilchenbach,  Wiegand. 
Hentschel.   10.  Jahresbericht  über  die  Thatigkeit  -1er  Handarbeits-Schule 
zu  Zwickau. 

Ricken.  Eletnentarbuch  der  französ.  Sprache.    Berlin,  Gronau. 

Grohmann.  Das  Obererzgebirge  uud  seine  Hauptstadt  Annaberg  in  8age  u. 
Geschichte.  2.  H.  Annaberg,  Graser. 

Rothfuchs,  Bekenntnisse  aus  der  Arbeit  des  erziehenden  Unterrichts  Mar- 
burg. El  wert  sehe  Buchhandlung. 

Ganser,  Schule  u.  Staat.    Graz,  Leuschner  u.  Lubensky. 

Sohmarje,  Das  Katechet.  Lehrverfahren.    2.  A.   Flensburg  Westphalen. 

Franks,  Schulwörterbuch.    Leipzig,  Wartig. 

Sprockhofs  kleine  Anthropologie.    Hannover.  Meyer. 

Schaarschmidt.  Bibl.  Geschichten.  Braunschweig,  Appelhans  u.  Pfennigstorff. 
Richter,  Geschichtsbilder.    Leipzig,  Wartig. 
Sprockhofs  Grundzüge  der  Anthropologie.    Hannover,  Meyer. 
Baenitz-Kopka,  Lehrbuch  der  Geographie.    Bielefeld  u.  Leipzig,  Velhagen 

U.  Klasing. 

Ohlert.  Schulgrammatik  d.  franz.  Sprache.    Hannover,  Meyer. 
Ohlert,  Lese-  u.  Lehrbuch  der  franz,  Sprache.  Ebenda». 
Buchners,  Sammlung  französ.  Lehrmittel.    Bamberg,  Buchner. 
Ohlert  Der  Unterricht  im  Französischen.    Hannover,  Meyer. 
Ohlert.  Französ.  Lesebuch.  Ebendas. 
Eschweiler,  Haus  u.  S«  hule.    Bielefeld,  Helmich 
Meyer-Markau,  Sammlung  päd   Vortrage.    Bielefeld,  Helmich. 

1.   v.   Schenkend  ort?     über   die   Ziele    des   deutschen   Vereins  für 
Knabenhandarbeit. 

i.  Meyer- Markau,  Das  entschleierte  Bild  des  Volksschullehrers. 

3.  Hochegger.  Uber  die  Knltnrantgabe  des  Lehrers  u.  die  Notwendig- 
keit eines  freien  Lehrerstandes. 
Petzold,  Leitfaden  für  deu  Unterricht  in  der  astron.  Geographie,  Bielefeld 

u.  Leipzig,  Velhagen  und  Kissing. 
Blbliotheca  Paedagogica.  Köhler,  Leipzig. 

Lambeck.  Handwörterbuch  der  engl.  u.  deutschen  Sprache.  Leipzig,  Ree  1  am. 

Müller  Vierstellige  Logarithm.-Tafeln.    Stuttgart,  Maier. 

Linnarz,  Methodik  des  Gesang- Unterrichts.    Minden  i.  W.,  Manowsky. 

Stotzner,  Ratichianische  Schritten  I.  Leipzig,  R.  Richter. 

Wiget,  Die  formalen  Stufen  des  Unterrichts.    4.  Aufl.  Chur,  Rieh. 

Univernity  Extension.    New- York.  Haseltine  Shinn. 

Butler,  Educational  Review.    New-York,  Holt  and  Co. 

Dörpfeld,  Ev.  Schulblatt.    Gütersloh,  Bertelsmann. 

Meyer,  Neue  Bahnen.    Gotha,  Behrend. 

Wunderlioh,  III.  Grundriss  der  geschichtl.  Entwicklung  des  Zeichenunter- 
richtes. Erlen  berger,  Stuttgart. 


Diesem  Heft  liegt  ein  Prospekt  von  Wilhelm  Emmer  in  Berlin  bei, 

welchen  wir  besonderer  Beachtung  empfehlen.  D.  V. 


Druck  von  <i.  Püti  in  Naumburg  ».  8. 


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 ;  


i 


e  Studien 


Neue  Folge 


Herausgegeben 

von 

Dr  W.  Rein 

Professor  a.  '1.  L'm'vern'täC  Jma 

XIII  Jahrgang    Viertes  Heft 


Inhalt 

A  Abhandlungen:  Dr.  Karl  Ernst,  Theorie  und  Praxis  im  päda- 
gogischen Seminar. 

B  Mitteilungen:  i.  C.  Ziegler,  XI.  Kongrcfs  für  erziehliche  Knaben- 
handarbeit zu  Frankfurt  a.  M.  2.  Fr.  Franke,  Hauptversammlung 
des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik.  3  Mathes,  Der 
geographische  Unterricht  auf  der  „IV.  Stufe".  4-  Dr.  B.  Maennel. 
Vom  IX.  Deutschen  Lehrertage  zu  Halle  a.  S.  5.  Herbart.  Ideen 
zw  einem  pädagogischen  Lehrplan  für  höhere  Schulen.  6.  G.  K  e  1 1  e  r , 
Der  grüne  Heinrich.  Berlin  1889.  7.  Aus  dem  Pädagogischen 
Universitäts-Seminar  zu  Jena. 

C  Beurteilungen:  Robert  Werneckc  (F.  Hollkamm). 


Dresden 

Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer 

iPanl  Th.  Kümmerer) 


— — — ~— 


 . — - 


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I 


Heric  litte  miir. 


In  meiner  Besprechung  der  Wustmannschen  und  der  Kaergerschen 
Schritt  (III.  lieft  1892.  3.  ih7— 1^/  hat  der  Setzer  einen  Abschnitt  an 
eine  unrichtige  Stelle  gebracht,  wodurch  der  Sinn  entstellt  worden  ist. 
Was  hier  aU  letzter  Abschnitt  erscheint,  gehört  hinter:  „Er  hat  beob- 
achtet wie  wenige*  (S.  189)  bezieht   sich  also  auf  Wöstmanns,  nicht 


Verein  der  Freunde  herbartischer  Pädagogik  in  Thüringen. 


Schon  vor  Jahren  —  auf  der  Vorversammlung  zu  Nürnberg  Pfingsten 
18£K*)  —  hat  der  Unterzeichnete  darauf  hingewiesen,  wie  notwendig 
on  sei,  die  Organisation  des  Vereins  für  wissenseh.  Pädagogik  dadurch  zu 
vervollkommnen,  dafs  das  über  Deutschland  ausgespannte  Netz  von  Zweig- 
vereinen in  verschiedene  Gruppen  zusammengeschlossen  werde,  die  die 
Vereinigung  der  gleicbgesinnten  Lehrer  an  den  verschiedenen  Anstalten 
und  einen  regen  Gedankenaustausch  zwischen  den  Freunden  der  herbax- 
tischen  Pädagogik  innerhalb  bestimmter  Provinzen  und  Landschaften  sich 
zur  Aufgabe  stellen. 

Mehrere  solcher  Gruppen  entfalteten  in  den  letzten  Jahren  ein  reges 
pädagogisches  Leben.  So  der  Verein  für  berbartische  Pädagogik  in  Rhein- 
land "und  Westfalen,  in  Sachsen,  Posen  und  Schlesien,  in  Unterfranken, 
in  der  Schwei/,  n.  s.  w. 

Eine  ähnliche  Verbindung  bildeten  seit  einer  Reihe  von  Jahren  die 
Zweigvereine  Altenburg,  Halle,  Leipzig  und  Jena.  Auf  der  letzten 
Zusammenkunft  in  Weifsentels  im  Herbst  1891  wurde  der  Gedanke  an- 


Mit  der  Vorbereitung  auf  die  erste  Thüringische  Versammlung,  die 
im  Herbst  1K92  stattfinden  soll,  wurden  Dr.  Glockner-Leipzig  und 
Prof  Rein -Jena  beauftragt.**) 

Letzterer  gestattet  sich  nun,  die  Herbartfrennde  Thüringens  zu 
einer  Versammlung  nach  Erfurt  auf  den  22.  und  23.  Oktober  d.  J.  einzu- 
laden, um  die  endgiltige  Einrichtung  des  Vereins  für  Mitteldeutschland 
zu  schaffen 

Anmeldungen  nimmt  schon  jetzt  der  Unterzeichnete  entgegen. 
Jena,  im  September  I8t»2. 


Als  Gegenstände  der  Verhandlung  sind  in  Aussicht  genommen: 

1.  Die  LehrerblldungBfrage  (Direktor  Dr.  Wo  hlrabe-Halle  a.  S.) 

2.  Die  Schul verfa«nunffBf rage.  (Direktor  Tr tiper- Jena.) 

X.  Mi  (teil  ii  iigt-n  aus  dem  Päd.  Seminar  Herbarts  in  Königsberg  von 
Dr.  Kehrbach-Berlin. 

Ort  der  Versammlung:  Erfurt- Vogels  Garten.  Vorveraammlung:  Sonn- 
abend, d.  22.  Okt.  Abend*  8>/e  Uhr:  Hauptversammlung:  Sonntag,  d.  23.  Okt. 
Vorm.  11  Uhr.    Über  Wohnungtn  erteilt  Auskunft  Herr  Brandt- Erfurt, 


*)  S.  Ertiluteruatfcii  »um  Jahrbncli  XX,  S.  U. 

Mittler» olle  Ist  Herr   Ut.  Olüokmr-  Leipcig  inrtickgetretf-n,  da  «ine  ähnlich«  V«r« 
elnlRuruf  für  daa  K  tilKr«lch  Sachen  Im  Werke  IM. 

"*)  NÄhert«  wird  Anf«ny  Oktober  <lur,  h  eine  b*«ondere  KinUdungBMhrifl  <\eu  MltglieiU-rn 
bekannt  gatuaotu  wor  l.  ti. 


Kaergers  Schrift. 


Adolf  Rüde. 


Prof.  Dr.  W.  Rein. 


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A.  Abhandlungen. 

Theorie  und  Praxis  im  pädagogischen 

Seminar. 

Von  Dr.  Karl  Ernst. 

Motto:  »Wer  da  weifs  Gutes  zu  thun,  und  thut  e* 
nicht,  dem  ist  es  Sünde«  CJak.  4,  17). 

Der  Volksschulmethodik  ist  in  der  letzten  Zeit  von  hochan- 
sehnlicher Seite  viel  Schmeichelhaftes  gesagt  worden,  man  hat  den 
Gymnasiallehrern  die  sorgfältig  durchgebildete  Lehrweise  der 
Volksschule  als  Muster  hingestellt  und  die  Methodik,  wie  sie  an 
den  Gymnasien  herrscht,  als  eine  zurückgebliebene  bezeichnet. 
Solche  Urteile  sind  als  Zeugnis  für  das  auf  den  stolzen  Höhen  des 
humanistischen  Gymnasiums  aufkeimende  pädagogische  Interesse 
höchst  erfreulich,  aber  für  die  Volksschule  und  besonders  für  die 
Lehrersrminare  könnten  sie  leicht  gefährlich  werden,  denn  nichts 
ist  ja  einer  gesunden  Weiterentwickelung  verderbenbringender  als 
der  Wahn,  dafs  man's  bereits  so  herrlich  weit  gebracht  habe. 
Sollte  sich  nun  vollends  herausstellen,  dafs  die  Urteilenden  ihre 
günstige  Meinung  mehr  aus  Büchern  über  die  Volksschulmethodik 
als  aus  der  Anschauung  der  Praxis  gewonnen  haben,  und  dafs 
zwischen  den  schönen  Theorien,  wie  sie  in  Schulkunden  und  Leit- 
fäden paradieren,  und  der  Praxis,  wie  sie  in  der  Niederung  des 
alltäglichen  Seminar-  und  Volksschulunterrichtes  geübt  wird,  ein 
himmelweiter  Unterschied  besteht,  so  wäre  ein  verfrühtes  Aus- 
ruhen auf  den  Lorbeeren  Pestalozzis,  Diesterwegs  und  anderer 
Meister  nur  um  so  verhängnisvoller.*) 


*)  Ein  Artikel  in  den  Grenzboten  »Die 1  Volksschullehrer  und  die 
Volksschule»  (51.  Jahrg.  No.  19)  könnte  etwas  ernüchternd  wirken,  wenn  er 
nicht  in  der  Kritik  zu  rasch  verallgemeinerte  und  in  seinen  positiven  Vor- 
schlägen zu  armselig  wäre. 

Pädagogische  Studien.    IV.  13 


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194  — 


Dafs  die  Volksschulen  in  den  letzten  Jahrzehnten  ganz  wesent- 
liche Fortschritte  gemacht  haben,  wird  kein  Billigdenkender  in 
Abrede  stellen  wollen,  aber  mit  den  Leistungen  sind  zugleich  auch 
die  Anforderungen  gewachsen,  die  die  Gegenwart  an  die  Schule 
stellen  mufs.  Früher  genügte  es,  wenn  der  Volksschüler  leidlich 
lesen,  schreiben  und  rechnen  gelernt  hatte  und  seinen  Katechis- 
mum  samt  den  nötigen  »Beweisstellen,  Kernliedern«  und  biblischen 
Geschichten  gut  auswendig  wufste,  jetzt  verlangt  man,  dafs  ein 
der  Schule  entwachsender  Jüngling  etwas  Verständnis  und  Interesse 
für  seines  Vaterlandes  grofse  Vergangenheit  und  für  die  Einrich- 
tungen und  Vorgänge  des  staatlichen  und  wirtschaftlichen  Lebens 
erlangt  hat,  man  wünscht,  dafs  religiöses  Fühlen  und  Denken  in 
seinem  Herzen  einigermafsen  Wurzel  geschlagen  hat,  und  er  den 
Angriffen  einer  materialistischen  Sozialdemokratie  nicht  ganz  wehr«- 
los  gegenübersteht.  Kurz  zusammengefafst  lautet  die  Forderung 
der  Gegenwart  an  die  Volksschule:  Mehr  Bildung  und  weniger 
blofser  Gedächtniskram,  mehr  Erziehung  und  weniger 
Abri  chtung! 

Zur  Lösung  dieser  Aufgaben  bedarf  der  Lehrer  ein  hohes 
Mafs  psychologisch-pädagogischer  Bildung.  Diese  Bildung  in  immer 
höherem  Mafs  zu  erlangen  ist  eine  Lebensaufgabe  für  den  rechten 
Lehrer,  die  pädagogischen  Seminare  haben  die  Pflicht,  ihren  Zög- 
lingen zur  Lösung  dieser  Aufgabe  die  rechten  Wege  zu  zeigen 
und  ihnen  zur  Überwindung  der  Anfangsschwierigkeiten  behilflich 
zu  sein.  Nun  sind  aber  alle  derartige  Veranstaltungen  zu  einer 
planmäfsigen  Einführung  junger  Leute  in  die  Kunst  des  Lehrens 
und  Erziehens  sehr  jungen  Datums ;  daher  ist  es  ganz  natürlich, 
wenn  man  auf  diesem  schwierigen  Gebiete  vielfach  noch  nicht 
allzuweit  über  das  Stadium  des  Versuchens  und  Probierens  hinaus- 
gekommen ist.  Wollte  man  nun  die  Diskussion  über  die  zu 
lösenden  Probleme  jetzt  schon  einschlafen  lassen,  so  würde  man 
der  Sache  selbst  den  gröfsten  Schaden  zufügen.  Viel  besser  ist's, 
man  folgt  dem  Rate,  den  Luther  seinem  Kurfürsten  in  Bezug 
auf  die  Behandlung  der  Sekten  gab:  >Man  lasse  die  Geister 
auf  einander  platzen  und  treffen.  Werden  etliche  indes 
verführet,  wohlan  so  geht's  nach  rechtem  Kriegslauf:  wo  ein  Streit 
und  Schlacht  ist,  da  müssen  etliche  fallen  und  wund  werden ;  wer 
aber  redlich  ficht,  wird  gekrönt  werden.«  Der  wissenschaftliche 
Streit,  der  die  Erkenntnis  zu  fördern  sucht,  darf  ja  nicht  ver- 
wechselt werden  mit  dem  sittlich  absolut  mifsfälligen  Streite  der 
Willen  *),  denn  wenn  bei  einer  solchen  theoretischen  Auseinander- 
setzung die  Gesinnung  die  rechte  ist,  so  sind  die  Willen  der 
Streitenden  einig  in  dem  Streben  nach  der  objektiven  Wahrheit, 


*)  Zillcrs  Ethik  (i.  Aufl.)  S.  197.  Vergl.  Lieb  mann,  Analysis  der 
Wirklichkeit,  Seite  671,  Anmerkung. 


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—    195  — 


und  wo  das  der  Fall  ist,  gilt  Lcssings  Behauptung*):  Es  sei,  dafs 
noch  durch  keinen  Streit  die  Wahrheit  ausgemacht  worden :  s  o 
hat  dennoch  die  Wahrheit  bei  jedem  Streite  gewonnen. 
Der  Streit  hat  den  Geist  der  Prüfung  genährt,  hat  Vorurteil 
und  Ansehen  in  einer  beständigen  Erschütterung  erhalten;  kurz, 
hat  die  geschminkte  Unwahrheit  verhindert,  sich  an 
der  Stelle  der  Wahrheit  festzusetzen.«  Daher  wird  jeder 
Lehrer,  dem  es  ernst  ist  mit  den  heiligen  Aufgaben  seines  Be- 
rufes, eine  sachliche  und  nicht  blofs  negierende,  sondern  auf- 
bauende Kritik  über  die  Art  der  Einführung  in  die  Praxis  und 
Theorie  der  Pädagogik  dankbar  begrüfsen  und  den  Kritiker  nicht 
als  Feind,  sondern  als  getreuen  Mitarbeiter  betrachten. 

Bevor  man  sich  über  die  Wege,  die  zur  bessern  methodischen 
Ausbildung  der  Lehrseminaristen  einzuschlagen  sind,  verständigen 
kann,  mufs  man  sich  über  das  Ziel,  das  einem  pädagogischen 
Seminare  nach  dieser  Seite  hin  gesteckt  werden  kann  und  darf, 
klar  sein.  Vollendete  Schulmeister,  das  ist  wohl  selbstver- 
ständlich, kann  kein  pädagogisches  Seminar  entlassen,  auch  der 
methodische  Charakter  bildet  sich  erst  im  Strome  der  Welt.  Die 
Frage  kann  also  nur  lauten :  Was  mufs  das  pädagogische  Seminar 
den  abgehenden  Zöglingen  mitgeben,  damit  sie  befähigt  sind,  mit 
der  Zeit  tüchtige  Schulmeister  zu  werden?  In  seiner  Rede  »Vom 
wahren  Fortschritt  in  der  Schule«  sagt  Herder:  »Wer  die 
Sache  fafst,  hat  den  Verstand  der  Sache ;  sein  Verstand  ist  auf- 
geschlossen; er  spricht  mit  seinen  eigenen  Worten,  was  er 
erkennt,  aus;  Lust  und  Freude  ist  in  ihm;  er  darf  nicht  ge- 
zogen werden;  der  innere  Verstand  der  Sache  zieht  ihn; 
er  mufs  hervorgeben,  was  er  einsah,  was  er  mit  Wohlgefallen  nicht 
etwa  nur.  sondern  mit  Inbrunst  erkannte.  Diese  Funken  des  Er- 
kennens sind  himmlische  Funken,  semina  aeternitatis.  Wer 
blofs  das  Bild  der  Sache  hat,  kann  auch  und  zwar  sehr  ange- 
nehm diskurieren  ;  Bild  aber  ist  einmal  nicht  die  Sache ;  vom 
Bilde  diskurieren  und  genossene  Wahrheit  anschauen,  ist  nicht 
dasselbe.  Worte  endlich  hersagen,  gut  und  bestimmt  hersagen, 
ist  gut  und  mag  gut  sein,  gerade  aber  nur  für  die,  die  an  der 
Sache  oft  am  wenigsten  teilnehmen;  sie  werden  also  ge- 
trieben und  müssen  getrieben  werden,  weil  der  Geist  sie  nicht 
weckt,  weil  keine  innere  Zuspräche  zwischen  dem  zu  Er- 
kennenden und  unserer  Erkenntnis  durstigen  Seele  sie  zum  Ge- 
nufs  zwingt  und  einladet.«  Was  sind  aber  auf  pädagogischem 
Gebiete  solche  himmlische  Funken,  solche  semina  aeternitatis  ? 
Sind  es  die  aufgespeicherten  Schätze  des  Examenwissens  in  Psycho- 
logie, Geschichte  der  Pädagogik,  allgemeiner  und  spezieller  Metho- 


*)  »Wie  die  Alten  den  Tod  gebildet,«  Vorrede. 


-    ig6  _ 


dik  u.  s.  \v.  ?  Schwerlich!  Es  ist  eine  bekannte,  kaum  ernstlich 
von  irgend  einem  Sachverständigen  geleugnete  Thatsache,  dafs 
keine  Art  von  irdischen  Schätzen  so  vergänglich  ist,  wie  die  in 
den  Kammern  des  Gedächtnisses  aufgespeicherte  Examenweisheit. 
Was  nur  des  Examens  wegen  gelernt  wird,  ist  für  die  meisten 
wenige  Wochen,  höchstens  Monate  nach  dem  Examen  in  alle 
Winde  verflogen,  von  aeternitas  also  keine  Spur.  Oder  soll  der 
abgehende  Seminarist  feste  Lehrgewohnheiten  mit  hinausnehmen 
ins  Leben?  Nun,  wenn  die  Gewohnheiten  gute  sind,  so  wäre  das 
so  übel  nicht;  aber  die  Hauptsache  ist  es  nicht.  Blofse  Gewohn- 
heiten vollends  ohne  methodisches  Urteilen  und  Denken  machen 
den  Anfänger  im  Lehramte  zur  Kopie  seines  Lehrers,  seinem 
Thun  fehlt  dann  die  Frische  der  Selbständigkeit  und  der  Trieb 
zum  Weiterstreben;  daher  fordert  Herder  in  der  bereits  ange- 
führten Rede  mit  Recht:  >Jeder  Lehrer  mufs  seine  eigene 
Methode  haben,  er  mufs  sie  sich  mit  Verstand  erschaffen 
haben,  sonst  frommt  er  nicht.«  Selbstverständlich  hat  Herder 
damit  nicht  sagen  wollen,  dafs  jeder  Lehrer  eine  besondere  nur 
ihm  eigentümliche,  von  allen  andern  abweichende  Methode  haben 
müfste,  denn  das  hiefse  nichts  mehr  und  nichts  weniger,  als  von 
jedem  Lehrer  fordern,  dafs  er  ein  pädagogisches  Originalgenie  sei; 
vielmehr  ist  der  Sinn  der  Forderung  offenbar  der:  Wer  mit  Ein- 
setzung seiner  ganzen  Person  wirken  soll,  dem  müssen  die  Grund- 
sätze und  Richtlinien  seines  Wirkens  zu  einem  Bestandteil  seines 
Ich,  seines  innersten  Wesens  geworden  sein.  Das  können  sie  aber 
nur  werden,  wenn  sie  ein  Erzeugnis  eigenen  Forschens  und 
Nachdenkens  sind.  Sind  sie  das,  dann  wird  dem  Thun  eines 
solchen  Lehrers  die  innere  Lust  und  Freude  nicht  fehlen, 
von  der  oben  die  Rede  war,  dann  wird  der  innere  Verstand  der 
Sache  ihn  ziehen,  hervorzugeben,  was  er  >mit  Inbrunst  erkannte« . 
Diese  Selbständigkeit  des  Urteilens,  diese  innere  Lust  und  Freudig- 
keit des  Thuns,  das  sind  jene  Imponderabilien,  die  durch  kein 
noch  so  peinliches  Examen  nachgewiesen  werden  können,  und  die 
dennoch  die  beste,  bleibendste  Frucht  eines  guten  Unterrichts 
sind.  Aufgabe  des  pädagogischen  Seminars  ist  es  also,  das  Her- 
vorwachsen eines  solchen  in  der  eigenen  Erfahrung  und  dem 
eigenen  Urteilen  des  Zöglings  wurzelnden  pädagogischen  Ge- 
dankenkreises vorzubereiten  und  zu  fördern. 

Wie  geschieht  das?  Dogmatische  Darbietung  eines  psycho- 
logischen und  pädagogischen  Systems,  selbst  wenn  sie  nicht  in 
dozierender,  sondern  in  frageweise  »entwickelnder«  Form  erfolgt, 
kann  durch  sich  selbst  lebendiges  pädagogisches  Urteilen  und 
Denken  nicht  erzeugen.  Der  abgeschnittene  Gipfel  eines  Baumes 
treibt  keine  Blüten  und  Blätter.  Ein  vorgetragenes  oder  »ent- 
wickeltes« System  wird  im  Examen  pflichtschuldigst  reproduziert 
werden  und  seinem  glücklichen  Besitzer  eine  gute  »  Zensur  in 


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-    197  — 


Pädagogik  c  einbringen,  aber  Leben,  pädagogisches  Leben  kann 
es  ihm  nicht  einflöfsen.  Nur  wenn  die  Grundelemente  des  Systems 
aus  der  lebendigen  eigenen  Erfahrung  stammen,  wird  das  System 
triebkräftig  und  für  die  Schulthätigkeit  wirkungsvoll  sein. 

Pädagogische  Erfahrungen  hat  jeder  Schüler  in  reichem  Mafse 
gemacht,  längst  bevor  er  zum  Nachdenken  über  unterrichtliche 
Fragen  und  Erziehungsaufgaben  angeregt  wurde,  denn  viele  Jahre 
lang  hat  er  bereits  unter  den  Einwirkungen  der  Erziehung  und 
des  Unterrichts  seiner  Lehrer  gestanden.  Aber  so  wertvoll  diese 
Erfahrungen  auch  sind  und  so  wichtig  es  daher  auch  ist,  dafs  im 
Seminar  ein  pädagogisch  wohl  angelegter  Unterricht  erteilt  wird, 
zur  Grundlage  für  den  Aufbau  des  Systems  wird  man  diese  Er- 
fahrungen doch  nicht  machen  können,  denn  sie  sind  doch  ein- 
seitig nur  die  Erfahrungen  dessen,  auf  den  eingewirkt  wurde,  und 
aufserdem  fehlte  diesem  noch  vollständig  das  rechte  Beobachtungs- 
organ, mittelst  dessen  er  am  Erfahrungsobjekt  das  Wesentliche 
vom  Zufälligen  scheiden  mufste.  Daher  werden  die  Erfahrungen 
der  eigenen  Schulzeit  am  besten  erst  nachträglich,  wenn  Teile  des 
pädagogischen  Gedankenkreises  sich  bereits  gebildet  haben,  von 
diesen  aus  apperzipiert. 

Auch  die  Grundwissenschaften  der  Pädagogik,  Psychologie 
und  Ethik,  sind  dem  Schüler,  der  in  die  letzten  Seminarklassen 
eintritt,  nichts  völlig  Neues.  Die  Ethik  hat  sogar  im  Religions- 
unterrichte eine  sorgfältige  Behandlung  erfahren,  und  die  Haupt- 
grundzüge einer  empirischen  Psychologie  haben  sich  bei  ver- 
ständiger methodischer  Behandlung  des  Gesinnungsunterrichtes  und 
der  Litteraturkunde  von  selbst  ergeben.  Sind  die  Einzelsysteme, 
die  sich  dort  zunächst  zerstreut  vorfanden,  sorgfältig  gesammelt 
und  geordnet  worden,  und  wird  der  Sinn  für  Selbstbeobachtung 
in  rechter  Weise  wachgerufen,  so  verfügt  der  Schüler  sehr  bald 
über  ein  gut  Stück  lebendigen  psychologischen  Wissens.  An 
diesen  soliden  Unterbau  kann  dann  der  Psychologieunterricht 
weiterführend  anknüpfen,  und  die  Pädagogik  kann  ihre  Folgerungen 
ziehen. 

Die  bei  weitem  reichste  und  beste  Nahrung  wird  aber  ein 
guter  Pädagogikunterricht  aus  der  Cbungsschulpraxis  ziehen 
müssen.  „Jeder  erfahrt  nur,  was  er  versucht,"  soll  also  der 
Praktikant  eines  pädagogischen  Seminars  richtige  Erfahrungen 
sammeln  als  Grundlage  für  ein  späteres  System,  so  mufs  ihm  Ge- 
legenheit und  Anleitung  gegeben  werden,  richtige  Versuche  zu 
machen  und  die  Erfolge  solcher  Versuche  zu  beobachten.  Der 
Übungsschulthätigkeit  gegenüber  treten  alle  andern  Veranstaltungen 
zur  praktischen  Ausbildung  des  Seminaristen  völlig  zurück  und 
nehmen  nur  eine  dienende  Stellung  ein.  Von  ganz  bestimmten 
Teilzielcn,  wie  sie  die  Praxis  der  Übungsschule  bietet,  mufs  aus- 
gegangen werden,  ein  solches  Ziel  mufs  dem  Zögling  als  das  erste 


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pädagogische  Problem  hingestellt  werden,  was  er  mit  Hilfe  des 
Lehrers  zu  lösen  hat.  Hier  hat  er  seinen  Scharfsinn  zu  erproben 
und  der  Lücken  seines  Wissens  und  Könnens  sich  bewirfst  zu 
werden,  das  wird  ihn  empfänglicher  machen  für  die  Anweisungen 
und  Handreichungen  seines  Instruktors.  Die  Fragen  der  allge- 
meinen Pädagogik,  der  höchsten  Prinzipien  des  Unterrichts 
existieren  auf  dieser  Anfangsstufe  tür  den  Praktikanten  noch  gar 
nicht.  Erst  wenn  eine  reiche  Erfahrung  und  vielseitigeres  päda- 
gogisches Nachdenken  wiederholt  zu  verwandten  Grundsätzen  und 
Verfahrungsweisen  geführt  hat,  erst  dann  werden  die  übergeord- 
neten Reihen  ausgebildet.  Und  bringt's  das  Seminar  nicht  zu 
einem  völlig  abgeschlossenen  System,  nun  so  ist  der  Schaden  auch 
nicht  zu  grofs.  Die  Fülle  der  Anschauungen,  die  er  gewonnen 
und  denkend  verarbeitet  hat,  setzen  den  Abgehenden  vollkommen 
in  den  Stand,  nun  eine  systematische  Darstellung  der  Pädagogik 
allein  zu  studieren  und  zu  verstehen. 

Die  eigentliche  Kerntrage  für  ein  pädagogisches  Seminar  lautet 
also:  Wie  mufs  die  Übungsschule  eingerichtet  und  be- 
nutzt werden,  damit  der  Anfänger  in  ihr  und  durch  sie 
die  rechten  Grundlagen  für  sein  praktisches  Können  und 
theoretisches  Verstehen  gewinnt? 

Die  Vorläufer  der  Obungsschulen  waren  die  berüchtigten 
> Katechesenjungen«,  die  für  Geld  gemietet  wurden,  damit  Theo- 
logiestudierende an  ihnen  ihre  Kunst  im  Abfragen,  Zergliedern 
und  Beweisen  gewisser  Katechismussätzc  erproben  konnten.  Dafs 
das  ein  durchaus  unerlaubtes  Experimentieren  mit  Kindesseelen 
war,  sah  man  nicht  ein,  dafs  eine  solche  Verwendung  des  religiösen 
Unterrichtsstoffes  als  blofses  Übungsobjekt  durchaus  unwürdig  war, 
fühlte  man  nicht.  Das  charakteristische  Merkmal  dieser  Einrich- 
tung, die  übrigens  an  vielen  Universitäten  noch  immer  fortlebt, 
besteht  also  darin,  dafs  es  auf  eine  wirkliche,  planmäfsige  Bildung 
des  als  Übungsobjekt  dienenden  Schülers  gar  nicht  abgesehen  ist 
Seine  Bildung  erhält  der  Katechesenjunge  in  seiner  Schule,  hier 
in  der  Katechesenstunde  ist  er  nur  das  an  sich  gleichgültige  Ob- 
jekt, an  dem  der  Praktikant  sich  übt.  Durch  die  Gründung  der 
Übungsschulen  an  den  Seminarien  hat  man  prinzipiell  mit  diesem 
System  gebrochen.  Man  hat  ausgesprochen,  dafs  alles,  was  mit 
dem  Schüler  vorgenommen  wird,  seinen  Zweck  im  Schüler 
haben  mufs,  nicht  aufser  demselben.  Eine  rechte  Übungsschule 
ist  eine  Erziehungsschule,  in  welcher  Anfänger  im  Erzieherberufe 
unter  steter  Aufsicht  von  erfahreneren  Lehrern  ihres  Amtes  walten 
und  sich  dadurch  für  die  spätere  selbständige  Amtsführung  tüchtig 
und  geschickt  machen. 

Man  hört  auch  bisweilen  die  Forderung  aussprechen,  die 
Übungsschule  müfste  eine  Musterschule  sein.  Nun  recht  ver- 
standen ist  dieser  Forderung  sehr  wohl  beizustimmen.    Der  junge 


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—    199  ^~ 

Lehrer,  der  hinaustritt  ins  Leben  mufs  ein  Vorbild  in  seiner  Seele 
tragen,  nach  dem  er  sich  bei  seinem  Wirken  zunächst  richten 
lcann,  es  fragt  sich  nur,  worin  das  Musterhafte  an  der  Übungs- 
schule zu  bestehen  hat.  Soll  man,  um  die  Leistungen  der  Schule 
andern  Schulen  gegenüber  möglichst  zu  steigern,  bei  der  Auswahl 
der  Schüler  hauptsächlich  die  Kinder  aus  bessern  Ständen  berück- 
sichtigen ?  Damit  würde  man  doch  offenbar  nicht  die  Anstalt  zu 
einer  musterhaften  machen,  sondern  nur  das  Schülermaterial,  und 
eine  solche  Anstalt  könnte  der  junge  Lehrer  sich  auch  nicht  zum 
Vorbilde  nehmen ,  vielmehr  müfste  er  sich  verständiger  Weise 
sagen:  Was  die  Übungsschule  unter  so  günstigen  Umständen  er- 
reichen kann,  daran  darfst  du  dich  gar  nicht  wagen.  —  Oder  soll 
die  Übungsschule  musterhaft  sein,  durch  ihren  retchen  Lehrmittel- 
apparat ?  Ich  würde  aus  einem  reichen  Lehrmittelapparat  lieber 
auf  beneidenswerte  Kassenverhältnissc  schliefsen  und  möchte  fast 
behaupten:  Je  mehr  in  der  Ubungsschule  die  Verwendung  eines 
künstlichen  und  kostspieligen  Lehrmittelapparates  sich  breit  macht, 
um  so  mehr  verliert  die  Übungsschule  für  den  künftigen  Volks- 
schullehrer an  Vorbildlichkeit.  Aber  mit  den  einfachsten  Mitteln, 
mit  reicher  Veranschaulichung  aus  dem  praktischen  Leben,  mit 
selbstgefertigten  Apparaten  einen  guten  naturkundlichen  Unterricht 
geben,  das  wäre  mustcrgiltig  und  nachahmenswert.  Weiter  sollte 
eine  Übungsschule  musterhaft  sein  in  der  Beobachtung  anerkannter 
pädagogischer  Grundsätze,  in  der  Vorbereitung  für  die  Unterrichts- 
stunden, in  der  gewissenhaften  Berücksichtigung  der  schwachen 
Schüler,  in  der  gründlichen  Durcharbeitung  und  geschickten  Ver- 
wendung des  heimatkundlichen  Materials.  An  dem  dummen  Wett- 
streite, durch  möglichst  rasches  Lesen-  und  Schreibenlernen  die 
Schüler  anderer  Schulen  auszustechen,  sollte  sich  eine  übungs- 
schule  nie  beteiligen;  dagegen  darf  sie  eine  Ehre  dareinsetzen, 
dals  sie  ihre  Ziele  erreicht,  ohne  die  Kinder  (und  Eltern)  mit  vielen 
Hausaufgaben  zu  quälen.  —  Die  Übungsschule  soll  also  Muster- 
schule sein,  aber  sie  soll  es  nicht  werden  vermöge  günstiger 
äufserer  Umstände,  sondern  durch  eigene  Kraft. 

