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Der Kunstwart
Malbmonatsschau über Dichtung, Theater, Musik,
bildende und angewandte Rünste
berausgeber:
Ferdinand HAvenarius
Zwöltter Jabrgang, erste Bältte
Oktober 1898 bis April 1599,
4
MDüncben
Georg D. Wl. Callwev.
anpar °
RABEN m!
Inhalt
Die erſte Ziffer gibt das betreffende Heft, die zweite die betreffende Seite an,
Allgemeineres und Vermischtes
Größere Auffäge. Das Dreigeitiun Menzel-Begas— i
Den alten Leſern zum Dant, den Dat er
. neuen zum Willfommen W) 1
| Nochmals vom Urheberredt
E 1 des p
Urſpruch) 3. 81
Künſtleriſche
ytsichau: i
4. 115 — ner R. B.) 4.119 |
ende ftiinite umann)d. 122
— a Ba —
9. 192 — Rotenmerfe, Neue Du ilalien,
Keuelte Wlutkliteratur (St. B.)5. 156 | Das Werke Röhl“ als Kunits
— Neues Erzählenbes (Ubolf Bartels werf und Weihnahtsgabe 6. 215
. 156 — Zur iteraturgeichi hte(Baul | Yııny
— — Neue mann b, ET — Neue Milber: | Haus” (T — wird!) 6. 215
eformation bes Berliner
Eine
Jugenbiähriften G 18: nejellichaftlichen Lebens 6. 216
Wohlmollende Stritit 221 | Darwin über Hunftgenu 6. 217
Das Thema vom Glück in der a nfinenug — 2
Dichtung (Karl Spitteler) 8. 257 | "Seift“ im Neichst 7.25
ee ae und 82 | Sn. — = —
irtſchaft (Arthur Dix) . 274 | Der © = uS-Proge 8._287
StHifch und Meithetiih (Cal Mm — nee 5
Weitbredt) I. 9. 239 — I1. 10. 331 | Das Anbiedern zu Geichäfts-
Die Kunft im Reichstage (A. 12. 393 zwecken (Wie's gemacht wird!) 10, 354
Literariicher Adel und litera=
Rundichau, | riſcher Pöbel (Carl Spitteler) 11. 390
— — Lex Heinze 11. 391
In Saden des Urheberrehts 1. 31 | Die Zurdt vor dem Wit 11. 391
Literatur
Größere Aufjäge. | Detadenz in der Unterhaltungs⸗
iteratur D artels 11. 360
Zurdeutichen Riteraturgeichichte
(Mdolj Bartels) 12. 397
—
od
or Storm-Denkmal zu
ujum 1. 21
83
Adolf Sterns Novellen (Leonh.
Kirchbach: Zur Berichtigung
Lier) 1. 21 über Schiller 6. 208
Ein a bei Gerhart Einige — deutſcher
Sauptm 1. 2 Werke (Rud. Dietrich) 6. 208
Johannes < Safe Erklärungen Gottfried Steller, ber ſchriftſtel⸗
in der „Zufun 23 lernde Dilettant T. 248
Dichtungen und Raterlandsliebe
„Geiſtesleben“ (Wie's gemacht
ð
er Zapps „Schriftiteller= z
gabithe Charaktere (W. Bartels) 9.
wird 1. 24
Am Grabe Fontanes 2. 62 | Wilhelm Jordans 80. Geburts⸗
Ein Prolog Wildenbruchs 2. 62 tag (Adolf Bartels) 10. 346
Der Mofelmein-Wettbemerb 2, 63 | Wie berichtigt wird 10. 347
Die katholiſche VBelletriftit (E.) 3. 99 | Spielhagens 70. Geburtstag
Dichterdenkmäler 3. 100 (Ad. Bartels) 11. 382
Hermann Bahr über Jungs Goethe im Reichstag 11. 382
öſterreich (2. Weber) 3. 100 | Häuslihe Worlefungen von
iger 4. 140 Dichtungen ar 382
er Cottaſche Mufenalmanad) Bildung und Befit . 883
(A. 8.) 5. 171 | Derftai erund Rudyard Kipling 12. 414
Gute — 5. 172 Paul Lindaus Geiſt in Mei—
Julius Lohmeyer (E.) 5. 172 ningen 12. 414
Bismarcks „Gedanken und Er— — Brandes und Barsdorf 12. 414
innerungen“ 6. 207
Tbeater
Gröhere Aufiäge.
Dramen, die wir wünſchen
(Leonh.
Dramatiker zwiſchen den Ru—
Lier) 1. 4
berg, Ruederer (L. Weber) 4. 141 —
Literariſche Geſellſchaft: Hofmanns—
thal, Mündjner Volksbühne (2. W.)
5. 173 — Ostkar Blumenthal-Max
Bernſtein (2. Weber) 6. 212 — Lite—
liffen (Ferdinand Gregori) 2. Al | rariiche Gefellſchaft: Burkhardt (R.
Schaufpieltunft und Theaters —5 8 — demiſch⸗ —
ſchulen (Eugen Kaltſchmidt) 3. 73 matiſch. Verein: Faltenberg(L.Weber)
Gerhart Hauptmanns „Fuhr— | 9.317 — Literariſche Gefellichaft:
mann Henfhel* (Ad. Bartels) 4. 127 Schlaf (2.Weber) 11. 383 — Juliane
Die Theaterbörje (M.) 4. 130 Dery (2. Weber) 12. 416
Bom modernen Drama (Leonh. o- | Von den Leipziger Theatern:
Lier) 7. 2258 R. — u. a. Guſtav
Sprehfaal: In Saden „Schaus Morgenitern) 2. 64
ſpielkunſt und Theaterfchule* | Selig Dörmann in Wien (—t.) 2. 65
(Rudolf Lorenz) . 304 | Bühnenzeitfchriften: Bühne und
Das Variété der Zukunft Melt 2.6
(Schulge-NRaumburg) 10. 325 | Ein Verbot vom Landshuter
| Zentergenfue in Freiburg i.®. 2 65
; | eaterzenfur in Freiburg i. B. 5
— ern aus Stuttgart: |
Von den Berliner Bühnen: Leſſing— Perfall (8. Grunsky) 4. 143 |
theater, da8 Neue Theater, das | Berliner Premitrenpubliftum 4, 144
Deutihe Theater, Scillertheater, | Vom Dresdner Hoftheater:
Noitand, Ompteda ee) 1. 24 Geißler (2. Lier) 6. 211
— Dreyer, Scnigler, Halbe (Erih | Richard Voß in Zürich 6. 213
Schlaikjer) 3. 101 — Fulda, Bahr, | Der Stinematograph auf ber
Hartleben (E. Sclaitjer) 6. 209 — Bühne 6. 213
Sebbels „Aulia* (E. Sclaifjer) 7. 249 | Die Theater-Agentur der Ges
— Björnfon: Paul Lange und Tora noſſenſchaft deutſch. Bühnen—
Parsberg (E. Schlaikjer) 9. 316 — angehöriger 7. 249
Kretzer, Fulda, Dreyer (E. Schlaikjer) Kleiſt im Jubiläums-Stadt—
10. 348 — Kirchbach, Hirſchfeld Halbe, | theater zu Wien T. 250
Wrede, Spielhagen (x) 12. 414 | Max Bernitein und feine jour-
Nündner Theater: Philippi, Schiller naliftiiche Neuheit 7. 350
(M.W.) 2.63 — Dörmann, Strind= | Pofjart über Hoftheater 8. 282
1
Etwas vom Klatſchen und Ver— Kunſt und Kirche 11. 384
beugen 8. 282 at das Stüd gefallen 11,
dermann Sudermann: Drei Wie's gemacht wird! 11
9 Zultme SartüherunfereXhenter:
funft 12. 416
Scülervorftellungen in Peſt 12. 417
syn nit dem Hervorruf 12. 417
Stüd zurüdgezogen elpomene, Rembe & En. 12, 417
Nette Guilbert in Deutid)- |
an .) 11. 383 '
ADusik
Größere Aufjäge. Kölner end: Urfprud)
" J (3. Volbach) 4. 145
Die Gefahren ber öffentlichen Zwei Mufilkalender 5. 174
Stu . Umfchläge und Zitelblätter zu
Rolenbelien 5. 175
. Münchner Mu brief: Langer
ermann z Louis) 6. 213
m 22 Anna 2. 45 ertvolle Duft? im Seinen r
e⸗ _ Journal(Wie’8 gemadjt wird) 6, 214
(Richard Batla) 6. 195 | 98. Hienzl® „Don Unixofe” in
Dufitpflege im Mittelitande. I. Berlin (R. 8.) 1.392
(Rihard Batta) 7. 231 | Wie man Richard Wagner ver-
a. nn der Gegen= t
8. — l
Leber "Bogner als Denker (R.
Louis) 8. 204
Muſikliteratur. J. (R. 9. 297
B.)
a Aufführungen hi.
Batka) 11. 357
sur ——— . (Richard
atfa) 12. 40
1
Rundſchau.
Mas verdrängt das Volkslied L_25
Neue Lieder — Daufe,
Ritter) R. L 25
2. — = Dresden ( 5 YW)L 2%
te neue er des Weſtens tn
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Sumperbind Dräfele, Liſzt,
Berlioz u. a. (RR. Xouis) 11. 385
Neue Tieder, Dausegger, Der:
mann (9. Teibler) 11. 389
Wies gemadt wird! . 38!
Friedrich v. Hausegger 2 418
Bing L Aufruf für ein Brudner:Denf=
Wien 4. 144 mal in Siien N
Amals über die Bungert- Wie's gemadjt wird! 12. 420
ianer (U.) 4. 144 | Wie man „umarbeitet“ 12. 420
Bildende und angewandte Künste
u nn der Kunſtbe⸗
Kunftpfleg humann)
Die Verwirrung
2. 50
| tphotographi 0. 140
' Bollskunft 8. 266
Etwas über die Technik in bil—
Aufitellung ber Bildfäulen der
dender Kunſt (Schulge-Nbg.) 8. 269 Dichter in Berlin 2. 70
— Berliner Dom (Oskar Taufmedaillen und Plaketten 2. 71
Bie) 9. 302 | Aus 4er — Kunſtleben
— 7 Er a er Bine (Sch.⸗Nbg.) 3. 105
mann) 1. 10. . 262 | Bur Dentinalpflege (E. €.) 3. 106
Der Fall Diefenbuch Ca. 1 369 | Wus d. Berliner ftunitgewerbes
Kopieu. Jmitation (P. Schule mufeum 4, 146
Naumburg) 12. 404 | „Deubileeringstunft“ in Holland 4. 147
Heinrich Vogeler, Ernſt Kreidolf 5. 176
Rundſchau. ug“ em. Denkmal zu Stande En
Berliner ſtunſt (Boreas) 1. 38 —— — Eiſenbahnwagen 5. 177
DenfmälersRarrheiten. Wiener John Ruskin 6. 214
Kunftbrief(W. Schölermann) 1. 29 Das Zierſchränkchen (Schulkes
Die Katholiken in der Kunſt 29 Naumburg) 6. 214
Preisausſchreiben, wie fie nicht Bon Wiener ae ee ——
ſein ſollten 1. 30 mann)
Ernit Streidolfs Blumenmärden I. 30 | Zur Ehrung Adolf — Fr 255
Handbud der Anatomie der Büchereinbände (I. 8.) 8. 286
Ziere für Künftler (5. T.) 1. 30 | Bon Berliner Stunt (Mar
Congres de Vart publiezu®rüffel 1. 31 er 321
Aufruf des Vereins für dentiches Karl Krumbholz und die neue
Kunjtgemwerbe in Berlin 1. 31 Gemwerbefunft 9. 322
Das Ludwig Richter-Denkmal Zur Volkstrachten-Bewegung
in Dresden (A.) 2. 68 (BP. Schumann) 10. 352
Ein Rüdblid auf die Münchner Berliner Aunftbericht 11. 390
Ausſtellungen (Schultze-Nbg.) 2. 69 | Die Studie Dekoration für
Der Kongreß für unit in der das Reichſstagshaus 12. 421
Deffentlichfeit (PB. Schumann) 2. 70 | AbdolfHildebrands Stimmzettel:
Die Brofhüre gegen die mo= Urnen 12. 42
berne Kunſt 2. 70
Lose Blätter
Weber, Leopold: Bom Ber- Ritter, Anna: Mein Bübchen 6. 206
fühner 1. 16 | Bruns, Mar: Stimme im
Flaiſchlen, Cäſar: Lotte 1. 17 Regen 6. 207
$ A.: Der gute Feind 1. 3 Bijörnfon, Bijörnftjerne:
udwig, Dtto: E8 hat noch Aus „Paul Lange und Tora
feinen Begriff 2. 58 Parsberg“ T. 237
Sontane, Theod.: Aus dem — — Th.: Das verlorne
„Stehlin“ 3. DD Thal 8. 275
BT Stletterer 4. 136 | Voigt, 9.: Unvergeſſen 8. 276
us Bölſches „Liebesleben in Lobfien, ®.: Auf den Gaſſen
ber Natur“ 4. 137 der Heimat 8. 276
Die Deladenten (Barden Weber, Leopold: Mondfput 8, 277
berg i. d. „Jugend*) 4. 140 | Uvenarius,Ferd.:Epigrans
KonradferdinandMeyerr 5. 166 matifches 8 278
Rofegger, Peter: Zur Weih— Jacobſen, 3. P.: Die Peſt in
nachtszeit — Das Kreisſtehen Bergamo 9. 308
— Das Dreifönigsfingen 6.198 | Grillparzers „Jüdin von
Hart, Julius: Aus „Triumph Toledo“ 10. 339
des Lebens“ 6. 205 | Zandem, Felix: Aus „Pro=
Benzmann, Hanß: In Korn metheus und Epimetheus* 11. 372
und Unkraut — Reiter im Liliencron, Detlev v.: Ge—
Herbſt 6. 205 dichte 12. 406
Boten
Heft Heft
Plüddemann, M.: Niels Finn. Bretonifches Volfslied
Ballade 1 Bolf, $.: Zum neuen Jahre 6
Ritter, A.: Aus den „Schlidhten Sumperdind, E.: Lenzknoſpen 7
Meilen” 2 Sienzl, ®.: Aus „Don Quirote* 8
Mahler, G.: Andante a. d. C-moll- Stransfy, J.: Mondaufgang 8
Sinfonie 2 Banner, ©.: Aus dem „Bären=
Bad), S.: Choral, Gigue, Menuett 3 häuter“ 10
Plüddemann, M.: Ave Maria 4 Hausegger, ©. v.: Mittag im
Strand, R.: Schlummerlied 4 Felde
Milorey, Fr.: Im Rofengärttden 4 Ball, ©.: Impromptü 12
Schumann, R.: Knecht Rupredt 5
Bilder
Heft Heft
Klinger, M.: Kaſſandra 1 Klinger, M.: Alkorde 8
Leiſtikow, W.: Landſchaft 1 Klinger, M.: Evokation 8
Dill, L.: Landſchaft 2 Vogeler, H.: Die heiligen drei
Samberger, L.: Porträt 2 Könige 9
Khnopff, $.: Porträt 3 Liebermann, M.: Gonftantin
Sofmann, 8. v.: Bhantafiebild 3 Meunier 9
Herterich, L.: Der Ritter 4 Liebermann, M.: Landſchkaft 9
Urban, 9.: Der Albanerfee 4 Stud, Fr.: Sphinx 10
Stauffer=-Bern, f.: Konrad Fer: Brandenburg, M.: Der Mann
dinand Meyer 5 im Schatten 10
Stumftphotographien 5 Brandenburg, M.: Das eherne
Dürer, A.: Der heilige Hierony- Symbol 10
mus im Gehäuß 6 Brandenburg, M.: Dünenland»
Dürer, U: Die Melancholie 6 ſchaft 10
Richter, 2.: Sternennacht 6 Diefenbach-Fidus: I. Muſizie—
Lenbach, Fr. v.: Björnſtjerne rendes Mädchen — II. Aus:
Björnſon 7 Per aspera ad astra 11
Conz, ®.: Landſchaft 7 Olde, 9.: Detlev v. Liliencron 12
Kunſtphotographie 7 Dürer, A.: Ritter, Tod und Teufel 12
Eiffarz, J. V.: ſunſtwart-Wand—
kalender 8
—— — —— —⏑
12. en Erstes Oktoberbeft 1898. bett 1,
DER TUNSTUART
Den alten Lesern zum Bank,
den neuen zum Willkommen.
Als noch der Kunſtwart mit wenigen guten Gefellen abfeitS der
Straße durchs Feld ging, hoffte er faum, es fünnten einft fo viele mit
ihm ziehn, wie heute ſchon thun. Und nun duch die Treue der Freunde
fein voriges Wagnis, die Ermweiterung und Umgeftaltung, gelungen und
ihm der Mut gegeben ift zu einem neuen — verfteht ſich's da nicht von
felber, daß er diejen Freunden aud einmal danken mag? Er weiß «8
ja, daß es vor allem die geſprochene öffentlide Meinung ift, das
warme Wort von Menſch zu Menſchen, was einem ehrlichen Wollen aud)
in unjerer Zeit noch zum Siege hilft.
„Bas der Kunſtwart einbringt, wird in feinen eigenen Dienft ge—
jtellt* — wir bethätigen heut wiederum, daß dieſes Wort mehr als
KRedensart war, indem wir auf die Berdreifacdhung unſeres Leſerkreiſes
mit der Beigabe von Bildern und Noten antworten. Das Nähere
über dieſe Beilagen wird an anderer Stelle gejagt werden. Hier fei
e3 erlaubt, bei diefer Gelegenheit wieder einmal über unfre Pläne,
fAer unfer Ydealbild vom Kunſtwart felber zu fprehen. Nicht, dab
ı r unjer „Programm“ jegt nochmals ausführli entwideln wollten,
das haben wir oft genug gethan. Sondern von der ”. wie es zu ver=
wirklichen ſei, wenige Worte.
Wollen wir unfere Ziele erreichen, jo treiben wir Hunftpolitif, und
feine Politit läßt fich treiben ohne Macht. Macht, Einfluß brauchen
wir, eben unferer Ideale willen, deshalb dürfen wir nicht bloß in
fleiner Gejellihaft reden und gehört werden, jondern müſſen das
überall, wo wirklich Gebildete in deutichen Landen die Pflege geiftiger
Güter rein willen wollen. In den erjten Jahren war unfre Arbeit
felber vorwiegend ein Suchen und Taſten, wo zur Berftändigung im
eigenen Kreis e8 oft nicht ohne mühjamere Unterfuhungen und ſchwierig
ende Aufläge abging. Yet haben wir uns an gemeinjamer Arbeit
fomohl wie geftärtt. Während diejer elf Jahre hat nicht ein
vart I. Oftoberheft 1898
— 1 —
einziger ehrenhafter Mann irgend einer politifchen, Titerarifchen oder
fünftlerifchen Partei unſrer Arbeit öffentlich) anders als mit Anerkennung
gedacht, wir dürfen auf unfre Freunde und dürfen auf unfre Feinde
weiſen, fragt man uns, wer wir find. Leidlich beglaubigt alfo, wollen
mir nun ung der Arbeit widmen: maß wir für richtig erfannt nad)
aller Kraft umgufegen in Wirklichkeit, eindringen zu Iaffen ins Leben.
Wir haben die erſten Schritte dazu ſchon mit der Umgeftaltung
‘vor einem Jahre verfuht. „Der Kunſtwart ift allgemeiner verftändlid)
geworden“, hat man vielfach gejagt. Ob er dadurch ſeichter geworden
ift, mögen die Leſer enticheiden. Unſre nächfte Aufgabe jedenfalls ift fo:
noch für viel weitere Kreiſe verftändlich zu werden, ohne an fachlicher
Gediegenheit das Mindefte zu verlieren. Da gilt e8 vor allem: nicht
nur zu reden über Hunt, fondern nad jeder Möglichkeit Kunſt zu
zeigen, damit nicht nur der nüchterne Begriff zum Berftande ſpreche,
fondern das Leben jelber, das in des echten Kunſtwerks Adern flieht,
zu Anſchauung und Phantafie, Denkkraft und Empfinden zugleich, kurz:
wieder zum Leben dringe. Deshalb die „Zofen Blätter“ in ihrer jegigen
Form, deshalb von jegt an unfre Bilder und unfre Noten.
Uber was wir damit geben, ift auch wieder nur ein Anfang, it
nur eine Abichlagszahlung — und bedeutet doch ſchon ein großes Wagnis,
wenn wir bei unferm oft „lächerlich niedrig“ genannten Beftellgelde
bleiben wollen. Und das mödten wir doch, wenn's irgend geht, um
neben den befjer gejtellten Zejern den minder bemittelten und der lernen
den Jugend zu ermöglichen, den Kunſtwart gerade jet, wo er Beilagen
bringt, bei fih im Haufe zu behalten. Aus all diefen Gründen bitten
wir unsre Freunde: wirkt fräftig für unfer Blatt, und ihr Bemittelten,
laßt's Euch aud) nicht gereuen, vielleicht für Unbemittelte, die ihr kennt,
den Kunſtwart auf eure Koſten zu beftellen. Wir miederholen euch:
mir dürfen bitten, denn wir bitten nicht für uns: „alles, was der
Kunftwart einbringt, wird in feinen eigenen Dienft geſtellt“ — dabei
bleibt’3. Empfehlt und verjchenkt ihn unter euren Freunden, verlangt,
daß die Wirte ihn halten, fett in den Leſezirkeln allerort3 feine Eine
führung durch, verbreitet feine Gedanken in der vornehmen Preffe meiter
(er Stellt euch ja, gebt ihr nur die Quelle an, den Nachdruck all feiner
Aufläge ohne Entihädigung frei) — nicht uns perjönlidy nützt ihr viel
damit, nur unfrer gemeinfamen Sache. Die aber bra ucht's. Aeußer—
lichkeit und Mache, Gigerlnarretei und Gefinnungslumpentum überwuchern
nachgerade und eritiden, was von kernhaft deutichem Leben in unfrer
Kunft zur Sonne mödte, um Frudt zu tragen für uns alle. Wem
nur immer es ernſt ift, um ein höheres, reineres und feineres, fräftigeres
und freiere8 und froheres Geiftesleben, den müfjen wir gewinnen zum
Bundesgenojjen. Wir haben einen Beruf zu erfüllen. A.
EI
Volks=- und Gipfelkunst.
„Bollstümli fol die Kunft fein“, fo rufen die einen aus, „Echte
Kunft ift nur für wenige da*, die andern. Wollen wir uns Har dar-
über werden, jo thun wir gut, zunächſt Die beiden Begriffe von Kunſt
ins Auge zu fallen, die am meiteften von einander entfernt ftehn. Was
it Gipfel- und was ift Volkskunſt?
Kunftwart ’ I. Oftoberheft 1898
Der Gipfelfünitler erobert: von irgend einem Borgebirge des
großen Dtenfchenreichs, im Lande des Wortes oder des Tons, der Farbe
oder der plaftiihen Form, von dort aus fteuert er ins Unendliche hin—
aus, und wo dem Auge der Vielen nur Nebel brauen, da eripäht, da
erfennt er, da zeigt er denen, die ihm am nädjiten folgen, was er ent-
det, und fo gewinnt er's auch ihrem Geilte ein. Der Dichter, der eine
Stelle im Menjchen- oder im Naturleben neu zu fühlen, neu anzuſchauen
fehrt, der Komponift, der mit neuen Tönen neue Seelentiefen bemegt,
der Maler, der uns Aug und Geift eröffnet, zu fehen, wie wir noch nie
gefehn, fie alle find Gipfelfünftler, Pfadfinder unſres Empfindens,
Weiterentwickler unfrer Seele, Genie®.
Die Höhenkunft erobert, die Volkskunſt befiedelt. Zwar, zunächft
find e8 nur mwenige, die dem Genie folgen fünnen — ſcheinen es fchnell
mehr, To fteigt immer die Frage auf: bift du wirklich ein jo Starker,
wenn dir nachzukommen jo bald den Schwachen gelingt ?, und wenn
du es bit: folgen fie dir nicht etwa, weil fie dein Neuland im Mikver-
ftändni8 am glatten Strand in der Nähe jehn? Aber die vom Genie
erregten Körper- und Seelenorgane üben und mie fie fi üben, fo fräf-
tigen fie fih. Die des Genies geniehen fünnen, e8 werden ihrer mehr,
den Vereinzelten ziehen Scharen nad, und auf dem neugemonnenen
Menfchheitsland erheben ſich Heimftätten. Was fie errichtet und pflegt,
daß es mwohlig darin fei und gejund, ift die Volkskunſt — fie arbeitet
auf dem Boden der Gipfeltunjt der Genies, fie felber aber hat nur
Talente, denn die Genies pflegt fie auszuſenden, ihrerjeit8 wiederum
Neuland zu ſuchen.
Volkskunſt ift nicht etwa: allgemein verftandene Höhenkunft. All—
gemein kann Gipfeltunft nie verftanden werden. Nicht nur eines
Goethe Fauft, eines Beethoven legte Kammermufit, eines Michelangelo
Sibyllen können nie von allen verftanden werden, jondern ſelbſt das
Naturbildchen des genialen Dichterß, der mit einem neu erhörten lange
eine neu empfundene Feinheit erichließt, oder noch jo beicheidene Werk—
lein echter Genies der andern Fünfte verlangen doch verfeinerte Organe
ihon zum nachfühlenden Genuß. Wird ein Genie voltstümlich, jo wird
e3 das jelten mit dem, was die Geihichte des Menſchengeiſtes aufzeichnet
als jein Tiefites. Wie falſch e8 wäre, deshalb die Volkskunſt gering zu
ſchätzen! Läßt fie das edeljte Korn aus der Ernte des Genies, das Saat:
torn für neue Frühlinge der Höhenkunft, unberührt, jo bädt fie doch
aus dem andern gefunden das gute Brot für die Taufende. Und wenn
wirklich nur eine erhöhte Geiftesfultur ein Volt wahrhaft blühen läßt,
wie könnt' es dann blühen ohne Volkskunſt?
Wir haben ja noch fonft Heutzutage mannigfaltige Arten von Kunſt.
Da ift die Luxuskunſt, die gerecht fo heißt, weil fie nur ein Luxus, alfo
wohl zu entbehren ift. Da find alle die Tendenztünfte, die man mad,
um irgend etwas anzupreifen, das abjeitS der Kunſt jelbft liegt. Ich
meine, abſeits ihrer natürlichen Aufgabe: die Kraft unferes Fühlens
und Schauen zu bilden, daß äußere und innere Auge, das äußere und
innere Ohr uns zu bilden, damit wir mehr aufnehmen und mehr uns
durchbluten laſſen können von der Unendlichkeit des Lebens. Da ift
die „Kunft für die Kunſt“, die allein ein Ausgeltalten der Wort-, Ton:,
Linien oder Farben-Sprade erjtrebt und gleichgiltig dagegen ift, was
Kunftwart — 1. Oktoberheft 1898
ung von Menfchenfühlen und Menſchenwollen mit jener Sprade im
großen Austaufch gefagt wird. Da ift die bloße Gefchidlichkeitstunft, da
ift die bloße Wohlgefälligkeitsfunft für die Sinne. Ihrer aller Wichtige
feit tritt weit zurüd hinter die der beiden großen Hauptgruppen, inners
halb deren echte Kunftzeiten ftet8 empor= und abblühten: Gipfel- und
Volkskunſt. Es ift Thorheit, wenn man die eine pflegen und die andre
vernadjläffigen oder beide gar als Gegenfäge verfeinden will. Sie be—
rühren, vermischen, verbinden ſich in taufend Mannigfaltigkeiten, aber
auch in ihren reinen Formen find te gleicher Pflege meıt. 4.
93990544
Dramen, die wir wünschen.
Die eigentümlihe Betriebsmweife zumal in unferer bramatifhen Tages—
literatur, die ja eigentlih nur nod) Saifonliteratur iſt, bringt e8 mit fid), daß
man bei Beginn jeder neuen Spielzeit begierig nad) ber inzmwifchen herange—
reiften Jahresernte an Dramen ausſchaut. Zmeierlei Gutes Haben die Kata—
ftropben bes „Florian Geyer” und des „Johannes“ mit ſich gebradjt: fie haben
die Geniepropheten etwas vorfihtiger geitimmt und fie haben vielen im Lärm
der Tagesreflame rat- und kopflos Gemwordenen einen Maßſtab gegeben, um
die Bedeutung und Tragmeite der „neuen Kunſt“ richtiger zu mejjen. Der
verunglüdte Sprung in die Hiftorie, von dem ſich Hauptmann in ber phantafti-
ſchen Welt der Nidelmänner und der Rautendelein zu erholen ſuchte, hat mit
einem Dale die Grenzen ber „neuen Kunſt“ hell beleudtet. Man fieht nun,
daß man in dem bürgerlichen Milieu der fi fo revolutionär geberbenden
Erftlingsdramen der Jüngern und Züngiten in einer engen, dumpfen Atmos—
fpäre ſich bewegte. In Zimmern fanden wir uns da, deren Fenfter nad
außen verfchloffen waren und in denen wir uns einbilden follten, fie feien
eine Welt, weil man zur Orientierung in ben pſychologiſch fo vieldeutigen
Möbeln, Eßgeſchirren, laut tidenden Uhren und lebendigen Singvögeln fo viel
Zeit brauchte, wie chedem ein Pofa, um uns im Fluge burd) den Geilt von
Sahrhunderten zu tragen. Ein fi) beionders mwigig dünfender Kopf hat kürz—
lid die Miniaturfunft oder die Kunſt des Mitroffopes als die wahrhaft
moderne gepriefen. Als wäre unfere Zeit nicht mit dem gleichen Rechte als
eine Zeit des Teleffopes, der Ferntragung der Kräfte, der möglichſten Weg:
räumung aller beengenden Schranfen, wenigjtens im phyfifchen Sinne au be—
zeichnen! Die Miniaturkunſt aber, die Kunſt bes Strichelns, der Heinen Linien,
ber photographifchen Treue fängt nachgerade an, uns fpießbürgerlih anzu—
muten; es fteigt aus ihr etwas von dem Lavendelbuft des älteften bürgerlichen
Scaufpieles herauf, deſſen Schöpfer fid) auch gewaltig viel darauf einbilbeten,
den Menſchen für die Bühne erſt entdedt zu haben, weil ſie zum erften Dale
zeigten, wie viele Thaler er zum Leben braudjte, mie er fein Leben in All—
tagsjorgen für Geihäft und Fannilie Hinfrifiete.
Ohne Zweifel find unfere jüngeren Ifflands weit tiefer in die Seele der
Männlein und Weiblein eingedrungen, die fie uns vorführen; dem Wahrheits—
übermut, der ſich bismeilen in tollen Sprüngen Zuft macht, lag gewiß viel
chter Wahrheitsdrang zu Grunde, obwohl e8 auch an koketten Wahrheits—
fomödianten nicht fehlt. Uber alle dieſe pfychologifchen und moraliſchen
Fragen von Individuum zu Individuum, vom Manne zur Frau, vom Vater
zum Stinde, ja innerhalb der eigenen Widerfprüche des Individuums, erihöpfen
do das Weltbild nicht, fie geben nachdenkliche Winke für das Leben des Ein—
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zelnen, regen an zur jorgfamen Selbitfhau, gar oft auch zur zwedlofen Hirn
grüblerei und Selbftfeftion, aber fie regen nicht an zum Handeln, fie weden
temen Willen —, fie drehen uns immer in bemfelben Streife herum und
hinterlaffen troß aller individuellen Wahrheit, troß aller überrafhenden Wir:
fung des Momenteindrudes fhliekli eine peinliche Leere.
Hinter aller Kunst tet zulegt das Perfönlihe, wir alle fuchen e8 ge=
radezu, wenn aud) unbemwußt, fo lange wir in ber Hunft überhaupt mehr
ſuchen als eine Finger= oder Kopffertigkeit. An Fingers und Sopffertigkeit
fehlt e8 nun unferen jüngeren Dramatilern nicht, fie haben in ihrer, allerdings
ziemlich äußerlien Weife fehen und danach bilden gelernt, aber wenn man
nad) bem Temperament fragt, Durch welches hindurch alles dies gefehen, ge=
bildet ift, ja, dann fennt man fich ſchwer aus. Haben fie ein Temperament,
eine individuelle Weife, die Dinge zu jehen? Kaum, fie haben höchſtens Tem—
peramente, Temperamente, die ſich zuweilen mit ber Saifon, mit dem Erfolge
wechſeln Iaffen. Als Künftler find fie reifer geworden, als Berfönlichkeiten,
d. h. als Männer von Willen, von einer Weltanfhauung find ſie's gewiß nidt.
Der ganze Unrat unjerer Zeit, da8 Sichhinübergleitenlaffen von einem Tage
aum andern, von Welle zu Welle, ein Segeln nad) jeder fpringenden Laune des
Rindes kennzeichnet unſere moderne Dramatik von vornherein als eine Arbeit
des Tages für den Tag. Laufch ich aber tiefer in das Gewirr der Stimmen
Hinein, fo glaube ich einen Ton immer deutlicher zu vernehmen: den einer
großen Sehnfudht, der dem Gefühle der Unraft, der ZBiellojigfeit, der Zus
fälligfeit entfpringt. Es iſt eine aufdämmernde Grfenntnis, die noch nicht
Start genug it, ®eftalt zu gewinnen. In einzelnen Dramen freilich ift ihre
Stimme ſchon laut, aber noch ift fie verworren, und die länge zerflattern,
ohne Melodie zu werden.
Nach diefer Seele, die fidy zu regen beginnt, ſchauen heute wir alle aus.
Nicht mehr Naturalismus noch Idealismus, nicht mehr Fragen der Form
vermögen uns innerlich zu befhäftigen, zum mindeften nit als das MWich-
tigſte. Iſt der große Inhalt da, jo wird er die Yormen finden, er wird fie
fi) fchaffen. Und welde Kunſt diefen Inhalt bringe, fie wird fiegen. Es iit
ſchwer, folden Hoffnungen und Wünſchen Mare Worte zu geben: dunfel und
unflar wie unfere Hoffnungen und Wünſche felbft find, miderftreben fie der
ſcharfen Umgrenzung durch den Begriff. So viel aber fann man mit Bes
ftimmtheit fagen: nit die Form des neuen Dramas intereffiert uns fo ſehr,
dieie Fragen find wohl nun entfchieden, aber das dichteriſche Weltbild
der Zukunft nimmt alle unfere Erwartungen in Anſpruch. Etwas wie ein Fauft
des zwanzigiten Jahrhunderts thut uns not. Nach allzulangem Aufenthalt in
dumpfer Alltagsenge fehnen wir uns nad) weiten Yusbliden, nad) Fernfichten
von tragenden Gipfeln, nad Ewigkeitsgedanken; nachdem wir lange, die Yugen
anı Boden, fhleihen und friehen mußten, mödten wir wieder aufreht und
vorwärts fchreiten, ja, fliegen mödten wir fogar, wie „unmodern“ das jcheinen
mag. Möchte uns das Drama wieder mehr bringen als neue „Senjationen“,
dieſes erjehnte neue Drama, oder richtiger überhaupt: Diejes neue Kunſtwerk!
Thut e8 das, fo wird e8 thun, was echte Kunſt vermag, e8 wird neue Lebens—
quellen erfchließen, allen, die da düriten, zum Heile! £eonh. Lier.
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Theodor Fontane.
„So frifch blüht fein Alter wie greifender Wein“ — wir alle waren ge-
möhnt, ihn al® ben ewig Jungen anzufehn. Daß er bald heimgehn würde,
feiner badjte daran. Da fiel’8 ihm plöglich bei: „bu, bift du nicht bald neun
und fiebzjig? Dann verfäume dich nicht, dann iſt's Zeit.” Alſo ftand er eben
auf und ging, ohne Schmerz, ohne Abſchied, „ohne Feierlichkeit“.
Nein, das von ber ewigen Jugend, bei Fontane war’8 mal mehr, als
eine Redensart. Als er feinen erften Roman ſchrieb, war er den Sechzigern
nah. Als die jungen Poeten in feinem Schaffen das fanden, was fie felber
eritrebten, war er ein Siebziger. Und e8 ging immer nod) fort, dieſes Weiter
bilden. Was heißt denn jung fein, als: nody wachen? Es ſchien ein Wunder,
wie dieſes Gehirn unter weißem Haar imnier nod) fi) entwidelte, und war
herzerhebend zum Jubeln.
Uber wir müfjen uns davor hüten, nur auf den Fontane der lebten
Jahre zu fehn, wenn wir den ganzen Dann erfaffen wollen. Die Meijter-
balladen feiner frühen Zeit hallen faum nod) fernher in feine legten Werte
aber man darf fie nicht überhören, will man bes Dichters Lebenswerk verjtehn.
Gab es doch eine Zeit, in der Fontane weit mehr als ein Wirklichleitsfchilderer
ein Phantafiepvet im befonderen Wortfinne war, und wenn er damals jchon
feine große Luft Hatte am derben Handeln, an ben Menſchen der That, fo
ging er dazwiſchen doch jogar dem Phantaftifhen nah Bis zum Spukhaften.
Nicht. nur in feinen Gedichten zeigt ih das, auch in manchen der Novellen,
und nicht bloß darin erinnert feine ältere Dichtung zumeilen an Storm. Auch
Fontanes Vorliebe jür allerlei Seltfames, „Kuriöfes*, für das Schnörkelwerk
an ben Gebäuden des Lebens ermweijt fein Bedürfnis rein nad) Beihäftigung
der Einbildungsfraft.
So war e8 kein nüchterner Geift, fein trodener Kopf, der ſchließlich
zum „Naturalismus“ geführt warb — wenn man denn auch bei ihm das
Wort gebrauden will, das eigentlih Acht und Bann verdiente, wie ale
„Ismen“. Drüben Schottland hatt’ es ihm gejagt: die heimiſche Mark ift des
Scdilderers, ift des Sängers wert, wie dieſe hier. Seit frühen Jugendtagen
fannt’ er die Mark fo gut, liebte er fie, war fie ihm Heimat. Ein „Vaterland“
ift eine abgezogene Borftellung, eine Jdee, ein „Vaterland“ haben wir alle,
eine „Heimat“ bedeutet eine Fülle von Unfhauungen von allerlei Lieben,
womit wir verwadjfen find. Für Fontane alfo war die Marl Heimat. Aber
auch das „Vaterland“ war ihm nur erweiterte Heimat: nit die abjtraften
Ideen der deutichen Madt, Größe, Einheit ſchwebten ihm vor, wenn er von
Vaterländifhem ſprach, fondern die märkiſchen Bilder aus Stadt und Land,
die Menfchen, die dieſem Boden entwuchſen, die Erinnerungen an ihre Gefhichte
und all ihr Thun und Leiden überhaupt. Vielleicht mar er gerade deshalb unſer
einziger „patriotifher* Dichter, der keine Phrafen machte. Immer beobadjtend,
nachforſchend, aufnehmend bereicherte er fortwährend feinen Shat von An—
fhauungen, ſchuf er fi, man darf fo fagen, immer mehr Heimat. So ftand
er endlich da: al8 Poet mit lebendiger und in manchem Jahrzehnt ber Arbeit
geübter und erzogener Phantafie, als Mann mit einer überreichen Fülle felbit-
gefundener Eindrüde, die das Heimatsgefühl fejt in die Seele geſenkt hatte,
und welde die Liebe zur Heimat warm hielt — fo ftand er da, als fi
feine Aunft der Gegenmwart zumandte, Iſt e8 ein Wunder, daß er dba
fonnte, was die Jungen wollten? Es bleibt ſchon dabei: er pflüdte ihnen die
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
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Kränze weg — feine legten Romane find die bebeutenditen beutichen Gegen—
mwartsjhilderungen aus unferer Zeit.
Man betont immer wieder den Preußen in Fontane Dan jollte
doch nicht vergeflen, daß er aus Frankreich ſtammte. Preuße vom Sceitel
bis zur Zeh ift Adolf Menzel, der größte preußifche Künstler, der je gelebt hat.
