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Full text of "Der Kunstwart"

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Einfache u. Pracht-Gehäuse jeden Stlis 
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Poe ans Gedäctnisichre entwickelt die Beobachtungs- und Auffaffu 195 ‚abe, 
feel a Satan. 5 jomit von Serftrentheit und frählt t das natürlich" Gedädmis 









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Der Kunstwart 


Malbmonatsschau über Dichtung, Theater, Musik, 
bildende und angewandte Rünste 


berausgeber: 


Ferdinand HAvenarius 





Zwöltter Jabrgang, erste Bältte 
Oktober 1898 bis April 1599, 


4 


MDüncben 
Georg D. Wl. Callwev. 


anpar ° 


RABEN m! 


Inhalt 


Die erſte Ziffer gibt das betreffende Heft, die zweite die betreffende Seite an, 


Allgemeineres und Vermischtes 
Größere Auffäge. Das Dreigeitiun Menzel-Begas— i 
Den alten Leſern zum Dant, den Dat er 
. neuen zum Willfommen W) 1 


| Nochmals vom Urheberredt 













E 1 des p 
Urſpruch) 3. 81 
Künſtleriſche 


ytsichau: i 
4. 115 — ner R. B.) 4.119 | 
ende ftiinite umann)d. 122 
— a Ba — 
9. 192 — Rotenmerfe, Neue Du ilalien, 


Keuelte Wlutkliteratur (St. B.)5. 156 | Das Werke Röhl“ als Kunits 


— Neues Erzählenbes (Ubolf Bartels werf und Weihnahtsgabe 6. 215 

. 156 — Zur iteraturgeichi hte(Baul | Yııny 

— — Neue mann b, ET — Neue Milber: | Haus” (T — wird!) 6. 215 
eformation bes Berliner 


Eine 


Jugenbiähriften G 18: nejellichaftlichen Lebens 6. 216 
Wohlmollende Stritit 221 | Darwin über Hunftgenu 6. 217 
Das Thema vom Glück in der a nfinenug — 2 


Dichtung (Karl Spitteler) 8. 257 | "Seift“ im Neichst 7.25 
ee ae und 82 | Sn. — = — 
irtſchaft (Arthur Dix) . 274 | Der © = uS-Proge 8._287 
StHifch und Meithetiih (Cal Mm — nee 5 
Weitbredt) I. 9. 239 — I1. 10. 331 | Das Anbiedern zu Geichäfts- 
Die Kunft im Reichstage (A. 12. 393 zwecken (Wie's gemacht wird!) 10, 354 


Literariicher Adel und litera= 








Rundichau, | riſcher Pöbel (Carl Spitteler) 11. 390 

— — Lex Heinze 11. 391 

In Saden des Urheberrehts 1. 31 | Die Zurdt vor dem Wit 11. 391 
Literatur 


Größere Aufjäge. | Detadenz in der Unterhaltungs⸗ 
iteratur D artels 11. 360 
Zurdeutichen Riteraturgeichichte 
(Mdolj Bartels) 12. 397 
— 
od 


or Storm-Denkmal zu 
ujum 1. 21 


83 





Adolf Sterns Novellen (Leonh. 


Kirchbach: Zur Berichtigung 


Lier) 1. 21 über Schiller 6. 208 
Ein a bei Gerhart Einige — deutſcher 

Sauptm 1. 2 Werke (Rud. Dietrich) 6. 208 
Johannes < Safe Erklärungen Gottfried Steller, ber ſchriftſtel⸗ 

in der „Zufun 23 lernde Dilettant T. 248 


Dichtungen und Raterlandsliebe 
„Geiſtesleben“ (Wie's gemacht 


ð 


er Zapps „Schriftiteller= z 
gabithe Charaktere (W. Bartels) 9. 


wird 1. 24 
Am Grabe Fontanes 2. 62 | Wilhelm Jordans 80. Geburts⸗ 
Ein Prolog Wildenbruchs 2. 62 tag (Adolf Bartels) 10. 346 
Der Mofelmein-Wettbemerb 2, 63 | Wie berichtigt wird 10. 347 
Die katholiſche VBelletriftit (E.) 3. 99 | Spielhagens 70. Geburtstag 
Dichterdenkmäler 3. 100 (Ad. Bartels) 11. 382 
Hermann Bahr über Jungs Goethe im Reichstag 11. 382 
öſterreich (2. Weber) 3. 100 | Häuslihe Worlefungen von 
iger 4. 140 Dichtungen ar 382 
er Cottaſche Mufenalmanad) Bildung und Befit . 883 
(A. 8.) 5. 171 | Derftai erund Rudyard Kipling 12. 414 
Gute — 5. 172 Paul Lindaus Geiſt in Mei— 
Julius Lohmeyer (E.) 5. 172 ningen 12. 414 
Bismarcks „Gedanken und Er— — Brandes und Barsdorf 12. 414 
innerungen“ 6. 207 


Tbeater 


Gröhere Aufiäge. 


Dramen, die wir wünſchen 
(Leonh. 


Dramatiker zwiſchen den Ru— 


Lier) 1. 4 


berg, Ruederer (L. Weber) 4. 141 — 
Literariſche Geſellſchaft: Hofmanns— 
thal, Mündjner Volksbühne (2. W.) 
5. 173 — Ostkar Blumenthal-Max 
Bernſtein (2. Weber) 6. 212 — Lite— 








liffen (Ferdinand Gregori) 2. Al | rariiche Gefellſchaft: Burkhardt (R. 
Schaufpieltunft und Theaters —5 8 — demiſch⸗ — 
ſchulen (Eugen Kaltſchmidt) 3. 73 matiſch. Verein: Faltenberg(L.Weber) 
Gerhart Hauptmanns „Fuhr— | 9.317 — Literariſche Gefellichaft: 
mann Henfhel* (Ad. Bartels) 4. 127 Schlaf (2.Weber) 11. 383 — Juliane 
Die Theaterbörje (M.) 4. 130 Dery (2. Weber) 12. 416 
Bom modernen Drama (Leonh. o- | Von den Leipziger Theatern: 
Lier) 7. 2258 R. — u. a. Guſtav 
Sprehfaal: In Saden „Schaus Morgenitern) 2. 64 
ſpielkunſt und Theaterfchule* | Selig Dörmann in Wien (—t.) 2. 65 
(Rudolf Lorenz) . 304 | Bühnenzeitfchriften: Bühne und 
Das Variété der Zukunft Melt 2.6 
(Schulge-NRaumburg) 10. 325 | Ein Verbot vom Landshuter 
| Zentergenfue in Freiburg i.®. 2 65 
; | eaterzenfur in Freiburg i. B. 5 
— ern aus Stuttgart: | 
Von den Berliner Bühnen: Leſſing— Perfall (8. Grunsky) 4. 143 | 
theater, da8 Neue Theater, das | Berliner Premitrenpubliftum 4, 144 
Deutihe Theater, Scillertheater, | Vom Dresdner Hoftheater: 
Noitand, Ompteda ee) 1. 24 Geißler (2. Lier) 6. 211 
— Dreyer, Scnigler, Halbe (Erih | Richard Voß in Zürich 6. 213 
Schlaikjer) 3. 101 — Fulda, Bahr, | Der Stinematograph auf ber 
Hartleben (E. Sclaitjer) 6. 209 — Bühne 6. 213 
Sebbels „Aulia* (E. Sclaifjer) 7. 249 | Die Theater-Agentur der Ges 
— Björnfon: Paul Lange und Tora noſſenſchaft deutſch. Bühnen— 
Parsberg (E. Schlaikjer) 9. 316 — angehöriger 7. 249 
Kretzer, Fulda, Dreyer (E. Schlaikjer) Kleiſt im Jubiläums-Stadt— 
10. 348 — Kirchbach, Hirſchfeld Halbe, | theater zu Wien T. 250 
Wrede, Spielhagen (x) 12. 414 | Max Bernitein und feine jour- 
Nündner Theater: Philippi, Schiller naliftiiche Neuheit 7. 350 
(M.W.) 2.63 — Dörmann, Strind= | Pofjart über Hoftheater 8. 282 


1 





Etwas vom Klatſchen und Ver— Kunſt und Kirche 11. 384 





beugen 8. 282 at das Stüd gefallen 11, 
dermann Sudermann: Drei Wie's gemacht wird! 11 
9 Zultme SartüherunfereXhenter: 
funft 12. 416 


Scülervorftellungen in Peſt 12. 417 
syn nit dem Hervorruf 12. 417 
Stüd zurüdgezogen elpomene, Rembe & En. 12, 417 
Nette Guilbert in Deutid)- | 





an .) 11. 383 ' 
ADusik 
Größere Aufjäge. Kölner end: Urfprud) 
" J (3. Volbach) 4. 145 
Die Gefahren ber öffentlichen Zwei Mufilkalender 5. 174 
Stu . Umfchläge und Zitelblätter zu 
Rolenbelien 5. 175 
. Münchner Mu brief: Langer 
ermann z Louis) 6. 213 
m 22 Anna 2. 45 ertvolle Duft? im Seinen r 
e⸗ _ Journal(Wie’8 gemadjt wird) 6, 214 
(Richard Batla) 6. 195 | 98. Hienzl® „Don Unixofe” in 
Dufitpflege im Mittelitande. I. Berlin (R. 8.) 1.392 
(Rihard Batta) 7. 231 | Wie man Richard Wagner ver- 
a. nn der Gegen= t 
8. — l 
Leber "Bogner als Denker (R. 
Louis) 8. 204 
Muſikliteratur. J. (R. 9. 297 


B.) 
a Aufführungen hi. 
Batka) 11. 357 
sur ——— . (Richard 
atfa) 12. 40 


1 
Rundſchau. 
Mas verdrängt das Volkslied L_25 
Neue Lieder — Daufe, 
Ritter) R. L 25 
2. — = Dresden ( 5 YW)L 2% 
te neue er des Weſtens tn 







u Iid 
iſchof 





ag 
Sumperbind Dräfele, Liſzt, 
Berlioz u. a. (RR. Xouis) 11. 385 
Neue Tieder, Dausegger, Der: 


mann (9. Teibler) 11. 389 
Wies gemadt wird! . 38! 
Friedrich v. Hausegger 2 418 

Bing L Aufruf für ein Brudner:Denf= 
Wien 4. 144 mal in Siien N 
Amals über die Bungert- Wie's gemadjt wird! 12. 420 
ianer (U.) 4. 144 | Wie man „umarbeitet“ 12. 420 


Bildende und angewandte Künste 


u nn der Kunſtbe⸗ 
Kunftpfleg humann) 





Die Verwirrung 







2. 50 
| tphotographi 0. 140 
' Bollskunft 8. 266 


Etwas über die Technik in bil— 





Aufitellung ber Bildfäulen der 


dender Kunſt (Schulge-Nbg.) 8. 269 Dichter in Berlin 2. 70 
— Berliner Dom (Oskar Taufmedaillen und Plaketten 2. 71 
Bie) 9. 302 | Aus 4er — Kunſtleben 
— 7 Er a er Bine (Sch.⸗Nbg.) 3. 105 
mann) 1. 10. . 262 | Bur Dentinalpflege (E. €.) 3. 106 
Der Fall Diefenbuch Ca. 1 369 | Wus d. Berliner ftunitgewerbes 
Kopieu. Jmitation (P. Schule mufeum 4, 146 
Naumburg) 12. 404 | „Deubileeringstunft“ in Holland 4. 147 
Heinrich Vogeler, Ernſt Kreidolf 5. 176 
Rundſchau. ug“ em. Denkmal zu Stande En 
Berliner ſtunſt (Boreas) 1. 38 —— — Eiſenbahnwagen 5. 177 
DenfmälersRarrheiten. Wiener John Ruskin 6. 214 
Kunftbrief(W. Schölermann) 1. 29 Das Zierſchränkchen (Schulkes 
Die Katholiken in der Kunſt 29 Naumburg) 6. 214 
Preisausſchreiben, wie fie nicht Bon Wiener ae ee —— 
ſein ſollten 1. 30 mann) 
Ernit Streidolfs Blumenmärden I. 30 | Zur Ehrung Adolf — Fr 255 
Handbud der Anatomie der Büchereinbände (I. 8.) 8. 286 
Ziere für Künftler (5. T.) 1. 30 | Bon Berliner Stunt (Mar 
Congres de Vart publiezu®rüffel 1. 31 er 321 
Aufruf des Vereins für dentiches Karl Krumbholz und die neue 
Kunjtgemwerbe in Berlin 1. 31 Gemwerbefunft 9. 322 
Das Ludwig Richter-Denkmal Zur Volkstrachten-Bewegung 
in Dresden (A.) 2. 68 (BP. Schumann) 10. 352 
Ein Rüdblid auf die Münchner Berliner Aunftbericht 11. 390 
Ausſtellungen (Schultze-Nbg.) 2. 69 | Die Studie Dekoration für 
Der Kongreß für unit in der das Reichſstagshaus 12. 421 
Deffentlichfeit (PB. Schumann) 2. 70 | AbdolfHildebrands Stimmzettel: 
Die Brofhüre gegen die mo= Urnen 12. 42 
berne Kunſt 2. 70 
Lose Blätter 
Weber, Leopold: Bom Ber- Ritter, Anna: Mein Bübchen 6. 206 
fühner 1. 16 | Bruns, Mar: Stimme im 
Flaiſchlen, Cäſar: Lotte 1. 17 Regen 6. 207 
$ A.: Der gute Feind 1. 3 Bijörnfon, Bijörnftjerne: 
udwig, Dtto: E8 hat noch Aus „Paul Lange und Tora 
feinen Begriff 2. 58 Parsberg“ T. 237 
Sontane, Theod.: Aus dem — — Th.: Das verlorne 
„Stehlin“ 3. DD Thal 8. 275 
BT Stletterer 4. 136 | Voigt, 9.: Unvergeſſen 8. 276 
us Bölſches „Liebesleben in Lobfien, ®.: Auf den Gaſſen 
ber Natur“ 4. 137 der Heimat 8. 276 
Die Deladenten (Barden Weber, Leopold: Mondfput 8, 277 
berg i. d. „Jugend*) 4. 140 | Uvenarius,Ferd.:Epigrans 
KonradferdinandMeyerr 5. 166 matifches 8 278 
Rofegger, Peter: Zur Weih— Jacobſen, 3. P.: Die Peſt in 
nachtszeit — Das Kreisſtehen Bergamo 9. 308 
— Das Dreifönigsfingen 6.198 | Grillparzers „Jüdin von 
Hart, Julius: Aus „Triumph Toledo“ 10. 339 
des Lebens“ 6. 205 | Zandem, Felix: Aus „Pro= 
Benzmann, Hanß: In Korn metheus und Epimetheus* 11. 372 
und Unkraut — Reiter im Liliencron, Detlev v.: Ge— 
Herbſt 6. 205 dichte 12. 406 


Boten 


Heft Heft 
Plüddemann, M.: Niels Finn. Bretonifches Volfslied 
Ballade 1 Bolf, $.: Zum neuen Jahre 6 
Ritter, A.: Aus den „Schlidhten Sumperdind, E.: Lenzknoſpen 7 
Meilen” 2 Sienzl, ®.: Aus „Don Quirote* 8 
Mahler, G.: Andante a. d. C-moll- Stransfy, J.: Mondaufgang 8 
Sinfonie 2 Banner, ©.: Aus dem „Bären= 
Bad), S.: Choral, Gigue, Menuett 3 häuter“ 10 
Plüddemann, M.: Ave Maria 4 Hausegger, ©. v.: Mittag im 
Strand, R.: Schlummerlied 4 Felde 
Milorey, Fr.: Im Rofengärttden 4 Ball, ©.: Impromptü 12 
Schumann, R.: Knecht Rupredt 5 
Bilder 
Heft Heft 
Klinger, M.: Kaſſandra 1 Klinger, M.: Alkorde 8 
Leiſtikow, W.: Landſchaft 1 Klinger, M.: Evokation 8 
Dill, L.: Landſchaft 2 Vogeler, H.: Die heiligen drei 
Samberger, L.: Porträt 2 Könige 9 
Khnopff, $.: Porträt 3 Liebermann, M.: Gonftantin 
Sofmann, 8. v.: Bhantafiebild 3 Meunier 9 
Herterich, L.: Der Ritter 4 Liebermann, M.: Landſchkaft 9 
Urban, 9.: Der Albanerfee 4 Stud, Fr.: Sphinx 10 
Stauffer=-Bern, f.: Konrad Fer: Brandenburg, M.: Der Mann 
dinand Meyer 5 im Schatten 10 
Stumftphotographien 5 Brandenburg, M.: Das eherne 
Dürer, A.: Der heilige Hierony- Symbol 10 
mus im Gehäuß 6 Brandenburg, M.: Dünenland» 
Dürer, U: Die Melancholie 6 ſchaft 10 
Richter, 2.: Sternennacht 6 Diefenbach-Fidus: I. Muſizie— 
Lenbach, Fr. v.: Björnſtjerne rendes Mädchen — II. Aus: 
Björnſon 7 Per aspera ad astra 11 
Conz, ®.: Landſchaft 7 Olde, 9.: Detlev v. Liliencron 12 
Kunſtphotographie 7 Dürer, A.: Ritter, Tod und Teufel 12 
Eiffarz, J. V.: ſunſtwart-Wand— 
kalender 8 





—— — —— —⏑ 








12. en Erstes Oktoberbeft 1898. bett 1, 


DER TUNSTUART 


Den alten Lesern zum Bank, 
den neuen zum Willkommen. 


Als noch der Kunſtwart mit wenigen guten Gefellen abfeitS der 
Straße durchs Feld ging, hoffte er faum, es fünnten einft fo viele mit 
ihm ziehn, wie heute ſchon thun. Und nun duch die Treue der Freunde 
fein voriges Wagnis, die Ermweiterung und Umgeftaltung, gelungen und 
ihm der Mut gegeben ift zu einem neuen — verfteht ſich's da nicht von 
felber, daß er diejen Freunden aud einmal danken mag? Er weiß «8 
ja, daß es vor allem die geſprochene öffentlide Meinung ift, das 
warme Wort von Menſch zu Menſchen, was einem ehrlichen Wollen aud) 
in unjerer Zeit noch zum Siege hilft. 

„Bas der Kunſtwart einbringt, wird in feinen eigenen Dienft ge— 
jtellt* — wir bethätigen heut wiederum, daß dieſes Wort mehr als 
KRedensart war, indem wir auf die Berdreifacdhung unſeres Leſerkreiſes 
mit der Beigabe von Bildern und Noten antworten. Das Nähere 
über dieſe Beilagen wird an anderer Stelle gejagt werden. Hier fei 
e3 erlaubt, bei diefer Gelegenheit wieder einmal über unfre Pläne, 
fAer unfer Ydealbild vom Kunſtwart felber zu fprehen. Nicht, dab 
ı r unjer „Programm“ jegt nochmals ausführli entwideln wollten, 
das haben wir oft genug gethan. Sondern von der ”. wie es zu ver= 
wirklichen ſei, wenige Worte. 


Wollen wir unfere Ziele erreichen, jo treiben wir Hunftpolitif, und 
feine Politit läßt fich treiben ohne Macht. Macht, Einfluß brauchen 
wir, eben unferer Ideale willen, deshalb dürfen wir nicht bloß in 
fleiner Gejellihaft reden und gehört werden, jondern müſſen das 
überall, wo wirklich Gebildete in deutichen Landen die Pflege geiftiger 
Güter rein willen wollen. In den erjten Jahren war unfre Arbeit 
felber vorwiegend ein Suchen und Taſten, wo zur Berftändigung im 
eigenen Kreis e8 oft nicht ohne mühjamere Unterfuhungen und ſchwierig 

ende Aufläge abging. Yet haben wir uns an gemeinjamer Arbeit 

fomohl wie geftärtt. Während diejer elf Jahre hat nicht ein 


vart I. Oftoberheft 1898 
— 1 — 


einziger ehrenhafter Mann irgend einer politifchen, Titerarifchen oder 
fünftlerifchen Partei unſrer Arbeit öffentlich) anders als mit Anerkennung 
gedacht, wir dürfen auf unfre Freunde und dürfen auf unfre Feinde 
weiſen, fragt man uns, wer wir find. Leidlich beglaubigt alfo, wollen 
mir nun ung der Arbeit widmen: maß wir für richtig erfannt nad) 
aller Kraft umgufegen in Wirklichkeit, eindringen zu Iaffen ins Leben. 

Wir haben die erſten Schritte dazu ſchon mit der Umgeftaltung 
‘vor einem Jahre verfuht. „Der Kunſtwart ift allgemeiner verftändlid) 
geworden“, hat man vielfach gejagt. Ob er dadurch ſeichter geworden 
ift, mögen die Leſer enticheiden. Unſre nächfte Aufgabe jedenfalls ift fo: 
noch für viel weitere Kreiſe verftändlich zu werden, ohne an fachlicher 
Gediegenheit das Mindefte zu verlieren. Da gilt e8 vor allem: nicht 
nur zu reden über Hunt, fondern nad jeder Möglichkeit Kunſt zu 
zeigen, damit nicht nur der nüchterne Begriff zum Berftande ſpreche, 
fondern das Leben jelber, das in des echten Kunſtwerks Adern flieht, 
zu Anſchauung und Phantafie, Denkkraft und Empfinden zugleich, kurz: 
wieder zum Leben dringe. Deshalb die „Zofen Blätter“ in ihrer jegigen 
Form, deshalb von jegt an unfre Bilder und unfre Noten. 

Uber was wir damit geben, ift auch wieder nur ein Anfang, it 
nur eine Abichlagszahlung — und bedeutet doch ſchon ein großes Wagnis, 
wenn wir bei unferm oft „lächerlich niedrig“ genannten Beftellgelde 
bleiben wollen. Und das mödten wir doch, wenn's irgend geht, um 
neben den befjer gejtellten Zejern den minder bemittelten und der lernen 
den Jugend zu ermöglichen, den Kunſtwart gerade jet, wo er Beilagen 
bringt, bei fih im Haufe zu behalten. Aus all diefen Gründen bitten 
wir unsre Freunde: wirkt fräftig für unfer Blatt, und ihr Bemittelten, 
laßt's Euch aud) nicht gereuen, vielleicht für Unbemittelte, die ihr kennt, 
den Kunſtwart auf eure Koſten zu beftellen. Wir miederholen euch: 
mir dürfen bitten, denn wir bitten nicht für uns: „alles, was der 
Kunftwart einbringt, wird in feinen eigenen Dienft geſtellt“ — dabei 
bleibt’3. Empfehlt und verjchenkt ihn unter euren Freunden, verlangt, 
daß die Wirte ihn halten, fett in den Leſezirkeln allerort3 feine Eine 
führung durch, verbreitet feine Gedanken in der vornehmen Preffe meiter 
(er Stellt euch ja, gebt ihr nur die Quelle an, den Nachdruck all feiner 
Aufläge ohne Entihädigung frei) — nicht uns perjönlidy nützt ihr viel 
damit, nur unfrer gemeinfamen Sache. Die aber bra ucht's. Aeußer— 
lichkeit und Mache, Gigerlnarretei und Gefinnungslumpentum überwuchern 
nachgerade und eritiden, was von kernhaft deutichem Leben in unfrer 
Kunft zur Sonne mödte, um Frudt zu tragen für uns alle. Wem 
nur immer es ernſt ift, um ein höheres, reineres und feineres, fräftigeres 
und freiere8 und froheres Geiftesleben, den müfjen wir gewinnen zum 
Bundesgenojjen. Wir haben einen Beruf zu erfüllen. A. 


EI 


Volks=- und Gipfelkunst. 

„Bollstümli fol die Kunft fein“, fo rufen die einen aus, „Echte 
Kunft ift nur für wenige da*, die andern. Wollen wir uns Har dar- 
über werden, jo thun wir gut, zunächſt Die beiden Begriffe von Kunſt 
ins Auge zu fallen, die am meiteften von einander entfernt ftehn. Was 
it Gipfel- und was ift Volkskunſt? 


Kunftwart ’ I. Oftoberheft 1898 


Der Gipfelfünitler erobert: von irgend einem Borgebirge des 
großen Dtenfchenreichs, im Lande des Wortes oder des Tons, der Farbe 
oder der plaftiihen Form, von dort aus fteuert er ins Unendliche hin— 
aus, und wo dem Auge der Vielen nur Nebel brauen, da eripäht, da 
erfennt er, da zeigt er denen, die ihm am nädjiten folgen, was er ent- 
det, und fo gewinnt er's auch ihrem Geilte ein. Der Dichter, der eine 
Stelle im Menjchen- oder im Naturleben neu zu fühlen, neu anzuſchauen 
fehrt, der Komponift, der mit neuen Tönen neue Seelentiefen bemegt, 
der Maler, der uns Aug und Geift eröffnet, zu fehen, wie wir noch nie 
gefehn, fie alle find Gipfelfünftler, Pfadfinder unſres Empfindens, 
Weiterentwickler unfrer Seele, Genie®. 

Die Höhenkunft erobert, die Volkskunſt befiedelt. Zwar, zunächft 
find e8 nur mwenige, die dem Genie folgen fünnen — ſcheinen es fchnell 
mehr, To fteigt immer die Frage auf: bift du wirklich ein jo Starker, 
wenn dir nachzukommen jo bald den Schwachen gelingt ?, und wenn 
du es bit: folgen fie dir nicht etwa, weil fie dein Neuland im Mikver- 
ftändni8 am glatten Strand in der Nähe jehn? Aber die vom Genie 
erregten Körper- und Seelenorgane üben und mie fie fi üben, fo fräf- 
tigen fie fih. Die des Genies geniehen fünnen, e8 werden ihrer mehr, 
den Vereinzelten ziehen Scharen nad, und auf dem neugemonnenen 
Menfchheitsland erheben ſich Heimftätten. Was fie errichtet und pflegt, 
daß es mwohlig darin fei und gejund, ift die Volkskunſt — fie arbeitet 
auf dem Boden der Gipfeltunjt der Genies, fie felber aber hat nur 
Talente, denn die Genies pflegt fie auszuſenden, ihrerjeit8 wiederum 
Neuland zu ſuchen. 

Volkskunſt ift nicht etwa: allgemein verftandene Höhenkunft. All— 
gemein kann Gipfeltunft nie verftanden werden. Nicht nur eines 
Goethe Fauft, eines Beethoven legte Kammermufit, eines Michelangelo 
Sibyllen können nie von allen verftanden werden, jondern ſelbſt das 
Naturbildchen des genialen Dichterß, der mit einem neu erhörten lange 
eine neu empfundene Feinheit erichließt, oder noch jo beicheidene Werk— 
lein echter Genies der andern Fünfte verlangen doch verfeinerte Organe 
ihon zum nachfühlenden Genuß. Wird ein Genie voltstümlich, jo wird 
e3 das jelten mit dem, was die Geihichte des Menſchengeiſtes aufzeichnet 
als jein Tiefites. Wie falſch e8 wäre, deshalb die Volkskunſt gering zu 
ſchätzen! Läßt fie das edeljte Korn aus der Ernte des Genies, das Saat: 
torn für neue Frühlinge der Höhenkunft, unberührt, jo bädt fie doch 
aus dem andern gefunden das gute Brot für die Taufende. Und wenn 
wirklich nur eine erhöhte Geiftesfultur ein Volt wahrhaft blühen läßt, 
wie könnt' es dann blühen ohne Volkskunſt? 

Wir haben ja noch fonft Heutzutage mannigfaltige Arten von Kunſt. 
Da ift die Luxuskunſt, die gerecht fo heißt, weil fie nur ein Luxus, alfo 
wohl zu entbehren ift. Da find alle die Tendenztünfte, die man mad, 
um irgend etwas anzupreifen, das abjeitS der Kunſt jelbft liegt. Ich 
meine, abſeits ihrer natürlichen Aufgabe: die Kraft unferes Fühlens 
und Schauen zu bilden, daß äußere und innere Auge, das äußere und 
innere Ohr uns zu bilden, damit wir mehr aufnehmen und mehr uns 
durchbluten laſſen können von der Unendlichkeit des Lebens. Da ift 
die „Kunft für die Kunſt“, die allein ein Ausgeltalten der Wort-, Ton:, 
Linien oder Farben-Sprade erjtrebt und gleichgiltig dagegen ift, was 


Kunftwart — 1. Oktoberheft 1898 


ung von Menfchenfühlen und Menſchenwollen mit jener Sprade im 
großen Austaufch gefagt wird. Da ift die bloße Gefchidlichkeitstunft, da 
ift die bloße Wohlgefälligkeitsfunft für die Sinne. Ihrer aller Wichtige 
feit tritt weit zurüd hinter die der beiden großen Hauptgruppen, inners 
halb deren echte Kunftzeiten ftet8 empor= und abblühten: Gipfel- und 
Volkskunſt. Es ift Thorheit, wenn man die eine pflegen und die andre 
vernadjläffigen oder beide gar als Gegenfäge verfeinden will. Sie be— 
rühren, vermischen, verbinden ſich in taufend Mannigfaltigkeiten, aber 
auch in ihren reinen Formen find te gleicher Pflege meıt. 4. 
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Dramen, die wir wünschen. 


Die eigentümlihe Betriebsmweife zumal in unferer bramatifhen Tages— 
literatur, die ja eigentlih nur nod) Saifonliteratur iſt, bringt e8 mit fid), daß 
man bei Beginn jeder neuen Spielzeit begierig nad) ber inzmwifchen herange— 
reiften Jahresernte an Dramen ausſchaut. Zmeierlei Gutes Haben die Kata— 
ftropben bes „Florian Geyer” und des „Johannes“ mit ſich gebradjt: fie haben 
die Geniepropheten etwas vorfihtiger geitimmt und fie haben vielen im Lärm 
der Tagesreflame rat- und kopflos Gemwordenen einen Maßſtab gegeben, um 
die Bedeutung und Tragmeite der „neuen Kunſt“ richtiger zu mejjen. Der 
verunglüdte Sprung in die Hiftorie, von dem ſich Hauptmann in ber phantafti- 
ſchen Welt der Nidelmänner und der Rautendelein zu erholen ſuchte, hat mit 
einem Dale die Grenzen ber „neuen Kunſt“ hell beleudtet. Man fieht nun, 
daß man in dem bürgerlichen Milieu der fi fo revolutionär geberbenden 
Erftlingsdramen der Jüngern und Züngiten in einer engen, dumpfen Atmos— 
fpäre ſich bewegte. In Zimmern fanden wir uns da, deren Fenfter nad 
außen verfchloffen waren und in denen wir uns einbilden follten, fie feien 
eine Welt, weil man zur Orientierung in ben pſychologiſch fo vieldeutigen 
Möbeln, Eßgeſchirren, laut tidenden Uhren und lebendigen Singvögeln fo viel 
Zeit brauchte, wie chedem ein Pofa, um uns im Fluge burd) den Geilt von 
Sahrhunderten zu tragen. Ein fi) beionders mwigig dünfender Kopf hat kürz— 
lid die Miniaturfunft oder die Kunſt des Mitroffopes als die wahrhaft 
moderne gepriefen. Als wäre unfere Zeit nicht mit dem gleichen Rechte als 
eine Zeit des Teleffopes, der Ferntragung der Kräfte, der möglichſten Weg: 
räumung aller beengenden Schranfen, wenigjtens im phyfifchen Sinne au be— 
zeichnen! Die Miniaturkunſt aber, die Kunſt bes Strichelns, der Heinen Linien, 
ber photographifchen Treue fängt nachgerade an, uns fpießbürgerlih anzu— 
muten; es fteigt aus ihr etwas von dem Lavendelbuft des älteften bürgerlichen 
Scaufpieles herauf, deſſen Schöpfer fid) auch gewaltig viel darauf einbilbeten, 
den Menſchen für die Bühne erſt entdedt zu haben, weil ſie zum erften Dale 
zeigten, wie viele Thaler er zum Leben braudjte, mie er fein Leben in All— 
tagsjorgen für Geihäft und Fannilie Hinfrifiete. 

Ohne Zweifel find unfere jüngeren Ifflands weit tiefer in die Seele der 
Männlein und Weiblein eingedrungen, die fie uns vorführen; dem Wahrheits— 
übermut, der ſich bismeilen in tollen Sprüngen Zuft macht, lag gewiß viel 
chter Wahrheitsdrang zu Grunde, obwohl e8 auch an koketten Wahrheits— 
fomödianten nicht fehlt. Uber alle dieſe pfychologifchen und moraliſchen 
Fragen von Individuum zu Individuum, vom Manne zur Frau, vom Vater 
zum Stinde, ja innerhalb der eigenen Widerfprüche des Individuums, erihöpfen 
do das Weltbild nicht, fie geben nachdenkliche Winke für das Leben des Ein— 


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zelnen, regen an zur jorgfamen Selbitfhau, gar oft auch zur zwedlofen Hirn 
grüblerei und Selbftfeftion, aber fie regen nicht an zum Handeln, fie weden 
temen Willen —, fie drehen uns immer in bemfelben Streife herum und 
hinterlaffen troß aller individuellen Wahrheit, troß aller überrafhenden Wir: 
fung des Momenteindrudes fhliekli eine peinliche Leere. 

Hinter aller Kunst tet zulegt das Perfönlihe, wir alle fuchen e8 ge= 
radezu, wenn aud) unbemwußt, fo lange wir in ber Hunft überhaupt mehr 
ſuchen als eine Finger= oder Kopffertigkeit. An Fingers und Sopffertigkeit 
fehlt e8 nun unferen jüngeren Dramatilern nicht, fie haben in ihrer, allerdings 
ziemlich äußerlien Weife fehen und danach bilden gelernt, aber wenn man 
nad) bem Temperament fragt, Durch welches hindurch alles dies gefehen, ge= 
bildet ift, ja, dann fennt man fich ſchwer aus. Haben fie ein Temperament, 
eine individuelle Weife, die Dinge zu jehen? Kaum, fie haben höchſtens Tem— 
peramente, Temperamente, die ſich zuweilen mit ber Saifon, mit dem Erfolge 
wechſeln Iaffen. Als Künftler find fie reifer geworden, als Berfönlichkeiten, 
d. h. als Männer von Willen, von einer Weltanfhauung find ſie's gewiß nidt. 
Der ganze Unrat unjerer Zeit, da8 Sichhinübergleitenlaffen von einem Tage 
aum andern, von Welle zu Welle, ein Segeln nad) jeder fpringenden Laune des 
Rindes kennzeichnet unſere moderne Dramatik von vornherein als eine Arbeit 
des Tages für den Tag. Laufch ich aber tiefer in das Gewirr der Stimmen 
Hinein, fo glaube ich einen Ton immer deutlicher zu vernehmen: den einer 
großen Sehnfudht, der dem Gefühle der Unraft, der ZBiellojigfeit, der Zus 
fälligfeit entfpringt. Es iſt eine aufdämmernde Grfenntnis, die noch nicht 
Start genug it, ®eftalt zu gewinnen. In einzelnen Dramen freilich ift ihre 
Stimme ſchon laut, aber noch ift fie verworren, und die länge zerflattern, 
ohne Melodie zu werden. 

Nach diefer Seele, die fidy zu regen beginnt, ſchauen heute wir alle aus. 
Nicht mehr Naturalismus noch Idealismus, nicht mehr Fragen der Form 
vermögen uns innerlich zu befhäftigen, zum mindeften nit als das MWich- 
tigſte. Iſt der große Inhalt da, jo wird er die Yormen finden, er wird fie 
fi) fchaffen. Und welde Kunſt diefen Inhalt bringe, fie wird fiegen. Es iit 
ſchwer, folden Hoffnungen und Wünſchen Mare Worte zu geben: dunfel und 
unflar wie unfere Hoffnungen und Wünſche felbft find, miderftreben fie der 
ſcharfen Umgrenzung durch den Begriff. So viel aber fann man mit Bes 
ftimmtheit fagen: nit die Form des neuen Dramas intereffiert uns fo ſehr, 
dieie Fragen find wohl nun entfchieden, aber das dichteriſche Weltbild 
der Zukunft nimmt alle unfere Erwartungen in Anſpruch. Etwas wie ein Fauft 
des zwanzigiten Jahrhunderts thut uns not. Nach allzulangem Aufenthalt in 
dumpfer Alltagsenge fehnen wir uns nad) weiten Yusbliden, nad) Fernfichten 
von tragenden Gipfeln, nad Ewigkeitsgedanken; nachdem wir lange, die Yugen 
anı Boden, fhleihen und friehen mußten, mödten wir wieder aufreht und 
vorwärts fchreiten, ja, fliegen mödten wir fogar, wie „unmodern“ das jcheinen 
mag. Möchte uns das Drama wieder mehr bringen als neue „Senjationen“, 
dieſes erjehnte neue Drama, oder richtiger überhaupt: Diejes neue Kunſtwerk! 
Thut e8 das, fo wird e8 thun, was echte Kunſt vermag, e8 wird neue Lebens— 
quellen erfchließen, allen, die da düriten, zum Heile! £eonh. Lier. 





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Theodor Fontane. 


„So frifch blüht fein Alter wie greifender Wein“ — wir alle waren ge- 
möhnt, ihn al® ben ewig Jungen anzufehn. Daß er bald heimgehn würde, 
feiner badjte daran. Da fiel’8 ihm plöglich bei: „bu, bift du nicht bald neun 
und fiebzjig? Dann verfäume dich nicht, dann iſt's Zeit.” Alſo ftand er eben 
auf und ging, ohne Schmerz, ohne Abſchied, „ohne Feierlichkeit“. 

Nein, das von ber ewigen Jugend, bei Fontane war’8 mal mehr, als 
eine Redensart. Als er feinen erften Roman ſchrieb, war er den Sechzigern 
nah. Als die jungen Poeten in feinem Schaffen das fanden, was fie felber 


eritrebten, war er ein Siebziger. Und e8 ging immer nod) fort, dieſes Weiter 


bilden. Was heißt denn jung fein, als: nody wachen? Es ſchien ein Wunder, 
wie dieſes Gehirn unter weißem Haar imnier nod) fi) entwidelte, und war 
herzerhebend zum Jubeln. 

Uber wir müfjen uns davor hüten, nur auf den Fontane der lebten 
Jahre zu fehn, wenn wir den ganzen Dann erfaffen wollen. Die Meijter- 
balladen feiner frühen Zeit hallen faum nod) fernher in feine legten Werte 
aber man darf fie nicht überhören, will man bes Dichters Lebenswerk verjtehn. 
Gab es doch eine Zeit, in der Fontane weit mehr als ein Wirklichleitsfchilderer 
ein Phantafiepvet im befonderen Wortfinne war, und wenn er damals jchon 
feine große Luft Hatte am derben Handeln, an ben Menſchen der That, fo 
ging er dazwiſchen doch jogar dem Phantaftifhen nah Bis zum Spukhaften. 
Nicht. nur in feinen Gedichten zeigt ih das, auch in manchen der Novellen, 
und nicht bloß darin erinnert feine ältere Dichtung zumeilen an Storm. Auch 
Fontanes Vorliebe jür allerlei Seltfames, „Kuriöfes*, für das Schnörkelwerk 
an ben Gebäuden des Lebens ermweijt fein Bedürfnis rein nad) Beihäftigung 
der Einbildungsfraft. 

So war e8 kein nüchterner Geift, fein trodener Kopf, der ſchließlich 
zum „Naturalismus“ geführt warb — wenn man denn auch bei ihm das 
Wort gebrauden will, das eigentlih Acht und Bann verdiente, wie ale 
„Ismen“. Drüben Schottland hatt’ es ihm gejagt: die heimiſche Mark ift des 
Scdilderers, ift des Sängers wert, wie dieſe hier. Seit frühen Jugendtagen 
fannt’ er die Mark fo gut, liebte er fie, war fie ihm Heimat. Ein „Vaterland“ 
ift eine abgezogene Borftellung, eine Jdee, ein „Vaterland“ haben wir alle, 
eine „Heimat“ bedeutet eine Fülle von Unfhauungen von allerlei Lieben, 
womit wir verwadjfen find. Für Fontane alfo war die Marl Heimat. Aber 
auch das „Vaterland“ war ihm nur erweiterte Heimat: nit die abjtraften 
Ideen der deutichen Madt, Größe, Einheit ſchwebten ihm vor, wenn er von 
Vaterländifhem ſprach, fondern die märkiſchen Bilder aus Stadt und Land, 
die Menfchen, die dieſem Boden entwuchſen, die Erinnerungen an ihre Gefhichte 
und all ihr Thun und Leiden überhaupt. Vielleicht mar er gerade deshalb unſer 
einziger „patriotifher* Dichter, der keine Phrafen machte. Immer beobadjtend, 
nachforſchend, aufnehmend bereicherte er fortwährend feinen Shat von An— 
fhauungen, ſchuf er fi, man darf fo fagen, immer mehr Heimat. So ftand 


er endlich da: al8 Poet mit lebendiger und in manchem Jahrzehnt ber Arbeit 


geübter und erzogener Phantafie, als Mann mit einer überreichen Fülle felbit- 
gefundener Eindrüde, die das Heimatsgefühl fejt in die Seele geſenkt hatte, 
und welde die Liebe zur Heimat warm hielt — fo ftand er da, als fi 
feine Aunft der Gegenmwart zumandte, Iſt e8 ein Wunder, daß er dba 
fonnte, was die Jungen wollten? Es bleibt ſchon dabei: er pflüdte ihnen die 


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Kränze weg — feine legten Romane find die bebeutenditen beutichen Gegen— 
mwartsjhilderungen aus unferer Zeit. 

Man betont immer wieder den Preußen in Fontane Dan jollte 
doch nicht vergeflen, daß er aus Frankreich ſtammte. Preuße vom Sceitel 
bis zur Zeh ift Adolf Menzel, der größte preußifche Künstler, der je gelebt hat. 
Fontane zeigte die glüdlihe Miihung von Franzoſen- und Preußengeiit, die 
uns an mandem bedeutenden Manne erfreut. Die Liebenswürdigkeit, die An- 
mut, die Plauderkunſt Fontanes, find denn das in befonderem Daß preußi- 
ihe Eigenfhaften? Mir fcheint im Gegenteil: für die recht eigentlich preußi- 
ihen Zugenben hat Fontane zwar eine jehr hohe theoretiihe Schägung gehabt, 
praftiih ausgeübt aber hat er fie zum mindeſten nicht vorzugsweiſe. Ja, feine 
Vorliebe. für manches „Preußiſche“ entfprang vielleiht gerade dem Gefühl, 
daß e8 feine eigne Natur ergänze Will man eine fittliche Eigenfchaft in 
den Mittelpunkt feiner Charafteriitif jtellen, fo trifft man auf eine, die eben: 
fomenig mit dem Frangofen= wie mit dem Preußentum an fich zu thun hat. 
Ih meine die fein ganzes Wefen volllommen beherrſchende, Teitende Toleran;. 
Es ift zwar erſtaunlich, wie Mar Fontane bei feinen Lieben aud) die Schwächen 
und Mängel fieht, und wie ruhig er von ihnen fpridt. Auch dann aber zeigt 
er nicht nur feine „preußiſche“ Satire und fein „berlinifches* Spotten, ſondern 
auch fein franzöſiſches „Medifieren“. „Es ift eben fo, und fo wird's wohl fein 
Intereffantes haben, die Leute felbjt aber können doch eigentlidy nichts dafür.“ 
Man mag jehr viel einwenden gegen ſolche Weltanfhauung, die Schwädere 
zum Ouietismus führen würde, bei Fontane komme ich mwenigftens nie zur 
Unluft: die große goldene Güte leuchtet zu fonnenhaft Hinter allem, was cr 
Sagt. Er beipridt ruhig die Schwächen, weil ihm Schwächen bei Menſchen 
jelbftverftändlid) find. Und mit welder Feinheit befpriht er fiel 

Fontane erinnerte mid) einmal an Macaulays Wort: „wär id) im 
Stande, das Alltagsleben der Eity von London ums Jahr 1599 zu fchildern, 
fo gäbe id) meinen ganzen Hiſtorilerruhm dafür Hin.“ Lange, lange wird 
man auf Fontaniihe Schilderungen zurüdgreifen, will man fi vors Auge 
führen, wie die Märker unjrer Zeit lebten, dachten und thaten. Wielleiht daß 
von feinen PBreußen-Baladen die oder jene nod) länger Hingen wird, Volks— 
lied geworben, ıvenn e8 dann wieder Volfslieder gibt. Uns Zeitgenoifen 
fann fo wertvoll wie feine Dichtung, jo vorbildlid) feine Menſchenperſönlichkeit 
fein. Wie fannte er ſich — mar beachte nur, daß er, der einflußreihe Theater— 
fritifer, der nebenbei ein Poet war, niemals „fürs Iheater* gejchrieben hat. 
Bon al den Brüdern in Upol iſt er der geſundeſte geweſen, wie er 
von all’ unjern Roman=Dichtern der natürlichite, der ehrlichite, der jahlichite 
war. Minder gefund, wär er minder bedeutend gemeien. Vielleicht dentt 
gerade Darüber ein oder der andere feiner jungen Bewunderer aud) einmal nad). 

Ueber Fontane legte Werfe ſprechen wir im Kunftwart nod). U. 


er 


Die Gefabren der öffentlichen ADusikpflege, 


Dan hört es oft von ftünftlern, namentlid) von folcdhen, die felbjt feine 
Opern fchreiben: die Theater verdürben die Muſik. In gewiſſem Sinne fagt man 
da8 unbeftreitbar mit Recht; nur märe der Sag dahin zu verallgemeinern, dab das 
öffentlihe Musizieren überhaupt der wahrhaft fünftlerifchen Pflege der 
Tonkunſt Nachteile gebraht und den Kultus des Birtuofentums großgezugen 

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— 


babe, ber gegenwärtig herrſcht und feiner empfindenden Naturen die Teilnahme 
am fogenannten Mufifleben geradezu verleiden kann. 


Natürlich, nur eine übertriebene Asketik könnte einen kulturäſthetiſchen 
Feldzug gegen alle Konzerimufif eröffnen. Es ijt Mar, daß gewiſſe, höchſt 
mertvolle Zmeige der Tonkunſt eine Hörerfhaft geradezu zur Vorausfegung 
haben, mie bie Sinfonie und die Ballade. Ein Lied fingt man, eine Sonate 
fpielt man für fih allein, und ein Streichquartett ift eigentlih zunächſt für 
den Genuß der Mitfpielenden fomponiert. Aber Niemand wird fi) felbft eine 
Ballade vortragen ober eine Sinfonie aufführen, e8 fei denn zum Zwecke bes 
Studiums, während das Lied und das Kammermuſikſtück ein Publitum nur 
injoferne zulaflen, als diefes fähig und geneigt ift, ideal betrachtet, in ben 
Perfonen der Singenden oder Spielenden aufzugehen, fih in der Phantafie 
gleihfam in biefe zu verfeßen und dadurch bes zunächſt bloß individuellen 
Genuſſes mit teilhaft zu werden. 


Je mehr fi der Kreis des Publikums erweitert, deſto feltener wird 
biefe Bedingung zutreffen. Die Stellung des Künstlers als des Gebenden wird 
erſchwert, je mehr Fordernden er gegenüberfteht. Um allgemein faßlich zu 
werden, verfällt er leicht ins Platte, um über das vorausfichtliche Unverſtänd— 
nis für feine höchſten Abjichten durch Gefallsmomente hinwegzutäuſchen, ſucht 
er nad; äußerlihen Wirkungen. Schliekli denkt er immer meniger an fein 
Werk als an den Eindrud, den fein Werl maden wird. Und bat er einmal 
die ſchwachen Seiten des Publikums erkannt, lernt er nur zu jchnell, fie ſich 
zu Nuße zu maden. Der vortragende Virtuos aber fühlt ji) immer weniger 
als Vermittler der Ffünftleriihen Abfiht, wenn er diefe nicht etwa in Den 
Schlagern des Werkes erblidt, und verleitet den Komponiſten, feinem Bedürf- 
nis nad) „danfbaren* Nummern zu entfpredhen. Das Publifum gar blidt zu 
den Künftlern, die dort auf der Maſſe all feiner eigenen ſchlechten Neigungen, 
feiner Oberflädlichkeit, Unbildung und Neugier thronen, wie zu Göttern auf, 
und der Einzelne beeilt ſich, dilettantifch nacdzuahmen, was Jene ihm mit 
blendender Fertigfeit vormadten. Dadurd) wird unfere ganze ſtonzertmuſik 
veräußerlicht, daran ift unfer Kammerſtil zu Grunde gegangen, darunter leidet 
das Kunſtlied ſchon in bedenklichem Grade. Jedermann fchafft heutzutage nur 
für die Bühne und den Stonzertfaal, weil er nur da Ausſichten bat, daß fein 
Werk gefungen, gelauft und befannt werde, Kann man überhaupt als Künitler 
für etwas ſchaffen, iſt dieſe abjihtsvolle Arbeit auf eine äußere Wirkung 
hin noch ein Schaffen ? 


Auch in früheren Zeiten war der Stonzertjfaal der Sig des Virtuoſen— 
tums. Aber damals Hatte man ein jtarfes Gegengewicht in der herrſchenden 
Hausmuſik. Van will in der Kunſt immer mehr blos paſſiv geniehen, als 
mitthätig. Das edle Mufizieren daheim oder in kleinerem reife nimmt er= 
fchredend ab; aus unferem ganzen öffentliden Leben weit die Muſik über- 
haupt immer merflidher zurüd. Das Ständchen, das Hochzeitslied u. a. gehören 
bereits der mythifchen Ueberlieferung an; für unfere Volfslieder müſſen wir Die 
Gelegenheit, fie zu fingen, mühſelig ſuchen oder gemwaltfam herbeiführen; die 
alten Volksſänger find ausgeftorben oder in den Dienjt des Tingl=-Tangl ge— 
treten; auf unfern Feſten fpielt man feine eigen dazu geihaffenen Märſche und 
Tänze mehr, jondern entlehnt den Bedarf aus dem Repertoire der Bühne und 
bes Stonzertfaals: man nimmt von ber Bühne in die Wirklichkeit, was bie 
Bühne doch als Bild einer fhönen Wirklichkeit nachahmte. 


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— 8 — 





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Erster Druck nach dem Manuscript. 


Niels Finn. 


(Aus Björnson's Drama: „Hulda‘) 








Allegretto, aber frei im Vortrage Martin Plüddemann. 
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kleine Niels Finn,doch der 












GESANG. 























PIANO. 




















Stimme des Geistes. 


Zus — 
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„Das ist schlimm!“ sprach es 

































































Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München. 
Alle Rechte vorbehalten. 44573 





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Was ijt dagegen zu maden? Mande behaupten: nichts, und geben alles 
verloren. Andre, und zu denen gehören auch wir, meinen, daß durch herz— 
Haftes Eingreifen und planvolles Vorgehen das Vorhandene nit nur von 
meiterem Untergange zu retten, fondern daß auch nod allerhand Berlorenes 
zurückzugewinnen, ja fogar die alles an ſich reißende Tyrannei der Theater- 
umb Sonzertmobe zu brechen ſei. Wie aber? Davon fol im Laufe diefes Jahr: 
gangs noch einläßlich geſprochen werben. Rihard Batfa. 


Gustav Mabler. 


Unter den lebenden deutſchen Komponiſten großen Stils fteht mit in ber 
vorderſten Reihe der nunmehrige Leiter des Wiener Hofopernhaufes, wenns 
gleih Guſtav Mahler als Tondichter bei weitem nod) nicht jene ausgebreitete 
äußere Anerkennung einer geſchloſſenen Partei erlangt hat, wie Richard Strauß. 
Eben daraus ergibt fich aber für ung die Verpflichtung, ung näher mit ihm zu 
befaffen und die Deffentlichleit auf die Eigenart feines Schaffens hinzu— 
weifen, 

Das Biographifche ift faum ber Rede wert. Im Jahre 1860 in Kaliſcht 
geboren, hat er in Wien den philofophifchen Hörfaal mit dem Stonfervatorium 
vertaufcht,, fi) darauf jahrelang als Kapellmeiſter erſt an Fleinen, bann an 
größeren Bühnen herumgeſchlagen, überall mit nervöfer Hartnädigfeit die 
ibeale Forderung erhebend, um, fobald man ihn darin behindert, kurz ent— 
ſchloſſen aus dem Amt zu jcheiden und mit der Leihtblütigleit eines böhmi- 
fhen Muſikanten ins lingemwiffe hinauszumandern. Wber fein Stern und feine 
außerordentlichen Fähigkeiten als Dirigent madten, daß, wenn er einem Wir— 
fungskreife den Rüden fehrte, alsbald ein anderer ehrenvollerer ſich ihm er— 
ſchloß. Nicht fo glüdlich jedoch erging es ihm mit feinen Tonmerfen. Die 
wurden von ber Kritik als Monſtra verrufen, und man urteilte über fie: das 
fei nit Muſik, fondern Lärm, Skandal, Unfug, Umfturz, oder wie man es 
fonft bezeichnen molle. 

Soll ich Mahlers des ſtomponiſten Charakter bildlich oder vergleichs— 
meife fennzeichnen, jo fällt mir ſtets T. U. Hoffmanns romantifcher Kapell— 
meijter Sreisler ein. So viel Zerriffenes, Unftätes, Ringendes, aber aud) fo 
viel Hochideales, Sehnſüchtiges, Andividuelles und Könneriſches“ ſteckt in Diefer 
Muſik. Die jchreibt Keiner, der die Klatihhände eines Parterres in Bewegung 
fegen mil, fo fchreibt nur, wer ſich im Innerſten dazu gedrängt fühlt. Freilich 
das: „und wie er mußt’, fo fonnt’ er's“ läßt ſich da nicht fo ohne weiteres 
behaupten. Gewiß, dat Mahler alles Techniſche mit geradezu virtuofer Kunſt 
beherrfht und daß er mit dem ungeheuren Upparat fünjtlerifcher Mittel als 
unbeftreitbarer Meijter jchaltet. Aber keineswegs bleibt er immer Herr feiner 
mufitalifchen Gedanken: es ift oft, als rijfe der Wirbelfturm feiner dämoni— 
fhen Phantafie ihn willenlos fort, als wüchſen ihm ihre Gebilde über den 
Kopf. Dann freilicdy jehen wir ihn, freien Hauptes mit feitem Griff fie formen, 
ordnen und lenken, — bis fie mit einem Dal wieder die Oberhand gewinnen und 
ihn in ihre Gewalt nehmen. Etwas Bizarres haftet ihm darum an wie 
Richard Strauß: aber bei diefem jtedt es mehr im Einfall jelbit, in der Theſe; 
bei Mahler hingegen mehr in ber Durchführung, meil die verdicdhtende und 
geitaltende Kraft bei ihm, dem echten Romantifer, der jehöpferiichen nur mit 
Unterbredjungen das Gleihgewidht hält. 


Kunftwart 1. Oftoberheft 1898 


— Yu - 


Das zeigt fih ſchon in Mahlers früheſtem Werk, in den 1883 fompo= 
nierten und — gedidhteten „Liedern eines fahrenden Gefellen“, mo bod nur 
Heine Formen zu bewältigen waren. In ber fühnen Harmonif, in der Vor— 
liebe für bdiatonifhe Melodie, fanonifhe Stimmführung und häufigen Taft- 
wechſel, in der vollen Hingebung an die Eindbrüde der Natur kündigt fih der 
ſpätere Mahler deutlich an, und manche Fäden fpinnen fid) zu feiner fünf Jahre 
nachher beendeten eriten Sinfonie hinüber. Mahler war ein bevorzugter Schüler 
Brudners und fchreibt wie diefer Sinfonien von ungemwöhnlider Ausdehnung. 
Ja, feiner von zentrifugalen Mächten beherrichten Bhantafie genügen vier Sätze 
nit: er braucht fünf, im legten Werk fogar ſechs. Die Form der Sinfonie, 
die fich bei Lifzt und feiner Schule, zu ber ja auch Strauß gehört, zur ein 
fäßigen finfonifhen Dichtung zufammenzog, mwird bei Mahler faft zur Suite 
erweitert. Ein poetifches Programm, eine pſychologiſche Entwidelung ift auch 
bei ihm nachweisbar, aber er begnügt fich, fie durch Ueberſchriften anzudeuten; 
mo er ganz deutlich fein will, zieht er ben Geſang zu Hilfe. Es ift, als nähme 
er ben Gedanken ber von Beethoven geplanten zehnten Sinfonie auf und 
fchildere uns gleih in den erjten Säßen ein üppiges Dionyfosfeft mit allen 
Orgien der Schmerzen und der Wonnen. Welches Schwelgen im Erguß ber 
mufifaliihen Quellen, die ihm aus dem Innern ftrömen! Man hat über 
„gewollte Ubicheulichkeiten* bei Mahler geflagt und gemeint, die Tonkunſt 
habe doch die Aufgabe, die Diffonanzen des Lebens harmoniſch aufzulöfen. 
Sehr richtig, aber dann muß fie, wenn fte als mahres Abbild des Lebens 
gelten will, vor feiner Berflärung auch feine Wirrniffe fhildern, vor ber Er— 
löfung aud) die Paſſion. Rückſichtslos wie die Mächte und Weſen diefer Welt 
im Sampf ums Dafein leben die Stimmen Mahlers fi) aus, mit einander, 
gegen einander, in unbarmberziger Polyphonie, und aus ihrem Getriebe er— 
tönen ergreifende Sehnfuchtsrufe nad Frieden und Glück. 

Weltſchmerzliche Kunſt fteht jest auf der Tagesordnung, zumal da 
Wagner unfere Ausdrudsmittel nad) der Richtung des Kataſtrophiſchen fo fehr 
bereichert hat. Das »Inferno« haben ihm feine Jünger allbereits trefflich abs 
gegudt, und wer getraut fich fo bald zu entjcheiden, ob die bräuende Miene, 
die fie annehmen, ber unaffektierte Ausdrud ihres Empfindens ober eine Maske 
ift? Nur das »Paradisos, worein der Meifter uns doch aud) nad ausgeſtan— 
denen Schreden zu führen wußte, bleibt ihnen meift ungugänglid. So regt 
ſich der Verdacht, als ftürzten fie fih in den Pfuhl des Grauens und der 
Surdtbarkeiten nur deshalb, weil ihnen die melodifhen Trauben zu God 
hängen, und man glaubt ihnen folglich auch die pathetifhe Naferei nicht recht. 
Darum ift das Adagio der Prüfltein des Komponiſlen. 

Mie verhält fih Mahler darin? Schon von allem Anfang ganz aus ih 
herausgehend, Hat er feine tiefjten Seelenlaute gleih mit dem frampfhaiten 
Ueberfhmwang bes eriten Satzes entladen. Es liegt nidht in feinem Wejen, aus 
dem Grund eines gefammelten oder vollbeftiedigien Gemütes feinen Gejang in 
ruhiger Größe und Teierlichkeit quellen zu laſſen, wie Brudner. Dieje geiftige 
naive Ruhe und Würde befist er nicht. Um fich aber auch als Melodiker Ge— 
nüge zu thun und Erholung nad dem trunfenen Taumel zu jhaffen, beginnt 
er — zu Spielen: Tanzweiſen von entzüdender Anmut, voll Lit und Glanz, 
die, nebenbei bemerft, aud) lehren, daß wir nicht zu den Zuckerwaſſerkompo— 
niften zu gehen brauchen, wenn wir für unfere Stimmung etwas Süßes und 
Einfchmeichelndes bedürfen. Und bier, wo er, beinahe tändelnd, fich nicht mit: 
erregt, behält er bezeichnenderweife aud die Zügel feiner Phantafie in den 


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Händen. Wie wohlgeformt ift das Andante der zweiten Sinfonie! Ein gras 
jiöfer Bändler in As-dur, den man als Tyrolienne bezeichnet hat, der aber 
meit eher auf Mahlers böhmiſche Heimat zurückweiſt, wird, jedesmal durch 
einen Zwiſchenſatz unterbrochen, zweimal wiederholt und babei von einer 
neuen Tanzweiſe begleitet, die zur erjten im doppelten Stontrapunft fteht, d. h. 
einmal in der Unterftimme und ſchließlich in der Oberftimme mitgefpielt wird. 
Diefe faft fchergoartigen, langſamen Sätze find für den Sinfonifer Mahler ebenfo 
bezeichnend mie feine von religiöfer Inbrunſt durchleudhteten Finale. Sobald 
es Mahler ernit zu Mute mird, geht aud das Chaos, wenigſtens für ben 
Hörer, wieder an, injofern als es ſchwer fällt, den mitunter verftiegenen 
Gängen jeiner Gedanken zu folgen. Aber die einmal außgelöften religiöjen 
Empfindungen greifen um fi, dominieren und führen nad) ben gemaltigiten 
Ronfliften und Erichütterungen zu einer verföhnenden Katharſe der Leiden— 
ſchaften. 

So deute ich mir Mahlers Kunſt, deren großen Zug man auch dort ver— 
ſpüren kann, mo einem das Verſtändnis ausgeht oder wo man ihn gelegent— 
ih „in Irrnis wild verloren“ zu treffen wähnt. Mas er uns fünftig aud an 
Freundlichem oder Schlimmem, Reizendem oder Grokartigem ichaffen möge: 
fo wie er heut ſchon iſt, erfcheint er als einer ber auffallenditen Eharafters 
föpfe unter den namhaften Tontünftlern der Gegenmwart. 2.38. 


* 


Ueber Kunstpflege im Mittelstande. 
8 Die Bilder in der Wohnung. 


Die Aufläge des vergangenen Jahrganges behandelten die Nusgeftaltung 
bes Raumes felbit und der darin befindlichen Gebraudhsgegenftände Bon 
Bildern follte nicht die Rede fein, bevor eine Stätte, eine Urt „erweiterten 
Rahmens” für fie angenommen werden konnte. 

Sieht das Haus nun fo aus, wie e8 bei einem äſthetiſch gebildeten 
Menſchen eigentlich ausfehen müßte, fo wird man baran gehen, die höchſten 
Senüffe, melde die bildende Kunſt dem Menſchen zu bieten vermag, gleihiam 
als. Hausgut einzuführen. 

Aber ad), follte id) num die bis heute in Deutfhland übliche Kunftpflege 
binfichtlich der Bilder beleuchten, ich fäme zu einer endlofen Jeremiade. Für 
unfere Lejer Hänge dabei nicht einmal fonderlich Neues daraus, deshalb dent 
ih, wir verzichten darauf, wieder von den Leuten zu reden, Die Deldrude ins 
Zimmer hängen oder im Beſitz der üblichen Kunftvereinsgeminne fi) glüdlich 
Ihäten. Sehen wir lieber den Fal, ein Mann, der jehr wohl wüßte, mas 
Kunſt jei, fühlte fih doc in Verlegenheit darüber, wie er feine Kunſtliebe 
bethätigen ſollte. — 

Es handelte fi für ihn zunächſt um die dekorative Ausgeſtaltung der 
Räume durch Bilder; das, was an Hunftihägen in Mappen und Schränten 
ruhen fol, ijt eine Sade für fih. Da ift nun zunädft vor dem Glauben zu 
warnen, man ſchmücke einen Raum daburd, dab man alles darin aufhängt 
und zufammenftapelt, was man irgend befigt oder auftreiben kann. Selbſt 
wenn ſichs um Stunftwerfe handelt, tröge folder Glauben. Denn es gibt Dinge, 
die als Kunſtwerk bedeutend, aber nicht zum Zwecke des Schmuds entitanden 
find und deshalb aud nit an bie Wand gehören. Und es ift deshalb eine 


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durchaus bereditigte Forderung, daß die zum Schmud der Wand beftimmten 
Werke aud) dekorativ feien, ohne damit ihre anderen Eigenschaften auszuſchließen. 


Damit man mid) recht veritehe, möchte ich ein paar Worte darüber einſchalten, 
wie ich hier den Schmuckwert, den dekorativen Wert veritanden haben mill. 
Dan nehme etwa folgendes an. Ich babe ein Blatt von irgend einem Meifter, 
auf dem biefer mit Feinfühligfeit die Umrißlinie einer Geftalt mit dünnem 
Strihe gezogen Hat. Das Blatt fei gerade dadurd) eine Meifterleiftung, an 
der man jedes Mal feine Freude hat, wenn mans zur Hand nimmt. Um fid 
nun dieſe Freude dauernd zu verfchaffen, Täht man das Blatt rahmen und 
hängt es an dem bevorzugteften Plak an die Wand. Nun aber, da man täg— 
lich daran vorübergeht, unterläßt man es bald, davor ftehen zu bleiben und 
das Auge liebfofend über die Stonturen gleiten zu laſſen. Schlieflih nimmt 
man nur nod) das weiße Blatt wahr — das dekorative, das ſchmückende Er— 
gebnis ift, — daß man ein weihes Papier aufgehängt bat. Der Zeichnung 
gingen eben alle beforativen Eigenſchaften ab, und es war falfch, fie an einen 
Platz zu hängen, von dem aus je nad dem Einzelfalle ein jtarfer farbiger oder 
dißfreter Klang oder doch zum mindeftens ausgefprodene Linien oder Flächen 
die Stimmung des Zimmers hätten beeinflujien follen. 


Man nehme nun einmal das Gegenteil eines ſolchen Shmudes an: man 
Hinge an dieſelbe Stelle des Raumes einen farbigen Wanbteppid), der eigent- 
lich gar nichts darftellte, fondern nur Farbenfreudigfeit verbreitete und ſich in 
feinen Linien und Flächen dem Rhythmus der Arditeltur anſchlöſſe. Ein folcher 
Teppich brauchte fein großes Kunſtwerk zu fein und fünnte doch dem Zweck 
beifer dienen, als jenes ausgezeichnete Blatt: er künnte ein Shmud der 
Wand, des ganzen Raumes fein, er könnte ihn gleihlam durchwärmen. Dod) 
{liegt nun das eine das andere nicht aus: e8 kann fehr gut ein großes Kunſt-— 
merf die deforativen Momente befigen, wie fie ihm ebenfo auch fehlen fünnen. 
Nur wäre es ridtig, eben die als Schmud zu verwenden, die fie befiken. 
Es ijt alfo durchaus feine unbillige Forderung, daß die bevorzugteite Wand- 
fläche eines foloriftifh fein geitimmten Raumes, alfo das an der Hauptwand 
hängende Bild, fi) der farbigen Harmonie des Naumes eingliedere, ja, daß 
e8 nad) Möglichkeit diefe erhöhe. 

Es ergibt ſich als ein Grundfaß, der immer und immer wieder zu bes 
tonen ist: Iſt ein Raum in Linie und Farbe zur feiniten Harmonie 
geitimmt, fo darf id) dahinein feine neue Fläche, alfo aud feine 
willkürliche Bildbflädhe einführen, die nur Unterbrehung iſt, Die 
in ihren Linien und Farben fih nidht denen des Naumes ein— 
gliedert, mag nun das Bild gut oder ſchlecht fein. 


Die Forderung wird jedenfalls am volltommenften erfüllt — das 
deforative Wandbild, das für und in den Raum an die Wand gemalt wird. 
Unter den Sichtbebingungen des Raumes, in der bewußten Abficht des Schmudes 
entitanden, muß ein folches Bild bdeforativ werden, ohne daß der Künſtler 
veranlait würde, nur ein Stüd der feelifhen Vertiefung, deren er fähig ilt, 
aufzugeben. Ich bemerfe das hier nochmals nachdrücklich, um dem allgemeinen 
Borurteil entgegenzutreten, welches „deforativ“ mit „oberflächlich“ verwechſelt. 
Siftorifch ift ja auch die große Kunſt aus der Wand-, aus der Frestomalerei 
hervorgegangen, und nur Bequemlichkeits- und Nüslichleitsrüdfichten brachten 
almählih die Verſchmelzung mit dem Altarbilde zum Staffeleibilde. Auch 
da8 TZafelbild der alten Meilter hat die Eigenſchaften des Wandbildes, 


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erft uns Modernen ift die Forderung bes Dekorativen als einer felbjtverftänd- 
lichen Borausfegung für ein gutes Bild verloren gegangen. 

Bei jenen ging die Entwidlung ganz folgeridtig ihren Weg. Die Lebens— 
verhältniffe drängten auf einen Erſatz für das nicht transportfähige Fresko; 
man fing an, bie Bilder auf große Holztafeln oder auf Leinwand zu malen, 
denen man, auf Rahmen aufgefpannt und mit einer fchmalen Zierleifte abge 
ſchloſſen, die Funktion ber Mauermalerei übergab. Es ift Far, dab man bie 
ihmüdenden Qualitäten gang von ſelbſt betonte: dak man innerhalb ber 
Bildflähe Ruhe und Gefhloffenheit in Farbe und Zeichnung walten, ba 
man babei jedoch recht wohl einer ftarten und angenehmen Farbe das 
Wort ließ; daß man ben Gefamtton des Bilbes in einen bemerfbaren Gegen— 
fat zu dem ber Umgebung bradjte, um zu trennen, und daß man biefen 
Doppelflang doch wieder auf einander ftimmte, um eine Harmonie zu erzielen. 
Diefelben Anfhauungen übertrugen fih nun aud) auf bie neue Spielart des 
Staffeleibildes, das Kabinettbild, auf das farbige Kımftblatt im fleinen For— 
mat, das in feiner Hanbdlichleit im ı7. und ı8. Jahrhundert ber Liebling ber 
Kenner und Sammler wurde. Ueberall fehen mir aber auch noch Bier, wie 
der jhmüdenden Funktion mit feinftem Takt Rechnung getragen if. Da, mo 
andere Abfichten herrfchen oder mo ſich bie Abfichten nicht mit den Bildforbe- 
rungen vereinigen laſſen, wählt der Künſtler andere Darftellungsformen, die 
fih ihm in Handzeihnung, Kupferftih, Radierung (und fpäter Lithographie) 
reichlich bieten und, im mefentlihen für Bud und Mappe beitimmt, Feine 
beforativen Abſichten zu haben brauchen. 

So meit ift die Entwidlung vollftändig folgerichtig ihren Weg gegangen. 
Der Begriff Bildmwirfung ftand feft, und feine Zeit biß auf unfer Jahrhundert 
wid) von feinen Forderungen ab. Mit den Sartonzeichnern erſt verlor Die 
deutſche Kunſt das Können, die Bildbwirkung zu erreichen. Verſuchte man’s 
noch, fo verfudte man’8 an der Hand der alten Meifter. Wie epigonenhaft 
ſchwächlich diefe Kunſt im allgemeinen war, braudjt bier nicht nochmals betont 
zu werben, e8 hat auch nichts mit unferer Frage zu thun. 

Die Zeit, die dann kam, ftellte fi) befanntlicd) die Aufgabe, die Natur 
mit bisher unerhörter Sadlichkeit ber optifhen Wirkung nachzubilden. Das 
brachte fo viel Neues, daß man darüber die dekorative Wirkung ganz vergak 
und fi eine Zeitlang einbildete, „Wirklichkeit oder nit Wirklichkeit ?*, das 
fei die weſentlichſte Frage. Die ftrenge Schulung vor ber Natur, die dieſe 
Zeit de8 dogmatifhen Pleinairismus mit fid brachte, ift eine Notwendigkeit 
gemwefen; doch find die Schuljahre jegt vorbei. Seine Bildfläche richtig zu be— 
grenzen, alles Gleichgültige auszufondern, bis das Ganze auf das zurüdgeführt 
mar, mas dem Auge des Künſtlers als das MWefentliche erſchien, das mußte 
nun wieder in das Programm einrüden. Hatte man doch eingefehen, daß der 
Bilderrahmen nit ein Fenjter bedeutet, durd; das man in die Natur fieht, 
fondern die Umgrenzung für die verförperten Vorftellungen eines durch Talent 
begnabeten Menſchen. 

Die Zeit, in der der Begriff „deforativ“ von vornherein in Acht und 
Bann gethan war, iſt num ſchon einige Jahre vorüber, — man fängt an, 
Wahrheiten, die man verworfen, nur weil fie zugleich auch Wahrheiten 
der alten Meiſter geweſen waren, wieder auf ihrem berechtigten Pla anzuerfennen. 
Biele der beiten modernen Hünftler, die unter uns jchaffen, haben gezeigt, daß 
man bie errungenen Werte: Selbftändigleit des Ausbruds, innere 
Wahrheit und Echtheit der in das Bild gebannten feelifhen Stimmung, 


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augleih mit deko rativer Wirkung zum Ausdrud bringen kann. Wir mo- 
dernen Maler empfinden ſolche Verbindung als Stil des modernen Bildes 
— darauf einzugehen, führte uns aber von unferem heutigen Gegenftande zu 
weit weg. Jedenfalls wiſſen wir heute, daß das den Ulten wieder abgelaufchte 
Geheimnis der beforativen Bildmwirkung darin befteht, alle farbigen und 
formalen Gegenfäße innerhalb der Bildbfläde fo zu ver 
einigen, daß eine Gefhloffenheit ber Wirkung entfteht. Bor den meijten 
der „naturaliftifchen* Bilder hatte man den Eindrud, daß fie zerfielen, weil 
fein allgemeiner großer Grundflang, auf den alles eingeftimmt war, fie zus 
fammenhielt. Daß innerhalb diefer Einheit trogdem bie größten Gegenfäte 
herrſchen können (nit müfjen), bemeifen uns gerade die „Modernſten“; im 
Bereinigen dieſer Gegenfäbe beiteht Hier die Kunſt. 

Ah mußte auf diefem großen Ummeg das alles fagen, um Har zu 
machen, weshalb ich ſtets fo ausdrücklich die Forderung bes Dekorativen jtellte. 
Das unruhige Gezappel in unjern neuen Bilderbazaren und die wunder— 
volle Ruhe, die uns in den Galerieen bei den Werfen der Alten überflommt, 
follte Jedem zu denken geben. Ueberkommt uns diefe Ruhe doc jelbit da noch, 
wo alte Bilder in Mufeen fo unfünftlerifch aufgeitapelt find..... 

Zurück zu unferem eigentliden Thema, dem Schmud der Wände unjerer 
Wohnräume durch Bilder! 

Jeder muß von vornherein dafür forgen: daß e8 ihm fympas 
tifche Kunſtwerke feien, die er beiikt. Da man nidt nur mit Ankäufen, fon= 
"dern auch mit Geſchenken u. ſ. w. zu rechnen hat, fo befagt dieſe VBorausfegung 
nicht wenig, aber unumgänglid) ift fie. Wenn man nun für das Einzelne den 
Platz beſtimmt, fo bedenfe man wohl, dab man fte nit allein regiftrieren, 
fondern mit ihnen ein neues Kunſtwerk fhaffen muß, den Raum. Dan 
follte fich dabei die Bilder einfad) als farbige Flächen: Teppiche oder fonit etwas 
vorstellen, auf diefe Weife wird man am eheften von dem Syitem der Brief- 
marfenfammlung an ben Wänden ablommen. Dan mache ſich's nun zur 
Aufgabe, die Wand durch da8 Verhältnis der farbigen Flächen zu ben freien 
Mandflähen zu gliedern Der geheime Schönheitsausdrud der Propor— 
tionen ift dem Nichtkünftler vielleicht felten zum Bewußtſein gelommen, aber 
ihre Wirkung verfpürt er do, wenn er überhaupt in folden Dingen ems 
pfänglid) ift. In bei weitem den meiften Zimmern merkt man, bag man fid 
einfach zur Aufgabe gemadt hat, die vorhandenen Bilder unterzubringen, 
während es fih doch nur darum Handeln follte, mit einigen den Raum aus— 
zugeitalten und fie felbjt dadurch am beiten zur Geltung zu bringen. Denn 
nicht allein, daß man fid) durch das Aufitapeligiiem ben Raum als foldyen 
verdirbt; oft genug zeritört man fih durch ungeeignete Nachbarſchaft auch noch 
das Kunſtwerk felber. Iſt doch der Glaube ein großer Irrtum, ber Glaube, 
ein wirklich gutes Kunſtwerk müſſe ſt ets wirlen. Als Beifpiel nur folgendes: 
man befitt zwei Bilder: das eine mit fehr ftarfen koloriſtiſchen Effekten, das 
andere mit fehr zarter bisfreter Tönung. Hinge man fie nebeneinander, jo 
tönnte e8 ſehr leicht fein, daß das letztere Bild vollftändig matt und farbig 
reizlos wirkte. Nun braudt es nicht ftets ſolch derber Effekt zu fein — alle 
Bilder beeinfluifen jih farbig, und man muß fehr darauf adten, dab ihre Ge- 
jamtheit zur Harmonie gebradt wird. Jeder Maler weiß, dab fi Bilder 
gegenfeitig totſchlagen. Und es ift oft beſſer, ein an fid) gutes Werk wegzulaſſen, 
als dur das Zuviel ihm und allen zu ſchaden; eine Erfahrung, deren Nutz— 
anmendung man heute in allen feineren Ausſtellungen beobadten kann. 


Kunftwart 1. Oftoberheft 1898 
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In den meitaus meiften Fällen hängen viel zu viel Bilder an den 
Wänden. Kleine und große Delbilder, in ſchmalen Holz- und proßig breiten 
Goldrahmen, Kupferftiche, Photographien und was ſonſt man noch alles hat, 
fie maden aus der Wand des Zimmers eher eine Mufterfarte, als einen 
Wohnraum, in dem man behaglich Kunft genießen mödte. Ein Weniger würde 
mehr fein. 

Wo das irgend angeht, verfuhe man beshalb, die Hauptwand bes 
Raumes mit einem Bilde zu gejtalten, das dann hier die Funktion des nicht 
erreihbaren Wandbildes übernimmt. It das Bild gut, fo wird man bald 
jehen, welche angenehme Ruhe dadurch einzieht, jelbit wenn noch breite Flächen 
daneben ftehen bleiben. Verſuchte man’s, diefe noch zu füllen, in den jeltenilen 
Fällen würde man die Wirkung des ganzen Raumes oder die des Bildes 
heben. So ſprechen wir wieder gegen die in diefen Aufſätzen ſchon oft be= 
rührte unfelige Manie, alles zu füllen, al8 ob das ein Shmüden wäre. Nicht 
zu füllen, fondern zu gliebern verlangt die Aufgabe. 

Natürlich will ich nicht gegen das Erwerben von neuen Bildern reden; 
ih babe noch niemand getroffen, der zupiel oder genug Kunſtwerke befejien 
hätte. Aber das fih nit Trennenwollen von altem unnützen Sram, die Ge— 
danfenlofigleit und eine gewiſſe Habgier fpielen den Leuten oft einen Streid). 
Es hat ja Geld geloftet, man hat’8 einmal, und nun muß e8 alſo auch an ber 
Wand bleiben, wenn's audy nur ftört. Hielte doch ein Jeder unter feinen 
Schätzen eine furdtbare Muiterung unb gäbe an den foftbaren Wandplägen 
nur dem Raum, mas ihm wirklich würdig genug bünfte, als Zeuge feines 
Kunftgefühls zu fprechen! 

Freilih, es braucht nicht immer nur ein Bild an der Wand zu fein; 
man kann aud) mehrere vereinigen. Doch fei man ſich babei gut darüber 
flar, daß man mit ihnen den Raum gliedern muß, und dab e8 daher eine 
fehr {hd were Aufgabe ift, die man ſich jtellt, die man nicht in ein paar Minuten 
löſen oder vom Zapezierer erledigen laſſen kann. Dan bedenfe ferner dabei, daß 
ein jedes Bild fchleht ausfieht, wenn es fo hängt, daß man’ nidt gut fehen 
fann. Ein fehr kleines Bild, fehr hoch gehängt, ruft nur eine ftörende Empfin— 
bung wad, ebenfo wie etwa ausrangierte Bilder auf dem Korridor, „für den 
fie gut genug find“. 68 thut weh, Bilder in unbeleuchteten Eden zu fehen, 
während biefe Eden, leer geblieben, durchaus nicht jtören würden. 

Man glaube aud nit, daß dieſe bier gemachten Einwendungen gegen 
berrfchende Mikitände im Grunde nur Kleinigkeiten beträfen, die mit dem 
Weſen der Hunft nichts zu thun hätten. Wie ungemein widtig ift für ung die 
Natur der Eindrüde, die unfer Auge täglich unbewußt in unfern Wohnräumen 
empfängt! Die Verkommenheit des arditeftonifhen und deforativen Gefhmads 
überhaupt, iſt wohl im mwefentlihen der Nachjläffigkeit zugufchreiben, mit der 
die gejhilderten Aufgaben fo lange, lange behandelt worben find. Und fpricht 
nicht deforative und architektoniſche Schönheit gerade fo zu unferer Seele, wie 
irgend welche andere Genüffe unjeres Kunſtſinns? Mer’s nicht glauben mas, 
der gehe nochmals zu den Großen der Renaijfance, und prüfe, indem er bei 
ihnen genießt. Shulge-Waumburag. 





Kunftwart 1. Oftoberheft 1898 


Lose Blätter. 
Dom Perjähner. 
Bon Leopold Weber. 
L. 

Bor meiner Seele ftieg ein Dämmern auf 
Und warb ein weites, graulich-ftilles Qanb. 
Geftalten zogen endlos bort im Zug 
Sintereinander, weißbeſchleppt und Iuftig. 
Das waren Seelen. Alle zogen fie 
Zu einem Brunnguell, der mit leifem Rauſchen 
Durchs Dämmer rann, und büdten fi und ſchöpften 
Bom fühlen Trant, der matt durchs Dunkel blinfte, 
Und ſchwanden meiter ſchwebend in die Nadit. 
Und ich erftaunte fehr. „Mas fhafft ihr“, haucht' ich, 
„Was wollt ihr Seelen hier?" Saum hörbar fam 
Ein Atmen zu mir aus ber ftillen Schaar: 
Traumwaſſer jhöpfen mir.” 


— 
* 


Einer jener Regentage im Sommer war's, wo alles noch ſtärker duftet, 
und noch ſüßer Amſel und Droſſel aus dem glänzend feuchten Laube fingen. 
In einen ſchwarzen Radmantel gehüllt, das Haupt mit dem breitrandigen 
Hute tief gebückt, ſtieg der Tod die Stufen zur Stube des Malers hinan. Er 
öffnete ſacht die Thür und trat ein. Uber es war niemand zu Haufe. So 
nahm denn der Tod derweil in dem rohrgeflodhtnen Lehnſtuhl Pla und ſchaute 
mit feinen dunkeln Augen ernft um fih. Das Stübchen war jehr Hein und 
dürftig; doch hingen die Wände voll von Zeichnungen und Bildern, durch das 
niedrige Fenfter blidten feuchte Wiefen und darüber aus Wollen Berge ber, 
und unter dem Fenfter raufhte und murmelte der regengefhwollne Bad. Das 
Hang heimlich in die Stube, es Iodte mit feinem Gemurmel zum Träumen, 
und auch ber Tod verſank in ein träumerifches Wefen. Bon Bild zu Bild 
wanderten feine Augen, fchließlich blieben fie an einem länger haften. Bort 
war bes Malers Schweiter dargeftellt, faft nod} ein Kind. Aus dem fhlichten 
Geſicht ſah eine große Lieblichkeit, aber es ruhte ein leifer Zug darauf, 
der fprad) davon, daß dieſes Antlig dem Vergehen gemeiht fei. Das gab ber 
kindlichen Erfcheinung etwas Edles und NRührendes zugleih. E8 gefiel dem 
Tod, daf fein Wefen hier fo dargejtellt war. Lange faß er vor dem Bild und 
betraditete e8 und fann. Dann erhob er fih langfam und fchritt Tautlos zur 
Thüre wieder hinaus. 


5. 


Es ſaß ein Mann an einem tiefen, ftillen See und fchaute ins Waſſer. 
Rings um den See ftand ein finfirer, hoher Tannenwald und warf fein dunkles 
Abbild Hinein. Stumm ſaß der Dann da und dachte nad). Auf einmal hörte 
er die Lüfte über fih raufhen, und als er aufblidte, ſah er’s: drei glänzende 
Schmwäne zogen broben hin. 

„Haltet!*, rief der Mann, „jteht mir Rede, ihr Schwäne, wer ſeid ihr?” 

Sie liefen fich nieder, und der erjte antıvortete: „Ich bin deine Jugend.“ 

Der Mann ſah vor fih hin. „Fahr wohl“, ſprach er, „du mußt ja 
ſcheiden.“ 

Uunſtwart 1. Oktoberheft 1898 


— 16 — 


Der zmeite antwortete, als lachte eines Weibes Stimme: „Jh bin das 
Süd!“ 

„Bieh hin!”, fagte der Dann, „ich hab e8 gelernt, audy ohne Dich zu leben!” 

Und ber dritte erhob feine Stimme, fie tönte heller und Harer als bie 
der andern: „Ad bin die Liebe!“ 

Da fhaute der Mann fchweigend zu ihm hin, dann ſenkt' er das Haupt 
und ſprach leiſe: „Ich kann dich nicht halten... .* 

Die Schwäne ziehen meiter. Fern ſchon hört er jegt ihre Flügel raufchen, 
jest hört er fie nicht mehr. Es ift um ihn fehr einfam. Aus dem Mailer 
blidt ar und deutlich fein Spiegelbild ihn an. Er ftügt fein Haupt zwiſchen 
beide Fäufte und ſchaut aufmerffam auf das Antlig unter fih: tiefe Furchen 
durchziehen e8; er weiß, woher die Furchen fommen. So finnt er. Da fieht 
er auf einmal, wie unten im See, hinter feines Spiegelbildes Rüden ein bleiches 
Geſicht mit geichlofinen Augen erſcheint. Und e8 nidt, nidt feierlich langſam 
ihm zu. 

Ein Schauer läuft ihm über ben Rüden. Kerzengerade bleibt er figen 
und lange fieht er hinab, 

Dann nidt aud er. 

4. 

Der Tod war ein Bogel geworden. Gin fchwarzer, glängender Vogel 
mit gelben Schnabel und fdharfen Wugen. Menſchen mwürben fie graufam 
nennen, dieſe Augen; aber fie waren nur ſcharf, wie Augen find, die durch 
Weiten ſchauen. Der Vogel Tod ſaß im Wipfel einer jungen Tanne und fang. 
Er fang ein lautes Amſellied, das drang voll ſtarken Wohllauts durch die 
Lüfte. Die Toten in ihren Gräbern vernahmen es, und all den Vergehenden 
warb e8 fo leicht davon. Ahnen allen, mie fie da waren: Männern und 
MWeibern, Gerechten und Ungerechten; denn die Toten denken nicht mit einen, 
fplittrigen, menſchlichen Einzelgedanfen, fie denfen mit den großen Gedanken, 
die durchs Weltall atmen. Droben fang der Tod, und feine Melodien tönten 
glei lichten Ofterworten in den Toten wieder. Sie verfpürten e8 dabei, wie 
jeder Zeil an ihnen, der abfiel und dahinging, wie alles in ihnen nur überging 
und fih in eim neues Leben fhlang. Es verfpürten die Toten, daß fie Auf— 
erftehende waren, und fo leicht ward ihnen davon. Hell und warm fdhien die 
Sonne auf den jtillen Wegen und Gräbern, dunkel Tagen bie Schatten der 
Zannen und Büfche dazwiſchen, und im Wipfel eines Baumes ſaß der Vogel 
Tod und fang fein ewiges Lied. 


Cotte. 
Von Cäſar Flaiſchlen. 


Vorbemerkung. Das Stück, das wir hier abdrucken, iſt die zweite 
Hälfte aus einem Heinen „Bilderzyflus* Lotte, der ſich in Flaiſchlens bei 
8. Fontane & Eo. in Berlin erichienenen „Gedichten in Profa* findet: „Bon 
Alltag und Sponne* „Diejes Buch will nicht kämpfen“, hat einer von 
ihm gejagt: „Es fommt ohne Waffen. Es fommt wie ein froher Menfch, ber 
durd) einen Sonntagmorgen wandert und ſich der ſchönen Welt freut, die fich 
um ihn breitet, und dann und wann ein Lied fingt.“ Es ift ein dichteriſch 
feinfinniges und menſchlich im edelften Sinne liebenswürdiges Bud, das man 
am bejten empfiehlt, wenn man einfad ein Stüd daraus zeigt. „Lotte“ ift 
dem Kindchen eines Freundes gewidmet, deſſen Zukunft die Dichtung in ſym— 
bolifchen Bildern des Frauen-, des Menfchenlebens überhaupt vorüberziehen läßt. 


Kunftwart z i. Oftoberheft 1898 
— I — 


Und wieberum zehn Jahre fpäter.. 

haft du längſt felber fo ein Kleines Ding um bid) herum, ober zwei ober 
drei, wie bu jetzt felbft noch biſt .. das dich anladjt, aus feinen Dunkeln Mugen, 
wie eine große Frage, aus lauter Geheimniffen und Rätfeln und Wundern 
heraus, und du ftehit, wie wir heute vor bir, und möchteſt fie Löfen.. 

Die Welt ift anders geworben .. e8 find anbere Dinge und andere 
Menihen und doch ift alles, wie heut und immer! 

Wie deine Mutter einft mit dir, fpielft du nun mit Beinen Rindern, 
und fommen fie in der Dämmerjtunde und wollen Geihichten erzählt haben .. 
framft bu ein altes, zerrifjenes Märchenbuch hervor, das einer von Großvaters 
Freunden damals gedichtet .. 

Wie Iang das nun her iſt! Herrgott!.. damals... jal als der Großvater 
die Großmutter nahm... 

und beſucht dich eines von uns einmal, fo hinkt ein altes Männchen in 
die Thüre, wie dein Bater.. mit fchneeigen Haaren, wadelig und zitterig... 
oder ein altes Frauchen, gebüdt und mit Schrumpeln im Gefiht, wie deine 
Mutter... müde von dem weiten Weg, den es nachgerade gemadt bat, fünf 
und ſechzig Jahre weit vielleicht ... 

und bu fchidft deine Jungens, bie Großeltern zu rufen: e8 ſei Beſuch 
gelommen... Tante Emmy. 

Ol und es gibt eine Freude bei den alten Leutchen, faum zu jagen., 
Sie umarmen einander und küffen fi) und meinen... wie finder oder... als 
ob jemand geftorben ſei! 

Geftorben freilich find viele! es ijt ja auch lange genug ber! ‚Dreikig, 
vierzig, fünfzig Jahre wird's ja wohl fein, Emmy?.. hätten wir aud) nicht 
gedacht, damals.. und als die Lotte fam! Ja, jal.. ja, ja! zur Feier des 
Tages aber wollen wir heute noch einmal jung fein und... und... 

Und bein Mann, Lotte, macht eine Bowle und fie ftoßen zuſammen an 
und trinken, ‚auf bamal8!'.. und fragen und reden und erzählen... 

‚und wie bumm man eigentlich war, mitunter! und wie unnüß man ſich 
bas Leben verärgertel.. und wie hoch wir alle hinausgemwollt!.. und was 
aus dem und dem gemorden!? und wie bas Radeln aufflam! ja!?.. und wie 
es aber dod) ſchön war, allesi troß aller Sorgen!‘ 

doc) es klingt immer leifer und zulegt nur: „Weikt du noch?“, wenn 
du mit beinem Jüngjten auf dem Arm ins Zimmer trittft, ihn zu zeigen, und 
Gud:Gud! und Gibs-Händchen! mit ihm madjt... 

und der Großvater geht vielleiht ans Hlavier.. was er ſchon lange 
nicht mehr gethan.. und ſpielt ein Liedchen. Aber es klappt nicht recht und 
gejällt aud) niemand mehr.. e8 ift viel zu altmodifh ! nur Tante Emmy fann 
fi noch etwas dabei denken... ihr andern langmeilt eud). 

Und mwenn fie dann aufbreden, bringt ihr fie ein Stüdden.. heimlich 
aber fagit du au deinem Mann: „ih bin doc froh, daß wir noch jung find... 
es ijt nichts mit fo alten Leutchen!...” 

Die alten Leutchen freilih find wir geweſen, Lotte, die dich aus ber 
Taufe hoben, damals!.. und... 

* 

Und abermals zehn Jahre.. 

und bu Haft auch Ion wieder eine, die nicht mehr mit Puppen fpielt 
und nit mehr in die Schule geht und die Zöpfe fliegen Täßt.. die lange 
Kleider trägt und ein Ninglein am Finger und an ihrer Ausſteuer näbt.. 


Kunftwart 1. Oftoberheft 1898 
— 131 — 


und abends fommt ihr Liebſter und ihr fikt in einer Balkonſtube, und bie zwei 
fichern miteinander ımb beraten, wie das und das wohl einzurichten wäre... und: 
+8 fönne auch mehr koſten, wenn’s nur fhön würde... Papa habe ja geiparti 

und das Leben liegt vor ihnen, licht und frühlingsherrlih, mit wogen— 
den Feldern und duftenden Wiefen und raufchenden Strömen und blauen 
Seen.. endlos offen.. wie ein großer Gottesfonntag... von jeligen Liedern 
durchjauchzt. 

Es iſt alles anders, als damals, und doch wieder wie heut und immer. 

Von uns natürlich iſt niemand mehr da. Wir ſind zu müde geworden 
allmählich und find ausruhen gegangen ... 

Du aber bift nod) jung, im fchönften Sommer. In roten Rofen glüht 
die Welt. Aus tiefblauem Grunde tropft die Sonne ihr Gold über das reifende 
Rand. Aehrenſchwer raufcht das Korn durch bie meite ftille Mittagsruhe, wenn 
ein heimlicher Wind aufmwallt und mit burftigen Lippen fi) an ihn fatt trinken 
will, und leife in den Heden Iodt ein Vogelruf .. 

Und wenn dir auch zumeilen ift, als klinge e8 wie Sichelflang in ber 
Ferne und als röte fi das Laub ſchon an ben Bergabhängen .. 

nod ift 8 Sommer!.. 

Und klingt der Klang ber Sicheln dann aud; immer näher und Mingt 
der Ruf des Vogels immer ferner und fchleiern ſich allmählich auch Nebel über 
bie Wiejen und zittert jene Wehmut des erfüllten Wunfches, jene Wehmut bes 
Glüdlichfeins dir immer lauter durch die Bruſt, mit ihrer Sehnſucht: dich 
wieder fehnen zu dürfen, wieder füen zu bürfen, nicht nur ernten .. 

dann lachen beine Finder jubelnd ihren jungen Frühling bir entgegen. 


Und bift du fünfzig .. 

machſt du vielleicgt wiederum Gug-guck zu fol einem Gefhöpfchen, wie 
du heute jelber noch bift .. das dich anlacht aus feinen dunkeln Augen, wie 
eine große Frage... 

aber: al8 Großmutter . . zu einem Enkelchen! 

Es ift Oktober und November gemorden unb kahl und kalt draußen, 
und Blumen gibt’8 nur nod beim Gärtner, und der Himmel ift grau und 
hängt voll Schnee, und es friert dich und fröjtelt dich .. 

und alles ift fo anders geworden um bich ber, als es früher war... 
du fannft did) faum mehr zurecht finden... 

und .. es lohnt fih aud nicht mehr! und du läßt den Dingen ihren Lauf! 

Zu dem einen Enfelchen aber find mehr gefommen, Buben und Mäbdhen.. 

und du flüchteft dich vor ihrem Lärm auf dein Zimmer . . eingerichtet, 
wie e8 bir behagt und mie man’s früher hatte, gemütlicher als jegt mit al 
den taufend neuen Erfindungen und „Bereinfachungen“: ein paar Stücke aus deiner 
Brautzeit, ein Lehnſtuhl von deiner eigenen Großmutter nod und alte Bilber.. 

und du lieſt etwas, ober ftidft, oder jtridit, oder flidit . . 

bis die Heinen Wildfänge plöglid) an die Thüre fommen: ob fie herein 
dürften? fie würden mäuscenitille fein, wenn du ihnen was erzählen mwillft! 

und fie betteln und ſchmeicheln fo lang und fo jhön und machen jo 
liebe Augen durch den Spalt .. bis du Ja ſagſt und das Jüngfte auf den 
Schoß nimmit und zu erzählen anfängt: 

vom Rotkäppchen und vom Schneewittchen und vom kleinen Mud.. 
alles, was man bir auch erzählt hat, damals .. und du ſeieſt aud) einmal fo 


Kunftwart 1. Oftoberheft 1898 


- 19 — 


Hein gemwefen, mie fie, und habeſt aud) eine Großmutter gehabt, ihre Ur-ur— 
großmutter . . ja! jal 

und die habe alles mit erlebt unb habe auch . . Bismard noch geſehen 
und ben alten Staifer und .. wie es Krieg gegeben hätte mit den Franzoſen 
und wie man die Macht am Rhein gefungen und mie e8 ins Elſaß gegangen 
fei . . ein Eifenbahnzug immer nad) dem andern ... ganze Tage lang . . und 
bloß Soldaten und Pferde und Stanonen . . über den Rhein, der bamals noch 
den Frangofen gehört habe .. und wie man Spichern gejtürmt und Sedan 
belagert und wie der Napoleon habe fapitulieren müjfen... und wie bei Paris 
dann alle Könige und Fürjten von Deutfhland zufammen gelommen und Bis— 
mard den König Wilhelm zum Kaiſer ausgerufen ... 

Länger als fiebzig Jahre fei das jegt .. aber ihre Ururgroßmutter habe 
das alles nod) gejehen . . 

mie die Leute gemeint hätten vor Freude, auf der Straße... und der 
alte Kaifer Wilhelm fei faft hundert Jahre alt geworden und zulegt habe nur 
noch Bismard gelebt, aber weit weg in einem einfamen Schloß in einem 
großen, großen Wald... 

Ja, ja! 


Noch einmal zehn Jahre dann 

und bu bijt jechzig, und es ift Degember und geht Weihnaditen zu. 

Deine Entel find in die Welt hinaus .. die Jungen, was Ordentliches 
zu werden, die Mäddjen mit einem braven Dann. 

Dann und wann fommt eines von ihnen zu Beſuch, und das find immer 
ein paar ſchöne Wochen! 

und zu Djtern foll es eine Taufe geben ... ein Urenfelchen! 

Ob du e8 nod) erlebit ? 

Oder eine Jugendfreundin, eine Tante Emmy fommt einmal . . Es 
werden ihrer freilich immer weniger | 

Du bleibjt immer länger in deinem Zimmerden, immer lieber auch für 
bi allein. . und Lieft etwas . . obgleich es nicht mehr fo recht gehen will... 
und ... fie fehreiben auch nichts Rechtes mehr! 

Vorm Fenster, über dem Platz drüben, Liegt ein Kirchhof . . alles weiß 
und zugeſchneit, nur ein paar ſchwarze Kreuze und Steine ragen aus dem 
Schnee und der Wind pfeift und heult ums Haus... 

und bu benfft, wie lang es wohl nod) daure, bis e8 wieder fhön werde 

. Srühling . . und zu blühen anfange ?! 
2 ift man einmal fechzig, denft man das mitunter! ... 

oder bu framjt in deinen Schubladen herum: alte Briefe, ganze Päckchen, 
auß deiner Brautzeit ... und, von deinem Bater noch, vergilbte Zeitungen mit 
Auffägen, und ein paar alte Photographien, die du Dir gerettet, als Die Jungen 
das Album zerrijien: eine junge Frau auf einem Balkon .. ein ind auf dem 
Yrm .. und du wunderſt dich, dab du das gemejen! 

Auf einmal aber fommt es wieder über did) und du rechneft: wie lange 
es nod bis Djtern ſei und bis e8 Frühjahr werde .. und febeft dich an deinen 
Tiſch und ſchreibſt deinem Enkelkind: 

Es ſolle ſich nur feine Sorgen machen, und wenn auch nicht alles würde, 
wie man mödte ... wenn man ſich Mühe gäbe, könne man alles und bleibe 
der Lohn nit aus! und jo wie es gehe, ſei e8 immer am beiten. Du habeſt 
das fünfzig Jahre lang erfahren... jo wie e8 gehe, fei es immer am beiten! 


Kunftwart 1. Oftoberheft 1898 


—_— 2. 


Und wenn e8 auch über deine Sprüche lade, in ſolchen Großmutter- 
meisheiten lägen fo ewig neue und tiefe Wahrheiten, daß man fie recht eben 
erit als Großmutter verftünbe. 

Bor allem aber bürfe man nur nicht meinen, als müſſe alles immer 
glatt gehen, als müſſe tagaus und ein die Sonne fcheinen und als gehöre 
Aerger und Verdruß und Unheil nicht ganz ebenfo zum Leben, wie Freude und 
Slüd!.. im Wechfel läge das Schönel .. und als dürften Eheleute fich nicht 
aud einmal rechtſchaffen zanfen ! das thäte gar nichts! du Habeft dich auch ge— 


zankt und oft genug . . 


aber die Hauptſache fei: fi nicht auseinanderzuganten, fondern ſich zu= 


fammenzuzanfen 


und das gelte dem gangen Leben gegenüber: .. 

man müſſe verstehen, fi) mit ifm zufammenzuzanfen! 

Es jähe alles weit vermirrter aus, als es in MWirflichkeit wäre... in 
der Jugend aber fei man viel zu umrubig und ftehe viel zu nahe bei den 


Dingen... 


erſt im Alter, wenn man mehr über das Ganze blide, erfenne man, wie 
viel einfacher alles wäre, wenn man e8 felbft nur einfach nehme .. 
und wie auch ber größte Kummer immer nur daraus entitehe, daß man 


Menihen und Dinge immer nur wolle, wie man fie haben mödte . 


wie fie wirklich wären... 


. anftatt 


und dab man fie immer nur für fi, anftatt in ihrem ganzen Zuſam— 


menhang nehme... 


dann erjt fiehe man drüber! . . 


Das aber fei deiner Grokmutterweisheiten meifefte ! 


Der gute Feind. 

Eim Feind, der dir bedacht pariert, 
Der kraftvoll-fein den Degen führt 
Und immer bei der Sadye geblieben — 
Ja, nähm er dir von deinem Blut, 
Er bliebe dir doc; ein Kebensgut, 

Und mitten im Kampfe freuſt du dich: 
Bravo, du drüben, jetzt triffft du mich! 


DS 


Rundschau. 


Dichtung. 


+ Im Hufumer Schlobparfe ift 
ba8 Theodor Storm=Denfmal ent 
büllt worden, auf marmorner Säule 
eine Bronzebüfte von Brütt. Ferdi— 
nand Tönnies hielt die Feſtrede. „Die 
große Liebe war in ihm, die Liebe, die 
alle Zweifel und Enttäufhungen über- 
mwindet, die nicht nad dem Grfolge 
des Tages fragt, jene ſchaffende Liebe, 
die ſich ihres Werfes freut und ihres 
Werkes pflegt — jene Liebe zu allem, 
was Menſchenbruſt erhebt und er= 
mwärmt, zu Weib und find, zu Land 


Kunftwart 


und Boll, jenes Heimatgefühl, jener 
Familienſinn, jene Naturfreude, jener 
Humor, die im echten Dichter erjt die 
Größe ausmachen.“ 

* Aus ſechs größeren Novellen- 
ſammlungen, die Adolf Stern im 
Laufe von mehr als dreißig Jahren 
veröffentlicht hat, ſind in C. A. Kochs 
Verlag in Dresden „Ausgewählte No— 
vellen“ erfchienen, in Denen der Dichter 
fein Beſtes gegeben zu haben glaubt. 
Ein Blid in diefe Sammlung lehrt, 
dab Stern mit dem Titel „Novellen“ 
einen jcharf umgrenzten Gattungsbe- 
griff verbindet, jehr abmeidyend von 


1. Oftoberheft 1898 


bem —— Brauch, ſchlechtweg alles 
was für einen Roman zu kurz iſt, als 
Novelle zu bezeichnen. Auf Sterns No— 
vellen trifft die bekannte Definition 
Viſchers zu, das fie „nit das um— 
faſſende Bild der Weltzuſtände, aber 
einen Abſchnitt daraus“ geben, „der 
mit intenſiver, momentaner Stärke 
auf das größere Ganze als Perſpektive 
hinausweiſt — nicht die vollſtändige 
Perſönlichkeit, aber ein Stück aus dem 
Menſchenleben, das eine Spannung, 
eine Kriſe hat, und uns durch eine 
Gemüts- und Schickſalswendung mit 
ſcharfem Akzente zeigt, was Menſchen— 
leben überhaupt iſt.“ Geradezu wört— 
lich vermag man dieſe Definition, die 
—————— eine Entwicklung und 

mgeftaltung des Gattungsbegriffes 
nicht aufhalten kann, auf die Novelle 
anzuwenden, die an der Spitze der 
Sammlung ſteht. Ihr Held ſehnt ſich 
aus einem thatenloſen Dämmerdaſein 
nach ſtarken Eindrücken und Erfahr— 
ungen. Ein Zufall entführt ihn plötz— 
lid) in die „Flut des Lebens“ und reiht 
ihn alsbald in die Wellen hinab. Wie 
in Diefer Novelle, fo treten aud in 
anderen bie Strifen von außen an bie 
Selden heran oder ftellen fie in eine Si— 
tuation, von der aus ihr Charalter 
mit einem Schlage fcharf beleuchtet 
wird. In der allmählidhen Heranführ= 
ung oder Vorbereitung folcher kritiſcher 
Eituationen ermeilt fih Adolf Stern 
als Meiſter. So gemächlich der Fluß 
feiner Erzählung anmutet, fo fehr 
zwingt er doch andererjeits den Leſer 
in den Bann eines bejtimmten Vor— 
ftellungsfreifes. Unter dem Scdeine 
des Zufälligen erfennt man doch bie 
Fäden, bie zu einem engen Net ver— 
mwoben werden, aus dem e8 fein Ent— 
rinnen gibt, al8 eben die überraſch— 
ende und doch überzeugende Wendung, 
in ber der höchſte Reiz der Novelle 
liegt. Dank der vorherrſchenden Nei— 
gung nad) möglidit unmittelbarer 
Lebenswahrheit ift uns der Sinn für 
die Schönheit einer ftrengen Kompo— 
fition ziemlid) fremd geworden, obwohl 
unter ihr, wie Stern bemeilt, die Le— 
bensmwahrheit nicht zu leiden braudt. 
Jener anderen modernen Neigung, ſich 
vom Dichter nicht bevormunden und 
fi) mehr anregen, als gerade befrie— 
digen zu lajjen, gewährt freilid Adolf 
Eterns Technik nicht allzuviel Nahrung. 
Seine fünftlerifche Abſicht geht viel- 
mehr dahin, ben Xefer ftreng an ſich 
zu —— und wenn dieſe Abſicht ſo 
volllommen erreicht wird, wie in ben 


Kunftwart 


wohl am höchſten zu ſchätzenden Novellen 
„Die MWiedertäufer”, „Bor Leyben“, 
„Biolanda Robuftella‘, jo kann von 
einem anderen als von einem jtilreinen 
— ———— Geſamteindruck nicht die 
ede ſein. In der Art dieſer Novel— 
liſtik liegt es begründet, daß jene 
ſinnliche Lebensfülle, die man erſehnt, 
nicht erreicht wird, weil eben Menſchen 
und Zuſtände nur unter dem Geſichts— 
winkel des beſonderen Konfliktes be— 
trachtet werben. Der Dichter geht gar— 
nit darauf aus, die Welt der Er— 
fheinungen in ihrer eit vor uns 
aufleben zu lafjen, er will fie nur von 
einer Seite, von biefer aber auf das 
deutlichite beleuchten. Das aber gelingt 
Stern auf das beite, zumal in ben 
Novellen mit gefhihtlihem Hinter: 
grunde, die immer auch einen Aus— 
blid auf das Ganze eröffnen. In allen 
Novellen aber der Sammlung verrät 
fih ein ftarfes Bielbemußtfein, dem 
ein jtarfes Können völlig entipricht. 
Novellen wie die „Bor Leyden“ oder 
„Die Wiedertäufer* brauchen den Ver— 
gleih mit Heinrih von Kleiſts No- 
vellen, die Adolf Stern al8 Mufter 
vorgeſchwebt Haben, durchaus nicht zu 
ſcheuen. Ceonh. Lier. 
uge Gerhart Hauptmann hat 
neulid eine große Berliner — 
ihren jungen Mann geſchickt, ihn aus— 
en Der Beriht darüber iit 
töltlih zu leſen. Erſt wird nur bes 
Ichrieben, wie Hauptmann wohnt: „es 
iſt das Heim eined Denlers, eines 
Mannes von hohem Kunſtſinn, doc 
den Poeten, den phantaftereidhen ver— 
miffe ich*, meint der junge Dann. 
Hauptmann fagt ihm dann Wahr- 
beiten, nicht neue, aber deſto bewähr— 
tere, 3. ®., daß man nur aus der 
Wirklichkeit lernen könne. Der junge 
Dann lauft, dann fragt er: „vers 
zeihen Sie, wenn ic) Ihnen aud) recht 
dumm vorlomme, aber fagen Sie mir, 
was Sie mit den drei Bechern jagen 
wollen?" Hauptmann: „Es mürde 
mehr Zeit erfordern, Ihnen das de— 
tailliert auseinanderzufegen, als wir 
vor uns haben.* Der junge Dann 
berichtet: „offen geitanden, auch bier 
veritand ich ihn nicht recht“, bann fragt 
er Hauptmann meiter und der jagt 
ihm: was er über feine Produktion 
wiſſen wolle, fönne man ja bei Schlen= 
ther nachleſen, von ber gegenwärtigen 
deutfchen Literatur halte er was, ob 
fi Sudermann ganz dem Romanti- 
ſchen ergeben werde, gehe eigentlich 
nur den was an, und er jelber ar 


1. Oftoberheft 1898 


beite an verſchiedenen Sachen. „Schade“, 
ſo ſchließt der junge Mann, „daß er 
auf manche Punkte nicht einging! 
Denn nicht nur mich hätte er belehrt, 
ſondern durch mich das große Publi— 
lum.“ Schade, fo ſchließen wir, daß 
man nicht wenigſtens die Poeten mit 
ſolchen Ueberfällen verſchont. Denn 
derlei Berichte geben dem Publikum 
für keinen Heller Wertvolles, ſie füttern 
nichts als die dümmſte Neugierde 
und jenen Perſonenkult, der mit Ver— 
ſtändnis des dichteriſchen Schaffens 
nicht das mindeſte zu thun hat und 
deshalb auch den wirklichen Künſtler 
ſelbſt nicht erfreut, ſondern verſtimmt. 

*Johannes Schlaf erklärt 
in der Zukunſt“, daß und warum er 
fein Drama mehr herausgeben werde. 
Sein legtes hab’ er zerrilien, obgleich 
es feine befte und reifite Arbeit über= 
haupt gemwefen wäre: die Theater 
hätten ihm die Aufführung und num 
jogar die Berleger den Drud abge 
lehnt. Einem Dichter, der fih als 
„Initiator unferer neuen dramatischen 
Richtung“ fühle, als eigentlihen Ver— 
fafler der „Familie Selide* und 
der doch jedenfalls der Verfaſſer 
des „Meijter Delge* unbeftreitbar jet, 
alſo des einzigen modernen Dra= 
mas, das einen ganzen Kerl hin= 
geitelt Habe, einen Mannescharak— 
ter aus einem Guß — fol einem 
alio werde das Haufieren widerwär— 
tig. — Wir fönnen’s ihm nidt ver— 
denfen, obgleich wir's bedauern. In 
unjern literarifhen Anſchauungen 
fühlen wir uns als Gegner Sclafs 
und ob feine Anlagen gegen bie 
Berliner Theaterleiter und Hauptmann 
berechtigt find, wiſſen wir nicht. Ein 
ſtarkes und ein ehrliches Talent aber 
ift er. Und Zuftände, die ein folches 
daran hindern, gehört zu werden, fönnen 
nie und nimmer gefunde jein. 

* Didtung und Vaterlands— 
liebe. Immer, wenn Deutichlands 
Größe beleuchtet werden fol, beruft 
man fih auf die Deutfhen im Aus— 
land: die fühlten das am beiten am 
eigenen Leibe, die jeien nicht vorein— 
genommen durch Hirhturmpolitif und 
Parteihader. Hören wir alfo einmal 
einen Deutfhen im Auslande über 
unfre fogenannte patriotifche Poeſie, 
wie fie vor allem in dem ae 
aber beſchränkten Wildenbruh Aus— 
drud geminnt. In einem Leitauffahe 
der „Deutihen Wocenzeitung in den 
Niederlanden“ iſt von deſſen Einfluſſe 
ſo die Rede: 


Kunftwart 


„Die Art der Wilden- 


bruchſchen Dichtungen hat dazu beis 
getragen, daß in Deutfchland ein ur— 
teilslofer Batriotismus entitanben 
ift, ein dem frangöfifchen Chauvinis= 
mus bedenklich ähnlicher Batriotismus, 
ein in die Breite und nicht in Die Tiefe 
gehender Patriotismus, ein Patriotis- 
mus des Wortes und der Phraje, 
nicht des Herzens und des Verſtandes. 
Die Hauptgeitalten in Wildenbruchs 
patriotifhen Dramen ftrahlen in einem 
glänzenden Lichte, daß einem die Augen 
davon mwehthun: es fehlt ihnen an dem 
Schatten, der erft dem Lichte den Wert 
gibt. Die Fürsten find fo unendlid) 
flug, fo unendlich gütig, fie ragen fo 
ungeheuer aus ihrer Umgebung her= 
vor, daß fie aufhören, Menſchen zu 
fein. Und wenn fie denn fchon, meil 
die Geſchichte ja nit auf den Kopf 
Aigen werben fann, richt alle Wun— 
er auf einmal verridten, jo wird 
mwenigitens geahnt und prophegeit, 
was Deutſchland noch Herrliches be= 
vorjteht. Nahahmer Wildenbrucdhs, 
die weniger Dichterifche Bedeutung 
haben, als er, haben Biefes Manko 
durh ein nod größeres Aufhäufen 
patriotifcher Phraſen zu deden geſucht.“ 
Diefe Art des „PBatriotismus“ habe 
leider felbft Deutjchlands Studenten- 
tum berührt. „Der Screiber dieſer 
Zeilen hat e8 mit wehem Herzen an 
Fürft Bismards 80. Beburtstage wahr= 
genommen, wie die patriotifhePhraje 
das vaterländifhe Verjtehen eines 
großen Mannes erdrüdt hat. Wenn 
man fi), als Bismard feine wunder— 
bare Unfprade hielt, in der er bie 
Summe jeines Lebens zog, unter den 
Studenten umfah, fo fand man nidt 
viele, die ein Verſtändnis dafür hatten, 
daß der große Mann jein Geheimbud) 
vor ihnen öffnete. Sie hatten fid) eben 
nicht würdig auf dieſe Stunde vor= 
bereitet. Wenn fie bei jtudentifchen 
Kommerſen auf Bismard eine Feitrede 
halten hörten, dann hie e8: »Der 
große Meiſter im Sachſenwalde — die 
deutfche Eiche — der Heros des Jahr- 
hunderts« u. f. w. Un dieſen mar= 
fanten Stellen Hatten fie Beifall ge— 
trampelt und in die Hände geflaticht, 
der Salamander wurde jchneidig ge= 
rieben, und man mwar wieder einmal 
für Bismard begeiftert gemejen. So 
hinderte die Phraje daran, in die 
Tiefe zu gehen und den großen Dann 
zu jtudieren.“ „ES ift an ber Zeit, 
dat das deutſche Volk wieder zu der 
wahren, tiefen, ſchlichten Vaterlands— 
liebe aurüdgeführt werde, wie jte in 


1. Oftoberheft 1898 


unjern wahrhaft großen Dichtern ge: 
legen hat.“ 

* Wie’S gemadt wird. 

„Geiftesleben“, das ſchöne neue 
Titerarifhe Unternehmen bes Herrn 
Robert Heinide zu Leipzig, von dem 
wir unfern Leſern im vorigen Hefte 
berichtet haben, ermeilt fih als ein 
wahres Prachtweſen. Ein neues Rund— 
ſchreiben an die Herren „Kollegen“ vom 
Buchhandel, die anfcheinend doch zu 
geicheit find, läutet gejchlagene vier 
Mal den Hohen idealen Gharafter 
der Sache aus, — und feht zugleich 
die Preife meiter herunter. „Vers 
fchiedenen Wünſchen entjprechend und 
um ben idealen Wert von »Geiſtes— 
leben« noch zu heben, haben wir uns 
entſchloſſen, jedem aufgeführten Buche 
einen Raum von 95 mm Breite und 
8o mm Länge: entip. 28 zweifpaltigen 
Nonpareillezeilen von 95 mm Breite 
für Rezenfionen völlig foftenlos zu 
überlafjen, weiterer Raum hierfür wird 
mit nur ı0 Pf. für die zweifpaltige 
Nonpareillezeile berechnet. Doch müſſen 
wir die Herren Verleger bitten, wenn 
irgend möglich ſelbſt die Rezen— 
fionen zu liefern.“ Billiger fann 
man’s doch wirklich nicht verlangen: 
Lob aus der vollen Syrupflaſche für 
10 Pf. die Zeile! 


Theater. 


* Bon den Berliner Bühnen. 

Herr Neumann=Hofer iſt ein 
fehr hHöfliher Dann. Er muß es 
wohl fein, denn fonft ließe fich die 
feine Rede, die er an das Publikum 
des Leſſingtheaters gerichtet hat, nicht 
erklären. Das Stüd mar aus, die er— 
lauchte Spradye Shakſperes war eben 
veritummt, als der Vorhang fih von 
neuem bob und der neue Direktor 
auf die Bühne trat. Er fagte kurz, 
daß er die Sympathien erwerben 
wolle, die ihm fein Vorgänger hinter 
laſſen habe. Sein Vorgänger! Wahr: 
haftig, e8 fann einem falt den Rüden 
hinablaufen, wenn man einen Augen— 
blid annimmt, daß diefe Worte feine 
Phraſe der Höflichkeit geweſen feien. 
Der Vorgänger Neumann-Hofers hieß 
ja Blumenthal, Oskar Blumenthal, 
wie wir hinzufeßen wollen, um nicht 
Unfhuldige in Verdacht zu bringen, 
ein Mann, der die deutſche Kritik und 
die deutiche Kunſt fo tief fompro= 
mittiert hat, daß unfere Enfel nod 
darüber erröten werben, wenn bis 


Hunden geflohen tft. Die Worte Neu— 
mann-Hofers müffen alfo eine bloße 
Höflichkeit geweſen fein. Freilich, es wäre 
nit jedem gegeben, mit Shafipere 
zu eröffnen und fi dann vor Blu— 
menthal zu verbeugen. — Ueber die 
Aufführung von „Heinrih V.“, mit 
der eröffnet wurde, ift nicht viel zu 
fagen, um fo weniger, als „Jm weißen 
Röhl“ bereits feit langem wieder den 
Plan beherrſcht. Die fogenannte „Büh— 
nenbearbeitung“ verhunzte den Text 
in grauenerregender Weije, die Aus— 
ftattung war aufdringlid und proßen: 
haft, mie leider an andern Bühnen 
auch. Alles in allem wird die Kritik 
fih Herrn Neumann=Hofer gegenüber 
abmwartend verhalten müffen. Unter 
feinen Schaufpielern find einige, Die 
zweifellos bedeutend find, und fein 
„Autorenitab* umfaht auch Männer, 
die menigitens möglicherweiſe etwas 
Intereffantes zu fagen haben. Hoffen 
wir alfo, was zu tun bei Blumen= 
thal verbrederifher Leichtſinn ge— 
weſen wäre. 

Nicht ganz ſo günſtig liegen die 
Dinge bei Frau Nuſcha Buße, die ins 
„Neue Theater“ als Leiterin einge- 
zogen ilt. Ihre Wirkſamkeit leitet in= 
fofern eine neue Periode der Theater- 
geihichte ein, als fie den dramaturgi- 
ſchen Beiitand als einen überflüffigen 
Sram bei Seite geworfen hat und 
das Schidjal der deutſchen Dichter in 
Gemeinschaft mit ihrer rau Mama 
und ihrem Herrn Gemahl entſcheidet. 
Ihre Frau Mama näher zu fennen, 
hat uns ein hartes Gefhid vermehrt, 
von ihrem Dann dagegen wiſſen wir, 
daß er glüdlicher Inhaber eines Renn— 
ftalls und eines vennommierten Pferde: 
veritandes iſt. Ueberhaupt begreifen 
wir ganz gut, daß Frau Buße feinen 
Dramaturgen haben mag: vermut= 
lid) hat fie als Schaufpielerin Dieje 
Sorte von modernen Theaterfommis 
in der Nähe befehen. Was uns her— 
abitimmt, ift etwas anderes. Frau 
Buße wird leider mitunter in betrü- 
bender Weife von dem Selbitgefühle 
verlaſſen, das fie den „Dramaturgen“ 
gegenüber in jo ſchöner Vollendung 
zeigt. So war beifpielsmeife gleid) 
ihr erites Stüd eine dynaftifhe Lob— 
hudelei, bei der ich jelbit die greifen 
— — Byzantiner erhoben und die 
chriftliche Verſicherung abgaben, daß 
ſie in irgend einem entlegenen Winkel 
ihres Herzens nebenher auch Men— 
hen ſeien. Aber am Ende hat Fran 


f 
dahin die Scham nidht ganz zu den | Buge — belehrt durch den Kaſſierer, 


Kunftwart 


1. Oftoberheft 1898 


der ſich nicht abmweifen läßt wie ein 
gewöhnlicher Dramaturg — bereits 
ihren Sinn geändert und geht in naher 
Zufunft als neuer Stern am Himmel 
der deutſchen Kunſt auf. 

Borläufig allerdings bleibt unfere 
Hoffnung auf Brahm geitellt, der im 
„Deutfhen Theater* die Saifon jehr 
anſprechend eingeleitet hat. 

Auf Björnjon junior, deſſen im 
Kunſtwart ſchon beifprodhene „Johanna“ 
im Sinne germanifdher Charakterkunſt 
mit re Mitteln mirtfchaftet, 
folgte der Franzoje Roftand, deſſen 
„Eyrano von Bergerac“ in einer 
Ueberjegung von Fulda zur Auffüh— 
rung fam. Wir müfjen uns im Rah— 
men dieſes Briefe auf die Feſtſtel— 
fung beſchränken, daß mwir’s hier mit 
einer piyhologifh recht tiefjinnigen 
Tragikomödie zu thun haben, die we— 
nigftens einen Teil der unerfhrodenen 
Reklame verdient, die in Deutfchland 
für fie gemadjt worden ijt. Der Held 
iſt ein verfchollener franzöſiſcher Dich— 
ter, der neben romantiſchem Helden— 
mut und anderen ſchätzenswerten Gaben 
der Natur eine entſetzlich anſpruchsvoll 
hervortretende Naſe beſitzt. Da er 
aber ein guter Kerl und ein geiſt— 
reicher Kopf iſt, weiß er ſich über die 
fatale Komik ſeiner Situation zur 
freien, reſignierenden Selbſtironie zu 
erheben. Einzig und allein in dieſer 
Hauptfigur liegt für uns Deutſche der 
Wert des Stücks. Was ſonſt an Hand— 
lung und Perſonen drum und dran 
hängt, iſt mit franzöſiſcher Leichtfer— 
tigkeit gearbeitet und ſtört leider hier 
und da empfindlich den Genuß. 

Erwähnen wir noch, daß Löwen— 
feld in feinem ſehr reſpektablen 
„Shillertheater* mit Holbergs 
„politiihem Stannengieker“* bei ber 
Kritif bedingten und beim Publikum 
gar feinen Anklang gefunden bat, 
dürfen wir jchließen. Es Sei denn, 
daß wir noch Georg von Ompteda 
nennen müßten, der fih durch ein ge- 
fchictes, aber unbedeutendes Theaters 
ſtück (Eheliche Liebe) an feinem guten 
Schrijtitellernamen ein menig ver— 
gangen hat. Erih Scdlaifjer. 


Muſik. 


* Was verdrängt das Volks— 
lied? In Sohnreys „Lande“ ſpricht 
Erwin Groos davon. Erſtens, meint 
er, thun es der Urlauber, der von 
Burſch und Mädel gefeierte, und der 
Reſervemann, der „was von der Welt 


Kunitwart 


weiß“: fie exportieren aus den Stadt— 
fneipen den Gafjenhauer aufs Land, 
bis Die lieben innigen Lieder ſich vor 
dem Dianne mit dem Cooks und vor der 
Holzauftion im Grunewald fozufagen 
Ihämen. Zweitens verdrängt das 
Volkslied — der dörflihe Geſang— 
verein, wenigſtens leider Gottes ſehr 
oft. Denn dem ift meiſtens das fimple, 
höchſtens zweiſtimmige Volkslieder— 
fingen nicht „kunſtvoll“, nicht ſchwierig, 
alſo nicht vornehm oder auch nicht 
effektvoll genug. 

*Neue Lieder. 

In einer Zeit, wo man anfängt, 
die Noten nad) dem Kilo au verhan= 
bein, mwird’8 für den Sunftfreund 
doppelt wichtig, feinen Bedarf unter 
den majjenhaften neueren Erzeugniſſen 
bedachtſam auszuwählen. Sudt Einer 
für feinen Bariton was zum Slonzert= 
vortrag, das ein Publikum befriedigen 
fann, ohne die „wenigen Edlen“ dar= 
unter durch AUbgefhmadtheit zu ver— 
legen, fo greif’ ev nah Wilhelm 
Bergers Zyklus „Eliland* (Leipzig, 
N. Forberg, ME. 4.—). Die Kompo— 
fition diefer Stielerfchen Gedichte von 
Hans Sommer und A—. v. Fielig fenne 
ich nicht, kann mid) aber bei der Ber: 
gerfhen mit dem Spruche Walters 
von der Vogelweide getröſten: „mögen 
andere beſſer fein; du biſt gut.“ Daß 
man zumeilen die Trompete von Säck— 
ingen mitflingen zu hören glaubt, 
liegt eigentlid) am Boeten. Die Muſik 
ift ganz der feinerlei unergründete 
Seelentiefen erfchliegenden Dichtung 
angemeſſen, feßt fie ins beſte Licht 
und holt nicht mehr heraus, als darin 
iſt. Spariam aber geichidt verwen- 
dete Leitmotive geben diefen zehn Ge— 
fängen die Einheitlichfeit; der Muſiker 
wird durch einen fauberen Sat ſowie 
durd; allerhand geiitreiche Ntombina= 
tionen angezogen und der Sänger freut 
fih an den warmen, fließenden Me— 
lodien. Kurz, Berger ift jujt fein 
Schatzgräber, Offenbarer und Neu= 
töner, aber ein fehr fympatifches, ehr— 
liches und willkommenes Talent. 

Durchaus modern, als bewußter 
Fortſchrittler gibt ſich der jetzt in 
München lebende Hamburger Wil— 
helm Mauke. Sein Grundfehler 
beſteht darin, daß er in ſeinem Kom— 
poniereifer vergißt, in den Sinn und 
Charakter der Gedichte einzudringen, 
die er in Muſik ſetzt. Bierbaums 
Gaſſenhauer „Was iſt mein Schatz? 
Eine Plättmamſell“ ſetzt noch recht 
glücklich an, aber ſchon nach wenigen 


1. Oktoberheft 1898 


— 26 — 


Zalten verbüftert das erit noch fo 
muntere Mädel ihre Mienen, madjt 
Gefichter wie der jterbende Triſtan 
und wird Schließlich zum mufilalifchen 
Sonterfei des verhärmten, abſcheu— 
lihen Frauenzimmers, das den Um— 
ichlag des Heftes (op. 23 München, 
A. Schmid, ME. 1.50) verunziert. Auch 
Bufjes „Was will ich mehr?” in dem— 
felben Opus leidet an grundlojem 
Außerſichſein. Und einen ähnlichen 
Einwand muß ic gegen die Diaufejche 
Kompofition de8 „Prometheus* von 
Goethe (op. 35. Berlin, Challier, 
ME. 1.20) erheben, der nicht als ein 
abgeſchloſſenes idrijches Ganzes, ſon— 
dern wie ein aus dem Zuſammen— 
hang eines Muſikdramas herausge— 
riſſenes Stück anmutet. Da iſt der 
Komponiſt unſtreitig „fehl am Ort“, 
mwenn er neue Wirkungen um jeden 
Preis erzielen und, dem Sänger Wüll- 
ner vergleichbar, das Konzertpodium 
ur Szene maden will. Auf Expo— 
—* Gliederung, Aufbau zu einem 
Höhepunkt, auf alles, was man Form 
nennt, ſcheint er verzichtet zu haben. Aber 
es ſteckt eine anſehnliche Kraft in dem 
Wert und feinen drei charaktervollen, 
plaſtiſchen wagnerartigen Themen (Ber- 
tragmotiv, Eingang des Tannhäufer- 
marſches, Gurnemanz’ Segen), die des 
Prometheus Trog, feine Menſchen— 
würde und feine Gottähnlichfeit ver= 
finnliden. Wer fi) für die moderne 
Liedfompofition und für Maufe im 
beiondern interejfiert, fol an dem 
„Prometheus“, der meines Erachtens 
bisher bedeutenditen Leitung Maufeg, 
nicht vorübergehen. Vielleicht wird er 
darnady mit mir ein Gefühl teilen, 
als ſei die Lyrif gar nicht Maufes 
Feld, als dränge feine Begabung, deren 
Vorzüge ich keineswegs verfenne, immer 
beutlicher zum Drama, zum Theater. 

Ich verjäumte feine Gelegenheit auf 
die Lieder des vor anderthalb Jahren 


verstorbenen Alexander Ritter bins | 


aumeifen, die zu dem Belten, Echteſten 
der neuerer Zeit zu zählen find. Dies- 
mal made id auf fein op. 2, Die 
„Schlichten Reifen“ (E. F. W. Siegel, 
Leipzig, ME. 1.50) aufmerffam. Ein 
Jugendwerk alfo — und doch melde 
fiher geitaltende Meifterfchaft! Ritter 
war als Lyriker feine elementare Na— 
tur; eine entzüdende Feinheit der ſton— 
turen, eine unwillkürlich an Gornelius 
erinnernde Zartheit der Empfindung 
fennzeihnet ihn bei unbedingter 
Wahrhaftigkeit feines oft wie verſchämt 
zurüdhaltenden Ausdruds. Die lieb- 


Kunftwart 


( 
ſch 
| 
| 
| 


lihen Melodien, die er zu den Dahn— 
Ihen Verſen gefunden Hat, eignen das 
Merk wie fein anderes zur eriten Be— 
kanntſchaft mit Ritter. R. B. 

* Zumssojährigen Jubiläum 
der Dresdner Lönigl. Kapelle 
22. September) bat 9. v. Brescius 
im Meinholdſchen Verlage eine Feit- 
fchrift Herausgegeben, worin bie ruhm= 
volle Geſchichte der Kapelle von Reiſ— 
figer bis Schud) (1826 —98) ig ein 
läßlich, wenn aud; natürlich jtets im 
rofenfarbigster Feſtbeleuchtung abges 
ildert wird. Beigegeben find die 
Bildniffe von Reiſſiger, Morlacd)i, 
Wagner, Rietz, Krebs, Schuch, Wüll- 
ner und Hagen. 

* Wiesnoh immer gemadt 
wird, Der „Fall Weißheimer“ it, 
glauben mir, abgethban, aber mie 
neueftens Hanslid ihn ausfchrotet, um 
dem verhaßten Wagner eins am mo— 
raliſchen Zeug zu fliden, da fich fein 
fünjtleriihes als allzuhaltbar erwieſen 
hat, — das bleibt lehrreich zu beobach— 
ten. Gr will den Lefern der „Neuen 
Freien Preffe* „das Wichtigſte“ aus 
Weißheimers Buche mitteilen, das 
aber find für ihn feineswegs die 
vielen interejjanten Berichte über des 
Meiiters Schaffen oder bie —— 
ſchen Züge ſeiner Perſönlichkeit. Sie 
übergeht er, und regiſtriert bloß 
die Stellen, aus denen hervorgeht, 
was Magner feinem Famulus 
ſchuldig war. Und da ihm das „immer 
nod nicht ſchwarz gnug* erſcheint, ie 
torrigiert der biedere Hiftorifer à la 
Riccaut de la Marliniere die That 
fahen. Freilih: „Ihatfadhe iſt, 
daß Weikheimers Merk in Münden 
nicht zur Aufführung gelangt ijt*, er= 
Härt er gerade, um Wagner bie Folgen 
feiner Undanfbarkeit vorzubalten. Sehr 
effeftvol, aber Weißheimer ſpricht im 
Bude ausdrücklich von ber Münch— 
ner Aufführung! „Bon Wagner felbft 
empfing er nie mwieber ein Lebens— 
zeichen“, erflärt Hanslid entrüftet, 
vergißt aber anzugeben, dat zwiſchen 
beiden ein ſchwerer öffentlider Kon— 
flitt ausgebrodyen war. Er fchildert 
beweglidh, wie ber von Wagner vers 
ftoßene Jünger in Augsburg, Berlin, 
Düffeldorf, Würzburg fi für feine 
Merle einſetzt — unterjchlägt aber, daß 
diefe Wirkſamkeit in eine Zeit fällt, 
wo Weißheimer mit Wagner nod) auf 
freundlidftem Fuße ftand. DaB 
folhe hHandgreiflide Fälfhungen in 
einem „Weltblatte* durchgehen fünnen, 
zeugt nit bloß von der Geduld des 


1. Oftoberheft 1898 


Bapiers, fondern aud) davon, baf 
dieſe gute Preſſe annimmt, ihre Ybon= 
nenten würden zwar die Beipredhung, 
nicht aber das befprodhene Bud) Iefen. 

* An Dresden find immer ned 
Dinge möglich, die anderwärts ſchwer 
möglid) find. So wäre ein Ludwig 
Hartmann naddem Prozeſſe gelegent- 
fi der Beitfchen- Affaire feiner Frau, 
einem Prozeſſe, dem ſpäter der berühmte 
Tappertſche an Merkwürdigkeiten nicht 
nahe fam, in jeder andern beutfchen 
Etadt unmöglicd) geworden. In Dres— 
den mußte er zwar feine Stellung an 
den Nachrichten“, den doch fo duld— 
famen, aufgeben und als Feuilleton 
rebafteur eine Nundreife durch Die 
fleinen Dresdner Blätter antreten — 
aber die Sache ftörte die öffentliche 
Meinung bald jo wenig, daß man jelbft 
dem Kunſtwart Hartmanns Mitarbeit, 
leider bis zu unferer Aufllärung mit 
Erfolg, empfahl. Und jest glauben 
bie „Neueiten Nachrichten“ (fo etwas 
wie ein „Generalanzeiger“ Dresdens) 
mit dem bei ihnen angelangten Herrn 
gar Reklame machen zu können, und 
diefer jelber jchreibt „zur Einführung“, 
als hätt er feiner Lebtag zu allen drei 
Tagesmahlzeiten nur Idealismus ges 
gejlen! Das iſt leider bezeichnend für 
Dresdner Zuftände, es entjpricht 3. 8. 
ganz dem Berhalten gegen Stoppel= 
Ellfeld. Bon feiner Dramaturgenitels 
lung mußte Koppel, nad) feinem ſcham— 
loſen Plagiate, weg, bald darauf aber 
lud man fogar obrigfeitlid) jeinen be— 
mwährten Jdealismus ein, mit Feitpro= 
logen zu begeiftern. Immer zunächſt 
eine Wahrung ber „dehors“, dann aber 
fein Ernit, ber das als notwendig 
Erfannte aud) durchführt. 

Weshalb genießt wohl ein Ludwig 
Hartmann beim Bildungspöbel immer 
noch die gewiſſe Beliebtheit, die ſeinen 
Marktwert für weitherzige Zeitungs— 
verleger beſtimmt? Auch das iſt, als 
Zeichen der Zeit, nicht unintereſſant 
zu verfolgen. Der Mann bat muſi— 
kaliſche Fachkenntniffe — die find für 
die Wirkung im breiten Publifum 
natürlich volllommen gleihgültig. Bon 
allgemeinerem Kunſtverſtändnis fann 
gar nicht bei ihm die Rede fein — doch 
mit dem müßte das Publikum ja nichts 
anzufangen. Sein Deutjd) iſt jo ſchlecht, 
dab ihm fogar grammatifalifche Fehler 
unterlaufen — das wieder jtört das 
Bublifum nicht. Das Geheimnis feiner 
Schriftſtellerei ift das: er fchreibt einer— 
feits für njedrigere Naturen amüfant, 
nämlich ohne je anzuftrengen und 


Kunftwart 


rn 


unter fortwährender Einrührung von 
Kunſtklatſch, und, zweitens, bod 
tet8 mit einer Miene des ehrlich 
tunftbegeiiterten und dabei hochgebil— 
beten Biedermanns, der den Klatſch 
verabicheut. Vereinigt fi das, fo 
fommt der Bürger nie dazu, aud) den 
nadt daliegenden Unfinn als ſolchen 
zu erkennen, von dem Hartmann in 
reichiten Gaben auftiiht. Als er vom 
König Albert ernithaft fchrieb: „Sein 
Bater und Er haben ben Uebergang 
von der wälſchen Muſik zur de 
vollzogen — das iſt eine gefchichtliche - 
Wahrheit”, haben feine Leſer nicht ges" 
lat, und wenn er jeßt fchreibt: „das 
ilt ja eben der Vorzug ber riafſiſchen 
Epochen vor unſerer modernen Him— 
melsſtürmerei — ihre Klarheit“, fo 
wird ihn feiner der Seinen fragen: und 
der tieffte Bad) und der leßte Beethoven ? 
In derjelben Reflamenummer der 
euejten* fteht auch eine Parodie auf 
Magners Rheintöchter von Mikado. 
Weß Beijtes fie iſt, davon hier eine Probe 
— ſchwer zu glauben, aber wahr, immer 
noch wohl das „witzigſte“ Stüd: 
„Die drei Mädchen (zufammen das 
Riff anmutig umſchwimmend, mwobei 
fie voneinem vorüberfahrenden Dampf= 
Ichiffe aus durch Operngläfer beobadtet 
werden): 

Ei ja! Ei jal 

Heia bobbeia! 

Elbgold! 

Elbgold! 

Leichtende Knebbchen 

Verdreh'n mer mei Kebbchen! 
Elbgold! 

Gelbgold! 

Drallala! Ei jal 
Alberich: 

Was is es, Ihr Mädchen, 

Das dort ſo hibſch glänzt? 
Die drei: 
Wo biſt denn, du Alberner, her, 
Daß vom Elbgold nie de gehärt, 
Niſcht weeß der Alb 
Von der Badendknebbchen Glanz, 
Der am helliten jtets is, 
Wenn mit Salmialgeift 
Se blant butzt ‚der Elbe Hausknecht! 

(Sie ladjen.)* 

Das iſt das Rechte, ijt der ganze 
Ludwig Hartmann und ift der Typus 
von Zeitungswirtfchaft, den wir mal 
aufzeigen wollten: zuerſt erhabene 
Worte vom Schönen, das hoch über 
dem Leben thront, und von Dresden 
als dem „Hort finnvoller Kunit= 
pflege“, dann anderthalb Hundert 
Beilen lang — von Badendknebb⸗ 


Oktoberheft 1898 


hen und Salmialgeift, in deren Folge 
übrigens noch direlt gemeine An— 
ſpielungen kommen. $. A. 


Bildende Kunſt. 


* Berliner Kunſt. 

Wir fommen dod) vorwärts! In 
der Berliner Stadtverordneten= 
Verfammlung Stand ein Mann auf 
und magte, das neueſte Werk der 
ftädtifhen Wafferbauverwaltung, Die 
neue Potsdamer Brüde des Herrn 
Stahn, jo ſchauderhaft zu nennen wie 
fie ift. Der Kunſtwart hat ſchon vor 
einem Jahr darauf vermwiefen, mit mie 
unbegrenzter Harmloſigkeit dieſe rechte 
Hand des einjtigen Stadtbaurats Ho— 
brecht jeine unausgegohrenen Verſuche 
der Reichshauptitadt aufhängen durfte. 
Friedrichs-, Waiſen-, Luthers, Weiden 
dammer:, Wühlendammer:, Eberts— 
brüde jind ebenfoviele Beifpiele dafür, 
mit welcher Stedheit der „große Kana— 
liſator“ das Stadtbild mit den ärgiten 
Stümpereien auf Jahrzehnte hinaus 
ſchimpfieren durfte. Jet endlich wagt 
ein Stadtverordneter die Entrüjtung, 
welche nunmehr fogar fo rückſichtsvolle 
Blätter wie die „Deutſche Bauzeitung“ 
ergriffen hatte, aud) im roten Haufe 
auszufpreden. Ja, mehr, viel mehr! 
Der Antrag Ladewig auf Abänderung 
der Potsdamer Brüde ward zum Be— 
ſchluß erhoben. 

Man darf begierig darauf fein, ob 
der Nachfolger Hobrehts noch länger 
dem neuen Stadtbaurat für Hochbau, 
dem verdienten Erbauer des Leipziger 
Neichsgerichtes, den gebührenden Ans 
teil an den Berliner Brüdenihöpfungen 
vorenthalten wird. Der ſtädtiſchen Kunſt— 
fommiffion, deren größtes Werk Die 
Serpentintangbeleudhtung des Tünjts 
lihen Waijerfalles im Viktoriapark ift, 
dürfte aber durch dieje frondierenden 
Stadtväter doch endlid) ein Licht dar— 
über aufgestedt werden, daß Gevatter 
Sandihuhmader und Seifenfieder zur 
Beurteilung von Kunſtfragen nicht aus— 
reihen. Publikus, freilich, ſtaut ſich 
vor dem bunten Waſſerfall und hofft, 
daß auf dem Wege der eircenses-Dar— 
bietungen noch fortgefahren wird. Be— 
völkerte man z. B. den bunten Waſſer— 
fall mit netten Rymphen, gewiß, fo 
machte man fi) noch populärer. 

Uber Herr Zelle, das einitige Haupt 
der Kunſtkommiſſion, iſt gleich Herrn 
Hobrecht dahingeſchwunden, und jo er— 
hebt die Oppoſition ihr Haupt, wenn 
die Autoritäten den Dienſt verlaſſen. 

Ja, die Autoritäten! Darin liegt's! 


Kunftwart 


| 


28 


Wenn nur die „autoritativen“ Menfchen, 
die Menſchen mit der naiv-rückſichts— 
lofen Freude am Befehlen nit fait 
allemal die ungeeignetiten für Kunſt— 
entjheidungen wären! Ach die Herden— 
menſchen brauchen den Herrenmenfden, 
dem eine Verantwortung leicht wird. 
So ſicher dieſer fid) felbit für den rich— 
tigen Maßſtab aller Dinge hält, fo 
ratlos find jene im heimlichen Be— 
wußtfein ihrer Waichlappigfeit. 

Wohl dem braven Byzantiner, der 
eine Mutorität gefunden, die ihn dedt 
und, womöglich, noch obenein Tobt! 
Wie erfreulich klingt da wieder bie 
Stunde von dem Ergebnis des engeren 
MWettbemerbes um den Entwurf für 
ein „Repräjentationsgebäude* 
des deutfhen Reiches auf der 
Parifer RWeltausftellung. Das 
Preisgericht, „das unter der Leitung 
des Präfidenten der fgl. Akademie der 
Künſte, Geheimen Regierungsrat Ende, 
tagte, brachte drei Entwürfe als zur 
Ausführung geeignet in VBorfchlag... 
Diefe wurden, nachdem von den fran— 
zöſiſchen Ausitellungsbehörden gegen 
feinen Bedenlen erhoben waren, dem 
Staifer unterbreitet. Die in dieſen 
Zagen eingetroffene Allerhöchſte Ent— 
fheidung geht dahin, dat der Radke— 
fche Entwurf mit dem Stennmwort »Ca 
iras zur Ausführung gelangen foll“ 
u. ſ. w. So fchreibt ein offiziöſes Blatt. 

Die Entwürfe find nod) nicht öffent— 
li) befannt gegeben, wie denn Die 
ganze Ungelegenheit erit jegt zur Bes 
ſprechung gelangt. Es mag auch wohl 
fein, daß dein Erbauer des „Deutfchen 
Hauſes“ in Chicago, das von allen 
Urteilsfähigen gelobt wurde, auch ein 
zweiter Wurf gelungen ijt. An fid 
iſt die Angelegenheit vielleicht in gutem 
®eleife, aber es wird hier, mo es fid) 
zweifellos um eine reine Stunjtangele- 
genheit Handelt, erlaubt fein, zu jrdgen: 
ob wir denn wirflih als deutſche 
Staatsbürger verpflichtet find, zu 
glauben, daß der Staifer in tunitdingen 
autoritativer fei als der Senat der 
Kunftatademie? Was zmeijeln wir? 
Wir werden’S eben glauben lernen 
müffen, denn wenn diefe Herrn nicht 
einmal das Selbitvertrauen eigener 
Entjheidung haben, jo hat wirklich 
jeder jelbjtändige Mann, er verftehe 
von Kunſt jo wenig e8 ſei, mehr Ur: 
teil als fiel 

Niemand wird unferem Staifer das 
Recht eines eigenen fünjtleriichen Ge— 
fchmades beftreiten wollen. Aber kein 
Staatsanwalt fann die Thatfache unters 


1. Oftoberheft 1898 


drüden, daß der —— keineswegs der 
unanfechtbare Bertrefer auch bes Ge— 
ſchmacks ber Gegenmart ift, daß nicht 
der minbefte Grund ift, dieſen Ge— 
ſchmack in fünjtlerifhen Dingen für 
maßgebender zu halten als den irgend 
eines andern gebildeten Mannes. In 
unferm Falle lag nicht bei Berufs— 
politifern von gewohnten funjtbanaus 
fentum die Enticheidung darüber, wie 
mit den vom Volke bemwilligten Mit» 
teln Zeugnis vom Tünftlerifchen Em— 
pfinden des Volkes abzulegen Sei. 
Um fo fchlimmer, daß daraus nichts 
gemadt worden ift, als wieder 'mal 
eine Gelegenheit für „tonziliante“ Ge— 
heimräte, fi als Urteilsloje dem höchſt⸗ 
geitellten Zaien allerumnterthänigft zu 
Füßen zu legen. Boreas. 

* Denlmäler= Narrheiten 
machen wieder mal von fi reden. 
Wenn bisher einer von „Hühnerologie* 
ſprach, meint’ er, einen ſchlechten Wit 
aufzumärmen, jeßt aber foll ein Hüh— 
nerologe“ ein Dentmal befommen, u.a., 
weil er diefes treffliden Ausdrucks 
Schöpfer jei. Einen andern Denkſtein 
wollen die Gemeinden Zierenberg und 
Dörnberg errihten: „Stehe Wanderer 
und leſel (lejel) Hier fpeilten Sailer 
Wilhelm IL. und Saiferin Auguſte 
Biltoria am 19. Auguſt 1898 zu Abend.” 
Will man künftig auf jede ebenfo wich— 
tige Lebensthätigleit des Stailerpaares 
einen Dentitein fegen, jo führt das 
doch zu jelbit für Neu-Byzanz eigen= 
tümlihen Sonfequenzen. Na, dafür 
fcheint ja nunmehr das hoch- und hoch— 
mohlgeborne Komitee unter Befehl 
bes Grafen Hochberg, Höchſtlomman— 
dierenden der fgl. Theaterparaden, das 
fchneidige Berliner „von Wagner-Denk— 
mal“ gefichert zu haben. Beweiſt das 
etwa nit, wie aud) in Neu-Byzanz 
ein einfach mohlgeborner Künſtler 
noch nad dem Tode avancieren 
fanın? Iſt e8 doch wahr, p. p. 
Richard Wagner verlangte von feinen 
Freunden vor allem Ermeiterung 
des Bayreuther Fonds, damit aud) 
Unbemittelte dort fich bilden fünnten, 
er. verlangte überhaupt vor alleın Ein- 
treten für feine Gedanfen, für fein 
Lebenswert. Aber folden Mangel 
an Berjtändnis fürs Delorative über: 
fehen wir nachſichtig, wir, die wir doch 
wohl wiſſen werden, warum nicht die 
Künftler, fondern die Kadetten Frei- 
billete befommen. 

* Hier in Wien liegen ftille Mo— 
nate Hinter uns, und aud) der Herbjt 
wird vorläufig nicht viel Neues bringen. 


Kunftwart 


Im Künftlerhaufe bereitet man fid) vor 
zu der Ergänzung ber legten Ausſtel— 
lung, die einen Rüdblid bis zum Jahre 
1848 bringen fol: „Fünfzig Jahre 
dfterreihifher Malerei“. Manche 
alte Erinnerungen und intereljante 
Vergleiche dürften bei diefer rüdbliden= 
den Ausitellung für den fchärfer zu= 
fehenden Beobachter zu finden fein — 
wird die Wiener Vergangenheit nicht 
vielleicht bejier dabei weglommen, als 
die Wiener Gegenwart? Was die ein= 
heimiſche Kunſt anbelangt, fo dürfte 
der Vergleich nicht zu Gunsten der Durch 
den verfpäteten „heiligen Frühling” zu 
faum verdienter Glorie emporge- 
ſchraubten Mittelmäßigkeit ausfallen! 

Mittlerweile baut der junge Archi— 
tet J. M. Olbrich den neuen Kunſt— 
tempel für die Sezeſſion („Vereinigung 
bildender Künſtler Defterreihs*), in 
welchem die erite Ausſtellung Ende Ol- 
toberftattfinden ſoll. Ueber dieſen kleinen 
Ausjtellungspavillon läßt ſich noch nicht 
viel fagen, obwohl ſchon jegt die aus 
Lorbeerblättern zufammengewadjfene, 
grünsgoldig ſchimmernde Kuppel Die 
Blide des Borübergehenden auf fi 
zieht. Um wichtigsten wird das Innere 
fein, mo ein ganzes Syſtem verſchieb— 
barer Wände die Räume beliebig groß, 
flein, lang, breit (mit Ober= und Seitens 
lihtbenugung) machen fann. Und dann 
vor allem: der Tempel wird Flein. 
Es geht alfo wenig zu gleicher Zeit 
hinein — das bedeutet einen Schritt 
vorwärts im Ausſtellungsweſen. 

Wilhelm Shölermann. 

* Bor Beginn der großen Katho— 
lilenverfammlung hat man im 
Krefelder Mujeum de Rudders Bronze— 
figur „Die Wahrheit” aus den Aus— 
jtellungsfälen entfernt — jett ſteht fie 
in ihrer feufchen Nadtheit wieder da. 
Eine Nachricht, bei der einem wirklich 
lächerlich und jämmerlich zugleich zu 
Mute wird und die mwirft, wie eine 
VBerfpottung der verfammelten glau= 
bensitarten Männer! Was dann auf 
dem Statholifentongreß über moderne 
Kunst gefagt ward, war ja freilich zum 
großen Zeil fhlimm, aber man fonnt’ 
es doch nicht vorher willen. Und wenn 
jegt manche unjrer Zeitungen auß den 
dortigen Weherufen über moderne 
Kunjt eine allgemeine Verjtändnis= 
Iofigfeit der Statholifen in Kunſtdingen 
folgern wollen, fo zwingt Die Ges 
rechtigkeit, anf die Generalverfamme 
lung der „Deutſchen Geſellſchaft für 
Hrijtliche Kunst“ Hinzumeifen, auf der, 
in diefem Auguft zu Ravensburg, gleich— 


1. Oftoberheft 1898 


23 — 


falls Katholiken, aber in fehr verſtän— 
digem Sinne fpraden. So mwieß der 
gelehrte Pater Albert Kuhn aus Ein= 
fiedeln auf das Eindringlicdhite darauf 
hin, „daß unfere Kunſt, aud) die mo— 
derne religiöfe Kunſt, fich den berech— 
tigten eloberunge des modernen 
Zeitgeiftes fügen, daß fie darin wur— 
zeln folle*. „Es beiteht Heutzutage 
eine ſtunſt, welche die Stilarten früherer 
Zeiten indie Gegenwart hinübernimmt: 
das fommt von unfrer maßlofen Ge— 
lehrſamkeit, mweil wir zu menig ge— 
bildet find und viel zu gelehrt. Jede 
Zeit muß ihren Stil haben und foll 
ihren Stil haben“. In ber Ginfüh- 
rung des Realismus auch in die reli— 
giöfe Kunſt fei „noch gar feine Ber: 
irrung zu erbliden. „Wenn Die 
religiöfen Künſtler fo wenig Einfluß 
und Anfehen haben, fo fommt das ein= 
mal daher, dab ihre Kunſt zu wenig 
zeitgemäß ift, daß fie zu wenig eine 
den Zeitgenoffen verjtändlidhe Sprade 
redet. Wer auf die Zeitgenojjen Ein— 
fluß gewinnen will, der muß aus ber 
Gegenwart, aus dem Rollen fchöpfen. 
Aus all diefen Erwägungen ergibt fid) 
die Schlußfolgerung, daß der driit- 
liche Stünftler Heutzutage weniger Ro— 
mantif treiben darf, daß er fich weniger 
ins Mittelalter und in andere ſtultur— 
perioden zurüdichrauben darf, daß er 
aus der Gegenwart fchöpfen, fih an— 
lehnen muß an beredtigte Zeitſtrö— 
mungen, um eine den Zeitgenofjen ver— 
ftändlihe Sprade zu reden. Die 
Schuld daran, daß dem vielfach nicht 
fo ijt, liegt weit mehr an den Be— 
ftellern, al8 an den Künſtlern.“ Eben 
deshalb darf jeder Kunſtfreund der 
Geſellſchaft für chriftliche Kunst wach— 
fenden Einfluß wünſchen. Zumal fie 
auch gegen die Kunjtfabrifate der „Uns 
ftalten für firhliche Kunſt“ nad allen 
Kräften vorgeht. Wir müſſen befennen: 
in dieſem leßteren Vorgehen fehn wir 
fogar zunädjt ein noch fichreres Ver— 
dienjt, denn Hier Handelt ſich's um 
ganz klar umfchriebene Begriffe, wäh— 
rend Worte wie Realismus, Romantif, 
beredtigte Anforderungen u. f. w. 
immerhin über ihre Unmendbarleit im 
einzelnen Falle recht große Meinungs 
unterjchiede zulaſſen. 

* Breisausfhreiben, wie fie 
nicht fein follten. 

Ein ſchönes Beispiel für dieſe Ab— 
teilung bringt das große neue Unter 
nehmen „Kunjtgefühl in der Pho— 
tographie“. Da werden als „ſpe— 
3iale Preisbemwerbe* aufgeftellt: 


Kunftwart 


„ti. Landſchaft im Dämmerlidte: 
Es ift die fhöne Stunde, wenn der 
Mond — gleich einer goldenen Galeere 
— ben Haren Simmel binanfteigt, an 
welchem die Sterne aufmwaden. Der 
Aderer verläßt die ſchwarze Furde, 
melde die Pilugihar gezogen Hat, 
rings umher Einſamkeit.“ 

„2. Inneres einer Wohnung mit 
Berfonen. Zimmer eines Reichen oder 
Armen. — Die Frau, welche von ihrem 
jungen Gatten verlaſſen worden ift, 
wartet in einer Ede des Herdes. Ein 
Lichteffekt muß geſucht werden, welder, 
indem er die Geſichtszüge hervorhebt, 
deren ſchmerzlichen Ausdrud zeigt.“ 

Die drei folgenden find auch nicht 
viel vernünftiger. Da find wir nun 
mit Müh und Not der Uneldoten= 
malerei jo A ledig geworben, 
und nun fol die Anekdotenphoto— 
graphiererei losrücken, die, da Hier 
ganz unvermeidlich eine Theaterpojerei 
vorhergehen muß, noch viel wider— 
mwärtiger ift. Künſtler unter den Pho— 
tographen werden freilich fchon des— 
halb auf diefen Leim nicht gehen, weil 
ihnen die Borfchriften viel zu jehr die 
Bewegung beengen. 

* Ernitftreidolfs köſtliche „Blu= 
menmärden*, auf deren Originalaquas 
relle wir vor Jahren mit mwärmiter 
Empfehlung Hinwielen, haben ihren 
Verleger gefunden, bei den Münchner 
„Bereinigten Werkſtätten für Kunſt im 
Sandmwerf.* In ganz vorzügliden Li- 
thographien von Kreidolfs eigener 
Hand liegt das Bud) nun vor, endlid) 
einmal wieder als ein künſtleriſches 
deutſches Kinderbuch. 

* 58 freut uns, endblih das Er— 
fcheinen eines höchſt empfehlenswerten 
„Handbudhs der Anatomie der 
Tiere für Künftler“ anzeigen zu 
tönnen, denn das unter diefem Titel 
von Ellenberger, Baum und Dittrich 
bei Theodor Weiher (Dieterihiche 
Verlagsbuchhandlung) in Leipzig jetzt 
erjcheinende Tafel und Textwerk ver— 
fpriht nad) dem, was jchon vor= 
liegt, ganz vortrefflich zu wer— 
den. Was wir bis jet von Tier- 
anatomien für Künstler haben, behan— 
delt ja bis auf das englifhe Werk von 
Thompfon nur das Pferd, aber nicht 
etwa nur in der ftofflichen Erweiterung 
liegt der Fortichritt, den Das neue 
über alle feine Borgänger hinaus be= 
deutet. Nennen wir, nad) recht intimer 
Prüfung, melde uns als feine Vor— 
züge ericheinen: volllommene Zuver— 
läſſigkeit, tlarlegung zweifelhafter und 


1. Oftoberheft 1898 


50 


Darftellung bisher unbearbeiteter Ge— 
biete, Wahrung der organifchen Ge— 
famterfcheinung in Unterordnung bes 
Details bei feinfter Durchführung der 
Einzelnen, jtoffliches Zeichnen, prak— 
tiihe Handhabung und Gliederung des 
Stoffes bei vergleihendem Text. Halten 
die weiteren Lieferungen nur einiger= 
maßen, was der Anfang verfpricht, fo 
gewinnen wir bier als Ergebnis einer 
Unfumme von opferfreudiger Arbeit 
ein in feiner Art meiſterliches und 
wohl auf lange hinaus maßgeben= 
bes Werk. F. C. 

*In Brüfjel tagt in ber letzten 
Septemberwodhe der fehr midtige 
internationale Kongreß für die Kunſt 
im öfjentliden Leben Congres 
de l’Art public). Bon unfern beftän= 
digen Mitarbeitern nimmt daran Dr. 
Baul Schumann teil, der im Kunſt— 
wart darüber berichten mwirb. 

* Der Verein für Deutſches 
Runftgemwerbe in Berlin fordert 
feine Mitglieder auf, die Eröffnungs- 
ausjtellung im neuen fünjtlerhaufe 
mit Erzeugnifjen des ſtunſthandwerks 
au beihiden. Dann heißt e8: „es 
tkann fih jelbitveritändlih nur 
um folde Gegenstände handeln, melde 
in Ausführung und Erfindung das 
Gepräge eines Kunſtwerks tragen und 
nit um Erzeugniffe, melde für den 
gewöhnlichen Bedarf gearbeitet find.” 
Alfo zur Linfen die weißen Lämmer: 
Gegenitände, melde „das Gepräge 
eines Kunſtwerks“ tragen, zur rechten 
die ſchwarzen Böde: „Erzeugniffe, 
melde für den gewöhnlichen Bedarf 
gearbeitet find“, als Gegenjäte. Wie 
jternenmeit entfernen wir uns von 
den jugendlicheren Zeiten der Menſch— 
beit, als noch den Griehen und Rö— 
mern, die wir unzutreffend genug die 
Ulten nennen, die Kunſt nicht eine 
Rebensverzierung für Wenige, fondern 
ein Grundpfeiler des Lebensgebäudes 
war! Daß die Grojchentöpfe ihrer 
Küchen fo gut von Kunſt zeugten wie 
ihre Statuen und Baläjte, wir Irrenden, 
das hat uns bisher aud) noch gefallen. 
Aber nun werden wir ja vom Ber— 
liner Runftgewerbeverein belehrt. Das 
Künſtlerhaus fann ruhig fein, der 
wird's nicht in ben übeln Gerud 
einiger Volkstümlichkeit bringen. 


Dermifchtes. 


* In Sadıen des Urheberrechts 
bat der Schriftitellertag in Wiesbaden 
die folgenden Beichlüffe gefaßt: 

1. Der Berbandstag richtet an alle 


Kunftwart 


Berufsgenofien die Bitte, alle Erfah— 
rungen, die fie mit ber Praris des 
jegigen Urheberrechts gemacht haben, zu 
fammeln und der Geichäftsleitung des 
Scriftitellerverbandes zu übermitteln. 

2. Der Verbandstag ernennt eine 
Kommilfion, die beauftragt wird, bei 
der bevorjtehenden Reform des Ur— 
heberrecht8 die Wahrung der Intereſſen 
der deutſchen Schriftitellerwelt in die 
Hand zu nehmen und der Regierung 
im Namen des Verbandes entiprechende 
Voritellungen zu maden. Die ſtom— 
mijfton wird ermädtigt, aud) Ver— 
treter der Buchhändler zu ben Bes 
ratungen zuzuziehen. 

Außerdem ftimmte der Berbands- 
tag prinzipiell folgenden Grundfägen 
au, die der zu bildenden Kommiſſion 
al8 Material überwiefen murden: 
1. Es iſt ein einheitliches Geſetz zu 
fhaffen, daß die Neichsgefege vom 
Il. Juni 1870 und vom 9. Januar 
1876 erſetzt. 2. Allen Geiftesmwerfen, 
gleichviel ob fie deutichen oder frem— 
den Urfprungs find, oder innerhalb 
oder außerhalb des deutſchen Reiches 
erfcheinen, ift gleihmäßig Schuß zu 
gewähren. 3. Als unberedjtigter Nach— 
drud iſt auch der Abdrud von Artikeln 
aus Zeitungen oder Zeitfchriften an— 
aufehen, fofern er in der Abficht eigen— 
nüßiger Bereicherung geſchieht. 4. Die 
wirtihaftlihe Nusbeutung ges 
meinfreier Werke ijt zußuniten 
der Urheber-Hilfs- und Ver— 
forgungs8fafjen zu beiteuern. 

Der gefperrt gedrudte Beſchluß iit, 
mie unsre Leſer wiſſen, unfres Erach— 
tens der wichtigſte. Im übrigen be— 
deuten die Beihlüffe ein langjames 
Zeitmaß im Vorgehen für eine Re— 
form, und das iſt ganz in der Orb» 
nung. Wir wollen uns gern mit dem 
vorläufig Erreihbaren begnügen, fo 
lange unfer letztes Ziel den Poeten 
wie allen andern Künitlern nod) weit 
in der dunfeln Ferne zu liegen fcheint. 
Heute bezeichnen wir’ nur: Befreiung 
bes geſamten dichterifchen, muſikali— 
fhen und überhaupt fünftlerifchen 
Schaffens von der Abhängigkeit vom 
Marktwerte. Daß e8 ein erreich— 
bares Ziel ift, glaubt ung auf unſer 
ehrliches Geſicht vorläufig Doch nod) fein 
Menih, wir mülfen’s nächſtens mal 
deutlicher beweiſen. 

Mittlerweile ift auch die von Reichs— 
wegen einberufene Kommiſſion zur 
Beratung von Ubänderungen des Urs 
heberrechts zujammengetreten. Das iſt 
eine, wie man fie für ſolche Zwecke 


1. Oftoberheft 1898 


Fa nur in Deutſchland berufen 
darf. Inter den adjtzehn eingelabenen 
Sachverſtändigen befinden fi) zwei 
Scriftiteller(„Geheimer Juſtizrat Ernit 
Wichert* und Martin Hildebrandt), gar 
feine fomponiiten, gar feine bil- 
denden Stünftler, dagegen ungefähr 
ein Dutzend Berlagsbudhändler, 
Dufitverleger und Sonzertagenten! 
Freilich, diefe „verwerten“ ja die unit, 
die Poeten, Mufifer und Stünftler 
maden fienur — maß geht alfo fie, 
die ja bloß die Urheber find, das Ur— 
heberredt an? Und da ſag' Einer, 
wir ftänden nicht im fapitalismus! 
Wir fommen felbitverftändlich auf Die 
Sache zurüd. 


Unſere Beilagen 


follen alfo fortan, gemeinfam mit 
unfern „LZofen Blättern“, ben ans 
regenden und fritifhen Tert des Stunit- 
warts durch lebendige Kunſt erläutern, 
fördern und ergänzen. Sie werden 
deshalb verſchiedener Art ſein. Wir 
werden Blätter bringen, die gar nichts 
anderes wollen, als etwas recht Gutes 
ins Land bringen, Bilder und Noten, 
die einfach eingefügt werden möchten 
dem Kunſtſchaße fürs Haus. Bor 
allen werden wir hier natürlid) bes 
ftrebt jein, das Gediegendite aus dem 
Neuen unfern Freunden zu zeigen, 
ſoweit dies unfre Beilagen eben 
können. Wiſſen wir aber irgend ein 
Brünnlein des Schönen das ſchon 
lange riejelt und zu Dem bod der 
Pfad immer nur wenigen befannt 
war oder auch mit der Zeit ver— 
wadjen ift, fo werden wir aud) aus 
feiner Flut getroft einmal einen 
Probetranf holen. Eine zweite Gruppe 
unferer Noten wie Bilder joll Illu— 
itrationen bieten, ſoll alſo zur Erläute— 
rung unfrer Auffäßedienen. Bringen wir 
hier etwas, jo bedeutet das alfo nit 
ohne Weiteres, daß wir ihm hoben 
Kunſtwert zufpredhen. 

Unſre Bilderbeilagen nun eröffnen 
wir mit einem Blatte nah Var 
Klinger, der ja unfrer Ueberzeugung 
nad zu den ganz Großen des Jahr— 
bunderts gehört. Wir geben das 
ernite Haupt jeiner Kaſſandra“ zum 
eriten Mal nah dem Originals 
modell mieder, deifen Gips der 
Künftler ſelbſt bemalt hat. Beſitzer 








dieſes Originalmodells ift Dr. Paul 
Schumann in Dresden. 

Das Leiſtikowſche Bild führen 
wir unfern Leſern auch deshalb vor, 
um den Begriff des Deforativen, 
der in Schulge-Naumburgs Aufſatz 
über „Sunftpflege im Mittelftande” 
diesmal eine bejondere Rolle fpielt, 
an ihm zu erläutern. Schon unire 
Wiedergabe läßt etwas ahnen von 
ber Poeſie, die auß dem DOrginale 
eindringlid ipricht, und fo wär es 
grundfalſch, hier von äußerlicher, von 
oberflähliher Kunſt zu ſprechen. 
Trotzdem erſcheint das Gange vor 
allem dbeforativ. Und zwar ift das 
Folge zunächſt ber itarlen Verein« 
fahung: alles ihm Unweſentliche 
hat der Maler meggelafien, fo daß 
der Beſchauer nun nidt erit das 
Wichtige aus einer Menge von Neben= 
fählihem herauslefen muß. Die Ab— 
fiht des KHünftlers tritt alfo ſtärker 
hervor. Das Dekorative liegt ferner in 
dem Zufammenfaffen großer Flächen, 
die der Gejamtflähe gleihjam ein 
rhythmiſch- ardhiteftonifches Gefüge 
geben. Innerhalb folder großen 

lähen fann aud der beforative 

ünjtler ohne den Rhythmus zu zer— 
jtören meit ins Einzelne gehn, jo daß 
auch in diefer Beziehung durch das 
„Deforative* fein Vorzug aufgegeben 
werden muß. Wenn Leiſtikow ein 
Detaillieren trotzdem abfihtlih auf 
gibt, fo thut er's, um den großen 
Zug befonders zu betonen, mas je 
nad) den Berhältniiien natürlid) voll- 
fommen beredtigt fein fann. 

Unfre Notenbeilage eröffnen mir 
mit einer hier gleichfalls zum eriten 
Mal publizierten voltstümlichen Bal— 
lade des vor Jahresfriit verjtorbenen 
Martin Plüddemann. Beim Vor— 
trage find die einfachen Erzählungen, 
die Rufe des feden Knaben Niels Sinn 
und die Stimme des Berggeiftes gut 
auseinanderzubalten. Seine lette höh— 
niſche Frage, „Wo ist Niels“ pflegte Der 
Komponift mit einem unnadjahmlidhen, 
näfelnden Ton als teuflifdy zu fenn= 
zeichnen. Weiterer Bemerkungen über 
dies düjtere, fräftige nordiſche Stüd 
bedarf e8 wohl nidt. Der Nachlaß 
Plüddemanns mird bald herausge— 
geben werden, wir fommen dann auf 
feine Kunſt zurüd. 


Inhalt. Volks- und Gipfelkunſt. — Dramen, die wir wünſchen. Von Leonh. Lier. 
— Theodor Fontane. — Die Gefahren der öffentlihen Mufiktpflege. Von Richard 
Batka. — Guſtav Mahler. — Ueber ftunftpflege im Mittelftande. VIII. Bon Schultze— 


Naumburg. — Lofe Blätter: Bom Verjöhner. 


Bon Leopold Weber. — Lotte. 


Bon Cäſar Flaiſchlen. — Der gute Feind. Von Ferd. Avenarius. — Rundicdau. 
— Aunftbeilagen: Mar Klinger, Kaflandra. — Walter Leiftitow, Herbft. — 
Notenbeilage: Martin Plüddemann, Niels Finn. 


Derantwortlidı: gerdinand Apenarıns ın Dresden:Blatemwit, 
Derlaa von Georg D. W. Callwey. — Hol. Bofbuchdruckerei Kafıiner & Eoffen, beide in Mänchen. 
Sendungen für den Cert an die „Kunftwart-Leitung‘, Dresden-Blafewit, Wadwigerfraße. 
Beiträge über Mufif an Dr, Richard Batfa, Prag + Weinberge, 





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handlung: Georg D. Wi. Callwep in Abüncben. 

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übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nur wenn Rüdporto beilag. 





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Poehlmanns — entwickelt die Beobachtungs- und Auffaſſungse 
feſſelt die Aufmerkſamkeit, heilt ſomit von Zerſtreutheit und ſtählt das natürliche Gedäd! 
£eichtes Erlernen von Sprachen, Wiffenfhaften ıc. Anwendung aufs praktiſche Seben. In 
legten 2'js Jahren 10000 Schüler aller Stände. Empfehlende Rezenfionen von na 
— Zeitungen, Zeitſchriften und Fachblättern. Pr ae mit Seugniflen —9* 
ea eitungscegenfionen aratis und franfo dub L. Poehlmann, Sinkenfra; 
Münden F. 4. su 












\ > | = — 
KRURSTWARR 


Mochbmals vom Urbeberrechbt. 


Urheberrecht, Urheberrecht — auf allen Straßen iſt jegt die Rede 
davon, aber gar fein Streit Darüber: mir find endlich dabei, das Ur— 
heberreht aufs fnifflichjte zurechtzufalten. Das wollen wir auch, das 
müſſen wir au, denn recht große Stände im deutichen Reich müſſen 
fi) ganz oder zu ſehr mwejentlihem Teil von diefem Befigrecht nähren. 
Aber wo man nur etwas Gedrudtes übers Autorrecht fieht, lieſt man 
davon als von dem großen Talismane, der, wenn nur erit überall 
angebradt, jeglichem Uebel den Eintritt wehrt. Nie, daß man hörte: 
auch daS Urheberrecht, lieben Leute, hat denn doc jeine Häfchen und 
Haken, nie, dab einer darauf hinwieſe: es ift vorläufig etwas ganz 
Gutes, aber das Endziel berechtigter Wunſche befriedigt es noch lange 
nit. ch meinerſeits denke: heißt die Wahl: unsre heutigen Zuftände 
mit oder ohne Urheberrecht, dann wähl ich fie mit ihm, als dem klei— 
neren Uebel, und thue vorläufig mein bischen dazu, dies fleinere Uebel 
möglichjt erträglich auszugeitalten. Aber daneben haben wir, dent ich, 
noch anderes anzuftreben, denn dag Urheberreht alleine thuts freilich 
nidt. 

Na, denkt der Lejer, jest wird uns wieder daß alte Lied gejungen 
von der befjeren Verpflegung der geiftigen Arbeiter. Wäre dem fo, fo 
würde daS wenigitens nicht geichehen, um dieſen Leuten ihres Privat: 
vergnügens halber Ertramürfte zu braten, jondern es geihähe aus nüch— 
terner und praftiicher Erwägung des nationalen Vorteils. Die geiitigen 
Arbeiter jollen für die Allgemeinheit etwas leilten, man muß fie durch 
ausreichende Nahrung bei Kräften halten — ganz abgeiehen aljo davon, daß 
fie ſozuſagen Menſchen find, nicht Kühe oder Schafe, als welche fie ja jelbit- 
verftändlich durch ihre Leiltungen auf genügenden Unterhalt beijere An— 
iprüche Haben. Aber es joll heute gar nicht von der Künſtler-Ernährung 
geiprochen werden. Ich will nur wieder fragen: iſt das Urheberrecht 
an ſich wirklich das mwunderjchöne Ding, da8 den Urhebern hier und 
der Allgemeinheit dort ausihlieglih Nugen bringt? Denn darüber 
ſind wir ja alle einig: immer auch auf den Nußen für diefe Allgemein— 

Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 


— 353 m 








heit hin müſſen wir etwas prüfen, d. h. alſo hier: auf den Nuten 
für den geiftigen Nationalmohlitand eines Volkes Hin. 

Was thut denn nun das Ürheberreht? Es verbürgt einem geiftigen 
Arbeiter, fein geiftiges Eigentum al Ware auszunügen. Betrachten wir 
einmal an ein paar Beifpielen, wozu das führt! 

Porausfegung: Herr F. fei ein Gipfelfünftler, ein Genie echter Art, 
Herr 9. fei ein Schreiber, der einzig fragt: was will der Plebs, aljo, 
mas geht auf dem Markt zu verfaufen, jagt mir's, dann mad) ich's, 
denn da8 hab ich weg. Nehmen wir mal an: Herr &. Heike mit bür— 
gerlihem Namen Hebbel, Herr N. Oskar Blumenthal. Herr Blumen= 
thal macht die großartigiten Geichäfte, denn in jeder Stadt find Taufende, 
die laufchen wollen, was er Geiftreiches jagt. Herr Hebbel dagegen iſt 
fo anipruchsvoll: man muß aufpaffen, man muß nachdenken, man muß 
fogar nachfühlen, wenn man was von ihm haben will, infolgedeffen be= 
freuzigt fich jeder Theaterdireftor vor feinen Stüden, und fein jchönes 
Autorrecht iſt auf dem mirtichaftlichen Markt jo viel wert, wie Blumen- 
thals Poeſie auf dem äfthetiichen. Sterben die beiden, ſchließt Herr 
Blumenthal mit drei Millionen ab, Herr Hebbel mit Null plus fo gut 
gut wie Null. Aber nad) einigen dreißig Jahren, wie fieht das Bild 
dann aus? Bon Blumenthal weiß nur noch der „Gebildete“: unglaub= 
fich, jagt er, wie damals die Menfchen auf ſolch einen hineinfallen konnten, 
der doch gar nicht it gegen unfern großen neuen Sinofpenthal — und 
einer wie Hebbel trat gegen diefen Blumenthal zurüd! Hebbels Werfe 
nämlich fangen jett an zu „gehen“, — jeßt, wo das Urheberrecht erloichen 
iſt. Nun, Herrn Blumenthals Erben hat’3 reich gemacht, vielleicht geben 
die Heren Hebbels Erben ein Almoſen, wenn fie Schön drum gebeten 
werden. 

So verteilt das Urhebergeſetz mild und geredjt feine Gaben: den 
fünitleriichen Schmweigzerpillen, Bartwuchselerieren und Hühneraugenringeit 
in der Uhr gemährt e8 feinen Schuß, da ja fo viel Geld aus ihren 
großen Schöpfergedanten herausgequeticht werde wie möglich, dem ge— 
diegenen Geiſtesſchafſfen dagegen wirft's Hungerlähne zu. 

Nicht nach geſetzgeberiſcher Abſicht natürlid), bewahre. ES kommt 
ja vor, dab ein Genie bösartige Hartnädigfeit genug hat, ſich nicht tot= 
friegen zu laffen, fo daß es zu jeinem Tiebzigften Geburtstage vom jubeln 
den Volt als Wunderfind entdedt werden fann. Es fommt ja aud) 
vor, daß ein wirkliches Talent durch vorfichtige Eltern- und Gattinnen- 
wahl oder durch menschliche Ellenbogentraft frühzeitig mit zu der Krippe 
gelangt, in die das Urheberredt aus feinem Füllhorn den Blumenthalen 
vorichüttet. Es ift überhaupt alles hübich unfontrofierbar dabei, e8 trifft 
eben wie's trefft. Sudermann und Fulda verdienen, Holz und Schlaf 
hungern, Onfel Julius Wolff und Tante Ambrofius fcheeren ihre Schäf- 
chen, Martin Greif und Klaus Groth haben auf Menichen gerechnet und 
alio nichts zu fcheeren, Eber8 und Eckſtein „gehen“ gut, Gottfried Keller 
und Mörife „gingen“ jchleht, und dazwiſchen gibt’8 hunderttaufend 
Varianten in eines hohen Urheberrechts Gunft und Gnade für Gutes und 
Schlechtes, immer nad dem Grundlage: wie's trefft. 

Und mie bei der Literatur, fo ſteht's in Muſik und bildender Kunſt. 
Bon unjern beiden größten Künſtlern iſt Bödlin, der zähe Schmeizer, 
glüdlih nah dem eriten Schlaganfall feines Alters no in die Mode 

Kunftwart 2. QOftoberheft 1898 


- #»-_ 


gekommen und Alinger fünnte von Zeichenitunden leben, hätte ihm nicht 
der Zufall die Mittel zur Entwidlung feines Genies, uns Deutichen zum 
unverdienten Glüde, gewährt. Was ihm das lIrheberrecht feiner Bilder 
bringt, ift ficherlich nicht der Hundertite Teil von dem, was Thumanns 
„drei Grazien“ oder drei Mufen oder drei Balleteufen oder was e8 für 
drei Fräuleins find, ihrem Meifter ins Haus holen oder die Photo- 
graphien nad) Nathanael Sichel8 Modell in einem der fünfzig tragiichen 
Theaterfoitüme, in denen er's, wenn ich's fühn fo nennen joll: gemalt 
hat. Und in der Mufit: befam Wagner in feiner Kraft Blütezeit die 
Tantiemen oder befamen fie Herr Meyerbeer und noc viel Kleinere? 
Der Mann, der mit Orcheitermufit edelfter Neufhöpfung heutzutage einen 
Groſchen Neinverdienit durchs Urheberreht einnimmt, foll noch entdedt 
werden. Das meiſte bringt e8 wohl Heren Ludolf Waldmann, dem 
Dffenbarer des Schunfelmalzers „Fiſcherin, du Heine”. Kann doch aud) 
unter den Romanfchreibern an Autorrehtshonoraren fich feiner meſſen mit 
dem Berfaffer des „Scharfrichter8 von Berlin“, des „blutigen Knochens 
um Mitternacht“ und ähnlicher Werfe, denen Bolfes Stimme Gottes 
Stimme 100000 Auflage verfchafft hat und mehr. 

Damit alfo, dat daS Urheberrecht den Künſtlern den echten, den 
entiprechenden Lohn gebe für ihre Kunſt, wirklich, damit ift es nichts. 
Aber vielleicht dient c8 dafür um fo ficherer der Allgemeinheit? 

In der erjten Lebenszeit des Hunftwarts, eh ich durdy Schaden 
gewißigt war, fand ich mal in emer großen Zeitung einen Auflag, der 
einen Mihftand der Kunſtpflege energiſch rügte, alle Kunftfreunde zum 
Kanıpfe für die gute Sache aufrief und Vorſchläge zur Beſſerung machte 
— ein agitatoriicher Aufruf war's, der nur einen Zweck hatte, wenn 
er möglichjt meit verbreitet ward. Bravo, dacht ich, der Mann bat 
Recht, hilf ihm, druck's ab und Schließe did an. Kaum war's geichehen, 
fo friegt’ ich einen Brief im umverichämteiten Tone von einem Herrn 
„Agenten“ in Berlin, Sofort follt’ ich jo und jo viel bezahlen, fonft zeig 
er mich an beim Staatsanwalt, als ſtrafrechtlich zu verfolgen wegen 
Nahdruds. Alle Hagel, aber der Verfaſſer hatte ſich ja über meine 
Unterftügung durch den Abdruck herzlichſt gefreut! That nichts, Herr 
fo und fo Hatte den Aufruf ſamt Autorrecht für feine Zeitungstorreipons 
den; erworben, davon hatte ich nichts gewußt, der Verfaffer aber hatte 
nun keinesfalls mehr was drein zu reden. Des Prinzips halber lieh 
ich mich verflagen, die Sadjverftändigen gaben ein Gutachten ab, nad) 
dem an meinem guten Glauben nicht zu zweifeln ſei, und das Ver— 
fahren gegen mic ward nun auf Antrag des Staatsanmalts jelber ein= 
geitellt. Aber zum zweiten Dal hätte ich daS autorrechtlich Unerlaubte 
nicht wagen dürfen, das ftreng Verbotene: einem gemeinnügigen Auf— 
ruf für eine gute Sache nach) dem Willen feines eigenen Verfaffers zur 
Wirkſamkeit zu verhelfen. Was als gemeinnügige Anregung gedadıt, 
mar ja nad) dem unüberlegten Abtreten an die Korreſpondenz einfad Ware 
zum Geſchäftchenmachen für den Zmwilchenhändler geworden. it das nicht 
ein Wuchern mit gemeinnügigen Gedanken? Und liegt nicht, minder auf: 
fällig, der Verbreitung des Guten das Autorrecht jehr oft aud) jonft im Wege ? 
Was das ichlimmite ift: fo gewiß wie das Gediegene immer ein fleineres 
Rublitum hat, al das Seite, fo gewiß fann weniger Geld aufgemwandt 
merden für feine, als für des Scledten Berbreitung, jo ficher alio 

Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 


leidet daS Gediegene mehr unter dem Autorrecdht, als das Flache. Wo— 
für ich fünzigtaufend Durdjichnittsföpfe als Publikum erhoffen darf, das 
kann ih in fünfzigmal ſtärkerer Auflage druden, als wofür ich aller- 
höchſtens taufend Leſer annehmen kann. Alfo kann ich's billiger her— 
ftellen und auch billiger ablaffen, ohne dem Autor für den Pöbel ein 
glängendere8 Honorar verweigern zu müſſen, als dem Autor für die 
Denker und Empfinder. Der will aber auch leben, und fo ſchmal fein 
Gemwinn ausfallen mag, verhältnismäßig muß er vielleiht mehr 
befommen, als der Ebers oder Wolff für die Maſſe. So verteuert das 
Autorrecht wieder gerade die beften Werfe am meilten, deren Ver— 
kreitung am dringenditen im Intereſſe einer ernfthaften Volksbildung 
läge. Die verbrecherifche Phrafe von „Bildung und Belig* entipricht 
nun einmal, dreimal Gottlob, den Thatſachen nicht: wir haben unbe— 
mittelte genug, die hohe Bücherpreije nicht zahlen können und doc) für 
neue Geiltesfaaten den beften Nährboden in fih tragen. Dreißig Jahr 
nad) dem Tod der Berfaffer, wenn das Urheberrecht erliicht — feht doch 
nur hin, wie fi) dann auf einmal die guten Bücher verbreiten! Frei— 
lich: dreißia Jahre nach dem Tod — das heißt zu deutih: dann erft 
fann eine8 Künſtlers Schaffen im Volke recht zu wirfen beginnen, 
wenn es dreißig und über dreißig Jahre lang ſozuſagen gerojtet hat. 
Ein erquidliher Gedanke: was du jest aus voller Skele zu deinen 
Volksgenoſſen ſprichſt, aud die wärmſten Herzen und hHelliten Hirne 
werden’3 erſt dreißig Jahre nad) deinem Tode vernehmen, wenn fie 
nicht zu der Minderheit halbwegs Begüterter gehören. Und ein Ge— 
danke, der eigentlich fchon genügen jollte, an der Volllommenheit einer 
Alleinherrihaft des Urheberrechts beicheidene Zweifel zu weden. 

Heben wir alſo doch endlich einmal zum gründlichen Betraditen 
in der Nähe die Erkenntnis auf, die auf der Straße vor uns liegt: das 
Urheberrecht Hat mit dem geistigen Wert einer Sache gar nichts zu thun. 
Was in einer Arbeit die geiftige Kultur eines Volfes erhöht und be— 
reichert, das alio, was an allem dichterifchen, tonkünſtleriſchen, bildend- 
fünftleriichen Schaffen für die Allgemeinheit das eigentlich Wertvolle ift 
und was ihr Zinfen trägt für Generationen — das wird vom Autor— 
rechte überhaupt nicht berührt. 

Nichts weiter fann das Urheberrecht, als den Markt mit Angebot und 
Nachfrage faufmänniic regeln. Das muß geichehen, feiner wird's leugnen, 
bi8 die Verhältnifje bei uns anders liegen. Aber man joll ung nicht mit der 
Rede fommen, es verbürge auch auf unlerm Gebiet „jedem Arbeiter 
feinen Lohn“, denn es verbürgt gerade den erniteften Arbeitern oft gar 
feinen und den fchlechteften oft Hundertfachen Lohn, indem es zum Ent: 
Iohner der fünftleriichen Leiſtung das urteilßlojefte Ding der Welt jest, 
den Geſchmack der Maſſe. Für unſre Geiftesfultur thut es fo gut wie 
nicht8 — es läßt ſich gar nichts dagegen jagen, aber man jol’8 nicht 
verjchleiern : einerjeitS ift e8 für die Handwerker mit der Feder da, 
anderjeit8 für die Gemwerbetreibenden, nämlid Buch-, Mufitalien- und 
Sunftverleger. Ergänzten nicht ideale Kräfte das Autorrecht, wär 
e8 die Ausfiht auf Erwerb, die das echt Ffünftleriiche Schaffen be- 
ftimmte, die erniten und tiefen Sünftler, die eigentlichen Mehrer 
unſres geiftigen Reichs, fie ſchenkten ich alle die Mühe. Gerade fie zu 
fürdern, gerade ihre Geiltesarbeit der Nation nutbar zu machen, 

Kunftwarı 2. Oftoberheft 1898 


— 26 — 


das aber ift die große Aufgabe, die nach und neben der Urheberrecht— 
gejegung gelöft werden muß. Es gilt, jede geiltige Kraft im Volke zu 
der Arbeit heranzuziehen, mit der fie der Allgemeinheit am beſten 
dienen fann. Schreibt ihr alle Blätter voll, tagt ihr in euren Vereinen, 
beruft ihr eure internationalen Kongreſſe dem Autorrecht zu lieb, fo 
mwird’8 euch Herren von der Feder feiner verdenken: ihr wahrt halt da= 
mit, jo gut mie alle übrigen Erwerbsftände, eure berechtigten Intereffen. 
Ob aber Sudermann, Fulda, Blumenthal u.f.m. aud) in Holland und 
Amerika noch ihre Tantiemen einftreichen u. |. w., für unfre geiftige ſtultur 
ift das keine hochwichtige Frage. „Befreiung des gefamten dichteriichen, 
mufifalifhen und überhaupt fünftlerifchen Schaffens von der Abhängig» 
feit vom Marktwerte“, jo haben wir bezeichnet, was jenfeit des Urheber— 
rechtes vor unſern Augen als Biel liegt. Wir mollen das nädjite 
Mal von einem Wege reden, der vielleicht zu diefem Ziele führt. Gibt 
es doch im ganzen Gebiet der Kunſtpflege feine einzige Trage, die wich— 
tiger wäre, nicht etwa nur für KHünftler, nein, für die Kunſt, für unfer 
geiſtiges Leben überhaupt. a. 


DIS 


Zukunttslprik ? 


„Der große Weg zur Natur zurüd, ben feit ber Renaiffance bie Kunft 
nit mehr gegangen und ben nad) den allerdings nod) nicht überall und völlig 
übermwundenen Gflektigismen einer Jahrhunderte langen Epigonenzeit endlich 
breit wieder gefunden zu haben, einer ber denfwürdigiten Glüdszufälle unferes 
Zeitalter8 bleiben wird, den in der Literatur, eine Generation vor uns, zuerjt 
der Roman betrat und dann, erft in unferen Tagen, endlich auch das Drama 
— dieſer Weg iſt in ber Lyrik noch nicht befchritten worden.“ Arno Holz, der 
die vorftehenden Sätze geichrieben, „beichreitet* ihn jest: er gibt feinen „Phan— 
tafus“ heraus, in bem ihm, wie er glaubt, wenigftens in einzelnen Gedidten, 
in Heinen Abfägen, oft nur in wenigen Zeilen, das geglüdt ift, was ihm vor« 
ſchwebt, und er erläutert zugleich in einer Selbitanzeige der „Zukunft“, mas 
er will. Das ijt, kurz gefagt: der Reim mu weg, der Rhythmus im bis— 
berigen Sinne muß weg, jedes Gedicht foll lediglich durd einen Rhythmus 
getragen werden, der nur durch das lebt, was durch ihn zum WMusbrud ringt, 
die Worte follen ihre „uriprüngliden Werte* behalten. Holz verzichtet alfo, 
um mic meiner Sprade zu bedienen, auf jede überlieferte Form, er will, 
daß der Anhalt bes Gedichtes in jedem einzelnen Fall die Form beſtimme, 
und glaubt, daß ein durch abfolute Ehrlichkeit des Dichter den Worten gegen= 
über zu erreichendes völliges Zujammenfallen von Inhalt und Ausdrud eine 
beitimmte, befondere, gleichſam feite Form ergeben mwerbe. 

Eh ich meiteriprecdhe, will id) auß dem bei Saſſenbach in Berlin erjchies 
nenen erſten Hefte des „Phantaſus“ einige Stüde herfegen, damit der Leſer 
beim Folgenden eine Anſchauung der Sadje vor fi) habe. 


Ich liege noch im Bett und habe eben Kaffee getrimfen. 
Das Feuer im Ofen fnattert fchon, 
durchs Feniter, 
da8 ganze Stübchen füllend, 
Schneelicht. 


Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 
= 32 — 


Ich leſe 
Huysmans. Lä Bas. 
... Alors, 
en sa blanche splendeur, 
l'äme du Moyen Agefrayonna dans cette salle .. 
Plößtzlich, 
irgendwo tiefer im Hauſe, 
ein Kanarienvogel. 
Die ſchönſten Läufe! 
Ich laſſe das Buch ſinken. 
Die Augen ſchließen ſich mir, 
Ad) liege wieder da, den Kopf in bie ſtiſſen — — 


* 


Zwiſchen Bergen im Sonnenſchein 
liegt am Fluß das Städtchen. 
Hier oben von meinem Meilenſtein ſeh ich über alle Dächer. 
Kerzengrade ſteigt der Rauch. 
Durch einen blühenden Hollunderbufd), 
unterſcheide ich deutlich, 
unter dberjJalten Grünfpanfuppel, 
“die Zurmuhr. 
Ein bimmelblaues Zifferblatt mit weißen Zahlen. 
Noch drei kleine Striche, 
und die gefamte Bürgerſchaft 
ſetzt ſich pünftlid zu Mittag. 
Zwölf! 
Es iſt heute Sonnabend, es gibt alſo überall Eierkuchen. 


Ich köpfe vergnügt eine Diſtel 
und wandre weiter. 


In einem brennenden Abendhimmel, 
aus Staub und Dunkel, 
ſteigt der Dom. 
Die Glocken läuten. 

Die kleinen Linden ſtehen ſchwarz, 
vor ihren Thüren ſitzen alte Leute. 
Feierabend! 

Die Gaſſen ſchweigen. 

Die Glut erliſcht, 
am Himmel 
leiſe 
ziehn die ewigen Sterne auf. 


Kunſtwart 2. Oktoberheft 1898 
— 38 — 


Ih bin der Anfiht, man fol an den Holzifhen Anſchauungen doch nicht 
mit bloßem Schütteln des Stopfes vorüber gehen. Der Verfaſſer des „Buches 
der Zeit” und des „Papa Hamlet“ wird ja freilih von den literarifhen Worte 
führern jeit langem meilt als fomifche Perſon behandelt, und wenn ſich unjere 
Durchſchnittspreſſe ein Gütchen thun will, fo tifcht fie eins der Holziichen Ges 
dichte auf. Uber man darf nicht vergeilen: Holz hat in der That einiges ge= 
leitet, hat in der Entwidlung der neuesten deutjchen Literatur, u. a. im 
Kapitel Hauptmann, feinen fejten Plat und würde, felbit wenn er nichts ge— 
leiftet hätte, immer nod) eine interefjante Zeiterfcheinung fein: der fanatiiche 
Revolutionär nämlich, der abjolute Rationalift, der feinem abftraften Denken 
zuliebe die ganze Grundlage der Kunſt umftürzen möchte. 

Es koitet nun freilid immerhin Ueberwindung, fi) mit einem Dann 
ernsthaft zu beichältigen, der einen Goethe (den Lyriker und den Berfaffer des 
Goetz, Werther und Fauſt meine ih) ganz ruhig unter die Epigonen ftellt. 
Nenn irgend etwas in der unit eine Rückkehr zur Natur bedeutet, fo ift das 
doch ſicher das geſamte Schaffen des jungen Goethe, ift es wahrjheinlid in 
höherem Grade als das Drama Shafefperes, fo ſicher diefer aud) eine gewal— 
tigere Natur als Goethe ift. Wenn Holz ferner bejauptet, im Noman fei der 
Rüdmweg zur Natur von der uns vorangegangenen Generation gefunden wor— 
den, fo gedenft er außer Goethes aud) der älteren Engländer, Yieldings u. ſ. w. 
nicht, und ob er Jeremias Gotthelf, und nit den im ganzen viel weniger 
wahren Zola im Auge hat, ift mir mindeitend zweifelhaft. Endlich überiteht 
er, wenn er fih und Schlaf das Berdienit der Schöpfung des neuen deutichen 
{naturaliftiijchen) Dramas zufchreibt, zahlreiche höcdhit bedeutende Anfänge. An 
Kunſtwerke wie Hebbels „Maria Vagdalene* und Ludwigs „Erbförjter‘, ob— 
wohl dieſe fiherlid; aud) Rückkehr zur Natur find, denfe ich dabei nit, da 
es Holz auf die durchaus getreue Wiedergabe der Wirklichkeit anfommt, aber 
es gibt zahlreiche „Lokalſtücke“, die wefentlich das haben, was Holz und nad 
ihn Hauptmann in Diefer Richtung eritrebten. Doch, an dieje Dinge will ich 
mich nidt klammern, es fann jemand jehr faliche hiltorifhe Anſchauungen 
haben und dod für Gegenwart und Zufunft etwas bedeuten. Jh glaube nicht, 
was wenigjtens die Dichtkunſt anlangt, an die Wiederentdedung der Natur in 
unferer Zeit, aber daß jede Zeit ihre befondere Kunſt verlangt (und im Grunde 
aud) hat), das freilich jcheint aud) mir gemiß. 

Muß aber jede Zeit neue Formen Schaffen, fann ſie nicht Die überlieferten 
meiter gebrauchen, fie entwideln und mit neuem Leben erfüllen? Holz als 
extremer Radilaler leugnet das; er gibt zivar zu, day das Grundprinzip Der 
gegenwärtigen Lyrik ſeit Jahrtaujenden beſtehe, meint aber, es fei jest 
hohe Zeit, damit ein Ende zu madhen. Das Grundprinzip der Lyrik ijt nad) 
feiner Meinung „das Streben nad) einer gewiſſen Mufit durch Worte als 
Selbſtzweck“; dieſes Streben fol nun aufhören. Aber ift diefe Muſik durd) 
Worte wirklich jemals Selbſtzweck gemejen? Hat bei einem guten Dichter, 
welcher Zeit immer, der Rhythmus je „nidht nur durch das, was durch ihn 
zum Ausdruck ringt, gelebt, joudern ſich aud) noch feiner Exiſtenz rein als 
folcher gefreut?“ Holz behauptet es, ich bejtreit’ es. Es kommt doch auf Die 
Leſer und Hörer an, die wirklich imjtande find, ein Gedicht zu genießen, und 
dieſe empfinden meiner Meinung nad) ein wirkliches Gedicht auch) immer als 
ein Ganzes und Einheitliches und können ſich die Muſik des Gedichts ebenſowenig 
vom Gedicht losgelöſt denken, wie die Haut von menfhliden Körper. Natürs 
lich, die Muſik der Verſe übt auch auf Leute einen Reiz, welche die Verſe ſelbſt 

Kunjtwart 2. Oftoberheft 1898 


nicht verftehen, ſchlechte Gedichte werden durch Reim und Rhythmus gleihfam 
galvanifiert. Aber fie leben doch nit — und was gehen bie Kunft ſchlechte 
Verſe und dumme Leute an? 


Um Holz näher zu fommen, will ih nod anführen, was er unmittelbar 
gegen Reim und Rhythmus fagt. „Brauche ich benfelben Reim, den vor mir 
ſchon ein anderer gebraudt hat, fo jtreife ich in neun Fällen von zehn den= 
felben Gedanfen.* Wie mären dann nad) Goethe und Schiller noch Uhland, 
Heine, Mörife und die andern doch immerhin bedeutenden Lyriker unferes 
Jahrhunderts möglich gemwefen? Viele neue Reime gegen jene beiden haben fie 
ſchwerlich. Weiter: „So arm ift unfere Sprade an gleihauslautenden Worten, fo 
wenig liegt die8 »Mittel« im ihr urfprüngli, daß man ficher nicht zu viel 
behauptet, fünfundſiebzig Prozent ihrer ſämtlichen Vokabeln waren für biefe 
Technik von vorneherein unverwendbar, eriftierten für fie gar nit. Iſt mir 
aber ein Ausdrud vermehrt, fo iſt es mir in der Kunſt gleichzeitig mit ihm 
auch fein reales Aequivalent.* Der letzte Sat iſt ebenfo richtig wie der erite 
falſch: das NReimgedicht verwehrt feinen Yusdrud, nur zum Schluß des Verſes 
find nicht alle Bolabeln braudbar. Es fällt mir nicht ein, zu leugnen, dab 
e8 fo etwas mie eine echte Reimnot gibt, aber die Kunſt ift eben zu jeder Zeit 
das „Schwere“ gewejen. Wenn Holz aus feinen Bemerkungen über den Reim 
dann weiter folgert, daß der Horizont der Lyrif nun notgedrungen fünfund— 
fiebzig Prozent enger ericheine, als der unferer Wirklichkeit, jo ift das freilich 
fait tol. Muß wirklich jeder Schmweinefoben mit feiner Stimmung in bie 
Lyrik hinein, jo hat uns dod Wilhelm Buſch gezeigt, wie das allenfalls auch 
in Neimen zu machen märe. 


AHehnlih wie den Reim verurteilt Holz die Strophe. „Unfer Ohr Hört 
heute feiner. Durch jede Strophe, auch durch die Schönste, klingt, fobald fie 
wiederholt wird, ein geheimer Leierfaiten.” Ja, für bie, die nicht empfinden, 
was jag’ ich, deren feine Obren eben nicht hören fünnen! Oder hätte ein wirk— 
licher Dichter je die gleichen Strophen völlig gleich gebaut? Erreicht er nicht 
durch die Wahl der Worte, durch Meine Linregelmäßigfeiten im Rhythmus, durch 
die Art der Reime u. ſ. m. allezeit die feiniten Abſtufungen? Nicht feiner, möchte 
ich behaupten, ift das Ohr unferer Zeitgenofien gemorden, fondern ftumpfer. 
Höchſt begeichnend ift für Holz, daß er ber Stombination von Rhythmus und 
Neim, bie doch erft das Gedicht ergibt und eine unendliche Mannigfaltigfeit er= 
laubt, mit feinem Worte gedentt; der Reim wird verurteilt, der Rhythmus 
wird verurteilt, damit gut. Nun follte man denfen, Holz träte für die freien 
Rhythmen ein. Aber in ihnen findet er „das falfche Pathos, das die Worte 
um ihre urfprünglichen Werte bringt. Dieſe urfprünglichen Werte den Worten 
aber gerade zu laffen und die Worte weder aufzupuften nocd zu bronzieren 
oder mit Watte zu ummideln, iſt das ganze Geheimnis.“ Ja, aber wie will 
Holz die urfprünglichen Werte der Worte beitimmen? Nach bem etymologifchen 
Wörterbud) etwa? Es ift doc) befannt genug, daß der Wert der Worte in fort 
mwährender Umbildung begriffen ift, daß fie ſich abichleifen wie die Münzen. 
Sollen die Worte etwa an einer Wortbörfe „notiert* werden? Holz überfieht 
in feinem Radifalismus wieder völlig, daß er, wenn er bem Dichter das freie 
Schalten mit ben Worten verbietet (ein ehrliches Schalten verlange id) auch, 
aber das fehlt auch beim großen Dichter nie), die Dichtlunft überhaupt auf- 
hebt. Es gibt feine unperfönliche Poefte, wie fie Holz, ihm felber unbewußt, im 
Grunde als Jbeal erfcheint. 

Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 


Wie Urno Holz zu feinen Anfhauungen gelangt, ift ja Har. Gr ftellt 
die ertreme Reaktion auf den lyriſchen Dilettantismus dar. Der Dilettantismus 
mibbraudt die Formen, aber „ewig” (dad Wort immer mit dem nötigen 
Salz genoſſen) find fie darum doch. So gut wie der Bogel nidt zum 
Schwimmen, ber Fiſch nidt zum Fliegen übergehen fann, mie die Natur 
ihre jeiten Formen hat, in denen fie immer wieder fhafft, wenn ihr auch 
öfter Eremplare mißraten, und formen aus Formen ih „ohne Sprünge“ 
entwideln, fo gut leben auch die Formen der Aunft, und fie durch abitraftes 
Denken abthun zu wollen, ijt lUnverftand. Die alten Saurier freilich 
iind ausgeitorben, aber fie haben dod von den Strofodilen bis zu ben 
Eidechſen herab verwandte Formen Hinterlaffen — ähnlich wird's in der 
Kunft wohl auch gehen. Daß aber gerade jet eine Saurierperiode zu Grunde 
geht, glaube ic) nod) nicht, ich fehe das Waſſer und das Feuer nicht. 

Eine fritifhe Würdigung der im „Phantafus” enthaltenen „Gedichte* 
auf ihren poetifhen Wert hin zu geben, fchien mir minder mwidtig, als eine 
Auseinanderfegung über das Grundfäglihe. Meiner Meinung nad find die 
beiten Stüde, bie Holz bier gibt und zu denen ich unfre Proben immerhin 
rechnen muß, nicht ohne dichteriihe Stimmung. Das meifte aber fcheint mir 
noch weſentlich minder wertvoll, vieles fogar völlig wertlos. Mitunter werden 
wir geradezu an bie „Stinderprebigt* in „des Knaben Wunderhorn“ erinnert, 
übrigens auch in ber Form. Denn etwas eigentlid; Neues vermag ich auch 
in Holgens Formgebung nicht zu entdeden, „Lyrik in Profa* hat es in Deutſch— 
land ſchon länger, als feit Jean Pauls Stredverjen, gegeben. 


Adolf Bartels. 


Dramatiker zwischen den Kulissen. 


Wie fi die reife Frudt vom Baume löſt, fo das Werk vom Fünftler. 
Nun ſchmecke du den andern! Die fräftigiten Säfte aus ftarfer Wurzel haben 
fih darin verdichtet, in jeder Zelle der Frucht Iebt und mebt der fchöpferifche 
Bater. Und doch hat er feinen Zeil mehr daran, er kann fein Gefchöpf nicht 
nähren, mie die Mutter das Rind, und er will e8 nidt. Kaum empfindet er 
noch Liebe dafür, denn fon von neuem kreißt e8 in ihm! Herrlichere Pläne 
gähren im Künſtler, was ift ihm noch das alte Wert, das Werk von einftmals! 

Ein wenig anders jcheint e8, oberflächlich betrachtet, um ein dramatifches 
Kunſtwerk zu ftehn. Zwar, wenn das Buch in die Welt geht, Löft ſich aud) 
von ihm der Dichter los und überläßt es geruhig den Lefern, aber fo wie er 
feinen eigenilihen Boden findet, Die Bühne, erinnert er fi) mit jungem Eifer 
an bie Wehen der Entitehung, durchlebt e8 neu und ftellt ſich als Erflärer 
und Helfer neben Regiffeur und Schaufpieler. Thut er gut daran? 

Kommt daß Werk in die Hände eines wirklichen Regiekünſtlers und 
merben von dieſem die Rollen geihidt an ſtarke Individualitäten oder doch an 
gute Eharafteriftifer verteilt, jo ift dem Dichter zu raten, fi von der Proben— 
arbeit fernzuhalten. Und wenn auch nur der Regiffeur vortrefflich ift, Die 
Mitglieder dagegen zum Dlittelgut gehören, fo gilt das Gleiche. Der Regiſſeur 
fennt feine Leute und verſteht aus ihnen mit praftifchen Winken berauszus 
holen, was irgend in ihnen ift. Taugt der Regiffeur nichts, während die Dar— 
fteller tüchtig find, fo werden Kämpfe auf Kämpfe zwifchen dieſen und dem 


Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 
— 4 — 


regieführenden Dichter entbrennen, die nie ausgefochten werden, meil beide 
Parteien verfchiedene Sprachen reden. Erweiſt ſich ſowohl die Negie wie die 
Darftellung als unfähig, dann freilich kann der Mutor mit Erfolg eingreifen 
um dem gröbjten Unfinn vorzubeugen. Eine abgellärte Aufführung wird da= 
mit natürlich nicht ermöglicht, und nur unter befonders ſchwierigen Aufführungs— 
verhältniffen ift eine derartige Vorſtellung zu rechtfertigen. 

Id) Habe während meiner Thätigkeit am „Deutfchen Theater“ im großen 
Ganzen zwei Gruppen von Autoren unterfcheiden gelernt, je nachdem fie ſich 
auf den Proben gaben; und ich glaube, diefe Unterjchiede kennzeichnen zugleich 
ihre Produftionsweife, ihre ganze Veranlagung. 

Der Eine hat von vornherein Charaktere angeſchaut, der Andere 
Szenen. Der Eharalter ijt ein Annerliches, die Szene ein Aeußerliches. 
Dem Einen ift ber Menſch und fein Schidjal das Erite, dem Undern die Fabel, 
Der Eine fhafft, der Andere macht. Der Eine ijt Dichter, der andre Theaters 
ftüdjchreiber. 

Die Probe ift im Gange. Der Dichter rauft fi vor Verzweiflung das 
Haar, wenn von der Bühne herab ein Bild fein Auge trifft, anders als er's 
im Geifte gefehen hat. Er rennt unruhig auf und ab, fouffliert aus dem Kopfe 
jedes Wort mit zudenden Lippen, hebt wichtige Momente durch eine plötliche 
Geſte hervor, fchüttelt fort und fort das Haupt, als ob er nicht Begriffe, daß 
man eine Silbe verjhluden, vergeilen, einen Sat verdrehen, dab ein junger 
Echhaufpieler mit ſchwarzen Locken einen fahltöpfigen Greiß darftellen könnte, 
und flürzt auf den Statiften zu, der nicht den gehörigen Anteil an den Vor— 
gängen nimmt. Und tritt er dem Darfteller gegenüber, um Anmerkungen zu 
machen, fo gebricht e8 ihm an den rediten Nusdrüden, er gibt cher eine Lebens— 
bejchreibung des betreffenden Charafters, als eine den Kern treffende Korreltur. 
Die Hände fahren dabei zitternd übers Geficht; alles ift Nero und fudjeltives 
Leben an ihm, — jebt, da es fi allein um die Vorstellung handelt! Die 
ganze Probe „fliegt“ vor Aufregung, und wenn aud die Hauptdariteller nod) 
ziemlich jeji auf den Füßen bleiben, jo entiteht bei der „Gomparferie“, die fid) 
ben Teufel um pſychologiſche Motive für ihre Rufe und Bewegungen fciert, 
eine heilloſe Verwirrung. 

Wie anderß dagegen ein Vertreter (übrigens der erfolgreidite) meiner 
zweiten Öruppel Er ſchwelgt vom Probenbeginn an in einem Taumel der Koketterie. 
Bon allem, was ihm da oben entgegentritt, iſt er wie von etwas nicht nur Rich- 
tigem, fondern aud) „mädtig Schönem“ überraſcht. Seine Hände Hatichen vor Ver: 
gnügen immerfort aufeinander, und aus feinem jovialen Munde flieht eitel 
Honig auf die Dariteller. Die Worte, die ihm bisher nur aus dem eigenen 
ungefchulten Sprechorgane ins Ohr gedrungen find, werden dort in den reichten 
Vlodulationen wiedergegeben und werden auswendig gelernt — feine Worte! 
Jede Maske (auf den legten Proben wird mit Schminke, ſtoſtüm und Beleud)- 
tung gefpielt) nennt er eine herrliche Auffaffung und er preift fie als Genie- 
that. Jeder ift der beſte und einzige Verförperer feiner Rolle auf der geſamten 
deutfchen Bühne, dann und wann läht er aufer feinem dunfeltönigen ſtereo— 
typen: „Ja, jal” nod vernehmen: „So gewaltig hätte ih mir die Wirkung 
faum gedadt!* Und wenn eine für Regiileur und Darfteller aweifelhafte Stelle 
fommt, die jo oder jo gejpielt werden fünnte, dann überläßt er, weil er ſich 
felbit darüber nicht klar ijt, die Entſcheidung großmütig dem Scaufpieler. Es 
fommt ihm nicht darauf an, die einzelnen Sätze unter den Spredhenden taufchen 
zu laſſen, d. h. die längeren dem bejjeren Rhetorifer zu übergeben, wenn das 


Kunftwart 2. Oftoberheit 1898 
— 42 — 


Bud) fie auch dem Mit- oder Gegenfpieler zuichreibt. Für ihn bleibt eben die 
Sauptfade, dat die Worte überhaupt geredet werden, um Die Szene zur Er- 
fcheinung zu Bringen. Er ſtizziert, fcheint mir's, Schon bei ber Stonzipierung 
fein Drama nad) folden Gefichtspunften: in ber eriten Szene muß das und 
da8 gejprochen werden, in ber zweiten jenes; dazu brauche ich ungefähr fo und 
fo viel Perjonen. Unter dieſe verteilt er dann, was dem Publikum zum 
BVerftändnis des Ganzen vor’8 Ohr gebraht werden muß. Die fo mit einigen 
Reden bejchentten Namen heißen dann Dramatis personae, Die Charaftertitit 
ilt oft fo ſchwach, daß man beim Lefen die Unterfchiede gar nicht gemahr wird! 
dab alfo nur die perſönlichen Zuthaten der Schaufpieler in Maske, Ton und 
Haltung die Schemen einigermaßen verlebendigen. Die Sprade ift eben, wenn 
ſich nicht gerade für ben einen oder andern ber Dialekt befonders gut „mad“, 
für alle dieſelbe. Außerdem dient ihm oftmals ein förperliches Gebrechen zur 
einzigen „Gharalteriftil“. 

Der ehrliche [höpferifhe Dichter alfo, der mit dem Publikum nur infos 
fern rechnet, al3 er niemanden über die Rampe anfommen und abgehen läßt, 
der echte Charafteriitifer, der feine Seele in fein Werf geprägt hat, er befindet 
ji) während der Proben in einem Zuftande quälendfter Nervofität. Sobald 
er fich dreinmifcht, ärgert er fi, oder umgelehrt, und es fommt zu Reibereien 
mit den Daritellern, die dadurch leicht unluftig werden. Beharren fie auf ihrer 
Daritellungsmeife, jo bridt offene Yeindichaft aus; fügen fie fid) dem Dichter, 
fo geben fie ihre Perfönlichkeit auf. 

Sein Gegenftüd, der Szenenfhreiber, wiederum, der wie ein ind ſich 
wahllos über Gutes und Schlechtes freut, weil feinem Machwerk erit durd die 
Daritelung etwas Lebensähnliches angemalt wird, unterdrüdt die feilende 
Arbeit des Regifleurs durch vorzeitige und unangebrachte Lobhudeleien. 

Bon frudtbarem Einfluffe fann beider Mitarbeit nicht fein. 

Das Milieu, das der moderne Dichter fhildert, wird auf der Bühne ein 
anderes. Es bedarf dazu eines geichidten Ueberſetzers. Das ift der Regiſſeur, 
der vom Theater etwas verfteht. (Es gibt ihrer nit vielel) Hier muß auf 
Schritt und Tritt Rüdfiht auf die Kuliſſe genommen werden. Dazu gehört 
eine Technik, die von der Technik des Bühnendichters verfchieden iſt. Das 
Fehlen der vierten Zimmermwand drängt fi dem Dichter nicht mit der Stärle 
auf wie dem Schaufpieler. Über genau fo wenig, wie in Wirklichkeit diefe 
Rand ohne Thüre und Feniter oder Möbeljtüde ift, genau jo wenig iſt fie auf 
der Bühne leer. Ja, fie will weit mehr beachtet jein als jebe andre: das 
Publikum füllt fie aus. Einer vornehmen Nüdjiht auf die Zuſchauer fann und 
darf der Darfteller ji) nicht entheben, mag er ſich im übrigen nod) fo natu= 
raliftifch geberden. 

Der Autor ift dabei nit vonnöten. Er foll jein Werk fo in die Welt 
und auch in die Theater gehen laffen, daß e8 fich felbit erklärt. Ich dürfte 
wohl an das Beilpiel von Schiller8 „Räubern” erinnern, wenn man mir ent— 
gegenhalten wollte, daß der Dichter zum Vorteile des Stüdes manches auf den 
Proben ändern fünne, was nicht bühnenfällig ift. Die „Räuber“ der Mann— 
heimer Bearbeitung find in allen abgeänderten Teilen ſchwächer geworden 
als das Original. Ein guter Regiffeur wird fih — heute wenigſtens — nicht 
erlauben, eigenmädtige Umarbeitungen vorzunehmen. Er wird jtreidhen, was 
wegbleiben fann, ohne daß das Stüd im ganzen gefährdet wird, wenn durch 
eine längere Dauer der Aufführung die Aufnahmefähigfeit des Publitums er- 
lahmen fönnte; aber er wird niemals Geftrichenes durch Eigenes eriegen. Die 

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Zeit ift ja gottlob vorbei, wo Schröder in der beften Abficht den Shafefpere= 
Dramen ein glüdliches Ende bereitete, indem er Othello und Desdemona am 
Leben lieb. Die tragifche Verfhuldung, die gerade bei Shafefpere oft nur mit 
der fnifflihiten Mühe und Spitzfindigkeit „bewiefen* werden fann, iſt für den 
Zufhauer fein unentbehrlicher Grund des Genuiles mehr. Wir laffen aud) im 
Drama bie „Fügungen bes Zufalls* gern gelten, wenn fie poetifch find. Mit 
den freieren, weiteren Aunftanfhauungen des Publifums, mit der größeren 
Bildung des Scaufpielerftandes follte auch ein feiteres Vertrauen des Dichters 
auf unfre Arbeit Hand in Hand geben. Ferdinand Greaori. 


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Karl Loewe. 

Es ift nicht allaulange ber, da gab nad) einem Balladenkonzert ein Re— 
zenfent dem Sänger ben guten Rat, „ſtatt der gefungenen Erzählung doch die 
fünftlerifch bedeutend höher ftehende und aud) ungleich größere Interpretations= 
lunſt erfordernde Gattung des Liedes zu pflegen. Unſere bedeutenditen Vokal— 
fomponiiten haben nur ganz ausnahmsmeije Balladen geſchrieben, jedenfalls 
beshalb, weil e8 eine niedere Kunſtgattung ift, jo etwas mie veredelte Bänkel— 
fängerei.* Diefe Neuerung, fo haltlos fie ift, fo bezeichnend ift fie für das 
Unverftändnis, dem wir gerade in den Streifen der zünftigen Muſiker inbetreff 
der Mufıtballade begegnen, und man muß es daher freudig begrüßen, daß 
Heinrich Bulthaupt in feiner foeben von der Berlagsgeielihaft Harmonie 
in Berlin herausgegebenen Biographie Karl Loewes den Wert und das Mefen 
ber Ballade unferer Muſikwelt geiitvoll und überzeugend auseinandergeiekt 
hat. Denn die Pradjt der Ausſtattung bei dem ungemein niedrigen Preis von 
4 Mark fihert dem Werk die weitejte Verbreitung und damit den Einfluß auf 
die Deffentlichkeit, deſſen fich andere, treffliche einfchlägige Schriften bisher leider 
nicht zu erfreuen haben. 

Bulthaupt führt feine Aufgabe fehr felbitändig durch. Halber Poct, wie 
er ift, dachte er nicht daran, Die Lebensgeihichte feines Helden aus hunderten 
von veritreuten Quellen mühfam aufammenzuforfhen. Abgeſehen von Dem 
Kapitel über Loewes Schaffen „abfeit8 vom Reid; der Ballade*, worin zum Teil 
wenig befannte, vielfach ungedrucdte Arbeiten beſprochen werden, bereichert er die 
willenfhaftlihe Kenntnis Loewes nur mit ein paar Stleinigfeiten. Aber das 
bedauert man nit, und e8 entfpridt durchaus dem vollstümlihen Zwecke 
diefer Mufitbiographien, da hier nicht ein gelahrter Daten= und Zitatenmenfd), 
nod ein Fugenfex und Duintenichnüffler das große Wort führt, fondern ein 
Dann von lebendigem Scönheitsfinn und wirklicher allgemeiner Bildung, 
die ihn auch befähigen, Hritif auszuüben, d. bh. das Befte von dem Guten und 
dieſes wieder von dem Mißratenen zu unterfcheiden. Denn er ijt fein blinder 
Unbeter, er fällt über einzelne Werte des Meifters fehr ftrenge, mitunter ſo— 
gar überjtrenge Urteile, Er klagt nit nad) der Urt vieler Biographen, daß 
3- B. Loewes Opern trog manigfaher Schönheiten auf unjeren Bühnen unbe 
fannt find, er tröftet fich mit dem Gedanken, dat aud Werfe von Glud, Mo— 
zart, Weber, Schubert, Schumann der Vergeflenheit anbeimfallen mußten. Wo 
es aber gilt, die Vorzüge vollfräftiger Schöpfungen, alfo der Loeweſchen Meiſter— 
balladen darzulegen, ermeift er fid als beredter Anwalt, als treffliher Stenner 
und feiner Aeithetifer. Da er aud) die Sprache wie wenige feiner muſikſchrift— 
itellernden Stollegen beherrſcht, fo ift ein Bud) über Loewe entitanden, dem 


Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 
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man aucd bei abweichenden Anſchauungen feine Unerfennung nicht vers 
jagen wird, 

Freilih Hat bas Werk auch die Fehler feiner Tugenden. Dat Loewes 
höchſt originelles „geiitliches Streichquartett“ (op. 26) unerwähnt blieb, fei nur 
beiläufig bemerkt. Aber eine ftärfere Heranziehung der Loemweliteratur hätte 
ihm nicht geſchadet, vielmehr hätte gerabe ber populäre Zmed erfordert, daß 
der Lejer alles interefiante Material hübſch beifammen gefunden hätte, um 
nicht erit an andern Orten nachſchlagen zu müſſen. Wuszüge aus Loewes 
Briefen an Debrois van Bruyf (Hlavierlehrer 1895. Neue MufilsZeitung 1894), 
aus den Erinnerungen der Tochter Loerwes (N. Muf. Rundſchau 1896) 3. B., 
würden uns das Bild des Künſtlers und Menſchen in erheblihem Maße be= 
lebt haben. Die Aeußerungen der Zeitgenojjen über feine Muſik wären durd) 
die Urteile einiger der Größten zu vermehren. Es ift nicht unumgänglich, aber 
auch nicht bedeutunglos zu willen, daß Spontini Loewes „Oluf“ eine große 
Tragödie nannte, dab Wagner von feinen Balladen als dem „Ullermerfwürs 
digiten und Bedeutendſten“ fprad), daß Lifzt dem Schöpfer von „der Mutter 
Geift“ feine Verehrung öffentlid) bezeugt hat. Worauf Bulthaupt feine Bemer— 
fung über die Lifztianer sans phrase als angeblihe Loewe-Verächter gründet, 
weiß id nit. In eine Biographie gehören wohl auch ein paar Worte dars 
über, mie fi) der Komponiſt zur Mufif feiner Zeitgenoifen ftellte, wobei fich 
einige fehr intereifante Urteile Loewes aus feinen Briefen und der Autobio— 
graphie anführen lichen. Sein Verhältnis zu feinen Vorgängern mühte er— 
örtert werden. Jit einmal feitgeitellt, dah ſich Loewe zumeilen ganz unges 
ſcheut Mozartiher Reifen bedient (in „Karl V. in Wittenberg“ zitiert er den 
Prieftermarfh aus der „Zauberflöte*), fo braudt der S. 34 f. vermutete 
Tropfen italienifchen Blutes nicht herzubalten, auch wenn man verzeihlicher Weife 
überjehen hätte, daß die hierfür angerufene Melodie zum Teil aus Mozarts 
Sonaten Wr. ıı. Bar. 5 herſtammt. Schlieklich wünfdte man auch einiges 
über die Nachwirkung Loewes zu erfahren, über den Einfluß, den er auf an— 
dere Tondidgter ausübte. Und man vermißt unter denen, die fich für Die 
Würdigung Loewes einfegten, die Nennung eines bejtverdbienten, Martin 
Plüddemanns, der aud als ber fühigite Nachiolger bes Meilterd auf den 
Felde der Balladenfompofition zu erwähnen war. 

Vielleicht entſchließt ſich Bulthaupt, fein ſchönes Werk gelegentlich einer 
neuen Auflage in der angedeuteten Hinficht zu ergänzen. Mehr als zwei bis 
drei Seiten nähme das nicht in Anspruch, umd im Notfall gäbe mag eine Ans 
zahl Notenbeifpiele preis, mit denen das Bud fo verichwenderifdy (ich zähle 
gegen 100) bedadjt if. Im übrigen gebührt der Ansitattung volles Lob: 
6 Bildnijie Loewes, 10 andere, die feine Yamilienangehörigen, 7 Bilder, bie 
biographiſch merkwürdige Orte darstellen — id dächte, das will etwas heißen. 
Gewiß wird das rühmlidhe Unternehmen die Teilnahme an Loewe und Die 
Freude an feinen Werfen in Deutſchland kräftigen und verbreiten helfen. R. B. 


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Neue Kammermusik. 
Die Kammermufil it das Stieffind der Modernen. Sie an der Ent 
widfung der übrigen Zweige der Tonkunſt teilnchmen zu lajfen, iſt bisher nur 
erst recht Ichüchtern verfuht worden, und der unleugbare allgemeine Kortichritt 


in der Hanglichen Verwertung der Anitrumente hat gerade ihr, bei der engen 
Kunftwart 2. Oftoberheit 1898 


Begrenztheit ihrer Mittel, nicht viel zu Gute fommen fünnen. Um beutlichiten 
nimmt man das wahr beim Streihquartett: der letzte Beethoven bemegt 
fih ftet8 hart an den Grenzen feiner Tehnif und Ausdrudsfähigfeit, und Hat 
vorgreifend — für unfer Jahrhundert wenigſtens — den Raum umfdrieben, 
innerhalb deſſen eine Weiterentwidlung vor fi) gehen fonnte. Wie dieſe fich 
nad einem Beethoven geftalten mußte, zeigen alle Werfe von Schubert bis 
Brahms: ein langfames Erftarren in der Form, die für Schubert nod) den 
Zummelplaß feines „göttlichen Bummelns* abgab, ſich bei Mendelsſohn zum 
Rahmen korrekter Normalkunſt zufammenzog, bei Schumann eine meitere Ein= 
engung erfuhr und für Brahms fchlieglic oft zum fchmalbrüftigen Träger 
außerordentliher Tongedanten wurde. 

Auch die Kammermufif mit Klavier, von der PBiolinfonate bis 
zum Stlavierquintett, charafteriftert fi) durch diefes Mandeln innerhalb läftiger 
und dod) unüberfteiglicher Schranken. Aber fie hat vor dem Streichquartett 
die tonale Vielfältigkeit des Klavier voraus, und der neuere ungeahnte Auf— 
Ihmung dieſes Instruments eröffnete diefer Gattung die Möglichkeit einer 
wenigſtens technifchen Gntwidlung, mwährend das Quartett nad) der von 
Beethoven erreichten Stufe der Streichertechnif, das Streichquintett nur felten 
mehr Pflege fand und das Streichtrio mit Beethoven felbft feinen Erdenlauf 
abfchlieit. Mendelsfohn, Schumann und Brahms haben ihr Beites in ihren 
Kammermuſikwerken mit Klavier gegeben, und ganz das gleiche gilt von den 
Epigonen Raff, Bollmann, Rubinftein, Tſchaikowsky u.f.w. Manche Muſiker 
wollten freilidy in der Verbindung von Klavier- und Saiteninjtrumenten den 
Krebsjchaden der ftammermufif erbliden. Mag e8 wahr fein, dab das Klavier 
der klanglichen Einheit des Streicherhors ſpröde, unverjchmelzbar gegenüber: 
jteht und oft einer der beiden Teile zu unthätigem Nebenherlaufen verurteilt 
wird (in vielen Werfen indes iſt es nicht wahr), fo hat doc die mufifalifche 
Praris ſich thatſächlich über jene ſcheinbar fo richtig abgeleiteten Lehren Hinz 
weggeſetzt. 

Aber nicht nur innere Gründe, auch manche mehr äußerliche Umſtände 
in der gegenwärtigen Muſikpflege waren einer reicheren Entfaltung des Kammer— 
ſtiles hinderlich. Der Sinfonif und dem Tondrama erſtanden drei mächtige 
Geiſter: Berlioz, Liſzt und Wagner. Wie ein Frühlingsſturm brauſte die große 
Kunſtrevolution über die Köpfe der Muſikgelahrten hin. Auf allen andern Ge— 
bieten geſchlagen, zogen ſie ſich nun auf den klaſſiſchen Kammerſtil zurück und 
erhoben ihn zum hauptſächlichen Lehrſtil der von ihnen beherrſchten muſikaliſchen 
Hochſchulzwingburgen. 

Ich erinnere mich noch, wie ängſtlich die Lehrerſchaft eines derartigen 
Inſtituts uns Schüler von Anhören Wagnerfcher Tonwerke fernzuhalten ſuchte, 
mwührend uns die ephemeren Stompofitionen halb» und ganzvergeflener Inſtituts— 
arößen immer wieder als große Muſter vorgefegt wurden, Die „abjolvierten* 
Kompofitionsihüler unferer Ktoniervatorien verlajfen die Drillanitalt gemwöhn= 
li) mit einem unter den Mugen eines Profefjors verfertigten Kammermuſik— 
wert, das die Zeichen feiner Herkunft auf der Stirne trägt. Da die betreffenden 
Komponisten mit diefem ihrem Opus ı den Meg zur Deffentlichfeit gewöhnlich 
leicht finden, jo ergibt ſich auf folche Art eine jortdanuernde periodiihe „Bes 
reicherung“ der Kammermuſik-Literatur, die das Lieberlebte der Form nur umfo 
deutlicher macht und die ganze Gattung eher begräbt, als belebt. 

Ein Trio von Giorgio Frandetti op. ı (Zeipzig, Forberg, Mf. g.—), ein 
Streichquartett von Hans Vigneau op. ı (Köln, vom Ende) und A. von Sponers 


Kunftwart 2. Oktoberheft 1898 
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Klavierquartett op. 2 (Berlin, Rieter-Biedermann, DE. 12.—)} Stellen unter ber 
mir vorliegenden Werfen diefe Gattung dar. Formell gibt ih Frandetti 
am ficheriten, gedantlich aber tft fein Trio von unglaublidder Armut. Sponers 
Klavierquartett zeigt menigitens bie und da individuelle Züge und einige Un- 
läufe zu höherem Aufſchwung, fann fich indeffen auch nicht dauernd auf acht— 
barer Höhe erhalten. Am angenehmiten berührte mih VBigneaus Streich 
quartett. Die Säte find von Ängftlicher inappheit; aber gerade der Umſtand, 
dat der Komponift nie mehr geben will als er bat, fichert dem befcheibenen 
Wert, das in feinem erſten Sag aud) eine gemähltere Harmonif zeigt, immer= 
hin einen Erfolg. 

Ein Streichquintett op. 44 (Wien, %. Rörich, fl. 4.—) und Sertett op. 64 
(ebenda, fl. 4.—) von 9. Molbe find, wenn aud) feine Eritlingämwerfe, fo doch 
ähnlicher Wefensart wie die vorgenannten. Gine gewiſſe fichere Leichtigkeit in 
der Mache iſt dem Komponiſten nicht abzuſprechen, dürfte aber fein einziger Vor— 
zug bleiben gegenüber dem völligen Mangel an harakteriftifcher Tonſprache und 
der Redfeligfeit, mit der er feine recht unbedeutenden Ideen breitichlägt. Im Satz 
macht er ſich's leicht: faft immer fagen je zwei Inftrumente das gleiche, fo daß 
immer je eines überflüffig erfcheint. Soll das ein unbewuhter Verſuch von Rückkehr 
zur Homophonie fein, nad) der man jegt zur Rettung der Kammermuſik ruft? 
Dann fünnte einem um die Zukunft der Sammermufit ernſtlich bange werben. 
Gonitantin Sternberg Klaviertrio op. 69 (Leipzig, Otto Junne, ME. 4.—) 
nimmt jich neben Molbe beinahe vornehm aus, wenn e8 auch hinſichtlich des 
Ausmaßes der einzelnen Säge in den gegenteiligen Fehler — den der Kurz— 
atmigfeit — verfällt und mit Bezug auf Erfindung über wine gewiſſe Wohl: 
enjtändigfeit nicht hinausgeht. Es gehört mit dem Streichquartett von Wagner— 
2ocberfhüs op. 15 (Leipzig, E- F. Schmidt, ME. 4.—) und dem Klavierquartett 
von Julius Zellner op. 23 (Leipzig, Brodhaus, Mi. 8.50) jenen im Gebiete 
der Kammermuſik fo zahlreichen gefälligsglatten Durchſchnittswerken an. 

Biel höher fteht Klugharts Streichquartett op. 6ı (Leipzig, Eulenburg, 
Bart. DE. 1.—), wenn hier auch das technifche Können größere Beachtung ver— 
dient als Das geiltige. Uber die Hompofition ift formſchön, friſch erfunden, 
und die Verwertung der Themen (fo das Andante im Finale) weiſt mohl- 
thuende Gigentümlichleiten auf. Ein ebenjo liebenamürdiges, ſchon öfter aufs 
geführtes Werk ijt Franz Mohaupts Slavierquintett op. 11, das mir im 
Manuffript vorliegt. Es gibt fein Beſtes in einem thematifh ſchön durd)= 
geführten Scherzo mit anmutigem Trio, und in einem fein zifelierten Andantes 
Variationenſatze. 

Der Wert der angeführten Werke liegt in der pietätvollen Verwertung 
von Grundſätzen von hiſtoriſcher Geltung; es wird nicht verſucht, eigene Wege 
zu gehen. Und doch gibt es auch in der Kammermuſik noch einen perſönlichen Stil, 
und e8 laſſen fidy den alten Yusdrudsmitteln neue Seiten abgewinnen, wenn 
nur der ftomponift eine eigene Sprache zu ſprechen imitande ift wie Anton Beer 
und Robert Kahn. 

Das Hlavierquartett op. 8 Unton Beers (Münden, Alfr. Schmidt, 
Mt. 12.—) ſcheint mir troß der Wahrung der vierfägigen Form eine befreiende 
That zu bedeuten, gegenüber dem falfchen Pathos und der übel angebrachten 
Schulgelehrjamfeit, die zu den ftehenden Begleiterfcheinungen der meiften Kammer: 
mufifnovitäten der letzten Jahrzehnte gehören. Als ein nidyt hoch genug an— 
aufchlagender Borteil des Werkes fer die gleihe Wertitellung der einzelnen In— 
ftrumente zu einander hervorgehoben. Nie tritt jener fonzertierende Zug her— 


Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 
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vor, der den Kammermufifitil, jhon bei Hummel und Chopin, fo ſchwer jchädigen, 
kann. Das ganze Werk iſt von fo ungezwungener Friſche und gefunder Straft, 
daß e8 in Wahrheit eine Ausnahmsitellung in der einfhlägigen zeitgenöffi: 
ſchen Riteratur einnimmt. Wer Freude an neuen Klangwirkungen hat, die oft 
wohl dem modernen Orceiter abgelaufcht find, der wird fie hier vielfach vor— 
finden. So im eriten Safe bei E, im Scherzo und vor allem in bem fo ftarf 
bingeftellten Finale. Den Schluß bildet ein Alla marcia, deſſen Gravität nad) 
dem fprühenden Humore des Allegro von ganz eigentümlicher, intim-humo— 
riſtiſcher Wirkung ift. 

Desfelben (inzwifhen in Beer-Walbrunn umpgetauften) ſtompo— 
niiten Streichquartett op. 14 (Ed. Peters) mutet gleichfalls eigenartig an. Bes 
fonders das Andante, Bariationen über das Vollslied: „ES maren zwei Königs— 
finder“, ift ein wahrhaft ergreifender Tonfaß; fiher aber liegt dem Komponiſten 
ber Stil des Klavierquartetts beffer; fein Streichquartett zeigt oft, fozufagen, 
eine latente Kraft, ein vergebliches Ringen, über die Materie des Inſtrumentes 
hinauszulommen, während im Alavierquartett gerade das völlige Ebenmaß 
der Ausdrudsmittel mit dem Auszudrückenden fo fehr befriedigt. 

Völlig anders geartet ift Nobert Hahn War es dort der unange- 
fränlelte, pausbädige Realismus, der einen erfreuen fonnte, fo ift’8 bei Kahn 
der jchmermütige, ideale Zug, der den Hörer gefangen nimmt. Sein Trio 
op. 19 (Leipzig, Leudardt, ME. 10.—) dürfte auch hinſichtlich der Einheitlichkeit 
feines Charakters wenige Rivalen haben. Ein großer, aber doch befonnener 
Drang nad aufwärts geht durch das Ganze, etwas von jener milden und doch 
überfihmwänglichen Frühlingsitimmung, wie fie Gade fo liebte. Bedenklich aber 
fheint mir der mehr dem Pianilten als dem Kammermuſiker zu Liebe ge— 
fchriebene Klavierfag. Diejes üppig rankende Figurenmerf, biefes fortmährende 
Schmwelgen in ſchön erfundenen, aber zum geiftigen Inhalt des Werfes in feiner 
Beziehung ſtehenden Ergüffen, wird ſchließlich zum ftiliftifchen Verftoße. Man be— 
trachte daraufhin befonders das Andante. Das Klavier beherrſcht in vordring- 
licher Weife die Szene, ohne das geringste zum Fortgang der Handlung zu 
leiiten. Darum ftelle ic) Hahnns Klavierquartett op. 14 (Reipzig, Leudart, ME. 10.—, 
in Schöner Bearbeitung für Stlavier zu vier Händen von Otto Singer, DIE. 6.—) 
iroß jeiner äußerlich anfprudsloferen Haltung höher. Auch in thematifcher 
Sinficht Hat es ſchärſere, finnfälligere Ktonturen; trogige Männlichkeit fpricht 
aus bem eriten Sag, und eigentümlich geiſtreich ift der fprühende, fcherzofe 
Charakter des Finales; fein Inftrument macht fi) auf Stoften des anderen 
breit, feines verfällt in zwediojes „Mitſpielen“. 

Die Klavierquartette von Beer und Hahn entiprechen fomit in einer mid)» 
tigen, oft überjehenen Disziplin ihrer Stilgattung: fie find Kammermuſik, 
ihr nächſter Zwed ijt nicht, den Bedarj des Sonzertfaals, fondern den des 
Muſikzimmers zu befriedigen, fie find weniger für die Zuhörer, als für den 
Spieler felbjt gejchrieben. Diefer urfprünglihe Zmwed der Kammermuſik läßt 
ſich an den Eaffifchen Werfen ebenſowohl nachweiſen, wie der allmähliche Ueber— 
gang zum fonzertierenden Charakter, der fhon — zumal in den Werfen mit 
Klavier — mit Franz Schubert anhebt. Daß Brahms fcheinbar eine Aus— 
nahme bildet, ift zum Zeil der relativen Stlanglofigteit feines Alavierfages zu— 
auichreiben. Sp hat die Kammermufit einen eigentümlichen, dem der Sinfonie 
entgegengefegten Entwidlungsgang genommen: Diefe fprengte gewaltfam ihre 
Form, um dem veränderten Stimmungsgehalt zu entiprecdhen, jene zwingt rüds 
ſichtslos ihren im Laufe eines Jahrhunderts fo veränderten Inhalt in die alte 


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Form, und befindet ſich alfo in der wenig beneidbensmwerten Lage bes Künſtlers, 
der das Bild zum fertigen Rahmen liefern fol. Auch in diefem Sinne ift mit 
Brahms die Abendröte des KHlaffizismus cerlofchen. Zum Morgen wird e8 
feines Rückſchritts brauden, fondern eines beherzten Vormärtsgehens. Wer 
ben entſchiedenen Schritt zur Zerbredung der überlebten Formen thut, der 
wird ber Befreier unserer Kunſtſform aus [hier eritidenden Feileln fein. — 

Drei Momente laſſen fi in der langjamen und zögernden Entwidlung 
de3 neueren Kammerftils wahrnehmen, von denen eine Belebung und formale 
Umgeitaltung der ganzen Gattung zu erhoffen iſt: das Schaffen nah einem 
Programm, aus einer poetilchen Jdee; die Verwertung nationaler Motive und 
die Ermeiterung bes Wusdrudsvermögens und des Stlangreiges durch neue 
inftrumentale Kombinationen. 

Schon Schumann hat in einzelnen feiner Kammermuſikwerke gewiſſen 
Sägen Ueberſchriften gegeben, und Mendelsfohn ließ in einer Gellofonate eine 
Mitternachtsglocke“ disfret durdflingen. Arnold Krug gibt als Scherzo 
feines neuen StlavierquartettS op. 16 (Leipzig, R. Forberg, Mi. 16.—) einen 
ftimmungsvollen „Nähtlihen Ritt“ und als Schlußfag einen [ebenfprudelnden 
„Karneval“. Da das Werl aber die herfüömmliche, vierfägige Form hat und 
die beiden erſten Säte „abfolute Mufil* find, fo wird durch das veränderte 
Prinzip der Schlukfäge der innere Zufammenhang geſtört, das Ganze bleibt 
ein halber Berfuh. Kigenartigeres ſchuf Auguſt Klughardt in feinen 
Schilfliedern op. 28 für Klavier, Oboe und Viola (Leipzig, Schuberth, ME. 5.—), 
die ſich ſtreng an Lenaus befannte Gedichte halten und ein wirklich vollwer— 
tiges mufifalifches Uequinalent dazu bilden. Als das bedeutendite Werk dieſer 
Gattung dürfte aber Smetanas befanntes Streichquartett „Aus meinem Leben“ 
au betrachten fein. 

Einfluß nationaler Elemente iſt namentlich in den Werfen flavifcher und 
nordifcher Herkunft zu beobadıten. Unter den mir vorliegenden Neuheiten dieſer 
Urt verdient befonders ein Trio von Guſtaf Hägg (Leipzig, Zeudarbdt, DIE. 12.—) 
Hervorhebung. Ein gewaltiger Zug geht durch das Ganze: ungebunden, feſſel— 
108 ftürmt der erite Sat darüber, von mädtigem Aufſchwung iſt das Andante, 
anmutig ohne gefuchte Bilanterie das Scherzo. Bon der immer gequälter wer— 
denden Grübelet Griegs iſt Hägg ebenfo frei wie vom manirierten Klavierſatz 
Eindings; am beiten liche fich fein Trio fraft feiner Frifche mit den Violin— 
fonaten Sjögrens vergleichen, vor denen er fid) aber durch freiere Formgebung 
auszeichnet. 

Bon Sofef Suk (Mitglied des Böhmiſchen Streidhquartetts) verlegt Sim— 
tod ein Streichquartett (B-dur), das mir in einer gefchidten Hebertragung für 
Klavier zu vier Händen von Wilhelm Zemanek vorliegt. Steht Sul als Kom— 
ponift auch noch nit auf eigenen Füßen — GEinflüffe von Schubert und 
namentlich) von Brahms her find bemeribar — fo weiß er dod) von ſich felber 
genug zu geben, um das Interejje bis zum Ende des Werkes wachzuhalten. 
Der erite Sat ſcheint mir etwas abrupt und in der Durhführung nicht von 
zweckloſen Gemwaltjamfeiten frei zu fein. Eigenartig iſt das Intermezzo (Tempo 
di Marcia), tief und groß empfunden das Adagio, deſſen g-dur-Dittelfag zu 
den bedeutenditen Eingebungen des Wertes gehört; der legte Sat läßt alles 
in reiner ungetrübter Lebensfreude ausklingen. Weniger bedeutend erjheint 
mir die Biolinfonate op. 9 von Oskar Nedbal (Simrod, Mt. 8.—). Zwei 
Eckſätze von zu gefuchter Ueberfhmänglichkeit umfaſſen ein Andante, dejien 
Wachstum formell und geiftig immerfort leidig unterbrochen wird. Beiden 


Kunftwart 2. Oktoberheft 1598 
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Werken gereicht e8 vor der weiteren Deffentlichfeit zum Vorteil, daß fie ihren 
nationalen Charakter leicht andeuten, aber nicht zum bervorftehhenden Zug der 
Kompofition maden wie Anton Dvoral in feinem Slaviertrio „Dumfi“ 
op. 90 (Simrod, vierhändig, ME. 8.—) thut. Der nicht befonders an den Genuß 
flavifcher Bollsmufit gewöhnte Hörer wird fi) bei diefem abwechſelnd von 
Langemeile und wilden Huffitismus beherrfhten Werfe faum wohl fühlen. 


bermann Teibler. 
SIE 


„Die Verwirrung der Kunstbegriffe.‘ 


Unter diefem Zitel bat der befannte Frankfurter Maler Wilhelm 
Zrübner im Verlag der Literarifchen Anstalt Rütten und Löning zu Franf- 
furt a. M. „Beratungen“ erfcheinen Iaffen, die ſchon ihres Verfaſſers wegen 
beachtet jein wollen. Ihr Gedanfengang unterfcheidet fi) allerdings nicht 
weſentlich von Trübners erster Schrift „Das Hunftverftändnis von heute“, die 
er 1892 ohne Namensnennung bei Fritih in Münden erſcheinen ließ. Damals 
ftellte er namentlid) die rein fünftlerifchen und die populären Richtungen in 
der Kunſt in Gegenfag, während er die moderne Anfhauung in der Malerei, 
bie für bie rein fünftleriiche Richtung in Betracht komme, dahin erflärte, es 
fomme darauf an, „fo qut wie nur möglid) zu malen, b. 5. das Stolorit auf 
die höchſte Stufe zu erheben und alles Lebrige, bisher als Haupterfordernis 
Geltende dagegen fo meit zu vernadläfligen, als es ein Hindernis wird, das 
ber Erreichung des höchſten Ziels der Malerei, der höchſten foloriitifchen Qualität 
im Wege ſteht.“ 

In der neuen Schrift will Trübner zunächſt zweierlei Arten von ſo— 
genanntem Guten in der Malerei Scharf unterfchieden wiffen, und diefe Trennung 
kommt inmerhalb feiner „Betradhtungen* immer wieder: das „reinfünftle= 
riiche* Gute als das Gute von Dauerndem und daS „populärfünitle= 
riſche“ al das von vergänglidem Werte. Das populärfünftlerifche ift für 
Trübner dasjenige, dan8 nur auf afademifhem Können beruht, auf dem 
Können alfo, das fi) lehren läßt: es ift in der großen Menge ftetS das be— 
liebtefte, es hat die breiten Erfolge, während das reinfünftlerifhe vom 
Publikum zunächſt gar nicht verjtanden werden kann, dafür aber die tiefen und 
die dauernden Erfolge hat. Die Unterfheidung ift nicht immer ganz einfad), 
weil aud) das Stofflide mit Hineinfpielt. Denn feit man weiß, dab die rein 
künſtleriſchen Maler mit Vorliebe ganz einfache Stoffe malen, verfällt man häufig 
in das böje Verjehen, alle Darjtelungen einfaher Stoffe als reinkünit- 
lerifche Leiftungen zu betradhten. 

Don diefem Standpuntte aus entwidelt Trübner feine Gedanken über eine 
ganze Reihe von Erſcheinungen und Fragen, 3. B. über Strebertum, Kunſtkenner— 
ſchaft, öffentliche Kunftfammlungen, Kunſtunterricht, photographifche Darjtellung, 
Kunftgewerbe u. ſ. w. In den meijten Fällen können wir ben verjtändigen und 
Haren Uuseinanderjegungen des Verfaſſers, die natürlich nicht allenthalben neu 
find, zujtimmen. Aber wir fünnen hier unmöglid) auf alles eingehen, wovon 
Zrübner fpriht. Wir können nur einzelne Punkte beleuchten und möchten des— 
halb unferen Lefern umfomehr empfehlen, das Buch als Ganzes felbft zu Iefen- 

Intereffant ift Trübners Begrifisbeftimmung des Monumentalen; 
nad) ihm ensjteht es durch die Vereinigung des reinkünſtleriſchen Könnens mit 


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dem gegenſtändlich Intereffanten; ift dieſes gegenftändlich Intereffante nur mit 
der akademiſchen Darftellungsmweife verbunden, jo fann daraus nur immer das 
Delorative (Akademiſche, Populäre und Konventionelle) hervorgehen. Weltera 
eier des Kunſtwarts werden ſich an die Erörterungen zwiſchen Koopmann 
und Helierich über das Monumentale erinnern. Trübners Definition iſt vers 
hältnismäßig einfach; felbitveritändlich aber laſſen fich derartige Begriffe nicht 
fozufagen handgreiflich definieren: das Gefühl, die verfeinerte Kunftempfindung, 
für welche eben Trübner eine Lanze bridt, muß enticheiden. 

Intereflant iſt au, mas Trüber über die Beurteilung der alten unb 
der neuen Kunſt jagt. Sie werden durd; die meilten fogenannten Sadver= 
ftändigen von zwei gänzlich verjchiedenen Standpunften aus beurteilt: die Kunſt 
der Vergangenheit nämlih vom reinfünftleriichen, die neue Kunft vom populär: 
Zünftlerifhen Standpunfte aus. Bei Werfen der alten Meifter entfcheidet immer 
nur die von Sadhfundigen feitgeftellte reinfünftlerifche Güte der Malerei, da— 
gegen bei denen der Neuzeit joll immer nod) die alademiiche Güte der Malerei 
oder gar ber intereflante Gegenitand des Bildes den Wert beitimmen. Wenn 
man freilich bedenkt, daß man nod vor fünfzig Jahren einen Franz Hals für 
30 Gulden faufen fonnte, wenn man die Shhwanfungen des Urteils über Raffael, 
Rembrandt, Tizian, Correggio, Tiepolo u. ſ. m. durch die Jahrhunderte verfolgt, 
fo fieht man leider, daß ebenio aud das lirteil über das rein Künſtleriſche 
dem Wechſel, beinahe mödte man jagen der Mode, unterliegt. 

Huffallender iſt Trübners Geringihätung gegenüber dem Kunſt- 
gemwerbe. „Jede Kunſtſammlung enthält immer zweierlei Arten von units 
werfen: die rein künſtleriſch-individuellen und die afademifch-fonventionellen. 
Befindet fich die eritere Gattung in der Ueberzahl, jo nähert fich die Samm— 
lung dem erreihbar höchſten Ziel, wiegt aber die andere Sattung vor, fo 
nimmt die Galerie eine untergeordnete Stellung ein. Seitdem neben den Ktunſt— 
fammlungen aud) nod) Kunſtgewerbemuſeen gegründet worden find, fann man 
den Grundſat aufitellen, daß alle reinfünftleriichen Werke in die Kunſtmuſeen 
gehören und alle afademifchsfonventionellen in die Kunſtgewerbemuſeen, mweil 
die alademifchen Werke mehr kunſtgewerblicher Natur find. Sind doch aud) 
Sammlungen alter Meifter größtenteils in biefer Weife bereits abgeſondert.“ 
Darnad) müßte man alfo 5. B. die Gallefchen und die Tiffanyſchen Gläſer in den 
Kunjtmufeen, die künſtleriſch minderwertigen Gläfer aber in den Kunſtgewerbe— 
mufeen unterbringen. Sollte man bei ſolchen Grundfägen die legteren nicht 
lieber gleich ganz ſchließen, anftatt fie fozujagen zu fünftlerifhen Totentammern 
zu machen? 

Ueberhaupt fheinen uns Trübners Ausführungen über das Kunſtgewerbe 
am menigiten far und beifallsmwürdig. Er fagt da u. a.: „Wenn das alades 
mifhe Können in ber Malerei der früheren Jahrhunderte eine ganz andere 
Rolle geipielt Hat als heutzutage, jo fommt dies daher, daß die afademifch 
Beranlagten in früherer Zeit fih ausfchließlid der kunſtgewerblichen Malerei, 
d. h. dem Entwerfen von funjtgemwerblicdhen Gegenjtänden und der deforativen 
Richtung zugemendet hatten. In unjerem Jahrhundert wurde ihnen dieſes Ge— 
biet zum größten Teil von den Architekten genommen und dadurch die all- 
gemeine Verſchiebung der verihiedenen Gebiete veranlaßt. Verdrängt vom 
‚eigenen Gebiet durch eine mindejtens zehnfache Uebermacht, verdrängten aud) fie 
wieder ihrerfeit3 mit derſelben Ueberzahl die reinfünftleriichen Talente und 
malten ſeitdem faft ausſchließlich Staffeleibilder, d. h. fie lieferten die popu— 
‚(äre Kunſthandelware im Uebermaß. Langfam und ficher ringt fih gegen— 


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— öl - 


mwärtig ein Läuterungsprozei durch, der die verfhobenen Verhältniſſe wieder 
in den normalen Zuftand zu bringen jcdheint. Die Anerkennung der höheren 
Beitrebungen ift im Zunehmen und die populäre, afademifhe Malerei fängt 
an, ſich wieder auf das ihr eigentümlide Wefen zu erinnern, indem fie fich 
auf das ihr allein zugehörige Gebiet des Kunſtgewerblichen und des Monu— 
mental-Deforativen zurüdbegibt.* 

Man fragt fi, mas denn das Monumental-Deforative fein joll, wenn 
Monumental und Deforativ nad) der oben mwiedergegebenen Trübnerichen Ers 
flärung einander doch vollitändig ausjhlichen. Und waren denn Dürer und 
Solbein, die doch auch funjtgemwerbliche Gegenftände entworfen haben, nur 
afademifch veranlagt? Trübner Hat fih in feiner Schrift nicht über Kunſt— 
gewerbeſchulen geäußert, deren Organifation an den von ihm getabdelten Uebel— 
ftänden einen großen Teil der Schuld trägt. Trübner will „das künſtleriſche 
Ausihmüden gewerblicher Gegenstände und architektoniſcher Werfe* (jo erflärt 
er kunſtgewerbliches Schaffen) ausfhlieglih den Bildhauern oder Malern zus 
weifen. Gewiß mit Recht. Aber heute fallt dieſe Thätigkeit meiſt den Deko— 
rationsmalern und denjenigen Bildhauern zu, Die entweder nur eine hands 
werkliche Ausbildung oder höchſtens nody den Beſuch einer Kunſtgewerbeſchule 
hinter fich haben. Es fann aber feinem Zmeifel unterliegen, daß diefe Ausbildung, 
legtere namentlich mangels gründlicher Unterweiſung in Anatomie (nad Schulges 
Naumburg der einzigen unentbehrlichen Hilfswiſſenſchaft im Stunftunterricht), 
oberflächlich tft. Hunitafademien und Kunſtgewerbeſchulen werden in Zukunft 
ihr Gebiet beifer gegen einander abzugrenzen haben als bisher. Mas Trübner 
über den Stunitunterricht jagt — indem er 3. B. Abſchaffung der Komponier— 
und Bildermalidyulen, der Meifterateliers fordert, fann man nur unterfchreiben. 
Und e8 iſt gut, daß alte Wahrheiten von zuftändigen Zeuten immer von neuem 
wiederholt werden. 

Trübner faht feine Anſichten fchlieglid noch einmal zufammen, indem 
er mit Ernst für die Wiedergeburt der deutihen Kunſt gegenüber der Nach— 
ahmung der ausgeleierten italienifhen Renailfance eintritt. So begrüßt er es 
auch als einen Fortſchritt, daß gegenwärtig eine Reihe jüngerer Künſiler, 
wie Sattler u. a., archaiſtiſch altdeutſch jchaffen. Sie weiſen dadurd) auf dag 
altdeutjche Kunſtempfinden nadprüdlih hin und fördern ſomit fräftig das 
Verftändnis für unfere eigene fünjtleriiche Denfungsweife. Das iſt ein Ges 
danfe, ber einmal Die fchönere Kehrſeite der arhaiftiichen Dtedaille beleuchtet, 
deren Vorderſeite wir nicht jo rüdhaltlos loben möchten. 

Sehr merkwürdig iſt endlid die Schlufbetraditung der Trübnerfchen 
Abhandlung, die jedenfalls für die Sadjlidyfeit, Gerechtigfeit und Unparteilich— 
feit von Trübners Gefinnung Ipridt. „So lange das Kunſtverſtändnis ein 
derart geringes iſt, jo lange muß man ſich auch entichieden für die größte 
Toleranz in der Kunſt ausjprechen. Alle Bilder haben die Beredtigung, ges 
jehen zu werden, und alle Bilder find dazu da, das Stunftveritändnis des 
Rublitums zu heben. Sicht das Publikum nur wenig Bilder, jo wird ſich fein 
Verſtändnis wenig heben, ficht e8 viel und vft, jo wird es ſich um fo rafcher 
ein Urteil bilden. Nur duch große Kunſtausſtellungen und dadurd), dab ſämt— 
lihe Richtungen aller Welt zugänglich gemacht werden, fann man das Rolf 
wahrhaft fünjtleriicdy erziehen.“ Wir können diefen Standpunkt nidjt teilen 
Dann mühte man fih audy über die illujtrierten Bamilienblätter freuen, Die 
unter dem Vorwande, Kunſt zu verbreiten, der Süßlichkeit und akademiſchen 
Hohlheit in der Kunſt immer von neuem Vorſchub leiſten. Selbjt wenn nıan. 

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die Hunftansftellungen nad) Trübners Vorſchlag fo anordnen fünnte, dat das 
Reimfünftleriiche und das Akademiſche getrennt würde, fo höben bie großen 
Ausitellungen mit ihrer „größten Toleranz“ das Kunſtverſtändnis dod) nid. 
Das können fie nur, wenn dem Publiftum dauernd nur Gutes vorgeführt, die 
Sandelsware aber nad) Möglichkeit zurüdgebrängt wird. Trübner über- 
ſchätzt aud die Nufnahmefähigfeit des Publikums ftark, er vergißt, daß ein 
Ungeübter längft ermüdet und ftumpf meiterfchleiht, ohne überhaupt etwas 
recht aufgenommen zu haben, wo er’, der im Bilderbefehn geübte Maler, noch 
frifchen Geiftes das Wejentlihe erfaßt und das Gleichgültige beifeite läßt. 
Denn er, der Maler, nimmt mit zehn Bliden wahr, was der Laie erit nad) 
mühjeliger Vertiefung annähernd ebenfo erfennt. Deshalb werden wir nad) 
mie vor für Ausleſe-, nicht für Maflenausftellungen eintreten, für multum, 
nicht für multa, wo fih’8 um Die Beteiligung des Publitums handelt. Es 
find Schließlich einfah phyfiologiiche Gründe, die auf diefen Weg, troß feiner 
Gefahren, zwingen. Paul Shumann. 


IR 
Lose Blätter. 


Es bat noch feinen Begriff. Nadhdrud verboten.) 
Romanbruchſtück von Otto Qudmig. 


Vorbemerkung. Das nadfolgende, eine vorzügliche Romaneinleitung 
bildende Erzählungsbrudftüd Otto Ludwigs — bisher ungedrudt und unbe 
fannt — fand ſich auf wenigen Blättern in Großgquerquart in Ludwigs ges 
drängter Handſchrift und in einem viel umfangreicheren Plandeft zu einem reich 
genliederten Romane „Dämon Geld“ oder „Geld“ betitelt. Diefes weist nach dem 
Charalter der Schrift und verfchiedenen andern Umſtänden auf die Mitte oder das 
Ende der fünfziger Jahre zurüf. Das Bruchitüd jelbit iit ganz beitimmtermaßen 
nad) der Erzählung „Die Heiterethei* geichrieben, was aus einer Bemerkung 
auf der eriten Seite und den Zahlen vor den einzelnen Abjchnitten des aus— 
geführten, aber nicht vollendeten Kapitels hervorgeht. Der Dichter verſucht fid) 
von vornherein zu berechnen, was ihm feine Arbeit ungefähr eintragen fünne, 
indem er fie nad) Spalten des Feuilletons ber „Kölnifchen Zeitung“ einteilt, 
wo befanntli im Sommer 1855 „Die Heiterethei” erfchienen war. Es hat 
etwas tief Nührendes und zu gleicher Zeit Erfchütterndeg, in dieſem Bruchitüd 
und in dem breit ausgeführten Entwurf abermals den unbeſieglichen Wider: 
ſpruch zwifhen des Didier Berlangen nad) raſcher Vollendung feiner Er— 
zählungen und ber Stünjtlerglut, die feine Mühe bleichte, der Eigenart feiner 
Phantaſie, die von der Fülle der Gefichte überwältigt, von der Luſt an den taufend 
Möglichkeiten der Geftaltung, wie von der Strenge feiner ſtunſtforderungen bes 
herricht wurde, zu erfennen. Denn aud im Entwurf zu dem Roman „Geld“, 
der nad Ludwigs Meinung: „die verſchiedenen Wirkungen des Geldes (Beſitzes) 
auf die Menſchen, ſowohl auf ihren Charakter im Thun, als im Meinen von 
Andern“ darftellen follte und als deſſen Hauptfchauplag bald die voritädtifche 
Mühle und ein Halb bäuerlich geblicbener Winfel einer großen Stadt (Uebigau— 
Dresden), bald „eine fleine Stadt, die erft mährend der Geſchichte durch eine 
Eifenbahn ber Hauptitadt genähert wird“, dem Dichter vorſchwebte, finden ſich 
die eigentümlihen Verjhiedendeiten des Plans, die unzähligen „oder“ und 


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„oder auch“, die wechfelnden Beleuchtungen der Handlung, der Charaktere, das 
grüblerifche Spiel mit Möglichkeiten und Einzelzügen, bei der Iebhafteiten finn= 
liden Unfhauung bes Ganzen, die wir aus den zahlreihen bramatifchen Frag— 
menten und Entwürfen Otto Ludwigs fennen. 

Der Roman hatte urfprünglih den Titel einer „Altweibergeſchichte“ 
tragen follen, und nod in dem fpäteren Planheft hat der Dichter dem Ge— 
danken nadigehangen, in einem autobiographiihen Roman die Aufgabe zu 
löſen. „Vielleicht am beften: die Heldin erzählt felbit, dann ift e8 am leich— 
tejten, die Nätfel länger feitzubalten, befonders den Stiefoater und die Bafe. 
— — Man muß in der ganzen Erzählung den Charakter gewahr werden, den 
fie ich beilegt und im Buche jelbjt als das Bleibende davon entwidelt, Wahr: 
heit, Redlichfeit, Stola — wenn fie nicht verfchweigt und nicht vermäntelt, wie 
thöricht fie damals dadte und handelte. Sie hat aber auh Wit und Humor, 
viel Farbe u. ſ. w. einftimmend mit der Erzählung, wo fie fich felber Geiſt bei— 
mißt und Laune. — Die ganze Erzählung muß etwas von Frauenplaudern 
haben; die Ausführlichkeit paßt.“ Gleich darauf aber wirft fi) der Dichter 
ein: „ES wäre auch fo zu maden, dab die Heldin nicht ſelbſt erzählte, aber 
bie Erzählung hauptfädhlid; mit ihr ginge, fo daß fie nur ausnahmsweiſe hier 
und da eine andere Figur begleitete. So bliebe die Heldin do eine Art Me— 
dium für den Lefer; wir nähmen umfere Meinung über die Dinge aus ihrer, 
wobei wir freilich unfere eigene haben fünnten, wenn wir wollten. Das wäre 
ein Mittelweg. Wo wir über das Folgende getäufcht werden follten, um ber 
Spannung willen, gefhähe das durch ber Heldin Täufchung.“ 

Die Heldin endlich des Romans, „der im naiven Jdyll beginnt, ins große 
Weltleben übergeht und ſich wiederum bewußt ins Idyll zurüdzieht*, ſollte 
feine andre fein als das Kleine Liesle des Kapitels „Es hat noch feinen Bes 
griff“. Als die einfachen, tragenden Grundpfeiler der ganzen Erzählung er= 
fcheinen die Aufzeichnungen: „die »Bafe« in ihrer Pietät hat das »Mädlex als 
Mutter erzogen, die vom Vater verhätjchelt wird und von ihr (dev Schmweiter) 
mit; fie »jchlachtet fich ins Haus« und fieht jich nur als Ergänzung der halb= 
findiihen Schwefier an, fie wird fozufagen mitgeheiraiet. Nach des erften 
Mannes Tode gewinnt der Gefell die Mutter; troß der Baſe heiratet fie ihn; 
die Baje vererbt ihre Sorgfalt von dem einen auf das andere Kind, ohne jener 
etwas zu entziehen. Sie verliert ihren Einfluß; ihr Gedanke, fih abzutrennen, 
um für jene weiter forgen zu fünnen, da ber neue Schwager fie ruinieren wird, 
wird realifiert burd) eine Art Austreibung. Nun gibt fie der langjährigen Wer— 
bung eines Dabei alt gewordenen Werbers, ohne Familie und rei, nad) und 
pflegt ihn rechtichaffen, ohne die Ihren zu vergeflen, bis zu feinem Tode. Die 
nun von ihrem Wanne beherrichte Schweiter jtirbt und deren Tochter, in die 
Wellen des Wohllebens gerifien, madt ihr Kummer. Der Stiefvater hat (ſchein— 
bar) Glüd umd geht nicht fo ſchnell zu Grunde, als fte (die Bafe) gemeint. Sie 
ſucht mit dem Mädchen, das fich, von jenen Wellen fortgerifien, immer weiter 
von ihr entfernt, fich ihrer Shämend, in ein wohlthätig Verhältnis zu treten, 
jene aus den Wellen zu retten, durch eine Ehe, e8 gelingt nicht. Sie muß fi 
geitehen, die Schweiter verzogen zu haben und wendet num weiſe Strenge an; 
fie läßt die innere Ummendung in der Heldin fi, ungeitört von unzeitigem 
Entgegenfommen, vollziehen, was fie fajt bereut, bis ſich alles zum beiten gibt, 
bis die Heldin, nad Selbjtbeihränfung nun felbit verlangend, wiederum zur 
Bafe in das alte Verhältnis tritt.” 

Es hätte feinen Zwed, an dieſer Stelle die ganze Folge bunter Verwick— 


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— DB — 


lungen und Ubenteuer, in denen der Gharafter und das Beben der Heldin unter 
zugehen droht, bis fie ſich fiegreich darüber erhebt, hier aus Ludwigs Planheft 
vorzutragen. Der Roman ift eben nur geträumt, nur in ber nie raftenden 
Phantaſie des Dichters mit allen Einzelheiten Durchgebildet worden. Zur Aus: 
führung iſt lediglich das eine hier mitzuteilende Kapitel gelangt. Aufmerffamen 
Leſern wird nicht entgehen, welche Fäden ſchon in diefem einen Stapitel aus 
der fihern Anſchauung des Ganzen angelegt find, wie die Schilderung des Be— 
gräbnistages Blide nad) rüdwärts und vorwärts eröffnet, wie mit menigen 
harakteriftifhen Strichen das Verhältnis zwiſchen der Bafe, ihrer hilflofen 
jüngeren Schmeiter und ihrer feinen Nichte bereits ins Stlare geſetzt iſt. Die 
realiftiiche Meiſterſchaſt bemährt fich eben nicht nur in der höchſt mwirlfamen 
Deutlichkeit und Feinheit der Schilderung, in der Poeite der Stimmung, jon= 
dern vor allem aud in den Einzelheiten, die zur Fortleitung dienen. Gein 
eigenes, im Plan aufgeftelltes Gefeg: „das Detail immer fo, als wäre e8 fein 
eigener Zweck und müßte durch fid) felbft und für fich felbit, aber nicht durd) 
oder für etwas anderes intereffieren oder unterhalten; als wäre 3. B. des 
Autors Zmed im Anfang bloß und Iediglih ein Bild von dem Begräbnifle 
und der Sleinen Gedanlen dabei zu geben“ und „das etwa Spannende, das 
heißt auf die Zukunft vermeifende, ebenjall® nur fo, als follte es durd) feine 
Gegenwart interefjieren und hätte ſonſt feinen Zweck“, hat Otto Ludwig in dem 
ausgeführten Bruchſtück treulich befolgt, und fo hinterläßt aud) Dies den Ein— 
druc der jo mädtigen als intimen Erfindungs- und Geſtaltungskraft des un« 
vergehlihen Dichters, die durch ein tiefiten Anteil ermedendes Verhängnis 
von einer verſchwenderiſch reihen Ausfaat nur wenige Garben voll reifen fah 
Adolf Stern. 
* 

„Aber Baſe Annemarth, du Hätt’fi lieber deinen grünen Nod follen ans 
jicehen. In dem grünen Rod hab’ ich dich Lieb, in dem ſchwarzen da mag id) 
dich gar nit; gar nit Baſe Unnemarth, dab du’s nur weißt. Und hätteit 
mir auch mein ſchön rot leid können anziehen. Das da fieht fo ſchwarz aus, 
id; mag e8 gar nicht gern, das lannſt du mir glauben, Bafe Annemarth.* 

„Ei wohl, Liesle, glaub's gern. Uber wo's paft; wo die Sah grün 
it, da gehört fi) ein grün Kleid; wenn die Sad) anders iſt, muß auch der 
Nod anders fein.“ 

„Ia, fo ift die Sad wohl ſchwarz, Baje Annemarth?“ 

Die Baje nidte, und das Geſicht, in das fie fah, nickte wie fie. E8 war 
ein braves, ehrlihes Geficht, in das fie fah, etwas nüchtern, nidyt eben jchön, 
aber häßlich gewiß aud nit. Ein Frühlingsionnenftrahl, der zu einem ber 
zwei fleinen Fenſter hereinfiel, ftreifte die rofigen Spiten von zwei Heinen 
Fingern einer fragend ausgejtredten Heinen Hand, ragte dann wie ein goldener 
Ballen oder wie eine lange Röhre von durchſichtigem Gold, in weldher unzäh— 
lige vergoldete Mehlitaubatome um die durchbrochnen Schatten vom Geranium 
im Senfter ſich im zitternden Tanze drehten, durch das dunkle Zimmer und 
verſchwand in einem Haufen von Kränzen, Sträußen und einzelnen Blumen 
und Blätterziveigen auf dem weißen Sand der Diele nahe der Thür. Das 
Kind nidte aud) und jah jo ernithaft aus, wie die Baſe. „Das ift doch recht 
dumm“, fagte e8. Es wußte weiter nichtS von der Sache, als daß fie ſchwarz 
war. Über fie brauchte weiter nichts, um ihm zu mißfallen. 

„Über was fliegen denn da drauf die roten und gelben Schmetterlinge 
herum, wenn die Sad) ſchwarz it? Das kann ſich doch gemwik nicht ſchicken.“ 


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„Ei, Liesle, das hat zwei gute Gründ’. Erſtlich geht die Sache die nicht 
an, hernad) ſind's arme unvernünftige Kreaturen; die brauchen nicht zu fragen, 
was ih ſchickt. Denn dazu hat der liebe Gott den Menſchen die Vernunft 
gegeben, damit fie willen, was ſich fhidt, und ihr Leben darnad) einrichten 
können.“ 

„Und was ſchickt ſich denn eigentlich, Baſe Annemarth?“ 

„Bas recht iſt.“ 

„Und mas ijt benn recht?” 