Um  dem  jungen  Lehrer  den  Übergang  in  die  freie  Praxis 
möglichst  leicht  zu  machen,  ist  das  Schülermaterial  den  Be- 
völkerungskreisen zu  entnehmen,  unter  denen  die  Anfänger  im 
Lehramte  gemeiniglich  zunächst  zu  wirken  haben.  Die  Schwierig- 
keiten der  unterrichtlichen  und  besonders  der  erziehlichen  Arbeit 
wachsen  im  allgemeinen  nach  unten  zu.  Daher  ist  es  entschieden 
empfehlenswert,  wenn  der  Praktikant  vor  allem  mit  der  Behand- 
lung der  Kinder  aus  dem  Stande  der  Arbeiter  und  der  kleinen 
Gewerbtreibenden  vertraut  gemacht  wird.  Ein  wohlgezogenes 
Kind  aus  guter  Familie  verstehen  und  lieb  gewinnen  ist  keine 
Kunst;  aber  jene  armen  Wesen,  die  ohne  rechte  Muttertürsorge 
und  ohne  Zucht  des  Vaters  aufwachsen,  in  ihrem  Wesen  zu  be- 


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200  — 


greiten,  das  rechte  Mitleid  mit  ihnen  zu  fühlen  und  den  rechten 
Weg  zu  ihren  Herzen  zu  finden,  das  ist  schwer,  ott  sehr  schwer, 
das  will  gelernt  sein.  Aufgabe  einer  rechten  Übungsschule  ist,  die 
Praktikanten  in  das  Studium  der  Kindesseelen,  die  durch  Roheit 
des  Benehmens,  schwache  Auffassungsgabe  und  mangelndes  Urteil 
zunächst  abstofsend  wirken,  planmäfsig  einzuführen  und  ihnen  zu 
zeigen,  wie  auf  Grund  eines  solchen  Studiums  die  Mittel  zu 
wählen  und  anzuwenden  sind,  mit  denen  man  auch  unter  solchen 
schwierigeren  Verhältnissen  das  Ziel  erreicht.  Manche  rohe  Mifs- 
handlung  Schwachbegabter  Kinder  würde  unterbleiben,  wenn  die 
Übungsschulen  den  Anfänger  mehr  mit  den  Schwierigkeiten  seiner 
späteren  Amtsführung  vertraut  gemacht  hätten. 

Ein  bei  Übungsschulen  ganz  unvermeidlicher  Übelstand  ist 
die  Vielheit  der  Lehrkräfte.  Es  mufs  daher  durch  einen  guten 
Lehrplan  dafür  Sorge  getragen  werden,  dafs  diese  Vielköpfigkeit 
nicht  zu  einer  Zersplitterung  der  Unterrichtsarbeit  wird.  Dieser 
Lehrplan  mufs  auf  Grund  psychologisch-pädagogischer  Erwägungen 
von  den  Lehrern  der  Übungsschule  unter  Leitung  des  Direk- 
tors aufgestellt  und  festgesetzt  weiden.  Selbstverständlich  mufs 
er  den  gesetzlichen  Bestimmungen,  unter  denen  die  Seminar- 
zöglinge später  zu  arbeiten  haben,  vollkommen  entsprechen;  aber 
weiter,  als  die  gesetzlichen  Bestimmungen  es  fordern,  darf  die 
Beeinflussung  von  aufsen  nicht  gehen.  Der  Lehrplan  mufs,  wenn 
er  recht  durchgeführt  werden  soll,  das  eigene  Werk  des  Kollegiums 
sein.  Was  von  aufsen  aufgezwungen  wird,  und  mag  es  an  sich 
noch  so  vollkommen  sein,  ist  und  bleibt  Schablone,  was  dagegen 
aus  dem  geistigen  Leben  und  Streben  des  Kollegiums  heraus- 
gewachsen ist,  wird  auch  bei  der  Durchführung  von  dem  Geiste 
getragen  werden,  der  es  erzeugte.  Im  einzelnen  wird  natürlich 
jeder  Kollege  einige  Zugeständnisse  machen  müssen,  aber  da  es 
gilt,  ein  geschlossenes  Zusammenwirken  herzustellen,  so  wird  er 
auf  individuelle  Wünsche  gern  verzichten. 

Schwieriger  als  beim  Lehrplan  läfst  sich  die  Einheitlichkeit 
inbezug  auf  das  methodische  Verfahren  im  einzelnen  her- 
stellen. Wenn  man  die  bunte  Musterkarte  von  pädagogischen 
Rezepten  und  Rezeptchen,  die  heute  der  Welt  angepriesen  werden, 
überschaut,  so  scheint  der  Versuch,  ein  Kollegium  in  dieser  Hin- 
sicht unter  einen  Hut  zu  bringen,  fast  aussichtslos.  Es  scheint 
aus  diesem  Chaos  der  Meinungen  nur  zwei  Auswege  zu  geben. 
Entweder  man  zwingt  allen,  die  demselben  Kollegium  angehören, 
dieselbe  Methode  auf,  oder  man  läfst  jeden  ungestört  seine  eigenen 
Wege  gehen.  In  beiden  Fällen  werden  die  Praktikanten  die  Zeche 
bezahlen  müssen.  Für  die  aufgezwungene  Methode  wird  kein 
Lehrer  sich  wirklich  begeistern  können,  denn  es  ist  eben  psycho- 
logisch einfach  unmöglich,  dafs  ich  mit  Wärme  für  eine  Sache 
eintreten  und  wirken  kann,  die  gegen  meine  Überzeugung  ist.  Wo 


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aber  der  Lehrer  blofs  der  Pflicht  gehorchend  für  eine  Methode 
eintritt,  da  wird  er  schwerlich  den  Praktikanten  Interesse  einzu- 
flöfsen  vermögen.  *)  Wird  dagegen  allen  Methodenfreiheit  gewährt, 
so  kann  es  kommen,  dafs  der  Praktikant  zwischen  unvereinbaren 
Gegensätzen  hin  und  her  gestofsen  wird.  Es  giebt  nur  einen 
Weg,  der  Aussicht  auf  Erfolg  hat,  das  ist  der  Weg  gemeinsamen 
wissenschaftlichen  Studiums  und  regen  Meinungsaustausches.  Ein 
Kollegium,  das  ernstlich  an  seiner  Weiterbildung  arbeitet,  wird  mit 
innerer  Notwendigkeit  zu  einer  ziemlich  weitgehenden,  für  die  Praxis 
völlig  ausreichenden  Übereinstimmung  in  den  Grundprinzipien  ge- 
führt werden.  Die  Wahrheit  ist  ja  nur  eine,  also  müssen  auch  die 
Wege  aller  redlich  und  vernünftig  Suchenden  sich  allmählich 
immer  näher  kommen.  »Das  Genie,  sagt  Goethe,  das  ange- 
borene Talent  begreift  Gesetze  und  leistet  ihnen  den  willigsten 
Gehorsam.  Nur  das  Halbvermögen  wünschte  gern  seine 
beschränkte  Besonderheit  an  die  Stelle  des  unbedingten 
Ganzen  zu  setzen  und  seine  falschen  Griffe  unter  dem  Vor- 
wand einer  unbezwinglichen  Originalität  und  Selbständigkeit  zu 
beschönigen.«  Unsere  Psychologie  ist  bereits  weit  genug  ent- 
wickelt, um  die  Hauptgesetze  des  geistigen  Lebens  deutlich  er- 
kennen zu  lassen,  es  kommt  also  nur  darauf  an,  dafs  ein  Kollegium 
sich  gründlich  in  das  psychologische  Denken  hineinarbeitet  und 
den  festen  Vorsatz  fafst,  die  Resultate  dieses  Denkens  für  die 
Praxis  fruchtbar  zu  machen.  Die  Mannigfaltigkeit  der  philo- 
sophischen Schulen  scheint  mir  dabei  durchaus  kein  Hindernis 
für  die  Einheit  pädagogischen  Handels  zu  sein.  Die  Schulpraxis 
hat  es  ja  nicht  mit  der  metaphysischen  Seite  der  Psychologie, 
sondern  mit  der  empirischen  zu  thun.  Es  soll  auch  in  dem  be- 
treffenden Kollegium  durch  die  Beschäftigung  mit  psychologischen 
Problemen  nicht  etwa  ein  von  allen  geglaubtes  psychologisches 
Dogma  erzeugt  werden**),  sondern  es  wird  nur  eine  gröfsere 


*)  Darum  ist  es  entschieden  verkehrt,  wenn  methodische  Fragen  von 
oben  herunter  als  blofse  Machtfragen  behandelt  und  einfach  auf  dem  Wege 
der  Verordnung  erledigt  werden.  Ist  dann  ein  Lehrer  so  unglücklich,  trotz 
aller  Verordnungen  das  Nachdenken  über  pädagogische  Probleme  nicht 
lassen  zu  können,  so  mufs  er  als  unruhiger  Geist  und  unbotmäfsiger  Beamter 
behandelt  werden.  Damit  könnte  man  die  Methodik  auf  den  Standpunkt 
der  Kirchhofsruhe  bringen,  wenn  es  nicht  Leute  gäbe,  denen  die  Sache 
höher  steht  als  ihr  Vorwärtskommen.  >Unser  wohlgeordnetes  Schulwesen 
in  seinem  bis  ins  Kleinste  hinabreichenden  staatlichen  Zuschnitt  hat  für  Be- 
geisterung im  Dienste  einer  Idee  gar  keinen  Raum.  Es  gleicht  einem 
grofsen  Fabrikbetrieb;  wohlgeschult  steht  jeder  an  der  zugewiesenen  Steile 
und  bedient  die  Maschine  in  vorgeschriebener  Weise.« 

(Seminarinspektor  Andrea  N.  B.  1892,  S.  in.) 
**)  Übereinstimmung  im  Dogma,  d.  h.  in  der  allgemeinen  pädagogischen 
Theorie  ist  oft  nicht  viel  mehr  als  eine  Übereinstimmung  in  gewissen 
Phrasen.    Es  sollte  auch  hier  heifsen:  Zeige  mir  deine  Theorie  an  deiner 
Praxis,  so  will  ich  dir  auch  meine  Theorie  an  meiner  Praxis  zeigen. 


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Ubereinstimmung  des  Denkens,  eine  Fähigkeit  gegenseitigen  Ver- 
stehens  und  wechselseitigen  Förderns  angestrebt.  Eine  schablonen- 
hafte Einheit  in  der  Methodik  ist  überhaupt  kein  zu  erstrebendes 
Ziel.  Der  Geist  ist  es,  der  da  lebendig  macht,  und  wo  der  rechte 
methodische  Geist,  da  ist  Freiheit.  Die  Lehrerindividualitäten 
sollen  nicht  unterdrückt  und  in  eine  einzige  Form  geprefst,  sondern 
sie  sollen  durchgebildet  werden  durch  das  Studium  alles  dessen,  was 
grofse  Geister  erforscht  und  erdacht  haben. 

Ein  solches  geistiges  Zusammenarbeiten  der  Lehrer  der 
Übungsschule  ist  aber  nur  möglich  bei  annähernd  gleichem  und 
nicht  zu  tief  bemessenem  Bildungsstande.  Der  blofse  geschickte 
Praktiker,  so  wohl  verwendbar  er  auch  sonst  sein  mag,  genügt 
hier  nicht,  denn  es  gilt,  eine  wissenschaftlich  durchgebildete,  auf 
allgemeingiltigen  Grundsätzen  ruhende  Theorie  im  praktischen 
Handeln  zu  bethätigen  und  vor  den  Augen  der  Schüler  zu  er- 
proben. Die  Übungsschule  mufs  in  der  Hauptsache  die  Anschau- 
ungen und  Erfahrungen  liefern,  auf  denen  die  Theorie  der  allge- 
meinen Pädagogik  für  das  Schülcrbewufstsein  ruht.  Offenbar  kann 
aber  die  Übungsschule  diesen  Dienst  nur  leisten,  wenn  ihre  Lehrer 
pädagogisch  wissenschaftlich  durchgebildet  sind.  Der  blofse  Prak- 
tiker dagegen  hat  sich  auf  Grund  der  landesüblichen  Rezeptehen 
eine  gewisse  Gewandtheit  im  Unterrichten  angeeignet,  er  hat  älteren 
-erfahrenen  Lehrern  einige  besondere  Kniffe  und  Kunstgriffe  ab- 
gelauscht. Um  die  psychologische  Begründung  seines  Unterrichts- 
verfahrens hat  er  sich  nie  viel  gekümmert.  Wozu  auch?  —  Hat 
er  denn  nicht  in  seiner  Praxis  >  die  Erfahrung  gemachte,  dafs 
seine  Methode  zum  Ziele  führt?  Er  liebt  es,  das  bekannte  Goethe- 
Wort  im  Munde  zu  führen:  >Grau,  teurer  Freund,  ist  alle  Theorie 
und  grün  des  Lebens  goldener  Baum'.  Nur  übersieht  er  dabei, 
dals  es  der  Teufel  ist,  dem  Goethe  diesen  guten  Rat  in  den  Mund 
legt,  und  dafs  derselbe  Teufel  uurz  vorher  triumphierend  hinter 
Fausts  Rücken  gesagt  hat:  »Verachte  nur  Vernunft  und  Wissen- 
schaft, des  Menschen  allerhöchste  Kraft,  ...  so  hab*  ich  dich 
schon  unbedingt.«  In  seinen  jungen  Jahren  hat  der  Praktikus 
wohl  auch  einmal  von  Psychologie  und  ihrer  Anwendung  auf 
Pädagogik,  von  allgemeinen  Prinzipien  der  Erziehungs-  und  Unter- 
richtslehre gehört,  er  hat  auch  eine  »gute  Zensur  in  Pädagogik« 
erhalten  ;  aber  das  war  alles  Examenweisheit,  mit  den  Niederungen 
des  alltäglichen  Unterrichts,  mit  den  kleinen  Mafsnahmen  einer 
einzelnen  Lektion  hatten  diese  von  gelehrten  Citaten  strotzenden 
Vorlesungen  nichts  zu  thun,  sie  hielten  sich  vielmehr  in  einer  ge- 
wissen vornehmen  Höhe.  Für  so  vornehme  Gäste  ist  in  der  ein- 
fachen Volksschule  kein  Platz,  darum  hat  unser  Praktikus  nach 
glücklich  bestandenem  Examen  die  Pädagogikhefte  in  den  wohl- 
verdienten Ruhestand  versetzt  und  sich  bei  erfahrenen  Kollegen 
erkundigt,  wie  sie  es  machen,  so  ist  er  zu  seiner  »altbewährten 


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Methode«  gekommen.  An  eine  wissenschaftliche  Diskussion  ist 
natürlich  einem  solchen  Schulmeister  gegenüber  nicht  zu  denken, 
denn  allen  aus  Psychologie  und  Ethik  herbeigeholten  Gründen 
gegenüber,  stützt  er  sich  auf  den  unerschütterlichen  Felsen  seiner 
Erfahrung.  Bei  der  hohen  Schulbureaukratie  steht  übrigens  der 
Herr  Praktikus  sehr  gut  angeschrieben,  denn  neue  pädagogische 
Probleme  haben  ihm  noch  nie  viel  Kopfzerbrechen  gemacht,  daher 
hat  er  auch  nie  an  der  Vortrefflichkeit  des  in  den  alten  Bahnen 
wandelnden  Schulorganismus  gezweifelt,  in  vorgeschriebener  Weise 
hat  er  Jahr  für  Jahr  das  vorgeschriebene  Pensum  in  der  vorge- 
schriebenen Zeit  eingepaukt.  Vom  Studium  neuerer  Untersuchungen 
über  pädagogische  Fragen  hat  er  sich  wohlweislich  fern  gehalten, 
lieber  hat  er  nach  des  Tages  Last  und  Mühe  sich  des  Abends 
>bei  einem  Skätchen  oder  Schaf köpfchen  erholt«.*)  Aber  dieses 
idyllische  Dasein  pafst  unmöglich  in  eine  Übungsschule.  Den 
Lehrseminaristen  gegenüber  gilt  es,  die  einzelnen  Mafsnahmen  des 
Unterrichts  als  Glieder  eines  planmäfsig  angelegten  Systems  er- 
zieherischer Bestrebungen  klarzulegen  und  so  die  Praxis  mit  der 
Theorie  in  Übereinstimmung  zu  bringen.  Folglich  bedarf  der 
Übungschullehrer  derselben  pädagogischen  Durchbildung,  wie  der, 
welcher  Pädagogik  im  Seminar  lehrt.  Das  Beste  freilich  würde  es 
sein,  wenn  eine  möglichst  weit  durchgeführte  Personalunion  das 
Hand  in  Handgehen  von  Theorie  und  Praxis  begünstigte. 

Aus  dem  allen  scheint  mir  hervorzugehen,  dafs  man  zur 
Leitung  der  praktischen  Übungen  in  der  Übungsschule  nicht  Leute 
heranziehen  darf,  von  denen  man  nicht  die  gleiche  Bildung  fordert, 
wie  von  den  übrigen  Seminarlehrcrn.  Vielmehr  scheint  mir  die 
Sache  so  zu  liegen,  dafs  eine  mittelmäfsige  Lehrkraft  in  den  Unter  - 
und  Mittelklassen  des  Seminars  viel  leichter  und  unschädlicher 
verwendet  werden  kann  als  in  der  Übungsschule. 

Wo  und  wie  übrigens  der  Übungsschullehrer  sich  die  für 
seinen  Beruf  nötige  theoretische  Bildung  aneignet,  das  muls  vor- 
läufig eine  offene  Frage  bleiben.  Unsere  Universitäten  bieten 
ihm ,  so  lange  sie  ohne  praktisch  -  pädagogische  Seminare  sind, 
zur  pädagogischen  Ausbildung  keine  Gelegenheit.**) 

Aber  nicht  blofs  das  Wirken  des  einzelnen  Übungsschullehrers 
muls  ein  bewufst -planmäfsiges  sein,  sondern  auch  die  Schule  als 
Ganzes  mufs  das  Bild  eines  wohlgeordneten  Organismus'  zeigen, 
bei  dem  ein  Glied  dem  andern  und  zugleich  dem  Zwecke  des 
grofsen  Ganzen  dient.  Dieses  gedeihliche  Zusammenwirken  anzu- 
bahnen ist  die  Aufgabe  des  Direktors  der  Übungsschule.  Er  wird 

*)  Ich  bemerke  ausdrücklich,  dafs  ich  nicht  ein  realistisches  Porträt, 
sondern  ein  ideales  Gesamtbild  gezeichnet  habe. 

**)  Meines  Wissens  hat  augenblicklich  nur  Jena  ein  Seminar  mit 
Übungschule.  (S.  >Aus  d.  päd.  Universit.-Seminar  zu  Jena«.  4  Hefte. 
Langensalza.) 


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dieselbe  um  so  vollkommener  lösen,  jemehr  es  ihm  gelingt,  in 
dem  Kollegium  den  Geist  pädagogischen  Forschens  und  Strebens 
zu  wecken  und  zu  pflegen.  Auf  dem  Wege  des  Befehlens  und 
Anordnens  läfst  sich  wohl  eine  gewisse  äufsere  Gleichmäfsigkeit 
herstellen,  aber  dieser  Erfolg  ist  mit  dem  Tode  alles  individuellen 
Lebens  teuer  genug  erkauft.  Wo  die  Lehrerpersönlichkeiten  nur 
Rädchen  sind  an  der  Unterrichtsmaschine,  die  vom  Direktor  in 
Gang  gesetzt  wird,  da  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  die  Er- 
ziehungsproduktc  auch  Dutzendwaren  sind.  Nicht  die  Er- 
tötung  der  Lehrerindividualität  zu  Gunsten  eines  äufserlichen 
Schablonentums  kann  also  Aufgabe  des  Direktors  sein,  sondern 
Pflege  und  Durchbildung.  Die  Einheitlichkeit  des  Strebens  in 
der  Übungsschule  mufs  durch  gemeinsame  pädagogische  Studien 
und  praktische  Arbeiten  der  Übungsschullehrer  allmählich  an- 
gebahnt werden.  Der  Direktor  mufs  dabei  mehr  durch  das,  was 
er  selbst  ist,  durch  sein  Beispiel  und  durch  die  planmäfsige 
Leitung  der  gemeinsamen  Arbeiten,  als  durch  die  Macht, 
die  ihm  seine  Stellung  verleiht,  wirken.  Darum  scheint  es  mir 
auch  unumgänglich  nötig,  dafs  der  Direktor  an  der  Arbeit  der 
Übungsschule  sei  bstt  hat  i  g  Anteil  nimmt.  Nur  wer  selbst  mitten 
in  der  Arbeit  steht,  hat  für  die  Mitwirkenden  das  rechte  Ver- 
ständnis und  zum  Mitraten  die  innere  Berechtigung.  Ein  Direktor, 
der  jederzeit  bereit  ist,  durch  sein  eigenes  praktisches  Wirken  in 
der  Übungsschule  sein  Verständnis  und  seine  Teilnahme  für  die 
Volksschulpraxis  zu  bethätigen,  wird  für  Rat  und  Weisung  viel 
empfänglichere  Herzen  finden,  als  der,  welcher  immer  nur  als  Ju- 
piter tonans  über  den  Niederungen  der  Kinderschule  schwebt. 

Wollte  ein  Direktor  auf  jedes  pädagogisch  anregende  Wirken 
den  Lehrern  der  Übungsschule  gegenüber  verzichten  und  sagen : 
»Ich  will  die  Individualitäten  schonen  und  erwarte  daher,  dafs  die 
Kollegen  der  Übungsschule  mir  Vorschläge  im  Bezug  auf  die  Ver- 
besserung des  Lehrplans  zur  Beurteilung  vorlegen,*  fo  wäre  das 
entschieden  falsch,  denn  der  Direktor  ist  nicht  an  die  Spitze  ge- 
stellt, um  abzuwarten,  sondern  um  voranzugehen,  schlummernde 
Kräfte  zu  wecken,  frischem  Eifer  die  rechten  Wege  der  Bethätigung 
zu  eröffnen.  Thut  er  das  nicht,  so  wird  sich  sehr  leicht  eine 
Stockung  und  Versumpfung  des  pädagogischen  Lebens  geltend 
machen,  die  in  ihren  Übeln  Folgen  durch  kein  noch  so  peinliches 
Kontrolieren  der  Schularbeit  quitt  zu  machen  ist.  Wollte  ein 
untergeordneter  Kollege  aus  eigenem  Antriebe  mit  Vorschlägen 
hervortreten ,  so  könnte  er  leicht  in  den  Verdacht  kommen ,  als 
wollte  er  dem  Direktor  vorgreifen  und  sich  eine  Rolle  anmafsen, 
die  ihm  nicht  zukommt,  oder  er  würde  in  den  Augen  der  Kollegen 
als  ein  unruhiger  Geist  gelten,  der  mit  seinen  Projekten  die  Ruhe 
des  kollegialen  Lebens  stört.  Giebt  dagegen  der  Direktor  die  An- 
regung zum  pädagogischen  Weiterarbeiten  und  übernimmt  er  die 


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205  — 


Leitung,  so  thut  er  nur,  was  seines  Amtes  ist,  und  jedermann 
wird  das  ganz  in  der  Ordnung  finden. 

Die  gesetzlichen  Organe  gemeinsamen  pädagogischen  Arbeitens 
sind  die  Konferenzen.  Wenn  sich  vorläufig  durch  dieselben  für 
die  Förderung  der  methodischen  Schularbeit  nicht  viel  erreichen 
läfst,  so  liegt  der  Grund  hierfür  in  der  mangelnden  wissenschaftlich 
pädagogischen  Durchbildung  der  Lehrer.  Eine  fruchtbare  päda- 
gogische Diskussion  ist  nur  möglich,  wenn  das  psychologisch  pä- 
dagogische Denken  der  Diskutierenden  eine  gewisse  Reife  und 
innere  Freiheit  erlangt  hat,  d.  h.  wenn  man  sich  gewöhnt  hat, 
seine  Ansichten  nicht  nur  mit  blinder  Hartnäckigkeit  zu  vertei- 
digen, sondern  dieselben  zu  begründen  und,  wo  die  Gegengründe 
es  fordern,  autzugeben.  Wahrhaft  segenbringend  wird  die  Konfe- 
renzarbeit erst  dann,  wenn  in  allen  Beteiligten  das  Streben  lebendig 
ist,  sich  zu  verständigen  und  auf  Grund  dieser  inneren  Über- 
windung vorhandener  Gegensätze  ein  gemeinsames  planmäfsiges 
Streben  nach  einem  einheitlichen  Ziele  zu  pflegen.  Soll  man  nun 
aber,  weil  unter  den  gegenwärtigen  Umständen  eine  solche  Kon- 
ferenzarbeit zunächst  wenig  Aussicht  auf  Erfolg  hat,  die  Hände  in 
den  Schofs  legen  und  die  Konferenzen  ausschliefslich  zur  Fest- 
setzung der  Zensuren  und  Behandlung  der  Disziplinarfälle  ver- 
wenden ?  Ich  sage :  Nein !  Geringe  Aussicht  auf  Erfolg  entbinden 
nicht  von  der  Pflicht,  nach  Erfolg  zu  streben.  Ist  es  schon  jeder 
gewöhnlichen  Schule  gegenüber  Pflicht  des  Lehrerkollegiums,  nach 
bewufster  Einheitlichkeit  der  Erziehungsarbeit  zu  streben,  so  wird 
die  Pflicht  um  so  ernster,  wenn  man  es  mit  der  Einführung  von 
Anfangern  zu  thun  hat.  Wie  sollen  diese  angehenden  Lehrer  zu 
einer  planmäfsig  geschlossenen  Schularbeit  angeleitet  werden,  wenn 
in  der  Übungschule  selbst  jeder  einzelne  Lehrer  blofs  seinen  natür- 
lichen Neigungen  nachgeht?  Man  werfe  mir  hier  nicht  etwa  ein, 
für  die  Einheit  der  Übungsschularbeit  sorge  eine  straffe  Direktion. 
Ich  bin  weit  entfernt,  den  Wert  einer  energischen  Direktion  zu 
unterschätzen,  aber  geistiges  Leben  kann  man  nun  einmal  mit  dem 
Korporalstocke  nicht  wecken,  und  selbst  bei  der  gröfsten  Unter- 
würfigkeit kann  das  Kollegium  doch  nicht  Leistungen  hervor- 
bringen, welche  nun  einmal  nur  die  Frucht  eines  bestimmten 
geistigen  Lebens  sind.  Es  bleibt  also  nichts  anderes  übrig,  als 
dieses  geistige  Leben  auf  dem  naturgemäfsen  Wege  der  Anregung 
und  Pflege  zu  schaffen.  Also  tüchtige  Konferenzarbeit*),  reger 
Meinungsaustausch,  und  der  Segen  kann  nicht  ausbleiben. 

Vom  Üben  hat  die  Übungsschule  ihren  Namen,  also  wird  Ein- 

_____  V 


*)  Dafs  zu  diesen  Konferenzen  immer  das  ganze  Kollegium  zugezogen 
wird,  ist  nicht  empfehlenswert,  viel  fruchtbarer  werden  Spezialkonfercnzen 
mit  den  Lehrern  derselben  Klasse,  derselben  Fächer  oder  nahe  verwandter 
Fächer  sein.    Die  Seele  des  Ganzen  mufs  der  Direktor  sein. 


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—     206  — 


Übung  der  Praktikanten  ihre  Hauptaufgabe  sein.  Und  je  mehr 
man  bedenkt,  in  wie  hohem  Mafse  die  spätere  Lehrerthätigkeit 
des  jungen  Mannes  von  den  Eindrücken  der  Übungsschulpraxis 
abhängt,  um  so  ernster  wird  man  es  mit  der  Anleitung  und  Unter- 
weisung der  Anfänger  nehmen  müssen.  Wie  wird  nun  diese  Unter- 
weisung der  Praktikanten  am  zweckentsprechendsten  eingerichtet, 
wie  wird  die  Schule,  in  der  der  angehende  Lehrer  einst 
die  ersten  Schritte  ohne  Leitung  und  beständige  Auf- 
sicht thun  mufs,  am  sichersten  und  vollkommensten 
vor  verkehrten  Experimenten  bewahrt? 

Zwei  grofse  Hauptgrundsätze  streiten,  so  scheint  mir,  um  die 
Herrschaft.  Die  gewöhnliche  Praxis  bewegt  sich  meist  zwischen 
den  äufsersten  Gegensätzen  in  der  Mitte.  Das  neue  Institut  der 
Übungsschule  hat  begreiflicher  Weise  die  Geister  nicht  mit  einem 
male  neu  schaffen  können,  und  so  ist  es  ganz  natürlich,  wenn  trotz 
der  neuen  Einrichtung  die  alten  Wege  zunächst  weiter  gewandelt 
und  dem  Praktikanten  nur  Einzellektionen  anvertraut  werden.  Die 
Kinder  der  »Seminarschule«,  so  argumentiert  man,  dürfen  nicht 
als  Experimentierobjekt  für  Anfänger  angesehen  und  behandelt 
werden,  daher  hat  der  betreffende  Seminarlehrer  den  Unterricht 
in  der  Hauptsache  selbst  zu  geben  und  dadurch  die  Erreichung 
des  vorgeschriebenen  Zieles  zu  ermöglichen.  Die  Praktikanten 
dürfen  sich  nur  mit  zerstreuten  Einzellektionen  oder  »Vorträgen« 
(wie  sie  an  manchen  Orten  sehr  bezeichnend  genannt  werden)  be- 
teiligen. Bisweilen  wird  wohl  auch  noch  die  Einrichtung  getroffen, 
dafs  neben  dem  fortlaufenden  Unterrichte  der  Übungsschule  be- 
sondere Instruktionskurse  der  Praktikanten  hergehen,  da  wird 
denn  bald  die,  bald  jene  Abteilung  der  Seminarschule  bestellt, 
damit  der  Praktikant  sich  an  ihr  den  oder  jenen  katechetischen 
Kunstgriff  einüben  kann.  Im  letzteren  Falle  spielen  die  Kinder 
ganz  entschieden  dieselbe  Rolle,  wie  die  alten  gemieteten  Experi- 
mentierjungen, nur  setzt  es  jetzt  keine  Bezahlung  mehr.  . 

Das  Experimentieren  will  man  also  durch  die  Einzellektionen 
möglichst  einschränken,  das  ist  das  eine  Ziel ;  aber  zugleich  glaubt 
man  noch  etwas  anderes  zu  erreichen.  Wenn  nämlich  der  Prak- 
tikant an  Einzellektionen  ohne  Zusammenhang  sich  begnügen  kann 
und  mufs,  dann  ist  es  auch  möglich,  ihn  im  Laufe  von  2  Jahren 
in  die  Praxis  aller  Fächer  der  Übungsschule  auf  allen  Stufen  ein- 
zuführen, und  das  ist  doch,  so  meint  man,  unbedingt  nötig,  denn 
man  weifs  ja  nicht  im  voraus,  welche  Alterstufe  und  in  welchen 
Fächern  der  angehende  Lehrer  einst  zu  unterrichten  haben  wird. 
Also  huldigt  man  dem  Grundsatze:  Von  allem  naschen  und 
in  nichts  vertiefen,  multa  non  multum! 

Prüfen  wir  nun,  wie  es  mit  dem  Werte  dieser  Argumente 
steht.  Die  Übungsschule  soll  also  vor  dem  Experimentieren 
möglichst  verschont  bleiben.    Aber  wie?    Ist  nicht  die  Übungs- 


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—     2ÖJ  — 

schule  gerade  dazu  ins  Leben  gerufen  worden,  dafs  die  Anhänger 
unter  beständiger,  den  Erfolg  sichernder  Anleitung  und 
Aul  sieht  ihre  Erstlingsversuche  abmachen  und  über  das  Stadium 
des  Experirr.entierens  möglichst  rasch  und  mit  möglichst  wenig 
Schaden  für  die  Schüler  herauskommen?  Wenn  man  nun  ihre 
praktische  Thätigkeit  auf  möglichst  wenig  vereinzelte  Lektionen 
einschränkt,  wird  da  der  Zweck  der  Übungsschule  nicht  voll- 
ständig verfehlt  r  Und  ist  etwa  das  Experimentieren  der  Anfanger 
aus  der  Welt  geschafft,  wenn  man  es  in  der  Übungsschule  aufs 
äufserste  einschränkt?  Sicher  nicht!  Die  Experimente  und  An- 
fängerversuche, die  der  Praktikant  in  der  Übungsschule  unter  An- 
leitung und  Aufsicht  nicht  machen  durfte,  die  mufs  er  nun  draufsen 
im  Leben  unter  viel  ungünstigeren  Verhältnissen  nachholen.  Ist 
denn  nun  aber  durch  dieses  Opfer,  das  der  Praktikant  in  Gestalt 
einer  äufserst  mangelhaften  praktischen  Vorbildung  bringen  mufste, 
der  Zweck  wirklich  erreicht,  ist  die  Übungsschule  vor  Anfänger- 
experimenten geschützt?  Der  Grundsatz,  dafs  der  Praktikant  von 
allem  naschen  mufs,  sorgt  dafür,  dafs  es  nicht  der  Fall  ist.  Wenn 
alle  von  allen  Gerichten  der  Übungsschule  kosten  sollen,  dann 
müssen  die  Schüsseln  rasch  reihum  gehen.  In  einem  Jahre  in 
demselben  einen  Fache  ein  Viertelhundert  Anfängerlektionen,  das 
genügt  doch  sicher,  um  dem  Ganzen  den  Charakter  des  Experi- 
mentierens aufzuprägen. 