Fontane zeigte die glüdlihe Miihung von Franzoſen- und Preußengeiit, die
uns an mandem bedeutenden Manne erfreut. Die Liebenswürdigkeit, die An-
mut, die Plauderkunſt Fontanes, find denn das in befonderem Daß preußi-
ihe Eigenfhaften? Mir fcheint im Gegenteil: für die recht eigentlich preußi-
ihen Zugenben hat Fontane zwar eine jehr hohe theoretiihe Schägung gehabt,
praftiih ausgeübt aber hat er fie zum mindeſten nicht vorzugsweiſe. Ja, feine
Vorliebe. für manches „Preußiſche“ entfprang vielleiht gerade dem Gefühl,
daß e8 feine eigne Natur ergänze Will man eine fittliche Eigenfchaft in
den Mittelpunkt feiner Charafteriitif jtellen, fo trifft man auf eine, die eben:
fomenig mit dem Frangofen= wie mit dem Preußentum an fich zu thun hat.
Ih meine die fein ganzes Wefen volllommen beherrſchende, Teitende Toleran;.
Es ift zwar erſtaunlich, wie Mar Fontane bei feinen Lieben aud) die Schwächen
und Mängel fieht, und wie ruhig er von ihnen fpridt. Auch dann aber zeigt
er nicht nur feine „preußiſche“ Satire und fein „berlinifches* Spotten, ſondern
auch fein franzöſiſches „Medifieren“. „Es ift eben fo, und fo wird's wohl fein
Intereffantes haben, die Leute felbjt aber können doch eigentlidy nichts dafür.“
Man mag jehr viel einwenden gegen ſolche Weltanfhauung, die Schwädere
zum Ouietismus führen würde, bei Fontane komme ich mwenigftens nie zur
Unluft: die große goldene Güte leuchtet zu fonnenhaft Hinter allem, was cr
Sagt. Er beipridt ruhig die Schwächen, weil ihm Schwächen bei Menſchen
jelbftverftändlid) find. Und mit welder Feinheit befpriht er fiel
Fontane erinnerte mid) einmal an Macaulays Wort: „wär id) im
Stande, das Alltagsleben der Eity von London ums Jahr 1599 zu fchildern,
fo gäbe id) meinen ganzen Hiſtorilerruhm dafür Hin.“ Lange, lange wird
man auf Fontaniihe Schilderungen zurüdgreifen, will man fi vors Auge
führen, wie die Märker unjrer Zeit lebten, dachten und thaten. Wielleiht daß
von feinen PBreußen-Baladen die oder jene nod) länger Hingen wird, Volks—
lied geworben, ıvenn e8 dann wieder Volfslieder gibt. Uns Zeitgenoifen
fann fo wertvoll wie feine Dichtung, jo vorbildlid) feine Menſchenperſönlichkeit
fein. Wie fannte er ſich — mar beachte nur, daß er, der einflußreihe Theater—
fritifer, der nebenbei ein Poet war, niemals „fürs Iheater* gejchrieben hat.
Bon al den Brüdern in Upol iſt er der geſundeſte geweſen, wie er
von all’ unjern Roman=Dichtern der natürlichite, der ehrlichite, der jahlichite
war. Minder gefund, wär er minder bedeutend gemeien. Vielleicht dentt
gerade Darüber ein oder der andere feiner jungen Bewunderer aud) einmal nad).
Ueber Fontane legte Werfe ſprechen wir im Kunftwart nod). U.
er
Die Gefabren der öffentlichen ADusikpflege,
Dan hört es oft von ftünftlern, namentlid) von folcdhen, die felbjt feine
Opern fchreiben: die Theater verdürben die Muſik. In gewiſſem Sinne fagt man
da8 unbeftreitbar mit Recht; nur märe der Sag dahin zu verallgemeinern, dab das
öffentlihe Musizieren überhaupt der wahrhaft fünftlerifchen Pflege der
Tonkunſt Nachteile gebraht und den Kultus des Birtuofentums großgezugen
Kunjtwart 1. Oftoberheft 1898
—
babe, ber gegenwärtig herrſcht und feiner empfindenden Naturen die Teilnahme
am fogenannten Mufifleben geradezu verleiden kann.
Natürlich, nur eine übertriebene Asketik könnte einen kulturäſthetiſchen
Feldzug gegen alle Konzerimufif eröffnen. Es ijt Mar, daß gewiſſe, höchſt
mertvolle Zmeige der Tonkunſt eine Hörerfhaft geradezu zur Vorausfegung
haben, mie bie Sinfonie und die Ballade. Ein Lied fingt man, eine Sonate
fpielt man für fih allein, und ein Streichquartett ift eigentlih zunächſt für
den Genuß der Mitfpielenden fomponiert. Aber Niemand wird fi) felbft eine
Ballade vortragen ober eine Sinfonie aufführen, e8 fei denn zum Zwecke bes
Studiums, während das Lied und das Kammermuſikſtück ein Publitum nur
injoferne zulaflen, als diefes fähig und geneigt ift, ideal betrachtet, in ben
Perfonen der Singenden oder Spielenden aufzugehen, fih in der Phantafie
gleihfam in biefe zu verfeßen und dadurch bes zunächſt bloß individuellen
Genuſſes mit teilhaft zu werden.
Je mehr fi der Kreis des Publikums erweitert, deſto feltener wird
biefe Bedingung zutreffen. Die Stellung des Künstlers als des Gebenden wird
erſchwert, je mehr Fordernden er gegenüberfteht. Um allgemein faßlich zu
werden, verfällt er leicht ins Platte, um über das vorausfichtliche Unverſtänd—
nis für feine höchſten Abjichten durch Gefallsmomente hinwegzutäuſchen, ſucht
er nad; äußerlihen Wirkungen. Schliekli denkt er immer meniger an fein
Werk als an den Eindrud, den fein Werl maden wird. Und bat er einmal
die ſchwachen Seiten des Publikums erkannt, lernt er nur zu jchnell, fie ſich
zu Nuße zu maden. Der vortragende Virtuos aber fühlt ji) immer weniger
als Vermittler der Ffünftleriihen Abfiht, wenn er diefe nicht etwa in Den
Schlagern des Werkes erblidt, und verleitet den Komponiſten, feinem Bedürf-
nis nad) „danfbaren* Nummern zu entfpredhen. Das Publifum gar blidt zu
den Künftlern, die dort auf der Maſſe all feiner eigenen ſchlechten Neigungen,
feiner Oberflädlichkeit, Unbildung und Neugier thronen, wie zu Göttern auf,
und der Einzelne beeilt ſich, dilettantifch nacdzuahmen, was Jene ihm mit
blendender Fertigfeit vormadten. Dadurd) wird unfere ganze ſtonzertmuſik
veräußerlicht, daran ift unfer Kammerſtil zu Grunde gegangen, darunter leidet
das Kunſtlied ſchon in bedenklichem Grade. Jedermann fchafft heutzutage nur
für die Bühne und den Stonzertfaal, weil er nur da Ausſichten bat, daß fein
Werk gefungen, gelauft und befannt werde, Kann man überhaupt als Künitler
für etwas ſchaffen, iſt dieſe abjihtsvolle Arbeit auf eine äußere Wirkung
hin noch ein Schaffen ?
Auch in früheren Zeiten war der Stonzertjfaal der Sig des Virtuoſen—
tums. Aber damals Hatte man ein jtarfes Gegengewicht in der herrſchenden
Hausmuſik. Van will in der Kunſt immer mehr blos paſſiv geniehen, als
mitthätig. Das edle Mufizieren daheim oder in kleinerem reife nimmt er=
fchredend ab; aus unferem ganzen öffentliden Leben weit die Muſik über-
haupt immer merflidher zurüd. Das Ständchen, das Hochzeitslied u. a. gehören
bereits der mythifchen Ueberlieferung an; für unfere Volfslieder müſſen wir Die
Gelegenheit, fie zu fingen, mühſelig ſuchen oder gemwaltfam herbeiführen; die
alten Volksſänger find ausgeftorben oder in den Dienjt des Tingl=-Tangl ge—
treten; auf unfern Feſten fpielt man feine eigen dazu geihaffenen Märſche und
Tänze mehr, jondern entlehnt den Bedarf aus dem Repertoire der Bühne und
bes Stonzertfaals: man nimmt von ber Bühne in die Wirklichkeit, was bie
Bühne doch als Bild einer fhönen Wirklichkeit nachahmte.
Kunftwart 1. Ortoberheft 1898
— 8 —
Zr
Erster Druck nach dem Manuscript.
Niels Finn.
(Aus Björnson's Drama: „Hulda‘)
Allegretto, aber frei im Vortrage Martin Plüddemann.
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— — ——
kleine Niels Finn,doch der
GESANG.
PIANO.
Stimme des Geistes.
Zus —
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„Das ist schlimm!“ sprach es
Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München.
Alle Rechte vorbehalten. 44573
MAX KLINGER
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Was ijt dagegen zu maden? Mande behaupten: nichts, und geben alles
verloren. Andre, und zu denen gehören auch wir, meinen, daß durch herz—
Haftes Eingreifen und planvolles Vorgehen das Vorhandene nit nur von
meiterem Untergange zu retten, fondern daß auch nod allerhand Berlorenes
zurückzugewinnen, ja fogar die alles an ſich reißende Tyrannei der Theater-
umb Sonzertmobe zu brechen ſei. Wie aber? Davon fol im Laufe diefes Jahr:
gangs noch einläßlich geſprochen werben. Rihard Batfa.
Gustav Mabler.
Unter den lebenden deutſchen Komponiſten großen Stils fteht mit in ber
vorderſten Reihe der nunmehrige Leiter des Wiener Hofopernhaufes, wenns
gleih Guſtav Mahler als Tondichter bei weitem nod) nicht jene ausgebreitete
äußere Anerkennung einer geſchloſſenen Partei erlangt hat, wie Richard Strauß.
Eben daraus ergibt fich aber für ung die Verpflichtung, ung näher mit ihm zu
befaffen und die Deffentlichleit auf die Eigenart feines Schaffens hinzu—
weifen,
Das Biographifche ift faum ber Rede wert. Im Jahre 1860 in Kaliſcht
geboren, hat er in Wien den philofophifchen Hörfaal mit dem Stonfervatorium
vertaufcht,, fi) darauf jahrelang als Kapellmeiſter erſt an Fleinen, bann an
größeren Bühnen herumgeſchlagen, überall mit nervöfer Hartnädigfeit die
ibeale Forderung erhebend, um, fobald man ihn darin behindert, kurz ent—
ſchloſſen aus dem Amt zu jcheiden und mit der Leihtblütigleit eines böhmi-
fhen Muſikanten ins lingemwiffe hinauszumandern. Wber fein Stern und feine
außerordentlichen Fähigkeiten als Dirigent madten, daß, wenn er einem Wir—
fungskreife den Rüden fehrte, alsbald ein anderer ehrenvollerer ſich ihm er—
ſchloß. Nicht fo glüdlich jedoch erging es ihm mit feinen Tonmerfen. Die
wurden von ber Kritik als Monſtra verrufen, und man urteilte über fie: das
fei nit Muſik, fondern Lärm, Skandal, Unfug, Umfturz, oder wie man es
fonft bezeichnen molle.
Soll ich Mahlers des ſtomponiſten Charakter bildlich oder vergleichs—
meife fennzeichnen, jo fällt mir ſtets T. U. Hoffmanns romantifcher Kapell—
meijter Sreisler ein. So viel Zerriffenes, Unftätes, Ringendes, aber aud) fo
viel Hochideales, Sehnſüchtiges, Andividuelles und Könneriſches“ ſteckt in Diefer
Muſik. Die jchreibt Keiner, der die Klatihhände eines Parterres in Bewegung
fegen mil, fo fchreibt nur, wer ſich im Innerſten dazu gedrängt fühlt. Freilich
das: „und wie er mußt’, fo fonnt’ er's“ läßt ſich da nicht fo ohne weiteres
behaupten. Gewiß, dat Mahler alles Techniſche mit geradezu virtuofer Kunſt
beherrfht und daß er mit dem ungeheuren Upparat fünjtlerifcher Mittel als
unbeftreitbarer Meijter jchaltet. Aber keineswegs bleibt er immer Herr feiner
mufitalifchen Gedanken: es ift oft, als rijfe der Wirbelfturm feiner dämoni—
fhen Phantafie ihn willenlos fort, als wüchſen ihm ihre Gebilde über den
Kopf. Dann freilicdy jehen wir ihn, freien Hauptes mit feitem Griff fie formen,
ordnen und lenken, — bis fie mit einem Dal wieder die Oberhand gewinnen und
ihn in ihre Gewalt nehmen. Etwas Bizarres haftet ihm darum an wie
Richard Strauß: aber bei diefem jtedt es mehr im Einfall jelbit, in der Theſe;
bei Mahler hingegen mehr in ber Durchführung, meil die verdicdhtende und
geitaltende Kraft bei ihm, dem echten Romantifer, der jehöpferiichen nur mit
Unterbredjungen das Gleihgewidht hält.
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
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Das zeigt fih ſchon in Mahlers früheſtem Werk, in den 1883 fompo=
nierten und — gedidhteten „Liedern eines fahrenden Gefellen“, mo bod nur
Heine Formen zu bewältigen waren. In ber fühnen Harmonif, in der Vor—
liebe für bdiatonifhe Melodie, fanonifhe Stimmführung und häufigen Taft-
wechſel, in der vollen Hingebung an die Eindbrüde der Natur kündigt fih der
ſpätere Mahler deutlich an, und manche Fäden fpinnen fid) zu feiner fünf Jahre
nachher beendeten eriten Sinfonie hinüber. Mahler war ein bevorzugter Schüler
Brudners und fchreibt wie diefer Sinfonien von ungemwöhnlider Ausdehnung.
Ja, feiner von zentrifugalen Mächten beherrichten Bhantafie genügen vier Sätze
nit: er braucht fünf, im legten Werk fogar ſechs. Die Form der Sinfonie,
die fich bei Lifzt und feiner Schule, zu ber ja auch Strauß gehört, zur ein
fäßigen finfonifhen Dichtung zufammenzog, mwird bei Mahler faft zur Suite
erweitert. Ein poetifches Programm, eine pſychologiſche Entwidelung ift auch
bei ihm nachweisbar, aber er begnügt fich, fie durch Ueberſchriften anzudeuten;
mo er ganz deutlich fein will, zieht er ben Geſang zu Hilfe. Es ift, als nähme
er ben Gedanken ber von Beethoven geplanten zehnten Sinfonie auf und
fchildere uns gleih in den erjten Säßen ein üppiges Dionyfosfeft mit allen
Orgien der Schmerzen und der Wonnen. Welches Schwelgen im Erguß ber
mufifaliihen Quellen, die ihm aus dem Innern ftrömen! Man hat über
„gewollte Ubicheulichkeiten* bei Mahler geflagt und gemeint, die Tonkunſt
habe doch die Aufgabe, die Diffonanzen des Lebens harmoniſch aufzulöfen.
Sehr richtig, aber dann muß fie, wenn fte als mahres Abbild des Lebens
gelten will, vor feiner Berflärung auch feine Wirrniffe fhildern, vor ber Er—
löfung aud) die Paſſion. Rückſichtslos wie die Mächte und Weſen diefer Welt
im Sampf ums Dafein leben die Stimmen Mahlers fi) aus, mit einander,
gegen einander, in unbarmberziger Polyphonie, und aus ihrem Getriebe er—
tönen ergreifende Sehnfuchtsrufe nad Frieden und Glück.
Weltſchmerzliche Kunſt fteht jest auf der Tagesordnung, zumal da
Wagner unfere Ausdrudsmittel nad) der Richtung des Kataſtrophiſchen fo fehr
bereichert hat. Das »Inferno« haben ihm feine Jünger allbereits trefflich abs
gegudt, und wer getraut fich fo bald zu entjcheiden, ob die bräuende Miene,
die fie annehmen, ber unaffektierte Ausdrud ihres Empfindens ober eine Maske
ift? Nur das »Paradisos, worein der Meifter uns doch aud) nad ausgeſtan—
denen Schreden zu führen wußte, bleibt ihnen meift ungugänglid. So regt
ſich der Verdacht, als ftürzten fie fih in den Pfuhl des Grauens und der
Surdtbarkeiten nur deshalb, weil ihnen die melodifhen Trauben zu God
hängen, und man glaubt ihnen folglich auch die pathetifhe Naferei nicht recht.
Darum ift das Adagio der Prüfltein des Komponiſlen.
Mie verhält fih Mahler darin? Schon von allem Anfang ganz aus ih
herausgehend, Hat er feine tiefjten Seelenlaute gleih mit dem frampfhaiten
Ueberfhmwang bes eriten Satzes entladen. Es liegt nidht in feinem Wejen, aus
dem Grund eines gefammelten oder vollbeftiedigien Gemütes feinen Gejang in
ruhiger Größe und Teierlichkeit quellen zu laſſen, wie Brudner. Dieje geiftige
naive Ruhe und Würde befist er nicht. Um fich aber auch als Melodiker Ge—
nüge zu thun und Erholung nad dem trunfenen Taumel zu jhaffen, beginnt
er — zu Spielen: Tanzweiſen von entzüdender Anmut, voll Lit und Glanz,
die, nebenbei bemerft, aud) lehren, daß wir nicht zu den Zuckerwaſſerkompo—
niften zu gehen brauchen, wenn wir für unfere Stimmung etwas Süßes und
Einfchmeichelndes bedürfen. Und bier, wo er, beinahe tändelnd, fich nicht mit:
erregt, behält er bezeichnenderweife aud die Zügel feiner Phantafie in den
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
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Händen. Wie wohlgeformt ift das Andante der zweiten Sinfonie! Ein gras
jiöfer Bändler in As-dur, den man als Tyrolienne bezeichnet hat, der aber
meit eher auf Mahlers böhmiſche Heimat zurückweiſt, wird, jedesmal durch
einen Zwiſchenſatz unterbrochen, zweimal wiederholt und babei von einer
neuen Tanzweiſe begleitet, die zur erjten im doppelten Stontrapunft fteht, d. h.
einmal in der Unterftimme und ſchließlich in der Oberftimme mitgefpielt wird.
Diefe faft fchergoartigen, langſamen Sätze find für den Sinfonifer Mahler ebenfo
bezeichnend mie feine von religiöfer Inbrunſt durchleudhteten Finale. Sobald
es Mahler ernit zu Mute mird, geht aud das Chaos, wenigſtens für ben
Hörer, wieder an, injofern als es ſchwer fällt, den mitunter verftiegenen
Gängen jeiner Gedanken zu folgen. Aber die einmal außgelöften religiöjen
Empfindungen greifen um fi, dominieren und führen nad) ben gemaltigiten
Ronfliften und Erichütterungen zu einer verföhnenden Katharſe der Leiden—
ſchaften.
So deute ich mir Mahlers Kunſt, deren großen Zug man auch dort ver—
ſpüren kann, mo einem das Verſtändnis ausgeht oder wo man ihn gelegent—
ih „in Irrnis wild verloren“ zu treffen wähnt. Mas er uns fünftig aud an
Freundlichem oder Schlimmem, Reizendem oder Grokartigem ichaffen möge:
fo wie er heut ſchon iſt, erfcheint er als einer ber auffallenditen Eharafters
föpfe unter den namhaften Tontünftlern der Gegenmwart. 2.38.
*
Ueber Kunstpflege im Mittelstande.
8 Die Bilder in der Wohnung.
Die Aufläge des vergangenen Jahrganges behandelten die Nusgeftaltung
bes Raumes felbit und der darin befindlichen Gebraudhsgegenftände Bon
Bildern follte nicht die Rede fein, bevor eine Stätte, eine Urt „erweiterten
Rahmens” für fie angenommen werden konnte.
Sieht das Haus nun fo aus, wie e8 bei einem äſthetiſch gebildeten
Menſchen eigentlich ausfehen müßte, fo wird man baran gehen, die höchſten
Senüffe, melde die bildende Kunſt dem Menſchen zu bieten vermag, gleihiam
als. Hausgut einzuführen.
Aber ad), follte id) num die bis heute in Deutfhland übliche Kunftpflege
binfichtlich der Bilder beleuchten, ich fäme zu einer endlofen Jeremiade. Für
unfere Lejer Hänge dabei nicht einmal fonderlich Neues daraus, deshalb dent
ih, wir verzichten darauf, wieder von den Leuten zu reden, Die Deldrude ins
Zimmer hängen oder im Beſitz der üblichen Kunftvereinsgeminne fi) glüdlich
Ihäten. Sehen wir lieber den Fal, ein Mann, der jehr wohl wüßte, mas
Kunſt jei, fühlte fih doc in Verlegenheit darüber, wie er feine Kunſtliebe
bethätigen ſollte. —
Es handelte fi für ihn zunächſt um die dekorative Ausgeſtaltung der
Räume durch Bilder; das, was an Hunftihägen in Mappen und Schränten
ruhen fol, ijt eine Sade für fih. Da ift nun zunädft vor dem Glauben zu
warnen, man ſchmücke einen Raum daburd, dab man alles darin aufhängt
und zufammenftapelt, was man irgend befigt oder auftreiben kann. Selbſt
wenn ſichs um Stunftwerfe handelt, tröge folder Glauben. Denn es gibt Dinge,
die als Kunſtwerk bedeutend, aber nicht zum Zwecke des Schmuds entitanden
find und deshalb aud nit an bie Wand gehören. Und es ift deshalb eine
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
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durchaus bereditigte Forderung, daß die zum Schmud der Wand beftimmten
Werke aud) dekorativ feien, ohne damit ihre anderen Eigenschaften auszuſchließen.
Damit man mid) recht veritehe, möchte ich ein paar Worte darüber einſchalten,
wie ich hier den Schmuckwert, den dekorativen Wert veritanden haben mill.
Dan nehme etwa folgendes an. Ich babe ein Blatt von irgend einem Meifter,
auf dem biefer mit Feinfühligfeit die Umrißlinie einer Geftalt mit dünnem
Strihe gezogen Hat. Das Blatt fei gerade dadurd) eine Meifterleiftung, an
der man jedes Mal feine Freude hat, wenn mans zur Hand nimmt. Um fid
nun dieſe Freude dauernd zu verfchaffen, Täht man das Blatt rahmen und
hängt es an dem bevorzugteften Plak an die Wand. Nun aber, da man täg—
lich daran vorübergeht, unterläßt man es bald, davor ftehen zu bleiben und
das Auge liebfofend über die Stonturen gleiten zu laſſen. Schlieflih nimmt
man nur nod) das weiße Blatt wahr — das dekorative, das ſchmückende Er—
gebnis ift, — daß man ein weihes Papier aufgehängt bat. Der Zeichnung
gingen eben alle beforativen Eigenſchaften ab, und es war falfch, fie an einen
Platz zu hängen, von dem aus je nad dem Einzelfalle ein jtarfer farbiger oder
dißfreter Klang oder doch zum mindeftens ausgefprodene Linien oder Flächen
die Stimmung des Zimmers hätten beeinflujien follen.
Man nehme nun einmal das Gegenteil eines ſolchen Shmudes an: man
Hinge an dieſelbe Stelle des Raumes einen farbigen Wanbteppid), der eigent-
lich gar nichts darftellte, fondern nur Farbenfreudigfeit verbreitete und ſich in
feinen Linien und Flächen dem Rhythmus der Arditeltur anſchlöſſe. Ein folcher
Teppich brauchte fein großes Kunſtwerk zu fein und fünnte doch dem Zweck
beifer dienen, als jenes ausgezeichnete Blatt: er künnte ein Shmud der
Wand, des ganzen Raumes fein, er könnte ihn gleihlam durchwärmen. Dod)
{liegt nun das eine das andere nicht aus: e8 kann fehr gut ein großes Kunſt-—
merf die deforativen Momente befigen, wie fie ihm ebenfo auch fehlen fünnen.
Nur wäre es ridtig, eben die als Schmud zu verwenden, die fie befiken.
Es ijt alfo durchaus feine unbillige Forderung, daß die bevorzugteite Wand-
fläche eines foloriftifh fein geitimmten Raumes, alfo das an der Hauptwand
hängende Bild, fi) der farbigen Harmonie des Naumes eingliedere, ja, daß
e8 nad) Möglichkeit diefe erhöhe.
Es ergibt ſich als ein Grundfaß, der immer und immer wieder zu bes
tonen ist: Iſt ein Raum in Linie und Farbe zur feiniten Harmonie
geitimmt, fo darf id) dahinein feine neue Fläche, alfo aud feine
willkürliche Bildbflädhe einführen, die nur Unterbrehung iſt, Die
in ihren Linien und Farben fih nidht denen des Naumes ein—
gliedert, mag nun das Bild gut oder ſchlecht fein.
Die Forderung wird jedenfalls am volltommenften erfüllt — das
deforative Wandbild, das für und in den Raum an die Wand gemalt wird.
Unter den Sichtbebingungen des Raumes, in der bewußten Abficht des Schmudes
entitanden, muß ein folches Bild bdeforativ werden, ohne daß der Künſtler
veranlait würde, nur ein Stüd der feelifhen Vertiefung, deren er fähig ilt,
aufzugeben. Ich bemerfe das hier nochmals nachdrücklich, um dem allgemeinen
Borurteil entgegenzutreten, welches „deforativ“ mit „oberflächlich“ verwechſelt.
Siftorifch ift ja auch die große Kunſt aus der Wand-, aus der Frestomalerei
hervorgegangen, und nur Bequemlichkeits- und Nüslichleitsrüdfichten brachten
almählih die Verſchmelzung mit dem Altarbilde zum Staffeleibilde. Auch
da8 TZafelbild der alten Meilter hat die Eigenſchaften des Wandbildes,
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— 12 =
erft uns Modernen ift die Forderung bes Dekorativen als einer felbjtverftänd-
lichen Borausfegung für ein gutes Bild verloren gegangen.
Bei jenen ging die Entwidlung ganz folgeridtig ihren Weg. Die Lebens—
verhältniffe drängten auf einen Erſatz für das nicht transportfähige Fresko;
man fing an, bie Bilder auf große Holztafeln oder auf Leinwand zu malen,
denen man, auf Rahmen aufgefpannt und mit einer fchmalen Zierleifte abge
ſchloſſen, die Funktion ber Mauermalerei übergab. Es ift Far, dab man bie
ihmüdenden Qualitäten gang von ſelbſt betonte: dak man innerhalb ber
Bildflähe Ruhe und Gefhloffenheit in Farbe und Zeichnung walten, ba
man babei jedoch recht wohl einer ftarten und angenehmen Farbe das
Wort ließ; daß man ben Gefamtton des Bilbes in einen bemerfbaren Gegen—
fat zu dem ber Umgebung bradjte, um zu trennen, und daß man biefen
Doppelflang doch wieder auf einander ftimmte, um eine Harmonie zu erzielen.
Diefelben Anfhauungen übertrugen fih nun aud) auf bie neue Spielart des
Staffeleibildes, das Kabinettbild, auf das farbige Kımftblatt im fleinen For—
mat, das in feiner Hanbdlichleit im ı7. und ı8. Jahrhundert ber Liebling ber
Kenner und Sammler wurde. Ueberall fehen mir aber auch noch Bier, wie
der jhmüdenden Funktion mit feinftem Takt Rechnung getragen if. Da, mo
andere Abfichten herrfchen oder mo ſich bie Abfichten nicht mit den Bildforbe-
rungen vereinigen laſſen, wählt der Künſtler andere Darftellungsformen, die
fih ihm in Handzeihnung, Kupferftih, Radierung (und fpäter Lithographie)
reichlich bieten und, im mefentlihen für Bud und Mappe beitimmt, Feine
beforativen Abſichten zu haben brauchen.
So meit ift die Entwidlung vollftändig folgerichtig ihren Weg gegangen.
Der Begriff Bildmwirfung ftand feft, und feine Zeit biß auf unfer Jahrhundert
wid) von feinen Forderungen ab. Mit den Sartonzeichnern erſt verlor Die
deutſche Kunſt das Können, die Bildbwirkung zu erreichen. Verſuchte man’s
noch, fo verfudte man’8 an der Hand der alten Meifter. Wie epigonenhaft
ſchwächlich diefe Kunſt im allgemeinen war, braudjt bier nicht nochmals betont
zu werben, e8 hat auch nichts mit unferer Frage zu thun.
Die Zeit, die dann kam, ftellte fi) befanntlicd) die Aufgabe, die Natur
mit bisher unerhörter Sadlichkeit ber optifhen Wirkung nachzubilden. Das
brachte fo viel Neues, daß man darüber die dekorative Wirkung ganz vergak
und fi eine Zeitlang einbildete, „Wirklichkeit oder nit Wirklichkeit ?*, das
fei die weſentlichſte Frage. Die ftrenge Schulung vor ber Natur, die dieſe
Zeit de8 dogmatifhen Pleinairismus mit fid brachte, ift eine Notwendigkeit
gemwefen; doch find die Schuljahre jegt vorbei. Seine Bildfläche richtig zu be—
grenzen, alles Gleichgültige auszufondern, bis das Ganze auf das zurüdgeführt
mar, mas dem Auge des Künſtlers als das MWefentliche erſchien, das mußte
nun wieder in das Programm einrüden. Hatte man doch eingefehen, daß der
Bilderrahmen nit ein Fenjter bedeutet, durd; das man in die Natur fieht,
fondern die Umgrenzung für die verförperten Vorftellungen eines durch Talent
begnabeten Menſchen.
Die Zeit, in der der Begriff „deforativ“ von vornherein in Acht und
Bann gethan war, iſt num ſchon einige Jahre vorüber, — man fängt an,
Wahrheiten, die man verworfen, nur weil fie zugleich auch Wahrheiten
der alten Meiſter geweſen waren, wieder auf ihrem berechtigten Pla anzuerfennen.
Biele der beiten modernen Hünftler, die unter uns jchaffen, haben gezeigt, daß
man bie errungenen Werte: Selbftändigleit des Ausbruds, innere
Wahrheit und Echtheit der in das Bild gebannten feelifhen Stimmung,
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
- 15 —
augleih mit deko rativer Wirkung zum Ausdrud bringen kann. Wir mo-
dernen Maler empfinden ſolche Verbindung als Stil des modernen Bildes
— darauf einzugehen, führte uns aber von unferem heutigen Gegenftande zu
weit weg. Jedenfalls wiſſen wir heute, daß das den Ulten wieder abgelaufchte
Geheimnis der beforativen Bildmwirkung darin befteht, alle farbigen und
formalen Gegenfäße innerhalb der Bildbfläde fo zu ver
einigen, daß eine Gefhloffenheit ber Wirkung entfteht. Bor den meijten
der „naturaliftifchen* Bilder hatte man den Eindrud, daß fie zerfielen, weil
fein allgemeiner großer Grundflang, auf den alles eingeftimmt war, fie zus
fammenhielt. Daß innerhalb diefer Einheit trogdem bie größten Gegenfäte
herrſchen können (nit müfjen), bemeifen uns gerade die „Modernſten“; im
Bereinigen dieſer Gegenfäbe beiteht Hier die Kunſt.
Ah mußte auf diefem großen Ummeg das alles fagen, um Har zu
machen, weshalb ich ſtets fo ausdrücklich die Forderung bes Dekorativen jtellte.
Das unruhige Gezappel in unjern neuen Bilderbazaren und die wunder—
volle Ruhe, die uns in den Galerieen bei den Werfen der Alten überflommt,
follte Jedem zu denken geben. Ueberkommt uns diefe Ruhe doc jelbit da noch,
wo alte Bilder in Mufeen fo unfünftlerifch aufgeitapelt find.....
Zurück zu unferem eigentliden Thema, dem Schmud der Wände unjerer
Wohnräume durch Bilder!
Jeder muß von vornherein dafür forgen: daß e8 ihm fympas
tifche Kunſtwerke feien, die er beiikt. Da man nidt nur mit Ankäufen, fon=
"dern auch mit Geſchenken u. ſ. w. zu rechnen hat, fo befagt dieſe VBorausfegung
nicht wenig, aber unumgänglid) ift fie. Wenn man nun für das Einzelne den
Platz beſtimmt, fo bedenfe man wohl, dab man fte nit allein regiftrieren,
fondern mit ihnen ein neues Kunſtwerk fhaffen muß, den Raum. Dan
follte fich dabei die Bilder einfad) als farbige Flächen: Teppiche oder fonit etwas
vorstellen, auf diefe Weife wird man am eheften von dem Syitem der Brief-
marfenfammlung an ben Wänden ablommen. Dan mache ſich's nun zur
Aufgabe, die Wand durch da8 Verhältnis der farbigen Flächen zu ben freien
Mandflähen zu gliedern Der geheime Schönheitsausdrud der Propor—
tionen ift dem Nichtkünftler vielleicht felten zum Bewußtſein gelommen, aber
ihre Wirkung verfpürt er do, wenn er überhaupt in folden Dingen ems
pfänglid) ift. In bei weitem den meiften Zimmern merkt man, bag man fid
einfach zur Aufgabe gemadt hat, die vorhandenen Bilder unterzubringen,
während es fih doch nur darum Handeln follte, mit einigen den Raum aus—
zugeitalten und fie felbjt dadurch am beiten zur Geltung zu bringen. Denn
nicht allein, daß man fid) durch das Aufitapeligiiem ben Raum als foldyen
verdirbt; oft genug zeritört man fih durch ungeeignete Nachbarſchaft auch noch
das Kunſtwerk felber. Iſt doch der Glaube ein großer Irrtum, ber Glaube,
ein wirklich gutes Kunſtwerk müſſe ſt ets wirlen. Als Beifpiel nur folgendes:
man befitt zwei Bilder: das eine mit fehr ftarfen koloriſtiſchen Effekten, das
andere mit fehr zarter bisfreter Tönung. Hinge man fie nebeneinander, jo
tönnte e8 ſehr leicht fein, daß das letztere Bild vollftändig matt und farbig
reizlos wirkte. Nun braudt es nicht ftets ſolch derber Effekt zu fein — alle
Bilder beeinfluifen jih farbig, und man muß fehr darauf adten, dab ihre Ge-
jamtheit zur Harmonie gebradt wird. Jeder Maler weiß, dab fi Bilder
gegenfeitig totſchlagen. Und es ift oft beſſer, ein an fid) gutes Werk wegzulaſſen,
als dur das Zuviel ihm und allen zu ſchaden; eine Erfahrung, deren Nutz—
anmendung man heute in allen feineren Ausſtellungen beobadten kann.
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
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In den meitaus meiften Fällen hängen viel zu viel Bilder an den
Wänden. Kleine und große Delbilder, in ſchmalen Holz- und proßig breiten
Goldrahmen, Kupferftiche, Photographien und was ſonſt man noch alles hat,
fie maden aus der Wand des Zimmers eher eine Mufterfarte, als einen
Wohnraum, in dem man behaglich Kunft genießen mödte. Ein Weniger würde
mehr fein.
Wo das irgend angeht, verfuhe man beshalb, die Hauptwand bes
Raumes mit einem Bilde zu gejtalten, das dann hier die Funktion des nicht
erreihbaren Wandbildes übernimmt. It das Bild gut, fo wird man bald
jehen, welche angenehme Ruhe dadurch einzieht, jelbit wenn noch breite Flächen
daneben ftehen bleiben. Verſuchte man’s, diefe noch zu füllen, in den jeltenilen
Fällen würde man die Wirkung des ganzen Raumes oder die des Bildes
heben. So ſprechen wir wieder gegen die in diefen Aufſätzen ſchon oft be=
rührte unfelige Manie, alles zu füllen, al8 ob das ein Shmüden wäre. Nicht
zu füllen, fondern zu gliebern verlangt die Aufgabe.
Natürlich will ich nicht gegen das Erwerben von neuen Bildern reden;
ih babe noch niemand getroffen, der zupiel oder genug Kunſtwerke befejien
hätte. Aber das fih nit Trennenwollen von altem unnützen Sram, die Ge—
danfenlofigleit und eine gewiſſe Habgier fpielen den Leuten oft einen Streid).
Es hat ja Geld geloftet, man hat’8 einmal, und nun muß e8 alſo auch an ber
Wand bleiben, wenn's audy nur ftört. Hielte doch ein Jeder unter feinen
Schätzen eine furdtbare Muiterung unb gäbe an den foftbaren Wandplägen
nur dem Raum, mas ihm wirklich würdig genug bünfte, als Zeuge feines
Kunftgefühls zu fprechen!
Freilih, es braucht nicht immer nur ein Bild an der Wand zu fein;
man kann aud) mehrere vereinigen. Doch fei man ſich babei gut darüber
flar, daß man mit ihnen den Raum gliedern muß, und dab e8 daher eine
fehr {hd were Aufgabe ift, die man ſich jtellt, die man nicht in ein paar Minuten
löſen oder vom Zapezierer erledigen laſſen kann. Dan bedenfe ferner dabei, daß
ein jedes Bild fchleht ausfieht, wenn es fo hängt, daß man’ nidt gut fehen
fann. Ein fehr kleines Bild, fehr hoch gehängt, ruft nur eine ftörende Empfin—
bung wad, ebenfo wie etwa ausrangierte Bilder auf dem Korridor, „für den
fie gut genug find“. 68 thut weh, Bilder in unbeleuchteten Eden zu fehen,
während biefe Eden, leer geblieben, durchaus nicht jtören würden.
Man glaube aud nit, daß dieſe bier gemachten Einwendungen gegen
berrfchende Mikitände im Grunde nur Kleinigkeiten beträfen, die mit dem
Weſen der Hunft nichts zu thun hätten. Wie ungemein widtig ift für ung die
Natur der Eindrüde, die unfer Auge täglich unbewußt in unfern Wohnräumen
empfängt! Die Verkommenheit des arditeftonifhen und deforativen Gefhmads
überhaupt, iſt wohl im mwefentlihen der Nachjläffigkeit zugufchreiben, mit der
die gejhilderten Aufgaben fo lange, lange behandelt worben find. Und fpricht
nicht deforative und architektoniſche Schönheit gerade fo zu unferer Seele, wie
irgend welche andere Genüffe unjeres Kunſtſinns? Mer’s nicht glauben mas,
der gehe nochmals zu den Großen der Renaijfance, und prüfe, indem er bei
ihnen genießt. Shulge-Waumburag.
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
Lose Blätter.
Dom Perjähner.
Bon Leopold Weber.
L.
Bor meiner Seele ftieg ein Dämmern auf
Und warb ein weites, graulich-ftilles Qanb.
Geftalten zogen endlos bort im Zug
Sintereinander, weißbeſchleppt und Iuftig.
Das waren Seelen. Alle zogen fie
Zu einem Brunnguell, der mit leifem Rauſchen
Durchs Dämmer rann, und büdten fi und ſchöpften
Bom fühlen Trant, der matt durchs Dunkel blinfte,
Und ſchwanden meiter ſchwebend in die Nadit.
Und ich erftaunte fehr. „Mas fhafft ihr“, haucht' ich,
„Was wollt ihr Seelen hier?" Saum hörbar fam
Ein Atmen zu mir aus ber ftillen Schaar:
Traumwaſſer jhöpfen mir.”
—
*
Einer jener Regentage im Sommer war's, wo alles noch ſtärker duftet,
und noch ſüßer Amſel und Droſſel aus dem glänzend feuchten Laube fingen.