„Ei, dummes Sind, eben was ſich ſchickt.“ 

So ſagte die Baſe, wer aber meint, ihre Stimme hätte Ungeduld ver— 
raten, als ſie ſo ſprach, der thut ihr ſchreiendes Unrecht. Das Geſicht, in das 
fie unverwandt dabei blickte — und beiläufig geſagt, es war das leibhafte 
Abbild ihres eigenen, denn ſie ſtand vor dem kleinen Spiegel zwiſchen den 
zwei kleinen Fenſtern — zeigte nicht eine Spur von Ungeduld. Es war aber 
auch feine Stelle darin, wo fie hingepaßt hätte. Das Geſicht ſchien feiner Auf: 
wallung zugänglich, mie fie auch heißen möchte, aber es wies eben fo wenig 
von jenem Phlegma, das die Dinge gehen läßt, wie fie wollen. Es war ein 
verjtändig zufammengerafftes Gejiht, an dem fein Knopf unzugeknöpft, fein 
Band unzugebunden Herabhing oder herumflatterte, die Strümpfe nicht Falten 
fhlugen oder gar ſchlappig auf die Füße herunterfielen. Nein, fein Fältchen 
darin, nichts der Quere geftellt ; alles reingelehrt, feine Spur von einem Stäub— 
hen auf oder unter den Möbeln und fein unnüßes Möbel darin und auch fein 
Pla für ein unnüßes. 

„Ei, eben, was ſich ſchickt“, fagte fie. Dabei fegte fie fih und dem Ges 
fihte vor ihr eine mit ſchwarzem Krepp verzierte filbergraue hohe Bänder— 
haube auf und band die Bindebänder in zierlicher Schleife fo feit unter dem 
Kinn, daß das Fleifh Davor und dahinter heraustrat, wie die Ufer über den 
Spiegel eines Bades. Wie zur Erflärung diejes Thuns, in dem das Schid- 
liche fo fihtli über das Behagliche triumphierte, fuhr fie fort, indem jte eine 
Frage beantwortete, die das Sind nicht that, aber hätte thun können. 

„Ei, dummes Liesle, wenn jemand fragen bürfte, warum, oder wenn 
jemand fagen könnte, warum, da handelte ſichs eben nidt um das ſich 
fhiden. Nun unfre Eltern machten's fo, weil ſie's von ihren Eltern jahen 
und die hatten’8 ihren Eltern nachgethan und die wieder den ihren; und fo 
thun wir's nun aud, und fo werden's unfre Kinder und Kindeskinder thun, 
fo lang die Melt jteht, denn, ftehjt du, Liesle, es ſchickt fi einmal fo.“ 

Sp fagte die Bafe, und in ihrem Gefichte und dem Gefichte vor ihr war 
zu lefen, daß fie feinen Einwand annehme, wer auch ihn verſuchen möchte, 
und durchaus nicht zugeben würde, daß irgend eine ihrer Ahnmüttter Die erjte 
gewefen fein müſſe, Die ein Haubenband zum Marterwerlzeug ihres Fleiſches 
beitellt, daß alfo irgend Eine irgend einmal einen andern Grund gehabt Haben 
lönnte zu folder Selbitquälerei, als den die Bafe angegeben: es ſchickt ſich 
einmal fo. Noch weniger, daß einmal eine Zeit fommen fönnte, die die Hauben— 
bänder bequemer [zu fnüpfen erlaube]. i 

Und da nun ihr Unzug beendet, und fie wußte, daß ihre Gegenwart 
andern Orten notwendiger war, als der alten braunen Stube, und ihr Wich— 
tigeres oblag, als mit einem finde zu plaudern, ſah fte noch einmal prüfend 
auf das Geſicht vor ihr, dann an ihrer eignen ftattlichen Gejtalt herab und 
fegte dann bieje, nad) der Thüre zu, in Bewegung. In der Thüre wandte fie 
fih) und fagte: „Daß du nicht eher aus der Stube geht, Liesle, bis ih Did 


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hole und dein Kleidchen nicht ſchmutzig machſt und den neumafchenen ragen. 
Folg’, Liesle, und du befommft aud) ein Stüd Kuchen.“ 

Die Baje ging hinaus, und durch die geöffnete Thüre ftrömte ein ange 
nehmes Wilerlei von Stuchen= und Bratenduft und vom Dufte frifchgebrannten 
Kaffees, welches alsbald mit den Ausftrömungen der Binnen und Blätter 
anf der Diele cine feitliche Vereinigung einging. Zugleich aber drangen Töne 
von Stimmen herein, bie dem Kinde fo fremd waren, obendrein fo eigen 
gedämpft, fo zwiichen lage und Salbung, die zu dem Ziſchen der Braten 
und dem gejhäftigen Hin= und Hereilen der Mägde nicht Stimmen mollten. 
Dazu der goldne Balken quer durch die dunkle braungetäfelte Stube. Ein 
traumhafter Hintergrund zu den traumhaften Gedanken und Gefühlen eines 
ſtindes. 

Erſt folgte es noch den draußen herumflatternden Schmetterlingen. Hätte 
es feine flatternden Gedanken in einen Schluß zuſammenfaſſen können, jo 
wäre es der geweſen: die Baſe hat unrecht, wenn fie die luſtigen Flatterer 
arme Kreaturen nennt. Die mußten nicht ſtill fiken, abends auf dem Stühle 
hen in der Ede, wie e8 das kleine Liesle mußte, wenn der Wann, der fein 
Papa hieß, hinter dem Dfen hervor zankte und huftete, der nie freundlich mit 
dem Finde gefprochen, der e8 nicht leiden wollte, dat der Eduard, der freunds 
lihe Geſell, dem Mädchen von Prinzen und Prinzeſſinnen erzählte, die Pären 
und Schlangen waren, ehe fie fih gegenleitig erlöften, immer eine Geſchichte 
ſchöner und Leichter zu vergeifen als die andere, Die ging es nichts an, wenn 
die Schwarzwälderubr neben ber großen ſtommode acht flug und nad) jedem 
Glockenſchlag der bunte Vogel oben über dem Zifferblatt taftmäkig mit feinen 
hölzernen Flügeln ſchlug und ein Sudgud über die Stühle und Tiſche hinrief. 
Dann gefiel es Dem Finde gewöhnlich erit; dann hatte es den Kopf an das 
braune Getäfel zurüdgelehnt, die Augen halb geſchloſſen. So ſah jte die Baje 
an ihrem Spinnrade, dahinter die Wutter und drüben den freundlichen Ges 
fellen wie im Traume. Dann fam’s ihr vor, als hätte die Mutter feine Hände, 
aber fie hatte melde. Man fah fie nur nicht, weil ſie fie vom Morgen bis 
zum Abend in die Schürze gemidelt trug, während ihr Sinn auf den Knieen 
ruhte, was leicht anging, da fie die Fühe auf einem Hohen Schemel Hatte. 
Zumweilen fagte der Gejelle etwas von der Zeitung oder von dem Lande, wo 
er zu Haufe war, bie Baje antwortete darauf, die Mutter aber ſchwieg, bis fie 
angeredet wurde, Daun geriet fie in Berlegenheit und fhämte fi) und wäre 
fie nur gefragt worden, wie viel Uhr es jei. Dazu fpann die Sage auf dem 
großen ledernen Seſſel und der Papa hinter dem Ofen huſtete und zanfte mit 
fich felbft, denn es hörte fonit niemand auf ihn. Das Mädchen wußte faum, 
wie der Papa ausſah, denn die Ofenhölle, in welcher er auf einem ledernen 
Sopha lag, war ganz mit Tüchern verhängt. Wit dem Gedanken an ihn ver 
gefellfchaftete ih in dc8 Mädchens Voritellung weder ein Geſicht, noch eine 
Geftalt; eine bloße Stimme, die bald zanfte, bald huſtete oder beides zugleich 
that, war der Papa. Daflr war die Mama ein bloßes Seficht, mit dem Kinn 
auf den Knieen ruhend, denn nur felten ſah man fie anders oder hörte mar 
fie reden. Es war, als ginge fie nichts an, nicht das Hausweſen, ja niht 
einmal fie felbit, e8 war, als hielte fie ſich unſichtbar und verwunderte fidh, 
wenn Jemand ıhat, als wäre fie vorhanden, und wurde dann verlegen dar— 
über, wie fie es anfangen follte, fi) zu benehmen, als wäre fie wirflid) vor— 
Banden. Das war alles jo eigen und als träumte man ſchon, wenn man es 
nur anfah. Und eben, wenn es dem Mädchen anfing, auf feinem Stühlchen 


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= 
m BZ — 


zu gefallen, da ſchlug und gududte die Uhr ahtmal und die Bafe ftand auf 
Dinter ihrem Rocken und fagte: „Wie die Zeit hingeht.“ „Ja, mit Ihnen ver 
gehen die Stunden fchneller, Jungfrau Bipferin“, entgegnete der Geſelle. Er 
hatte jederzeit ein Stottern zu verwinden, um nicht „Mamfell* zu fagen, 
welchen Titel die Bafe nicht leiden fonnte. Die Mutter jah vor ſich Hin, nit 
ohne ängjitliche Verlegenheit, man könne auf den Gedanfen fommen, fie fei vor= 
handen. „Liesle, du mußt zu Bett!“, fuhr dann die Bafe fort. Das Liesle 
aögerte; der Geſelle bat vor, es gefalle dem Kinde noch fo fehr in feinem 
Stühlen; die Mutter fah aus, als würde fie dem freundlichen Gejellen, um 
feiner Freundlichkeit gegen das Kind willen, bitten helfen, wenn fie vorhanden 
wäre; aber die Bafe ſchob aller Fürſprache den Riegel vor: „Um acht müffen 
Slinder zu Bett, denn c8 fchidt fich jo.” 

Ja, die Schmetterlinge waren zu beneiben, daß fie arme Streaturen fein 
durften, die nicht zu fragen braudten, was fich fchidt. 

Unterdeh hatie der Blumenduft eine große Hummel zum offenen Feniter 
hereingejührt; fie war wie auf dem Boden der goldenen Nöhre Hinunterges 
glitten und wälzte fidy nun Schwarz und geld, fummend und brummend auf 
dem bunten Haufen herum. Das Sind folgte ihr und fegte ſich neben den 
Blumen auf die Diele. Den Vorwurf, den es darüber fühlte, wälzte fie von 
fih auf ihre Buppe, indem fie zu dieſer fagte, mas die Baje, war fie zugegen, 
zu ihr gefagt hätte: „Da auf der Diele Tiegen bei den Blumen? Du garitig 
Kind! Pfui, weißt du nicht, mas fi ſchickt?“ Da flug eine neue Woge 
Braten, Kuchen und Kaffeegeruch vor und neben dem freundlichen Gefellen 
durch Die geöffnete Thür in die Stube. 

„Ei, du denkſt wohl gelehrte Dinge, Liesle?“, fagte der Geſelle. „Das 
greift an, wenn man nit tüdtig ißt dabei. Daran hab’ ich gedadt, und da 
iit das präditigite Stüddhen vom ganzen Kuchen.“ Das Mädchen nahm das 
Gebotene ihm aus der Hand. „Du gehit aud) ganz ſchwarz“, fagte ed, „nun 
ich weiß mohl, e8 fchidt fich einmal fo. Aber was der Papa fagen wird? er 
fann Blumen nicht leiden.“ 

„Der fagt nichts mehr“, entgegnete der Gejelle. 

„3a, ſie legen ihn in einen falten, das Gretle hat mir's gefagt.* 

„Wenn fie mich nun in den Staften legten ?*, fragte ber Gefelle. 

„Rein, dich dürfen fie nit in den Saften thun und die Bafe Anne— 
marth auch nicht“, rief das Mädchen, indem ihm Thränen aus den braunen 
Augen ftürzten. „Und mid auch nicht!” 

„Nein, uns alle nicht“, begütigte der Gefelle. „Uber ih mu wieder 
hinaus, denn eben fommt der Herr Paſtor. Nun aber! heute Abend erzähl 
id) dir wieder eine Gefchichte, aber eine fo ſchöne, wie du nod) feine ge= 
hört haſt.“ 

Der Gejelle ging wieder hinaus, und das Kind dachte ſich den Papa im 
Kaſten liegen, das heißt: es fah in feinen Gedanten der Bafe Flachskaſten, 
mit Tüchern verhängt und bededt, und drin war das Huften und Zanten, das 
fie den Papa zu nennen gewohnt war. Aber e8 vergah bald diefe ſchwere 
Anstrengung feiner Denkkraft über dem, was der leibliche Sinn ihr zeigte, und 
als der Paſtor, von der Bafe genötigt und von Küſter und Leichenbitter ges 
folgt, hereintrat, ftaf das Sind fo tief in den Blumen, daß feiner von den 
Eintretenden es gemahrte. 

Der Paſtor war ein großer ftarfer Mann mit mädtiger Stimme. Er 
Iharrte noch fomplimentierend mit den Fühen, während er den Oberleib nad) 


Kunftwart 2. Ottoberheft 1898 


— IB — 


ber Mutter des Kindes manbte, bie auch mit hereingefommen mar, aber er 
ſchloß den geöffneten Mund, ohne geiprocdhen zu haben, entweder weil ihre 
Verlegenheit ihn anftedte oder Mitleid ihn abhielt, diefe Verlegenheit noch zu 
mehren. Sie mühte fi ihre Urme noch zweimal fo tief in ihre Schürze zu 
mwideln, als möglid) war, um dann mit den übrigen Zeilen ihres Leibes den 
Armen nachzukriechen; und mie der Baftor ihr ftumm und mit weit geöffneten 
Augen dabei zuſah, hatte es den Unfchein, als beobachte er mit geſpannter 
Aufmerffamfeit und wie halb nod) zmweifelnd, halb ſchon überzeugt, ob e8 ihr 
gelingen merbde, ein fo munderwürdiges NWorhaben ins Werk zu fegen. 

Da aber die Notwendigkeit einer Anrede von feiner Seite fih als un— 
abmweisbar aufdbrängte, juchte er nad) einem Gegenſtande, der ſtark genug wäre, 
ihre Gewalt zu ertragen, und feine Yugen fanden einen ſolchen bald in der 
ftattlihen Geftalt der Baſe Annemarth. 

„Ein ſchöner Tag heute, allerfeits MWertgeichägteite !* 

Der Küſter und der Leichenbitter ſprachen mit ftummer Geberde, ber 
Gedanke des Herrn Paftors fei jo wahr als bewundernsmwürdig; Die Bafe 
fnirte, und der Rebner fand auf ihrem mohlgeordneten Gefichte die nötige 
Mendung vom Allgemeinen zum Bejonderen. 

„Ein Shöner Tag heute, der — der die Bewohner, der die traurigen Bes 
mwohner diefes ſchwer heimgeſuchten Haufes mahnt, dat fein Herz, fein Herz 
die Wolfen bes Kummers fo dicht um ſich wölben dürfe, daß es dem Trofte 
— dem Troite, der von oben fommt, wie der Schein der Sonne — hm — ber 
Sonne, als ein Bote von einem und dbemfelben Herrn gefandt, ben Eingang 
— dm — den Eingang zu ibm verwehre.* 

Der Paſtor fprad) diefe Worte zu der Bafe gewandt, wußte aber mit 
einer würdevollen Bewegung feiner Rechten eine fo große Portion davon, als 
er der mindern ſtraft der Schweſter angemeſſen hielt, diefer zugufchieben. Dann 
verbünnte er die jchwere Gabe feiner amtlidhen Beredfamfeit rückſichtsvoll 
durch) das MWohlmeinen der perfönlihen Frage: „Und woran ijt denn unjer 
Seliger geftorben ?* 

Die Bafe erflärte dem geiftlihen Herrn, was ihr felbit nicht Mar war. 
Nachdem fie von Huften und Reiken in den Beinen geiproden und einiges 
hinzugefügt hatte, woraus zu entnehmen war, der Selige jei zunächſt an 
Krankheit und endlih am Sterben felber geftorben, deutete fie an, baf fie 
troßdem ben Tod eines Menſchen weniger als die Folge einer Krankheit, denn 
als eine Art Herfommen und Schidlidhleit anfehe und daraus ihren Troit ges 
ichöpft habe. 

Der Paſtor zeigte fih im allgemeinen mit dieſer Unficht einverftanden, 
nur daß er bat, anjtatt Herlommen und Schicklichkeit den Wusdrud „Chriſten— 
pflicht* zu brauchen, und da er die Bafe getröftet jah, fügte er mit ftrömender 
Beredfamfeit noch fieben oder acht andere Gründe hinzu, die die Baſe hätten 
tröften müſſen, wäre fie nicht ſchon getröftet gewefen; für melde Bemühung 
dann die Baſe dankbar wiederum ihre Erfenntlichfeit ausſprach. 

Während dei tal das Heine Liesle mäuschenſtill in feinen Blumen, 
froh, daß man es nicht bemerkte, und bemüht, nichts vorzunehmen, maß fie 
bemerfbar machen fonnte, und ihre Mutter hatte den Mut gefunden, ſich ab— 
feit8 auf einen Sefjel niederzulaffen. Da ſaß fie mit verwidelten Armen 
und man fonnte den Kampf fehen, den fie e8 foftete, die Beine nicht herauf— 
äuziehen und das Sinn auf den Ainien ruhn zu laffen. So oft fie ihr Finn 
auf dem Wege dahin betraf, erſchrak jie und fuchte aus der Bewegung ein 


Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 
— 69 — 


andädtiges Niden zu maden, als drüdte fie Damit ihre gläubige Einftimmung 
in bie Gründe des Paſtors aus. 

Set trat der Leichenbeiteller, der hinausgegangen war, wieder herein 
und fagte: „Wenn e8 dem Herrn Paftor und den werten Leidtragenden gefällig, 
fo wäre nun wohl Zeit.” Wozu, erklärte er nit. Einer Frau gegenüber, 
die fi) auf das Herfommen verftand, wie die Bafe, war das aud unnötig. 
Zunädft madte fie eine verſteckte Bewegung, als midle fie etwas aus einem 
Zipfel ihres weißen Tafchentucdhes, dann eine andere, in der ein Uneingemweihter 
erftaunt einen durch nicht® vorbereiteten Händedrud gejehen hätte, Der Leichen— 
befteller dagegen führte mit der Linken eine abmeifende Geberde aus und 
Ihien die Rechte dem Drud der Bafe nur ungern zu überlajfen. Der Paitor 
wandte fein Ungefiht nad) dem geöffneten Fenſter, wie um nicht zu jehen, 
was da vorging, und fagte: „Schwül, außerordentlich ſchwül, allerieits Werts 
geichäßteite‘. Der Leichenbeiteller duldete indeh, doch nur unter abgebrochenen 
Seufzern mie: „Ei, eil — gar nicht nötig — ſolche große Umftände!“ den 
Händedrud der Bafe, dann folgte er dem Herrn Paſtor ehrerbietig mit den 
Augen und entgegnete: „Wär ein Wunder, Herr Paitor, wenn heute fein Ge— 
mwitter fäm. Und jo wollen wir denn dazu fchreiten mit des Herrn Paſtors 
Hochehrwürden Erlaubnis und Bergunit der hochachtbaren Frau und höchſt 
ehrfamen Jungfrau Zipferin.“ 

Während diefer Rede im Amtstone Hatte der würdige Mann Zeit ges 
funden, die Hand, weiche die Baſe gedrüdt, in unauffälliger Weije ans dem 
Bereiche beobachtender Augen und hinter feinen Rüden in Sicherheit zu bringen. 
Es dien, als hätte ihm die Bafe die Bürger: und Chriftentugend des Ent— 
fhhlafenen in diefe Hand gebrädt, um fie als Kenner zu tarieren. Gr wog 
auerjt die geichloffene Hand und ſagte mit Faſſung: „Er war ein lieber Dann, 
der Selige.* Darauf fühlte er mit der Daumenſpitze, das Verdienit des Seligen 
hatte den Umfang eines preußiſchen Thalers, und feste mit zitternder Stimme 
hinzu: „Er war mehr, er war ein braver Mann!” Und als cin Neiben des 
Daumen gegen bie Finger ergab, dat daS Verdienſt nit in einem einzelnen 
Stüde beſtand, Heftete der würdige Mann feine ſchwimmenden Augen an die 
Dede und brad) in ein Schludzen aus, vor deſſen Plöslichkeit und Heftigfeit 
daS Liesle erſchrak und die Hate durch das offene Fenfter flüchtete: „Er war 
nicht allein ein lieber, braver Denn, er war auch Chriſt! Er Hatte beides, 
die Tugenden eines Menſchen und eines Chriiten.“ 

Er ſah durch feine naſſen Mugen alle Anweſenden ihm Beifall niden, 
und die fihtbare Zufriedenheit der Baje mit feiner Anerkennung ber Verbienite, 
die fie ihm zu würdigen übergeben, gab ihm feine ganze amtliche Faſſung 
wieder. Er verjenfte zunächſt die gefchloffene Hand in die weite Weftentafche, 
aus welcher fie geöffnet wieder herausfam, und fagte wieder im Amtston: 
„Woher der Menſch gelommen ift, dahin muß er wieder gehen. Der Herr 
Paſtor verzeihen, dab ich, der ih nur Leichenbitter bin, Diefes fage; aber es 
wird nun Zeit fein, der Erde zu übergeben, was ihr gehört.“ 

Es war in der That hohe Zeit, Die Nafe des Mannes hatte genug Er— 
fahrung, ihm zu jagen, wenn man länger zögere, würde e8 auf Koſten ber 
Güte des Leichenbratens geſchehen. 

Aber e8 gab nod einen Aufenthalt. Die Mägde famen herein, den 
Schmud des Sarges abzuholen, und nun fonnte man das Liesle nicht mehr 
überfehen. Es hatte einen Kranz auf bem braunen Höpfchen; auf jeder Schulter 
einen oder zmei. „Wenn das nur nichts bedeutet!*, fchrie eine Magd. „Ei das 


Kunftwart 2. Oftoberheit 1898 
— 60 — 


bedeutet, daß finder gern mit Blumen ſpielen“, entgegnete die Baſe, aber 
fie war nicht fo unbeforgt, als fie fich ftellte. Der Paſtor betrachtete das Kind 
mit Rührung und ſagte: „Das liebe arme Kind hat noch feinen Begriff davon, 
was e8 verloren hat!” Das Liesle ſchämte fi, wie die fremden Männer fie 
umitanden, und das Mitleid, das aus allen Augen auf fie fah, bradte fie 
faft zum Weinen. „Keinen Begriff! Steinen Begriff!”, wiederholte der Küſter. 
Der Leihenbitter wuhte, was ihm zulam; obgleich die nahende Reife des 
Bratens zu Eile mahnte, ſchloß er als zweites und volljtändigeres Echo feines 
Borgefchten bie Szene ab: „Ganz wie Ihre Hochwürden bemerlten, das arme 
liebe Kind Hat nod) feinen Begriff, noch feinen Begriff!“ 

Alles mandte ji nun nad) der Thüre, und die Bafe fahte die Hände 
der Stieinen und der Schweiter und ſchloß fi den Lebrigen an. Draußen in 
dein engen dDunfeln Gange muhten fie jtehen bleiben; von der anderen Seite 
ber wurde etwas vorbeigetragen, was mit dumpfem Getöſe einigemal an die 
Hände ftieh. Nun wurde Plag, und bald ftanden fie an einem langen ſchwarzen 
Kaſten, der oben breiter mar als ımten. Darin lag mit gefreuzten Armen ein 
Dann, lang und hager, mit eingefallenen, wadsbleihen Wangen und weißer 
fpiger Nafe. Dem Kinde war der Mann fremd. Hätte er gehuftet und gezantt, 
oder nur eins von beiden gethan, hätte er nur gejagt: „Von ben lindern 
fann man nicht leben“, oder „Kinder find nur auf der Welt, un die Alten zu 
ärgern,” fo hätte e8 gewußt, es war der Papa; aber der Dann war jtidl. 
Dem Kinde wurde es angft, e8 wußte nidyt warum, und wenn es auffah und 
wohin e8 ſah, traf es auf Gelichter, die den Mund nicht bewegten, aber das 
Kind mit denfelben Augen anjahen, wie vorhin die Männer in der Stube, es 
mußte, fie meinten: „Das arme, liebe Sind hat nod) feinen Begriff.* Nun 
wurde ein ſchwarzer Dedel auf den ſchwarzen Staften genagelt, dann wurde 
diefer aufgehoben, hinausgetragen und vor der Hausthüre auf eine Bahre ge— 
ftellt. Die Baje folgte dem Sarge, an ihrer Linfen das fleine Mädchen, an 
ihrer Rechten die Schmeiter führend. 

Un der Hausthür reichte ihr eine Magd drei Zitronen und drei Rosmarin= 
zweige; eine Hitrone und einen Rosmarinzmweig gab fie der Schweiter, cine 
dem Kinde und eine behielt fie felbit. 

„Du mußt dent Liesle jagen,“ ſprach fte zu der Schweſter, „wie es die 
Sachen halten foll. Siehſt Du, Liesle, jo.“ Die Schmweiter fagte nichts; aber 
bie Bafe hatte mit ihrer Aufforderung auch nur die Abſicht gehabt, ihre Auf— 
merkffamfeit zu gewinnen für die Belehrung, die fie felbjt nun gab und die 
der Schwefter fo notwendig war, als dem Heinen Liesle. Denn die erite Bes 
megung, als fie das notwendige äußere Zubehör der Trauer in den Händen 
hielt, fonnte die Baſe fürchten maden, fie werde es in ihre Schürze wideln, 
und wer wei, was geſchah, hatte die kluge Bafe nicht in Vorausſicht foldhen 
Gebahrens die Schürze mit weiten Stihen an den Rod angenäht. 

Unterdbe hatten draußen zwei Reihen Shwarzer Männer den Sarg auf 
ihre Schultern gehoben, über den nur ein großes ſchwarzes Tuch hergebreitet 
lag, mit einem großen weißen Kreuze und wohl hundert einen weißen Sternen 
geitidt. Die Bafe warf nod) einen prüfenden Blid über Schweiter und Ridjte; 
ihr Geftcht hielt unverändert genau den Grad von Abitufung des feierlichen 
Ausdrudes feit, wie fie ihn für den Augenblid ſchicklich hielt, aber in ihrem 
Auge ſchwamm etwas, das jedem Maßſtabe Hohn ſprach, eine linbedingtheit 
von Hingebung in liebender Sorge, Es war derfelbe Ausdrud, der auf das 
Kind und der auf die Mutter fiel; und in der That ſchien feines von dieſen 


Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 


- 6 -— 


beiden weniger unmündig, weniger hilflos und fremder Zeitung bedürftig als 
das andere. Aber die Träger hatten fih ſchon in Bewegung gefegt. „Nun geh, 
Mädle, geh da hinüber,“ fagte die Bafe zu der Schweiter, „wir nehmen das 
Kind zwiſchen uns. Und lauf nit in das Gras hinein, Mädle; es iſt nor 
Thau darin vom Morgen. Nicht zu langſam, ſonſt fommen wir zu mweit von 
den Trägern ab. Ja, aber aud) nit fo geſchwind, fonft — fo iſt's recht, und 
gebt Hübfh Achtung, daß ihr nichts Unſchickliches macht!“ 

Sp jagte die Baſe und hob ihre Augen einen Mugenblid andädtig 
zum Himmel, damit die Umftehenden meinen müßten, fie jpreche Worte des 
Troſtes. Die Weifungen erichienen übrigens feinesmwegs überflüffig, denn bie 
tleine ſchwache Geitalt der Schmweiter bewegte fich fo ſchwankend und wider den 
Haarftrich des Taftes, als wäre fie noch eine Anfängerin in der edeln Kunſt 
des Sehens. Van fah, fie war nicht gewohnt, ihre eigenen Füße zu fehen, 
jo wenig, als ihre Hände; e8 fam ihr immer vor, als lägen ihre Hände und 
Füße ihre im Wege und fie mühte darüber ftraudeln. 





Rundschau. 


Literatur. | theater das Wallenfteinfeft, ein Prolog, 
ea — au dem uns eine Bemerkung erlaubt 
* Um Grabe Yontanes fprad) | fein muß. Wildenbrud blieb wieder 
Karl Frenzel, wie jener ein Mitbegrün= | ganz beim „Patriotifchen“: zur Zeit 
der der „Berliner Prejfe“, im Namen | von Deutichlands tiefiter Erniedrigung 
Diefes Bereins den Abſchiedsgruß. habe „der große Sohu des großen 
„Neidlos ließen wir alle ihm den Vor- | Dichters“, wie er Wallenftein etwas 
tritt“, jagt’ er unter anderm, „denn | wunderlih nennt, „an Deutichlands 
feiner durfte fich mit ihm in Der Dauer, Seelen gepodht”. Dann geht das Pas 
on Si ih feiner | triotifche weiter, bis es heißt: 
iterariichen ätigfeit, nur menige 
fonnten fi) mit feiner Begabung ‚Und ba geſchah es, dab zu Dichters 


n » Träumen 

meſſen.“ Dan jol’s mit Worten an 

— nicht ſo genau — wenn | Sein »Ja ertmeibie ſprach das 
e in warmberziger Liebe den Toten oe 

allzu hoc) ftellen. Hier liegt’8 anders. Nachholend a Vers 

Mir müflen, trogdem Frenzels Freun— f u 


desempfinden für Fontane unantaft- In einem einz'gen großen Nugenblid. 


bar ift, fragen: wen meinte er mit — 

den BIER Den h er fich mit gontumes Und da — Held aus deutſcher 

Begabung meſſen könnten ir hörten 

fie gern genannt, ben init mögen unter Den Schiller F der Ferne kommen 

den Berliner Schriftſtellern auf⸗ und ab⸗ — 

fuhen, Ben ms mellen, wir fehen Und es —— — Machtgebot »Es 

einen, deſſen Begabung der des 

Toten auch nur halbwegs ebenbürtig Und ie —* geſchaffen und 

wäre. Und mir denten, e8 heißt die * 

Bedeutung ſolch eines Augenblickes Geht es denn wirklich gar nicht mehr 

trüben, wenn man aus Höflichkeit gegen | an, eine Größe ohne Hinblick auf die 

die Unmejenden dem Toten nit ganz | politiſche Macht zu begreifen? Kann 

die Ehre gibt, die ihm gebührt. man jelbjt einen Schiller nicht anders 
* Ein Prolog von Wildenbrug | feiern, als indem man m als ges 

eröffnete im Weimarſchen Hof | mwaltigites Berdienft nahrühmt, er Habe 


Kunftwart 2. Oftoberheft 1898 


— 62 — 





Deutichlands politiiche Größe geahnt ? 
Das von Schillerzubemeifen, würde jehr 
ſchwer halten, aber angenommen, es ſei 
K liegt denn Deutſchlands Größe in 
einer politiſchen Macht, die wir ſegnen 
wollen, allein? Meint das Herr von 
Mildenbrud, fo mag er fid) bei den 
Deutich:Dejterreichern, Deutſch-Ruſſen 
oder Deutih-Schmweizern danach er= 
fundigen, ob fie, denen das neue Reich 
ja menig nüßt, deshalb weil Schillers 
„Prophezeiung“ für fie nicht einge 
troffen, Schiller überhaupt nichts zu 
danken Haben. Wahrlid, es iſt 
ſchmerzlich mit anzuſehen, wie oft jett 
bei uns Die gemaltigen Gedanken— 
binterlajfenjchaften unjrer Großen mit 
den Geifteslaternen von Krieger— 
vereinsfeitreden beleuchtet werden. 

+ BeimWtojelmwein: Wettbewerb 
des Trarbadier Kaſinos find vier Ges 
dichte ala gleichwertig bezeichnet wor— 
den. Unſrer Meinung nad) das beite 
davon ift das von Georg Bötticher, 
das zwar auch nichts „ſpezifiſch Moſel— 
weiniſches“ gibt, aber wenigſtens eine 
höhere Auffaſſung des Weintrinfens 
zeigt. Die Berje von Emmyvon Spillner 
find einfach nichts, Franz Siegfried 
Kaiſers Neimklingelei ijt gleichfalls 
Aufguß auf altem poetiihem Theejag, 
und Julius Wolff hat nur dem von 


ihm einige Dugend Male verfertigten | 
allgemeinen Stneipliede von megen der 


500 Flaichen die Etifette „Mofel” aufge— 
flebt. Wär's dies Mal nicht prämiiert 
worden, hätt’ er’3 für jede fernere 
Konkurrenz um ein Rheins, Stein= oder 
fonftiges Wein= oder aud ein Bier: 
oder ein Schnapslied umbetiteln fünnen. 
Da die Preisgedigte in allen Tages— 
zeitungen gejtanden haben, fünnen wir 
fie als befannt vorausjegen — e8 ijt 


nicht eines Darunter, welches das bes | 


fondere de8 Mofelmeins fröhlich zum 
Ausdruck brächte, nicht eines aud), das 
wirflih vollstümlich wäre. 


„Der Schag, den ih am liebiten han, 
Der liegt beim Wirt im Seller, 

Er hat ein hölzen Rödlin an 

Und heißt der Mustateller” — 


man halte nur fold) eine Strophe 3.8. 
neben Wolffs Preisgedicht, und e8 ver— 
blaßt jofort zu einem Schatten. So 
ift auch diefer Weinlieder-Wettbewerb 
feider verunglüdt: es fcheint nur 
mehrere taujend Mal in Berfen be— 
bauptet zu fein, der Mofelmein fei 
aller Weine herrlichſter, mie bei 
früheren Sängerbewerben: der Rhein= 
wein oder wie der betreffende fonft 


Kunjtwart 





hieß, der ſei's. Haben mir wirk— 
lid) gar feine Poeten mehr, bie ein 
dichteriſch wertvolles Trinklied ſchrei— 
ben können? Es find auch noch zwei 
andere Möglichkeiten denkbar. Eritens, 
daß die Herren Preisrichter, die über 
die Menge von Einjendungen ſo ſchnell 
ins Reine gelommen find, doch nicht 
mit rechtem Ernſt und rechtem „Jur 
dizium“ auf Proben wirklicher Talente 
hin nadgeforiht haben. Zmeitens, 
dab ſich unfre mwirflihen Dichter in— 
folge von früheren Griahrungen an 
folden Wettbewerben nicht beteiligen. 


Theater. 





* Bon den widhtigeren Berliner 
Gritaufführungen fprechen wir zuſam— 
menfajiend das nächſte Mal. 


*In Münden fam ein vieraftiges 
Schaufpiel „Das Erbe* von Felix 
Philippi zur Erjtaufführung. Darin 
geht Folgendes vor: Kaiſer Wilhelm II. 
hat von feinem Bater eine große Ge— 
wehrfabrift geerbt, der eigentliche 
Schöpfer diefer großen Anlage iſt aber 
Bismard, der deshalb aud) bei jeinem 
„alten Herrn” machen konnte, was er 
mollte. Aber der neue ordnet fich ihm 
nicht unter, obaleidy er den Bismard 
auch außerordentlich hochſchätzt, denn 
Wilhelm II. iſt eben der Anſicht, er ſei 
in der Fabrik der Herr. Nein, Majeſtät, 
entgegnet ihmBismarck: materiell haben 
Sie das Etabliſſement geerbt, „weil Sie 
fi die Mühe genommen haben, als 
der Sohn diefes Mannes auf die Welt 
zufommen... (mit impofanter Größe): 
geiftig Habe ich’S geerbt, ih ganz 
allein. Und ich werde über dieſem 
Erbe, über diejem geiftigen Vermächt— 
nis wachen, fo lange noch ein Atem— 
aug in mir iſt.“ Hierauf tft nun Wil— 
beim II ſehr ärgerlich, und da er zu: 
dem die Tochter eines Fabritbeamten 
liebt, dem Bismard als einem ver— 
mutlihen groben Bertrauensbrecher 
troß allerhöchft ausgeiprochenen gegen= 
teiligen Wunſches auf den Leib rüden 
will, nun, fo fündigt er eben St. Durch— 
laudt. Darüber randalieren die Ars 
beiter und wollen alle jtreifen, denn 
von ihrem Bismard wollen fie nicht 
laſſen. Na, ſchließlich wird ja noch 
alles gut: Bismard bemweiit, daf der 
Vater der betreffenden Tochter ein Vers 
räter von Gefchäftsgeheimniiien iſt, 
und nun nimmt Wilhelm II. den Bis— 
mard, ben er als Beamten entlaſſen 
hat, zum Aſſocié: „Wilhelm und Otto, 


2. Oftoberheft 1898 


— 63 — 


’ 


Gewehrfabrif*, werden fie fünftig fir— 
mieren... 

Was foll denn diefer tolle Unfinn 
heiten? Werter Leer, die Sache liegt 
fo, dat man unmöglid) verlangen fann, 
Herr Philippi, der fchon die Madenzie= 
Geſchichte und die Affaire Kotze aus— 
geſchlachtet hat, jo lange fie nod) zogen, 
jolle die Entzweiung Bismards mit 
dem Sailer nicht ausſchlachten, ehe 
das Gras drüber wächſt. Zwar barf 
man ja fo hohe Herrn nicht ohne wei— 
teres aufs Theater führen, man muß 
ihnen einen Domino umhängen. Alſo 
heißt Bismard bei Philippi Geheimrat 
Sartorius und Wilhelm 11, Herr Baron 
Larun: das Publikum, denkt Herr 
Philippi, das ſchlaue, ſieht unter den 
Mäntelchen doch ſchon die richtigen 
Röcke. Was dabei herauskommt, das 
deutet unfre Inhaltsangabe an. Der 
Konflitt Kaiſer Wilhelm - Bismard 
unter volllommen andern Vorauss 
jegungen in andre Berhältnifie geitellt, 
iſt cben nicht mehr der Stonjlift Biss 
mard- Wilhelm IL, und fein großer 
Dichter fogar fünnte ihn unter joldyer 
Masterade geitalten. Der kleine Herr 
Philippi ift aber wirklich fein Dichter, 
fondern nur ein in allen Witen der 
Theaterſtückbörſe gerijjener Geſchäfts— 
mann. Deshalb verſuchte er gar nicht, 
einen Konflift Sartorius = Larun aus 
deren Verhältniſſen heraus zu geitals 
ten, er ſchielte fortwährend nad) der 
Bismard-„Senjation* hin. Und mag 
und kann von einer Darjtiellung des 
Konflikts zwiſchen Bismard und dem 
Kaiſer ernithaft hier gar feine Nede fein, 
und bringt das Stüd als „Löfung“ 
fchließlich mit der Aſſozierung zweier fo 
weſensverſchiedener Menſchen nad) 
allem Vorhergegangenen geradezu eine 
Lächerlichteit — was macht's? Der 
Schaupöbel empfindet doch, bevor er 
die Billete gefauft Hat, Neugier, und 
nachdem e8 fie gefauft bat, ein ähn— 
liches Vergnügen wie beim geſellſchafts— 
fähig zurechtfrifierten Stlatich. Und fo 
find beide Zeile volltommen zufrieden. 

Zur Zentennarfeier von Scillers 
„Wallenſtein“ brachte uns des Herrn 
von Poſſart Regie etwas noch Schöneres 
und Interejjanteres, als die Meininger 
getan, wenn's auch in ihrer „Niche 
tung* lag. Haſt du. fhon gemuft, 
dat Wallenftein im Februar ermordet 
worden? Hier lag das Lager im Schnee, 
fiehit du wohl, und nun merfit bu 
dir's! Es war überhaupt alles hödjit 
belehrend. Und auch fehr reinlich. Heut= 
zutage jieht eine Armee im Feld ſchon 


Kunftwart 


— — — — — — — — — 
— — — —— — — — — — — 


nach ein paar Wochen nicht mehr 
fo ſtatiös aus, Poſſart zu Ehren hatte 


fih mitten im langen Feldzug das 
ganze Wallenfteinihe Heer auf das 
Nettefte neu „equipiert*. Das freute 


denn die Trompeter jo, daß fte die 
unmotiviertejten Fanfaren bliefen. — 
O heilige Muſe, wann befommen mir 
eine Negielunft? M. W. 

“Non den Leipziger Theatern. 

Der Herbit hat uns einige Eritaufs 
führungen gebradt. Das eintönige 
Schauipielrepertoire iſt etwas bunter 
geworden. Zu dem ‚„Weißen Rößl“, 
das natürlid immer noch „zieht“, 
haben ſich die „Logenbrüder“ gejellt, 
die den Preßpublikum gefielen, und Die 
„Soldne Eva’. Wenn Leipzig, was 
Boritellungen von Poſſen und Schwän— 
fen anlangt, nicht zu den „Jührenden“ 
Theaterftädten gehört, fo bemüht es 
jid) dafür, fo ziemlid) alles, mas in 
Berlin und Münden gefallen bat, 
nad einiger Zeit auch aufzuführen. 

Auf andern Gebieten it ja daß 
Reipziger Theater weniger eifrig, feit- 
dem e8 verflägemannt iſt. Das Schaus 
fpiel liegt arg darnieder. Es wird 
weder die klaſſiſche Literatur eifrig ges 
pflegt, noch kommen etwa die Hebbel 
und Ludwig zu ihrem Recht, nod) wird 
die moderne Literatur genügend be= 
rüdiichtigt, zu der ja „Weißes Nöhl* 
u. ſ. mw. nicht gehören. Die legten Wochen 
haben wenigitens eine Aufführung ges 
bradjt, für die der Direktion Danf ges 
bührt, eine forgfältig vorbereitete Auf— 
führung des Hauptmannfchen „Biber 
pelzes*. Sie hat übrigens troß Der 
abiprehhenden Kritik in den „maße 
gebenden“ Blättern dem Publifum viel 
Bergnügen gemacht — das Stüd jteht 
fo oft auf dem Spielplan, dab man 
e8 zur Zeit das Zugſtück des Leipziger 
Theaters nennen fann. 

Bon den beiden andern neuaufgeführs 
ten Stüden, die zu erwähnen find, zwei 
Epigonenarbeiten, ift Björn Björn— 
fons „Johanna“ für den Aunftwart 
fhon erledigt, fo daß nur das zmeite 
bier au beiprecdhen ift. Nudoli von 
Gottfhalls Epigonenftüd „Rahab“ 
ift ein mühfam nad) den Regeln der 
Kunst zufammengezimmertes dramatis 
ſches Gebäude. Der Stoff iſt die Ges 
fchichte der Dirne von Jericho, die Jo— 
fuas Kundſchafter bei ſich auinahın, 
fie vor den Nadhitellungen ihrer Lands— 
leute verbarg und zum Lohne dafür 
geihont wurde, als die Mauern der 
Stadt fielen und die eindringenden 
Auden alles niedermegelten. Man 


2. Oftoberheft 1898 


follte meinen, dab der Dichter fein 
Hauptaugenmerk darauf hätte richten 
müſſen, die beiden fi) von felbit aus 


dem Stoffe ergebenden Gegenfäte aus= 


—— und zu vertiefen, die der 
eiden Religionen und der beiden 
Nationalitäten. Aber dazu wird kaum 
ein Anlauf genommen. Hauptſache iſt 
ihm der mühſame Aufbau einer regel— 
rechten Haupt- und Staatsaltion ge— 
weſen. Nahab iſt bei Gottſchall Ober— 
prieſterin der Aſtarte. 
ich auf den erſten Blick in den einen 
üdiſchen Späher, gibt ihm, im zweiten 
Akt, ein Stelldichein im Terebinthenhain 


von Jeriho und gewährt ihm, im , 
dritten Alte, eine Scäferltunde in | 


ihrem Gemade. Hier wird jte von 
dem verliebten König von Jericho 
überrafdht und zur Strafe zur Tempel- 
dirne erniedrigt. Erit im vierten Afte 
erfährt fie, daß ihr Seliebter Spion 
ift; aber dann ift der Sram über ihre 


Schmach jo groß, dat fie den Spähern | 


Sie verliebt ı 





forthilft und im fünften Alte, ichlimmer | 
als die Dirne der Bibel, die Juden bei | 


der Einnahme ber Stadt unteritütt. 
Das iſt dann ihre tragiihe Schuld, 
deretwegen fie am Ende des Stüds 
ſich vergiftet. Die pompöfe Sprade, 
die bei Gottſchall ſelbſtverſtändlich ift, 
und einige ſzeniſche Effekte vermögen 
nicht über die Hohlheit des Ganzen und 
die mühfame Konjtruftion hinwegzu— 
täufchen. Das Strobfeuer der Worte, 
das duch das ganze Stüf hindurch 
fladert, berührt im Hinblid auf den 


Gehalt peinlich. Und peinlicher wird 


der Eindrud noch, wenn man bedenkt, 
daß derjelbe Sottichall, Der die Rahab 
„gedichtet“ hat, in den beiden Leipziger 
Blättern, die ihm zur Verfügung ftehn, 
gefliffentlich alle gefunden literariichen 
Regungen berabzufegen fih bemüht 
und fo den undeilvoiliten Einfluß auf 
das Leipziger fünftlerifche Leben aus— 
übt. Gott fei Dant, dab es nur noch 
das Leipziger Literarifche Leben ift, 
- 8 gab ja eine Zeit, da Gottichall in 
ganz Deutichland ein gemwiffes Anfehen 
genoß. Guftav Morgenijtern. 
"In Felix Dörmanns Schaue 
fpiel „Heimmeh“, daS man in Wien 
gab, hat der jozialdemofratiiche Agi— 
tator Willy Kramm fih im Groll von 
der Partei zurüdgszogen und bei 
Qugendfreunden „Menſchen“ gefunden 
und Pflege und Liebe, innige Liebe 





eines edeln Mädchens. Da ermwadt, ı 


während der Wahlſchlacht, in ihm das 

„Deimweh“ nad) der Wartet, feine 

Braut gibt ihn frei, er geht jubelnd 
Kunftwart 


| 


65 


wieder Hinaus in den Kampf. — Dör— 
mann fehlt vor allen Dingen eine inners 
lihe Kenntnis und aus diefer heraus 
ein innerliches Verjtändnis der Welt, 
die er diesmal ſchildern will: fie iſt 
ihm einfach nicht lebendig genug 
geworden. So wird breit und phraſen— 
ie geredet, aber wenig gezeigt, äußer— 
lihe Notigbeobadtungen ftehen an 
Stelle von Ergebniffen wirklicher Ers 
fahrung, Sentimentalität tritt ein für 
fräftige Empfindung. Einzelne Neben= 
geitalten find gut, das Ganze wirft 
nicht viel beiler als die Gaben und 
Gäbchen der neueiten Wiener Literaturs 
geden. -t. 

* Während umfre beiden „ſchwe— 
teren“ Bühnenzeitichrifiten franfen 
und jterben, kommt eine leichterer Gat— 
tung auf den Plan, „Bühne und Welt“ 
geheiken und von Otto Elsner in Ber— 
lin herausgegeben und verlegt. Sie 
jucht möglichit vielen etwas zu bringen, 
gibt alfo aud) literariich „Teriöfe* Auf— 
füge, 3. B. von R. M. Werner über 
Hebbel als Dramatifer. Uber die 
eriten Bilder jhon zeigen ung des er— 
habenen Mimen Ernſt von Poſſart bes 
deutende Beitalt in jo und fo viel 
Boien, an Schaufpielerverhätichelung 
iſt aud) fonit fein Dangel, und mandes 
legt die Frage nah: wird auch dieſes 
literariiche Podium mehr zur Bilege 
der Iheaterfunit als der Dramatil ers 
rihtet? Je nun, eine Zeitſchrift hat's 
auf diefem Gebiet jo Schwer, daß fie 
vielleiht faum wirfen fann, ohne 
dem Publikum weit entgegenzutommen. 
Wünſchen wir ihr alio Glück auf den 
Weg und uns, daß jie das Glüd, falls 
fie’8 findet, nit nah) Bongſchem Vor— 
gange mißbrauchen möge. 

* Der Landshuter Magiitrat 
dat feinem Theaterdireftor verboten, 
duch) Kuplets oder andre Scherze Die 
Stadtgemeinde „herabmwürdigen” zu 
lajien. Dazu drudt eine Zeitung der 
andern die Bemerkung nah: „müſſen 
die jo empfindlichen Stadtoäter von 
Landshut Furht vor einer luſtigen 
Wahrheit Haben!" Richtig, aber warum 
fagen die Zeitungen fo etwas nicht 
auch unſern Majeitäten und Hoheiten, 
über die ein Wit als Majeſtätsbe— 
feidigung „Verbrechen“ it, oder unfern 
Lientenants®, die meuerdings® Den 
VBarietebühnen als ſakroſankt bezeich— 
net worden find? 

* Die Theater: Zeniur hai 
fürzlid in Freiburg i. B. eine Probe 
noch weicherer als pflaumenweicher 
Prüderie gegeben, Mar Dreyerd ges 


2. Oftoberheft 1898 


funde Komödie: „In Behandlung“ 
zeigt befanntlid einen jungen Arzt, 
Berthold Miefener, und eine junge 
Werztin, Liesbeth Weigel, denen, weil 
er unverheiratet und fie als „Studierte“ 
unmweiblih und unanftändig ift, Die 
Spieker der guten Stadt Oftermünde 
drei Schritte vom Leibe bleiben: Fr! 
Die beiden Menſchenkinder, halb aus— 
gehungert, finden jchließlich das Mittel, 
die Oftermünder doc anzuloden. Sie 
heiraten fih, nur um die Oftermünder 
zu übertölpeln und ohne fi in Wirk— 
lichleit als Dann und Frau zu geben. 
Ihre Wohnung hat zwei Schlafzimmer. 
Doch die den Oftermündern vorgeipielte 
Komödie nimmt einen ungeahnten 
Ausgang. Aus dem Spaße wird 
Ernit: die Herzen fchlagen für ein: 
ander; der Arzt will au) Mann 
fein, die Aerztin au Weib. An 
einem Abend — das ilt der Schluß — 
gen fie fid) ihre Liebe. Berthold 
iefener zieht den Schlüffel von der 
Thür feines Schlafzjimmers und wirft 
ihn aus dem Feniter. „Was joll das ?* 
fragt Liesbeth. „Ih zieh uml“, it 
ie Antwort. „Wein Schlüffel Liegt 
tief unten in des Hafens Grund, cd 
zieh um!“ . So will’s Dreyer! 
In Freiburg Hat Die an den 
Dichter verbeijert. Die, ſtraff einges 
gliederte Schlußſzene fehlt fait ganz. 
68 gibt feinen Schlafſtubenſchlüſſel 
und jedes auf ihn verweifende Wort 
fehlt, wie jede entipredhende Handlung. 
Das heißt alfo: die Bühne erflärt 
die Thatſache für unanitändig, daß 
ein Ehepaar fünftig ein Schlafgimmer 
abe! Nach diefem Freiburger Sitten= 
oder iſt der unanftändige Dann 
Nahts im Zimmer der frau; der 
anftändige ijt — wo anders! 


Muſitk. 


* Die neue Oper des Weſtens 
in Berlin. 

Post tot discrimina rerum ſcheint 
das „Theater des Weitens“ endlidy in 
ruhige und geordnete Bahnen gelenft 
au fein. Am 15. September eröffnete 
Max Hofpaur dajelbit eine; ftändige 
zweite Oper unter dem Namen „Dpern= 
Theater des Meitens“. Schon feit 
Jahren plante man ein derartiges 
Unternehmen, und feinerzeit hieß es 
ogar, an der Potsdamer= und Lint- 
traße follte ein neues Opernhaus er— 
richtet werben, beifen fünitlerifche Lei— 
tung ber geniale Sans von Bülow 
übernehmen follte. Berlin hat eine 


Kunjtwart 


zweite ſtändige Oper neben dem tgl. 
Opernhaus dringend nötig aus vier 
Gründen. Zunächſt find die Breife im 
fol. Opernhaufe derartig hd), daß viele 
Leute aus rein pefuniären Rüdjichten 
auf einen Befudh der Voritellungen 
verzichten müfjen, zumal e8 nicht jeder= 
mann gefällt, ſich für 4 oder 3 Marf 
auf ben zweiten oder dritten Rang zu 
fegen. Bei irgendwie hervorragenden 
Aufführungen erhöht ſich der Preis 
beinahe um das Doppelte duch die 
VBorverfaufsgebühr und die in legter 
* fo beliebten „erhöhten Preiſe“! 
odann find bei der großen Be— 
völferungszahl Berlins und bei dem 
ungeheuren Fremdenverkehr die Pläße 
im Nu vergriffen, was zur Folge bat, 
daß die Jagd danad) ſchon acht Tage 
vor der Aufführung beginnt. Drittens: 
die fgl. Oper ift in ihrem Nepertoir 
mehr oder weniger beichränft. Wagner 
nimmt ein Bierteil aller Aufführungen 
für fich in Unfprud; nad ihm erfordert 
Die „große Oper“ den größten Raum, 
während die leichte Spiels und Kolo— 
raturoper nur in geringem Maße ges 
pflegt werden fann. Endlich iſt auch 
das fol. Inſtitut in der Annahme 
von Neuheiten durch Rückſichtnahmen 
von mancderlei — oft nichts weniger 
als fünftleriiher — Art gebunden. 
UM dies fommt bei der Hofpaur— 
Then Oper nicht in Betradjt. Die Preife 
find mäßig, Wagner fann und die 
große Ausitattungsoper braucht nicht 
gegeben zu werden. Bon felbit ift das 
Unternehmen aljo jhon auf Die Be— 
arbeitung eines Feldes bingemiejen, 
welhes ihm reihe Ernte Bietet: 
auf das Gebiet der fo vernachläſſigten 
Spieloper und der ſchier in Vergeſſen— 
heit geratenen Koloraturoper. Jene 
Opern, die das Publikum kaum mehr 
kennt, wie Maurer und Schloſſer, Kalif 
von Bagdad, Carlo Broſchi, Schwarzer 
Domino, Weiße Dame, Zampa, Jean 
de Paris, werden ſicherlich Teilnahme 
wecken. Und alte große Opern, welche 
das kgl. Opernhaus nicht auf dem 
Spielplan hat, wie Norma, Lucrezia 
Borgia, Semiramis, Puritaner, Som— 
nambula, Ernani, könnten eine zweite 
Blüte erleben. Selbſtverſtändlich müß— 
ten auch Mozart, Weber, Lorging, Verdi 
eine Pflegeftätte finden. Die günftigften 
Vorbedingungen für cine gedeihliche 
Entwidlung find vorhanden — Hof: 
paur braucht nur für ein gutes Pers 
fonal und gute Novitäten zu forgen. 
Dies ist geichehen. Kapellmeiſter, Einzel 
fänger und Ghoriften find gut, zum 


2. Oftoberheft 1898 


Teil fogar recht gut, und bie bis jetzt 
gewählten Neuheiten verdienen famt 
und ſonders die Aufführung. 

Zur Eröffnungsvoritellung hatte 
man die Oper gewählt, in der, wie 
Friedrih Wilhelm IV. fagte, „Statho= 
lifen und Proteftanten ſich totfchlagen, 
während der Jude die Muſik dazu 
macht“. Die Aufführung überraſchte 
duch ihr Gelingen, ich glaube aber 
doch, die „Oper bes Weſtens“ follte 
die Hugenotten und die jüngit heraus— 
gebradjte „ZJüdin“ der fgl. Oper über« 
lafien, in deren ganzen Upparat ſich 
derartig jchwierige Werke viel beſſer 
hineinfügen, als in den Rahmen der 
„neuen Oper“, die ihr Hauptbejtreben 
darein fegen muß, die leichteren Gat— 
tungen in möglichit gleihmäßigen Aus— 
führungen zur Daritellung zu bringen. 
Einitweilen iſt dies dem neuen Unter— 
nehmen mit dem Troubadour, Boftillon 
und Raffenihmied recht gut gelungen. 

Ein ganz entichiedenes fünjtleriiches 
Verdienst hat fi aber Herr Hofpaur 
mit feiner eriten Nopvität, dem „Eugen 
Onegin* von Tſchaikowsky, erwor— 
ben. Der Inhalt des Wertes ijt dem 
befannten Puſchkinſchen Bers-Romane 
entnommen, der ein Gemiſch von By— 
ron, Richardſon und Werther mit einem 
Schuß Heineſcher Selbſtironie iſt. 
Tſchaikowskys Muftl, urſprünglich für 
den Konzertſaal berechnet und unter 
dem Namen „lyriſche Szenen“ heraus— 
gegeben, iſt ähnlich wie Liſzts „Eliſa— 
beth“ gegen die Abſicht des Meiſters auf 
die Bühne gebradht worden. Was Wun— 
der, menn ein ſolches Werk das jcharfe 
Licht der Lampen nicht vertragen fann! 
Die ans Blödfinnige jtreifende Text— 
überfegung und der gänzliche Mangel 
an Dramatif ſchaden der „Oper“ ſchwer. 
Kenn fie fich trogdem hält, fo iit Dies 
einzig und allein ber Mufil zuzu— 
ichreiben. Die iſt wirklich entzüdend. 
Vor ſtark zwanzig Jahren geichrieben, 
bewegt fie fi in einem Uebergangs— 
ftil von der alten zur neuen Oper. 
Von jener hat fie die abſoluten Duette, 
die dreiteiligen Urien und die Chöre, 
von dieſer die Nezitative und das be— 
redte Orcheſter. Hinfichtlid der Ans 
bringung von Arien befümmert fi 
der Komponiſt nicht viel um die dra= 
matiihen Vorgänge, er ftreut fie in 
bie Handlung ein, wann und wo es 
ihm beliebt. Die ganze Muſik trägt 
ein echt ruſſiſches Gepräge. Dies ſpricht 
fi) keineswegs, wie viele Mufifer zu 
alauben fcheinen, nur in dem einen 
oder anderen flaviihen Rhythmus aus, 


Kunftwart 





| 


fondern aud) in den Singftimmen, der 
Drelodit und Orceitration. Tſchai— 
lowsty vertraut 3. B. von den vier 
mweibliden Hauptrollen drei dem Alt 
an und von diejen jogar die Vertre— 
terin des leichten beinahe frivolen Ele— 
ments dem tiefen Alt. Uns Deutfche 
berührt etwas derartiges befremdend; 
bei dem Ruſſen liegt die Sache anders. 
Während wir bie hohen Stimmen, 
Sopran und Tenor, bevorzugen, liebt 
der Ruſſe die tiefen Stimmen Alt und 
Ba, und jeder, der einmal im Lande 
ſelbſt Belegenheit hatte, ruffifhe Vol ks⸗ 
mufif zu hören, wird gefunden haben, 
daß die Altſtimmen mindeſtens fiebzig 
von hundert ausmachen und von dem 
Volke bei weitem am meiſten geliebt 
werden. Die Melodie hat man ſtellen— 
weiſe „deutſch-ſentimental“ genannt, 
Auch das halte ich für unrichtig. Sie 
iſt echt ſlawiſch, ſchwermütig; von jener 
merkwürdigen feurigen Weichheit( Moll), 
die allen weniger kultivierten Völkern 
eignet, mögen fie nun Zigeuner oder 
Ungarn, Tſchechen oder Ruſſen fein. 
Je weiter ein Volk in der Ktultur fort— 
geichritten ift, umfomehr verschwindet 
das Melandolifch= Weiche in feiner 
Muſik, und das Lebendige, Energifche 
(Dur) gewinnt Die Oberhand. Das 
älteite moderne Kulturvolk der Ita— 
fiener bat fich zuerit aus dem Banne 
ber Schwermut befreit, ihm folgten 
Deutihe und Franzofen, doch haben 
jene ihrer Diufil vielfady etwas ſpieß— 
bürgerlihe Sentimentalität (Lorging) 
beigemifcht. Diefe ift aber nie und 
nimmer mit der ſlaviſchen Urt der 
Nullen zu verwechſeln, wenn beide 
fih auch manchmal äußerlich gleichen. 
Auch in der Inſtrumentierung iſt Tichais 
kowsty ganz national. Streider und 
Holzbläſer beherrſchen ausschließlich 
das Feld. Von Blechinſtrumenten hat 
nur das Waldhorn mit ſeinem ſammet— 
weichen Klange mitzureden, Trom— 
peten dagegen kommen außer in den 
brillanten Tänzen kaum zur Verwen— 
dung. Dieſe bilden übrigens einen 
Glanzpunkt der Oper, die umſomehr 
gewinnt, je öfter ſie man hört. 


A. u 
Wagner auf der Sanzel. 
Wär's möglih? Esift Ein Dr. 


Albert Roß-Parſons hat in der Aller— 
feelenfirhe zu New-VYork an einem 
Sonntag:Nahmittag „über den Weg 
zu Chriſtus durch die Kunſt oder 
Richard Wagner als Theologen“ ge— 
predigt und den Meiſter dabei nad 
allen Regeln feines Amts fatechifiert. 


2. Oftoberheft 1898 


— > 


Diefer Vortrag, deſſen Schluhergebnis 
(Wagners Rüdmwendung zum Ehriften« 
tum) den Verfajjer natürlidy mit leb— 
hafter Freude erfüllt, erſchien dann, 
au einem Buche erweitert, englijch be— 
reit8 in ameiter Auflage und marb 
nun vom Paul Zillmanniden Ver— 
Iage in Zehlendorf in einer ſachkun— 
fundigen deutſchen leberfegung von 
Reinhold Freiherrn von Lichtenberg 
herausgegeben. 

* Zur Hebung bes Anjehens 
der Zither will der Verband deut— 
fher Zithervereine Alles ihun, um 
ihre — Songertfähigfeit durchzuſetzen. 
Eine prädtige Jluftration zu unferm 
Auffag über die Gefahren der öffent 
lichen DMufitpflege! Das ehrliche, feinen 
eigentlihen Zweck als Begleitinfirus 
ment zum Geſang erfüllende Haus— 
gerät, das einem mande Stunde 
Daheim auf freundliche Weiſe ver— 
treiben hilft, dünkt fi in biefer 
„untergeordneten“ Stellung zu gemein. 
Anſehen bat nur, was fi vor Hinz 
und Kunz gegen Eintrittsgeld jehen 
und hören lafien darf — vornehm iſt 
nur, was über feine natürlichen Ver— 
hältniffe hinaus lebt. Statt darauf 
hinzuarbeiten, daß das Anftrument 
da8 bleibe, wozu e8 fein Charafter 
beitimmt, und daß diefe Auffaflung in 
alle Kreiſe feiner Pfleger dringe, ver— 
legt man ſich auis Paradieren mit 
Virtuofenftüdhen. Zuridtungen von 
Sinfoniefägen, der hehre Marſch, Ziel— 
bewußt“, die himmliſche Phantaſie 
„Der Sterne Zauberbild* — das find, 
wie die Programme ber Zitherfongerte 
lehren, eines modernen Bitherfpielers 
einzig würdige Aufgaben. So fpotten 
dieje Gernegroße mit ſtolzem Ungefidht 
ihrer ſelbſt. 


Bildende Kunft. 


* So hätte in Dresden aud) der= | 


jenige Künftler fein Denfmal befom= 
men, ber die beiten Seiten ber ſächſi— 
fhen „Gemütlichfeit“ idealifiert hat 
zu reinen Leitbildern allgemein 
deutſchen Hergenshumors und deuticher 
Gemütsinnigfeit, Ludwig Ridter 
der Grohe. Aber ad), jtände das 
Denkmal dod lieber nit da, dak wir 


nod) auf ein anderes für ihn hoffen 


dürften! 

Der Bildhauer, Kircheiſen, Hat 
leider von dem auffälligiten Zuge 
nicht nur in Richters Charakter, fon 
dern auch in feinem Angefiht, von 
feiner unmittelbar ermärmenden 


Kunftwart 








l 
! 
! 
1 
! 
1 


Freundlichkeit und Güte, nichts 
wiederzugeben vermodt. Als Beine 
Figur ausgeführt, erfchiene fein Wert 
vielleicht troßdem nidt ganz ohne 
Innerlichkeit, jo wie es ilt, läht es 
nit nur falt, fondern ftöht e8 ab. 
Das Denkmal ijt traurig bezeichnend 
für die Verftändnislofigfeit in Denk— 
malsfragen, unter der, ſchon durch 
törichte Bewerbungsbedingungen, auch 
der Bildhauer felber gelitten haben 
mag. Will ich ein Denkmal feßen, fo 
wäre, follte man meinen, bie nädjite 
Aufgabe: die Stimmung mit bem 
Ganzen wiederzugeben, melde Die 
Berfönlichleit des Gefeierten in mir 
erwedt. Anſpruchslos zwiſchen Laub 
und Naturftein an pläticherndem 
Wäſſerchen Richter mit Rindern um 
fih, in runder Plaſtik oder als Re— 
lief oder als Bild — das etwa hätte 
dem ein wenig entiprocdhen, was wir 
bei dem Namen „Ludwig Richter“ 
empfinden. Freilich, Hundertfad anders 
noch hätte fih die Aufgabe Löfen 
laſſen, die eine der köſtlichſten mar, 
die e8 gab. Ein Behagen hätte aus— 
ftrablen müſſen aus einem RNichter— 
Denfmal auf alle Beihauer, auf 
Reich und Arm, auf Groß und Klein. 
Das ſehen wir jegt? Einen Dann, 
der zeichnet, in der Haltung alles 
eher, als monumental, aber in einer 
Kolofialgröße, die monumental wirken 
foll und nun plump wirft, genau wie 
das glatt polierte Steinwerf darum 
und darunter, mit dem lächerlihen Mo= 
fait und dem lädherlichen Gitter. Es 
wird Einem einfady weh ums Herz, 
fieht man den Sammer an. 

Natürlich läßt die Aufftellung des 


| Richters Denfmals auch jedes „Ein= 


pflanzen“ in die Umgebung vermiffen, 
von einem bdeforativen Zujammen= 
hange mit ihr fann faum geſprochen 
mwerden. Uber das allgemeine Fehlen 
des Sinns für diefe Aufgaben fann 
ih an Dresden in der nädjten Zeit 
nod viel ſchwerer rädhen, als bei 
diefem Dentmal, das ja eine fpätere 
Generation hoffentlih zum Einfchmelzen 
verfaufen wird. Man plant nämlidy 
wieder, an große Stüde besfelben 
„alten Dresdens“ die Hand anzulegen 
das unfer Elbflorenz berühmt ge= 
madt hat. Jede Stadt muß ſich den 


ı neuen Zeiten mit ihren Bedürfnifjen 


| 


anpajjen, e8 fragt fid) nur, wie daß 
geſchieht. Und Hier in Dresden ift 
das Gefährlihite nicht einmal, da 
unfre Stadtväter und ihre Bevoll— 
mädtigten die architektoniſchen Schön— 


2. Oftoberheft 1898 


heiten der einzelnen alten Gebäude 
nicht verjtchen. Nein: man ift in Ges 
ihmadsdingen jo heruntergekommen, 
dak man bei —— des Straßen= 
baus, welche die Vorfahren zu [öjen 
wußten, jetzt nicht einmal mehr die 
Probleme ſieht. Mit einem ganz 
vortreffliden Memorandum hat noch 
in legter Stunde Gornelius Gurlitt 
fadveritändig und fünftleriich jein= 
fühlig, und mit Ruhe und Mäkigung, 
ewarnt. Möge man auf ihn hören. 
ber jelbit die Schäden, die er ab= 
wenden will, wären für das Stadt=- 
bild Dresdens nicht von jo übermäch— 
tiger Richtigkeit, wie die Aufführung des 
Mallotfhen Landtagshaufes an der 
geplanten Stelle am Schloßplag. Käme 
dorthin ein Riefenmwürfel, der nur von 
fern irgend einem ber bisher vor= 
gelegten Wallotſchen Pläne entipräche, 
fo bedeutete das für Dresdens Schöne 
heit an ihrer edelſten Stelle einfad 
die Zerftörung. u. 

* Ein Rüdblid auf die Mün— 
hener Ausstellungen diefes Jah— 
tes ſcheint zu ergeben, dab die Ueber— 
gangsperiode unferes Ausſtellungs— 
mwejens ih in befchleunigtem Tempo 
ihrem Ende zuneige. Noch zeigen die 
Ausjtellungen im großen annähernd 
ihr gewohntes Bild, und trogdem ift 
gar fein Zmeifel möglich, dat Diejes 
fi jest ganz raſch verändern wird, 

Fragt man jemand, moran das 
liege, fo ruft der vielleicht „modernes 
Sunftgewerbe!” Ich meine, das bes 
zeichnet die Sache doch nod) ein wenig 
äußerlih. Nichtiger würde die Ant— 
mwort wohl lauten: eine ®eneration 
mit äfihetifcher Kultur wächſt heran. 
Dan geht nım nidt ver in die 
Ausitellungen, um Bilderchen zu bes 
fehen, jondern um das fünitlerifche 
Xeben jeiner Zeit begreifen umd vers 
folgen zu fönnen. Und daß bas nicht 
in der Delfarbe oder ber Bildform 
überhaupt gebunden Liegt, iſt nun 
Gott ſei Dank ſchon fast ein Gemein— 
plat gemworden. Die beiten Stünftler 
wenden ſich jetzt jedem Gebiet zu, auf 
dem e8 etwas zu gestalten gibt. 
Was die neue Zeit noch verfäumt 
hatte: ſich eineigenes fünfstlerijches Kleid 
zu ſchaffen, wie es jede frühere Epoche 
gethan, — fie Holt e8 nad; und 
auf ihren Beruf, das zu zeigen, fangen 
unfere Ausſtellungen an, fich zu be= 
finnen. 

Seit zwei Jahren iſt dieſer Um— 
ſchwung bei uns in Deutjchland fennt= 
lid geworden. War das, was ber 


Kunftwart 





| 


69 


„Ausſchuß für Kunſt im Handwerk“ 
vergangenes Jahr im Glaspalaſte 
veranſtaltete, faſt noch ein Verſuch, 
ob ſich dieſer Weg überhaupt begehen 
laſſe, ſo zeigen heute die beiden Aus— 
ſtellungen in München und die in 
Berlin, daß es eine Notwendigkeit ge— 
worden iſt, ihn zu beſchreiten. Jede 
Wahrſcheinlichkeit iſt dafür, daß er 
noch weiter verfolgt wird, mas die 
Konſequenz ergibt, daß fid) die Aus— 
ſtellungen dem Charakter der vereins 
zelien großen Kunſthandlungen vor— 
nehmen Stils nähern, die in manchen 
Sauptitädten ſchon beftehen. Feitlich 
geſchmückte oder intim ausgeitaltete 
Näume, als ſolche allein fhon Kunſt— 
merfe, und darein wie die Perlen der 
Spange gefügt die beiten Werke 
abitrafter Kunſt, die das Jahr her= 
vorgebradjt Hat. Der Menge deſſen, 
was nur im Sandelsinterejie oder 
ganz ohne inneren Grund entitanden, 
wird damit wieder ein Steimboden ent= 
zogen. 

Melden Weg die Kunſt in ber 
legten Zeit gegangen, das habe ich in 
diefen Blättern nun ſchon jo oft bes 
fproden, daß ich davon Heut nicht 
wieder zu reden brauche. Zudem 
haben wir jest ja die Möglichkeit, den 
Lefern das zu zeigen, morauf wir 
feine Aufmerkſamkeit lenfen mödten, 
denn wenn unfre Bilderbeilagen aud) 
noch nit gerade „Kunjtblätter” fein 
fünnen, jo unterrichten fie von den 
uns wertvoll und intereflant erjcheis 
nenden Werfen doch jedenfalls viel 
beifer als hundert Worte könnten. 
Da wir nad) Möglichkeit im folgenden 
Halbjahr die nah unferer Meinung 
beiten Werke der beiden Münchener Aus— 
ftellungen reproduzieren werden, io 
haben wir nod) öfters Gelegenheit, 
in begleitenden Worten auf jie zurüde 
zufommen. Nur foviel fei nod) ges 
fagt, daß ganz neue Verſchiebungen 
oder Ericheinungen nicht aufgetreten 
find. Die alten Namen bewährten 
ſich zumeift in neuen Werfen, mande 
Künſtler zeiaten fi) in ihrer ſtraft 
ewachſen. Da, wo man ernithaften 

atitab anlegen darf, trat nirgends 
ein Zurüdgang oder aud) nur ein Nach— 
laſſen hervor. Wirkliche „Offenbar: 
ungen“ babe ich nicht gefunden, die 
find aber aud früher nicht allzu 
häufig gemefen. 

Dan hat oft jagen hören, daß die 
Sezeifion mit ihrem Heim einen 
ſchlechten Tauſch gemacht hätte. Ich 
kann das nicht finden. Die Vorzüge 


2. Oktoberheft 1898 


der großen, gutbelichteten Säle in der 
Prinzregentenitraße wurden bier auf— 
gewogen durch eine Reihe anderer, 
unter denen die Heizbarfeit und Die 
zentrale Lage nicht Die kleinſten 
waren. Die Näume zeigten fih nicht 
groß, aber gut und jo geihmadvoll 
ausgeitaltet, wie nur je. Im Glas: 
palait hatte man feine Veränderungen 
des Arrangements vorgenommen. 
Schultze-Naumburg. 
*Der Kongreß für Kunſt in 
dberDeffentlichleit, der in Brüffel 
vom 22.—26. September jtattfand, Litt 
an mandjerlei Uebelftänden, die feine 
Wirkung beeinträdtigten. Won den 
befannten belgifchen Künſtlern nahm 
überhaupt feiner teil, weil der ein: 
berufende Verein (l’Oeuvre de l’Art 
Public) infolge von mand)erlei uner= 
frenlihen Vorkommniſſen feinerlei 
Sympathie bei der belgifchen Künſtler— 
ſchaft genießt. Im Gegenteil murde 
der Kongreß nebſt feinen Veranſtaltern 
in einigen belgiſchen Kunſtzeitſchriften 
und Tageszeitungen ſehr heftig ange— 
feindet. Das macht ja die gute Sache 
als folde, über die hier verhandelt 
wurde, nit ſchlechter, bedauerlid) 
bleibt e8 aber, daß der Kongreß nicht 
von Männern veranftaltet ward, bie 
fih allgemeiner Sympathie erfreuen 
und die veritanden hätten, alle Kunſt— 
freife Belgiens zur Mitarbeit heran— 
auziehen. Sadlidh wurde gegen den 
Kongreß eingewendet, daß durd ein 
gewiſſermaßen gemwaltfames Borgehen 
in Sachen der Stunit in der Deffents 
lichfeit mehr geichadet als genüßt 
würde, daß man es vielmehr der Zeit 
überlaffen müßte, allmählich Wandel 
zu ſchaffen und das Leben mit Kunſt 
zu durchdringen. Hierüber fann man 
ja in der That verjchiedener Unficht 
fein. Der Stongreß war von Deutſch— 
land aus ſehr mangelhaft bejudht; 
außer mir ıvar nur Baurat Stübben 
aus Köln anmefend, fo daß man 
die verfchiedenen „Originalberichte* 
in den Zeitungen mit einiger Stepfis 
anfehen darf. Dagepnen waren 
aus Frankreich, Belgien, Holland, 
Schweden, Italien, Umerifa Vertreter 
der Wegierungen, der Stadtverwal— 
tungen, Muſeen, Kunitichulen u. ſ. w. 
gefommen. Borligender war der bels 
giiche Miniſter Beernart, auch der franz 
zöſiſche Miniſter Bourgevis leitete eine 
der Hauptiigungen. Es wurde in drei 
Abteilungen beraten: Kunſt in ber 
Oeffentlichkeit vom gejeggeberiichen, 
vom Sozialen und vom tedhnifchen 


Kınftwart 





Standpunkte aus. Man beſprach da 
vielerlei, was in Deutjchland längſt 
ausführlich erörtert worden iſt — Kunſt 
in der Schule, Reitaurierung und Schuß 
der Kunſtdenkmäler u. ſ. w. Auf einige 
wichtige Einzelheiten aus den Debatten 
kommen wir zurück. Man beſchloß 
übrigens, im Jahre 1901 einen zweiten 
internationalen Kongreß für Kunſt in 
der Oeffentlichkeit in Paris zu veran— 
ſtalten, und ſprach zugleich den Wunſch 
aus, es möchten im Jahre 1899 natio— 
nale Kongreſſe gleicher Art abgehalten 
werden. Paul Schumann. 

* Die Broſchüre gegen die mo— 
derne Kunſt ift wieder einmal ers 
ihienen. Die Broſchüre, — e8 ift ja 
immer Diefelbe, wenn fie alle brei bis 
vier Jahre in neuen Auflagen heraus: 
fommt, obgleih Papier, Drud, Titel, 
Verleger und Verfaſſer wechſeln. Es 
ift immer diefelbe mit demfelben Pa— 
thos der ehrliden Entrüftung, dem— 
felben aufrichtigen guten Willen, zu 
helfen, und demjelben jeurigen Kampf 
gegen dieſe jelben gottlofen Riefen, 
die mit ihren gewaltigen vier Flügel— 
armen das ideale Blau aus dem Him— 
mel reißen. Sagt ein anderer: aber dieſe 
Niefen find ja Windmühlen!, — fo 
fann man fi) doch nicht darüber ver— 
ftändigen, denn man jieht mit vers 
fchiedenen Augen und man fpricht mit 
verjchiedenen Spraden. In der neuen 
Ausgabe heißt die empörte Streit— 
ichrift: „Karl Guſſow und der Natu— 
ralismus in Deutſchland“ und ihr 
Verfaſſer Baitor Dr. Karl Pietſch— 
fer. Da wir bereits bei der Be— 
fprehung der früheren Auflagen be= 
fannt haben, daß wir mit nod) fo 
berzensüberzeugt vorgetragenen Kunſt— 
dogmen nichts anzufangen wiſſen, jo 
fünnen mir uns ein abermaliges 
Eingehen jparen. 

* Berliner Blätter melden: „Die 
AufitellungderBildfäulen der 
Dichter aus den Freiheitsfriegen im 
Biftoriaparfe fol, wie man aus Künſt— 
lerfreifen uns mitteilt, nicht eher er« 
folgen, als bis der Kaſiſer die Werke 
befichtigt haben wird. Man wird alfo 
mit der Aufftellung wohl bis zum 
Frühjahr warten müſſen.“ Alſo jtellt 
das fortichrittlich regierte Berlin die 
legte Entjcheidung über „Bildjäulen“ 
von Dichtern ohne jede Not dem Sailer 
anheim, der weder in literarifchen nodh- 
in fünftlerifhen Dingen Sadyveritäns 
Diger iſt. Wenn er allmählich zu der 
Meinung käme, der erjte Sadvers 
tändige in allen Ungelegenheiten,. 


2. Oftoberheft 1898 


fozufagen Spezialift für alles zu fein, 
fo mwär’8 nad) folden Erfahrungen 
nur menfhlid. Den Herren ihrerjeits 
iſt's herzlich gu gönnen, wenn ihnen 
die allerhöchſte Gnadenfonne, in der 
fie den gefrümmten Budel wärmen 
wollen, gelegentlich) etwas unangenehm 
drauf brennt. 

* Im Zauf-Medaillen oder 
Plaketten hat jegt das preußifche 
Kultusminifterium Preife ausgeichries 
ben. Alſo läßt es fi) nicht im Weiters 
befchreiten des guten Weges itören, 
den e8 mit feinem Preisausichreiben 
um eine Hochzeitsmünze betreten hatte, 
— meld ein Gemigel aud) die Geiſt— 
reichen in der Prefje deshalb erhoben, 
die jamt und ſonders nicht verjtanden, 
worum fich’8 handelte. Es liegt im 
dringenden Intereſſe aller Künftler mie 
aller Kunſtfreunde, die hier vom ſultus— 
minifter verfuchte Förderung einer vor= 
trefflihen Sache mit allen Kräften 
zu unterſtützen. 


Dermijchtes, 


* „Das Dreigeitirn Menzel 
Begas-Fontane* hatnad einem Ber— 
liner Zeitartifel künſtleriſch über der 
Bismard-Wera „gejtanden“: „Die Werte 
dieſes Dreigeftirns tragen den unaus— 
löſchlichen Stempel von Bismards 
Geilt“. Warum? Das hab id nicht 
verftanden! Daß e8 aber durd) die 
faiferliche Empfehlung unjres „Michels 
angelo* in der That ſchon möglich 
wäre, außerhalb der Hoftafelrunde 
Begas mit Menzel und Fontane in 
einem Atem zu nennen‘, das hätte ich 
bisher nit geglaubt. Menzel und 
Fontane, mie verfchieden an Größe, 
haben gemeinfam ihre echte Inner— 
lihfeit. Sie find beide Künſtler 
des „Ausdruds*, Verherrlicher Preu— 
Ben aus dem Verſtändnis feines 
Geiftes heraus — man fann fie immer— 
bin der „Hera Bismard“ einordnen. 
Begas aber ift der hodgewandte 
Schwelger in fhönen Formen ohne 
feeliihe Ziefe, der jelbit beim ſoge— 
nannten Nationaldenfmal nidt viel 
mehr anzufangen weiß, als ein großes 
Biltoriageihrei Höchst effeftvoll zu ins 
ftruımentieren. Das iſt „deforative 
Politik“ in der unit, nit bismarck— 
fcher Geiſt. Nicht Menzel-Begas-Fon— 
tane heißt das Dreigeftirn, zu dem 
Begas gehört, fondern Nafchdorif= 
oder Knackfuß-⸗Begas-Lauff, und hier 
bedeutet er allerdings den weit über: 
zagenden Gipfel. Wer's nicht glaubt, 


Kunftwart 


betrachte fich feinen Entwurf zu dem 
faiferlich bejtellten Bismard » Sarfo= 
phag. Dean weiß da nicht recht: ift 
Bismard die Hauptfahe oder jein 
Mantel mit den Nenommierfalten? 


+ Die fommiffion für das 
Urheberrecht, deren wir im letten 
Hefte gedadhten, ſoll nad) Mitteilung des 
Staatsfefretärs Nieberding nur einen 
„informatorifchen“ Gharafter haben. 
„gu einer fpäteren entgültigen Be- 
gutachtung des neuen Geſetzentwurfes 
über das lirheberrecht werden bejon= 
dere Sachverständigen : Nusfchüfle ges 
bildet werden, an denen Berufsichrift- 
iteller, Journaliiten und Tonfünitler 
in gleicher Zahl teilnehmen werden 
wie die bisher geladenen Buch» und 
Mufifalienverleger.* Das heikt mit 
andern Worten: man fieht ein, daß 
man fi verlaufen hat, mag's aber 
nicht zugeben und redet nun um die 
Sad)e herum. Denn das ift ja gerade 
das Unerhörte, daß man zu feiner 
„Snformierung“ nicht die Hervor— 
bringer, fondern die Zwiſchenhändler 
berief. 

lebrigens fommt jet Leben in 
die Urheberrechts = Bewegung. Die 
„Berfammlung deutſcher mufifalifcher 
Autoren“ Hat unter PBorfig unieres 
Mitarbeiters Prof. Hans Sommer in 
Leipzig getagt. Eine „Anstalt für muſi— 
kaliſches Aufführungsrecht” ıft nach den 
Eingaben der Komponiſten genehmigt 
worden. Der Direftor des Berliner 
Schillertheaters, Löwenfeld, Hat ſich 
bereit erklärt, ein Prozent der Ein— 
nahmen aus Klaſſikervorſtellungen für 
die Schillerftiftung abyutreten. Andere 
Bühnenleiter werden ihm anitands= 
halber folgen müffen. 


Unſere Beilagen. 


Die diesmalige Noten beilage ilt 
eigentlich eine Illuſtration zum vori— 
gen Hefte. Sie enthält zunächſt aus 
den dort befprochenen „Sclidten 
Weifen* (Leipzig, CE. F. ®. Siegel) 
von Alexander Ritter das „Wer 
da Sieht die Augen dein“, ein Lied, 
deſſen mit zarter Schwärmerei geparte 
Innigfeit und feingezogene melodiſche 
Zinie fi) Schon beim eriten Durchſingen 
in ihren Reizen erjchliegen dürfte. 

Das folgende, aus Guftav Mah— 
ler3 zweiter Sinfonie herausgehobene 
Stüf erfordert dann etwas Nach— 
denfen und lebhaftere Phantafiethätige 


2. Oftoberheft 1898 


keit. Jedenfalls bitten wir, die Be— 
merfungen über den ganzen Sat auf 
©. ı1 unfres vorigen Heftes nachzu— 
ichlagen. Als Probe ift die Stelle 
gewählt worden, wo zu ber frifchge- 
ſchwungenen Tanzmelodie in der Ober: 
ſtimme gleidygeitig Die trippelnde 
Weiſe des Ländlers erklingt. Unfer Be— 
arbeiter, Kapellmeijter Jofef Stransky 
in Prag, bat die beiden Stimmen, fo 
lang es klaviertechniſch möglidy war, 
d.h. bis auf Taft ı8 und 19, ziemlich 
Scharf auseinandergehalten. Es em— 
pfiehlt ſich — für mufifalifh minder 
Geſchulte ſozuſagen eine Vexier-Auf— 
gabe — ſich über den Gang jeder einzel— 
nen Stimme zu orientieren und vor 
allem jede für ſich durchzuſpielen, um 
dann beide im Vortrag gut unter— 
ſcheiden zu fünnen. Wer fi für das 
Merk irgend eingenommen fühlt, der 
wird freilich zu der vorzüglichen Be— 
arbeitung für wei Sllaviere von Her— 
mann Behn (Leipzig, Fr. Hofmeiiter) 
greifen, da die Hände eines Spielers 
der verwidelten Bolyphonie nimmer 
mehr gewachſen find. 

Bei der Auswahl unferer Bilder 
lag diesmal nicht die Abſicht vor, den 
Leſern erläuternde Beijpiele für prins 
zipielle Erörterungen des Textes zu 
geben, e8 follten einfad) aus den Aus» 
ftelungen einige beſonders hervor= 
tragende Werke gezeint werden. Auch 
den beiden Künſtlern, die wir heute 
vertreten, Dill und Samberger, 
gemeinfam iſt die Großzügigkeit, 
mit der jie das ihnen Weientlie aus 
der Natur Herausgeben und zu ein 
facher Form gejtalten. Sie geben alfo 
das Gegenteil von den „ſachlichen 
Naturabſchnitten“ der eigentlichen Na— 
turalijten, fie halten dem Beichauer 
nicht gleihiam die Natur ſelber in 
einem Ausſchnitt hin, aus der Diefer 
dann herausſehen mag, mas feiner 
eigenen Stimmung entſpricht. Gie 


zwingen ihn vielmehr, ſozuſagen, nicht 
nur mit ihren Augen, jondern auch 
mit ihrer Seele zu leſen. Dabei 
wiſſen fie, ihren vereinfachten Neuge— 
ſtaltungen ſinnfällig wohlklingende, 
auch dekorative Form zu geben. 

Bei Dill fehlt in unſerer Repro— 
duktion freilich das Grundmotiv: die 
Farbe, deren Klang der Hauptträger 
der Poeſie feiner Werle iſt. Das läßt 
ſich ja nicht ändern, man muß aus 
dem Spiel von Hell und Dunkel ſo 
weit auf die Farbe ſchließen, wie das 
eben angeht. Dill ſcheint bei der als 
möglich denkbaren Verfeinerung 
angekommen, ohne kraftlos zu wer— 


den. — Bei Samberger bewundern 


wir immer wieder die mächtige Ein— 
fachheit, die das Seelenbild eines 
Menſchen mit wenigen Strichen hin— 
ſchreibt. Wohl von Muther ſtammt 
das Wort, daß in Samberger ein 
aweiter Lenbad) entitände, mit weniger 
Pikanterie, aber mit berberer Größe. 


Dieſem Hefte find auch wieder die 
„Amtliden Mitteilungen“ des 
„Vereins zur Förderung der Hunit“ 
in Berlin beigelegt. Wir maden unſre 
neuen Abonnenten darauf aufmerfiam, 
dab nur Diefe „Mitteilungen“ 
Organ des genannten Vereines find, 
nicht etwa der Kunftwartjelber. 
Der Berliner Verein hat für feine 
Mitglieder den Kunſtwart abonniert 
und verbreitet durch den Kunſtwart 
feine „Mitteilungen“ als Beilagen, 
hat aber nicht den geringsten Einfluß 
auf den Aunjtivart, dejien Redaktion 
anderjeits auch den Verein und jeine 
„Mitteilungen“ nicht im mindeften bes 
einflußt. Beide Teile betrachten fich 
als Bundesgenofjen „zur Förderung 
der Kunſt“, find aber nad) dem ges 
fagten volllommen unabhängig von 
einander. 


Inhalt. Nochmals vom Urheberrecht. — Zukunftslyrik? Bon Adolf Bartels. 
— Dramatifer zwifden ben Suliffen. Von Ferdinand Gregori. — Karl Löwe. 


Bon Richard Batla. — Neue Kammermuſik. 
Von Paul Schumann. — Lofe Blätter: E83 


Verwirrung der Kunſtbegrifſe.“ 


Bon Hermann Teibler. — „Die 


bat noch feinen Begriff. Romanbrudjtüd von Dtto Ludwig. — Rundſchau. 
— Bilderbeilagen: Ludwig Dil, Landidaft. — Leo Samberger, Bildnis. — 
Notenbeilage: Wlerander Ritter, „Wer da fteht die Mugen dein.” — Guftav 


Mahler, Zändler. 


Derantwortlih: $erdinand Apvenarius in Dresden:Blajemwig. 
Derlag von Georg D. W, Callwey. — Kgl, Hofbucddruderei Kaftner KKoffen, beide in Mänchen, 
Sendungen für den Test an die „Kunfwart»£eitung”, Dresden:Blafewit, Wachwitzerſtrae. 
Beiträge über Mefif an Dr. Rihard Batka, Prag :» Weinberge. 
Befiellungen, Anzeigen und Geldiendungen anden Deriag: Geora D. W. Eailwer in Münden, 





CWARE: 


BELLAGE SSNUNS 
„Wer da sieht die Augen de 





in“” 


Alexander Ritter, Op.2.No.4. 


Langsam. 


wird 


gen dein, 





PIANO. 


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®) Aus den „Schlichten Weisen‘‘ Mit Bewilligung des Verlegers C. F. W. Siegel in Leipzig. 


Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München. 


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Alle Rechte vorbehalten. 


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LEO SAMBERGER 


Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 





LUDWIG DILL 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


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3 


Andante 


aus GUSTAV MAHLERS C 


SINFONIE. 2.Satz, Takt 254-95. 


moll- 


JOSEF STRANSKY. 


Für den Kunstwart eingerichtet von 
Andante con moto 





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sehr aus 





PIANO. 


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plötzlich; 


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mit grossem Ton und Wärme 








immer mehr zurückhaltend 








dim. ersterbend 














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Stionu Drvatkv Ösen 


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onn msen en igesen Probe 
andlung: Georg D- WI. Callwep in Asünchen. 
Lachdruct famtlicher Eigenbeiträge, mit ni der — — und der n, 
unter Quellenangabe "erlaubt. — Für unverlangt eingefandte Mannffripte wird feine 


übernommen, Rüdfendung abgelehnter, ı nur wenn Rüdporte beilag. 




















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elt die Aufmerffamteit, heilt fomit von Zerftrent eit und ftählt das natürliche ang 
Sies Erlernen von Spraden MWiffenfhaften ıc. nwendung aufs praftifhe £eben. jn 
en 2/s Jahren 10000 S aller 3— Stände. Empfehlende Rezenfionen von en 
itopäifgen Zeitungen, Zeit ſchriften und Se 2 p We Fchim mit u. u 

Kan —— gratis und frante dur dur Finkenſt —— 


Digitized by G 008 











hr —— — 


12. Jabrg. Erstes Novemberbhett 1898, hett 3, 





DER RU DITWART | 


Schbauspielkunst und Tbeaterschuien. 


Ueber unſere Schaufpieltunft wird heuer wieder viel geklagt. Den 
Jungen iſt fie zu alt und den Alten zu jung. Dem Einen jpielt fie 
nur noc die Klaſſiker ftilgereht, dem Andern jcheint der Klaſſikerſtil 
noch nicht erreicht, und der Dritte ſeufzt, dag die Meifterdramen der 
Veltliteratur nicht mehr dargejtellt werden können. Ueber den Grund 
diejer überall anders empfundenen jchaufpielerifchen Unzulänglichkeit wer— 
den dann die bunteiten Bermutungen ausgegrübelt, auf die man, mie 
fih das beim Theaterjammer von jelbft verjteht, die wunderſchönſten 
papiernen Reformen aufbaut, über deren Eingang die Aufforderung 
immer wiederfehrt: nieder mit den Dugendkünften! Es lebe die Kunſt! 

Eines ijt diefen gutgemeinten, wenn auch zumeift mit zuviel dünnen 
Theorienwaſſers abgefochten Vorſchlägen gemeiniam: fie machen jelten 
die Schaujpieltunjt jelber für ihre Schwäde, ihren Verfall verantwort— 
ih, fondern Hagen mit Vorliebe die äußeren Faktoren, die den Gang 
der TIheaterereignifje beftimmen, auf Tod und Leben an. Da ift der 
Berfajfer, der Schundjtäde jchreibt, ferner der Direktor, der den Schund 
aufführen, da ſchließlich das Publikum, das ihn fich behagen läßt. Die 
arme Scaufpielfunfi muß ja bei ſolcher methodiichen Vergewaltigung 
jo krank und hilflos werden, wie fie num leider ift. Und über diefem 
nur zum fleinen Teil berechtigten Mitleid vergißt man meift, in das 
Werden der Schaufpielfunjt einen ruhig prüfenden Blid zu thun, zu 
forfhen, welcher Art denn die Grundjäße find, nad) denen die keuſche, 
junge Dame beim Eintritt ins böſe Leben gern handeln möchte und 
denen fie nur aus bitterjter Not entfagen muß. 

Seitden der wandernde Komödiant ein ſeßhafter Hünitler gewor— 
den, iſt auch die fünftleriiche Erziehung eines brauchbaren Nachwuchſes 
eine jtete Sorge der Männer gemejen, die ein Theater nicht als geld- 
bringenden Handel, jondern als befruchtende Anregung für das Geiftes- 
leben der Zeit geleitet oder die jonjt „in diefem Sinne“ gemirkt haben. 
Goethe nahm fi perfönlich feiner Anfänger an, prüfte fie, gab ihnen 


Kunftwart 1. Novemberheft 1898 
— 3— 


techniſche Winke, fuchte die perjönlihen Anlagen des Einzelnen zu ent— 
wideln, und vor allem: drang auf umfaffende Studien, auf Geiftesbil- 
dung im höchſten Sinne, die dem Darfteller erjt den rechten Gebraud 
feiner Fähigkeiten verſchaffen mußte. Nah ihm kam im Anfang der 
fechziger Jahre Ed. Devrient, der Gefchichtsichreiber der deutichen Bühne, 
mit dem Plane, zum preußiſchen Hultusminiftertum ftaatlihe Schaufpiel= 
Akademien zu errichten. Er wies auf die Mufifichulen, auf die Akademien 
und Sammlungen der bildenden Hünfte Hin und verlangte auch für die 
Schaufpieltunft eine höhere Bildungsftätte von Staatswegen. Es murde 
nicht8 daraus, aber inzwiſchen haben wir den Segen der jogenannten 
„Theaterfhulen“ gründlich kennen gelernt. . Bor Aufhebung der Gemerbe- 
freiheit im Jahre 1870 wuhte der Bühnenalmanad) nur von 270 Theatern, 
heute führt er gegen 700 auf. Mindeftens die Hälfte des riefigen Mehr— 
bedarf an Darftellern ift in den fchnell wie die Pilze aus dem Boden 
geichoffenen Theaterichulen abgerichtet worden. 

Selbſt in den befferen Anftalten diefer Art, die fid) zumeift den 
lingenden Titel „Konfervatorium” zugelegt haben, geht e8 immer noch 
verdreht genug zu. Als Devrient feinen Antrag ftellte, war er fich 
darüber klar, daß „Rede und Geberde in untrennbarem Rapporte ftehen, 
daß aljo keine Schule verfuhen darf und Tann, Eines ohne das Andere 
auszubilden“. In den Stonfervatorien, die das Erbe Devrients für eigene 
Rechnung angetreten haben, blüht dagegen das Iuitigite Spezialiitentum. 
Da lehrt der Meifter der Redekunſt Herr Brüller mit Fleiß und vielem 
Luftverbraud) das „Wort“ (d. i., die Redekunſt) und den „geiltigen Ge— 
halt“. Und hat der Schüler dann feinen Tert mit all dem bemefienen 
Auf und Nieder des Tonfalls feft im Ohr, To geht er zu Herrn Zier— 
fih, dem unübertrefflichen Meiſter der plaftifchen Geberde, in die Mimik— 
ftunde. Bier lernt er lächeln und laden, ſchluchzen und heulen, Hier 
das Eritehen und Erftochenwerden genau fo ſchön, wie es im Mimik— 
Katechismus des Herrn Zierlich jteht, und ohne daß er dabei etwas zu 
fagen oder gar zu denken brauchte. Denn die Verbindung diefer zwei 
Welten erfolgt erit in einer dritten, in der Welt der „Bühnenübung“, 
die womöglich unter einem neuen Herrjcher ſteht. Der erflärt natürlich), 
daß Herr Brüller wie Herr Zierlich als arge Dilettanten von der Kunſt 
feinen Dunft haben; er methodiert alfo das Gelernte wader um. Der 
arme, honorarzahlende Schüler lernt um und an, baut auf und bridt 
ab, will e8 allen recht machen und wird von allen getadelt, und wenn 
er dann nad) ein bis zwei Jahren die Anstalt mit dem erfefjenen Reife— 
zeugnis verläßt und noch einen Klaren Gedanken im Kopfe hat, fo ift er 
entweder ein Dickſchädel oder ein Genie. 

Mitterwurzer, da8 Schaujpielergenie der zweiten Jahrhunderthälfte, 
wußte wohl, was er fagte, wenn er auf die Frage nad) dem Wert dieler 
Sunftfabrifen antwortete: Stoniervatorienbildung iſt ein fchönes Etitett 
auf einer leeren Flaſche. Er ift auch fein Lebelang jeder „Profeſſur“ an 
folhen Buntdrudichulen aus dem Wege gegangen. Die Leute, die fich 
dazu drängten und noch dazu drängen, find chemalige Bühnenfünftler 
mit einigermaßen unbeftimmten einftigen Thaten, von deren Herrlich 
feit verftaubte Lorbeerfränze an den Wänden in der Regel mehr zu er— 
zählen wiſſen, als die eingerofteten Lehren der nunmehrigen Kunſtpäda— 
gogen. Auch die vielen dramatischen Stundenlehrer und Lehrerinnen, die im 

Kunjtwart . Novemberheft 1898 


— 4 — 


Einzelnen ihre Kurſe veranftalten, leiten aus dem lorbeerumgrünten 
Nimbus gemweiener Theatergröße das Recht ab, mit den Ueberlieferungen 
einer toten Zeit einen ſchwungvollen Unterrichtshandel zu treiben. Sie 
find dem Neuling weniger gefährlih, da fie von ihm nur eine Auf— 
fallung feiner Rollen verlangen, die ihrige. Aber fie haben auch ihre 
Spezialität: fie wittern das Talent wie jene nüglichen Tiere die Trüffeln. 
Es iſt im höchften Grade bemundernswert, wie fie mit ihrem Blid aus 
einem fnabenhaften Anfänger den kommenden Künſtler herausfühlen. 
Ein Gedicht, ein paar Berfe aus dem Wallenitein genügen Herrn Meyer— 
Woldan, denn ein großes Künſtlerauge fieht eben mehr als das fchärfite 
Dugendgeficht des Laien. Der junge Mann intereffiert ihn lebhaft, und 
unwillfürlih murmelt er etwas von außergemöhnlicdyer Begabung. Ob 
der Meiſter vielleicht jelbit der Lehrer...? fragt überglüdlich der junge 
Mann. — Der Meifter — nun, er ift zwar jehr beichäftigt, indes — 
aber nur, wenn die Eltern ihre Einmilligung ... das ift Prinzip! Und 
er reicht dem düfter dreinichauenden Jünglinge tröftend die Sand zum 
Abihied... Uebrigens für den Bedarfsfall: die Stunde koftet ſechs Mark. 

Zu Haufe geht nun der Junge mit edler Duldermiene herum und 
ihlägt die Zeit mit Grillen tot. Der Bater brummt, er folle erit was 
lernen. Aber der Junge läßt fich Schon die Locken brennen, deflamiert 
insgeheim den Karl Moor und fieht von Tag zu Tage verjonnener und 
bedeutender aus. Indes jegt die Mutter dem Bater zu, dem herzigen 
Buben doch die Ihöne Zukunft zu gönnen und ihm den Zaubergarten 
zu erichließen, wo auf goldenen Bergen der grüne Ruhmeslorbeer wächſt. 
Das Talent zu ſolchen Sachen hat der Teufelsjunge ja im Sad, denn 
wenn ſich fogar Herr Hofichaufpicler a. D. Meyer-Woldan, der große 
Meyer-Woldan für ihn lebhaft intereffiert, dann muß ja wohl was be= 
fondres in ihm fteden. Und jeufzend greift der Vater in die Tafche 
und zahlt; Meyer-Woldan befommt einen neuen Schüler. 

Nun geht es vier Wochen lang an Sprahübungen, wobei Karl 
Moor ji) langmeilt, weil er das alles ſchon kann. Meyer-Woldan 
Iangmeilt fi) auch und beginnt mit den Rollen. Er ſpricht vor, Karl 
Moor ſpricht nad; im Geichwindichritt Holpern fie ein halbes Jahr lang 
durch ein PViertelhundert Eafftscher Dramen, dann ift das „Repertoire* 
zufammengelernt und der Schaufpielfünitler bühnenreif. Herr Meyer: 
Woldan hat da8 Engagement in Bimmelburg mit größter Uneigennüßigs 
feit bejorgt — mit Fliegender Kravatte und Hochiliegenden Plänen reift 
der Jüngling ab; die Bimmelburger jollen was erleben. Was nun 
folgt, iſt männiglih befannt. Kränkendes Nichtbeachten feiner reihen 
Gaben macht aus dem Anfänger in kurzer Zeit das verlannte Genie. 
Boten und Kammerdiener foll er jpielen, Er, der doch nur erite Charaf- 
tere, Karl Moore, Hamlet und dgl. zu meiltern gelernt hat! Wofür ift 
er denn der begabteite Schüler Meyer-Woldans gemeien? Herr Meyer: 
Woldan aber iſt nach wie vor der vielbeichäftigte Talententdeder, der 
für jeine Kunst, die hehre, unvergleichliche, jahraus und ein immer neue 
Jünger heranzieht, von denen jeder fih rühmen darf vor feinem Mteifter 
der Begabteite zu fein. 

Die Leidenſchaft gänzlich unmufitaliicher Menfchen für das Singen 
ift befannt, aber gottlob, jie gehen doch für gewöhnlich nicht Knall und 
Fall zur Oper; ein Gejangverein thut e8 da auch ſchon. Der Theater- 

Kunftwart 1. Hopemberheft 1898 


23 
— 75 — 


teufel jucht fih mit Vorliebe Leute aus, denen ber Herr eine ſchwere, 
lispelnde Zunge gab, deren Kehle für den Ton der Leidenihaft nicht 
Kaum hat, deren Hirn iſt gleihwie ein Pflaumenkern: fteinhart und 
wenig drinnen. Für diefe armen Beſeſſenen iſt fein Theaterverein öffentlich 
genug, ja, er bejtärft fie durch billigen Beifall vielmehr in dem Wahn, 
daß die Bühne ohne fie unrettbar verloren jei. Wenn die Pädagogen 
der Schaufpieltunft nun wenigstens diejen Elementen ein fehlerfreies 
Deutich beibrächten, aber die Herrichaften find da viel zu ſehr ehemalige 
Größen, um fich mit folchen Slleinigfeiten geduldig und ausdauernd zu 
plagen. Gegen dieje erdrüdende Ueberzahl oberfläclicher „Lehrer“, deren 
Geichäft zumeift wie eim Beilden im Verborgenen blüht, kommen die 
Wenigen nit in Betradt, die ihren Schülern für die Zukunft feinen 
wertlofen Wechiel, jondern gutgeprägte Zinsgrofchen geben, mit denen 
fih’8 ehrlich wuchern läßt. 

Diefe Schulbeftrebungen, welche die Schaufpielfunft entweder wie 
eine Fabrikware aus einzelnen Teilen zufammenjegen, oder fie feucht- 
ohrigen Jünglingen durch Vorſchwatzen ähnlich beibringen, wie man 
Papageien jprechen lehrt, kranken jelbjt in ihrer beiten Art an der über- 
mäßigen Wertung des Handwerks. Sie erzeugen in dem Neuling 
ein ganzes faliches Gefühl für das, mas eigentlich zum Schauipieler 
gehört. Sie gehen wohl von dem richtigen Grundfag aus, dag nur das 
Aeußere, die Technik fich lehren, ſinnfällig erklären laſſe, daß das 
Innere, der Geiſt ſeiner Kunſt ein Ding ſei, welches dem perſönlichen 
Erfaſſen oder Nichterfaſſen des Schülers anheimgeſtellt werden müſſe. 
Aber ſie thun auch nicht das Geringſte, dieſen Geiſt zu wecken, ihm 
Nahrung zu geben, ihn mit Kenntniſſen zu rüſten und zu waffnen für 
die Kämpfe, die feiner harren. Sie lehren den dialektiichen Zungenſchlag 
der Rede, aber fie lafien den großen Gedanken, der verhüllt in der Rede 
Ichläft, ruhig weiter jchlafen, ftatt ihn in feiner wachen Schönheit aufzu— 
deden und begreifen zu lehren. Allerdings find ja die allerwenigiten 
„dramatischen Lehrer“ jelber imjtande, die Größe groß nachzuempfinden, 
darum drüden fie fi) um dieſe wichtigite Schulforderung mit ein paar 
ebgenugten Phraſen geichidt herum. 

Was madht denn aber den Schaufpieler, wenn er den Künitlertitel 
verdienen foll, eigentlid) aus? „Ein Ueberſchuß von Anpaffungsfähigkeiten 
aller Art, welcher im Dienite des nädjten, engiten Nugens nicht mehr 
befriedigt werden fann, der als Inſtinkt andere Inſtinkte tommandieren 
(lernt . . .*, ſagt Niegiche und trifft damit das Wefen der Naturbegabung, 
„Studium ift nicht genügend ohne Einbildungstraft, und Studium umd 
Einbildungsfraft nicht hinreichend, ohne Naturell“, jagt Goethe. Und 
Schopenhauer jegt die Anpaffungsfähigfeit als jelbjtveritändlich voraus, 
wenn er vom Schauipieler verlangt, „ein tüchtiges und ganz Tomplettes 
Eremplar der Menſchheit zu jein.“ Wir aber drüden uns heute jo aus, 
daß, wie wir von der Schaufpieltunft al3 von einer vorwiegend kultu— 
rellen Kunſt jprehen, wir vom Schauspieler vor allen Dingen den 
Kulturmenichen fordern. 

Es iſt dabei ganz gleichgültig, ob man die Schaufpieltunit als- 
Halb: oder Vollkunſt, als Hilfs- oder Bedarfsfunft gelten läßt, wenn 
man fi) nur flar ift, daß fie ſchlechtweg als Kunſt Aufgaben hat, die 
jenſeits von aller Kunſtfertigkeit und Schultechnik liegen. Sie formt mit. 


Kunftwart ı. Novemberheft 1898 


edelitem Material, dem lebendigen Menichen, und iſt von allen nach— 
Ichaffenden Künſten die freiefte. Das dürre Wort, das im Bude fteht, 
it ihr oberites, ihr einziges Geſetz. Keine Noten, fein Kapellmeiſterſtab 
geben ihr Ton und Maß, fie iſt Selbjtherricherin und folgt auf der 
Bühne beim Berlebendigen der Dichtung lediglih den Beitimmungen 
ihres eigenen ntellefts. Bon der Stärke diejes Intellett8 hängt die 
Treue, die Ehrlichkeit ihrer Leiltung ab. Ihn zu bilden, ihm den Zeitgeift 
zu erichlichen, müßte die allererjte Pflicht einer Schule fein. Sie würde mit 
Erfüllung diejer Prlicht zugleid) die Achtung vor dem Wort des Dichters, 
vor der Bejonderheit ſeines Ausdrudes erobern, was bei der heute 
beliebten Berhudelung und Verdrehung des uriprünglichen Satbaus ein 
wahrer Segen märe. 

Eine folhe Erziehung zur innerlichen Freiheit wäre verlorene 
Liebesmüh vor dem rohen Dtenichenmaterial, das gegenwärtig die Theater 
ſchulen und von ihnen aus die Schaufpielbühnen bevölkert. Sie würde 
ja auch in Zufunft — darüber wollen wir uns flar bleiben, — immer 
nur einen kleinen, vornehmen Schülerkreis finden, der in der harmonischen 
Ausgeltaltung der Perjönlichkeit fein fernes Biel erblidt. Aber das 
geiftige Rundleuchten einer derartigen Anftalt würde über den ganzen 
dunklen, armjeligen Stand feine Helle verbreiten. Und um dieſe einzige 
wahrhafte Hochſchule der Schaufpieltunft — nit Theaterihule — 
fammelte ji dann all das Streben, das unter den gegenwärtigen Ver— 
hältniffen aus Mangel an gejunder Leitung verdumpft, oder nur mit 
unfäglihen Mühen und Irrtümmern zu einem feften Wefensinhalt feiner 
Kunst fi durchkämpft. Daß ein Staat diefen frommen Wunjch für 
fommende Geſchlechter erfülle, wollen wir angefichts des Kaſernengeiſts, 
der unfre Hofichaufpieler erit durch Beförderung zu „Paradetruppen“ 
recht zu mweihen meint, weniger hoffen, als daß fich vermögende Leute 
aus dem Bühnenlande finden, die ein gehöriges Kapital ftatt immer für 
altersſchwache Künſtler auch einmal für die ſieche Schauſpielkunſt felber 
hinterlaſſen. 

Aber ſo lange es noch nicht ſo iſt, wie es ſein könnte, müſſen 
wir den Theaterſchulen und der dramatiſchen Stundenlehrerei, wie ſie 
heute ſind, mit aller Entſchiedenheit den Krieg erklären. Der Nutzen, 
den ſie ſtiften, beſteht, wie wir geſehen haben, in nicht viel mehr als einer ge— 
läufigen Zunge und Kehle, der Schaden, den ſie anrichten, iſt gar nicht aus— 
zumeſſen und wird ihnen obendrein noch bezahlt. Darum bleibt heute für 
den angehenden Schauſpieler der uralte Bildungsweg immer noch der 
beſte, der ihn ſchwer aber ſicher zum Ziel führt, wenn er es redlich 
ſucht: das Dienen von unten auf, das kleine Anfangen an kleinen 
Bühnen. Ein ſolcher Schritt erfordert mit all ſeinen Konſequenzen vor 
allem ein klareres Wollen, eine größere Selbſtverleugnung als das be— 
queme Mimen bei irgend einem Privat-Lehrer oder neben irgend einer 
bezahlten Schulbank. Es verſchlägt auch keinem wirklich begabten 
Schauſpieler etwas, wenn er zunächſt duch ein paar Jahre tüchtiger 
bürgerlicher Berufsarbeit den Kern ſeines Weſens härtet, und dann erſt 
ſeine größere Einſicht überzeugter und ſicherer der inneren Stimme ge— 
horchen läßt. Die praktiſche Lebensgrundlage bleibt ihm dann, um 
meiterzubauen, wenn er im trügeriichen Rampenlicht nicht finden jollte, 
mwonad; er auszog. Und al3 einer, der ſich gewöhnt hat, als Menſch 


Kunjtwart 1. Xovemberheft 1898 


. 
— 77 — 


im Leben fich zu behaupten, wird er da8 Leben beifer fünftlerifh meiſtern 
tönnen, wenn er das nunmehr verfucht. 


VER 


Grottbussens Probleme und Charakterköpfe. 


„Ich glaube, die Literarifche KHritit muß wieder mehr Fühlung mit dem 
Publitum geminnen. Sie muß das Techniſche zurüdtreten lafjen, das All— 
gemein = Dienichliche und das Schöne ſchlechthin in den Vordergrund ftellen. 
Sie muß unbedingt auf alle überflüffigen Schlagworte und die geiitreichelnde 
Sudt nad; der Formulierung neuer Kunftprinzipien u. f. mw. verzichten. Und 
endlich darf fie den Künſtler nicht aus dem Erdreiche, in dem er menschlich 
rourzelt, berausreißen, um ihn in das Herbarium irgendwelcher äfthetiich- 
tehnifher Programme zu preifen, fondern fie muß ihn im Gegenteil vom 
MWurzelboden aus unterfuhen, feine Weltanfhauung, fein Verhältnis zu der 
Beit und zu den legten Dingen beleuchten. Gerade darauf richtet fi) das 
größte Intereffe der Zeitgenoffen, die gewohnt find, in dem Dichter nicht nur 
den Künſtler, fondern auch den Propheten und geiftigen Führer zu jehen. Die 
Kritik ſoll fi nicht auf die Auseinanderiegung mit dem Verfaſſer beſchränken, 
fondern auch ihrer Aufgabe als Vermittlerin zwiſchen ihm und dem Publikum 
ftet8 bewußt bleiben. Mit zwei Worten: fie muß praftifcher und natürlicher 
werben.“ 

Diefe Ausführungen, die in dem Vorwort des Freiherrn Jeannot Emil 
von Grotthuß zu feinen Studien „Probleme und Charafterföpfe* (Stuttgart, 
Greiner & Bieiffer) enthalten find, proffamieren im weſentlichen die Kritik 
des „gefunden Wenfchenveritandes*. In der Forderung, daß der Hünftler vom 
Wurzelboden aus zu unterfuden und feine Weltanfhauung zu beleuchten fei, 
ſcheint freilich mehr zu liegen. Aber von dem Erdreid), in dem der lebende 
Künſtler menſchlich wurzelt, willen wir in der Regel wenig genug, und die 
Weltanfhauungsfrage fann in der Beiprehung eines Kunftwerls natürlich 
nit mit philoſophiſchem Tieffinn behandelt werden, der dem Publikum auch 
ebenfowenig eingehen würde wie die äjthetifche Spekulation. Bedenkt man 
das, fo wird man zugeben, dab ber „gejunde Menſchenverſtand“ in einer 
Kritik, wie fie Grotthuk wünſcht, zum ausſchlaggebenden Faltor werden muß. 
Sehen wir zu, wie weit Grotthuh jelber mit dem gefunden Dlenichenveritand 
gelangt iſt. 

Er behandelt in feinem Buche Niegiche, Hauptmann, Sudbermann, Voß, 
Ibſen, Zolftoj, Ehegaray, Maupaſſant und zuſammenfaſſend nod) einige andere 
Poeten wie Liliencron und Dehmel, er jchreibt über „Alte und neue Ideale“. 
„Das erotiihe Problem in der Literatur“, „Publilum, Literatur und Preſſe“. 
Wir wollen ihn in feinem Verhältnis zu Hauptmann und Subermann be- 
trachten, da anzunehmen iſt, dab ihn da fait jeder Lefer kontrollieren fann. 
Mit mwünfchensmwerteiter Deutlichleit hat Grotthuß felbit zum Schlu des 
Sudermann = Nuffates feine Anſchauung über die beiden Dichter prägzifiert: 
„Hauptmann betradjtet die Dinge mehr im einzelnen, Sudermann mehr im 
ganzen, in ihrem großen Zufammenhange Jener ftrebt mehr nad Wirte 
lichkeit im Detail, diefer mehr nad) Wahrheit im Großen. Subdermann 


Kunftwart {. Novemberheft 1898 


— .— 


Eugen Kalkſchmidt. 


ift mehr Weltmann, Hauptmann mehr Träumer. Es find ja die Träumer, 
melde das Gras wachen und verfunfene Gloden läuten hören, nur wiſſen fie 
häufig niht — mo? Hauptmann hat mehr Beobadhtung, Sudermann mehr 
äußere und innere Erfahrung. Und das fommt wohl daher, daß jener die 
»graue verfchleierte Frau« niemals fo reht gefannt bat, die Sudermann fo 
lange Jahre Hindurd eine treue Freundin und unzertrennlide Genoffin war 
— bie Frau Sorge.” Es Tiegt Grotthuß fern, wie er jagt, bie Frage ent= 
fheiden zu wollen, wer von beiden ber größere fei, aber der gefunde Menſchen— 
veritand jedes Lejers wird fi wohl fagen, daß Wahrheit im Großen mehr fei 
als Wirklichkeit im Detail und äußere und gar innere Erfahrung unbedingt 
über Beobadhtung gehe. Die Lektüre der beiden Auffäge im ganzen madjt es 
dann augenfheinlih, dat Grotthuß mehr zu Subermann neigt. Hauptinann 
wird, wie in dem oben angeführten Sag über den Träumer, gelegentlich bei— 
nahe verfpottet: bei der Helene in „Bor Sonnenaufgang“ wird Buſchs 
„grommer Helene” gedadt, mit den „Webern“ hat fih Hauptmann um den 
Staat wohlverdient gemacht, „der Staat, die Regierung follte ihn dafür aud) 
belohnen, etma durch den Kronenorden IV. Klaſſe oder den Titel Kommiſſions— 
rat oder Profeſſor, auch die Führung des Kommerzienratstitel8 würden dem 
Dichter feine Dkittel erfreulichermweife erlauben“ *. Doch hievon ganz abge 
fehen, Grotthuß behauptet aud), daß die „Weber“ durch „rohe Effekte“ wirkten; 
beim „Sannele* bemerkt er: „Irgend etwas Faules, Stranfes, Zerlumptes, 
Gemeines muß ſchon von Zeit zu Zeit babei fein, das gebietet dem gefinnungs= 
tühtigen Autor Die Pflicht der Pietät.“ Weberhaupt fommt außer dem „Fries 
densfeſt“, das fih nad Grotthuß durch großartige Wahrheit und Kraft der 
Eharafteriftif auszeichnet (e8 wird ja auch in ihm gerettet), fein Stüd Hauptmanns 
eigentlich gut weg; ben „Biberpelz* überläßt Grotthuß „den Motten der Zeit“, 
im „Kollegen Grampton“ ift außer bem Helden faum etwas, was über das 
gewöhnliche Mittelmaß gut bürgerlicher Luftfpielfabrifation hervorragt, u. ſ. w. 
Aber in „Hannele* entdedt Hauptmann nad) Grotthuß freilich feine größte 
dichterifche Gabe, die Iyrifhe Mder, die andere Leute weder ftarf nod) gefund 
pulfen fühlen, die aber nah Grotthuß aud) der „verfunfenen Glode* den Reiz 
verleiht, Hauptmann iſt überhaupt eine weiche, träumerifche, den verfchiedeniten 
Eindrücken empfänglid) hingegebene Natur, ein Halber, der die Halbheit feines 
Glockengießers nicht darſtellen kann, da dazu ein Ganzer gehört (5. 119), ob— 
wohl er (S. ı22) „über die Straft verfügt, das mas er daritellen will, auch 
wirklich darzustellen, einen Gedanken, der ihm ſelbſt klar vorſchwebt, mit eine 
dringlider Schärfe und greifbarer Anfchaulichkeit zu verlörpern, eine Stim— 
mung, die er ſelbſt empfindet, jo zwingend zu verdichten, daß wir davon ge= 
rührt und gepadt werden, daß wir unter ihren Bann geraten.“ Da mödhte 
man, meiß Gott, den Grafen Derindur rufen! Sehen wir uns nad) Suder— 
mann um: In der gemütsarmen modernen deutſchen Literatur ift „Frau 
Sorge“ eine That (mie viele Thaten hat da Wilhelm Raabe vollbradt!), jo 
übermütigsgelajien, fo beißend ſcharf und fpig wie Sudermann in ber „Ehre“ 
hatte bisher noch) fein Moderner den modernen Ehrbegriff verhöhnt (lieſt fein 
Menſch mehr Schopenhauers „Barerga und Paralipomena“ ?), die Geftalt der 
Magda in der „Heimat“ ift mit entſchiedener innerer Veberlegenheit ausge 
ftattet (weil fie Jo sono Jo fagt?), Roſi in der „Schmetterlingsjagd“ iſt eine 





* Das ilt, da die Scherze bei Gelegenheit eines fo erniten Stüdes mie 
die „Weber“ erfolgen, nidjt etwa bloß die Beripottung des Staatlichen Verfahrens. 


Kunftwart 1. Novemberheft 1898 


— 9 — 


reizende Badfifchgeftalt (A la Blumenthal ?), der „Johannes“ nun gar ein be= 
deutendes Kunſtwerk. Vor allem der „Sohannes* Hat es nämlich Grotthuß 
angethan ; er hat ihn noch aus dem Manuffript fennen gelernt und findet ihn 
tiefreligiös und von wahrhaft KHriftlihem Gehalte erfüllt. Grotthuß ift über- 
zeugter Ehrift. 

In der That, die natürlichere und praftifchere Sritit des gefunden Men— 
fhenverftandes, die Grotthuß proflamiert hat, läuft zulegt auf eine Begut— 
achtung der Dichterwerke vom Hriftliden Standpunkte hinaus, 
mit dem fich ber ber alten Erhebungs-Aeſthetik zwanglos verbindet. „IH be— 
fenne offen, ich huldige nod} der unmodernen Anſicht, daß die Kunſt berufen ift, 
uns über die gemeine Mlltäglichleit zu erheben und uns nicht nur ein wahres, 
fondern auch ein das Leben in feinen Tiefen und Höhen möglidhit erſchöpfen— 
des Spiegelbild zu zeigen.” Ich habe durchaus nichts gegen den driftlidhen 
Standpunkt des Herrn Berfaflers einzuwenden. Wenn er aber, beifpielsmeife 
in den Sätzen bes Goethiihen Fauſt, die feine Schluferlenntnis ausdrüden, 
in den Süßen: „Nur der verdient ſich Freiheit und das Leben, der täglich fie 
erobern muß“ und „Sold ein Gemimmel möcht' id) fehn, auf freiem Grund 
mit freiem Volle ftehn“, das chriftliche „Liebe deinen Nächſten als Dich ſelbſt“ 
wicderfindet, jo fträubt fih mein gefunder Drenihenverjtand dagegen. Um 
glei, die Schluffolgerung zu ziehen: Es ijt nichts mit der Kritik des geſun— 
den Menſchenverſtandes; denn jedem, auch dem gefunden Menſchen jchaut 
irgend jemand, ber Chriſt, der Wriftofrat, der Radikale über die Achſel. Und 
weiter: eine künjtlerifche Verjünlichkeit, ein wirkliches Kunftwerf zu erfaſſen, ge— 
nügt ber gefunde Menſchenverſtand, der auf das Allgemeinmenfchliche und 
Schöne, auf das Natürliche und Prattifche ficht, bei weiten nicht, er läßt es, 
wie wir gefehen haben, ganz ruhig zu, da man bei dem Dichter Hanptmann 
nur die Wirklichkeit und bei dem Mader Sudermann die Wahrheit findet. 
Entbehrlich ift er natürlich nicht, aber er gibt nur negative, feine pofitive Er— 
fenntnis. Die pofitive Erkenntnis über einen Dichter und fein Werk gewinnt 
man eben dod nur, wenn man dieſes Werk äfthetifh, daß heißt zunächſt als 
durch fünftlerifche Mittel gefchaffene Welt für ſich sine ira et studio betradtet. 
Die Leute, denen e8 immer nur um die Weltanſchauung zu thun ift, und bie 
in dem Dichter nit nur den Künſtler, den Bildner, fondern vor allem den 
Propheten und geiltigen Führer fehen, machen die Lefer fonfus, denn fie 
mweifen nicht auf das Wie, wo jeder von jedem echten Poeten genießend lernen 
fann, fondern auf das Was ihrer Gedanken und ihrer Weltanſchauungen, bis 
der arme Leer ſich Ihlieklich nad) allen vier Reltanfhauungs-Windrihtungen 
zugleich von je einem Seher und Propheten gezogen fühlt. 

Innerhalb der Grenzen, die ich hier weniger ziehen als andeuten fonnte, 
find die Studien von Grotthuß immerhin ganz tüdjtig und daher aud) leſens— 
wert. Dem großen Rublitum möchte ich fein Bud) jedoch nicht gern in die Hand 
geben, da es vielfach vermirrend wirfen mul. Um noch einige Beijpiele zu 
geben: So überfieht Grotthuß bei Richard Voß über der Nervofität die uns 
zweifelhafte Erfolgfucht des Dichters, die ihn zu allen möglichen kraſſen Effekten 
greifen läßt, fo wirkt es doch höchſt drollig, wenn er bei Ebers’ „Gred“, Die er 
natürlich verurteilt, von dem Butzenſcheibenroman zu Grunde liegenden „Kunits 
anfhauungen“ redet, fo erfcheint ihm Liltencron als „Bürge deutiher Eichen— 
fraft und frommer germanifcher Hindlichleit*, mas dem holjteinifchen Poeten 
hoffentlich ein vergnügtes Schmunzeln entlodt hat, und Ibſen nennt er, doch 
wirklich mehr „Ihön“ als bezeichnend, einen „geweihten Priejter der heiligen 


Kunftwart 1. Movemberheft 1898 
— 80 





FERNAND KHNOPFF 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


sonejqidnegg sap assnjypg we axoy, "dA 


NNVASIOH A "I D MM 








ie Stimme“ 


* 


„Wachet auf, ruft uns d 


ach. 


Gesetzt von 


Strophe 3. 


Joh. Seb. B 


























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Verlag von GEORG D. W. CALLWEY, München 


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Alle Rrchte vorbehalten. 


Joh. Seb. Bach. 





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ſtunſt“. Das find, wie ich zugebe, Herausgeriffene Einzelheiten, aber fie be— 
weiien, dab Grotthuß den fpringenden Punkt nicht immer findet, nein, daß er 
oft gerade in der Hauptſache fchief ficht. Wer aber fein Buch cum grano 
salis lieft, den wird es vielfadh anregen. Daß Grotthuß viel über alle mög— 
lichen fünftlerifhen und literariſchen Dinge gelefen und den Stoff in fi zu 
verarbeiten gefucht hat, merkt man troß der Schnellfertigfeit, die er hier und 
da zur Schau trägt. Adolf Bartels. 


— 


— 


Die Technik des Sprechbens. 


Wenn es bem feiner vaterländifhen Kultur mit Liebe Ergebenen ein 
Wichtiges gibt — was könnte es ihm mehr fein, als die Urt, wie feine Mutter— 
ſprache behandelt wird? Das goldene Zeitalter war e8 für die Dicht: und 
Redefunit, da diefe, num getrennten Kunſtarten eine einzige, unteilbare 
Kunst waren, ba wer das Gold der Sprade prägte, e8 auch felbit als Münze 
in Umlauf feste. Heute hat ſich, gewiß nicht zum Borteil der Sprachentwick— 
lung, die Bildnerarkeit an dem heiligiten Volfsgute längſt in eine Arbeits- 
teilung aufgelöft. Mit Ausnahme eines einzigen Beifpieles find „Singen“ 
und „Sagen“ verſchiedene Dinge geworden. Fremd wurden fih der Künſt— 
ler jener und der Künſtler diefer Kunſt, und zwifchen beiden fteht nun der 
beutende, theoretifhe Erflärer, weicher Beider That vor dem Verſtande recht— 
fertigt, das an ihr Erlernbare in ein wiffenfhaftliches Lehrgebäude bringt. 

Wird nun ein ungefähres, ftätes Gleihgewidht beftehen zwiſchen dem, 
mas des „Singens* würdig ift und benen, die berufen find, e8 zu „Tagen“, fo 
Ihmillt im Gegenteil in demjelben Maße der Reihtum eines Volkes an theo= 
retiihen Spradfunfterflärern, als e8 ärmer wird an Männern der Sprad- 
kunſtthat. Mehr ober minder ijt alles in Scheunen geborgen, was bei der 
Forſchung über Urfprung, Vergangenheit, Verwandtſchaft, Eigenart, Geſetzes— 
funde deuticher Sprache einzuernten war, Der forfchende Verstand verfuhr da— 
bei in genauem Bewußtſein der Grenzen feines Vermögens: während er ung 
die Vergangenheit der Sprade zum offenen, gründlichit erläuterten Buche 
ſchuf, unterließ er jeden Verſuch, ihre Zulunft vorzudeuten, denn bier gebührt 
nur dem ſchaffenden Genius das Wort; jelbit die leichter zu erfaliende Gegen— 
wart der Sprade, d. 5. die ledendige, von Ohr zu Ohr, von Herz zu Herzen 
tönende Gegenwart, nicht die durch Schrift dem Auge vermittelte tote, alio 
die Kunſt der Rede blieb als Lehrgegenitand mündlicher Vermittlung über 
lafjen, ward theoretiihh nur fehr jelten behandelt, meiſt nur vorübergehend 
geitreift, und felbit das hauptfähli nur von jchaffenden Künftlern. So 
verdanken wir Shafejpere, Goethe, Schiller, Leſſing, Wagner, Jordan (dem 
Spender jenes oben erwähnten eitizigen Beifpieles) und anderen wohl treffende 
Bemerkungen über fie, jedoch nur in Werfen anderer Urt zeritreut, ohne jede 
Abſicht, ein ſyſtematiſches Lehrgebäude für dieſe ſchwer zu erfaflende Kunſt 
anzuregen. Die ausübenden Htünftler, die jich meiit ſelbſt, durch Irren, Streben, 
eigene Erfahrung erzogen hatten und denen es nun aud) wieder allein über: 
laſſen blieb, Anderen ihre Kunſt praktiſch zu lehren, hielten ſich — mit wenigen 
Ausnchmen — ber Theorie ihrer Kunſt ganz fern. So find die mit Nußen zu 
verwendenden Lehrbücher über fie äußerſt felten: erwähnenswert nur die von 
Paleste (der allein den Vortrag felbit berüdfichtigt), Hey (mit letzter Rückſicht 

Kunftwart 1. Hovemberheft 1898 


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auf den Geſang) und Stodhaufen. Um fo freudiger begrüßt man e8, wenn 
nun ein Künſtler, ber gleich begabt ift, feine Kunft auszuüben, wie über fie zu 
und denfen flar zu jprechen, die Summe jeines Willens darüber niederlegt. Das 
geidieht in Karl Hermanns neuer Schrift „Die Technik des Sprecdhens“ *. 

Sie iſt, wie ſchon das Borwort befagt, zunädit für den Rezitator, 
Scaufpieler, Sänger beitimmt. Zum Borteile allgemeiner Bildung dehne man 
biefen Kreis meiter aus auf ben Regiſſeur, auch auf den Dirigenten, den Vor— 
tragsmeiſter feiner Künitler, und ſchließlich wendet ſich eine Kunſt der Rede 
nicht nur an die, welche fie auf den Brettern üben. Auch der Rezitator, der 
Prediger, der Sprecher auf ber Tribüne, der Anwalt kann fräftiger wirken, 
wenn ihm das Wort in der Faſſung der Kunſt zu Gebote jteht. Jedoch ift 
fraglo8 das Theater diejenige Stätte, mo die gute Sitte ber Kunſt am ein= 
dringlichften dem Bolfe zu lehren iſt. Hier verjpüre er, zu eigenitem Vorteile, 
an fi felbft die Wahrheit des Hermannſchen Wortes: „Je bejier man uns 
vorgefproden Hat, deſto beſſer ſprechen wir nad.“ 

Eine ernftlihe Beichreibung der „Sprechwerkzeuge“ führt bei Hermann 
zur Anmeifung für ihre rationellite Behandlung. Der Berfafler nimmt bier 
ihon Gelegenheit, auf die mangelnden Wechſelbeziehungen zmwifchen erfennen= 
der Theorie und praltifher That, auf die Notwendigkeit praftiiher Lehre hin— 
dentend, diefer die erite Stelle anzumeifen. Er jelbjt begründet e8, wenn er 
an einen der größten Theaterfenner — an Leffing — erinnert, der fein 
Schaufpieler war, und an altitalienifche Gefangsfünftler, denen die Natur ihrer 
Stimmmerfzeuge ein unbefanntes Feld blieb. Diefer Abſchnitt, worin der Ge— 
braud) der Stimmbänder für den Stimmeinfaß, der Lippen, Zunge und 
ftinnlade als Konſonanzbildner behandelt wird, belehre, außer den zuerit 
angefprochenen, redenden und fingenden Künſtlern, die mufifalifhen Dirigenten 
darum, weil ein großer Teil der Wirkung des Wagnerſchen Tondbramas auf 
der richtigiten Ausführung des Ainochenbauß der Sprade, ihrer Ktonjonanten, 
beruht. Man Halte dieſe Daritellung des Buches mit der von Wagner in 
„Dper und Drama* gegebenen Lehre zufammen, ja man vergegenmwärtige fich, 
wie Wagner aus den fonfonantijchen Anlauten der Sprade, die für feine In— 
firumentationsmweife glüdlichiten, erfindungsreichiten, wahrhaft neuen Ausſichts— 
punfte für (mie er felbit treffend jagt) fonfonantiihe Anlaute der Orcheſter— 
inftrumente gewann. Dann wird man’s einfehen: von den Dirigenten, welchen 
die gleichzeitige Leitung der Künſtler auf und vor der Bühne in jenes Großen 
Werfen anheimgegeben ift, kann diefen Werfen nur gerecht werden, wer genau 
die techniſchen Mittel kennt, mit deren Hilfe fie errichtet wurden. 

Ein höchſt wichtiger Teil handelt fodann von der Kunſt des Atmens*. 
Man muß die hödfte Steigerung der Atemkunit bei Meiftern der Nede und 
des Gefanges erlebt haben, um die auf joldye Weile zu ermöglicdhende außer— 
ordentliche Wirkung zu begreifen. Jh kann nicht umbin, Hier zweier Künſtler 
als vollendet in diejer Hinficht mit Bewunderung zu gedenken: Poſſarts, der 
oit, bei geichidteiter Atemeinteilung, eine Anzahl längerer Verszeilen in einem 
Atem nimmt — der Sembrich, welde die längiten melodifhen Linien durch 
diefe Kunſt zu plaſtiſcher, ſüßeſter Schönheit zu bringen vermag. Hermanns 
Lehre vom „ſeeliſchen Atmen“, das hier gebotene Beifpiel mit feiner muſter— 
haften Stanfion (Hamlets Anrede an den Geift feines Vaters) iſt höchſt an— 


*), Ein Handbud für Redner und Sänger. (Leipzig & Frankfurt a./DR., 
Kejielting, 1898.) 


Kunftwart ı. Mopemberheft 1898 


— Ei — 


tegend. Maren in der geiprochenen Rede zu allen Zeiten die Aufgaben für 
die Atemkunſt gleich Schwierige, deren Beherrſchung gleich lohnend, fo blieb es 
Wagner vorbehalten, fie im mufifalifch-deflamatorifchen Stil im hellften Lichte 
ſtrahlen zu laſſen. Nicht als ob die ihm vorangehenden omponiften in ihrer 
Melodie geringere Anſprüche ftellten: die hoheitsvolle Ruhe der Gludichen, die 
reine Schönheit der Mozartfchen, die üppige Pracht der Schubertichen Melodik 
ftellen gleihe Aufgaben. Jedoch feiner diefer Komponiſten wagte e8, wie 
Wagner, den Sänger fo frei, losgelöſt von aller inftrumentalen Unterſtützung, 
allein auf dieſe Kunſt fußend, au erponieren, felbit Gluck nicht in ben pathe— 
tiſchſten Stellen feiner Monologe. Schon in feinen früheren Werfen Tiebte e8 
Wagner, die Melodie als joldhe, ohne jede harmonifche Unterlage austönen zu 
laſſen — id) erinnere an den Matrofengefang im Holländer, das Hirtenlied im 
Zannhäufer. Nun betradyte man die elementare Eindringlichleit einer Stelle, 
wie die Anrede Brünnhildes an Wotan: „War c8 fo ſchmählich, was id) vers 
brach“ — eine Stelle, wo das Ohr des Hörer8 wie gebannt an dem Munde 
der Daritellerin hängt. Die Spannung des Augenblids, atemlofe Stille des 
Daujes, das Schweigen der Snjtrumente, zugleich die längfie Ausdehnung, 
welche diefem wirkungsvollſten, darum fparfamit zu verwendenden Kunſtmittel 
ber thatfählichen Alleinrede zu geben erlaubt war, die für den Soprandaralter 
der Sängerin unbequeme, für ben dramatiſchen Charakter der Sitution jedoch 
von der fünftlerin zu fordernde Tonlage — alles wirft hier gufammen, um 
einen ſolchen Augenblick als eine der jchmwierigiten Aufgaben der Atemkunft, 
aber aud) als ihren Triumph ericheinen zu lafjen. 

Beim Kapitel „Unfere Spradlaute* möge man zur Ergänzung der hier 
gebotenen praltifhen Lehre die beiten hiehergehörigen theoretifchen Ausfüh— 
rungen nadlefen: Wagner8 Worte über Konſonanzwert, Jordans epoche— 
madende Schrift „Der epifche Bers der Germanen“, Wolzogens geiftreiche 
„poetiihe Lautſymbolik“. Auf das Wohltäuendfte fühlt man da das Zu— 
fammenftimmende der Unfhauungen eine® bedeutenden Stünftlers, großer 
Dichter, des tiefblidenden Forfhers. Hier gelangt nun aud) die vielumiftrittene 
Ausfpradie des Buchſtabens G zur Erörterung. Es ift unzweifelhaft, daß 
endlich einmal Hier eine Einigung erzielt werden muß. Sit es fchon bei der 
Bühnenſprache höchſt empfindlih, ihn an jedem Theater, ja von jedem ein 
zelnen nad Belieben behandelt zu hören, fo ilt beim Geſang beifen ſchwan— 
fende, meiſt umrichtige Aussprache geradezu unerträglid. Im allgemeinen 
folgt Hermann ben Anleitungen Stodhaufens, des großen (mie er ihn mit 
Recht nennt) „Meifters der Spradhe im Reiche des Gefanges*, dem er aud) 
fein Merk zugeeignet hat. Einen wichtigen Punkt möchte ich hier hervorheben: 
Wie die Sprechenden, dachten auch die Dihtenden, je nad) ihrer engeren Heimat, 
über ben Buchſtaben g verfchieden und ließen ſich durch ihre im Leben geübte 
und innerlich gehörte Ausfprade beim Reime leiten. Hat Hermann wohl Recht, 
wenn er die Regel aufitellt: „zroifchen zwei Vokalen flingt g wie g“, jo würde 
bei ber fonfequenten Durchführung diefes, allerdings jest aufzuftellenden Grunde 
fates 3. B. Goethe bei den herrlidhiten Stellen feiner Sprachmuſik zu kurz 
fommen. 8 iſt zwar befannt, daß Goethe über die jogenannte Reinheit bes 
Reims andere, vernünftigere Anſichten hatte, als unfere neueren Poetifer, welche 
in demfelben Maße ftrengere Reimgefege für die neuere Zeit beanfprudten, 
als Iegterer die Gedanken ausgingen, für melde der Reim die Flanglicdhe 
Hilfe fein fol. „Wäre ih nod jung und vermwegen genug, jo würde ich 
abjichtlich gegen alle ſolche techniſche Grillen verjtoßen, falfche Neime gebrauchen, 


Kunjtwart 1. Novemberheft 1848 
— 85 — 


wie e8 mir käme und bequem mwäre; aber ich würde auf bie Hauptſache los— 
gehen und fo gute Dinge zu fagen fuhen, daß jeder gereizt werden jollte, es 
zu lefen und auswendig zu lernen.“ So der alte Staifer der deutſchen Sprache 
zu Edermann. Das Volk hat niemals andere Anfichten gehabt. Wenn aber 
Goethe Reimklänge in unmittelbarjte Nähe zu einander rüdt, fo redinet er 
natürlich) auf ein reines Reimecho; und fagt er, um eine g Stelle für Biele 
anzuführen: „Ad neige, bu Schmerzensreiche*, jo muß zweifellos auf Goethes 
Frankfurter Ausſprache Rüdficht genommen werben und ift der eimitubierende 
Regiffeur gehalten, feiner Gretchen-Darſtellerin ein weiches ch in ‚„neige“ zu— 
zumuten. Gin großer Dichter hat das Recht, feiner Sprache Geſetze vorzu— 
fchreiben; dieſe verdankt ihm fo viel, daß ein Nahgeben von ihrer Seite 
nur Danfespfliht ift. So gut der Italiener feinem Dante zu Liebe beflen 
Florentiniſch zum wahren Stalienifch erhob, gelte doch mindeſtens dem Deutfchen 
die Ausſprache feines größten Dichters der Beachtung wert. Um fo Teichter 
werde ihm diefe darum, weil e8 wahrlidy mit der Frankfurter Ausſprache nicht 
jo ſchlimm fteht, wie e8 Hermann kennzeichnet. Als Frankfurter verfichere ich, 
daß man nicht geradezu für „König“ — „Keniſch“ ſpricht. 

In dem folgenden Kapitel „Tonbildungsübungen* und „Zonumfang* 
beherzige der Lernende namentlid) das über „Stimmregiiter” Gefagte. 
Der Schaufpieler denft über Regifter feiner Stimme im allgemeinen leichter 
als der Sänger, meld) legterer — wenn er nit, wie dies in Deutfchland gang 
und gäbe ift, zum Theater geht, ehe er zu fingen verſteht — lange Zeit auf 
die Husgleihung feiner Regifter zu verwenden hat. Doch fann man aud in 
Schaufpielhäufern vet oft verſchiedene Perfonen aus einer Kehle redend ver— 
nehmen. In Opernhäufern follte allerdings eine ſolche Kunitbarbarei niemals 
vorfommen. Über wer verließe eine deutjche Theatervoritellung und jpräche 
nit mit Wotan zu ih: „Heut haft du's erlebt“. 

Wir gelangen nun zu dem Stapitel „Geläufigleit*. Treffend mahnt Hermann 
bier den Zernenden an die Wichtigkeit dieſes Lehrabfhhnittes mit den Worten 
Shakeſperes, welcher, als er im Hamlet für die gefamte Schaufpieltunft feinen 
goldenen Kanon aufitellt, der Kunſt gedenft, die jelbjt „den Sturm, den Wirbel: 
wind der Leidenſchaft“ zu beherrihen Habe. Noch ſchwieriger, darum der 
Uebung nod) merter, wird dieſe Kunſt, wenn fie, Statt in dem Strome der 
Leidenſchaft, in bem feichteren, leichten, aber raſchen Fahrwaſſer des Luftipieig, 
namentlich des mufifalifchen, erprobt werden, zum glatten, behendeften Dahin= 
ihwimmen befähigen foll. Hier, an einer der deutfchen Zunge fo ſchwer zu 
überwindenden Schwierigkeit ift die Klippe zu fuchen, an welcher meift bie 
gute Daritellung eines Quftipieles (gar eines mufitalifchen!) jcheitert. Der 
Frangofe und Italiener behandelt feine Sprade im Slonverjations- und Luft 
fpielton ungleich lebendiger, als der Deutſche. Er artikuliert nit allein in 
der geiprocdhenen Komödie thatfählich rafcher als im Leben, er fingt aud) im 
gegebenen Falle raſcher, als er in diefer letzteren fpridt. Man höre das 
leggiero ber Réjane, das Prestissimo der Dufe oder d’Undrades, des Lehteren 
bligjchnelles, dabei genau artifulierteß Parlando, fein minutenlurges „Fin ch'han 
dal vino* im Don Juan. Aber der deutfche Dichter und Komponiſt verlangt 
in Wahrheit ein ſolches Tempo von feinem Dariteller ganz in demfelben Maße, 
wie fein romaniſcher Kollege. Das deutſche — oder, faſſen wir Dielen Begriff 
weiter, das germaniiche, alfo auch Shafefperefhe — Luſtſpiel bietet Situationen, 
die an Bühnenbemweglidyfeit feiner italieniihen Farce, feiner Molierefhen Ko— 
möbdie nachitehen. Auch vergeffe man nicht folder deutichen Balladen, mie des 


Kunftwart 1. Yovemberheft 1598 
— BB — 


Goetheſchen Hodzeitslieds, als Aufgabe für die Rezitationskunit; deren muſi— 
faliiher Kompoiition, wie des Löwe-Rückertſchen „Kleinen Haushalts!” Nicht 
nur der italieniiche und franzöfifhe Komponiſt ftellt in feiner Theatermufit 
die höchſten Anſprüche an die Bolubilität der Ausſprache — Roffinis Barbier 
und Berliozs Gellini! — auch der beutfche; und zwar nicht nur in beutjchen 
Werfen, melde auf italienische Worte fomponiert find, wie Don Juan und 
Figaro, fondern auch in nad) jeder Hinficht echteften deutfchen: Entführung, 
Meiiterfinger, Siegfried. Ich erwähne diefe drei Werke darum, meil bier 
ſowohl Osmins Poltereifer, wie einige Beckmeſſerſzenen, das feifende, echt 
Ihmarzalbenhafte Gezänte zwischen Aiberich und Mime, den äußerſten Schnellig= 
feitäSgrad im Vortrag Dedingen. Die von Hermann gegebenen Beifpiele aus 
den Jordanſchen „Nibelungen“ und dem Wagnerfhen „Ring“ mögen Lehrer 
und Lernende auf die richtige Weife leiten, wie folche, im deutſcheſten Stil ge= 
gebene, lautmalende Stabreimverfje zu rezitieren find. 

Ein fehr ihön behandeltes Kapitel ift Hermanns Abhandlung über „das 
Lachen“. Er jagt jehr wahr: „Man ladıt nie auf einem Ton — immer . 
durchläuft man eine Ladjfala*. Dies haben auch bie Komponiiten, deren 
Aufgabe es ift, das Auszudrückende tonlich feftzuftellen, fehr wohl gewußt 
und dem Schaufpieler, dem Nezitator, ift c8 darum höchſt Iehrreich zu bes 
traten, wie Bad eine gläubige Seele, Mozart den jchwerfälligen Osmin, 
Nicolai und Verdi den weinfeligen Falltaff, Wagner Iuftige Spinnerinnen, den 
fluchenden Alberich, die grellehöhnende Kundry im Lachen ausklingen läßt, ja 
der letzte Meifter felbit für Gurnemanzens „heiliges Lachen“ noch den Afforb 
zu finden weiß. 

Das letzte Kapitel des Hermannſchen Buches „Bon der Tonbildung 
zum fünitlerifchen Vortrag“ ift wohl das inhalt und lehrreidhite. Kein Schaus 
fpieler follte diefe Worte über „[ogifhe Betonung“, Über „Steigerung“, 
welche oft ganze Reihen von Berszeilen zu überfluten hat, über den „Ems 
pfindungston“ ungelefen laffen. Auf der Beachtung dieſer drei Puntte, 
der zu erfüllenden Pfliht, fie im Obre des Hörers in Einklang zu bringen 
mit der für das Auge vorhandenen Yorm der Dichtung, beruht die ganze 
legte fünjtlerifhe Wirkung von jpradlicher Seite. Wären biefer Forderung 
unfere Scaufpieler immer gerecht geworden, mahrlih, wir hätten nie 
die Klage felbit der größten und einſichtsvollſt betrachtenden Poeten über bie 
einmal feitftehende Form unferer Mafjischen Dramas vernommen. Diefe Form 
ift befanntlid; der von den Engländern uns überlommene jambifche Quinar. 
Selten wird man ihn geſprochen hören, ohne daß der und jener fünftler an 
ber Grenze der fünften Hebung jeder Versreihe Einhalt madt. Schon Goethe 
bat (in feinen „Regeln für Schauspieler”) bei jeinen Bemerkungen über Jamben= 
vortrag darauf Hingemwiefen, daß „der Gang der Deflamation“ durd) die Be— 
obachtung ber Versanfänge nicht geftört werben dürfe Ihm, welcher dieſer 
Dihtungsform die vollendetite fpradhliche Ausgeftaltung danken mußte, — man 
denfe an bie Iphigenia in Profa und deren enbliche marmorſchöne Rhythmik 
und ihren, durch die Form nun geradezu erzeugten höheren Gedankenreichtum 
— ihm, welchem es vorbehalten war, in diefer Form die höchſte Verfeinerung 
der deutjchen Sprache zu erreihen — ihm freilich fonnte e8 nicht beikommen, 
die Form felbit für gelegentlihe Mithandlung durch ausführende Organe ver— 
antwortlid) zu maden. Regte fih in Schiller [hon der Unmut darüber, daß 
fein äufßeres Ohr im Theater oft da beleidigt wurde, wo fein inneres beim 
Schaffen nur reine muſilaliſche Schönheit empfunden? Genug, er jehnte fi 


Kunftwart s 1. Novemberheft 1898 
— 65 — 


ſchon hinaus aus den engen Schranfen des Quinars, in welchem er doch fo Glän— 
zendes geichaffen, nad) der breiteren Form des Trimeters für feine Tragödie. 
Weit mehr als die allerdings richtige Erwägung, die deutſche Sprade, einer 
foldy konzentrierten Kürze wie die engliihe unfähig, verlange nah einem 
meiteren Bette zur Aufnahme des Gedankens, veranlafte ihn wohl zu feinem 
Wunſche die Gewißheit: der feite Markitein des fechiten Jambus und die durch 
ihn meift veranlafte Abgrenzung des Inhaltes mache das Zurüdfallen eines 
Dellamatord in den alten fehler mindeftens unſchädlich. Auch ſprechen 
Schillers äußerst weifer und mufterhafter Gebrauch diefer Form in der „Jung= 
frau von Orleans“ und ber „Braut von Meffina* für folde Bermutung. 
Welche Erfahrungen müfjen aber neuere Meifter der deutjchen Sprache im 
Theater gemadjt Haben, daß fie fi) vollitändig ablehnend gegen eine Form 
verhalten, in welcher doch einmal ein größter Teil unſeres geiitigen Beſitz— 
ftandes niedergelegt ift und allabendlich auf unjeren Bühnen vorgetragen 
wird? Dean Iefe nur, mit welcher Abneigung Wagner in „Oper und Drama” 
von dieſem fünffüßigen Ungeheuer fpricht, diejenige Schaufpielerin als ver— 
ftändig preift, welche Ddiefen Rhythmus in einfahe Proja auflöftel 

Eine höchſt feine Bemerkung verdankt man Hermann bei dem Bergleich 
zwiſchen dem Sänger, welchem der Stomponift feine Ausdrudsmweife vorjchreibt, 
und dem Nebner, welcher, in dem er fie im Augenblid erfindet, fein eigener 
Komponift fein muß. Hierin ift der ganze geistige Unterſchied zwiſchen Sänger 
und Redner enthalten. Ob, wie Hermann fagt, „Reden“ eine ſchwerere Ktunſt 
fei al8 „Singen“, bleibe eine offene Frage. Die Hauptaufgabe des Dichters 
ift, wenn er überhaupt der erreichbaren finnliden Schönheit feiner Aunft 
gerecht werden will, daß er, auf Grumd einer Stimmung und vermittelft eines 
dur feine Sprache „verdichteten* Gedanfens, mit diefer Sprade eine muſi— 
faliiche Wirkung bervorbringe* Der Redner verwirklicht ihm diefe Abſicht ver 
mittelit eines nad) Höhe und Tiefe wohl verfchiedenen, aber unbeftimmten, 
ber Sänger vermittelft eines genau beftimmten Tones. In dem reicheren 
Vermögen des Einen liegt das ärmere des Andern und umgefehrt. Tauſchen 
laſſen fi) die Rollen nicht. Die Tonffalen Beider find eben grundvericdhieden, 
und ein Dellamator, welcher plögli mit beitimmter Tonhöhe „fingen“ wollte, 
würde ebenfo lächerlich erfcheinen wie ein Sänger, der plötzlich im Gejange, 
feine Skala verlaſſend, „Iprähe*. Nur als äuferftes, darum höchſt felten ans 
zuwendendes Wirktungsmittel verträgt die eine Ausdruckskunſt das Hebergreifen 
in die andere. Am felteniten wird ſich in der Nezitation eine Gelegenheit 
dazu ergeben; felbjt wenn eine Textwendung den Deflamator zu flüchtiger 
Gefangsandeutung drängt, darf diefe nicht mehr als eine ſolche fein, denn mit 
dem Erfaſſen des bejtimmten Gejangstons begibt er fi) aller Vorrechte feiner 
Kunſt für die Folge. Und in der nejamten Vofalmufif wühte ich nur aller 
feltenfte Fälle, die dem Sänger erlaubten, mit plöglihdem NRüdfall aus ber 
höchſten Höhe feiner idealen Tonkunſt in die reale Welt der Schwere eine 
Wirlung hervorzubringen. Nicht allein die Skala, aud) die Rhythmik beider 


*) Saum im Widerfprud; mit dem Herrn Berfafler, möchten wir doch 
ausdrüdfich dem Mihverftändniffe vorbeugen, als betradjteten wir die finnen= 
fällige, die Hanglihe Schönheit der dichteriſchen Sprache als eine ihrer wide 
tigiten Eigenſchaften. Das thaten die Blateniden, wir thun's nicht, denn 
ung tjt die Poeſie vor allem eine Bildnerei mit Boritellungen. Nur 
als charafterifierendes Mittel zu diefem Zweck fommt uns die â— —— 
der dichteriſchen Sprache in Betradt. 


Kunftwart 1. Hovemberheft 1898 
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Vortragskünſte ift eine verihiedene. Die Rhythmik des Sängers nähert fi 
der mufifalifchen, welche erit in der Inſtrumentalmuſik ihren ſcharf beftimmten 
Ausdrud gefunden hat, ohne fie je genau erreichen zu fünnen und zu follen; 
die Rhythmik des Rezitators entfernt fi von ihr. Die Wirkung des Reb- 
ners fann darum eine um fo tiefere fein, weil er — in gewiſſem Sinne unter 
dem Bann bes Augenblids improvifierend — mit derjenigen UInmittelbarfeit 
zu wirken vermag, welche ſtets die plögliche Eingebung weit über eine vorbe— 
reitete, überdachte Leitung erhebt. Der Sänger jedodh, wenn ihm auch der 
Komponift vorgedadt haben follte, hat eine höhere Steigerung der Aunft 
felbjt zur Seite; in feiner Macht fteht es, durch feine Vortragskunſt das Will: 
fürliche jeiner Leiltung als etwas plötzlich Eingegebenes, Unmillfürliches er— 
fcheinen, durch mwahrhafte, tönende Muſik dasjenige vollenden zu laffen, mas 
im Grunde genommen dod nur aus dem Mutterſchoße der Mufik geboren war. 
Eine Vortragserläuterung Igrifher, epifher und dramatiſcher Stüde 
fliegt das Werk. Der Verfaſſer hätie nit gründlicher und nicht geiftreicher 
verfahren können, als er es hier that. Diefe VBortragsanmeilungen fliehen 
fi) dem Beiten an, was wir hierin bejigen, und fpinnen ein Verfahren meiter 
aus, das ſchon Goethe in feinen erwähnten „Regeln“ andeutete. Und nun zum 
Schluß: das Hermannſche Bud) iſt eim fprechendes Zeugnis für die tiefe Bil- 
dung, Lehrtüchtigkeit, die reife Künftlerfchait und ideale Gefinnung feines Ur— 
hebers. Möge die gute Saat, die hier niedergelegt, aufgehen zum Heile deutfcher 
Redekunſt! Anton Urſpruch. 


6 


Ueber Kunstpflege im MWDittelstande. 
9. Rohmals: Die Bilder in der Wohnung. 


Im vorigen Aufſatz ſprachen wir von ber Heithetif des Zimmerbildes. 
Diesmal möchte ih im Anſchluß daran noch einige rein praftifche Fragen 
erörtern, die in Nichtlünftler = Kreifen nur zu oft feine Antwort oder doch 
feine Löſung finden. 

Ich iprady wiederholt vom Wandbilde als der natürlichiten umd am 
beiten und edeliten ihmüdenden Form des Bildes. Man ftelle fih einen Naum 
nur wirflich vor, deffen Hauptwand in einer gewiſſen Höhe vom Boden ab in 
ihrer ganzen Ausdehnung von einem Wandbilde ausgefüllt wird, Das in feiner 
disfreten Tönung den Eindrud der abjchliefenden Wand nicht unterbridt. Da 
e8 ein Stüd der Wand ift, hat es natürlich feinen Rahmen, fondern nur eine 
ſchmale Leiſte, die bei dem geringen Naum, den fie einnimmt, recht gut von 
Gold fein kann. Hein Vorgang, feine auffälligen Dinge brauchen hier darge 
ftellt zu fein. Aber Stimmung muß von der Wand wehen, der Blid muß 
träumend den Linien entlang gleiten und ſchweifend fich verlieren fünnen. Es 
it für das Wandbild viel wichtiger, dab nichts Störendes, nichts „Herausfallen= 
des“ darauf iſt, als daß der Blid von etwas Beſonderem fejtgehalten wird. 
Ruhig, wie eine Fläche, wie ein Gobelin, muß es zurüdtreten und mit feiner 
Wirkung nur wie mit einer leifen Wufil das Gemad) erfüllen. 

Es werben fo viel Aufträge planlos erteilt. Warum verfallen Die Aufs 
traggeber jo jelten darauf, ſich ihr Heim durch fold einen Schmud zu vers 
Ihönen? Dan bedente nur die ungeheuere Viannigfaltigfeit, Die durch die ver— 
Ihiedenartigen Flächen, die in der Architektur frei bleiben, geboten werden, 
die Unmengen Räume, in denen Staffeleibilder gar nicht am ‘Plage find, wie 

Kunftwart . Ziovemberheft 1598 


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Vorhalle, Diele, Treppenhaus, Loggia, Saal, und alle die Räume, in die das 
Wandbild mindestens ebenjo gut gehört. Und wieviel Vorwürfe bieten fich 
dem Befteller, falls er dod ein ftoffliches Intereſſe damit verbunden haben 
will! Doch vermeide man eins: den Künſtler durch beengende Vorſchriften zu 
fähmen, ihn in Forderungen einzuſchnüren, die dem Kunſtwerk nit zum Vor— 
teil dienen können. Am beiten thut man jedenfalls, den Künſtler das maden 
zu laflen, was diefem jelbjt am paflendften für den Ort erſcheint. Der Auf: 
traggeber darf feine Bhantafie niht über die des Künſtlers ſtellen wollen, 
indem er genau Daß erwartet, was er ſich vorstellt. Ein wirklicher 
Künftler fann felbjtverftändlih Bedingungen und Berhältniffe überfehen, die 
der Nichtkünftler nicht ſogleich überſehen kann, und fo wird den Beiteller 
fpäter oft gerade das erfreuen und entzüden, was er zunädjft nur ungern 
entſtehen jah. 

Es iſt auch durchaus nicht erforderlid, dab zu einem derartigen Wand— 
ſchmuck ein eigenes Haus gehöre. Auch in der Mietsmohnung läßt fich ein 
wenigitens ähnlicher Shmud fehr wohl anbringen. Dann wird das Bild 
natürlich nicht auf die Dauer gemalt, fondern, um den Transport des Bildes 
in eine andere Wohnung zu ermöglichen, auf einen ftarfen Stoff, 3. B. auf 
®obelinleinwand. Wan fpannt es dann über die Wand. Das Riſiko, daß 
das Bild in einer andern Wohnung nicht paffe, tt nicht jo groß, wie man 
meinen mag. Denn eritens find die Bedingungen in allen Mietsmwohnmgen 
meift fehr ähnliche, und dann befteht ja jelten ein Zwang, ein fehr „aufge 
fprodyenes* Format, wie etwa einen Fries, zu wählen. Ein fehr ſchöner 
Schmud iſt etwa ein Wandbild in Höhenformat, das man neben ruhig ge= 
tönten Flächen (wie Belourtapeten, Stoff u. f. mw.) anbringt. — Daß die 
Koſten hierbei feine höheren find, als die eines guten Zimmerbildes üblichen 
Forımates, weiß ein jeder, der fich mit ſolchen Dingen beichäftiat hat. 

Yucd über den Ankauf von Gemälden dünkt e8 mi am Plage, 
einige Worte zu fagen. Es ilt erſtaunlich, wie jelten der natürlichſte Weg 
gewählt wird: von den Stünjtlern felbit zu kauſen. Manche Leute glauben, 
daß diefe „grob würden“, wenn man mit foldyen Anliegen zu ihnen fäme. Uber 
das find Idealiſten. Es ift doch eigentlid von allfeitig gebildeten Leuten ans 
zunehmen, daß fie Befanntidaften mit Werfen von ihnen jympathiichen Hünjt- 
lern geihloffen haben, und die ihnen am meiften ſympathiſchen Autoren follten 
fie getroit aufſuchen, wenn jie einmal mit der Eriwerbung eines Bildes ums 
gehen. Oder, wo fie das nicht fönnen, jollten fie fih an einen vornehmen 
Kunſthändler wenden und nicht an einen jener Winlelhändler, deren es aller 
orten jo viele gibt. Befonders bei Leuten, deren Urteil noch nicht ganz ficher 
ilt, it das gefährlih. All die ſüße und alberne Fabrikware, die da feilgehalten 
wird, bedeutet ja ſchon als Sapitalsanlage betrachtet für den Käufer einen 
Hineinfall, — gute Wirtfchafter jollten ji fhon deshalb vor ihr hüten. Während 
Werke von wirklihen Künitlern, follten fie auch dem Publitum noch ganz fern ſtehen, 
im Werte fteigen, wird ja glatte Fabrikware in etlihen Jahren feinen roten Heller 
mehr wert fein. Auch vor dem Staufe auf großen Ausjtellungen braudt man 
durchaus nicht die Furcht zu haben, die man gewöhnlid im Publikum findet. 
Ih glaube, die meiften würden erjtaunt über die Billigfeit fein, wenn fie die 
Preife erführen, zu denen viele Bilder aud) in den vornehmiten Aus— 
jtellungen angeſetzt find. Es gibt jo mande, Die fi) gern jedes Jahr ein Bild 
faufen mödten, wenn nidt das Märchen in ihrem Kopfe jpufte, daß zur Er— 
werbung eines ſolchen gleich ein Vermögen gehörte. Weld) wundervolle Sachen 


Kunftwart ı. Ziovemberheft 1898 
m BE — 


Habe id) ſchon gefunden, die zum zehnten Teil des Preifes angefegt waren, zu 
denen im Durchſchnitt das mertlofe Zeug von Malern mit populären 
Namen majjenhaft gekauft wird! Und mit zu nichts verpflichtender Bes 
reitmwilligfeit geben alle die Sefretariate der Ausftellungen ſtets Auskunft. — 
Dann aber ſcheue ſich der Käufer auch nicht, Farbe zu befennen, d. h. er 
unterlaffe nit aus Furcht vor einer Tante den Anlauf eines Bildes, das ihm 
im Grunde feines Herzens recht wohlgefällt, von dem er aber weiß, da dieſe 
Zante e8 „überfpannt* finden wird. Echte Kunſt muß am fpießbürgerlihen 
Herd leider immer überfpannt gefunden werden. 

Bon den Aunitvereinen ift zumeiſt wenig Gutes zu erwarten. Es gibt 
einige Orte, an denen ein feinempfindender Kunſthiſtoriker an die Spite eines 
ſolchen Bereins geftellt ift und ihn wirklich in gute Bahnen bringt. Aber das 
bleiben Ausnahmen. Die Regel ift die Pflege einer bodenlofen Trivialität 
und eines felbitzufriedenen Dilettantismus — neunzig von hundert Kunſtver— 
einen haben mit der Kunſt nichts zu thun. Aber ihre „Prämien“ fojten den 
Gewinnern nichts und werden alſo aufgehängt. 

Auch über die Porträtaufträge lönnte man Bücher ſchreiben. Ich 
nehme hier an, daß ich bei den Lejern des Kunſtwarts nie zu boffnungslofen 
Banaufen fpreche und unterlafje Bemerkungen, die fonit am Plate wären und 
die einem wirklich nicht übel zu nehmen wären, wenn man die Praris des 
Porträtmalers fennte. Jh brauche aljo bier nichts über die Leute zu fagen, 
welde die Wahl des Künſtlers vornehmen, wie die bes Handichuhladens, 
d. 5. die zum nächſten, beften gehen. Das aber möchte ich fagen: man be— 
denke doch jtets, daß das Bild bei einem tüchtigen Hünftler immer dann am 
beiten wird, wenn man biefem die Auffaſſung, die Wahl der Toilette u. |. w. 
überläßt. Man mühte eben [don felbft ein feinerer Künſtler fein, follte ein 
Dreinreden etwas beilern. Aber aud dann würde ein Vermengen von zwei 
Auffajiungen nur ſchaden. 

Nod von einem Fünftlerifhen Shmud möchte ich reden: der flopie. 
Es gibt jo viel große Meifterwerfe in der Welt, und wer mödte e8 jemand 
verdenfen, wenn er eine ımuftergültige Stopie eines großen Kunſtwerkes einem 
mittelmäßigen Originale vorzieht? Und menn eine volltommen gute Kopie 
auch nicht gerade billig zu fein braucht, jo wird fie es doch fein im Anbetracht 
deſſen, daß fie eigentlich denfelben fünftleriichen Genuß gemährt, wie das Ori— 
ginal felbjt. Ich Habe in diefen Blättern ſchon bei den verſchiedenſten Ge— 
fegenheiten davon geredet, welch wundervolle deforative Momente die Alten 
in ihren Werten haben, mie alfo gerade fie als Wandſchmuck gleich wenigen 
geeignet find. Und das find nicht allein die großen italienischen Hochrenaiſſance— 
fünftler, fondern aud) die Brimitiven, und nicht minder haben unjere eigenen 
alten Meiiter die deforative Wirkung wundervoll erreicht. | 

Denen aber, bei denen die Mittel aud zu Kopien nicht ausreichen, 
bietet ſich Heutzutage noch ein Ausweg durd) die ausgezeichneten Neproduftionen 
nad Werfen neuer und alter Meiiter, die in einfarbigen Tondruden der vers 
fchiedenften Nünncen nad faft allen Meiſterwerken der Welt zu haben find, 
Ueber den fünitlerifhen Wert von folden zu reden, verlohnt nicht der Mühe. 
Dat aber gerade diefe feingetönten Reproduftionen aud) zum deforativen 
Shmud fehr wohl geeignet find, darauf ift im Kunſtwart Shon oft und fe 
hier nochmals ganz befonders hingewieſen. Allerdings iſt es nötig, fie ſehri 
geihmadvoll und mit dem nötigen Takt zu rahmen. Leber die ganze Rahmens 
frage das nächſte Mal, Schultze-Naumburg. 


Kunftwart 1. Novemberheft 1898 


Lose Blätter. 


Aus Fontanes „Stechlin“. 


Fontanes letzte Werke liegen als zwei fräjtige Bände vor uns, das 
„Autobiographiihe*, „Bon Zwanzig bis Dreißig“ und der Roman „Der 
Stedhlin“, fie find beide bei %. Fontane & Eo. in Berlin erjchienen. 

„Von Zmanzig zu Dreißig“ ſchließt fih an „Meine Hinderjahre* 
an, aber nicht „Lorreft”, denn fo etwas liebte der Alte nicht, fondern mit Ab— 
fchmeifungen vorwärts und zurüd in der Zeit, und nad) rechts und links hin 
zu andern Menfchen. Wir verleben mit Fontane feine Upothelerzeit, wir be— 
gleiten ihn, bis er Schriftfteller wird und heiratet, und fehen derweil mit feinen 
fo hellen Augen jedem Menſchen ins Herz, der auf ein Stüd Weges an feine 
Seite tritt, oder maden aud) mit ſolchen Belanntichaften einen Heinen Spazier— 
gang feitwärts. Das literariſch Interefjanteite dabei ift das Kapitel vom „Tunnel 
über der Spree*, das aus dem Berliner literariichen Leben der vierziger und 
fünfziger Jahre fehr vieles Wiſſenswerte berichtet und beleuchtet. Berühmt: 
beiten jchreiten da an uns vorbei, und eine Davon, Theodor Storm, wird recht 
ausführlich befprocdhen, aber auch Unberühmtheiten, die einjt Bedeutung hatten, 
und es ift nod) die Frage, ob von den einen oder den andern nüßlicher zur 
Iefen fei. Alles ift mit dem föftlihen Fontanifhen Plaudern erzählt, das 
feiner unter ung Lebenden mehr fo unvermerft fein zu einem Darftellen 
maden fann, wie er das konnte. Wie wir uns aber der Lichter erfreuen, bie 
überall diefe Menſchen Hinfpielen, müffen wir immer wieder des Lichtes 
denfen, von dem fie ausgehen. Welche Fülle von Menfchentenntnis und 
Weltverftändnis, meld) entzüdende Beweglichleit des Geiftes iſt mit Fontane 
erlofchen! Es hat wohl ſehr felten einer fo viele Weisheit mit jo wenig weiſem 
Gehaben vereinigt. 

„Der Stehlin*, Fontanes hinterlaffener Roman, ift wieder ein Junker— 
roman. In der Nähe von Rheinsberg liegt der See Stedlin als Glied einer 
ganzen Stette von Sceen, in menſchenarmer Gegend mit vieler Waldung, in 
die ein paar Dörfer geitreut find, fonft aber nur Förftereien, Glas- und Theeröfen. 
„Zwiſchen flahen, nur an einer einzigen Stelle teil und quaiartig anjteigen= 
den Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von. 
ihrer eignen Schwere nad) unten gezogen, den See mit ihrer Spige berühren. 
Hie und da wächſt ein mweniges von Schilf und Binjen auf, aber fein Hahn 
zieht feine Furchen, fein Vogel fingt, und nur felten, dab ein Habicht drüber 
binfliegt und feinen Schatten auf die Spiegelflähe wirft. Alles ſtill Hier. 
Und doch, von Zeit zu Zeit wird e8 an eben diefer Stelle lebendig. Das iit, 
wenn e8 weit draußen in der Welt, ſei's auf Jsland, fei’s auf Java, zu rollen. 
und zu grollen beginnt oder gar der Aſchenregen der hawaiiſchen Vulkane bis 
weit auf die Südfee hinausgetrieben wird. Dann regt fih’8 auch hier, umb 
ein Waſſerſtrahl fpringt auf und finft wieder in die Tiefe. Das willen alle, 
die den Stedhlin ummohnen, und wenn fie davon ſprechen, fo fegen fie wohl 
auch hinzu: »Das mit dem Wafferjtrahl, das iſt nur das Stleine, das beinah 
Alltägliche; wenn’s aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren 
in Liſſabon, dann brodelt’8 Hier nidyt bloß und ſprudelt und ftrudelt, dann 
fteigt jtatt des Wajjerjtrahls ein roter Hahn auf und fräht laut in die Lande 
bineins*. Dan merkt, das wird aud) ſymboliſch gemeint fein. lInd am See 
Stedlin, im Schloſſe Stedlin hauft der alte Herr Stedhlin, Dubslan von Stech— 
lin, „ber Typus eines Märkiſchen von Abel, aber von der milderen Objervanz,. 


Kunftwart 1. Yopemberheft 1898 
— 4) — 


eines jener erquidlichen Originale, bei denen fidh felbft die Schwächen in Vor— 
züge verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich ſympathiſch berührende 
Selbitgefühl all derer, die »fchon vor den Hohenzollern dba waren«, aber er 
hegte diefes Selbitgefühl nur ganz im ftillen, und wenn e8 dennod zum Aus— 
drud fam, jo kleidete ſich's in Humor, auch wohl in Selbitironie, weil er feinem 
ganzen Wefen nad) überhaupt Hinter alles ein Fragezeihen machte Sein 
ihönfter Zug war eine tiefe, fo redht aus dem Herzen fommende Humanität, 
und Dünfel und Ueberheblichkeit (während er fonit eine Neigung hatte, fünf 
gerade fein zu laflen) waren fo ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten. 
Er hörte gern eine freie Meinung, je draitifcher und ertremer, befto beſſer. 
Daß fi diefe Meinung mit der jeinigen dedte, lag ihm fern zu wünſchen. 
Beinah das Gegenteil. Baradoren waren feine Pajfion. »Ich Bin micht Hug 
genug, felber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn's andre thun; e8 
iſt do) immer was drin. Unanfedhtbare Wahrheiten gibt e8 überhaupt nicht, 
und wenn e8 welche gibt, fo find fie Iangmeilig.« Er ließ fid) gern was vor= 
plaudern und plauderte felber gern.“ Er war, mit zwei Worten, das leib— 
haftige Ideal Theodor Fontanes, und mas den Stift geführt hat, der ihn 
zeichnete, war die Liebe eines im Grunde ganz nahen Vermandten. So freuen 
wir una immer mieder, wenn Stechlin ins Bild tritt und empfinden ihn als 
den Helden des Ganzen, obgleich er eigentlich gar nichts thut, fondern nur 
plaudert ober zuhört. 

Ras der Roman uns vorführt, fpielt jo ungefähr innerhalb des letzten 
Lebensjahres des alten Stedhlin, der dann während der Hochzeitsreife feines 
Sohns eines fanftjeligen Todes jtirbt. Eine Neidstagswahl, bei welcher der 
Ulte gegen ben Sozialdemokraten durchfällt, fommt aud) darin vor, wird aber 
on und für fih nicht jehr ernjthaft genommen, denn Stechlin ift fein großer 
Politifer, Aber auch fie iſt Symbol, denn der eigentliche Inhalt des Buchs iſt 
das Eindringen des Neuen in bas Alte auf dem Land. Ganz rein vertritt 
das Alte eigentlih nur Stehlins Schmeiter, die Domina von Hlofter Wut. 
Paſtor Lorenzen, der Mann, den Stehlin am meijten von allen bei ſich da 
draußen refpeftiert, obgleid) er ganz anders denkt, als er felber, Lorenzen ift 
nationalfozial. Und der unangenehme Empsrfömmling Gundermann, ber 
in der Nähe von Stedylin fein Geld macht, und die fromme und finderreiche 
Prinzejfin = Gemahlin des Oberföriters und die Leute, fo durch den jungen 
Woldemar Stehlin zum alten fommen, und der junge Woldemar felbft mit 
feiner gräflihen Braut Urmgard und der feingeiftigen Schwägerin Melufine, 
es find Menfhen der Neuzeit, um fo wahrer gezeichnete, als fie nicht nur 
vom Neuen beftimmt find. Mit Woldemar bliden wir, mehr wie in Epifoden, 
aud in ein paar Berliner Stadtwohnungen, in adlige, aber aud) in bürger= 
fihe und in eine PBortierloge. Wie fi der alte Stechlin mit dem Neuen inner= 
li auseinanderfegt, das gibt dem Romane die innere „Handlung“ — dieſem 
Romane, für den fchon allein ber märfifche Adel dem Meifter Theodor ein 
Denkmal der Dankbarkeit fegen dürfte. Denn obgleih der Roman jehr cava- 
lierement fomponiert ijt (id) bitte fo fagen zu dürfen, da e8 bei Fontane aud 
ſchrecklich fremdwörtelt) und obgleid) in den Reden nur dem Inhalte nad) in= 
dividbualifiert wird, ber Form nad) aber VBornehm und Gering, Jung und Alt 
fo ziemlich das gleiche Fontanifd) ſpricht, — fo iſt hier doch gar föftlich lebendig 
geworden, was zu bes Djtelbiertums höherer Ehre Fontane zu leben be— 


rufen Hat. i 


Kunftwart 1. Uovemberheft 1898 





Von den Stüden, die wir zum Vorfhmad bringen, zeigt uns das erite 
während ber Aheinäberger Neihstagsmwahl fonfervative Herren aus dem Streife, 
die auf der Bank vor dem „Brinzrenenten” das Ergebnis abwarten: 

Es waren ihrer fünf, lauter Kreis- und Barteigenoffen, aber nicht eigent= 
lich Freunde, denn der alte Dubslav war nicht jehr für Freundfchaften, Er 
fah zu fehr, mas jedem einzelnen fehlte. Die ba fahen und aus purer Ranger: 
weile ſich über die Vorzüge von Allaſch und Chartreufe jtrittien, waren Die 
Herren von Molchow, von ftrangen und von Gnemfomw, dazu Baron Beeg und 
ein Freiherr von ber Nonne, den die Natur mit befonderer Rüdficht auf feinen 
Namen geformt zu haben ſchien. Er trug eine hohe ſchwarze Stravatte, drauf 
ein Heiner vermiderter Stopf ſaß, und wenn er ſprach, war e8, mie wenn 
Mäufe pfeifen. Er war die fomifche Figur des Kreiſes und wurde gehänfelt, 
nahm e8 aber nicht übel, weil feine Mutter eine fchlefifhe Gräfin auf „inski” 
mar, was ihm in feinen Augen ein folches Uebergewicht ficherte, daß er, wie 
Friedrich der Große, jeden Augenblid bereit war, „die fi etwa einftellenden 
Pasquille niedriger hängen zu laſſen.“ 

„Ic denke, meine Herren,“ fagte Dubslav, „wir gehen in den Barf. Da 
bat man dod immer was. An der einen Stelle ruht das Herz des Prinzen, 
und an ber andern Gtelle ruht er felbft und bat fogar eine Pyramide zu 
Häupten, wie wenn er Sefoftris gewejen wäre. Jch würde gern einen andern 
nennen, aber ich fenne bloß den.” 5 

„Natürlich gehen wir in ben Park,“ fagte von — „Und es iſt 
fchlieflich immer nod ein Glüd, dab man jo was hat . 

‚Und auch ein Glück“, ergänzte von Molchow, „dab man folden Wahl- 
tag mie heute hat, der einen ordentlich zwingt, fich mal um Hiftorifches und 
Bildungsmäßiges zu fümmern. Bismarden iſt e8 aud) mal fo gegangen, noch 
dazu mit 'ner reihen Amerifanerin, und hat aud) gleich (das heißt eigentlich 
lange nachher) das rechte Wort dafür gefunden.” 

„Der hat immer das rechte Wort gefunden.“ 

„Immer. Aber weiter, Molchow.“ 

. Und als nun alfo die reiche Amerikanerin jo runde vierzig Jahr 
fpäter ihn wiederſah und ich bei ihn bedanfen wollte von wegen des Bilder: 
mujeums, in das er fie halb aus Berlegenheit und halb aus Ritterlichfeit be— 
gleitet und ihr mutmaßlich alle Bilder falich erflärt Hatte, da Hat er all diefen 
Dank abgewieſen und ihr — id) feh’ und hör’ ihn ordentlidh — in aller Fide— 
lität gejagt, fie habe nicht ihm, fondern er habe ihr zu danken, denn wenn 
jener Tag nicht gewejen wäre, jo hätt’ er das ganze Bildermufenn höchſt 
mwahrfcheinlich nie zu ſehen gekriegt. Ja, Glüd bat er immer gehabt, Im 
großen und im fleinen. &8 fehlt bloß noch, daß er hinterher auch noch Gene: 
raldireftor der königlichen Wufeen geworden wäre, was er ſchließlich doch aud) 
noch gefonnt hätte. Denn eigentlich fonnt er’ alles und iſt auch beinah’ alles 
gemejen.“ 

„Ja,“ nahm Gnewlow, der aus Langermweile viel gereift war, feinen Ur— 
gedanken, dat foldyer Park eigentlih ein Glüd fei, wieder auf. „Ich finde, 
was Molchow da gefagt Hat, ganz richtig; e8 kommt drauf an, daß man ’rein- 
geziwungen wird, jonit weiß man überhaupt gar nidts. Wenn id) jo bloß an 
Italien zurüddenfe. Sehen Sie, da läuft man nu fo rum, mas einen doch 
anı Ende itrapziert, und dabei Diefer ewige pralle Sonnenfchein. Ein paar 
Stunden geht e8; aber wenn man nu ſchon zweimal Kaffee getrunfen und 
Granito gegeſſen hat, und es iſt noch nicht mal Mittag, ja, ich bitte Sie, was 

Kunjtwart ı. Xovemberheft (898 


02 — 


bat man da? Was fängt man dan an? Gradezu fhredliid. Und da kann ich 
Ihnen bloß jagen, da bin ich ein kirchlicher Menſch geworden. Und wenn 
man dann fo von ber Seite Her till eintritt und hat mit einem Dale die 
Kühle um fih ’rum, ja, da will man gar nicht wieder 'raus und fieht ſich fo 
feine fünfzig Bilder an, man weiß nicht, wie. Is doch immer noch bejler als 
draußen. Und die Zeit vergeht, und die Stunde, mo man mas Reguläres 
friegt, läppert fich jo heran.” 

„Ad glaube doch“, fagte der für kirchliche Hunft ſchwärmende Baron 
Beetz, „unfer Freund Gnewkow unterfhäßt die Wirkung, die, vielleicht gegen 
feinen Willen, die Duattrocentiften auf ihn gemadt haben. Er hat ihre Macht 
an fich jelbit empfunden, aber er will e8 nidt wahr Haben, dab die Frifche 
von ihnen ausgegangen ſei. Jeder, der was davon veriteht . . .“ 

„Ja, Baron, das is es chen. Wer mas davon veritehtl Uber wer ver— 
Steht was davon? Ich jedenfalls nicht.” 

Unter diefen Worten war man, vom „Prinzregenten“ aus, die Haupts 
ftraße Hinuntergejchritten und über eine Meine Brüde fort erjt in den Schloß— 
hof und dann in den Park eingetreten. Der See pläticherte leis. Kähne lagen 
ba, mehrere an einem Steg, der von dem fiesufer her in ben See hineinlief. 
Ein paar der Herren, unter ihnen auch Dubslav , jchritten die ziemlich wack— 
lige Bretterlage hinunter und blidten, als fie bis ans Ende gelommen waren, 
wieder auf die beiden Schloßflügel und ihre furzabgeitumpften Türme zurüd. 
Der Zurm rechts war der, wo Stronprinz Fri fein Arbeitszimmer gehabt hatte. 

„Dort hat er gewohnt”, jagte von der Nonne. „Wie begrenzt iſt doch 
unſer Hönnen. Mir wedt der Anblid folder Fridericianiihen Stätten immer -. 
ein Schmerzgefühl über das Unzulängliche des Menfhlihen überhaupt, freilich 
auch wieder ein Hochgefühl, daß wir diefer Unzulänglichfeit und Schwäche 
Herr werden können. Tod, mo ift dein Stadjel, Hölle, wo iſt dein Sieg ? 
Diefer Hönig. Er mar ein großer Geiit, gewiß; aber doch auch ein verirrter 
Geift. Und je patriotifcher wir fühlen, je fchmerzlicher berührt uns die Frage 
nad) dem Heil feiner Seele. Die Seelenmeffen — das empfind’ ich in ſolchem 
Yugenblide — find doch eine wirklich troitfpendende Seite des Katholizismus, 
und dab e8 (felbjtveritändlih unter Gemähr eines höchſten Willens) in bie 
Macht Ueberlebender gelegt ift, eine Seele frei zu beten, das ift und bleibt 
eine große Sadıe.“ 

„Nonne,“ fagte Molchow, „machen Sie fih nicht komiſch. Was haben 
Sie für ’ne Boritellimg vom lieben Gott? Wenn Sie fommen und den alten 
Srigen frei beten wollen, werden Sie 'rausgeſchmiſſen.“ 

Baron Bee — auch ein Anzweifler des Philofophen von Sansfouci — 
wollte feinem Freunde Nonne zu Hilfe fommen und erwog einen Uugenblid 
ernitlich, ob er nidjt feinen in der ganzen Grafſchaft längſt befannten Vortrag 
über die „ichiefe Ebene” oder „c'est le premier pas qui coute* noch einmal 
zum beiten geben ſolle. Klugerweiſe jedoch ließ er e8 mieder fallen und war 
einverftanden, als Dubslav fagte: „Meine Herren, ich meinerfeits ſchlage vor, 
dag wir unfern Auslug von dem Wadelftege, drauf wir hier fiehen (jeden 
Augenblid fann einer von uns ins Waſſer fallen), endlich) aufgeben und ung 
lieber in einem der hier herum liegenden Kähne über den See ſetzen laſſen. 
Unterwegs, wenn nod; melde da find, fünnen wir Teichrofen pflüden und 
drüben am andern Ujer den großen Prinz Heinrich-Obelisken mit feinen fran= 
zöſiſchen Infchriften durchſtudieren. Solde NRefapitulation ftärkt einen immer 


Kunftwart 1. Movemberheft 1898 
— 93 — 


biftorifh und patriotifh, und unfer Etappenfranzöfifh fommt auch wieder zu 
Kräften.” 
Ulle waren einveritanden, felbjt Nonne. 
* 

Eine andere bezeichnende Stelle iſt die, wo Gräfin Meluſine den Paſtor 
Lorenzen beſucht. Dieſe geſcheite Frau hat dem jeder Damenunterhaltung lange 
Zeit entwöhnten raſch jede Scheu benommen und iſt nun mit ihm im eifrigen 
Geſpräch: 

. . . Ich kann Ihnen zuſtimmen“, lächelte Lorenzen. „Uber wenn ich, 
Frau Gräfin, in Ihren Mienen richtig leſe, ſo ſind dieſe Bekenntniſſe doch nur 
Einleitung zu was andrem. Sie halten noch das Eigentliche zurück und ver— 
binden mit Ihrer Ausſprache, fo ſonderbar es klingen mag, etwas Spezielles 
und beinah’ Praftifches.* 

„Und ich freue mid, daß Sie das herausgefühlt haben. Es ift fo. Wir 
fommen da eben von Ihrem Stehlin her, von Ihrem See, dem Belten, was 
fie hier haben. IH Habe mich dagegen gemwehrt, als das Eis aufgeſchlagen 
werden follte, denn alles Eingreifen oder audy nur Einbliden in das, mas 
fi) verbirgt, erfhredt mich. Ach refpektiere da8 Gegebene. Daneben aber 
freilih aud) das Werdende, denn eben dies MWerdende wird über kurz oder 
lang abermals ein Gegebenes fein. Alles Alte, fo weit es Anſpruch barauf 
bat, follen wir lieben, aber für das Neue follen mir recht eigentlich Ieben. 
Und vor allem follen wir, wie der Stedhlin ung lehrt, den großen Zufammen- 
hang ber Dinge nie vergeifen. Sich abſchließen, heißt fih einmauern, und fi 
einmauern ilt Tod. Es fommt darauf an, daß mir gerade das beſtändig 
gegenwärtig haben. Mein Vertrauen zu meinem Schwager ift unbegrenzt. Er 
bat einen edeln Charakter, aber ic) weiß nicht, ob er aud) einen feſten Cha— 
rafter hat. Er iſt feinen Sinnes, und wer fein ift, ift oft beitimmbar. Er iit 
aud) nicht geiftig bedeutend genug, um fi gegen abweichende Meinungen, 
gegen Irrtümmer und Standesvorurteile wehren zu können. Er bedarf ber 
Stüge. Diefe Stüge find Sie meinem Schwager Woldemar von Jugend auf 
gewefen. Und um was ich jet bitte, das heißt: »Seien Sie's ferner.«“ 

„Daß id) Ihnen fagen fünnte, wie freudig id) in Ihren Dienjt trete, 
gnädigite Gräfin. Und ich fann es um fo leichter, als Ihre Ideale, wie Sie 
wiſſen, aud; die meinigen find. Ich lebe darin und empfind’ e8 als eine 
Gnade, dba, wo das Alte verfagt, ganz in einem Neuen aufzugehn. Um ein 
ſolches »Neues« Handelt e8 ſich. Ob ein foldes »Neues« fein ſoll (meil es 
fein muß) oder ob es nicht fein fol, um Diefe Frage dreht fich alles, Es 
gibt Hier um uns ber eine große Zahl vorzüglidher Leute, die ganz ernfihaft 
glauben, das uns Ueberlieferte — das Kirchliche voran (leider nicht das Chriſt— 
liche) — müſſe verteidigt werden, wie der falomonifche Tempel. In unferer 
Oberfläche Herricht außerdem eine naive Neigung, alles »Preußifche« für eine 
höhere Kulturform zu halten.“ 

„Genau wie Sie jagen. Uber ih möchte doch, um der Gerechtigkeit 
willen, die Frage ftellen dürfen, ob dieſer naive Glaube nicht eine gemille Be— 
rechtigung hat?“ 

„Er Hatte fie mal. Aber das liegt zurüd. Und kann nicht anders fein. 
Der Hauptgegenfag alles Modernen gegen das Alte beiteht darin, daß bie 
Menichen nicht mehr durdy ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden 
Platz geitellt werben. Sie haben jeht die Freiheit, ihre Fähigkeiten nad) allen 
Seiten hin und auf jedem Gebiete zu bethätigen. Früher war man dreihuns 


Kunftwart 1. Ziovemberheft 1898 
— Gb — 


dert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinen= 
weber eines Tages ein Schloßherr fein.“ 

„Und beinah’ auch umgekehrt“, lachte Meluſine. „Doc laſſen wir dies 
heifle Thema. Viel, viel lieber Hör’ ich ein Wort von Jhnen über den Wert 
unjrer Lebens und Gefelichaftsformen, über unfre Gefamtanfhauungsmeife, 
deren beſondere Zuläffigfeit Sie, wie mir fcheint, fo nachdrücklich anzweifeln.“ 

„Nicht abfolut. Wenn ich zmeifle, fo gelten diefe Zmeifel nicht fo fehr 
den Dingen felbit, al8 dem Hochmaß des Slaubens daran. Daß man all diefe 
Mittelmakdinge für etwas Befonderes und Ueberlegenes und deshalb, wenn's 
fein kann, für etwas ewig zu Stonfervierendes anfieht, das iſt das Schlimme. 
Was mal galt, foll weiter gelten, was mal gut war, foll weiter ein Gutes 
oder wohl gar ein Beites fein. Das ift aber unmöglid, auch wenn alles, 
was feineswegs ber Fall ift, einer gemiffen Herrlichkeitsvorjtellung entipräde. 
... Bir haben, wenn wir rüfbliden, drei große Epochen gehabt. Deijen follen 
mir eingedenf fein. Die vielleicht größte, zugleich die erite, war die unter dem 
Soldatenfönig. Das war ein nit genug zu preifender Dann, feiner Zeit 
wunderbar angepaßt und ihr zugleich voraus. Er hat nicht bloß das König— 
tum ftabilert, er hat au, was viel wichtiger, die yundamente für eine neue 
Zeit gefhaffen und an die Stelle von Zerfahrenheit, felbitifcher Vielherrſchaft 
und Willkür Ordnung und Gerechtigkeit geſetzt. Gerechtigkeit, das war fein 
heiter ‚rocher de bronce*,* 

„Und dann ?* 

„Und dann fam Epoche zwei. Die ließ, nad) jener eriten, nicht Tange 
mehr auf fi) warten und das feiner Natur und feiner Gefhidhte nad) gleich 
ungeniale Land fah fih mit einem Male von Genie durdbligt.* 

„Muß das ein Staunen gemejen fein.” 

„Sa. Uber doch mehr draußen in der Welt als daheim. Anſtaunen ift 
auch eine Kunft. Es gehört etwas dazu, Großes als groß zu begreifen... 
Und dann fam die dritte Zeit. Nicht groß und doch auch wieder ganz groß. 
Da war das arme, elende, halb dem lintergange verfallene Land, nit von 
Genie, wohl aber von Begeilterung durdjleudtet, von dem Glauben an bie 
höhere Macht des Geiftigen, bes Wiſſens und der Freiheit.” 

„But, Zorenzen. Aber weiter.“ 

„Und all das, was ich da fo hergezählt, umfaßte zeitlich ein Jahrhundert. 
Da waren mir den andern voraus, mitunter geiftig und moraliih gewiß. 
Uber der ‚Non soli cedo-Wdler‘ mit feinem Bligbündel in den Fängen, er bligt 
nit mehr, und die Begeifterung ijt tet. Gine rüdläufige Bewegung iſt da, 
längjt Wbgeftorbenes, id; muß es wiederholen, joll neu erblühn. Es thut e8 
nidt. In gewiſſem Sinne freilich fehrt alles einmal wieder, aber bei dieſer 
Wiederkehr werden Jahrtaufende überfprungen ; wir fönnen die römischen Kaiſer— 
zeiten, Gutes und Schlechtes, wieder haben, aber nidyt das jpanifche Rohr aus 
den Tabalstollegium und nicht einmal den Arüdftof von Sansſouci. Damit 
iſt e8 vorbei. Und gut, daß e8 fo iſt. Was einmal Fortfchritt war, iſt längit 
Rüdihritt geworden. Aus der modernen Gejdhichte, der eigentlichen, der leſens— 
werten, verſchwinden die Bataillen und die Bataillone (trogdem fie fich be— 
jtändig vermehren) und wenn fie nicht felbit verſchwinden, fo ſchwindet doch 
das Interejje daran. Und mit dem Intereife das Preitige. An ihre Stelle 
treten Erfinder und Entdeder, und James Watt und Siemens bedeuten uns 
mehr als du Guesclin Bayard. Das Heldifche Hat nicht direft abgemwirtichaftet 
und wird nod) lange nicht abgemirtfchaftet haben, aber fein Kurs hat nun mal 


Kunftwart ; ı. Novemberheft 1898 


i. 


feine beſondere Höhe verloren, und anftatt fi in dieſe Thatſache zu finden, 
verfucht es unfer Regime, dem Niederfteigenden eine fünftliche Haufe zu geben.“ 

„Es ift, wie Sie fagen. Aber gegen wen richtet ſich's? Sie ſprachen 
von »Negimes. Wer ift dies Regime? Menſch oder Ding? Iſt es die von 
alter Zeit ber übernommene Mafhine, deren Räderwerk tot meiterflappert, 
oder iſt e8 Der, der an der Mafchine fteht? Oder endlich ift e8 eine bejtimmte 
abgegrenzte Vielheit, die die Hand des Mannes an ber Maſchine zu beftimmen, 
zu richten trachtet? In allem, was Sie jagen, flingt eine ſich auflehnende 
Stimme. Sind Sie gegen den Wdel? Stehen Sie gegen die »alten Familien«?* 

„Zunädft: nein. Ich liebe, Hab’ auch Urſach' dazu, die alten Familien 
und möchte beinah’ glauben, jeder liebt fie. Die alten Familien find immer 
nod) populär, audy heute no. Aber fie verthun und verfehütten dieſe Sym— 
pathien, die doch jeder braucht, jeder Menſch und jeder Stand. Unfre alten 
Familien kranken durchgängig an der Vorstellung, »daß e8 ohne fie nicht gehe«, 
was aber weit gefehlt it, denn es geht fiher aud ohne fie; — fie find nicht 
mehr die Säule, die das Ganze trägt, fie find das alte Stein- und Moosdach, 
das wohl nod) laftet und drüdt, aber gegen Unmetter nicht mehr ſchützen kann. 
Wohl möglid), daß ariltofratifche Tage mal mwiederfehren, vorläufig, wohin 
mir jehen, jtehen wir im Zeichen der demofratifhen Weltanſchauung. Eine 
neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine beſſere und eine glüdlicdhere. Aber wenn 
auch nicht eine glüdlichere, jo doch mindeftens eine Zeit mit mehr Saueritoff 
in der Quft, eine Zeit, in der mir beijer atmen fünnen. Und je freier man 
atmet, je mehr lebt man. Was aber Woldemar angeht, meiner find Sie ficher, 
Frau Gräfin. Bleibt freilih, als Hauptfaktor, noch bie Komteſſe. Für Die 
müjfen Sie die Bürgichaft übernehmen. Die Frauen beſtimmen ſchließlich 
doch alles.” 

„So heißt e8 immer. Und mir find eitel genug, e8 zu glauben. Aber 
das führt ung auf ganz neue Gebiete. Borläufig Ihre Hand zur Befieglung. 
Und nun erlauben Sie mir, nad) diefen unferm revolutionären Diskurſe, zu 
ben Hütten friedlier Menſchen zurüdzulehren.* 

* 

Sehen und hören wir zum Schluß nod dem Wlten felber ein wenig zu. 
E8 geht zu Ende mit Dubslav von Stehlin, nun hat er feinen Paſtor rufen 
laffen, fi) nod) einmal mit ihm auszufprehen. Fontane fährt fort: 

Zorenzen nahm des Alten Hand und fagte: „Gemwiß fommen andre 
Zeiten. Aber man muß mit der Frage, mas fommt un» was wird, nicht 
zu früh anfangen. Ich feh’ nidt ein, warum unfer alter König von Thufe 
bier nit nod) lange regieren follte. Seinen legten Trunf zu tun und den 
Becher dann in den Stehlin zu werfen, damit hat es noch gute Wege.“ 

„Rein, Zorenzen, e8 dauert nicht mehr lange; die Zeichen find da, mehr 
als zu viel. Und damit alles Happt und paßt, geh’ ich nun gerad’ ins Sieben: 
undſechzigſte, und wenn ein richtiger Stehlin ins Siebenundfedhzigite geht, 
dann geht er aud) in Tod und Grab. Das is fo Familientradition. Ich wollte, 
wir hätten eine andre. Denn der Menſch iS nun mal feige und will dies 
ſchändliche Beben gern meiterleben.* . 

„Schändliches Leben! Herr von Stehlin, Sie Haben ein jehr gutes 
Leben gehabt.“ 

„Na, wenn e8 nur wahr ift! Ich weiß nicht, ob alle Globſower ebenfo 
denken. Und die bringen mid) wieder auf mein Hauptthema.” 

„Und das Tautet ?* 


Kunftwart 1. Yovemberheft 1898 


„Das lautei: »Teuerfter Paftor, forgen Sie dafür, daß die Globſower 
nicht zu fehr obenauf fommen.«* 

„Über, Herr von Stehlin, die armen Leute. . .* 

„Sagen Sie das nit. Die armen Leute! Das war mal richtig; heute 
zutage aber paßt e8 nicht mehr. Und fol unfichere Paffagiere wie mein 
BWoldemar und wie mein lieber Lorenzen (von dem der Junge, Pardon, all 
den Unfinn bat), ſolche unfichere Paffagiere, ftatt den Riegel vorzufcdieben, 
fommen den Torgelowſchen* auf halben Wege entgegen und fagen: »Ja, ja, 
Zöffel, du haft aud) eigentlich ganz recht, oder, was noch ſchlimmer iſt: »Ja, 
ja, Jodem, wir wollen mal nadichlagen.«* 

„Über, Herr von Stechlin.“ 

„ja, Zorenzen, wenn Sie aud) nod) ſolch gutes Geſicht machen, e8 ist 
doch fo. Die ganze Geſchichte wird auf einen andern Leiſten gebracht, und 
wenn bann wieder eine Wahl ift, dann fährt der Woldemar rum unb 
erzählt überall, Katzenſtein“* fei der rehte Mann. Oder irgend ein andrer. 
Aber das ilt Mus wie Mine; — verzeihen Sie den etwas fortgefchrittenen 
Yusdrud. Und wenn dann die junge gnädige Frau Beſuch friegt oder wohl 
gar einen Ball gibt, da will ih Ihnen ganz genau fagen, wer dann hier in 
biejem alten Staften, der dann aber renoviert jein wird, antritt. Da ift in 
erfter Reihe der Minifter von Rigenberg geladen, der, wegen Staltitellung unter 
Bismard, von langer Hand her eine wahre Wut auf den alten Sachſenwalder 
bat, und eröffnet die Polonaife mit AUrmgard. Und dann iſt da ein Profeſſor, 
Kathederjozialift, von dem fein Menſch weiß, ob er die Gefellichaft einrenten 
oder aus den Fugen bringen will, und führt eine Adelige, mit kurzgeſchnit— 
tenem Saar (die natürlich fchriftitellert) zur Quadrille Und dann bewegen 
fih da noch ein Afrikareiſender, ein Architekt und ein Porträtmaler, und wenn 
fie nad) den eriten Tänzen eine Baufe maden, dann ftellen fie ein lebendes 
Bild, wo ein Wilddieb von einem Edelmann erichofjen wird, oder fie führen 
ein franzöſiſches Stüd auf, das die Dame mit dem furggefchnittenen Haar 
überiegt hat, ein fogenanntes Ehebruhsdrama, drin eine Advokatenfrau ges 
feiert wird, meil fie ihren Dann mit einem Tafchenrevolver über den Haufen 
geichoffen hat. Und dann gibt e8 Mufifftüde, bei denen der Slavierfpieler 
mit jeiner langen Mähne über die Taften hinfegt, und in einer Nebenjtube 
figen andere und blättern in einem Album mit lauter Berühmtheiten, obenan 
natürlich) der alte Wilhelm und Saifer Friedrid) und Bismard und Moltke 
und ganz gemütlich dazwiſchen Mazzini und Garibaldi, und Marx und Laffalle, 
die aber wenigſtens tot find, und daneben Bebel und Liebknecht. Und dann 
fagt Woldemar: »Sehen Sie da ben Bebel. Mein politifher Gegner, aber ein 
Dann von Gefinnung und Intelligenz. Und wenn dann ein Wdeliger aus 
der Refidenz an ihn Herantritt und ihm fagt: »Ich Bin überraſcht, Herr von 
Stehlin, — id) glaubte den Grafen Schwerin bier zu finden«, dann jagt 
Woldemar: »Ich habe die Fühlung mit dieſem Herrn verlorene“, 

Der Paitor lachte. „Und Sie wollen jterben. Wer fo lange ſprechen 
fann, der lebt noch zehn Jahr.“ 

„Nichts, nichts. Ich Halte Sie feit. Kommt es fo, oder fommt e8 
nidt fo ?* 

„Run, es fommt fiherlih nicht fo.“ 


*) Den Sozialdemofraten, die einen Torgelow gewählt haben. 
+, Der Fortjchrittler. 


Kunftwart 1. Uovemberheft 1898 
— 9 — 


„Sind Sie deſſen ficher ?* 

Ganz ſicher.“ 

„Dann ſagen Sie mir, wie es kommt, aber ehrlich.“ 

„Run, das kann ich leicht, und fie haben mir ſelber den Weg gewieſen, 
als Sie gleih anfangs von »Hönig und Kronprinz« ſprachen. Diefer Gegen— 
ſatz exiſtiert natürlich überall und in allen Lebensverhältnijien. Es fommen 
eben immer Tage, wo die Leute nad) irgend einem »Fronprinzgen« ausfehn. 
Aber jo gewiß das richtig ift, noch richtiger tft das andre: der Kronprinz, 
nad dem ausgeſchaut mwurbe, hält nie das, was man von ihm ermartete. 
Manchmal kippt er gleid um und erflärt in plöglich erwadter Pietät, im 
Sinne des Hochfeligen meiterregieren zu wollen; in ber Regel aber madt er 
einen leidlich ehrlichen Verſuch, als Neugeftalter aufzutreten, und Holt ein 
Voltsbeglüdungsprogramm aud wirflid) aus der Taſche. Nur nicht auf lange. 
»Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch eng im Raume jtoßen ſich die 
Saden.«e Und nah einem halben Jahre lenkt der Neuerer wieder in alte 
Bahnen und Geleife ein.” 


„Und fo wird e8 Moldemar auch madjen?“ 


„So wird es Woldemar aud machen. Wenigjtens wird ihn die Luft 
fehr bald anmwandeln, fo halb und Halb ins Alte wieder einzulenken.“ 

„Und dieſe Luft werden Sie natürlich befämpfen. Sie haben ihm in 
den Kopf gefett, dab etwas durchaus Neues fommen müſſe. Sogar ein neues 
Ehriitentum.” 

„Ih weiß niht, ob ich fo geſprochen habe; aber wenn id) jo ſprach, 
dies neue Ghriltentum ijt gerade das alte.” 


„Slauben Sie das?” 


„Sch glaub’ es. Und was beffer ift: ich fühl’ es.“ 

„Nun gut, das mit dem neuen Ehriftentum ift Ihre Sade; ba will ich 
Ihnen nit bineinreden. Aber dag andre, da müſſen Sie mir was veriprecden. 
Belinnt er fi, und fommt er zu der Anficht, da das alte Preufen mit König 
und Urmee, troß all feiner Gebreiten und altmodiſchen Geſchichten, doch immer 
nod) bejjer ilt als das vom neuejten Datum, und daß wir Alten vom Gremmer= 
Damm und von Fehrbellin her, auch wenn es uns felber ſchlecht geht, immer 
nody mehr Herz für die Torgelowſchen im Leibe haben als alle Torgeloms zus 
fammengenommen, fommt e8 zu folder Nüdbelehrung, dann, Lorenzen, ftören 
Sie diefen Prozeß nit. Sonst erichein’ ih Ihnen. Baftoren glauben zwar 
nicht an Geipeniter, aber wenn melde fommen, graulen fie ſich aud).” 

Rorenzen legte jeine Hand auf die Hand Dubslaus und ftreichelte fie, 
wie wenn er des Alten Sohn geweſen wäre. „Das alles, Herr von Stedlin, 
kann ich Ihnen gern verfprehen. Ich Habe Woldemar erzogen, ala es mir 
oblag, und Sie haben in Ihrer Klugheit und Güte mich gewähren lajien. est 
tft Ihr Sohn ein vornehmer Herr und Hat die Jahre. Sprechen Hat feine Zeit, 
und Schweigen hat jeine Zeit. Uber wenn Sie ihn und mid von oben her 
unter Stontrolle nehmen und eventuell mir erfcheinen wollen, fo fhieben Sie 
mir dabei nicht zu, was mir nicht zukommt. Nicht ich werde ihn führen. Das 
für ift geforgt. Die Zeit wird fprechen, und neben der Zeit das neue Haus, 
die blaffe junge Frau und vielleiht aud) die ſchöne Meluſine.“ 

Der Alte lächelte. „Ja, ja.“ 


Sp ging das Gejpräd. Und als Lorenzen aufbrad), fühlte fi der Alte 


Kunftwart 1. Hovemberheft 1898 
_ 8 — 


wie belebt und verſprach fich eine gute Nacht mit viel Schlaf und wenig Bes 


ängftigung. 


Aber es fam anders; die Naht verlief Thleht, und als der Morgen da 
war und Engelfe das Frühſtück bradte, fagte Dubslav: „Engelle, ſchaff die 
Wabe weg; ich kann das fühe Zeug nit mehr fehn. Krippenſtapel hat e8 qut 


gemeint. 
traft der Natur.” 


Ich glaube doch, gnäd’ger Herr. 


Wabe nid) an.“ 


Uber e8 is nichts damit und überhaupt nichts mit der ganzen Heil— 


Bloß gegen die Gegenfraft fann die 


„Du meinft alfo: »für 'n Tod fein Kraut gewadjen iſt«. Ja, das wird 


* 


Rundschau. 


es wohl fein; das mein’ id aud).* 
Engelke ſchwieg. 


Cciteratur. 


* „Steht die Katholiſche Bel— 
letriftit auf der Höhe der Zeit?*, 
diefe „Literarifche Gemiljensfrage* er— 
örtert VBeremundus in einer bei 
Franz Kirchheim in Mainz erichienenen 
Flugſchrift. Er will freilid unter 
„tatholifher Belletriftil nicht Ten— 





dena = Belletriftit verftanden mijfen | 


(da Tendenz ſich mit wirklicher Dich— 


tung überhaupt nicht vertrage), fon= 


bern Werke, die aus fatholifhem Em— 
pfinden al® echte Hunjtwerfe heraus- 
gewadjfen find. Nah zum Teil viel- 
leiht anfechtbaren äſthetiſchen Be— 
trachtungen über das Weſen des Ro— 
mans gibt Veremundus einen Ueber— 
blick über die katholiſchen Autoren, 
von denen unter ſieben ſechs Frauen 
ſind. Es zeigt ſich eine niederdrückend 
gering Ausbeute an wirklich Wert— 
vollem. Veremundus begründet das 
zum guten Teil daher, dab in der 
tatholifchen Preſſe fait überall an 
Stelle der unparteiiich fünitlerifchen 
Beurteilung auch den Dichtungen 
gegenüber die von einem erzieherijchen, 
engherzig moralifierenden Standpunlt 
aus getreten jei. Insbeſondere die Ge— 
fahr, daß der Leſer und die Leſerin die 
ſchlechten Beijpiele der Literatur nad): 
ahme, fei zu einem wahren Schreds 
eipenite geworden. Der Berfajler 
feinerfeits erfennt als „abfolut uns 
ſittlich‘' nur Werfe an, „die einen an 
fi) unfittliden Gedanken zur Grunde 
lage habe, die Sünde begehrenswert 





darjtellen oder durch jeruell reizende | 


Schilderungen die Scham verleten.“ 
Nicht die „von den Jeſuiten gepflegte 
inguifitorifche* Kritik und Literaturs 


Kunftwart 


| 


99 


geſchichtsſchreibung alſo fünne der 
katholiſchen Belletriftif aufhelfen, ſon— 
dern „pofitive Mitarbeit von einem 
freien und großherzigen Standpunlfte 
aus“, „Befhäftigung mit allen bie 
Zeit bewegenden Fragen“, „das aufs 
trihtige Bemühen, das Ringen und 
Sehnen der Zeit in künſtleriſchen 
Fragen veritehen zu lernen“ und „uns 
erbittlihe Wahrheitsliche, die das 
Gute und Schöne, wo aud immer fie 
e8 findet, anerfennt und bereitwillig 
aufnimmt“. Der Berfajler verlangt 
größere Beteiligung des Laienelements 
an der literarifhen Kritik, da der 
ſtlerus 3. B. erotiihe Probleme faum 
unbefangen beurteilen könne, 
aber bedeutende fritifhe Organe fehl: 
ten leider ja überhaupt. Was Bere 
mundus al® „die wahren Urſachen 
unfrer literarifchen Rückſtändigkeit“ 
anfieht, die er nun zufammenfajjend 
beipriht, erfennen wir aus dem 
Sejagten. Mit der Tatholifchen Lite 
raturfritit geht er nochmals ſcharf 
ins Gericht aud) mit den fatholiichen 
Familienblättern, der katholiſchen 
Deere überhaupt. Unter Berufung 
auf den „Kunſtwart“ warnt er davor, 
die „Stimmen aus dem Leſerkreiſe“ 
zu überfhägen und fo fich führen zu 
laifen, wo man führen joll. Jn einem 
legten Abfchnitt bezeichnet der Ver— 
faſſer die Abwendung vieler Katho— 
lifen von der gegenmärtigen fatholi= 
fchen Literatur als einen „Proteft der 
jelbftändigen Bildung gegen eine bes 
vormundende und miktrauifche Lite- 
raturüberwadlung und eine daraus 
fih ergebende Literaturverwäjlerung“. 
Nicht auf die geiftig Gebildeten der 
Nation, jondern auf die große Maſſe 


2. Yovemberheft 1898 


ber Lefer werde fortwährend pein— 
lichjte Rüdfiht genommen: „hat der 
Kritifer irgendwo das Gefühl, Die 
geiftige Selbitändigfeit einer Reihe 
von Leſern könnte nicht groß genug 
fein, um das Wert aud) in dem Sinn 
u verftehn, in welchem es verftanden 
* will, fo wird er ſchon zaudern, 
ſich uneingeſchränkt dafür zu be— 
geiſtern.“ So müßte alles ins Platt— 
verſtändliche herabgedrückt, müßten 
greifbare Tendenzen hineingetragen 
oder herausgearbeitet werden, was 
dann „den Hochgenuß ſelbſtändiger 
Deutung der Lebensthaäatſachen beein— 
trächtigt und verkümmert.“ „Genau 
betrachtet iſt dieſe Richtung eine feine 
Art von Rationalismus“, die alles be— 
weismäßig zu vernüchtern ſucht „und 
den Künſtler, den Myſtiker des Na— 
türlichen, zum Scholaſtiker des Na— 
türlichen umwandeln“ möchte. „Soll 
es wahr werden, was unfre Gegner 
behaupten, daß der Katholizismus als 
Weltanſchauung feine erobernde Kraft 
verloren habe, daß er ſich nur mehr 
auf die Erhaltung feines Beſitz— 
Standes einrichte und es daher lieber 
mit den geiftig Genügfamen unter 
feinen Befennern, als mit den unter 
dem Einfluß ihrer Zeit Begehrlicheren 
zu thun habe?“ Verhindert werde das 
nur, „wenn wir unfer ®Wirfen in der 
Zeit, mit den Mitteln und in der 
Sprade ber Zeit als unfere Pflicht 
erlannt haben. In der Erfüllung der 
erfannten Piliht merden wir dann 
auf biefen Gebieten allmählidy heimi— 
ſcher, und mit ber größeren Vertraut: 
heit wird unfere innere Teilnahme 
ewedt, unjer Verhältnis auch zur 
dönen Literatur und Kunſt wärmer, 
thatlräftiger werben * €. 


Pichtung. 


* Zu Didhterdenfmälern 
mird -in der letzten Zeit wieder häu— 
figer angeregt. Jetzt fol Gujtav 
Freytag in Wiesbaden ein Stand= 
bild befommen und Goethe, db. 5. 
der junge Goethe, der Student Goethe, 
in Straßburg. 


* Ueber Jungöſterreich“ hielt 
Hermann Bahr nun aud im 
Münchner Scriftjteller- und Journa— 
liftenverein einen Bortrag. Es war 
mandjes daraus zu lernen, was ber 
Herr PVortragende gar nicht ehren 
wollte. 


Kunftwart 


| 


Gleich anfangs ſchon flug mir 
die Luft des Feuilletons entgegen: 
Bahr erklärte, e8 fei eine öſterreichiſche 
Eigentümlidhfeit, unmidtige Dinge 
fcheinbar wichtig zu behandeln, über 
Sadıen dagegen, die einem am Herzen 
lägen, ganz leihthin zu reden. Es 
wird fchlehte Menichen geben, die 
Herrn Bahr fragen, ob er vielleicht 
die Wertung der Dinge in feiner kri— 
tifierenden und fonitigen Scriftitellerei 
auch nad) dieſer „ölterreihiichen Eigen= 
tümlichfeit* vornchme. Nun erzählte 
uns Herr Bahr in mwißelnden Anek— 
doten, wie man vor etwa dreizehn 
Jahren in Oeſterreich geglaubt habe, 
mit der Poeſie ſei's aus. Dann hätten 
jth einige junge Leute zujammenges 
than, das Gegenteil zu bemeifen. Zus 
erſt gab’8 Sturm und Drang im 
Safehaus, dann Gigerltum, Anders— 
feinwollen als andre in „ftilvollen“ 
PBrivaträumen; endlich aber jeien die 
Leute darauf gefommen, ſich ſelbſt 
ehrlidy zu geben, wie fie feien, als 
Defterreiher nicht als Pariſer, und 
damit eine nationale, ſpezifiſch-wiene— 
riſche Kunſt zu begründen. Das ſei 
nun ganz ſchön, ein großer Uebel— 
ſtand aber knüpfe fi dran: in ihrem 
Wienertum wurden bie Defterreiher 
in Berlin und anderswo oft nicht 
verstanden. Ach glaube nit, daß 
Bahr mit diefer legten Behauptung 
viel Gläubige finden wird; mit dem 
Unverftändnis gegenüber Dem ſpezi— 
fiſch Wieneriſchen hat e8 wohl feine 
Gefahr, weder hier nod in Nord— 
deutichland. Freilich, es gibt eine 
Art Patriotismus, die aud) den eignen 
Budel für einen entzüdenden aweiten 
Bufen hält‘, aber es iſt dod nicht 
nötig, dab dieje Anficht außerhalb 
der Familie geteilt wird. Bringt 
uns aber überhaupt dieſes Jungöſter— 
reich eine ganz eigentümlih öſter— 
reihifche Hunt ? Nach dem, was ung 
Herr Bahr vorgelefen, muß ich's ent= 
fchieden verneinen. In der pſycholo— 
giſchen Studie „Die Toten ſchweigen“ 
von Arthur Schnigler kann ich beim 
beiten Willen nichts bezeichnend Wie— 
neriihes außer den Straßennamen 
und dem Dialekt des Hutfchers finden. 
Ein junger Mann macht mit feiner 
Geliebten, einer verheirateten Frau, 
eine Droichfenausfahtt am fpäten 
Abend. Der Fiafer wirft um, und 
die Frau findet fih plöglicdh ſchreck— 
betäubt auf der Straße neben dem 
Geliebten liegen, der durch den Sturz 
angenſcheinlich getötet ift. Sie fihickt 


1. Novemberheft 1898 


den Droſchkenkutſcher um Hilfe. Allein 
mit dem Toten, wird fie von der 
Angit vor Entdedung gepadt, fie läßt 
ihn im Stih und läuft durd Die 
Nacht davon. Glüdlidy gelangt fie 
unbemerft in ihr Haus. Dann aber 
verrät fie fih in einem halben Fie— 
berdelirium jo weit gegen ihren Gatten, 
dab ihr nichts als ein Geftändnis 
übrig bleibt. In der feften Abjicht, 
dies Geſtändnis unummunden abau= 
Iegen, findet fie ihr moraliſches Gleich— 
gewicht wieder. Die Behandlung des 
Geihichtleins fällt durch nichts ſpezi— 
fiſch Wienerifches auf: alles, mas dieſe 
Frau denkt, fühlt, leidet, fünnte in 
genau eben derjelben Weiſe jede be= 
Tiebige Grofitädterin durchmachen. 
Literarifh hat das Stüd feinen Wert 
als gejdidte, mohlüberlegte, ſorgfäl— 
tig ausgeführte Schriititellerarbeit: 
als Didtung aber will's nicht viel 
bedeuten. Der Gharafter der Haupt— 
perion, der untreuen Gattin, zeiat ſich 
eben nicht alsein lebensfähiges Ganzes. 
Einesteils iſt fie ein lingeheuer von 
Egoismus: vor lauter Denken an fi 
fommt bei ihr nicht einmal bie er te, 
elementare Verzweiflung bei der 
Ueberraidung durch den Tod zum 
Ausbruch. ALS fie erkennt, daß der 
plöglih tot vor ihr Liegt, dem fie 
eben noch leidenichaftlid) die Lippen 
gefüht hat, ſtößt jie nicht einmal 
einen ummillfürliden Schrei des Ent— 
fegens aus — fie, Diejelbe Frau, Die 
auf ihrer Flucht heimmärts eine höchſt 
erregbare und dabei naive Empfin— 
dungsfähigfeit zeigt, wenn auch nur 


in der Angst für ih. Zum Schluf | 
tritt diefe fchillernde und jchwanfende | 


Eriheinung gar noch als moralifche 
Heldin auf, die in der Buße offnen 
Geſtändniſſes Araft und Ruhe findet. 
Auf die Studie befommen wir 
übſche ſtimmungs- und humorvolle 

ahrmarktsſchilderungen von Felix 
Salten zu hören. Indeſſen jo wiene— 
riſch diesmal der Stoff war, den 
Eindruck, daß dieſe Sachen grad ein 
Rienerfind mit feinen bejonderen 
Wiener augen gefehen, habe id) nicht 
empfunden, und darauf, auf dasWie, 
kommt es doc) bei all ſolchen Fragen 
an. Zum Scluffe gab uns Bahr ein 
Stüd eigner Arbeit, „Die jchöne 
Fran“, zum Beten. Die jhöne Frau 
wird dent Dann auf der Hochzeits- 
reife dadurch zur Plage, daß fie über- 
all vom Bublitum bewundert werden 
will — mo das nicht geſchieht, ift 
ihres Bleibens nidt. Um endlich 


Kunjtwart 


— 10X 





feine Ruhe zu befommen, mietet der 
Dann in Sclierjee den Meßner zum 
Bewunderer feiner Frau für drei 
Dart täglich und freie Verpflegung. 
Braudt es mehr als dieſe Inhalts» 
angabe zum Beweiſe dafür, dab ſich's 
nur um einen Yeuilletonipaß handelt? 
Ale Gewächſe des Mikes und der 
Komif, die an diefer von den Herren 
„Humorijten* häufig begangenen Land— 
ſtraße blühen, ſammelt dabei Herr 
Bahr gewiſſenhaft ab, ohne das be= 
iheidenite Blümchen zu verſchmähen. 
Anſpruchsvollere Leute dürften 
doch ein wenig gewundert haben, da 

Bahr mit „Werfen“, mie den geſchil— 
derten, einen neuen mienerifchen Lites 
teraten » Gafetifch gleih als „Jungs 
öſterreich“ vorſtellen mollte. 

In den Kaimſälen hörte man vor 
ein paar Tage wieder einmal einen 
ſchlichten Mann feine Dialettdichtungen 
vorlesen, die „Literarische Geſellſchaft“ 
hatte ihn bergebeten. a, das war 
ein Vertreter feines Vaterlandes. Ich 
meine Veter Rojeggaer In ihm 
als Nezitator tritt das Berinögen 
plaftifhen Erzählens, das in all uns 
fern deutichen Alpenvölkern ftedt, ganz 
auffallend ſtark hervor. Dabei hat er 
fih troß der ärgſten Bewunderungs— 
anfälle jeitens der Mode die ganze 
Gdtheit und die unbelümmerte Na— 
türlichkeit feines Vortrags bewahrt. 
Das allein ſchon madte ihn zu einem 
merfwürdigen Dann. Und grade dar= 
aufhin follten ihn ſich unsre 
Iheatergrößen mal anfehen. Un 
Gehalt waren die vorgeiragenen Saden 
freilich reht ungleich. 

x. Weber. 


— 


Theater, 


*Von den Berliner Theatern. 

Der König der modernen Bühne 
iſt der Schwanf. An reihen Falten 
fließt dev Mantel der Macht von feinen 
Schultern, und das brealüdte Volk 
jubelt, wenn er fih in aller Herrlid)- 
feit feinen trunfnen Bliden offenbart. 
Das beglüdte Volk ift immer dank— 
bar, und jo zahlt es Seiner Majeſtät 
mit Freuden eine Rente, die ihr ein 
Reben erlaubt, fo luxuriös, wie das 
irgend eines anderen gefrönten Hauptes. 
Der Schwank hat aber mehr als Dieje 
Rente; er hat, was nicht alle Herrſcher 
haben, er hat im äfthetiichen Parlament 
eine ſichere Majorität. Wenn er lächelnd 
die Bühne betritt, verſtummt die Kritik 
und dienert beflifjen. Die literarifchen 


1. Hovemberheft 1895 


— 


Abgeordneten vergefien Mandat, Pro— 
gramm und eigene Würde, um in 
einem fanften Bogen zu eriterben, bei 
dem ſelbſt der felige Hofmarſchall 
von Kalb das Bewußtſein einer ge— 
wiſſen demokratiſchen Widerhaarigkeit 
empfunden hätte. Eine lumpige Tra— 
göbte. mwird gedreht, gewendet und unter 
die Lupe genommen. Ein lyriſches 
Bud, wird mit fpiten Fingern anges 
faßt und mit füffifantem Lächeln mie 
eine geiſtige Abnormität herumgereicht. 
Über ein Schwank — ab, der Schwank 
ift König! Er hat Macht und Tantie= 
men au vergeben und hat erreicht, was 
fein europäifcher König in der Zeit 
des allgemeinen Wahlrechts erreichen 
fann: daß feine Maßnahmen einer 
ſachlichen Kritik entzogen find. Er 
führt ein Schredensregiment — wohl— 
an! Er frißt die geiftigen Sträfte des 
Volks — nun wohl! Er lebt, indem 
wir alle fterben — mas ſchadet's! 
„Es ift ja ein Shmwanf“, fagt die 
Berliner Kritik und ftredt die Waffen, 
Der Zuftand ift hoffnungslos, wenig— 
ſtens infofern, als der einzelne ihn nicht 
zu ändern vermag. Wer naiv ift, reißt 
den Degen aus ber Scheide, muß aber 
bald erfennen, daß er gegen Mächte 
fiht, gegen bie fein Degen hilft. Die 
Machtſtellung des Schmwanls iſt eine 
biftoriiche Notwendigfeit, die nur durch 
hiſtoriſche Kräfte befeitigt werden fann. 
Das Kapital hat manden Winfel er— 
leuchtet, der vorher dunfel mar, wenn 
aud nur mit Auerſchem Glühlicht. 
Die Philifter find durch das moderne 
Leben mafjenmeife aus ihrer dumpfen 
Trägheit geriffen worden. In ber ans 
ſpruchsvollen Gegenwart wollen aud) 
fie fich nicht länger mit Kartenabenden 
und anderen ebenfo harmlojen Geiſtes— 
übungen aufrieden geben. Es wächſt 
der Menſch mit feinen höheren Zwecken 
— in den Zirfus wollen fie, ins Pa— 
noptifum, zum Radfahrertongreß und 
— in den Schwanf. Die einzige Macht, 
die hier einigen (aud) nur: einigen) 
Wandel ſchaffen fönnte, die weilver— 
breitete Preſſe nämlid), verjagt und 
muß verjagen. Sie kann Ibſen tole= 
tieren und Hauptmann loben — das 
fchadet nichts. Wenn nur der Schwank 
nicht angetaftet wird! Die Leute, die 
Blumenthal lieben, find zugleich die 
Abonnenten der mweitverbreiteten Preſſe 
und Abonnenten reizt man nicht, we: 


nigjtens nicht zum Widerfprud. Der | 


Schmwanf ift die literariihe Cha— | Dreyer bringt, war immer da. 


in ber Unſchuld feines Herzens glaubt, 
diefen Zufammenhang der Intereſſen 
durhbrehen zu fönnen, beikt auf 
Sranit. Der äfthetiihe Kampf foll 
und muß geführt werden, mit dem 
ganzen feuer, das eine gute Sade ver= 
leiht. Er fann vieles lindern und vieles 
mildern. Die neue Zeit aber bringt 
er nicht herauf, ſowenig wir Literaten 
die deutſche Geſchichte beitimmen. Die 
Gefundung des Theaters und ſchließ— 
lich des gejamten Scrifttums iſt ein 
hiftorifher Vorgang, an dem Dichter 
und Sritifer fi) wie andere Staats— 
bürger auch beteiligen fünnen — aber 
nicht in der literarifchen Preſſe. 

Wenn man den neuen Schmanf 
Mar Dreyers in dem eben ſtizzier— 
ten Zufammenhange betraditet, darf 
man ihn harmlos nennen. Harmlos 
freilich nicht in dem Sinn, in dem eine 
allzu liebensmwürdige Kritik dem Mutor 
das beliebte Beimort als willlommenes 
Geſchenk enigegenbringt. Harmlos nur 
infofern, als e8 ſchließlich der fämpfen= 
ben Literatur auf einen ſeichten Schwank 
mehr oder weniger nidt anlommen 
fann. Dab allerdings gerade Mar 
Dreyer ihn fchreiben mußte, ijt ein 
Umitand, ber für viele Leute einen 
unangenehm bitteren Nebengejhmad 
haben wird. Für viele — wie ih 
gleich hinzufügen will, nicht für mid), 
denn id) perjönlich habe Dreyer nie 
für einen Dichter von felbitändiger 
Bedeutung gehalten und weiß daher 
auch jet meine Verwunderung zu 
zähmen, wo er feine unleugbaren lite— 
rariihen Stenntnijfe in Bauſch und 
Bogen für einen Schwanferfolg los— 
geichlagen hat. Da man aber den 
literarijchen Ernjt gern und oft als 
Griesgrämlichkeit verdächtigt, muß ich 
wieder fchreiben, daß ich einen guten 
Schmwant fehr gerne ſehe. Wer einen 
Schwanf ſchreibt, bat große Rechte. 
Er darf ſich über jede ernſthafte Pſy⸗ 
chologie und über jede innere Notwen— 
digkeit hinwegſetzen wie ein Student 
am erſten über die Geſetze der Finanz— 
funjt. Mer aber Rechte hat, hat Pflich— 
ten, und wir fünnen zu unjerem Leid— 
mwefen die Schwanfautoren von dieſem 
hausbadenen Sat nicht ausnehmen. 
Wir fordern von ihnen irgend eine 
originelle Figur, irgend einen origis 
nellen „Goup“, irgend ein originelles 
fatiriiches Streifliht, furz und gut, 
irgend etwas Driginelles. Was aber 
Oder 


rafterlofigfeit und die „weitverbreitete* | wenn man will, es war nie ba, injo= 


Preſſe ijt die journaliftifche. 
Kunftwart 


Wer | fern feine Konflitte nie im Icbendigen 


ı. Xiovemberheft 1898 


- I — 


Menſchendaſein wirkten, fondern immer 
nur bei den Bühnenamüfjeuren jeder 
Zeit und jedes Landes. Was Dreyer 
zeichnet, ift der Weiberfeind, der männ= 
lihe Haller des zweiten Geſchlechts in 
feiner unmännlichſten ®eftalt, die Kar— 


tifatur eines großen Motivs, das ohne | 
äfthetifche Bedenften dem Gejohle der 


Galerie preisgegeben wird. Der Herr 
Butäbefiger — e8 ift in Dreyers Fall 
ein Gutsbefiger — haft die Weiber 
und belegt das mit Zitaten aus Schrift- 


jtellern, die ebenjall8 ohne philofo= | 


phiſche Bedenken dem Spott der Frauen 


und der Stinder preißgegeben merben. | 


Der Dann war verlobt und in der 
$tnofpenzeit der Liebe fühte feine Braut 
einen anderen ; deshalb hakte der Diann 
die Weiber. Seine Belehrung zum 
allein ſelig madenden Weib ift der 
Vorwurf des Dreyerjhen Schmantes, 
in feiner Durhführung jo armielig 
wie die Freiheit in Preußen. Was 
außer dem armfeligen Helden nod) über 
die Bühne geht, find ein „bummer 
Diener“, ein paar adrette Lieutenants, 
ein Backfiſch von Moſer und eine 
dumme Köchin aus irgend einer andern 
Poſſenfabrik. Daß bei diefem Per— 
fonal ein befeßte8 Parkett aus dem 
Häuschen gerät, ift in der Ordnung; 
daß die Kritik dienert, ift begreiflic, 
dat aber jelbft ehrliche Leute ihre An— 
ſprüche bis zu einem ergebenjt gemur= 
melten „harmlos“ berabitimmen fonn= 
ten, bedauern wir, weil foldhe jage 
Beicheidenheit uns zur Erwähnung 
eine® Ddramatifierten Gemeinplaßes 
nötigt, der ſonſt Hanglos hätte ver: 
ſchwinden fönnen. 

Und nun zu Schnigler Der 
Wiener Poet, der fo angenehm zu 
plaudern weiß, mill augenſcheinlich 
nit mehr plaudern. Er will irgend 
etwas mitteilen, was die Menſchen 
länger beichäftigt, als eine Taſſe ſchwar— 
zen Kaffees und eine Zigarette das im 
allgemeinen zu thun pflegen. Das Be— 
deutende fcheint ihn zu reigen, der ein= 
zelne Fall, der wie ein Schredihuß 
wirft und Die Gefellfchaft in ihrem 
fatten Wohlfein ſtört. Den Willen 
bat er, aber es ift ein überreigter Wille, 
ein Wille, der nicht aus der Kraft ge— 
boren wurde, der im Gehirn entitand 
und nun nad der Straft fchreit. Dies 
grelle Schreien aber ift unerquidlid. 
Dan hat immer den Eindrud, einem 
Menſchen gegenüber zu figen, der ſich 
fünftlih „auffragt*“, um bedeutend zu 
ſcheinen. Scniplers Motiv ift alt. 
Die Menſchheit weiß nun nachgerade, 


Kunftwart 


— — — — — — — 


daß die Bourgeoiſie verlogen iſt und 
daß die Demimonde Repräſentanten 
der erhabenſten Geſinnung enthält. 
Schnitzler ſagt es noch einmal, leider 
ohne die Literatur darüber zu be— 
reichern. An der Frage an ſich haben 
wir kein Intereſſe; wir ſtehen der 
„Belt“ und der Halbwelt gleich fern 
und ſchenken unſer Ohr ben beiten 
Gründen. Nun find es aber leider 
die Gründe, auf die Schnigler jo voll: 
fommen verzichtet, wie ein radifaler 
Naturalift auf die Schönheiten der 
Spradie. Bon dem weiblichen Engel, 
der uns rühren fol, erfahren wir nichts 
Nennenswertes, als den Tod ihres 
Vaters, der fie in der landesüblidhen 
Weiſe verfludt hat und den fie in der 
Iandesüblichen Weiſe einfan bat fterben 
laſſen. Das fcheint mir etwas wenig, 
wenn mid die Dame drei Stunden 
lang interefjieren und überdies von 
meinen Borurteilengegendie bourgeoife 
Zimperlichfeit furieren fol. Im alle 
gemeinen find ja die fleinen Damen 
der Voritadt, die in der inneren Stadt 
teure Etagen bemohnen, recht harm— 
108; ſie färben ihr Haar, leiſten ſich, 
wenn's gebt, ein Sloup& und haben 
unter allen Umftänden feite Logenſitze 
im Theater. Wenn id) außer dem noch 
an eine gemifle Engelhbaiftigleit der 
Gefinnung glauben fol, verlange ich 
Gründe — nein, ich verlange mehr: 
id verlange den Grund der Gründe. 
Ich mill fehen, wie zwei Dinge fo ver— 
ſchiedenen Weſens wie Tugend und 
Dalbmwelt zufammen wachſen fonnten. 
Die Geſchichte der Gründe möchte 
ich fennen lernen, und ich erhalte nicht 
einmal die Gründe, felbit Schniglers 
„Vermächtnis“ fteht und fällt, und 
fällt alfo mit der kleinen Perſon, die 
er zur Trägerin der Borftadtherrlich- 
feit gemadjt hat. Sie meint, meil ihr 
Beliebter ſtirbt — das thun andere 
auch; fie begieht die Leiche ihres ſtin— 
des mit Thränen — das thut eine 
Mutter immer, aud) wenn fie daß 
ausgehaltene Mädchen eines reichen 
Mannes war. Sie ift in der Familie 
ihres Liebhabers voll von Taft und 
Rückſicht — das ift verftändlich, weil 
fie alles zu verlieren und nichts zu 
vergeben hat. Das Bejondere fehlt. 
Die Heine Maitreffe, deren Martyrium 
uns erzählt wird, ift eine Maitrefje 
wie andere mehr, fie hat nichts per= 
jönlicheg, das fie in unferer Erinnerung 
haften läßt. Das fcheint mir der 
Hauptmangel. Ob das Stüd geſchickt 
oder ungeichidt, elegant oder plump, 


1. Novemberheft 1898 


— 105 — 


geijtreich oder ſchlicht gearbeitet iit, 
— darüber ließe ſich ftreiten. Aber 
der Kunſtwart braucht feinen Raum 
für Wichtigeres. 

Zum Schlufje zu Halbe Das 
Berliner Premierenpublifum hatte 
feinen guten Tag. Im Haufe Leſſings 
herrſchte mitunter ein Radau, wie man 
ihn jelbit in einem Matrojentheater 
legten Ranges nur jelten trifft. Ernite 
Szenen wurden mie gelungene ftalauer 
bejohlt; mohlgemeinte, aber veruns 
glüdte Sentenzen wurden mit Donnern= 
dem ironifchen Bravo begleitet und 
wenn der Dichter eben feine ſchlimmſte 
Niederlage erlitt, wurde er unter wies 
herndem Gelächter gerufen. Der Dichter 
— ad, er hieß Mar Halbe. Sein 
Stüd it fchleht und verdiente Die 
furchtbare Niederlage, den Sfandal 
aber verdiente er nicht; um des Did)- 
ters willen, der ehrlich geitrebt und 
Gutes geleiftet hat, hätte das Publikum 


feine ſchlechten Injtinfte zügeln müffen. | 


Kritifieren fann man dieje „Tranödie* 
nit. Halbe hat fih, in einer aller 
dings faſt unbegreiflichen Weije, über 
feine Begabung getäuscht. Er veriteht ſich 
auf intime Bühnenftimmung und ins 
time Charafteriftif. 
leben und weben im Duft ihrer Heimat, 
und das iſt viel. Im „Eroberer“ aber 
beihmwört er die Renaifjance herauf, 
wagt er jih an Motive, die mit ge— 
waltiger Kraft geitaltet fein wollen, 
wenn nicht das Erhabene in das Lächer— 
liche umſchlagen fol. Bon den Eleinen, 
hübjchen Liebestonfliften der „Jugend“ 
verlangt er, daß fie bedeutend fcheinen 
follen. Bei der Premiere hat er ges 
büßt, was er gefündigt und hat oben= 
drein noch Unrecht erlitten. Daß er 
endlich die Grenzen feiner Begabung 
erfennte! Er iſt ein Poet des Intimen 
und fann ebenfo leicht bedeutende Stoffe 
bewältigen, wie Sinderarme ein 
Schladhtihmert ſchwingen können. Der 
geitrige Abend hat klar und deutlich 
das Gebiet bezeichnet, das fein Fuß 
nie betreten darf und der defpotifche 
Mob Hat zudem eine Rarnungstafel 
aufgerichtet, die wohl geeignet it, zu 
fchreden. 

Someit die Sadhe in Betracht kommt, 
ichliegen wir jegt. Darüber hinaus 
glauben wir aber doch unferen Leſern 
eine Mitteilung jchuldig zu fein. Ein 
leidlich begabter Dlime, der Jarno 
heißt, fühlte fich vom geiſtesverwandten 
Ulk des Publikums angeftedt und ulkte 
in einer fchmwierigen Situation durd) 
eine rüde Handbeweaung mit. Daß da— 


Kunftwart 


Seine Menſchen 


— — — — — — 


nigen der 











durch der brauſende Lärm im Parkett 
zum Orkan anwuds, iſt ſelbſtverſtänd— 
lich. Ebenſo ſelbſtverſtändlich aber 
hätte ſein ſollen, daß Herr Direltor 
Neumann-Hofer den vergnügten Herrn 
noch am ſelben Abend aus dem Ver— 
band ſeiner Bühne entließe. Die kon— 
traktliche Berechtigung dazu hatte er 
unter allen Umſtänden. 
Erih Schlaikjer. 


Muſit. 


* In Münden war das bedeu— 
tendite „Muſikereignis“ der legten Zeit 
Profejlor Berthold Hellermanns 
Unternehmen, mit dem bedeutend 
veritärften Kaim-Orcheſter, die ſämt— 
lichen zwölf ſymphoniſchen Dich— 
tungen Liſzts in einem vier Übende 
umfaffenden Zyflus vorzuführen, eine 
„Ihat* (um cin viel mihbraudtes 
Wort aud einmal da anzumenden, 
wo e8 wirflih am Plage ilt), deren 
fogufagen „moralifhes“ Verdienſt 
nicht geringer anzujdylagen iſt, als 
das rein fünitlerifhe. Ein Alt pie 
tätvoller Huldigung, vom Schüler 
dem großen Lehrer und Meifter dar 
gebradt, geitaltete ſich durch feine 
mwürdige, zum Teil geradezu alanz= 
volle Ausführung zu einem muſilkali— 
ihen Ereignis allereriten Range®. 
War e8 ſchon im allgemeinen hoch— 
interejlant, dieſe Meiſterwerke einer 
Gattung, in der, wie faum in einer 
anderen, die fünjtlerifche Gigenart 
Liſzts ſich rein und deutlich ausprägt, 
in lüdenlofer Reihe vorüberzichen zu 
hören, fo faınmelte fi natürlich diefe 
Zeilnahme ganz bejonders auf dieje— 
ymphoniſchen Dichtungen, 
die man ſonſt felten oder gar nicht 
aufführt. In diefer Beziehung bot 
der „Hamlet“ wohl auch folden, 
die mit dem Lifztichen Schaffen vers 
trauter find, eine Ueberraſchung. Die 
mit Worten nidt einmal aud nur 
anzubeutende, geradezu ſuggeſtive 
Wirkung, welche dieſes kurze Stüd 
troß, oder vielleicht gerade mit in= 
folge feiner mufifaliihen Schlicht— 
beit und Reizlofigleit bei fongenialer 
Aufführung, mie bier unter Keller— 
mann, ausübt, war jelbit für genaue 
Stenner der Bartitur faum zu erwar— 
ten. Für das große Publitum frei 
[ich wars „Caviar“, was man außer— 
dem nur noch von der grandios wuch— 
tigen „H£roide funebre* jagen fann. 
Auch diefes Werk veritehend zu ges 
nießen, wird noch für lange Zeit den 


1. Novemberheft 1898 


- 18 — 


„Epopten* des mufifalifchen Eleufis 
vorbehalten fein. Dagegen verjehlten 
die fämtlihen übrigen Stüde aud) 
auf die Menge der überhaupt künſtle— 
riſch Genußfähigen nicht ihre tiefe und 
mächtige BWirfung, wie ja diefe Sachen 
ganz dazu angelegt find, im beiten 
und ebeliten Sinne des Wortes po= 
pulär au merden. Möge Seller: 
mann Nachfolger finden! Denn mehr 
noch als ſ. 3. an Wagner und Bers 
lioz Hat die Nahmelt an Lifzt ein 
großes, von den Mitlebenden began= 
genes Unrecht wieder gut zu maden, 
foweit das möglih iſt. Seine uner- 
hörten Triumphe als Slavieripieler 
ftanden ihm im Wege, als er Die 
Hand nad) dem unvermelflicheren 
Lorbeer des neu jchaffenden Htünitlers 
auszuftreden wagte: war er dod) fo 
unvorlidtig, das zu thun, nachdem 
ihn die „Kritik“ bereits dur das 
Auffleben der Etifette „reprodugzies 
render Künſtler“ zur Unfähigkeit auf 
dem Gebiete der jelbjteignen muſika— 
liihen Produftion verdammt hatte. 
Es ift hohe Zeit, diefer Fälfhung und 
Arreführung der öffentlihen Meinung 
mit aller Energie entgegengutreten, 
und zwar nidt ſowohl um Liſzts 
willen — jein Genius wird jidh mit 
oder gegen uns doch ſchließlich Bahn 
breden —, als megen unjrer jelbft, 
damit mir nicht zu Mitjchuldigen an 
den Sünden unferer Väter werden. 
Sollte man es doch nicht für möglid) 
halten, daß — um ein bezeichnendes 
Beiipiel anzuführen ein gegen 
Liſzt keineswegs voreingenommener, 
ihm vielmehr durchaus ſympathiſch 
gegenüberſtehender Beurteiler, Hugo 
Riemann, auch noch in der neueſten 
Auflage ſeines weit verbreiteten Mu— 
ſiklexikons (1894) den Saß ſtehen läßt, 
daß „die eigentliche ſchöpferiſche Bes 
gabung Liſzts anzugmeifeln“ fei, einen 
Saß, den er doch eigentlich jelbit als 
abjurd erfannt haben müßte. 
R. £ouis. 

* Wornad und wie ftudiert 
man Sontrapunft?*, fragte vor 
einiger Zeit ein eifriger Kunſtwart— 
lefer und Muſikfreund“, der feine 
Kenntnifje vertiefen und in die Wun— 
der ber Polyphonie, der Fugenkunſt 
u. f. w. eindringen wollte. Damals 
fonnte ich ihm privatimnur eini e mehr 
oder minder unpraftiihde Schmöder 
nambaft maden, die ihn ohne die 
mündlide Erläuterung eines Lehrers 
aud nicht viel weiter gebradt haben 
dürften. Nun vermweife id) ihn aber 


Kunftwart 


— und zwar zu allgemeinem Nupß’ 
und Frommen gleih im Kunſtwart 
jelbit — auf die Ausgabe der Fugen 
des „Wohltemperierten Klaviers“ von 
Dr. 5%. Stade (Leipzig, Steingräber, 
2 Bde. a Mi. 2.50). Diefe ift partitur= 
mäßig, d. h. jede Stimme iſt auf einem 
befonderen Syftem gefest, was den 
Einblid in die Stimmführung und 
damit in den Aufbau der Werle außer— 
ordentlich erleichtert. Unter dem Texte 
läuft ein vorzügliher Kommentar, der 
die motivifchen Bildungen und ſom— 
binationen fnapp aber treffend erläus 
tert. Und jo glaube ich verfichern zu 
fünnen: mer dieſe Ausgabe durchge— 
arbeitet bat, iſt ein wohlbeſchlagener 
Mufitus, der vor den gelahrteiten 
Kontrapunktiſten mit Ehren beitehen 
fann, und befigt eine Einſicht in den 
Bachiſchen Stil, die ihm aud die 
Kenntnis feiner übrigen Werke fait 
mühelos erfhließen muß. Der Her— 
ausgeber, Dr, 5. Stade, hat durd) eine 
vorausgeihidte furze „Lehre vom 
Stontrapunft und von der Fuge* bie 
Brauchbarkeit des Ganzen aud) beim 
Selbitunterridte in dankenswerter 
Weiſe erhöht. Der Tert an fih fann 
endlich noch zur Verbreitung im Par- 
titurfpiel dienen, mobei der Vorteil 
darin liegt, dab fi) der ganze Satz 
Haviermäßig ohne Auslaſſungen fpie- 
len läßt. 

* Mit dem Mufitverfauf nad) 
dem Hilo dürft’ es zu Ende fein: 
Herr Karl Simon erläht im „Wahl- 
zettel“ eine lange Erflärung, die über 
den Berrat diejes „Geſchäftsgeheim— 
niſſes“ an uns klagt, zum Schluffe aber 
verfündet: er wolle in Zufunft feine An= 
gebote von Reitauflagen, für den Handel 
„in Rabattform jtatt in ſilogrammen“ 
maden. Das wird etwas mwürdiger in 
der Form fein, aber an der Sadıe 
ändern wird es natürlich nichts. Wir 
wollten dem Mann auch gar feinen 
großen Vorwurf maden, er hat naiven 
Gemütes für einen traurigen Zuſtand 
nur den treffenden Ausdruck gefunden. 
Das Traurige aber liegt darin, daß 
Mufitalien nit nad dem innern 
Wert, jondern nad) der Höhe der Ra— 
battjäge für den Zmifchenhandel ins 
Volk geworfen werden. 


Bildende Kunft. 


Aus dem Berliner funit- 
leben. 

E8 iſt mir von jeher aufgefallen, 
mwieviel Gutes und ntereflantes in 


1. Xovemberheft 1898 


- 1065 — 


Berlin befonders im Winterhalbjahre 
au fehen ift. Zu einer Zeit, mährend | 
der e8 in München ganz tot ift, fann 
man bier die verfchiebenartigjten in— 
und ausländifhhen Werke fennenlernen. | 
Gine fi ſtets fteigernde Konkurrenz | 
zwingt die Inhaber der Kunſtſalons, 
die itrengjten Unjorderungen an ihre | 
AYusjtellungen zu itellen. Und über | 
mangelnde Teilnahme bürfen fie ſich 

| 





hier nicht beflagen, denn, foviel Ba= | 
naufentum Berlin umfchliefen mag 
— die Zmweimillionenftadt beherbergt | 
doch auch eine fo ftattliche Gemeinde | 
von „Eſoterikern“, daß fie allein * | 
ein zahlreiches Publikum ftellt. Und | 
vielleiht fteigt der Prozentfag an 
wirflihen Sunftfreunden in feiner | 
Stadt Deutſchlands fchneller, als ges | 
rade bier. | 
Wie wäre eine Schöpfung, wie die ı 
Ausstellung Keller & Reiner fonft 
möglih! Es iſt mohl das großartigite | 
Privatunternehmen diefer Art, das in | 
Deutichland beiteht. Schon im Vor⸗ 
jahre war im Sunftwart mehrfach 
davon die Rede; in diefem Herbit hat 
nun eine bedeutende Umgeltaltung 
und Vergrößerung ftattgefunden. Bor 
allem iſt das Inſtitut um zwei große 
Oberlichtſäle für Bilderausitellungen 
vermehrt worden, die zu einem ver— 
einigt werben können und dann den 
arößten Saal biefer Art in Berlin 
bilden, woburd bie zweckmäßige Vor— 
führung monumentaler Werfe ermög- 
liht wird. Dann aber find bie fänt- 
lihen alten Räume * erſter Linie 
der angewandten Kunſt gewidmet) jo 
durchweg neu delorativ ausgeſtaltet 
worden, daß man ſie nicht wieder er— 
kennt. Beſonders der große Vorraum 
mit Verkaufshalle, das Leſezimmer 
und die nach den höher gelegenen 
Räumen führende Treppe iſt durch 
Van ber Veide in ganz eigenartiger | 
Weiſe ausgeftaltet worden, während 
die folgenden Zimmer befonders durch | 
Künitler der Bereinigten Werfitätten 
für Kunſt im Handwerk Münden ge— 
ſchmückt und gefüllt murden. Ein 
Raum wurde mit anmutigen dekora— 
tiven Stidereien von Marie Kirſchner 
ausgestattet, während ber Oberlicht- 
bau von Meſſel ftammt. So bildet 
diefe Anstalt jegt den Ort, an dem 
die Jdeen und der Wille unferer Zeit 
am beiten und vielfeitigiten zum Aus— 
drud fommen. — Die Eröffnungss 
— Posi eine große An— 
zahl von Werfen — um eine beliebte 
Nedensart zu gebrauden: 


Kunftwart 


die aufge 


forderten Künftler hatten ihre Viſiten— 
farte abgegeben. Das Bebeutendite 
war wohl Klingers Marmorftulptur, 
die im Frühjahr in Wien war. Die 
weite Ausitellung bringt Barifer Neo— 
Impreffioniften. Ich könnte nicht be= 


haupten, daß ich den Wunſch hegte, dieſe 


Gemeinde möchte hier Schule machen. 
Aber daß die Werke die Künſtler und 
auch die kunſtverſtändigen Laienkreiſe 
ehr intereſſiert haben, iſt anzunehmen. 

an will ſchließlich doch ſehen und 


kennen lernen, was um einem herum 


entjteht, und da ift einem, was tolle 
Sprünge madjt, immer nod lieber, 
al8 die einfdhläfernde Fabriksware 
draußen in Moabit. Was das Winter: 
programm von Seller & Reiner fonjt 
noch verheißt, das fpridt aud von 


feinem Gefühl für die Bedürfnifie 


unferer Zeit. 

Auch die übrigen Kunſtſalons in 
Berlin bringen ausgezeichnete Herbſt— 
ausitellungen. So Schulte eine 
ganze Sammlung mwundervoller Schö— 
pfungen Hlingers. Es find Entwürfe 
in Delfarbe, anſcheinend für — 
gedacht, und es iſt ungemein ſeſſelnd, 
dieſes Genie ſich auf ſolchem Gebiet 
bethätigen zu ſehen. Wir wollen ver— 
ſuchen, im Bild und Wort auf dieſe 
Arbeiten nochmals zurückzukommen. 
Auch Gurlitt bringt zwei Klingerſche 
Merfe — merkwürdig, wie mit ein— 
mal das Publikum den noch vor 
kurzem ſo wenig Verſtandenen ſucht. 

Dann iſt das neue Künſtler— 
Pen eröffnet worden. Die Aus: 
tellung bietet wenig Neues; eine Aus— 
lefe von guten und fchlechten, neuen 
und alten ®erfen, ohne Wahl aufge 
hängt, ungefähr mie in ber großen 
Ausitelung draußen. Ein jchöner 
Ludwig von Hofmann ift zu fehen; 
faſt nod) lieber ijt mir ein Bild diefes 
Künftlers, das jest bei Gurlitt tft. 
Da wir von Hofmann heut eine Bil- 
derbeilage geben, verweiſe id) auf die 
Begleitworte Dazu. Sd.-eXba. 


* Zur Dentmalpflege. 

Eine der köſtlichſten Zierden der 
Rheinlande bildet das ehemalige fur= 
fürftlide Schloß zu Mainz, ein 
mädjtiger Profanbau aus dem ı7. und 
ı8. Jahrhundert, deſſen Wiederher- 
—— ſeit Jahr und Tag eine be— 
chloſſene und geſicherte Sache iſt. 
Leider ſcheint nun bei der Militärver— 
waltung ein Plan gereift zu ſein, der 
dazu angethan iſt, alle Opfer vergeb— 
Li werden zu laffen; man beabſich— 


ı. Ziovemberheft 1898 


— 16 — 


tigt die in unmittelbarer Nachbarſchaft 
bes Schloſſes befindlihe fogenannte 
Schloßkaſerne, einen öden, langge— 
ftredten Nutzbau bedeutend au ver= 
größern und zu einem umfangreichen 
Soldatenlager umzugeſtalten. Alles 
Streben einen Balafibau deutſcher Re— 
naiffance in feinem urfprünglichen 
Glanze wiederherzuitellen, wird, wenn 
dem Stunftwerfe der Rahmen fehlt und 
die Umgebung ihn nicht hebt, fondern 
drüdt, für alle Zukunft, jo lange der 
geplante Kaſernenkaſten fteht, gemalt 
fam vereitelt. Die Schloßkaſerne wird 
dann als trennende Barrifade zwiſchen 
Alt- und Neuftadt liegen bleiben an 
jener für alles Schöne prädeftinierten 
und zugleich einzigen Stelle des Rhein- 
ufers, an der ſich der innigite Zus 
ſammenſchluß zwiſchen Alt- und Neu: 
ftadt vollziehen müßte. Es liegt hier 
ein tiejgehender Stonflift der militä= 
tifhen und fommunalen Intereſſen 
vor, der bei der Bedeutung des Monu— 
mentes, um das es ſich handelt, in 
weiteren Kreiſen befannt zu werden 
verdient. Es ſcheint nicht einleuchtend, 
warum man daran denkt, im fünitle- 
rifhen Mittelpunftt des Stabtbildes 
eine ausgedehnte unſchöne Zwingburg 
au errichten, während fonft überall 
das Beitreben vorherrſcht, die Kafernen 
in die Nähe der großen Hauptitraßen 
und Bahnhöfe zu verlegen. Bei einer jo 
wichtigen Sache mühten fich die Ver— 
mwaltungen entgegenlommen, um zu 
verhüten, was fpäter nicht mehr oder 
nur mit unverhältnismäßigen Opfern 
gut zu machen ift. Es ift zu erwägen, 
ob nicht das Reich bei derartigen Kon— 
fliften eingreifen joll, und wenn dazu 
etwa nod) die rechtliche Handhabe fehlt, 
ob fie nicht gefchaffen werden fünnte? 
Bielleiht iſt nicht allgemein befannt, 
daß im Nahbarlande Frankreich die 
Staatliche Denftmalpflege durd) das Ge— 
feg vom 30. März ı887 eine feſte 
juriftiihe Grundlage erhalten bat. 
Diejes Gejeg iſt im gleichen Maße 
überall ben vorhandenen Rechtsin— 
ftituten und den Einridhtungen ber 
Bermaltung angepaßt worden, e8 hat 
mit Glüd die in langer Thätigfeit ge⸗ 
ſchulte „commission des monuments hi- 
storiques“feinen Zmweden dienjtbar ge= 
madt und meilt alle Merkmale ges 
funder Gefeggebungspolitif auf. Ohne 
Webertreibung find dadurch Die Inter- 
eſſen der Gedichte und Kunſt gewahrt 
und auch jein Verſuch, die auf dem 
@ebiete des Dentmalichuges jo Teicht 
einander feindlich fi) begegnenden In— 


Kunftwart 


| 
| 


—— —— ——— — ——— — — nn — — 


tereſſen und Anſprüche möglichſt aus— 
zugleichen, iſt vollkommen gelungen. 
Der Ausblick auf fremditaatliche Ver— 
hältniffe fcheint in unferem Falle um 
fo gerechtfertigter, weil die franzöſiſche 
Verwaltung und die dortigen Gerichte 
ftet8 anerfannt haben, daß Gebäude 
ip werden dürfen, fofern fie nur 
ein Denkmal verunjtalten oder ver— 
bergen. Statt deſſen will man bei uns 
einen öden roten Steinblof mie bie 
Schloßkaſerne, dem jede geichichtliche 
und künſtleriſche Bedeutung fehlt, nicht 
nur in unmittelbarer Nähe eines der 
fein ten und reizvollſten deutſchen Re— 
naiſſancedenkmäler erhalten, ſondern 
ihn ſogar noch durch Ausbau nad) 
jeder Richtung bedeutend vergrößern. 

Selbitverftändlid kann nicht, wie 
hon Geh. Juftizrat Prof. Lörſch in 
einen Ausführungen zu dem mehrfad) 
nenannten Geſetze Darlegt, an eine 
flache Uebertragung der frangöfifchen 
Beitimmungen auf deutſche Verhält— 
niſſe gedadhht werden. Über in ihrer 
Folgerichtigfeit und glüdlihen An— 
paſſung an das geltende Recht und die 
beftehenden Einrichtungen find fie als 
geradezu vorbildlicd) anzuerkennen. Die 
Frage, ob nicht Die deutſche Geſetz— 
gebung, ohne die Selbjtändigfeit der 
einzelnen Provinzen und Staaten zu 
verlegen, allgemein leitende Geſichts— 
punfte fejtlegen fünnte, iſt feinesmegs 
von der Hand zu weiſen. Freilich 
wird der Gefehgeber und werden nod) 
mehr diejenigen, die ihn unteritüßen 
wollen, fi) immer wieder vorhalten 
müflen, daß auch das beſte Geſetz 
feinen Nuten ftiftet, wenn das, mas 
es fördern und ſchützen fol, nicht in 
den Anfhauungen und Neigungen des 
Voltes und vor allem der Gebildeten 
Anerfennungund Schu findet. Möchten 
wir dod) alle der Worte Miontalemberts 
gedenten: Les longs souvenirs font les 
grands peuples. 


Unfere Beilagen. 


Unfre Notenbeilage bietet dies— 
mal ber Hausmufift drei Sadıen dar 
von Joh. Seb. Bad. Brauden wir, 
nah allem früher Gefagten, zu bes 
gründen, weshalb wir von „fo be= 
fannten Meiſtern“ etwas bringen ? 
Sind fie denn „ſo“ befannt? Dem 
Namen nad, ja da find ſie's wohl, 
aber den Werfen nad) find ſie's höch— 
ftens, wo ſich's um ihre Hauptſchöpf— 
ungen handelt. Abſeits von denen 
aber jprudeln Quellen lauteriter Schön- 


ı. Movemberheft 1898 


- 102 — 


Künftler8 ausmadt: das innerlidye 
Schauen, das Berdidhten der bloßen 
Natureindrüde zu neuen inbividuell 

eprägten Formen, ilt bei ihm jo 
Fat, wie bei ganz wenigen. Die Welt, 


beit, zu melden oft faum ber Fach— 
mufifer den Pfad gefunden hat. 
Gleich das erjte Stüd, der Schluß— 
ver8 der herrlichen Stantate über 
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ 
im ftraffen Choralfaß iſt weit weniger 
befannt als die Bearbeitung ders 
felben Weiſe (fie findet fi) zuerſt 
1598 in Philipp Nicolais „Freuden— 
ipiegel*) in Mendelsjohns „Paulus“. 
Mendelsſohn verftand ſich mwahrlid) 
nicht jchleht auf die Setzkunſt, aber 
mer ſich Bachs überlegene, gemaltige 
Meifterfchaft recht zu Gemüte führen 
will, vergleiche deffen Arbeit mit der 
feinen, wie wir fie heut wiedergeben. 
Welch fchöner Fluß der Stimmen! 
Melde Natürlichkeit der Harmonien, 
da man meint: e8 fünnte gar nicht 
anders gemadt werden! Welcher Ernit, 
welche Mannhaftigfeit des Charakters! 
Belommt nad diefem Pröbchen der 


die er geftaltet, ift ganz feine Welt 
und wer fih einmal in fie hinein ge— 
fehen, der erfennt fie jtet8 mieber. 
Hofmann tft ein Meifter des Delorativ- 
formalen: aber ihm gelingt e$ in jeinen 
beiten Schöpfungen nicht minder, fees 
Lifch zu beleben. Weſſen Phantafie über: 
haupt ſtark genug ift, in eine Zauber— 
traummelt einzudringen, der wird bei 
ihm vor allem der märdenhaften 
Stimmung genießen, aber dieje 
Stimmung ijt hier mit dem Defora= 
tiven völlig eines geworden. Merf- 
mwürdig ift unfer Bild alsdann, meil 
e8 mit dem Rahmen ein jdier uns 
| trennbares Ganzes bildet. Wer da 
‚ meint, daß das ein Fehler jei, der 
Leſer auf die ganze Stantate Luft, fo | möge die Begründung für dieſe Mei— 
ift das legte Ziel diefer Unregung ers | nung ſuchen — wir glauben nicht, daB 
reiht. Empfohlen fei die Ausgabe bei | er aufStichhaltigeres, als überfommene 
Breitfopf & Härtel (Slavierauszug | Vorurteile treffen wird. Die Linien 
ME. 1.50). und Formen, die Hofmann da bringt, 
Das folgende Stüd ift dem Supple= | klingen wie anmutigsfeierlihe Mufif, 
mentband zu Bachs Slavierwerfen | fie jchmellen an und verhallen dann 
(Edition Peters, ME. 3.—) entnommen | wieder leife, wie ins Unendliche. Hof— 
und trägt die Bezeihnung Gigue, | manns Kunſt ilt eine Kunſt der ans 
d. h. einer alten Tanzform in fehr | mutigen Schönheit. Er ſucht nicht 
lebhaften Zeitmaße. Es hat gar nichts | das unerbittlid Charafteriftiiche, ſon— 
opfiges an fih, ja man fönnte e8 | dern er träumt von paradiefifchem 
iſchweg als Charafterftüd, etwa mit | Lebensglüd. 
der Ueberſchrift „Fröhlicher Reiters: Sernand Khnopff in Brüſſel 
mann“ fpielen und darin gejdildert | ift einer der feltfamften Maler der 
finden, wie das Rößlein ausgreiit, wie | Gegenwart, das Bild aber, das wir 
es unter feden Aflorden den Abhang | hier von ihm bringen, wählten wir, 
herunter, dann geitredten Galopps | um einmal zu zeigen, wie fein charak— 
über die Ebene faujt und fchließlich | teriftifch diefer Myjtifer auch das ge= 
unfern Bliden entichwindet. — Das | mwöhnliche Leben daritellen fann. Das 
folgende Heine Menuett entftammt | Bildnis des Kleinen Mädchens erjcheint 
gleichfall8 jenem Supplementbande. | auf den eriten Blid fait „harmlos“. 
Jedes Find kann es fpielen, aber auch Aber mit welcher Jntimität ijt es 
der erwachſene Muſiker wird an feiner | gegeben! Es jtedt eine Beobadhtung 
entzüdenden Einfachheit und Grazie | und eine malerifhe Feinempfindlich- 
feine $reude Haben. feit und Vornehmheit darin, die ſtau— 
Bon unfern Bilderbeilagen | nenswert ift. Khnopff ift durch und 
ift die eine Ludwig von Hofmann ges durch „refervierter Ariſtokrat“ unter 
mibmet. Was unfrer Anſchauung nad | den Malern. 
eines der wefentlidhften Momente des 


Inhalt. Säaufpieltunft und Theaterihulen. Bon Eugen Kalkſchmidt. — 
Grotthußens Probleme und Charakterlöpfe. Bon Adolf Bartels. — Die Technik 
des Sprediens. Bon Anton Urſpruch. — Ueber Kunjtpflege im Mitteljtande. IX, 
Von Paul Schulge-Naumburg. — Loſe Blätter: Aus Fontanes „Stehlin”. 
— Rundihau. — Bilderbeilagen: Ludwig von Hofmann, Babdende; — 
Khnopff, Porträt. — Notenbeilage: Joh. Seb. Bach, Choral, Gigue, Menuett. 
Verantwortlich: der —— Ferdinand Avenarius in Dresden-Blaſewitz. Mitredafteure: für 
Mufif: Dr, Rihard Batfa in Prag, für bildende Kunf: Paul Shulge-Haumburg in Berlin 
Sendungen für den Tert an den Herausgeber, über Mufif an Dr, 


Batka. 
Derlag von Georg D. W. Callwey. — Kgl. Hofbuchdruderei Kaſtner & Koffen, beide in Mäanchen. 
Beftellungen, Anzeigen und Geldjendungen an ben Derlag: Georg D. W. Callwey in Mänchen. 





handlung: Georg D. W. er in ABüncben. 
Nahdrud fämtliher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und der Beilagen, 
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird feine — 
übernommen, Rüdfendung nur wenn Rückporto beilag. 





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fi — 






Poehlmanns Gedächtnislehre entwidelt die Beobachtungs- und 2 
feſſelt die Aufmerkſamkeit, heilt fomit von Zerftrentheit und ftählt das natürlic 
Keichtes Erlernen von Sprachen, Wiſſenfchaften ıc. Anwendung aufs praftifcdhe eben. 
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öünd hen 










12, $abro. Zweites Novemberbett 1898, bett 4, 





N FE nn 


DER RUDSTWART | 


Künstlerische Weibnacbtsgescbenke., 


Es gibt bei ung eine munderfame Spezie® von reich verzierter 
Bare, die man „Kunftgegenftände* nennt. Sein Menſch dächte je im 
tiefiten Traume daran, fid) fo etwas zu kaufen, und feiner verlangt im 
hellften Wachen jemalß nad) feinem Beſitze. Wer’8 aber gejchentt be= 
fommt, der jagt: „eil“, denn von Geſchlecht zu Gefchleht hat fich in 
ihm der fromme Glaube vererbt, diefer Gegenftände Wirkung fei, „das 
Leben zu verſchönern“. Deshalb: hältit du etwas auf did, jo mußt 
du ja wohl dergleichen im Haufe haben, e8 geht nicht anders, denn: als 
Gebildeter mußt du dir „daS Leben verjchönern“, dazu aber find jene 
Dinge da, — alfo! Früher nannte man fie „Salanterieartifel“, jett 
nennt man fie mehr „Gefchenfsgegenftände*. Denn was du dir nicht 
felber thuft, das füge du den andern zu: faufjt du „dag“ nicht für Dich, 
fo kauf es, um es zu verfchenfen, wie du deinerfeit dergleichen geſchenkt 
friegft. Seine Geftalt ift mannigfaltig: e8 kann aus Zinkguß und 
bronziert, e8 fann aber auch auß „cuivre poli“ fein, oder aus Por— 
zelan, in welchem Falle zumeiſt Roſen daran fleben oder himmlische 
Genien, oder aus Krofodillederimitation mit Meffingbleh. Bon den Em— 
pfängern liebt e8 der erfahrene bejonder8, wenn e8 aus Glas ift, denn 
diejes entjchuldigt vor dem Gefchentgeber eher ein Unglüd, das über 
Trümmern Hagen läßt. Aber die Erfahrenheit gedeiht, wie angedeutet, 
hier langjam: bei weitem die meijten ftauen und jtapeln ſich al ihrer 
Jahre Geichenkstunftgegenftände auf und wandeln zagen Schrittes zwijchen 
ihnen herum. Mit den Hochzeitsgeichenten ging e8 los und mit jedem 
Geburtötag und jeder Weihnacht wuchs der Segen. 

Ernfthaft geſprochen: ach, es find Karikaturen, diefe „Kunftgegen- 
ftände*, diefe Prachtvaſen, das Stüd zu fünf Dark, dieſe Photographies 
rahmen und =ftänder mit den Formgejhwüren und Zierratsausſchlägen, 
diefe Photographiealbums mit ihren „reichgepreßten Metalldeden“, dieje 
Briefbeichwerer, Lampen, Lämpchen und Laternen, diefe Metalltifche und 
Majolitatifhe und Pradtteller, die ihr verlogenes Dafein damit moti= 


Kunftwart 2. Wovemberheft 1898 
— 19 — 


* 


vieren wollen, daß fie, wenn fie nichts jeien, jo doch nad) etwas aus— 
fähen, worauf e8 ja beim Berfchenten ankomme. Oder ftimmt’8 heute, 
im Jahre 1898, nicht mehr? Sind all die blendend hellen Schaufenfter 
die ganze Leipziger, die ganze Friedrichftraße in Berlin entlang 
dem Bankerotte nahe? Es fieht nicht danach) aus. Daß all diefe Schäge 
für den Gebrauch nicht möglich oder doch zum mindeſten höchſt uns 
zwedmäßig find, das ahnen nun zwar die Käufer und Befiger. Uber 
fie müffen doch wohl ſchön fein, weil fo viel Verzierung daran ıft, und 
der Gebildete, Männlein oder Fräulein, muß in feinem Zimmer doc) 
„Kunftgegenftände* Haben. 