Die  Folgen,  welche  das  System  der  zerstreuten  Einzellektionen 
für  den  Praktikanten  haben  mufs,  können  nicht  zweifelhaft  sein. 
Vor  allem  kann  ein  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  für  gewisse 
Unterrichts-  und  Erziehungsresultate  beim  Praktikanten  gar  nicht 
aufkommen.  Das  Resultat  einer  einzelnen  Unterrichtsstunde  hängt 
ja,  wie  jeder,  der  nur  etwas  von  Psychologie  weifs,  zugeben  wird, 
in  sehr  hohem  Malse  von  dem  bisherigen  Gange  des  Unterrichts, 
von  den  Gewohnheiten,  die  in  der  Klasse  ausgebildet  wurden,  und 
der  Beweglichkeit  und  Verwendbarkeit  früher  ausgebildeter  Ge- 
dankenkreise ab.  Wie  soll  sich  nun  ein  Praktikant  verantwort- 
lich fühlen  für  etwas,  das  zum  gröfsten  Teil  ohne  sein  Zuthun 
zu  stände  gekommen  ist?  Dazu  kommt  aber  noch  ein  Anderes. 
Eine  wesentliche  Vorbedingung  für  das  Gelingen  einer  Unterrichts- 
stunde ist  die  Vertrautheit  des  Lehrers  mit  dem  Wissen  und 
Wesen  der  Kinder.  Eine  solche  Vertrautheit  läfst  sich  aber  nur 
durch  längeren  Umgang  erlangen.  Wer  nur  eine  Lektion  hält, 
der  wird  über  das  Tasten  und  Versuchen  nicht  allzuweit  hinaus- 
kommen. Dabei  ist  es  für  den  Praktikanten  noch  ganz  besonders 
hinderlich,  dafs  er  bei  dieser  ersten  und  vielleicht  einzigen  Lektion 
stets  mit  einer  nicht  geringen  Befangenheit  zu  kämpfen  hat, 
welche  die  naturgemäfse  Folge  der  ungewohnten  Lage  ist. 
Erst  eine  Reihe  von  zusammenhängenden  Lektionen  würden  den 
Anfänger  fähig  machen,  brauchbare  unterrichtliche  Erfahrungen  zu 


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gewinnen  und  zu  benutzen.  Auf  Ausbildung  fester  unterricht- 
licher Gewohnheiten  mufs  natürlich  bei  diesem  System  last  voll- 
kommen verzichtet  werden,  denn  eine  Gewohnheit  kann  sich  nur 
ausbilden,  wenn  dasselbe  oder  ein  verwandtes  Verfahren  wieder- 
holt geübt  wird.  Nun  hängt  aber  gerade  von  solcher  unterricht- 
lichen Gewohnheit  im  Schulleben  sehr  viel  ab.  Einzelne  kleine 
Mifsgriffe,  ein  falsch  gestelltes  Fragewort,  eine  unvollständige  Frage 
u.  dgl  können  den  Erfolg  der  Unterrichtsstunde  nicht  wesentlich 
in  Frage  stellen,  wenn  aber  ein  Lehrer  sich  nicht  gewöhnt  hat, 
auf  das  Denken  der  Schüler  einzugehen,  gewonnene  Gedanken- 
reihen geläufig  zu  machen,  auf  Reihenbildung  und  zusammen- 
hängendes Denken  und  Sprechen  hinzuarbeiten,  dann  wird  sein 
Unterricht  erfolglos  sein,  selbst  wenn  Frage  und  Antwort  in  seinen 
Stunden  stets  Schlag  auf  Schlag  folgen. 

Noch  unerfreulicher  werden  die  Folgen  des  vielfachen  Wechsels 
der  Praktikanten  für  die  Übungsschüler  sein.  In  40  Schulwochen 
in  demselben  Fache  20  bis  25  Praktikanten  als  Objekt  für  An- 
fangsversuche dienen,  das  ist  kein  Vergnügen  und  bringt  ent- 
schieden keinen  Vorteil.  Von  einer  Stetigkeit  in  der  Behandlung 
der  Kinder  kann  keine  Rede  sein,  ein  wechselseitiges  Sicheinleben 
ist  einfach  unmöglich.  Ein  konsequentes  planmäfsiges  Üben, 
eine  strenge  Gewöhnung  an  ein  einheitliches  Unterrichtsverfahren 
kann  nur  in  sehr  beschränktem  Mafs  durchgeführt  werden.  Auch 
das  Gesinnungsverhältnis  zwischen  Schülern  und  Lehrer  wird  ein 
ganz  verkehrtes.  Die  Übungsschüler  fühlen  sehr  bald,  dafs  der 
Praktikant  eigentlich  auch  nur  ein  Schüler  ist,  dafs  ihre  Unter- 
weisung nicht  der  Hauptzweck  dieser  Lektionen  ist,  sondern  dals 
man  sie  hier  nur  als  Übungsobjekte  benutzt,  an  denen  heute  der 
morgen  jener  seine  Studien  macht.  Diese  Erkenntnis  läfst  es 
natürlich  zu  keiner  rechten  vertrauensvollen  Hingebung  an  die 
Person  des  Lehrenden  kommen,  und  damit  ist  besonders  auf  dem 
Gebiete  des  Gesinnungsunterrichtes  jede  Möglichkeit  eines  tiefer- 
gehenden Unterrichtserfolges  einfach  abgeschnitten. 

Einigen  besonders  auffälligen  Mängeln  des  Systems  der  Einzel- 
lektionen sucht  man  durch  um  so  fleifsigeres  Hospitierenlassen  ab- 
zuhelfen. Durch  Zuschauen  soll  sich  also  der  Praktikant  die  Er- 
fahrungen und  Fertigkeiten  erwerben,  die  er  durch  eigene  Übung 
der  Unterrichtskunst  nicht  gewinnen  kann.  Dafs  man  durch  Zu- 
sehen keine  Fertigkeiten  erwirbt,  das  liegt  zu  klar  auf  der  Hand, 
als  dafs  ich  drüber  nur  ein  Wort  weiter  verlieren  möchte.  Fabri- 
cando  fit  faber  sagten  die  Alten,  und  wenn  heute  jemand  einem 
Turnlehrer  begreiflich  machen  wollte,  dals  er  seinen  Schülern  die 
rechte  Turnfertigkeit  hauptsächlich  durch  Vorturnen  beibringen 
könnte,  so  würde  der  gute  Mann  wahrscheinlich  ausgelacht  werden. 
Eine  teilweise  Berechtigung  hat  dagegen  die  Behauptung,  dafs 
durch  Hospitieren  pädagogische  Anschauungen  und  Erfahrungen 


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gewonnen  werden  können.  Wenn  ein  bereits  erfahrener 
Lehrer,  der  sich  das  offene  Auge  und  den  empfänglichen  Sinn 
nicht  durch  Eitelkeit  hat  rauben  lassen,  bei  einem  andere  Bahnen 
wandelnden  Kollegen  hospitiert,  so  kann  er  allerdings  in  wenig 
Stunden  recht  reiche  Erfahrungen  sammeln.  Sehr  bald  wird  er 
nämlich  herausfinden,  worin  das  Eigenartige  in  dem  Verfahren  des 
betreffenden  Kollegen  beruht,  und  er  wird  auch  beurteilen  können, 
in  wie  weit  gerade  dieses  Eigenartige  auf  den  Unterrichtsprozefs 
fördernd  oder  hemmend  einwirkt.  Was  ihn  zum  Auffassen  und 
Beurteilen  befähigt,  ist  seine  bereits  gewonnene  und  durch 
methodisches  Nachdenken  verarbeitete  Erfahrung. 
Ein  Turnlehrer,  der  dem  Turnen  einer  Musterriege  zuschaute, 
wird  möglicher  Weise  sehr  viel  lernen,  während  ein  Laie  im  Turn- 
fache, der  genau  dasselbe  sieht,  sich  vielleicht  ganz  gut  unterhält, 
aber  nichts  lernt.  Zwischen  Sehen  und  Sehen  ist  eben  ein  Unter- 
schied und  das  blofs  Aufnehmen  mit  den  Sinnesorganen  ist  noch 
längst  keine  pädagogisch  wertvolle  Anschauung  oder  Erfahrung. 
Bleiben  wir  einmal  bei  dem  Beispiel  des  Turnens  stehen.  Wie 
wird  eine  turnerische  Erfahrung  gewonnen  und  worin  besteht 
sie?  Ich  denke  so :  Man  sieht  eine  bestimmte  Übung  vormachen 
und  gewinnt  so  ein  Bild  von  der  gelingenden  Übung,  nun  geht 
man  selbst  daran,  die  Übung  nachzumachen,  man  versucht  und 
lernt  beim  Versuch  die  Schwierigkeiten  kennen  und  schätzen  und 
erfahrt  zunächst,  wie  man  nicht  zum  Ziele  kommt.  Endlich  kommt 
man  vielleicht  mit  Unterstützung  eines  guten  Vorturners  dahin, 
dafs  man  den  rechten  Ruck  im  rechten  Moment  anwendet,  und 
nun  gelingt  die  Übung.  Der  Turner  hat  eine  neue  Erfahrung  ge- 
wonnen, sie  besteht  in  der  Vorstellung  der  Muskelgefühle,  welche 
das  gelingende  Thun  begleiteten.  Wird  nun  der  Ablauf  der  Reihe 
durch  häufige  Wiederholung  immer  glatter  und  sicherer,  so  ent- 
steht eine  Fertigkeit.  Turnerische  Erfahrung  wird  also  zunächst 
nur  durch  wirkliches  Turnen  gewonnen.  Wenn  aber  jemand  be- 
reits über  eine  reiche,  vielseitige  turnerische  Erfahrung  verfügt,  so 
ist  er  nun  auch  in  der  Lage,  durch  blofses  Zusehen  diese  Er- 
fahrung noch  weiter  zu  bereichern.  Sieht  er  nämlich  eine  ihm 
bisher  unbekannte  Übung  vormachen,  so  bleibt's  bei  ihm  nicht 
bei  der  blofsen  Gesichtwahrnehmung,  vielmehr  reproduziert  jeder 
einzelne  Teil  der  Gesichtswahrnehmung  diejenigen  Muskelge fühle, 
die  einst  mit  ähnlichen  Stellungen  oder  Bewegungen,  wie  sie  jetzt 
wahrgenommen  werden,  verbunden  waren.  Der  Turner  sieht  die 
Übung  nicht  blofs,  sondern  er  turnt  im  Innern  bereits  mit.  Die 
Anwendung  auf  die  Pädagogik  kann  ich  wohl  dem  geneigten 
Leser  überlassen ,  er  wird  mir  dann  vielleicht  zugeben ,  dafs 
massenhaftes  Hospitieren  für  Anfänger  eine  ganz  nutzlose  Zeitver- 
schwendung ist.    Erst  wenn  der  Praktikant  durch  eigenen  Unter- 

PSdagof  Sche  Studien.    IV.  M 


—     2IO  — 

rieht  für  praktisch  pädagogische  Fragen  die  nötigen  apperzipieren- 
den  Vorstellungen  gewonnen  hat,  kann  er  mit  einigem  Nutzen 
hospitieren. 

Auch  eine  theoretische  Unterweisung,  und  wenn  sie  bis 
in  die  kleinsten  Einzelnheiten  des  Unterrichtsverfahrens  ausgeführt 
würde,  kann  den  Mangel  an  Erfahrung  und  Übung  nicht  ersetzen. 
In  seinen  Schulreden  sagt  Herder:  »Hast  du  je  einem  Kinde  aus 
der  philosophischen  Grammatik  Sprache  beigebracht?  Aus  der  ab- 
gezogensten Theorie  der  Bewegung  es  gehen  gelernt? 
Hat  ihm  die  leichteste  oder  schwerste  Pflicht  aus  einer  Demon- 
stration der  Sittenlehre  begreiflich  gemacht  werden  müssen,  und 
dürfen,  und  können?«  —  Es  dürfte  wohl  heutzutage  kaum  eine 
Richtung  in  der  Pädagogik  geben,  die  in  ihren  theoretischen  Dar- 
legungen die  ausschlaggebende  Bedeutung  der  Anschauung  leug- 
nete; aber  vom  theoretischen  Zugeständnisse  bis  zur  konsequenten 
praktischen  Handhabung  ist  ein  sehr  weiter  Weg,  und  die  Art 
und  Weise,  wie  Pädagogik  wohl  in  den  meisten  Fällen  gelehrt 
wird,  ist  ein  deutlicher  Beweis  dafür,  dafs  man  Theorien  lehren 
kann  ohne  das  geringste  Bedürfnis  zu  fühlen,  diese  Theorie  auf 
seine  eigene  Unterrichtspraxis  anzuwenden  und  diese  nach  jener 
zu  gestalten.  Wenn  diese  Nutzlosigkeit  der  pädagogischen  Theorie 
sich  aber  schon  beim  Lehrer  der  Theorie  selbst  zeigt,  wie  kann 
man  erwarten,  dafs  es  bei  den  Schülern  anders  sein  soll?  Begriffe 
ohne  entsprechende  Anschauungen  sind  eben  leer  und  mit  Wort- 
hülsen kann  man  im  günstigsten  Falle  eine  gute  Prüfung  ablegen, 
aber  fürs  Leben  hat  man  nichts  gewonnen,  keimkräftige,  ent- 
wicklungsfähige Gedanken  hat  man  nicht  in  sich  aufgenommen.  Da- 
raus ergiebt  sich  mit  Notwendigkeit  der  Schlufs:  Theoretische 
Unterweisungen  können  mangelnde  gute  Anschauungen  und  Er- 
fahrungen nicht  ersetzen,  sondern  müssen  sich  vielmehr  auf  solche 
Anschauungen  gründen,  wenn  sie  anders  einen  höheren  Wert 
haben  wollen  als  den  des  Examenfutters.  Man  werfe  mir  hier  nicht 
ein,  dafs  ja  jeder  Schüler,  der  die  Schule  12  bis  13  Jahre  lang 
besucht  hat,  genügende  Erfahrungen  gesammelt  haben  müfste,  um 
einen  zusammenhängenden  Vortrag  über  Theorie  der  Pädagogik 
mit  wirklichem  Nutzen  anhören  zu  können;  denn  erstens  dürften 
solche  Erfahrungen  dem  Schüler  in  vielen  Fällen  nur  zeigen,  wie 
man  es  nicht  machen  darf,  wenn  man  auf  das  Geistesleben  des 
Zöglings  erfolgreich  einwirken  will,  und  zweitens  sind  Erfahrungen, 
die  der  Zögling  macht,  durchaus  nicht  zu  verwechseln  mit  den 
Erfahrungen,  die  der  Erziehende  bei  Ausübung  seiner  Erzieher- 
thatigkeit  gewinnt.  Der  Leidende  erfährt  eben  bei  dem  nämlichen 
Vorgange  etwas  anderes  als  der  Thätige.  Oder  kann  vielleicht 
die  Phantasie  die  fehlende  wirkliche  Erfahrung  durch  eine  blofs 
vorgestellte  ersetzen?  Der  Vorschlag  scheint  beachtenswert,  denn 
auch   im  Gesinnungsunterricht  suchen  wir  ja  die  Erfahrung,  die 


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der  wirkliche  »Umgang«  bietet,  durch  einen  'idealen  Umgang« 
des  Zöglings  mit  den  grofsen  Geistern  der  Vorzeit  zu  ergänzen. 
So  könnte,  scheint  es,  auch  der  Unterricht  in  der  Pädagogik  von 
Beispielen  ausgehen,  welche  blofs  mit  Hüte  der  Phantasie  erlebt  werden; 
aber  so  kann  nur  der  denken,  der  vom  Wesen  der  Phantasie  eine 
sehr  oberflächliche  Vorstellung  hat.  Die  Phantasie  ist  nicht,  wie 
man  so  olt  annimmt,  eine  völlig  freischaffende  Kraft,  sondern  sie 
kann  nur  bauen,  wenn  das  Baumaterial  d.  h.  die  Vorstellungs- 
elemente vorhanden  sind.  Die  Möglichkeit  zu  phantasieren  ist 
also  nur  dann  gegeben,  wenn  auf  dem  betreffenden  Gebiete  be- 
reits eine  Summe  von  elementaren  Erfahrungen  vorliegt.  Wer 
bereits  mehrfach  unterrichtet  und  die  Natur  des  kindlichen  Denkens 
kennen  gelernt  hat,  wer  mit  der  vollen  Teilnahme  des  Unter- 
richtenden die  geistigen  Vorgänge,  die  zum  gewünschten  Ziele 
führen,  verfolgt  hat,  nur  der  kann  sich  lebendig  in  einen  Unter- 
richtsgang, über  den  ihm  nur  berichtet  wird,  hineinversetzen. 

Dazu  kommt  noch,  dafs  allen  Auseinandersetzungen  erst  dann 
das  rechte  Interesse  von  Seiten  der  Praktikanten  entgegenkommt, 
wenn  diese  in  der  Praxis  des  Unterrichts  auf  Probleme  gestofsen 
sind,  die  eine  Lösung  fordern,  auf  Vorgänge,  die  eine  Erklärung 
als  erwünscht  erscheinen  lassen.  Mit  Fragen  mufs  also  der 
Schüler  an  die  Theorie  herantreten,  Rat  und  Hilfe  für  die 
Praxis  mufs  er  von  ihr  erwarten  und  bei  ihr  suchen.  Dazu  gehört 
aber,  dafs  er  sich  seiner  Hilfsbedürftigkeit  und  Ratlosigkeit  be- 
wufst  geworden  ist. 

Die  Geschichte  der  Pädagogik  wird  dem  Zögling  später 
Gelegenheit  geben,  über  die  oberen  Regionen  des  pädagogischen 
Lehrgebäudes  zu  reflektieren  und  sich  an  der  Hand  der  grofsen 
Meister  in  die  Prinzipien  einzuarbeiten;  aber  den  Anfang  kann 
Geschichte  der  Pädagogik  auch  nicht  machen,  denn  Geschichte 
setzt  zu  ihrem  Verständnis  voraus,  dafs  man  eine  gewisse  Fähig- 
keit besitzt  sich  in  Zustände  und  Geistesvorgänge  der  Vergangen- 
heit hineinzuversetzen.  Wer  Geschichte  der  Pädagogik  mit 
rechtem  Verständnis  und  rechter  innerer  Teilnahme  studieren  will, 
mufs  schon  etwas  erfahren  haben  von  der  Lust  und  dem  Leid 
des  Suchens  nach  dem  rechten  Wege  zum  Kinderherzen. 

Also  mit  einem  Worte:  Wer  schwimmen  lernen  will,  muls 
ins  Wasser,  und  wer  lehren  lernen  will,  mufs  mitten  hinein  ins 
Schulleben.  Mit  Einzellektionen  kann  ihm  nicht  gedient  sein, 
denn  im  Vorbeigehen  hat  noch  niemand  ein  Handwerk  gelernt, 
geschweige  denn  eine  Kunst. 

Nun  wäre  noch  ein  Vermittclungsvorschlag  möglich.  Die 
Herren,  die  durchaus  den  Praktikanten  von  allen  Gerichten  ein 
bifschen  kosten  lassen  möchten,  könnten  sagen:  »Gut,  du  sollst 
einmal  recht  haben,  bloise  Einzellektionen  geben  keine  wertvollen 
Unterrichtserfahrungen,  daher  wollen  wir  die  Praktikanten  gleich 

>4* 


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—     212  — 

je  4  oder  5  Unterrichtsstunden  hintereinander  halten  lassen.  Dann 
können  sie  die  nächsten  Wirkungen  ihres  Unterrichts  selbst  beo- 
bachten, können  die  Fehler  der  ersten  Unterrichtsstunde,  die  ja 
zum  Teil  eine  Folge  der  Befangenheit  waren,  bei  ruhigerem  Blute 
vermeiden,  können  es  lernen,  wie  man  gröfsere  unterrichtliche 
Ganze  bearbeitet  und  zusammenhängende  Resultate  gewinnt.  <  Es 
läfst  sich  nicht  leugnen,  dafs  mit  der  Durchführung  dieses  Vor- 
schlags schon  etwas  gewonnen  wäre,  aber  allzuviel  ist  es  nicht. 
Vor  allem  hat  der  arme  Übungsschüler  nichts  gewonnen,  denn 
wenn  der  Praktikant  sich  etwas  eingerichtet  hat,  wenn  der  Unter- 
richt anfangt  teste  sichere  Gestalt  anzunehmen,  dann  wird  ge- 
wechselt und  die  Stümperei  beginnt  von  neuem.  Auch  der  Prak- 
tikant kommt  nicht  so  weit  wie  er  kommen  müsste.  Für  jede 
Kunst  ist  ja  Übung  die  Hauptsache.  Keinem  Musiklehrer  wird  es 
einfallen,  zu  einem  neuen  Übungsstück  überzugehen,  wenn  der 
Schüler  beim  ersten  den  Fingersatz  mühselig  zustande  bringt,  sondern 
nun  läfst  er  Übungen  folgen,  bis  eine  gewisse  Geläufigkeit  erzielt 
ist.  Dabei  ist  er  überzeugt,  dafs  die  Geläufigkeit,  die  beim  ersten 
Stück  erzielt  wurde,  auch  dem  zweiten  zu  gute  kommen  wird. 
Ähnlich  ist's  in  der  Unterrichtskunst.  Wenn  der  Praktikant  ein- 
gesehen hat,  wie  er's  machen  mufs,  um  zum  Ziele  zu  kommen, 
dann  beginnt  das  Üben,  das  Ausbilden  von  festen  Unterrichts- 
gewohnheiten ,  und  erst  wenn  diese  gewonnen  sind ,  ist  wirklich 
etwas  erreicht.  Mit  der  wachsenden  Sicherheit  des  Auftretens  und 
der  zunehmenden  Fertigkeit  in  der  Benutzung  der  Unterrichtsmittel 
stellt  sich  bei  Schülern  ein  Gefühl  der  Befriedigung,  ein  Lust- 
gefühl des  Gelingens  ein.  Nun  hat  er  erst  eine  volle  und  ganze 
Erfahrung  gemacht.  Ohne  dieses  freudige  Bewufstsein  des  Ge- 
lingens fehlt  seinen  Unterrichtsversuchen  die  Beglaubigung  für  die 
Richtigkeit  seines  Thuns.  Nur  der  wird  einer  Methode  mit  vollster 
eigenster  Überzeugung  sich  hingeben,  der  die  Befriedigung  eines 
erfolgreichen  Wirkens  selbst  erfahren  hat. 

Wenn  die  bisherigen  Darlegungen  richtig  waren ,  so  ergiebt 
sich  jetzt  der  Schlufs :  Ohne  zusammenhängenden  Unter- 
richt des  Praktikanten  keine  wirkliche  Einführung  in 
die  Schulpraxis,  und  ohne  gründliche  Einfüh rung  in  die 
Schulpraxis  keine  fruchtbare  Behandlung  der  pädago- 
gischen Theorie. 

»Thörichter  Schwärmer,«  so  höre  ich  die  Herrn  Kollegen 
lächelnd  sagen,  »wie  lange  willst  du  denn  die  jungen  Leute  im 
Seminar  behandeln,  wenn  du  sie  so  gründlich  in  die  Methodik 
jedes  Faches  auf  jeder  Unterrichtsstufe  einführen  willst?«  Nun 
nur  gemach,  meine  lieben  Herrn  Amtsbrüder,  so  einfach  und 
leicht  ist  die  Widerlegung  denn  doch  nicht.  Wer  in  aller  Welt 
hat  denn  behauptet,  dafs  es  nötig  sei,  den  Praktikanten  in  alle 
Fächer  auf  allen  Stufen  einzuführen?  Von  mir  stammt  diese  Be- 


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—    213  — 

hauptung  sicher  nicht,  sondern  von  Ihnen,  und  ich  will  Ihnen  nun 
nachweisen,  dafs  Ihre  Behauptung  auf  einer  ganz  falschen  Voraus- 
setzung beruht.  Die  Forderung,  dafs  der  Praktikant  in  alle  Fächer 
auf  allen  Stufen  eingeführt  werden  müfste,  hätte  nur  dann  einen 
vernünftigen  Sinn,  wenn  die  Methodik  in  jedem  Fache  und  auf 
jeder  Stufe  eine  ganz  andere  wäre.  Nun  ist  aber  in  Wahrheit  die 
Methodik  etwas  Formales,  das  sich  als  solches  auf  allen  Stufen 
und  annähernd  auch  in  allen  Fächern  wiederholt.  Modifikationen 
erleidet  das  Unterrichtsverfahren  je  nach  den  Altersstufen  und 
Fächern,  auf  die  es  angewendet  wird,  aber  ein  völlig  Neues,  Be- 
sonderes ist  es  auf  keiner  Stufe  und  in  keinem  Fach.  In  alle  be- 
sonderen Modinkationen,  die  das  Unterrichtsverfahren  durch  Stoff 
und  Schülermaterial  erleidet,  kann  man  übrigens  den  Praktikant 
auf  keinen  Fall  einführen,  denn  der  Stoff  ist  selbst  innerhalb  des- 
selben Faches  oft  sehr  verschieden,  so  dafs  jede  Einheit  oft  ihre 
eigenartige  Ausgestaltung  fordert,  das  Schülermaterial  zeigt  gleich- 
falls je  nach  den  Gesellschaftskreisen,  aus  denen  es  sich  rekrutiert, 
ein  sehr  verschiedenes  Gesicht.  Also  bleibt  nichts  anderes  übrig 
als  dem  Zögling  die  konkrete  Ausgestaltung  seiner  späteren 
Praxis  selbst  zu  überlassen.  Damit  er  aber  dazu  fähig  werde, 
mufs  die  Übungsschule  dafür  sorgen,  dafs  methodisches  Denken 
und  Handeln  wenigstens  auf  einigen  Gebieten  ihm  zur  festen  Ge- 
wohnheit wird.  Ist  der  Praktikant  auch  nur  auf  einem  Gebiete 
methodisch  klar  und  sicher,  so  wird  er  von  selbst  den  Trieb  in 
*  sich  fühlen  und  die  Fähigkeit  besitzen,  sich  mit  Hilfe  guter  An- 
weisungen in  ein  anderes  Fach  einzuarbeiten. 

Mein  Vorschlag  geht  also  dahin:  Den  Unterricht  in  der 
Übungsschule  geben  in  der  Hauptsache  nur  die  Seminaristen  unter 
beständiger  Anleitung  und  Aufsicht  eines  Seminarlehrers.  Jeder 
Praktikant  behält  ein  Fach  längere  Zeit,  anfangs  am  besten  ein 
ganzes  Semester  hindurch.  Das  massenhafte  Hospitieren  kommt 
in  Wegfall.  Der  Praktikant  übernimmt,  nachdem  er  ein  beziehend- 
lich 2  Stunden  in  dem  betreffenden  Fache  beim  Seminarlehrer 
hospitiert  hat,  den  Unterricht  selbst  und  behält  ihn  ununterbrochen 
bis  zum  Schlufs  der  für  ihn  festgesetzten  Übungszeit. 

Die  Vorteile,  die  dieses  Verfahren  bietet,  liegen  klar  auf  der 
Hand.  Vor  allem  kann  jetzt  der  Seminarlehrer  die  Lektionen  des 
Praktikanten  nicht  mehr  als  Beiwerk  betrachten,  dessen  schäd- 
liche Folgen  man  durch  den  (selbstverständlich  vortrefflichen) 
eigenen  Unterricht  wieder  gut  macht,  vielmehr  ist  er  gezwungen, 
die  Resultate,  welche  die  Übungsschule  erreichen  soll,  durch  den. 
Praktikanten  zu  erreichen.  Nun  genügt  es  nicht  mehr,  dafs 
er  einem  unbeholfenen  Praktikant  zum  Schlufs  eine  recht  schlechte 
Note  giebt  und  damit  sein  Gewissen  beruhigt,  jetzt  wird  vielmehr 
jeder  schlecht  eingerichtete  Praktikant  in  gewisser  Beziehung  eine 


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lebendige  Kritik  seines  Instruktors.  Für  die  Leistungen  eines 
Praktikanten,  der  unter  meiner  Leitung  nur  I  bis  2,  höchstens 
4  Stunden  hält,  kann  mich  kein  vernünftiger  Mensch  verantwortlich 
machen  wollen,  aber  für  die  Ausbildung  eines  Praktikanten,  der 
ein  Semester  unter  mir  arbeitete,  fühle  ich  mich  verant- 
wortlich.*) 

Für  den  Praktikanten  liegt  das  Bedeutungsvollste  der  neuen 
Einrichtung  darin,  dafs  er  das  volle  Gefühl  der  Verantwortlichkeit 
für  seinen  Unterricht  haben  kann  und  haben  mufs.  Das  giebt 
seinem  Streben  einen  ganz  andern  Sporn,  als  wenn  er  sich  bei 
jedem  vereinzelten  Auftreten  sagt:  Deine  ^Lektion«  betrachtet  der 
Scminarlehrer  doch  nur  als  eine  störende  Unterbrechung  seiner 
eigenen  planmälsigen  Arbeit  und  als  einen  Hemmschuh,  der  dem 
raschen  Vorwärtsschreiten  angelegt  wird.  Weiter  bildet  sich  beim 
Praktikanten  durch  die  wiederholte  Vornahme  verwandter  Unter- 
richtsthätigkeiten  ein  Gedächtnis  des  methodischen  Wollens 
ais,  und  damit  ist  die  erste  Grundlage  für  den  methodischen 
Charakter  des  zukünftigen  Lehrers  gewonnen.  Durch  die  Be- 
schränkung der  Übungsschulfächer  wird  weiter  dem  Prakti- 
kanten Gelegenheit  gegeben,  sich  mit  seinem  Instruktor  gehörig 
zusammen  zu  leben  und  zusammen  zu  arbeiten.  Das  ist  aber  von 
groiser  Wichtigkeit.  Bei  dem  ruhelosen  Wandern  von  Fach  zu 
Fach ,  von  Klasse  zu  Klasse  lernt  der  Praktikant  keinen  Lehrer 
der  Übungsschule  recht  kennen  und  verstehen,  er  empfangt  von 
keinem  einen  nachhaltigen,  tiefen  Eindruck,  vielmehr  werden  die 
verschiedenen  Eindrücke  von  verschiedenen  Individualitäten**)  sich 
gegenseitig  hemmen  und  aufheben.  Darin  sehen  nun  allerdings 
gewisse  Leute  einen  ganz  besondern  Vorteil,  denn  auf  diese  Weise 
wird,  wie  sie  meinen,  dem  Praktikanten  »die  Freiheit  des  metho- 
dischen Denkens  und  Handelns <  gewahrt.  Natürlich  liegt  hier 
wieder  der  gewöhnliche  falsche  Begriff  von  Freiheit  zu  Grunde. 
Frei,  meint  man,  ist  der,  der  sich  nach  eigenem  Urteil  ohne 
fremde  Beeinflussung  entscheidet.  Damit  hat  man  aber  nur  die 
äufsere  formale  Freiheit  gekennzeichnet,  die  innere  Freiheit  setzt 
ein  von  persönlichen  Willkürlichkeiten,  Launen  und  Vorurteilen 
unbeeinflufstes,  nur  durch  stichhaltige  Gründe  bestimmtes  Urteil 
voraus.  Unvollkommene  Kenntnis,  mangelhaftes  Verständnis  und 
unausgeglichene  Gegensätze  sind  also  weit  entfernt,  die  Grund- 

*j  Um  Mifsdcutungen  vorzubeugen,  bemerke  ich  ausdrücklich,  was  an 
sich  selbstverständlich  ist,  dafs  die  Leistungen  des  Praktikanten  Produkt 
der  beiden  Hauptfaktoren,  der  natürlichen  Anlage  und  der  planmäfsigen 
Ausbildung  sind,  und  dafs  die  Leistung  des  Instruktors  durchaus  nur  mit 
Rücksicht  auf  die  Anlage  des  Praktikanten  beurteilt  werden  darf. 

**)  Individuen  mit  etwas  ausgeprägter  Eigentümlichkeit  werden  die 
Lehrer  bleiben,  selbst  wenn  die  leitenden  Kreise  noch  so  sehr  bemüht 
sind,  alle  Untergebenen  in  die  Uniform  ihrer  »bewährten  Methode«  (kon- 
zentrische Kreise  u.  dgl.)  hineinzuzwingen. 


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 L-J  


"    2i5  - 

lagen  für  ein  in  methodischer  Hinsicht  freies  Denken  zu  bilden. 
Vielmehr  kommt  der  der  vollen  Freiheit  am  nächsten,  der  am 
tiefsten  und  allseitigsten  in  eine  Sache  eingedrungen  ist.  Der  Weg 
zur  Freiheit  geht  also  durch  die  Vertiefung,  daher  ist  es  auch 
für  den  Anfänger  in  der  Schulpraxis  von  der  gröfsten  Bedeutung, 
dafs  er  sich  zunächst  mit  dem  Unterrichtsverfahren  eines  Lehrers 
gründlich  vertraut  macht.  Später  kann  und  soll  er  die  be- 
sonderen Vorzüge  anderer  Lehrweisen  ebenso  gründlich  kennen 
lernen,  aber  zugleich  oder  in  zu  kurzen  Absätzen  darf  ihm  das 
Vielerlei  sicher  nicht  geboten  werden,  denn  das  verwirrt,  macht 
aber  nicht  frei. 