In einen ſchwarzen Radmantel gehüllt, das Haupt mit dem breitrandigen
Hute tief gebückt, ſtieg der Tod die Stufen zur Stube des Malers hinan. Er
öffnete ſacht die Thür und trat ein. Uber es war niemand zu Haufe. So
nahm denn der Tod derweil in dem rohrgeflodhtnen Lehnſtuhl Pla und ſchaute
mit feinen dunkeln Augen ernft um fih. Das Stübchen war jehr Hein und
dürftig; doch hingen die Wände voll von Zeichnungen und Bildern, durch das
niedrige Fenfter blidten feuchte Wiefen und darüber aus Wollen Berge ber,
und unter dem Fenfter raufhte und murmelte der regengefhwollne Bad. Das
Hang heimlich in die Stube, es Iodte mit feinem Gemurmel zum Träumen,
und auch ber Tod verſank in ein träumerifches Wefen. Bon Bild zu Bild
wanderten feine Augen, fchließlich blieben fie an einem länger haften. Bort
war bes Malers Schweiter dargeftellt, faft nod} ein Kind. Aus dem fhlichten
Geſicht ſah eine große Lieblichkeit, aber es ruhte ein leifer Zug darauf,
der fprad) davon, daß dieſes Antlig dem Vergehen gemeiht fei. Das gab ber
kindlichen Erfcheinung etwas Edles und NRührendes zugleih. E8 gefiel dem
Tod, daf fein Wefen hier fo dargejtellt war. Lange faß er vor dem Bild und
betraditete e8 und fann. Dann erhob er fih langfam und fchritt Tautlos zur
Thüre wieder hinaus.
5.
Es ſaß ein Mann an einem tiefen, ftillen See und fchaute ins Waſſer.
Rings um den See ftand ein finfirer, hoher Tannenwald und warf fein dunkles
Abbild Hinein. Stumm ſaß der Dann da und dachte nad). Auf einmal hörte
er die Lüfte über fih raufhen, und als er aufblidte, ſah er’s: drei glänzende
Schmwäne zogen broben hin.
„Haltet!*, rief der Mann, „jteht mir Rede, ihr Schwäne, wer ſeid ihr?”
Sie liefen fich nieder, und der erjte antıvortete: „Ich bin deine Jugend.“
Der Mann ſah vor fih hin. „Fahr wohl“, ſprach er, „du mußt ja
ſcheiden.“
Uunſtwart 1. Oktoberheft 1898
— 16 —
Der zmeite antwortete, als lachte eines Weibes Stimme: „Jh bin das
Süd!“
„Bieh hin!”, fagte der Dann, „ich hab e8 gelernt, audy ohne Dich zu leben!”
Und ber dritte erhob feine Stimme, fie tönte heller und Harer als bie
der andern: „Ad bin die Liebe!“
Da fhaute der Mann fchweigend zu ihm hin, dann ſenkt' er das Haupt
und ſprach leiſe: „Ich kann dich nicht halten... .*
Die Schwäne ziehen meiter. Fern ſchon hört er jegt ihre Flügel raufchen,
jest hört er fie nicht mehr. Es ift um ihn fehr einfam. Aus dem Mailer
blidt ar und deutlich fein Spiegelbild ihn an. Er ftügt fein Haupt zwiſchen
beide Fäufte und ſchaut aufmerffam auf das Antlig unter fih: tiefe Furchen
durchziehen e8; er weiß, woher die Furchen fommen. So finnt er. Da fieht
er auf einmal, wie unten im See, hinter feines Spiegelbildes Rüden ein bleiches
Geſicht mit geichlofinen Augen erſcheint. Und e8 nidt, nidt feierlich langſam
ihm zu.
Ein Schauer läuft ihm über ben Rüden. Kerzengerade bleibt er figen
und lange fieht er hinab,
Dann nidt aud er.
4.
Der Tod war ein Bogel geworden. Gin fchwarzer, glängender Vogel
mit gelben Schnabel und fdharfen Wugen. Menſchen mwürben fie graufam
nennen, dieſe Augen; aber fie waren nur ſcharf, wie Augen find, die durch
Weiten ſchauen. Der Vogel Tod ſaß im Wipfel einer jungen Tanne und fang.
Er fang ein lautes Amſellied, das drang voll ſtarken Wohllauts durch die
Lüfte. Die Toten in ihren Gräbern vernahmen es, und all den Vergehenden
warb e8 fo leicht davon. Ahnen allen, mie fie da waren: Männern und
MWeibern, Gerechten und Ungerechten; denn die Toten denken nicht mit einen,
fplittrigen, menſchlichen Einzelgedanfen, fie denfen mit den großen Gedanken,
die durchs Weltall atmen. Droben fang der Tod, und feine Melodien tönten
glei lichten Ofterworten in den Toten wieder. Sie verfpürten e8 dabei, wie
jeder Zeil an ihnen, der abfiel und dahinging, wie alles in ihnen nur überging
und fih in eim neues Leben fhlang. Es verfpürten die Toten, daß fie Auf—
erftehende waren, und fo leicht ward ihnen davon. Hell und warm fdhien die
Sonne auf den jtillen Wegen und Gräbern, dunkel Tagen bie Schatten der
Zannen und Büfche dazwiſchen, und im Wipfel eines Baumes ſaß der Vogel
Tod und fang fein ewiges Lied.
Cotte.
Von Cäſar Flaiſchlen.
Vorbemerkung. Das Stück, das wir hier abdrucken, iſt die zweite
Hälfte aus einem Heinen „Bilderzyflus* Lotte, der ſich in Flaiſchlens bei
8. Fontane & Eo. in Berlin erichienenen „Gedichten in Profa* findet: „Bon
Alltag und Sponne* „Diejes Buch will nicht kämpfen“, hat einer von
ihm gejagt: „Es fommt ohne Waffen. Es fommt wie ein froher Menfch, ber
durd) einen Sonntagmorgen wandert und ſich der ſchönen Welt freut, die fich
um ihn breitet, und dann und wann ein Lied fingt.“ Es ift ein dichteriſch
feinfinniges und menſchlich im edelften Sinne liebenswürdiges Bud, das man
am bejten empfiehlt, wenn man einfad ein Stüd daraus zeigt. „Lotte“ ift
dem Kindchen eines Freundes gewidmet, deſſen Zukunft die Dichtung in ſym—
bolifchen Bildern des Frauen-, des Menfchenlebens überhaupt vorüberziehen läßt.
Kunftwart z i. Oftoberheft 1898
— I —
Und wieberum zehn Jahre fpäter..
haft du längſt felber fo ein Kleines Ding um bid) herum, ober zwei ober
drei, wie bu jetzt felbft noch biſt .. das dich anladjt, aus feinen Dunkeln Mugen,
wie eine große Frage, aus lauter Geheimniffen und Rätfeln und Wundern
heraus, und du ftehit, wie wir heute vor bir, und möchteſt fie Löfen..
Die Welt ift anders geworben .. e8 find anbere Dinge und andere
Menihen und doch ift alles, wie heut und immer!
Wie deine Mutter einft mit dir, fpielft du nun mit Beinen Rindern,
und fommen fie in der Dämmerjtunde und wollen Geihichten erzählt haben ..
framft bu ein altes, zerrifjenes Märchenbuch hervor, das einer von Großvaters
Freunden damals gedichtet ..
Wie Iang das nun her iſt! Herrgott!.. damals... jal als der Großvater
die Großmutter nahm...
und beſucht dich eines von uns einmal, fo hinkt ein altes Männchen in
die Thüre, wie dein Bater.. mit fchneeigen Haaren, wadelig und zitterig...
oder ein altes Frauchen, gebüdt und mit Schrumpeln im Gefiht, wie deine
Mutter... müde von dem weiten Weg, den es nachgerade gemadt bat, fünf
und ſechzig Jahre weit vielleicht ...
und bu fchidft deine Jungens, bie Großeltern zu rufen: e8 ſei Beſuch
gelommen... Tante Emmy.
Ol und es gibt eine Freude bei den alten Leutchen, faum zu jagen.,
Sie umarmen einander und küffen fi) und meinen... wie finder oder... als
ob jemand geftorben ſei!
Geftorben freilich find viele! es ijt ja auch lange genug ber! ‚Dreikig,
vierzig, fünfzig Jahre wird's ja wohl fein, Emmy?.. hätten wir aud) nicht
gedacht, damals.. und als die Lotte fam! Ja, jal.. ja, ja! zur Feier des
Tages aber wollen wir heute noch einmal jung fein und... und...
Und bein Mann, Lotte, macht eine Bowle und fie ftoßen zuſammen an
und trinken, ‚auf bamal8!'.. und fragen und reden und erzählen...
‚und wie bumm man eigentlich war, mitunter! und wie unnüß man ſich
bas Leben verärgertel.. und wie hoch wir alle hinausgemwollt!.. und was
aus dem und dem gemorden!? und wie bas Radeln aufflam! ja!?.. und wie
es aber dod) ſchön war, allesi troß aller Sorgen!‘
doc) es klingt immer leifer und zulegt nur: „Weikt du noch?“, wenn
du mit beinem Jüngjten auf dem Arm ins Zimmer trittft, ihn zu zeigen, und
Gud:Gud! und Gibs-Händchen! mit ihm madjt...
und der Großvater geht vielleiht ans Hlavier.. was er ſchon lange
nicht mehr gethan.. und ſpielt ein Liedchen. Aber es klappt nicht recht und
gejällt aud) niemand mehr.. e8 ift viel zu altmodifh ! nur Tante Emmy fann
fi noch etwas dabei denken... ihr andern langmeilt eud).
Und mwenn fie dann aufbreden, bringt ihr fie ein Stüdden.. heimlich
aber fagit du au deinem Mann: „ih bin doc froh, daß wir noch jung find...
es ijt nichts mit fo alten Leutchen!...”
Die alten Leutchen freilih find wir geweſen, Lotte, die dich aus ber
Taufe hoben, damals!.. und...
*
Und abermals zehn Jahre..
und bu Haft auch Ion wieder eine, die nicht mehr mit Puppen fpielt
und nit mehr in die Schule geht und die Zöpfe fliegen Täßt.. die lange
Kleider trägt und ein Ninglein am Finger und an ihrer Ausſteuer näbt..
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
— 131 —
und abends fommt ihr Liebſter und ihr fikt in einer Balkonſtube, und bie zwei
fichern miteinander ımb beraten, wie das und das wohl einzurichten wäre... und:
+8 fönne auch mehr koſten, wenn’s nur fhön würde... Papa habe ja geiparti
und das Leben liegt vor ihnen, licht und frühlingsherrlih, mit wogen—
den Feldern und duftenden Wiefen und raufchenden Strömen und blauen
Seen.. endlos offen.. wie ein großer Gottesfonntag... von jeligen Liedern
durchjauchzt.
Es iſt alles anders, als damals, und doch wieder wie heut und immer.
Von uns natürlich iſt niemand mehr da. Wir ſind zu müde geworden
allmählich und find ausruhen gegangen ...
Du aber bift nod) jung, im fchönften Sommer. In roten Rofen glüht
die Welt. Aus tiefblauem Grunde tropft die Sonne ihr Gold über das reifende
Rand. Aehrenſchwer raufcht das Korn durch bie meite ftille Mittagsruhe, wenn
ein heimlicher Wind aufmwallt und mit burftigen Lippen fi) an ihn fatt trinken
will, und leife in den Heden Iodt ein Vogelruf ..
Und wenn dir auch zumeilen ift, als klinge e8 wie Sichelflang in ber
Ferne und als röte fi das Laub ſchon an ben Bergabhängen ..
nod ift 8 Sommer!..
Und klingt der Klang ber Sicheln dann aud; immer näher und Mingt
der Ruf des Vogels immer ferner und fchleiern ſich allmählich auch Nebel über
bie Wiejen und zittert jene Wehmut des erfüllten Wunfches, jene Wehmut bes
Glüdlichfeins dir immer lauter durch die Bruſt, mit ihrer Sehnſucht: dich
wieder fehnen zu dürfen, wieder füen zu bürfen, nicht nur ernten ..
dann lachen beine Finder jubelnd ihren jungen Frühling bir entgegen.
Und bift du fünfzig ..
machſt du vielleicgt wiederum Gug-guck zu fol einem Gefhöpfchen, wie
du heute jelber noch bift .. das dich anlacht aus feinen dunkeln Augen, wie
eine große Frage...
aber: al8 Großmutter . . zu einem Enkelchen!
Es ift Oktober und November gemorden unb kahl und kalt draußen,
und Blumen gibt’8 nur nod beim Gärtner, und der Himmel ift grau und
hängt voll Schnee, und es friert dich und fröjtelt dich ..
und alles ift fo anders geworden um bich ber, als es früher war...
du fannft did) faum mehr zurecht finden...
und .. es lohnt fih aud nicht mehr! und du läßt den Dingen ihren Lauf!
Zu dem einen Enfelchen aber find mehr gefommen, Buben und Mäbdhen..
und du flüchteft dich vor ihrem Lärm auf dein Zimmer . . eingerichtet,
wie e8 bir behagt und mie man’s früher hatte, gemütlicher als jegt mit al
den taufend neuen Erfindungen und „Bereinfachungen“: ein paar Stücke aus deiner
Brautzeit, ein Lehnſtuhl von deiner eigenen Großmutter nod und alte Bilber..
und du lieſt etwas, ober ftidft, oder jtridit, oder flidit . .
bis die Heinen Wildfänge plöglid) an die Thüre fommen: ob fie herein
dürften? fie würden mäuscenitille fein, wenn du ihnen was erzählen mwillft!
und fie betteln und ſchmeicheln fo lang und fo jhön und machen jo
liebe Augen durch den Spalt .. bis du Ja ſagſt und das Jüngfte auf den
Schoß nimmit und zu erzählen anfängt:
vom Rotkäppchen und vom Schneewittchen und vom kleinen Mud..
alles, was man bir auch erzählt hat, damals .. und du ſeieſt aud) einmal fo
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
- 19 —
Hein gemwefen, mie fie, und habeſt aud) eine Großmutter gehabt, ihre Ur-ur—
großmutter . . ja! jal
und die habe alles mit erlebt unb habe auch . . Bismard noch geſehen
und ben alten Staifer und .. wie es Krieg gegeben hätte mit den Franzoſen
und wie man die Macht am Rhein gefungen und mie e8 ins Elſaß gegangen
fei . . ein Eifenbahnzug immer nad) dem andern ... ganze Tage lang . . und
bloß Soldaten und Pferde und Stanonen . . über den Rhein, der bamals noch
den Frangofen gehört habe .. und wie man Spichern gejtürmt und Sedan
belagert und wie der Napoleon habe fapitulieren müjfen... und wie bei Paris
dann alle Könige und Fürjten von Deutfhland zufammen gelommen und Bis—
mard den König Wilhelm zum Kaiſer ausgerufen ...
Länger als fiebzig Jahre fei das jegt .. aber ihre Ururgroßmutter habe
das alles nod) gejehen . .
mie die Leute gemeint hätten vor Freude, auf der Straße... und der
alte Kaifer Wilhelm fei faft hundert Jahre alt geworden und zulegt habe nur
noch Bismard gelebt, aber weit weg in einem einfamen Schloß in einem
großen, großen Wald...
Ja, ja!
Noch einmal zehn Jahre dann
und bu bijt jechzig, und es ift Degember und geht Weihnaditen zu.
Deine Entel find in die Welt hinaus .. die Jungen, was Ordentliches
zu werden, die Mäddjen mit einem braven Dann.
Dann und wann fommt eines von ihnen zu Beſuch, und das find immer
ein paar ſchöne Wochen!
und zu Djtern foll es eine Taufe geben ... ein Urenfelchen!
Ob du e8 nod) erlebit ?
Oder eine Jugendfreundin, eine Tante Emmy fommt einmal . . Es
werden ihrer freilich immer weniger |
Du bleibjt immer länger in deinem Zimmerden, immer lieber auch für
bi allein. . und Lieft etwas . . obgleich es nicht mehr fo recht gehen will...
und ... fie fehreiben auch nichts Rechtes mehr!
Vorm Fenster, über dem Platz drüben, Liegt ein Kirchhof . . alles weiß
und zugeſchneit, nur ein paar ſchwarze Kreuze und Steine ragen aus dem
Schnee und der Wind pfeift und heult ums Haus...
und bu benfft, wie lang es wohl nod) daure, bis e8 wieder fhön werde
. Srühling . . und zu blühen anfange ?!
2 ift man einmal fechzig, denft man das mitunter! ...
oder bu framjt in deinen Schubladen herum: alte Briefe, ganze Päckchen,
auß deiner Brautzeit ... und, von deinem Bater noch, vergilbte Zeitungen mit
Auffägen, und ein paar alte Photographien, die du Dir gerettet, als Die Jungen
das Album zerrijien: eine junge Frau auf einem Balkon .. ein ind auf dem
Yrm .. und du wunderſt dich, dab du das gemejen!
Auf einmal aber fommt es wieder über did) und du rechneft: wie lange
es nod bis Djtern ſei und bis e8 Frühjahr werde .. und febeft dich an deinen
Tiſch und ſchreibſt deinem Enkelkind:
Es ſolle ſich nur feine Sorgen machen, und wenn auch nicht alles würde,
wie man mödte ... wenn man ſich Mühe gäbe, könne man alles und bleibe
der Lohn nit aus! und jo wie es gehe, ſei e8 immer am beiten. Du habeſt
das fünfzig Jahre lang erfahren... jo wie e8 gehe, fei es immer am beiten!
Kunftwart 1. Oftoberheft 1898
—_— 2.
Und wenn e8 auch über deine Sprüche lade, in ſolchen Großmutter-
meisheiten lägen fo ewig neue und tiefe Wahrheiten, daß man fie recht eben
erit als Großmutter verftünbe.
Bor allem aber bürfe man nur nicht meinen, als müſſe alles immer
glatt gehen, als müſſe tagaus und ein die Sonne fcheinen und als gehöre
Aerger und Verdruß und Unheil nicht ganz ebenfo zum Leben, wie Freude und
Slüd!.. im Wechfel läge das Schönel .. und als dürften Eheleute fich nicht
aud einmal rechtſchaffen zanfen ! das thäte gar nichts! du Habeft dich auch ge—
zankt und oft genug . .
aber die Hauptſache fei: fi nicht auseinanderzuganten, fondern ſich zu=
fammenzuzanfen
und das gelte dem gangen Leben gegenüber: ..
man müſſe verstehen, fi) mit ifm zufammenzuzanfen!
Es jähe alles weit vermirrter aus, als es in MWirflichkeit wäre... in
der Jugend aber fei man viel zu umrubig und ftehe viel zu nahe bei den
Dingen...
erſt im Alter, wenn man mehr über das Ganze blide, erfenne man, wie
viel einfacher alles wäre, wenn man e8 felbft nur einfach nehme ..
und wie auch ber größte Kummer immer nur daraus entitehe, daß man
Menihen und Dinge immer nur wolle, wie man fie haben mödte .
wie fie wirklich wären...
. anftatt
und dab man fie immer nur für fi, anftatt in ihrem ganzen Zuſam—
menhang nehme...
dann erjt fiehe man drüber! . .
Das aber fei deiner Grokmutterweisheiten meifefte !
Der gute Feind.
Eim Feind, der dir bedacht pariert,
Der kraftvoll-fein den Degen führt
Und immer bei der Sadye geblieben —
Ja, nähm er dir von deinem Blut,
Er bliebe dir doc; ein Kebensgut,
Und mitten im Kampfe freuſt du dich:
Bravo, du drüben, jetzt triffft du mich!
DS
Rundschau.
Dichtung.
+ Im Hufumer Schlobparfe ift
ba8 Theodor Storm=Denfmal ent
büllt worden, auf marmorner Säule
eine Bronzebüfte von Brütt. Ferdi—
nand Tönnies hielt die Feſtrede. „Die
große Liebe war in ihm, die Liebe, die
alle Zweifel und Enttäufhungen über-
mwindet, die nicht nad dem Grfolge
des Tages fragt, jene ſchaffende Liebe,
die ſich ihres Werfes freut und ihres
Werkes pflegt — jene Liebe zu allem,
was Menſchenbruſt erhebt und er=
mwärmt, zu Weib und find, zu Land
Kunftwart
und Boll, jenes Heimatgefühl, jener
Familienſinn, jene Naturfreude, jener
Humor, die im echten Dichter erjt die
Größe ausmachen.“
* Aus ſechs größeren Novellen-
ſammlungen, die Adolf Stern im
Laufe von mehr als dreißig Jahren
veröffentlicht hat, ſind in C. A. Kochs
Verlag in Dresden „Ausgewählte No—
vellen“ erfchienen, in Denen der Dichter
fein Beſtes gegeben zu haben glaubt.
Ein Blid in diefe Sammlung lehrt,
dab Stern mit dem Titel „Novellen“
einen jcharf umgrenzten Gattungsbe-
griff verbindet, jehr abmeidyend von
1. Oftoberheft 1898
bem —— Brauch, ſchlechtweg alles
was für einen Roman zu kurz iſt, als
Novelle zu bezeichnen. Auf Sterns No—
vellen trifft die bekannte Definition
Viſchers zu, das fie „nit das um—
faſſende Bild der Weltzuſtände, aber
einen Abſchnitt daraus“ geben, „der
mit intenſiver, momentaner Stärke
auf das größere Ganze als Perſpektive
hinausweiſt — nicht die vollſtändige
Perſönlichkeit, aber ein Stück aus dem
Menſchenleben, das eine Spannung,
eine Kriſe hat, und uns durch eine
Gemüts- und Schickſalswendung mit
ſcharfem Akzente zeigt, was Menſchen—
leben überhaupt iſt.“ Geradezu wört—
lich vermag man dieſe Definition, die
—————— eine Entwicklung und
mgeftaltung des Gattungsbegriffes
nicht aufhalten kann, auf die Novelle
anzuwenden, die an der Spitze der
Sammlung ſteht. Ihr Held ſehnt ſich
aus einem thatenloſen Dämmerdaſein
nach ſtarken Eindrücken und Erfahr—
ungen. Ein Zufall entführt ihn plötz—
lid) in die „Flut des Lebens“ und reiht
ihn alsbald in die Wellen hinab. Wie
in Diefer Novelle, fo treten aud in
anderen bie Strifen von außen an bie
Selden heran oder ftellen fie in eine Si—
tuation, von der aus ihr Charalter
mit einem Schlage fcharf beleuchtet
wird. In der allmählidhen Heranführ=
ung oder Vorbereitung folcher kritiſcher
Eituationen ermeilt fih Adolf Stern
als Meiſter. So gemächlich der Fluß
feiner Erzählung anmutet, fo fehr
zwingt er doch andererjeits den Leſer
in den Bann eines bejtimmten Vor—
ftellungsfreifes. Unter dem Scdeine
des Zufälligen erfennt man doch bie
Fäden, bie zu einem engen Net ver—
mwoben werden, aus dem e8 fein Ent—
rinnen gibt, al8 eben die überraſch—
ende und doch überzeugende Wendung,
in ber der höchſte Reiz der Novelle
liegt. Dank der vorherrſchenden Nei—
gung nad) möglidit unmittelbarer
Lebenswahrheit ift uns der Sinn für
die Schönheit einer ftrengen Kompo—
fition ziemlid) fremd geworden, obwohl
unter ihr, wie Stern bemeilt, die Le—
bensmwahrheit nicht zu leiden braudt.
Jener anderen modernen Neigung, ſich
vom Dichter nicht bevormunden und
fi) mehr anregen, als gerade befrie—
digen zu lajjen, gewährt freilid Adolf
Eterns Technik nicht allzuviel Nahrung.
Seine fünftlerifche Abſicht geht viel-
mehr dahin, ben Xefer ftreng an ſich
zu —— und wenn dieſe Abſicht ſo
volllommen erreicht wird, wie in ben
Kunftwart
wohl am höchſten zu ſchätzenden Novellen
„Die MWiedertäufer”, „Bor Leyben“,
„Biolanda Robuftella‘, jo kann von
einem anderen als von einem jtilreinen
— ———— Geſamteindruck nicht die
ede ſein. In der Art dieſer Novel—
liſtik liegt es begründet, daß jene
ſinnliche Lebensfülle, die man erſehnt,
nicht erreicht wird, weil eben Menſchen
und Zuſtände nur unter dem Geſichts—
winkel des beſonderen Konfliktes be—
trachtet werben. Der Dichter geht gar—
nit darauf aus, die Welt der Er—
fheinungen in ihrer eit vor uns
aufleben zu lafjen, er will fie nur von
einer Seite, von biefer aber auf das
deutlichite beleuchten. Das aber gelingt
Stern auf das beite, zumal in ben
Novellen mit gefhihtlihem Hinter:
grunde, die immer auch einen Aus—
blid auf das Ganze eröffnen. In allen
Novellen aber der Sammlung verrät
fih ein ftarfes Bielbemußtfein, dem
ein jtarfes Können völlig entipricht.
Novellen wie die „Bor Leyden“ oder
„Die Wiedertäufer* brauchen den Ver—
gleih mit Heinrih von Kleiſts No-
vellen, die Adolf Stern al8 Mufter
vorgeſchwebt Haben, durchaus nicht zu
ſcheuen. Ceonh. Lier.
uge Gerhart Hauptmann hat
neulid eine große Berliner —
ihren jungen Mann geſchickt, ihn aus—
en Der Beriht darüber iit
töltlih zu leſen. Erſt wird nur bes
Ichrieben, wie Hauptmann wohnt: „es
iſt das Heim eined Denlers, eines
Mannes von hohem Kunſtſinn, doc
den Poeten, den phantaftereidhen ver—
miffe ich*, meint der junge Dann.
Hauptmann fagt ihm dann Wahr-
beiten, nicht neue, aber deſto bewähr—
tere, 3. ®., daß man nur aus der
Wirklichkeit lernen könne. Der junge
Dann lauft, dann fragt er: „vers
zeihen Sie, wenn ic) Ihnen aud) recht
dumm vorlomme, aber fagen Sie mir,
was Sie mit den drei Bechern jagen
wollen?" Hauptmann: „Es mürde
mehr Zeit erfordern, Ihnen das de—
tailliert auseinanderzufegen, als wir
vor uns haben.* Der junge Dann
berichtet: „offen geitanden, auch bier
veritand ich ihn nicht recht“, bann fragt
er Hauptmann meiter und der jagt
ihm: was er über feine Produktion
wiſſen wolle, fönne man ja bei Schlen=
ther nachleſen, von ber gegenwärtigen
deutfchen Literatur halte er was, ob
fi Sudermann ganz dem Romanti-
ſchen ergeben werde, gehe eigentlich
nur den was an, und er jelber ar
1. Oftoberheft 1898
beite an verſchiedenen Sachen. „Schade“,
ſo ſchließt der junge Mann, „daß er
auf manche Punkte nicht einging!
Denn nicht nur mich hätte er belehrt,
ſondern durch mich das große Publi—
lum.“ Schade, fo ſchließen wir, daß
man nicht wenigſtens die Poeten mit
ſolchen Ueberfällen verſchont. Denn
derlei Berichte geben dem Publikum
für keinen Heller Wertvolles, ſie füttern
nichts als die dümmſte Neugierde
und jenen Perſonenkult, der mit Ver—
ſtändnis des dichteriſchen Schaffens
nicht das mindeſte zu thun hat und
deshalb auch den wirklichen Künſtler
ſelbſt nicht erfreut, ſondern verſtimmt.
*Johannes Schlaf erklärt
in der Zukunſt“, daß und warum er
fein Drama mehr herausgeben werde.
Sein legtes hab’ er zerrilien, obgleich
es feine befte und reifite Arbeit über=
haupt gemwefen wäre: die Theater
hätten ihm die Aufführung und num
jogar die Berleger den Drud abge
lehnt. Einem Dichter, der fih als
„Initiator unferer neuen dramatischen
Richtung“ fühle, als eigentlihen Ver—
fafler der „Familie Selide* und
der doch jedenfalls der Verfaſſer
des „Meijter Delge* unbeftreitbar jet,
alſo des einzigen modernen Dra=
mas, das einen ganzen Kerl hin=
geitelt Habe, einen Mannescharak—
ter aus einem Guß — fol einem
alio werde das Haufieren widerwär—
tig. — Wir fönnen’s ihm nidt ver—
denfen, obgleich wir's bedauern. In
unjern literarifhen Anſchauungen
fühlen wir uns als Gegner Sclafs
und ob feine Anlagen gegen bie
Berliner Theaterleiter und Hauptmann
berechtigt find, wiſſen wir nicht. Ein
ſtarkes und ein ehrliches Talent aber
ift er. Und Zuftände, die ein folches
daran hindern, gehört zu werden, fönnen
nie und nimmer gefunde jein.
* Didtung und Vaterlands—
liebe. Immer, wenn Deutichlands
Größe beleuchtet werden fol, beruft
man fih auf die Deutfhen im Aus—
land: die fühlten das am beiten am
eigenen Leibe, die jeien nicht vorein—
genommen durch Hirhturmpolitif und
Parteihader. Hören wir alfo einmal
einen Deutfhen im Auslande über
unfre fogenannte patriotifche Poeſie,
wie fie vor allem in dem ae
aber beſchränkten Wildenbruh Aus—
drud geminnt. In einem Leitauffahe
der „Deutihen Wocenzeitung in den
Niederlanden“ iſt von deſſen Einfluſſe
ſo die Rede:
Kunftwart
„Die Art der Wilden-
bruchſchen Dichtungen hat dazu beis
getragen, daß in Deutfchland ein ur—
teilslofer Batriotismus entitanben
ift, ein dem frangöfifchen Chauvinis=
mus bedenklich ähnlicher Batriotismus,
ein in die Breite und nicht in Die Tiefe
gehender Patriotismus, ein Patriotis-
mus des Wortes und der Phraje,
nicht des Herzens und des Verſtandes.
Die Hauptgeitalten in Wildenbruchs
patriotifhen Dramen ftrahlen in einem
glänzenden Lichte, daß einem die Augen
davon mwehthun: es fehlt ihnen an dem
Schatten, der erft dem Lichte den Wert
gibt. Die Fürsten find fo unendlid)
flug, fo unendlich gütig, fie ragen fo
ungeheuer aus ihrer Umgebung her=
vor, daß fie aufhören, Menſchen zu
fein. Und wenn fie denn fchon, meil
die Geſchichte ja nit auf den Kopf
Aigen werben fann, richt alle Wun—
er auf einmal verridten, jo wird
mwenigitens geahnt und prophegeit,
was Deutſchland noch Herrliches be=
vorjteht. Nahahmer Wildenbrucdhs,
die weniger Dichterifche Bedeutung
haben, als er, haben Biefes Manko
durh ein nod größeres Aufhäufen
patriotifcher Phraſen zu deden geſucht.“
Diefe Art des „PBatriotismus“ habe
leider felbft Deutjchlands Studenten-
tum berührt. „Der Screiber dieſer
Zeilen hat e8 mit wehem Herzen an
Fürft Bismards 80. Beburtstage wahr=
genommen, wie die patriotifhePhraje
das vaterländifhe Verjtehen eines
großen Mannes erdrüdt hat. Wenn
man fi), als Bismard feine wunder—
bare Unfprade hielt, in der er bie
Summe jeines Lebens zog, unter den
Studenten umfah, fo fand man nidt
viele, die ein Verſtändnis dafür hatten,
daß der große Mann jein Geheimbud)
vor ihnen öffnete. Sie hatten fid) eben
nicht würdig auf dieſe Stunde vor=
bereitet. Wenn fie bei jtudentifchen
Kommerſen auf Bismard eine Feitrede
halten hörten, dann hie e8: »Der
große Meiſter im Sachſenwalde — die
deutfche Eiche — der Heros des Jahr-
hunderts« u. f. w. Un dieſen mar=
fanten Stellen Hatten fie Beifall ge—
trampelt und in die Hände geflaticht,
der Salamander wurde jchneidig ge=
rieben, und man mwar wieder einmal
für Bismard begeiftert gemejen. So
hinderte die Phraje daran, in die
Tiefe zu gehen und den großen Dann
zu jtudieren.“ „ES ift an ber Zeit,
dat das deutſche Volk wieder zu der
wahren, tiefen, ſchlichten Vaterlands—
liebe aurüdgeführt werde, wie jte in
1. Oftoberheft 1898
unjern wahrhaft großen Dichtern ge:
legen hat.“
* Wie’S gemadt wird.
„Geiftesleben“, das ſchöne neue
Titerarifhe Unternehmen bes Herrn
Robert Heinide zu Leipzig, von dem
wir unfern Leſern im vorigen Hefte
berichtet haben, ermeilt fih als ein
wahres Prachtweſen. Ein neues Rund—
ſchreiben an die Herren „Kollegen“ vom
Buchhandel, die anfcheinend doch zu
geicheit find, läutet gejchlagene vier
Mal den Hohen idealen Gharafter
der Sache aus, — und feht zugleich
die Preife meiter herunter. „Vers
fchiedenen Wünſchen entjprechend und
um ben idealen Wert von »Geiſtes—
leben« noch zu heben, haben wir uns
entſchloſſen, jedem aufgeführten Buche
einen Raum von 95 mm Breite und
8o mm Länge: entip. 28 zweifpaltigen
Nonpareillezeilen von 95 mm Breite
für Rezenfionen völlig foftenlos zu
überlafjen, weiterer Raum hierfür wird
mit nur ı0 Pf. für die zweifpaltige
Nonpareillezeile berechnet. Doch müſſen
wir die Herren Verleger bitten, wenn
irgend möglich ſelbſt die Rezen—
fionen zu liefern.“ Billiger fann
man’s doch wirklich nicht verlangen:
Lob aus der vollen Syrupflaſche für
10 Pf. die Zeile!
Theater.
* Bon den Berliner Bühnen.
Herr Neumann=Hofer iſt ein
fehr hHöfliher Dann. Er muß es
wohl fein, denn fonft ließe fich die
feine Rede, die er an das Publikum
des Leſſingtheaters gerichtet hat, nicht
erklären. Das Stüd mar aus, die er—
lauchte Spradye Shakſperes war eben
veritummt, als der Vorhang fih von
neuem bob und der neue Direktor
auf die Bühne trat. Er fagte kurz,
daß er die Sympathien erwerben
wolle, die ihm fein Vorgänger hinter
laſſen habe. Sein Vorgänger! Wahr:
haftig, e8 fann einem falt den Rüden
hinablaufen, wenn man einen Augen—
blid annimmt, daß diefe Worte feine
Phraſe der Höflichkeit geweſen feien.
Der Vorgänger Neumann-Hofers hieß
ja Blumenthal, Oskar Blumenthal,
wie wir hinzufeßen wollen, um nicht
Unfhuldige in Verdacht zu bringen,
ein Mann, der die deutſche Kritik und
die deutiche Kunſt fo tief fompro=
mittiert hat, daß unfere Enfel nod
darüber erröten werben, wenn bis
Hunden geflohen tft. Die Worte Neu—
mann-Hofers müffen alfo eine bloße
Höflichkeit geweſen fein. Freilich, es wäre
nit jedem gegeben, mit Shafipere
zu eröffnen und fi dann vor Blu—
menthal zu verbeugen. — Ueber die
Aufführung von „Heinrih V.“, mit
der eröffnet wurde, ift nicht viel zu
fagen, um fo weniger, als „Jm weißen
Röhl“ bereits feit langem wieder den
Plan beherrſcht. Die fogenannte „Büh—
nenbearbeitung“ verhunzte den Text
in grauenerregender Weije, die Aus—
ftattung war aufdringlid und proßen:
haft, mie leider an andern Bühnen
auch. Alles in allem wird die Kritik
fih Herrn Neumann=Hofer gegenüber
abmwartend verhalten müffen. Unter
feinen Schaufpielern find einige, Die
zweifellos bedeutend find, und fein
„Autorenitab* umfaht auch Männer,
die menigitens möglicherweiſe etwas
Intereffantes zu fagen haben. Hoffen
wir alfo, was zu tun bei Blumen=
thal verbrederifher Leichtſinn ge—
weſen wäre.
Nicht ganz ſo günſtig liegen die
Dinge bei Frau Nuſcha Buße, die ins
„Neue Theater“ als Leiterin einge-
zogen ilt. Ihre Wirkſamkeit leitet in=
fofern eine neue Periode der Theater-
geihichte ein, als fie den dramaturgi-
ſchen Beiitand als einen überflüffigen
Sram bei Seite geworfen hat und
das Schidjal der deutſchen Dichter in
Gemeinschaft mit ihrer rau Mama
und ihrem Herrn Gemahl entſcheidet.
Ihre Frau Mama näher zu fennen,
hat uns ein hartes Gefhid vermehrt,
von ihrem Dann dagegen wiſſen wir,
daß er glüdlicher Inhaber eines Renn—
ftalls und eines vennommierten Pferde:
veritandes iſt. Ueberhaupt begreifen
wir ganz gut, daß Frau Buße feinen
Dramaturgen haben mag: vermut=
lid) hat fie als Schaufpielerin Dieje
Sorte von modernen Theaterfommis
in der Nähe befehen. Was uns her—
abitimmt, ift etwas anderes. Frau
Buße wird leider mitunter in betrü-
bender Weife von dem Selbitgefühle
verlaſſen, das fie den „Dramaturgen“
gegenüber in jo ſchöner Vollendung
zeigt. So war beifpielsmeife gleid)
ihr erites Stüd eine dynaftifhe Lob—
hudelei, bei der ich jelbit die greifen
— — Byzantiner erhoben und die
chriftliche Verſicherung abgaben, daß
ſie in irgend einem entlegenen Winkel
ihres Herzens nebenher auch Men—
hen ſeien. Aber am Ende hat Fran
f
dahin die Scham nidht ganz zu den | Buge — belehrt durch den Kaſſierer,
Kunftwart
1. Oftoberheft 1898
der ſich nicht abmweifen läßt wie ein
gewöhnlicher Dramaturg — bereits
ihren Sinn geändert und geht in naher
Zufunft als neuer Stern am Himmel
der deutſchen Kunſt auf.
Borläufig allerdings bleibt unfere
Hoffnung auf Brahm geitellt, der im
„Deutfhen Theater* die Saifon jehr
anſprechend eingeleitet hat.
Auf Björnjon junior, deſſen im
Kunſtwart ſchon beifprodhene „Johanna“
im Sinne germanifdher Charakterkunſt
mit re Mitteln mirtfchaftet,
folgte der Franzoje Roftand, deſſen
„Eyrano von Bergerac“ in einer
Ueberjegung von Fulda zur Auffüh—
rung fam. Wir müfjen uns im Rah—
men dieſes Briefe auf die Feſtſtel—
fung beſchränken, daß mwir’s hier mit
einer piyhologifh recht tiefjinnigen
Tragikomödie zu thun haben, die we—
nigftens einen Teil der unerfhrodenen
Reklame verdient, die in Deutfchland
für fie gemadjt worden ijt. Der Held
iſt ein verfchollener franzöſiſcher Dich—
ter, der neben romantiſchem Helden—
mut und anderen ſchätzenswerten Gaben
der Natur eine entſetzlich anſpruchsvoll
hervortretende Naſe beſitzt. Da er
aber ein guter Kerl und ein geiſt—
reicher Kopf iſt, weiß er ſich über die
fatale Komik ſeiner Situation zur
freien, reſignierenden Selbſtironie zu
erheben. Einzig und allein in dieſer
Hauptfigur liegt für uns Deutſche der
Wert des Stücks. Was ſonſt an Hand—
lung und Perſonen drum und dran
hängt, iſt mit franzöſiſcher Leichtfer—
tigkeit gearbeitet und ſtört leider hier
und da empfindlich den Genuß.
Erwähnen wir noch, daß Löwen—
feld in feinem ſehr reſpektablen
„Shillertheater* mit Holbergs
„politiihem Stannengieker“* bei ber
Kritif bedingten und beim Publikum
gar feinen Anklang gefunden bat,
dürfen wir jchließen. Es Sei denn,
daß wir noch Georg von Ompteda
nennen müßten, der fih durch ein ge-
fchictes, aber unbedeutendes Theaters
ſtück (Eheliche Liebe) an feinem guten
Schrijtitellernamen ein menig ver—
gangen hat. Erih Scdlaifjer.
Muſik.