Man jagt, e8 würde nicht Geld genug für Kunſt ausgegeben. 
Man zähle einmal zufammen, was für Summen bei diefem, eines ernſt— 
haften Menjchen unmürdigen Plunder umgefegt werden, Ein Teil 
nur davon genügte jchon, eine Fülle von echter Kunſt in die Häufer und 
die Familien zu tragen. ber man vertrödelt fein Geld für Albern— 
heiten, vor denen ein fommendes Geſchlecht noch lange darüber nach— 
finnen wird, wie e8 fi) feiner mit Anſtand entledigen fünne. 


Die Gejchenkzeit naht. Wie ſchön im Grunde da8 Streben ift, 
allen Näherftehenden eine Freude zu machen, jo wenig Ichön ift zumeift 
die Art und Weile, wie man ihm nachkommt. Den November über 
denkt man noch nicht viel an Weihnadht, aber Mitte Dezember, vor 
Thorſchluß, fällt's einem ein: es iſt ja die hödjfte Zeit! Man ftedt 
Bifitenfarten in die Tafche, fährt in das Geichäft mit den „Xurus- 
waren“, jucht, da man zwölf Leute beichenten muß, zwölf Gegenftände 
zu den beftimmten PBreifen zuſammen, ftedt die Karten daran — „nicht 
wahr, ich kann mich auf Ihre Pünktlichkeit verlaffen?* — und damit 
ift auch dieſes „Geſchäft“ erledigt. Man fehrt Heim und befommt am 
heiligen Abend den Lohn feiner Thaten. Wie du mir, fo ich dir. 

Und wie ſchön Fünnte ſich gerade diefe Gelegenheit geftalten, den 
häuslichen Kunſtſchatz zu bereichern. Nicht als ob ich ſelbſt der Anficht 
wäre, daß man nur Kunſtſachen ſchenken dürfe — id) habe nie verſtan— 
den, weshalb es gegen die Sitte ift, Fernerſtehenden aud einen prak— 
tiichen, d. h. einen jchlichten und thatlächlich verwendbaren Gegenftand 
zu ſchenken, gegen die Sitte, er ſei denn eß-, trinf- oder rauchbar. Aber 
gerade die Gejchenfzeit regt ja gut am dazu, fich mit der Kunſt zu be= 
Ichäftigen, und folder Anregung brauchen wir nod). 

Gibt man fi) etwas Mühe, jo ift es Heute fo Schwierig nicht mehr, 
gute Sachen zu fchenfen. Daß die Grundbedingung dazu die ift, ich 
mit dem zu Beichenfenden gedanklich zu beichäftigen und zu ergrüns 
den, was er wünſcht oder was ihm notwendig ilt, das brauch ich 
hier nicht zu erörtern. Es gehört zum theoretiichen Nllgemeinen, machen 
wir heut, wo Weihnachten naht, Lieber ein paar praktische Vorſchläge. 
Die zeigen auch, was wir meinen, nügen aber zugleich, indem fie ins 
volle Leben weiſen. 

Die Hauptmaſſe der Geſchenke beſteht wohl aus Sachen im Werte 
von drei bis dreißig Mark — einen feſten Satz kann man ja da nicht 
annehmen. Was ſteht Einem zu ſolchen Preiſen zu Gebot? Iſt es da 
wirklich ſchon möglich, von Ankäufen „echter Kunſt“ zu reden? Ich ver— 
bürge mich dafür, daß es möglich iſt, in einem Umfange und einer 


Kunftwart 
— 110 — 


Eermergon 


Reichhaltiateit der Möglichkeiten, die vieleicht die meiiten der Fernſtehen— 
den gar nit ahnen. 

Auf dem Gebiet der reinen bildenden unit wird es fich natürlich 
zumeilt um Stopien, um Reproduftionen Handeln müljen. Aber auch 
wenn man Originalwerke wäünſcht, wollte id) mich verpflichten, eine 
ganze Sammlung zuſammen zu befommen. Auch wenn für jedes ein- 
zelne Blatt nicht einmal immer der oben genannte Marimalpreis ans 
gelegt werden ſollte. Dabei meine ih jet auch nicht Originals 
radierungen und Lithographien,, die ja Ichlieklih, obwohl Abdrüde, als 
Driginalmerfe gelten müſſen. Sondern heraus aus den Studien und 
Stizzenmappen der Künſtler würde es möglich fein, Schäge zu heben. 
Ih bin im allgemeinen nicht dafür, Skizzen an die Wände zu hängen. 
Uber e8 gibt zwiichen den andern auch Kleine Entwürfe oder auch Skizzen, 
die fi zum Wandihmud eignen, wenn man nur die rechten zu finden 
verfteht. Die rahme man dann nicht anfpruchsvoll, fondern eben als 
Heine Entwürfe. Dder wenn fie fih nicht für die Wand eignen, ja, 
würden jie denn nicht auch als Kunitblatt für die Mappe mehr Freude 
machen, als irgend ſolch ein Qurusartitel aus dem Laden, wenn fie von 
einem Lieblingskünitler des Beſchenkten ſtammten? 

Ader wie das Beſchaffen? Allerdings, jo einfach wie's emem 
im Laden gemacht wird, fo einfach hat man's nicht. Trotzdem, die Be- 
mwohner der großen Städte könnten e8 ohne erheblihe Mühe erreichen. 
Und wie viele Gichäftsleute und Beamte aus der Provinz lommen im 
Binter einmal in die großen Städte und könnten die Gelegenheit benugen. 
Schon aus Freude an dem Intereffe und der Liebe zur Kunſt würden 
die Künstler Leuten mit folchen Anliegen gern entgegenfommen. Ya, 
die Liebe zur Kunſt — mo dieje Liebe fehlt, da freilich wären die Mühen 
zu groß und all meine Vorichläge in den Wind geredet. Aber mievtel 
verlorene Liebesmüh gibt es auch bei den Kanſtlern, die herzlich froh 
wäre, „gefunden“ zu werden. Und fchliehlich gibt es noch andere 
Dege. Da find die vielen Weihnachtsbazare, wie jie die Künftler im 
Berlin und München ſelbſt veranstalten. Sie mahen ſolche kleine Ein- 
fäufe leicht, — meinem Geſchmack freilih entipräh e3 eher, mih an 
einen mic gerade beſonders intereffierenden Künstler jelbit zu wenden 
und jeine Mappen durchzuſehn. 

Bliden wir dann auf die Driginal-Radierungen, die Litho— 
graphien. Was in diejen legten Jahren auf diefem Gebiet in Deutich- 
land geichaffen worden ift, davon ſpricht ja eines der erfreulichiten Blätter 
der neueren Runjtgefhichte. Die einzelnen Abdrücke koften fo wenig, daß 
von großen Mitteln gar nicht die Rede zu fein braucht. NRadiervereine 
und Bereine für Originallithographie find in allen Künſtlerſtädten, jo 
jest fogar in Karlsruhe und Weimar entitanden, und ihre Publikationen, 
die oft faſt zu Drud- und Bapierkoften verkauft werden, enthalten eine Fülle 
von echten Fünftlerifchen Gaben, von denen einzelne, geihmadvoll ges 
tahmt, einen wirklichen Schmud de3 Zimmers bedeuten würden. Die 
Schwerfälligkeit, zu fragen: ja, wo befomme ich dieje denn, braucht man 
wohl von unfern Leſern niemanden zugutraun. Jeder Buch und Kunſt— 
händler gibt da Auskunft. 

Noch weit größer ift dann die Auswahl, wenn es fi) um mecha— 
niſche Reproduktionen Handelt. E83 gibt faſt gar feine Meiſterwerke, 


2. Yovemberheft 1898 
— zu — 


gleihviel in welcher Technik geichaffen, die nicht in muftergültigen Re— 
produftionen verhältnismäßig billig zu haben wären. Die Herrlichiten 
Belasquez, Van Dyd, Tizian, Giorgione, Botticeli, Mantegna, Ghir— 
landajo, Lionardo, Rembrandt, Dürer, Holbein, Reynolds, Gainsborougd, 
Zöcklin, Klinger, Whiftler, Watts und wie die Großen alle heißen, ftehen 
in Schönen Tondruden ja für wenige Dark zur Verfügung, einige weitere 
Mark genügen für eine fchlichte und doc die dekorative Aufgabe zur 
Senüge löfende Rahmung. Jede größere KHunfthandlung legt ſolche 
Blätter mappen= und ftoßmeile vor. Man weiß nit, wo man da ans 
fangen foll ver Schägen. Und e8 gibt Leute, die nichts zu verichenten 
finden? Müffen die den Beſchenkten niedrig einfhägen! 

Sind diefe Sachen zumeiſt zum Wandihmud geeignet, jo mehrt 
. fi die Zahl der Möglichkeiten noch mehr, wenn das Kunftblatt für Die 
Mappe oder da8 Sammelwerk in Betradt fommen ſoll. Gegen die 
iogenannten „Prachtwerke“ haben wir von vornherein ein Mißtrauen; 
der Kunſtwart hat ja in einer ihnen gewidmeten Weihnachtsbetrachtung vor 
ein paar Jahren deutlich) genug gelagt, warum. Sie nehmen meist diejelbe 
Stellung ein, wie die Eingangs bejchriebenen „Luruswaren“: aud 
dag „Prachtwerk“ iſt ein Gegenjtand, der nicht zum Gebrauch da iſt, 
fondern „aufgelegt“ wird, angefehen wird er höchftens im Borzimmer 
des Zahnarztes einmal, die Angjt zu vertreiben. Das Prachtwerk-Un— 
mwefen hat nun aud ſchon abgenommen, die Bücher ftreben allmählich 
wieder dem handlichen Buchformat zu, und nur einzelne Sammelmerfe 
behalten ihr großes Format, wo das zum Vorteil großer Reproduftionen 
nötig iſt. Solche Werke über Bödlin und Slinger oder die föftlichen 
Ludwig Nichter-Mappen u. ſ. w., wer ſähe in ihnen nicht in der That 
Hausihäge? Eine Lifte der beiten hat der Kunſtwart das vorige Jahr 
vor Weihnachten aufgeftellt, wir könnten fie heuer nur wieder abdruden. 

Abermals wächſt die Auswahl der Fünftleriichen Gejchente, wenn 
Leute von Geſchmack die freilich nicht immer ganz billigen Ergeugniffe 
des modernen Kunſtgewerbes mit hereinzichen fönnen. Ich habe Hier 
oft genug davon gejproden, daß nicht alles, was ſich modernes Kunſt— 
gewerbe nennt, die Werte hat, die das oft formulierte Programm der 
modernen Sünftler fordert. Aber es gibt genug Gutes, und jollten nicht 
in einem jeden Haufe, mo man von der Sache einigermaßen etwas veriteht, 
die Ichlichten edlen Formen eines Riemerſchmidſchen Leuchters, eines ge= 
jtidten Kiſſens von Obrift, einer Bafe von Läuger, Schmuz-Baudiß oder 
Heider oder der jeinfinnigen neuen Gebrauchsgläfer von Köpping Freude 
bereiten? Eine Menge jener wunderbaren „Geſchenksgegenſtände“ koſten 
nicht weniger. ch möchte bei diefer Gelegenheit nochmals auf die Künſt— 
lervereinigung „Bereinigte Werkjtätten für Kunſt im Handwerf“ in 
Vünden verweilen, die viele der betrefienden Künſtler herangezogen 
haben und vielleicht eine der beiten Vermittlungsftellen zwiichen Publikum 
und Stünftlern find, die es gibt. 

Berühren wir noch mit einigen Worten das für unjere heutige 
Betrachtung Sehr wichtige Gebiet der plaftifden NReproduftion. 
Wie von Malereien und Feichnungen gibt es heute auch von Skulp— 
turen Sopien, die aud) das Material gut wiedergeben, — denn ala 
Kopien, nidt al Imitationen, müffen wir diefe Reproduftionen hier 
affen, ein Unterfchied, den ein bald im Kunſtwart ericheinender Auf— 


Kunitwart 


- 1 — 


fat mieder eimmal behandeln mwird. Zumal von Sleinplaftit iſt 
eine ſolche Fülle der Auswahl von alten und neuen Meiſterwerken da, 
da man wohl mit ihnen jedem Raume, jedem Charafter, jedem Geſchmack 
entiprechen könnte. Natürlich handelt e8 fich um Abgüffe, „Gipsabgüffe* 
nennt man fie gewöhnlich, obgleich die Mafle durchaus nicht aus Gips 
allein befteht und heute einen leidlichen Grad von Feitigkeit hat. Sehr 
gute Einfaufsgelegenheit bietet die Gipsgießerei der Mufeen in Berlin, 
die im Nuftrage de3 Staates in rein idealen Intereſſe unter dem 
eigenen Heritellungspreis Abgüſſe nad den plaftiihen Kunſtwerken aus 
dem Staat3befite verkauft. Schon, was die Berliner Mufeen bieten, 
it von großem Reichtum. Wie verbindet fich hier der Zimmer: 
ſchmuck mit dem Ktunſtwerk an fih! Von den wundervollen antiten 
Neliefs, die richtig aufgehängt, die Wand herrlich gliedern und beleben, 
bi8 zu den Renaiffancebüften und »Statuetten, die einen Pla auf einem 
eigenen Geftell, zur Not auf einem Heinen Tiſche beanfpruden fünnen, 
bis zu der reizenden Kleinplaſtik, die auf dem Schreibtiih Pla finden 
mag, und zu der Mltertum und Renaiſſance gleich viel Material ftellt 
— melde Fülle von Möglichkeiten bietet fi da! Dabei kann man 
Heine Statuetten ſchon für einen Thaler das Stüd befommen, größere 
Reliefs Ichon für 5—15 Mk., — kurz, wir haben e8 hier mit Preijen 
zu thun, die bei „Qurusmwaren:"Plunder für ganz niedrig gelten. 

Dieſe Plaftifen führen ung auf ein Gebiet eigener Thätigkeit. Sie 
find nämlich weiß, ziemlich nüchtern, „tadellos“ weiß — und fo ein 
weißer Gipsfleck iſt nicht jchön, aud; wenn feine Form dag noch jo ſehr ift. 
Die Form kommt dann bei der weißen Farbe nicht zum Ausdruck. Diejes 
häßliche Weiß des Gipfes muß alſo erft tot gemacht, getönt werden, 
um die Form recht Har heraustreten zu laffen. Am beiten wäre nun 
wohl, man fopierte die Originale genau in ihrer Material» oder Farb: 
wirkung, alfo 3. B. das fhimmernde Grau, Gelb oder Rot des antifen 
Marmord oder die Patina ihres Bronzetones. Es gibt einzelne Ge— 
ihäfte, die Diejes farbige Kopieren muftergiltig ausführen, doc hat man 
jolche nicht überall bei der Hand. Selber zu tönen oder zu bemalen, er- 
fordert fo viel Kunſtgefühl und technisches Geſchick, daß es im allgemeinen 
fo ohne meiteres nicht angeht, und was man fo im Publitum „Bron= 
zieren“ nennt, mit „Brongzetinftur“ momöglich, it wirklich fchon mehr 
DBarbarei. Genüge für heute der Hinweis darauf, daß man mit Be— 
fireihen von einfahen Thonmaffer und dann Abmwilchen mit einem 
nalen Schwamm, wodurch die Tiefen etwas mehr Färbung erhalten, 
das ſchlimmſte des häßlichen Weißes Hinmwegbringen kann. Wer künſt— 
lerifch feine Tönung verlangt, zieht vorläufig doch wohl am beiten einen 
Künftler gu Rat oder eine Anftalt wie Barth & Co. in München. 

Wir find auf ein neues Gebiet gefommen : das der eigenen Thä— 
tigkeit, Des eigenen Schaffens von Gefchenten, — de8 Dilettantis- 
mus. Und weil die Liebhaberkünite zur Feſtzeit ihre üppigſten Blüten 
zu treiben pflegen, müffen wir auch davon ein wenig reden. 

Mit dem Wort „Dilettant“ hat fih ja leider eine Ichlimme Neben 
bedeutung verknüpft. In der That: der Dilettantismus mar das 
rihtige warme und nährende Miftbeet für all die Plattheiten und Ges 
Ihmadlofigkeiten geworden, mit denen alte und junge Damen und Herren 
den vermeintlichen Atelierftil in das Wohnzimmer einzuführen bejtrebt 


2. Hovemberheft 1898 
— 113 — 


waren. Was dagegen bei rechter Bildung Dilettanten leiften fönnen, 
das hat Lichtwark in feiner „Organifation des Dilettantismus“ vortreff= 
lich vorgezeichnet. Alle, die dilettieren wollen und ſich zu zeittötenden 
Narreteien zu vornehm find, follten fich als erftes jagen, daß fie auch 
hier etwa8 lernen müffen. Das bloße Herummurfteln mit Material 
und Handwerkzeug hat doc wirklich für dem gereiften Menſchen feinen 
Sinn, dem feine Zeit zum Totſchlagen zu gut ift. 

Ih kann hier unmöglich alles aufzählen, was ſich vornehmen 
ließe. Nur einige allgemeine Geſichtspunkte möcht ich geben. — Die 
Männer haben ja bei ung zu Lande nur felten Zeit zu Arbeiten diejer 
Art, der Hauptanteil daran fällt Frauen und Sindern anheim. Die 
follten fich bei ihren Arbeiten und ganz beionder8 da, wo fih’8 um 
Geſchenke handelt, als oberſtes Geſetz aufftellen, nur Sachen zu maden, 
die wirklich einen praktiſchen Zmwed haben. Die Frauen haben doch 
ihre Handarbeit, ihre Nadelarbeit — warum verjuchen jelbft die Hugen 
und gebildeten von ıhnen nicht lieber, dieje jolide Arbeit fünftlerifch aus— 
zubauen, als ſich der Mafjenanfertigung von Läppifchkeiten zu widmen, 
wie man fie leider, leider oft genug in den beiten Familien ficht? So 
peinlihe Geichmadlofigkeiten trifft man ja bei ſonſt guten Menjchen, 
dab man ſich ſchämen möchte, fie anzufehen! Muß ich erſt eine Blüten 
lefe davon machen? 

Die zum „Delorationsgegenftand“ erhobene Läppiſchkeit ift der 
Krankheitsbazillus der Aeſthetik unſerer Wohnjtuben. Auch an diejer 
Stelle fei nochmals dreifach unteritrihen gejagt: feine Dekoration 
hilft etwas, jo lange nicht der Gebraudsgegenitand ſach— 
fi und ſchön zugleich ift Shon ohne Deforation. Will man 
Gegenftände jelbft anfertigen, jo thue man's in der Technik, in der man 
gelernt hat, etwas ordentliches Herzuftellen. Das ift bei vielen Frauen 
die Nadelarbeit. Allzugroß ift das Können dort im allgemeinen auch 
nicht, es ift viel fchlechte Arbeit dabei, aber immerhin ift die durch 
Ichnittliche Leiftung hier die höchſte. Da nun fertige man Dinge an, die 
wirklich nutzbar find: denen, deren Wirtichaft es noch brauchen fann, 
die Stüde des Weißzeugs: Tifchläufer, Theejervietten, Eisdedchen u. |. mw. 
Wirklich gut gearbeitete Sachen find ja da ſtets willlommen. Je mehr 
einer oder eine fann, deito weiter fann das Gebiet ausgedehnt werden: 
zur Goldftiderei für Hilfen und Portieren, u. j. wm. Kann man aber 
nichts, wirklich, jo laſſe man’s lieber bleiben. Holzbrandmale in Ge— 
ftalt eines Kater, unter dem gejchrieben fteht: „Warum küuüſſen fich die 
Menſchen?“ und anderes jolchen Geiſtes erfreut leider nicht jedermann, 
empfängt er's als „Schreibtiſchſchmuck“. 

Denen aber, die ſich wirklich mit Hingabe der Erlernung eines 
künſtleriſch auszuübenden Handwerls widmen, werden bei Durchſicht 
unſerer modernen Kunſtgewerbezeitſchriften genugſam die Augen aufgehen, 
in welcher Richtung fie ſich bethätigen können. Am einfachſten und klarſten 
weilt ihnen Lichtwarks Broſchüre den Weg. 

Noch ein Gebiet möchte ich zum Schluß ganz kurz berühren: das 
im Sunfiwart ja gleichfalls früher jchon beleuchtete moderne Spielzeug. 
In dem letzten Jahrzehnt ift e8 in eine neue Phaſe feines Dafeins ge— 
treten: in die des „Tonlequenten Naturalismus“. Puppen werden gemadt, 
die fo jehr wie Babies ausſehen, daß man fi fürdhten mödte, bei 


Kunftwart 
— 114 


falfder Haltung Stiege ihnen das Blut in den Kopf, Baufaften, aus 
denen ſich nur zwei verfchiedene Häufer bauen Tafjen und dieje nach Vor— 
fchrift, aber „Itilgerecht“. Zinnſoldaten, jo getreu der Uniform nad), als 
ob fie dem Panoptikum entnommen wären, Spielichiffe aus Blech, die 
ein getreues Modell von S. M. Nacht Hohenzollern darftellen. Die alten 
Spiele mit Würfel und Roulett find pädagogiich ausgebaut morden, 
und die Willenichaft hat ihnen den Stachel des Berwerflichen genommen. 
Wie langmeilig und phantafielos ift das alles! Wie man alles das, was 
dag Kind nun mit dem Spielzeug erſt machen follte: das Hinein- 
legen der Bedeutung, da8 Bejeelen, das gleihlam känſtleriſche 
Ausbauen des Rohmateriald nun plump vorwegnimmt, damit das 
Kind mit Gewalt alt und blafiert gemadt werde! Wahrlich, da hat's 
der Bauernjunge gut, der feine Latte als Schiff auf dem Dorftümpel 
ſchwimmen läßt und im Lehmabhange feine Häuschen baut. 
Schulge-Manmburg. 





Wleibnachbtsschau. 
Vorbemerkung. 


Wir haben unſern Leſern vor einem Jahre geſagt, weshalb wir ihnen 
feinen der üblichen Weihnachtskataloge als Verater empfehlen können, und 
haben zugleich den Verſuch gemacht, für „die beſonderen Intereſſen, die beſon— 
dere Geiſtesrichtung, der unſer Blatt dient“, eine eigene Weihnachtsliſte aufs 
auitellen. E8 war ein fehr mangelhafter Verſuch, und jehr mangelhaft iſt aud) 
unjer Heuriger noch, wie wir ihn hiermit vorlegen. Einen Fortichritt aber be= 
deutet er infofern, als fich’S Diesmal um eine motivierte Weihnadtstiite 
handelt, die alfo nicht ganz des erflärenden Wortes entbehrt. Nächſtes Jahr 
hoffen wir wieder ein Stüd weiter vorwärts zu fommen. 


t. Aeltere Fiteratur, 


Für den Kritiker iſt das Bücherlefen Arbeit, nicht Genuß. Auch wenn 
er fi eine friie Aufnahmefähigleit bewahrt Hat, fi ganz an das Werf, das 
er vor Hugen hat, hingeben und die Neflerion auf die Zeit nach der Lektüre 
verjchieben fann, fommt es doc) felten bei ihm zu jenem föftlihen Schwelgen 
int Buche, zu jener einzigen Glüdsftimmung, die, mag ſie auch mit tiefiter 
Ergriffenheit gepaart fein, dod) das Leben aufs freudigite bejaht. Man denft 
vielleicht nit an die zu jchreibende Kritik, aber man fühlt fie im Hinter 
grunde ftehen, man hat die Empfindung, von Bücherhaufen umgeben zu fein, 
die harren, die einen porwärtsdrängen. Einmal im Jahre wenigſtens ſuche 
ich für mein Teil dieſe Empfindung [oszumerden, an ben Weihnacdhtstagen, 
zwiſchen Weihnadten und Neujahr; dann ruht bei mir die Kritik, dann greife 
ih zu Büchern, die ich längſt fenne, die mir ans Herz gewachſen find, und 
unter dem Tannenbaum geniehe ich wieder rein, „Himmelbod jauchzend, zum 
Tode betrübt”, wie in den glüdlihen Tagen der Jugend, wo ich nod) las, um 
zu lefen, und von dem ganzen Biteraturelend nichts wußte. 


2. Hovemberheft 1898 
— 15 — 


# 


Welche Bücher das find, die ih dann leſe? In ben letzten Jahren ift es 
vornehmlih Goethe gemweien. Un feine Größe, an mein Bildungsmenidhen- 
tum dachte ih gar nit, es ftieg in mir einfah Die Sehnſucht nad) jeiner 
Jugendlyrik, nad) dem Werther, dem Götz, dem Fauft, dem Wilhelm Meifter 
auf, und ich war glüdlich, fie befriedigen zu können. Solde „Sehnfucdten“, 
mir längft befannte Bücher wieder zu lefen, babe ich eigentlid immer — ans 
dern wird es natürlich auch fo gehen —, und ich bedauere nur, daß e8 nicht 
einmal ein ganzes Jahr lang Weihnadt ift. Vielleicht, daß das Alter ein jolches 
Jahr für uns auffpart! Jene Bücher aber, die man immer wieber lefen mödhte, 
find, glaub ih, aud die richtigen Weihnachtsgeſchenkbücher, fie vor allen 
follte man für andere faufen; denn der Sinn bes Schenfens iſt doch, daß man 
andere ber Güter teilhaftig machen möchte, die man felber am höchſten ſchätzt. Ich 
weiß wohl, verſchiedene Menſchen werden verfhiedbene Bücher unter dem Tannen— 
baum lefen wollen. Doc) aber würde die deutſche „Weihnachtsbücherſehnſuchts— 
Lifte‘, wenn man fie aufitelen wollte, vieleicht nicht jo viele abweichende Vor— 
ſchläge ergeben, mie bei der verſuchten Zufammenftellung der Lifte der hundert 
beiten Bücher zu Tage getreten find. 

Goethe habe ich genannt, ich glaube, in Goethe finden wir Deutfchen uns 
noch alle zufammen troß aller Leberhebung ber Modernen. Bei Beffing 
und Schiller ijt e8 mir zmeifelhafter, fie find beide, ihrer dichterifchen Größe 
unbeſchadet, rechte Theaterleute (felbjtverftändlih in würdigftem Sinne) und 
gelangen alfo am beiten auf der Bühne zur Geltung. Die Jugend und das 
Volt fommen aber bei ihnen immer auf ihre Rechnung, Leſſingſche Schärfe der 
Eharakteriftit, Schillerfiher Schwung werben allezeit begeiſterte Bewunderer 
finden, und fo werben die beiden aud) auf deutfhen Weihnadtstifchen vielleicht 
nod) ein Jahrhundert lang nicht fehlen. Wer e8 liebt, große Männer zwanglos zur 
beobaditen und fich die Welt, in der fie lebten, in der Phantaſie neuzuſchaffen, 
fol neben den Werfen aud) die Briefwechſel ber Hlaffifer nicht veradten. 
Leifings Briefe an Eva König, Goethes und Schillers, Schillers und Körners, 
Schillers und Lottes Briefwechſel fommen hier vorzüglid in Betracht, und 
eine Quelle immer neuen Genuffes find Goethes Gefpräde mit Edermann, 
doc wohl dag Mufterwerk diejer Gattung. E8 ijt ein Genuß ganz eigner Urt, 
in dem alten Goethe den jungen wieder zu entdeden — man kann's, Gott jei 
Dank 

Neben die drei alten Hlaffiler, die von den früheren ſechs nod) lebendig 
geblieben find, Haben fi in fpäterer Zeit dann zwei neue gejtellt: Kleiſt und 
Grillparzer. Ueber beide brauche id) nicht viel zu fagen, fie find trotz ihrer 
faft diametralen Verſchiedenheit alle beide Dichter, der Preuße jo gut mie der 
Defterreicher, deren Welt groß und mweit genug ift, um ſich für ein Menſchen— 
alter darin einzuleben; fie find alle beide auch liebensmwert. Mic; entzüdt das 
„Kätchen“ immer neu, dieſes echt „romantifche Ritterichaufpiel”, das dem 
Geifte unferer Zeit jo fern liegt, und Grillparzers Dramen aus der Antike be= 
ſchwören mir ein echtere8 Griechentum herauf, als irgend ein beutfches Werk 
fonft. — Welch ein anderer Geift benn in den Werfen Hebbels und Lud— 
wiges, die ungmeifelhaft ſchon gang modern find, nun aber bereit® anfangen, 
Haffifhe Geltung zu erlangen. Da haben wir endlich die echte Tragik unſerer 
Zeit, büftergewaltig, Itarr, zermalmend — „wo Wunden noch zu heilen find, 
da hat eure Kunft nichts zu ſuchen!“ Außer Hebbels Werfen jol man fid) auch 
feine „Tagebücher“ noch zu eigen maden, wohl die trenejte unmitielbare 
Widerſpiegelung eines durch raftlofe fünftlerifhe und geiftige Arbeit ausge 


Kunftwart 
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„ Nürnberg, 


München. 


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Alle Rechte vorbehalten. 


verlag von GEORG D. V. CALLWEY 


Aus den „Liedern und Gesängen“ mit Bewilligung des Verlegers W. Schmid 


Op. 37. Nr. 8. 


Aus dem Schlummerlied 
von 
Richard Strauss 


München.) 


(Verlag J. Aibl, 





Bewegung. Sehr gebunden. 


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Erster Druck nach dem Manusertpt. 


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HERMANN URBAN 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


füllten Menſchenlebens, welche die deutfche Literatur aufmeift. Die genannten 
fieben Dichter find, meiner Anſicht nad, die, deren Werke jeder Deutfche, der 
wiffen möchte, mie fein Bolt mit dem ihm anvertrauten Pfunde gewuchert 
bat, bie jeder fi zu eigen madyen muß, der diefes Pfund, wenn nicht vermehren, 
body wirklich mit befigen möchte. Bon den Gefamtwerfen fremder Dichter 
braucht er dazu nur die Shakeſperes. 

Aber e3 gibt noch eine ganze Reihe von Einzelwerken aus der beutfchen 
Literatur, die zu jenen Gefamtwerfen Hinzuzutreten berechtigt find. So zu— 
nädhft eine Anzahl von Sedihtfammlungen Hölderlin in umnferer 
Zeit noch „obligatorifch” zu machen, würde mancher vielleicht Bedenken tragen; 
ih) meine aber, dab gerade er, wie wenige, geeignet ift, mit feinen Tönen 
die ftürmifchen Wogen des modernen Lebens zu glätten. Gin milder Abend- 
bauch, das Teste Rot am Himmel — mir miljen, da die Nacht fommt, aber 
mir fürchten fie nicht. Mit Hölderlin nenne ich gleich feine beiden Landsleute 
Ubland und Mörike, diefer, mie man jet mehr und mehr erfennt, ale 
Lyriker dod ber „Einzige*. Und wie lange haben ihn Heine und Geibel in 
der Berborgenheit gehalten! Heine, ja — dem foll keiner feine literaturge— 
ſchichtliche Stellung bejtreiten wollen, aber unter den dbeutfhen Tannenbaum 
gehört er doch wohl nicht, gehört aber auch faum nod) der fittlid) reine aber 
als Künftler wie als Menfh wirklich wenig bedeutende Seibel. Die beiden 
Schweizer Gottfried Keller und K. F. Meyer dürfen unter den Lyrifern, 

je man immer zur Hand haben muß, ſicher nicht fehlen, und von den neueren 
Neihsdeuifchen Teinesfals Storm und Klaus Groth und kaum auch 
Martin Greif. Wohl gibt's noch manche andere Hangvolle Namen, wohl 
dürfen aud viele echte Ältere Talente unferer Zeit — ich nenne nur Her— 
mann Lingg und Julius Grofjfe — ohne Vergleich mehr Beachtung 
beanſpruchen, als fie bisher gefunden haben, aber jene acht jind die Iyrijchen 
Meiſter, auf deren Bände die Lichter des Tannenbaums fo lange berabitrehlen 
werden, wie unfere Spradhe noch gefprodhen und verftanden wird. Ih bin 
als Hritifer gewiß ein böfer Menſch, aber wenn ich einen diefer Bände auf— 
ſchlage, dann werde ih „romm, mie e8 Die Finder find“. Bier ruhen des 
beutfchen Volkes teuerste Güter. 

Auf epifhem Gebiet, wenn man unter Epos ein Gedicht veriteht, iſt 
die deutſche Kunft nicht zu ſolcher Meifterfchaft gediehen wie auf dem Iyriichen. 
Man mag mich einen Ketzer ſchelten, aber jeit ich die Hebbelſchen Nibe— 
lungen fenne, habe ich fein Bedürfnis mehr, das Nibelungenlieod zu lejen, 
wenn ich auch den eigenen Reiz feiner geharnifhten Strophen nicht beftreiten 
mag. Im Homer leſe ich nod) hin und mieber einen Gefang — e8 ilt ge— 
wiß etwas dran, wenn man fagt: bier jei die Natur felber —, und in die 
gewaltige Hölle Dantes trete ic) auch bisweilen ein; Arioſto und Byrons 
Don Juan ferner vergnügen mid immer wieder. Damit wäre fürs deutfche 
Haus die epifche Lifte wohl zu beſchließen, obſchon ih Sch effjels „Trom— 
peter” für ein jüngeres Alter, jagen wir, für den GSelundaner, Webers 
„Dreizgehnlinden“ für bejtimmite Streife und Wilhelm Hertz' „Bruder Rauſch“ 
für alle Feinfhmeder gern empfehlen will. 

Die Breite des epiſchen Schaffens neuerer Zeit ergieht fi in den Ro— 
man, unb da gibt es allerdings eine Reihe von Werfen, die jeder Deutfche, 
der Bildung beanſprucht — ad) mas, deifen Herz nad wahren Kunſtgenüſſen 
verlangt, fennen muß. Hier nenne ich Gottfried Kellers „Grünen Hein 
rich“ zu allererft, nad) dem „Werther“ ben beiten deutſchen Roman ſchlechthin, 


2. Movemberheft 1898 


— 17 — 


meil nie ein ein deutſches Jugendleben mit mehr Poejie und — Wahrheit dar 
geitellt worden tjt. Neben ihm erfcheint mir jelbit Otto Qudbmigs gewal— 
tiges Wert „Zmwilhen Himmel und Erde“ als Epifodenroman. Bei Seller, 
wenn aud) eine Stufe tiefer, mag dann gleich der kluge, mwelterfahrene Fontane 
ftehen, der mit Keller in bemjelben Jahre geboren, aber glüdlicherweife jo 
viel fpäter geftorben ift. „Irrungen, Wirrungen“, „Frau Jenny Treibel*, 
„Effi Brieſt“, auch das letzte Werk „Der Stehlin“ Haben neben dem älteren 
„Srete Minde* den erſten Anfprud auf Berüdfihtigung. Nicht die Jugend, 
aber das reifere Ulter, das ſchon Erfahrungen Hat, wird Fontane zum Lieb: 
ling erwählen. Bon Werfen älterer Dichter haben fh Immermanns 
„Münchhauſen“, wenn aud) nur in dem Auszug „Der Oberhof“, Willibalb 
Alexis Romane, bejonders „Die Hofen des Heren von Bredom* (mit Fort- 
fegung), einige von Jeremiaß Gotthelf und auch Freytags „Soll 
und Haben? — troßalledem — bis auf dieſen Tag gehalten unb werben 
es Hoffentlih noch lange thun. Scheffels „Edehard“, unfer reinjter 
fulturhiftorifher Roman, ift mir auch wert geblieben troß all der fürdjter« 
lihen „Scheffelei*, und von K. 5. Meyer erfüllen mid) „Der Heilige“ und bie 
„Hochzeit des Mönchs“ vor allen mit immer neuer Bewunderung. Bon Une 
zengruber ift mir der „Schandfled“ Lieber als der fünftlerifh vielleicht 
höher ftehende „Sternfteinhof*, von Roſegger imponiert mir der „Gott— 
ſucher“ am meiften. Raabes Werle liebe ich alle und leſe fie immer wieder; 
beionders empfehlen will ich „Alte Neſter“, „Wunnigel*, „Horader“, gleichſam 
die Quintefjenz feines Schaffens. Jenjen mag mit „Uus den Tagen der 
Hanfa“, einem Hiftorifhen, und „Doppelleben“, einent modernen Romane, hier 
ftehen, Wilbrandt mit der „Djterinfel*, jeinem Hebermenfhenroman. Ein 
perfönliches Verhältnis habe ich zu den Werfen von ®. 9. Riehl („Ein 
ganzer Wann“, alle Novellen) und Adolf Stern („Die legten Humaniſten“, 
und die „Wusgewählten Novellen”). E3 find ja überhaupt ganz jubjeftive Be— 
mwertungen, die ih hier gebe, auf Grund freilich jahrelanger Studien und immer 
neuer „Altenrevifionen“. Auf die modernen deutſche Romane, bie hier anzu— 
ſchließen wären, will ih an anderer Stelle kommen. 

Das ausländifhe Hauptwerk der Romanliteratur ift immer noch Ger= 
vantes „Don Quixrote*, den man natürlich nicht verfchlingen, aber kapitel— 
weife mit auberordentlihem Behagen geniehen kann. Gine jo hochragende 
humorijtifch = tragifche Geftalt wie den Ritter von der Mancha hat die jpätere 
Kunft doch nicht mwieber gefhaffen. Leſages „Gil Blas* und Fieldings 
„Zom Jones“ erfreuen Kenner auch noch; hier ift „der Welt Lauf“ fo gut wie 
bei Fontane. Bei den Engländern ziehe ih Thaderay jet Dickens 
vor (e3 genügt, wenn man das eine oder das andere Hauptwerf von beiden 
lieſt), und vor George Elliot Habe ih großen Nefpelt. Unter den 
Schöpfern hiftorifcher Romane ift mir Scott der liebſte geblichen (man leſe 
nur die auf fchottifhen Boden fpielenden Werke und vor allem die früheren), 
doch taude ich mit Biktor Hugo aud ganz gern in die Nacht des Mittel— 
alters („Notre Dame*) und laſſe mir Manzonis „Berlobte”, dieſes fo 
klare und plaftiihe Werk, durd) den Vorwurf der Langmeilinfeit nicht ver— 
efeln, Meiſter Balzac ſchlägt mir dann den Hiftoriichen Roman doch in 
die Flucht, — war er aud) fein Künſtler, jo war er doch als Schriftjteller ein 
Genie. Als die Hauptwerle der ruffiihen Romanliteratur erfcheinen mir 
Zoljtojs „Krieg und Frieden” und „Unna Sarenina“, von Turgenjem 
lee ich lieber die Novellen und Doftojermstfy mehr der Merktwürbigfeit 


Kunftwart 
— 18 — 


halber, ohne „Sehnſucht“. Bon den neueren Frangofen gebe ih Daudet 
den Vorzug vor Zola, weil er mehr Poet iſt als dieſer. 


Auch bei der Novelle Steht mir Gottfried Keller mit den „Leuten 
von Seldwyla“ voran — die „Züricher Novellen“, „Das Sinngedicht“, felbit 
die in ihrer Urt entzüdenden „Sieben Legenden“ kann ich Teichter entbehren. Zu 
Storm hab id ja ſchon als Landsmann ein intimes Verhältnis, zu Heyfe 
aber faun eines, obgleich ich einzelnes von ihm bewundere. Marie von Eb- 
ner-Ejhenbad) lefe ich ftetS mit dem größten Genuffe, fo gut ich meiß, 
daß nicht alles, was fie ichrieb, gerade Kun ft wert ift. Gern fehr ich bisweilen 
bei Hans Hoffmann ein. Außer Turgenjew find mir von ausländifchen 
Novelliften noch Björnſon mit feinen Bauerngefhichten und Bret Harte 
mit den falifornifchen Erzählungen lieb, Mit Maupafjant fümen wir zu 
den Modernen, Die befonders behandelt werden follen. 


Roman und Novelle haben nun doch eine ziemlich lange Lifte ergeben. 
Uber jie find eben das tägliche Brot des Kunſtgenuſſes, die Lyrik ergibt die 
töjtlihen Frücdte dazu, das Drama — num, das foll am Ende fo etwas wie 
der fonntäglihe Feitihmaus fein. Die großen Dramatiter habe ich aber bei 
den Geſamtwerken fajt alle genannt, bier wären nur noh Moliere zu er— 
mwähnen, den man, zumal wenn man ein wenig fulturhiftorifches Intereſſe am 
Beitalter Ludwigs XIV, hat, immer noh mit Genuß Iefen fann, und dann 
natürlid Ibſen, deilen Talent (ih höre hier das Lachen der Ibſenianer) 
dem Moliere8 von vornherein gang Ähnlih war, von typenſchaffen— 
der Kraft nämlich, dem aber leider der Sinn für Komik, von Humor ganz 
zu gefchweigen, fehlte. Dan vergleihe, um meine Behauptung zu würdigen, 
nur einmal Molieres „Mifanthropen” mit dem ®regor Merle aus der „Wild- 
ente“. Daß man zur Zeit ein halbes Dutzend Ibſenſcher Stüde fennen muß, 
und daß dieje einitweilen zur Weltliteratur gehören, das braudje ich ja nicht 
auszuführen. 

Notenwerfe, 


Schon wiederholt find aus unjerm Lejerfreife Anfragen eingelaufen, 
wie man’ wohl anfangen jolle, um eine gute Mufifbibliothet auftande gu bringen. 
Die Ratsbedürftigen Hagten, wie ſchwer es felbit bei beftem Willen fei, fih in 
ber Maſſe der vorhandenen Literatur zurechtzufinden und daraus eine gute Zus 
fammenitellung zu treffen. Biel foften dürfe die Sache ja natürlich auch nicht. 
Mir erfuhren, daß der, wie man glauben follte, als Ratgeber zunächſt berufene 
Sortimenter und Mufilalienhändler ih in vielen Fällen nicht bewährt habe: 
teils ſah er nur auf feinen gefhäftlichen Vorteil, teils fehlt’ es ihm mwirflid an 
Kenntnis und Fritif. Verſuche auf eigene Fauſt hätten zu zahllofen Mihgriffen 
geführt, fchlieglid könne man auf die Auswahl dod nicht allzuviel Zeit ver— 
wenden und förmliche vergleichende Studien, insbefondere was die Wahl der 
Ausgaben betrifft, anstellen. Diefe Beihmwerde ijt gewiß berechtigt, aber die 
Erfüllung des Wunſches, ſozuſagen das Verzeichnis einer Normalbibliothet für 
Muſikfreunde au veröffentlichen, nicht leicht. Sie ift ſchwer ſchon in Anbetracht 
der verfchiedenen Grade mufifaliicher und allgemeiner Bildung, der Spielfertigs 
feit, wie der Dannigfaltigfeit der Anlagen und Charaktere im großen Bublifum, 
dem man ja gerade dienen möchte, das dies aud) am notwendigſten braudt. 
Der biemit gemachte Verſuch will daher nırr als Verſuch beurteilt fein. Sceiden 
wir von vornherein aus, was an rein virtuofer oder Amuſementsmuſik ſich 
barbietet, legen wir das Gewicht auf die zu edler Erbauung und Erfreuung 


2. Yovemberheft 1898 


im Haufe, im Familienkreiſe vor allem geeigneten Werke, ſetzen mir getrojt bei 
den Spielern ein tüchtiges Können voraus, bezeichnen aber (durch *) aud) Die 
für eine befhheidene Technif zu bemältigenden Stüde, fo ift zu hoffen, daß unſere 
Lifte ſchon in biefer eriten verſuchsmäßigen Faſſung Gutes ftiften und einer 
gediegenen Mufifpflege förderlich fein wird. 


1. Ulte und klaſſiſche Zeit. 


Klavier. Bei den Vorgängern und Zeitgenofien Bachs genügt dem 
Mufiler, dem’s nicht auf ftrenges Spezialſtudium ankommt, eine gute Auswahl. 
Ih verweile da auf die von 2. Köhler zufammengeftellte „Klaviermuſik aus 
alter Zeit (Litolff, 13 Hefte je ME 1ı.—). Das elite Heft ift Rameau ge- 
widmet, das zehnte Gouperin, bezüglid deſſen aud) auf das Couperin-⸗Album 
(Breitkopf, B.-U., ME. 1.50) verwiefen fei. Bon Scarlatti hat Hans von 
Bülow achtzehn Stüde in Suitenform bei Peters (DE. 2.—) Herausgegeben. 
Mem ber hiltorifhe Sinn abgeht, der wird übrigens auch diefer Koſtproben 
immerhin entraten können. 

Wir müſſen nämlich jchon Sehr zufrieden fein, wenn es gelingt, bie 
Mehrzahl unferer Mufiffreunde auf Bad) als das fejte Fundament der deutſchen 
Muſik, ohne den insbefondere die neuere gar nicht recht verftanden wrden fann, 
zurüdzuführen, und das ijt in Wahrheit feinesmegs fo leicht. Spieiern, bie 
aus den fogenannten populären Slavierfchulen Hervorgegangen find, wird er 
troß aller etwa erlangten Gemwanbtheit und guter mufttalifcher Anlage jih nur 
ſchwer erfchließen, fie müffen erſt einen Kurſus des polgphonen Spiels ich 
aneignen, wobei zwei Anthologien „die erften Studien“ zu Bad) und Händel 
(* Peters, je ME. 1.50) als Vorſchulen gute Dienfte thun. Reizende kleine 
Stüde, technifch oft finderleicht, ftehen im Supplementband zu den Klavier— 
werfen Bachs in der Edition Peters (ME. 3.—), die fich für diefen Meifter über— 
haupt empfich!t. Man nehme dann etwa nod die franzöfifchen Suiten, das 
italienifche Konzert famt der chromatiſchen Phantaſie (2 Hefte, je DIE. 1.20) und 
ſchließlich das „Alte Teitament der Hlaviermufif“, das „Mohltemperierte Alavier” 
(2 Bbe,, je Mk. 2.—). Wer ſich darnad) in Bach ganz eingelebt hat, dem wer: 
den die „Vier Toccaten* und die »2ifztfche Hebertragung der DOriginaliompo- 
fitionen (2 Bde.) da8 gewaltige Bild des Großmeijters in erhebender Weife 
vervollftändigen. 

Die Gejchichte der Klaviermuſik ſtrebt über die Sonaten Philipp 
Emanuel Bachs (Ausgewählte Werle, Steingräber, ME. 1.60), Haydn 
(* Die beliebteiten 10 Sonaten, Litolrf, MI. 1.50) und Mozart (Ebenda, ME. 2.50) 
au ihrem zweiten ragenden Gipfel, den Sonaten Beethovens. Wer fi da 
nicht den bei Breitkopf erſchienenen, prachtvoll ausgeitatteten Urtext (3 Bde. jr 
ME. 5.—) faufen will, vem rate id) unbedingt zu der mit wertvollen kritiſchen 
Bemerkungen verjehenen von Damm (Steingräber, 3 Bde,, zuf. IE. 6.—). Auch 
von Beethovens Heineren Stüden findet man da unter dem Titel „Reichtefte 
Kompofitionen* (ME. 1.—) eine empfehlenswerte Ausleje. Für Schubert 
gebraudhe ich die Musgabe der „Sämtlichen Pianofortewerle* in 3 Bänden bei 
Breitlopf & Härtel. Der zweite Band enthält die Tänze (ME 2.—), ber dritte 
die Impromptus und Moments muficals (DIE. 1.50); von Weber gibl's eine 
billige Anthologie bei Litolff, Nr. sı2 (ME. 1.—). 

Schließlich feien noch jene, nicht fürs Klavier gefchriebenen Inftrumentals 
werfe der flaffiihen Zeit namhaft gemadt, die man in Sllavierbearbeitungen 
anzufhaffen pflegt. Bon Bah das „D-moll-Stonzert* (* Peters, Mi. 1.20), von 


Kunftwart 


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Händel das berühmte „Rargo* (Steingräber, Mt. 1.—), von Haydn „Zwölf 
Sinfonien* (Breitlopf, B.« A., Mt. 3.—), von Mozart „Sechs berühmte Sin- 
fonien* (Peters, ME. 2.50), von Beethoven „Neun Sinfonien“ (Breitfopf, V.A., 
Mt. 3.—) und „Sämtlide Ouvertüren” (Peters, ME. 1.50), von Schubert bie 
C-dur (Breitfopf, ME. 1.—), die H-moll (Peters, ME. ı.—), von Weber „Sümt- 
liche Ouvertüren“ (Breitkopf.ENk. 1.—). 

Bioline (und Mlavier). Ich ftelle die Titel zufammen: Saybn, 
Biolinfonaten (Mi. 2.50), Mozart, 8 Sonaten (Mi.a.50), Konzerte in A und 
Es (je ME. 1.50), Beethoven, Sonaten, 2 Bde. (je DIE. 2.50), Konzert 
(ME. 1.—) ſämtlich bei Breitkopf & Härte. Schubert, Sonatinen (Peters, 
Mk. 1.20). 

Klaviertrios von Haydn (Breitlopf, je ME. 1.20), Mozart (Litolff, 
zuf. DE. 4.50), Beethoven (Ebenda, DM. 7.50) und Schubert (DE. 5.—). 

Streihquartette (Stimmen) bei Litolff: von Haydn (Ausmahl, 
ME. 5.50), Mozart (ME. 10.50), Schubert (ME, 3.50), Klavierquartette 
von Mozart (DE. 4.—) und Beethoven (ME. 3.50). 

Streidhgquintette von Mozart (ME. 6.—), Beethoven (Mt. 4.—) 
und op. 165 von Schubert (ME. 3.—). SRlavierquintett von Beethoven 
(Mk. 2.—) und Schubert (orellenquinteit, ME. 2.—). Sämtlidy bei Litolff. 

Nicht jeder tief Mufifbedürftige ift in der Lage, an Orten zu mweilen, wo 
die Meifterwerle der Orcefterfunft in guten Aufführungen zu hören find und 
die Riedergabe am Slavier gibt auf die Dauer doch auch nicht die volle Bes 
friedigung. Wo aber, felbit im kleinſten Winkel, ein paar ehrliche Muſik— 
menſchen beifammen figen, da fünnen fie fich vermittelft der Breittopf & Härtels 
ſchen „Hausmufil* die Löftlihfien Genüffe ſelbſt verſchaffen. Es iſt dies eine 
Sammlung von vortreiflihen Bearbeitungen Haffifcher Orcheſterwerke für 
Klavier, Streicdhquintett und Flöte, wobei ber Stlavierpart 1'/.—3 Dit., jede 
Stimme 30 Pf. koftet, und Blas- und Schlaginftrumente nad) Belieben bezw. 
nad Borhandenfein hinzugefügt werden fünnen. Erſchienen find bis jekt Sins 
fonien und Ouverturen von Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Schubert, 
Dtendelsfohn, Schumanı, aber auch Stüde von Gretry, Richard Wagner u, a., 
das bedeutet eine wahre Himmelsgabe für die muſikaliſche Provinz, die doch 
auch ihr gutes Anrecht auf die Segnungen unferer großen Tonkunſt hat. 


Dpern Beim Studium unjerer Opernmujit gibt e8 ein Grundgefeg: 
ſtets nur Klavierauszüge mit Tert* anſchaffen. Wir fehen den Text der Oper 
nicht, wie eine frühere Zeit, als Vorwand oder als Stüge zum Muſikmachen, 
fondern als mejentliden Beitandteil eines aus Wort, Ton und Gebärde 
fih aufammenfegenden Kunſtwerks an, aus dem man die Mufif nicht befonders 
abziehen darf. Glud findet man in feinen Hauptwerken Orpgeus, Ulcefte, 
Armida und ben beiden Jphigenien bei Peters (je ME. 2—3); die aulidifdye 
Spbigenie iſt überdies in Rihard Wagners mufjtergiltiger Bearbeitung bei 
Breitlopf & Härtel (B.:U., ME 5.—) erfchienen. An zwei fo bedeutenden 
Meiftern wie Mehul („Iofef in Egypten“, Peters, WIE. 1.50) und Cheru— 
bini („Bafjerträger* und „Medea“, ebenda, ME. 3.-- und ME. 6.—) follte fein 
erniter Muſikfreund vorübergehen, wie das jegt leider vielfach geſchieht. Sie 
gehören einfah zur mufilaliihen Bildung Für Mozart fei die Bollsaus: 
gabe von Breitfopf empfohlen; „Cosi fan tutte“* im der Levifchen Bearbeitung. 
„Die Zauberflöte* und Beethovens „Fidelio“ ziehe ich allerdings in der neuen 
Litolfiſchen Ausgabe vor. 


2. Xovemberheft 1898 
— 1 — 


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Lieder Bor allem muß hier das große, vierbändige Sammelwerk 
„Das deutſche Lied“, herausgegeben von 9. Reimann (Berlin, Simrod, 
jeder Band DE. 3.—) genannt werden. Derfelbe Mufifer hat, zu gleihem Preis, 
3 Bände eines „Internationalen Bolfsliederbuches“ erſcheinen laſſen. Bor 
ben Lieberalbums bei Peters, von Parlow (Litolff, ME 5.—) und von 
Niemann (Steingräber, Mk. 3.—) den Paris zu fpielen, fühle id) mid 
nicht berufen. Alle drei find gut, weil fie fajt alle dasielbe Material um— 
falten. Nochmals ergreife ich die Gelegenheit, um die Bedeutung des alt» 
deutſchen Volfsliedes für unjere Hausmufif zu betonen. Den Anfang made 
man etwa mit ben föltlihen Stüden, die Plüddemann zu Anfang feines 
Heftes (Lieder und Gefänge, Nürnberg, Schmid, ME. 1.50) veröffentlichte, und 
movon die diesmalige Muſikbeilage eine Probe gibt. Einen überaus wertvollen 
Hausſchatz ftellen Die „dDeutfchen Volkslieder“ mit Stlavierbepleitung von Johannes 
Brahms (Simrod, 7 Hefte zu DH. 4.—) dar. Eines jchöner als das andere, mit 
einem harmoniſch wundervollen Alavierfag. Bon Mozarts, Beethovens und 
Webers Liedern iſt das Beite und Bleibende bereits im den oben erwähnten 
Sammel-Albums enthalten. Eher lohnt fih ſchon Die Anfchaffung einer Ges 
famtausgabe der Schubertfen Lyrik und zwar in der Ausgabe von M. Fried— 
länder (Peters, 7 Bde. je Mi. 3.—), die einen von allen jpäteren Entftellungen 
gefäuberten, authentifhen Muſiltert darbictet. (Schluß folgt.) R. B. 


Bildende Künfte, 


Eine Aufzählung derjenigen Werfe, die dem gebildeten Laien als Weg— 
weifer auf dem Gebiete der bildenden Künſte dienen können, iſt weniger leicht 
gemadt, als e8 auf den eriten Blick fcheinen möchte. Denn gerade hier ift 
die Grenzlinie zwiſchen Fachliteratur und wirklich wertvollen Werfen für den 
Laien recht ſchwer zu ziehen. Was zunädhit die allgemeine Gefhichte der 
bildenden Künste angeht, jo ift an foldhen Werken, die für einen meiteren 
Referfreis beftimmt find, fein Mangel; faſt jedes Jahr erfcheint eine neue 
mehr oder minder reich ausgejitattete Kunſtgeſchichte. Es gehört eben nicht 
mehr viel dazu, ſolch ein Buch lesbar abzufaſſen; wenn fich nur ein Verleger 
bereit findet, fo finden fi) fo und fo viele Bearbeiter, die auf Grund der vor— 
handenen tüchtigen Werle und fonitigen Hilfsmittel ein „neues“ Buch zus 
fanımenfchreiben, Neue eigenartige Gedanlen und anregende Schreibmeiie oder 
gar Ergebniſſe eigener Forſchungen fuht man dann freilich vergeblid). 

Das beite hierher gehörige Werk iſt noch immer Anton Springers 
gut illujtriertes „Handbuch der Kunſtgeſchichte“ (Beipzig, E. U. Seemann, 5. Aufl. 
1898), ein Werk, das mit univerfeller Beherrſchung des gefamten Stoffes 
als reife Frucht Iangjähriger Forſcher- und Lehrthätigfeit entitanden iſt und 
cht Hiftorisches Veritändnis mit lebensvoller, anregender und klarer Daritel- 
lung verbindet. Den Lübkeſchen und ähnlichen Büchern ift das Springerfche 
um dieſer Gigenichaft willen, wie wegen jeiner Selbitändigfeit und Zuverläffig- 
feit bei weiten vorzuziehen. 

Heben diefem Buche nennen wir, als ein etwas bejihränfteres Gebiet 
gleichfalls vorzüglid) behandelnd, die „Geſchichte der chriſtlichen Kunſt“ von 
Franz Faver raus (Freiburg, Herderſche Verlagshandlung), von der bis— 
ber der erfte Band in zwei Mbteilungen und des zweiten Bandes erſte Abtei- 
lung eridienen find. Sie beſprechen die hellenistifch = römische Kunst der alten 
Chriſten, die bygantinifche Kunſt, Anfänge der Kunſt bei den Völkern des Nor— 
dens, das Mittelalter. Auch hier haben mir e8 mit einem Werfe zu thun, 


Kunftwart 
_ 12 — 


das teils auf ernithaften felbfitändigen Forfchungen, teil auf übers 
legener fritifcher Verwertung der Forſchungen anderer beruht und eigne 
Gedanken eines geiitvollen und hiſtoriſch geihulten Mannes in geihmadvoller 
Form darbietet. Der fatholiihe Standpunkt des Verfaſſers tritt nicht in 
einer Weife hervor, die den Andersbentenden ftören fünnte. Auch das Kraus— 
fhe Werk ijt vortrefflich illuſtriert. Als das am beiten illufirierte ber 
allgemeinen Werke diefer Urt muß die dem Papite gewibmete „Allgemeine 
Kunſtgeſchichte“ bezeichnet werden, die ber Benebdiltiner Prof. Dr. Albert 
Kuhn im Verlage von Benziger & Co. erfcheinen läßt. Von den 25 Liefe— 
rungen zu ME. 2.— find bisher ı5 erfhienen. Der gelehrte Verfaſſer jteht auf 
einem fittlich fehr engen Standpunkte, der 3. 2. die Venus von Milo in 
fieben Zeilen abzuthun und von ihr nur den Kopf abzubilden erlaubt. Auch 
macht Kuhn 3. B. einen jtrengen Unterſchied zwiſchen religiöfer und litur— 
gifcher Kunft. 

MWeiter iſt zu empfehlen die im G. Groteichen Berlag zu Berlin er— 
fhienene jehsbändige „Gejchichte der deutichen Kunſt“. Amwertvollſten ift von 
den einzelnen Wöteilungen darin die Gejchichte der deutfchen Malerei von dem 
zu früh veritorbenen Hubert Janitſchek, der gleichfalls weit mehr gibt, als 
bloße Wiederholung von Schulmeinungen. Hieran Tchlichen ſich die Baukunſt 
von Dohme, die Plaftit von Bode, das Aunjtgewerbe von Jakob 
von Falke, fomwie die zwar nicht viel Eigenes bietende, aber durchaus korrekte 
Geſchichte des Kupferſtichs und Holgichnittes von Lütz o w. 

Für Italien insbeſondere iſt als eines der köſtlichſten Bücher kaum noch 
einer Empfehlung bedürftig „Der Cicerone“ von Ialob Burckhardt, 
(Leipzig, Seemann), in der That, was jein Untertitel bejagt: „eine Anleitung 
zum Genuß der Kunitwerfe Italiens“. Die Bilder, die hier fehlen, fann man 
fih durch die „Aunitgefchichte in Bildern“ erfegen, die als neue Musgabe der 
„Kunjthiftoriichen Bilderbogen“ gleichfalls bei Seemann erfchienen ist. 

Für die Malerei fommt in Betradt die „Geſchichte der Malerei” von 
Karl Woermann und Alfred Woltmann (keipzig, E. U. Seemann), 
melde in folider Weiſe die jpruchreifen Ergebniffe der Forihung zuſammen— 
faßt. Der von dent verliorbenen Woltmann verfaßte Teil, der das Mittel- 
alter betrifft, iſt jreilihd im mander Beziehung von der neueren Forſchung 
überholt. Dieſes Werk genügt auch für die Geſchichte der italienischen Malerei, 
fo dab es hierfür feines befonderen Buches bedarf. Das grundlegende Wert 
von Crowe und Gavalcafelle fäme für den Laien ſchwerlich in Frage, eher bie 
mit pifanter Polemik gefchriebenen „SKunitkritifchen Studien zur italienischen 
Malerei“ (Leipzig, F. U. Brodhaus) — falls jemand ſich über Die fritifchen 
Srundlagen der italienifhen Kunitgeihichte unterrichten will. Ganz von mo— 
dernem Geiſte getragen ilt die „Geidichte der Malerei im 19. Jahrhumderts* 
von Rihard Muther (Münden, ©. Hirths Kunftverlag). Der Verfaſſer iſt 
wegen ber zahlreichen Entlehnungen und nicht genügender Ungabe der Quellen 
getabdelt worden. Hätte er die Gedanken jeiner fpäteren Berteidigungsfährift in 
das Vorwort des Buches geſetzt, To Hätte er den Angriffen die Spike abge: 
broden. Un fi Hat er ein fehr brauchbares und ſehr anregendes Bud) ge= 
ſchrieben. Es ift aber leider zur Zeit nur antiquariih zu außerordentlich 
hohem Preiſe im Handel. 

Eine genügende allgemeine Geſchichte der Plaſtik fehlt, die Lübkeſche 
iſt veraltet. Vorzüglich iſt die „Geſchichte der griechiichen Plaſtik“ von Mas 
zime Gollignon, überjegt von Eduard Thrämer (I. Bd. durch Zuſätze 


2. Hovemberheft 1898 
— 123 — 


unb Literaturnachweiſe erweitert und auf den gegenwärtigen Stand der Wiſſen— 
Ihaft gebradjt) und von Frig Baumgarten (II. Bb., ohne Zufäße, Die bier 
nidt von Nöten waren). Das Werk ift eigentlid für Urhäologen von Fach 
berechnet, aber fo frifch und Iebendig geſchrieben, daß e8 aud) für Laien durch— 
aus empfehlenswert ericheint; es ift zudem vom Berleger, 8. I. Trübner in 
Straßburg, mit mujfterhafter Gediegenheit ausgeftattet. Die Overbeckſche „Ger 
ſchichte der griechiſchen Plaſtik“ ift damit überholt; Brunns „Geſchichte der 
griehifhen Künstler“ eignet fi für den Laien faum. Hieran fließen mir 
„Die italienifhe Plaftil* von Wilhelm Bode, eines der bei W. Spe- 
mann erfhienenen Handbüdher ber Königlichen Mufeen zu Berlin (die übers 
haupt zu empfehlen find), ein zuverläffiges felbitändiges Buch in Bodes bes 
fannter Art, mit zahlreichen Abbildungen verfehen. Das Bodeihe Werk über 
bie deutſche Blaftif nannten wir ſchon. Für die Plaſtik der Neuzeit fommt 
nur in Betradjt Anton Springers Kunſt des 19. Jahrhunderts“ (Leipzig, 
@. U. Seemann). 

Für die Baukunſt ift zunächſt wieder auf Burdharbts „Eicerome“ und 
Springer® „Handbuch“ zu vermweifen. Cine allgemeine „Grfchicdhte der 
Architektur“ hat W. Lübke (s. Aufl., 1884—86) zumeifi auf Grund frember 
Sorfhungen zufammengeftellt. Seibjtändiger ift die viel umfünglichere. 
„Beihihte der Baufunft* von Franz Kugler (Stuttgart, 1856—59, 
1—3. Bd., Altertum und Mittelalter umfaffend; diefe drei Bände bedürfen 
allerdings mancher Storrefturen). Das Kuglerſche Wert wurde fortgeſetzt zunächſt 
von Jakob Burdhardt als „Geſchichte der Nenaiffance in Jtalien* — ein 
inhaltſchweres Bud) in gedrängtem Stil, dann von Wilhelm Lübte mit den 
beiden Geſchichtswerken über die Reneifjance in Franfreih und in Deutſch— 
fand, von denen namentlich das über Deutfchland zu Lübles befferen Arbeiten 
gehört, und von Cornelius Gurlitt mit der dreibändigen „Gefchichte 
des Baroditils, des Nolofo und des Klaſſizismus“, die als erjtes zufammen: 
faffendes Werk auf dieſem Gebiet wertvoll ift, wenn ſchon der Berfailer 
ficherlich bei einer zweiten Auflage manches Grundfähliche (Auffaſſung des 
SJefuitenftils, Vernachläſſigung des Spanischen Barocks) und manderlei Ein 
aelheiten Ändern wird. Das Dohmeſche Werk über die deutihe Baulunſt 
erwähnten wir fhon. Ferner find zu nennen: Berrot ımb Chipiez, Hi- 
stoire de l’art dans l’antiquite, 1.Bd. Aegypten in deutſcher Ausgabe, Leipzig, 
1882— 84). Das beite neuere Werk ift: die chriſtliche Baukunſt des Abend— 
landes8 von Dehio und v. Vezold, groß angelegt, für tiefere Studien, mit 
großem Bilder-Atlas. 

Die ilfuftrierte „Geſchichte der Graphiſchen Künfte* von J. E. Weſſely 
(Reipzig, T. DO. Weigel Nachf., 1391) berüdfihtigt die moderne Forſchung nidt 
in genügender Weiſe. Den „Kupferstich“ befpricht vortrefflid Lippmanns 
Berliner Mufeumshandbud) (Berlin, W. Spemann), bis in die Gegenwart reicht 
die frisch und Tebendig geſchriebene „Geſchichte des NKupferftihs* von Hans 
Wolfgang Singer (Magdeburg a. E.), die mandhem allerdings durch Die 
hier und da etwas burſchikoſe Ausdrucksweiſe mißfallen dürfte, Sponjels 
„Modernes Plakat“ (Dresden, Kühtmann) ein umfänglider Band, für den bie 
großen franzöſiſchen u. a. Werke Lug benugt worden find, unterrichtet mit 
guten Worten und Nahbildungen. Dazu kommen die rei und vornehm mit 
Kunftblättern und Sluftrationen ausgeftetteten Beröffentlihungen der Gefell- 
ihaft für vervielfältigende KHunft in Wien: „Die vervielfältigende 
Kunſt ber Gegenmwart*, cin Prachtwerk in Folio-Bänden. Cine gute 

Kunfjtwart 


— 124 — 


„Geihichte ber tehniihen KHünfte* in drei Bänden veröffentlihte Bruno 
Bucher (Stuttgart, 1875—93) im Verein mit anberen Gelehrten, Einige 
ber älteren Übteilungen find zum Zeil nicht mehr ganz auf der Höhe. Uebrigens 
find in dem Bude aud) Miniatur, Glyptik, Formſchneidekunſt und Kupfer: 
ftih behandelt. Auch desſelben Verfaſſers Auffagfammlung „Mit Gunft* ft 
lejenswert. Für das Kunſtgewerbe fommen bann vor allem bie gehalt 
vollen und anregend geichriebenen Schriften von Jakob von Falle in Be 
tracht, zumal jeine „Geſchichte des Geſchmacks“ im Mittelalter. Auch Bruno 
Bucher bat eine Reihe interejlanter Auffäge (unter dem Titel „Mit Gunft“) 
veröffentlicht. 

In der Literatur kunjtgefhihtliher Eſſays ftehen in erfter Linie bie 
„Bilder auß der neueren Runjtgefhichte* von Anton Springer (2. Aufl. 
Bonn, 1686), achtzehn inhaltreihe und vielfach gerabezu bahnbrechende Auf 
fäge, umfaffend die ganze Kunftgefhichte vom Mittelalter bis in die neueite 
Beit, und glänzend geſchrieben. Mehr feuilletoniftifh und ftreitbar gehalten 
find bie „Wiener Aunftbriefe* von M. Thaufing Die Hettnerfcden 
Ejjays zur Gefhichte der Renaiffance find hiſtoriſch unzuverläffig, feine 
„Kleinen Schriften” (Braunſchweig. 1884) dagegen enthalten mandes Interef- 
fante zur modernen Kunftgefhidhte. Neben das grundlegende und epoche— 
madende Werk diefer Art, bie „Kultur der Nenaiffancee* von Jakob 
Burdharbt, Stellen ſich die geiftvollen vier Vorträge von Hubert Ja— 
nitfhet: „Die Geſellſchaft der Renaifjfance in Italien und die Kunſt“ (Stutt« 
gart, 1879). Weiter nennen wir Gottfried Sempers Heine Schriften, 
die hauptſächlich der Architeltur gewidmet find, aber u. a. aud) ben berühmten 
erjten Aufſatz über die Farbigfeit der griechiſchen Plajtik enthalten, dan Her= 
mann Grimm „Eſſays“, die voll find von fubjeltivem Geiſtreichtum, 
weiter für bie Antike: „Griechiſche Götterideale, in ihren Formen erläutert” 
von Heinrich Brunn (Münden, 1895), die freilich in gleichfalls geiftreicher 
Subjeftivität, gleichfalls nicht immer bei der nüchternen Wirklichkeit bleiben. 
Weiter find gu nennen: „Konrad Fiedlers Schriften über Kunſt“ (Leipzig, 
1896), wertvolle Belenntniffe eines denkenden Kunitfreundes, die allerdings 
etwas ſchwierig zu lejen find. 

Werte über Aeſthetik gu empfehlen, ift ganz befonders ſchwer. Die 
fogenannten „populären“ find zum minbeften, infofern fie mit dem Anſpruch 
auf wiſſenſchaftliche Erkenntnis auftreten (und das thun fie zumeift), eher 
ſchädlich als nugbringend, meil fie die „Halbbildung bes Stunftverftändnijjes” 
fördern. Die wirklich wifjenfhaftlihen dagegen, unter benen Rihard Ave 
nariuß „Kritik der reinen Erfahrung“ auch für die Aeſthetik epochemachend 
war, fegen gediegene pfydolsgiihe Bildung und Geübtheit im abſtrakten Denten 
unbedingt voraus. Das einzige Werl, das wenigſtens von einigen Problemen 
der wiſſenſchaftlichen Aeſthetil auch dem gebildeten Laien fon eine fahliche 
Anſchauung gibt, iſt Fechners höchſt anregende „Vorſchule der Aeſthetik“. 

Lange Zeit hindurch galt Gottfried Sempers monumentales Werk 
„Der Stil in den technifchen und teftonifhen Künften“ (Stuttgart, 1878) als 
unfehlbar. Zum Zeil andere Anfhauungen werden entwidelt von Alois 
Riegl in dem Bude „Stilfragen, Grundlegungen zu einer Gefhichte der Orna= 
mentit“ (Berlin, 1895). Dazu lefe man das zufammenfaflende interejjante 
Bud von Ernft Große „Die Anfänge der ſtunſt“ (Freiburg, 1844). 

Weit populärer gehalten, als Semperß bedeutendes Werk, it Jakob 
von Falfes „Uefthetil des Kunſtgewerbes“, ein Handbud) für Haus, Schule 


2. Yovemberheft 1898 
— 15 — 


und Werkftätte (Spemann). Die Mitte hält Georg Hirths reich illuftriertes, 
auf reiher Eriahrung beruhendes Werk „Das deutſche Zimmer der Gotik und 
Renaiffance, des Barod-, Rokoko⸗- und Zopfitils“, Anregungen zu häuslicher 
Kunftpflege. Desjelben Verfaſſers „Aufgaben der Hunftphyfiologie“ Tann man 
eine phyfiologifche Aeſthetik nennen, fie hat viel dazu beigetragen, die modernen 
Probleme der Malerei auf wiffenichaftliche Grundfäge gurüdzuführen. Auch der 
berühmte Phyſiker Helmbolg bat ja in feiner „Phyfiologifhen Optik“ in ber 
gleihen Richtung gewirkt. Ueber die Fragen bes Realismus, Idealismus, Naluralis- 
mus findet man ungemein intereffante Auseinanderſetzungen in Ju ſt is Velazquez⸗ 
Biographie (Bonn, Marcus), einen der geijtvolliten kunſtgeſchichtlichen Bücher, 
das wir kennen; und über die inneren Triebräfte der modernen Hunftbemegung 
auf dem Gebiete der Dlalerei gibt vielfeitigen Aufichluß das Buch „Der Kampf 
um die neue Kunſt“ von Karl Neumann (Berlin, Walker). Das Gleiche für 
die Zeit um 1863 leiftet Julius Meyers Bud zur , Geſchichte und Kritik der 
modernen beutfchen Kunjt“, herausgegeben von Konrad Fiedler (Leipzig, Grunert). 
Hierher gehören auch des Grafen von Shad intereffante Schrift „Meine 
Gemäldeſammlung“ (Stuttgart, Cotta), die über feine Erlebniffe mit zahlreichen 
Künftlern, wie Shwind, Bödlin, Genelli, Feuerbach u. ſ. w, Auskunft gibt, und 
die treffenden Eritifchen Betrachtungen, die Ludwig Pfau niedergelegt Hat 
in feinen äfthetifhen Schriften: „Bilder und Baumerfe*, „Dialer und Gemälde”, 
„Die Kunft im Staate* (Stuttgart, 1888). Hier nennen wir auh Walter 
Eranes fehr widtige Schrift „Die Forderungen der deforativen Sunft“ (deutſch 
von D. Wittih, Berlin, 1896), welches mit Nahdrud die Gleihberehtigung 
der beforativen Kunſt (des Kunſtgewerbes) mit den fog. hohen Künſten barlegt. 

Ueber die äſthetiſchen Anſchauungen auf dem Gebiete der Plaftil um 
bie Wende umnferes Jahrhunderts findet man reiche Belehrung in Julius 
Langes Buch „Thorwaldjens Darftelung des Menſchen“ (Berlin, 1894), 
während für die Gegenwart Adolf Hildebrands tiefgründiges Bud „Das 
Problem der Form in der bildenden Kunſt“ (Straßburg, 1893) grundſätzliche 
Betrachtungen bietet. Für die Farbigfeit der Plaftil, die Hildebrand be— 
tämpft, trat Georg Treu ein in feiner Heinen Schrift „Sollen wir unfere 
Statuen bemalen?* (Berlin, Oppermann). Weiter gehört hierher Max 
Klingers gebantenreihe polemifhe Schrift „Malerei und Zeichnung“, 
melde bie Grenzen von Dtalerei und Schwarzweißlunft, fowie das Recht des 
Künftlers auf die Daritelung des nadten Körpers vom Standpunkt bes Bild- 
ners erörtert. Endlich feien bier wenigſtens noch erwähnt das bedeutend 
ältere Bud „Der vatikaniſche Apollo” von Anjelm Feuerbach und bie 
Aeſthetik des Häßlihen* von Roſenkranz. Das Beite, was wir auf dem 
Gebiete der praltiſchen Farbenlehre fennen, iſt Chevreul, »De la loi du 
contraste simultan& des couleurse, deutfh von Jännide, und »Des couleurs et 
de leurs applications aux arts industriels« (Paris, 1880 u. 1888). 

Für die Aeſthetik der Baufunft fommen in Betradt: 1. auf dem 
Gebicte des Städtebaus: Sitte 8 treffliches Buch „Der Städtebau nad) feinen 
fünftlerifchen Grundfägen“, das für daß Dlalerifche, die frumme Linie in deu 
Unlagen der Städte eintritt, ferner von feinem Gegner Stübben daß um— 
fänglidere Wert „Der Städtebau‘, das mehr das praktiſch zunächſt Erreich— 
bare darſtellt, endlih von Henrici der Text zu feinem „Preisgefrönten Kon— 
furrenzentwurf zu der Stadterweiterung Mündens* (Münden, 1895). Auch 
Göllers Schriften zur Aeſthetik der Baufunit find wichtig, aber freilich nicht 
populär. Das find dafür durchaus Hans Schliepmanns frifhe „Betrach— 


Kunftwart 
- 1236 


tungen über Baufunft“. Für die Häusliche Kunjtpflege empfehlen wir folgende 
Heine Schriften: Gurlitt, „Im Bürgerhaus“, Henrici, „Betrachtungen über 
die Grundlagen zu behaglicher Einrichtung“ und Lichtwark, „Alter Wein, 
neue Schläuche”, wie Lichtwarks Feine Brofhüren überhaupt. 

Die Fragen des Kunſtunterrichts erörtert unfer Mitarbeiter 
Shulge- Naumburg in ber Schrift „Der Bildungsgang für moderne 
Maler“. Für die allgemeine äfthetifche Bildung des Volkes trat mit Entſchie— 
benheit fonrab Lange ein in feinem Bude: „Die fünjtlerifche Erziehung 
des deutſchen Volks“. Lichtwarks Fleine Schriften fommen auch und gerabe 
bier in Betradt. Wir nennen auch Spaniers Schrift: „Rünftlerifcher 
Bilderfhmud für Schulen“ (mit Bilderverzeichnis). 

Endblih führen wir bier in Kürze die nad unferer Meinung beiten 
Künftlerbiographbien an: „Belazquez”, „Murilo* und „Winkelmann“ 
von Juſti, „Raffael und Michelangelo“, ſowie „Albredt Dürer“ von Anton 
Springer, „Studien zur Geſchichte ber holländiſchen Malerei” (Rembrandt 
und „Franz Hals*)von Wilhelm Bode, „Hans Holbein“ von Woltmann, 
„Peter Flötner* von Konrad Lange, „Rietihel* von Oppermann, 
Zubmwig Ridters Selbjtbiographie, „Chodowiecki“ von D. v. Oettin— 
gen, „Mantegna” und „Eorreggio" von Henry Thode, „Sandro Bots 
ticelli” von Ullmann, „Rubens“ von Roofes, „van Dyd* von Guiff— 
rey, „Die florentinifhen Maler der Renaiffance* von Bernhard Beren- 
fon (beutfh von Otto Dammann, Oppeln, 18398), „Defer“ von Dürr, 
„Schlüter“ von Gurlitt, „Bödlin* von Max Lehrs, „Eonftantin Meunier* 
von Georg Treu. Für das Berftändnis Klingers: „Mar Hlingers Griffel- 
Zunit“ von Ferdinand Uvenarius. Endlich nennen wir nod) das eben 
erfhienene Bud: „Beiträge zur Aumftgefhichte von Italien” von Jakob 
Burdhbardt. Die Künftlerbiographien im Dohmes „Kunft und Künſtlern“ 
und in der nadfußfhen Sammlung find natürlich fehr ungleichwertig, wegen 
ihrer zahlreichen Bilder aber find doch felbft die legteren eigentlih ausnahmes 
108 zu empfehlen. 

Es mag fein, daß bei dieſem eriten Verſuch einzelnes Wertvolles über: 
fehen worden ift, indes dürften nicht viele Werke fehlen, die wir als wertvoll 
für weitere Kreife mirfli empfehlen wollten. In ben meiften 
Fällen dürfte zutreffen, daß wir das, was vielleicht der eine oder der andere 
vermißt, eben nicht für bedeutend genug für den befonderen Zmed hielten. 

Paul Shumann. 
(Weitere Auffäge zur „Weihnachtsſchau“ folgen im nächften Hefte.) 


(2 Ber 
402 AR? 


Gerbart bauptmanns „Fubrmann benschel“., 


Wenn e8 mir barum zu thun wäre, Hauptmanns neues Werk mit einem 
‘bequemen Schlagworte zu bezeichnen, jo würde ich fagen: er hat feinen Bahn= 
wärter Thiel jegt auf bie Bühne gebradit. Daß der Bahnmärter und ber Fuhr⸗ 
mann, beides offene, arglofe, einfach⸗männliche, in ihrer Art ftarle, aber, wenn 
‚man fie trifft, auch fofort tödlich getroffne Naturen mit dem leidenſchaftlichen 
Zuge zu den lindern, der folde Menjchen auszeichnet, und einem myſtiſchen 
Hang — daß fie mindeftens Brüder find, und daß fie an demfelben Verhäng- 
niffe, an derfelben Gattung Weib zugrunde gehen, wird niemand beitreiten 
tönnen. Völlig verfchteden ift aber das Milieu der beiden Werke. „Bahnmärter 


2. Hovemberheft 1898 
— 127 — 


Thiel? fpielt irgendwo an ber märlifchen Eifenbahn und übt außer durch dag 
in ihm bargeftellte Menfhenihidfal aud durch die Naturfzenerie, die vor— 
trefflih zur Anſchauung gebradte Einfamkeit der märkiſchen Kiefernmaldung, 
eine ftarfe Wirkung; „Fuhrmann Henſchel“ gibt das gewöhnliche Leben, nit 
die Satfon eines fchlefifhen Kurortes wieder, läßt alfo gleichſam Hinter bie 
Kuliffen eines ſolchen bliden. 

Der Inhalt des von Hauptmann „Schaufpiel* genannten neuen Dramas, 
das wieber bei S. Filcher in Berlin erfchienen ift, läßt ſich mit ein paar 
Worten erzählen. Die rau des Fuhrmanns Henſchel ift zu früh aus dem 
Kindbette aufgejtanden, wieber „umgefallen“ und jest dem Sterben nahe. In 
ihrer Krankenſtimmung, ziemlich) einfam und verlaffen daliegend, argmöhnt fie, 
da ihr Mann mit der Magd Hanne ein Verhältnis habe (e8 fann davon bet 
dem Gharalter des Mannes nicht die Rede fein), und nimmt ihm nad) einer 
heftigen Szene vor ihrem Tode daß Verſprechen ab, Hanne nicht zu heiraten. 
Henſchel, der fih nad) dem Tode feiner Frau völlig verlaffen fühlt und durch 
ein kränkliches ind gezwungen ift, wieder zu Heiraten, nimmt Hanne doch, nad) 
dem fie ihm eine Komödie vorgefpielt und der Beſitzer des Babes ihm gefagt 
hat, dab das Verſprechen an die Tote body nidyt bindend fei. Er nimmt fie, 
itogdem er weiß, Daß die Magd ein uneheliches Kind hat. Die neue Frau 
Henschel geht dann jofort ein Verhältnis mit einem ftellner ein und Triegt ihren 
Dann, wie man zu jagen pflegt, „völlig unter“. In feiner unbegrenzten Gut: 
mötigteit führt ihr Henſchel, nachdem fein eigenes Kind geftorben, nod) das 
ihrige zu; fie nimmt es keineswegs freundlih auf. Bei einer Wirtshaus— 
ftreiterei erfährt Henschel endlich, was alle Welt weiß, auch, daß ein Gerücht 
umgehe, Hanne babe feine erfte Frau und ihr Kind auf die Scite gebradt, 
möglicherweife im Einverftändnis mit Henfhel. Da verſinkt er in Zieffinn, 
bat Erfheinungen feiner erjten Frau und tötet ſich zulegt jelbit. Bahnmärter 
Thiel tötet bafür fein Weib, ein Ausgang, den man hier auch befürchtet, doch 
hat Hauptmann richtig gewählt: der Fuhrmann fteht menihlih, wenn man 
will moralifh etwas höher als der Bahnmärter. Mit der Haupthandlung find 
ein paar Nebenhandlungen, fomeit denn von Handlung die Rede jein kann, 
verbunden, wir fehen jenen Badbefiger allmählich zugrunde gehen und bliden 
in bie Sorgen eines Wirte, eines chemaligen Schaufpielers Hinein — im 
ganzen komint dieſes Nebenbei wenig in Betrad)t. 

E8 befagt wenig, das Stüd als einen „Rüdjall“ in den Naturalismus 
zu bezeichnen. Zwar wird man an Hauptmanns erjtes Werl „Bor Sonnen= 
aufgang* und an beijen Vorbild, Tolftojs „Madjt der Finfternis“ ſtark er— 
innert, body hat ſich der Dichter hier vor naturalijtifden Extravaganzen ge= 
hütet, obgleich ihm das Treiben der Hanne ja Gelegenheit genug dazu geboten 
hätte, er hat das Nötige nur andeutend gebradit. Wie das durch den Sturm 
und Drang zu erflärende „Ertravagante* ift dann aud) das in „Bor Sonnen= 
aufgang* enthaltene Zeit- und foziale Element meggejallen, „Fuhrmann 
Henſchel“ ift ein reines fchlefifches „Volks- und Dialeltftüd”, enger als das 
Erftlingsmwert, mit dem es bie Atmofphäre teilt, dafür aber geſchloſſener, fünft= 
Ierifch reifer. Die Teilnahme fammelt burhaus der Fuhrmann felber auf ſich, 
er ijt der „Held“, wenn ınan diefen Begriff nicht im herkömmlichen Sinne verfteht,. 
und bedeutet künſtleriſch eine ſehr tüchtige Leiftung. So findet man vom „Fuhr— 
mann“ aud den Weg zu jenen Dramen Hauptmanns, in denen, wie im 
„Kollegen Crampton“ und im „Biberpelz*, ein Charakter ben Mittelpunft bildet 
und bie ihn umgebende Welt völlig auf ihn zugeſchnitten iſt, jo daß ſich Fein. 

Kunftwart 


— 18 — 


eigentliches Weltbild ergibt. Die Nebenperfonen haben aud im „Fuhrmann“ 
faft alle nur Typen=, faum individuellen Charakter, felbft Hanne, die Magd, 
bleibt in mancher Beziehung „abftraft*. Was der Dichter mit ihr gewollt Hat, 
willen wir ſchon, aber völlig in fie hinein verfegen können wir uns nit. Die 
abfolute Gemütlofigkeit — das Wort umfchreibt ihre gemeine Natur fo ungefähr, 
aber pofitiv, individuell beftimmt tritt fie uns faum entgegen. Man muß bier 
als Bergleihsmerte verwandte ältere dichteriſche Schöpfungen, wie etwa Anzen⸗— 
grubers Sternfteinhofbäuerin, heranziehen, und wird ſich dann jagen, daß diefer 
Dichter in ber Zeichnung dieſer befonderen Geftalt weiter gemollt hat und 
meiter gelommen ift als Hauptmann. Un individueller Unbeftimmtheit leidet 
aud der Babbefiger Siebenhaar, dagegen find die Typens oder Milieumenſchen 
Wermelskirch, der Schaufpieler-Wirt, feine Tochter Franziska (ein bischen 
Sudermannifches finde ich freilich in ihr), der fächftiche Kellner George, ber 
Knecht Hauffe, der Haufierer Fabig fait durchaus gelungen und vollftändig an 
ihrem Platze, und in ber erften Frau Henſchels hat Hauptmann mwenigftens den 
„Situations*-Charafter volljtändig getroffen. 

Alles in allem bietet das neue Wert feine Ueberrafhungen. Daß Haupt 
mann dergleihen fann, befjer als feine Mitjtrebenden, wiſſen mir alle; bie 
große Hauptmannsfzrage ift nur, ob er barüber hinaus kann. Der Wert folder 
durchaus „echter“ Lebensdarjtellungen ift garnicht zu beftreiten; Geftalten mie 
eben der Fuhrmann, Szenen wie bie vor bem Sterbebette und der Wirtshaus: 
ftreit werden auch ftetS eine ergreifende Wirkung üben, von der Bühne herab, 
wenn fie gut verlörpert werben, ſowohl, wie auf den jtillen Lefer, falls dieſem 
nichts Menichliches fremd iſt. Aber man darf nicht überfehen: an dergleichen 
Darjtellungen ift unfere Literatur fehr rei, wenn man nur das ganze Gebiet 
der Erzählungen heranzieht, ja, fie find audh vor Hauptmann auf die 
Bühne gelangt, durch Ungengruber 3. B., der gewiß vielfach theatralifcher, 
aber dafür oft auch wieder ein gut Teil frifcher, Iebendiger, vielfeitiger, leichter 
fortreißend, vielleicht Überhaupt „genialer als Hauptmann war. Die fih als 
Hauptmanns engfte Gemeinde fühlen, werden mir’s wieder jehr übelnehmen, 
aber ih kann mir nicht helfen: Hauptmann ſcheint mir mehr zu „brüden“, als 
Angengruber. Und manchmal fommt dabei nicht einmal das Richtige heraus. 
So kann ih perfönlid die Szene, wo Hanne ihrem Herrn die Komödie vor= 
fpielt, wirklich nicht vortrefflic finden. Der plöglih auftauchende „Bruder“ 
Hannes müßte jelbft dem Arglofeiten verdächtig vortommen, und die „Strofodils= 
thränen“, die Hauptmann das Mädchen „flennen“ läßt, verfegen einen in bie 
Bintertreppenromansphäre. Doch fommt ja nicht viel darauf an. 

Was mid an dem „Fuhrmann“ beunruhigt, ja, geradezu betrübt, das ift: 
dat Hauptmann aud) mit diefem Werke nicht aus dem Streife des naturaliftifchen 
Vollsjtüds zur bürgerlichen Tragödie emporgelommen ift. Daß ich fein Menſch 
bin, der an Formen lebt, habe ich bemwiefen, indem ich in meinem Hauptmann— 
buche für die „Weber“ eine eigene vollberedtigte Form annahm, aber an bes 
fondere dramatifche Formen, an die Tragödie, an befondere dramatiſche Prob— 
leme und an das befonbere bramatifche Talent, das diefe fieht und im jenen 
ſchafft, glaube ic) allerdings. Der „Fuhrmann Henſchel“ Hat nichts befonderes 
Dramatiihesan fi. Der Fuhrmann felber wird zu feiner wahrhaft tragiſchen 
Geſtalt, nod) prägt fih in feinem Schidfal jene dramatifche Notwendigkeit auß, 
die das dramatiiche Problem felbit, wie alles Einzelgeichehen als ſchlechthin 
unvermeidlidh ericheinen läßt. Noch endlich wird das Stüd ſchleſiſchen 
Lebens, welches das Werk entrollt, irgendwie zum Weltbild — alles trägt den 


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— 11 — 


Charakter des Einzelfalls. Es ift nicht einzufehen, warum der „Fuhrmann 
Henfchel* nicht jo gut in erzählender Form zu geben wäre, wie ber „Bahn 
wärter Thiel”. „VBerbammen“ kann man bie von Hauptmann beliebte dramatifche 
Form natürlich nicht, aber von einer inneren Notmwendigfeit, diefen Gehalt 
als Drama zu geftalten, fann man auch nicht ſprechen. Und fo bleibt Hauptmann 
auch hier wieder ben Beweis fchuldig, daß er der „neborne* Dramatifer ift, 
wie feine Freunde, Prof. Erih Schmidt an der Spike, ſchon lange behaupten. 
Ih wünſchte, er wär’ es, denn nichts fehlt der Literatur der Gegenwart 
mehr, als ein großes fünftlerifches dramatiſches Talent, das unter feinen Um— 
ftänden Konzeffionen an die bloße Theaterfunft machte, nichts wäre aud für 
die Zukunft unferes Dramas und unferer Bühne wünfhensmwerter, als die Er— 
hebung des naturaliftiihen Vollsftüdes zum wirflihen Drama, zur bürger- 
lihen Tragödie, bie, bisher erit in zwei, drei Stüden vorhanden, dem großen 
biftorifhen Drama ebenbürtig an die Seite träte und „repertoirebilbend* würde. 
„Buhrmann Henschel” ift ein in feiner Art ſehr jhägensmwertes, gutes und er= 
greifendes Stüd, mit Bildern und Szenen voll echter Stimmung, eine nicht 
bloß Beobachtungen vermertende, fondern auch ganz und gar burhempfune 
dene wirklicht Dihtung, die als folde an und für ſich fchon Höher fteht, 
als die Arbeiten der Theaterfchriftfteller, wie Sudermann und Fulda. Aber 
für Haupmanns Entwidelung bedeutet das Stüd nichts, und nichts für die 
Entwidelung unferer deutfhen Literatur, Je größere Berhäliniffe die Haupt 
mann⸗Verehrung annimmt, je freudiger wir felbft die VBebeutung des Dichters 
Hauptmann anerfennen, bie ja im funftiwart von anderer Seite ſchon an= 
erfannt worden ijt, als neunundneunzig unter einem Hundert feiner jegigen 
Bewunderer nur Hohn und Empörung für ihn hatten — je mehr find wir ver— 
pflichtet, auch die Grenzen feiner Begabung dort, wo wir fie zu jehen glauben, 
zu bezeichnen. Adolf Bartels. 


— 
Die Theaterboͤrse. 


Zur Delegiertenverſammlung der Genoſſenſchaft dentſcher Bühnenangehöriger. 

Es gibt wohl keine zweite Kunſt, die fo lahm auf eigenen Fühen ſteht 
und vorwärts fchreitet, wie die Bühnenkunſt. Auf das Vorfhaffen jtärkerer 
Schweſterkünſte angewiefen, bat fie die Möglichkeit unabhängiger Entwidlung 
aus eigener Kraft jo gut wie nicht, und nirgends haben neue Werte von 
heut mit dem geheiligten Gefeg von geftern mehr zu kämpfen als auf der 
Bühne Nur aller hundert Jahre, wie im Märchen, ringt fi hier langſam 
ein neuer Tag, ein neuer Lebensgehalt zur Herrfhaft burch, während Dichtung 
und bildende Kunſt im felben Zeitraum wohl dreimal neu und ebenfo oft 
alt geworden find. Und es hängt aufs innigite mit dieſer Langfamfeit der 
Anpaſſung an die Sunftfordberungen der vorwärtshaftenden Zeit zufammen, 
daß der innere Organismus bes Theaters, das Verhältnis zwiſchen Unter— 
nehmern und Ungeftellten heute noch in denſelben patriardalifhen Bahnen 
ſich bewegt wie zu Beginn bes Jahrhunderts. Heute wie damals fennt ber 
Bühnenkontraft für den Direktor kraft der gezahlten Gage nur Rechte, die für 
den Dariteller zu ebenfovielen Pflichten werden. Aber nicht genug an dieſem 
einen duch eine Batterie von Strafparagraphen unterftühten Pflichtforderer 
— daß neunzehnte Jahrhundert Hat noch für einen zweiten geforgt, der über— 
allhin mit allezeit freundlihem Lächeln die allezeit offene Hand ausftredt und 
drohend bittet: „nur eine Kleinigkeit“ — für den Agenten. 


Kunftwart 
- 0 — 


Die ältefte derzeit beitehende Theateragentur ift im Jahre ı849 be= 
gründet worden, zu berfelben Zeit, als Die befferen beutfhen Bühnen fi) mehr 
und mehr dazu herbeiließen, den Autoren mwenigftens bie neuen Stüde zu 
honorieren. Durch das Öffentliche Leben trieb ein fchnellerer Pulsihlag, und 
man wollte ihn aud beim Theater fpüren. Man verlangte nad) neuen 
Stüden, neuen Darftellern, von benen man durd) die geihmwinden Eifenbahnen 
billige Hunde erhielt. Die gute alte Zeit mit ihrem behaglichen Genügen an 
dem, was vorhanden mar, ging unter im Lärm ber Lofomotive, in der Sucht 
nach wechſelndem Tagesgenuß. Kunſtvirtuoſen aller Art begannen ihre Raub= 
züge durch) das Land und verblüfften das Publiftum mehr durch Kunſtkniffe, 
als dab fie feinen Geſchmack durch wirkliche Kunft verfeinerten. Namentlich 
beim Theater wurde das Gajftieren, das früher nur bei befonderen Anläffen 
Eitte war, zu einer Modeplage, welcher fih auch ber Direktor, dem die Pflege 
eines abgerundeten Zuſammenſpiels als altes Bühnenziel am Herzen lag, mit 
ſeufzendem Wiberftreben fügen mußte. Die Folgen dieſer Wirtſchaft mit ftäns 
digen Reigmitteln zeigten fich jehr bald; das Publikum bekam die alten, ver— 
trauten Darsteller fatt, weil man fie eben fannte. Wenn fein fremder Taufend= 
fünftler auftrat, war das Theater leer. Was follte der Direftor maden? Alle 
Tage ein neues Stück aufzuführen, war ebenfo unmöglich, wie alle Tage einen 
anderen großen Mimen oder Sänger als Lodipeife auszuftellen. Aber das 
ganze eingefpielte Enfemble jedes Jahr anders zufammenzufegen, das mar 
etwas Neues, das gab ben Leuten frifchen Redeſtoff und alfo auch erneutes 
Thenterintereffe. Und während früher ein neu zu verpflichtendes Mitglied vom 
Direftor vorher gefannt und beurteilt wurde, was bei ben meijt mehrjährigen 
Verträgen ja fehr nötig war, wurden jetzt fogenannte „Saiſon⸗Abſchlüſſe“ mit 
völlig fremden Bühnenkünftlern allgemein üblich, meld legtere nicht nur Reifen 
etwa von Züri) nad) Königsberg i. Pr. alljährlich aus eigener Taſche machen 
mußten, fondern aud) in den erjten vier Moden die Kündigung des Vertrages 
ohne Mud hinzunehmen Hatten, wenn dem Direltor des Künftlers Nafe nicht 
gefiel. 

Es mwar ganz begreiflih, daß fo ein vielbefhäftigter Theaterleiter nun 
nicht mebr die Anſprüche und Angaben all der vielen Bewerber, die fi beim 
Wechſel jedes Theaterjahres einftellten, forgfältig prüfen wollte; die Kün— 
Digung war ja immer eine fidhere Rettung für den Notfall. Aber man konnte 
doch ſchließlich nicht dem ganzen Perfonal fündigen, wenn es nichts taugte, 
um im legten Augenblid vielleicht eine noch weniger anftellige Truppe auf ben 
Hals zu befommen. Es fanden ſich alio ſach- und geihäftslundige Männer, 
die zwiſchen Angebot und Nadjfrage vermittelten, wie in anderen, bürgers 
lichen Berufen auch. Sie nahmen dem Direktor die umftändliden Verhand— 
fungen mit jedem einzelnen Dariteller ab, lieben dem Erfteren ihre Rechte, 
dem Letzteren ihre Linfe, — umd beider Hände Arbeit hatte der wirtfchaftlich 
Schwächere, ber Bühnenkünftler, zu bezahlen. 

Auch das pflegt in der Stellenvermittlung anderer Berufe ebenjo zu 
fein. Der Handlungsgehilfe zahlt, meift an die Kaſſe feines Berbandes, einen 
fleinen Betrag zur Dedung der Portofoiten und als Entichädbigung ber ver— 
brauditen Arbeitszeit des mit dem Nachmeis betrauten Beamten. Der Matrofe 
entrichtet dem Heuerbas“, der ihn auf irgend einem Schiffe untergebradit hat, 
feine Steuer. Der Kutſcher gibt den Gefindevermieter vom Handgeld bie 
feftftehende Vermittlergebühr. Aber fie alle find mit der einmaligen Abgabe 
einer von vornherein beitimmten Eumme, die in leidlichem Verhältnis zu ber 


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veranlaßien Arbeitsleiftung jteht, jeder jerneren Verpflichtung gegenüber ber 
Mittelsperfon enthoben. Der Bühnenfünjtler dagegen mirb gezwungen, zus 
glei) mit feinem Kontrakt auch das Recht ber Ugentenprovifion anzuerkennen, 
— daß heißt: während der ganzen Dauer feiner Anftellung in 
Raten, gewiſſermaßen als fejtftehende Rente dem Vermittler Geld zu zahlen, 
ober richtiger: ſich bauernd Geld für ihn abziehen zu Iafjen. 

Dies Gezwungenfein bedarf einer Erläuterung. Zwang fann nur aus— 
gehn von Einem, der Madt hat, und welcher Agent, wird man einwenden 
fann dem Darfteller den geradejten Weg ber Bewerbung, das Selbitangebot 
verwehren? Ganz gewiß fein einziger. Aber die Thatfahe, daß mit Aus— 
nahme ber in fiheren Zebensitellungen befindlichen Theatermitglieder und der 
wenigen Träger großer Namen alle übrigen, alfo etwa vier Fünftel der Ge— 
famtheit, ihre Zuflucht zu den Agenten nehmen, ſpricht doch wohl dafür, daß 
bier thatſächlich eine Macht wirkt, die ſtärker ift, als der befte Einzelmwille. Sie 
erwuchs ganz von felbit aus ber Verſchiebung des Verhältniffes zwiſchen Direk— 
toren und Wgenten. 

Als die Bühnenvorjtände in dem Gefühl ber eigenen Kurzſichtigkeit für 
das Auf und Ab im Kurs bes Künftlerfapitals und feiner Zinjen einen Beob- 
achtungs-Mittelpunkt durch die Agenturen, eine Theaterbörje, nad und nad 
ins Leben gerufen hatten, ba waren im Anfang die Agenten befheibene, höf⸗— 
liche Leute, die wohl wußten, was fie ihren Nuftraggebern fchuldeten. Sie 
fühlten ſich mehr als Ungeftellte, die zum Beiten ihrer Herren Chefs ein mad 
fames Uuge hatten auf alle Werte des Marktes, die Gewinn verfprachen. Aber 
je mehr fie e8 verftanden, fi aud) die Vertretung ber nötigften Theater- 
ware, der von allen Bühnen heiß begehrten neuen Stüde zu fichern, befto un= 
abhängiger wurden fie vom guten Willen der Theaterleiter, denen die Theater= 
freiheit im Jahre 1870 eine allenthalben Iuftig wuchernde Konkurrenz befcheerte. 
Und als im Jahre 1876 das Urhebergefeß folgte, das ben Berfajler am Theater- 
gewinn an jeder Bühne beteiligte, indem e8 das Aufführungsredt von feiner 
oder feines Agenten Erlaubnis abhängig machte, — da wurden bie Mgenturen 
eine felbftändige Macht, mit der fortan der größte Teil nicht nur des Bühnen- 
voltes, fondern aud) der Bühnenherrfcher rechnen mußte. 

Denn jetzt hat der Agent drei Trümpfe in ber Hand, die er gejchidt 
gegen einander immer fo ausipielen fann, daß er mit jedem gewinnt, ohne 
felbft etwas dabei zu verlieren oder aud) nur aufs Spiel zu fegen. Der Ver— 
fafler braucht die Bühne, aljo den Schaufpieler, dieſer Läuft Dem Direktor nad), 
und der fucht wieder den rechten Berfaffer zu erwiſchen. Die Reihenfolge kann 
fi aud) anders bewegen, allen dreien notwendig aber iſt der Agent, 
wollen fie bei diefem Nundlauf einander erreihen. — Am jhmerften hat es 
babei der Verfajfer, wenn er den eriten Anlauf zum Sprung auf die Bühne 
unternimmt. Mit „ſolchen Leuten“ — follten fie fi) zu ihm verirren — läßt 
ſich ein Theateragent, der feinen Beruf „ernst“ nimmt, zunächſt unter feinen Um— 
ftänden ein. Er madjt fie höflich aber beftimmt auf ben Direftor aufmerffam, 
der für neue Stüde der rechte Mann jei. Wagt dieſer nun einen Verſuch mit der 
Neuheit und Schlägt fie ein oder gar durch, fo ericheinen furz darauf in feier- 
licher Prozeffion die Herren Agenten zur Gratulationsfur beim jüngiten Lieb— 
ling der Mufe und verfihern fehr höflich aber auch [ehr beftimmt, dab Die 
finanzielle Ausnutzung des präditigen Werkes durd fie — für den Autor 
natürlih — nun fogleid beginnen müſſe. Sie fpreden von ihren weitreichen= 
den Verbindungen, fhildern mit Tieblichen Ziffern einnehmende Zufunftsbilder, 

Kunftwart 


und durch ihre Worte tönt e8 wie ber ferne Klingklang aufgezählter Goldftüde. 
Der Berfafler denkt im Stillen, daß Tantiemengelder, die man nur einzu= 
ftreihen braudt, ohne ſich um ihr Herfommen den Stopf zu zerbredien, doch 
eine riefig bequeme Sade find. Er gibt alfo einem der Waderen jein Werf 
zum „Bertrieb* und findet es ganz ſelbſtverſtändlich, daß der Biedermann fi 
für feine forgende Mühe mit ein paar — fagen wir fünf — Prozentchen von 
allem, was eingeht, bezahlt mad. 

„Das Aufführungsredit der »Spartanerin« allein zu erwerben von Mufen- 
thal & Go.* fteht von jegt ab in diden Leitern in den von Mufenthal & Eo. 
awanglo® herausgegebenen „Iheaterneuigfeiten* oder Proſpekten, die dem Theater 
direltor von Zeit zu Zeit auf den Schreibtifch flattern. Heutzutage, wo beinahe in 
jeder Stabt von mehr als 25 000 Seelen ein Winter- und ein Sommertheater die 
gaftlihen Piorten aufthun, mo die Bürger von Wiklingen es für eine Schande 
halten, in Theaterdingen nicht ebenfo blanf und neu bedient zu werden mie 
die da drüben in Siglingen, Heutzutage iſt Schnelligkeit im Wegftfchen ber 
lederften Sheaterbifien die erſte Direktorenpflicht. Auch fteht der Mann des 
Sommers als treibendes Gefpenst hinter dem, der im Winter die moralijche 
Unftalt verwaltet, und umgefehrt; von beiden wird das „Neueite aus Berlin“ 
von einem p. t. Publikum verlangt, Alfo tradhtet jeder, mit Mufenthal & Eo. 
in gutem Einvernehmen zu bleiben, damit ihm vor dem andern das Neuefte 
zufällt. Hat einem diefe Firma nun nod) über VBerlegenheiten in böfen Tagen, mie 
fie dem Hunftuorjtande mit idealem Streben ja nie erjpart bleiben, mit 
einigen Tauſendmarkſcheinen gu — jagen wir: fünf Prozent nachſichtig hinweg— 
geholfen, fo muß man ihr auch mit Gegengefälligfeiten gern zu Dienften fein. 
Eine ſolche aber ift ber „Bezug“ des Perfonals durch das genannte Haus, und 
noch dazu eine, bie doppelt gut ift, weil fie dem gefälligen Direktor felbjt 
nichts Toftet. Ja, des Direktor Entgegenlommen geht aud) wohl fo weit, daß 
er ſelbſt dem Dariteller, mit dem er ausnahmsmweife ohne Zuthun des Agenten 
handelgeinig geworben ift, dennoch durch diefen den Vertrag ſchicken läßt, d. 5. 
zu deutfch : das Mitglied zu Abgaben zwingt, die von allen drei Parteien ber 
Agent am wenigsten, nämlich überhaupt nicht verdient hat. 

Während alfo das Verhältnis zwiſchen Direktoren und Agenten inners 
halb der Iegten Jahrzehnte ſich vielfach ins Gegenteil verkehrt hat, und der ehe— 
malige Angeftellte mehrerer Chefs jegt felbft zum Chef mehrerer Angejtellter 
geworden ift, verharrt die träge, große Majle der SKKünftler = Urbeiter ben 
Agenten gegenüber immer nod in derfelben Frohn- und Schmeideljtellung 
wie früher. Höchſtens ift ihre Lage dur das immer größer werdende An— 
gebot, burd) das Anwachſen eines verzweifelten Schaufpielerproletariats noch 
drüdender geworden. Umgekehrt wie beim Verfaſſer ift hier für den Anfänger 
der Weg zur Bühne kinderleiht. Wem das Schaufpielersfernen auf der Aka— 
demie zu langweilig wird, der fchreibt einfach an den Agenten, melden ihm 
ein älterer Kollege vorfhlägt, um „Engagement“. Ganz gleid) nun, ob er uns 
orthographifch oder fonftwie frembländifh und genial fid) dabei ausgedrüdt 
bat — poftwendend trifft bereitwilligfte Antwort ein unter Beilage eines Kon— 
traftes mit co Marl Monatsgage an das „höchſt empfehlenswerte, nur nad 
fünftlerifchen Prinzipien geleitete Stadttheater zu Witzlingen“. „Eine zufällige 
Vakanz und eine Polition, wie fie ſich dem jungen Künſtler nicht alle Tage 
bietet”, fchreibt der Agent. Sechzig Mark! Welch ein Riefengeld für das, was 
einem felber ja vorläufig nur Spaß und feine Mühe macht! Die vielen Para 
graphen, die nad) dem Niefengelde fommen, Iefen fi zwar ein bischen 


2. Yovemberheft 1898 
_ 135 — 


fhmerer, fo im Stile ber Sriegsartifel, mit lauter „beitraft” am Schluß, aber 
fte werden wohl ftimmen, denn jie find ja gedruckt. Alſo unterfchreibt man 
eben; und man ſetzt den großzügig hingeworfenen Ramen mit unbedenklichem 
Stolz auch unter den Zeitel, der bes Näheren ausführt, wir nur folange, als 
diefer Vertrag dauert, für die Ugentur durch die Direktion allmonatlid) fünf 
vom Hundert abgezogen werden dürfen. Wird aber der Kontralt ohne Ver— 
mittlung verlängert, fo ift der gute Agent fogar mit drei Prozentchen ſchon 
äufrieden, da er ja nur feinen freudigen Anteil an ſolchen Ereigniljen bezeugen 
möchte. 

Er wird dieſe dreiprogentige Teilnahme — verſichert das Papierden 
mit dem Namen „Revers* weiter — er wird fie zum mindeiten fechs Jahre 
lang pünktlich bemweifen, wenn e8 dem Dariteller gefallen ſollte, folange bei 
einer Bühne auszuhalten. Sollte diefer aber — fo droßt der Revers an — 
fo unvernünftig fein und den Kontraft noch vor Ablauf der erften Spielzeit 
löfen, nur weil anderswo durch einen anderen Agenten was Bejleres winkt, 
fo würde der erjte Vermittler feine fünf vom Hundert des aufgelöjten Ber: 
trages dennoch nicht fahren laſſen, ſondern fie durch den gerechten Arm des Ge— 
richtes ſich einholen, jals ihm der Künſtler das Weh anthäte, fein weiches Herz 
hierzu zu zwingen. Solderlei verzwidte Gefchichten weit der Revers herzuſagen. 
Weil fie aber der Phantafie des wahren Künſtlers zu vergwidt und weil alle 
jungen Künſtler wahre Künſtler find, fo unterfchreibt man fie eben, denn da— 
zu ſchickt man fie einem dod). 

Freilich, wenn dann die Zeit der Erfüllung ba ijt, und der Theaterbüreaufrat 
an jedem Monatserftenvon ben ohnehin nicht zu reihen Groſchen ben Agentenabzug 
aurüdbehält, fo hört alle Verzwicktheit auf, und der ftünjtler fühlt einfach und 
Mar. Er ſaßt einen Entſchluß; das muß fi erjparen laffen. Für die nächſte 
Saifon inferiert er ih — Ergebnis: eine Agentur will fich feiner annehmen, alfo 
grade das, was er nit annehmen will. Er ſchreibt an Direktoren — kommt 
überhaupt eine Antwort, lautet fie: alle Fächer befegt. Er wird die frudtloie 
Eelbjiftändigfeit müde. Da fommt ein Brief von feinem alten Agenten, der 
ihn väterlid vor unflugen Inferaten, „direlten Schritten“ u. dergl. warnt, ihn 
auch unterzubringen verſpricht, wenn er fie unterliefe. Mürbe gemacht, läßt 
er fie dann, unterfchreibt wie zuvor den Never mit fünf vom Hundert an 
Muſenthal & Co. und zahlt wohl au, wenn er's eilig hat und hoch hinaus 
will, zur befonderen Regjamkeit an die Firma fünfzig Mark oder mehr für 
Grtrabemühungen. Und ehe acht Tage herum find, fann er fih Viſikenkarten 
mit dem Prädikat „Hofichaufpieler* druden laſſen. 

Man begreift nun mohl eher den Agenten-Reſpekt felbit Dei großen 
Mimen, wie 3. B. Friedrich Haafe, den noch als Miteigentümer de8 Deutfchen 
Theaters die bleihe Angſt fabte, und ber des alten L'Arronge unerſchrockenes 
Gebot: den Berliner Agenten die Yreilarten zu verweigern, durhaus rüd- 
gängig machen mollte. Steigen wir nod) ein paar Stufen meiter bis dahin, 
wo die Intendanten gedeihen, jo hören wir aus dem Munde Ernit von Pof— 
ſarts, ber body erit recht ein großer Dann und Mime ift, wie ein Königlich 
Bayrifcher Hofbühnenleiter vor Gericht ganz unbefangen zugibt: er habe mit 
dem Wngellagten, einem bunfeln Ehrenmanne und Agenten, Heine Gefchäftchen 
gepflegt, um feine Mitglieder vor den Angriffen des Agenten = Revolverblätt- 
chens zu ſchützen; denn das donnerte gleich los, wenn am Hoftheater nichts für 
feinen Lenker abfiel. Wir, die wir nit fo in die Konſtruktion von Hofbühnen 
eingeweiht find, wundern uns wohl, warum ein foldhes Inititut jamt feinem 


Kunftwart 
— Le 


Sntendanten das Wadeln Trient, fobald ein Konflikt mit einem Heinen Revolver— 
manne droht; doch das veriteht Herr von Poffart beſſer. Wenn aber bie 
Fürften im Theateritaate von banger Furdt vor ber Raubgemalt der ſechzig 
bis jiebzig !lgenturen angewandelt werben, wie fol man da von den Taufens 
Den ber minderen Leute im Reiche eine felbjtändige Auflefnung gegen bie 
Herrſchaft Diefer Frohnvögte verlangen? 

Zwar, 08 iit etwas der Art in legter Zeit verſucht worden. 

Die „Genoſſenſchaft deutfcher Bühnenangehöriger* ift der Sammeiverein 
der folideren unter den Theaterleuten, derer, die ans Ulter denken oder auch 
für ihre Yamilien vorforgen wollen und fünnen. Als Ziel der Genoffen- 
ſchafter Steht wohl die „Hebung der geiftigen und materiellen Intereifen 
n. j. w.“ im Statut, aber wenn man ihr Organ, mo der Geift ih aufhalten 
follte: die „Deutihe Bühnengenoffenihaft* daraufhin durchblättert, wird man 
weder in nod) außer den öden Lofalberichten aus jedem Net, wo fünf Ver— 
einslente beifammen find, viel Geiftiges unter ihnen finden. Dagegen haben 
fie in fiebenundzwanzig Jahren wader die Millionen gefpart, und das Kaſſen— 
weſen ift in befter Ordnung. Auf allen anderen Gebieten jreilih mollt’ eg 
ihnen weniger glüden. Denn da die Genoſſenſchaft etwa nur ein Drittel des 
Standes und audy den doch nur für die „materiellen Intereſſen“ Hinter 
ſich hat, nimmt fie der „Bühnenverein“, zu dem fic die meiften Direktoren erſten 
und zweiten Ranges zufammengethan haben, als Standesvertretung nur bann 
für vol, wenn fte gottergeben zu feinen Sciedfprüden und Maßregeln ja 
fagt. Und meil die Genoffenfhaft von ben großen Bühnen Geſchenle und Be— 
nefize für ihre Kaſſen braudt, gibt e8 denn auch auf ben Delegiertentagen 
der Mimen viel Herzlide Sympathies und Danfesworte und die Berfammlung 
„begrüßt” oder „ſpricht die Hoffnung aus“ und erhebt fi alle Augenblid zur 
Ehrung und Anerlennung von den Siken. Aber etwas, das auf Grund von 
Thatfaden zu neuen, wahrhaft wertvollen Maßregeln binüberleiten könnte, 
das tapfjere Bloßlegen fauler Stellen im Theater-Organismus, das fand ge- 
wöhnlidy bei den überdantbaren Herren feine Wortführer und nur fehr lauen 
Widerhall. 

Wohl aus dem ſtarken Gefühl des fünfundzwanzigſten Geburtstages 
heraus wurde aber im Jahre 1896 ber Agentenrevers des Langen und Breiten 
beiproden, fogar einer Stommiffion zur Prüfung übergeben. Und fiehe ba, die 
gefürdteten Herren Agenten, die größten voran, kamen der Kommiſſion ent— 
gegen, neigten fi) vor ihr und verſprachen in Demut, alles zu thun, wenn fie 
dabei nur „beftehen” Zünnten. Ein wunderſchöner Tarif wurde ausgerechnet, 
ber erit vom 400 Marl Monats - Einfommen ab und weiter hinauf die fünf 
vom Yunbdert verlangte, die Heineren Gagen dagegen ftufenmeife bis herab zu 
2°/s Prozent entlaftete. Mit diefen Ergebniffen zogen die Genoſſenſchafter ftolz 
zum Bühnenverein, ber nun gnädig feinerfeits auch mal bloß ja fagte, und bie 
aufatmende Theaterwelt erfuhr, daß der ı. Januar 1898 in den Ugentenreverfen 
— zunächſt für zwei Jahre — eine neue, menſchlichere Hera einleiten würde, 

Aber trotz Bühnenverein und Genojlenfhait — ijt dieje Einleitung bis 
Heute ausgeblieben. Das erite Jahr der ausgemachten zwei ift nahezu abge— 
laufen, aber nad) wie vor „arbeiten“ die Agenten mit alten Prozenten und 
alten Reverjen, nad) wie vor unterfchreiben die Bühnenleute alles, was ihnen 
vor die Finger fommt. Aber auch nad) wie vor fehren in Fachblättern bie 
„breihundert Mar!“ fettgedrudt wieder, die ein Anonymus ober öfter nod) eine 
Anonyma für ein „fiheres Engagement an nur guter Bühne“ nicht etwa ver— 


2. Xiovemberheft 1898 
— 15 — 


fangt, ſondern demjenigen auf die Prozente nod) drein verfpricht, ber es vers 
ſchafft. Soll man angefihts ſolch brutalen Stellenfaufs nicht an allem Befjern- 
wollen verzagen, und haben die Ugenten mit ihrer unbefümmerten Politik des 
Fortwurftelns nit das letzte Urteil über bie Unverbejjerlichleit des ganzen 
Standes, wie über den Bedarf ber Theaterbörje geſprochen? 

Wir meinen vorläufig doch noch: nein. 

Jeder ift am Ende fo viel wert, wie er verlangen darf. Der Agent 
fordert für feine Arbeit, die manchmal nur zwei Briefe und zwei ausgefüllte 
Vertragsformulare lang ift, für feine Empfehlung von Leuten, die er kaum 
gejehen bat, geſchweige denn künſtleriſch werten fann, einen oft jahrelangen 
Zins dieſes feines lebendigen Kapitals. Aber nicht feine Arbeit gibt ihm feine 
Bebeutung, das Geheimnis feiner Uebermwertung ift feine Uebermadt. Die 
Summen, die dem Vermögen der Autoren, dem der Bühnenkünftler alljährlich 
durch die Agenturen verloren geben, Haben in Hunderttaufenden nit Pla, fie 
fhreiten weit über die Millionengrenze. Und warum? Weil die großen Ber- 
bände dahintappen wie verichlafene Kinder, weil fie fih von den Agenten an 
ber Nafe führen lafjen und glauben, ohnedem ging es nicht mehr. Weshalb thut 
ich die Bühnengenoffenfhaft nicht als Agenten- Konkurrenz auf? Warum 
will fie Die platonijche Freundfhaft mit dem Bühnenverein nicht zur praftifchen 
Kameradſchaft auf Gegenjeitigleit werden laffen? Köberle hat e8 Hier im Kunft- 
wart vor neun Jahren ſchon gefagt und ich wiederhol’ es heute: bie Bühnenge- 
nofjenihaft muß, wenn fie ihre Ziele von der Hebung des Standes ernft nimmt, 
mehr thun als die Alten, die Witwen und Waifen zu ſchützen. Die noch mitten 
im Lebensfampfe ftehen, haben aud ein Recht auf Schu dur) bie Geſamt— 
beit, damit fie nicht gezwungen find, ſich gieriger Ausbeutung durch Jobbertum 
außzuliefern, um leben zu können. Die Genojienfhaft allein ijt ein guter 
Schild; geht der Bühnenverein ihr zur Seite, fo fommt bas Schwert hinzu, 
und beide zuſammen find fie eine Macht, die das beutfche Theater aus dem 
üppig wuchernden Schlinggefleht unlauterer Schmarotzer doch wohl wird heraus- 
hauen können. Iſt aber durd beide Vereinigungen eine Bermittlungsitelle für 
den Theatergeſchäftsverkehr geihaffen, deren Thätigfeit nit nad) Wucherer⸗ 
mwillfür, jondern nad) feitem Sat entihädigt wird, die von Autoren, Bühnen 
leitern und Darftellern gleihmäßig benugt werden fann, fo würden aus den 
jest jo aufgeblafenen Theaterbörfianern wohl oder übel wieder die bejdei- 
denen, höflichen Leute von früher werden, bie burd den Geſchäftsrückgang ein- 
gejehen hätten, wie es fi) aud) mit viel, viel weniger als fünf Prozent von 
allem, was einem durch die Finger geht, fo leidlich „beitehen“ läßt. Mag es 
immerhin vorher an der Theaterbörfe ein bischen krachen, wenn anders bie Luft 
nicht fauber wird. Und wer da mit dem alten Fontane bedenklich fagt: ein 
gar zu weites Feld — der vergejie doch nicht, dab e8 auf weiten Feldern bas 
Meiſte zu thun gibt. * M. 

Lose Blätter. 
Der Kletterer. 
herbſtmorgen, klar und mild, aus gutem Traum 
Haſt du, ein wenig früh, mich aufgemwedt. 
Ich fand mich unter einem Kirfchenbaum, 
Die Hand nad feinen Früchten ausgeftredt. 


Kunftwart 
= 16: 


Ein Knirps war ih, wie ich als Knabe war, 
Und ad, zu hoc hing mir die füße Frucht. 

Da fam ein Wind. Saft padt ih, um ein Baar, 
Den fchlanfen Zweig, da war er auf der Flucht. 


Schon wollt ich weinen, als vom Baum herab 
Ein Dogel pfiff. Als ih nah oben fah, 

Pidt er fih grad die fhönften Kirfchen ab. 

Ih warf nah ihm. Er pfiff nur und blieb da. 


Du! rief ich böfe, hätt’ ich Flügel nur! 

Doch wart, id; hab fie. Und im Zorn umfing 
Den glatten Stamm ich, mit dem ftillen Schwur: 
Du fommit hinauf! Und welde £uft! Es gina! 


Schon ſchwang ich mich ins grüne Kanb hinein, 
Der freche Dogel floh mit hellem Schrei. 
Burrah! Nun find die Kirfchen alle mein! 
Schon wollt ih ſchmauſen, o, da war's vorbei. 


AUun lieg ich lächelnd halb und halb betrübt, 
Und den? des Traums. Es war fo wunderfam, 
Als mir, der nie im Klettern fich geübt, 
Plötlidy die Kraft zu meinem Willen fam. 


Hätt’ nicht der Wind mit ſchwankem Sweig genedt, 
Spottvogel nicht aereizt, es hätt’ die Gier 

Umfonft den kleinen Eungerhals geredt. — 

Jetzt, Herbft, zeig deine höchſten Früchte mir. 


Guftan Falke. 


Aus Bölfches „Ciebesleben in der Natur“, 


Borbemertung. Dugende von Malen ihon iſt im Kunſtwart davon 
Die Rede geweſen, wie dringend eine wahrhaft äfthetifche Kultur eine Kamerad- 
ſchaft, ſozuſagen: eine Ehe mit naturmwilfenihaftlicher Bildung verlange, wenn 
die rechte ganze Menſchenkultur draus entfprichen fol. Deshalb empfehlen 
wir bei jeder Gelegenheit auch wiſſenſchaftliche Bücher, die zu unfer aller 
Mutter Natur als gute Führer braudbar find, Mit Wilhelm Bölſches 
„Liebesleben in der Natur“ (Leipzig, Eugen Diederichs, ME. 5.—, geb. Mt. 6.—) 
ift aber foeben ein Lleines, übrigens aud) geradezu muftergültig außgeitattetes 
Werk erjchienen, das zudem durch die Form feiner Darftellung unfre bejondre 
Teilnahme verlangt. Es ift eines der wenigen, die Naturwilfenihaftliches in 
der That auf echt Fünftlerifche Weife darjtellen. Empfindfame oder bombaftifche 
Schönrednerei, die freilicd ift in „populären“ Büchern aud) der naturwiſſen— 
ſchaftlichen Literatur nicht felten, Auflöfung der fchriftitellerifchen Aufgaben 
aber durch wirkliche Geitaltungen ift hier eine im höchſten Maße feltene 
Sadıe, und muß es wohl fein, denn das verlangt vom Berfaffer neben dem 
wiljenichaftlihen Kennen und Können dichteriſche Begabung nicht nur, fondern aud) 
Schulung. Für Bölſche wird jede Vorstellung, fobald ers will, zur Anſchauung, 
und jeden Gedanken umgibt er mit Empfindungen, die hin- und herſchweifen 
über das ganze Gefühlsgebiet zwifchen dem bderbiten Komiſchen und dem 

2. Xovemberheft 1898 


— 112 — 


Erhabenen. Die Größe des Stoffes bewirkt e8 freilih, daß ſchließlich doch 
alles in dieſes Erhabene einklingt. 

Das Buch, jelbjtverftändlih nicht für Kinder gefchrieben, iſt eine „Ente 
widlungsgeihiähte der Liebe”. Die Beurteilung auf feinen Inhalt 
bin fällt natürlich der naturwiffenfhaftlihen, nicht aber unferer Kritik zu: 
wir haben's nur mit feiner Form zu thun. Aber zum beſſern Verjtändnis 
der Stelle, die wir als Probe bringen, bitten wir, den Gedanken, der fi in 
dieſem Nebentitel ausſpricht, im Blide zu Halten. Andere Stellen des Buchs 
geben noch beffere Geftaltungen, da ſich diefe jedodh mit der Kunft 
beichäftigt, gehört ihre Wiedergabe vor den übrigen hierher: 

* 

Empor! 

Noch einmal rede deine Flügel aus. 

Die Madonna Rafaels gibt dir nohmals Straft. 

Umſchließe fie noch einmal ganz mit deinem Blid: in ihrem goldenen 
Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit ihrem Antlig, in dem alle weib- 
liche Schönheit der Jahrtaufende zufammenzufliegen ſcheint — fie, bie Menſch⸗ 
heit iſt und Weltgeheimnis iſt. 

Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde nun ſeit faſt vier— 
hundert Jahren um die Sonne trägt? Wo wuchs es heraus aus dem Stamm— 
baum der Dinge im großen Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelftern ? 

Es ijt Kunſt. 

Bon der Madonna gleitet dein Blid hinüber zu einer Schar ähnlich 
vollfommener Weiber. ‚Die einen auf eine Fläche mit Farben gemalt wie 
diefes. Die anderen in Marmor zu ganzem Umriß ausgeformt. Die miles 
fifche Venus mit ihrer aufrecht ftarken, unbefiegbar heiteren Reine. Die Pietä 
Michel Angelos, deren Gigantenfraft in Liebenden Mitleid ſchmilzt. Die morgen= 
belle nadte Venus des Tizian in der Tribuna von Florenz, die alles Süßefte 
als genofjen nod einmal träumt. Eine enge, innerlich verwandte Genoffen- 
haft, die in ftiller Schöne hier und dort aus der fchnellen, mechfelnden, grau 
abftrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt. 

Kteines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne je „gelebt“. 
Keines ift erzeugt durch den körperlichen Akt organifcher Fortpflanzung. Und 
doc ftehen fie in all,ihrer Schöne mitten unter uns. Sie ftehen da, erzeugt 
aus einer unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollfommenen Hingabe 
eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein Zweites, an ein „Schaffen“, 
eine Uebertragung bes höchſten Jdeals im eigenen Ich auf ein anderes, dauern— 
bes, das den Tod biejes Ichs überleben ſoll. Mit dem Geilte und ber vom 
Geifte Bis in jede feinite Musfel durhmwärmten Hand find fie gezeugt in 
biefelbe Natur, diefelbe Wirklichkeit hinein, der auch ein in der Geſchlechtsum— 
armung erzeugtes Kind angehört — aber dod) als Sonderdaſein in ihr, das ber 
Begriff jenes Kindes nicht deckt und Die geſchlechtliche Lebenszeugung nicht umfaßt. 

Nun zu diefen Bildern, diefen Statuen noch weiterhin Geftalt um Ges 
ftalt, ein unabfehbarer Zug von Königen an Gedanken und Kraft, die alle auf- 
leben, wenn das Wort des Dichters erklingt. Rhythmen der Spradje, nie ver— 
nommen in all dem Gtimmengemwirr der Natur, als fei es Geifterrede aus 
einer Ueberwelt. Und reiner lang, aufjubelnd und aufdonnernd wie eine 
ewige Löjung aller Dinge, wie die Stimme der innerften Weltenharmonie 
felbjt ... . Und alles ebenjo aus dieſer heißeſten Geiftesliebe in die Wirflichheit 
hineingezeugt — gezeugt, als habe ber Geiſt, der aus der Sinnenliebe Mens 


Kunftwart 
— 158 — 


ſchenliebe jchuf, endlich aud) das Myfterium der Zeugung für neue, wunderbare 
Zwede in jeine Hand gebradt ... 

Zum drittenmal eine große Wanderichaft. Die Liebe ward Kunſt. 

Auch Die Kunst liegt auf dem Wege vom Blut zum Geift. Much fie 
ſank nicht wie ein fremdes Meteor herab, Derſelbe Menih von Fleiſch und 
Bein hat fie gefhaffen, der Menihenkinder im Fleifche zeugte nad) dem ehernen 
®eftaltungsgefege der Natur. Der Menſch, der aus dem Tiere fam. Bon diefem 
Zier fhon erbte er den Heim ber ſtunſt. Das Tier aber hatte ihn gefäet in 
den Stunden — feiner Liebe. 

Hörjt du das rhythmifche Lied der Nachtigall Hingen «+. ſiehſt du 
den Schmetterling fi) wiegen in feinem wunderbaren Farbenkleid «0... 

Welcher Weg, — von dort herauf! Und doch war e8 ber Weg. 

Aus dem tiefen, dunklen Weltenfülhorn der Natur rann e8 herzu, durch 
Honen, — Licht, Farben, Mänge, rhytymifche Verhältniffe aller Urt. 

Da tauden auf der fonnenerwärmten Erde lebende Wefen auf. Sie 
empfinden Licht, empfinden Klang. Erft dumpf und matt. Dann erzeugt ber 
Lebenskampf, erzeugt die Entmwidelung ihnen Sinnesorgane von feſter Art, 
Auge und Ohr. Ihr erjter Zweck ift Verteidigung. Ungftvoll ftarrt das Tier 
um fi in die drohende Welt, lauſcht auf die Gefahr. Alles ift Angriff um e8 
ber. Oder e8 behauptet fich felbit, greift an. Dann ift alles Beute, die mit 
wilder Gier erjagt, zerriffen werben fann. Da auf einmal im Leben bes In— 
dividbuums aber eine Stunde von ganz anderer Wertung. Die Liebe. Das 
Zier fucht ein anderes feiner Art Sucht es nicht als Feind, fondern mit der 
Sehnfiiht der Liebe, mit den Augen ber Liebe. Das Wuge ber Liebe, — e8 
war das erite Auge des Ideals. Und die Kraft ber Liebe: fie zeugte die erfte 
„Schönheit? im aktiven Sinne an den Liebenden ſelbſt. Sie malte ben 
Schmetterling, gab dem Bogel fein Hochzeitsfleid. Sie fomponierte der Nachti— 
gal ihr Lied. Die Liebe war ber Spiegel, ber zunächſt äußerlich alle Har— 
monie, allen Rhythmus, alle blind angebahnte Schönheit der lebendigen Natur 
in einen Brennpunkt fing. 

Nun aber wuchs ber Geift mehr und mehr dazu. Zu dem fchauenden 
Auge draußen trat das innerlich ſchaffende Auge: die Phantafie. E8 fam der 
Menfhengeift. Der Menſch erzeugte fih am Leibe felbit feine bunten Flügel, 
fein SHochzeitögefieder mehr. Er fah das alles innerlih, als Licht und Har— 
monie, Sehnfuht und Zdeal — in ber Phantafie Wie er nicht mehr Löwen— 
Hauen und Gürteltierpanzer fih am eignen Leibe zum Schutze wadien ließ. 
Sondern im Geifte fann und in der Phantafie das Werkzeug fah. Wie aber 
feine Hand, weich und bildfam geblieben und ganz nur Schüler nod) des Ge— 
hirns, diefe Werkzeuge dann wirklich formte aus Stein, Horn und Metall, fie 
in die Wirklichkeit hinein projizierte mit felbftthätig fchaffender Kraft und die 
Technik begründete als Stern aller künftigen Naturbeherrfhung: — fo formte 
er mit derjelben Hand, was die Phantajie an rhytgmifchen Bildern, Sehnſuchts— 
bildern, Scönheitsbildern ſah, — er ſchuf die bemuhte Kunſt im höchſten 
Zeugungsfinne als Kern aller künftigen menschlichen Naturerweiterung. 

Sahrtaufende auf diefem Wege: Rafael, die Madonna. Und fo fort und 
fort. Ein neues Raturreih blüht auf: nicht Stern, nicht anorganiſch, nicht 
Pflanze oder Tier, nicht im organischen Sinne Menſch felber — die Stlänge, 
Geitalten, Ereigniffe der Kunſt. Eine heiße Welt, vom Liebesatem durchglüht, 
mit allen Schauern wilder Zeugung. Und doch zugleich verflärt, der Erden— 
trübe entrüdt in einen reinen blauen Geiftesäther hinein ...».« 

Das ift die Liebe, die zu etwas geworden iſt. 


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- 19 — 


Die Liebe in ihrem Hochbau. 

Bon hier, von der Goldkuppel mußt du fie fehen, um zu ahnen, waß in 
ihren Anfängen war. Und dieſes Goldliht mußt du dir zurüditrahlen laſſen 
in diefe Anfänge hinein. Darum ber Tanz der Eintagsfliegen, Darum das 
groteske Nachtbild des Häringszuges. Diefelbe Naturkraft, die da unten in 
den grauen Urmaffern gärt. Und die oben als purpurne Lotosblüte der 
Kultur aus dem blauen Spiegel in die Sonne fteigt. Weil e8 fo ift, darum 
kann alles Vergangene nicht roh fein. Es muß felber dir wie eine edle Knoſpe 
feinen. Nichts bleibt da innerlich Hein, Licht ftrömt zurüd auf diefe Ein— 
tagsfliegen am, Bad, dieſe Fiiche im Ozean. Wie dunfel ringende Urfeelen 
der Liebe ‚treten fie vor di Hin. Worauf mwandernde Träume des großen 
Liebesgetjtes, der aufwärts will. Diefer Fiſch, diefe Eintagsfliege ift CHriftus, 
ift Goethe, ift Rafael. Iſt das Evangelium, iſt Fauft, ift die Madonna. Iſt 
die Menfchenliebe, der Sternentraum, die Hunit, 


Die Defadenten. 


Der bleiche Kellner, dem die zahllofen durchwachten Nächte ihre unver— 
tennbaren Spuren in violetten Striden unter die mattmafferblauen Augen 
gemalt hatten, verjah Heute fein Amt läffig .. Endlih fam er... „Die 
Herren wünfdyen ?* 

„Bringen Sie Abjinth*, jagte der mit bem Spigbart, „ameimal Abſinth.“ 

Seine Stimme mar von jenem meiden Wohllaut, der bag Kind abftei= 
gender Rultur verrät. 

Abſinth“, nicte zuftimmend der Andere, „wie ihn ein Verlaine trant, 
Abſinth mit Eiswaſſer ..“ 

Er lächelte ſelig bei dieſem Gedanken, lächelte, wie nur Leute lächeln 
lönnen, deren Geiſt in einer eigenen, volllommenen Welt über ftillen grün— 
blauen Waſſern fhmebt ... 

Der ſchmale Kellner verihwand im Rauche der Zigarretten, der den 
Raum dicht wölfte.... 

„Eigentlih wollte ih feinen Wbfinth trinken,“ hauchte ber mit dem. 
Spitzbart, „weil ih ihn mir wünſchte. Er wird mid) enttäufchen, wie jede 
Erfüllung, wird Waffer fein, im Bergleiche zu meinem Wunfche, aber ih will 
ihn dennoch trinken, benn er ftreichelt meine Seele . ..* 

Dann ſchwiegen fie. Verſunken in heiligem Selbjtgenießen, bemerften 
fie es nicht, wie ber verlangte Abfinth vor fie Hingeftellt ward ... Sie ſprachen 
nit... Wozu wohl? Bie Ketten ihrer Gedankenſphären liefen einander 
parallel, ihre Nervenftränge wirkten aufeinander leichter, weniger anftrengend,. 
als das rauhe Wort, deſſen fie fi nur maßvoll bedienten. Der mit dem 
Spigbart brad endlich wiederum das Schweigen, das fi auf dem Gemoge 
der allgemeinen Kafehaustonverfation unmerklich glättend ausgebreitet Hatte, 
wie eine fette Subftanz auf erregten Wellen ... 

„IH ſehe in veildenfarbigem Dämmer einen ſchwarzen Zypreſſen— 
Hain... .* 

Der Andere erſchauerte. . . Er war blond... 

„Schwarz“, fagte er, „Ihwarz empört meine Wefenheit, madjt meine 
Nerven flirten, wedt Diffonanzen auf der Harfe meine Seele... .* 

Der mit dem Spihbart nidte. „Du Haft Recht,“ ermwiderte er, „indeß 
wenn id aud) den Zyprefienhain ſchwarz nannte, ich empfand ihn nicht fo, ich 
empfand feine Farbe als ein Gemijd) von Karmin und Pariferblau, vergieb!“ 


Kunftwart 
— 10 — 


Der Blonde lächelte wehmütig, und wieder ſchwiegen fie und rührten in 
dem Eiswaſſer mit Strohhalmen ... Dann begann der mit bem Spihbart 
aufs Neue: „Ich ſehe einen veildenfarbigen Dämmer. Rote Riffe rigen das 
Firmament ... Und in dem Dämmer fehe ich ein blaues Haus von gräßlicher 
Pofitivität. Grün ift fein Dad, und feine Mauern find aus laſtendem Stein. 
In diefem Haufe wohnt ein Menjch, der über allen Menihen menſcht ..“ 

„Menſcht,“ haucht der Andere, „menſcht! Menfcht ift eigenartig, menfcht 
ift neu, menſcht ift tiefinnerlich. Wie überriefelt diefes »Menfcht« meinen Geiſt.“ 

„Und in dem Haufe dämmert ein fadıniumfarbenes Licht mit ſchimmer— 
blauem Franz, beifen Ruß zur Studdede lodert, flieht, Ioht, fladert ... .* 

Der mit dem Spigbart ſchwieg, ſtill ſaßen fie einander gegenüber, aber 
ihre Seelen ſchrien laut in feligem Genuffe, Taut und bachantifch, eine lange Weile. 

Dann erhoben fie fi, um der Fülle der Wonnen nicht zu erliegen. Ge— 
fenkten Hauptes fchritten fie durch den Saal, auf ihren abfallenden Schultern 
aber lajtete die große Müdigkeit des finfenden Jahrhunderts. 

K. 6. Bardenberg in der „Jugend“. 


Tr$ 


Rundschau. 


£iteratur. das Schiff, feht den Fuß aufs Verdeck 
— ganz Saiferin! Der Unter wird ge= 
* Wohin dag Uebertrumpfen und | lichtet! Navigare necesse est, 
Ueberijchreien im Zeitungsdeutſch vivere non necesse est! Im 
eigentlich führt, das zeigt fih erſt Augenblid verliert das Schiff feine 
tet, wenn ein wirklich außergewöhn- | alltägliche Wirflichleit, e8 wird er=- 
lihes Ereignis auch außergewöhnliche | haben; das Kielwaſſer dieſes Fahr 
ftraft der Sprade verlangt. Dann zeugs müßte unvergänglich bleiben, 
fiſchen die Herren, die bei der Ent— | iſt e8 doch ins Element des Traumes 
deckung jede® neuen Dichters oder | und des Todes eingefurdt.” Das 
Malerjünglinggenies, alſo alerWochen | „Navigare necesse est“ an diefe Stelle 
mal, in den feinften Nervofismen und | zu bugfieren — wahrhaftig ja, das ift 
den großartigften Senfationen gemacht eine Leiſtung! Schade, fie geht ja 
haben, verzweifelt nad) nod groß» | nicht von einem Reporter felbit, ſon— 
artigeren und noch jenfationelleren | dern nur von einem ber helliten Vor— 
Ausdrüden in ihren Gewäſſern herum: | bilder der Reporter aus. Die Nach— 

' 

| 





ad), was fie fangen, gleicht docdy nur | ahmung entipridt den ſchwächeren 
der Qualle, mit der es nad dem fchönen | Kräften. „Zudringlid branden 
Gedichte „alle“ iit, „wenn fie auf ben | unfere Thränen an ihrem Sarg“, ſchreibt 
Sand gefett*. Jetzt Hat die Ermor= | einer hier, jelbit „Durch das entjtellende 
dung ber Kaiſerin von Defterreich wie- | Glas des Irrſinns“ beflagt ein anderer, 
der Sprachweſen hervorgebradt, die fo | feine Slarheit zu fehn, und wieder 
läherlih und miderwärtig zugleich | einer jchildert den Volfsprater nad) 
find, wie alte Dirnen als Klage- | Einlauf der Todesnahridt fo: „Still 
weiber. Bon Gabriele B’Unnungzio gab | liefen die NRinglfpiele ihre Bahn ohne 
die „Neue Freie Preffe* Säte wieder, | das herfümmliche Kreifchen der Dreh— 
nad) denen er als richtiger Aeſtheſe orgeln und Jauchzen der Fahrenden. 
nichts als das unbeitrittene Weithe- | Die hölzernen Pferde bäumten 
tifche diefer Mordthat fieht: „ich weiß, | ſich lautlos; felbit die Eifenbahn 
es hat Herzen gegeben, die enthuſia- ſchien weniger zu klappern als an 
ſtiſch ſchlugen, als die herrlichen Ein= | andern Tagen.“ 

zelheiten des blutigen Hinganges be= Theater 

fannt murbden“, heißt es, und dann | TI 

meiter: „Schon erfüllt vom emwigen *VondenMündhnerBühnen. 
Scmeigen, die Seele gneblendet von Felir Dörmanns „Ledige 
den Dingen, bie durch den zerriffenen | Leute“ find nun aud) „im Reich“ zu einer 
Schleier ſchimmerten, verfolgt jte ihren | Erjtaufführung gelommen — das Müns 
Weg, erreicht fie das Ufer, befteigt fie ! chner Gärtnertheater hat fie gegeben. 


2. Xovemberheft 1898 


— 1 — 


Frau Mloifie Brand! macht ſich's 
und ihrer Familie dadurch gemütlich) 
auf der Welt, daß fie ihre Töchter 
aufs ungeniertefte verfuppelt. Zur, 
die jüngjte, ift aber noch innerlid) 
menigitens unverdorben genug, um 
fi) aus ihrem Streife wegzuſehnen, 
obwohl ihr die Mutter auch fchon 
längſt einen —— —— „Alten“ 
verihafit bat. In dieſe Geſellſchaft 
von Dirnen und Lebemännern wird 
Toni Wallner, ein ernſthafter, un— 
ſchuldsvoller Jüngling eingeführt, und 
wiſchen ihm und Lux entſpinnt ſich 
fort ein Verhältnis. Schließlich ent— 
führt er die Zur, die er für ein reines 
Mädchen hält, und bringt fie zu feiner 
Mutter. Da erfcheint die alte Brandl, 
verlangt ihre Tochter zurüd und bedt 
zugleidy das vorteilhafte Verhältnis 
ihrer Zur mit dem „Alten“ vor dem 
überraſchten Bräutigam auf. Entſetzt 
wendet fih Toni Wallner von dem 
Mädchen ab, das ihn getäuſcht Hat. 
Das will ihn nun, da ihre Hoffnuns 
gen auf ein reines Glüd zerjtört find, 
mwenigitens als Geliebten haben. Es 
wird nichts draus: in ihrem leiben= 
fchaftlihen Gebahren tritt eine vers 
hängnisvolle Nehnlichleit mit ihrer 
verdorbnen Schweiter hervor, — Toni 
ftürzt feiner Mutter in die Arme. 

Die beiden eriten Alte ſchildern 
uns aufs eingehendfte die lüderliche 
Wirtfchaft im Brandlichen Haufe. Märe 
diefe Schilderung, die den allerges 
meinften Unrat zu Tage fürdert, von 
fittlidem Ernft, von herbem ſati— 
riſchen Geiſt durchdrungen, das Stüd 
wäre natürlich wütend niederge— 
ziſcht worden. Aber der Verfaſſer 
ütete ſich klugerweiſe davor, jetzt 
chon mit der Sittlichkeit zu kommen. 
Er madte das Gemeine im Gegenteil 
dadurd Ichmadhaft, daß er feine „amit= 
fante* Seite nach Kräften ausichladtete. 
Oder ift das nicht komiſch, wenn bie 
Lüderjane und ihre Dirnen, die Brandl— 
ihen Schweitern, dem verblüfften 
Süngling, ber von der jüngften Tochter 
des Hauſes feinen ersten Auß belommt, 
‚Schwager! Schmager!* zujubeln 
und damit feine vermeintlihe glück— 
lihe Ankunft in ihrem allgemeinen 
Pfuhle begrüßen? Durhaus zu diefen 
beiden, dem Nüngling und Zur und 
ihrem Verhätnis zu einander, zieht 
fih überhaupt die Dörmannfcde 
Idealität“ zurüd, bier hauſt und 
von bier aus fpridt fie zu den 
‚Erniten* im Bublifum, während alles 
andre für die Vergnügten gemadt ift. 


Kunftwart 


— 10 


Wie rührend 3. B.: Zur in ihrer 
innerlih unberührten Naivetät be= 
wundert offenherzig Augen und Haare 
de8 jungen Mannes und erflärt 
ſchüchtern, fie würde ihm fo gerne mit 
den Fingern durd) die Haare fahren. 
Der liebe Junge lispelt: „So thun 
Sies!l* Und mun vollends Der leste 
Akt im Wallnerfhen Haufe: mwelder 
glüflihe Vater denft nit an fein 
Töchterhen daheim, wenn er das 
Unnerl Wallner feinen beißen Katao 
fhlürfen und von der Schule ſchwatzen 
hört? Und dann, wie's ſchlimm wird 
und die unmilllommene Zuxr ericheint, 
die hHalberdrüdten Wehelaute des 
Drutterherzens der Frau Wallner! Und 
der Schluß, der „lautre“ Schluß! Alles 
Anrücige, jelbjt Lux, die reuige Mag— 
balena, entfernt und auf der Bühne reine 
Tugend, Mutter und Sohn einander in 
den Armen. Welcher Biedermann, dem 
das Gewiſſen vielleicht do ein wenig 
unruhig ward, als er die Brandliche 
Dirnenmwirtfhaft gar jo amülant 
dargeſtellt ſah — welcher Bieder= 
mann ſagt ſich nicht jetzt beruhigt: 
Nein, nein, hinter dem ſcheinbar fri— 
volen Spaß lauerte ja der dickſte Ernſt,. 
nein, nein, ich bin in einem urmorali— 
ſchen Stüd gemejen!“ 

Dörmanns „ledige Leute“ bedeuten 
ein jehr geſchicktes Machwerk, das leb— 
baft ſchildert und, während e8 feinem 
Gehalt nad) umfre trivialen „Bolfe- 
ſtücke“ um nichts überragt, den Ton 
der Wirklichkeit meiſtens befler zu treffen 
weiß, als jie. Bor allem bezeichnend 
ift feine Aufnahme dafür, was für jtarfe 
Sadıen ſich das ſittlich fonft fo Leicht 
verlegte Publikum bieten läßt, wenn 
fie ihm nur in der ridhtigen Mifchung 
von Frivolität und Sentimentalität 
ferviert werden. 

Das MünchnerSchauſpielhaus zeich⸗ 
net ſich gegenwärtig unter unfern Thea⸗ 
tern durch feinen erfreulichen Spiel— 
plan aus. Die Stücke, die dort ge— 
geben werden, dürfen faſt durchgängig 
eine gewiſſe literarifche Bedeutung 
beanipruden. Da finden mir den 

Biberpelz“ und „Die Einfamen Men— 
fchen“ von Hauptmann, die „Jugend“ 
von Halbe, „Die Gefpenfter* von Ib— 
fen, „Sodboms Ende“ von Suder— 
mann, „Die Gläubiger‘ von Strind- 
berg, den „Erdgeift* von Webelind 
u. ſ. m.; — Werke, welche mir, die 
weder zu Sudermanns Gemeinde nod 
zu Medelinds Gemeindehen gehören, 
gewiß nicht fämtlih zum „Beiten“ 
zählen, deren Vorführung aber über die 


Zuſtände unfrer Literatur gut unter= 
rihtet. Das iſt danfensmert, na— 
mentlich wenn man an die Amuſe— 
mentsware denkt, die aljährlih auf 
den Premieren in deutichen Landen 
ansgeboten wird. Zudem wird im 
Münchner Schaufpielhaufe jegt gar 
nicht übel gefpielt. Ich fah eine Auf: 
führung des „Biberpelzes*, in ber 
einzelne fogar ganz Borzügliches leiſte— 
dien, vor allem wurde der Rentner 
Krüger mit ſcharfem Berjtändnis und 
überrafcdyender Lebendigkeit dargeitellt. 

Auch „Die Släubiger” von Strinde 
berg wurden verhältnismäßig gut 
gegeben; es jtörte wenigſtens nicht 
allzuviel, und das will bei diefem 

deenjtüd, in dem faft nur von inner= 
them Gejchehen die Rede iſt, jchon 
etwas heißen. Guſtav, der geſchiedene 
Gatte einer Frau Thekla, zeigt ihrem 
en märtigee Mann Ubdolf, mie be= 
Haffen jein Weib eigentlich ift, das 
der verliebte Schwächling für ein geiit= 
volles ,„ jelbitändiges Weſen hält. 
Guitav will fi auf dieſe Weife an 
Adolf und der Frau rächen. Er bes 
mweijt ihm, dat alles, was fie an Ges 
danken Hat, geitohlnes Gut ijt und 
zwar ihm, ihrem jegigen Dann ge— 
ſtohlnes Gut; und er weiß ihm klar 
zu maden, daß während er, Adolf, 
immer gegeben, fie ihn gewiſſermaßen 
ausgefogen und aller Mannestraft 
und allen Mutes beraubt habe. Schließ- 
lid erbringt er ihm auch nod den 
handgreiflichen Beweis ihrer Untreue, 
was Die Satajtrophe, den Tod Des 
Mannes, hHerbeiführtt. Das Drama 
mwimmelt von den befannten Strind— 
bergiihen Paradogen. Aber es wird 
audh viel Bedeutungsvolles in dem 
Verhältnis der Geichlechter zu einan— 
der aufgegraben. Und vor allen, dem 
anzen Stüd * man's an: es iſt kein 
oduft der Willkür, ſondern ein Er— 
gebnis leidenſchaftlicher innererftämpfe. 
Solche Werke aber ergreifen ja durch 
ihre menſchliche Wahrhaftigkeit alle— 
mal, mögen ſie nun als Kunſtwerk 
gelungen oder mißlungen ſein. 

Bei dieſer Gelegenheit möchte ich 
fragen, wo eigentlich Rüderers 
„Fahnenweihe“ hingeraten iſt? Im 
Frühjahr hieß es, das Gärtnertheater 
werde jie bringen; dann entbrannte 
ein Streit zwifhen Scaufpielhaus 
und Särtnertheater ums Aufführungss 
teht, und nun fieht und hört man 
von der „Fahnenweihe“ nichts mehr. 
Das iſt bedauerlid. Unfrer ein wenig 
in ſich ſelbſt verliebten Bevölkerung 


| 
| 


— — nn ——— — —— en 


und namentlich ihren berühmten Ge— 
birgsbarden thäte es recht gut, wenn 
fie die kräftige Satire öfter zu hören 
befümen. Außerdem, mein ich, hat 
die Satire Rüderers ihren großen 
Wert als eine durchaus ehrliche, derbe, 
deutſche Satire, x. Weber. 

* „Die Krone“ nennt fid ein fünf 
aftiges Schaufpiel von Unton von 
Berfall, das in Stuttgart feine 
erſte Aufführung erlebte. Der Stoff 
it dem gleidinamigen Romane des 
Schriftjtellers entnommen, was, wie 
e8 jcheint, den Beweis liefern fol, 
dab man ein und dasjelbe bald epiſch, 
bald dramatiih behandeln Tönnte, 
Leider ijt der Beweis aud) in dieſem 

all mißglückt. Daran trägt vor allem 
a8 ZTypifche der GEreigniffe wie der 
Berjonen und Situationen die Schuld. 
In einem Roman find der recht- und 
unrehtmähige König, das plumpe Volk, 
dann die Sage von einer Wunderfrone, 
die auf dem Haupte des — Thron⸗ 
erben erglühen * teils geläufige und 
unbeanſtandete, teils ſpannende Vor— 
ſtellungen, auf der Bühne iſt mit der 
einmal gelöſten Spannung alles vor— 
bei und man mag die einzelnen Her— 
änge ſo wenig zum zweitenmal an— 
Ai wie einen Unterhaltungsroman 
zweimal leſen, fofern nicht die Ereig— 
niſſe als folde durch ein ſtarkes Ins 
nenleben der beteiligten Perfonen ſtets 
erneute Teilnahme weden. Dies trifft 
aber nicht zu. Am eheiten würde ich) 
noch eininal Die erjten beiden Akte an= 
hören ınögen, die wirbklich hübfche 
Stimmungen und lebendige Handlun— 
gen entalten. Der vor dem Ujurpator 
gerettete, in der Ferne erzjogene ah— 
nungsloje Thronerbe legt wirklich als 
vermeintliche Kind aus dem Bolt 
Proben eines hochherzigen Mutes ab, 
und man fünnte denfen, Der Dichter 
wolle nun zeigen, wie der Jüngling, 
den Glauben an die Wunderfrone viel— 
leicht mitbenügend,, ſich durch joziale 
Thaten die wirkliche Krone verdiene. 
Uber e8 fommt ganz anders, Wir 
fönnens uns eriparen, davon zu er— 
zählen. Die menichliche Teilnahme ver= 
blaßt eben vom dritten Alt an immer 
mehr. Nur noch eines: Wer mit fo 
banalen Effekten arbeitet, wie die Mo— 
talpredigt über Freiheit (Nichtinswirts= 
hausgehen) eine ilt, den fann man 
nicht ernit nehmen, aud) wenn er den 
Prediger nachher verfichern läßt, To 
unmoralijh jei das gröhlende Bolt 
nur unter Tyrannenherrſchaft; Die Ab— 
fiht, das Volf als entjeglich roh und 


2. Novemberheft 1898 


— 13 — 


dumm hinguitellen, wirft auf der 
Bühne viel bösartiger als im Roman. 
— Bei guter Ausitattung und wirk— 
famer Inſzeneſetzung (wie es hier der 
Fal war), mag fi) das Stüd eine 
eitlang behaupten, glüdlichermeife 
iſt e8 von einem Zeil der Preſſe ledig⸗ 
lich humoriſtiſch behandelt worden. 
K. Grunsky. 
*Das Berliner Premieren 
publifum bat allergnädigit geruht, 
Hauptmanns „Fuhrmann Henſchel“ 
von dem wir an anderer Stelle ſprechen) 
dooit zu empfangen. Desfelben 
Gerhart ne g0 Florian Geyer“, 
der an echt dichterifchen Werten taum 
fo viel weniger als „Die verjunfene 
Slode* enthält, geruhte es, bildlich) 
gejproden, mit faulen Eiern zu bes 
werfen, während e8 eben die „Vers 
ſunkene Glode“ wieder „reizend“ fand. 
Mit faulen Eiern, wie kürzlich Dar 
Halbes „Eroberer“, der doch mohl 
immer nod) höher ſteht, als des kleinen 
Fulda ernſtgemeinte dramatiſche 
cherze, oder gar die Werke der Phi— 
lippi und Blumenthale, bei denen ſich 
Seine Majeſtät das Premierenpublikum 
wie in der Familie fühlt. Unbildlich 
geſprochen: die Berliner Erſtaufführun— 
gen find abhängig von einem in feiner 
Mehrheit urteilslofen Beurteilerkreife, 
aber die Gefährlichkeit diefer Maſſe 
entipringt nicht jo fehr daraus, als 
aus feiner widerlichen Anmaßung und 
Gelinnungsrohheit. Amüfieren will 
man fih, und amüſiert einen ein Werf 
nicht, jo amüjiert man ſich über das 
Werk: man verlaht und bejohlt den= 
felben Menjchengeift, gegen den man 
von feinen früheren Gaben her Dante 
barfeit empfinden würde — wäre man 
wirflih innerlicher Erfaffung einer 
Dichtung überhaupt fähig. Daß man 
von Dankbarkeit nicht Das mindejte in 
fid) fpürt, beweiſt, dab auch die Be— 
geiiterung nicht glühte, ſondern irr— 
lichtelierte. Aber was Seine Vajeität, 
der Berliner Premitrenplebs, be— 
fiehlt, das geichieht: „Florian Geyer 
und der „Eroberer“ werden nögefebt, 
Philippi und die Blumenthale wer— 
den aufgeführt. Und nicht nur für 
Berlin, nein, in ganz Deutf 
land, denn ganz Deutichlands 
Iheaterdireftoren beugen fid) vor 
Berlins Entiheidungen, da ihnen 
leider mit den Eſeln gerade die Hals 
ftarrigfeit nicht gemein iſt. Und 
jo tyrannifiert das Berliner Pre— 
mierenpublifum die geſamte reichs— 
deutihe Bühne: unjfer ganzes 


Kunftwart 


Th 


Theaterweſen ſteht unter der 


Pöbelherrſchaft. 
Muſik. 


*Für Albert Lortzing. Eine 
Anregung. 

Wenige Komponiſten haben für die 
deutſche Volksoper ſo viel gethan wie 
Albert Lortzing. Als er, der abge— 
dankte Mime und Kapellmeifter, am 
21. Jan. 1851 im tiefiten Elend ftarb, 
hinterließ er der Welt an feinen volls⸗ 
tümlichen Opern ein reiches Erbe. Hat 
li ihm dafür gedanft? Je nun, man 

hrt feine Opern alljährlid) wohl hun⸗ 
dertmal auf; fie ſind ja tantiemefrei 
und ziehen noch immer. Man bringt 
auch Gedenktafeln an feinem Geburts— 
und Sterbehaus an. Aber — Ep 
als die Hälfte feines fünftlerif 
Nachlaſſes (das Verzeichnis um at 
16 Nummern, darunter ı Oratorium, 
5 große Chöre, 2 Liederfpiele, Ouver: 
türen, Lieder u. det.) iſt noch unges 
drudt. Mögen jene Handichriften im— 
merhin Jugendarbeiten enthalten, deren 
Bedeutung jener feiner Hauptwerke 
nicht gleihtommt, fo würden fie dod 
einen Einblid in Lorgings künſtle— 
rifhen Gntwidelungsgang ermög— 
lichen. Heute, wo Strauß und Lanner 
ihre ftolzen Gejamtausgaben haben, 
müßte fi doch ein Verleger aud) für 
Lortzing finden laſſen. Um einen ſach— 
fundigen Herausgeber braudten wir 
nidyt zu bangen. 

Mar Garr=- Wien. 

* Bon den Bungertianern 
müffen wir leider wieder einmal fpre= 
chen, nicht, weil der Schall der Trome 
peie von Ithaka unfern Ohren jegt 
lieblicher oder bedeutender oder wich— 
tiger flänge, fondern meil diefe Herren 
im Stampfe für ihren Dichterlompo⸗ 
niſten eine Unſittlichkeit in der 
Wahl der Kampfesmittel anwenden, 
die denn doch, Gott ſei Dank, ihres 
gleichen fucht. Die Lefer erinnern fi 
unſres Aufſatzes im 20. Hefte des vori— 
gen Jahrgangs, der das Bungertianer— 
Geſchwindel zugleich mit der Erbärm=- 
lichkeit der Redaktion der „Begenmwart“ 
aufdedte. Antworten lie ſich darauf 
nicht, e8 mar leider unmiberleglich, 
man mußt es einjteden, und fo jtedte 
man’s ein. Nun aber ein Aufſatz von 
Batka in einem angejehenen Mufifblatte 
Wiens auch an der Donau das Ge— 
ihäft bedrohte, wollte man dagegen 
mwenigitens etwas thun. Was alfo 
that man? Dab man Batla ſachlich 





— 14 — 








etwas hätte entgegnen, etwas beſſeres 
überhaupt Hätte bringen follen, als 
perfönlihes Schimpfen, war ja nit 
zu erwarten. Aber man unterbot wirk— 
li nod) die Erwartungen dod: man 
wiederholte felbit heute noch cin: 
Ps diealten Zügen, die bereits 
reimal öffentlich miderlegt 
waren, zweimal im Stunftwart, ein= 
mal auf Grund des Preßgeſetzes im 
Hauptblatt der Bungertianer, Der 
„Gegenwart“, ſelbſt — widerlegt, ohne 
dat man ihre Widerlegung auch mur 
mit einem Worte hätte anzweifeln 
Zönnen. Dr. Batla ift der Barteifelretär 
der Deutſchen, der Muſikreferent des 
deutichen tampfdlattes „Bohemia“ und 
ein Dann, deſſen Arbeiten feit jo und 
fo viel Jahren auch von den Gegnern 
mit Neipeft genannt werden. Hier 
wird nad ihm als „einem Tſchechen— 
jüngling aus der Havlicefgaffe* mit 
Gemeinheiten geipudt, wie fie andere 
Spredorgane als die des Herrn Ver— 
faſſers nicht eben leicht zu erzeugen 
vermögen. Es iſt ja nicht angenehm, 
bei jo etiwas zuzuſehn, aber man muß 
es wohl, will man fi) über die Bun— 
gert-Propaganda unterrichten —, des— 
halb empfehlen wir den Artikel zum 
Selbititudium. Er fteht im Heft 3 
der „Redenden Künſte“, das man für 
50 Pfennige von Conſtantin Wilds 
Berlag in Leipzig und Baden - Baden 
beziehen fann, und fein Verfaſſer heilt 
oder nennt fid) Chop. Und nun nod) 
zum Sclufie eine Frage an Bun— 
gert: weiß er von dieſer Sorte 
von Striegführung unter feinem Vans 
ner? Herren, die nat ihrer bisherigen 
Beichäftigung kleine Literaten, nad) 
ihrer geiftigen Straft jchöne weiße 
Lämmer und nah ihrer Stimme 
Leuen find, zichen aus und erheben 
zu feinem Ruhm ein Gebrüll, wie es 
in deutihen Landen nod) faum er— 
ſchollen iſt. Sei's drum, das fchadet 
ja nidjt viel. Über, Tieber Herr Bun— 
gert: reine 2uft möcten wir gern 
behalten, denn ohne die geht's nicht, 
die braucht man zum Atmen — könn— 
ten Sie die Jhrigen nicht etwas mehr 
zur Reinlichfeit anhalten ? U. 

* in Köln errang Anton Urs 
ſpruchs Oper „Das Unmöglichite von 
Allen“ einen wmbeitrittenen großeu 
Erfolg. Das Wert ift eines von denen, 
die, um vollfräftig zu wirken, unbes 
dingt eine bis ins fleinite vollendete 
Ausführung vorausfegen. Die Schwie— 
rigfeit Liegt vor allem im Stil bes 


nn 


fait vergefien war, den Parlando— 
ftil, madt Urſpruch zur Grundlage 
des ganzen Werkes, und er verlangt 
vom Sänger feine Beherrichung, wie 
vor ihm feiner. Eben der PBarlando- 
ftil aber ift für das onverjations= 
ftüd der einzig möglihe und Ur— 
er Oper iſt ein Konverſations— 
tüd, wie es feit dem Figaro nicht 
mehr über die Bühne gegangen ijt. 
Hat Urfprud in diefem Punkte nichts 
Neues geihaffen, fo bedeutet doc) die 
Art, wie er den Barlandoitil der Oper 
anpaßt, einen großen yortichritt auf 
dem Gebiet der modernen unit. 
Seine Oper iſt undenkbar ohne die 
Werke Mogarts, aber ebenfo ohne die 
unferes Bayreuther Meilters. Sein 
Menſch wird fie wagnerifh nennen, 
wenn damit aud nur auf entfernte 
Anklänge an unfern größten Dtufil- 
dramatifer gedeutet werden foll, und 
bod) ift gerade Urſpruchs Oper wag— 
neriſcher als die vieler anderer, die 
glauben, eine Oper fei dann allein 
„echt“, wenn man beim Anhören be= 
ftändig im Triitansftolorit ſchwämme. 
Solde ahmen ja gerade das nad, 
was in Wahrheit unnachahmbar it. 
Bei Wagner entwidelt fih das ganze 
Kolorit, ih möchte fait jagen, Die 
Stilart des einzelnen Wertes 
durhaus aus dem vorliegenden Ins 
halt des Stoffes. Erinnert Triftan in 
der Örokartigfeit und Breite des Me— 
los, infeiner berüdenden Harmonik und 
finnlichen Farbenpracht an die Pinſel— 
führung Tizians, jo mödte ich Die 
Megiterfinger in ihrer Kleinkunſt faſt 
mit der Holzicgnittfunft eines Dürer 
vergleichen. So hat jedes Werk jeinen 
ganz eigentümlichen Gharalter und 
Stil aus fi felbit, chmt man den 
nad, wird man jelber ftillos. Was 
aber durchaus nachgeahmt merden, 
was feit Wagner die Grundlage unjeres 
Schaffens bilden muß, das find Die 
bahnbrechenden und grundlegenden 
Ideen des Mufildramas, wie er 
fte theoretifc und praktiſch gelehrt hat. 
Daß Urſpruch diefe vollitändig in ſich 
aufgenommen und verarbeitet hat, ijt 
bei einem Künſtler von feiner Fein 
fühligleit felbitveritändlid. Dadurch 
aber, daß er auf Grund Diefer Ideen 
feinem Werfe einen eigenen Stil zu 
geben vermodte, indem er, Durd) die 
Art des Stoffes gezwungen, genau da 
anfnüpfte, wo die Entwidlung dieſes 
Stils in der Kunſt jtehen geblieben 
war — beim „Figaro* dadurch 


‚gründet: gerade das, was ſeit Wagner brachte er uns thatſächlich einen Forts 


2. Novemberheft 1898 


— 6 — 


jhritt. Urſpruch darf fortan als der |, Urfpruch als ficherer Beherricher. Am 


Begründer des modernen muſi— 
taliſchen Konverſationsſtücks 
elten. Was dieſes vom alten unter— 
cheidet, iſt in erſter Linie die Grund= 
form, die als Einheit nicht die Arie 
oder das Lied ſetzt, ſondern die dra— 
matiſche Szene Mozart hat das 
in feinen Finalen im Figaro bereits 
in höchſter Vollendung gethan, aber 
nur in dieſen genialen Enſembles. 
Urfprud) wendet die Form auf das 
ganze Werk an. Er fhafft fo eine Reihe 
großer Szenen, die ftreng ſympho— 
nifch aufgebaut find. Das ſetzt aber 
notwendig voraus, daß die Geſtaltung 
bes Tertes eine foldhe ſymphoniſch— 
mufifalifhe Form zuläßt, dab das 
Prinzip des Gegenfages, wie e8 ſich 
im Haupt- und Seitenthema aus— 
fpricht, auch im Text genau vorbereitet 
ilt. Sei e8 num dadurch, daß die Szene 
einen Dialog darstellt zwiſchen zwei 
Perſonen verſchiedenen Eharafters (das 
iſt das Häufigite bei Urjpruch), oder 
aber, daß der Stoff bei einer Solo= 
m ben Gegenſatz in fich birgt. Das 
iſt natürlich nicht immer möglidh, und 
wo nicht, datreffen wir aud) hier die 
Szene auf Grund eines Themas, 
mwelde in dieſem Falle fih als das 


größten aber ijt er in jeinen Enjenibles, 
deren Anwendung eine notivendige 
Konfequenz des ganzen Stils ift. Nicht 
nur, daß er, wie zum Scherz, Ganons 
und ſelbſt eine Fuge mit fünf Themen 
fo anwendet, daß man nirgends bie 
Arbeit empfindet. Was das Widhtigite 
it: er führt innerhalb dieſer Formen 
die Gharafteriftit der einzelnen Per— 
fonen aufs jtrengite durch. Ueberhaupt 
it es die Charafterzeihnung, 
melde am meijten in die Augen jpringt. 
Sämtliche Perſonen des Stüdes find 
mufilaliihe Typen. Ich nannte bis— 
ber als die beiden Meifter, auf Deren 
Ideen Urfpruh fuht, Mozart und 
Wagner; einen dritten darf ich aber 
nicht vergeflen: Hector Berlioz. Nicht 
nur auf die Inftrumentation eritredt 
fi) der Einfluß des genialen franzö— 
ſiſchen Meiſters, wenn er auch hier 
unverfennbar iſt (man braucht nur 
einmal auf Die eigenartig reizende 
Behandlung des Fagotts zu achten 
oder der Tuba), auch in vielen ans 
deren Bunften wird man finden, daß 
Urfpruh von Berliog gelernt bat. 
Er ijt ferner ein Schüler Meifter 
Liſzts. Eines vor allem verdankt 
erder@rziehung diefes einzigen Dteifters, 


das iſt die Stlarheit des Rhythmus 
und das vornehme Maßhalten fomohl 
nah ber Richtung des Grniten mie 


aber d, witellt. Letztere Form ift es be= 
entjnr"..ıd, weldhe Wagner am häufigften 


uumendet, und die ihm die Anwendung 
bes Leitmotivs ermöglicht, ohne welche 
wir uns das große Mufildrama nit 
mehr denfen können. Die ſympho— 
niſche Form läßt Dies nicht zu, fie 
bietet dafür aber gerade für den leich— 
ten Parlandoftil des muſikaliſchen 
Konverjationsitüdes die einzige Möge 
lichkeit. Während in dem erniten 
Drama das Leitmotiv die Charak— 
terifterung der Figuren bildet, fie ge— 
radezu mufifaliih materialifiert, fällt 
diefe Aufgabe im Stonverfationgftüd 
dem ganzen Thema, der Melodie 
zu, unterſtützt natürlich Durch die Farben 
bes Orcheſters. Das legtere freilich 
geichieht erit im zweiter Reihe, denn 
eine Grundbedingung dieſer Gattung 
ift e8, dag das Orcheſter gegen den 
Gejang zurüdtreten muß und ihm nur 
als Folie dienen kann, ſoll anders der 
lebhafte Fortgang des pointierten Die= 
logs nicht leiden oder gar untergehen. 
Das verlangt natürlic wieder eine 
Bevorzugung des Streichordeiters, 
ohne aber deshalb auf die Errungen— 
Ihaften anderer Jnitrumentation zu 
verzichten. In al dieſem zeigt fich 


Kunftwart 


| 
„ey dult der Entwiclung von. S.Bad 
| 
\ 





des Komiſchen hin. — Die Kölner Auf 
führung entſprach vollftändig dem 
Wert des Werl. Sri Dolbad. 


Bildende Kunſt. 


* Am Berliner Sumitgemerbes 
mufeum iſt eine Yusitellung über 
„Buchdruckkunſt“ eröffnet worden. 
Sie fann natürlid” dem feine Offen— 
barungen bringen, der die Bublifationen 
des Buchhandels aufmerkſam verfolgt, 
da ja dort ſchon alles zu ſehen war, 
eh e8 in den Muſeumsbeſitz gelangte. 
Über Sehr interejfant ift Diefe zus 
fammenfajjende Vorführung doch aud) 
für ihn. Sie zeigt uns eine hödjit 
höchſt erfreuliche Entwidelung, Die 
dahin geführt hat, daß Heute ein 
einigermaßen guter Verleger faum nod) 
etwas Wertvolles herausgeben Tann, 
ohne mit den Jdeen der Künſtler zu 
rechnen, die man als „die Modernen“ 
vor ein paar Jahren nod, verjpottete. 
Die doch im Grunde fo einfahe Er— 
fenntnis, Daß aud) der Buchſchmuck aus 
dem Öcgebenen, d. h. den Drudbedin- 
gungen eines Buches herauswachſen 


— 146 — 








müſſe, iit heute allgemein angenommen 
worden: man rechnet nun überall mit 
ſchwarzen und weißen Fläden und 
Linien, wie daß dem Stode entipridt. 

reilich, daß alle nad) 1860 geborenen 
2eute, die den Maler= und Zeichner— 
beruf ergriffen haben, Genies jeien, 
Die niemals Geſchmackloſigkeiten oder 
Geijtlofigfeiten zeichneten, nein, daß 
wäre nit zu behaupten. Es hat 
aber aud) bis jet nody niemand be= 
hauptet. 

Die Aufgabe des künſtleriſchen 
Buchſchmucks als ſolche werden wir 
im Kunſtwart bald wieder einmal 
beſprechen. Gelegentlich dieſer Aus— 
ſtellung wollen wir nur noch be— 
merken, daß auch ſie ein Zeugnis 
mehr dafür iſt, wie ſich das preußiſche 
Kultusminiſterium hinſichtlich 
der bildenden Kunſt vortrefflich be— 
thätigt. Gerade wir, die vor dem Ver— 
dacht ber Riebedienerei nad) oben ficher 
find, dürfen Hier unfre helle Freude 
ausſprechen. Die Berwaltung der 
preußifchen Kunftmufeen, die Beitres 
bungen in Saden ber Kunſtpflege, 
die Dentmalspflege, die Preisaus— 
fchreiben u. ſ. w., das iſt jet alles 
geradezu vorbildli in Preußen und 
zeugt von klarſtem Sachverſtändnis 
wie von marmer, innerlidher Betei— 
ligung und entſchiedenem Rillen, zu 
fördern. Ad, daß e8 auf anderen Ge— 
bicten hier ebenfo wäre! 

* In Holland, das frei ift durch 
und dur, beſonders aber von Vor— 
urteilen, wenn fih’8 um literarifchen 
Diebftahl handelt, erſcheint eine neue 
illustrierte Zeitſchrift „Meubileerings- 
Kunft“ bei der „Uitgevers - Maat- 
fhappij »Bivat«e Amfterdam*. Bon 
ihrem erften Hefte find von fünf 
en vier, ift ferner fogar 
Ziteflopf und Umſchlagzeichnung ein 
fah auf medhanishem Wege ber 

Innendetoration“ von Koch in Darm= 
tadt gejtohlen. Iſt das eine reſpel— 
table Leiftung, jo überrafcht fie Doch 
gerade uns nicht ſehr, denn vor Jahren 
erihien in Holland ein ſtunſte und 
Riteraturblatt, deffen Probenummer 
zur größeren Hälfte aus einem einzigen 
Hefte des Kunſtwarts zuſammen über= 
fet war. Es waren wörtlich unſre 
Artikel, nur die Ueberſchriften er= 
innerten vor Beideidenheit nicht 
einmal an die unfern, und mit Staunen 
las jeder unferer Mitarbeiter bei dem 
Berfaflernamen, daß er auf holländiſch 
volllommen anders, und war wie ein 
richtiger Mynheer hieß. Die „Vivat“= 


Gefellihaft madjt ähnliche Masten- 
pa — follten hinter ihrer beſcheidenen 
amenlofigfeit unfere alten Freunde 
fteden ? 
Wie's gemadht wird. 
Geiftlihe als Geſchäfts— 
reifende anzuſtellen, bemüht fich. 
das „Südbeutfche Verlags = Inftitut“ 
zu Stuttgart, indem e8 die Pajtoren 
zum Bertreiben der Pfleidererſchen 
Bilderbibel durch ein mit „vertraus 
lich!“ und „höchſt wichtig!" bezeich« 
nete8 Zirfular auffordert. Die Ueber— 
fchrift verheißt mit fetten Lettern: 
„Gratig-Erwerbung der Meifterbilder= 
bibel durdy Empfehlung“, und das ijt 
p zu verjiehen: verſchafft der Pfarrer 
rei Käufer, fo befommt er ein Frei— 
esemplar, glüdt e8 ihm aber nur, 
mei oder nod) weniger Käufer zu— 
—— zu bringen, ſo muß er auch 
fein Exemplar mit 40 Mark bezahlen. 
Das bedeutet: mit weit mehr als dem 
Buchhändlerpreis, ſo daß die Verlags— 
handlung, die auf dieſem Wege die 
Bilderbibel „zu dem“ „machen“ will, 
„wozu fie geihaffen it, zum Kleinod, 
zum erhebendften Schage jedenChriſten⸗ 
hauſes“, zugleid mit folder edeln 
That ein glänzendes Geſchäft madht. 
Trogdem hätten wir dieſes ftille 
Wirten des „Süddeutſchen Verlags-In— 
ſtituts“ vielleicht nicht beleuchtet, m” 3 
bier nicht den Geiftlichen vorger,!" In⸗ 
der Pfleidererſchen Bilderbibel 
„Die Welt unbeſtritten das 
höchſte und jhönfte Dentmal 
Hriftlider Kunft*. Es märe zu 
beflagen, wenn biejer linfinn- 
von Herren geglaubt und meiterver= 
breitet würbe, bie in Sunftdingen zu 
eigener Beurteilung zu wenig bewan— 
dert und zu beideiden find. Wenn 
ic) eine Menge von religiöfen Bildern 
ber verſchiedenſten Meifter einfach ko— 
piere, ſo ergibt das ſelbſt bei guter 
Reproduttion höchſtens eine intereſ— 
ſante Sammlung, aber noch lange 
keine gute Bilderbibel. Zu einer ſol— 
chen gehörte vor allem einmal Ein— 
heitlichkeit. Bei ber Pfleiderer— 
ſchen Bibel aber werden wir zwiſchen 
alter und neuer, nörblicdyer und ſüd—⸗ 
licher und auf das mannigfadjite ab= 
weichender erſönlicher Auffaſſung 
unter allen Ariftlicen Kunjtnationen 
und Malerſchulen herumgeworjen und 
außerdem nod durch das gänzliche 
Sonorieren der grunbverjchiedenen 
Bedingungen zwiſchen Wand» oder 
Zajelbild und Budilluftration geftört. 
Wie fol ein Sammeljurium erbauen 


2. Novemberheft 1898 


— 142 — 





und nicht zerjtreuen fol, das begreife | und die fein meifternde Technik Des 
ein anderer. Eine wirklich gute Bilder- | jungen Tonfegers iſt e8 ein ſprechen— 
bibel für den Deutiden von heute | des Zeugnis. Wie allen Modernen, 
fehlt leider überhaupt, befjer als die | wird aud) ihm das einfahit Gedachte 
Pileidererfche ift als Sausbud) aber | unter den Händen fo ſchwierig, daß 
fogar nod) die Schnorrfhe. Wer aber | namentlih der Spieler mit der Aus— 
einfach Meifterwerfe der chrijtlihen | führung feine Not hat. ES liegen uns 
Malerei in Nahbildungen fammeln | nod) andere Driginalarbeiten Mikoreys 
will, der kann das für weniger Geld | vor, die wir unſern Leſern zugleid) 
bejier haben, als durd) die fogenannte mit einer Charakteriſtik jeiner ftarfen 





„Meifterbilderbibel*. ı Begabung vorzulegen gedenfen. 
| Der „Ritter“ von Herterid, den 
Unſere Beilagen. wir ferner unjern Leſern zeigen, hat 


| Diefes Jahr auf der Ausftellung der 
Unjere Muſi kbeilage eröffnet dies | Sezeffion viel Bewunderung erregt; 
mal ein „Ave Maria“ aus dem | er it dann, wenn wir nicht irren, 
vierzehnten Jahrhundert. Die tief | vom Staate für die Pinafothel ange 
innige, gejangvolle Bolfsmelodie hat | fauft worden. Bewundernswert in der 
M. Plüddemann mit einer ganz ein= | That ift an dem Bilde der breite, der 
fachen Klavier- (oder Harmoniums) | wahrhaft wuchtige Vortrag, im ges 
Begleitung verfchen, die ihre Schön= | raden Gegenjage zu kleinlicher Pim— 
* voll hervortreten läßt; ſie wird pelei und mit ſo vollkommener Sicher— 
ier aus ſeinen „Liedern und Geſän- | heit gegeben, daß alle — zu⸗ 
gen“ (Nürnberg, Schmid, ME. 2.—) ſammengehn und alles Körperliche ſich 
mitgeteilt. Das Heft enthält unter | rundet. Aber diefe rein malerischen 
anderem nod fünf altdeutiche Lieder, | Vorzüge bedeuten dod nur einen 
die dem ausgemählten faum nad | der Werte, die das Bild auszeichnen. 
ftehen. Im Bortrag diefer Weife, | Der andere, feclifcher Urt, liegt in der 
von der Plüddemann mit Recht be= | der eigentümlichen Zegendenftimmung. 
merkt, daß ihr an Zartheit und relis | Eben diefe erhebt den Charafter des 
giöfer Inbrunſt nur wenig Neueres | Werks weitüber den einer wennauch noch 
gleichkommt, macht nur das durchaus ſo vortrefflichen Studie nad) der Natur. 
gleichmäßig geforderte Pianiſſimo Des Amerikaners Urban wunder—* 
Schwierigkeiten. ſchönes Bild „Der Albanerſee“ möge 
ALS Proben aus den ſoeben bei.Aibl | uns wieder zeigen, wie wohl es ge= 
in München erfchienenen neuen Liedern | than iſt, ſchlagwortähnlichen äſtheti— 
von Richard Sirauf (10 Befte; je ſchen Lehrfägen vorfihtig und zweifel— 
DH. 1.20) geben wir den Schluß feines | bereit zu begegnen. Der Sa, daß 
Schlummerliedes, worin vier felb- | Fernfidten niemals „Bilder“ er— 
ftändige Wielodien nebeneinander= | gäben, daß man fie alſo nie malen 
laufen. Der Baß in mwiegender Be= | dürfe, iſt von vielen Malern ein Jahre 
megung, zwifchen ihm und den in | zehnt lang mit großer Enticdiedenheit 
der Höhe webenden Sechzehnteln eine | verfodhten worden. Das Wort ent— 
leihjfam ſanft ſtreichelnde Mittel- ; fprang dem jehr beredhtigten Wider— 
timme und zu allem nod der auß= | willen gegen die alte Vedutenmalerei, 
drudsvolle Geſang. Diefes jo kom- | welde die im Bädeder beiternten 
plizierte Gefüge ergibt nichtsdeftome- | „Ichönen Blide* oder „romantijchen 
niger einen ganz Ihlidhten und übers | Punkte“ durhaus unkünſtleriſch ver— 
zeugenden Gefamteindrud. Wir werden nutzen wollte Aber auch hier fommt 
demnädft im funjtwart einen zus es eben aufs Wie an. Wer fih in 
fammenfafjenden Auffat über Strauß der Fülle einer weiten Ausficht nicht ver= 
als Licderfomponiiten bringen. liert, fondern die großen Formen aus 
Das dritte Stüd „Im Nofengärt- | Nähen und Fernen zufammenzufaflen 
lein“, ftammt von Franz Milorey | weiß zu fait monumentaler Geſchloſſen— 
und wird bier zum erjten Dale ver= | heit und Größe, der „darf“ wirklich 
öffentliht. Für das zarte Empfinden auch Fernfichhten malen. 


zubalt. Künſtleriſche Weihnachtsgeſchenke. Von Paul Schulge-Naumburg. — 
eihnadtsihau. — Gerhart Hauptmanns „Fuhrmann Henſchel“. Bon Adolf 
Bartels. — Die Theaterbörfe. — Loſe Blätter: Der Kletterer. Bon Guftan 
Falle. — Aus Bölſches „Liebesleben in der Natur“. — Die Defadenten. Bon 
K. ©. Hardenberg. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Ludwig Herterih, Ein 
Nitter; Hermann Urban, Der Albanerjee. — Notenbeilage: M. Plüddemann, 
Ave Maria; Richard Strauß, Schlummerlied; Franz Milorey, Im Rofengärtlein. 


Derantwort!.: der Heransgeber $erdinand Apvenarius in Dresden -Blafewig. Mitredafteure: für Muſit 
Dr. Rihard Batfa in PragMeinberge, für bildende Kunf: Panl Schulge-Naumburgin Berlin, 
Sendungen fär den Cert an den Berausgeber, über Mufif an Dr, Batko. 

Verlag von Georg D. W, Eallwer. — Kgl. Hofbuchdruderei Kaftner & Eofjen, beide in Münden. 


— — — — — — — — — — 


TI Gar 







Mit Bilder: und Moten-Beilaaen. 
ebenda —— 


Bernaspreis 21/5, Mark vierteljährlih. Ein einzelnes Heft 50 : 
SENSE: — 


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Derausgeber; 
#erdinand Zlvenarius, 


Werlag von GeorgdTI.Callwepin/Dünd 


HEIZ — 
F EEE — —— 
— DAT —— un — — er 







Erstes Dezemberbeft 1898. 


rganNdg- a für Berlin: 3, Behr’s Derlaa. W. Stealiherkr. 













7, um .. \ 


« Der Kunffiuarf = 


erfcheint jährlih 24 mal in Heften von 32 Seiten (je zu Anfang und Mit 
Der Abonnementspreis beträgt /BR. 2.50 
Einzelne Hefte foften 50 Pfa. 
Ale Buchhandlungen und Poftanfialten, fowie die unterzeichnete Derlagsha 0 
Abonnements-Beftellungen entgegen. Probehefte unentgeltlich und poftfrei von der Derlage 
handlung: Georg D. WI. Callwep in ABüncben. “ 
Vachdruck fämtlider Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und 
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird 
übernommen, Rüdfendung at abgelehnter, nur wenn Rüdporto beilag. 


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Pochlmanns —— entwickelt die Besbedtunge un, uf und 
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\ Kunstpbotograpbie. 

P As wir Studenten waren, grün noch von Geift und ehrfurchtslos 
be Et et, liebten wir's, aus den Anhängeläften der Photographen die 


Blidten fonderbar ins Tageslicht; diefelben, die uns im Kunſttempel der 


m). 





ierten Helden und Heldinnen vom Theater bliden zu fehn. Sie 


29 


x fenftabt gar wohl ans Herz zu rühren verftanden, gaben uns zu den 
Rgödien nun Satyrfpiele eigner Art: die Lodenperrüde, hier auf der 
nn Sraphje wurde fie nicht zum mwallenden Haar, dag Koftüm, Hier 
* es nicht zur Tracht, die große Geſte nicht zur lebendigen Be— 
* Ng, das Mimengeſicht nicht zum Heldenantlitz, die Maske nicht zum 
** — wie Kinder waren wir, die das Spielzeug zerſchlagen, um 
Rohr ‚su fchauen: wie fonft die Schaufeite, jo vergnügte uns nun die 
jeite Der Theaterkunft, die Komödianterei. Aber wir wurden durch 
gmaH ScHaufaftenftudien auch aufmerffam auf das Theaterhafte in den 
Bande Ichen, den „bürgerlichen“ Photogrammen. Eigentlich war's ein 
nung, eT, Daß wir’s jegt erft wurden, nur die Allgemeinheit der Erſchei— 
mar .Märt, daß keiner fi dran ſtieß. Erinnern ſich die Lefer, wie 
Yhaut Amals, vor zwei Jahrzehnten noch, photographierte? Nein, nun 
—8 ern; ich jelber, denn ich weiß e8 ja: man photographiert heute 
o. 
or Allerdings, nicht mehr ſo allgemein. Daß man vor einem ge— 
8 reich geſchnitzten Schreibtiſche im Zimmer an einer ſteinernen 
atten-Baliuſitade ſitzt, Hinter welche der Große Geiſt des Lichtkunſtlers 
höne Neapel mit Golf und Befun herbeigezaubert Hat, e8 ift wenig 
Nens in den großftädtifchen Ateliers jest immerhin eine Seltenheit. Und 
die photogräphlichen Marterwerlzeuge, die den Kopf zum Gtillhalten 
gingen und ben Neuling jo angfterregend an den Zahnarzt erinnern, 
fie amten den fchnellen Trodenplatten zum Dank nicht mehr überall, wenn 
fie aud) noch da und dort fpufen am hellen lichten Tag. Dan verftedt die 
Komödianterei beffer. Aber man gibt dem Wejen nad) immer noch die 
Unnatur für die Natur. Man dient noch heute, Ausnahmen immer zu: 
Kunftwart 1. Dezemberheft 189€ 


- 19 — 





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gegeben, hier nicht der Wahrheit, jondern der Macherei, dem Schwindel. 
Wer denkt daran, auf dem lichtempfindlichen Papier jchlieglih als Bild 
zu fallen, was an einem Menjchengefiht bezeihnend oder was ma: 
leriſch it? „Schön“ foll man ausjehen, und ift man's nicht, Jo wird 
man’ gemadt. „Schön“, — was man fo unter „Ihön“ veriteht. Du 
bift eine Frau, Sorgen und Segen haft du getragen, man fieht dir's 
an, man freut fi deffen. „Um Gott, da find Runzeln!“, denkt der 
Retoucheur, und er zieht dir ein allgemeines Glacehandichuhleder vom 
einen Ohre zum andern. Du bift ein Mann, in geiftiger Arbeit erzogen, der 
Retoucheur rührt die Falten und Förmchen in deinem Angeficht zuſam— 
men zu einer meiden Inkarnatsſchmiere, mit der er di in einen 
blühenden Barbiergehilfen umfchmintt. Oder bit du ein Puppenkopf 
geworden ? Man könnt e8 denken, denn eine ſchöne jcharfe Linie ums 
‚rändert dein Auge, wie das im Puppenland üblich, aber ein Lichtpunft 
gibt dir dafür einen fogar übermenſchlichen Glanz, denn er figt anders— 
wo, als er bei gleicher Beleuchtung auf Menſchenaugen jähe. 

Es ift alſo eine merfmürdige Sorte von Jungbrunnen, die Wert: 
ftätte des Berufsphotographen vom Durchſchnitt. Künftler verzichten da— 
ber gern auf ihren Bejuh, marten auf einen befreundeten Amateur: 
photographen oder nehmen doch, müſſen fie fi) mal von einem Fad- 
mann photographieren laſſen, dem Lichtbezwinger einen erniten Eid ab, 
mwenigitens nichts zu retoudjieren. Das Publikum jedoch ift meift ganz 
zufrieden, ift e8 jo jehr fogar, dah es die Photographen je mehr preilt, 
je mehr fie ihnen die Natur von den Gefichtern wegpinjeln. Es ift ein 
ganz beichämendes Zeugnis dafür, wie allgemein dem Publikum die 
eriten Elemente des Sunjtverjtändnifjes mangeln, daß es fi die Miß— 
handlung durch unſre Berufsphotographen nicht nur gefallen läßt, nein, 
dab e3 fie geradezu jelber verlangt. Fyeinfühlige Photographen, „die 
was davon erfannt*, konnten bisher einfach nicht auflommen, bis fie 
widermwillig, was verlangt ward, machten — e8 wäre jehr Unrecht, den 
ganzen Stand als ein Gewerbe jtrupellofer Pfuſcher Hinzuftellen. 

Auch den Liebhaberphotographen fehlte aber in Deutichland bis 
vor wenigen Jahren noch allgemein ein künftlerifches Verſtändnis. Sie 
retoudhierten nicht, das war ihr Borzug, im Uebrigen Huldigten fie 
vorurteilgmäßigen Jdealen. Möglihit ſcharf follten die Bilder werden, 
und möglichſt viel follte darauf zu jehen fein, die Sonne mußte wo— 
möglid) von vorn fallen, in den Schatten noch mußte alles Har fennt- 
lich fein, die Perjpeftive durfte nicht gar zu verfchroben fein — damit 
ungefähr waren diejer Leute hauptjächliche Forderungen erfüllt. Man 
regijirierte mit Photogrammen Familie und Freundihaft und nahm aus 
der Landſchaft „Anfichten* und „Ausfihten* auf. Gin recht bezeid- 
nete8 Wort, dag „Aufnehmen“: man nahm auf, was da lag, man 
hatte nicht da8 Bedürfnis, aus dem Gegebenen erft etwas zu bilden. 
Das Verfahren jelbjt war man dabei gewohnt, durchaus als einartig 
beftimmt zu betradhten: eine Expofition war gut oder fchlecht, je nad- 
den, ob fie genau durchgearbeitet und doc nicht überlichtet war oder 
anders, eine Entwidlung war gut oder ſchlecht, je nahdem, ob fie ge 
willen Forderungen genügte, die für alle Fälle genau die nämlichen 
waren. Es war, wie ein Automat, in dem man oben etwas ftedt, 
wofür er was hergibt: er fann gut oder fchleht, aber nur auf eine 


Kunftwart 
— 150 — 


Weile funktionieren, — mehrere Möglichkeiten des Guten hat er nicht. 
Gab ein Photogramm Licht und Schatten der Natur nad Möglichkeit 
richtig wieder und zeigte e8 möglichft deutlich alle Einzelheiten, fo 
war e3 gut, wenn nicht, jo war es mißlungen: das „gute“ Refultat zu 
erreichen aber war eine rein technifche Gejchielichkeit.. Nur in der Aus— 
wahl deifen, was man vor die Linfe ftellte, und darin, wie man’ 
ftellte, bethätigte man freien Gefhmad: Entwidlung und Kopierung des 
Negativs war ein unumgänglicher, aber langmeiliger mechanifch = hemi- 
iher Prozeß. Wer nicht viel Zeit Hatte, Tieß fih „das“ deshalb Lieber 
vom Fachphotographen beforgen. 

Sest fi ein KHünftler, jagen wir: ein Zeichner mit dem Bfleiftift 
vor die Natur, jo hat er eine unbegrenzte Zahl von Möglichkeiten, den 
Stift fo oder jo zu führen, um megzulafjen, zu ergänzen, zu verändern, 
hervorzuheben und zurüdgudrängen, bis nicht eine Abfchrift der Natur, 
jondern bis das auf dem Blatte fteht, maß feine Seele durch fein 
Auge aus ihr entnommen Hat. Was bedeuten gegen diefe Fülle von 
Möglichkeiten die Möglichkeiten der Beeinfluffung eines photographifchen 
Bildes durch den Photographen, wenn fie nur von der angedeuteten Art 
find? GSelbftverftändlich wurde alfo ein gelegentlicher Stolz der Amateur- 
photographen auf ihre „Kunft* von den Malern beläcdelt. Aber ber 
Möglichkeiten, das Bild zu beeinfluffen, find viel mehr, ala man benuste. 
Abgeſehen von der Wahl des Standort und be Modells, der Tages- 
zeit mit ihrer Beleuchtung und all diefes Gegenftändlihen außerhalb des 
ApparatS: man kann die Linje wählen fo oder fo, man fann mit 
fleineren oder größeren Blenden, man kann längere oder kürzere Zeit 
erponieren, man fann Platten fehr verfchiedener Art benugen, man kann 
mit ganz verjchiedenen Entwidlern auf verfchiedene Weife entwideln, man 
kann dann verftärfen oder abſchwächen, kann vergrößern oder verkleinern, 
man kann ganz verjchiedenartige Bapiere wählen und auf eine jede Art 
mannigfaltig und jet durch den Gummi-ANrabicum-Drud ſogar in jeder 
beliebigen Farbe und mit ftarfer perfönlicher Beeinfluffung kopieren. 
Dan kann das alles, — fobald man nur von dem Gedanken abgeht, 
„gut“ ließe fih „das Techniſche“ nur eben auf eine Weife beforgen, mit 
‚andern Worten: fobald man nad allen Kräften das Mechanifche aus- 
Ichaltet und das Techniſche von Fall von Fall abändert, anpaft, erhebt 
zum individuellen Ausdrudsmittel. 

Nun find die enticheidenden Schritte getjan. Maler und als Künftler 
gebildete Amateure haben zuerſt in England und Franfreih, und dann 
aud in Deutichland, mo Vereine in Hamburg und Wien unter verjtänd- 
nisvoller Zeitung zuerjt den Kampf aufnahmen gegen die Konvention, in 
der That eine photographiihe Kunſt geichaffen. Sie iſt noch ein Find, 
diefe Kunft, unerzogen und launiſch, aber alle Merkmale einer wirklichen 
Kunft, das iſt unbejtreitbar, trägt fie. Erftaunlich, wie in ihr die fünft- 
leriſchen Richtungen zu Tage treten! Der oberflädliche Beichauer glaubt vor 
Photogrammen nad) Gemälden der engliihen Malerſchulen zu ftehn, trifft 
er auf die Photogramme engliiher Kunſtphotographen-Landſchafter. Er 
geht nad) Paris: ganz ähnliche Motive der Iandjchaftlihen Vorbilder er- 
innern ihn doc jofort durch das Wie der Wiedergabe an die modernen 
Maler Frankreichs. Und mehr: heitere und ernite Seelenftimmungen 
ſprechen aus diejen Blättern, wie aus Gemälden. Und mehr: man 


1. Dezemberheft 1898 
— I — 


lernt e8 bald, aus den verſchiedenen Bhotogrammen verichiedene Künſtler— 
Berfönlichkeiten Mar zu fondern und immer wiederzufinden, die als eigen- 
artige Menfchenmaler in eigenartiger Sprache zu uns ſprechen. 

Ich deutete an, wie man das erreicht hat. Mit den Augen des 
Malers ſah man auf die Natur, was „maleriſch“ ift, wollte man ihr 
abgewinnen. Nicht höchſte Deutlichkeit jeder Nebenfache ift maleriſch, die 
alle mit gleicher ‘Beinlichkeit vor dem Auge aufzählt und in alle Einzel- 
heiten bejchreibt. Dan weiß e8 längſt: Kurzſichtigen ift die Welt male- 
rifcher als Fernfihtigen, diefen zerftüdelt fie fich, jenen baut fie ſich auf 
in großen Maffen, in bedeutenden Silhouetten. Mit der Annahme diejes- 
Sates ſchon zerbrady man das bisherige Jdeal der Photographie. Aber 
e8 blieb nicht hierbei. Man erjirebte auch für die Photographie bemußt 
das malerifche Spiel der Licht: und Schattenwerte mit einander, das 
feinen größten Meifter in Rembrandt dem Radierer gefunden hat. Pan 
begann die Mafjen abzumägen zu einem Rhythmus der Flächen. Dan 
begann die Wichtigkeit der dunfeln Form zu erfaſſen und zu benugen, 
die fih im Schattenriß abhebt vom lichterem Hintergrund. Man lernte 
unterzuordnnen und zu betonen auch in der Photographie. Man ftudierte 
mit energifchem Fleiß das Charafteriftiihe der Bewegungen, von ber 
großen Geften bis zum Mienenfpiel. Die moderne Kunftphotographie 
fühlt fih ganz und gar als das junge Schwefterlein der großen Kuünſt— 
lerin Malerei, von der fie mit leidenſchaftlichem Fleiße zu lernen fudt. 

Das iſt das richtige, auf jeden Fall, für jegt: ob e8 immer fo 
bleiben wird, mwiffen wir nicht. Sehen wir ein Lichtbild, das ausfieht, 
wie die farblofe aber fonft genaue Kopie eine Delgemäldes, fo ver: 
miffen wir das Befondere im Eindrud, das uns jofort empfinden ließe: 
ic bin ein Erzeugnis einer eigenen Kunſt. Aber es gibt. auch jchon 
fünftlerifche Photogramme, die ihrer fünftlerifchen Wirkung nad) als etwas 
durchaus „Apartes“, Eigenartiges erjcheinen. 

Die ganze Bewegung der Kunſtphotographie ift weit über das Heine 
Neich der Photographenkünftler hinaus von Wichtigkeit. Sie wird all- 
mählich die Amateure beeinfluffen, durch diefe das Publitum und die 
Berufsphotographen. Sie wird nicht im Handumdrehn eine Menge neuer 
Künftler auf die Welt fegen, aber fie wird an vielen Stellen die Augen 
ein wenig, und an manden Stellen die Augen fehr viel bilden zur 
Empfänglichkeit für fünftleriihe Werte, Aufgaben und Bemühungen. 
Und jo wird fie, abgefehen von dem Schönen, daß fie ung ſelbſt bejcheert, 
vielleicht von Bedeutung werden für die fünftlerifche Erziehung unferes 
Volkes, zu welcher bisher die Berufs- ſowohl wie die Amateurphoto- 
graphen jo gut wie nichtS beigetragen haben. 


BEER 


Weibnachtssebau. 


2. Moderne Literatur. 
Die literaturhiftorifche Kritik fucht mit Hilfe der auß dem vergleichender 
Studium der Weltliteratur gewonnenen Maßſtäbe den wirklichen Lebensgehalt 
feſtzuſtellen, als deſſen „Träger“ die Hunjt als ſolche erjcheint, und mweiter den 


Wert einer Didtung als nationalen und „menjchheitlichen“ — — 
e 


Kunftwart 


41 








Segen die Anwendung ihrer Vethoden auf die moderne Tichtung hat man 
aber in neuefter Zeit vielfach proteitiert und statt deſſen cine bloß interpre= 
tierende Kritik gewünſcht, die alfo den Dichter -leihjfam als gegebene Größe 
Hinnimmt und ihn pfychologiſch und äſthetiſch-techniſch erflärt, zum Genuſſe 
feiner Werfe anleitend. Wir meinen, daB der wahre, der schorene Kritiker aller 
zeit beiden forderungen entipredhen mu: Zunächſt hat er möglidit das 
volle Veritändnis de3 Dichters, feiner Kunſt zu erweifen und zu vermitteln, 
dann aber den Dichter aud) feinen Pla in feinem Kreiſe und weiterhin 
dieſem reife feinen Blag in der Welt, mag diefe Weli aud Iheinbar nur 
die papierne der Literaturgeihichte fein, anzumeifen. Er bai zu erkennen 
dann aber aud zu urteilen, auf Grund der eigenen Perfönlicyfeit (etwas an 
deres iſt ja nicht möglich), aber dann doch nicht dogmaätiſch, fondern erfah— 
rungsgemäß, biftoriich erfahrungsgemäh. Weshalb die Modernen die literatur— 
Hiftorifche Kritik nicht fonderlich Lieben, das leuchtet ohne meiteres ein; gewiß 
iſt Dieje in den Händen Unberufener vielfach Ichablonenbaft ausgefallen und 
dem modernen Leben nicht gerecht geworden, dod man kann auch ruhig von 
einer gewiſſen Furcht neuerer Dichter vor dem hiſtoriſchen Urteil ſprechen: fte 
find von der fi fajt nur in Ertremen bewegenden öffentlihen Meinung 
unferer Zeit zu body emporgehoben worden, als daß fie Hoffen dürften, vor 
dem unbejtechlichen Urteil einer weitihauenden Gefhichtsfchreibung in ihrer 
ganzen fcheinbaren Größe beilehen zu fünnen. Sie haben ferner oft felbjt jene 
Bropheten- und geitige Führerpofe angenommen, die dem Dichter, der bloßer 
Lebensgeftalter iſt, am allerwenigiten fteht. Und ſelbſt ein Teil derer, bie fich 
heute mit Literaturwiſſenſchaft beichäftigen, unteritügt die Poeten auch gegen 
die berufene Kritit — die Herren reden fich ein, als Interpreten der Dichter 
felbit fo etwas wie Künſtler, wie fünftlerifche Nachſchöpfer eines dichterifchen 
Lebenswertes fein zu können, und denfen damit zugleich von Bedeutumg für Die 
moderne Gefellfchaft zu werden, die ſich natürlich fehr wenig um gründliche 
Literaturhiitoriiche Arbeit kümmert. So entſteht das Literaturhiftoriiche Salon— 
profejlorentum, das die modernen Dichler — einige wenige, forgfältig ausge 
wählte jelbitveritändlih nur — in ihrem Propheten- und Uebermenſchendünkel 
beitärft und die Verwirrung der Köpfe, die hodhgradige Unflardeit über die 
Bedeutung der modernen Talente in beirächtlicher Weiſe vermehrt. 

Die vorjtehende Auseinanderiegung war nötig, ıın den Standpumft feſt— 
zulegen, von dem aus die Empfehlung moderner Werke zu Meibnadten hier 
erfolgen jollte. Ein Buch, das man zu Weihnachten fchentt, muß Gehalt haben, 
muß größeren oder geringeren Wert als nationales oder gar „menfchheitliches“ 
Lebensgut Haben, bloßer Zeitwert, bloße künftlerifchstechnifche Vorzüge, bloße 
„moderne“ perſönliche Bejonderheit entfcheiden Hier ganz und gar nidt. Ob 
ich einen kulturhiſtoriſchen Roman, wie er vor zwanzig Jahren beliebt war, 
oder ein naturaliltiiches Drama ftrifter Obſervanz oder ein fymbolistifches 
Gedichtbuch ſchenke, bleibt fid) an und für ſich vollitändig glei), die „Rich— 
tung“ iſt garnichts, der Gehalt, den die Verbindung von Talent und Berjön- 
lichleit verleiht, iſt alles, Wir haben jegt einige große und ziemlich viele 
mittelgute Talente, aber wir Haben ſehr wenige Perfönlichkeiten. Das ift 
meine auf Grund literaturhiftorifcher Kritik gewonnene Anfchauung, die bloß 
interpretierende Kritik, die alles gleich groß und gleich Mein fieht, kennt dagegen 
eine ganze Anzahl deuticher Genies der Gegenwart. In Gottes Namen! 

Noch jegt, aud; nachdem unfere deutiche Dichtung wieder felbitändig 
geivorben it, möchte man feine Empfehlungen moderner Werfe mit foldhen 


1. Dezemberheft 1898 
. 163 — 


von Ausländern beginnen. Gerade, wer gut national fühlt, fol fich vor der 
verderblichen Selbittäufhung bewahren, die Talente unferer Literatur der 
Gegenwart hielten mit den großen Ausländern gleihen Schritt: wir beſſern 
nichts durch ſolches Vogel-Strauß-Weſen, das ſtatt unfre Kräfte zum Wettkampf 
aufzurufen, uns in jelbftgefälliger Faulheit beitärft. 

Ja, wenn wir unfere moderne Dichtung von 1840 abredinen, bann fommen 
wir mit, aber ſchwerlich, wenn wir mit 1880 anfangen. Die brei großen 
Ruſſen habe id; genannt, auch die beiden Norweger eriten Ranges, aber neben 
Ibſen und Björnfon find da im Norden nod) Leute wie Arne Garborg 
und nut Hamſun, wie der Däne Jalobfen und der Schwede Strind=- 
berg, alles „müde Seelen“, aber von jenem „intimen Weiz“, der das Ziel 
und — das Geheimnis moderner Kunſt iſt. Holland liefert feinen Diaarten 
Maartens, Belgien feinen Maeterlind dazu, Frankreich bat neben den 
Großen, Flaubert, Zola, Daudet, Maupauffant aud nod bie 
befadenten Lyrifer, wie Berlaine und NRomancier® wie Bourget, 
Sabre, Prevoft, Pierre Boti n.f.m., die, mögen fie nun groß oder 
Hein fein, doch fait alle von Einfluß auf unfere deutfche Literatur geweſen 
find. Und dann nod die italienifchen, ja, die ſpaniſchen Beriften, überhaupt 
die ungeheure Entwidlung der realiftifchen Zebensbarjtellung bei allen ſtultur— 
völfern, bie überall wenigstens zu beifer lesbaren Werfen geführt hat, als bei 
uns. Aber ih fühle feine Veranlaſſung, das Regifter der Engelhornihen 
Romanbibliothek und ähnlicher Unternehmungen auszufchreiben. Wenden wir 
uns zur deutichen Dichtung ! 

Alſo zunächſt zu Gerhart Hauptmann Daß man fi nad 
hundert Jahren feine gefammelten Werte zu Weihnachten jchenfen wird, bes 
zweifle ich, offen ſei's geſtanden, aber daß der moderne Deutiche feine Haupt: 
werke fennen muß, beitreite ich feinen Augenblid. Es find das meiner An— 
fiht nad) „Die Weber“, „Kollege Grampton“, „Der Biberpelz“ — „Einfame 
Menichen“ mag der Merkwürdigkeit, nicht feiner inneren Bedeutung nad), aud 
nod) dazufommen. Das „Hannele* und „Die verfunfene Glode* würde id 
unter die Werke für Liebhaber einordnen, dagegen Die beiden novelliftiichen 
Stiggen „Der Apojtel* und „Bahnmärter Thiel“ wieder von allen Literatur: 
freunden gelefen wünſchen. Um Mar Halbe kennen zu lernen, nad 
Hauptmann da8 bedeutendite dichterifche Talent, das heute auf dem Gebiet 
des Dramas thätig ift, genügt wohl feine „Jugend“. Dazu nehme man von 
modernen Dramen dann etwa noeh Schnitzlers „Liebelei“, Philipp 
Langmanns „Bartel Turaſer“, und Jofeph Ruederers „Fahnenmeihe‘, 
alle drei vor allem aucd wegen ber in ihnen zur Anſchauung gebrachten Atmo— 
ſphäre. Sapienti sat! Und Ernft von Wildenbrudy? Nun, von dem fann man 
ein älteres Stüd, etwa den „Marlow* ſchon fchenten. Und Hermann 
Sudermann und Ludwig Fulda? Ja, deren Stüde habe ich zunächſt 
meift von der Bühne herab fennen gelernt und niemals Verlangen verfpikt, 
fie ftill für mich zu genießen — las ich fie dann, fo that ich's, weil ich's mußte. 
SH bin aufgefordert worden, heut einfad) mein eigenes Fühlen gegenüber 
der Literatur herauszufagen, und das ijt num einmal fo. Wer's aber feiner 
Bildung ſchuldig zu fein glaubt, der mag „Sodoms Ende“, den „Johannes“ und 
den „Zalisman“ als die hauptfählid in Betradht fommenden Werte vornehmen 
— den Reit fann er fich ficher ſchenken. Anders fteht es mit Sudermanns erſtem 
Roman, der „Frau Sorge”, der ift fogar ein Weihnachtsgeſchenkbuch in 
beitem Sinne und gehört zu den wenigen modernen beutfchen Romanen, it 


Kunftwart 
14 — 


denen wirkliches, nicht gezwungen erwedtes Leben ftedt. Iſt er doch auch aus 
bes Dichters Heimatboden gemadfen. Und wie diefes Werk, hat uns die fo- 
genannte Seimatkunft noch mehrere gute Romane geſchenkt, auf die wir hin= 
weiſen fünnen, wenn man fragt, was denn bei der ganzen modernen Entwid- 
lung berausgefommen jei. Da find zwei oder drei Werfe von Wilhelm 
von Polenz („Der Plarrer von Breidenbah*, „Der Büttnerbauer”, „Der 
Grabenhäger*), da iſt wenigſtens der „Silvefter Geyer* von Georg von 
Ompteba*, da ift Wilhelm Weigands feiner Roman „Die Franten- 
thaler”, da iftt Walter Siegfrieds in feiner Art immerhin bedeutender 
Künjtlerroman „Tino Moralt*“, der zugleich) auch eine ‚Urt modernen, aller 
dings jehr „fingulären* „Werthers* if. Da find Dichter, die alle erit empor= 
gekommen find, als ber eigentliche neuere Sturm und Drang vorüber war, 
aber jie beginnen nun die älteren Romanfchreiber zurüdgudrängen. Bon dieſen 
will ih Hermann Heiberg wegen feines ungmeifelhaft beiten Buches, des 
„Apothekers Heinrih*, Max Kretzer, insbefondere wegen des „Meiiter 
Zimpe” und Wilhelm Walloth wegen bes gerabezu unheimlihen Romans 
“sm Bann der Öypnofe* erwähnen. 

Sehr groß ift ja die Zahl der romanfhreibenden Damen — wie ih an 
Diefer Stelle ſchon öfter erwähnt habe, fie find den Männern im Durchſchnitt 
oder beiler: fie find den Durchſchnittsmännern hier „über“. Mande von 
ihnen, Helene Böhlau, Ida Boy-Ed, Ilſe Frapan, Marie Janitjchef, Emil 
Diarriot, Charlotte Niefe, Gabriele Reuter fommen aud) mit einigen ihrer 
Werte für ben Weihnaächtstiſch in Betracht, und zwar eher mit ihren Novellen= 
und Sfizzeniammlungen, als mit ihren Romanen. Hier tritt eben der Ge— 
fihtspunft der Heimatsfunft wieder in den Vordergrund, Helene Böhlaus 
„Ratsmädelgefhichten*, die Hamburger Novellen von Jlfe Frapan, die hu— 
moriſtiſchen Skiggen der Niejfe oder um eine noch weniger befannte Holitei- 
nerin zu nennen, die von Helene Boigt ziehen ihre beite Kraft aus dem 
Heimatboden und wirken denn aud) mädtig auf das immer mit poetifchen 
Empfindungen verbundene Heimatgefühl. Deshalb wollen wir Die realiftifche 
Ktunſt diefer Damen nicht unterihäßen. Uebrigens beginnen jest aud Die 
Männer mehr und mehr aus der Großitadt zurüd auf das Land zu flüchten: 
Beilpielsweife mögen bier Karl Söhles Muftfantengeihichten (denen das 
Muſikaliſche noch einen allgemeineren Weiz gibt), Timm Hrögers „Die 
Wohnung des Glüds“ und Max Bittrihs „Spreewaldgeihicdhten“ genannt 
fein. Ich bezmeifle nicht, daf es noch mehr gute Sammlungen diejer Art gibt; 
um fie alle richtig zu bewerten, muß man eben Zofaltenntnis haben. 

Das Hauptinterejfe unter den modernen Lyrifern nehmen befanntlich 
zur Zeit Liliencron und Dehmel in Anſpruch. Ich bedauere, dat es noch 
feine gute Auswahl aus ihren Gedichten gibt, die man „ohne weiteres“ für 
den Reihnadtstifch empfehlen könnte; fo wie die Dinge jegt liegen, muß man 
fagen: Kauft alles und fucht euch das Beite Heraus! Im Gegenſatz zu den 
genannten hat Avenarius* in feiner legten Sammlung „Stimmen und Bil— 


* Serausgefordert, darf ich zu diefen Worten wohl auch zwei jagen. 
Ich leſe, was Bartels da fchreibt, mit einem Heiteren Auge, das dem Ver— 
gnügen über feine gute Meinung entipriht, und einem traurigen, weil bier 
ein alter Brauch des Kunſtwarts durchbrochen iſt. Bin ich doch überzeugt, 
daß manche unfrer Leſer von meiner Dichterei noch heutigen Tages fo wenig 
willen, daß Bartels fie felbft durd den Hinweis auf feine vielen Geſinnungs— 
genoffen nicht ganz von einer gewiſſen Beirrung befreien könnte, als handle 

1. Dejemberheft 1898 


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der” faft nur vollendete Stüde geboten und fann mit dieſem feinem Buche 
daher rüdhaltlos für den Weihnachtstiſch empfohlen werden. Mehr über dieje 
Gedichte druden zu laffen, wird mir der Herausgeber des ſtunſtwarts ver— 
wehren, ich meinerjeit8 würde mich nicht fcheuen, fie nody mehr zu loben — 
mer mid als Sritifer fennt und mir dennoch mihtraut, mags eben thun. Gute 
Sammlungen für den Weihnadhtstiih bietet noch Guſtav Falle Ganz 
eigenartig als Menſch und Boet ift Karl Spitteler (Felix Tandem) mit 
feinen „Schmetterlingen* und „Balladen“. Bon Jüngeren, die fiher noch mit 
Reiferen fommen werden, dürfen wir zunächſt noch abfchen. 

Damit mag es genug fein. Das große unfehlbare Sieb, durch Das alles 
Korn der Literatur hindurdfällt, nur Spreu zurücklaſſend, befige ich leider nicht, 
ja, ich weiß nicht einmal, ob ich eigentlich alles, was Hineingehörte, ins Sieb 
gethan habe. Und indem ich nun das Gefchriebene wieder überlefe, bemerk ich's 
leider , daß ich doch mur wenig Dichter genannt habe, habe nennen fönnen, die 
in ihren Werfen wirkliche Lebensgüter ihres Volkes gefchaffen. Doc) die, die 
fünftlerifch ernfthaft ftreben, ſich des Gehalts ihrer Zeit mwirflich zu bemäch— 
tigen, diefe Dichter Habe ih am Ende genannt, und Diefen gehört unbedingt 
auch der Lohn, der Erfolg. Ein ‚Weihnachtsſpekulant“, wie wir fie noch vor 
einem Jahrzehnt in Menge hatten, iſt ſchwerlich unter ihnen. 

Was von allerneueften Ericheinungen für den Vücherſchrank umirer 
Meinung nad) in Frage kommt, davon werden wir ja noch reden fünnen. 

Adolf Bartels 
Notenwerfe, 
2. Die romantiſche Periode 

Klavier. Die Stlavierliteratur Hat in der nachklaſſiſchen Zeit eine 
Reihe wertvoller Bereicherungen erfahren, aud) in formaler Hinſicht, da neben 
der Sonatenſchablone, die no Weber (Sonaten, Steingräber, ME. 1.50) er— 
findfam zu erfüllen vermochte, das freigefügte, poetiſche Klavierſtück aufkam. 
In Deutihland madten Mendelsfohns „Lieder ohne Worte” den Anfang 
(*Steingräber, ME. 1.—). In berjelben Ausgabe erihien aud eine Musmahl 
feiner Hlavierfompofitionen. Unſerm modernen deutfchen Empfinden entiprechen 
Schumanns phantafievolle, innige Klavierwerke allerdings mehr. Eine Aus: 
wahl! bietet Steingräber (WE, 1.50); im einzelnen empfehle ich die Breitkopf— 
fhen Ausgaben etwa in folgender Reihe: Jugendalbum und Albumblätter (*je 
ME. 1.—), Kinderfzenen, (Waldfzenen, Arabeske, Blumenftüd, Romanzen, Nadt- 
ftüde (je 5o Pf.), Phantafieftüde op. ı2 (ME. 1.—), Sonate op. 15, Davids: 
bündlertänge 2 Bde., Garneval, Phaniafie op. ı7 (je ZU. 1.—). Bon Schu— 
manns bedeutendfiem Schüler Th. Kirchner feien hervorgehoben: op. 7 Al— 


fih’8 bier um Kameraderie. Uber warum wiſſen fie fo wenig von meiner 
Dichterei? Weil in den elf Jahren, die der Kunſtwart jetzt beteht, fein Text 
nod mit feiner einzigen Zeile über mid als Poeten geſprochen hat. 
Wer damit vergleicht, was fonjt in deutichen Blättern üblich ift, wird dieſe 
Thatfache etwas ungewöhnlich finden. Schliehli aber wend' ih mich als 
Poet doch an diejelben Leute, wie als Zeitungsmann, denn ich thu es fo 
und fo zum Menſchen ala Menſch, wobei Profa und Poeſie nur verfchiedene 
Ausdrucksweiſen find, die ſich gegenfeitig ergänzen. Leſen nun bie Freunde 
des Zeitungsmannes N. nie von den Büchern des Poeten W., fo iſt das mohl 
auch ein unnatürlicher Zuitand, eine Künſtlichkeit, die eigentlich um fo jelt- 
famer ift, ala man über meine Boeterei ihon viel mehr geichrieben hat, als 
fogar über den Hunftwart. Das entichuldige die Ausnahme von dem, was 
für uns Regel bleiben fol. a. 


Kunitwart 
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F, MATTHIES-MASUREN. 


MÜNCHEN fec. 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


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Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 





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HUGO HENNEBERG : WIEN fec. 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


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2) SINYd -AHDVNIG "N 

















bumblätter (Rieter-Biedermann, DE. 2.50), op. 9 Präludien (Ebenda, ME. 3.50), 
op, 13 Lieder ohne Worte (ME, 4.—), Kirchneralbum (Hofmeifter, ME. 6.50), 
von Bargiel „Drei Gharakterftüde”, op. 8 (Breitlopf, ME. 3.—), Jenfen, 
Wanberbilder (Peters, ME. 1.50), Bolkmann op. 27 (* Schott, Mt. .—), 
Raff op. 75 (*Riftner, ME. 1.—), ı62 (Ehallier, Mi. 7.50). 

Bon frembländifhen Komponiſten bilden Field (Notturnos, Stein 
gräber, Mi. 1.50), Chopin (Auswahl bei Steingräber, Mi. 1.40 eine vorzüg- 
liche Gefamtausgabe in 3 Bden. zu 4 ME. bei Peters) und Stefan Heller 
(op. 77, und 125 Breitfopf, je ME. 1.—) eine Gruppe für fi; eine zweite, 
meiit von Mendelsfohn und Schumannn beeinflußte, die Nordländer: Gabe 
mit anmutigen Rlavierfacdhen, befonders op. 36*, 19, 34, 41, 28, (Gefamtaus- 
gabe, Breitlopf, Mt. 4.50), Hartmann op. 55*, 53 (Hanfen, je ME. 3.—), 
Norman op. ı, 2, 5, 9, 1 (Ebendba), Grieg op. ı2*, 3*, ı7, 19 (Beters, 
ME. 1.— bis 1.50). — Bennett op. ı0 (Siftner, ME. 1.75). — Tſchaikowsky, 
Album (Steingräber, ME. 1.50). 

VBierhändiges: Aus der vorangehenden Zeit ift nachzutragen: Mo— 
zart, Sämtliche Originallompofitionen (Beters, Di. 2.—), Schubert, Ori— 
ginallompofitionen, 2 Bde. (Breitfopf, je ME. 3.75), Weber, Originalmerfe 
(Ebenda, DIE. 1.50). — Aus der romantifhen Beriode feien empfohlen: Schu— 
mann, Originalwerke (Breitlopf, ME. 2..—), Volkmann, Mufilalifches 
Bilderbud; (*Hiftner, ME, 2.—), Brahms, Ungarifhe Tänze, 2 Bde. (Peters, 
je +.—), Händel-Varlationen op. 23 (Simrod, Mt. 4.50), Rob. Fuch s op. ı, 
Zwölf Stüde (Dollinger, ME. 5.—), Dvorat, Legenden (Simrod). 

Violine (mit Klavier): Mendelsfohn, Biolinfonzert (Breitkopf, DE. ı.—); 
Schumann, Sonate op. 105 und 121 (Breitlopf, je ME. ı.—), Rubinftein. op. ı9 
Sonate (Ebenda, Mt, 5.—), op. ı3 Sonate (Peters, Mt. 2.—), Babe, Sonaten 
in A und D (Breitlopf, je Mf.4.—), Brahms, op. 78, 100 und ı08 (Simrod, 
Mt. 7.50 und 8.—), Grieg, Sonate op. 8 (Peters, DE. 2.—), op. 13 (Breitlopf, 
ME. 3.—), Dooral op. 57 (Simrod, Mt. 8.—). 

Klaviertrios Neben den Trivos von Dtendelsfohn und Schumann 
(Breitfopf, je ME. 3.—) find namentlid die Novelletten von Gade und das 
Trio von Smetana (Pohle, ME. 12.—) zu erwähnen. 

Streichquartette: Schumann, Quartette (Breitlopf, DH. 3—); Smes 
tana, Aus meinem Leben (Peters, ME.5.—); Grieg (Ebenda, ME. 5.—), Rubin= 
ftein op. 17 Nr. 2 (Breitfopf, ME. 5.—) Dvoraf op. 105, 106, (Simrod, Mt. .—). 

Rlavierquartette: Schumann op. 47 (Breitlopf, ME. 1.20); Brahms 
op. 25, 26 und so (Simrod, je Mi. 7.50). 

Klavierquintette: Schumann op. 44 (Breitlopf, ME. 2.—); Brahms 
op. 34 (Simrod, Mt. 7.—). 

Opern. Hier empfiehlt fi natürlich wieder die Anfhaffung von 
Klavierauszügen. Weber: „Freiſchütz“ (Litolf, ME. 2.—) Euryanthe (Breit 
kopf, ME. 2.—), Oberon (Beters, ME. 1.50) und (Breitlopf, Mt. ı.—). Marſch— 
ner: Sans Heiling (Peters, Mi. c.—), Templer (Peters, ME. 6.—), Nicolai, 
Die Iuftigen Weiber (Litolf, ME 4.—). Lortzing, Ezar und Zimmermann 
(Peters, ME. 3.—). Mendelsfohn, „Sommernadtstraum“ (Breitfopf, ME. 1.50). 
Shumann, „Genovena* (Breitlopf DE. 4.—), „Vtanfred* (Mi. 1.50), Fauſt— 
muſik (ME. 3.—). 

Dratorien, Chorwerke. Mendelsfohn „Elias“ (Peters, DIE. 2.—), 
Schumann, „Wöventlied* (Breitkopf, ME. ı.—), Paradies und Peri (Mi. 3.—), 
Brahms, „Deutfches Requiem” (Rieter-Biedermann, ME. 7.—). 


1. Dejemberheft 1398 


Bieder Wo nichts anderes bemerkt ift, gibt e8 Ausgaben für hohe 
und tiefe Stimmen. Weber, Lieder (Breitlopf, so Pf) Mendelssohn, 
Yuswahl (ME. .—). Shumann, 4 Bände (je Mt. .—). Robert Franz, 
s Albums (Peters, je ME. 4.—) Brahms, „Ausgem. Lieder.“ Band 2 
(Peters, ME. 3.—). Die folgenden bei Simrod: op. 3 Nr. ı und 5. — op. 19 
Nr. 3 und 5, op. 48 Nr. 2, op. 49 Nr. 4 (je MM. ı1.--), op. 85 Nr. 6, op. 86 
Nr. 2 und 4, op. 96 Nr. 4, op. 97 Nr. 4 (je Mt. 1.50), op. 105 bis 107 (je 
DE. 4.—). 

Balladen: Freunde biefer gefunben, in unferer Hausmuſik noch viel 
zu wenig gepflegten Gattung vermweife ich auf die Boeme- Albums, Bb. ı, 2 
(Beters, je ME. 4.—) Bd. 3—6 (Schlefinger, je Mi. 4.—), Bb. 3-6 (Schlefinger, 
je Mt. 4.—). Grimmer, Balladen und Romanzen (Breitlopf, Mt. 3.—), Pludde⸗ 
mann, Balladen, 5 Bände (Nürnberg, Schmid, je DIE. 4.—). 


3. Neudeutſche Muſik. 


Klavier. Die neudeutſche Muſik iſt beſonders auf pianiſtiſchen Gebiete 
von folder Schwierigkeit, daß fie wie in Liſzts epochemachenden Werten, 
felbft tüchtigen Spielern faum zugänglich ift. Zur eriten Beichäftigung damit 
diene das Liſzt-Album (Breitkopf, ME. 1.50). Eher eignen ſich die vierhändigen 
Klavierbearbeitungen moderner Orcheſterwerke fürs häusliche Muſizieren, ob= 
ſchon fie gleichfalls eine große Fertigkeit vorausfegen. Lifzt, Fauftfygmphonie 
(3. Schuberth, Mt. 12.—); die fämtlihen jymphonifhen Dichtungen für zwei 
Klaviere bei Breitlopf (2 Bbe,, je ME. 10.—); Ungarifhe Rhapfodien, zhändig 
(Senf, je Mt. 3.—). Wagner, Fauftfymphonie (Breitlopf), Kaiſermarſch 
(Peters, ME. 1.50), aud) zweihändig wie das Siegfried-JdyN (Schott, Mk. 3.50) 
und Huldigungsmarid (Schott, ME. 1.50). — Zu vier Händen ferner: Brudner 
8 Symphonien (Wien, Eberle, je Mi. 12.—). Mahler, C-moll Symphonie 
(Weinberger, ME. 8.—), Ri. Strauß, Symphonie F-moll (Aibl, ME 8.—), 
Aus Italien (Di. 8.—), Don Juan, Tod und Verklärung (je Mt. .—). 

Mufildramen: Bor allem natürlid) die von Wagner im Klavier— 
außzug: Holländer (Fürjiner, Mt. 10.—), Tannhäufer (Ebenda, ME. 12.—), 
Rohengrin (Breitlopf, ME. 9.—), Zriftan (Ebenda, DE. 10.—), Rheingold (Schott, 
Mt. 10.—), Walküre (ME. 12.—), Siegfried, Götterbämmerung, Bteifterfinger, 
Barfifal (je ME. 135.—). — Eornelius, Barbier v. Bagdad (Kahnt, Mi. 8—), 
Sumperdind, Hänjel und Grethel (Schott, ME, 10.—), Alex. Ritter, 
Der faule Hans (Frisih, ME 10.—), Wem die Krone (Aibl, ME. 10.—), 
Shillings, Ingwelde (3. Schubertb, ME. 153.50). 

Ausland: Bizet, Carmen (Bote & Bod, ME. 17.—), Verdi, Traviata, 
Rigoletto, Troubadour (Peters, je ME. 6.—), Aida (Bote, ME. ı13.—), Falitaff 
(Mi. 16.—), Smetana, Verfaufte Braut (Bote, ME. 16.—), Rubinftein, Mac— 
eabäer (Senff, ME. 16.—). 

Chorwerke, DOratorien u. ſ. w. Liſzt, Graner Meſſe (Kahnt), 
Heilige Eliſabeth (ME. g..—), Chriſtus (ME. 12.—). — Bruckner, Te deum 
(Rättig, DU. 1.50), Ceſar Franck, Seligkeiten (Brandus, DH. 20.—), Tinel, 
Franziskus (Breitkopf, ME. 17.—). 

Lieder. Nur das bedeutendſte kann hervorgehoben werden. Lifzt, 
Sämtliche Lieder (ahnt, ME. 12.—), Bagner, Acht Gedichte (Schott, ME, 3.25), 
Weg. Ritter, Schlidte Weifen (€. 5. W. Siegel, ME. 1.25), Fünf Lieder 
(Fritzſch, ME. 2.40), 9. — Rich. Strauß, op. 19 Heft ı (ME. 1.50), op. 27 
Nr. 2—a4 (Mi. —.so bis ME. 1.20), op. 29 Nr. ı (ME. 1.20); Hugo Wolf, 


Kunftwart 
_ 18 — 


Mörikelieder (Hedel, ME. 25.—, aud) in ı0 einzelner Heiten ), Goethelieder, 
12 Hefte (Ebenba, Mi. 2.25 bis MM. 3.75; Hans Sommer, op. 11, Balladen, 
2 Hefte (Litolff, je ME. 1.50), Aus dem Süden (Mi. 1.50), Rattenfängerlieder 
(2 Hefte je ME. 1.20). 

Bücher über Mufit. 

Mufitgefhihte: Kiemann, Ratehismus der Mufilgefchichte 

(Helle, ME. 3.—). Muſiklexikon (Ebenda, Mt. 12.—, Banghans, Mufil- 
geihichte (Leudart, Mi. 24.—). 
. Muſikkritik: Kretzſchmar, Führer burd ben Honzertfaal (Breit 
forf, 2 Bde. je ME. 5.50), Bultbaupt, Dramaturgie der Oper (Breitlopf, 
Mt. 10.—), Keigel, Führer duch die Oper. Nur ben ı. u. 2. Bd. (Liebes- 
find, ME. 11.—), BfoHl, Die moderne Oper (Reisner, ME. « —). 

Bermiihte Schriften: Ambros, Bunte Blätter (Leudart, 
Mt. 4.—), Spitta, Zur Muſik (Paetel, Mk. 10.—). 

Einzelſchriften und Biographien: Bad, v. Spitta (Breit 
topf, ME. 36.—), Batla (Reclam, 20 Pf.), Händel, v. Ehryfander (Breitkopf, 
ME. 18.60), Volbach (Harmonie, ME. 3.50), Haydn, v. L. Schmidt (Harmonie, 
Mt. 4.—), Gluck, v. Marc (Janke, ME. 10.—), Mozart, v. Jahn (Breit- 
topf, DH. 32.—), Briefe (Ebenda, Mt. 9.—), Beethoven, v. Nohl (Reclam, 
20 Pf.), Briefe, 2 Bde. (Breitfopf, je Mt. .—), Lo ewe, v. Bulthaupt (Hars 
monie, ME. +.—), Shyumann, v. Reimann (Peters, DE. 3.—), Batla (Reclam, 
20 Pf.), Jugendbriefe (Breitkopf, Mt. 7.—, R. Franz, v. Prodazla (Reclam, 
20 Pf.), Geſpräche mit R. Franz, v. Waldınann (Breitlopf, DIE. 3.—), Brahms, 
v. Reimann (Harmonie, DE. 3.50), Bifät, Briefe, 3 Bde. (Breitlopf, ME. 19.—), 
Briefe hervorragender Zeitgenoffen an Lifzt (Ebenda, ME. 14.—), Briefwechſel 
mit Ri. Wagner (Mt, 24.—), Wagners Briefe an Uhlig, Fiiher und Heine 
(Mt. 7.50), an Roedel (DIE. 2.—), an Hedel (Fifcher, Berlin, ME. 3.—), Erinne⸗ 
zungen an R. W. von 9. v. Wolzogen (Reclam, 20 Pf.), Biographie v. Glafenapp 
(Breitlopf, ME. 18.—), Ehamberlain, Das Drama R. Ws (Ebenda, Mi. 3.—), 
Bülow, Briefe, 4 Bde. (Breitlopf, je Mt. 7.—). 

Schriften berühmter Mufiter: Weber, Schriften (Reclam, 20 Pf), Shu> 
mann (Reclam, DH. 2.50), Liſzt, 6 Bde. (Breitlopf, ME 4—6), Wagner, 
10 Bbe. (Fritzſch, Mk. 25.—, Nachgelaffene Schriften und Didtungen (Breits 
fopf, Mi. 6.—), Bülow, Schriften (Ebenda, ME. 2.—), Berlioz, Schriften, 
deutſch, + Bde. (Mi. 10.—). 


Neue Muſikalien. 
Erſte Shidt. 

Faft graufen kann's Einen, wenn man auf dem Redaftionstifh ben 
geftapelten Berg frifch eingelaufener und fhon nad flüchtiger Durchficht größten 
teil8 wertlofer Noten anfchaut, die von Tag zu Tag gebieterifcher zu fragen 
ideinen: Weihnachten fommt, wann werben wir befproden ? Nad) dem Feite 
hat's doch beinahe feinen „Zmwed* mehr! Alſo faßt fich der Referent ein Herz, 
arbeitet den ganzen Stoß in einigen Abſätzen durch und ftellt dann das, was 
fich über das Mittelmäßige und Intereffeloje erhebt, mit einigen Gloſſen ver- 
fehen, hübſch zuſammen. Ultra nemo teneatur! 

Gleich obenauf liegen, als bie leichteite Ware, bie Lieder. Anfänger im 
Gefange intereffieren vielleicht die von M. Friedländer herausgegebenen „so Uns 
terrihtslieder“ (Peters, ME. 1.50, hoch und tief), e8 find auch einige jehr 
bübfche wie Hinrichs „Prinzeffin“ und das volkstümliche „Rätjellied”" drunter, 


1. Dezemberheft 1898 
— 19 — 


bie noch feine andere Anthologie enthält. Sorgfame hiftorifche Nachmweife und 
eine praftifche Taftlehre im Anhang vervollftändigen ben Wert bes Heften, 
Eine von Th. Hauptner redigierte Sammlung von Dratoriens und Opern« 
buetten wird in manchem mufifliebenden Haufe nit unwilllommen fein. Diefes 
„Duetten- Album” (Eulenburg, 4 Bde, je Mt. 3.—) empfiehlt fih auch 
dadurch, daß es viele ſchöne Stüde aus Werken enthält, die jegt nicht mehr 
auf dem Spielplane unferer Theater ftehen, 3. B. aus Opern von Sacdjini, 
Weigl, Gimarofa, Bellini, Garafa, Paer u. a. — Das angeblid Bach ſche 
Lied „Willft du dein Herz mir ſchenken“, das Viele als ein Wert bes Jtalies 
ner8 Giovanini hinſtellen, tft nun auch im beutfhen Vieberverlag (Breitlopf 
30 Pf.) erfhienen. Um auch „Lieder moderner Meifter“ ohne große 
Koften zugängli zu maden, gab E. Rebling unter diefem Titel ein Album 
(Leipzig, Weinholz Mt. 2— hoch und tief) heraus, das 25 Lieder von 
Deutfhen (Marfchner, Lifzt, Jenfen, Laffen, 9. Sommer, Hermann, Woyrſch), 
Sranzofen (Godard, Bounod) und Slaven (Chopin, Rubinftein, Tſchaikowsky) 
enthält. Die Idee ift an fi gut; an ber Ausführung hab ich vor allem das 
Uebergehen unfres größten modernen Lieder-flomponiften, Hugo Wolf, zu bes 
mängeln. Daß der in diefer Eigenfhaft wenig befannte Marfchner zu Worte 
fommt, mag hingehen; wie aber gerät ber in allen Albums vertretene Chopin 
und gar Meyerbeer unter die Propheten, will fagen modernen Liebmeifter ? 
Franfreih müßte doch aud) durch Fauré, Deutichland noch durch Komponiiten 
wie ler. Ritter und Strauß vertreten fein. Mögen das fpätere Bände nach— 
holen! Bon andern Neuheiten nenne ih Aug. Ludwigs „Sängerfrieg” (Beips- 
ig, Hofmeifter), eine Liederreihe, aus ber das famofe, dem Berliner Muſikſenat 
ironifch gewidmete „Natur und Kunſt“ (ME. 1.—) hervorgehoben fei. Wenn’s 
die Berliner Mufil- Mlademifer nicht zu ihrem Bundeslied erfiefen. und bei 
allen Ausflügen und Stneipabenden mit voller Begeifterung anftimmen, ver— 
dienen fie nicht, jung zu fein. — Eine befondere Spezies bilden „Rezenfentens 
Lieder”, das find von namhaften Mufikfritifern komponierte Gefangsitüde, 
buch deren Vortrag fonzertierende Sänger beibderlei Geſchlechtes den Autor 
auf deutliche Art ihrer ungemeinen Hochſchätzung verfihern können. Auch Ferd. 
Pfohl, der Sritifer der „Hamburger Nachrichten“ Hat mit feiner Engel-Sere— 
nabe (Leipzig, Eulenburg, DH. 1.50) nur einen ſolchen Reſpektmeſſer verfertigen 
wollen; er macht ſonſt beifere Mufil. Zu diefer gehört übrigens eine leichte, 
ſüße Stimme und ausgebildete Sangeskunſt. — In anderem Sinne Spezialität 
find Bantocks „Chinefifche Geſänge“ (Breitlopf u. Härtel, DE. 21, die einen 
auch wirklih ganz „chineſiſch“, d. h. unverftänblid annıuten, obzwar man 
leider nicht recht erfehen fann, ob man’s mit Originalmelobdien oder mit Imi— 
tationen zu thun hat. — Die jüngſt erfchienenen Lieder von Rihardb Strauß 
und Sigmund von Haufegger werden von anderer Seite beſprochen 
werben. Ein fräftiges modernes Talent ift auch Karl Gleitz, wenngleich feine 
eigentliche Stärke gerade im Lyrifchen nicht liegt. Ich erwähne von ihm die 
„Zwölf Lieder“ op. 2 (drei Hefte je ME. 2.50) und die „Acht Lieder“ op. 12 
(drei Hefte ME. 2.50, MH. 3.— und ME. 2.50) im Berliner Verlag Groscurth. 
Der Wert der einzelnen Stüde ift fehr ungleih, Hart neben fehr Eigentüms 
lihem ſteht manches faſt konventionelle, auf die Wahl der Texte ift ebenſo⸗ 
wenig immer Sorgfalt verwendet wie auf richtige Dellamation. Am bedeus 
tenditen und originelliten erfcheint mir das Lied „Mit findli großen Yugen“ 
(op. ı2, Seit ı), ein merfwürbiges, einer ganz individuellen Künftlerphantafie 
entfprungenes Gebilde, das feinen Autor fogleih aus ber Reihe ber Dußend- 


Kunftwart 
— 10 — 


tomponiften heraushebt. Ueberdies kamen von Gleitz foeben „Vier Lieder” 
op. 20, auf Gedichte von Vanſelow bei Bote & Bod in Berlin heraus, von 
denen „Idyll“, „Abendftunde* und „Sommer“ intereffant zu fein fcheinen. 

Bon biefen Gefängen zu den Klavierftüden bildet die von Richard 
Strauß komponierte melodramatifhe Muſik au Tennyſons „Enoch Arden“ 
(Leipzig, Rob. Forberg, ME. 5.—) den natürlichen Uebergang. Ich gehöre nicht 
zu den Liebhabern des rührfeligen Gebichtes, aber die Kompofition Straußens 
zählt mir zwar nicht zu feinen genialften — aber bod zu feinen anmutigften 
Schöpfungen. Sie entwidelt fi) aus menigen, fehr plaftifchyemelodifhen und 
ftimmungshältigen Motiven, die mit jeder Wiederholung und neuen lImbil- 
bung reicher an feeliihem Ausdruck erjcheinen und den Schluß in wunderbarer 
Keinheit und Innigkeit ausklingen laffen. Die Harmonif ift, wie immer bei 
Strauß, fehr originell, befonders in dem Andanteſatz zu Anfang des zweiten 
Zeile. Wer Wilhelm Bergers Liederzyflus „Eliland“ kennt, dem wird eine 
frappante Uebereinftimmung bes Irmingartmotivs mit ber Liebesmelodie im 
Straußifchen „Enoch Arden“ auffallen und neuerdings bezeugen, wie ganz zu— 
fällig oft die Phantafie zweier Tondichter die nämlichen melodifhen Gebilde 
hervorbringt und meld) unfidheres Handwerk eigentlich die Remiszenzenjägerei 
barftellt. 

Klaviermufil! Die Zahl der Einläufe ift Legion, daß einigermaßen 
Mertvolle an Fingern abzuzählen. Guten Spielern wird Eugen d'Alberts 
„Intermezzo und Ballade* (Peters, DE. 1.50) Vergnügen maden; dem Walzer 
(Ebenba, 1.50) fehlt leider das Beſte: Der Segen einer ausgewachſenen Melodie. 
Das Eduard Risler gewidmete „Scherzo* (Ebenda, DE. 1.50) d'Alberts dürften 
aber nur Birtuofenhände von A bis 3 bemältigen. Dasfelbe gilt von ber neu 
herausgegebenen Romanze von Joſ. Wieniamstki op. 10 (Breitfopf & Härtel, 
ME. 1.50). Ein brillantes, aud) für eine geringere Technik erreichbares Klavier— 
ftäd ift Sinbings „Frühlingsraufhen“ (Peters, ME. ı.—). Geilt und Kurz— 
meil findet man in bem „Mufitalifhen Scherz‘ von Karl Gleitz, prächtige 
Variationen über das Thema eines Laien (GroscurtH, ME. 2.50). Die bei 
Sefeda in Mailand verlegten Hlavierjtüde von Boſſi nenne ich deshalb, weil 
ihre Gehaltlofigkeit ebenfo groß und auffallend ift, wie die Darüber gefchlagene 
Preßreklame. 

Violinſpielern dürften die von Sitt herausgegebenen ‚Vortrag— 
ſtücke Haffifcher und moderner Meiſter“ mwilllommen fein (Leipzig, Weinholz, 
2 Bde. je Mi. 2.—). Sie enthalten Violinſätze von Bad, Corelli, Nardini, 
Händel, Mozart, Node, Ernit, Schloeffer, Laub, Sauret, Spohr, Holländer, 
Svendſen u. a., Die „Arie“ von Beracini joll bier zum erjten Male veröffent- 
Kit fein. Derfelbe Verlag fendet uns auch Quintuors für Piano, 2 Violinen, 
Gello und Flöte, die, wie der Gefamttitel Hauskonzert“ andeutet, zur Unter— 
haltung im häuslichen Kreiſe beftimmt find und als Borftufe zur Ausführung 
Haffifher Kammermerke dienen follen. Die „gefunde mufifalifche Koft“, welche 
diefe Arrangements zu bieten glauben, wird durd die Aufnahme des Meyer— 
beerfchen Prophetenmarfches mindeftens verdächtig. 

Schließlich ſei noch auf die bei Dupont in Paris erſchienene Partitur 
des Borfpiels zu dem Mufildrama „Urmor* von Lazzari hingemiefen, die 
mir mit ihrem Format die erfte Schicht des hohen Notenberges äußerlich ab— 
grenzt. Nach einigen meitgefpannten, geheimnisvollen Akkorden ber fordinier= 
ten, mehrfad) geteilten Streicher fteigt in den Kontrabäſſen der breite, eintönig- 
dumpfe Gefang bes Meeres auf, von ben Holzbläfern fanonifh aufgenommen 


1. Dezemberheft 1898 
— 16 — 


WIE EEE TTS UOTE Tara 


und zu raufchender Fülle im Unijo gelteigert. Dann ebbt die Flut wie am 
Strande gebrohen, in veränderter Bewegung zurüd, die Wellen jheinen ſich 
glätten zu wollen und ſchlagen, endlich in ben Bläſern wieder anjchmellend, 
in der rhythmiſch umgeftalteten, melandoliih austönenden Meermelodie, bis 
der eingetretenen Siille ein heroiiches Motiv entipringt. Armor meint e8, ben 
verheißenen Helden, der die Wogen bezwingen und König Urtus glorreiche 
Krone tragen fol. Alles Hoffen der keltifhen Lande ringt fih in einer feu— 
rigen Violinpaſſage hervor, doch umfonft. Der fehnfühtige Auf nad) Armor 
verballt in leere Fernen, und troftlos rollt der eintönige Geſang des Meeres 
weiter. — Ohne Frage eines der poetifheiten und im Ausdruck überzeugenditen 
orcheſtralen Stimmungsbilder aus ber jungiranzöfiihen Komponiſtenſchule, 
der Lazzari angehört. R. B. 


Neueſte Muſikliteratur. 


Der Ertrag an neuen Büchern über Muſik iſt in der diesjährigen Weih— 
nachts⸗Erntezeit ſpärlicher als ſonſt. Zwar hat 3. B. Breitkopf & Härtel eine 
Reihe ſchon dem Titel nach intereſſanter Erſcheinungen angekündigt, aber her— 
ausgekommen iſt bis zur Stunde noch wenig davon. Was einſtweilen vor— 
liegt, kann allerdings als willkommene Bereicherung der Literatur gelten, ſo 
vor allem Mar Grafs Buch über die „Muſik im 19. Jahrhundert” (Berlin, 
Cronbach DH. 2.—) als erjter Verſuch, eine Ueberfiht aus der Vogelfhau über 
die Gefhichte der neueren Tonkunſt zu gewinnen und fcharf umriſſene Sil— 
houetten ihrer wihtigiten Perfönlichkeiten zu zeichnen. Den äußeren Gang ber 
Entwidelung weiß Graf hübſch zu veranſchaulichen. Er fchreibt fehr anregend, 
— aber mit der verftimmenden Abſicht, durch große Worte, kühne Antithejen 
und Parallelen zu Blenden und zu verblüffen. linter vielem Gefuchten finden 
fih immerhin aud treifende Gedanken und gute Beobadtungen. Als unge— 
mwöhnlich fällt auf einerfeits das harte Urteil über Schumann, anderfeits Die 
liebevolle Beihäftigung mit Brudner. 

Die Berliner Berlagsgejellihaft Harmonie läht den bereits erfchienenen, 
prädtig außgeftatteten biographiſchen Büchern über Brahms, Händel und 
Loewe ein Lebensbild Haydn aus der Feder L. Schmidts nadjfolgen, die 
fih nicht bloß durch die vielen intereflanten Bild- und Fakſimile-Beigaben, 
fondern aud) durch wiſſenſchaftliche Zuverläffigkeit und gute Schreibweife em— 
pfiehlt. Da die Haydnforſchung durch Pohls grundfegende Arbeiten in allem 
Wefentlihen abgeſchloſſen iſt, erwuchs dem Berfaffer die Aufgabe, das be= 
fannte Material zu fihten, zu durchdringen, zu veranfhaulihen, und vom 
kunſthiſtoriſchen Gejihtspunfte zu beleuchten, was ihm ungeachtet einer ge— 
willen Trodenheit des Tons auch wohl gelungen iſt. Schmidt legt den Nach— 
drud auf die Entmwidelung bed jungen Haydn. Der jpätere, nahmozartifche 
Haydn, jagt er, ijt allgemein befannt; an ihn Inüpft ſich die Vorſtellung feiner 
Perſon als eines alten Mannes. Und bei aller Liebe zu dem Gegenftand 
feiner Schilderung behält Schmidt bie Unbefangenheit zu verjihern, daß 
Haydn als Menſch keine bedeutende Berfönlichleil gemeien fei. Elf Porträts 
bes Somponiften, 7 Yallimiles und 20 andere Abbildungen fowie ein halbes 
hundert Notenbeifpiele illuftrieren das fhön gebunden zum Preife von 4 Mt. 
außgegebene Bud, und ein Verzeichnis der Haydnſchen Tonwerke vervolljtäne 
Digt e8 in banlenswerter Weije. 

Andreas Mofer, obwohl „nur ein Geiger“ (mie er im Vorwort 
nit ohne Humor verfidert), hat eine Biographie feines Lehrers „Joſef Joa= 

Konftwart 


— il — 


him“ (Berlin, E. Bod, Mi. 5.—) verfaßt, die gleichfalls mit Bildern und 
Fakſimiles geſchmückt und fehr gewandt ftilifiert ift. Der Reihtum an neuen 
Daterialien macht dieſes Werk gu einer wertvollen Duelle für die Muſikge— 
Thichte der fog. neudeutſchen Zeit. Der Beurteilung von Perfonen und Kunft- 
rihtungen gegenüber fann ich hier — ba e8 an Raum zur Wiberlegung fehlt 
— eben nur meinen entgegengefegten Standpunft betonen und auf die Zweifel— 
Haftigfeit mander angezogenen Autoritäten wie Hanslid u. f. mw. vermeifen. 
Die Verfuche, Joahims Verhalten in der Wagnerfrage zu befhönigen, dürften 
Niemanden überzeugen. 

Wer ſich für die Kehrfeite der Medaille intereffiert und die Stimmung 
tim andern Lager kennen lernen will, bem bietet der eben erfchienene britte 
Band der „Briefe Hans von Büloms“ (Breitlopf & Härtel, Mt.r.—) bie 
befte Gelegenheit dazu. Sie umfafjfen die Zeit von 1855 bis 1864, ftehen den 
voraußgegangenen inhaltlih an Bedeutung nit nad und find an Raff, Zul. 
Stern, Rich. Pohl, Bronfart, Draefele, Cornelius, Brendel, Aler. Ritter, Louis 
Köhler, Jenſen, Laffen, Wied u. a. geridhtet. Wir erhalten einen klaren Ein= 
blid in das Getriebe der muſikaliſchen Bewegung jener Zeit, Bülows Geijt 
fprüht bligende Funlen und verfengt mit brennendem Spott jeine Widerfa cher. 
Lilzt und Wagner ftehen im Mittelpunft, Inappe Anmerkungen von der weiten 
Gattin Bülows helfen bem Verſtändnis dunkler Anfpielungen auf vergeffene 
Vorfälle nad. Und fo kann die alte Verlegerphrafe, daß das Bud in feines 
Mufiffreundes Bibliothek fehlen dürfe, in diefem Fall einmal ganz ehrlich ge= 
braudt werben. 

Ein ſchönes Geſchenk für Wagnerianer und jolche, die e8 werden wollen, 
find Rihard Wagners „Briefe an Emil Hedel* (Berlin, S. Fiicher, ME. 1.50), 
die ſowohl wertuolle Dokumente zur Entitehungsgefhicdhte der Bühnenfejtipiele 
in Bayreuth enthalten, wie fie zahlreiche in fünftlerifcher Beziehung intereflante 
Aeußerungen und menſchlich charakteriitiihe Züge des Meiſters überliefern. 
Die Briefe find nicht blank aneinandergereiht, fondern durch die fortlaufenden 
perfönliden Erinnerungen Hedels verbunden, was das Lefen anziehender und 
den Inhalt lebendiger macht. Sehr bemerkenswert, wenn aud) bem genaueren 
Bagnertenner kaum befremblich, erfcheint der Sag: „Wagner hegte eine große 
Antipathie gegen Menfhen, melde nur das Willen und die Bildung befahen, 
ohne fich felbft als mwandlungsfähig zu ermweilen. Dagegen jchäßte er jede 
unmittelbare Gmpfänglidleit. Als ih) ihm einmal meine Abficht kund— 
gab, dur das Studium Schopenhauers mir feine Werke auch auf anderem 
Wege zu erſchließen, da lachte er mich aus.” 

Ein näheres Eingehen auf dies ober jenes aus dem kurz Erwähnten 
behalten wir uns jelbitverftändlich vor. R. B. 


IB 


Weber Kunstpflege im Mittelstande. 
10. Die Rahmen. 


Der Rahmen ift aufzufaffen als die deutlich fihtbar gemadte Grenze 
der Bildfläche, welche die Bilderfheinung gleihjam feit zufammenhält, Wie 
wichtig diefe Funktion ift, wird man am beiten dann jehen, wenn man ein 
Bild mit und ohne Rahmen nadjeinander betrachtet. Auch beim fefteltgefügten 
Rhythmus der Linien und Flächen innerhalb des Bildes hat man durch das 
Hineinmwirken ber Umgebung das Gefühl, als möchte das Bild zerfliehen, wäh— 


1. Dezemberheft 1898 
— 15 — 


rend durch bie Begrenzung eines anderen, anders gearteten und anders ge— 
färbten Materials die Darftellung von ber realen Außenwelt fräftig abge- 
fchloffen und dadurch zur fleinen Welt für fi, zum Bilde wird, 

Alſo einfah als fihtbar gemorbene Grenze ilt der Rahmen zu be— 
traten. Faft immer thut diefen Dienft eine ſchmale Fläche, deren Farbe 
im Bilde ſelbſt nicht vorkommen darf, Denn nur bann kann ja 
ber Rahmen gut die Welt begrenzen, die im Bilde lebt, wenn diefe Welt 
fi nit in fie hinein fortfegt, fondern an ein neues ftößt. Es iſt leicht er— 
ſichtlich daß man Schon deswegen ftetS gern zum Gold als Farbe für Rahmen 
gegriffen bat: das ift ein Ton, der zum mindeften in feiner Materialwirkung 
im Bilde höchſt felten vorfommt. Ferner that man's aud) wohl, weil das 
Gold in feinen Lichtern eine Leuchtkraft und Stärke des Tons bat, der weit 
über jeden mit Farben erzgeugbaren Ton hinausgeht und dadurd ben Unter- 
ſchied zwiſchen der realen Außenwelt (von welcher der Rahmen ja ein Stüd 
ift) und ber nit realen Bilbmwelt bejonders betont. Daß das Gold in 
ber gefhmadlofeften Weife mißbraucht wird, ift eine Thatfache, Die aus dem 
Progen ftanımt, aus dem Blenden und Prunken, die VBerwerflichfeit der Gold— 
rahmen für alle Fälle aber body mit Nichten bemeift. 

Mikbraudt worden aber ift der Goldrahmen als der Vermittler zwiſchen 
Bild und umgebendem Raum in der That [ehr viel, e8 wird gerade mit Gold— 
rahmen noch heute alltäglich gefündigt und oft genug fogar von fonft tüch— 
tigen Künftlern. Wie uns bie fchledte papperne Ornamentik gemiffer Möbel 
und Deden ein Greuel geworden ift, ſo ift e8 auch die papperne Herrlichkeit 
der Goldrahmenornamentif geworden, die nod) heut leider gang und gebe ilt. 
Und wenn man an feiner andern Stelle eines ſchlicht- vornehmen Zimmers 
hänbebreites Goldprogentum haben mag, jo follte man's aud; um bie Bilder 
vermeiden. Es gibt hier ein Endweder-Oder. Entweder ber Rahmen will 
nihts fein für fi, fondern nur die Begrenzung ber Bildflähe, — dann hat 
er feinen Anfprud) auf eigene Bedeutung, und eine ſchmale, vielleicht ganz 
leicht gegliederte LXeifte (die von Gold fein kann, wenn das Gold als Ber- 
mittler zwiſchen Bildton und Raumftimmung taugt) genügt dann. Oder: 
der Rahmen foll mehr fein — dann wächſt er fid) zum felbitändigen Kunſt— 
werk aus, dies aber verlangt, bat er auch nicht von irgend einem Fabrilanten, 
fondern vom Künſtler felber und zufammen mit dem Bilde entworfen fein. 
muß*, mit dem er dod) eine innere Einheit bilden fol, Die vordringlid) 
breiten, mit einem Hleinlihen Ornament überlabenen Goldrahmen, die ben 
ihönen Namen „Aunfthändlerrahmen* führen, find immer vom llebel. Man 
war eine Zeitlang in Sachen angewandter Hunft fehr aniprudslos; man hatte 
eben feine Kräfte nie auf diefe® Gebiet gerichtet, Daher kommt e8, ba 
wir oft Werke von ausgezeichneten Künftlern in folchen Rahmen finden — 
unfere Galerien wimmeln ja davon. Sicherlich haben fid) damals die Maler 
meift faum um die Rahmung gelümmert, dafür „forgte* der Kunſthändler. Und 
aud) heute noch fönnen fo viele von der ihnen nun ein Menfchenalter ge= 
wohnten und dadurch felbftverftändlich gemorbenen Stonvention nicht los— 
fommen. 

Obwohl nun Gold die Färbung hat, die am häufigften paßt, gibt es 
doch nod) eine Menge anderer Töne, die als Vermittler ebenfo gut und mand)= 


* linfere Bilderbeilage in Heft 3 nad) Ludwig v. Hofmann möge als 
Beilpiel für dieſe Ausnahmsfälle dienen. 


Kunftwart 
— 1 — 


mal auch beijer zu brauden find, Ein dunkel getönter Holzrahmen wird oft 
weit feiner wirken (id) erinnere an die fchönen alten dunfelxoten polierten 
Mahagoni-Rahmen), aber auch jede andere Farbe ift zu brauchen, die im ein- 
zelnen Falle der Bildflähe Abſchluß und Ruhe bringt. Ober man kann aud 
eine Verbindung von folhen Tönen und Gold bieten, indem man einen 
ganz fhmalen, Halbfingerbreiten Glanzgolbftreifen innen einfügt. Welche 
Skala liegt doch zwiſchen dem glänzendſchwarz polierten und dem jtumpf 
weiß getönten Holzrahmen. AU die Metallpatinatöne, die in ihrem bißfreten 
Schimmer fo große foloriftifche Reize haben; und felbft ausgeſprochene Farben 
find, immer unter der Vorausfegung, daß ihr Klang im Bilde nicht wieder- 
fehrt, zu brauchen. 

Ueber die Formen felbft zu reden, iſt unmöglid. Es gibt feine zu 
normierenden Formen: jede Form, bie fünftlerifch ift, hat an irgend einem 
rihtigen Platz ihre rihtige Verwendung. Dak man feine Plunderware, mie 
die einft jo beliebten mit Sand beftreuten und dann vergoldeten Bretirahmen 
in fein Zimmer hängen mag, ift felbftverftändlid. Daß an manchen Stellen, 
bejonders aber bei Heinen Bildern, ganz breite Rahmen, die dem Ganzen 
dann mehr Fläche geben, fehr gut angehen, ſei nebenbei bemerkt. Mir wollen 
ja keine Rezepte geben, was in Geihmadsdingen immer von Uebel ijt, da ber 
Geſchmack fi gerade im feinjten Individualiſieren bethätigen will. 

Der Gebraud), Kleinere Kumftblätter und Reproduftionen ohne meißen 
Nand zu rahmen, ift weit mehr als eine bloße Mode. Denn der weiße Rand 
(der ſich von ſelbſt ergibt beim KHupferdrud) tft Schon ein Rahmen und zwar 
der natürliche für die Mappe und das Bud: er bildet hier die ftarfe und be— 
tonte Begrenzung der Bildflähe. Um dieſen erften Rahmen nun nochmal 
einen zweiten zu maden, jcheint doch mit Berechtigung miderfinnig. Nun 
aber: e8 wird nur fehr felten im Intereſſe der beforativen Wirkung erwünfcht 
fein, auf der Wand große weiße Flächen zu haben; wozu alfo bei Blättern, 
die an fid) gar feinen Plattenrand haben, dieſen weißen Papierrahmen her— 
ftellen ? Wenn im Intereffe der Vermittlung zwiſchen Bild und Raum wirklich 
ein weihliher Klang notwendig wird, fo wird die nächſtliegendſte Löfung 
fein, den feſten Holzrahmen weiß zu tönen. Will man, falls dies beforativ 
auläffig ift, den Plattenrand eines Kupferbruds, der im Zimmer aufgehängt 
werben fol, erhalten, fo ift das Natürliche, diefen Rand felbft als Rahmen 
zu benugen: durch ein Glas gebedt, bedarf er dann nur eines haltgebenden 
Abſchluſſes, der in einer unauffälligen weiten Holzleijte, oder, zur Not, in 
einem umzgellebten Leinwandſtreifen beftehen mag. 

Bei einfarbigen NReprobuftionen nad) Gemälden, befonders bei Photo— 
graphien oder Photogravüren nad) Delbildern ift aber der weiße Rand unbe 
dingt vom Uebel. Berlei findet jedenfalls die befte Rahmung in einer wie 
beim Original eng anſchließenden Leifte, die recht gut in Gold oder aud) in 
einem andern Farbenton gehalten fein fann — wie das cben zum Ton des 
Drudes paßt. 

Noh einen Punkt möchte ich berühren: das Glas über dem Bilbe. 
Man Hat viel Einwände dagegen gehabt, jo befonder8 den einen, daß bie 
Spiegelung des Glafes das Bild nit recht fihtbar werden ließe. Mein 
Standpunft dazu ift der: ich bevorzuge das Glas nicht etwa in erjter Linie 
der befleren Erhaltung des Bildes wegen, fondern feiner rein äfthetifchen 
Wirkung halber. Ich finde, daß durch das Glas das Bild noch viel mehr der 
realen Außenwelt entrüdt wird, eine neue Welt bildet, die nun, nachdem ung 

1. Dezemberheft 1598 


— 15 — 


die Hörperhaftigleit des Farbmaterials ferner gerüdt, ganz durch die Scheibe 
getrennt, wie ein Traum vor uns liegt. Schadet e8 wirklich jo viel, daß die 
Scheiben dann und wann mehr jpiegeln, als es Die Bilder ohne Scheiben 
täten? Ih Bin manchmal verfuht, darin geradezu einen beforativen 
Reiz mehr zu erbliden. Denn an und für fi ift das Spiegeln eine feine 
Lichterſcheinung. Will man aber das Bild als ſolches intim genieken, fo 
wird man doch ſtets den ridhtigen Play aufſuchen, von dem aus meder das 
Glas noch auch das Bild ohne Glas ſpiegelt. 

Ueber die Umgebung bes Bildes, ben „erweiterten Rahmen“ habe ich 
ſchon geiprodhen. Jh will hier nohmals daran erinnern, dab es dem formalen 
und farbigen Rhythmus eines Bildes faum gut thun fann, wenn darum 
große Tapetenblumen flattern. Denn das Bild foll das Leben in die Wand 
bringen, fol gleihfam ihre Seele werden. Shulge-Taumbura. 


IE 


Lose Blätter. 
Konrad Ferdinand Meyer +. 


Nun ift auch Konrad Ferdinand Meyer nicht mehr. 

Sollten wir ihm eine Leichenrede halten? Ja, wir follten’s, wir follten 
ihm ins offene Grab den Dank nadırufen für Alles, was er uns war. Aber 
mir empfinden ben, der nun erlöft ift von ſchweren Leiden, heute mehr als 
einen Lebenden, denn feit Jahren: in voller Manneskraft jtcht er feit heut 
mieber vor uns. Stehren wir ein bei Dem Konrad Ferdinand, der nidjt ge 
ftorben ift, und lauſchen wir, wie er ſpricht, während die Züricher Gloden 
vom Tode deſſen fingen, ber hinging. 

Lauſchen wollen wir ihm heute, wie er von fich jelber fpriht. Nicht 
abermals bejchauen den „Goldbrofat“, wie Keller fagte, der ftolgen Gewebe 
feiner epiſchen Schilderkunſt. Wir mollen fein Bild betrachten, wie e8 ung 
Stauffer erhalten Hat, und dazu hören, wie diefer wunderfam feine Geift mit 
dem tief Teidenfchaftlihen und doc ſtets gebändigten Fühlen fpridt. Ueber 
ihn abermals zu fprechen, bleibe für ruhigere Tage der Betradjtung vorbes 
halten. 


* 
Da fißt ein Pilgerim.* 


Einft in Tosfana war's, 
Ich ruht’ im Abendfdein, 
Den Reifemantel um, 

Dor einem Kirchenthor, 
An mir vorüberfchritt 

Ein Weib mit einem Kind, 
Das Mädchen flüfterte: 

Da fit ein Pilgerim ... 


* Wir — dieſes Gedicht in der urſprünglichen Faſſung, die uns 
Meyer vor zehn Jahren zur Veröffentlichung im Kunſtwart ſandie; in feinem 
Gedichtbuch findet fi eine Umarbeitung davon. 


Kunftwart 
— 16 - 


Es freute mich das Wort, 
Ich nahm es mit mir fort, 
Und wann mid Dampfesfraft 
Durch fremde Zande trna, 
Wann mir der Sonnenball 
Aus nenen Meeren ftieg, 
Kant jubelte mein Herz: 

Jh bin ein Pilgerim.... 


VNach mandhem Jahre war's 
Auf blanem Comerſee, 

Daß mir ein Reiſ'geſell 
Aus meiner Scläfe 309 
Mit einem leichten Scherz 
Das erfte weiße Baar, 

Ein Seufzer hob die Bruft: 
Ih bin ein Pilgerim.... 


Jetzt herz’ ih Weib und Kind 
An meines Herdes Glut, 

So ift es fchön und gut, 

So joll es ewig fein.... 
Was flüflert mir im Ohr ? 
Das unvergeffne Wort 

Der Meinen Tuskerin: 

Da fitt ein Pilgerim .... 


Abendwolke. 


So ſtille ruht im Hafen 
Das tiefe Waſſer dort, 
Die Ruder ſind entſchlafen, 
Die Schifflein ſind im Port. 


Nur oben in dem Aether 
Der lauen Maiennacht, 
Dort ſegelt noch ein ſpäter 
Friedfert'ger Ferge ſacht. 


Die Barke ſtill und dunkel 
Fährt hin in Dämmerſchein 
Und leiſem Sterngefunkel 
Am hHimmel und hinein. 


Lenzfahrt. 


Am Himmel wächſt der Sonne Glut, 
Aufquillt der See, das Eis zerſprang, 
Das erſte Segel teilt die Flut, 

Mir ſchwillt das Herz wie Segeldrang. 


2. Novemberheft 1898 


— 16T — 


Zu wandern tft das Herz verdammt, 
Das feinen Jugendtag verfäumt, 
Sobald die Lenzesfonne flammt, 
Sobald die Welle wieder ſchäumt. 


Derfcherzte Jugend ift ein Schmerz 
Und einer ew’gen Sehnfudyt Hort, 
Nach feinem Kenze ſucht das Herz 
In einem fort, in einem fort! 


Und ob die £ode dir ergraut 

Und bald das Herz wird ftille ftehn, 
Noch muß es, wann die Delle blaut, 
Uad feinem Lenze wandern gehn. 


Die toten freunde. 


Das Boot ftößt ab von den Buchten des Geftads. 

Durch rollende Wellen dreht fi der Schwung des Rads. 
Schwarz qualmt des Rohres Rauch ... Heut hab’ ich fchlecht, 
Das heißt mit lauter jungem Dolf gezecht — 


Du, der geftürzt ift mit zerfchoffener Stirn, 
Und du, verfhwunden auf einer Sletfcherfirn, 
Und du, verlodert wie ſchwüler Blitzesſchein, 
Meine toten freunde, faget, aedenft ihr mein ? 


Wogen zifhen um Boot und Räderfchlag, 
Dazwifchen jubelt ein dumpfes Fechgelag, 

In den Fluten brauft ein fturmagedämpfter Chor, 
Becher läuten aus tiefer Nacht empor. 


Ueber einem Grabe, 


Blüten ſchweben über deinem Grabe. 
Scdmell umarmte dich der Tod, o Knabe, 
Den wir alle liebten, die dich Fannten, 
Defien Augen wie zwei Sonnen brannten, 
Deſſen Blide Seelen unterjochten, 

Deſſen Pulfe ftarf und feurig pochten, 
Defien Worte fdyon die Herzen lenften, 
Den wir weinend gejtern hier verfenften. 