Die  gründliche  Vertiefung  zunächst  in  ein  Fach  wird  den 
Praktikanten  auch  rascher  und  sicherer  zur  Einsicht  in  das  Wesen 
der  Methode  führen.  Wird  der  Praktikant  beständig  von  einem 
Fach  ins  andere  geworfen,  so  sind  die  neuen  Eindrücke  so  mannig- 
faltig und  so  verworren,  der  Praktikant  hat  so  viel  mit  der  sach- 
lichen Seite  zu  thun,  dafs  er  die  gleichbleibenden  Zijge  des 
methodisch  Formalen  im  Unterricht  gar  nicht  klar  genug  als  solche 
erkennen  und  würdigen  lernt.  Ist  dagegen  der  Praktikant  dauernd 
in  demselben  Unterrichtsfache  beschäftigt,  so  treten  für  sein  Be- 
wufstsein  den  fortschreitenden  Unterrichtsstoffen  gegenüber  die 
sich  gleichbleibenden  Grundzüge  der  Methode  scharf  und  bestimmt 
als  solche  hervor.  Hat  dann  ein  angehender  Lehrer  in  der 
Seminarpraxis  die  Grundzüge  der  Methodik  in  konkreter  An- 
wendung auf  eine  beschränkte  Anzahl  von  Unterrichtsfächern 
kennen  gelernt,  so  wird  es  ihm  leicht  fallen,  dieselben  Verfahrungs- 
weisen  auf  verwandte  Fächer  anzuwenden.  Natürlich  wird  man 
gut  thun,  für  jeden  Praktikanten  die  Fächer  so  auszuwählen,  dafs  er 
die  Hauptseiten  des  Unterrichts  durch  je  einen  Vertreter  kennen 
lernt  und  sich  zugleich  im  Verkehr  mit  den  verschiedenen  Alters- 
stufen übt.  Dabei  kann  auf  die  Individualität  des  Praktikanten 
die  gebührende  Rücksicht  genommen  werden.  Man  wird  z.  B. 
einen  Praktikanten,  bei  dem  das  empirische  Interesse  besonders 
stark  entwickelt  ist,  zunächst  mit  Naturkunde  beschäftigen,  da- 
gegen wird  man  sich  wohl  hüten,  Praktikanten,  bei  denen  die  In- 
teressen der  Teilnahme  nur  in  sehr  geringem  Mafse  sich  zeigen, 
den  Gesinnungsunterricht  in  einer  Oberklasse  zu  übertragen.  Diese 
Rücksichtnahme  ist  man  vor  allem  auch  den  Übungsschülern 
schuldig.  Beim  Abgange  bekommt  dann  ein  Abiturient  be- 
scheinigt, in  welchen  Fächern  und  bei  welchen  Altersstufen  er  in 
der  Übungsschule  thätig  war,  und  für  welches  Gebiet  des  Unter- 
richts er  sich  besonders  eignet.  Mit  den  üblichen  Ziffern- 
zensuren kann  kein  Direktor  etwas  anfangen,  denn  sie  geben  ihm 
in  keiner  Hinsicht  ein  Bild  von  der  Begabung  und  der  Verwend- 
barkeit des  jungen  Lehrers.  Wenn  ein  Praktikant  z.  B.  in  den 
Geschichtslektionen  sich  die  Zensur  i  erworben  hat,  im  Rechnen 


'i 
1 


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—     2l6  — 

aber  mit  der  3  bedacht  worden  ist,  so  bekommt  er  als  Gesamt- 
zensur die  2,  das  heifst,  er  bekommt  eine  Zensur,  die  er  in  Wirk- 
lichkeit nicht  verdient  hat,  sondern  die  ihm  von  seinen  Lehrern 
ausgerechnet  wurde.  Wenn  dagegen  dem  Direktor  statt  nichts- 
sagender Zahlen  ein  pädagogisches  Individualitätenbild  des  ab- 
gehenden Seminarzöglings  übergeben  wird,  so  wird  beiden  Seiten 
mehr  gedient  sein.  Der  Direktor  weifs,  was  er  mit  dem  Anfänger 
zu  thun  hat,  und  was  er  ihm  zumuten  kann,  und  der  Anfänger 
ist  sicher,  dafs  ihm  im  allgemeinen  kein  Fach  übertragen  wird,, 
für  das  er  vorläufig  noch  nicht  Manns  genug  ist.  Bei  dieser  Art 
den  abgehenden  Schüler  zu  charakterisieren  würde  man  auch 
davon  absehen  müssen,  die  letzte  Entscheidung  von  den  Zufällig- 
keiten einer  oder  einiger  »Probelektionen«  abhängig  zu  machen. 
Auch  das  wäre  sicher  ein  grofser  Forschritt.  Jeder  Seminarlehrer 
würde  im  Einvernehmen  mit  dem  Direktor  dem  Abgehenden,  der 
unter  ihm  gearbeitet  hat,  ein  besonderes  Zeugnis  ausstellen,  auf 
diese  Weise  wäre  für  eine  gerechte  Beurteilung  viel  besser  ge- 
sorgt, als  das  bei  dem  jetzigen  Ausrechnen  der  Durchschnitts- 
zensur möglich  ist. 

Wie  ist  nun,  das  würde  die  letzte  und  wichtigste  Frage  sein, 
tür  eine  gründliche  und  nachhaltige  Einführung  des  Praktikanten 
in  das  ihm  übertragene  Fach  zu  sorgen?  Wie  richtet  man  es  ein, 
dafs  der  Praktikant  von  seiner  Unterrichtsthätigkeit  möglichst  viel 
Nutzen  und  der  Übungsschüler  von  den  Erstlingsversuchen  mög- 
lichst wenig  Schaden  hat? 

Vor  allem  ist  das  Lehrerkollegium  verpflichtet,  für  Herstellung 
eines  psychologisch  wohl  durchgebildeten  Lehrplanes  Sorge  zu 
tragen.  Dieser  Plan  mufs  allen  Praktikanten  zugänglich  gemacht 
werden,  damit  jeder  einzelne  sich  jederzeit  darüber  orientieren 
kann,  wie  seine  Teilthätigkeit  sich  dem  grofsen  Ganzen  einzu- 
ordnen hat.  Die  gesetzlichen  Bestimmungen  bieten  blofs  den 
grofsen  Rahmen,  und  lassen  im  allgemeinen  der  Ausgestaltung  im 
einzelnen  genügenden  Spielraum.  Ein  wirklich  brauchbarer  Lehr- 
plann kann  nur  durch  verständnisvolles  Zusammenwirken  ver- 
schiedener Kräfte  geschaffen  werden,  daher  wäre  es  sehr  zu 
wünschen,  dafs  die  verschiedenen  Seminare  in  Programmabhand- 
lungen und  Aufsätzen  in  Fachblättern  die  Resultate  ihres  Forschens 
und  Überlegens  sich  gegenseitig  zugänglich  machten.  Aber  wenn 
wir  auch  vorläufig  noch  nichts  Vollkommenes  zu  bieten  haben, 
der  Plan,  in  den  die  Arbeit  des  Praktikanten  sich  eingliedern  soll, 
mufs  diesem  zu  beständiger  Berücksichtigung  vorliegen. 

Das  Nächste  ist  die  spezielle  Vorbereitung  für  die  einzelnen 
Lektionen.  Soll  der  Praktikant  befähigt  werden,  sich  selbständig 
vorzubereiten,  so  mufs  ihm  das  Wesen  einer  guten  Präparation 
an  konkreten  Musterpräparationen,  die  ihm  in  gröfserer  Zahl  vor- 
zulegen sind,  gezeigt  werden.  Allgemeine  akademische  Vorlesungen 


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über  das  Wesen  der  richtigen  Frage,  über  Vertiefung  und  Be- 
sinnung, über  Formalstufen  u.  s.  w.  sind  leeres  Gerede,  so  lange 
nicht  ein  reiches  Anschauungsmaterial  den  Worten  des  theore- 
tischen Vortrags  Inhalt  und  Bedeutung  giebt.    Vereinzelte  Muster- 
lektionen, die  dem  theoretischen  Lehrgange  beigegeben  werden, 
genügen  in  keiner  Weise,  selbst  wenn  sie  an  sich  noch  so  muster- 
gültig sind.    Nur  aus  einer  reichen,  vielseitigen  Anschauung  lassen 
sich  wertvolle  allgemeine  Begriffe  und  Regeln  gewinnen.  Diese 
Musterpräparationen,  die  dem  Lehrgange,  in  den  der  Praktikant 
zunächst  eintreten  soll,  zu  entnehmen  sind,  müssen  nach  allen 
Seiten  gründlich  durchgesprochen  werden;  dann  mufs  dem  Prak- 
tikanten Gelegenheit  gegeben  werden,  zu  beobachten,  wie  sich  die 
Sache  in  der  praktischen  Durchführung  gestaltet.    Sehr  oft  wird 
ja  der  Lehrer  durch  das  Verhalten  der  Schüler  genötigt,  von  dem 
Plane,  den  er  sich  entworfen  hatte,  in  einzelnen  Stücken  abzu- 
weichen, um  erst  auf  Umwegen  dem  Ziel,  welches  er  sich  gesteckt 
hatte,  wieder  zuzustreben.    In  einer  an  die  gehaltene  Lektion  sich 
anschliefsenden  Besprechung,  werden  dann  die  Gründe,  die  zu  diesen 
Abweichungen  nötigten,  aufgesucht  und  besprochen.    Nun  erst  ist 
der  Praktikant  fähig,  einen  Präparationsentwurf  zu  liefern.  Dieser 
mufs  selbstverständlich  vom  Scminarlehrer  korrigiert  und  zwar  so 
korrigiert  und  ergänzt  werden,  dafs  so  weit  als  möglich  jedem 
Fehler  im  Unterrichte  vorgebeugt  ist.    Der  Seminarlehrer  darf 
also  nicht  etwa  meinen,  er  dürfe  den  Schüler  auch  einmal  irre 
gehen  lassen,  um  ihn  durch  Schaden  zur  rechten  Einsicht  zu 
führen.    Eine  solche  Art  des   Experimentierens  ist  um  der 
Schüler  willen  von  der  Übungsschule  völlig  ausgeschlossen.  Der 
Praktikant  wird,  ohne  dafs  es  der  Seminarlehrer  verhüten  kann, 
noch  oft  genug  die  Folgen  verkehrter  Maisnahmen  in  seiner  Praxis 
kennen  lernen.  In  der  Übungsschule  mufs  mit  allen  Kräften  dahin 
gestrebt  werden,  dafs  die  jungen  Leute  positive  Erfahrungen 
über  Wesen    und  Wirkung   einer    psychologisch  gut 
begründeten    und    streng    durchgeführten  Methode 
sammeln.  Am  besten  ist  es,  wenn  der  Seminarlehrer  alle  Unter- 
richtseinheiten zugleich  mit  dem  Praktikanten  schriftlich  ausarbeitet 
und  an  diesen  seinen  Entwürfen  Jahr  für  Jahr  die  durch  die 
wachsende  Erfahrung  gebotenen  Ergänzungen  und  Berichtigungen 
anbringt.   Es  liegt  ein  nicht  zu  unterschätzender  heilsamer  Zwang 
in  der  Gewöhnung  an  ein  solches  schriftliches  Präparieren. 
Grofse  pädagogische  Geister  mögen  sich  den  Eingebungen  des 
Augenblicks  überlassen  oder  sich  mit  einer  kurzen  Überlegung 
vor  der  Stunde  begnügen,  wir  Schulmeister  gewöhnlichen  Schlages 
aber  wollen  mit  der  Feder  in  der  Hand  sammeln  und  nachbessern, 
damit  unser  Unterricht  immer  vollkommener  werde. 

Bei  der  Anleitung  zum  selbständigen  Entwerfen  von  Präpa- 
rationen ist  der  Praktikant  auch  zu  einer  gewissenhaften  und  ver- 


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ständigen  Benutzung  der  bereits  vorhandenen  Litteratur  anzuleiten. 
Es  ist  ein  ganz  thörichter  Wahn,  wenn  man  meint,  ein  Anfänger 
könne  auf  Grund  der  theoretischen  Darlegungen  über  Formal- 
stufen und  einiger  vereinzelter  Musterbeispiele  aus  eigener  Kraft 
für  alle  Fächer  richtige  Präparationen  entwerten.  >  Allgemeine  Be- 
griffe und  grofser  Dünkel,  sagt  Goethe,  *i  sind  immer  auf  dem  Wege, 
entsetzliches  Unheil  anzurichten,  und  ist  ein  Künstler  nicht  ge- 
neigt, von  höher  ausgebildeten  Künstlern  der  Vor-  und  Mitzeit  das 
zu  lernen,  was  ihm  fehlt,  um  eigentlicher  Künstler  zu  sein,  so 
wird  er  im  falschen  Begriff  von  bewahrter  Originalität 
hinter  sich  selbst  zurückbleiben  <  Wenn  also  ein  Anfänger  fremde 
Lehrgänge  und  Lehrproben  studiert,  und  aus  ihnen  zu  lernen  sich 
bestrebt,  so  verliert  er  nicht  etwa  seine  Freiheit  und  Selbständigkeit, 
sondern  er  schafft  für  eine  wahre,  echte  Freiheit  die  rechte  Grund- 
lage. Wer  eine  Methode  nach  allen  Seiten  durchdacht  und  selbst- 
ständig  geprüft  hat,  der  ist  frei,  wer  aber  ohne  gründliche  Studien 
seinen  zufälligen  Ansichten  und  Meinungen  folgt,  der  ist  ein  Sklave 
seiner  eigenen  Ignoranz.  Das  Wesen  einer  Methode  und  die  Art 
ihrer  Anwendung  läfst  sich  aber  Anfängern  nicht  anders  veran- 
schaulichen als  durch  zusammenhängende  Unterrichtsbeispiele ; 
daher  würden  die  Übungsschullehrer  der  Volksschule  einen  sehr 
grofsen  Dienst  leisten,  wenn  sie  auf  den  verschiedenen  Unter- 
richtsgebieten für  methodisch  gut  durchgearbeitete  Lehrgänge  Sorge 
trügen.  Mit  solchen  Lehrgängen  ist  der  Praxis  mehr  gedient  als 
mit  den  gelehrtesten  Vorlesungen  über  Psychologie  und  allgemeine 
Methodik.  Die  Furcht,  solche  Lehrgänge  könnten  als  Eselsbrücke 
benutzt  werden,  darf  niemanden  von  der  Darbietung  derselben  ab- 
halten, denn  wer  wollte  den  Bau  einer  Brücke  unterlassen,  weil 
möglicher  Weise  auch  einmal  ein  Esel  dieselben  benutzen  könnte  ? 
Mit  der  Darbietung  der  Lehrgänge  müfste  aber  eine  gründliche, 
unbefangene  Kritik  Hand  in  Hand  gehen.  Wertlose  Fabrikware, 
wie  sie  der  Büchermark  jetzt  in  grofser  Fülle  aufzuweisen  hat, 
müfste  als  solche  entschieden  gekennzeichnet  werden. 

Die  mit  Unterstützung  des  Seminarlehrers  gewonnene  Präpa- 
ration darf  aber  für  den  Praktikanten  durchaus  nicht  zu  einer 
Fessel  werden,  die  ihn  hindert,  auf  das  Denken  der  Schüler  unbe- 
fangen einzugehen.  Daher  ist  es  ganz  falsch,  wenn  man  die  Prä- 
paration Frage  für  Frage  auswendig  lernen  läfst.  Wer  mit  dem 
Rüstzeug  einer  wohlmemorierten  Fragereihe  vor  die  Klasse  tritt, 
der  hat  nur  die  eine  Angst,  dafs  ihm  der  schöne  Zusammenhang 
durch  verkehrtes  Antworten  der  Schüler  gestört  werden  möchte, 
daher  geht  sein  Streben  vor  allem  dahin,  die  Schüler  möglichst  in 
den  Gedankengang  hineinzuzwingen,  den  er  sich  am  Studiertische 


'\>  Ausgabe  letzter  Hand  22  S.  223 


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—     219  — 


ausgearbeitet  hat.  Das  ist  natürlich  das  reine  Gegenteil  vom 
psychologischen  Verfahren,  dessen  Hauptgrundsatz  lautet:  Vom 
kindlichen  Gedankenkreise  ist  auszugehen,  und  dem 
kindlichen  Vorstellun  gs  verlauf  e  hat  sich  der  Lehrer 
anzubequemen.  Die  beste  Vorbereitung  besteht  also  darin, 
dafs  der  Praktikant  den  Gedankengang  seiner  Lektion  sich  nach 
allen  Seiten  gründlich  zurecht  legt  und  sich  für  verschiedene 
Möglichkeiten  im  voraus  rüstet.  Um  jede  unnötige  Befangenheit 
zu  beseitigen,  wird  man  dem  Praktikanten  gestatten,  seine  Präpa- 
ration auf  dem  Katheder  vor  sich  zu  haben,  damit  er  im  Notfalle 
durch  einen  raschen  Blick  den  verlorenen  Faden  wieder  finden 
kann.  Diese  Vergünstigung  ist  um  so  ungefährlicher,  je  strenger 
der  Seminarlehrer  darauf  dringt,  dafs  die  Gedankenbewegung  der 
Schüler  für  den  Verlauf  des  Unterrichts  mafsgebend  ist. 

Gerät  der  Praktikant  trotz  sorgfaltiger  Vorbereitung  beim  Halten 
der  Lektion  auf  Abwege,  so  hat  der  Seminarlehrer  durch  rasches 
und  entschiedenes  Eingreifen  die  Sache  wieder  ins  rechte  Gleis  zu 
bringen.  Selbstverständlich  mufs  dabei  mit  dem  nötigen  Takt- 
gefühl verfahren  werden.  In  den  Augen  der  Übungsschüler  darf 
die  Einmischung  des  Seminarlehrers  nie  den  Charakter  einer 
.Korrektur  des  Praktikanten  annehmen,  denn  das  würde  für  das 
rechte  Verhältnis  zwischen  Lehrer  und  Schüler  verhängnisvoll  sein. 
Vielmehr  mufs  der  übungsschülcr  in  diesem  Eingreifen  eine  freund- 
liche Unterstützung  erkennen,  die  vor  allem  ihm  selbst  zu  teil 
wird  und  die  ihn  in  den  Stand  setzen  soll,  seine  Aufgabe  zu  lösen. 
Soll  der  Praktikant  von  dem  Eingreifen  des  Seminarlehrers  den 
rechten  Nutzen  haben,  so  mufs  dieser  ihm  die  Möglichkeit  bieten, 
den  Faden  des  Unterrichts  möglichst  bald  selbst  wieder  aufzu- 
greifen. Das  ist  auch  sehr  leicht  möglich,  sobald  eine  sorgfältige 
und  eingehende  Präparation  alle  gröfseren  Verirrungen  im  voraus 
unmöglich  gemacht  hat.  Der  Fall,  dafs  man  einen  Praktikanten 
während  der  Unterrichtsstunde  einfach  abtreten  lassen  mülste, 
darf  meiner  Ansicht  nach  gar  nicht  vorkommen.  Träte  er  wirklich 
ein,  so  wäre  das  ein  Zeichen  dafür,  dafs  man  entweder  dem  Prak- 
tikanten ein  Unterrichtsfach  anvertraut  hat,  dem  seine  Kraft  noch 
nicht  gewachsen  ist,  oder  dafs  man  in  der  Vorbereitung  für  die 
Lektion  nicht  sorgfältig  genug  verfahren  ist.  In  beiden  Fällen 
läge  die  Schuld  auf  Seiten  der  Seminarlehrer. 

Die  gehaltene  Lektion  wird  natürlich  kritisiert.  Aber  zwischen 
Kritik  und  Kritik  ist  ein  grofser  Unterschied.  Es  giebt  Leute,  die 
glauben,  die  Kritik  sei  um  so  gründlicher,  je  kräftiger  und  ver- 
nichtender die  Worte  sind,  in  denen  sich  das  Urteil  des  Kritikers 
ausspricht.  > Verfehlt,  ganz  verkehrt,  resultatlos,  ungeschickte 
das  sind  so  die  Hauptwaffen,  mit  denen  diese  Spezies  haupt- 
sächlich operiert.    Schon  im  gewöhnlichen  Leben  sind  derartige 


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—  220 


Kritiken  ganz  wertlos.  Mit  vollem  Rechte  ruft  daher  Geibel  einem 
Herrn  Kritiker  zu: 

»Hafs  mich,  so  viel  du  willst, 
Doch  wütet  ich  gern  weswegen, 
Denn  nicht  an  deinem  Hafs, 
Am  Grund  ist  mir  gelegen.« 

Die  Gründe  des  Verwerfungsurtciles  das  ist  gewöhnlich  der 
schwächste  Punkt  der  ganzen  Kritik,  und  oft  kann  man  einen  sehr 
gewaltig  auftretenden  Kritiker  sehr  schnell  beruhigen,  wenn  man 
ihn  um  genaue  Angabe  des  kritisierten  Sachverhalts  und  des 
bessern  Verfahrens  an  Stelle  des  verfehlten  bittet.  Darauf  war 
der  Herr  Kritikus  nicht  getafst,  denn  aufs  Bessern  kam  es  ihm  ja 
im  Grunde  genommen  gar  nicht  an,  er  wollte  dem  Objekte 
seines  Aburteilens  nur  seine  Überlegenheit  zum  Bewufstsein  bringen, 
der  Kritisierte  sollte  wissen,  dals  noch  einer  über  ihm  steht,  der 
seine  Thätigkeit  je  nach  Belieben  billigen  oder  mifsbilligen  kann. 
Mit  einer  solchen  Kritik  ist  natürlich  am  allerwenigsten  der 
Obungsschule  gedient,  denn  sie  würde  den  Praktikanten  nicht 
fordern,  sondern  höchstens  verbittern.  Hier  gilt's  recht  gewissen- 
haft dem  Winke  des  Dichters  zu  folgen : 

»Das  ist  die  klarste  Kritik  der  Welt, 
Wenn  neben  das,  was  ihm  mifsfällt, 
Einer  was  Eigenes,  Besseres  stellt.« 

Nimmt  man  die  beiden  Geibelworte  zusammen,  so  hat  man  das 
Rezept  für  eine  gute,  segenbringende  Kritik,  es  lautet :  I .  Gründe, 
2.  Verbesserungsvorschläge. 

Um  die  Gründe  für  ein  mifsbilligendes  Urteil  darlegen  zu 
können,  mufs  man  zunächst  den  Thatbestand  ganz  objektiv  zur 
Darstellung  bringen.  Eine  gute  Kritik  ist  also  nur  möglich  auf 
Grund  eines  sorgfältigen  Stundenprotokolls.  Oft  wird  die  ganze 
Thätigkeit  des  Kritikers  nur  darin  bestehen,  dafs  er  dem  Prakti- 
kanten den  Verlauf  eines  bestimmten  Teiles  seiner  Unterrichts- 
stunde Schritt  für  Schritt  vorführt  und  ihn  veranlafst,  sich  selbst 
zu  kritisieren.  Oder  der  Seminarlehrer  weist  auf  den  unzweifelhaft 
mangelhaften  Erfolg  einer  Unterrichtsstunde  hin  und  sucht  nun 
an  der  Hand  des  Stundenprotokolls  mit  dem  Praktikanten  zu- 
sammen nach  den  Ursachen  des  Mifserfolgs.  Ist  man  auf  diese 
Weise  ohne  alle  Erregung  auf  beiden  Seiten  und  ohne  allgemeine 
»Generalurteile«  einig  geworden  über  den  bestimmten  Punkt, 
an  dem  die  Lektion  verbesserungsbedürftig  war,  und  hat  man  sich 
über  die  Gründe  des  Mifserfolges  verständigt,  so  giebt  der  Seminar- 
lehrer klar  und  bestimmt  seine  Verbesserungs vorschlage.  Bei 
diesem  Verfahren  gewinnt  der  kritisierte  Praktikant  die  Über- 
zeugung, dafs  es  dem  Seminarlehrer  wirklich  blofs  um  die  Förderung 
seiner  pädagogischen  Einsicht  und  Kunstfertigkeit  zu  thun  ist, 


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und  dafs  demselben  nichts  ferner  liegt,  als  die  Absicht  kränken 
und  niederbeugen  zu  wollen.  Die  Seminarlehrer  könnten  hier  von 
einem  guten,  geübten  Vorturner  sehr  viel  lernen,  diesem  wird  es 
nicht  einfallen,  einem  Anfanger,  dem  eine  Übung  mifsglückt  ist, 
eine  vernichtende  Strafpredigt  in  möglich  derben  Ausdrücken  zu 
halten.  Vielmehr  begnügt  er  sich,  auf  den  Fehler,  der  das  Mifs- 
lingen  herbeiführte,  aufmerksam  zu  machen,  und  dann  wird  die 
Übung  unter  freundlichem  Zuspruch  und  mit  leiser  Unterstützung 
von  Seiten  des  Vorturners  noch  einmal  versucht.  So  führt  der 
Vorturner  den  Anfänger  zu  einer  gelingenden  Thätigkeit, 
aus  der  die  rechte  Erfahrung  und  damit  die  feste  Grundlage 
späteren  selbständigen  Thuns  gewonnen  wird.  Hätte  der  Vor- 
turner sich  aber  hingestellt  und  den  unglücklichen  Tolpatsch 
tüchtig  abgekanzelt  und  blamiert,  so  wäre  derselbe  so  klug  und  so 
geschickt  gewesen  wie  zuvor,  und  die  Übung  wäre  ihm  bei  der 
nächsten  Wiederholung  um  so  sicherer  mifslungen,  da  zum  lähmen- 
den Bewufstsein  der  eigenen  Unbeholfenheit  jetzt  noch  die  Furcht 
vor  neuen  Demütigungen  hinzugekommen  ist. 

Soll  das  Verhältnis  zwischen  Seminarlehrer  und  Praktikant- 
das  rechte  sein,  so  mufs  letzterer  in  ersterem  einen  treuen 
Freund,  einen  sicheren  Helfer  in  allen  etwaigen  Nöten  der  Unter- 
richtsstunde erblicken.  Es  mufs  alles  vermieden  werden,  was  den 
Verdacht  erwecken  könnte,  als  sitze  der  Seminarlehrer  blofs  da, 
um  das  nötige  Material  für  eine  abfällige  Kritik  und  die  geeigneten 
Unterlagen  für  eine  schlechte  Zensur  in  »Lehrfertigkeit«  zu 
sammeln.  Daraus  folgt,  dafs  sich  der  Kritiker  vor  allem  vor  klein- 
licher Nörgelei  zu  hüten  hat.  Sicher  mufs  der  Praktikant  auch 
auf  kleine  Versehen,  z.  B.  falsche  Wortstellung  bei  der  Frage, 
falsche  Hilfeleistung  bei  Schülerzusammenfassungen  u.  dgl.,  auf- 
merksam gemacht  werden,  aber  man  mufs  das  Kleine  als  Kleines 
behandeln  und  nicht,  um  nur  recht  streng  zu  erseheinen,  aus  der 
Mücke  einen  Elephanten  machen.*) 

Auch  zur  Selbstkritik  und  zu  rechtem  gegenseitigen 
Kritisieren  müssen  die  Schüler  angeleitet  werden.  Bevor  ein 
Praktikant  kritisiert  wird,  erhält  er  stets  selbst  das  Wort  zur  Selbst- 
kritik. »Generalurteile«  wie  z.  B.:  »Mein  Unterricht  war  verfehlt« 
werden  auch  hier  nicht  geduldet,  denn  sie  sind  wertlos.  Bezeich- 
net dagegen  der  Praktikant  den  Punkt,  an  dem  er  irre  gegangen 
ist,  richtig,  so  verhilft  ihm  der  Seminarlehrer  auf  Grund  seines 
Stundenprotokolles  zu  einem  klaren  Bilde  des  Unterrichtsverlaufes 
und  stellt  ihm  dann  anheim,  selbst  den  Fehler  und  seine  Ver- 
besserung zu  bezeichnen.    An  der  Art,  wie  diese  Selbstkritik  ge- 


♦)  Mücken  seigen  und  Kamele  verschlucken  ist  allerdings  eine  »alt- 
bewährte Methode«  gewisser  Leute. 


übt  wird,  erkennt  der  Seminarlehrer  am  besten  das  wachsende 
pädagogische  Verständnis  seiner  Praktikanten.  Je  mehr  der  An- 
fänger lernt,  Erfahrungen  der  Unterrichtsstunde  sich  zu  nutze  zu 
machen  und  sein  Verfahren  darnach  zu  vervollkommnen,  um  so 
reifer  ist  er.  Zur  Kritik  eines  andern  wird  der  Praktikant  erst 
dann  veranlagt,  wenn  er  selbst  einige  Einsicht  in  das  Getriebe 
des  Unterrichts  erlangt  hat.  Zunächst  wird  man  ihn  dann  veran- 
lassen, in  den  Fächern  zu  hospitieren,  deren  Betrieb  er  bereits 
durch  eigene  Praxis  kennen  gelernt  hat.  Von  seinem 
Seminarlehrer  hat  er  auch  bereits  die  rechte  Handhabung  der 
Kritik  gelernt,  und  so  ist  er  in  den  Stand  gesetzt,  dem  Unterrichte 
eines  andern  in  rechter  Weise  mit  kritischem  Auge  zu  folgen. 
Ein  solches  Hospitieren  '  mit  nachfolgender  Kritik  schärft  das 
pädagogische  Denkvermögen  und  ist  eine  gute  Vorbereitung  für 
dte  spätere  Weiterbildung  junger  Lehrer  in  Vereinen  und  Kon- 
ferenzen. 

Ihren  Abschlufs  findet  die  Thätigkeit  des  Praktikanten  in 
seinem  Unterrichtsfache  durch  ein  Examen,  das  er  mit  seiner 
Klasse  womöglich  im  Beisein  des  Direktors  abzulegen  hat.  Das 
Thema  für  diefes  Examen  wählt  der  Direktor  aus  dem  behandelten 
Unterrichtsstoffe  aus  und  teilt  es  dem  Praktikanten  am  Abend  vor 
der  Prüfung  mit.  Die  Art,  wie  zu  prüfen  ist,  hat  der  Praktikant 
früher  bei  zusammenfassenden  Repetitionen  über  gröfsere  Unter- 
richtseinheiten kennen  gelernt.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  durch 
möglichst  zahlreiche  geschickte  Fragen  den  Kindern  eine  Reihe 
Einzelantworten  abzulocken  und  so  den  Schein  zu  erwecken,  als 
wüfsten  sie  etwas  Ganzes,  sondern  das  ist  die  Hauptsache,  dafs 
die  Kinder  in  zusammenhängender  Rede  zeigen,  wie  sie  den  Unter- 
richtsstoff sich  angeeignet  und  verarbeitet  haben.  Einzelfragen 
dürfen  durchaus  nur  nötig  werden  und  zur  Anwendung  kommen, 
wenn  es  gilt  Ergänzungen  und  weitere  Ausführung  des  Haupt- 
gedankens zu  veranlassen.  Dieses  Schlulscxamcn  wird  dem  Prak- 
tikanten und  dem  Seminarlehrer  die  Früchte  ihrer  gemeinsamen 
Arbeit  zeigen  und  zugleich  dem  Direktor  die  beste  Unterlage  für 
die  nötigen  pia  desideria  bieten. 

Ich  bin  zu  Ende  mit  dem,  was  ich  vorläufig  über  Theorie 
und  Praxis  im  Lehrerseminar  zu  sagen  hätte,  und  möchte  nur 
wünschen,  dafs  meine  Vorschläge  den  Erfolg  für  das  Schulleben 
haben  möchten,  den  ich  bei  ihrer  Veröffentlichung  im  Auge  hatte. 
Ich  bin  weit  entfernt,  den  Herren  Kollegen  meine  Ansichten  als 
alleinige  Wahrheit  aufnötigen  zu  wollen;  aber  zu  einer  Verhandlung 
über  diesen  wichtigen  Gegenstand  möchte  ich  Veranlassung  bieten. 
Der  Einzelne  kann  leicht  irren,  kann  gewissen  Lieblingsgedanken 
zu  viel  Einflufs  einräumen,  die  Kritik  verhilft  ihm  zur  Befreiung, 
indem  sie  ihn  zu  neuer  gründlicher  Prüfung  nötigt.    Ich  habe  mit 


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—     223  — 

der  Kritik  nach  der  negativen  und  positiven  Seite  den  Anfang 
gemacht.    Vivat  sequens! 


B.  Mitteilungen. 

1 

.  i 

*  «I 

I.  XI.  Kongress  für  erziehliche  Knabenhandarbeit  zu 

Frankfurt  a,  W. 

Nach  einer  Begrüfsungsversammlung  am  Abend  des  10.  Juni  fand  am 
ii.  Juni  zunächst  eine  Besprechung  der  Werkstatt- Lehrer  und  -Leiter  und 
eine  Sitzung  des  Gesamtausschusses  statt,  worauf  Herr  v.  S  chenkendorff- 
Görlitz  um  io  Uhr  die  6.  Hauptversammlung  des  deutschen  Vereins  für 
erziehliche  Knabenhandarbeit  eröffnete,  zu  der  sich  etwa  250  Teilnehmer 
aus  allen  deutschen  Gauen  eingefunden  hatten.  Besondere  Vertreter  hatten 
entsandt:  Das  Preufs.  Kultus-  und  das  Kriegsministerium,  das  Württemb. 
und  das  Hessische  Ministerium ,  der  Badische  und  der  Eis.  Lothr.  Ober- 
schulrat, die  Regierungen  zu  Kassel,  Wiesbaden  und  Würzburg,  mehrere 
Lehrervereine  und  eine  grofse  Anzahl  deutscher  Städte;  aus  dem  Auslande: 
die  Erziehungsdirektion  Basel-Stadt,  das  Luxemburgische  und  das  Belgische 
Ministerium.  Es  erhielt  das  Wort  Herr  Direktor  Dr.  Götze -Leipzig  zu 
seinem  Vortrage  über  die  Frage:  »Soll  die  Knabenhandarbeit  vornehmlich 
in  den  Dienst  der  Erziehung,  oder  des  Schulunterrichts  gestellt  werden?> 
Zwei  Richtungen,  so  führt  Dr.  Götze  aus,  sind  unter  den  Freunden  unserer 
Sache  zu  unterscheiden;  die  einen  verlangen  einen  Arbeitsunterricht,  der 
in  engster  Beziehung  zum  übrigen  Unterricht,  besonders  zur  Raumlehre 
und  zum  Zeichnen,  steht  und  die  Begriffe  dieser  Fächer  im  vollsten  Sinne 
des  Worts  »verkörpern>  will;  die  anderen  forderen  einen  reinen  Arbeits- 
unterricht, der  einen  selbständigen  Gang  einschlägt  und  seine  Weisungen 
aus  sich  selbst  nimmt.  Den  reinen  Werkstattunterricht  vertritt  Lehrer 
Groppler-Berlin,  den  ersten  Schulinspektor  Sc  he  rer- Worms.  Dr.  Götze 
stand  vorher  auf  dem  Standpunkte  des  Schulhandarbeitsunterrichts,  hat  aber 
durch  seine  praktische  Erfahrung  die  Überzeugung  gewonnen,  dafs  sich  die 
beiden  Anschauungen  gegenseitig  korrigieren  und  ergänzen  und  darum  zu 
verschmelzen  sind.  Ein  Handarbeitsunterricht,  der  sich  lediglich  durch  die 
Forderungen  des  übrigen  Unterrichts  bestimmen  läfst ,  ist  nur  dann  zu  er- 
teilen möglich,  wenn  der  Schüler  durch  den  selbständigen  Arbeitsunterricht 
das  technische  A.B.  C.  zu  beherrschen  gelernt  hat,  und  ein  reiner  Werk- 


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Stattunterricht  ohne  jede  Beziehung  zum  Schulleben  versinkt  leicht  in  tech- 
nische Einseitigkeit  und  handwerksmäfsiges  Thun.  Beide  Formen  müssen 
sich  deshalb  in  fruchtbarem  Zusammenwirken  gegenseitig  unterstützen.  Vor 
dem  Eintritt  in  die  Debatte  bemerkt  Gropplcr,  dafs  er  voll  auf  dem  Boden 
des  Referenten  stehe,  ein  Gegensatz  sei  zu  unrecht  konstruiert.  Die  Debatte 
selbst  zog  sich  sehr  in  die  Länge,  weil  sie  viele  Punkte  berührte,  die  mit 
dem  Vortrag  nicht  das  geringste  zu  thun  haben.  Sogar  die  »Schuljahre» 
mufsten  sich  den  Vorwurf  gefallen  lassen,  freilich  ohne  dafs  sie  benamset 
wurden,  dafs  sie  nicht  aus  der  Praxis  herausgewachsen  seien.  Schulinspek- 
tor Sc  her  er  verteidigt  seinen  Standpunkt,  der  die  technische  Schwierig- 
keit auch  beachte,  und  macht  Mitteilungen  über  die  dahin  zielenden  Ver- 
suche in  den  Wormser  Schulen,  die  einen  guten  Erlolg  versprechen.  Er 
bekämpft  den  Verein,  weil  er  die  Arbeit  als  »unersetzbares  Erziehungs- 
mittel«  bezeichne  und  nun  nicht  die  Konsequenz  ziehe,  dafs  er  dann  ob- 
ligatorisch sein  müsse.  —  Folgende  These,  vom  Stadtschulrat  Pfundtner- 
Breslau  beantragt,  gelangt  mit  einem  Zusatz  von  Groppler  zur  Annahme: 
»Die  Knabenhandarbeit  soll  in  erster  Linie  in  den  Dienst  der  allgemeinen 
Erziehung,  aber  auch  in  den  Dienst  der  Schule  gestellt  werden.  Für  die 
gegenwärtige  Entwicklung  der  Sache  ist  die  Thätigkeit  der  Schülerwerk- 
stätten neben  der  Schule  notwendig:  jeder  Versuch  aber,  den  Arbeits- 
unterricht bereits  jetzt  mit  der  Schule  zu  verbinden,  ist  mit  Freude  zu  be- 
grüfsen.« 

Nunmehr  erhält  das  Wort  Stadtschulrat  Dr.  R oh meder- München  zu 
seinem  Vortrage:  »Wer  soll  den  erziehlichen  Handarbeitsunterricht  leiten, 
der  Handwerksmeister  oder  der  Lehrer?»  Die  Ausführungen  gipfelten  in 
folgenden  Sätzen,  die  einstimmig  angenommen  wurden:  »Der  Unterricht  in 
der  Knabenhandarbeit  verfolgt  vor  allem  erziehliche  Zwecke,  obgleich  die 
Ergebnisse  desselben  mittelbar  dem  praktischen  Leben  wieder  zugute 
kommen.  System  und  Methode  dieses  Unterrichtes  müssen  deshalb  nach 
pädagogischen  Gesichtspunkten  ausgebildet  werden.  Dann  wird  die  Hand- 
arbeit zu  einem  wertvollen,  zeitgemäfsen  Erziehungsmittel  der  Schule  werden. 
Hieraus  ergiebt  sich,  dais  die  unmittelbare  Leitung  des  Handarbeitsunter- 
richtes dem  berufsmäfsigen  Erzieher,  d.  i.  dem  Lehrer,  zukommt.  Die 
unterstützende  und  beratende  Mitwirkung  der  Vertreter  des  Gewerbes  — 
je  nach  den  besonderen  örtlichen  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  —  wird 
seitens  der  Schule  dankbar  begrüfst.»  Nach  Erledigung  der  geschäftlichen 
Sachen  wurde  der  Vereinstag  kurz  vor  2  Uhr  geschlossen. 