* Was verdrängt das Volks—
lied? In Sohnreys „Lande“ ſpricht
Erwin Groos davon. Erſtens, meint
er, thun es der Urlauber, der von
Burſch und Mädel gefeierte, und der
Reſervemann, der „was von der Welt
Kunitwart
weiß“: fie exportieren aus den Stadt—
fneipen den Gafjenhauer aufs Land,
bis Die lieben innigen Lieder ſich vor
dem Dianne mit dem Cooks und vor der
Holzauftion im Grunewald fozufagen
Ihämen. Zweitens verdrängt das
Volkslied — der dörflihe Geſang—
verein, wenigſtens leider Gottes ſehr
oft. Denn dem ift meiſtens das fimple,
höchſtens zweiſtimmige Volkslieder—
fingen nicht „kunſtvoll“, nicht ſchwierig,
alſo nicht vornehm oder auch nicht
effektvoll genug.
*Neue Lieder.
In einer Zeit, wo man anfängt,
die Noten nad) dem Kilo au verhan=
bein, mwird’8 für den Sunftfreund
doppelt wichtig, feinen Bedarf unter
den majjenhaften neueren Erzeugniſſen
bedachtſam auszuwählen. Sudt Einer
für feinen Bariton was zum Slonzert=
vortrag, das ein Publikum befriedigen
fann, ohne die „wenigen Edlen“ dar=
unter durch AUbgefhmadtheit zu ver—
legen, fo greif’ ev nah Wilhelm
Bergers Zyklus „Eliland* (Leipzig,
N. Forberg, ME. 4.—). Die Kompo—
fition diefer Stielerfchen Gedichte von
Hans Sommer und A—. v. Fielig fenne
ich nicht, kann mid) aber bei der Ber:
gerfhen mit dem Spruche Walters
von der Vogelweide getröſten: „mögen
andere beſſer fein; du biſt gut.“ Daß
man zumeilen die Trompete von Säck—
ingen mitflingen zu hören glaubt,
liegt eigentlid) am Boeten. Die Muſik
ift ganz der feinerlei unergründete
Seelentiefen erfchliegenden Dichtung
angemeſſen, feßt fie ins beſte Licht
und holt nicht mehr heraus, als darin
iſt. Spariam aber geichidt verwen-
dete Leitmotive geben diefen zehn Ge—
fängen die Einheitlichfeit; der Muſiker
wird durch einen fauberen Sat ſowie
durd; allerhand geiitreiche Ntombina=
tionen angezogen und der Sänger freut
fih an den warmen, fließenden Me—
lodien. Kurz, Berger ift jujt fein
Schatzgräber, Offenbarer und Neu=
töner, aber ein fehr fympatifches, ehr—
liches und willkommenes Talent.
Durchaus modern, als bewußter
Fortſchrittler gibt ſich der jetzt in
München lebende Hamburger Wil—
helm Mauke. Sein Grundfehler
beſteht darin, daß er in ſeinem Kom—
poniereifer vergißt, in den Sinn und
Charakter der Gedichte einzudringen,
die er in Muſik ſetzt. Bierbaums
Gaſſenhauer „Was iſt mein Schatz?
Eine Plättmamſell“ ſetzt noch recht
glücklich an, aber ſchon nach wenigen
1. Oktoberheft 1898
— 26 —
Zalten verbüftert das erit noch fo
muntere Mädel ihre Mienen, madjt
Gefichter wie der jterbende Triſtan
und wird Schließlich zum mufilalifchen
Sonterfei des verhärmten, abſcheu—
lihen Frauenzimmers, das den Um—
ichlag des Heftes (op. 23 München,
A. Schmid, ME. 1.50) verunziert. Auch
Bufjes „Was will ich mehr?” in dem—
felben Opus leidet an grundlojem
Außerſichſein. Und einen ähnlichen
Einwand muß ic gegen die Diaufejche
Kompofition de8 „Prometheus* von
Goethe (op. 35. Berlin, Challier,
ME. 1.20) erheben, der nicht als ein
abgeſchloſſenes idrijches Ganzes, ſon—
dern wie ein aus dem Zuſammen—
hang eines Muſikdramas herausge—
riſſenes Stück anmutet. Da iſt der
Komponiſt unſtreitig „fehl am Ort“,
mwenn er neue Wirkungen um jeden
Preis erzielen und, dem Sänger Wüll-
ner vergleichbar, das Konzertpodium
ur Szene maden will. Auf Expo—
—* Gliederung, Aufbau zu einem
Höhepunkt, auf alles, was man Form
nennt, ſcheint er verzichtet zu haben. Aber
es ſteckt eine anſehnliche Kraft in dem
Wert und feinen drei charaktervollen,
plaſtiſchen wagnerartigen Themen (Ber-
tragmotiv, Eingang des Tannhäufer-
marſches, Gurnemanz’ Segen), die des
Prometheus Trog, feine Menſchen—
würde und feine Gottähnlichfeit ver=
finnliden. Wer fi) für die moderne
Liedfompofition und für Maufe im
beiondern interejfiert, fol an dem
„Prometheus“, der meines Erachtens
bisher bedeutenditen Leitung Maufeg,
nicht vorübergehen. Vielleicht wird er
darnady mit mir ein Gefühl teilen,
als ſei die Lyrif gar nicht Maufes
Feld, als dränge feine Begabung, deren
Vorzüge ich keineswegs verfenne, immer
beutlicher zum Drama, zum Theater.
Ich verjäumte feine Gelegenheit auf
die Lieder des vor anderthalb Jahren
verstorbenen Alexander Ritter bins |
aumeifen, die zu dem Belten, Echteſten
der neuerer Zeit zu zählen find. Dies-
mal made id auf fein op. 2, Die
„Schlichten Reifen“ (E. F. W. Siegel,
Leipzig, ME. 1.50) aufmerffam. Ein
Jugendwerk alfo — und doch melde
fiher geitaltende Meifterfchaft! Ritter
war als Lyriker feine elementare Na—
tur; eine entzüdende Feinheit der ſton—
turen, eine unwillkürlich an Gornelius
erinnernde Zartheit der Empfindung
fennzeihnet ihn bei unbedingter
Wahrhaftigkeit feines oft wie verſchämt
zurüdhaltenden Ausdruds. Die lieb-
Kunftwart
(
ſch
|
|
|
lihen Melodien, die er zu den Dahn—
Ihen Verſen gefunden Hat, eignen das
Merk wie fein anderes zur eriten Be—
kanntſchaft mit Ritter. R. B.
* Zumssojährigen Jubiläum
der Dresdner Lönigl. Kapelle
22. September) bat 9. v. Brescius
im Meinholdſchen Verlage eine Feit-
fchrift Herausgegeben, worin bie ruhm=
volle Geſchichte der Kapelle von Reiſ—
figer bis Schud) (1826 —98) ig ein
läßlich, wenn aud; natürlich jtets im
rofenfarbigster Feſtbeleuchtung abges
ildert wird. Beigegeben find die
Bildniffe von Reiſſiger, Morlacd)i,
Wagner, Rietz, Krebs, Schuch, Wüll-
ner und Hagen.
* Wiesnoh immer gemadt
wird, Der „Fall Weißheimer“ it,
glauben mir, abgethban, aber mie
neueftens Hanslid ihn ausfchrotet, um
dem verhaßten Wagner eins am mo—
raliſchen Zeug zu fliden, da fich fein
fünjtleriihes als allzuhaltbar erwieſen
hat, — das bleibt lehrreich zu beobach—
ten. Gr will den Lefern der „Neuen
Freien Preffe* „das Wichtigſte“ aus
Weißheimers Buche mitteilen, das
aber find für ihn feineswegs die
vielen interejjanten Berichte über des
Meiiters Schaffen oder bie ——
ſchen Züge ſeiner Perſönlichkeit. Sie
übergeht er, und regiſtriert bloß
die Stellen, aus denen hervorgeht,
was Magner feinem Famulus
ſchuldig war. Und da ihm das „immer
nod nicht ſchwarz gnug* erſcheint, ie
torrigiert der biedere Hiftorifer à la
Riccaut de la Marliniere die That
fahen. Freilih: „Ihatfadhe iſt,
daß Weikheimers Merk in Münden
nicht zur Aufführung gelangt ijt*, er=
Härt er gerade, um Wagner bie Folgen
feiner Undanfbarkeit vorzubalten. Sehr
effeftvol, aber Weißheimer ſpricht im
Bude ausdrücklich von ber Münch—
ner Aufführung! „Bon Wagner felbft
empfing er nie mwieber ein Lebens—
zeichen“, erflärt Hanslid entrüftet,
vergißt aber anzugeben, dat zwiſchen
beiden ein ſchwerer öffentlider Kon—
flitt ausgebrodyen war. Er fchildert
beweglidh, wie ber von Wagner vers
ftoßene Jünger in Augsburg, Berlin,
Düffeldorf, Würzburg fi für feine
Merle einſetzt — unterjchlägt aber, daß
diefe Wirkſamkeit in eine Zeit fällt,
wo Weißheimer mit Wagner nod) auf
freundlidftem Fuße ftand. DaB
folhe hHandgreiflide Fälfhungen in
einem „Weltblatte* durchgehen fünnen,
zeugt nit bloß von der Geduld des
1. Oftoberheft 1898
Bapiers, fondern aud) davon, baf
dieſe gute Preſſe annimmt, ihre Ybon=
nenten würden zwar die Beipredhung,
nicht aber das befprodhene Bud) Iefen.
* An Dresden find immer ned
Dinge möglich, die anderwärts ſchwer
möglid) find. So wäre ein Ludwig
Hartmann naddem Prozeſſe gelegent-
fi der Beitfchen- Affaire feiner Frau,
einem Prozeſſe, dem ſpäter der berühmte
Tappertſche an Merkwürdigkeiten nicht
nahe fam, in jeder andern beutfchen
Etadt unmöglicd) geworden. In Dres—
den mußte er zwar feine Stellung an
den Nachrichten“, den doch fo duld—
famen, aufgeben und als Feuilleton
rebafteur eine Nundreife durch Die
fleinen Dresdner Blätter antreten —
aber die Sache ftörte die öffentliche
Meinung bald jo wenig, daß man jelbft
dem Kunſtwart Hartmanns Mitarbeit,
leider bis zu unferer Aufllärung mit
Erfolg, empfahl. Und jest glauben
bie „Neueiten Nachrichten“ (fo etwas
wie ein „Generalanzeiger“ Dresdens)
mit dem bei ihnen angelangten Herrn
gar Reklame machen zu können, und
diefer jelber jchreibt „zur Einführung“,
als hätt er feiner Lebtag zu allen drei
Tagesmahlzeiten nur Idealismus ges
gejlen! Das iſt leider bezeichnend für
Dresdner Zuftände, es entjpricht 3. 8.
ganz dem Berhalten gegen Stoppel=
Ellfeld. Bon feiner Dramaturgenitels
lung mußte Koppel, nad) feinem ſcham—
loſen Plagiate, weg, bald darauf aber
lud man fogar obrigfeitlid) jeinen be—
mwährten Jdealismus ein, mit Feitpro=
logen zu begeiftern. Immer zunächſt
eine Wahrung ber „dehors“, dann aber
fein Ernit, ber das als notwendig
Erfannte aud) durchführt.
Weshalb genießt wohl ein Ludwig
Hartmann beim Bildungspöbel immer
noch die gewiſſe Beliebtheit, die ſeinen
Marktwert für weitherzige Zeitungs—
verleger beſtimmt? Auch das iſt, als
Zeichen der Zeit, nicht unintereſſant
zu verfolgen. Der Mann bat muſi—
kaliſche Fachkenntniffe — die find für
die Wirkung im breiten Publifum
natürlich volllommen gleihgültig. Bon
allgemeinerem Kunſtverſtändnis fann
gar nicht bei ihm die Rede fein — doch
mit dem müßte das Publikum ja nichts
anzufangen. Sein Deutjd) iſt jo ſchlecht,
dab ihm fogar grammatifalifche Fehler
unterlaufen — das wieder jtört das
Bublifum nicht. Das Geheimnis feiner
Schriftſtellerei ift das: er fchreibt einer—
feits für njedrigere Naturen amüfant,
nämlich ohne je anzuftrengen und
Kunftwart
rn
unter fortwährender Einrührung von
Kunſtklatſch, und, zweitens, bod
tet8 mit einer Miene des ehrlich
tunftbegeiiterten und dabei hochgebil—
beten Biedermanns, der den Klatſch
verabicheut. Vereinigt fi das, fo
fommt der Bürger nie dazu, aud) den
nadt daliegenden Unfinn als ſolchen
zu erkennen, von dem Hartmann in
reichiten Gaben auftiiht. Als er vom
König Albert ernithaft fchrieb: „Sein
Bater und Er haben ben Uebergang
von der wälſchen Muſik zur de
vollzogen — das iſt eine gefchichtliche -
Wahrheit”, haben feine Leſer nicht ges"
lat, und wenn er jeßt fchreibt: „das
ilt ja eben der Vorzug ber riafſiſchen
Epochen vor unſerer modernen Him—
melsſtürmerei — ihre Klarheit“, fo
wird ihn feiner der Seinen fragen: und
der tieffte Bad) und der leßte Beethoven ?
In derjelben Reflamenummer der
euejten* fteht auch eine Parodie auf
Magners Rheintöchter von Mikado.
Weß Beijtes fie iſt, davon hier eine Probe
— ſchwer zu glauben, aber wahr, immer
noch wohl das „witzigſte“ Stüd:
„Die drei Mädchen (zufammen das
Riff anmutig umſchwimmend, mwobei
fie voneinem vorüberfahrenden Dampf=
Ichiffe aus durch Operngläfer beobadtet
werden):
Ei ja! Ei jal
Heia bobbeia!
Elbgold!
Elbgold!
Leichtende Knebbchen
Verdreh'n mer mei Kebbchen!
Elbgold!
Gelbgold!
Drallala! Ei jal
Alberich:
Was is es, Ihr Mädchen,
Das dort ſo hibſch glänzt?
Die drei:
Wo biſt denn, du Alberner, her,
Daß vom Elbgold nie de gehärt,
Niſcht weeß der Alb
Von der Badendknebbchen Glanz,
Der am helliten jtets is,
Wenn mit Salmialgeift
Se blant butzt ‚der Elbe Hausknecht!
(Sie ladjen.)*
Das iſt das Rechte, ijt der ganze
Ludwig Hartmann und ift der Typus
von Zeitungswirtfchaft, den wir mal
aufzeigen wollten: zuerſt erhabene
Worte vom Schönen, das hoch über
dem Leben thront, und von Dresden
als dem „Hort finnvoller Kunit=
pflege“, dann anderthalb Hundert
Beilen lang — von Badendknebb⸗
Oktoberheft 1898
hen und Salmialgeift, in deren Folge
übrigens noch direlt gemeine An—
ſpielungen kommen. $. A.
Bildende Kunſt.
* Berliner Kunſt.
Wir fommen dod) vorwärts! In
der Berliner Stadtverordneten=
Verfammlung Stand ein Mann auf
und magte, das neueſte Werk der
ftädtifhen Wafferbauverwaltung, Die
neue Potsdamer Brüde des Herrn
Stahn, jo ſchauderhaft zu nennen wie
fie ift. Der Kunſtwart hat ſchon vor
einem Jahr darauf vermwiefen, mit mie
unbegrenzter Harmloſigkeit dieſe rechte
Hand des einjtigen Stadtbaurats Ho—
brecht jeine unausgegohrenen Verſuche
der Reichshauptitadt aufhängen durfte.
Friedrichs-, Waiſen-, Luthers, Weiden
dammer:, Wühlendammer:, Eberts—
brüde jind ebenfoviele Beifpiele dafür,
mit welcher Stedheit der „große Kana—
liſator“ das Stadtbild mit den ärgiten
Stümpereien auf Jahrzehnte hinaus
ſchimpfieren durfte. Jet endlich wagt
ein Stadtverordneter die Entrüjtung,
welche nunmehr fogar fo rückſichtsvolle
Blätter wie die „Deutſche Bauzeitung“
ergriffen hatte, aud) im roten Haufe
auszufpreden. Ja, mehr, viel mehr!
Der Antrag Ladewig auf Abänderung
der Potsdamer Brüde ward zum Be—
ſchluß erhoben.
Man darf begierig darauf fein, ob
der Nachfolger Hobrehts noch länger
dem neuen Stadtbaurat für Hochbau,
dem verdienten Erbauer des Leipziger
Neichsgerichtes, den gebührenden Ans
teil an den Berliner Brüdenihöpfungen
vorenthalten wird. Der ſtädtiſchen Kunſt—
fommiffion, deren größtes Werk Die
Serpentintangbeleudhtung des Tünjts
lihen Waijerfalles im Viktoriapark ift,
dürfte aber durch dieje frondierenden
Stadtväter doch endlid) ein Licht dar—
über aufgestedt werden, daß Gevatter
Sandihuhmader und Seifenfieder zur
Beurteilung von Kunſtfragen nicht aus—
reihen. Publikus, freilich, ſtaut ſich
vor dem bunten Waſſerfall und hofft,
daß auf dem Wege der eircenses-Dar—
bietungen noch fortgefahren wird. Be—
völkerte man z. B. den bunten Waſſer—
fall mit netten Rymphen, gewiß, fo
machte man fi) noch populärer.
Uber Herr Zelle, das einitige Haupt
der Kunſtkommiſſion, iſt gleich Herrn
Hobrecht dahingeſchwunden, und jo er—
hebt die Oppoſition ihr Haupt, wenn
die Autoritäten den Dienſt verlaſſen.
Ja, die Autoritäten! Darin liegt's!
Kunftwart
|
28
Wenn nur die „autoritativen“ Menfchen,
die Menſchen mit der naiv-rückſichts—
lofen Freude am Befehlen nit fait
allemal die ungeeignetiten für Kunſt—
entjheidungen wären! Ach die Herden—
menſchen brauchen den Herrenmenfden,
dem eine Verantwortung leicht wird.
So ſicher dieſer fid) felbit für den rich—
tigen Maßſtab aller Dinge hält, fo
ratlos find jene im heimlichen Be—
wußtfein ihrer Waichlappigfeit.
Wohl dem braven Byzantiner, der
eine Mutorität gefunden, die ihn dedt
und, womöglich, noch obenein Tobt!
Wie erfreulich klingt da wieder bie
Stunde von dem Ergebnis des engeren
MWettbemerbes um den Entwurf für
ein „Repräjentationsgebäude*
des deutfhen Reiches auf der
Parifer RWeltausftellung. Das
Preisgericht, „das unter der Leitung
des Präfidenten der fgl. Akademie der
Künſte, Geheimen Regierungsrat Ende,
tagte, brachte drei Entwürfe als zur
Ausführung geeignet in VBorfchlag...
Diefe wurden, nachdem von den fran—
zöſiſchen Ausitellungsbehörden gegen
feinen Bedenlen erhoben waren, dem
Staifer unterbreitet. Die in dieſen
Zagen eingetroffene Allerhöchſte Ent—
fheidung geht dahin, dat der Radke—
fche Entwurf mit dem Stennmwort »Ca
iras zur Ausführung gelangen foll“
u. ſ. w. So fchreibt ein offiziöſes Blatt.
Die Entwürfe find nod) nicht öffent—
li) befannt gegeben, wie denn Die
ganze Ungelegenheit erit jegt zur Bes
ſprechung gelangt. Es mag auch wohl
fein, daß dein Erbauer des „Deutfchen
Hauſes“ in Chicago, das von allen
Urteilsfähigen gelobt wurde, auch ein
zweiter Wurf gelungen ijt. An fid
iſt die Angelegenheit vielleicht in gutem
®eleife, aber es wird hier, mo es fid)
zweifellos um eine reine Stunjtangele-
genheit Handelt, erlaubt fein, zu jrdgen:
ob wir denn wirflih als deutſche
Staatsbürger verpflichtet find, zu
glauben, daß der Staifer in tunitdingen
autoritativer fei als der Senat der
Kunftatademie? Was zmeijeln wir?
Wir werden’S eben glauben lernen
müffen, denn wenn diefe Herrn nicht
einmal das Selbitvertrauen eigener
Entjheidung haben, jo hat wirklich
jeder jelbjtändige Mann, er verftehe
von Kunſt jo wenig e8 ſei, mehr Ur:
teil als fiel
Niemand wird unferem Staifer das
Recht eines eigenen fünjtleriichen Ge—
fchmades beftreiten wollen. Aber kein
Staatsanwalt fann die Thatfache unters
1. Oftoberheft 1898
drüden, daß der —— keineswegs der
unanfechtbare Bertrefer auch bes Ge—
ſchmacks ber Gegenmart ift, daß nicht
der minbefte Grund ift, dieſen Ge—
ſchmack in fünjtlerifhen Dingen für
maßgebender zu halten als den irgend
eines andern gebildeten Mannes. In
unferm Falle lag nicht bei Berufs—
politifern von gewohnten funjtbanaus
fentum die Enticheidung darüber, wie
mit den vom Volke bemwilligten Mit»
teln Zeugnis vom Tünftlerifchen Em—
pfinden des Volkes abzulegen Sei.
Um fo fchlimmer, daß daraus nichts
gemadt worden ift, als wieder 'mal
eine Gelegenheit für „tonziliante“ Ge—
heimräte, fi als Urteilsloje dem höchſt⸗
geitellten Zaien allerumnterthänigft zu
Füßen zu legen. Boreas.
* Denlmäler= Narrheiten
machen wieder mal von fi reden.
Wenn bisher einer von „Hühnerologie*
ſprach, meint’ er, einen ſchlechten Wit
aufzumärmen, jeßt aber foll ein Hüh—
nerologe“ ein Dentmal befommen, u.a.,
weil er diefes treffliden Ausdrucks
Schöpfer jei. Einen andern Denkſtein
wollen die Gemeinden Zierenberg und
Dörnberg errihten: „Stehe Wanderer
und leſel (lejel) Hier fpeilten Sailer
Wilhelm IL. und Saiferin Auguſte
Biltoria am 19. Auguſt 1898 zu Abend.”
Will man künftig auf jede ebenfo wich—
tige Lebensthätigleit des Stailerpaares
einen Dentitein fegen, jo führt das
doch zu jelbit für Neu-Byzanz eigen=
tümlihen Sonfequenzen. Na, dafür
fcheint ja nunmehr das hoch- und hoch—
mohlgeborne Komitee unter Befehl
bes Grafen Hochberg, Höchſtlomman—
dierenden der fgl. Theaterparaden, das
fchneidige Berliner „von Wagner-Denk—
mal“ gefichert zu haben. Beweiſt das
etwa nit, wie aud) in Neu-Byzanz
ein einfach mohlgeborner Künſtler
noch nad dem Tode avancieren
fanın? Iſt e8 doch wahr, p. p.
Richard Wagner verlangte von feinen
Freunden vor allem Ermeiterung
des Bayreuther Fonds, damit aud)
Unbemittelte dort fich bilden fünnten,
er. verlangte überhaupt vor alleın Ein-
treten für feine Gedanfen, für fein
Lebenswert. Aber folden Mangel
an Berjtändnis fürs Delorative über:
fehen wir nachſichtig, wir, die wir doch
wohl wiſſen werden, warum nicht die
Künftler, fondern die Kadetten Frei-
billete befommen.
* Hier in Wien liegen ftille Mo—
nate Hinter uns, und aud) der Herbjt
wird vorläufig nicht viel Neues bringen.
Kunftwart
Im Künftlerhaufe bereitet man fid) vor
zu der Ergänzung ber legten Ausſtel—
lung, die einen Rüdblid bis zum Jahre
1848 bringen fol: „Fünfzig Jahre
dfterreihifher Malerei“. Manche
alte Erinnerungen und intereljante
Vergleiche dürften bei diefer rüdbliden=
den Ausitellung für den fchärfer zu=
fehenden Beobachter zu finden fein —
wird die Wiener Vergangenheit nicht
vielleicht bejier dabei weglommen, als
die Wiener Gegenwart? Was die ein=
heimiſche Kunſt anbelangt, fo dürfte
der Vergleich nicht zu Gunsten der Durch
den verfpäteten „heiligen Frühling” zu
faum verdienter Glorie emporge-
ſchraubten Mittelmäßigkeit ausfallen!
Mittlerweile baut der junge Archi—
tet J. M. Olbrich den neuen Kunſt—
tempel für die Sezeſſion („Vereinigung
bildender Künſtler Defterreihs*), in
welchem die erite Ausſtellung Ende Ol-
toberftattfinden ſoll. Ueber dieſen kleinen
Ausjtellungspavillon läßt ſich noch nicht
viel fagen, obwohl ſchon jegt die aus
Lorbeerblättern zufammengewadjfene,
grünsgoldig ſchimmernde Kuppel Die
Blide des Borübergehenden auf fi
zieht. Um wichtigsten wird das Innere
fein, mo ein ganzes Syſtem verſchieb—
barer Wände die Räume beliebig groß,
flein, lang, breit (mit Ober= und Seitens
lihtbenugung) machen fann. Und dann
vor allem: der Tempel wird Flein.
Es geht alfo wenig zu gleicher Zeit
hinein — das bedeutet einen Schritt
vorwärts im Ausſtellungsweſen.
Wilhelm Shölermann.
* Bor Beginn der großen Katho—
lilenverfammlung hat man im
Krefelder Mujeum de Rudders Bronze—
figur „Die Wahrheit” aus den Aus—
jtellungsfälen entfernt — jett ſteht fie
in ihrer feufchen Nadtheit wieder da.
Eine Nachricht, bei der einem wirklich
lächerlich und jämmerlich zugleich zu
Mute wird und die mwirft, wie eine
VBerfpottung der verfammelten glau=
bensitarten Männer! Was dann auf
dem Statholifentongreß über moderne
Kunst gefagt ward, war ja freilich zum
großen Zeil fhlimm, aber man fonnt’
es doch nicht vorher willen. Und wenn
jegt manche unjrer Zeitungen auß den
dortigen Weherufen über moderne
Kunjt eine allgemeine Verjtändnis=
Iofigfeit der Statholifen in Kunſtdingen
folgern wollen, fo zwingt Die Ges
rechtigkeit, anf die Generalverfamme
lung der „Deutſchen Geſellſchaft für
Hrijtliche Kunst“ Hinzumeifen, auf der,
in diefem Auguft zu Ravensburg, gleich—
1. Oftoberheft 1898
23 —
falls Katholiken, aber in fehr verſtän—
digem Sinne fpraden. So mwieß der
gelehrte Pater Albert Kuhn aus Ein=
fiedeln auf das Eindringlicdhite darauf
hin, „daß unfere Kunſt, aud) die mo—
derne religiöfe Kunſt, fich den berech—
tigten eloberunge des modernen
Zeitgeiftes fügen, daß fie darin wur—
zeln folle*. „Es beiteht Heutzutage
eine ſtunſt, welche die Stilarten früherer
Zeiten indie Gegenwart hinübernimmt:
das fommt von unfrer maßlofen Ge—
lehrſamkeit, mweil wir zu menig ge—
bildet find und viel zu gelehrt. Jede
Zeit muß ihren Stil haben und foll
ihren Stil haben“. In ber Ginfüh-
rung des Realismus auch in die reli—
giöfe Kunſt fei „noch gar feine Ber:
irrung zu erbliden. „Wenn Die
religiöfen Künſtler fo wenig Einfluß
und Anfehen haben, fo fommt das ein=
mal daher, dab ihre Kunſt zu wenig
zeitgemäß ift, daß fie zu wenig eine
den Zeitgenoffen verjtändlidhe Sprade
redet. Wer auf die Zeitgenojjen Ein—
fluß gewinnen will, der muß aus ber
Gegenwart, aus dem Rollen fchöpfen.
Aus all diefen Erwägungen ergibt fid)
die Schlußfolgerung, daß der driit-
liche Stünftler Heutzutage weniger Ro—
mantif treiben darf, daß er fich weniger
ins Mittelalter und in andere ſtultur—
perioden zurüdichrauben darf, daß er
aus der Gegenwart fchöpfen, fih an—
lehnen muß an beredtigte Zeitſtrö—
mungen, um eine den Zeitgenofjen ver—
ftändlihe Sprade zu reden. Die
Schuld daran, daß dem vielfach nicht
fo ijt, liegt weit mehr an den Be—
ftellern, al8 an den Künſtlern.“ Eben
deshalb darf jeder Kunſtfreund der
Geſellſchaft für chriftliche Kunst wach—
fenden Einfluß wünſchen. Zumal fie
auch gegen die Kunjtfabrifate der „Uns
ftalten für firhliche Kunſt“ nad allen
Kräften vorgeht. Wir müſſen befennen:
in dieſem leßteren Vorgehen fehn wir
fogar zunädjt ein noch fichreres Ver—
dienjt, denn Hier Handelt ſich's um
ganz klar umfchriebene Begriffe, wäh—
rend Worte wie Realismus, Romantif,
beredtigte Anforderungen u. f. w.
immerhin über ihre Unmendbarleit im
einzelnen Falle recht große Meinungs
unterjchiede zulaſſen.
* Breisausfhreiben, wie fie
nicht fein follten.
Ein ſchönes Beispiel für dieſe Ab—
teilung bringt das große neue Unter
nehmen „Kunjtgefühl in der Pho—
tographie“. Da werden als „ſpe—
3iale Preisbemwerbe* aufgeftellt:
Kunftwart
„ti. Landſchaft im Dämmerlidte:
Es ift die fhöne Stunde, wenn der
Mond — gleich einer goldenen Galeere
— ben Haren Simmel binanfteigt, an
welchem die Sterne aufmwaden. Der
Aderer verläßt die ſchwarze Furde,
melde die Pilugihar gezogen Hat,
rings umher Einſamkeit.“
„2. Inneres einer Wohnung mit
Berfonen. Zimmer eines Reichen oder
Armen. — Die Frau, welche von ihrem
jungen Gatten verlaſſen worden ift,
wartet in einer Ede des Herdes. Ein
Lichteffekt muß geſucht werden, welder,
indem er die Geſichtszüge hervorhebt,
deren ſchmerzlichen Ausdrud zeigt.“
Die drei folgenden find auch nicht
viel vernünftiger. Da find wir nun
mit Müh und Not der Uneldoten=
malerei jo A ledig geworben,
und nun fol die Anekdotenphoto—
graphiererei losrücken, die, da Hier
ganz unvermeidlich eine Theaterpojerei
vorhergehen muß, noch viel wider—
mwärtiger ift. Künſtler unter den Pho—
tographen werden freilich fchon des—
halb auf diefen Leim nicht gehen, weil
ihnen die Borfchriften viel zu jehr die
Bewegung beengen.
* Ernitftreidolfs köſtliche „Blu=
menmärden*, auf deren Originalaquas
relle wir vor Jahren mit mwärmiter
Empfehlung Hinwielen, haben ihren
Verleger gefunden, bei den Münchner
„Bereinigten Werkſtätten für Kunſt im
Sandmwerf.* In ganz vorzügliden Li-
thographien von Kreidolfs eigener
Hand liegt das Bud) nun vor, endlid)
einmal wieder als ein künſtleriſches
deutſches Kinderbuch.
* 58 freut uns, endblih das Er—
fcheinen eines höchſt empfehlenswerten
„Handbudhs der Anatomie der
Tiere für Künftler“ anzeigen zu
tönnen, denn das unter diefem Titel
von Ellenberger, Baum und Dittrich
bei Theodor Weiher (Dieterihiche
Verlagsbuchhandlung) in Leipzig jetzt
erjcheinende Tafel und Textwerk ver—
fpriht nad) dem, was jchon vor=
liegt, ganz vortrefflich zu wer—
den. Was wir bis jet von Tier-
anatomien für Künstler haben, behan—
delt ja bis auf das englifhe Werk von
Thompfon nur das Pferd, aber nicht
etwa nur in der ftofflichen Erweiterung
liegt der Fortichritt, den Das neue
über alle feine Borgänger hinaus be=
deutet. Nennen wir, nad) recht intimer
Prüfung, melde uns als feine Vor—
züge ericheinen: volllommene Zuver—
läſſigkeit, tlarlegung zweifelhafter und
1. Oftoberheft 1898
50
Darftellung bisher unbearbeiteter Ge—
biete, Wahrung der organifchen Ge—
famterfcheinung in Unterordnung bes
Details bei feinfter Durchführung der
Einzelnen, jtoffliches Zeichnen, prak—
tiihe Handhabung und Gliederung des
Stoffes bei vergleihendem Text. Halten
die weiteren Lieferungen nur einiger=
maßen, was der Anfang verfpricht, fo
gewinnen wir bier als Ergebnis einer
Unfumme von opferfreudiger Arbeit
ein in feiner Art meiſterliches und
wohl auf lange hinaus maßgeben=
bes Werk. F. C.
*In Brüfjel tagt in ber letzten
Septemberwodhe der fehr midtige
internationale Kongreß für die Kunſt
im öfjentliden Leben Congres
de l’Art public). Bon unfern beftän=
digen Mitarbeitern nimmt daran Dr.
Baul Schumann teil, der im Kunſt—
wart darüber berichten mwirb.
* Der Verein für Deutſches
Runftgemwerbe in Berlin fordert
feine Mitglieder auf, die Eröffnungs-
ausjtellung im neuen fünjtlerhaufe
mit Erzeugnifjen des ſtunſthandwerks
au beihiden. Dann heißt e8: „es
tkann fih jelbitveritändlih nur
um folde Gegenstände handeln, melde
in Ausführung und Erfindung das
Gepräge eines Kunſtwerks tragen und
nit um Erzeugniffe, melde für den
gewöhnlichen Bedarf gearbeitet find.”
Alfo zur Linfen die weißen Lämmer:
Gegenitände, melde „das Gepräge
eines Kunſtwerks“ tragen, zur rechten
die ſchwarzen Böde: „Erzeugniffe,
melde für den gewöhnlichen Bedarf
gearbeitet find“, als Gegenjäte. Wie
jternenmeit entfernen wir uns von
den jugendlicheren Zeiten der Menſch—
beit, als noch den Griehen und Rö—
mern, die wir unzutreffend genug die
Ulten nennen, die Kunſt nicht eine
Rebensverzierung für Wenige, fondern
ein Grundpfeiler des Lebensgebäudes
war! Daß die Grojchentöpfe ihrer
Küchen fo gut von Kunſt zeugten wie
ihre Statuen und Baläjte, wir Irrenden,
das hat uns bisher aud) noch gefallen.
Aber nun werden wir ja vom Ber—
liner Runftgewerbeverein belehrt. Das
Künſtlerhaus fann ruhig fein, der
wird's nicht in ben übeln Gerud
einiger Volkstümlichkeit bringen.
Dermifchtes.
* In Sadıen des Urheberrechts
bat der Schriftitellertag in Wiesbaden
die folgenden Beichlüffe gefaßt:
1. Der Berbandstag richtet an alle
Kunftwart
Berufsgenofien die Bitte, alle Erfah—
rungen, die fie mit ber Praris des
jegigen Urheberrechts gemacht haben, zu
fammeln und der Geichäftsleitung des
Scriftitellerverbandes zu übermitteln.
2. Der Verbandstag ernennt eine
Kommilfion, die beauftragt wird, bei
der bevorjtehenden Reform des Ur—
heberrecht8 die Wahrung der Intereſſen
der deutſchen Schriftitellerwelt in die
Hand zu nehmen und der Regierung
im Namen des Verbandes entiprechende
Voritellungen zu maden. Die ſtom—
mijfton wird ermädtigt, aud) Ver—
treter der Buchhändler zu ben Bes
ratungen zuzuziehen.
Außerdem ftimmte der Berbands-
tag prinzipiell folgenden Grundfägen
au, die der zu bildenden Kommiſſion
al8 Material überwiefen murden:
1. Es iſt ein einheitliches Geſetz zu
fhaffen, daß die Neichsgefege vom
Il. Juni 1870 und vom 9. Januar
1876 erſetzt. 2. Allen Geiftesmwerfen,
gleichviel ob fie deutichen oder frem—
den Urfprungs find, oder innerhalb
oder außerhalb des deutſchen Reiches
erfcheinen, ift gleihmäßig Schuß zu
gewähren. 3. Als unberedjtigter Nach—
drud iſt auch der Abdrud von Artikeln
aus Zeitungen oder Zeitfchriften an—
aufehen, fofern er in der Abficht eigen—
nüßiger Bereicherung geſchieht. 4. Die
wirtihaftlihe Nusbeutung ges
meinfreier Werke ijt zußuniten
der Urheber-Hilfs- und Ver—
forgungs8fafjen zu beiteuern.
Der gefperrt gedrudte Beſchluß iit,
mie unsre Leſer wiſſen, unfres Erach—
tens der wichtigſte. Im übrigen be—
deuten die Beihlüffe ein langjames
Zeitmaß im Vorgehen für eine Re—
form, und das iſt ganz in der Orb»
nung. Wir wollen uns gern mit dem
vorläufig Erreihbaren begnügen, fo
lange unfer letztes Ziel den Poeten
wie allen andern Künitlern nod) weit
in der dunfeln Ferne zu liegen fcheint.
Heute bezeichnen wir’ nur: Befreiung
bes geſamten dichterifchen, muſikali—
fhen und überhaupt fünftlerifchen
Schaffens von der Abhängigkeit vom
Marktwerte. Daß e8 ein erreich—
bares Ziel ift, glaubt ung auf unſer
ehrliches Geſicht vorläufig Doch nod) fein
Menih, wir mülfen’s nächſtens mal
deutlicher beweiſen.
Mittlerweile ift auch die von Reichs—
wegen einberufene Kommiſſion zur
Beratung von Ubänderungen des Urs
heberrechts zujammengetreten. Das iſt
eine, wie man fie für ſolche Zwecke
1. Oftoberheft 1898
Fa nur in Deutſchland berufen
darf. Inter den adjtzehn eingelabenen
Sachverſtändigen befinden fi) zwei
Scriftiteller(„Geheimer Juſtizrat Ernit
Wichert* und Martin Hildebrandt), gar
feine fomponiiten, gar feine bil-
denden Stünftler, dagegen ungefähr
ein Dutzend Berlagsbudhändler,
Dufitverleger und Sonzertagenten!
Freilich, diefe „verwerten“ ja die unit,
die Poeten, Mufifer und Stünftler
maden fienur — maß geht alfo fie,
die ja bloß die Urheber find, das Ur—
heberredt an? Und da ſag' Einer,
wir ftänden nicht im fapitalismus!
Wir fommen felbitverftändlich auf Die
Sache zurüd.
Unſere Beilagen
follen alfo fortan, gemeinfam mit
unfern „LZofen Blättern“, ben ans
regenden und fritifhen Tert des Stunit-
warts durch lebendige Kunſt erläutern,
fördern und ergänzen. Sie werden
deshalb verſchiedener Art ſein. Wir
werden Blätter bringen, die gar nichts
anderes wollen, als etwas recht Gutes
ins Land bringen, Bilder und Noten,
die einfach eingefügt werden möchten
dem Kunſtſchaße fürs Haus. Bor
allen werden wir hier natürlid) bes
ftrebt jein, das Gediegendite aus dem
Neuen unfern Freunden zu zeigen,
ſoweit dies unfre Beilagen eben
können. Wiſſen wir aber irgend ein
Brünnlein des Schönen das ſchon
lange riejelt und zu Dem bod der
Pfad immer nur wenigen befannt
war oder auch mit der Zeit ver—
wadjen ift, fo werden wir aud) aus
feiner Flut getroft einmal einen
Probetranf holen. Eine zweite Gruppe
unferer Noten wie Bilder joll Illu—
itrationen bieten, ſoll alſo zur Erläute—
rung unfrer Auffäßedienen. Bringen wir
hier etwas, jo bedeutet das alfo nit
ohne Weiteres, daß wir ihm hoben
Kunſtwert zufpredhen.
Unſre Bilderbeilagen nun eröffnen
wir mit einem Blatte nah Var
Klinger, der ja unfrer Ueberzeugung
nad zu den ganz Großen des Jahr—
bunderts gehört. Wir geben das
ernite Haupt jeiner Kaſſandra“ zum
eriten Mal nah dem Originals
modell mieder, deifen Gips der
Künftler ſelbſt bemalt hat. Beſitzer
dieſes Originalmodells ift Dr. Paul
Schumann in Dresden.