Maiennadt. Der Sterne mildes Schweigen... 
Dort! id; feh’ es aus der Erde ſteigen! 
Unterm Rafen quillt hervor es leife, 
Slatterflammen drehen ſich im Kreife, 
Ungelebtes £eben zudt und lodert 

Aus der Körperfraft, die hier vermodert, 
Ubgemähter Jugend letztes Walten, 

Letzte Glut verraucht in Wunſchgeſtalten, 

Eine blaſſe Jagd: 


Kunftwart 
= 168 — 


Doran ein Secher, 
In der fauft den überfüllten Becher ! 
Weh'nde £oden will der Buhle faflen, 
Die entflatternd nicht ſich hafchen laffen, 
Euftgeftachelt raft er hinter jenen, 
Ein verhälltes Mädchen folgt in Chränen. 
Dur die Brandung mit verftürmten Haaren 
Seh’ ich einen fühnen Schiffer fahren. 
Einen jungen Krieger feh’ ich toben, 
Helmbededt, das lichte Schwert erhoben. 
Einer ftürzt fi auf die Rednerbühne, 
Weites Dolfsgetos beherricht der Kühne. 
Ein Gedräng, ein Kämpfen, Ringen, Streben | 
Arme ftreden fih und Kränze fhweben — 


Kränze, wenn du lebteft, dir befchieden, 
Nicht erreichte! 
Knabe, fchlaf in Frieden! 


Eingelegte Auder. 


Meine eingelegten Ruder triefen, 
' Tropfen fallen langfam in die Tiefen. 


Nichts, das mich verdroß! Nichts, das mich freute! 
Niederrinnt ein fchmerzenslofes Heute. 


Unter mir — ad, aus dem Licht verfhwunden — 
Träumen fchon die ſchönern meiner Stunden. 


Aus der blauen Tiefe ruft das Geftern: 
Sind im Licht noch manche meiner Schweftern ? 


Die Schlittſchuhe. 


„Hör! Ohm! In deiner Trödelfammer hangt 
Ein Schlittſchuhpaar, danach mein Herz verlangt! 
Don £ondon haft du einſt es heimgebracht, 
Swar tft es nicht nad} neufter Art gemacht, 
Doch damasfiert, verteufelt elegant! 

Dir roftet ungebrauct es an der Wand, 

Du gibft es mir!" Bier, Junge, haft du Geld. 
Kauf’ dir ein ſchmuckes Paar, wie dir’s gefällt! 
„Ad was! Die damasfierten will ich, deine: 
Du läufft ja nimmer auf dem Eis, ich meine ?" 
Der liebe Quälgeift läßt mir feine Ruh. 

Er zieht mich der verſchollnen Stube zu; 

Da lehnen Masten, Klingen freuz und quer 
An Bayles ftaubbededtem Diftionär, 

Und feine Beute fchon erblickt der Knabe 

In dunfelm Winfel hinter einer ruhe: 
„Da find fiel“ Ich betrachte meine Habe, 
Die Jugendfhwingen, die geftählten Schuhe! 
Mir um die Scläfen zieht ein leifer Traum . 


.D ber 
REIT 1. Dezemberheft 


Kunftwart 


„Du gibft fie mir!“ ... In ihrem blonden Haar, 
Dem aufgewehten, wie fie lieblih war, 

Der Wangen edel Blaf; gerötet kauml ... 

In Xebel eingefchleiert lag die Stadt, 

Der See, ein Boden fpiegelhell und alatt, 

Drauf in die Wette flogen, Gleis an Gleis, 

Die £äufer ; Wimpel flaggten auf dem Eis... 
Sie ſchwebte ftill, zuerft umfreift von vielen 
Geflügelten wettlaufenden Geſpielen — 

Dort ftürmte wild die purpurne Bachantin, 

Bier maß den Lauf die peinliche Pedantin — 
Sie aber wiegte fih mit fchlanfer Kraft, 

Und leichten Fußes, Iuftig, elfenhaft 

Glitt fie dahin, das Eis berührend faum, 

Bis fi die Bahn in einem weiten Raum 
Derlor und dann in fhmalre Bahnen teilte. 

Da lodt’ es ihren Fuß, in Einfamfeiten, 

In blaue Dämmerung hinauszugleiten, 

Ins Märchenreidy; fie zagte nicht und eilte 

Und ſah, daf ich an ihrer Seite fuhr, 

Nahm meine Hand und eilte rafcher nur. 

Bald hinter uns verfcholl der Menge Schall, 

Die Winterfonne fanf, ein Feuerball, 

Dod nicht zu hemmen war das leichte Schweben, 
Der fel’ge Reigen, die beſchwingte Flucht, 

Und warme Xreife zog das raſche Keben 

Auf harterftarrter, geifterhafter Budht. 

An uns vorüber ſchoß ein Fackellauf, 

Ein glüh Phantom, den grauen See hinauf... 
In filler £uft ein ungewiſſes Klingen, 

Wie Glodenlaut, des Eifes furrend Singen... 
Ein dumpf Getos, das aus der Tiefe droht — 
Sie laufcht, erfchrickt, ihr araut, das ift der Tod! 
Jäh wendet fie den Kauf, fie ftrebt zurück, 

Ein fchener Dogel, durch das Abenddunfel, 

Dem £ärm entgegen und dem Kichtgefunfel, 

Sie löft gemach die Hand... o Märchenglück! ... 
Sie wendet fi) von mir und fucht die Stadt, 
Dem Kinde gleich, das ſich verlaufen hat — 
„Ei, Ohm, du träumft? licht wahr, du gibſt fie mir, 
Bevor das Eis geſchmolzen ?“ ... Junge, bier. 


Alle. 


Es ſprach der Geift: Sieh aufl Es war im Traume. 
Ich hob den Blick. In lichtem !Dolfenraume 

Sah ih den Herrn das Brot den Zwölfen brechen 
Und ahnungsvolle Kiebesworte fprechen. 

Weit über ihre Hänpter Ind die Erde 

Er ein mit allumarmender Gebärde, 


To — 


Es fprad der Geift: Sieh anf! Ein Linnen ſchweben 
Sah ih und vielen fhon das Mahl gegeben, 

Da breiteten fi unter taufend Händen 

Die Tifche, doch verdämmerten die Enden 

In granem Nebel, drin auf bleihen Stufen 
Kummergeftalten faßen ungerufen. 


Es ſprach der Geift: Sieh auf! Die £uft umblante 
Ein unermeßlih Mahl, foweit ich fchante, 

Da fprangen reidy die Brunnen auf des Lebens, 
Da ftredte feine Schale fih vergebens, 

Da laa das ganze Dolf auf vollen Garben, 

Kein Pla war leer, und feiner durfte darben. 





Rundschau. 


£iteratur. 


* Der Cottaſche Muſenalma— 
nad, herausgenebenvonDtto®Braun, 
erſcheint nun, für 1899, Schon zum neuns 
ten Dale, kommt alfo dod) wohl einem 
Bedürfnis nad. Zum eriten Male 
bringt er jetzt auch ziemlich viele Ge— 
dichte von „Jungen“, nur die ſchlimm— 
ften Nevolutionäre fehlen nod). 

„Nun Gott fei Dank, der Kampf hat 
ein Ende, 
Todfeinde jchütteln ſich — die 
ä 


nde, 
Dichter dichten wieder — wie Dichter, 
Und nur das feine Nullengelichter 
Schwört zu dem papiernen Stern 
Und nennt fi immer noch »modern«. 
Wollt ihr die Streitart nicht begraben? 
»Es ift das Einzige, was wir haben«*, 
fingt oder vielmehr jagt Heinrich Bult— 
haupt in dem Bande jelbit. O ja, 
es fann jegt wieder ſehr hübſch were 
den auf dem deutſchen Parnaß, doch 
habe id) dagegen, daß Dichter wieder 
„wie Dichter“ dichten, immerhin meine 
Bedenten. Ich meine, die Dichter ſoll— 
ten eigentlih „wie Menſchen“ dichten, 
erade daß fie fich zu ſtark als Dichter 
üblten, bat in den fiebziger und acht— 
äiger Jahren „das ganze Unheil an= 
gericht’t*, unfere Poeſie fonventionell, 
unwahr gemadt und den Sturm und 
Drang als Reaktion darauf hervor= 
u Ich weiß nun redt mohl, 
ab Bulthaupt weit davon entfernt ift, 
uns einen konventionellen Aeſthetizis— 


| 
) 
! 
| 
) 


B 
J 


mus zu empfehlen, möchte aber doch 
meinerſeils davor warnen, über das 
Berechtigte, das unzweifelhaft in den 
Beſtrebungen des Sturmes und Dranges 
lag, allzu ſchnell zur Tagesordnung 
überzugehen: man follte die äußere 
und innere Wahrheit, die ihm troß 
allem als höchstes Ziel erfhien, den 
formell = ünftlerifhen Eigenſchaften 
gegenüber nicht wieder in die zweite 
Reihe jtellen. Es ijt etwas jehr Schönes 
um die Gabe, vortrefiliche Berfe maden 
zu können, e8 iſt noch ſchöner, hübſche 
Gedanken und Einfälle und das dazu 
nötige Gefühl zu haben, aber alles das 
zufammen ergibt noch lange fein Ge— 
dicht. Ein Gediht wird, man madıt 
es nicht, hat ſchon Heine gejagt; mir 
wollen lieber, wie in den ſchlimmſten 
Zeiten des Naturalismus, gar feine 
Gedichte mehr haben, als einen Ueber— 
fluß an gemadten. — Ein Mujen= 
almanad) wird nun ohne die gemad= 
ten Gedichte (ih brauche den Aus— 
drud keineswegs im ſchlimmſten Sinne, 
wie man , Macher“ für Faifeur braudit), 
ohne fehr viele Verje, die feine Ge— 
dichte find, nicht leicht ausfommen, 
aber ein paar wirkliche Gedichte muß 
er immer enthalten. Um Ende laflen 
fie fi) aucd in diefem Bande finden, 
leider nicht bei den Jungen, eher bei 
den Alten, etwa bei Hermann Lingg 
(„Kindergruß*) und Hans Hoffmann. 
Es iſt das eigentlid ſchlimm, denn 
bei den Alten freut man ſich ja über— 
haupt jchon, daß fie noch da find, bei 


1. Dejemberheft 1898 


ner 


RI Wen 


den Jungen aber ſucht man die 
Leiftungen. Wahrjcheinlih wird ber 
Herausgeber doch für das nächſte Jahr 
nicht darum herumkommen, die wirt: 
ih neuen und eigenartigen Talente 
ber Jungen, ſelbſt Dehmel, ben Schred= 
lichen, zu Beiträgen aufzufordern, auch 
wenn er ebenjo wenig wie mir in 
ihnen Iyrifche Genies fieht. — Bon den 
beiden Profabeiträgen des Bandes ift 
Adolf Sterns „Weihnahtsoratortum“ 
bei weiten der beſte, eine ſtimmungs— 
volle fulturhiftorifche Novelle, auf einem 
Boden ſpielend, den bie Dichtung ſonſt 
nicht ehr liebt, im Kurſächſiſchen näm— 
fh. Die Ausitattung des Muſen— 
almanachs iſt leider zuderfüß — 


Theater. 


*Von Berliner, Wiener und 
auch neueſten Münchner Erſtauf— 
führungen können wir leider erſt ein 
nächſtes Mal ſprechen, wie von man— 
chem ſonſt noch, worüber zu berichten 
iſt. Trotz der wiederholten Erweite— 
rungen unſrer Hefte muß eben zur 
Weihnachtszeit allerhand „Aktuelles“ 
und ‚Nichtaktuelles“ dem „Alleraktuell— 
ſten“ vom großen Buchmarkte den 
Vortritt laſſen. Wir halten dieſen 
Buchmarkt, jo wie er iſt, bekanntlich 
durchaus für keinen Segen, aber rech— 
nen muß mit ihm, wer die Wahl der 
geiſtigen Nahrungsmittel im deutſchen 
Volk ein wenig beeinfluſſen möchte. 

* Von wirklich guten Ueber— 
fegungen ausländilher Dichtungen 
find in ber letzten Zeit eine ganze 
Anzahl erſchienen. ir wollen für 
heut nur ein Feines Verzeichnis defien 
geben, was uns fürs Felt beadhtlich 
erfheint, im Sunitwart aber nod 
nicht erwähnt worden ift. Da ift zus 
nächſt eine fünjtlerifch eigenartig und 
wunderhübſch ausgeitattete vortreff- 
liche Ueberjegung von J. B. Jacobs 
ſens „Gejammelten Werfen“, die bei 
Eugen Diederichs in Leipzig erfcheint: 
bis jet liegt davon „Frau Marie 
Grubbe* und „Niels Lyhne“ vor, doch 
fommt der dritte Band auch nod) 
vor dem Felt. Dann hat Grunow in 
Reipzig eine gleichfalls vortreffliche 
neue Weberfegung von Björnjons 
Bauerngefhichten unter dem Titel 
„Ueber den hohen Bergen“ auch recht 
fein und geihmadvoll ausgejtattet — 
möge fie diefe ferngefunden unb bis 
ins legte germanifhen Dichtungen bei 
uns zu Hausbühern maden! Georg 


Kunitwart 


172 


Heinrich Meyers Verlag in Leipzig, 
dem bejonders die Deutfch-Defterreicher 
für all feine Mühen um ihr Schrift: 
tum jehr zu Danke verpflichtet find, 
bemüht fich jet, uns den „ungarifchen 
Didens* toloman Mikszath durch 
eine fechsbändige ſchöne Ueberſetzung 
feiner bumoriftifhen Romane und 
und Novellen näher zu bringen. Aus 
dem Polniſchen führt uns J. P. Ba— 
chem in Köln Theodor Jeske— 
Ghoinstfis hiftorifhen Roman aus 
Marc Aurels Germanenlampfzeit vor: 
„Eine Sonne im Erlöſchen“. Für Ge— 
ſchenkzwecke ſehr mit Auswahl au bes 
nutzen, literarifch aber fait durchgängig 
von Karakteriftifcher Bedeutung find 
die bei Albert Langen in Münden 
erichienenen Leberfegungen nad) Bour= 
get, Maupaſſant, Prevoft, Hervieu, 
Hermant, VBanderem, Hamfun, Skram, 
Zihehoff u. a. Auch in der Engel: 
hornfhen und in unfern anderen bil— 
ligen „Bibliothefen“ find mieder gute 
Ueberjegungen berausgelommen. Wir 
behalten uns, mie gejagt, vor, auf das 
für unfere Zwecke wichtigſte aus all 
dieſen Büchern zurückzukommen, wer— 
den wir doch überhaupt aus den von 
Bartels in der heutigen Weihnachts— 
hau ausgeführten Gründen die Lite» 
ratur des Auslandes fortan mehr be= 
achten müſſen. 

*Julius Lohmeyer läßt wie— 
der von ſich hören, unter allen, die 
gegenwärtig in Deutſchland ſchreiben 
und redigieren, um die deutſche Ju— 
gendliteratur wohl der verdien— 
teſte Mann. Er gibt bei J. F. Leh— 
mann in München eine „vaterlän— 
dBifhejugendbüderei für finaben 
und Mäddjen* heraus, die fiherlich 
Gutes bringen wird. Er läßt ferner, 
bei W. Vobach & Eo. in Berlin, eine 
„Sllnjtrierte Finderzeitung“ 
—— die mit Wochenheften zu on 
Pfennigen das Stüd eine Art billiger 
Wiederholung der mit vollem Recht 
vielgelobten „Deutihen Jugend“ ver 
ſuchen wird. Jhre Zugabe, die „Jllu= 
ftrierte Kinder-Mode“, steht freilich 
nicht unter Lohmeyers Leitung und 
entſpricht weder hygieniſch noch äfthe= 
tiſch noch pädagogiſch dem, was hier 
zu verlangen wäre. Auch als Poet 
tritt Lohmeyer wieder vor uns. Ein 
Band Novellen von ihm, „Die Be— 
fheidenen“, ber foeben bei Karl 
Reißner in Dresden erfchienen ift, 
führt uns unter die Beute, bie ge— 
meiniglih im Leben von Stolzeren 
überfehen, von Glängenderen über— 


ſtrahlt werden, und deren Treiben 
einem freundlichen Seelenforſcher doch 
ſo viel des Feinen und Intereſſanten 
zeigt. Lohmeyer charakteriſiert nicht 
impreſſioniſtiſch, durch wenige Flecken 
am rechten Ort, ſondern ausmalend 
bis ins Kleine und modellierend und 
beleuchtend mit dem Behagen der 
Liebe. Am meiſten hat mir von den 
beiden Erzählungen bie letzte gefallen, 
trog einiger abenteuerliher Wunder: 
lichleiten darin: „Der harmloſe, träu— 
meriſche Mann, die gottvergnügte 
Natur, die fi) jeden Morgen auf die 
Sterne der Nacht und jede Nacht auf 
die Sonne bes Morgens freuen fonnte*, 
er, der Paſtor Gotthold Wurzbad), 
und fein jovial lebemänntiher Amts— 
bruber Brandt mirfen mie getreue 
Studien nad) der Natur, dod) ijt e8 
nit bei der Studie geblieben. Sie 
gejellen ſich zu uns wie leibhaftige 
gute Bekannte. Ueberzeugen uns 
mandmal Begebniffe und Wuftritte, 
die beinahe „efektvoil“ find, weniger 
vor ihrer inneren Wahrheit, als Die 
Charaktereſchilderungen, fo [allen ge— 
rade ſolche Stellen fäiriftftelferifcher 
Abſichtlichkeit bie natürliche frohe Ehre 
fichleit und warme Gefundheit bes 
Berfafjers überall fonjt erjt recht er— 
quidli fühlen. — In letzter Stunde 
empfangen wir nod) einen Band Loh— 
meyerfher $umorestenvonfreund 
& Yedel in Berlin — wir erwähnen 
ihn ohne Beurteilung, da wir ihn .. 
mehr lefen fonnten. 

* Nachdem mir in Rinde 
„Hermann Bahr, den Kritiker“ ferbit 
gefehen hatten, den Bartels vor einem 
Jahre als den Paul Lindau redi- 
vivus gekennzeichnet hat (ich empfehle 
allen, die's ernſt meinen, den betref- 
fenden Aufjag ſſtw. XI, 9] nochmals 
zu lefen) — nad) Bahr jelbit alfo 
hörten wir nun „unjern feinen Hof— 
mannsthal“, von dem dort aud) 
die Rede war. Die literarijche Geſell— 
ichaft führte fein dramatifches Gedicht 
„Der Thor und der Tod“ auf. Es 
zeigt uns den Thoren Glaudio, der 
das Leben niemals in feiner Tiefe zu 
erfafien und jo aud nit recht zu 
genießen verjtanden hat. Wie er fi) 
darüber abgrämt, erſcheint ihm der 
Tod, ihn abzurufen. Glaudio fleht 
um Aufſchub, da er nicht fterben will, 
ohne gelebt zu haben. Da ruft der 
Zod mit feinem Geigenjpiel Mutter, 
Geliebte und Jugendfreund bes Tho- 
ren aus dem Grabe, um ihm an biejen 
Eriheinungen zu zeigen, wie das 


Leben ihn, den Thoren Glaudio fajt 
gewaltfam im feine Streife gezogen, 
er aber in feiner falten Eigenfucdht 
fih jelbft dem warmen Leben ents 
munden babe. Erſchüttert erfennt’s 
Glaudio, und nun iſt er bereit dem Tode 
zu folgen, denn er fieht: die Nähe 
des Todes, die den vollen Gefühls- 
fturm in feiner Bruft entfejfelt, Hat 
ihm zum erjten Mal wahres Leben 
gebradt. — Leider kann das Stüd 
nicht den Unfpruch erheben, den außer— 
ordentlich wirkſamen Stoff in einer 
reinen Dichtung geitaltet zu haben. 
Es tritt mehr allegorijch als 
ſymboliſch auf ; dem Verfaſſer iſt's nicht 
voller Ernit mit der Wahrheit feiner 
Geitalten, er benußt fie häufig als 
bloßes Mittel um jagen zu laſſen, 
was er fagen mödte, ohne Rüdficht 
alfo darauf, ob das dem Gharalter 
feiner Geitalten entſpricht. Am klarſten 
tritt dies wohl an der Stelle zu Tag, 
wo Glaudio fertig bringt, im Ange 
fihte des Todesfürjten zum Schreib- 
tiſch zu laufen und dort aus einer 
Schublade ein Pädlein Briefe heraus— 
zubolen, um feine lagen gegenüber dem 
Tode zu rechtfertigen. So kann's na— 
türlih nicht zugehn, wenn einem in 
förperlicher Babrhaftigei folch’ furcht= 
barer Dämon erjheint. Man ficht, 
das ift nit mit der Phantafie 
erfhaut und erichaffen, der Verfaſſer 
lebt nidt in der Situation, Die er 
beraufgerufen hat, fein „Tod“ iſt hier 
nur noch ein Begriff in Menjchenges 
ftalt, mit dem man fi auseinanders 
fegt. Aber auch die übrigen Geſpenſter 
reden fo viel und ſo ausführlich, daß mir 
ihre Geifterform oft nur als eine Hülſe 
erfchien, in der der eigentliche lern das 
war, was Hofmannsthal dem Thoren 
zu fagen hatte. Ein böfer Wider: 
ſpruch iſt's ferner, wenn der Tod über 
dem gefällten Glaudio in Bezug auf 
die Ausbrühe, die in Diefem Die 
Geiſter der Beritorbenen hervorges 
rufen, pbilofophiert: „wie wunderbar 
find diefe Menſchenweſen; fie deuten, 
was nicht deutbar“ u. ſ. m. — der— 
felbe Tod, der doch diefe Erſchei— 
nungen mit feinem Geigenfpiel vor 
Glaudio Hingezaubert hat, damit fie 
ihn belehren! Troß alledem wirkte 
das Stüd; ijt ja die Jdee ſchon an 
und für fich ergreifend, wenn aud 
nicht gerade neu. Dazu fprad aus 
allem unverfennbar das Gefühl 
des Dichters. Ob dieſes Gefühl freis 
lic) bei Hofmannsthal ſchon jegt einen 
eignen Wusdrud gefunden, das 


ı. Dezjemberheft 1898 


— 1) — 


will mir nad) den „prädtigen“ Verſen, 
die mir im Ohr nachklingen, recht 
zweifelhaft ericheinen. 

Das zweite Stüd des Abends, 
Theodor Wolfs „Niemand weiß 
es“, war, um’8 grade herauszufagen, 
eine lächerlihe Abgeſchmacktheit. Ein 
japanifher Maler Jori und eine ja= 

aniſche Prinzeſſin lieben fi}, trennen 
ich aber, denn dem zarten Prinzeß— 
hen grauft e8: die große unheim— 
liche Liebe könnte ihr Inneres fo aus— 
brennen, daß ihr für „jpätere* Tage 
am Ende nur mehr ein trübes, faltes 
Neithen ihres Selbſt übrig bliebe. 
Nachher, als das vorfidtige Prinzeß— 
chen einen Fürften geheiratet, grauit 
ihr auf einmal nicht mehr davor, der 
gemaltigen Liebe zu Jori freien Lauf 
zu lalfen. Das merft aber auch der 
Fürft, und nun iſt's Unheil fertig: 
der Maler eritiht den drohenden 
Bringen. Eritarrt fiten dann die bei— 
den Liebenden längere Zeit da, bis 
ori vom hereindringenden Gefinde 
abgeführt wird und die Prinzeffin 
ohnmädtig umfällt. Die Hauptjache 
it, e8 wird in allerhand Arten von 
Gefühl „geichwelgt“, ein fürdjterlicher 
Unfug mit japanifher Blütenpracht 
getrieben und dabei von allem Bolt 
„märdenhaft“ in Gleichniſſen geredet, 
die dümmiten Sachen werden dabei 
als „Naivität“ aufgetiiht und Die 
trivialften Redensarten geberden ſich 
beinahe & la Schur, als ftedte ein 
erhabener Tieffinn dahinter. Er— 
mwähnenswert an dem ganzen Stüd 
ift eigentlih nur der Umstand, daß 
e8 überhaupt aufgeführt werden konnte, 
und nod) dazu im einer literarischen 
Gejellichaft. 

Eine „Mündyner Volfsbühne* 
ift ins Leben getreten. Der Verein be= 
abſichtigt, „Durd) regelmäßige Theater 
vorjtellungen , Konzerte und Vor— 
tragsabende allen Schiäten der Be: 
völferung die Möglichkeit zu geben, 
ohne größere peluniäre Opfer an den 
Errungenschaften unferer Kultur leben= 
digen Unteil zu nehmen.“ „In eriter 
Linie“ will der Verein: „bedeutfame 
Schöpfungen Ichender Sünftler zur 
Aufführung bringen“, und er hat da« 
bei befonders in Ausſicht nenommen 
„Werke von Ibſen, Hauptmann, Halbe, 
Burkhardt, Aram, Aanrud, Hamfın, 
Maupajiant, d'Annunzio.“ Erfreu— 
licherweiſe wird aber auch unſre lite— 
rariſche Vergangenheit nicht vernach— 
läſſigt: neben den Modernen ſollen 
Leſſing, Goethe, Schiller, Kleiſt, Grabbe, 


Unnſtwart 


| 


Ds 


Otto Ludwig, Hebbel gehört werben. 
Ferner heißts in dem Mufruf: „Die 
Münchner Voltsbühne ijt ein ges 
fchlofiner, auf breitefter vollstümlicher 
Grundlage aufgebauter und nad) volks— 
tümlichen Grundfägen geleiteter Ver— 


in. 

Es iſt überflüffig auszuführen, von 
mwelder Bedeutung eine Münchner 
Voltsbühne für unfer Kunſtleben wer— 
den fann. Eine leichte Aufgabe ifts 
freifih nit, die fi der Verein ge— 
jet Hat. Es iſt ſchon fchmierig 
genug, unter den neueiten Erſcheinun— 
gen, die ja die Volksbühne hauptfäd- 
lich berüdfichtigen will, das wirflid 
Bedeutfame herauszufinden und e8 
nit mit interejlanten „Grillen der 
Zeit“ zu verwechſeln. Uber das Weſen 
einer Vol fs bühne verlangt zudem, 
glaube ih, daß auch nod) mit diefem 
Bedeutfamen eine Sichtung vorge- 
nommen merde. Denn es wird ja 
von diefer Bühne herab zu cinem 
Publikum geredet, das zum größten 
Teil mit unfrer Literatur erſt befannt 
gemadjt merden muß. Ich glaube, 
dag man da unter dem „Bedeut— 
ſamen“, Gharafterijtifchen für unſre 
Zeit vor allem das aufjuden muß, 
maß bildend zu wirfen geeignet ift. 
Das Mort „bildend“ allerdings in 
weitem Sinne genommen. Ich 3. 8. 
würde ohne weiteres jedes MWerf für 
bildend erklären, hiner dem als Autor 
eine Perſönlichkeit mit fräftigen männ- 
lichen Initinften ſteht, eine Perſön— 
lichkeit alfo, die bereit ift, mit dem 
Leben chrlih zu ringen; dagegen 
würd ich joldhe Beifter möglichit fern 
halten, die jih in ihre krankhaften, 
wenn auch noch fo feinfühlinen Ge— 
lüjte einipinnen oder fi in ſchwäch— 
licher Jronie über dem Leben erhaben 
dünfen. Wünfchensiwert wär’ e8 jeden- 
falls, dab alle ohne Musnahme, die 
e8 ernit mit unſrer Kunſt und Bil: 
dung meinen, ihre Anficht in der 
„Münchner Voltsbühne* aum Aus— 
drud brädten. Die Möglichkeit dazu 
ift einem jeden durch die „volkstüm— 
lihe* Organifation des Vereins ge- 
geben. Der Vorſtand wird nämlidı 
von den Mitgliedern jelber alljährlid; 
in einer Generalverfammlung gemählt. 

Weber. 


Muſik. 
*Bmwei Muſikkalender, der 


eine bei Dax Heſſe (Beipaig), der 
andere bei Raabe & Plothow (Berlin ) 


verlegt, beginnen in jedem Herbit mun 
ſchon jeit elf Jahren den Konkurrenz— 
fampf. Jedes der beiden Bücher hat 
fein Gutes. In der Ausführlicgkeit 
bes Adreſſenmaterials iſt Heſſe im all— 
gemeinen etwas überlegen; im beſon— 
dern 3. B. hinſichtlich Frankreichs ift 
Raabe da und dort reid;haltiger. Recht 
mangelhaft find bei beiden die Ungaben 
über Prag, die ich kontrollieren fann. 
Im Verzeichnis der Zeitfchriften fehlt 
die „Neue Muſikaliſche Rundſchau“. 
Das Raabeſche Regilier der verjtorbes 
nen Komponifien übergeht, was nicht 
ſcharf genug gerügt werden fann, ben 
Namen Plüddemanns! Bei Heſſe wieder 
jtört das oft allzu aufdringliche Re— 
Hamemefen. Dennoch gebe ih ihm 
den Vorzug, nicht nur wegen ber bei— 
egebenen Bildnilje und biographi— 
(sen Skizzen (Srangu. O. Günther), ſon⸗ 
ern auch wegen der trefflichen Aufjäße 
NRiemanns, der biesmal über Ele- 
mentarmufifunterricht handelt und das 
rin die jeßige Notenfchrift gegen bie 
Berfuhe mit Buchitabenzeichen über— 
zeugend verteidigt. Mit dem bei- 
ftimmenben Hinmeis auf diefen Artikel 
erledigt ji übrigens zugleich das uns 
foeben zur Beſprechung eingefandte 
Schrifthen von U. Hundoegger über 
die „Zonifa-Do-Dtethode* (Hannover, 
E. Dieyer). Die unmittelbare finnliche 
Beranihaulidung des Steigens und 
allen der melodijchen Linie durch die 
otenschrift iſt durch die abftrafte Be— 
zeichnung durch Buchltaben nimmer— 
mehr zu erfegen. 

Umſchläge und Titelblät— 
ter zu Notenheften künſtleriſch 
auszuführen, iſt eigentlich eine moderne 
Errungenſchaft, obzwar die vormärz— 
lichen Titelvignetten in Stahlitich auch 
nicht jo übel waren. Dann aber folgte 
die nücternjte Induftrieperiode des 
deutihen Berlagsmefens mit den 

leihjörmigen Umſchlägen der für 

aſſenabſaß berechneten, fogenannten 
„Editionen“. Eine Ausnahme mach— 
ten nur „Salonpiecen* mit ihren 
finnig fein follenden Rofenranfen und 
niedrigfomifche Stüde, die dann und 
wann menigitens Anſätze zu indivi- 
dueller Titelzeihnung jehen ließen. 
Im legten Jahrzehnt aber nahmen 
die Jlluftrationen auch auf gediegenen 
Muſikwerken einen erfreuligen Auf— 
ſchwung: Klinger ſchmückte Brahm— 
ſens Liederhefte, Thoma den Klavier— 
auszug von „Hänſel und Grethel“, 
und ſogenannte moderne Lieder er— 
ſcheinen kaum mehr ohne ein Bildnis, 


| 





| 


das nad) Sezeſſion ausfieht. In dem 
Beitreben, nur ja recht Auffallendes 
und „Apartes* zu liefern, wird freis 
fi oft der Zufammenhang zwiſchen 
Bildſchmuck und Inhalt außer Acht 
elaffen: der Umſchlag eines Licders 
eftes von B. Schuiter 3.8. — Kirch— 
hof bei Marer Sternennadt — läßt 
allerhand Gräucl und Schreckniſſe 
ahnen, enthält aber nichts als die 
harmloſen Gedichte „Glückes genug“, 
„Schmwalbenficiliana*, „Die Mufit 
fommt*. Undere Ausgaben fchen von 
der plafatartigen Ausführung der 
ZTitelblätter ab und wählen lieber ein 
Gedenktbild. Hugo Wolf 3. ®. lieh 
feine Mörikelieder mit dem Bildnis des 
Didters erfcheinen, eine von ihm 
felbft angeregte, ſchöne Huldigung für 
den, der ihn zu feinen Melodien be= 
geiitert Hatte. Neueftens will ber 
Wiener Verlag Hed mittelft der Um— 
ichläge die Denkmäler unferer veritors 
been Meiſter popularifieren, eine 
Idee, deren erſte Verwirklichung mir 
in Auguſt Ludwigs Liedweiſen zum 
„Pfarrer von Kirchfeld“ vorliegt. Das 
Grabmal Anzengrubers iſt darauf ab— 
gebildet, der unterrichtende Zweck 
würde noch beſſer erreicht, wenn der 
Name des Bildhauers, Hans Scherpe, 
darunter ſtünde. Wenige, denen das 
Heft in die Hand fällt, wiſſen vom 
Daſein dieſes Grabmals, noch weniger 
kennen es, Manche werden durch das 
Bild vielleicht angeregt, es aufzuſuchen. 


Bildende Kunſt. 


* HeinrihBogelervon Worps— 
mwede hat ein Vilderwerl über Gerhart 
Hauptmanns „Werfunfene Glocke“ bei 
Fiſcher & Franke in Berlin (Preis: 
3 u. 30 ME.) herausgegeben. Ein eigene 
tümlihes Wert — e8 wirkt zunächſt 
fo ausgeſprochen manierijtiih, daß 
man verſucht ift, es jchnell wieder 
weg zu legen. Bertieft man ſich doch 
darein, fo taucht zunächſt vereinzelt 
da und dort eine ganz echte Märchen: 
anihauung wie ein Spuf am Wald— 
rande auf, und jhliehlid; bewegt fid) 
rings eine fonderbare HYalbtraummelt 
mehr Vogelerſchen als Hauptmann— 
ſchen Geiſtes. Sie bewegt ſich — aber 
ſie lebt doch nicht recht — jedes der 
Bilder iſt intereſſant, manches ganz 
eigentümlich naturſtimmungsvoll, aber 
das Seeliſche der Geſtalten bleibt 
ſchattenhaft, es ſpukt nur lautlos vor 
uns hin, es beteiligt uns nicht an 
ſeinem Sein. Ein Bild wie das 


1. Dezemberheft 1898 


ſtarke vom Pfarrer, der zu Ber 
fteigt, bietet da das meiite, oder au 
glei) das erjte mit dem Nidelmann, 
obgleich das Rautendelein auch Hier 
ebenſowenig wie der Waſſergeiſt zu 
rechtem Leben kommt. Dieſes eigen— 
tümlich Gedämpfte iſt bei Vogeler 
nicht etwa Folge mangelhaften Kön— 
nens, er will gar nichts anderes, er 
erjtrebt keine Körperlichkeit, er ſieht 
eben das Märchen mit dem inneren 
Auge fo. Aber man kann's halt ver« 
fhieden fehen. Jmmer erfreulich bes 
rühren auch uns dagegen Bogelers 
Zandihaften, die find mit einem be= 
fonderen feinen Auge aus der Natur 
gleihfam felbjtändig ertaftet und zu 
neuen Bildern zufammengefühlt. X. 
+ Mit den „Blumenmärden“, die 
bei Piloty und Loehle in Münden 
erfchienen und nun im Buchhandel 
für nur 5 Mark zu kaufen find, it 
Ernst Kreidolf, deſſen Aquarelle 
wir vor Jahren mit großer Freude 
begrüßt haben, nun vor die breitere 
Deffentlichkeit getreten. Ein Künſtler 
wie er hat’8 heute auf dieſem Ge— 
biete nicht leicht: die „alten“ werden 
die liebgewordene Sühlichleit der 
ſchlechten deutiden Bilderbücher ä la 
mode vermijjen, die „neuen“, Die 
ihnen ans Hera gemadjene Danier der 
Dre und Gngländer, während 
eidolf, ohne da und dort aus den 
Bilderbüdhern feine unit zuſammen— 
aufuhen, fie auf Feld und Flur der 
Heimat gefunden hat. Nur, wer jeg— 
lihe Brille ablegt, wird ihm gerecht 
werden, darum freun fih aud die 
Kleinen jo fehr über ihn, deren Nafe 
nod feine getragen Hat. Zunächſt 
mal: e8 ijt eben durchaus eine unit 
für Kleine weder mit den Bildern, 
noch mit den (übrigens ganz prädtis 
gen) Begleitverjen blinzelt jie über 
die Stinderlüpfe weg nad) den Großen 
bin. Zweitens: man darf ja nicht fo 
äußerlich fein, weil's hier Blumen— 
märden gibt, den eigentlichen Kern 
der Kreidolffhen Kunſt bei den Blu— 
men zu fuhen. Die find äußerſt ges 
fhidt verwertet, aber den Erwach— 
fenen ftört da, was dem Sind gar 
nichts jchadet, weil’S drüber weg 
fieht: der Erwachſene fommt über das 
Unorganifche der ganzen Sadıe, wenn 
er überhaupt ein Gefühl für das 
Körperhafte ausgebildet hat, nicht hin= 
weg. Dan fehe die Menfchengefichter 
Kreidolf8 an mit ihren ungejunden, 
derben Gharafterzügen, man beadte 
die wirkliche Volks- und Kindertrüm— 


Kunftwart 


| 
| 
| der Herrn U. zu einer Auszeichnung 


lichkeit feiner ehrlichen, Herzlichen 
Poefie, die fi 3. B. auf den Tafeln 
von der „wilden Jagd“ und von den 
„Dieben“ bis zu ſehr Fräftigen Natur— 
Gefamtitimmungen fteigert, — dann 
wird? man den Künſtler Kreidolf 
finden. Wir als große Leute freuen 
uns darauf fünftig Sadhen von ihm 
zu fehen ohne Blumen: es müſſen 
urheimatli deutſche Bilder wer— 
den. Für die Fleinen Leute aber 
— ja, mo find denn deutſche Bilder 
bücher, die für fie an freudeerregender 
Kraft diefen „Blumenmärden“ „über 
wären ? Sleichwertige fennen wir, aud) 
bejiere dem Zeichnen nad), das leider 
Kreidolfs Starke Seite nicht ift, aber 
bejiere dem Geifte nah? Nein. Und 
der gleichwertigen find herzlich wenige, 
und der gleih urfprüngliden 
liegen höchſtens drei, vier auf jedem 
Buchhändlertiſch. 

* Wie ein Denkmal zu 
Stande fommt. Die Denkmäler 
Komitees bilden fih wie die Wahl: 
fomitees. Der Rentier U. träumt 
davon, einen Orden zu erhalten, und 
fragt fh, welden großen Dann, 
gleicyviel ob er auch bloß mittelgroß 
oder Hein war, er wohl auf einem 
Öffentlihen Plate aufitellen könnte. 
Und id) fenne einen Bildhauer 8, 


verholfen hat und der heute nod) bie 
Mehrkoſten der Modelle und Ausfüh- 
rungsarbeiten für ein jehr deforatives 
Denkmal zu zahlen Hat. 

Die Sache trägt fi) fo zu: Herr 
U. hat die Idee zu einem Stanbbild 
Er geht natürlid” zu dem Bildhauer 
B. und fragt: 

»Mürden Sie nicht einen... (Hier 
ber Name des großen Mannes) für 
8000 M. mahen? Bedenken Sie, daß 
dadurch eines ihrer Werfe auf einem 
öffentlichen Plage zur Aufitellung ges 
langtel« 


»Wenn id) das haben kann, fo 
made ic) e8 für 6000 M.« 

»Bravo! Alſo abgemadt, für 
6000 M.« 


A. geht direkt ins Minifterium der 
Schönen Fünfte Er verlangt vom 
Staate die Koften bes Marmors. Der 
Staat gewährt gemwöhnlih für den 
Marmor die Hälfte deifen, was das 

| Dentmal often fol. Das ift einmal 
ſo Sitte. U. erflärt aljo dem Staate, 
' daß das Standbild mohl 12000 M. 
fojten wird, und der Staat gibt ihm 
| 6000 M., alfo genau ben Preis, den 
der Bildhauer verlangt hat. Diefer 


— le — 


ift im Voraus bezahlt. Die Subffri- 
benten find Reingeminn. Nun fauft 
A. Bapier und läßt den offiziellen 
Brieflopf darauf dbruden: 

Komitee des Standbildes für U. 8. 
Präfident : Herr U. 
BizesPräfidenten: bie Herren E. u. ©. 
Schriftführer: Herr €. 

Das Standbild mwirb eingemeiht. 
Der Präfident U. erhält einen Orden 
111. Klaſſe, die Vizepräfidenten bekom— 
men einen folden IV. Slaffe, der 
Schriftführer einen Zitel. Und ber 
Bildhauer? .... Der Hat ein mit 
feinem Namen gezeichnetes Werk auf 
einem öffentlichen Plate. Das Stand— 
bild Hat ihn mehr Mühe und Zeit 
gefoftet, als er erwartet, die 6000 M. 
und darüber find ausgegeben. Der 
Bildhauer hat auß eigener Tafche zus 
‚gefegt und fagt philoſophiſch: 

»Ich Habe fogar Wechſel unter 
zeichnet, um die 3000 M. Mehrkoiten 
zu bezahlen. Ich habe 9000 M. aus— 
gegeben und 6000 erhalten. Wenn 
aber mein Knopfloch gähnt und mein 
Geldbeutel leer ift, jo habe id; wenige 
z. dem Bräfidenten zu einem Or— 

en verholfen. Meine Mühe war aljo 
nit umſonſt«.“ 

Das Merkwürdigſte ift, daß dieſes 
nicht eben freundliche Bildchen aus 
der Wirklichkeit in der „Deutichen 
Kunſt“ zu finden ift, Die bisher bei 
unfern Zuftänden ganz; hübſch ver- 
gnügt und zufrieden war. 

*Shmüde beinen Eiſen— 
babhbnmwagen! 

In Berliner Zeitungen fteht zu 
Iefen: „Zu Gunften ber eleftrifchen 
Hochbahn Hat der Grundbefigerverein 
»Süd⸗Oſt« in feiner legten Sitzung be= 

chloſſen, folgende Petition an den 

agiftrat zu richten: In ber Erwägung, 
daß die eleftriihe Hodhbahn ı. einem 
wirflihen Bedürfnis entſpricht, daß 
2.ihr Ausſehen durch entſpre— 
chende Verzierungen gefälliger 
geſtaltet werden fann...* Wir 
empfehlen dem Grundbeſiherverein, 
fi) den Nat des Simpliziffimus zu 
überlegen: „jeder Gegenstand, der ben 
Schönheitsfinn der deutfchen Frau oder 
Jungfrau verlegen könnte, läßt ſich 
durch Bepinfelung mit flüjfiger Gold— 
bronze alsbald in eine wahre Augen 
meide verwandeln, mährend Gegen= 
ftände, die fhon an ſich ſchön find, 
durch die Bronzierung geradezu nied— 
lid werben.” Wann mirb e8 endlich 
ben berühmten „weiteren Streifen“ be— 
wußt werben, daß e8 ein Aberglauben 


ift, „Durch entfprecdhende Verzierungen” 
tönne eine häßliche Sache „nefälliger” 
werben? Sie fhön in ber Form und 
fhön in ber Farbe zu geftalten, 
darauf fommt’8 an. Gelingt es, fo 
enügt e8 zunächſt, mißlingt es, jo 
ilft alles Aufihminten von „Ver 
jierungen“ nichts. 


Dermifchtes. 


* Da wir neue Büher unferer 
ftändigen Mitarbeiter nur in 
Ausnahmefällen befprehen können, 
während doch gerade fie für unfere 
Lefer von erhöhten Interefje find, fo 
erwähnen wir die zwei neueften heute 
an biefer Stelle. Adolf Bartels 
hat die zweite Auflage feiner Litera— 
turgefhichte der jüngjten Zeit, deren 
erfte unter dem Titel „Die Alten und- 
die Jungen“ erfhienen war, durch 
näheres Eingehen fo weſentlich er= 
meitert, baß jeine „Deutfhe Dich— 
tung“ (Leipzig, Ed. Uvenarius [Ub. 
Goldbed]) nun als ein neues Bud 
erſcheint. Was wir von Bartelsſcher 
Kritit halten, bezeugt einfach die That- 
fahe, daß mir Bartels Tängft zum 
Eintritt in unfre engjte Mitarbeiter 
fhaft eingeladen haben. — Richard 
Batka hat achtzehn Auffäge zu einem 
Bude „Mufilaliihe Streifzüge” ver- 
einigt, daß bei Gugen Diederichs in 
Leipzig berausgelommen if. Wir 
nennen einige Themen: „Grillparzer 
und ber Sampf gegen die deutſche 
Oper in Wien“, Aus „Schumanns 
Lehrjahren“, „Yur Erinnerung an 
Glara Schumann“, „Wagner als Ro— 
mantifer“, Loge“, „Rohengrin nad) 
Bayreuther Mujter”, „Ulfo jprad) Za— 
rathuftra”, „Die Mufitballade*, „Zur 
Reform der Vollsfeite.* Der Redat- 
teur unfrer Mufitbeiträge bat bei der 
Zufammenftellung natürlidy) vorzugs— 
br bie Kunſtwartleſer im Auge ges 

abt. 

+ Wie’8 gemadt wird. 

Bei der Berliner Gegenwart“ 
ibt e8 zwei Möglichkeiten für ein Bud), 
efprochen zu werden, wenn's nicht 

gerade beiprodhen werden muß. Die 
eine: man beherzigt, was vertrauens= 
voll mitgeteilt wird vom „Berlage 
der Gegenwart“, deifen Inhaber Dr. 
Th. Zolling, Redbafteur der „Gegen= 
wart“ ilt: e8 werden bei ihr nad 
ihren eigenen Worten „grundb= 
fäslih jene Werte befproden, 
welde im Annoncenteil anges 
zeigt werden“, — man fauft fid 


1. Dejemberheft 1898 


alfo mit so Pf. für die Annoncenzeile 
eine Rezenfion im Terte. Zweite Mög— 
Iichkeit: man madt folıh ein vertraus 
liches Schreiben untollegialer Weife 
befannt — dann madt es Zolling 

„Sp, wie's das — im Bauer 

thut: 
Wenn's nicht vor Liebe ſingt, ſo 
ſingt's vor Wut“, 

und ijt diefe Gemütsbewegung aus— 

iebig, fommt’8 vor, daß er das— 
Pelbe Bud) zwei Mal hintereinander 
gratis beſingt. So geſchieht mir's, 
im Heft 45 der „Gegenwart“ auf S. 302 
fönnen unſre Leſer zum zweiten 
Male leſen, wie „abſolut talentlos und 
nichtsnutzig“ meine früher in der 
„Gegenwart“ fo warm gelobte „echte 
Poeſie“ iſt, — ſeit der Kunſtwart“ 
Herrn Theophil Zollings Geſchäftsge— 
heimniſſe verraten hat. Daß mein Ver— 
leger mid) „weltberühmt“ nenne, ſchrei— 
tet dabei als Hauptgreuel auf den 
Bänfebeinen des Zitats einher — alſo 
muß es doch wohl wahr jein? Ecdyade, 
es ijt troßdem einfach und ſchlank ges 
Iogen. 

Unfre neuen Leſer, die nicht näher 
willen, worum ſich's handelt, verweijen 
wir auf unfern Auffat „Die Gegen= 
wart“ auf ©. 257 ff. im 20. Heite des 
vorigen Hunftwart: Jahrgangs. Bis 
zum heutigen Tage bat die „Gegen— 
wart“ mit feinem Worte auf meine 
ſchweren Bejchuldigungn geant— 
wortet. Kein Wort von dieſen Be— 
ſchuldigungen hat fie ihrerſeits mit- 

eteilt — das hätte geheiten, ſich 
hitſt vor den eigenen Leſern an den 
Pranger zu ſtellen. Die ganze That— 
fadye meiner Angriffe bat fie ver— 
heimliht — Hätten ihre Leſer aud) 
nur gewußt, daß id) fie angriffe, man 
hätte ja vielleicht im Kunſtwart nad)= 
geleien, und zugleich märe das plöß- 
lihe Shimpfen auf mid) al8 — Lyriker 
in allen Pradten feines Weſens er— 
fannt worden. Auf meine Bezeichnung 
ihres Treibens als verächtlich, hat 
fie nicht geflagt; es gibt ja bei ſol— 
hen Dingen einen Wahrheitsbeweis, 
wobei mitunter noch mehr zur Sprade 
kommt, als ſchon gejagt worden tft. A. 

* Du dem, was einen erfreuen 
tann, gehört das Schillertheater 
in Berlin, denn fein Direktor hat 
immer nod) nicht die Verſprechungen 
vergeflen, die er bei feiner Eröffnung 
gemacht hat: beim Scillertheater 
redet noch heutigen Tages aud) die 
Kunſt mit. Aber Direktor Loewen— 
feld thut für diefe Frau noch mehr. 


Kunjtwart 


Sp gibt er fortan eine kleine ernite 
Zeitichriftt „Die Volksunterhal— 
tung“ heraus, die jehr nützlich wir— 
ten kann, und weiter ilt er der eigent— 
lie Vater von „volfstümliden 
Kunjtausstellungen“, die jetzt in 
Berlin veranitaltet werden. Möge 
ihm die Obrigleit dabei gnädiger fein, 
als neulich, da fie dem Schillertheater 
das geiitlihe Konzert für den 
Buß- und Bettag in letter Minute 
verbot, weil nur Oratorien am 
Bußtag aufgeführt werben „dürften“. 
Im vorigen Jahr „durften“ das aud) 
andre Tonmwerfe, die neue Kunſter— 
leuchtung iſt der hohen Polizei erit am 
19. März diefes Jahres aufgegangen, 
welches Datum die Verordnung trägt. 
Nun willen wir ja: jedem preußiſchen 
Odrigfeit3uniformrod wohnt das My— 
fterium inne, ein äſthetiſches und fitt- 
liches Wilverjtändnis nad innen aus: 
zujtrahlen. Uber vielleiht wird uns 
einmal offenbart, warum fromme 
Vokalmuſik duldbar aber fromme 
Initrumentalmufit verwerflid iſt. 

* Die Beiden Reiſebeſchrei— 
bungen „der Saifon“, die unzweifel— 
haft die „nanabariten* fein werden, 
find diesmal fehr ungleicdher Art. Das 
eine iſt 9. S. Landors „Auf vers 
botenen Ziegen“ (Leipzig, Brodhaus). 
Man braudt nur feine Bilder zu 
durchblättern, um das Grufeln zu 
lernen: Randor iſt's in Tibet befannt= 
lich jchledht ergangen, und die Bilder 
zeigen viel Davon. Aber fie und die 
Worte zeigen auch vieles mehr: eine 
Natur von über = hodhalpenmäßiger 
Großartigfeit, ein Volk, oder ridhtiger 
mehrere Bölfer von höchſt merkwür— 
diger Kultur, und die Erlebniſſe eines 
Mannes von einem Mute, der Toll: 
fühnheit mit Zähigkeit verbindet. Was 
wir vermiſſen, ift ein einführender 
Grundriß von unter gegenwärtigen 
Kenntnis dieſer abgefperrten tibetanis 
ihen Welt; man hätte dadurch ſozu— 
ſagen eine Bauftelle für al bie Eins 
zelgebilde gehabt, die das Buch ans 
ſchaulich, aber ein wenig in die Ruft 
vor uns hinſtellt. Nur den populärs 
unterrichtenden Wert jedod betrifft 
dieſe Bemängelung: anregend und 
unterhaltend in hohem Mate bleibt 
das Bud) jedenfalls. 

Recht das Gegenteil dazu iſt Mark 
Twains „Reife um die Melt“ 
(Stuttgart, Robert Zub), Die fi 
durchaus nicht auf verbotenen, fon= 
bern auf den meilibefabrenen Wegen 
begibt. Mark Twains Bud ift Feuil— 


- 13 — 


leton, aber, wie wir gleich hinzuſetzen 
mödten: Feuilleton im beiten Sinne, 
Der Mann, der f. Zt. in der Miener 
„Soncordia” für ganz fürdterliche 
Witze und Mätchen rafend gefeiert 
murde, madjt den übeln Eindrud, den 
er nad) diefer Vorftellung in Deutſch— 
land Hinterließ, durch diefe Reiſebe— 
fhreibung wett: bier fpridht fein ge— 
ſucht geiftreiches „Plaudern“, fondern 
ein reifes und feine Mannesdenten, 
da8 etwas zu fagen hat, vom Herzen 
eines echten Humoriften genährt und 
nur jelten von einer mehr äuferlichen 
Komik über den Wegrand gedrängt 
wird. Guropa und Amerila werden 
übrigens faum berührt, über Aus— 
ftralien, Afrifa und befonders Indien 
wird geſprochen. An mandıer Stelle 
tritt plötzlich zur Seite des Feuille» 
tonilten der Dihter Mark Tmain. 
Ermähnen mir im Anſchluß ein 
Bud) von Oberländer, „Durd) nor= 
wegiihe Jagbgründe* (Neudamm, 3. 
Neumann) — kein Reiſebuch im ergeren 
Sinn allerdings, fondern mehr ein 
Jagdbud), das aber doch auch Reifer 
bilder aus dem hohen Norden bringt. 
Leider geht uns der Band zu ſpät zu, 
als daß mir ihn nod) Iefen könnten. 
Die Stihproben befürmorten eine 
Eesstung, die vielen Bilder find 


* GSelegentlid) der Anſichtspoſt— 
farten = Sammelfrantheit, die jegt 
durch die Welt geht, wie im Frühjahr 
der Schnupfen, züchtet man immer nod) 
föftlichere Reinfulturen von Narretei. 
Auf die zwei Gejellfhaften zur Ver— 
fendung von Anfihtspoftlarten von 
ber Staiferreife follen mehr denn hun— 
derttaufend derer, die nicht alle wer— 
den, hHineingejallen fein. Aus ihren 
Kreifen erhob fih dann ein Klagen, 
man fei wirklich hineingefallen, denn 
die Gefellfhaften bewährten ſich nicht 
als folid, die „Lünftlerifh) auszufüh- 
renden” Karten wären in Wirklichkeit 
mit Berlaub zu jagen, ſcheußlich u. ſ. w. 
Haben die Schmerzensrufe aus der 
Melt der blauen Monde, bei denen 
die Schatten verfehrt fallen und Die 
Betten gefommert werben, bie ftarren 
Herzen der Unternehmer erweidht? 

Mittlerweile hat Herr Karl Bött— 
Her eine journaliftifhe Nouveaute 
eingeführt. Er verheißt den Redak— 
tionen, die ihm feine Artifel ablaufen, 
auf wei Yeuilletons eine An— 
fihtspoftfarte gratis! 24 Reife- 
berichte offeriert er in einem Zirkular, 
dann heißt e8 weiter: „US anges 


179 





nehme Zugabe erhält jede Redaktion 
—— von ſo der wichtigſten, auf der 

eltreiſe berührten Punkten je eine 
illuſtrierte Poſtkarte mit einem fröh— 
lichen, Iolalgefärbten Gruß, fo daß 
dieſe an Ort und Stelle aufgegebenen 
Anſichtskarten zuſammen für ſich allein 
eine »Weltreiſe en miniature« darſtellen 
— ein Boftlartenfaß, der wegen feiner 
Eigenart mit der Zeit hohen Wert 
erlangt.“ Herr Sarl Böttcher Schreibt 
viel, er muß wohl feine Leute kennen. 
Und fo ift zu vermuten, daß manchen 
Leſers treues Auge in feinem Blätt- 
chen Neilebriefe findet, — meil der 
betreffende Herr Redakteur Anſichts— 
poftfarten fammelt. 


Unſere Beilagen. 


*Unſere Mufifbeilage enthält dies 
mal etwas Zeitgemäßes, das Stüd 
Knecht Rupredt* aus Shumanns 
föftlihem „Jugendalbum*. Uber das 
fennt doch jedermann — hören wir 
zufen. Ja, es ift ziemlich befannt, 
wenigſtens dem Namen nad), aber 
wir wollten diejenigen, die e8 doch 
nicht kennen, nachdrücklich darauf hin— 
meifen. Schumann hat in dieſem 
Album Stüde geboten, zu deren Vor— 
trag die Technik eines Kindes und 
das kräftige Gemüt eines Erwachſenen 
erfordert wird — gerade fo etwas 
dürfte mandem Mufiffreund unter 
unjern Leſern, denen andere Arbeiten 
nur eine geringe Fertigkeit auf dem 
Stlavier erwerben lieken, willkommen 
fein. Und nod) eine Abficht beftimmte 
uns zur Wahl diejes Stüdes. Wir 
wollten mit einem Beifpiel darauf 
binweifen‘, daß wir leider faft immer 
zu älteren Werken zurüdgreifen müjjen, 
wenn wir gute Hlaviermufil verlangen, 
die uns als treue, freundliche Gefähr— 
tin bastäglihe Leben umfhmüden 
und unjere häuslichen Feſte zu vers 
fchönern helfe. Sol das immer fo 


bleiben ? 
Hierauf folgt eine bretoniſche 
Volfsballade. Wie fo oft im Volks— 


lied verbindet ſich mit dem traurigen 
Zert eine fcheinbar an ſich heitere 
Melodie, aber als ich es fingen hörte, 
zeigte ſich's recht, wie wohl fid) die 
melodifche Linie, (der ic), jo charalte= 
riftifch fie für ihren Urſprung ift, Doch 
feinen bejonderen mufitalifhen Wert 
beimejjen mödte), dem Inhalt ber 
einzelnen Berfe anfchmiegen läßt. Ih 
füge no den Text der meiteren 
Strophen Hinzu, für den Fall, daß 


1. Dezemberheft 1898 


einer unjerer Sänger fi daran ver= , bungen in der Photographie, das von 
uchen will, in einer wörtlihen | bem Maler Matthies- Mafuren in 
eutfchen Ueberjegung: Münden redigierte Photographiſche 


. f : du“ entralblatt* zu veröffentlicdyen pflegt. 
RR ——— * Biete Bilder find als Illuſtrationen 


„Ad um mein Ringelein — zu dem gedadht, was im heutigen Leit⸗ 
Eins, zwei, drei — trallalei aufjage über die neue Bewegung ge— 
Ins Waffer fiels hinein.“ fagt ift. Man vergleihe mit diejen 


Ralleralidaba. Immer auf das Grohe, das Ganze Hin 

„a6 Mädchen gift du mie zum | rtsbelien Mihem mit In male 
Hol ich den Ring —— * ———— vi rn 
Ein Küßchen oder zwei.“ — En FRREH WIE UOSUDAUDDEN. . 
it graphien“, und man wird erftaunen 
[: Beim erften Sprunge, ben er that:] | darüber, in wie hohem — der photo⸗ 
—— en nt re ae = Gemifhe Brosch zu en — 
mittel werden kann. Immerhin: er 

:Da& er noch taucht zum drittenmal:] | kann's in noch höherem Grade werben, 
Lächelt fie mit holdem Blid — als unfere Bilder zeigen, denn erftens 
Nie kehrte er zurüd. geht natürlid) beim Reproduzieren 
[: Sein Vater an dem Fenſter ftund:;j | immer einige Feinheit verloren, dann 
Hat wie er fank geſchaut aber: die ganze Bewegung iſt noch 
Klagte und ſchluchzte laut: durchaus im Fluß. Es wird uns 


freuen, von dem, was ſie bringt, ge— 
lr Ich hatt drei Knaben —— und | Tegentlich wieder etwas vom Beften 


den Lefern zeigen zu fünnen. 

Nod) eine weitere Beilage nicht ge= 
ſchäftlichen Charalter8 bringen mir 
diesmal, die freilich ganz anderer Art 
ist, ein „VBergeihnis empfeh— 
lenswerter Jugendidriften“, 
das fein irgendwie materiell Beteilig- 
ter, fondern der Vorortsausſchuß der 
vereinigten beutjhen Prüfungs-Aus— 
ſchüſſe für Jugendliteratur herausge— 
geben hat. Der Leitaufjat des nädjften 
Heftes wird von unfern Jugendfdhriften 
handeln. Uber vor Weihnachten iſt ja 
jede Woche koſtbar, deshalb geben wir 
den freunden der Jugend ohne wei— 
tere Erflärung ſchon heute als Er— 
gängung unfrer eignen Weihnachtsſchau 
diefen Berater beim Einkauf von 
AJugendidriften in die Sand, Wir 

Vier weitere Blätter unterbreiten | dürfen ihn aufrichtig empfehlen, ob= 
unfern Lefern Neprobdultionen nad | glei aud er natürlid” nicht „der 
Kunftphbotograpbhien, wie fie | Weisheit legten Schluß“, ſondern vor— 
das in Deutfchhland führende Organ | läufig auch nur einen ‚„Verſuch“ bes 
für die wirklich fünftlerifchen Beftre= ' deutet. 


MWegen einem falfchen Kind 
Alle drei geftorben jind. 


Das Lied fteht in der Sammlung 
bretonifher Volksweiſen von Bour— 
gault= Ducoudray (Paris, Lemoine). 
Wir verweifen auf diefe Eammlung, 
weil fie ein franzöfifches Eeitenftüd 
au ben Bearbeitungen beutfcher Volls— 
lieder von Brahms bildet. 

Von unjern Bilderbeilagen ift 
die erite ein Blatt der Huldigung bei 
KonradFerdinand Meyers Tod, 
eine Wiedergabe bes Iebenfprühenden 
Bildniffes von Karl Stauffer-Bern. 
Einige Abzüge der Originalradierung 
fönnen noch durch den Stunjthandel 
von Amsler & Ruthardt in #erlin 
bezogen werben. 





Inhalt. Kunftphotographie. — Weihnachtsſchau. — Ueber Kunftpflege im 
Mittelftande. X. Bon Paul Schulte Naumburg. — Lofe Blätter: Konrad 
gen nom Meyer F. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Karl StauffersBern, 

ildnis Konrad Ferdinand Meyer; Kunftphotographien von %. Matthies— 
DMafuren, Hugo Henneberg, Heinrich Kühn und Robert Demachy. — Notenbei- 
lage: Robert Schumann, Knecht Ruprecht; Bretonifches Volkslied. 





Derantwortl,: der Herausgeber Ferdinand Avenarius in Dresden-Blafewig, Mitredafteure: fär Muſil 
Dr. Ridhard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Hunf: Pan! Shulge-Naumburg in Berlin. 
Sendungen für den Tert an den Herausgeber, über Mufif an Dr, Batla, 

Derlag von Georg D. W. Callmwer. — Kgl, Hofbuchdruderei Kaftner & Coſſen, beide in Mändgen. 
Beflellungen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D, MW. ECallmer in Mändher. 





Knecht Ruprecht. 


Schumann, Op.68. No. 12. 


Rob. 


Allegretto. 


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PIANO. 





Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München. 


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Rechte vorbehülten, 


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Oscar Brandstetter, vorm. FW. üartracht, Leiprig 


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mit Bilder⸗ und Noten-Beilagen, 


Bezugspreis 2"ja Marf vierteljährlich. Ein einzelnes Heft 50 Pfennige. 


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Zweites Dezemberbett 1898. 


12. *ahraand. 






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erfcheint jährlih 24 mal in Beften von 52 Seiten (je E —— und miue $|. 





—— und Pofla * —— * Derlagshand 
Abonn ngen entgegen. Ba ill ei von der isses 
handlung: Georg D. WI. Gallwep in Minchen. 

Nachdruck fämtlicher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und det Beildgen 
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird Peine Gewähr 
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nıir wenn Rildporto beilag. 











Paris 1889, Gent 1889, Brüssel 1891, Ya * 
Londen 1893. Preisgekrönt Ar 


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12, Jabrg. Zweites Dezemberbeft 1898, Dett 6, 





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DER RU DSTUART 


Zugendscbriften. 


Ob wir Ehriften find oder Heiden, ob wir von „Nächftenliebe” zu 
reden gewöhnt find oder von „Altruismus“ — das Chriftentum hat 
für jeden ernften Menſchen dem Weihnachtsfefte das „Denke der Andern“ 
aufgeprägt. Die Stimmung, der Konrad Ferdinand Meyer in dem er— 
habenen Gediht „Alle“ Geftalt gegeben hat, da8 wir mit dem vorigen 
Hefte den Lefern unterbreiten durften, für jeden ſittlich Gereiften ift fie 
die echte Weihnadtsjtimmung. Und nicht nur auf die leibliche Not be= 
zieht fie fih. Wer aber gemöhnt ift, vor allem auf die geiftige zu 
fehn, der erfennt mit grüßendem Auge neben den Nußpflangungen unfrer 
Kultur noch dunkle Weiten ungerodeten Landes: urbar gemacht, werden 
fie einft wogen vom goldenen Korn für die Seelen. Wenn ihn das Leid 
der Brüder jchmerzt, ruft ihn die Fülle der Aufgaben für frohe Arbeit 
von der Klage zur That, und immer wieder, wenn mit den neuen 
Ernten neue Saatkorn reift. 

Da liegt das Gebiet der äfthetifhen Erziehung des Menfchen fo gut 
wie unbebaut vor unferm Bid, Urwald noch an der einen Stelle, an 
der andern Sumpf, der einjt mehr war. Aeſthetiſche Erziehung — wie 
wenige wiljen auch nur, um mie unüberfhägbar Wichtiges ſich's da 
handelt! Wefthetiiche Erziehung — fie denken an jo etwas dabei, wie an 
Erziehung zur Feinichmederei, daß man die feinen Weine und Zigarren 
auf der Lurustafel fünftleriicher Genüffe recht unterfcheiden und würdigen 
ferne. Sie wiſſen nicht, daß gerade das SHunftgigerltum kein Ding jo 
ſehr zu fürchten hätte, wie äjthetifche Erziehung. Sie wiſſen nicht, dat 
felbft, wenn mir Kunſt betrachten und hören, das Hunftwerf ung nur 
ber Führer ift dahin, wo mir raften, während der „Aeſtheſe“ mit der 
Schwächlichkeit feiner einfeitig überfeinerten Nerven nicht weiter fann, 
al8 bis zu Leinwand oder Noten= oder Buchblatt. Nicht die Kunſt 
genießen wir in der Kunſt, jondern im legten wieder die Natur, 
wie fie da draußen als Landichaft fi) auslebt in unendlichen Farben 
und Formen und drinnen in uns als das Reich der Phantafie, mil: 

Kunftwart 2. Dezemberheft 1898 


— 181 — 





lionenfach bevölkert von Erinnerungen und Ahnungen, von Gefühlen 
und Gedanken, die Natur, wie fie durch Leben und Lieben und Sterben 
der Tiere und Pflanzen und durch Werden und VBergehn der Berge und 
Deere und Erden und Sonnen und wie fie durch die Geſchichte der 
Völker geht und durch die Geſchicke der einzelnen Menſchen, die Natur, 
wie fie Spricht mit Lichtern und Schatten und mit den Farben und 
Klängen und Rhythmen. Mit all den Augen, mit all den Geiftern der 
Künftler, denen er zu folgen vermag, genieft, wie mit verhundert- 
fachtem Eingelleben, der äfthetiich wahrhaft Gebildete durch die Kunſt 
die Natur, das Leben, und er erfreut ſich dabei zugleich der Natur in 
denen ſelbſt, die ihn führen. Wie edel der Rauſch dejjen fei, der im 
echten Kunſtgenuß „den Gott erleidet“, gerade die äjthetiiche Erziehung 
lehrt, daß er nicht das letzte zu fein braudt, dieſer Rauſch, daß er 
nur die Empfängnis bedeuten fol, die zu ermweitertem Leben führt. 
Neithetifhe Erziehung ift Erziehung zu gehobenem Lebensgefühl, und 
damit zur Freude. Wann wird einmal die Allgemeinheit die unverfiegliche 
Quelle von Glüd ahnen, die ſolche Erziehung den Menſchen erfchlöffe ? 
Unfre Volkswirtſchaft entdedt eben jet mit Staunen die gewaltige materielle 
Wichtigkeit der Kunſtpflege. Aber nod) feine StaatSmweisheit fieht, wo 
der Kaviar fürs Volk jo billig zu beichaffen wäre. Es muß erft eine 
Schar von Vorkämpfern erjtehen, welche die Segnungen einer äfthetifchen 
Erziehung am eignen Xeibe erfahren hat. Die aber wächſt jegt in 
den Familien derer heran, „die was davon erfannt“. 

Bon der Erziehung der Empfänglichteit für bildende Kunſt und für 
Muſik ift auch in den legten Jahrgängen des Kunſtwarts ziemlich oft 
die Nede gemefen, von der Erziehung zur Genußfähigkeit an Dichtung 
mehr in den früheren. Es ijt an der Zeit, daß wir aud) diejen Fragen 
wieder mal näher treten. Greifen wir für heute eine heraus, die zur 
Weihnachtszeit befonder8 „brennt“, die Frage nad folder Jugend— 
literatur, die zur Genußfähigkeit an Dichtungen mitbilden kann. 

Auch für die Erziehung zum Poefiegenuß kommt noch mandes 
andere mit in Betracht — davon Sprechen wir ein ander Dal. Aber 
felbft die Jugendliteratur fällt nicht etwa ganz unter unfre Heutige Be— 
trachtung. Die moraliihen ſowohl wie die wilfenihaftlihen Bücher be— 
rühren unjern Gegenjtand nur am Rande. Beim Lejen in einem wiffen- 
Ichaftlihen Lehrbuch überwiegt an Intereſſe das Was fo jehr das 
Die, dak auf findlicher Stufe der Geiftesthätigleit die Form die befte 
ift, die das Erfaffen der mitgeteilten Gedanken am meiften bejchleunigt 
und die erfahte Thatſache am fefteften einprägt. Bei moralifden und 
religiöfen Büchern, bei Katechismus und Bibel 3. B., Tiegt das Verhältnis 
ſchon anders, aber die Erläuterung des Lehrers erſeßt, was etwa an Ans 
Ihaulichkeit und Wärme fehlt. Für die Bildung des Berjtändniffes von 
Dichterwerfen bei der Jugend kommt deinnad) vor allem die freie Lektüre 
in Betracht, mit der das Kind fi vergnügt. Alles Lernen geht durchs 
Ueben. Bon der Vergnügungs-, ber Unterhaltungsleftüre wird es ab— 
hängen, ob ein junger Geift zur Genuffähigkeit an echter Boefie erzogen 
oder Dafür verdorben wird. 

Aber der Pädagoge alten Schlages fagt: halt — ſchon die Worte 
Vergnügen und Unterhaltung Hingen meinen Ohren nicht Tieblih: auch 
die freie Lektüre des ſtnaben belehre und erziehe ihn, indem fie ihn anleitet 


Kunftwart 


— 112 — 


zu allem Schönen, Guten und Wahren! Das war der gutgemeinte Ge— 
danfe, der zum Bater ward unferer fogenannten „Ipezifiichen Jugend- 
literatur‘. Sehen wir nach, wozu er führen mußte. 

Der wirkliche Dihter Hat feine andere Abfiht, als: den Ein- 
drud, den irgend ein Stoff auf ihn macht, wenn er fi innig in ihn 
einlebt, auf andere zu übertragen. In der Stärke feines Denkens, 
Fühlens und vor allem feiner Phantafie liegt feine Ueberlegenheit über 
dem Leſer, liegt, was ihn berechtigt und befähigt, jeim Bild von dem 
gewählten Stüd Welt vor andere förperhaft hinzubannen, fo dab es 
vor ihnen lebt gleich einer Wirklichkeit. Wirklichkeit ift e8 nicht, aber es 
ift Wahrheit: des Dichter feinere Organe fonnten dem Leben dod 
nur entnehmen, was in ihm ftedte, da8 lehren fie nun den Leſer au 
ſehn. Der hat 3. B. in einer GerichtSverhandlung erjt jüngft von einem 
verlaifenen Mädchen gelefen, das zur Kindsmörderin ward. Ueber ein 
furzes Mitleid bracht’ ihn das nicht hinaus. Nun lieft er im Goethe 
von Gretchen, es faßt ihn wie den Fauſt, der dabei war, der Menſch— 
heit ganzer Jammer an. Und doc gab jene Verhandlung Wirklichkeit, 
Gretchen war feine: fie hat nicht gelebt. Und hat gelebt und lebt doch 
überall, fie ift Wahrheit. Was ergriff ihn? Nicht der Stoff, der ja 
‚derjelbe war mit dem der Gerichtsverhandlung. Alſo that e8 die Form, 
alfo that e8 der Dichter. Er war, im Sinne unferer einleitenden Be- 
trahtungen, Führer zur Natur, zur Wahrheit, zum Leben geworden. 

Daß eine echte Dichtung fittlich wirkt ohne jede Tendenz, ift nicht 
nur bei der Gretchen-Tragddie, es ift ohne Frage immer der Fall, 
wenn fie nur ein fittlicher Dienjch gejchrieben hat. Denn eine gelungene 
Dichtung bedeutet ja eben das gelungene Uebertragen des eigenen Innern 
auf den Geniefenden. Stellen wir uns nun vor, ein Tendenz-Schrift— 
fteller hätte das Gretchen-Thema behandelt. Er hätte verfchiedene Mög: 
lichkeiten gehabt. Er hätte mit möglichſter Deutlichkeit die Unfittlich- 
keit des Werhältntjies von Fauſt und Gretchen jchildern fünnen. Dann 
hätt er verſuchen müffen, die beiden als entiprechend umnfittlich zu ſchil— 
dern. Oder er hätte diefes Verhältnis als Folge des Leichtſinns be> 
Ichreiben können, zur Warnung vor foldem. Oder den Hindsmord, 
zur Warnung, daß eine ſchlimme That andere nachzieht. Gr hätt es 
nod) anders machen fönnen, aber gerade wegen feiner fittlihen Tendenz 
niemals mit der anſchaulichen und eben deshalb auc niemals mit der 
moralijhen Wirkung Goethes. Durch das Zurüddrängen anderer Er- 
ſcheinungen zu Gunften der tendenzidöß bevorzugten hätte ja unbedingt 
die Lebensfülle des Ganzen, ferne Wahrfcheinlichkeit, ſeine Anſchau— 
lichkeit und damit feine Ueberzeugungskraft leiden müffen. 

In unfern fpezifischen Jugendichriften nun Herrfcht im Großen und 
Ganzen diefe Blendlaternenbeleuchtung der Tendenz. Sie ift oft noch was 
Schlimmeres: die Berfafjer haben in ihren Blendlaternen Laterna magica- 
Bilder, die fie auf die Dinge werfen; der fogenannt religiöjen, mora= 
liſchen und patriotiichen Tendenz zu lieb wird die Wirklichleit auf das 
Unbefangenste gefäliht. Dann denft man wieder an die Unterhaltung, 
und jo fommt nad einem Slapitel Gottjeligfeit ein Kapitel Graufamteit 
-oder nah einem Sapitel Byzantinismus ein Kapitel Läppifchleit dran. 
Ih will davon nicht viel im Einzelnen fprechen. Man leſe Wolgaſts 
„Elend unserer Jugendliteratur” oder verfolge die Hamburger „Yugend= 

2. Dezemberheft 1898 


— 185 — 


Ichriften-Warte**. Ein befonderes Kennzeichen diefer Jugendliteratur ift 
dabei die unbemußte Geringihägung des weiblichen Geſchlechts. Dan 
vergleihe daraufhin nur den Spemannſchen „Guten Kameraden“ mit 
feinem Seitenftüde für Mädchen, dem „Srängdien“. Im Knabenbuch 
doch auch Nüsliches, Anregendes, Ernfteres, im Mädchenbuche faft nichts 
al3 Nichtigkeiten. Für die Frauen kämen noch andere Gründe als die 
der äfthetifchen Erziehung in Betracht, um fich gegen die Herzblättchen- 
und fonftige Gänfezudtliteratur in einer Zeit aufzulehnen, die doch auch 
im Mädchen weniger und meniger nur die Heiratsfandidbatin, ſondern 
den Menjchen fieht. 

Was aber ift die Folge von folder Jugendlektüre? Entweder: 
fie wird den jungen Lefern langmeilig, fie jehen hinter dem Weltbild 
den aufgehobenen Schulmeifterfinger durchſcheinen, den verhaßten, und 
flühten fih vor ihm zur Bücherei des Vaters oder zur Leihbibliothet, 
wo fie dann mahllos verfhmaufen Nütliches und Schädliches. Oder: 
fie gehen auf den pädagogifchen Leim. Armer Junge, armes Mädel, 
das moralisch fo bleihlüdtig ift, daß e8 durch daß literarifhe Häma— 
togen von Tendenzjugendichriften aufgebefjert werden fann! Zange vor: 
halten mwird’8 nit. Aber ausgiebig lange vorhalten wird die Verderb— 
nis des Geſchmacks durch eine Geiftes- fozufagen Nahrung, die nicht 
zur Natur, zum Leben, zur Wahrheit führt. Dem echten Gottesdienfte 
der Kunſt, bei dem die Freude zum Gebet und das Gebet zur Kräftigung. 
wird, ihm find die auf ewig verloren, die dauernd an den fpezifiichen 
Jugendſchriften Gefallen finden. Aber gaftlich öffnen fich ihnen die Pforten. 
unfrer Familienblattliteratur mit all ihren Ieihbibliotheffülenden Ablegern. 

ALS Theodor Storm von der „Deutfhen Jugend“ aufgefordert. 
mar, eine Jugenderzählung zu jchreiben, ſandt' er ihr nad) geraumer 
Zeit den „Pole Poppenſpäler“, mit einem Begleitwort. „Die Schwierig- 
feit der Jugendichriftitellerei war in ihrer ganzen Größe vor mir auf- 
geftanden. »Wenn du für die Jugend fchreiben willſte, — in diejem 
Paradoxon formulierte es fid) mir — »ſo darfſt du nicht für die Jugend 
ſchreiben!« Denn es ift unfünftlerifch, die Behandlung eines Stoffes ſo 
oder fo zu wenden, je nachdem du dir den großen Peter oder ben 
Heinen Hans als Bublitum denkſt.“ Das ift ja fo einfach, fo felbftver- 
ftändlih: wenn die dichterifhe Phantafie einen Stoff einfhmilzt und 
wieder außfryitallifiert in einer Verkörperung, fo hat er eben in allem 
Wejentlihen eine Gejtalt. Die lebt nun im Bewußtſein des Poeten 
als ein Organismuß, dem er nicht Glieder abfchneiden oder anleimen 
oder zu andern Formen verrenfen fann. Wen Storm „Baradoron“ 
überrajcht, der bedenke, daß man bis zu den Philanthropen fpezififche 
Jugendfchriften kaum gekannt Hat. So jollten die Kinder alles Iefen, 


* Die „Jugendicriften- Warte“ Tann durh E. U. Hellmann, Hamburg, 
Mohldorfer Str. 9, bezogen werden oder im Buchhandel dur E. Boyfen für 
nur 1,20 Mark jährlid. Wir nennen nod) ein paar andre Schriften, die hier 
in Frage fommen: Wolgaft, „Das Elend unferer Jugendliteratur“ (2 ME.) und 

„Ueber Bilderbud und Jllujtration“ (40 Pf.), beide im Selbjtverlag, Hamburg, 
Dttoftr. 18. Werner: „Beiträge zur literarifchen Beurteilung der Jugendichrift“ 
(so Bf.), herausgegeben vom Hamburger Prüfungsausfhuß für Jugendidriften 
im Selbitverlag. Storms „Pole Poppenfpäler“ ift jet verſuchsweiſe in einer 
Ausgabe für die Jugend für 50 Pfennige neugedrudt worden, mit einer Eins 
leitung von Wolgast. Verleger davon: George Weſtermann in Braunfchmeig. 


Kunftwart 
— 154 — 


was die Erwachſenen leſen? Alles gewiß nicht, aber fie follen nichts 
lefen, daß nicht auch den Erwachſenen erfreuen fünnte. Es gibt nur ein 
wirklich dichterifches Schrifttum, nicht je eines für große und für fleine 
Zeute, nur der Schriftiteller kann fi feinem Publiko „anpafjen“, der 
Poet nicht, ohne daß er fich ſelber verneinte. Hier: für die Jugend 
abfichtlich eingerichtete Jugendichriftitellerei und auf derfelben Linie 
fpäter abfihtlih auf den Geſchmack der Leute eingerichtete Unterhaltungs 
leftüre mit Familienblattgemüt und Senfationenfpannung. Dort: ohne 
Hinblid auf irgend ein Publikum aus dem feelifchen Bedürfnis des Poeten 
erwachſene Dihtung. Das find zwei verfchiedene Welten. Die erfte 
macht den Menſchen zum Sklaven des Stofflichen, die zweite zum Herren 
darüber. Man kann nicht für die zweite zum Herrn bilden, wen man 
zuvor in ber eriten zum Sklaven verderbt Hat. 


Für den äſthetiſchen Erzieher Tiegt demnach die Aufgabe fo: gib 
den Snaben und Mädchen Dihtungen zu lefen, deren Form ihnen ſchon 
verständlich und deren Inhalt ihnen nicht ſchädlich, ſondern womöglich 
gefund ift. Der wirkliche Jugenddichter, wie Storm mit feinem „Pole 
Poppenſpäler“ einer war, wird deshalb, wenn er „für“ die Jugend 
fchreiben will, einfach feine Stoffe forgfältigft darauf hin prüfen, ob fie 
dem unreifen Geifte Schaden fünnen. Der äfthetifche Erzieher aber wird 
auch aus den Dichtungen „für“ Erwachfene eine Anzahl getroft den 
Jungen und Mädeln in die Hand geben können. Zumal man’s mit 
dem Nicht-Berftehen nicht gar jo ängjtlich zu Halten braucht, fo weit nicht 
Neigungen ins Spiel kommen. 


Borläufig wird die Jugendliteratur im deutſchen Volk faſt nur nach 
geihäftlihen Grundfägen verbreitet. Unſere Tageskritif beipricht ihre 
Erzeugniffe, die aud ganz abgejehen von der äſthetiſchen Erziehung 
doch wahrhaftig wichtig genug find, in 99 von 100 Fällen einfach, in- 
dem fie Wajchzettel abdrudt — was geht fie die Geiftesnahrung der 
Werdenden an, fie braucht Pla und Honorare für den Theater- und 
Konzertllatih! Die Zeitichriften machen's auch nicht viel beffer, ſelbſt 
Blätter, fogenannte erjten Ranges ſchämen fich nicht, über Jugendbücher 
völlig kritikloſe Alleslobereien abzudruden. Wie's die Weihnachtskataloge 
maden, haben mir voriges Jahr gekennzeichnet. Die Buchhändler find 
und müſſen, Gott ſei's geklagt, in der Mehrzahl fein einfach Kaufleute, 
die am liebiten abjegen, was die höchſten Prozente abmirft. Und die 
ungeheure Maſſe der Jugendſchriften werfen nicht einmal fie ins Bolf. 
Die wuchert entrüdt den Augen ſelbſt der allerzahmiten Kritik, ungefähr 
fünfhundert „Groffogefhäfte”, die ohne Beziehung zum Buchhandel 
ftehn, laſſen ungefähr dreitaufend Neifende jahraus jahrein bei allen 
mögliden Buchbindern, KHurzmarenhandlungen, Krämern, SKolporteuren 
„in“ diefem Schund „machen“, der dann in vielen Millionen von Exem— 
plaren unter die Leute kommt. Gin einziger Jugendichriftenverhöferer 
ſolcher Art faufte von einem einzigen Jugendfchriftenfabrifanten 55000 
Eremplare eines einzigen jolden Jugendbuhs auf ein Mal. In all 
dieſen Fällen find die Zwiſchenhandelskoſten jo groß, daß die Herſtellung 
des betreffenden Ding nur ein paar Pfennige koſten darf. Und 
mir wundern uns, wenn die äfthetifche Kultur der Deutjchen herunter- 
gelommen: ift. 

2, Dezemberheft 1898 


— 15 — 


Unire heutigen Ausführungen haben ihren Zwed erfüllt, wenn fie 
den Kämpfern gegen das jetige Jugendſchriftenweſen auch in unjerem 
Kreife zunächft einmal wohlwollende Beobachter gemönnen. Eine Probe 
der Arbeit diejer Männer gab das dem vorigen Hefte beigelegte Ver— 
zeichnis. Wir denfen in mandem Einzelnen anders als fie, im Grund— 
fäglichen und bei weiten auch bei den meijten Anmendungen der Grund— 
fäge ftimmen wir ihnen mit herzlicher Anerkennung und den allerbeiten 
Wuünſchen für das Gedeihen ihrer Arbeit zu. 


47 N 


Wleibnachtssebau. 
Neues Erzählendes, 


Das Bild des MWeihnahtsbüher marftes ift abgebraudt, aber es 
ftimmt noch immer, Hunderte von Buben, von freilich nicht fehr kaufluſtigem 
Publikum umbrängt, vor jeder ein Ausrufer, der feine Ware als non plus 
ultra anpreijt, einige ehrliche, jehr geplagte „Kommiffionäre” zwiſchen beit 
Reihen, zahlreichere nicht gerade unehrlihe, aber die Vermittlung rein ge— 
ſchäftsmähig Betreibende, Hier und da ein jpöttifcher Beobachter. Wer ein 
neueres Bild wünſcht, mag etwa an einen raſch hinſtrömenden Fluß denken, in 
den die Buchhändler ihre neuen Bücher geworfen haben; an den Ufern halten 
die Kritiker Ausſchau, gemaffnet mit langen Stangen, halten hier und da ein 
Bud) auf und fiſchen's Heraus — das Publitum aber ftürzt ſich meijt über das, 
was gerade irgendwo angeſchwemmt mirb. 

Ich meinerfeits habe zuerst den neuen Roman Wilhelm Jenfens 
„Das Bild im Waffer* (Dresden, Karl Reißner) herausgefiſcht. Jenſen fährt 
fort, in unfre „rauhe, ſchnöde Wirklichkeit" Poeſie Hineinzubichten. Diesmal 
hat er fi eine Meine Prinzeffin (in Wirklichkeit ift e8 freilich Feine), die im 
einem einfamen weißen Schloffe Iebt, und dazu einen Primaner, der mit acht— 
schn Jahren über den Unterſchied masculini et feminini generis noch jehr 
mangelhaft orientiert ift, erfunden und läßt fie ein wunderſchönes Jdyl mit 
einander durchleben, das freilich durch ein jehr böfes MWeibsbild, eine fchein- 
heilige Paftorstocdhter Namens Agneta ein tragifches Ende nimmt. Diejes 
Idyll iſt zwar ſehr „unwirklich“, aber doch gejchieft in die Wirklichkeit hinein 
gefett, und da Jerfen den Zauberftab, der Stimmung gibt, in der That be— 
figt und feinem Primaner auch eine Entwidlung zu geben vermag, jo fommt 
ein immerhin fejjelndes Buch zuſtande. Im einzelnen find Feinheiten da, die 
unfere Jüngeren immerhin zum Nachdenken barüber bringen follten, ob es 
nötig war, den Symbolismus von auswärts zu holen. So iſt e8 3. 2. ehr 
ſchön dargejtellt, wie dem Primaner bie Natur zu [eben beginnt. — Stimmung 
und Yeinheiten wie bei Jenfen darf man bei Ernſt Wichert nit ſuchen, 
aber er fteht dem Leben klaren Blides gegenüber und ſpinnt fein Garn mit 
Behagen und ſchätzenswerter Sicherheit. „Vom alten Sclage* heißt fein 
neneites Werl (derf. Verlag), es ift vom alten Schlage, es könnte aus den 
Zagen ſtammen, wo Edmund Hoefer und Fr. W. Hadländer deuifche Lieblings 
autoren waren. Doch ift der Stoff modern, unferem Zeitalter der Tehnif und 
der Kolonialbejtrebungen entnommen, das ganze ein gefundes, unterhalt- 
james Bud, das man ruhig auch in eine VoltsbibliotHet ftellen könnte, mo 


Kunftwart 
— 16 — 


e8 viele eifrige LZefer finden würde. — Iſt Wicherts Werk unterhaltfam, fo iſt 
Kurd Laßwitzens „Auf zwei Planeten“ (Weimar, Emit Felber) geradezu fpan« 
nend, Es behandelt die Eroberung der Erbe durch die Bewohner des Mars. 
Alſo etwas im Stil Jules Vernes? Ja, aber wie die beutfchen Autoren, wenn 
fie fi energiſch auf etwas legen, die Franzoſen oft übertreffen, fo auch Laß— 
wig feinen franzöfiihen Vorgänger. Laßwitzens Phantafie ift mächtiger, und 
er war aud) imftande, feinem Buche Gedanfengehalt zu verleihen; ber aſtro— 
nomifhe Roman wird zum Zukunftsroman & la Bellamy. Ich kann mid) nun 
zwar mit ber Tendenz de8 Nomans nicht befreunden, aber das hindert mich 
doch nicht anzuerkennen, daß er wohl das Beite ift, was wir in dieſer Art be— 
figen. Die Geitalten gewinnen Leben, e8 gibt ba wirklich poetifhe Entwick— 
Iungen, wie 3. B. bie Vermenſchlichung ber Martierin La, immer wieder aber 
zwingt einem bie Größe ber Phantafie und des Kombinationsvermögens Be— 
munberung ab. 

Unnähernd die nämlichen Tendenzen wie Laßwitzens Wert hat dag neue 
Bud von Bertha von Guttner, „Shah ber Dual* (Dresden, Pierfon). 
Es nennt fih ein „Phantafieftüd*, aber Phantafie ift wenig darin und ein 
Stüd ift e8 aud nicht, es gibt Stüde!l Man fünnte e8 einfad) als eine durch 
eine Einkleibung zufammengefaßte Aphorismenfammlung über moderne fo= 
siale Fragen bezeichnen. Frau von Suttners Ideen und Bejtrebungen ver— 
dienen unbedingt, daß man ihnen näher tritt — ich fehe das ein, empfinde ich 
perfönlich auch immer wieder, daß ich mit ihr garnichts gemeinfam habe, Für 
die „Menfchheit” kann ih mid mit dem beften Willen nicht begeiftern, denn 
bie ift mir ein Begriff, und jedes Volk hat wohl feinen befonderen Begriff 
von ihr; das deutfche Blut aber, das mir in den Adern fließt, ift eine Rea= 
lität und, wie ih immer wieber merke, ein ganz beſonderer Saft. Ich Bin 
fein Chauviniſt, aber gerade auf dem Gebiet, auf das ich gejtellt bin, auf dem 
der Kunft, ift das Vollstum beinahe alles und könnte die europätfhe Menſch— 
heit, die Frau von Suttner und ihresgleihen wünſchen, wahrfheinlid wenig 
fein. Ein Beweis? Bon all den deutfchen Poeten, die Franzofen, Norweger, 
Auffen nahahmten, ift bisher einzig Gerhart Hauptmann etwas Rechtes 
geworden — ber an fein enges Schlefiertum gebunden ift. Die Blüte ber bis— 
herigen internationalen Kunſt aber heit — Trilby. Natürlich fließen Dieje 
meine Anfchauungen bie gefunde Wechſelwirkung der Nationalliteraturen (Die 
übrigens ja uralt, keinesfalls erit „modern“ ift) nicht aus, ja, wer kann etwas 
dagegen haben, wenn fi ein deutſcher Dichter auch einmal kühn über die 
Grenzen feines Vollstums hinauswagt! 

Frau von Suttner ift Ariftofratin in ihrer Art, Johannes Richard 
aur Megede ift aud) Ariſtokrat, aber meld) ein Unterfchied! Die Frau fennt 
im Grunde das Leben nicht, der Dann kennt es ausgezeichnet, und doch iſt 
fein Bild des Lebens nicht weniger ſchief als das ihrige. Zur Megedes neuer 
Roman „Bon zarter Hand* (Deutiche Verlagsanitalt) ift talentvoll, mie allcs, 
was dieſer Schriftiteller fchreibt, voll feiner Beobadjtungen, vor nichts zurück— 
bebend, aber wie ungefund, übertrieben, gezwungen erſcheint alles! Maßgebend 
ift zuletzt nur die Senfation, der zuliebe der hochariſtokratiſche Defadente Held 
benn auch erft zum Schluß merkt, daß ihn fein grünäugiges Mädchen Tiebt, 
nachdem er felbjt zum Mörder und feine Schwiegermutter zur Giftmifcherin 
geworben ift. Doch wird unfer Publifum zur Megedes Werk verfchlingen, 
das Publitum, das ohne Senfationen nicht leben mill nod) fann. — Es gibt 
nod) ein anderes, das fogenannte Familienpublifum. Auch diefes ift Heute 

2. Dejemberheft 1898 


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nicht mehr fo bejcheiden wie vor zwei Jahrzehnten, e8 verlangt, wenn nicht Sen= 
fationen, doch ftärkere Wirkungen und dann fo etwas wie einen ethifchen oder 
fozialen Gehalt. Jhın kommt Gujtav Freuffen mit feinem Roman „Die 
drei Getreuen“ (Berlin, Grote) entgegen, ber gleihfalls Talent verrät. Man 
merkt bier und ba, daß der Verfaſſer ein protejtantifher Theologe ijt, im 
Herzen ift das Werk aber doch weltlich. 

Viel energifcher auf ben außerpoetiſchen Zweck los, ala das Werk des 
Proteftanten gehen zwei Werte fatholifchen Urfprungs, Jofepp Sp illmannss.J. 
„Zapfer und Treu“ (Freiburg, Herder) und Charles be Vitis „Roman 
einer Wrbeiterin* (Köln, Bachem). Wie der Kunſtwart zur konfeſſionellen 
Literatur jteht, bedarf faum der WAuseinanderjfegung: er nimmt Das Gute, 
wo er es findet, und hätte ganz und gar nichts dagegen, wenn das fatholifche 
Deutfhland dem deutſchen Volke im Berhältnis ebenfoviele poetifhe Talente 
Ihentte, wie das proteftantijche bisher gehabt hat. Wir ſprechen nicht einmal 
gegen die Tendenz im Roman ohne weiteres, wir laffen fie gelten, fobald 
fie den Zebensgehalt des Werkes nicht verzerrt oder gar zerjtört. Das thut 
fie nun freilih in dem Romane Spillmanns. ES ijt ſicher eine Hübfche Jdee, 
die franzöfifhe Revolution durch die Auffaljung eines gläubig =Tatholifchen 
Schweizer-Offiziers zu fpiegeln, aber das mu dann auch mit Wahrheitsliebe 
geſchehen, der Pater Spillmann, der die neueren katholiſchen Werke über die 
franzöfifche Nevolution fennt, darf dem Schweizer nicht fortwährend über Die 
Achſel hauen. Hier wird die franzöfifche Revolution auf eine große Frei— 
maurerverſchwörung zurüdgeführt, und die Schweizer Offiziere willen ſchon vor 
der Eröffnung der Nationalverfammlung genau, daß es dem Könige ans Leben 
gehen wird! Auf weitere Einzelheiten will ich mich nicht einlaflen, nur nod 
die Spekulation auf die unvornehmen Inſtinkte der Leſer vermerken, die fid) 
durch den ganzen Roman hindurchzieht: der Held muß wiederholt einen Ja— 
tobiner ober Sansculotten durdjprügeln. Etwas treuherziges Schweizertum ift 
troß alledem in dem Werke, und das iſt feine beite Seite. — Ohne Vergleid) 
höher fteht de VBitis’ Werk. Der Verfaſſer fheint ein Luxemburger zu fein, 
ber lange in Paris gelebt hat. Sein Bud) ftellt die Arbeiterinnenverhältnifie 
der Weltitadt dar, mit einer Treue und Offenheit, die ſehr bemerlenswert find. 
Die Gefhichte felbit iit etwas romanhaft, aber immerhin nicht gerade uns 
natürlich, ihr Stil ift, wie mir fcheint, von Balzac (nicht von Zola) bejtimmt. 
Etwas Tendenz ift aud) da, aber feine aufdringlide — mer läßt ſich die 
katholiſche Kirche als foziale Helferin, und zumal in einem romaniſchen Lande, 
nicht gern gefallen? Trotz feines Statholizismus iſt de Vitis ein relativ freier 
Geift, der weiß, worauf e8 ankommt. Leuten wie ihm fünnen wir jehr wohl 
die Hand zur Waffenbrüderfchaft bieten, Leuten wie Spillmann nidt. 

Was fonit nod) zu befprechen wäre, muß warten bis hinters Felt. 

Adolf Bartels. 
Zur Literaturgeichichte. 

Die von den beiden Profejforen Fried rich Bogt und Mar Koch 
herausgegebene „Geſchichte der deutſchen Literatur von den ältejten Zeiten bis 
zur Gegenwart“, erfchienen zu Leipzig im Bibliographiſchen Inſtitut, hatte die 
Aufgabe: die Entwidelung ber deutſchen Literatur von ihren Anfängen bis 
auf unfere Tage auf Grund der geficherten Ergebniffe der germanijtiiden und 
allgemein literargeſchichtlichen Forſchung aus den Quellen durchaus gemein 
verftändlicd; darzuftellen. Die beiden Verfaſſer haben ſich derart in die Auf— 
gabe geteilt, dab Vogt das Mittelalter daritellte, dazu den Uebergang bis zur 


Kunftwart 
— ]E5 — 


Opisiihen Reform, d. 5. bis zu dem Bruch mit ber alten Boltsliteratur, wie 
er fih im Anfang des ı7. Jahrhunderts durch die Begründung einer Nenaif- 
fancedihtung in deutſcher Sprade vollzog. Den meiteren Berlauf ber Ent— 
mwidelung bis auf unjere Tage fhildert dann Mar Koh: Der erite Zeil des 
Werkes darf als wertvoll bezeichnet werden. Vogt beherrfcht feinen Stoff mit 
fiherer Hand und verjteht es einerfeits, die hervorragenden Berfönlichkeiten 
als Träger der Literatur ihrer Zeit, fomweit dies möglich ift, plaſtiſch heraus— 
arbeitend darzuftellen, anderfeit$, die dürftigen Refte — wir haben da natürs 
lich befonders die Ältere Zeit im Sinn — als Steine zu einem wohl geſchloſſenen 
Bau zufammenzufügen. So gewinnen auch die fünftlerifch mwertlofen Erzeug- 
niffe der Literatur im kulturgefhichtlihen Zufammenhang als Ergebnifle der 
herrſchenden Jbeen ber Zeit ihren Wert, und gerne überlaffen wir uns ber 
Führung bes Hiftorifer8, der mit weit umfafjendem Blid und fachlich wohl: 
begründetem Urteil fo wohl abgerundete anfhauliche Bilder entlegener Zeiten 
vor unseren Augen entrollt. Bon den großen Epen gibt Bogt, um aud ein 
einzelnes zu erwähnen, Mare Inhaltsangaben, die durd reichhaltige Texrtproben 
(im Urtert und in neu hochdeutſcher Uebertragung) unterjtügt werden. Daneben 
vernachläſſigt er auch die philologiſch-hiſtoriſche Kritik nicht; die befannten 
Streitfragen 3. B. über das Verhältnis der Ribelungen-Handicriften, werben 
in Kürze in ihren weſentlichen Punkten erörtert, und der Berfafler begründet 
eben fo fnapp und ſcharf feine Entfcheidung, die 4. B. gegen die Lachmannſche 
Liedertheorie ausfällt. Die Abbildungen, fachimilierte Text- und Bilderproben 
mittelalterlider Handidriften, find mit Sachverſtändnis gewählt und in ihrer 
tehnifhen Ausführung vorzüglid. — Nicht fo uneingeſchränkt können wir 
den zweiten Teil des Buches loben. Wir haben zwar nichts dagegen einzu= 
wenden, dat Koch aud) Mozart und Haydn gelegentlih erwähnt, daß er Richard 
Wagner einen guten Pla in der Literaturgefhicdhte anweiſt, noch auch dagegen, 
dab wir aud auf Namen von bildenden Künftlern ftoßen, da ja der Hinmweis 
auf allgemeine fulturgefhichtlihe Zufammenhänge immer aufflärend ift. Wir 
find aud) ganz damit einverftanden, daß der Berfaffer die Entwidelungs- 
geihichte nicht im Einzelbiographien auflöft, fondern 3. B. ein großes Zeitbild 
entwirft, in deren Mitte er die Geſtalt Goethes ftelt. Aber dieſe Zeitbilder 
find nicht von ber plaftifchen Klarheit, die Vogt, allerdings begünitigt von dem 
weiteren Abſtand der Zeiten, erreicht hat. Mehr noch haben wir auszufegen 
in Bezug auf die äfthetiihe Wertung verſchiedener namentlid) moderner Ers 
iheinungen. Die fühle Behandlung einer fo glänzenden und urfprünglichen, 
einer fo überragend großen Erzählerperfönlichkeit, wie der Gottfried Kellers, 
das Lob, das einem Sudermann geipendet wird, die zum Teil wunderliche Aus— 
wahl unter den modernen Dichtern, bei der mitunter der Zufall mitgefprocdhen 
zu haben ſcheint, und manche Einzelurteile machen e8 uns Doch zweifelhaft, ob der 
Herr Verjaffer gut daran gethan bat, die Grenzpfähle feiner Schilderung ſoweit 
vorwärts zu rüden, ob er nicht beifer die Gegenwart nur in einem allge= 
meinen UWeberblid behandelt hätte. Vereinzelte Jrrtüimer, wie dab Uhlands 
Geburtsjahr falfch angegeben wird, fommen neben dieſen Fehlgriffen im äſthe— 
tiichen Urteil nicht in Betracht. Uebrigens wollen wir aber gern zugeben, daß 
auch der Kochſche Zeil der Literaturgefhichte erfreuliche und glänzende Partien 
enthält, und daß man fid) feiner Führung zum minbeiten bis zu Goethes Tode 
wohl getroft anvertrauen fann. Für die neueſte Zeit böte die Bartelsjche 
Deutſche Dichtung“ eine unferes Erachtens allerdings notwendige Ergänzung. 
— In Bezug auf die illujtrative Ausstattung können wir dem Buche auch in 


2. Dezemberheft 1898 
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feinem zweiten Teil nur volles Lob fpenden. Die trefflichen Bildniſſe und 
die Schriftproben find in der That geeignet, in mancher Beziehung als wirk— 
liche Suftrationen, als Erläuterungen zu bienen, die ben Beitgeift veranſchau— 
lien. Das bunte Bild der Schlußſzene aus Wagners Parfifal freilih führt 
ſchon an die Grenze, wo das Bilderbuch beginnt, das die beutfche Literature 
geihichte (vgl. Robert König!) folange eniwürdigt hat. Paul Shumanı. 
Neue Bilderwertfe. j 

Bei jedem Ueberblid über die Runftpublifationen ber legten Zeit haftet 
das Auge zunädft an Max Hlingers „Bon Tode, II. Teil“, wovon nun 
ſechs Blätter bei Amsler & Nuthardt in einer Mappe mitfammen erfchienen 
find, und zwar wohl bie gemaltigften von allen: Elend, Und doch, Mutter und 
Kind, Berfuhung, Zeit und Ruhm, An die Schönbeit. Der Preis diefer fechs 
Blätter mußte mit 450 Marl zu body angefegt werben, als daß viele dag 
Werl erwerben fünnten, das auch nur in hundert Exemplaren gebrudt worden 
ift. Aber wo man’s kauſen fann, da kaufe man’, benn man fann nichts 
Wertvolleres von künſtleriſchen Werfen laufen! Die bei Breitlopf & Härtel 
erfhienenen billigen Lichtdrucke können von der griffellünitleriichen Herrlichkeit 
diefer Schöpfungen nicht mehr als einen „Abglanz“ geben. Bei der Wichtig— 
feit des geiftigen Elements bei Klinger find fie freilich trogdem nod von 
beträdtlihem Werte. 

Ueber den andern Großen unter ben „PBhantafiemalern” unfrer Zeit, 
Arnold Bödlin, ift etwas fehr Erfreuliches veröffentliht morben; 
J. 9. Weber in Leipzig Hat ı5 Holzſchnitte nad Bödlinfhen Gemälden 
mit einem guten Bildniffe und einem Fendlerſchen Texte zu einer Mappe vereinigt. 
Mande der herrlichſten Böcklinſchen Bildungen: die Toteninfel, das Schweigen 
im Walde, da8 Spiel ber Wellen, der Heilige Hain, die Pietà finden fi) unter 
den Blättern, deren Format das der Brudmannihen Bödlinwerke zumeift 
wefentlich übertrifft, während fich der Preis doch nur auf 25 Marl, alfo etwa 
1" Mark fürs Blatt ftellt. Den Einwand „es find ja nur Holzſchnitte“ brauchen 
wir bei unfern Leſern nicht zu beforgen: höchſtens der Linienſchnitt hat fidh 
vor den medjanifhen Techniken zu fürdten, der Tonfchnitt gewiß nit, wenn 
er in befonderen Aunftblättern die Reize ausbildet, die ihm eigentümlid 
find. Ein vollendeter Tonholzſchnitt ift fünftlerifeh nichts minder Mertvolles, 
als eine vollendete Radierung; feine eigentümlihe Schönheit ift nur bisher in 
weiten Kreifen noch gar nidt entde dt worden. Kommt, wie hier, vorzüg— 
liher Drud auf japanischen Papier hinzu, fo wird die Freude wirklich rein. 
Von den Weberjhen Blättern nad) Vöcklin find einige fo ſchön, fo maleriſch— 
deforativ, fo fammetig und faftig auch in der Farbe, daß ih mic) feinen 
Wugenblid fcheuen würde, fie an die Wand zu hängen. Jh habe nur zwei 
Wünſche: eritens, die Verlagshandlung möge die Blätter womöglich auch eins 
zeln abgeben, zweitens, fie möge ihre Verdienſte um die deutſche Holzſchneide— 
funft dadurd) erhöhen, daß fie künftig nicht nur das Ütelier, jondern den ein— 
zelnen holzſchneidenden Künſtler nennt. 

Franz Stud, nad) deifen Bildern jet Franz Sanfftängl in Münden 
ein Wert von 50 Photogravären auf bolländifhen Handpapiere bringt (in 
Pappe 75, in Lederband 100 ME), ward früher oft als ein Nachahmer Böd- 
lins betrachtet. Jetzt ift ale Welt darin einig, dab cr weit mehr als ein bloßer 
Nachahmer iſt, und wer diefe Sammlung durchblättert, der findet troß aller 
Vielfeitigfeit eine jo unverlennbare Bejonderheit, daß er jenes anfängliche 
Mikverftändnis faum nod) veriteht. Kaum fogar, daß wir noch begreifen, wie man 


Knnftwart 
— 19 — 


die Hauptbedeutung Studs, dieſes Meiſters der Vereinfahung im maleri— 
fhen Sehn, einit auf ben Wegen ſuchen fonnte, auf denen ſich Bödlins 
naturbefeelende Genialität entmwidelt bat, foviel der Berührungspunlte da find, 
Mit zwei Worten zu cdharakterifieren ift Stud natürlich nidt. Begnügen wir 
uns für heut mit diefem Hinweis auf die in Technik und Gefhmad der Aus— 
ftattung volllommene Publikation, und fommen mir auf den, dem fie gilt, 
bald eingehender zurück! 

Auch das neue Franz von Lenbach-Werk, das gleihfalls bei 
Hanfſtängl erfchienen ift, verze ichnen wir heut chen nur. Es bringt (in 
Mappe für go ME., gebunden für 100 ME) 20 ftattlidje Photogravüren nad) 
Lenbachſchen Bildniffen, von denen natürlid) eine Anzahl wieder weit befannte 
Perfönlichkeiten wiedergibt, von geiltigen Größen Björnfon, Virchow, Momme 
fen, Bergmann. Auch über Lenbachs Kunft dürfen wir mwieber einmal mehr 
fagen, als in diefer Ueberſicht angeht. 

Dann gibt eine Mar Liebermann= Mappe, erihienen bei Bruno 
und Paul Gaffirer in Berlin, 28 Zeichnungen Liebermanns in fehr ſchönen 
Lihtdruden für co Marl, Auch das fei heute nur, den Befchenkern von Ver— 
ehrern bes Berliner Meisters zu Nut, vor dem Feſte nod) regiftriert. 

Die großen und foftbaren der neuen Bilderwerle, die je nur einem 
Maler gewidmet find, wären mit ben bezeichneten genannt. Bon fleinern 
unb beſcheidneren hätten wir das neue, d. h. elite „Oberländer- Album“ 
(Münden, Braun & Schneider, 5 ME.) zu begrüßen. Gin Gruß genügt ja 
hier, ein dankbarer Gruß — weiß doch jeder, was ihm mit einem neuen Ober— 
länder = Album geboten wird an zeichnerifch meifterlicher Charafterifierungs= 
funft und an Humor von jener Art, die wie „ein echtes Herz“ „gar nit um— 
zubringen* ift, mit einem Worte: von Hilfsmitteln zur Freude. Der Inhalt 
de8 neuen Albums greift übrigens zum Teil um mehr als zehn Jahre zurüd. 
Dann ift en Hermann Haulbad- Mbum zu erwähnen, erfchienen bei 
Guſtav Weife in Stuttgart, der ı4 Autotypien nad) Originalzeihnungen aus 
dem Stinderleben bringt, wozu Anna MayersBergwald Verfe geſchrieben Hat. 
Ein Mbum von J. B Engl vom „Simpliciffimus" (Münden, Langen, 
ME, 3.50) ijt angelündigt, liegt aber zur Zeit noch nidht vor. So wäre an 
dieſer Stelle nur eine einem fehr alten Herrn gewidmete Sammlung nod) zu 
erwähnen: „Das radierte Wert des Adrigen van Ditade in Nach— 
bildbungen, mit biographifh Fritifher Einleitung herausgegeben von Jaro 
Springer“ (Berlin, Fiſcher & Franke, DE. 5.—). Die Nenroduftionen, in Ori- 
ginalgröße, find fo gut, wie man’s von Zinfägungen nad Rabdierungen eben 
verlangen kann. Gründet fi Heute, wie der Herausgeber im Vorwort be— 
merkt, das Anſehen Oſtades hauptſächlich auf feine Delbilder, fo Hat er die 
bisher ununterbrochene Dauer feines Reſpeltes bei der Nachwelt zunädjft feinen 
Agquarellen und dieſen NRabierungen zu verdanfen, denn „feine Liebenswürdig— 
feit machte ihn aud) den gepuderten Rofofomenfchen genehm, und ein glüdlicdher 
Humor bejeitigte die Bedenken ber gerehten Biedermaier, die fih in Kunſt— 
ſachen immer als Romfahrer fühlten.“ 

Weiſen wir hier gleich auf eine hübſche Anthologie von Bildern alter Meiſter 
hin, die derfelbe Kunfthiftorifer im nämlihen Verlage erjcheinen ließ: „Das 
Beben Chriſti“, 37 Foliotafeln, deren Preis Teider nicht angegeben iſt. 
Schon dadurch, das fi das Werk auf Reproduftionen nad alten Stichen und 
Rabdierungen befchränft, alfo wenigftens aus zweiter Hand gibt, nicht wie bei 
den Bildern nad) Stihen nad) Zeichnungen von Tafel- oder Wandbildern aus 


Annſtwart 2. Dezemberheft 1898 
— 4 - 


dritter und vierter, ijt es einheitlicher als 3. B. Pfleiderers viel zu viel ge— 
lobte „Meilterbilderbibel*, es mill aber auch gar feine Jlluftrierung ber 
Bibel geben, fondern einfach eine Sammlung nad) religiöfen Bildern. Das 
wichtigſte Sammelwerf biefer Urt, das in dieſem Jahre vollendet worden, ift 
freilich das große Sanfjtänglfche Photogravürenwert „Die Königliche Ge— 
mäldegalerie zu Dresden“ mit einem gediegenen Terte von Hermann 
Lüde und einer Menge von Nahbildungen von einer Schönheit, die nad) dem 
heutigen Stande der Technik nicht zu übertreffen it. Der Preis von 150 Mt. 
für daß gebundene Eremplar ift im Verhältnis zu dem Gebotenen fogar auf: 
fallend niedrig: man durfte eben bei einer Monographie über eine der aller- 
berühmtesten Bildergalerien der Welt mit vielen Aäufern rechnen. Gebt 
ſie weit über das Statalogartige hinaus, fo beweiſt Janitſchs „Jlluftrierter 
Katalog“ des Schlefifhden Muſeums der bildenden Künfte zu Breslau 
(Wisfott, geb. Mf. 10) erfreulich, wie rege ſich jet auch unfre Feineren Samm— 
lungen bemühen, wenigſtens durch Fleinere Bilderwerfe ihre Schäße dem Ge— 
meingut der Nation anzufchließen. 

Ein wirklich wertvolles Sammelmerf bisher nicht publizierter noderner 
Kunst verfchiedener Meifter ift die eben bei Heinrich Keller erfchienene Frank— 
furter Künftler-Mappe*, „zo Blätter Gr-Folio meift eigenhändiger 
Lithographien und Radierungen ber beitragenden Künſtler“ zum Preife von 
30 Mk. Die Sammlung ift von der Frankfurter Künftlergefellichaft veranitaltet 
worden ohne Jury, d. h.: e8 wurde jedem Mitglied anheimgegeben, nad) 
eigener Wahl ein Bild beizutragen. Durd) ihre Originalbeiträge in eigener 
Ausführung ift die Mappe ungewöhnlich intereffant, durch die Jurylofigkeit ift 
fie äußerft mannigfaltig geworden. Aber man gewinnt vor bem Frankfurter 
Kunſtleben doch Achtung dabei. Thoma felbit (deffen Einfluß ſich übrigens 
ehr vielfach bemerkbar macht) hat eine wunderſchöne Farben-Ulgraphie in fünf 
Platten, „Sübdeutihe Landfhaft”, beigejleuert; fie wiegt eigentlih ſchon den 
Saufpreis der ganzen Mappe auf. Wilhelm Steinhaufen hat ein ernft ſchönes 
Abdendbild gegeben, das merkwürdig an Millet erinnert. 

In der Indujtrie der eigentlihen „Bradtmwerfe* darf man erquid- 
licher Weife eine gewiſſe Flauheit verzeihnen; der äußerlich progigen und inner 
lich leeren Allerweltsgefallfudt-Spefulationen nad) Art der Bongſchen „Mo— 
dernen Kunſt“ und ihrer Geiltesverwandten find diesmal weniger da. Selbſt 
der neuefte C. W. Ullers ift dabei nicht einmal fo ſchlimm, wie feine jüngsten 
Vorgänger. Auch bei feiner Fahrt „Rund um die Welt“ (Stuttgart, Union, 
geb. co ME, fchreibe: fehzig Mark für einen — C. W. Allers!) Hat zwar diejer 
Zeichner nicht einen einzigen großen Eindrud, nicht ein einziges maleriſches 
Bild aufzufangen vermodt, und feine jtricjelnde Technik ift ebenfo unbedeutend 
geblieben, wie fein geiſtiges Erfaſſen. Da er aber einen guten Photographen— 
apparat im Auge hat, jo ift bei der großen Mannigfaltigfeit des Erblidten 
wenigstens viel ſtofflich Intereilantes ins Bud) gefommen. Wer fi über 
Allers noch nicht klar geworden ift, geh einmal von der Stuttgarter „Union“ 
nebenan zu Cottas Nachfolger und blättere in Wdolf Menzels Bilderwerf 
zu Mleijis „Zerbrodhenem Krug“ — diefes Werl in einer billigeren Wusgabe 
(zu 12 Di.) wieder herauszugeben, war fehr an der Zeit. Zwar find Hier 
nur einige wenige ber Holzjchnitte fo gut, wie die zu Kuglers „Friedrich dem 
Großen“, und man empfindet das teilmweis recht unangenehin, aber bei jedem 
Bilde fühlt man doch den Geift, der überquillt von Leben und nod) in den 
Heinften Nebenſachen das Tüpfchen übers i feht. 


Kunftwart 


Nennen wir an biejer Stelle „das diesjährige Prachtwerk der Katho— 
liken“, das bei Benzinger & Go. in Einfiedeln erfchienen ift. E8 beißt „Der 
Vatikan, bie Päpfte und die Zivilifation, die oberfte Leitung der Kirche“, 
bat bie Frangofen Goyau, Peratt und Fabre zu Berfaffern, ift eingeleitet vom 
Kardinal Bourret, hat ein Nachwort vom Bicomte Meldior de Vogüé von ber 
Acad&mie Frangaise, ift von Karl Muth überfegt und „Zur Erinnerung an 
die biamantene Jubelfeier ber Prieftermeihe Sr. Heiligkeit Papft Leos XIII.” 
herausgegeben. Diefe Angaben Tennzeichnen das Bud für unfern Zweck ge— 
nügend. Der Tert ift in jeder Zeile auf feine Uebereinftimmung mit ben 
Lehren der fatholifhen Kirche geprüft. Damit ftellt ſich fein Inhalt als eine 
interne Angelegenheit unferer katholifhen Mitbürger bin, in die hineinzureden 
ung nicht zufteht. Die Jlluftrierung mit ungefähr 550 Bildern ift durchaus 
fahlid erläuternden Charakters, die Ausftattung vornehm und gediegen, der 
Preis (30 ME, in Ganzlederband mit Goldſchnitt) fo billig, dab ihn nur ein 
ſehr großer Abfag erflären fann. Unter den Nidhikatholifen wird das Werl 
für diejenigen wichtig fein, Die fi) über die Stellung des Vatikans zu ben großen 
Fragen der Wiſſenſchaft und ſtunſt eine erite Anſchauung leicht erwerben wollen. 

„Das Rheingold“ nennt fi ein neues Prachtwerk aus dem Vers 
lage von ©. Wigand in Leipzig (ME. 45.—). Der bem mädtigen Format ent— 
ſprechend auf Flächenwirkung berechnete, braun getönte Einband aus Eſchen— 
holy mit grünem Titelgrund und Golddrud nimmt ſich fehr nobel aus. Der 
Inhalt befteht auß zwölf großen Vollbildern und vielen Meinen Zeichnungen 
von E. Weimar, bie fünftlerifh etwa auf ber nicht eben hohen Stufe von 
Hendrichs befannten Wagnerbildnern jtehen, nur daß fie fi) genauer an bie 
Wagnerſche Szenerie anfhlieken. Den verbindenden Text hat Sans von 
Wolzogen verfaht, er erzählt den Inhalt des MWagnerfhen Werkes fchr 
glüädlih im Stil und Ton einer nordifhen Saga. Hoffen wir, daß die Leute 
aus jenen Streifen, für die das teure Buch zunächſt wohl beftimmt ift, gelegent= 
lid außer den Zlluftrationen auch mal die Worte dazu betraditen. Dann be— 
kommen fie vielleicht eine Ahnung von dem Inhalt des Bühnenwerkes, das fie 
fi) fo und fo oft „angefehen“ Haben. Den Wunſch, baß dem fo mwerbe, legen 
einem ja gelegentlide Beobachtungen nahe. 

Ein im vorigen Jahre erfchienenes Werk von GE, Weichardt, „Pompeji 
vor ber Zerftörung* (5o ME), fommt jet aud in einer Lieferungsausgabe 
heraus. Der gemöhnliche Reifende weiß mit der Stadt ber Ruinen erfahrungs= 
gemäß „nit viel anzufangen“; nur wer fih mit andädtigem Sinn und 
eindringlichen Stubien vertieft in die mannigfaltigen Refte, vor deſſen Auge 
erjteht, was einit war, und er wird mit freudiger Erinnerung an die Stadt 
am Veſuv zurückdenken. Mancher mag ſo ſchon fi in Gedanken einzelnes 
tefonftruiert haben, feiner aber hat es planmäßig gethan, feiner wenigſtens 
der vielen Archäologen, die über Pompeji gefchrieben und Bilderwerfe ver= 
öffentlicht haben, hat bisher Rekonjtruftionen des alten Bompeji veröffent— 
licht, bis dies ber Leipziger Architelt E. Weichardt ganz aus eigenem Untrich 
that. Sein Werk enthält zwölf Foliotafeln, in Lihtdrud nad) Aquarellen, nad 
denen Weichardt uns die pompejanifhen Tempel in ihrer Umgebnng nad) 
ihrem urfprünglichen Ausſehen voritellt, ferner 155 Tertillujtrationen in Zinko— 
und Autotypie, darjtellend kleinere Relonftruftionen, Grundrilfe, Ruinen und 
Einzelfunditüde der Tempel, ſowie Kopfleiften und Schlußvignetten. Pompeji 
tritt uns, wie dies auch Ernit Curtius noch kurz vor feinem Tode ausgeſprochen 
bat, in diefem Werke ‚menſchlich näher“. Mag der Fachgelehrte mit Weichardt in 


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einzelnen Punkten reiten, feine Darlegungen und Schlüſſe find fo Harund zwingend, 
daß man mit vollem Bertrauen ihm zu ben einzelnen Schönheiten Pompejis folgen 
fann. Der Text ift von Weichardt felbft ohne jede Spur der pedantiſchen Lang— 
weiligleit geſchrieben, die in Deutfchland bei gelehiten Werfen no) vielfach 
für unentbehrlich gilt. Als bejonders interejlant fei noch das Kapitel Bervor= 
gehoben, in dem der Berfafler Elarer und überzeugender als jeder anbere 
Pompejiforfcher vor ihm über die alten Nusgrabüngen in Pompeji unterrichtet. 

Wie die Lejer aus manchen Ankündigungen gefehen haben, wird jegt Rudolf 
Adamys „Urditektonit auf Hiftorifher und äfthetiiher Grundlage* von ber 
Hellwingſchen Verlagsbuchhandlung in Hannover zu fehr ermähigtem Preiſe 
angeboten. Diefe Geſchichte der geſamten Arditeltur ift ein Torfo geblieben; 
berechnet war fie auf drei Bände in elf Abteilungen, von denen aber nur adt 
erjhienen find; der Verfaſſer ijt im vorigen Jahre gejtorben. Des erften 
Bandes erjte Abteilung („Die Arditeltur als Kunst, Aeſthetiſche Forſchungen“) 
erihien 1881, die erſte Abteilung des [legten Bandes, bie Frührenaijjance bes 
handelnd, iſt erjt 1896 berausgefommen. Für die Negfamfeit der modernen 
Forſchung ift diefer Zwiſchenraum zu lang, als dab nicht mittlerweil vieles 
veralten mußte, was damals als vortrefflid”) begrüßt werden durfte. Auf 
Einzelheiten lönnen wir uns Hier natürlih nicht einlaflen. Es fei bemerkt, 
daß die einzelnen Abteilungen nad) einander behandeln das orientalifhe Alters 
tum, Griechenland, Rom, die altchriitlihe Baukunjt, den muhamedanifden und 
ben romaniſchen Stil, die Gotif und die Frührenaiflance. ebenfalls ift das 
Wert mit großem Fleiß und mit aller Gewiſſenhaftigkeit abgefaßt, der Forſcher 
wird e8 nod) heute mit Nutzen nachſchlagen, wennglei man e8 nit ohne 
Einſchränkung empfehlen könnte Schr zahlreihe aus anderen Werfen entlehnte 
Abbildungen find ihm beigegeben. 

Bon einzelnen Kunftblättern Haben wir nur recht wenige auf 
auzählen. Unfre beſte Unjtalt für farbige BVervielfältigungen, Trowitzſch 
& Sohn in Frankfurt a. db. Ober, Hat eine höchſt forgfältig und fein durch— 
geführte Chromotypie nad) Rafaels „Heiliger Gäcilie* vollendet. Geftehen 
wir's, wir fönnen uns dieſer ſtarken VBerfleinerungen großer figurenreicdher 
Bilder doch nicht recht freuen, c8 verfchiebt fi zu vieles in der Wirkung da— 
bei. Deshalb empfehlen wir unfern Leſern mehr die farbigen Reproduftionen 
der gleiden Anjtalt nah weniger geftaltenreihen Werfen, bei denen das Ein— 
zeine deshalb größer wird, Giorgiones „Konzert“ (in diefer Vervielfältigung 
ber edelite Bildſchmuck für ein Muſilzimmer, den man fid) denlen kann), dann 
die Brujibilder (bejonders Kranachs Selbjtporträt und van Dyds Söhnchen 
Karls), das bleiben hier unfere Lieblinge Schöne farbige Reproduftionen 
von Werfen wie Bödlins anakreontiſcher Mufe, von einzelnen ſchönen und 
beforativen großen Köpfen überhaupt, fehlen noch viel zu fehr im ſtunſthandel. 

Bon der kleinsten der fünftlerifchen Einzelblätter, vonfünftlerifden 
Unfihtspofttarten hat uns die freundliche Beihilfe der Mode dagegen 
eine ganze Menge verſchafft. Es ijt wirklich wertvolles dabei. So die Künſtler— 
Loltlarten in Kupfer-Gravüre von Mar Liebermann (Berlin, U. Hilde— 
brandt), Die wegzufdiden einem Kunftfreunde fhon Ueberwindung koftet. Dann 
die mit Originalradierungen von Bernhard Mannfeld (Hödft a. M., 
Joſef Meder): mehrere Serien mit befannten Anfichten, daher für das größere 
Fublifum der Reifenden, in bem fie, fein und wirkungsvoll zugleih wie fie 
find, außerordentlidy viele Freunde finden dürften. Bon ben farbigen Ans 
ſichtspoſtkarten ftreiten fi) mehrere Folgen um den Preis der Vorzüglichkeit. 

Kunitwart 


— ICH — 


„FreytagsSchwäbiſche Künftlerpojtlarten“ (Stutigart, $. Frey: 
tag) bringen von tüdhtigen KHünftlern ungewöhnlidy hübfche Landſchaftsbilder 
über befanntere Motive aus Württemberg. Baden ftellt ihnen (neben den 
älteren Beltenfchen) neue „Karlsruher KünftlerbundsBoftlarten” 
aus ber G. Braunſchen Hofbuchdruderei zur Seite, DOriginallithograpbien der 
ersten badifchen Künftler, die zum Unterfhied von den vorigen mindeftens 
ebenfo der Stünjtlerlaune wie dem Landfhaftsgeifte gewidmet find. Das fagen 
mir zur Begriffsbeftimmung, nicht etwa als Borwurf. Die „Künftler« 
poittarten aus dem Sadhfenlande* (Leipzig, Meiner u. Bud), Die 
in einem Preisausjchreiben des ſächſiſchen Miniſteriums gekrönt worden find, 
halten fi} wieder, mie die ſchwäbiſchen, viel mehr an die Landbihaft. Alle 
die hier genannten Anſichtspoſtkarten find, was nicht etwa alle find, die ſich 
jonennen: FKünftlerpoftlarten. Käme nur auf je hundert verſchickte An— 
fihtspojtlarten eine aus diefen Serien, man fünnte um dieſe unsre liebe 
Tochter den ganzen Unſinn verzeihen. Aber was iſt uns fonft nod) alles „in 
diefer Brandje* zugegangen |! Gut, daß das Weihnadtsfeft für den Mantel der 
Nädjitenliebe jorgt ... 

Einzelne Sachen, bie erjt in legter Stunde eingetroffen find, und dann die 
periodifc erſcheinenden Bilderwerfe (unter denen jeht mandjes Gute ift) 
möüffen mir ein anderes Dal beſprechen. 


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ep ’ 
FR 


Hugo Wolfs Moͤrike⸗Lieder. 


Zahlreihe Aneldoten und Hiftörchen berichten davon, mit wie unglaub- 
licher Raſchheit Franz Schubert feine Lieder ſchuf. Es fommen ihm Berfe zu 
Geſicht, regen ihn bligichnell an und löſen in wenigen Augenbliden einen mu= 
ſikaliſchen Einfall aus, der fogleidh zu Papiere gebradjt wird und gefungen bie 
herrlichſte Wirkung thut. Und zu folder genialen Fruchtbarkeit entflammen 
ihn nicht etwa bloß Meiſterwerke der Dichtung; ebenfoleiht reagiert fein Geift 
auf das banalite, phrafenhafteite Gereim. Es iſt eben nicht jo jehr das Ge— 
dicht als Kunſtwerk, jondern fein rein ftofflicher Inhalt, mas ihn ergreift, ja 
es fann ihm, wie in der „Böfen Farbe“, fogar gefhhehen, daß der tonſchöpfe— 
rifhe Akt Schon begonnen bat, eh nod) das ganze Gedicht zu Ende gelefen ift, 
und daß er 3.B. den Beginn bei „Jh möchte zichen in die Welt hinaus“ aus 
bioßer Unfenntnis des Folgenden im Ausdrud gänzlich verfehlt. Denn fo, 
wie er's Hinjchreibt, mag ein frifhfröhlicher Neitersmann feine Wanderluſt 
fih vom Herzen fingen, nicht aber der verzweifelte Müllerburfch, dem ber 
Poet diefe Worte mit ganz anderem Einne in den Mund gelegt hat. 

Im Vergleih zu folhem Berfahren jcheint mir bemerfensmwert, was id) 
neulich über einen Liederabend berichtet fand, den feinerzeit der vielumiftrittene 
zeitgenöfliihe Wiener Komponift Hugo Wolf gegeben bat. „Zunädjt las er 
die Gedichte im ſchönſten fteirifchen Dialekt, aber jo von innen heraus em— 
pfunden, daß nur einem ganz thörichten Menſchen die Sache hätte komiſch er— 
ſcheinen können. Nah beim Mörikefhen »In ein freundliches Städtchen tret ih 
eine wandte er fih an uns: »Iſt das Gedidt nit zum Heulen ſchön?« 
Und nun fing er an zu fingen*.... die ganze fünjtlerifhe Eigenart Wolfs 
läßt fih aus dieſer einen Mitteilung erfchliegen. Bor und über dem Singen 
jteht ihm die Erfaffung des Dichterwortes; dDefjen Wert ijt ent- 
ſcheidend für feine Wahl. Und man wird geitehen, dab ein Muſilker, der foviel 


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Poetenſinn befigt, um wirkliche Dichter als ſolche zu erfennen unb ben unter 
den Gedichten Mörifes gerade jenes eine vor allen „zum Heulen“ bringen kann, 
jedenfalls eine außergewöhnliche Erſcheinung ift. 

Es gibt unter den fortfchrittlihen Muſikern befanntlich eine ſtarke 
Gruppe, die in Hugo Wolf den größten Iebenden Tondichter und ben Vollen— 
der des deutfhen Liedes fieht. Sie hat barin meines Eraditens unbedingt 
Recht; nur die Gründe, bie fie dafür gemeiniglich vorgibt, kann ih nicht 
ohne weiters anerfennen. Da heißt #8 3. B.: feine Originalität beftehe darin, daß 
die Hlavierbegleitung aus ihrer untergeordneten Stellung als Stüße ber Mes 
lodie heraustrete und zur Interpretation, zum Sommentar des Gefungenen 
werde. Wber dag wäre bod nur eine finngemäße Lebertragung des Wagner 
ſchen Prinzips auf das Kunſtlied, alfo nicht eben originell, und dann iſt bie 
fomphonifhe Behandlung des Maviers, die Durchführung eines Motivs, Die 
Ergänzung bes Gefungenen dur den Inftrumentalpart aud) im Liebe nicht 
neu. Seber Kenner wird von Schubert, Schumann, Franz, Brahms eine er— 
Medlihe Anzahl von Liedern anführen können, bie dem angeblich Wolfſchen 
Prinzip entfprechen oder doch fehr nahe fommen. Und ſchließlich ift bei einem 
Geſangſtück der vofale Teil doch immer die Hauptfahe, fo daß ein Ueber— 
wuchern des Snftrumentalen, fobald es bie Singftimme behindert, geradezu 
einen Fehler bedeuten würde. Anders nimmt fi ſchon bie Berherrlichung 
Molfs aus dem Grunde aus, daß er immer richtig beflamiere. Aber dann 
braudte ja Einer das Gedicht, das er lomponieren will, fih nur von einem 
Meifter des Vortrags rezitieren zu laſſen und deſſen Tonfall bei der Einfegung 
der Singftiimme in die natürlich vorher ſchon fertige „Iymphonifche* Unterlage 
genau zu beachten, und ein Meifterlied märe auf dem nit mehr ungemöhn= 
lihen Wege ber Kompagnie-Arbeit zuftande gebradjt. Aurzum: es ſcheint mir 
vor allem darauf anzufommen, daß mit den erörterten theoretifchen, zum Teil 
bloß negativen Vorzügen fih eine pofitive praktifche, muſikaliſch-ſchöpferiſche 
Kraft verbindet und daß diefe Kraft nit in felbitherrlicher Bethätigung ihr 
Genügen findet, fonbern fid) ganz in den Dienft des Poeten ftellt, um ben 
Yusdrud feiner Kunſt aus dem mufilaliihen Vermögen zu veritärfen, Ein 
Komponift, der bei genialer Begabung in ſolchem Grade feine Muſik der wohl: 
verftandbenen dichteriſchen Wirkung unterordnet, der durch feinerlei virtuofe 
Vordringlichleit die Aufmerkſamkeit von ihr auf fi) abzulenken ſucht, ſondern 
nur bezwedt, den Wert der Dichtung mit feinen Tönen ins hellſte Licht zu 
rüden: ein folder Komponiſt fteht wirklich einzig da. Aus Molfs Verhältnis 
zu feinen Terten erflärt fih dann aud), warum er nur gute Dichter in Mufit 
feßt, nicht aber mittelmäßige ober ſchlechte. Das Komponieren ijt ihm eben 
nicht Selbitzwed, er will fi) durch die Worte nit allgemeinhin zu mufifalis 
ſchem Schaffen anregen laſſen, fondernlihnen ganz fpeziell zu tönendem Leben, 
zu tieferer Wirkung auf das Gefühl verhelfen. Immer bleibt dabei das Ges 
dicht die Hauptfadhe und die Muſik nur ein Mittel des Ausdrudes. 

Geht man von diejem Geſichtspunkt aus, fo kann einem fchwerlid ein 
höherer Genuß auf dem Felde der Lyrik widerfahren, als gerade die Bekannt— 
fhaft mit den Mörike-Liedern Wolfs, die ih unbedenklich dem Allerbedeutends 
ften an die Seite jtelle, was nur je im biefer Kunftgattung geleiftet worden iſt. 
Und dies umfomehr, als Wolf in Bezug auf Erfindung eine in unfern Tagen 
geradezu eritaunlide Urfprünglidfeit beflundet und unbefchadet feiner 
wunderbaren Sadlidjfeit die eigene ſtarke Perſönlichkeit doch nicht verleugnet. 
Sein Reichtum an Melodien, die imitande find, „das Gefühl ficher zu beſtim— 


Kunftwart 


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men“, ift ebenfo groß wie fein muſikaliſcher Formenfinn und feine Runft, ihn 
in völliger ilebereinftimmung mit bem poetiſchen zu bethätigen. Ich befenne 
frei, daß ih mid aus anfänglid nit geringen Vorurteilen allmählich zu 
einem wahrhaft ſchwärmeriſchen Verehrer Hugo Wolfs dank der überzeugenden 
Kraft feiner Tonſprache befchrt habe. 

Wolf ift als echter Lyriker faſt ausfchließlich Liederlomponift; wenig— 
ftens vermag ich feinem bisher einzig dDramatifhen Verfuh, der fomifchen 
Oper „Eorregidor*, keineswegs eine gleiche Bedeutung zuzuerkennen. Er ijt 
„Spezialift*, wenn man das häßliche Wort denn einmal anwenden will, aber 
auf feinem Gebiet von einer Vieifeitigleit, die in Erftaunen fest, meil er für 
die verfchiebeniten Empfindungen und Stimmungen den reiten Nusdrud mit 
aleicher Sicherheit zu treffen meiß. Ein Blid in den Mörike-Qiederband *, der 
doch nur einen Bruchteil feines Schaffens umfchlieht, wird das ofienbaren, Da 
findet man die ganze Reihe vom flotten Gonplet „Auftrag“ Bis zum große 
artigen Balladenftil des „Feuerreiters“, vom burſchikos übermütigen „Abſchied“ 
bi8 zu dem aus tiefiter Verzweiflung auffchreienden Geſang „Wo find ich 
Troſt“. Es gehört zu Wolfs befonderen Vorzügen, daß er nicht wie andere 
Lyriker der Gegenwart Hauptfädhlich in erotiſchen Ergüſſen ſchwelgt, jondern 
ebenso oft andere Saiten des Empfindungslebens anſchlägt. Da iſt zunädyit 
die Gruppe der religiöfen Gefänge mit ihrer Krone, dem ſchon erwähnten „Wo 
find ich Troſt“; da iſt daß innigfromme „Gebet“ mit dem entzüdenden Syn— 
fopennadjipiel; da iſt das tiefemyftiihe „Schlafende Jefulind*“ und das von 
kindlicher Lieblichkeit umfloffene Lied „Zum neuen Jahr“. Dean könnte daran 
jene weltlich=ernften Gefänge anſchließen: „Der Genefende an die Hoffnung“, 
namentlich im legten Teil ein Meiiterwerf inbrünftigen Musdruds; das aus 
heiterem Spiel unter ſchmerzlichen Seufzern zu unheimlicher Gewalt ſich fteigernde 
„Dent e8 o Seele“; die in anmutsvoller Dielodie befriedigte, rondoartige „Vers 
borgenheit* ; das geheimnisvolle, harmoniſch feltfame mit dem wunderbaren 
Gedicht wetteifernde „Mitternacht“ mit dem zauberhaften Refrain „vom Tage“. 
Damit ift gleich der Uebergang zu den Naturliedern gefchaffen, zu dem hin— 
reißenden Frühlingsgefange „Er ift’8*, zu der rüftig ausfchreitenden „Fußreife” 
— man beadte im Hlavierpart namentlih die delifate Ueberleitung in bie 
Wiederholung des Hauptthemas vor der legten Strophe — und zu dem in ber 
genialen Umbildung feines Grundmotivs ſchon rein muſikaliſch imponierenden 
„Auf einer Wanderung“. 

Die dritte Gruppe, die mehr oder weniger erotische, fchlieft mit dem 
„Heimmeh* an bie Wanderlieder an. Ein Lied, wie e8 wenige gibt, das uns 
ſchon mit den eriten Taften völlig in den Bann der Stimmung nimmt und 
gar nicht mehr losläßt! Dann in bunter Folge, immer eine Perle nad; der 
andern: das elementare, überaus charafteriftifch deflamierte „Lied vom Winde”, 
das elegiiche „Ein Stündlein wohl vor Tag”, aus einem einzigen Motiv, das 
in den hohen Lagen ganz überrafchend Vogelgezwitſcher nachahmen fann, meifter- 
haft aufgebaut, und die graziöfe „Begegnung*, Die hifpanifches Kolorit durch— 
fcheinen läkt. Gibt e8 etwas Anmutigeres, als das „Jägerlied“ mit feinem jo 
ganz natürlich °/s Tat? Gibt es etwas Nührenderes als das ſchlichte „ver- 


* Der ganze Band (55 Lieder) ift bei %. Hedel in Mannheim erjchienen 
und mit dem Bildnis des Dichters gefhmüdt. Gin für Wolfs Verehrung für 
jeine Dichter recht bezeichnender Zug. Sonit find die Lieder aud) in zehn 
Seiten erichienen, von denen fi zur erften Bekanntſchaft namentlich Heft 1—4 
und 6—9 eignen. 


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— 1 


laſſene Mägdlein“ mit den intereffanten harmoniſchen Rüdungen feines inſtru— 
mental ftreng gehaltenen Themas? Oder etwas Holdieligeres, als den „leicht— 
geſchwungenen“ „Gärtner“ ? Welche ſchmerzliche Nefignation in „Wgnes“! 
Welche tragilomifchsreigende Berfpeltive beim „Zitronenfalter im April“! Und 
ihlieglih „An eine Yeolsharfe*, eine der glüdlihiten Eingebungen Wolfs mit 
feiner jühen, aus dem Tonfall der Rede wie von felbjt herausblühenden Kan 
tilene des Mittelfages (Shade nur, dab die Führung der Singitimme in 
der zweiten Hälfte mit der mädtigen Steigerung des Klavierparts nit mehr 
ganz gleichen Schritt hält), fowie das in feiner freien Form, mit den aus— 
drudsvollen injtrumentalen Zwiſchenrufen höchſt merfwürdige „Erite Liebes— 
lied eine Mädchens“. 

Die ſchalkhafte „Nimmerjatte Liebe“ Teitet zu jener Gruppe hinüber, mo 
Wolf feinem warmen, echten, fernigen Humor die Zügel fhiegen läßt. Die 
famoje „Stordenbotfhaft“, den auf den Ländlerton fein abgejtimmten „Rat 
einer Alten“, das behaglich progige „Selbitgeftändnis* u. am. Mit dem 
drajtifchefomischen „Tambour“, einem Kabinetitüd feiner Art, find wir ſchon halb 
aufs Gebiet der Ballade gelangt, wo das Böjtlih> „Elfenlied“, der prachtvoll 
entwidelte, Ieidenfhaftlihe „Jäger“, ein Stonzertlied eriten Ranges, der dä— 
moniſch padende, atemoerjegende, graufige „Feuerreiter” und der vilionäre, 
fih zu königlicher Majeſtät erhebende „Geſang Weylas“ heroorragen, von 
meld letzterem wieder zu den religiöjen Gejängen zurück nur noch ein 
Schritt ift, 

Ih Habe nur jene Lieder aus dem ſtattlichen Bande namhaft gemadt, 
die in mic den größten Eindrud zurüdliegen, ſodaß ich fie al3 ein unverlier= 
bares geiitiges Beſiztum am hmeiſten ſchäze. Andere Imögen in dem reihen 
Hort noch andere Edelfteine wählen. Doh lünnten wir einftweilen gar fehr 
zufrieden fein, wenn wenigitens jene zur Zeit Schon in weiteren Kreiſen deut— 
fher Muſiker belannt und geliebt Joären, wie fie es verdienen. Statt 
deilen enthällen fie ihren Glanz noch ſozuſagen heimlich, in Vereinskonventikeln 
und Tendenzlonzerten. Damit will ich die Waderen, die für die Anerkennung 
Wolfs feit Jahren tapfer und unermädlich eintreten, wahrhaftig nicht Fränfen, 
und um jo weniger, als ſich ja auh der Hunftwart fhon vor einem Jahr— 
zehnte mit ihnen verbündet Hat. Vielmehr, ich will betonen, wie ſchmachvoll es 
iit, dab jo hochbedeutende Shöpfungen einer befonderen Bropaganda überhaupt 
noch bedürfen. Dem unglütlihen Künjtler, den jegt die Naht der Krankheit 
umfangen Hält, ijt es ergangen [wie feinem Dichter Mörike. Sein Bolt als 
Ganzes hat ihn in feiner Größe nicht erkannt, man hat beitenfall3 das Nied— 
liche und Spielende an ihm gelten laifen. Es jift wieder einmal ein Genie 
vorübergegangen, da8 man von der vielköpfigen Heerde der Talente nicht 
unterfcheiden konnte, die Tonkunſt hat wieder einmal ihren heimlihen König 
verloren, bevor man merkte, daß e3 ein König war. Rihard Batfa. 


RE) 
Lose Blätter. 
Sur Weibnachtszeit. 
Bon Peter Rofegger. 

VBorbemertung Wollen wir zur Weihnahtszeit ein Bild beſehen, 
das uns ganz das Gefühl gebe, daheim zu fein, darüber find wir ja 
einig, fo gehn wir zu Ludwig Richter. Wollen wir aber etwas lejen, das 

Kunftwart 


— 5 — 


ſolche Gefühle pflege, und mögen wir doch unter denen bleiben, deren Auge 
nod) das Sonnenlicht trinkt, bei wem Hopfen wir dann am beiten an? IH 
mwenigitens thu es am liebjten beim alten Raabe ober bei Klaus Groth im 
Norden broben ober bei Rofegger im Süben. Diefer, Rofegger, zeigt uns dieſes 
Jahr allerdings „Jdyllen aus einer untergehenden Welt.“ Aber der Geift, der 
fie uns erzählt, ber Darf nicht untergehen, ber ift unfer Beites. Er foll fi 
vermählen mit der Frau Neuzeit, aber feine Kinder follen nit allein nad 
der Mutter ſchlagen. Und das ift ja unfer Troft und unfer Glüd: fie wer— 
den's auch nicht, denn fie können's nit, denn es wäre wider bie Natur, Wie 
du dich freuen magſt darüber, daß bein Junge fo helläugig ins Leben von 
heute fieht und feine Arme drin zu gebraudhen weiß — ganz plöglih wirft 
du's immer mwieber mal merken: da fteht der Vater aus ihm, da gudt gar ber 
Großvater heraus, So bleibt das Holz an den Stammbäumen das alte und 
wird doch immer wieder verjüngt und tüchtig zum Anospen und Treiben. Der 
neue Rofegger, diefer Sammelband ba von furzen Geſchichten, den uns der 
Staadmannfhe Verlag unter die Tanne legt, Spricht übers Einzelne oft gar 
fröglihen Tons, ift aber al8 Ganzes dod) eine wehmütige Elegie. Eine alte, 
fhöne und wohl nad) Menfhenmöglichkeit glüdlihe Welt vergeht da in den 
"Alpen, und einer ihrer beiten Söhne fieht’s mit an und kann fo wenig helfen 
‚wie irgenb mer fonit gegen das Ungeheuer Neuzeit. „Wo ift das alte Bolt 
mit ben ftarfen, frohen Herzen, wo iſt das Leben, das Jahrhunderte lang fo 
glücklich die Wage gehalten hat zwifhen urfprüngliher Natur und menſch— 
licher Zivilifation? Es verflüchtigt fih von Tag zu Tag und die Individuen 
ber Bauerfchaft ftranden an den Fabrifen.* Aber aud) in die Fabrifen tragen 
fie mit ihr Erbe aus der langen gefunden Vergangenheit. Mas ward, bag 
muhte werben, je tüdhjtiger aber die Erbſchaft eines Geſchlechtes ift, je mehr 
‚dürfen wir hoffen, daß auch aus feiner Verbindung mit der neuen Zeit ein— 
mal wieder Tühhtiges aufgehen werde, ahnen wir aud) noch nidt, was und 
wo und wie. 

Unfre Probe aus NRofeggers Bud ift anſpruchsloſe Heimatfchilderung. 
Sie paßt zur Feſtzeit. Vielleiht auch: fie wird noch vor der Feſtzeit gelefen. 
Dann forge fie wohl dafür, dat um bie Weihnadt felber mehr von NRofegger 
im Haufe fei. Iſt er doch einer ber wenigen, an denen der Alte und der Junge, 
und Dann und Frau und Stenner und Nichtlenner gleih ehrliche Freude 


‚haben können. Ri 


Das Kreisftehen. 


Un einem Dezemberabend fam der Bettelmann zu uns ins Waldbuuern= 
haus, Er war nod nidt betagt, war nicht mühſelig, aber er bettelte. Er 
jtehe fich beim Betteln beſſer, meinte er, als beim Wrbeiten. Erſtens fei im 
"Winter bei den Bauern ſchwer eine Arbeit zu belommmen, zweitens fei das Holz— 
baden im Schnee weniger angenehm als das Sigen in ber warmen Stube 
als „Statthalter Gottes“. Damit fpielte der Schalt auf den Pfarrer an, 
der gerne predigte über den Text, daß ber Herr Jefus Heute no auf Erden 
mwandle, und zwar in Gejtalt der Armen, und dab, was man den Armen 
thue, ihm ſelbſt gethan fei. 

Diefe ſchöne Lehre der Barmherzigkeit verftand der Bremer-Sepp — 
mie er bie — nicht übel auszunutzen, und fo faß er in den Bauernftuben 
herum, einmal am Herde, einmal am Tiſche, dann wieder neben dem Stroh— 
‚Ihaub, den er als Bett erhielt unter dem Ofen. Freimütig gefagt, waren 


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.—_ 11,9 — 


aber die Bauern in unferem Alpel inımer noch nicht evangeliſch genug gefinnt, 
um eine folde Statthalterfchaft recht zu ſchätzen, fie Duldeten ben Faulenzer 
aus einem anderen Grund. Etlidhe Wochen früher war der Bremer ala Ber: 
abfchiedeter vom Militär zurüdgelommen. Seine Bermandten waren während 
feiner Abweſenheit geltorben, er fand fein Heim mehr, nachdem er zwölf Jahre 
lang bei den Soldaten geweſen. Uber er mußte jonderlei Merkwürdigkeiten 
zu erzählen von der meiten Welt und aus feinem Leben al8 Tambour, er 
fannte auch viel wunderfame Beihichten, Märchen und hatte allerhand Schnurren 
und Schwänke in fih, mit denen er bie Leute an den langen Abenden gar 
töftlih unterhielt. Dem Hauspater war ftetS daran gelegen, daß bie Knechte 
und Mägde beim Spänellieben, Rübenabfräuteln, Strautihaben und Flachs— 
fpinnen nicht allgufrüh ſchläfrig murben und dann etwa von der alten Ge— 
mwohnheit, um neun Uhr ins Bett zu gehen, Gebraudy madten. Der Bremer 
padte feine „Faxen“ aus, fie bewunderten, fie ladten, ſie fchauderten und 
blieben oft bis gegen Mitternacht bei der Arbeit. 

So hat fich der „Statthalter“ erfleflich ausgezahlt, und wir, die jüngeren, 
hatten an dem vielerfahrenen Danne einen Iujtigen Lehrmeifter, dem befonders 
ich etwelches zu verbanfen habe; mande meiner Gefhichten, die erft in fpäten: 
Jahren reif geworben, hat damals der Bremer gefät. Wenn der Bettelmann 
Gefahr witterte, daß er am nächſten Tage mit feinem Tragforbe höflich weiter 
gefhidt werden fünnte zum Nachbar, jo hub er am Abende zuvor eine gar 
wunderbare Begebenheit an zu erzählen und verſchob die Fortjegung auf den 
nächſten Abend. In alten Zeiten hat diejen Spak ſchon die berühmte Schehe— 
rezade erprobt, heute wiederholen ihn die Zeitungen, er bewährt ji immer und 
den Bremer haben fie nirgends fortgefhidt, bevor er eine merkwürdige Ge— 
fhichte zu Ende erzählt. 

So war der Bremer Sepp alfo aud) bei uns eingetreten mit ber artigen 
Bitte, er möchte feine verfrornen Beine gerne ein wenig wärmen, an bem Herd— 
feuer, Meine Mutter riet ihm das Schneefhaufeln, das made aud) warm. 

„D, meine liebe Waldbäuerin!*, rief der Bremer, „warm macht's freis 
Lich, aber Helfen thut's nichts; ſchaden thut's. Die fündteuren Schaufeln west 
man dabei ab, und morgen fchneit es doch wieder alles zu. Und wenn's nicht 
zuſchneit, jo iſt's noch jhlimmer bei der unſicheren Zeit, mo die Schelme und. 
Näuber frei truppenmeife umbherziehen bei der Nacht. Sich gut in Schnee ein— 
mauern laflen und das Haus mit Mannerleuten befegen, auch mit folchen, 
die von Wehr und Waffen was verstehen, ift das allerbeite, was gejcheite Wald— 
bauersleute thun können.“ 

Wir im kargen Waldbauernhauſe Hatten zwar nie beſonderen Anlaß, 
uns vor Räubern zu fürchten, doch aber mochte meine Mutter gedacht haben: 
weil er gar ſo ſchlau ſchwatzen kann, mag er halt ſitzen bleiben in der Stube. 
Gut ſchwatzen muß man auch lohnen. — Saß alſo der Bremer noch am ſel— 
bigen Abende beim Ofen und ſaß eine Woche fpäter auch noch beim Ofen. 

Wir hatten ihn recht gern, er war aud) außerhalb feiner Schnurren ein 
ergößlider, ganz artiger Menſch. Und gar nicht übel anzufehen! Die blaue 
Soldatenhofe Hatte er an und die graue Holzmüße auf, unter mwelder an 
beiden Ohren die ſchneidigen Lodenjechier, hübſch glatt gewichſt, hervorſtanden. 
Er hielt was auf ſich und that fi) täglih an den Baden und dem Kinn ra= 
fieren, auch hinten am Naden; weil er dorthin ſelbſt nit gelangen konnte, 
fo mußte ihm unjer Altknecht die goldiggligernden Härchen megfragen. Das 
Schnurrbärtlein ließ er Stehen und fpigte es mit Schuſterpech ſcharf auf, daß 


Kunitwart 
— MW — 


es nad) beiden Seiten ganz bajonettartig in die Luft ſtach, gleihfam wie eine 
Waffenbereitfhaft, für den Fall ihn eines unferer Dirnlein plöglich küſſen wollte. 
Ob eine ſolche Gefahr beitand, das weiß ich nicht, wenigjtens hat er fie nicht 
felbit heraufbeſchworen. Für einen dreiunddreißigjährigen Soldatenabfchieder 
that er fpottwenig um mit den Dirnlein. Höchſtens gudte er manchmal der 
einen fo eim bißchen fchiefwinkelig nad, ber Stallmagd Chriftina. Und fiehe, 
dieſe Chriftina Hatte einen großen Abfcheu vor dem hübſchen Bettelmann. Sie 
war fonft ein rundes, gutmütiges „Beutel“, aber wenn ihr der Bremer in die 
Nähe kam, dba wurde fie ganz edig, fpigte die Ellbogen unb war aufgeregt wie 
eine Henne, wenn ber Geier nicht weit ift. Sie ließ ihm auch ihre Verach— 
tung merfen. Der Bremer aber ſchmunzelte ihr nad) und breite an feinen 
Bartipigen. 

Und als der Dann fo eine Woche bei uns im Waldhaufe gemefen war, 
ba fam das heilige Weihnadtsfeft. In der Ehriftnacht verließ alles, was 
gehen konnte, das Waldhaus und ging über bie weiten Höhen hin zur Kirche 
von Fiſchbach, wo ununterbroden die Glocken läuteten, bis, wie man fagte, 
ber legte berauslamı vom Hinterften Graben. Aus fernem Thal her fanı hin 
und mwieber ein leifer, balbverlorener Glockenklang aud zu uns herauf. Es 
war eine helle Mondnadht, nur bisweilen flogen Woltenfegen vorüber und 
verbedten das ftillheitere Rundgefiht am Himmel. Unfer waren ein ganzes 
Nudel, die Burfchen, die Dirnen; Bater und Diutter nur waren daheim ge= 
blieben, um das alte Haus zu hüten. Der „Statthalter war auch bei uns 
und brachte wieder Schnurren vor. Sp wußte er vom Teufel zu erzählen, der 
in der Chriſtnacht mit dem Fünfguldenbeutel umgeht, den er foldem, der ihm 
die Seele verfchreibt, zum Angebinde verehrt; von ben Tieren, bie in dieſer 
Nacht in menihliher Sprade ſich ihre Leiden Hagen, die fie das Jahr hin— 
durch von den argen Menſchen auszujtehen gehabt, und aud) von den Wollen, 
die jedem, der jo etwas zu lejen verfteht, alle Bevorjtehungen des fommenden 
Jahres an den Himmel jchreiben. 

Die Stallmagd Ehrijtina entrüftete ſich ſtumm über berlei Frevel, Die 
MWeidmagd Hingegen war auf ihre „Bevorliehungen* bejonders neugierig, fie 
fragte daher, wie das wäre. 

„Ja, mein Schagerl, das ift jo !“, belehrte der Bremer und drüdte ſich 
eng unter die Leute. „Da müfjen wir aufpafjen, wenn ein Streuzmweg fommt. 
Am Kreuzweg müſſen wir uns alle aufjtellen im reis und gegen Himmel 
fhauen, was die Wolfen für Figuren maden, und auf die Bäumäfte horchen, 
ob fie fragen. Da werden wir ſchon etwas erfahren. Seid ihr Dabei?“ 

Wir waren alle dabei. Auf der flachen Höhe des Waldes angelangt, 
fahen wir im Mondenlidt den Pfahl, welder mit drei Armen Hinausmies 
gen Stanz, gen Sankt Kathrein und gen Fiſchbach. Der Bremer fommanbierte 
uns in Reih und Glied eines Streifes. Ein alter tohlenbrenner aber war mit, 
ber lief feitab, hielt fih) Augen und Ohren zu: er wolle nichts willen. Das 
Unglüd, wenn eins bevoritehe, erfahre der Menſch immer noch früh genug. 

Wir andern ftanden im Streife, immer ein Bub und ein Mädel anein= 
ander, und hielten ung an den Händen und fhauten in ben Mond, an welchem 
die Wolfen zogen. Für jeden und jede befonders wurde mwahrgefagt, und ber 
Bremer mählte die Leute und deutete die Dinge Mit dem Altknecht Hub es 
an, ba ftand der lachende Mond rein und die Wollen wichen ihn aus. „Der 
Altknecht Hat fiebzig Gulden Jahrlohn, da wird freilich der Himmel nit trüb 
werden,” fagte der Bremer. Als es die alte zahnlüdige Lieſel galt, die gern 


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— X — 


teifte, da verftedte fih der Mond raſch Hinter eine dichte Wolfe. „At ohne 
meitere Auslegung verſtändlich,“ fagte der Bremer. Beim Feldbuben Hans 
bildete die Wolfe über dem Mond eine Art Sad, ber aber ſachte zufammen- 
ſchrumpfte. „Wird auch aufs Jahr Karten fpielen, der Hanfel,“ ſprach der 
Bremer. Beim Ochſenknecht kam ein großes Ungeheuer heran, that den Rachen 
auf und fraß den Mond. Diefes Zeihen wußte ber Bremer nicht zu erflären. 
„Wenn man fich heutzutage noch dem Teufel verfchreiben könnte, fo möchte id) 
an jo etwas benfen,* fagte er. Wir mußten e8 ber Zeit überlaffen, was fie 
über ben Ochſenknecht verhängen würde. Bei ber Stallmagd Ehriftina, die ih 
widermillig in ben Kreis geftellt hatte, Hub ein helles Hallo an! Gerabe unter 
dem Monde fpielten die Wolkenzipfel fo, als ob ein Männlein unb ein Weib- 
lein nebeneinander ftänden und fidy die Hände reiten. „Heiraten wird fie,* 
fagte ber Bremer in bumpfen Zone. Da fchrie die Ehriftina auf: „Ich mag 
nit heiraten !*,riß aus und lief wegshin. Mber fie wendete fi um, denn noch 
hörten wir ihre helle Stimme: „Keinen Faulenzer mag id} nit! Steinen Men— 
ſchen, ber ferngefundb ift und feine geraben Glieder hat und nit arbeiten will, 
ben mag id) nit! Die ftarfen Händ’ zum Betteln aufhalten, pfui Teufel! Und 
wenn's das einzige Mannsbild wär auf der Welt, und wenn er in Gulb und 
Ebelgeftein gefaßt wär, und wenn er fo ſchön wär wie ber Adam alfer neuer, 
wie ihn Gott derfchaffen gehabt Hat; wenn er nit arbeiten thät, wenn er nur 
ihmarogen wollt, fo mödt id ihn nimmer und nimmer zu meinem Mann. 
Gute Naht allmiteinand !* Und dann war fie in ben Waldweg verſchwunden. 

Eilihe von uns lachten, andere fhauten auf den Bremer. Der Monb 
macht zwar alle roten Gefichter bla, aber dem Bremer-Sepp feines war jekt 
außnehmenb fahl; wie der hölzerne Wegmweifer daneben, fo ftarr ftand er da 
und endlich fagte er leife und Iangfam: „Das ift ein verfludtes Weibmenſch, 
dieſe Ehriftina, aber — — recht hat fie!” 

Und dann ift er ihr nadigegangen. Denn bumm mar er nidjt, mußte 
aud, was er wollte. — Wer hat ihr benn gefagt, baß fie juft den „Faulenzer* 
nehmen follte? Das Hatte der Mond nicht gefagt, und fonft auch niemand. Ei, 
doch! Einer hatte e8 gejagt, aber ganz heimlich, in ftiller Naht, nur au fi 
allein gefagt, unb das war er felber, ber Sepp. — Und bie Ghriftina hatte 
ſich jegt gottloß verraten. Die muß ſchön viel an ihn denken, wenn ihr fein 
anberer einfällt, den fie nicht heiraten mill! 

Kurze Zeit darauf ftand die Weggeigerfäule wieder allein auf ber Wald— 
höhe und das Woltenfpiel fuhr fort, die fünftigen Gejhide den Menſchen an 
den Himmel zu zeichnen. 

Ob e8 aber aud) zutrifft? 

Ein Jahr darauf, als wieder Weihnachten fam, hatte ber Ochſenknecht 
fein arm Dirnlein verlaffen und in einen großen Bauernhof geheiratet. Aber 
in dieſem Hofe, neben bem Geldfad, jaß ein Drade, die alte Bäuerin, ber er 
fich hatte verjchreiben müffen mit Leib und Seele. Er war nicht mehr Ochſen— 
tnecht, er war ein reicher Grofbauer, manchmal aber ſchaute er trübfelig in 
die Wolfen auf, und am Himmel fah er Ungeheuer. 

Und ber Bremer-Sepp? Ber hatte ein Sleinhäufel gepachtet, im Früh 
jahre ben Ader gepflügt, Korn gefät und Nartoffeln angebaut. Und dann war 
er eines Tages zu uns gelommen — wieder als Bettelmann. Nicht mehr 
bettelte er um einen Si am warmen Ofen, nicht mehr um eine warme Suppe, 
er beitelte um die Stallmagb Chrijtina, die freilid auch nicht falt war, Zus 
erit fchmetterte fie ihm unter glühendem Augenleuditen fein bisheriges Vaga— 


Kunftwart 
= 202 — 


bundenleben ins Geſicht, dann nahm fie ihn. Denn fein Horn ftand ſchon im 
Grünen und die Nartoffeln huben an zu blühen, fo brauchte er weiter nicht 
ein Wort zu fagen, daß er auch arbeiten könne. — Die Gefahr zeigte ſich erit 
wieder in fpäteren Jahren. Als die Kindlein erfchienen waren, wollte er nicht 
mehr draußen adern oder Holz jchneiden, wollte lieber in der Stube bei den 
Kleinen figen und ihnen allerlei Gefchichten erzählen und Schnafen vormaden, 
weil fie gar fo fröhlich dabei lachten. — Da fah er einmal bei einem Kreis— 
ftehen in ber Weihnacht, das er nad; altem Brauche gerne nod) trieb, am 
Simmel ein feltfam Spiel. Die Ruine eines Haufes und eine Öruppe von gar 
verfümmerten Bettelleuten, die unter einer Riefenpeitfche ſich in Segen löſten. 
— Da ging er hin, arbeitete mit neuem Eifer und die heiteren Schwänke hob 
er fi für den Sonntag auf. 

Seither find mehr als dreißig Jahre verfloffen. Der alternde Bremer 
Sepp kann wieder Kreisſtehen, jeden Tag wenn er will. Der Kreis feiner 
Kinder und Enkel ift nicht Mein und weiſt auf eine hoffnungsvolle Zukunft. 


Das Dreiföntigsfingaen. 


Die Bergeinfamteit bringt an den Menſchen eine ganz andere Art 
geiftigen Lebens hervor, als etwa das bevölferte Thal, durch welches Eifen- 
bahnen ziehen, oder vollends als die Großſtadt. Eine aus der Einſamkeit her— 
vorgegangene geiftige Welt ift aber dunkler als bie andere, ift blutwärmer und 
beftändiger. Sie ift aüch künſtleriſcher. Sie Iebt in Geftalten, dramatifchen 
Borgängen und in Stimmungen. Jebod im Laufe der Zeit entflieht daraus 
der Geift, bie urfprüngliche Idee, und oft faft allein zurüdbleibt die Form, 
die troß ihrer Inhaltslofigkeit Jahrhunderte Iang weiter gefchleppt wird, die 
fi) nit an Menſchen bindet, wohl aber an bie Scholle. 

So ift e8 mit vielen Volfsfitten, anfangs waren die meiften religiöfen 
Urfprunges, und heute zeigt uns eine ftarre Form nichts, als verfteinertes 
Heidentum. Nur jene Vollsgebräude, die im Ghriftentum fich verjüngt, die 
dem mobernen Menſchen und feinen geſellſchaftlichen Verhältniffen fich ange— 
ſchloſſen hatten, bleiben auch im Geifte lebendig, und diefe Sitten find es, die 
Voefie in das herbe Dafein des Volkes tragen. Soldje Gebräuche find ſtets 
"enge verbunden mit den religiöfen Feften. Am reichſten hierin ift das Weih— 
nachtsfeſt, das wie feines fonft dazu angethan, die feligen Geifter ber Nädhiten- 
liebe und des Wohlthuns aufzumeden. 

So kommt in manden Wlpengegenden das Weihnaditfingen vor. In 
den wohlhabenden Häufern und Großhöfen jchmelgen fie bei ihren Chriſt— 
mabhlen; am heiligen Abende ift ein fettes, am Chrifttage ift ein großes, mit 
oft mehr als einem Dutzend Gerichten, am Neujahrstage ift wieder ein üp— 
piges, am Dreifönigsabende find drei große Mahle nebeneinander. Bei dieſem 
dreifahen Feitmahle find in der djtlihen Steiermark zur Zeit meiner Jugend 
noch neun verfhiedene Koch“ (Breigerichte) aufgetragen und verzehrt worden. 
Da hatten ſich die Leute fo voll gegeſſen, da fte fi hernach gar nicht aufs 
Stroh legen fonnten, die erfteren mußten ſich, wie man fagte, mit Hilfe der 
noch Stehenden nieberlaffen, und der legte mit Hilfe der langen Ofengabel. 

Und während bie in den wohlhabenden Höfen fo fchwelgten, hatten bie 
in den armen Hütten oft faum das Nötige. Aber da ſtrich fein fozialdemo- 
fratifher Wind wie heute. Zwar verfammelten fi die Armen und gingen in 
Rotten zu ben reihen Höfen und heifchten Brot. Aber wie liebensmwürdig | 
Sie begehrten e8 nit mit herben Worten oder gar mit Drohungen, fie er= 


2. Dezemberheft 1898 
— 1205 — 


fangen es fih. Die Kinder der Armen, die gute Stimmen hatten, ftanden 
zuſammen. Sie gingen bin, ftellten fi) auf vor der Thür des großen Hofes 
und fangen hell ein inniges, oft auch gemütlich heiteres Lied vom Lieben 
EHriftlindlein, oder einen launigen Glüdwunfdh zum neuen Jahre, in welchem 
fie den Bewohnern des Hofes alles Gute und Angenehme willig waren: dem 
Hausvater einen guldenen Tiſch und auf jedem Gd einen gebratenen Fildh, 
und in der Mitten ein Glafel Wein, das foll dem braven Hausvater zur Ges 
fundheit fein. — Der Hausmutter ein junges Ehriftfindel in der dDiamantenen 
Wiegen und ein Federbett, wo fie mit dem ftindel kann liegen und mit den 
Federlein in den Himmel fann fliegen. — Der Haustodhter einen Bräutigam 
mit brinntoten Hofen, und in jedem Sädel eine Dufatendojen. — Dem jungen 
Hausfohn eine reiche Braut, die brav auf ihn ſchaut und auf Gott vertraut. 
— Die anderen mitfammen, „die wir nit nennen, wird Gott der Herr im 
Simmel derfennen, das wünſchen wir all mit Hal und Shall zum Ehrift- 
findeltag und zum neuen Jahr!” 

In mandem Thale treiben fie c8 nod heute zu den Weihnadtzfeiten. 
— Und meil die Kinderſchar in vielen Gegenden aud) die „heiligen drei Hlönige“ 
bei jih hat, zu welchen die brei Geichidtejten verkleidet werben, und meil fie 
auf langer Stange einen Stern vor fi Hertragen, jo werben fie auch Stern= 
finger genannt. Das ſieht fih oft gar glänzend an, wenn die Winterfonne 
darauffheint. Mit güldenen Aronen rüden die hungerigen und frierenden 
Kleinen heran unter dem Sterne. Und es ift ein gutet Stern, unter dem fie 
heute wandeln. Aus jedem Fenfter des reichen Hauſes ſchauen ein paar Köpfe 
Heraus, mwohlgefällig den Aufzug betradhtend, die friſchen Stimmlein hörend, 
und die Glückwünſche als gute Vorbedeutung für das fommende Jahr freund— 
ih aufnehmend. An der Thür aber erjcheint die Bäuerin und winkt, Die 
Heinen Sänger und Sängerinnen möchten nur hineinlommen in die warme 
Stube, wo alles in Wohlgefallen ihrer harrt und wo das Hausbüblein in ber 
Wiege begehrend feine Händchen ausſtreckt nad) der unerhörten Pradt. 

In der warmen Stube geht es auch fonjt gar nicht übel her, da gibt 
es Fleiſchlnödeln mit Spedfraut, Schmalzkoch mit Zibeben, Strapfen mit Honig. 
Und ein großer blumiger Krug ift vorhanden, aus deſſen Schnabel jedes ein= 
mal trinfen darf. Nach dem Trunfe wifchen fie ji) mit dem Handrüden ben 
Mund ab und bie Aeuglein leuchten: Das ift gui geweſen! 

Dann ziehen fie zum nächſten Hofe, vor dem fie wieder ihren Sang thun, 
bei dem fie wieder ins Haus geladen und bemirtet werben. Und was jie endlich 
nicht mehr ejfen können, das wird ihnen in Bündlein gepadt, damit auch den 
Alten, die in den Hütten zurüdgeblieben find, an diefen Tagen Heil widerfahre. 

Wenn in der Gegend ein Haus jteht, das nicht in Ehren ijt, fo gehen 
die Weihnadhtsjänger an demjelben vorüber und fingen nicht. Und Diejeg jtille 
Kindergeriht wird mandmal ſchwer empfunden, und nichts Schlimmeres kann 
einem Hofe nachgeſagt werden, ald: Dem meiden die Weihnachtſinger aus! — 
Dingegen fühlt jedes ehrenhafte Haus die glüdjelige Stund, wenn es das gött— 
liche Sind bemirten kann, welches da bei ihm eingelehrt ift in Geftalt der 
Armen! Und gefegnet, dreimal gejegnet eine Sitte, in welder die chriitliche 
Nädjitenliebe verklärend auf die foziale Frage füllt! Verſöhnt mit ihrem Schid- 
fale, weil fie ſatt gegefjen, fehren die Armen zurüd in ihre Hütten, und Die 
„heiligen drei Könige* bergen Stern, Reichsapfel, Pupurmantel und Flitter— 
fronen wieder in ber Rumpellammer, wo die Spinnen bald ihre Schleier weben 
über vergangene Derrlichkeit. 


Kunftwart 
- u — 


Neuere Eyrit. 
Aus „Triumph des Lebens“. 
Ueber allen Finſterniſſen 
Keuchteft du, mein inneres Licht, — 

‚ Blüten, meinem Sweig entriffen, 
Meiner Sonne ftarbt ihr nit ... . 
Was an farben und an Düften 
Einft die Sommermwelt erfüllt, 
xängſt in Keimes grünen Grüften 
£ag dies alles eingehüllt. 


Da mid in den toten Mächten 
Heberfchauerte das Eis, 

Und erftarrt im weißen Schneefturm 
Dorrend hing mein Knofpenreis, — 
In mir glühte doc die Flamme 
AU der ewigen Kiebesbrunit, 

Und ein Purpurfonnendunit 
Flutete in meinem Stamme. 


Trunfen laa ich, heil umflungen 
Don dem Kied goldfarbiger Träume, 
Jauchzend hab ich mich entſchwungen 
In des Kichtes hellfte Räume, 

In des Aethers Wellenjchäume, — 
So voll Sehnen und Derlangen 
Stand ich da im höchſten Prangen, 
Ganz von Blüten überhangen. 


Die ihr auch lebendige Trauben 
pflüdt vom früchtereifen Baum, 
Diefe herbftlich roten Lauben 
Schaut’ ich lang vorher im Traum, 
Und es quoll in meinem Becher, 
Und ic tranf gleih euch, als Zecher 
Ihres Weines grünen Schaum. 
Julius Bart. 
(„Triumph des Leben“, Leipzig, E. Diederichs). 


In Korn und Unfraut. 


Mit meinem Mädchen fchlüpft ich heut allein 
Durch reifes Korn im roten Abendfchein. 
Wie Kinder rauften wir die Aehren aus, 
Feldblumen wanden lachend wir zum Strauß 
Und freuten uns der bunten Farbenpradt, 
Die uns wie Banernftaat entgegenladt . . . 
Als rauſchten es die Halme vor fih hin, 
Sing mir ein Derslein leife durch den Sinn: 
Die Liebe ift ein goldnes Aehrenfeld, 
Dazwifchen Unfrant, Mohn und tauber Spelt; 
1. Dezemberheft 1898 


— 205 — 


Es fällt zufammen aus des Aufalls Hand 

Und wädhft empor in Sturm und Sonnenbrand. 

Die Aehren find ein ſchönes Gottesaut, 

Allein des Unfrauts bunte Farbenglut 

Iſt eine ſtille Freude der Natur — 

Was wird im Herbſte aus der ſchönen Flur“ ... 

Ein fühler Haud ging durch mein Herz — „Sieh, ſchon“, 

Rief da mein Mädchen, „ſchon verblüht der Mohn!“ 
Dans Bergmann (. n.) 


Reiter im Herbſt. 
Dier wilde Gänfe fchreden fhen empor — 
Wer reitet noch zum Abend übers Moor? 
Der dicke Nebel teilt ſich ſchwer und träg — 
Ein rotbraun Rößlein Flappert übern Weg. 


Ein Rittersmann! Sein fähnlein ſchwimmt im Tan, 
Schwarz ift die Rüflung, und fein Ange aran, 
Blickt ftarr und ftill wie in ein weites Grab, 
Sein Rößlein nagt am Weg die Kräuter ab. 


Er reitet wie verdroffen, wie im Traum, 
Wohin er blidt, erfhauern Buſch und Baum, 
Und was er ftreift mit feiner Eifenhand, 
Riedaras und Rohr, finft nieder wie verbrannt. 


So taudt er lanafam in das Nebelmeer — 
Dit fallen welfe Blätter hinterher ... 


Bans Beramann („Sommerfonnenglüd“, 
Berlin, Schufter & Köffler). 


Mein Bübden. 


Ich ging hinans und fragte die Wolfen: 
„Liebe Wolfen, ich bitt’ euch ſchön — 
Habt ihr mein Bübchen nicht aefehn? 
Iſt gar ein lieber, Fleiner Kerl, 

Singt und fpringt den ganzen Taa, 

Bat ein Stimmcen wie Lerchenſchlag, 
Zwei Angen, fo blau wie der Himmel 
Und ladıt, 

Sobald er fie morgens aufgemacht.“ 


Die Wolfen brummten: „Den fennen wir nicht! 

Wir fahen ein Bübchen, das ſchrie nad der Mintter, 
Wollte von Singen und Springen nichts wiffen, 

£ag am Abend fo blaf; in den Kiffen 

Und fchlief doch vor lauter Jammer nicht ein. 

ein — 

Das fann dein Inftiges Bübchen nicht fein.“ 


Kunftwart 
— 206 — 


Ich weiß nicht, wie mir ift .... 
Als ob ih weinen müßt‘! 

Was gab ih auch mein Bübchen hin, 
Daß ih nun fo alleine bin, 

Es dorten und ich hier — 

Ad Gott, behüt’ ihn mir! 


Anna Ritter. 


(Gedichte, Leipzig, Liebeskind.) 


Stimme im Regen. 
„Ein feiner Regen ftrihelt um mich ber — 
mir ift das Herz von Heimweh franf und ſchwer — 
fo wandle ih auf unbefannten Wegen 


dem Nichts entaegen. 


Dom Hut tropft mir das Waffer ins Gefiht — 
ein grauer Xlebel rings — mehr feh’ ih nicht — 
fein Menfcenlant, fein Keben, fein Bewegen — 


nur Regen .. Regen .. 


Es fämpft mein Fuß im fchlüpfrig weichen Grund, 
in MWölfchen dampft der Atem mir vom Mund, 
der Regen ſcheint fih tief in alle Poren 


mir einzubohren. 


Der nadelfeine Regen madt mir Schmerz; 
ich fühle: er durchörinat mich bis ans Herz. 
Mein Herz ift müde, und es ruhte aerne 


o in die ferne —| 


Heut ift’s ein Jahr, daß du und ich uns fanden — 
und find getrennt, in fremden, Falten Landen. 
Könnt’ ih mein Herz in deine Hände legen!“ 


— Es raufcht der Regen... 


Mar Bruns („Aus meinem Blute*, 
Minden, J. €. €. Bruns). 


FEN 


Rundschau. 


Kiteratur. 


*Verzeichnen wenigjtens müflen 
doch aud wir Bismards „Gedanken 
und Erinnerungen”. Die eigentliche Bes 
fprehhung des Buchs gehört ſelbſtver— 
—5* nicht in den Kunſtwart, 
elbſt das wird Sache des Kulturhi— 
ftorifers fein: das merkwürdige Ver— 
halten unſerer Preſſe gegenüber diefer 
ungeheuren Zertrümmerung hiſto— 
riſcher Mythen zu unterſuchen. Wir 
haben uns nur mit der Form des 


Werks zu beſchäftigen, von der aber darf 
auch der Kunſtfreund reden, denn ſie iſt 
bewunderungswürdig und dabei zum 
Staunen charalteriſtiſch für Bismarck. 
Wie hier innerhalb des Stiles ſach— 
lichſter Relation Menſchen und Dinge 
oft nur mit zwei Worten in volles 
Leben geſetzt werden, das iſt zum 
Entzücken, auch ſchon rein techniſch. 
Wir glauben nicht, daß die deutſche 
Literatur ein zweites Buch hat, das 
mit fo volllommen ſicherer Ueberlegen⸗ 
heit ariſtokratiſch reſervierte und bemo= 


2. Dezemberheft 1898 


— 202 — 


kratiſch revolutionäre Gedanken und 
Gefühle in fi) ausgleicht. 

* „Zur Beridtigung über 
Schiller“ fprad W. Kirchbach in der 
„Nation“, indem er der jegt ſehr be= 
liedten Unterihätung dieſes Großen 
entgegentrat. Es fehle an Verſtändnis 
für die „ethifchen Energieen“ als Qebens- 
geſetze der Völker, deshalb könne man fie 
nit in Schillers Dramen mwiederers 
tennen, es fehle an Scyaufpiclern, bie 
dieſe aus tiefer hiſtoriſcher Einficht 
mit voller Seelentenntnis geſchöpften 
Dokumente der Menfchheit realiftifch 
darstellen fünnten, deshalb erjchienen 
fie oft al8 „Deflamationen“. Don 
Kirchbachs Betradhtungsmeife gebe das 
Beifpiel der Schluß: „Ein Sciller- 
biograph meint (über die Jungfrau 
von Drleans): »Wenige werden ein 
Berlangen haben, fie zum zweiten Dale 
zu fehen.« Ich bin in langer Referenten= 
praris genötigt gemwejen, ſie wohl 
zwanzig Dial zu fehen, aber mein 
Staunen aud über dieſes Werk hat 
ſich nur gefteigert. Wenn die Seiten 
uns Deutfhen von Neuem lehren 
werben, jene »Imponderabilien«e ber 
politifchen Kräfte, von denen Bismard 
ſpricht und die Schiller in diejer Jung— 
frau darzustellen wünſchte, Begeifter- 
ung, jeherhajte Negungen der Volks— 
feele und anderes, zu würdigen, dann 
wird man erſt die volle Größe dieſer 
Konzeption mit ihren kleinen Shmwäden 
und * hinreißenden Vorzügen ver— 
ſtehen. Man wird den Takt Schillers 

reiſen, Daßer diefe »Jmponderabilien« 
in Form einer romantiſchen, nicht 
einer realiſtiſchen Tragödie vorführte, 
man wird feinen Taft aud) ſonſt wür— 
digen, ber ihn für jedes Werk, je nad) 
ee Hoeengehalt, aud eine ans 
liegende Form wählen ließ. Diefer 
Fähigkeit verdankt er feinen Erfolg, 
der unverändert überall da fortbeftcht, 
wo man Schiller jpielen fann. In 
Berlin deflamiert man ihn in abſcheu— 
licher Weife; daher die ganze leidige 
Anti-Schiller-Aeſthetit. Aber es trifft 
ihn nicht felbit, es trifft nur feine 
ſchlechten NRegiffeure und Schaufpieler, 
die innere Geijtesleere feiner Fritifer. 
Wer die »Johanna« in der einzig rich— 
tigen Auffaſſung geſehen hat, nicht nur 
ale Schlachtenwaälküre, jondern als 
zarte Seherin, ahnungsvolle Träumerin 
im reinjten weiblichen Inſtinkt von 
rührender, nidt deflamatorifcher 
Begeilterung erfaßt, der wird Die 
innere Wahrheit diejes Werkes ganz 
ander8 anſchlagen, als diejenigen, 


Kunftwart 





melde aus derSchuldeflamationfamen, 
um ihre eigenen Sünden dem großen 
Poeten aufzuhaljen. Als ein Bühnen= 
märden, ein romantiih Werf will 
e8 allerdings verjtanden fein, rein 
techniſch; aber auf welchen tiefen, realen 
ethiſchen Energieen ruht aud) dieſes 
vielverfannte Geiftesgebilde, und welche 
a enthält es für Die weiter- 
ftrebende, kämpfende Dlenfchheit!“ 


* Ginige neue Wusgaben 
deutſcher Werke feien Heute ver— 
zeichnet, auf die widtigften kommen 
wir zurüd. Da ift eine neue Aus— 
gabe von Hebbel, von Karl Zeik 
(Bibliographifches Inititut), eine neue 
billigere Storm= Ausgabe (Weiter 
mann), eine Felix Dahn-Ausgabe 
(Breitfopf & Härtel), von der bis 
est 10 Bände vorliegen, cine Ge— 
amt» Yusgabe in Lieferungen von 
W. H. Riehls Novellen (Gotta), eine 
der „Gejammelten Romane“ von Th. 
9 Bantenius (Belhagen u. Kla— 
fing), eine fehr ſchön ausgeitattete des 
Novalis (Eugen Diederichs), der 
durch den Symbolismus wieder „mo= 
dern“ gemorden iit. 

Bon Ginzelausgaben fei die 
neue bes Goethifhen „Fauft“ (Eriter 
Zeil) erwähnt, die GE. 5. Amelangs 
Verlag in Leipzig veranftaltet hat. 
Sie ijt dem fehr richtigen Gedanken 
entfproffen: nötiger als eine neue 
„Pradt“ -Ausgabe fei uns eine edel 
geſchmackvolle Hand» und Taſchenaus— 
gabe der größten deutfhen Dichtung. 
Der vornehme biegjame braunrote 
Ganzlederband entipriht aud) dem 
Zmede volllommen, das Typogra= 
phijche aber leider nicht. Die pedan- 
tiich = alademifh gräzifierenden Kopf 
leiten entfprechen weder dem Geijte 
nad) dem eriten Teile des Fauft, nod) 
der Austattung nad) den als Text— 
Ihrift gewählten Shwabadern, uns 
begreiflih ilt e8 in umnferer Zeit 
des funftgewerbliden Aufſchwungs, 
dab zu Auszeihnungszweden mitunter 
Budjitaben von viererlei verſchiedener 
Zeichnung ein und diefelbe Seite uns 
ruhig machen. — Dann find fügel- 
gens „Jugenderinnerungen eines 
alten Mannes“ in einer „billigen Ges 
ſchenkausgabe“ (geb. ME.2.50) bei Ri- 
hard Wöpfe in Berlin erſchienen. Der 
Mert des Buchs iſt jo allgemein an- 
erfannt, dab man ihn nit noch ein= 
mal auseinanderzujegen braudt; es 
war nur bisher Für meite Kreife zu 
teuer. 


202 — 


* Yu ein Hausbuch. 

Wenn Volks- oder Hausbücher vor= 
geichlagen werden, hat ein Kunjtblatt 
ein Wort mitzureden. Denn da fann 
fih’8 nur um Bücher Handeln, bie 
äußerlich und innerlich Kunſtwerke find. 

Aeußerlich. Da denke ich z. B. 
an die neuen einfach-vornehmen Ein— 
bände (Haus- und Volksbücher dürfen 
gar nicht anders als gut gebunden 
geliefert werden), mit denen der Gru— 
nowſche Verlag in Leipzig Jentſchens 
Geſchichtsphiloſophiſche Gedanken und 
Vollswirtſchaftslehre, Philippis Kunſt 
der Rede, Kämmels Werdegang des 
deutſchen Volkes u. a. ausgeftattet hat. 
Auch fonjt erfcheinen mir diefe Ver— 
öffentlihungen in ihrem Aeußern als 
Mufterleiftungen. Die gemählte Höhe 
und Breite ift gerade recht, das Papier 
gut. Nur der Drud follte etwas 
größer und jtärfer fein. Und dann 
wünfche ich in Volls⸗ und Hausbüchern 
etlichen Schmuck: feine Kopfleiiten und 
anderen kleinen Zierrat, womöglich 
nicht fabrilmäßigen, ſondern indivi— 
duellen Gepräges. 

Das gehört ſchon faſt mit zum 
Innern, zum Inhalt im eigentlichen 
Sinne, den id) für mein Hausbud 
hier verzeichne: 

1. Ein kurzes Gedicht, geeignet als 
Richt⸗Spruch. 

2. Geleitwort zum ganzen Inhalt 
des Büchleins. 

3. Lebensgeſchichte deutſcher Wörter— 
Begriffsgeihichten. Immer mei Grup— 
pen: die eine aus dem häuslichen, 
bürgerlichen, wirtſchaftlichen, die an— 
dere aus dem Geiſtes-Leben. 

4. KRleinode: Sprachbücher; ſchöne, 
volle, kurze, treffende Worte. Mit aus— 
malenden Betrachtungen, wenns nötig 
oder die Gelegenheit beſondes günſtig iſt. 

5. Eine Dichtung, die auf der Höhe 
Steht, als Mittel zum Zwede der Ge— 
ſchmacks- und Gemiffensbildung. Oder 
auch mehrere jelbftändige Teile grö— 
Berer Werte. 

6. Aus der Werlitätte des Sprach— 
geiftes. Anſchauliche Beweiſe feines 
eigenartigen Schaffens. 

7. Dichteriſche Hleinmalerei land— 
fhaftliher Schönheit. Stüde von 
Stifter, Roſegger, Reuter 3. B. 

8. Bebensgeihichte eines vorbild= 
lichen Menſchen. 

9. Vergleichende Betrachtung deut— 
ſcher Mundarten. 

10. Rundſchau. Gute Schriften und 
Bildwerke — alte und neue — werden 
ausführlich bejprochen. 


Warum mein Hausbuch mefentlich 
die Aufgabe haben fol, die Leute ing 
Reid) des Sprachgeiſtes zu loden? — 
„Die Sprade ijt das unerichöpfliche 
Schatzhaus der edeliten Bildung“, 
fagt Weeifter Hildebrand. 

Das Büchlein enthält etwa 200 
Seiten und koſtet doch, gebunden, 
nicht mehr als ı Mark. Immer auf 
Weihnadten erfcheint ein neues. 

Der niedrige Preis jeht Maſſenab— 
fat voraus. Und ber ift fiher: nicht 
bloß die Bildungsvereine werden c8 
taufendmeife erwerben und an Unbe— 
mittelte verfchenfen — e8 wird auf 
allerlei Weihnachtstiſche gelangen; 
auch anſpruchsvolle Leute müſſen es 
gern kaufen und leſen. Denn an dem, 
was es bringt, haben gemeinſam ge— 
arbeitet wiſſenſchaftliche Einſicht, ge— 
ſunde Weltanſchauung, reiner Ges 
ſchmack, feines Sprachgefühl. 

Mer mag es verlegen?* 

Rud. Dietrich. 


* Und wer gut verfaſſen? K.x. 


* Von den Berliner Bühnen. 

Ueber Hauptmanns „Fuhr— 
mann Henſchel“ als Dichtung hat 
Bartels im Kunſtwart gefprodhen. Der 
Erfolg der Aufführung im „Deutichen 
Theater* war jehr laut, zu laut für 
nacdenflihe Leute. Jeden Beifalls 
würdig aber mar unter allen Umſtänden 
die Aufführung Es mag ein 
großes Wort fein, aber ich nlaube 
nicht, daß eineandere europäiſche Bühne 
(den Stil Hauptmanns vorausgefett) 
eine jo einheitliche, intime und farben= 
fatte Vorſtellung herausbringen fann. 
Ueber die Spielmeife des „Deutjchen 
Theaters” kann man reiten. Ich be= 
greife den Kritiker, der ſich nad) Auf— 
führungen fehnt, die einen Zug monus 
mentaler Größe haben. Ohne Marlten 
aber und ohne Feilſchen muß zuges 
geben werden, daß das „Deutiche 
Theater* innerhalb jeines Stils 
eine Bühne von ganz ungewöhnlicher 
Bedeutung iſt. 

Am Kgl. Schaufpielhaus offenbarte 
Fulda mit feinem „Herojtrat“ wieder 
etwas von dem inneren Reichtum, mit 
dem ihn nun einmal der Himmel ges 
fegnet bat. Fulda gehört zu den 
Dichtern, die in einer glüdlichen Stunde 
geboren find: er mag Happrige Verje 
fchreiben (und er thuts), er mag ſchiefe 
Bilder brauden (und er braudt jie), 
er mag feine Motive fälfhen (und er 


2. Dezjemberheft 1898 





fälſcht) — e8 ſchadet nichts, er bleibt für 
feine kritifche Verehrerfchaft der „form= 
vollendete‘, der „ſprachgewandte“, 
der „geiftreiche” Dann. Auch nad) dem 
„Serojtrat” wird das nicht anders 
werden, obſchon ſich Fuldas Dichters 
figur vor dem Hintergrund eines 
Rieſenmotivs beſonders ſchmächtig aus— 
nimmt. In der Dichtung ſelbſt iſt das 
Motiv natürlich gefälſcht; Fuldas 
Heroſtrat“ iſt ein Künſtler, der den 
Tempel der Artemis in Brand ſteckt, 
weil die Göttin ihn betrogen und ver— 
laſſen hat, und der dann ſeine Reden 
mit Floskeln von ewigem Ruhme“ u. ſ.w. 
ſchmückt. Der Höhepunkt der Tragi— 
komik wird im legten Alt erreicht. Ich 
meine wicht die entzüdend ſeichte 
Löſung, Die hier eine eingewobene 
Liebesgeichichte findet. Jch meine etwas 
viel Schöneres, das gerade dadurch 
fo heiter ftimmt, daß Fulda hier fo 
ihlau war. Der Richter einer 
fragt den guten Serojtrat, warum er 
eigentlich Die ungeheure That begangen, 
der Branditifter müßte nun natürlich), 
wenn er fih nicht um feine ganze 
biftorifhe Reputation bringen will, 
antworten: „Weil ih unijterblichen 
Ruhm erwerben wollte‘. Das fann 
er aber nit; wenn ers thäte, würden 
im Parkett felbit die Unbegabten 
nıerlen, daß er flunfert, hat er doch 
in vorigen Alt des Längeren aus— 
einanbergejegt, wie jonjt andere Motive 
ihn trieben. Was alio thun? Shake— 
fpere iſt aud ein Dichter, aber jo 
börfenpfiffig hätte er die Erflärung 
der fünitlerifchen Pleite nicht zu um« 
gehen gewußt, wie unfer Fulda: 
Herojtrat redt feine edle Geſtalt und 
rollt mit einer Seuichheit des Em— 
pfindens, bie einem Brandjtifter alle 
Ehre madt, die Worte hervor: „Im 
Ungefiht des Todes ziemt Ver— 
ſchwiegenheit“. 

Auch Herr Bahr hat wieder ein— 
mal ein Theaterſtück aufführen und 
fi) interviewen laſſen. Das Interview 
war jehr interejjant: Herr Bahr ver— 
traute dem Reporter de8 „Berliner 
Zageblatts“, daß die Bewegungen 
feiner Frau „reifenhofer’ich“ feien, und 
daß bie Reifenhofer — ſchadel — einen 
fhöneren Naden Babe. Aber aud) 
literariihe Dinge famen zur Sprade 
— gewiß, denn um der Literatur 
willen interviewt ja doch das „Ber— 
liner Tagblatt“ überhaupt nur. Bahr 
verfündete dem Bublitum, daß Su— 
dermann „ohne Frage* der bedeus 
tendjte lebende Dichter in Deutjchland 


Kunitwart 





fei, was hoffentlich felbit die Abon— 
nenten Moſſes mit vergnügtem Lächeln 
aufgenommen haben. Das Stüd hieß 
übrigens „der Star“. Es ift injos 
fern bemerfenswert, al8 man auf der 
Generalprobe einen ganzen At ftreichen 
fonnte, ohne daß man am Abend der 
Premiere auch nur einen Gedanken 
vermißt hätte. Was übrig blieb, be= 
Ichäftigte Ir mit der Frage, ob eine 
befannte Schaufpielerin (ein „Star“) 
ein anitändiges Weib fein kann oder 
ob höhere künſtleriſche Geſichtspunkte 
ihr die Lüderlichkeit ſozuſagen zu einer 
fittlichen Pflicht machen. Bahr ift mehr 
für daß letztere. Wenn wir ihn recht 
veritanden haben, meint er, daß eine 
Schauſpielerin, weil fie öffentlich aufs 
tritt, nun aud) eine öffentliche Schön— 
heit fein müſſe. Seine Heldin, bie 
bereit8 einen Grafen und verfchiedenes 
andere hinter fih Hat, verſucht mit 
einem verunglüdten Dichter (er ift 
im Bivilberu Pojtbeamter) ein ans 
ftändiges Zufammenleben zu beginnen, 
und da ihr das mißlingt, läuft fie zu 
dem Grafen und ben verfchiedenen 
anderen zurüd. Das arme Weib! fie 
it nun eben durch eine traurige 
Fügung des Himmels ein „Star“ mit 
einer Riejengage und muß dafür — 
wie ſchwer e8 aud) werden mag — 
ihrem Beruf die Tugend opfern. Die 
orm des Stüdes entſpricht volls 
ommen ſeinem Gehalt. Etwas von 
der amüfant arrangierten Seichtigkeit, 
die man Eſprit nennt, um das deutfche 
Wort „Geiſt“ niht zu mißbrauden; 
fehr viel Seichtigkeit, die nichts als 
feiht iſt; Szenenſcherze auf Koften der 
Charakteriſtik; alte Theatertypen in 
unechter Vergoldung, Patſchuli, kurz: 
die Talmikunſt der äfthetifchen Halb— 
welt, inder Bahr ein gefeierter Mann ijt. 

Bon ihm zu Otto Erid Hari— 
leben ift fein fleiner Sprung. Der 
Verfaſſer des „Einhorn-Apothekers“ 
und anderer luſtiger Geſchichten iſt 
ein Dichter, der über den noraliſchen 
Philifter und feine unfreiwilligen ero= 
tiſchen Bodiprünge recht fein zu lächeln 
weiß. Er bot diesmal im „Leſſing— 
Theater“ vier Eingfter, denen er den 
Gejamttitel „Die-Gefreiten“ gegeben 
hat, was beinah philoſophiſch Elingt, 
die Kritik in erfreulicher MWeife zum 
Nachdenken reizt und im übrigen zu 
nichts verpflichtet. 

Die Schladt (Premieren in Berlin 
verdienen ja biefen Namen) wurde 
mit dem „Fremden“ eröffnet. Ach, 
das Motiv ijt fo alt, daß man fait 


— 210 — 


verſtimmt wird, wenn man die erſten 


Takte diefer Muſik Hört. Es Handelt 
fih um eine Dame, die „wie Die Dinge 
lagen“, eine Bernunftehe mit einem 
langweiligen, aber reihen Spießer 
eingehen mußte. Nah zwölfjährigem 
— erſcheint dann ein 
Menſch, der ſie als junger Student 
geliebt hat und den ſie damals wieder 
liebte. Die Sache iſt furchtbar ernit, 
faſt als wenn ſie von Ibſen wäre, 
nur daß leider bie Tiefe fehlt. „Er“ 
madt ihr in einer etwa halbitündigen 
Unterhaltung Elar, daß fie zu ihm 
gehört, fie begreift mit dem feinen 
Verſtändnis, das durchgehenden Frauen 
eigen ift, und geht als „Befreite“ von 
binnen. Der Bürger bleibt von dem 
Borgang in einer Milhung von 
Shmerz und erhabener Duldung zurück. 
Was und am meiiten intereifiert 
hätte: wie nämlih ein Gharafter 
beihaffen jein muß, der zwölf Jahre 
verzichtet und dann plößlich rebelliert, 
wie ferner ein Liebhaber ausjteht, 
der das erzwingt: davon erfahren 
die nichts, die gern etwas davon er= 
führen, und fomit huſcht an diefen 
Anſpruchſsvollen das Stück wie ein 
düſteres Schattenſpiel vorüber. Allein 
in dem Gedanken, den Gatten als den 
Fremden zu bezeichnen, ſteckt poetiſches 
Gold, das den Dichter Hartleben er— 
fennenläßt. Das zweite Stück, „Wbihied 
vom Regiment“, iſt wirkungsvoller, 
aber ſchlechter, weil feine Birkungen 
roh find. Ein Hauptmann foll verjegt 
werden, weil feine Frau ihn durch ihr 
alantes Treiben unmöglih gemacht 
at. Er fommt in der Naht anges 
trunfen vom Liebesmahl im Kaſino 
zurüd, es gibt eine wüſte Szene und 
meiblihe Hilferufe, die den vorjorg= 
lich veritedten Liebhaber erjcheinen 
laſſen. Beide Herren ziehen, und der 
betrogene Ehemann wird nun fo zahm, 
wie man nur wünjhen fann. Er 
fält. Wie man fteht: nicht einmal ein 
Alt, geihmweige denn ein Ginafter, 
fondern lediglih eine Satajtrophe. 
Rächender Theaterdonner, der uniere 
Ohren beläjtigt, aber von ber Er— 
habenheit und der reinigenden ſtraft 
des künſtleriſchen Donners nichts an 
ſich hat. Viel, ſehr viel beſſer 
iſt die „Sittliche Forderung“, die als 
drittes Stück auf dem Zettel ftand. 
Ich kann das Stüf nit fo Toben, 
wie ih gern mödte Ich kann es 
nicht, weil es vor Jahr und Tag jeine 
erite Aufführung erlebte und der Raum 
zur Beiprehung von Wiederholungen 


EEE 


nit ausreiht. Es ift eine amüfante, 
fünjtlerifch lorajältig gearbeitete Sa= 
tire auf die Bhilijtermoral, um deren= 
willen man Sartleben die vorauf= 
gegangenen und ſchließlich aud den 
folgenden Einakter verzeihen Tann, 
denn auch der folgende bedarf der 
Verzeigung. Er heißt „Lore“ und iſt 
die betrübende „Dramatijierung“ der 
feinen „Geſchichte vom abgeriſſenen 
Knopf’. Wie ein zugelnöpfter jugend= 
liherBedant einem luſtigen Studenten= 
mädel den Kopf heiß macht, weil fie 
einen ausgeriffenen Knopf nicht wieder 
annäht, und wie das junge Ding 
endlih mit einem vorurteilsloferen 
Fuchs davongeht — das ift die Hand— 
lung, die unter manchen guten und 
manchen ſchlechten Witzen an uns vor⸗ 
überzieht, eine Kataſtrophe wie das 
zweite Stück, ein Ding, das kein Ab— 
ſchluß iſt, weil wir keinen Anfang 
kennen lernen. Es iſt gut, daß Hart— 
leben für die Bühne ſchreibt. Wir 
dürfen hoffen, daß der Dichter der 
„Sittlihen Forderung“ einmal mit der 
handfeiten Theatralik des „Abſchieds 
vom Regiment“ eine Ehe oder wenig— 
ſtens ein intimes Verhältnis eingehen 
wird. Nur muß er dann dafür forgen, 
bie geſchminkte Bühnenjchöne bei Heiten 
zu zähmen. Erih Schlaikjer. 


* Im Dresdner Hoftheater 
ging kürzlich der Geift des feligen 
Müllner um; er Hatte feine ftille 
u an einem Speer, ber einen 
Menihen töten muß, er mag aud 
ein Biel fuhen, welches er mill. 
Diefer Schidjalsipeer hatte e8 einem 
jungen Dresdener Dichter angethan. 
Adolf Geißler 
rachte, was er im Herodot geleſen, 
ohne zu prüfen, wie weit es mit un— 
ſerem modernen Empfinden vereinbar 
ſei, in ſeinem Trauerſpiele „Adraſt“ 
auf die Bühne Was er an ihn ges 
ändert, find leider feine Verbeſſerungen. 
In der Sage hat König Kröſus ges 
träumt, jein Sohn, den Geißler Oylos 
nennt, werde, von einem Speere ver— 
mundet, iterben. Geißler veräußer- 
licht dieſes Moment der Ahnung in 
einen Drafeliprud), der uns glei im 
eriten Alte erzählt wird, damit wir 
nur ja willen, woran wir find. Es 
fragt fih nun nur noch, wie und 
wann Hylas ftirbt, ob in einer Rüft- 
fammer duch einen herabfallenden 
Speer, ob bei der —— mit 
einem Krieger ſeines Vaters, ob ſonſt 
wie und ob er im zweiten oder dritten 


2. Dezemberheft 1898 


sul — 


Alte ftirbt. Die Sage gibt dem 
„Dichter das Ende durch Adraſt an 
die Hand, der mit Hylas auszog, 
einen mwütenden Eber zu jagen und 
aus Verſehen den Hylas traf. Adraſt 
kommt in das Haus bes Kröſus und 
empfiehlt fi) dem verzärtelten Königs— 
fohne zu raſch aufflammenbder Freund= 
ſchaft dadurch, daß er er einen Mord 
auf dem Gemiflen hat. Er hat einen 
Nebenbubler erſchlagen und das Weib, 
um befjentwillen der Streit entjtand, 
Sermione, findet er als die Braut des 
Hylas. Offenbar nicht gefonnen, meis 
ter au morden, unterdrüdt er dieſes 
Mal feine Eiferfucht, die ihn in Die 
Schuld gejagt, und findet den Hylos 
ebenjo liebensmwert, mie dieſer ihn; 
ja, er läßt fi von Hermione bereden, 
feinen Befhüger zu jpielen. Hermione 
erfennt nämlih plößlih in dem 
Manne, der fie mit feiner Liebe ver— 
folgt und den fie nicht ausſtehen 
fonnte, den edelen Dann. Bei folder 
Freundichaftfeligfeit, in die auch der 
alte Kröſus mit einftimmt, könnte 
das Stüd nun fließen, wenn nicht 
das böfe Schidjal märe, das e8 nun 
einmal anders mill. Es hat in der 
Zeiten dunkelm Hintergrunde ſich ein 
tückiſches Mittelhen aufgeipart, einen 
roßmächtigen Eber der eine ganze 
Sandfehaft verwüjtet. Der in unfrei— 
mwilliger Muße verjauernde Hylas will 
fih an dem Eber jeine Ritteriporen 
verdienen, und ber alte Hröjus läßt 
7 unter dem Schuße Adraſts zichen, 
it doch ein Wildfchweintreiben kein 
Krieg. Aber die Orakelſprüche haben 
es an fih, in Erfüllung zu gehen, 
mag man fie noch fo ſchlau aus— 
deuten, und fo fommt von ber graus 
figen Jagd nicht nur der Eber, fondern 
auch Held Hylas tot in das Haus bes 
Kröfus. Auf der Bühne läßt der 
Eber dem Hylas, wie e8 jich gebührt, 
den Vortritt. Daheim mälzt fich na= 
türlih ſchon alles in düſteren Ahn— 
ungen, denn ber legte, der dritte Uft 
hat begonnen. Hermione fällt in Ohn— 
macht und jtirbt Hinter der Szene, 
Adraſt aber, des Unglücks müde, das 
er gehabt, eriticht ſich an der Leiche 
bes von ihm getöteten Freundes, und 
Kröfus, der Alte, der nun auch gerne 
ftürbe, hat das Nachjehen, während 
fein Hausfreund Menander die Nach— 
rede hält. Diefe rührende und „er 
ſchröckliche“ Geſchichte ift in flüffigen 
SJamben erzählt; an einzelnen Höhen= 
punften gibt es auch Oden und Reime, 
alles recht nett und fein fäuberlich 


Kunftwart 


— 212 


gemacht, aber auch beileibe um nichts 
beſſer, als eben Jamben von geübten 
Versmachern gemacht zu werben pfle= 
gen. Daß Ganze zeigt viel lyriſchen 
Ueberſchwang, noch mehr bramatiiche 
Unbeholfenheit und eine findlihe Un— 
terordnung unter das Madjtgebot des 
Stoffes, wie fie zu Zeiten des Hans 
Sachs in echter Naivetät mohl bes 
greiflih war. Die Sprache aber und 
die Berechnung auf die Empfindfams 
feit der Zufchauer find bei dem mo= 
dernen ®erehrer ber Antife durchaus 
nicht naiv. Naiv war nur fein Eifer, 
die lauten Beifallshuldigungen, die er 
_ * ihn und andere: leider — fand, 
ernſthaft entgegenzunehmen. 
x. £ier. 


*Münchner Theater. 

Oskar Blumenthal iſt in eine neue 
Geſchäftsverbindung eingetreten: Max 
Bernſtein heißt der neue Teilhaber 
des Hauſes. So verkündet es der 
Theaterzettel: Mathias Gollinger, 
Luſtſpiel in vier Aufzügen von Os⸗ 
far Blumenthal und Marx 
Bernftein Da man’s dem ſtunſt— 
wart da und dort zum Vorwurf ges 
macht hat, daß er Dar Bernftein und 
feine Frau Elja, genannt Ernit Ros— 
mer nicht zu den wirfliden Dichtern 
des jüngern Gefchlechtes zählen wollte, 
fo wird Die Befanntmadjung der neuen 
Doppelfirtma mande Seele verblüfft 
haben. Wir rufen ein Bravo dazu, denn 
unjrer Meinung nah bat ja Mar 
Bernitein längſt im Stillen zu denen 
gehört, in deren Lager er nun mit 
flingendem Spiele eingerüdtift. Sagen 
gute Leute: was wollt Jhr, e8 war 
mal ein dummer Streich, er wird es 
nicht wieder thun, — fo laden wir 
fie ein, fich zwecks befferer Informie— 
rung bie Stompagnonarbeit anzufehn. 
Das wird fie ausgiebig belehren. 

Die Handlung des Stüdes? Ad, 
die iſt ja eigentlih ganz nebenfäd- 
lich: ein Berliner heiratet eine Münch— 
nerin, will fie zur Großitadtdame er= 
ziehn, erkennt aber ſchließlich, daß er 
fie fo laffen muß, mie fie iſt. Wozu 
überhaupt eine Handlung ? Biel ein= 
facher wär’, Blumenthal und Bern: 
ftein ließen fid) bewegen, felber auf 
die Bühne binaufzufigen und von dort 
herab abwechſelnd ihre Berliner und 
Münchner Witze zu madhen; denn auf 
die ift’S ja im Grunde allein abgejehn ! 
Allein ? Nicht doc), da wäre das Pu— 
blifum auch wieder nicht zufrieden; 
e8 würde das „rührende* Clement 


vermiffen. So mußte denn eine „Ge— 
fchichte* ber, und nun murbden fie 
heraufbeſchworen, auß der Tiefe 
deutſchen Herzens, die ſchon fo oft 
beuntubigten Typen: der Mann von 
„goldehtem“ Gemüt und rührender 
Beichränttheit (diesmal Vertreter des 
bajuvarifhen Stammes), der ſchnei— 
dige Berliner mit eigentlich ebenſo 
oldnem, nur eine Schicht tiefer ge— 
agertem Gemüt, das emanzipierte 
Mädel und der pebantifche Jüngling, 
die fi} à tempo gegenfeitig belehren 
und einander unter geiftreihem Trogen 
und Schmollen lieben, ber Grandl- 
bauer, der nur jo thut, weil er halt 
ar fo ein guter Kerl iſt u.f.m. — 
Babrhaftig, ſchon das ift traurig ge— 
nug, wenn ſich ein Mann, der als 
ernſthafter Kritiker gelten will, zur 
Verfertigung eines Stückes herbeiläßt, 
das lediglich dem Amüſement des 
Pöbels unter den Gebildeten dienen 
ſoll. Wie aber ſoll man's nennen, 
wenn er, der als Kritiker den moder— 
nen Geſchmacksreiniger ſpielt, als 
Praktiker all das geſchmackverderbende 
ſentimental Berlogene aus dem 
alten ‚Luſtſpiel“ herübernimmt, wenn 
er dieſes innerlich ſo wurmſtichige und 
verfaulte alte Gerümpel aufladiert, 
um es den Vielen, die nicht alle wer— 
den, als feinfeine neue Poeſieware 
aufzuhängen? Dieſe Frage deutlich zu 
beantworten, fehlen mir die parla— 
mentarifhen Ausdrüde. 
£. Weber. 


"Mon Richard Voh wurde ein „Les 
genbdenjpiel*, geheiken „Das Wunder“, 
in Züri aufgeführt, eine Folge viſio— 
närer Bilder aus der frommen Ge— 
ſchichte, die während des erften und 
des legten Aufzugs auf Capri bei dem 
Ziberius der Sage, mährend der bei= 
ben mittleren Akte im heiligen Zande 
unmittelbar nad) Ghrifti Tod fpielen. 
Ein junger Germane Baldur bringt 
ichlieklid dem Tiberius, der fich im 
Gäfarenwahn zum Gott erflärt hat, 
heilige Schale, Schweißtuch und Bild- 
nisfhrein vom Gefreuzigten. Als 
der Schrein geöffnet wird, bricht vor 
dem bimmlifhen Licht, das ihm ent- 
ftrömt, der Jmperator tot zufammen, 
während am Himmel daß Kreuzes— 
zeichen erjcheint: das Chriſtentum be= 
fiegt Rom. Die meiften Szenen find 
melodramatifch behandelt. Adolf Frey 
bezeichnete in der „NR.3. 83.“ Diefes 
„Wunder“ als ein neues Beifpiel für 
das Bebürfnis unferer heidnifchen 


Zeit, ih in die Vorftellungen einer 
tindlic) naiven Anſchauung zurückzu— 
verſetzen. Wagner, Rubinſtein, dann 
Roſtand und Sudermann und nun 
Voß! Die dramatiſche Wirkung gibt 
das neue Myſterium natürlich ganz 
auf: wo die Folgeridhtigfeit verjagt, 
ftellt fich eben das Wunder ein mit 
dem deus ex machina. „Dan mödjte 
meinen, Rihard Voß wäre plöglich 
unter die fatholifche Propaganda ges 
treten, wenn man den Pomp fieht, 
mit dem er die Marienverehrung uns 
menfhlid nahe zu bringen und ver— 
ftändlich zu maden ſucht. Aber, der 
Dichter bezweckt etwas anderes. Ihm 
ift die Begende, die fromme Dichtung 
des Glaubens nur eine Form künſt— 
lerifher Erfcheinung, wobei man nur 
im Zweifel fein fann, ob in ihm ber 
bichtende oder ber bildende Künſtler 
mädtiger war. Jedenfalls iſt fein 
Myiterium nur dadurch auf der Bühne 
lebensfähig, daß es dur die Muſik 
gehoben wird, die e8 zu einem fchönen 
Melodram geitaltet.* Die gelobte 
Muſik ift von Lothar Ktempter. 


* Den Kinematographen büh— 
nentechniſch gu verwerten, verfuchte 
man jet in Breslau Zunächſt 
beim Walfürenritt: man benußte fine= 
matographiiche Bilderreigen nad Reis 
tern, die man als Walfüren koſtü— 
miert Hatte. Die Projeltionsbilder er— 
mwiejen ſich als zu klein und zu ver— 
ſchwommen. Darüber ließe fi ja bei 
noch bejlerer Technik hinwegkommen, 
aber unfre Phantafie erfhaut ein durch 
die Lüfte jagendes Pferd anders als 
eines, das auf dem Boden läuft. Man 
wird einen phantaftifchen Vorgang nie 
mit rein tehnifchen Mitteln darjtellen 
tönnen. Trotzdem find genug Fälle 
benfbar, für welche der Hinematograph 
Binter der Bühne „Zufunft hat“. 


Mufik. 


* Das Mündener „Hof- und 
Nationaltheater“ bradhte am 7. Des 
zember als erſte Opernnovität ber 
Saifon Ferdinand Rangers 
„romantifhe VBollsoper* „Der Pfeifer 
von Hardt“ (Text nad) Hauff's Lichten= 
ftein von Dr. Hermann Haas), eine 
fünfaftige, ehe langmeilige Nehs 
leriade im Liedertafeljtil vom reinften 
„Waſſer“. Was die Intendanz dazu 
veranlaßt haben mag, diejes „Werk“, 
nahdem e8 feine Unmöglichkeit an 
andern Orten erwiefen Batte, nod) ein= 


2. Dezemberheft 1898 


— 215 — 


. 
nr 


mal zu einem ephemeren Scheindajein 
zu ermweden, bleibt vätjelhaft. 

der hiefige Theaterabonnent auch mit 
das geduldigſte Wefen auf Gottes 
Erdboden — einmal findet doch aud) 
feine — fagen wir: göttlihe — Lang— 
mut ihr Ende, und dann wird aud) 
der geriebenite „Iheaterpraftiter* inne, 
daß Liſzt nicht gang mit Unrecht fagte: 
„Defizite der Kunſt führen mit 
der Zeit unausbleiblich zu Defiziten 
der Kaſſe“. Daß unfere Opern— 
leitung Gelegenheit haben werde, dieſe 
Erfahrung recht bald und recht gründ— 
lih zu maden, das wünſche idy zum 
neuen Jahre ihr und un 8 aus vollem 
und aufrichtigem Herzen. 

Rudolf Konis. 


+ Wie’Sgemadt wird. 

Das „Kleine Journal“ in 
Berlin Hat große Aehnlichkeit mit 
Orpheus, dem göttlihen Sänger: 
gleich ihm zieht es zu fich heran durch 
Muſik. Aber es ift edler, als jener: 
es will nicht nur erfreuen, e8 will 
auch bilden, deshalb verfpridht es 
wertvolle Mufil. „it unfer Blatt 
nobel!*, dadjten die Abonnenten, als 
fie zum eriten Dale das lajen, und fie 
faben im Geilte die Dufifgelehrten 
des „leinen Journals“, wie fie prüf— 
ten und jpielten und fannen und aber= 
mals prüften, auf dab fie aus dem 
Guten das Befte fänden, und fahen 
den Verleger, wie er dabei ſaß und 
lauſchte und ſprach: „Für meine Leſer 
ift mir nichts zu teuer !* Alſo dachte 
mwohl auch Herr Fanfelow, der Tone 
feger, und er jchidte eine Kompofition 
ein. Die Antwort aber, die er erhielt, 
lautete folgendermaßen : 


„Berlin SW., den 22. Oltober 1898. 
Herrn Alb. Fanſelow, Gr. Lichterfelde. 
Bezugnehmend auf Ihr mw. Schreiben 
vom 21. d. M. teilen wir Ihnen hier— 
durch ergebenft mit, daß mir bereit 
find, Ihre Kompofition, Lied: »Am 
Bades, in unferem »Mufil- Journal« 
zu veröffentlihen zum Preiſe von 
Me. 200, inkllufive Heritellung des 
Stiches (Platte). Wir bemerfen Ihnen 
noch, daß die Herftellung der Platte 
ca. 8 Tage Zeit in Anſpruch nimmt. 
Ihren geih. Nachrichten entgegen 
fehend, zeichnen wir Hochachtungsvoll 

ppa. »Das Kleine Journals,” 
Gef. m. beſchr. Haftung. 
9%. ©. Barthel.” 


Kunftwart 


Bildende HKunft. 


* Nah John Ruskin gibt es 
leider vollftändige Leberjegungen noch 
nicht einmal von den allerwidtigiten 
Werfen — bei bem ungeheuren Er« 
folg, den er in England gehabt hat, 
begreift man das ſchwer. Aber jegt 
find wenigstens gute „Gedankenleſen“ 
aus feinen Schriften da. Für unfere 
Lefer befonbers wichtig find die zwei 
fleinen Bände „Wege zur Stunt“, 
„Üüberjegt, zufammengeftellt und eins 
geleitet von Jakob Feis*. Sie koſten 
gebunden je 2! Marf und find bei 
3. 9. Ed. Heiß in ge erichienen. 
Auf Austin fommen wir bald zurüd. 


* Das Zierfhräntden. 

Wenn man mit Interejje verfolgt, 
was in Deutidland auf bem Gebiete 
des modernen Kunſthandwerks gemadt 
wird, fällt einem eins auf: ein merf- 
mwürdiges Uebergewicht, das daß Pier: 
ſchränkchen unter den Möbeln bes 
hauptet. Das Zierſchränkchen jcheint 
das Hauptbedürfnis des deutſchen 
Hauses zu fein. Es medjfelt in ten 
Formen: einmal Eckſchränkchen, einmal 
Schreibihräntdhen, einmal Glass 
ſchränkchen, einmal Silberfhräntden, 
aber immer iſt's ein kleines fpieles 
rifches Möbel, das fhon von weiten 
fagt: ich diene gar feinem Zweck, ih 
bin eigentlid) nur da zum Schön-Aus— 
fehen und zum Plasfüllen. Wir wollen 
nicht behaupten, daß dieſe Funk— 
tion nicht hie und da in der Ordnung 
fei, (jede größere elegantere Wohnung 
mwird folhe Schränkchen brauchen) — 
aber zu den allernotwendigiten Dingen 
gehören fie doch nidjt, und diefen not= 
mwenbigiten Dingen wird nicht entfernt 
entiprechend viel Mühe mehr auge 
mwandt, als dieſem Lieblingsfinde, dem 
Zierſchränkchen. Fürdtet man fich, 
die handgreiflichiten, einfachiten Dinge 
zu entwerfen? Wir glauben eher: man 
weiß gar nicht recht, was eigentlich 
notwendig ift, was ein praftifcher 
Menih in einer praftiihen Wohnung 
thbatlählih braudt. Es iſt das ein 
Vorwurf, der nicht die Künstler treffen 
foll, denn gerade unfere modernen 
deforativen Künſtler haben ja ihre 
Thätigfeit mit bewußter Abfiht auf 
die @eftaltung der alltäglichen Dinge 
gelegt und befennen dieſen Standpunft 
bei jeder Gelegenheit. Es ift ein Vor— 
wurf, der vielmehr die Konfumenten 
trifft, denn fie beſtimmen das, was 
der Händler vorrätig hat. Und um: 


_ 24 — 


die Vedürfnilfe diefes faufenden Pub— 
litkums jcheint e8 aud) dort, mo Sunit- 
efühl herrſcht, ganz kurios auszu— 
ehen. Gewiß, an den jchönen reinen 
Ktunſtwerken, der „Objets d’art“, die 
man heute reihlih findet und fauft, 
übt ſich der Geihmad, das Kunſtge— 
fühl. Aber das alles allein geitaltet 
eine, Wohnung doch nie und nimmer. 
Das Grundlegende muß doch wohl der 
Sinn für Sachlichkeit, für Zwed- 
mäßigfeit, für Bequemlichkeit 
werden, und der jcheint bei uns noch 
weit mehr zu fehlen, ald man gewöhn— 
lich annimmt. Man gehe nur einmal in 
den Häufern herum, die man mohl 
eingerichtet nennt, gleichviel ob nad) 
alten oder neuen Gelichtspunften, und 
fehe, ob man da auch nur einen 
richtigen und richtig untergebradjten 
Tiſch findet, einen Tifh, an dem man 
bequem figen fann, auf dem man 
feine Bücher und Werke bequem be— 
fehen kann, einen Tifh, der groß, 
breit, gemütlich iſt, mit Beinen, an 
die man fih nicht anitöht, mit 
einer Platte, deren Politur man 
nicht beitändig zu verfragen fürch— 
tet und an einem Plate, auf 
den das Tagesliht voll von der 
Seite fällt und wo auch die fünftliche 
Beleuchtung derart iſt, daß man ji 
nicht die Augen verdirbt. Ferner: man 
fuhe in großen Möbellagern, Die 
oft jo voll von den fchönjten und 
moderniten Erzeugniffen find, nur 
einen richtigen Bücherfchrant. Wer 
Die modernen Muſterzimmer mala fide 
befieht, fann hinterher mit einem ge— 
wiſſen Recht behaupten, daß der Dann 
mit der modernen Einridtung jeine 
Bibliothek in Sophas, Zierſchränkchen, 
Edbrettern und Büffets unterbrächte. 
Mo kann man ſchon einen ganz ſachlich 
bequemen Schreibtiſch finden, der ein 

immer nicht ſchändet, bei dem aber 
tageren und Konſolen auch nicht zum 
Sauptmotiv werden; einen Screib- 
tifh, in dem ein Privatmann bequem 
feine Rechnungen, Bücher, Briefe und 
was alles dahin gehört unterbringen 
fann, in dem fonjt ein Plaß iſt für 
all das, was eben der Schreibtifch 
bergen foll und der eine große be= 
queme Platte zum Wusbreiten beim 
Schreiben hat? Welcher Möbelhändler 
bat ihn, ber doch über drei Zier— 
ſchränkchen mit hundert Vaſen darauf 
verfügt? Ich möchte mit meinen Worten 
auf einen mwunden Punkt Hinmeifen, 
der meinem Gefühl nad) gerade fo eine 
fhlimme Klippe tt, die jorgjam ums 


gangen werden muß, wie die Gefahren 
einer mangelhaften, äſthetiſchen Durch 
bildung. Greift die Kunſt in die 
raftifhen Dinge, ins Handmerf ein, 
o follte jie dabei nie vergeffen, daß 
die praftifchite und behaglidite 
Form auch eine Forderung der Neu— 
zeit ift, Die fie mit zu löſen hat. 
Shulge-Uaumburg. 


Dermifchtes. 


* Das „Weiße Röhl“ als 
Kunftwert und Weihnachts— 
gabe. In der Wiener „Deutjchen 
Kunſt- und Muſikzeitung“, herausges 
geben von D. Keller, jteht die folgende 
Beiprehung: 

»Im weißen Rößl.« Luſtſpiel 
in drei Aufzügen von Ostktar Blu— 
menthal und Guſtav Kadel— 
burg. Verlag von Mar Simſon 
in Charlottenburg. — Allen theaters 
freundlihen reifen in Wien und aus— 
wärts dürfte es willfommen jein, 
au erfahren, daß die jüngſte, eben in 
Wien mit jo durchſchlagendem Erfolge 
über die Bretter gegangene Kompagnie— 
Arbeit der beiden bewährten Bühnen- 
dihter Blumenthal und Kadel— 
burg: »Im weigen Rößlé ſchon 
vor längerem auch im Drud erſchie— 
nen ilt, und dab dieſes treffliche 
Luſtſpiel mit herrlich ausgeführten 
Kunjtblättern verfehen wurde, 
welde prädtigen Jluftrationen, zehn 
an der Zahl, im gleichen Verlage, bei 
Dar Simfon in Charlottenburg, zu 
haben iind. Angeſichts des na— 
benden Weihnachtsfeſtes em— 
pfiehlt ſich daher der Band ſamt den 
dazu gehörigen Bildern aufs beſte und 
dürfte die ſchönſte Erinnerung 
an den gehabten theatralifhen Ge— 
nu darbieten. Laut jtatiltifchen Aus— 
weiſes über die an den wichtigſten 
deutfchen Theatern zur Wufführung 
gelangten Wühnenwerte im erſten 
Viertel de8 heurigen Jahres erlebte 
»Im weißen Rößl« in Berlin allein 
254 Aufführungen. B. v. R. 

Wenn jo etwas ſchon in Fachblätter 
geihmuggelt werden kann, bei Gott, 
dann iſt e8 Hohe Zeit, gegen ben 
Maſſenvertrieb verfälſchter Nahrungss 
mittel auf dem Gebiete des Geiſtes— 
lebens mit aller Rückſichtsloſigkeit 
vorzugehn. 


Wiesgemachtwird. Anny 
Wothes Frauenzeitung „Von Haus 
zu Haus“, iſt wie kaum eine andere 


2. Dezemberheft 1898 


— 216 — 


geboren aus dem reinen Gemüte der 
deutfhen Jungfrau, nein, fie bewegt 
fih andauernd in deſſen füßer Lieb— 
lichkeit, wie die Fliege im Syrup. Bes 
fonder8 vor Weihnadten, wenn die 
Herdheimchen, Taufendfhönden und 
Herzblättchen ei wie reizende Geſchenke 
machen und einfaufen wollen, kleckern 
ordentlich feine Blätter nicht doch von 
Syrup, nein, von goldigem Honig ber 
Seele. Aber ad), e8 ift Kunjthonig! 
Denn nad) welchen Gefichtspunften das 
nur Wahrfte und Beite für die Lefe- 
rinnen ausgewählt wird, Davon zeugen 
die Briefe, die vor der Weihnachtszeit 
an die Berlagsbuchhhandlungen ergehn: 

Hierdurch geitatten wir ung, Jhnen 
die ergebene Mitteilung zu maden, 
daß bei unferem leßten großen Preis 
ausfchreiben über »Empfchlenswerte 
Bücher und Prachtwerke für Weihnachts⸗ 
geſchenke⸗ beifolgendes Manuſtript 
durch einen Preis ausgezeichnet wurde. 

Bei der großen Menge der vorlie= 
genden Bücdjerbeiprehungen und bei 
dem bejonders vor Weihnachten nur 
Inapp bemefjenen Raum ift e8 uns 
leider nicht möglich — wie mir fo 
gern möchten — alle preisgefrönten 
Beiprehungen nod vor Weihnadten 
zum Abdrud zu bringen. 

Wir müſſen uns daher vorerit 
darauf bejchränfen, die Rezenſionen 
ber Bücher vor dem Feſt abzudruden, 
wo (fo!) uns aud) gleichzeitig Inferate 
zugehen. 

Unjer Zeilenpreis beträgt u. ſ. w.. * 

Abdrüde der Rezenſionen nad) 
dem Feft helfen natürlich dem Berleger 
nicht8 mehr. Was es mit den jub- 
limen „Preisausfchreiben“ und „Bes 
fprechungen“ dieſes Pradtblattes auf 
fih hat, haben wir ſchon früher mit 
geteilt. 


* Eine Reformation des Ber— 
liner gefellihaftliden Lebens 
regte vor kurzem ber Bildhauer Eber— 
lein an: fie jollte eingeleitet werden 
durh den monumentalen Bau eines 
geopen Zabernafels, in dem ſtunſt und 

iſſenſchaft ſich ein Stelldichein geben 
und in dem nur geiftige Sntereffen 
gepflegt werden follten. Der Berliner 
Lokalanzeiger erließ darauf bin eine 
Umfrage, wie denn die Beute darüber 
bädten? 

Dabei fonnte man wieder mal redit 
beutlicd) fehen, wie wenig Fühlung mit 
ben Gebieten des Lebens, die ber 
Beruf nicht gerade vor ihre Nafe ftellt, 
bie Menſchen doch haben. Ganz rich— 


Kunftwart 


—— — — —— — — — — — — — 





tig empfand man zwar, daß die ma— 
teriellen Intereſſen zu ſehr überwiegen, 
daß Freude an Kunſt und Wiſſenſchaft 
fehlen. Wer kann es uns geben? Lo— 
giſche Antwort: die Künſtler und bie 
Gelehrten! Bleiben wir bei den Künfts 
lern: der ‚Verkehr“ mit „Künitlern“ 
mwird —“ Welche kommen in 
—* Ganz gewiß doch einmal die 

erühmteften. Wäre alſo unſerer 
breiteren Geſellſchaft Gelegenheit ge— 
geben, zwanglos mit dieſen Künſtlern 
in den von ihnen bereiteten Stätten 
zu verkehren und alſo ſich von ihnen 
anregen zu laffen, fo müßte bald eine 
erhöhte Kunftfreude die Berliner Ge— 
ſellſchaft durchdringen. — Oder etwa 
immer noch nicht? 


Man denke ſich mal den ſo gut ge— 
meinten Plan verwirklicht. Wer würde 
die Künſtler herausleſen, die dort in 
dem Zempel das Wort führen jollten? 
Geihäh es von „offizieller Seite“, jo 
würde wahrſcheinlich Anton v. Werner, 
geihähe es durch ein „Plebiszit”, ficher 
der fo beliebte Aller Kunftoberbonze 
werden. Wer meiter „führte”, kann 
man fi felbit ausdenfen. Es gibt 
ja noch eine fo reichhaltige Liſte von 
wohlangefchriebenen Dlalern und Bild- 
hauern und Lieblingen des Publikums. 


Gott bewahre ung vor einem nod 
ftärferen Einfluffe der im bürgerlichen 
Reben ja gewiß durchaus adıtbaren 
Männer! 


Alle die, fo es mit der Kunſt ehr— 
lich meinen, jollten fid) als erſte Haupt= 
regel merken, daß Künſtler mit 
Maler und Bildhauer durdaus 
nicht immer dasfelbe bejagt und daß 
neun unter zehnen, bie als Künftler 


ı im Adreßbuche ftehen, große Banaufen 


find, felbjt wenn ſie Lorbeerkränze 
haben, jo umfänglid mie gerollte 
Feldmäntel. 


Aber auch mit dem „Berfehr“ iſt's 
eine eigne Sache. Ein wirklich be= 
deutender Menfh, mas zeigt er benn 
gemöhnlih von fih im „Berlehr“ ? 
Keine wirklich gehaltreihe Natur 
reiht ihren Geilt herum mie eine 
Tabaksdoſe: „Prife gefällig‘? Im ver— 
traulichen Gedankenaustauſch mit 
Geiſtesverwandten erſt gibt fie ihr 
Gutes, im allerintimften Gefpräd erft 
ihr Beites. Auch deshalb alfo dürfte 
biefer Verſuch, Berühmtheiten nutzbar 
zu maden, nicht ganz ernfthaft zw 
nehmen jein. -e- 


u 


* Darwin über Sunftgenuß. 
„Ih habe meinen Gejchmad für Ge— 
mälde und Mufit beinahe verloren. 
Mein Geiſt fcheint eine Art Maſchine 
geworben zu jein, allgemeine Geſetze 
aus großen Sammlungen von That= 
ſachen berauszumahlen. Warum dies 
die Atrophie desjenigen Teiles meines 
Gehirns verurſacht haben könnte, von 
welchem die höheren Geſchmacksent— 
widelungen abhängen, fann id) nicht 
verstehen. Wenn ic mein Leben nod 
einmal zu leben hätte, jo würde ich 
mir zur Regel machen, menigitens 
alle Wochen einmal etwas Poetifches 
au lefen und etwas gute Muſik anzu 
ören. Denn vielleiht würden dann 
ie jet verfümmerten Teile meines 
Gehirns durch Gebrauch thätig erhals 
ten worden fein. Der Berluft der 
— — für derartige Sachen 
iſt ein Verluſt an Glück und dürfte 
möglicherweiſe nachteilig für den In— 
tellett, noch wahrſcheinlicher für den 
moraliſchen Charakter ſein, da er den 


tur ſchwächt.“ So zu leſen in Darwins 
„Autobiographie“. 





* Bei der Herjtellung unfres vorigen 
Heftes Hat fi leider der Setzer— 
teufel auf das Ungebildetſte bes 
nommen. Nicht genug damit, daß er 
bier und dorthin fein Gift verfprigte, 
hämiſch vertaufchte er auch amei Seiten, 
und ſchließlich mifchte er ſich ſogar in 
die Redaltion, indem er aufs greäite 
behauptete, Kreidolſs urgefunde Kinder— 
gelichter feien ungefund, ja, er ertrogte 
für die doc törihte Meinung ben 
Sieg, daß bei Streidolf nicht Kinder 
tümlichfeit fondern Sindertrümlichkeit 
zu finden fei. Was gefchehen ift, fei 
geihehn! Nun aber find die hohen 
Chefs und Hochmögenden und Aus— 
führenden der Kgl. Bayer. Hofbuch— 
druderei von Kaſtner & Loſſen zu— 
fammengetreten, um den vom Druder= 
teufel bejeflenen Kunſtwart durch einen 
kräftigen Exorzismus zu befrein. Sei 


gemütlich erregbaren Teil unferer Nas | Segen auf ihrem Wertel 





Unsre Beilagen. 


Die Mufikbeilage bringt, mit Bewilligung de8 Verleger 9. Hedel in 
Mannheim, ein Lied von Hugo Wolf — wir verweifen in biejer Beziehung 
auf unfern heutigen Auffag über den Tondichter. Beim Studium insbejonbdere 
dieſes Liedes fehe man fi) zunädft die Singjtimmen an und verfude, fie 
allein, aber mit dem vollen durch den Text beftimmten Ausdbrude zu fingen. 
In der erjten Strophe empfehlen ſich am Schluß jedes Verſes (nad Weife, 
Ieife, Morgen, frommen, Billtommen) Heine, faum merflihe Pauſen. Der 
Klavierpart führt ein Hold melodifches Motiv von kindlicher Reinheit durch; 
man könnte zumeilen auf Mozart raten, wenn nicht einige verſtiegene Harmo— 
nien, rüdende Modulationen im Mittelfag und diffonierende Gegenführungen 
der Stimmen den modernen Mufiler verrieten. 

Mit tiefer Wemut und dann wieder mit freudigem Stolz werden unfere 
Leſer Hugo Wolfs köſtliche Kunst geniefen, wenn fie ihnen Hilft, das Weih— 
nachts⸗ und Neujahrsfeft künftlerifch zu adeln. Mit tiefer Wehmut: denn der 
wie faum je ein anderer verjtand, big zu der innerften Seele einer Dichtung 
vorzudringen und ihr zu den Worten die Töne zu fchenten, daß fie bis zum 
heiligſten Leiten ihr Beſtes ausfprechen könne — er lebt nod), und hört doch 
unfern Danf nicht mehr. Uber wie wir bes Menfhen Schidjal betrauern: 
dab ſolches Schaffen jet in der Gegenwart zwifchen uns wirkte, das er— 
hebt uns mie ein biblifches Pfand von einem Bunde der himmliſchen Mächte 

2. Dezemberheft 1598 


— 211 — 


mit uns Deutfhen. Wieder ift uns ein Mufifergenie aus dem ſchlichten Volke 
erftanden — ber Anlage nad müſſen wir doch wohl ein Kunſtvolk fein! 


Auch unfre Bilder wollen heut tet vom Allerdeutſcheſten in 
ber Kunſt ſprechen. Wie mir umberftreifen mögen das Jahr hindurch, am 
Heiligen Abend mollen wir ja einfehren ins Elternhaus. Wo finden wir das 
Elternhaus deutſcher Kunſt, wenn nit bei UIbredt Dürer? 


Die Wundermwerle, die wir heut von ihm abbilden, hat er beide im Jahr 
1519 als Gegenjtüde geſtochen. Des Erasmus „Lob der Narrheit“ war das 
mals erjchienen, worin die Glückſeligkeit ber Weltentrüdten in Gegenſatz geitellt 
war zu der Thorheit der Denter, die ungewiß ftreben nad Erfenntnis. Dieſem 
Gegenſatze entiprojien die beiden Blätter, aber der Gedanke aus des feinen ſati— 
rifhen Männleins Erasmi Geiſt verwandelte ſich in bem ehrlichen und geraden 
Sinn Meifter Albrechts von Nürnberg. Zwar, ein meltentrüdter Meifer 
ijt er ja, Diefer „Heilige Hieronymus im Gehäuß“, aber das ift wohl nicht 
ſchwer zu fein, wenn das eigene Keine Sondermwelthen fo behaglich ift. Das 
gemütliche Löwenvieh, das jchläfrig blinzelt, während ſich's mit dem Hausſpitz 
zufammen fonnt, ift nicht zum Gruſelmachen angethan, nicht einmal der Toten— 
topf ift es: grundmwohl wird ung, wie bem Heiligen, nachdem er feine Aus— 
gehepantinen unter die Fenſterbank geitellt, ih unter den Kiſſen, auf bie er 
was gibt, das fommodeite ausgeſucht und fi) in molligen Hausſchuhen vor 
feine Arbeit gejegt hat. Man fieht’s ihm an: ihn plagen feine Sfrupel; mie 
er ſchreibt aus feiner reichen Gotteserfahrung heraus, da genieht er felber mit 
Innigkeit feinen Glauben. Und über ihn und über alles ringsum in dieſem 
faubern und ordentlihen Heime des Friedens ſcheint durch Die Butzen her die 
Sonne, die ruhige, die wärmelnde, wie fie jedermann eine Freude und einem 
alten Herrn eine Wonne ijt, die Liebe, milde Sonne. 


Uber Dürer vereinigt beide Reihe in feiner Seele, das der Jdylle mit 
dem der Tragil. Denn nit wie das „Lob der Narrheit* das Tragifomifche, 
fondern als echter Deutſcher allein das Tragifche fieht er in dem vergeblichen 
Ringen der Weifen nad Grfenntnis: die Stimmung feiner „Melandolie* ift 
aufs nächſte verwandt mit ber des verzmeifelnden Fauft im erften Monologe. 
Brütend fit das ftolze geflügelte Weib da, den Zirkel no in der Hand, mit 
dem es vergeblich ſich gemüht hat, wie ad, fo oft mit all diejen Inſtrumenten 
rings, „mit Rad und Hämmen, Walz und Bügel“ — „zwar euer Bart iſt 
fraus, doch hebt ihr nicht den Riegel!“ Da huſcht denn die Fledermaus ber 
Melancholie gefpenftifch Iautlos um fie herum, und ftatt im TZagesglanze fieht, 
fie die fhöne Welt im ungemwiljen und unheimliden Schimmer von Nordlidt 
und Komet. Dürer bat in jeine „Melandolie* eine Menge von Beziehungen 
bineingeheimnißt, denen nachzugehen uns hier zu weit führte. Uber auf das 
Licht wolle man adjten. Wie fteht es im Dienjte der Stimmung! Gegenüber 
dem ruhigen Sonnenjdein im Hieronymus bier ein Beleudhten von vorn und 
von hinten zugleich, das in feinem Widerjprud doch Fein wirkliches Erhellen 
fondern nur Unruhe bringt. 


Wer fih in diefe beiden Werfe vertiefen will, nimmt am einfadjten 
die fhönen Reproduftionen der Neichsdruderei zur Hand, bie für je 3 Darf 
zu beziehen find. Schon unfere Bilder aber werden dem finnenden Beſchauer 
ein Gefühl ermweden, als ftände er hier vor den Quellen ber beiden Haupt— 
ftröme deutſcher Griffeltunst. Die Melancholie — arbeitet nit jhon hier ganz 
berjelbe Geiit germanifhen Träumens, Sehnens und Ringens, der ſich erjt in 


Kunftwart 
— 28 — 





der Gegenwart feinen gemaltigfien Ausdruck verſchafft hat in Hlingers „Bom 
Tode” bis zu feinem troßigen „Und doch“? Der Hieronymus — läßt er nicht 
bie Meifter ahnen, aus deren Reihe dann Ludwig Richter, der Liebenswerte, 
als ber beite zu uns tritt? Wereinigt aber in ein und demſelben Geifte hat 
Idylle und Tragif nie wieder gemaltet, wie in Dürer. 

Neben ſolchen Werken fih zu behaupien, fält Ludwig Nichters 
„Sternennadt“ zunächſt wohl ſchwer. Es ift ja ein ganz anſpruchsloſes fleines 
Bild. Uber e8 ift trogdem ein Meiftermerf. „Die Himmelslichter find doch 
wirklich, wie die Augen am Menſchen, vffnere oder garter bededte Stellen der 
Welt, wo die Seele heller durchſcheint“ — dieſes Claudiusſche Wort bat Richter 
darunter gefeßt. Daß wir die Beiden anfehen, die fo empfinden, und zugleich 
ihr inniges Eheglüd fühlen und an den Sternenhimmel benfen, uns ganz in 
eines fegend mit ihnen felbit, das zu bewirken vermochte nur eines großen Mei— 
fters Kunſt: das Blatt hat eine ganz feltfame Gemalt über den Beſchauer, 
wenn er nur ehrlich bereit ift, fie auf fi üben zu laſſen. Doch es ift auch 
als Kompofition für den Holzſchnitt und ſchließlich als Schnitt felber ein 
Meifterwert, weshalb denn Gaber Stolz feine Initiale darunter gefegt bat. 
Unfre Leſer joll e8 zugleih an „Fürs Haus” erinnern, wohl die allerfchönite 
unter den ſchönen Richterſchen Sammlungen, die bei Alphons Dürr in Leipzig 
erichienen find und ber es entnommen ift — das edelſte Familienbilderbud, 
das wir haben. — 

Eine äußerliche Neuerung ift diesmal die Einfügung der Beilagen an 
den Schlußß des Hauptblattes. Wir wollen dadurch einerfeitS bewirken, daß. 
die Bilder gleich neben dem Texte ftehen, der zu ihnen gehört, anbderfeits, dab 
man fojort ein Merkmal für die Stelle Habe, wo man den „Inhalt“ jeden 
Heftes verzeichnet ſucht. Die Noten fliehen fih dann an die Bilder an. 
Uebrigens find fie abfihtlih nur fo loder eingeheftet, daß fie leicht an andere 
Stelle verfegen kann, wem biefe Einrichtung nicht gefällt. Wir werben für die 
Noten und Bilder künftig aud) befondere Mappen, die ben Ginbanddeden ent». 
ſprechen, zur Verfügung unfrer Leſer halten. 


2 


SH 


Unsern Zesern 


dürfen wir zum Felt etwas Erfreuliches mitteilen. Auch unfer neues 
Wagnis ift geglüdt: Die Zahl der Bejteller des Kunſtwarts ift über 
unfer Hoffen jchnell, ift ſogar noch ſchneller al8 im vorigen Herbite ge— 
ftiegen und fteigt noch jeßt recht munter fort. Dadurch jehen wir uns 
nicht nur im Stande dazu, troß der Bilder- und Notenbeilagen unfern 
alten und niedrigen Beftellpreis zu behalten, fondern au dazu, wiederum. 
neue Berbeflerungen ins Auge zu falten. 

Wir haben, ermutigt durch die guten Zeichen beim Jahrgangs» 
mechiel, jedem Heft fchon in dieſem Quartal je zwei Bilder ftatt des. 
verjprochenen einen mitgegeben. Fortan follen fie auch) noch auf bejjerem 
Papiere gedrudt werden und dann und wann werden's ihrer auch noch 


mehr werden. Aber diefe Eleine Aeuferlichleit mögen unjere Abonnenten: 
2. Dezemberheft 1898 


nur als ein Zeichen dafür anfehen, daß der Kunftwart „nicht raſten 
und nicht roften“ will: denn in der Hauptſache will er feine Mehrein- 
nahmen doch auf innere Befferungen verwenden. 

Die Weihnachtszeit, die in Deutfchland fo über alle Maßen wich— 
tig ift für die Verbreitung von Kunftwerten aller Art ins Bolt, fo 
wichtig, daß mir diefen großen Markt nicht ohne Verlegung unfrer Ber 
zufspflicht vernachläfiigen können, fie drängt leider in unjern November- 
und Dezemberheiten alljährlich manche andere Sache zur Seite. So haben 
wir auch diesmal Berichte der verjchiedenften Art zurüditellen und noch 
viel andere8 vertagen müſſen. Liegt uns fchon dies bedrüdjfam auf 
der Seele, fo thun das noch mehr die fürdhterlihen VBerfpätungen, 
ünter denen das Erſcheinen des Kunſtwarts in diefem Quartale gelitten 
hat. Sie famen daher: mit der Einführung der Notenftecherei, Bilder- 
reproduftion, Kunftdrudpapierfabrifation und Kunftdruderei in unfer Ge— 
triebe hatten mir plöglich eine Menge von Fehler: und Berzögerungss 
quellen mehr zur Verfügung, und feine davon verfäumte, fi) vorzu— 
ſtellen. Nun aber fommen die Neuerungen allmählich in den geordneten 
Lauf, und fo werden wir künftig feltener die Nachficht unferer Leſer be= 
anfpruchen müflen. 

Daß fie uns mit froher Bereitwilligfeit bei der weitern Verbreitung 
des Kunſtwarts unterftüsen, daß haben wir mit Dankbarkeit erfahren. 
Weihnachten fteht vor der Thür — it ein Abonnement auf den Kunſt— 
wart ein übles MWeihnachtsgefhent? Neujahr fteht vor der Thür — e8 
gibt feine beſſere Zeit zum Wirken für ein Blatt, als diefe. Empfiehlt 
man das unjre, jo bedeutet das feine Privatunterjtügung, jondern das 
Anmwerben zum gemeinfchaftlichen Wirken für-eine gemeinjchaftlidde gute 
Sade. Das wiſſen unfre Leſer, danach werden fie Handeln. Wir 
mwünfchen ihnen allen ein ernſtfrohes Weihnachtsfeſt und ein hoffnungs— 
volles Neujahr. Auf Wiederfehen denn im legten Jahr diefes alten 
Säkulums zu weiterer gemeinfamer fröhlicher Vorarbeit fürs neue! 


-Bunftwart-Feitung: Presden Kunftwart-Perlag: 
Ferd. Uvenarius, Münden. Geora D. W. Eallwey. 


3nhalt. Jugendſchriften. — Weihnachtsſchau. — Hugo Wolfs Mörike-Lieber. 
Bon Richard Batka. — Zofe Blätter: Zur Weihnachtszeit. Bon Peter Rojegger. — 
Neuere Lyrik. Gedichte von Julius Hart, Hans Bergmann, Unna Ritter und 
Dar Bruns. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Albrecht Dürer, Hieronymus 
im Gehäuß; Melandholie. Ludwig Richter, Sternennadt. -- Notenbeilage: 
Hugo Wolf, Zum Neuen Jahr. 





Derantwortl. : der Herausgeber Ferdinand Avenarius in Dresden:Blafewig. Mitrebaftenre: für Mufit: 
Dr. Richard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Kun: Paul Shulge-Naumburgin Berlin, 
Sendungen für den Text an den Eerausgeber, über Muſik an Dr. Batfa. 

Derlag von Georg D. W. Callwer. — Hal. Hofbuchdruderei Kaftner & Loffen, beide in Mänden. 
Beftellungen, Anzeigen und Geldjendungen an ben Derlag: Gsorg D. W. Callwer in Mänchen. 


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ALBRECHT DURER 


Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 





ALBRECHT DÜRER 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


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LUDWIG RICHTER 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 





Zum Neuen Jahr.” 


Kirchengesang. 
Mässig (nicht eilen). Hugo Wolf. 
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"Mit Bewilligung des Verlegers B. Heekel in Mannheim. (Vgl. dazu den Text im Haupt: 
blatt.) 


Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München. 
Alle Rechte vorbehalten. 46143 









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Stich u. Druok v. OsnarBramdstetter, vorm. F.W.Gnrteocht, Loipzig. 


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et he Mit Bilder: und Noten-Beilasen 


Bezugspreis ats Mark vierteljährlich. Ein einzelnes Heft 50 Pfennige. m 









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Rundschau \ 


Dichtung, Theater, Musik 1 
und bildende Künste. 


Derausgeber: 
Ferdinand Avenarius. 





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Verlag von NEE — — —— 
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no- Erstes Fanuarbeft 1899. 
12. Jabrga 2luslieferung für Berlin: B. Bebr’s Derlaa. W. Stealiterfr. & Dates BE 


» Der Bunffivart = 


2; mal in Beften von 32 Seiten (je zu Anfang und Mitte des Monat: ;: 
Der Abonnementspreis beträat Mk. 2.50 für das Dierteljabr. 
Einzelne Hefte foften 50 Dra. U 
Ale Buchhandlungen und Poftanftalten, ſowie die unterzeichnete Derlaashandlung nebm-- 
Abonnements-Beftellungen entgegen. Probehefte unentgeltlich und poftfrei von der Derlagsbud- 
handlung: Georg D. WI. Callwey in München. | 
Nachdruck fämtliher Eigenbeiträae, mit Ausnahme der „Eofen Blätter” und der Beilasen 
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird feine Gewähr 
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nur wenn Rüdporto beilag. 












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Gedächtnis. 


Poehlmanns Gedädtnisiehre entwidelt die Beobahtungs und Auffaffunasaabe, 
fejfelt die Aufmerkſamkeit, heilt fomit von Zerftrentheit und ftählt das natürliche 3 
Leichtes Erlernen von Sprachen, Wiſſenſchaften ꝛc. Anwendung aufs praktiſche Leben. In den 
legten 2'/s Jahren 10000 Schüler aller Stände. Empfehlende Rezenſionen von nahezu 100 
europäifhen Zeitungen, Zeitfcriften und Fachblättern. Profi mit Zeugniſſen nebh ‚ 
reiben Seitungsrezenfionen aratis und franfo dur U. Poehlmann, Sintenftaden 
Münden F. 4, ? i * 


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12. Jabrg. 


Ersies Januarbeft 1899, 





















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DEN MUNST 


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Wohlwollende Kritik. 


Jedes Blatt, das feiner Zeit ehrlich dienen will, hat neben dem 
Nein das Ja zu pflegen, hat nicht nur „einzureißen“, fondern aud) „auf: 
zubauen“, — das iſt eine Wahrheit, die lebendig weiter grünen wird, 
wenn aud) jeder Zeitungsmann alle Wochen mal über fie läuft als über 
einen Gemeinplag. Immer auf Ganze müſſen wir jehen, daß die 
Quellen der Freude im Menfchenbereich fich nicht mindern, fondern mehren, 
alfo: verjtopfen wir hier eine Zuftquelle, weil wir die Luft, die fie gibt, 
für jchädlid Halten, jo jollen wir fuchen, andre zu öffnen, dem Forſt— 
manne glei), der für einen Baum, den er fällt, zwei andere einpflangt. 
Wie aber bethätigt die Wirklichkeit unfers Zeitungsweſens den Sag? Sie 
hat das ſchöne Wort von der „mwohlwollenden Kritik“ aufgebradt. 
Bliden wir ung zunächſt einmal um, wie die wohlmollende Kritik in 
der Praris ausfieht. 

Bor Weihnadten ift dafür die beite Zeit. Wollte der Leer eines 
Tageblattes, der nicht davon mweiß, „wie's gemacht wird“, und noch 
ganz arglojen Herzens ift, fi einmal überlegen, mie jold eine Tages- 
nummer entjtehe, er müßte zu dem Ergebnis fommen, daß jein „Organ“ 
die Zahl feiner Redakteure und Mitarbeiter plöglich vervierfadht habe, 
oder daß die Leute am eriten Adventſonntage Uebermenjchen merden. 
Der Taufend noch mal, was fteht jet alles da drin! Man weiß doc, 
wie viel Zeit man braudt, ein Buch nur zu lejen. Und Hier werden 
Bücher beiprocdhen, Spalten lang in jeder Nummer, obgleich aufs ein- 
zelne beim Zufammendrängen der Gedanfenfülle nur wenig fommt ! 
Und jedes aus doch ungzmeifelhaft genauejter Kenntnis des Inhalts 
heraus mit wahrhaft verblüffender Urteilsficherheit! Für Goethe oder 
Klauenſeuche oder Bismard oder Haustelegraphie oder Hühnerpips oder 
Marstanäle, für alles hat augenscheinlich daS Blatt unter den rajtlojen 
Mitarbeitern maßgebliche Spezialiften! Aber weiter: alle Neuheiten der 
Induftrie werden abgehandelt, die für den Markt in Frage fommen, für 
fid) oder gemeinfam mit der dritten Gruppe. In dieſer nämlich werden 


Kunftwart \. Jannarheft 1899 


— 21 — 


alle größeren Läden der Stadt „bejucht“, jo meit fie nur „Weihnacdts- 
ausftellungen“ machen, bejucht, geprüft, beurteilt und beiprocdhen und 
alle gleichfalls mit der erftaunlichjten Brancdhenfenntnis. „Was hab ich 
für ein Blatt“, denkt der Leſer, er denkt's mit Stolz. Nicht minder 
ſtolz aber ift er auf dieſes wundervolle Leben im Baterlande, von dem 
diefes fein Blatt ihm zeugt. Denn die hunderte von Notizen, fie dürfen 
ja alle, Gott fei gepriefen, aus vollem Herzen Toben, wiſſen fie dod) 
augenscheinlich nur von Gutem, Beſtem, Allerbeftem. Sa, alle dieje 
Bücher über Goethe, Hlauenjeuche, Bismard, Haustelegraphie, Hühner- 
pips und Marstanäle, fie find, jo ſchwer das augenjcheinfich bei manchen 
zu machen war, doch „hochgeeignet zu Feltgeichenfen“, und all die Neu— 
heiten der Induftrie und was ſonſt in all den Läden zu fehen, ift gleich» 
falls „hochgeeignet“ dazu... 

Die Eingemweihten legen ihr Blatt ungelejen beifeite in diefer Zeit, 
da die Druckerſchwärze mit Honigſeim angemadt wird. Sie find nicht 
weiter entrüftet, fie find abgeftumpft gegen den grenzenlofen Schwindel. 
Nur wenn die Feitbetrahtungen fommen mit ihrer Frömmigkeit, ihrem 
Gemüt und ihrer Nädjitenliebe, „wildzt“ wenigſtens in einigen doch die 
innere Natur, und die Orgie der Heuchelei empört. Mitleid mit den 
Armen, gerührte Thränen und inniges Ghriftentum auf demjelben Löſch— 
papier, das vier Wochen lang den erbärmlichſten Schund, und wärs ein 
förper= und feelenverderbender, den Leſern gegen Bezahlung angefchmiert 
hat! Denn bezahlt mit Waren oder mit Anzeigen oder, nichts weniger 
als jelten, mit barem Gelde, waren ja 999 von 1000 diejer Geſchäfts— 
empfehlungen zum Weihnadhtsmarkte. Und bezahlt mit Waren, d. 5. 
mit Rezenfionseremplaren, waren alle diefe Waſchzettel! 

Hier handelt fih’8 nun um Dinge, die man mit dem rechten Namen 
nicht anders als Korruption nennen fann, nicht gelegentlihe „Ent 
gleifungen“, fondern echte Korruption, nämlich eine jo allgemeine Herr— 
ſchaft geichäftlicher Umfittlichkeit, da fie gar nicht mehr als das, was 
fie it, empfunden wird. Ueber ſolche Ericheinungen kann unter erniten 
Menichen ja feinerlei MeinungSverfchiedenheit fein. Deshalb wollten 
wir auch am fie nur einmal wieder im Vorübergehn erinnern, da man 
vorläufig ihre ſchlimmen Folgen nicht beffer als durch immer wiederholte 
Warnung befämpfen fan. 

Aber auch die harmlofere Sorte der „wohlwollenden Kritik“ treibt 
in den übrigen Jahreszeiten doch fozufagen nur ins Kraut, blühn thut 
fie mit den Weihnachtsrofen zugleih. Auch da, wo nicht plumpere oder 
feinere Beftechlichkeit das Zeitungslob beitimmt, auch bei den verhältnis= 
mäßig mwenigen Feuilletons der anftändigen Blätter wird vor Weih— 
nachten die NRezenjentenbrille mit jeder Woche rofiger angehaudt. Die 


‚sreundlichkeit der allgemeinen Stimmung ftedt an — man „nimmt’s 
nicht fo genau‘. Zu entſchuldigen ilt das gewiß, ift’S aber auch zu 
rechtfertigen? 


Ja, mas hat denn eigentlich die Zeitungs- und Zeitſchriftenkritik 
zu thun ? 

Zunächſt einmal: jedenfall nicht dasjelbe, mie die eigentliche 
wiſſenſchaftliche Kritik. Zeitungskritik ift feine pſychologiſche Unter: 
ſuchung mit dem alleinigen Zwecke der Erkenntnis, Zeitungskuitik muß 
mit den Berhältniffen rechnen, unter denen fie gelejen wird, hie regt an 


Kunjtwart 


oder regt ab, fie „wirft“ irgendwie, und wenn fie ihren Beruf ernit 
nimmt, jo ergibt ich daraus die Berpflichtung, praktiſch, wenn man 
will: volfspädagogiih gut zu wirken. Wie wirft fie „gut“? Darüber 
find mir einig: das bloße Amüſieren thut’3 bier ebenfowenig, wie bei 
fogenannten Dichtungen und wie bei Theaterftüden — deshalb fchägen 
wir die Kopftlowns niedrig ein, die fih unterm Strich produzieren. 
Rechter Genuß — allen Dank dem, der ihn bringt, denn was ich recht 
genieße, das nährt mich und mehrt mir das Lebensblut. Bloßes Amüfes 
ment aber jchlägt nur die Zeit tot, ſchmeckt nur auf der Zunge, nährt 
nit. Davon aljo abgeſehn — wie foll Zeitungskritit wirken ? 

Sie fann wirken zunächſt einmal im geichäftlihen Intereſſe der 
Autoren und ihrer Verleger. Da unfre Welt fih ums Geld dreht, fo 
iſt das geichäftliche Intereife die Sonne, um die auch die meiften unfrer 
Zeitungsrezenfionen freien. Bon den allergemeinjten Formen folcher 
Abhängigkeit haben wir jchon geſprochen, es gibt aber viel mehr ver— 
ichleierte, feinere und auch anjtändigere. „Sollit du den Leuten dag 
Geſchäft verderben ?*,, denkt der mohlmollende fritifer. Und dann 
fommt eine jehr beliebte Gedantenphrafe, ich wenigſtens habe fie des 
öftern gehört: „Lob ift leichter zu verantivorten, als Tadel“. Schmiert 
einem ein Schneider jchofle Kleiderſtoffe an, jo findet man's nicht honett, 
aber literariiche Schofelmare darf man den Leuten ins Haus loben? Ich 
will nicht davon fprechen, wie weit jene Prachtphraſe ein Schuggedante 
für den geheimen Wunſch nad netten Rezgenfionseremplaren ift. 

Ein ehrlicher Zeitungskritifer, der ſich feinen Beruf ein bischen 
überlegt, fann felbjtveritändlich gefchäftlihen Wünjhen nur jo weit folgen, 
wie daS ohne Schädigung der Berufspflidt angeht. Die fordert ja 
immer die Arbeit zum allgemeinen Wohl. Nun verlangt das jchon, 
daß er zwei Herren diene, ſchwer aber ift das hier doch nicht, denn 
beider Borteil dedt ſich. „Was nüst der Literatur als folder ?*, hat 
fi) auch der beicheidene Rezenient zu fragen, „was alfo der Produktion?“, 
um hübſch modern mwirtjchaftlid” zu reden. Und zweitens: „was nützt 
den Leſern als den Konſumenten?“ 

Es ift gar feine Frage, daß der Literatur als folder die „mohl- 
mollende Kritik“ nicht das mindejte nügt. Nein, e8 gibt für fie faum 
etwas jchädlicheres, als daS Durcdeinandermwerfen aller Mapitäbe, das 
die modiſche Allesfoberei mit fi) bringt. Nicht nur dort, wo die Grünjt- 
deutihen in geheimen Konklaven Päpſtchen und Gegenpäpftchen wählen, 
fondern aud in unjern Tagesblättern werden mit unbeirrtem Selbftver- 
trauen tagtäglich neue Größen und s.v.v. Größinnen entdedt. Da nun 
fpradjliche Steigerung jenfeit der Superlative verjagt, jo befommen alle 
als hervorragend angejehenen Leute annähernd dasjelbe Lob. Es ift in 
der Kritik aller Künſte jegt jo, wer 3. B. das mädtige Genie Mar 
Klinger und das gute Talent Saſcha Schneider nicht fennte, würde 
nah den öffentlichen Beipredyungen die beiden jo ungefähr gleich hoch 
einihägen. In der Literaturfritif aber ift fo etwas gefährlicher, weil 
die ſtontrole viel jchwerer ift, da man in NAusftellungen und Laden 
fenitern die Bilder jelbjt, von Büchern aber nur die Einbände Sieht. Die 
Allesloberei führt aud; zu den albernfien Widerſprüchen. Nach den ein- 
zelnen Rezenfionen falt nur Talente und Genies, nad) den allgemeineren 
Betrachtungen „Uebergangsperiode*, „Bodenbereitung für den fommens 


= 23 — 1. Januarheft 1899 


den Mann“, „Sehnjuht nad) dem Meſſias“ — wie reimt fich das zu— 
fammen? Wenn id; allein die Literatur-Meffiafie zufammenzähle, die ich 
jegt vor Weihnachten in echten ober „imitierten“, d. 5. Waſchzettel— 
Rezenfionen gepriefen gefunden habe, jo könnten mir davon noch allen 
übrigen Literaturen abgeben, und es reichte. Was aber denn doc nicht 
al3 Genie bezeichnet werden fann (oder auch, was etwa wirklich eines 
iſt), da kriegt den großen Süßigkeitspinſel wenigſtens einmal quer über 
den Mund geftrichen, indem man's „liebenswürdig“, „anmutig”, „reizend“ 
oder „meti“ Heißt. Der wirflihen großen Begabung wird das Auf: 
kommen durch ſolches Weſen natürlich unfäglich erſchwert, wenn fie nicht 
befondere Glüdsumftände emportragen: fälſcht nicht Neid oder der natür— 
lihe Haß der Kleinen gegen die Großen das Urteil, jo fann man dod) 
auch da8 Genie nur Genie nennen, das aber werden fo viele, daß feiner 
mehr recht drauf achtet. Man denfe, ein Beilpiel aus der Muſik zu 
nehmen, an Hugo Wolf. 

Um uns wieder auf die Literatur zu beſchränken — ihr aljo wird 
duch) den großen Pairsihub ins Oberhaus der Poeten nicht gedient; 
es ift gewiß, daß viele dabei find, die nicht her gehören, und ift dog 
nit einmal gewiß, daß alle dabei find, die das thun. Hilft nun die 
„mwohlwollende Stritif* dem PBublitum? Hann denn dem was helfen, 
das ber Kunſt fchadet? Es wird durch die Allesloberei wie ſyſtematiſch 
zur Urteilslofigfeit erzogen. Daß c8 nirgends mehr auf Rezenfionen 
was gäbe, ift leider nicht wahr: man ſetzte nicht Wafchzettel und fo und 
jo viel andere Mittel in Bewegung, um gute Rezenfionen zu bekommen, 
wirkten fie nicht auch in der Tagespreſſe noch immer. 

Wir haben bei unfrer Betrachtung von einer Frage ganz abge- 
fehn, die vielen vielleiht al8 die Vorfrage ericheint: wie, wenn der bes 
treffende Kritikus überhaupt nicht das Zeug hat, einem Werke gerecht 
zu werben? So jonderbar das klingen mag: ich halte diefe Frage für 
nebenfädhlid. Theodor Storm jchrieb mir einmal, feiner Meinung 
nad jeien die echten Kritiker jo felten wie die echten Poeten, ja, zur 
Zeit hätten wir vielleicht für Lyrik feinen in Deutichland. Jedenfalls 
gehören feine kritiſche Abwägungen und Bemertungen zu den feltenften 
fiterarifchen Zederbiffen, und daran ift gar nicht zu denken, daß fie aud) 
nur in allen großen Zagesblättern aufgetiicht werden könnten — fo 
lange mwenigitens nicht, als alle Redaktionen auf „Originalrezenfionen“ 
ftolz find und „jo etwas“ nicht abdruden mögen. Seien wir alfo zu— 
frieden, iſt die uns vorgejegte Koſt nur rein, nur unverfäliht. Auf: 
richtigfeit ift die erfte Forderung wie an die Künſtler, fo an die Kri— 
tifer. Uebt und erzieht nad) Möglichkeit euern Geichmad, ftellt euch em 
für das, was der Künſtler gewollt hat, damit ihr nicht an feiner Ab— 
ficyt vorbeifeht, und dann jagt uns chrlich, was ihr meint: Hat er fie 
erreicht, und wie, war's eine gute Abfiht, und was gefiel und mas 
mißfiel euch? Sagt das, indem ihr Umnterfchiede macht, Abſtände haltet, 
Har erkennen laßt, meine ih, wen ihr mehr und wen ihr noch mehr 
Ihägt. Sagt offen, was euch mittelmäßig jcheint, was fchleht, mas 
gut, und tretet für Die, die ihr für Genies haltet, mit einer Kraft ein, 
die ihr für ein Talent nicht ohne Weiteres aufwendet. Irren thut auch 
der „geborne* Kritiker gelegentlih mal, es iſt feine Schande, zumal 
nicht, wenn er's ſpäter eingefteht. Jrreführen alſo werdet ihr uns auch, 

Kunftwart 


— 224 — 


wenn ihr aufrichtig jeid, danı und wann, aber jedenfalls zehn Mal 
weniger, als wenn ihr's nicht feid. Mehr als das Geforderte Darf 
man von der Tageskritit billiger Weife nicht fordern. Das aber darf 
man verlangen, zumal wenn fie fi zwar nicht nur auf die beiten, 
aber doch auf die am meilten bezeichnenden Werte befchräntt. 

Ja, fagt der Lefer, aber ginget ihr nicht davon aus, daß man 
nit nur einreißen, fondern aud aufbaun folle? Bon jedem Ganzen 
ſoll man da8 verlangen, aljo von der Zeitung als ſolcher, oder auch von 
ihrem Feuilleton. Ihre Kritik aber ift Heute noch nirgends ein Ganzes. 
Was Rezenfionen bringen, wird ja jo gut wie ausnahmslos abhängig 
gemadt von dem, was man zur Beipreihung einſchickt oder doch von dem, 
mas neu erjcheint, mit andern Worten: vom Zufall. Ob der Rezenſent 
(oben darf oder tadeln muß, hängt da alſo vom Zufall, aber gar nicht 
vom Willen des ehrlichen FKritifers ab. Da zuden: natürlich ſtets das 
Hervorragende feltener ift als das, woraus es hervorragt, jo würde 
die Bitte: mußt du fchon tadeln, jo lobe auch wieder, nur dieſes be— 
lagen: lobe auch Mittelmäßiges. 

Kein, eine in Wahrheit der Kunſt wohlwollende Prefje hätte ganz 
andere Aufgaben. Sie hätte nicht nur „niederzureißen“, fie Hätte aud) 
„aufzubaun“, aber e8 könnt’ ihr recht wohl geſchehn, daß ihre Beſprechungen 
von neuen Sachen mal eine gute Weile lang nur „niederzureißen“ hätten. 
Aufbauen könnte fie deshalb doch, müßte fie deshalb doch, wenn fie 
ihre Aufgabe recht ernit erfaßte. Sie könnte gute Werke im Feuilleton 
bringen, neue, oder, wenn's Meilterwerke find, auch alte. Sie könnte 
Erörterungen künftlerifcher Fragen bringen — ift e8 nicht zu verlangen, 
daß jedes Platt dergleichen aus eigenen Mitteln beftreiten fan, warum 
dürft’ e8 dann nicht auch dergleichen nachdrucken, fo aut wie PBolitifches ? 
Und ſelbſt auf dem eigenften Gebiete der Kritik könnte Bofitives ſehr 
wohl geleiftet werden, wenn man jich entichlöffe, auch Meifterwerfe der 
Bergangenheit, und feien es allbefannte aus klaſſiſcher und vorklaſſiſcher 
Zeit, auf ihre befonderen Werte Hin fritifch zu betrachten. Auch das 
fönnte ruhig unter Anlehnung an die beiten Bücher unfrer äfthetiichen 


Literatur geichehn. 


Vom modernen Drama. 

Die Thatjahe, dab fast gleichzeitig drei Werke erfcheinen, die fich mit 
der Gefchichte und der Aeſthetik des modernen Dramas beichäftigen, mag einem 
Zufall zu danken fein, wie ihn das literarifche Leben fo oft zeitigt. Der Bes 
obachter aber ber Entwidlung bes modernen Dramas wird fie freudig be= 
grüßen, jcheint fie body mit einem enticheidenden Punkte diefer Entwidlung 
jufammengutreffen. Gin Symptom dafür, daß folch einer erreicht fei, ift auch 
das jüngite Drama Mar Halbes, deſſen fchöpferiicher, vorwärtsmeifender Ge— 
danke als folcher durch den tobenden Lärm einer Berliner Radaupremitre 
nicht getötet werben kann. Die letzte Stunde des fonfequenten Naturalismus 
auf der Bühne jcheint nicht mehr fern, daran Ändert auch der Erfolg von 
Yauptmanns „Fuhrmann Henfchel* nichts. So fehr diefes Schaufpiel als die 
reifſte Frucht des ftilreinen Naturalismus gepriefen werben darf, e8 zeigt nicht 


1. Jannarheft 1899 


— 2 — 


mehr vorwärts, mir empfinden es als ein Werk der Beharrung und fühlen 
daß fein Standpunft überwunden werden muß. Die Gefahr, fih in ein Spe- 
zialiitentum zu verlieren, das von bem geiftigen Leben der Gegenwart nur 
noch ganz einfeitig genährt wird, ift nicht länger mehr zu verfennen. 