Der  öffentliche  Kongrefs,  der  für  die  weiteren  Kreise  berechnet  ist, 
wurde  am  12.  Juni  um  elf  Uhr  durch  einen  Männerchor  eingeleitet  und 
durch  v.  Schenckendorff  mit  einem  Bericht  über  die  Fortschritte  der 
Bewegung  in  den  beiden  letzten  Jahren  eröffnet.  Nach  einer  wahrscheinlich 
unvollkommenen  Statistik  bestehen  in  Deutschland  253  Schülerwerkstätten; 
davon  entfallen  aufPreufsen  148,  auf  Sachsen  53,  auf  Bayern  15,  auf  Sachsen- 
Weimar  9  und  auf  Bremen,  Württemberg  und  Elsafs-Lothringen  je  6.  Gegen 
1888  bedeutet  das  einen  Zuwachs  von  54  o/0.  —  Im  Namen  der  Schulbehörden 
ihrer  Länder  begrüfsten  den  Kongrefs  die  Herren:  Geh.  Regierungsrat 


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—     225  — 


Brandl -Berlin,  Oberschulrat  Wall  raf- Karlsruhe ,  Geh.  Oberschulrat 
Gr  e  im -Darmstadt  und  Reg.  u.  Schulrat  Dr.  Sch  lern  m  er- Strafsburg.  Da 
Rektor  Rifs  mann  -Berlin  am  Erscheinen  verhindert  war,  mufste  die  Ge- 
dächtnisrede auf  Comenius  ausfallen,  und  von  Schenkendorff  ergriff  das 
Wort,  um  in  einem  Vortrage  Ȇber  die  soziale  Frage  und  die  Erziehung 
zur  Arbeit  in  Jugend  und  Volk»  die  idealen  Ziele  der  Handarbeitsbewegung 
und  ihre  Berechtigung  klar  zu  legen.  Lange  anhaltender  Beifall  lohnte  den 
Redner.  Darauf  wurden  die  Verhandlungen  des  Kongresses  um  i  V*  Uhr 
geschlossen. 

Mit  dem  Kongrefs  war  eine  sehr  umfangreiche  Ausstellung  von 
Schüierarbeiten  verbunden,  die  dem  Vereine  sicher  manchen  neuen  Freund 
zugeführt  haben.  Je  nach  dem  Alter  der- Schüler  und  der  Zeit  ihrer  Teil- 
nahme an  der  Arbeit  waren  die  Gegenstände  natürlich  von  gröfserer  oder 
geringerer  Vollendung,  aber  es  waren  durchschnittlich  sehr  anzuerkennende 
Leistungen  und  nicht  wenige,  die  als  hervorragend  bezeichnet  werden 
müssen. 

Eichen  b.  Hanau.  C.  Ziegler. 


2.  Hauptversammlung  des  Vereins  für  wissenschaftliche 

Pädagogik. 

Von  Friedr.  Franke  in  Leipzig. 

Der  V.  f.  w.  P.  hielt  seine  24.  Hauptversammlung  in  den  Pfingsttagen 
1892  in  Zwickau  ab.  Ich  versuche  hier  wie  im  vorigen  Jahre  in  wenigen 
Hauptzügen  ein  Bild  der  daselbst  vollbrachten  Arbeit  zu  geben  und  ver- 
weise im  übrigen  auf  die  im  Herbste  erscheinenden  »Erläuterungen 
zum  24-  Jahrbuche.« 

Zu  der  Vo r ve rsammlun g  am  2.  Pfingsttag  abends  hatte  sich  der 
Saal  des  Hotels  »zur  Tanne»  ziemlich  gefüllt  Herr  Oberl.  Zemmrich  be- 
grüfste  die  Erschienenen  im  Namen  des  »Päd.  Vereins«  und  der  »Pfycho- 
logisch-pädagogischen  Sektion«.  Aus  seinen  Ausführungen  möge  hier  noch 
die  Mitteilung  Platz  finden,  dafs  die  lateinische  Schule  in  Zwickau  schon 
vor  der  Reformation  einmal  900  Schüler  hatte.  Der  Vorsitzende,  Herr  Prof. 
Theod.  Vogt  aus  Wien,  wies  auf  die  Behauptung  (Erläuterungen  zum  22. 
Jahrb.  S.  5)  hin,  »dafs  die  Intensität  des  pädagogischen  Interesses  mit  der 
Gröfse  der  Städte  abzunehmen  scheine«,  und  meinte,  dafs  es  wenigstens 
keiner  Entschuldigung  bedürfe ,  wenn  der  Verein  eine  »kleine  Stadt« ,  in 
welcher  aber  eine  lebhafte  pädagogische  Thätigkeit  herrscht,  aufsuche.  Die 
Basis  unserer  Vereinsthätigkeit  sei  der  Glaube  an  die  hohe  Aufgabe  der 

PXdacogUche  Studien.    IV.  15 


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--  226 


Erziehung,  und  eine  besondere  Mission  des  Vereins  sei  es,  diese  Aufgabe 
allezeit  fest-  und  hochzuhalten  und  nicht,  wie  im  Drange  der  Geschäfte  so 
mancher  Erzieher  thut,  sich  mit  der  Erreichung  näher  liegender,  aber 
minderwertiger  Ziele  zu  begnügen.  Der  erziehende  Einflufs  des  Lehrers 
neben  dem  der  anderen  Erzieher  gründe  sich  aber  auf  die  Thatsache,  dafs 
veränderte  Anschauungen  nach  und  nach  den  ganzen  Menschen  umgestalten. 
Nur  sei  dazu  stofsweise ,  fragmentarische  Thätigkeit  unzureichend .  und  da 
unser  Verein  eine  teilweise  Umbildung  der  pädagogischen  Anschauungen 
bezweckt,  so  sei  unsere  stetige  Art  der  Vereinsbarkeit  der  anderer  Vereine, 
z.  B.  auch  der  der  allg.  Philologenversammlung  vorzuziehen. 

In  warmen  Worten  gedachte  der  Vors.  noch  eines  verstorbenen  her- 
vorragenden Mitgliedes,  des  Direktors  Dr.  Frick,  jder  abweichende  An- 
schauungen in  friedlicher  Weise  verfochten  habe;  der  mit  uns  die  Staats- 
pädagoyik  in  ihrer  heutigen  Gestalt  bekämpfte ;  der  amtlich  und  litterarisch 
ein  Mittelpunkt  verwandter  pädagogischer  Bestrebungen  war.  Die  Ver- 
sammlung ehrte  da»  Andenken  dieses  Mannes  durch  Erheben  von  den 
Sitzen. 

Die  Mitteilungen  aus  den  Zweigvereinen  standen  unter  dem 
Zeichen  der  Frage:  Besondere  Vereine  oder  nur  Vertretung  unserer  Ge- 
danken in  anderen  Vereinen  ?  Handelte  es  sich  doch  für  die  sächsischen 
Mitglieder  darum,  Stellung  zu  nehmen  zu  dem  Vorschlage  des  Herrn  Prof. 
Rein  ('vgl.  Heft  2,  S.  116  f.),  eine  »Verbindung  der  Herbartfreunde  in  ganz 
Mitteldeutschland«  herbeizuführen.  In  Zwickau  besteht  in  dem  »Päd. 
Verein«  eine  »Psychologisch-pädagogische  Sektion«.  Die  letztere  wurde 
1870  gegründet  und  arbeitete  anfangs  Werke  Benekescher  Richtung  (z.  B. 
Drefslers  Psych,  u.  Logik),  später  vorwiegend  solche  Herbartischer  Richtung 
durch  (,z.  B.  Hesses  Schreibunterricht,  Langes  Apperception,  Lazarus'  Leben 
der  Seele,  Zillers  allg.  Päd.,  Dörpfelds  Denken  und  Gedächtnis,  Nohlowskys 
Ethik,  Herbarts  Umrifs  und  das  Abc  der  Anschauung).  Höchste  Zahl  der 
Teilnehmer  war  30.  In  Plauen,  Chemnitz,  Dresden,  Leipzig  bestehen 
besondere  Vereinigungen,  ebenso  auch  in  Magdeburg  (nach  sechsjährigem 
Bestehen  auf  82  Mitgl.  angewachsen),  in  Magdeburg-Land,  in  Schönebeck, 
Löderburg,  Zerbst  und  Umgegend.  Neben  dem  Magdeburger  Herbartverein 
leitet  Herr  Rektor  Dr.  Felsch  noch  kleinere  Kurse  für  Psychologie,  so  dafs 
auf  einmal  12  Exempl.  von  Volkmanns  Psychologie  bezogen  wurden»  Aulser- 
dem  soll  zu  Michaelis  eine  erste  Versammlung  die  Herbartvereine  im  Re- 
gierungsbezirke Magdeburg  zusammenschliefsen  und  Arbeiten  diskutieren, 
die  den  Mitgliedern  vorher  im  Schulblatt  der  Provinz  Sachsen  vorgelegen 
haben.  Ein  ähnlicher  Plan  besteht  in  Zerbst,  und  diesem  Vorbilde  schlössen 
sich  die  sächsischen  Besucher  an ,  nur  mit  dem  Unterschiede ,  dafs  kein 
besonderer  Verein  gegründet  wurde,  »in  den  man  eintritt,  aus  dem  man 
austritt,  in  dem  man  besondere  Steuern  zahlt« ;  sondern  es  soll  in  den 
nächsten  Michaelisferien  in  Chemnitz  eine  freie  Versammlung  abgehalten 
werden,  zu  der  jedermann  Zutritt  hat,  die  Verhandlung  soll  gedruckt  vor- 
liegende Unterlagen  haben  eventuell  sollen  in  einem  geeigneten  Blatte 
besondere  Arbeiten   erscheinen),  und  die  erste  genaue  Mitteilung  dar- 


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227  — 


über  sollen  die  Mitglieder  erhalten  durch  die  >  Mitteilungen  des  V.  f. 
w.  P.«  oder  in  anderer  Weise. 

Die  Meinung  ging  noch  weiter  dahin,  später  Sachsen  in  mehrere 
kleinere  Kreise  zu  teilen  ;  eine  Landesversammlung  werde  der  weiten  Reise 
wegen  niemals  viel  mehr  Besucher  haben  als  z.  B.  eine  Versammlung  der  Kreis- 
hauptmannschaft Dresden  für  sich,  und  für  kürzere  Reisen  brauche  dann 
wie  bei  den  bisherigen  Weifsenfclser  Zusammenkünften  nicht  immer  eine 
Ferienwoche  in  Aussicht  genommen  zu  werden.  Die  von  der  weiten  Reise 
hergeleiteten  Schwierigkeiten  würden  sich  bei  einem  Verein  für  Thüringen 
und  Sachsen  noch  erhöhen,  aufserdem  könne  wegen  der  Ungleichartigkeit 
der  gesetzlichen  Einrichtungen  etc.  die  besondere  Aufgabe  solcher  Zweig- 
verbände, den  thatsächlichen  Verhältnissen  möglichst  viel  abzuringen ,  bei 
der  Teilung  besser  erreicht  werden.  Das  waren  die  Gedanken,  die  in  dem 
Beschlüsse  festgelegt  wurden. 

Ob  dieser  Beschlufs  die  beste  Lösung  der  Frage  ist,  soll  hier  nicht 
weiter  Untersucht  werden.  Bestimmend  wirkte  wohl  auch  die  Erwägung 
mit,  dafs  man  in  Mitteldeutschland  wenigstens  aller  2,  3  Jahre  die  Pfingst- 
versammlung  einmal  in  der  Nähe  hat,  während  in  anderen  Gegenden  die 
Sache  anders  liegt.  Wünschen  wir  einstweilen  den  freien  Versammlungen 
so  viel  Glück,  wie  einige  Zweigvereine  bereits  haben!  Herr  Dr.  Glöckner 
in  Leipzig  und  der  Unterzeichnete  hatten  in  einem  Rundschreiben  noch 
den  Vorschlag  gemacht,  das  Jahrbuch  etwas  weniger  umfangreich  erschei- 
nen zu  lassen  und  dafür  die  Erläuterungen  bezw.  Mitteilungen  durch  eine 
möglichst  vollständige  fortlaufende  Übersicht  der  Zweigvereinsthätigkeit  zu 
erweitern.  Es  wurde  aber  von  einer  »Verkleinerung«  des  Jahrbuches  ab- 
geraten, und  für  das  andere  ist  dann  in  der  kontraktlichen  Bogenzahl  kein 
genügender  Raum,  immerhin  ist  Erläut.  23,  S  64  f.  ein  Anfang  gemacht, 
der  fortgesetzt  werden  wird.  Im  Zusammenhang  damit  steht  auch  der  am 
folgenden  Tage  gelafstc  Beschlufs,  die  nächste  Pfingstversammlung  ein  Stück 
nach  Westen  zu  legen,  bezüglich  des  Ortes  aber  dem  Vorstände  nach 
Verständigung  mit  den  rheinländischen  Mitgliedern  die  Entscheidung  zu 
überlassen. 

Die  im  Inhaltsverzeichnisse  des  Jahrbuches  gegebene  Tagesordnung 
wurde  dahin  abgeändert,  dafs  Prof.  Reins  Arbeit  >Zur  Schulgesetzgebung« 
an  die  Spitze  treten  solle. 

Die  wissenschaftlichen  Verhandlungen  (Dienstag  und  Mittwoch)  fanden 
in  der  Aula  des  Realgymnasiums  statt. 

1.  Rein,  Zur  Schulgesetzgebung. 

Die  Debatte  spiegelte  einigermafsen  die  politische  Erregung  des  ver- 
gangenen Jahres  wieder.  Zunächst  wurde  bemerkt,  der  für  eine  mehr  po- 
puläre Zeitschrift  geschriebene  Aulsatz  hätte  für  das  Jahrbuch  um-  bez. 
ausgearbeitet  werden  müssen,  besonders  auch  mit  Rücksicht  auf  die  Arbeit 
von  Rolle  :  die  Selbständigkeit  der  Schule  inmitten  von  Staat  und  Kirche 
(Päd.  Stud.  1&89,  S.  193).  Dies  konnte  der  Vors.  damit  entkräften,  dafs 
über  den  aktuellen  Gegenstand  zunächst  nur  die  auch  anderweit  bekannt 
gewordenen  Jenaer  Thesen  ins  Jahrbuch  kommen  sollten,  schliefslich  aber 

»5* 


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—     228  — 


dieser  Aufsatz  (als  letzte  Arbeit!  aufgenommen  wurde,  weil  er  für  die  Dis- 
kussion doch  eine  bessere  Unterlage  bilde.  Mit  der  Kürze  und  ursprüng- 
lichen Bestimmung  der  Arbeit  hingen  aber  wohl  alle  Ausstellungen  an  der 
Arbeit  oder  auch  an  der  Idee  selbst  mehr  oder  weniger  zusammen.  So 
vor  allem  die  Meinung,  der  ganze  Streit  drehe  sich  jetzt  um  des  Kaisers 
Bart,  da  der  Staat  zur  Zeit  und  noch  auf  lange  hinaus  unmöglich  so  viel 
Macht  aus  der  Hand  geben  werde;  das  wurde  eigentlich  nicht  bestritten, 
aber  die  Macht  durch  vernünftiges  Zureden,  d.  h.  durch  eingehende  Dar- 
legungen und  durch  Konzentrierung  der  Kräfte  zu  erobern  sei  gerade 
die  Aufgabe  (vgl.  übrigens  Jahrb.  S.  317  über  die  Unfähigkeit  der  Büreau- 
kratic),  und  eine  kräftige  Aufforderung  dazu  schlofs  später  diese  Debatte. 
Ferner  die  Meinung,  dafs  in  dem  vorliegengen  Entwürfe  der  Familie  zu 
viel  Rechte  zugewiesen  würden,  d.h.  mehr,  als  sich  aus  der  Sache  heraus 
begründen  liefsen;  hiergegen  verwies  man  auf  die  vorhandene  Littcratur, 
auf  die  vermittelnden  Glieder  vom  Schulvorstande  an  aufwärts  sowie  da- 
rauf, dafs  in  einem  künftigen  Geschlcchtc  das  Interesse  der  Familie  an  der 
Erziehung  viel  gröfser  sein  müsse.  Erst  dann  könne  man  ihr  auch  mehr 
Rechte  anvertrauen.  Durch  welche  Mittel  dieses  Interesse  zu  wecken,  zu 
stärken  sei,  darüber  beriet  man  am  Abend  des  ersten  Versammlungstages 
in  einer  freien  Versammlung,  und  hier  wurden  namentlich  über  die  Eltern- 
abende*) lehrreiche  Mitteilungen  gemacht,  so  aus  dem  einen  Orte,  dals 
die  Lehrer  solche  Abende  abhielter.  und  die  Geistlichen  mifsvergnügt  zu- 
sähen, aus  dem  andern  der  umgekehrte  Fall. 

Die  weitere  Besprechung  drehte  sich  um  die  Frage :  Wie  verhält  sich 
hinsichtlich  des  Erziehungsideals  die  Schule  zur  Kirche  und  zu  den  Kirchen5 
Hierbei  kam  hauptsächlich  folgendes  zur  Aussprache :  Die  von  Dörpfeld 
u.  a.  geforderte  Sonderung  der  Schulen  nach  Bekenntnissen«  hat  nichts 
gemein  mit  dem  Streben  derer,  welche  die  Sozialdemokratie  durch  kirch- 
liche Hierarchie  bekämpfen  wollen  (S.  3oq).  Auch  geht  diese  Forderung 
bekanntlich  nicht  hervor  aus  religiöser  Engherzigkeit,  und  sie  hat  nicht 
den  Zweck  im  Auge,  Beschränktheit  und  Engherzigkeit  methodisch  zu 
pflegen.  >Was  die  Konfessionalität  anlangt,  so  wäre  es  gewifs  zu  mifs- 
billigen,  wenn  aus  engherzigem  Konfessionalismus  z.  B.  geschichtliche  That- 
sachen  gefälscht  oder  die  Unterschiede  zwischen  Protestanten  und  Katho- 
liken, Reformierten  und  Lutheranern  mehr  hervorgehoben  würden  als  die 
den  verschiedenen  Konfessionen  gemeinsamen  Überzeugungen,  oder  wenn 
durch  konfessionelle  Lehren  ein  entschiedener  Aberglaube  gefördert  und 
das  allgemeine  Wohlwollen  eingeschränkt  werden  sollte.  .  .  .  Einen  jeden 
sollte  das  Bewufstsein,  dafs  seine  konfessionelle  Ansicht  selbst  nicht  über 
allen  Zweifel  zu  erheben  sei,  duldsam  gegen  die  konfessionellen  Ansichten 
anderer  machen,  und  einem  jeden  sollte  auf  solche  Duldung  auch  ein  recht- 
licher Anspruch  zugestanden  werden.«  Ziller,  Grundlegung,  1.  A.  S.  462  f. 
Hiernach  ist  auch  die  Simultanschulc  nicht  gänzlich  verpönt,  falls  die  Eltern 
sich  dahin  geeinigt  haben,  s.  Jahrb.  S.  313,  Punkt  6  und  Ziller  a.  a.  O.'S. 


S  »i  Lomberg-Elberfcld,  Lck»ätxc  de»  Niederrhein.  Herbart  Verein*,  Elberfeld.  1892. 


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463 :  »Ist  einmal  das  Bedürfnis  gemeinsamer  Schulen  vorhanden,  so  mufs 
der  Lehrer  (1)  im  stände  sein,  sich  auch  auf  den  Standpunkt  der  Konfession 
zu  versetzen,  der  er  selbst  nicht  angehört,  und  in  ihrem  Sinn  mit  allem 
Ernst  konsequent  fortzudenken.«  Nach  diesen  Voraussetzungen  gilt  nun 
die  Forderung  ohne  Einschränkung:  Der  Zögling  soll  zu  individueller 
Gestalt  geführt  werden!  Hiernach  ist  dann  die  paritätische  oder  die 
Simultanschule  nicht  die  beste  Einrichtung,  wie  von  einer  Seite  behauptet 
wurde,  sondern  ein  Notbehelf.  Ein  Lehrplansystem,  das  auf  Charakter- 
bildung angelegt  ist,  läfst  sich  bei  abgesondertem  Religionsunterricht  nur 
unvollständig  entwerfen  und  ausführen.  Ferner  läfst  sich  das  Urteil  der 
Kinder  über  geschichtliche  Personen,  falls  es  verschieden  ausfällt,  nicht 
durch  blofses  Reden  so  beeinflussen,  dafs  ein  an  sich  richtigeres  Urtei 
dem  Charakter  des  Kindes  entstamme  oder  in  denselben  übergehe.  Die 
Geschichtswissenschaft  sollte  gewifs  über  eine  Person,  über  eine  Thatsache 
nicht  verschieden  urteilen,  aber  die  Auffassung  der  Thatsachen  selbst  ist 
nicht  selten  schon  streitig.  In  der  Erziehungsschule  aber  handelt  es  sich 
gar  nicht  um  blofse  Aneignung  von  Thatsachen,  sondern  um  Stärkung  des 
Charakters,  und  dieser  Unterricht  darf  nicht  aufgeschoben  werden,  bis 
etwa  die  Schüler  verschiedener  Konfessionen  »durch  einen  vermittelnden 
Gedankenkreis  sich  einander  genähert  haben.«  (Ziller  a.a.O.)  Das  ethische 
Erziehungsideal  in  abstracto  ist  allerdings  nur  eins,  aber  die  Erziehungs- 
arbeit darf  nicht  Ziel  und  Ausgangspunkt  verwechseln,  sie  mufs  zunächst 
den  wirklichen  Menschen  hinnehmen  und  nach  und  nach  dem  Ziele 
näher  zu  führen  suchen.  Zur  individuellen  Gestaltung  ist  auch  ein  deutlich 
ausgeprägtes  Schulleben,  wie  es  sich  zeigt  in  der  Feier  der  Feste,  in  der 
Wahl  der  Gebete  und  Lieder,  in  der  Berücksichtigung  häuslicher 
Gebräuche  u.  s.  w.,  nötig.  Jede  Schule  habe  ihren  bestimmten  Charakter, 
auch  in  religiöser  Hinsicht,  einzelne  Schüler  anderer  Konfession  behandle 
man  als  Gäste.  In  irgend  einer  nahen  oder  fernen  Zukunft  kann  ja,  wurde 
gesagt,  eine  neue  Gestalt  der  Religion,  des  Christentums  die  Schule  von 
der  Rücksicht  auf  derartige  Spaltungen  entbinden.  Vgl.  Ziller,  Gründl. 
S.  463:  Es  ist  nämlich  recht  wohl  möglich,  dafs  eine  ins  allgemeine  Be- 
wufstsein  übergegangene  richtigere  psychologische  Lehre  über  die  Freiheit 
oder  über  die  Möglichkeit  der  Besserung  bestehende  Konfessionsunter- 
schiede aufhebt  und  die  dadurch  Getrennten  vereinigt. 

Wie  das  historische  Urteil  ist  auch  das  ethische  Ideal  nicht  ganz  dem 
Streite  entrückt.  Zwar  hat  Kant  gesagt,  die  Frage,  was  gut  oder  böse  sei, 
könnten  nur  Philosophen  in  Unordnung  bringen,  aber  diese  haben  davon 
auch  ausgedehnten  Gebrauch  gemacht!  Trotz  allem,  was  sich  gegen  die 
Kirchen  sagen  läfst,  erhält  doch  die  Mehrzahl  der  Familien  ihre  Ideale 
durch  die  Kirche,  wenn  auch  nicht  wissenschaftlich  bestimmt  und  nicht  immer 
in  reinster  Gestalt,  sondern  so,  dafs  das  Konfessionelle  als  ein  Bestandteil 
des  Ideals  erscheint.  Lösen  sich  die  Familiengenosscnschaften  zu  sehr  von 
den  Kirchen  (Jahrb.  S.  313,  Punkt  6),  dann  entsteht  die  Gefahr,  dafs  rein 
wirtschaftliche  Gesichtspunkte  die  Schule  beherrschen.  In  der  That  fand 
man  es  auffällig,  dafs  der  Herr  Verf  nicht  von  Erziehung,  sondern  nur  von 


—  230 


»Bildung«  spricht,  die  zwar  dem  Vereine  Wissen  und  Veredlung,  im  ge 
meinen  Leben  aber  nur  Wissen  bedeutet.  —  Nach  dem  Verlaufe  der  De- 
batte konnte  man  sagen,  dafs  es  sich  noch  nicht  blofs  um  Eroberung  der 
Macht,  sondern  noch  vielfach  um  Klärung  und  Annäherung  der  Ansichten 
handelt 

2.  Glöckner,  Die  formalen  Stufen  bei  Herbart  und  seiner 
Schule.    Mit  Rücksicht  auf  Gleichmanns  Schrift  u.  s.  w. 

Die  Abhandlung  enthält  zunächst  eine  Darstellung  der  Lehre 
Herbarts  (S.  184 — 202),  worüber  sich  keine  eigentliche  Debatte  entspann. 
Es  folgt  sodann  eine  Kritik  der  G I eic hmann sehen  Auffassung  < bis 
S.  220 ',  wobei  man  am  längsten  verweilte.  Hier  lag  die  Hauptfrage:  Wie 
Zillers  Stufen  von  denen  Herbarts  zu  unterscheiden  seien.  Dafs  sie  zu 
unterscheiden  seien,  wurde  von  keiner  Seite  bestritten.  Gleichmann  sieht 
in  Zillers  Lehre  nur  eine  Verengerung  der  Herbartischen  und  sucht  die 
Unzulässigkeit  dieser  Verengerung  nachzuweisen ;  dagegen  sucht  wiederum 
Glöckner  nachzuweisen,  dafs  Gleichmann  eigentlich  die  Zillersche  Aus-  und 
Umgestaltung  vorwiegend  im  Kopfe  habe  und  in  dieselbe  die  Herbartische 
Form  nachträglich  wieder  hineinzuzeichnen  suche  (S.  260),  dabei  aber  beiden 
Gewalt  anthue. 

Nach  Willmann  und  Glöckner  sind  Herbarts  vier  Stufen  eine  beson- 
dere Anwendung  der  Vertiefung  und  Besinnung,  welche  die  allgemeinen 
Bedingungen  der  Vielseitigkeit  sind.  Der  Wechsel  von  Vertiefung  und 
Besinnung  findet  bei  jedem  Unterrichte  statt,  in  der  besonderen  Form  der 
vier  Stufen  aber  nur  bei  zusammenhangslosem  Stoffe,  und  bei  letzterer 
Art  entstehen  aus  dem  zusammenhangslosen  Stoffe  durch  die  Behandlung 
»kleinste  Gruppen«,  d.  h.  kleinste  systematische  Ganze.  Z.B.  ist  die  Odyssee 
ein  zusammenhängender  Stoff ,  und  bei  der  Lektüre  wechseln  nur  im  allge- 
meinen Vertiefung  und  Besinnung  nach  Lehrabschnitten.  Aber  bei  den 
einzelnen  Abschnitten  erhält  der  Schüler  hier  eine  Vorstellung  z.  B.  vorn 
Kriegswesen  der  Alten  und  daneben  eine  andere  über  häusliches  Leben 
oder  Religion  u.  s.  w.  Jede  einzelne  Vorstellung  über  Kriegswesen  aber 
assoeiiert  sich  mit  etwaigen  früheren,  ferner  mit  späteren  Vorstellungen, 
und  am  Ende  der  Odysseelektüre  entstehen  systematische  Gruppen,  wie 
sie  die  Letebücher  Willmanns  am  Schlüsse  haben;  z.  B.  im  Lesebuch  aus 
Homer:  das  Land;  die  Landschaft  und  das  Klima;  Beschäftigungsweise  der 
Bewohner;  Stadt  und  Haus;  die  Familie;  die  Gemeinde;  der  Gottesdienst 
Das  sind  zusammenhängende  Systeme,  deren  einzelne  Teile  aber  vorher 
nicht  zusammenhängen.  So  bilden  die  Stufen  Herbarts  ein  allgemeines 
Schema,  das  der  Lehrer  immer,  auch  beim  analytischen  Unterricht,  im 
Kopfe  haben  mufs,  um  gegebenen  Falles  darnach  zu  handeln,  aber  keine 
strenge  Anweisung,  die  einzelnen  Leht abschnitte  durchzunehmen.  (VgL 
die  Zusammenfassung  S.  219  f.) 

Das  ist  die  Interpretation  der  Lehre  Herbarts,  die  der  Verf.  zu  ver- 
treten hatte.  Dr.  just  verwies  zunächst  auf  eine  S.  217 — 219  nicht  erwähnte 
Stelle  aus  Herbarts  Encyklopädie  §  165:   »Ganz  genau  so  (d.  h.  nach  An- 


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leitung  der  Begriftsreihe  Klarheit  u.  s.  w.)  die  Philosophie  zu  lehren,  er- 
lauben die  äufseren  Verhältnifse  nicht.  Das  Gedränge  dessen,  was  gelehrt 
und  gelernt,  vollends  was  gelesen  wird,  gestattet  höchst  selten,  dals  man 
irgend  einen  Lehrgegenstand  in  irgend  einem  Fache  so  stufenweise  durch- 
arbeite. Ob  der  Philosophie  jemals  die  Zeit  kommen  wird,  auf  diese  Weise 
studiert  und  wahrhaft  zum  Gebrauche  zubereitet  zu  werden,  das  läfst  sich 
nicht  voraussehen.«  Au!  diese  Stelle  und  auf  sonstige  abweichende  An- 
sichten gründete  dann  Just  die  Meinung,  Herbart  habe  es  mit  der  Durch- 
führung sein  er  Stufen  theoretisch  strenger  gemeint,  aber  der  äufseren 
Hindernisse  wegen  nur  praktisch  etwas  zurück  gelassen.  Nach  Lotts  Mit- 
teilungen an  Vogt  wandten  in  Herbarts  Seminar  die  Übenden  die  Stufen 
in  verschiedenem  Grade  an,  je  nach  Individualität  und  äufseren  Verhält- 
nissen. Glöckner  meint  dagegen,  dafs  Herbart  strenge  Durchführung 
seiner  Stufen  wünscht,  zum  Zweck  der  Gliederung  und  Beweglichkeit  der 
Vorstellungsmassen;  wenn  er  aber  nicht  bei  jedem  Lehrabschnitte  Durch- 
führung derselben  verlangt,  so  geschieht  das  nicht  aus  Nachgiebigkeit* 
sondern  weil  nicht  jeder  Abschnitt  Veranlassung  giebt. 

Dje  vom  Verf.  S.  199  gleichgesetzten  Begriffe  »Glied«  und  »Gruppe« 
möchte  Dr.  Felsch  so  trennen:  Das  Glied  gehört  zu  einer  Reihe  homo- 
gener Vorstellungen,  die  Gruppe  umfafst  heterogene  Vorstellungen. 
Hiernach  wäre  bei  »kleinsten  Gliedern«  sofort  zu  systematisieren  (nur  die 
höheren  Bestimmungsstufen  folgen  erst  später),  Gruppen  dagegen  nicht  so- 
gleich. Die  Frage  bleibt  dabei  aber  noch:  Ist  dieses  Kleinste  ein  syste- 
matisches Ganze  im  obigen  Sinne  oder  ein  Lehrabschnitt  wie  Zillers 
Einheiten? 

Weiter  (S.  220 — 260)  spricht  die  Abhandlung  über  die  Schicksale 
der  Herbartschen  Stufen  in  seiner  Schule,  insbesondere  bei  Stoy 
<\Vaitz,  Kern),  Willmann  und  Ziller.  Nach  des  Verf.  Meinung  sind  Zillers 
Stuten  ein  Versuch,  Herbarts  Lehre  von  den  Stufen  sowie  überhaupt  alle 
für  die  Aneignung  wichtigen  Begrifte,  ferner  auch  die  Forderungen  und 
Vorbilder  anderer  Pädagogen  zu  einem  Kanon  des  Lehrverfahrens  zusam- 
men zu  fassen  (229).  Hierbei  hat  er  die  Stufenlehre  in  eigentümlicher 
Weise  umgestaltet.  Da  nun  in  der  älteren  Generation  Herbartischer  Päda- 
gogen die  Lehre  von  den  Stufen  nur  wenig,  fast  gar  keine  Beachtung 
gefunden  hat  (224),  Ziller  dagegen  bestimmtere  Weisungen  brachte  und 
eine  rege  Thätigkeit  entfaltete,  so  kam  es,  dafs  ein  Teil  des  pädagogischen 
Publikums  den  Unterschied  übersah  und  wohl  von  sklavischem  Nachtreten 
seitens  Zillers  sprach. 