Das Leiſtikowſche Bild führen
wir unfern Leſern auch deshalb vor,
um den Begriff des Deforativen,
der in Schulge-Naumburgs Aufſatz
über „Sunftpflege im Mittelftande”
diesmal eine bejondere Rolle fpielt,
an ihm zu erläutern. Schon unire
Wiedergabe läßt etwas ahnen von
ber Poeſie, die auß dem DOrginale
eindringlid ipricht, und fo wär es
grundfalſch, hier von äußerlicher, von
oberflähliher Kunſt zu ſprechen.
Trotzdem erſcheint das Gange vor
allem dbeforativ. Und zwar ift das
Folge zunächſt ber itarlen Verein«
fahung: alles ihm Unweſentliche
hat der Maler meggelafien, fo daß
der Beſchauer nun nidt erit das
Wichtige aus einer Menge von Neben=
fählihem herauslefen muß. Die Ab—
fiht des KHünftlers tritt alfo ſtärker
hervor. Das Dekorative liegt ferner in
dem Zufammenfaffen großer Flächen,
die der Gejamtflähe gleihjam ein
rhythmiſch- ardhiteftonifches Gefüge
geben. Innerhalb folder großen
lähen fann aud der beforative
ünjtler ohne den Rhythmus zu zer—
jtören meit ins Einzelne gehn, jo daß
auch in diefer Beziehung durch das
„Deforative* fein Vorzug aufgegeben
werden muß. Wenn Leiſtikow ein
Detaillieren trotzdem abfihtlih auf
gibt, fo thut er's, um den großen
Zug befonders zu betonen, mas je
nad) den Berhältniiien natürlid) voll-
fommen beredtigt fein fann.
Unfre Notenbeilage eröffnen mir
mit einer hier gleichfalls zum eriten
Mal publizierten voltstümlichen Bal—
lade des vor Jahresfriit verjtorbenen
Martin Plüddemann. Beim Vor—
trage find die einfachen Erzählungen,
die Rufe des feden Knaben Niels Sinn
und die Stimme des Berggeiftes gut
auseinanderzubalten. Seine lette höh—
niſche Frage, „Wo ist Niels“ pflegte Der
Komponift mit einem unnadjahmlidhen,
näfelnden Ton als teuflifdy zu fenn=
zeichnen. Weiterer Bemerkungen über
dies düjtere, fräftige nordiſche Stüd
bedarf e8 wohl nidt. Der Nachlaß
Plüddemanns mird bald herausge—
geben werden, wir fommen dann auf
feine Kunſt zurüd.
Inhalt. Volks- und Gipfelkunſt. — Dramen, die wir wünſchen. Von Leonh. Lier.
— Theodor Fontane. — Die Gefahren der öffentlihen Mufiktpflege. Von Richard
Batka. — Guſtav Mahler. — Ueber ftunftpflege im Mittelftande. VIII. Bon Schultze—
Naumburg. — Lofe Blätter: Bom Verjöhner.
Bon Leopold Weber. — Lotte.
Bon Cäſar Flaiſchlen. — Der gute Feind. Von Ferd. Avenarius. — Rundicdau.
— Aunftbeilagen: Mar Klinger, Kaflandra. — Walter Leiftitow, Herbft. —
Notenbeilage: Martin Plüddemann, Niels Finn.
Derantwortlidı: gerdinand Apenarıns ın Dresden:Blatemwit,
Derlaa von Georg D. W. Callwey. — Hol. Bofbuchdruckerei Kafıiner & Eoffen, beide in Mänchen.
Sendungen für den Cert an die „Kunftwart-Leitung‘, Dresden-Blafewit, Wadwigerfraße.
Beiträge über Mufif an Dr, Richard Batfa, Prag + Weinberge,
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Münden F. 4. su
\ > | = —
KRURSTWARR
Mochbmals vom Urbeberrechbt.
Urheberrecht, Urheberrecht — auf allen Straßen iſt jegt die Rede
davon, aber gar fein Streit Darüber: mir find endlich dabei, das Ur—
heberreht aufs fnifflichjte zurechtzufalten. Das wollen wir auch, das
müſſen wir au, denn recht große Stände im deutichen Reich müſſen
fi) ganz oder zu ſehr mwejentlihem Teil von diefem Befigrecht nähren.
Aber wo man nur etwas Gedrudtes übers Autorrecht fieht, lieſt man
davon als von dem großen Talismane, der, wenn nur erit überall
angebradt, jeglichem Uebel den Eintritt wehrt. Nie, daß man hörte:
auch daS Urheberrecht, lieben Leute, hat denn doc jeine Häfchen und
Haken, nie, dab einer darauf hinwieſe: es ift vorläufig etwas ganz
Gutes, aber das Endziel berechtigter Wunſche befriedigt es noch lange
nit. ch meinerſeits denke: heißt die Wahl: unsre heutigen Zuftände
mit oder ohne Urheberrecht, dann wähl ich fie mit ihm, als dem klei—
neren Uebel, und thue vorläufig mein bischen dazu, dies fleinere Uebel
möglichjt erträglich auszugeitalten. Aber daneben haben wir, dent ich,
noch anderes anzuftreben, denn dag Urheberreht alleine thuts freilich
nidt.
Na, denkt der Lejer, jest wird uns wieder daß alte Lied gejungen
von der befjeren Verpflegung der geiftigen Arbeiter. Wäre dem fo, fo
würde daS wenigitens nicht geichehen, um dieſen Leuten ihres Privat:
vergnügens halber Ertramürfte zu braten, jondern es geihähe aus nüch—
terner und praftiicher Erwägung des nationalen Vorteils. Die geiitigen
Arbeiter jollen für die Allgemeinheit etwas leilten, man muß fie durch
ausreichende Nahrung bei Kräften halten — ganz abgeiehen aljo davon, daß
fie ſozuſagen Menſchen find, nicht Kühe oder Schafe, als welche fie ja jelbit-
verftändlich durch ihre Leiltungen auf genügenden Unterhalt beijere An—
iprüche Haben. Aber es joll heute gar nicht von der Künſtler-Ernährung
geiprochen werden. Ich will nur wieder fragen: iſt das Urheberrecht
an ſich wirklich das mwunderjchöne Ding, da8 den Urhebern hier und
der Allgemeinheit dort ausihlieglih Nugen bringt? Denn darüber
ſind wir ja alle einig: immer auch auf den Nußen für diefe Allgemein—
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
— 353 m
heit hin müſſen wir etwas prüfen, d. h. alſo hier: auf den Nuten
für den geiftigen Nationalmohlitand eines Volkes Hin.
Was thut denn nun das Ürheberreht? Es verbürgt einem geiftigen
Arbeiter, fein geiftiges Eigentum al Ware auszunügen. Betrachten wir
einmal an ein paar Beifpielen, wozu das führt!
Porausfegung: Herr F. fei ein Gipfelfünftler, ein Genie echter Art,
Herr 9. fei ein Schreiber, der einzig fragt: was will der Plebs, aljo,
mas geht auf dem Markt zu verfaufen, jagt mir's, dann mad) ich's,
denn da8 hab ich weg. Nehmen wir mal an: Herr &. Heike mit bür—
gerlihem Namen Hebbel, Herr N. Oskar Blumenthal. Herr Blumen=
thal macht die großartigiten Geichäfte, denn in jeder Stadt find Taufende,
die laufchen wollen, was er Geiftreiches jagt. Herr Hebbel dagegen iſt
fo anipruchsvoll: man muß aufpaffen, man muß nachdenken, man muß
fogar nachfühlen, wenn man was von ihm haben will, infolgedeffen be=
freuzigt fich jeder Theaterdireftor vor feinen Stüden, und fein jchönes
Autorrecht iſt auf dem mirtichaftlichen Markt jo viel wert, wie Blumen-
thals Poeſie auf dem äfthetiichen. Sterben die beiden, ſchließt Herr
Blumenthal mit drei Millionen ab, Herr Hebbel mit Null plus fo gut
gut wie Null. Aber nad) einigen dreißig Jahren, wie fieht das Bild
dann aus? Bon Blumenthal weiß nur noch der „Gebildete“: unglaub=
fich, jagt er, wie damals die Menfchen auf ſolch einen hineinfallen konnten,
der doch gar nicht it gegen unfern großen neuen Sinofpenthal — und
einer wie Hebbel trat gegen diefen Blumenthal zurüd! Hebbels Werfe
nämlich fangen jett an zu „gehen“, — jeßt, wo das Urheberrecht erloichen
iſt. Nun, Herrn Blumenthals Erben hat’3 reich gemacht, vielleicht geben
die Heren Hebbels Erben ein Almoſen, wenn fie Schön drum gebeten
werden.
So verteilt das Urhebergeſetz mild und geredjt feine Gaben: den
fünitleriichen Schmweigzerpillen, Bartwuchselerieren und Hühneraugenringeit
in der Uhr gemährt e8 feinen Schuß, da ja fo viel Geld aus ihren
großen Schöpfergedanten herausgequeticht werde wie möglich, dem ge—
diegenen Geiſtesſchafſfen dagegen wirft's Hungerlähne zu.
Nicht nach geſetzgeberiſcher Abſicht natürlid), bewahre. ES kommt
ja vor, dab ein Genie bösartige Hartnädigfeit genug hat, ſich nicht tot=
friegen zu laffen, fo daß es zu jeinem Tiebzigften Geburtstage vom jubeln
den Volt als Wunderfind entdedt werden fann. Es fommt ja aud)
vor, daß ein wirkliches Talent durch vorfichtige Eltern- und Gattinnen-
wahl oder durch menschliche Ellenbogentraft frühzeitig mit zu der Krippe
gelangt, in die das Urheberredt aus feinem Füllhorn den Blumenthalen
vorichüttet. Es ift überhaupt alles hübich unfontrofierbar dabei, e8 trifft
eben wie's trefft. Sudermann und Fulda verdienen, Holz und Schlaf
hungern, Onfel Julius Wolff und Tante Ambrofius fcheeren ihre Schäf-
chen, Martin Greif und Klaus Groth haben auf Menichen gerechnet und
alio nichts zu fcheeren, Eber8 und Eckſtein „gehen“ gut, Gottfried Keller
und Mörife „gingen“ jchleht, und dazwiſchen gibt’8 hunderttaufend
Varianten in eines hohen Urheberrechts Gunft und Gnade für Gutes und
Schlechtes, immer nad dem Grundlage: wie's trefft.
Und mie bei der Literatur, fo ſteht's in Muſik und bildender Kunſt.
Bon unjern beiden größten Künſtlern iſt Bödlin, der zähe Schmeizer,
glüdlih nah dem eriten Schlaganfall feines Alters no in die Mode
Kunftwart 2. QOftoberheft 1898
- #»-_
gekommen und Alinger fünnte von Zeichenitunden leben, hätte ihm nicht
der Zufall die Mittel zur Entwidlung feines Genies, uns Deutichen zum
unverdienten Glüde, gewährt. Was ihm das lIrheberrecht feiner Bilder
bringt, ift ficherlich nicht der Hundertite Teil von dem, was Thumanns
„drei Grazien“ oder drei Mufen oder drei Balleteufen oder was e8 für
drei Fräuleins find, ihrem Meifter ins Haus holen oder die Photo-
graphien nad) Nathanael Sichel8 Modell in einem der fünfzig tragiichen
Theaterfoitüme, in denen er's, wenn ich's fühn fo nennen joll: gemalt
hat. Und in der Mufit: befam Wagner in feiner Kraft Blütezeit die
Tantiemen oder befamen fie Herr Meyerbeer und noc viel Kleinere?
Der Mann, der mit Orcheitermufit edelfter Neufhöpfung heutzutage einen
Groſchen Neinverdienit durchs Urheberreht einnimmt, foll noch entdedt
werden. Das meiſte bringt e8 wohl Heren Ludolf Waldmann, dem
Dffenbarer des Schunfelmalzers „Fiſcherin, du Heine”. Kann doch aud)
unter den Romanfchreibern an Autorrehtshonoraren fich feiner meſſen mit
dem Berfaffer des „Scharfrichter8 von Berlin“, des „blutigen Knochens
um Mitternacht“ und ähnlicher Werfe, denen Bolfes Stimme Gottes
Stimme 100000 Auflage verfchafft hat und mehr.
Damit alfo, dat daS Urheberrecht den Künſtlern den echten, den
entiprechenden Lohn gebe für ihre Kunſt, wirklich, damit ift es nichts.
Aber vielleicht dient c8 dafür um fo ficherer der Allgemeinheit?
In der erjten Lebenszeit des Hunftwarts, eh ich durdy Schaden
gewißigt war, fand ich mal in emer großen Zeitung einen Auflag, der
einen Mihftand der Kunſtpflege energiſch rügte, alle Kunftfreunde zum
Kanıpfe für die gute Sache aufrief und Vorſchläge zur Beſſerung machte
— ein agitatoriicher Aufruf war's, der nur einen Zweck hatte, wenn
er möglichjt meit verbreitet ward. Bravo, dacht ich, der Mann bat
Recht, hilf ihm, druck's ab und Schließe did an. Kaum war's geichehen,
fo friegt’ ich einen Brief im umverichämteiten Tone von einem Herrn
„Agenten“ in Berlin, Sofort follt’ ich jo und jo viel bezahlen, fonft zeig
er mich an beim Staatsanwalt, als ſtrafrechtlich zu verfolgen wegen
Nahdruds. Alle Hagel, aber der Verfaſſer hatte ſich ja über meine
Unterftügung durch den Abdruck herzlichſt gefreut! That nichts, Herr
fo und fo Hatte den Aufruf ſamt Autorrecht für feine Zeitungstorreipons
den; erworben, davon hatte ich nichts gewußt, der Verfaffer aber hatte
nun keinesfalls mehr was drein zu reden. Des Prinzips halber lieh
ich mich verflagen, die Sadjverftändigen gaben ein Gutachten ab, nad)
dem an meinem guten Glauben nicht zu zweifeln ſei, und das Ver—
fahren gegen mic ward nun auf Antrag des Staatsanmalts jelber ein=
geitellt. Aber zum zweiten Dal hätte ich daS autorrechtlich Unerlaubte
nicht wagen dürfen, das ftreng Verbotene: einem gemeinnügigen Auf—
ruf für eine gute Sache nach) dem Willen feines eigenen Verfaffers zur
Wirkſamkeit zu verhelfen. Was als gemeinnügige Anregung gedadıt,
mar ja nad) dem unüberlegten Abtreten an die Korreſpondenz einfad Ware
zum Geſchäftchenmachen für den Zmwilchenhändler geworden. it das nicht
ein Wuchern mit gemeinnügigen Gedanken? Und liegt nicht, minder auf:
fällig, der Verbreitung des Guten das Autorrecht jehr oft aud) jonft im Wege ?
Was das ichlimmite ift: fo gewiß wie das Gediegene immer ein fleineres
Rublitum hat, al das Seite, fo gewiß fann weniger Geld aufgemwandt
merden für feine, als für des Scledten Berbreitung, jo ficher alio
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
leidet daS Gediegene mehr unter dem Autorrecdht, als das Flache. Wo—
für ich fünzigtaufend Durdjichnittsföpfe als Publikum erhoffen darf, das
kann ih in fünfzigmal ſtärkerer Auflage druden, als wofür ich aller-
höchſtens taufend Leſer annehmen kann. Alfo kann ich's billiger her—
ftellen und auch billiger ablaffen, ohne dem Autor für den Pöbel ein
glängendere8 Honorar verweigern zu müſſen, als dem Autor für die
Denker und Empfinder. Der will aber auch leben, und fo ſchmal fein
Gemwinn ausfallen mag, verhältnismäßig muß er vielleiht mehr
befommen, als der Ebers oder Wolff für die Maſſe. So verteuert das
Autorrecht wieder gerade die beften Werfe am meilten, deren Ver—
kreitung am dringenditen im Intereſſe einer ernfthaften Volksbildung
läge. Die verbrecherifche Phrafe von „Bildung und Belig* entipricht
nun einmal, dreimal Gottlob, den Thatſachen nicht: wir haben unbe—
mittelte genug, die hohe Bücherpreije nicht zahlen können und doc) für
neue Geiltesfaaten den beften Nährboden in fih tragen. Dreißig Jahr
nad) dem Tod der Berfaffer, wenn das Urheberrecht erliicht — feht doch
nur hin, wie fi) dann auf einmal die guten Bücher verbreiten! Frei—
lich: dreißia Jahre nach dem Tod — das heißt zu deutih: dann erft
fann eine8 Künſtlers Schaffen im Volke recht zu wirfen beginnen,
wenn es dreißig und über dreißig Jahre lang ſozuſagen gerojtet hat.
Ein erquidliher Gedanke: was du jest aus voller Skele zu deinen
Volksgenoſſen ſprichſt, aud die wärmſten Herzen und hHelliten Hirne
werden’3 erſt dreißig Jahre nad) deinem Tode vernehmen, wenn fie
nicht zu der Minderheit halbwegs Begüterter gehören. Und ein Ge—
danke, der eigentlich fchon genügen jollte, an der Volllommenheit einer
Alleinherrihaft des Urheberrechts beicheidene Zweifel zu weden.
Heben wir alſo doch endlich einmal zum gründlichen Betraditen
in der Nähe die Erkenntnis auf, die auf der Straße vor uns liegt: das
Urheberrecht Hat mit dem geistigen Wert einer Sache gar nichts zu thun.
Was in einer Arbeit die geiftige Kultur eines Volfes erhöht und be—
reichert, das alio, was an allem dichterifchen, tonkünſtleriſchen, bildend-
fünftleriichen Schaffen für die Allgemeinheit das eigentlich Wertvolle ift
und was ihr Zinfen trägt für Generationen — das wird vom Autor—
rechte überhaupt nicht berührt.
Nichts weiter fann das Urheberrecht, als den Markt mit Angebot und
Nachfrage faufmänniic regeln. Das muß geichehen, feiner wird's leugnen,
bi8 die Verhältnifje bei uns anders liegen. Aber man joll ung nicht mit der
Rede fommen, es verbürge auch auf unlerm Gebiet „jedem Arbeiter
feinen Lohn“, denn es verbürgt gerade den erniteften Arbeitern oft gar
feinen und den fchlechteften oft Hundertfachen Lohn, indem es zum Ent:
Iohner der fünftleriichen Leiſtung das urteilßlojefte Ding der Welt jest,
den Geſchmack der Maſſe. Für unſre Geiftesfultur thut es fo gut wie
nicht8 — es läßt ſich gar nichts dagegen jagen, aber man jol’8 nicht
verjchleiern : einerjeitS ift e8 für die Handwerker mit der Feder da,
anderjeit8 für die Gemwerbetreibenden, nämlid Buch-, Mufitalien- und
Sunftverleger. Ergänzten nicht ideale Kräfte das Autorrecht, wär
e8 die Ausfiht auf Erwerb, die das echt Ffünftleriiche Schaffen be-
ftimmte, die erniten und tiefen Sünftler, die eigentlichen Mehrer
unſres geiftigen Reichs, fie ſchenkten ich alle die Mühe. Gerade fie zu
fürdern, gerade ihre Geiltesarbeit der Nation nutbar zu machen,
Kunftwarı 2. Oftoberheft 1898
— 26 —
das aber ift die große Aufgabe, die nach und neben der Urheberrecht—
gejegung gelöft werden muß. Es gilt, jede geiltige Kraft im Volke zu
der Arbeit heranzuziehen, mit der fie der Allgemeinheit am beſten
dienen fann. Schreibt ihr alle Blätter voll, tagt ihr in euren Vereinen,
beruft ihr eure internationalen Kongreſſe dem Autorrecht zu lieb, fo
mwird’8 euch Herren von der Feder feiner verdenken: ihr wahrt halt da=
mit, jo gut mie alle übrigen Erwerbsftände, eure berechtigten Intereffen.
Ob aber Sudermann, Fulda, Blumenthal u.f.m. aud) in Holland und
Amerika noch ihre Tantiemen einftreichen u. |. w., für unfre geiftige ſtultur
ift das keine hochwichtige Frage. „Befreiung des gefamten dichteriichen,
mufifalifhen und überhaupt fünftlerifchen Schaffens von der Abhängig»
feit vom Marktwerte“, jo haben wir bezeichnet, was jenfeit des Urheber—
rechtes vor unſern Augen als Biel liegt. Wir mollen das nädjite
Mal von einem Wege reden, der vielleicht zu diefem Ziele führt. Gibt
es doch im ganzen Gebiet der Kunſtpflege feine einzige Trage, die wich—
tiger wäre, nicht etwa nur für KHünftler, nein, für die Kunſt, für unfer
geiſtiges Leben überhaupt. a.
DIS
Zukunttslprik ?
„Der große Weg zur Natur zurüd, ben feit ber Renaiffance bie Kunft
nit mehr gegangen und ben nad) den allerdings nod) nicht überall und völlig
übermwundenen Gflektigismen einer Jahrhunderte langen Epigonenzeit endlich
breit wieder gefunden zu haben, einer ber denfwürdigiten Glüdszufälle unferes
Zeitalter8 bleiben wird, den in der Literatur, eine Generation vor uns, zuerjt
der Roman betrat und dann, erft in unferen Tagen, endlich auch das Drama
— dieſer Weg iſt in ber Lyrik noch nicht befchritten worden.“ Arno Holz, der
die vorftehenden Sätze geichrieben, „beichreitet* ihn jest: er gibt feinen „Phan—
tafus“ heraus, in bem ihm, wie er glaubt, wenigftens in einzelnen Gedidten,
in Heinen Abfägen, oft nur in wenigen Zeilen, das geglüdt ift, was ihm vor«
ſchwebt, und er erläutert zugleich in einer Selbitanzeige der „Zukunft“, mas
er will. Das ijt, kurz gefagt: der Reim mu weg, der Rhythmus im bis—
berigen Sinne muß weg, jedes Gedicht foll lediglich durd einen Rhythmus
getragen werden, der nur durch das lebt, was durch ihn zum WMusbrud ringt,
die Worte follen ihre „uriprüngliden Werte* behalten. Holz verzichtet alfo,
um mic meiner Sprade zu bedienen, auf jede überlieferte Form, er will,
daß der Anhalt bes Gedichtes in jedem einzelnen Fall die Form beſtimme,
und glaubt, daß ein durch abfolute Ehrlichkeit des Dichter den Worten gegen=
über zu erreichendes völliges Zujammenfallen von Inhalt und Ausdrud eine
beitimmte, befondere, gleichſam feite Form ergeben mwerbe.
Eh ich meiteriprecdhe, will id) auß dem bei Saſſenbach in Berlin erjchies
nenen erſten Hefte des „Phantaſus“ einige Stüde herfegen, damit der Leſer
beim Folgenden eine Anſchauung der Sadje vor fi) habe.
Ich liege noch im Bett und habe eben Kaffee getrimfen.
Das Feuer im Ofen fnattert fchon,
durchs Feniter,
da8 ganze Stübchen füllend,
Schneelicht.
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
= 32 —
Ich leſe
Huysmans. Lä Bas.
... Alors,
en sa blanche splendeur,
l'äme du Moyen Agefrayonna dans cette salle ..
Plößtzlich,
irgendwo tiefer im Hauſe,
ein Kanarienvogel.
Die ſchönſten Läufe!
Ich laſſe das Buch ſinken.
Die Augen ſchließen ſich mir,
Ad) liege wieder da, den Kopf in bie ſtiſſen — —
*
Zwiſchen Bergen im Sonnenſchein
liegt am Fluß das Städtchen.
Hier oben von meinem Meilenſtein ſeh ich über alle Dächer.
Kerzengrade ſteigt der Rauch.
Durch einen blühenden Hollunderbufd),
unterſcheide ich deutlich,
unter dberjJalten Grünfpanfuppel,
“die Zurmuhr.
Ein bimmelblaues Zifferblatt mit weißen Zahlen.
Noch drei kleine Striche,
und die gefamte Bürgerſchaft
ſetzt ſich pünftlid zu Mittag.
Zwölf!
Es iſt heute Sonnabend, es gibt alſo überall Eierkuchen.
Ich köpfe vergnügt eine Diſtel
und wandre weiter.
In einem brennenden Abendhimmel,
aus Staub und Dunkel,
ſteigt der Dom.
Die Glocken läuten.
Die kleinen Linden ſtehen ſchwarz,
vor ihren Thüren ſitzen alte Leute.
Feierabend!
Die Gaſſen ſchweigen.
Die Glut erliſcht,
am Himmel
leiſe
ziehn die ewigen Sterne auf.
Kunſtwart 2. Oktoberheft 1898
— 38 —
Ih bin der Anfiht, man fol an den Holzifhen Anſchauungen doch nicht
mit bloßem Schütteln des Stopfes vorüber gehen. Der Verfaſſer des „Buches
der Zeit” und des „Papa Hamlet“ wird ja freilih von den literarifhen Worte
führern jeit langem meilt als fomifche Perſon behandelt, und wenn ſich unjere
Durchſchnittspreſſe ein Gütchen thun will, fo tifcht fie eins der Holziichen Ges
dichte auf. Uber man darf nicht vergeilen: Holz hat in der That einiges ge=
leitet, hat in der Entwidlung der neuesten deutjchen Literatur, u. a. im
Kapitel Hauptmann, feinen fejten Plat und würde, felbit wenn er nichts ge—
leiftet hätte, immer nod) eine interefjante Zeiterfcheinung fein: der fanatiiche
Revolutionär nämlich, der abjolute Rationalift, der feinem abftraften Denken
zuliebe die ganze Grundlage der Kunſt umftürzen möchte.
Es koitet nun freilid immerhin Ueberwindung, fi) mit einem Dann
ernsthaft zu beichältigen, der einen Goethe (den Lyriker und den Berfaffer des
Goetz, Werther und Fauſt meine ih) ganz ruhig unter die Epigonen ftellt.
Nenn irgend etwas in der unit eine Rückkehr zur Natur bedeutet, fo ift das
doch ſicher das geſamte Schaffen des jungen Goethe, ift es wahrjheinlid in
höherem Grade als das Drama Shafefperes, fo ſicher diefer aud) eine gewal—
tigere Natur als Goethe ift. Wenn Holz ferner bejauptet, im Noman fei der
Rüdmweg zur Natur von der uns vorangegangenen Generation gefunden wor—
den, fo gedenft er außer Goethes aud) der älteren Engländer, Yieldings u. ſ. w.
nicht, und ob er Jeremias Gotthelf, und nit den im ganzen viel weniger
wahren Zola im Auge hat, ift mir mindeitend zweifelhaft. Endlich überiteht
er, wenn er fih und Schlaf das Berdienit der Schöpfung des neuen deutichen
{naturaliftiijchen) Dramas zufchreibt, zahlreiche höcdhit bedeutende Anfänge. An
Kunſtwerke wie Hebbels „Maria Vagdalene* und Ludwigs „Erbförjter‘, ob—
wohl dieſe fiherlid; aud) Rückkehr zur Natur find, denfe ich dabei nit, da
es Holz auf die durchaus getreue Wiedergabe der Wirklichkeit anfommt, aber
es gibt zahlreiche „Lokalſtücke“, die wefentlich das haben, was Holz und nad
ihn Hauptmann in Diefer Richtung eritrebten. Doch, an dieje Dinge will ich
mich nidt klammern, es fann jemand jehr faliche hiltorifhe Anſchauungen
haben und dod für Gegenwart und Zufunft etwas bedeuten. Jh glaube nicht,
was wenigjtens die Dichtkunſt anlangt, an die Wiederentdedung der Natur in
unferer Zeit, aber daß jede Zeit ihre befondere Kunſt verlangt (und im Grunde
aud) hat), das freilich jcheint aud) mir gemiß.
Muß aber jede Zeit neue Formen Schaffen, fann ſie nicht Die überlieferten
meiter gebrauchen, fie entwideln und mit neuem Leben erfüllen? Holz als
extremer Radilaler leugnet das; er gibt zivar zu, day das Grundprinzip Der
gegenwärtigen Lyrik ſeit Jahrtaujenden beſtehe, meint aber, es fei jest
hohe Zeit, damit ein Ende zu madhen. Das Grundprinzip der Lyrik ijt nad)
feiner Meinung „das Streben nad) einer gewiſſen Mufit durch Worte als
Selbſtzweck“; dieſes Streben fol nun aufhören. Aber ift diefe Muſik durd)
Worte wirklich jemals Selbſtzweck gemejen? Hat bei einem guten Dichter,
welcher Zeit immer, der Rhythmus je „nidht nur durch das, was durch ihn
zum Ausdruck ringt, gelebt, joudern ſich aud) noch feiner Exiſtenz rein als
folcher gefreut?“ Holz behauptet es, ich bejtreit’ es. Es kommt doch auf Die
Leſer und Hörer an, die wirklich imjtande find, ein Gedicht zu genießen, und
dieſe empfinden meiner Meinung nad) ein wirkliches Gedicht auch) immer als
ein Ganzes und Einheitliches und können ſich die Muſik des Gedichts ebenſowenig
vom Gedicht losgelöſt denken, wie die Haut von menfhliden Körper. Natürs
lich, die Muſik der Verſe übt auch auf Leute einen Reiz, welche die Verſe ſelbſt
Kunjtwart 2. Oftoberheft 1898
nicht verftehen, ſchlechte Gedichte werden durch Reim und Rhythmus gleihfam
galvanifiert. Aber fie leben doch nit — und was gehen bie Kunft ſchlechte
Verſe und dumme Leute an?
Um Holz näher zu fommen, will ih nod anführen, was er unmittelbar
gegen Reim und Rhythmus fagt. „Brauche ich benfelben Reim, den vor mir
ſchon ein anderer gebraudt hat, fo jtreife ich in neun Fällen von zehn den=
felben Gedanfen.* Wie mären dann nad) Goethe und Schiller noch Uhland,
Heine, Mörife und die andern doch immerhin bedeutenden Lyriker unferes
Jahrhunderts möglich gemwefen? Viele neue Reime gegen jene beiden haben fie
ſchwerlich. Weiter: „So arm ift unfere Sprade an gleihauslautenden Worten, fo
wenig liegt die8 »Mittel« im ihr urfprüngli, daß man ficher nicht zu viel
behauptet, fünfundſiebzig Prozent ihrer ſämtlichen Vokabeln waren für biefe
Technik von vorneherein unverwendbar, eriftierten für fie gar nit. Iſt mir
aber ein Ausdrud vermehrt, fo iſt es mir in der Kunſt gleichzeitig mit ihm
auch fein reales Aequivalent.* Der letzte Sat iſt ebenfo richtig wie der erite
falſch: das NReimgedicht verwehrt feinen Yusdrud, nur zum Schluß des Verſes
find nicht alle Bolabeln braudbar. Es fällt mir nicht ein, zu leugnen, dab
e8 fo etwas mie eine echte Reimnot gibt, aber die Kunſt ift eben zu jeder Zeit
das „Schwere“ gewejen. Wenn Holz aus feinen Bemerkungen über den Reim
dann weiter folgert, daß der Horizont der Lyrif nun notgedrungen fünfund—
fiebzig Prozent enger ericheine, als der unferer Wirklichkeit, jo ift das freilich
fait tol. Muß wirklich jeder Schmweinefoben mit feiner Stimmung in bie
Lyrik hinein, jo hat uns dod Wilhelm Buſch gezeigt, wie das allenfalls auch
in Neimen zu machen märe.
AHehnlih wie den Reim verurteilt Holz die Strophe. „Unfer Ohr Hört
heute feiner. Durch jede Strophe, auch durch die Schönste, klingt, fobald fie
wiederholt wird, ein geheimer Leierfaiten.” Ja, für bie, die nicht empfinden,
was jag’ ich, deren feine Obren eben nicht hören fünnen! Oder hätte ein wirk—
licher Dichter je die gleichen Strophen völlig gleich gebaut? Erreicht er nicht
durch die Wahl der Worte, durch Meine Linregelmäßigfeiten im Rhythmus, durch
die Art der Reime u. ſ. m. allezeit die feiniten Abſtufungen? Nicht feiner, möchte
ich behaupten, ift das Ohr unferer Zeitgenofien gemorden, fondern ftumpfer.
Höchſt begeichnend ift für Holz, daß er ber Stombination von Rhythmus und
Neim, bie doch erft das Gedicht ergibt und eine unendliche Mannigfaltigfeit er=
laubt, mit feinem Worte gedentt; der Reim wird verurteilt, der Rhythmus
wird verurteilt, damit gut. Nun follte man denfen, Holz träte für die freien
Rhythmen ein. Aber in ihnen findet er „das falfche Pathos, das die Worte
um ihre urfprünglichen Werte bringt. Dieſe urfprünglichen Werte den Worten
aber gerade zu laffen und die Worte weder aufzupuften nocd zu bronzieren
oder mit Watte zu ummideln, iſt das ganze Geheimnis.“ Ja, aber wie will
Holz die urfprünglichen Werte der Worte beitimmen? Nach bem etymologifchen
Wörterbud) etwa? Es ift doc) befannt genug, daß der Wert der Worte in fort
mwährender Umbildung begriffen ift, daß fie ſich abichleifen wie die Münzen.
Sollen die Worte etwa an einer Wortbörfe „notiert* werden? Holz überfieht
in feinem Radifalismus wieder völlig, daß er, wenn er bem Dichter das freie
Schalten mit ben Worten verbietet (ein ehrliches Schalten verlange id) auch,
aber das fehlt auch beim großen Dichter nie), die Dichtlunft überhaupt auf-
hebt. Es gibt feine unperfönliche Poefte, wie fie Holz, ihm felber unbewußt, im
Grunde als Jbeal erfcheint.
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
Wie Urno Holz zu feinen Anfhauungen gelangt, ift ja Har. Gr ftellt
die ertreme Reaktion auf den lyriſchen Dilettantismus dar. Der Dilettantismus
mibbraudt die Formen, aber „ewig” (dad Wort immer mit dem nötigen
Salz genoſſen) find fie darum doch. So gut wie der Bogel nidt zum
Schwimmen, ber Fiſch nidt zum Fliegen übergehen fann, mie die Natur
ihre jeiten Formen hat, in denen fie immer wieder fhafft, wenn ihr auch
öfter Eremplare mißraten, und formen aus Formen ih „ohne Sprünge“
entwideln, fo gut leben auch die Formen der Aunft, und fie durch abitraftes
Denken abthun zu wollen, ijt lUnverftand. Die alten Saurier freilich
iind ausgeitorben, aber fie haben dod von den Strofodilen bis zu ben
Eidechſen herab verwandte Formen Hinterlaffen — ähnlich wird's in der
Kunft wohl auch gehen. Daß aber gerade jet eine Saurierperiode zu Grunde
geht, glaube ic) nod) nicht, ich fehe das Waſſer und das Feuer nicht.
Eine fritifhe Würdigung der im „Phantafus” enthaltenen „Gedichte*
auf ihren poetifhen Wert hin zu geben, fchien mir minder mwidtig, als eine
Auseinanderfegung über das Grundfäglihe. Meiner Meinung nad find die
beiten Stüde, bie Holz bier gibt und zu denen ich unfre Proben immerhin
rechnen muß, nicht ohne dichteriihe Stimmung. Das meifte aber fcheint mir
noch weſentlich minder wertvoll, vieles fogar völlig wertlos. Mitunter werden
wir geradezu an bie „Stinderprebigt* in „des Knaben Wunderhorn“ erinnert,
übrigens auch in ber Form. Denn etwas eigentlid; Neues vermag ich auch
in Holgens Formgebung nicht zu entdeden, „Lyrik in Profa* hat es in Deutſch—
land ſchon länger, als feit Jean Pauls Stredverjen, gegeben.
Adolf Bartels.
Dramatiker zwischen den Kulissen.
Wie fi die reife Frudt vom Baume löſt, fo das Werk vom Fünftler.
Nun ſchmecke du den andern! Die fräftigiten Säfte aus ftarfer Wurzel haben
fih darin verdichtet, in jeder Zelle der Frucht Iebt und mebt der fchöpferifche
Bater. Und doch hat er feinen Zeil mehr daran, er kann fein Gefchöpf nicht
nähren, mie die Mutter das Rind, und er will e8 nidt. Kaum empfindet er
noch Liebe dafür, denn fon von neuem kreißt e8 in ihm! Herrlichere Pläne
gähren im Künſtler, was ift ihm noch das alte Wert, das Werk von einftmals!
Ein wenig anders jcheint e8, oberflächlich betrachtet, um ein dramatifches
Kunſtwerk zu ftehn. Zwar, wenn das Buch in die Welt geht, Löft ſich aud)
von ihm der Dichter los und überläßt es geruhig den Lefern, aber fo wie er
feinen eigenilihen Boden findet, Die Bühne, erinnert er fi) mit jungem Eifer
an bie Wehen der Entitehung, durchlebt e8 neu und ftellt ſich als Erflärer
und Helfer neben Regiffeur und Schaufpieler. Thut er gut daran?
Kommt daß Werk in die Hände eines wirklichen Regiekünſtlers und
merben von dieſem die Rollen geihidt an ſtarke Individualitäten oder doch an
gute Eharafteriftifer verteilt, jo ift dem Dichter zu raten, fi von der Proben—
arbeit fernzuhalten. Und wenn auch nur der Regiffeur vortrefflich ift, Die
Mitglieder dagegen zum Dlittelgut gehören, fo gilt das Gleiche. Der Regiſſeur
fennt feine Leute und verſteht aus ihnen mit praftifchen Winken berauszus
holen, was irgend in ihnen ift. Taugt der Regiffeur nichts, während die Dar—
fteller tüchtig find, fo werden Kämpfe auf Kämpfe zwifchen dieſen und dem
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regieführenden Dichter entbrennen, die nie ausgefochten werden, meil beide
Parteien verfchiedene Sprachen reden. Erweiſt ſich ſowohl die Negie wie die
Darftellung als unfähig, dann freilich kann der Mutor mit Erfolg eingreifen
um dem gröbjten Unfinn vorzubeugen. Eine abgellärte Aufführung wird da=
mit natürlich nicht ermöglicht, und nur unter befonders ſchwierigen Aufführungs—
verhältniffen ift eine derartige Vorſtellung zu rechtfertigen.
Id) Habe während meiner Thätigkeit am „Deutfchen Theater“ im großen
Ganzen zwei Gruppen von Autoren unterfcheiden gelernt, je nachdem fie ſich
auf den Proben gaben; und ich glaube, diefe Unterjchiede kennzeichnen zugleich
ihre Produftionsweife, ihre ganze Veranlagung.
Der Eine hat von vornherein Charaktere angeſchaut, der Andere
Szenen. Der Eharalter ijt ein Annerliches, die Szene ein Aeußerliches.
Dem Einen ift ber Menſch und fein Schidjal das Erite, dem Undern die Fabel,
Der Eine fhafft, der Andere macht. Der Eine ijt Dichter, der andre Theaters
ftüdjchreiber.
Die Probe ift im Gange. Der Dichter rauft fi vor Verzweiflung das
Haar, wenn von der Bühne herab ein Bild fein Auge trifft, anders als er's
im Geifte gefehen hat. Er rennt unruhig auf und ab, fouffliert aus dem Kopfe
jedes Wort mit zudenden Lippen, hebt wichtige Momente durch eine plötliche
Geſte hervor, fchüttelt fort und fort das Haupt, als ob er nicht Begriffe, daß
man eine Silbe verjhluden, vergeilen, einen Sat verdrehen, dab ein junger
Echhaufpieler mit ſchwarzen Locken einen fahltöpfigen Greiß darftellen könnte,
und flürzt auf den Statiften zu, der nicht den gehörigen Anteil an den Vor—
gängen nimmt. Und tritt er dem Darfteller gegenüber, um Anmerkungen zu
machen, fo gebricht e8 ihm an den rediten Nusdrüden, er gibt cher eine Lebens—
bejchreibung des betreffenden Charafters, als eine den Kern treffende Korreltur.