Bon dem Gefühle, vor einer Wendung zu ftehen, zeugt auch Edgar 
Steigers Bud: „Das Werden des neuen Dramas“, das bei Fontane in 
Berlin erfhienen ift. Es fließt mit einem halb prophetifh, Halb doktrinär 
fordernden Hinmeife auf den neuen Menfhen der That, der den Stimmungs- 
menfhen, das Produft des Milieus, in ſelbſtherrlicher Größe und Freiheit 
ablöfen fol. Einen foldien Thatmenſchen zu juchen, bat Mar Halbe feinen 
Streifzug in bie Beit der italienifchen Frührenaiffance unternommen. Die Beute 
ift gering, aber die Abficht entfpringt einem durchaus gefunden Empfinden 
für das, was uns not thut. 

Edgar Steiger nennt fein zmeibändiges Werk jchergend die Zwick— 
auer Dramaturgie, er hat e8 in unfreimilliger Muße gefchrieben, im Ge: 
fängnis bes Zmidauer Landgerichts. Die Einfamfeit mag dba dem Fluge 
feiner Gedanken allzu freies Spiel gelaffen zu haben, feine Phantafie Hat ſich 
des Zügels der ruhigen Kritif oft allzufehr entledigt. Gebanfenausflüge in 
eine moelthiftorifhe Betradtung der Fünfte haben da munberlide Dinge 
heimgebradht, Paradora, die als bleibende äfthetifche Prinzipien, Einfälle 
die als tiefe Gedanken gelten follen. Gar mandjes davon kann der be- 
fonnenen Prüfung nicht jtandhalten und iſt wohl auch mehr beitimmt, 
unterhaltend anzuregen als zu belehren. Unter diefe „anregenden” Zuthaten 
rechnen wir vor allem die äjthetifche Ouvertüre von dem Schaffen des Did- 
ters, die viel Anfehibares enthält, zum Beijpiel die hochmütigen Urteile über 
Schiller, und die Einteilung der Kunftgeihichte in eine bildnerifche, eine muſi— 
falifhe und eine dramatiſche Epoche. Einen Einblid in bie eigentliche Genefis 
des modernen Dramas, die ohne einen getreuen Hintergrund der Zeitgefhichte 
im allgemeinen nun 'mal nit darzuftellen ift, wird man von Gteiger8 Bud) 
fchon deshalb nicht erhalten, weil er durchaus unhiſtoriſch verfährt, wilffürlich 
den Begriff des modernen Dramas im Sinne der fogenannten „Moderne“ 
begrenzt und bie Frage, ob nicht aud) außerhalb diefer engeren Streife modernes 
Reben ſich rege, ernftlih gar nit aufmwirft. Im allgemeinen darf man fagen: 
Steiger jhildert nit da8 Werden des modernen Dramas, fondern er analy— 
fiert da8 Gewordene. Aber aud das thut er weniger, indem er das Weſent— 
liche finngemäß ordnet und zufammenfaßt, als, indem er die einzelnen Werke 
auf ihren Gehalt an modernem Leben in Bezug auf Form und Inhalt prüft. 
In dieſer Weife zergliedert er 3. B. Die modernen Dramen Ibſens, mit fehr 
feinem Berftändnis, aber doch im mefentlidhen, ohne zu ihrer Würdigung dem 
neues hinzufügen, was andere vor ihm, 3. B. Jaeger, Brandes, Ehrhardt, 
Hanftein gefagt haben. Sehr bezeichnend iſt es für Steiger Betrachtungs— 
mweife, daß er die ganze Entwidlung Ibſens aus der Romantik übergeht und 
ihre bis in bie jüngjten Werke hinein bemerfbaren Folgeerfheinungen über: 
fieht. Iſt ihm nun Ibſen mehr Kritiker der Geſellſchaft, mehr Moralijt als 
Schöpfer lebendiger, naturwahrer Geftalten, fo ericheint ihm Gerhart Haupt— 
mann al8 der eigentliche Entdeder des modernen Menſchen für die Bühne, ja, 
man möchte faft glauben, de8 Menſchen überhaupt. Denn die „Gepflogenheit 
früherer Dramatiker, die ftummen Gedanfen und Gefühle der Menſchen in 
Schöne Worte zu verwandeln“, erjcheint ihm als „Iyrifche Unart und tadelns— 
werte Bequemlichkeit“. Mit der Oberflächlichkeit einer folchen künſtleriſchen 


Kunftwart 
— 220 — 


Auffaffung muß man ſich noch heutigen Tags auseinanderjegen! Eriteng, 
find die ftummen Gedanken und Gefühle der Menſchen, deren Dajein, d. 5. 
deren Wirklichkeit Steiger ja jelbjt nicht beftreitet, von den früheren Dra- 
matifern durchaus nicht allein in „Schöne“, ſondern aud) in charakteriſtiſche 
Worte verwandelt worden. Zmeiten®: nur wer fi niemals bemüht hat, in 
die fünftlerifhe Schaffensmeife der „früheren Dramatifer“ einen Einblid zu 
gewinnen, fann bier von einer tadelnsmwerten Bequemlicdfeit reden. Be— 
quem find foldhe in einer ernten Debatte unbrauhbare Wendungen. Und 
mas bejagt der verſchwommene Ausdrud: „frühere Dramatifer* ? Es gab doch 
wirklich auch früher Dramatiker reht verſchiedener Art. Wenn ferner 
G. Hauptmann als „geborener Dramatiker“ gerühmt wird, weil er den 
lebendigen Menfhen in der Dichtung habe neu entitehen laffen, „wie er ihm 
in der Wirklichkeit erfchien“, fo iſt das eine mehr als gemagte Schlußfolge— 
rung. Oder fann nicht audy der Epiker diefen „vermeintlichen Tebendigen 
Menſchen“ neu erftehen laffen, nur mit anderen Nunftmitteln? Dann aber muß 
der Grundirrtum Steigers feitgeftellt werden, daß nur das wirklich fei, alfo 
in der Kunſt Dafeinsredht behaupten dürfe, was in ber Wirklichkeit den 
Sinnen bemerfbar wird. Steiger vergikt dabei, daß der Künſtler fehr 
wohl auch das Unwirkliche wirklich erfcheinen Iaffen fann und daß es in aller 
Kunst nit auf das Wirkliche an fid, fondern auf den Schein der Wirklichkeit 
anlommt. Schon eher fann man fi feine Behauptung gefallen Taffen, dab 
Haupimann „die Alltäglichkeit, fo wie fie ift, durch die reine Anſchauung er= 
obert* habe. Wllerdings Hat Hauptmann aud mit diefer Methode, die das 
Wefen einiger feiner Dramen ausmadt, durchaus nichts bisher Unerhörtes in 
die Kunst eingeführt, wenigſtens nicht für den, deſſen Stenntniffe fi nicht abficht- 
lic) auf die legten Jahrzehnte befhränfen. „Dem Begriff Menſch“, fo umreißt 
Steiger Hauptmanns künftlerifches Programm, „der auf der Bühne herum— 
fpufte, mußte die Erfheinung Menſch gegenübergeftelt und darum ber 
Augenblid, in bem uns allein (1?) das Leben gegeben ift, vom Künſtler er— 
faht werden.” Diefe Kunft der Alltäglichleit, der Schilderung de8 Augenblicks— 
menſchen, ift in der That Hauptmanns Kunſt, aber weder ift uns im Augen— 
blick allein das Leben gegeben, nod ift die Gunft des Augenblids von den 
Ktaturaliften fo ausgenußt worden, daß fie uns, wie Steiger aud) fagt, nötigte, 
„uns alles übrige hinzuzudenken.“ So meit es möglid war, alles dieſes 
Uebrige uns mittelbar zu verraten, ward es cben nur möglih Dadurd, daß 
die Naturaliften ihre Figuren auf einem niedrigen Niveau ſuchten, auf einer 
Stufe der Entwidlung, wo alles Har und einfah war. Sobald fie feiner 
differenzierte, tompliziertere Menfchenfeelen zu fchildern ſuchten, verfagte eben 
diefe Uugenblidsfunft mehr oder weniger. Gerade die eigentlichen modernen 
Helden gerieten, abgefehen von ihrer angeborenen Rückenmarksſchwäche, in Ge— 
fahr als Phrafeure zu mwirlen, weil wir von ihren modernen Ideen nicht mehr 
zu hören befamen, als gerabe die Gunſt des Augenblides vergönnte. Mit der 
Kunst des Emig-Alltäglihen, des Emig-Augenblidliden ſchrumpfte und mußte 
die geijtige Welt im Drama zuſammenſchrumpfen. 

Nun aber fommt die Ueberrafhung : lieſt man Steiger Ausführungen 
meiter, fo fieht man mit Staunen, daß er die Hurzfichtigkeit der naturalijti= 
ihen Theorie fich keineswegs verhehlt, ja, daß er wohl gar nicht abgeneigt ift, 
alle unfere Einwendungen zu den feinigen zu madjen. Eine folde Daritellungs= 
mweife führt aber in Die Irre. Wohl gilt e8, jede Entwidlungsitufe zu vers 
ftehen, ſich in den Geift derer, die fie-herbeiführen, zu verfenfen, aber es heißt 

1. Januarheft 1899 


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doch aud), Stellung dazu nehmen und zwar fofort. Steiger bevorzugt eine 
anderen ®eg und fo überraſcht er uns bei dem Sapitel von Maeterlingt mit 
ber Frage: Mo war denn die vielgepriefene Wirllichfeit? „Draußen im fidht- 
baren Raume oder im Unfihtbaren in uns? Durfte man überhaupt von einer 
Melt reden, mie fie wirflih war? War fie nicht für jeden wirklich, aber auch 
für jeden ander8?* So findet er den Weg von dem angeblichen Objektivismus 
der naturaliftifchen Hunft zu dem ber feelendeuterifhen eines Maeterlind. Denn 
nicht die Seele des Dichters, fondern die der Wefen, Dinge und Erſcheinungen 
fol in diefer Kunft vor uns lebendig werden und zwar unter Veraditung aller 
Aeußerlichleiten der Wirklichkeit. Dem extremen Realismus folgt als Gegen— 
ſchlag die extreme Phantaftif, die das Leblofe befeelt und das Lebendige des 
äußeren Lebens entkleidet, um nur die Seele noch fprechen zu laſſen. Immer— 
hin fällt die Erfcheinung Diaeterlinds als eines Sonderlings aus dem Rahmen 
einer Betradhtung des „modernen“ beutfchen Dramas, weil er e8 nur wenig 
beeinflußt hat. Weder im „Hannele* nod in der „Berfunftenen Glode* find 
Epuren einer intimeren Beeinfluffung durch Maeterlind zu finden, wenn man 
ihm nicht überhaupt die Anregung zum Phantaſtiſchen zufchreiben will. Beide 
Werte überfhätt Steiger unſeres Erachtens. An einem langen Stapitel: 
„Namen und Dramen“ fommen dann nod eine Menge von Dramen an die 
Reihe, die unter einem höheren Gefihtspunft zufammenzufafien ſich Steiger 
verjagt Hat. 

Im allgemeinen fehlt feinem Buche ein klarer Plan, fehlt ihm die Höhe 
der Geſichtspunkte, die Reife und Ueberlegenheit des Urteiles, die man von einem 
Darfteller des Werdens des neuen Dramas fordern muß. Steiger jteht viel 
zu fehr inmitten der Berwegung, als daß er fie beherrfhen könnte. Wertvoll 
aber ift uns fein Belenntnis, daß auch er den modernen Thatmenfhen, die 
große Tragödie herbeifehnt. 

Sp manden nüglihen Wink für die Beurteilung bes modernen Dramas 
hätte Steiger in Arthur ElveBers Bud: „Das Bürgerlide Drama. 
Seine Geſchichte im ı8. und ı9. Jabhrhundert** finden können, 
wenn e8 ihm jchon vorgelegen Hätte, Auf die Vergleihsmomente zwiſchen 
dem älteren deutjchen bürgerlihen Drama des ı8. und 19. Jahrhunderts und 
dem ber Moderniten braudt nur ganz furz hingewieſen zu werden. Stellten 
ſich die Schöpfer des bürgerlihen Dramas in ben Dienst der bürgerlichen Auf— 
Härung, der moralifhen mie der politifchen, fo ftehen diefe im Dienste des 
fozialen Gedanfens. Fragen ber bürgerlihen Moral, die Pilicht der Indivi— 
duen gegen einander, gegen bie Geſellſchaft, die Wirfungen der wirtfchaftlichen, 
politifhen und fozialen Lage auf den einzelnen und auf ganze Klaſſen und 
Stände ftehen hüben wie drüben im Vordergrund des Interefjes. Freilich gehen 
beide von jehr verfchiedenen Standpunlten aus. Daß ältere bürgerlidhe Drama 
fieht die Gefelichaft als eine Urt von Jdealmefen an, dem das Individuum 
angepaßt werden muß, es ftellt eine Moral als etwas lnantaftbares hin, 
gegen bie zu veritoßen ben Schuldigen an fi felbft am empfindlidjiten 
Ihädigt. Das moderne Drama fegt die Forderungen ber Gefelfchaft und des 
Individuums in einen ſcharfen Gegenfaß, e8 behandelt bie landläufige Moral 
als das Beengende, Freiheits- und damit Entwidlungsfeindliche und läßt ben 
einzelnen moralifche Forderungen Stellen, während dort die Geſellſchaft (d. h. 
die bürgerlide) gewiſſermaßen die Erfüllung der höchſten moralifhen Forde— 


* Berlin, Wild. Herk, Beſſerſche Buchhandlung. 


Kunftwart 


— 28 — 


rungen verförperte. Immerhin find die Gedankenkreiſe in beiden Dramenarten 
einander eng verwandt, nur tft an die Stelle des dritten Standes ber vierte 
getreten. Aber auch die fünftlerifchen Jdeale mweifen verwandte Züge auf. 
Beiden eignet der Glaube, ein neues Stüd von Wirklichkeit, wenn nicht bie 
Wirklichkeit ſchlechthin, auf die Bühne gebracht zu haben; beide bevorzugen bie 
Welt der Alltäglichfeit und finden den Beifall aller derer, denen das Alltäg- 
lihe in ber Kunſt das Wahre, das Höchſte dünkt. Gloeher zieht dieſe Pa— 
rallelen, die bier nur angedeutet werden follen, nicht. Er erfaßt feinen Gegen- 
ftand bauptfädhlid von der Seite des Moralifhen und des Politifhen und 
fchilbert, höchſt anziehend, wie fi im bürgerliden Drama des 18. und des 
19. Jahrhunderts die Gefchichte der Aufflärung von ihrem Aufgang bis zu 
ihrem Niedergang widerjpiegelt. Die Hauptperioden dieſer Entwidlung werben 
durch bie Namen George Lille, Leiling, Ludwig Schröder, Diderot, Jifland, 
Kopebue, Bird) = Pfeiffer, Benedix, Bauernfeld bezeichnet, während Hebbels 
Marie Magdalena den Abihuk der Entwidlung und den Keim einer neuen 
bedeutet. Die rein fünitlerifhe Entwidlung des Dramas, die für uns be— 
fonders wichtig gemejen wäre, ftreift Eloeßer leider nur im Borbeigehen. 

Befonders ergiebig hätte fi eine Betrachtung ber äfthetifhen Theorien 
Diderots geftalten müjfen, auf deren Uehnlichkeit mit denen Zolas Eloeßer ja 
hinweiſt. So fordert Diderot, ein Drama folle fo dargeftellt werden, als fei 
gar fein Publilum da, e8 zu fehen, es folle nicht als Kunſtwerk, ſondern 
unmittelbar als Reproduktion des Lebens wirken. Der Dichter braudt ſich 
nit zu fcheuen, alles auf die Szene zu bringen, was aud) in ber Welt ge: 
ſchieht. Noch weiter als Diderot geht Louis Schaftien Mercier, der u. a. aud) 
Heinrich Leopold Wagner beeinflußt Hat. Nach feiner Theorie, die er freilidy 
ebenfo wenig wie Diderot rüdfichtslos in die Pragis umgujegen gewagt hat, 
joll der Dichter als Berfünder einer höheren fozialen Gerechtigkeit aus den 
Salons auf die Straße hernieberjteigen, den Markt des Lebens, bie Stätten 
der Urmen und ber Arbeit aufjuhen. Durd) genaue Sittenfhilderungen und 
realijtiiche Einzelheiten follten die bürgerlihen Dramen gewiſſermaßen zu 
fulturbiftorifhen Quellenfchriften jür fommende Zeiten gemadt werben. „Der 
Urgrund ber Produktion follte nicht die innere Welt des Genius fein, fondern 
das Notizbuch, dem die documents humains gemiflenhaft anvertraut wer— 
ben. Ueberall follte der Dichter fein, wo ein Eindrud zu erwarten war, auf 
dem Scladitfelde, bei einer Hinrichtung, als der menſchlich Unbeteiligte, der 
mit willenfchaftlicher Objektivität fein Diaterial fammelt. „II n'a rien ä 
craindre, rien ä espérer, il est &tranger äce qui l’environne, 
il va quitter la salle, oü retentit la voix plaintive du mal- 
heureux.“ In Merciers Werten, die freilich, wie gelagt, hinter feiner Theorie 
weit zurüdbleiben, findet ſich bereits die Teilung in Hinter=- und Vorder— 
haus, findet ſich aud), als Sturiofum, ein ganz in ber Sprache des modernen 
Proletariers redender Weber bei der Arbeit! 

Gibt uns Eloeker in feinem verdienſtlichen Werte Zeitgefhichte im Spiegel 
der Dichtung, fo verfährt Hans Sittenberger in feinen „Studien zur 
Dramaturgie der Gegenwart“ (Münden, E. 9. Beds Verlag, Münden) 
durchaus als Yeithetiker, befonders als Dramaturg. Von feinem Werke liegt zunächſt 
ein Band vor, ber fih mit dem dramatifhen Schaffen in Defterreid 
beihäjtigt. Die gefonderte Betrachtung dieſes Schaffens wird in dem eins 
leitenden Kapitel über die öfterreihifhe Tradition im Drama, d. 5. bie Wie- 
nerifche, begründet. Der Verfaſſer vermweift hier mit Recht auf die unmittelbar 


1. Januarheft 1899 
— 229) — 


vollstmülichen Impulſe, die bei Grillparzer nicht viel weniger bemerfenswert 
find, als bei Bauernfeld, Raimund und Neftroy. Daß er folden Impulſen 
nur wenig unterworfen war, iſt vielleicht nicht der lefte Grund der geringen 
Mirkung, die von einem fo produftiven Talent, wie e8 das Franz Niffels ge— 
wejen, ausgegangen iſt. GSittenberger fommt am Schluſſe feiner fo eingehen= 
den wie anregenden Studie über den Dichter zu dem Ergebnis: „Niffel ift ein 
Miener Kind, aber Wiener Art ift in ihm nicht Tebendig geworden, im Men: 
fhen gar nit, im Dichter äußerft felten.* Uber nicht das allein war ein 
Verhängnis für den Dichter, ein meit größeres für ihn war fein Streben nad 
einem Mujter, dem er feine nennenswerte Berfönlichkeit entgegenzufegen hatte, 
nad) Schiller. Niffel ift in der That geradezu das Mufter eines unglüdlicdhen 
Scdillerepigonen, ber nur felten den Mut bat, er felbft zu fein, und immer, 
fo ſchönes ihm aud) gelingt, unter feinem Jdeale bleibt. Sittenberger nennt 
ihn den Tragifer der öfterreihifchen Bourgeoifie, d. h. einer Bourgeoiſie, der 
zum Tragifhen nicht weniger als alles fehlt. Der Standpunkt, von dem aus 
Sittenberger feine Studien anjtellt, ift der des Realismus, wie er in den 
jüngeren Werfen Goethes, in denen Hleifts, Hebbels, Grillparzers und Ludwigs 
zur That geworden ift. Der Berfaffer ſpricht ſich zwar an feiner Stelle des 
näheren über biejen feinen Standpunft aus, aber, fo jehr er auch die einzelnen 
Merfe aus ſich felbjt Heraus zu erflären und zu würdigen bemüht ift, jo wenig 
fann doch diefe feine prinzipielle Stellungnahme verfannt werden. Es bari 
uns bier nicht beifommen, feinen Urteilen, die durch Ruhe, Bejonnenheit, Reife, 
dur) Offenheit des Blides und künſtleriſches Feingefühl fi auszeichnen, im 
einzelnen nachzugehen. Es genüge, die Hauptnamen, deren Träger er charak— 
terifiert, zu nennen: Mofenthal, Prechtler, Weilen, Hamerling, Saar, Doczi, 
Wartenegg, Keim, Ebner-Eſchenbach. Mit ihnen find die Studien über bie 
ältere Wiener Richtung abgeſchloſſen; e8 folgen die über die moderne Ridhtung, 
in denen das literarifhe Jung-Wien im Ganzen mit überlegenem Urteil ge— 
tennzeichnet wird und in denen ferner die hervorragendften Werke von Eber— 
mann, Bahr, Lothar, Schnigler, Dörmann und David fehr treffend gemürbigt 
werden. Der wertvollite, fichtlih mit der größten Liebe behandelte Abjchnitt 
des Buches ift der über Unzengruber und das neuere Volksſtück. Namentlich 
find die Ausführungen Sittenbergers über Anzengrubers fünftlerifchen Ent: 
widlung, über den Realismus feiner Darjtellung, über feine Auffaffung von 
Gut und Böfe, über feinen Humor als den Ausdrud einer ernften Lebensauf— 
faffjung, über feine Shägung und Charafterifierung der Frau außerordentlich 
beadjtensmwert, weil fie uns ungezwungen und mit aller Kraft anſchaulicher und 
farer Beweisführung unmittelbar in den Geift des Dichters verfegen. Im 
ganzen Verlauf feiner Studien aber hält Sittenberger den Zufammenhang ber 
einzelnen Dramen mit der Bühne und ihren Forderungen und Möglichkeiten 
im Uuge. Der zweite Band der Studien wird ihm mohl aud) Gelegenheit 
geben, fi) mit dem modernen Drama der Hauptmann und Genoffen ausein— 
anderzuſetzen. Leonh. Lier. 


Kunſtwart 





ADusikpflege im AMittelstande. 
1. Einleitende®. 


Ich bin nicht mufilalifch“, das hört man nicht felten von gebildeten 
Leuten, die damit im Grunde nur befagen wollen, daß fie fein Snftrument be— 
herrfchen und feine Noten Iefen können. Und wie oft müffen fogenannte Muſik— 
freunde fi) aus der Zahl der urteilsfähigen „Muſiker“ ausgeſchloſſen fehen, 
meil man ihnen nadjfagt, daß fie vom Stontrapunft nichts verjtehen oder daß 
fie nicht anzugeben miffen, in mweldher Tonart man ihnen eben vorfpielt. 
Anderſeits treffen wir auf die oft gemachte Erfahrung, dab der Fortfchritt auch 
in ber Tonkunſt nicht gerade von denen am jchnelliten erfannt ward, bie fich 
mit befonderem Nachdruck als Leute vom Fache fühlten, fondern von ben ver— 
achteten Laien, deren ungeſchultes Ohr da neue Schönheiten wahrnahm, mo 
das feine Gehör des Muſikers vom Fach nur chaotiſches Tongemwirr bemerfen 
fonnte. Wie löſt fi diefer Widerfpruhh ? Wo läuft die Grenzlinie zwiſchen 
ber mufilalifchen Bildung und dem baren Unverftand ? Sierüber zu fpredhen, 
ift gerade im Kunſtwart von Wichtigkeit, da fi unfere Zeitfhrift über bie 
Muſiker von Beruf hinaus an den weiteren Streis aller wendet, denen die Ton— 
funft als thätig oder empfangend Genießenden ein feelifches Bedürfnis be— 
friebdigt. 

Das erfte, worauf man heutzutage einen Muſikmenſchen, dem man be= 
gegnet, zu prüfen pflegt, ift feine Technif, fei e8 als jchaffender, fei e8 als aus— 
übenber Künſtler. Bejteht er da, fo fchenft man ihm meiter Vertrauen. Fehlt’s 
irgendwo, fo weiſt man ihn leicht als fläglihen Stümper ab. Denn das muf 
wahr fein, denft man: die technifche Beherrihung des Sages und des Inſtru— 
mentes verleiht einen fo bedeutenden Vorteil, daß fein allaugroßes Quantum 
angeborenen muſikaliſchen Talentes dazu gehört, um einen guten Somponiften 
und treffliden Interpreten zu maden. Schön, aber fo hoch man den Wert 
der Technik mit gutem Rechte anſchlagen und fhägen mag: fie ift nicht alles, 
fie ift namentlich in ber Mufit nicht jene von ſelbſt verftändliche Vorausfetzung 
ber Bildung, wie das Lejen für das Titerariiche Gebiet. Die Buchjtabierkunft, 
die dem tieffinnigften Dichter des beutjchen Mittelalters, Wolfram von Eſchen— 
bad), verſchloſſen war, iſt jegt zum unbedingten Gemeingut nicht bloß der 
geiltigen Arbeiter geworden. Nicht fo Gefang und Spiel, bie im linterricht 
dem Belieben des Einzelnen jet völlig überlaffen bleiben, während fie in der 
Erziehung bes hellenifchen Altertums obligat waren. Ja, mir fönnen mit 
Bezug auf die Verbreitung der Spielfunft fogar von einem verhältnismäßigen 
Rüdgang reden, wenn aud) das technifche Vermögen des gegenmärtigen Ges 
ſchlechtes mit den erhöhten Anforderungen und der zweckdienlicher gewordenen 
Behrmeife gewachſen ift. Der Normalmenfh von heute fpielt im der Regel 
Klavier, nicht felten Violine, zumeilen Gello, aber nur ausnahmsmeife Flöte, 
Horn, Glarinette u. f. w., oder gar mehrere Injtrumente Nicht einmal der 
Berufsmufiler thut das, meil eine den modernen Anſprüchen genügende Vir— 
tuofität ihn mit Notwendigkeit ins Spezialiltentum hineintriebe. In früheren 
Zeiten war freilid auch bei Dilettanten eine vielfeitige technifhe Schulung 
in der Mufif nichts ungewöhnliches. Uber das maren Zeiten, bie viel mehr 
„Zeit* und viel weniger Sorgen hatten und haben durften, Zeiten, mo das 
politiihe Thema verpönt, der Zugang zu den Wilfenfhaften erichwert, ber 
geijtige Horizont überhaupt fehr eng und der Kampf ums Dafein im allge: 
meinen Wettbewerb lange nit fo graufam und aufreibend war. Jetzt ift die 


1. Jannarheft 1899 


— 231 — 





Zahl der von Natur muſikaliſch Begabten, welden die Drangfale des Lebens— 
berufes nicht die Muße ließen, um fi die dem modernen Stande angemeſſene 
Fertigkeit auf einem Instrument zu erarbeiten und bie dadurd) entmutigt, dem 
Meiterftreben entfagten, größer als man gemeiniglidy denft, zumal bier auch 
das oft vorfommende „Ipezififhe Untalent* zu mechaniſchen Gejchidlichkeiten 
feinen hemmenden Einfluß ausübt. Ja, die Zahl der muſikaliſchen Analpha— 
beten wird bei ber fortlaufenden Steigerung der erörterten Umſtände vors 
ausfichtlich eher zu=- als abnehmen. Allen diefen das Stimmrecht in den 
weſentlichſten Fragen der Tonfunft gänzlid) entziehen zu wollen, wäre ent— 
fhiedene Unbill. 

Gewiß, nicht das Gefhid feiner Finger madt den guten Mufifer aus, 
fondern die Auffaſſungskraft feines Gehörfinnes. Und zwar fommt es babei 
nicht fo sehr auf die Schärfe bes Ohres an ſſonſt müßten ſcharfſichtige See— 
feute auch die beiten Beſucher von Bildergalerien ftellen), fonbern auf eine 
gewiſſe Fähigkeit, die gewonnenen akuſtiſchen Gindrüde innerlid; zu verar— 
beiten. Es gibt Leute, die jeden angefchlagenen Ton ſogleich unjehlbar auf 
feine Höhe beftimmen fünnen, aber Tonmwerten äfthetiih als wahre Botokuden 
gegenüberftehen; e8 gibt anderfeit$ Leute von höchſter Empfänglichkeit jür 
die Tonkunft, die faum imitande find, Mängel der Ausführung, Unreinheiten 
der Stimmung, Zuhoch- oder Zutieffingen u. dgl. lebhaft zu empfinden, Wit 
diefer Thatſache muß gerechnet, diefer Mangel muß auf feine ridtige Bedeu— 
tung zurüdgeführt werden, und dies gejchieht, wenn wir das abfolute Hören 
und das fünjtlerifche Hören forgfältig auseinanderhalten. 

Somit jtöht man bei ber Sude nad) der letzten Orundlage des Muſi— 
kaliſchſeins auf eine geiftige Dispofition. Dan muß eben, wie Shaffpere fügt, 
Muſik in ic) felber haben. Uber diefe Dispofition bedarf, wie jede, um frucht— 
bar zu werden, ber Pflege; fie fann, um wirlfam zu fein, einer gemiffen 
Summe gefammelter mufilalifder Erfahrungen nidht entraten. Und dies führt 
mwieber zu einer geredhten Bewertung der erworbenen Technik zurüd, Je ges 
mwandter Einer fpielt, defto mehr Werke find ihm zugänglich, defto leichter fällt 
ihn: die Kenntnisnahme des Vorhandenen, defto reicher und tiefer fann feine 
mufifalifche Erfahrung werden. Alfo: veracdhtet mir die Technik nicht. Biel» 
mehr follte ſich jeder glücklich fchägen, der fie befigt, denn fie iſt ber Schlüffel 
zum bequemiten Eingang in das Reich der Tonkunſt. Der bloß auf's Hören 
angemwielene Mufiffreund flimmt auf rauhen, jteilen Pfaden zu ihrem Reiche 
hinan, und manche feiner hocdhgelegenen Bezirfe bleiben ihm zeitlebens unzu— 
gänglid). 

Denn Hören ift zwar eine fhöne Sache, aber wer ſich darauf verläßt, 
bleibt immer ein Sklave des jemeiligen Angebots. Hansfonzerie, wo man 
feine Wahl felber treffen fann, werden immer feltener, und ber bloße Hörer 
hat aud in ihre Programme nur felten dreinzureden. In Theatern und 
öffentlichen Konzerten wird Gutes und Schlechtes, Förberliches und Verbilden= 
des im bunten, verwirrenden Durdeinander aufgetifcht. Was Wunder, wenn's 
mit dem Geſchmack des Publikums nicht zum Beten beftellt ift? Die Preſſe, 
die hier aufflärend eingreifen könnte, thut das leider nur fehr mangelhaft. 
Sie lenkt das Interefje vom Aunftwerf ab auf bie Aufführung, wenn nidt 
geradezu auf die PBerfon der Ausführenden. Praltiſche Hilfsbücher gibt es 
wenig; die vorhandenen ſchweigen fi oft gerade über das Allerwidtigite 
aus, und wer fann ſich's aus der mweitverfireuten Literatur mühfam zufammens 
fuhen! Ein Grundriß der Muſilkwiſſenſchaft. der zu jeder einfchlägigen Frage 

Kunftwart 


— 232 — 


angäbe, von wen und wo darüber gefhhrieben wurde, fehlt noch immer und 
wohl noch auf lange hinaus. 

In einer hiemit eingeleiteten Reihe von Aufſähen fol nun verfudt 
merden, jenen Muſikfreunden, die bei beſcheidenen Mitteln und bei geringem 
eigenen technischen Vermögen doch der muſikaliſchen Freuden im edelften Sinne 
teilhaftig werben und nad) und nad) das ganze Gebiet der Muſik mit hinläng— 
lihem Berftändnis erfaifen möchten, einige Winfe zu geben, auf welchem Wege 
man dazu gelangt, wa$ man dabei zu thun und au vermeiden bat, und wie— 
viel überhaupt dazu gehört, um fich jenen Grab muſikaliſcher Bildung zu er- 
werben, der befähigt, fich eine begründete Anſicht ſowohl über bie allgemeinen 
Fragen der Tonlunft wie über den befonderen Wert der einzelnen Tonwerke 
zu bilden. Richard Batka. 


EZ 1 


Kunstpflege im AMDittelstande. 
11. Gebraudsgegenjtände. 


Die Grundfäge, die mir in ber Folge diefer Aufſätze aufgeftellt haben, 
wiederholen fih natürlih auf allen Gebieten in gleicher oder doch nur wenig 
veränderter Weile. Die Hauptſache bleibt immer die ſachliche Löfung, melde 
die praftifche Benutzbarkeit als michtigites behandelt, eine Form bildet, Die 
auch ohne jeden Zierat ſchön ift, allein vermöge ihrer Linie und der Farbe 
ihres Materials, und melde die Beitimmung des Gegenitandes beutlich aus- 
ſpricht. Das letztere nit etwa duch bloße angeheftete Symbole, fondern 
durch das Weſen der Erſcheinung. Als Beifpiel denfe man etwa an folgendes: 
eine Uhr drüdt nicht dadurd ihre Beſtimmung als Zeitmeffer klarer aus, 
daß eine Figur ober ein Figürden des Chronos mit ihr verbunden ijt, fon 
dern dadurd), daß Zeiger und Zifferblatt fo deutlih und Far wie möglid) find, 
daß man den Gang des Uhrwerks ſozuſagen mitfühlt, daß man das ſekunden— 
weife VBormwärtsrüden der Zeit durch das jchwingende Pendel mitempfindet. 
Deswegen verlangt bie älthetifche Löfung der Aufgabe, eben diefe Deutlichkeit 
auf irgend melde Weife fhön zu geftalten, nicht aber: fremde Schmuck— 
motive Daran zu heften. Es fann fih ja auch eine Ihr oder fonit etmas 
ähnliches zu einem beſonders prächtigen Zierat auswachſen; Fürftenktunft hat 
ja mandjmal fonderbare Blüten getrieben, bie uns trogbem heute noch ent— 
züden, wenn fie wirkliche Künftler gemadt haben. Für unfere hier zu behan- 
deinde Frage kommt eine derartige Aufgabe aber nicht in Betracht, da es id) 
hier ftet8 nur um mehr oder minder anmutig geformte Gebraudisgegenftände 
handelt — fo daß ich gar nicht näher darauf eingehe. Denn es bedürfte ſchon 
des allerficheriten Taktes, um in eine fehr einfache Einrichtung fo koſtbare Dinge 
harmoniich einzufügen. Dan verjtehe mich recht: nicht, als ob man nicht feine 
Freude an fo etwas haben „dürfte“, wenn man es gerade zufällig befigt; nur 
follte man nicht glauben, daß der fünjtlerifche Eindrud eines Zimmers von 
der Koſtbarkeit der Gegenjtände darin abhinge. Die Kunjt einer einfachen 
Bauernſtanduhr kann größer fein, als die einer fojtbaren Bronzeuhr im Stil 
Ludwig XIV. Meift aber langte es dort, wo das falſche Streben nad Prunf 
und Koftbarleit vorhanden war, gar nicht bis zur Kunſt zu, und e8 entftanden jene 
ſcheußlichen Machwerke, die wir aud) heute noch unter Glasglocken in ber guten 
Stube jtehen fehen. Daß ſolch eine Uhr auch richtig geht, daranf ijt wohl nie 
befonderer Wert gelegt worden; ich wenigftens habe fogar nod) nie eine zeit- 


1. Januarheft 1899 
— 23 — 


angebend gejehen, oft, ad), fehlten fogar die Zeiger. Schon ihrer unglaubliden 
Unfacdhlichkeit wegen, der man ihre Untauglichkeit zum Zweck ſchon von weiten 
anfieht, ift ein äfthetifches Quftgefühl, welches fi) doch eigentlich in ber Freude 
an der vollendeten Harmonie des Innern mit dem Aeußern lundgibt, für den 
äfthetifch Gebildeten hier nicht möglich. Ich ſprach ſchon hier des öfteren da— 
von, welch wichtige äſthetiſche Faktoren in den von raffinierter moderner Technik 
geſchaffenen Werken fhlummern, die wir zuerft bei den Engländern im Beginn 
ihrer bewußten Ausbildung fahen. So iſt 3. B. die Erſcheinung eines ganz 
ſachlichen Chronometers mit faft wiſſenſchaftlichem Eharafter für einen Wohn— 
raum jedenfalls bejjer zu brauchen, als der jalfhe Bombaſt unferer Stand» 
uhren und Negulatoren. Früher durfte in feinem Haufe die große Standuhr, 
von ber gleichſam die Regelung des ganzen Hausmefens ausging, fehlen. Es 
iſt mit Freude zu begrüßen, daß man auf diefe Form der Uhr wieder zurüd= 
fehrt, jchon weil das fchlanfe Auffteigen, das zur Gliederung einer Wand fo 
vorzüglich geeignet ift, aus gar feinem anderen Gebraudsmöbel mieder fo 
von ſelbſt hervorgeht. Leberhaupt iſt ja die Uhr eine der wenigen bewegten 
Segenitände, fie madt durch ihr Tidstad ein Zimmer behaglich, und auf 
mic; wenigſtens übt fie eine ähnliche fuggeitive Wirkung, wie das Schnurren 
einer Hate und das Summen eines Theekeſſels, das Kniſtern des brennenden 
Holzes im Stamin oder das regelmäßige Klatſchen des Regens an die Fenſter— 
fcheiben, wenn man ihn aus der warmen Stube hört. Daß frühere Jahr— 
hunderte dieſe Stimmungsmomente fehr wohl zu ſchätzen wußten, geht aus der 
ungemein mannigfaltigen Ausbildung der Uhr und ihrer Formen hervor. Dan 
laſſe fih alfo diefen Yaltor, bei dem man Nüplichkeit, Stimmungsmomente 
und fhöne Formen jo gut verbinden fann, nicht entgehen. — Ueber Taſchen— 
uhren einiges beim Thema „Schinud“. 

Einer der Gegenjtände, die wohl amı beiten ausgebaut find von allen, 
iit ber Eßtiſch, mit all dem, mas dazu gehört. Das liegt wohl daran, dba 
das Eſſen und Trinken überhaupt fo jehr im Vordergrund alles Intereſſes fteht 
und zumal den Mittelpuntt der gefelligen Zufammenfünfte bildet. Dann 
aber aud) daran, daß unfere gut erzogenen Damen bie untadelige Sauberfeit 
und Nettigfeit hier zur eriten Norm maden, wird fie doch beim Tiſch gerade 
zu zum äſthetiſchen Faltor. Der Schimmer eines tadellofen weißen Damajt- 
tuches iſt ſchön und ein Fleck darauf nicht in hygieniſcher Beziehung zu be— 
dauern, ſondern äjthetifch jtörend. Es iſt wohl ſelbſtverſtändlich, dab Leute, 
die auf ſich etwas halten, hier für ji allein nicht geringere Anfprüdje ftellen, 
als wenn jie Gäjte haben, fondern eine Verſchiebung nur Hinfihtlih der Koſt— 
barfeit, nicht aber der abjoluten Schönheit eintreten laſſen. Der Beitand an 
Tafelzeug und Services iſt wohl relativ das beite, was man im Durchſchnitt 
bei ben „Gebildeten* zu fehen befommt. Auswüchſe an Tellern anzubringen 
geht zudem nicht gut an, und aud) die Biergläfer müjjen doch wenigjtens oben, 
wo man fie an den Mund jeht, glatt fein; da, wo man jie anfaßt, dürften fie 
ihon eher Stadheln und Dornen haben. Bei Gläfern bedenfe man das Wejen 
diefes Materials, zum eriten feine Eigenſchaft der Durchſichtigkeit, zum zmeiten 
feine Technik. Ganz natürlid) muß die Hauptſchönheit eines Glafes im Schimmer 
des Lichts zu ſuchen fein, das mit feinen Nefleren darin ſpielt. Da das 
Glas geblajen und gedreht wird, entitehen von felbit die gewölbten glatten 
Flächen, die bei ihrer Dünnheit fo dDurhfichtig find und nur vereinzelt icharf 
abgegrenzte Slanzlichter auffangen. Alle wirklich guten Gebraucdhsgläfer gehen 
auf diefe beiden Grundeigenſchaften zurüd. Als abſchreckende Beifpiele bejehe 


Kunftwart 
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man fid) die fogenannten Services, die fo oft als billige Geſchenke überreicht 
werden, von Auswüchſen ftrogen, ba$ Glas mie Bronzeguß behandeln mödten 
und dadurch allen Reiz bes Materials verderben. 

Es find fchliehlich immer Ddiefelben Jdeen, die bei jedem Geräte maß— 
gebend find. Dlejlergriffe, die nicht glatt und gut in der Hand liegen, bie 
zadig und mit harten Kanten verfehen find, müffen an fi) ſchon ftillos wirken; 
denn man wird nur dann Höchites Wohlgefallen an der Form haben, wenn 
man beim Anſehen ſchon empfindet, wie der Griff wirflih im beiten Sinne 
ein Griff ift, der fid) der Hand anſchmiegt. Und immer und immer mieder 
find e8 auch auf dieſem Gebiet die billigen Sachen, die nad) etwas ausfehen 
follen und durd einen Schwulſt von Zuthaten ihre Billigkeit verdeden möchten. 
Aehnlich ift es beim Porzellan. Gewiß ift bemaltes Porzellan etwas fehr ſchönes, 
allein wo es nicht dazu langt, glaubt man mit einem bunten Aufdbrud Dem 
Scheine bes Gemalten nahe zu fommen. Warum verivendet man nur fo wenig 
ganz meihes Porzellan, bei dem der Reiz dann in der Feinheit und Dünne 
liegen muß! Allerdings fann das immer nod) teurer fein, als das billigere, 
bedrudte, „da8 nad) was ausſieht“! Mir fielen neulich einmal in einem Por— 
zellanladen ganz einfache, fehr dünne weiße Theetaflen in Form flacher Schalen 
in die Hände, bie das Stüd 30 oder 40 Pig. fofteten. Ein kluger Dann, den 
id) darauf aufmerffam machte, kaufte fie, ftellte damit ein Service mit einigen 
raffiniert feinen japanifhen Lackſachen und Silber zufammen und verfaufte 
dann die Taſſen um mehr als das Dreifahe ihres eigentlichen Preifes, da die 
Leute nun erſt fahen, wie fein das einfachſte in der ridtigen Umgebung wirken 
kann. — Ueber Tafelihymud möchte ich beim Thema Blumen nod ſprechen. 

Auf dem Gebiet der Beleuchtungskörper ilt durd) die Neuartig— 
feit des eleftrifhen Lichts bedeutende Beflerung gelommen. Auch hier war es 
England, das ſich zuerst zu einfaden und dem Wefen ber Beleuchtung ent— 
fprechenden Formen entſchloh; Wege, in die man aud) bei uns einlenft. Leider 
ift aber hier die eleltrifche Beleuchtung verhältnismäßig noch etwas feltenes, 
und ich glaube, daß heute noch in der Familie die Petroleumbeleudtung das 
eleftrifhe Licht und das Gas zujammen überwiegt. Hier fieht es nun ſchlimm 
aus. Das, was heute zumeift im Befig it, iſt vor zehn Jahren gekauft 
worden, und was man da anfertigte, war die Reinkultur der Gefhmadlofig- 
feit, jene bronzierten Zinfgüffe, die ich neulich bei Gelegenheit ber Weih— 
nachtsgeſchenke befprad. Sind aud) allmählid die Majolifafühe mehr aufs 
gefommen und ift der Zinkguß zur Montage zurüdgetreten, jo iſt dabei 
doch nichts gutes geihaffen worden. Es dürfte ſehr ſchwer fein, eine wirt» 
lih gute Petroleum-Tifhlampe zu finden, die praftiih und ſchön zugleich 
iſt. Das befte, was id) fenne, ift, rein künſtleriſch natürlich, noch die alte 
DOellampe, am Stativ veritellbar, mit dem Baflin nad) dem Prinzip der kom— 
munizierenden Röhren. Hier iſt eine Lüde, für die ich feinen Rat weiß, 
und da naturgemäß die modernen Sünjtler ihr Intereſſe mehr dem elef- 
trifhen Licht und zur Not dem Gafe zumenden, jcheint die Lüde fi bis 
zum gänzlichen Ausjterben der Petroleumlampe nicht ſchließen zu wollen *. 
Und doch ift die mit einer Hand bequem tragbare, ſehr jtabil unterftüßte, 
niedrige Lampe fo angeordnet, daß ihr Licht nur auf den Tiih, nicht in 
die Augen jält, ein alltägliches Bedürfnis, an das ſich unfere Künſtler doch 
aud) einmal heranmachen jollten. Vielleicht gibt das jegt fo ftarf auflommende 


* Mol, den Vermerk in der „Nundichau“ diefes Heftes. 
1. Januarheft 1899 


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Azetylen, das fih als Fahrradlaterne ja vorzüglich bewährt, eine Anregung, 
etivas Neues, Praftifches und Sinnreiches zu ſchaffen. Vielleicht gibt es auch 
Gelegenheit, endblih einmal einen Lampenſchirm zu fhaffen, ber in unferem 
Sinne gut ift. Dis heute blieb immer nur der Ausweg zum grünen Bureau— 
ſchirm übrig, der wenigfiens durd) feine „Verzierungen“ weh that; benn ber 
fonft fo reiguolle Schleier taugt nur zur Salon-, nit zur Studier- oder Lefe- 
lampe. Biel beiler ift es dem Leuchter ergangen, ber, obgleich er heute viel 
weniger Bedürfnis iſt als die Tiſchlampe, ſich doc) in geradezu muftergiltigen 
Formen ausgewachſen Hat. Wllerdings entitehen neben den 10 guten 200 
ſchlechte moderne Leuchter, in denen man fich meijtens mit allen fünf Fingern 
mie in einem Fuchseifen verfangen fann, und munbderlid: das Publikum 
tiebt vor allem das Fuchseiſen. Seitdem für das Gas fo ganz neue Formen 
aufgefommen find, die vor allem im Gasglühlicht gipfeln, ſcheint auch für 
diefe Beleuchtungsweiſe eine neue Aera zu fommen. Man hat die häßlichen 
langen Gasglühlihtzylinder mit beiten Erfolg durd) die furzen Birnen aus 
mattem Glaſe erfegt und ift fo auf eine Grundform gelommen, die fih nun 
äußerſt reizvoll ausbilden läht und die zum Teil aud) ſchon ausgebildet wurde. 
Am elektriſchen Licht hat die Neuartigfeit von jelbft zu neuartigen Formen ges 
zwungen, beren fünftleriiche Momente überall da in ber Einlage fihtbar find, 
wo man nidt an das Schöne gedacht, fondern nur auf das Sadjlidhe Wert ge— 
legt hat, alfo wiederum bei unferen Bureaus und Gefhäftslampen. Es ift fehr 
Mar, daß der Stil ber eleftrifchen Lampe aus dem Wefen der Beleuchtung, 
alfo der einfahen Zuleitung durch den Draht und durch die volllommen will: 
fürlihe Neigung der Beleucdhtungsförper ſelbſt beitimmt wird, ba man es 
nidjt mit einer Flamme, fondern mit einem fejt eingefchloffenen glühenden 
Körper zu thun hat, ber ohne jede Feuersgefahr überall und in jeder Lage 
angebradjt werden kann. Wenn man aber, ıwic ih auch Schon gefehen habe, 
eine eleltriſche Tiſchlampe baut und dann unter ihr fünjtlih ein ſinnloſes 
Baſſin anbringt, bloß, weil man ſich von der herlömmlichen Form der Lampe 
nicht losmachen kann, jo iſt das eine Stillofigfeit im ſchlimmſten Sinne, bie 
allerdings in dieſer Kraßheit nicht oft vorfommt. Genau dem Wefen bes elei- 
trifchen Lichts entfprehend find ja im Grunde aud) die „Quftres“ nicht, bei 
denen bie Zuleitung buch Vtetallröhren wie beim Gafe geſchieht, doch wider: 
ſprechen fie aud) der Zweckmäßigkeit nicht gerade und können fehr gefällig ge- 
bildet werden. Befonders reizvoll erfcheint mir beim eleftrifchen Licht die Art 
der Montierung, bei der die einzelnen Lampen mie an Stetten oder dünnen 
Drähten etwa in einem Kreis von der Dede herabhängen und fo Gelegenheit 
geben zu einer Fülle von neuen und beforativen Einfüllen. Ih komme Bier 
auf ein Gebiet, das ja ſchon fo reich ausgebildet ift, daß ich zu einem ganz 
beitimmten Leferfreis fpreche, wenn id) es überhaupt berühre. In großen 
Städten wird man ja genügend Gelegenheit haben, überall die Wunder bes 
elektrifhen Lichts zu fehen. Leider verleitet feine mannigfaltige Benußbarfeit 
oft auch zu großen Läppiſchkeiten. Ein Beifpiel für viele: bunte Glasfrüdte, 
die man einer Bronzefigur in den Schoß gelegt hat, als Lichtquellen | 

Zu den Dingen, die man täglich braudt, die eben unbedingt praltiich 
fein müſſen und die der kultivierte Menſch aud ein wenig ſchön haben mödte, 
gehört da8 Schreibzeug. Im Stontor ift e8 meift praftiih, auf Damen— 
jhreibtifhen unprattiih und unfhön in höchſter Potenz zugleih und auf 
Herrenfhreibtiihen in den Privatzimmern nit viel bejjer. Es iſt wirklich 
wunderlich, wie man fi) durch das Vorurteil, daß Auswüchſe „Zieratc*, alfo 


Kunftwart 


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ſchön feien, verleiten läßt, fein ganzes Beben lang das Schreiben mit Störungen 
zu verbinden. Vielleicht bringt man aud) hier nicht ganz mit Unrecht die Aus—⸗ 
rede: e8 gibt eben nichts anders. Aber da Halte ich es immer noch für weit 
bejier, fi) zu dem fchlidten Burenumaterial etwa von Soenneden zu retten, 
als fihh mit Trivialitäten des Galanteriewarenhändlers zu befaflen. Es iſt 
ſchade, daß ſich foldhe Firmen, die ſachliche Forderungen in geradezu raffis 
nierter Weife befriedigen, da, mo es ſich um verfeinerte Kormen für ben Haus— 
gebrauch Handelt, nit mit wirfliden Künftlern in Verbindung fegen, ſondern 
dem äjthetifhen Genüge geleiftet zu haben glauben, wenn fie 3. B. dem vor» 
her einwandfreien Tintenfaß einen ſchlechten Aklanthus aus geſtanztem Blech 
auf den Kopf gefegt und rechts und links Gelegenheit zum Wehthun gegeben 
haben, anftatt in ber erfeinerung ber Linie des eigentlichen Körpers bie 
Aufgabe zu erbliden. Ih fann bis heut nur raten, ruhig bie praftifchen 
und gänzlih unverzierten Gegenftände zu faufen, fie fönnen für mein Ems 
pfinden felbft in der üppigften Einrichtung feinen ftörenden led bilden. 

Dasfelbe oder ähnliches gilt vom Rauchzeug und all ben petits riens, 
von denen id) ebenfalls neulich ſchon ſprach. Wollte ih noch von all dem 
einzelnen reden, das einem beim Durchgehen von Wohnungen einfällt, fo käme 
ih vom Hundertſten ins Taufendfte. Ich kann nod) erinnern an das Maſſen— 
aufgebot von Photographieen Verwandter und Belannter, die ja für ben Bes 
figer Stimmungsmwert haben, die diefen Wert jedoch nicht verlieren würden, 
wenn man fie anftatt unfhön, gefhmadooll anordnete. Ein Heer von Kleinen 
geprebten Rahmen iſt ficherlih nicht geſchmackvoll, beifer ſchon find die als 
Reifeetuis befannten Ledertäfhchen zum Zufammenflappen, und recht ausbaus« 
fähig erfcheint mir die heute manchmal angewandte Idee, Glasrahmen in ges 
eigneter Weiſe mit Möbeln zu,verbinden, hinter denen man bann ganz pafjabel 
Wechſelausſtellungen von Photographieen maden fann. Wllerdings kann das, 
falfch oder finnlos gemacht, fich ebenfalls ins Schlimme menden. 


Shulge-Naumbura. 


Lose Blätter. 
Aus Bjärnftjerne Björnfons „Paul Lange und Tora Parsberg‘. 


Borbemerfung. Das neue Wert von Björnfon — id) meine den 
Bater — ift in ber deutfhen Musgabe foeben bei Langen in München er= 
ſchienen. Es handelt durdaus von Politik, aber nicht eigentlich von der Po— 
litik irgend eines Einzelfalls. „Politifher Stüde* haben wir ja eine Unzahl, 
meift aber find fie Antriguenftüde, wo das Vergnügen an ben Verſchlingungen 
der Handlung eben eines Einzelfall die Hauptjadhe ift. Bei Björnſons 
neuem Werfe dagegen hat, wie etwa bei Ibſens „Volksfeind“, Die politifche 
Handlung jelbit nur die Bedeutung des Symptoms oder, wenn man will, des 
Symbol8: die Politif als ſolche, das „Eharakterverberbende* ihres Treis 
bens foll beleuchtet werden, die gefährliche Verderbtheit der politifhen Moral. 

Im Mittelpuntte fteht der eben zurüdtretende Minifter Paul Lange. 
Der König läßt ihn bitten, für feinen alten Minifterpräfidenten noch einmal 
im Parlament einzutreten — zur Entihädigung für den etwaigen Berluft 
einer „politifhen Chance“ dadurd bietet er ihm einen Gefandtenpojten. Langes 
Abneigung gegen „Öffentliche Abftrafungen“ dedt fi) mit des Königs Wunjd, 


ı. Januarheft 1899 
m 25727 — 


obgleich ihm felber der Minifterpräfidbent nicht mohl getan hat — aber er 
fagt weder ab nod) zu. Da kommt Arne Kraft, ein Mitführer feiner Partei 
ein ihm befreunbeter Ehrenmann und er bringt Lange zu dem Verſprechen, 
fid) des Eingreifens in die Debatte zu enthalten. Die Erhörung feiner Liebe 
au Tora PBarsberg, ber Geiftuollen, Guten, Großen, hebt Lange über die enge 
Auffaſſung des ehrlichen Straft hinweg: nicht das Befritteln des Alten, ſondern, 
„das Neue durdguführen, das ift die Hauptfache*, er läßt ſich nicht von 
feinem Verſprechen, fondern nur von der Sade felber Ieiten. Er ſpricht für 
den Präfidenten und hält dadurch das Minifterium, das zu dieſer Zeit feiner 
MHeberzeugung nad) ba8 einzig mögliche if. Daran aber geht er zu Grunde: 
feine Feinde, der böfe alte Storm voran, benutzen e8 und verquiden es mit 
Entftelungen und Verleumdungen fonft, und auch die herrlide Tora kann 
den innerlih Gebrochenen nicht mehr retten. 


Björnſons Schaufpiel hat in der Handlung und in ber Kompojfition 
unleugbar einige Schwächen, als Ganzes aber ift e8 ein Werk von ungemwöhn- 
licher Kraft, Überzeugender Reinheit des Empfindens und von jener geijtigen 
Meite, die leider auch den beiten unferer heutigen deutfchen Dramatiker fehlt 
— ganz zu fhmeigen davon, daß wir eine Behandlung der öffentlihen Zu— 
ftände in Deutſchland auf ber Bühne überhaupt ‚nicht Haben! Die Tiefe des 
Biörnfonihen Dentens und Fühlens fommt am meiften in den Szenen zwiſchen 
Zora und Lange zum Ausdrud, Szenen, die zu fehr ben Zufammenhang mit 
dem Ganzen verlangen, als daß wir fie Hier abdruden fönnten. Geben wir 
dafür einigeß auß ber unheimlichen Schilderung der Gefelfchaft, die am Abend 
nad) Zanges Rede in den Salons des Fräuleins Parsberg jtattfindet. 


* 


Tora Parsberg: Wollen Sie nit hineintommen, meine Herren? 

Der alte Storm: Nein, danke, wir wollen gern nod eine Weile hier 
bei einander bleiben. 

Zora Barsberg: Und ein Wohlfahrtstomitee bilden? 

Der alte Storm: Und ein Wohlfahrtsfomitee bilden. 

Zora Barsberg: Ich hojie, e8 wird nicht fo graufaın wie jenes erfte. 

Der alte Storm: Leider nit. Uns fteht feine Guillotine zur Ber: 
fügung. Sonſt —! 

Zora Barsberg (unterbricht ihn): Wo du bift, Großvater! —? Du 
unterſchätzſt dich! (Mb. Alle lachen Taut.) 

Der alte Storm (ftolz): Die ift nicht von ſchlechten Eltern! 

Balle: Es ift ja aud Ihre Enkelin! 

Deralte Storm: Aber fie ift immer gegen mich gemwefen. Bon Ktind— 
beit an. Immer Hat fie das Unmögliche verſucht. — Und eben habt ihr’8 ja 
felber gehört —? 

Ramım (nad furzem Schweigen): Was meinen Sie damit? 

Der alte Storm: Was id damit meine —? Natürlid) das, weswegen 
ich bier bin. 

Balte (vorfidtig): Und das iſt —? 

Der alte Storm: Ihr habt e8 doc) jelber gehört? Paul Lange! 

Ramm: Das war ja Scherz. 

Der alte Storm: Scherz mit Ernſt vermischt! 

Ramm: So had) fann er doch wohl nicht hinaus wollen? — — 

Der alte Storm: Paul Lange?! 


Kunftwart 
— 28 — 


Balke: Fräulein Parsberg amüfierte fih nur! Alle diefe Gerüchte über 
feine Freiereien — 

Der alte Storm (unterbridt ihn): Jch weiß, mas ich weiß! Und ber 
Kerl weiß, was er will! Es foll mid) nicht wundern, wenn wir heute abenb 
noch erleben, baß die Verlobung deflariert wird! 

Alle (ganz erftaunt, dDurdheinander): Was fagen Sie? Das ift doch nicht 
möglih? — Das überjteigt doch alles —? Nein, nein! (Dan ladıt.) 

Balke: Fräulein Parsberg verheiratet ſich nie! 

Ramm (lat): Und Paul Lange hütet fi) wohl, fi) noch einen Korb 
zu holen. Dan fann aud einem Schelm Unrecht thun! 

Piene ſſchnell): Einem Freier aber nicht! 

Der alte Storm: Eben! 

Piene: Einem Freier nit! Und er gehört zu dieſem Typus. Im Aus— 
land nennt man fie „Streber”, aber Freier ift das rechte Wort. Sie freien 
als Schulfnaben um ben Lehrer, als Studenten um den Profeffor, "dann um 
reihe Mädchen, dann um Wähler und Gönner, dann um Orden und hohe 
Stellungen. Und er hat alles erreiht! (Voller Wut.) Und er hat alles erreicht! 
Balke (fügt ſchnell Hinzu): Troß Ihres fteten Proteſts! He be bel 

(Allgemeines Gelächter.) 

Der alte Storm (während fie laden): Sind Sie neibifh, Piene, 
mein Freund ? 

Piene: Paul Lange iſt meine Spezialität! (Schnell ab.) 

Die andern (laden und wiederholen): Seine Spezialität! 

Der alte Storm: Ja, ihr müßt den Nann ftudieren! Schon zweimal 
zog er ſich von der Politik zurüd. Und beide Male war er verfichert, als er ging. 

Alle (laden): Das ift wahr! 

Balte: Nicht fo laut! 

Ramm (leifer): Nein, leiſer! 

Der alte Storm (ebenfalls leiſer): Jetzt geht er zum dritten Mal 
Und ift natürlich wieder verfihert! Nur, daß die Gefahr diesmal größer ift. 
Deswegen ijt er jest auch höher verfichert ! 

Die andern (laden, aber nicht fo laut). 

Balte (während fie lachen): Mit Fräulein Parsberg verlobt? Ja, bie 
Aſſekuranz ift gut! 

Mehrere (lachen): Ja, die iſt gut genug! 

Der alte Storm: Ja, ihr lacht? Aber mit Tora Parsberg unterm 
Arm lacht er! Lacht euch alle miteinander aus! — Kommt ein wenig näher! 

Balte (neugierig): Gibt's noch mehr? (Nähert fi.) 

Piene (eilt herbei): Gibt's noch mehr? 

Der alte Storm: Das beite fommt noch! 

Ramm: Das wäre des Teufels! (Kommt auch heran.) 

(Dan fchart fi dichter an den alten Storm.) 

Der alte Storm (läft fie fomeit zurüdtreten, daß er fehen kann, ob 
jemand von links fommt. Als er niemand fieht): Das mit Tora PBarsberg 
erflärt ja nur, weshalb er es wagt, zu gehen. Das erflärt nicht, weshalb er 
e8 wagt, im felben Augenblick, wo er geht, zu reden. Für den Kabinettschef 
‚zu reden! Der ihm fo viel böfes angethan hat. 

Piene: Das iſt e8 jal Der Grund! Der Grund! 

Der alte Storm: Dazu muß er einen befonderen Grund haben, 

Piene: Das ilt es ja, was ich fagel 


1. Januarheft 1899 
— 29 — 


Der alte Storm (Tieht fi abermals um): Wenn ich etwas heraus— 
haben mill, dann verfuche id) e8 bei denen, die glauben, daß fie klüger find 
als andre. Ich hab's mit dem Kammerherrn verfuht! (Gebämpftes Laden.) 

Balke (neugierig): Nun? 

Der alte Storm: Der Gefandtihaftspoften in London iſt frei. 


(Allgemeine Berwunderung. Man fieht einander an. Die Gefichter Hären ſich 
auf, fie werben heiter und verſchmitzt. Es endigt in einem allgemeinen Gelächter.) 


Sanne (ber fih niemals ganz mitfortreißen läßt): Aber, jo bebentt 
doch, wo ihr feid! 

(Das Lachen wird gedämpft, gewinnt aber an Intenfität.) 

Balke (Teife zu Ramm): Iſt er nicht ein Meifter ? 

Ramm: Ein Großmeister! (Das Lachen wiederholt ih. Einer macht 
Bewegungen mit den Beinen, als wolle er einen Reel tanzen.) 

Sanne (bämpft das Laden). 

Zwei Stortingbauern (fommen, vom Laden herbeigelodt. Der 
eine ift so Jahre alt, der andere ift jünger). 

Piene (eilt auf fie zu): Paul Lange ift mit Fräulein Parsberg verlobt 
und foll Gefandter in London werden! Da habt ihr es! Fortes adjuvat fortuna! 
(Auft ihnen gerade ins Gefiht.) Bähl 

Die beiden Stortingbauern (find ganz verwundert. Endlich 
fommen fie heran). 


Der ältere: Spinnt er? 

Sanne: Nein, aber betrunfen. Bolitifher Branntwein. (Wb.) 

Balte: He he he! 

Der jüngere (lahend zu Storm, dem er bie Hand reiht): Is dös 
wahr, döß mit Paul Lange? 

Der alte Storm: Weiß Gott, es ift wahr! 

Der ältere (begrüßt Storm ebenfalls): Grüß Gott, Alter! 

Der alte Storm: Grüß Gott, bu! 

Balke: Beide Parteien liegen gelähmt da. — Gelähmt durd ihn, — 
unb er felber geht mit dem Profit ab! He be He! Ich kann's nicht Teugnen, 
das ift brillant gemacht! Ich bemundere ihn. 

Der ältere Stortingbauer: Der Kerl hat an g'ſcheiten Kopf. 

(Das Lachen fängt von Neuem an.) 

Der alte Storm (erhebt fih): Uber meine Herren! Wo bleibt denn 
ihre Indignation? Wir können doch, zum Hudud, aus ihrer Bewunderung, 
feine Indignation maden! 

Mehrere: O jal (Heiterfeit.) 

Ramm (während des Gelädters): Die Empörung wird ſchon fomment 

Balke (auögelajien): Ein hemifcher Prozeß! Nein chemiſcher Prozeßl 
(Das Laden wird ftärfer.) 

Sanne: St! St! 

Biene (ſtürzt herbei): Da iſt er! (Abſolute Stille.) 

Der alte Storm (fest fih): Ja, jet werden wir ja fehen! 

Der Kammerherr (fommt an Paul Langes linker Seite herein). 

Paul Lange (in eleganter Gefellicdhaftstoilette): Guten Abend! (Geht: 
auf fie zu.) — (feine Antwort.) 

Paul Lange: Plöglid alles fo jtill? 

Der Kammerherr (fteht immer neben Baul Lange): Iſt jemand von. 
ben Herren mit einem Wit durchgefallen? 


Kunftwart 
— 20 — 


Der alte Storm: Ja, ich habe leider das Pech gehabt. 

Paul Lange (geht geradewegs auf den alten Storm zu und gibt ihm 
die Hand). 

Der alte Storm (nimınt die bargebotene Hand, verſucht ſich zu er— 
heben, es fcheint ihm aber ſchwer zu werden): Es wird mir mandmal fo 
ſchwer, aufzuitehen. 

Paul Lange: Bleiben Sie bod), bitte, figen! Nun, wovon handelte benn 
der Witz? 

Der alte Storm: Aufrichtig geiproden, — von Jhnen. 

Paul Lange: Und dod wollt er nicht glüden? (läft feine Hand los. 
Mendet fih an Ramm, bem er mit vertraulihem Gruß die Hand reihen will). 

Ramm (legt feine beiden Hände auf den Rüden). 

Paul Lange (mwird Teichenblaß; richtet fich kerzengerade auf. Sieht 
fh um. Wohin fein Blid fällt, legt man bie Hände auf den Rüden. Alle, 
mit Ausnahme des alten Bauern, der aud) ein wenig abſeits jtehi): Jetzt ver— 
ftehe ich den Wit, den finde auch ich dumm. (Wendet fi an den ſammer— 
herrn.) Die Wirtin ift da drinnen? 

Der tammerbherr (ftrahlend): Ja, Erzellenz! (Beide ab.) 

Alle (bewegen fi), ladıen, reden). 

Der alte Storm (richtet ſich Schnell an feinem Stod auf und ruft aus): 
Das habt ihr, den Teufel auch, gut gemad)t! 

Piene (für fih, indem er entzüdt die Hände reibt): Bravo! Brano! 
Daran ftirbt er! 

Ramm (gleichzeitig zu Storm): Das traf, — wie? 

Balfe (gleichzeitig): Daran wird er denken! 

Sanne (gleichzeitig): Das fam von allen Parteien! 

Der alte Storm: Nichts fommt in der Politik einer gut durchgeführ— 
ten Berihmörung glei. (Setzt fich wieder, fehr vergnügt.) 

(Drinnen zur Linten beginnt das Orcheſter. Chor mit Begleitung.) 

Piene (kommt begeiftert heran): Das ahnte mir! Das ahnte mir! Denn 
als ich heute Abend im Schnee durch den Wald fuhr, war e8 mir, als hörte 
ih Wolfsgeheul. Ich Hab die Wölfe in meiner Kindheit oben iyı Gebirg heulen 
hören, befonders bes Nachts. Da war es, als rufe der alte, beimatlofe, nor— 
wegiſche Geift in unfern Schlaf hinein! Klagend, drohend rief er: Du Sieben= 
fchläfer, ich Tale dir nie mehr Ruhe! Nie mehr Ruhe! Auf follit du! Morden 
folft du! Weiter morden! 

Namm (leife zu dem Zunädjititehenden): Uber das iſt ja ber reine 
Parorysmus! 

Piene (ohne innezuhalten): Das Weiche, das Ungefunde ſollſt du morben! 
Das, was jekt Heimatsredt in Norwegen hat! Du follit die weiberſchwache 
Gefühlsdufelei, bie Freiheitsbummler follit du morden! Den modernen National- 
ſchwindel follft du morden! Ach, du gefundes, mordlüjternes, weisſagendes 
Wolfsgeheul aus den Wäldern, aus ber Urzeit, jedesmal ein Anzeichen, wenn 
einem ber Garauß gemadt werden ſoll! — (Er fieht fie an und begegnet nur 
beiteren Gefichtern.) Barbarus hic ego sum, quia non intelligor nullo! (murmelt): 
Ovidii tristia 5, 10, 37. (Entfernt fih gefränft unter dem Gelächter der andern.) 

Der alte Storm (ftöht mit dem Stod auf den Fußboden): Nein, 
nein, nein! Es ift etwas Großes in dem, was er fagt! Es find feine ganzen 
Menſchen, diefe andern. Nur halbe Menſchen find fie, oder noch weniger! Die 
ganzen Menſchen, die gehen voran, die ftürmen drauf [o8, die erobern für bie 

1. Januarheft 1899 


- 4 — 


Menſchheit. Aber diefe mit dem ſchwachen Rücken, Diefe jentimentalen Leute, 
die find nicht dazu imjtande. Die humpeln hinterdbrein, und dort bleiben fie 
bei ben Schwädlingen, den Stümpern, den Berbraudten — und bei ben 
Meibsbildern! Und tufcheln und pufteln mit denen herum! Und wollen uns 
alle dahin haben, damit wir e8 cbenjo machen. Rückwärts ſoll e8 gehen! 
Ihre Gedanken find Krankenſtuben-Gedanken, und ihr Programm lautet: Bann 
tommt die Zeit der Krüppel? Und foldhe Männer follen in der Bolitif mit fein? 
Eollen dem Geflecht den Kurs vorfchreiben ? — In der Bolitif, die vor ges 
funder Brunft brüllen follte wie ein Stier? Zum Teufel mit der jämmerlichen 
Geſellſchaft! 

Die andern: Bravo! Bravo! (Sie lachen und rufen alle durcheinander.) 
Er ift heute Abend famos, der alte Storm! Ja, weiß Gott, er ift famos! Ein 
echter norwegiſcher Fichtenftamm! 

Sanne (leifer): Über jet werden wir wieder zu laut! 

Der alte Storm: Ad, das macht nichts! Ich nehme die Verant— 
wortung auf mich! Uebrigens hören die dadrinnen nur bie Muſik! 

Ehriitian Deitlie (ift mährenddes von außen hereingefommen unb 
überreicht Piene einen Brief). 

Piene (erbricht ihn Schnell): Hier find Abdrüde von der Korrektur eines 
Artikels, der morgen erfcheint. Ich habe mir gleid) mehrere ausgebeten, da— 
mit ihr e8 leſen könnt. 

(Berteilt langfpaltige Abdrüde.) 
Balte: Da alfo haben wir das Wolfsgeheul in Roten gefegt! He, he, hei 


(Aud) die andern laden und ordnen fid in Gruppen, zu zweien und dreien 
um jedes Exemplar.) 


Der alte Storm ſſetzt fih allein mit dem feinen Hin). 

Piene ſchlendert hinter ihnen hin und her und fchwelgt in der Wirkung. 
Mitunter faut er feine Nägel. Wird er zu eifrig dabei, fo hält er die eine 
Hand mit der andern feit. Hört er von einer ber Gruppen Geläditer oder 
eine Bemerkung, wie: „Das ijt brillant!“ — fo eilt er herzu und ficht in den 
Abdrud Hinein, um ſich zu überzeugen, welder Stelle das gilt. — 

Bon lints fommen: 

Der Kammerherr (Arm in Arm mit Frau Bang). 

Frau Bang: Beiter Kammerherr! Sie müſſen mir wirklich fagen, mas 
es iſt. Iſt 08 etwas mit Paul Lange? Ein Skandal — was? 

Der Kammerherr: Wenn die Menfchen in den Grad eifrig find, jo 
ift e8 allemal ein Skandal. 


(Die lefenden Gruppen werden, eine nad) der andern, fertig. Alle laden und 
reden.) 


Balke: Nun, Der Artikel ift doch wohl energifd genug! He be bel 
(Man hört Yusrufe: Ja, der wird wirlen! Das geſchieht ihm recht! Der wird 
böjes Blut madjen!) 

Der alte Storm ſiſt ber legte): Das läßt fid) Hören! (Erhebt fich.) 
Ja, jest gehe ich hinein und hole ihn. 

Mehrere (entjegt): Sie wollen ihn holen? 

Andere (ebenfo): Hierher? 

Der alte Storm: Jamshl! 

Ramm: Sie befommen ihn nicht wieder heraus. 

Der alte Storm (auf dem Wege): Das wird fich zeigen. 


Kunftwart 
— 22 — 


Ramm: Ja, aber wie? 

Deralte Storm: Wir kann er eine linterredung nicht verweigern, 
menn id ihn darum bitte. Ich bin Toras Großvater. (Humpelt fchnell an 
feinem Etod von bannen.) 

Ramm (folgt ihm eine Strede): Bedenken Sie doch, mas daraus ents 
ſtehen fann. 

Der alte Storm (unbeirrt): Gerade das, ja, 

Balke (eilt ihm ebenfalls nad): Und denfen Sie daran, mo wir ung 
befinden! 

Deralte Storm: Gerade das, ja. 

Ramm: Sie befommen ibn nicht mit] 

Der alte Storm (bleibt jtehen und wendet fih um): So —? Wenn 
der alte Storm feine Hlauen in jemand hineingeſchlagen hat, fo hat er ihn 
nod) niemals losgelaſſen (ab nad) Links). 

Ramm: Diefer Satan! Was wird jegt gefchehen ? 

Balfe: Einen Skandal gibt es, Freund! Einen Skandal! Wenn id 
nicht fo neugierig wäre, madte id), daß ich davon käme! 

Sanne (zu Piene): Uber es ijt nicht alles wahr, was bier fteht! 

Piene (hisig): Was zum Teufel, madht das? Wenn es nur wirft! 
(ganz empört au Balfe gewendet) Der Efel jagt, e8 wäre nicht wahr! 

Balke (gu Sanne): Gerade da, wo die Wahrheit nicht mehr ausreicht, 
fängt Biene an! — (Geläditer.) 

Sanne: Id bin damit einverjtanden, da ein folder Dann aus der 
Politit heraus muß. Er fchabet. 

Biene: Na ja, — Alſo? 

Sanne: Aber nicht mit ganz beliebigen Mitteln! 

Piene: Man muß aufpaffen, wenn er einmal einen Fehler begangen 
hat, zum Teufel auch! 

Sanne: Das mag fein. Aber — Wollen Sie etwas fagen, Hakonſtad? 

Der ältere Stortingbauer: Ja, dös is dö GE'ſchicht von dö Fehler. 
Mir alle jehlen allemeil. Aber in dö Politik bal aner an fehler g'macht hat, 
nacha nehmens ihn und lafa damit bis ans Eudb von ber Welt. Und no an 
Stüdl meiter. (Man lädelt.) Was anders hat er gar nie gemacht, als wie 
diefen Fehler. Und fa andrer hat an Fehler g'macht, beileib net, außer eahm. 
Ind dös wird halt z’viel. (Man ladht.) 

Biene (überlegen): Herr Hakonſtad veriteht nicht, daß e8 darauf an— 
fommt, im Augenblick zu fiegen! Mir haben nur dieſen einen Augenblid! Und 
da müfjen alle Mittel gelten. 

Sanne: Das kann fhlimm über ben Einzelnen ausgehn! 

Piene: Den Einzelnen. Was, zum Teufel, ift der Einzelne? Wenn er 
im Wege iſt? Und wäre er auch ber größte. 

Balke (entfegt): Ja, weiß Gott, er hat ihn mitbeflommen! 

(Dan gruppiert fih. Piene hinter den andern.) 

Deralte Storm (zu Paul Lange, der an der Thüre ftehen bleibt): 
Gm. Erzellenz müffen begreifen, daß ich triftigere Gründe habe als die andern, 
Em. Exzellenz verjtehen, was id) meine. 

Baul Lange: Id glaube zur verftehen, worauf Sie anfpielen. 

Der alte Storm: Da habe id ein gemwilfes Recht, Em. Erzellen; um 
eine Erklärung zu bitten. Was Sie heute gethan haben, fest böfes Blut. 

Baul Range: Ein ander Dal und an einem andern Ort. 


ı. Jannarheft 1899 


— 235 — 


(Will gehen.) 

Der alte Storm: Aber Em. Erzellenz fünnen nicht fo in der öffent» 
lihen Meinung daftehen, in dem Nugenblid, mo Em. Erzellenz in meiner Fa- 
milie — ich brauche wohl nicht zu vollenden. 

Paul Lange: Ja, was verlangen Sie denn, das ich thun foll? 

Deralte Storm: Schlagen Sie daß Gerede nieder! Gleich Hier! 

Paul Lange: Vor diefen Herren, bie mich beleidigt haben? Nein! 
(Will wieder gehen.) 

Der alte Storm: Wenn nun aber die Herren glauben, dab Sie fie 
verraten haben ? 

Paul Lange (wendet fh um): Ich habe abfolut niemand verraten. 
Ich Habe nur meine aufridtige Meinung über einen alten, hochverdienten 
Mann gefagt. 

Der alte Storm: Haben Em. Erzellenz die Abendzeitungen gelefen? 

Paul Bange: Jh habe fie gelefen. Und was darin fteht, bat mit 
diefer Sache nichts zu thun. 

Sanne (nähert fi, beitig): Hat e8 etwa nichts mit dieſer Sache zu 
thun, baß Em. Erzellenz uns einen unguverläffigen Habinettschef empfehlen? 

Der alte Storm: Was Sie aus Erfahrung wiſſen? 

Sanne: Bon ihm fagten Sie heute, er fei troß allem derjenige, ber 
das normegifche Bolt am beiten zufammenhält. 

Paul Lange (nähert fi ein paar Schritte): Das fage ic) jetzt nodh! 

Sanne: Was für ein Bolt müfjen wir da fein! 

Mehrere (wiederholen den Satzz: Was für ein Volk müſſen wir dba 
fein! 

Paul Lange: Das Volk kennt nur feine großen Thaten. Oder glaubt 
wirklich jemand, daß das Kapital an Liebe und an Bewunderung, das er ein= 
gefammelt hat, jetzt verbraucht ift? Iſt das nicht der Fall, dann habe ich recht: 
„Trotz allem ift er noch derjenige, der daß norwegiſche Voll am beiten zu— 
fammenbhält.“ 

Kamm: Die Zukunft wird zeigen, daß das nicht der Fall ift. Das 
normwegifche Volk ift zu aufgeflärt. Aber felbit, wenn dem fo wäre, — fo gibt 
es einen Mann, ber dies Argument nicht gebrauchen kann, mie überhaupt 
fein Argument, das dieſen Ktabinettschef ftügt, — und biefer Dann find Em. 
Erzellenz. 

Paul Lange: So? — Mehrere von Ihnen, unb darunter auch ber 
Mann, der foeben ſprach, fannten feine Fehler ebenfalls, ſchwiegen aber. 
Schmwiegen und ftüßten ihn, folange fie mit ihm einig waren. 

Ramm: Da ftanden wir mit ihm in der Oppofition. Da hatten biefe 
Sehler keinen großen Einfluß. Aber an ber Spige ber Regierung, — das iſt 
eine andere Sadıe! 

Mehrere (lebhaft): Ja, fo ift es! 

Paul Range: Die Politik erzieht feine Engel. Männer mit größeren 
Fehlern als er Haben große Völter geleitet und gehören zu ben größten Namen 
in der Politik. 

Ramm: Wir aber find ein Feines Voll. Für uns gilt feine Erobe- 
rungsmoral. Gelten feine Kriegsgefege. Wir vermögen nichts durch Madit. 
Wenn wir Achtung erlangen wollen, fo muß e8 durch das Beifpiel geichehen, 
das ein gejundes Volt gibt. 

Alle: Ja, fo iſt es. So! 


Kunftwart 


Sanne: Die Berfolgung eines einzelnen Mannes iit nicht gefund. 

Ramm: In der Politif kommt e8 darauf an, dak man ein Ding zur 
Zeit vornimmt. Jetzt ift diefe Sache an der Reihe. 

Baul Lange: Jeder handelt nad} jeiner Natur. Das Amt des Scharf 
richters ift nichts für mid). 

Der alte Storm (hat ſich gefeht, Diesmal auf bas Sopha zur Linken): 
(Für fih.) Er antwortet gut. Aber er joll, hol mich der Teufel, unterliegen! 
(Lant.) Weshalb gingen Em. Erzellenz nicht Ihrer Wege, als Sie fo von ihm 
mißhandelt wurden ? 

Paul Lange: Man follte mir lieber danken, dab ich Stehen blieb. So 
daß das erſte freifinnige Miniſterium, das das Land gehabt hat, ruhig weiter 
arbeiten fonnte. Deswegen ſchwieg ich. 

Der alte Storm: Aber jetzt, wo Sie es bequemer fanden zu gehen, 
weshalb ſchwiegen Sie denn nicht auch jetzt? 

Mehrere: (näher an ihn herankommend): Ja, weshalb ſchwiegen Sie 
nicht auch jetzt? 

Ramm: Oder, wenn Sie durchaus reden wollten, weshalb ſagten Sie 
da nicht dasſelbe wie wir? Sie hatten doch dieſelben Erfahrungen gemacht. 
Nur noch Ihlimmere. 

Paul Lange: Darauf Habe ich bereits geantwortet. Und jest, finde 
ih, kann e8 genug fein. (Mill gehen.) 

(Der Stortingspräjident und mehrere Herren fommen von links.) 

Der alte Storm (erhebt fih und jagt zu Paul Lange gewendet): 
Em. Erzellen; müffen verzeihen, aber hier ift man der Meinung, daß Sie einen 
andern Grund gehabt Haben! (Er fommt näher.) Einen ganz befonderen 
Grund — den Kabinettschef heute zu verteidigen 

Paul Lange (zu ihm): Was meinen Sie bamit? 

Der alte Storm (gerade heraus) : Das willen Sie felber am beiten ! 

Baul Lange (leihenblaf, fteht einen Moment regungslos da): Das 
ft eine infame Berleumdung! (Ab.) 

Arne Kraft (wird draußen auf dem Flur fihtbar). 

Sanne (ber ihn zuerst erblidt, erfreut): Da iſt Arne Kraft ! 

Mehrere: Arne Straft? (wendet ſich um). 

Ramm (leife zu Balke): Der weiß Bejcheid. 

Balke (ebenfo zu Ramm): Und er fpricdht fi aus, das follen Sie 
feben ! 

Paul Lange (geht auf ihn zu): Gut, dab du fommft! Du bift nicht 
einverftanden mit dem, was ih heute gefagt habe. Aber du fennjt meine 
Gründe dafür. Sag’ fie ihnen jegt hier! Du allein fannjt es! 

Urne Kraft (ſieht ihn an, jagt aber nichts). 

Mehrere (kommen auf Arne Kraft zu und begrüßen ihn.) 

Urne Kraft (zu Sanne, der ihm am nädjten fteht): Was geht 
bier vor ? 

Sanne: Du haft dod) die Abendzeitungen gelefen ? 

Arne Kraft: Jh habe das „Tageblatt“ gelefen ? 

Mehrere: Ja, gerade das! 

Sanne: Dann kannst du dir ungefähr vorjtellen, was hier vorgeht. 

Ramm: Und du Haft vielleicht einige Aufflärungen zu geben ? 

Der Stortingpräfident (flüftert Urne Kraft etwas zu). 

Arne Kraft (fieht fih um und fieht namentlih Paul Lange an. Er 


1. Januarheft 1899 
— 245 


fpricht mit innerer Erregung): Ja, ich habe etwas hinzuzufügen zu den Auf— 
tärungen bes „Tageblatts*. (Mehr und mehr Herren ſtrömen von links her— 
bei.) Ich begreife es fehr wohl, daß Norweger überall, wo fie jezt zuſammen— 
fommen, ein Gefühl haben, als fönnten fie über nichts meiter reden. Paul 
Zange ift einer der Beiten, die wir haben. Einer von denen, der den meiteiten 
Bli Hat, und der das meiite ausgerichtet hat. Großherzig wie fein Zmeiter, 
Hug, rückſichtsvoll. Außerhalb der Parteien jtehend, aber oft allen voran, 
wenn e8 darauf anfam. Wir haben ihm viel zu verdanken. Die Verfolgung, 
der er ausgejegt gemefen ift, bat ihn und nur noch teurer gemadt. Wir 
fegten Erwartungen in ihn, wie fie größer nur in Einen geſetzt worden find. 

Der ältere Stortingbauer: Das iſt wahr! 

Sanne: So ift es. 

Biene (tritt leife an ben alten Storm heran und flüftert): Die Sade 
geht ſchief! 

Der alte Strom: Bäh! 

Arne Kraft: Dann aber fam das, was wir heute erlebt haben, — — 
ja, wenn mir jemand geſtern oder aud) nur heute vormittag gefagt hätte, daß 
e8 jo fommen mürde, da hälte ih mein Leben dafür eingefegt, daß das un: 
möglich fei. Es ift in feiner Art das Ueberrajchendite, mas mich betroffen hat. 
Ich leide noch jo darunter, dak mir die Worte fehlen. Er muß nicht be— 
greifen, was er gethan hat. Daß jeht ein jeder das Gefühl Hat, als habe er 
eine Niederlage durch ihn erlitten, fomohl diejenigen, die gewannen, mie bir, 
die verloren. 

Viele: So ift es! 

Arne raft: Wir haben ein Gefühl, als hätte er ung alle mitein= 
ander verraten. Als hätten wir einen nationalen Unglüdstag erlebt. Nie= 
mand aber empfindet das ticfer als id. Denn wir find Freunde von Jugend 
on. (Stille.) 

Ramm: Du fagteft, du hättet Aufllärungen zu geben ? 

Arne Sraft: Ja. Bor drei Tagen war id) bei Paul Lange. Da war 
das Miftrauenspotum gerade eingebradt. Ih kam, um Paul Lange daran 
zu erinnern, daß er unmöglid den Habinettschef ftügen fönnte. Er weniger 
als alle andern. 

Drehrere (wiederholen murmelnd): Er weniger als alle andern. 

Arne fraft: Dann hatten wir eine längere Unterrebung darüber. Der 
Hauptinhalt war, daß ohne Rechtſchaffenheit fein Bollsglüd möglich fei. 

Mehrere (gedämpft): Wahr! Wahr! 

Urne rat: Daraus aber ergab fid), daß der Staat nicht von einem 
Manne geleitet werden fünne, der nicht ganz zuverläjlig märe. 

Mehrere (wie oben): So ift es! Das ift’s, mas wir geſagt haben! 

Arne Kraft (fieht Paul Zange an): Nun ja! (Langſam und gemidtig.) 
Das gab Paul Zange mir zu. Ich verlangte nichts meiter von ihm, als daß 
er fi) fern halten ſollte. Nidyts weiter. lind das verſprach er mir, Feier— 
lich. (Leifes Bemurmel.) Ich höre jveben vom Präfidenten des Stortings, 
daß er ihm dasſelbe veriprodgen hat. (Stärferes Gemurmel.) 

Sanne: Das iſt aber doch ganz unerhört ! 

Paul Lange (tubig): Das glaube id) doch nit. — Man Hat oft 
gehört, dak ein Mann unter ſtarkem Drud etwas verfpricht, wovon er Hinter 
her fühlt, daß es nit für ihn paßt. 

Biene (Hinter den andern): „Nicht für ihn pabt!” 

Kunftwart 


— 6 — 


Arne Kraft: Darüber will ih nichts fagen. — Daß aber das, mas 
da8 „Tageblatt“ jagt, wahr ift, das kann ich bezeugen. Dafür habe ich 
Bemeife. 

Mehrere: Dafür hat er Beweiſe! 

Sanne, Ramm, Balke: Dafür haben Sie (haft bu) Bemeife ? 

Arne Kraft: Ja, und zwar fdlagende Beweiſe. 

Piene (Bricht fidh während des num folgenden allgemeinen feierlichen 
Schmeigens Bahn zmwifchen den andern und ruft): Der Mann ift ja unmög— 
Gh! (Er erfhridt über fich felber und ftürzt zurüd. Alle lachen.) 

Paul Lange: Ich merke bie Abficht. Man will mid unmöglich maden. 

Urne Kraft: Die Mbficht iſt, die Politit Hier zu Lande ehrlidy zu 
maden. Zu einer ehrlichen Beratung braver Leute, Das ift bie Abfiht. Dazu 
haft Du, alter Freund, dein Zeil beigetragen. In großmütiger, edler Weile. 
Ras daran Schuld ift, daß mir jet, um unfer Hiel zu erreichen, dich ents 
fernen müſſen, — — das meißt nur du allein. Ich weiß es nidt. Für uns 
bajt du fo viel zerftört, wie in dieſem Augenblid überhaupt zu zeritören war, 
Wir werden badurd; um viele Jahre zurüdgetrieben. Die Sache war zweifel— 
haft, jest ift fie entichieden. Fir alle die beiten im Lande mwirb dies ein 
Hummer fein. Du .geminnit ihr Vertrauen nie mwieder. Das thut mir leid. 
Ja, von Herzen, von ganzem Herzen thut e8 mir leid. Aber dabei ift nichts 
mehr zu maden. (Allgemeines und gebämpftes Durmeln, man hört Aus— 
drüde wie: „Das war gut!” „Das wird Bahn brechen!“ „Das war Ernft!)“ 

PaulLange (geht auf Arne Kraft zu): Jetzt Haft du mid) vernichtet. 
Daß du e8 fein würdefi, hätte ich nicht geglaubt! Er bededt fein Geficht mit 
ber Hand, man ficht, wie fein Körper erbebt.) 

Urne Kraft (tritt einen Schritt zurüd, als erwache er zu einer neuen 
Auffaffung der Sade). 

Zora Barsberg (ift von ihrer Tante geholt worden und Hat eine 
Meile im Hintergrund 'geftanden, ohne bemerkt zu fein, tritt jet, von ber 
Zante gefolgt, vor): Verzeihen Sie, meine Herren, aber Sie fränfen mein Felt. 

Deralte Storm: Mein Sind, wir wollen nur — — 

Zora Barsberg (mit einer abmehrenden Bewegung): Der Mann, zu 
beilen Andenten mir bies heutige Felt feiern, fagte fo oft: Ich begreife die 
Politik nicht! Sie ward uns gegeben als freiheit, die größeite Form ber 
Menſchenliebe zu ſchaffen, und dann machen fie fie gu der gehäffigften Men— 
ſchenjagd. Sie ging aus, um der Menſchheit guten Mut und gefunbe Lebens: 
bedingungen zu fchaffen, unterwegs aber vergiftet fie viele Gemüter. Die Fahne 
der Bolitifer trägt zwei Inſchriften: „Wahrheit“ und „Gleiches Recht für alle!” 
Unter diejer Fahne aber wird nicht das Wahrheitsgefühl geftärft, und fie ver— 
fuhen oft, einander rechtlos zu maden. 

Der alte Storm: Aber wenn fie nım doch wirklich — 

Tora PBarsberg: Verzeih, Großvater! Ein Felt ift eine gemweihte 
Stätte. Gute Feen halten Wacht und ſchützen e8. Und ich bin die Oberfte 
biefer Feen. Könnte id) wie der große König im Märchen fagen, der zum 
Feſte einlud: Seid willlommen alle, aus der verherten Welt, Jhr, die Ihr da 
draußen in Eurer Menſchlichkeit Not leidet! Ihr, die Ihr nicht Hug genug 
wart, um unter Wölfen zu fein, nit fchlecht genug für die Parteimacht, nicht 
paragraphenmäßig genug für die Gefegestafel, nicht unmwahr genug für ben 
Menihenhandel. Ihr Warmen und Guten, die Ihr den Weg nit fandet, 
weil Eure Schwinge getroffen war, Ihr, die Ihr von einem Berfted ins 


1. Januarheft 1899 
— 2 — 


andre humpeltet um der Unklugheit millen, um des Mutes willen, um ber 
Xiebe willen! Bier follt Ihr die Eriten fein! Die Märtyrer der Menjchheit | 
Ein Feſt! Nur freie und edle Gefühle können ein Feit feiern! Uber kann id) 
eine ſolche Rede nit halten, jo kann ih in jedem Fall handeln, wie ich 
wünſche. Denn bier bin ich die, Die regiert. Jh wähle mir zum Führer in 
den Feſtſaal hinein den Mann, der mir troß aller feiner Berirrungen als ber 
Schuldlofeite erfcheint. (Von rechts fällt das Orceiter mit einem Marſch ein. 
Sie wendet fih an Paul Lange.) Exzellenz — wollen Sie mir bie Ehre er— 
weiſen, mic) zu Tiſche zu führen? 


ER 


Rundschau. 


£iteratur. über Greif, Frau Ambroſius über 
Klaus Groth, Ebers über Gottfried 
*Gottfried Heller, der | Keller, Eckſtein über Mörike ftänden ! 
fhriftitellernde Dilettant. Es ift fo gemeint. „Merkwürdig wie 
Wer nähere Einblide in das Ge= | die Urteile verfchieden find“, fchreibt 
triebe dbe8 Buchhandels hat, weiß, | ber Dann, „ich habe von Seller nur 
daß e8 bei ihm nicht nur unter den | Dlartin Salander gelefen und muß 
Berlegern, fondern aud) unter den Sor= | geftehen, daß mir etwas dilettan— 
timentern und gerade unter den kleinen tenhafteres nicht oft begegnet it. 
Männer von wirklicher Bildung gibt, | Mit dem einen Werke Hatte ich ge— 
bie das Gute fennen und fid} nad | rade genug von Diefem Schrift» 
Kräften bemühen, e8 unter die Leute | fteller, der fo plögli als Genie ent— 
zu bringen. Mit was für Geiftes- deckt worden iſt.“ Man verftehe mid) 
nabrung aber leider viele Buchhänd- | nicht falfh: ich made dem Herrn gar 
Ier fich ſpeiſen laſſen, das bezeugt | feinen Vorwurf daraus, daß er nichts 
die mir vorliegende Nr. 49 der „Allgem. | von Poeſie verjtcht. Könnt er aber 
Buchhändlerztg.“ in einem faum glaub= | fo fchreiben, wenn er aud) nur müßte, 
lichen Beifpiel. Daß darin gegen unsre | mie vor Jahrzehnten ſchon Fr. TH. Vi— 
YAuffaffung vom Urheberrechte polemis | jeher den „jo plößli als Genie ent— 
fiert wird, ift für dieſe Intereſſenver- dedten* gefeiert hat, dem er dann in 
tretung jelbjtverftändlich, ift ihr gutes feinem „Much Einer* ein herrliches 
und allerbeites Recht und geht uns hier ; Denkmal errichtete, wie der alte Moltke 
nichts an. Aber man höre, wie fi) | ihn verehrte, wie Paul Heyfe ihn ala 
die deutſche Literatur im Kopfe eines | den „unfterblihen Shafeipere der No— 
Mannes jpiegelt, der als Berater in | velle* feierte, auf deſſen Ruf „der 
einem deutſchen Bucdhhändlerblatte | Dichtung goldne Zeit zu beginnen“ 
mitfprehen barfl Der Herr, feines | fcheine, mie Theodor Storm ihn als 
Namens ©. Hölfcher, zitiert unfere | den größten bdeutichen Erzähler be= 
Gegenüberftellung — bier: Blumen wunderte u.f.w.? Bir wollen zu Herrn 
thal, Julius Wolff, Frau Ambrofius, G. Hölfchers menſchlicher Ehre anneh— 
Ebers und Eckſtein, die Gefchäfte | men, er habe von all dem nichts ge= 
maden, dort: Hebbel, Greif, Groth, | wuht, denn ſonſt bedeutete es ſchlicht— 
Gottfried Keller und Mörike, die feine | weg eine UInverfhämtheit auf Grund 
Geſchäfte machen. Dann Heißt es: | der Hölſcherſchen Ueberlegenheit über 
„wenn Avenarius, mie es fcheint, | Bifcher, Moltle, Heyfe und Storm 
durch feine Gegenüberftellungen jagen | von Kellers „Dilettantenhaftigfeit“ zu 
will, dab die mertlofe Literatur ges |! reden. 
fauft wird, während das, mas er für ! Aber mas geht uns ©. Hölſcher 
Gold anfieht, unberüdfichtigt bleibe, | an! Dak mit jo volllommener nicht 
fo wird jeder Vorurteilöfreie dDiefe | nur Urteilslofigfeit, fondern auch Ig— 
Beifpiele für durchaus ver- | noranz in einer „Allgemeinen Bud= 
fehlt halten.“ Dan greift ih an | Händlerzeitung“ von unferer 
den Hopf — nein, das kann dod, | deutfhen Literatur gefproden 
fagt man fi), feiner meinen, daß Blu: | werden barf, das foll feitgenagelt 
menthal über Hebbel, Julius Wolff werden. Ach weiß babei ſehr mohl, 


Kunftwart 


— 28 — 


dat dieſes Blatt nicht das amtliche 
Organ des Buchhändlerſtandes ift; im 
„Börfenblatt für den deutihen Buch— 
handel“ wäre das unmöglid) geweſen. 
Uber das macht die Sadje bei nähe— 
rem Zufehn nur fhlimmer. Das durch— 
aus anitändig geleitete „Börfenblatt“ 
fann, gefcäfttich gefihert, mit ben 
Intelligenzen rechnen. Die „Allgem. 
Buchhändlerzeitg.“ aber jpefuliert anf 
die Maffe der Standesgenoffen, um 
aus ihnen Abonrenten zu filhen. Und 
in feine Brobenummer, die e8 mit 
der Bitte um Durchſicht und Abonne— 
ment an bie Kollegen verjendet, hat 
es dieſen Ürtifel aufgenommen, 


Theater. 


* Die Genoſſenſchaft deutſcher 
Bühnenangehöriger hat auf ihrer 
VBerfammlung in Berlin beſchloſſen, eine 
eigene Theateragentur zu grüns 
den. Damit ift die Forderung unſeres 
Auffages im fünften Heft, der zu dieſer 
Berfammlung erichien, 





warts endlich vermwirfliht worden. 
Die erite kräftige Agitation dafür 
leitete der Generaldireftor a. D. Georg 
Stöberle vor mehr als einem Jahr 


zehnte in unfern Blättern ein — es 


ziemt fi) wohl, nun aus feinem Wollen 
die That wird, feiner zu gedenten. 

* Hebbels „Julia“ auf der 
Bühne. 

In Berlin bat ein Urbeiterverein 
eine alte Schuld des königlichen Schau— 
fpielhaufes bezahlt: er hat Hebbels 
„Julia“ zur Aufführung gebradt. 
Gigentlid; hätten ja die reichen Theater 
dem Grafen Hochberg den Fleinen 
Dienst ermeifen follen, da nun einmal 
der Herr Antendant feine literarifchen 
Schulden nicht jelber abtragen fann 
— aber fie hatten leider aud fein 
Geld dazu, fie mußten Stüde von 
Sudermann und Fulda und Bahr 


mit fürftlicher Freigebigfeit ausjtatten | 


und behielten dann für eine alte 
Schartefe von Hebbel nichts übrig. 
So ward es denn ben Plebejern bes 
Dftens erlaubt, in dem befcheidenen 
Ditendtheater fih ein Verdienſt um 
die Literatur zu erwerben und gleich— 
zeitig in die Theatergeichichte eine 
Nandgloffe einzutragen, wie fte feinem 
biffiger hätte gelingen können. 

Die „Neue Freie Voltsbühne*, jo 
heißt der iapfere Arbeiterverein, wagte 
mit der Aufführung ſehr viel mehr, 


als ein „requläres* Theater mit dems 


erfüllt und | 
fomit eine alte Unregung des units | 





| 
| 
| 
| 
| 
| 
| 
| 


} 


felben Unternehmen gewagt hätte. 
Zmei Bedenken wogen befonders ſchwer. 
Würde e8 gelingen, ein im guten, 
aber aud) im fchledten Sinne naives 
Bublitum mit der fremdartigen Welt 
in Hebbels „Julia“ vertraut zu machen ? 
Und würde e8 gelingen, mit Schau— 
fpielern zweiten Ranges — auf foldhe 
iſt die Bühne bei ihren befcheidenen 
Mitteln ja angemwiefen — die dichtes 
rifhe Gewalt des Dramas zum Aus: 
drud zu bringen? Beides gelang und 
zwar über Erwarten gut. In diefer 
Thatſache fehen wir, offen geitanden, 
die bleibende Bedeutung ber Auf— 
führung. Einer äfthetifhen Rettung. 
bedürfen die Dramen Hebbels unferes 
Eradtens nidt. Daß die Direktoren, 
die fie modern laſſen, äſthetiſch 
unverantwortlid) handeln, ſcheint uns 
nachgerade jelbjtverftändlih zu fein, 
dab fie aber auch gefhäftlich ſchlecht 
ſpekulieren, ift eine Erkenntnis, Die 
am Ende doch hier und da einigen 
Eindrud machen fann. Nun ift das. 
ublitum — aud) da® der Arbeiter— 
ühnen — feit Jahren an die natu= 
raliftifche Zechnif gemöhnt. Es hat 
gelernt, Die monumentale Gewalt der 
Sprade und andere „antiquierte* dich— 
terifche Mittel gering zu fchägen und 
fih dabei „Literariih* zu bünfen. 
Man hat e8 peinlich=fleinlich auf einen 


ı Realitmus des Details drefftert. Und 


doch Läht eben dasfelbe Publikum fich 


willig fortreißen, wenn e8 vor den 


DOffenbarungen eines wirklichen Dich— 
ter8 der Größe ſitzt. Es verträgt den 
monumentalen Zug in HebbelsSprade, 
ohne ſich zu entrüjten, e8 lauſcht Vio= 
nologen, als wären fie nie verfehmt 
gewefen und läßt fich von den Schauern 
der Romantik ummehen, ohne im Na— 
men ber modernen Aufflärung zu pro— 
teftieren. Sollte das nicht endlich die 
Bühnenleiter zum Nachdenken zwin— 
gen? Sollten fie nicht endlid ein— 
fehen, daß man auch mit Hebbel Ge— 
jchäfte machen fann? Zwar: nicht fo 
gute wie mit Blumenthal, — das 
fei ehrlich eingeftanden. Wohl aber 
beſſere, als mit den Dußenden von 
gequälten „ernithaft = literarifchen“ 
Stüden, die regelmäßig mit jeder 
neuen Saifon auftauden, um dann 
wieder mit der alternden Saifon zu 
welfen und fterben. Im das Geſchäft 
fommen wir beim modernen Theater 
nit herum. Grade deshalb aber 
müjfen wir zu den Bühnenlapitaliiten 
eine Sprache reden, bie fie verſtehen 
und grade deshalb fcheint mir der 


1. Januarheft 1893 


— 29 — 


durchſchlagende a der „Julia“ 
fo meientlidy zu jein Man Tann 
gewaltige Dramen aufführen und da= 
mit ein befjeres Gefhäft machen als 
mit den Berjifizierungen Fuldas. Die 
Aufführung der „Julia“ hat den pa= 
radoren Saß beftätigt. 

lieber die Aufführung nod einige 
furge Worte. E8 fol auf eine Shwäde 
des Stüds hingemwiefen merden, die 
auf der Bühne bejfonders deutlich zum 
Yusdrud fommt: die Nebenhandlung 
überwudert die einfahe Fabel und 
droht ſie jtellenmeife zu erjtiden. Graf 
Bertram, der im Mittelpunkt der Hands 
lung Steht, hat fi) durch Ausſchwei— 
fungen zu einem wandelnden Gejpenit 
gemacht und wartet nur nod) auf die 
Gelegenheit einer guten That, um das 
Leben nicht völlig als unnüger und 
veräditlicher Mann zu verlajfen. Um 
dieſe Gelegenheit herbeizuführen, hat 
Hebbel das Schidjal der Julia er— 
fonnen — das Schidjal des verführten 
Mädchens, das aus dem Vaterhauſe 
flüchtet, weil e8 fi) von feinem Lieb— 
haber betrogen und verlajfen glaubt. 
Graf Bertram heiratet zum Scheine 
Julia, um fie vor der Verachtung der 
Melt zu bewahren. Die Gejhichte Ju— 
lias ijt aber fo verfchlungen, fo ſpitz— 
findig erdacht, fo konftruiert, daß 
Hebbel ſeinen ganzen Scharflinn braud)t, 
um fie zu entwideln. Daß er dabei 
auf Abwege gerät, ift der Fluch der 
mißlungenen Anlage. —— dieſe 
Abwege führen uns in das Haus der 
Julia, wo wir einen ergreiſenden 
Starrkopf von Baier kennen lernen 
und Auftritte von gewaltiger Wucht 
erleben. Auf Ubmegen aber befindet 
10 der Dichter doch, das kann wenig— 
tens dem gebildeten Zuihauer nicht 
ameifelhaft fein. Dem gebildeten, 
jage ih), denn dem naiven kommt c8 
laum zum Bewußtfein. Das Arbeiter: 
publitum der „Vleuen Freien Volks— 
bübhne* ließ fih von der Romantif 
der Nebenhandlung völlig gefangen 
nehmen, mwodurd der Dichter Hebbel 
eine Anficht des ftritifers gleichen 
Namens bemwahrheitete — daß nämlid) 
das Publilum ſich gern aud) zu einem 
Fluge mit fortreißen läßt, fofern es 
nur die Fauſt eines fräftigen Mannes 
im Naden fühlt. 

Erih Schlaifjer. 

+ An Wien murde das Jubi— 
läums-Stadttheater unjres bis— 
herigen Wiener Beriditerftatter8 Mül— 
ler-Öuttenbrunmn eröffnet, mit der „Her: 
mannsſchlacht“, in der Müller eine 


Kunftwart 





250 


Huldigung Hleifts für Oeſterreich fieht. 
Anläklich diefer Sache hat der Bürger- 
meijter Queger fich über Kunſt ausge 
ſprochen. Kleiſts „Hermannſchlacht“, 
meinte er, ſei ein „Schandſtück“, und 
Müller-Guttenbrunn ſolle doch lieber 
fidele Stücke geben. Vergani, der 
Herausgeber des „Deutſchen Volfs- 
blattes“, erlaubte fi), dem zu wider— 
fpreden, ein Stadtrat Wähner mwollte 
vermitteln: der Herr Bürgermeiiter jei 
mißverjtanden worden. D weh, nun 
ergriff aber Lueger nochmals das 
Wort. Man müfje tradhten, die rechte 
Melange herzuſtellen. Darin fei ja 
der Wiener ein Meifter, man denfe nur 
an jeinen ausgezeichneten Kaffee; den 
ſchrecklichen ſächſiſchen Bliemdentaffee 
mög' er nicht. Das tertium comparationis 
zwiſchen dem Bliemchenkaffee und der 
Hermannſchlacht konnten wir nicht er: 
fahren. Aber auch in Wiens obrig— 
keitlichen Kreiſen weiß man, ſoviel 
ergibt ſich, über Kunſtdinge ebenſo ſach— 
verſtändig zu ſprechen, wie im deutſchen 
Reichsſtag, im preußiſchen und baye— 
riſchen Abgeordnetenhauſe und im 
Dresdner Stadtverordnetenkollegium. 

* Mar Bernſtein führt eine 
journaliftifhe Neuheit ein. Er bat 
eine Rellamenotiz über feinen und 
Blumenthals „Mathias Gollinger“ ins 
„Berliner Tageblatt“ Tanziert, wonach 
Franz Defregger das GStüd gut 
findet. Franz Defregger ift ein tüch— 
tiger Maler. Wird künftig ein Delge- 
mälde von der Kunſtkritik abgelehnt, 
fo wird wahrſcheinlich der Maler in 
die Zeitung jegen, fein Freund, ber 
befannte Tondichter Soundfo, fänd es 
vortrejflid. Gin Komponiſt, dem die 
Kritik feine Symphonie fhhledht madt, 
wird fi) öffentlich auf den Bildhauer 
nebenan berufen, zu dem Bemeife, 
dab fie gut fei. Und wenn einmal 
die Aurilten jagen jollten, Herr 
DBernitein, der Rechtsanwalt, habe übel 
plaidiert, fo wird er das mit dem 
Hinweis auf feines Freundes, des ge- 





achteten Idyllendichters, Wutorität 
widerlegen. 
Muſik. 

*Ueber Wilhelm Kienzls 


von der Berliner Kritik faſt einſtimmig 
abgelehnten „Don Quixote“ wollen wir 
an unfrer Stelle zunädjt einmal Mar 
Marſchalk ſprechen laſſen, zumal feine 
Bemerkungen in der „Deutſchen Welt“ 
zu dem Sachlichſten gehören, was gegen 
das neue Werk eingemwendet wurde: 


„Den Roman Gervantes’ für bie 
Bühne fruchtbar zu maden, iſt vor 
dent Verſuche Kienzls ſchon vielen 
mißglückt. Kienzl war ſich der 
Schwierigkeit ſeines Unternehmens 
vollkommen bewußt, er hielt es für 
ein Wagnis, aber ſchließlich doch für 
ein geglücktes. »Ich faßte die Figur 
des Don Quixote«, äußert' er Mh 
»dramatiich als einen firen Punft auf, 
um den fi die ſämtlichen Übrigen 
Figuren in tollem Wirbel drehen, als 
die tieftragifche Achſe einer in berb- 
genialer Zollheit fih abmwidelnden 
burlesfen Handlung. Und dies fcheint 
mir das völlig Neuartige und daher 
aucd einigermaßen Gewagte meines 
Unternehmens zu fein. Nur unter 
dem Gefihtspunfte der Tragilomödie 
und mit einer diefem entfprechenden 
Darftellung meines Werkes iſt die von 
mir gedachte Wirkung auf das Publi— 
tum erreihbar.« Kienzl ſetzt ein mit 
dem Erwachen des Wahnes in feinem 
Helden und läßt ihn zum Schluffe zu 
Grunde gehen, niedergemwudtet in dem 
Augenblide, wo er nad) feiner durch 
die Lift der Nichte und ihres Geliebten 
erzwungenen Rüdfehr den Zmiefpalt 
zwifchen der idealen Welt, in die ihn 
feine Träume verführt hatten, und ber 
renden, die ihn umgibt, mit fürdter- 
licher Deutlichkeit empfindet. Zwiſchen 
dem Erwachen des Wahnes und dem 
MWiedererwahen der Klarheit ſpielen 
ſich in bunter Folge einige der Haupt— 
abenteuer des Ritters von der trauri— 
gen Geftalt ab. 


Aber man fieht nur immer die 
reale Welt, die mit einem Stranfen ihr 
bertherziges Spiel treibt, man fieht 
fie mit eigenen Augen, nidt mit 
denen des wahnbefangenen Ritters, 
und fann ſich natürlid, da man fort— 
während das reale Bild nor Augen 
bat, nit vorftellen, daß Don 
Quigote in dem Wirte, feiner Tochter 
und den Gäſten etwas anderes fieht 
als eben den Wirt, feine Tochter und 
die Gäſte. Wir befinden uns ſozu— 
jagen unter den Gfäſten, und da wir 
feiner geartet find, als fie, werden ung 
die fortgefegten Scherze bald unbe= 
quem. In dem das reiche Gefühls- 
Icben Don Quixotes, feine phanta= 
ſtiſche Gedankenwelt breit ausmalen= 
den Romane, bleiben wir in jedem 
Augenblide in engiter Beziehung zum 
Annenleben des Helden, das ung 
durch feine Verjegung auf die Bühne 
und zwar ganz bejonder® durch Die 


Art der Kienzlſchen Behandlung voll- 
kommen verfchleiert wird. Wir ſehen 
immer nur auf ihn, faſt nie aber 
aus ibm heraus auf feine Um— 
gebung. Stelfenmeife, wie im ganzen 
amweiten Akt wird fogar jeine Ber: 
fönlichleit fomweit zurüdgedrängt, dab 
nichts übrig bleibt, als ein Haufen 
von Menfhen, die üble Poſſen— 
reißereien ausführen... Der Fort— 
gang der Handlung jeht erit wieder 
im dritten Wite ein, wo ber als 
Mondritter verkleidete Barbier den 
Nitter von der traurigen Geftalt 
bejiegt und ihm das Verſprechen ab— 
nimmt, nunmehr feine Fahrten aufzu— 
geben. Don Quixote kehrt zurüd, 
madt fein Tejtament und jtirbt. Die 
»tieftragiihe Achſe-, von der Sienzl 
fprist, kommt dem Zuſchauer erit 
zum Schlujje ins Bewußtſein. Bis 
dahin überwudert und erftidt das 
burlesfe, leider jo mißlungene Beimerf 
den Stern der »Tragifomödie«, bie, 
weil jie nicht komiſch wirkt, feine Ko— 
mödie und, weil fie nicht tragiſch 
wirkt, feine Tragöbie ijt. (Darin liegt 
eben die Gigentümlidyfeit der tragi= 
fomifhen Wirkung! R. 2.) Die 
Muſik, die Kienzl geichrieben Hat, 
ift nicht eigenartig. Sie haralteriftert 
glüdlih, aber immerhin nur äußerlich 
und oberflählid. Sie iſt geſchickt 
nemadt, und die Snjtrumentation 
Ichillert in allen Farben, ohne in= 
dejlen neuartige Effelte zu erzielen. 
Beitenfalls fann man an der Mufii 
loben, das fie über ben gering: 
fügigen Inhalt an manden Stellen 
mit Erfolg hinwegtäuſcht. Uber ob= 
gleich jie ohne Größe und Gigenart 
ift, obgleich fie aud) bier und da einen 
alltäglichen Ynjtrich bekommt, jeden= 
falls ilt fie immer „Muſik“, das heikt, 
es mohnt ihr immer eine gewiſſe 
Kraft inne, den Weg durchs Ohr ins 
Herz zu finden. Es wird jo viel ſoge— 
nannte Muſik gemacht, der jede ſeeli— 
ſche Einwirfung mangelt, die nur ein 
leeres Getön iſt, dab fich Herr Kienzl 
glücklich Ihägen kann, zu den Wenigen 
zu gehören, denen heute ein echtes 
Mufitantentum nachzuſagen ift.“ Ich 
meinerfeit8 habe von dem Werk einen 
wejentlich günitigeren Eindrud davons 
getragen und vermiſſe in den Berliner 
Urteilen vor allem bie Feititellun 
der bemerfensmwerten Thatladhe, da 
e8 einen beträdtlihen fünjtlerifchen 
— über den „Evangelimann“ 
inaus bedeutet. R. B. 


1. Jannarheft 1899 


— 5 — 


+ Wie man Rihard Wagner 
verſteht — 

nein, dieſe Heberfchrift ift ungerecht, 
fchreiben wir befjer: wie das Berliner 
Wagner-Dentmalstomitee feinen Mei— 
fter veriteht. Aber dasfagt auch wieder 
zu wenig, denn ſchließlich hat nicht 
nur ber Denkmal-Ausſchuß das von 
ihm arrangierte große „Richard Wag— 
ner⸗Feſt“ mitgemadt, fondern nod) fehr 
viele andere Leute haben's gethan — 
wer aber hat mwiderjproden? 
Das Felt bei Kroll war „arobartig“; 
e8 gab außer einem fFeitfpiel, das 
ernithaft war, zur Ehrung des Bay— 
reuther Gedantens höheren Zingels- 
tangel, zur zarten Erinnerung an die 
verunglüdte Yusftelung im Meh« 
palaft einen Bazar und zum Andenken 
an das ParfifalsGeleitwort der Richard 
Wagner-Vorkämpfer von ehebem: 

„ob im Berein, 

brüdergetreu 

zu fämpfen mit jeligem Mute,“ — 
ein feinfeine® Tanzvergnügen. Adh, 
befäme bod das brave Komitee fein 
Geld ſchnell zufammen, daß mög— 
lichſt bald das Denkmal irgend einen 
Platz „dekorierte“! Eine lächerlich— 
traurigere Geſchichte haben wir ja 
noch kaum erlebt, als dieſe, da man 
zur Ehrung Wagners Spott mit den 
Gedanken Wagners treibt. Unſern neuen 
Leſern möchten wir mitteilen, daß ſie 
eine Beleuchtung dieſer ganzen Denk— 
malsſache im zweiten Maiheft unfres 
vorigen Jahrgangs finden. 

*Für Mascagnis „Iris“ wird 
jetzt wieder auch in den deutſchen 
Blättern eine ungeheure Reklame ge— 
macht. Wie ſolch ein Fiſchzug auf 
die Goldfiſche eingeleitet wird, davon 
handelte neulich ganz anſpruchlos die 
„Röm. Chronik“ der Frankf. Ztg.: „Das 
»Iris«⸗-Fieber hat noch nicht nachge— 
laſſen. Für den Kenner der Kuliſſen 
iit die Geſchichte um fo intereflanter, 
als er weiß, dab in ganz Italien, 
menige Blätter des Nordens ausge 
nommen, die Theaterfritif ein Geſchäft 
wie jede8 andere ift. Entweder be— 
zahlt ein fogenannter Kritikus der 
Zeitung eine jährliche Pacht für den 
Mritifraum, den er bann je nad) den 
&elbern, die er von den Theatern er= 
hält, ausfüllt, oder größere Blätter 
verhandeln direlt mit den Jmprefarii. 
Handelt e8 ſich aber, wie bei der 
Gründung von Mascagni = Erfolgen, 
um — die über Millionen 
verfügen, fo weiß man auch die Kri— 
tifen der PBeitungen zu würdigen.“ 


Kunftwart 


— 252 


een nn ñ w nn nn nn nn —— —— 


Ob von Mascagnis Verleger auch 
deutfche Rezenfenten einfad; baar oder 
in der Form von Reifevergütung oder 
fonftwie „entjchädigt* werden, wiſſen 
wir nicht, dab aber die gewaltigen 
Zrommelmirbel für jede neue Mas— 
cagniſche Oper nicht allein der Fünit= 
lerifchen Begeifterung entipringen, das 
wiflen wir. Dieſelben Blätter, die 
für eine ernfte Oper eines Deutſchen, 
die anderswo als in Berlin aufge— 
führt wird, höchſtens fünf Zeilen 
haben, beglüden uns mit langen Feuil— 
letons über Diascagnis „Iris“, mit 
einem ganzen Sad voller Reflames 
notizen über das gleichgültigfte Neben= 
bei der Aufführungen, mit Szenen- 
bildern fogar — nod ehe das Wunder— 
mwerf über die beutfche Grenze gelom— 
men if. Das Wunderwerk? Ja, fagt 
man, wenn’8 maß ganz großes iſt, jo 
iſt das ſchließlich erflärlih! Uber das 
ift ja gerade das Luftigite: felbit von 
al den eifrigen Korrefpondenten fann 
fein einziger aud) nur die Behauptung 
wagen, e8 ſei mas großes, fie müſſen 
alle wohl oder übel durchblicken laſſen, 
jo was „Extraes“ fei die „Iris“ 
eigentlih nicht. Und trogbem immer 
weiter das Bum Bum! 

Mer fi über fo etwas ärgert, ben 
entihädigt der Meifter durch jein 
neues Bilb — verjäume niemand, 
fih’8 anzufehn! Der Illuſtriſſimo hat 
fih nämlich in dem Uugenblid photos 
sraphieren laſſen, da die Mufe ihn 
fübte. Am Slaviere finnt er, das 
Titushaupt in unnachahmlich erhabener 


Poſe: 
„Begeiftert blickt er in die Höh: 
Willkommen, göttliche Idee!“ 
wie Wilhelm Buſch von Balduin Bäh— 
lamm ſingt. Man frage ſich, was ein 
Verdi, ein Wagner, nein, einer der 
kleinſten unter den Echten auf die Zu— 
mutung geantwortet hätte, beim Photo= 
graphen mit feinem Heiligiten Ieben= 
des Bild au figen, 
+ Mies gemadt wird. 
„Bechrte Redaktion! 

Jede ganze ober teilmeife Wieder— 
gabe einer der meinen Sendungen 
beigefügten Befpredhungen 
ober jede eigene Befprehung oder Er— 
wähnung meiner Berlagsartifel v ers 
güte Ahnen in angemefjener Höhe 
durch Poitanmeifung im Laufe des 
April 1899. Bitte nohmals um geil. 
Einfendung von Belegnummern. 

Hochachtungsvoll 

Dresden. Y. (nidt: 9.) Bod, 

Hofmuſikhändler.“ 


Bildende Kunit. 


* Bon Wiener unit. 

Einen modernen Kunſttempel, der 
den Namen verdient, hat hier Die 
Wiener Sezejlion („Bereinigung bil— 
dender Künſtler Oeſterreichs“) mit 
ihrer zmeiten Austellung eröfinet: 
ihr neuerbautes Haus auf dem Ges 
treidemarft, hinter der Akademie. 

Seit Monaten war bdiejes Haus 
der Gegenitand hitzigen Streites im 
Publitum und in der Preife. Die eine 
der Barteien gab dem empörten äſthe— 
tifchen Gewiſſen des Spiehers von 
Wien lauten Ausdruck, indem jie das 
Gebäude eine Schande, einen öfſent— 
lihen Standal, einen Tempel für 
Laubfröfhe und ägyptiſche Mumien 
nannte; die andere erflärte es für 
das bedeutendite Bauwerk des Jahr: 





——— —— — — — 





hunderts. Wieder andere Leute — es 


war nur ein winzige Fähnlein — 
meinten: man müſſe warten, bis e8 
fertig ſei. Und dann iſt es eröffnet 
worden. 

Olbrichs Baugedanke war folgen 
der. Modernes Leben und moderne 
Kunft follten in engite Berührung ge— 
bracht werden durd) ein Gebäude, das 
mit Hilfe der beiten technifchen Eins 
rihtungen dem Kunſtgenießenden einen 
Zufludtsort böte, wohin er vor dem 
Tageslärm fliehen fönne, um unges 
ftört mit der Schönheit Zwieſprache 
zu halten. Gleichzeitig aber follte es 
ihn (duch) verichiebbare Zwiſchen— 
wände, Ober= und Seitenlidtvorriche 
tungen u. dgl.) daran erinnern, daß 
er ein Sind feiner Zeit iſt, Die 
Schnell genießen und gern jchnelle Ver— 
änderung haben mill, nicht aus Ober= 
flächlichkeit, ſondern weil die Kunſt 
ein Wiederſchein des großen Lebens 
iſt, das uns umgibt, und wo die 
Eindrücke und die Stimmungen raſch 
und oft jäh wechſeln. Eben dadurd, 
daß Diejes moderne Wusitellungss 
gebäude mit feinen großen und 
fleinen, mittleren und feitlichen, breiten 
und ichmalen Räumen, mit feinen 
Lihtdämpfern und Lichtbringern uns 
reichite Abwechslung zu bieten vermag, 
anstatt durch das Zuviel auf einmal 
zu ermüden, eben dadurch bedeutet e8 
einen entfcheidenden Schritt zur Re— 
formdes Ausſtellungsweſens 
wie ihn alle Einſichtigen ſchon ſeit 
Jahren herbeigeſehnt haben. Das iſt 
Joſef M. Olbrichs erlöfende That, 
wie fie fpäter allgemein aufgefakt und 
anerfannt werben wird, menn ber 


m — — — en nn —— —— — 


Zank über dieſe Architektur längſt 
zur wohlverdienten Ruhe einge— 
gangen iſt. 

Nicht daß ich damit der Außen— 
Architektur einen Vorwurf machen 
wollte. Sie iſt kraftvoll, männlich, 
ungetüftelt und ungeſchminkt, durch 
und durch konſtruktiv und von prak— 
tiſchen Gefihtspunften bedingt, immer 
den Anforderungen im Innern ent— 
fprehend. Nur die ungemein hoch 
heraustretenden, ſchrägen Glasdäcer 
der Oberlichtkonſtruktion ftören fehr. Ob 
fie zu vermeiden geweſen wären, wage 
ic) nicht zu enticheiden, aber jchön 
find jie nit. Was an Schmud und 
Zierformen vorhanden ift, wird nicht 
in eriter Linie durd die Architektur, 
fondern mit den Mitteln der Plaftit 
(itilifierte Tierförper und ſymboliſche 
Masten) oder der Linie (goldene 
Ranken und Arabesken, nebjt erha= 
benen Ynichriften) zum Ausdrud ges 
bradt. Un den Seitenmauern und 
hinten mindet fi) ein ſchwungvoller 
Reigen tanzender Mädchen mit gols 
denen Kränzen und hellbräunlich ge= 
tönten Xeibern an der weißen Wand 
entlang. Ueber dem Saupteingang 
thront zwiſchen vier halbhohen Eck— 
pfeilern eine großblätterige, grüns 
goldig Shimmernde Kuppel von durd)= 
brochenen Lorbeerzmweigen. 

Wie ausgezeichnet der Lichtereinlaß 
in den Innenraum den Bedürfniffen 
angepaßt werden fann, bemieß ber 
Zag vor der eigentlichen Eröffnung. 
Es mar einer der duntfeliten und 
trübjten, Die der November uns 
brachte. Aber drinnen war alles von 
einem jo milde leuchtenden Schimmer 
überflutet, daß man beim Hinaus— 
treten ins Freie eine Empfindung 
hatte, als trete man ins Dunflere. 

Sp viel alfo vom Haufe, feinem 
„hohen berrlihen Bau“, aber doch 
einem, der den Mieijter lobt und vor= 
trefflich feinem Zwecke dient. In der 
Austellung jelbit herrfcht wieder das 
Ausland mit bedeutenden Werken 
vor, wenn auch nicht jo jehr, wie im 
Frühling. Eine Bejchreibung oder 

ufzählung der Bilder gehört nicht in 
den Kunſtwart, doch feien die Oeſter— 
reicher genannt, die am beiten neben 
dein Ausland beitehen. Etwas frifcheres 
als die farbenjatten und leuchtenden 
Bilditudien von Alois Hänifh kann 
man nidt verlangen; er übertrifft 
3. B. weit den feit geraumer Zeit fo 
jehr verfladhten Dettmann (Berlin). 
Bon den in Wien lebenden Dtalern 


1. Januarheft 1899 


find Friedrih König, Otto — — 
Ludwig Siegmund, Wilhelm Bernagif 
(„Märchenfee*), Garl Mol, der Prä— 
fıdent Guſtav Alimt, der Ehrenpräfident 
Rudolf von Alt (der sojährige Aqua— 
rellift) und endlich der tiefernite Stöhr 
zu nennen. Was die Plaſtik betrifft, fo hat 
mohl Edmund Hellimer (der Schöpfer 
des ausgezeichneten Schindler = Den: 
mals) Anwariichaft auf die erfte 
Stelle. Auch die Architektur ift durch 
bedeutende Hünftler, wie Otto Wag— 
ner, vertreten. 

Im Defterreihiihen Mufeum 
für unit und Induſtrie ift augen= 
blicklich die zweite Ausſtellung von 
Möbeln und kunſtgewerblichen Arbeiten 
durch den Hofrat von Scala veran— 
ftaltet worden. Sie enthält meist 
ftrenge Kopien englifcher Muſter (von 
Sheraton, Chippendale und anderer) 
oder doch mehr oder weniger von 
England beeinflußte Ergeugnifie. Gegen 
den Direktor diefes Mufeums hat be= 
Zammtlich der Kunfigewerbeverein 
feit einem Jahre ein förmliches Haber— 
feldtreiben in Szene geſetzt, das, unter 
anderen mißliebigen Zerwürfniſſen, 
auch den Rüdtritt des Erzherzogs 
Rainer vom Protektorate der beiden 
Inſtitute zur Folge hatte. Dies iſt 
wohl nicht ohne nadteilige Wirfung 

eblieben, denn in Defterreih muß 
o ziemlich alles, was Anfehen haben 
fol, Durch den Ytamen eines Erzherzogs 
„wededt* werden. Man darf die Ges 
fhihte aber hier um fo aufrichtiger 
bedauern, als der Proteftor zu den 
vornehmiten und kunftfinnigiten Mit— 
gliedern der habsburgiihen Familie 
gehört. Bei dem unerquidliden Ton, 
der wohl weniger durch hyper-äſthe— 
tifhe als kaufmännische Bedenken in 
den Streit hineingetragen ward, war 
der NRüdtritt ganz unvermeiblid). 
Gegen die gemaltfame Propaganda 
des Hofrats Scala für die neue Rich» 
tung mag man ja Bedenfen haben. 
Aber man darf nicht vergeffen, daß 
gen in Wien (mo die Berhältniffe 
o fumpften, daß alle Hunftgewerbes 
arbeiter nur auf Spät-Barode oder 
„Kongrebftil* eingefchult waren) eine 
rüdfichtslofe Durchfegerkraft von Nöten 
war. Deshalb muß man fie unter- 
ftügen, denn zur Shulung find diefe 
Engländer vortrefflih zu brauden. 
Natürlich ift ein vornehmer, organiſch 
entmwidelter Stil nicht jo ohne weiteres 
aufzupfropfen, fondern es wird dann 
darauf antommen, ob die Einheimi- 
ihen genug Selbjtänbdigfeit be— 


Kunftwart 


— 


figen, um ihn allmählich unſern eigenen 
Bebürfniffen anzupaflen. Bon Het 
auf übermorgen ijt fo etwas nicht ge= 
madt. Aber einmal muß angefangen 
werden, und deswegen Dürfen wir 
diefen neuen Kurs, obwohl er für 
Wien von oben diftiert wird, vorläufig 
eben bier willlommen heißen. 
Wilhelm Shölermann. 

* Eine neue Petroleum— 
lampe wird in Münchner Zeitfhriften 
und Tagesblättern bejchrieben, als der 
erite ernftlihe und ziemlich geplüdte 
Verſuch, diefes wichtige Hausgerät nad 
der praftifchen und nad der äſthe— 
tifhen Seite Hin zu verbejlern. Bis 
auf unmefentliche Kleinigkeiten ift die 
neue Lampe handlich und gut in Der 
Form. Sie hat übrigens in gewiſſem 
Sinne eine Vorläuferin in der Lampe 
von Garabin in Paris, der fie, troß 
ber Verfchiedenheit in einer Hauptſache, 
jehr ähnelt. Die eriten in Kupfer ge= 
triebenen Gremplare jtempeln Die 
beutiche Lampe duch ihren Sand: 
arbeitScharafter und durch den Preis 
zu einer Quruslampe, e8 foll aber bald 
eine billige folgen. Dur; Maſſenher— 
ftellung noch billiger geworden, wird 
dieſe dann zum Gebraud) in mittleren 
und fleinen Haushaltungen geeignet 
fein, fo daß fie einen der zahlreichen 
und zum Zeil nod) „ungewedten“ Fal— 
toren zur Hebung des allgemeinen 
Gefhmadsniveaus darftellen fann. 
Die neuen Lampen ftammen von Wil: 
helm & Lind in Münden. F. M. 

* Sp lange die Geſelſchap-Aus— 
ftellung in Berlin zu fehen war, hielt 
ung eine erflärlihe Scheu von einer 
Mitteilung zurüd, die wir der Deffent= 
lichkeit zur Kennzeichnung unſrer eigen= 
tümlichen Kunſtverhältniſſe jet machen 
müffen. Auch wer Gefelfhap mit 
großer Achtung gegenüberjtand, wie 
wir, wird fih darüber gemunbert 
haben, da meitum in Deutjchland 
jelbit Feine Zeitungen von dieſer Aus— 
ftelung wie von einem hochwichtigen 
Ereigniſſe ſprachen. Hier die Auf— 
klärung: für die Geſelſchap⸗-Aus— 
ftellung hat das offiziöſe Wolff— 
{he Zelegraphben-Bureau gear— 
beitet. Für jeden Kenner ber publi= 
iftifchen Verhältniſſe ift das fo er— 
aunlic, daß aud) wir erſt durd) das 
Vorlegen zweier Wolffiſcher Originals 
telegramme mit Lobeserhebungen, No= 
tigen über die Fülle des Beſuchs, 
Mahnungen, ja nod rechtzeitig zu 
fommen u. f. m., gezwungen worden 
find, e8 zu glauben. 


Dermifchtes. 


* Was uns von folden neuen 
Kalendern befannt geworden ift, 
die fi) vorzugsmeile an ein Publikum 
wie das des Kunſtwarts menden, 
fönnen wir heuer nur ganz kurz auf 
zählen. Es tritt auch davon zum 
eriten Dale nur der Oeſterrei— 
chiſche Kalender* von Artaria 
& Go. in Wien auf, der 4 Gulden 
fojtet, aber auch ein Meines Pracht— 
werk ilt. Jedes Kalenderblatt mird 
von einer formenreichen und farbig 
ausgeführten Tafel gebildet und hat 
zur Seite eine Kompoſition ähnlicher 
Urt, in der an Stelle des Stalenda- 
riums ein Bild fteht. Nennt mar die 
Namen Heinrich Leffler und Joſeph 
Urban als die der Hünftler, fo wird 
fihh der Leſer eine ungefähre Vorſtel— 
lung machen fönnen vom Wie. Alles 
Uebrige aus der Stalendermelt zeigt 
uns in neuem Wusgehrod gute Bes 
fannte. So der namentlidh für alle 
Freunde künſtleriſch geitalteter Heral— 
dit wirklich wertvolle „Mündner 
Kalender“ der dortigen „Nationalen 
Verlagsanftalt“ , fo die verſchiedenen 
Lauterburgſchen Abreißkalen— 
der „Schweizerbilder“ und „Bilder 
aus Deutſchlands Gauen“ mit ihren 
netten Anfichten auf jedem Blatt, fo 
ber Langeſcheidtſche „Litera= 
rifhe Abreißkalender“ (75 Pf.) 
Der „Deutihe Frauen-Halender“ 
ME. 2.) von Anna Bauer bringt auf 
edem Blatt ein Gedicht oder eine 
Betrachtung, alio eine Anthologie, die 
entfchieden nad) erniten Gefichtspunf- 
ten ſehr bedadt und mit Geſchmack 
und Geichid zufammengeitellt it. Auf 
den neuen Jahrgang von Kürſch— 
ners „Jahrbuch“ fei auch hier hin= 
gerwiefen. Bon Kürſchners Geheim— 
kunſt, Wiflensertrafte abermals einzu— 
kochen, zeugt auch Die neue „Jahr= 
buchs“⸗Auflage wieder glänzend: man 
fauft da für eine Marf ein dreißig 
fach beitilliertes Konverfations=Lerifon 
in der Rocktaſche. Wir wünſchten aber 


doch, Kürfchner beſcheerte uns neben 
biefem „Jahrbuch“ nod eines von 
minderer Knappheit, in größerem For— 
mat, mit größerem Drud u. f. w., 
etwa zu 3 bis 5 Marf, wie früher 
foldhe bei 3. I. Weber in Leipzig er— 
ſchienen. Denn etwas derartiges, ein 
gutes illuſtriertes Nachſchlagebuch 
übers legte Jahr, für die einzelnen 
Gebiete von Sadjverftändigen ver— 
faßt, fehlt leider —— Weiſe 
jetzt auf dem deutſchen Büchermarkt. 


*Geiſt“ im Reichsſstage. Haft 
du einmal als Schuljunge Räuber und 
Indianer geſpielt, verehrter Leſer? 
Dann erinnerſt du dich noch, wie ihr 
lachtet, wenn der Klaſſenwitzbold bei 
der Anführerwahl für den Feigſten 
fimmte. Nun fiehit du, gerade fo 
macht man’s im Hohen deutſchen 
Reichstagel Bei der Präfidentenmwahl 
ftimmt der Hauptfpaßvogel für Ahl- 
wardt — das iſt doch zu komiſch: 
„nroße Heiterkeit“ fteht im Protokoll. 
ALS der erſte PVizepräfident gemählt 
mird, ftimmt der Ungenannte mit dem 
vielen Humor wieder für Ahlwardt — 
nein, iſt das ein Wig: „itürmifche 
Heiterkeit” jteht im Bericht. Und fo 
mweiter fol derfelbe Scherz ſich 
felber durch die ganze Bureaumahl, 
und immer gibt's jchallende Heiterkeit 
darüber. Wenn mir Räuber und Sol: 
daten fpielten, durfte der Spaß nur 
einmal gemacht werden, allerdings. 


* Stein, ganz it der Druder- 
teufel aus unfern fäjten und Re— 
galen noch nicht ausgetrieben, mir 
merden ihn meiter beihmören müſſen. 
Diesmal fei ihm zu Truß erflärt, daß 
der im legten Hefte vorgeitellte Lyriker 
nidt Bergmann, fondern Benzmann 
heißt, und daß Otto Erich Hartlebens 
„Befreite* feine „Befreiten“, fondern 
meijten® ohne Gharge, wenn mit mel- 
der, dann aber im Offigiersrange find. 
Und nun hoffen wir, daß der „innere 
Krieg“ in unfrer Druderei enden und 
aud) an dieſer Stelle verſtummen fann. 


IX 


Unsre Beilagen. 


Als Mufikbeilage bringen wir diesmal ein Liedhen „Lenzknoſpen“ von 
Engelbert Humperdind, unter Genehmigung des Verlags, aus dem ſo— 


eben bei Breitlopf & Härtel erfchienenen Prachtwerk „Trifolium“, 


Die Ten— 


benz; nad) folden „Geſamtkunſtwerken“, worin ſich Poeſie, Muſik und dar 


I. Januarheft 1899 


ftellende Kunſt verbünden, tritt feit Klinger8 Brahmsphantafien immer häufiger 
zu Tage. Humperdincks Weifen zu den harmlofen Liedhen Moriz Leiffmanns 
find von einer bei dem berühmten Stontrapunttifer verblüffenden Einfachheit in 
Sat und Modulation, aber ganz dem Charakter ber Gedichte entſprechend. Der 
reihe Bilderfhmud rührt von Alexander Frenz her, dem befannten Illu— 
ftrator des Ehamberlainihen Wagnerbuches. Zu einer eingehenden Beſprechung 
ber Publikation liegt um fo meniger für uns ein Anlaß vor, als dieſe No— 
tizen por allem anregen follen, fi mit den Büchern und Noten felber zu be- 
ichäftigen. Das aber bejorgen im vorliegenden Falle Humperdinds Noten für 
dasjenige Publitum, für welches diefes Trifolium überhaupt in Betracht fommt, 
fiherlid am beiten. 

Bon unfern Bilderbeilagen zeigt uns die erjte ein Bildnis Björnit- 
jerne Björnfons von Franz von Lenbad. Es ijt einem Blatte jenes 
großen Hanfſtänglſchen Lenbach Wertes nachgebildet, welches wir fon ange— 
zeigt haben und auf das mir des Ausführlidern noch zurüdfommen wollen. 
Als Beigabe zum Abdrud der Szenen aus Björnfons neueftem Werk wird es 
unfern Lefern, fo hoffen wir, gerade heute beſonders willkommen fein. 

Unfer zweites Blatt gibt eine Radierung des Karlsruher Walter 
Conz wieder, nad) einem Blatt aus ber Mappe de8 Karlsruher Original- 
rabiersVereind. Das Motiv ift dem Schweginger Park entnommen. Die köſt— 
Iihe Ruhe, die gehaltene Größe diefer bildnerifhen Schilderung wirkt fo 
natürlid) = jelbftverftändlih aus dem Bilde hervor, daß wir jedes weiteren 
Wortes darüber enthoben find. 

Unferm Verſprechen, gelegentlich wieder beſonders gute Ktunſtphoto— 
gramme zu zeigen, fünnen wir ſchon heute genügen, indem mir ein Küſtenbild 
Philipps von Schöller in Wien den Lejern zeigen. Dem „Berufsphoto- 
graphen“ alten Schlages, aber aud; dem Amateur bisheriger Urt wäre dieſes 
höchſt „undeutliche* Bild ein Greuel geweſen, dem maleriſch fehenden Photo= 
graphen-ftünftler ift’8 eine Freude. Das ift Waffer dort unten, und darüber, 
das ift mit Wafferdampf gefhmwängerte Luft! Daß die Schönheit des land— 
ſchaftlichen Motivs auf das glüdlichjte gefehen und das Bild vortrefflicdh ab— 
gegrenzt ift, fommt hinzu. Wir jehen bier eines der ftimmungsvolliten Licht» 
bilder nad) der Natur, die bisher gefchaffen find. 

Nod etwas ſchicken mir den Lefern mit, einen eigens für fie gemadjten 
Wandkalender von J. V. Eiffarz, dem jo ſchnell zu Unfehen gelangten 
Zeichner unfres Umſchlags und unferer Kopfleiite. Da ſich's hier um „Eigen= 
bau“ handelt, haben wir über feinen Kunftwert nichts zu jagen. Leider mußte 
das Blatt feiner Größe wegen zweimal gebrodhen werden. Zieht e8 aber ein 
Buchbinder bald auf, jo ſchwinden die Bruchlinien bis zur Unfichtbarfeit. 


Inhalt. Wohlwollende Mritit. — Bom modernen Drama. Bon Leonb. Lier. 
— Muſikpflege im Mitteljtande. 1. Von Rihard Batka. — Kunftpflege im Mittels 
itande. XI, Bon Paul Schulge-Ntaumburg. — Lofe Blätter: Aus Björnftjerne 
Björnfons „Paul 2 und Tora Parsberg“. — Rundihau. — Bilderbei- 
lagen: Franz von Lenbach, Bildnis Björnitjerne Björnfons. Walter Conz, Im 
Schloßpark. Philipp von Schöller, Kunjtphotographie. — Notenbeilage: Lenz— 
fnofpen. Bon Engelbert Humperdind. 





Derantwortl. : der Herausgeber $erdinand Avenarins in Dresden:-Blafewig. Mitredafteure: für Muftt:: 
Dr. Rihard Batka in Prag-Weinberge, für bildende Kunf: Paul Shulge-Haumburgin Berlin, 
Sendungen für den Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr. Batka. 

Derlag von Georg D. W. Lallwer. — Agl. Hofbuchbruderei Kaftner & Coſſen, beide in Mänden. 
Beftellungen, Anzeigen und Beldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Lallwer in Mänchen. 





FRANZ VON LENBACH 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


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WALTER CONZ 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


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ENGELBERT HUMPERDINCK. 


GESANG. 


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Breitkopf & Härtel in Leipzig.(Vgl 


vorbehalten 


Alle Rechte 


Verlag von GEORG D W. CALLWEY, München 


"Aus, Trifolium‘ Mit Bewilligung des Verlages 


hiezu den Text im Hauptblatt.) 


und Klin-gen ist 


Glanz 





Dass 























erst, 








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Jauch - zen 


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Freu-de 


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Stich y. Druck v OscarBrandstetter, vorm. FW Gareracht , Lolazig . 


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— Mit Bilder⸗ und Noten-Beilagen 


Bezugspreis 2'js Mark vierteljährlich. Ein einzelnes Heft 50 Pfennige. 





Dichtung, Theater, — 
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berausgebert 


Ferdinand Avenarins. | 






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Abonnements-Beftellungen entgegen. Probebefte unentgeltlich und poftfrei von der Verlagsbuch · 
handlung: Georg D- WI. Callwey in München. 

Vachdruck fämtliher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und der Beilagen 
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlanat eingefandte Manuffripte wird feine Gewähr 
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nur wenn Rüdporto beilag. 











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fefjelt die Aufmerffamteit, heilt fomit von Zerftreutheit nnd ftählt das — — 
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"Fa ae he ogle 





Münde 








12, Fand. 





bett 8. 





Zweites Januarbeft 1899, 





DEN TUDSTTART 


Das Tbema vom Glück in der Dichtung, 


Immer und immer wieder unterliegen die Dichter, und zwar die 
echten am ehejten, der Verſuchung, einmal das reine fonnige Glüd zum 
Hauptvormwurf einer Dichtung zu wählen. Und immer und immer wieder 
ergibt fich ftatt des erjehnten goldenen Reichtums: Niedlichkeit, Spiel, 
Süplichkeit, bei etwelcher Ausführlichkeit: Einförmigkeit und Dede, mithin 
Unlesbarfeit. Anders angefhaut und ausgedrüdt: e8 will und kann 
nicht gelingen, das AZufriedenheitsgedicht, alfo das Idyll, in höhere Ge— 
biete und in größere Formen zu erheben. 

Darum nun nit? Warum follte ein Zuftand, den die dichtende 
Seele erjehnt, der nämliche Zuftand, der, in der VBergangenheits- oder 
Zukunftsform geichildert, ergreifende Poeſie erjten Ranges zeugt, nicht 
wert und fähig fein, dem Dichter ald Hauptgegenftand zu dienen ? 

Sadlide Gründe, wie man fie hiefür hat angeben wollen, Ernit 
des Dajeins, Kampfespflicht, Unmahrheit des Glüdes auf Erden und 
dergleichen, halten der Prüfung nicht Stich, da der Maler, welcher doch 
auf der nämlidhen Erde wohnt, dem Glüdsthema die allerherrlichiten 
Zriumphe verdankt, mie vornehmlich die venezianishe Schule bemeift. 
Angenommen alfo und auch zugegeben, das Glüd wäre hienieden bloß 
als feltene Inſel zu finden, jo ift damit noch nicht erklärt, warum die 
Dichter nicht die Inſel hervorfuchen und ex professo ſchildern jollten. 

Der Grund ift vielmehr rein formaler Natur: die Dichtkunft wirkt 
ja mit Handlung, oder zum mindeiten mit Bewegung, das Glüd aber 
befagt einen Zuftand, Zuftand aber ift da8 Gegenteil von Handlung 
oder Bewegung. Darum kann das Glück bloß berichtet, etwa zur Not 
auch probemweis in einer einzelnen Ausfchnittsjzene vor Augen geftellt, 
nicht aber ex professo, al3 oberjtes Ziel eines größeren Wertes mit 
organiicher planvoller Arbeit gefaßt werden, darum erledigt Homer das 
Kalypſo- und Kirkeidyll in wenigen Zeilen, darum behandeln die italie= 
nijchen Epifer das jchönheitsfunfelnde Motiv der Alcinen und Armiden nur 
epifodisch und gegenfäglih, darum endet der typiiche Liebesroman mit 

Kunftwart 2. Januarheft 1599 


— 257 — 


dem Augenblide, da die Handlung abſchließt und der Zuftand beginnt, 
mit der Hochzeit. 

Mas der Gedanke errät, und die Literaturgefchichte lehrt, beftätigt 
die tägliche Erfahrung. Nehmen wir den Fall, und der Fall ereignet 
fihh wohl häufiger als man vermuten follte, ein Dichter nähme fich 
wirflih vor, in einem großangelegten Werfe die Glüdspuntte, die ihm 
ja gleich dem Maler in der Konzeption als Glanzpunfte vorjchmeben, 
nun aud) zugleich al8 Hauptpunfte anzuftreben, alfo ihnen ungeſchmälerten 
Raum und vollen Akzent zu gönnen. Was geichieht? Bor allem werden, 
mährend der Handlungsteil des geplanten Wertes fich kraft der inneren 
Logik gerne zu natürlichen Gruppen aufbaut, die Glücks- und Glangteile 
ungeordnet, in chaotiſchem Gefunfel Liegen bleiben, ohne der Phantafie 
einen Keimkern, ohne dem Geift ein vorn oder hinten Ddarzumeilen. 
Screitet er dann zur Ausführung, To wird er gewahr, daß zur Be- 
arbeitung des Glanzteil3 ganz andere, und zwar minderwertige Aufgabeır 
an ihn herantreten, als zur Bearbeitung der Handlung und Bewegung, 
nämlich die rhetorifchepoetische Aufgabe der Befchreibung, im welcher ftatt 
der Geſtaltungskunſt die Redekunſt das Gejeg vorjchreibt. Je mehr aber 
einer Dichter ift, deito unmilliger wird er fich diefer untergeordneten und 
fremden Aufgabe unterziehen. Endlich, wenn beides gethan ift und der 
Berfaffer auf feine Arbeit prüfend zurüdblidt (nicht mit den Augen, 
fondern mit der Phantaſie natürlich), fiche da taucht die geitaltete Handlung 
groß und einfach im Gedächtnis auf, während die außgefertigten Zuſtands— 
ſzenen troß aller Arbeit noch jo flach und chaotiich vor der Erinnerung 
gligern, wie zuvor. Denn was nicht phantafierbar ift, iſt auch nicht 
erinnerbar. Die goldnen Zuftandsigenen bilden jett glänzende Flecken 
im Gedicht, mit einem Wort: fie find Fehler, fie können in foldher Aus— 
dehnung nicht geduldet werden. 

Nehmen wir nun den weitern Fall, und diefer Fall tritt unter 
folden und ähnlichen Umſtänden bei jedem gemiljenhaften Künſtler ein, 
der Dichter beginne an der Hand der gewonnenen Einficht von neuem, 
diesmal mit dem beitimmten Willen, die Handlung unerbittlich überzu— 
ordnnen, umd nur joviel von dem Sonnengolde zu geben, als jene erlauben 
wird. Dann fommt 08 unabwendbar dahin, da die Handlung alles andere 
bis auf den legten Reit auffrikt, ſodaß der Dichter Ichliehlich froh fein 
muß, wenn er für das, was er anfänglid) als Hauptiahe bringen 
mollte, einige Zeilen oder, wenns hoch fommt, eine Epifode erübrigen 
fann. Diefe mwerden dann freilih um jo beſſer gelingen und um fo 
prächtiger funfeln. Das Exempel ift alſo auch durd) die Umdrehung 
bemieien. 

Etwas ganz anderes iſt der Glüdseindrud, den em Kunſtwerk 
auf den Genießenden madt. Diefer Eindrud it unabhängig von der 
Stimmungsfarbe der dargeftellten Dinge, und beruht auf anderen Fak— 
toren. Die Jlias, die Odyffee, der rajende Roland 3. B. machen den 
Gindrud des Glüdes, obichon in der Ilias und im Roland Ein— 
gemweide und Köpfe nur jo umberfliegen, was gewiß an fi nicht Glück 
bedeutet, und obſchon die Odyffee eine recht Schwarze Weltanſchauung be— 
fennt und die Helden darin beitändig heulen und greinen wie die Klage— 
weiber. Was Hier und überall in der Kunſt den Eindrud des Glüdes 
bewirkt, das ift die Lebensfülle, die Lebenskraft und der Lebensmut der 


Kunftwart 
2 — 


Handlung, die Phantafieluft, der Reichtum der Geichehniffe u. f. m., 
und nicht zum mwenigften auch die vielfeitige Kunſt des Dichters. Reich- 
tum und Geftaltungsfraft des Dichter verbunden mit Größe und Fülle 
des Stoffes, das ift der einzige Weg zu einem glüdftrahlenden Wert. 
Ein Ummeg allerdings. Allein einen direkten abkürzenden Fußweg zum 
Glück gibt e8 für den Dichter nicht. Karl Spitteler. 


CARS 


Für die gute Familie, 


Ja, warum ſoll's feinen Kamilienroman geben, feinen Roman, an dem 
Eltern, mohlergogene Söhne und Töchter gebildeter Familien bei gemeinfchaft- 
licher Lektüre eine reine Freude haben fünnen? Der große Poet wird ihn 
zwar ſchwerlich fhreiben; ihn loden die tiefgründigen Probleme, die tragischen 
Konflikte, große Charaktere und große Leidenschaften, aber die Literatur wird 
nicht bloß von den großen Poeten gebildet, die viel zahlreicheren Heinen ge— 
hören auch) dazu. Und deren Gebiet ift doch wohl vor allem das der Alltän- 
lichkeit mit ben gewöhnlichen Menſchen, bie darum noch nicht gemöhnlich im 
ſchlechten Sinne zu fein brauchen, die fehr brav und tüdtig fein und auch 
ihre Schidfale haben können, feſſelnde Schidfale.. Wie der Familienroman in 
Deutichland in Verruf gelommen, weiß jedermann, er ward Familienblatt- 
roman, fhablonenhaft, fhönfeligeunmahr, falfcheidealiftiih und fentimental, 
mit einem Wort: er heuchelte. Da mußte ein Umſchwung fommen: wir er— 
hielten den naturaliftiihen Roman, der düſterbrutal, kleinlich, gemein und 
aulekt aud) wieder unwahr ward. Der Durchſchnittsmenſch ift fein Engel, aber 
auch kein Tier. Am beiten kommt man der Durdfchnittsmelt gegenüber mit 
dem verföhnliden Humor und mit der heiteren Ironie zurecht, und das war 
das Geheimnis des Erfolgs Wilhelm Raabes und Theodor Fontanes, Die 
ja große Talente, aber doch nicht eigentlich große Dichter, Leidenſchaftspoeten 
find. Nun treten auch wieder fleinere Talente auf, die begriffen haben, daß 
die erfreulichere Seite der Alltäglichleit genau fo viel Anrecht auf Darftellung 
hat wie die ımerfreuliche, daß man, wenn man die Nachtfeite der Welt nicht 
in der Tragödie zur mwudtigen Erſcheinung bringen fann — und wer von ben 
Naturaliſten fonnte das? — befjer thut, die Sonne über Geredhte und Ungerechte 
fcheinen zu laſſen. Es ift ja viel Shmuß in der Welt, in den Dienfchenfeelen, 
aber doch aud; mandjes, was man nad) dem Haffifhen Wort als reinlich 
und zweifelsohne bezeichnen darf. 

Zu den Talenten, die unfern Roman wieder reinlich und zweifelsohne 
machen und ihm das gute Familienpublitum zurüderobern mödten, gehört 
u.a. Ernit Muellenbad, der früher unter dem Namen Ernft Lenbach fchrieb 
und im Kunſtwart ſchon öfter erwähnt worden ift. Wir wollen ung einen 
Roman von ihm hier etwas näher betrachten, nicht fomohl, um über das 
Talent des Verfaflers ins Klare zu fommen, mehr, um die Technik eines 
befferen modernen Durchſchnittsromans kennen zu lernen. Der Roman ift bei 
Reißner in Dresden erfchienen, heißt „Waifenheim“ und fpielt in einer Unis 
verjitätsftadt, wohl in Bonn; er begimnt mit der Schilderung jonntäglichen 
Kaffeehausfebens und madt von Tarrifterender fatirifher Darſtellung fofort 
Gebrauch, wird aber fhon im zweiten Kapitel ernft und läßt uns deutlich 


2. Jannuarheft 1899 
- 29 — 


erfennen, worauf der Verfaffer hinaus will. Alſo, es it Tendenz da? Welcher 
moderne Roman wäre ohne Tendenz! Der alte Abenteuerroman, der bunte 
Begebniffe luſtig aneinanberreihte und eine herzliche Freude bes Verfaſſers 
an ber Fülle des Lebens zeigte, ift Tange tot, unfere Romandichter wollen 
alle etwas bemweifen oder widerlegen, ſelbſt wenn fie tun, als gäben fie ganz 
unperfönlicdhe documents humains — reine Daritellung fennt man da nicht mehr. 
Muellenbach alfo jchreibt feinen Roman nicht bloß für, fondern aud) im In— 
terefje der guten Familie; er will nachweiſen, daß diefe beſſer iſt als ihr Ruf. 
So bringt er als Helden einen mwelifremden Dr, phil, der feine Anſchauungen 
über die moderne Gejelihajt und das moderne Weib zunächſt aus den 
römischen Satirikern, Dann aber aus „ganz modernen Büchern zumeift in gelben 
Umfchlägen mit rotem Aufdrud, franzöſiſch oder deutſch, die er in befonderer 
Schublade verwahrt und nur lieft, wenn er ganz allein ift“, geſchöpft Hat. 
„Haft alle diefe Bücher“, fchreibt Muellenbad, „ipielten in modernen Große 
ftädten, ihre Helden und Heldinnen bewegten fi in der modernen »guten Ge— 
felfhaft« und boten von dieſer ein betrübendes Bild; denn Die Heldinnen, 
welche zumeift alle fünfzig Seiten einmal defolletiert oder im Negligee erſchie— 
nen, liefen fi der Regel nah von intereffanten Herren in Geſellſchaftstracht 
zu den jhändlichiten Dingen verführen. Die Verfafler fhilderten das jo fühl, 
als ob fie felbft zugegen und nicht im mindeften über etwas fo Uebliches verwun— 
bert geweſen wären; aud) befannten fie fid) ausdrüdlic) als Wahrheitsichilderer, 
bie fein Verdienſt beanfpruchen, als die Welt zu ſchildern, wie fie wirklich ift.“ 
Hat man diefe Stelle gelefen, fo iſt man im flaren. Der Held verliebt ſich 
dann in eine Tochter des Volkes, die ihm bildungsfäbig erfcheint, und verlobt 
fih mit ihr; fie ift aber früher jo etwas wie eine Stubdentenliebfte, wenn 
aud nicht im böfen Sinne, gemejen, und als der brave Doktor das erfährt, 
verunglüdt er. Doch wird er gerettet, fein Kätchen fommt in die gute Schule 
einer jehr edlen vornehmen Dame, nad) deren Stiftung der Roman „Waifen= 
beim“ beißt, der Doltor kriegt die richtigen Anfihten über die moderne Ge— 
felfhaft und das moderne Weib und das Ende wird gut. Neben dem bildung- 
beuchelnden Käichen ſteht ihre naive Schweſter Franziska, bie gefunde Volks— 
natur, die ji einen poetifierenden Stulfateur zu einem vernüftigen Dann 
erzieht. Uus den höheren Streifen lernen wir gleichfalls zwei fontraftierende 
Paare fennen, einen trefflihen jungen Arzt, der ein fehr Schönes und warmherziges 
reiches Fräulein heiratet, danı einen Kaufmann, der etwas Lebemann ift und 
feine fühle Koufine heiraten foll, die wejentlid; nur als fog. gute Erziehung 
ericheint. Zwei edle, vornehme Typen, die ſchon genannte Dame und ein 
Profeſſor, ſowie zwei ziemlich bösartige Weiber aus dein Volle vervollftändigen 
bie Geſtaltenreihe des Nomans. Die Gefchichte felbjt verläuft fo einfach, daß 
ich fie nicht weiter zu erzählen brauche, das Milieu ift hinreichend, aber nicht 
minutiöß gegeben. Alles in allem lieſt fich der Noman angenehm, ergriffen 
und gepadt freilid) wird man nirgends, und der genauere Kenner bes Bolfes 
empfindet dod) immer wieder, dab Muellenbach e8 zwar gut beobadtet hat, 
aber dod) nicht recht kennt. Sein Humor ift immer nod) zu fehr der alte 
fhlimme Humporesfenhumor, 


Weshalb ich mich mit diefem Romane, der augenscheinlich alſo nicht be= 
beutend ift, fo lange abgebe? Zunädjft, weil feine Anlage fo Har if. Man 
fann mit ziemlicher Beitimmtheit behaupten, dab er einen „gedanklichen“ Urs 
fprung hat, daß, wenn nicht eine Tendenz, jo doch die Abficht, die Bedenklichkeit 
der Heiraten zwiſchen Gebildeten und Ungebildeten barzujtellen, dns Werk 


Kunfwart 


— 260 — 


geboren hat. Wahrſcheinlich hat Muellenbah auch ein Paar mie ben 
Doltor und jeine Käthe gelannt, aber ſicher Hat ihn der Verftand, nicht bag 
Herz zur Daritellung getrieben. Und ber Beritand ließ ihn dann aud) das 
Mittel des vierfahen Parallelismus wählen. Nicht mehr da8 eigene Erlebnis, 
das große, die Phantafte erfüllende Ereignis regt ben heutigen Romanfchreiber 
an, er will etwas darthun. Man kann vielleicht fagen, daß fogar der moderne 
Dichter meift das will. Und hier, glaub’ ich, ftedt die große Schwäche ber 
modernen Poeſie. Weiter möchte ih doc der Unfhauung Muellenbachs und 
vieler anderer, als ob die „moderne Wahrheitsfunft” ohne den lintergrund 
realer Vorkommniſſe geihaffen, alfo gleichfam gelogen oder doch übertrieben 
habe, entgegentreten. Eine fo gewaltige Literatur, mie e8 die naturaliftifche 
ift, wenn man bie Leiftungen der Ausländer einſchließt, entfteht nicht aus dem 
Nichts, wird nicht beliebig von ben Schrijtftellern hervorgerufen, ſondern ift 
immer natürliches Zeitgewächs. Unzweifelhaft gibt es defabenzfreie Sreife, 
unzmeifelhaft find die unteren Klaſſen ebenfomwenig frei von Raftern und 
Schwächen wie die oberen, ſicherlich ift vielfach in pejorem partem bargeftellt 
worden — das alles ift aber fein Grund anzugmweifeln, daß bie Dichter unferer 
Beit für ihre Darftelungen das nötige Subjtrat in der Wirklichkeit haben. 
Die Dihter wohlverftanden, die, mögen fie aud; bemußter als vielleicht gut 
auf ihre Aufgabe losgehen, doch wie die Apoftel ftets ihrer Natur nad) von 
dem berichten müffen, „was fie gefehen und gehöret Haben“ — die Senſations— 
fchriftiteler gebe ich ohne weiteres preis. Was aber im Befonderen bie „gute 
Familie“ anlangt, fo fpielt die gefellfhaftlihe Heuchelei bei dieſem vielver- 
wenbeten Begriff eine fehr große Rolle. Ich wenigitens habe noch feine gute 
Familie gefannt, die nicht auch ihr mauvais sujet gehabt hätte, und ic) glaube, 
dab jeder Menſch, der einige Erfahrung hat, ähnlich ausfagen wird. So liegt 
eine gemifle Gefahr in der Tendenz aud) des Muellenbadiichen Romans, ob= 
ſchon er recht hat, gegen bie voreingenommene Verurteilung der höheren Klaſſen 
und die Verhimmlung des Volkes aufzutreten. Wir Wilden find nicht immer 
beſſere Menſchen. Adolf Bartels. 


ge 
ER 


Das Konzertwesen der Gegenwart.* 
Eine fozialemnfifalifhe Studie. 


Die Trennung zwiſchen Künjtler umd Dilettanten war in der Zeit der 
Haffiichen Muſikepoche noch eine Strenge. Den Mitgliedern ber Geſellſchaft galt 
die Bethätigung ihres mufifalifhen Könnens Tediglid als Erholung und Er— 
bauumg, und nur fomeit als ziemend, als feinerlei materielles Intereffe daran 
gefnüpft war. Der Künſtler aber ftand außerhalb der Geſellſchaft. Denn feine 
Beziehungen zu ihr waren ausſchließlich auf feine muſikaliſche Wirkſamkeit 
beſchränkt. 

Dieſe ftrenge Abſonderung mußte ſchon durch Die Umwälzung ber ſozialen 
Verhältniſſe ſeit dem Ausgang des vergangenen Jahrhunderts fallen. So 


*) Wir falten diefen Aufſatz, der vielfach eine Ergänzung der einleiten- 
den Morte zu unferer Urtifelreihe über „Mufitpflege im Mittelftande* bildet, 
abfichtlidh Hier ein, ehe wir dieje Folge fortfegen. Sein Verfaffer ift ein hoch— 
angejehener Berliner Muſiker. 


2. Januarheft 1899 
u — 


langſam aud), insbefondere in Deutſchland, die Vorurteile der Standesunter- 
fchiede fi verminderten, ganz fonnte doc die Bewegung, die von Frankreich 
ihren Ausgang genommen, nicht unbeadtet bleiben. So erfolgte ſchon zu Be— 
ginn dieſes Jahrhunderts eine Annäherung zwiſchen Hünftler und Geſellſchaft. 
Zu einem vollftändigen Ausgleich aber trug die Entwidlung, die fi in der 
Kunft felbjt vollzog, das Wefentlichite bei. Die formale Schönheit des Klaſſi— 
zismus erfuhr duch Beethoven eine engere Verknüpfung mit dem ſeeliſchen 
Leben des Menſchen, die Romantik führte die Muſik der Aufgabe zu, die mannigs 
fachſten Vorgänge und pſychologiſch komplizierte Stimmungen zu fdhildern. 
Der Muſiker bedurfte nun eines reicheren Wiflens, eines erhöhten geiftigen 
und feelifhen Vermögens. Diefe breitere Grundlage feines Schaffens näherte 
ihn auch fozial den Gebildeten feines Stammes. Er wurde ihnen geiftig gleich— 
geitellt, und die Schranken einer bisher berechtigten Boreingenommenheit mußten 
aud) aus diefem Grunde zufammenfinfen. Diefe Entwidlung fam füglich nun— 
mehr dem Stande als ſolchem zuitatten. Der Künſtler ftand nun nit mehr 
außerhalb der Geſellſchaft. Auch die ausübenden Mufiler begannen an dieſem 
Vorrechte teilzunehmen. Paganini, der Geiger, und Liſzt, ber Klavierſpieler, 
gehörten zu ben Lieblingen der europäifchen Gefellfchaft. Und bie Rückwirkung 
auf diefe konnte nicht ausbleiben. Die Befhäftigung mit der Mufif blieb nicht 
mehr auf das Dilettieren befhränft. Immer zahlreicher jtellten auch die Kreiſe 
der Gebildeten und der Wohlhabenden zünftige Muſiker. 

Diefer Vorgang mußte der Mufil und ihrer Pflege zum Vorteil gereichen. 
Denn er knüpfte die Beziehungen zwiſchen ber Muſik und ben anderen Hünften, 
ſowie zur Literatur, zwiſchen Mufilern und Gebildeten immer enger. Der ſtreis 
der Mufittreibenden wurde immer größer. Je mehr das Unfehen des Mufilers 
wuchs, je gefelliger er in die Beziehungen ber Geſellſchaft eintrat, befto nach— 
haltiger mußte fein Einfluß aud auf die geijtigen Beftrebungen der Zeit fein, 
dejto zahlreicher wurden die Mufifliebhaber und Dilettanten. Unterftügt wurde 
Diefe Bewegung durch den unermeßlichen Auffhmwung der beutfhen und fran— 
zöfifhen Hausmuſik feit den vierziger Jahren des Jahrhunderts. Diefe herr— 
lihe Klavier- und Liedermuſik ermöglicht Thon dem Einzelnen, fih und ben 
Seinen einen Genuß zu bereiten, während im vergangenen Jahrhundert erft 
die Vereinigung von wenigstens drei Perfonen zur ſammermuſik bie befchei- 
denfte Form des Mufizierens darftellte. Denn das Lieb ftand noch beſcheiden 
im Hintergrund, Schuberts Lyril begann erjt in den fünfziger Jahren allgemein 
befannt zu werben, und das Sllavierfpiel wurde mit und nad) Beethoven die 
wichtigſte Kunſtbethätigung des Dilettanten. Mit diefem Aufſchwunge der 
Hausmufif wurden auch ben größeren Stonzertvereinigungen, den Ghor= und 
Ordejtervereinen, ausübende und zuhörende Teilnehmer zugeführt. So ent— 
ftanden, gerade auf beutfhem Boden, eine große Anzahl von Dilettanten- 
Ehören und Berufs-Orcdheftern, denen ihre Aufgabe, die Werke unferer Groß— 
meister auszuführen, erft Durch die engeren Beziehungen der Mufiler zur Ges 
ſellſchaft und die allenthalben gepflegte Hausmufit ermöglicht worden ift. Das 
deutſche Konzertleben ift nit mehr von ber Gunft einiger reihen Familien 
abhängig, e8 wurzelt in dem Bebürfnis aller Gebildeten. Aus ber ariftolra= 
tiihen Vergnügung ber alten Zeit ift eine demokratiſche Inftitution gemorden. 

Sowie fich der Uebergang aus der Ordnung der abfolutijtifchen Zeit in 
bie Gefellichaftsform der Gegenwart nicht vollgogen Hat, ohne die Schwächen, 
die dieſer, wie jeder menſchlichen Einrihtung anhaften, zu Tage zu fürbern, fo 
find aud mit dem Umſchwung der ſozial-muſikaliſchen Vechältniſſe erhebliche 

Kunijtwart 


= 2 — 


Mikftände verbunden gemejen. Mit dem Auslöfchen der Vorurteile gegen den 
Stand als ſolchen, mit der jteigenden Achtung vor dem Mufiter, bie jih auch in 
erhöhten Einnahmen und bejfer geficherter Lebensftellung äußert, wurde auch 
bald der Zudrang zum Studium dieſes AKunftzweiges ein beträdhtlicher. Die 
Virtuofen waren bald angejehene und gern gefehene Mitglieder der Geſellſchaft 
und famen bald in die Lage, auch peluniäre Erfolge zu verzeihnen. Lifzt 
war wohl der erjte, der unternahm, feine Hörer ohne Hilfe anderer Künſtler, 
lediglich durd) den Zauber feiner Klavier-Vorträge zu fefleln. Auf votalem Gebiet 
folgte ihm in den fünfziger Jahren Julius Stodhaujen, der mit dem Vor— 
trage Schubert: und Schumannſcher Lieder zuerft in Paris, danır in Deutſchland 
und England fein Programm ausfüllte. Bald fanden fie berufene und unberufene 
Nahahmer. Den unermeklichen Einfluß diefer Künftler auf die ausübende Kunft 
verfenne ic nicht. Aber dab ihr Borgehen den Unfto gegeben gu dem Ueber— 
handnehmen des virtuofen Elementes, zu dem ungefunden Ueberwiegen der aus— 
übenden Kunſt über die fchaflende, ſcheint mir unverkennbar. Nur allmählich, 
aber jtetig, wuchs dieſe Probuftion. Noch in den fiebziger Jahren hielt ſich das 
öffentliche, virtuofe Mufizieren in beicheideneren Grenzen. Mit dem Jahre 1880 
begann, befonders in Berlin, jenes Uebermaß von Veranstaltungen, gegen das 
die Prejje in jedem Jahr anzulämpfen für geboten eradjtet, während fie e8 
doch immer wieder durch Beſprechungen in ihren Spalten fördert. 

Diefe eigentümliche Erſcheinung liegt in der Stellung begründet, welche 
die Muſik im Leben der Gegenwart einnimmt. Nachdem jedes Haus, in dem 
gute Sitte und Verftändnis für geiftige Dinge heimiſch ift, die mufifalifche 
Erziehung als einen mejentlihen Zeil des pädagogiſchen Bildungsftoffes 
anfieht, iſt das Bedürfnis nad geeigneten Lehrkräften ins Ungemefjene ges 
wachſen. Unjere Konfervatorien arbeiten ja hauptfählic an der Förderung zum 
Lehrberuf geeigneter Sträfte Nur ftreben natürlid dieſe jungen Leute nad) 
einem höheren Ziele, als, lediglich die Elemente der Kunſt zu ehren. Sie 
fehen eben den einzigen Weg, vorwärts zu lommen, in dem erbrachten Bemeife 
eigener Künſtlerſchaft. Dann gehen fie in die Deffentlicgkeit und ftellen fi) dem 
Urteil der großen Stadt und ihrer Fritif. Wirken fie in einem kleineren Gemein— 
weſen, fo foll ſchon die Thatſache des Konzertierens in einer großen Stadt ſelbſt 
ihr Anfehen heben, und die einigermaßen günftige ober nur wohlwollende Beur— 
teilung eines Teils der Stritif der großen Stadt befeftigt ihre Stellung weſent— 
li. Gehören fie aber der großen Stadt jelbjt an, in der fie fonzertieren, fo 
wird ihr Freundes und Verwandtenkreis eingeladen und bewundert die Leiſt— 
ungen des jungen Stünfilers. So erweitert er feinen pädagogifhen Wirfungs- 
freis. Abfällige Urteile der Preſſe werden als bösmillige oder unverftändige 
bezeichnet. Diefe lehrenden Elemente überwiegen unter den Konzertanten. Erſt 
in zweiter Neihe jtehen diejenigen, die in Ausübung ihres eigentlichen Berufes 
mufizieren. Seitdem aud) die kleinen und kleinſten Städte Konzertvereinigungen 
befigen, ift der Bedarf nad) Sängern und Inftrumentalvirtuofen natürlich 
gewachſen. Die Dirigenten diefer Vereine haben nun meijt feine Verbindung 
mit den befannteren Lehrern ber großen Städte. Sie verfolgen ben Verlauf 
ihrer Konzerte und lefen die Berichte der Zeitungen. Auf Grund diefer In— 
formation wenden fie fih an die Ugenten. So find bie jungen Künſtler, 
welche auf Engagement in Hleineren Städten rechnen, zu fonzertieren gezwungen. 
Grit der Ausweis eines glüdlidy bejtandenen Eramens vor dem muſikaliſchen 
Areopag der großen Stadt befähigt fie zu Beziehungen mit den Bereinen der 
fleineren Städte. 


2. Januarheft 1899 
- 23 — 


E8 bedarf nun zunächſt die Frage einer Beantwortung, ob diefe Unzahl 
von Eingellonzerten dem gefamten Mufifleben in der That nadteilig fei. 
Sicherlich. Zunächſt wirken diefe überwiegend mittelmäßigen Vorträge auf den 
Gefhmad der Hörer ungünftig. Bei diefer Flut von Mittelmäßigfeit und 
Impotenz verwirrt ſich das Urteil des Laien, verwildert Die Pädagogik. Ferner 
tft die mwirtfchaftliche Seite der Sache nit außer Acht zu Tafien. Die Zeit 
der muſikaliſchen Kreife ift im allgemeinen ebenfo genau eingeteilt, wie ihr 
Etat. Hält fi) ber pater familias für verpflichtet, das Stonzert des in feinem 
Haufe untermeifenden, oder in anderer Beziehung ihm naheftehenden units 
jüngers zu befucdhen, fo muß er auf die Gaben eines guten und bewährten 
Künftlers verzichten. Iſt es nicht für das Stonzertleben Berlins bezeichnend, 
daß Beranftaltungen eines b’Ulbert und Risler, eines Scheidemantel und Feliz 
Kraus, ber entzüdenden Marcella Preggi vor leeren Bänken vor ſich gehen? 
Dak die Vortragsabende unferer größten Dteifterin, Amalie Joahim, von 
denen unfere junge Generation lernen jollte, nur ſchwach beſucht find? 


Id kann nicht umbin, an diefer Stelle bes Ugentenmwefens zu gedenken. 
Mit der Vermehrung der fünftlerifchen Produktion erſchienen gewandte Geſchäfts— 
leute auf bem Plan, welche die Vermittlung zwiſchen Angebot und Nadjfrage, 
gleihfam als Zwiſchenhändler, übernahmen. Die VBereinsleiter wenden ſich an 
den Agenten, der ihren Wünſchen entſprechende Vorſchläge macht, und das 
Engagement abjließt. Für jeine Mühemwaltung erhält er einen Prozentfag 
des Honorard. Er arrangiert dem Künſtler ferner Tourneen gegen diefe 
Art der Thätigkeit, Täbt fih fügli nichts einmwenden. Erleichtert fie doch 
dem binlänglid in Anspruch genommenen Künſtler die Mühe des Organifierens. 
Nun kann fi) aber der Agent auf den Abſchluß ſolcher Geſchäfte allein nicht 
beichränten. Die große Anzahl junger Künjtler, noch ohne Ruf und Namen, 
ſucht ihn auf und erbittet feinen Rat. Der Kaufmann und der ehrliche Menſch 
müſſen bier nicht felten in Konflikt geraten. Stellt fi der Agent lediglich 
auf den Standpunft des Gefhäftsmanns, ber fih einen Gewinn nicht entgehen 
laſſen darf, jo muß er zu dem Wagnis eines öffentlichen Konzertes anjpornen, 
von dejien Ausfall die Zukunft des Neulings abhängt. Dann ijt er jedenfalls 
einer Provifion fiher. Ueberwiegt aber feine redlidhe Gefinnung, jo wird er 
in ber Mehrzahl der Fälle von diefem Schritt abraten. Ih glaube zuverficht- 
lich, daß unfere Agenten, wenn fie um ihre fünftlerifche Anficht befragt werden, 
materielle Intereffen Hintenanfegen, und den Weifungen ihres Gewiſſens folgen 
werben — folange ſich's ihnen eben nur um einen lucrum cessans, um einen 
entgehenden Gewinn handelt. Anders aber, wenn fie fich felbit der Freiheit 
ihrer Entfhließung beraubt haben. Und diefer Fall liegt vor, wenn ein Agent 
felbjt Eigentümer eines Saalgrundjtüdes ift. Wenn er darauf angemiefen ift, 
die Zinfen dieſer fapitaliftifhen Anlage zu erwerben, jo muß er darauf be— 
dacht fein, will er nicht empfindlih Schaden leiden, fo viel Konzerte als 
möglid) zu bemwerkitelligen. So trägt er weſentlich zur Berihlimmerung 
eines Zuftandes bei, der von allen Beteiligten als unwürdig und ſchädlich 
empfunden wird. 

Iſt ein fogiales Uebel einmal erfannt, jo pflegen Vorſchläge zu feiner 
Belämpfung bald bei der Hand zu fein, welche theoretifch begründet, in praxi 
zumeift als undurhführbar ſich herausjtellen, weil zu ihrer Verwirklichung 
ftarke und einflußreiche Faltoren gehören, zu deren Einigung e8 an einer 
führenden Macht gebridt. Wo der Staat einzugreifen nicht berufen ift, kann 
nicht der Einzelne, jondern nur die Bereinigung der Beteiligten helfen. In 


Kunftwart 
— 28 — 


unferem Fall wäre in eriter Linie der Lehrerftand berufen, für eine ver- 
nünftige Verminderung des ausübenden Mufiferftandes Sorge zu tragen. Ein 
engeres Zufammenfhließen aller Pädagogen müßte die Würde und den Wert 
des Standes heben. Gine ſolche Vereinigung würde dann aud eine Inſtanz 
für die lehrende Thätigleit des Einzelnen bilden. Leider ift bei unfern heutigen 
Verhältniffen der vollftändigen Lehrfreiheit, die Jedem ohne Nachweis feiner 
Fähigkeit geftattet, fi) ein mufifalifches Lehramt anzumaßen, auf eine nähere 
Beziehung diefer heterogenen Elemente nicht zu reinen. Solange unfere Lehrer 
fih nicht al3 Mitglieder eines Standes, fondern immer nur als Individuen 
fühlen, werben fie auch den Maßſtab der Beurteilung ihrer Fähigkeiten nur in 
ſich ſelbſt ſuchen, und nur bei wenigen Auserwählten fann das genügen. Die 
Konfervatorien allein können diefe notwendige Fühlung nicht herjtellen. Diefer 
durch die Verhältniffe gebotenen Jfolierung entfpringt vielfach jene Sorglofig- 
feit, mit der fie den Schüler untauglid) oder unreif in die Deffentlichkeit ftellt. 
Eine Organifation des Lehritandes würde den Eifer des Einzelnen erhöhen, 
feine Gemiflenhaftigfeit und das Gefühl feiner Verantwortung fhärfen. 


Erſcheint ein Eingreifen von diefer Stelle in vorausfehbarer Zeit aus— 
geſchloſſen, ſo Liegen die Ausfichten für eim gefchloffenes und einmütiges Vor— 
gehen der Preſſe günftiger. Ich unterfcheide nun die Aufgabe der politis 
fhen und literarifhen Blätter von derjenigen der mufitalifhen Fachzeitungen. 
Sene haben Lediglich die Beitimmung, ihre Lejer über bemerfensmwerte Vor— 
gänge bes Mufillebens zu unterrichten. Auf die Kunft Einfluß zu üben, ihren 
Beiprehungen erziehlichen Inhalt zu geben, kommt ihnen nicht zu. Deshalb 
follten fie fi) damit begnügen, felbit auf die Gefahr Hin, daß ihnen einmal 
ein unbefanntes Talent entgehe, über VBeranftaltungen zu berichten, die für 
ihren Zejerfreis Bedeutung befigt. Ich leſe aber in den angejehenften politifchen 
Organen, befonders Berlins, täglich Berichte durchaus gleichgültigen Inhalts. 
Die Voſſiſche Zeitung befhäftigt allein drei Referenten für Muſik. Die Preffe 
fagt immer wieder über das ungemefjene Anwachſen der Einzelflongzerte. Nun 
fie hat e8 in der Hand, dieſem Uebel die Wurzel abzugraben. Jgnorierte fie 
fonjequent alle Mittelmäßigfeit, die an die Oberfläche tritt, fo fiele für die 
große Mehrheit der Debütanten die treibende Peranlafjung zu öffentlihem 
Auftreten weg. Die Auswärtigen würden ficherlic) zu Haus bleiben. Daß 
unfere Kritiker diefe Erwägungen gut heißen, ijt zweifellos. Man bedenke 
aber, daß dieſe Herren nit unabhängig find. Einmal haben fie fi dem 
Willen der Ehefredafteure zu fügen, Die ſich ihrerfeits weniger von Grundſätzen 
allgemein wirtſchaftlicher und ideeller Natur, als von denjenigen der Oppor— 
tunität leiten lajjen. Dann aber haben fie mit ihrer eignen materiellen Wohl— 
fahrt zu rechnen. Denn da, wo das Gehalt des Mufifreferenten nicht ein 
jährlich feitgefegtes ift, fondern nach ber Zeile beredjnet wird, bejteht ein 
pekuniäres Anterejfe, möglichft viel zu berichten. So find denn auch für das 
Eingreifen dieſes Faktors in unferm Fall vielfade Unterftrömungen zu über- 
winden. Zu dem bejjeren Zeil unferer Preforgane, und nur auf ihn kommt 
e8 an, hege ih das Vertrauen, daß fie Meinliche Intereffen, den idealen, auf 
die Durchführung einer dringend wünſchenswerten That gerichteten Beitreb- 
ungen werben unterzuordnen wiſſen. 

Unders geartet, als die Aufgabe diefer Blätter, ift diejenige der Fach— 
prejfe. Sie ift dazu da, nicht nur dem aufitrebenden Talent, fei e8 ber 
Ihaffenden, fei e8 der ausübenden Kunſt, den Weg zu bahnen, fie foll auch den 
Stand unjeres Mufiktreibens ins einzelne verfolgen, und jpäteren Generationen 


2. Januarheft 1899 


. ME — 


einen geſchichtlichen Rüdblid auf die Vergangenheit ermöglichen. Gleichzeitig 
ift fie zu einer wichtigen pädagogiſchen Aufgabe berufen. In jedem Fall fol 
fie die Vorzüge des ausübenden Künstler ins redite Licht fegen, und feine 
Mängel beleuchten. Dazu freilih ift nur der fachlich gebildete Beurteiler ge= 
eignet. Solange fi unfere mufifalifche Preife nicht grade darin vor ben 
andern mufifreferierenden Organen auszeichnet, daß fie durch auf jedem Einzel 
gebiet vertraute Männer vertreten ift, folange fann fie diefe pädagogische Seite 
ihrer Aufgabe nicht Löfen. Welche Ratichläge kann ein inftrumental gebildeter 
Mufifer dem Sänger in techniſcher Hinficht geben? Und wiederum, befigt der 
fürs Klavier ergogene Sritifer genügende Speziallenntniffe, den Geiger zuredt- 
aumeifen ? So fehr id) das Spezialitätentum in der Kunſt verdamme, fo drine 
gend verlange ih für die Ausübung der ſachgemäßen, zur Förderung des 
Kunſtjüngers beftimmten Kritik Spezial-Kenntniſſe. Mit einem in feiner Tota— 
lität zutreffenden Urteil ift das Einzelne nicht erfchöpft, und darauf kommt es 
bei einer fo gedachten Kritik an. 

Meine Aufgabe ift erfüllt, wenn e8 mir gelungen ift, die Uebelſtände 
nachzuweiſen, die unfer heutiges Konzertleben gezeitigt hat. Sollte aud) bie 
Anregung zur Befeitigung ber erlannten Mißſtände Beachtung finven, jo find 
meine höchſten Erwartungen übertroffen. 


Volkskunst. 

Eine „Erinnerung“ an ben Hamburger Verein „Volkskunſt“ veröffent« 
licht Heinrich Harz in der „Deutfhen Kunſt und Dekoration”. Ruhig und be— 
fheiden und von beteiligter Seite, nämlich vom früheren Schriftführer des 
‚Vereins, gefchrieben, gibt fie in der Hauptfahe nur einiges Thatfächliche. 
Deshalb erlaube man uns, die wir dieſen Verein fozufagen aus der Nähe be= 
obachtet Haben, noch einige Worte zur Beleuchtung bes Witgeteilten. Wir 
nämlich glauben, daß man die Seite in der Gefchichte des deutſchen Kunit- 
handwerks, auf der von diefem Bereine die Rebe ift, einft als eine der lehr— 
zeidyiten betrachten wird. 

Bor elf Jahren ungefähr thaten fih in Hamburg ſechszehn junge Leute 
aufanımen, Mufterzeihner, Angeſtellte in kunſtgewerblichen Anftalten u. f. w., 
von benen jebt der befanntefte der fehr begabte Ehriftianfen iſt, deren eigent— 
lihe „Seele* aber Oskar Schwindrazheim war, ein Dann, wie Harz fid) aus— 
drüdt, „von eminenter Dielfeitigleit und erftaunlicher Arbeitskraft“, von großer 
Hdeenfülle und ausgezeichneter Befähigung zum Lehren. Vol idealer Freudig- 
feit und Arbeitsiuft gründete er „Beiträge zu einer Volkskunſt“, ſchlicht aus— 
geitattete Hefte mit Tert und Bildern. Aber abgefehen vom „Kunftwart* und 
feinem damaligen Beiblatt „Das Kunſtgewerbe“, das aud) ein zu früh geborneg 
Kind war, fanden bie Hamburger Volkskünſtler faft nur bei Brindmann Unter 
ftügung, in weit überwiegender Mehrheit gingen die Herren vom Fach mit ver= 
ächtlichem Spott über diefe von feinem Kapital und von feiner alademiſchen 
Würde getragenen jugendblihen Beitrebungen hinweg. Sag id) zuviel? Man 
prüfe daraufhin bie Innerlichleit der Gründe in einem Sat wie dem fol— 
genden: „ES find fo jämmerliche, dünne, mit elenden Farbendruden ausge» 
itattete Hefthen, daß unfere Lefer wohl zu der Frage beredtigt wären, aus 
weldem Grunde hier in einem Referat über die neueſten kunſtgewerblichen 


Kunftwart 
— 26 — 


Literatur » Erfiheinungen derlei Plunder beſprochen wurde, neben welchem der 
Büchermarkt ja eine Ueberfülle des Präditigiten darbiete.” Der bei völliger Gleich 
giltigfeit gegen den Geist in der Wiener „Preſſe“ den Hymnus auf die ele= 
gante Ausstattung ſchrieb, dem dieſer Sag entjtammt, e8 war fein ge= 
ringerer als Albert Zlg, der gefeierte Direktor der kaiferlihen kunſthiſtoriſchen 
Sammlungen von Wien. Was aber wollte bie „Volkskunſt“? Es fei er= 
laubt, heute noch einmal ihr Programm bier herzuſetzen, wie es Avenarius 
damals im „Kunftwart* niedergelegt hat: 

„Zwei Wege haben uns zu der Forderung einer »Volkskunſt« geführt. 
Nur der eine von ihnen begann bei dem Gedanken, daß es auch für den min= 
der Bemittelten im eigenen Heim eine Hunft und ein Sunftgewerbe geben 
follte, wenn er fähig wäre, fich ihrer zu erfreuen. Den Haupt-Nießbrauch vom 
Luxus⸗Kunſtgewerbe haben Börftianer und fonftige Geldleute, Nun unterfcheis- 
den wir fharf zwiſchen Reichtum und Vornehmheit. Das Wort »Vornehm— 
heit« fann unferer Anſicht nad) in der Hunft nur Sinn haben, wenn es Vor— 
nehmheit fünftlerifhen Gmpfindens bedeutet — Bornehmheit folder Art 
fanden wir ſowohl bei Männern der AWriftofratie wie bei Angehörigen bes 
gebildeten Mitteljtandes der Lehrer, Beamten, Offiziere, Geiftlichen, gebildeten 
Staufleute u. f. w., und ſelbſt, wenngleih bier natürlich zumeift nur als An— 
lage, bei Bauern, Handwerkern und Arbeitern, aus deren Streifen ja der tüch— 
tigen Künſtler und Kunſthandwerker fon fo viele hervorgegangen find. Alfo: 
wir glaubten hier eine Ungerechtigkeit bes Lebens zu erfennen, und wir 
wollen fie zu heben ſuchen, wenn dies angeht. Die Unmöglichkeit fehen wir nicht 
ein, weil wir Sunft nit an Qurus, weil wir Schönheit im Gewerbe weder 
an Gold, Seide, fofitbare Hölzer noch fonftiges teures Gut für untrennbar 
gebunden halten, nod) allein an mühevolle und daher koftbare Techniken. 


Was wir Schon jetzt als »billiges Kunstgewerbe fürs Volk« haben, iſt in 
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Schund sans phrase, fein Kennzeichen 
iſt Nadäfferei der Formen- und Farbengebung des Lurusgemwerbes. Stud als 
Marmor, Papier als Stud, Zintguß als Bronze — Schwindel überall ftatt 
Wahrheit. Es ijt ein Gewerbe der Unehrlichkeit und Würbelofigfeit, das mit 
Komödiantenflittern das Gold und mit Similidiamanten ben echten Ebelitein 
nachmacht, ſtatt die Schönheit aud) des ſchlichteren Materials herauszubilden. 

Wir erjtreben alfo im Kunſtgewerbe auch für die Kreiſe der wenig Be— 
mittelten ein echtes, fein Surrogat = Hunjtgewerbe, wie wir's ja hätten. Es 
ergibt jich die Aufgabe, ein Kunſtgewerbe zu halfen mit wenig, dba und 
dort fogar ganz ohne Lurus. Ihrer Löfung gilt unfre Arbeit. Und unfre 
Forderungen an ein Kunſtgewerbe für Minderbemittelte find dieſe: 

ı. Künftlerifche Geftaltung ift uns denkbar im Notfall felbit ohne jedes 
ſchmückende Beiwerk, alfo einfach durch Formengebung. Diefe ift ja Har und 
bezeichnend nicht teurer herguftellen, al8 unklar und nicht bezeichnend, während 
doch das einfadhite, Stoff und Zwed des Gegenjtandes durch feine Form be= 
zeichnende Gerät fhon »ftilgemäß« it. Nicht denkbar aber ift uns wahrhaft 
künſtleriſche Geſtaltung »bei Jmitatione, alſo bei Nahahmung ber Eigen= 
ihaften fremder Meateriale, fremder Techniken, fremden Zweden entſprechender 
Formen. So wollen wir jeberlei Nahahmung im angedeuteten Sinne aus— 
ſchließen und dagegen fordern: daß billigere Stoffe, die wir der Wohlfeilgeit 
wegen verwenden müflen, benugt und wo dies irgend angeht, charakteriſiert 
werden als das was fie find. Wahrheit des Gegebenen ift unfere erfte 
Forderung. 

2. Jannarheft 1899 


— 2162 — 


E8 wird freilich nicht überall möglich fein, den bemußten billigen Stoff 
durch Formgebung deutlich zu charakterifieren, teils vielleicht wegen gewiſſer 
Anforderungen der praktiſchen Brauchbarkeit, teils auch deshalb nicht, weil das 
betreffende Material uns unſchön erfheint. Dann tritt in ber Mehrzahl ber 
Fälle eine Bemalung inihr Recht — und nun Stellt fi) die Forderung nad 
Wahrheit fo: die Bemalung foll deutlich als Bemalung eriheinen. Wir wollen 
den Unfinn befämpfen, der beifpielsmeis Tannenholz »eihhenholgartig«e bepin- 
felt und auch bier wieder ein proßenwollendes »Jmitieren« einſchmuggelt. 


2. Wir erjtreben noch in einem anderen Sinne für »die Farbe« größeren 
Einfluß, als fie ihn jest befigt. Für ein Kunſtgewerbe für den Minderbemit- 
telten ijt fie ja ſchon deshalb wichtig, weil ihre anmutigen ober ernften Schön= 
heiten im allgemeinen für wenig Geld zu gewinnen find. Wie viel mehr koſtet 
warme Farbigkeit, als nüchterne Farbenkälte? 


3. Aus unferem Hauptgrundfaße der künſtleriſchen Wahrheit ergibt es 
fih, daß wir vom Hunftgewerbe für den Minberbemittelten aud) das verlangen, 
daß e8 dem Empfinden, dem Denen, den Lebensgemohnheiten dejjen, für den 
es beſtimmt ift, nicht widerſpreche, daß es fie im Gegenteil womöglich fpiegele. 
Weil wir Deutfche find, fol e8 deshalb deutſch fein, biefes Kunſtgewerbe, 
national und Heimatlih in feinem Gharalter. Es foll Fremdes, das ber 
Deutfche herübernimmt, angepaßt zeigen an fein eigenes Wefen, e8 foll vor allem 
aber heimatlidem, »Bodenwüchſigem« zum kunſtgewerblichen Ausdruck ver- 
helfen. Die Forderungen, die fid) hieraus für die Geftaltung der Geräte er— 
geben, liegen Har. Für die Ornamentik ergibt ſich daraus 3. B. das Verlangen 
nad) der Benugung heimiſcher Naturformen, nad) der Stilifierung unferer 
Pflanzen und Thiermelt ftatt endlofer Wiederholungen von Wlanthus und 
Palmette. Deshalb geben aud; die Hamburger Beiträge vor allem Studien, 
die fich ejelsbrüdenmähig überhaupt nicht verwenden laſſen. Auch was fie 
fonit bieten, find in erjter Reihe Anregungen. 


Bis auf wenige Punkte find die Forderungen, die wir an das Kunſt— 
gemwerbe für Minderbemittelte jtellen, alfo in ihrer Berechtigung längjt aner— 
fannte Forderungen an das Gejamtkunftgewerbe. Nur das iſt das weſentliche 
Neue, dak wir das Lurusfunftgewerbe zunächſt ganz aus dem Spiele Lafjen. 
Bei ihm liegen die Verhältniffe viel verwidelter, wir halten uns zunächſt ans 
Einfadere. Aber wir haben jenes nicht vergefien. Jh fomme nun zu dem 
amweiten Wege, der uns zu der Forderung nad einer »Boltsfunft« führte. Er 
ging von der Ueberzeugung aus, daß aud dem Lurusfunitgewerbe auf keine 
Meife beifer zu helfen fei, als eben durch eine »Volkskunſt« in unferem Sinne. 


Mer, nachdem wir, »fampfmüd und fonnverbrannte, wieder beim Empire 
angelangt find, von einer neuen Kurreiſe durch die hiſtoriſchen Stilarten ſich 
die Gefundheit verjpricht, der mags thun. Wer glaubt, daß immer neue 
Mufeen und Lehranftalten uns viel helfen, jo lange wirs treiben, wie wir! 
jept treiben, der mags glauben. Wer in möglichſt vielen Staatsbejtellungen 
möglichſt fojtbarer Qurusgegenitände den größten Segen fieht, mag ihn dort 
fehen. Wir thuns nidt. Wir fünnen uns eine für bie fünftleriihe mie für 
die wirtfchaftliche Kultur unjeres Vaterlandes mit Sehnſucht zu erwartende 
Blütezeit unferes Aunftgemwerbes nicht vorftellen, wenn e8 nicht aus einer alls 
gemeineren Teilnahme ber Nation fi nährt, wenn nicht möglichſt vielen 
Talenten die Gelegenheit gegeben ift, erfannt zu werben, und menn es nicht 
zur vollen Originalität des Schaffens fommt. Ihm Diefe drei Bedingungen 


Kunftwart 
— 2168 — 


des Gedeihens zu erwerben, dient eben, jo glauben mir, nichts beſſer, als die 
Volkskunſt«“. — 

Und nun, was bie Fabel Ichrt. Forderungen biefer Art waren e8, über 
deren Nieberfchrift eine der angefeheniten Autoritäten de8 damaligen Kunjt= 
gewerbes, eben Ilg, feiner Zeit Nusdrüde wie „Geſchwätz“, „Plunder“, „Jammer- 
blättchen“, „albern“, „elend“, „miferabel“, „armfelig‘, „phrafenhaft“, „un 
verfhämt*, „ſchmachvoll“, „ſchofel“, „läpperig“ in eine einzige Beiprehung zu— 
fammengoß. Und jet? Der Name „Vollskunft* war eben ein Name, welcher 
der fadlihen Grundfäge aber, bie in diefem Programm ausgeſprochen liegen, 
das famt ben „Hämpen bes Kunſtwarts“ damals von den Hochmögenden fo 
ſtolz verachtet wurde, ift heute nicht anerfannt? Gie find Forderung aller 
geworden, die man überhaupt nod) ernjt nimmt, und aud) an den leitenden 
Stellen ber Sammlungen jtehen zumeift [don Männer, die fie verfechten. Aber 
Schwindrazheims „Beiträge* find Längft unbeadhtet eingegangen, ihn jelbft hat 
man noch nicht einmal irgendwohin als Lehrer berufen, unfer „Kunftgewerbe* 
mußte aud) den Stampf aufgeben, und der „Kunftwart” ſelbſt warb nur durch 
bie Opferfreubigfeit feines Berlegers über Waſſer gehalten, bis das deutſche 
Volk in feinem elften Kampfesjahre entbedte, daß er da fei. Die Entdedung 
aber, daß auch Leute wie Schwindragheim und ihre Arbeit da find und vor 
allem: daß fie da waren, fhon lange, ehe die „neue Mode“ kam, bat mau 
noch heute nicht gemadt. Man Hatte ja zu viel nach England oder Frankreich 
au ſehen. Dort nämlih verfochten ein paar Jahre nad; den erſten deutſchen 
Künstlern Frembe basjelbe wie fie. Nun wars „weit her“, nun durfte mans 


beachten. 


Etwas über Technik in bildender Kunst, 


Die Bedeutung der Technik in der bildenden Kunſt ift lange Zeit fehr 
unterfhägt worden, eine Unterlaffung, die gar manche Schäden gegeitigt Hat, 
auf welde dann eine Reaktion eintreten mußte. Man glaubte lange, Die 
Kunſt als folde hätte mit Technik als folder nichts zu thun. Aber ber 
BZufammenhang zwifchen der geijtigen und der handwerklichen Seite ijt fehr 
intim und die Wechfelbeziehungen der beiden find ſehr mannigfaltig: die geiftig 
feinften Künftler find zumeift auch vorzüglidhe Techniker geweſen, eine ausge— 
bildete Technik kann auch die geijtigen Kräfte der Hunft erweitern, indem fie 
ihre Ausdrudsmittel, ihre Sprache, verbeifert. Gerade in den letzten Jahren 
ift nun mit der erneuten regeren Entfaltung der Kunſt in jugendftarfem 
Badstum ein eindringlicheres Studium ber Technik Hand in Hand gegangen. 
Wird es den kunſtliebenden Leſer intereffieren, in furzen Worten etwas darüber 
zu hören? 

Was man bei uns Delmalerei nannte, war wenig fyftematifc ausgebaut, 
die willenfchaftlidye Grundlage war wohl einigen befannt, doch bei weiten den 
meiften ber Ausübenden nit. Der Lehrgang auf Alademieen und Privat 
anftalten ſchloß eine Fakultät für Technik nicht ein, und wo eine vorhanden , 
war, bejtand fie mehr auf dem Papier, als in der Wirklichkeit. Man kaufte 
die Delfarben in irgend einer Handlung und malte dann halt drauflos, bis die 
Leinwand ungefähr fo ausfah, wie man fie haben wollte. Schade nur, daß 
man badurd nicht allein die Haltbarkeit ber jo gemalten Urbeiten in einer 

2. Januarheft 1899 


— 269 


Weiſe gefährdete, da ſich faum für eine halbjährige Kebensdauer bürgen lieh, 
fondern aud) die Ausdrudsmittel felber in unnötigem Maße beihränfte und 
die ungemeine Mannigfaltigkeit der Palette nicht zur Entfaltung bradte. 
Denn — ich wiederhole es noch einmal — jo gut die rein äſthetiſche Ent— 
widelung nad; neuen Darftellungsmitteln fuchen läßt, fo gut geben diefe neuen 
Darftelungsmittel neue äfthetifche Gefichtspuntte. 

Noch vor zehn Jahren ordnete man im allgemeinen fo: alle glänzenden 
Bilder waren Delbilder, alle matten Aquarelle oder Paftelle. Um aber über 
die Mannigfaltigleit der Technik jener erftgenannten Art, der glänzenden, 
farbenfatten Bilder einen Ueberblid zu geben, vergegenmärtige man fich 
folgendes. Gehen wir durch die Mufeen, jo fällt uns unmittelbar die Ver— 
fchiedenartigkeit de8 Wusfehens der Werke aus verfchiedenen Jahrhunderten 
auf; eine Verſchiedenheit, die ſich nit allein aus der Individualität der ein= 
zelnen Meifter oder ihrer künſtleriſchen Anſchauung erflären läßt, fondern 
unbedingt verlangt, die Anwendung ihrer Mittel zur Beurteilung mit heran— 
auziehen. Die eine Art bilden jene bis ins kleinſte duchhgeführten Haren Bilder 
der Meijter des 15. Jahrhunderts, die in Deutſchland etwa von van Eyd ab 
datieren und fi bis ins 16. Jahrhundert hineinziehen. Jene Malereien zeigen 
die wundervolle larheit und Leuchtkraft, die oberflächlich Urteilende wohl 
mit glafig, bunt- oder ſchönfarbig fennzeichnen zu dürfen meinen. Zu der 
anderen Art gehören jene bravourhaft, meift in tiefen Tönen, mit breiten 
Strihen bingemalten Werke, die ihren Reiz nit in der minutiöfen Aus— 
führung oder Durdhbildung der intimen Form ſuchen, jondern eben in der 
machtvoll deforativen Ericheinung des Ganzen. Ihre Hauptmeifter ziehen ſich 
in Stalien von Tizian über Veronefe bis zu Tiepolo, fie erjtreden ſich in 
Spanien auf dem Umwege über Ribera bis zu Velasquez, im Norden von 
Rubens und Rembrandt bis zu Reynoldts. 

Auch dem Laien fällt da wohl ein elementarer Unterſchied auf, den er 
vielleicht mit dem forifchreitenden Können zu erklären ſucht. Dies ift ein Trug— 
ſchluß. Denn wer will fagen, wer den anderen am Können überlegen war: 
ob ein van Eyd einem Tizian, ob ein van der Weyden einem Goreggio, 
ob ein Dürer einem Nembrandt? Ihr Hömmen liegt nur in verichiedener 
Richtung. 

Die ältere Wiffenfhaft nahm van Eyd als Erfinder der Delmalerei an. 
Die Technik wäre alfo im weſentlichen von jenen uns noch fo dunklen Zeiten 
ab bis auf den heutigen Tag ziemlich gleich geblieben. Doch ift das faum 
verftändlih. Denn der Eindrud jener alten und ber fpäteren Bilder ift ein 
fo gänzlich verfdhiedener, daß man fie nicht für Werke einer Technik halten 
fann. Dann aber ift e8 auch mit unferen Oelfarben unmöglid, jene Mare 
Ziefe, wie wir fie bei van Eyd und feinen Nachfolgern fehen und bewundern, 
au erreichen. Denn jene Bilder zeigen einen fo dünnen Farbenauftrag, ber den 
weißen Grund überall burchicheinen läßt und ihn zum Urheber jener feltfamen 
Leuchtkraft macht, daß fie uns faſt ausſchließlich mit Laſuren erreicht zu fein 
fcheinen. Diefe Lafuren aber müſſen fo zahlreid) übereinander gelegt geweſen 
fein, die immer und immer wieder den Ton moderieren und die Form meiter 
modellieren, daß mir nicht mehr an DOelfarbelafuren glauben können, denn die 
wären, (dank dem Ueberfhuß an Delbindemitteln, den unfere Oelfarbe nun 
einmal führt), ſchmierig und trübe geworden. Trogdem ift uns urkundlich über- 
liefert, daß van Eyd mit der herkömmlichen Waffer-Tempera brad; und die 
Delfarbe erfand. Und in der That fehen wir zwifchen ihm und feinen uns 


Kunftwart 


— 210 — 


mittelbaren Vorgängern einen fo ftarten Unterſchied in der plaftifchen körper: 
haften Durchbildung der Formen und leichten Sicherheit bes Vortrags, daß 
wir an eine epochemachende Erfindung glauben müffen. Diefe Erfindung hat 
ben Gelehrten lange Zeit viel Kopfzerbrehen gemacht. Es iſt das große Ver: 
dienft von Ernft Berger, Licht in die Sache gebradjt und eine Erklärung 
gegeben zu haben, bie uns das Dunkel volllommen aufzuflären fcheint. 

Er wies nämlih an der Hand von zahlreichen Quellenihriften und, mie 
ihm dies als ausübendem Maler möglich, von jahrelangen eingehenden praf: 
tifchen Verſuchen nad, daß van Eyd allerdings eine Erfindung gemad)t Hatte 
und mit „Delfarbe“ malte — daß dies jedoch nicht unfere Delfarbe, fondern 
eine (das ift das Wefentliche) mit Waffer mifhbare und deshalb unges 
mein verbünnbare Delfarbe gemefen fei. 

Das klingt zunächſt abfurd. Und doch wird es jedem, der etwas Chemie 
verfteht, nicht mehr feltfam vorkommen, wenn er hört, da das Bindemittel 
nicht reines Del, fondern eine Oclemulfion mar, die befanntlid) mit Waffer 
miſchbar ift. 

Für ben, der mit Farben wenig Beicheid weiß, muß ich Hier beifügen: 
das Del ift der Feind der Delfarbe, es ift als Bindemittel ein notwendiges 
Uebel, das wir nicht zu erfegen mwuhten. Es mird ranzig und trübe und, 
wenn e8 nicht bem Lichte ausgeſetzt ift, gelb und undurchſichtig. Wenn eine 
Delfarbenihicht eine andere dedt, trübt fich alfo das Del der unteren Farben= 
ſchicht, weil die obere das Licht hält. Dadurch nun wird auch die obere trübe 
und fchwer, benn feine Farbe deckt ſo vollkommen, daß die darunterliegende 
Schicht nicht mitwirkte. Wiederum liegt ja in dieſer Mitwirkung der unteren 
Farbenſchicht ein großer Teil des Reizes unſerer Farben, da ſie den Reichtum 
ber Palette bedeutend mehr entwickelt, als es bei bloßen als Moſaik eingeſetzten 
Deckfarben möglich wäre. Wir haben in der Oelfarbe immer mit einem Ueber— 
ſchuß von Oel zu thun, der ſehr vom Uebel iſt. Es wäre ja nun eine ſehr 
einfache Erwägung, zu ſagen: man nehme ſo wenig Oel in die Farbe wie 
irgend möglich und bewirke die weitere Verdünnung mit einem flüchtigen 
Bindemittel, alfo meinetwegen einem ätheriſchen Del. Doch wird man hierbei 
deswegen nicht auf feine Rechnung fommen, weil jedes Farbenpigment eine 
gemwilfe Summe Del zum Binden braudt; eine Quantität, die bei gewiſſen 
Pigmenten oft das Zehnfache des eigenen Volumens trägt. Diejes Del ſchluckt 
das Farbenpulver gleihjam beim Reiben, und natürlich trodnet diefe große 
Dienge Del mit ein. Der Berfuh, das Bindemittel aus einer Mifhung von 
dien und ätheriſchen Oelen berzuftellen, mißglückte meiit deswegen, meil die 
Farben durchaus nit aufzuheben waren, fondern zu raid eintrodneten. 
Immerhin bieten diefe Sorten von Delfarben (mir fommen fpäter bei ber 
Beiprehung der Ludwigſchen Publilationen darauf zurüd) einen erheblicdyen 
Borteil gegen die nur mit didem Del bereiteten Sarben. Ban Eyds Erfindung. 
beitand num darin, daß er als Bindemittel eine Oclemulfion nahm, d. h. eine 
medanifhe Mifhung von Gi und Del oder von Gummi umd Del, die mit 
Waſſer mifchbar tft. Diejes bot folgende Vorteile: Erjtens, das zum Reiben 
verwandte Bindemittel enthält erheblich weniger Del als bei unferer Delfarbe 
der Fall. Zweitens, e8 ift möglich, bei der Miſchbarkeit mit Waſſer die Farbe 
in hohem Grade zu verbünnen, ohne Bejorgnis, durch das Verdünnungsmittel 
wiederum einen fhädlichen Ueberſchuß von Oelen oder fonjtigen nicht reftlos 
verbunftenden Medien in die Farbe zu bringen. Da das Waſſer reftlos ver— 
dunſtet, bleibt nur gerade foviel Bindemittel zurüd, als zur Haltbarkeit der 


2. Januarheft 1899 
Fri En 


Farbe notwendig. Drittens ijt Durch die Miſchbarleit mit Wafler eine Behand— 
Iungsmöglichteit ber Farbe ermöglidt, die die dünnjten Lafuren, die feinsten 
Striche zuläht, fo dak man erft den hohen Grad der Ausführung der Werfe jener 
Quattrozentiften begreift. Denn wollte man jene minutiöfen Durdbildungen mit 
unferer Farbe unternehmen, fo würden diefe durch Das bedeutende Delvolumen, das 
mit eintrodnet, erjtens weit paftofer werden, zweitens aus eben bem Grunde 
nicht die duftige Klarheit erhalten können, Die wir an jenen Bildern bewundern. 
Es iſt Hier nicht der Ort, eingehender von den großen VBorzügen dieſer Technik 
zu reden. Doch mird es ohne meiteres einleudten, dab, fo gut e8 bei uns 
Künitler gibt, bie den breiten virtuojenhaften Vortrag der Ginquecentijien 
firhen, e8 eben auch foldhe geben wird, bie an ber intimen formalen Durch— 
bildung und den buftigen zarten Farben, die die Del-Tempera bietet, ihre 
Freude haben. Uebrigens wär e8 ein Trugſchluß, ohne weiteres anzunehmen, 
daß die Del-Tempera ſich nur für fein durchgebildete Werke eignet. Einige 
neuere Meiſter, fo vor allem Stud, haben in ihren Tempera=Bildern zur Ge— 
nüge gezeigt, wie fid) ihre Eoloriftifchen Vorzüge, die gegen die Oclfarbe in 
erhöhter Tiefe und Stlarheit beftehen, recht gut auch mit breitem Pinfelvortrage 
verbinden läßt. 

Jedenfalls ift die wiſſenſchaftliche Relonſtruktion Bergers, die übrigens 
auf rein empiriſchem Wege ſchon von anderen Malern, jo Bödlin, vorgenommen 
und verwendet worden ijt, wert, weit allgemeinere Beadhtung und Anwendung 
zu finden als heute noch geſchieht. Trogdem braudt man das nicht als die 
Forderung nah einem abfoluten Erſatz der Delfarbe aufzufajlen, denn aus 
dem Weſen und der Beitimmung eines jeden Kunſtwerkes muß ihm eine be= 
fondere Technik erwachſen. 

Ih habe mein Stedenpferd, Die deforativen Forderungen der Malerei, 
zwar ſchon genugjam im Stunftwart geritten, allein ih kann mir an biefer 
Stelle nicht verfagen, darauf hinzumeifen, wie gerade dieſe van Eyckſche Technik 
dazu geeignet tft, die deforativen Werte miederherzuftellen und als etwas not— 
mwendiges auch in die Tafelmalerei einzuführen. Denn erjtens ift fie wenig 
bazu geeignet, die Art von Naturwahrheit, die lediglich) im Nachbilden des 
äußerlich erfehenen Eindruds bejteht, zu erreichen. Zweitens madjt fie einen 
paftofen Auftrag ganz unmöglich, trogdem fie denfelben oder einen ſtärkeren 
Tonmert erreicht, als der paftoje Oelfarbenauftrag. Der Maler ift desmegen 
gezwungen, mehr als fonjt feine Aufgabe in der foloriftifchen Flächenlöſung 
au finden anftatt nur in einem Nachſchreiben der Natur. Die ganze ins Rollen 
gelommene Bewegung befchäftigt fich nicht allein etwa mit der Tempera, fon= 
dern nicht minder mit einer rationellen Durdbildung der reinen Delfarbens 
technif, die allerdings von einigen ſchon lange gepflegt war, jetzt aber, 
ſcheint's, vom gejamten Dalerjtande aufgenommen wird. Daß aud) diefe ihre 
gewaltigen Vorzüge hat, unter denen nicht der Heinfte die bequeme Handlich— 
keit, iſt Leicht erſichtlich. Ihre Anwendung weiſt aber in ein anderes Gebiet. 
Es gibt Kunſtwerke, die nur in Oelfarbe denkbar find, wie es ſolche gibt, 
melde die Forderung der Tempera-Technik gleihfam ſchon in fid) tragen. 

In der Redaktion eingegangen find von Werfen, die auf dieſes Gebiet 
Bezug haben: „Die Tehnif der Delmalerei“, im Uuftrage bes preußis 
[hen Kultus-Winifteriums verfaßt von Heinrih Ludwig, und licher „Die 
Orundfäge der Delmalerei und das Verfahren der Klaffifhen 
Meiiter“ (beide aus dem Berlage von Wilhelm Engelmann in Leipzig). Der 
erſte Teil des zuerjtgenannten Merfes enthält eine fehr klare Darſtellung der 


Kunftwart 


— 77: . 


optiichen Eigenfchaften der Malerei, im befonderen der Delmalerei; ein Gebiet, 
wo ein jeder Maler Beſcheid wiſſen follte, der fid) intimer mit der Technik 
feiner Kunſt abgibt. Im zweiten Zeile geht Ludwig zu der Beichreibung der 
Delfarbentechnif über, mie er fie für rationell hält, einer Technik, die jeden 
falls fein durhdadjt ift und auf ernitem Studium beruft, manchmal freilich 
auf dem Wege der Theorie zu Schlüffen fommt, die der Praxis nicht in dem 
Grade entiprehen, wie er glaubt. Die äjthetifhen Grundfäße, die der Ver— 
fafler dabei aufftellt, enthalten viele Wahrheiten, die nur zu fehr vergeffen find 
und bie immer wieder zu miederholen nur von Nuten fein kann. Mllerdings 
ift alles erfüllt von einer gewiſſen prinzipiellen Bitterfeit gegen alle Diodernen, 
die fich oft zu biſſigen Ausfällen jteigert, wie fie nur für ganz gewiſſe „Mo= 
derne“ Geltung haben könnten. Ludwigs ftete Behauptung, daß fo alle Hand— 
geihicdlichleit vermindert jei, ift gewiß nur zu begründet, und die Folgen 
davon find nur zu fihtbar. Much der zweite Teil feiner Schrift, in dem ein 
reiches Material von Mitteilungen über Technik zufammengetragen ift, fann 
für jeden Maler von größtem Nugen fein. Durch die Hiftorifche Darftellung 
der Entmwidelung der Technik, der befonders das zmeite Werk gewidmet ift, 
zieht ſich allerdings ein großer Jrrtum, wenn Bergers Entdeckung wahr iſt, 
was die Wahrjcheinlichfeit auf feiner Seite hat. Ludwig erflärt nämlich die 
Dralereien jener PBrimitiven des ı5. Jahrhunderts für reine Delmalerei und 
bemweift an der Hand des Späteren, felbjt von Tizian ab, daß die „Faujt- 
Malerei“ der Delfarbe ſich nicht gehalten hätte. Sind nun jene Werke des 
QDuattrocento TemperasBilder, fo fommt man allerdings zu dem Schluß, da 
fih Delfarbe überhaupt nicht dauernd hält, ſondern allein der Del- Tempera 
jene Lebenszäbigkeit verliehen ilt. Dat Ludwig mit der einzig rationellen 
Oeltechnik feine Petroleum = Malerei meint, it nicht zu vermwundern, da man 
gerade fo gut die Sache fo auffafien fann, dab er eben die Technik mählte, 
die ihm die einzig rationelle ſchien. 

„Quellen und Technik der Fresko-, Del- unb Tempera— 
Malerei des Mittelalters“ von Ernſt Berger ift ein anderes bier- 
hergehöriges Merk, erſchienen bei Georg D. W. Callmey in Münden. Die 
beiden erjten Bublifationen dieſes Werkes, die ſich auf die antife Maltechnit 
beziehen und die wir beſprechen werden, wenn fie demnädft in zmeiter Auf— 
lage erfcheinen, find für uns nicht von der Wichtigkeit mie der vorliegende 
dritte Band, folange e8 fi wenigstens um XTafelbilder handelt. Diefer 
Band umfaßt die Miniatur-, Wand» und Tafel-Dtalerei des Mittelalter8 und 
die Oel-Tempera ber van Eyd, ein Stapitel, das Berger befheiden genug als 
„einen Verſuch zur Löfung der Frage von der Erfindung der Del-Malerei dur 
die Brüder van Eyck“ bezeichnet, und in dem er auf äußerſt ſcharffinnige Art 
und Weife das ſchwierige Thema zerlegt. Durch geradezu raffinierte Kombi- 
nation von Worten der alten Quellen hat er auf und zmwifchen den Zeilen ges 
fucht, bis er jchlieflih den Schlüffel fand. In welcher Weife das gefchieht, 
habe ih oben befprodhen. Es muß übrigens verwunderlich erfcheinen, daß 
man bdiefe Kraft, die die praftifche Kenntnis des Malers mit der Grünblichkeit 
des forfchenden Gelehrten verbindet, nirgends als Lehrer ber Technik auszu- 
nutzen verstanden hat — wieder ein Zeichen, wie wenig Wert man auf die hand— 
mwerlliche Ausbildung auf Mlademieen legt. Noch ein Buch deffelben Verfaflers 
möchte ich hier erwähnen: „Der Katehismus der Farbenlehre“ (Ver— 
lag von 3. 3. Weber, Leipzig), der in kurzen Zügen über die optifhen Eigen— 
ſchaften der Farbe unterrichtet. In anfhaulicher Schilderung beſpricht Berger 


2. Jannarheft 1899 
— 23 — 


die Eigenſchaften des Lichts und ihre phyfilogifchen Beziehungen, um im prak— 
tifhen Teil dann auf die Technik felbit kurz zu ſprechen zu fommen und enb- 
lich die Beziehungen der Farbe auf das alltägliche Leben zu beleuchten. Auch 
diefes Bud kann all denen, die nicht die genügende Borkenntnis haben, um 
fi) ohne meitere8 gründlich mit den Fragen der Technik zu beſchäftigen, als 
nüglide Einführung empfohlen werden. Shulge-Taumburg. 


VE 


Spieltrieb, Schönbeitsdurst und Wirtschaft. 


Nicht ernfter, vorforgender Wirtfchaftsdienft ift in ber Urzeit die erfte 
Urbeit des Menfhen, fondern ein Spiel, das in Bethätigungsdrang, Nach— 
ahmungsluft und Schönheitsdurft wurzelt. Fröhlich und forglos lebt er dahin, 
ein großes Kind, das fi von der Mutter Natur ernähren läßt. 

Über die Gaben der Natur haben ihre Grenze. Auch tropifche Fülle der 
Früchte vermag allmählich die fich mehrende Menſchheit nicht mehr zu ernähren, 
e8 beginnt ber Nahrungsmangel und mit ihm die ernfte Arbeit. Es fommt der 
Augenblid, da ein Zeil ber Menjchheit ben „Garten Eden“ verlaffen und Gegen 
den auffuchen muß, in denen er nicht in jedem Augenblid beliebig fein Nahrungs 
bebürfnis befriedigen fann, in denen er über den heutigen Tag hinausdenken 
und für die Zukunft forgen muß. 

Die Kraft, die fi) früher nur fpielend und geniehend bethätigt hat, muß 
fih jest wirklicher Arbeit zuwenden. Ganz allmählid vollzieht ſich der Ueber— 
gang zur Wirtfhaft. Nicht überall aber erfordert die Wirtſchaft alle Kraft, 
und mo fie uns Raum läßt zu freierer Bethätigung, ba behält nach wie vor 
ber Spieltrieb und Schönheitsburft einen Teil der Herrfhaft. Im Dualleben 
be8 hohen Nordens freilich reicht die menfchliche Arbeitskraft bei aller Anftrengung 
nur zur fhliten und Inappen Selbiterhaltung aus. Unter einer wärmeren 
Sonne aber bleibt neben der wirtfhaftlichen Arbeit noch Pla für die Be— 
thätigung jener alten Triebe, für den Schmud bes Lebens und die Verfhönerung 
des kurzen, mühenollen Dafeins. 

Je weniger bie eigentliche mwirtfhaftliche Arbeit alle Kräfte bes Volkes 
in Anſpruch nimmt, um fo mehr wenden dieje ſich der künſtleriſchen Beſchäfti— 
gung zu, ſowohl bei ben Urvölfern der Tropen, die nur geringer wirtſchaftlicher 
Thätigfeit bedürfen und deren Kunſt zwar ihrer Kulturftufe entiprechend höchſt 
primitiv ift, aber doch eine erftaunliche Menge halb fpielender Arbeit birgt, 
ie bei den fortentridelten Völkern ber mittleren Zonen, denen eine blühende 
Vollsmwirtichaft Zeit und Muße zur Befhäftigung mit fünftlerifhen Dingen läßt. 

Der Tropenbewohner arbeitet ohne Zwang überhaupt nur, wenn er 
Freude an der Arbeit hat, Freude an dem Entſtehen fünftlerifcher Formen. 
Auf die Herftellung der einfachſten Geräte vermag er eine Unfumme von Arbeit 
zu verwenden, wirtfhaftlich fcheinbar verlorene Arbeit, die indeffen für ihn 
durchaus notwendig ift, da er fich überhaupt nicht zu eintöniger, anjtrengender 
Arbeit entichließen fannı, ohne dauernde Abwechslung, ohne Freude an ben ent= 
ftehenden Gebilden. Unb wenn beifpielmeije eine ſchlichte Matte vollitändig 
mit Fellen oder Haaren bededt wird, ſodaß Feinerlei Mufter der Matte zu 
fehen bleibt, fo wird er fie nicht in ber natürlichften und einfachſten Form 
flehten, fondern fie mit fünftlerifhen Muftern verfehen, fpielend, fortgefegt 
feinen ſchlichten Schönheitsfinn bethätigend. Aufmerkſame Forfdungsreifende 


Kunkwaert 


— 24 — 


berihten über mannigfadje fchlagende Belege für dieſe allgemein verbreitete 
Thatſache. 

Gerade bei primitiven Völkern nimmt die kunſtgewerbliche Arbeit 
einen ganz erſtaunlich weiten Raum ein; die wenigen Geräte, die ſie brauchen, 
und die ihren Schatz bilden, werden in langwieriger und mühſamer Arbeit 
relativ höchſt kunſtvoll hergeſtellt und mit jedem möglichen Schmuck verſehen. 
In ihrer höchſten Erſcheinungsform, dem Menſchen, ringt die ſchönheitsdurſtige 
Natur eben am ſtärkſten und tiefſten nad) dem Ideal ihrer ſelbſt, nach ber 
Schönbeit. 

Diefes Ewigkeitsideal ber Wirtſchaft follten wir doch nicht fo ganz vergefjen, 
wie wir e8 im heißen, wirtfchaftlihen Kampfe vergeflen zu haben fcheinen. Wir 
follten nicht vergeffen, daß wir nicht um ber Wirtfchaft willen arbeiten, nicht 
vergeflen, wie unendlich die Arbeit erleichtert und gehoben wird, wenn fie ſich 
menigitens zum fleinen Teil als Bethätigung des allgemein menſchlichen Spiel= 
triebes und Schönheitsdbranges geitaltet. Sehr treffend bat Bücher darauf 
hingewieſen, wie beifpielsweife die heutige Yabrifarbeit unter der erdrüdenden 
Eintönigkeit, unter dem vollftändigen Mangel bes Rhythmus leidet. Die ſchöne 
Form, die rhythmiſche Bewegung heben die Arbeit hinweg über bie furdtbare 
Qual bes unerbittlichen Muß und geben dem Arbeitenden bie Freude an feinem 
Schaffen. 

Spieltrieb und Schönheitsdrang ftehen am Eingange ber Wirtſchaft, die 
wirtfchaftliche Arbeit ift in der Urmwirtfhaft eng verfnüpft mit künftlerifcher 
Bethätigung. Daf beide in ber modernen Wirtfchaft unendlich weit von einan— 
der getrennt find, das ift aud) ein Hauptgrund ber großen Arbeitsunluft, ber 
Ungufriebenheit des Urbeiters mit feinem maßlos eintönigen Leben, der man— 
gelnden Befriedigung durch fein eigenes Schaffen. Die mwirtfhaftliche Arbeit 
mit fünftlerifher Bethätigung und fünftlerifcher Befriedigung zu durchdringen — 
wem ba$ in der modernen Wirtfchaft gelänge, der könnte ung auf eine unver= 
gleihlich Höhere Stufe heben, ber leiftete der Gefamtkultur und unferem fozialen 
Leben vielleicht den größten Dienst, der ihnen überhaupt geleiftet werben kann. 


Arthur Dir. 
2 4 
Lose Blätter. 


Das verlorene Thal. 


Wo führt der Weg wohl noch einmal 
Mir heimmwärts ins verlorne Thal? 


Fernab von all dem heißen Gewühl 
Scläft es im Scatten ftill und fühl. 


Dort ift eine große Einfamfeit. 
Dort ift das Reich der Dergangenheit. 


Durch der Buchen hochragenden Säulenban 
Schweift leife eine ſchöne frau, 
Im flimmernden Baar den Waldveilhenfranz 
Und die dunfeln Augen voll tiefem Glanz. 
2. Jannarheft 1599 


- 15 — 


Sadıt riefelnd rinnt der Quell durchs Geftein, 
Ein filbernes Tropfen fidert drein. 


Wo das Wafler am Moosblod murmelnd ſchäumt, 
Dort wartet fie lange, träumt und träumt. 


Still blühen die blanen Blumen ringsum, 
Die weißen $alter fliegen ftumm, 


Wo führt der Weg wohl no einmal 
Mir heimwärts ins verlorne Thal? 


Ch. Weftphal. 


Unvergeffen. 


Achtzig Jahre — jünglingsfrifch, 
Und gelähmt dann über Nadıt 
Sitt er hinter feinem Tifdh, 
Hält mit müden Angen Wacht, 
Ob denn gar niemand vorüber will gehn, 
Grüßend zum binmigen Senfterlein fehn. 


Doch vergift die rafche Melt, 
Was nit mehr im Strome zieht, 
Schatten fteigt und Schatten fällt, 
Frühling fommt und Frühling flieht. 
Ephengrün drüben an Mauermanns Haus 
Schleicht fi fhon über den Schornftein hinaus. 


Drinnen fchreibt auf buntem Rund 
Wanduhrzeiger feinen Kreis, 
Tröftet leis mit Tick-Tack-Mund, 
Daß nody einen freund er weiß, 
Der einft am $enfter mit ruhendem Fuß 
Stehn wird und winfen verföhnenden Gruß. 
Helene Doiat. 


Auf den GSaffen der Heimat. 


Droben der Mond und die dämmernde Macht, 
Die Welt jo ftill und verlaffen, 
£eife Flirrt mein langſamer Schritt 

Auf träumenden Heimatgaffen. 


Am Markt der Brunnen — ich lehne mich dran; 
Hab hier fo oft gefeflen. 

Ihr ragenden Bäume und Dädyer ringsum, 
Habt ihr den Buben vergeffen ? 


Ich faffe den Eimer und laf ihn fact 
Sur Tiefe niedergleiten ...- » 
Aus dem Jugend-Brunnen einen Crunk — 
Dann will ich weiterjchreiten. 
Wilhelm £obfien.. 
Kıunftwart 


Mondfpuf. 
Don Leopold Weber. 

Der Vollmond leuchtet hoch am bläulichen Himmel; fein Glanz bat das 
letzte weiße Wölkchen verzehrt; fogar die Sterne find in feiner Lichtflut er— 
trunfen, und nur die großen Himmelsbilder glänzen noch neben ihm. Bon 
unten herauf funfelt die Wintererbe feitlih im Schnee; Berge reden dort ihre 
Silberföpfe empor, und mitten in ben Bergen drin, am Fuß eines Hügels, 
Liegt ein Dörfchen lautlos im Mondidein. 

Beer und Hell find alle Gaffen des Dörfleing. Rieſig ragt die Kirche 
aus den niedrigen Häuschen hervor, ein mächtiges fteinernes Ungetüm; ein 
hoher Zaubrerhut gligert der fpige Kirchturm darüber. Zwei Lukenaugen 
ſchaun finfter aufgeriffen unter dem Hut. Auf einmal fängt's an, im Innern 
des fteinernen Tiers zu rumoren; e8 raſſelt, es ftöhnt, ſchwerfällig zieht's 
Atem: 's will Mitternadht ſchlagen. Aber ſeltſam: es ftöhnt und raffelt, es 
wird wieder ftill, und fein Glodenfchlag hat geihallt. Statt deſſen — in ben 
dunfeln Lukenaugen droben glüht’8 auf, und eine ſchnarrende Stimme fchreit 
hinaus ins Land: 

„Eins, zwei, drei, . . . . Zwölf!“ 

Da thut's einen Rumpler unten im Dorf. Das iſt im Haus vom Weg— 
macher Jadl geweſen. Der felber iſt aus dem Bett hart auf bie Füße ge— 
fahren und wandelt quer durd) die Stube. Aber ganz abweſend ſchaut er 
brein. Er geht ans Fenfter; 's ift dicht mit Epheu zugewachſen; und fit 
nieder. Der Mond jcheint durd den Epheu, malt helle Flede aufs wetter— 
braune Runzelgefiht und blickt grad hinein in die Augen.... 

Ganz ftad ift’S draußen, und graufam hell, und alle Hausthüren ſtehn 
weit offen. 

„Was i8 denn des ?*, denkt der Jadl: „is doch nachtſchlafende Zeit!” 

Uber die Hausthüren ftehn offen, und jetzt fieht er's: eine ganz leife 
leuchtende Schafherde wimmelt die Gaffe Hinab; ſchneeweiß, mwollig, flodig 
wimmelt's, wuſelt's Durcheinander. Ein mondheller Wolfshund rennt an ihr Hin, 
umfreift fie; Funken tanzen auf feinem Borftenfell, flüffiges Silber trieft ihm 
aus dem Maul. Und Hinter der Herde drein wankt der Hirt, in blauem 
Mantel, ein alter Dann. Tief figt ihm der große Glanzhut im Geſicht, daß 
nur ber welke Mund und das bleiche Kinn hervorſchaun; an langem Steden 
wankt er bin und bewegt bie Lippen. Er fingt. 

„In Gottes Namen 
Die Mondſchaf' treib’ ih. Amen!“ 
klingt's faum hörbar in die Stube, während er vorbeifchwantt. 

Und Hirt und Hund und Herde find verfchwunden. 

Zange Eiszapfen funfeln an den Dadrinnen. Der Schnee ftrahlt von 
taufend feurigen Sternlein. Dit ſchlafſchwerem Blick haut der Jackl hinaus 
in Die weiße Pracht, die fo ftumm ift und fo kalt. 

„Wie einfam, dab’ is, ha, wie einfam!* 

Auf einmal träppelt’S daher durd die Mondnadt — ein Hünblein 
träppelt über den gligernden Schnee. Ganz allein. Graufarben iſt's, ein 
Krummbein, ein Dadeltier ift’8. Kerzengerade hat's feinen Schwanz aufgeftellt 
und wedelt leis mit der Spibe, und feine Iangen Ohrwatſcheln zittern, wie es 
bahinläuft. 

„Ah Narr! is denn des nit der Woidl? ja biſt denn nit tot? was bift 
benn fo grau, Woibl?* 


u 2. Januarheft 1899 


Aber Jadls Stimme hat gar keine Kraft. Der Waldl hört ihn nicht, 
fhon ift er weg — unb bie Gafje hinab fommt eine junge Dirn gezogen, wie 
im Schlaf, mit gefhloffnen Augen. Sie hat ein volles Geſicht; doch iſt es fo 
weiß mie das Licht, das drauf ſcheint. Einen Augenblid bleibt fie ftehn und 
wendet den Kopf mit ben geſchloſſnen Augen in ber Luft, als fuchte fie etwas. 
Dann geht fie grad’ aufs Haus vom Maurer Franz zu. Die Edenlisl iſt's, 
die fo ſchnell Hat fterben müffen, ein Jahr iſt's her! Sie tritt ans Fenfter. Mit 
ben Fingerfpigen ber rechten Hand fchlägt fie leicht ans Glas, dab es Flingt. 
Dann fest fie fih aufs Bänflein darunter, legt die Hände in ben Schooß und 
lächelt ftill vor fich hin. 

Aber da raufcht es auf, heimlich in der Ferne; raufcht wie ein Menſchen— 
flüjtern, zieht näher; das Lisl verblaßt, zergeht, jetzt ſchwillt's in's Dorf 
und faul durd) die Gaſſe ſtäubt's heran, eine blaſſe Schar, Männer und 
Weiber. Eben grad ſichtbar blinken fie im Mondlicht durcheinander. Belannte, 
Unbefannte wechſeln, wogen Hin, verdrängen einander, und alle fteigen fie 
dort hinten bei ber Kirche ins Monbdlicht hinein und verihmwinden einer um 
den andern. Der Jadl will fie anrıtfen, den, jenen, zurüdhalten will er fie — 
zu raſch treibt alles dahin. Wie er fi) aber noch müht, fie zu erfennen, ba 
knarrt's ihm zu Häupten, Inarıt und raffelt, als thäte fi) bie Dede ausein- 
ander, als ſchütte der Kalk herab, und gellend ſchreit durch die offne Dede 
die ſchnarrende Stimme: 

„Eins!“ 

Der Zadl fteht auf — ausgelöſcht ijt fein Bewußtſein, gefchloffen haben 
fi) die Augen — und marfdiert zurüd in fein Bett. 

Reingefegt ift die Gaffe von allem Spuf, nirgends regt e8 ſich mehr. Die 
Haustüren find zu. In den Lulenaugen des Kirchturms iſt das heimliche 
Glühen ausgegangen. Der Mond fcheint grad aufs weiße Zifferblatt und unten 
biegt der bärtige Nachtwächter ums Ed beim Arämer und fingt in die Gaſſe 

inein: 

9 „Hört, ihr Herrn, und laßt euch fagen: 
Die Glode hat eins geichlagen. 
Bhüt euch Gott und Marial* 


Epigrammatijches. 
Don ferd. Avenarius. 


Jdeal und Küde. 
Das Dolf, Poet, es liebt das Jdeale, 
Nur wolle nicht, daß es dafür bezahlt: 
Es hat noch nicht die höh’re Welt vergeffen, 
In der du lebft, und meint, dort wirft du effen. 


Saungäfte. 
„Zehn Pfennig der Schemel, um drüber zu ſchaunl“ 
Ausruft’s ein Gefhäftsmann hinter dem Faun. 
„Die fann man nur jo ohne Scham 
Ein Zaungaft fein”, jo denft Madam. 
Doch weil der Dorhang noch unten bleibt, 
Mit einem Bud fie die Zeit vertreibt, 
Das nicht gefauft zwar in der Stadt, 
Dod für zehn Pfennia geborgt fie hat, 


Kunftwart 
— 27685 — 


Und audt einem Dichter in Herzensruh 
So als ein richtiger Saungaft zu. 


Qeuheiten. 
Iſt ein Ideechen nody fo Plein: 
Sceint’s neu, fo fallt ihr drauf hinein, 
Als wäre der alte Columbus blof 
Schon wegen des Eierfpäfihens groß. 


ZUR 


Rundschau. 


£iteratur. 


* Arthur Zapp hat in der „Zus 
funft* unter der Ueberſchrift „Schrift 
ftellerleiden* einen durch feine Offenheit 
überaus wertvollen Beitrag zur Beur— 
teilung der modernen Literaturpflege 
veröffentlit. Er jchildert darin, wie 
er zu dem gemorden fei, maß er jet 
if. Während er fih noch als „Plaus 
derer“ ufm. ernährte, hab er endlich 
die Arbeitszeit au einem großen Roman 
fich erfämpft, als der fertig war, hätten 
ihn alle abgelehnt, bis ihm endlich ein 
Verleger 300 Darf dafür zahlte. Jetzt 
famen günftige Kritiken: „Diejelben 
Blätter, bie mir mein Manuflript als 
nit geeignet zurüdgeihidt hatten, 
lobten mein Bud) jegt über den Klee“, 
und „zumeilen waren die Lobſprüche jo 
überihmwänglih, daß mir die Nöte 
der Scham ins Geſicht ftieg“. Aber 
verfauft wurde nichts. Zapp ſchildert 
nun, wie er erſt dies und dann das 
verſuchte, um mit ſeiner gelobten Feder 
endlich auch das Geld zu verdienen, 
das ſeine Familie zum Leben brauchte 
— und er ſchildert dieſes Bemühen ſehr 
klar als ein fortwährendes Hinunter— 
ſteigen. Mit bewußter Abſicht ver— 
derbte er ſeine Arbeit, des Brotes 
wegen — und nun kam der Erfolg. 
Ah laſſe Zapp ſelber ſprechen, ohne 
weiteren Kommentar als die Beſtätig— 
ung, daß feine erſte Arbeit auch uns 
vom Kunſtwart den Eindrud eines 
ftarfen und viel veripredhenden Ta= 
lentes gemacht hat. 

„Schon nad vier Wochen kam die 
Antwort. Endlih, endlid ftand ich 
an dem heißerfehnten Ziel. Das Welt: 
Familienblatt erflärte ſich mit Ver— 

ügen bereit, mich in die Zahl feiner 
eneidensmwerten Mitarbeiter aufzu= 
nehmen, und bot mir für meinen 
Roman ein Honorar von dreitauiend 
Mark. Dreitaufend Mark! Meine Frau 


meinte vor Freude und ih, — num 
mic durchſchauerte ein etwas unflares 
Gefühl von Genugthuung und Weh— 
mut, von Freude und Scham. Go 
ungefähr mußte dem Eſau zu Mute 
geweſen fein, nachdem er fein Erſtge— 
burtrecht für ein Linfengericht verfauft 
hatte. Der entſcheidende Schritt war 
gethan. Dem erften Familienblatt- 
Roman folgte ein zweiter, dem zweiten 
ein dritter. Auch in den Feuilleton= 
fpalten der großen politiichen Zeit— 
ungen wurde id ein oft und gern ges 
fehener Gaſt. So treibe ih e8 nun 
feit mehreren Jahren, jedes Jahr 
mindejtens meine drei Romane »fabris 
zierend« — fo darf id wohl jagen. 
Meine Frau fann ſich zwei Dienſtmäd— 
chen halten, meine finder genießen die 
bejte Pflege und ih... ich bin bid 
geworden, trinte täglich meine Flafche 
Wein, rauche Zigarren, deren ſich ein 
Kommerzienrat nit zu fchämen 
braudjt, und leifte mir proßig jedes 
Jahr eine große Erholungsreife. 

Bei alledem bin id) ein fleißiger 
Arbeiter und jchreibe Tag für Tag 
meine zweihundert Zeilen. Auf »Stims 
mung« zu warten, babe ich nicht mehr 
nötig. Meine Routine läßt mid) nie im 
Stich. Das nervenangreifende Ringen 
und Kämpfen dichteriicher Arbeit und 
die »Monne des Schaffens« kenne ic 
nicht mehr. Salt »wie 'ne Hunde— 
ſchnauze« ſetze ich mid) an die Arbeit. 
Mich erhebt beim Schafen fein did)= 
terifches Hochgefühl mehr in die Wol- 
fen, dafür aber peinigt mid) aud) fein 
Bangen, fein Zweifel mehr. Jmmer 
bin ich meiner Sache fiher, denn id) 
weiß ja, »wies gemadt mwird.« 

Nur in der erfien Zeit fam ab 
und zu noch ein Rüdfall vor. Einmal 
hatte e8 mir ein befonders reigvoller 
Stoff angethan, fo daß ich die gebotene 
Vorliht vor dem »Tendenziöfen« aus 
den Uugen ließ. Gin ameites Dal wieder 


2. Jannarheft 1899 


— 279 — 


hatte id mir eine ausführliche »Milieu— 
Schilderung« und eine pſychologiſche 
Vertiefung des Charafters meines 
»Helden« nicht verfneifen können. Die 
Strafe folgte jedesmal auf bem Fuße. 
Vergebens klopfte ich in foldhen Fällen 
bei allen Familienblättern und bei 
den großen Zeitungen an. Unerbittlich 
wies man mir die Thür, und id 
mußte mid; mit dem geringen Honorar 
für Die Buchausgabe begnügen. Einmal 
ichrieb mir der Redakteur einer unferer 
angejehenften illuftrierten Zeitichriften, 
die in allen Journal-Leſezirkeln ver: 
treten ift und in jedem größeren Cafe 
und Rejtaurant ausliegt (e8 handelte 
jih um einen ſatiriſchen Roman, der 
gewiſſe Unfitten des modernen gejell- 
Ichaftlichen Zebens unverblümt geißelte 
und der nicht ganz ohne literarifchen 
Ehrgeiz geichrieben war) in heller Ent= 
rüſtung: »So gern wir aud) fonjt Jhre 
Arbeiten alzeptieren, diesmal begreifen 
wir wirklich nicht, wie Sie uns zu— 
muten fünnen, unferen Leſern etwas 
derart Anjtößiges zu bieten.« Im Ueb— 
tigen erfreue ich mich des beiten An— 
fehens bei den Samilienblättern und 
gehöre zu den »beliebten Erzählern«. 
Ich habe nicht mehr nötig, mit meinem 
Fabrikat lange zu reifen. Ich bin ſozu— 
fagen eine renommierte Romanfirına 
geworden, und meine Romanfabrif hat 
zahlreiche, gut zahlende Hunden und 
Abnehmer. Die Zeitungen und Zeit— 
fchriften warten nicht, Bis ich ihnen 
meine Ware zufhide: fie jenden mir 
ihre Offerten ins Haus und ich be= 
finde mid) in der angenehmen Situa= 
tion, nicht für das Lager, fondern auf 
Beitellung zu arbeiten. 

Zu Nuß und Fronmen ftrebjamer 


junger Kollegen will id) hier ein paar | 


lehrreiche Stellen aus einigen mir zu— 
negangenen DOffertenbriefen 


Die Redaktion einer vielgelefenen 


Frauenzeitjchrift fchreibt mir: »Wir | 


erlauben uns Die ergebene Anfrage, 
ob Sie uns nicht freundlichit einen für 
ein feinere8® Damenpublitum geeig— 
neten Roman zur Verfügung itellen 
fünnen. Die in unferem Blatt zur 
Veröffentlihung gelangenden Beiträge 
dürfen weder eine politifche noch eine 
religiöfe Tendenz enthalten und müſſen 


in erotifcher Hinſicht fo gehalten fein, | 


daß jie auch vor jüngeren Vlitgliedern 
im Yamilienfreife vorgelefen werden 
fünnen. Auch darf weder eine Ehe 
fcheidung noch ein Selbjtmord vor= 
fommen. Die Handlung muß stetig 
an Spannung zunehmen, und in jedem 


Kunftwart 


zitieren. 











Stapitel muß irgend eine Wendung in 
der Fabel, ein neues Greignis oder 
dergleichen eintreten. Der Ausgang 
muß ein glüdlicher, einen angenehmen 
Eindrud hinterlafjender fein..... « 
Aehnlich fchreibt mir die Redaktion 
eines in weit über Hunderttaufend 
Eremplaren verbreiteten Familien— 
blattes: »Unfer Unternehmen iſt für 
den Familienkfreis beitimmt, fo daß 
wir in eriter Linie auf ftrenge Dezenz 
Gewicht legen müjfen und auf abjo= 
Iutes Vermeiden alles politiih und 
fonfeffionell Anftößigen. Auch jol auf 
eine äußerlich ereignisreiche, immer in 
Spannung erhaltende Handlung und 
fnappe Darjtellung Bedadjt genommen 
und ermüdende Schilderungen, fowie 
Reflexionen vermieden werden. Uner— 
läßlich iſt auch ein befriedigender 
Schluß der Erzählung... .« 

Man fieht: ein deutjher Romans 
Ichriftiteller muß ſozuſagen mit gebun— 
dener Route marſchieren, und ich habe 
nicht übertrieben, als id) vorhin von 
dem »Familienblatt- Roman = Leiften« 
ſprach. Man darf einen Roman nidjt 
»dichtene, jondern man muß ihn ges 
wiſſermaßen »zurehtihuftern«e. Freis 
lich, die Stritif nimmt mid zum Teil 
nicht mehr ernit. Beipricht man meine 
Romane überhaupt no, fo nennt 
man jie verächtlich »Schablonenarbeit«, 
»Dußendwares und mid) einen »Viel— 
fchreiber«, einen »Dußendichriftiteller«, 
einen »Familenblatt « Romanfabritan= 
ten«. Grit neulid) jagte ein Stritifer 
über meinen legten Roman: »Das 
neuejte Elaborat von Zapp, eine mit 
handfeſtem Thatfachenmaterial wirt— 


ſchaftende Geſchichte, könnte ohne Um— 


ſtände in das große Fach der ein— 
fachen Unterhaltungsſchriften verwieſen 
werden, wenn nicht Zapp einſt einer 
der begabteſten unter den Jüngeren 
geweſen wäre und durch ſeine Friſche 
und Urſprünglichkeit Hoffnungen ge— 
weckt hätte, die zu erfüllen, ihm nun 
der Ehrgeiz zu fehlen ſcheint.« Der 
Ehrgeiz nicht, verehrter Herr Fritifus, 
aber der Mammon fehlt mir, den 
Blüdlichere, wie 3. B. Hauptmann 
und Stephan George, befigen und ber 
abfolut dazu gehört, will man in 
Deutſchland wirklich Literarifch ſchaffen. 
Und nun kommt das Intereſſante, 
Charakteriſtiſche, das wie eine blu— 
tige Satire klingt und doch nur 
eine einfache, ſchlichte Wahrheit iſt: 
jener ſtritiler, der an feinem Blatt 
zugleih die Stellung des Feuilleton= 
vedafteurs ausfüllt, wird unerbittlich 


280 — 


a tr + 


sr 


jeden erzählenden Beitrag, der nicht mit 
»hundfeitem Thatſachenmaterial wirt— 
ſchaftet«, von den —— ſeines 
Blattes ausſchließen, und er wird ſich 
nicht einen Augenblick bedenken, Ge— 
ſchichten, die er als Kritiker naſerüm— 
pfend in das »große Fach der einfachen 
Unterhaltungsſchriften« verweiſt, im 
Feuilleton ſeines Blattes zum Abdruck 
zu bringen. So iſt es mir thatſäch— 
lich einmal paſſiert, daß der Kritiker 
einer großen berliner politiſchen Zei— 
tung einen Roman von mir gehörig 
vermöbelte, den ein Jahr vorher das— 
ſelbe Blatt zum Abdruck gebradt und 
mit hohem Honorar belohnt hatte. 

Und nun frage ih zum Schluß: 
wer bat Schuld, daß mir in Deutſch— 
Iand feit Jahrzehnten zwei Arten von 
Romanliteratur haben, eine Bude 
Noman-Riteratur, die färglich ihr Da— 
fein friftet, und eine Zeitungs=- und 
Samilienblatt = Roman =» Literatur, Die 
üppig wuchert, von der die Autoren 
leben und die aus dem Dichter einen 
Handwerker madt und ihn ſyſtema— 
tih zwingt, ſich wiffentlid 
und mit Abſicht zu verfla= 
hen, fich felbit ſozuſagen literariſch 
zu faftrieren ? E8 flingt wie eine uns 
finnige Webertreibung und iſt doch, 
wie alles vorher von mir Gefagte, 
budhjtäblih wahr und mit Zah— 
len fann ih e8 belegen: je ober= 
flählidher fonventioneller, 
fhablonenhafter, furz, je 
unliterarifher ih eine Arbeit 
geſchrieben Habe, deito raſcher feste 
ich fie ab und deſto Höher war das 
Honorar, das fie mir eingetragen bat, 
— und umgefehrt. Das geringite Ho— 
norar, ein wahres Ulmofen, hat mir 
mein erjter Roman gebradjt, der ein= 
aige, den id mit literariihem Ehr— 
geiz, mit fiebernden Bulfen und klo— 
piendem Herzen, mit voller Dichteris 
Icher Hingabe geſchrieben habe, der ein= 
aige meiner dreißig Romane, den Die 
Kritit mit einhelligem Lobe bedacht hat. 

Mein Fall ift typiſch. So wie mir 
ergeht e8 vielen anderen. Es ijt ein 
tragifches Gefhid, deutiher Romans 
fchreiber zu fein.“ 

Soweit Zapp. Wir empfehlen feine 
GSelbjtbefenntnijfe auch allen denen, 
die meinen, das Talent „bredie fi 
Bahn“, das Urheberrecht aber ent= 
fhädige und belohne allein ſchon nad) 
Verdienft und wahre das Intereſſe des 
Staates: daß die Talente fich zum 
Wohle der Allgemeinheit entwideln 
und beihätigen fünnen. 


Cheater. 


* Die Müngner literarifche Ge— 
felichaft bradte uns Mar Burd- 
hards ländlihe Komödie „Die Bür— 
germeijterwahl* zu Gehör. 

Ein reicher Jude will fi in einem 
öfterreihifchen Gebirgsdorf , nieder 
Iajien; doch die darob beunruhigten 
Bauern ſchwören ſich gegenſeitig zu, 
ihm unter keinen Umſtänden Grund 
und Boden zu verkaufen. ſtaum aber 
zeigt ſich's, daß man an dem Mann 
feinen Profit maden kann, fo fällt 
einer um ben andren ab; ber ver= 
haßte Fremdling befommt nicht nur 
fein Anweſen, fondern wird ſchließlich 
von den Verſchwornen ſelber, die er 
alle in feine Hand zu bekommen ge— 
mußt bat, einftimmig zum Bürger- 
meijter gewählt. Ein ganz bezeichnen: 
der und zeitgemäßer Vorwurf, mie 
jeder zugeben wird, der unsre Gebirg- 
ler nit bloß aus Ganghoferfchen 
Romanen, fondern aus perfönlicher 
Unjhauung fennt. Bezeichnend — 
aber mit Ausnahme des Sclußeffefts, 
dab der Jude zum Bürgermeiiter ges 
wählt wird. Nad) meiner Stenntnis 
unjrer Bauern menigiten® fchiene 
mir’s im Gegenteil geradezu typifch, 
daß fie bei Bejegung dieſer Stelle 
mit altväterifcher Hartnädigkeit dennoch 
an ber Wahl eines der Jhrigen feſt— 
halten, jo große Handelsleute vor dem 
Herrn fie ſonſt aud) gewißlich find. 
Ueberhaupt verdirbt der Verfaſſer feine 
hübſche Erfindung durch tendenziöfe 
Uebertreibungen in der Ausführung. 
Es wird ſchier fein gutes Haar mehr 
an ben Bauern gelaſſen; und folch’ 
boffnungslofe Lumpenhunde find die 
Leute in ihrer Gejamtheit ſchließlich 
grade jo wenig, wie höhere Wefen in 
Stniehofen. Uber ſelbſt eine derartige 
Uebertreibung wäre immerhin nod 

enießbar, wenn Burdhardb menigs 
tens da, wo er übertreibt, charak— 
teriftifch, wenn aud) grotest über 
triebe. Wie die Gebirgler raufen und 
faufen und wie die Dorfhonoratioren 
am Stammtiſch fi) gebärden, das 
weiß er war; das äußere Milieu 
veriteht er jehr geihidt und amüfant 
zu geben; aber das ſozuſagen innere 
Milieu, des Bauernmeinen und »fühlen 
ift ihm meiner Anficht nad) verſchloſſen, 
fomeit es ſich nit um jehr bekannte 
Züge Handelt. Ganz überzeugend 
tritt das in einer Gerichtsfzene des 
zweiten Mufzugs zu Tage. Der Bes 
zirfsadjunft findet an einer hübſchen 


2. Januarheft 1899 


= 231 — 


Bauerndirn Gefallen, und nachdem 
er feine Schreiber und alle fonjtigen 
Berjonen unter ſehr zweifelhaften Vor— 
mwänden aus ber Stube hinausbejör- 
dert hat, füßt er das junge Ding ohne 
lange Zeremonieen ein paar Mal ab, 
was dem Mädel fo gut eingeht, daß 
e8 den Herrn Adjunkten fofort ins 
Haus, ihres Fünftigen Mannes einlädt 
und zwar zu einer Zeit, wo biejer 
Mann abmwefend fein werde. Solche 
Szenen ſchmecken ja mehr nach ſchlech— 
ten Literarüberlieferungen als nad) 
Leben überhaupt. Aber wenn man 
auch die Möglichkeit zugibt, daß ſich 
eine Halbkokotte allenfalls fo aufführe 
— ein fiebzehnjähriges Bauernmädel 
geberdet ſich unter ſolchen Umſtänden 
anders: ſo raſch und ſelbſtverſtändlich 
findet ſich eins, das Tag für Tag in Stall 
und Feld ſchafft, dann doch nicht im Die 
Paſchalaunen eines himmelweit von ihm 
verſchiedenen Stadtmenſchen und Ge— 
richtsherrn. Ausnahmen aber müßten 
als ſolche deutlich gekennzeichnet wer— 
den. Auch daß ein öffentlich aner— 
kannter „Depp“ von einem Bauern 
erllärt, e8 babe vor Freude in ihm 
„aufgefchrien*, al8 er gemerkt, daß er 
die Mali „in feine Hand* befommen 
habe, ſcheint mir nicht ganz dem 
Deppenmilieu zu entijprehen. Welche 
Mittel der Autor gelegentlih nicht 
verfhmäht, das zeigt auch wohl eine 
furze Snhaltsangabe des zweiten Aftes. 
Der Aufzug bejteht aus lauter Ges 
richtsſzenen. Erjte: Ein Bauer wird, 
ohne feinerfeits zu Wort fommen zu 
fönnen, vom Adjunkten fategorifch ab= 
gehandelt und verurteilt, worauf ſich 
natürlich zeigt, daß fie gar nicht den 
richtigen vor fi) haben. Zweite: Der 
Adjunft radebricht mit einem Italiener 
und läßt den Ahnungslofen, der fein 
Wort des Gerichtsherrn verftanden 
hat, einfach in Haft abführen. Dritte: 
Die ſchon geſchilderte Kußſzene. Vierte: 
Eine Verhandlung wegen Rauferei im 
Stile unfrer berühmten, wißigen Zei— 
tungsgerichtsperhandlungen. Gegen- 
über dem ftarfen Beifall, den das 
Stück fand, glaub’ ich diefe bedenk— 
lihen Punkte hervorheben zu müſſen: 
ein näheres Eingehen auf die früher 
beſprochene „Bürgermeifterwahl* darf 
ſich ja der Kunſtwart jegt eriparen. 
£. Weber. 

* Weber das Mefen der Hof— 
theater hat kürzlich Poſſart einiges 
Intereſſante in einer Erflärung gejagt, 
mit melder er Mngriffen in ber 
Münchner Preſſe begegnen wollte. „Wir 


Kunftwart 


geben Stüde von Halbe und andern 
Vertretern der modernen Richtung, 
aber e8 iſt ungeredht, von der Hofe 
bühne alles zu verlangen. Man ver: 
gikt bei der letzteren immer eines: 
daß fie nit bloß ein Sationalz, 
fondern aud) ein Hoftheater fein fol. 
Der Hof gibt jährlih eine Halbe 
Million dafür aus. Bei Hofe find’ 
acht minberjährige Prinzeſſinnen. Wir 
fönnen e8 nicht dahin kommen laſſen, 
daß fünftig das Hofmarfchallamt bei 
uns anfragen muß, ob der Beſuch 
diejer oder jener Borftellung für die 
jungen Damen geeignet fei oder nicht.” 
Sp müſſen denn die fünftlerischen 
Aufgaben der Hofbühnen darauf hin 
unterfucht werden, ob fie fih aud 
mit der Erziehung der acht jungen 
Damen vertragen. Poſſart hätte ebenfo 
gut fagen fünnen: man darf von den 
Herrſchaften nicht verlangen, daf ihnen 
vorgefpielt werde, was ihnen nicht 
gefällt, und fo iſt e8 eigentlidy befon- 
ders nett von den jungen Pringzeflinnen, 
daß fie nidt nur Stüde fordern; 
die jungen Mädchenherzen lieblich firtd, 
Mir Sprechen ganz ernithaft, wir fpotterf 
Herrn von Boilarts nidt — denn 
wir müjlen ihm in diefem Punfte 
volllommen recht geben. Bezahlt ein 
Fürft für ein Theater eine halbe 
Million jährlich, jo ſoll's ihm einer 
verdenfen, wenn er die Sade dafür 
men nad) feinem Familien-Bedarf 
haben will! Aber freilich: feine Zivil: 
lite wird fo hoch bemefien, weil der 
Staat von der Borausjehung aus— 
geht, er werde jene „Repräfentation®- 
gelder* zahlen. Zu Anſtalten, die allein 


| der $unft dienen, fünnte man deshalb 


diefe Bühnen nur machen, wenn man 
die betreffende halbe Million der 
Zivilliſte abſchriebe und für ihre 
gegenmärtigen Zmede unmittelbar 
beitimmte. Dann hätte man Statt der 
Hoftheater ſtaatliche. Aber welches 
deutſche Parlament entſchlöſſe ſich zu 
einem jo „verwegenen“ Schritt! Und 
ſchließlich iſt zuzugeben, daß die Or— 
ganifation eines Staatstheaters auch 
nicht einfach wäre, wenn es alle Auf— 
gaben der gegenwärtigen Hoftheater 
übernehmen müßte. 

*Etwas von Klatſchen und 
Verbeugen. 

Man macht uns auf eine Rezen— 
fion der „Boffifhen Zeitung“ aufmerk— 
fam, in der gelegentlih der Auffüh— 
rung von Georg Ruſelers Stück „Die 
Stedinger* in Berlin Franz Servaes 
u. 9. fchreibt: „Es war eigentümlid, 


— 2 — 


ihn zu fehen, mie er vors Publikum 
trat und fi) verbeugte, der etwa 
dreikigjährige Schulmeifter aus dem 
Marſchland: ein obiger, bebriliter 
Bauer, glattrafiert wie ein fatholifcher 
ſtaplan, mit einem etwas pfäffiichen 
Bug in dem bleichen, grobgeſchnitzten 
Geſicht.“ Schön finden wir das wirk— 
lich nit, aber nit annähernd fo 
widermwärtig wie die erhabene Ueber— 
—— des Geiſtreichen, der im 
„Börſenkouriere“ fragt: „die ſchwarzen 
Handſchuhe, die Herr Ruſeler trug, 
ſtammen wohl auch aus Oldenburg ?* 
Auf die Handſchuhe, jawohl, auf die 
kommt's an. Schließlich müſſen mir 
Friedrich Lange zuſtimmen, der über die 
ganze Verbeugerei vor dem Publikum bei 
dieſer Gelegenheit ſagt: „Mir iſt es 
immer ein Gegenſtand des Erſtaunens 
geweſen, daß ſich die Bühnendichter 
zu dergleichen Faxen herablaſſen. Ver— 
führt ſie die Eitelleit dagu, nun dann 
erfüllt ja die Eitelkeit auch hier ihre 
Zauberkraft im Dienſte der Geſellig— 
feit, daß fie die Brücke ſchlägt zwiſchen 
denen, die ſich ſonſt um einander nicht 
kümmern würden, und dann iſt kein 
Wort darüber zu verlieren. Verbeu— 
gen ſich die Dichter aber aus Ueber— 
zeugung, ſo möchte ich wohl die Logik 
kennen lernen, die ſie zu dieſer Sitte 
überredet. Auf die Bühne gehören 
die Schauſpieler; ſie mögen ſich ver— 
beugen, da es zu ihrem Berufe ge— 
hört, dem Publikum zu Gefallen zu 
ſein. Aber der Dichter — von ihm iſt 
es eine Nachgiebigkeit an den demo— 
kratiſchen Inſtinkt, und ſolche Nach— 
iebigkeit, wenn ich ſie in eigener 
—* mit meinem ganzen Selbſt 
leiſten ſollte, würde ich mir dreimal 
überlegen. Vollends in Berlin, vor 
einem Parkett von — na, ſagen wir: 
nicht von Königen!“ 


Muſik. 


*Lieder und Sänger. 

Die Programme unſerer Lieders 
abende jehen traurig aus. Bon einigen 
rühmenswerten Ausnahmen abgefehen, 
herrſcht hier troftlofe Gleichförmigteit. 
Schubert (Müllerlieder, „Schmwanen= 
gefang”, niemals aber die herrliche 
Winterreife),, Schumann („Der 
Ben Kiebe und Leben“, „Der Nuß— 

aum*, „IH grolle nicht“, 
freis [Eichendorff] mie verfchollen), 
Beethoven (Wdelaide u. ſ. w., Die 
herrlichen englifchen Volfslieder jo gut 
wie nie), Mendelsfohn („Frühlings- 


Lieder | 


— — —S — — —— en — nennen, 


lied*, „Auf Flügeln des Geſanges“ — 
der Reit fast ganz verfhollen), Brahms 
(„Deine Liebe ijt grün”, „Ständen“, 
„Bon emiger Liebe“ u. f. w. Die 
Magelonenlieder troß aller Ugitation 
faft nie), Rob. Franz (Rofenlied, 
„Stille Sicherheit“, — ſonſt unglaubs 
lich ra — das märe fo das 
Schema Bon Hugo Wolf, Richard 
Strauß, Maufe, Prochazka, Plüdde— 
mann, Fielit, Hans Hermann, Pfitzner, 
Zemlinsky, Nodnagel, Zumpe u. f. w. 
weiß man in unfern Stonzertfälen faft 
nichts. Noch zahlreicher find die uns 
gehobenen, beijeite gemworfenen Schäße 
an alter Literatur. Wo Hört man 
3. B. bie herrlichen Bearbeitungen Bad)= 
Icher Arien von R. Franz oder des— 
jfelben Meifters Ausgabe der Balladen 
von F. Grimmer? Liſzts Lieder find 
(„ES muß ein Wunderbares fein” und 
„Loreley“ etwa ausgenommen) vers 
geilen. Aurz: e8 wird ftelS das— 
felbe von denselben gefungen. 
Wie gedanfenlos und le da 
vorgegangen wird, zeige nachfolgendes 
Erempel. taum zwei Jahre iſt e8 ber, 
daß man bie Deffentlichkeit auf Hugo 
Wolf aufmerfiam madte* und ſchon 
heute wird ein großer (und mwahrlid 
nicht der fchledhteite) Zeil feines Werfes 
bei den Sängern wieder vollitändig 
vernadläffigt. So die herrlichen Goethes 
lieder und die Gefänge nad) Texten 
Michel Angelos, während man fein 
„Wächterlied“, „Anafreons Grab“, 
„Der König bei der Krönung“, „Bite: 
rolf“ allwöchentlich hören fann. Auf 
diefe Weife geht der ideale Zmed der 
Liederabende — dem mufilliebenden 
Bublitum Führung, Anregung und 
Belehrung zu bieten, die alten Meifter 
au pflegen und neue befannt zu machen 
— gänzlich verloren. Ja, wenn man 


überhaupt nad) Programmen urteilen 
wollte, fönnte es jcheinen, dab Die 
Meiſter des Liedes nur die par Opern 


' geichrieben haben, 





die uns unjere 
Sänger und Sängerinnenimmer wieder 
vorführen. Außerdem: Wie — frage 
ih — jollen denn jüngere, redlich 
ftrebende Muſiker befannt werden, 
wenn man ihnen die Pforten der 
Sonzertfäle verschließt? Denn Die 
Konzertſäle find es, von wo aus Muſik— 
mwerfe ihren Zug durd) die Welt ans 
treten. Dan hört im Konzertſaal ein 
Lied, e8 hat einem gefallen, man kauft 


* Den HunitwartsLejerfreis aber 
ausgenommen, der weiß von ihm feit 


' mehr als zehn Jahren etwas. 


2. Januarheft 1899 


es, empfiehlt es an Freunde weiter — 
und fo wird die tompofition befannt. 
So menigjtens ſolllte e8 fein. Aber 
ftatt deſſen fommt es vor, daß oft 
monatelang fein einziges neues Lied 
gefungen wird — hödhitens etwas vom 
Stlavierbegleiter, mit dem man fi 
ja „itehen* muß... 

Und mas läßt fich gegen bie ge= 
ſchilderte oberflächliche Gedankenlofig- 
keit thun? Vielleicht wird man, um 
wenigſtens teilweiſe eine —— zu 
ſchaffen, auf die außer Uebung ge— 
kommenen, übel angeſehenen Kompo— 
ſitionskonzerte zurückgreifen müſſen. 
Beſſer freilich wär es, wenn ſich der 
denkende Teil des muſikliebenden 
Publikums ſelbſt gegen die Laßheit 
von Sängern und Sängerinnen, die 
ihre Programme auf die eingangs ge— 
ſchilderte Art zuſammenſtellen, ver— 
wahren wollte. Das wäre der natür— 
lichſte und beſte Weg. Mar Garr. 

*Beim Beginn eines der legten Kon= 
zerte der f. Hoffapelle inBerlim machte 
man durch die Verteilung grüner Zettel 
befannt, daß infolge eines unvorher— 
gejehenen Zwiſchenfalles das ange— 
fündigte Ordeiterjtüd „Zwiegeſpräch“ 
von Scillings ausfalle und dafür 
die Tannhäuferouvertüre eingefchoben 
werde. Der „unvorhergejehene Zwiſchen— 
fall* beſtand aber darin, daß das Wert 
vormittags bei der Hauptprobe vom 
Publikum ausgeziiht morden mar. 
Demnach wid Weingartner vor den 
Meinungsäußerungen eines anonymen 
Konzertpubliftums tapfer zurüd. Wir 
unjerjeit8 meinen: war die fompofition 
wirklich ſchlecht, dann hätte fie über- 
haupt nit aufs Programm gefeht 
werden Dürfen, hielt man fie aber für 
gut, dann hieß es: durch. Dan jtelle 
ih vor, wie fih in foldhen Fällen 
etwa ein Bülow verhalten hätte. Wenn 
ſich auch unsre eriten Stonzertdirigenten 
nicht mehr als Erzieher und Führer 
zur Kunſt fühlen, fondern einfah als 
ausführende Angeftellte der Publikums— 
Viellöpfigkeit, dann find wir am 
Ende. 

* Eduard Behm, der Kompo— 
nift der in Dresden aufgeführten 
neuen Oper „Der Schelm von Ber- 
gen“, iſt als der ganz vortreffliche 
Klavierbegleiter Eugen Guras in 
weiten reifen befannt, bat fi) aud) 
als ZTonfeger ſchon früher bethätigt, 
mit einem rejpeftablen Sertette für 
Stelzner =» Inftrumente (2 Biolinen, 
Viola und 6 Biolotta, Cello und Cel— 
Ione), das aus einem WPreisausfchrei= 


Kunftwart 


— ——— — — — — — — — — ——— — — 


ben hervorging. Auch dieſer ſein ge— 
wiß reſter dramatiſcher Verſuch kann 
immerhin als eine Talentprobe gelten. 
Freilich, kurz und allgemein geſagt, 
iſt auch der Behmſche „Schelm von 
Bergen“ eben nur eines unter den 
vielen Muſikdramen, die durch den 
Regen der Wagnerbewegung befruchtet 
worden ſind. Keine Faſer darin, die 
nicht durch Wagner (im beſonderen 
durch die Nibelungenring-Partituren) 
geſiebt wäre. Und doch iſt's immer 
noch alles Mögliche und aller Aner— 
kennung wert, daß überhaupt Motive 
zum Vorſchein kommen, die als ſolche 
zu entziffern ſind, wenn ſie auch, von 
einem reizvollen Menuett im alten Stile 
abgeſehen, bei ihrer Kleinheit und ner— 
vöſen Unruhe mehr wie melodiöſe 
Flimmerſchwänzchen, denn wie rich— 
tige, feſte Melodieleiber ſich bewegen. 
Die Dürftigkeit der Handlung darf 
man auch hier nicht an den aufge— 
wendeten, großen Mitteln abwägen 
* Orcheſter herrſcht die reine Nibe— 
ungen-Polyphoniums-Farbenpracht), 
ſonſt nimmt ſich das Ganze doch jo= 
zuſagen wie ein Wagnerſturm im 
Waſſerglaſe aus. Die Handlung lehnt 
ſich an die bekannte Ballade vom 
„Schelm von Bergen“. Auch iſt das 
gleichnamige Luſtſpiel von Roquette 
mit benutzt worden. Zu Beginn das 
Maskenfeſt, zum effektvollen Abſchluß 
ber Preis- und Dankchor, dazwiſchen 
das Hin und Her eines doppelten 
Liebesvexierſpiels: der edle, als Trou— 
badour verkleidete Henkersmann und 
Titelheld umgirrt die ſchöne Herzogin 
und über Kreuz der großmütige Herzog 
die pikante Henkersfrau, nachdem diefe 
als Wahrſagerin alle die merkwürdige 
Verliebtheit den Leuten aus den Hän— 
den vorausgeſagt hat. Als dann nach 
dem Menuett die Masken gelüftet 
werden müſſen, entladet ſich das Ge— 
witter. Aber es bleibt, gottlob, bei 
kalten Schlägen, der Ausgang iſt ſo 
überraſchend gut wie möglich: ſtatt 
daß der edle Henker für ſeine geniale 
ei ae den Kopf laſſen muß, wird 
er feierlich vom Herzog, den die große 
Verteidigungsrede tief gerührt Hat, 
zum Ritter geichlagen. 