Zunächst  sind  Zillers  Stufen  nur  berechnet  auf  die  Bearbeitung  kon- 
kreten, empirischen  Stoffes  zum  Zwecke  der  Herausarbeitung  des  Allge- 
meinen. Begrifflichen,  während  bei  Herbart  Einzelnes  und  Zusammengesetztes 
(gleichviel  ob  konkreter  oder  abstrakter  Art)  sich  gegenüberstehen.  (Stud. 
1891,  S.  245.)  Dieser  empirische  Stoff,  »dasselbe  Neue«,  fafst  dann  das 
Durchlaufen  der  Stufen  zu  einer  »Einheit«  zusammen  (Ziller,  Allg.  Päd.  2  A. 
S.  294),  während  bei  Herbart  die  Einheit  (d.  h.  aber  nicht  ein  Lehrabschnitt, 
sondern  die  Vereinigung  des  Einzelnen)  durch  das  System,  also  durch 


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logische  Gewalt,  erst  hergestellt  wird.  Damit  hängen  dann  weitere  Mo- 
difikationen zusammen: 

a)  Die  Association  wird  wesentlich  Abstraktion  (234),  und  die  System- 
stufe,  fügt  der  Vors.  hinzu,  sieht  (neben  den  zufälligen  Gruppierungen)  vor 
allem  auf  Feststellung  des  in  dem  Stoffe  der  Einheit  enthaltenen 
Systems.  Dabei  aber  erfolgt  (233)  der  Ubergang  zum  fachwissenschaftlichen 
System  bei  Ziller  oft  zu  rasch,  d.  h.  bevor  der  Schüler  im  stände  ist,  den 
systematischen  Ort  für  einen  neuen  Begriff  selbst  zu  finden  oder  die  Zweck- 
mäfsigkeit  einer  gegebenen  Anordnung  deutlich  einzusehen.  Es  wird  aber 
bestritten,  dafs  bei  Ziller  das  Einzelne  nur  im  Gegensatze  zum  Begrifflichen, 
nicht  zum  Zusammengesetzten  überhaupt  steht. 

b)  Die  Durcharbeitung  wird,  nachdem  der  selbständige  analytische 
Unterricht  abgewiesen  ist,  durch  ein  Ziel  eröffnet,  und  diesem  folgt  eine 
analytische  Vorbesprechung  (235),  welche  Herbart  gar  nicht  kennt  (2391. 
Es  wurde  aber  aul  »Umrifs«  &  125  hingewiesen:  »Für  den  eigentlichen 
synthetischen  Unterricht  setzen  wir  nun  voraus,  dafs  der  blofs  darstellende 
und  der  analytische  während  des  ganzen  Laufs  der  Jugendlehrzeit  überall 
an  den  passenden  Orten  zu  Hilfe  kommen.«  Es  mag  noch  erinnert  werden 
an  §  110:  »Während  geschickte  Darstellungen  eine  Wirkung  thun,  als  ob 
der  Erfahrungskreis  des  Zöglings  sich  erweiterte,  kommt  die  Analyse 
zu  Hilfe,  um  die  Erfahrung  belehrender  zu  machen.«  .  .  .  »Die  Erfahrung 
assoeiiert  zwar  das,  was  sie  giebt;  will  man  aber  diese  schon  vorhandene 
Association  in  das  Werk  der  Lehrstunden  eingreifen  lassen  (wie  es  ge- 
schehen soll),  so  mufs  Erfahrenes  und  Gelerntes  zusammen  passen; 
dazu  gehört ,  dem  Vorrat ,  welchen  die  Erfahrung  darbot ,  die  mangelnde 
Klarheit  und  die  gehörige  Bezeichnung  durch  die  Sprache  nahzubringen.« 
Doch  stehen,  wurde  entgegnet,  diese  Weisungen  nicht  in  Verbindung  mit 
den  Stufen. 

Zu  dem  letzten  Teile  der  Arbeit:  Kritik  der  Gleichmannschen  Auf- 
fassung des  Verhältnisses  der  formalen  Stufen  (Herbarts)  zu  den 
übrigen  didaktischen  Begriffen  (S.  260—279)  wurde  nichts  wesent- 
liches bemerkt.  Der  Verf.  selbst  bedauerte,  in  diesem  Teile  sich  einige 
Male  zu  stark  ausgedrückt  zu  haben. 

3.  Just,  Zur  Lehre  von  den  formalen  Stufen  des  Unterrichts. 

Ob  Ziller  den  Begriff  der  Stufen  Herbarts  sowie  ihre  Anwendung  auf 
die  Lehrabschnitte  verengt  habe  (S.  280—289),  das  konnte  nun  kein 
Streitpunkt  mehr  sein.  Dr.  Felsch  warf  aber  die  Frage  auf:  Kann  Viel- 
seitigkeit, als  deren  Bedingungen  die  Stufen  Herbarts  dargestellt  werden, 
nur  durch  diese  Stufen  erzeugt  werden?  Kann  ebenso  allgemein- 
giltiges  Wissen,  das  Ziel  der  Zillerschen  Stufen,  nur  so  erzeugt  werden? 
Dr.  Glöckner  möchte  z.  B.  den  Begriff  vom  Aorist,  für  den  die  deutsche 
Sprache  kein  Analogon  hat,  nicht  entwickeln  aus  mehreren  oder  vielen  Bei- 
spielen, die  selbst  vorerst  gar  nicht  verständlich  sein  würden,  sondern  aus 
dem  Gegensatz  zu  den  deutschen  Zeitformen;  also  den  Begriff  nicht  aus 
seinem  empirischen  Stoffe,  sondern  aus  verwandten  Begriffen.  Die  Debatte 


kehrte  aber  zu  der  oben  angeregten  Frage  von  der  Vertrühung  der  Ab- 
straktion zurück.  Dr.  Just  weist  S.  286  den  ersten  beiden  Schuljahren 
einen  propädeutischen  Unterricht,  der  nicht  nach  Zillers,  sondern  nach 
Herbarts  Stufen  verläuft,  zu.  Man  erklärt  dies  daraus,  dafs  der  selbständige 
analytische  Unterricht  noch  nicht  überwunden  sei. 

Dr.  Lange  hält  eine  einheitliche  Unterrichtsform  für  alle  Altersstufen 
für  wünschenswert  und  behauptet  ferner,  die  Zillersche  Lehre  habe  auch 
auf  späteren  Stufen  zu  verfrühten  Abstraktionsversuchen  geführt.  Nicht 
aligemeine  Begriffe  schlechthin  dürften  das  Ziel  des  Systems  sein,  sondern 
Zusammenfassung  dessen,  was  der  Schüler  nunmehr  wirklich  hat,  ohne 
Rücksicht  auf  den  Abstraktionsgrad. 

Hinsichtlich  der  Gestaltung  der  Zillerschen  Unterrichtsein- 
heiten (S.  289 — 294)  hat  Just  dem  Abstraktionsteil  der  Einheit  mit  Gleich- 
mann ein  besonderes  Ziel  vorangestellt,  das  man  lieber  blofs  Überleitungs- 
frage nennen  möchte.  Den  von  Ziller  geforderten  zeitlichen  Abstand 
des  zweiten  Teils  der  Einheit  will  aber  Dr.  Just  mit  Gleichmann  nicht 
(S.  292).  Zu  Justs  Gründen  wird  bemerkt,  Ziller  wollte  geradezu,  dafs  beim 
Abstraktionsprozefs  das  konkrete  Wissen  nicht  mehr  lebendig  sei,  sondern 
wieder  herauf  geholt  werden  mufste.  Unmittelbare  Wiederholung  hat  ge- 
ringeren Wert  als  solche,  die  etwas  später  erfolgt.  —  Am  letzten  Abschnitte 
des  Aufsatzes  (Altersstufen,  Teilnahme)  wurden  keine  wesentlichen  Aus- 
steilungen gemacht. 

4.  Schilling,  De  r  system  atisc  he  Stoff  im  Geschichtsunter  richte. 

Der  Aufsatz  bekämpft  im  allgemeinen  die  Ansicht  Bodensteins  (Stud. 
1891,  S.  129  ff.),  welcher  aus  dem  geschichtlichen  System  alle  Zahlen,  Ober- 
sichten, das  Kulturgeschichtliche  und  Religiöse  verweist  und  nur  Ethisches 
in  demselben  für  angemessen  hält.  Für  gröfsere  Schüler  wird  von  Dr.  Schil- 
ling ein  durchschossener  Leitfaden  empfohlen,  der  nach  der  Durcharbeitung 
eine  Art  gesellschaftliche  Ethik  enthalten  würde. 

Man  wünscht,  dafs  die  Darlegung  nicht  gleich  vom  System,  sondern 
vom  Zwecke"  des  Geschichtsunterrichts  (»Verständnis  des  Lebens  der 
Gegenwart«,  Fähigkeit,  in  dasselbe  richtig  einzugreifen)  hätte  ausgehen 
sollen.  In  dem  Verhältnis  des  individualethischen  zum  sozialethischen,  zum 
religiösen  System  liegen  noch  Schwierigkeiten ;  man  verweist  auf  Dörpfelds 
Repetitorium  des  humanistischen  Realunterrichts,  das  auch  eine  Gesellschaft- 
slehre enthält.  Im  Geschichtssysteme  selbst  seien  drei  Bestandteile  zu  unter- 
scheiden: a)  Historisch-Thatsächliches;  b)  Historisch-Ethisches: 
Grundsätze  für  das  Leben  der  Gesellschaft;  ob  auch  des  Einzelnen,  wird 
bestritten;  c)  Historisch- Psychologisches  darüber,  wie  Staat,  Kriegs- 
wesen, Sitten  u.  s.  w.  werden,  sich  verwandeln,  vergehen ;  hier  können  Ent- 
wickelungsgesetze  oder  Ansätze  zu  solchen  gefunden  und  festgehalten 
werden. 

Gegen  die  Definition  von  Gesetz  als  »konstantes  Abhängigkeits- 
verhältnis u.  s.  w.«  (S.  90^  wird  die  von  Montesquieu  vorgezogen:  Gesetze 
sind  die  notwendigen  Beziehungen,  in  welchen  die  Dinge  ihrer  Natur 


-    234  - 

nach  stehen.  Daraus  freilich  zu  folgern,  dafs  gesetzmäfsige  Erkenntnis 
uns  für  immer  verschlossen  bleiben  müsse,  macht  nach  Lorenz  dem  For- 
scher die  Geschichte  unleidlich.  Der  Vors.  gab  einige  Beispiele  dafür,  wie 
aus  Thatsachen  allgemeine  (sozialethische  u.  a.i  Sätze  zu  gewinnen  sein 
könnten.  Z.  B.  aus  der  9.  Präparation  von  Krell  und  Hermann  über  Otto  I. 
auf  der  Synthesenstufe  der  konkrete  Satz:  Durch  Einigkeit  erlangten  die 
Deutschen  die  nationale  Unabhängigkeit;  auf  der  Systemstufe  der  ab- 
strakte, und  zwar  sozialethische  Satz:  Einigkeit  ist  für  Erhaltung  der 
nationalen  Selbständigkeit  notwendig.  Man  glaubte  aber,  nach  dem  oben 
Mitgeteilten,  dafs  schon  der  »konkrete«  Satz  für  Volksschüler  ein  »syste- 
matischer« sei  und  der  abstrakte  auf  eine  höhere  Besinnungsstufe  gehöre. 
—  Bei  der  folgenden  Verhandlung  wurde  in  vollständigem  Gegensatz  zu 
Bodenstein  vorgeschlagen,  in  das  historische  System  nur  Tabellen.  Zahlen 
und  Ähnliches  aufzunehmen,  die  ethischen  und  religiösen  Gedanken  aber 
dem  Religionsunterrichte  zu  überweisen.  Überhaupt  wurden  mehrere  der 
hier  aufgeworfenen  Fragen  beim  nächsten  Gegenstande  mehr  ins  Einzelne 
verfolgt. 

5.  Schilling,  Friedrichs  des  Grofscn  Regierungsantritt. 

Diese  Geschichtspraparation  soll  zeigen,  wie  Quellenstücke  aus  des 
Verfassers  Quellenbuche  zur  Geschichte  der  Neuzeit»  für  den  Unterricht  in 
einer  Prima  des  Gymnasiums  oder  Realgymnasiums  nutzbar  zu  machen  sind. 
In  der  »neuen  Ära«  tritt  der  Regent  als  Diener  des  Staates  auf,  und  es 
bereitet  sich  der  Übergang  vom  ständischen  zum  Vertretungsstaate  vor 

Neu  ist  auf  der  Stufe  der  Methode  der  zusammenfassende,  möglichst 
klare  und  schöne  Vortrag  des  Lehrers.  Verf.  macht  diesen  Vorschlag  nicht 
als  Kompromifs,  sondern  hält  ihn  für  die  notwendige  Ergänzung  der  Lektüre 
der  Quellenstücke,  die  kein  abgerundetes  Bild  bieten 

6.  Hollkamm,  Nachträge  zum  Lehrplan  für  einfache  Volks- 
schulen. 

Der  Aufsatz  bezweckt  die  Anwendung  dessen,  was  das  vorige  Jahr- 
buch über  den  Lehrplan  der  einklassigen,  ungeteilten  Volksschule  gebracht 
hatte,  auf  die  zweiklassige  Schule  mit  zwei  Lehrern.  Die  Vorschläge  selbst 
veranlafsten  keine  Debatte.  Die  anwesenden  Besucher  aus  dem  Königreich 
Sachsen  hielten  wohl  alle  ihre  zweiklassige  Halbtagsschule  (unter  einem 
Lehrer)  für  die  beste  einfache  Schulform.  Mancher  wird  aber  mit  Er- 
staunen gehört  haben,  dafs  in  Preufsen  die  Halbtagsschuie  in  etwa  10000 
Orten  als  allerdings  nur  geduldetes  Mittel  dient,  einem  Lehrer  nicht  1  X  8° 
und  mehr,  sondern  2  ><  80  und  mehr  Kinder  anzuvertrauen  ider  Zedlitzsche 
Entwurf  stellte  die  Maximalzahlen  auf  60  +  60  fest).  Die  einklassige  Schule 
dagegen  bietet  zwar  anstrengende,  aber  in  der  Regel  kürzere  Arbeit,  20, 
24,  selten  32  Stunden  für  den  Lehrer,  dagegen  für  die  Kinder  mehr  Stunden, 
als  in  der  sächsischen  Halbtagsschule  Für  die  Erziehung  durch  Verkehr, 
Schulleben  u.  s.  w.  bieten  diese  einfachen  Formen  manche  Vorteile,  aber 
die  Erziehung  durch  den  Unterricht  kommt  sehr  zu  kurz. 


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7.  Hausmann,  Zum  Unterricht  in  der  Algebra. 
Der  Aufsatz  enthält  Kritisches  zu  Wilks  Aufsatz  im  23.  Jahrbuche, 
zum  Teil  aber,  wie  gesagt  wurde,  »mehr  Wünsche  als  Gegensätze«.  Die 
Debatte  bestand  hauptsächlich  aus  einigen  Gegenbemerkungen  Dr.  Wilks. 
So  zu  S.  133,  dafs  er  nicht  zur  Bildung  des  sittlichen  Charakters,  genauer 
der  sittlichen  Ideen,  sondern  zur  Charakterbethätigung  Zahlenkennt- 
nisse für  notwendig  erklärt  habe.  Die  Lehre  von  den  imaginären  und 
komplexen  Zahlen  lehnt  er  für  die  Erziehungsschule  auch  jetzt  noch  ab, 
als  Forderung  der  Gesellschaft  sowohl  wie  als  Muster  wissenschaftlicher 
Darlegung  und  als  Mittel  gegen  die  leichtfertige  Skepsis  der  Gebildeten, 
vgl.  Erläuterungen  zum  23.  Jahrb.  S.  42—44. 

8.  Wiget,  Herbart  und  Pestalozzi. 

Die  Arbeit  bringt  den  Schlufs  der  Darstellung  der  methodologischen 
Prinzipien  Pestalozzis  (Die  sittlich-religiöse  Bildung)  und  sodann  Pestalozzis 
Ansichten  über  Aufgabe  und  Methode  einer  Erziehungswissenschaft.  (Die 
von  der  Überschrift  und  Jahrb.  23,  S.  196  verheifsene  »Vergleichung  der 
Erziehungstheorien  Pestalozzis  und  Herbarts«  soll,  trotzdem  die  diesjährige 
Arbeit  »Schlufs«  heifst,  nach  der  Versicherung  des  Vors.  erscheinen,  sobald 
sie  aus  dem  Tintenfafs  erstanden  ist.) 

Zu  dem  Vorliegenden  wird  nur  im  allgemeinen  bemerkt,  dafs  die  An- 
klänge an  Kant,  von  dem  P.  zwar  wohl  nichts  gelesen,  aber  durch  münd- 
lichen Verkehr  Kenntnis  erhalten  habe,  nicht  genug  hervorgehoben  seien. 
Dasselbe  sei  mit  Pestalozzis  Rücksicht  auf  die  gesellschaftliche  Seite  der 
Erziehung  der  Fall  ;  hierdurch  würden  die  harten  Ausdrücke  S.  31,  37  über 
die  »Kollektivansprüche  unseres  Geschlechts«  u.  s.  w.  in  ein  anderes  Licht 
treten. 

Die  Behauptung  (S.  30),  dafs  P.  »von  Anfang  an«  die  Idee  einer  um- 
fassenden Erziehungstheorie  vorgeschwebt  habe,  wurde  bestritten.  Im 
Schweizerblatt,  in  Lienhard  und  Gertrud  finden  sich  die  Belege  dafür,  dafs 
er  anfangs  gerade  gegen  Theorie  und  Kunstrcgel  die  Schäden  der  Zeit 
durch  Thaten  des  Genies  heilen  wollte;  dies  war  seine  Sturm-  und  Drang- 
periode. Im  späteren  Leben  hat  er  dieselbe  auf  seinem  Gebiete  nicht  so 
weit  überwunden  wie  Goethe  und  Schiller  auf  dem  ihrigen. 

i 

9.  Thrändorf,  Die  Pflege  des  Patriotismus  in  Haus  und  Schule. 

Die  vor  einem  Seminarcötus  gehaltene  Sedanrede  hat,  wurde  gesagt, 
jedenfalls  der  Pflege  des  Patriotismus  in  hohem  Grade  gedient,  sie 
spricht  aber  weniger  von  der  Pflege  als  vom  Begriffe  des  Patriotismus. 
Der  Satz  vou  Fichte  (S.  73):  »Charakter  haben,  und  deutsch  sein,  ist  ohne 
Zweifel  gleichbedeutend«  möge  der  Jugend  gegenüber  sehr  wirksam  sein, 
beruhe  aber  auf  der  falschen  Lehre,  dafs  der  Charakter  ursprünglich  an- 
geboren sei. 

Trotzdem  so  die  letzten  Arbeiten  bei  der  Besprechung  sichtlich  zu 
kurz  kamen,  war  doch  die  übliche  Zeit  schon  überschritten,  und  die  Versamm- 
lung mufste  geschlossen  werden.    Erwähnt  mag  noch  sein,  dafs  am  Dienstag 


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nach  dem  gemeinschaftlichen  Essen  von  den  Zwickauer  Mitgliedern  ein 
Teil  der  Besucher  in  das  Kohlengebiet,  ein  anderer  in  die  Marienkirche 
und  sodann  in  die  Ratsbibliothek  geführt  wurde.  Sehr.  d.  Z.  war  bei  der 
ersten  Partie,  vernahm  aber  am  Abende  von  einem  Teilnehmer  an  der 
zweiten,  dafs  dieser  beim  Anblick  der  Handschriften  Luthers  und  aller  der 
Seltenheiten  der  Ratsbibliothek  in  Versuchung  geraten  sei,  sich  heimlich 
einschliefsen  zu  lassen,  aber  derselben  noch  glücklich  widerstanden  habe! 

Die  Präsenzliste  enthielt  I09  Namen,  und  zwar  35  aus  Zwickau  selbst, 
59  aus  dem  übrigen  Sachsen,  6  aus  Thüringen,  7  aus  der  Provinz  Sachsen, 
ferner  Prof.  Lazarus  aus  Berlin  und  den  Vorsitzenden,  Prof.  Vogt,  aus  Wien. 
Wie  man  sieht,  hat  der  Lchrertag  in  Halle  den  Besuch  etwas  beeinfluist. 

Möge  den  »Zwickauern«  die  Erinnerung  an  die  Pfingsttage  so  ange- 
nehm sein,  wie  es  den  fremden  Besuchern,  wenn  ich  von  mir  aus  schliefsen 
darf,  ist.  Und  nunmehr  auf  fröhliches  Wiedersehen  zur  fllnfuii&miuizigftten 
Hauptversammlung ! 


3.  Der  geographische  Unterricht  auf  der  „IV.  Stufe". 

Im  3.  Hefte  der  »Pädagogischen  Studien«  vom  Jahre  1891  macht 
K.  Bodenstein  den  methodisch-kritischen  Versuch,  geeignetes  Material  für 
die  Systemstufe  im  Geschichtsunterricht  anzudeuten.  Die  Mängel,  welche 
der  Referent  an  den  auf  der  IV.  Stufe  des  genannten  Faches  auftretenden 
Sätzen  hervorhebt  (Verwechslung  von  Konkretem  und  Abstraktem,  Zu- 
sammenstellungen, die  nicht  ein  Ergebnis  der  Abstraktion,  der  Association 
sind,  die  nur  vorgenommen  werden,  zwecks  festerer  Einprägungen,  zum 
bessern  Behalten  des  Stoffes  etc.  lassen  sich  nach  meinem  Dafürhalten 
auch  an  den  »Systemen«  des  geographischen  Unterrichts  unschwer  er- 
kennen. Auch  in  dieser  Disziplin  stellt  man  »Zusammenfassungen«  auf,  die 
weiter  nichts  sind  als  gedrängte  Wiederholungen  und  Beschreibungen  des  be- 
handelten Stoffes.  Schreibt  doch  Ufer  in  seiner  Vorschule  der  Pädagogik 
Herbarts:  »Bei  naturkundlichen  und  geographischen  Stoffen  besteht  die  be- 
griffliche Fassung  in  der  kurzen  und  knappen,  alles  Wesentliche  ein- 
schliefsenden, alles  Unwesentliche  ausschliefsenden  Beschreibung  oder  Dar- 
stellung des  Gegenstandes.«  Dafs  eine  solche  Auffassung  der  IV.  Stufe 
etwas  Unrichtiges  ist,  liegt  wohl  klar  zu  Tage,  eine  kurze  übersichtliche 
Darstellung  ist  denn  doch  noch  lange  kein  Abstrahieren  und  kann  darum 
auf  keinen  Fall  als  nächste  Folge  einer  Association  anzusehen  sein.  Schwer- 
lich wird  man  auf  diese  Weise  der  Forderung  gerecht:  »Auf  der  System- 
stufe ist  die  Ablösung  des  Allgemeinen  von  dem  Individuellen  anzustreben, 
sind  die  Merkmale  durch  bewufste  und  absichtliche  Vergleichungen  durch 
das  Denken  hervorzuheben  und  von  dem  Konkreten  zu  isolieren.  Der 


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Unterricht  hat  die  Aufgabe,  den  Schüler  anzuleiten,  die  gleichartigen  Dinge 
mit  Absicht  und  Aufmerksamkeit  zu  vergleichen  und  die  allgemeinen  Merk- 
male ausdrücklich  zusammenzustellen.  Vergleichung  und  Zusammenstellen 
des  Begrifflichen:  das  mufs  die  Artikulation  des  unterrichtlichen  Ab- 
straktionsprozesses sein.«  Die  citierten  Sätze  zugegeben,  kann  wohl  von 
der  Giltigkeit  nachfolgender  »Systeme«  keine  Rede  mehr  sein: 
Beobachtungen  aul  einem  Spaziergange  und  Besprechung: 
I.  Die  Welt  über  uns.  Es  hatte  geregnet.  Die  Luft  war  klar  und 
frisch.  Wind  wehte  scheinbar  gar  nicht,  aber  an  dem  Rauche  der  Schorn- 
steine, der  nach  Süden  zog,  erkannten  wir  seine  Richtung.  Er  kam  von 
Norden.  Bald  merkten  wir  auch,  dafs  die  scheinbar  stillstehenden  Wolken 
nach  Süden  getrieben  waren.  Man  konnte  zwei  Arten  von  Wolken  be- 
obachten, Haufenwolken  und  Streifenwolken.  Wir  erinnerten  uns,  diese 
am  häufigsten  bei  Sonnenuntergang,  jene  bei  Entstehung  eines  Gewitters 
gesehen  zu  haben.  Später  sahen  wir  noch  Schäfchenwolken.  Diese  sind 
Eis  —  ()),  jene  Regenwolken  u.  s.  w. 

Systematische  Zusammenfassung: 

Luft.  Klar,  trüb,  nebelig,  frisch,  schwül.  Kalt  t schwer);  warm 
leicht)  u.  s.  w. 

IL  Die  Welt  um  uns.  A  der  natürliche  Zustand,  i.  Das  Starre.  An 
der  Promenade  sehen  wir  Überreste  der  alten  Festungsmauer;  die  Promenade 
ist  durch  Zuschütten  der  Gräben  entstanden,  die  Pflastersteine  sind  Por- 
phyr, das  Trottoir  Sandsteine,  die  Häuser  sind  von  Ziegel-  und  Thon- 
steinen. Wo  kommen  die  Ziegelsteine,  die  Thonsteine,  der  Porphyr,  die 
Sandsteinplatten  her?    Hinführen  an  Ort  und  Stelle. 

Der  Ochsenberg  ist  eine  Hochebene  oder  Plateau,  ein  gröfseres 
Plateau  ist  ein  Tafelland,  Terrassen  bei  Giebichenstein,  Kuppen,  eben- 
falls u.  s.  w. 

Systematische  Zusammenstellung: 

Gesteine:  Porphyr,  Sandstein,  Lehm-  und  Ziegelstein.  Veränderung 
des  Festen  durch  Menschen:  Festungsgräben,  Promenaden,  Thongruben 
u.  s.  w.  Veränderung  auf  natürlichem  Wege:  durch  Wind,  Wetter  u.  s.w. 
Das  Relief  des  Landes,  Tief-,  Hochebene,  Tafelland,  Kuppenberge  u.  s.  w.« 

Diese  Beispiele  aus  »Lehrproben  und  Lehrgänge  von  Dr.  Frick«  be- 
weisen wohl  zur  Genüge,  wie  wenig  Wert  gerade  auf  die  Systemstufe  des 
geographischen  resp.  heimatkundlichen  Unterrichts  gelegt  wird.  Auch  die 
in  den  »Schuljahren«  aufgeführten  Systeme  können  nicht  befriedigen,  die 
Verfasser  haben  ihre  diesbezüglichen  mustergiltigen  Ausführungen  nicht  so 
in  die  Praxis  umgesetzt,  wie  man  es  hätte  erwarten  dürfen.  »Den  Übungen 
der  Association,«  so  lesen  wir  im  3.  Schuljahr,  »reiht  sich  aufs  engste  die 
unterrichtliche  Thätigkeit  der  Systemstufe  an.  Das  Begriffliche,  Gesetzliche 
und  Charakteristische  wird  nun  in  der  Gestalt,  die  es  im  Geiste  des 
Schülers  angenommen  hat,  für  sich  festgestellt,  geordnet,  den  andern  schon 
erarbeiteten  Stoffen  eingereiht,  um  so  nach  und  nach  das  fachwissen- 
schaftliche System  zu  gewinnen.  Demnach  handelt  es  sich  zunächst  um 
Eintragungen  ins  Systemheft  und  zwar: 


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a)  um  Formulierung  des  sprachlichen  Ausdrucks  für  das  gewonnene 
Begriffliche  durch  die  Kinder  unter  Beihilfe  des  Lehrers.  Hierher  gehören 
die  durch  intensiven  Vergleich  gewonnenen  Ergebnisse  des  Abstraktions- 
prozesses z.  B.  die  Begriffe:  Längs-  und  Querthäler,  Ketten-  und  Massen- 
gebirge, Wasserscheiden  und  Bifurkationen  etc.;  die  biologischen  Gesetze 
des  Erdendaseins  (Einflufs  des  Klimas,  der  Produkte,  der  Bodenfiguration 
auf  die  Bewohner  u.  s.  w.)  und  die  Gesetze  von  der  Wechselwirkung  der 
tellurischen  Kräfte; 

b)  um  Aufzeichnung  der  charakteristischen  Übersichten.« 

So  wünschenswert,  ja  so  dringend  notwendig  die  Erfüllung  der  erst- 
genannten Forderungen  ist,  so  wenig  dürfte  wohl  Wert  zu  legen  sein  auf 
das  unter  b)  Gesagte;  denn  die  Betonung  des  letztern  Punktes  auf  der 
IV.  Stufe  halte  ich  für  unrichtig.  Über  das  Zeichnen  im  geographischen 
Unterrichte  zu  sprechen,  gehört  nicht  hierher,  soll  es  gepflegt  werden,  so 
weise  man  ihm  doch  einen  Platz  auf  der  II.  Stufe  an,  da  ja  das  Darstellen 
weiter  nichts  als  ein  Aneignen  ist.  Was  soll  nun  auf  der  IV  Stufe  auf- 
treten, wenn  das  Zeichnen  in  das  Systemhelt  als  nicht  haltbar  erscheint? 
Darauf  giebt  uns  das  unter  a)  Gesagte  befriedigende  Auskunft;  das  dort 
Verlangte  läfst  sich  in  einer  gut  organisierten  Volksschule  recht  wohl  er- 
füllen, wie  der  Schreiber  dieses  aus  eigener  Erfahrung  berichten  kann. 
Meine  Systeme  bezichen  sich  teils  auf  ethnographische,  teils  auf  physi- 
kalische, volkswirtschaftliche  und  soziale  Verhältnisse;  viele  derselben  be- 
rücksichtigen die  Wechselbeziehungen  zwischen  Klima,  Land  und  Frucht- 
barkeit, wieder  andere  suchen  die  Einwirkungen  des  Menschen  auf  die 
Erdoberfläche  darzustellen  und  die  Verbindungen  zu  betonen,  welche 
zwischen  Beschäftigung  und  Charaktereigenschaften  des  Menschen  bestehen, 
eingedenk  der  bekannten  Forderung  Pescheis:  »Das  Abhängigkeitsverhältnis 
der  menschlichen  Gesellschaft  von  der  physischen  Beschaffenheit  des  Wohn- 
orts etc.  bedarf  einer  stärkeren  Betonung.«  Zur  Illustrierung  des  Ange- 
deuteten seien  hier  einige  meiner  Systeme  angeführt: 

Je  weniger  ergiebig  der  Boden,  desto  gröfser  der  Fleifs  der  Bewohner; 

Ergiebigkeit  des  Bodens  ist  abhängig  von  klimatischen  Verhältnissen, 
aber  auch  von  dem  Fleifse  der  Bewohner  ; 

Ackerbau  erfordert  weniger  Menschen,  ernährt  aber  auch  weit  weniger 
als  Industrie; 

Die  Beschäftigung  bceinflulst  den  sittlichen  Zustand  der  Gesellschafts- 
klassen ; 

Ackerbau  ist  die  erste  Grundlage  des  Staates,  der  Gemeinde; 

Durch  den  Ackerbau  wird  der  Mensch  zum  Menschen  gesellt,  in 
friedliche,  feste  Hütten  wandelt  er  das  bewegliche  Zelt; 

Reichtümer  des  Landes  führen  zur  Erschlaffung  des  Volkes; 

Die  Lebensweise  der  nordischen  Völker  ist  eine  ganz  andere  als  die- 
jenige mehr  südlicher  Breiten; 

Die  Bauart  der  einzelnen  Völkerschaften  ist  abhängig  von  der  Lage 
des  Landes  und  der  Beschäftigung  der  Bewohner; 


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Die  Kleidung  verschiedener  Nationen  ist  eine  verschiedene,  sie  richtet 
sich  nach  dem  Klima  des  Landes ; 

Länder  mit  heifsem,  feuchtem  Klima  sind  Herde  ansteckender  Krank- 
heiten; 

Waldreiche  Gebirgsgegenden  zeichnen  sich  durch  gesundes  Klima 
aus  u.  dgl. 

Der  erste  dieser  Systemsätze  ergiebt  sich  ohne  weiteres  nach  Be- 
sprechung, resp.  Vergletchung  des  Fichtelgebirgs,  des  Erzgebirgs  hinsicht- 
lich der  Beschäftigung  der  Bewohner;  bei  Betrachtung  anderer  Gebirgs- 
gegenden ist  von  neuem  auf  den  aufgestellten  Satz  Bezug  zu  nehmen;  denn 
wie  im  naturkundlichen  Unterrichte  so  kann  auch  hier  mit  der  Feststellung 
des  Ergebnisses  die  Aufgabe  noch  nicht  beendet  sein.  Unser  Induktions- 
schlufs  wird  bedeutend  an  Sicherheit  gewinnen,  wenn  eine  weitere  Be- 
tätigung gesucht  wird ;  wenn  wir  auch  hier  das  »Erfindungstalent«  recht 
flcifsig  anrufen,  so  müssen  unsere  Bemühungen  mit  Erfolg  gekrönt  werden. 

Der  Satz:  »Ackerbau  erfordert  weniger  Menschen,  ernährt  aber 
auch  weit  weniger  als  Industrie,«  läfst  sich  leicht  gewinnen  nach  einer  ver- 
SJeichenden  Betrachtung  von  rheinischem  Schiefergebirge  Königreiche 
Sachsen  und  brittischen  Inseln,  auf  welch  letzteren  dieser  Gegensatz  klar 
zu  erkennen  ist. 