Die Hände fahren dabei zitternd übers Geficht; alles ift Nero und fudjeltives
Leben an ihm, — jebt, da es fi allein um die Vorstellung handelt! Die
ganze Probe „fliegt“ vor Aufregung, und wenn aud die Hauptdariteller nod)
ziemlich jeji auf den Füßen bleiben, jo entiteht bei der „Gomparferie“, die fid)
ben Teufel um pſychologiſche Motive für ihre Rufe und Bewegungen fciert,
eine heilloſe Verwirrung.
Wie anderß dagegen ein Vertreter (übrigens der erfolgreidite) meiner
zweiten Öruppel Er ſchwelgt vom Probenbeginn an in einem Taumel der Koketterie.
Bon allem, was ihm da oben entgegentritt, iſt er wie von etwas nicht nur Rich-
tigem, fondern aud) „mädtig Schönem“ überraſcht. Seine Hände Hatichen vor Ver:
gnügen immerfort aufeinander, und aus feinem jovialen Munde flieht eitel
Honig auf die Dariteller. Die Worte, die ihm bisher nur aus dem eigenen
ungefchulten Sprechorgane ins Ohr gedrungen find, werden dort in den reichten
Vlodulationen wiedergegeben und werden auswendig gelernt — feine Worte!
Jede Maske (auf den legten Proben wird mit Schminke, ſtoſtüm und Beleud)-
tung gefpielt) nennt er eine herrliche Auffaffung und er preift fie als Genie-
that. Jeder ift der beſte und einzige Verförperer feiner Rolle auf der geſamten
deutfchen Bühne, dann und wann läht er aufer feinem dunfeltönigen ſtereo—
typen: „Ja, jal” nod vernehmen: „So gewaltig hätte ih mir die Wirkung
faum gedadt!* Und wenn eine für Regiileur und Darfteller aweifelhafte Stelle
fommt, die jo oder jo gejpielt werden fünnte, dann überläßt er, weil er ſich
felbit darüber nicht klar ijt, die Entſcheidung großmütig dem Scaufpieler. Es
fommt ihm nicht darauf an, die einzelnen Sätze unter den Spredhenden taufchen
zu laſſen, d. h. die längeren dem bejjeren Rhetorifer zu übergeben, wenn das
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Bud) fie auch dem Mit- oder Gegenfpieler zuichreibt. Für ihn bleibt eben die
Sauptfade, dat die Worte überhaupt geredet werden, um Die Szene zur Er-
fcheinung zu Bringen. Er ſtizziert, fcheint mir's, Schon bei ber Stonzipierung
fein Drama nad) folden Gefichtspunften: in ber eriten Szene muß das und
da8 gejprochen werden, in ber zweiten jenes; dazu brauche ich ungefähr fo und
fo viel Perjonen. Unter dieſe verteilt er dann, was dem Publikum zum
BVerftändnis des Ganzen vor’8 Ohr gebraht werden muß. Die fo mit einigen
Reden bejchentten Namen heißen dann Dramatis personae, Die Charaftertitit
ilt oft fo ſchwach, daß man beim Lefen die Unterfchiede gar nicht gemahr wird!
dab alfo nur die perſönlichen Zuthaten der Schaufpieler in Maske, Ton und
Haltung die Schemen einigermaßen verlebendigen. Die Sprade ift eben, wenn
ſich nicht gerade für ben einen oder andern ber Dialekt befonders gut „mad“,
für alle dieſelbe. Außerdem dient ihm oftmals ein förperliches Gebrechen zur
einzigen „Gharalteriftil“.
Der ehrliche [höpferifhe Dichter alfo, der mit dem Publikum nur infos
fern rechnet, al3 er niemanden über die Rampe anfommen und abgehen läßt,
der echte Charafteriitifer, der feine Seele in fein Werf geprägt hat, er befindet
ji) während der Proben in einem Zuftande quälendfter Nervofität. Sobald
er fich dreinmifcht, ärgert er fi, oder umgelehrt, und es fommt zu Reibereien
mit den Daritellern, die dadurch leicht unluftig werden. Beharren fie auf ihrer
Daritellungsmeife, jo bridt offene Yeindichaft aus; fügen fie fid) dem Dichter,
fo geben fie ihre Perfönlichkeit auf.
Sein Gegenftüd, der Szenenfhreiber, wiederum, der wie ein ind ſich
wahllos über Gutes und Schlechtes freut, weil feinem Machwerk erit durd die
Daritelung etwas Lebensähnliches angemalt wird, unterdrüdt die feilende
Arbeit des Regifleurs durch vorzeitige und unangebrachte Lobhudeleien.
Bon frudtbarem Einfluffe fann beider Mitarbeit nicht fein.
Das Milieu, das der moderne Dichter fhildert, wird auf der Bühne ein
anderes. Es bedarf dazu eines geichidten Ueberſetzers. Das ift der Regiſſeur,
der vom Theater etwas verfteht. (Es gibt ihrer nit vielel) Hier muß auf
Schritt und Tritt Rüdfiht auf die Kuliſſe genommen werden. Dazu gehört
eine Technik, die von der Technik des Bühnendichters verfchieden iſt. Das
Fehlen der vierten Zimmermwand drängt fi dem Dichter nicht mit der Stärle
auf wie dem Schaufpieler. Über genau fo wenig, wie in Wirklichkeit diefe
Rand ohne Thüre und Feniter oder Möbeljtüde ift, genau jo wenig iſt fie auf
der Bühne leer. Ja, fie will weit mehr beachtet jein als jebe andre: das
Publikum füllt fie aus. Einer vornehmen Nüdjiht auf die Zuſchauer fann und
darf der Darfteller ji) nicht entheben, mag er ſich im übrigen nod) fo natu=
raliftifch geberden.
Der Autor ift dabei nit vonnöten. Er foll jein Werk fo in die Welt
und auch in die Theater gehen laffen, daß e8 fich felbit erklärt. Ich dürfte
wohl an das Beilpiel von Schiller8 „Räubern” erinnern, wenn man mir ent—
gegenhalten wollte, daß der Dichter zum Vorteile des Stüdes manches auf den
Proben ändern fünne, was nicht bühnenfällig ift. Die „Räuber“ der Mann—
heimer Bearbeitung find in allen abgeänderten Teilen ſchwächer geworden
als das Original. Ein guter Regiffeur wird fih — heute wenigſtens — nicht
erlauben, eigenmädtige Umarbeitungen vorzunehmen. Er wird jtreidhen, was
wegbleiben fann, ohne daß das Stüd im ganzen gefährdet wird, wenn durch
eine längere Dauer der Aufführung die Aufnahmefähigfeit des Publitums er-
lahmen fönnte; aber er wird niemals Geftrichenes durch Eigenes eriegen. Die
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Zeit ift ja gottlob vorbei, wo Schröder in der beften Abficht den Shafefpere=
Dramen ein glüdliches Ende bereitete, indem er Othello und Desdemona am
Leben lieb. Die tragifche Verfhuldung, die gerade bei Shafefpere oft nur mit
der fnifflihiten Mühe und Spitzfindigkeit „bewiefen* werden fann, iſt für den
Zufhauer fein unentbehrlicher Grund des Genuiles mehr. Wir laffen aud) im
Drama bie „Fügungen bes Zufalls* gern gelten, wenn fie poetifch find. Mit
den freieren, weiteren Aunftanfhauungen des Publifums, mit der größeren
Bildung des Scaufpielerftandes follte auch ein feiteres Vertrauen des Dichters
auf unfre Arbeit Hand in Hand geben. Ferdinand Greaori.
7
Karl Loewe.
Es ift nicht allaulange ber, da gab nad) einem Balladenkonzert ein Re—
zenfent dem Sänger ben guten Rat, „ſtatt der gefungenen Erzählung doch die
fünftlerifch bedeutend höher ftehende und aud) ungleich größere Interpretations=
lunſt erfordernde Gattung des Liedes zu pflegen. Unſere bedeutenditen Vokal—
fomponiiten haben nur ganz ausnahmsmeije Balladen geſchrieben, jedenfalls
beshalb, weil e8 eine niedere Kunſtgattung ift, jo etwas mie veredelte Bänkel—
fängerei.* Diefe Neuerung, fo haltlos fie ift, fo bezeichnend ift fie für das
Unverftändnis, dem wir gerade in den Streifen der zünftigen Muſiker inbetreff
der Mufıtballade begegnen, und man muß es daher freudig begrüßen, daß
Heinrich Bulthaupt in feiner foeben von der Berlagsgeielihaft Harmonie
in Berlin herausgegebenen Biographie Karl Loewes den Wert und das Mefen
ber Ballade unferer Muſikwelt geiitvoll und überzeugend auseinandergeiekt
hat. Denn die Pradjt der Ausſtattung bei dem ungemein niedrigen Preis von
4 Mark fihert dem Werk die weitejte Verbreitung und damit den Einfluß auf
die Deffentlichkeit, deſſen fich andere, treffliche einfchlägige Schriften bisher leider
nicht zu erfreuen haben.
Bulthaupt führt feine Aufgabe fehr felbitändig durch. Halber Poct, wie
er ift, dachte er nicht daran, Die Lebensgeihichte feines Helden aus hunderten
von veritreuten Quellen mühfam aufammenzuforfhen. Abgeſehen von Dem
Kapitel über Loewes Schaffen „abfeit8 vom Reid; der Ballade*, worin zum Teil
wenig befannte, vielfach ungedrucdte Arbeiten beſprochen werden, bereichert er die
willenfhaftlihe Kenntnis Loewes nur mit ein paar Stleinigfeiten. Aber das
bedauert man nit, und e8 entfpridt durchaus dem vollstümlihen Zwecke
diefer Mufitbiographien, da hier nicht ein gelahrter Daten= und Zitatenmenfd),
nod ein Fugenfex und Duintenichnüffler das große Wort führt, fondern ein
Dann von lebendigem Scönheitsfinn und wirklicher allgemeiner Bildung,
die ihn auch befähigen, Hritif auszuüben, d. bh. das Befte von dem Guten und
dieſes wieder von dem Mißratenen zu unterfcheiden. Denn er ijt fein blinder
Unbeter, er fällt über einzelne Werte des Meifters fehr ftrenge, mitunter ſo—
gar überjtrenge Urteile, Er klagt nit nad) der Urt vieler Biographen, daß
3- B. Loewes Opern trog manigfaher Schönheiten auf unjeren Bühnen unbe
fannt find, er tröftet fich mit dem Gedanken, dat aud Werfe von Glud, Mo—
zart, Weber, Schubert, Schumann der Vergeflenheit anbeimfallen mußten. Wo
es aber gilt, die Vorzüge vollfräftiger Schöpfungen, alfo der Loeweſchen Meiſter—
balladen darzulegen, ermeift er fid als beredter Anwalt, als treffliher Stenner
und feiner Aeithetifer. Da er aud) die Sprache wie wenige feiner muſikſchrift—
itellernden Stollegen beherrſcht, fo ift ein Bud) über Loewe entitanden, dem
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man aucd bei abweichenden Anſchauungen feine Unerfennung nicht vers
jagen wird,
Freilih Hat bas Werk auch die Fehler feiner Tugenden. Dat Loewes
höchſt originelles „geiitliches Streichquartett“ (op. 26) unerwähnt blieb, fei nur
beiläufig bemerkt. Aber eine ftärfere Heranziehung der Loemweliteratur hätte
ihm nicht geſchadet, vielmehr hätte gerabe ber populäre Zmed erfordert, daß
der Lejer alles interefiante Material hübſch beifammen gefunden hätte, um
nicht erit an andern Orten nachſchlagen zu müſſen. Wuszüge aus Loewes
Briefen an Debrois van Bruyf (Hlavierlehrer 1895. Neue MufilsZeitung 1894),
aus den Erinnerungen der Tochter Loerwes (N. Muf. Rundſchau 1896) 3. B.,
würden uns das Bild des Künſtlers und Menſchen in erheblihem Maße be=
lebt haben. Die Aeußerungen der Zeitgenojjen über feine Muſik wären durd)
die Urteile einiger der Größten zu vermehren. Es ift nicht unumgänglich, aber
auch nicht bedeutunglos zu willen, daß Spontini Loewes „Oluf“ eine große
Tragödie nannte, dab Wagner von feinen Balladen als dem „Ullermerfwürs
digiten und Bedeutendſten“ fprad), daß Lifzt dem Schöpfer von „der Mutter
Geift“ feine Verehrung öffentlid) bezeugt hat. Worauf Bulthaupt feine Bemer—
fung über die Lifztianer sans phrase als angeblihe Loewe-Verächter gründet,
weiß id nit. In eine Biographie gehören wohl auch ein paar Worte dars
über, mie fi) der Komponiſt zur Mufif feiner Zeitgenoifen ftellte, wobei fich
einige fehr intereifante Urteile Loewes aus feinen Briefen und der Autobio—
graphie anführen lichen. Sein Verhältnis zu feinen Vorgängern mühte er—
örtert werden. Jit einmal feitgeitellt, dah ſich Loewe zumeilen ganz unges
ſcheut Mozartiher Reifen bedient (in „Karl V. in Wittenberg“ zitiert er den
Prieftermarfh aus der „Zauberflöte*), fo braudt der S. 34 f. vermutete
Tropfen italienifchen Blutes nicht herzubalten, auch wenn man verzeihlicher Weife
überjehen hätte, daß die hierfür angerufene Melodie zum Teil aus Mozarts
Sonaten Wr. ıı. Bar. 5 herſtammt. Schlieklich wünfdte man auch einiges
über die Nachwirkung Loewes zu erfahren, über den Einfluß, den er auf an—
dere Tondidgter ausübte. Und man vermißt unter denen, die fich für Die
Würdigung Loewes einfegten, die Nennung eines bejtverdbienten, Martin
Plüddemanns, der aud als ber fühigite Nachiolger bes Meilterd auf den
Felde der Balladenfompofition zu erwähnen war.
Vielleicht entſchließt ſich Bulthaupt, fein ſchönes Werk gelegentlich einer
neuen Auflage in der angedeuteten Hinficht zu ergänzen. Mehr als zwei bis
drei Seiten nähme das nicht in Anspruch, umd im Notfall gäbe mag eine Ans
zahl Notenbeifpiele preis, mit denen das Bud fo verichwenderifdy (ich zähle
gegen 100) bedadjt if. Im übrigen gebührt der Ansitattung volles Lob:
6 Bildnijie Loewes, 10 andere, die feine Yamilienangehörigen, 7 Bilder, bie
biographiſch merkwürdige Orte darstellen — id dächte, das will etwas heißen.
Gewiß wird das rühmlidhe Unternehmen die Teilnahme an Loewe und Die
Freude an feinen Werfen in Deutſchland kräftigen und verbreiten helfen. R. B.
62
Neue Kammermusik.
Die Kammermufil it das Stieffind der Modernen. Sie an der Ent
widfung der übrigen Zweige der Tonkunſt teilnchmen zu lajfen, iſt bisher nur
erst recht Ichüchtern verfuht worden, und der unleugbare allgemeine Kortichritt
in der Hanglichen Verwertung der Anitrumente hat gerade ihr, bei der engen
Kunftwart 2. Oftoberheit 1898
Begrenztheit ihrer Mittel, nicht viel zu Gute fommen fünnen. Um beutlichiten
nimmt man das wahr beim Streihquartett: der letzte Beethoven bemegt
fih ftet8 hart an den Grenzen feiner Tehnif und Ausdrudsfähigfeit, und Hat
vorgreifend — für unfer Jahrhundert wenigſtens — den Raum umfdrieben,
innerhalb deſſen eine Weiterentwidlung vor fi) gehen fonnte. Wie dieſe fich
nad einem Beethoven geftalten mußte, zeigen alle Werfe von Schubert bis
Brahms: ein langfames Erftarren in der Form, die für Schubert nod) den
Zummelplaß feines „göttlichen Bummelns* abgab, ſich bei Mendelsſohn zum
Rahmen korrekter Normalkunſt zufammenzog, bei Schumann eine meitere Ein=
engung erfuhr und für Brahms fchlieglic oft zum fchmalbrüftigen Träger
außerordentliher Tongedanten wurde.
Auch die Kammermufif mit Klavier, von der PBiolinfonate bis
zum Stlavierquintett, charafteriftert fi) durch diefes Mandeln innerhalb läftiger
und dod) unüberfteiglicher Schranken. Aber fie hat vor dem Streichquartett
die tonale Vielfältigkeit des Klavier voraus, und der neuere ungeahnte Auf—
Ihmung dieſes Instruments eröffnete diefer Gattung die Möglichkeit einer
wenigſtens technifchen Gntwidlung, mwährend das Quartett nad) der von
Beethoven erreichten Stufe der Streichertechnif, das Streichquintett nur felten
mehr Pflege fand und das Streichtrio mit Beethoven felbft feinen Erdenlauf
abfchlieit. Mendelsfohn, Schumann und Brahms haben ihr Beites in ihren
Kammermuſikwerken mit Klavier gegeben, und ganz das gleiche gilt von den
Epigonen Raff, Bollmann, Rubinftein, Tſchaikowsky u.f.w. Manche Muſiker
wollten freilidy in der Verbindung von Klavier- und Saiteninjtrumenten den
Krebsjchaden der ftammermufif erbliden. Mag e8 wahr fein, dab das Klavier
der klanglichen Einheit des Streicherhors ſpröde, unverjchmelzbar gegenüber:
jteht und oft einer der beiden Teile zu unthätigem Nebenherlaufen verurteilt
wird (in vielen Werfen indes iſt es nicht wahr), fo hat doc die mufifalifche
Praris ſich thatſächlich über jene ſcheinbar fo richtig abgeleiteten Lehren Hinz
weggeſetzt.
Aber nicht nur innere Gründe, auch manche mehr äußerliche Umſtände
in der gegenwärtigen Muſikpflege waren einer reicheren Entfaltung des Kammer—
ſtiles hinderlich. Der Sinfonif und dem Tondrama erſtanden drei mächtige
Geiſter: Berlioz, Liſzt und Wagner. Wie ein Frühlingsſturm brauſte die große
Kunſtrevolution über die Köpfe der Muſikgelahrten hin. Auf allen andern Ge—
bieten geſchlagen, zogen ſie ſich nun auf den klaſſiſchen Kammerſtil zurück und
erhoben ihn zum hauptſächlichen Lehrſtil der von ihnen beherrſchten muſikaliſchen
Hochſchulzwingburgen.
Ich erinnere mich noch, wie ängſtlich die Lehrerſchaft eines derartigen
Inſtituts uns Schüler von Anhören Wagnerfcher Tonwerke fernzuhalten ſuchte,
mwührend uns die ephemeren Stompofitionen halb» und ganzvergeflener Inſtituts—
arößen immer wieder als große Muſter vorgefegt wurden, Die „abjolvierten*
Kompofitionsihüler unferer Ktoniervatorien verlajfen die Drillanitalt gemwöhn=
li) mit einem unter den Mugen eines Profefjors verfertigten Kammermuſik—
wert, das die Zeichen feiner Herkunft auf der Stirne trägt. Da die betreffenden
Komponisten mit diefem ihrem Opus ı den Meg zur Deffentlichfeit gewöhnlich
leicht finden, jo ergibt ſich auf folche Art eine jortdanuernde periodiihe „Bes
reicherung“ der Kammermuſik-Literatur, die das Lieberlebte der Form nur umfo
deutlicher macht und die ganze Gattung eher begräbt, als belebt.
Ein Trio von Giorgio Frandetti op. ı (Zeipzig, Forberg, Mf. g.—), ein
Streichquartett von Hans Vigneau op. ı (Köln, vom Ende) und A. von Sponers
Kunftwart 2. Oktoberheft 1898
— *6 —
Klavierquartett op. 2 (Berlin, Rieter-Biedermann, DE. 12.—)} Stellen unter ber
mir vorliegenden Werfen diefe Gattung dar. Formell gibt ih Frandetti
am ficheriten, gedantlich aber tft fein Trio von unglaublidder Armut. Sponers
Klavierquartett zeigt menigitens bie und da individuelle Züge und einige Un-
läufe zu höherem Aufſchwung, fann fich indeffen auch nicht dauernd auf acht—
barer Höhe erhalten. Am angenehmiten berührte mih VBigneaus Streich
quartett. Die Säte find von Ängftlicher inappheit; aber gerade der Umſtand,
dat der Komponift nie mehr geben will als er bat, fichert dem befcheibenen
Wert, das in feinem erſten Sag aud) eine gemähltere Harmonif zeigt, immer=
hin einen Erfolg.
Ein Streichquintett op. 44 (Wien, %. Rörich, fl. 4.—) und Sertett op. 64
(ebenda, fl. 4.—) von 9. Molbe find, wenn aud) feine Eritlingämwerfe, fo doch
ähnlicher Wefensart wie die vorgenannten. Gine gewiſſe fichere Leichtigkeit in
der Mache iſt dem Komponiſten nicht abzuſprechen, dürfte aber fein einziger Vor—
zug bleiben gegenüber dem völligen Mangel an harakteriftifcher Tonſprache und
der Redfeligfeit, mit der er feine recht unbedeutenden Ideen breitichlägt. Im Satz
macht er ſich's leicht: faft immer fagen je zwei Inftrumente das gleiche, fo daß
immer je eines überflüffig erfcheint. Soll das ein unbewuhter Verſuch von Rückkehr
zur Homophonie fein, nad) der man jegt zur Rettung der Kammermuſik ruft?
Dann fünnte einem um die Zukunft der Sammermufit ernſtlich bange werben.
Gonitantin Sternberg Klaviertrio op. 69 (Leipzig, Otto Junne, ME. 4.—)
nimmt jich neben Molbe beinahe vornehm aus, wenn e8 auch hinſichtlich des
Ausmaßes der einzelnen Säge in den gegenteiligen Fehler — den der Kurz—
atmigfeit — verfällt und mit Bezug auf Erfindung über wine gewiſſe Wohl:
enjtändigfeit nicht hinausgeht. Es gehört mit dem Streichquartett von Wagner—
2ocberfhüs op. 15 (Leipzig, E- F. Schmidt, ME. 4.—) und dem Klavierquartett
von Julius Zellner op. 23 (Leipzig, Brodhaus, Mi. 8.50) jenen im Gebiete
der Kammermuſik fo zahlreichen gefälligsglatten Durchſchnittswerken an.
Biel höher fteht Klugharts Streichquartett op. 6ı (Leipzig, Eulenburg,
Bart. DE. 1.—), wenn hier auch das technifche Können größere Beachtung ver—
dient als Das geiltige. Uber die Hompofition ift formſchön, friſch erfunden,
und die Verwertung der Themen (fo das Andante im Finale) weiſt mohl-
thuende Gigentümlichleiten auf. Ein ebenjo liebenamürdiges, ſchon öfter aufs
geführtes Werk ijt Franz Mohaupts Slavierquintett op. 11, das mir im
Manuffript vorliegt. Es gibt fein Beſtes in einem thematifh ſchön durd)=
geführten Scherzo mit anmutigem Trio, und in einem fein zifelierten Andantes
Variationenſatze.
Der Wert der angeführten Werke liegt in der pietätvollen Verwertung
von Grundſätzen von hiſtoriſcher Geltung; es wird nicht verſucht, eigene Wege
zu gehen. Und doch gibt es auch in der Kammermuſik noch einen perſönlichen Stil,
und e8 laſſen fidy den alten Yusdrudsmitteln neue Seiten abgewinnen, wenn
nur der ftomponift eine eigene Sprache zu ſprechen imitande ift wie Anton Beer
und Robert Kahn.
Das Hlavierquartett op. 8 Unton Beers (Münden, Alfr. Schmidt,
Mt. 12.—) ſcheint mir troß der Wahrung der vierfägigen Form eine befreiende
That zu bedeuten, gegenüber dem falfchen Pathos und der übel angebrachten
Schulgelehrjamfeit, die zu den ftehenden Begleiterfcheinungen der meiften Kammer:
mufifnovitäten der letzten Jahrzehnte gehören. Als ein nidyt hoch genug an—
aufchlagender Borteil des Werkes fer die gleihe Wertitellung der einzelnen In—
ftrumente zu einander hervorgehoben. Nie tritt jener fonzertierende Zug her—
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
- 4 —
vor, der den Kammermufifitil, jhon bei Hummel und Chopin, fo ſchwer jchädigen,
kann. Das ganze Werk iſt von fo ungezwungener Friſche und gefunder Straft,
daß e8 in Wahrheit eine Ausnahmsitellung in der einfhlägigen zeitgenöffi:
ſchen Riteratur einnimmt. Wer Freude an neuen Klangwirkungen hat, die oft
wohl dem modernen Orceiter abgelaufcht find, der wird fie hier vielfach vor—
finden. So im eriten Safe bei E, im Scherzo und vor allem in bem fo ftarf
bingeftellten Finale. Den Schluß bildet ein Alla marcia, deſſen Gravität nad)
dem fprühenden Humore des Allegro von ganz eigentümlicher, intim-humo—
riſtiſcher Wirkung ift.
Desfelben (inzwifhen in Beer-Walbrunn umpgetauften) ſtompo—
niiten Streichquartett op. 14 (Ed. Peters) mutet gleichfalls eigenartig an. Bes
fonders das Andante, Bariationen über das Vollslied: „ES maren zwei Königs—
finder“, ift ein wahrhaft ergreifender Tonfaß; fiher aber liegt dem Komponiſten
ber Stil des Klavierquartetts beffer; fein Streichquartett zeigt oft, fozufagen,
eine latente Kraft, ein vergebliches Ringen, über die Materie des Inſtrumentes
hinauszulommen, während im Alavierquartett gerade das völlige Ebenmaß
der Ausdrudsmittel mit dem Auszudrückenden fo fehr befriedigt.
Völlig anders geartet ift Nobert Hahn War es dort der unange-
fränlelte, pausbädige Realismus, der einen erfreuen fonnte, fo ift’8 bei Kahn
der jchmermütige, ideale Zug, der den Hörer gefangen nimmt. Sein Trio
op. 19 (Leipzig, Leudardt, ME. 10.—) dürfte auch hinſichtlich der Einheitlichkeit
feines Charakters wenige Rivalen haben. Ein großer, aber doch befonnener
Drang nad aufwärts geht durch das Ganze, etwas von jener milden und doch
überfihmwänglichen Frühlingsitimmung, wie fie Gade fo liebte. Bedenklich aber
fheint mir der mehr dem Pianilten als dem Kammermuſiker zu Liebe ge—
fchriebene Klavierfag. Diejes üppig rankende Figurenmerf, biefes fortmährende
Schmwelgen in ſchön erfundenen, aber zum geiftigen Inhalt des Werfes in feiner
Beziehung ſtehenden Ergüffen, wird ſchließlich zum ftiliftifchen Verftoße. Man be—
trachte daraufhin befonders das Andante. Das Klavier beherrſcht in vordring-
licher Weife die Szene, ohne das geringste zum Fortgang der Handlung zu
leiiten. Darum ftelle ic) Hahnns Klavierquartett op. 14 (Reipzig, Leudart, ME. 10.—,
in Schöner Bearbeitung für Stlavier zu vier Händen von Otto Singer, DIE. 6.—)
iroß jeiner äußerlich anfprudsloferen Haltung höher. Auch in thematifcher
Sinficht Hat es ſchärſere, finnfälligere Ktonturen; trogige Männlichkeit fpricht
aus bem eriten Sag, und eigentümlich geiſtreich ift der fprühende, fcherzofe
Charakter des Finales; fein Inftrument macht fi) auf Stoften des anderen
breit, feines verfällt in zwediojes „Mitſpielen“.
Die Klavierquartette von Beer und Hahn entiprechen fomit in einer mid)»
tigen, oft überjehenen Disziplin ihrer Stilgattung: fie find Kammermuſik,
ihr nächſter Zwed ijt nicht, den Bedarj des Sonzertfaals, fondern den des
Muſikzimmers zu befriedigen, fie find weniger für die Zuhörer, als für den
Spieler felbjt gejchrieben. Diefer urfprünglihe Zmwed der Kammermuſik läßt
ſich an den Eaffifchen Werfen ebenſowohl nachweiſen, wie der allmähliche Ueber—
gang zum fonzertierenden Charakter, der fhon — zumal in den Werfen mit
Klavier — mit Franz Schubert anhebt. Daß Brahms fcheinbar eine Aus—
nahme bildet, ift zum Zeil der relativen Stlanglofigteit feines Alavierfages zu—
auichreiben. Sp hat die Kammermufit einen eigentümlichen, dem der Sinfonie
entgegengefegten Entwidlungsgang genommen: Diefe fprengte gewaltfam ihre
Form, um dem veränderten Stimmungsgehalt zu entiprecdhen, jene zwingt rüds
ſichtslos ihren im Laufe eines Jahrhunderts fo veränderten Inhalt in die alte
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
— 48 —
Form, und befindet ſich alfo in der wenig beneidbensmwerten Lage bes Künſtlers,
der das Bild zum fertigen Rahmen liefern fol. Auch in diefem Sinne ift mit
Brahms die Abendröte des KHlaffizismus cerlofchen. Zum Morgen wird e8
feines Rückſchritts brauden, fondern eines beherzten Vormärtsgehens. Wer
ben entſchiedenen Schritt zur Zerbredung der überlebten Formen thut, der
wird ber Befreier unserer Kunſtſform aus [hier eritidenden Feileln fein. —
Drei Momente laſſen fi in der langjamen und zögernden Entwidlung
de3 neueren Kammerftils wahrnehmen, von denen eine Belebung und formale
Umgeitaltung der ganzen Gattung zu erhoffen iſt: das Schaffen nah einem
Programm, aus einer poetilchen Jdee; die Verwertung nationaler Motive und
die Ermeiterung bes Wusdrudsvermögens und des Stlangreiges durch neue
inftrumentale Kombinationen.
Schon Schumann hat in einzelnen feiner Kammermuſikwerke gewiſſen
Sägen Ueberſchriften gegeben, und Mendelsfohn ließ in einer Gellofonate eine
Mitternachtsglocke“ disfret durdflingen. Arnold Krug gibt als Scherzo
feines neuen StlavierquartettS op. 16 (Leipzig, R. Forberg, Mi. 16.—) einen
ftimmungsvollen „Nähtlihen Ritt“ und als Schlußfag einen [ebenfprudelnden
„Karneval“. Da das Werl aber die herfüömmliche, vierfägige Form hat und
die beiden erſten Säte „abfolute Mufil* find, fo wird durch das veränderte
Prinzip der Schlukfäge der innere Zufammenhang geſtört, das Ganze bleibt
ein halber Berfuh. Kigenartigeres ſchuf Auguſt Klughardt in feinen
Schilfliedern op. 28 für Klavier, Oboe und Viola (Leipzig, Schuberth, ME. 5.—),
die ſich ſtreng an Lenaus befannte Gedichte halten und ein wirklich vollwer—
tiges mufifalifches Uequinalent dazu bilden. Als das bedeutendite Werk dieſer
Gattung dürfte aber Smetanas befanntes Streichquartett „Aus meinem Leben“
au betrachten fein.
Einfluß nationaler Elemente iſt namentlich in den Werfen flavifcher und
nordifcher Herkunft zu beobadıten. Unter den mir vorliegenden Neuheiten dieſer
Urt verdient befonders ein Trio von Guſtaf Hägg (Leipzig, Zeudarbdt, DIE. 12.—)
Hervorhebung. Ein gewaltiger Zug geht durch das Ganze: ungebunden, feſſel—
108 ftürmt der erite Sat darüber, von mädtigem Aufſchwung iſt das Andante,
anmutig ohne gefuchte Bilanterie das Scherzo. Bon der immer gequälter wer—
denden Grübelet Griegs iſt Hägg ebenfo frei wie vom manirierten Klavierſatz
Eindings; am beiten liche fich fein Trio fraft feiner Frifche mit den Violin—
fonaten Sjögrens vergleichen, vor denen er fid) aber durch freiere Formgebung
auszeichnet.
Bon Sofef Suk (Mitglied des Böhmiſchen Streidhquartetts) verlegt Sim—
tod ein Streichquartett (B-dur), das mir in einer gefchidten Hebertragung für
Klavier zu vier Händen von Wilhelm Zemanek vorliegt. Steht Sul als Kom—
ponift auch noch nit auf eigenen Füßen — GEinflüffe von Schubert und
namentlich) von Brahms her find bemeribar — fo weiß er dod) von ſich felber
genug zu geben, um das Interejje bis zum Ende des Werkes wachzuhalten.
Der erite Sat ſcheint mir etwas abrupt und in der Durhführung nicht von
zweckloſen Gemwaltjamfeiten frei zu fein. Eigenartig iſt das Intermezzo (Tempo
di Marcia), tief und groß empfunden das Adagio, deſſen g-dur-Dittelfag zu
den bedeutenditen Eingebungen des Wertes gehört; der legte Sat läßt alles
in reiner ungetrübter Lebensfreude ausklingen. Weniger bedeutend erjheint
mir die Biolinfonate op. 9 von Oskar Nedbal (Simrod, Mt. 8.—). Zwei
Eckſätze von zu gefuchter Ueberfhmänglichkeit umfaſſen ein Andante, dejien
Wachstum formell und geiftig immerfort leidig unterbrochen wird. Beiden
Kunftwart 2. Oktoberheft 1598
— 4) —
Werken gereicht e8 vor der weiteren Deffentlichfeit zum Vorteil, daß fie ihren
nationalen Charakter leicht andeuten, aber nicht zum bervorftehhenden Zug der
Kompofition maden wie Anton Dvoral in feinem Slaviertrio „Dumfi“
op. 90 (Simrod, vierhändig, ME. 8.—) thut. Der nicht befonders an den Genuß
flavifcher Bollsmufit gewöhnte Hörer wird fi) bei diefem abwechſelnd von
Langemeile und wilden Huffitismus beherrfhten Werfe faum wohl fühlen.
bermann Teibler.
SIE
„Die Verwirrung der Kunstbegriffe.‘
Unter diefem Zitel bat der befannte Frankfurter Maler Wilhelm
Zrübner im Verlag der Literarifchen Anstalt Rütten und Löning zu Franf-
furt a. M. „Beratungen“ erfcheinen Iaffen, die ſchon ihres Verfaſſers wegen
beachtet jein wollen. Ihr Gedanfengang unterfcheidet fi) allerdings nicht
weſentlich von Trübners erster Schrift „Das Hunftverftändnis von heute“, die
er 1892 ohne Namensnennung bei Fritih in Münden erſcheinen ließ. Damals
ftellte er namentlid) die rein fünftlerifchen und die populären Richtungen in
der Kunſt in Gegenfag, während er die moderne Anfhauung in der Malerei,
bie für bie rein fünftleriiche Richtung in Betracht komme, dahin erflärte, es
fomme darauf an, „fo qut wie nur möglid) zu malen, b. 5. das Stolorit auf
die höchſte Stufe zu erheben und alles Lebrige, bisher als Haupterfordernis
Geltende dagegen fo meit zu vernadläfligen, als es ein Hindernis wird, das
ber Erreichung des höchſten Ziels der Malerei, der höchſten foloriitifchen Qualität
im Wege ſteht.“
In der neuen Schrift will Trübner zunächſt zweierlei Arten von ſo—
genanntem Guten in der Malerei Scharf unterfchieden wiffen, und diefe Trennung
kommt inmerhalb feiner „Betradhtungen* immer wieder: das „reinfünftle=
riiche* Gute als das Gute von Dauerndem und daS „populärfünitle=
riſche“ al das von vergänglidem Werte. Das populärfünftlerifche ift für
Trübner dasjenige, dan8 nur auf afademifhem Können beruht, auf dem
Können alfo, das fi) lehren läßt: es ift in der großen Menge ftetS das be—
liebtefte, es hat die breiten Erfolge, während das reinfünftlerifhe vom
Publikum zunächſt gar nicht verjtanden werden kann, dafür aber die tiefen und
die dauernden Erfolge hat. Die Unterfheidung ift nicht immer ganz einfad),
weil aud) das Stofflide mit Hineinfpielt. Denn feit man weiß, dab die rein
künſtleriſchen Maler mit Vorliebe ganz einfache Stoffe malen, verfällt man häufig
in das böje Verjehen, alle Darjtelungen einfaher Stoffe als reinkünit-
lerifche Leiftungen zu betradhten.
Don diefem Standpuntte aus entwidelt Trübner feine Gedanken über eine
ganze Reihe von Erſcheinungen und Fragen, 3. B. über Strebertum, Kunſtkenner—
ſchaft, öffentliche Kunftfammlungen, Kunſtunterricht, photographifche Darjtellung,
Kunftgewerbe u. ſ. w. In den meijten Fällen können wir ben verjtändigen und
Haren Uuseinanderjegungen des Verfaſſers, die natürlich nicht allenthalben neu
find, zujtimmen. Aber wir fünnen hier unmöglid) auf alles eingehen, wovon
Zrübner fpriht. Wir können nur einzelne Punkte beleuchten und möchten des—
halb unferen Lefern umfomehr empfehlen, das Buch als Ganzes felbft zu Iefen-
Intereffant ift Trübners Begrifisbeftimmung des Monumentalen;
nad) ihm ensjteht es durch die Vereinigung des reinkünſtleriſchen Könnens mit
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
— 50 —
dem gegenſtändlich Intereffanten; ift dieſes gegenftändlich Intereffante nur mit
der akademiſchen Darftellungsmweife verbunden, jo fann daraus nur immer das
Delorative (Akademiſche, Populäre und Konventionelle) hervorgehen. Weltera
eier des Kunſtwarts werden ſich an die Erörterungen zwiſchen Koopmann
und Helierich über das Monumentale erinnern. Trübners Definition iſt vers
hältnismäßig einfach; felbitveritändlich aber laſſen fich derartige Begriffe nicht
fozufagen handgreiflich definieren: das Gefühl, die verfeinerte Kunftempfindung,
für welche eben Trübner eine Lanze bridt, muß enticheiden.
Intereflant iſt au, mas Trüber über die Beurteilung der alten unb
der neuen Kunſt jagt. Sie werden durd; die meilten fogenannten Sadver=
ftändigen von zwei gänzlich verjchiedenen Standpunften aus beurteilt: die Kunſt
der Vergangenheit nämlih vom reinfünftleriichen, die neue Kunft vom populär:
Zünftlerifhen Standpunfte aus. Bei Werfen der alten Meifter entfcheidet immer
nur die von Sadhfundigen feitgeftellte reinfünftlerifche Güte der Malerei, da—
gegen bei denen der Neuzeit joll immer nod) die alademiiche Güte der Malerei
oder gar ber intereflante Gegenitand des Bildes den Wert beitimmen. Wenn
man freilich bedenkt, daß man nod vor fünfzig Jahren einen Franz Hals für
30 Gulden faufen fonnte, wenn man die Shhwanfungen des Urteils über Raffael,
Rembrandt, Tizian, Correggio, Tiepolo u. ſ. m. durch die Jahrhunderte verfolgt,
fo fieht man leider, daß ebenio aud das lirteil über das rein Künſtleriſche
dem Wechſel, beinahe mödte man jagen der Mode, unterliegt.
Huffallender iſt Trübners Geringihätung gegenüber dem Kunſt-
gemwerbe. „Jede Kunſtſammlung enthält immer zweierlei Arten von units
werfen: die rein künſtleriſch-individuellen und die afademifch-fonventionellen.
Befindet fich die eritere Gattung in der Ueberzahl, jo nähert fich die Samm—
lung dem erreihbar höchſten Ziel, wiegt aber die andere Sattung vor, fo
nimmt die Galerie eine untergeordnete Stellung ein. Seitdem neben den Ktunſt—
fammlungen aud) nod) Kunſtgewerbemuſeen gegründet worden find, fann man
den Grundſat aufitellen, daß alle reinfünftleriichen Werke in die Kunſtmuſeen
gehören und alle afademifchsfonventionellen in die Kunſtgewerbemuſeen, mweil
die alademifchen Werke mehr kunſtgewerblicher Natur find. Sind doch aud)
Sammlungen alter Meifter größtenteils in biefer Weife bereits abgeſondert.“
Darnad) müßte man alfo 5. B. die Gallefchen und die Tiffanyſchen Gläſer in den
Kunjtmufeen, die künſtleriſch minderwertigen Gläfer aber in den Kunſtgewerbe—
mufeen unterbringen. Sollte man bei ſolchen Grundfägen die legteren nicht
lieber gleich ganz ſchließen, anftatt fie fozujagen zu fünftlerifhen Totentammern
zu machen?