In letzter Zeit hat unfere Opern 
leitung einen löblihen Eifer entwidelt, 
ältere, befonders in Dresden vernach— 
läffigte Werke auszugraben und nad) 
Kräften wieder zu Ehren zu bringen, 
wie „Euryanthe*, die wegen ihres 
mijerablen Textes ja leider nicht 
dauernd auf den Spielpian zu Halten 


234 — 


ift, und den köſtlichen „Barbier 
von Bagdad“ von Peter Gorneliuß. 
Der „Eid“ des liebenswerten Dichter= 
mufifers ift in Vorbereitung Mit 
Berdis großartigem „Othello“ wurde 
bie Winter-Spielzeit glanzvoll eröffnet. 
Die Stapelle hat einen beflagenswerten 
Verluſt durh Rappoldis NRüdtritt 
erlitten. 

Ueber anderes Ridhtige aus dem 
Dresdner Mufilleben ſprechen wir zu— 
fammenfajjend fpäter. 

Karl Söhle. 

* Zur Berofi- Reklame. 

Das letzte Mal fpraden wir vom 
neuen großen Mascagni-Preßrummel, 
aber die italienifhen Verleger laſſen 
fidy’8, das muß wahr fein, ein Heiden= 
geld fogar bei chriſtlicher Muſik koften. 
Und zudem: ja, was ſollt' es denn 
auch für den Hunftteil einer deutjchen 
Zeitung Wihtigeres geben, als daf 
man in Rom von einem Muſiker 
meint, er fei ein Talent? Natürlich 
haben die Hoftheaterintendangen in 
Berlin und Wien fidh beeilt, das 
wälfche Wunder zur Aufführung feines 
Werks in Berfon zu „gewinnen“. Es 
ift rein, als ob Berofi das Oratorium 
erfunden, als ob ein Bad, Händel, 
Haydn, Mendelsfohn, Schumann, 
Lift, Frand, Tinel nie gelebt hätten. 
Das Gute in Ehren, woher es fomme 
— aber wenn ihr deutſche Kunſt in 
Deutſchland nicht bevorzugen mollt, 
meine Herren, dann doch mwenigftens 
ein bishen mehr Gleichſtellung 
deutfher Komponiſten mit fremden, 
wenn's beliebt! Wo bleiben bie Po— 
ſaunenſtöße der Preſſe, wenn ein 
deutſcher Komponiit ein gutes Ora— 
torium jchreibt, und mann fällt es 
dem Wusland ein, einen beutjchen 
Komponiiten fofort zu ſich einzuladen % 
Wir wollen im eigenen Hauſe ein 
verjtändiges Htunftleben, aber was ba 
drinnen geidicht, darauf hören mir 
nidt. Denn wir müffen die Ohren 
fortwährend draußen vor dem Thor 
haben: ob nicht irgend wer von an— 
derswo die Straße her pfeift. 

Uebrigens iſt auch bei Berofi die 
Mache ganz leicht kenntlich, wie tas 
lentvoll der Mann fein mag. Eine 
echte Bewegung bei folden Dingen 
geht fo: anerfennende Berichte, dann 
ftärfer anerfennende und eingehendere, 
furz: ein Wadfen der Erwärmung 
für die neue Sache. Eine gemadte 
aber beginnt fait nie mit hohem Lob, 
dazu find die Herren zu geicheit, weil 
das Widerſpruch erweden fünnte, be= 


vor die Mache ftarf genug ward, ihn 
zu ertragen. Alſo: zunächſt ganz 
ruhige, jcheinbar objettive Beſprech— 
ungen, die Einwände nicht verhehlen 
und ſtarke Mängel zugeben. Man 
Tiejt e8 und legt's beifeite. Während 
aber nun ein anderes nidt mehr 
Ferner Werk ein für alle Dal erle» 

igt wäre, fommen Feine Notizen über 
diefe8, und immer neue, unb während 
die anfängliche leidlich zutreffende 
erite Beſprechung allmählich ver— 
gejlen wird, fuggeriert die Häufigkeit 
der Notizen allmählich bem Leſer, daß 
ſich's dod um was ganz auferordent= 
lihes handeln müſſe. Dann erit 
wird von demfelben Werft ganz felbit- 
veritändlih wie von etwas hochbe— 
deutendem geſprochen: das Wunder— 
kind iſt mit der Reklame nun aufge— 
päppelt. So war's mit Mascagni, 
fo iſt's mit Perofi: die erften Kritiken 
fagten von ihm bei aller Anerfennung 
feines Talents gan; unumwunden, 
eine originelle Künſtlernatur fei er 
nit. Statt der natürlihen Folge: 
rung daraus: lafjen wir ihn alfo in 
Frieden, fam dann die fünftlihe: er: 
ichleihen wir ihm alfo, nachdem wir 
der ehrlichen Gegenkritik durch unfer 
Zugeitändnis den Mund verfchlofien, 
nun umſo munterer von hinten her= 
um ein Rühbmden und uns ein We: 
fhäfthen, indem wir tro% unfrer 
eriten Bejprehungen ihn als großen 
Dann behandeln. 


Bildende Kunft. 


* Zur Ehrung Adolf Menzels. 

Kaifer Wilhelm Hat, mie die 
Zeitungen mitteilten, an Prof. Anton 
von Werner das folgende Telegranım 
gerichtet: „Ih habe Sr. Exzellenz dem 
Profeſſor Dr. v. Menzel meinen hohen 
Orden vom Schwarzen Adler ver— 
liehen; e8 foll diefe höchſte Ehrung, 
die einem Künſtler je zu teil geworben, 
ein Zeihen meiner Dankbarkeit fein 
für die durch feine Kunſt meinem 
Haufe geleijteten Dienjte, ſowie ein 
Sporn werden für die Jünger der 
Kunſt der Malerei, aud) auf den von 
Menzel fo erfolgreich betretenen Bahnen 
au folgen und zu ftreben, es ihm gleich— 
zuthun. Wilhelm R.* 

Diefe faiferliche Kundgebung wirft, 
abgejehen davon, daß fie als ein Zeugs 
nis dankbarer Gefinnung erfreut, ins 
fofern außerordentlich angenehm, als 
in ihr einmal ganz unzweideutig zum 
Yusdrud fommt, daß derartige höchite 


2. Jannarheft 1899 


— 25 — 


Ehrungen“ für Verdienite um das 
Kaiferhaus verliehen werden, nicht 
alfo etwa für Berdienite um Die 
Kunft. Un fi ift es ja nur felbit- 
verftändlih, daß weder Monarden 
noch Regierungsbehörden in Sadıen 
der Kunst zuftändig fein fönnen. Uber 
e8 gibt doch noch recht viel naive 
Menſchen, die in der fozialen Stellung, 
in Titeln und Orben eines Künſtlers 
auch einen Maßſtab für feine fünft- 
lerifhen 2eijtungen erbliden; und 
viele, die diefeDteinung für ih imStillen 
nicht teilen, halten e8 doch für nützlich, 
monarchiſch, ja „patriotifch”, ſie öffent 
lich zu befennen. Diefen allen iſt der 
Kaifer mit gewohnter Offenheit ent- 
gegengetreten, indem er als maß— 
gebendes Motiv für die Verleihung 
„bödhiter Ehrungen“ Verdienite um 
den Glanz feines Haufes enthüllt hat. 
Damit klärt er aljo in dankens— 
werter Weife auch weitere ſtreiſe über 
den eigentlihen Wert von Orden und 
fonftigen ſtaatlichen Auszeichnungen 
auf. Vorausgeſetzt allerdings, daß fie 
das klar Gefagte verftehen wollen. 
Das Leben Menzels, in deſſen geijt- 
voll und oft recht ſcharf ſatiriſcher Uuf— 
faffung in der That der preußische Hof 
und die, fo ihm nahejtehen, vor der Zus 
funft weiterleben werden, hatte fieben= 
jig Jahre gewährt und e8 fam hoch 
"Damit und e8 währte achtzig, aber nod) 
immer war ihm die Auszeichnung nicht 
geworden, die ihn gegen die Witte 
des neunten SLebensjahrzehntes Hin 
überrafhen ſollte. Es iſt gemiß: 
er hat nicht nach ihr geſtrebt. Und 
es iſt wohl auch gewiß: feine Ktunſt 
wäre ebenſowenig wie eine andere wirk⸗ 
lich geniale durch die Hoffnung auf den 
Schwarzen Adlerorden oder eine 
andere allerhöchſte Belohnung ge— 
worden, was ſie ward. Wenn wir 
uns alſo angeſichts des zweiten, des 
pädagogiſchen Teils der kaiſerlichen 
Drahtung fragen, wer durch ſolche 
Ehrung zum Betreten der Menzelſchen 
Bahnen angeeifert werden ſolle, ſo leud)= 
tet ein, daß die wirklich großen Künſtler 
hier von vornherein auszuſcheiden ſind. 
Ganz offenbar kann der Kaiſer nur die 
mittelmäßigen Talente und ſchwächern 
Charaktere unter den „Jüngern der 
Kunft*“ veritanden haben und fann * 
das „gleichthun“ nur auf die dynaſti— 
ſchen Dienſte beziehen. Denn hervor— 
ragende Talente oder gar Genies 
können ja überhaupt einen Ratſchlag 
über die Bahnen, denen fie zu folgen 
haben, jelbjt wenn er aus faiferlihem 


Kunftwart 


Munde kommt, ſchwerlich verwerten; 
fie finden das höchſte ihnen Er— 
teihbare nur auf den Wegen, 
die ihre eingeborene Begabung ihnen 
weilt. Sollte man annehmen, ein 
Goethe oder Schiller, ein Wagner oder 
Klinger hätten den Geift ihrer Werke 
nad) der Ausfiht auf einen hohen 
Orden modifiziert? Seine Majejtät 
fann fi) von der pädagogiſchen Ab— 
ficht feiner Berleihung ——————— 
nur bei Künſtlern Erfolg verſprechen, 


deren Thätigkeit ſich durch au ßer künſt— 


leriſche Motive beeinfluſſen läßt. Die 
praktiſche Folge des Erlaſſes dürfte 
demnad eine Etärfung der bynaftifchen 
Hofkunſt jener Art fein, die fich bei 
Begas, U. v. Werner, Rafchdorff, Knack— 
fuß, Leoncavallo, Zauff u. ſ. w. ent 
mwidelt, Männern, unter denen wir 
vielleicht die nächiten Künſtler-andi— 
daten für den Schwarzen Udlerorden 
au fuchen haben. 

* Huch auf gediegene Ginbände 
richtet fi) unter der Einwirkung der 
„neuen Kunjt“ nun häufiger das Augen— 
merf; mehr und mehr Bücjerfreunde 
ftreben darnach, die gejchmadlofe 
Marktware an Bücherbänden durch 
Gutes und Mürdiges zu verdrängen. 
Bei den Bölfern, deren äſthetiſche Er— 
ziehung meiter vorgeſchritten iſt als 
die unſrige, ſteht dem nichts beſonderes 
im Wege. Die Engländer 3. B. liefern 
ihre Bücher in einfachen Kartonnagen 
unaufgejchnitten. Da mags dann der 
Käufer halten, wie er will; er fann fie 
fo laffen oder zum Buchbinder geben. 
In Deutſchland aber fommts hHäufigvor, 
daß neue Bücher nur gebunden und be= 
fchnitten ausgeliefert werben. Das heißt 
aber, man stellt dem Bücdherfreunde, der 
mas von Einbänden verfteht, dieſe 
Wahl: entweder er jtelle den „Originals 
einband“ von Berlegers Geihmad in 
feinen Schranf, oder er verzichte auf 
das Bud. Wird der freundliche Nat 
gegeben: „wechſeln Sie doch den Dedel 
aus“, fo ift das, wenns nicht Spott 
ift, eine Gedantenlofigkeit, denn erſtens 
liebt e8 der Bücherfreund oft, gute 
Merfe nur oben des Staubes wegen 
ein wenig zu bejchneiben und zu ver= 
golden, und zweitens brädhte jenes IIm= 
binden bei folider Ausführnng ein 
boppeltes Beſchneiden mit fi, und 
da8 machte den Rand noch ſchmal— 
fhultriger. Selbit die Qurusausgabe 
von Bismards „Erinnerungen“ konnte 
man, jelbjt wenn man fie ſechs Wochen 
vor dem Erfcheinen beftellt Hatte, in 
feinem ungebundenen und unbes 


Jchnittenen Exemplar befommen, felbit 
Bismarcks hochbedeutfames Werk alfo 
fann man ſich nicht wahrhaft vornehm 
einbinden lajjen. Solden Erfahrungen 
gegenüber wird die Forderung dring= 
lih: maden wirs wie die Engländer, 
geben wir fartonnierte Exemplare 
mit unbejdhnittenen BT un 


Dermifchtes. 


* Beim Tode Moritzens von 
Egidy haben wir in den Zeitungen 
fo und fo oft die VBerficherung gelefen, 
der Dann fei feine geiftige Größe ge— 
weſen, er hab e8 wohl gut gemeint, 
aber feine Gedanken hätten dem Wol— 
len nicht entijproden, und fo feine 
Arbeit verfehlt geweſen. Nun ift e8 
wohl war, ein großer Denker war 
Egidg nit, aber feine Arbeit war 
troßdem nicht verfehlt — man follte 
nit glauben, mit derlei Bemänges 
lungen das Widhtigfte über ſolche Er— 
fheinungen hervorzuheben. Auch feine 
größte Bedeutung lag ja darin, daß 
er rückſichtslos die Konſequenzen aus 
ſeinen Erkenntniſſen zog, daß er ein 
„Belenner* war, auch er war weit 
mehr als ein intelleftuelles ein ethi— 
ſches Talent, und fo wirkt' er meit 
weniger durch jeine Gebanten als 
durch feine Perſönlichkeit vorbildne— 
riſch erziehend. Wir, deren Endziel 
es iſt, im Leben aller Künſte nichts 
Minderes als den unverfälſchten Aus— 
druck des Empfindens zu ſehen, den 


großen Austauſch des Fühlens der 
Nation, wir haben am wenigſten 
Grund, ſolche Männer gering zu be— 
werten. 

"Im Simpliciſſimus-Prozeſſe 
hat alſo der Zeichner Heine ſechs 
Monate bekommen, und wegen „Fahrs 
läffigfeit* find fogar die Druder 
beitraft morden. Die Berhandlung 
war wieder geheim, bamit nit von 
hundert Zuhörern all das Entjegliche 
vernommen mwerbe, was danf ber un= 
ſchätzbaren Reklame durch die Anklage 
einige hunderttaufend Menſchen mehr 
erfahren Haben. Hinſichtlich unfer 
Stellung zu biefen fhönen Saden 
verweifen mir auf den Auffag zum 
„Halle Trojan“. 

+ MWürbern“. 

Die fämtlihen Tageszeitungen, 
melde die letzte Poſt uns bradte, 
machten ſich über „ein köſtliches Pröb- 
hen von Berwaltungsdeutfh* Iuftig: 
das WUmtsgeriht von Weida fagt in 
einem Berjteigerungsausgebot, ein 
Grundbefiß fei auf fo und fo viel 
Mark „gewürdert“ worden. „So wer— 
den wir richterlich »ſprachbereichert⸗“, 
heißt es einſtimmig dazu. Werte Herren 
von der Vreſſe, bier Hat ſich leider 
niht das Amtsgericht von Weida 
blamiert, fondern ihr habt's gethan, 
und zwar „voll und ganz“. Denn 
„würdern“ iſt feine „Sprachbereiche— 
tung”, jondern das ganz alte gute 
beutfhe Wort für das Fremdwort 
„tarieren“. 





Unsre Beilagen. 


Mit unfrer Mufifbeilage legen wir diesmal eine Szene aus Wilhelm 
Kienzls neueſtem Opernwert „Don Quirote* vor — einer Tragilomödie, 
wie man auch beim Spielen unſrer Probe nicht vergejlen darf. Es ijt die 
tomanzenartige Es-moll-Stelle des dritten Altes, die eine Probe der Kienzlſchen 
oollstümlich plaftifchen Melodik geben mag. Den melandolifen Terzengang 
ber Einleitung führen die Mlarinetten aus; dann ertönt in den Hörnern das 
Motiv der Ritterflage, während das Gello mit einer feufzenden Figur ſich ein- 
miſcht. Die Kantilene felbft wird von den gebämpften Streichern begleitet. 
Bei der Wiederholung des Satzes „fern von Dulcinea“ fest glanzvoll die Harfe 
‚ein. — Mlavierfpielern feien aus dem bei Bote & Bod erſchienenen Klavier— 
auszuge (ME. 20.—) die ftimmungsvolle „Waffenwadht” und die beiden ſym— 
phonifhen Intermezzi empfohlen. 

Eine große Freude ift e8 uns, dab wir den Lefern heut zwei der herr- 
lichſten Blätter Klingers mitgeben dürfen und zwar in Reprodultionen, bie 

2. Januarheft 1899 


= 237 — 


dankt außerordentliher Bemühung der Münchner Firma Dr. E. Albert & Eo. 
den nur im Feiner Auflage möglichen Lichtdruden (zu je 2 ME.) faum nach— 
ftehen, wenn fie aud) die Herrlichkeit der Originalradierungen natürlich nur ahnen 
laffen. Diefe, die Originalradierungen, finden ſich befanntlich in der „Brahms= 
phantafie*, von welder noch Eremplare zum! Preife von 450 ME. von Amsler 
& NAutbard "in Berlin zu beziehen find. Den Tert entnehmen wir ber im 
gleihen Berlage erfchienenen feinen Schrift „Mar Hlingers Griffelfunft* von 
Ferd. Avenarius: 

Klinger eröffnet und ſchließt bie erjte Reihe diefer Blätter, wie mit einem 
gezeichneten Vor⸗ und Nachſpiel, mit mei Vollbildern, die Veranſchaulichungen 
find der befeelenden Macht der Mufil. „Akkorde“ und „Evofation* find fie 
genannt; wir wollen fie miteinander. betraditen. 

Yuf einem nüchternen hölzernen Gerüft, das den Gedanken an eine 
Symbolifierung der Alltagsprofa an uns vorüberhufhen läßt, figt der Spieler 
vor feinem Inftrumente am Meeresjtrand, den Blid auf die Noten geheitet, 
neben fich die geliebte Yrau. Und nun fi die Noten zu Tönen beleben, beginnt 
die Seele bes Spielenden auf den Wogen der Muſik Hinauszufhmeben, mie 
der Menfh dort im Sahne auf den Wogen ber See zu erniten Heiligtümern 
ftrebt. Ein munderfames Regen beginnt in der Natur. Die See, das fel- 
fige Ufer drüben, die Wolfen, die über ihm hinftreihen und aufwachſen: wir 
fühlen es, all das wird mehr, als Wafler, Stein und Luft. Da aus der Tiefe 
hebt fich eine gewaltige Harfe, ein Haupt iſt darauf und auf diefem Haupte 
ein mufchelartig Gebild, als raufchten in ihr, wie in der Mujchel, die Geheim- 
niffe des Meeres. Töchter der See tauchen auf und greifen nad) ihren Seiten. 
Uber der Zauber der Muſik beginnt erit; er Spieler droben fieht von all dem 
MWerdenden noch Nichts. 

Er fpielt und fpielt, mächtiger und mächtiger wird die Welt der Mufit. 
Endlih, bei einem volltönenden Aklorde, blidt. er auf — das ſchildert das 
zweite Blatt — und fiehe: zu neuem Leben durchgeiſtigt erſcheint ihm nun, 
was ihn umgibt. Emporgerauſcht ijt die Harfe, die toten Höhlen in ihrem 
Haupt haben fi gefüllt mit mächtig blidenden Augen, durch die tönenden 
Saiten aber grüßt ftatt des verſchwundenen irdiſchen Weibes den Spieler das 
göttliche, das alles nur Erdenmähige von ſich geworfen hat, wie Maskentrödel. 
3u höherer Ordnung verwandelt fcheint felbjt das Geländer bes Gerüftes, wie 
der Begeifterte Edleres auch im Gemöhnlidjiten erkennt. Berge und Himmel 
aber über dem fingenden Meer find Gejtalt geworden: die Töne haben das 
Tote erwedt aus dem Stein und fihtbar gemadht aus den flüfternden Lüften 
— nun lebt die ganze Natur, und ihre Titanen find erwacht zum Kampfe. 


Inhalt. Das Thema vom Glück in der Dichtung. Bon Karl Spitteler. — 
Für die gute Familie. Bon Adolf Bartels. — Das Konzertweſen der Gegen= 
wart. — Volkskunſt. — Etwas über Technik in bildender Kunſt. Von Schulges 
Naumburg. — Spieltrieb, Schönheitsdurft und Wirtfhaft. Von Arthur Dir. 
— Loſe Blätter: Gedichte von Th. Weftphal, Helene Voigt, Wilhelm Lobfien. 
Mondſpuk. Bon Leopold Weber. Epigrammatifches. Von Ferd. Avenarius. 
— Rundſchau. — Bilderbeilagen: Mar Klinger, Akkorde, Evofation. — Noten= 
Beilage: Aus „Don Quixote“. Bon Wilhelm Sienzl. 


Derantwortl. : der Herausgeber $erdinand Upenarius In Dresden-Blafewig. Mitredaftenre: fär Mufif:: 
Dr, Rich ard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Kun: Panl Shulge:- Naumburg in Berlin, 
Sendungen für ben Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr, Batfa, 

Derlag von Georg D. W. Callwey. — Kgl, Hofbuchdruderei Kaſtner & £offen, beide in Mändgen. 
Beflellungen, Anzeigen und Geldfendungen an ben Derlag: Georg D. W. Lallmer in Mänchen, 


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MAX KLINGER 
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 





Aus der Tragikomödie 
„Don QUIXOTE“ 


GESANG. 








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Roeinante einen Pfad vom Gebirge herab, lehnt sich an den Bug des Pfer- 






































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Mit Bewilligung der Verleger Bote & Bock, Berlin. 


verlag von GEORG D. W. CALLWEY, München. 
Alle Rechte vorbehalten, 45270 


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Vgl. den Text am Schlusse des Hauptblattes. 


Rundschau 


_ über 


Dichtung, Theater, Musik 
und bildende Münste. 


Derausgeber; 
Ferdinand Avenarins. 


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12. abroang. Erstes Februarbett 1899. Dett-9;, Cooale 


me u “in Malie: = Haha nel m Ein taun - 






= Der Runſtwanh = 
ericheint jährlid 24 mal in Beften von 32 Seiten (je zu Anfang und Mitte des Mionat:. 
Der Ubonmementspreis beträgt Mk. 2.50 für das Vierteljahr. 
nzelne Hefte foften 50 Pfo. 
Ale Zuchhandlungen und Poftanftalten, ſowie die unterzeichnete Drrlagsbandlunga nehm: 
Abonnements-Beftellungen entgegen. Probeheite unentgeltlich und poftfrei von der Derlagsbud 
handlung: Georg D- WI. Callwep in Abüncben. 
- Nachdruck fämtliher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Kofen Blätter” und der Beilaaen 
. unter — erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuſkripte wird Peine Gewähr 
übernommen, Rüdfendung at abgelehnter, 7 nur wenn. — Aipsete beilag. 













Paris 1889. Gent 1889, krönt u — 1891, 


P.FW. Bea —— Ma agenpulver. 


Sollte kein Magenleidender unversucht lassen, da es sofort alle Schmerzen und Beschwerden 
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Neuerweg 40 Neumarkt la. 








Gedächtnis. 


Poehlmanns Gedädtnisiehre entwidelt die Beobadtun und 4 be, 
fefele die Aufmeetfamteit, Fe von Zerfrentheit und Aählt das matärlide Bebkatnis 
LCeichtes 4 ——— ıc. Anwendung aufs praftifäe Ke Zeben. In | 
legten 2'/a Jahren 10000 Stände. Empfehlende Rezenfionen 
europäifde — — and ) Sahblättern. Pr mit Seugnifen me * 4 


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bett 9. 








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Etbiscb und Hestbetisch. 


„Kunſt und Moral“ überjchreibt man in der Regel das Sapitel, 
zu dem ich mir auch einmal einige Bemerkungen erlauben mödte. Ich 
gebrauche mit Abficht nicht diefen Ausdrud, weil ich bemerkt zu haben 
glaube, daß er mitichuldig ift an jo manchem Schiefen und Unzulänglichen, 
das bei den Erörterungen über diejes Thema zu Tage gefördert wird. 
Das Thema jelbit ift ja alt, e8 jeheint mir aber zur Zeit wieder wichtiger 
geworden zu fein als in manchen anderen Zeiten. Für die Gejundheit 
unferes geijtigen Lebens hängt ohne Zweifel nicht wenig daran, daß 
etwas mehr Klarheit in die Sache fomme, als zumeift in den Ver— 
bandlungen darüber zu vermerfen ift. 

Wenn ih mir überjchlage, was ih in den legten Jahren über 
„Kunſt und Moral“ lejen und hören mußte, und nad) dem Grunde frage, 
warum mir das meilte den Eindrud des Ungenügenden und Unfrucht— 
baren gemadt hat, jo jcheint mirs in der Hauptiache an folgendem zu 
biegen : 

Bei dem Worte „Moral“ pflegt man lediglid an die Summe der 
jeweils herrichenden fittlichen Begriffe zu denken, ſei nun ihr Herrichafts- 
gebiet eine ganze Stulturperiode, eine ganze Volksgemeinſchaft, eine be= 
jtimmte Boltsihichte oder mas immer — oder auch das Individuum. 
Immer wird an die vorhandenen, aus irgendweldhem Grunde irgendwo 
geltenden theoretifchen Anjchauungen und Urteile in fittlichen Dingen ges 
dacht. Und überdies werden dieje fittlichen Begriffe in der Negel nod) 
ziemlich flach und äußerlich im Sinne der landläufigen Alltagsmoral ges 
fat. Die Frage, die erörtert wird, ift dann nur, welchen Einfluß dieſe 
„Moral“ auf das Urteil in Kunſtſachen beanjpruchen dürfe oder nicht ? 

Unter „Kunſt“ aber veriteht man dem gegenüber lediglich die ge= 
wollte, bewußte, durd) beitimmte Ausdrudsmittel in gemiffen Formen fich 
vollziehende Darftellung eines für ſolche Daritellung geeigneten und aus— 
gewählten Gegenstandes — um welchen Zweig der Kunſt fihs nun handle 
und was im einzelnen jene Ausdrudsmittel und Formen fein mögen. 


Kunftwart 1. februarheft 1899 


Und die Frage Stellt fich von dieſer Seite nur fo: welche Gegenftände 
darf der Künſtler zur Darftelung bringen, ohne mit jener Moral in 
Widerſpruch zu geraten? Oder: hat er fid überhaupt in feiner Wahl 
und in feiner Darjtellung um die Grundfäge jener Moral zu kümmern 
oder gehen fie ihn ſchlechtweg gar nichts an? 

Dementiprechend pflegen dann auch die Antworten auszufallen — 
als magere Ergebniſſe oft recht geichmwollener Unterfuchungen. Im 
wejentlichen läufts darauf hinaus: entweder fagt man, es gebe aller- 
dings gemwilfe Grenzen, melche die Moral den Darftellungen der ſtunſt 
ziehen müſſe; ſowie fih8 dann aber um die Abſteckung dieſer Grenzen 
handelt, beginnt e8 um fo bedenflicher zu hapern, je äußerlicher der Be- 
griff der Moral gefaht war. Oder aber man fommt zu dem Schluß: 
Kunſt und Moral haben überhaupt nicht8 mit einander zu thun, die 
Moral habe fich jedes Urteild über die Kunſt zu enthalten; und wem's 
bei diejem freilich etwas billigen Ergebnis doch nicht ganz wohl ift, der 
gibt etwa nod) zu: e8 fomme immerhin auf das Wie der Darftellung 
an, hiedurdy könne unter gemwilfen Bedingungen die Dioral verlegt werden, 
nicht aber durd) das Was. Nur daß e8 abermals bedenklich Hapert, 
fomie nun jene Bedingungen Hargeftellt werden follen. 

Es ift kaum glaublich, welche Trivialitäten dabei auch von Leuten 
vorgebracdjt werden, bei denen man etwas anderes gejucht hätte. So, 
wenn eifrigft der Sat erörtert wird, die Kunſt müſſe das Recht haben, 
auch da8 Kalter darzuftellen, dafern e8 nur nicht in lafterhafter Abſicht 
und zur Nufmunterung des Laſters geichehe — und was dergleichen 
Binfenwahrheiten find, die teil8 von feinem halbwegs vernünftigen 
Menſchen bezweifelt werden, teils in ihrer Salglofigkeit feinen Hund 
vom Ofen loden. Und am Ende kommt bei all dem für die Klärung 
des Urteil3 oder gar für die Neberzeugung der Gegner jo gut mie nichts 
heraus. Der Moralphiliiter ftößt fi) nad) wie vor an jedem Kunſtwerk, 
das irgendwie über feinen fittlihen Horizont geht, der Bildungs- und 
Kunſtphiliſter läßt fi) nach wie vor jede Schweinigelei als Kunſt aufs 
ſchwatzen, wenn fie nur mit einigem formellen Geſchick gemacht ift; beide 
Philifterforten ſchimpfen über einander in großer Entrüftung, und — 
was das Betrüblichite ift — auch bei denen, welche weder zu der einen 
noch andern PBhilifterart gehören, findet ſich keineswegs jene jchöne 
„Hebereinftimmung aller Einfichtigen“, die man oft in jo rührender Be— 
reitwilligfeit vorauszufegen geneigt iſt. Der nächſte befte praktiſche Fall 
fann das Gegenteil in erichredender Deutlichkeit zu Tage bringen. 

Alio damit kommen mir auf feinen grünen Zweig. Wie wär's 
aber, wenn wir vorläufig einmal „Hunft und Moral* dahingeitellt fein 
ließen und etwas tiefer zu graben juchten, indem mir das fragliche 
Kapitel „Ethiſch und Aeſthetiſch“‘“ überfchrieben und uns zunächſt auf 
pſychologiſchem Wege über das thatlädhliche Verhältnis der mit diefen 
Worten zu bezeichnenden Lebenserjcheinungen einige Klarheit verichafften ? 

Wenn ich es verſuche, jo Habe ich natürlich vor allem Har zu 
lagen, was ich bei jenen Worten denfe. 

Im Unterichiede von der „Moral“ als einer überflommenen oder | 
irgendwie erworbenen Summe von fittlichen Begriffen und Grundfägen, 
alſo von einem mejentlich theoretiihen Bemußtieinsinhalt — verftehe 
ih unter dem Ethiſchen die mannigfach verichlungene Gefamtheit all 


Kunftwart 
— 290 — 


der jeclifchen Energien, welche bewußt oder unbewußt das Willensleben 
des Menichen bejtimmen. Und zwar bejchräntt fi) das, was hier Wille 
heißt, keineswegs auf gewiſſe bewußte Eingzelentichlüffe zu beitimmten 
Handlungen, fondern e8 umfaßt furzgefagt den ganzen Umkreis des, 
Aktiven im Menjchen, alles deſſen, was auf Lebensäußerung geht — 
im Unterjchied von der Aufnahme von außen fommender Eindrüde und 
je nachdem, in Reaktion gegen diefe Eindrüde. Es gehört alfo aufer 
dem bemußten Wollen im engeren Sinn aud) alles hieher, mas Ge— 
mütsbewequng heißt, Trieb, Affett, und mas oft nur unbemußt die Ak— 
tivität beftimmt; ferner wirft aud) das Vorſtellungsleben, die Phantaſie 
im meiteften Sinne herein, und auf Grund deijen allerdings auch, wenn— 
gleich oft nur in beſchränktem Maße das, was an jenen fittlichen Bes 
griffen und Grundfägen theoretifch dem Bewußtſein angehört, was aber 
nicht immer im hellen Lichte des Bewußtſeins, fondern oft genug in der 
unbewußten Form eine8 durch Uebung gefchaffenen Mechanismus in 
Thätigkeit tritt. In diefem Sinn ift das Ethifche die beherrichende Grund— 
rihtung des Aktiven im Menfchen, feiner Willensifphäre — und es bildet 
fo, weit hinaus über den engen Umkreis jener fogenannten Moral, das 
eigentliche Xebenszentrum deſſen, was wir Berjönlichleit nennen, etwa 
auch al3 den Charakter oder das beherrichende Lebenspathos bezeichnen. 
Dabei läßt fi) das, was von der individuellen Perjönlichkeit gilt, mit 
einiger Vorficht auch auf die Lebensäußerungen ganzer Völker, Volks— 
Ihichten, Hulturperioden und dergl. anmenden. 

In dem Ausdruck „ethiſch“ iſt demnach an und für fi) noch fein 
fittliches Werturteil enthalten mie fo häufig in dem Ausdrud „moralifch“ ; 
man wird auch nicht wohl in VBerfuhung kommen, „unethiſch“ zu jagen, 
wie man „unmoralifh“ jagt. Wohl aber fprehen mir fchon ein ges 
wiſſes Maß von fittlicher Billigung und Zuftimmung aus, wenn mir das 
Borhandenfein einer ethiichen Berlönlichkeit oder eines ethiichen Charakters 
feitftellen, während der Mangel daran, alfo die Abmejenheit einer be— 
ſtimmten Grundrichtung des Willensleben? uns ohne meiteres tadelns— 
wert erjcheint. Dagegen über den Inhalt, über die Beichaffenheit der 
ethiichen Berjönlichkeit ift mit der FFeititellung ihres Vorhandenfeins nod 
nicht8 Bejtimmtes ausgejagt; es kann kräftige, gejunde, feite, Hare, an— 
ziehende, bedeutende, große — es fann aber auch ſchwache, kranke, an— 
gefaulte, verichrobene, unbedeutende, widerwärtige ethiſche Berjönlichkeiten 
geben. 

Das Weſen des Aeſthetiſchen fodann liegt in der von allen 
praftifchen oder theoretifchen Intereffen befreiten Konzentration des Be— 
wußtſeins auf die finnlich vermittelte Anſchauung im weiteſten Sinne 
des Worte8 — und in der davon untrennbaren gefühlsmähigen Wertung 
der Anſchauung nach der Seite der Luft oder Unluft; und die ſeeliſche 
Energie, die dabei wirkſam ift, nennen wir die Phantafie, ob fie num 
produktiv oder rezeptiv fi) verhalte. Darüber wird im allgemeinen, 
mwenigiten® vom Standpunkt einer pigchologiichen Ylefthetif aus, fein 
Streit mehr bejtehen, wenn auch im einzelnen die Meinungen auseinander- 
gehen mögen. Dagegen ift in diefem Zufammenhang zweierlei aus— 
drüdlich zu betonen. Einmal: auch das äjthetiiche Verhalten ift innere 
Aktivität, ſelbſt wo es fi nit um Produktion von Gegenständen der 
älthetiihen Anfchauung, fondern um bloße Aufnahme von äfthetiichen 


1. februarheft 1899 
-. 29 


Eindrüden handelt — die Dinge an fi) find nicht äfthetifch, wir machen 
fie erit dazu, indem wir uns äſthetiſch zu ihnen verhalten. Sodann: der 
äfthetifche Akt, fer er im übrigen produktiv oder rezeptiv, vollendet fi 
exit, indem wir — in der Regel unbewußt, gefühls- und ſtimmungs— 
mäßig — unfere Perjönlichkeit in die Anſchauung hineinlegen. Dies ge= 
ſchieht ſogar im rezeptiven äjthetiichen Verhalten, ift ein mejentlicher 
Faktor in dem verwidelten jeeliichen Prozeß, dur) den wir die an ung 
fommenden Eindrüde zu äfthetiihen geftalten. Bon der Möglichkeit, 
irgendivie das Perfönliche in die Anſchauung Hineinzufühlen, hängt im 
legten und geheimften Grunde der äfthetiiche Luſtwert der Anfchauung 
ab. Vollends aber im äfthetifch produftiven Verhalten, im künſtleriſchen 
Schaffen, ift jenes Einjtrömen des Perjönlichen in den Schaffensprozek 
von ſolch ausichlaggebender Bedeutung, daß ſich hiedurch geradezu die 
wirklich jchöpferiiche Begabung von dem bloß reproduftiven landläufigen 
Formtalent untericheidet. Auch das werden am Ende nur die „ſchwachen 
Perfonnagen“ nicht zugeben, von denen Goethe einmal im Zuſammen— 
hang diejer Frage redet. 

Ohne dies deswegen vorläufig näher zu verfolgen, läßt fich hier 
fofort fo viel jagen: wenn jenes Perfönliche ein weſentlicher Faktor des 
Heithetiichen iſt, aus dem Perfönlichen aber das Ethiiche ſich nicht aus— 
fchalten läßt, das Ethiiche vielmehr den eigentlichen Lebensnerv der Per— 
fönlichkeit bildet, jo folgt daraus unmeigerli, dat das Ethijche ſich vom 
Aeſthetiſchen gar nicht trennen läßt, daß vielmehr beides durch das Band 
des Perjönlichen aufs engfte verbunden it. Trennen läßt fich beides 
nur da, wo feine ethiſche Perjönlichkeit verhanden iſt, alſo auch feine 
äfthetiich jchöpferifche, feine wirkliche Kunſtthätigkeit, ſondern höchſtens der 
äußere Schein einer folchen infolge einer gewiſſen reproduftiven Hand— 
habung des Technifhen, der äußeren Formgebung. Auch im äjthettich 
rezeptiven Verhalten ſpricht das Perfönliche, alfo Ethiihe im Menichen 
mit. Es gibt allerdings Fälle, in denen der Gegenftand der älthetifchen 
Anſchauung nur verſchwindend geringe Anfnüpfungspunfte für das Per: 
fönlich-Ethifche bietet; das find aber aud die Fälle, in denen Die 
äfthetiihe Wirkung felbjt von relativ untergeordneter Bedeutung iſt — 
Fälle, die ſchwerlich zu Meinungsverichiedenheiten über das Verhältnis 
des Ethiſchen und Nefthetiichen führen werden und deswegen ruhig außer 
Betracht gelafjen werden fünnen. 

Das Gebiet der produftiven Bhantafiethätigfeit — oder, fagen wir 
jest: des künſtleriſchen Schaffensprogefies — das iſt alfo , pſychologiſch 
betrachtet, der Boden, auf welchem vor allem die Frage des Verhält- 
niffes von Ethiih und Hejthetiih zum Yustrag fommen muß. Bon 
diefem Schaffensprozei aber muß man nun freilich auch die richtigen 
Borftellungen haben. Und ganz unzulänglic find bier gerade jene Vor— 
ftellungen, welche in den landläufigen Betrachtungen über „Kunft und 
Moral“ ihr Wejen treiben: als ob ſichs dabei nur eben um jene be- 
wußte, gewollte Darftellung und Wiedergabe von gewiffen Objekten in 
beitimmten Formen, mit beſtimmten techniſchen Ausdrudsmitteln, um 
ein ethiſch indifferentes Geihäft handle! Das it im beiten Fall das 
Verfahren der lediglicd; reproduftiven Phantafie, das gar fein wirklich) 
fünftleriiches Schaffen darftellt, vielmehr den eigentlichen Wachsboden 
alles höheren oder niederen Dilettantismus. Das wirklich künſtleriſche 


Kunftwart 


Schaffen vollzieht fi) au8 einer inneren Notwendigkeit der Perfönlichkeit 
heraus, und dieſe ganze Perfönlichkeit mit ihrem ethischen Zentrum ift 
am Schaffen beteiligt. Unbewußt beteiligt! Wie im Weben der Traums 
phantafie treten nicht bloß dem Bewußtſein geläufige Anfhauungen in 
den Prozeß ein, jondern gar nicht Gewußtes, ganz Ueberraichendes tritt 
aus den unbemuhten Tiefen der Berfönlichkeit in die Produftionsthätigkeit 
als Material und Faktor; nicht bloß die vorhandene Vorſtellungs- und 
Gefühlsmelt regt fich in vertiefter Weife, fondern das Verſchloſſenſte und 
Verborgenſte aus der Gefamtperjönlichfeit ſtrömt wie aus taufend Quellen 
herauf; nicht blog mit dem, mas man gemeinhin Phantaſie nennt, 
jondern mit all feinen Kräften ift der Hünjtler am Schaffen — und nicht 
am le&ten ift e8 der ethiſche Gejamtgehalt der Perjönlichteit, was be— 
ſtimmend und füllend, innerlich belebend und fräftigend den Schaffens— 
prozeß durdftrömt. Wer davon feine Ahnung hat, hat feine Ahnung 
von der Entitehung des Kunſtwerks! Und ferner: die äußere Form— 
gebung mit ihren technifchen Mitteln erſchöpft fo wenig den eigentlichen 
Schaffensprozeß, daß fie vielmehr nur fein letztes Stadium ausmadt; 
mas in diefem Prozeß geſchaffen wird, das ift vor allem der Gegenstand 
der Darftellung, der Inhalt der Formen jelbft. Diefer eigentliche Gegen 
ftand und Inhalt ift perfünlichev Lebensgehalt: in Tolchen verwandelt 
der Künſtler daß von außen gegebene Objeft, die Eindrüde und An— 
Ihauungen, welche den Rohſtoff für das Schaffen abgeben — es ilt ein, 
zum Teil gleihjall8 unbewußt fich vollzgiehendes Durcharbeiten, Durch— 
wirken, Durchkneten diejes Rohſtoffes mit allen lebendigen Botenzen des 
jeeliichen Lebens, was erſt eim wirkliches Objekt für künſtleriſche Dar— 
ftellung jchafft. Und indem diefer perjönliche Lebensgehalt fich unter ge— 
wiſſen äſthetiſchen Formgefegen organifiert, entjteht zunädjit daS, mas 
man die innere Form de Kunſtwerks nennen kann; mit ihr lebt das 
Kunſtwerk bereitS im Geifte feines Schöpferd. Dieſe innere Form nun 
auch in äußere Form umzujegen, das für den Künſtler ſchon lebendig 
Vorhandene auch für andere vorhanden zu machen, es aus dem mern 
herauszufegen zu objeftivem jelbitändigem Dajein in beitimmten Formen 
— das ift endlich die Arbeit der äußeren Formgebung, bei der es ſich 
zum guten Teil um die bemußte, technisch fichere Handhabung der Aus— 
drudsmittel einer beftimmten Kunſt, um das Stüd Handwerk handelt, 
dag an aller Kunſt hängt. Aber jelbft das noch erhält fein beſonderes 
Gepräge durch die individuelle Befonderheit des Berfönlichen im ſchaffenden 
Künftler, während der bloß reproduftive Kopf nur geläufige oder gar 
tonventionelle Formen und lernbare technifche Griffe verwendet. Es gibt 
in der jchöpferiichen Kunst bis auf die äußere Formgebung hinaus durd)= 
aus feine beliebigen Formen, durch die ein beliebiger Inhalt dargeftellt 
werden könnte, jondern alle Form wächſt organisch aus dem Gehalt, der 
Gehalt aber ift perjönlicher Art und enthält unmittelbar das Ethijche 
des Künſtlers miteingefchloffen.* Carl Weitbredt. 
(Schluß folgt.) 


* Das alles gibt natürlidy die Mefthetit des Naturalismus nicht zu, 
ber feine Aufgabe lediglih in der möglidhit genauen Wiedergabe des be= 
obadjteten Wirklichen fieht. Darin liegt aber eben auch feine äſthetiſch-ethiſche 
Impotenz, die ſich immer wieder in jchredlicher Stlarheit offenbart. — Eben= 
jomwenig werden e8 die äſthetiſchen Formaliſten zugeben, welche das Wefen der 


1. februarheft 1899 
— 205 — 


Ueber Wlagner als Denker 
und von fünftlerifher Weltanfhanung überhanpt.* 


Als Quellen unferer Aufgabe, die Weltanfhauung Wagners zu ent— 
wideln, finden mir zwei verfdhiedene Arten von Hundgebungen, in denen ber 
Meifter feine Anfiht vom Wefen der Welt niedergelegt hat: feine Kunſt- 
mwerfe und feine profaifhen Schriften — und es ift zunächſt notwendig, 
Wert und Bedeutung beider für unfer Unternehmen zu charalterifieren und 
gegeneinander abzuſchätzen. Da foll denn zu allererft ausdrücklich feitgeftellt 
werden, daß mir feinen Augenblid vergeffen mollen, daß Rihard Wagner in 
erjter Linie Künſtler gemejen ift, erjt in zweiter Denker und philofophifcher 
Scriftiteller, und zwar fo fehr, daß mir aud) bei Beurteilung feiner Proſa— 
fchriften niemals aus dem Auge verlieren dürfen, daß fie ein Künſtler ge- 
fhhrieben hat, dem als ſolchem das unbeftreitbare Recht zufteht zu verlangen, 
daß man an feinen philofophifhhen Arbeiten, was jtreng wiſſenſchaftliche Syite- 
matif, fachmänniſche Borbildung, überhaupt die äußere Form und Einfleidung 
der Gedanken anbelangt, nicht denfelben jtrengen Maßſtab anlege, wie an die 
Werke des zünftigen Bhilofophen. Für diefen Mangel entjchädigen die Wag— 
nerſchen Schriften vollauf durd) ihren hohen jubjtanziellen Gehalt, die jprühende 
Lebendigkeit und Unmittelbarkeit ihres Vortrags und vor allem dadurch, daß 
ber Gegenftand, der ihren Hauptinhalt ausmacht und in dejjen Lichte ihr Ur: 
heber die ganze Welt erblidt, die Kunft, ihm nichts Fremdes, von außen Auf— 
genommenes, fondern ein innigit VBertrautes, mit feinem eigenen Wefen und 
Wollen geradezu Jdentifches ift. Es gehört daher die ganze felbitgefällige 
Ueberhebung des philiftröfen Zunftgelehrten dazu, um den Wert folder, jtreng 
genommen allerdings nur halbphilofophifchhen, Offenbarungen des Genies zu 
verfennen und bei ihrer Beurteilung einzig an ihrer formalen WAußenfeite 
hängen zu bleiben. 

Damit, dat wir in Wagner vor allem den Künſtler jehen, hinter dem 
der vom Künſtler zudem in jeder Beziehung abhängige Denker durchaus zurüd: 
tritt, haben wir nun für unfern Zwed feine Schriften zwar als die nädjit: 
liegende Quelle erfannt, um zu erfahren, wie Wagner über die Welt dachte, 
zugleich aber aud) zugejtanden, daß dieſe Schriften nur im Zujfammenhange 
mit den das eigentliche Lebenswerk des Meijters bildenden Kunſtwerken, 
in melden fi) uns offenbart, wie Wagner die Welt anfhaute, wahrhaft 
veritanden und gewürdigt werden können. Die Kunſtwerke und ihr poetifcher 
Gehalt werben uns immer als die oberjte Jnitanz zu gelten haben für jeglidje 





unit nur in gewiſſen Verhältniiien der äußeren Formen juchen. Daß mit 
ihnen einfad) nicht zu ftreiten ift, ift mir längit jo klar wie der Grund dieſer 
Eriheinung: die Herren fennen wohl jo und fo viel Kunſtwerke aber feine 
Piydologie des Künſtlers, fie willen in allen Scul= und Gelehrtenjtuben Be— 
icheid, aber nicht in der innern Werfitatt der produftiven Phantafie. C. W. 


* Wenn wir die Leberzeugung haben, da über einen bejtimmten Gegen= 
ftand etwas gejagt werden muß, wenn wir dies aber in einem neuen Bude 
fo gut gejagt finden, dab mir ung eingeftehen müſſen: beffer machen könnten 
wir's nicht — weshalb jollten wir dann nicht das gut Gefagie einfach wieder 
geben, gleichzeitig zu anſchaulicher Empfehlung des betreffenden Wertes? Das 
Folgende entnehmen wir dem eben — vorzüglichen Buche „Die Welt— 
anſchauung Richard Wagners“ von Dr, Rudolf Louis (Leipzig, Breitfopf 
& Härtel, DE. 3.—), im Einvernehmen mit dem Verlage. Es jtehen auch an 
Stelle einer Erörterung über Wagners „Schriften“ aus Anlaß der Vollendung 
ihrer dritten Auflage (Leipzig, E. W. Frigfch, 10 Bände, je Ulf. 2.50). 


Kunftwart 
— 24 — 


Beurteilung des inneren Kerns der Wagnerſchen Weltanfhauung, und gerabe 
auch feine Schriften werden wir erjt dann recht nußen fünnen, wenn wir fie 
zufammenhalten mit ben Sunjtwerfen, als beren Ergänzung, das gefamte 
Schaffen und Wirken des Meiiters als eine organifche Einheit betrachten. 

Denn nit fo iſt die vielfeitige Begabung eines Wagner zn verftehen, 
als ob da mwunderbarermeife zwei grundverſchiedene Seelen, eine fünftlerifche 
und eine philofophifche, in einen Körper gefahren wären, und ba nun, fo gut 
es ging, nebeneinander gehauft hätten. Vielmehr ift das Wagnerſche Grunditreben 
ein einziges und durchaus einheitlihes: es ift gerichtet auf die Verwirklichung 
eines dramatifhen Kunſtwerkes, wie es ſich ihn gemäß feiner Begabung 
als Worttondichter als naturgemäher Ab⸗ und Zufammenfhluß der bis auf 
ihn getrennten Entmwidelung des gefprodhenen Dramas und der Oper 
geoffenbart Hatte. 

Nichts ift Daher verfehrter wie jenes oft gehörte Gerede, Wagner hätte 
beſſer gethan bei feinen Leiſten zu bleiben, als fih um Dinge zu kümmern, wie 
Politik, Religion u. f. m., die ihn als Mufifer doch eigentlih gar nichts an— 
gingen. Denn abgefehen davon, daß nicht einzufehen ift, warum einem ben= 
tenden Menſchen vermehrt werben jollte, jenen hödjiten Fragen des äußeren 
und inneren Dtenfchenlebens, die noh dazu für Jedermann das höchſte 
perfönliche Antereife haben, feine Aufmerkſamkeit und Thätigfeit zuzuwenden, 
felbft wenn er nur Stünftler iſt, — Wagner hat in Wirklichkeit jenen gut— 
gemeinten Nat jo jehr befolgt, daß er Zeit feines Lebens über gar nichts 
anderes gefchrieben Hat, als über das von ihm angeftrebte Kunſtwerk. 
Das klingt parador, wenn man die mannigfaltigen Gegenstände, welche in den 
Wagnerſchen Proſaſchriften behandelt werden, ſich vergegenmwärtigt, ift aber 
nichtsdeftomeniger budjtäblid richtig. Wagner erjtrebt die Verwirklichung 
feines Stunftideals, er erfennt die Unmöglichkeit feiner vollen Verlebendigung 
und Realifierung unter den modernen Kunſtverhältniſſen, wie jie ihm als ein 
notwendiger Ausfluß unferes ganzen ſozialen und öffentlihen Dafeins, unferer 
Bivilifation und Kultur erfcheinen. Daher feine Kritik dieſer Zuſtände. Aber 
abgejehen von diefen äußeren Hindernifjfen gelangt er in Berfolgung feines 
Weges an einen Punkt, wo ſich ihm die unabmweisliche Nötigung aufdrängt, 
über fein eigenes Wollen zu vollitändig klarem Bemußtjein zu gelangen und 
das, was er bis dahin inftinktiv und unbewußt angeftrebt Hatte, mit der 
Fackel des begrifflihen Erkennens zu beleuchten: jo entjtehen anjcheinend rein 
theoretifche Werfe wie „Oper und Drama“. 

Er findet Genoſſen auf feinem Wege, ſolche, die vor ihm diefelbe Straße 
gezogen, und folche, die mit ihm gleichzeitig nad) demfelben Ziele ftreben; es 
drängt ihn, ſich mit ihnen auseinanderzufegen; über ihr Weſen und Wollen 
im Verhältnis zu feinem eigenen fich far zu werden: jo madjt er einen Beet— 
hoven, einen Liſzt zum Gegenstand feiner kunſtphiloſophiſchen Unterfuhungen. 
Aber überall werden mir in den Proſaſchriften des Meiſters dieſe enge 
und genaue Beziehung zu feinem Tinitleriihen Wollen und Streben, feiner 
eigentlihen Lebensaufgabe finden; nur, wenn wir dies nie vergejlen, 
werben wir imftande fein, Wagner als Denker zu würdigen; dies außeracht 
gelafien, muß diefe Seite feiner Thätigfeit notwendigermweife in falſchem Lichte 
erfcheinen. Hüten wir uns alfo vor der irrtümlichen Meinung, Wagner habe 
irgendivie außerkünſtleriſche Zwede verfolgt, etwa ein philoſophiſches Syſtem 
begründen oder eine religiöje Sefte ſtiften wollen. Wagner war Künftler und 
zwar im tiefften Grunde feines Weſens nur Stünftler. 


I. februarheft 1899 
— 206 — 


Eine jede MWeltanfhauung ift individuell gefärbt, fubjeltiv und fomit 
einfeitig, Shon deshalb, weil mir die Dinge nur fo und fomeit kennen, mie 
fie uns erfcheinen, al® unfere Vorjtellung, und meil als fubjeftive Faktoren, 
melde diefe bedingen, neben ber uns allen gemeinfamen Organifation des Er— 
fenntnisvermögens nicht minder die individuellen Differenzen, Eharafter, Tem— 
perament, Stimmung u. f. w. in Frage fommen. In ganz befonders hohem 
Grade gilt bie von der künſtleriſchen Weltanfhauung; denn alle jene in= 
divibuellen Einflüffe, welche der philofophifche Denfer bis zu einem gemiffen 
Grabe als „Fehlerquellen“ betraditen und eliminieren kann, fie maden fi 
beim Künſtler ohne allen Gegeneinfluß geltend. Was für den Bhilofophen ein 
oft lebhaft gefühlter Mangel iſt, den er möglichſt unſchädlich zu maden fudht, 
die individuelle und jubjeftive Bedingtheit und Einfeitigfeit feiner Weltan— 
ſchauung, für ihn „ein Erdenreſt zu tragen peinlidy“, gerabe das betrachtet ber 
Künftler als einen ihm eigentümlichen Vorzug. Und mit Recht. Denn diefe 
Einfeitigfeit, mit welcher der Sünftler alles fozufagen vom „egozentrifchen“ 
Standpunft aus betrachtet, fie allein verleiht ihm jene ruhige Feitigfeit und 
eindringenbe Tiefe des Blid8, die ihn Abgründe erhellen läßt, die dem wiſſen— 
fhaftlihen Denken ewig im Dunkel bleiben oder im irrlichtelierenden Hin und 
Herfladern des dialektiſch ſich widerſprechenden Für und Wider das augen: 
blendende und alles beitimmte Erfennen eines feſten Gegenstandes unmöglich 
machende Antinomienfpiel eines unentfchiedenen Sfeptizismus zeigen. Man 
könnte die fünftleriiche Individualität in diefer Beziehung vergleichen mit 
einem fcharf gefchliffenen, aber gefärbten Augenglaje. Freilich zeigt es uns alle 
Gegenstände in einer einzigen, einfarbigen Beleuchtung, aber es entſchädigt 
dafür durch die gerabezu magifhe Erhöhung der Sehfraft, die e8 dem Geſicht 
verleiht. Je genialer der Künftler tt, deito mehr tritt hier die Nachteil Hinter 
dem Vorzug zurüd, deſto meniger iſt jene indivibuelle Beleuchtung eine in— 
haltliche Fälfhung oder Trübung des Wefens der Dinge, befto ausſchließlicher 
erjtredt fie fi) allein auf die formale Geftaltung und Art der Mitteilung. 
Denn, wie fhon Schopenhauer jagt, „Senialität ift Objeltivität“, — aber nicht 
jene oberflädhlicdhe, welche aus dem ſich widerfpredenden Für und Wider das 
arithmetifhe Mittel einer Tendenlahmen Kompromikmeinung zieht, welde ihre 
Individualität zurüdtreten oder ſchweigen läßt, fomeit fie überhaupt eine ſolche 
bat, nicht jene Objektivität ber aurea mediocritas , fondern eine ganz anders 
geartete, welche dadurch entiteht, daß ſich das fünftleriiche Subjeft zur Welt- 
feele ermeitert, daß das Individuum alles Seiende in fih aufnimmt und aus 
feiner felbfteigenen ſchöpferiſchen Urkraft heraus neu gebiert, — die Objektivität 
(der im Gegenfat zur disfurfiven Vernunft) uno obtutu das Wefen ber Dinge 
erfafienden genialen Intuition. 

Diefe höchſte Art genialer Objektivität, welche identifch ift mit der Sub— 
jeftivität eines das AN umfaffenden, wahrhaft univerfal veranlagten Indivi— 
duums, bejaß fein Künftler mehr als Wagner, und er befaß fie in fo hohem 
Maße gerade wegen feiner „Einfeitigfeit“, die ihn, unbelümmert um einen 
möglichſt vorurteilsfreien und allgemein zugänglichen Standpunft, die ganze 
Welt sub specie suae ipsius individualitatis erbliden ließ, die 
ihn befähigte, den Dingen auf den Grund zu jehen, meil er ihre Seele in 
fih aufgenommen, fi in ihnen wieder erfannt und fie in feinem und durch 
feinen eigenen Geiſt zu neuem bewußten Leben ermedt hatte. 

Wie viel diefe gute Einfeitigfeit des genialen Individuums mehr wert 
it und tiefer dringt als bie an ihrem Orte und innerhalb ber ihr gezogenen 


Kunftwart 
— 21% — 


Schranken ja keineswegs zu veradhtende indivibualitätsentleerte wiſſenſchaftliche 
Objektivität, das können wir von niemand befier lernen, als von dem großen 
Bayrenther Meifter. Und daß mir diefe Lehre nötig haben, dürfte jo lange 
umbeftreitbar fein, als wir noch immer nicht ganz aufgehört haben, eine charakter— 
und phyfiognomielofe Allerweltsobjeftivität, die zudem oft nichts meiter ift 
als ein billiger Dedmantel für marflofe Gefinnungslofigkeit und feige Oppor= 
tunitätspolitif, fhon an und für fi für etwas Höheres zu halten als das 
Recht einer autonomen und jelbiterrworbenen eigenen Meinung, fo lange noch 
die Charafteriftil, welde Bogmul Goltz einmal vom modernen Menfchen ent= 
wirft und welche ih mir nicht verfagen fann, hier anzuführen, mehr oder 
minder zutrifft. 

„Der moderne Fluch und Unfinn“, meint der geniale, Heutzutage leider 
Gottes viel zu wenig mehr gelejene Seelenfündiger, „ist die überall angeitrebte 
Univerfalität, Objeftivität und Weltbürgerlichkeit. Die gebildeten Leute mödten 
heute reits und lints, oben und unten, fie möchten wißig und weiſe, pfiffig 
und einfältig, und Alles in Allem und in einem Atem jein, und darum jind 
fie eben darafterlofe Gaufler und Narren, darum find fie nichts. Die Bes 
ftimmung bes Volks ift aber Stärke, Tiefe und Feitigkeit in der Einjeitig- 
feit und Subjeftivität. Einer großen wahren Idee, einem Gefühl fol 
der Menſch mit aller Straft der Seele und bes Geiftes hingegeben fein. 
Das madt ihn harakterfeit, freudig und frei. Mer aber feinen feiten Ans 
nüpfungspunft im Innern Hat, der buhlt mit allen Erfcheinungen und geht 
mit feiner eine Ehe ein — ber iſt ein Rohr im Winde. ES gilt aber das 
Reben in einem und demfelben Geſichtswinkel feitzubalten, e8 gilt einen feiten 
Standpunkt in diefem Wechſel und Wandel der Erfheinungen, es gilt Ziefe 
und Einfeitigfeit; denn wer Eines veriteht und lebt, der verfteht und lebt Alles, 
da bie Welt diefelbe iſt überall.“ Rudolf Kouis. 


IR 


(Dusikliteratur. 


Auch die Mufilliteratur Hat ihre Erntezeiten, in denen man den Ertrag 
des Jahres auf den verfchiedenen Verlagsgefilden einheimft. Die erfte im 
Frühling, eh bie großen Mufikfefte beginnen, und die zweite im Frübherbit, 
vor der Theater» und Konzertjaifon, bringen die meiiten Notenmerke Die 
dritte im Advent fürdert dann die Bücher über Muſik vor den Weihnachts— 
tifch. Ueber einige Erfheinungen diefer letzteren Art find wir unfern Leſern 
nod kurz fennzeicdhnende Hinweiſe fchuldig. 

Die Mitteilungen „Uus U. B. Marr’ literarifhem Nahlaf* 
(Berlin, DO. Janfe, Mt. 1.—) bilden ein wertvolles „Sedenfblatt* zum hundert— 
jährigen Geburtstag des verdienten Sunftgelehrten. Es find Gedanken und 
Notizen zu zwei großen Werfen („Muſikwiſſenſchaft“ und „Mufikgefhichte*), an 
deren Vollendung ihn der Tod verhindert hat, die aber auch in ihrer aphori— 
ftifchsflühtigen Faſſung den denkenden Mufiter vieliah anregen werden. Als 
Anhänger der Gehaltsäjthetit befämpft Marx jene, die das Striterium der 
Künftlerfchaft, ja des Genies darin jehen, daß ein größeres Ganzes ſich zu— 
fammenhängend geftaltet. Er behauptet, diefe Anſicht fei ungeſchichtlich und 
dilettantiſch, das Sich-nicht-geſtalten-wollen bemeife nur Ingefhid. Das Ge— 


2. februarheft 1899 
— 292 — 


* Me Fe pn EEE ah ni a 


Italten fünne gelehrt und gelernt werden, der Inhalt nit. „Geftalten haben 
alle Mittelmäßigfeiten gefonnt: Pleiel, Hummel u. f. w., aber ihre Geitalten 
unterjcheiden fi von denen ber Künſtler durch den Inhalt.“ Wir fagen: ber 
Wert und die Fülle der Einfälle ſowie die Kraft fie zu formen machen den großen 
Künftler auß. 

Zmei Werle ftreng fachwiſſenſchaftlichen Charakters fünnen bier nur er- 
wähnt, nicht eingehend beurteilt werden, nämlich Jonquiéres geiftvoller 
„Grundriß ber mufitalifchen Akuſtik“ (Reipzig, Grieben ME. 4.—) und Riemanns 
an neuen Auffchlüffen reihe „Gefhichte der Mufiktheorie des 9. bis 19. Jahre 
hunderts“ (Leipzig, Helle, ME. 10.—). 

Der Berliner Verlag Harmonie, dem wir die f[hönen Biographien von 
Brahms, Loewe und Haydn verdanken, hat nun das zmweifelhafte Verdienft, 
Mar Kalbeds gefammelte Opernrezenfionen unter dem Titel „Opern: 
abende. Beiträge zur Geſchichte und Mritil der Oper” in zwei Bänden 
(ME. 7) herausgegeben zu haben. Leider find die Hiltorifchen „Beiträge* in 
gedanklidher Hinfiht dürftig, im ftofflicher geradezu Null. Die „Hritif* aber 
iſt eine folche, wie fie unter ernit zu nehmenden Leuten nicht herrſchen follte. 
Bon liebevollem Eingehen auf fünftleriiche Abfichten feine Spur, es ſcheint dem 
Autor nur darauf anzulommen, feine Leſer als Federafrobat zu amüfteren 
und mit fünftlern und Sunftwerfen einen „geiftreich“ fein mollenden, im 
inneren Wefen aber unvornehmen Feuilletoniftenjocus zu treiben. Eine unſachliche, 
feichte, hHämifche und unmahre Beiprecherei, bei der ich nicht entjcheiden mag, 
ob ihre Unmahrbeiten auf Leichtſinn oder böfem Vorfage beruhen. Wenn einer 
3.8. 1883 fich fo blamiert hat, den Tran in ‚Triſtan“ für einen wirklich wirffamen 
Liebestrant zu halten und darüber geihmadloje Wise zu reihen, jo darf er 
diefen Unfinn 1898 anſtändigerweiſe dod) nicht mehr neu druden lafjen. Selbjt 
da8 bloße Vergnügen an den ftiliftifchen Tricks verleidet einem immer wieder 
der Ekel vor dem flachen Seift, der das Ganze troß eines gewiſſen affek— 
tierten Feinfinns befeelt. Kulturhiftorifcdy bleibt das Bud als Zeugnis für 
den intelleftuellen und moraliſchen Zieiftand der maßgeblichen Wiener Muſik— 
kritik ficherlich intereffant; der naive Mufiffreund wird ſich von diefer künſt— 
Ierifchen Brunnenvergiftung mit Nugen fern Halten. Cine eingehendere Be— 
gründung meines harten Urteils fteht auf Wunſch jedermann zu Dienften. 


Bon dem zmeibändigen Erlerfhen Werfe „Robert Shumanns 
Leben aus feinen Briefen“ fam eine zweite Auflage heraus, Die gegen Die 
erite fo gut wie unverändert ift. Gemwiß, das Bud ift für die Schumann— 
forfhung wertvoll, aber feit feinem eriten Erfcheinen hat fi das Material 
zur Schumannbiograpbie fo jehr vermehrt, daß cine völlige, ergänzende Um— 
arbeitung nötig gewefen wäre. So werden wir uns alle bie verftreuten Nach— 
träge auch weiterhin mühlam zufammenjuchen müffen. 

Das eigentliche „Ereignis der Saifon* unter den neuen Quellenfchriften 
bildet aber der von der La Mara herausgegebene „Briefmwmedhfel zwiſchen 
Liſzt und Bülom“ (Leipzig, Breitlopf & Härtel, DI. 8.—), wiederum ein 
hochwilllommener Beitrag zur Geſchichte der neudeutihen Muſikbewegung. Er 
umfaht die Jahre ı851 bis 1884 und iſt faft ganz in franzöfifcher Sprade ge— 
balten. Eine reihe gedanflihe Ausbeute, wie etwa Liſzts Briefiwechfel mit 
Magner, bietet er wohl nicht, aber für die Berjonalien, für den äußeren Ver— 
lauf des jtürmifchen Stampfes um die „Zukunftsmuſik“ ift er eine wahre Fund— 
grube, deren Braudibarleit dur) ein Negifter erhöht wird. 


Kunftwart 
— ZUR — 


Sehr lefenswert find ferner die beim Verlage der Allgem. Mufilgeitung 
(Charlottenburg) nun in Buchform erfhienenen „Briefe Rihardb Wagners 
an Wefendond* (Mi. 2.—), die in mwahrhaft ergreifender Weife fchildern, 
wie Wagner aus Rüdfiht auf feine Freunde immer wieder in den Strudel 
des ihm fo verhakten „Muſiklebens“ untertaudt. Seine Erfolge als Dirigent 
und Komponiſt freuen ihn nicht, weil er fie mit den „langmeiligften und 
nieberträdhtigiten“ Leiftungen ganz unebenbürtiger „Kollegen“ teilen muß; 
allem äußerlich Iodenden Getriebe um ihn ber hält er beharrlich die ideale 
Forderung entgegen, bis ihn in trüben Stunden der Gedanfe überfommt, er 
„Scheine bem zu viel Ernft geliehen zu haben, was der Welt am Ende ewig: 
lid) nur ein Spiel dünkt“. Für die pfyhologifche Erkenntnis Wagners jind 
dieſe Briefe von großer Wichtigkeit. Noch eine Stelle heb ih als Probe heraus. 
„Und nun famen jo herrliche Kupferitiche in mein Haus! Ach, Kinder — welch' 
bittere Thräne rinnt mir doch manchmal über die Wangen! Ja, aud) id) jehnte 
mid) wohl nad) der Ruhe eines edlen Genießens: doch das wird mir nie be= 
ichieden fein. Ruhe zum Schaffen, oder Ruhe zum Sterben: nur in diejem 
Sinne fenne id) die Ruhe. Aber wie gut, dag ſich doc das Edle wieder er— 
gänzt; was ich nit kann, das follt Ihr und was Ihr genieht, das genießt 
Ihr für mich, und in Euch geniehe ich es mit. Diefe Ruhe ift die edelfte Thätig- 
feit, die Euch bejchieden iſt.“ (Schluß folgt.) KR. B. 


Kunstpflege im Mittelstande. 


12. Sammlungen. 


Es gibt unzählige Dinge, die, wenn man fie recht betreibt, alle zur 
Kunst führen. Der wirklich äfthetiich Gebildete kann garnicht anders als fünft- 
leriſch leben; ‚das Wejthetifhe wird ihm zu einer Bedingung rechten Lebens 
und verflärt ihm alles, es gibt ihm ungeahnte Freuden, von deren Dafein 
andere gar feine Voritellung haben. Schriebe ich das nicht für den Kunſtwart, 
fo würde ich zitieren, was Avenarius neulich bei dem Thema „Jugendfchriften“ 
von ber äjthetiihen Erziehung gelagt hat. 

Der Sammeltrieb fcheint ein urfprünglicher Trieb, kein ſekundärer im 
Menſchen zu fein. In den feltenjten Fällen wird feine Befriedigung geradezu 
zur Kunſtpflege gerechnet werden fünnen; nur wo e8 fth im befondern um 
Kunſtſammlungen handelt, könnte man das ja. Über aud) in feiner allges 
meiniten Erfcheinung führt er fogar den Unfultivierten zur Kunſt, während der 
äjthetifch Gebildete überhaupt nicht fähig ift, ihn anders aufzufaffen. 

Die uns hier zunächſt liegenden Sammlungen, die ſich nah Raum und 
Koften am leichteiten in unfern angenommenen Rahmen einfügen laſſen, find 
wohl die Buch- und Hunftblattfammlungen. Bei ihnen wird der Geld— 
punft fein Hindernis bilden, denn in ihren ſchlichteſten Formen find fie einem 
jeden, aud) dem Wermiten zugänglid. Wem käme nicht hie und da irgend 
ein guter Holazjchnitt, fei e8 in einer PBrobenunmmer oder fonjtigen Reklamebei— 
lage, in die Hände! Achtet man darauf, hat man feine Freude daran, hebt 
mans auf. Sat man erft mehreres, fo befreit mans von dem Ballaft, der 
daranhängt, d. 5. man ſchneidet's aus und hebt's gefondert auf. Es fommt ja 


1. $ebruarheft 1899 
— 299 


dabei gar nicht auf bie Kunſtform an, in welcher der Inhalt übermittelt wird; 
auch die billigiten unferer heutigen Reproduftionen find nicht fo ſchlecht, daß 
fie niit ein Teilchen des geiltigen Inhalts der Werfe wiedergäben. Und in 
geſchmackvoller Art gefakt, vielleicht auf einen weiken Bogen aufgelegt, bringt 
auch der ichlechteite Holzichnitt nach einem guten Kunſtwerk, deſſen Schidjal es 
fonft iſt, ala Einmwidelpapier auf bie Straße geworfen zu werden, ein Stüd* 
Ken Kunſt ins Haus. In dieje befcheidenen Anfänge einer Sammlung, die ich 
fhon öfters zu beobachten Gelegenheit hatte, drängt fi} natürlich oft gar 
mandjes, was mit Hunjt wenig zu thun hat. Aber mit dem zunehmenden 
Umfang ber Sammlung mwird das Mindermertige ausgefondert und auf biefe 
Weile das Niveau mehr und mehr gehoben. Und ih muß fagen: bier zum 
Zwecke der Erziehung zur Kunſt käme e8 mir vielmehr auf das, mas repro= 
duziert ift, alfo auf die Güte des Werks, als auf die Vornehmheit der Repro— 
duftion jelbit an. Mit anderen Worten : ein paar fhlichte Yutotypieen nad 
Meifterwerten fürbern das Kunſtgefühl fiherlind mehr, als wirkliche Ori— 
ginalradierungen von mittelmäßigen Künſtlern. Die Erziehung zur Freude 
an der Feinheit der KHunftform mag dann folgen, wenn bas Gefühl für Kunſt 
überhaupt gemedt ijt. Sit leßteres da, fo folgt eritereß gang von felbit 
nad, eim natürliche® Ergebnis des wachſenden Verſtändniſſes. Und wie uns 
endlich viel Meiitermerfe jtehen Heute in guten Reproduktionen, die zu ge 
ringen Preifen käuflich find, maffenhaft zur Verfügung. AU die Bilder- und 
Formenihäge, die Stataloge, die Ausjtellungsführer find in ihren Einkaufs— 
preijen ſehr niedrig geitellt ; ja, fie ftehen fogar dem Wermften bei Untiquaren 
einzeln oder in unvollftändigen Exemplaren für wenige Pfennige zur Ver— 
fügung. Es liegt in dieſer Ueberſchwemmung mit Neproduftionen fiherlich 
eine Gefahr, die Gefahr, daß bei der Weberfülle des Zubrängenden alles zu 
flühtig angejehen wird, als daß man das wirflid; Gute herausfinden und 
genieken fünnte. Aber der Segen überwiegt doch wohl, und jedenfall darf 
über Mangel an Hunftanregung aud) der Unbemittelte nicht flagen. 

It einmal der Grunditod einer Sammlung gebildet, wird fie zu einer 
Fülle von Unregung für den Befiger, ja für die ganze Familie (ich kenne 
ſolche Sälle!), jo wird es ſich in den meijten Fällen von ſelbſt machen, daß 
allmählich auch mohlfeile Originalmerfe (fie brauchen deswegen nicht ſchlecht 
au fein), hinzutreten. Jit erit einmal bie Freude daran erwedt, dann gibt das 
Budget aud einen Heinen Kunftfonds her, der unferer Sache zu gute fommt. 
Ah ſprach ſchon bei Gelegenheit der Weihnachtsgefchenfe davon, wie gute Ra— 
dierungen, Lithographieen, ja felbit fleine Originalwerte durchaus nicht fo uns 
erſchwinglich find und erinnere hier noch einmal daran, welche Freude Künſt— 
lern meift damit bereitet wird, wenn jie ehrliche und warme Teilnahme finden, 
fo daß viele von ihnen die pefuniären Vorteile vielleicht gern außer acht 
laffen, lediglich um ein großes Ziel: die Erziehung zur Hunftfreude zu unter 
ftügen. Not thät’s. Irgend wer bat mal gefagt, jeder Menſch müßte zum 
mindeiten ein Stedenpferd haben. Wie anders jäh’ es bei uns auß, wenn 
recht viele das Stedenpferd des Kunſtſammelns ritten und fei e8 in jeiner 
primitivften Form. Man lache die Leute nicht aus, die ihren Schaf forgfam 
hüten, ihn ordnen, einfügen, fidhten, verſchließen, ihn wieder hervorziehen und 
wieder betrachten. Gewiß, ein Teil davon ift Bedanterie, ift Sammelmante 
meinetwegen — was thut's? Der Boden, auf dem die Kunſtfreude bei den 
Menſchen Wurzel ſchlagen fann, iſt nicht fo felfig, wie man meint. Und 
wenn man in der Sammelmanie vielmehr die lächerlihen Seiten als das 


Kunftwart 
— 300 — 


Streben nad) Hunftgenuß fehen will, fo glaube man doc wenigitens an bie 
Möglichkeit, da felbit fie in vielen Fällen zur KHunft führen. 

Der Literaturfreund wird durch feine Bibliothef auf unfer Gebiet 
von felbft gebradt. Seine Freude am Buch wird, wenn feine Yugen mehr 
als die Sprache allein veritehen, mit der Ausstattung des Buches fteigen. Er 
braucht Einbände zu ihnen, er mag wünſchen, ein ex libris zu haben, und 
fo verichiebt fi ein Teil feiner Wünſche auf die bildende Kunſt. Auch beim 
Einband ift die Sadlichkeit ſtets die erjte Regel. Leider ift der Notjchrei nad) 
fünjtleriihen Buheinbänden jo vielfach mikveritanden worden. Als das 
moderne Kunſtgewerbe auffam und die englifhen Lilien alles übermwucherten, 
ließen bei ung die Damen hie und da davon ab, Holgbrandmale zu errichten, be— 
lebten dafür aber alles mit Lilien und verwandten ſchlanken Saden. Die 
Freude an der Formermeiterung war ja jehr gut. Aber es ijt zu bedauern, 
wenn fie zu folden Stillofigkeiten führte, wie 3. B. einem Bud), deſſen Dede, 
d. 5. feine Schiebfläde, mit erhabener Technik, meinetwegen mit Stiderei, be— 
dedt ijt. Unfere Form des Buches ift dazu da, in Reihen gefhichtet mit dem 
Nüden, darauf der Titel, nad) außen gefehrt, in Schränfen zu ftehen. Es iſt 
Uar, daß da die Deden, die in empfindlicher Technik gehalten find, nicht allein 
ſelbſt rajch ruiniert werben, fondern geradezu die bequeme Nutzbarkeit des Buches 
hindern. Man könnte ja wieder einen Schufeinband darum maden, nicht 
wahr? Aber wozu dann überhaupt einen zweiten Ginband darunter, der dann 
nicht mehr Einband ift? Die rechte Freude liegt aud) beim Einband an 
der fahlih und äſthetiſch zugleich gelöſten Form. Ein unfadlidher Einband 
ruft vielleicht feiner Organiiterten dieſelbe ftörende Empfindung hervor, wie 
ein nicht äfthetifch gedachter, und wenn einer behauptet, ihn ftöre e8 nicht, 
fo läßt das eine fehr einfahe Schlußfolgerung auf ihn zu. Die Löfung liegt 
ja aud) bier durchaus nicht etwa im Schmud, fondern, ebenfo wie überall, in 
der Behandlung des Materials, in den Formen, die durch die ſachlichen For 
derungen vorgefchrieben find. Wer einen ſchönen Einband nicht erfinden und 
ausführen fann mit den einfadhiten Materialien: gefärbtem Leder oder ges 
färbter Leinwand und Scriftaufdrud, dem gelingt's aud ſchwerlich, wenn er 
reichere Mittel zur Verfügung hat. 

Das ausgelegte Bud, das „Prachtwerk“, ift ein Unfinn; ich brauche 
faum noch zu reden von den mit Goldſchmuck überladbenen Budydedeln, die 
auf dem Sofatiſch ein ödes Dafein führen; es iſt im Kunſtwart oft genug ab= 
geichildert und ausgeladht worden, Man verwechſele die Grumdidee des Stils 
des modernen Buches doch ja nicht mit dem des alten Mönchsbuchs, dem 
riefenhaften Folianten, der, mit Silberbefchlägen und foitbaren Steinen ges 
ſchmückt, nur für das Pult da und an dem fogar angelettet war. Die Bedin— 
gungen für unferen Buchdrud find in allem und jedem mit allen Neben— 
beziehungen fo volllommen anders geworden, daß eine Parallele gar nicht zu— 
läffig wäre. 

Soll id noch dem ein Wort fagen, der viele Bände billig zu binden hat, 
fo mödte ich Hier wieder zuerst zur Farbe raten, als dem billigften Mittel 
zur Erzielung äfthetifher Wirkungen. Ein ganz einfach, in grüne oder blaue 
Leinwand von fympathiihen Ton gebundenes Bud, mit einem voten Titel- 
fhild, wirft allein oder in Reihen gefhichtet ganz befriedigend und fann in 
legerer Form im Zimmer geradezu einen deforativen Wert bilden. 

Neben den eigentlichen ftunitfammlungen feien nunnod) alldie „Eulturellen“ 
Sammlungen erwähnt, die Ultertümers, Bronzes, „Japan‘-Sammlungen und 

1. februarheft 1899 


— 1 — 


mie man fie alle nennen mag. Leider finden mir auch hierbei nur allzubäufig 
das Aeſthetiſche vernadläffigt und das Kulturhiftorifche ganz allein zum Mittels 
punfte gemacht, wenn ſich's nicht gar um die Kuriojität und die Rarität dreht. 
Warum lafjen fi} fo viele, die bewußt und mit Ubficht im fulturgefhichtlichen 
Intereffe fammeln, die fünftlerifhen Werte, die fid) dabei in reichjter Fülle 
einstellen, ganz entgehen? Ich wiederhole e8 an dieſer Stelle nochmals: der 
zur Kunft ſchon Erzogene wird überall und überall Anregung zu Genüſſen 
finden, wo ber andere nur ins Leere fhaut. Sogar die wiſſenſchaftlichen 
Sammlungen haben genau fo gut aud) ihre äfthetifhen Werte, Bon zwei ganz 
gleich praktiſchen Inſtrumenten oder Apparaten kann der eine fchön, der andere 
unſchön gebaut fein. Oft ihnen felbjt unbewußt äußert ſich au bei Männern 
der Wiflenichaft diefes Wohlgefallen oder Mißbehagen in unverfennbarer Weije. 
Mögen fie e8 vielleiht in Gedanken mehr auf Kojten ber „Anſchaulichkeit“ 
fhieben; im Grunde Handelt ſich's um äfthetifches Empfinden. Im hödjiten 
Grade befriedigen das felbjtverftändlich die Naturalienfammlungen. Man 
denke fi nur eine Schmetterlingsfammlung, wo die fünftlerifche Anregung fo 
offenbar zu Tage liegt, dab ein folder Kaſten geradezu zum Studiumfeld 
eines Farben- und Formenmenjhen für Jahre werden kann. Die koloriftifchen 
Gedanken, die Stimmungswerte, die hier die Natur in Farben niedergelegt 
bat, fie find von unerfhöpfliden Reihtum. Bei näherem Hinjehen erichlieft 
derjelbe Reichtum fich aber auf allen anderen Feldern, einer Häferfammlung 
ober etwas Aehnlichem; ja, mifroftopifche Präparate eröffnen dem mit rechtem 
Verſtändnis Darangehenden ganz neue Gebiete ber äjfthetifchen Betrachtung. 
Welche Duelle ber höchſten Anregung bieten Mineralien, Steinfhliffe und num 
gar Pflanzen! Hier komme id) auf ein neues Gebiet, das ich in einem eigenen 
Aufſatz behandeln möchte. Shulge-Maumburg. 


— — 
Kr) 


Der neue Berliner Dom. 

Es gibt einen einzigen Platz in Berlin, auf bem eine gewiſſe Gefchichte 
ruht. Und da man die Erfahrung Bat, daß nur die Gefhichte gute, interef= 
fante Stadtbilder zu fchaffen vermag, jo iſt e8 auch die einzig wirklich ſchöne 
Stelle in Berlin. Jh meine die Umgebung des Scloffes. Der graue, ehr= 
würbige Koloß des Schloffes jelbit, das ftrenge Mufeum, die Spreeläufe mit 
den malerifhhen Kähnen, die Schloßbrüde mit den Hervengruppen, die mit 
ihrer antifen Schönheit in das nordiſche Klima hereinragen, der Blid in die 
neuen, fuppelbededten Stadtteile des induftriellen Berlins, — das gibt ein ans 
ftändiges Bild. 

Seit einiger Zeit fieht man die Kuppel des neuen Doms über diejen 
Platz hinüberleudten. Man ſieht fie weit von den Linden ber, und jedermann 
hat das Gefühl, dat an diefer Stelle ein Bau entjteht, der zu den wenigen 
gehört, die der Phyfiognomie der Stadt ihr Gepräge geben. Das Gerüft ums 
gittert nod) den Bau; aber ſchon bietet er fi dem Blid fo weit dar, daß 
man feine Gefamtmirfung und feine Einzelmirlungen beurteilen kann. Der 
Laie wird mit diefem Dom fehr zufrieden fein. Er zeigt eine prächtige Re— 
naifjances-Faflade, ift von einer Hauptfuppel und mehreren Nebentuppeln ge= 
frönt, ex fieht ftoly und monumental aus; und im einzelnen ijt die feine Glies 
derung zu beobadten, die die großen Urchitelten der Hoch-Renaiſſance nad 


Kunftwart 


— 30 — 


langer Erfahrung als die legte Volltommenheit ihres Stils herausbildeten. 
Der Laie wird fagen: biefer Dom ftimmt im Stil mit den übrigen Bauten 
des Quftgartens überein ; zu dem Schloß, zu dem Zeughaus und felbjt zu bem 
Muſeum paßt er gut. 

Ich aber mödjte mir erlauben, dieſer Meinung entgegenzutreten. Ich 
made mir aus diefem Stilgefühl gar nichts, und ich glaube fogar, daß in 
diefem Bau kunftgefhichtlihh genommen eine große neue Yufgabe in großem 
Stil verfehlt worden ift. In wenigen Zeilen will ich erflären, wie es fo ge— 
fommen ijt, und warum es jo nicht gut war. 

Dem Baumeifter des Doms, Raſchdorff, periönlich ift nichts zu ent— 
gegnen. Er handelte unter dem Einfluß des Haifers Friedrich, der die Idee 
Diefes neuen Doms fahte. Die Bauanſchauung unferer ſämtlichen Fürften ift 
die der romanifhen Renaiffance. Diejer Stil bedeutet für fie das Emige, 
Herrichende, Gewaltige, das fie naturgemäß in ihren Bauten ausgedrüdt haben 
wollen. Sie haben, fomweit e8 feitlihe Bauten anbelangt, bie populäre Mei— 
nung babei auf ihrer Seite. Wir haben wenige Bauten in Deutſchland, bie 
wie das Reihstagshaus, wenigſtens in Fleinen Einzelheiten von dem großen 
Muſterbuch des Palladio abweihen. Man kann e8 fih in Deutſchland noch 
immer nicht anders vorftellen, als daß der feftliche Stil italienifcd fein muß. 
Für die romanische Anſchauungsweiſe unferer Fürften war in leßter Zeit be— 
fonders die Anlage der,Siegesallee-Dentmäler bezeichnend. Diefe Reihe mweifer 
Herrfher vor bem grünen Hintergrund des Tiergarten® war eine Louis-Quar— 
torzesJdee; gerade Linien, Parallelismus, Heraufbefhmörung unbelannter 
Männer in die ſymboliſche Sphäre von Denfmälern, die Kuliffen eines großen, 
imperatorifhen Theaters. Nachdem der Tiergarten feine Bedeutung als fürft- 
licher Park Längft verloren hat und demokratifiert worden ift, ftehen jest in 
ihm die Denkmäler der ariftofratifhhiten Kunſt, die e8 je gegeben hat. 

Aus denfelben Anfhauungen ift der protejtantifhe Dom von Berlin 
hervorgegangen. Ein Bau, der ganz von Tradition getränft ift, ohne daß an 
diefer Stelle der Tradition folcher Art das Wort zu reden wäre. Drei Gründe 
mären dagegen vorzubringen: Eritens ijt eine fünfilihe Tradition ein 
Unding, und e8 ijt ſchade, da man alle Sträfte, die man auf ein foldjes Werk 
verwendet, nur in den Dienft einer Neubelebung alter Formen ftellt. Es ift 
ein geziertes Stilgefühl, das uns dazu treibt, weil zwei Bauten in Renaiffance 
daftehen, aud) einen dritten Bau daneben in bemfelben Stil ausführen zu 
müflen. Dieje Angit vor Stilunterfchieden nimmt uns jede Fähigkeit, einen 
Bau perfönlich zu begreifen. Das eben gerade ift ja der Unterfchied unſerer 
Epoche von früheren, daß wir nicht mehr das Maß derfelben herrichenden 
Formen auf alle Dinge vom Dom bis zum Wohnhaus, von der Thür bis 
zum Teppich anlegen, fondern für jedes Ding feine eigentümlicdhe Sprade zu 
finden ſuchen. Es ift eine Art Selbftbetrug, wenn wir einen Bau, ber aus 
unjeren Bedürfniffen hervorging, in das Kleid früherer Zeiten iteden. Es ift 
fogar verdädtig. Es ift, als ob wir uns da etwas vormaden wollten. 

Zweitens iſt e8 bedauerlid, daß gerade die monumentalen Bauten, 
die doch ber größten Deffentlichleit ausgejegt find, Hinter den fonftigen Stil- 
fortjchritten ihrer Tage am meisten zurüdbleiben. Wir haben jet ganz ans 
ftändige Villen, fehr bemerlenswerte Warenhäufer, die Wohnungen entwideln 
fi) perjönlich, aber diefe monumentalen Bauten werden im alten Renaiſſance— 
Schlendrian fortgebaut. Sie fümmern ih gar nidht um unfere Zeit. Der 
neue Zandtagsbau, den man jet eröffnet, fieht nicht viel ander aus, als 
2. februarheft 1899 


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wenn man ihn ſchon vor zweihundert Jahren hergeſtellt hätte. Und es iſt zu 
befürchten, daß alle anderen baulichen Fortſchritte wieder im großen Strom 
untergehen und unfruchtbar bleiben, wenn nicht dieſe Hauptbauten baldigſt die 
Führung übernehmen. 

Der dritte Punkt iſt der wichtigſte. Der Bau, den wir vor uns haben, 
it ein proteftantifher Dom, fein katholiſcher; und der Stil, in dem er ausge— 
führt wird, ift ein fatholiicher, fein protejtantifcher. Mit dem theatralifchen 
Reichtum der Renaiffänce iſt ganz von felber die Vorjtellung der fatholifchen 
Kultur verbunden. Hat ſich dazu der Proteftantismus losgeriffen, dat er nad) 
vierhundert Jahren in feiner deutfchen Hauptliche wieder die Sprache derer 
fpriht, von denen er fich losriß? Das gehört doch zu den merkwürbdigiten 
Sachen, die in der Hunftgefhichte gefchehen find. Wenn id) vor der italienifhen 
Faflade des Doms jtehe, glaube ich eher ein Theater zu fehen, als das Monu— 
ment des Proteitantismus. Hier wäre eine neue Aufgabe von höchſtem Reiz 
zu bewältigen gewejen! In der deutſchen Renailfance und in der Baditein= 
Kultur des deutichen Nordens find Motive genug vorhanden, aus denen ber 
Schöpfer des Dome feine Anregungen hätte beziehen tönnen. Und einem 
Genie wäre hier vielleicht ein Wurf gelungen, der kunſtgeſchichtlich Epoche ge— 
macht hätte. Kein fuppelgefröntes Theater, fondern ein großes Rathaus, ein 
Gemeindehaus, ſozuſagen von einem gewiſſen fozialen Eindruck aud) durchs 
Aeußere, eine Erhebung der Heinen Freuden der deutſchen Renaiflance ins 
Algemeine, Große, Umfaffende, — das wäre cin proteitantifcher Hauptdom 
geworden. Jh möchte an eine Parallele aus der Mufilgeichichte erinnern. Da 
der katholiſche Ritualgefang für den proteitantiichen Gemeindegottesdienft nicht 
ohne weiteres zu verwenden war, wurbe der Choral geſchaffen, der ih an 
da8 alte Volkslied anlehnte und dieſes Hymnenartig bearbeitete. Der mehr— 
ftimmige Choral von deutſcher Volfsherfunft wurde der Mittelpunkt des pro= 
tejtantifhen Gottesdienites; und ohne jeine Wirkung fehlte der Badischen 
Kunst ihre Vollstümlichkeit. Der Choral murde das Stilfennzeichen der pro— 
teitantiihen Muſik im Gegenſatz zur fatholifhen. So ein gebauter Choral, 
da8 wäre das Jdeal des proteitantifhen Doms. Vom Volk hergenommen 
und in firhlicher Größe ausgebreitet. Jetzt aber ertönt im Mittelpunfte Des 
5. Proteſtantismus eine Meſſe von Paleſtrina. Niemals iſt zwiſchen einem In— 
halt und feiner Ausführung, einem Volksbewußtſein und der Zeremonie ein 
größerer Widerfprudy zu Tage getreten. Deshalb bedauern wir, daß ber 
Som fo wird. Daß keine fonfeflionellen Bedenken mit hineinfpielen, braucht im 





Kunſtwart wohl faum gejagt zu werben, Osfar Bie 
| Sprechsaal. 
| In Sachen „Schauipielfunft und Theaterjchule‘. 
| Zu der ehrlihen Arbeit Eugen Kalkſchmidts über „Schaufpielfunft 
und Theateridjulen” muß in Fachkreiſen Stellung genommen werben, einmal, 
N mweil eine allfeitige Verftändigung über das Thema von großer Bebeutung 


für die zielbewußte Weiterentwidlung der Schaufpielfunit ift und dann, weil 
verfhiedene aus lebendiger Teilnahme am Gegenitand hervorgewadjiene 
Unfichten der Bertiefung in die aufgemorfenen Fragen nur förderlich fein 


Kunftwart 
— 304 — 


tönnen. Der erfahrene Fahmann* kann Kalkſchmidt unbedingt da zuftimmen, 
mo er bie feichte und leichtfertige Art beflagt, in der nod) immer in den üb— 
lichen „Iheaterfhulen“ die Talentlofigkeit großgepäppelt und das Proletariat 
für die Bühne gezüchtet wird. Aber — — ber Kenner fann fi) nad) der Lel- 
türe des Gedankens nicht erwehren, daß Kalkſchmidt Hier das Kind mit dem 
Babe ausfchüttet. 

Ich gehe glei auf die Hauptſache ein, das Bedenkliche der ſtalkſchmidt— 
hen Schlußfolgerungen. Er fagt, nachdem er von der „übertriebenen Wertung 
des Handwerks“ gefproden und unter Uebergehung der Technik eine „Hoch— 
fchule der Schaufpielfunft” gefordert hat, deren Zweck die harmonifhe Durch— 
bildung zum Kulturmenſchen ift, etwa: „Solange eine derartige vornehme 
Bflegitätte wahrer fünjtlerifcher Begabung nicht eriftiert, bleibt für den an= 
gehenden Schaufpieler der uralte Bildungsweg immer noch ber bejte, ber ihn 
ſchwer aber fiher zum Ziel führt ... das Dienen von unten auf, das fleine 
Anfangen an Heinen Bühnen.“ Welcher Regiffeur, der über das Mittelmak 
bes Könnens als „Urrangeur und Dekorateur* hinaus wirklich die Wiedergabe 
der Dihtung erzwingen möchte, denkt bei derartigen Ausſprüchen nidt an 
die Legion der fleißigen Darjteller, die trotz Aufbietung aller Kraft nie em— 
porfommen, meil ihnen das NRüdgrat einer foliden Technik fehlt! Sehr 
oft erfaßt ihn tiefes Mitleid mit ehrenwerten Menfchen, die ihren bürgerlichen 
Beruf im Rauſch erträumter Künjtlerfchaft aufgegeben, um die aufreibende 
Jagd nad dem Glüd zu beginnen und fid) bei aller Energie die richtigen 
Schwingen nit zu geben vermodten zum Aufflug in den Weiher mühelos 
und frei ſchaffender Kunft. Bon den zahlreihen „Kolleftanten“ find viele, jehr 
viele dem Jlarosflug erlegen — fie wußten ihre Kunftmittel weder richtig ein— 
aufhägen, nod richtig zu gebrauchen. Riefenhaft wüchſe das Bühnenprole= 
tariat an, wollte man jo ohne meiteres Kalffhmidts Forderungen in bie 
Praris umfegen; die Theater würden mit wertlofem Rohmateriale arbeiten 
Und mer gäbe den gültigen Maßſtab für den Grad der Künftlerfchaft? Kritik 
oder Publikum, oder die Bühnenleitungen? Bon welchem Gefihtspunft aus 
urteilte alsdann bie ſtritik, mo ift das Publitum, das über ein naive Ems 
pfinden hinaus richten fönnte, wo nehmen die Bühnenleitungen beim Maugel, 
allgemein fejtitehender Technik ihre Richtfehnur her? Etwa aus dem famojen 
Stontraltparagraphen, wonach über fünftlerifches Unvermögen einzig unb allein 
die Direktion entfcheibet ? 

Der Berfajler rechnet mit „der Kunſt“, — die ihm doch wohl in genauer 
Definition als jtillfchmeigende Vorausfegung bei feinen Auseinanderſetzungen 
gilt — ? Dann aber fchlägt er ſich ſelbſt. Es wäre traurig, ftünde die Schau— 
fpielfunft heute noch fo Hilflos da mie früher, da man nur nad) einem uns 
Haren Empfinden und ihrem Niederfhlag — einer durchaus fubjeltiven Stim— 
mung — urteilte. Welcher Künftler wäre nod) fiher, einem fo wechſelvollen 
Dieer von Stimmungen gegenüber fein bewußtes Können durchzuſetzen? Sol 
die Schaufpielfunft ewig das unmündige Stieflind bleiben, allein vom Forts 
fchritt ausgefhhloffen fein, während alle anderen fünfte in mweifer Selbitzucht 
die Technik ftetig verftärfen, um in der Neifegeit fich ihrer fpielend leicht bes 
dienen zu können. Autodidakten erflimmen in vereinzelten Fällen den Gipfel, 
falls fie Uusnahmenaturen in höchſter Potenz find; aber wer bemeiit, daß fie 
nicht zu noch höherer Vollendung gelangt wären mit Hilfe einer techniſchen Aus— 


*Kalkſchmidt ift Übrigens auch „Fachmann“. Km... 
Kunftwart 


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bildung von vorn herein? Gewöhnlich ſieht man im Leben folder begnabeten 
Menſchen nur die Lichtfeiten; den blutigen Schweiß aber, bie unfrudtbare 
Arbeit, die Tantalusqualen des Werdeganges ermißt ber Befchauer nicht mehr. 
Es ift falſch, die Ausnahme als Regel erflären zu wollen. Ich ſchätze aus ber 
Zeit gemeinſchaftlichen Wirkens Mitterwurzer zu fehr, habe zu oft ben gedie— 
genen Ernſt bes Mannes als Regifjeur bewundern dürfen, als daß ich ihn als Bei- 
ſpiel gegen eine vertiefte Auffaflung des Schaufpielerberufes und feiner Vor— 
bedingungen angeführt fehn fönnte. Mittermurzer verfügte über eine gewaltige 
Technik und Hatte nad dieſer Richtung nichts gemein mit ben „genialen 
Köpfen“, bie einer folden glauben entbehren zu dürfen. 

Betrachten wir, abgejehen von ber volkswirtſchaftlich uumöglichen Durch— 
führung der Kallfhmidtichen Forderungen, ben „Werdegang“ bes Schaufpielerg 
oder befler: feine Vorbedingung: Die Theaterfhule Es iſt traurig, daß 
die barjtellende Kunſt von ber Fürforge des Staates ausgeſchloſſen ift und 
jene durhaus notwendige Forderung Emil Devrients an das Hultusminifte- 
rium, die heut ebenfo aftuell wie damals, nicht erfüllt werben konnte. Diefer 
Vernadjläffigung verdanken wir bie mit der Zahl der Theater zunehmende 
fünftlerifche Vermilberung breiter Schichten der Darfteller. Mit einem Schlage 
würde das anders, wenn ein bejtimmtes Maß pofitiven Wiffens und tehnifhen 
Könnens einer ftaatlihen Prüfung unterläge; dann würde für ben gebildeten 
Künftler der Weg frei, und ungeeignete Elemente fchalteten fich von ſelbſt aus, 
Es ift dabei auf bie genau prägifterte Forderung zu achten: allgemeines Wiffen 
und tech niſches, nidt in vollem Umfange fünftlerifches Können; das letztere 
ift in jenem Stadium ber Entwidlung oft ein zu zartes Pflänzchen, um fid 
dem prüfenden Blid und dem Ohr unzweifelhaft in feiner ganzen Ausdehnungs- 
fähigkeit zu offenbaren. Wir leiden in der Schaufpiellunft tro zahlreicher 
„Lehrer und Schulen“ an einer fo großen Unfiderheit in Rüdfiht auf die 
Technik, wie fie in diefem Grade wohl bei feiner ber Schweiterfünfte angetroffen 
wird. Die „Empirie* thront nod überall, und dabei blühen die leidigen 
„Methoden“ jo üppig wie 3.8. im Gefangsunterriht. Schließlich kann es 
dem Schüler wohl fo ergehen, wie feinem Sameraden im Fauft. Die Lehrer 
umgeben fi meift mit einem Nimbus, der ihre Unfähigkeit verdeden fol. Sie 
vermeiden e8 aus naheliegenden Gründen, 3. B. mit Hilfe der Wilfenfhaft die 
phonetifche Grundlage für das Spreden zu erfennen und zu bemeifen und fo 
den Schüler zur jelbftändigen Urbeit heranzuziehen. Wie viele — man kann 
ruhig jagen: die meiften Schaufpieler fennen nit einmal den Apparat, deſſen 
fie fich zum Spreden bedienen, hinlänglih, um ihn bewußt und vorteilhaft zu 
verwerten. Da gibt e8 die wahnfinnigften Vorftellungen über den Bau des 
Stehlkopfs und das Zufammenmirfen von Stimmton und Eigenton. Der Hals— 
arzt kann oft ergöglihe Geſchichten davon erzählen. Das Ohr, diefer weſent— 
liche Kritiker, wird nicht ausgebildet, weil der Lehrer felbft die ſchwierige, aber 
für eine bewußte Kunjtausübung unerläßliche Fähigkeit nicht befigt, fi ch Telbft 
zu hören. Neberhaupt die Sprache wird als Nebenſache behandelt, und 
das vom Schüler heiß erfehnte Rollenſtudium möglichft früh begonnen ; damit 
iſt dann allerdings ber Lehrer gerettet und bewegt ſich auf fiherem Boben, 
der Schüler aber wird dadurch zur ewigen Unfelbftändigfeit verdammt. 

Wie follen ſolche ECharlatans ein Talent entdbeden? Kallſchmidt gibt 
darauf die richtige Untwort. Aber follte fih aus dem Rohmaterial wirklich 
garnichts erkennen laffen von der Entwidlungsfähigkeit? Doch wohl? Worin 
bejtegt denn das erkennbare Talent des Anfängers? An nichts anderem, als 


Kunftwart 
— 306 — 


BT — | 


in ber Fähigkeit, auch vermidelte Gedanken und Empfindungen durch das 
Sprechen mieberzugeben, alfo die richtige Sprachmelodie, den fymbolifchen 
Beziehungston mehr oder minder zu finden. Freilich verhindert die Unkennt⸗ 
nis ber Sprachtechnik oftmals, daß ſeeliſch richtig Empfundenes in deutlicher 
Art zum Ausbrud gelangt. Doch kann das nicht verhindern, daß ber fein- 
fühlige und fcharfhörige Lehrer fih ein fubjektiv mahrheitsgemäßes und ehr- 
liches Urteil verſchafft. Wie weit diefe Entwidlungsteime Wurzel ſchlagen 
und Frucht bringen, kann niemand vorausfagen, weil das Talent in tieferem 
Sinne fi) erft im Leben und am Leben fteigert und beshalb mit dem inneren 
Wachstum bes Künftlers untrennbar verbunden ift. 

Hier hört das Gebiet der Theaterfhule auf. Bon ihr verlangen, mas 
erit das reifende Leben zeitigen kann, wäre unbillig. Damit verliert jedoch 
die Fünftlerifch geleitete Theaterfchule keineswegs an Dafeinsberedtigung. Denn 
ohne forgfältigfte Pflege und Wartung fünftlerifher Anlage ift ber Kampf dba 
draußen im ftürmifhen Deere der Praxis eben nit möglih. Wie gering 
bewertet man doch eine Sunft, die fo durch eine Behrjungenpragis von einem 
jeden erworben werden kann?! Thatfadhe ift: diefe Möglichkeit, in Kunft zu 
machen, wird von fehr, fehr vielen Schaufpielern als einzig richtig wirklich 
empfohlen. Die ſtunſthandwerker fpannen eben jede Aufgabe über benfelben 
Reiften und die gedantenlofe Alltagskritik preift den ftünftler, der es fo munbers 
voll „veritanden hat, die Rolle feiner Individualität anzupaſſen“. In unferer 
Zeit ift das nichts befremdendes: da unfer Ohr mehr als je abgeitumpft ift, 
hören mir bie Schaufpieler nicht mehr, fondern fehen fie nur noch; Koftüme 
und Zoilettenfragen find unendlich viel wichtiger als die Darftellung in ihrer 
Ganzheit, in ihrem Zufammenmweben von Ton, Gebärde und Spiel. Wenige 
Schaujfpieler können Gedichte fprechen, das ijt befannt. Ein größeres Armuts— 
zeugnis gibts aber nicht; denn es bemeift die vollendete Einfeitigleit. Nehmt 
vielen unferer Bühnengrößen den Nahmen der Bühne, der Dekoration, der 
Koftüme, und ihr prahlerifches Nichts ſinkt in feiner Nadtheit zufammen. Des 
halb weg mit dem abfoluten Rollenftubium! Für den Schüler ifts meift Gift. 
Nicht Haltlofe Shwärmer, fondern Kenner follen erzogen werben. Lehrt Lyrik 
nadfühlen und wiedergeben, lehrt in Berbindbung mit der Gebärde die Affekte 
von der einfachsten big zur fompligierteften Erfcheinungsform zu verstehen und lehrt 
beim Rollenftudium aud die Vertiefung in die pſychologiſche Folgerichtigteit 
ber darzuftellenden Charaktere, ohne auf ben poetifhen Zauber, der auch in 
der moderniten Figur fteden fann, zu verzichten. Hierfür find außer Shake— 
fpere aud) unjere modernen Problembichter hervorragend geeignet, unb für 
den Schüler bedeuten Ibſen und Hauptmann zunächſt mehr als Schiller 
und Goethe, die zulegt zu behandeln find. Wird fo auf vernünftiger Baſis 
gearbeitet und dabei nicht verfäumt, den Blid, außer in die Vergangenheit, zu 
richten auf das Kämpfen und Bauen, das Wehen und Stürmen unferer Tage, 
dann hat die Schule ihren Befähigungsnachmeis erbracht und wird brauchbares 
Material an die Bühnen abgeben; dann wird fie aber feine bloßen Rollen 
fpieler züchten, ſondern durch geeignete unausgefegte Uebung Regiffeure 
erziehen, d. h. Künftler, die das Kunſtwerk in feiner Ganzheit zu erfajjen ver— 
mögen, deren Phantafte nicht nur im beiten Falle die Role anſchaut, jondern 
vom ganzen farbenreichen Gemälde ausgehend, ſich die Einzelfarbe, d. i. die 
Role in ihren mannigfachen Schattierungen ausmwählt. Dann erſt wird die 
Herrſchaft ber Tradition und ber öden ſtunſthandwerkerei gebrodyen werden. 
Und endlich dann erſt, als meitblidgemährendes Dad, kann eine Hochſchule der 


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Schaufpiellunft im Sinne Kalkſchmidts dem auf ficherem Boden feft erbauten 
Gebäude der Theaterfchule aufgepflanzt werden und Nutzen verfpreden. 


Rudolf £orenz. 


Lose Blätter. 


Die Peft in Bergamo 
von 3.8. Jacobjen. 


Hier war Alt-⸗Bergamo, oben auf dem Gipfel eines niedrigen Berges, 
im Gehege hinter Mauern und Türmen, und bier war das neue Bergamo, 
unten am Fuß des Berges, allen Winden offen. 

Eines Tages brady unten in der neuen Stadt die Peſt aus und griff 
fürchterlich um ſich; e8 ftarben eine Menge Menſchen und die anderen flüchteten 
über die Ebene fort, nad) allen vier Enden der Welt hin. Und die Bürger in 
Alt-Bergamo zündeten die verlaffene Stadt an, um die Quft zu reinigen, je— 
doch e8 half nicht; fie begannen auch droben bei ihnen zu fterben, erit einer 
im Tag, dann fünf, dann zehn und dann ein Dutzend, und da e8 auf feinem 
Höhepunkt, noch viel mehr. 

Und fie konnten nicht jo flüchten, wie die in der neuen Stadt e8 gethan. 

Es gab deren ja, die e8 verfuchten, allein fie befamen ein Leben zu leben, 
wie das bes gejagten Tieres, mit Verbergen in Gräben und unter Brüden= 
kaften, hinter Heden und zwiſchen grünen Feldern; denn bie Bauern, bie bald 
da, bald dort von den erften Flüchtlingen die Peſt ins Haus geſchleppt bes 
kommen, fie fteinigten jede fremde Seele, die fie trafen, von ihrer Flur meg, 
oder ſchlugen fie wie tolle Hunde ohne Gnade und Barmherzigkeit nieder — in 
gerechter Notwehr, wie fie meinten. 

Sie mußten bleiben, wo fie waren, die Leute von Bergamo, und Tag 
für Tag wurde e8 wärmer im Wetter, und Tag für Tag wurde die grauen 
hafte Anſteckung gieriger und gieriger in ihrem Griff. Das Entfegen ftieg wie 
zu einem Wahnfinn, und mas bisher von Orbnung und ridtigem Regiment 
eriftiert hatte, war, als hätte e8 die Erde verfhlungen und das Schlimmite 
dafür hinaufgejandt. 

Gleich im Anfang, als die Belt gelommen, hatten die Leute ſich zu Einig- 
feit und Verträglichkeit zufammengefhloffen, hatten barüber gewacht, daß die 
Leute ordentlih und gut begraben wurden, und jeden Tag dafür geforgt, daß 
auf Märkten und Plätzen große Scheiterhaufen Feuer angezündet murben, 
. daß ber gefunde Rau durch die Straßen zöge. Wachholderbeer und Eifig 
war an die Armen ausgeteilt worden, und vor allem hatten die Leute früh 
und fpät die Kirchen aufgefucht, einzeln und in Progeffionen; jeden Tag waren 
fie bei Gott gemefen mit ihren ®ebeten, und jeden Abend, wenn die Sonne in 
bie Berge ging, hatten aller Kirchen Glocken aus hundert ſchwingenden Schlün= 
den flagend zum Himmel binaufgerufen. Und Faften waren auferlegt worden, 
und die Reliquien waren jeden Tag auf den Altären ausgeftellt worden. 

Endlich) eines Morgens, da fie nicht mehr wußten, was thun, hatten fie 
von des Hathaujes Altan, unter der Pofaunen und Tuben Klang, die heilige 
Jungfrau für nun und ewig zum Podeſta ober Bürgermeifter über die Stadt 
ausgerufen. 


Kunftwart 


Jedoch das half alles ingefamt nichts; es gab nichts, was half. 

Und als die Leute das vernahmen und feit wurden im Glauben, daß 
der Himmel ihnen nicht helfen wolle oder nicht könne, da legten fie nicht bloß 
bie Hände in den Schoß, fagend, daß alles fommen müffe, wie e8 fommen 
werde, nein, e8 mar als ob bie Sünde aus einem verborgenen oder fchleichen> 
ben Siehtum eine böfe und offenbare, rafende Peit geworben, die Hand in 
Hand mit der leiblichen Krankheit gierte, die Seele totzufchlagen, wie diefe, 
ihre Körper zu Grunde zu richten. So unglaublid waren ihre Thaten, fo uns 
geheuer ihre VBerhärtung. Die Luft war voll Läfterung und Gottlofigkeit, voll 
des Völlers Stöhnen und des Trinfers Heulen, und die mildeite Naht war 
nicht ſchwärzer vor Unzucht, als e8 ihre Tage waren. 

„Heute wollen wir eſſen, denn morgen müſſen wir ſterben!“ — Es war 
als hätten fie dies in Noten gefegt, in einem unendlichen Höllenfongert auf 
mannigfaltigen Inftrumenten zu fpielen. Ja, wären nicht alle Sünden fon 
vorher erfunden gemefen, fie wären e8 hier geworden; denn es gab nicht einen 
Meg, den fie in ihrer Berkehrtheit nicht gegangen wären. Die unnatürlichiten 
Lafter florierten unter ihnen und fogar fo feltene Lafter wie Nefromantie, 
Zauberei und Teufelsanrufung waren ihnen wohlbefannt; denn fie waren zahl 
reich, die bei der Hölle Mächten den Schuß zu finden meinten, den der Himmel 
ihnen nicht gemähren wollen. 

Alles, was Hilisbereitihaft und Mitleid hieß, mar aus den Gemütern 
verfhmunden; jeder hatte nur Gedanken für fich felbft. Der firanfe wurde als 
der gemeinfame Feind aller betrachtet, und gefhah’8 einem Armen, daf er, 
mait von der Peſt erftem Fiebertaumel, auf der Gaſſe umfiel, gab e8 nit 
eine Thür, die ſich vor ihm aufthat, fondern mit Lanzenſtichen und mit Steines 
mwürfen ward er gezwungen, fi) aus der Gefunden Weg fortzufchleppen. 

Und Tag für Zag nahm bie Peſt zu; die Sommerfonne brannte auf die 
Stabt herab, es fiel fein Negentropfen, e8 rührte fich fein Wind, und von ben 
Reihen, bie in den Häufern lagen und faulten, und von den Zeichen, die in 
der Erde ſchlecht geborgen waren, erzeugte fich ein eritidender Gerud, der fich 
mit der ftodenden Luft in den Straßen vermifchte und Naben und Strähen in 
Schmwärmen und in Wolfen anlodte, jo dab e8 von ihnen auf Mauern und 
Dächern ſchwarz war. Und rundum auf ben Ringmauern der Stadt ſaßen 
eingelnmeife feltjame große ausländifche Vögel, von weit her, mit raublüfternem 
Schnabel und erwartungsvoll gefrümmten Klauen, und fie jaken und jchauten 
mit ihren ruhigen gierigen Augen binein, als warteten fie nur barauf, daß 
die unglüdlihe Stadt eine einzige große Aashöhle werde. 

68 war gerade der Elfwochentag nad) Ausbruch der Peſt, als die Turmes 
wächter und andere Beute, bie fid) auf Hohen Stätten befanden, einen feltfamen 
Zug fi aus der Ebene hinein in die engen Gaſſen der neuen Stadt, zwiſchen 
den rauchgeſchwärzten Steinmauern und ben Schwarzen Aſchenhaufen ber Holz= 
feuern durchſchlängeln jehen fonnten. Cine Menge Menſchen! gewiß gegen 
fehshundert und noc mehr, Männer und Frauen, Alte und Junge, und fie 
hatten große ſchwarze Kreuze zwiſchen fich und breite Banner, rot wie Blut 
und Feuer, über ſich. Sie fingen, während fie gehen, und fehr verzweiflungs— 
voll klagende Töne jteigen durch die ftille, brütend Heiße Luft hinauf, 

Braun, grau, Schwarz ift der Leute Tracht; doch alle Haben fie eine rote 
Marke auf der Bruft. Ein Kreuz ijt’s, als fie näher fommen, denn fie fommen 
immer näher. Sie preffen fih den fteilen mauereingehegten Raum hinauf, der 
zu ber alten Stadt führt. Es iit ein Gewimmel von ihren weißen Gefichtern 


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fie tragen Geißel in den Händen; e8 ift ein Feuerregen auf ihre roten Fahnen 
gemalt. Und bie ſchwarzen Kreuze ſchwingen nad) ber einen Seite und nad) 
ber anderen im Gebränge. 

Ein Geruch fteigt vom zufammengepferdten Haufen auf, von Schweiß, 
von Alche, von Wegftaub und altem Kirchenräucherwerk. Sie fingen nicht mehr; 
fie reden auch nicht; bloß ber gefammelte Herbenartig trippelnde lang von 
ihren nadten Fußen. 

Gefiht um Gefiht taudht in ber Turmpforte Dunkel und fommt auf 
ber anderen Seite mit lichtſcheuen Mienen unb halbwegs gefchloffenen Augen 
wieder ins Helle. 

Dann beginnt der Gefang aufs neue: ein Miferere, und fie preflen bie 
Geißel und fchreiten ftärfer aus wie bei einem Kriegsſang. 

Als kämen fie von einer ausgehungerten Stadt, fo fehen fie aus; fie 
haben hohle Wangen, ihre Backenknochen treten hervor, fie haben fein Blut in 
ben Lippen und bunfle Ringe um die Augen. 

Die aus Bergamo find zufammengemimmelt und ſchauen mit Verwun— 
derung und Unruhe auf fie herab. Rote verfhmwärmte Gefichter ftehen von 
biefen bleichen ab; fchlaffe unzuchtsmatte Blide ſenken ſich vor biefen ſcharfen 
flammenden Augen; grinfende Läfterer vergeffen den Mund offen vor biefen 
Symnen. 

Und es iſt Blut auf all diefen Geißeln von ihnen. 

Den Leuten wirb vor diefen Fremden ganz wunderlich zu Mute. 

Aber es währte nicht lang, ehe man diefen Eindrud abfchüttelte. Es 
gab einige, die unter den Kreuzträgern einen halbverrüdten Schufter aus Brefcta 
erfannten, und ftrad8 mar die ganze Schar durch ihn zum Gelächter worden. 
Uebrigens mar e8 ja doch etmas Neues, eine Zerftreuung vom Alltäglichen, 
und als die Fremden nad der Domkirche fortmarfchierten, fo folgte man nad), 
wie man einer Gauflerbande oder einem zahmen Bären folgte. 

Dod während man ging und gefchoben ward, fam man in Erbitterung; 
man fühlte fi jo nüchtern der Feierlichkeit diefer Menfchen gegenüber, und 
man erriet ganz gut, daß diefe Schuhmadjer und Schneider gelommen waren, 
um einen zu befehren, für einen zu beten und bie Worte zu fprecdhen, die man 
nit hören wollte. Und ba waren zwei magere graubaarige Philofophen, die 
hatten die Gottlofigkeit in ein Syftem gefett; fie hegten die Menge und reizten 
fie recht aus ihres Herzens Bosheit, fo daß mit jedem Schritt, den e8 nad) 
der Kirche ging, die Haltung der Menge drohender ward, ihr Zornesausbrud) 
milder und nur wenig fehlte, fo hätten fie an dieſe fremden Geißelfchneider 
Sand angelegt. Jedoch, da öffnete, nicht Hundert Schritte von der Kirchen— 
pforte, ein Wirtshaus feine Thüren und eine ganze Schar Zechbrüder ftürmte 
hervor, einer auf dem Nüden bes anderen, und fie festen ſich an die Spige 
ber Prozeffion und führten fie fingend und johlend, mit den narrenhafteit an— 
dächtigen Gebärden, mit Ausnahme von einem unter ihnen, der bis hinauf 
zu den grasbewachſenen Stufen ber Stirdhentreppe die Daumen drehte. Da 
lachte man denn und alle gelangten friedlih ins Heiligtum. 

Es war feltfam, wieder ba zu fein, durch diefen großen fühlen Raum 
zu fchreiten, in diefer Luft, die beikend war vom alten Raud der Wachslicht- 
fhnuppen, über diefe eingefuntenen Fließen, die der Fuß fo gut fannte, und 
über diefe Steine, an deren verwegten Ornamenten und blanten Inffriptionen 
der Gedanke fich jo oft abgemübdet. Und während nun das Auge halb neu— 
gierig, halb unmillig fi im weichen Halblicht der Wölbungen zur Ruhe Ioden 


Kunftwart 
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ließ ober Hinglitt über bie gebämpfte Buntheit von verftaublem Gold und 
verräucherten Farben oder fich in bie fonderbaren Schatten der Altarwinkel zu 
vertiefen anfing, fo fam eine Art von Sehnfuht empor, bie nicht zum nieber- 
Balten war. 

Mittlerweile trieben die vom Wirtshaus ihr Unweſen broben beim Haupt- 
altar felbft und ein großer und kräftiger Metzger unter ihnen, ein junger Dann, 
Hatte feine weiße Schürze abgeldft und fih um den Hals gebunden, fo daß fie 
wie ein Mantel über feinen Rüden berabhing, und fo hielt er broben Meſſe 
mit den wildeiten, wahnwitzigſten Worten voll Unzudt und Gottesläfterung; 
und ein ältlicher Heiner Didmwanft, lebendig und behende, troßbem er jo did 
war, mit einem Antlig wie ein gefchälter Kürbis, er war Küfter und reſpon— 
dierte mit all ben lüderlichſten Weifen, die fih im Land umtrieben, und er 
Iniete und er fnigte und wendete dem Altar fein Rüdteil zu und Täutete mit 
ber Glode wie mit einer Narrenfchelle und flug im Rab um fi mit bem 
Näuchergefäh; und die anderen Trinker warfen fi beim Kniefall nieder, fo 
lang fie waren, und brüllten vor Laden und fchluditen vor Trunkenheit. 

Und die ganze Kirche lachte und juchzte und verhöhnte die Fremden und 
rief ihnen zu, fie möchten doch gut zufehen, damit fie herausfriegten, wie man 
bier in AltsBergamo ihren Herrgott fhäße. Denn e8 geihah ja gar nicht, 
weil man Gott etwas anhaben wollte, daß man über bie tollen Streiche jubelte, 
fonbern weil man fi darüber freute, welch ein Stachel im Herzen diefer Heiligen 
jede Läſterung fein mußte. 

Mitten im Schiff hielten fi die Heiligen auf und fie ftähnten vor Dual; 
ihre Kerzen kochten in ihnen vor Haß und Rachedurſt und fie beteten mit 
Augen und Händen hinauf zu Gott, daß er fih doch rächen wolle für all ben 
Sohn, der ihm bier in feinem eigenen Haus zugefügt wurbe; fie würden gern 
aufammen mit diefen Vermeffenen untergehen, wollte er nur feine Macht weiſen; 
mit Wolluft würden fie unter feiner Sohle zerdrüdt, wenn bloß Er triumphierte 
und Entjegen und VBerzmeiflung unb Reue, die gu fpät war, aus all dieſen 
gottlojen Mäulern ſchrieen. 

Und fie ftimmten ein Miferere an, das in jedem Tone Mang wie ein Ruf 
nad) dem Feuerregen, der über Sodoma fam, nad) der Madit, die Simfon be— 
ſaß, als er des Philifterhaufes Säulen umfaßte. Sie beteten mit Sang und 
mit Wort, fie entblößten bie Schultern und beteten mit ihren Geißeln. Da 
lagen fte fnieend, Reihe für Reihe, bis zum Gürtel herab entblößt, und 
ſchwangen bie ftadheligen Rebſchnurknoten über ihre blutftriemigen Rüden. 
Bild und rafend bauten fie zu, fo dab das Blut von ben zifchenden Beitichen 
fprigte, Jeder Schlag war ein Opfer für Gott. Daß fie dod anders ſchlagen 
könnten, daß fie fich doc Hier vor Seinen Yugen in taufend blutige Stücke 
zerreißen könnten! BDiefer Leib, mit dem fie wider Sein Gebot gefündigt, er 
follte geftraft, gefoltert, zu Nichts gemadjt werben, damit Gr ſähe, wie fie ben 
Leib haften, damit Er fähe, wie fie Hunde waren, Ihm zu gefallen, geringer 
als Hunde unter Seinem Willen, das niedrigite Gewürm, das unter Seiner 
Fußfohle Staub fra! Und Schlag auf Schlag, Bis die Arme niederjanten oder 
ber Kampf fie zu Knoten ballte. Da lagen fie, Reihe für Reihe, mit wahnwitz— 
funfelnden Augen, mit Geiferwolten vor dem Mund, das Blut über ihr Fleiſch 
berabriejelnd. " 

Und bie das fahen, fühlten auf einmal ihre Herzen Elopfen, merften bie 
Wärme in ihre Wangen fteigen und Hatten Beſchwerde zu atmen. Es mar 
gleichſam, als jtrammte ſich etwas Kaltes unter ihrer Kopfhaut und ihre Knie 


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wurden ganz ſchwach. Denn das ergriff fie; e8 war ein Feiner Wahnfinns- 
punft in ihrem Hirn, der diefe Tollheit verſtand. 

Dies, fi) als der gemaltigen harten Gottheit Sklave zu fühlen, fi 
felbjt vor des Herrn Füße hinzuſtoßen, fein Eigen zu fein, — nicht in ftiller 
Frommheit, nit in fanfter Gebete Unwirkſamkeit, jondern e8 rafend zu fein, 
in ber Selbfterniedrigung Rauſch, in Blut und Geheul und unter feuchtigkeits— 
blintenden Geißelzungen, dies waren fie aufgelegt zu verjtehen; jogar der 
Sleifher wurde ſtill und die zahllofen Philofophen dudten ihre grauen Köpfe 
vor ben Augen, die fie rings um fi fahen. 

Und e8 wurde ganz till drinnen in der Kirche; nur ein fahtes Wogen 
ging durch den Haufen. 

Da ftand einer von ben Fremben, ein junger Mönch, über ihnen auf und 
rebete. Er war bleich wie ein Laken, feine Schwarzen Augen glühten wie Sohle, 
die am Auslöfchen ift, und die büjtern, Shmerzgehärteten Züge um den Mund 
waren als mären fie wie mit einem Meſſer in Holz gefchnitten, und nicht 
Falten in eines Menſchen Geficht. 

Er ftredte die dünnen, zerlittenen Hände im Gebet gen Himmel und die 
ſchwarzen Suttenärmel glitten über feine mageren weißen Arme herab. 

Dann redete er. 

Von der Hölle fprad) er, davon, daß fie unendlich war, wie der Himmel 
unendlich ift, von der einfamen Welt der Qualen, die jeder von ben Ber- 
dammten zu durdhleiden und mit feinen Schreien anzufüllen hat; Seen von 
Schmefel waren da, Wiefen von Storpionen, Flammen, die fih um ihn legten 
wie ein Mantel fi umlegt, gehärtete Flammen, die fi in ihn bohrten wie 
ein Spießblatt, da8 man in einer Wunde umbdreht. 

E8 war ganz ftill; atemlo8 lauſchten fie feinen Worten, benn er rebete, 
als habe er das mit feinen eigenen Augen gefehen, und fie fragten fich jelbit, 
ift nicht diefer einer von den Verdammten, der zu uns aus ber Hölle Raden 
heraufgefhidt ward, um vor ung zu zeugen. 

Dann predigte er lange vom Gefe und der Strenge des Gefeges, darüber, 
daß jedes Tüpfeldhen erfüllt werden müſſe, und daß jede Uebertretung, deren 
fie fih jchuldig gemadt, ihnen bis auf Loth und Unge würde angerechnet 
werden. „Aber Ehrijtus ift für unfre Sünden gejtorben“, jagt Ihr; „wir find 
nicht mehr unter dem Geſetz“. Aber ic) fage Euch, daß die Hölle nit um 
Einen von Euch wird betrogen werden und nicht einer der Eifenzähne an der 
Hölle Marterrad wird Eueres Fleifches verluftig gehen. Ihr bauet auf Gol— 
gathas Kreuz; fommt, fommt! fommt e8 zu fehen! ich führe Euch ganz bis 
zu feinem Fuß. Es war ein Freitag, wie Jhr wüßt, als fie ihn durch eines 
ihrer Shore hinausſtießen und das ſchwerſte Ende eines Kreuzes auf feine 
Scdultern legten und e8 ihn gu einem unfrudtbaren und kahlen Lehmhügel 
außerhalb der Stadt tragen ließen, und fie folgten zuhauf mit und rührten den 
Staub auf mit ihren vielen Füßen, fo daß e8 mie eine rote Wolle über der 
Stätte lag. Und fie riffen feine Kleider von ihm ab und entblößten feinen Leib, 
fo wie bie Herren bes Gefeges einen Miffethäter vor Aller Bliden entblößen 
laſſen, damit Alle das Fleiſch jehen können, das der Pein fol überantwortet 
werben und ſie jchleuderten ihn nieder, auf fein Kreuz zu liegen, und ftredten 
ihn darauf und fchlugen einen Nagel aus Eifen durch jede feiner wider— 
ftrebenden Hände und einen Nagel durch feine gefreuzigten Füße; mit Heulen 
ſchlugen fie die Nägel bis an den Kopf hinein. Und fie richteten das Kreuz 
in einem Loch der Erde auf, jedoch es mollte nicht feft und gerade 


Kunftwart 
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ftehen, und fie fchüttelten e8 Hin und ber und trieben Keile und Pflöcke 
rund herum ein, und die e8 thaten, fihlugen ihre Hüte auf, damit 
das Blut feiner Hände ihnen nicht in die Augen tropfe. Und er dort oben 
fah vor fih hinab auf die Soldaten, die um feinen ungefäumten Kittel fpielten 
und auf biefen ganzen johlenden Haufen, für den er litt, damit berfelbige ers 
löſt werden könne, und e8 war fein mitleibend Auge im ganzen Haufen. Und 
bie dort unten fchauten wieder ihn an, ber leibend und ſchwach da hing; fie 
fhauten auf daß Brett zu feinen Häupten, worauf gefchrieben ftand: König 
der Juden, und fie fpotteten fein und riefen hinauf zu ihm: „Du, ber bu 
Tempel nieberbrichft und in drei Tagen wieder aufbauft, erlöfe nun dich felbit, 
bift du Gottes Sohn, fo fteig herab von diefem Kreuz.” Da erzürnte Gottes 
hochgeborener Sohn in feinem Sinn, und fah, fie waren ber Erlöfung nicht 
wert, die Haufen, fo die Erde erfüllen, und er riß feine Füße über den Kopf 
des Nagels und er ballte feine Hände über die Nägel ber Hände und zog fie 
heraus, daß bie Urme des Kreuzes fi) wie ein Bogen fpannten, und er fprang 
zur Erde und riß feinen Mantel an fih, dab die Würfel über den Abhang 
von Golgatha rollten, und er warf ihn um mit eines Königs Zorn und fuhr 
auf gen Himmel. Und das Streng blieb Leer ftehen und der großen Verſöhnung 
Werk wurde nie vollbradt. Es iſt fein Mittler zwiſchen uns und Gott; es tft 
fein Jefus für ung am Streuz gejtorben, es ift fein Jefus für ung am Kreuz 
geftorben, e8 ift fein Jeſus für uns am Kreuz geftorben!* 

Er jchmieg. 

Bei den letzten Worten hatte er fich über die Menge vorgebeugt und 
mit Lippen und Händen feine Ausfage gleihfam auf ihre Häupter niederge- 
worjen, und e8 war ein Stöhnen ber Angſt durch die Kirche gegangen und in 
den Winfeln Hatten fie zu ſchluchzen begonnen. 


Da drängte ſich der Fleifcher mit aufgehobenen drohenden Händen, bla 
wie eine Reihe vor und er rief: „Mönch, Mönd, mirft du ihn wieder aus 
Kreuz nageln, wirft du... .!“ Und Hinter ihm Fang e8 Heifer und fcharf: 
„Sa, ja; freuzige ihn, freuzige ihn!” Und von allen Lippen wieder, drohend, 
bettelnd, dröhnte es in einem Sturm von Rufen zur Wölbung hinan: Kreu— 
ige, freuzige ihn!“ 

Und Elar und hell eine einzige Stimme: „Sreuzige ihn!“ 


Jedoch der Mönch ſah auf dies Geflatter aufgeitredter Hände hinab, auf 
diefe verzerrten Gefichter, mit des rufenden Mundes dunklen Deffinungen, aus 
denen die Zahnreihen wie Zähne gereizter Raubtiere bligten, und er breitete 
die Arme in der Efftafe eines Moments gen Himmel auf und ladite. Dann 
ftieg er hinab, und feine Leute hoben die Feuerregenbanner und ihre leeren 
ſchwarzen Kreuze und brängten aus der Kirche hinaus, und wieder zogen fie 
fingend über den Marftplag und wieder durch der Turmpforte Schlund. 


Und die von Alt-Bergamo ftarrten ihnen nad), als fie ben Berg hin— 
unter gingen. Der jteile mauereingehegte Weg war vom Licht der Sonne um« 
nebelt, die draußen über der Ebene janf, und fie waren vor all dem Licht nur 
halb zu fehen; doc auf den roten Ringmauern der Stadt zeichneten die Schatten 
ſich ſchwarz und Scharf ihrer großen Kreuze, die im Gedränge von ber einen 
Seite nad) der anderen ſchwankten. 

Ferner ber fang ber Gefang; rot [chimmerte nod ein Banner oder 
zwei von der neuen Stadt brandſchwarzer Stätte; dann verfhmwanden fie in 
der lichten Ebene. 


1. februarheft 1899 
_ 33 — 


a EAN TED BETT 


Rundschau. 


Literatur. 


”» Südbifhe Gharaltere bei 
Grillparzer, Hebbel und Otto Ludwig“ 
beurteilt ©. Lublinski in einem bei 
Siegfried Cronbach in Berlin erſchie— 
nenen Bude. „Einen Kleinen Bei— 
trag zur deutſchen Literaturgefchichte, 
geſehen (!) auß dem Geſichtswinkel 
eines jüdiſchen Temperamentes nennt 
der Verfaſſer herein das aus fünf Eſſays 
(„Hebbels Judith“, „Der Jude in der 
@enoveva*, „Herodes und Dtariamne“, 
„Dtto Ludwigs Makkabäer“, „Grills 
parzers Efther und Rahel von Toledo“) 
ah gr Sale Werk, und er verhehlt 
aud) feine Sympathien für den — 
mus nicht. Wir haben es alſo mit 
einer ehrlich jüdiſchen Arbeit zu thun, 
und ſchon durch dieſe Ehrlichkeit ge— 
winnt das Werk auch Bedeutung. Nicht, 
daß ein Jude (an ihre ſogenannten 
Dichter, recte Geſchäftsleute denke ich 
hier natürlich nicht) deutſch dichtet oder 
in Sachen ber deutſchen Literatur mit= 
rebet, Dürfen wir uns verbitten — wir 
haben bafür vielmehr banfbar zu fein, 
denn alles, was uns zur Erfenntnis, 
zur Selbfterfenntnis verhilft, ift wert 
voll. Nur die Geltendmadhung jüdi- 
her Dichtungen als aud im Geiite 

eutfcher, weiter fpezififch jüdifcher 
Unfhauungen als allg emein-äjthes 
tifher kann verberblidy werden und 
ift e8 geworben, wie jede Berfchleierung 
von Unterſchieden nationalen Empfin= 
dens, bie dorh einmal da find. Sagt 
jemand ruhig: ih dichte und ſchreibe 
als Jude, jo hat er durchaus das Redt, 
gegen antifemitifche Angriffe geſchützt 
u werden, denn Kunſt- und Wiſſen— 
Haftsbetrachtung gehen zunächſt auf 
das Berftändnis des Dienfchengeiftes 
aus und haben feine nationalen For= 
men dabei einfach als gegeben hinzu— 
nehmen. Wo es jih um nationale 
Kunft handelt, dort aber gewiß, fommt 
dann die Echtheit und Reinheit des 
Nationalgeiftes in Frage für die Ein— 
heitlichfeit des Werkes in ji. Wo 
jüdifhe Menſchen von Künftlern ger 
manifher Raſſe dargejtellt werden, 
da haben die Juden natürlid) ein dop— 
peltes Recht mitzufpredhen, und wenn 
fie fi hier zu bemerfensmwerter Ob- 
jeftivität aufſchwingen, fo verdienen 
fie Lob. Ich ſtehe keinen Augenblid 
an, ©. Lublinsfi dieſes Lob für fein 
Bud zu wünjden. Er hat zwar die 
vielleicht anfechtbare Anſchauung, daß 


Kunftwart 


erft die Unterbrüdung bie ſchlechten 
Eigenſchaften bes jüdiſchen Volles her— 
vorgerufen habe, aber das iſt ihm 
kaum zu verdenken, denn ähnlich ent— 
ſchuldigen wir uns alle. Er neigt zwar 
zu übergeiſtreichen Kombinationen und 
madt von ben Uebermenſchentums— 
ideen mehr, als mir nötig fcheint, 
Gebraud), aber die Dichter, die er be= 
handelt, bemertet er doch im ganzen 
richtig, und bie jübifchen Geſtalten, bie 
fie geben, lehnt er nit hochmütig ab, 
fondern er nimmt fie an und madt fie 
uns wirklich anfhaulich, viel se als 
dies ber bejte nichtjüdiiche Beobachter 
bes Judentums könnte. Das ijt ein 
Verdienſt, auch infofern, als es uns 
wieder einmal bdarthut, daß wenigſtens 
der Dichter über die nationalen Schran= 
fen binausfann. Im einzelnen hätte 
ich Dies oder das auszufegen. So hat 
Sebbel die drei Könige aus dem Mor- 
genlande zum Schluß von „Herodes 
und Mariamne“ gewiß nicht der „ver 
alteten und kindiſchen Berföhnungs- 
theorie” zuliebe gebradt, gegen die 
er felber taufendbmal geſprochen, ſon— 
bern aus demjelben Grunde, aus dem 
Shatefpere zum Schluß bes Hamlets 
den Fortinbraß auftreten läßt. So 
ſchwankt das genannte Drama ſchwer— 
lich zwifhen Buhdrama und Bühnen- 
ftüf unflar hin und her — man führ 
e8 nur einmal auf! — und läßt bie 
Farben und Blüten, wenn man darunter 
nit bloß Lyrismen verjteht, ficher 
nicht vermiffen. So iſt Ibſen, der Dich— 
ter, jedenfalls nicht die Vollendung 
Hebbels und Ludwigs. Aber ſolche 
Meinungen“ ſchaden nicht, wenn bie 
Hauptarbeit nur geleiſtet wird, und 
das iſt hier das tiefere Eindringen in 
die Charaktere auf Grund oder unter 
Kontrolle der jüdiſchen Stammes— 
empfindung. A. Bartels. 


Cheater. 


* Hermann Sudermann hatte 
mei Verehrern ſchon lange ver— 
proden, ein Mal als Märdjenprinz 
zu fommen. Noch ehe Hauptmann 
Blode in dem Bergjee verfunten, —*— 
gute Freunde ein Zeichen des Koſtüms 
verraten, daran man ihn dereinſt 
erlennen ſollte, drei Reiherfedern, 
und kurz vor dem Feſte ward ver— 
kündet, hinter dem Duft des Märchens 
ſchlummere ein großer Gedanke. Nun 
iſt der große Tag hinter uns, in drei 


— 34 — 


Städten, in Berlin, Dresden unb 
Stuttgart, ward er gefeiert, aber hier 
wie dort war der Gindbrud mäßig, in 
Dresden warb fogar ein Mikerfolg 
nur mübevoll verhült. Gemeinfam 
ift dem Prinzen Witte, dem Helden 
ber Reiherfedern,* mit dem Glocken— 


+ Das Märchen, das dem Stüde 
zu Grunde gelegt iſt, und aus dem 
fich bei Bertiefung ftatt Beräußerlihung 
etwas hätte machen laffen, geben mir 
hier zur Orientierung über Die Fabel 
mit den Worten Bodo Wildbergs 
wieder: E8 war einmal ein Prinz, der 
litt an ber großen Sehnfudt, an ber 
Sehnfuht nah dem Weibe, bem ide— 
alen Weibe, der feligmadhenden Krone 
aller Frauen. Zu ihin jprad) die Be- 
gräbnisfrau auf der einfamen Inſel, 
wo ber Friedhof der Unbelannten ift, 
nahe von Samlands Küſte: „Wenn 
Du mir die Federn bringit von jenem 
Neiher, der hoch im Norden von einem 
milden Volke als König verehrt wird, 
fo will id) Dir fagen, wie Du das Weib 
aller Weiber gewinneſt“. Und der Brinz 
tötete den Reiher und bradjte die drei 
Febern, und die Begräbnisfrau ſprach: 
„Wenn Du die erfte diejer Federn ver— 
brennit, wird fie im Dämmer Dir 
ericheinen; wenn Du die zweite in bie 
Flammen wirfit, wirft Du fie nacht— 
wandelnd ſchauen; wenn aber die dritte 
im Feuer verglüht, dann ftirbt jenes 
Meib.* Und ber Prinz verbrannte die 
erite Feder; eine verjchleierte Geſtalt 
ſchwebte fern am Himmel bahin. Den 
rg 30g die große Sehnſucht nad 

üden. Die Königin von Samland 
mar in arger Bedrängnis, der Prinz 
rettete fie vor ihren Feinden und fie 
wurde jein Weib. Uber die Sehnſucht 
in ihm kam nicht zur Ruhe; in ftiller 
Nacht verbrannte er die zweite Feder. 
Da fam die Königin aus ihrem Ge— 
mad; unwirſch fuhr er fie an, daß 
[e ihn ftörte: „Du riefit mid“, ſprach 

e. Er aber hatte nicht verftanden. 
Und er brad) ihr die Treue und aud) 
als Herrfcher wurde er fchledht, jo daß 
man ihn endlich) vom Throne vertrieb. 
Und er lebte fünfzehn Jahre in der 
Berbannung: und endlih fam er 
wieder auf jene öde Oſtſee-Inſel, nah 
an Samlands Küſte. Die Königin 

örte von feiner Anweſenheit auf der 

nfel und fam ſamt dem nunmehr 
erwachſenen Prinzen, um den Büßer 
aurüdzuholen. Da geitand er, mas 
ihn fein Leben lang in der Jrre her— 
umgeführt; nun aber müfje er wiſſen, 


— — — — 


gießer die innere Zerriſſenheit, das 
Fremdſein hier wie dort, das im 
Grunde ein Sichſelbſtfremdſein iſt, die 
Exzentrizität“, die nur durch den Tod 
beendet, nicht gelöſt werden kann. Iſt 
aber das Ideal des an ſeiner ſtraft ver⸗ 
zagenden Künſtlers in einigen Sätzen— 
annähernd zu beſtimmen und der 
Märchenrahmen leicht überſchaulich, 
ſo zerfließt in Sudermanns anſpruchs⸗ 
vollem dramatiſchen Gedicht Inhalt 
und Form in das Geſtaltloſe und 
Unfaßbare und wird zum erſchrecken— 
den, unfreiwilligen Geſtändnis philo— 
Topbifher und unfünftlerifher Unklar— 
beit und Verworrenheit. Dumpf und 
verwirrend fingen allerhand Stimmen 
an unfer Obr, Sehnfuht nad) läuten= 
der Frauenreinheit, Verachtung der 
fhillerden Lüge Weib, reuiger Zweifel 


bei Unedt und Schuld, ſich 
auflehnender Troß ber Kraft, die 
felbft die Make alles Großen 


ſchaffen will, daß Recht ber Liebe und 
der Macht über das Recht. Steine 
moderne Sehnfuht, keine Halbwahr— 
heit unferer fuchenden Tage, die fidh 
da nicht zum Worte meldete, und über 
allem die billige Gemwißheit, daß ber 
Tod dem Durdeinander der Wider- 
ra für den Einzelnen ein Ziel 
etze. 

Après nous le déluge. Wird ſo 
das Ganze zum unfreiwilligen Spiegel= 
bild einer Seele, die ſich nur in Ver— 
zerrungen fpiegeln Tann, fo Hat bie 
fünftlerifche Geſtaltungskraft verjagt 
und verfagen müffen, wo e8 auf 
mehr al® momentane Bühnencffefte 
anlommt, die alle Mittel der „Uftua= 
Iität* ausnuben fünnen. Wem fi 
das Weltbild jo vertraft und ver= 
— darſtellt, dem iſt auch die Mög— 
ichkeit einer lichten Geſtaltung ver— 
ſagt. Der Zauberſpruch der Reiher— 
federn, in ſich doppeldeutig, bannt die 
Sehnſucht des Helden ganz in die 
Sphäre des Glückes, das Weibes Rein— 
heit gewähren kann. Nach den herben 
Erfahrungen, die Prinz Witte bei dem 
Zug nach dem —— gemacht, 
follte man meinen, als gefeſtigter Mann 
erjehne er nur noch ein beſcheidenes 
Glück. Dennoch mwühlt in ihm aud 
die Sehnſucht des Herrenmenſchen, ja 
die einfachſter königlicher Herrfchbegier. 


wo jenes Weib jei. Und er verbrannte 
die dritte Feder. Da ſank die Königin 
tot zu Boden. Die Begräbnisfrau 
aber fprad: „Nun feid ihr mein... 
Gehet ein zum Frieden.” 


1. sebruarheft 1899 


35 — 


Beide Ideale aber verleugnet er in 
einer zu ſchwacher Stunde geſchloſſe— 
nen Ehe mit einer Königin, dem Vor— 
bild aller weiblichen Milde und Hoheit. 
Der gute Zuſchauer ahnt natürlid) jo= 
fort, daß fie die Frau fei, Die ber 
Zauberſpruch verheift, e8 wird ihm 
aud) bei dem Verbrennen der zmeiten 
Feder beftätigt, indem die Königin 
nachtwandelnd erjcheint. Dem Helden 
aber fehlen alle Organe, das Gute zu 
erkennen, das fo nahe liegt. Ob folder 
Blindheit bemächtigt fi) des Zufchauers 
die lange Weile oder die Neigung, 
er allem, was er noch vorgehen 
teht, einen tieferen Sinn, den „großen 
Gedanten“ zu juchen und damit thut 
er ih’ und dem Dichter bitteres Un— 
recht. Schlieklidy atmet man auf, wenn 
im fünften Alte nad) fünfzehn Jahren 
erfreulicher Abweſenheit des Helden die 
dritte Reiherfeder verbrennt. Prinz 
Mitte würde in fünfzehn Alten nicht 
erfennen, was ihm not thut. Nun 
aber ftirbt die Königin, fein verlajfenes 
Weib; das helle Licht, das ihm in 
diefem Wugenblid aufgeht, kann er 
nicht vertragen, und er ftirbt auch. Der 
Dichter aber fagt: Begrabt ihn, „Dann 
geht nachdenfiam von hinnen, Denn 
mein Wert ift aus.“ Nachdenkſam geht 
man allerdings nad) Haus, aber wohl 
niht gan; im Sinne des Dichters. 
Dan fragt fih doch, mie ein fo ges 
mwandter Mann feine Araft fo ver— 
fennen, wie er in dem ihm fremden 
Gebiete alle feine technische Geſchicklich— 
feit vergeffen, wie er für den Bombalt, 
die ſchielenden Bilder feiner Sprade 
fein Ohr, fein Auge haben fann. Das 
Broblem, das er fich geitellt, hat er 
nicht gelöjt, dafür aber dem Beobachter 
moderner Kunſt das unerfreuliche Pro— 
blem eines überrafchenden Niedergangs 
geitellt. £eonh. Lier. 


Eine Dresdener Zeitung faßte ihr 
Urteil über die „Reiherfedern“ in das 
Schlagwort zufammen: „Suder- 
manns Ende* Nein, jo weit find 
wir noch nicht. Nahdem der Mike: 
erfolg der erjten Aufführungen aud 
in Sudermanns Leibprejien nicht zu 
bejtreiten ıwar, beginnt nun wieder die 
Made, die wir gelegentlidy Perofis 
beleudjteten, und das „Berliner Tages 
blatt“ jest nad) jeiner abjprechenden 
Kritif Heute ſchon mit kritikloſer Wieder 
gabe von Theaterdireltionsnadridten 
ein über den großen Erfolg der weis 
teren Boritellungen. Die erite Rezen— 
fion wird vergejfen werden, die Notizen 


Kunftwart 








sin 


werben fi mieberholen und immer 
wiederholen, — jo wirds gemacht. Uber 
das Verhalten im Publikum ift doch 
ein gutes Zeichen. Als ein Dichter 
bat Subdermann begonnen, mit ehr 
lichem Schaffen aus innerem Drange. 
Dann führte die Mode ihn aufs Theater, 
und nun ward er allmählich zum Ma— 
cher, werbend um die Gunſt der klat— 
fchenben und bezahlenden Hände als 
ein Spefulant in Gffeften. Aber ber 
Poet in ihm war einmal da und 
quälte ihn, daß er Großes fchaffen 
folle, — er, der doch ein kleiner Menſch 
mar mit der Ehrfurdt vor Parkett 
und Rängen. Einen Johannes wollt 
er fchreiben, — er, mit der Ehrfurdht 
vor Parkett und Rängen. E8 ward 
nicht8 Rechtes daraus, dba fam bie 
Stimmung ber „Reiherfedern“. Und 
e8 ward abermals nichts Rechtes da> 
raus: wer zehn Jahre lang gegen fein 
Beites gearbeitet hat, dem gehorcht e8 
nit mehr, wenn ers plößlich ruft. 
Das iſt das Tragifhe in der Tragi— 
tomödie vom Glauben an Sudermann. 

* Bon den Berliner Bühnen 
wird demnächſt verichtedenes zu be— 
richten fein, für heute genüge der Hin— 
weis darauf, daß die „Neue Freie 
Volksbühne“ den übrigen Theatern 
wiederum voranſchritt und unter Cord 
Hachmanns bewährter Regie Björn— 
fons „Paul Lange und Tora Pars— 
berg* zur Aufführung bradte. Die 
Gefahr lag nahe, daß zwischen Wollen 
und Können der tapferen Wrbeiter= 
bühne ein böſer Widerſpruch entitehen 
würde, und dann hätte der ſchau— 
fpielerifche Schiffbruch erbarmungslos 
auch die Dichtung in den verſchlingen— 
den Strudel gezogen. 

Es fam zu feinem Schiffbruch. 
Björnſons ftolzer Segler glitt ruhig 
und von freudigem Jauchzen begrüft 
in den bergenden Hafen. Der Nach— 
mittag im Oſtend-Theater war in ber 
That ein Genuß. „Paul Lange und 
Zora Parsberg“ gehört zu Björnſons 
beſten Dramen, was mir, wie ich gern 
bekennen will, beim Leſen nicht ganz 
deutlich geworden war. Die Dichtung 
hat bei aller Klarheit und Anſchaulich— 
keit den Blick in die Tiefe, den kein 
bedeutendes Drama entbehren kann. 
Paul Langes Schickſal iſt tief. Er hat 
in den Niederungen des Lebens ge— 
atmet und hat ſich anſchmiegen und 
Rückſichten nehmen müſſen, um ſteigen 
zu können. Dadurch iſt er jener inneren 
Abhängigkeit verfallen, die eine Feig— 
heit des Herzens iſt und doch mit 


grober Güte beifammen wohnen fann. 
eine Augen hängen am Mund ber 
Reute, die ihn — durch die meland)o= 
liſche Gemwöhmung eines langen Lebens 
— beherrſchen und ihın das Maß liefern, 
mit dem er Wert und Unwert feiner 
eigenen Piyche mißt. Nur einmal ift 
er frei. Ein ftrahlendes Weib, deſſen 


flare Stimm immer von ber Luft der | 


Höhe umfpielt wurde, umnebelt feine 
Sinne mit einem Rauſch. Die Fetten 
fallen und er wagt e8, der tyrannifchen 
Menge feine Meinung grade in die 
beutegierigen Zähne hinein zu jagen. 
Als nun aber das Geheul um Radje 
durch alle Straßen gellt, verfliegt der 
Raufh, und Paul Lange iſt ein ge= 
fallener Dann, dem bie Stirn in ehr 
loſer Sham brennt und der die Augen 
nicht gu erheben wagt. ber immer 
nod iſt er Paul Lange, ein Dann, 
ber ein Leben nicht meiter führen 
mag, das er als verädtlid erfannt 
hat. Darum gebt er — in eine 
Stille hinein, die der Gafjfenlärm ber 
öffentlichen Meinung nicht ftören kann. 
m Nebenzimmer jhießt er ſich eine 
gel durch den Hopf. Der Ring ift 
geihloffen: der gedudte Mann, der ſich 
vermaß in der Freiheit zu leben, muß 
mit Notwendigkeit im Grabe büfen. 
Erih Sclaifjer. 


* Der Münchner akademiſch— 
dramatifhe Berein hat fi ſchon 
durch manche hübſche Aufführung Ver— 
dienſte erworben, er hat z. B. Ruebdes 
ters „Fahnenweihe“ im vorigen Jahre 
Im eingeführt und erft neulich Ger- 

art Hauptmanns „Friedensfeit” dar— 
geltellt. Um jo bedauerlicdher ift ber 
gewaltige Mißgriff, den er mit ber 
Wahl des Falkenbergſchen Stüdes 
„Erlöfung* gethban bat. Der ne 
de8 Dramas bejteht darin, daß eine 
lebensuntüdhtige Frau, die vor ber 
Gefhhlehtsberührung mit ihrem Manne 
aurüdichredt, in dem Freunde diefes 
Mannes den Befreier ihres Seelen= 
lebens zu finden meint, bis denn end= 
lich der Tod als der richtige „Erlöſer“ 
ericheint. Ein weichlich müdes Schwär—⸗ 
men, ein wehmütig wirken ſollendes 
Spielen mit den „weißen Blumen des 
Todes“ und dem „Lebensland der 
zoten Roſen“, ein trunfnes Schwelgen 
in den Phrafenherrlichkeiten deutſcher 
Literatur, wobei die Geliebte 5. B .als 
„Königin“ und „Priejterin“ angehim= 
melt wird, — das iſt der mejentliche 
Gehalt des Stüdes — ber befannte 
Blumenkohl unfrer Ullerneueiten. Da= 





zu ein Auskramen von geichledtlichen 
ntimitäten, das bei der allgu naiven 
ffenherzigfeit, mit der der Verfaſſer 

an das Enthüllen diefer heiflen Dinge 

geht, komiſch wirft. x. Weber. 


Wie's gemadt wird. 

Die „Breslauer MorgensBeitung” 
—— „Im »Berliner Tageblatt« 
teht zu lefen: »Der Schauspieler und 
Regifjeur Mar Reit vom Aachener 
Stadttheater wurbe, wie uns ein Privat: 
telegramm meldet, nad) glängendem 
Gajtipiel vom Direktor Dr. Loewe 
an das Stadttheater in Breslau 
engagiert.« — Bon einem »glängenden 
Gaftipiel«e des Herrn Rei, der mit 
mäßigem Erfolge bei der Kritik zwei 
wenig belangreihe Schwankrollen und 
zwar im Lobe- und Thalia-Theater 
daritellte, iſt hierorts abjolut nichts 
befannt.* Wir erwähnen den Fall, 
mweil er Anlaß gibt, des allgemeinen 
Mißbrauchs zu gedenken, der mit Tele- 
grammen über Theater-Erfolge ges 
trieben wird. Telegramme maden 
mehr „Effekt“ als Briefe, Telegramme 
werden daher vom Herrn Nebafteur 
mwohlmollender behandelt, als „ges 
wöhnlihe Poſtſachen“, ZTelegramme 
werden aber auh nad Schluß ber 
Redaktion von der Druderei zumeift 
nod aufgenommen, alfo ohne redaf- 
tionelle VBorprüfung. Das weiß ber 
Kluge, darum telegraphiert er noch 
Nachts nad) Theaterſchluß feinen „Er— 
folg* in die Welt. Das Publikum 
aber thut gut, wenn e8 Ruhmesmel- 
dungen durch den Draht mit verdop— 
pelter Stepfis aufnimmt. 


uf. 


* In Berlin iſt Albert Beder, 
ber bedeutendjte protejtantifche Kirchen— 
fomponijt der Gegenwart, im Nlter 
von 65 Jahren verfhieden: ein guter 
Meiiter, eine ſympathiſchePerſönlichkeit. 
Seine B-moll-Mefje, die vor 20 Jahren 
feinen Ruf begründete, dürfte jo bald 
nit vergellen werden; fie bedeutet 
den Höhepunft feines Schaffens. Diejes 
fhöne, erhebende Werk jteht unter den 
modernen Werfen proteitantifcher 
Kirchenmuſik fiherlid obenan. Alle 
Vorzüge Bederjher Kunſt find da— 
rin wie in einem Brennpunkt vers 
reinigt: wundervollreiche Polyphonie, 
Hangihöner, meifterlider Chorſatz 
und im Orcejter eine farbenreiche 
glanzvolle, moderne, Inſtrumen— 


1. Februarheft 1899 


tation, ſowie endlid blühende Me— 
Iodit, die bei aller Gingänglichkeit 
doch immer vornehm bleibt. Ein Wert 
von hohem Werte ift noch der häufig 
aufgeführte, ergreifende „geiftliche 
Dialog” für eine Altitimme und Chor 
a capella. Fußte Beder je mie über- 
haupt in feinen zahlreichen Kirchen— 
fompofitionen auf Bad, fo folgte er 
auf finfonifhem Gebiete mit geringerer 
Selbſtändigkeit ben Spuren Beethovens 
und ber Romantifer. Zuletzt warf er 
ſich auf die dramatiſche Mufit und 
vollendete eine Oper „Lorelei* im 
Wagnerſchen Stil, auf die er große 
2 ungen fegte.e Mor rg ba 
chrieb er mir darüber in feiner lau= 
nigen Weife, er gehöre nicht zu den 
Mufitwüftlingen, deren Stärke in den 
Hörnern (und Trompeten) beftehen, 
in ber Uebertreibung, im Mißverftehen 
bes Meijters Wagner. Dies kenn— 
eichnet feinen Standpunkt. Ehre 
En Andenten. 


* Berliner Mufit. 

Als vor langen Jahren ber hyper= 
geniale Hans von Bülow bei einem 
Konzerte in Meiningen zweimal hinter⸗ 
einander Beethovens IX. Symphonie 
aufführte, als er dann erh in Berlin 
an einem einzigen Abende bie fünf 
legten Sonaten Beethovens fpielte, da 
mollte er offenbar mweit weniger als 
ftünjtler, denn als Lehrer und Erzieher 
vor da8 Publilum treten. Mir per 
fönlih find derartige Vorführungen, 
bei denen wir nicht nur künſtleriſch 
genießen, fondern aud) in hervorragen= 
der Weife fünftlerifch lernen, äußerſt 
ſympathiſch. Ferruccio Benvenuto 
Buſoni ſcheint wie Bülow auch der 
Anſicht zu ſein, daß der Künſtler ſein 
Publikum nicht nur erfreuen, ſondern 
auch belehren ſoll. So hat er uns 
dieſen Winter an vier Samstagabenden 
die Entwickelung des Klavierkonzerts 
gezeigt. Jeder, Abend ſollte vier 
Konzerte bringen. Den Reigen eröff- 
nete der gewaltige Thomas = flantor 
mit feinem Konzert in D-moll mit 
Streihordeiter; ihm folgte der ſoge— 
nannte Raphael der Mufil mit dem A- 
dur-Stonzert; dann der Titane Beetho- 
ven mit dem Slonzert in G-dur und 
fhlieglih — eigentlich gar nicht in 
einem Atem mit feinen Vorgängern 
zu nennen — Hummel, von dem aller 
dings oje Vianna da Motta mehr 
poetiſch als richtig behauptet, er fei 
„ein ſchlafender Mozart, ber von Lifzt 
träumt; Epigon und Brogon zugleich“. 


Kunftwart 


Am zweiten Abend fam ganz ent- 
ſprechend feiner übergemwaltigen Größe 
Beethoven abermals zu Wort und 
zwar mit dem unvergleidhlichen Es-dur- 
Konzert; im übrigen war der Abend 
den Romantifern gewidmet; Weber 
mar mit feinem Konzertſtück in F-moll, 
Schubert mit der Defeat ale I 
und Chopin, „Die Klavierſeele“, wie ihn 
Rubinftein nannte, mit dem Konzert 
in E-moll vertreten. Die Romantiler 
behaupteten aud) am dritten Abend 
ihre Stellung! Mendelsjohn mit dem 
G-moll- und Schumann mit dem A- 
moll-Stonzert; inihre Geſellſchaft paßte 
wiederum Henſelt ſchlecht; er ſchloß ben 
dem „moll‘ gemweihten Abend mit feinem 
Konzert in F-moll ab, Die „Moderne“ 
bildete ben Abſchluß des ganzen Zyflus: 
Nubinftein, Brahms und Lifzt jtanden 
mit ihren Stonzerten in Es-dur, D-moll 
und A-dur auf dem Programm. Die 
Reiftung Bufonis tft, allein vom rein 
phyitfchen Standpunkte aus betrachtet, 
ganz ungeheuer ; das Gedädhtnis —*— 
Mannes, der alles auswendig ſpielte, 
eradezu phänomenal. Betrachtet man 
eine Leiſtungen vom künſtleriſchen 
Standpunkt, ſo kann es allerdings 
ſcheinen, als ob Buſoni doch nicht der 
rechte Interpret für ‚„hiſtoriſche“ Kon— 
zerte wäre; er ijt nicht objektiv genug, 
id) möchte fast fagen, er ‚doziert“ nicht 
genug; in alle Darbietungen legt er 
zu viel von feinem perfönlichen Ems 
pfinden, von feinem nervöſen, cho— 
pinfhen Temperament; es iſt nicht 
der abfolute Bad, Beethoven und 
Weber, der zu uns durch Bufoni ſpricht, 
fondern e8 ift Bufoni, der uns erzählt, 
wie er die einzelnen ftünftler ſieht 
und verfteht; er gleicht gewiſſermaßen 
ben eriten franzöfiihen Impreſſioniſten, 
die nicht den Gegenstand abfolut dar— 
ftellten, fondern fo wie er ihnen ges 
trade erjchien; fie festen daher nicht 
unter ihre Bilder den objektiven Titel, 
3. B.: „chat qui se promene“, fonvern 
„impression d'un chat qui se prome&ne“, 
Daß troß der großen Subjeftivität 
Bufonis die einzelnen Darbietungen, 
namentlih Chopin und Schumann, 
von ernitejter Künftlerihaft zeugten, 
die weit entfernt iſt von jeder Effekt— 
bafcherei, muß unbedingt zugegeben 
werden; ob in ben künſtleriſch-hiſtori— 
ſchen Rahmen das herzlich unbedeutende 
Hummelſche Wert, ſowie das virtuofen- 
hafte Konzert Henjelts ſehr gut hereins 
abten, mag dahingeſtellt bleiben. Herr 
Bianna da Motta hatte ein gutes Pros 
grammbud mit hiftoriichen und ana=s 


— 38 — 


Iyfierenden Bemerkungen zu ben ein 
zelnen Konzerten gefchrieben. Der 
große Erfolg, den Bufoni errang, war 
durchaus gerechtfertigt. 
eben Bufoni ijt e8 noch ein zweiter 
Klavierfünftler, der das allergrößte 
Antereffe beanfprudjt: wir meinen ben 
Pariſer Edouard Risler. In mehreren 
Konzerten iſt dieſer Meifterfünftler 
aufgetreten und Hat ſtets denfelben 
roßen Erfolg gehabt. Für fein Können 
peint e8 gar feine Grenzen zu geben; 
er fpielt Bach gerade fo vollendet wie 
Mozart, Beethoven und Ehopin; darin 
eben unterjcheidet er fi) mejentlich 
von Bujoni, daß er vollftändig in dem 
Komponiften, defjen Werk er vorführt, 
aufzugeben ſcheint; er lebt ſich mit der 
größten Ruhe und Objeltivität in deſſen 
Stil ein und läßt feine eigene Per— 
fönlichkeit völlig verſchwinden Hinter 
derjenigen des Komponiften, An einem 
Ubend brachte er die A-moll-Orgelfuge 
von Bad, die Cis-moll- Sonate von 
Beethoven, Mozarts F-dur-Sonate und 
Ehopins Bolonaife in C-moll zum Vor⸗ 
trage, aljo Werke, bie in ihrem Stil 
und in ihrem Gmpfindungsgebalt 
mweltenmweit außeinanderliegen. Man 
laubte gar nicht, daß e8 immer der— 
—* Ktünſtler war, der da ſpielte, fo 
ausgezeichnet wußte er jedem Werte 
gerecht zu werden. Die Perle war 
wohl Mozarts Sonate. Die Weichheit 
und Grazie, die zarte Poeſie der Kanti— 
Ienen mußte Risler fo herrlich zum 
Ausdruck zu bringen, daß man fdhier 
glaubte, Mozart bis dahin nod) nie 
richtig gehört zu Haben! Und nachher 
zeigte er in der gewaltigen Sonate 
Beethovens eine fo furdhtbare Kraft, 
eine jo dämonifche Leidenfhaft, da 
er den Zuhörer mit dem Vortrag bes 
legten Satzes geradezu erfchütterte. 
Was wir aber Herrn Risler befonders 
hoch anrechnen, tit die Selbitlofigkeit, 
mit der er ſich in den fünftleriichen 
Dienit anderer jtellt; fo wirkte er u.a. 
in einem Liederabend von Lilli Reh 
mann mit und verſchaffte dem Publikum 
einen Genuß, wie e8 ihn fo bald nicht 
wieder haben wird; zwei ftünftler von 
der reifen Künſtlerſchaft einer Lilli 
Lehmann und eines Edouard Risler 
findet man nämlich nicht allerwegen. 
Wie im vergangenen Winter bei dem 
böhmifhen Quartett, fo war Risler 
Diefes Jahr bei dem Amſterdamer 
Konfervatoriums- Quartett beteiligt: fie 
bradten ShumannsEsdur-Quintettge= | 
meinfam zur Aufführung. A. Bifchoff. | 
(Fortf. folgt.) 


* Mufilalifhes aus Stutt=- 
t. 


r 
Es iſt die Meinung aller Konzert⸗ 
unternehmer und machtausübenden 
Virtuoſen, daß bie Kritik — nament—⸗ 
lich in auswärtigen Blättern — nur 
dann einen Sinn habe, wenn fie ‚wohl⸗ 
wollend“ fei, d. h. neben bidauftragen= 
den Berichten aus andern Städten bie 
Rofalverhältniffe einer mindeftens 
—— Beräucherung unterziehe. Aber 
em Kunſtleben einer Großſtadt iſt 
wahrlich nicht damit gedient, daß man 
es in lokalpatriotiſchen Glanz taucht. 
Und die Leſer des Kunſtwarts würden 
kaum zufrieden ſein, wenn ich z. B. zu 
melden vergäße, daß unſre Hofbühne 
weder Triſtan, noch die Meiſterſinger, 
noch den Ring mit eigenen — 
eben kann, daß das erſtgenannte Werk 
—* der Erſtaufführung (109) vom 
Spielplan verſchwunden iſt, daß bie 
Meiſterſinger erſt im vorigen Winter 
nach dreijähriger Pauſe wieder er— 
ſchienen und daß neulich die endlich 
wieder aufgenommene Götterdämme— 
rung, ein für Stuttgart gemaltiges 
Ereignis, für das man Teilnehmer 
von nah und fern aufgeboten Hatte, 
wenige Stunden vor Beginn der Auf— 
führung abgefagt wurde. Der Grund 
war: eine mit dem königlichen Haufe 
verwandte Prinzeffin war verſchieden. 
Warum bleiben denn in foldem Falle 
die Kunſtgalerien offen? Man fcheint 
das Theater an mahgebenber Stelle eben 
bloß als Bergnügungsanftalt zu betrach⸗ 
ten. Uebrigens fehlt e8 gegen früher an 
regem Streben, an Neuheiten und Neu- 
einftudierungen jetzt feinesmegs, aber 
die jhönften Werte werden aus allzu 
ängftliher Rüdfihtnahme auf Publikum 
und Preſſe nad ein paar Aufführungen 
abgefegt. In der Hauptſache reiten 
lotfifce Opern bie Ehre bes Stutt— 
garter Hoftheaters. Auch, Tannhäuſer“ 
und „Zohengrin“ ſucht man durch ſtück⸗ 
mweife Auffrifhung dem Schlendrian 
au entreißen, 

Un der Spitze unferes Muſikweſens 
ftehen die von Dr. Obrift geleiteten 
zehn Abonnementstonzerte der Hofe 
fapelle, deren Programme nicht bloß 
nene Erzeugnifje (unlängit 3.8. Wein— 
gartners „Gefilde der Seligen*) auf 
nehmen, fondern aud), ſoweit Die So— 
liſten das zulaffen, nad) formalesftili= 
ftifhen Grundfägen zufammengeitellt 
werden. Zmeimal fonzertierte Wein» 
gartner mit dem Münchner Kaim— 
orcheiter, wobei Berlioz' „Romeo“ 
und Liſzts „Taſſo“ bedeutenden Eins 


1. februarheft 1899 


- 39 — 


druck Hinterließen. Berliog öfter zu 
hören, madt Einen ungemein fein 
fühlig gegen Orcheſterwirkungen. Sind 
nicht die lärmenden Tutti mit ihren 
verwirrenden Trompetenſtößen bei 
Konzertlompofitionen (die „Hajfifchen“ 
nicht ausgenommen) eine Geſchmacks— 
verirrung? Keiner unjerer Meifter hat 
in Konzerten, ſei es für Violine, Klavier 
oder Gello fein Ureigenites, woran fid) 
fein Ruhm fnüpft, gegeben. „Taſſo“ 
wirkte durch die Schönheit und Breite 
der fangbaren Melodieen, durch die 
mufifalifche Polyphonie, die mie bei 
Wagner zwei gefonderte Boritellungen 
in eine verflidht, und durch die orga— 
niſche Entwidlung der Themen mie 
eine Offenbarung. Wenn zu bem 
höfifhen Menuett die ſchwermütige 
venetianifhe Taſſomelodie Hinzutritt, 
fo padt einen förmlidy die Angit, daß 
der unglüdlide Dichter, überall feine 
Schmermut mitbringend, das ſchönſte 
Leben kataſtrophiſch zernichten werde. 
Solche Durdhgeiftigung der Polyphonie, 
für die Wagners Meijterfingervorfpiel 
und Götterbämmerungsihluß Die her— 
vorragendften Beifpiele find, bürfte 
bei Bach wenn je, höchſt felten ange 
troffen werden; etwa in der Cis 
moll-Tripelfuge des mwohltemperierten 
Klaviers? 

In der Kammermuſik hat ſich ein 
neues Unternehmen hervorgethan: Herr 
Schapit führt Beethovens mittlere und 
legte Quartette auf. Die legten Quar— 
tette insbefondere müjjen jedem den 
Weg zu Meifter Brudner bahnen; 
ich habe jtetS die Empfindung, daß 
diefer auf die Symphonie den Stil 
übertrug, den Beethoven für das Quar— 
tett geichaffen Hatte: Muſik als un— 
mittelbarfte Sprache bes Innern, die 
ihre Form ganz von dem Verlauf des 
Annenlebens empfängt und formvoll— 
endet iſt, fobald fie ihn überzeugend 
und feilelnd ausfpridt. Nur glaube 
man nidt, dab Brudner mwilllürlich 
das Ordeiter an Stelle des intimen 
Quartetts gefegt habe; das Recht da= 
zu jchöpfte er aus jeiner fchlichten, 
einfachen Natur, die ein modern-kom—⸗ 
pliziertes Seelenleben nicht hatte. Die 
Symphonie verhält fi) zur Kammer— 
mufif ähnlich wie das Chorlied zum 
einjtimmigen: bort eine gewiſſe All- 
gemeinempfindung, hier das indivi— 
duelle Sonderleben. Man erinnere 
fih, wie fharf R. Wagner die Sym— 
phonieen Beethoven® als oratio 
directa, als große Volksreden von 
der Kammermuſik unterjhied. Was 


Kunftwart 


Brudner zur Symphonie beftimmte, 
war bie Qiebe zur vollstümlichen Heiter- 
feit des Tanzes und zum feierlich Er— 
babenen einer die Maflen nieber- 
zwingenden Andacht; was zwiſchen 
diefen Polen liegt, da8 ganze Gebiet 
moderner Sehnjudht, flüchtiger Stim— 
mungen, bleibt faft unberührt. Hierin 
bewegen fich die Antipoden Hugo Wolf 
und Richard Strauß, deſſen ſympho— 
niſcher Stil ganz anders ijt, gleihfam 
eine birefte Erweiterung ber Kammer— 
muſik; daher aud) Kretzſchmar zwiſchen 
Bruckner und Strauß eine ziemliche 
Entfernung wittert und den Kontra— 
punft des erfteren „jteif“ tituliert. 

Brudner wird jetzt den Stuttgar— 
tern regelmäßig dargeboten, — vor= 
läufig am Klavier, fo gut e8 da geht. 
Die 2., 3. und 5. Symphonie murbe 
von mir erläutert und mit den Pia— 
niften Hollenberg und Biart an zwei 
Flügeln vorgeführt. Man verzeihe 
diefe Selbjterwähnung; die pädago= 
giihe Notwendigkeit diefer Beranftal- 
tungen ift durch den ſchwachen er 
hinlänglich bemwiefen. Darf ih no 
einen Vergleich zwiſchen Brudner und 
Beethoven anitellen? Diefer jcheint 
mir in den Mdagios das Größte als 
Quartett-Wdagio gegeben zu haben; 
Brudners Symphonie- Adagio mit 
feinem feierlihen Typus iſt etwas 
abjolut Neues. Ohne die Feierlichkeit, 
die eine Allgemeinftimmung ift, wären 
fo jtilgemäße Orcheſter-Adagios nicht 
auftande gelommen. Bielleiht bin ich 
widerlegbar; aber das Nachdenken über 
die pſychologiſchen Bedingungen ber 
und der Muſik jollte viel mehr geübt 
werben. 

Eine von Brudner vollitändig vers 
ihiedene Natur ift Hugo Wolf. 
Dank den unermüdlichen Bemühungen 
bes liniverjität = Dufikdireltor® Dr. 
Kauffmann von Tübingen (der aud) 
ſchon Brudners F moll-Defje aufführte) 
und des hieſigen Rechtsanwalts Faißt 
beherrſcht Wolf bei uns ſchon das 
öffentliche und erfreulicherweiſe auch 
das private Mufizieren auf dem lyri— 
fchen Gebiete. Es iſt ja erftaunlich, wie 
vieljeitig feine Lieder find; man kann 
ganze Ubende zuhören, ohne Einförs 
migfeit zu empfinden. Dabei find — 
eine bisher unerhörte Thatſache — ganze 
Liederzyflen (Mörife, Goethe, Italie— 
nifhes, Spanifches Liederbud) von 
einer unverfennbar unterjchiedlichen 
Stileinheit in fih. Am zweckmäßigſten 
wird man bie Befanntjchaft des Ton— 
dichter8 mit den 55 Mörifeliedern ein= 


— 320 — 


leiten. Goethe iſt mehr eine Koſt für 
die Feinen, Bornehmen, aber immer 
noch von einer fühlenden Friihe im 
Vergleich zum Italienischen Liederbuch, 
das die verfeinertite Erotif in glühen= 
den, ſchmachtenden Weifen pflegt. Der 
tiefen Inbrunſt der geiftlichen, der 
liebensmwürdigen Anmut der weltlichen 
Lieder des Spaniſchen Liederbudes 
fommt ſchwerlich in dieſer Art etwas 
gleich. 

Bon den Geſangvereinen pflegt der 
Stuttgarter Liederfran; das Lieder— 
tafellied und verleiht feinen vier Kon— 
zerten durch Beiziehung berühmter 
Splijten Glanz. Der Verein für flaf- 
fihe Kirchenmuſik hat feinen Ruf nicht 
verbejlert, feit er zu Faißts Nachfolger 
nicht den von ihm beftimmten Orga— 
niften Lang, jondern Brof. De Lange 
gewählt hat. Der Neue Singverein 
unter Prof. Seyffardt bradte Cſar 
Srands „Seligpreifungen“. Unter 
den Soliftenfonzerten hatte feines eine 
deutlich erkennbare kunſtpädagogiſche 
Bedeutung K. Grunsky. 

*Wie's gemacht wird. 

Wir begrüßen es erfreut, daß uns 
nun auch andre Zeitſchriften darin 
folgen, beſonders ſchamloſe Waſchzettel 
öffentlich anzuheften. So ſchreibt die 
Oeſterreichiſche Muſik- und Theater— 
zeitung“: „Behufs ‚Beiprechung‘ ſendet 
uns die Verlagsfirma W. Ulbrid, 
Berlin NO. 43, eine bei Durchſicht 
ih als eine im jchablonenhafteften 
ſog. Salonftil ermeifende Dutzend— 
Kompojfition »Mignon=Gavotte« eines 
gewiſſen PB. Semler ein, und »erlaubt 
fich« eine »drudreife Beſprechung« der 
drei Kompoſitionen einzufenden, deren 
erite diefes Machwerk ift, mit der 
»gütigene Zufage nah Abdrud 
diefer Befprehung die zwei nod) feh— 
lenden Gremplare einzufenden.“ Alſo 
auch hier wieder: erft das Lob, dann 
als Bezahlung des Lobes, das, mas 
ihr ohne e8 zu fennen, vorihriftsmäßig 
aelobt Habe. 


Bildende Kunft. 


* Bon Berliner Hunt. 

Uns bradte der Winter nun ſchon 
eine ganze Menge interejjanter Kunſt— 
eindrüde. Die Zahl ber Kunſtſalons 
bat fi) wieder um zwei vermehrt, die 
Salons Caſſirer und Ribera, und wenn 
man das neuerbaute Htünitlerhaus und 
feine Ausſtellungen dazurechnet, alſo 
ſogar um drei. Da ſich jeder beſtrebt, 
es dem anderen zuvor zu thun, und 


mm —ñ ñ e — — —ñ — — — — — — — — —— — — — — — — — — 


wirkliche Kunſt zu bringen, kam dies— 
mal wirklich etwas recht befriedigendes 
heraus: das Kunſtleben Berlins wacht 
aus feinem langen, langen Halbſchlafe 
almäblih auf. Bejonder® murben 
intereffante Sammelausftellungen ge— 
madt: von Liebermann, Rops, Meus 
nier, Lenbach, Michetti (in der Akade— 
mie) u. ſ. w. Eine ber ſchönſten war 
die von Werfen Ludwigs von Hof— 
mann, von dem unfer zweites dies— 
jähriges Heft eines feiner edelften Werke 
gezeigt hat, bei Keller & Reiner — man 
hatte bei der Fülle von Studien und 
Entwürfen reiche Gelegenheit, ihn fen= 
nen zu lernen. Und das Erfreulichite: 
man lernte ihn fennen, aud) das 
Publikum, jo meinen wirs, ſcheint zu 
feinem Verſtändnis durdhzudringen, 
denn fajt die Hälfte feiner ausgejtellten 
Werfe ging in Privatbefiß über. Len— 
bad) zeigte ſich bei Schulte in feiner 
ganzen Größe und Bedeutung; er fügte 
feinem Ruhme nichts Neues hinzu, er 
gab einen lieberblid über das Beſte 
—— letzten Jahre, das aber war ſo 
taunenswert, daß wohl keiner umhin 
konnte, in ihm unſeren größten Bild— 
nismaler zu ſehen. Sehr dankbar 
mußte man aud) eine Sammlung de— 
forativer Arbeiten von Klinger bes 
grüßen, die Schulte zeigte, zu derjelben 
Zeit, zu ber Gurlitt zwei ältere Bilder 
und Seller & Reiner das neuejte Mar— 
mormerf diejes Meifters brachte. Der 
in neuerer Zeit viel genannte Fidus 
ftellte bei Gurlitt aus. Troß jeiner 
ausgeiprodhenen Begabung vermönen 
uns feine Arbeiten nicht rein zu bes 
friedigen, da fich zu früh ein Schema, 
ein beinahe manieriftifhes Serunter- 
zeichnen der einmal gefundenen Form 
und damit eine innere Armut einitellt. 
Gerade bei jeiner unit, die doch offen= 
bar den Anfprud auf geiftige Vertie— 
fung madt, wirft das bejonders bes 
dauerlid. Der neue Salon Ribera 
führt zunächſt einige intereffante Künſt— 
ler vor, wie die Worpsmeder und 


ı jet eine Sammelaugjtellung eines 
\ jüngeren Berliner fünftlers, Balu= 


- 321 


chef, die fehr vielverfprehend iſt. 
Im allgemeinen fcheint auch bei diefer 
neuen Gründung das Beftreben zu 
herrſchen, wirtlih Kunſt zu bringen. 
Ermwähnen müflen mir nod) eine Sons 
derausftelung Hermoneß von 
Preufhen. Bei ihr weiß man lei— 
ber wirklich nit mehr, was größer 
ift: die Anmaßung, mit der fie aufs 
tritt, oder die ang Kindiſche ftreifende 
Wertlofigkeit ihrer „Werke“? Die ein— 


1. Februarheft 1899 


zige Höflichkeit, die der Kritiker dieſer 
Dame gegenüber bethätigen fann, be— 
fteht in Schmeigen. 

Mar Ehler. 


* Yuf Karl Krumbholz, aud 
einen der Vorarbeiter der neuen Ge— 
werbefunft, weiſt jegt wieder eine Bub- 
likation hin, die „Vegetabile Pflanzen— 
formen“ von ihm vorführt. Der Die 
reftor der mitten im praftijden 
tunjtindujtriellen Leben wirkenden Kgl. 
Induſtrieſchule in Plauen i.®., Profeſſor 
R.Hofmann, ſchreibt uns darüber: 

Im Berhältnis zu der großen 
Zahl kunftgewerblider Beröffentlich- 
ungen, welche in den legten Jahr— 
zehnten im Buchhandel erjchienen find, 
befinden fid) auffälliger Weiſe die guten 
DOriginalmerte zeitgenöfiifcher 
Künftler ſtark in der Minderheit. Die 
meiften Diefer Meröffentlidungen 
bringen Abbildungen von —— 
lichen Gegenſtänden aller Stilepochen 
zum Zwecke der unmittelbaren Nach— 
bildung, oder aud) nur, um Künſtlern 
und Sunjtgewerbetreibenden Anregung 
zu „neuem Schaffen” zu geben. Was 
unter diefem „neuen Schaffen“ bisher 
veritanden worden ijt, braudt nicht 
erläutert zu werden; denn das neu= 
zeitlihe Drängen und Treiben nad) 
einer neuen Hunft, nad) einer andern 
Ausdrudsmeife des den Menſchen eine 
geborenen künſtleriſchen Scaffens- 
dranges bemeifen ja deutlich genug, 
dat die Zwangsjacke des archaiſtiſch 
geſchulten Epigonentums anfängt, die 
Bruſt zu beengen, und daß wir alle 
Urſache haben, im Hinblicke auf die 
künſtleriſchen Fortſchritte anderer Völ— 
ker gegen eine Ohnmacht anzukämpfen, 
in die wir durch das anfangs berech— 
tigte, dann aber nicht rechtzeitig über— 
wundene Nachahmen gegenüber den 
geiſtigen Erzeugniſſen unſrer künſtleriſch 
hochbegabten Vorfahren geraten find. 

Der Fortichritt läßt ſich nicht durch 
antiquarifhe Scrullen eindämmen. 
Wir befinden uns im Auffhwunge 
einer neuen Ktunſtepoche, denn mir 
menden uns, ıwie dies zu allen Zeiten 
nad) der Periode des Berfalles ge 
ſchehen ift, wieder der Natur zu, um 
uns durch fie zu verjüngen und um, ge— 
leitet von neuen Grundfäßen und % z 
ſchauungen, aus dem Reichtum der 
Pflanzenwelt neue unftformen er— 
ftehen zu laflen. Die neue Richtung 
bricht fich ſiegreich Bahn. Und die bis 
jegt errungenen Erfolge miderlegen 
die Behauptung, daß die Pflanzenwelt, 
weil fie zu allen Zeiten die gleiche 


Kunftwart 


— 322 


geweſen jei, uns neue Formen nicht 
mehr zu bieten vermöge. 

Obgleich nachweislich die ftärfften 
Anregungen zu dieſer Richtung von 
deutfhen Künſtlern ausgingen, ift e8 
doch der größeren Znitiative und dem 
ausgeprägteren Rationalitolge der Eng- 
länder zu danken, daß fie fi), wenn 
aud als „engliiher Stil“, leider mit 
einer etwas zu weit gehenden Benuß- 
ung japanifcher Elemente durchge 
rungen bat. Die fünftlerifhe Läu— 
terung wird diefer neue Stil aber erjt 
in $ranfreid und Deutſchland erfahren 
müllen, und zwar duch eine Ber=- 
ae der ſtiliſtiſchen Auf— 
aſſung der Naturformen und durch 
die Beſeitigung des japaniſchen Ein— 
fluſſes, der leider auch auf anderen 
ſtunſtgebieten zu einer für uns Euro= 
päer geradezu befhämenden Herridhaft 
gelangt iſt. Schon aus wirtſchaftlichen 
Gründen, nämlid unter der be= 
ftimmten Borausfiht, daß Die euro— 
päifche Kunſtinduſtrie in abjehbarer 
zei mit der japanifhen auf dem 

eltmarkte in Wettbewerb zu treten 
haben wird, follte man jede Nachäffung 
der unjeren Empfinden biametral 
gegenüberftehenden japanifhen und 
hinefiihen Kunſt vermeiden. 

Als einerder Eriten in Deutichland, 
die mit der PVeröffentlihung eigner 
Entwürfe in der neuen Richtung her— 
vorgetreten find, iſt Profeſſor Karl 
Krumbholz zu nennen. Er, der 
jet im 79. Lebensjahre iteht und 
lange Jahre feine fegensreiche Thätig- 
feit als Lehrer an der Dresdner Kunſt— 
gewerbeſchule entwidelt hat, gehört 
neben den Franzoſen Ehabal-Dusurgey, 
Dumont und dem Elſäſſer Müller zu 
den beiten Pflanzenzeichnern feiner 
Zeit. Wer jein Schaffen kennt, wird 
nicht allein die fünftlerifche Auffaſſung 
und feine Duchbildung feiner Pflanzen— 
daritellungen bewundern, fondern er 
wird auch überraſcht fein, zahlreiche 
Blätter mit pflanzlich ſtiliſtiſchen Ent— 
mwürfen vorzufinden, die vor etwa 
——— Jahren, alſo zu einer Zeit ent— 
tanden ſind, wo die gegenwärtige 
Stilrichtung noch tief im 833 der 
Zukunft ruhte. 

Erſt in den Jahren 1880—8ı wagte 
Krumbhol; mit der Veröffentlichung 
feines Werkes „Das vegetabile Orna= 
ment“ einen kräftigen Vorſtoß in ber 
neuen Richtung, fand aber, mit Aus— 
nahme einiger anerlennenbdber Beſpre— 
Hungen, namentlich von Friedrich Pecht, 
in den Fachkreiſen wenig Verſtändnis, 


wohl aber eine herbe Verurteilung. 
Denn die Schäße ber hiftorifhen Stil- 
arten waren noch nicht erſchöpſt, und 
Barod und Rokoko harrten noch der 
„Wiedergeburt“, fo daß man feine rechte 
Veranlaſſung fah, den bequemen Weg 
der Nachempfindung zu verlaffen, um 
aus noch unbebauten Lande im 
Schweiße des Angefichts eigne Frucht 
au gewinnen. 

eitdem haben fi die Anſchau— 
ungen weſentlich geändert, das Bäch— 
lein ift zum Strome geworden, und 
neue Apojftel find eritanden, die gegen 
den „ellettiiyen Schematismus“ in 
unſerm Stunjtgemwerbe predigen, e8 iſt 
jo manches mehr oder weniger wert— 
volle vegetabil = ftiliftifche Werk er— 
fchienen, auch die Kunſtgewerbeſchulen 
fangen an, das Etilifieren von Pflanzen 
au üben, — ja felbit in den gewerb— 
lien Fortbildungsjchulen glaubt man 
thörichterweife, fich mit der Umgeital= 
tung der Natur= zur Sunftform be= 
Ihäftigen zu müſſen. Thörichtermeife? 
Ja, denn e8 ijt thöricht, fich mit einer 
Aufgabe zu beichäftigen, zu deren Be— 
mwältigung die notwendigen Vorſtudien, 
in Diefem Falle ein jahrelange, gründ= 
liches Zeichnen und Dialen von Pflanzen 
nad) der Natur, gänzlich fehlen. Diefes 
„thöricht* rufen wir aber nidht allein 
den unzulänglich organifierten Schulen 
zu, fondern allen Denen, die ohne die 
notwendigen Studien nad der 
Natur gemadt zu haben, fi ohne 
weiteres dem Stilifieren ber Pflan- 
zen zumenben. 

Wir begrüßen daher das neue, ſo— 
eben im Berlage von Chriftian Stoll 
zu Plauen i. V. erfchhienene Werk des 
ra" Karl Krumbholz „Begeta= 

ile Naturformen“* mit befonderer 

Freude; denn e8 zeigt den Weg, der 
eingefhlagen werden muß, um Gutes 
in der neuen Kunst zu fchaffen. 

Krumbholz beabfichtigt mit dieſem 
Werke nicht, unmittelbar verwendbare 
Vorlagen für Zeichner und Jnduftrielle 
zu geben. Sein Zmed iſt ein höherer, 
er will erzieheriich wirken. 

Das Werk beiteht aus zwei Teilen 
mit je ı8 Tafeln nebjt einem Vor— 
worte beherzigenswerten Inhalts. Der 
erite Teil zeigt vegetabile Naturformen 
in freier Daritellung, mwährend im 

weiten Teile mehr itilifterte Pflangen= 
Toren gegeben find, in der Abficht, 


auf neue pflanzliche Gebilde für flache 
und plaftiiche Berzierung aufmerffam 
zu machen. 

Der vornehme Zug, der von jeher 
die Arbeiten diefes Künſtlers auszeich- 
nete, fehlt auch den neuesten Erzeug— 
niſſen feines raftlofen Schaffens nicht ; 
frei von der modernen Sudt, originell 
auf Koften der Schönheit zu fein, ver— 
meibdet er in feinen Stilifierungen alle 
Einflüffe fremdartiger Kunſtweiſe und 

ibt nur das, was er an der Natur= 
orm für charakteriſtiſch und geeignet 
zur Verwendung erfannt hat, in feiner 
fünftlerifchen Eigenart wieder. 

Natürli iſt deshalb der zweite 
Teil des Werkes für uns von höherem 
Intereffe. Viele der darin enthaltenen 
Darftellungen bemeifen, daß, wie 
Krumbholz im Vorwort ſich ausdrüdt, 
mit einer „Findigfeit im Entdecken 
neuer Formen“ in der That noch ganz 
und gar Neues der Natur abges 


wonnen werden fann. Deshalb wird 


fie nie veralten, und der Sat: „daß die 
Natur für alle Zeiten die wahre und 
unerfhöpflihe Quelle alles Kunſt— 
ichaffens fein und bleiben wird,“ fann 
nie zur Phraſe werden. 

Nur glaube man nicht, daß die Na— 
tur fich mit mathematifhen und kon— 
ftruftiven Mitteln zur Herausgabe neuer 
Formen zwingen läßt. Nur wer mit 
Dingebung, Begeifterung und bem freien 
Blide des Künſtlers in ihre ewigjung— 
fräulide Schönheit einzudringen ver— 
mag, dem wird fie fi) ganz erfchließen. 
Aber wie überall, fo werden aud) auf 
Diefem Gebiete unter den Bielen , die 
berufen find, nur wenige ausermählt 
fein, die genügend befähigt find, ſelbſt— 
ſchöpferiſch zu arbeiten. 

Der hohe Ernft, mit dem Krumb— 
holz jederzeit an feine Aufgaben her— 
angetreten ift, der hier wieber in feinem 
Vorworte zum Ausdrud fommt und 
aus feinen bildlihen Darjtellungen 
ſpricht, möge Vielen, die fi) auf diefem 
ſchwierigen Gebiete verfuchen, eine 
Mahnung fein, denn, um mit feinen 
eigenen Worten zu fchlieken, »mit ge— 
ringeren Vorausſetzungen als den (im 
Vorworte) dargelegten oder auf einem 
anderen weniger natürlidhen oder gar 
phantaftiihen Wege zu etwas Neuem, 
Gigenartigem und zugleid Schönem 
zu gelangen, dürfte vergebliches Ber 
müben fein.«* 


6 


- Bi - 


1. februarheft 1899 


Unsre Beilagen. 

Mit der heutigen Mufitbeilage geben mir den Leſern ein ſtark „jezei= 
fioniftifch* geartetes Lied des Prager tapellmeifters Jofef Stransky, bie 
Kompofition eines Gedichts aus den „Stimmen und Bildern“ von Avenarius. 
Hier läßt ſich, der wechſelnden Zmieliht-Stimmung entipredhend, feine Tonart 
feitftellen. Leiſe Schatten fcheinen über den Boden zu huſchen, in ftodenden 
padenden Syntopenaftorden zittert die allgemeine Spannung, fie löſt fih in 
eine weiche, den Mondenfhein malende melandolifche Melodie. Seltſam, daß 
die Künstler das Aufgehen eines Lichts muſikaliſch als ein Fortiffimo empfin= 
den, — „ungeheures Getöfe verkündet den Aufgang der Sonne“, heißt e8 ja 
auh im „Faust“. Dem entipredhen bier Takt ı2 und ı4. Die folgenden 
dumpfen Akkorde atmen Hamletluftl. Dann wieder die weiche Melodie des 
„groß und traurig“ blidenden Mondes und der fachte Schritt des bleich übers 
Feld wandelnden Lichtſcheins, ſynkopiſche Steigerung zu der dominierenden, 
im ruhig leuchtenden Bogen gefpannten Mondmelodie bis zum legten Verklingen. 

Bon unfern Bildern zeigt das erfte ein Delbild Heinrich Vogelers, 
„die heiligen drei Könige“. Wir halten es für eines der beiten Werfe des 
Worpsmweder Hünitlers; es iſt eine innerlich angejchaute, empfundene und aus— 
gereifte Schöpfung ohne eine Spur des Manierismus, von dem man mwohl 
fonft bei Vogelerfhen Bildern mit Recht oder Unrecht ſpricht. Es iſt ein ganz 
echt deutiches Märchenbild. Das Vervielfältigungsrecht davon beſitzt J. J. Weber 
in Leipzig, der uns bald mit einer Vogeler-Mtappe erfreuen möge, das Ktlifchee 
iſt Eigentum der „Gejellihaft für vervielfältigende Kunſt“ in Wien, Deren 
„Sraphiiche Künfte* in ihrem vierten Heft u. a. einen fehr reich und ſchön 
illuftrierten Auflag über Vogeler bringen. 

Bon den beiden Blättern nad) Zeichnungen von Mar Liebermann 
wird die Leſer das Bildnis ſchon jtofflich intereffieren, denn es zeigt den 
belgifchen Bildhauer Meunier, einen der mwenigen unbejtritten großen 
Künſtler unferer Zeit. Das zmeite landichaftlihe Blatt fei ein Beiſpiel für 
Liebermanns Kunſt des Großſehens, des Vereinfahens — der Laie fommt 
feinem Berjtändnis vielleiht am beiten nahe durch die Frage: ift es möglich, 
mit weniger und anſpruchsloſeren Mitteln vom Augeneindrud der Natur mehr 
zu geben? Freilih, unfere Reproduktion fann nur andeuten, was auf dem 
Driginale in vollem Reize mitfpridt: das Wirken des Lichts, das Weben des 
Sonnenſcheins, der durch die Bäume über Gejtalt und Erdboden fpielt. Um 
das zu würdigen, muß man fhon die fürzlich bei Bruno und Paul Eaffirer 
in Berlin erſchienene Liebermann-Mappe zur Hand nehmen, die neben köſtlichen 
anderen Zeichnungen aud) die Originale unferer beiden Blätter in ganz vor- 
trefflihen Lihtdruden wiedergibt. Wir fommen auf Liebermanns Malerei 
zurück. 


znbalt, Ethiſch und Aefthetifh. Von Carl Weitbrecht. — Ueber Wagner als 
enfer. Bon Rudolf Louis. — Mufikliteratur. Von Rihard Batla. — Kunſt-— 
pflege im Mittelftande. XII. Bon Paul Schulge-Naumburg. — Der neue Ber- 
liner Dom. Bon Oskar Bie. — Spredjfaal: In Saden „Scaujpielfunjt und 
Theaterſchule“. Bon Rudolf Lorenz. — Lofe Blätter: Die Peſt in Bergamo. 
Bon J. B.Jacobjen. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Max Liebermann, Bildnis 
Gonitantin Meuniers; Landfhaft. Heinrich Vogeler, Die heiligen drei Könige. 
— Notenbeilage: Joſef Stransky, Mondaufgang. 








Derantiwortl. : der Herausgeber $erdinand Avenarius in Dresden:Blafewig, Mitredafteure: für Muri? 
Dr, Rihard Batfa in Prag-WDeinberge, für bildende Kunft: Paul Shulge- Naumburg in Berlin. 
Sendungen fär den Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr. Batka. 

Verlag von Georg D. W. Lallwer. — Kgl. Bofbuchdruderei Kaftner & Eoffen, beide in Mündır _ 
Beftellnngen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Lallauey in Nländen, 


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Vgl, Text am Schlusse des Hauptblattes 


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Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 


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Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes 





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(F. Avenarius.) 
„ Langsam. 





GESANG. 





PIANO, 


























Verlag von GEORG D. W. CALLWEY, München, 
Alle Rechte vorbehalten. 


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hen rings um mich her-um 
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12, Jabrg. Zweites Februarbeft 1899, Dett 10. 





DEN TUNSCTART] 


Das Varicte der Zukuntft. 


Bor bald einem Jahre verlangte ein Leitauffag des Kunſtwarts 
Statt der jest üblichen Reklamenotizen ernithafte ſtritiken über die Variété— 
Bühnen, damit der fünftlerifch gebildete Geſchmack auf fie Einfluß ges 
mwänne, eh e8 zu fpät fei. Das Variété, fchrieb Avenarius damals 
Kw. XI, 12), „treibt e8 heut wie ein begabter, aber verwahrlofter Junge. 
Es hat fich keiner darum befümmert, nun ift er zu einem großen und 
ftarfen Burſchen ausgewachſen, der mit Gefellen, die von aller Herren 
Bändern Her auf der Landſtraße kommen, dumme und gefheite Streiche 
Durcheinander treibt, recht3 und links in die Gärten der feßhaften Kunſt— 
geſchwiſter einbricht, ihre entrüfteten Mienen verfpottet und ein gut Teil 
der Lacher auf feine Seite bringt. Mit verfchränftten Armen dem zuzus 
fehn, das geht nicht mehr an, foll aber der Junge mit fich reden laſſen, 
jo müſſen wir's im guten verfuhen. Wir dürfen ihn nicht als Ver— 
brecher verachten, wir müſſen mit ihm fprechen, wie er's verjtehen kann. 
Bor allem überhaupt: wir müſſen uns herbeilaffen, mit ihın zu fpreden. 
Unbildlich gejagt bedeutet das: mir müfjen das Bariete in den Kreis 
der ernithaften äfthetifchen Kritik ziehn.* Wir dürften ja, hieß es 
jpäter, den Einfluß der Bariete-Bühnen auf die äfthetiiche Erziehung 
des Volkes nicht überjehen. „Sie find nun einmal, und alfo wirken 
fie. Aber fie wirfen, wenn wir Sunftfreunde verachtend abſeits jtehen, 
ganz gewiß nicht in unjerm Sinne. Treten wir alfo näher an fie heran, 
nugen wir, was von Macht wir immerhin haben! Denn jo volllommen 
oder auch jo gering find ihrem Wefen nad) nur wenige dieſer »Speziali- 
täten«, daß fich nicht aus ihnen mit gutem Beirat etwas Bornehmeres 
entwideln ließe, als da iſt.“ 

Es ift fiherlich wahr: fieht man fich das Publikum in den Speziali- 
täten= Theatern an, beobachtet man die Gefichter, jo gewinnt man die 
Meberzeugung, daß die meiften viel weniger duch äfthetiiche Momente, 
als dur ziemlich rohe Intereſſen Hingezogen werden. Und doch — 
Lönnte nicht die künſtleriſche Form der Darbietungen und das übrige 


Kunftwart 2, februarheft 1899 
— 5 — 


Gute, was das Bariete bringen kann, erziehenden Einfluß gewinnen? 
Es gälte einen unfhäsbaren Vorteil zu benugen, nämlich den, daß das 
Variété auf der Höhe der Beliebtheit fteht, daß e8 die einzige Anſtalt ift, 
von der aus auf das „Volt“ überhaupt eingemwirft werden fann, weil 
dahin die Leute gern und regelmäßig gehen, weil fie hier Erholung nad. 
der Tagesarbeit und Anregung fuchen. Der Riefenerfolg de8 modernen 
Variétés kommt daher, daß die Leute dort Freude finden. Wo man 
Sreude hat, ift man angeregt, alfo: lernt man leicht. Wie, wenn man 
da8 Variete, das noch die Kunſt jo oft ſchädigt, dem Dienfte der 
Kunft gewinnen, wenn man’8 ber großen Sache der äjthetifchen Er— 
ziehung einordnen könnte? Wie vermöchte man das Variete, ohne ihm 
daß allgemeine Intereffe zu nehmen, fünftlerifch auszubauen? Wir be— 
mühen uns fo jehr, hohe Kunſt volfstümlich zu machen, verjuchen wir 
auch, voltstümliche Vergnügungen zur Kunſt zu erheben. 

Manche Leute haben ja den Kopf gefchüttelt, daß der fonft doch 
leidlich ernſthafte Kunſtwart ſich fürs Variété „begeiftere‘. Begeiſtert 
für das Variete, wie es iſt, hat er ſich nicht, er hat nur eindringlich 
vor demfelben Fehler gewarnt, den die KHünftler Jahrzehnte lang in 
Deutfchland begangen haben, al fie fi fürs „Kunſtgewerbe“ zu gut 
hielten und damit die tagtäglihe Einwirkung auf den Bollsgeihmad 
den Gejchäftsleuten und ihren Angeftellten überließen. Und mir müſſen 
geitehen: der fünftleriiche Ausbau einer ſolchen Al-FHunft-Bühne ericheint 
uns zudem als eine gar luſtige und reizuolle Aufgabe. Denn die Mittel, 
die hier zur Erreihung einer fünftlerifchen Abficht zur Verfügung ftehen, 
find jo mannigfaltige und abwechslungsreiche, wie nicht jo bald in einer 
anderen Kunſtform mieder. 

Kunftempfänglich ift unfer niederes Volt, jo unkultiviert e8 au 
ift. Nicht nur die Erfahrungen der Volksbühnen u. f. w. ermeifen das, 
vor allem macht e8 eine große Thatſache wahrjcheinlih. Ich meine die 
Thatſache, da eine Anzahl, daß vielleicht die Mehrzahl unferer größten 
Genies aus den unteren Bolksklaffen hervorgehen, deren Lebenskraft noch 
nicht angebrocdhen oder deren Kräfte auf geiftigem Gebiet feit Geſchlechtern 
nicht zur Bethätigung gelommen find und die nun mit einen Male in 
verblüffender Eigenart aufleben. Diefer großen und rohen Maſſe, bie 
ſich jest Tüftern zum Tingeltangel drängt, ohne weiteres alles Kunft- 
gefühl abzufprehen, wäre lächerliche Ueberhebung. Wer von uns Ge— 
bildeten jo verächtlich auf jene herabfieht, der jchlage an feine Bruft und 
frage fi, wie oft ihn Schon, wenn er ganz ehrlich in jeinem Innern 
fi befragt, unfünftlerifche, fagen mir: finnliche Intereffen zur Kunſt 
geführt haben. Und iſt e8 denn wirklich eine Ehre, jold ein Fiſch zu 
fein, daß man bei Tizians Venus gar nicht miehr das fchöne Weib, bei 
Botticeli gar nicht mehr die anmutige jüße Form, bei der fpäten grie= 
chiſchen Plaſtik ihre Sinnlichkeit gar nicht mitempfindet? Es fragt fich 
doch wohl, was im einzelnen Fal im Bewußtſein herrſcht, ob dieſe 
Sinnlichkeit oder Kunſtgefühl. 

Avenarius hat bei feiner Anregung vorzugsweis andere Seiten der 
Trage berührt, ſei's mir heute erlaubt, etwas über den Ausbau des Variétés, 
wie wir e8 wünjcden, zu jagen. Sprechen wir zunächſt von dem, was 
nur in feiner jegigen Weiſe als da8 „Bedenklichſte“ erjcheint, von dem 
Kultus des fchönen menjhlihen Körpers. Steine Dramen-Bühne darf 


Kunftwart 
— i.— 


feine Pflege zum Selbitzwed machen; hier aber geht das fehr wohl an, 
nein, hier wird e8 Pflicht, denn daß die künftlerifche Pflege der Körper- 
ihönheit eine Aufgabe it, die von dem Gejchlechte vor uns zu ſehr ver- 
nadhläffigt ward, ift ja heut eine von allen Kunſt- und Schönheits- 
freunden eingejtandene Thatjahe. Anzeichen genug dafür find da, 
daß die Pflege der Körperjchönheit wieder ein Teil jelbftverftändlicher 
Kultur wird, wie fie e8 einftmal® war. Unſer Variete hat nun zwar 
heute noch mehr Anflänge an, den römischen Zirkus, al8 an das grie- 
chiſche Gymnaſium; aber für ung moderne Menfhen kann e8 in feiner 
veränderten Form vielleicht eine andere, aber doch entiprechende Miffion 
erfüllen, wie jene beiden für ihre Zeit. 

Man rühre alfo das Volk dort, wo alle fterblich find, und mo e8 
berührt wird, wenn nicht von fünftlerifchen fo von — roheren Händen, 
und leite e8 in unſerem Sinne zu feineren und edleren Entwidelungen 
diejer Gefühle. Hier ift die Kunſt die Brüde. Es wird und kann nicht 
ſchwer fein, durch geeignete Eindrüde auch diefen Menfchen ein Ieifes 
Ahnen von der unendlichen Schönheit des menjchlichen Körpers aufgeheit 
zu laffen. ch Halte deswegen alle jene Vorführungen, die allein dieje 
legtere zum Motiv nehmen, für berechtigt; für nicht berechtigt, ja für 
frivol halte ic nur den Borwand, wenn fie unter einem ſolchen ge- 
zeigt werden. Ein fchöner Menſch ift nicht Kunſt, fondern Natur; ihn 
aber jo zu zeigen, daß jeder, der im Leben blind vorbeigeht, nun Har 
empfinden muß: „mein Gott, wie ſchön ift das“, das iſt Kunſt, und 
ihre Form heißt Bewegung, Belleidung, Beleudtung. Man fagte fpot- 
tend von der Eleo de Merode, fie könnte ja gar nicht tanzen, fie fei ja 
nur ſchön. Ich muß fagen, mid) hat gerade daS bei ihr angenehm be— 
rührt, daß fie gar nicht den Anſpruch machte, choreographiiche Leiftungen 
zu geben, fondern nur mit wenigen chythmijchen Bewegungen die ganze 
Lieblichkeit und Anmut ihrer Erfcheinung, die jo gar nicht kokottenhaft 
wirkte, zum Ausdrud brachte und fo wirklich eine Freude für ſchönheits— 
empfängliche Augen gab. Ich denke übrigens hier nicht bloß an den 
weiblichen Körper, fondern ebenjo den männlichen, der doch mindeftens 
gerade jo ſchön ift, der aber vom Manne viel weniger begriffen wird, 
als jener. Die plaftifhe Schönheit eines muskulöſen, in jeiner Kraft 
jpielenden Athleten ift für mic) das Alpha und Omega aller die 
Geſtaltungskraft befruchtenden Naturbeobadtung. Mit ihm fett die Kunſt 
ein; die Schönheit des meiblichen Körpers ift erft gleichſam eine Ab— 
leitung davon in verfeinerter Auflage. Nadte Ringer zu jehen, iſt des— 
wegen ein mwundervoller Anblid, den leider unſere Variétés nicht bringen 
fönnen. ber fie follten dann mwenigftens ihre Athleten und Turner fo 
Heiden, dab die Muskelbewegungen jo weit zur Geltung fommen, mie 
das ohne Verlegung defjen möglich) ift, was unfere Eitte nun einmal 
als anftändig anfieht. Manche Halbe Belleidungen find ficher ordinärer 
und mehr auf Lüfternheit bedacht, als der Trifot*, und aller bunte 

* Ich glaube, jehr viel zu dem Gindrud des „Unanftändigen“, ben Trikots 
maden, trägt ihre jogenannte „Fleiſchfarbe“ bei, die übrigens aud) in male 
tifher Beziehung wie eine rohe Parodie auf den Inkarnatton abftoßend häß— 
lich wirkt. Ein Körper in feingeftimmtem hellgrünen, blauen, grauen oder 
auch weißen Trifot erfcheint viel dezenter und läßt die Bewegungen der Mus— 


fulatur nicht minder — Die „fleiſchfarbenen“ Trikots find aber auf 
großftädtifchen VBarietebühnen aud) fon zu Seltenheiten geworben. A. 


2. Februarheft 1899 


— 322 — 


Firlefanz follte beifeit bleiben. Das Motiv folder Schauftellungen müßte 
deswegen auch vielmehr die Schaufiellungen des Körpers in feiner 
Bemwegtheit fein, als nur die langweiligen Wettbewerbe der Kraft— 
leiftungen, wenn diefen auch ein gemilfer Spannungsreiz nicht abzu- 
fprechen ift. Es ift deswegen nur zu bedauern, wenn bei gewiſſen Dar: 
ftellungen, 3. ®. bei Trapeztünftlern, diefe, um das Gefährliche der 
Situation und den dadurch entjtehenden Schauer aufs höchſte zu fteigern, 
dem Auge in ſolch ferne Höhe entrüdt werden, daß das eigentliche Motiv, 
der Körper, nicht mehr Har fihtbar ift. Davon, daß es jo verlorene Liebes— 
mühe ift, ewig neue Trid® und Abfurditäten auszudenfen, anftatt die 
natürlich gegebenen Motive aufs feinfte auszubauen, davon ift im Kunft- 
wart fchon des öfteren die Rede gemefen. 

Eine Hunftform vor allem ift e8, die beim Variete ihre höchſte 
Vollendung finden fünnte: der Tanz und, die edeljte Form, der ge— 
fchrittene Reigen. Welche Fülle und Mannigfaltigkeit ſich hier der Phan— 
tafie öffnet, das ijt mit Worten gar nicht zu umjchreiben! Abend um 
Abend ließe fi) mit neuen Motiven, mit neuen Variationen füllen, und 
es könnte alles wirklich Kunſt fein. Die Bedingungen wären diejelben, 
wie die ſchon vorhandenen: einzelne, mehrere, viele Tänzer und Tän— 
zerinnen, ein Sinabenreigen allein mit jungen Mädchen zufammen u. ſ. w. 
Mas alles durch Abwandlungen noch entjtehen könnte, jagt fich jeder 
ſelbſt, wenn er bedenkt, welche Motive noch alle Hinzutreten könnten: 
die Gemwänder fo oder fo, farbige Beleuchtung, zum Tanze Gejang, das 
getanzte Gedicht. Welche Anregung für das Gedicht ſelbſt, wenn da= 
durch auf natürliche Weile der Rhythmus wieder in ein altes Recht rückte 
und fo zum Ausgangspunkt von ganz alten und wieder ganz neuen 
Sunftformen würde. Es gibt auf diefem Gebiet gewiß ſchon mand 
Schönes zu fehen und doch ift die Zahl der Möglichkeiten noch faum 
angebrocdhen. Mir fchmwebt vor allem ein Motiv vor: eine durch Tanz 
bewegte Menge, mit undurchfichtigen fchleppenden Gewändern befleidet, 
die unmittelbar über den „nadten“ Körper gelegt find, ſodaß deſſen 
bewegte Schönheit mit dem Faltenmotiv zufammen eine neue Einheit 
bildet, — wer Gemandmotive griechifcher Plaftit wie des Parthenon— 
friefes wirklich in fich aufgenommen bat, verfteht, um wie traumhafte 
Schönheit ſich's da Handelt. Allerdings, wenn erſt Korfett und Spigen= 
unterrod darunter figen muß, dann Hört jede Schönheit auf und es 
bleibt nur noch das Reſtchen pikanten Reizes übrig, der mit hoher unit 
nichts zu thun hat. Daß aber auch das Koſtüm als folches wieder zum 
Gegenſtand fünftlerifcher Gejtaltung werden fünnte, befonder8 hier, mo 
es jo ganz frei und phantaftifch behandelt werden darf, darauf fer nach— 
drücklich hingewieſen, denn nicht der menschliche Körper allein ift es, der 
eine äfthetifche Erziehung fördern fönnte, fondern e8 fommen noch un— 
zählige andere Momente Hinzu. Bei den Gerpentintängen wurde die 
Linie des menſchlichen Körpers fait nebenſächlich; wogender ornamentaler 
Rhythmus, der der Träger von wundervollen Farbenklängen war, wurde 
zur Hauptjache. Diefer Rauſch von Farben, wie ihn bis dahin in ſolchem 
Slanz und Reihtum noch nie ein Menfch gefehen, hat auf die Kunſt 
felbjt einen Einfluß gehabt, der mit dem nur weniger Bilder verglichen 
werden fann, und wenn Zoie Fuller die Schöpferin jener Hunftform ift, 
jo tft fie ein Genie. Der Serpentintanz hat die Farben bei uns frei 


Kunftwart 
— 328 — 


gemadt, er hat dem fanatifchen Pleinairismus mit den Garaus machen 
helfen. Welhe Fülle von koloriftifhen Ideen, von Farben-Einfällen 
gingen von ihm aus! Welh ein Einfluß auf die Frauenmode ift ihm 
zuzuschreiben! Ich möchte die erite Aufführung des Serpentintanzes das 
Datum nennen, an dem für die Sleidung eine neue Entwidelungsphafe 
begann. Denn e8 ift Thatjache, daß der Farbenfinn der Frauen, fomeit 
er fich in den Toiletten ausfpricht, fich entichieden hebt. Der erfte Schritt 
war ein Üebergang zur Farbe, zur Freude an der Farbe überhaupt, 
dem dann merfliches Verfeinern folgte. Und das nicht bloß bei den 
oberen Zehntaufend. Aber entwidelter Farbenſinn bleibt nicht bei den 
Toiletten jtehen, er wird fich in den Häufern, den Wohnungen ebenio 
bemerkbar machen, und die Kinder diefer Mütter werden nicht die blöden 
Augen jener Generation haben, die noch eben rot von grün unterjcheiden 
fonnte und dieſe Fähigkeit nur deswegen zu ſchätzen ſchien, weil Farben- 
blindheit zum Staatsdienft untauglic) machte. 

Mit der fünftleriichen Freude an der Naturfchönheit des Menſchen— 
leibes, feiner Bewegungen und feine Lebens wäre aber nur ein Gebiet 
der Barietesftünfte berührt. Eine Erfcheinung wie die Yvette Guilbert 
it no ein Unikum, aber es wär ein Segen, wenn ihr andere folgten. 
Und warum nicht zwifchen all dem Lodern und Zuftigen aud einmal 
etwas Ernſtes? Das Bedürfnis nah Abwechslung zeitigt jet platte 
Sentimentalitäten und bei den Haaren herbeigezogene Patriotismen, die 
dod auch ernft genommen werden wollen. Ich meine, im Rahmen des 
Ganzen würde fich ein Melodram gerade jo gut einfügen, wie der Guil- 
bert mit Mufikbegleitung rezitierte Stimmungslyrif. Und wäre das 
Variete nicht gerade der Platz, eine gewiſſe Gattung moderner Dichtung 
ins Leben einzuführen, die in Buchform ihren Zweck verfehlt hat? 

Und dann der Humor. Mit ihm öffnet fich ja hier eine folche 
Fülle von Möglichkeiten, daß nit einmal an ein Andeuten ihrer aller 
gedacht werben kann. Bis heute erfüllt der Clown diefe Aufgabe ziem— 
fh) mäßig. Ermüdend ift e8, all diefe abgedroichenen Trid$, mie ber 
eine ben anderen ohrfeigt und der ein dumm eriiauntes Geficht macht, 
und der andere ihn dann wieder ohrfeigt und dann der erite ein dummes 
Gefiht macht, allabendlich aufs Neue über die Bühne gezerrt zu fehen. 
Es ift, als ob den Leuten auch rein garnichts einfiele. Was da alles 
zu machen wäre, weiß ein jeder, der mohlgelungene Künftlerfeite bejucht 


hat. — Ganz gut waren mandmal Die volkstümlichen Burlesfen, die 
man in ben legten Jahren ſah; doc, blieben aud) fie bisher jehr ver— 
einzelte Erfcheinungen. — Dann die Peitfatire, die Modeſatire. Da 


fönnten Leute von Geift und Witz ein Inftitut ichaffen, das ſchon mehr 
einer Kulturerſcheinung als einem Tingeltangel ähnlich jähe.* — An 
eine Nummer denfe ich noch: die drefjierten Tiere. Sie thun mir immer 
(eid, die geicheidten kleinen Kerle, die ihre Sache jo gut machen wollen 
und denen eine alberne Rolle aufgezwungen wird, während fie in jeder 
Pfote mehr natürliche Komik und Grazie haben, als ihre Herren im Kopf. 
Meift fommt es denen ja nur drauf an,. das Schwierige, womöglich das 
„Unmögliche* zu zeigen, Dinge bei den Tieren zu erreichen, die in ihrer 
Natur nicht liegen, und deren mühlames Erlernen dann die ganze Pointe 





* Und die hohe Polizei? 


, 2. $ebruarheft 1899 
— 39 — 


ift, jo wenig mit der Borführung auch gefagt wird. Darüber mie über 
manches noch, was hierher gehört, hat ja ſchon vor einem Jahrzehnte 
Spitteler Bortreffliches im Kunſtwart gejagt. — Dann ferner: warum 
nicht auch amüjante Vorführungen aus dem Gebiete angewandter Wiffen- 
Schaft? Der ungeheure Erfolg des Sinematographen hat gezeigt, mie 
willlommen dem Publikum derartiges if. Was allein kann da der ein« 
fache Projektionsapparat leiften! Heute, wo eleftrifches Licht und alle 
Hilfsmittel überall reichlich zur Hand find, müſſen die großen Borfüh- 
rungen von Meifterwerten aller Art, von ſchönen Landſchaftsbildern, 
Bauwerken jo einfach) fein, daß man von ihnen viel mehr Gebraud) 
maden follte.. Sie würden dem Publitum zur Ausfüllung zwiſchen den 
größeren Nummern doch wohl willtommener fein, al3 die Sängerinnen 
vierten Grades, die man heute dazu verwendet, und hätten dabei für 
den Unternehmer noch den Vorzug größerer Billigkeit. Neue intereffante 
Berjuche, Erfindungen, Entdedungen wie damals die Röntgen-Strahlen 
und ihre volfstümliche Borführung wären vereinzelt im Variete gewiß 
auch am Plage. Man braucht desmegen noch lange nicht davon zu 
reden, dab das Variete „Kenntniffe verbreiten“ jolle. 

Es ift fchade, daß ihm, dem Variété, ein Odium anhängt. Frei— 
lich: eigentlich anrüdig ift e8 ja längſt nicht mehr. Wer aus der Ge- 
ſellſchaft „mitreden“ will, muß dageweſen fein. Aber e8 gilt nicht für 
vornehm, es ernjt zu nehmen. Und doch: das fchnelle Steigen feines 
Anſehens läßt die Hoffnung berechtigt ericheinen, daß e8 allmählich zum 
Kunftinftitute werden wird. Eine wirflihe Höhe der Tünitlerifchen 
Zeiftung kann's allerdings erft erreichen, wenn e8 für niemand mehr 
etwas peinliches hat, unter die Artiften zu gehen. Ach, und wie viel 
liebe Stollegen babe ich, die von Geburt vielmehr Artiften als Dialer 
find, die Genie8 wären und Bahnbreder als Clowns und Satiriker, 
und bie den Hägliden Ruhm vorziehen, „Kunftmaler* zu heißen und 
armjelige Bilderhen aus fid) herauszuquälen. Man Magt immer darüber, 
daß jo wenig neues, jo wenig wirklich originelle8 von ben Artiſten ge— 
Ihaffen würde. Und mwelde Fülle von Wi und Geift bringt oft ein 
einziges Sünftlerfeft zu Tage, — ein Variete könnte Jahre lang dran 
zehren. So lange das Variété ift, wie es heute ift, wird fich leider 
noch mander von feinem wahren Berufe abhalten laffen, der auf dem 
„Brettl“ eine Miffion erfülen fünnte. Dan denfe auch an all die ent— 
gleiften Literaten. Im Bariete wird der Gaffenhauer geboren. Wie 
greulich trivial ift er bis auf verfhwindende Ausnahmen. Und dabei 
wären fo mande unferer Literaten wie gemacht für diejes Fach, auf 
dem ſie, mweil fie immerhin Kunſt brächten, Bahnbrecher werden könnten. 

Ich träume manchmal von dem Zukunfis-Variété, der zur Kunſt 
erhobenen „undogmatiichen Bühne‘, wo fi all’ das Schöne, Amüfante, 
Intereſſante, Pilante zeigen Tann, das auf dem würdigen Theater, in 
dem man auf Handlung fieht, ſelbſt bei der dümmften Poſſe und beim 
alberniten Ballet nicht Pla hat. Mir erfcheint diefe Löſung der Variété— 
Frage, die ja anfängt, zu „brennen“, die einzig ausfichtsreiche. An eine 
Ausrottung des Variétés ift bei den heutigen Berhältnifien, wie fie 
nun einmal geworden find, nicht zu denten, und das Erſetzen durch etwas 
anderes, beſſeres dürfte auch recht fchwer werden. Suche man e8 alio 
fo weit äfthetiih und charaktervoll aus- und durchzubilden wie möglich. 


Kıunftwart 


Dann kann das, was uns heute als böſer Kunftfeind ericheint, noch 
einmal einer der mwichtigften Mithelfer zur fünftlerifchen Erziehung wer— 
den, Die wir haben. Schulge-Taumbura. 


X 


Etbisch und ZAestbetisch. 
(Schluß.) 

Iſt dem aber ſo, was folgt daraus? Zunächſt offenbar das: alles 
produktiv⸗aſthetiſche Verhalten, alſo alles Kunſtſchaffen bringt den Schaffen— 
den zugleich in ein unmittelbares ethiſches Verhältnis zu ſeinem Werk. 
Und zwar beſteht dieſes Verhältnis nicht in der bewußten Reflexion darüber, 
was die „Moral“ dem Künſtler erlaube und was nicht, oder in der be— 
wußten Abficht, diefe „Moral“ zu ehren oder zu verlegen ; jondern zu— 
nächſt unbewußt und unmillfürlich aber mit unvermeidlicher Notmendig- 
feit befommt das Werk feinen gemeijenen Anteil von dem thatjächlich 
vorhandenen ethiichen Gehalt in der Perjönlichkeit des Schaffenden. Die 
Größe und Bedeutung feiner ethifchen Perjönlichkeit gibt auch feinem 
Werft Größe und Bedeutung bis in die Afthetiichen Formen hinein, Die 
durd die ethifche Wucht des Perfönlichen gemeitet und erhöht werden; 
der ethiiche Reichtum, die ethische Tiefe bereichert und vertieft auch das 
Aeſthetiſche; die ethiiche Gefundheit ift auch künſtleriſche Geſundheit, die 
ethiiche Güte wird auch äfthetiicher Wert. Dagegen eine fleine, enge, 
beichräntte ethische VBerfönlichteit mindert aud) den Kunſtwert des Werkes ; 
ethiſches Kränteln, ethifche Verichrobenheit, Fäulnis, Verkehrtheit, Frivolität 
durchjeucht auch die äfthetifche Leitung, ohne dab die bewußte Abficht 
beftünde, „unmoralifh* zu fein oder zu wirken. Mit anderen Worten: 
der Künftler ift für fein Werk und damit für deifen Wirkungen nicht nur 
äfthetiich, fondern ebendamit zugleich ethilch verantwortlich. Und obwohl 
er dieje Verantwortung zunächſt unmillfürlich und unbewußt übernommen 
hat, fo fühlt er fich doch, jomweit er zum Bewußtſein über jein Schaffen 
und fein Werk gefommen iſt, auch bewußt verantwortlich im ethiichen 
Sinne. Das ift nicht nur eine logische Schlußfolgerung, jondern das 
entipricht den Thatſachen. 

Weiter aber: auch im rezeptiv äſthetiſchen Verhalten ſpricht das 
Perfönliche, alfo aud; das Ethifche mit, die ethifche Perfünlichkeit des 
äjthetifch Aufnehmenden, Geniegenden, Urteilenden. Aeſthetiſche Luſt oder 
Unluft hängt ſehr wefentlich auch davon ab, was oder mie viel einer 
von feiner ethifchen Perſönlichkeit in die äſthetiſche Anſchauung hinein— 
legen kann — nicht theoretifch im Sinne von bejtimmten Moralbegriffen, 
fondern eben äfthetiich, das heit mit gefühls- und ftimmungsmäßiger 
perjönlicher Wertung der Anſchauung. Auch das rezeptiv äfthetiiche Ver— 
halten fucht mit unvermeidlicher pſychologiſcher Notmendigfeit ein perfönlich 
ethiſches Verhältnis zu feinem Objett — und dies um jo mehr und um 
fo ficherer, je mehr diefes Objekt ein Kunſtwerk ift, aus dem ein per— 
ſönlich-ethiſcher Lebensgehalt feines Schöpfers ſpricht. Da können nun 
verfchiedene Fälle eintreten. Die Perfönlichkeit des Aufnehmenden fann 
der Ichöpferiichen Perfönlichkeit ebenbürtig oder menigitens irgendwie 
ethilch verwandt fein, die eine faßt die andere raich und leicht oder doch, 


2. Februarheft 1849 
— 31 — 








EEE ee u ——— —— — Zn 
— — e — — —— — — — — — — r 
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wenn auch nur allmählich und mit einiger Mühe, ficher und richtig, 
jedenfalls am Ende mit dem Ergebnis äfthetifcher Quftwerte. Oder die 
ethifche Perfönlichkeit des Aufnehmenden reicht irgendwie an die des 
Künſtlers nicht hinan, vermag fi nicht oder nur unvolllommen in fie 
einzuleben — da8 Ergebnis find Unluftwerte oder ein zmielpältiges 
Schmanten zwiſchen Luft und Unluft, vielleiht ein formell äfthetifches 
Angezogenfein bei ethiicher Ablehnung oder mwenigftens Unbehaglichkeit, 
möglicherweife auch das, daß der Aufnehmende in feiner äſthetiſch-ethiſchen 
Berlegenheit ſich Hinter gemiffe theoretiiche Moralbegriffe flüchtet, um ſich 
gegen die unbequem=ethifche Leberlegenheit der ihm entgegentretenden 
Perfönlichkeit zu wehren. Oder aber: nicht jelten tritt der Fall ein, 
daß die Berfönlichkeit des Aufnehmenden der andern zwar theoretiſch ge= 
wachſen ift, fie wohl begreifen und verftehen fann, ihr etwa gar in jeder 
Beziehung, auch ethilcheäfthetiic überlegen ift — aber der pofitive Inhalt, 
die ethiihe Qualität beider Perfönlichkeiten ift fo verſchieden, daß fein 
andres Berhältnis möglich ift als Abſtoßung und Ablehnung. Ethiſch 
gejunde, gerade, wahrhaftige Geifter fühlen ſich vom ethiſch Kranken, An— 
gefaulten, Berlogenen, Perverſen aud) dann abgeftoßen oder angemidert, 
wenn e8 als perjönlicher Gehalt einer Kunftleiftung ihnen entgegentritt, 
ja fie find leicht doppelt unangenehm berührt, wenn das ethiſch Zus 
widere in bejtechenden äfthetifchen Formen einhergeht, mit glängender 
Technik fich geltend zu machen ſucht. Jedenfalls kann in diefem Fall 
bei aller Anerfennung formal äfthetifcher Vorzüge das äfthetiiche Ge— 
famturteil, aus dem die ethiiche Wertung ſich nicht ausjcheiden läßt, un— 
lustig ablehnend ausfallen. Denn das darf man nicht vergefjen, daß das 
Ethiſche im Menſchen eben ſchließlich doch ftärfer ift, als eine gemifle 
theoretijhe Erwägung oder Anerkennung des bloß Formalen im Aeſthe— 
tiſchen. 

Dieſe verſchiedenen Fälle laſſen natürlich eine Menge von Modi— 
fikationen und Variationen zu; welche aber auch eintreten mag, Eines 
bleibt: daß das äſthetiſche Geſamturteil über eine Kunſtleiſtung ganz von 
ſelbſt und notwendig zugleich ein ethiſches Urteil enthält, wie die 
äſthetiſche Luſt oder Unluſt thatſächlich vom ethiſchen Faktor irgendwie 
mitbeſtimmt iſt. Iſt das aber Thatſache, ſo hat man auch mit ihr zu 
rechnen — das heißt: es iſt durchaus falſch, über unberechtigte Ein— 
miſchung fremder Geſichtspunkte in Kunſtangelegenheiten zu klagen, wenn 
in äſthetiſchen Urteilen über Kunſtſachen ethiſche Maßſtäbe und Geſichts— 
punkte mit in Anwendung gebracht werden. Solches Klagen hilft auch 
gar nichts — es wird doch nichts anders dadurch. Solange der pſychiſche 
Organismus des Menſchen iſt, wie er iſt, werden jene ethiſchen Maß— 
ſtäbe und Geſichtspunkte immer wieder im äſthetiſchen Urteil auftreten; 
ja gerade je tiefer einer in das pſychologiſche Weſen des Aeſthetiſchen 
eingedrungen iſt und je ausgeſprochener er ſelbſt eine ethiſche Perſönlichkeit 
iſt, deſto unbedenklicher wird er das ethiſche Moment im Aeſthetiſchen 
zur Geltung bringen — freilich auch deſto vernünftiger und ſachgemäßer 
Man wird es dem Einzelnen niemals zum Vorwurf machen können, 
wenn er ein Kunſtwerk, deſſen perſönlich-ethiſcher Gehalt ihm einmal zu— 
wider iſt, auch äſthetiſch ablehnt und dieſe Ablehnung ethiſch begründet, 
weil das ethiſch Widerwärtige ihm etwaige nur formell-äſthetiſche Vorzüge 
überwiegt. Wie meit freilich dieje feine Ablehnung aud) auf andere 


Kunftwart 
— 32 — 


Eindrud madt, das wird eben von dem Gewicht feiner ethiſchen Per— 
ſönlichkeit — und von dem ethifchen Charakter jener andern abhängen. 
Ferner gibt e8 aber nicht nur ethiſche Einzelperjönlichkeiten, ſondern es 
gibt in beftimmten Zeiten, geiftigen Entwidlungsperioden, Nationen u. ſ. w. 
auch eine gewiſſe Uebereinftimmung ethifcher Perfönlichkeiten, die fich 
gleihmäßig zuftimmend oder ablehnend gegen gemwifje vorhandene ethifche 
Richtungen oder Perfönlichkeiten verhalten. Allerdings find das meiſtens 
Minderheiten, namentlih wo es fi um Ablehnung einer gerade zur 
Herrichaft Aber die Maſſen gelangten ethiſchen Zeitrihtung Handelt; 
aber vor der Geſchichte pflegen dieje mwiderhaarigen Minderheiten Recht 
zu behalten, gegenüber der milligen Mehrheit — gerade mie die von 
ihrer Zeit unbegriffenen ethiſchen Einzelperfönlichkeiten der Durchſchnitts— 
moral der Maſſe gegenüber Recht zu behalten pflegen. 

Anders fteht die Sache, wenn aus einer angeblichen Kunftleiftung 
gar feine ethiſche Perfönlichkeit ſpricht, alfo fein Erzeugnis jchöpferijcher 
Phantafie vorliegt. Dann mag unterm Gefichtspuntt jener bloßen 
„Moral“ alles noch jo korrekt und unanftöhig fein — gerade der Mangel 
des Perfönlid-Ethifchen wird ein Grund äfthetifcher Ablehnung werden. 
Wenn dagegen fol ein angeblidhes Hunftproduft durch den Gegen— 
ftand oder die Art der Darftellung nun auch jene moralifchen Begriffe 
verlegt, jo hat die Aeſthetik überhaupt weiter nichts zu fagen, fie tritt 
achjelzudend beijeite und gibt das ganze Machwerk ruhig der „Moral“ 
preis, und rufe dieſe jelbft nad) dem berüchtigten Staatsanwalt. Denn 
dann hat fi) nicht mehr Nefthetifches und Ethiſches oder nur auch 
„Kunjt und Moral“ auseinanderzufegen, fondern Untunft und Moral — 
beides aber geht die Aeſthetik nicht an. Sie hai nur noch den Vor— 
behalt zu machen, daß die „Moral* oder der Staatsanmalt fich nicht 
zu entjcheiden anmaße, was Kunſt oder Unkunſt ſei — daß feftzuftellen, 
bleibt Sache des äfthetifch-ethiichen Urteils. 

Dies jührt freilich hart an die praftiiche Frage: wie foll das 
äfthetifch=ethiiche Urteil zur Geltung kommen über die Grenzen des indi- 
viduellen äfthetifchen Verhaltens hinaus? Nun, ich denke: wie die an— 
gewandte Piychologie zur Aeſthetik wird, jo heißt die angewandte Aeſthetik 
— Kritik! Zwar weiß id) wohl, in welch jammertraurigem Zuftand fid) 
unfere jogenannte Kritik befindet; ich weiß, dab e8 einfach zum Lachen 
wäre, wenn man in ihr, jo mie fie dermalen iſt und wohl noch ge= 
raume Zeit fein wird, den höheren Gerichtshof jehen wollte, an den in 
diefen Dingen zu appellieren wäre; ich weiß, daß fie zu neunzig bis 
neunundneungig Prozent ethiſch wie äfthetiich gleich unfähig ift. Aber 
e8 gibt doch auch jeßt ſchon wenigſtens einen Heinen Prozentjag von 
wirklich leiftungsfähiger Kritik, und wir müßten dod in peſſimiſtiſchem 
Quietismus jchon weit gediehen fein, wenn wir auf alle Bejtrebungen 
verzichten wollten, diefen Kleinen PBrozentjag zu mehren mwenigjtens bis 
zu einer anftändigen Minderheit, die eine geiftige Macht darftellte. Ja— 
wohl, der einzige Weg, aus dem unhaltbaren Wirrwarr im Sapitel 
„Kunſt und Moral“ (wenn wird jegt einmal fo nennen wollen) heraus— 
zukommen, ift: mit allen Kräften dahin zu wirken, daß an Stelle des 
heillofen Mifchmafches von Reklame und urteilslofem Geſchwätz, das ſich 
Kritif nennt, eine wirkliche äſthetiſche Kritik trete, eine von feitgegründeten 
und äfthetiich durchgebildeten ethiſchen Berjönlichkeiten getragene Kritik, 


2. februarheft 1899 
m SE — 


eine jchöpferifche Kritik, die nicht bloß ſchwätzt, ſondern etwas kann — 
und fo auch Kunſt und Unkunft fcheiden kann. Eine folche Kritik braucht 
gar nicht von vielen geübt zu werden, fie fann in den Händen meniger 
liegen, wenn nur diefe gehört werben und gelten. Aber mie gejagt, 
von Berfönlichkeiten muß fie getragen fein, die als ſolche etwas find und 
bedeuten, von in ihrer Art fchöpferifchen Perfönlichkeiten, denn nur diefe 
können ber fchöpferifchen Kunft urteilend gerecht werden und jchöpferiiche 
Kunft von Scheinkunft und Unkunſt ficher unterfcheiden. Einen unfehl- 
baren objettiven „Kanon“ für das äſthetiſch-ethiſche Urteil gibts freilich 
nicht — aber eben, meil e8 einen foldhen nicht gibt, iſt für die äſthetiſche 
Kritik die Perfönlichkeit von derfelben Bedeutung wie für die äfthetifche Pro— 
duktion. Perjönlichkeiten aber find eine Macht und könnten aud) die 
Kritit zu einer Macht erheben, gegen die fein Staatsanwalt und kein 
Moralphilifter, aber auch fein Afterpoet und Kunſtſchweinigel auffäme. 
Der Staat aber ald Hüter der öffentlichen Moral fünnte die äfthetiich- 
ethifche Hut der fittlichen Güter der Nation ruhig dem Urteil dieſer 
Kritik anheimftellen und nur da, wo ſie über ein Machwerk äjthetijch- 
ethiich zur Tagesordnung übergegangen märe, zujehen, wie weit er nun 
etwa die Moral gegen dieſes Machwerk zu wahren hätte. 

Ein folder Zuftand der Kritik ift denkbar und muß erftrebt werden, 
wenn wir nicht einfach die Flinte ins Korn merfen wollen; mit welchen 
Mitteln diefer Zultand anzuſtreben wäre und erreicht werden könnte, 
das ift wieder eine Frage für fich, die hier zu weit führen würde. Aber 
darüber täufche man fich nicht: jo lange die Kritik in ihrem dermaligen 
Zuftand verlotterter Impotenz verharrt, läßt fich zwar unter den Ein- 
fihtigeren auf größere Klarheit über die Fragen des Ethifchen und 
Nefthetifchen Hinarbeiten, aber aus der Sadgaffe, in die „Kunft und 
Moral* praktiſch fich verrannt hat, fommen wir nicht heraus. 

Inzwiſchen, meine ich, follte die ihres Ernſtes fich bewußte Kritik 
nicht zimpferlich werden in Betonung des ethiichen Elementes im Wefthe- 
tiihen. Mir fcheint, vor eitel Streben nach Geredtigfeit und Billigkeit 
gegen alles, was irgendwie möglichermeife fünftleriich mehr wert fein 
fünnte, als uns jet dünkt — vor eitel Furcht, dem Moralphiliftertum 
und dem Staatsanwalt Zugeltändnifje zu machen, find mir nächſtens 
in Gefahr, einer kritiſchen Feigheit zu verfallen, die e8 faum mehr wagt, 
irgend einen lauten Knaben herzhaft an den Ohren zu nehmen, wenn 
er bei windiger oder faum aus dem Ei gefchlüpfter Perfönlichkeit feine 
Portion Formtalent dazu mißbraucht, uns 3. B. mit Unzüchtigkeiten und 
Schamlofigkeiten, die wir ohne meiteres als ſolche empfinden, zu brutali= 
fieren — nit in bewußter böfer Abſicht, behüte! — fondern nur eben, 
weil das feiner „Perſonnage“ jo entipricht und weil er dieſe Fünftlerifch 
ausleben zu müfjfen glaubt. Warum diefem nicht rundweg erflären: 
erwirb du dir zuerft einen begründeteren perjönlich-ethifchen Anſpruch 
darauf, dich vor unfern Augen auszuleben — fonft läßt dich die Aeſthetik 
ftehen und du kannt jehen, wie du mit der Moral zurechtlommft! Und 
auch da8 follten wir nicht vergeffen: e8 gibt immer von Zeit zu Zeit 
ethiiche Piychofen, die wie Epidemieen um ſich greifen — eine fpätere 
Beit erkennt fie unfehlbar als ſolche, folange fie aber herrfchen, geben fie 
fi für Geſundheit aus und wiſſen fich der Maffe der Urteilslofen als 
folche aufzuichwagen, während nur eine unangeftedt gebliebene Minderheit 


Kunftwart 
— 354 — 





fie als Krankheitserſcheinungen erkennt. Wer fich da in feiner eigenen Per— 
ſönlichkeit ethiſch geſund genug fühlt, der foll nicht zaghaft fein, die 
Krankheit beim Namen zu nennen und zu befämpfen, auch wenn ers der 
Mehrheit nicht haarklein beweiſen kann, daß und wiefern es Krankheit 
ift, auch wenn er vielleicht felbft die Krankheit mehr aus feinem ethifchen 
Gefühl heraus erkennt als nad) einer theoretijch Har zu begründenden 
Diagnofe. Bon folden Pſychoſen aber werden zumeilen nicht bloß die 
Pfuſcher und die bloßen reproduftiven Formtalente in der Kunſt ergriffen, 
fondern auch Berfönlichkeiten, die am fich fchöpferiiche Kraft hätten — 
auch fie braucht die Kritik nicht weichlich zu jchonen, auch ihnen braucht 
fie nicht alles zu gute zu halten, ja gerade fie hat fie ernithaft darauf 
au verweilen, daß fie fich äfthetifch Ichädigen, wenn fie der ethiſchen Ber- 
feuhung nicht mwideritehen. Wollen oder können fie dann nicht hören, 
fo haben auch fie es fich ſelbſt zugufchreiben, wenn fie eines Tages von 
der Meute des Moralphiliitertums angefallen werden und die Aeſthetik 
fie nicht oder nur ungenügend ſchützen kann. Und follte die ernithafte 
ſtritik ausnahmsmeije vielleicht auch jemand zu Hart anfallen — ei, ift 
er ein rechter Kerl, fo wirds ihm auf die Dauer nicht fchaden, und e8 
wird ihm lieber fein, von einer ſolchen Kritik einmal etwas zu hören, 
was er nicht ganz verdient zu haben glaubt, al8 wenn er von der All— 
tagspöbelfritif vielleicht „moraliſch“ unangetaftet bleibt aber äfthetijch- 
ethijch um jo blödfinniger behandelt wird. 
Gerade, wenn wir auf das Entſtehen einer Kritik binarbeiten 
mollen, die als zuftändige Nichterin in dem Streit zwiſchen „Kunft und 
Moral“ gelten dürfe, müjjen wir darauf bedacht fein, daß ſchon jetzt 
jede echte Kritik fich gerade in diefem Kapitel gründlich unterjcheide von 
dem Kritikaſtergeſchwätz, das feine Ahnung bat von dem tieferen Zu— 
fammenhang zwifchen Ethifch und Aeſthetiſch. Carl Weitbredt. 


UI 


Arcbitektonischbe Zeitfragen. 


Unter diefem Titel hat der unferen Zejern bekannte Wilhelm Streiter 
beim „Cosſsmos“ in Berlin eine Schrift veröffentlicht, die er im Untertitel als 
eine Sammlung und Sichtung verfhiedener Anſchauungen mit bejonderer Bes 
ziehung auf Prof. Otto Wagners Schrift „Moderne Architeltur“ bezeichnet. 
Otto Wagner ift Profeffor an der Kunſtakademie in Wien und hat fi) durch 
feine eigenen Werfe als Künſtler einen bedeutenden Namen gemadjt. Sein 
feines Bud) follte zunächſt nur ein Führer auf dem Gebiete der modernen 
Architektur für feine Schüler fein, aber e8 erregte weithin Auffehen unter den 
deutfchen und öfterreichifchen Architekten, weil Wagner darin einen extrem fort: 
ſchrittlichen Standpunft vertritt und den Anſpruch erhebt, „die Bafis der heute 
vorherrfhenden Anfhauungen über die Baufunft zu verjchieben und die wahre 
und einzig mögliche Richtung zur Erreichung des Erahnten, Erhofften Der 
modernen Arditeftur zu weiſen“. Gegenüber diefem Buche unternimmt nun 
Streiter „ben Verſuch einer tieferdringenden, möglichſt objektiven Würdigung“, 
ben man als überaus intereffant und in vieler Beziehung klärend bezeich— 
nen darf. 

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Streiter gebt davon aus, daß feit dem Ende ber Rokokozeit fein feſter 
Stil, feine bejtimmt ausgeprägte einheitlide Grunditimmung im Kunſtſchaffen 
ber europäifhen Kulturvölfer fi) mehr ausgebildet hat. Denn e8 ift eine feſt— 
ftehende Thatſache, da den Architekturwerken bes 19. Jahrhunderts bei den 
Kulturvölfern der alten und der neuen Welt jene der Gleichzeitigkeit ihres Ent— 
ftehens entſprechende Hebereinftimmung in ber formalen Durchbildung mangelt, 
die man als Bauftil bezeihnen darf. Unſer Jahrhundert wird von der Ardi- 
tefturgeihichte der Zukunft als eine Periode bezeichnet werden, in melder bie 
Pflege der hiftorifhen Stile an die Stelle der Alleinherrfchaft eines eigenen 
Stile der Zeit trat. Diefer Zuftand wird befanntlih von ber einen Seite 
beflagt und hinweggewünſcht, von ber anderen als ganz günftig und wohl 
erträglich bezeichnet. Die Unzufriedenheit mit dem herrichenden Eklektizismus 
äußerten in ganz ähnlicher Weife Otto Wagner in feiner Schrift von 1898 und 
RN. Wiegmann, Profeffor in Düfleldorf, einer der Haupts-Vorfämpfer ber deutich- 
nationalen Romantik, im Jahre 1841, ebenfo Wilhelm Stier auf der Architekten 
VBerfammlung zu Bamberg im Herbit 1843 und nicht viel anders J. ©. Wolf, 
Profeſſor in Kaſſel, auf der Arditelten-Verfammlung in Kaſſel 1846, der in 
dem Treiben der damaligen Baufünftler „eine zweite babyloniſche Verwirrung“ 
erblidte, „wo feiner den andern mehr verfteht, keiner weiß, worin und aus 
weldem Grunde er mit dem andern einverftanden fei oder ven ihm Verſchie— 
benes denke und wolle.* Die Zufammenftellung ber Heukerungen von Arditelten 
und Mejthetifern aus unjerm gelamten Jahrhundert ift ganz beſonders inter— 
effant in bem Streiterfhen Bude. Sie zeigt, daß eine Menge von Gedanken, 
die bei Otto Wagner fo mandem als ganz neu erfcheinen könnten, zum 
eifernen Beftande unferes Jahrhunderts gehören und immer wieder von neuem 
auftauchen, ohne bisher die Verhältniffe irgendwie geändert zu haben. 

Streiter fhildert dann die Meinungsverfhiedenheiten der Arditelten in 
ben vierziger bis jechziger Jahren, die Verſuche, neben der Wiederermedung 
der biftorifhen Stile auch durd; freies Kombinieren der überlieferten Formen— 
freife einen neuen Bauftil zu Schaffen (Schinkels Bauafademie, Marimiliansitil 
in Münden), endlich das Erlahmen des Streites, begründet durch die Fülle 
von Yufgaben nad) 1870/71, zu deren raſcher, des Erfolges einigermaßen ficherer 
Bewältigung die Anwendung der bewußten Formgebung der hiſtoriſchen Stile 
mit einer gemijfen Unwiderſtehlichkeit fi aufdrängte. Dan fam damit zu 
einer mehr optimiftifchen Beurteilung der Sadjlage, inden man nad dem 
Scheitern aller Beitrebungen um einen modernen einheitlihen Bauitil den 
berrichenden Zuftand als eine Notwendigkeit betrachten und unfere arditels 
tonifhen Leiftungen als denen früherer Zeiten nicht unebenbürtig anfchen 
lernte. In diefem Sinne äußerte fich 3. B. Fritſch. Uber die Klage, daß wir 
feinen eigenen Monumentaljtil hätten, daß die Triebfraft der Schmudiormen- 
tradition erlofchen fei, fam immer wieder (fo durch Göller); und was ſchon 
Heinrich Hübſch vor fünfzig Jahren äußerte, das wiederholten Karl Neumann 
und Otto Wagner, nämlidy den Gedanken, „dab die Pflege der hiſtoriſchen 
Stile dem Gebraud) fremder, fozufagen toter Sprache zu vergleidhen jei und 
daß dieſe Bielfpracdhigfeit der modernen Arditeltur-Schöpfungen das Verſtänd— 
nis derjelben beim Publitum fchr erfchweren, ja unmöglich maden müffe*. 
Das Publilum Hat infolge des überaus rafhen Wechſels von Modeitilen in 
den legten Jahrzehnten ganz das Vertrauen verloren, fid in Gefhmadsurteilen 
feinem eigenen Gefühl zu überlaflen. Die Folge mußte eine Unficherbeit, eine 
Verworrenheit im ftiliftifhen Empfinden fein, mie fie vielleiht nod) niemals 

Kunftwart 


- 30 — 


in diefem Grabe beitanden hat.“ Diefer Mangel eines einheitlihen Stil— 
gefühls trug in hervorragender Weife die Schuld an dem Rüdgange bes 
Kunftgemwerbes in unferem Jahrhundert. Die Kunftgewerbefhüler müſſen 
gedrillt werben, die verfchiedenften Formenſprachen nachzuſtammeln; die Archi— 
teften haben Not, bei ihren Monumentalbauten gerabe die Handwerler, Maler 
und Bildhauer auszumählen, welche in ihrem hiſtoriſchen Stil verhältnismäßig 
die meifte Hebung haben; und in ben felteniten Fällen wird bei derartigen 
Reiftungen des Zuſammenwirkens verjchiedener ein ganz befriedigender tief- 
gehender Gindrud erzielt. Das haltlofe Hin= und Herſchwanken des Geſchmackes, 
begünstigt durch das dem Fabrilanten dienlihe Modeunmejen, murzelt in dem 
bijtorifchen Eklektizismus, der feit dem Anfang dieſes Jahrhunderts die Archi— 
teftur beherricht. Gegen Ende bes Jahrhunderts Hat fi das bunte Allerlei 
in der Architektur fogar noch gefteigert. Nunmehr aber erhebt fi) parallel 
mit ben ähnlichen Bejtrebungen auf den Gebieten der Literatur, der Dtalerei 
und ber Plaftik der Hampfruf der Modernen auch auf bem Gebiete der Baufunft: 
„Weg mit dem hiſtoriſchen Hoftüm, weg mit den fonventionellen Phraſen! 
Für die modernen Lebensverhältniffe ein moderner künſtleriſcher Ausdruck.“ 
Zu diefem „arditeftonifhen Realismus“ befennt fih unummunden 
Dtto Wagner. Mit rabilaler Schärfe befämpft er die Pflege der hiſtoriſchen 
Stile und mit vollem Optimismus glaubt er an den Stil unfrer Zeit: 
„Ganz wie von felbjt wird, wenn wir ben richtigen Weg einfchlagen, das ber 
Menichheit angeborene Erkennen feines Schönheitsideals zu lauterm Ausdrucke 
kommen, bie ardjiteltonische Sprache verftänblich werden und der uns repräfen: 
tierende Stil gefchaffen fei. Ja noch mehr! Wir befinden uns mitten 
in dbiefer Bewegung. Diefes häufige Abweichen vom breiten Wege ber 
Nahahmurg und Gemwöhnlichkeit, dieſes ideale Streben nah Wahr— 
beit in ber Kunſt, mit gigantifcher Kraft dringt e8 durch, alles den be— 
ftimmenden Siegeslauf Hemmende niederwerfend.” 

Die Berechtigung diefer Hoffnungen prüft nun Streiter eingehend. 

Er behandelt im zweiten Stapitel die Frage jenes Realismus in der 
Architektur. Selbftverftändlich ift folde Forderung nit neu; fie wieder- 
holt fih, wie der Ruf nad Natur in den andern Künſten, fo oft die Kunſt— 
verhältniffe e8 nötig maden, jo um 1750, bann um 1850 und jeßt wieder. 

Streiter erflärt Realismus in der Arditeltur als die meiteitgehende 
Berüdfihtigung ber realen Werdebedingungen eines Bauwerkes, die möglichit 
volltommene Erfüllung der Forderungen ber Zmedmäßigfeit, Bequemlichkeit, 
Gefundheitsförberlichkeit, mit einem Wort: die Sachlichkeit. Aber das iſt noch 
nicht Alles. Wie der Realismus ber Dichtung e8 als eine feiner Hauptaufgaben 
betrachtet, den Zuſammenhang ber Charaktere mit ihrem „Milieu“ ihrer Um— 
welt ins Auge zu faffen, jo fieht die verwandte Richtung in der Architektur 
ein vor allem erjtrebenswertes Ziel tünftlerifher Wahrhaftigkeit darin, den 
Charakter eines Baumerfes nit aus feiner Zwedbeftimmung allein, fondern 
aus dem Milieu, und zwar nicht nur aus der Eigenart ber jemweilig vorhandenen 
Bauftoffe, nein, auch aus der landſchaftlich und gefhichtlich bedingten Stim— 
mung ber Dertlichfeit heraus zu entwideln. 

Die Forderung eines Realismus in ber Baukunjt entipridt bem ftarf 
realiſtiſchen Grundzug, der durch unfer ganzes öffentliches wie privates Leben 
geht. Steine Zeit war geeigneter, als die unfrige, der Anfhauung Raum zu 
Ihaffen, daß in Arditeltur und Sunftgewerbe künſtleriſche Wahrhaftigkeit, 
Rnappheit und Sadlichkeit, vollklommenſte Erfüllung des Zweckes mit den 


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einfadhften Mitteln als erſte Bedingung gelten follen. Die ganze fo großartig 
entwidelte moderne Technik ift beherrfht von dem oberften Grunbfaß: Die 
größtmögliche Leiftung mit den geringftmöglihen Mitleln, und gemöhnt 
ung mehr und mehr an bie ftruftivstehhnifhe Sadhlichkeit, zudem ift unfer 
Körpergefühl durch die außerordentliche Steigerung ber Verkehrsmittel für eine 
größere Bemegungsfähigfeit ſehr empfänglid) und demnach für allen hemmen— 
den und erfchwerenden Ballaft ſehr empfindlich geworben. Aus dieſen pfycho= 
Iogifhen Thatfahen ergibt ſich die fpezifiih moderne Auffaffung teftonifher 
Aufgaben, bie Wagner furz fo formuliert: „Eimas Unpraltifhes Tann nie 
ſchön jein.* 

In England ijt diefes Ziel Wagners, über die hiſtoriſchen Stile hinaus 
zu einer neuzeitlichfelbftändigen Baumeife zu gelangen, in gemwiffem Grabe 
erreicht, und Streiter nimmt diefen neusenglifchen Stil mit Erfolg in Schuß 
gegen den Vorwurf der Nüchternheit, den ihm 3. B. Robert Neumann madt 
in dem Buche: „Architektoniſche Betrachtungen eines deutſchen Baumeiſters mit 
befonderer Beziehung auf beutfches Wefen in beutfcher Baukunſt“, Berlin 1896- 
Während Dtto Wagner den geſchäftlich-praktiſchen, nivellierenden („bemofra= 
tiſchen“) Tendenzen de8 modernen Lebens Tünftlerifh nachzugehen empfiehlt, 
fuhen die Engländer vielmehr (und viel richtiger) im Kampfe gegen dieſe 
Tendenzen bie künſtleriſche Individualität zu retten. „Das Geheimnis bes 
Erfolgs der Engländer liegt nad) Streiter wohl darin, daß fie den teftonifchen 
Realismus richtig aufgefaßt und angewendet haben. Sie haben die gebieterifhen 
Anfprüde de8 modernen Lebens in meitejtgehender Weiſe berüdfichtigt, dabei 
aber den künſtleriſchen Individualismus zu mahren verftanden, fomeit es 
irgend möglich ift. Wo aber die große Mafje, die Herſtellungsweiſe (Maſchinen— 
Sabrilation!) und der raſche Verbrauch moderner Gegenftände eine gediegene 
ünftlerifche Ausfhmüdung unmöglid) macht, da allerdings haben fte mit vollem 
Recht aus der Not eine Tugend zu machen verfudt und ji bemüht, durch 
einfahe Eleganz der Grundform, durch forgfältige Ausführung im Sinne des 
Materialftils diefen Dingen den größtmöglichen äfthetifchen Reiz abzugewinnen.“ 

Daß erfolgreiche Vorgehen der Engländer erflärt Streiter für vorbildlich 
auch für uns. Ohne daß wir uns an einen ber hiftorifhen Stile geradezu 
anlehnen, fünnen wir doch ein felbftändig modernes Formgefühl entwideln, 
indem mir gleich den Engländern an heimiſche Ueberlieferung anknüpfen, zu— 
gleich aber nad) aller Möglichleit die modernen Lebensbedingungen erfüllen. 
So fommen wir zu dem Realismus in der Urditeltur, nad der oben wieder— 
gegebenen Erklärung Streiterd. Die heimifhen Baumeifen aber (Ziegelrohbau, 
Putzbau, Holzbau u. f. mw.) bieten infofern zur Antnüpfung befondere Ausficht 
auf Erfolg, als fie nad) den Deaterialverhältnifien, nad der landſchaftlichen 
Stimmung und den Stammegeigentümlichkeiten der Bevölferung ſich al® bes 
fonders wurzelecht und Tebensfähig ermiefen haben, ftatt in eigenmädtigen, 
ins Bodenlofe ſich verlierenden Experimenten dem in meiter, bunfler Ferne 
liegenden Ziel bes Zufunftsftils ungebuldig und vielleicht auf Irrwegen zuzu— 
ftreben. 

Indem wir fo verfucht haben, auß dem zweiten Kapitel des Streiterſchen 
Buches die Quinteffeng wiederzugeben, haben wir allerdings die intereffanten 
Erörterungen über die Ausfichten eines nationalen oder eines internationalen 
Stils, die nicht minder interejjante Polemik gegen Wagner und Robert Neu= 
mann, die Ausführungen über das engliihe Heim nad Dohme, über ben 
deutfchen Barvenujtil u.a. übergehen müſſen; wen dieſe ſämtlichen Fragen 


Kunftwart 
— 38 — 





tiefer berühren, der wird das feffelnd gefchriebene Streiterfche Buch ſelbſt zur 
Sand nehmen müffen. 

Gegenüber Wagners überfhmänglihen Hoffnungen, daß der neue Stil 
ſehr raſch da fein werde, ift Streiter fehr feptifch geftimmt. Er faßt feine 
Bebenten in den Satz zufammen: „Mit dem Realismus, mit der Sadlichleit 
allein ift noch feine moderne Kunſt, fein neuer Stil gewonnen, fonbdern nur 
eine gefunde natürlide Grundlage hierfür.“ Da Wagner große Erwartungen 
auf neue Konftruftionen als ftilbildende Faktoren fest, behandelt Streiter im 
dritten Kapitel .befonders die Frage nad) dem Zufammenhang von ſtonſtruktion 
und Funjtform. (Schluß folgt.) Paul Shumann. 





ZI 












Lose Blätter, 


Srillpyarjers „Adin von Toledo 


ift ein Wert, das ber alternde Dichter befanntlih im Groll dem unempfäng- 
lien Bublitum vorenthielt. Jetzt erſt ſehen wir’s mit an, daß e8, wenigstens 
in Dresden, auf der Bühne wirklid zu leben beginnt, indem es auß aufs 
gehendem Verſtändnis ſtarke innerlide Teilnahme eriwedt. Bisher galt e8 als 
ein Werk von ungleihem inneren Werte. Bisher fühlte man fich verliebt in 
die fhwarzen Augen der Rahel und jtand und blieb unter ihrem Banne, aud). 
wenn fie der Dichter längſt von der Szene entfernt hatte. Den beiden legten 
Akten folgte, jo befennt der alte Theaterpraftifus Laube, das Publiftum nicht 
mehr: es hatte für die feinften Töne der Dichtung fein Ohr. Sollte e8 nicht 
ein, wenn auch unerwarteter Erfolg unferer modernen indivibualifierenden, 
perjönlihen Kunft fein, daß wir fie jegt nicht nur vernehmen, fondern ung 
gerade an ihnen entzüden? 

Die Zuſchauer vergangener Jahrzehnte ſuchten Typen, wir ſuchen Individuen 
auf. Nun ift ja Rahel durchaus nicht nur Individuum, ja fie ift es vielleicht 
weit weniger als der König Alfonjo, als feine Gattin; fie ift „nur das Weib 
als jolches, nichts als ihr Geſchlecht“. Nur als folches, als Geſchlecht, feffelt 
fie den König, der fte liebt, ohne fie zu achten. So ift fie denn aud) in ber 
Dichtung nur ein Mittel zum Zmed, nit mehr. Uber befangen von einer 
Neigung, auch die ungeläuterte Natur im Lichte eines Ideals zu erbliden, 
fuht man und fuchte man leider vielfach auch heute noch in Rahel ein Ideal, 
und trauert dann darüber, daß e8 elend vernichtet wird. Vielleicht meint man 
in Rahel die Heroengröße einer Leidenfchaft zu finden, die nichts über fich er— 
fennt. Aber wie weit dieſe Leidenfhaft von der aufopfernden Liebe eines 
Gretchen, wie meit fie von der trunfenen Hingabe einer Julia entfernt ift, 
überlegt man nidt. Für Rahel gibt es feine Opfer isrer Berfönlichkeit, nur 
folde der Sinnlidjleit, die ſchließlich an fi felbit zu Grunde gehen muB. 
Wohlweislich hat uns Grillparzer nur gezeigt, wie es Rahel gelingt, das Herz 
des unerfahrenen Hönigs zu entflammen. Ueber die Freuden dieſer Liebe gleitet 
er raſch hinweg; der flüchtige Rauſch kündet ſchon im dritten Ute die fommende 
Ernüdterung an. Sobald der Trank nicht mehr auf ber Tafel winkt, verliert 
er an verlodender Kraft, und erit die Schalheit und Nüchternheit, mit ber der 

2. februarheft 1899 


- 39 — 


Deimfehrende von ber Gattin begrüßt wird, läßt ihn wieder verführerif er— 
feinen. Ein feder Vergleich mag die Rahel Grillparzers ein allerdings unend—⸗ 
lich jeineres Vorbild moderner Kofottenpoefie nennen. Uber bei diefem Vergleich 
offenbart fih auch der grelle Unterfhied. Dumas verflärt die Dirne, Grill- 
parzer behandelt fie mit der Geringfhätung, die ihr gebührt. Sie iſt genug 
geadelt, wenn fie einem edleren Menfchen Hilft, fich auf fein befferes Selbft zu 
bejinnen. Dem Wahne, aus einem Gejchöpf, das ſich felbit nur als Werkzeug 
der Luft des Mannes achtet, ein höheres zu entwideln, wird gar nit nach— 
gegangen. Trotz biefer fcheinbaren Barbarei fünbet ſich in der Dichtung ber 
foziale Gedante mit aller Macht an, freilih nit in einem parteipolitifchen 
Sinne, fondern in feiner für alle Zeiten gemeingültigen und tiefiten Auffaffung, 
in der einer gegenfeitigen Verſchuldung aller Menſchen an der menſchlichen Uns 
volllommenheit. Jedes Individuum trägt an dem Zujtand des Dafeins feine 
Schuld; wo einer ſchuldig wird, find e8, die mit ihm Ieben, auch, wenn fchon 
in verfhiedenem Grade. Aber nicht auf das Abmeſſen dieſer Grade kommt «8 
an, fondern darauf, fi gemeinfam bei der büßenden und fühnenden That 
brübderlich zu helfen. 


Eine Tragödie, bie in fo tiefen ethiſchen Gedanken ausklingt, fann fein 
Drama äußerliher Gejchehniffe fein. Gang im Stile des Goethefhen Taſſo 
ift alles äußere Gefchehen in den Hintergrund gedrängt, zur Vorbereitung ber 
Reibenfhaftstragödie das Sichtbare nur fomweit e8 ganz umentbehrlih — bie 
beiden Begegnungen des Königs mit Rahel — gegeben, von allen anderen 
„Ihaten“ find nur die Entfchlüffe, die Folgerungen dargeftellt. Um fo reicher, 
fo muchtiger enthüllt fih das innere Gefhehen, und zwar in unmittelbarfter 
Gegenwart vor ung. Nur bie entfheidenden Eindrüde, die der König an der 
Reihe der Geliebten empfängt, werben uns berichtet, wir müſſen uns rüds 
wärts in die Empfindungen bes Königs verfenfen. Bielleiht hätte ein fühnerer 
Dichter uns diefe Szene bes Königs an ber Reiche felbjt vorgeführt. Grillparzer 
aber hat doch das Weſentliche diefer Szene nachgeholt, allerdings mit dem 
ftilfchmweigenden Unfpruh an einen Dariteller, der e8 verjteht, ung mimifd) 
auf die entjcheidenden Worte vorzubereiten: „Ein böfer Zug um Wange, Ktinn 
und Mund, Ein lauernd Etwas in dem Feuerblid vergiftete, entitellte ihre 
Schönheit.“ Weniger ift e8 ihm gelungen, den Gedanken der allgemeinen Buße 
aller zu verfinnlicdden, da fi) das Mittel einer den Thatſachen vorauseilenden 
Prophetie der Zukunft dem Dichter, der jtets inmitten ber Situation ſteht, 
ſchlechterdings als unfünftlerifch verfagen mußte. 


Auf eine Tragil aber, die fein Leben des Helden forbert, verjtand man 
ſich dereinft noch wenig. Noch heute verdient Hebbels tief gehende Würdigung 
bes Hleiftichen Prinzen von Homburg, eines Werks, das in mandherlei Betradt 
zu Recht mit Grillparzers Jüdin in Vergleich geftellt wird, nachdenklich gelejen 
au werden. Hebbel weiſt hier nad), dab eine tragifche Katharſis auch ohne 
Tod des Helden erreidht werden könne. In dieſe Tiefen der Tragik reicht 
Grillparzers Jüdin nicht hinab, dazu ift des Königs Liebe zu Rahel zu jehr 
Rauſch; des Prinzen offenes Grab iſt eine Thatſache von erjhütternder Wirt: 
lichkeit. Auch erwacht das rettende Gefühl der Piliht bei Grillparzer nicht fo 
unmittelbar aus dem ſittlichen Konflift wie bei Mleift. Dafür aber fehlt der 
Kleiftichen Tragödie der Gedanke der Verpflidhtung aller für alle, zu dem fig 
endlich) auch Rahels Schwefter, Ejther, befennt: „Wir ftehn gleich jenen in 
der Sünder Reihe; VBerzeihn wir denn, damit uns Gott verzeihe!* 


Kunftwart 


Die Tiefen aber ber Berkettung menſchlicher Neigungen zu gemeinfamen 
Verſchulden hat Grillparzer in der herrlichen, bemegten und klärenden Szene 
zwifhen dem König und ber Königin im vierten Ufte berührt. &8 ift eine 
jener Szenen, die rüdmwärts wie vorwärts das hellfte Licht verbreiten, bie die 
zarteften Gegenfäße von Individuum und Geſchlecht mit Aberraſchendſter Wirkung 
aufbeden und doch immer im Befonderen des Falles zugleich das Allgemeine 
lebendig und anſchaulich werben laffen, eine Szene von fo intimem Reize der 
Gegenwart, von folder Schlagkraft der pſychologiſchen Entwidlung, mie fie 
Ibſen nur in den reifften feiner Werfe annähernd, wie fie noch fein moderner 
Deutſcher je ganz erreicht hat. Auf eine ganze Reihe von Fragen, bie unferen 
Modernen Stoff zu Dramen gegeben haben, fällt in dieſer einen Szene des 
Meifters helles, klärendes Licht. 