Selbstverständlich  mufs  es  dem  einzelnen  Lehrer  überlassen  bleiben, 
dem  betreffenden  Systemsatze  eine  bestimmte  Formulierung  zu  geben, 
weitere  Andeutungen  darüber  zu.  machen,  dürfte  wohl  überflüssig  sein, 
da  vorliegende  Arbeit  zu  einer  bessern  Gestaltung  des  geographischen 
Unterrichts  nur  anregen  will.  Aus  dem  oben  Gesagten  geht  schon  hervor, 
dafs  nicht  in  jeder  Geographiestunde  das  »System«  berücksichtigt  werden 
kann,  und  ich  glaube  nicht,  dafs  ein  solches  Verfahren  als  eine  päda- 
gogische Unterlassungssünde  zu  betrachten  ist,  denn  in  jeder  Lektion  ge- 
nannter Disziplin  den  Denkprozefs  vorzunehmen,  dürfte  vielleicht  etwas 
gewagt  erscheinen,  man  kommt  dann  sehr  leicht  in  die  Lage,  alles  andere 
zu  bringen  als  Sätze,  die  durch  Abstraktion  sich  finden  lassen.  Es  liegt 
dies  in  dem  Wesen  des  angezogenen  Faches,  die  Betrachtung  z.  B.  eines 
Flufsgebietes  läfst  wohl  recht  gut  Vergleichungen  mit  einem  andern  Flusse 
zu,  das  Gleichartige  kann  zusammengestellt,  das  Gegensätzliche  unter- 
schieden werden,  für  das  begriffliche  Denken  aber  bleibt  wenig  übrig. 
Wiget  führt  den  Gedanken  ungefähr  folgendermafsen  aus:  »Es  giebt  Ge- 
biete, wo  der  Unterrichtsstoff  selten  Anlafs  zu  Abstraktionen  bietet,  wie  in 
der  Geschichte  und  Geographie.  Die  chronologische  Tabelle  und  die 
Merkworte  für  den  Gang  der  Erzählung  sind  keine  Begriffe,  die  Vergleichung 
von  Einst  und  Jetzt,  die  Zusammenstellung  verschiedener  Phasen  einer  ge- 
schichtlichen Entwickelung  erhellt  durch  den  Kontrast  das  Konkrete,  ohne 
seine  logische  Beschaffenheit  zu  ändern.  Was  an  wirklichen  Begriffen  ge- 
wonnen wird,  beschränkt  sich  auf  Stücke  der  Verfassungs-  und  Gesetzes- 
kunde. Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Geographie.  Wenn  einmal  die 
geographischen  Grundbegriffe  gewonnen  sind,  so  schreitet  der  Unterricht 
von  Land  zu  Land,  von  Flufsgebiet  zu  Flufsgebiet  fort,  ohne  dafs  neue 


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Begriffe  entstehen  oder  ein  in  der  Bildung  begriffener  wesentlich  weiter 
entwickelt  würde.  Man  witd  kaum  behaupten  wollen,  dafs  ein  Abstraktions- 
pro zefs  eintrete,  wenn  zum  Rhein  die  Rhone  hinzukommt,  wenn  die  Flufs- 
karte  der  Schweiz  vervollständigt  wird,  wenn  sich  einige  Bergketten  am 
St.  Gotthard  zusammenschliefsen  oder  die  Kantone  nach  ihrer  Einwohnerzahl 
oder  Konfession  gruppiert  werden.  Dals  in  diesen  begrilTsarmen  Regionen 
das  Ganze  der  formalen  Stufen  nur  dann  Anwendung  finden  kann; 
wenn  einmal  ein  Begri  ff  zu  abstrahieren  ist,  liegt  aufder  Hand.  < 
So  ganz  »begriffsarm«  dürfte  nun  wohl  der  geographische  Unterricht  doch 
nicht  sein,  vorausgesetzt,  dafs  man  es  versteht,  Gebietsteile,  die  nach  irgend 
einer  Hinsicht  Ähnlichkeiten  aufweisen,  nach  einander  zu  besprechen  und 
dann  den  Abstraktionsprozefs  vorzunehmen.  Wenn  Dr.  Staude  in  dem 
Religionsunterricht  eintritt  »für  die  Verringerung  der  Systeme  nach  Zahl 
und  Umfang  und  demgemäfs  auch  für  das  Zusammenlegen  einzelner  Er- 
zählungen zu  gröfseren  Einheiten,  besonders  wenn  diese  Gruppen  von  dem 
nämlichen  Hauptgedanken  durchzogen  sind,«  so  mufs  auch  im  geographischen 
Unterrichte  die  Forderung  berechtigt  sein:  Erst  nach  Betrachtung  einer 
Anzahl  Länder  und  Heraushebung  des  Ähnlichen  beginnt  die  Arbeit  des 
begrifflichen  Denkens  und  die  Zusammenfassung  des  Erarbeiteten  in  kurze 
Sätze,  die  fest  einzuprägen  sind.  Auf  ein  Mehr  oder  Weniger  in  der  Zahl 
der  betreffenden  »Synthesen«  kommt  es  wohl  nicht  an,  das  auszuwählen 
bleibe  dem  einzelnen  Lehrer  überlassen,  Hauptsache  ist,  »die  Heraushebung 
des  Begrifflichen«  und  »die  Entwickelung  der  biologischen  Gesetze  und  der 
Gesetze  von  der  Wechselwirkung  der  tellurischen  Kräfte.«  (Dafs  diese 
Mafsnahmen  in  der  Oberklasse,  die  Feststellung  der  geographischen  Grund- 
begriffe in  der  Mittelklasse  vorgenommen  werden,  bedarf  nur  der  An- 
deutung.) 

Wird  ferner  bei  Aufstellung  der  Systeme,  resp.  schon  auf  der  III.  Stufe 
auf  die  heimatlichen  Verhältnisse  mehr  Bezug  genommen,  ein  Moment,  dem 
leider  immer  noch  nicht  die  gebührende  Beachtung  geschenkt  worden  ist, 
so  werden  unsere  Schüler  bald  einsehen,  dafs  die  Länder,  von  denen  man 
dachte,  »da  liegt  das  Geld  wie  Stroh,«  noch  nicht  entdeckt  sind,  und  dafs 
überall  noch  manches  zu  wünschen  übrig  bleibt.  Gerade  durch  die  System- 
sätze, die  das  volkswirtschaftliche  Leben  betreffen,  ist  uns  ein  gutes  Mittel 
in  die  Hand  gelegt,  den  Sinn  für  die  vaterländischen  Einrichtungen  zu 
fördern  und  zu  pflegen,  den  Schüler  erkennen  zu  lassen,  wie  eine  wohl- 
wollende Staatsregierung  und  Fleifs  und  Stetigkeit  seitens  der  Bewohner  die 
ersten  Bedingungen  zu  einer  gedeihlichen  Entwickelung  des  wirtschaftlichen 
Lebens,  zu  einem  zufriedenen  und  menschenwürdigen  Dasein  bilden. 

»Arbeit  ist  des  Bürgers  Zierde, 
Segen  ist  der  Mühe  Preis. 
Ehrt  den  König  seine  Würde, 
ehret  uns  der  Hände  Fleifs,« 

das  ist  ein  System  auf  welches  der  geographische  Unterricht  oft  zurück- 
kommen mufs;  dieser  Satz  soll  des  Mannes  Kompafs  sein,  wenn  wildbewegte 


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Wogen  sein  Lebensschifflein  umbranden,  wenn  der  Sirenengesang  aller 
derer  ertönt,  die  ihn  auf  jene  schroffen  Eilande  locken,  von  denen  kein 
Schiffer  zum  sichern  Port  die  Fähre  lenkt.  So  tritt  unser  Unterricht  in- 
direkt in  den  Dienst  der  Sozialpolitik  und  feiht  einer  hohen  Sache  seine 
helfende  Hand.  Fürwahr  eine  schöne  Aufgabe,  deren  Lösung  des  Schweifses 
und  der  Arbeit  eines  jeden  Lehrers  wert  ist! 

Alzey.  Mathes. 


4.  Vom  IX.  Deutschen  Lehrertage  zu  Halle  a.  S. 

Ein  Bericht  von  Dr.  B.  Macnnel. 

Man  hat  den  Massenversammlungen  jede  Berechtigung  abgesprochen; 
überflüssig,  ja  gefährlich  sind  die  Tagungen  namentlich  der  deutschen  Lehrer- 
schaft genannt  worden.  Wie  steht  es  mit  der  Wahrheit  dieser  weitum- 
gehenden Meinungen?*)  —  Es  ist  ja  allerdings  nicht  zu  bestreiten,  dafs  bei 
einer  Vereinigung  von  fast  2000  Schulleuten  die  Pädagogik  als  Wissen- 
schaft nicht  gefördert  werden  kann.  Auch  mufs  zugegeben  werden,  dafs 
der  in  politisch  bewegter  Zeit  (5.  Aug.  1848)  gegründete  »Allgemeine  Deutsche 
Lehrer-Verein<  nicht  mehr  benötigt  ist,  den  deutschen.  Einheitsgedanken 
auch  von  einer  nicht  zu  unterschätzenden  Seite  zu  pflegen;  die  Jetztzeit 
hält  eben  eine  Betonung  des  Verbrüderungsgedanken  bei  Zusammenkünften 
gröfseren  Stiles  für  überflüssig.  Trotzalledem  kann  aber  dem  Lehrertage 
seine  Berechtigung  nicht  abgesprochen  werden.  Was  der  Jenenser  Natur- 
phÜQSOph  Oken  von  den  Wanderversammlungen  der  Naturforscher  sagte 
(1823),  das  gilt  auch  von  denen  der  deutschen  Lehrer:  »Dergleichen  Zu- 
sammenkünfte sind  für  den  eigentlichen  Zweck  der  Versamlung,  nämlich 
die  persönliche  Bekanntschaft,  die  erspriefslichsten.  Man  spricht  von  Herz 
zu  Herz,  man  spricht  über  die  verschiedensten  Dinge,  man  spricht  in  fröh- 
licher Stimmung,  und  so  lernt  man  sich  kennen,  sich  schätzen  und  gefafstc 
Vorurteile,  vielleicht  Abneigungen  verscheuchen.»  —  Aber  nicht  blofs  nach 
der  gesellschaftlichen  Seite  hin  empfiehlt  es  sich,  grofse  Lehrerversamm- 
lungen zu  besuchen;  auch  —  und  nicht  zum  geringsten  Teile  —  finden 
Volksschule  und  Volksbildung  ihre  Förderung  dabei.  Man  denke  nur  an 
eine  neue  Erfahrung,  eine  neue  Idee,  welche  rasche  und  weite  Verbreitung 
verdienen.  In  dem  gröfsten  Kreise  der  Berufsgenossen  mufs  das  Neue  und 
Bedeutende  verkündet  werden,  um  eine  sogen.  Stimmung  für  dasselbe  zu 


*)  Vergl.  „Über  pädagogische  Diskussionen  und  die  Bedingungen,  unter  denen  sie  ntitren 
Jkönnen,«  in  Fr.  Mann,  Pädagogisches  Magazin,  Heft  a.    189a,  Beyer  u.  8.  Langental«. 

Pädagogische  Studien.   IV.  16 


Di 


erzeugen.  Und  wer  regelmäfsig  mit  Berufsgenossen  sich  zusammenfand , 
wird  mit  manchen  neuen  Erfahrungen,  neuen  Ausblicken  bereichert  nach 
Hause  zurückgekehrt  sein,  um  sie  dann  in  Ruhe  prüfen  und  vielleicht  an- 
wenden zu  können.  Schliefslich  dürften  die  Standesinteressen  ihren  besten 
Schutz,  ihre  beste  Pflege  in  den  Massen  Vereinigungen  finden.  Nur  der  Zu- 
sammenschlufs  Vieler  kann  berechtigten  Klagen  über  Mifsstande  aller  Art 
im  Berufe  einen  wirksamen  Ausdruck  geben;  »die  Lehrervereine  mögen 

—  so  erklärt  auch  der  Herausgeber  der  »Deutschen  Lehrerzeitung« ,  P. 
Zillefsen  in  »Was  lehrt  der  VIII.  Deutsche  Lehrertag«,  S.  42  —  in  Ver- 
tretung der  äufseren  Interessen  der  Schule  und  der  Standesinteressen  der 
Lehrer  auch  noch  fernerhin  ihre  nicht  zu  unterschätzende  Bedeutung  haben». 

Kann  mit  wenig  Worten  nachgewiesen  werden,  dafs  die  Lehrertage 
nicht  Überflüssig  sind,  so  ist  auch  deren  Ungefährlichkeit  bei  einigem  guten 
Willen  leicht  zu  erkennen.  Der  gute  Wille  darf  freilich  nicht  durch  Partei- 
fanatismus erstickt  sein.  Letzterer  lälst  wirklich  häufig  der  Lehrerschaft 
wenig  Wohlwollen  zukommen.  Wie  kann  man  z.  B.  ein  Wohlwollen  finden 
in  den  Verdächtigungen,  welche  die  Neue  Preulsische  Zeitung  1S92  (N.  270)» 
Reichsbote  (135),  Eichsfeldia  (129),  Germania  (129)  erheben.  Sie  behaupten 
z.  B.,  dals  aut  den  Lehrertagen  unter  der  Maske  der  Gesamtvertretung  aller 
deutsehen  Lehrer  nur  der  »kirchen-  und  vielleicht  religionsfeindliche  Teil« 

—  und  nur  das  »phantastische,  liberale  Lehrertum«  vertreten  sei.  Es  ist 
ja  leider  wahr,  dafs  sich  die  Mehrzahl  deutscher  Seminarlehrer  von  den 
grofsen  Lehrervereinigungen  fernhält;  es  ist  ferner  mit  Bedauern  zuzu- 
gestehen, dafs  der  »Katholische  Lehrerverband«  ein  kleines  Ganze  ohne 
Fühlung  zum  grofsen  Ganzen  bildet;  ist  aber  der  grofse  Hauptteil  —  und 
es  waren  71  000  Lehrer  durch  190  sogen.  Delegierte  zum  Dt.  Lehrertage 
vertreten  —  nun  der  »kirchen-  und  vielleicht  religionsfeindliche  Teil« ,  das 
»phantastische,  liberale  Lehrertum«  ?  —  Ja  das  Wohlwollen  treibt  die  zu 
zweit  genannte  Zeitung  sogar  zu  folgender  Mahnung  an  die  Behörden :  »Es 
wäre  endlich  an  der  Zeit,  dafs  man  aufhörte,  diesem  phantastischen  liberalen 
Lehrertum,  wie  es  auf  diesen  sogenannten  Lehrertagen  das  grofse  Wort 
führt,  durch  Begrüfsungsreden  und  Telegramme  seitens  der  Behörden  den 
Bart  zu  streichen.  Es  ist  dadurch  viel  gesündigt  worden.  Die  unsinnigen 
Aufstellungen  des  Hallenser  Lehrertages  zeigen  aufs  Neue,  dafs  es  nötig 
ist,  diesem  radikalen  mafslosen  Strebertum  entgegen  zu  treten.«  —  Und 
doch  betonte  dieselbe  Zeitung  in  einem  Leitartikel  —  N.  132,  1890  —  zur 
Erklärung  »radikaler»  Äufserungen  anläfslich  des  VIII.  Lehrertages:  »Wir 
müssen  es  wiederholt  aufs  schmerzlichste  bedauern,  dais  die  Regierungen 
den  Lehrern  gegenüber  nicht  so  ihre  Schuldigkeit  gethan  haben,  wie  es 
nötig  ist.«  — 

Dafs  der  IX.  Deutsche  Lehrertag  zu  Halle  weder  überflüssig  noch 
gefährlich  zu  bezeichnen  ist,  möchte  auch  die  Tagesordnung  bekunden. 
Eine  Sammlung  der  Gedanken  zur  Würdigung  der  Manen  des  edlen  Corac- 
nius,  dessen  dreihundertjährige  Geburtsfeier  die  Verhandlungen  einleiten 
sollte,  kann  unmöglich  als  überflüssig  und  gefährlich  bezeichnet  werden. 
Und  die  Festrede  des  Pastor  Primarius  Seyffardt  aus  Liegnitz  —  be- 


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kannt  als  Parlamentarier,  als  Herausgeber  der  Werke  Pestalozzis  und  der 
Preufsischen  Schulzeitung  —  schilderte  wirklich  nicht,  wie  die  Eichsfeldia 
(129)  meint  —  einen  >etwas  seltsamen  Heiligen«,  welcher  allein  lehrt,  >die 
Schule  darf  kein  Anhängsel  der  Kirche  sein  und  sich  nicht  von  ihr  beherr- 
schen lassen«.  Der  Festredner  kennzeichnete  vielmehr  den  frommen  und 
friedfertigen  Bischof  1.  als  selbständigen  Pädagogen,  welcher  dem  Schul- 
wesen feste  Gestalt  gegeben  hat,  2.  als  weitblickenden  Schulpolitiker,  welcher 
das  gesamte  Schulwesen  einheitlich  durchführte,  und  3.  als  Freund  des 
Volkes  und  der  Schule,  welcher  in  der  Beschaffung  ausreichender  Existenz- 
mittel für  letztere  den  Grund  der  sich  steigernden  Lebenskraft  erkannte. 

Bei  diesen  Hauptpunkten  fand  sich  reichlich  Gelegenheit,  überraschen- 
den Beziehungen  zu  jetzigen  Schulverhältnissen  nachzugehen,  und  der 
Redner  durfte  der  Hoffnung  Ausdruck  geben:  Möge  das  Testament  des 
Comenius  bald  in  Erfüllung  gehen,  und  mögen  Lehrer  wie  Schulbehörden 
in  der  Nacheiferung  dieses  Pädagogen  ihren  Dank  für  sein  Erstrebtes 
bezeugen! 

Manche  Anklänge  aus  der  Festrede  tönten  zum  Teil  wieder  aus  dem 
folgenden  ersten  Beratungsgegenstande :  »Die  allgemeine  Volks- 
schule in  Rücksicht  auf  die  soziale  Frage«  von  Schulinspektor 
Sc  herer- Worms. 

Der  sehr  gewandte  Redner  hatte  sich  eine  wohl  auch  nicht  über- 
flüssige, aber  für  manchen  Parteipolitiker  doch  gefährliche  Aufgabe  gestellt, 
die  von  ihm  schon  vor  Jahresfrist  in  einer  Abhandlung  beleuchtet  wurde  : 
>Welche  Anforderungen  stellt  unsere  Zeit  an  die  Organisation  der  Volks- 
schule?« Eine  Besprechung  in  dieser  Zeitschrift  (XIII.  Jahrg.  1.)  hatte  den 
Verf.  aufmerksam  gemacht  auf  das  Fehlen  eines  geschichtlichen  Abrisses 
und  einer  didaktischen  Begründung.  In  seiner  für  den  Hallischen  Lehrer- 
tag erweiterten  Vorlage  wurde  der  Versuch  gemacht,  den  ersten  Teil  dieser 
Lücke  auszufüllen,  indem  der  Vortragende  auf  Comenius  und  Pestalozzi 
verwies.  Vermifst  wurden  die  Stimmen  aus  der  herbartischen  Schule,  die 
gerade  durch  ihre  entgegengesetzten  Urteile  zu  späterem  vertieften  Nach- 
denken Veranlassung  gegeben  hätten.  Es  wäre  z.  B.  zu  prüfen  gewesen: 
Warum  spricht  Herbart  von  »einer  verfrühten  Trennung  der  Kinderwelt 
durch  die  Trennungen  im  Staate«  (ed.  Willmann  II,  39)  und  nennt  es 
»keinen  Ruhm  für  die  verschiedenen  Stände,  wenn  sie  möglichst  weit  aus- 
einandertreten« (ed.  Hartmann,  XII,  266.)  —  Und  warum  fordert  Ziller: 
»Man  darf  daher  nicht  eine  Einheit  der  Schulen  für  die  Anfänge  der  Bil- 
dungszeit herstellen  wollen.«  —  (Allgem.  Päd.  1884,  81  u.  Grundlegung, 
1884,  503  ff.)  Ferner  dürfen  Magers  bedeutsame  Vorschläge  vom  Jahre 
1840  auf  keinen  Fall  übersehen  werden;  sie  müssen  um  ihrer  Originalität 
willen  eigentlich  die  Grundlage  bilden  für  weitere  Gedanken.  Schliefslich 
konnte  der  leider  zu  früh  verstorbene  O.  Frick  erwähnt  werden.  Auf  Grund 
seiner  Ideen  Über  die  »Einheit  der  Schule«  streift  er  auch  den  hier  in 
Frage  stehenden  Gedanken  z.  B.  in  den  Lehrproben  und  Lehrgängen, 
XXVI,  119  ff.  und  erklärt:  »Wenn  mir  mein  Gefühl  sagt,  dafs  die  Her- 
stellung eines  gewissen  gemeinsamen  Unterbaues  aller  höheren  Schulen 

16* 


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nur  noch  eine  Frage  der  Zeit  ist,  zu  welchem  wir  kurz  über  lang 
durch  eine  Art  Naturnotwendigkeit  gedrängt  werden,  dafs  alle  anderen 
Mittel  an  ihm  vorbeizukommen  nur  zu  kleinem  Flickwerk  führen,  dem 
schlimmsten  Hemmnis  jeder  organischen  Entwickelung :  dann  fühle  ich  mich 
verpflichtet,  mir  die  äufserste  Grenze  klar  zu  machen,  bis  zu  welcher  nur 
ein  gemeinsamer  Unterbau  von  höheren  Schulen  zulässig  erscheinen 
könnte  — « 

Dafs  Redner  auch  die  Zwangsschule  der  Sozialdemokraten  mit  ihren 
unpädagogischen  Grundsätzen  charakterisierte,  führte  wenigstens  zu  einer 
didaktischen  Begründung  seiner  allgemeinen  Volksschule  nach  der  nega- 
tiven Seite  hin. 

Der  zweistündige  freie  formvollendete  Vortrag  schlofs  mit  folgenden 
Forderungen  ab: 

1.  a)  Staat  und  Gemeinde  sollen  für  die  gemeinsamen  Bildungsbedürf- 

nisse nur  gemeinsame,  allen  in  gleicher  Weise  zugängliche  Bildungs- 
anstaltcn  erriehten. 

b)  Insbesondere  soll  für  den  allen  notwendigen  Elementarunterricht 
nur  eine  Art  von  öffentlichen  Schulen  vorhanden  sein  und  sollen 
daneben  auf  Kosten  des  Staates  oder  der  Gemeinde  besondere 
Vorschulen  für  höhere  Lehranstalten,  Mittel-  und  höhere  Töchter- 
schulen nicht  errichtet,  noch  organisch  damit  verbunden  werden. 

c)  Die  bestehenden  Vorschulen  höherer  Lehranstalten  und  die  Ele- 
mentarklassen der  Mittelschulen  und  höheren  Töchterschulen  sind 
aufzuheben. 

2.  Auf  diesem  gemeinsamen  Unterbau,  der  allgemeinen  Volksschule, 
bauen  sich  auf: 

a)  Die  niedere  Bürgerschule  und  deren  Fortsetzung,  die  Fort- 
bildungsschule. 

b)  Die  höhere  Bürgerschule  (Mittelschule  oder  Realschule). 

c)  Die  höheren  Lehranstalten. 

3.  Die  vorhandenen  Einrichtungen,  welche  begabten  ärmeren  Kindern 
den  Besuch  der  höheren  Lehranstalten  ermöglichen  (Befreiung 
vom  Schulgelde,  kostenfreie  Alumnate  etc.),  bedürfen  einerweiteren 
Ausdehnung  und  werden  der  öffentlichen  wie  privaten  Fürsorge 
empfohlen. 

Die  Vorführungen  haben  die  Neue  Preufs.  Zeit.,  N.  270  zu  folgendem 
Geständnis  veranlafst:  »Sie  (d.  a.  V.)  hat  in  der  That  etwas  Bestechendes, 
da  sie  versucht,  einen  Boden  zu  schatten,  auf  dem  sich  alle  Bevölkenings- 
klassen,  Arm  und  Reich,  Hoch  und  Niedrig  zusammen  finden  können.« 
Dann  fügt  sie  aber  hinzu:  >Der  Elementarunterricht  mufs  ein  anderer 
sein  für  solche,  welche  mit  ihm  ihre  Bildung  abschliefsen .  als  für  solche 
welche  ihn  nur  als  Vorbereitung  für  eine  höhere  Bildung  betrachten.  Werden 
beide  Gattungen  von  Kindern  zugleich  unterrichtet,  so  mufs  notwendig 
die  eine  leiden.«  —  Zur  Beantwortung  einer  in  erster  Linie  pädagogischen» 
Frage  gehört  pädagogische  Bildung;  ein  schwach  begründetes  »kann«  und 
»mufs«  dürfte  daher  für  pädagogische  Urteile  kaum  maisgebend  sein.  Oder 


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es  könnte  auf  Grund  der  Erfahrung,  welche  Süddeutschland  laut  Bericht  des 
Berliner  Tageblattes  (N.  281,  1892)  gewinnen  durfte,  mit  gleichem  Rechte 
erklärt  werden:  Weil  z.  B.  der  bair.  Kultusminister  Dr.  v.  Müller  selbst 
seine  Knaben  oft  des  Morgens  bis  an  die  Thür  der  »Deutschen  Schule«  — 
wie  der  off.  Name  für  die  allgemeinen  Volksschule  lautet  —  führt,  und  weil 
auch  die  Mädchen  der  besser  gestellten  Stände  fast  durchweg  ihre  erste 
Bildung  in  der  Volksschule  empfangen  —  so  mufs  dieselbe  in  ganz  Deutsch- 
land eingeführt  werden!  —  Ist  diese  in  Rede  stehende  Frage  pädagogisch 
reiflich  begründet,  dann  dürften  auch  um  des  allgemeinen  Volkswohls 
willen  kirchliche  und  politische  Parteien  nicht  die  Antwort  wesentlich  be- 
einflussen wollen. 

Der  zweite  Beratungsgegenstand:  »Die  Vorbildung  des  Volksschul- 
lehrers« von  Rektor  Rifsmann  aus  Berlin  widerlegt  nicht  minder  die  be- 
kannten Vorurteile  über  die  Lehrertage:  Die  gewinnende  Ruhe  und  Be- 
stimmtheit des  Vortragenden,  sowie  die  Vermeidung  einer  frivolen  Auffassung 
des  Bestehenden  geben  der  Überzeugung  Raum,  dafs  hiermit  eine  wichtige, 
nicht  so  bald  von  der  Diskussion  verschwindende  Frage  angeregt  worden 
ist.  Die  Leser  dieser  Zeitschrift  werden  nur  dabei  die  besonders  charak- 
teristischen und  von  ernstester  Erwägung  zeugenden  Aussprüche  Herbarts 
und  seiner  Freunde  vermissen,  welche  vielleicht  eine  nicht  unwichtige  Er- 
gänzung zu  geben  vermögen.  Die  gediegenen  Ausführungen  Rifsmanns 
verdienen  nach  dieser  übersehenen  Seite  hin  eingehend  geprüft  zu  werden.*) 

Der  Vortrag  zeigte  folgenden  Gedankengang :  Man  hat  in  weiten  Kreisen 
wenig  Neigung,  das  Streben  nach  erweiterter  Bildung  des  Volksschullehrers 
zu  fördern.  Der  Lehrerstand  leidet  unter  einer  traditionellen  Mifsachtung; 
dasselbe  ist  von  seiner  Arbeit,  wie  der  Pädagogik  überhaupt  zu  sagen: 
Nur  die  richtige  Erkenntnis  des  Wesens  und  Zweckes  der  Erziehung  kann 
die  Grundlage  für  eine  richtige  Beurteilung  abgeben.  Die  Erziehung  legt 
die  Elemente  des  Wissens  und  Könnens  zur  Anbahnung  eines  sittlichen 
Charakters,  oder  zur  Erzielung  einer  harmonischen  Gesamtbildung.  Zu 
diesem  vorgezeichneten  Ziele  für  die  Jugend  bedarf  der  Volksschullehrer 
einer  reichen,  gediegenen  Allgemeinbildung,  sowie  einer  auf  Seelenkunde 
gegründeten  Fachbildung. 

Das  Urteil  der  Lehrer  selbst,  wie  zahlreicher  Lehrerbildner  bezeugt, 
dafs  die  Vorbildung  des  Volksschullehrers  gegenwärtig  diesem  Ideale  nicht 
entspricht  Nicht  kann  dieselbe  parallel  laufen  derjenigen  des  Lehrers  an 
den  höheren  Schulen  und  statt  durch  das  Seminar  durch  die  Universität 
gehen.  Die  Universität  bildet  vorzugsweise  Gelehrte  für  ein  bestimmtes 
Fach,  während  der  Volksschullehrer  ein  Allgemein-Gebildeter  sein  soll;  die 
pädagogischen  Veranstaltungen  der  Universität  sind  zur  Zeit  meist  so 
mangelhaft,  dafs  dieselben  einen  Pädagogen  nicht  auszubilden  vermögen. 
Daher  erscheint  es  geratener'  eine  Reform  der  Seminarbildung  anzustreben. 
Eine  Reform  derselben  ist  nötig,  weil  die  bestehende  den  Seminaristen 
überbürdet.   Sie  drängt  ihm  Leitfadenwissen  auf  und  läfst  ihn  in  viel  zu  viel 

•>  Sie  an  dieier  Stelle  auch  nui  amudeuten,  hief»e  einer  bereit»  in  Angriff  enomnaeoen 
Arbelt  vorgreifen. 


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Stunden  lernen  und  immer  wieder  lernen,  statt  ihn  studieren  zu  lassen. 
Dazu  mufs  das  Seminar  eine  allgemeine  und  weiter  noch  die  pädagogische 
Fachbildung  bezwingen. 

Dies  Unding  fuhrt  zur  Einrichtung  von  Proseminaren  oder  Präparan- 
denschulen  und  weist  dem  Lehrer  einen  Bildungsgang  zu,  an  dem  kein 
Angehöriger  anderer  Stände  teilnimmt.  Daher  verlangt  der  Lehrerstand, 
dafs  ihm  zu  seiner  Vorbildung  gestattet  werde,  eine  der  höheren  Schulen 
zu  besuchen.  Kann  so  die  allgemeine  Bildung  zu  einem  Abschlüsse  gebracht 
werden,  dann  darf  das  Seminar  im  wesentlichen  der  Fachbildung  dienen. 
Da  die  religiöse  Bildung  bereits  in  der  allgemeinen  Vorbildungsanstalt  ihren 
Abschlufs  gefunden  hat,  und  das  Seminar  als  Fachschule  aufgefafst  wird 
so  kann  dasselbe  als  interkonfessionelle  Anstalt  eingerichtet  werden.  Nur 
ein  nicht  konfessionelles  Seminar  wird  endlich  imstande  sein,  ohne  Neben- 
rücksichten pädagogischen  Zwecken  zu  dienen. 

Ein  weiterer  Hauptmangel  besteht  in  der  teilweise  ungenügenden  Be- 
schaffenheit des  Lehrpersonals  am  Seminar.  In  die  ersten  Stellen  werden 
oft  Theologen  und  Philologen  berufen,  die  weder  eine  genügende  pädago- 
gische Bildung  noch  eine  genügende  Kenntnis  des  Volksschulwesens  besitzen 
—  und  unten  stellt  man  blutjunge,  kaum  dem  Seminar  entwachsene  Leute 
als  Hilfslehrer  an. 

Zu  bekämpfen  ist  ferner  das  Zwangsinternat,  die  Schöpfung  einer 
Richtung  im  Lehrerbildungswesen,  welche  ängstlich  bemüht  ist,  den  Volks- 
schullehrer vor  Luft  und  Licht  zu  bewahren  und  ihn  nach  bestimmter 
Schablone  zu  drillen,  anstatt  ihn  zur  Selbständigkeit  zu  erziehen.  Die 
Seminarorte  seien  gröfserc  Städte,  damit  die  dort  vorhandenen  Bildungs- 
mittel auch  der  Lehrerbildung  nutzbar  gemacht  werden  können. 

Sollten  diese  Vorschläge  zur  Durchführung  gelangen,  so  möchte  auch 
die  Frage  der  Schulaufsicht  zu  einem  gewissen  Abschlüsse  gebracht  sein. 
Der  Volksschullehrer,  der  den  dargelegten  Bildungsgang  durchgemacht  hat, 
kann  —  hervorragende  praktische  Leistungen  vorausgesetzt  —  von  einem 
Schulaufsichtsamte  nicht  mehr  ausgeschlossen  werden. 

Als  Leitsätze  wurden  nach  lebhafter  Besprechung,  an  welcher  sich 
u.  a.  die  Herren  Prof.  Dr.  Rein  aus  Jena  und  der  Reg.-  und  Schulrat 
Schöppa  aus  Magdeburg  beteiligten,  von  der  Versammlung  angenommen: 

1.  Die  gegenwärtige  Vorbildung  des  Volksschullehrers  kann  gegen- 

über den  heutigen  Anforderungen  an  den  Lehrerberuf  nicht  als 
genügend  anerkannt  werden. 

2.  Behufs  einer  zweckmäfsigeren  Gestaltung  derselben  erscheint  in 

erster  Linie  eine  solche  Organisation  der  Lehrerbildungsanstalten 
notwendig,  dals  dieselben  im  wesentlichen  nur  der  pädagogischen 
Fachbildung  zu  dienen  haben. 

3.  Die  als  Grundlage  der  letzteren  unerläfsliche  allgemeine  Bildung 

ist  am  zweckmäfsigsten  durch  Absolvierung  einer  der  bestehen- 
den höheren  Bildungsanstalten,  zu  erwerben. 

4.  Es  ist  unerläfslich,  dafs  die  an  den  Seminaren  wirkenden  Lehrer 

neben  der  erforderlichen  wissenschaftlichen  Bildung  auch  eine 


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-    247  — 


durch  eigene  Erfahrung  gewonnene  genügende  Kenntnis  des  Volks- 
schulwesens besitzen.  Ja,  durch  geeignete  Veranstaltungen  an  den 
Hochschulen  mufs  es  ermöglicht  werden,  dafs  der  seminaristisch 
gebildete  Lehrer  seine  pädagogische  Bildung  so  erweitern  kann 
das  ihm  die  -Berechtigung  als  Lehrer  und  Leiter  der  Seminarien» 
zu  erteilen  ist. 

5.  Eine  Sonderung  der  Seminare  nach  der  Konfession  ihrer  Zöglinge 

ist  aus  der  Eigenart  dieser  Schulgattung  nicht  zu  begründen. 
Vielmehr  folgt  aus  der  Auffassung  des  Seminars  als  einer  Fach- 
schule die  Einrichtung  paritätischer  Anstalten. 

6.  Es  empfiehlt  sich,  die  Seminare  an  gröfseren  Orten  oder  doch  in 

deren  Nähe  enzulegen,  damit  die  an  solchen  Orten  vorhandenen 
mannigfachen  Bildungsmittel  den  Zöglingen  nutzbar  gemacht  wer- 
den können. 

7.  Das  Internat  ist  nicht  als  eine  für  die  Erziehung  der  künftigen 

Lehrer  unentbehrliche  Einrichtung,  sondern  lediglich  als  eine  Ver- 
anstaltung zur  Unterstützung  bedürftiger  Zöglinge  zu  betrachten. 
In  keinem  Falle  darf  die  Hausordnung  desselben  eine  solche  sein, 
welche  die  Zöglinge  von  der  Aufsenwelt  abschliefsen  und  die  Ent- 
wickelung  selbständiger  Charaktere  hindern  würde. 

8.  Dem  Volksschullehrer  ist  auf  Grund  seiner  Seminarbildung  unter 
Voraussetzung  hervorragender  praktischer  Leistungen  die  Be- 
fähigung zur  Bekleidung  eines  Schulaufsichtsamtes  zuzuerkennen. 