Ueberhaupt fheinen uns Trübners Ausführungen über das Kunſtgewerbe
am menigiten far und beifallsmwürdig. Er fagt da u. a.: „Wenn das alades
mifhe Können in ber Malerei der früheren Jahrhunderte eine ganz andere
Rolle geipielt Hat als heutzutage, jo fommt dies daher, daß die afademifch
Beranlagten in früherer Zeit fih ausfchließlid der kunſtgewerblichen Malerei,
d. h. dem Entwerfen von funjtgemwerblicdhen Gegenjtänden und der deforativen
Richtung zugemendet hatten. In unjerem Jahrhundert wurde ihnen dieſes Ge—
biet zum größten Teil von den Architekten genommen und dadurch die all-
gemeine Verſchiebung der verihiedenen Gebiete veranlaßt. Verdrängt vom
‚eigenen Gebiet durch eine mindejtens zehnfache Uebermacht, verdrängten aud) fie
wieder ihrerfeit3 mit derſelben Ueberzahl die reinfünftleriichen Talente und
malten ſeitdem faft ausſchließlich Staffeleibilder, d. h. fie lieferten die popu—
‚(äre Kunſthandelware im Uebermaß. Langfam und ficher ringt fih gegen—
Kunjtwart 2. Oftoberheft 1898
— öl -
mwärtig ein Läuterungsprozei durch, der die verfhobenen Verhältniſſe wieder
in den normalen Zuftand zu bringen jcdheint. Die Anerkennung der höheren
Beitrebungen ift im Zunehmen und die populäre, afademifhe Malerei fängt
an, ſich wieder auf das ihr eigentümlide Wefen zu erinnern, indem fie fich
auf das ihr allein zugehörige Gebiet des Kunſtgewerblichen und des Monu—
mental-Deforativen zurüdbegibt.*
Man fragt fi, mas denn das Monumental-Deforative fein joll, wenn
Monumental und Deforativ nad) der oben mwiedergegebenen Trübnerichen Ers
flärung einander doch vollitändig ausjhlichen. Und waren denn Dürer und
Solbein, die doch auch funjtgemwerbliche Gegenftände entworfen haben, nur
afademifch veranlagt? Trübner Hat fih in feiner Schrift nicht über Kunſt—
gewerbeſchulen geäußert, deren Organifation an den von ihm getabdelten Uebel—
ftänden einen großen Teil der Schuld trägt. Trübner will „das künſtleriſche
Ausihmüden gewerblicher Gegenstände und architektoniſcher Werfe* (jo erflärt
er kunſtgewerbliches Schaffen) ausfhlieglih den Bildhauern oder Malern zus
weifen. Gewiß mit Recht. Aber heute fallt dieſe Thätigkeit meiſt den Deko—
rationsmalern und denjenigen Bildhauern zu, Die entweder nur eine hands
werkliche Ausbildung oder höchſtens nody den Beſuch einer Kunſtgewerbeſchule
hinter fich haben. Es fann aber feinem Zmeifel unterliegen, daß diefe Ausbildung,
legtere namentlich mangels gründlicher Unterweiſung in Anatomie (nad Schulges
Naumburg der einzigen unentbehrlichen Hilfswiſſenſchaft im Stunftunterricht),
oberflächlich tft. Hunitafademien und Kunſtgewerbeſchulen werden in Zukunft
ihr Gebiet beifer gegen einander abzugrenzen haben als bisher. Mas Trübner
über den Stunitunterricht jagt — indem er 3. B. Abſchaffung der Komponier—
und Bildermalidyulen, der Meifterateliers fordert, fann man nur unterfchreiben.
Und e8 iſt gut, daß alte Wahrheiten von zuftändigen Zeuten immer von neuem
wiederholt werden.
Trübner faht feine Anſichten fchlieglid noch einmal zufammen, indem
er mit Ernst für die Wiedergeburt der deutihen Kunſt gegenüber der Nach—
ahmung der ausgeleierten italienifhen Renailfance eintritt. So begrüßt er es
auch als einen Fortſchritt, daß gegenwärtig eine Reihe jüngerer Künſiler,
wie Sattler u. a., archaiſtiſch altdeutſch jchaffen. Sie weiſen dadurd) auf dag
altdeutjche Kunſtempfinden nadprüdlih hin und fördern ſomit fräftig das
Verftändnis für unfere eigene fünjtleriiche Denfungsweife. Das iſt ein Ges
danfe, ber einmal Die fchönere Kehrſeite der arhaiftiichen Dtedaille beleuchtet,
deren Vorderſeite wir nicht jo rüdhaltlos loben möchten.
Sehr merkwürdig iſt endlid die Schlufbetraditung der Trübnerfchen
Abhandlung, die jedenfalls für die Sadjlidyfeit, Gerechtigfeit und Unparteilich—
feit von Trübners Gefinnung Ipridt. „So lange das Kunſtverſtändnis ein
derart geringes iſt, jo lange muß man ſich auch entichieden für die größte
Toleranz in der Kunſt ausjprechen. Alle Bilder haben die Beredtigung, ges
jehen zu werden, und alle Bilder find dazu da, das Stunftveritändnis des
Rublitums zu heben. Sicht das Publikum nur wenig Bilder, jo wird ſich fein
Verſtändnis wenig heben, ficht e8 viel und vft, jo wird es ſich um fo rafcher
ein Urteil bilden. Nur duch große Kunſtausſtellungen und dadurd), dab ſämt—
lihe Richtungen aller Welt zugänglich gemacht werden, fann man das Rolf
wahrhaft fünjtleriicdy erziehen.“ Wir können diefen Standpunkt nidjt teilen
Dann mühte man fih audy über die illujtrierten Bamilienblätter freuen, Die
unter dem Vorwande, Kunſt zu verbreiten, der Süßlichkeit und akademiſchen
Hohlheit in der Kunſt immer von neuem Vorſchub leiſten. Selbjt wenn nıan.
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die Hunftansftellungen nad) Trübners Vorſchlag fo anordnen fünnte, dat das
Reimfünftleriiche und das Akademiſche getrennt würde, fo höben bie großen
Ausitellungen mit ihrer „größten Toleranz“ das Kunſtverſtändnis dod) nid.
Das können fie nur, wenn dem Publiftum dauernd nur Gutes vorgeführt, die
Sandelsware aber nad) Möglichkeit zurüdgebrängt wird. Trübner über-
ſchätzt aud die Nufnahmefähigfeit des Publikums ftark, er vergißt, daß ein
Ungeübter längft ermüdet und ftumpf meiterfchleiht, ohne überhaupt etwas
recht aufgenommen zu haben, wo er’, der im Bilderbefehn geübte Maler, noch
frifchen Geiftes das Wejentlihe erfaßt und das Gleichgültige beifeite läßt.
Denn er, der Maler, nimmt mit zehn Bliden wahr, was der Laie erit nad)
mühjeliger Vertiefung annähernd ebenfo erfennt. Deshalb werden wir nad)
mie vor für Ausleſe-, nicht für Maflenausftellungen eintreten, für multum,
nicht für multa, wo fih’8 um Die Beteiligung des Publitums handelt. Es
find Schließlich einfah phyfiologiiche Gründe, die auf diefen Weg, troß feiner
Gefahren, zwingen. Paul Shumann.
IR
Lose Blätter.
Es bat noch feinen Begriff. Nadhdrud verboten.)
Romanbruchſtück von Otto Qudmig.
Vorbemerkung. Das nadfolgende, eine vorzügliche Romaneinleitung
bildende Erzählungsbrudftüd Otto Ludwigs — bisher ungedrudt und unbe
fannt — fand ſich auf wenigen Blättern in Großgquerquart in Ludwigs ges
drängter Handſchrift und in einem viel umfangreicheren Plandeft zu einem reich
genliederten Romane „Dämon Geld“ oder „Geld“ betitelt. Diefes weist nach dem
Charalter der Schrift und verfchiedenen andern Umſtänden auf die Mitte oder das
Ende der fünfziger Jahre zurüf. Das Bruchitüd jelbit iit ganz beitimmtermaßen
nad) der Erzählung „Die Heiterethei* geichrieben, was aus einer Bemerkung
auf der eriten Seite und den Zahlen vor den einzelnen Abjchnitten des aus—
geführten, aber nicht vollendeten Kapitels hervorgeht. Der Dichter verſucht fid)
von vornherein zu berechnen, was ihm feine Arbeit ungefähr eintragen fünne,
indem er fie nad) Spalten des Feuilletons ber „Kölnifchen Zeitung“ einteilt,
wo befanntli im Sommer 1855 „Die Heiterethei” erfchienen war. Es hat
etwas tief Nührendes und zu gleicher Zeit Erfchütterndeg, in dieſem Bruchitüd
und in dem breit ausgeführten Entwurf abermals den unbeſieglichen Wider:
ſpruch zwifhen des Didier Berlangen nad) raſcher Vollendung feiner Er—
zählungen und ber Stünjtlerglut, die feine Mühe bleichte, der Eigenart feiner
Phantaſie, die von der Fülle der Gefichte überwältigt, von der Luſt an den taufend
Möglichkeiten der Geftaltung, wie von der Strenge feiner ſtunſtforderungen bes
herricht wurde, zu erfennen. Denn aud im Entwurf zu dem Roman „Geld“,
der nad Ludwigs Meinung: „die verſchiedenen Wirkungen des Geldes (Beſitzes)
auf die Menſchen, ſowohl auf ihren Charakter im Thun, als im Meinen von
Andern“ darftellen follte und als deſſen Hauptfchauplag bald die voritädtifche
Mühle und ein Halb bäuerlich geblicbener Winfel einer großen Stadt (Uebigau—
Dresden), bald „eine fleine Stadt, die erft mährend der Geſchichte durch eine
Eifenbahn ber Hauptitadt genähert wird“, dem Dichter vorſchwebte, finden ſich
die eigentümlihen Verjhiedendeiten des Plans, die unzähligen „oder“ und
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
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„oder auch“, die wechfelnden Beleuchtungen der Handlung, der Charaktere, das
grüblerifche Spiel mit Möglichkeiten und Einzelzügen, bei der Iebhafteiten finn=
liden Unfhauung bes Ganzen, die wir aus den zahlreihen bramatifchen Frag—
menten und Entwürfen Otto Ludwigs fennen.
Der Roman hatte urfprünglih den Titel einer „Altweibergeſchichte“
tragen follen, und nod in dem fpäteren Planheft hat der Dichter dem Ge—
danken nadigehangen, in einem autobiographiihen Roman die Aufgabe zu
löſen. „Vielleicht am beften: die Heldin erzählt felbit, dann ift e8 am leich—
tejten, die Nätfel länger feitzubalten, befonders den Stiefoater und die Bafe.
— — Man muß in der ganzen Erzählung den Charakter gewahr werden, den
fie ich beilegt und im Buche jelbjt als das Bleibende davon entwidelt, Wahr:
heit, Redlichfeit, Stola — wenn fie nicht verfchweigt und nicht vermäntelt, wie
thöricht fie damals dadte und handelte. Sie hat aber auh Wit und Humor,
viel Farbe u. ſ. w. einftimmend mit der Erzählung, wo fie fich felber Geiſt bei—
mißt und Laune. — Die ganze Erzählung muß etwas von Frauenplaudern
haben; die Ausführlichkeit paßt.“ Gleich darauf aber wirft fi) der Dichter
ein: „ES wäre auch fo zu maden, dab die Heldin nicht ſelbſt erzählte, aber
bie Erzählung hauptfädhlid; mit ihr ginge, fo daß fie nur ausnahmsweiſe hier
und da eine andere Figur begleitete. So bliebe die Heldin do eine Art Me—
dium für den Lefer; wir nähmen umfere Meinung über die Dinge aus ihrer,
wobei wir freilich unfere eigene haben fünnten, wenn wir wollten. Das wäre
ein Mittelweg. Wo wir über das Folgende getäufcht werden follten, um ber
Spannung willen, gefhähe das durch ber Heldin Täufchung.“
Die Heldin endlich des Romans, „der im naiven Jdyll beginnt, ins große
Weltleben übergeht und ſich wiederum bewußt ins Idyll zurüdzieht*, ſollte
feine andre fein als das Kleine Liesle des Kapitels „Es hat noch feinen Bes
griff“. Als die einfachen, tragenden Grundpfeiler der ganzen Erzählung er=
fcheinen die Aufzeichnungen: „die »Bafe« in ihrer Pietät hat das »Mädlex als
Mutter erzogen, die vom Vater verhätjchelt wird und von ihr (dev Schmweiter)
mit; fie »jchlachtet fich ins Haus« und fieht jich nur als Ergänzung der halb=
findiihen Schwefier an, fie wird fozufagen mitgeheiraiet. Nach des erften
Mannes Tode gewinnt der Gefell die Mutter; troß der Baſe heiratet fie ihn;
die Baje vererbt ihre Sorgfalt von dem einen auf das andere Kind, ohne jener
etwas zu entziehen. Sie verliert ihren Einfluß; ihr Gedanke, fih abzutrennen,
um für jene weiter forgen zu fünnen, da ber neue Schwager fie ruinieren wird,
wird realifiert burd) eine Art Austreibung. Nun gibt fie der langjährigen Wer—
bung eines Dabei alt gewordenen Werbers, ohne Familie und rei, nad) und
pflegt ihn rechtichaffen, ohne die Ihren zu vergeflen, bis zu feinem Tode. Die
nun von ihrem Wanne beherrichte Schweiter jtirbt und deren Tochter, in die
Wellen des Wohllebens gerifien, madt ihr Kummer. Der Stiefvater hat (ſchein—
bar) Glüd umd geht nicht fo ſchnell zu Grunde, als fte (die Bafe) gemeint. Sie
ſucht mit dem Mädchen, das fich, von jenen Wellen fortgerifien, immer weiter
von ihr entfernt, fich ihrer Shämend, in ein wohlthätig Verhältnis zu treten,
jene aus den Wellen zu retten, durch eine Ehe, e8 gelingt nicht. Sie muß fi
geitehen, die Schweiter verzogen zu haben und wendet num weiſe Strenge an;
fie läßt die innere Ummendung in der Heldin fi, ungeitört von unzeitigem
Entgegenfommen, vollziehen, was fie fajt bereut, bis ſich alles zum beiten gibt,
bis die Heldin, nad Selbjtbeihränfung nun felbit verlangend, wiederum zur
Bafe in das alte Verhältnis tritt.”
Es hätte feinen Zwed, an dieſer Stelle die ganze Folge bunter Verwick—
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— DB —
lungen und Ubenteuer, in denen der Gharafter und das Beben der Heldin unter
zugehen droht, bis fie ſich fiegreich darüber erhebt, hier aus Ludwigs Planheft
vorzutragen. Der Roman ift eben nur geträumt, nur in ber nie raftenden
Phantaſie des Dichters mit allen Einzelheiten Durchgebildet worden. Zur Aus:
führung iſt lediglich das eine hier mitzuteilende Kapitel gelangt. Aufmerffamen
Leſern wird nicht entgehen, welche Fäden ſchon in diefem einen Stapitel aus
der fihern Anſchauung des Ganzen angelegt find, wie die Schilderung des Be—
gräbnistages Blide nad) rüdwärts und vorwärts eröffnet, wie mit menigen
harakteriftifhen Strichen das Verhältnis zwiſchen der Bafe, ihrer hilflofen
jüngeren Schmeiter und ihrer feinen Nichte bereits ins Stlare geſetzt iſt. Die
realiftiiche Meiſterſchaſt bemährt fich eben nicht nur in der höchſt mwirlfamen
Deutlichkeit und Feinheit der Schilderung, in der Poeite der Stimmung, jon=
dern vor allem aud in den Einzelheiten, die zur Fortleitung dienen. Gein
eigenes, im Plan aufgeftelltes Gefeg: „das Detail immer fo, als wäre e8 fein
eigener Zweck und müßte durch fid) felbft und für fich felbit, aber nicht durd)
oder für etwas anderes intereffieren oder unterhalten; als wäre 3. B. des
Autors Zmed im Anfang bloß und Iediglih ein Bild von dem Begräbnifle
und der Sleinen Gedanlen dabei zu geben“ und „das etwa Spannende, das
heißt auf die Zukunft vermeifende, ebenjall® nur fo, als follte es durd) feine
Gegenwart interefjieren und hätte ſonſt feinen Zweck“, hat Otto Ludwig in dem
ausgeführten Bruchſtück treulich befolgt, und fo hinterläßt aud) Dies den Ein—
druc der jo mädtigen als intimen Erfindungs- und Geſtaltungskraft des un«
vergehlihen Dichters, die durch ein tiefiten Anteil ermedendes Verhängnis
von einer verſchwenderiſch reihen Ausfaat nur wenige Garben voll reifen fah
Adolf Stern.
*
„Aber Baſe Annemarth, du Hätt’fi lieber deinen grünen Nod follen ans
jicehen. In dem grünen Rod hab’ ich dich Lieb, in dem ſchwarzen da mag id)
dich gar nit; gar nit Baſe Unnemarth, dab du’s nur weißt. Und hätteit
mir auch mein ſchön rot leid können anziehen. Das da fieht fo ſchwarz aus,
id; mag e8 gar nicht gern, das lannſt du mir glauben, Bafe Annemarth.*
„Ei wohl, Liesle, glaub's gern. Uber wo's paft; wo die Sah grün
it, da gehört fi) ein grün Kleid; wenn die Sad) anders iſt, muß auch der
Nod anders fein.“
„Ia, fo ift die Sad wohl ſchwarz, Baje Annemarth?“
Die Baje nidte, und das Geſicht, in das fie fah, nickte wie fie. E8 war
ein braves, ehrlihes Geficht, in das fie fah, etwas nüchtern, nidyt eben jchön,
aber häßlich gewiß aud nit. Ein Frühlingsionnenftrahl, der zu einem ber
zwei fleinen Fenſter hereinfiel, ftreifte die rofigen Spiten von zwei Heinen
Fingern einer fragend ausgejtredten Heinen Hand, ragte dann wie ein goldener
Ballen oder wie eine lange Röhre von durchſichtigem Gold, in weldher unzäh—
lige vergoldete Mehlitaubatome um die durchbrochnen Schatten vom Geranium
im Senfter ſich im zitternden Tanze drehten, durch das dunkle Zimmer und
verſchwand in einem Haufen von Kränzen, Sträußen und einzelnen Blumen
und Blätterziveigen auf dem weißen Sand der Diele nahe der Thür. Das
Kind nidte aud) und jah jo ernithaft aus, wie die Baſe. „Das ift doch recht
dumm“, fagte e8. Es wußte weiter nichtS von der Sache, als daß fie ſchwarz
war. Über fie brauchte weiter nichts, um ihm zu mißfallen.
„Über was fliegen denn da drauf die roten und gelben Schmetterlinge
herum, wenn die Sad) ſchwarz it? Das kann ſich doch gemwik nicht ſchicken.“
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„Ei, Liesle, das hat zwei gute Gründ’. Erſtlich geht die Sache die nicht
an, hernad) ſind's arme unvernünftige Kreaturen; die brauchen nicht zu fragen,
was ih ſchickt. Denn dazu hat der liebe Gott den Menſchen die Vernunft
gegeben, damit fie willen, was ſich fhidt, und ihr Leben darnad) einrichten
können.“
„Und was ſchickt ſich denn eigentlich, Baſe Annemarth?“
„Bas recht iſt.“
„Und mas ijt benn recht?”
„Ei, dummes Sind, eben was ſich ſchickt.“
So ſagte die Baſe, wer aber meint, ihre Stimme hätte Ungeduld ver—
raten, als ſie ſo ſprach, der thut ihr ſchreiendes Unrecht. Das Geſicht, in das
fie unverwandt dabei blickte — und beiläufig geſagt, es war das leibhafte
Abbild ihres eigenen, denn ſie ſtand vor dem kleinen Spiegel zwiſchen den
zwei kleinen Fenſtern — zeigte nicht eine Spur von Ungeduld. Es war aber
auch feine Stelle darin, wo fie hingepaßt hätte. Das Geſicht ſchien feiner Auf:
wallung zugänglich, mie fie auch heißen möchte, aber es wies eben fo wenig
von jenem Phlegma, das die Dinge gehen läßt, wie fie wollen. Es war ein
verjtändig zufammengerafftes Gejiht, an dem fein Knopf unzugeknöpft, fein
Band unzugebunden Herabhing oder herumflatterte, die Strümpfe nicht Falten
fhlugen oder gar ſchlappig auf die Füße herunterfielen. Nein, fein Fältchen
darin, nichts der Quere geftellt ; alles reingelehrt, feine Spur von einem Stäub—
hen auf oder unter den Möbeln und fein unnüßes Möbel darin und auch fein
Pla für ein unnüßes.
„Ei, eben, was ſich ſchickt“, fagte fie. Dabei fegte fie fih und dem Ges
fihte vor ihr eine mit ſchwarzem Krepp verzierte filbergraue hohe Bänder—
haube auf und band die Bindebänder in zierlicher Schleife fo feit unter dem
Kinn, daß das Fleifh Davor und dahinter heraustrat, wie die Ufer über den
Spiegel eines Bades. Wie zur Erflärung diejes Thuns, in dem das Schid-
liche fo fihtli über das Behagliche triumphierte, fuhr fie fort, indem jte eine
Frage beantwortete, die das Sind nicht that, aber hätte thun können.
„Ei, dummes Liesle, wenn jemand fragen bürfte, warum, oder wenn
jemand fagen könnte, warum, da handelte ſichs eben nidt um das ſich
fhiden. Nun unfre Eltern machten's fo, weil ſie's von ihren Eltern jahen
und die hatten’8 ihren Eltern nachgethan und die wieder den ihren; und fo
thun wir's nun aud, und fo werden's unfre Kinder und Kindeskinder thun,
fo lang die Melt jteht, denn, ftehjt du, Liesle, es ſchickt fi einmal fo.“
Sp fagte die Bafe, und in ihrem Gefichte und dem Gefichte vor ihr war
zu lefen, daß fie feinen Einwand annehme, wer auch ihn verſuchen möchte,
und durchaus nicht zugeben würde, daß irgend eine ihrer Ahnmüttter Die erjte
gewefen fein müſſe, Die ein Haubenband zum Marterwerlzeug ihres Fleiſches
beitellt, daß alfo irgend Eine irgend einmal einen andern Grund gehabt Haben
lönnte zu folder Selbitquälerei, als den die Bafe angegeben: es ſchickt ſich
einmal fo. Noch weniger, daß einmal eine Zeit fommen fönnte, die die Hauben—
bänder bequemer [zu fnüpfen erlaube]. i
Und da nun ihr Unzug beendet, und fie wußte, daß ihre Gegenwart
andern Orten notwendiger war, als der alten braunen Stube, und ihr Wich—
tigeres oblag, als mit einem finde zu plaudern, ſah fte noch einmal prüfend
auf das Geſicht vor ihr, dann an ihrer eignen ftattlichen Gejtalt herab und
fegte dann bieje, nad) der Thüre zu, in Bewegung. In der Thüre wandte fie
fih) und fagte: „Daß du nicht eher aus der Stube geht, Liesle, bis ih Did
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hole und dein Kleidchen nicht ſchmutzig machſt und den neumafchenen ragen.
Folg’, Liesle, und du befommft aud) ein Stüd Kuchen.“
Die Baje ging hinaus, und durch die geöffnete Thüre ftrömte ein ange
nehmes Wilerlei von Stuchen= und Bratenduft und vom Dufte frifchgebrannten
Kaffees, welches alsbald mit den Ausftrömungen der Binnen und Blätter
anf der Diele cine feitliche Vereinigung einging. Zugleich aber drangen Töne
von Stimmen herein, bie dem Kinde fo fremd waren, obendrein fo eigen
gedämpft, fo zwiichen lage und Salbung, die zu dem Ziſchen der Braten
und dem gejhäftigen Hin= und Hereilen der Mägde nicht Stimmen mollten.
Dazu der goldne Balken quer durch die dunkle braungetäfelte Stube. Ein
traumhafter Hintergrund zu den traumhaften Gedanken und Gefühlen eines
ſtindes.
Erſt folgte es noch den draußen herumflatternden Schmetterlingen. Hätte
es feine flatternden Gedanken in einen Schluß zuſammenfaſſen können, jo
wäre es der geweſen: die Baſe hat unrecht, wenn fie die luſtigen Flatterer
arme Kreaturen nennt. Die mußten nicht ſtill fiken, abends auf dem Stühle
hen in der Ede, wie e8 das kleine Liesle mußte, wenn der Wann, der fein
Papa hieß, hinter dem Dfen hervor zankte und huftete, der nie freundlich mit
dem Finde gefprochen, der e8 nicht leiden wollte, dat der Eduard, der freunds
lihe Geſell, dem Mädchen von Prinzen und Prinzeſſinnen erzählte, die Pären
und Schlangen waren, ehe fie fih gegenleitig erlöften, immer eine Geſchichte
ſchöner und Leichter zu vergeifen als die andere, Die ging es nichts an, wenn
die Schwarzwälderubr neben ber großen ſtommode acht flug und nad) jedem
Glockenſchlag der bunte Vogel oben über dem Zifferblatt taftmäkig mit feinen
hölzernen Flügeln ſchlug und ein Sudgud über die Stühle und Tiſche hinrief.
Dann gefiel es Dem Finde gewöhnlich erit; dann hatte es den Kopf an das
braune Getäfel zurüdgelehnt, die Augen halb geſchloſſen. So ſah jte die Baje
an ihrem Spinnrade, dahinter die Wutter und drüben den freundlichen Ges
fellen wie im Traume. Dann fam’s ihr vor, als hätte die Mutter feine Hände,
aber fie hatte melde. Man fah fie nur nicht, weil ſie fie vom Morgen bis
zum Abend in die Schürze gemidelt trug, während ihr Sinn auf den Knieen
ruhte, was leicht anging, da fie die Fühe auf einem Hohen Schemel Hatte.
Zumweilen fagte der Gejelle etwas von der Zeitung oder von dem Lande, wo
er zu Haufe war, bie Baje antwortete darauf, die Mutter aber ſchwieg, bis fie
angeredet wurde, Daun geriet fie in Berlegenheit und fhämte fi) und wäre
fie nur gefragt worden, wie viel Uhr es jei. Dazu fpann die Sage auf dem
großen ledernen Seſſel und der Papa hinter dem Ofen huſtete und zanfte mit
fich felbft, denn es hörte fonit niemand auf ihn. Das Mädchen wußte faum,
wie der Papa ausſah, denn die Ofenhölle, in welcher er auf einem ledernen
Sopha lag, war ganz mit Tüchern verhängt. Wit dem Gedanken an ihn ver
gefellfchaftete ih in dc8 Mädchens Voritellung weder ein Geſicht, noch eine
Geftalt; eine bloße Stimme, die bald zanfte, bald huſtete oder beides zugleich
that, war der Papa. Daflr war die Mama ein bloßes Seficht, mit dem Kinn
auf den Knieen ruhend, denn nur felten ſah man fie anders oder hörte mar
fie reden. Es war, als ginge fie nichts an, nicht das Hausweſen, ja niht
einmal fie felbit, e8 war, als hielte fie ſich unſichtbar und verwunderte fidh,
wenn Jemand ıhat, als wäre fie vorhanden, und wurde dann verlegen dar—
über, wie fie es anfangen follte, fi) zu benehmen, als wäre fie wirflid) vor—
Banden. Das war alles jo eigen und als träumte man ſchon, wenn man es
nur anfah. Und eben, wenn es dem Mädchen anfing, auf feinem Stühlchen
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m BZ —
zu gefallen, da ſchlug und gududte die Uhr ahtmal und die Bafe ftand auf
Dinter ihrem Rocken und fagte: „Wie die Zeit hingeht.“ „Ja, mit Ihnen ver
gehen die Stunden fchneller, Jungfrau Bipferin“, entgegnete der Geſelle. Er
hatte jederzeit ein Stottern zu verwinden, um nicht „Mamfell* zu fagen,
welchen Titel die Bafe nicht leiden fonnte. Die Mutter jah vor ſich Hin, nit
ohne ängjitliche Verlegenheit, man könne auf den Gedanfen fommen, fie fei vor=
handen. „Liesle, du mußt zu Bett!“, fuhr dann die Bafe fort. Das Liesle
aögerte; der Geſelle bat vor, es gefalle dem Kinde noch fo fehr in feinem
Stühlen; die Mutter fah aus, als würde fie dem freundlichen Gejellen, um
feiner Freundlichkeit gegen das Kind willen, bitten helfen, wenn fie vorhanden
wäre; aber die Bafe ſchob aller Fürſprache den Riegel vor: „Um acht müffen
Slinder zu Bett, denn c8 fchidt fich jo.”
Ja, die Schmetterlinge waren zu beneiben, daß fie arme Streaturen fein
durften, die nicht zu fragen braudten, was fich fchidt.
Unterdeh hatie der Blumenduft eine große Hummel zum offenen Feniter
hereingejührt; fie war wie auf dem Boden der goldenen Nöhre Hinunterges
glitten und wälzte fidy nun Schwarz und geld, fummend und brummend auf
dem bunten Haufen herum. Das Sind folgte ihr und fegte ſich neben den
Blumen auf die Diele. Den Vorwurf, den es darüber fühlte, wälzte fie von
fih auf ihre Buppe, indem fie zu dieſer fagte, mas die Baje, war fie zugegen,
zu ihr gefagt hätte: „Da auf der Diele Tiegen bei den Blumen? Du garitig
Kind! Pfui, weißt du nicht, mas fi ſchickt?“ Da flug eine neue Woge
Braten, Kuchen und Kaffeegeruch vor und neben dem freundlichen Gefellen
durch Die geöffnete Thür in die Stube.
„Ei, du denkſt wohl gelehrte Dinge, Liesle?“, fagte der Geſelle. „Das
greift an, wenn man nit tüdtig ißt dabei. Daran hab’ ich gedadt, und da
iit das präditigite Stüddhen vom ganzen Kuchen.“ Das Mädchen nahm das
Gebotene ihm aus der Hand. „Du gehit aud) ganz ſchwarz“, fagte ed, „nun
ich weiß mohl, e8 fchidt fich einmal fo. Aber was der Papa fagen wird? er
fann Blumen nicht leiden.“
„Der fagt nichts mehr“, entgegnete der Gejelle.
„3a, ſie legen ihn in einen falten, das Gretle hat mir's gefagt.*
„Wenn fie mich nun in den Staften legten ?*, fragte ber Gefelle.
„Rein, dich dürfen fie nit in den Saften thun und die Bafe Anne—
marth auch nicht“, rief das Mädchen, indem ihm Thränen aus den braunen
Augen ftürzten. „Und mid auch nicht!”
„Nein, uns alle nicht“, begütigte der Gefelle. „Uber ih mu wieder
hinaus, denn eben fommt der Herr Paſtor. Nun aber! heute Abend erzähl
id) dir wieder eine Gefchichte, aber eine fo ſchöne, wie du nod) feine ge=
hört haſt.“
Der Gejelle ging wieder hinaus, und das Kind dachte ſich den Papa im
Kaſten liegen, das heißt: es fah in feinen Gedanten der Bafe Flachskaſten,
mit Tüchern verhängt und bededt, und drin war das Huften und Zanten, das
fie den Papa zu nennen gewohnt war. Aber e8 vergah bald diefe ſchwere
Anstrengung feiner Denkkraft über dem, was der leibliche Sinn ihr zeigte, und
als der Paſtor, von der Bafe genötigt und von Küſter und Leichenbitter ges
folgt, hereintrat, ftaf das Sind fo tief in den Blumen, daß feiner von den
Eintretenden es gemahrte.
Der Paſtor war ein großer ftarfer Mann mit mädtiger Stimme. Er
Iharrte noch fomplimentierend mit den Fühen, während er den Oberleib nad)
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ber Mutter des Kindes manbte, bie auch mit hereingefommen mar, aber er
ſchloß den geöffneten Mund, ohne geiprocdhen zu haben, entweder weil ihre
Verlegenheit ihn anftedte oder Mitleid ihn abhielt, diefe Verlegenheit noch zu
mehren. Sie mühte fi ihre Urme noch zweimal fo tief in ihre Schürze zu
mwideln, als möglid) war, um dann mit den übrigen Zeilen ihres Leibes den
Armen nachzukriechen; und mie der Baftor ihr ftumm und mit weit geöffneten
Augen dabei zuſah, hatte es den Unfchein, als beobachte er mit geſpannter
Aufmerffamfeit und wie halb nod) zmweifelnd, halb ſchon überzeugt, ob e8 ihr
gelingen merbde, ein fo munderwürdiges NWorhaben ins Werk zu fegen.
Da aber die Notwendigkeit einer Anrede von feiner Seite fih als un—
abmweisbar aufdbrängte, juchte er nad) einem Gegenſtande, der ſtark genug wäre,
ihre Gewalt zu ertragen, und feine Yugen fanden einen ſolchen bald in der
ftattlihen Geftalt der Baſe Annemarth.
„Ein ſchöner Tag heute, allerfeits MWertgeichägteite !*
Der Küſter und der Leichenbitter ſprachen mit ftummer Geberde, ber
Gedanke des Herrn Paftors fei jo wahr als bewundernsmwürdig; Die Bafe
fnirte, und der Rebner fand auf ihrem mohlgeordneten Gefichte die nötige
Mendung vom Allgemeinen zum Bejonderen.
„Ein Shöner Tag heute, der — der die Bewohner, der die traurigen Bes
mwohner diefes ſchwer heimgeſuchten Haufes mahnt, dat fein Herz, fein Herz
die Wolfen bes Kummers fo dicht um ſich wölben dürfe, daß es dem Trofte
— dem Troite, der von oben fommt, wie der Schein der Sonne — hm — ber
Sonne, als ein Bote von einem und dbemfelben Herrn gefandt, ben Eingang
— dm — den Eingang zu ibm verwehre.*
Der Paſtor fprad) diefe Worte zu der Bafe gewandt, wußte aber mit
einer würdevollen Bewegung feiner Rechten eine fo große Portion davon, als
er der mindern ſtraft der Schweſter angemeſſen hielt, diefer zugufchieben. Dann
verbünnte er die jchwere Gabe feiner amtlidhen Beredfamfeit rückſichtsvoll
durch) das MWohlmeinen der perfönlihen Frage: „Und woran ijt denn unjer
Seliger geftorben ?*
Die Bafe erflärte dem geiftlihen Herrn, was ihr felbit nicht Mar war.
Nachdem fie von Huften und Reiken in den Beinen geiproden und einiges
hinzugefügt hatte, woraus zu entnehmen war, der Selige jei zunächſt an
Krankheit und endlih am Sterben felber geftorben, deutete fie an, baf fie
troßdem ben Tod eines Menſchen weniger als die Folge einer Krankheit, denn
als eine Art Herfommen und Schidlidhleit anfehe und daraus ihren Troit ges
ichöpft habe.
Der Paſtor zeigte fih im allgemeinen mit dieſer Unficht einverftanden,
nur daß er bat, anjtatt Herlommen und Schicklichkeit den Wusdrud „Chriſten—
pflicht* zu brauchen, und da er die Bafe getröftet jah, fügte er mit ftrömender
Beredfamfeit noch fieben oder acht andere Gründe hinzu, die die Baſe hätten
tröften müſſen, wäre fie nicht ſchon getröftet gewefen; für melde Bemühung
dann die Baſe dankbar wiederum ihre Erfenntlichfeit ausſprach.
Während dei tal das Heine Liesle mäuschenſtill in feinen Blumen,
froh, daß man es nicht bemerkte, und bemüht, nichts vorzunehmen, maß fie
bemerfbar machen fonnte, und ihre Mutter hatte den Mut gefunden, ſich ab—
feit8 auf einen Sefjel niederzulaffen. Da ſaß fie mit verwidelten Armen
und man fonnte den Kampf fehen, den fie e8 foftete, die Beine nicht herauf—
äuziehen und das Sinn auf den Ainien ruhn zu laffen. So oft fie ihr Finn
auf dem Wege dahin betraf, erſchrak jie und fuchte aus der Bewegung ein
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andädtiges Niden zu maden, als drüdte fie Damit ihre gläubige Einftimmung
in bie Gründe des Paſtors aus.
Set trat der Leichenbeiteller, der hinausgegangen war, wieder herein
und fagte: „Wenn e8 dem Herrn Paftor und den werten Leidtragenden gefällig,
fo wäre nun wohl Zeit.” Wozu, erklärte er nit. Einer Frau gegenüber,
die fi) auf das Herfommen verftand, wie die Bafe, war das aud unnötig.
Zunädft madte fie eine verſteckte Bewegung, als midle fie etwas aus einem
Zipfel ihres weißen Tafchentucdhes, dann eine andere, in der ein Uneingemweihter
erftaunt einen durch nicht® vorbereiteten Händedrud gejehen hätte, Der Leichen—
befteller dagegen führte mit der Linken eine abmeifende Geberde aus und
Ihien die Rechte dem Drud der Bafe nur ungern zu überlajfen. Der Paitor
wandte fein Ungefiht nad) dem geöffneten Fenſter, wie um nicht zu jehen,
was da vorging, und fagte: „Schwül, außerordentlich ſchwül, allerieits Werts
geichäßteite‘. Der Leichenbeiteller duldete indeh, doch nur unter abgebrochenen
Seufzern mie: „Ei, eil — gar nicht nötig — ſolche große Umftände!“ den
Händedrud der Bafe, dann folgte er dem Herrn Paſtor ehrerbietig mit den
Augen und entgegnete: „Wär ein Wunder, Herr Paitor, wenn heute fein Ge—
mwitter fäm. Und jo wollen wir denn dazu fchreiten mit des Herrn Paſtors
Hochehrwürden Erlaubnis und Bergunit der hochachtbaren Frau und höchſt
ehrfamen Jungfrau Zipferin.“
Während diefer Rede im Amtstone Hatte der würdige Mann Zeit ges
funden, die Hand, weiche die Baſe gedrüdt, in unauffälliger Weije ans dem
Bereiche beobachtender Augen und hinter feinen Rüden in Sicherheit zu bringen.
Es dien, als hätte ihm die Bafe die Bürger: und Chriftentugend des Ent—
fhhlafenen in diefe Hand gebrädt, um fie als Kenner zu tarieren. Gr wog
auerjt die geichloffene Hand und ſagte mit Faſſung: „Er war ein lieber Dann,
der Selige.* Darauf fühlte er mit der Daumenſpitze, das Verdienit des Seligen
hatte den Umfang eines preußiſchen Thalers, und feste mit zitternder Stimme
hinzu: „Er war mehr, er war ein braver Mann!” Und als cin Neiben des
Daumen gegen bie Finger ergab, dat daS Verdienſt nit in einem einzelnen
Stüde beſtand, Heftete der würdige Mann feine ſchwimmenden Augen an die
Dede und brad) in ein Schludzen aus, vor deſſen Plöslichkeit und Heftigfeit
daS Liesle erſchrak und die Hate durch das offene Fenfter flüchtete: „Er war
nicht allein ein lieber, braver Denn, er war auch Chriſt! Er Hatte beides,
die Tugenden eines Menſchen und eines Chriiten.“
Er ſah durch feine naſſen Mugen alle Anweſenden ihm Beifall niden,
und die fihtbare Zufriedenheit der Baje mit feiner Anerkennung ber Verbienite,
die fie ihm zu würdigen übergeben, gab ihm feine ganze amtliche Faſſung
wieder. Er verjenfte zunächſt die gefchloffene Hand in die weite Weftentafche,
aus welcher fie geöffnet wieder herausfam, und fagte wieder im Amtston:
„Woher der Menſch gelommen ift, dahin muß er wieder gehen. Der Herr
Paſtor verzeihen, dab ich, der ih nur Leichenbitter bin, Diefes fage; aber es
wird nun Zeit fein, der Erde zu übergeben, was ihr gehört.“
Es war in der That hohe Zeit, Die Nafe des Mannes hatte genug Er—
fahrung, ihm zu jagen, wenn man länger zögere, würde e8 auf Koſten ber
Güte des Leichenbratens geſchehen.