Wir geben fie in Folgendem wieder nad) der neuen Ausgabe von „Grill- 
parzer8 Sämtlihen Werken“, die (in 40 Lieferungen zu je 40 Pfennigen) bei 
Cotta in Stuttgart erfchienen ift. £eonh. £ier, 


* 
Der König kommt von ber linken Seite, hinter ihm jein Knappe. 
König: Der Braune, fagit du, hinkt? Nun, e8 ging ſcharf, 
Doch hab’ ich feiner fürder nit vonnöten. 
Lak ihn am Zügel führen nad) Tolebo, 
Dort ſtellt ihn Ruh als beſte Heilung her. 
Ih felber will an meiner Gattin Seite 
In ihrer Kutſche mich dem Volke zeigen, 
Auf dab e8 glaubt, was e8 mit Augen fieht, 
Daß abgethan der Zwiſt und die Zerwürfnis, 
(Der Stnappe geht.) 
Ich bin allein. Kommt niemand mir entgegen? 
Nur fahle Wand und fchweigendes Gerät. 
Hier haben fie vor kurzem, fcheint’8, getagt. 
O, dieſe leeren Stühle ſprechen Tauter, 
Als jene, die drauf ſaßen, e8 gethan, 
Allein was fol das Grübeln und Betrachten, 
Gut machen heißt's; damit denn fang’ id) an. 
Hier geht’8 hinein zu meiner Fraun Gemädhern, 
Betret’ ich denn ben unwilllommnen Weg. 
(Er nähert fi der Seitenthüre rechts.) 
Allein die Thür verfperrt? Holla, da drinnen, 
Der König iſt's, der Herr in diefem Haus, 
Für mid) gibt's hier fein Schloß und feine Thür, 
Eine Kammerfrau tritt aus ber Thüre, 
König: Verfperrt ihr euch? 
Kammerfrau: Die KHön’gin, Majeftät — 
(da der König mit jtarfem Schritte hineingehen will) 
Die innere Thür aud) hat fie felbft verfchloffen. 
König: Eindringen will id nicht. Sagt ihr denn an, 
Ach fei zurüd und Laffe fie entbieten — 
Vielmehr fagt: bitten, wie ich's jetzt gefagt. 
(Die Kammerfrau geht.) 
König (dem Throne gegenüberftehend): Du hoher Si, die andern 
überragend, 


2. sebruarheft 1899 


_ Hu — 


Gib, daß wir niedriger nicht fein als bu, 
Auch ohne jene Stufen, die bu leihit, 
Das Maß einhalten bes, was groß und gut. 
Die Königin fommt. 
König (ihr mit ausgejtredter Hand entgegen gehend): Lenore, fei gegrüßt 
Königin: Seid uns willlommen! 
König: Und nit die Hand? 
Königin: Ich freu mich, Euch zu fehn. 
König: Und nicht die Hand? 
Königin (in Thränen ausbrehend): O Gott und Vater! 
König: Lenore, diefe Hand tft nicht verpeitet. 
Zieh’ ih in Krieg, wie ich denn ſoll und muß, 
So wird fie Feindes Blut vollauf bededen, 
Do klares Waſſer tilgt den Makel aus, 
Und rein werd’ ich fie bringen zum Willkomm. 
Das Waffer nun der körperlichen Dinge 
Hat für die Seelen geiftigen Erſatz. 
Du biſt als Ehriftin glaubensftart genug, 
Der Reue znzutrauen ſolche Macht. 
Wir andern, die auf Thätigkeit gejtellt, 
Sind fo befheidnem Mittel nicht geneigt, 
Da e8 bie Schuld nur wegnimmt, nicht den Schaden, 
Ya, Halb nur Furcht ift eines neuen Fehls. 
Wenn aber Behres wollen, freudiger Entſchluß 
Für Gegenwart und für die Zukunft bürgt, 
Sp nimm’s, wie ich e8 gebe, wahr und ganz. 
Königin (beide Hände hinhaltend): O Gott, wie gern! 
König: Nicht beide Händel 
Die Rechte nur, obgleich bem Herzen ferner, 
Gibt man zum Pfand von Bündnis und Vertrag, 
Vielleicht um anzudeuten: nicht nur das Gefühl, 
Das feinen Si im Herzen aufgefhlagen, 
Auch der Berftand, des Menfchen ganzes Wollen 
Muß Dauer geben dem, mag man verſprach; 
Denn wechſelnd wie die Zeit it das Gefühl, 
Mas man erwogen, bleibt in feiner Kraft. 
Königin (die Rechte bietend): Auch das! Mein ganzes Selbit. 
König: Die Hand, fie zittert. (Sie loslaſſend.) 
Ih will dich nicht mißhandeln, gutes Weib. 
Und glaube nicht, weil minder weich ich fpreche, 
Ich minder darum meik, wie groß mein Fehl, 
Und minder ich verehre deine Güte. 
Königin: Verzeihn ift Leicht, begreifen ift viel ſchwerer. 
Mie es nur möglich war! Ich fall’ es nid. | 
König: Wir haben bis vor furz gelebt als Kinder. 
Als ſolche Hat man einftens uns vermählt, 
Und mir, wir lebten fort als fromme finder; | 
Doch Finder wachſen, nehmen zu an Jahren, 
Und jedes Stufenalter der Entwidlung, 
Es fündet an fi dur ein Unbehagen, 


Kunftwart 
- 3 





Wohl öfters eine Krankheit, die ung mahnt, 

Wir fein diefelben und zugleich auch andre, 

Und andres zieme fih im Nämlicdhen. 

So iſt's mit unferm Innern aud beftellt, 

Es dehnt fih aus, und einen mweilern Umkreis 

Beſchreibt e8 um ben alten Mittelpunft. 

Sold eine Krankheit Haben wir bejtanden; 

Und fag’ ich: wir, fo mein’ ich, daß du ſelbſt 

Nicht unzugänglich feift dem innern Wadstum. 

Lab ums die Mahnung ftumpf nicht überhören! 

Wir wollen fünftighin als Kön'ge leben, 

Denn, Weib, wir ſind's. Uns nicht der Welt verfchlieken, 

Noch allem, was dba groß in ihr und gut; 

Und mie die Bienen, die mit ihrer Ladung 

Des Abends heim in ihre Zelle kehren, 

Bereihhert durch des Tages Vollgeminn, 

Uns finden in dem Kreis ber Häuslichkeit, 

Nun doppelt füß durch zeitliches Entbehren. 
Königin: Wenn du's begehrft, ich ſelbſt vermifl’ es nicht. 
König: Du wirſt's vermiffen dann in der Erinnrung, 

Wenn du erft haft, woran man Werte mißt. 

Nun aber laß Vergangnes uns vergeſſen! 

Ich Liebe nicht, daß man auf neuer Bahn 

Den Weg verfperre ſich durch dies und das, 

Durch dag Gerümpel eines frühern Zuftands. 

Ih ſpreche mid von meinen Sünden los, 

Du felbit bedarfit e8 nicht in deiner Reinheit. 
Königin: Richt fo! nicht fo! O, wüßteſt du, mein Gatte, 

Was für Gedanken, ſchwarz und unbeilvoll, 

Den Weg gefunden in mein banges Herz. 

König: Wohl etwa Rachſucht gar? Nun, um fo beffer, 
Du fühlit dann, daß Verzeihen Menſchenpflicht 
Und niemand ſicher ift, auch nicht der Beſte. 

Wir wollen uns nit rähen und nicht ftrafen; 

Denn jene andre, glaub, ift ohne Schuld, 

Wie's die Gemeinheit ift, die eitle Schwäche, 

Die nur nicht widerſteht und fich ergibt. 

Ih felber trage, id}, die ganze Schuld. 

Königin: DO, la mid glauben, was mid Hält und tröftet. 
Der Mauren Bolt und all, was ihnen ähnlich), 
Geheime Künfte üben fie, verruchte, 

Mit Bildern, Zeichen, Sprüchen, böſen Tränten, 

Die in der Bruft des Menſchen Herz verkehren 

Und feinen Willen maden unterthan. 

König: Umgeben find wir rings von Zaubereien, 
Allein wir,jelber find die Zauberer. 

Was weit entfernt, bringt ein Gedanke nah, 

Was wir verſchmäht, fcheint andrer Zeit ung hold, 

Und in der Welt voll offenbarer Wunder 

Sind wir das größte aller Wunder jelbft. 


2. Februarheft 1899 


— 13 — 





Königin: Sie hat dein Bilb. 
König: Sie foll e8 wieder geben; 
Und beften will ich's fihtlih an bie Wand 
Und drunter ſchreiben für die fpäten Entel: 
Ein König, ber an ſich nicht gar jo ſchlimm, 
Hat feines Amts und feiner Pflicht vergeflen. 
Gott ſei gebanft, daß er ſich wieder fand. 
Königin: Mllein du felber trägit an deinem Hals — 
König: Ja fol ihr Bild? Ward bir das auch ſchon fund ? 


(Er nimmt das Bild mit der fette vom Halfe und legt e8 auf 
den Tiſch rechts im Vordergrunde.) 


Sp leg’ ih e8 benn hin, und mög! e8 liegen, 

Ein Blit, der nicht mehr fhäbli nad) dem Donner. 
Das Mädchen aber felbit, fie fei entfernt! 

Mag dann mit einem Dann fie ihres Voll — 


(von vorn nad rüdwärts auf und nieder gehend, in Abſätzen 
ftehen bleibend) 


Ob das zwar nit. — Die Weiber diefes Stamms 

Sind leiblidh, gut fogar. — Mllein die Männer 

Dit ſchmutz'ger Hand und engem Wuderfinn, 

Ein folder foll das Mädchen nicht berühren. 

Um Ende bat fie Bellern angehört. — 

Allein, was fümmert’8 uns? — Ob fo, ob fo, 

Wie nah, wie fern! — Sie mögen felber forgen. 
Königin: Dod wirſt bu ftark auch bleiben, Don Alfonſo? 
König (ftehen bleibend): Sieh nur, du haft das Mädchen nicht gelannt. 

Nimm alle Fehler diefer weiten Erbe, 

Die Thorheit und die Eitelkeit, die Schwäche, 

Die Lift, den Trog, Gefallfudt, ja, die Habjucht, 

Vereine fie, fo haft bu dieſes Weib. 

Und wenn, jtatt Sauber, rätfelhaft du's nennt, 

Daß jemals fie gefiel, fo ftimm’ ich ein 

Und fhämte mid, wär's nicht natürlich wieder. 

(Geht auf und nieder.) 
Königin: DO, nicht natürlich, glaube mir, mein Gatte. 
König (ftehen bleibend): Ein Zauber endlich ift. Er Heißt Gemohnbeit, 

Der anfangs nicht beitimmt, doch fpäter fejthält, 

Von dem, was ftörend, widrig im Beginn, 

Abftreift den Eindrud, der uns unmwilllommen, 

Das Fortgefegte jteigert zum Bedürfnis. 

Iſt's leiblich doch auch anders nicht beitellt. 

Die Kette, die ich trug — und die nun liegt, 

Auf immer abgethan — ſo Hals als Bruſt, 

Sie haben an den Eindruck ſich gewöhnt, 

(ſich ſchüttelnd) 

Und fröſtelnd geht's mir durch die leeren Räume. 

Ich will mir eine andre Kette wählen, 

Der Körper ſcherzt nicht, wenn er warnend mahnt. 

Und damit nun genug! 

Doch daß ihr blutig 


Kunftwart 
— 354 — 


Euch rächen wollte? an ber armen Thörin, 
Das war nicht gut. 
(Zum Tiſche tretend.) 
Denn ſieh nur dieſe Augen — 
Nun ja, die Augen — Körper, Hals und Wuchs, 
Das bat Gott wahrlich meiſterhaft gefügt; 
Sie ſelber madte ſpäter ſich zum Zerrbild. 
Laß Gottes Werk in ihr uns denn verehren 
Und nicht zeritören, was er weiſe ſchuf. 
Königin: Berühr es nicht! 
König: Schon wieber denn ber Unſinn! 
Und wenn ich’8 nehme wirklich in die Hand, 
(er hat das Bild auf die Hand gelegt) 

Bin ich ein andrer drum? Schling’ ich die Fette 
Aus Scherz, um bein zu fpotten, um den Hals, 
(er thut's) 

Das Bild, das dich erfchredt, im Buſen bergend, 

Bin minder ic) Alfonfo, der es einfieht, 
Daß er gefehlt, und ber den Fehl verdammt? 
Drum ſei's des Unſinns endlich body genug. 
(Er entfernt ſich vom Tiſche.) 
Königin: Allein — 
König (wild nad) ihr Hinblidend): Was iſt? 
Königin: DO Gott im Himmel! 
König: Erihrid nicht, gutes Weib. Doch fei vernünftig 
Und wiederhole mir nicht ftetS basfelbe, 
E83 mahnt zulegt mich an ben Unterſchied. 

(Auf den Tiſch, dann auf die Bruft zeigend.) 
Dort jenes Mädchen — zwar jeht ift fie hier — 
War thöricht fie, fo gab fie ſich als ſolche 
Und wollte Hug nit fein, noch fromm und fittig. 
Das ift die Art der tugendhaften Weiber, 

Daß ewig fie mit ihrer Tugend zahlen. 
Bilt bu betrübt, fo tröften fie mit Tugend, 
Und biſt du froh geitimmt, iſt's wieber Tugend, 
Die dir zulegt die Heiterkeit benimmt, 
Wohl gar bie Sünde zeigt als einz'ge Rettung. 
Was man die Tugend nennt, find Tugenden, 
Verſchieden, mannigfalt, nad Zeit und Lage, 
Und nicht ein hohles Bild, das ohne Fehl, 
Dod) eben drum aud wieder ohne Vorzug. 
Ich will bie Fette nur vom Halfe legen, 
Denn fie erinnert mich — 

Und dann, Senore 
Daß du mit den Bafallen did) verbünbet, 
Das war nidt gut, war unklug, mwidrig. 
Wenn du mir zürnft, bift du in deinem Recht; 
Dod) diefe Männer, meine Unterthanen, 
Was wollen fie? Bin ich ein Find, ein Knabe, 
Der noch nicht fennt den Umkreis feiner Stellung? 


2. februarheft 1399 


— — 


Des Neiches Gorge teilen fie mit mir, 

Und gleiche Sorge, meik ich, iſt mir Pflicht. 

Doch ich, Alfonſo, ich, der Menfh, ber Mann 

In meinem Haus, in meinem Sein und Wefen, 

Schuld' ich des Neiches Männern Rechenſchaft? 

Nicht fol Und hört’ ich nichts als meinen Zorn, 

Ich kehrte raſch zurüd, woher id) fam, 

Nur um zu zeigen, daß nicht ihrem Urteil, 

Nicht ihrer Billigung ich Unterthan. 

(Nah vorn tretend und mit dem Fuße auf den Boden ftampfend,) 

Und endlid) diefer Alte, Don Manrique, 

Wenn er mir Bormund mar, ift er es no? 


Don Manrique erjheint in ber Mittelthüre. Die Königin zeigt mit ge— 
rungenen Händen a | ihrem Gatten. Manrique zieht ſich mit einer beruhigen- 
en Bemwegung beider Hände zurüd, 


König: Erfühnt er fih, dem König vorzuſchreiben, 
Die hHausgebadnen Lehren feiner Weisheit? 
Wohl gar zu heimlicher, verwegner That —? 

(In der Quere der Bühne auf und nieder gehend.) 
Ich will das unterfuchen, ich, als Richter, 

Unb zeigt fi eine Spur nur von Vergehn, 
Von frevelhafter Abficht oder That, 

Se näher mir der Schuldige, ja nächſt, 
Nur um fo höher büß’ er fein Erfühnen, 
Nicht du, Lenore, nein, du biſt entichuldigt. 

(Die Königin Hat fi während des Letzten leije durch die Seitentjüre entfernt.) 
Wo ging fie Hin? So läßt man mid) allein? 
Bin ich ber Thor in meinem eignen Haus? 

(Er nähert ſich der Seitenthüre recht.) 
Ih will zu ihr! — Die Thür verfchloffen? 
(Die Thür mit einem Yußtritt fprengenb.) 
Aufl 
So nehm’ ih) mir im Sturm mein häuslich Glüd. 
(Er geht hinein.) 


“ 
— 
* 


— Rundschau. 


* Um 8. Februar feierte Wilhelm 
Jordan feinen adtzigiten Geburts- 
tag. Daß er eins unferer vielfeitigiten 
Talente und daneben eine Perfönlich- 
feit von befonberer geiftiger Artung, 
ein Dann mit felbjtändiger geichlotz 
fener Weltanſchauung tft, darüber wird 
man in ganz Deutfchland einig fein, 
über die Bedeutung feiner einzelnen 
Werke gehen aber die Meinungen fehr 
auseinander. 

Ich perſönlich ſchätze feine Lu ft= 
fpiele am hödjten. Wer einmal 


Kunftwart 


; einer guten Aufführung von „Durchs 


Ohr” ing inet 0 hat, mit Schaufpie= 
lern, die fpreden fonnten und Laune 
hatten, ber wird fi eingeftanden 
haben, daß ihm ein Kunftgenuß ganz 
eigener Art bereitet worden, mie ihn 
die deutiche Literatur faum zum zwei— 
ten Male ermöglidt. Er wird, wenn 
er ein literarifch gebilbeter Zuſchauer 
war, begriffen haben, was bie alten 
griehifhen Dramatiker fo redefrob 
machte, und mie bie Spanier ihr 
Publitum in der Diantel- und Degen= 
komödie hinzureißen vermodten, unb 


- Mi — 


weshalb Shafefpere Benedikt und Bea= 
trice in „Viel Lärm um nidhts* und 
noch mande andere Geſtalten ſchuf, 
bie mit der Dialeltik umzugehen wiſſen. 
Ja, ſprachliche Meiſterſchaft, die Freude, 
das Inſtrument der Sprache vollſtän— 
dig zu beherrſchen, die Fähigkeit, typiſche 
Charaltere dialeltiſch zu entwickeln, den 
Ktnoten theatraliſchen Situationsreiges 
leicht zu ſchürzen und leicht aufzulöſen, 
einen Vorgang des Lebens nicht durch 
gewichtigen Ernſt oder ſorgfältig und 
breit behandeltes Milieu, ſondern durch 
Laune und poetiſche Grundſtimmung 
u heben, ja, das alles ſind äußerſt 
ann 2 Dinge Und Wilhelm 
Jordan hat fie jo deutſch gemacht, wie 
es nur irgend möglich war. Alle, die 
es nad) ihm verfudjten, wie etwa Lud— 
wig Fulda, jind weit hinter ihm zurück— 
geblieben. Die große deutſche Charafter= 
fomddie, die wir erfehnen, hat Wilhelm 
Jordan zwar nit gejchaffen, aber er 
ift der vorzüglidhite Vertreter des 
deutfhen romantischen Zuftfpiels, und 
die Leute, die jet den Franzoſen 
Roftand auf den Schild erheben, follten 
fih entfinnen, daß Jordan lange vor 
ihm ähnliches geleijtet hat. 

Uber als Jordans Hauptwerk wird 
in der Regel feine „Nibelunge“ hin— 
geftellt. Ich leugne die nationale Be- 
deutung dieſer Bearbeitung unferer 
mädtigften Sagenmwelt nidjt, aber ich 
finde in ihr ſchon die Schwächen des 
fpäteren archäologiſchen Romans der 
Dahn und Genojjen, und daneben ein 
Vorwalten der Reflerion oder dod) der 
Reflerionsftimmung über das Anſchau— 
lihe. Das tritt noch mehr in andern 
Werfen Jordans hervor, in feinem 
„Demiurgos* und in feinen beiden 
Romanen „Die Sebalds“ und „Zwei 
Wegen’, — bier jedoch ift e8 mehr 
am Plage. Man verurteilt ja in der 
Regel die Reflexionspoeſie unbefehen, 
aber fie hat ihr Recht, wenn fie wirk— 
li eine volle Berfönlichkeit offenbart, 
und das thut die Wilhelm Jordans. 
Sie zu genießen, ijt natürlich nicht 
jedermanns Sade, Iehnt man in dem 
—— des ſo ſtark reflektierenden 

ymbolismus Wilhelm Jordan wegen 
feiner Reflerionspoefie ab, jo erlauben 
wir uns aber, das nicht fehr ernst zu 
nehmen. Jordan hat fich allerdings durch 
allerlei geharnijchte Angriffe auf die 
Yüngiten diefen nicht gerade angenehm 
gemadt. Wir freuen uns aber, daß 
der alte Herr noch da iſt, und haben 
die fejte Ueberzeugung, dab es jehr, 
fehr vielen unjerer jüngeren Berühmt— 


- 37 


heiten ſchwer fallen wird, einen foldhen 
Charakterkopf“ zu entwideln, wie er 
ihn ungmeifelhaft zwiſchen den Schul= 
tern trägt. Adolf Bartels. 

"Wie beridtigt wird, 

Herr ©. Hölfcher fendet uns eine 
„Berichtigung“ in Sachen unſres Rund- 
Ichaubeitrags im fiebenten Hefte: „Gottes 
fried Seller, der ſchriftſtellernde Dilet- 
tant.“ 

„\. Es iſt unwahr, daß ich be— 
hauptet hätte, Blumenthal, Suber« 
mann, Fulda, Jul. Wolff, Ambrofius, 
Ebers und Editein feien als Schrift- 
fteller bedeutender als Hebbel, Hola, 
Schlaf, Martin Greif, Klaus Groth, 
Sottfr. Heller und Wtöride. Aus dem 
Wortlaut (nad) dem übrigens Blumen= 
thal ausgeſchloſſen war) geht vielmehr 
für jeden, der richtig lefen will, 
unzweifelhaft hervor, daß id Ihre 
Beilpiele von »wertlofer Literature 
für verfehlt halte.“ 

Wir wollen Herrn Hölfcher auf das 
meitelt mögliche entgegentommen, in— 
dem wir den ganzen Paſſus aus feiner 
Urbeit abdruden: 

„Rad; Avenarius wird ein Genie 
heute nur anerfannt, wenn es feinen 
70. Geburtstag feiern fann, oder wenn 
e8 »durch vorfidhtige Eltern und 
Battinnenmwahl oder durch menſchliche 
Ellbogentraft frühzeitig mit zu der 
Krippe gelangt, in die das Urheber— 
recht aus feinem Füllhorn den Blumen— 
thalen vorjchüttet.«e Dann werden 
Sudermann ımd Fulda mit Hola und 
Sclafverglidhen; die einen »verdienen«, 
die anderen »hungern« ; Onfel Julius 
Wolff und Tante Ambrofius jcheren 
ihre Schäfchen, Martin Greif und Klaus 
Groth Haben auf Menfhen gerechnet 
und alfo nichts zu fcheren, Eber$ und 
Editein »gehen« gut, Gottfried Keller 
und Mörile »gingen« ſchlecht. Wenn 
Avenarius, wie es ſcheint, 
durch feine Gegenüberſtellungen 
ſagen will, daß die wertloſe 
Literatur gekauft wird, wäh— 
rend das, was er für Gold an— 
ſieht, unberückſichtigt bleibe, 
ſo wird jeder Vorurteilsfreie 
dieſe Beiſpiele für durchaus 
verfehlt halten.“ 

Daraus haben wir Schlüſſe ge— 
zogen. Ob ſie falſch waren, kann man 
nachprüfen. 

„2. Es iſt unwahr, daß id 
Gottfr. Keller einen »ſchriftſtellernden 
Dilettanten« genannt habe. Mit aus— 
drüdlihem Ausſchluß feiner übrigen 
Werte habe ich nur gejagt, daß id) 


2. febrnarheft 1899 


einen Roman »Martin Salander« für 
ilettantenhaft halte.“ . 

Die Worte „mit ausbrüdlihem 
Ausſchluß“ wird man würdigen, wenn 
man: den Grund bes „ausdrüdlichen 
Ausſchluſſes“ kennt. Herr Hölfcher hat 
nämlih moörtlih geichrieben: „Ich 
babe von Heller nur Martin Salander 
gelefen und muß geitehen, daß 
mir etwaß Dilettantenhafteres 
nicht oft begegnet ijt. Mit dem 
einen Werfe Hatte ih gerade 

enug von biefem Schriftiteller, der 
o plötzlich al8 Genie entdedt worden 
it.” Trotzdem hält alfo Herr Hölfcher 
Gottfried Steller nicht etwa für einen 
ſchriftſtellernden Dilettanten. „Bes 
hauptet“ hatten wir zwar nicht, daß er's 
thäte, aber allerdings angenommen, da 
man aud) dem Gegner bis zum Bemeife 
bes Gegenteils einige Logik zutrauen 
fol. Jetzt müffen wir Hölfcher wohl 
fo verftehn: „Gottfried Keller, der früher 
ein Poet geweſen, fing auf feine alten 
Tage das BDilettieren in Boefie an.” 
Das war dann nit Shön von Steller, 
da aber Höliher die Sache durch— 
fchaute und Kellern troß feines di— 
lettantifden „Salanber“ für feinen 
Dilettanten hielt, jo veritehen mir 


nit ganz, warum er „mit dem 
einen Werke gerade genug“ von ihm 
hatte. Und mir veritehen’s jegt 


wirklich erjt recht nicht, jet, wo mir 
durch Die „Berichtigung“ willen, daß 
Hölſcher die andern Werke (die er doch 
nicht fennt und nit kennen lernen 
mag) ausdrücklich von feinem ges 
firengen Urteil über den „Salanber“ 
ausſchließt. 

So alſo wird „berichtigt“. 

Herr Hölſcher glaube uns: will 
man öffentlich über Literatur ſchreiben, 
ſo iſt's immerhin gut, wenn man ſich 
mit den Dingen, über die man ſchrei— 
ben will, vorher beſchäftigt. Wer von 
dem Bon nachgoethiſchen Profaifer 
fein einziges Hauptwerk und wer den 
größten nadgoethijhen Lyriker fo 
wenig fennt, daß er nicht einmal weiß, 
mie ſich Mörike fchreibt, dem darf fein 
billig Denfender zürnen, wenn er feine 
Sraft dem undankbaren Umte des 
öffentlichen Belehrens über Literarifche 
Dinge entzieht. 

Unfere Leſer aber bitten wir, zu 
entichuldigen, daß wir fie mit dieſen 
KHleinlichkeiten beläftigen. Selbſtver— 
ftändlich ginge den Kunſtwart Hölfcher- 
{che Literaturkritif nicht das mindeite 
an, wäre nicht die feitzunagelnde Thate 
ſache die: mit folder Sadfenntnis, 


Kunftwart 





mit ſolchem Beritändnis und auf ſolche 
MWeife darf bei uns zu dem geſchäft— 
lihen Vermittler zwiſchen deutſchem 
Schrifttum und deutfhem Volke über 
einen Meifter unfrer Boefie geſprochen 
werben, auf ſolche Weife zum deutfchen 
Buchhandel über einen Gottfried Heller. 


Theater. 


*Von den Berliner Bühnen. 

E8 gibt wohl wenige Fritifer, bie 
den Dichter Mar reger fo hoch 
Ihägen, wie ber Schreiber dieſer Zeilen. 
In feinen Romanen lebt für mid) der 
Zug ins Große, ben wir in den Tagen 
der artiftifchen Feinheit und Kleinheit 
fo ſchmerzlich vermifien, wie man etwa 
den Wald und das falzige Meer ver— 
miffen mag, wenn man fid) lange mit 
Ballblumen und ſchwüler Zanzluft 
begnügen mußte. In fein neues Schau— 
fpiel aber hat Kretzer weder Wald und 
unendlihes Weer, noch Größe und 
Tiefe binübergerettet. Es ift trivial 
geworden, einem Romandichter bei 
einem Drama feine Romankunſt vor= 
aumerjen, e8 fann aber troßdem mits 
unter richtig fein, und in unferm be= 
fondern Fall ift es richtig. Der „Sohn 
ber Frau“ ift fein Schauspiel, ift über» 
haupt fein Drama, fondern eine Ro— 
manhandlung, die in geihidte und 
mitunter jogar in poetiſche Szenen 
gebradt iſt. E8 handelt ih um eine 
Frau, bie vor ihrer Ehe mit einem 
wohlhabenden Witwer einen Fehltritt 
begangen bat. Den Fehltritt hat fie 
ihrem Gatten geitanden, nicht aber, 
bab der Fehltritt einem Sohne das 
Beben gegeben hat. Diejen Sohn nun 
läßt fie heimlich erziehen, und als er 
zu einem tugendhaften Jüngling etwas 
veralteten Stils herangereift ift, bringt 
fie ihn ungelannt in das Haus ihres 
Mannes, wo er bald eine Stüße des 
Geichäfts wird. Die beiden lüderlichen 
Söhne aus erjter Ehe befehden den 
moralifchen Eindringling, aber fchließ- 
lich fiegt die Tugend (und was für 
eine Tugend!) des Sohnes; die Mutter 
geiteht, die Verföhnung erfolgt und 
die lüderlihen Söhne werden in eine 
andere Firma abgeſchoben, allwo jie 
ſich in doppelter Buchführung und in 
Tugend ſchnöde üben müffen. Das ijt 
— mit Verlaub Kretzers oder meinet= 
wegen auch ohne Verlaub — feine 
Handlung für ein Drama. Man könnte 
das Scidjal der geheimnisbedrüdten 
frau oder dasjenige des verleugneten 
Sohnes oder endlid) dasjenige des 


hintergangenen Gatten in den Dtittel- 
puntt rüden und hätte dann alles aus 
dem Charakter des Helden (man ver— 
zeihe das altmodifche Wort, das äſthe— 
tiih die Sache trifft) glaubhaft zu 
maden. Bei Streger aber ftehen alle 
Berfonen gleich jehr im Vordergrund, 
und was allein aus den aufgeitellten 
Menfhen eine Kompofition maden 
tönnte, der breite, madıtvoll gemalte 
Hintergrund des Romans nämlid — 
das eben fehlt und muß auf ber 
Bühne fehlen. Was im grellen Licht 
der Lampen übrig bleibt, ijt eine Kom— 
bination, feine dramatiſche Handlung; 
eine Kombination, die vielleiht im 
Beben eintrifft, vielleiht aud nicht, 
die aber in beiden Fällen den Zuſchauer 
gleich) falt läßt. Wenn wir nod) hinzu= 
fügen, daß „Der Sohn der Frau* im 
„Keuen Theater“ gut gegeben wurde, 
glauben wir unfrer kritifhen Pflicht 
genügt zu haben. 

Menden wir uns zu Fulda und 
Dreyer. Mit ihnen dürfen wir fürs 
zer umgehen. Beide haben mit zu— 
fammen vier Ginattern einen bunt= 
Ihedigen Abend im „Leifingtheater“ 
bejtritten. Dreyer fcheint ſich in den 
Regionen, in denen ſeine Großmama“ 
fpielt, Teider wohl zu fühlen. Wenig: 
ftens hat er jie mit feinen neuejten 
Einaftern nicht verlaffen, jo daß Fulda 
ihm mit der einleitenden Sleinigfeit 
„Die Zeche“ den Rang ablaufen konnte. 
Fulda zeigt fi) in diefem Alt viel 
beſſer als in feinem dürftig gufammen« 
geleimten „Heroitrat*. Ein alter Lebe— 
mann trifft mit feiner fchnöde verlafjes 
nen AJutgendgeliebten zufammen und 
möchte fie heiraten, um der falten Ein= 
famtkeit zu entgehen. Sie mill aber 
nicht, und er zahlt mit einem freud- 
Iofen Dafein „die Zeche”. Fulda ift 
in foldhen Stleinigfeiten mitunter (nur 
mitunter) tüdhtig, was jehr gut zu 
dem Umſtande jtimmt, daß er bei 
großen Stoffen traurigen Schiffbrud) 
au leiden pflegt. Den Inhalt der 
übrigen Einafter erzählen wir nicht; 
er würde nit einmal für ein gutes 
Epigramm der Jugend ausreichen und 
müßte fih mithin in unferer armen 
Proſa volllommen ins Wefenlofe vers 
flühtigen. Am ſchlimmſten ift Die 
Situation für das „Rejjingtheater*. 
Es fommt aus der Jagd nad) neuen 
Stüden nicht heraus, und das iſt — 
um der guten fünjtlerifchen Mittel 
willen — zu bedauern. 

Erich Sclaifjer. 

Ernjt von Wildenbrud hat 





fein neues Stüd zurüdgezogen, um e8 
umzuarbeiten — unter ſolchen Um— 
ftänden halten wir uns nicht für be= 
rechtigt, e8 jetzt ſchon zu beſprechen. 


Muſik. 


*Vom ‚Bärenhäuter“. 

Iſt das ein Ktrawall in der ſoge— 
nannten Mufilwelt, weil Siegfried 
Wagners erjter dramatifcher Ver— 
fuh in Münden vor einer größten= 
teils „gutgefinnten“, in Leipzig vor 
einer „unpartetifchen* Hörerfchaft einen 
unbejtreitbaren Erfolg errungen Hat! 
Unter normalen Berhältniffen müßten 
wir uns damit begnügen, über dieſe Erſt— 
ling8oper mit ein paar Zeilen au be— 
rihten. Nun will man aber in dem 
inzwijchen heftig entbrannten Streite 
um den „Bärenhäuter* ein beftimmtes, 
objeftives Urteil von uns, und wenn 
die Wahrheit in ſolchen Fällen gewöhn— 
lich in der Mitte Liegt, darf man doch 
nit einfad) das geometriſche Mittel 
zwiſchen den vorhandenen Extremen 
ziehen. Die „Extreme“ find diesmal 
fehr „ertrem*. Es ijt nicht ſachlich 
und nicht geredjt, ein Erſtlingswerk 
zu behandeln, als gäbe es fchon, was 
es vielleicht verheißt, aber es ijt 
auch nicht ſachlich und gerecht, in all 
feine Falten hinein nad) „neuen Bah— 
nen“, „Ziefen der Gmpfindung“, 
„Ihöpferiichem Zdeenreichtum* u. f. w. 
zu leuchten, und ſich adhfelzudend ab— 
aumenden, wenn man bdieje fchönen 
Dinge nit findet. Willen wir bod) 
aus der Muſikgeſchichte, daß die Ans 
fangsmwerte felbft der größten Genies 
davon nur ganz ausnahmsweiſe etwas 
zeigen. Bon Siegfried Wagner ver- 
langte man 3. B. einen neuen einheit- 
lichen Stil für die Volksoper, obgleid) 
ihre größten Meiiter bekanntlich feinen 
gefunden haben. 

Man kann aud als Objeltiver cin 
neues Werk ſehr verfchieden beurteilen, 
je nachdem man's an den je erreichten 
höchſten Werten der Gatiung 
oder an den Wrbeiten der zeitge: 
nöffifhen Produktion mißt. 
Rüdt man ben „Bärenhäuter” neben 
die Monumentalmwerfe Wagners des 
Großen, fo ericheint er al8ein Schatten 
unter den Opern der Gegenwart iit 
er eine immerhin recht beträdtlid)e 
Leiſtung. Zunächſt ſei feitgeftellt, daß 
das Textbuch unbeſchadet mancher 
flüchtigen Motivierung und mancher 
anfechtbarer Verſe zu dem Beſten zählt, 
was auf dieſem Gebiete ſeit Jahr— 


2. Februarheft 1899 


zehnten gefchrieben if. Mit welcher 
Sicherheit des Bühnenblids fann dieſer 
junge Wagner, der erjt feit wenigen 
Jahren die redenden Künſte betreibt, 
einen Stoff einfah und überſichtlich 
— Die erfahrenen Librettiſten 
er gepriefenften neueren Tondramen 
haben das wirklich kaum fo zuftande 
gebradt. Man vergleihe, melden 
dramatiſchen Wechjelbalg ein fogufagen 
„gelernter Dichter“, H. Wette, auß dem— 
felben Stoffe gemadyt hat. Siegfried 
Magner it ber geborene Szeniter, 
nit nur mwegen der äußerlich wirk— 
famen Bilder, die fein Märchenfpiel 
entrollt, fondern vor allem infolge 
der innerlich bewegenden, plaſtiſch— 
ausdrudsvollen Situationen und Vor— 
gänge, die er in feinen Stoff hinein— 
ober aus ihm herausgejehen hat. Wie 
er eine Szene vorbereitet, anlegt, ex— 
poniert, jteigert, wie er fie im einzelnen 
belebt und in Fluß erhält, das ift für 
ein ErftlingSwerf einfach bewunderns- 
würdig. Darüber käme man mit einer 
beiläufigen Unerfennung des jjenifchen 
„Beihids* nicht Hinweg, da dieſes 
„Geſchick“ als angebornes Talent in 
Deutjchland zu den größten Selten= 
"heiten gehört. Und für die Bebensfähig- 
feit eines Bühnenmerfes gibt es den 
Ausſchlag. Ich befenne, daß ich nad) einer 
raſchen Durchſicht des Klavierauszugs 
mit ziemlich geringen Erwartungen 
nach München gefahren bin und von 
dem Eindruck der lebendigen Auffüh— 
rung auf's höchſte überraſcht ward. 
Grenzt das dramatiſche Vermögen 
Siegfried Wagners bereits an Meiſter⸗ 
ſchaft, ſo liegt das muſikaliſche 
noch im Keimen. Allerdings, wo die 
Muſik nichts anderes will, als die 
Szene unterſtützen, eine Pointe heraus— 
heben, eine Geberde rhythmiſieren, 
da löſt ſie zunächſt ihre Aufgabe. Der 
Komponiſt hat ſich aus dem dritten 
Teil des Nibelungenſtils für den 
Dialog einen realiſtiſch-dramatiſchen 
Dellamationsitil abgezogen und er 
verzichtet auf die üÜberreiche Polyphonie 
der Begleitung. Das trefflich in— 
ftrumentierte Orcheſter ſchmiegt ich, 
ohne die Singftimmen zu deden, dem 
ſzeniſchen Verlauf auf das feinfühligite 
an. Dort aber, mo der abjolute Muſiker 
das Wort ergreifen foll, vermag er 
den Gefühlsgehalt der Situation in 
der Erfindung oft nicht zu erfchöpfen, er= 
freut aud) ſelbſt, wo die melodijche Straft 
nicht ausreicht, der dramatifche Inſtinkt, 
die Richtigkeit der Antentionen. 
Die Szene wächſt auf, wie eine wohl— 


Kunitwart 





gebildete Pflanze; Stengel und Blätter 
ihießen hervor, und man meint, jegt 
müfle — wie beim Bater — Die rege 
fünjtlerifche Triebkraft in eine farben= 
rächtige, beraufhende Melodienblüte 
ch ergießen. Statt deſſen bricht oft 
nur ein zarter, blaffer, ſchmächtiger 
Blumenjtern auf. Unbildlich gefprochen: 
den Motiven fehlt oft die fchlagende 
Prägnanz im höchſten Sinn, oder mo 
die melodifche Linie charakteriſtiſch ift, 
wünſchte man eine tiefere harmoniſche 
Beripeftive. „Jmpotenz!*, rufen ſchnell⸗ 
fertig die Gegner, die Freunde dürften 
entgegnen können, daß Siegfried eben 
das Gemwühl innerer Stämpfe nod 
fremd geblieben iſt, die den Vater zum 
ehernen Mann geichmiedet und ihm 
die ergreifenditen Seelenlaute erpreßt 
haben, daß er die größere Welt der 
Empfindungen nur erjt auß der Phan— 
tafie, nicht aus eigenem erfhütternden 
Erlebnis kennt. Wollte man die Ent 
mwidelung des Vaters als Analogon 
heranziehen, ſo ſpräche ſie dafür, daß 
Siegfried als Melodiker wachſen 
wird, denn auch beim Vater war das 
dramatiſche Genie das primäre, am 
di fertige, wogegen das muſikali— 
che einen langen Werdegang in mächti— 
ger Steigerung erfuhr. Dürfen wir 
ruhig jagen: mit den „Feen“ kann's 
der „Bärenhäuter* ſchon aufnehmen, 
fothun wir’s freilich nur, um zu zeigen, 
dab Vergleiche zwischen Vater und Sohn 
fogar zu Gunjten des Sohnes gemadt 
werden fünnten — es wäre lächerlich, 
daraus den Schluß zu ziehen, Siegfried 
wäre ein zweiter Richard oder wo— 
möglich mehr, e8 ift aber auch falſch, 
aus anderen Bergleidhen zu folgern, 
mweil er fleiner als der Große ift, fei 
er nun gar nichts. An Trivialitäten 
fehlt e8 im „Bärenhäuter“ nicht. Sie 
find nicht angenehm, aber fie find bei 
einem jungen Mufiter natürlicher, 
als bombaitifches Großthun und 
Affeltation von Tieffinn. Das ift 
überhaupt das Erfreuliche, Gefunde, 
zu weiterem Hoffen Berehtigende, daß 
Siegfried Mufil das Abbild, ber 
„Ausdrud* feiner Berfünlichkeit tft, ein 
noch gährendes Gemiſch heterogener 
Eigenſchaften, das ihn vorläufig noch 
nicht befägigt, einheitlich zu „Itilifieren“. 
In der „Boltsoper“, die er für ſich 
rellamiert, braucht es deifen ja zum 
Glück auch nit. Für die Aufführungen 
thäte eine recht fräftige Kürzung gut 
— es ijt grundfalſch, wenn man fi 
da dem Sohn Richards gegenüber vor 
energifhen Ratſchlägen jcheut. 


— 350 — 


Das Bruchſtück, das mir unfern 
Refern in der Beilage mitteilen, dürfte 
das eben Gefagte beitätigen. Niemand 
wird behaupten, e8 ſei als abfolute 
Mufit „überwältigend* im Ausdruck, 
aber jeder, der e8 von ber Szene her 
fennt oder ſoviel Phantafie Hat, um 
fih die Szene lebendig vorzuftellen, 
wird zugeben, daß e8 eine une 
gemöhnlihe Wirkung erreiht. Es 
ift ſozuſagen „geihaute* Muſik, alfo 
berfelben Art, mie jene Richard 
Wagners und aller echten Tondramas 
titer, derjelben Art, für die felbft den 
bebeutenditen Iebenden Stomponiften 
der Sinn fo nänzlidy zu fehlen ſcheint. 
Mein Urteil geht alfo dahin, daß der 
„Bärenhäuter* zwar durdaus fein 
abjolutes Meiſterwerk ijt, aber eine 
der beften und mirffamften fpezifiich 
mufitdramatifhen Erſcheinungen 
nch Wagner dem Ulten. Und wenn 
uns Siegfried fünftig auch nicht8 andres 
ſchafft, als eine Reihe wirklich aufs 
führbarer Vollsopern, jo find wir's 
gern zufrieden, denn die thun Not ges 
trade in unferer Zeit. 

Einftmweilen geht das Werk mit 
großem Beifall über alle Bühnen. Da 
fragt wohl felbft der Neidloſe beforgt, 
ob nidjt die bequeme Sicherheit des 
Erfolges auch die beitangelegte 
Natur ungünftig beeinfluffen, fie in 
ihrem Streben, in ihrer geiftigen 
Spannkraft erihlaffen machen muß. 
Fügt es ein guter Genius, daß der 
Glanz, der den Sohn feines Vaters 
umgibt, ihn erleuchtet und nicht ver= 
blendet, fo bedeutet dies das größte 
Meifteritüd des oft bewährten Glüdes 
von Wahnfried. 8.8, 

* Berliner Mufil. (Fortf.) 

Von den Quartett=Bereinigungen 
wäre wohl diefes Mal das Halir= 
Quartett befonders hervorzuheben, das 
in feinen fonntägliden Rammermuſik— 
Matineen die Werfe zmeier meltbe= 
rühmten Dirigenten, BWeingartners und 
Mottls, dem Bublilum vorführte. 
Weingartners Quartett ijt opus 24 
und geht aus D-moll, Wer dba vermutet 
hatte, etwas „Hochmodernes“, bigarrite 
Rhythmen, raffiniertefte Klangeffekte zu 
hören, der fonnte arg enttäufcht nad) 
Haufe gehen. Nichts von alledem war 
zu hören; Weingartner wandelt viel- 
mebr auf der ficheren Bahn Beethovens, 
er bat fidh den vornehmen Quartett= 
ftil, der allem „Modernen” durchaus 
feindlich tt, in hervorragender Weife 
zu eigen gemacht. Jedes Inftrument 
iſt genau nad) feiner Charakteriſtik be= 








351 


handelt, nirgends werden unnatürliche, 
„intereffante* Anforderungen geitellt, 
und fo bemegt fich alles in ruhigem 
Geleife fort. Die Themen find nicht 
geſucht, fondern natürlich und dabei tief 
empfunden, ihre Verarbeitung ift fehr 
Mar. Um beiten gefiel mir das Adagio 
mit feiner weit ausladenden, edlen 
Kantilene, die alöbald in einen äußerſt 
temperamentvollen Zwiſchenſatz über— 
geht; von ganz reizendem, pikantem 
Humor ift der dritte Sat, der gerabes 
zu herrlich geipielt murde; das Wert 
ſchließt mit einer ziemlich freien Fuge. 
In ſcharfem Gegenfate zu Weingartners 
Merk iteht das Fis-moll-Quartett des 
Karlsruher Dirigenten. Es entbehrt 
jener ruhigen Stlarheit, die dem Wein— 
gartnerfchen Werk fo gut anſteht, und iſt 
äußerit vermwidelt geſchrieben; Mottl 
möchte mit feinem leidenſchaftlichen Em- 
pfinden über die natürlichen Grenzen des 
Quartetts herausgeben; es finden fi) 
in feinem Werfe Stellen, die durchaus 
modern orchefterhaft empfunden find, 
Zonfolgen, wie fte bis jegt noch nicht 
im Kammermuſikſtil gehört wurden; 
nebenher trifft man dann auf Stellen, 
die geradezu unvornehm klingen. Ein 
rechtes Urteil über ein folch neuartiges, 
ſchwer verjtändliches Werk abzugeben, 
ift nicht leicht; wenn der Applaus 
maßgebend wäre, jo müßte e8 eine 
fehr dankbar zu begrühende Bereiches 
rung der Quartettliteratur fein. Nach 
dem hochmodernen Mottlihen Wert 
wirkte das altfränfifche E-dur-Quartett 
von Dittersdorf beinahe komiſch in 
feiner Einfalt und Beſcheidenheit. 
Herr Frig Steinbad hat aud in 
dieſem Jahre wieder einige Konzerte 
in der Philharmonie veranftaltet. Wir 
wollen ihm dankbar fein dafür, da 
er fo manches alte, gar nicht oder jels 
ten gehörte Werft uns vorführte; Die 
befannten Sachen braucht er aber doch 
wahrhaftig nicht in Berlin wiederzu— 
geben; welchen Zwed hat e8 3. 8., in 
einem ſolchen Konzert das Vorſpiel zu 
ben Mieilterfingern zu fpielen? Neben- 
bei war die Auffaſſung eine derartig 
freie, fprunghafte und geſuchte, daß 
der Beifall ſchwer zu verſtehen ift. 
Sehr intereffant war das Klarinetten— 
fonzert von Weber, in dem Mühlfeld 
feine unbeitrittene Meifterjchaft zeigen. 
fonnte. Das Bachſche D-moll-Konzert 
für zwei Violinen und Mozarts ons 
zert für Violine und Bratiche dürfte 
wohl jedem einen fehr großen Genuß 
bereitet haben, insbefondere da Joachim 
und Eldering bezw. Wirth es wundervoll 


2. februarheft 1899 


vortrugen. Ganz eigenartig nahm fi 
Bachs Gambenkonzert aus, ein Wert, 
das für 8 Gamben und 24 Bratſchen 
eichrieben ift; der lang iſt völlig 
fremb; „Ihön* kann man nicht gut 
agen; aber ſchon wegen feiner Selt— 
famfeit war das Stonzert wohl wert, 
«ınmal aufgeführt zu werden. Leider 
mußte das in Ausfiht genommene 
zweite Brandenburgifche Konzert von 
Bad) wegen Krankheit des erſten Trom— 
peter8 abgejegt merden. Mozarts 
„Kongertantes Quartett für Oboe, Horn, 
Fagott und Stlarinette* war mir aud 
neu. Wenn der rein fünftlerifche Ge— 
nuß bei diefen älteren Saden aud) 
nit gar fo groß ilt, jo Hört man der— 
artige Werke doch mit einem um fo 
größeren hiſtoriſchen Intereſſe an und 
freut ſich aufridhtig, ihre Bekanntſchaft 
zu maden. Solange Herr Steinbad) 
derartige „Neuheiten“ bringt, wird er 
immereingern gejehener Gaſt jein;dann 
haben feine Konzerte aud) für Berlin 
eine fünjtleriiche Berechtigung, indem 
fie ein Gebiet erjchließen, in das Die 
anderen Dirigenten unferer großen 
Konzerte nicht einzudringen pflegen. 
Herr Steinbad) follte lediglich die alte 
Mufil pflegen, die neuere aber unferen 
heimiſchen Dirigenten Strauß, Wein— 
gartner, Wud und Nikiſch überlajfen. 
Sein Orcheſter hat Steinbad) vorzüg- 
lich geihult. Ich habe felten fo rhyth— 
miſch ſcharf, fo „militäriih ſtramm“ 
ſpielen hören und ſehen, wie es die 
Meininger thun. Auf die allergenaueſte 
Beobachtung des Rhythmus legt der 
Dirigent den — das Knochen⸗ 
gerüſt des Kunſtwerkes iſt ihm die 
Hauptſache; der Satz feines großen 
Vorgängers Bülom „im Anfang war 
der Rhythmus“ ijt ihm der allererite 
Glaubensjag; daher gelingen ihm die 
älteren Werfe, bei denen e8 doch viel 
mehr auf genauen Rhythmus und 
flare Gliederung ankommt als mie 
auf Dynamit, Schattierung und indis 
viduelle Auffaſſung, weit bejler als bie 
in ihrer Idee, ihren Slangfarben und 
ihrer mehr ing Belieben geitellten Auf— 
fajjung ſchwierigen nad) = mozartfcdjeh 
Tonftüde. Nebenbei gefagt: Stein= 
bad) hat fo vortrefflihe Bläfer, daß 
wir ihm raten mödjten, einmal in ber 
Literatur für Blasinjtrumente herum 
auftöbern und dann nächſtes Jahr auch 
von diefem in Berlin vernadyläjfigten 
Kunſtzweig einige Blüten mitzubringen. 
Eine künſtleriſche Miffton kann Herr 
Steinbad in Berlin fehr gut erfüllen, 


ohne den anderen Dirigenten irgends ' 


Kunftwart 


| 
| 


in ihre Programme hereinzrgeraten. 

Weg, den er diefes Jahr mit Bad 

mw. beſchritten hat, ijt der ee 
(GFortſ. f. A. Biſchoff. 


Bildende Kunſt. 


wie 
Der 
u. |. 


* Zur Volkstrachten-Bewegung. 
Mehrfah haben wir im vorigen 
Jahre über Volkstrachten geichrieben, 
insbefondere die Beftrebungen zu deren 
Erhaltung und ihre Anſichten erörtert. 
Heute liegt uns ein Prachtwerk eriten 
Ranges aus dieſem Gebiete vor, das 
aus ber Schweiz hervorgegangen ijt. 
Am ı4. März 1896 veranitaltete eine 
Büricher literarifche Vereinigung, ber 
fogenannte „RefezirkelHottingen*, in ber 
Neuen Tonhalle dafelbit ein Trachten— 
feft, welches aufs prädtigite gelang. 
Sämtliche Teilnehmer waren bejtrebt, 
möglid in echten Kojtümen au er= 
fcheinen. Die beſte Gejellihaft war 
vertreten, nie vorher hat Zürich eine 
ſolche Fülle von echten Trachten vereint 
gejehen. Alles, was die alten Familien 
an ſolchen Schägen befaßen, war be= 
reitwillig zur Verfügung gejtellt wor— 


en. 

Im Anſchluß an dieſes Tradten- 
feit, dem im Juni 1898 zur Eröffnung 
des Schweizerifhen Landesmuſeums 
ein Trachtenfeftzug folgte, iſt das Wert * 
entitanden, das uns jeßt vollendet vor» 
liegt. E83 enthält 36 große farbige 
Blätter, die nad) Photographieen her— 
geftellt und auf photomechaniſchem 
Wege in Farben ausgeführt wurden. 
Das Wert Hat — wie 
nad) der Seite der künſtleriſchen Wieder— 
gabe einen gleih Hohen Wert. E83 
haben nur ſolche Tradten als Vor— 
bilder gedient, die wirklich getragen 
morden find oder nod) geiragen wer— 
den. Die Bilder find unter Wahrung 
bes harmonifchen Gefamteindruds bis 
in die fleinjten Einzelheiten mit einer 
Schärfe und Klarheit ausgeführt, daß 
man darnad) fofort die gefamte Tracht 
ausführen Iafjen könnte: wir haben 
auf diefem ®ebiete noch nichts fo Voll» 
endetes gefehen. Die Herausgeberin 
Frau Julie Heierli gilt übrigens als 
die gründlichſte wenn nidht bie einzige 
Kennerin des ſchweizeriſchen Trachten 





* Die Schweizer Traditen vom ı7. ” 
bis ı9. Jahrhundert, nad) Originalen 
bergejtellt unter Leitung von Frau 
Julie Heierli. Verlag des Bolygraphi=- 
ſchen Instituts (W.-G.) Zürich. 36 Tas 
feln 42:55 cm, Preis yo Franfen. 


weſens. Und fie hat es fich nicht ver— 
drießen lafjen, felbit auf die Wanbe- 
rung zu gehen und auch auß den ent— 
Iegenften Thälern der Schmeiz bie not» 
mwenbigen Trachten zu beſchaffen. 

Mit lebhaftem Bedauern lieſt man 
im Texte, ber jedes ber 36 Blätter be— 
gleitet, daß die meijten diefer Trachten 
entweder ſchon ausgeitorben oder doch 
dem Untergange gemidbmet find. Ueber 
biefen Borgang hören mir manches 
Rehrreiche, wenn aud) nicht gerade viel 
Tröftliches. Bon planmäßigen und 
erfolgreihen Beitrebungen zur Erhal— 
tung ber Tradten, mie in Freiburg 
4. Br., iſt leider nicht die Rede, obwohl 
e8 in der Schweiz gewiß manden 
„wurmt“, Zeuge fein zu müfjen, mie 
die alten guten Gewohnheiten dahin— 
ſchwinden. Intereſſant find vielleicht 
folgende Beobadjtungen, die wir aus 
dem Texte aufammentragen. Nirgends 
in der Schweiz gibt e8 eine fantonale 
Tracht; fait immer find e8 die Thal— 
ſchaften, die ihre fpezifiihen Tradten 
aufmeifen. So Hat e8 im Stanton 
Yarau vier verfhiedene Trachten ges 
geben: oberer Aargau, Freiamt, ehem. 
Grafſchaft Baden und ehem. öſterreichi— 
fhen Fridthal. Die Patriziertrachten 
find zuerſt verfhmwunden; was nod) 
ganz oder wenigitens teilmeife erhalten 
iſt, nd nur Volkstrachten im engeren 
Sinne Die Männer legen die Tradt 
zuerſt ab, die Frauen halten viel länger 
und viel gäher daran feft. Die prote= 
ftantifchen Stantone laſſen die Tracht 
eher fallen als die fatholifhen. In 
dem fatholifchen Appenzell-Inner-Rho= 
den lebt noch ein Völflein, das ſich 
den alten Stolz auf feine Tradten 
erhalten bat. In Deutſch-Freiburg 
hat ſich die Tradt feit einem Jahr 

undert fait nicht verändert, bei den 
älſch-Freiburgern hat fi über— 
haupt feine Tracht entwidelt. 

Die Tradıt hängt mit dem Haus« 
fleiß zufammen. Die Träger ftellten 
fie aus ſelbſt erzeugten Stoffen her. 
Je weiter die Fabrifation und der 
Verkehr vordringt, umfomehr ver 
ihmindet die Tradt. In meltfernen 
Thälern ijt die Vollstracdht noch heute 
an der Tagesordnung, fobald die Eifen= 
bahnen fich dahin eritreden, kommt fie 
auf den NWusjterbeetat. Neben dem 
Kulturfortfchritt Hat auch der unver— 
ftändige Spott der Städter dazu beis 
getragen, jo in Bern gegenüber ber 
überaus originellen Guggisberger 
Tracht. 

Hottenroths Beobachtung, daß die 


Vollkstrachten ſtehen gebliebene Trach— 
ten der Vorzeit ſeien, bewahrheitet ſich 
z. B. im Lötſchenthal im Wallis, einem 
Thal, wohin weder Fahritrafe noch 
Zelegraph führt. Die Hochzeitstradht 
mit dem geftidten Frad und den wei— 
Ben Rnieftrümpfen entſpricht durchaus 
ber frangöfifhen Zopfzeit und würde 
einem vornehmen Städter um 1780 
alle Ehre gemacht haben. Die bir 
trägt einen unfinnig gefhnürten Ban= 
zer, die Taille ift volljtändig mit Fiſch⸗ 
bein gefüttert, das geſamte Kleid iſt 
aber im eigenen Lande gefertigt. Der 
ſteife gefältete Radkragen, den wir von 
den Bildniſſen des 17. Jahrhunderts 
fennen, bat fih noch in der Frauen— 
tradit im Stanton Deutjch- Freiburg 
erhalten. Im Gegenfag zu Hotten= 
roths zu allgemeiner Behauptung be= 
mweifen aber manche andere Tradten, 
daß fie in der Vollsart und in ber 
Natur des Landes mwurzeln. 

Eine anfpredyende Bemerkung madt 
Frau Heierli bei der Beſprechung ber 
Tracht des Berzascas im Kanton Teſſin. 
Die Mädchen tragen dort Männerhüte, 
vermutlich, weil fie Männerarbeit ver— 
richten. Das Gegenteil findet fid) näm= 
ih im Lötfchenthal. Jin Sommer ift 
dort das Vieh den Frauen überlajjen. 
Im Winter aber werden die Tiere in 
Ställen untergebradt, die weitab von 
den Rohnhäufern liegen. Da der Weg 
dahin mühſam durch Schneemaſſen 
gebahnt werden muß, verſorgen die 
Männer in dieſer Zeit das Vieh. Da— 
bei tragen ſie das Hirtenhemd und den 
Frauenhut. Offenbar thun ſie dies 
in dem Gedanken, daß ſie eigentlich 
Frauenarbeit verrichten, daß fie dieſe 
nur ihren Frauen zuliebe wegen der 
rauhen Witterung und des beſchwer— 
lichen Weges übernehmen. Im Thal 
von Illiez, das von Montreur nad 
der Dent du midi führt, tragen übri— 
er Frauen und Mädchen, melde die 

efchmwerliche Alpenmwirtichaft beforgen, 
zum Zeil (ebenfo mie die Wildheue- 
rinnen im Santon Schwyz) Männer— 
feidung bis auf das rote Kopftud, 
das ganz maleriſch und graziös mit 
einer einzigen Nadel fo befeitigt wird, 
daß der eine Zipfel über den Rüden, 
der andere über die redhte Schulter 
fallen muß. 

Was fchlieklih die Erhaltung der 
Tracht anbetrifft, fo iſt nah Frau 
Heierli bei der fehr Heidfamen Tracht 
der Bernerinnen am eheiten die Hoff- 
nung beredtigt, daß fie noch geraume 
Zeit bejtehen werde. Hoffentlid erhält 


2. februarheft 1899 


fih aud die Sitte noch recht Lange, 
daß bei den Familienfeiten der Mod. 
babenden alle Teilnehmer in Tracht 
erjcheinen. Daneben drängt fich Die 
Beobachtung auf, dak audy die Trach— 
ten fi wohl am leichteſten erhalten 
lafien, die mit bem Stande bes Trä- 
gers im ni gg ftehen — 
3. B. bei den Sennen. Soldye Standes- 
trachten zu fördern, dürfte am eheiten 
ausjichtsreich, Daher von den Freunden 
der Volkstracht beionders ins Auge 
zu faffen fein. Jedenfalls ift dieſen 
aber das prädtige Schweizer Werk, 
das wir hier beſprochen haben, beſtens 
au empfehlen; fie werden reihen Genuß 
davon haben. 

Gleichzeitig fönnen wir darauf hin— 
mweifen, dab das Werl „Deutide 
Boltstradten* von Albert 
Kretihmar in zmeiter mwohlfeiler 
Ausgabe in Lieferungen (30 u. 75 Pig.) 
zu ericheinen beginnt. Diefes befannte 
empfehlenswerte Hauptwerk auf dem 
einſchlägigen Gebiete enthält 91 treff= 
lich ausgeführte Karbendrudtafeln mit 
vielen hundert Volkstypen aus allen 
Gegenden Deutichlands nebit einem 
ausführliden erläuternden Zerte. 

Paul Shumann. 


Dermifchtes. 


*Wie's gemacht wird. 

Das Anbiedern u Ge— 
ſchäftszwecken, eine dir unſere 
Zeit ſehr bezeichnende Erſcheinung, ge= 
deiht ungewöhnlich ſchön bei „Arnold 
Müllers Jugendzeitung“, die ſich be— 
ſcheiden „Zentralblatt für die 
Jugend“ nennt. Hören wir, mie 
fie fpridt. Zu den „geehrten 
Eltern“, „denen der finder Wohl 
und Mehe am Herzen lieat“, ſpricht 
fie fo: „Wir mödten durch Bild und 
Mort veredelnd und geiftig 
fördernd mirfen. Unſer Grund— 
faß, der lejelujtigen Jugend nur das 


Beſte vom Beiten in einer an— 


tegenden, Geilt und Gemüt bildenden 
Reltüre zu bieten, wird treu einges 
halten werden, und mir bitten alle 
Diejenigen, die fi) geiſtesverwandt 
mit ung fühlen in der Liebe zu den 
Kleinen, in der unermübliden 
Sürforge nidt nur für das leib- 
liche, fondern auch für das geiftige 
Wachſen und Gedeihen unferer jugend- 
lihden Schüßlinge u. ſ. w.“ Den „lieben 
Nihten und Neffen” fagt fie Das: 
„Seht nur, feht, wie lieb und ſreund— 
lich diesmal Eure Zeitung ausfhaut, 
und froh überrafht werdet Ihr ge— 
mwiß fein, wenn Ihr al’ die ſchönen 
Gaben näher betradtet, die Euch der 
Ontel bier bietet. Da er Eud alle, 
Ihr lieben Leinen Leute, fo jehr gern 
bat, jo ſoll aud) jedes von Euch etwas 
bejonberes Schönes haben u. f. mw.” 
Unterzeichnet: Onkel Paul.” Wer ilt 
nun dieſe Seele von einem Ontel? 
Sie ift die Firma Arnold Müller, 
Warenhaus für Stindergarderobe in 
Berlin, und das ganze buch Bild 
und Mort veredelnde und geiftig för— 
bernde Zentralblatt für die Jugend 
hat mweiter gar feinen Zwed, als: zu 
Kindergarderobe-Einkäufen bei dieſer 
Firma Kunden zu fiſchen, von der es, 
da noch kein Fiſch ſeinen Köder be— 
zahlt hat, gratis verſchickt wird. Die 
ws. größten von den im ganzen 
reizehn Bildern der uns vortra— 
genden Nummer zeigen, mit brunter 
gefegtem Texte beichrieben, insgeſamt 
30 „Phantafie » Pelerinen = Mäntel“, 
„Driginal= Engl. Bloufen = Anzüge”, 
„iehr eleg. Mäntel für Mädchen“, 
erg u. ſ. w. — alles im 
Zerxte, aljo abgefehen von den Ans 
noncenfeiten. Nun, mit dem Willen 
vom wirklichen Zmed Iefe man bie 
gefühlvollen Anſprachen nod einmal 
— Bürgfhaft vor dem llebelmerden 
leiten wir aber nidt. 


+ 


Unsre Beilagen, 


Vor dem Durdjipielen unferer Brobe aus Siegfried Wagners „Bären= 
häuter“ (die dem bei Dar Brodhaus in Leipzig erſchienenen Klavierauszuge 
von E. Reuß und J. Siniefe entnommen ijt, und zu der man natürlich no bie 
Beiprehung in der heutigen „Rundihau“ nadjlefen wolle) zwei Worte über 
die Handlung. Hans Kraft, ein junger Landsknecht, verdingt fi) dem 
Teufel auf ein Jahr zum Höllenheiger. Er beforgt die Keſſel, darin die armen 
Seelen brennen, als ein fremder, der verfappte Hl. Petrus, fommt und ihn 
zum Würfelfpiel verleitet, wobei Kraft jchlieglich alle Seelen aus den Keſſeln 
verliert. Für diefe Pflichtverlegung ftraft ihn der wütende Teufel. Er läßt 


Kunjtwart 


— 3 — 


ihn über und über mit Ruß und Schmutz befudeln, verbietet ihn, fich zu 
mwajchen, zu fcheeren und zu putzen und verheißt ihn Gnade nur, wenn ein 
Mädchen ihn troß feines gräulichen Aeußeren liebt und ihm Treue hält. Wie 
Dies geihieht und Sans fein Luischen beimführt, zeigen dann Die beiden 
folgenden Alte des Werkes. Das ausgehobene Bruditüd ſtammt aus dem 
zweiten. Der rußige Gefell wird als Ungeheuer geſchmäht und gefürditet, 
Zuischens ältere Schweftern haben fein Werben mit Spott und Hohn be— 
antwortet, und felbjt bie Stleine, ein halbes Kind, muß lachen über fein feltfames 
Uusfehen. Da bemerkt fie, wie aus dem Auge des armen, veradteten Bären- 
häuters eine helle Thräne quillt, und dieſe Thräne wedt ihre innige Teilnahme. 
Wie jie dann „durd Mitleid milfend*“ wird und in dem Unglücklichen das 
Hoffen auf Erlöfung neu belebt, zeigt unfere Szene. Manche werden ſich auf 
bie etwa bemeifte, übrigens durch die Stoffe ſelbſt gegebene „Nehnlichteit* der 
Situation mit jener zwifchen Senta und dem Holländer zu Gute thun; andere 
genießen mit uns hier gerade — ben Unterfchied. Senta tritt dem Holländer 
bereits mit dem gefahten Entjchluß zu feiner Erlöfung entgegen, im Luischen 
fol diejer Entſchluß erft nad) und nad), vor unfern Augen, alfo dramatifch 
erwachen: e8 handelt ſich aljo um ein ganz anderes technifches Problem. Zu— 
erjt lefe man darum, die Situation im Auge, die Worte aufmerffan durch 
und fpiele darnad) die Singjtimme mit ihrer ausbrudsvollen Dellamation. 
Der dramatifhen Blid hat, wird aud wahrnehmen, wie darauf gerechnet ift, 
dat ber Dariteller die Rede und insbeſondere ihre Pauſen durch harakteriftifche 
Mimik belebe. Den Rhythmus der Geberben biftiert dann gleichfam bie 
begleitende Muſik. Sie erwächſt aus zwei Motiven; das einleitende fönnte man 
das der auffeimenden Zuneigung nennen, das andere (bei „drüdt ein Kummer“) 
das der teilnehmenden Hoffnung. — 

Bon unfern heutigen Bildern „zum Symbolismus“ zeigt ung das erjte 
Studs „Sphinx“ nad einer Photogravüre aus bem fchönen, bei Hanfſtängl 
in Münden erjchienenen Stuck-Werk. Bon vielen wird gerade diefes Bild für 
den Höhepunkt des bisherigen Kunſtſchaffens Studs gehalten, jedenfalls be= 
deutet e8 eine der abgefchloffeniten, einwandfreiefter Werke des Künſtlers. 
Dan hat von dem Bilde vor allem den Eindrud einer gewaltigen Kraft. Dan 
beobachte die mächtige Formengebung Studs, ber nie mit zwei Strichen jagt, 
was er mit einem fagen könnte, und bei dem dann diefer eine Strich jogufagen 
eiferne Strenge ift. Es gibt viel Leute, die fagen, dab ihnen der geiftige 
Inhalt von Studs Bildern nit ſympathiſch fei. Wohl, aber jhon die That— 
ſache, dab ein fo ftarfer geiitiger Inhalt da ift, dat man fofort unter dem 
Eindrud einer fo ftarfen Perſönlichkeit jteht, befagt wahrlich viel. Man beachte 
in der Bewegung der „Sphinx“ die Energie, mit der ausgedrückt wird, was aus— 
gedrüdt werden foll, man verjente ſich in die fprechende Gewalt der Köpfe, 
der frallenden Tagen. Das ift wahrlih Kunfternft, nicht Spielerei. 

Mit den übrigen drei Blättern, eriten Vervielfältigungen nad) Originalen 
von Martin Brandenburg, die jegt in Berlin die Gemüter zu lebhaften: 
Kunftitreit erregt haben, lafjen wir die Lefer einen Blid in das vielleicht jehr 
anfechtbare, jedenfalls aber auch ſehr intereflante Arbeiten eines „Hodhmodernen“ 
thun. Auch fein Wollen müffen wir zunächſt gu fennen und gu verjtehen jtreben 
— mie wir uns dann dazu ftellen, ift eine andere Frage. Unbeſtreitbar ift 
und bei Brandenburgs Urbeiten zunächſt, daß fie eine bejondere Perfönlichkeit 
deigen: e8 ift ein IH da, das fi) ausdrüdt. Auch fein eigentlidyes Gebiet 
feinen Daritellungen zu fein, die fid) nicht mehr mit ber Nachſchaffung der 


2. februarheft 1899 
— 565 — 


realen Welt, fondern mit der von Bifionen, mit vom inneren Auge erfchauten 
Vorgängen abgeben. Aber auch bei ſolchen Vorwürfen gibt e8 befanntlidh er— 
klügelte Arbeiten one überzeugende Stimmung, zünftige Phantafiebilber, 
die meit weniger Phantafie haben, als mand; pebantifch nachgemaltes Stüd 
Natur. Bei Brandenburg gibt das Beite wirkliche Bifionen. Aber fonderbar, 
fie find das Gegenteil von Träumen eines ſeligen Jbeals, wie mir fie etwa bei 
2.0. Hofmann finden, fie jtehen unter dem Zeichen des Albdrucks; quälende, be= 
ängftigende Spuferlebniffe fcheinen ihnen zu Grunde zu liegen, und diefe bange 
Stimmung erſcheint fogar oft in Arbeiten, in denen Brandenburg fie nicht beabſich⸗ 
tigt. Unfer erjtes Bild zeigt uns etwas davon. Ein ehernes Symbol auf einfamer 
Bergipige am Meer fteigt ſchwarz empor, unbeweglich, ftarr, von Tageshelle 
umflutet und doc „grufelig* ragt e8 mie ein heidnifches Gögenbild, das ſich 
von neuem zum Lichte drängt, in die Welt der Lebenden. Weit weg, weit Hinten 
da8 brandende Meer. Das gewährt Einblid in ein ganz eigentümliches Geiftes- 
Ieben, und ſchon deshalb tft es „berechtigt“, gibt e8 dem Befchauer eine Bereiherung, 
Verftandesmäßig leichter faßlich ift das zweite Bild, das Brandenburg „Der 
Dann im Schatten“ nennt. Im bürren fiefernmwalde irrt er umher. lieberall 
um ihn ift Sonne. Nur gerade an ber Stelle, wo er eben jteht, ift immer 
Schatten. Große Naditfalter umflattern ihn börbar. Und Hinter ihm — er 
fieht e8 nicht, aber er weiß e8 ganz genau, fchleicht immer etwas her. Immer 
ein Stüd weit von ihm entfernt, aber ſtets bereit, ihm, wie eine State, auf ben 
Naden zu fpringen. Vergleiht man dieſes Bild etwa mit ſolchen Alingers, fo 
empfindet man, dat Brandenburg nicht gelingt, was Klinger in feinen beiten 
gelingt: bie Gebilde in Traumanſchauung vollftändig aufzulöfen. Aber weit 
vorgefähritten auf dieſem Wege ift auch er ſchon; das allegorifhe wird aud) 
bei ihn ſchon weitaus zumeiſt zu wirklich lebensvoller Geitaliung. 

Dan könnte Brandenburgs Kunſt eine pathologifhe nennen. Aber 
zunädit kann unfere Frage nit da nach gehn, fondern nur dahin: ob e8 ber 
Niederfhlag von etwas perfönlid Erlebtem, und fomit, ob e8 edte 
ſtunſt fei. Das müſſen wir bei Brandenburg doch bejahen. Es ließe ſich 
vielleiht von Mihgriffen reden, wenn er gerade dieje Darftellungen als Ge 
mälde gäbe. Aber er gibt fie als Griffeltunft, und das ift etwas ganz anderes. 
Ueber ben elementaren Unterfhied von Malerei und Griffeltunft ſprechen mir 
wieder einmal, wenn unſre Bilder uns erft einen größeren Vorrat von erläus 
ternden Beifpielen an die Hand geben. 

Brandenburg ijt übrigens aud) dem eigentlichen Bilde gewachſen. Rein aus 
dem Malerifchen heraus iſt die fleine Skizze aus den Dünen entftanden, mit 
den mit Humor gezeichneten Sonntagsjpaziergängern. Bei diefem Blatt follte 
man befonder8 auf die Kharafteriftifche Verteilung von hellen und dunklen 
Sleden achten und auf ihre eigentümliche Formgebung, die man bald als 
Brandenburgs ureigene Sandichrift erfennen wird. 


Inbalt. Das Variete der Zukunft. Bon Paul Shulge-Naumburg. — Ethifch 
und Aeſthetiſch. (Schluß) Bon Carl Weitbrecht. — Architeltoniſche Zeitfragen. 
Bon Paul Schumann — Loſe Blätter: Grillparzers „Jüdin von Toledo”. — 
Rundſchau. — Bilderbeilagen: Zum Symbolismus: Franz Stud, Sphinr. 
Martin Brandenburg, Ehernes Symbol, Der Mann im Schatten, Dünenland» 
fchaft. — Notenbeilage: Aus Siegfried Wagners „Bärenhäuter*. 


Verantmwortl. : ber Herausgeber $erbinand Uvenarlus in Dresden-Blajewig. Mitrebafteure: für Muſit: 
Dr, Richard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Kunft: Panl Shulge-Maumburg in Berlin, 
Sendungen für ben Tert an ben Eierausgeber, über Mufif an Dr. Batfa. 

Derlag von Georg D. W. Callwey. — Ugl. Hofbuchdruderei Kafiner & Coſſen, beide in Mänden, 
Beftellungen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Tallmer in Münden. 


ZUM SYMBOLISMUS 





FRANZ STUCK 


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UN SYMBEOLISMUS 





MARTIN BRANDENBURG 


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MARTIN BRANDENBURG 








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SIEGFRIED WAGNER. 


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Aus dem „BÄRENHÄUTER 


mit besonderer Erlaubnis des Verlegrrs M. BROCKHAUS 


Leipzix. 


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Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München. 
Ale Rechte vorbehalten 





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wie kann mannurso unwirsch sein 


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Stion u. Drusk v. OsoarBrandstetzer, vorm, FW.Garbrecht, Leinzig. 





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Mit Bilder: und Noten: „Beilagen. 
= Bezugspreis, 2'/s Marf — Ein ———— Beft so Pfennige. 


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Kundachau 
Ptung, cheater Musik. 





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und bildende Künste. 


Derausgeber: 
Ferdinand Hvenarius. 





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+ Der Banftt 


:ziceint jährlich 24 mal in Heften von 32 
Der Abonnementspreis beträgt * — * Hör 


Alle ** lungen und Poftanfle 
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bandlüng: Beorg D. W. Gallwep it ABüneben. en s - 

Nachdruck fänıtlicher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter“ und der 
unter Quellenangabe erlaubt. — für Inverlanat eingefandte Manuffripte wird feine ı 
—— Rückſendung —— —— Nur wenn Rüdpörte 2. 4 





Gent 1889. 







Paris 1889, 




















Chicago, London 1894 burg 1000, . 2 
P.F.W. Barella’s May en pulvor., Es 
Sollte kein Magenleidender unversucht en > du“ t alle wer 
beseitigt. Proben gratis gegen Porto! je Inentgeitlich. — 
In Schachteln Miu * pP * 


Berlin SW. 
Friedrichste, 2%, 







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Neuerweg 40 





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Ersies ADärzbeft 1599, Pett 11. 








IRTAR 


Ungekürzte Auffübrungen u. s. w. 


Es gibt unter den Kunſtpflegern bekanntlich eine Partei, die da 
meint: die Kunſt fei im Grunde doh nur für ein par Ausermählte, 
für ein par, jagen wir „Fachleute“ da, der übrige „Pöbel“ aber, der unjere 
Theater, Konzertjäle und Galerien füllt, fer eben gut genug, um durch 
fein Erfcheinen, d. h. durch fein Eintrittsgeld fünftlerifche VBeranftaltungen 
überhaupt zu ermöglichen. Dieje Partei geht von der nicht unrichtigen 
Beobachtung aus, daß es Werke gibt, die ihrem Gedankengehalt und der 
Geftaltung nad, über das Faflungsvermögen einer fo großen Zahl von 
Menſchen weit hinausgehen, als erforderlid find, um foldhe Veran 
ftaltungen zu gemährleiften. Bleiben mir bei meinem mufifalifchen 
„Reffort“: an Werfen wie dem „Triſtan“ oder dem A moll-Quartett 
op. 132 würden alle Bopularifierungsverjuche, jofern fie auf ein wirk— 
liches Berftändnis, nicht auf ein Gefallen an Aeußerlichkeiten abzielen, 
unbedingt jcheitern. 

Indeſſen wär’ arg übertrieben, behauptete man: alle oder auch 
nur die meilten echten Kunſtwerke feien diefer Art. Wir glauben viel- 
mehr, e8 dürften fich, ſelbſt wenn man von den auf vollstümliche Wir- 
fung ausgehenden Werfen abficht, wohl die meiften dem BVerftändnis 
meiterer Kreiſe erfchließen laffen, wenn die Sadje nur gefhidt und that= 
fräftig angefaßt wird. Man braucht dem „L'art pour l’art‘‘ gegenüber 
nicht in den Gegenſatz zu verfallen und die intimjten und ſchwierigſten 
Schöpfungen feinftorganifierter Künſtlernaturen gleih zum täglichen 
Geijtesbrot für Hinz und Kunz verbaden zu wollen. Aber man muß 
als rechtjchaffener Kunftpionier auf die Wedung und Belebung des fünit- 
leriſchen Bedürfniffes, auf die Erziehung zum Hunftgenuß im Volle hin— 
arbeiten, man muß, indem man den Zugang zum Sunftwerf erleichtert 
und ebnet, die Maffe der „Beſucher“ zum urteilsfähigen „PBublitum“ 
beranbilden helfen. 

In diefer Hinficht hat man ſich — wer möchte das leugnen — 
in den legten Jahren nicht wenig bemüht. Wir haben nicht bloß zahl- 


Kunftwart 1. Märzheft 1899 
— BET AO 





reihe gute und billige Ausgaben und Reproduttionen der Haffifchen 
Werke, fondern auch gute und billige Aufführungen und Ausftellungen 
erhalten und befommen deren immer mehr. Wohlfeile gedrudte „ Führer” 
gehen dem Novizen im Theater-, Konzert- und Bilderfaal an die Hand 
oder helfen ihm, die Erinnerung an das Gehörte und Gejchaute zu er= 
neuern. Auch einleitende Vorträge mit lehrreichen Erklärungen find im 
der populären Kunſtpflege gar nicht8 Seltenes mehr, ja, kürzlich Hat Hof» 
fapellmeifter Zumpe dem wahrlich nicht leicht eingängliden Scillings- 
hen Mufildrama „Ingmwelde* in Schwerin zu durchgreifender Wirkung 
verholfen, indem er vor der Aufführung einen Öffentlichen Vorbereitungs- 
abend abhielt und dabei die Anmwejenden durd Wort und Beilpiele (am 
Klaviere) mit den beacdhtenswertejten Schönheiten und Charafterzügen 
des Werkes befannt machte. Möge diefes jehr zweckdienliche Verfahren 
auch anderwärts, wo es fich um das Eintreten für ein verwickeltes Fünft- 
leriſches Erzeugnis handelt, finnvolle NRahahmung finden. 


54 Alles Verftändnis beruht auf ordentlicher Kenntnis, und dieſe 
Kenntnis jest Gelegenheit zum Kennenlernen voraus. Aber es iſt nicht 
genug, dieſe Gelegenheit durch Berbilligung de8 Genuffes zu vermehren, 
momit mande jchon alles zu thun meinten. Bei Borftellungen und Kon— 
zerten kommt's wahrlich dod) auch auf die Huge Wahl des Programms 
an, und gerade hierbei begegnen wir den zahlreichiten Mikgriffen. Die 
einen jchägen ihr Publikum zu hoch ein und bieten ihm Stüde, deren 
Genuß von einer bedeutenden geiftigen und technilchen Borbildung ab= 
hängt, die andern ſchätzen's zu niedrig ein und fegen ihm unter der Marfe 
der Bollstümlichfeit platte Banalitäten vor. Beide aber pflegen tm, 
wenn nicht dem Gehalt, jo doch der Menge nad) zu viel zugumuten. 
Kurz gelagt: unfere TIheatervoritellungen und Konzerte dauern in der 
Regel zu lange, jomohl in Anbetracht der geiftigen Spannkraft wie 
mit Rückſicht auf die num einmal herrichenden Zebensverhältnilfe. Darüber 
hilft uns fein theoretifches Wenn und Aber und fein noch To ehrlich) 
mwohlmeinender Idealismus hinweg. 


So verfhieden die Aufnahmefähigkeit der Einzelnen in Bezug auf 
mufifalifche Genüffe fein mag — zweieinhalb bis höchſtens drei Stunden 
werden die Spannen fein, innerhalb derer ein Normalmenſch ſzeniſchen 
Darbietungen ohne Ermattung aufmerkſam folgen fann. In Konzerten 
und namentlich in folchen, in welchen rein injtrumental mufiziert wird, 
dürfte die äußerte Grenze, bis zu der von eigentlihem Genuß ges 
ſprochen werden fann, etwa anderthalb Stunden fein. Man jehe die 
Sade nur nicht immerzu vom Standpunfte des Kunſtſportlers an, der 
fih auf Genußreforde trainiert hat, und ſchenke der Heuchelei der Bil- 
dungspharifäer feinen Glauben, fondern bedente fühlen Blutes, was wohl 
ein Menſch, der vom Morgen ab in feinem Amt ober Beruf fich redlich 
plagen muß, des Abends an Nerven dranzufegen imftande iſt. Dabei 
wird fich ergeben, daß unfere Theater: und Konzertaufführungen jenes 
oben bezeichnete Maß gar ſehr überfchreiten und daß man fich über das 
jegt überall bemerkte Nachlaſſen des Zulaufs bei ernitem Spielplan nicht 
wundern foll, zumal auch die durch häufigen Bejuch des Theater8 und 
KonzertfaalS verurfachte Störung der geregelten Lebensweiſe mit ins 
Gewicht Fällt. 


Kunftwart 
_ 585 — 


Die jest durchichnittlich beliebte Dauer eines Mufitabends ftammt 
aus Zeiten, die meit geringere Anforderungen an die Tagesarbeit des 
Menjchen ftellten, alS der heutige Wettbewerb, aus Zeiten, mo der Sinn 
der Menfchen nicht mit jo vielfältigen Interefjen belaftet war und mo 
man der fchöngeiftigen Erholung einen weit umfangreicheren Teil des 
Daſeins mwidmen konnte. Damals durfte der Künftler fich weit freier 
und behaglicher dem Spiele jeiner Phantafie überlafjen, weil feine Auf: 
gabe mit darin bejtand, die Zeit angenehm zu vertreiben, wogegen uns 
die Berhältnifje geradezu zwingen, mit unferer Zeit haushälteriſch um— 
zugehn. Daraus mürde der Grundjag für die moderne Kunſt folgen, 
fih möglichiter Knappheit zu befleibigen und fich mehr auf Verdichtung 
zu verlegen, al8 auf Entfaltung. Seltfamermeije ſehn mir die Künſtler 
der Gegenwart auf entgegengejehtem Wege: nicht mit Unrecht klagt man 
bei allen neueren Erjcheinungen über Breitichweifigfeit und Uebermaß. 
Der Erfolg der neuitalienifchen Einakter beruhte jeinerzeit hauptlächlich 
darauf, daß fie einem Bedürfnis des Publitums nad) minder hinhalten- 
den und zeitraubenden Opern entgegenfamen. Die Künſtler werden ent- 
rüftet fein, daß man verlangt, fie jollen ihre Phantafie den Schwächen 
des großen Haufens unterordnen, aber fie vergeffen nur allzuleiht, daß 
auch in früheren Zeiten die öffentliche Kunſt fich den Herrichenden Lebens— 
formen anpafte und daß nur wenige, ſozuſagen zeitlofe Monumental- 
mwerfe ſich in Widerfpruch zu den äußeren Bedingungen der fünjtlerifchen 
Deffentlichkeit jegten. Und das Unglück liegt eben darin, daß jest auch 
die geringften Schaffenden Monumentales leiſten und fi) sub specie 
aeterni betrachtet wilfen wollen. Die Kunſt, die mit dem Tag geboren 
it, dem beicheidenen fünftlerifchen Bedürfnis des Tages ehrlich dient 
und mit ihm verichwindet — die überläft man ganz und gar den 
Stümpern und Spekulanten. 

Aber jelbit in dem Fal, dat unjere Komponiſten aus den Zeichen 
der Zeit die Lehre ziehn und fich eine gewiſſe räumliche Beſchränkung 
auferlegen: was fangen wir mit den herrlichen Schöpfungen der glüd- 
lihen, minder eilfertigen Bergangenheit an? Früher griffen Die Kapell— 
meifter mit rückſichtsloſen Strichen ein, was bei der nummernhaften An— 
lage und bei den üblichen Repetitionen immerhin anging, bei organiſch 
entwidelten Kunſtwerken jedoch den Zufammenhang gröblich verlegte. 
Diefe Erkenntnis hat einem entgegengefegten Prinzip Geltung vericdafft. 
Unfere Dirigenten erbliden jegt ihren Ehrgeiz in ungekürzten Aufführungen 
und zwar nicht nur bei Schöpfungen aus einem Guß, fondern auch bei 
den mojailartig zufammengefegten. Das ift bei Feftaufführungen auch 
wirklich das einzig richtige, in der Flucht des Alltags, im laufenden 
Repertoir hingegen iſt e8 unnatürlich und unvernünftig. Unfer Publikum 
wird durch die langen Mufitabende übermüdet und immer mehr ent= 
mwöhnt, Konzert» und Theaterfaal als Stätte edler Ergögung zu be= 
traten, unjere Sänger und Mufiter aber verbrauchen in den enormen 
Anftrengungen ihrer großen Aufgaben vorzeitig ihre Kraft. Es fällt 
mir beileibe nicht ein, dem fchaffenden Künftler im Geftalten Schranten 
zu jegen, nur fordre er nicht, dag man im Volt inmitten des gewöhn— 
fihen Werktagsiebens die ganze Fülle feiner Gaben auf einmal auf- 
nehme. Dan hat Bearbeitungen Shakeſperes für die neuere Bühne gewagt; 
man wage getroſt auch Bearbeitungen der großen Tonwerke für populäre 


1. Märzheft 1899 
— 559 — 


Aufführungen. Wenn man diefe mit fünftleriihen Sinn und forgfäl- 
tiger Ueberlegung vornimmt und an Stelle der vom Kapellmeiſter in der 
flotten Haft des Theaterlebens getroffenen Zurichtungen fest, wäre das 
ein nicht zu unterfchägender Gewinn. Freilich dürfte folches Bearbeiten 
nicht bei mechanifchen Operationen mit dem Rotitift Stehen bleiben, ſon— 
dern müßte jelbftfchöpferiich eingreifen, um da und dort an Stelle aus— 
gefallener Glieder des Ganzen paffende Weberleitungen zu fegen. Bei 
Werten lebender Autoren überliege man die Bühnenbearbeitung — etwa 
auf Grund der bei den Erftaufführungen gewonnenen Einfiht — am 
beiten den Somponiften ſelbſt, wiewohl mit dem Umftande zu rechnen 
ift, da des Autors von ſelbſt verftändliche Befangenheit zumeift der Ein- 
fiht hindernd im Wege jteht. 

Die Lehre von der unantaftbaren Monumentalität der Kunſtwerke 
führt im alltäglichen Kunftleben zu Unzukömmlichkeiten, die faum mehr 
zu ertragen find. Ich meine drum, daß man in der Prariß zu jener 
Anficht zurückkehren müffe, daß ein Kunſtwerk, das zur Freude und zum 
Genuß für fterblihde Menſchen geichaffen ift, ſich auch den Verhältniſſen 
diejfer Menichen anpafje, ein Gedanke, der auch den Chryſanderſchen 
Händelbearbeitungen zu Grunde liegt und vielleicht ſogar ihren größten 
Wert umſchließt. Ber Feftaufführungen und fonftigen befonderen Ge— 
legenheiten mögen äjthetiiche und hiftorifche Erwägungen uneingefchräntt 
gelten: für den ſozuſagen mocdjentäglichen Kunſtbetrieb aber halte ich fie für 
Ihädlich, weil fie das Intereffe an den fünftlerifchen Darbietungen eher 
Ihwäden als ftärten. Geht e8 jo fort wie in der Gegenwart, fo kann 
die große Reaktion, die allgemeine Kunftverdroffenheit und Kunſtflucht, 
menigftens was die öffentlihen Aufführungen angeht, über kurz oder 
lang faum ausbleiben. Und jedenfalls müſſen wir uns darüber Mar 
werden, daß immer und um jeden Preis ungekürzte Aufführungen neben 
dem Guten, daS fie den fozujagen Gemeihten geben, eine Gefahr haben 
für die im Bolt, jo man als Schüler und Jünger der edlen Mufita be= 
zeihnen darf. Wir wollen diefe Leute doch nicht zu KHunftheuchelei oder 
Mufitmodenmitmacherei erziehen, fondern zunädjft einmal zum Aufnehmen, 
zum Genießen. Ueberbürden mir fie nicht! Ridhard Batfa. 





Dekadenz in der Unterbaltungsliteratur. 


Neulich fonnte ih im „Kunftwart* von Verſuchen berichten, wieder einen 
anftändigen Roman für anftändige Menſchen zu fchaffen, von Verſuchen, 
die ohne Zmeifel jehr ſchätzenswert find, fobald man fid aus der Anjtändig- 
feit nur fein befonderes Verdienſt madt. Es zeigt fi in unferer Unterhal— 
tungsliteratur aber aud) die entgegengefehte Tendenz: Man beftrebt fich, die 
Deladenz für das Leihbibliothel- und Feuilleton-Romanpublilum nußbar zu 
maden. Geſchichtlich ift ja dieſe Erſcheinung leicht verſtändlich. Jede Litera- 
tifhe Richtung hinterläßt einen Bodenſatz, und dieſes Bodenſatzes bemädhtigen 
fi) die Unterhaltungsſchriftſteller. So wurde der Durchſchnittsroman, nach— 
dem bie Blütezeit bes Naturalismus vorüber war, naturaliftiih, jo wird er 
jest, wo Symbolismus und Spätdekadenz abzumirtfchaften beginnen, da er 


Kunftwart 
— 3500 — 


ſymboliſtiſch wegen ber Schwerverftändlichkeit nicht gut werben fann, befabent, 
defadent in jener Form, der ich das „[pät* anheften möchte, weil das Geſchlecht, 
das fie ſchuf, ſich felbft von vorneherein als „fertig“ in jeder Beziehung erflärte 
und, wenn man fertig ift, natürlich etıvas Neues fommt. Nach der Frühdekadenz 
alſo die Spätdeladenz, nah ihr aber das Neue. Es iſt ja aud ſchon hervor— 
getreten, dieſes Neue, zunächſt als „Heimatskunit“. 

Gegen die Spätdefaben; als literarifhe Richtung haben mir jelbftver- 
ſtändlich angelämpft, dabei aber doch nicht vergeffen, daß fie wohl einmal 
fommen mußte, und fo haben wir ihre Talente immer als foldhe gelten laſſen. 
Hartlebens „Geſchichte vom gajtfreien Paftor* ift ohne Zweifel ein nichts- 
nußgiges Produft, aber ihr Verfafler befigt die Grazie, die der Erzähler nichts— 
nutziger Geſchichten befigen muß. Otto Julius Bierbaums Romane find ficher- 
Lich höchſt bebenflicher Natur, aber der barode Humor bes Dichters hilft uns 
in ber Regel über den Schmutz weg. Tovotes Dirnenromane haben ein gut 
Teil verlogener Sentimentalität, aber doch auch hier und da feinere pſycho— 
Togifhe Werte. Jakob Waflermanns „Juden von Zirndorf atmen bie unge— 
ſundeſte Sinnlichkeit, aber eben diefe Sinnlichkeit bringt einiges grandios Örauen= 
hafte zu ftande. So jteh ich mit den Herren ungefähr fo: id) münfche ihnen 
aufrichtigen Gemüts ein baldiges Abmwirtihaften, aber — e8 thut mir doch 
dabei leid um fie. Wenn ich nun aber fehe, wie bie Dekadenz als Mittel be— 
nut wird, Lefer zu fapern, wenn man beifle Dinge darftellt, nicht, weil man 
muß, ſondern meil fie’8 „alle* thun und das liebe Bublitum fo was deshalb 
wahriheinli do gern Haben muB, — fo möchte ich die Herren Autoren .. .* 

Menns nur immer Autoren wären! Auch die Autorinnen reitet ber 
Zeufel. Daß Marie Janitfchet einiges fehr böfe verbrochen hat, habe ich hier 
früher einmal ausgeführt; jest fommt „Hans“ von Stahlenberg, eine noch 
ziemlich junge Schriftftellerin, über deren Erftlingsroman nit ungünftig ges 
urteilt worden ift, und fchreibt ein Bud, das — nein, ruhig Blut! Wer 
Hans von Kahlenberg ift, hat uns Kürjchner ſchon verraten — Ernit 
Brauſewetter, der fie in dem zweiten Bande feiner „Meifternovellen deutjcher 
Frauen“ behandelt und fehr (obt, Hält das Pſeudonym noch feit. Nun, für 
ein Wert, wie das foeben erfhienene, „Nichen, ein Beitrag zur Piychologie 
ber höheren Tochter“ (Dresden, Reikner) braudt eine Dame aud ein Pjeudo- 
nym. Der Heine Roman ift in Briefen gejchrieben, zwei Freunde taufhen ihre 
Erlebnifje aus; der eine, ein Idealiſt, fchildert jein feufches Liebesſtreben, ber 
‚andere, der Realift, fein Abenteuer mit einer Berliner Geheimratsjöhre, die 
ihn, ben berüchtigten Schriftfteller, in feiner Junggefelenwohnung aufſucht 
und fi) alles gefallen läßt, nur ein Baby möchte fie nicht gern haben. Nach 
zwei Briefen wiſſen wir, daß die Geheimratsjöhre des Realiften und die feufche 
Jungfrau des Hpealiften eine und biefelbe Perſon ift. Beide merfen aber 
nichts, troßdem bie Briefe alles geradezu Handgreiflih maden. Der Trit 
mußte natürlih durchgeführt werden. Eben weil wirß hier mit einem Trik 
zu thun Haben, fünnen wir aber Hans von ftahlenbergs Arbeit nicht als fünit- 
lerifhe gelten Iaffen, und eben deswegen haben wir aud das Recht, fie ethiich 
abzulehnen. Es liegt mir ſelbſtverſtändlich nichts ferner, als für die Tugend 
der höheren Tochter einzutreten, es tit zmeifellos, daß viele, was Sans von 
Kahlenberg fchildert, echt ift, aber die nadte Gemeinheit ſchildert man nicht 


* (Anmerkung des Berfaffer8 beim Korrefturlefen:) Ach, bier hat mir 
ber Herausgeber meinen ſchönſten und kräftigften Sag geltriden! A. 3. 
Beglaubigt. F. A. 
1. Märzhſeft 1699 


— 361 — 


„um ihrer felbit willen“, nur im Dienfte einer höheren fünftlerifhen oder audy 
meinetwegen fozialen Idee. Hans von Kahlenberg thut ja Bier und da fozial, 
aber fie wird feinen einzigen Lefer finden, ber ihr Bud) anders als um bes 
pitanten Amüfements willen liejt, und das entſcheidet ja wohl. Völlig original 
tft ihr Werk auch nicht einmal, mandes darin kommt aus zmeiter Hand. Ich 
entfinne mich, die Autorin früher mit Subermann vergliden zu haben; feine 
Geſchichten „Im Zwielicht“ — da haben mir. 

„Harmiofer* als Hans von Ftahlenberg it Arnold Glut, deſſen Bud 
„Moderne und andere Novellen“ heißt (derj. Verlag); aber er ift mohl nur 
harmlofer, weil er talentlofer ift. In „Modern“ ſchildert er, wie ein Defabent 
eine Dekadente heiratet — er genügt ihr geijtig und vor allem körperlich nicht, 
und fie geht ihm durch. In der zweiten Novelle haben wir eine Hochzeits— 
naht, aus ber nichts wird. Die dritte ift eine höchſt ſentimentale Liebes- 
geihichte. Glut arbeitet mit bem gewöhnlichen Romanphbrafenapparat — ver 
möhntere Lefer werden ihn alfo ſchwerlich genießen, aber die nit vermöhnten 
werben es vielleicht thun. 

Ludwig Wolffs „Im toten Waffer* (derf. Verlag), das dritte Bud, 
das ich zur Slluftration der Dekadenz in der linterhaltungsliteratur verwenden 
möchte, genügt doch eher fünftlerifhen Anſprüchen. Es ift ein Wiener Roman, 
Jakob Waffermann hat ihn eingeleitet, mit jener Charakteriſtik des Modernen 
MWienertums A la Hermann Bahr, die nun ſchon ftereotyp fit. Ludwig Wolffs 
Held kann auf Neuheiten feinen befonderen Anſpruch erheben, wir fennen ihn 
von Schnigler, Bahr, Roßner u. f. w. her. Aber feine Geſchichte ift mit einiger 
Feinheit durchgeführt, man ekelt fi nicht allgufehr vor dem Menſchenſchleim⸗ 
tier, das er ung zeigt, ja, fie fann einem beinahe leid thun, diefe Menſchen— 
forte: früher fpie man vor ihr aus (figürlih natürlich), heute photographiert 
man literarifch ihren eigenen Schmuß und hebt ihn in Büchern auf, mas doch 
für ſolche Leute gewiß fein Vergnügen iſt. Adolf Bartels. 


BIER 


Archbitektonische Zeitfragen. 
(Schluß.) 

Im dritten Kapitel behandelt nun Streiter das Grundproblem aller 
Architeltur-Aeſthetik: Wie kann der formale Ausdruck einer konſtruktiven Funktion 
(Tragen, Auflaſten, ſowie Endigung, Zug, Drud, Schub ꝛc.) für den Beſchauer 
äfthetifch wertvoll, „Ihön* fein? Otto Wagner iſt nad) Streiter Urteil hier— 
über in empfindlicher Unflarheit, indem er jagt: „Jede Bauform ift aus der 
Konftruftion entjtanden und fulzeffive zur Kunftform geworden . . . immer ift 
ein fonitruliiver Grund, der bie Formen beeinflußt, e8 kann daher mit Sicher= 
heit gefolgert werden, daß neue Stonitruftionen auch neue Formen gebären 
müſſen“, und indem er Semper vorwirjt, er habe ſich mit einer Symbolik der 
Konitruftion beholfen, ſtatt die Konſtruktion felbit als „Urzelle* der Baukunft 
au bezeichnen. 

Diefe Unfiht Wagners ijt irrtümlich, denn die Anſicht Sempers felber 
von der Symbolik in der Baufunft bejteht noch heute zu Recht, nur bie 
Semperianer haben feine Lehre vertäffht. Wenn Semper fagte: beim Werden 
einer Konſtruktion fämen aud Stoff und Technif in Betradit, jo meinten die 


Kunftwart 
— 52 - 


vu J m. 18 


Semperinner jofort, ſchlechtweg die Hunitform fei ein Probuft aus Stoff und 
Technik. An joldem Kunftmaterialismus franft aud; Wagner etwas: denn 
die Konjiruftion fann man wohl als Urzelle bes Bauens, niit aber ohne 
meitere8 auch des fünftlerifchen Bauens, alfo der Baukunst bezeichnen. „Die 
Werke des Ingenieurs, bes Mafchinentechnifers gehen gleichfalld auf die ons 
ſtruktion als Urzelle zuräd; aber fie gelten im allgemeinen nicht als tefto- 
nifhe Kunſtwerke, eben weil fie jener „Symbolif der Konftruftion* entbehren, 
meil ihre Formen im ganzen und in den einzelnen Zeilen nicht in plaftifcher 
Anihanlichkeit als der unmittelbar fühlbare Yusdrud einer von uns gemiffer- 
maßen mit erlebbaren, uns ſympathiſchen körperlichen Verhaltungsweiſe in 
einem leicht auffaßbaren ordnungsmäßigen Zuſammenhange ſich darftellen. Erft 
dadurch, dat die Glieder einer baulichen Konftruftion als „Symbole“ einer 
von uns mit Befriedigung mitgefühlten räumlichen oder förperlichen Dafeins- 
meife erfcheinen, gewinnen jte für uns äfthetifches Intereffe; erſt dadurch wird 
das erreicht, was Wagner da8 Zbealifieren nennt, mas alfo das tektonifche 
Gebilde zum fünftlerifhen madt. Semper hatte volltommen recht mit feiner 
Symbolif der Konftruftion. 

DaB jede Bauform aus ber Sonftruftion entftanden und nad und nad 
zur Kunftform geworden fei, wird miberlegt durch die gotifhe Fiale, bie als 
Belaftungstörper dient, in der Form aber als frei emporſchießende Endigung 
erfcheint, durch die Stuppelhaubendäder von Kirchtürmen, durch die Bafis der 
jonifhen Säule, die bei der dorifchen fehlt, durch die Verſchiedenartigkeit der 
antifen Stapitelle u. ſ. w. Vielmehr beeinflußt unter Umftänden ein beftimmtes 
Formgefühl in entfcheidender Weife die Konftruftion, jo bei der Anwendung 
des fo unpraktifhen und techniſch fo ſchwierigen Hufeifenbogens und des 
Stalaltitengewölbes (maurifhes Formgefühl), der Netzgewölbe mit Herab- 
hängenden Schlußjteinen (gotifh), der Zwiebelfuppeln (ruſſiſch) u. ſ. w. „Die 
teftoniiche Kunftform bietet eben außer der Erfüllung eines beftimmten Zweckes 
noch ein übriges; dieſes Ueberſchüſſige, d. h. über die Forderungen des praf- 
tifhen Bedürfniffes hinausgehende (dabei nicht rein ornamentale) Tann aber 
auf mannigfache Weife geleiftet werben. Nur dies begründet jene Freiheit des 
Geitaltens, die berechtigt, die Architektur zu den „freien Künften” zu zählen.“ 

In unferer Zeit gilt vielmehr der umgekehrte Sat, daß durd) das Form— 
gefühl die Konſtruktion gewählt, beftimmt, vervolllommnet oder erfunden wird. 
„Die weitaus größte Mehrzahl der Architeften läht ſich beim Entwerfen neuer 
Bauten vom Formgefühl eines hiltorifhen Stiles leiten und wählt bement- 
Ipredend bie Ktonjtruftionen, verwendet, was häufig vorkommt, die als zweck— 
mäßiger oder billiger bevorzugten modernen Konjtruftionen und maskiert jie 
durch ſtilgerechte Scheintonitruftionen.“ 

Streiter ſtellt nun beſtimmt die von Wagner nicht beantwortete wichtige 
Frage: Wie iſt überhaupt aus der Konſtruktion die architektoniſche Kunſtform 
zu entwickeln? Die nächſte Antwort iſt: auf die mannigfaltigfte Weiſe. Denn 
wie ſchon Wölfflin fagt: Die Technik fchafft niemals einen Stil, jondern 
wo man von Kunſt fpricht, ift immer ein beftimmtes Formgefühl das Primäre. 
Um die Wahrheit diefes Sages zu ermeffen, braudht man nur zu bebdenten, 
dab das, was man den Stil einer Kumjtperiode nennt, allen Künſten ges 
meinfam ift, alfo unmöglich durch die Technik (Konſtruktion) einer Kunſt bes 
ftimmt fein kann. Dies beweist wiederum, daß Wagners Sa von der Kon— 
ftruftion erſt durch feine Umkehrung wahr wird. Dafür ſprechen aber aud) 
Wagners eigene Bauten, denn nur der griechiſche Steinbaltenbau und ber 


\. Märzheft 1899 
363 


gotiiche Gewölbebau zeigen Mar in ihrem Aeußern das ganze fonftruftive 
Gerüfte. Dagegen lafien die Renaiffance, ber Barod= und der Rofokoftil — 
feßterer ift überhaupt fein Bauſtil mehr — in ihrem Neuberen den Beichauer 
über deren fonftruftives Innere gänzlid im Dunkel. Wagners eigene Bauten 
und Entwürfe find aber Deforations-Arditeftur im Sinne der Renaiffance, die 
er nad) feinem Satze von ber Konftruftion vermwerfen müßte. 

Auf die gleihen Widerfprüche ſtößt Streiter bei der Frage: „Inwieweit 
begünftigt infonderheit daß, mas unfere Zeit als Neues den überfommenen 
Konstruktionen hinzugebracht hat, die Entwidlung neuer Kunſtformen? Hiebei 
fommt natürlich vor allem die größte fonftruftive Errungenschaft der Neuzeit 
in Betradt, die meitgehende Verwendung bes Gifens als Baumaterial 
Schon Böttidher fprad) 1846 die größten Hoffnungen Hinfichtlid des Eiſens aus. 
Das Eifen hat auch den Erwartungen Böttihers, „es müſſe raumbildend 
und fonftruftiv gejegt jede benfbare, dem Lebensbedürfnis irgend ent- 
fpringende Plans und Raumform zu erfüllen im ftande fein“ volllommen ent: 
fproden, jo daß Wagner jest jchreiben konnte: „Die Eigenſchaften des Eiſens 
iind thatſächlich fo außerordentlich, daß fie fast jede Forderung zu erfüllen im 
ftande find und betreffs der Anwendung dieſes Miateriales eigentlich nur von 
einer Grenze des Geldbeutels gefprodhen werben kann.“ Uber ein neues Reid) 
der Kunſtformen, einen neuen Stil hat bas Eifen nidt gebradjt. Darüber find 
die Theoretifer einig (3. B. Adolf Göller, K. E. DO. Fritih und Robert Neumann) 
— und die Praxis ermeijt, daß die Gifenkonftruftion fi ebenfo gut in bie 
Antife (daB riefige fpätrömifche Pradtforum der Kolumbiſchen Ausſtellung in 
Chicago mit feiner verborgenen Eifenkonftruftion), in die romanifchen Bau— 
formen (die turmhohen Häufer von Henry Hobjon in Amerika), Renaijfance- 
bauten (Reichsgerichtsgebäude), wie in gotifche Badfteingotif (märkiſches Muſeum 
in Berlin), wie in Barodbauten (Saiferpalaft in Dresden) einfügt. Alſo auch 
das Eiſen bemeift: nicht eine neue Technik bringt einen neuen Gtil hervor, 
fondern ein beftimmtes Formgefühl bildet die neue Technif nach diefer oder 
jener Seite fünftlerifh aus. 

„Wo immer Eifenfonftruftionen in bedeutenden Abmeſſungen offen liegen 
und für ſich allein auftreten, da zeigt ich”, jagt Streiter, „ihre abjolute Sprödig- 
feit gegen fünftlerifche Geftaltung.* „Die fleifchloje Dünnheit und fteife Troden- 
heit der Konjtruftionsteile, die durch ihre ftatifhe Berehnung gegebene Ge: 
bundenheit der Unordnung, bie äußere Gleichartigfeit der Glieder, welche die 
Verſchiedenheit ihrer Leiftung (Widerftand gegen Zug oder Drud) im allge: 
meinen nicht erfennen laffen, die bei großen Konſtruktionen verwirrende Menge 
fi) durchkreuzender faft förperlofer Linien, deren Sinn und Zwed nur dem 
techniſch gefhulten Verftand, nicht aber dem einfachen Gefühl faßbar wird: all 
das läßt uns bie Eifenfonftruftionen gleichgiltig erfheinen, wenn auf) mand: 
mal den Gefamtumrißlinien folder Werke (Bogenbrüde, Eiffelturm) oder ber 
Wirkung der durd; fie ermöglichten koloſſalen Innenräume ein gemiffer äſthe— 
tifcher Reiz nicht abzufprechen ift. Eine bedeutende, tiefgehende echt fünftlerifche 
Stimmung hervorzurufen wird auch ber großartigiten Eifenfonftruftion nicht 
gelingen.” Da fomit die Eifenkonftruftion zu einer beforativen Berhüllung 
hindrängt, jo droht die Gefahr, dat die nur ſchmückende Gliederung der großen 
Verkleidungsflähen zu Maßitabverzerrungen, unnatürlichen Scheinarditekturen, 
furz zu äußerlich fpielender Behandlung führen wird, zum geraden Gegenteil 
des Wagnerſchen Grundfages: „Der Architekt habe immer aus ber Konftruftion 
die Kunſtform au entmwideln.* 


Kunftwart 
— 34 — 


Ein beionders ausgeprägt erfreulicher Zug in der Gntwidelung der 
Architektur des letzten Vierieljahrhunderts ift, daß der Sinn und das Ver— 
ſtändnis für den Materialitil und der Stil der verfchiedenen Techniken ſtark zu— 
genommen hat. „Aber diefer Zug gab zunächſt nur die Veranlaflung, da in 
verschiedenen Städten und Landitrihen an jene heimifhe hiſtoriſche Bau- 
reife wieder angelnüpft wurde, in der die jemeilig zu Gebote ftehenden Bau— 
ftoffe die anfprehendfte fünftlerifhe Verwendung gefunden hatten. So griff 
man in der Mark die Badfteingotit, in Frankfurt a. M. die dem roten Main 
fanditein befonbers günstige deutſche Renaiffance, in Nürnberg die dem dortigen 
Sandftein angepafßte Früh-Renailfance, in Münden den Puhbaroditil wieder 
auf.” Das ift ein entſchiedener Fortfhhritt gegenüber der früheren Surrogats 
Wirtſchaft, aber ein neuer Stil, geſchweige denn ein einheitlicher neuer Stil 
fann ſich daraus nicht entwideln. 

Ein folder einheitliher neuer Stil, ber nicht bloß die Ardhiteftur in fich 
begreift, kann fich nur bilden aus unferen gefamten Lebensverhältniſſen, unjerer 
gefamten Lebens- und Weltanfhauung. Diejes Lebensgefühl und damit aud) 
unſer Formgefühl wirb nun allerdings auch durch die überall hervortretenden 
Wirkungen der modernen Technik beeinflußt. „Alle Wahricheintichkeit ſpricht 
aber dafür, da ein fo breit murzelndes neues Formgefühl zuerſt auf den 
Gebieten des Kunſtgewerbes, der Dekoration, der Kleinkunſt zum Durchbruch 
gelangen wird; benn hier fann fi troß ſtarker Abhängigkeit von den praf- 
tifhen Anforderungen des täglichen Lebens am freieften und Teichtejten ein 
neuer Formen und Farbenfinn ausheben‘, hier bewährt und verſchlingt fid) 
am unmittelbariten und mannigfaltigiten die amedli bedingte Körperlichkeit 
teftonifcher Gebilde mit der Gejftaltenwelt ber malerifchen, plaftifchen und 
dichterifchen Phantafie.” 

Falls aber für die Architektur überhaupt eine Entwidelung nad) einer 
einheitlichen Stilrichtung erwartet werden fann, jo fünnte e8 fih nur um einen 
Raumjftil handeln, nicht aber um einen organifhen Monumentalftil, da ein 
folcher ein neues Ronitruftionsprinzip vorausfegen würde, ein ſolches aber 
nicht mehr denkbar ift. Die Unterfcheibung bdiefer beiden Stilarten ftammt 
von Jakob Burdhardt. „Die organifchen Stile,* jagt er, „haben immer nur 
einen Haupttypus, ber griedhifche ben oblongen reditmwinkligen Tempel, der 
gotische die mehrſchiffige Kathedrale mit Fronttürmen. Sobald fie zur abge 
leiteten Anwendung, namentlid” zu fombinierten Grunsplänen übergeben, 
bereiten fie fih vor, in Raummpftile umzuſchlagen. Der ſpätrömiſche Stil ift 
ſchon nahe an diefem llebergange und entwidelt eine bedeutende Raumſchön— 
Beit, die bann im byzantiniſchen, romaniſchen und italieniſch-gotiſchen Stil in 
ungleihem Grabe meiterlebt, in der Renaifjance aber ihre volle Höhe erreicht.“ 
Burdharbt nennt alfo Raumitile alle die Stile, deren vollendete architeltoniſche 
Ausdrudsform nit nur ein Haupttypus räumlicher Anlage fein kann, welcher 
ber techniſchen und äjthetifchen Leiftungstraft des konſequent durchgeführten 
Konſtruktionsſyſtems am meisten entſpricht, die vielmehr in mannigfaltigen 
Raumtgpen und ihren Verbindungen — „tombinierten Grundplänen“ — „eigenen 
und großen Aufgaben“ gerecht werden, „welche ein organiſcher Stil gar nidt 
würde innerhalb feiner Gefege Löjen können.” 

Alſo nur ein folder Raumitil ift bei der jhier unbegrenzten Verjchieden- 
artigfeit der Raumgeftaltung und Raumlombination in der modernen Archi— 
teftur möglich; das Formgefühl aber, das in die Baulunſt der Zufunft eine 
einheitlihe Grundftimmung Hineinbringen könnte, wird bei ber Formgebung 


. Märzheft 1899 
m 565 — 


des Einzelnen und der Dekoration einfegen müffen. Seine vorherige Ent 
widelung auf bem Gebiete der beforativen Kunſt lafien nad Streiter unjere 
modernen Aulturverhältniffe befonders glaubhaft erfcheinen. 

Das dritte Kapitel, beffen Hauptinhalt wir hier kurz wiedergegeben haben, 
bildet den Höhepunkt der Erörterungen. Das vierte, das ben Beitgeift und die 
Architektur behandelt, enthält zwar auch noch viel Intereſſantes, ift aber nicht 
von fo durchſchlagender Bedeutung, wie namentlich das über Konſtruktion und 
Kunftform. 

Streiter bezeihnet als Geift unferer Zeit, wie er fi in den ardjitefto- 
nifhen Beitrebungen äußert, zunähfi das Gritarten des Nationalitätsgefühls, 
bie Forderung, daß die Architektur national fei. Ich felbjt habe mid) in einem 
Aufjage über Dresdner Architeltur über die harakteriftifchen Züge einer beutjch- 
vollstümlihen Baukunst fo ausgefproden: „Deutſch iſt nicht die Haffifche Kühle 
und Ruhe der Griechen, deutſch ift vielmehr warmes frifch pulfierendes Leben, 
nicht die formale und regelmäßige Schönheit, fondern die innerliche Befcelt- 
heit, nicht eine in fid) harmoniſche, reihe Schaufeite, die feinen Schluß auf das 
für fich beftehende Innere zuläßt, fondern: daß das Aeußere in feiner Mannig— 
faltigeit, ja Unregelmäßigfeit das Innere offenbare; deutſch ift nicht Die 
Dugendjhablone, Sondern die immer neue individuelle Charafteriftif, nicht Die 
(von Otto Wagner gepriefene) „antififierende Horigontallinie*, fondern die Viel- 
geltaltigfeit ber Linien, unter denen der fenlredten, der aufwärts ftrebenben, 
ihr volles Recht zukommt, ja die in dem hohen Dade, in den Giebeln und 
Erfern, in den Türmen und Treppenbauten oft geradezu für ben äſthetiſchen 
Eindrud das beftimmende Motiv ift. Kurzum, deutſch iſt der ganze Reichtum 
an malerifchen Elementen, der eben bie deutjche Renaiffance vor allen anderen 
Bauſtilen auszeichnet.“ Diefe Anfichten billigt auch Streiter, indem er mit 
Robert Neumann als Karakteriftifch für die beutiche Kunft und als erhaltens- 
werte Vorzüge bezeichnet: das Vorwiegen des Gedankeninhaltes über das 
Formale in der Darftelung der Runftgegenftände, das kräftige Hervortreten 
der individuellen Eigenart des Einzelnen, das Iebhafte Naturgefühl, den Sinn 
für das Malerifhe. Daß ſich diefe deutfhevollstümlidhen Züge an verſchie— 
denen Stilarten offenbaren können und daß aud) der deutſche Baroditil nicht 
als ſchlechtweg undeutſch bezeichnet werben darf, iſt wohl jelbjtverjtändlid. 

Nächſt dem nationalen Zug behandelt dann Streiter die Frage, inmie- 
weit der hiftorifche Sinn unferer Zeit, insbejondere die hiftorifche Pietät ber 
Entwidelung einer felbjtändigen modernen Baumeife hemmend im Wege ſteht. 
Das Ergebnis ift, da mit der Steigerung der funftgefhichtlichen Objektivität, 
des geichichtlichen Verſtändniſſes auch die äfthetiiche Objektivität gewachſen fei. 
Man ftreitet nidyt mehr über das „einzig wahre Prinzip“, fondern duldet die 
verfchiedenen Stile neben einander; man hat nicht mehr den Wut, die Ueber— 
zeugungstraft, für feinen eigenen Standpunkt eifrig Propaganda zu machen; 
man fcheut fich, ftilfritifch zu unterfuchen, welche Formenſprache dem Lebens=- 
gefühl des modernen Menſchen wohl die meilte Ausdrudsfähigfeit entgegen= 
bringen könnte, man hat fid) daran gewöhnt, in abwechſelungsreichem Geniehen 
jedem Stil feine befondere Stimmung nachzuempfinden und je nad Bedarf 
zur Erzeugung diefer oder jener Stimmung bei Neubauten dieſen oder jenen 
Stil zu wählen.“ 

Inmitten der Gahrung, des unlicheren Sucdens und Ringens auf allen 
®ebieten der Gegenwart erfheint Streiter der hiftorifche Sinn, die Anhänglich- 
feit an das Alte nicht als eine jentimentale Schwäche, jondern als eine tief- 


Kunftwart 
— 56 — 


begründete Folgeeriheinung, ein Segen, eine Pfliht. Mit diefer Pflicht, das 
Alte zu erhalten, das Neue an das Beitehende anzufchmiegen und einzufügen, 
hält Streiter die volle Erfüllung aller praftiihen Anforderungen der Neuzeit 
vollftändig vereinbar; und indem er fo auf eine „Eonfervativsfortihrittliche* 
Schaffensweiſe zukommt, tritt er auch mit dem Rembrandt-Deutſchen für einen 
gewiſſen Partikularismus in der deutſchen Kunft, für „architeltoniſche Volls— 
trachten“ ein. 

Schließlich ſpricht Streiter, nachdem er den ſogenannten demokratiſchen 
Grundzug der Kunſt unſerer Zeit geſtreift hat, von der unſerem Jahrhundert 
eigenen ſcharfen Trennung zwiſchen weltlicher und geiſtlicher Kunſt. Auf reli— 
giöſem Gebiete herrſcht jetzt, wie Jakob Burckhardt treffend ausgeführt hat, 
eine unverkennbare Unſicherheit, aus welcher eine ungemeine Empfindlichkeit 
gegen angeblich nicht heilige Formen folgt; ein ſtark peſſtmiſtiſcher Zug gebt 
durd) das Geiftesleben des ı9. Jahrhunderts. Diefe beiden Züge find für den 
Urhaismus in der Kirchenbaukunſt erfordberlih. Es „muß mit Sicherheit er- 
martet werden, dab der zunehmende religiöfe Jndifferentismus die firchlich ge» 
finnten Kreiſe mehr und mehr in der Ueberzeugung befejtigen wird, daß e8 das 
einzig Richtige fei, an der ftimmungsoollen Kunſt einer glaubensträftigen Ver— 
gangenheit feftzuhalten, an einer Kunſt, deren feierlich ernite Größe erfahrungs— 
gemäß auch auf die Freidenfer ihre Wirkung nicht verfehlt“. Die Verfuche, 
für den proteftantifhen Kirchenbau einen felbftändigen Typus gu entwideln, 
begegnen fortgejeßt den größten Schwierigkeiten. „In Bezug auf die Raum— 
anlage iſt Neues gewagt worden, in ftiliftiiher Hinfiht aber ift man um fo 
tonfervativer geworden. Man fürchtet eben, bei alljeitigem, »rationaliftifchem« 
Vorgehen (mie es das Mittelalter unbedenklich wagte), über fur; oder lang 
bei einem mehr oder weniger fünftlerifh ausgefhmüdten Hörfaal für ethiſche 
Vorträge anzulangen. So Stark aber die Bande ber Tradition in der firdlidhen 
Kunst find, fo meint Streiter im Hinblid auf die gefhichtliche Folge von 
Gotik, Renaillance, Barod, Rokoko im Kirchenbau doch, daß eine ähnliche ftili- 
ſtiſche Beeinfluffung der religiöfen Kunft von außen her auch in Zulkunft ſich 
vollziehen fanın, ohne daß Wanblungen ber innerlirhlichen Verhältniffe Hierzu 
den Anitoß geben. „Sobald in der Profankunft ein beitimmt ausgeprägtes, 
jtarfes und einheitliches Formengefühl fi entwidelt hat, wird ſich auch bie 
firhlihe KHunft gegen den allgemein herrſchenden Gefhmad nicht verſchließen 
können.“ 

Streiter ſchließt ſeine Ausführungen über die Möglichkeit eines neuen 
Stiles peſſimiſtiſch, wenn auch nicht ganz hoffnungslos ab. Er bringt Stimmen 
bei, die nur jugendfriſchen Völkern die Kraft zuſprechen, einen eigenartigen 
Kunſtſtil zu ſchaffen, und den Hinweis, daß die europäiſchen Kulturvölker ihr 
Jünglingsalter zur Zeit der Kreuzzüge und der Minneſänger hatten, jetzt aber 
im arbeitsjamen, auf Erkenntnis und Erwerb gerichteten Diannesalter jiehen. 
„Darum dürfte aud) in ihrer Kunſt männlich-ernſte Befonnenheit den natür— 
lihen Grundzug bilden und ber Realismus feine tiefe innere Begründung 
haben als Gegengewicht gegen einen unechten, erfünftelten, unzeitgemäßen 
Idealismus.” 

„Sp möge denn aud) der arditeltoniiche Realismus fid) heilſam ermeifen 
gegen Unmahrheit und Knechtheit, gegen falſches Pathos und Hohles Phrajen- 
tum. So möge er reinigend und ftärfend die Ardhiteltur der Gegenwart durch— 
dringen und fie einer neuen Blüte entgegenführen. Dieje Blüte wird freilich 
zu ihrer vollen Entfaltung der wärmenden Sonne neuer Jdenle, neuer geiftiger 

1. Märzheft 1899 


— Mo. 


Dafeinsmwerte nicht entbehren können. Denn alle höchſte Kunſt it ibealiftifch. 
Und für die Baunkunſt aud gilt das Dichterwort: „Es ift der Geilt, ber ſich 
den Körper baut” (nicht „ſchafft“, wie Streiter falſch zitiert). 

Ih habe mic; bemüht, den Gedanfengang Streiters in Kürze rein fach 
Tich wiederzugeben. Ich konnte dies um fo eher thun, als ich mid) feinen An— 
fihten faft durchgehends anſchließen möchte. Er hat das Berdienft, die fo 
ſchwerwiegende und immer wieder befprochene Frage eine® modernen Stils 
unter allfeitiger Heranziehung ber einfhlägigen Literatur und mit gründlicher 
Sadlenntnis jo weit geflärt zu haben, als es die gegenwärtigen Zuſtände 
überhaupt zulaffen. Innerhalb des Labyrinths der verjchiedenartigiten An— 
fihten über die Möglichkeiten und die Ausſichten eines modernen Stils bietet 
feine Schrift einen Leitfaden, deffen befonnene Ausführungen vielen höchſt wills 
fommen fein werben. Panl Shumann. 





Der Fall Diefenbach. 


Ueber Karl Wilhelm Diefendbah muß auch der Kunſtwart wieder einmal 
ipreden. Halten wir uns ganz unbefangen. Sören mir alfo zunächſt, was 
uns unjer Wiener Bertreter darüber zu fagen hat — für Diefenbach vorein= 
genommen ift er gewiß nidt. Schölermann alfo fchreibt uns: 

„Seit Jahren nimmt das bedauernsmwerte Schidfal Diefenbachs die Teil— 
nahme weiterer Sreife in Unfprud. Auch im Sunftwart war mehrfach von 
feinen Werken die Rebe. In jüngjter Zeit hat die Wiener Preſſe ſich noch 
häufiger als fonft mit ihm befhäftigt. Auf die Einzelheiten einzugehen, iſt 
bier nit notwendig. Nur foviel, daß unlängft, wie e8 vorauszufehen mar, 
der Konkurs über Diefenbah und die Kolonie, welche feinen Haushalt mit ihm 
teilte, erflärt worden ift. 

Bei dem Dunkel, das die Lebensweiſe und bie Perfon Diefenbahs ums 
gibt, bei ber Heftigkeit, mit der für und gegen ihn Partei ergriffen wirb, fcheint 
es dringend geboten, einmal Flärendes Licht in bie vielen Widerſprüche 
zu bringen, welche wieber und mwieber bie Gemüter aufregen. Objektiv zu ur— 
teilen ift meiner Anfiht rad) nur ber im Stande, ber in perfönliche Berührung 
mit Diefenbadh und feinen Anhängern zu fommen Gelegenheit gehabt hat, ohne 
dadurch in die Schar feiner Jünger, oder feiner Gegner hineingetrieben zu jein. 

Meine zufällige Bekanntſchaft mit zwei Diefenbadianern war die Ber: 
anlaffung zu einem Befudh im »Himmelhof«, einer alten Billa in Ober-St. Beit 
bei Wien, wo vergangenen Sommer ber Meiſter und feine Jünger in lieblicher 
Gegend eine fommuniftifche Heine Gemeinde bildeten. Wenn der Lefer aus den 
nun folgenden Mitteilungen hie und da mir ben Vorwurf unnötiger Schärfe 
und Härte machen follte, jo muß ic) ihn hinnehmen im Bewußtſein der Pflicht, 
die Wahrheit und Hlarheit aud) da unter allen Umftänden aufrecht zu erhalten, 
wo es fih um einen in ungünftiger Lebenslage befindblihen Mann handelt, 
der in mehr als einer Hinficht trog alledem unfer Mitleid verdient, 

Die unliebfame Erfahrung, durch perfönlidhe Belanntfchaft mit einem 
„berühmten“ Dianne jozufagen aus allen Himmeln gejtürzt zu werben, bat 


Kunitwart 


wohl faft jeder im Leben einmal gemadt. Wenn es mir nun aud nidt fo 
mit Diefenbad) ging, weil id) meine Erwartungen nicht überhoch geipannt hatte, 
fo war es doch eine jener Enttäufchungen, die man nicht wieder vergiht. Ich 
hatte einen milden, von feelifher Hoheit durchleuchteten Menſchen ermartet. 
Was id) fand, war ein leidender Mann mit nervöfen, fladernden Augen, ber 
mir in einer mwohlgejehten Rede zum Empfange feine ganze Lebensanſchauung 
fogufagen über den Kopf fchüttete, mit dem Refrain, daß bie übrige Menſch— 
heit fich gegen ihn verfchworen habe. Auf feine Qebensmeife will ich Hier nicht 
mweiter eingehen. Daß Diefenbady gute Ideen hat, ift wahr, nur find fie uns 
geflärt und viel zu negativ und fulturfeindlih, um fruchtbar fein zu können. 
Dann ift auch das Wahre daran nicht neu. Daß der Menfh in Licht und 
Sonne leben fol, ijt ridtig, ebenfo dat man ohne Fleiſchkoſt Teben und ges 
jund fein fann, fogar im nordifhen Klima. Anders verhält ſich's mit ber 
ethifhen Frage in Bezug auf die Tötung von Tieren. Ließen wir 3. B. alle 
Häslein leben, die im Laufe von zehn Jahren zur Welt fämen, fo würde fein 
einziger Kohltopf mehr für die Vegetarianer übrig bleiben. Und wenn Freund 
Staar, Sperling und Konforten unfere Kirſch- und Pilaumenbäume ganz uns 
geitört plünderten, wovon wollten die Fruchtejier leben? Wer neben bem er— 
zeugenden Prinzip das ergänzende und ausgleichende der Zerftörung und Weg— 
räumung nicht in der Natur zu erfennen vermag, ber fann mit fih und der 
Welt nicht zur Klarheit und Verföhnung fommen. 

Mas uns hier mehr interefjiert als das Menfchheitsapofteltum Diefen- 
bachs, ift aber die Frage, ob feine unausgefegte Anklage gegen die Menſchheit 
berechtigt ijt oder nidt? Man muß e8 verneinen. Da ich nicht zu benen ge— 
höre, die in die Lage gelommen find, Diefenbad) helfen zu können, fo wird 
man mich nicht mißverftehen, wenn id) fage, daß Diefenbad öfter und mehr 
geholfen worden ift, als vielen, die in ähnliche Lebensverhältniſſe gerieten, 
wie er. Mas aber ſelbſt die größte Bereitwilligkeit und fyreigebigleit ſchwer 
erträgt — meil wir nun dod) einmal Menſchen find —, das ilt die Boraus- 
fegung feitens des Empfangenden, daß es die Pflicht und Schuldigfeit ber 
verblendeten Menſchheit fei, ihm zu helfen. Wird diefe Vorausſetzung, wie es 
von Diefenbad und feinen Angehörigen gefchieht, immer und immer wieder 
laut und heftig ausgeſprochen, jo fchredt das die Wohlwollenden ſchließlich 
doch ab. So ging e8 hier; denn im Lauf der Jahre hat Diefenbah mehr als 
einmal einflußreiche und wohlhabende Kreiſe für fich zu intereffieren gemußt. 
Kein Wort der Verföhnlichkeit und Milde, von Dank zu ſchweigen, wird man 
aber aus feinem Munde vernehmen, nur Grol, Abjheu und ein Wühlen 
und Glorifizieren in feinem eigenen Märtyrertume, wie man e8 oft bei Naturen 
findet, deren Ehrgeiz und Hoffnung Schiffbrud gelitten haben, und Deren Gecle 
nicht jtark genug war, um Enttäufhungen allein zu tragen. 

Vor etwa Jahresfrift erließ die »Ehrenvereinigung zur Rettung K. W. 
Diefenbadhs« einen Aufruf, der als Plakat gedrudt an den Straßeneden und 
Littfaßſäulen angebradjt war. Unter einem Leidbenshaupt mit den Zügen Diefen= 
bachs war die Aufforderung zum Bejud) der Austellung feiner Bilder gedruckt. 
Die Namen zweier Ritter von Spaun als Unterzeichner diefes Aufrufs der 
Ehrenvereinigung wirkten ſehr einnehmend auf die Wiener, einmal von wegen 
ber »Ritterfchaft«, dann aber noch befonders, weil die Vorfahren diefer Familie 
eine Rolle fpielten in dem gaſt- und kunſtfreundlichen Kreife, mo Mori von 
Schwind, Schubert, Lachner u. a. verfehrten. Auch auf mid, den »Ausländer«, 
madten dieje Namen einen günftigen Eindrud. Daß diefe »Aufrufenden« jelber 


1. Märzheft 1899 
— 369 — 


zur Saushaltung Diefenbachs gehörten, d. h. mit ihm und von ben Mitteln 
Tebten, die ihm auflofien, mußte ih damals nod nidt. Wie man unter Jbeal- 
menschen über die Juläffigfeit einer derartigen, jagen mir »unbeabfidtigten 
Verleitung zum Mikverftändnis« denkt, weiß ih nit. Der Aufruf war aber 
an die Nicht-Idealmenſchen gerichtet, und unter diefen bezeichnet man fo etwas 
mit dem Worte Rellame. Nun ift ja die Reflame an ſich nicht unbedingt ver— 
dammungsmwürdig. Auf bem Gebiet des Idealen hört aber nad) meiner un: 
maßgeblihen Anſicht die Zuläffigfeit da auf, mo der geſchäftliche Nutzen, oder 
die Hoffnung auf einen ſolchen, anfängt. Ueber die foziale Durhführbarfeit 
des Kommunismus mag jeder feine eigene Auffaffung haben; die Zweckmäßig— 
keit desfelben in diefem Falle und die firenge Kontrole über die Einnahmen 
jeines Kreiſes und jedes einzelnen Mitgliedes besfelben laſſen den praktiſchen 
Meltveritand und organifatoriihen Sinn des Meiſters in durchaus günftigem 
Lichte ericheinen. 

Seine vielfach wechſelnde Jüngerichar, die er intelleltuell und namentlich 
durch feine Willenszähigkeit natürlich überragt und beherrfcht, kommt als geiftiger 
Faltor faum in Betracht. Durch einfaches, nüchternes Leben und friiche Buft 
iſt es ihm gelungen, feine Rinder zu körperlich gefunden und natürlichen Men— 
ſchen zu maden; daß durch Aeußerlichkeiten in der Belleidung und auffallende 
Namengebung auch andere, fehr menihlide Schwächen früh ausgebildet wer— 
den, braudt man nicht allzuhoch anzurechnen, da dieſe aud) in anderen Sphären 
vorfommen. Sntereffant war für mid) nur die auffallende Betonung bes 
Mortes »Nitter« in diefer Umgebung. Ich bin anardiftifhen oder ſozial— 
demokratischen Zdealen nicht zugethan. Es gehört zu ben Grundlagen meiner 
innerjten lieberzeugung, daß ein Ritter Dasfelbe Recht hat, fi des Lebens zu 
erfreuen, wie andere Menſchen. Ob aber die volllommene Entäußerung alles 
MWeltlichen und Allgumeltlichen jich nicht auch mit dem Verzicht auf den »Ritter« 
harmoniſch vereinigen liebe, ift eine Frage, deren Beantwortung wir benen 
überlaffen müſſen, die fich nur nod) in der idealen Zone des Naturmenſchen— 
tums bewegen. 

Dan mißverſtehe mid nicht! Ich kämpfe nicht gegen Berfonen. Wenn 
der Tal Diefenbach eingehendere Erörterung verdient, fo fommt e8 in eriter 
Linie auf das Typifhe dabei an. Und dieſes Typifche ift das Gefährlihe, 
Srreieitende baran, ilt das, wogegen einer einfichtigen Kritik nichts anderes 
übrig bleibt, als energifd; Front zu machen. Wer die Abficht Hat, Diefenbad 
in feiner jegigen Zage zu helfen, der wird fid) durd) das von mir Gefagte, wenn 
er's richtig verftanden, nicht abhalten laſſen. Die verkehrten Schlüffe aber, die 
man aus dem Scheitern von Diefenbachs Leben und Streben vielfad gezogen 
hat, beweiſen aufs neue, Daß e8, wie zu allen Zeiten, auch heute noch in Diefer 
Melt des Schein der Brauch »Irrtum ftatt Wahrheit zu verbreiten«. Die Ans 
feindung oder Verhöhnung eines Menſchen von urſprünglich hohem Streben, 
wie Diefenbad), bleibt immer pöbelhaft; feine Berhimmelung aber iſt übertrieben. 

Koh ein Wort über die Kunſt Diefenbadhs, ſoweit id) fie kenne. Was 
ih an fertigen Gemälden fah, war oft tief und ſtark empfunden, oft vollitändig 
unfünftlerifd) in der Behandlung. Das cedelite und wirklich bedeutende Wert, 
ber lange Silhuettenfries „Per aspera ‘ad astra“, iſt befanntlih von Karl 
Höppeners Hand ausgeführt worden. Man mag nun über »geiftige Urheber— 
ſchafte denten wie man mill, jedenfalls ift bei der bildenden Kunſt die 
ausführende Hand nicht nur »faum zu entbehrene, jondern an fie und ihre 
Kraft de8 Ausdrucks müffen wir uns in erfter Linie halten, wenn wir bie 


Kunftwart 
- 0 — 


fünftlerifhen Werte eines Werkes erkennen und abmwägen wollen. Höppener 
ober Fibus, mie er von feinem Lehrer getauft warb und fi als Stünitler 
noch jest nennt, hat diefem ſtets ein dankbares Ungebenten bemahrt, was aus 
zahlreichen feiner mündlichen und ſchriftlichen Weußerungen bervorgeht, bie 
nad ber Trennung erfolgt find. Anders Diefenbad. Ih Habe felten lieb— 
lofere, um nicht zu jagen gehäffigere Ausdrüde vernommen, als der Meifter 
über feinen Fidus — nun »Infibuse — wie überhaupt über alle diejenigen, 
welche einit feine Anhänger waren, ohne Zögern ausſpricht. Was mir vor 
allem pſychologiſch auffällt, ift, daß erſtens die hohe wirkliche Bornehinheit der 
Gefinnung und zweitens die milde, reine, vergebende Menfchlichkeit nicht zu 
ihrem Rechte fommt bei einem Manne, ber ſich mir gegenüber wiederholt mit 
Jeſus Ghriitus verglichen hat, nur mit dem Unterſchiede, daß Ehriftus nicht im 
entferntejten die Leiden zu erdulden gehabt habe, wie er, Diefenbadh. Man 
mag ſolche Vergleiche geihmadvoll finden oder nicht, auf jeden Fall wird man 
dem Meifter den Vorwurf übergroßer Beicheidenheit nit machen können. 

Soll id meine Unfiht über Diefenbad als Künftler zufammenfaffen, fo 
ift e8 bieje: durch fein abnorm entivideltes Selbjtgefühl und den fteten Wider: 
ſpruch mit der ihn umgebenden Welt, ift fein urſprünglich reines Empfinden 
mehr und mehr getrübt worden, biß c8 ben ganzen Menſchen mit der Unver: 
föhnlichkeit des ftarren Fanatikers erfüllte und feine ſchöpferiſche Kraft wie mit 
einer unfrucdhtbaren Dornenhede umzog. MWilbelm Shölermann.” 

So meit unjer Wiener Mitarbeiter — aber derfelbe Schölermann fandte 
uns zu dieſen jelben Zeilen aud) warme Worte eines Aufrufs für Diefen- 
bad. Was uns felber betrifft, fo bezweifeln wir feinen Augenblid, daß all 
bie Erfcheinungen, die Schölermann ſchilderte, fo find, mie er fie fchilderte, 
aber unfre Beurteilung iſt doch eine andre. Es ift Thatfahe, daß fi das 
Reklamehafte“ bei Diefenbach erft langfam nah und nad entmidelt Hat. 
Hätte man ihn gehn laſſen, wie er wollte, es Hätte ja freilich in feinem Höllriegels— 
greut zu großer „Reklame“ faum kommen fönnen. Dagegen, aud) das tft That- 
ſache, verfolgte und verguälte und verärgerte unfre „offizielle Welt“ den Mann, 
wo ſichs nur irgendwie machen ließ, meil er anders, nur, meil er anders 
war, als die andern. Das ilt e8, was mich perſönlich angemidert bat, fo 
lange ich Diefenbadh8 Reben und Leiden zufehe (und ich Habe ihm ziemlich aufs 
merkſam zugejehen): dieſer Bhilifterhaß gegen das Abrveichende, dieſe Unduld— 
jamteit gegen das Ungemohnte, diefer Lieberlegenheitsdünfel der Obrigfeiten und 
ber Mehrheiten, die zahlungsfähig auf ihr Portemonnaie mit ererbten Wert— 
urteilen klopfen, in dem dod wahrhaftig auch Gold» und Scheidemüngen 
nebeneinander liegen. Möglich it, daß dadurch der Phantaſiemenſch Diefen- 
bad) geijtig frant geworben tft, ja, e8 wäre ein Wunder, wär es nicht fo. 
Aber dann hat unfere Gefelihaft nicht das mindeite Recht, ihm fein fpäteres 
Treiben und Laſſen vorzumägen. Bielmehr: fie hat die Pflicht, ihm zu helfen, 
jest erft recht. 

Sie könnte dem übrigens fehr einfach nahlommen, und zugleich ſich jelber 
einen Dienft tun. Nämlich: durch Ankauf bes großen Silhuettenfriefes „Per 
aspera ad astra*, „Es entjtrömt“, fchreibt eben Schölermann darüber, „der 
ganzen Kompofition und Ausführung ein fo reiner, von Frühlingsduft um— 
mehter Klang, daß das Werk unbedingt für jedermann zugänglid gemacht 
mwerden follte.* Wir bringen Bruchſtücke daraus auf unfern heutigen Bilber- 
beilagen — wer ben Fries nicht kennt, wird ftaunen darüber, dab das fon 
längjt Geſchaffene nicht Schon Längft Gemeingut der Kunftfreunde ift. Und bie 


ı. Märzheft 1899 


- MM — 





Autorfhaft? „ES ift Diefenbachs Beſtes“ — ja, das ift es, aber man wolle 
nidjt vergeffen: e8 iſt auch Fidus' Beſtes, zum minbdeften das Befte aus Fidus’ 
früherer Zeit. Neben dem Schüler hat hier doch alfo wohl auch der Lehrer 
gegeben, wie Fidus felber jtet8 vornehm anerkannt hat. Und fei dem, wie ihm 
wolle: das ganze Werk Hat unbedingt Anſpruch darauf, in öffentlichen Beſitz 
zu treten. Und e8 wäre doch ſchön, wenn Diefenbady jelber das Geld dafür 
befäme, und nicht erjt irgend ein Stunfthandelsmann, der in Vorausficht der 
fünftigen Preisfteigerung jest bei der Auktion ein Spefulatiöndhen wagte. 2. 


Lose Blätter. 


Aus „Prometheus und Epimetbeus” 
von Felir Tandem. 


Mit den folgenden Stüden mödten wir unfere Lejer auf eines ber „fon 
derbariten“ Bücher aufmerffam machen, das die neuere deutihe Literatur ges 
ichaffen hat, auf ein Werk, das bei feinem Erjcheinen die lebhafteſte Teilnahme 
von Männern wie Gottfried Keller, KH. F. Meyer, Friedrich Nietzſche und andern 
wahrhaft bedeutenden erregt hat, das aber ganz ungewöhnlich ftarfe Anforde— 
rungen an das Denken und die Phantafie der Leſer ftellt und deshalb nicht 
nur den großen Maſſen, fondern auch unfern jüngſtdeutſchen Kritikern und 
den afademifhen Fachmännern der Literaturgefhichte unbefannt geblieben ift. 
Gine Befprehung des Buchs verbietet fih an diefer Stelle dadurch, daß 
Felix Tandem der Pfeudonym unfres Mitarbeiters Carl Spitteler war. 
Und was eine Inhaltsangabe anbetrifft, jo madjt die Wiedergabe der erjten 
einleitenden Stelle eine Andeutung darüber unnötig, eine Zufammen= 
faffung ber Handlung aber ift mit kurzen Sägen nit zu geben. Unſer 
zweites und drittes Stüd find Proben aus den „Erzählungen“, die Prometheus 
feinem kranken „Hündchen“ mitteilt. Nimmt der Leſer das bei Sauerländer in 
Yarau erfhienene Bud) felber zur Hand, und lieſt er's mit wirklicher Vertiefung 
in feine Welt, die an Nießfche erinnert und body ganz eigentümlich ift (die 
Dichtung erfchien bereitS 1880 im Drud!), jo wird er daraus auch Stimmen 
ganz anderen Klanges ſprechen hören, als hier wiederhallen. Freilich wird der 
fühn jymbolifche Charakter des Werks überall’gemahrt, und auch feine fatiri= 
fhen Schilderungen gehen immer aufs Große, auf8 Monumentale hin. 

* 


Es war in feiner Jugendzeit — Gefundheit rötete fein Blut und täglich 
wuchſen jeine Kräfte —. 

Da fprad Prometheus Uebermutes voll zu Epimetheus feinem Freund 
und Bruder: 

„Auf! laß uns anders werben, als die Vielen, die da wimmeln in dem 
„allgemeinen Haufen! 

„Denn fo wir nad) gemeinem Beifpiel richten unfern Brauch, jo werben 
„wir gemeinen Lohnes fein und werden nimmer fpüren abeliges Glüd und 
„leelenvolle Schmerzen!“ 

Und in dem Undern zündete das Wort, und alſo madten fie fi auf, 
und wo am jtillften war ein Thal, und wo am laufdigften fi fügten die 
Berge, da wählten fie ihr Heim und bauten ein Jeglicher fein Haus von hüben 
und von drüben an dem flaren Brunnen. 

Kunftwart 5 


- 32 — 


Und allda lebten fie getrennt von allem Volt und gingen nicht zu opfern 
bei der Brüder Göttern, und gingen nicht zu Markte kaufen von ben richtigen 
Begriffen, und wenn die Andern fangen, fangen fie nicht mit. 

Und legten einen Ballen vor ben Weg und fperrten mit Schloß und 
Riegel wohl das Thal und nahmen fein Gefek und feine Sitte an, und war 
ihr einziges Gebot ber eignen Scele Flüftern, wenn fie finnend wanbelten in 
Wald und Hain und an bes Berges duftgen blumigen Gelänben. 

Und über alle dem, jo warb befonders ihre Art und anders ihre Spradhe, 
alfo daß fie jagten „ı“ wo Alle fpraden „[*, und daß fie rüdlings fi ver— 
neigten, wo die Undern fi) befreuzigten in ihres Herzens andachtvoller, ftau= 
nenber Verehrung. 

Und warb baraus ein gegenjeit’ges Mikverhältnis hin und her, und es 
geihah, wenn ab und zu ein Zufall oder auch gejelliges Verlangen fte ver- 
führte in der Brüder ſtreis, fo ftodte alljofort das Spiel und murde ſtumm 
das trauliche Gefpräh — und fanden feinen Pla und paßten nirgends hin 
und waren allerorten fremde unmilllommne Gäſte. 

Und Abends, wenn fie gleich den Andern auf ber großen Straße fich er= 
labten an ber ſommerlichen Luft, da faken vor dem Thor die Aelteſten des 
Volks im Sonnenfhein und flüfterten und ſprachen Einer zu dem Anbern mit 
Behagen: 

„Bon wannen fommen Die? und nicht gemein ift ihre Art, jedoch e8 
„tehlt darin ein Etwas, das ich fehr vermiſſe.“ 

Und glei gejtimmten Muts ergänzte und fprad) der Andre: 

„Und aud) ein Etwas ift darin zu viel, daß mir mißfällt auf eine jede 
Weiſe.“ 

Und Niemand, der nicht Anſtoß nahm an ihrer Art, ein Jeglicher von 


einer andern Seite. 
* 


Und über dem im zwölften Jahr, als ſchon zum Winter neigte der 
Herbſt, ba kam bie Zeit, daß ſich der Engel Gottes wähle Einen aus ber 
Menfhen Schar und jege ihn zum König über alles Land an feiner Stelle. 

Und drang ein bumpf Geräufh von diefer Nachricht in das Volk, und 
mit geheimnisvoller Miene teilt’ e8 Jeder feinem Nädhjften mit, und Der bes 
zweifelt’ es, befämpfte e8, uud trug es ameifelnd weiter... 

* * 

Und jetzt erſchienen ſieben ernſte Tage überm Land, da ward fein Laut 
gehört und auch kein Lüftchen regte ſich im Raum, und ruhig ſtieg vom Berg 
der Rauch empor und in den niedern Gründen lagerte geheimnisvoll ein 
weicher duftger Nebel. 

Und an der ſieben Tage Samstag wars, da wandelte Prometheus ſinnend 
auf und nieder in dem Garten ſeines Hauſes, blickte ruhend durch die Nebel, 
während unter feinen Schritten rafchelten die welken Blätter. 

Und fon, vom langen Herbit beraubt, war arm bes Gartens Pradt, 
und fpärlid Hing an Bufd und Baum das goldne Laub, und wen'ge dunkel— 
rote Blumen ſchauten aus dem Nebelmeer hervor, — dod) eine reiche ahnungs- 
ſchwere Stille brütete ob alle dem, die ward geheiliget durch einer Umfel leifes 
Zwitſchern, wenn fie, träumend von des Sommers hingefhmundner Luft und 
Wonne, huſchte durchs verlaffene Gehölz — und ſchien ein jedes Leben aus— 
geftorben rund umher, und nirgends that fi eine Regung fund, als nur ein= 
3’ger Sonnenftrabl, der fpielte auf dem grünen Rafen, jagte um ſich felbft mit 


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323 - 





tindlidem Gemüt, verſchwand und kehrte wieder, fchlüpfte durch den Zaun und 
zitterte am Blatt unb haftete am Boden — 

Und während er fo ruhig wandelte und ſchön und heiter, wie von 
innerm Frieden, leuchtete jein Angeficht und finnend meilte auf dem Sonnen- 
ftrahl fein Blid, indes in weiter Ferne fchmeiften die Gedanten, 

Da trat der Engel Gottes zu Prometheus unverjehenen Geſchehns und 
redete und Sprach zu ihm mit Ernſt die ſchweren Worte: 

„Prometheus, fühner Fremdling aus der Menfchen Banden! Ich Habe dich 
„gemerkt feit langer Zeit und habe wohl betradjtet deines Geiftes Kraft, und 
„nicht ift mir entgangen deines Weſens ungemeiner Reichtum! 

Jedoch bei alle bem: verworfen wirft du fein am Tag bes Ruhms um 
„deiner Seele willen, die da fennet feinen Gott und achtet fein Geſetz und nichts 
„it ihrem Hochmut heilig, Jo im Himmel als auf Erben. 

„Und drum, fo höre meinen Rat, und trenne dich von ihr und ein Ge 
»wilfen geb’ ich dir an ihrer Statt, daß wird dich lehren »Heit« umd »Sleit« und 
„wird did) ficher leiten auf geraden Wegen.” 

Und es erwiderte und ſprach Prometheus mutigen Entjhluffes: 

„Erhabner Herr! der du verteileft Ruhm und Schande in ber Menſchen 
„Bolt mit eigenwilligem Beſchließen! 

In Wahrheit Habe Dank! denn mild ift deiner Nede Sinn, und eines 
„Breundes Meinung ſpür' ich wohl verborgen unter deinen Worten. 

„Jedoch nicht ſteht's bei mir zu richten über meiner Seele Angeſicht, 
„denn fiehe meine Herrin iſt's und ift mein Gott in Freud und 
„LZeid, und was id immer bin, von ihr Hab ichs zu eigen. 

„Und drum fo will ih mit ihr teilen meinen Ruhm, und wenn es muß 
geihehn, wohlan fo mag ich ihn entbehren.“ 

Und über diefem Wort, da wurde finjterer des Andern Stirn und er be— 
gann und warnte und ſprach — und mehr verfündete fein Blid als feines 
Mundes Rebe: 

„Prometheus! allzukeck it dein Gemüt, und allgufchnell bereitet fich dein 
„Mund zum Widerftreben! 

Jedoch ein Wichtiges bejtchet zwifchen dir und mir und deines ganzen 
„Lebens Schidfal Tieget unter deiner Zunge! 

„Und drum, zum andern Male achte wohl auf meinen Rat: es wird 
„geihehn, wenn du es nicht vermagft, und did) befreift von deiner Seele un- 


„gerechter Art, jo ift dahin für dich der vielen Jahre großer Kohn und beine . 


„Herzens Glüd und all die Früchte deines vielgejtalten Geiſtes.“ 

Und wiederum beharrte und jprad Prometheus fejten Mutes: 

„Erhabner Herr! der du ber Erde Luſt bewahrit in deinem Schaf und 
„fern von deiner Gnade hat fein Glüd Beltand in eines Menſchen Herzen! 

„Vielleicht du kennſt das Märchen aus der Menſchen Land: e8 war ein 
„Mann, zu dem gerieten feine Freunde ängſtlichen Gemüts: „„ein fchlechtes 
„Weib und fieh zu Tod und Sünde wird fie didy verführen.“* 

„Und ruhig lächelte der Mann: „„Wohlan fo ſei's zum Tod und fei’s 
„zur Sünbe.““ 

„Und alfo iſts mit mir und nicht in Freud und Leid vermag id) zu emt= 
behren ihr geliebtes Flüjtern.“ 

Und über dem Befcheid, da wandte ſich der Engel, grüßte und jdhieb. 

Und langfam zog er durch des Thales Schlucht und feste Schritt vor 
Schritt mit zögerndem Verweilen; 


Kunftivart 
- 34 — 


Und an des Thales innerften Verfchluß, ba hielt er gänzlich ftill und 
ftand und wartete, wie wer da glaubt an Widerruf, und wer da hofft auf 
feines Freundes fpätes enbliches Bebentfen. 

* 


Doch Epimetheus überm Bach vom nahen Haufe hatte wohl vernommen 
jegliches Geſchehn und wohl verjtanden alle ihre Worte. 

Und da er nunmehr jah den Engel mwartend jtehen an bes Thales Marf, 
dba fam ein Geift der Klugheit über ihn, und heimlich fchli er aus dem Haus 
und dudte fich und eilte auf verftedten Pfad, bis dab er war gelommen vor 
des Engels Antlitz; 

Und allda fiel er auf die Knie und betete und ſprach mit demutsvollem 
Herzen: 

„Mein Herr, mein Gott! im Jrrtum wandelt ich bis jeßt, gefangen durch 
„des ältern Bruders Wort und Beiipiel; 

„Doch nun fo ift nad Wahrheit mein Begehr, und fiehe meine Seele 
„liegt in deiner Hand, und fo es dir gefällt, fo gib mir ein Gewiſſen, das mid) 
„Iehre »Heit« und »Steit« und jegliches gerechte Weſen.“ 

Und alfo jprechend überreicht er ihm ein Käſtchen reich geſchmückt mit 
Gold und Böjtlichen Gefteinen. 

Und mit geneigtem Willen hörte der Engel fein Gebet und nahm das 
Opfer an und that nad) feinem Wunſch und ſchenkt ihm ein Gemifjen gnädiger 
Gemährung ; 

Und über dem, dba madte er fih auf und war verfhmwunden in bes 
Thales Falten. : 


Und e8 gefhah, da Gpimetheus ſich erhob, da fpürt’ er größer feinen 
Wuchs und feiter jeinen Mut und all fein Wefen war geeint und all jein 
Fühlen war gefund von fräft’gem Wohlbehagen. 

Und alfo kehrt er fihern Schrittes durch) das Thal, geraden Wegs, wie 
mer da Niemand jcheut, und offnen Blicks, wie wen bejeelt bes eignen Recht— 
thuns Angedenten. 

Doc als er nun gelommen vor bes Bruders Haus, da redete und ſprach 
zu ihm Prometheus bittern Grußes: 

„Bon wannen fommit du? und was eralänzet wie vom Redtthun dein 
„Befiht und mas verflärt fi) von Verrat dein Auge? 

„Und mwahrlid) lieber wäre mir, daß ich Dich fähe auf dem Schandgerüft, 
„veripottet von des Pöbels roher Schar, als daß du alfo Haft zerriffen unfern 
„Bund und haft um Heit und Keit verhandelt deine freie Seele.” 

Und ſprachs und wandte ſich und wechjelte in Bosheit alle feine Freundſchaft. 


* 
Das tote Thal. 


In ferner Felſenwüſte wohnt' ein Mann, der lebte ſchlecht und recht im 
Schweiße ſeines Angeſichtes mit ſeinen ſieben Söhnen. — 

Und es geſchah des Morgens, wenn die Söhne ackern gingen auf dem 
unfruchtbaren Feld, da warnte und ſprach der Vater mit beſorgten Mienen: 

„Bor allem habet Acht, daß ihr das tote Thal vermeidet, das ba Liegt 
„zur Rechten unterm Palmenhain, denn alfo hab’ auß meiner Eltern Mund 
„ich oft gehört: es wird gefhehn, wer immer diefes Thal betritt, jo faſſet 
„Bahnfinn feinen Geilt und nimmer wird er Freude finden alle Tage feines 
„Lebens.* 


1. Märzheft 1899 
— 35 — 








Und alfo ſprach er Tag für Tag und fie gehordten feinem Wort und 
führten ein fleißig Leben fchleht und recht, im Schweiße ihrer Angeſichts, 
jebod) zufriedenen Gemütes. 

Doch eines Mittags, da fie ſich zu Tifche fegten zur gewohnten Zeit, ba 
mufterte der Vater feine Söhne, ſuchte und zählte; und fiehe dal es fehlte 
der Yüngite. 

Und e8 ermwibderten und fpraden feine Brüder zu dem Bater tröjtenden 
Gebahrens: 

„Mit Unredt ängftigt fi dein Herz, denn fiehe, da mir ihn verliehen, 
„war gefund und wohl fein Leib und beim Geräte blieb er noch zurüd unb 
„alda bat er wohl gefäumt, jedoh in Kürze wird er ohne Zmeifel felbit 
„ericheinen.” 

Und mwährend fie noch ſprachen, that fi auf die Thür und fiehe da, 
der Bruder trat herein, jedod das Haar entfärbt, das Angeſicht verzerrt, und 
ganz verändert feiner Augen Bliden. — 

Und heftigen Entfegens fprangen alle auf, umringten ihn, umbdrängten 
ihn, beitürmten ihn beforgten Fragen®. 

Und eine lange Weile ftand er ſprachlos da und feufzte und feudhte und 
in die weite Ferne ftarrten feine Augen. 

Doch endlich übte er Gemalt und zwang zufammen feinen Geift und 
öffnete den Mund, erbleichte und fchauderte, erzählte und ſprach mit atem= 
Iofer Stimme: 

„Es ift gefhehn, da ich als Letzter Heimmärts fam gezogen nad) ge= 
„wohntem Braud, da war vom Mittag hei die Luft und glühend das Geſtein 
„und cine ſchwere Stille war gelagert überm ganzen Lanbe. 

Und ba ih alfo müben Schritte fam gegangen zu den Palmen überm 
toten Thal, da fühlte ein angenehmer Schatten meine Stirn, und unwillkür— 
lich raftete mein Fuß, und ohne Abficht ſenkte ſich mein Blid und fiel hernieder 
auf die bleiernen Gejteine. — 

Und während ih fo ſchaute ohne Arg, dieweil mein Körper ruhete vom 
beißen Gang: da laufchte mein Ohr und mie ein Summen brang® zu mir 
herauf aus der verflucdhten Tiefe. 

Und eine Weile glaubt ich’8 nicht, Doch um des Zweifels willen, ſchärft ih 
meinen Sinn und dudte mid) und ſchloß das Auge und legte mich zur Erbe. 

Und gänzlich deutlich hört ich's jeßt: ein taufendfältiges Geräufd von 
vielverfhlungenen geheimnisvollen Stimmen. 

Und aufgeregten Wefens fprang id; auf und magte eine Strede mid 
hinab: und lauter warb ber fonberbare Ton; und über dem ba trat ich noch— 
mals vor, und alfo fort, bis wo ber Rafen endet bei dem Zeichen an bes 
Randes Grenze. 

Und allda ftand ih eine lange Zeit und horchte, dieweil der Atem 
ftodte in meiner Bruft und tofend hämmerte das Blut an meinen Schläfen. 

Und endlich hielt ich’8 Länger nit und ſpähete umher mit ſcheuem Blid, 


und als nun gänzlidy Niemand war zu jehn, jo weit das Auge reichte in dem 
weiten Rund, da faßt’ ich mir ein Herz und büdte mich und griff nad) einem 
f Stein und wandt' ihn ſachte um —: und fiehe dba, darunter wimmelt es und 
4 — zappelt' es, und zuckte von tauſendfachem warmem weichem Leben. 


Und außer mir vor tötlichem Entſetzen hob ich einen zweiten Stein; 
und allda war es wie zuvor und alſo fort und fort und wo ich ging und 
ſtand, da war es alles Leben, Leben! —“ 


Kunſtwart 


— 276 — 


Und während er fo ſprach, entwich ihm wiederum fein Geift und ftaunend 
ftand er da und ſinnlos rollten feine Augen. — 

Und e8 begannen feine Brüder wider ihn mit Tröften: 

„Ermuntre dich, mein Freund! und mwehre deinem Sram! und wohl ein 
„böier Traum des Mittags hat dich alfo fehr erjchredt, jedodh fo magit bu 
„ohne Mühe ſelbſt erfennen des gefpenft’gen Bildes Nichtigkeit und Lüge: 

„Denn fiehe, wenn e8 Iebte in dem Thal, fo müßt e8 jterben wiederum 
„und alfo fort und fort in alle Ewigkeit, und wie vermag dein armes Herz 
„zu glauben fold) ein abermwigig teuflifches Geſchehn!“ 

Und über diefem Wort da warb ber Andere außer fi: 

„Und drum fo hab ich e8 gejehen fterben, jterben überall im meiten 
Thale.” — 

Dod jene lächelten getroften Muts und winkten fih, verjtanden fich, 
und als nun nachts der Mond beleuchtete das wüſte Feld, da madten fie fi 
heimlich auf und eilten zu den Palmen überm toten Thal und lauſchten und 
mwagten fi hinab — und als am andern Morgen kam ber Bater meden feine 
Söhne zur gewohnten Zeit, da faßen fie ein Jeder auf dem Boden vor bem 
Bett, verzerrten Angefichts mit Heulen. 

E 


Sophia. 

Es war an einem Sonntag Nahmittag zur Sommerszeit, als feftlich 
avar gelleidet Walb und Feld, und jilbern funfelte bie Luft und fröhlich 
ſchwangen fih ber Gloden reine Klänge über Stadt und Land in unbegrenzte 
Ferne, 

Da ftrömete bes Himmels Volk aus allen Gaffen, flutete durchs Thor, 
zerftreute fi und mwallete in Gruppen dort und bier vereinzelt zu den Bergen, 
zu den Wäldern, zu den buftigen Gebüſchen. 

Und mwährend biefe alfo fi) ergingen in ber fommerlidhen Quft, und 
jede Sünde war verjöhnt und jedes Leib verfchmerzt, und jeber Kummer Löfte 
fih ob diefes Tages Heitrer gnabenvoller Klarheit, 

Da ſaß in ihrem lichten Schloße in des Himmels wonnigſtem Berlieh 
Sophia, Gottes ält’ste, [hönfte Tochter, Iegte feufzend ihre Hände in den Schooß 
und blidte traurig durch das offne Fenfter nad) dem Adler, der fi wiegte 
in Hoher Luft und nad) dem fchatt’gen Berge, der zu ihr hernieber fchaute 
mit feinem grünen, ſchöngeformten Haupte. 

Und Stund um Stunde ſaß fie alfo da mit trübem Blid, geduldigen 
Gemüls, mie wer e8 oft geübt und wen Gntfagung ift geläufig ob ber täg— 
Iihen Gewohnheit, 

Da plöglih fprang fie auf, durdhfchritt das glänzende Gemach, und 
leicht, mit garter Hand umfaffend das Geländer ſchwebte fie hinab die breiten 
‚Stufen, eilte zu der dunflen, fchwarzverhängten Kammer, mo ihr Bruder 
mohnte, ber kranke Sohn des füniglichen Gottes. 

Und allda that fie auf die Thür, und auf der Schwelle ftehend Hub fie 
an und rief und fprad) zu ihm mit Unmut und mit Thränen: 

„So möcht' ich nimmer heiken Gottes Tochter, nimmer wohnen in dem 
„ſchönſten Haus! und lieber wäre mir zu fein von den Geringjten Eine, die 
„da wohnen unbefannt und namenlos im niedern Haufen. 

„Denn fiehe, allen Undern iſt ein Gatte oder aud) ein Bruder, ber an 
„ſie gedenft und ehret fie und führet fie zum Feſt, und Freude rötet ihre 
„Wangen; 

1. Märzheft 1899 


— 322 — 


Doch id), verlaffen fi ich einfam Tag für Tag, und ijt für mid) fein 
„Seit, und Niemand nimmt fi) meiner an und Niemand läßt mein Antlitz 
„Tpüren Sonnenfdhein und Waldesatem!“ 

Und träge bob der Andere fein Haupt, und nad) ber Schmefter blidenbd, 
die dba vor ihm ftand in ihrer Schönheit Glanz, von Anmut rofig angehaudt, 
vom Tageslicht umfpült, begann er jetzt und redete und ſprach mit fraftver- 
laſſ'nem Ton die vorwurfsvollen Worte: 

„Beliebte Schweiter! meines Dafeins Troft, und teurer meinem Herzen 
„als mein eignes unglüdfel'ges Selbit — und gerne gäb’ ich, fo id) e8 ver— 
„möchte, taufendmal um dich mein Beben! — 

„Hinweg mit den gemadten Thränen! frevle nit, indem du leichten 
Mutes ſpielſt auf deinem Angefiht ein nadhgeahmtes Leid! und alfo wünfd* 
„ich dir, und alfo flehe ich für dich in täglichem Gebet, daß nimmer bu erfahren 
„mögeft wahres Leid und ächte Thränen! 

„Und nun, du weißt es: gern mwillfahrt’ ich deinem Wunſch; jebod in 
„meiner Seele wohnt ein böfes Web, davor id) nicht ertrage Sonnenſchein 
„und Weltenluft, und Gift ift meinem Herzen all das vielgeftalte Leben; 

„Und drum fo will in Nacht und Einfamkeit ich Hier begraben meiner 
„Sram, bu aber ziehe heim in Frieden, dich begnügenb mit ber eignen Ge— 
ſundheit unfhägbarem Gute.” 

Doch nicht gehordhte jene feinem Wort, und ſchritt auf ihn Hinzu, erwies 
derte und fprad zu ihm mit Bitten und mit Thränen: 

„In Wahrheit, allzulange weilſt bu fchon allein, und wurdeſt nimmer= 
„mehr gefund und ſchlimmer nur geriet durch Einſamkeit dein Leiden; 

Zedoch fo wage den Verſuch und reiße did) von Hier, auf daß vielleicht, 
„wenn du’8 ber Sonne anvertrauft, vielleicht, daß fie e8 heile.“ 

Und alfo fprechend jchlang fie ihren weißen Arm um feinen Hals, lieb— 
fofte ihn und drängte ihn mit zärtlichen Gebärden. 

Und ſei's von ihrem Wort, und fei e8 von geheimer Hoffnung feines 
Herzens umgeftimmt, da gab er endlih nah, und Jene eilete hinauf und 
fhmüdte das ſchwere jSchiwarzgelodte Haar und legte ben Purpur um den 
eblen Leib, und über bem da madten ſie ji) auf und traten vor das Haus 
und vor dem Haufe auf die allgemeine nolfbelebte Straße. 


Und es geſchah, vor ihrem Anblick teilte fi) das Volk und fchaute ihnen 
lange nad), entblößten Haupts, mit achtungsvollem Mitleid. 


Und ſcheuen Wefens ſchritt der kranke Gott einher, beleidigt von des 
Tages grellem Licht, beläftigt von dem vielen Bolf, und folgte mutlos feiner 
Schmeiter, die ihn leitete entſchloſſ'nen Willens. 


Und ungern, notgedrungen trieb fie auf der großen Straße, eine treue 
Pilegerin, vermeidend, mo fie e8 vermochte, jeden Gruß, bejdjleunigend ben 
Schritt, und immerfort um ihn beforgt und immerfort bewachend feinen Blid 
— und als num über eine Weile fid ergab ein Weg, der feitwärts führte übers 
Feld zum nahen Wald, da lenkte fie den Bruder hin und allda zogen fie der 
Eine an des Andern Seite auf dem ſchmalen Pfade. 


Und jest, vom Vollsgewühl erlöft, von Einſamkeit umringt, vor ihren 
Füßen unabfehbar fi erftredend ein bequemer Plan, und über ihrem Haupt 
des Aethers Riefenkuppel, Hod und Iuftig aufgebaut auf ſchlanken Säulen, 
Raum und Helligkeit im Uebermaß gemwährend, nirgends Iaftend, nirgends 
drüdend, vielmehr alle8 Schwere aufwärts ziehend wie mit einem Bilfereichen 


Kunftwart 
-  — 


Arm: da wurbe ruhiger der Beiden Schritt, und freier hob der franfe Gott 
fein Haupt, begann fi) zu erlaben an der großen Stille. 

Und mehr behagt’ ihm als Die ftolze Straße der beiheidne Pfad mit 
feinem harten Boden, feinem zarten Widerjtehn, und wohl empfand er’s, wie 
derfelbe eifrig mied die grellen Flächen, wie er lieber einen Ummeg nahm, 
auf frummen Bahnen dahin meiftens jtrebend, mo von ſchlanken Kirſchen, mo 
von hohen Saaten fi fein Antlig fühlte, fih fein Leib bejchattete; — und 
dankt ihm alles Das, und mward ihm nimmer gram, ob ab und zu er fi 
erlaubte, daß er fpiele mit ben hohen Gäften, ſich verftedend, fich verfenfend 
plögli in der Ferne wiederum erhebend feinen roten Leib und neckiſch hers 
wärts grüßend, wintend, daß fie muntrer folgten auf feinen Spuren. 

Und über eine Zeit gewann er’8 über fih, daß er ein wenig mit ben 
Bliden naſche von dem Sonntag um ihn her, verjtohlen zwar und wollte felbft 
ſichs nicht geftehn, verbrießlid, wenn die Schmwefter ihn betradjtete aus ihrem 
Haren Aug; — doch Jene, fei e8 Zufall, jei es Abficht, wandt' ihm nunmehr 
immer bar bie feidnen Loden, während ungefehn er jetzt befriedigte das heim— 
fihe Gelüften. 

Und war ihm angenehm au ſchauen über all die üpp’gen Saaten, mo 
das ſtorn zum Golde eben erit gedieh und nod die leichten Halme Iotrecht 
ftanden, Mann an Diann gereiht und Bolt zu Volk gefügt, ein unabjehbar 
mwohlgeordnet Heer, darüber gleich berittnen Königen in gleidhgemeffnen 
Zwiſchenräumen ragte dann und wann hervor ein hochgewachſener Baum — 
und war ihm nicht zu viel die warme Luft, die mild und freundlich ſchwebte 
über alle dem, vom Blumenhaud erfüllt, von Sräuterbuft gewürzt — und 
nahms geduldig an, wenn ab und zu ein Oftwind leife fam gezogen übers 
Land und fräufelte das golbne Meer und flüfterte im Baum und fpielte in 
dem Gras, berichtend einen taufendfält’gen Gruß von ferner Luft verfündigend 
von allgemeiner, eingeftimmter Wonne eine herrliche Erzählung; — 

Doch mehr nod that ihm wohl ber finjtre Wald, mit feinen dunklen 
Farben feinen büftren Schatten, dba er gleich ald wie mit einem buſchigen 
Trauerfrang umgab das blühende Gefield, Gedanken zeugend, Wehmut mwedend, 
über all dem jugendlichen fröhlichen Getrieb ein ernfter, reifer Mann, vom 
Unglüd ungebeugt, durd) Shmadh und Spott geftählt, der Mehrheit mutig 
trogend; 

Und endlich wieder über eine Zeit, da fi fein Auge nun gewöhnt und 
lichtre Farben immer mehr vertrug, da war's ihm eine Nenigfeit, daß er die 
Blide, die fo lange Zeit gefangen lagen in des Zimmers engen Raum, daß 
er bie Blide fende nad) den größten Fernen: feitwärts nad) dem weißen duf— 
tigen Gebirg und vom Gebirge aufwärts fühnen Sprunges in die blauen, 
fledenlofen Gründe: 

Und erſt erfchien ihm keuſch und edel zwar, doc leer und ohne Geift 
das Iuftige Gebiet, und aller Orten glei), und nirgends ein bejeelter Zug und 
nirgends für das Aug ein Halt und für das Herz ein Ruhepunft, und hielt für 
gänzlich unmert dieſes Feld, verglihen mit dem goldnen Reihtum unter 
feinen Füßen, 

Doch bald mit feinerem Berftändnig fah er ſichs bewegen in den unge 
heuren Räumen, jah verborgne Schleujen fi erichließen, fah es allerorten 
quellen, rinnen, fprudeln in den blauen Höhlen. 

Und fchaute ftaunend, wie mit vollem Strom die Iuftigen Wellen ftiegen 
nad) des Wethers filberfuntelndem Palaft, wie fie den Einzug hielten durch 


ı. Märzheft 1899 


das Strahlenthor und all die prächt'gen Säle, all bie heitren Säulenhallen 
füllten mit ihrem duftigen Störper, ſachte tretend, daß aud fein Geräuſch er— 
fhüttere den heil’gen Bau — und mie fie aus ben offnen Fenſtern gleich als 
wie aus taufend Thoren wiederum bernieder fluteten, und endlich mit Gebet 
und mit Gefang, ein grenzenlofes Meer, zur Ewigkeit wallfahrteten, von Engeln 
angeführt, vom heil’gen Geifte, hoch zu Rob auf weißem Flügelpferd, begleitet. — 

Und lernte mefjen dieſes Meeres feenhafte Tiefe, wenn auf einer Riefen- 
wolle ftehend er betrachtete den Abgrund unter ihm und hob ihn mit dem 
Geift empor und türmt’ ihn dreis und vierfach über fi: und niemals war’s 
genug, und immer höher jtieg bie blaue Krone in Spiralen aufwärts, ihm 
entweidhend, aus der Ferne winkend mit der duft’gen Hand — unb mwährend 
er fo maß, dba warb von einem breiten Wogenſchwall hinweggeſchwemmt bie 
Wolfe unter ihm, die Wolfe nicht allein und mit der Wolfe feine Blide, mit 
den Bliden das gefamte feite Land mit allen Bergen, allen Wäldern. 

Und oben auf des luft'gen Stromes höchſter Höhe ſchwamm ein Adler 
ruhig über aller Welt, vom Auge faum bemerkt, und einem Bunfte gleich, 
darum fich dreht die ganze Welt und einem mwinz’gen Kern, worum fich hüllt 
ein ungeheurer Umfang. 

Und unbemweglih an derfelben Stelle fhien er ftetS zu ruhn, und feine 
Regung war an ihm zu jehn, und [dien erftarrt in ihm ein jebes Leben. 

Da plötzlich ftieg er jeht herab und wuchs und wuchs, befpiegelte im 
Sonnenglanz den ſchwarzen Leib und drehte fi und kehrte fi), und über eine 
Zeit fo Hub er an mit fchräggeneigtem Körper zu umfliegen die im reis fich 
behnenben Gelände. 

Und langſam, königlichen Fluges zog er feine Bahn, ein einfam wan— 
delndes Geftirn im grenzenlofen Raum, und unter ihm in tiefer Ferne folgte 
fein Schatten, riefenhaften Schrittes fchreitend über Feld und Wald und über 
Häufer, über Gärten, durch den Fluß und durch den See, Binan, hinunter an 
den grünen Hügeln. 

Und alfo ftricd er trägen Willens eine lange Zeit; doch als nun über 
eine Zeit zu feinen Füßen prangte bes Himmels Stadt auf fel’ger Höh, von 
dunklen Gärten eingefäumt und thronend auf gemalt’'gem Schemel, eine milde 
Königin, gegrüßt, geliebt von allem Land und ſchön bedient von mannig 
fachen bunten Schlöſſern, 

Da ſchlug er zweimal mit dem kräft'gen Arm und zweimal blitzete und 
funkelte ſein Flügelpaar: und jähen Aufſchwungs ſtieg er in die Höh, und 
ftieg und ſtieg — und plötzlich wich er großen Bogens ab und ſegelte mit 
Windeseile feitwärts nad) den weißen, dichtgeballten Wolken. 

Und allda bog er um das Thor und war verſchwunden binterm weichen 
Berge. 

— Und über dem da war vermwailt und leer die ungeheure Luft — ba 
fiehe: an ber Wolfen andrer Seite brady er wiederum hervor und jtürmte 
himmelwärts mit aufgeregtem Mut, durchſchnitt in einem Augenblick der Sonne 
roten Ball, und plöglich drang ein jcharfer Ruf hernieder aus der unmeh- 
baren ferne. 

Und dreimal wiederholt’ er ungeduldig ben Befehl, und über dem ba 
ftürzt’ er wiederum herab und ftieg und fiel in regellofen Zügen zornigen 
Gemüts, bis daß er fiegreih nun vollendet ben gewalt’gen Umgang. 

Und über dem da ſchifft' er niedrig ftreihend überm Walde langſam 
nad der unbekannten jehnfudhtsreichen Ferne. 


Kunftwart 


= 530 — 


Und ebe fie bes Feldes Milte noch erreicht, es fei von Einfamfeit und 
fei vom hehren Blumenbduft, da wurde weniger das Schmerzen in des Stranfen 
Brust und heller ward das Bliden feiner Augen: 

Und e8 vernahms die Schweiter feligen Gemüts und gerne hätte ſie's 
aus ihres Herzens tiefftem Grund gejubelt und gejaucdhzt in alle Welt; und 
faum enthielt fie deſſen ſich; Doc ob's ihr fchien ein großer Zwang, fo war 
die Liebe größer noch, und alfo fchritt fie ruhig ihre Bahn, mit feinem Zeichen 
ihm verratend, daß fie e8 gefehn, damit fie ja nicht ftöre das geheimnisvolle, 
zarte Werk der feimenden Genefung. 

Und weiter aogen fie de8 Wegs und e8 gefhah, mit jedem Schritt 
gefundete der ſtranke mehr und mehr, und unerträglicdher geriet der Schwefter 
inneres Frohloden. 

Und, über eine Zeit, als gänzlid nahe ſchon erfhien der Wald und 
fhon jein warmer Wohlgerud erfüllte die Luft, 

Da fentte fich der Weg und zwiſchen weichen Ufern fchli ein Bächlein 
durd) das faft’ge Gras, verborgen in dem ſchmalen Grund, befchattet von des 
Feldes Halmen. 

Und zahm und fittig war bes Bäcdhleins Gang und mohlgezogen feine Art, und 
war fein Arg nod) Falſch in ihm, und feicht erjchienen überall die klaren Fluten; 

Und in des Baches fühlem Bett vergnügten fih von Kindern eine nadte 
Schar und tanzte, — fich befprigend, fchreiend, lachend, — ftampfte uner- 
müdlih in dem weißen Schaum, und rofig mengten fi die jatten Leiber in 
ber ſommerlichen Luft, bieweil vom Fuß zum Knie fie deckte Wajler. 

Und von den Gröften wagte Einer Hin und wieber fi Hinzu, wo 
ſchauerlich mit hohlem Tone gludite der Bad und ſchwer und dunkel floh die 
Flut und ein Geheimnis ohne Zweifel lag dafelbft verborgen; 

Und ſachte, taftend, feßt’ er feinen Fuß, verachtend feiner Brüder heftiges 
Geſchrei, bezwingend feines eignen Herzens Bangigfeit, und ftetig mit ver— 
mwegnem Mute rüdt’ er vor, und tiefer ſank er immerfort hinab und ſchon 
umfpülten ihm die Wellen Leib und Schenfel, 

Da plöglich floh er jähen Laufs zurüd, beitaunt, bewundert von den 
tabelnben Genojjen. 

Und lädelnd ſah ber Kranke auf das kindliche Betrieb und meilte lange 
auf dem ſchmalen Steg und ungern zog er meiter. 

Und als er wiederum des Feldes Höhe nun erreicht, da öffnet’ er mit einem 
Deal ben längit verfchlofinen Diund, daß er begann zu fprechen und zu fragen 
unbefangenen ®ebahrens. 

Und über dem ba Tannte feine Schranken mehr das ungeftüme Wefen 
ihres Glüds, und wie von Sinnen warf fie ſich an feine Bruft, und küßt' ihm 
ſtürmiſch feinen bleihen Mund und über dem die Schultern und bie beiden 
Hände, warf fid) vor ihm nieder, preßte feine Sinie und fprang von neuem 
wiedrum auf und alfo fort und fort und kannte weder Maß nod Grenzen. 

Und während alle bem ergoß fich perlend ein Gemwitterbad von Thränen 
über ihr von Glüd bejtrahltes fonnenhelles Antlitz. 

Und tiefbewegten Herzens ſchaute Jener ihrer Liebe reinen ungefälſchten 
Strom, und bebend zog er fie zu fi) heran, berührt’ ihr andachtvoll mit feinen 
Rippen ihre reine Stirn und fegnete ihr Herz aus feiner Seele tiefftem Grunde, 

Und über dem, da war verwandelt alle Welt und rüftig, neubelebten 
Mutes zogen fie von dannen, Arm in Arm gehängt, und tranten Seligfeit aus 
jeglihdem Geſchehn, und jeder Zufall mußte ſich zu ihrem Glüd bequemen. 


1. Märzheft 1899 
— 3 — 


Rundschau. 


Dichtung. 


Friedrich Spielhagen, der 
am 24. Februar 70 Jahre alt ward, 
iit, alles in allem genommen, ber be= 
deutendſte Unterhaltungs— 
ſchriftſteller des verfloſſenen 
Menſchenalters geweſen. Zu einem 
bedeutenden Unterhaltungsſchriftſteller 
gehört ein großes Stück Poet, es ge— 
bört ein ausgeſprochen erzähleriſches 
Talent, es gehört wohl auch, zumal 
in unferer Zeit, wo die einfache ge— 
funde Natur nicht mehr wirft, ein, 
man erlaube mir zu jagen: anziehen 
des Berfönlichkeitsparfüm dazu. Alles 
dies hatte Spielhagen, und er gab fi 
redlihe Mühe, feine Zeit wirklich zu 
erfennen, um wieder auf fie einwirken 
au fönnen. Freilich, er blieb immer 
Parteimann, geiftvoller Menſch, Sen— 
jationsschriftiteler, wurde nie voller 
Dichter. Ich für meinen Teil habe 
ihn in meinen Jugendtagen leiden= 
fchaftlich gern gelejen, ich laſſe mid 
noc heute gelegentlich von ihm fort 
reißen, aber ein Bedürfnis, ihn zu 
leſen, babe ih nit mehr und ich 
fürchte, ich werde ihn nad) dreißi 
Jahren, wenn ich ’# erlebe, faum 2 
lejen fönnen. Seine literatursbijtorijche 
Stellung wird er behalten, fo gut wie 
Bulwer, an den er überhaupt jehr 
ſtark erinnert — mer liefi heute noch 
Bulmwer? Es iſt ein eigenes Schidfal, 
das über dem Zeitroman jchmebt, 
wenn er nicht voll poetijch wirkt; nicht 
einmal zu kulturgeſchichtlichen Zwecken 
benugt man ihn in fpäterer Seit, da 
nıan weiß, daß eben doch nur der 
Boet richtig gejehen hat. Doch, das 
iit feine Betrachtung für dem fiebaig- 
jien Geburtstag eines Lebenden. Wir 
müſſen Spielhagen zugeitehen, daß er 
auf feine Zeit ſehr ſtark eingemirft 
bat, wir wollen nicht bejtreiten, daß 
er heute mit feinen beiten Werfen noch 
lebendig ift, wir wollen fefthalten, daß 
ihn feiner des jüngeren Geſchlechts 
bisher auf dem Gebiete des Zeitromans 
übertroffen, daß feiner nur entfernt 
feinen Erfolg erreicht hat. Das langt für 
einen Haufen Lorbeerfränge, wenn aud) 
vielleicht der eine nicht dabei iſt. 

Adolf Bartels. 

* Goethe im Reichſtag — das 
it das Thema, das der Herr Zentrums: 
Ubgeordnete Schädler durd) eine ſchöne 
Nede zur Disluſſion in den Zeitungen 
gebracht hat. Ueber Goethes wiſſen— 
Ichaftlihe Bedeutung, meinte er, fünne 


Kunftwart 


man doch jtreiten, fein Patriotismus 
jei fehr anfedhtbar u. ſ. w. deshalb 
dürfe man den Straßburgern eine 
Staatsbeihilfe für ihr Denfmal bes 
jungen ®oethe nicht gewähren. Wir 
würden's ihnen auch abidjlagen, aus 
andern Gründen allerdings. Wber 
weshalb ärgert man ſich fo über Herrn 
Schädlers Gründe? Wenn man von 
Goethe jpricht, denit feiner, ber eine 
Ahnung von feiner Bedeutung hat, an 
feine „Wiffenihaft* oder an jeinen 
„Patriotismus*, gewiß — aber waren 
die Urteile, die wir von Vertretern der 
Regierungen über unsre Geiltesgrößen 
gehört haben, nicht ojt um fein Rot 
gewichtiger? Und wenn fih Schädler 
für feine Einfhägung der Goethifchen 
Riffenihait u. a. auf einen Du Boiß: 
Reymond berief, erinnert uns das 
nicht an die unübertrefflie Verſtänd— 
ni8lofigfeit aud) diejes großen Gelehr— 
ten gegenüber Goethiſcher Poefte ? Ehe 
wir uns daran gemöhnen, im Reichs— 
tage die Bertretung aller möglicher 
anderer, nur nit etma höherer 
Interefien unferes Voltes zu jehn, 
fommen wir aus dem MWerger über 
dieſe Herrichaften nicht zu der einzigen 
befreienden, zu der humoriftiichen Be— 
tradjtung ihres Treibens, über dag die 
Gun Entwidlung ja doch ruhig fort— 
geht. 

* Häuslihe Vorleſungen 
von Dichtungen für die Diener 
ſchaft empfiehlt ein ungenannter Re— 
gierungsrat in der „VBoltswirtichaftl. 
Beilage* der Tgl. Rundidau al 
„Sozialpolitil im Haufe“ „Ih kann 
diefe Cinrihtung zur Nadhahmung 
empfehlen. Sie wird allerdings bier 
und da nidt angebradt, an andern 
Orten nit jo leiht durchzuführen 
jein, wie in meinem Haufe, deſſen 
Dienftboten aus guten Heinbürgerlichen 
Familien ftammen, Takt und natür— 
lichen Anſtand haben und ihre Dienft- 
jtelung nicht nur als Geſchäftsſache 
betradten, fondern mit warmem per- 
fönlichem Intereſſe auszufüllen 
bemüht ſind. Wo aber derartige Ber- 
hältniffe beſtehen oder hergeſtellt 
werben fönnen, da werben ſich ge 
meinfame Lejeabende als eine höchſt 
wohlthuende und erfreuliche Einrich— 
tung bemeifen, und zwar für alle Bes 
teiligten.”* 

Wir können das aus eigner Er— 
fahrung beftätigen, aber eine Be 
dingung iſt noch dabei, und gerade 


gegen die wird häufig gefehlt. Sobald 
folche Hörer und Hörerinnen etwas von 
Tendenz merken, von Abſicht, ihr 
Denken im Sinne des „Herrn“ zu be= 
einflujjen, iſts aus. Im Uebrigen hat 
man in ben legten Sahrzehnten fo oft 
beobadjtet, wie ſelbſt hochitehende, 
ſchwierige⸗ Dichtungen vom „Bolfe* 
‚ überrafchend leiht und dankbar auf⸗ 
genommen werden, daß eigentlich die 

Frage naheliegt: warum faßte man 
8 Ih häusliche Vorleſungen nicht eher 
ins Auge? Der Anonymus teilt aud) 
ein fleine Lifte erprobter Leſeſtoffe 


* ‚Bildung und Beſitz“. Wir 
leſen in einem Sclaner Xofalblait: 
„Der Abgeordnete Dr. V., deſſen Ver— 
mögen man auf etwa 400000 Gulden 
geſchätzt hat, Hinterlich eine Bibliothef 
im Werte von — 100 Gulden.“ Und 
er war doch nur einer von ad), wie 
vielen! 


Cheater. 


Yvette Guilbert gaftiert 
wieder in Deutfhland, und wir wol— 
len wünſchen, dab ſie's recht lange 
und an redjt vielen Orten thue, denn 
fte ijt nicht nur eine wahrhaft bedeu— 


“ tende, fondern aud) in der That eine 


erzieherifche Kraft. Mit feiner einzigen 
„Nummer“ der Übende, an melden 
ih fie a: zeigte das Variété auch 
nur annähernd fo verfänglidhe Stoffe 
behandelt, wie die Guilbert behandelte, 
— und feine einzige andere Darbietung 
erreichte Die ihrigen an rein geiiti= 
ger Wirkung. Ich habe nie in höherem 
Make das Gemeine auflöjen ſehen 
durch den Geilt, als hier, ich Habe 
nie mehr den Triumph der Kunſt über 
den Stoff nefühlt, als bei diejer gro— 
Ben Realiftin. Will man von den 
Mitteln Sprechen, jo wird man ja von 
ihrer Kunſt des Sprechgeſangs aus— 
gehen und auf den wundervollen Takt 
hinkommen müſſen, mit dem ſie in Geſte, 
Wort und Ton das Prinzip des klein— 
jten Straftmahes walten läßt: fie gibt 
unter allen Mitteln jtetS demjenigen 
den Vorzug, das die erforderte Wir— 
fung mit dem Eleinjten Aufwande er= 
reiht. So erzmwingt fie aus vornehmer 
Ruhe heraus mit einer kleinen plötz— 
lihen Gefte fhon einen Eindrud, wie 
ign zwiſchen der aufgeregten Unruhe 
gewöhnlicher Sängerinnen die wildes 
iten Geberden nicht erzielen. Wenn 
fie aber zu jtarfen Dlitteln greift, fo 
verwandelt fie auf Sekunden einer 


Ichnellften Geitenfolge das Bild in eine 
Szene, die wie mitleden. Auf Scluns 
den, auf eine Minute vielleiht, nie 
auf länger, als erforderlich ift, dann 
iſt nad) dem Dramatifchen wieder das 
Epifhe da, das feinit und geiitvollit 
harakterifierende und glofiterende 
Schildern, nicht mehr das unmittel- 
bare Beteiligen. Bon dem Maß— 
halten ber Guilbert fann man ler= 
nen. Und lernen fann man zumal 
bei uns in Deutſchland aud) von ihren 
Zerten, ohne daß man da auf allen 
Wegen mitzugehen braudite. Die hohen 
Obrigfeiten fönnien davon lernen, die 
jest mit volllommener Banaufenhaftig- 
feit in jeder freieren ſatiriſchen Kunſt 
Sitten- und Staatsgefährlidhfeit ver— 
muten, und die Boeten fönntens, denen 
im feineren Brettlfang ein Bermittler 
zum Volt erwachſen könnte, um wel— 
chen ſichs lohni, mit dem Gaffenhauer 
zu kämpfen. Nicht lernen läßt ſich nur 
die hohe perſönliche Hunjt der Guil— 
bert, — bewahre uns ber Simmel 
vor imitierten Yvettes! U. 

* Die Mündner literarijche Ge⸗ 
ſellſchaft brachte uns eine Aufführung 
= „Meiſter Delge* von Johannes 

Sch iaf Gegenüber ber Verhöhnung, 
die der Theaterpöbel nad) berühmten 
Berliner Mujtern dem Stüd anges 
deihen lieg, muß aufs entſchiedenſte 
betont mwerden, dab wir’8 im „Dleilter 
Delze* troß aller offenbaren Ge⸗ 
brechen des Dramas mit dem Werk 
eines Dichters und intereſſanten 
Menſchen zu thun haben. Wenn von 
vielen Seiten eine eigentliche Hand— 
lung im Stück vermißt wird, ſo liegt 
das erſtens daran, daß übermäßig 
ausgedehnte Stimmungs- und Milieu⸗ 
ſchilderungen die wachſende Bewegung 
im Drama teilmeis verbergen, und 
zweitens daran, daß die Bewegung 
felber in doch wohl allgu weiten Wins 
dungen anjteigt. Sandlung, inner 
liche, feeliiche Handlung hat das Stüd. 
Meiſter Delze hat feinen Stiefpater ver— 
giftet und das ganze Erbe für fid) zu er= 
Schleiden gewußt. Pauline, die rechte 
Tochter de8 Ermordeten, ahnt den 
Sadyverhalt. Sie hat fich in Oelzes 
Haus feltgefegt und ſucht dem Stief- 
bruder das Leben dadurch zu vers 
gällen, dab fie ihm mit beftändigen 
Erinnerungen an den Vater und mit 
verjtedten Anfpielungen auf dejjen un— 
natürlichen Tod zufegt. Oelze wehrt 
ſich damider mit dem ingrimmigen 
Hohn des überlegenen Egoiiten, der in 
feinen Mitmenſchen nur eine Herde 


1. Märzheft 1899 


— 33 — 





von Dummköpfen fieht, die man mög— 
lichſt ausnügen fol. Diefer Kampf 
mwädjt an Erbitterung und Kraft, bis 
Schließlich Paulines Schmerzgefühl um 
den Bater und ihr Hat gegen ben 
Bruder, bis alles in ihr in die eine 
ſchier dämonifh ſich erhebende Be— 
gierde zuſammenſtrömt, um jeden 
Preis gewiß zu erfahren, ob ihr Vater 
von Delze vergiftet worden. Delze 
dagegen verjtodt immer mehr in feiner 
grimmigen Eigenfudt und jtirbt, ohne 
etwas zu befennen, ftirbt, nachdem er's 
fertig gebracht, die Stieffhmwefter noch 
auf dem Totenbett troß all feiner 
Ungftanwandlungen und Wahnvorſtel⸗ 
lungen au verhöhnen. 

Uber id) fann das Stüd nicht bloß 
interefjant finden, fondern muß jagen, 
daß aud tiefere Wirkungen davon 
ausgehen. Entſchieden ergreifend wirft 
e8 3. B. auf mid, wenn ber jter- 
bende alte Sünder nod) kurz vor'm Ver— 
röcheln Hartnädig nad) der Zenſur 
feines Sohnes verlangt, um fie zu 
unterfhreiben. In diefem ſchlichten 
Zug zeigt ſich's, daß Schlaf dem von 
ihm erſchauten Menſchen bis in Herz 
und Nieren geblidt und nidt etwa 
bloß einen arimmigen Böſewicht ſich 
peiftreich fonftruiert hat; denn das hat 

ie Natur nun einmal in einen jeden, 
aud) den miferabelften Menfchen ge= 
legt, daß er nod) irgend etwas außer 
fih mit Liebe erfaſſen muß. Auch 
Yumor findet fih in dem Stüd; id) 
erinnere nur an die Szene, wo Oelzes 
Sohn feiner harmloſen Gymnaſiaſten— 
Zausbubenhaftigkeit die Zügel ſchießen 
läßt, feine Feine Kouſine in aller Lies 
bensmwürdigfeit zu Tode ängitigt und der 
alten verrüdten Großmutter, die als gro— 
test erſtarrte Mumie in die unſchuldig 
bewegte Kinderwelt hineinragt, unbe— 
kümmert renommiſtiſch die Pflaumen— 
kerne auf den Kopf ſpukt. Freilich, eine 
volle Lebensanſchauung des Verfaſſers 
ſpiegelt das Stück nicht wieder, es be— 
ſchränkt ſich auf reine Charakterent— 
wicklung. Damit weiſt es ſich ſelber 
einen beſcheideneren Platz an, den aber 
nimmt es auch in Ehren ein. 

x. Weber. 

* Bon den Berliner Erſtauf⸗ 
führungen der legten Zeit berichten 
wir aujammenfafjend. 

* ‚Kunst und Kirche“. Unter 
diefem Stihmwort ward in den Blättern 
jüngit viel über einen Fall geichries 
ben, der fih in Darmitadt ereignet 
hat: die evangeliſchen Geiftlichen der 
dortigen Gemeinden hatten die Direk— 


Kunftwart 


tion des Hoftheaters in einer moti— 
vierten Eingabe erſucht, die Operette 
„Der Opernball* vom Spielplan ab= 
aufegen. Gegner aller obrigfeitlicdhen 
Dreinrederei in Kunftdingen, hatten 
wir ung dem Zeitungslampfe gegen 
diefe Theologen doch nicht anſchließen 
wollen, bevor mir genügend unters 
rihtet waren, jeßt aber, wo wir's 
find, müjjen mir geftehen: die betref: 
fenden Paſtoren haben unferer Mei— 
nung nad nit mehr ausgeübt, als 
ihr gutes Recht. Gerade, wer mit ung 
für Aunft, Kunſt jeder Art unbe 
ſchränkte —— fordert und 3.8. 
gegen die Denunziation Dehmels mie 
gegen bie Rotftiftitreichereien bei einer 
Guilbert mit uns Front madt, follte 
fih hüten, eindeutige Schmeinereien 
und zweibeutige Schlüpfrigfeiten einer 
franzöfifhen Operette als Ktunſt ein 
Ihmuggeln zu laſſen, die gar nichts 
weiter bieten, als das. Bon all den 
Urgumenten, die wir felbit gelegent= 
lich Dehmels troß aller Gegnerſchaft 
gegen feine unfrer Ueberzeugung nad) 
überreigte und kranke Sinnlichkeits- 
poefie vorgebradht haben, trifft Der 
fein einziges zu: e8 Handelt fich hier 
um eine allein dem Geldmachen durch 
Amüfement gewidmete frivole Durch— 
fchnittSoperette, bei der von „Gipfel- 
kunſt“, von dem Suchen nad) Neuland 
bes Empfindens gar feine Rede fein 
fann. lebrigens haben die Darm: 
ftädter Bajtoren nit dbenunziert, 
nod) haben fie ein obrigfeitliches Ver- 
bot der Operette für alle Bühnen er— 
ftrebt, fie haben nur das Hoftheater, 
das ja als ſolches nad) alter Legende 
eine Runjtanftalt fein ſoll, gebeten, 
ben „Opernball* zu Gunjten anderer 
Werke vom Spielplan abzufegen. Dan 
fann anderer Meinung fein und ba= 
gegen petitionieren, einen Grund zur 
Entrüjtung über „Pfaffenanmahung” 
ſehn wir aber nicht, fo lange Pa— 
ftoren diefelben Rechte haben wie andre 
Staatsbürger. 

* Hat das Stüd gefallen? 
Die Antwort auf diefe Frage, die wir 
in unfren Berichten grundfäglich nur 
dann geben, wenn die ufnahme durchs 
Publitum in irgend einer Beziehung 
fennzeichnend war, meinen die meijten 
TheatersReferenten der Tagesblätter 
nit umgehen au bürfen, meil der 
Durchſchnittsleſer fie für hochwichtig 
hält. Wie wenig fie über den eigents 
lien Wert eines Werkes befagt, das 
zeigten fürzlich die Aufführungen des 
Shlaffhen „Meifters Oelze“ in Mün— 


Ken ganz ungewöhnlich ſchön. Die 
Vorstellung fand für eine Hälfte 
der Mitglieder der dortigen Literari— 
fhen Geſellſchaft am Abend, für bie 
andere am nächſten Vormittag jtatt. 
Und nun wird berichtet: „Die Abend— 
— ließ das Drama durchfallen, die 

ormittagshälfte bereitete ihm einen 
ſtarken herzlichen Erfolg.“ 

Wie's gemacht wird. 

* Kapitel von ben Erfolgs—⸗ 
Telegrammen, von denen wir im 
Heft 9 an diefer Stelle geiproden 
haben, veröffentlicht jegt der Berner 
„Bund“ einen ſchönen Beitrag. „Letzten 
Montag früh erhielten wir vom Buch— 
und Muftlalienverlag 3. Schuberth u. 
Eo. in Leipzig ein gedrudtes Zirkular 
mit einigen auf Reklame berechneten 
Mitteilungen über verfchiedene neuere 
Opern, mit Notizen, die ung »zwecks 
UbdrudzurBerfügunggeitellt« werden. 
Darunter befindet fi auch die nach— 
folgende, die mit fchlauer Berechnung 
offenbar für ein Dienstag-Mtorgenblatt 
beitimmt ift: »Ein Telegramm aus 
Bremen meldet uns: Um Montag 
Abend erzielte unfer Stattheater einen 
glänzenden Erfolg mit der trefflichen 
Aufführung der Oper »Ingmelde« von 
Schillings.« In der Leipziger Muſi— 
faliendandlung hat man alfo fon 
legten Samstag, an weldem Tage 
der Brief aufgegeben worden iſt, vom 
»glänzenden Erfolge ber zwei Tage 
fpäter ftattfindenden Bremer Auf— 
führung Kunde nehabt! Da ein Datum 
mweislic vermieden ift, wäre vielleicht 
noch die Ausrede möglich, die Notiz 
— ſich auf den vergangenen Mon— 
tag, den 6. Februar. Allein ein Tele— 
gramm aus Bremen braucht auch auf 
dem Umwege über Leipzig nach Bern 
nicht acht Tage, und wenn eine Zeitung 
die Ingwelde-Notiz morgen in der 
übermittelten Form bringt, ſo — 
ſie der Leſer ganz felbftverftän lich 
auf den jüngſten, den heutigen Montag 
Abend. Mit ſolchen Reklame-Kunſt— 
ſtückchen wird man BF Zag für Ta 
beglüdt, wir wollten deshalb einma 
von dem uns gütigjt zur Verfügung 
geitellten Material Gebraud) machen, 
wenn aud) in etwas anderem als in 
ben beabfichtigten Sinne.” Geſchähe 
das von unfern Tageszeitungen nicht 
ausnahmsweiſe, Jen in ber Regel, 
b wären wir bald ben Unfug los. 

ber von taufend ſolchen Zelegra= 
phiften wird vorläufig hödjstens einer 
mit der richtigen Münze bezahlt. Und 
oft genug ift nicht, wie im Falle Schil— 


ling®, der Komponiſt felber an der 
Sade offenbar unschuldig, fonbern ber 
Autor felbft fpielt den dienfteifrigen 
Reporter. 


Mufit. 


+ Bon Münchner Mufit. 

Multa non multum, — das ift und 
bleibt in Lünftlerifher Hinfiht das 
Zeichen deſſen, was man die „Saifon“ 
nennt, — eine leberfülle an Maffe, zu 
ber daß qualitative Defizit in einem 
fchreienden Gegenſatz Steht. Und fo 
leicht e8 mir wäre, ein ganzes Heft bes 


.„Kunftwarts* zu füllen, wenn id) die 


mufilalifchen Genüſſe des abgelaufenen 
Vierteljahres aud) nur aufzählen follte, 
fo ſchwer fällt e8 mir, etwas namhaft 
au maden, was in einem höheren Sinne 
mwirflich verdiente, an diefer Stelle er— 
mähnt zu werden. Das ift nicht etwa 
deshalb jo, weil hier bloß oder aud) 
nur vorwiegend ſchlechte Muſik ge— 
macht würde — das iſt durchaus nicht 
der Fall, — ſondern weil, um es ganz 
kurz zu fagen,! unferm Muſikleben eine 
leitende fünftleriiche Berfönlichkeit fehlt, 
die das ganze Treiben mit ihrem Geiſte 
erfüllte, und in den Dienft einer fünft= 
lerifhen Gefinnung ftellte, weil 
unfer Konzert= und Theaterwejen ein 
wüſtes Chaos ift, in dem Gutes und 
Schlechtes unterſchiedslos und gleich 
er und ziellos durdjeinander wir— 
elt. 

In Richard Strauß, ber nun 
nad) Berlin gegangen ift, hatte Mün— 
chen einen Künitler, der die perſönliche 
Eignung au einer führenden Nolle 
zweifellos in hohem Maße befah. Es 
würde zu weit führen, wollte id) mich 
darauf einlaffen, zu unterfuchen, warum 
Strauß troß feines gewaltigen Talen= 
tes, jolange er hier war, ohne jeglichen 
Ginfluß blieb. Sein Nachfolger wurde 
Bernhard Stavenhagen. Er hat 
ſowohl im Ronzertfaal wie im Theater 
bemiefen, daß er doch weſentlich befjere 
Dirigenteneigenfhaften befigt, als er 
bei — vorigjährigen zweimaligen 
Auftreten als Leiter des Kaim-Orche— 
ſters gezeigt hat. Aber eine künſtleriſche 
Perſönlichkeit von beſtimmt ausge— 
ſprochenem Charakter iſt er nicht. 
Se Löwe, der ftändige 

irigent der Kaim-Konzerte im vori— 
gen Winter, hätte ungmeifelhaft das 
Be in ſich gehabt, um mit der Zeit eine 
ofche zu werden, aber Herr Dr. aim 
hielt ihn nicht fo lange, wie nötig it, 
um das Publikum an eine neue Er— 


1. Märzheft 1899 


335 — 


3 
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in 


a 14.1 


1 


— F or, 
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ſcheinung zu gewöhnen, die nod) feine 
Berühmtheit ijt. Seine herrliche Auf: 
führung der Brudnerihen B-dur-Sym= 
phonie bedeutete eine fünftlerifche That, 
die unvergeffen bleiben wird. Man lieh 
ihn gehen und berief an feine Stelle 
Felir Weingartner. Bei diefem 
Wechſel iſt das Kaimſche Unternehmen, 
inſofern es ein „Geſchäft“ iſt, durchaus 
auf ſeine Rechnung gekommen, nicht 
in gleicher Weiſe aber der aufrichtige 
Kunſtfreund. Weingartner iſt unzwei— 
felhaft ein höchſt glänzender Dirigent, 
und als folder nicht bloß Wirtuos, 
mie man mohl behauptet hat, fondern 
in vieler Hinſicht auch echter Künſtler. 
Schon wegen feines hinreigenden Tem- 
peramentes und Feuers ift er Das, 
worin ihm nur ganz moenige feiner 
Sunftgenoffen gleich fommen dürften. 
Aber um eine führende Rolle au fpielen, 
dazu fehltS ihm an Snitiative, oder 
deutlicher geiproden: an Mut. Aus 
allem, was er thut, daraus, wie, und 
nod) mehr aus dem, was er dirigiert, 
erjieht man, daß er ſich immer als 
des allmädtigen Bublitums achor= 
famen Diener betradjtet, daß er nichts 
mehr fürchtet, als irgendwo Anstoß zu 
erregen, — ein betrübend eifriger Apo— 
ftel des „Steisgemwohnten“. Wie weit 
er in dieſer fervilen NRüdfichtnahme 
auf die göttliche „vox populi* bismetlen 
gebt, zeigte ſich ja unlängjt in fraffer 
Weiſe in Berlin, wo er ein auß eigene 
ſter Initiative aufs Programm gefch- 
tes Stüd am Zage der Aufführung 
felbit noch wieder abjeßte, weil e8 vom 
Publitum der öffentlihen Hauptprobe 
abgelehnt worden mwar.* Demgemäh 
find auch Weingartners Hiefige Pro— 
gramme überaus tonventionell und 
zahm, — mogegen die Ausführung 
meiſt höchſten Lobes mert ijt. Ein 
Komponijt, dem Weingartner nicht 
geredjt zu werden vermag, tft Berlioz, 
deſſen cyarafteristische Härten und Eden 
er nach meiner Meinung fehr unan— 
gebrachter Weile möglichit abzuglätten 
fih bemüht, und zum Teil aud 
Ziszt. Zwar den „Zaflo* brachte er 
zu einer Wirkung, wie fie glanzvoller 
nicht gedacht werden fann. Dagegen 
fehlte dem eriten Saße der Dante 
Symphonie durchaus jene dämoniſche 
Energie und fchroffe, ja rohe Wild- 
heit, ohne die er nicht das ift, was er 
fein fol. Bon Neuheiten brachte Wein— 
gartner bis jet nichts als eine aut 
gearbeitete, ſtark „griegilierende* Sy ne 


* Vgl. Kunftwart XII, 9. 
Kunftwart 


— — — — — —— — —— — — — — — — — — — — — — — — — 


phonie von Sinding, die keine 
tiefergehende Teilnahme zu erregen 
vermochte, und ein „Starneval“ be— 
titeltes Orcdheiterftüf von Dworſchak, 
— im Grunde nichts meiter als eine 
geihidte Epigonenleiftung auf dem von 
Berlioz in fo genialer Weife gepflegten 
Gebiete, die gleih allen aus Nach— 
empfindung heraus entftandenen Wer— 
ten das Mißliche Hat, daß ſie jelbit 
dann mindeftens überflüjffg wäre, wenn 
fie ihrem Vorbilde durchaus gleichfäme, 
— was aber bei Dworſchak keineswegs 
der Fall ift. Daß Weingartner es über 
ſich bradite, in einen ernſt fein follen= 
den Stonzerte dem Bublifum ein künſt— 
leriiche Niatferie, wie Saint-Saëns 
„Rouet d’Omphale“ vorzufegen, fei nur 
der Kurioſität halber ſchließlich noch 
erwähnt. 

Intereſſanter in ihren Programmen 
als die Kaim-Konzerte waren die Ver— 
anſtaltungen des Hoforcheſters, die in 
dieſem Jahre abwechſelnd von Franz 
Fiſcher und Bernhard Staven— 
hagen geleitet werden, — wogegen 
ſie, was Güte der Aufführung anbe— 
langt, Hinter jenen zurüditehen. Der 
Uebelitand, daß ein in feiner Zuſam— 
menjegung vortrefflider Ordeiterför- 
per andermeitig zu ftarf in Anſpruch 
genommen iſt, um genügende Zeit für 
Konzertproben zu erübrigen, madt ſich 
in der Akademie oft in unangenehmer 
Meife fühlbar. Won neuen oder weni— 
ger befannten Werfen hörte man 
Tſchaikowskys „Symphonie pathe- 
tique*, ein Merk, das jicher nicht un= 
interejjant iſt, das id) aber doch nicht 
jo Hoc ftelen fann, wie e8 neuer— 
dings (von Berlin aus) wohl geſchieht, 
je ein Mlavierlongert von Staven— 
hbagen und Sgambati, von denen 
das erjtere den Stil der beiden Liszt— 
ſchen Konzerte äußerlich geihidt nach— 
ahmt, ohne indeſſen einen einwand— 
freien Beweis für den Stomponiiten- 
beruf feines Autors zu liefern, während 
das zweite in jeder ig lang= 
weilig ift, und Straußens „Tell 
Eulenſpiegel“, deſſen „ſchlechte Witze 
ſo gut ſind, daß man ihm nicht gram 
ſein kann und nur bedauern muß, daß 
der Komponift ſich verleiten lieh, dieſe 
Art „mwitiger Mufit* auch bei einem 
von Haus aus fo erniten Vorwurf, 
wie bem „Zarathuftra* anzuwenden. 

Dräfetes „Symphonia tragica“ 
zeiate einen hodhgebildeten, mit Aus— 
nahme der AInftrumentation, dic ver— 
aitet ift, auf dem Gefamtgebiete mo— 
dberner Rompofitionstechnil wohl bes 


— — 


wanderten Muſiker, der Ernites und 
Hohes anjtrebt, deſſen erfinderijche 
Begabung aber mit feinem Wollen in 
einem in der That tragischen Mißver— 
hältnis fteht. Was der Hörer ſchon 
nach dem eriten Sate glaubt, daß 
näuilich Dräfele uns eigentlih gar 
nichts zu fagen habe, wird in den 
folgenden Sägen nad allen Regeln 
der Kunſt und des Slontrapunfts fo 
unwiderleglich dargethan, dab auch 
nicht mehr der geringite Zweifel bleibt. 
Dak die Symphonie, ohne ausgefpro= 
bene Programm Mufif zu fein, zu der 
Gattımg von Werfen gehört, die, um 
mit Richard Wagner zu reden, troß 
des Felthaltens an der überlieferten 
Form felbit jehr „programmbedürftig” 
erſcheinen, macht die Sadje nur noch 
fhlimmer. Enttäuſcht Hat mich aud) 
Humperdinds (nadfomponiertes) 
Borfpiel zu den Königskindern“. Da 
Dieses Stüd als reine Konzertpiece ge= 
dacht ift und mit dem Rosmerſchen — 
nennen wir es einmal: Drama in 
äußerft lofem Zufammenhange ſteht, 
das erhellt ja jchon daraus, daß der 





Komponiſt feine Königskinder-Muſik 


vom Stapel laufen ließ, ohne erſt die 
Vollendung diejes Vorſpiels abzuwar— 
ten. Im Theater iſt es alfo wohl 
zum mindejten überflüäffig. Aber auch 
im Konzertſaal macht es feine ſonder— 
lich gute Figur. Einige recht primi— 
tive Tongedanken erſcheinen in dem 
prunkenden Gewande der bekannten 
manchmal etwas überladenen Humper— 
dinckſchen Polyphonie und ſeiner nicht 
immer ſehr durchſichtigen Inſtrumen— 
tation. An Wirkung fommt es der 
Duverture zu „Hänſel und Gretel“, mit 
der es den Fehler cines unverhältnis= 
mäßigen Aufwandes an mufifalifchen 





Ausdrudsmitiein für eine eigentlid) | 
doch recht einfache Sache teilt, nicht | 


im entfernteiten gleich. 

Auch die Alademie-Konzerte hatten 
eine Kurioſität aufzuweiſen: ein Orche— 
ſterzwiſchenſpiel aus der Oper „Der 
Fremdling“, mit deren Kompoſition 
unfer gefeierter Heldentenor Heinrich 
Vogl zur Zeit befchäftigt ijt. Der 
Komponijt mag fich bei dem Sänger 
dafür bedanten, da ich nur die That— 
ſache der Aufführung konftatiere. 

Einigtammermufifnopvitäten 
brachten die QuartettsVereinigungen 
Hösl und Weber. 
vierquartett des in letzter Zeit öfter 
genannten Anton Beer, ein frifches, 
klangſchönes, nicht eben tiefgründiges 
Werk eines „guten Mufifer8“ von vor— 


— — — — — —— 


Erſtere ein Kla-⸗ 


wiegend heiterem Stimmungsgehalt, 
das aber gerade mit infolge ſeiner 
Anſpruchsloſigkeit ſehr ſympathiſch be— 
rührte, und ein Streichquartett des 
böhmiſchen Komponiſten Karl Bendl 
(geb. 1838), eine etwas „vormärzliche“ 
Muſik, aber tüchtig und nicht ohne 
aparte Klangreize, — das Weber— 
Quartett, ein Klavierquartett von 
Selig vom Rath. Diefes op. 2 ge- 
hört unjtreitig zu den bedeutenderen 
neueren tammermufifmerfen. Der tom: 
ponift zeigt viel Temperament und 
eine bemerfenswerte Selbjtändigfeit. 
Einzig der erite Sat, der überhaupt 
noch hie und da ein wenig ungellärten 
„Sturm und Drang“ enthält, verrät 
in etwas den Einfluß Max Schillings, 
dem das Merk gewidmet iſt. Ganz 
hervorragend ſchön iſt der langſame 
Sab, ſehr friſch und wirkungsvoll auch 
das leider etwas kurz abbrechende 
Scherzo. 

— Schluß ſei noch einiger be— 
mertenswerten LRiederneuheiten 
gedacht, um deren Vorführung ſich 
namentlich Eugen Gura und die Damen 
Hertha Ritter, Clementine Schönfield, 
Johanna Dietz u. a. verdient machten. 
Mar Schillings, Siamund non 
Dausenger, Ludwig Thuille und 
Hermann Biſchoff Iernte man in 
ſehr beachtenswerten Schöpfungen als 
im beiten Sinne des Wortes moderne 
Liedersflomponiiten durch ſie kennen. 

Bon Chor-Aufführungen iſt nur 
ein Konzert des rührigen Lehrer— 
geſangvereines zu erwähnen, das 
Liszts Sonnenhymnus des Heiligen 
Franziskus von Aſſiſi (Tür Bari— 
tonſolo, Männerchor, Orcheſter und 
Orgel) brachte. R. Lonis. 


* Berliner Muſik. (GFortſ.) 

Das Operndirigieren hat Wein— 
gartner „aus Geſundheitsrückſichten“ 
dran gegeben — Gott ſei Dank erlaubt 
ihm aber ſeine geſchwächte Geſundheit 
noch, Konzerte in Bremen und München 
und Berlin und einigen anderen Städten 
zu leiten! Zur erſten Opernhaus-Konzert 
fam er uns fehr klaſſiſch; zunädjit ein 
Händelfches Konzert für zwei obligate 
Violinen, Cello und Streihordefter 
vom ehrwürdigen Händel. «8 iſtſchade, 
daß man Händel nicht öfter hört, 3.8. 
das famofe concerto grosso; es ftedt 
denn doch eine ſolche gefunde, von 


ı feiner Nervofität und Grübelei ange 


| 


kränkelte Kraft in ihm, feine Melodieen 
find fo einfah und groß, feine Arbeit 
iſt fo natürlich, durfichtig und ſchön, 


1. Märzheft 1899 


— 5 — 


daß man immer unb immer wieder 
ftaunen muß über diefen großen, leider 
etwas ftark in Vergeflenheit geratenen 
Meiſter. Mozart mit feiner herrlichen 
Es-dur und Beethoven mit Der IV. 
Symphonie vervolljtändigten das klaſ— 
fihe Bild. In der Oberon-Ouver— 
ture — nit mit geltopften Hörnern 
wie bei Herrn Steinbah, der dieſe 
Manier dem großen Bülow nahmadıt 
— wurde der Romantik ein fleiner 
Tribut gezahlt. In den nächſten Kon= 
zerten ging es mutig in die moderne 
und modernste Muſik herein; das rech— 
nen wir Herrn Meingartner body an! 
Tſchaikowsky, der unvergleidlicdhe 
Nufle,derimmer mehr anBoden gewinnt 
— natürli nad feinem Tode — fam 
mit der Danfredfymphonie zu Gehör. 
Das Werk ift reinite Programmmufif 
und fordert in feinen einzelnen Zeilen 
unbedingt die Kenntnis der Byron— 
ſchen Dichtung, der c8 auch die Heber- 
ſchriften feiner einzelnen Zeile entlchnt: 
„Danfred; die Alpenfee erjcheint Man= 
fred auf dem Regenbogen über dem 
Sturzbach; Hirtengefang, freies, ein- 
faches und fröhliches Xeben; der unter= 
irdifhe Palaft des Ariman; Manfred 
erfheint bei einem Bachanal; Be— 
ſchwörung des Schhattens der Witarte; 
Manfreds Tod.* Lieft man diefe Leber: 
ſchriften und denft dabei an Tſchai— 
kowskyſche Muſik, dann kann man fi 
fchon auf einiges gefaßt machen. Dem 
Orcefter mutet der Ruſſe in ruſſiſcher 
Rüdfichtslofigkeit das Unglaubliche zu. 
Was jemals an Tonmalerei geleijtet 
worden iſt, da8 mödjte er noch über= 
bieten. Schade ift nur, daß unter 
diefer Tonmalerei oder Spielerei der 
innere Gehalt, da8 Weſentliche ent— 
ſchieden zu leiden hat; denn e8 iſt gar 
nicht zu leugnen, daß die andern Sym= 
phonien Tſchaikowskys — namentlid) 
die E-moll und Die pathetique — 
weit bedeutender find. Die Melodien 
fließen ihm ja auch in dieſem Werke 
zahlreich zu, aber fie find nicht von 
der gleichen Tiefe, wie in feinen ſon— 
ftigen Werfen. Die Tonmalerei vers 
fhlingt alle Straft; die Alpenfce am 
Sturzbad) ijt ein Mufikitüd von be= 
rüdender Schönheit, aber e8 iſt mehr 
geiftreich als geiftvoll; es ift wie ein 
Makartſches Gemälde: mundervolle 
Sarben, herrliches Fleifc), aber darunter 
feine fräftig = f[hmwellenden Musteln, 
fein anatomifh ſchöner Knochenbau; 
der unterirdiihe Palajt des Ariman 
erinnert in feiner verwirrenden Pracht 
und Großartigkeit an das Schlukbild 


Kunftwart 


eines Riefenballetts. Selbſt vor Effelt- 
hafchereien fcheut der Komponiſt nicht 
aurüd; fo 3. B. wern im legten Saße 
nuch Manfreds Tod plößlich die Orgel 
eingreift, um dann allerdings in herr— 
licher echt Tſchaikowskyſcher refignier- 
ter Abgellärtheit da8 Ganze zum Ab— 
ſchluß zu bringen. Am großartigſten 
und einwandfreiejten dürfte aber doch 
der erite Saß fein, der des Menſchen 
Streben, Grübeln und Ringen dar= 
ſtellt. Intereſſant und padend iſt das 
Werk in jeder Note. Die heitere Ruhe 
der C-dur von Schubert in ihrer „himm⸗ 
lifhen Länge” war ein ausgezeichneter 
Gegenfag zum Töne-Tohuwabohu 
Tſchaikowskys. Das dritte Opernhaus 
Konzert brachte al Neuheit d'Aalberts 
„Seejungfräulein, Szene für Sopran 
und Ordefter”. Das Werkchen dürfte 
wohl nicht allzu lange leben; am beiten 
barin ijt die Injtrumentation, die von 
einer vollendeten Beherrfhung ber 
orcheſtralen Mittel zeugt; die Erfindung 
ilt aber doch fehr wenig aus dem 
Herzen fommend, fie „riecht nad) ber 
Zampe”. Frau Herzog mit ihrer vor= 
züglihen Stimme und ect fünitleri= 
hen Wuffaffung verhalf dem „See 
jungfräulein“ zu einem guten Achtungs— 
erfolg. Neben d'Alberts Kompofition 
ftand nodein, wiegeipräd) für Feines 
Orcheſter“ von Schillings, dem Schöpfer 
der Ingwelde, auf dem Programm. 
Mit dem „Zwiegeſpräch“ Hatte es eine 
merkwürdige Bewandtnis. In ber 
Probe war das Werk glatt durchge— 
fallen. Darauf zog Herr Weingartner 
dasfelbe für die Abendaufführung ein— 
fah zurüd. Gott jei Dank, fagten 
Manche. Wir denken denn doch etwas 
anders darüber und möchten uns mit 
Herrn Weingartner einmal ausein= 
anderiegen*. Bevor das Werk abends 
aufgeführt wird, hat der Dirigent e8 
doch genau durchſtudiert und geprüft; 
er ijt von feinem Werte fo jehr über= 
zeugt, daß er es dem Publikum der 
vornehmften Berliner Konzertunter— 
nehmung vorzuführen für gut findet; 
indem ereinfolches Wert einftudiert, ver« 
bürgt er fih gleihfam für deſſen künſt— 
lerifchen Wert, erfontrajigniert esgleich« 
fam, wie der Minijter eine Kundgebung 
des Königs gegenzeichnet. Er handelt 
völlig frei, aus innerjter Ueberzeugung ; 
jegt erfcheint diefes Werk in der Generals 
probe und wird vom Publikum abge 

* Wir haben dag im ſtunſtwart [don 
gethan, es fchadet aber wirklich nichts, 
wenn e8 zweimal gefchieht. 





Fu 


Ichnt. Iſt denn das Publikum über: 
haupt maßgebend? ſpricht fein Urteil 
für die Güte des Werkes? Ja! dann 
wäre der Mozartiche Figaro, Roſſinis 
Barbier, Wagners Tannhäuſer und 
Bizet3 Carmen Heute nit auf dem 
Spielplan, denn alle biefe Werfe find 
bei ihrer Eritaufführung durchgefallen! 
Wenn Weingartner fih fo vom Beis 
fall de8 Publikums abhängig macht, 
dann iſt er fein Erzieher, wie es ein 
Dirigent dod) fein jollte. Das Werl, 
deſſen Partei er genommen, als er e8 
auf das Programm jeßte, mußte er 
verteidigen; verteidigte er einen ver= 
lorenen Poſten — gut, fo fiel er eben 
mit dem Werf. Als er es aber zurüde 
30g, da verließ er feinen Bolten, da 
wurde er fahnenflüdtig! Ein ähnlidyer 
Fall war damals der Geneſius-Skan— 
dal. Dan konnte jagen, aus perſön— 
licher Bejcheidenheit hätte der Kom— 
ponift Weingartner jein Werk zurück— 
gezogen, als er jah, daß es dem Publi— 
kum nicht bedagte; bei dem Schillings- 
ſchen Werk gilt diefe Entſchuldigung 
aber nicht; war e8 angenommen, fo 
durfte e8 nicht nad) ber Probe zurück— 


gezogen werden. — Im letzten Kon— 
zert erjchien eine aufgefrijchte, alte 
Schöne; Mottl bat aus mehreren 


Gluckſchen Opern eine Tanz: Suite zu— 
fammengeitellt und zwar ſehr geſchickt. 
Der alte Gluck hat ſchon manche Be— 
arbeitung über ſich ergehen laſſen 
müſſen. An ſeiner Iphigenien-Ouver— 
ture haben gleich drei herumverbeſſert: 
Mozart, Spontini und Wagner; vielen 
Erfolg haben die galvanifchen Be, 
lebungsverſuche aber doch nicht gehabt! 
Sonst famen noch in diefen Konzerten 
au Gehör: die V., VI. und IX. Sym— 
phonie Beethovens, Shumanns C-dur 
und Haydns Symphonie mit dem 
Paukenſchlag. Berliog war mit den 
drei befannten Säßen feiner Romeo— 
Symphonie vertreten; warum nur mit 
drei Sägen, ift mir unerfindlich. 
(Fol. f) A. Bifhoff. 


* Neue Lieber. 

Der Komponijt der phantaftifchen 
Sinnober=- Oper, Sigmund von 
Hausegger, Hat foeben bei Nies & 
Erler eine Sammlung von zwanzig 
Liedern erjcheinen Lafjen, die einen be= 
deutenden Fortichritt in feinem Schaffen 
daritellen. Seine muſikaliſche Erfin— 
dung quillt rei) und breit innerhalb 
der duch den Tert gezogenen natür= 
lihen Grenzen; er bleibt dem Dichter 
nichts im Ausdrude ſchuldig, verhüllt 


ihn aber auch nicht mit feinen Tönen 
bis zur Unkenntlichkeit. Man beachte 
daraufhin glei das erite Lied, „Lenz 
Manderer*, ferner die wunderſchön 
Ichwebende Begleitung in „Herbjt“ 
oder die fommerliche Schmwüle, die über 
„Mittag im Felde“ ausgebreitet liegt. 
Nebenbei jei bemerft, daß die Lieder 
einzeln für fi) einen ftärferen Eindrud 
maden, als wenn man fie nacheinan— 
der zufammenhängend durchſpielt. 
Eine Ausnahmeitellung nimmt das 
legte: „Chriftoph, Ruprecht, Nikolaus“ 
ein, ein humorvoller, kräftiger Sang, 
in dem ich weniger das Vorbild Wag— 
ners erkennen fann, al® das eines 
fleineren aber doch Fernigen, echten 
deutihen Künitlers, Martin Plüdde- 
manns. Unſere Sänger follten nad) 
Hauseggers neuejter Gabe greifen, und 
die Bianijten würden an dem Begleit- 
part ihre ganz bejondere Freude haben, 
dankt dem peinlidh fauberen, wirklich 
flaviermäßigen Satze. 

Der BANN hat mir hart neben 
diefe Werke auch die „Lieder, Gefänge 
und Balladen“ op. 5 und 6 von Hans 
Hermann (Magdeburg, Heinrichs— 
hofen) ins Nezenfierfach gelegt. Sie 
find mit einem fin de sidele-Umſchlag 
verjehen und Frau Sanderjon ges 
widmet, derjelden, die Bungert [don 
vor zehn Jahren mit WBhilinens 
Schuhen fo erfolgreich klappern ließ. 
Ohne Zweifel bat Hermann Talent, 
aber daß er e8 fo bewußt auf das 
Publikum fpelulierend ausnügt, macht 
diefe Lieder für eine — — Natur 
unerfreulich. Noch nie habe ich ſo 
raffinierte Einfachheit geſehen, wie in 
op. 6: „Daß Herz“ und „Erfüllter 
Wunſch“, noch nie jo verlogene Tiefe 
wie in op. 5 „Legende“ und „Drei 
Wanderer“. Und diefer Komponiit, 
der durch den Gegenfaß zu Hauseggers 
durhaus wahrhaftem, ehrlichen 
Schaffen gekennzeichnet ijt, zählt zu 
den erflärten Lieblingen der Reichs— 
hauptitadt! 5. Teibler. 


*Wie's gemadt wird. 
Wiener Blätter enthalten zur Zeit 
folgendes Inſerat: 

Junge Komponiiten, 
welche ihre Werke gedrudt haben 
wollen, nehmen ein Abonnement 
auf die „Deutfhe Kunſt- und 
Muſikzeitung“, Redaktion: Wien, 
VII, Neuſtiſtgaſſe 66, in welcher 
Kompofitionen aller Art von Abon⸗ 
nenten als Beilagen ericheinen. 
Abonnement jährlih 5 fl. Der 


1. Märzheft 1899 


— 59 — 


Wert der 24 Mufifbeilagen über 
fteigt bedeutend den Abonnement- 


etrag. 
Was bie Abonnenten für die Ehre, 
gedrudt zu werden, im einzelnen Fall 
drauf zahlen müſſen, ift leiber nicht 
angegeben. Beim „Stleinen Journal“ 
in Berlin fojtet’8 200 Mark, an ber 
Wiener Kunftbörfe mag man einen 
andern Kurs notieren. Schön ijt die 
Bemerlung vom „Wert“ der betrefjen= 
den Mufikbeilagen im felben Atem mit 
der Mitteilung, wo fie herfommen. 
Bei anderen Gelegenheiten dürfte das 
freundlide Blatt feine Noten als 
„Auslefe des Beten zeitgenöffifcher 
Produktion“ anpreijen. 


Bildende Kunft. 


* Im Berliner Aunjtleben bringt 
jest jeder neue Monat Ueberrafhungen 
und Wnregungen. Die Münchener 
ftellen fleißig aus, die Stunfthandlungen 
forgen für eine jtarfe Beteiligung des 
Auslands, und geichlofjene Zirkel von 
Künſtlern Berlins fuchen fid) durch be— 
fondere Vereinigungen von dem abzu= 
fondern, was man in der Reichshaupt— 
ftadt bisher für Kunſt bielt. Eine 
der erflufivefien Ausſtellungs -Ver— 
bände waren von jeher die „Elfer“, 
die diesmal bei Keller und Heiner 
ausftellten und dort ihrem Grund— 
faß, nur Kunſt zu bringen, treu ge= 
blieben find. Befonders Leiſtikows 
Weg geht aufwärts. Auch Branden- 
burg ijt ausgezeichnet vertreten. Lieber— 
mann, Thoma, Dora Hik, 2. v. Hof— 
mann und die anderen ber EIf ftehen 
mit ihren Werken auf der alten Höhe. 
Die „[reieBereinigung“, ebenfalls 
ein Berliner WNusftellungsverband, 
zeigte fich diesmal im Künftlerhaus 
und bot ihre beften Leiſtungen in 
Arbeiten von Dito 9. Engel, Lange 
hammer u. a. Auch von Sturt Herr 
mann ſah man dort einige feiner 
ihönen Toloriftifhen Impreſſionen, 
wie er fie gern an befonders reizvolle 
Sinterieurteile (nit Stilleben im ges 
wöhnlihen Sinne) anfnüpft. Einen 
fehr bedeutenden Zuwachs erhielt das 
Künstlerhaus ferner dadurd), daß e8 
die Ausstellung derdeutfhen Aqua— 
rellijten für ih gewann. Auch hier 
fand man einzelne Namen ber Elfer, 
wie Skarbina, Liebermann Stahl, 
Leiſtikow; neben ihnen Hang Herrmann, 
Dettmann und mande andere. Bon 
Nichtberlinern war die Dachauer Schule 
mit Dil und Hölgel glänzend vertreten, 


Kunftwart 


— 3% 


DIN zumal zeigte fih in feinen neue— 
ften Uquarellen auf einer Höhe, bie 
er jelbft wohl faum er überbieten 
fann. Man wird diefe feine Aquarelle 
für daß vollendetfte and vornehmite 
halten müfjen, was die beutfche Aqua— 
rellmalerei geſchaffen in — Caſ— 
firer verlegte Diesmal feinen Schwer— 
punft in beutfche Maler, wie Thoma 
und ZTrübner. Bei Gurlitt konnte 
man einen neuen Bödlin fennen lernen, 
der zwar an deſſen befte Merfe nicht 
heranreicht, aber doch intereffant genug 
war. Daneben eine Reihe Klingerſcher 
en und eine Sammelaus= 
tellung von graphiſchen Arbeiten des 
befannten Illuſtrators Fidus, ber lei— 
der fein ſchönes Talent mehr zerſplit— 
tert, als ausbildet. Bei Schulte 
lernte man in Laszlo einen Bildnis— 
virtuofen kennen, ber zwar nicht große 
Ziefe, aber viel Anpafjungsvermögen 
und feinen efleltifhen Gefhmad hat 
und deswegen das Publikum entzüdt. 

* Für die Bismardjäulen, 
welche die deutſche Studentenſchaft er= 
rihten will, ift nun ein Preisaus— 
ſchreiben „an alle deutfchen Künſtler“ 
erlaffen worden, „um für die Säule 
die würbigfte und volllommenfte Form 
zu erhalten”. Die mwürdigfte Form 
für die Säule? Wir haben den Ge— 
danken folder Säulen, die an feier- 
lihen Abenden $lammenmale tragen, 
mit Freude begrüßt, aber ein Generals 
model für alle Bismardfäulen er— 
gäbe nur eine neue Abart der jeht 
Gottlob in Berruf fommenden Dußend: 
benfmäler. Das Grundmotiv gleid: 
eine Säule als Feuerträger, die Ge— 
ftaltung wechſelnd je nad) des Ortes 
Gelegenheit und nad) dem Geijt, der 
dort waltet, — wie ungleich befjer ſym— 
bolifierte da8 die geeinte Mannigfal— 
tigfeit, den 'geeinten Reihtum des 
deutſchen Volkes, und wie viel künſt— 
lerifcher wär’ es! 


Dermiichtes. 


* Qiterarijher Abel und li— 
terarifher Pöbel. 
Oberhalb aller Linterfcheibungen 
zwifhen abmeidhenden Sunftfpielen 


und Aunftftilen befteht zu allen Zeiten 
der dide Grenzjtrich, der bie Spreu 
von dem Waizen trennt. Es gibt 


Ktünftler, die ihr Vifier auf die Gegen 
wart, alfo auf Beifall, Glüd, je m 
und Ehren, und Künſtler, Die ihr Viſier 
auf die Ewigkeit richten. Solche, 
denen der Widerglanz ihres Namens 


und foldhe, denen die dauerhafte Vol— 
lendung ihres Werkes die Hauptfadje 
ift. Solche, die den höchſten Anfprüchen 
an fi ſelbſt entfagen, um unter ber 
Maste der Beicheidenheit refolut in 
der Stunft herumgutölpeln, und ſolche, 
die, wahrhaft beſcheiden, fühlen und 
mwiflen, daß man entweder nad) dem 
Höchſten nom oder ſchweigen foll. 
Kurz, e8 gibt unverfhämte Künftler 
und —2 die ſich ſchämen fönnen, 
die ihr Werk vergleichen, denen das 
Beiſpiel der Großen als Zuchtrute dient. 

Jenes iſt der Pöbel, a der Adel. 
Beide find dur eine himmelmeite 
Kluft gefondert und find leicht von 
einander zu unterfcheiden, ob man aud) 
faum fagen fann, moran. Es geht 
wie bei den echten und falfhen Münzen: 
fie fühlen fih anders an, fie haben 
einen andern Metallglanz, einen andern 
Zon. Umſonſt fpielt der Pöbel Ver- 
ſteckens, vergättert und verjteinert die 
Toten, damit diefe unerreichbar fcheinen 
follen, erflärt fih und die Mitwelt 
(mit Vorliebe bie Mitwelt) zum vorn= 
herein für mindermertig, Damit die An— 
ſprüche fo niedrig gehalten würden, 
daß er ihnen genüge; umfonft verhüllt 
er feine garjtige Blöße mit Prinzipien 
fähnchen und Parteilappen, e8 hilft 
ihm alles nichts: er ift mit dem künſt— 
lerifhen Kainszeihen, dem Zeichen 
bes Strebers, gezeichnet. Und mieje 
feine Stirn nod fo viele Ruhmes— 
fronen auf, der Edle wird ihn nie= 
mals mit jener ehrerbietigen Achtung 
grüßen, mit welcher er ben Geringften 
jener grüßt, die fih ehrlih darum 
— und bekümmern, ob ihr Werk 
nach ihrem Tode bleibe oder vergehe. 

Carl Spitteler. 

* Die dem Reichstag vorgelegte fo= 
enannte neue „Lex Heinze ent— 
ält eine ganz befondere Merkwürdig— 

feit in ihrem $ ı84a, nad) dem mit 
Gefängnis bis zu ſechs Monaten bes 
ftraft werden fol, wer „Schriften, Ab— 


bildungen oder Darjtellungen, welche 
ohne unzüchtig zu fein, das Scham— 
— gröblich verletzen, zu geſchäft— 
ichen Zwecken an öffentlichen Straßen, 
Plätzen oder anderen Orten, die dem 
öffentlichen Verkehr dienen, in Aergernis 
erregender Weiſe ausſtellt oder an— 
ſchlägt“. Alſo Unzüchtigkeiten braucht's 
nicht mehr, nur Nacktheit. Sobald der 
Prachtparagraph bewilligt iſt, werden 
wir den Töniglich — en Staat 
denunzieren, weil er die Berliner 
Schloßbrückenfiguren duldet, und S. M. 
den Kaiſer allerhöchſtſelber, weil er 
den Begasſchen Schloßbrunnen mitten 
in die Oeffentlichkeit geſetzt hat, wo— 
durch doch ſchon mancher gereiften 
Jungfrau Schamgefühl verletzt und 
ſomit Aergernis erregt worden iſt. 
Salt, dieſe Kunſtwerke dienen ja kei— 
nen „geſchäftlichen Zwecken“ — Scham— 
verlegung und Aergernis zu nicht 
efhäftlihen Zwecken erlaubt ja ber 

—ã er wenn einer nun 
am Schloßplatz eine Photographie 
der Schloßbrücke oder des Begasſchen 
Brunnens ben unbeanſtandeten Ori— 
inalen gegenüber zum Verkauf aus— 
tellt? Ach, dem Manne wird keiner 
helfen können! 


*Die Furcht vor dem Witz, 
die in jüngſter Zeit wiederholt zu An— 
klagen gegen Witzblätter geführt hat, 
die ſelbſt in den Jahren der Reaktion 
nicht möglich geweſen wären, hat einen 
neuen Angriff obrigfeitlichen Philijter= 
geiftes auf fröhliche Narrenfreibeit ge— 
zeitigt. Diesmal aber „führt“ Bayern. 
Denn während dem Starnevalgumzuge 
3. B. in Köln politifhe Scherze auch 
— unverwehrt waren, hat die Po— 
izei in München alles derartige auf 
das ſtrengſte verboten. Und je wird 
man ja wohl mit der Zeit alle Ven— 
tile, durd) die der Unmut etwa luſtig 
verpuffen fünnte, zur Wahrung der 
öffentlichen Sicherheit verfchließen. 


CSEI 
Unsre Beilagen. 


Zur Illuſtration der heutigen Teiblerſchen Anzeige der bei Ries & Erler 
erfhienenen neuen Lieder Sigmunds von Hausegger bringen mis 


daraus „Mittag im Feld“. 


Das Gedicht ift von Martin Greif. Daß man e8 


aufmerkſam durchleſe, eh man an die Kompoſition Herantritt, braudt im 
Kunfiwart wohl faum nod gefordert zu werden — das follte fih) immer 
von felbjt verftehen. Aber wenn wir bei früheren Gejangsbeilagen meiit 
empfahlen, zunädjt die Eingftimme für fich zu fpielen und recht ausdrudsvoll 
mitzufingen, fo muß dag Studium dieſes Liedes vom Klavierpart aus 


1. Märzheft 1899 


gehen. Denn das Lied iſt ein Stimmungsbild; nicht jo ſehr um die mujila= 
lifche Beranfdaulichung der Worte und Säte handelt ſichs Hier, als darum, 
die zu Grunde Tiegende, jozufagen hinter und zwiſchen den Worten ſchwebende 
Stimmung in Töne zu bannen. Das thut der gehaltene Klavierpart, der 
boralartig anhebt und nur einmal, gegen das Ende zu, fich in Tebhaftere 
Bewegung Löfen will. In fein Gefüge flicht ſich Die Singftimme, aber nicht 
als frönender Faktor, fondern wie eine von aufen hinzutretende Ausbeutung 
des inftrumentalen Tonbildes — zu jelbitändigem Ausdruck erhebt fie fih nur 
bei der Stelle „mandmal rauſcht das Feld“. Bliden wir zur richtigen Beur— 
teilung auf das enifpredhende Verfahren des Malers. Er kann entweder das 
Bandichaftsbild rein als ſolches wirken laſſen — dem entipräde ein abjolutes 
Tonſtück mit einer die Phantafie des Hörer zurehtweifenden Uebeiſchrift. 
Oder er fann einen Menjchen mit in die Landſchaft malen und den Gindrud, 
den fie auf ihn bewußt oder unbewußt madt, an ihm zur Anſchauung bringen, 
fozufagen ben Betrachter mit feinen Empfindungen felbft in das Bild proji— 
zieren. Dem vergleicht fidy der Hier vorliegende Fall. Oder drittens: das 
Antlit des empfindenden Menſchen als Spiegel feines pſychiſchen Zuftandes 
wird dem Maler zur Hauptjache, die Umgebung, die Urſache feines fo gearteten 
Fühlens tritt in den Hintergrund und dient nur dazu, die Geftalt intereffant 
zu beleudten oder herauszuheben. Diefer Art find Lieder mit prinzipaler 
Singitimme. Mir fcheint, daß die feiernde Stimmung. der einidhläfernden 
heiligen Mittagsfhmüle, der großen Stille, wenn „Ban jchläft”, kaum über- 
zeugender hervorgerufen werden kann, als durch diefe Muſik Hauseggers. 

Zu unfern heutigen Bildern von Diefenbad und Fidus molle 
man den Aufſatz „Der Fall Diefenbah“ vergleichen. Das erite Bild, das 
„mufizierende Mädchen“, erſchien zuerit als Stunitbeilage der nunmehr einge 
gangenen Zeitfhrift „Sphinx“, Die übrigens ihre ſämtlichen Diefenbad: 
Fidusſchen Blätter in eine Eleine Mappe vereinigt hat, welde von G. A. 
Schwetſchke & Sohn in Berlin W. 9 noch heute bezogen werben fann. Die 
ſechs anderen Brucdhitüde find dem großen Fries „Per aspera ad astra“ ent= 
nommen, der jetzt in Wien veriteigert werden fol. Die Reproduktion iſt leider 
jo ein, daß die auferordentlide Schönheit der Silhuettenzeihnungen nicht 
mehr mit der rechten Ruhe wirkt. Dan mag aber bei Einzelnen getroit zum 
Vergrößerungsglaſe greifen, die Schärfe unfrer Drude erlaubt das Thon. Uns 
kam es darauf an, möglihft mannigfaltig das fröhliche Leben fih fpiegeln, 
oder beſſer abſchatten zu Iaflen, das nad) Diefenbachs Fries dereinjt herrſchen 
fol, wenn bes Meiſters Ideale verwirklicht fein werden. Eine fehr ſchöne 
größere Ausgabe des Friefes ift leider zur Zeit im Kunſthandel nicht mehr zu 
haben. Hebrigens dürften von Diefenbah oder den Seinen (Adreſſe durch 
Dr, Emil Boeniſch, Wien VII, Mariahilferjtraße) Auskünfte gern erteilt werben. 


Inhalt. ungefürzte Aufführungen u.f.w. Bon Richard Batla. — Dekadenz 
in der lnterhaltungsliteratur. Bon Wdolf Bartels. — Urdjiteftonifche Zeit- 
fragen. (Schluß) Bon Paul Schumann. — Der Fall Diefenbach. Von Wilhelm 
Schölermann. — Loſe Blätter: Aus „Prometheus und Epimetheus.“ Bon 
Felir Tandem. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Diefenbady-Fidus, Murfizies 
tendes Mädchen; aus „Per aspera ad astra“, — Notenbeilage: Sigmund von 
Hausegger, Mittag im Feld. 

Derantwortl, : der Herausgeber $erbinand Apenarius in Dresden-Blafewig. Mitredaftenre: für Mafıl : 
Dr. KRich ard Batla in Prag-Weinberge, für bildende Kunft: PaulSchulge-Naumburg in Berlin, 
Sendungen für den Tert an ben Herausgeber, über Mufif an Dr. Batla, 

Derlag von Georg D, W. Eallwer — Hgl, Hofbuchbruderei Hafner & Loffen, beide in Münyen, 
Beſte lungen, Anzeigen und Beldjendungen an den Derlag: Georg D. W, Eallwer in Mänchen. 








DIEFENBACH—FIDUS 
Musizierendes Mädchen 





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DIEFENBACH—FIDUS 


Aus: Per aspera ad astra 


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SIEGMUND V. HAUSEGGER. 





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Mit Bewilligung des Verlages Ries & Erler, Berlin. 


Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München. 





Alle Rechte vorbehalten. 


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Stich u. Druck v. UscarBrandstetter, vorm. F.W.Garbracht, Leipzig 


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‚Mit Bilder und Moten-Beilagen. 
Bezugspreis 2'/s Marf vierteljährlih. Ein einzelnes Heft 50 Pfennige. 





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Zweites ADärzbeft 1899. 


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» Der Bunffivarl =. 


scheint jährlich 24 mal in Heften von 32 Seiten (je zu Anfang und Mitte des 
Der Abonnementspreis beträgt AdR. 2.50 für das Diertel 
Einzelne Befte foften 50 Pfg. 


Ale Buchhandlungen und Poftanftalten, fowie die unterzeihnete Derlagshandlu 
Ende oe von Per —* au und po von d 
handlung: Georg D- WI. Callweg in ABüncben. 

Nachdruck fämtlicher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Kofen Blätter” ı 
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird 
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nur wenn Rückporto beilag. | 


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Paris ung Pie m en Preis krönt Brüssel 1891, 


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— HMÜnNcHEN, LUDWIGS- HERE. —— 















_Poehlmanns Gedädtnisiehre entwidelt die Beben > und ? — 
feffelt die Aufmerffamteit, heilt fomit von Serfirentheit und flählt das m fanasae 
Seichtes Erlernen von Spraden, Wiffenfhaften ıc. Anwendung aufs praftifche Leben. n dm 
legten 2'/s Jahren 10000 Schüler aller Stände. Empfehlende Rezenfionen von fake’ 100 
europälfhen Zeitungen, Zeitſchriften umd Sadhblättern. 8 mit Seugniffen .ı * 
re ru gratis umd franfo durch L. FPoehlmann, £inten # 1, 
uchen F.4. 


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1794 
GEGRÜNDET 


BARMEN 
Neuerweg 40 





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DER RU DSTUART| 


Die Kunst im Reichbstage. 


Und fie faßen mieber einmal beilammen in dem Hohen Haufe, das 
da umſchließt die Ermählten der deutichen Nation, und äußerten fich über 
Kunft. Zur Debatte ftanden zunädft „Koften der Herausgabe eines 
Wertes über die Sirtinifche Kapelle in Rom“, Koften für eine wenn 
man fo jagen darf: philologiſche Kunftpflege, die ganz gewiß nichts 
Lebendigem, das fi nad; Sprache jehnt, den Mund öffnen wird, 
auf daß e8 fprede. Eine derartige Kunftpflege hat weiter feinen Zweck, 
und eine Kunftpflege, die weiter feinen Zmwed hat, nennt man eine 
ideale Sunftpflege. Darum erklärte ein Herr, daß es fich bei der vor— 
fiegenden PBofition um eine Förderung der deutſchen Kunſt handle, und 
ein anderer, daß fih auf diefe Weije der deutichen Kunſt der Zoll der 
Dankbarkeit entrichten laſſe. Wirklich, fie erklärten daS. Und der 
Reichstag war hochgebildet und bemilligte den Titel. 

Darauf fam zur Beratung „die Ausihmüdung des Reichstags— 
gebäudes mit Bildwerfen und Malereien“. Einer ſagte dazu dieſes und 
da8, was darauf Hinauslief: Kunst kofte doch eigentlich viel Geld. Und 
es erhob fih ein Parteihirt, um zu jagen, was daS nun gar für 
Kunſt ei, die da viel Geld koſte. Nämlich: es fei nicht die wahre. 
Denn auf die „Gemälde“, jo in der Wandelhalle zu jehn (gemeint 
war der Studie Fries), könne man den Ausdrud Dlalerei über- 
haupt nur anwenden, wenn man „jede Schmiererei* jo nenne. Dieje 
Zeiltung fei überhaupt „die denkbar jchlechtefte‘, die man erwarten konnte, 
mwie ein „Tintenklex“ nähme fie fich aus (Heiterkeit), „ein wahrer Spott 
und Hohn“ fei fie „auf jedes äjthetifche Gefühl und jeden geläuterten 
Geſchmack“. Man könnte noch eher „die Titelblätter der »Jugend« da 
oben anfleben“, als diefe8 Zeug, mit dem der Reichstag „verhonibelt“ 
werde. Mit einem fchönen Bilde meinte der Redner, „die deutiche Malerei 
fei Manns genug“, Beljeres zu leiten, dann ging er zu den Hildebrand 
Ihen „Scidjalsurnen des Reichstags” über, um auch fie einzuhüllen in fo 
begeifternde Scherze, daß im Hohen Haufe „Heiterkeit“ auf „Heiterkeit“ 


Kunftwart — 2. Märzheft 1899 
— 8 m 


folgte. Aber er ward mieder ernft: da müſſe ein Fehler der ganzen 
Organifation vorliegen: „Wir müfjen hier in Berlin einen Hünftler haben, 
der unter feiner perſönlichen Verantwortung die Entwürfe zur Aus— 
ſchmückung des Reichstagsgebäudes leitet.” Ein Herr von der Regierung 
antwortete. Er that e8 ſanft, er that e8 nett, denn der Barteimann war 
ein Gemaltiger, er that es fo, daß man immer heraushörte: Sie haben 
ja ganz, Sie haben ja jo Recht, aber erbarmen Sie fich, ich darf das 
doch nicht jagen. Dem Ardjitelten des Haufes, fo teilt’ er dann mit, 
feien wohl in der That „zu weit gehende Befugniffe“ verliehen worden 
— dieſem ſelben Architekten Wallot, jegen mir erläuternd Hinzu, dem 
man feine beiten Gedanken durchs Dreinreden und Dreinpfufchen ver- 
dorben hat. Man folle, fuhr er fort, „für die Ausihmüdung eines jo 
wichtigen nationalen Gebäudes eine Kunftichule allmählich heranbilden“. 
Indem man (fragen wir in da8 „Sehr gut” des Hohen Haufes) wahre 
Meister neunationaler Dtalerei wie Anton von Werner und Hermann 
Knackfuß erfuchte, fich der Sache doc) mal etwas anzunehmen? Nein, ſprach 
der Herr, indem man mit aller Ruhe warte, bis ſich würdige Meifter 
zeigen — würdige, mit Berlaub, nach Anfiht der Kunſtkenner im Hohen 
Haufe. Nach ſolchen erniten Erörterungen erhielt der Scherz fein Recht 
durch einen Herrn von der Linken. Auch feinem Gejhmad miderjtrebe 
da8 „Gemälde“ aufs Aeußerſte, aber jenes Herrn Kollegen Tadel finde 
er doch zu Scharf. Wie wär's mit Bildniffen der großen Redner des 
Haufes? Aber zum Schluß ward auch diefer Mann furdtbar ernit: „Es 
ift dringerd notwendig, daß der deutiche Reichstag eine feiner Bedeutung 
und feiner Beitimmung entjprechende Ausstattung erhält!“ Beifall. Je— 
do: wie foll er fie befommen, wenn er daß Gute ablehnt ? 

Wir haben die Namen der Redner nicht genannt. Wen's inter: 
ejfierte, der fonnte fie ja in jedem Tagesblatte nachlefen, für unjern heutigen 
Zweck find fie gleichgültig. Was intereffiert nun an der Sache uns? 


In materieller Beziehung gäbe fie Anlaß, von neuem das nad) 
gerade allbefannte und deshalb Iangmweilige Lied von der gänzlichen Ur- 
teilölofigkeit des Reichstags in fünftlerifchen Fragen anzuftimmen. Seiner 
der Herren Redner wußte etwas vom Unterjchied zwiſchen Bild und 
Schmudwert, keiner hatte daher gemerkt, daß die Studihen Arbeiten 
gar feine „Gemälde“ find, noch welche jein wollen oder jollen, jondern 
daß fie ein deforativer Fries find, beftimmt, in großer Höhe ans 
gebracht zu werden in einem Vorraume, und dab e8 nicht ihre Aufgabe 
mar, an ſich hübjch zu fein, fondern einen Raum in feiner Wirkung zu 
heben. Einen Borraum, übrigens, wo alſo Geſchichts-, Monarchen- oder 
Boltsrednerbilder faum hingehörten. Als Wallot die Entwürfe am Boden 
ſah, zweifelte aud) er, jo viel weiß id, an ihrer rechten Wirkung, als 
er fie in der Höhe ſah, war er fofort überrascht befehrt. Jch kenne die 
Entwürfe* nicht, ich weiß nur das: wenn einer zur fühnen Löſung 
großer gerade dDeforativer Aufgaben befähigt erjcheint, fo ift es jeden- 
falls Stud. Hann man aber vom Reichstag fordern, daß er etwas 
von Kunst verjtehe? Er ift feine KHörperichaft, die nach ihrem Sachver— 
ſtändnis für diefe und jene Materien zufammengefegt ift, mie die Re— 
gierung, er ift auf die Vertretung politifher Meinungen Hin ge: 


* Näheres über fie findet man in unferer heutigen „Rundſchau“. 


Kunftwart 
— 354 — 


wählt, und ob er Mitglieder enthält, die durch Kunftverftändnis her- 
vorragen, ift fomit Zufall. Wenn nicht, jo wird feine Befähigung 
in diefer Beziehung wohl ungefähr den Durchſchnitt der Fünftlerifchen 
Kultur unfrer fogenannten Gebildeten überhaupt darjtellen. Kann man 
ihm alſo wirklich einen Vorwurf draus maden, daß ihm „jedes äfthe- 
tifche Gefühl und jeder geläuterte Gefhmad“ abgeht, jo bereitwillig er 
felbft diefe guten Dinge ſich zufpriht? Oder fann man nur ſeufzen und 
zu feinem Teil daran mitarbeiten, daß unfere Kinder, unfere Enfel wie— 
der ein Kunſtvolk werden? 

Gut. Aber weiter: Auch jemand, der von Funft nichts verfteht, 
hat unzweifelhaft das Recht, fich feine Wohnung nad) feinem Geſchmack 
einzurichten. Das ginge doch nicht an, dag wir ihm Saden aufzwängen, 
die ihm nicht gefielen. Stritte man alfo dem Reichstag das Recht ab, 
Stucks Fries ſowie Hildebrands Urnen abzulehnen, jo ſchüttete man aud) 
unfrer Meinung nad) das Kind mit dem Bade aus. 

Gut. Aber weiter: Ein gebildeter Privatmann, dem ein berühmter 
Künftler ein Werk anbietet, das ihm mikfällt, wird e8 unter einem Höf- 
lichkeitsvorwand oder ohne Begründung oder, am beiten, mit der ehr- 
lichen Begründung abmeifen: e8 gefällt mir nit. Im Reichstag aber 
hat man fich für bereditigt gehalten, ſozuſagen vor dem ganzen deutjchen 
Volke drei feiner höchftangejehenen FKünftler, Wallot, Hildebrand und 
Stud, mit den verädtlichiten Worten zu bejchimpfen. Und das Prä- 
fidium, das Ausdrüde wie „Schredgeipenjt“ und „Eiertanz“ als un— 
parlamentarifh rügt und jeden abmejenden Schugmann beſchirmt, meil 
er fich nicht verteidigen fünne, läßt diefe Hünftler ruhig Stümper und 
Schmierer nennen. Und feiner am Regierungstifch findet etwas dabei. 
Und fein einziger im ganzen Haufe erhebt fich gegen diejen NRüpelton 
zum Proteſt. Nicht in der Ablehnung jener Kunſtwerke alfo, fondern 
hierin liegt die fürchterliche Bloßftellung des deutichen Reichstages vor 
aller Welt, darin: daß er, wie meines Willens feine andere Volksver— 
tretung jemals, den Hohmut des deutijhen Bildungspöbels 
gegenüber der lebendigen Kunſt gezeigt hat. 

Die Regierung, die zur Rechtfertigung ihrer Beauftragten berufen 
mar, zeigte fi) noch in anderer Beziehung „intereffant”. Was gab das 
jüngft für ein Wetter, als der Reichstag richterliche Urteile, immer ohne 
den Richtern felbjt im mindeften zu nahe zu treten, fritifierte, was ift e8 
ftet3 für ein Herabfanzeln, wenn ein anderer als die Fachleute von Mili- 
taribus oder ſonſtigen ſakroſankten Dingen etwas verftehen will! Der Ge- 
dante, dat ſichs aud) in der Kunſt mitunter vielleicht um Fragen handle, die 
der Fachmann beſſer verftehe als der Niht-Fahmann, und fei diejer 
Niht-Fahmann Barteiführer oder Minifter oder gar König und Saifer, 
diefer Gedanke lag auch dem Regierungsvertreter natürlich zu fern, als 
daß er ihn ausgeſprochen Hätte. „Bis zum Sünftler herab“ ift man 
nicht zur Konſequenz verpflichtet. 

Uebrigens ift auch diefe neue Reichsſtagsverhandlung für unſre 
geiltige Kulturentwicklung ſchwerlich vom Uebel. Die Zuftände find, wie 
wir fie verdienen, diefe harte Wahrheit bleibt. Je deutlicher fie werden, 
je mehr lernen mir daraus. Der einzelne mag unfchuldig darunter 
leiden, und Männer wie Wallot, Stud und Hildebrand Haben in der 
That zum „Uebermut der Aemter“ faum beigetragen. Die große Mehr- 


2. Märzheft 1899 
— 55 — 


heit unjrer Künſtler ift fi) aber ganz ſicher noch nicht der Aufgabe be— 
mußt, die fie mit den Dentern als Führer der geiltigen Sräfte der 
Nation zu löſen Hätte, der Aufgabe, einen führenden Freiftaat des 
Geiftes in Unabhängigkeit von den Mächten oben ſowohl wie unten zu 
bilden. Wo ift die Gelehrten und Künftlerrepublit, von der man fo 
viel gefchrieben Hat? Seid ihr Männer, fo zeigt e8 zunächſt einmal da- 
durch, daß ihr euch von all den Dingen frei macht, die nur ſchmeichelnde 
Nictigkeiten find. Aber heute fcheltet ihr auf die Regierung, und morgen, 
wenn eine Hoheit einen Hofratstitel oder ein Ordensband vergibt, To 
küßt ihr die Hand. Sie mag eine ganz vortrefflid; rejpeftable Hand 
fein, aber fie gehört zu demfelben Kopfe, den ihr eben erſt mit vollem 
Recht als urteilsunfähig in euren Angelegenheiten bezeichnet habt. 
Ürteilsunfähig, wenn er euch jchlecht, urteilsfähig, wenn er euch dann 
gut behandelt — werte Herren, das geht nicht an. est feid ihr auf 
den Neichstag böfe, wirft er euch Aufträge aus, jo hat er plötzlich Er: 
leuchtung in Sachen der Kunſt. Seine Ausftellung wird bei uns eröffnet, 
ohne daß ihr ehrfurchtsvoll wie einer Offenbarung den Worten der 
Majeftät laufchtet, die zum erften Mal in ihrem Leben drei Blide auf 
das Lebenswerk eines Hünftlers wirft. Kein Denkmal kann gefegt werben, 
ohne daß ihr irgend einen unbejcholtenen Prinzen zum „Proteftor“ der 
Sade madt. Kommt ein Minifter nicht zum Feſteſſen eines alten 
Poeten, fo fränft euch das, macht man eine europäifche Berühmtheit mit 
achtzig Jahren zum Ritter eine Ordens, den jeder brave General mit 
ſechzig Jahren hat, jo entzüdt es euch. Das alles, mwährend ihr ganz 
genau wißt, dab jene ftaatlihen Autoritäten Sadverftändige für euer 
Schaffen nicht find und nicht fein fünnen, das alles alfo, während ihr 
die Werturteile, die diefen Außzeichnungen zu Grunde Tiegen, als ganz 
unerheblich erfennen müßt. Und ihr verlangt, daß jene Autoritäten 
in der Tiefe de8 Herzens euh achten follen? Achtung aber, das 
gerade ift e8, was wir beim Reichstag wie bei der Regierung vor allem 
brauchen, Achtung vor der uns heiligen Welt, deren Thore auch den 
Andern als Tempelthore erfcheinen müßten, nichts als Tingeltangelthüren, 
die nur der Saffierer bewacht. 

„Freie Kunft und freie Willenichaft!" — es ift eine ſchöne For— 
derung. Ihre Verwirklichung allein kann die Kunſt und die Wiſſenſchaft 
befähigen, der Menſchheit und zunächſt dem eigenen Volfe das zu fein, 
was fie fein jollen: Führerinnen aufihren Gebieten. Wie unbeichräntter 
Führer auf anderm Gebiete der Staat fein ſoll. Aber in die NRepublit 
der Geilter fann nur eintreten, wer ſich innerlich frei gemacht bat davon, 
Autoritäten gelten zu laſſen oder richt gelten zu laffen je nahdem, 
ob fie ihm als Menſchen nützen oder fchaden, ob fie ihn beleidigen oder 
aber ihm fchmeicheln. Wer fo weit ift, dem ift daS Treiben im Reichs— 
tage fo gleichgültig wie das der Begas, Werner und Knackfuß, er weiß, 
daß die Kunſt, die uns vorwärts führt, in feiner Partei gemadt 
wird, oder au in allen, mo freie Menichen find, aber weder mit 
Majeftäts- noch mit Majoritätsbefchlüffen. Wer führen will, muß die 
Fübe frei haben. 

Lehrt dereinft eine von eifernen und goldenen fetten befreite Denter: 
und Geftalterfchaar ein Volk, das die Sprade gelernt hat, in der jene 
reden, dann wird die ftaatliche wie die reichstägliche Kunftpflegerei von 


Kunftwart 
— 5% — 





heute in ihren meilten Erjcheinungen ſchwer zu Degreifen fein. Das 
Bolt zur KHunftgenukfähigkeit zu erziehen, die Künſtler frei zu machen 
nicht minder von Feffelungen durch Eitelfeiten wie von denen durch Gut 
und Geld, das find Die beiden großen Vorbedingungen einer wahrhaften 
fünftlerifchen Sultur. So ſchwer es iſt, fie zu erfüllen, allmählich wer— 
den fie doch erfüllt werden, meil das Bedürfnis nach edeln Genüſſen 
mit der Ausbildung unſrer förperlihen und jeeliihen Organe wachſen 
wird, bis es ſich Gemährung erzmingt. a. 


Zur deutscben LWiteraturgeschichbte, 


Ueltere Lefer des Kunftwarts willen, daß id) bedauerliher Weife gegen 
den modernen Literaturgefchichtsbetrieb im allgemeinen ftarf eingenommen bin. 
Es fehlt mir 3. ®. leider die Gabe, das mit ihm verbundene Wichtigmachen zu 
ſchätzen, das jede hilfswiſſenſchaftliche Thätigkeit zum Range hoher wifjenfchaft- 
licher Leiftung erheben möchte, und noch weniger vertragen kann ich das reine 
Plusmahen, welches das geringfügigite neuentdedte Material als wichtigſten 
Bund Hinftelt und einen Stoff, der für einen furzen Aufſatz genügte, wohl gar 
zu diden Büchern breittritt. Man rühmt ſich freilih, jeht die wahrhafte, die 
pſychologiſche Literaturmiljenichaft zu jchaffen, aber wer für das poetifche 
Schaffen wirklich Verſtändnis hat, fieht fi meist in der Lage, die gewonnenen 
piyhologifhen Ergebnifje als unweſentlich oder gar mißverftändlich und falfch 
abzulehnen. Hier und da ilt ja ein feinerer Geiſt thätig, der vom Wejen und 
Schaffen bes Dichters eine Mare Vorſtellung hat und bei Eingelunterfuchungen 
auf fihern Pfade geht, aber die Mehrzahl handwerkert und Ieidet jedesmal 
Schiffbruch, wenn fie felbitändig ein Urteil über dichterifhe Begabung abgeben 
fol. Da hat man denn bie Ejelsbrüde erbaut, daß überhaupt nicht geurteilt 
werden dürfe, und es find viele, die fie befchreiten. 

Daß dennoch manch ſchätzenswerter Beitrag zur beutfchen Literatur 
geſchichte erfcheint, will ich damit nicht bejtreiten ; freilich, das Meifte aud) des 
Brauchbaren geht doch in der Regel nur die Fadıfreife, nicht die gebildeten 
deutjchen Leſer überhaupt an. Wirfli gute Bücher über Literatur, die felbft 
eine Bereicherung unſeres Schrifttums bedeuten, find jehr felten, und das fpricht 
denn eben der Gefamtliteraturmiflenfhaft unferer Zeit, zumal fie mit jo hohen 
Unfprüden auftritt, das Urteil. Ich mwiederhole inımer wieder: Wo ift die 
allgemeine deutſche Literaturgefhichte, die ung Gervinus’ Werl erfegte? 
Ro find Monographien wie die Adolf Wilbrandts über Heinrich von Kleiſt, 
die nad) der Anfchauung der „Fachleute“ durch Otto Brahms Wert „überholt* 
ist, aber das Brahmſche Buch als Darjtellung taufendmal übertrifit? Wir, die 
wir nit „Fadjleute* find, glauben nicht mehr an die alleinjeligmachende Me— 
t5ode, wir wollen den lebendigen Geijt fpüren, uns gilt ein treffender 
Aphorismus unter Umftänden mehr als eine von der Sonne der Wiſſenſchaft 
noch jo durdhgetrodnete Progranımabhandlung. 

Von den mir zur Zeit vorliegenden literaturbijtorifchen Arbeiten ftammt 
Hermann Andreas Hrügers Schrift „Der junge Eichendorff“ (Oppeln, 
Georg Daste) aus Fachkreifen, erhebt fi) aber im erſten Teile doch zu wirk— 
licher Daritellung. Es hat dem Berfafler eın noch unbefanntes Jugendtagebud 


2. Märzheft 1899 
— 397 — 


Eichendorff8 vorgelegen, und man muß ihm das Zeugnis außjtellen, daß er 
e8 geſchickt benugt hat — was natürlich nicht ausſchließt, daß ung einer feiner 
Nachfolger das Tagebuch eines Tages vollftändig im Drud vorlegt, verjteht 
fih, mit Anmerkungen. Den zweiten Teil des Buches „Eichenborff8 Jugend» 
werfe* kann ich nicht in dem Maße Ioben; ba haben wir jene minutiöfen 
Unterfudungen über Entjtehung und Veröffentlihung, Sprade und Metrit 
Eichendorffſcher, meift wertlofer Jugendgedichte, deren Veröffentlidung wenig- 
‘tens ich für überflüffig Halte. Für Lyrik vor allem gilt das franzöfifche 
Sprichwort „C’est le ton, qui fait la musique“; wer über Lyrik fchreibt, muß 
die feinfte Empfindung für den „Ton“ in fi) ausgebildet Haben, und mit Hilfe 
diefer kann er dann Gedichte viel beifer harakterifieren als mit rein formalen 
und ftofflihen Unterfuhungen. Recht gut ift wieder bie Unterfuhung über 
den Roman „Ahnung und Gegenwart“ — beim Roman fpielt eben aud ber 
Gehalt eine große Rolle, und den fann man durch Vergleihung mit zeitgendf- 
fifhen Werken ziemlich fiher in Zeitgut unb perfönliches Gut auflöfen. 

Ueber „Otto Ludwigs äfthetifhe Grunbfäge” hat Ernſt Wadler 
eine philoſophiſche Unterfuhung (Berlin, E. Ebering) herausgegeben. Eine 
folhe war wohl einmal nötig, und wir wollen uns ihr Ergebnis, daß der 
Yutodidalt Ludwig in mander Hinfiht mit der Nefthetit der Herbartifchen 
Schule einig ift und in die Nachbarſchaft der neueren Forfhungen jeit Fechner 
tritt, ad notam nehmen. Warnen will id) noch einmal davor, Ludwigs viel- 
fah vom Moment beftimmte, wie Wachler auch felbft jagt, „relativiftifche” 
Niederfhriften als äſthetiſchen Grundkoderx Hinzuftellen, wozu man bier und ba 
Miene madt. Wenn Ludwig beiſpielsweiſe jchreibt: „Eigentlih müßten bie 
Schaufpieler felbft die Dichter ihrer Rollen und fo des Stüds fein und zwar 
in dem Augenblid ber Darftellung. Die commedia dell’arte ift eigentlih ber 
Ausgangspunkt. So muß der Didter auf die Sade angreifen; er 
muß fih, wie bie Rede von einer Berfon zur andern übergebt, in 
bie verfhiedenen Schaufpieler, und mit jedem ſich in bie darge— 
ftellte Berfon verfegen. Nicht unmittelbar in die dargeſtellte 
Perſon, weil nit diefe dargeftellten Berfonen felbit das Stüd 
fpielen“, fo ift das ein Ausfluß des unglüdfeligen Ludwigſchen Erperimen 
tierens und reine Phantafie; denn e8 ijt erftens bem feine Menſchen fehenden 
Dichter ſchwerlich möglich, und zweitens wäre es höchſt gefährlich, da eben die 
ganze Unmittelbarleit des poetifden Schaffens dadurch aufgehoben mürbe. 
Dergleihen Saden finden fi bei Ludwig oft, alfo Vorſicht! — Von Emit 
Wachler, der jet ben Kynaſt“ berausgibt, ſtammt aud eine Schrift „Die 
Läuterung deutſcher Dichtkunſt im Volksgeiſte“ (Berlin-Eharlotten- 
burg, Richard Heinrich), die u. a. einen früher im Kunftwart erſchienenen Auf: 
fat Volkstümliche Dramatif* wieder aufnimmt. Meiner Meinung nad) hängt 
Wachler no zu jehr am nationalen „Stoff“, e8 fommt doch vor allem auf 
den Geift an. Nach wie vor halte ih „Iphigenie“ für ein deutſches Werk und 
gebe ſämtliche Hohenzollerndramen Wildenbruchs und noch einiges andere ruhig 
dafür Hin. Aber manche bemerkenswerte Hinmeife enthält Wadlers Schrift, 
vor allem jtimme ih aud darin mit ihm überein, daß Richard Wagners Mufil- 
drama das Wortdrama nicht, wie dieſer glaubte, erfegen könnte, fonbern etwas 
ganz anderes ijt, und dab es jeht Zeit wird, letzterem etwas mehr Aufmerk— 
feit zugumenden, benn cine neue Blüte des erjteren ſteht jo kurz nad) ber Er= 
reihung des Gipfels natürlich nicht zu erwarten. Ich halte e8 für nötig, dies 
einmal flipp und klar auszuſprechen, da einzelne Wagnerianer die Alleinherrs 


Kunftwart 
— 38 — 


Ihaft Wagners auf der deutſchen Bühne, fomeit fie Kunſt bringt, immer noch 
feftzuhalten verfuhen und zu dem Zwed fogar einem Blumenthal milde mer» 
ten, der ja freilich dem Meifter nit ſchaden kann. Die Talente für das 
Wortdrama werben wohl fommen, wenn nur einmal die Bahn freier gemacht 
wird, und auch gegen ältere Dichter, wie Hebbel, Ludwig u. f. w. haben wir 
Deutfchen noch Verpflichtungen einzulöfen. 