Nach  der  Eichsfeldia  (N.  129,  1892)  erklärte  die  Delegierten- Versamm- 
lung des  katholischen  Lehrer-Verbandes,  zu  welcher  ein  Bischof  und  einige 
Schulräte  offiziell  erschienen  waren,  sich  gegen  die  »überspannten  und  ver- 
derblichen Bestrebungen  der  modernen  Pädagogik  bezüglich  der  Lehrer- 
bildung und  der  Volksschule,  weil  sie  der  Ruin  der  menschlichen  Gesell- 
schaft seien,  und  betonte  die  heiligen  Rechte  der  Kirche  und  der  Schule«. 
—  Der  Reichsbote  (N.  135,  18^2)  geht  über  solche  allgemeinen  Redensarten 
hinaus  und  hebt  zwei  Punkte  hervor:  1.  Die  Volksschullehrer  wollen  Cha- 
raktere heranbilden!  —  »Man  denke  sich  die  Kinder  der  Volksschule  und 
feste  Charaktere!  Was  würden  diese  Herren  aus  der  Volksschule  machen, 
wenn  sie  ihnen  überlassen  würde!  In  Grund  und  Boden  würden  sie  dieselbe 
ruinieren!  —  2.  Die  Volksschullehrer  fordern  eine  höhere  allgemeine  Bil- 
dung 1  »Die  stolzen  Herren  haben  nur  vergessen  zu  sagen,  wo  dann  die 
jungen  Leute  herkommen  sollen,  welche  die  Kosten  für  eine  solche  Vor- 
bildung tragen  können,  und  wo  die  Gemeinden  und  der  Staat  die  Mittel 
hernehmen  sollen,  um  dann  diesen  gelehrten  Schullehrern  ein  ihrer  Vor- 
bildung entsprechendes  Gehalt  und  entsprechende  Schulhäuser  zu  ver- 
schaffen. Es  wird  keinem  Menschen  einfallen,  so  grofse  Opfer  an  Zeit  und 
Geld  aufzuwenden,  um  sich  dann  mit  dem  Gehalt  eines  Lehrers  zu  be- 
gnügen.« —  Diesen  letzten  Gedanken  greift  auch  die  Neue  Preufs,  Zeit. 
(N.  270)  auf  und  sagt:  »Der  Beruf  des  Volksschullehrers  wird  stets  ein  be- 
scheidener bleiben.    Darum  ist  er  aber  nicht  minder  achtbar  und  bedeut- 


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—    248  — 


sam.«  —  Zu  einer  erziehlichen  Aufgabe  »bedarf  es  weniger  eines  grofsen 
Mafses  von  Kenntnissen,  als  einer  gründlichen  Herzensbildung  auf  dem  Boden 
des  lebendigen  Christentums.«  —  Die  Deutsche  Warte  (N.  134,  1892)  kann 
dagegen  erklären:  »Den  deutschen  Volksschullehrern  könnte  es  materiell 
besser  gehen.  Kein  Wunder  wäre  es  deshalb,  wenn  sie  sich  mit  ihrer  materiellen 
Lage  beschäftigten.  Aber  nein,  nichts  dergleichen!  Mit  nichts  Anderem  be- 
schäftigten sie  sich,  als  wie  sie  sich  geistig  fördern,  wie  sie  die  Volksschule 
auf  ein  höheres  Niveau  bringen  können.  Wahrlich,  das  ist  ein  Idealismus, 
wie  er  in  unserer  Zeit  der  materiellen  Begehrlichkeit  und  des  sozialen 
Neides  sich  nicht  oft  wiederfindet.«  — 

Verschiedene  Prefsstimmen  sind,  wie  das  auch  von  Ehrengästen  zu 
Halle  mehrfach  ausgesprochen  wurde,  darin  einig,  dafs  die  Forderung 
einer  möglichst  gründlichen  allgemeinen  Vorbildung  »gewifs  höchst  ehren- 
voll für  den  Lehrerstand«  ist.  Und  wenn  das  Nachdenken  über  diese 
wichtige  Angelegenheit  noch  nicht  mit  Rifsmanns  wertvollen  Darbietungen 
für  abgeschlossen  gehalten  wird,  so  bekundet  der  Lehrerstand  selbst  am 
besten,  dafs  ihm  die  Vorbildungsfrage  eine  Lebensfrage  ist,  welche  das 
Wohlwollen  mafsgebender  Kreise  sich  erwerben  wird. 

Die  letzte  Vorlage  des  IX.  Deutschen  Lehrertages,  —  »Die  Behand- 
lung der  verwahrlosten  und  sittlich  gefährdeten  Jugend«  von  Lehrer 
Helmke  aus  Magdeburg  —  zeigte,  wie  sich  Kriminalistik  und  Pädogik 
die  Hand  reichen.  Getrieben  von  der  Liebe  zum  heranwachsenden  Ge- 
schlechte, waren  vom  Vortr.  mit  grofsem  Fleifse  statistische  Nachweise 
zusammengestellt,  welche  unter  Bezugnahme  auf  die  praktische  Pädagogik 
zu  folgenden  Leitsätzen  sich  herausgestalteten: 

1.  Nur  eine  sorgsame  Erziehung,  nicht  aber  eine  einzelne  Strafe,  die 

blofs  ein  Glied  in  der  Kette  der  Erziehungsmafsnahmen  sein  kann, 
vermag  einem  sittlich  verdorbenen  oder  gefährdeten  Jugendlichen 
diejenige  sittliche  Reife  und  Charakterstärke  zu  verleihen,  welche 
allein  auf  die  Dauer  von  Strafthaten  abhält. 

2.  Aus  mehrfachen  erziehlichen  Gründen  mufs  die  Strafunmündigkeit 

mindestens  bis  zum  14.  Lebensjahre  ausgedehnt  werden. 

3.  Sowohl  über  bereits  sittlich  verwahrloste  Kinder  unter  14  Jahren, 

ganz  gleich,  ob  ihre  Verwahrlosung  bereits  in  einer  Strafthat 
Ausdruck  gefunden  hat  oder  nicht,  als  auch  über  solche  Kinder» 
deren  sittliche  Verwahrlosung  zu  befürchten  steht,  weil  bereits 
Anfange  derselben  deutlich  erkennbar  sind  oder  die  Persönlich- 
keit der  Eltern  oder  sonstige  Verhältnisse  eine  solche  herbei- 
führen müssen,  ist  staatlich  überwachte  Erziehung  zu  verhängen. 

4.  Die  Aufgabe  jeder,  also  auch  der  staatlich  überwachten  Erziehung 

ist  die  Heranbildung  eines  sittlich  festen  Charakters.  Es  mufs 
daher  möglich  sein,  diese  Erziehung,  falls  nicht  früher  die  Gewähr 
einer  weiteren  guten  Führung  vorhanden  ist,  bis  zum  20.  oder 
21.  Lebensjahre,  der  Heerespnichtigkeit  der  männlichen  Jugend, 
auszudehnen. 


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—  249 


5-  Auch  für  jugendliche  Verwahrloste  zwischen  14  und  18  Jahren  ist 
die  staatlich  überwachte  Erziehung  als  erstes  Mittel  zu  ihrer  Bes- 
serung ins  Auge  zu  fassen. 

6.  Eine  gerichtliche  Freiheitsstrafe  als  Zusatzstrafe  ist  bei  den  mit 

derselben  verknüpften  Bedenken  allein  dann  empfehlenswert,  wenn 
nur  durch  eine  vorangehende  bedeutende  Erschütterung  des  Ge- 
müts ein  Eingehen  auf  eine  erziehliche  Einwirkung  ermöglicht  oder 
durch  die  Aussicht  auf  einen  Erlafs  der  nachfolgenden  Strafe  die 
Wirksamkeit  der  erziehlichen  Mafsnahmen  unterstützt  werden  kann. 

7.  Da  das  Beispiel  den  nachhaltigsten  Einflufs  ausübt,  so  mufs  die 

Strafhaft  auf  jeden  Fall  so  gestaltet  werden,  das  nachteilige  Ein- 
wirkungen ferngehalten  werden. 

8.  Die  staatlich  überwachte  Erziehung  mufs  im  allgemeinen  Anstalts- 

erziehung und  kann  nur  ausnahmsweise  in  bestimmten  leichteren 
Fällen  Familienerziehung  sein,  weil  solche  nicht  in  ausreichendem 
Mafse  beschafft,  weniger  Sicherheit  auf  einen  Erfolg  bieten  und 
schwerer  überwacht  werden  kann. 
9-  Um  dem  Obel  der  sittlichen  Verwilderung  so  viel  als  möglich  auch 
die  ersten  Quellen  zu  verschliefscn,  ist  die  obligatorische  Ein- 
führung von  Krippen,  Kinderbewahranstalten  und  Kinderhorten 
erforderlich. 

io.  Die  Erziehung  der  Jugend,  welche  verwahrlost  ist  oder  sittlich  ge- 
fährdet erscheint,  mufs  durch  ein  Reichsgesetz  in  den  oben  ge- 
zeichneten Umrissen  geregelt  werden. 
Mit  diesen  vier  Vorträgen  war  die  Tagesordnung  im  ganzen  erschöpft. 
Von  den  Nebenversammlungen  seien  erwähnt  die  der  Deutschen  Fort- 
bildungsschulmänner,  des  Redakteurverbandes  und  der  Stenographen.  Einen 
schönen  Abschlufs  fand  die  grofse  Zusammenkunft  durch  die  Enthüllung 
des  Kehr-Denkmals  in  Halberstadt. 

"Wenn  die  Summa  der  Verhandlungen,  wie  überhaupt  des  ganzen  Ver- 
laufes des  Lehrertages  gezogen  werden  soll,  so  kann  nur  von  Tagen  tüch- 
tiger Arbeit  berichtet  werden,  einer  Arbeit,  die  noch  dazu  das  Wort  des 
Comenius  zu  verwirklichen  bestrebt  ist:  >Es  darf  nicht  eher  nachgelassen 
werden,  bis  das  Werk  vollbracht  ist«  — 


5.  Herbart,  Ideen  zu  einem  pädagogischen  Lehrplan  für 

höhere  Schulen. 

(Kehrbach  I,  S.  134.   Willmann  I,  S.  80.) 

>Noch  für  einen  Hauptpunkt  mufs  ich  die  gütige  Aufmerksamkeit  be- 
mühen, auf  welche  ich  gewagt  habe,  bei  diesem  Aufsatze  zu  rechnen.  Das 


250  — 


bisher  Betrachtete  nämlich  sorgt  für  die  Bedürfnisse  eines  vollständigen 
Unterrichts  nur  zur  Hälfte,  obgleich  für  die  wichtigere  Hälfte.  Was  noch 
übrig  ist,  läfst  sich  unter  dem  Worte  Naturwissenschaften  befassen. 

Es  wäre  ungereimt,  den  Jugendunterricht  auch  in  Rücksicht  auf  diese 
von  dem  allmählichen  Fortschritt  der  Entdeckungen  abhängig  zu  machen. 
Denn  diese  Hossen  nicht,  wie  das,  was  den  Menschen  und  seine  Empfin- 
dungen betrifft,  aus  der  Natur  des  menschlichen  Geistes,  sondern  der  Zu- 
fall verstreute  die  Nachrichten,  welche  es  uns  von  der  Natur  gab,  durch 
viele  Jahrhunderte,  ohne  dafs  darum  die  Schätze  der  heutigen  Naturwissen- 
schaften einen  besonderen  Punkt  der  Ausbildung  erforderten,  durch  den 
sie  nur  uns  und  nicht  etwa  eben  so  gut  den  Alten  zugänglich  gewesen 
wären.« 

Ist  es  gerechtfertigt,  dafs  Herbart  das  historische  Vorgehen  von  dem 
Unterricht  in  den  Naturwissenschaften  fern  halten  will,  während  er  es  für 
die  humanistische  Reihe  fordert?  Eine  eindringende  Untersuchung  hierüber 
wäre  dem  Herausgeber  d.  Z.  willkommen. 


6.  G.  Keller,  Der  grüne  Heinrich.    Berlin  1889. 

(I.  Band,  Seite  94  ) 

»Die  andere  peinliche  Erinnerung  an  jene  Schulzeit  sind  mir  der 
Katechismus  und  die  Stunden,  während  deren  wir  uns  damit  beschäftigen 
mufsten.  Ein  kleines  Buch  voll  hölzerner,  blutloser  Fragen  und  Antworten, 
losgerissen  aus  dem  Leben  der  biblischen  Schriften,  nur  geeignet,  den 
dürren  Verstand  bejahrter  und  verstockter  Menschen  zu  beschäftigen, 
mufste  während  der  so  unendlich  scheinenden  Jugendjahre  in  ewigem 
Wiederkäuen  auswendig  gelernt  und  in  verständnislosem  Dialoge  hergesagt 
werden.  Harte  Worte  und  harte  Bufsen  waren  die  Aufklärungen,  be- 
klemmende Angst,  keines  der  dunkeln  Worte  zu  vergessen,  die  Anfeuerung 
zu  diesem  religiösen  Leben.  Einzelne  Psalmstellen  und  Liederstrophen, 
ebenfalls  aus  allem  Zusammenhang  gezerrt  und  deshalb  unlieber  einzu- 
prägen, als  ein  ganzes  organisches  Gedicht,  verwirrten  das  Gedächtnis,  an- 
statt es  zu  üben.  Wenn  man  diese  gegen  die  verwilderte  Sündhaftigkeit 
ausgewachsener  Menschen  gerichteten  vierschrötigen  nackten  Gebote  neben 
den  übersichtlichen  und  unfafslichen  Glaubenssätzen  gereiht  sah,  so  fühlte 
man  nicht  den  Geist  wehen  einer  sanften  menschlichen  Entwickelung,  sondern 
den  schwülen  Hauch  eines  rohen  und  starren  Barbarentums,  wo  es  einzig 
darauf  ankommt,  den  jungen  zarten  Nachwuchs  auf  der  Schnell-  und  Zwang- 
bleiche so  früh  als  möglich  für  den  ganzen  Umfang  des  bestehenden  Lebens 
und  Denkens  fertig  und  verantwortlich  zu  machen.    Die  Pein  dieser  Dis- 


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 •--  *■  


-    251  - 

ziplin  erreichte  ihren  Gipfel,  wenn  mehrere  Male  im  Jahre  die  Reihe  an 
mich,  am  Sonntag  in  der  Kirche  vor  der  ganzen  Gemeinde  mit  lauter  ver- 
nehmlicher Stimme  das  wunderliche  Zwiegespräch  mit  dem  Geistlichen  zu 
führen,  welcher  in  weiter  Entfernung  vor  mir  auf  der  Kanzel  stand  und  wo 
jedes  Stocken  und  Vergessen  zu  einer  Art  Kirchenschande  gereichte.  Viele 
Kinder  schöpften  zwar  gerade  aus  dieser  Sitte  die  Kunst,  mit  Salbung  und 
Zungengeläufigkeit  wohl  gar  mit  ihrer  Frechheit  zu  prunken  und  der  Tag 
geriet  ihnen  immer  zu  einem  Triumph-  und  Freudentag.  Gerade  bei  diesen 
erwies  es  sich  aber  jederzeit,  dafs  alles  eitel  Schall  und  Rauch  gewesen. 
Es  giebt  geborene  Protestanten,  und  ich  möchte  mich  zu  diesen  zählen, 
weil  nicht  ein  Mangel  an  religiösem  Sinne,  sondern,  freilich  mir  unbewufst, 
ein  letztes  feines  Räuchlein  verschollener  Scheiterhaufen  durch  die  hallende 
Kirche  schwebend  mir  den  Aufenthalt  widerlich  machte,  wenn  die  ein- 
tönigen Gewaltsätze  hin  und  her  geworfen  wurden.  Nicht  als  ob  ich  mir 
einbilden  wollte,  ein  scharfsinnig  polemisches  Wunderkind  gewesen  zu  sein, 
sondern  es  war  einzig  Sache  des  angeborenen  Gefühles.«  — 


7.  Aus  dem  Pädagogischen  Universitäts-Seminar  zu  lena. 

Vor  Kurzem  ist  das  4.  Heft  ausgegeben  worden.*)  Es  ist  dem  An- 
denken an  den  verstorbenen  Staatsminister  Dr.  Th.  Stichling,  den  Enkel 
Herders,  gewidmet,  worüber  das  Vorwort  des  Prof.  Rein  sich  verbreitet. 
Das  vorliegende  4.  Heft  hat  folgenden  Inhalt:  1.  Bericht  über  die  Thätig- 
keit  des  Seminars.  Von  E.  Scholz.  2.  Über  Zweck,  Auswahl  und  Ge- 
staltung der  Schulfeiern.  Von  C.  Schubert.  3.  Über  den  rückläufigen 
Geschichtsunterricht.  Von  G.  Lämmerhirt.  4.  Beiträge  zum  Märchen- 
unterricht. Von  H.  Land  mann.  5.  Bedeutet  die  Heimatskünde  des 
Hauptmanns  Rott  einen  didaktischen  Fortschritt?  Von  E.  Scholz.  Bei- 
gaben. I.  Einleitende  Worte.  II.  Verzeichnis  der  Seminarmitglieder. 
III.  Einige  statistische  Notizen.  IV.  Liste  der  bisherigen  Klassenlehrer. 
V.  Pädagog.  Arbeiten  aus  dem  Kreise  der  Seminarmitglieder. 


C.  Beurteilungen« 

Robert  Wernecke,  Praxis  der  Elemen-  Das  Buch  zerfällt  in  5  Abschnitte, 
tark lasse.  Berlin  bei  Th.  Hofmann.  Der  erste  handelt  von  der  häuslichen 
VIII  u.  312  S.    3  Mark.  Erziehung  des  noch  nicht  schul ptf  ich  - 

♦j  Langentals  Beyer  u.  S.  »»9a.    a^o  M. 


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-     252  - 


tigen  Kindes,  der  zweite  von  Ele- 
mentarlehrer und  Eleraentarklasse, 
der  dritte  vom  vereinigten  Anschau- 
ung»- und  Sprachunterrichte,  der 
vierte  (!)  vom  Religions-,  der  fünfte 
vom  Rechenunterrichte.  Ein  Anhang 
bringt  Text  und  Melodie  von  ein 
paar  Dutzend  der  gebräuchlichsten 
Kinderlieder. 

Das  Buch  bewegt  sich  noch  fast 
ganz  in  den  ausgefahrenen  Geleisen 
der  alten  Unterrichtsmethodik,  die 
es  zwar  hier  und  da  zu  verbessern 
sucht,  aber  nicht  zu  verlassen  wagt. 
So  will  Verfasser  zwar  »den  An- 
schauungsunterricht in  den  Dienst 
des  Sprachunterrichts  stellen«,  d.  h. 
er  will  den  Schreibleseunterricht  dem 
Anschauungsunterricht  anschliefsen, 
aber  es  liegt  ihm  fern,  mit  der  Ver- 
wirklichung der  Konzentrationsidee 
vollen  Ernst  zu  machen  und  alle 
Fächer  des  Elementarunterrichts  zu 
einem  nach  pädagogischen  Prinzipien 
geordneten,  wohlgegliederten  Ganzen 
zu  verbinden,  in  dem  die  wichtigsten 
Fächer  herrschen,  die  minder  wich- 
tigen dienen.  An  der  unterrichtlichen 
Behandlung  biblischer  Geschichten 
im  ersten  Schuljahre  hält  er  fest  und 
folgt  in  Auswahl  und  Anordnung 
derselben  dem  Prinzip  der  abge- 
leiteten konzentrischen  Kreise.*)  Im 
Ernst  scheint  er  zu  glauben,  die  von 
ihm  vorgeschlagene  Behandlung  der 
biblischen  Geschichten  entspreche 
der  Theorie  der  Formalstufen  (S. 
181.)  Das  Zeichnen  tritt  allzusehr  in 
den  Hintergrund.  Aus  den  Lektionen 
des  Schreiblesens  ersehen  wir  zwar, 
dafs  der  Gegenstand  des  Norraal- 
wortes  auch  durch  malendes  Zeich- 
nen dargestellt  werden  soll.  Allein 
es  fehlt  dem  Buche  ein  besonderer 
Abschnitt,  in  dem  Ratschläge  zum 
zweckmäfsigen  Betriebe  des  für  Bil- 
dung von  Anschauungen  so  wichtigen 
ersten  Zeichenunterrichts  gegeben 
werden.  Weitere  Ausstellungen  über 
einzelne  Punkte  der  verschiedenen 
Abschnitte  zu  machen,  würde  zu 
weit  führen.  Nur  auf  eins  sei  noch 
hingewiesen.  Seite  46  heifst  es : 
»Als  »»Wunderlichkeit««  bezeichnet 


•)  Vergl.  Et.  Schulblatt  »891,  No.  6. 


allerdings  und  wohl  mit  Recht*) 

H.  Merz  den  Vorschlag  des 

Prof.  Ziller  in  Leipzig,  die  deutschen 
Kinder-  und  Hausmärchen  in  den 
Mittelpunkt  des  ersten  Schulunter- 
richts zu  stellen.«  Zillers  Begründung 
seines  Vorschlags  wird  nicht  ange- 
führt und  überhaupt  der  Sache  im 
Buche  nicht  wieder  gedacht.  Solches 
Verfahren  ist  vorzüglich  geeignet, 
den  jungen  Lehrer  mit  Verurteilen 
zu  erfüllen.  Da  der  ihm  möglicher- 
weise unbekannte  Herr  Merz  als 
pädagogische  Autorität  hingestellt 
wird,  da  als  zweite  Autorität  Heir 
W.  selbst  gegen  Ziller  auftritt,  da 
dem  Lehrer  endlich  keine  Gelegen- 
heit zu  gründlicher  Prüfung  der  be- 
treffenden Streitfrage  'gegeben  ist. 
so  wird  er  wahrscheinlich  nicht  auf 
die  Seite  des  »wunderlichen«  Ziller 
treten,  sondern  als  Dritter  im  Bunde 
sich  jenen  Beiden  zugesellen  und 
die  grofse  Zahl  derer  vermehren 
helfen,  die  an  den  retormatorischen 
Ideen  Zillers  achtlos,  wenn  nicht  gar 
verächtlich  vorübergehen,  ohne  sie 
viel  mehr  als  dem  Namen  nach  zu 
kennen. 

Es  ist  bekanntlich  die  beste  Kritik 
von  der  Welt,  etwas  Anderes,  Bes- 
seres neben  das  zu  stellen,  was  uns 
mangelhaft  erscheint.  Wir  möchten 
deshalb  dem  jungen  Lehrer,  der  W.s 
»Praxis  der  Elementarklasse«  etwa 
schon  besitzen  sollte,  den  Rat  geben, 
diese  Kritik  selbst  vorzunehmen  und 
W.s  Buch  mit  dem  »Ersten  Schul- 
jahr« von  Rein  zu  vergleichen.  Er 
wird  aus  dieser  Vergleichung  nicht 
nur  den  gewaltigen  Unterschied  er- 
kennen, der  zwischen  blofser  Schul- 
kunde und  pädagogischer  Wissen- 
schaft, zwischen  rein  erfahrungs- 
mäfsiger  und  psychologisch- wissen- 
schaftlicher Begründung  unterricht- 
licher Mafsnahmen,  sowie  zwischen 
pädagogischen  Meinungen  und  siche- 
ren pädagogischen  Überzeugungen 
besteht,  sondern  er  wird  auch  von 
Ziller  und  seinen  Vorschlägen  einen 
besseren  Begriff  erhalten. 

Drack  enstedt. 

F.  Hollkamm. 

Vom  Verfasser  nicht  durch  Druck  aus- 


Vom 


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E  rwider  u  u 

Zu  der  „Erklärung"  des  Herrn  Prof.  Dr.  V>9t  habe  ich  folgendes  zu 
bemerken : 

1.  Das  Lob,  das  Dr.  Morkner  am  Schlüsse  seiner  Abhandlung  mir 
spendet,  gleicht  im  Hinblick  auf  *eine  recht  von  oben  herab  absprechenden 
und  an  vielen  Stellen  unzweifelhaft  verletzenden  .Äusserungen  im  Verlaufe 
der  Arbeit  selbst  einem  Pflästerehen  auf  eine  vermeintliche  Todeswunde. 
Weiter  hatte  es  keinen  Zweck.  Und  wenn  ich  in  meiner  „Erklärung*  von 
einem  „Aufwände  von  Gelehrsamkeit"  in  Dr.  (Uifckner's  Arbeit  gesprochen 
habe,  so  liegt  darin  nicht  etwa  ohne  weiteres  das  Zugeständnis,  dafs  niemals 
ein  Gelehrter  sich  gelegentlich  auch  recht  persönlich  verletzend  äufsern 
könnte,  noch  dafs  selbst  seine  sachlichen  Auseinandersetzungen  immer 
richtig  sein  müfsten.  „Einige  sehr  wenig  verbindliche  Ausdrücke"  nennt 
Herr  Prof.  Dr.  Vogt  die  Mafslosigkeiten  in  der  Wfcbier'sohen  Arbeit.  Damit 
scheinen  sie  mir  allerdings  mehr  als  mild  beurteilt  zu  sein. 

2.  Herr  Prof.  Dr.  Vogt  verwahrt  sich  gegen  einen  meinerseits  mit  dem 
Schlufssatz  meiner  Erklärung  vielleicht  beabsichtigten  „versteckten  Vor- 
wurf" gegen  den  Verein  für  wissen  schaftliche  Pädagogik,  dessen  Vorsitzender 
er  ist,  oder  gegen  seine  eigene  Person.  „Versteckte"  Vorwürfe  pflege  ich 
überhaupt  nicht  zu  machen.  Glaube  ich  Grund  zu  Vorwürfen  zu  haben,  so 
schweige  ich  entweder  ganz  darüber,  oder  ich  spreche  sie  offen  und  mög- 
lichst verbindlich  aus.  So  habe  ich  auch  der  Versammlung  des  Vereins  für 
wissenschaftliche  Pädagogik  nicht  Anstand  „empfohlen",  noch  ihn  zum 
Anstand  „ermahnt"  :  sondern  um  die  Vermeidung  persönlicher  Beleidigungen 
„gebeten".  Gewifs  aber  wird  Herr  Prof.  Dr.  I  ogt  mir  zugestehen,  dafs, 
nachdem  in  der  schriftlichen  Kritik  meiner  Arbeit  ..sehr  wenig^  verbind- 
liche Ausdrücke"  genug  gefallen  waren ,  er  selbst  bei  der  Leitung  der 
Verhandlungen  vielleicht  doch  nicht  würde  haben  verhindern  können,  dafs 
solche  auoli  in  der  mündlichen,  im  Ausdruck  naturgemäfs  weniger  wähle- 
rischen Kritik  wiederkehrten.  Und  selbst  eine  nachfolgende  entsprechende 
Erklärung  des  Vorsitzenden  oder  des  Vereins  macht  das  einmal  Geschehene 
nicht  ungeschehen,  sondern  wahrt  nur  seine  und  des  Vereins  Stellung. 
Meine  Bitte  war  also  nur  an  solche  Mitglieder  des  Vereins  gerichtet,  die 
etwa  geneigt  sein  könnten,  den  Ton  des  d'löcknti 'sehen  Artikels  auch  auf 
der  Versammlung  weiterklingen  zu  lassen.  Es  hat  aber  nie  bei  mir  ein 
Zweifel  darüber  bestanden,  dafs  mau  für  Ausfälligkeiten  einzelner  Mitglieder 
eines  Vereins  nicht  den  letzteren  als  solchen  verantwortlich  machen  darf. 

3.  Herr  Prof.  Dr.  Vogt  argwöhnt  bei  dem  Satze  meiner  „Erklärung", 
•lals  „glücklicherweise  auch  aufser  Leipzig  es  noch  Leute  gebe,  die  He  '  irt 
verstehen",  ich  sei  dazu  durch  „die  Supposition  eines  Gegensatzes  zwischen 
den  Schülern  Stvy's  und  Zilbr'«*  beeinflufst  worden.  Dieser  Annahme  fehlt 
jede  thatsächliche  Grundlage.  Ich  habe  ja  sofort  die  Personen  genannt, 
an  die  ich  zunächst  gedacht  habe.  Auf  einen  solchen  Gegensatz  konnte 
es  mir  ja  dabei  gar  nicht  ankommen,  vielmehr  darauf,  daran  zu  erinnern, 
dafs  gerade  unter  den  Schülern  '/Mtr\  selbst  sehr  geschützte  Männer 
meinen  Ansichten  nicht  so  durchaus  ablehnend  gegenüberstehen,  wie 
Dr.  Glörhter.  Darum  wies  ich  auf  Herrn  Direktor  Just  hin,  und  dafs  Herr 
v.  SaltwürL  sich  je  zu  Stuf/'»  Schülern  gezählt  habe  oder  zähle,  ist  mir  gänz- 
lich unbekannt.  —  Dafs  übrigens  Gegensätze  zwischen  der  scheu  und 
ZiVfcr'schen  Richtung  der  FerWf'schen  Pädagogik  bestehen,  kann  doch  mit 
dem  mir  wohlbekannten  §2  der  Statuten  des  Vereins  für  wissenschaftliche 
Pädagogik  nicht  aus  der  Welt  geschafft  werden.  Litterarische  Streitigkeiten 
der  letzten  Jahre,  die  ich  nicht  weiter  bezeichnen  will,  beweisen  das  zur 
Genüge,  und  ich  glaube,  der  vorliegende  Fall  auch.  Dafs  aber  trotzdem 
Pädagogen  beiderlei  Richtung  dem  Vereine  angehören  können  und  auch 
wirklich  angehören,  ist  eine  ganz  andere  Sache.  —  Dem  Gedanken  einer 
Znsammenstellung  von  Äufserungen  Sto/s  über  die  „Stufen"  stehe  ich  sym- 
pathisch gegenüber;  seine  Verwirklichung  würde  allerdings  mit  grofsen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  haben. 

4.  Mein  Austritt  aus  dem  Verein  für  wissenschaftliche  Pädagogik  steht 
mit  der  Veröffentlichung  meiner  Arbeit  durchaus  in  keinem  inneren  Zu- 
sammenhang.   Es  ist  auch  eine  ganz  falsche  Voraussetzung,  wenn  Herr 


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Prof.  Dr.  l~<yt  annimmt,  dafs  ich  durch  meinen  Austritt  mich  irgendwie 
„isoliert"  hätte.  Ich  bin  nach  wie  vor  Mitglied  des  Her  hart  kränzchen« 
hier;  in  ihm  habe  ich  meine  Abhandlung  zuerst  mitgeteilt,  und  sie  ist  leb- 
haft besprochen  worden.  Es  fehlt  mir  auch  durchaus  nicht  an  „persön- 
licher Berührung"  mit  Pädagogen  der  verschiedensten  Richtungen.  Dem 
Jahrbuch  wende  ich  nach  wie  vor  meine  Aufmerksamkeit  zu.  wie  überhaupt 
der  Litteratur  der  I I>-r kirr sehen  Pädagogik.  Was  denkt  sich  nur  Herr  Prof. 
Dr.  IVol  für  einen  Mann  unter  mir!  —  Dafs  ich  nicht  einmal  „auch  nur 
einen  halben  Druckbogen  meiner  Broschüre  dem  Organ  des  Vereins  dar- 
geboten habe",  »cheint  ein  harter  Verstofs  meinerseits  gewesen  zu  sein. 
Ich  wufste  nicht,  dafs  dies  Sitte  sei,  hatte  auch  meine  Arbeit  nicht  gerade 
an  den  Verein  gerichtet,  und  ich  weifs  auch  heute  noch  nicht,  was  die  Zu- 
sendung eines  halben  Druckbogens  hätte  nützen  sollen.  Das  Bedauern  aber, 
dafs  ich  „an  der  Diskussion  nicht  teilgenommen  hätte"  —  das  verstehe  ich 
geradezu  nicht.  Ich  habe  es  ja  eben  beklagt,  dais  bis  zur  Herausgabe  der 
2.  Auflage  meines  Büchleins  in  eine  Di&kussion  weder  über  meine  Abhand- 
lung m  den  „Deutschen  Blättern",  noch  üb  er  den  Separatabdruck  von  seiten 
der  Schüler  /\U*r  *  --  aufser  im  engsten  Kreise  unseres  hiesigen  Herbart- 
kränzchens  —  überhaupt  eingetreten  worden  war.  An  welcher  münd- 
lichen „Diskussion"  hätte  ich  denn  teilzunehmen  versäumt,  die  eine 
solche  ..schriftliche  Kritik  am  Ende  vielleicht  ganz  überflüssig"  gemacht 
hätte?  Daf*  ich  nicht  mehr  Mitglied  des  Vereins  für  wissenschaftliche 
Pädagogik  gewesen  bin,  das  kann  doch  die  Veranlassung  zu  der  ..schrift- 
lichen" Kritik  nicht  gewesen  sein?  —  Nun.  jedenfalls  weifs  ich  mich  nicht 
nur  von  aller  ,, Isolierung",  sondern  auch  von  dem  Vorwurfe  frei,  der  in 
deu  Schlüsse  der  „Erklärung"  des  Herrn  P»oj  [>t  I  •••//  liegt,  durch  „Iso- 
lierung der  Entwickelung  von  Feindschaften  Vorschub  zu  leisten,  die  dem 
Lehrstande  Veranlassung  zur  Klage  geben  und  die  Standesantonomie  der 
Lehrerschaft"  gegenüber  den  „Regierungen"  beeinträchtigen.  Dals  ich  an 
meinem  Teile  einen  solchen  beklagenswerten  Einflufs  wissentlich  oder 
unwissentlich  ausübte,  das  kann  nur  jemand  glauben,  der  weder  mich  und 
meine  Wirksamkeit,  noch  unsere  Verhältnisse  kennt. 

Eisenach,  am  3.  Juli  1892.  .%.  «leichinann. 


3m  Berlage  ber  .oohn 'inten  ^iidiimu  Pinna,  tu  Oonnoucr  erfcqtcn  foeben: 

Dr.  .i»IYVl|  tirdt« 

ctefvrßurfi  ifer  allgemeinen  (ßefrfudife 

für 

öötjere  ?tntcm«tsanrtarteii. 

Xreijcbnte,  ganjlid)  umgearbeitete  unb  bis  ^im  fcftre  1888 
fortgeführte  Ättflage. 
AUit  einem  Anfange:  $iirgerfont)c. 

*on 

Dr.  £.  Hin  cd: 

Cbi-rlfUirr  an  btr  CbmoiÜrtvV  in  ^raunUitL-ia 

24  «©gen.    ^rri«  *  Warf. 

—  „Xao  bcfanitte  Viebrbud)  bat  in  bieier  Umarbeitung  eine  'uefeuthdje 
^eruclltommniiug  erfahren,  ©ei  ber  ?lu«roab,l  be$  Stoffes  finb  ber  ratierliche 
£rl<ifc  Pom  1.  3)lai  188«  unb  bie  ©eftimmung  ber  neuen  preuKijdjen  2ebrtolänc 
maf;gebenb  geroeien.  Xic  morgenlänbifdjc  Öefdiidjte,  foroie  bie  $eieb,id)te  ber  Wrietben 
unb  Miöntcr  ftub  baber  auf  bao  2i>cfentlid)c  befdjrautt,  unb  in  ber  (Sefdjicbtc  bcs> 
Mittelalter*  joiootjl  reie  in  ber  neuen  unb  neueften  ift  bie  beutfd)c  öSefcfeicfatc 
in  ben  SJorbergrunb  gerüdt  warben.  Tic  Darfteüuna  ift  äufamm«tt>ängenb  unb 
fnfmnatifd) ,  aber  aud)  fnaW,  anfcfcaulid)  unb  uerftänblid) ,  io  baß  fid?  Da«  Sud) 
aiuii  über  bie  Ärcife  ber  f)b^ern  3d)ulen  binauö  Eingang  für  baä 

Se ibtfüubium  aerfdjaffen  bärfte. "  —  (^onnoo.  ü»nrin.i 

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I>n>ck  vr,n  G.  Pitz  in  KMUnfcMf  *.  £. 


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