Ein gutes Buch, das feinen Zweck erfüllt, ift die Biographie Guſtav 
Freytags von Friedrih Seiler (Biographifhe Vollsbücher, Verlag von 
N. Voigtländer, Leipzig), die freilich nicht zur Fachliteratur gehört. Wer für 
das Volk über Leben und Schaffen eines Dichters fehreibt, der braucht nicht 
gerade als äfthetifcher Ertenner und Empfinder „über“ feinem Dichter zu ftehen,, 
es ift im Gegenteil vorzuziehen, wenn er verehrungsvoll zu ihm auffhaut? 
denn e8 fol durch Liebe Liebe gemedt werden. Blinde Liebe ift freilich nicht 
gut; diefe hat Seiler aber auch nicht, er beachtet die Einwürfe der Kritik gegen 
Sreytags Werke und ſucht fi mit ihnen auseinander zu jegen. Seine Grunb= 
anfhauung ift nun allerdings, daß in ber Kunſt die Weisheit und Geredhtig- 
feit zu finden fein müſſe, welche die Geſchichte und das Leben, ſcheinbar wenig⸗ 
ſtens, fo oft vermiſſen laffen. Er zitiert ben Ber: 

Irxrational erfcheint das Leben, 

die Kunſt fol feine Brüche geben.” 
Das ift für uns eine überwundene Anſchauung, wir wollen die Brüde, bie 
wirklich da find, aud in der Kunſt wieder finden und glauben nicht daran, 
daß fie darum fon „troftlog” werde. Im Gegenteil, das beliebte Zupflaftern 
der Wunden der Menfchheit erfcheint uns als das Troftlofe, die volle, nicht 
übertriebene Wahrheit als einzig einer fo erniten Sade, mie bie Kunſt tft, 
würdig unb baber zulegt auch allein als wirklich befriedigend. Bei Freytag 
ſchadet nun aber die alte Anſchauung meiter nicht, falls man nur feine Romane 
des guten Ausganges nicht gegen vollbichterifche Werke wie etwa „Werther“ 
und den „grünen Heinrich” ausfpielt. Vom rein äfthetifchen Gefihtspunft aus 
ift Seiler alfo nicht vollgunehmen, was fih u. a. aud) barin zeigt, daß er 
„Minna von Barnhelm“ und „die Journalijten* für Charakterluſtſpiele Hält, 
während fie doch ungmeifelhaft Situationsluftfpiele find. Uber er hat das 
Reben Freytags gut gejchrieben, den „Volkswert“, den feine Werke immer noch 
haben, Mar hervorgehoben und damit feine Aufgabe gelöft. Man hat, wenn 
man an das ganze beutfche Volk denkt, immer noch alle Urſache, für Freytag 
einzutreten. Ein Stüd Philifter freilich jtedte in ihm, fein neuerbings befannt 
gemwordenes Urteil über Seller hat das ja auch wieder gezeigt. 

Mit einem verfhollenen vormärzlichen öjterreihifhen Dichter, Ju ftus 
Frey (Undreas Ludwig Jeitteles), befhäftigt fi ein von deifen Sohn heraus— 
gegebenes Büchlein (Leipzig, ©. H. Meyer), das viele poetifche Proben enthält. 
Nach) diefen zu urteilen, war Jeitteles ein nicht fehr felbftändiger, aber doch 
namentlich für das Didaltifche begabter Poet, fo daß man die in Ausſicht ge— 
ftellte Neuherausgabe feiner Dichtungen, wenigftens einer Auswahl, gutheiken 
fann. Es wird ja doch eines Tages einmal die landfchaftliche deutfche Literatur— 
geſchichte gefhrieben werden müſſen, und da wird man in Dichtern wie Frey 
die Einflüffe, die kulturhiſtoriſchen Wirkungen der großen allgemeinsdeutfchen 
Talente befonders gut beobadten können. Haben diefe Heineren Dichter dann 
noch etwas Eigenes, um jo bejjer. — Vor allem von landfhaftlicher Bedeutung 
it auh Michael Albert, der fiebenbürgifche Dichter, deifen Leben und 
Didten Adolf Schullerus zunädhit für feinen Volksſtamm, dann 


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aber auch fachwiſſenſchaftlich gefhildert Hat (Hermannftadt, W. Krafft). Albert 
war Gnmnafiallehrer in Schäßburg, ſchrieb Lyrif, Novellen, Dramen, von 
welch lettern „die Flandrer am Alt“ und „Hartened* im allerbeiten Sinne 
fofalpatriotiich) zu fein fheinen, ein „Hutten“ auch wohl weitere reife inter= 
effieren fönnte. Am beachtenswertejten ſcheinen mir aber die Novellen Alberis 
zu fein, die das Leben der Siebenbürger Sachſen darftellen, vor allem die ſton— 
flitte, Die die neue Zeit der Magyarifierung ba hineintrug; diefe nationalen Ge— 
Ihidten werden wohl aud im deutſchen Reich Aufmerkſamkeit beanspruchen 
dürfen. Schullerus’ Arbeit erfcheint durchaus tüchtig und geradezu abſchließend; 
die ganze fiebenbürgifche Literatur wird mehr oder minder ausführlid ge— 
tennzeichnet. . 

Ueber alle genannten Schriften ragt bedeutend hervor Richard Welt- 
richs „Chrijtian Wagner“ (Stuttgart, Streder & Moſer), befonders des— 
wegen, weil diefes Werk auch ein Bekennerbuch ift und die Berfönlichkeit feines 
Verfaſſers offenbart. Auf fait 500 Seiten ftellt Weltrich das Leben und Dichten, 
die Perfönlichkeit und die Weltanfhauung des noch wenig befannten mürttem= 
bergifhen Bauern und Dichters allfeitig dar, und er erreicht e8, uns für Die 
im deutſchen Leben jehr merkwürdige Erfheinung Wagners aufs höchſte zu 
intereffieren. Er nimmt aud) perfönlidye Stellung zu Wagners Ideen und 
Idealen und gibt uns fein fubjeftives Urteil über unfere Zeit, das id als 
ſolches gelten laſſen muß, wenn id) ihm auch nicht zuftimme. Was den Dichter 
Wagner anlangt, fo weiſt Weltrich felber die Anſchauung ab, als ob er ein 
jogenannter Bauern= und Naturdichter fei, ex ift fi Mar bemußt, bat Wagner 
von Bildungseinflüjlen ſtark bejtimmt worden. Seinem Talent nad) ftellt er 
ihn über ferner und Schwab, näher an Uhland und Mörife heran; id) mödte 
eher an Rüdert und feine Schule, die Schefer, Daumer u. f. w. erinnern, nur 
dab Wagner an Anſchauungskraft und Urſprünglichkeit bei vielen Schwächen 
fait den Altmeifter jelbft übertrifft. Inn unjerer modernen Riteratur bildet er 
fozufagen eine Gruppe für fi, eine merkwürdige Mifhung von Poet und 
Philoſoph, wie fie felten zu werben beginnt. Der Umerilaner Walt Whitmann 
tft vielleicht etwas ähnliches. Gewiß verdient Wagner die höchſte Aufmerk— 
ſamkeit, und verdient er auch ein fo dickes Bud), obwohl wir aus praktiſchen 
Gründen ein mefentlid) dDünneres vorgezogen hätten. Weltrichs perfönliche 
politijchfozialzethifhe Anfhauungen gehen den Kunftwart nur injomeit an, 
als fie unfere Zeit als für die Entwidlung von Hunft und Wiffenfhaft un: 
günjtig Hinftellen, über reaftionären Geiftesdrud Hagen, überhaupt die Kultur- 
feindlichkeit unjerer Zage behaupten. Jch bin der Unfiht, daß der Mangel 
einer „Blüte“ beifpielsmeife der Dichtkunft einfady auf ben Mangel an groben 
Talenten zurüdzuführen ift, daß im übrigen aber, und zwar gerabe im Inter— 
ejie unferer Kultur, ein Zurüddrängen des „papiernen“ Schaffens (ic) braude 
wohl nicht zu fagen, was ich darunter verjtehe) durch dag politifche und foziale 
Handeln fogar höchſt wünfhensmwert wäre. Wir haben nicht zu wenig Bücher 
und Zeitungen, jondern zu viel, und wenn man bie Hälfte der jchreibenden 
Menſchen beuticher Herkunft etwa in den Kolonien anderswie nüßlich ver— 
wenden könnte, jo würde ich das für fehr erſprießlich halten, felbit auf die 
Gefahr Hin, daß ich als der Erjte Saffeebohnen und Baummolle ernten helfen 
müßte, Adolf Bartels. 


ZUR 


Kunftwart 


Zur ADusikpflege. * 
2. Bom Volksliede. 


Die einfachſten mufitaliihen Bethätigungen find das Volkslied und ber 
Bollstanz. Sie bilden die Keime der ganzen vielgeftaltigen Tonkunſt, das 
wiſſen wir alle Es ift wohl aud nicht nötig bier zu wiederholen, was 
Künſtler und Sunftfenner von Herder und Goethe ab Schönes zum Preife des 
Volfsliedes gefagt haben. Seit mehr als hundert Jahren wird mit dem Rufe 
„Burüd zur Natur“ immer wieder bie Mahnung nad) „Rüdtehr zum Volksliede“ 
oder wenigſtens die Hoffnung laut, es fünnte aus dem Volkslied eine neue 
geiunde nationale Kunſt entjpringen und die Erzeugnifle unferer überfeinerten 
Berfallszeit ausſtechen. Mit folden Schlagworten, hinter denen ſich wohl ein 
berechtigter Stern verbirgt, ift gut arbeiten, wenn man die gute Sadje im großen 
Publikum fördern will. Aber fie find gefährlih, fobald der hinreißende 
Brediger jelbjt mit feiner Einfiht in den Worten fteden bleibt, wenn fie nicht 
aus dem Grund einer Karen Erfenntnis aufwachſen. „Die Wahrheit ift eine 
Nuance“, pflegte Renan zu jagen; verfudhen wir e8, fie zu treffen. 

Die heutigen Pfleger und Fürfprecher des Volksgeſanges thun ſich viel auf 
eine genaue linterjcheidung von Volkslied, volkstümlichem Lied, Lied im Volks— 
ton und Gaflenhauer zu gute. Volkslbieder in dieſem jtrengen Sinne find 
nur die im Volke jelbft entitandenen Lieder; volfstümliche hingegen wären 
Aunftlieder aus den ftreifen der Gebilbeten, die aber nad) Inhalt, Sprache und 
Weiſe jo allgemein verftändlih find, dab fie aud) von den Maſſen gefungen 
werden. Man räumt dabei ein, daß mas mir als echtes Volkslied rühmen, 
oft nur ein voltstümliches Lied ift, deſſen Autor unbelannt blieb und das im 
Munde des Volkes allmählid alle Merkmale feiner „künftlichen“ Herkunft ab- 
geitreift Hat. Alſo die Grenzen verſchwimmen oder find oft rein zufällige 
Hit dem Kunjtinufiler oder Dichter die Nachahmung des Voltsliedes miklungen, 
fehlte es ihm an Naivität des Ausdruds oder affektierte er fie merklich: fo 
bat er nur ein „Lied im VBollston“ zuftande gebradt. Gegen biefe Pfeudo- 
volislieder führt man mit Recht einen heftigen Kampf, ebenfo wie gegen ben 
Gaſſenhauer anderfeits, der hinfichtlich des Urfprungs mit dem Boltslied 
etwas gemeinfam hat, nicht aber deſſen Wert und Lebensdauer. Diefe Ein- 
teilung wirft äſthetiſche und Literargefhichtlihe Dinge durdeinander, um 
von bein geheiligten Begriff des Volklichen und VBollstümlichen jede ungünftige 
Vorjtellung fernzuhalten. Gin fchlehtes, niedriges Volkslied mirb als 
Baflenhauer aus der guten Gemeinihaft ausgefhieden; das mihlungene 
vollstümlihe Lied geht dieſes Namens verluftig und muß fih Lieb im 
Vollston ſchelten laſſen. Sagen wir darum jtatt diefes fpigfindigen Spiels 
mit Worten, einfah: nur gute Volks- oder vollstümliche Lieder follen ge— 
pflegt werben. 

Wann ift nun ein Volkslied „gut“, worin liegt fein eigentümliher Wert ? 
Die Frage beantwortet fid, wenn man erwägt, waß die Gebildeten bes vorigen 
Sahrhunderts veranlaßte, fih mit dem Volksliede zu befaffen. E8 mar Re— 
aktion des gefunden menſchlichen Gefühls gegen eine Hunftpoefie, die den Boden 
der Natur unter ben Füßen verloren Hatte, in einer abjtrakten, byperidealen 
Empfindungswelt fi) bewegte und nur unter Göttern unb verwandten 


* Wir verallgemeinern ben Titel unferer Folge fo, weil wir ung ent=- 
fchloffen haben, ihr Stoffgebiet zu erweitern. 


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Haffıfhen Geftalten ſich heimifch fühlte. Es mar bie Reaktion bes natürlichen 
Sinnes gegen eine Aunftpoefie und Kunſtmuſik, deren überlomplizierte, ver— 
fchnörkelte, mittelbare Ausdrudsmweife fie behinderte, je Gemeingut weiterer 
Kreiſe zu werben. Es war bie Reaktion gegen bie ariſtokratiſch-hochmütige Auf⸗ 
faffung, als fei die Kunft nur zum Parademaden oder zum geiftigen Sport 
der höheren Gefellfhaft da und nit auch ber freundlihde Shmud und traute 
Gefährte unferes ſchlichten, täglichen Lebens. Die Bedeutung bes Volksliedes 
Tiegt alfo in feinem Inhalt, in feinem Ausdrud und in feiner Anwendſamkeit. 

Der Inhalt des Volkslieberfhages umfaßt ben ganzen Umkreis typifcher 
ober fonftwie Häufig miebderfehrender Empfindungen. Die Freude an ber 
Natur, am Wandern, an Lenz und Luft, an Wald und Fluren, an beiterer ober 
erniter Gefelligkfeit, an Wein und Weib, an Liebesglüd und Liebesleidb gibt 
fih in ihnen fund. Sie begleiten ben Jäger beim Streifen burd ben Forft, 
ben Schnitter bei ber Felbarbeit, bie Mädchen beim Spinnen. Ja, fie äußern 
und begleiten nicht nur, fie vermitteln aud) den Einblid in das Fühlen der 
verſchiedenen Stände und Lebensalter, und bereihern damit das Empfinbungs- 
leben ber Andern. Uber man bedente auch mwieber eines: von unfern Volks— 
liedern hat die Mehrzahl ländliche, Hat faum ein Drittel Meinftäbtifche Verhält- 
niffe zur realen Vorausfegung, und für das Bedürfnis des Großſtädters reichen 
fie gar nicht mehr aus. Man fingt dort die alten Lieber zum guten Teil nur 
als poetifche Filtionen, und fogar auf dem Lande befinden fi die Zuftände 
nad diefer Rihtung hin in der Entwidelung. Geht ber Zug unferer Zeit 
immer mädtiger auf die Befreiung vom Banne konventioneller Zügen, fo be— 
greift man den geheimen unbemußten Widerftand, den bie Bevölkerung ben 
Beitrebungen der Bollsgefangvereine entgegenftellt. Und bie alten Lieber ben 
Verhältniffen der Gegenwart anzupaffen, hat der „dichtende Volksgeiſt“ bisher 
nod nicht vermodit. 

Aber barüber mögen fih bie Iiteraturfundigen Mitarbeiter des Kunſt⸗ 
warts bie Köpfe zerbrehen. Das Muſikaliſche, die Melodil der Volkslieder 
iſt jedenfalls nicht „veraltet“, nein wir finden, daß die altdeutſchen Liebmeifen 
den neueren an Energie und Fähigkeit „das Gefühl ficher zu beitimmen“ durch— 
aus nit nadftehen. Im Gegenteil. Freilih: den Empfindungsinhalt 
eine® Gebildeten ganz zu erfhöpfen, vermag fein Volkslied, e8 vermag’s 
mweber den Worten noch den Beifen nad. Es kann uns alfo nie ganz das 
Kunjtlied erfegen, das gewiſſe zufammengefegte feelifhe Stimmungen, wie 
fie der Zeitgeift unter denen, die ihm naheſtehen, auslöft, eben allein be 
friedigen und ausgeprägt indivibuelle8 Empfinden eben allein zum Ausdrucke 
bringen kann. 

Weil nun die Volkslieder nad Form und Inhalt fo einfach und fahlich 
find, eignen fte fich vortreffli für den erften Unterridt. Und dort finden 
fie noch bei weitem nicht jene Verwendung, die ihnen zukommt. In den grumbs 
legenden Gefang- und Klavierſchulen follte der ganze Reichtum der Kinder— 
lieder entfaltet und damit von Gefchleht zu Gefchleht überliefert werben, wie 
denn überhaupt auf diefer Stufe Inftrumental= und Gejanglehre Hand in Hand 
gehen follte. Die Elemente der Phrafierung, bes ausdrucksvollen Vortrages 
u. ſ. w. ließen fi in biefer Verbindung viel leiter, natürlicher dem kindlichen 
Verſtande beibringen. Ueberhaupt müßte bei der Erziehung ſchon darauf hin— 
gewirkt und e8 nicht bem Zufall überlaffen werden, daß ber junge Menſch 
mwohlvertraut mit dem nationalen Liederſchatze ins Leben tritt, um daraus bei 
jeder Gelegenheit ſchöpfen zu fönnen, um einen Grundftod fünftlerifch geitalteter 


Kunftwart 
— 402 — 


Empfindungen in fi gu tragen, auf dem die höhere Kunst einmal meiterbauen 
fann. Sonft findet ihre Stimme feinen Wiederhall. Hier Tiegt auch mit der 
erziehlichite Einfluß ber ftubdentifchen Gefelligfeitsvereine, namentlich 
für junge Leute aus den Städten. Sie lernen die ſchönſten und geläufigiten 
Volkslieder kennen und, was mehr heikt, fie erproben fie praftifch in ver— 
fhiedenen Lebenslagen, 3. B. die Natur: und Wanderlieder auf fröhlichen Aus— 
flügen, die Trink-, Weihe» und Trauerliedber bei entſprechenden Anläfjen u. f. w. 
So knüpft fid) an jebes Lieb eine Fülle von Erinnerungen aus ber frifcheiten 
Blütezeit des Lebens, und mer ſich fo durch den Lieberhort in jungen Tagen 
durchgeſungen, der hört die einzelnen Gefänge, dank den unvergeßlich daran 
baftenden Affoziationen, fiherlid” mit gang anderem Empfinden an, als mer 
fie damals etwa im Kommersbuh durchlas oder meineimegen, wenn er 
vielleicht Fachmann“ für Vollsliedforfhung war, fogar „itubierte“. 

Hit das Volkslied mithin in feinem typifchen Eharalter fo recht bie Aus— 
drudsform der Jugend, fo broht feiner Wertfhägung eine Gefahr in jenem 
Ultersjtadium, wo fi) die Individualität der Menſchen ftärker entwidelt und 
in einem pſychologiſch erflärlichen erften Uebereifer alles ihr nicht Gleichartige 
abſtößt. Mander fommt aus diefer Periode nicht mehr heraus; bie meiſten 
aber überwinden aud) fie, nur daß ihnen bie neuauflebenden Jugendibdeale in 
einem anderen Lichte erfcheinen. So kehrt man denn auch fpäter, nit nur 
erinnerung8halber zum Vollsliede zurüd, um das Herz daran zu laben und 
ben Geift zu erfrifchen, und hält dem freundlichen Gajte gern einen Plaß an 
ber Zafel bes Lebens frei. E8 gibt nun allerdings Leute, die da glauben, 
daß nicht nur der fhaffende Künftler immerzu auf der Höhe des Ausdrucks 
wandeln, fondern, daß auch jeder rechtſchaffene Kunſtmenſch ftreng Hinter ihnen 
herftelgen müffe, beileibe ohne je einen Wbftieg in Thäler und Vorberge zu 
unternehmen. Sie gleichen den Praffern, bei benen opulente Feitmähler nicht 
fröhliche Ausnahmen, fondern fportliches Reglement find, und bie ſich Dabei 
ben Gaumen fo ſehr überreizen, daß ihnen gefunde Hausmannskoft gar nicht 
mehr eingehen will. Solde Leute mögen nobel thun oder nobel fein: jeden= 
falls find fie jehr bedauernsmürdig. Wir aber möchten nicht, dat bie Deutſchen 
auf dem Gebiete ber Kunſt fih bloß aufs Gipfelflettern und Feinfchmedern 
verlegten; fie follen in ihrem ganzen Bereich zu Haufe und für alle nahr— 
bafte Koft empfänglid fein. Womit natürlich nicht gefagt ift, daß fie au in 
den Sümpfen zu mwaten und fi bei Waffer und Brot zu kaſteien brauchten. 

„Richt gefungene Volkslieder find halbe Volkslieder oder gar feine“, 
meint Herber ſehr richtig. Alfo wader darauf losgefungen. Leider haben die 
Heinen Gefangvereine, beren wichtigſter Lebenszweck die intime Pflege 
des Volksliedes fein follte, dieſe Aufgabe vielfach ganz aus den Augen verloren, 
fie pflegen entweber gemadte, jentimentale Nahahmung oder fie thun mit 
„impofanten“ Leiftungen, römifhen Triumpbgefängen, Chorballaden n. dergl. 
groß. Ueber dieſes Leiden ift wiederholt an diefer Stelle geflagt worben. 
Einer gefunden Reaktion, wie fie in Deutfhöjterreih vom Wiener Volksgeſang— 
verein ausgeht, wünfchen wir vom ganzen Herzen Glüf und wir maden zu— 
gleich auf bie Flugfchriften diefes durch Joſef Pommer ins Leben gerufenen 
"Bereins aufmerffam.* Selbſt für den anfprudisvolleren Mufiffreund ges 


* Flugſchriften zur Stenntnis und Pflege des deutſchen Volfsliedes. Her— 
ausgegeben vom deutfhen Volfsgejangverein in Wien (V. Pilgramgafie ı0). 
Wegweiſer durch die Literatur des deutſchen VolfsTiedes". (20 fr.) 


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winnen die BVollsmweifen durch verfeinerte Harmonifierung und Tunjtreiche 
Stimmenführung an Reiz, jo daß fich unfern Tonkünſtlern nad) diefer Rihtung 
nod ein fruchtbares Feld eröffnet. Dasjelbe gilt von den in neneiter Zeit 
beliebt gewordenen Bolf8liedern mit Hlavierbegleitung. Als Mufter können, 
was echte volkstümliche, aber feinmuſikaliſche Einfahheit anlangt, die Bear— 
beitungen von Martin Plüddemann gelten. Dem fpezififhen Muſiker mird der 
lavierfag, den Brahms zu vielen ſchönen Volksweiſen erfonnen Hat, hohen 
Genuß bereiten. Dieje Bearbeitungen bilden dann den natürlichen Uebergang 
zu den Sunjtliedern, von denen ein nächſtes Mal einläßlicher gehandelt 
werben wird. Richard Batfa. 


Kopie und Fmitation, 


Kopie und Jmitation bedeuten beide etwas ganz ähnliches, näm— 
lih die täufchende Wiedergabe eines gegebenen Borbildes in einer 
neuen Arbeit. Und doch muß man beide Dinge grundverſchieden be— 
werten. Denn während die Kopie eines Wertes einfach den Berjuch be— 
deutet, durch Wiederholung diejelben äfthetiichen Genüffe zu bereiten, 
wie das Original, jo haftet dem Begriff Jmitation der Makel des Un— 
ehrlichen, der Sinn de8 „Täujchenwollens“ an. Allerdings gehen beide 
Begriffe ohne feite Grenze ineinander über, und es gibt viele Fälle, mo 
man faum nod) jagen fann, ob man es mit einer Jmitation oder einer 
Kopie zu thun Hat. 

Um fi) den Unterſchied Zar zu machen, denfe man fich folgendes 
Beifpiel: Wenn einer ins Muſeum geht und einen Tizian „abmalt”, fo 
ergibt das flärlich eine Kopie. Hier kann jogar das Material genau 
dasſelbe fein, und je muftergültiger die Kopie ift, je mehr bereitet fie 
uns einen Genuß wie das Originalwerf. Oder: e8 macht jemand einen 
Abguß nach einer antiken Plaftit. Die Plaftit ift aus Bronze, der Ab— 
guß aus Gips. Durch geeignetes Tönungsverfahren kann man diejen 
jedoch) dasjelbe Ausſehen verleihen wie der Bronze, jo daß der Augen— 
eindrud, um den es ſich beim Kunſtwerk handelt, aud) hier, wo ein 
anderes Material vorliegt, genau der gleiche bleibt, wie beim Original- 
wert. Niemand wird in einem ſolchen Kopieren, jo lange feine betrü- 
geriichen Verſuche, die Kopie als Originalmwerf unterzufchieben, in Frage 
ftommen, etwas äſthetiſch Anftößiges jehen können. Die Kopien find 
nicht jo folid, wie daS Material, allerdings, aber das ift ein Praftifcher 
Nachteil, der nuc bei einem Gebrauchsgegenftand aud) ins äfthetiiche 
hinüberfpielte, bei reiner bildender Kunſt fommt als äfthetifcher Wert je 
nur das Bild fürs Auge in Frage. 

Und nun denfe man fi) ein Beifpiel für Jmitation. Ein Mann 
möchte reich gejchnigte Deden in feinem Zimmer haben. Seine Ver— 
hältniffe erlauben ihm jedoch folden Lurus nicht. Da läßt er denn 
reiche Holzdeden in Gips abgieken, Holzfarben abjtreihen und fie fo 


mei Hefte beutiche Volkslieder f. gemiſchten Chor. (je 30 fr.) 
Sechzig fränkiſche Volfslieder f. + Männerftimmen. Di. 3.—. 
222 echte Stärntnerlieder. 2 Bde. je fl. 1.25. 


Kunftwart 
— 404 — 


anbringen, daß man nun meint, in einem Zimmer mit reich gefhmgter 
Holzdede zu fein. Oder e8 macht jemand Photographie-Albums. Seine 
Kunden möhten am Tiebften recht reich ausſehende Dedel aus dickem 
Leder mit ſchwerem Silberbeihlag haben. Sie können aber nur den 
dreißigften Teil von dem ausgeben, was fol einer foften würde. Da 
weiß unfer Dann denn Rat; er läßt Papier jo preſſen, dab es äußer— 
lich gerade wie Leder ausfieht, läßt den Silberbeihlag aus dünnem 
Blech ftanzen und gibt ihm eine dünne Berfilberung. Das heißt dann 
imitierter Lebereinband. 

An diefen Beifpielen mird klar werden, worin der grundlegende 
Unterfchied zwifchen Kopie und Jmitation liegt. Zum erften wird man 
dort von Kopie reden können, wo die Vorlage ein Originalmerf, ein 
mwirflihes Kunſtwerk ift, deffen Bedeutung in der Form oder in der 
Farbe, nicht im Material Tiegt. Wir fünnen die Benus von Milo zwar 
bejjer genießen, wenn fie in Marmor vor ung fteht, als in Gips, aber 
die Idee des Kunſtwerks und deshalb das Weſen ihrer Bedeutung liegt 
lediglich in der Form, wie fie der griechiiche Meifter einft erfonnen. Das 
Material ift zwar erfreulih, für die Konzeption des Kunſtwerks aber 
nebenfählih. Kann man den EGindrud des fchönen Materials künftlich 
erzeugen, fo thut man e8, um den reinen Nugengenuß zu haben, den 
das Marmororiginal erzeugt. Ganz anders beim Photographie-Album. 
Da wählt man das Leder ja deswegen, meil in ihm die Gewähr für 
die größtmögliche Haltbarkeit beim Gebraude liegt. An fi ließen 
fih) auch im Bappdedel oder im Papier die größten fünftleriichen Reize 
erzeugen, jo lange man die Eigenart des Material3 herausfehrt. Aber 
greift man zum Leder, fo iftö eben der praftiihen Eigenſchaften 
des Material, nicht allein feines Ausjehens wegen. Dieje Eigen 
fchaften gehen natürlich dem imitierten Materiale ab. Dan kann zur 
Not den Augeneindrud des Leders heriiellen, der Gebrauhsmert 
fällt volllommen weg. Wählt alfo jemand daS Lederalbum aus 
Papier, fo ift e8 ihm gar nicht darum zu thun, den Gegenftand wirk— 
Ih im Sinne feiner eigentlichen Beltinmung zu haben, jondern er 
wählt ihn nur — jchließt der Hunftverftändige leicht — um den Schein 
zu erweden, er könne ſich echt lederne Einbände leiften. So führt die 
praftifche Bedeutung der Frage ins Ethiſche hinüber. Jener „Schluß“ 
des Kunſtverſtändigen richtet fi) gegen den Charakter des Menfchen, 
mwelcher nicht das Bedürfnis Hat, ehrlich zu zeigen, mit welchen Mitteln 
er arbeitet. Er mag mißverftändlich fein, diejer Vorwurf, er mag nur 
Daher fommen, daß der andere nicht fühlt, wie nicht in der Koſtbar— 
keit, jondern allein in der Ausgeſtaltung durch Form und Farbe 
der wirkliche Kunftwert einer Arbeit liegt. So kann Mangel an äfthe- 
tiicher Bildung in den Geruch ethiiher Mängel bringen. 

Und auch die äjthetifchen „Lügen“ haben kurze Beine. Eine wirk— 
liche Hnlzdede wird durch) Gebrauh und Abnukung eher jchöner, das 
Holz nimmt mit dem Alter und der Verräucherung die reizvolliten Patina— 
farben an, während der angejtridhene Gips höchftens ſchmutzig und unan— 
jehnlich wird, ganz abgejehen von den Stellen, wo er abbrödelt und in 
den weißen Flecken fein wahres Weſen enthüllt. Ganz ebenfo beim Album. 
Jeder Kratzer und Drud hebt den Eindrud des Leder auf, mährend 
der „Beſchlag“ fich bald abwetzt, eindrüdt und dann feine blecherne 


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105 — 


Exiſtenz erkennen läßt. Auch bei der größten Schonung find folde 
Dinge nad) wenigen Jahren traurige Ruinen, mährend der edite 
Gegenstand vielleicht nie feinen Wert verliert. So ift auch rein mirt- 
Ichaftlich die Erwerbung von Jmitationen zumeift ein Selbjtbetrug. 
Allerdings, die moderne Technik liefert Beifpiele, daß mit dem 
Erſatz durd) fremde Materialien auch Eigenſchaften verbunden mwerben, 
die denen des echten Materiald gleich fommen, ja, die fie manchmal 
übertreffen. In fol einem Falle kann natürlich der Begriff Jmitation 
nicht in demfelben Sinne verwendet werden. Wo mir heute gemifje 
Steinimitationen haben, die an Qualität den Stein ſelbſt übertreffen, 
da kann e8 nicht unrichtig fein, fie an Stelle von Stein zu verwenden. 
Nur follte man bedenken, daß mit der Qualität des Materials fi) aud) 
feine äfthetifche Yorm verändern müßte. Man denke an Zement. Zement 
ift ganz jicher ein ausgezeichnetes Material. Und doc tft es falſch, mit 
ihm einfach die gewöhnliche Haufteintechnit nachzuahmen. Man follte 
verfuchen, die Geftaltungsmöglichkeit eines jeden Material3 derart kennen 
zu lernen, daß man aus feiner Eigentümlichkeit heraus die natürlichen 
Kunftformen entmwidelt.e Und dies ift in unferer modernen Induſtrie 
auch da noch nicht geichehen, wo es fih um Dtaterialerfag handelt, der 
im übrigen einwandfrei wäre. Ueberall jpuft noch die „Jmitation“. 
Paul Schultze-Naumburg. 


Lose Blätter, 
Gedichte von Detlev von Kiliencron. 


Wenn Detlev von Lilieneron noch immer nur wenig gelefen mwirb, io 
hat ers ganz gewiß den befannten GErblaftern der Deutfchen zu verdanken, die 
er fo herzlich Habt, jehr wahriheinlicher Weife aber nebenbei dem Geſchrei 
einer literarifhen Gefolgfchaft, die ihn als neuen Goethe und größten Lyrifer 
fett dann und dann mit unermübdlicher Qungenfraft ausgerufen hat. So trat 
man mit hochüberſpannten Erwartungen zu ihm, fühlte ſich enttäufcht und 
ging wieder. Aber Liliencron ift an ber Verhimmelung durch feine Gefolgſchaft 
nicht jchuldig, er perfönlih Hat nie irgend welche Reklame erftrebt, nie irgend 
welche Elique gepflegt, er ijt in feinem Iiterarifchen Wirken ſtets untabdelhaft 
gewefen. Und wenn ihm aud ein gerundetes ganz rein lyriſches „Lied“ 
faum je gelungen ift, wie wir fie von Goethe, Mörike, Groth, Seller, Storm 
und den andern großen Lyrifern befigen, und wenn wir ihn deshalb gerade 
zu biefen faum zählen dürfen, jo iſt er dod ohne Zweifel ein kernechter 
und ferngefunder Poet von frifchefter Urfprünglichkeit und ausgeſprochener 
Eigenart — ein „ganzer Kerl“ in der Literatur, der jedem aus feiner Lebens— 
fülle was abgeben fann. Heute gilt c8 ung nidt, ihn zu fritifieren. Mir fegen 
den Xefern heut ein par Proben aus feinen Gedichten vor. Aber diefe par 
Proben ſchon werden zeigen, daß man ſich ein ganz falſches Bild von Lilien- 
eron macht, wu man etwa nidhts als einen fröhlichen Leutnant als Menſchen 
im Poeten vermutet. Der fieht aus den Liebesgedichten heraus, aber ſchon 
aus den Schladhtenbildern blidt mehr. Ein Gedicht wie „ES lebe der Staifer” 
bat übrigens an eindringlicher Anſchauungs- und Stimmungsfraft in ber 


Kunftwart 
— 406 — 


ganzen beutfchen Kriegslyrik kaum feinesgleihen. Auch wo Lilieneron nur 
„liebelt*, ift er leichtlebig und vielleicht Teichtfinnig, aber niemals lüſtern ober 
frivol, er ift immer, und das ijt das Prächtige an ihm, durchaus natürlid. 
Daß er fich gelegentlih zu wirflih großen Anfhauungen, zu dichteriſchen Ge— 
fihten aufſchwingt, ermeife feine „Sündenburg”. Bon all den Jüngftbeutfchen, 
die in ihm ihren Führer ſehen, ift ſchwerlich noch einer jo ferngefund, wie 
er. Darin ift er in ber That mit Goethe verwandt, aber das meinen bie 
Herren ja nidt, wenn fie ihn einen newen Goethe nennen, mie gelegentlich 
Dehmel ober font wen. 

Die folgenden Stüde find den beiden Sammlungen entnommen, Kampf 
und Spiele” und „Kämpfe und Ziele”, die, bei Schuiter & Löffler in Berlin 
erfhhienen, je 2 Mark koſten, gebunden 3 Mark, Auch „Neue Gedichte‘ find 
bort herausgelommen. Ebenjo „Ausgewählte Gedichte“, die aber fein rechtes 
Bild geben. 


* 


Den Waturaliften. 


Ein echter Dichter, der erforen, 

Iſt immer als Naturalift geboren. 

Doc wird er ein roher Burfche bleiben, 

Kann ihm in die Wiege die Fee nicht verfchreiben 
Swei NRätfel aus ihrem Wunderland: 

Humor und die feinfte Künftlerhand. 


Es lebe der Kaifer. 


Es war die Zeit um Sonnenuntergang, 

Ich fam vom linfen Flügel hergejagt. 

Granaten heulten, heiß im Mörderdrang, 

Hol euch die Peft, wohin ihr immer fchlagt. 

Ich flog imdefjen, das war nichts gewagt, 

Unter fi kreuzendem Geſchoß inmitten. 

Rechts reden unfre Rohre, ungefragt, 

£in?s wollen feindliche ſich das verbitten. 
Gezänk und Anfpuden, ich bin hindurchgeritten. 


Plötzlich erfenn’ ich einen Johanniter 

Um roten Kreuz anf feiner weißen Binde. 

Wo fommft du her, du ſchneidiger Samariter, 

Was trieb dich, daß ich hier im Kampf dich finde? 

Er aber riß vom Haupt den Hut gefhwinde, 

Und fhwang ihn viel, den feltnen Küftefreifer, 

Und fhwang ihn hod im ſchwachen Abendwinde, 

Und rief, vom Reiten angeftrengt und heifer: 
Geftern ward unfer greifer, großer König Kaifer. 


Und zum Salute donnern die Batterieen 
Den Kaifergruß, wie niemals er gebradht. 
Aweihundertfünfzig heife Munde fchrieen 
Den Gruß hinaus mit aller Atemmacht. 
Schen ſchielt' aus gelbgefäumter Wolfennacdt 
Sum erften Mal die heife MWinterfonne, 


* 2. Märzheft 1899 


Und fchwefelfarben leuchtete die Schlacht 
Bis anf die fernft marfcierende Kolonne — 
Daf hod mein jung Soldatenherze fchlug in Wonne. 


Tot lag vor mir ein Garde mobile du Nord, 
Es fcharrt mein Fuchs und blies ihm in die Haare. 
Da lang ein Ton herüber an mein Ohr, 
Den Höllenlärm durchſtieß der Ton, der Flare. 
Nüchtern, nicht wie die fchmetternde Fanfare, 
Klang her das Horn von jenen Musfetieren. 
Daf dir, mein Daterland, es Gott bewahre, 
Das nfanterie-Signal zum Avancieren. 

Dann bift du ficher vor franzofen und Bafchfiren. 


Sum Sturm, zum Sturm! Die Hörner fchreien! Dranfl 
Es fprang mein Degen zifchend aus dem Gatter. 
Und rechts und linfs, wo nur ein Slintenlauf, 
Ich rif ihm mit ins feindlihe Gefnatter. 
£erman, £erman! Durh Blut, Gemwehrgeicnatter, 
Durch Schutt und Qualm! Schon fliehn die Kugelipriten. 
Der Wolf brad ein, und matter wird und matter 
Der Widerftand, wo feine Zähne bliten. 
Und Siegesband umflattert unfre Fahnenſpitzen! 


Auf der Kaffe 


Beute war ich zur Kaffe beftellt, 

Dort läge für mich auf dem Zahltiih Geld. 
Warens auch nur drei Marf und adıt, 
Hinein in den Beutel die fröhlihe Fracht. 


Auf der Kaffe die Hähler und Schreiber, 

Die Pfennigumdreher und Stenereintreiber, 
Wie fie Falt auf den Sitzböcken thronen, 
Sichten das Geld wie Kaffeebohnen. 

Möchte doch lieber Zigeuner fein, 

Als Mammonbefchnüffler im goldenen Schrein. 


Im Bürean ift jeder zu warten fchuldia, 
Stand ich denn aud eine Stunde geduldig. 
Dacht' ich mir plößlich: mit Derlaub, 
Wären doc all hier blind und taub! 

Der Geldfchranf fteht offen, rifch wie der Pfiff 
Thät' ich hinein einen herzhaften Griff, 
Padte mir berftvoll alle Tafchen, 

Machte mich fchleunigft auf die Gamafchen, 
Nähme Schritte wie zwanzig Meter. 

Binter mir ber der Gendarm mit Gezeter, 
Brächt' mich nicht ein, fo jehr er auch liefe, 
Saß auf der fchnellften £ofomotive. 


Kunftwart 
— 44 — 


Mit der Derwendung des Geldes num, 

Bin ih doc Fein blindes Huhn. 

Stoljierte umher wie der König von Polen, 
Sudte mir bald ein Bräutchen zu holen. 
So ein Mädchen mit blanfen Zöpfen 
Könnt’ ih wahrhaftig vor Liebe köpfen. 
Dor dem Spiegel, auf hohen Zehen, 

Stehn wir, wer größer ift, zu fehen. 

Ad, diefe Mähel Den Puls ihres Kebens 
Fühl' ih im Spiele des nedifdhen Strebens. 
Weiter! natürlih Wagen und Pferde, 
£änder und £eute, Himmel und Erde. 
Sacral Wie will ih mich amüfteren... 


„Bitte, wollen Sie hier quittieren.“ 

O, wie das nüchtern und eifig klang. 
Nahm die drei Marf und acht in Empfana, 
CTrank beſcheiden ein Krüglein Bier, 
Trollte nad Hauſe, ich armes Tier, 

Schalt meine frau mich bis in die Yacht, 
Daß id fo wenig Geld gebradt. 


Anf einer grünen Wiefe. 


Du junge fhöne Bleicherin, 
Wo fährft du denn dein Leinen bin? 
Raſch fpring’ id auf den Bod zu dir, 
Sufammen dann Putfchieren wir 

Auf deine grüne Wieſe. 


Da breiteft du im Sonnenfcein 

Die Hemden fein, die Höschen fein. 

Ih feh dir zu, mein Herz wird laut, 

Wir fpielen Bräutigam und Braut 
Auf deiner grünen Wieſe. 


Und Nachts, im milden Mondenfceint, 

Bewachſt dein £innen du allein. 

Ih gebs nicht zu, es ängftigt mich, 

Dor Raub und Mord bejchüt’ ich dich 
Auf deiner grünen Wiefe. 


Die Sündenburg. 


Ich bin gewandert durch manches Kand, 

Blieb gern von der Menge ungefannt. 

Die Menſchen fand ich allenthalben 

So gleichgeartet wie die Schwalben. 

Sehr wenig Gutes, viel Gemeinheit, 

Diel plumpes Getrampel und wenig Feinheit. 
Befonders der Neid fchien bei allen mir aleich, 
Die fräftig hofften aufs Himmelreic. 


2. Märzheft 1899 
. 409 - 


Kunftwart 


Recht Hübſches entdeckt’ ich im Strebertume, 
Und fah manch ähnliche füße Blume. 

Die Heuchelei, das war fpafhaft zu fehn, 

Saft fonnt’ fie auf einem Beine ftehn, 

Sehs Stunden lang am Kirchenthor, 

Bis würdevoll anfam der Herr Paftor. 

Diel Artiges fhaut’ ih im Lügen und Trügen, 
In denen fo gern wir uns vergnügen. 

Und taufend und taufend andere Sachen, 

Die waren zum Weinen, die waren zum Lachen. 
Was fehr mir mißftel bei der Wanderpartie, 
Das war der Mangel an Poefie. 

Und befonders in Dentfchland hab’ ichs empfunden, 
Und hab’ es gefpürt wie fchmerzende Wunden. 
Ja, ja, fein mittel, Schablone, brav, 

Auf alter Weide das alte Schaf. 


Dor einem LCaden die Sudelei: 

„Großvater füttert den Enfel mit Brei“, 
Betracht’ ich, und mit mir Chriften und Juden 
Stehn entzüdt vor diefer Buden. 

Wenn es Klinger aber und Bödlin wär, 

Sie fhenften dem Bilde gewiß wenig Ehr. 
Ja, ja, fein mittel, Schablone, brav, 

Auf alter Weide das alte Schaf. 


Da zupft mid; einer am Aermel verftohlen, 

Ich denke, mich foll der Teufel holen. 

Denn neben mir fteht ein Meiner Mann, 

Der faum an die Schulter mir reichen fann. 
Mageres Körperchen, dürftiges Kleid. 

Klagt mir ein Bettler fein fchmähliches Leid ? 
Er zwidt mit den Augen fo mühfam und faul, 
Und arinfend verzieht fi das breite Maul: 
„Du Narr unterftehft dich, auf Alles zu fchelten, 
Auf alle Menfcben, auf alle Welten. 

Du follft dich fchämen, du weißt doch nichts, 
Sieh mich an, ih bin ein Engel des Lichts 
Und fenne Alles. Bift du nicht banae, 

So folge mir anf dem nädften Gange.” 

Und ch ich gefprodyen, und eh ich gewollt, 
Schon bin ih von feinem Mantel umrollt. 

Wir fliegen zufammen, ich weiß nicht wohin, 
Mir klopfen die Pulfe, mir fchwindet der Sinn, 
Bis endlib wir aus den Iuftigen Gaſſen 

In einer Müfte uns niederlaffen. 

„Was fiehjt du? Ich frage dich, was du fchauft ?“ 
Und dreimal fchlug feine knöcherne Fauſt 

Mich auf die Stirn: „Was fiehft du nun? 
Gefällt mein Treiben dir und Thun?“ 


— 40 — 


Im Dierfant ftrebt ein Felſen auf, 

So hod, er hemmt den Sonnenlauf. 
Senfredten Schroffen fidern ab 

Diel Tropfen in das MWüftenarab. 
Wild auf des Steines Platten oben, 
Steht eine Märdenburg erhoben, 

Ein Donnerftuhl, ein Bliteplat, 

Ein Widderfopf in Sturmeshat. 

Der Regen raufht auf Zack und Zinnen 
Und ftürzt aus Drachenrachenrinnen. 
Aus dem zerfeßten Wolfenzug 

Zieht gierend ans ein Geierflug, 

Und prädtig fällt die Sonnenflut 

Dem NRaubzeug auf den Federhut, 

Und zeigt im Licht die weißen Mauern 
Und fhwarzer Tannenfränze Tranern. 
Und Turm auf Türmen und Terraffen, 
Und Koggien, Ballen, Säulengaffen, 
Sugbrüden, Grotten, Gärten fchweben 
Und weben ein phantaftifch eben. 
Und wieder zieht der Sonne vor 
Aſchfarben fih ein Schleierflor. 

Dom grauen Himmel, ohne Haud,, 
Sticht ab ein feiner ſchwarzer Rauch, 
Der aus der Burg, der Säule gleich, 
Hinaufzieht in das Gnadenreid,. 

Iſt ein befränzter Stier gefällt, 

Ein Opfertier im Tempelzelt? 


„Sprich, Alter, was hat die Burg zu bederiten, 
Iſt fie beſetzt mit ftreitbaren Leuten ?* 


„Ihr Menſchen möchtet in Alles dringen, 
Und wühlt zu gern in geheimen Dingen. 
Aur immer mit deinen fragen hübfch jacht, 
Doch deshalb hab’ ich dich hergebradht, 

Um dir dein Bleinliches Denken zu zeigen, 
Dein hochmütig Reden im Lebensreigen. 
Was madıft du dich Iuftig über die andern, 
Und mußt doch aucd ihre Wege wandern ? 
Das Schloß dort oben auf graufiger Kant 
Hab’ ih die Sündenburg genannt. 

Dahin fend’ ih alle Gedanken, 

Die heimlih euh aus dem Herzen ranfen, 
Die nie aus tiefftem Seelengrunde 
£eichtfinnig entfchlüpfen enerm Munde, 

Die verftedt ihr haltet in dunkelſter Kluft, 
Die mit ihr nehmt in Grab und Gruft, 
Wünſche nah Mord und fcheußlichen Lüften, 
Weltuntergang, wenn ihr an lodenden Küften 


ei 2. Märzheft 1899 
- —1 


Kunftwart 


Nur euch allein dort Fönnt aefallen, 

Sum Nucknck dann mit den übrigen allen. 
Hotdürftig dageaen fchriebt ihr Geſetze 

Und fpanntet euch ein in fchütende Netze. 

Und dächtet ihr nicht an den ftrafenden Gott, 
Ihr endetet alle auf dem Schaffot. 

Yun aber ift es von mir zur loben, 

Daß diefen Gedanken fit auszutoben 

Ich erlaube, wenn auch nur auf furze Stunden 
Erlöfung auf jener Burg fie gefunden. 

Denn jedesmal um Mitternacht 

Derbrenn’ ih den Kram und ein End tft gemadht. 
Die Feſte fteht wieder am anderen Morgen, 

Ih braude für neues Gedräng nicht zu foraen. 
Haft du Deranügen an jenem Derein, 

Wir fehen einmal durhs Fenſter hinein.“ 


„Du teuflifcher Kerl, das tft nicht wahr, 

Du läßt uns Menfchen Fein gutes Haar. 

Wir haben die Selbftzucdt anf ſtachligem Weg, 
Die führt fernab vom Höllenfteg. 

Treibt es dich, fieh allein in dein Haus, 

Mir würde das Hirn verrüdt vor dem Graus.“ 


„So feid ihr Menjchen! Ihr fpottet und lacht 
Ueber des Nächten Gebahren und Tradıt. 

Dod will ich einmal euer Seelben euch zeigen, 
Dann feid ihr feig und heifcht mich fchweigen.“ 


„Zah dem Rauch zu fragen ift mein Begehr, 
Der dort oben zieht fo grad wie der Speer.“ 


„Je nun, das ift eine Fleine Filiale, 

Ein Suderbonbonden auf blutiger Schale. 

Oft peinigt ein Sehnen euch hei und erflärlich, 
Für end und die Welt fonft fehr ungefährlich. 
Wie fag’ ih: Ein Mädchen liebt einen Knaben, 
Ein Knabe möcht gern ein Mädchen haben, 

Und fönnen durchaus nicht zu einand, 

Das ift für die beiden dann fehr genant. 

Oder einer will gar zu gern einen Orden, 

Und ift ihm doc nimmer und nimmer geworden. 
Und ähnlihe MWünfche, wohl eine Kegion 

Sudt jeder zu ftillen im Erdenfrohn. 

Da hab’ ich abfeits dort einen Altar, 

Dor dem wird alles glüdlih und klar. 

Ich wette, juft eben die Opferthat 

Stammt danfbar von einem Kommerzienrat.“ 


„Hund an die Burg, verruchter Gejell, 
Sonft dreh den Hals ich dir um auf der Stell.“ 


_ 42 — 


„Gemach, mein Freund, auf deinen Stelzer, 
Ein Pfiff, und du würdeft dich vor mir mäljen. 
Doch weil dir das Brennen fo fehr gefällt, 
Hab’ ich die Uhren raſch vorageftellt. 

Schon wird es dunkel, ſchon wird es Macht, 
Schon hab’ ich die Fackel in Schwung gebracht.“ 


Ein rotes Sünglein ftredt ſich aus, 
Und dort und dort ein Flammenſtrauß, 
Aus allen Fenftern ledt die Glut 
Aum Dach hinauf in eiliger Wut. 
Schon rötet fih das Himmelszelt, 

Als ftänd in Brand die ganze Welt. 
Und praffelnd kracht Gebälf und Wand 
Im Niederſturz anf Sand und Kand. 
Ich hör Gefdrei, wahnfinnig Singen 
Furchtbar zu mir berüberdringen. 

Ein wüſtes Stimmendyaos brüllt, 

Ein Käfig, tigerangefüllt. 

Nun fteht, ein glühend Ungehener, 
Die große Sündenburg im feuer. 
Sangjam fteigt aus der £ohe Weben 
Ein mächtig Kreuz: Ich hab vergeben. 
Und zwifchendurdh wie Barfenflana, 
Wie Orgelton und Chorgeſang. 

Ein letter Reſt, ein letter Rif, 

Und Schutt und Qualm und Sinfternis 
Und kurzer Aichenregenfall — 

Und eine Stille überall. 

Nur böfe, durd die Nacht alänzt fern, 
Ein großer grüner Funkelſtern. 





Bitte an den Schlaf, nah fhwerften Stunden. 


Dod eh der Peitichenfnall des neuen Tages 
Mich morgen wieder in die Wüſte ruft, 
Beftelle deinen Bruder an mein Bet:. 
Gutmütig leat der alte Kerr die Hand 
Auf meine Augen, die fib öffnen wollen, 
Und fagt ein Wicgenlied, die Worte laugſam, 
Sehr langiam jprechend: 
So, ſo, fo... 
Nicht bange fein... 
So, | VPE 





2. Märzheft 1899 


- A — i 


Rundschau. 


Literatur. 


" Der Kaifer hat fi mit Kabel⸗ 
telegramm nad) bem Befinden bes 
amerilanifhen Poeten Rudyard 
Qipling erkundigt, von dem er ein 
großer Verehrer fei. Nun beginnt 
wieber dag freundliche Spiel, in dem 
wir bei allen Sachen groß find, mit 
denen der Kaiſer zu thun Hat: Zeitungs⸗ 
artifel, Reitauffäge jogar, die mit rofi= 
gen bengalifhen Flammen die —— 
ſo anleuchten, daß keine andre Farbe 
zu ſehen bleibt, und Privatgeſpräche, 
Schimpfereien ſogar, die ſich über das 
Berhalten des Kaiſers hier zu deutſchen 
und dort zu fremden Schriftitellern 
mit aller Kühnheit unbewachten Man—⸗ 
nesmutes äußern. Wir meinen, die 
Sache liegt doch recht einfach. Der 
Kaiſer regiert nicht die Literatur, 
in ſeinem Verhältnis zu ihr wie zur 
Kunft überhaupt iſt er Laie und Privat⸗ 
mann. Legen wir feinen Aeußerungen 
über ſolche Dinge eine Wichtigkeit bei, 
bie fie als Anfichten eines Laien nicht 
haben können, fo ift daß unfre Schuld, 
und laſſen wir fie gar für ung maß— 
gebend fein, fo hat eben unfer Be— 
dürfnis, zu dienen, über daß, felber zu 
denten und zu fühlen, geftegt. Underes 
bedeutet e8 nicht, wenn mir bei jeder 
Aeußerung des kaiſerlichen Kunftjinns 
Hofiannah oder Wehehe Ichreien, be— 
glüdt oder gelnidt, weil er aud) jo 
denkt wie wir, oder nicht fo. Nur 
wenn etwa obrigfeitlihde Machtmittel 
aufgewenbet werden follen, ben kaiſer⸗ 
lichen DERO DENE dem ber Sad) 
verftändigen entgegenzujegen, geht er 
ung etwas an. 

* Baul Lindaus Geilt hat in 
feinem Grabe zu Meiningen feine Ruhe 
gefunden, er geht wieder um und jucht 
flagend nad) einer neuen Stätte. Redet 
man ihn an, fo fpridt er und ver— 
tündet mit hohler Stimme, er fei das 
Opfer der eleftrifhen Beleuchtung im 
Meininger Hoftheater geworden. Wlfo 
that er auch zu einem Reporter des 
„Berliner Lofalanzeigers’, und mit 
foldem Erfolg, daß diefer Wann das 
Geipenft für etwas Lebendiges hielt. 
Denn er fchreibt: „Die Nachricht der 
Entlaſſung mirfte bier (in Deiningen) 
wie ein Donnerihlag“, „alle Streife 
fühlen den Verluſt“, „ſämtliche Herren 
und Damen vom Theater gehen in 
Trauer”, „das Bedauern Über Lindaus 
Scheiden ift unermeßlih‘. Weinen 
wir auch mit, mahnen wir aber dann 


Kunftwart 


zur Faſſung, dieweil ja wirklich der 
treffliche Paul ſchon feit reihlich zehn 
Jahren dauerhaft tot ift. Lindau II, 
auch Oskar Blumenthal geheißen, ja ber 
iſt nod) dran, über deffen Späßchen 
freuen fih nod viele te Deutjche, 
und Lindau III, bürgerlid Hermann 
Bahr genannt, geijtreichelt den Dingen 
auf der Oberfläche mit fo feinen fran- 
zöſiſchen Bas herum, daß die jungen 
Leute in ihm ihren Vortänger fehen, 
wie die von damals in Lindau I. Das 
Geſchlecht derer von Lindau lebt alfo 
noch, aber den Ahn wedt feine Reklame 
mehr auf. 

* Georg Brandes Hat einen 
beutjhen Fritifer um bie öffentliche 
Mitteilung gebeten, baß alle feine bei 
9. —— in Leipzig erſchienenen 
Bücher un —— Ausgaben be— 
deuten. „Seit wohl ı5 Jahren verfolgt 
diefer Barsdorf mich mit feinen Aus— 
gaben meiner Bücher. Er bat wohl 
ı2 oder ı4 Bände von mir heraus— 
gegeben. Auf den »Hauptftrömungen« 
ſteht jogar:» Einzige autorifierte deutſche 
Ausgabe! Er madt Wenberungen, 
läßt aus, fügt Hinzu, beſonders He 
ame für feine Verlagsartitel. Doch 
all dies weiß ich nur durch andere; 
ih Habe nie jelbit diefe Bücher in 
meinen Händen gehabt. Er hat mir 
nie weder ein Exemplar, nod einen 
Pfennig geihidt... Der Mann Hat 
mid in Deutſchland vernichtet, meine 
eigenen Ausgaben getötet.” Warum 
madt ein Schriftiteler, ber als 
folder doch die Feder nahe zur Hand 
hat, diefe unerhörten Dinge erſt jetzt 
befannt? So heruntergelommen find 
mwir in Deutfhland Gottlob denn doch 
nit, daß die öffentlihe Meinung, 
früher unterrichtet, dem gejchäftigen 
Herrn das Handwerk nit fchon ge: 
legt hätte. 


Cheater. 


* Hätten bie jüngjten Erftauffüh- 
rungen der Berliner Theater 
lauter Stüde gezeigt, denen gelungen, 
was fie gemollt — unjere Bühnen 
hätten auf Jahre hinaus literariſch 
wertvoller neuer Dramen genug. Denn 
an erniteren literariihen Abſichten 
hats nicht gemangelt. Leider find all 
diefe neuen Werke Verſuche geblieben, 
denen zum Gelingen das legte fehlte. 

Da zeigte fih, vor Jahren fon 
einmal aufgeführt, wieder eine Mär— 


— 44 — 


chen⸗ und Ideendichtung, Wolfgang 
Kirchbachs „Lette Menſchen“, Kirch— 
bach iſt ungmweifelhaft ber Anlage nad) 
ein Poet, e8 gibt fein Werk von ihm, 
mo nicht in Stellen ein Dichter ſpräche. 
Über e8 gibt aud fein Werk von ihm, 
wo nicht in Stellen der Dichter voll- 
tommen verfagte, und eine jchier ver— 
blüffende Kritiflofigkeit ftatt der Poeten⸗ 
abe Banalitäten, ja geradezu Albern— 
heiten böte. Die Tegten Menichen glau= 
en bie erften zu fein, diefe Vorſtellung 
iſt gewiß dichteriſch erfaßt, und fie fin 
det da und dort ein ſchönes lyriſches 
Wort zum Ausdruck. Uber was alles 
ftört dazwischen, zeriticht und zerichlägt 
geradezu die Ainofpen und Blumen, 
aus denen Früchte reifen könnten! Die 
wenig eine innerlihe Einheit da ift, 
dafür betrachte man als Beweis nur 
dieſen gl der erhaben beginnt, dann 
plöglih einfach verliebter Hansmurft 
wird, ſchmachtender Klown bleibt bis 
zum Tode, als er ftirbt aber plötzlich 
wiederum jo erhaben wird, daß wir 
ihn al8 den großen Ban empfinden 
follen, mit welchem das Leben ber 
Welt erliſcht. In diefem Kirchbachſchen 
Werke iſt nad) dem hödhiten Kranz fein 
wahrhaft ernite8 Ringen, dem bie 
Kraft fehlt, Hier wird uns ein ober— 
flächlidhes Spielen mit Einfällen als 
gro : zen ausgegeben. 
3 Widerpart ift Georg 
Hirf hfed, ber frühreifeltaturalift, der 
Verfaſſer dervon den damals Hochmoder⸗ 
nen (heute ſind ja wieder andere hoch— 
modern) fo vielbewunderten „Dtütter“. 
Man findet feine „Pauline“ viel ſchwä— 
cher, als jenes Stüd — ift fies, altert 
etwa Hirschfeld ſchon, änderte ſich nur 
der Geihmad? In den „Müttern“ 
fpielte Hirfchfeld ae 18 —— — 
das wirkt wohl a in d 
„Bauline“ (childert. ji was * 
nicht am eigenen Leibe erfahren hat. 
Das Milieu gibt die Küche, fünf Lieb- 
m. wollen die brave Pauline, ben, 
en fie, wie's fcheint, am menigiten mag, 
ben mindeſt feinen, den demofratifchen 
berben Schloſſer, den nimmt fie 
ſchließlich. Dahin führt die „Handlung“. 
683 find ganz nette Bilder, vor zehn 
Sahren hätte man ihren Zeichner jehr 
bewundert, denn bamals konnten }o 
etwas nur die Patentinhaber. Jetzt 
könnens mandje. Und die natura= 
re Technik entgleifet diesmal auch 
zu Zeiten. 
habe, daß wir auf) von Mar 
Dalbe nichts recht befriedigendes be— 
richten fünnen, ein andrer Kerl als der 


feine Hirfchfeld iſt er ja vorläufig 
doch no), und nad) der Premitren- 
pöbelei gegen jeinen „Eroberer* gönnte 
man ihm, dem mwader Arbeitenden, 
einen eindeutigen Erfolg boppelt. 
Aber aud) die „Heimatlofen“ bra — 
keinen, wenigſtens keinen literariſchen 

Die Meine Lotte, die ihrem engen Heiz 
matshaus mit der Ausfiht auf einen 
Steuerafjellor entflieft, um frei zu 
fein, bat nicht in fi, was fie zu fol- 
chem Entſchluſſe von feelifcher Mitgift 
braucht, und fo fällt fie in Berlin auf 
einen fchneidigen Agrarier hinein, ber 
fie verführt und zum Selbitmorb treibt. 
Vieles ift gut im Stüd, aber das Beite 
wirft wie ein neuer Aufguß nad) altem 
Halbeſchen Rezept. Rach wie vor fteht 
die „Jugend“ als deſſen einziges Wert 
da, von dem man prophegeien darf, 
daf es auf fpätere Zeiten fommt. In 
ihm allein ijt das Etwas von Größe 
wirklich Leben geworden, in allen 
feinen andern Stüden blieb es auf dem 
Bapier. 

Des Fürften Friedrich von 
Wrede Bierakter „Das Recht auf fi 
ſelbſt“ zeigt uns ein neues Talent. 
Ein vermwittweter Arzt hat ein junges 
Mädchen geheiratet, und beide find 
glüdlih. Da kommt e8 heraus, daB 
fie vor ihrer Ehe ein Jahr im Ge= 
fängnis gejeffen hat. Unſchuldig? Ja, 
unſchuldig, aber er glaubt e8 erjt, als 
fie dabei ift, ſich zu vergiiten. Das 
it nun fold eine Theaterfunftfache: 
entweder, die Leute find nicht die 
idealen Menſchen, voll herzlicher Seelen= 
gemeinſchaft, als die fie uns gezeigt 
werden, ober fie find’8, — dann hätte 
fie ihn den Fall nit verheimlicht 
und mwürde er an fie glauben ohne 
Bergiftungsverfudh. Neben diefer und 
andern Gewaltſamkeiten find aber auch 
Feinheiten in dem Stüd. Als Talent- 
probe alfo iſt das Erſtlingswerk ge— 
lungen. 

Dann gab man Spielhagens 
Schaufpiel „Liebe um Liebe*, dag vor 
einem Bierteljahrhundert nad) furgem 
Rampenleben begraben worden war. 
Auf dem Hintergrunde ber Franzofen= 
herrſchaft von 1813 ein romantifches 
Stüd von einem edlen Baron, ber vier 
Jahre lang verfchollen mar, feine 
Braut als Braut feines Freundes wie— 
derfindet, fehr traurig iſt, fih aber 
dann in die Schweiter feiner Ehemali— 
gen umperliebt. Sehr edle Menſchen, 
die in fehr edler Sprade reden. Es 
ift doch eine fonderbare Art von Ehrung, 
auf dem Hoftheater am YJubeltag eines 


2. Märzheft 1899 


— 465 — 


tüchtigen Romanfdhriftitellers öffentlich 

zu bemeijen, was niemand bejtritten 

bat: daß er nie ein Dramatiler war. 
x 


+ Um Münchner Gärtnertheater 
gab man Juliane Derys „Magere 
Jahre“. Das Stüd iſt eine Poſſe 
durchaus befannter Art. Der Ober: 
finanzrat von Hoff hat den Bräutigam 
feiner Tochter auf feine Koſten jtudieren 
laſſen und ſich dabei fieben Jahre lang 
aufs äußerſte einſchränken müſſen. 
Schließlich erweiſen ſich der Bräutigam 
und ſeine Familie als rechte „Bagage“, 
der Oberfinanzrat wirft die ganze Ge— 
ſellſchaft hinaus, zieht die vorher ab— 
gewieſenen kleinbürgerlichen Bewerber 
ſeiner Töchter wieder ins Haus und 
iſt vor allem froh, daß die „magern 
Jahre“ zu Ende find, daß er fich wies 
der jatt eflen fann. Ganz zu der üb- 
lichen Dtarttware fann man aber das 
Stüd nicht rechnen. In der natürliches 
ten Führung des Dialogs verrät ſich 
immerhin eine gemijje feinere Bes 
gabung. Auch treten itellenmeije ernſt— 
haftere Abſichten der Verſaſſerin her— 
vor: es iſt z. B. die troſtloſe Stimmung 
in dem Verhältnis der Brautleute, die 
von lWeberdruß an einander erfüllt 
find, mit fünftleriihen Mitteln ge— 
geben. Im ganzen freilich zeigt ſich 
das Talent Juliane Derys denn doch 
als ein zu fleines Feuerlein, als daß 
man fih daran erwärmen könnte. 
Der Beifall des Publifums galt wohl 
der nad bewährten Rezepten zubereis 
teten Witzkoſt, die in herzhaften * 
tionen verabreicht murde. 

* leber unire —— von 
der Julius Hart gerabe vor einem 
Jahre eingehend im Kunſtwart ge= 
ſprochen hat, fpricht er, abermals ges 
legentlih Sudermanns, nun nod) ein= 
mal fur; in der „Zäglihen Rund» 
fhau“: 

Die eine Tragödie haben unfere 
Dramatiker von heute nod) immer nicht 
geichrieben: die Tragödie ihres eigenen 
Gemiljens, das große Drama ihres 
Scduldgefühls gegen die Hunft. Ad, 
nerade die Beiten von ihnen führen 
ein armes Midas-Leben: unter ihren 
Händen wird alles zum Gold — zum 
blanfen gleißenden Bold — und dabei 
eritiden fie im Hunger nad) einem 
Trunf lebendigen Waſſers, nad) einem 
Biffen nährenden Brotes. 
Wiener Hauptmann= Feier diefer Tage 
bat ein Profeſſor der Geologie die 
allerdings unbezmweifelbare Thatſache 
verfündet, daß heute ganz allein der 


Kunftwart 











ſehen bat, 


Name eines Theaterpoeten in wei— 
tere Streife dringt, daß unfere ganze 
Bildung, gleichgültig gegen alle andere 
Dichtlunft, einzig und ausſchließlich 
noch der Theaterkunſt Teilnahme ent— 
gegenbringt. Aber Herr Profeſſor Sueß 
hat wohl faum gemußt, ein wie ver— 
nichtendes Urteil er damit über unſere 
Kunft und über unjere äfthetiiche Bil— 
dung außgeiproden hat. Ja, der Dra= 
matifer jtürmt von Erfolg zu Erfolg, 
die Dienge jauchzt ihm zu, an goldenem 
Gemwinn fehlt e8 ihm nit, — aber 
nah dem Rauſch folgt ein jähes Er— 
wachen, und eine unbarmherzige Er— 
fenntnis fteigt wie ein Geſpenſt vor 
ihm auf: Sind das nit alles Pyrrhus— 
fiege, die da errungen werben, — Siege 
auf often gerade ber Aunft? Die 
mädhtigiten Bühnenerfolge fommen zu 
ſtande — aber mie ein eherner Richter 
ſteht das äjthetiihe Gewiſſen immer 
wieder da und ſtreicht die Namen all 
dieſer großen Rattenfänger gelaſſen 
aus dem Buche der Dichtung: immer 
— immer wieder, bie floßebue und 
auch die Iffland, die Raupach und die 
Birch-Pfeiffer, — die Sardou, die Lin— 
dau, die Blumenthal, — ungerechnet 
all die Tauſende noch kleinerer. Auch 
die Beſten von heute umſchließt dieſer 
Schatten. Ihre Dramen gehen über 
alle Bühnen, alle Welt ſpricht über 
ihre neuejten Werke, aber immer mies 
der fällt ein Wort wie ein vergiften- 
der Tropfen in ihren — 
Theaterkunſt! Theatererfolgl“ Was 
der Wiener Profeffor ganz richtig ge= 
das iſt die Bewegung an 
der Oberfläche unferes literarifchen 
Lebens, aber hätte er in die Tiefe 
hineinbliden fönnen, bann mwürde er 


‚ eine gerade entgegengefeßte Bewegung 


' wahrgenommen haben. Die ernfteiten 


 funft immer meiter um fid 


Kunſtkreiſe ſind's, in denen eine tiefe 
mwurzelnde Geringihäsgung der Bühnen= 
greift. 
Und die Dramatifer felbit, die beiten 
von ihnen, mad)en einen gequälten 
Eindrud; etwas Unzufriedenes, Uns 
glüdliches haftet ihnen an, in ihrer 
Seele wohnt der Schmerz, der aus 
Hauptmann „Verfunfener Glode* 
beraufflingt, und ein bumpfes, pein- 
lihe8 Gefühl laſtet auf ihnen, daß 
alle dieſe Theatererfolge ja nur 


flüchtige und nidtige Tageserfolge 


Bei der | 


find, daß ihre Kunſt nichts als eine 


ı arme Kunſt des Flachlandes und des 


| 
| 


flachen Geistes ijt. Und verzmeifelnd 
reden und Itreden fie ih, um zu den 
Zempeln auf ben Bergen emporzu— 


— 46 — 


fteigen. Immer wieder jahen wir 
in dieſen leßten Jahren das gleiche 
trübe Schauspiel, wie die Haupt— 
mann, die Halbe, die Sudermann 
und die Fulda um das „große Wert“ 
qualvoll rangen, und hoffnungslos — 
ganz hoffnungslos an dem Dranıa ber 
MWeltformung und Perſönlichkeitsge— 
italtung jcheiterten. Diefe Niederlagen 
aber enthüllen nur die große Krank— 
heit unjerer alerandrinifchen Kunſt von 
heute, den tiefen Irrtum ihrer äſthe— 


tiichen Glaubensbefenntniffe, Die leder: | 


ihägung der Tedynif, den Glauben an 
das Heil der toten Naturnahahmung, 
die Erfolgjucht, die Gier, um jeden 
Preis zu erregen und zu mwirfen. Sie 
glauben, e8 von aufen machen zu kön— 
nen, und willen nicht, daß alle große 
funft nur aus dem Streben umd 
Ringen des großen Menſchen hervor— 
ſteigt, der ſich ſelber ſormen und bil— 
den, mit der Welt und dem Leben 
fertig werden mill. 


*» Schülervorftellungen 
zur Ergänzung des Unterrichts wer— 
den jebt in BPeit eingerichtet. 
veranitaltet fie im al. Nationaltheater 
vom April ab, Nachmittags, mit Preiſen 
bis zu 20 Kreuzer abwärts. Die Stüde 
werden von der Theaterleitung ge— 
meinfam mit Schulmännern ausge— 
wählt, jede Vorjtellung leitet ein Vor— 
trag über das Werk und feinen Dichter 
ein. 

* Dem Hervorruf nidt mehr 
Folge zu leiften, haben eine Anzahl 
von Bühnenſchriſtſtellern beſchloſſen; 
ſie machen das in einer öffentlichen 
Erklärung bekannt. — Man wolle hie— 
zu die Notiz „vom Klatſchen und Ver— 
beugen“ in der Rundſchau unſres 
8. Heftes vergleichen. 


* Melpomene, Rembe & Go. 

Längit ſchon haben's Die hellen 
Köpfe durchſchaut, daß es nichts ijt 
mit dem Solo⸗-Dichten, und fo arbeites 
ten ja längit ſchon, eh das neueite 
dramatische Firmenſchild Blumenthal 
& Bernitein enthüllt ward, die genial 
ften tompagnongeichäfte in Dramatif. 
Aber jest erjt iit die Löſung gefunden, 
die allen Bedürfniffen der Neuzeit 
wahrhaft entipriht: man gründet 
dichtende Altiengejellfchaften. Und 
fein Auslieferungsbureau von Poefie 
und feinen Fabrilationgjfaal von 
Dramatit wird es fünftig geben, 
ohne daß fie ziere, lorbeerumrantt, 
die Büfte von Anatole Rembe, 
dem Manne, der's gemacht hat. 


Dan 


| 
| 
| 


| 





nn nn nn. — — 


Bor uns liegt ein „PBrofpelt!! — 
laufchen wir dieſes großen Idealiſten 
wahrhaft erhabenem Pathos: 

„Auf eine wier monatliche Lebens— 
dauer blickt das Dramaturgiſche In— 


ſtitut (Direktion: Anatole Rembe, Ber— 


lin) am heutigen Tage zurück. Als 
wir in den erſten Oktobertagen des 
vorigen Jahres unſere Proſpelte in 
die Welt hinaus ſandten, konnten wir 
wohl ſchwerlich den koloſſalen Er— 
folg ahnen, der unſerem ehrlichen 
känſtleriſchen Wollen beſchieden 
ſein ſollte. Eine wahre Hochflut von 
Stücken hat ſich ſeitdem auf uns er— 
goſſen, daß wir kaum ihrer Herr wur— 
den, aus allen Ländern, in denen 
deutſche Sprache klingt, ſandten deutſche 


Dichter ihre Werke ein — das Dra— 


maturgiſche Inſtitut war ein Be— 
dürfnis geworden. — Infolge des 
rieſenhaften Andranges haben 
wir leider vor der Hand ein Lieb— 
lingsprojett von uns fallen laſſen 
müſſen: das Erſcheinen der Zeitſchrift 
»Der Sinai«. Im Intereſſe der im 
Dunkel ſtehen den talentvollen 
Dramatiker ſahen wir uns aber 
zu einer Maßregel genötigt, die ſie 
ſchützen ſoll vor den unſere Zeit nutz— 
los raubenden Erzeugniſſen der ta— 
lentloſen: zur Erhöhung der 
Prüfungs=- und Beſprechungs— 


‘ gebühr von 10 Mark aufso Mark. 
Dieſes materielle Opfer joll ein Sporn 


fein zu größerer Selbſtkritik.“ 

Wiegen diefe paar Säße nicht allein 
einen ganzen Band Wilhelm Buſch 
auf? Weiter: 

„Unfer Wahlſpruch heißt: 

dem Talente freie Bahn! 

Darum wollen wir fernerhin: jedes 
uns eingereidhte Stüd binnen a bis 10 
Tagen lefen, gemifjenhaft prüfen und 
einer ſchriftlichen fritifchen Beſprechung 
unterziehen, die auf 8 bis ı0 Folio= 
* den Verfaſſer eingehend auf alle 
eine Fehler aufmerkſam macht. Wir 
wollen dabei rückſichtslos unſere ehr— 
liche Meinung ſchreiben, die Talent— 
loſen abſchrecken, den Talentvollen aber, 
ſeien fie auch noch ſo bühnenunbehol— 
fen, mit fachmänniſchen Ratſchlägen 
zur Seite ſtehen, ſie auf die ſo hinder— 
lichen und doch oft ſo leicht zu be— 
ſeitigenden Fehler aufmerkſam machen, 
wie auf Längen im Dialog, unwirk— 
ſame Charakteriſierung, mangelhafte 
Steigerung, ungeſchickten Aufbau des 
Szenengerippes, ſchlechte Attſchlüſſe, 
bühnentechniſche Irrtümer u. ſ. w. u. ſ. w. 
Selbſtverſtändlich werden wir bei dieſen 


2. Märzheft 1899 


— MT -- 


raktiſchen Ratjchlägen, die wir unter 
trengiter Diskretion erteilen, uns bie 
äußerite Feinfühligleit für 
bie dichteriſche Jndividualität 
ber Berfaffer bewahren, und jtet8 wird 
unfer Seziermeifer den innerjten Lebens⸗ 
nerv ber betreffenden Dichtung zu 
fhonen wiſſen.“ Und nun: 

„Aus den Reihen ber Wutoren 
felbjt Hat man uns zu vollſtändi— 
gen Bearbeitungen gedrängt, 
melde die Stüde von all’ ihren Feh— 
lern und Schladen befreien, fie bühnen= 
reif machen und fo die Sinderniffe 
einer Annahme von Seiten ber Direl- 
toren befeitigen. Unfere Bearbeitungen 
fanden ſolchen Anklang, daß fie jest 
ganz in den Bordergrund ge 
treten find. Mir mollen aber aud) 
die Verfaffer davor bemahren, ihre 
Kraft an ungeeigneten Stoffen zu vers 
ſchwenden. Wir find daher bereit, 
unfere fahmännifhe Erfahrung auch 
in ben Dienft der noch ungeſchrie— 
benen dramatifchen Arbeiten zu ftellen. 
Zu diefem Zwed teile man ung mit: 
1. Die Grundideen, 2. Fabel des Stüdes, 
3. Charafterifierung der Perfonen, 4. 


Einteilung der Handlung in die Alt | 
Auch 


ſchlüſſe, 5. das Szenengerippe. 
hierbei hat man uns zu Bearbei— 
tungen aufgefordert. In einem 
40 bis 60 Folioſeiten ſtarken Expoſé 
bauen, wir das Stück bühnenge— 
recht auf, geben für jede einzelne 
Szene die leitenden Geſichtspunkte, 
führen die Handlung, die Charakteri— 
fierung ber einzelnen Berfonen genauer 
aus u. f. w., jteden fo Schriit für 
Schritt den Weg ab, den der Dichter 
durchlaufen muß, fo daß er von allem 
Techniſchen unbehindert, unterftügt von 
einer fid) von Akt zu Alt fteigernden 
Handlung, feiner dichteriſchen 
Kraft frei die Zügel ſchießen 
Iajjen fann (!). Bei all’ unferen 
fritifhen Beipregungen und Be: 
arbeitungen bleibt jtetS das eine Ziel: 
die Aufführung Da mir nidt 
jedes beliebige Stüd den Theatern 
empfehlen, jondern nur diejenigen, die 
ihres inneren Wertes wegen ver- 
dienen, an das Richt gezogen zu wer— 
den, fo liegt e8 in ber Natur der 
Sade, daß eine Empfehlung un— 
fererfeits den Direftoren bedeu— 
tend mehr gilt, als die ber Theater— 
agenturen.“ Leichter fann den bunfeln 
Talenten das Dichten und ber Er— 
folg ja nicht gemadjt werden, voraus— 
gejegt ganz allein, daß fie in der Lage 
find, die „Bedingungen“ zu er- 


Kunftwart 


füllen, die Anatole Rembe ftellt: „ı. 
Jedes Manuffript muß leſerlich ge 
fhrieben und mit Seitenzahlen ver— 
fehen fein. 2. Honorar für Prüfung 
und eingehende Beiprehung 50 Mt., 
welche dem Dtanuffript beizufügen find. 
3. Honorar für Bearbeitung eines 
dichterifchen Stoffes 350 ME. (250 ME 
pränumerando, 100 Mt. nad 
Unnahme an einem Theater eriten 
Ranges). 4. Honorar für Bearbeitung 
eines ganzen Werkes 600 ME. (400 Mt. 
pränumerando, 200 Di. nad 
Annahme an einem Theater eriten 
Ranges). 5. Ule Sendungen Haben 
franko zu erfolgen.“ Wnatole Rems 
bes denlmürdiges Schreiben jchließt: 
„So jenden wir unjeren Proſpekt nod 
einmal hinaus in die Welt, möge er 
der Deutſchen Dichtkunſt zum 
Heile gereichen!* 

Sa, das möge er! Und eigentlid 
wäre e8 frevelhaſt, zu begmeifeln, dab 
nunmehr endlich der deutſchen Dra— 
watik goldenes Zeitalter heraufzieht. 
Wird es doch, in ſchönem kauſmänni— 
ſchen Deutſch aushgedrückt: in Unter— 
nehmung genommen von Melpomene, 
Rembe & Eo., der ſchon viec Monate 
lang rennnomierten Geſellſchaft mit 
(allerdings:) beſchränkter Haftpflicht. 


Mufit. 


* Sriedrih von Hausegger, 
der ausgezeichnete Diufilgelehrte und 
Weithetifer ift in Gray im 62. Bebens- 
jahre gejtorben. Er war e8, der ber 
tormaliftifhen Auffaſſung ber Tonkunſt, 
dem Hanslidfhen Sag: „Mufit ift 
törend bewegte Form“ das Prinzip 
„Mufif als Ausdruck“ entgegenjegte 
und jo der Schöpfer der modernen 
mufttaliihen Aeſthetik wurde, die er 
felbft im Gegenjag der deduktiven 
und induliiven Aeſthetik als „Aefthetit 
von innen“ bezeihnete.e An teinen 
legten Lebensjahren beſchäftigte ihn 
insbefondere die Erforſchung der pſy— 
Hiihen Vorgänge beim künſtleriſchen 
Schaffen, deren Ergebnifje er in dem 
Buche „das JenfeitS des Künſtlers“ 
niedergelent hat. Der Kunſtwart hat 
in Hausegger einen jeiner älteften 
Mitarbeiter verloren. 

* Berliner Mufik. (Fortf.) 

Arthur Nikiſch, ber Dirigent der 
berühmten philharmonifchen Stonzerte, 
machte uns mit einer hodjinterejlanten 
Novität, der großen B-dur-Symphonie 
(V.) bes vor zwei Jahren verjtorbenen 
Anton Brudner, befannt. Nikliſch ift 


418 — 








derjenige Dirigent, der dem Linzer 
Domorganiiten undnadhherigen Wiener 
„Hoftspellorganiften* den eriten durch— 
fchlagenden Erfolg verichafft hat. so 
Sabre war der Komponiſt alt, als 
Nitifch fi im Jahre ı8e4 feiner VII. 
Symphonie annahm und fie in Leipzig 
zu einem glänzenden Giege führte. 
Ein Jahr fpäter eroberte ſich dieſes 
Merk unter Hermann Levys, des be= 
rühmten Barfifal-Dirigenten, genialer 
Leitung die bayeriihe Hauptitadt. 
Wiederum ein Jahr fpäter gelangte 
die Symphonie über Sachſen und 
Bayern in des Komponiſten Vater— 
land. Hans Richter wollte ihr Wien 
im Triumph erobern — fie fiel glatt 
duch; der Miener Kritiker Hanstlid 
gab dem gefallenen Löwen den Eſels— 
tritt. Allmählich brach ſich Brudner 
aber doch immer mehr Bahn. Leicht 
zu veritehen find feine Werke gerade 
nit, und namentlich) die C-dur-Sym= 
phonie jtellt an den re große, 
aber aud) jehr lohnende Anforderungen. 
Brudners Kontrapunttit ift eigenartig; 
er hält fih nit an das befannte 
Schema, fondern läßt fi ftarf von 
der, ich möchte jagen, „aufgelöiten“ 
Kontrapunftif Wagners, den er fo hoch 
verehrte und dem er feine dritte Sym— 
phonie widmete, beeinfluffen. Eine 
ganz bejondere Liebe zeigte er für die 
„Umfehrung”, die vielfach das Kontra— 
fubjelt bildet. Des weiteren hat er 
ih vom großen Bayreuther in der 
äußerft glanzvollen Inftrumentierung 
beeinflufjen Iaffen. Seine Werte ftrahlen 
in einem für die Symphonie ganz un= 
erhörten Glanz; er war fein jo trodes 
ner Asket wie fein Wiener Kollege 
Brahms, der jedem fchönen lang in 
feiner herben Art aus dem Wege 
ging. Brudners Erfindung ift fehr 
bedeutend; feine Melodieen find meit 
gefpannt und haben einen durch— 
aus großartigen heroifchen Charafter; 
fie find nicht ausgefuchſt und mit aller- 

nd rhythmiſchen Raffiniertheiten ver 
eben, mit denen heutzutage manchmal 
der Mangel an Echöpferkraft verbedt 
wird. Nennt man Haydn G-dur- 
Symphonie wegen eines immer wie— 
derfehrenden Paufenichlags die „Sym- 
phonie mit dem Paufkenſchlag“, fo 
mödte man Brudners Werk die „Sym= 
phonie mit der Generalpaufe* nennen. 
Mir ijt fein zweites Wert befannt, in dem 
die Generalpaufe eine fo große Rolle 
Ipielt. Der Komponiſt liebt e8, einen 
Gedanken ziemlich fchnell zur Höhe zu 
treiben und dann plöglich abzubrechen, 


ö—— — — — — — —— — —— — nn, 


um nach einer Generalpauſe mit einem 
ganz neuen Gedanken aufzutreten und 
es mit ihm ebenfo zu machen. Es ift 
nicht au leugnen, dab fein Werk das 
dur etwas Ubruptes erhält, anders 
feit3 iſt aber auch nicht zu leugnen, 
daß durch die Generalpaufe die Span— 
nung immer von neuem erregt und 
die Aufmerkſamkeit wie mit einem 
Peitſchenhieb aufgerüttelt wird. Der 
erite, etwas lange Saß zeigt haupt 
fählih am Schluſſe eine große Schön= 
beit und nimmt einen ftolzen, fieg- 
reihen Charalter an. Das jehr vor— 
nehm gehaltene Adagio meijt ein inter 
ejlantes Motiv mit abfteigenden Sep= 
timen auf, an das ſich eine ruhige, 
echt Brucknerſche, langſam aufiteigende 
Kantilene anſchließt. Der letzte Satz 
iſt wegen ſeiner königlichen Pracht bei 
weitem der ſchönſte. Ein Oltavanſprung 
und ſeine Umkehr ſpielen eine große Rolle 
hier. Eine gewaltige Fuge und Doppel— 
fuge führen zum Schluß, der durch ein neu 
hinzutretendes, aus Hörnern, Poſaunen, 
Trompeten und Tuba beſtehendes Or— 
cheſter das Ganze wahrhaft pompös 
fließt. Dan fann Herrn Nikiſch gar 
nicht genug dafür danken, daß er uns 
die Bekanniſchaft mit diefer Symphonie 
vermittelt hat. Das Publikum ſchien 
allerdings jehr wenig Gefallen daran 
zu finden; das klatſcht fich Lieber 
die Hände nad dem MWiegenlied 
von Ries-Sembri mund. Die zweite 
Neuheit für Die philharmonifchen 
Stonzerte war die E-moll-Symphonie 
Tſchaikowskys, die früher, ebenfo 
wie Rimsky-ſtorſakoffs „Scheheragade* 
fhon in den Opernhausfonzerten auf» 
geführt worden ift. Das crite Motiv 
bes eriten Satzes betradıtet Tſchai— 
kowsty gleihfam als Entmwidelungs- 
motiv; e8 fehrt in allen Säten wieder 
und ijt befonders im Finale von großer 
Bedeutung. Einen Sat wie das „An- 
dante cantabile con alcuna licenza“ 
vermochte mit feiner fühen Haupt— 
melodie, die fo Liebefehnjücdhtig und 
frauenhaft weich erklingt, nur Tſchai— 
kowsky zu fchreiben; er hot fie denn 
auch feinem Lieblingsinitrument, der 
Waldhorn, mit feinem ſammetweichen 
Klange anvertraut. Ganz leije, wie 
eine jcheue Frage, läßt er den Saß 
ausklingen, eine Manier, die wir ja 
bei Tſchaikowsky ſehr oft finden. Das 
Scherzo ift ein Walzer, der in feinem 
ganzen Charakter an den Walzer im 
Eugen Onegin erinnert, obgleih er 
durchaus feine Aehnlichkeit mit diefem 
hat; es ift aber derjelbe Geijt, der 


2. Mãrzheft 1899 


— 49 — 


beide Tonftüde durchweht; der Schluß— 
jag ift im andante maestoso gehalten; 
da8 Hauptmotin der ganzen Sym— 
phonie erjcheint mehrfach im nlänzen= 
den Dur; ein echt ruſſiſch rhythmi— 
fiertes Motiv ſchließt iin an; der 
Schluß des Sakes iſt ſehr interejlant 
und effektvoll Tontrapunftiftiih ge— 
arbeitet. Alles in allem, fann man 
Tſchailowskys E-moll-Symphonie wohl 
als eines der allerihönften neueren 
Erzeugnifle auf diefem Gebiet arjehen. 

Im IV. Stonzerte gelangte zur erſt— 
maligen Aufführung die Feitouverture, 
welche Felix Dräjele im Auftrage der 
Stadt Dresden zur QAubelfeier Des 
Königs Albert von Sachſen fomponiert 
hat. Das Merk hinterläßt feinen tiefen 
Eindrud. Wenn ſpektatulös und feſt— 
lich identiich find, dann muß Die 
Duverture jehr feftlich fein. Es mag 
ja alles darin nach den Regeln der 
beiten Kunſt gearbeitet fein, trogdem 
wird man das Gefühl der Stapell- 
meiſter- und Gelenenheitsmufif nicht 
los. Wenn e8 dabei nod) gut flänge! 
Uber das iſt gar nicht der Fall. Der 
Schluß, in den „Heil dir im Sieger: 
franz“ (nach berühmtem Muſter) ver 
mwoben wird, klingt geradezu hart und 
unfhön; da ilt denn doch die Ver— 
mwebung von „Eine jefte Burg“ in den 
Staifermarih Wagners ganz anders 
bewerlitelligt.. Daß aud) noch eine 
zweite fremde Melodie („wer ift der 
Ritter hochgeebrt* aus "Marfchners 
„Zempler und Züdin“) in die Seit: 
ouverture verflochten wird, fpricht nicht 
ſehr für den Erfindungsreichtum des 
fonftfotüchtigen Muſikers. Werdas Wert 
einmal aufgeführt hat, führt e8, glaube 
ich, fein ameites Dal auf. — Won bes 
fannten Werfen ftanden auf dem dies— 
mwinterliden Programm: Beethovens 
VL, VII. und IX., Mendelsſohns ſchot— 
tifhe, Brahms E-moll- Symphonie; 
ferner Beethovens und Gonus’ Violin—⸗ 
ſowie Moszkowskis Klavierkonzert; 
dann Arien aus Figaros Hochzeit, 
Meyerbeers Dinorah, Verdis Ernani, 
Maſſenets Herodiade; ichlichlich Ber— 
lioa’ Carneval romain, Wagners Kaiſer⸗ 
marſch und Webers Euryanthe⸗Ouver⸗ 
ture. Als Soliſten wirkten mit: der 
vornehme Baritoniſt Laſſalle, die Sem— 
brich, Moszkowski, Burmeeſter und 
Petſchniloff. A Biſchoff. 
ortſ. folgt.) 

* Den Aufruf für en Bruckner— 
Dertmal in Wien Hat Guftav 
Mahler nicht unterzeichnet, meil es 
ihm mibderjtrebe, „auf der Lifte ge— 


Kunftwart 


420 


meinfam mit folden Leuten zu jtehen, 
die fi) bei Brudners Lebzeiten nie 
um ihn gefümmert haben und von 
denen er alles andere als Förderung 
feines Schaffens und feiner Perſon er= 
'ahren hat.“ Wenn man unter dem 
Aufruf für das Berliner Wagner= 
Denkmal alle die mwegftreichen mwollie, 
auf die eine entiprechende Kennzeich— 
nung paßte, wie viele Namen behielte 
man? 

* Mies gemacht wird. 

Keinerhabnerer Künſtler unter allen, 
jo auf den Zaften rafen, als Roſen— 
thal — mir haben das ſtets geſagt, 
aber was unſer Kunſtheros in Amerika 
leiſten muß, das ſtellt all ſein hieſiges 
noch in Schatten. „Dieſer Heros der 
Muſik, der die Geſchicklichkeit eines 
Preſtidigitateurs beſitzt, die Kraft eines 
Schmiedes, die Weichheit eines Weibes 
und die Lauterkeit eines treuen 
und bejheidenen Jüngers Der 
Muſen“ (mie eine amerifanifche Zei- 
tung über ihn fchreibt) hat fi drüben 
aud) zu einem herrlichen Dichter ent— 
widelt. Und er Didhtet nicht nur, er 
lebt aud, was er dichtet, — oder 
menigitens: er hat e8 dann immer 
erlebt. Zum Beifpiel: Rofenthal mweilt 
an einem italienifchen See, da erfährt 
er, am entgegengefegten Ufer wohne 
Rubinitein. Kein Boot iſt zu haben, 
was madıt’8 unferm Mori ? Er ent— 
hüllt die Pracht feiner Glieder, midelt 
feine leider in einBadet, und lächelnd 
ſchwimmt er über den See. Dort be 
leidet er fi wieder, befudht Rubin— 
jtein, wägt mitihm eine Stunde lang 
Drufitprobleme, und lächelnd ſchwimmt 
er wieder zurüd. Das fteht in den 
Blättern zu lefen, und dann geht man 
bin und bezahlt das Billet und ſieht 
ihn und hört ihn und fagt: iſt der 
Rofenthal nicht der genialjite Pianiit, 
den's gibt? 

+ Wie man „umarbeitet”. 

„Beim General-Intendanten Grafen 
Hochberg“, jo wird einem ſchleſiſchen 
Blatte mitgeteilt, „fand geitern ein 
Frühftüd ftatt, an dem Sailer Wil- 
helm teilnahm. Zu diefem Frübftüd 
war auch Adolf L'Arronge geladen, 
der hierauf den von ihm gründlich 
umgearbeiteten Text zu der von 
Lortzing nachgelaſſenen Oper »Re 
gina« vorlas, die demnächſt im Ber— 
liner Opernhauſe zur Aufführung ge— 
langen ſoll. Ueber die Einzelheiten 
der Umarbeitung unterhielt ſich der 
Kaiſer mit L'Arronge aufs eingehendſte 
und ſprach beſonders ſeine Befriedi— 


gung über den vaterländijdhen 
Hintergrund aus, der der Oper 
nunmehr gegeben ift. Herr L'Arronge 
fheint allerdings den Lorkingichen 
Text fehr gründlich umgearbeitet zu 
— denn urſprünglich war dieſer 

ext eine in freiheitlichem Sinne ge— 
dichtete Epiſode aus dem Jahre 1848.“ 


Bildende Kunſi. 


*Die Stuckſche Dekoration 
für das Reichſstagshaus, von der im 
Reitauffage die Rede, fol einen ge 
bogenen Streifen unter dem Oberlicht— 
Dache des Borraums vor dem Sigungs= 
faal ſchmücken. Sie hat daher Die 
Aufgabe, fih durchaus der Arditeltur 
anzupafjen, alfo nichtals „Semälde* 
zu wirken, nicht als Bild, das Die 
Hufion freien Ausblids in eine vor= 

eftellte Welt erjtrebt, fondern als 
Moser einer Wand, die vom 
Auge durdgefühlt wird. Stud Hat 
die Löfung mit ganz einmendfreien 
Kunftmitteln eritrebt. Ein Ranken— 
werk zieht ſich über die Fläche, gleich- 
fam als idealijierte Gitterung, die aljo 
an ſich ſchon den Beariff des Gemäldes 
zu Gunſten des Architektoniſchen auf— 
löſt, Wappenſchilde (die vorgeſchrieben 
waren) ſind unten eingefügt, und da— 
zwiſchen weben ſich Figurengruppen, 
die auch in der Farbe nicht realiſtiſch 
gemalt, ſondern mit dem Uebrigen zu 
einer Art von Gobelinwirkung im 
Tone zufammengefaßt find. Als Motiv 
zu den Gejtalten und Gruppen ift Das 
Suden nad Glück in allerlei formen 
enommen, nad) Glüd als Liebe und 
Muttirglüd, aber auch als toter Beſitz, 
dem der Geizhals zuſtrebt, als Prajjer: 
glüd, dem der Schlemmer huldigt 
u.ſ. w. — am nädjiten am Glüd find 
ein Narr und zwei alte Leute, die 
auf Krüden zum Grabe gehn. Wifo, 
bein Vorraum entfprechend, feine un— 
mittelbar „reihstäglidien* Darſtel— 
lungen, fondern Gebilde erniter und 
ſcherzender finnvoller Bhantaftil, wie 
fie vor Holbein fhon als ganz be= 
fonders deutſchen Geiftes empfun= 
den worden find. Auch von „Nubdis 
täten”, mie fie etwa die ja bänglid 
zu behütende Keuſchheit der Reichs— 
boten ins Schwanfen bringen lönnten, 
ift nichts Dabei. 

MWasnun Adolf Hildebrands 
Stimmzettel-Urnen anbetrifft, fo bleibt 
deren Verwerfung im Hohen Haus 
für uns Unerleuchtete draußen zunädjit 
ja erit recht ein Nätjel. Die eigent— 


— — — — — —— 


liche Vaſe, die in edelſter Einfachheit 
geſtaltet iſt, wird von Männergeſtalten 
etragen, die mit dem Rücken dagegen 
tehen und ſich die Hände reichen, 
Symboliſierungen des wählenden Vol— 
kes in ſeinen verſchiedenen Lebensaltern. 
Wer je eine Hildebrandſche Plaſtik ge— 
ſehen hat, weiß, in welchem Geiſte das 
gehalten iſt. Was haben nun eigent— 
lich die Leute dagegen? Man mag es 
kaum ſagen, ſo lächerlich erſcheint's, 
und doch iſt es jo: das Hohe Haus 
fürdtet fidy vor der Nadtheit der 
Bronzgemänner. 

Das offene Schreiben der Münch— 
ner Künftler an Wallot fam erit 
heraus, als auf dem erjten Bogen bes 
Heftes unfer Leitauffag ſchon gedrudt 
war. Wir fonnten es deshalb in ımire 
Betrachtungen nicht mehr einbeziehn. 
Uebrigens dedt ſich fein weſentlicher 
Inhalt vollkommen mit den betreffen— 
den Ausführungen bei uns, 

+ Bon Wiener Kunſl. 

Fünf moderne Runjtausftellungen 
auf einmall 

Wirklich, e8 geht hier jegt vorwärts. 
Der ſcharfe Wettbewerb macht ſich heil— 
ſam bemerkbar. Auch im altenſtünſtler— 
haus iſt vieles, worüber man ſich 
ehrlich freuen darf. Als Beweis ſeien 
nur die „Originale der Jugend“, im 
Künſtlerhaus und im Salon Miethke 
ausgeſtellt, erwähnt — dieſe präch— 
tigen Kronzeugen für das Vorhanden— 
ſein eines kerngeſunden Nachwuch— 
ſes in Deutſchland — und eine ſeine 
Auswahl von kunſtgewerblichen Sachen, 
welche die Arnoldſche Kunſthand— 
lung in Dresden beſorgt hat. Köp— 
ping, Tiffany, Lelieore, Ledru, Fir 
DMaffeau und einige Dänen und 
Holländer zeigten — was bier nod 
alles gelernt werden muß, wenn die 
Deiterreiher die verlorene ie eins 
holen wollen. Der Anfang iſt 
wenigſtens gemacht, und mit der An— 
regung fommen auch die wirklichen 
Zalente bald an Die Oberfläche. Im 
Kunstgewerbe find der Architekt R. 
Hammel und der Bildhauer E. Rat: 
hauski zwei neue Namen, die man 
fih wird vormerten müjjen. Näher 
auf fie einzugehen mag einer jpäteren 
Gelegenheit vorbehalten jein. 

Als deforatives Talent tritt jegt 
auch der Architekt Joſef Hoffmann 
fehr vorteilhaft hervor. Gr Hat die 
zweite Ausjtellung im neuen Gebäude 
der Bereinigung bildender Künſtler 
Oeſterreichs eingerihtet, wodurch 
ſein Geſchmack für Farbe und ruhige, 


2. Märzheft 1899 


— 421 — 


breite Geſamtwirkung günftiger zur 
Geltung fommt, al® in den 
meijten feiner Buchſchmuckbeiträge für 
das „Ver Sacrum“, Diefe Zeitjchrift 
beginnt ihren neuen Jahrgang (jebt 
im Verlage von E. U. Seemann) mit 
einem vom Arditelten Olbrich zu= 
ammengeitelten Sonderheft. Wenn 
ie Zeihen nit trügen, fo wird das 
„Bereinsorgan* im zweiten Jahre 
gebiegener werden und feine flinder- 
franfheiten abſchütteln. Schon das 
Khnopff= Sonderheft bedeutete einen 
Schritt vorwärts. 

Die Ausftellung felbjt war ernit 
und gediegen. Klinger „Chriftus im 
Olymp“ wurde viel beſprochen, von der 
Kritik behutfam und mit ber adhtungs- 
vollen Berbeugung, die man dem 
Namen fchuldig if. Mir bereitete das 
große Bild eine Enttäufhung. Die 
gedankliche Größe verfenne ich nicht, 
doch wirkt Ddiefe nad) meinem Em— 
Akte in der ſchwarz-⸗weiß Repro— 

ultion viel klarer, als durch Die 
Farbe. Aus dem ganzen Werk fchreit 
der Plaſtiker mit titanenhafter 
Ueberfraft heraus, während der Maler 
unzulänglid) nad) befreiendem Aus— 
drud ringt. Der Kunſtwart und feine 
Dritarbeiter find für Klinger eingetreten, 
„als noch verfannt und fehr gering“ 
unjer Klinger auf Erden ging. Dann 
fam die Zeit, „da viele Jünger ſich zu 
ihm fanden, bie fehr felten fein Wort 
veritanden*. Auch das hat uns nicht 
beirrtt. Nun aber ift Mar Slinger 
die anerlannte, beglaubigte Größe, 
welcher aud) diejenigen bemundernd 
huldigen, die früher von ‚dieſem erzen= 
triihen Sonderling“ nichts wiſſen 
wollten. Der allgemeine Umſchwung 
ift erfreulih, vermag indeſſen unfer 
leifes Mißtrauen gegen die Verſtändnis— 
innigfeit Der alfo Belehrten nicht ganz 
zu befeitigen. Pflicht der erniten 
Kritik ift e8, die noch Unklaren aber 
ehrlih Suchenden jegt nicht im Stich 
zu laffen, wenn e8 gilt, vor Jrrtümern 
zu warnen, namentlid bei einem 
Künjtler von der nationalen Bedeutung 
Klingers. Wer ihn aud) da nod) halt= 
los bewundert, mo feine edige, tiefe 
Perſönlichkeit gerade am ſchwerſten 


en U. 


nad) Abrundung und Vollendung ftrebt, 
der macht ſich's nicht nur fehr bequem, 
fondern richtet wirklichen Schaden an. 
Someit ich Hlingers Natur zu verjtehen 
vermag, iſt er eine Parallelerſchei— 
nung zu bem großen Florentiner ber 
Renaijjance, der niemals ganz aus 
feinem angeborenen plaftifchearditel- 
tonifhen Empfinden een 
tonnte. Bon feinem Chriſtus im Olymp 
nehme ich jedesmal ben Einbrud mit: 
wäre e8 doch ein großes Marmorrelief, 
etma im „landſchaftlichen“ Stil Ghi— 
bertiS, wie könnte man’® dann ge 
nießen! — 

Mas Übrigens die gemagteite 
malerische Technik, wenn fie aus ber 
Berfönlichkeit entipringt, zu leiſten vers 
mag, das zeigen die herrlichen Sadıen 
des Vlamen Theo van Ryffels 
berghbe. Hier fühlt man zwiſchen 
jedem Punkt und flimmernden Farbens 
fleck das geijtige Band und Die ſou— 
—— Herrſchaft über die geſtellte Auf⸗ 
ga 


e. 

Ueber Meunier s Bedeutung bes 
darf e8 feiner Auseinanderfegung im 
ſtunſtwart mehr. 

Die Sezeffion verfteigerte den grös 
Beren Zeil des Nadhlafjes Theodor 
vonhörmanns, ihres wackeren Vor— 
fämpfer®, der zu früh jtarb und zu 
fpät angefangen hatte, um fein lehtes 
Ziel verwirklit zu ſehen. Der Er: 
trag des Nadlajjes iſt für eine fünit- 
leriihe Stiftung beftimmt, möglider- 
weiſe für die Gründung einer Galerie 
moderner öjterreihifcher Künſtler, ein 
Lieblingswunſch Hörmann. 

Ueber den neueröffneten Wiener 
Rathbausfeller, deſſen Aus— 
ſchmückung Heinrich Lefler und einigen 
minder berufenen jüngeren Känſtlern 
übertragen wurde, müßte man ents 
meder viel oder gar nichts jagen. 
Heute alfo nur foviel, daß der Haupt: 
feller am beiten ausgefallen ift. Die 
ganze Wrbeit wurde in unglaublid 
furzer Zeit ausgeführt, für mande 
Schwäche der einzige Milderungsgrund, 
da die Eile durchaus unfreimillig war. 
In Wien jcheint man nur Uebereilung 
oder Verfäumnis zu kennen. 

mw. Shölermann. 





Kunftwart 


Unsre Beilagen. 


Unfere Mufitbeilagen verfolgen nicht nur ben Zweck, bie betreffenden 
Aufſätze bes Heftes zu illuftrieren, mo das angeht, fondern fie wollen zumeilen 
auch felbftändig ohne befonderen Begleittest auf beachtenswerte „ungebrudte” 
Talente hinweifen und ihnen ben Weg zur Deffentlichfeit ebnen. Wir bringen 
diesmal ein Klavierftüd von Otto Ball, einem jungen Mufiler in Wien; 
es ſpricht duch ſich felbft und bedarf feiner näheren Erklärung. Zur Ab— 
wechslung nad der vielen vorausgegangenen Gefangsmufit dürfte es Manchen 
willlommen jein. 


Bon unfern Bilberbeilagen bietet die erfte das Portrait Detlevs von 
Lilienceron, von dem mir gleichzeitig Gedichte bringen. Unfer Bildnis ift 
eine Reproduftion nad) ber Zeihnung Hans Oldes, bie ber „Pan” im 
2. Heft feine 4. Jahrgangs gebradt Hat. 


Als zweites Blatt geben wir bann Dürers „Ritter, Tod und Teufel”, 
ben dritten ber berühmten brei ojt zufammen genannten Supjerftihe, von 
benen wir ben Leſern ben „Hieronymus im Gehäuß* und bie Melancholie“ 
fhon mit unferm Weihnachtshefte ins Haus gefandt haben. „Ritter, Tod und 
Zeufel* ift freilih Ion ſechs Jahre früher entjtanden, als jene beiden eng 
zu einander gehörenden Blätter. Und es ift auf eine Weife entjtanden, auf 
die wir die Aufmerkſamkeit unjerer Freunde aus einem befonderen Grunde 
Ienten möchten. Wie oft hört man in Zaienfreifen als einen Vorwurf gegen 
Künftler fagen: Das foll nun einen Heiligen barftellen, und wir fennen doch 
den alten Müller, das Modell, oder: Das foll nun eine Paradieslandihaft 
fein, unb mwer’8 weiß, fieht doch glei), es ift ein Stüd vom Stadtpark bei 
Weimar. Iſt nım jemals ein dichterifchsfünftlerifher Gebante in höherer 
Vollendung verlörpert worden, als in biefem Blatte? Da ift alles nüchtern 
Allegorifhe aufgelöft in Tebendige Anfhauung, in jene Anſchaulichkeit der 
Träume, bie ja Dürer fo viel beichäftigt haben, ber Träume, von denen 
er felber fagte, fie ließen ihn „große Kunst“ erfhauen. Der dort feineß geraden 
Weges hinzieht, der chriſtliche Ritter Ohnefurcht, To jtolzsgleihgültig gegen 
das Geiftergefindel, daß er's nicht einmal eines Blides würdigt, dem alten 
Kriegsiprucd getreu: 


„Laß fommen die Höll, mit mir zu ftreiten, 
Ih will durd) Tod und Teufel reiten!" — 


wir glauben an ihn, weil wir ihn ja ſehen, weil wir aud) feinen Mut und 
fein Gottvertraun in feinem Wefen ſehen. Wir Menfchen von Heute würden bag 
Bild fogar verftehn, wenn die beiden Scheufäler nicht dabei wären; bie er. 
höhen für uns mur die Stimmung bes Ganzen, nicht feine ſymboliſche Klar— 
heit: Haltung und Bewegung der Neitergeftalt, die (wie deutſchl) der treue 
Hund begleitet, fagen für Die Idee fhon genug. Und nun ift dieſes Töftliche 
Bild hervorgegangen — aus einer Koftümftudiel In ber Albertina finden 
wir biefe Studie noch heut, ein Aquarell, und babei fteht von Dürers Hand: 
„Das iſt die Rüftung zu der Zeit in Deutſchland gemeit ı498.* Der Mann 
fah fo „forſch‘“ aus, daß er Dürern zum Sinnbild der „Forſchheit“ überhaupt 
ward. Das ift der Weg, auf dem in der Kunſt ein rechtes Symbol zu Stande 


2. Märzheji 1899 
— 425 — 


lommt: man legt’8 nicht aus dem Kopfe in die Natur hinein, es wächſt einem 
aus ihr felber heraus. In unferm Fal brauchte es fünfzehn Jahre, bis aus 
der Gewandſtudie das fertige Griffellunftwert gewachſen war. Meift geht Das 
Beleben bes Stoffes mit Geift aber jchneller, ja bligartig ſchnell — wir hoffen 
unfern Leſern aud) dafür bald ein fejlelndes Beifpiel zeigen zu fünnen. 

Mit diefem Hefte fchließt der erite Band bes Kunſtwarts ad, der 
„Bilder und Noten“ gebradt hat. Ueber alles Erhoffen groß ift die Anerfen= 
nung gemefen, die unfre Neuerung und bie Auswahl ber vervielfältigten 
Kunstwerke gefunden hat. Das entihädigt uns für die manderlei Unluft, Die 
uns erwuchs, wenn wir, ad) wie oft!, uns durch, ad) wie viele! verſchiedene Um— 
Ttände behindert fahen, das nad) unjerer Anficht Beſte beitens zu geben. Unſer 
Troit bleibt, daß e8 uns mehr und mehr gelingen muß, die Schwierigfeiten 
zu überwinden. Borläufig ift diefe Einrihtung ja auch zu neu, als daß fie 
immer Muftergültiges bieten fünnte. Ind immer wollen wir's ja nidjt ein= 
mal; e8 ijt unjre Pflicht, gelegentlich aud) künſtleriſch Mindermertiges zu zeigen, 
wenn wir dadurch diefe und jene wichtige Bewegung oder Frage oder Einzel 
ericheinung im Kunſtleben beleuchten fünnen. 

Viel: Befer find mit dem Beiheften der Noten und Bilder unzufrieden. 
Daran können wir leider, vorläufig menigitens, nichts ändern: auch uns 
wäre dag einfache Beilegen lieber, aber die Blätter gingen, fo lange wir jie nur 
beilegten, in geradezu unheimlicher Menge verloren, jo daß wir die Rellamationen 
troß allerbeften Willens fchließlich nicht mehr befriedigen konnten. Im Herbit 
wird wieder diefes und das beim Kunſtwart anders werden, Hoffentlih finden 
wir bis dahin eine alle Teile befriedigende Löſung aud Diefer Frage. Je 
mehr derer vom Aunftwart werben, je leichter läßt fi) ja alles einrichten. 
Werben die neugemonnenen Leſer fo warme Förderer und Berbreiter unferer 
Sade, wie die alten geworden find, fo wird jich hier bejfern laſſen und aud) 
in mandhem anderen nod. Mögen ſie's werten! 

Titel und Inhaltsverzeichnis zu diefem Bande folgen wieder mit einem 
der eriten Hefte des nächſten Vierteljahrgangs. 





Inbalt. Die Kunft im Reihstage. — Zur deutſchen Literaturgefhichte. Yon 
Adolf Bartels. — Zur Mufifpflege. Von Richard Batla. — Kopie und Imi— 
tation. Bon Paul Schulge-Naumburg. — Loſe Blätter: Gedichte von Detlev 
von Liliencron. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Hans DOlde, Portrait Detlevs 
von Lilieneron. Albrecht Dürer, Ritter, Tod und Teufel. — NRotenbeilage: 
Otto Ball, Jmpromptu. 





Derantwortl, : der Herausgeber $erdinand Unenarius in Dresden-Blafewig. Mitredafteure: für Mufif: 
Dr. Rihard Batfa in Prag:Weinberge, für bildende Kunft: Paul Shulge-Naumburg in Berlin, 
Sendungen fär den Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr. Baita. 
Derlag von Georg D. W. Tallwer. — Xgl. hofbuchdruckerei Kaftner & Loffen, bride in Mäusen, 
Belellungen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Callwer in Münden, 





HANS OLDE 
Detlev von Liliencron 


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Erster Druck nach dem Manusoript. 


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Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München, 


Alle Rechte vorbehalten. 


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tichu Druckv OscarBrandstetter, vorm. F.W.Garbrecht, Leipzig. 


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Amtliche Ditteilungen 


aus dem 


Derein zur $örderung der Kunft. 


Begründet 1897 von Bein; Wolfradt, Berlin, 


Eentrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S. 
Geichäftsftelle: NW, Klopftoditraße 21. Geichäftsftelle: Karlsftraße 25, 





Die „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein 3. 5. d. X. find das Dereinsorgan diefes Dereins und 
werden den Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunitwart” geliefert, auf den von der Dereins: 
leitung für fämtliche Stanımmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den 
„Kunftwart“Uibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlichungen des die gleichen Siele wie der 
„Kunftwart” verfolgenden Dereins ebenfalis Intereſſe baben dürften. — Zuichriften in Dereinsangelegen» 
beiten find nur an die Geichäftsftelle des Drreins 3 F. d. K. zu richten, foldhe in redaktionellen Un: 
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlinsfriedenau, Cranachſtr. Nr. 50, 











Chendor Fontane 7. 


Am 20. September d. J. ift Theodor Fontane geftorben. An 
feinem Grabe tranert mit ganz; Deutſchland auch unfer Derein, deffen 
Ehrenpräfidium der Derftorbene von Anfang angehörte. Seine fterbliche 
Hülle haben wir der Erde überaeben; allein fein Geiſt, feine Schöpfungen 
werden unter uns weiter leben. 

Daß wir uns mit dem herrlichen Dichter und Edelmann eins 
wiffen durften in unferen Beitrebungen, wird jtets unfer Stolz bleiben. 


Der Berein zur Förderung der Kunſt. 





Erster Vereinsabend und Generalversammlung, 


Unfer erfter heuriger Vereinsabend brachte zunädjit einige „Streifzüge 
durch die Iheaterwelt“ von Dtto Felling; zur Vorleſung gelangten Betrach— 
tungen über HKonzert= und Theaterflegelei, über das Qynden von 
Autoren, ſowie über die Elaque Daran jhlo fi) eine geiftvolle Plau— 
derei Sigmar Mehrings über den Hervorruf, die darin gipfelte, man folle 
auch in diefer Frage individuell verfahren, ihn je nad) Charakter und Stil 
des Stüdes anwenden oder vermeiden — was freilich ein ideales Publikum 
zur VBorausfegung bat. — Dem prinzipiellen Verbot des Hervor= 
rufs widerrät Mehring, mweil es leicht zu apathiſchem Verhalten des Publitums 
führen fann, das wiederum auf die Leiftung des Künitlers feine nachteilige 
Rückwirkung äußern würde. 





Diefen Vorträgen ſchloſſen fih NRezitationen Humoriftifcher Gedichte 
von Sigmar Mehring, fowie einer Humporesfe in oftpreußiihem Dialekt 
an, durch deren meifterlihe Ausführung Frin. Edela Rüft große Heiterleit her— 
vorrief und lebhaften Beifall erntete. 

Un diefe Literarifchen Darbietungen fchloß fi) die durch den zweiten 
Borfigenden Sommerzienrat Liffauer geleitete Generalverfammlung Zwei 
Punkte aus deren Tagesordnung, nämlich der Jahresbericht, ſowie unfere 
Pläne für den fommenden Winter find unjeren Mitgliedern bereits 
aus der vorlegten Nummer der „Mitteilungen“ befannt. Die einzelnen Ver— 
anftaltungen mwerden natürlich jemweil® beſonders dur die „Mitteilungen“ 
angefündigt werden. Die Statutenrevifion hatte eine Anzahl unmejent- 
liher Abänderungen zur Folge, von denen unfere Mitglieder demnächſt durch 
Ubdrud der vollftändigen Sagungen Kenntnis erhalten werden. — Der 
Kaſſenbericht erbradte den erfreulidhen Nachweis, daß wir, bei allen An— 
firengungen nad) der fünftlerifchen Seite, dennoch haushälteriſch gemwirtichaftet 
haben. Troß der in Nr. ı7 erwähnten Unterftügungen und aller anderen Aus— 
gaben für fünftlerifche Zwecke ſchließt der KHafjfenberiht mit einem Ueberſchuß 
von mehr alStaufend Martab. Die Haffenführung murde als richtig 
erfannt und der Schafmeifter entlaftet. 

Nachdem der I. VBorfigende, Herr Wolfradt, den Künftlern und Autoren, 
die uns zu Erfolgen geholfen, ſowie der Preife, die uns fait ausnahmslos 
Wohlwollen gezeigt, der Rathaustommiffion, den Konzertdireftoren H. Wolff 
und Gugen Stern, fomwie den Spenbern von Ertrabeiträgen für ihre Unter 
ftügung unferer Bejtrebungen den Dant des Vereines ausgeſprochen hatte, 
fand nod) eine furze Debatte über die Art der Propaganda jtatt. 

Die nächſte Veranftaltung wird eine Heine Gedäcdhtnisfeier für unferen 
teuren Theodor Fontane bilden, die am 26. Oftober in Bürgerfanle des 
Rathauſes Stattfinden fol. An diefem Abend mollen wir verjuchen, haupts 
fählich durch eine charakteriitiihe Auswahl aus den Werfen des lieben Toten 
unjeren Mitgliedern und Freunden jein Bild einzuprägen. E. 9. U. 

* 
* * 

Einen Erfolg eigener Art hat unſer Woldemar Sads fi errungen, 
mdem er in einigen Näumen des „Cafe Nollendoriplag” in Berlin eine 
„Muſikerklauſe“ ins Leben rief, mit der er der Berliner Muſikwelt einen 
reizenden Sammelpunft ſchuf. Die jedem, aud Nichtmuſikern zugänglichen 
Zimmer, find mit Klavier, Mufiferfchreibtiih, — zu deſſen unentgelts 
fih zur Verfügung Ttehenden Uteniilien auch Notenpapier und Raſtral ges 
hören — und einer fhon jetzt fehr anſehnlichen Bibliothef, — zu der täglich 
neue Stiftungen von Komponiiten und Berlegern einlaufen, — ausgeitattet, 
können tagsüber zu Proben, Studiengweden oder drgl. verwendet werden und 
find abends meilt von einer großen Schar namhafter Künftler und Künſtle— 
rinnen beſucht. Beionders die Dienſtag-Abende, an denen regelmäßig zwang— 
[oies Zufammenjein itattfindet, erfreuen fich bereits großer Beliebtheit. Ja, Die 
Gemütlichkeit der Stlaufe droht ſchon beinahe eine Gefahr für unfer Mufifleben 
au werden, da ſie jelbit folide Künſtler verführt, fo daß jegt wohl bald eine 
Stodung der Berliner Mufifproduftion zu erwarten fein wird. 


⸗ — FR e — — m —— — — — — — — — — — ——— — — — 
Verlag von Geotg D. W, Callwey, München. Verantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin⸗Charlottenburg. 


2. Jahrg. ir. 5. 1. November 1898. 


Amlliche Diffeilungen 


aus dem 


Derein zur $örderung der Hunt. 


Begründet 1897 von Peinz "Wlolfradt, Berlin. 


Centrale: Berlin. Zweigverein: Halle a. 5. 
Gefchäftsftelle: NW. Klopftodftrafe 21. Geichäftsftelle: Harlsftraße 26, 


Die „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein 3. F. d. X, find das Dereinsorgan dieſes Dereins und 

werden den Stammmitgliedern desielben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins- 

leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den 

„Kunfwart".ibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlidungen des die gleichen Ziele wie der 

„Kunitwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereſſe haben dürften. — Zuſchriften in Dereinsangelegen: 

beiten find nur an die Geichäftsftelle des Dereins z. F. d. K. zu richten, ſolche in redaktionellen An- 
gelegenbeiten an den Schriftleiter, Berlinsfriedenau, Cranachſtr. Nr. 50. 























Unser Zweigverein alle 


macht erfreuliche Fortfchritte und entfaltet unter der Führung feines raftlos 
thätigen Leiter8 Rudolf Lorenz einen Eifer, der nicht unbelohnt bleiben wird 
und hoffentlich ein reges Wachſen des Vereins im Gefolge hat. Soeben tritt 
er wieder mwerbend mit einem Aufruf vor die Kunftfreunde der Mufenjtadt an 
der Saale und entrollt den Plan für die fommende Vereinsfaifon. Wir heben 
folgende Stellen aus dem Aufrufe hervor: 

„Der Hallefhe Verein dient als Zmeigverein den größeren, umfaffenderen 
Interefien des Hauptvereins, und fomit it jede Beteiligung ein Beitrag über 
Halles Diauern hinaus zur Förderung deutſcher Kunft überhaupt, der Verein 
hat aber auch in unferer Stadt eine Miffion zu erfüllen, die von feiner anderen 
Bereinigung bisher angeitrebt worden ilt. Es galt, einen Mittelpunft zu Schaffen 
für die Sunftbeitrebungen Halles; e8 galt, die einheimifchen Vertreter der Kunſt 
zum Zufammenfhluß zu bewegen, alsdann den Stunitfinn der Einwohner zu 
mweden oder anzufpornen, und auf diefe Weife das Kunſtleben, fo weit e8 vor— 
handen ift, zu fräftigerem Pulsfchlag zu veranlafien, oder jo weit e8 nicht 
vorhanden war, zu Schaffen und dadurd) der Kunſt felbft diejenige Anerfennung 
au erobern, die ihr in einer Stadt von ber hiltorifchen und volfsmirtichaftlichen 
Bedeutung Halles im Hinblid auf die Kunſt gebührt. 

Große Ziele werden nicht in wenigen Jahren, gefchmweige denn in wenigen 
Monaten erreicht, und fo können auch wir heut’ noch nicht auf Refultate zurück— 
bliden, die eine zwingende Beweiskraft in ſich bergen; doch werben alle vor= 
urteilslofen und einſichtsvollen Beobachter unferer Arbeit fi) der Thatfache 
nicht verfchließen fünnen, daß relativ viel erreiht ift.....- 

Zunädjt find für das fommende Bereinsjahr folgende Unterhaltungs— 
abende in Ausficht genommen, deren Neihenfolge nod) vorbehalten bleibt: 

1. „Wie lernen wir Kunſtwerke fehen?“ Bortrag von Wilhelm von 
Buſch-Berlin, mit darauffolgender Diskuffion. 

2. Ein Hlavier-Abend von Agnes Zeeh auf der Janko-Klaviatur; die 
dem Konzert folgende Debatte wird jedem Befucher ermöglichen, die technifchen 
Vorzüge der Janko-Klaviatur zu prüfen und fennen zu lernen. 


- 5 


3. Ein Gleig=-Abend foll unfer Bublitum mit der genialen künſtle— 
rifchen Eigenart dieſes Komponiſten befannt maden; Borlefung aus Künſt- 
ler Erdenmwallen“ von ®leip. 

4. Georg Rufeler: lieber volfstümliche Literatur. 

5. Vortrag von Ria Elaaffen (Münden) über das „ſymboliſtiſche 
Drama“. 

6. Bortrag: „Streifzüge durch die Theaterwelt* von Otto Felfing. 

7. „Die Kunft im Haufe“ (Dr. Albert Dresdner). 

8. Vortrag mit Sfioptilun= Projektionen von Dr. Koeppen und 
Stoedtner=-Berlin. 

9. Hlavier-ftonzert von S. Mayflapar = Betersburg. 

10. Ferdinand Avenarius: Lyrik. 

Außerdem, je nad) dem Eingang von Neuheiten, Beſuch des ftädtiichen 
Muſeums und der permanenten Gemälde-Nusftellung von Tauſch & Groſſe; 
diefe Firma hat ſich bereit erklärt, für unfere Mitglieder den Jahresbeitrag um 


ein Drittel zu ermäßigen. 


* 
” * 


In der Generalverfammlung des Zmeigvereins Halle wurde beichlofien, 
den dortigen Penftionaten ermäßigte Beiträge zugubilligen, und zwar: ı2 ME. 
Sahresbeitrag für den Benfionsvoritand und 2 ME. für jeden Ben» 
fionär für die Beredtigung, an den großen Uinterhaltungsabenden des 
Winters teilzunehmen. 


Der „Kunjtwart“, der aud) für den Zmeigverein das Bereindorgan 
bildet, wird den Wollmitgliedern foftenlos, nur gegen Erfiattung des 
Portos (15 Pf. pro Lieferung) monatlid) zweimal zugeitellt. 

Der „Kunjtwart* fann auch von je zwei Mitgliedern, deren Bei— 
träge zufammen ı2 ME. betragen, ebenfalls foftenlos (wie oben) bezogen 
werden. 

Die Beiträge unferer Dlitglieder werden von jet ab nur einmal pro 
Jahr gegen Jahresfarte erhoben. 


Sodann find zwei wichtige Neueinrihtungen getroffen worden: Der 
Direktor des arhäologiihen Mufeums, Hr. Brof. Dr. Robert, hat 
in uneigennügigiter Weife feine ſtraft in den Dienſt der von uns vertretenen 
kunſtfördernden Bejtrebungen geftellt und wird regelmäßig Sonntag® vormit- 
tags (in dieſem Winterfemefter) nur für unfere Mitglieder Borträge 
über griechiſche Kunft, verbunden mit Führungen durch die Kunſt— 
Thäte des Muſeums, veranitalten. 

Ungelihts der Auszeihnung und Anerkennung, welche durch dieſen Ent: 
ſchluß des Hrn. Prof. Dr. Robert unferen Bemühungen zu teil geworden ift 
und aud um des Borbildes willen, das hiermit von autoritativer Seite im 
Anterejfe des Kunſtlebens unferer Stadt gegeben wird, ift es einfad eine 
Ebhrenpflidt, dab wir dem Rufe zur gediegenen Ermweiterung 
unjerer Aunftanfhauungen möglidhft zabhlreih folgen und 
durch treue8 Intereſſe undb regelmäßiges Erfdheinen dem lie— 
benswürdigen Wanne unjeren Danf ausdrüden für dieſe ſelbſt— 
Iofe Förberung ber Kunſt. 

Das Gleiche gilt von dem Kurſus über „Mufil“, den Herr Gompes 
de la Porte in gleiher Art ebenfalle an Sonntagen vormittags abhalten 
wird. Das Programm lautet: 


Theoretifhes: Einführung reſp. Weiterführung in Harmonielehre 
und im einfachen und doppelten Kontrapunkt; Durchſprechung und Löfung dies 
bezüglicher Aufgaben; Analyfe von Tonftüden nah formellem, harmoniſchem 
und motivifhen Aufbau; Lied, Präludium, Fuge, Sonate, Sinfonie, ſinfoniſche 
Dihtung; Korrektur etwaiger Kompofitionsverfuche. — Einführung in klaſſi— 
{he und moderne Orcefterpartituren. — Uebungen im Partiturfpiel. — Ans 
leitung zum Inftrumentieren. 

PBraftifhes: Mufizieren am Flügel; Belanntmahung mit wichtigen 
Novitäten durch Primapiftafpiel u. ſ. w. u. f. m. 

Beide Veranftaltungen thun bar, daß es uns ernit ift, um eine Ver— 
tiefung und Förderung unferes Kunftverftändnifies und Kunjtlebens; bat wir 
uns unterfheiden wollen von bloßen Unterhaltungs— 
vereinen” Soweit der Aufruf unferes eriten Zmeigvereins. 

Kir fönnen nur lebhaft bedauern, daß nicht aud) aus anderen intelli- 
genten Städten des Reichs Die Bitte an uns gelangt: Zmeigvereine mit den 
gleihen Tendenzen, wie fie der „Verein 3. F. d. K.“ verfolgt, zu errichten. Es 
gibt Städle genug, für deren geiftiges und fünftlerifches Leben ſolches von 
hohem Nugen fein fünnte, wo man des Wadfens und Werdens anderer 
Kunftanihhauumgen nod) faum einen Hauch verfpürt. — Alſo: Freimillige 
vor! zum Kampfe für unfere „heiligiten Güter“. 8. W. 


Die Vergünstigungen, 
die unfer Verein feinen Mitgliedern außer den eigenen Veranftaltungen mie 
Konzerten, VBorlefungen, gemifchten Abenden, ſowie Theatervorftellungen bietet, 
find folgende: 

1, Die Mitglieder erhalten ein vollitändiges Eremplar des Kunſtwarts 

mit allen jeinen Beilagen, Noten, Bildern und unjeren „Mitteilungen“. 

2. An allen Wochentagen um etwa ı Mt. pro Plag ermäßigte Billets 

zum Refidenze, Neuen=-, Metropols, Belle Alliances, 
Thalias und zum Quifentheater; um 25°, ermäßigte Preife für 
die Operettenaufführungen im Zentral: Theater (Operette). Die Pläße 
werden gegen Portoeritattung durch unſere Geſchäftsſtelle bejorgt. 

3. Wir befigen eigene fejte Abonnements: 

a) zu dem fgl. Opernhaus und zwar für alle Tage die Pläße ıı 
und ı2 im Parkett, die nod) etwa zwei- bis viermal im Monat (je 2 Pläße) 
im beitimmten Turnus oder auf Einzelgefuhe à DH. 4.50 verfügbar find. 

b) für das kgl. Schaufpielhaus einmal im Monat zwei Pläge . Rang 
Balfon 20 u. 21. à M. 3.50, fowie zweimal im Monat Sonntags zmei 
Barlett=sPläge ı0. Reihe ä Mi. 3.50, endlid noch 2 Parkettpläge, deren 
Nummer nicht feftiteht. 

ce) Jm deutſchen Theater die Site im Parkett redts 5. und 
6. Reihe 35. 36. 49. 50 und links 38 und 39 A ME. 3.75, im I. Rang 
Balkon ı Sig I. Reihe ı2 (ME. 2.25) und Sperrfig Nr. ı (ME. 1.75) für 
jeden Donnerstag; dieſe Pläße find bei rechtzeitiger Meldung 3. B. bei 
Wiederholungen von Stüden oder bei Behinderung von Stamm = Inhabern 
abzugeben; außerdem find von Januar 1899 ab die Plätze 49 und 50 fait 
dauernd frei. Desgleihen Ballon Nr. 12 vom November ab. — 


= 3. = 


d) Zu den Nikiſch- (Philharmonifchen) Konzerten befigen wir Pläge in 
Reihe ı4 Nr. 38 u. 39 mit 20° Ermäßigung, bie zeitmeife zufammen oder 
einzeln zu vergeben find. 

e) Zum Berliner Theater ftellen wir unjeren Mitgliedern für je— 
den Freitag zwei Plätze Parkett (Fauteuil) um 25°, ermäßigt in der 
amweiten Reihe bei rechtzeitiger Meldung zur Verfügung. 

Endlich f) für die fehr unterftügungsmwerte „Oper des Weſtens“ Haben 
wir ıztägig Freitags zwei Pläge ı4. Reihe (11. Abt. Park. a Mi. 2.25) 
und zwei Pläge Parkett (Fauteuil) 2. Reihe (à ME, 3) zu vergeben, ebenſo 
für einige Montage zwei Bartett II. Abt. (A ME. 2.25) zur Verfügung. — 

Aber auch für Erleichterungen im Beſuche anderer Aunftinititute, als 
der Theater und Konzerte, ift ausreichend geforgt, fo genießen unfere Mitglie- 
der ben Vorzug, 

g) Gutfcheine, zur alten „Urania“ für die Projeftionsvorträge der Herren 
Dr. Koeppen nnd Stoebtner, bei unferer Gefchäftsftelle fo ften [os erhalten zu 
tönnen, die mit 50 Pig. auf den Plag in Anrechnung gebracht werden. 

h) Die Sunitfalons der verdienitvollen Firma Steller u. Reiner, 
Potsdamerftr. Nr. 121 werben ben Mitgliedern gegen eine um 33 '3°%a er— 
mäßigte Dauerkarte, die für das ganze Jahr 2 Mark koſtet, zum Beſuch der 
immermwährenden, monatlich wedhfelnden Ausjtellung offen jtehen, und endlid) 
bat ſich 

i) der Leiter der anerfannt wertvollen Gurlittfhen Ausftellungen bereit 
gefunden, unferen Mitgliedern, vorläufig an einem Abend, ben wir nod) 
befannt geben werden, feine Ausstellung ganz koſtenlos zugänglich zu 
maden. 

Die Bereinsleitung hofft, daß unfere Mitgliedervon allen diefen Einrichtungen 
und Erleichterungen, Die zweifellos ebenfalls eine Förderung der ſtunſt in fich fchlies 
Ben, ausgiebigiten Gebraud; machen werben, und daß fie uns ihre Anerkennung 
durd) Zuführung neuer Mitglieder aus ihrem Belanntenfreife bezeugen merden. 
Außerdem würden wir uns auch freuen, wenn aus der Zahl der Berliner 
Lefer unferer „Mitteilungen“ fi auf dieſe Vergünftigungen hin recht viele 
unferem Verein anſchlöſſen. Die Hoften, die dies erfordert, werden zehnfach 
durch die im vorstehenden aufgeführten Vorteile wieder eingebradt, abgeſehen 
davon, dab mir hoffen, auch mit unferen fonftigen Beftrebungen ein Anrecht 
darauf zu haben, mit allen Sräften gefördert gu werden. Wir bitten ja nicht 
für uns. BD. W. 


= 
* ” 


„Künstlerdank‘, 

fo nennt fi ein zeitgemäßes Unternehmen, das unter dem Proteltorate der 
„Genoſſenſchaft deutfcher Bühnenangehöriger* ins Leben getreten iſt und ſich 
die Beforgung guter Pläge für Theater oder Stongerte gegen einen geringen 
Zuſchlag (25 Pf. pro Billet) zur Uufgabe ſtellt. Aehnlich wie der recht ſegens— 
reich wirkende „Invalidendank“ beftimmt das neue Unternehmen einen Zeil 
feines Erträgnilfes einem humanitären Zmed, und zwar ber linterjtügung von 
Künftlern. Darum fönnen wir das Inſtitut Berliner Hunftfreunden ebenio 
wie hierher fommenden Fremden warm empfehlen. 5. W. 


Derlagvon Georg D, W, Callmey, Münden. Derantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin‘ Sriedenau. 


2. Jabra. ?ir. 4 15. November 1898. 


Amtliche CDifteilungen 


aus dem 


Derein zur Förderung der Hunt. 
Begründet 1897 von bein; Woltradt, Berlin. 


Centrale: Berlin. Zweigverein: Halle a. S. 
Geichäftsftelle: NW. Klopflodftraße 21. Gefchäftsftelle: Harlsfiraße 25. 








Die „Amtliben Mitteilungen“ aus dem Derein 5. 5. d. N. find das Dereinsorgan dieſes Dereins und 
werden den Stamntmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunitwart“ gelierert, auf den von der Dereins: 
leitung für fänttliche Stanımmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auc den 
„Kunitwart“«Nbonnenten beigefügt, melde für die Deröffentlihungen des die gleichen Siele wie ber 
„Kunimart” verfolgenden Dereins ebenfalis Intereſſe haben dürften, — Aufcriften in Dereinsangeleuen. 
beiten find nur an die Beichäftsftelle des Vereins 5. $.d. K. zu richten, ſolche in redaltionellen Ans 
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlinsfriedenau, Cranachſtr. Kir. 50, 








Sonnabend den 26. Movember 
im Rathauſe 
Abends pünktlich 8', Ubr 
(Beginn des Vortragszyklus) 
„Ueber moderne Kunft”. 

Eriter Abend: Die iymbolifhe Dihtung in Lyril und Drama 
und Hugo von Hofmannsthal (Fran Ria Claaſſen, Münken) und 
‚Don Quihote* als Oper (doffapellmeilter Dr. Willi Kleefeld). 

Nach den Vorträgen: Gedanftenaustaufh und gemütliches Beifammen= 
fein der Mitglieder. 
— Näheres ift durch Rundichreiben befannt gegeben. 


Unser Fontane=Ebend 

am 26. Oktober verlief einfach) und würdevoll, der Bedeutung des großen heim 
gegangenen Meiiters entiprechend, ohne jedes Gepräge gemwollter Feierlichteit 
die Theodor Fontane von jeher perhorreszierte. Hein Vortrag über 
Fontane, fein faltes Gipsbild des Heimgegangenen inmitten eines künſt— 
lich bergeftellten Yorbeerhaines, fein Bild im Herzen und vor dem geiitigen 
Auge, fo nahm die ftattliche Zubörerichaft die Gaben feiner Kunſt aus berufenem 
Munde entgegen. 

Theodor Kontane hat die Palme und den Lorbeer im ideellen Sinne 
jo ehrlich verdient, dak wir auch von dieſer ſymboliſchen Andeutung glaubten 
abfehen zu fünnen, wie von der Ginladung der Kritik, denn über Fontane ift 
das Urteil wohl abgeſchloſſen und es ſchien uns nicht der rechte Ort, neue Ur— 
teile über den Toten herauszufordern, vor allem aber follten unfere Gaben an 
diefem Abende mehr mit dem Herzen, als mit dem fühl abmägenden kritiſchen 
Urteil hingenommen werden. 

Und dieſe Abficht ift ganz und gar erreicht worden. Befonders mar e8 
Frau Almwine Wiede— bisher am Deutſchen- jegt am Schillertheater — 
die mit ihrem unvergleichlid; charatteriftifchen Vortrag fich Die vollite Aner— 
fennung der Hörer gewann. Ihr Vortrag war vom Herzen fommend und 
ging zum Herzen, er brachte alle Vorzüge Fontaneiher Art voll zum Muss 
drud. Bei den vorzüglich ausgewählten wenigen Kapiteln aus „Jrrungen und 


— — — 


Wirrungen, die ein veritändliches Ganzes bilden, dem Abſchied, wurde einem 
flar, mit wie einfachen Mitteln Fontane die ftärfiten Wirfungen her— 
vorzubringen im ftande war, und man ſah im Saale manden, in deſſen 
Augen helle Thränen glänzten. Die leicht fatyriihen und die herzergreifend 
innigen Gedichte bradte Frau MWiede ebenfo galüdlid zur Geltung, 
während fie mit den luſtigen märtifchen Poeſieen und dem vollstüm= 
lihen „Joadim Hans von Ziethen“ jubelnde Heiterkeit wedte. Wir fünnen 
der trefflichen Künſtlerin nicht genug für ihre jelbitlofe Hingabe und für ihr 
Verdienjt um unseren großen Toten und unferen Verein danken. Die Ge— 
fangsvorträge, hauptfählid; von Vertonungen Fontaneiher Dichtungen durd) 
Karl Zoewe, Martin Plüddemann, Rihard Sternfeld, Mary Ele- 
ment, (zum Teil noch Manuffripte) brachten eine angenehme Abmechielung 
in das Programm. Den Sänger Hr. Emil Severin haben wir aber ſchon 
beiier disponiert gehört, vielleicht trug die im Saale herrichende Hitze die Schuld. 

Kurz vor Beendigung des Programms betrat der I. Borligende, Herr 
Heinz Wolfradt, dernad) längerer Ubweienheit von Berlin direft vom Bahn- 
hof nad dem Rathaufe geeilt war, für wenige Minuten das Podium und ride: 
tete an die zahlreihe Zuhörerichaft einige herzlihe Worte, und den Dank für 
ihr fo zahlreihes Ericheinen, damit die Bitte verbindend, ſich zur Ehrung 
unferes veritorbenen Ehrenpräfidenten von den Sigen zu erheben. Er legte 
kurz dar, warum wir von aller äußeren Feierlichkeit und von einem 
Vortrag über Fontane abgefehen hätten und ermahnte die Anweſenden, ſich 
nicht genug fein zu laffen mit dem, mas fie heute aus Fontanes Werfen ge: 
hört, und über ihn aus Anlaß feines Todes gelefen, jondern er bat fie bewegten 
Herzens, lich immer wieder in die Werfe Fontanes, fein Gemüt und fein ganzes 
Weſen, das er in ihnen niedergelegt zu vertiefen und fo das Andenken an ihn 
hoch zu halten. Fontanes Werke jeien das Dentmal, wertvoller und unver: 
nänglicher, als foldhe aus Stein und Erz, das er ſich ſelbſt in dem 
Herzen jedes wahren AHNunftfreundes erricdtet babe. 

Die Worte, doppelt wirfam, weil man ihnen an der Bewegtheit des 
Sprechers anmerfte, daß fie tief empfunden und ganz unvorbereitet waren, 
mwedten den lebhafteiten Widerhall, weil fie fich mit dem dedten, was ein jeder 
bei ſich felbit empfand. 

An uns, den Kunſtfreunden ift es, Diefen Worten durd die Befolgung 
jener Bitte Nachdrud zu verleihen. 


Ueber Zweigvereine 
haben wir uns in voriger Nummer unserer „Diitteilungen“ bereits geäußert, 
anläßlid) des Berichtes über die rege Ihätigfeit und fortichreitende Entmwidelung 
des Halle'ſchen Zweigvereins. Wir fünnen heute nur mwieverhofen, daß uns 
die Errichtung folder ungemein anı Herzen liegt und wir fie für 
dringend notwendig eradıten, um unferen funftiördernden Ideen meitere 
Ausdehnung zu geben. Wir rihten an Anhänger unserer Abdeen, 
befonders an unfere ausmwärtigen Mitglieder das eindringlidite Erſuchen, 
fi die Errihtung von Zweigvereinen angelegen fein zu laſſen und 
an ihren Wohnorten fih mit funftiinnigen, kunſtbegeiſterten und 
funjtveritänigen, organifatorifdh veranlagten Berfönlichkeiten ins 
Einvernehmen zu jegen und fie für unfere Jdeen umd Begründung eines gleichen 
Vereins zu intereffieren. An jedem Orte werden jich wohl zwei bis drei ſolcher 
Perjönlichkeiten finden laſſen; beionders iſt an ung bis jegt der Wunſch nad 
einem Zweigverein gelangt von Breslau, Franffurta WM, Damburg, 


= 8 — 


Sannover, Haffel, Kopenhagen, Leipzig, Münden, Prag und 
Schwerin. 

Aus allen diefen genannten Städten fordern wir diejenigen auf, die 
mit ihren heimischen Kunſtzuſtänden nicht zufrieden find oder glauben, daß 
Beitrebungen wie die unferigen dort Boden finden würden, fih an den 
Hauptverein Berlin bezgl. näherer Informationen, Ueberlaffung von Programm, 
Safungen und Aufruf, Angabe unferer Mitglieder an den refp. Orten zu wenden. 
Rir werden jedem ernſthaften Bewerber gern alles notwendige Material 
zur Verfügung ſtellen. — Dabei bemerken wir ausdrüdlich, daß jedem Zweig— 
verein vollitändige Mltionsfreiheit und Selbitverwaltung gemährleiftet wird 
und wir nur (unter Berüdfihtigung der örtlichen Verhältniſſe allerdings mit 
Modifilationen) Die Innehaltung des Programms und der 
Statuten fordern, ohne aud) dabei Fleinlich zu verfahren, da mir 
wertvollen Anregungen und Verbeijerungen fehr zugänglich find. 

Bei diefer Gelegenheit geben wir auch Bericht, bis zu welchem Punfte 
Verhandlungen über diefe Materie mit Prag und Staffel gediehen find. 

In eriterer Stadt, in der wir bereits eine Anzahl thatträftiger Anhänger 
bejigen, fand unter Beitung unferes VBorfigenden Heinz Wolfradt eine Beratung 
itatt, an der außer einigen unferer Prager Mitglieder auch Vertreter anderer 
bortiger Stunftvereine 3. B. des Schriftftellervereins „Concordia“ und des 
„Kammermuſik-Vereins“ u. a. teilnahmen, ferner Muſiker, Schriftiteller, ſowie 
die Ktunitfritifer der drei hervorragenden deutfchen Zeitungen, endlidy mehrere 
Juriiten und Induſtrielle. Das „Für“ und „Wider“ wurde lebhaft diskutiert 
und es wurde in richtiger Würdigung der nationalen Berhältniffe und mit Rüd- 
fiht auf Diefe, auf nationaler Basis ruhenden, beitehenden Kunſtvereinigungen 
dem Antrag zugeitimmt, zunächſt im Anſchluß an die reip. dortigen Vereine 
die Erfüllung unſevres Programıns anzuftreben. 

Zu diefem Zmede würde jeder Wertreter eines Prager Hunitvereins in 
jeinem Kreiſe den Anſchluß an unfern V. 3. F. d. 8. dringend befürworten und 
das Zufammengehen anraten. Erjt wenn dies nicht zu einem guten Nefultar 
führen follte, würde die Begründung eines felbitändigen, unabhängigen Vereins 
3. 5. d. K. in Prag energifch zu betreiben fein. Auherdem fand ein anderer 
Vorſchlag allgemeine Zuſtimmung: Es wurde betont, wie fegensreid ein Ver— 
ein 3. 5. d. ft. wirfen fünnte, wenn er jeine Beitrebungen, mie auf die deutichen 
fo auch auf die böhmischen fleineren Jnduitrieitädte ausdehnte. Hier wäre nod) 
viel zu thun, um aufflärend und veredelnd durh Wandervorträge und Ber: 
anitaltungen auf das Volk zu wirken; folche Berfönlichkeiten müßten aber der 
größeren Zugkraft wegen nicht von einem eventuell Brager Berein aus dorthin 
entfan®t werden, fondern aus dem Bergen Deutichlands heraus, aus Berlin, 
da man darin gleich eine Unterſtützung des Deutichtums, des nationalen Ele— 
ments erbliden würde Ein Komitee zur Popularifierung der Aunit würde 
ſich leicht aus einigen geeigneten Berjönlichkeiten, vornehmlich aus Großindu— 
ftriellen an dem jeweiligen Orte bilden laſſen. Der Führer der Deutichen in 
Böhmen, der unsern Vorfigenden tags darauf in liebensmwürdigiter Weile zu 
einer Beiprehung empfing, erklärte fich in entgegentommendfter Form fofort 
bereit, ihm jolche dafür befonders geeignete Perfönlicdykeiten nachzuweiſen und 
alles zu thun, uns der Erreichung unferer Abfichten näher zu bringen. 

In Kaſſel ferner, wo unter reger Anteilnahme eines früher in Berlin 
anfäfligen Mitgliedes, jegt Lehrer an einer dortigen höheren Schule — und 
felbit ein verheigungsvolles fchriftitellerifches Talent — vorbereitende Schritte 
für das Zuſtandekommen eines Zweigvereins 3. F. d. St. in Staffel unternommen 
wurden, war das Nefultat zunächſt das, daß ſich ſofort einige hervorragende 


— 9 — 


Perfönlichkeiten,, unter denen der fgl. Hofkapellmeiſter Dr. Franz 
Beier, und Herr Konfervatoriumsdirefior von Sternberg: 3tjerna 
bereit erklärten, der Idee eines Zweigvereins ihre fräftige Unteritügung ans 
gedeihen zu laſſen, Außerdem follen hervorragende Künftler wie Brofeffor 
Knackfuß, Bildhauer Epverding, hervorragende Jnduftrielle wie 
Fabritbefiger Henidhel, ein hervorragender Mäcen, Herr Gym— 
nafialdireftor Dr. Harniid u. a. m. erfuht werden, dem Komitee 
beizutreten. Ferner joll dur die Preſſe und direkte Verfendung eines Auf- 
rufs an kunſtliebende und angefehene Berfönlichkeiten das Intereſſe für einen 
jolchen Verein gewedt werden; in diefem Aufruf fol gleichzeitig die Bitte aus: 
geiprochen werden, daß fid) Berfönlichkeiten zur Teilnahme an den Arbeiten und 
eventuell Eintritt in den Boritand melden. Das wird nun in Kürze geſchehen. 

Dierbei ſei auch an diefer Stelle nochmals darauf hingersiefen, daß die 
entfprehende Wirfung eines Vereins, wie wir ihn bilden, durchaus nidt 
abhängig iſt von einer Anzahl Dlitglieder. Auch ohne Mitglieder, nur 
von einem leitenden Ausſchuß von vier bis ſechs thatfräftigen, verſtändnis— 
vollen Perſönlichkeiten lafien fit nad) Analogie der „Vereine für Volksunter— 
baltung*, nur mit mweniger einfeitigen Tendenzen, die meiſten unjerer künſtle— 
rifchen Forderungen Punkt für Punkt erreichen. Es träte eben an Stelle oder 
neben die Beihäftigung mit bewährten alten Stunftwerfen und Künſtlern aud 
das Befaſſen mit dem wertvollen und vor allem nod) unbefanntem 
neuen, das gerade bei einem naiv empfindenden nicht blafierten Publikum 
die Probe auf feine Wirkung bejtehen fünnte; ja felbit das noch nicht fertige 
und aud das verheikende MWerdende könnte an diefer Stelle zu Worte kommen 
dürfen. Außerdem wäre die Beichäftigung mit der unit auszudehnen auf 
alle Geſellſchaftsklaſſen und alle Zweige der Kunſt. 


Selbit die Durchführung humanitärsfünftlerischer Beitrebungen (materielle 
Förderung der Künitler und ihrer Werke) ließe ih ohne die Sefolgihaft von 
Mitgliedern erreillen, wenn ein ſolcher Verein fi Gönner zu erwerben wühte, 
ein opferfreudiges Publikum fände, oder von uneigennügigen Mäcenen gefördert 
würde. Und das jollten alle die fein, die von einem überreihen Beſitz— 
tum etwas entbehren wollten, und die die Segnungen der Aunit mit ihrem 
Einfluß auf Herz und Gemüt der Menichen anerkennen, die Achtung haben 
aud) vor minder begüterten braven Mitmenjhen nnd der fo viel vermögen 
den göttlichen Kunit. Sie gerade ift das Geſchenk vom Himmel, das wir 
jenen immer aufö neue Daraubringen nie müde werden 
jollen. 5. W. 


ws 


Rihard Strauß bat fih am 5. November als Nachfolger Weingarts: 
ners am fal. Opernhaus in Berlin durd eine im orceitralen Teil unvergleich 
fchöne Aufführung des „Triftan* glänzend eingeführt und wurde vom Publikum 
und Breile begeiftert begrüßt. 


Gerhart HSauptmanns „Fuhrmann Henschel“ erbradite durd 
die jtürmifche Begeiſterung, mit der er vom Publikum aufgenommen wurde, 
den Beweis, dak man, fogar — „naturaliftiih* kommen darf und dod bes 
jubelt wird. Das übermältigend tiefe Stüd darf wohl als das reifite ſchönſte 
Kunitiverk bezeichnet werden, das der deutiche „Naturalismus“ bis jetzt be= 
figt, es it das Werk eines echten Dichters und Seelentünders und wird am 
„Deutichhen Theater“ meifterhaft dargeftellt. 


rn — 
Derlag von Georg D. W. Callwey, München, Derantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin«$riedenan, 


2. Jahrg. Ar. 5. 1. Dezember 1898. 


Amtliche (Ditfeilungen 


aus dem 


Derein zur $örderung der Runſt. 
Begründet 1897 von bein; Wlolfradt, Berlin. 


Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. 5. 
Geſchäfts ſtelle NW, Alopſtockſtraße 21. Geſchäftsſtelle: Karlsſtraße 25. 
———— 














Die „Unitlichen Mitteilungen” aus dem Derein z. F. d. K. find das Dereinsorgan dieſes Vereins und 

werden den Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins» 

leitung für jänttlihe Stamnmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auc den 

„Kunftwart“.Albonnenten beigefügt, melde für die Deröffentlidungen des die gleichen Ziele wie der 

„Kunftwart” verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Aufchriften in Dereinsangelegen: 

beiten find nur an die Gefchäftsitelle des Dereins 3. F. d. K. zu richten, solche in redaktionellen Ans 
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlins$riedenau, Cranachſtr. Ne. 50. 











Vornotiz!! 
Mittwoch, den 28. Dezember, abends S Ahr 

veranitalten wir im Bürgerfaal des Rathauses einen Abend. 

Thema: „DHeitere Runf, 

Mitwirkende ſind bis jest: Frl. Edela Rüft (Rezitationen), Unna 
v. Pilgrim (Bioline), Roldemar Sads als Klavierhumorift. 

Unfere Mitglieder freien Eintritt bei Vorzeigung der 
Mitgliedskarte. Weitere (Gaſt-Marten durch Deitglieder DIE. 1.50 (Vor— 
augspreis) bei der Geſchäftsſtelle des Vereins. 


Unsere Vorträge. 

Ria Claaſſen, Schrüititellerin aus Münden, die im Rathaufe 
am 26.Nop. über „Hugo von Hofmannsthbal und die Symbolif 
in Drama und 2yrif“ ſprach, hatte mit dem liebelitande zu fämpfen, 
dab von den etwa 300 anmefenden Hörern die meilten faum den Namen des 
jugendlichen Wiener Boeten, nicht der zehnte Teil aber Werfe von ihm kannten. 
Wenn e8 daher dem begeifterten und geiltvollen Bortrage der Dame gelang, 
den Yutor an einem Abend mehreren hundert Perfonen geiftig näher zu bringen 
und ihn aud) nur einige Freunde feiner Kunſt zuzuführen, fo hat fie damit 
eine Aufgabe erfüllt, die wohl eine „Förderung“ bedeutet. Wenn es nicht alle 
waren, die fie in feinen Bann zwang, fo liegt das nicht zum menigiten in ber 
Eigenart des Stoffgebiets Hofmannsthals, das nidt nach Jedermanns 
Geſchmaäck iſt, teils aber aud in der für ein volles Verftändnis mangelnden 
Borbedingung, des genügenden Vorbereitetieins für die zur Erörterung ſtehende 
Materie. Aber auch der Vorwurf fann der Rednerin nicht eripart werden, 
da fie ihr Thema nihtvollstümlic genug und für ein — wenn aud) 
funftfinniges — Laienpublikum beredinet, durchführte; wenn Symbolif 
überhaupt leicht fahlich interpretiert und fommentiert werden fann. Jedenfalls 
hätte fie das Wefen der Symbolik allgemein verftändlicher und auch an ans 
deren Beijpielen eremplifizieren müſſen. Trogdem laufhte man mit ges 
fpannter Aufmerffamleit, und befonders die mit fubtiliter Feinheit herausgear— 
beiteten meift frei gejprochenen Rezitationen aus: „Der Tod des Tizian“, 
„Der weiße Fächer“, „Der Thor und der Tod“ und endlich der 
Rortrag der „Jdylle* padte die Hörerfchaft mädtig, troß oder vielleicht 


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gerade wegen ber auf Rednertribünen fonjt nit mehr gemohnten Theatralif. 
Die geiftvolle Dame, die damit ihre frühere Zugehörigkeit zur Bühne deutlich 
zu erfennen gab, follte fi) aber vor einem „Zuviel“ im Wgieren hüten, das 
leicht falfch gedeutet werben könnte. Scharfes geiitiges Eriallen bes In— 
halts, felbitändige und reife Gedanken lich Frau Claaſſen vielfah erfennen 
und eine geradezu ungewöhnliche rhetorifhe Gabe ift ihr zu eigen und in 
Szenen wie in der „Jdylle* zwiſchen Kentaur und Schmied war man in Er— 
innerung ber verwandten Szene in Hauptmanns „Berjunfener Glode* verſucht, 
von einem „weiblichen Kainz“ zu fprecdhen. 

Alles in allem ein großer Erfolg für ein Debut der Rednerin, die in 
fürzeiter Zeit einen zweiten Vortrag im „Verein 5. Förderung der 
Kunmft* über die „[omplizierteren $rauengeitalten Jbjen= 
fher Dramen“ halten dürfte, und von dem Halleſchen Berein ebenfalls 
eingeladen wurde, dort zu ſprechen, welcher Bitte fie bereits Diefer Tage ent= 
ſprach. 

Nah Frau Ria Claaſſen ſprach Hofkapellmeiſter Dr. Wilhelm 
Kleefeld über „Don Quichote“ als Opernſtoff. Mit einer er— 
fchöpfenden Stenntnis des einſchlägigen Materiald berichtete der Redner über 
die zahlreihen Dramatifierungen des Gervantes’fhen Stoffes. Die ältefte 
Opernbearbeitung ein mufilalifches „Quftipiel* von Hinſch, Mufit 
von Foertſch wurde 16590 ſchon in Hamburg aufgeführt. E8 war in 
Mirklichfeit aber eine burleste komiſche Oper, in der Don Quichote mit einem 
alten Haushofmeifter um die Gunft einer hübſchen jungen Hofdame buhlt. 
Alle Ubenteuer, die D. Q. durchmacht, werden, als von feinen Gegnern in Szene 
geſetzt hingeſtellt, um ihn ber Lächerlichfeit Preis zu geben und dadurch die 
eigenen Chancen zu erhöhen. Bei den da8 zweite Dutzzend überfteigenden 
Zahl fpäterer Bearbeitungen als Oper find Komponiftennamen von gutem 
Hlange zu finden wie Galdbara, Salieri, Holzbauer, Piccini, 
Paefiello, Dittersdorf, Mendelsfohn*, und erit neuerdings beſchäf— 
tigten fi wieder drei Komponiſten damit, darunter Wilhelm Kienzl und 
Anton Beer- Münden, ein Hünftler, der ja gerade durch den Verein 3. F. 
d. . vor etwa einem Jahr weiteſten Kreifen bier in Berlin vorteilhaft befannt 
geworben iſt, endlich iſt es Rihard Strauß, der ben Inhalt des Stoffes 
durch feine Diefer Tage zur Aufführung gelangte „ſymphoniſche Dichtung“ 
nur muſikaliſch und gewiſſermaßen ſymboliſch zu erihöpfen verfucht hat. Dann 
wandte fi Redner in längeren durchaus objektiven Betradhtungen dem 
Kienzlidhen Werke zu und es kann nur freudig begrüßt werden, wenn ein 
gerade fehr divergierend beurteiltes Kunſtwerk, in durchaus unparteiifcher 
MWeife vor einem verftändigen, kunftfinnigen Publikum fommentiert wird. Es 
ift Dies anregend und würdig bei einem erniten und ehrlich gemollten Werf. 
Redner betonte, daß während faſt alle Komponiften bisher das Iuftige Mo— 
ment ausſchießlich betonen, Kienzl einen ganz neuen Zug des Don OQ. zu er: 
fennen gegeben habe und daß der Ideengang Kienzls gemefen fei: in fait jedem 
Menihen ftede etwas vom D. Q., ein Stüd Jdealiftenwahns, 
dereritnad langem, ausfidtslofem Kampf überwunden wird, 
fo habe Stienzl aus der fpanifchen Burlesfe ein Stück allgemein menſchlicher 
Tragödie geformt. Der Erfolg wäre diefer Oper fiher aud in noch meit 
höherem Maße geworden, wenn gerade Das Zuviel des Burlesfen im 
II. Akt befeitige würde, durch näher bezeichnete Stride. Muſikaliſch ſei vieles 
in ber Oper hochbedeutend. Großer und verdienter Beifall lohnte Herr Dr. Klee— 
feld, — 


* Rubinftein, Franz Liſzt. 





Das Hamburger Stadttheater gab vor einigen Wochen einem jungen 
fhmedifhen Komponiſten, unferem Mitgliede, Dr. Preben Nodermann, 
Gelegenheit, feine erjte Bühnenarbeit „König Magnus“, Opernhandlung in 
einem Alt, Dichtung vom Grafen Mörner zu fehen. Das Werk fcheint nad) 
allem, was man darüber in Hamburger und ausmärtigen Zeitungen zu Iefen 
befam, alle Ungzeichen ber Anfängerichaft zu tragen, aber doch lebhaft ausge— 
prägten Sinn für nordiſch-volkstümliche Melodik zu verraten. Das bedt fich 
mit den Eindbrüden, bie ich jelbft aus Bruchftüden von Nodermanns zweiter Oper 
„Sunlög-Saga* am Klavier gewonnen habe. Seine Schreibweife neigt fehr zur 
Homofonie und Hat einen ganz merkwürdigen Zug von Unberührtheit und 
Naivetät; trogdem Hatte das Werk beim Publikum einen ehrlichen Erfolg, nicht 
fo bei einem Teile der Preife, von dem ich weiter unten ſpreche, da unfer 
Verein eine Förderung der Kunſt auh im Schuße der Künstler gegen 
IIngeredtigleiten erbliden muß. 

Die maßgebende Hamburger Kritik läßt fih über „König Magnus“ 
fehr freundlih und aufmunternd vernehmen; fo fihreibt Ferdinand Pfohl, 
ber angeiehene Referent der Hamburger Nachrichten, u. a.: 

Sein Wefen, Stil und träumerifh, feine weiche, fanft geartete Natur 
weiſt auf einen ftünjtler bin, der weit mehr im Lyriſchen als im Dramatifchen, 
fih heimiſch fühlt . . . Nodermann ift als Mufifer ein ganz lofaler Typus : 
feine Kunſt wurzelt im fchmedifchen Volfslied und feine Mufik ift nichts anderes, 
als ein fteter Nachhall, als ein vielfahes Echo diefer ſchwediſchen Volkslyrik 
RT So erfreulih nun die innige Verwandtſchaft eines Mufifers mit der 
vollstümlihen Kunst feines Heimatlandes an fi fein mag, fo glüdlich die 
Anregungen, die Keime, die er auß dem allzeit befruchtenden Born des Volks— 
liedes ſchöpft, e8 muß doch ein mwefentlih künſtleriſches Geitalten fein, 
mit dem der Muſiker diefe volkstümlichen Klänge nachformt. . .. 

Seine Muſik reiht (dagegen Melodie an Wtelodie, Tie ift von Anfang 
bis zu Ende melodiſche Linie, oft anmutig bewegt, wie in den reizenden 
Tänzen, häufig ein wenig blaß und fchlaff, wie Blumen, die von den Bergen 
in ein kleines Hausgärtchen verpflanzgt wurden. Uber diefen Melodieen und 
Bolksliedern fehlt die innige Verbindung untereinander ..... Eine borizontal 
fortlaufende Linie. Seine Oper iſt eine einzige Sopranmelodie, immer liegt 
die Melodie »Sopra«, in der Oberftimme, Mittelitimmen und Ba find voll: 
ftändig vernadjläffigt. ... Seine Muſik ift zum Erftaunen einfad), fennt weder 
die polyfone Wrditeftonit noch die Steigerung - . ..... Da aud in der 
Ordeiterbehandlung eine unerfahrene und wenig geübte Hand ſich anfündigt, 
fo ift es nicht fchmwer zu erraten, dah der Mufif Nodermanns dramatifcher 
Ausdrud GCharafteriitif und die fprühenden Afzente fehlen . . . . Eine merf- 
würdige, faft unerflärliche Erſcheinung in einer Seit, der, wie der unferen die 
Muſik als ein Sprachrohr der feinsten Seelenregungen, ber intimiten pſychiſchen 
Geheimniffe bient..... 

Zum Schluſſe beitätigt Pfohl noh, daß es der fleinen Oper „an aufs 
munterndem Beifall nicht gebrady“. Im Vorbericht Fonitatiert er mehrfachen 
Servorruf des Komponiften und erwähnt noch ausdrüdlidh deſſen „lebhaften 
Sinn für Melodif“. 

In den „Hamb. Neueiten Nachr.“ erblidt Rudolf Herzog feine Auf: 
gabe darin, „nad dem Anzeichen zu fpähen, die für die zufünftigen Spenden 
de8 Stomponiften maßgebend werden bürften“. Dann fchreibt er u. a.: 
„Eins fommt dem Komponiſten ſehr zu ftatten, und das ift fein ausgefpro= 
chenes Gefühl für Melodif. Ein großer Melodieenreichtum fteht ihm zur Ver- 
fügung und er macht ausgiebigen Gebraud) davon. Das darf nicht überfehen 
und muß lobend hervorgehoben werden zu ciner Zeit, wo unfere modernen 


— 3 — 


Stürmer und Dränger uns nicht zu jehr mit Melodieen zu ſegnen bereit find. 
(na! na! ©. Reb.). 

Auh Herzog fonitatiert „eine freundliche Aufnahme“, für die Noder— 
mann „vor ber Rampe quittieren durfte”. 

Heinrich Chevalley fpridt in einem dreifpaltigen Feuilleton des 
„Hamb. Kremdenblattes* von einer Muſik, „die in jedem Takt den Anfänger ver: 
rät, Die an Mängeln überreich ift und doch in Einzelheiten nicht unſympathiſch 
anmutet, da fie mwenigitens ohne Prätentionen auftritt“. Nach ausführlicher 
Tarlegung der großen technifcher Fehler des Werkchens jagt er: „Zu den Bor: 
zügen der Oper rechne ich neben der erwähnten Beicheidenheit die melodiſche 
Potenz ihres Schöpiers. In feinen Molodieen ſpricht Nodermann mohl einen 
außgeiprodhenen mufitalifchen Dialeft feiner Heimat, aber diefe nationalen 
Alzente find niemals ſchädlich . . . . Daß e8 feine Blitze des Genies find, die 
bier vor uns aufzuden, ift wohl wahr, aber hübſche, in ihrer Volkskümlichkeit 
feft anfernde Einjälle find nicht zu verltennen. Die Ballade mit Chor und die 
des Ritters Arved weilen deutlich dahin, wo Nodermanns Stärke Tiegt, ımd 
aud) der dharakteriftifche Tanz ift zu den glüdlihen Nummern zu redjnen.“ 
Den Schlußeffelt nennt Chevalley „forciert“. 

In eigentümlichem Gegenfag zu diefen übereinitimmenden fachmänni: 
chen Urteilen fteht es, wenn der nit fachmännifch gebildete Korreſpondent 
eines großen Berliner Börfenblattes von „mufifaliiher Schundliteratur“, 
„tühler Ablehnung“ redet und fortfährt: „Daß einige Freunde und Lande 
leute des jungen fomponierenden Doftors (!) Doch einen Hervorruf erjwangen, 
führte nur dazu, daß fich das eifige Schweigen des Publikums in emergiiches 
Ziſchen verwandelte.“ Vorher redet der betr. iorrefpondent im Gegenſatz zu 
den Fachleuten von „mufifalifcher Erfindungsarmut“. Wie er mit Thatſachen 
umfpringt, bemweift die einfah unmwahre Behauptung: „mad genau dreiviertel 
Stunden liegen jämtliche auftretenden Perſonen an der Peit verendet da.“ (Das 
iſt bei feiner der auftretenden, namhaft gemadjten Berfonen der Fall. D. Red.) 

Vor mir liegen nody einige private Urteile anerfannter Fachleute, aus 
denen ich im folgenden einige Säge wiedergeben mödte. 

Johann Severin Svendſen ſchreibt u. a.: „Die Melodieen, in denen der 
Mollton vorherrichht, find durchgehend ſchön; Soloftimmen und Chor ſehr aut 
behandelt, und die Inſtrumentaätion ift fehr anzuerkennen.“ 

Otto Malling, Profeflor an der Kopenhagener Hochſchule, jagt, „dab 
N. ein großes Talent befigt, das bejonders fid in einer melodiſch ſchwediſchen 
Eigenart äußert, und daß feine Mufif große dramatifche Anlage zeigt”. 

Mehnlich lauten noch zahlreidhe andere Gutachten. 

Wir können uns alfo im Sinne unferer Bereinsbeitrebungen nur freuen, 
dah die Hamburger Bühne einem talentvollen, wenn auch unreifen Eritling 
verfucd ſich erſchloſſen und jo einem jungen Künſtler die Gelegenheit geboten hat, 
auch an feinen Fehlern zu lernen. Wenn wir für muffaliihe Dramen Ber: 
fuhsbühnen befähen, fo hätte man allerdings im Sinne einer mwohlveritans 
denen Förderung der Kunſt Werke, wie das in Rede ftehende, ihnen zu übers 
mweifen, zumal folange die großen Bühnen noch immer nicht ihre Verpflich— 
tungen gegenüber Werfen, wie „Genefius“, „Ingwelde”, „Suntram“, „Cor: 
regidor*, „Elfi*, erfüllt haben. Ernft Otto Hodnagel. 

— „Die Stedinger“, cin hiltorifches Drama unseres Mitgliedes Georg 
Aufeler aus Oldenburg, hatte beahtensmwerten Erfolg im Belle 
Alliancetheater, das Georg Droeſcher veritändnisvol nad künſtle— 
riichen Grundfäßen leitet. Selbſt Kritifer mit fo hohen Anſprüchen mie 
Jul. Hart (Tägliche Rundichau), einer der wenigen bedeutenden Beurteiler in 
unferer Tagespreiie, fprechen fi) anertennend über das Gritlingsmwert Ruſe— 
ler aus. 

Derlag von Georg D. W. Callmer. München. Verantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin. Sriedrnen. 


2. Jahrg. Ar. 6. Ar. ©. 15. DPejember _15. Dezember 1898. 


Amtliche Ditteilungen 


aus dem 


Derein zur Sörderung der Kunft. 
Begründet 1897 von Peinz Wlolfradt, Berlin. 


Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S. 
Geichäftsitelle: NW. Klopftoditrage 21. Geſchaftsſtelle: Karlsitraße 25, 
— — —— 








Die Am Mitteilungen“ aus dem — 54 x find — Dereinsorgan dieſes Vereins und 

werden den Stammmitgliedern desſelben zugleich mit dem „Kunſtwart“ geliefert, auf den von der Vereins⸗ 

leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den 

„Hunftwart“:llbonnenten beigefügt, welche für Die Deröffentlichungen des die gleichen Ziele wie der 

„Kunimart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Auichriften in Dere einsangelegens 

heiten find nur an die Geichäftsttelle des Vereins 3. F. d. K. zu ricdıten, ſolche in redaktionellen Ans 
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanitr. Ar, 1UT1, 


En unsere Mitglieder 

und alle diejenigen Berjonen, die unferen Beitrebungen 
Iympathiih gegenüberitchen, richten wir wiederum die Bitte, ung 
zur Erreihung unjerer Ziele dadurch behilflich zu fein, dat fie in Freundes— 
und Befanntenkreifen unermüdlid auf den Verein, feine Abfichten und feine 
bisherigen Leiftungen hinweiſen und ihm dadurch neue Mitglieder zuführen. 
Die Aufgabe, welche wir uns gejtellt haben, iit groß und unsere Mühen fönnen 
nur dann von Erfolg gekrönt fein, wenn cine große Mitgliederzahl in allen 
Zeilen Deutichlands und außerhalb der Grenzen unseres VBaterlandes den 
Verein ftüßt, und uns Hilft bei der Arbeit für die idealen Güter des Lebens. 

Wir find augenblidlid) damit beihäftigt, einen neuen Aufruf vorzubereiten 
und bitten alle Jnterefjenten benen wir Eremplarein be 
liebiger Anzahl gern zur Verfügung ſtellen), uns ihre 
Adreſſe aufzugeben 

Behufs Errichtung von Zmweigvereinen in anderen Städten (mir ver— 
weiten hierbei auf das leuchtende Vorbild Halle’8) erbitten wir Vorſchläge und 
Hinweiſe auf geeignete Perfönlichkeiten, welche geneigt und fähig find, Die 
Führerichaft eriterer zu übernehmen. Die Geichäftsftelle. 

Zur Nachricht. Die feit furgem mit bedeutendem Erfolge eröffnete 
tunitausitellung von Bruno und Paul Haffirer (Ber 
lin W, Victoriaitraße 35) gewährt unseren Mitgliedern Abonnements zu dem 
Vorzugspreiie von DIE 2.— für das ganze Jahr. Wir fünnen den geehrten 
Vitgliedern nur dringend den Beſuch diefer hochintereſſanten Ausstellung em— 
piehlen. 











Dem viel und rühmlihit genannten Komponilten Herrn Wilhelm 
Berger, welcher unseren Mitgliedern durd) feine, kürzlich in Königsberg mit 
einem Preife von 2000 ME. erfolgte Auszeichnung (für feine Kompofition zu 
dem Goetheichen Tert „Du meine Göttin“) mwohlbefannt ift, wurde wiederum 
ein Preis in gleicher Höhe bei dem in Bonn (Beethovenhaus) ausgefchriebenen 
mufitaliihen Wettbewerb — diesmal für ein orcheftrales Wert — zuerkannt. 
In der Jurie waren auch die Herren Profefforen Joahim, Reinsberger und 
Rüllner. 


Anläßlich des kurz bevoritchenden Jahreswechſels machen mir alle 
Freunde unferes Vereins wiederum auf die BeitrittSbedingungen aufmerffant: 


Der Eintritt in den Berein fann jederzeit erfolgen (Stein Eintrittsbeitrag!). 

Der Jahresbeitrag iit: 

ı2 Mark für das erite Mitglied einer Familie (inkl. Kunfimart), 

* Mark für das zweite, 4 Marf für jedes weitere Mitglied 
und wird in vierteljähdrliden Raten eingezogen. Kündigung hat ein 
Vierteljahr vor Ablauf des Gefhäftsjahrs durh eingeſchriebenen Brief 
zu erfolgen, ſonſt gilt die Mitgliedichaft als verlängert. 

Jede geeignete funftwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wirb nad) 
Möglichkeit berüdfichtigt und Hat einen Anfpruch auf Aufführung, wenn es die 
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonſt wird das betr. Werk fojtenlos, und 
— mie mehrfah dagemweien — wirffam an maßgebenden Stellen empfohlen. 

Näheres durch die Geſchäftsſtelle des Vereins. 








Unfere Mitglieder maden wir nochmals auf ben in voriger Nummer 
angefündigten IV. Vereinsabend, mwelder am 28. Dezember im Bürgerfaale 
des Rathauses itattfindet, aufmerffam. 

Mitwirkende find: Frl. Edela Rieſt und Frau Aınav. Pilgrim. 

Thema: Heitere Kunſt. — Näheres durch Rundfchreiben. 

* 
* * 

Jo ſef Frifhen aus Hannover, den wir im fommenben Winter unferen 
Mitgliedern mehrfad als Dirigenten ſowohl, wie als Komponiften vorführen 
werden, hat während des Sommers auf Norderney mit einem vortrefflich 
aufammengefegten Orcefter eine intereffante und erſprießliche künſtleriſche 
Thätigleit entfaltet und außer eigenen Werfen auch eine Reihe anderer Neu— 
heiten zur Aufführung gebradit. Der „Hannov. Kurier“ fchreibt darüber 
u. a.: Eine formenfchhöne, melodiſch reihe Novität war U. Hlughardts Sin- 
fonie Wr. 3 (D-dur), die ihr Schöpfer, der befannte Hoffapellmeijter aus 
Deſſau felbit dirigierte, Desfelben Komponiſten eigenartige Scilflieder er— 
warben fich ebenfalls volle Anerfennung. Intereſſant war ferner Nodnagels 
Eymbolie „Vom tapfren Schneiderlein”. — Auf dem gleihen Programm mie 
legteres Werk finden wir aud) die „Pietä* von Karl Gleiß, deſſen Name 
ja jegt öfter auf Klonzertprogrammen zu ericheinen beginnt. Auch Niliſch wird 
in diefem Winter in Berlin eine Neuheit von Gleis, feine faum erit vollendete 
dreiläßgige Tondichtung »Fata morgana« zur Aufführung bringen. 

Das „tapfere Schneiderlein” von €. D. Nodnagel, das vorher ſchon in 
Darmftadt, Homburg und Berlin zur Aufführung gelangt war, hat fürzlich auch 
in Köln im Gürzenid) unter Zeitung des Komponiſten einen Erfolg gehabt, 
über den die „Köln Ztg.* (Dr. ©. Neitzel) folgendes fchreibt: „Das Bolf wid— 
mete beiden Neuheiten eingehende Aufmerkſamkeit und warmen Beifall. Wir 
beginnen mit dem Gaft, E. DO. Nobnagel, Sänger und Komponiſt, einem ber 
eifrigiten Neuheitenbefördberer, der diesmal mit einer eigenen Orceiterfompo: 
fition, der Symbolie „Vom tapferen Schneiderlein“ erihien und fein Werk 
perſönlich leitete. Der Hauptuormurf, daß es mehr mit dem ftopf als dem 
Herzen erfonnen fei, ift ihm ſchon in einem Muſikbrief der Kölniſchen Zeitung 
begegnet und erwies fid) aud) diesmal als zutreffend. Sonft iſt Darüber nur 
Günitiges zu berichten. Nodnagel arbeitet mit allen Deitteln moderner Orcheſtrie— 
rungsfunft, ift ſehr geſchickt im Verarbeiten der Themen, kombiniert fie gern und 
virtuos in Richard Straußſcher Manier, deſſen Banner er fo ſehr entfaltet, bag man 
das Ganze etwa als einen etwas abgemilderten „TiN Eulenspiegel“, ſtellenweiſe 
gar als „Don Quixote“ bezeichnen fünnte. Das an einer Stelle gedämpfte Blech— 
orcheſter ſchildert charakteriſtiſch die ſchlafenden Rieſen, deren Kampf dann gar 
fürchterlich, — „freislich“' würde‘ Wagner ſagen — (in Kanonform) entbrennt.“ 

Auch ein Ordeiterfherzo von Joſef Friſchen gelangte im Gürzenich 
au erfolgreiher Aufführung. 

Derlag von Georg D. W. Lallmey, Mönchen. Derantwortli: J. V. Wilh. Mifchel, Berlin. 


2. Jahrg. Ar. 7. t. Januar 1899, 


Amtliche Ditteilungen 


aus dem 


Derein zur Sörderung der Kunft. 


Begründet 1897 von Heinz Wlolfradt, Berlin. 


Centrale: Berlin. Aweigverein: Halle a. S. 


Gefchäftsftelle: NW. Hlopfodftrafe 21. Gefchäftsitelle: Karlsftrafe 25, 
u — 











Die „Amtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein | 3. F. d. find das — diefes Dereins und 

werden den Stammmitgliedern dbesjelben zugleich; mit bem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der —— 

leitung für ſämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch be 

„Kunitwart“.iibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlidyungen des die gleichen Ziele wie der 

„Kunitmwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereſſe Br dürften. — öufcriften in Dereinsangele — 

heiten find nur an die Geichäftsftelle des Dereins 5 F. d. K. zu richten, a in rebaftionellen 
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanftr. Vr. 11/TI, 








Meujahrsgruss! 


Micder ftehen wir am Abſchluß eines Jahres und bliden zurüd auf 
zwölf Monate rajtlofen Strebens und heißen Ringens für da8, was wir im 
heutigen Kunſtleben als notwendig erfannt haben. 


Ueber da®, was wir erreichten, iſt an dieſer Stelle im einzelnen fchon 
geiprochen worden; inwieweit e8 fich mit dem dedt, was wir wollten und mas 
wir verfprahen, — das zu entfcheiden, überlaffen wir denen, die fich zu 
Richtern über uns berufen fühlen. Eins aber können wir ohne Selbftüber- 
bebung und ohne Eigenlob mit freier Stirne behaupten: Ehrlich iſt unfer 
Wollen gemwejen, und was uns an Können zu Gebote ftand, das haben wir 
freudig Darangefeßt, und mit frifhem Mute und unerſchütterlicher Zuverficht 
fehen wir dem kommenden Jahre, und ben neuen Aufgaben, bie e8 uns bringen 
wird, entgegen. 

Es ift ein fteiniger Boden, auf dem wir arbeiten, und manches ausge 
ftreute Saatlorn ift auf ihm ſchon verfümmert und verdorrt. Uber Schritt 
um Schritt gelingt es uns, ihn fruchtbar zu maden, und mand ein junger, 
zarter Keim hat auf dem Neulande fhon Wurzel gefaßt und fi zur frifchen, 
fröhlich fprießenden Pflanze entwidelt, deren fräftiges Wachstum ben der— 
einstigen, weithin Schatten fpendenden Baum-Rieſen ahnen Täßt. 

Allen denen, die in uneigenmüsigfter MWeife dazu beigetragen, und ung 
geholfen haben, den Boden zu fultivieren, auf dem geſunde deutſche Kunſt 
frei emporſprießen fann, Jedem, ber fein Schärflein in die Urne geworfen Hat 
mit deren Inhalt manchem fchaffenden, von einem rauhen Gefhid getretenen 
und mißhandelten Künſtler eine Erleichterung feiner Lage, eine Möglichkeit zu 
fernerm Schaffen bereitet wurde — jagen wir jet am Jahresihluß, nicht im 


- 17 — 


Namen der geitügten Künftler, fondern im Namen aller tunftgenießen- 
den (und mer gehörte nicht dazu?) aufrichtigiten Dank. Fahret fort, Ihr 
Opfermwilligen — die Jhr ja doch andererjeits auch wiederum die mit geiitigen 
Genüſſen Beichentten ſeid — im Helfen, Stüßen und Fördern! Verliert nicht 
den Mut und die Ausdauer, aud wenn unferem Streben bie Erfolge nicht 
gleich als leuchtende Genien anhangen. „Rom ward nidt an einem Tage 
erbaut”, und eine fhöne Frucht bedarf auch der nötigen Zeit und des nötigen 
Sonneniheins, um zur Reife zu gelangen. Boll ausgereift aber wird fie uns 
laben und erquiden und uns der föftlihfte Lohn fein, der unferem Streben 
werden fonnte! 

Euch aber, Jhr jungen und alten Künſtler, die Jhr Euch berufen fühlt, 
an dem zu fchaffen, was der Menfchheit das öde Dafein verfhönt, was die 
graue Alltäglichfeit und Einförmigkeit erniten Lebens mit einem rofigen 
Schleier umhüllt, was uns in unjerem eigenen Bufen, in unferer eigenen Seele 
ein Jenfeits erfchliejt, wie jchöner und erquidender uns nie ein anderes be— 
ihieden- fein fann, — Euch Ahr Didter, Mufiler, Maler, Bildhauer und wie 
Ahr im einzelnen fonit Euch nod) nennen mögt — Euch danken wir für all 
das Schöne, was Ihr aus dem tiefen Born der fünjtlerifchen Seele zur Freude 
und zum Genuffe Eurer Mitmenſchen an das Tageslicht gefördert habt, und 
rufen auch Euch ein „Faſſet Mut“ und „Slüd auf“ zu beim Beginn des 
neuen Jahres. 

Ya, faſſet Mut, Ihr die Ihr aufridtig und ehrlich für die Kunſt ringt; 
Ihr die Ihr nicht von niederen Geſchäfts-Intereſſen getrieben, gemeine Buhl: 
ihaft mit der Kunſt treibt; Ihr die Ihr eintretet mit Leben und Seele für 
die Wahrhaftigkeit, für die Aufrichtigfeit fünitleriihen Schaffens und für das 
was Euer innerſtes Gewiſſen und Euer geheimstes Empfinden in fünftlerifchen 
Dingen als „ſchön“ und „erhaben* erfannt hat! — 

Mir willen e8 wohl, wie gevade der ehrliche, der echte Künſtler den 
ſchwerſten Standpunft hat. Ueberall wird er von raffinierten Machern ver= 
drängt, die den niedrigen Inſtinkten des Aunitpöbels huldigen, die eine Ware 
zu Markte tragen, nad der der lüfterne Gaumen einer ſeeliſch-ſeichten, oft fo= 
gar verrobten Maſſe lechzt. 

Eine Schein und Schwindelkunſt macht ſich allenthalben breit, und er= 
ftieft mit der dunſtigen Atmoſphäre, welche fie an allen Orten, und nicht zum 
mwenigften in den großen Städten ausftrömt, die jungen Triebe edeler, auf— 
richtiger, wahrhaftiger Aunft. Wir aber rufen Euch zu: „Slüd auf“, denn all 
dieſem Sunftfhwindel zum Troß haben wir uns feit zuſammengeſchloſſen, und 
auf unfer Geiſtesſchwert geſchworen, Euch zu helfen, Euch zu fördern in 
Euerem Streben, und damit der echten Kunſt zu dienen wie Ihr! 

Alles Cliquen- und Ridtungs= Wefen ift uns fern! Wir wollen weder 
Naturaliiten noch Symboliften, weder Realiften noch Aeſtheticiſten züchten ; 


— IR. 


wir wollen vielmehr Jeden in feiner Eigenart, in feiner Individualität groß 
werben lafjen, und wollen ihm helfen dabei, daß er dieſes kann, daß er an 
ben rechten Platz geftellt, die edelen Triebe feines Talentes auch recht entfalten 
und entwideln könne; denn was in ihm ift, ilt das Beite am Künſtler. Alles 
Anerzogene und Ungelernte wird früher oder fpäter mie eine fchlechte Ver: 
goldung von ihm abfallen. In ihrer Nadtheit muß des KHünftlers Seele und 
fein Können fchön fein, und ſich nicht mit fremdem Tand und Flitter behängen. 
Und dab Euere Seelen bleiben können, was fie von Geburt find, daß fte nicht 
von mihlihen Berhältniflen gezwungen, von der Notmwendigfeit des Geldvers 
dienens Dazu getrieben werden, ſich zu verfaufen, fich in ein ihnen fremdes Ge— 
wand zu büllen, dazu wollen wir Euch helfen, ſoweit e8 in unferen ſchwachen 
Sträften ſteht. 

Harret aus, Ihr die Ihr Thon unter unferer Flagge fämpiet, fchaart 


Euh um fie, hr die Ihr fern von ung leidet und darbet um der unit 
willen. 


Ein neues Jahr beginnt! — Glüd auf! getreuer und waderer Mit— 
arbeiter; das Bewußtſein, Gutes gethan und der Kunſt gedient zu 
haben, wird Dir ein föftliher Lohn fein! — Slüd auf! ringender 
Künstler! Der Verein zur Förderung der Kunſt will Dir helfen! 
In hoe signo vinces! 


Der Vorstand, m. 


BR 

Mitglieder, ſowie Freunde unſeres Vereins und Freunde jchöner, 
erhabener Muſik machen wir auf das am 9. Januar 1899 Stattfindende phil: 
harmonische Konzert aufmerfiam. Der uns längit lieb germordene, und als 
Menih und Mufiler die höchſte Anerkennung verdienende, geniale Komponiſt 
Garl Gleis tritt an diefem Abende mit feiner fymphoniihen Dichtung »Fata 
morganas hier in Berlin zum eriten Male vor die Deffentlichkeit! Cs bedarf 
wohl feiner bejonderen Aufforderung unfererfeits zur Beteiligung an dieſem 
stonzerte! Wille die Sleig als Künſtler aus früheren Werfen fennen, willen, daß 
fie nur Beites von ihm zu erwarten haben, und diejenigen, welche ihn noch 
nicht fennen, verweilen wir auf Urteile aus der Feder von muſikaliſchen Sta= 
pazitäten eriten Ranges, wie fie in unieren Mitteilungen (Beilage zu Wir. ı8 
des Kunſtwarts, 1. Jahrgang) wiedergegeben find. Es iſt zweiſellos, daß 
Gleig zu den bedeutenditen Erjdyeinungen der Neuzeit auf mufifaliichem Ges 
biete gehört. 


Frl. Jeanne Golz hatte in Berlin wieder einige Ttarfe Erfolge als 
Interpretin neuer Lieder; fie verdankt dieſe Erfolge ihren bedeutenden Vor— 
tragstalent und ihrem warmberzigen poetifchen Empfinden, denn ihre Ge— 
fangstechnif meist nody immer große Mängel auf, deren vollitändige Beſeiti— 
aung der jungen Stünftlerin einen Blag im Bordertreffen der heutinen Sängers 
welt fichern würde. 


Dr. Breben Nodermann, ein junger nordiiher Tondichter, hatte’ 
in Hamburg mit feiner einaftigen Erftlingsoper „König Magnus“ ehr 
lihen Erfolg. Auf das Verhalten eines Teiles der Preſſe diefem Werke 
gegenüber fommen wir nod) einmal zurüd, da wir eine Förderung der Kunſt 
auch im Schuße der Künſtler gegen Ungeredtigfeiten erbliden. 


Die auswärtigen Mitglieder bitten wir im Hinblid auf ben vor der 
Thüre ftehenden Quartal®- Wedel, den Beitrag für das I. Quartal 1899 an 
unfere Vereinskaſſe, zu Händen unferes Schagmeifters, des Herrn Verlagsbuch— 
händlers Richard Taendler, Berlin W., Friedrid) » Wilhelmftr. ı2, fenden zu 
wollen, 





Von Wohnungs=-Beränderungen bitten wir unferer Geſchäftsſtelle, 
Berlin N.W., Klopſtockſtr. 2ı, fo fchnell mie möglid) Mitteilung zu machen, 
damit eine Verzögerung in der Zufendung des ſunſtwarts und der Vereins— 
Mitteilungen vermieden werde. 


Der Eintritt in den Verein kaun jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!) 

Der Jahresbeitrag ilt: 

12 Mark für das erite Mitglied einer Familie (inkl. Kunſtwart)h, 

6 Mark für das zweite, 4 Marf für jedes weitere Mitglied 
und wird in vierteljäbrlidhen Raten eingezogen. Kündigung hat ein 
Bierteljahr vor Ablauf des Geſchäftsjahrs durch eingeihriebenen Brief 
zu erfolgen, ſonſt gift die Mitgliedfchaft als verlängert. 

Jede geeignete Ennftwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad 
Möglichleit berückſichtigt und Hat einen Anfprud; auf Aufführung, wenn es die 
Kräfte des Vereins nicht überfteigt. Sonſt wird bag betr. Werk fofitenlos, und 
— wie mehrfad dagemweien — wirkſam an maßgebenden Stellen empfohlen. 

Näheres durch die Gejchäftsftelle des Vereins. 


Derlag von Georg D. W, Callwer, Münden, Derantwortlid: J. V. Wilh. Miefchel, Berlin, 


2. Jahrg. Ar. 8. 15. Januar 1899. 


Amtliche Ditteilungen 


aus dem 


Derein zur Förderung der Kunft. 
SBegründet 1897 von bein; Woltradt, Berlin. 








Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S. 
Geichäftsitelle: NW. Klopftodftrafe 21. Geichäftsitelle: Karlsitrafe 25. 
— — — 





Dir „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein z. F. d. K. find das Vereinsorgan dieſes Vereins und 

werden den Stammmitgliedern desjelben zugleich mit dem „Kunftwart” geliefert, auf ben von ber Dereins« 

leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den 

„Kunitwart“1ibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlihungen des die gleichen Ziele wie ber 

Kunſſwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Zuidriften in Dereinsangelegen: 

heiten find nur an die Gefchäftsftelle des Dereins z. F. d. K. zu richten, foldhe in rebaftionellen in 
gelegenbeiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanſtr. Zir, I1/I. 





Moritz von Egidp FT. 


Ken hätte fie nicht bis in's innerite Herz getroffen Diele er— 
ſchütternde Nadyriht ? — Wer fühlte fie nicht wie eine lautloje Klage 
durch unfer ganzes Vaterland zittern? — Egidy tot! „Ja ift e8 denn 
möglicd ?* fragten wir uns erftaunt, als mühten wir uns auf uns 
felbjt befinnen ; ift es möglich, daß er, der blühende, rüftige Dann, 
der unerfchrodene, mwadere Streiter für Recht und innere Freiheit 
nun vom Tode beſiegt darniedergeſunken iſt? Ja es ilt fo, und wir 
werden ung an die Lüde in unferer Reihe gewöhnen müflen! — Er 
hat uns die Wege zu dem Hohen und Edlen gemwiefen, aber er wird 
uns fortan nicht mehr führen; nur fein Geift wird uns umſchweben 
und uns einen Halt gewähren, wenn wir ftraucdheln oder ermübden. 

Uber dieſer Geiſt, der bei uns bleiben wird, der in einem 
Xeden von ung wachlen und wirfen wird — um fo ftärfer, je deut— 
licher wir die Verantwortung und die Notwendigkeit fühlen, überall 
die Saat der Selbitbefreiung und Nädhitenliebe auszuftreuen, die der 
große Mann durch fein Scheiden auf unfere Schultern geladen hat 
— dDiefer Geiſt war fein ganzes inneres Selbft, wir werden 
alfo, obfchon wir feinen Leib in die Gruft gefenklt haben, nicht von 
ihm verlaiien fein. In uns wird er weiterleben, und wird unferen 
Geiſt und unfere Gedanken befruchten, auf daß wir den rechten Weg 
finden, fein großes Werk der Menſchenliebe aller Orten fortzuſetzen. 

Seit kurzem hatte er Sig und Stimme im Vorſtand unferes 
Vereins niedergelegt, weil er der allgugroßen andermweitigen Anfor— 
derungen wegen nicht mehr mit ganzer flraft für unfere Be- 
jtrebungen eintreten fonnte; und etwas halbes zu thun, wideritrebte 
ihm. Sein Intereſſe aber verblieb uns, und ſtets war er uns mit 
Rat und That zur Seite, fobald wir feiner beduriten. 

Unvergeglich wird er uns bleiben, in hödjiten Ehren werden 
mir jein Andenken halten und leuchtend und mwärmend mird fein 
Bild in unfere Seelen geprägt fein: Zum VGorbilde und zur 
Nacheiferung! Der Borjtand. 


Wlas bedeutet Egidp für die Kunst? 


Herr v. Egidy war auf feinem Gebiete der Kunſt Ichöpferiich thätig — 
auch nicht dilettantifch, foviel mir befannt! Das legtere ift eigentlich bei einem 
Danne wie diefer felbitverftändlih, denn er gehörte zu Den Naturen, bie 
nichts balb machen! Dennoch verdient Egidy auch in unjerem heutigen Aunit- 
leben Beadhtung ; das wird namentlid) allen denen ohne weiteres flar fein, 
die feinen vor etwa einem Jahre in Kellers Feitfälen gehaltenen Vortrag über 
das Thema „Die Kunſt dem Volfe* anhörten! Er entwidelte dort Ideen, 
die zwar heut nod) vereinzelt daftehen, aber von Tag zu Tage mehr Anhänger 
gewinnen und hoffentlidy dereinft zur Wohlthat der Menſchheit und zum Segen 
der unit verwirklicht werden. 

‚Richt mehr Kunſt neben dem Leben, unser Leben sclbst 
Kunst“, war die große Forderung, die er an und für die Menichheit flellte! 
Sineintragen wollte er die Kunit in das Volk, einem Jeden follten ihre Ge 
filde erichioffen fein; alle, -- der Mermite wie der Neidhite, jollten fie hinein 
in das Paradies der unit, niemand vor feinen Thoren ftehen! Wie überall 
fo legte er aud) hierin den Hauptwert auf die Erziehung! „Das Voll muß 
zum Stunftveritändnis, zum rechten Aunftgenuß erzogen werden, dann wird 
auch die Kunst im Wolfe den rechten Boden finden, wo fie blühen und gedeihen 
fann. Die Freude an der Schönheit und an der Kunſt muß das Volk in allen 
Poren durchdringen, es muß die Kunſt und den Genuß derſelben nicht mehr 
als einen gelegentlichen Zurus empfinden, fondern als einen notwendig und 
unentbehrlich gewordenen Beitandteil des alltäglichen Lebens.” Er wollte, dat 
der ganzen Zeit und ihren Kindern ein harmoniſch-künſtleriſches Gepräge auf- 
gedrüdt würde. „An jedem Gebraucdhögegenitande mu Schönheit, müſſen 
fünitlerifch geitaltete Formen unfer Heim erfüllen ; was auf Straßen und Plägen 
fih dem Auge darbietet, muß den Stempel edler Kunſt an ſich tragen, umfer 
Auftreten ſelbſt muß von dem Einfluſſe fünftleriihen Schönheitsfinnes ber 
herricht fein. Wenn fo die gefamte Menſchheit zur Kunst erzogen iſt, fo werden 
auch die Künſtler nicht mehr auf die taufend Schwierigkeiten, auf das uns 
durchdringliche Unverftändnis ftoßen, dem fie heut überall begegnen und an 
dem ihre Kräfte erlahmen und zerfplittern.*“ Wie in allem, was er that und 
dachte, jo Stand er auch bier auf hoher Warte und ließ den Blick meit hinaus 
in das Land des Kommenden ſchweifen. Nicht eine ſchwache Wand wollte er 
errichten, um einen feinen Zeil der Hünitler dahinter vor der Gewalt des 
Sturmes zu bergen, — den Sturm felbit wollte er ablenfen! Stets 
war fein hochfliegender Geciit darauf bedadıt, die Wurzel eines Lebels 
zu zeritören; nie begnügte er fi) damit, Die Zweige des wuchernden lipas: 
baumes ein wenig veritugt zu haben! Hier war das Gebiet, auf dem feine 
Intereſſen mit den unferen am feiteiten Sand in Hand gingen. Die Pflicht, 
auf dieſem Gebiete in feinem Sinne weiter zu arbeiten, ijt das heilige Erbteil, 
welches er dem Verein zur Förderung der Kunſt zurüdgelafien hat! 


Wilh. Mieicel. 


* ” 


Die Abſicht, im Rahmen des Vereins eine beiondere Trauer- Feierlid: 
feitzu Ehren unseres verftorbenen Boritandsmitgliedes, des 
Herrn Oberjtlentnant a. D.Morig von Egidy zu veranftalten, haben mir 
aufgegeben, da vom Borftand der Egidy-Vereinigung eine Ginladung an 


unfere Mitglieder ergangen it, fih an der am 15. ober 22. Januar (die 
Tageszeitungen werden das Nähere bringen) im Saale des Stonzerthaufes 
— Reipzigerftr. — ftattfindenden Feier zu beteiligen. 

Wir übermitteln unferen Mitgliedern hierdurch diefe Einladung, und 
ſprechen den Wunſch aus, daß die Beteiligung eine recht rege fein möge. 


2x7 


Unser IV. Vortragsabend, 
welcher am 28. Dezember im Bürgerfaale des Berliner Rathauſes ftattfand, 
fudte feinen Zweck meniger darin, neue Künſtlerwerke von hohem Werte in 
die Deffentlichkeit zu bringen, als vielmehr darin, unferen Mitgliedern zum 
Jahresſchluß durch Heitere Kunſt eine reine Freude zu verfchaffen. 

Daß wir viel boten, rechne man uns nicht zum Vorwurfe an, denn 
uns leitete die Jdee: Wer viel bringt, wird manchem etwas bringen! 

Zum Bortrag gelangten Dihtungen von S. Mehring, E. Reichel, 
2. Marco, BP. Bornitein, E. Rüft, ſowie die Skizzen „die Bacchantin“ von 
Leo Hilded, „meine Wohnungssuche‘ von Roja Litten und die Bier— 
baumſche Erzählung „Emil der Verſtiegene“. Die fehr begabte Rezitaterin 
Edela Nüft erntete durch den Vortrag diefer Werke reichen Beifall. 

Auf mufitalifchem Gebiete erfreuten uns Frau Anna von Pilgrim 
durh ihr ſchönes Violinfpiel, die in Begleitung des Herrn Starl Kämpf 
(Hlavier), Pibcen von Ries, Gabrielli und Bohm vortrug, und Herr €. ©. 
Nodnagnel, welcher Lieder von Mendelsjohn, H. Molf und J. Rothftein fang 
und abwechſelnd von den Herren Henry Puſch und James Rothitein begleitet 
wurde. Das Publitum erwies den Bortragenden durch reicdhlichen Beifall 
feinen Danf! 

Nach den Vorträgen im Rathaus vereinte einen Teil der Mitglieder 
ein gejelliges Beifammenfein in den Räumen des neuen Hünftlerhaufes in der 
Bellevuejtr. Auch hier wurden uns von Gäſten und Mitgliedern noch interejlante 


künſtleriſche Genüſſe geboten. 


Unſere Mitglieder machen wir ſchon heut auf die am 30. ds. Mts. 
im botel de Rome stattfindende musikalische Veranstaltung aufmerk— 
jam. Zur Darbietung wird Kammermufif von Karl Gleitz, James Rothitein 
(von Letzterem das D-moll-Streichquartett opus 29) und anderen Kompo— 
niften gelangen. Inter den Mitwirfenden heben wir befonders das Quar— 
tett des Herrn Proffeſſors Waldemar Meyer hervor. Leber die weiteren 
Einzelheiten diefes Abends werden die Dlitglieder bei Ueberſendung der Eins 
trittsfarten unterrichtet! Pi 

Zur besonderen Beachtung !! Seit dem 8. Januar dieſes Jahres 
ift im Stunftialon Ribera, Potsdameritr. 20 eine Ausitellung von Werfen des 
als Schilderers des Berliner Volkslebens vorteilhaft bekannten Malers Hans 
Baluſchek eröffnet. Daran jchließen fih Werfe von Theodor Hagen, Chr. Rohlfs, 
A. Lamm, Franz Storwan, Osfar Halle, Harro Magnuſſen, ſowie eine Schwarz— 
weiß-Ausſtellung, an der fih in hervorragender Weiſe Fri Overbed und 
Heinrich Vogeler beteiligen. 

Die Leitung des erftgenannten Salons bat fich freundlichit bereit erklärt, 
für unfere Mitglieder den Eintrittspreis am 15. und 22. Januar auf 20 Pig. 
zu ermäßigen. Als Legitimation dient die Mitgliedskarte. Am Zonntag, 


— 25— 


den 29. Januar- ift der Eintritt frei. Mn diefem Tage wird von 212 Uhr 
an entweder Herr Balufchel ſelbſt oder eine geeignete andere Perſönlichkeit 
gütigit die Führung durch die Yusitellung und Erklärung der Gemälde 
übernehmen. 

Mir empfehlen allen unferen Mitgliedern dringend, von 
biejer großen Liebensmwürdigfeit Gebraud zu maden. 

* 

August Enna, den wir mit Stolz den unſrigen nennen, hat in Breslau 
foeben mit feiner Oper „Cleopatra“ vollen echten und verdienten 
Erfolg gehabt. Publitum wie Kritif find einer Meinung, dab das Werk 
eritten Ranges ift. 

Für den Schreiber diefes, der die Partitur fennt, der die Erfolge der 
Oper an vielen Orten verfolgt hat — diejer Tage geht fie in Brüffel in Szene 
— iſt das feine Leberrafhung; mir fragen aber, warum enthalten uns bie 
Berliner Opernhäufer — wir haben nämlich jet zwei — dieſes Werf vor, 
mit welchem Rechte unterdrüden fie eine fünftleriiche Perfönlichkeit, die mit 
ihrem eriten Werte „die Here* ſchon bemiefen bat, dab ihr der Stempel bes 
Genies aufgedrüdt ift? 


* 

Rarum beflommen wir Gorneliuß’ „Barbier von Bagbad“, 
Mebers „Euryanthe*, Bizets „Perlenfiſcher“ (Neubearbeitung), 
Gounods „Vhilemon und Baucis*, Puccini's „Manon“ und 
Maſſenet's „Werther* nit zu hören; warn ferner bringt die königliche 
Bühne endlich die uns fhon Hundertmal veriprochenen (immer zu Beginn 
jedes Theaterjahres) „Novitäten* heraus? Findet fih benn niemand in 
der Tagespreffe, der dem königlichen Jnititut vorhält, daß es ebenſo 
feine Berfprehungen einzulöfen hat, ıwie jeder andere, der foldhe gibt! 
Mas würde man von dem Direktor eines Privattheaters fagen, der feinen 
Abonnenten viel verſpricht, das er nachher nicht hält? 8.8. 

a 
Mitglieder und Freunde unscres Vereins 
machen wir nohmals darauf aufmerfiam, dak in kurzer Zeit ein neuer Aufs 
ruf im Drud ericheint, und mir allen Jatereffenten (deren Adreſſen wir uns 
anzugeben bitten) Exemplare in beliebiger Unzahl gern überienden, 

Behufs Errichtung von Zmeigvereinen in anderen Städten erbitten wir 
Vorschläge und Hinweiſe auf geeignete Berfönlichkeiten, welche geneigt, und 
fähig find, die Führerichaft eriterer zu übernehmen. 

Die Geſchäftsſtelle. 


* 

Der Eintritt in den Verein kaunn jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!). 

Der Jahresbeitrag iit: 

ı2 Markt für das erſte Mitglied einer Familie (infl. Kunftwart), 

6 Mark für das zweite, + Mark für jedes weitere Mitglied 
und wird in vierteljährlicdhen Naten eingezogen. Kündigung hat ein 
Vierteljahr vor Ablauf des Geſchäftsjahrs duch eingefhriebenen Brief 
au erfolgen, fonjt gilt die Mitgliedichaft als verlängert. 

Jede geeignete funjtwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad 
Möglichkeit berüdjichtigt uud Hat einen Anſpruch auf Aufführung, wenn es die 
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonst wird das betr, Werk kostenlos, und 
— mie mehrfah dagewefen — wirffam an mahgebenden Stellen empfohlen. 

Näheres durd) die Geſchäftsſtelle des Bereins. 


Derlag von Georg D. W. Lallwer, Münden. Derantwortlih: J. V. Wilh. Mieſchel, Berlin, 





2, Jabrg. ir. 9. 1. Februar 1899. 


Amtliche Ditteilungen 


Derem zur Förderung der Runſt. 
Begründet 1897 von beinz Wolfradt, Berlin. 


Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S. 
Geichäftsitelle: NW. Klopftoditrafe 21. Gefchäftsftelle: Karlsftrafie 25. 
— er — — We 








Die „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein z. F. d. K, find das Vereinsorgan dieſes Verelns und 

werben den Stammımitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunitwart" geliefert, auf den von der Vereins 

leitung für fäntliche Stanımmtitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch ben 

Kunſtwart“ · UAbonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlicbungen des die gleidten Ziele wie der 

„Kunjtwarti“ verfolgenden Vereins ebenfalis Intereife haben dürften. — Suicheiften in Dereinsangelegen: 

heiten find nur an die Geichäftsftelle des Vereins 5. F. d. K. zu richten, ſolche in redaftionellen An— 
gelegenheiten an den Schrifileiter, Berlin, Stepbanttr, Yir, 11T, 





Traurige Theaterzustände. 

Unfere „Mitteilungen“, deren fargbemeffener Raum eigentlich nur den 
internen Bereinsangelegenheiten gewidmet fein follte, werden ſich wohl nicht 
länger dem immer ftürmifcher werdenden erlangen verichliefen fünnen: ein: 
zugreifen in die Fragen der Kunst, die uns als inen Verein zur Förderung 
fünjtlerifcher Interejfen lebhaft angeht. Wir follten cs nicht länger ruhig 
anfehen, daß fich wie im faufmänniichen Zeben, fo auch in der Kunſt un— 
lauterer Wettbewerb geltend madt, daß uns „Nunftbazare“ und 
„Warenhäuſer“ an Stelle von Kunſt- und Bildungsanftalten geboten wer: 
den, und es ift Zeit, daß die ehrlichen Sunftfreunde energiſchen Proteit 
erheben gegen eine Befudelung unseres Theaterlebens, eine Berilahung des 
Kunftgeihmades, gegen eine Jrreführung des Bublifums. Was 
foll der Fremde denken, der in die Metropole des Deutichen Reiches fommt und 
lieft: Kgl. Schauspielhaus: Blumenthal, Schillertheater: Blumen— 
thal, Leſſingtheater: Blumenthal (aud) Berliner Theater zuweilen), Neues 
Theater zum ı00. Male: „Hofgunft* von Trotha, ein Stüd, von dem ber 
Wiener Storrefpondent der „Frankfurter Zeitung“ vor einigen Tagen fehr 
richtig ſchrieb: 

„Im „Jubiläumstheater“ hat man jegt die „Hofgunſt“ des Deren 
Thilo von Trotha aufgeführt. Anſtändige Sarmlofigleit läht man über 
fich ergehen, doch wenn ein Stoff, der an ſich Krallen und fatirifche 
Stadeln befigt, auf fo raffinierte und mühevolle Art 
alles deifen beraubt wurde, wasſs den Geihmadder Wenge 
nur um Weniges irritieren fönnte, verliert man leidt 
alle Geduld Ih babe nod Selten ein Stüd geſehen, das 
jih in fo hbervorragendem Maß durch Stumpffinn und 
hbeitere Geberden außgezeihnetbhätte Aberich höre, daß 
man das Stüd in Berlin 100 mal gegeben hat!!* 

Sollte man glauben, daß diefe Handwerker der Stunit untere Geiſtes— 
herven, unfere Nationaldihter find, wollen wir ums megen umterer 
dramatiihen Gefhmadsrihtung verhöhnen lailen ? 


- 3 — 


Auch in anderer Hinfiht Haben wir diefen Niedergang der Berliner 
Theater bitter zu beflagen, nämlich um der Künſtler willen, deren Können an 
ſolchen albernen Aufgaben ſich „verichandeln“ muß. Iſt es nicht beklagens— 
wert, daß Künſtlerinnen von der Intelligenz einer Rofa Bertens, Luiſe Dumont, 
einer Geßner, einer Poppe, Künſtler von der Bedeutung eines Matkowsky, 
Bonn, Mar Pohl ır. a. m. die meiste Zeit „feiern“, oder, wie e8 im Bühnen- 
jargon heißt, „Ipazieren gehen“? — Abgeſehen von den Theatern, die nie etwas 
anderes verfprodien und geboten haben, als die Berliner Poſſe, Vaudeville, 
Operette ober das „Refidenztheatergenre*“ (dieſes immer einzig in feiner Art), 
it es nur das „Deutſche Theater“, das wie ein fünftleriicher „.rocher de 
bronce“ aus diefem „toten Meer der Hunft“ aufragt, und ſich auf achtungge— 
bietender Höhe zeigt ; obichon fein Leiter auf feine Abonnenten auch mehr Rüdiicht 
nehmen fönnte, al® daß er ihnen am Donnerstag vier= bis fehsmal diefelben 
Stüde — und feien e8 bie beiten — vorfegt. Das werden fi die Abonnenten 
im nächſten Jahre merken, aber immerhin ift das weniger unangenehm, als 
wenn einen al8 Abonnent des Königlichen Schaufpielhaufes „ver Schlag 
trisft“, auf feinen Tag ıımal die „Sonnenseite Blumenthals“ (Tan: 
tiemen) oder die „Luftipielfitma* mal vorgefegt zu erhalten. Bon dem — 
man entferne die Bezeihnung — Beffing- Theater und ſchreibe Blumenthal 
Theater, das e8 in künſtleriſcher Hinficht ja beinahe ift und höchſt wahrſcheinlich 
aud) bald de facto fein wird, ganz zu fchmweigen, das, geleitet von einem 
„Wanne der Kunſt“, der jahrelang ſich berufen glaubte, über das literariiche 
Wohl Berlins zu Gericht zu ſitzen, das ſchmählichſte fünftleriihe Finsfo bes 
deutet, das jemals ein Kritiker als Direltor gemadt hat. Man ſieht, wohin 
Vettern= und Bafenwirtichaft und ungefunde finanzielle Machenſchaften führen 
müflen, und bald wird der Zeitpunft fommen, wo e8 literariihe Perſönlich— 
feiten, ein Dreyer, Bartleben, unter ihrer Würde halten, dem abfoluten 
Herrſcher „Sefolgichaft“ zu leiften. „Gefolge und Stab“, fo biegen ja bei den 
eriten Anfündigungen die Autoren, mit denen fich der Herr „Direktor“ umgab, 
aber — umgelehrt, fagt ein Sprichwort, wird ein Schuh daraus, fo 
wäre e8 ja ein netter Stiebel! — 

Tab es an allen Eden gährt, das mögen Auszüge aus berufener 
Feder bemweifen. So äußert ſich Hans Land in der jehr beadhtenswerten Zeit— 
Ichrift „Das neue Jahrhundert* über das Kgl. Hoftheater wie folat: 

„Am 8. Dezember 1898 berichtete das „Kleine Journal“ unter der Spitz— 
marfe „Die Zuftände der königlichen Generals Intendantur zu Berlin“ über die 
ganz unmwürdige Behandlung, weldhe einem Wiener Schriftiteller, Herrn Karl: 
weiß, von feiten der Seneral-Antendantur zu teil geworden. Herr Karlweiß 
war telegraphiih um Einreihung feines Stüdes „Das liebe Jh” (jept am 
Leffing: Theater aufgeführt) durd) die General: Intendanz erſucht worden, hatte 
diefem Erſuchen ftattgegeben und dann von feiten der General: Intendantur 
den berühmten Mauſefallen-Vertrag erhalten, in welchem nichts anderes ſtipu— 
liert ift, als daß der Autor, wenn er zwei Jahre vergeblich auf die Aufführung 
feines Werfes am Berliner Hoftheater gemartet hat, dann in den Beſitz des 
wundervollen Rechtes gelangt, fein Stüd anderweitig zur Aufführung zu 
bringen. — Herr Starlweiß nennt diefen Vertrag einen lächerlichen; er ift es 
in der That. Der Autor fegt nun, unter Zuftimmung des Herrn Grube, den 
Termin der Aufführung in den Vertrag, fandte diefen Vertrag nad) Berlin und 
blieb dann nad) wochenlangem Warten, felbit auf mehrfache briefliche und teles 
graphifche Anfragen, ohne jede Antwort feitens der Jntendantur, bis ihm eines 


—* 


Tages durch einen Wiener Freund, der aus Berlin zurüdfehrte, die Kunde ge- 
bradjt wart, man fei von der bee, fein Stüd aufzuführen, in der General— 
Intendantur abgelommen. So werben die Scriftjteller, die etwas 
tönnen, beim Schanufpielbauje behandelt; die, bie nichts können, 
fommen ungleich beffer weg, eine Thatſache, wofür die Tageszettel des Hof— 
theaters beredtes Zeugnis ablegen. -- Ganz ähnlich wie Herrn Karlweiß ift e8 
Paul Heyie ergangen und dem Frankfurter Hermann Faber mit feinem Schau— 
jpiel „Emige Liebe“, welches feinen Weg über 7o dbeutfhe Bühnen genommen 
hat. (Wir find ſonſt nicht gemöhnt, das „Kleine Journal“ als den Anwalt 
des gebeugten Rechtes zu bewundern.) 

Wenn die Schriftiteller einen geſchloſſenen Stand bildeten, fo würden 
fie gegen foldhe Behandlung ihrer Berufsgenoffen durd die königliche General— 
Intendantur geharniſchten Proteft einlegen, ſie würden, wenn ſolche Proteſte 
wirfungslos blieben, bei ihren dramatiſchen Stollegen erreichen, daß eine Bühne, 
wie dieſe, welche die Schriftiteller wie die Schuhpuger zu behandeln liebt, von 
dem gefamten Stande boyfottiert würde. Wir aber find nichts weniger als 
ein gefchloffener Berufsitand. Ueberall da, wo ein Schriftjteller mißhandelt 
wird, erfcheint im nächiten Yugenblid ein anderer, der ſich noch geringihäßiger 
behandeln zu lajjen geneigt ift, mofern er nur ein geringes Entgegenlommen 
für feine perſönlichen Zmwede erhoffen darf. Die wahnfinnige Ueberproduftion 
im Fade der Schriititelferei hat ein Elend gezeitigt, welches ſolchen hochmütigen 
Mißhandlungen gegenüber zu dulden und zu fchmeigen geneigt iſt. Daß aber 
eine königliche Behörde folches Elend dazu benüßt, um an ihm ihr hochfahren— 
bes Weſen auszulaffen, it nichts weniger, denn föüniglid. Es fehlt im Schrift- 
ftellerberufe an jeglichem Korpsgeijt! Die fünf, ſechs Autoren, melde als 
erfolggefrönte Dramatifer die moderne Bühne beherrfhen, würden ſicherlich 
mitleidig die Achſel zuden, wenn man mit der Bitte an fie heranträte, ihre 
Macht zu Guniten eines jo mißhandelten Berufsgenoffen zur Verfügung zu 
jtellen. Da demgemäß von einem geichlojjenen Vorgehen des Schriftſteller— 
ftandes gegen Bühnen, die, wie diejes königlich preußiſche Hoftheater, den 
Schriftitellern eine demütigende Behandlung zu teil werden laſſen, nicht die 
Rede fein kann, To ſei im Intereſſe der Berufsgenoffen hiermit folgende dringende 
Warnung erlaſſen: Wer ein fo ſchlechtes Stüd gejchrieben hat, dab ihm die 
linehre einer Aufführung auf der Berliner Hofbühne droht, der hüte fi, den 
Mauſefallen-Vertrag zu unterzeichnen, in welchem die Hauptfache, nämlich der 
Termin der Erft- Aufführung, ſowie die dazu gehörige Konventionalſtrafe fehlen. 
Er laſſe ſich nicht durch gütiges Zureden oder durch das verbindlidhe Lächeln 
de8 Herrn Pierfon benebeln. Mündliche Verſprechungen feitens des Herrn 
Geheimrats, des Direktors der Hofbühnen, find eitel Wind, ein gegebenes Wort 
des Herrn Grube iſt wertlos. Wer der GeneralsIntendantur ſolche von ihr 
gegebenen mündlihen Verfprehungen mahnend vorhält, wird mit bedauerndem 
Achſelzucken abgewieſen. Herr Grube erflärte einem Berliner Schriftteller 
wörtlid: „Kontrafte mit fejtem Termin der Aufführung ftellen wir nicht 
aus“, während e8 ein offenes Geheimnis ift, daß der Hofbühne die Stüde, 
welche fie zu haben wünſcht (zum Beifpiel Blumenthalfche) und die fie aufs 
führt, alfo die ſchlechteſten und elendeiten, welche die modernen Dramen— 
Fabrifanten liefern, dab ihr diefe Stüde nur gegen fontraftlihe Einräumung 
fefter Termine der Erit-Aufführung überlaflen bleiben. Einem abgeipielten 
Schmarren, wie Madame sans gene gegenüber, ijt die General-Intendanz eine 
ſolche Bernflihtung mit einer Stonventionalitrafe von 3000 DE. eingegangen, 


4 


— 2 — 


ebenfo tft die fchöne „Sonnenfeite* mit einem Erft:Wufführungstermin beehrt 
worden. Solchen Machwerken gegenüber wird fogar von feiten der Jntendantur 
eine beitimmte Zahl von Aufführungen, in diefem Falle 20, garantiert. Dieſe 
Thatſache wurde in den Blättern von jeiten der General-Jntendantur wider— 
rufen, mas aber nur bemeiit, dat fie unleugbar ift. Die in diefer Wochenſchrift 
am 8. Cftober 1698 gegen die General: Intendantur erhobenen Beihuldigungen 
find bisher ohne die geringite Widerlegung von feiten dieſer königlichen Be: 
hörde geblieben. Ich konſtatiere Hiermit vor dem Lande, daß der Woribruch 
fein Vergehen iſt, weldhes diefe königlichen Beamten in ihrer Qualififation 
zum königlichen Dienste irgendwie beeinträdtigt. Munter und unberührt 
bleiben fie in Amt und Würden, dem fönigliden Namen gewißlidh nicht 
zur Ehre.“ 

Someit Hans Land! Gomrad Alberti fchreibt in einem fehr beadhtens- 
werten Artikel derjelben „Jeitichrift unter dem Titel „Iheaterverdroffenheit* 
folgendes: 

„Das »Deutiche Theater« ift die einzige große Berliner Bühne, bei der 
von fünftlerifcher Arbeit die Rede fein kann, aber nur fünf oder ſechs Dichter 
fommen da überhaupt zu Wort, und deshalb ijt der Geift des Theaters ein— 
jeitig — aber menigitens iſt überhaupt ein Geift, ein Stil, eine Führung zu 
fpüren, und darum fann man ihm gönnen, daß e8 allein im Berliner Theater: 
leben ſich materieller Erfolge erfreut. Was fonit an den erjten Berliner 
Bühnen geleiftet wird, ift haariträubend. Wie man am Königlichen Schau: 
jpielhaufe die Schriftiteller behandelt, hat uns Herr Land an anderer Stelle 
verraten, und es ift wahr, daß ein ungebildeter und intriganter 
Bureaufrat, der fih jahrzehntelang mitder moralijden Eri- 
jtenz des Gatten einer Jhledhten Sängerin begnügte, Leute wie 
Paul Heyſe, Karlweiß ze wochenlang nidt einmal einer Ant— 
wort würdigt. Ueber das ,‚ Leſſingtheater denkt man, wie das 
Publikum, am beſten gar nicht. Am Berliner Theater verkleidet ſich 
eine brave aber von allen Grazien verlaſſene Hausmutter neckiſch als Pariſer 
Sumpfblume und ein klobiger Handwerker, der mit der Feder umgeht, wie ein 
Steinießer mit feiner Ramme, macht aus dem intimſten Konflilt des Jahr— 
hunderts einen brutalen Zamilienradau. 


Aber auch anitändig geleitete Bühnen, wie das mwadere Vorſtadttheater 
des Herrn Dreöfcher, geben den Kampf auf und müſſen die Waffen vor Exrcen— 
trics und abgerichteten Doggen ftreden. Der wahre Beherrſcher de8 Theaters 
in Berlin heißt troß „Fuhrmann Henfchel“ heut Hugo Baruch, der König im 
Reich der Ballete und der feidnen Tricots, ohne deſſen Willen feine Soubrette 
oder Ballerina einen zahlungsfähigen Freund findet. Gebt ihm die Beine, 
er macht Euch Die Kleider und den Erfolg. 

Huch in Berlin rüdt die Zeit heran, da ein Gelehrter, cin Yabrilant, 
furz ein ernithafter Mann die Jumutung, einen Abend im Theater zu ver— 
tändeln, als Hohn anjchen wird. 

Eine Kulturbedeutung bat das Theater, als es eine Waffe in der Hand 
der zur Macht ih auffämpfenden Bourgeoifie gegen die Reaktion war: da— 
mals war Schiller ein Gott, und Die Laube, Gutzkow, Freytag, die heut halb 
vergellen fcheinen, Derven. Das Proletariat aber iſt heut nod) nicht vorge» 
bildet genug, um in dem Freien Volksbühnen etwas anderes als die rohe 
Zendenz zu beflatfdhen, indes der Banlier aus dem Tiergartenviertel im 


— 28 — 


DeutichenTChenter bei den „Webern“ nur den fozialen Sigel des Satten em— 
pfindet, jo gut wie vor Liebermanns Bildern. 

Vorläufig jteuert die Entwidlung unferer Bühnen nad) einer ganz anderen 
Richtung. Außer Herrn Lautenburg gibt es feine felbitändigen Einzelpächter 
bei den großen Berliner Bühnen mehr. Die Herren Brahm, Neumann=Hofer, 
Praſch, Schulz, Hofpauer find auf feiten Gehalt gejegte Beamte fapitaliftiicher 
Gefeljchaften, die fi zur Ausbeutung eines beitimmten Theatergebäudes und 
einer Anzahl Stüde und Autoren vereinigen.“ — 

Wäre e8 dba nicht Zeit, dieſe Mikitände öffentlich in einer grofen 
Broteftverjammlung zu behandeln und ein Veto einzulegen gegen die 
Willkür in unferem Theaterleben? Wir verlangen Raum für die wirklichen 
Könner und für den Flügelihlag neuer werdender Talente und folcher, 
die Proben ihres Könnens bereits abgelegt haben. (Wo bleiben Langmann, 
wo Max Petzold [Debut am Schaujpielhaus], in der Muſik Enna, Scillings, 
Urſpruch u. j. w.?) 

Wir rufen den Gütern unferes Kunſtlebens zu: „Videant consules!!!““ 

Die Kunftfreunde aber fordern wir auf, fich bei den Hämpfen um 
nnjere fünftlerifchen Intereflen zu bethätigen und zu bewähren. 


herbert Neukirch. 


Die im VI. Philharmoniſchen Stonzerte aufgeführte ſymphoniſche 
Dichtung von Karl Gleis erlebte unter der vorzüglicden Leitung Arthur 
Nikiſchs einen entichiedenen Erfolg. Der Komponiſt wurde an diefem Abend, 
forwie im populären Stonzerte der Philharmonifer, das zwei Tage ſpäter ftatt- 
fand und wobei er jein Werk ſelbſt dirigierte, wiederholt gerufen. 

Chriſtiani [hreibt in der Börjen=- Zeitung: 

„Der ziveite Teil des Abends brad)te ala orcheitrale Novität eine drei— 
teilige ſymph. Dichtung von K. Blei, „Kata Morgana“ betitelt. Trop 
der dem Programmbude eingefügten langen Erläuterungen zu dem Werke hat 
man e8 bier nicht mit eigentlicher BProgramm=-Mujit zu tun. Yata Morgana 
repräfentiert vielmehr lediglich eine Dreizahl von Stimmungsbildern, in denen 
die Gefühle und Stimmungen des in öder Wüſte ſich dahinſchleppenden Pilgers, 
fein Sehnen nad) dem Ende der Wanderung muſikaliſch illuftriert werden 
jfollen, alfo in weiterem Sinne das Sehnen des Erdenpilgers und feine end— 
liche Erlöfung. 

Herr Gleitz zeigte fih in der Durchführung dieſer poctiichen Jdee als 
ein Muſiker von blühender Phantafie und Erfindung, der auch über ein ge— 
diegenes Forms und Inſtrumentations-Geſchick verfügt. Seine Themen haben 
Empfindung und Kraft, und namentlich der legte Sat iſt von hinreißendem 
Schmunge, er erinnert in feiner orcheitralen Farbenpracht zumeilen an Richard 
Strauß oder audh an Wagner, dejien Einfluß auf Gleig auch fonft in vieler 
Hinfiht zu Tage tritt. So trägt der erite Teil der „Fata Morgana“ entichieden 
Triftanifche Züge, und auf einige Uugenblide taucht aucd die flimmernde 
Chromatik der Venusberg-Scene bier auf. 

Alles in allem bedeutet das neue Werk einen entichiedenen Fortichritt 
in dem Stunftichaffen des Komponiſten, dejjen heiligsernjtes Streben von jetzt 


— U — 


an fiher gebührende Würdigung finden wird. Daß feine Arbeit geitern dert 
Beifall des gejamten Publitums gefunden hat, mag Herrn Gleitz zugleich als will— 
foınmene Vorbereitung für fpätere Erfolge gelten.“ 

Profeſſor Albert Becker, auch einer derer, die unferen Beitrebungen 
aufridtige Sympatbieen entgegengebradit und von dem wir für die 
Zukunft eine große Förderung unferer Sache zu erwarten hatten, ift uns durch 
den Tod entriffen worden. Xeider viel zu früh! Wir werden ihm das gute 
Andenken bewahren, das er verdiente! Wielleicht bietet ſich auch Ge— 
legenheit, demnächſt einen interejfanten Brief von ihn, unfern Berein betreffend, 
zu publizieren, 





* 
* * 


Joſef Friſchen, unſer treuer Genoſſe und der vorausſichtliche Leiter 
eines großen Konzerts, das wir am ı6. März mit dem Philharmo— 
nifhen Orcheſter zu veranstalten gedenten und bei dem wir Friiden 
aud) als Komponist von Ordeiter: und Chormwerfen in Berlin einzu— 
führen hoffen, hat wie Berliner, Hannoverſche und die „Frankfurter 
Zeitung“ vermelden, einen geradezu Aufſehen erregenden Erfolg im 
Abonnements:Stonzert der Hoftapelle in Deffau unter Hlugbarbdts 
Leitung mit feinen Chorwerken „Bineta* und „Grenzen der Dienfchheit* (Goetbe) 
gehabt. Hoffen wir, daß uns der gleiche Erfolg beſchieden fein wird, und daß 
wir den „Oberbonzen“ unjeres Dlufillebens wieder einmal bemeifen, wie 
wenig fie fi um das wirklich gute Neue befümmern und mie wenig über- 
flüffig der „Verein zur Förderung der Kunſt“ ift. Herr Siegfried Ochs 
und verjchiedene andere „Intelleltuelle* wollen das nämlich nod immer nicht 
glauben. b. W. 


* 


Es * 

Hans Pfitzner, der befannte Komponiſt hervorragender (aud) bei uns 
teilmweije gejungener) Lieder ſowie der Oper: „Der arme Heinrid),“ (die Die 
fönigliche Oper längft angenommen, immer angefündigt und nie aufgeführt), 
der lebensgefährlid an Nervenfieber und Typhus erkrankte, befindet ſich 
glüdlicherweife nad) perfönlih in Frankfurt a. M. eingeholten Berichten 
nunmehr außer Lebensgefahr, was feine vielen Freunde gewiß mit aufridh- 
liger Freude hören. Xeider wird der vielverfprechende Künſtler nocd lange 
infolge der Entlräftung darnieder liegen müjjen; dann aber hoffentlich in die 
Lage verſetzt werden fi) durd eine Reife nah dem Süden zu fräftigen, um 
zu feiner geliebten Kunſt zurüdfehren zu können. 5. W. 


Der Eintritt in den Berein kanun jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!). 

Der Jahresbeitrag ilt: 

ı2 Markt für das erfte Mitglied einer Familie (infl. Kunſtwart), 

« Mark für das zweite, 4 Darf für jedes weitere Mitglied 
und wird in vierteljährlihen Waten eingezogen. Kündigung bat ein 
Vierteljahr vor Ablauf des Gefhäftsjahrs durch eingeihriebenen Brief 
zu erfolgen, jonjt gilt die Wlitgliedjchaft als verlängert. 

Jede geeignete funjtwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad 
Möglichkeit berüdjichtigt und hat einen Anſpruch auf Aufführung, wenn es die 
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonft wird das betr, Werl foftenlos, und 
— wie mehrfad) dageweſen — wirtfam an maßgebenden Stellen empfohlen. 

Näheres durd) die Geſchäftsſtelle des Vereins. 


Verlag von Georg D. W, Eallwey, Münden, Verantwortlich: Wilh. Mieſchel, Berlin, 


2. Jahrg. Ar. to. 15. februar 1899. 


Amlliche Ditfeilungen 


aus dem 


Dereim zur Sörderung der Kunſt. 


Begründet 1897 von Bein; Woltradt, Berlin. 


Eentrale: Berlin. Sweiaverein: Br'le a. 5. 
Geichäftstelie: NW. Klopflodftraße 21, Gerguris.:le: Karlsftraße 26. 











Die „Umtlichen Mitteilungen” aus dem Derein z. 5. d. K. find bas Dereinsorgan diefes Dereins und 

werden den Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von ber Dereins« 

leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber and den 

„Kunftwart“:Ubonnenten beigefügt, welche für Die Deröffentlihungen des die gleichen Ziele wie der 

„Kunftwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereſſe haben dürflen. — Zuichriften in Dereinsangelegen: 

beiten find nur an die Geichäftsftelle des Dereins z. F. d. K. zu richten, ſolche in redaktionellen Un— 
geiegenheiten en den Schriftleiter, Berlin, Stephanftr, Nr. 11/TI, 








Zweigvereine! 


In Eaifel und Breslau iſt die baldige Gründung von Zmeigvereinen 
unseres Vereins zur Förderung der Kunſt in Wusjicht. In beiden Städten 
haben Beſprechungen ftattgefunden, die in nächſter Zeit ſichtbare Erfolge und 
ein Heraustreien an die Deffentlichkeit nach fi ziehen dürften, da viele Ber: 
fönlichleiten, die im Kunſtleben dieſer Städte die Führung haben, uns ihre 
Sympathieen und ihre Teilnahme an unseren Beitrebungen ausgedrüdt haben. 
Sobald der feit langem forgfältigft vorbereitete Aufruf — der 
zugleih auch unfer Programm und einen Auszug unferer Satzungen ent- 
hält — erfchienen iſt, werden durd) die Verjendung desjelben die bisherigen 
Intereilenten in den genannten Städten zu einem Zuſammenſchluß unter 
einander angeregt, und weitere Ktunſtfreunde für unfere Sadje intereffiert 
werden. 

In Caſſel haben ihre volle Sympathie mit unferen Zielen brieflich 
Profefjor Knackfuß, fowie Hoffapellmeifter Dr. Beier ausgedrüdt. 
Gymnafialdireftor Dr. Harniſch madht feine Teilnahme von einigen 
Einfhränfungen nad) der deutichnationalen Seite hin abhängig, die in ges 
wiffen Punkten — der materiellen Unterftüßung 3. B. — gewiß 
berechtigte find und die der Hauptverein ohnehin fpäter feinem Programm 
jedenfalls einverleiben würde. 

In Breslau iſt es vor allem der bedeutende Verleger (Befiger 
der ſchleſiſchen Verlagsanftalt, Herausgeber von „Nord und 
Süd*), der befannte philantropifche Großgrundbefiger Schottländer, der 
uns in gemwohnt liebenswürdigiter Weife fräftige Förderung unferer 
Beitrebungen zu Zeil werden laſſen will. Ein gleiches bereitiilliges Entgegen— 
fommen Seitens des erfolgreihen und funftfinnigen Direftorß des Breslauer 
Stadttheater8 Dr. Löwe iſt uns auch fiher; er bat der dee begeijtert zuge— 
ftimmt und wird uns im ideeller Hinficht eine große Stüße fein. 

Alle Leſer diefer Notiz — insbejondere aber die Breslauer und 
Caſſeler — denen unſere Beitrebungen fympathifch find, Bitten wir dringend, 
gleich; ihre WMitgliedfhaft anzumelden, und fih von unferer Gefchäftsitelle 
Profpefte zu Werbezweden fommen zu laſſen. 

— Der Vorſtand. 


Kkammermusiks-MovitäteneAbend! 


Mit dem allmähliden Ammwachfen feiner Mitgliederzahl will der Verein 
3. 5. d. 8. allmählih aud an die Bemältigung größerer und bedeutfamerer 
Aufgaben herantreten, als bisher. Unſere fünfte heurige Veranitaltung beitand 
in einem Kammermuſik-Abend, für den wir uns der Mitwirkung des vortreif- 
lihen Waldemar Meyer-Quartetts verliert hatten. E83 galt uns darum, 
zwei interefjante und wertvolle Neuheiten auf dem Gebiete der ammermufif 
zur Mufführung zu bringen, ein Streid: Quartett aus D-molt von James 
Rothitein (op. 29) und ein Hlavierquintett aus C-dur von Franz Mohaupt 
(op. ıı). 

James Rothitein iſt unferen Freunden ja fein Fremder mehr. Un unferem 
großen Biederabend im vergangenen Frühjahr waren es befanntlid, feine Lieder 
gereien, die fogufagen den Vogel abichoflen, und aud an unserem heiteren 
Abend, 28. Dezember, mußte eines der drei neuen Lieder Rothſteins, Die 
der linterzeichnete vortrug, zur Wiederholung gelangen. An unſerem ammer: 
mufifabend fam Nothitein zum eriten Male mit einem größeren Werfe zu 
Wort. Sein Streichquartett zeichnet jich durch fuappe Mare Form, gedicgene 
Arbeit und fichere Beherrſchung des Quartettitils aut. Auch die Behandlung 
der Inſtrumente ift quartettmäßig; einzelne orcheitrale Unwandlungen fchlieken 
das nicht aus. — Die Erfindung ift frei von aller Aufbauichung, gibt fich 
fhlicht, gefund und natürlich, hie und da freilich fast zu Ichlüht und naiv. Es 
find nicht fonderlich neue, eigenartige, ja faum bedeutjame Gedanfen, aber 
dennod) wirken fie wie das ganze Werk fympathifh. Es it ein unbeforgtes 
lfiebenswürdiges Drauflosmufizieren eines Künſtlers, der mas gelernt hat, 
und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß e8 al8 Studienwerk 
entitanden iſt, mit der Abſicht, fi Form und Stil dieſer Aunitgattung zu 
eigen zu machen, nicht aus der tiefen inneren Not heraus, ein inneres Erlebnis 
au geitalten, da® nun gerade die Form des Streidyquartetis, jede andere aus— 
fchließend, gebieterifch erbeifchte. Den erfreulichſten Eindrud hinterläßt das 
Thema des Bariationenfages, ein reizendes fleines Lied ohne Worte. Die 
Bariationen felbit find etwas matt und farblos, mehr formales Spiel mit 
dem Thema treibend, denn e8 vertiefend und in neue Beleudytung rüdend. 


Eine für Deutfchland völlig neue Erfcheinung fit der 1854 geborene 
Böhme Franz Mohaupt, deifen Quintett op. 11, vor ebenfovicl Jahren ent: 
ftanden, in Defterreich ſchon einige glänzende Beurteilungen, jo durch Batka, 
erfahren Hat und auch im „Sunftwart* (Jahrg. XII, 2) durh Teibler warm 
gewürdigt worden ift. Much in ihm, das fünftleriih naturgemäß auf viel 
höherer Reifeſtuſe fteht, als Rothiteins Merk, ift eine gefunde anſprechende 
Melodif als ein Hauptvorzug zu betonen. Die Faktur iſt vortrefflid, die Form 
auch bei ihm gewandt und ficher gehandhabt. Auch Mohaupts Werk enthält 
einen Bariationenfag. Seine Variationen eine® kurzen anmutigen Themas 
find zum Zeil in der That harafteriitiiche Umgeitaltungen des Themas, jo in 
einem „Adagio“, cinem „ungarijch“ gefärbten Abſchnitt und einem Mari in 
dreiteiligem Takt. Der Komponift, der fid) übrigens aud) durd die erite 
Dejterreihhifche Aufführung des interejlanten Tinelſchen „Franzisfus“ vorteil- 
haft befannt gemadjt bat, war anweſend und konnte fi) eines vollen Erfolges 
erfreuen; ebenjo fand aud das Rothiteinihe Quartett überaus beifällige Auf— 
nahnıe. Den Abend, den St. Saëns Trompetenjeptett wirkſam abſchloß, Dürfen 
mir zu unferen bejtgelungenen zählen, und es gereiht uns zur Freude, dag 
wir mit einem ſolch erniten ſchweren Programm einen jo vollen Saal erzielt 


2 — 


haben. Befonderen Dank müjlen wir dem ausgezeichneten Meyer-Quartett, 
ferner ber Hofpianistin Frl. Jeppe und den Herren ammermufifern Strüger 
und Hermann Schulg ausfprechen für ihren fünftlerifchen Unteil an dem Ges 
lingen des Abends. 

Ernft Otto Modnagel 


BIER 

Um 16. Januar fand im Stadt: Theater zu Kottbug das Erſtlings— 
wert unferes Mitgliedes Dr. Ernit Backmeiſter „Die Rheintochter“, ein 
dramatiſches Halbmärden, bei eritmaliger Aufführung reichen, von Alt zu Aft 
fich iteigernden Beifall. Der anwesende Autor mußte ſich auf der Bühne zeigen. 
Die Kritik findet in dem Werk eine „beadytenswerte Talentprobe, reidy an 
Poeſie, die Sprade von hoher Schönheit und dabei die Handlung voll 
Spannung und dramatiiher Wirkung mit lebensvollen Volksſzenen“. Die 
„Beitalten Har gezeichnet; mit befonderer Schärfe und Feinheit die Rheintochter 


Hürli und auch ber finnlihe und rafedürjtende Abt Klemens charakteriſiert.“ 
Das Aufführungsredit ift durch Felir Bloch Erben, Berlin, zu erwerben. 


® 
* * 


Im Ktunſtſalon Ribera, Potsdamerſtraße 20, waren am 22. Januar 
eine Anzahl Mitglieder unferes Vereines zur Befichtigung der dort ausgejtellten 
Gemälde, Zeihnungen und fonftigen Sunftgegenflände verjammelt. Der 
Maler, Herr U. Cechini, mwelder die Führung übernommen hatte, wies in 
feinem Vortrage auf die Eigenart, die ſtarken und ſchwachen Seiten der einzelnen 
Ausſteller Hin, und madte auf dieſe Weiſe die Beihauer fihnell mit jenen 
befannt. Ganz befonderes Intereffe erregten die Werle von Hans Baluſcheck, 
der ein Meifter, nicht nur in padender, realiftifher Darſtellungskunſt, fondern 
ganz befonder® auch in der Schilderung des Berliner Volkslebens iſt. Den 
„Berliner Zola in ber Dtalerei* ift man verfuht ihn zu nennen! Neben 
diefem ift es namentlih Theodor Hagen, mwelder durch eine Menge prädjtiger 
Landſchaften auffällt, die durch ihre Plaſtik und durch ihre überraichend wirkende 
Stimmung den Beſchauer in das dargeftellte Stüd Natur verfegen. Aber aud) 
andere, wie Rohlfs, Magnufien u. f. w, ſowie Overbed und Vogeler, 
welche die Hauptvertreter der Schwarzweiß-Ausſtellung find, verdienen erwähnt 
zu werden. Biel Schönes bot fi) unferem Auge aud auf dem Gebiete des 
Kunft = Gewerbes dar. Alles in allem genommen ilt man gezwungen, den 
Begründern des erſt feit ganz kurzem eröffneten Salons feine Anerkennung 
dafür zu zollen, daß fie e8 auf dem in diefer Hinficht fo viel bietenden Berliner 
Boden vermocht Haben, ihrer Ausstellung ein fo eigenartiges, echt künſtleriſches 
Gepräge zu geben. W. M. 


* 
* * 


Um 22, Februar gibt unfer Mitglied Fräulein Agda Lyſell, Die 
hervorragende ſchwediſche Pianistin, ein Stlavierfongert in der Sing« 
akademie, auf welches mir feines hohen Stunftiwertes wegen unfere muſik— 
liebenden Mitglieder befonders aufmerkſam machen. 


“ 
* * 


In den letten Tagen dieſes Monats veranftaltet unfer Berein einen 
literariichen Abend, an welchem nur Werke zum Vortrag fommen, melde 
bisher noch nicht in die Deffentlichkeit gelangten. Zum Zeil fommen aud 
Dichter und Schriftiteller zu Wort, deren Arbeiten weiteren Streifen bisher 
nod) völlig unbefannt geblieben find. Näheres wird den Mitglicdern noch bes 
fannt gegeben und in den Tageszeitungen publiziert! 


* 


* * 


Mitglieder und Freunde unseres Vereins 
machen wir darauf aufmerkſam, daß nunmehr ein neuer Aufruf im Druck 
erſchienen iſt und wir allen Intereſſenten ſderen Adreſſen wir uns anzugeben 
bitten) Exemplare in beliebiger Anzahl gern überſenden. 

Behufs Erridtung von Zmweigvereinen in anderen Städten erbitten wir 
Vorichläge und Hinweife auf geeignete Perfönlichkeitert, welche geneigt und 
fähig find, die Führerichaft eriterer zu übernehmen. 

Die Geihäftsitelle. 


Der Eintritt in den Verein fann jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!). 

Der Jahresbeitrag iit: 

ı2 Mark für das erſte Mitglied einer Familie (inkl. Kunftwart), 

6 Markt für das zweite, 4 Mark für jedes weitere Mitglied 
und wird in vierteljährlidhen Raten eingezogen. Kündigung hat ein 
Vierteljahr vor Ablauf des Geſchäftsjahrs durch eingefhriebenen Brief 
zu erfolgen, fonjt gilt die Mitgliedichaft als verlängert. 

Jede geeignete funjtwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad 
Möglichkeit berüdfichtigt und hat einen Anſpruch auf Aufführung, wenn es die 
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonſt wird das betr. Werk foitenlos, und 
— wie mehrfach dageweſen — wirffam an maßgebenden Stellen empfohlen. 

Näheres durch die Geſchäftsſtelle des Bereins. 


Drerlag von Georg D, M. Callmer, Münden. Derantwortlib: Wilb, Mieſchel. Berlin. 


2. Jahrg. Ar. 1. 1. März; 1899. 


Amlliche Dikteilungen 


aus dem 


Derein zur Förderung der Hunit. 


Begründet 1897 von Bein; TWolfradt, Berlin. 


Eentrale: Berlin. Sweigverein: Bofle a. 5. 
Gefchäftsttelle: NW, Klopflodftrafe 21. Germuris..lle: Karlsftraße 25, 


m 


Die „Umtlichen Mlitteilungen” aus dem Derein z. 5. d. K. find das Dereinsorgan dieſes Dereins und 

werden ben Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins« 

leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber andı den 

„Kun rxt“ Abonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlidungen des die gleichen Ziele wie der 

„Kunftwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Zuſchrijten in Dereinsangelegen» 

heiten find nur an die Geicäftsftelle des Dereins 3. F. d. K. zu richten, ſolche in redaktionellen An« 
geiegenbeiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanftr. Ur. UIII. 


























Ueber unsere Daseinsberechtigung! 


Gerade jet, mo der Verein zur Förderung der Kunſt ftärker denn je 
bie Werbetrommel rührt, um neue Streiter für feine Jdeen zu ſammeln, dürfte 
e8 angebradjt fein, die leider bismeilen immer noch von diefem oder jenem 
Laien reip. Feigen farkaftiihelähelnd behandelte Frage der Dafeinsbe- 
rehtigung des Vereins zy erörtern! 

Es gibt immer noch unter den gebildeten Leuten einige, Die dieſe Frage 
nicht mit einem bedingungslofen „ja“, wenn nit fogar mit einem häßlichen 
„nein“ beantworten. Ob die Urſache zu diefer Verneinung der Notwendigkeit 
unferer (de8 Vereins) Exiſtenz in einem allaugroßen, blinden Optimis- 
mus, ober in einer unverzeihlihen Gleichgültigfeit gegen unfere Mitmenfchen, 
oder gar in einem feigen, verachtungswürdigen Egoismus zu fuchen find, 
überlajien wir der Enticheidung jedes Einzelnen. Für ums eriftiert die Frage 
der Dajeinsberedtung ſchon feit langem nicht mehr; wir haben ftatt deren das 
Bewußtſein der Dafeinsnotwendigfeit. Hätten wir e8 nicht ſchon vor der 
Entjtehung des Vereins gehabt, mwahrlid bei unferer Thätigkeit in diefem, 
hätte e8 uns fommen müſſen! Wir fördern die Kunſt, d. 5. das Blühen und 
Gedeihen aller Künſte, indem mir begabten Stünitlern ihr Schaffen erleichtern, 
wie und wo wir Gelegenheit dazu haben, und indem wir den Boden, auf dem 
gefunde Kunſt emporjpriegen fann, kultivieren, d. h. in Geift und Gemüt des 
Volles das Beritändnis für mahre Hunft wachrufen. Dat wir mit Heinen 
Mitteln bisher nur in Fleinem Maße helfen und unferen Zielen näher fommen 
tonnten, begreift wohl Jeder; aber weil es ein Jeder begreift, deshalb follten 
ih alle uns anſchließen, und dadurch unfere Mittel und räfte derart ver— 
größern, daß der Merein zur Förderung der Kunſt zu einer Macht ans 
wüchje, melde einen großen und wichtigen Faktor im Sunftleben und in der 
Kunftentwidlung bildete! Das Bedürfnis nah Hilfe auf dieſem Gebiete iit 
riefengroß. Wenn mir unferen Gegnern, jenen ffeptifchen Nörglern zeigen 
würden, wie oft und in welch’ verichiedenartiger Geftalt, und wie laut und 
eindringlid der Ruf nad Hilfe in der kurzen Zeit unferes Beſtehens ſchon in 
unjer Ohr gebrungen iſt — es überliefe fie vielleicht ein Schreden vor ihrer 
eigenen, verbammensmerten Hurzfichtigfeit. Und haben wir denn nidt 
ihon geholfen? Das Zartgefühl verbietet uns, Namen auszuſprechen; aber 


— 56 — 


mir verweilen auf manche Kritif in den Tageszeitungen allwo wiederholt zu leſen 
ift: „Diefe eine That allein würde fon genügen, um uns zu zwingen, dem 
Berein unfere Anerkennung zu zollen und fein Dafein als ein tiefbegrin- 
detes Erfordernis unferer Zeit ertennen laſſen.“ 

Das große Publitum, welches jo felten von dem Schidfal der Künftler 
etwas erfährt, fo lange dieſe noch leben, begreift den vorstehenden Ausſpruch 
vielleiht nicht im feiner ganzen erfchredenden Wahrheit; es fieht ja nur den 
Lorbeerkranz, den ſich der alternde Künſtler am Grabesrande in die grauen 
Locken drüdt, aber es weiß nidt, daß diefer Rorbeerfrang mit Blut umd 
Thränen zufammengelittet ift, und e8 weiß auch nidt, daß jene grauen 
Koden vom Hummer und von der Rot lange vor der Zeit gebleicht wurden. 
Das Publitum fieht nur die Denkmäler, die man bem Künſtler errichtet, aber 
es weiß nicht, daß man diefem während feines Erdendaſeins mehr Steine als hier 
ftehen, in den Weg warf. Diejenigen aber welche ſelbſt mitten im Stumftleben, und 
Diejenigen, welche mit ber Preffe in Verbindung ftehen, haben täglich und ftünd- 
lich Gelegenheit „hinter die Kouliſſen zu ſchauen“l Und wenn ſolche Herren (umd 
wie oft geihieht das!) noch die Stirne haben, aufzutreten und zu jagen: „Die 
Künftler entbehren nichts, es ift alles gut und ſchön, fo wie es ift, Hilfe thut 
durchaus nicht not”, — jo find wir gezwungen, ihnen unfere Verachtung und 
gerechte Empörung, ob ihrer verfnöderten Selbitfuht entgegenzufchleubern. 
Blind fein gegen die Notlage folcher begabter Künjtler und Autoren, heit in 
diefem Falle hart und graufam fein. Kein einziger Berufsmenfch bedarf jo 
fo fehr eines freien und forglofen Gemütes, eines friſchen, ſpannkräftigen 
Geijtes, als gerade der jchaffende, der aus dem Born feiner Seele ſchöpfende 
Künstler! Aber gerade er ift es, der fo oft durch Entbehrungen aller Urt 
darniedergedrüdt und durch die nagende, quälende Sorge um das tägliche Brot 
müde und jchaffensunluftig gemadt wird. Gerade ihm fehlt der Sonnenſchein, 
bas Element feines Lebens, die Grundlage feines Könnens. 

Und nit nur Unfänger in der Kunſt, nicht nur unbefannte oder be= 
ftändig verfannte Künftler und Autoren haben unter diefem Drud zu leiden 
— o nein, bie Welt vergikt auch jene Geiitesheroen bisweilen, denen ſie 
bereinst ſchon zugejubelt bat! Sie vergißt fie, und weiß nicht, daß vergefien 
hier mitunter morden iſt. Sie fann es nun einmal nicht begreifen, daß aud 
der Künſtler arbeitet, und daß feine Arbeit nit nur auch, jondern erit 
recht belohnt merden muß. 

Der Verein zur Förderung der Kunſt hat ſchon fo mande Thräne 
geftillt; jo manches ftille Segenswort ift feinem heimliden Walten gefolgt, fo 
manches Zalent, welches im Begriff war, in dumpfe Verzweiflung zu ver: 
finten, iſt durch jein fchnelles Eingreifen der Kunſt erhalten und dem Höhen: 
piade wieder zugeführt worden. 

Der Berein beginnt, fi) zu einem Grunditein zu geltalten, auf dem das 
Gebäude einer freien, unabhängigen Kunſt emporfprießt; denn jedem hilfs- 
bebürftigen Künſtler mill er helfen — ganz gleihgültig, welcher „Richtung“ 
er huldigt —, wenn er eben nur „Künitler*, wahrer, aufridhtiger Künſtler ift! 

Rollten wir uns heute aurüdziehen vom Felde unferer Thätigfeit, 
wahrlich, e8 würde eine arge Lücke entjtehen, deren Vorhandenſein mander 
Autor und Künſtler ſchmerzlicher empfinden würde, als früher, bevor er bie 
Hand des Vereins geipürt hatte. 


Der Vorſtand. Mm. 


2x7 


— 56 — 


Wieder ijt die Notwendigfeit zu helfen an uns herangetreten. Es 
handelt fich diesmal um vier Autoren und Fünftler, deren materielle Rotlage 
ein rafches Eingreifen erforberli macht, und zwar um: 

ı. einen hervorragenden, bisher an eriter Stelle wirkenden Stapellmeiiter 
und begabten Stomponiften, der infolge foeben überitandenen ſchweren Leidens 
noch auf längere Zeit fchaffensunfähig ift, 

2. einen bereit8 anerfannten Schriftiteller in Berlin, deifen troftlofe 
Notlage derart ift, daß feine Freunde — darunter viele befannte Autoren — 
ſich veranlaßt jehen, ſchon Schritte zu einer Beſſerung feiner drüdenden Situa- 
tion zu thun, und 

3. und 4. einen in Siehtum geratenen, Shmwerringenden armen Hamburger 
Schriftiteller, fomwie um die Familie eines von vielen Schickſalsſchlägen heimge- 
ſuchten Journaliſten in Graudenz. 

Diefen allen muß fjchnellitens geholfen werden. Der hilfsbereiten 
Hände gibt e8 in unferem Kreiſe zwar viele, aber wie oft mußten fie ſich ſchon 
öffnen! Müffen wir nicht fürditen, daß fie einmal erlahmen, wenn mir fie 
gar zu oft zum Zugreifen veranlaffen? — Diefe Frage in Erwägung ziehend, 
haben wir diesmal — wo wir ſchnell helfen müſſen und eine große Summe 
dazu gebrauchen — einen Ausweg gewählt, der den Hilfsbedürftigen Rettung 
bringen, die Helfer aber ein wenig entihäbigen und anfeuern wird. Diefer 
Ausweg ijt folgender: 

Der Verein zur Förderung ber Kunft veranftaltet am 16. März er. im 
großen Feftianl ded KHünftlerhanfed, Bellevuejtr. 3, abends 8 Uhr be- 
ginnend, eine 


WohltHafigkeits-Weranftaltung, 
beitehend aus muſikaliſchen und deflamntorifchen Vorträgen, an melde 
Sich ſpäter Souper und Ball anihliehen. 

Die Vorträge werden von hervorragenden fünjftlern aller= 
eriten Ranges ausgeführt, die ihre Kräfte in uneigennüßigfter und Hilfs- 
bereiter Weife an diefem Abende in den Dienſt der Wohlthätigfeit ftellen. 

Maler von Auf haben Beiträge verfproden, einige größere Ge— 
mälde im Werte von mehreren Hundert Mark ftehen zur Berfügung und 
werden am Abend zur Verlofung gelangen. (Loſe a ı Mi) Den Damen wird 
eine mit dem Ganzen harımonierende Spende überreicht. 

Der Ertrag der Veranftaltung, welcher hoffentlich recht reichlich aus— 
fällt, wird nad Abzug der verhältnismäßig geringen Unkoſten zu den vorer— 
mähnten linterjtügungen verwendet werden. - 

In Anbetracht des guten Zweckes unjerer Sache hoffen wir, daß die 
Beteiligung eine recht rege fein wird. Die Freude am Wohlthun wird den 
Anweſenden die natürliche Freude des Amüfements noch erhöhen. 

Die Teilnehmersstarten foften pro Berfon: 

a) nur für Soirée und Ball 3 Mt. / 
b) für Souper (Huſter, Engl. 
Haus), Soirce und Ball 6 nt. \ 

Nihtmitglieder zahlen ı Mi. mehr pro Starte, 

Beitellungen auf Karten, die wir möglichſt umgehend er- 
bitten, find (unter genauer Bezeichnung der Art) an die unterzeichnete Kom— 
miffion zu richten. 


für die Mitglieder des Vereins 
und deren Ungehörige. 


Die Unterftügungs: Kommijfion 
des Dereins zur Förderung der Kunit. 
Sefchäftsitelle: Berlin NW, Stlopftoditraße 2ı pt. 


— 3% — 


Zur gefälligen Beachtung! Wir machen, obwohl foldhes ſchon durch 
die Beilage gefchieht, auch hiermit nochmals befonders auf dag am Sonntag 
ben ı2. März er. Mittags 12" Uhr im Beethoven=-Saale ber Phil— 
harmonie ftattfindende Konzert unferes Mitgliedes Viftor von Woikowéky— 
Biedan aufmerkffam, das vorausſichtlich ein intereffantes, künſtleriſches Reſultat 
zeitigen dürfte, 

Wenn Herr Viktor von Woikowsky-Biedau auch den Ertrag einem wohl— 
thätigen Zmede übermeifen will (er iſt Staatsbeamter), fo legt er bennod 
Wert darauf, in feiner Eigenſchaft als Mufifer ftreng beurteilt u werden, mas 
er auch nicht zu fchenen braudt, da er durch eine frühere Mufführung jeiner 
Werke bereiis vorteilhaft befannt geworden iſt. Eine Kleine Anzahl von Eintritts— 
Karten wird uns der Beranftalter im Intereſſe unferes Vereins koſtenlos über: 
laffen. Diesbezügliche Anſragen bitten wir an unfere Geſchäftsſtelle zu richten. 


» 
* * 


Zur Beethoven-Matinee am 12. März hatte das 


Waldemar Meyer-Quartett 
die Freundlichkeit, uns eine Anzahl guter Pläke für unfere Mitglieder zum 
Vorzugspreis (Ubonnement) von ME. L.— zur Verfügung zu ftellen. Wer 
die hervorragend fünftlerifchen Leiftungen des ausgezeichneten Quartetts lieb» 
gewonnen und Karten wünfcht, wenden fi an die Geſchäftsſtelle d. D. 3. F. d. K. 
* 


* 

Im Intereſſe der vielen Muſiker und Muſikſtudierenden unter unſeren 
Mitgliedern, wie auch aller anderen Beteiligten verweiſen wir auf nachſtehende 
amtliche Bekanntmachung der kgl. Akademie der Künſte zu Berlin. 

Befanntmachung. 
Königliche Akademie der Künſte zu Berlin. 
Sommerfurfus der Lehranftalten für Muſik. 

X. Akademiſche Meifterfhulen für muſikaliſche Kompolition. 
Boriteher: Die Profefforen Dr. Blumner, Dr. Brud und 
Freiherr von Herzogenberg. 

Die Meifterfhulen haben den Zmed, den in fie aufgenommenen Schülern 
Gelegenheit zur mweiteren Ausbildung in der KHompofition unter unmittelbarer 
Leitung eines Meifters zu geben. 

Genügend vorbereitete Wipiranten, melde einem der genannten 
Meiſter ſich anzuschließen wünſchen, haben ſich bei demfelben in den eriten 
Wochen des Upril perfönlich zu melden und ihre Kompojitionen 
und Zeugniffe (insbefondere den Nachweis einer untabelbaiten 
fittliden Führung) vorzulegen. 

Ueber die fünjtlerifhe Befähigung der Bewerber zur Aufnahme 
in die Dieifterfchule entfcheidet der betreffende Meijter. Der Unterricht iſt bis 
auf weitere Beſtimmung unentgeltlid. 

B. Akademiſche Hochſchule für Mufik, 
Direktorium: Die Profeſſoren Dr. Joachim, Freiherr von Herzogenberg, 
Rudorff, Schulze. 

Die Aufnahme-Bedingungen ſind aus dem Proſpekt erſichtlich, welcher 
im Bureau der Anſtalt, W. Potsdamerſtr. 120, unentgeltlich zu haben iſt. Die 
Anmeldung iſt Schriftlich und portofrei unter Beifügung der unter Nr. VII 
des Profpeftes angegebenen Nachweiſe, aus denen das zu jtudierende Haupt 
fach erfichtlich fein muß, fpäteitens bis zum ı. April 1899 an das Direktorium 
der Anitalt, W. Potsdamerftr. 120, zu richten. Auch muß aus der Meldung 
hervorgehen, dab dem Nipiranten der Prüfungstag bekannt ift. 

Derlag von Georg D. W, Callwey, Mündyen. Derantwortlid;: Milk. Mieſchel, Berlin, 


2. Jahrg. Ar. 12. 15. März; 1899. 


Amtliche CDikfeilungen 


Derein zur Förderung der KRunſt. 


Begründet 1897 von beinz Woltradt, Berlin. 


Eentrale: Berlin. Smweiapverein: Br'le a. 5. 
Geichäftsnelle: NW. Klopflodftraße 21. Geimutisj.2lle: Karlsftraße 25. 








Be 0 — 





Die „Amtlichen Mittrilungen“ aus dem Derein z. F. d. U. find das Dereinsorgan dieſes Vereins und 

werden den Stammmligliedern desfelben zugleich mit dem „Hunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins- 

leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den 

„Kunftwart”«Ubonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlichungen des die gleichen Ziele wie der 

„Hunftwart“ verfolgendben Vereins ebenfalls Interefie haben dürften, — Zuſchrüten in Dereinsangelegen» 

beiten find nur an die Geichäftsttelle des Dereins z. F. d. X, zu richten, ſolche in redaktionellen Ans 
geiegenkeiten an den Schriftieiter, Berlin, Stephanjtr, Yir, LIT, 














Unser literarischer Abend! 


Am ı. März cr. fand im Arditelten-daufe unfere 6. Beranitaltung, ein 
literariſcher Abend ftatt. Der Zweck desſelben war — wie es ja bie 
Tendenzen des Vereins bedingen — fünftlerifch wertvolle Werke in die Oeffent— 
lichleit zu tragen, die diefer aus irgend welchen Gründen bisher vorenthalten 
blieben. Das Programm mar auf das jorgfältigite zufammengejtellt worden, 
fodak dem Publifum nur — nad) unserer Annahme — wirklich Gutes geboten 
wurde. 


Eröffnet wurde ber Abend mit Dichtungen von Ferd. Uvenariuß 
aus den Sammlungen „Stimmen und Bilder* und „Lebe“. Näher hierauf 
an diefer Stelle einzugehen, verbietet uns der Wunſch des Dichters. Das Eine 
aber wollen wir nicht unerwähnt Iafien, daß das Publikum begriff, in meld 
gewaltiger Größe die Tragik ihm hier entgegentrat, und daß die Berliner 
Kritif Avenarius zu würdigen weiß. Die Deutihe Warte nennt feine Gedichte: 
„Die Produkte einer großen Geſtaltungskraft, von einem fo warmen Herzichlag 
durchpulſt, daß fie aud) mit Macht an die Herzen rühren müſſen.“ Ferd. 
Gregoris meifterhafter Vortrag that das feine dazu, um den Hörern biefer 
Gedichte den Kunſtgenuß zu einem vollendeten zu geftalten. 


Nächſt dieſem war e8 wohl die von Dr. G. Manz mit dramatifcher 
Wirkung vorgetragene Skizze „Hunger“ von Max Dreyer, welde das Pub— 
likum am meijten feffelte, und den ſtärkſten Beifall fand. Das „Kleine Jour- 
nal* jchreibt darüber: „Die Stizze, die aus Dreyerß erſter Schaffenszeit 
ftammt, iſt ein packendes, ergreifendes und mit realiftifher Kraft ber 
Schilderung hingeworfenes Bild aus dem verlorenen Leben eines mobernen 
Uebermenfhen. Die ganze Arbeit fcheint troß des milden Sturmes und 
Dranges, der fich mit gewaltiger Kraft darin Bahn bricht, unter Doſtojewski— 
ſchen Einfluß zu ftehen. Der Moment, in bem der junge, aus Stolz hungernde 
Student fih aus Gier nad Brot an feiner Wirtin vergreift und beinahe zum 
Mörder wird, ift mit genialer Brutalität dargeftellt, und doch können mir ihn 
begreifen, ihn verstehen, den armen Idealiſten, der fi) fo hoch gedünft, daf 


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er die Arbeit zurüdiwies, und ber nun, herabgeſtürzt vom Piedeital ber lleber- 
menfclichfeit, zum gemeinen Verbrecher wird aus denfelben beitialifhen Ins 
ftinkten wie jene unglüdlihen Geihöpfe, die in den Augen ihrer Mitmenſchen 
zum Verbrechen präbdeftiniert erfcheinen.* 

Die rühmlichit befannte Rezitatorin Fräulein Seraphine Detſchy 
brachte Dichtungen von Guſtav Nenner und dem Schreiber dieſer 
Zeilen zum Vortrag. Weber Legteren kann begreiflicher Weife an dieſer 
Stelle nicht geiprocdhen werben. Die Rennerfhen Gedichte (der Mönd, Ballade, 
Berziht, den Peſſimiſten u. a.) fanden die ihnen gebührende Anerkennung. 
Guſtav Nenner ift ein Poet voller Kraft und Annerlichkeit, dem die Kunst nicht 
ein Spielmerf, fondern das Element ift, welches feine Seele braudt, um fi 
entfalten zu können. Mas er fchreibt ift erlebt, d. 5. innerlih, in der Seele 
und im Geiſte erlebt. Er gibt eine Kunſt, bie Beben ilt. Die Belannt- 
fhaft eines jungen, bisher nor) mit feiner Arbeit an die Deffentlichfeit ges 
tretenen Autors, des in Xeipzig lebenden Walter Hofmann, vermittelte 
uns Fräulein Edela Rüſt, die die Rezitation diefer Gedichte noch in letzter 
Stunde übernommen hatte. Hofmann, der unzweifelhaft dichteriiche Begabung 
befigt, it ein Talent ohne Form. Gr wird bejtrebt fein müflen, ftrenge Zucht 
an feinem Können zu üben, und eine ſcharfe Feile an Das Fertige zu legen. 
Frl. Rüft trug darauf nod die anmutigen Berje Editha v. Reitzenſteins 
vor, die namentlid) bei dem meiblichen Zeil der Zuhörerjchaft lebhaften Bei— 
fall fanden. Reichlicher wurde dieſer jedoh noh Paul Remer gegollt. 
Seine an ſich wirkungsvollen und zu Herzen gehenden Dichtungen wurden 
dur den künſtleriſch vollendeten Vortrag und die beftridend anmutige Art der 
Rezitatorin, Frau Alwine Wiefe — 3. 3. am Sciller-Theater in Berlin 
— derart „in das rechte Licht geftellt“, dad die gejamte Zuhörerihaft dem 
Dichter wie der Anterpretin das reichite Lob fpendete. 

Sodann las Herr Ferdinand Gregori nod) einige in Form und Ausdrud 
gute fatyrifche Gedichte von Harl Moenfeberg:Hamburg und Szenen aus 
dem zmweiaftigen Drama „Hains Tod* von Leopold Ripke aus Caſſel vor. Das 
Drama — welches leider zu jehr auf unwährſcheinlichen Vorausfjegungen aufs 
gebaut ift — weiſt im einzelnen I[yrifche Stellen von großer Schönheit und 
bisweilen auch Wucht und Kraft in der Gejtaltung der Leidenihaft auf. Ale 
Ganzes jedod will es uns noch nicht reif genug erjcheinen. Die innere Not— 
mwendigfeit der Geſchehniſſe und der Handlungen, insbefondere die Notwendig— 
feit von Kains Tod fcheint uns nidyt genügend motiviert. Kains Tod ers 
warten wir als eine Folge feines durd) das quälende Gewiſſen hervorgerufenen 
Selbjt-VBernihtungsdranges. Ein Genie würde dem Stain vielleiht auch jenen 
„Drang über’ Grab zu jchauen“ in die Seele legen, und dadurd) feinen Tod 
herbeiführen. Trotz diefer (unferes Eradtens nad) Mängel, iſt das Drama 
ein unleugbarer Beweis von dem dramatifhen Talent Ripfes, das ſich nament= 
lich in lebhaften nnd gemandtem Bühnenfpiel uud in einer bilderreichen, wohl 
tönenden Sprade zeigt. 

Wilb. Mieſchel 


Bon Wohnungd-VBeränderungen bitten wir unferer Geſchäftsſtelle, 
Berlin NW, Stlopftoditr. 21, fo fchnell wie möglich Mitteilung zu machen, das 
mit eine Verzögerung in der Zujendung bes ſtunſtwarts und der Vereins: 
Mitteilungen vermieden werde. 


Derlag von Georg D. W, Callwer, Münden. Derantwortlih: Wilh. Mieichel, Berlin. 





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