Aber e8 gab nod einen Aufenthalt. Die Mägde famen herein, den
Schmud des Sarges abzuholen, und nun fonnte man das Liesle nicht mehr
überfehen. Es hatte einen Kranz auf bem braunen Höpfchen; auf jeder Schulter
einen oder zmei. „Wenn das nur nichts bedeutet!*, fchrie eine Magd. „Ei das
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bedeutet, daß finder gern mit Blumen ſpielen“, entgegnete die Baſe, aber
fie war nicht fo unbeforgt, als fie fich ftellte. Der Paſtor betrachtete das Kind
mit Rührung und ſagte: „Das liebe arme Kind hat noch feinen Begriff davon,
was e8 verloren hat!” Das Liesle ſchämte fi, wie die fremden Männer fie
umitanden, und das Mitleid, das aus allen Augen auf fie fah, bradte fie
faft zum Weinen. „Keinen Begriff! Steinen Begriff!”, wiederholte der Küſter.
Der Leihenbitter wuhte, was ihm zulam; obgleich die nahende Reife des
Bratens zu Eile mahnte, ſchloß er als zweites und volljtändigeres Echo feines
Borgefchten bie Szene ab: „Ganz wie Ihre Hochwürden bemerlten, das arme
liebe Kind Hat nod) feinen Begriff, noch feinen Begriff!“
Alles mandte ji nun nad) der Thüre, und die Bafe fahte die Hände
der Stieinen und der Schweiter und ſchloß fi den Lebrigen an. Draußen in
dein engen dDunfeln Gange muhten fie jtehen bleiben; von der anderen Seite
ber wurde etwas vorbeigetragen, was mit dumpfem Getöſe einigemal an die
Hände ftieh. Nun wurde Plag, und bald ftanden fie an einem langen ſchwarzen
Kaſten, der oben breiter mar als ımten. Darin lag mit gefreuzten Armen ein
Dann, lang und hager, mit eingefallenen, wadsbleihen Wangen und weißer
fpiger Nafe. Dem Kinde war der Mann fremd. Hätte er gehuftet und gezantt,
oder nur eins von beiden gethan, hätte er nur gejagt: „Von ben lindern
fann man nicht leben“, oder „Kinder find nur auf der Welt, un die Alten zu
ärgern,” fo hätte e8 gewußt, es war der Papa; aber der Dann war jtidl.
Dem Kinde wurde es angft, e8 wußte nidyt warum, und wenn es auffah und
wohin e8 ſah, traf es auf Gelichter, die den Mund nicht bewegten, aber das
Kind mit denfelben Augen anjahen, wie vorhin die Männer in der Stube, es
mußte, fie meinten: „Das arme, liebe Sind hat nod) feinen Begriff.* Nun
wurde ein ſchwarzer Dedel auf den ſchwarzen Staften genagelt, dann wurde
diefer aufgehoben, hinausgetragen und vor der Hausthüre auf eine Bahre ge—
ftellt. Die Baje folgte dem Sarge, an ihrer Linfen das fleine Mädchen, an
ihrer Rechten die Schmeiter führend.
Un der Hausthür reichte ihr eine Magd drei Zitronen und drei Rosmarin=
zweige; eine Hitrone und einen Rosmarinzmweig gab fie der Schweiter, cine
dem Kinde und eine behielt fie felbit.
„Du mußt dent Liesle jagen,“ ſprach fte zu der Schweſter, „wie es die
Sachen halten foll. Siehſt Du, Liesle, jo.“ Die Schmweiter fagte nichts; aber
bie Bafe hatte mit ihrer Aufforderung auch nur die Abſicht gehabt, ihre Auf—
merkffamfeit zu gewinnen für die Belehrung, die fie felbjt nun gab und die
der Schwefter fo notwendig war, als dem Heinen Liesle. Denn die erite Bes
megung, als fie das notwendige äußere Zubehör der Trauer in den Händen
hielt, fonnte die Baſe fürchten maden, fie werde es in ihre Schürze wideln,
und wer wei, was geſchah, hatte die kluge Bafe nicht in Vorausſicht foldhen
Gebahrens die Schürze mit weiten Stihen an den Rod angenäht.
Unterdbe hatten draußen zwei Reihen Shwarzer Männer den Sarg auf
ihre Schultern gehoben, über den nur ein großes ſchwarzes Tuch hergebreitet
lag, mit einem großen weißen Kreuze und wohl hundert einen weißen Sternen
geitidt. Die Bafe warf nod) einen prüfenden Blid über Schweiter und Ridjte;
ihr Geftcht hielt unverändert genau den Grad von Abitufung des feierlichen
Ausdrudes feit, wie fie ihn für den Augenblid ſchicklich hielt, aber in ihrem
Auge ſchwamm etwas, das jedem Maßſtabe Hohn ſprach, eine linbedingtheit
von Hingebung in liebender Sorge, Es war derfelbe Ausdrud, der auf das
Kind und der auf die Mutter fiel; und in der That ſchien feines von dieſen
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beiden weniger unmündig, weniger hilflos und fremder Zeitung bedürftig als
das andere. Aber die Träger hatten fih ſchon in Bewegung gefegt. „Nun geh,
Mädle, geh da hinüber,“ fagte die Bafe zu der Schweiter, „wir nehmen das
Kind zwiſchen uns. Und lauf nit in das Gras hinein, Mädle; es iſt nor
Thau darin vom Morgen. Nicht zu langſam, ſonſt fommen wir zu mweit von
den Trägern ab. Ja, aber aud) nit fo geſchwind, fonft — fo iſt's recht, und
gebt Hübfh Achtung, daß ihr nichts Unſchickliches macht!“
Sp jagte die Baſe und hob ihre Augen einen Mugenblid andädtig
zum Himmel, damit die Umftehenden meinen müßten, fie jpreche Worte des
Troſtes. Die Weifungen erichienen übrigens feinesmwegs überflüffig, denn bie
tleine ſchwache Geitalt der Schmweiter bewegte fich fo ſchwankend und wider den
Haarftrich des Taftes, als wäre fie noch eine Anfängerin in der edeln Kunſt
des Sehens. Van fah, fie war nicht gewohnt, ihre eigenen Füße zu fehen,
jo wenig, als ihre Hände; e8 fam ihr immer vor, als lägen ihre Hände und
Füße ihre im Wege und fie mühte darüber ftraudeln.
Rundschau.
Literatur. | theater das Wallenfteinfeft, ein Prolog,
ea — au dem uns eine Bemerkung erlaubt
* Um Grabe Yontanes fprad) | fein muß. Wildenbrud blieb wieder
Karl Frenzel, wie jener ein Mitbegrün= | ganz beim „Patriotifchen“: zur Zeit
der der „Berliner Prejfe“, im Namen | von Deutichlands tiefiter Erniedrigung
Diefes Bereins den Abſchiedsgruß. habe „der große Sohu des großen
„Neidlos ließen wir alle ihm den Vor- | Dichters“, wie er Wallenftein etwas
tritt“, jagt’ er unter anderm, „denn | wunderlih nennt, „an Deutichlands
feiner durfte fich mit ihm in Der Dauer, Seelen gepodht”. Dann geht das Pas
on Si ih feiner | triotifche weiter, bis es heißt:
iterariichen ätigfeit, nur menige
fonnten fi) mit feiner Begabung ‚Und ba geſchah es, dab zu Dichters
n » Träumen
meſſen.“ Dan jol’s mit Worten an
— nicht ſo genau — wenn | Sein »Ja ertmeibie ſprach das
e in warmberziger Liebe den Toten oe
allzu hoc) ftellen. Hier liegt’8 anders. Nachholend a Vers
Mir müflen, trogdem Frenzels Freun— f u
desempfinden für Fontane unantaft- In einem einz'gen großen Nugenblid.
bar ift, fragen: wen meinte er mit —
den BIER Den h er fich mit gontumes Und da — Held aus deutſcher
Begabung meſſen könnten ir hörten
fie gern genannt, ben init mögen unter Den Schiller F der Ferne kommen
den Berliner Schriftſtellern auf⸗ und ab⸗ —
fuhen, Ben ms mellen, wir fehen Und es —— — Machtgebot »Es
einen, deſſen Begabung der des
Toten auch nur halbwegs ebenbürtig Und ie —* geſchaffen und
wäre. Und mir denten, e8 heißt die *
Bedeutung ſolch eines Augenblickes Geht es denn wirklich gar nicht mehr
trüben, wenn man aus Höflichkeit gegen | an, eine Größe ohne Hinblick auf die
die Unmejenden dem Toten nit ganz | politiſche Macht zu begreifen? Kann
die Ehre gibt, die ihm gebührt. man jelbjt einen Schiller nicht anders
* Ein Prolog von Wildenbrug | feiern, als indem man m als ges
eröffnete im Weimarſchen Hof | mwaltigites Berdienft nahrühmt, er Habe
Kunftwart 2. Oftoberheft 1898
— 62 —
Deutichlands politiiche Größe geahnt ?
Das von Schillerzubemeifen, würde jehr
ſchwer halten, aber angenommen, es ſei
K liegt denn Deutſchlands Größe in
einer politiſchen Macht, die wir ſegnen
wollen, allein? Meint das Herr von
Mildenbrud, fo mag er fid) bei den
Deutich:Dejterreichern, Deutſch-Ruſſen
oder Deutih-Schmweizern danach er=
fundigen, ob fie, denen das neue Reich
ja menig nüßt, deshalb weil Schillers
„Prophezeiung“ für fie nicht einge
troffen, Schiller überhaupt nichts zu
danken Haben. Wahrlid, es iſt
ſchmerzlich mit anzuſehen, wie oft jett
bei uns Die gemaltigen Gedanken—
binterlajfenjchaften unjrer Großen mit
den Geifteslaternen von Krieger—
vereinsfeitreden beleuchtet werden.
+ BeimWtojelmwein: Wettbewerb
des Trarbadier Kaſinos find vier Ges
dichte ala gleichwertig bezeichnet wor—
den. Unſrer Meinung nad) das beite
davon ift das von Georg Bötticher,
das zwar auch nichts „ſpezifiſch Moſel—
weiniſches“ gibt, aber wenigſtens eine
höhere Auffaſſung des Weintrinfens
zeigt. Die Berje von Emmyvon Spillner
find einfach nichts, Franz Siegfried
Kaiſers Neimklingelei ijt gleichfalls
Aufguß auf altem poetiihem Theejag,
und Julius Wolff hat nur dem von
ihm einige Dugend Male verfertigten |
allgemeinen Stneipliede von megen der
500 Flaichen die Etifette „Mofel” aufge—
flebt. Wär's dies Mal nicht prämiiert
worden, hätt’ er’3 für jede fernere
Konkurrenz um ein Rheins, Stein= oder
fonftiges Wein= oder aud ein Bier:
oder ein Schnapslied umbetiteln fünnen.
Da die Preisgedigte in allen Tages—
zeitungen gejtanden haben, fünnen wir
fie als befannt vorausjegen — e8 ijt
nicht eines Darunter, welches das bes |
fondere de8 Mofelmeins fröhlich zum
Ausdruck brächte, nicht eines aud), das
wirflih vollstümlich wäre.
„Der Schag, den ih am liebiten han,
Der liegt beim Wirt im Seller,
Er hat ein hölzen Rödlin an
Und heißt der Mustateller” —
man halte nur fold) eine Strophe 3.8.
neben Wolffs Preisgedicht, und e8 ver—
blaßt jofort zu einem Schatten. So
ift auch diefer Weinlieder-Wettbewerb
feider verunglüdt: es fcheint nur
mehrere taujend Mal in Berfen be—
bauptet zu fein, der Mofelmein fei
aller Weine herrlichſter, mie bei
früheren Sängerbewerben: der Rhein=
wein oder wie der betreffende fonft
Kunjtwart
hieß, der ſei's. Haben mir wirk—
lid) gar feine Poeten mehr, bie ein
dichteriſch wertvolles Trinklied ſchrei—
ben können? Es find auch noch zwei
andere Möglichkeiten denkbar. Eritens,
daß die Herren Preisrichter, die über
die Menge von Einjendungen ſo ſchnell
ins Reine gelommen find, doch nicht
mit rechtem Ernſt und rechtem „Jur
dizium“ auf Proben wirklicher Talente
hin nadgeforiht haben. Zmeitens,
dab ſich unfre mwirflihen Dichter in—
folge von früheren Griahrungen an
folden Wettbewerben nicht beteiligen.
Theater.
* Bon den widhtigeren Berliner
Gritaufführungen fprechen wir zuſam—
menfajiend das nächſte Mal.
*In Münden fam ein vieraftiges
Schaufpiel „Das Erbe* von Felix
Philippi zur Erjtaufführung. Darin
geht Folgendes vor: Kaiſer Wilhelm II.
hat von feinem Bater eine große Ge—
wehrfabrift geerbt, der eigentliche
Schöpfer diefer großen Anlage iſt aber
Bismard, der deshalb aud) bei jeinem
„alten Herrn” machen konnte, was er
mollte. Aber der neue ordnet fich ihm
nicht unter, obaleidy er den Bismard
auch außerordentlich hochſchätzt, denn
Wilhelm II. iſt eben der Anſicht, er ſei
in der Fabrik der Herr. Nein, Majeſtät,
entgegnet ihmBismarck: materiell haben
Sie das Etabliſſement geerbt, „weil Sie
fi die Mühe genommen haben, als
der Sohn diefes Mannes auf die Welt
zufommen... (mit impofanter Größe):
geiftig Habe ich’S geerbt, ih ganz
allein. Und ich werde über dieſem
Erbe, über diejem geiftigen Vermächt—
nis wachen, fo lange noch ein Atem—
aug in mir iſt.“ Hierauf tft nun Wil—
beim II ſehr ärgerlich, und da er zu:
dem die Tochter eines Fabritbeamten
liebt, dem Bismard als einem ver—
mutlihen groben Bertrauensbrecher
troß allerhöchft ausgeiprochenen gegen=
teiligen Wunſches auf den Leib rüden
will, nun, fo fündigt er eben St. Durch—
laudt. Darüber randalieren die Ars
beiter und wollen alle jtreifen, denn
von ihrem Bismard wollen fie nicht
laſſen. Na, ſchließlich wird ja noch
alles gut: Bismard bemweiit, daf der
Vater der betreffenden Tochter ein Vers
räter von Gefchäftsgeheimniiien iſt,
und nun nimmt Wilhelm II. den Bis—
mard, ben er als Beamten entlaſſen
hat, zum Aſſocié: „Wilhelm und Otto,
2. Oftoberheft 1898
— 63 —
’
Gewehrfabrif*, werden fie fünftig fir—
mieren...
Was foll denn diefer tolle Unfinn
heiten? Werter Leer, die Sache liegt
fo, dat man unmöglid) verlangen fann,
Herr Philippi, der fchon die Madenzie=
Geſchichte und die Affaire Kotze aus—
geſchlachtet hat, jo lange fie nod) zogen,
jolle die Entzweiung Bismards mit
dem Sailer nicht ausſchlachten, ehe
das Gras drüber wächſt. Zwar barf
man ja fo hohe Herrn nicht ohne wei—
teres aufs Theater führen, man muß
ihnen einen Domino umhängen. Alſo
heißt Bismard bei Philippi Geheimrat
Sartorius und Wilhelm 11, Herr Baron
Larun: das Publikum, denkt Herr
Philippi, das ſchlaue, ſieht unter den
Mäntelchen doch ſchon die richtigen
Röcke. Was dabei herauskommt, das
deutet unfre Inhaltsangabe an. Der
Konflitt Kaiſer Wilhelm - Bismard
unter volllommen andern Vorauss
jegungen in andre Berhältnifie geitellt,
iſt cben nicht mehr der Stonjlift Biss
mard- Wilhelm IL, und fein großer
Dichter fogar fünnte ihn unter joldyer
Masterade geitalten. Der kleine Herr
Philippi ift aber wirklich fein Dichter,
fondern nur ein in allen Witen der
Theaterſtückbörſe gerijjener Geſchäfts—
mann. Deshalb verſuchte er gar nicht,
einen Konflift Sartorius = Larun aus
deren Verhältniſſen heraus zu geitals
ten, er ſchielte fortwährend nad) der
Bismard-„Senjation* hin. Und mag
und kann von einer Darjtiellung des
Konflikts zwiſchen Bismard und dem
Kaiſer ernithaft hier gar feine Nede fein,
und bringt das Stüd als „Löfung“
fchließlich mit der Aſſozierung zweier fo
weſensverſchiedener Menſchen nad)
allem Vorhergegangenen geradezu eine
Lächerlichteit — was macht's? Der
Schaupöbel empfindet doch, bevor er
die Billete gefauft Hat, Neugier, und
nachdem e8 fie gefauft bat, ein ähn—
liches Vergnügen wie beim geſellſchafts—
fähig zurechtfrifierten Stlatich. Und fo
find beide Zeile volltommen zufrieden.
Zur Zentennarfeier von Scillers
„Wallenſtein“ brachte uns des Herrn
von Poſſart Regie etwas noch Schöneres
und Interejjanteres, als die Meininger
getan, wenn's auch in ihrer „Niche
tung* lag. Haſt du. fhon gemuft,
dat Wallenftein im Februar ermordet
worden? Hier lag das Lager im Schnee,
fiehit du wohl, und nun merfit bu
dir's! Es war überhaupt alles hödjit
belehrend. Und auch fehr reinlich. Heut=
zutage jieht eine Armee im Feld ſchon
Kunftwart
— — — — — — — — —
— — — —— — — — — — —
nach ein paar Wochen nicht mehr
fo ſtatiös aus, Poſſart zu Ehren hatte
fih mitten im langen Feldzug das
ganze Wallenfteinihe Heer auf das
Nettefte neu „equipiert*. Das freute
denn die Trompeter jo, daß fte die
unmotiviertejten Fanfaren bliefen. —
O heilige Muſe, wann befommen mir
eine Negielunft? M. W.
“Non den Leipziger Theatern.
Der Herbit hat uns einige Eritaufs
führungen gebradt. Das eintönige
Schauipielrepertoire iſt etwas bunter
geworden. Zu dem ‚„Weißen Rößl“,
das natürlid immer noch „zieht“,
haben ſich die „Logenbrüder“ gejellt,
die den Preßpublikum gefielen, und Die
„Soldne Eva’. Wenn Leipzig, was
Boritellungen von Poſſen und Schwän—
fen anlangt, nicht zu den „Jührenden“
Theaterftädten gehört, fo bemüht es
jid) dafür, fo ziemlid) alles, mas in
Berlin und Münden gefallen bat,
nad einiger Zeit auch aufzuführen.
Auf andern Gebieten it ja daß
Reipziger Theater weniger eifrig, feit-
dem e8 verflägemannt iſt. Das Schaus
fpiel liegt arg darnieder. Es wird
weder die klaſſiſche Literatur eifrig ges
pflegt, noch kommen etwa die Hebbel
und Ludwig zu ihrem Recht, nod) wird
die moderne Literatur genügend be=
rüdiichtigt, zu der ja „Weißes Nöhl*
u. ſ. mw. nicht gehören. Die legten Wochen
haben wenigitens eine Aufführung ges
bradjt, für die der Direktion Danf ges
bührt, eine forgfältig vorbereitete Auf—
führung des Hauptmannfchen „Biber
pelzes*. Sie hat übrigens troß Der
abiprehhenden Kritik in den „maße
gebenden“ Blättern dem Publifum viel
Bergnügen gemacht — das Stüd jteht
fo oft auf dem Spielplan, dab man
e8 zur Zeit das Zugſtück des Leipziger
Theaters nennen fann.
Bon den beiden andern neuaufgeführs
ten Stüden, die zu erwähnen find, zwei
Epigonenarbeiten, ift Björn Björn—
fons „Johanna“ für den Aunftwart
fhon erledigt, fo daß nur das zmeite
bier au beiprecdhen ift. Nudoli von
Gottfhalls Epigonenftüd „Rahab“
ift ein mühfam nad) den Regeln der
Kunst zufammengezimmertes dramatis
ſches Gebäude. Der Stoff iſt die Ges
fchichte der Dirne von Jericho, die Jo—
fuas Kundſchafter bei ſich auinahın,
fie vor den Nadhitellungen ihrer Lands—
leute verbarg und zum Lohne dafür
geihont wurde, als die Mauern der
Stadt fielen und die eindringenden
Auden alles niedermegelten. Man
2. Oftoberheft 1898
follte meinen, dab der Dichter fein
Hauptaugenmerk darauf hätte richten
müſſen, die beiden fi) von felbit aus
dem Stoffe ergebenden Gegenfäte aus=
—— und zu vertiefen, die der
eiden Religionen und der beiden
Nationalitäten. Aber dazu wird kaum
ein Anlauf genommen. Hauptſache iſt
ihm der mühſame Aufbau einer regel—
rechten Haupt- und Staatsaltion ge—
weſen. Nahab iſt bei Gottſchall Ober—
prieſterin der Aſtarte.
ich auf den erſten Blick in den einen
üdiſchen Späher, gibt ihm, im zweiten
Akt, ein Stelldichein im Terebinthenhain
von Jeriho und gewährt ihm, im ,
dritten Alte, eine Scäferltunde in |
ihrem Gemade. Hier wird jte von
dem verliebten König von Jericho
überrafdht und zur Strafe zur Tempel-
dirne erniedrigt. Erit im vierten Afte
erfährt fie, daß ihr Seliebter Spion
ift; aber dann ift der Sram über ihre
Schmach jo groß, dat fie den Spähern |
Sie verliebt ı
forthilft und im fünften Alte, ichlimmer |
als die Dirne der Bibel, die Juden bei |
der Einnahme ber Stadt unteritütt.
Das iſt dann ihre tragiihe Schuld,
deretwegen fie am Ende des Stüds
ſich vergiftet. Die pompöfe Sprade,
die bei Gottſchall ſelbſtverſtändlich ift,
und einige ſzeniſche Effekte vermögen
nicht über die Hohlheit des Ganzen und
die mühfame Konjtruftion hinwegzu—
täufchen. Das Strobfeuer der Worte,
das duch das ganze Stüf hindurch
fladert, berührt im Hinblid auf den
Gehalt peinlich. Und peinlicher wird
der Eindrud noch, wenn man bedenkt,
daß derjelbe Sottichall, Der die Rahab
„gedichtet“ hat, in den beiden Leipziger
Blättern, die ihm zur Verfügung ftehn,
gefliffentlich alle gefunden literariichen
Regungen berabzufegen fih bemüht
und fo den undeilvoiliten Einfluß auf
das Leipziger fünftlerifche Leben aus—
übt. Gott fei Dant, dab es nur noch
das Leipziger Literarifche Leben ift,
- 8 gab ja eine Zeit, da Gottichall in
ganz Deutichland ein gemwiffes Anfehen
genoß. Guftav Morgenijtern.
"In Felix Dörmanns Schaue
fpiel „Heimmeh“, daS man in Wien
gab, hat der jozialdemofratiiche Agi—
tator Willy Kramm fih im Groll von
der Partei zurüdgszogen und bei
Qugendfreunden „Menſchen“ gefunden
und Pflege und Liebe, innige Liebe
eines edeln Mädchens. Da ermwadt, ı
während der Wahlſchlacht, in ihm das
„Deimweh“ nad) der Wartet, feine
Braut gibt ihn frei, er geht jubelnd
Kunftwart
|
65
wieder Hinaus in den Kampf. — Dör—
mann fehlt vor allen Dingen eine inners
lihe Kenntnis und aus diefer heraus
ein innerliches Verjtändnis der Welt,
die er diesmal ſchildern will: fie iſt
ihm einfach nicht lebendig genug
geworden. So wird breit und phraſen—
ie geredet, aber wenig gezeigt, äußer—
lihe Notigbeobadtungen ftehen an
Stelle von Ergebniffen wirklicher Ers
fahrung, Sentimentalität tritt ein für
fräftige Empfindung. Einzelne Neben=
geitalten find gut, das Ganze wirft
nicht viel beiler als die Gaben und
Gäbchen der neueiten Wiener Literaturs
geden. -t.
* Während umfre beiden „ſchwe—
teren“ Bühnenzeitichrifiten franfen
und jterben, kommt eine leichterer Gat—
tung auf den Plan, „Bühne und Welt“
geheiken und von Otto Elsner in Ber—
lin herausgegeben und verlegt. Sie
jucht möglichit vielen etwas zu bringen,
gibt alfo aud) literariich „Teriöfe* Auf—
füge, 3. B. von R. M. Werner über
Hebbel als Dramatifer. Uber die
eriten Bilder jhon zeigen ung des er—
habenen Mimen Ernſt von Poſſart bes
deutende Beitalt in jo und fo viel
Boien, an Schaufpielerverhätichelung
iſt aud) fonit fein Dangel, und mandes
legt die Frage nah: wird auch dieſes
literariiche Podium mehr zur Bilege
der Iheaterfunit als der Dramatil ers
rihtet? Je nun, eine Zeitſchrift hat's
auf diefem Gebiet jo Schwer, daß fie
vielleiht faum wirfen fann, ohne
dem Publikum weit entgegenzutommen.
Wünſchen wir ihr alio Glück auf den
Weg und uns, daß jie das Glüd, falls
fie’8 findet, nit nah) Bongſchem Vor—
gange mißbrauchen möge.
* Der Landshuter Magiitrat
dat feinem Theaterdireftor verboten,
duch) Kuplets oder andre Scherze Die
Stadtgemeinde „herabmwürdigen” zu
lajien. Dazu drudt eine Zeitung der
andern die Bemerkung nah: „müſſen
die jo empfindlichen Stadtoäter von
Landshut Furht vor einer luſtigen
Wahrheit Haben!" Richtig, aber warum
fagen die Zeitungen fo etwas nicht
auch unſern Majeitäten und Hoheiten,
über die ein Wit als Majeſtätsbe—
feidigung „Verbrechen“ it, oder unfern
Lientenants®, die meuerdings® Den
VBarietebühnen als ſakroſankt bezeich—
net worden find?
* Die Theater: Zeniur hai
fürzlid in Freiburg i. B. eine Probe
noch weicherer als pflaumenweicher
Prüderie gegeben, Mar Dreyerd ges
2. Oftoberheft 1898
funde Komödie: „In Behandlung“
zeigt befanntlid einen jungen Arzt,
Berthold Miefener, und eine junge
Werztin, Liesbeth Weigel, denen, weil
er unverheiratet und fie als „Studierte“
unmweiblih und unanftändig ift, Die
Spieker der guten Stadt Oftermünde
drei Schritte vom Leibe bleiben: Fr!
Die beiden Menſchenkinder, halb aus—
gehungert, finden jchließlich das Mittel,
die Oftermünder doc anzuloden. Sie
heiraten fih, nur um die Oftermünder
zu übertölpeln und ohne fi in Wirk—
lichleit als Dann und Frau zu geben.
Ihre Wohnung hat zwei Schlafzimmer.
Doch die den Oftermündern vorgeipielte
Komödie nimmt einen ungeahnten
Ausgang. Aus dem Spaße wird
Ernit: die Herzen fchlagen für ein:
ander; der Arzt will au) Mann
fein, die Aerztin au Weib. An
einem Abend — das ilt der Schluß —
gen fie fid) ihre Liebe. Berthold
iefener zieht den Schlüffel von der
Thür feines Schlafzjimmers und wirft
ihn aus dem Feniter. „Was joll das ?*
fragt Liesbeth. „Ih zieh uml“, it
ie Antwort. „Wein Schlüffel Liegt
tief unten in des Hafens Grund, cd
zieh um!“ . So will’s Dreyer!
In Freiburg Hat Die an den
Dichter verbeijert. Die, ſtraff einges
gliederte Schlußſzene fehlt fait ganz.
68 gibt feinen Schlafſtubenſchlüſſel
und jedes auf ihn verweifende Wort
fehlt, wie jede entipredhende Handlung.
Das heißt alfo: die Bühne erflärt
die Thatſache für unanitändig, daß
ein Ehepaar fünftig ein Schlafgimmer
abe! Nach diefem Freiburger Sitten=
oder iſt der unanftändige Dann
Nahts im Zimmer der frau; der
anftändige ijt — wo anders!
Muſitk.
* Die neue Oper des Weſtens
in Berlin.
Post tot discrimina rerum ſcheint
das „Theater des Weitens“ endlidy in
ruhige und geordnete Bahnen gelenft
au fein. Am 15. September eröffnete
Max Hofpaur dajelbit eine; ftändige
zweite Oper unter dem Namen „Dpern=
Theater des Meitens“. Schon feit
Jahren plante man ein derartiges
Unternehmen, und feinerzeit hieß es
ogar, an der Potsdamer= und Lint-
traße follte ein neues Opernhaus er—
richtet werben, beifen fünitlerifche Lei—
tung ber geniale Sans von Bülow
übernehmen follte. Berlin hat eine
Kunjtwart
zweite ſtändige Oper neben dem tgl.
Opernhaus dringend nötig aus vier
Gründen. Zunächſt find die Breife im
fol. Opernhaufe derartig hd), daß viele
Leute aus rein pefuniären Rüdjichten
auf einen Befudh der Voritellungen
verzichten müfjen, zumal e8 nicht jeder=
mann gefällt, ſich für 4 oder 3 Marf
auf ben zweiten oder dritten Rang zu
fegen. Bei irgendwie hervorragenden
Aufführungen erhöht ſich der Preis
beinahe um das Doppelte duch die
VBorverfaufsgebühr und die in legter
* fo beliebten „erhöhten Preiſe“!
odann find bei der großen Be—
völferungszahl Berlins und bei dem
ungeheuren Fremdenverkehr die Pläße
im Nu vergriffen, was zur Folge bat,
daß die Jagd danad) ſchon acht Tage
vor der Aufführung beginnt. Drittens:
die fgl. Oper ift in ihrem Nepertoir
mehr oder weniger beichränft. Wagner
nimmt ein Bierteil aller Aufführungen
für fich in Unfprud; nad ihm erfordert
Die „große Oper“ den größten Raum,
während die leichte Spiels und Kolo—
raturoper nur in geringem Maße ges
pflegt werden fann. Endlich iſt auch
das fol. Inſtitut in der Annahme
von Neuheiten durch Rückſichtnahmen
von mancderlei — oft nichts weniger
als fünftleriiher — Art gebunden.
UM dies fommt bei der Hofpaur—
Then Oper nicht in Betradjt. Die Preife
find mäßig, Wagner fann und die
große Ausitattungsoper braucht nicht
gegeben zu werden. Bon felbit ift das
Unternehmen aljo jhon auf Die Be—
arbeitung eines Feldes bingemiejen,
welhes ihm reihe Ernte Bietet:
auf das Gebiet der fo vernachläſſigten
Spieloper und der ſchier in Vergeſſen—
heit geratenen Koloraturoper. Jene
Opern, die das Publikum kaum mehr
kennt, wie Maurer und Schloſſer, Kalif
von Bagdad, Carlo Broſchi, Schwarzer
Domino, Weiße Dame, Zampa, Jean
de Paris, werden ſicherlich Teilnahme
wecken. Und alte große Opern, welche
das kgl. Opernhaus nicht auf dem
Spielplan hat, wie Norma, Lucrezia
Borgia, Semiramis, Puritaner, Som—
nambula, Ernani, könnten eine zweite
Blüte erleben. Selbſtverſtändlich müß—
ten auch Mozart, Weber, Lorging, Verdi
eine Pflegeftätte finden. Die günftigften
Vorbedingungen für cine gedeihliche
Entwidlung find vorhanden — Hof:
paur braucht nur für ein gutes Pers
fonal und gute Novitäten zu forgen.
Dies ist geichehen. Kapellmeiſter, Einzel
fänger und Ghoriften find gut, zum
2. Oftoberheft 1898
Teil fogar recht gut, und bie bis jetzt
gewählten Neuheiten verdienen famt
und ſonders die Aufführung.
Zur Eröffnungsvoritellung hatte
man die Oper gewählt, in der, wie
Friedrih Wilhelm IV. fagte, „Statho=
lifen und Proteftanten ſich totfchlagen,
während der Jude die Muſik dazu
macht“. Die Aufführung überraſchte
duch ihr Gelingen, ich glaube aber
doch, die „Oper bes Weſtens“ follte
die Hugenotten und die jüngit heraus—
gebradjte „ZJüdin“ der fgl. Oper über«
lafien, in deren ganzen Upparat ſich
derartig jchwierige Werke viel beſſer
hineinfügen, als in den Rahmen der
„neuen Oper“, die ihr Hauptbejtreben
darein fegen muß, die leichteren Gat—
tungen in möglichit gleihmäßigen Aus—
führungen zur Daritellung zu bringen.
Einitweilen iſt dies dem neuen Unter—
nehmen mit dem Troubadour, Boftillon
und Raffenihmied recht gut gelungen.
Ein ganz entichiedenes fünjtleriiches
Verdienst hat fi aber Herr Hofpaur
mit feiner eriten Nopvität, dem „Eugen
Onegin* von Tſchaikowsky, erwor—
ben. Der Inhalt des Wertes ijt dem
befannten Puſchkinſchen Bers-Romane
entnommen, der ein Gemiſch von By—
ron, Richardſon und Werther mit einem
Schuß Heineſcher Selbſtironie iſt.
Tſchaikowskys Muftl, urſprünglich für
den Konzertſaal berechnet und unter
dem Namen „lyriſche Szenen“ heraus—
gegeben, iſt ähnlich wie Liſzts „Eliſa—
beth“ gegen die Abſicht des Meiſters auf
die Bühne gebradht worden. Was Wun—
der, menn ein ſolches Werk das jcharfe
Licht der Lampen nicht vertragen fann!
Die ans Blödfinnige jtreifende Text—
überfegung und der gänzliche Mangel
an Dramatif ſchaden der „Oper“ ſchwer.
Kenn fie fich trogdem hält, fo iit Dies
einzig und allein ber Mufil zuzu—
ichreiben. Die iſt wirklich entzüdend.
Vor ſtark zwanzig Jahren geichrieben,
bewegt fie fi in einem Uebergangs—
ftil von der alten zur neuen Oper.
Von jener hat fie die abſoluten Duette,
die dreiteiligen Urien und die Chöre,
von dieſer die Nezitative und das be—
redte Orcheſter. Hinfichtlid der Ans
bringung von Arien befümmert fi
der Komponiſt nicht viel um die dra=
matiihen Vorgänge, er ftreut fie in
bie Handlung ein, wann und wo es
ihm beliebt. Die ganze Muſik trägt
ein echt ruſſiſches Gepräge. Dies ſpricht
fi) keineswegs, wie viele Mufifer zu
alauben fcheinen, nur in dem einen
oder anderen flaviihen Rhythmus aus,
Kunftwart
|
fondern aud) in den Singftimmen, der
Drelodit und Orceitration. Tſchai—
lowsty vertraut 3. B. von den vier
mweibliden Hauptrollen drei dem Alt
an und von diejen jogar die Vertre—
terin des leichten beinahe frivolen Ele—
ments dem tiefen Alt. Uns Deutfche
berührt etwas derartiges befremdend;
bei dem Ruſſen liegt die Sache anders.
Während wir bie hohen Stimmen,
Sopran und Tenor, bevorzugen, liebt
der Ruſſe die tiefen Stimmen Alt und
Ba, und jeder, der einmal im Lande
ſelbſt Belegenheit hatte, ruffifhe Vol ks⸗
mufif zu hören, wird gefunden haben,
daß die Altſtimmen mindeſtens fiebzig
von hundert ausmachen und von dem
Volke bei weitem am meiſten geliebt
werden. Die Melodie hat man ſtellen—
weiſe „deutſch-ſentimental“ genannt,
Auch das halte ich für unrichtig. Sie
iſt echt ſlawiſch, ſchwermütig; von jener
merkwürdigen feurigen Weichheit( Moll),
die allen weniger kultivierten Völkern
eignet, mögen fie nun Zigeuner oder
Ungarn, Tſchechen oder Ruſſen fein.
Je weiter ein Volk in der Ktultur fort—
geichritten ift, umfomehr verschwindet
das Melandolifch= Weiche in feiner
Muſik, und das Lebendige, Energifche
(Dur) gewinnt Die Oberhand. Das
älteite moderne Kulturvolk der Ita—
fiener bat fich zuerit aus dem Banne
ber Schwermut befreit, ihm folgten
Deutihe und Franzofen, doch haben
jene ihrer Diufil vielfady etwas ſpieß—
bürgerlihe Sentimentalität (Lorging)
beigemifcht. Diefe ift aber nie und
nimmer mit der ſlaviſchen Urt der
Nullen zu verwechſeln, wenn beide
fih auch manchmal äußerlich gleichen.
Auch in der Inſtrumentierung iſt Tichais
kowsty ganz national. Streider und
Holzbläſer beherrſchen ausschließlich
das Feld. Von Blechinſtrumenten hat
nur das Waldhorn mit ſeinem ſammet—
weichen Klange mitzureden, Trom—
peten dagegen kommen außer in den
brillanten Tänzen kaum zur Verwen—
dung. Dieſe bilden übrigens einen
Glanzpunkt der Oper, die umſomehr
gewinnt, je öfter ſie man hört.
A. u
Wagner auf der Sanzel.
Wär's möglih? Esift Ein Dr.
Albert Roß-Parſons hat in der Aller—
feelenfirhe zu New-VYork an einem
Sonntag:Nahmittag „über den Weg
zu Chriſtus durch die Kunſt oder
Richard Wagner als Theologen“ ge—
predigt und den Meiſter dabei nad
allen Regeln feines Amts fatechifiert.
2. Oftoberheft 1898
— >
Diefer Vortrag, deſſen Schluhergebnis
(Wagners Rüdmwendung zum Ehriften«
tum) den Verfajjer natürlidy mit leb—
hafter Freude erfüllt, erſchien dann,
au einem Buche erweitert, englijch be—
reit8 in ameiter Auflage und marb
nun vom Paul Zillmanniden Ver—
Iage in Zehlendorf in einer ſachkun—
fundigen deutſchen leberfegung von
Reinhold Freiherrn von Lichtenberg
herausgegeben.
* Zur Hebung bes Anjehens
der Zither will der Verband deut—
fher Zithervereine Alles ihun, um
ihre — Songertfähigfeit durchzuſetzen.
Eine prädtige Jluftration zu unferm
Auffag über die Gefahren der öffent
lichen DMufitpflege! Das ehrliche, feinen
eigentlihen Zweck als Begleitinfirus
ment zum Geſang erfüllende Haus—
gerät, das einem mande Stunde
Daheim auf freundliche Weiſe ver—
treiben hilft, dünkt fi in biefer
„untergeordneten“ Stellung zu gemein.
Anſehen bat nur, was fi vor Hinz
und Kunz gegen Eintrittsgeld jehen
und hören lafien darf — vornehm iſt
nur, was über feine natürlichen Ver—
hältniffe hinaus lebt. Statt darauf
hinzuarbeiten, daß das Anftrument
da8 bleibe, wozu e8 fein Charafter
beitimmt, und daß diefe Auffaflung in
alle Kreiſe feiner Pfleger dringe, ver—
legt man ſich auis Paradieren mit
Virtuofenftüdhen. Zuridtungen von
Sinfoniefägen, der hehre Marſch, Ziel—
bewußt“, die himmliſche Phantaſie
„Der Sterne Zauberbild* — das find,
wie die Programme ber Zitherfongerte
lehren, eines modernen Bitherfpielers
einzig würdige Aufgaben. So fpotten
dieje Gernegroße mit ſtolzem Ungefidht
ihrer ſelbſt.
Bildende Kunft.
* So hätte in Dresden aud) der= |
jenige Künftler fein Denfmal befom=
men, ber die beiten Seiten ber ſächſi—
fhen „Gemütlichfeit“ idealifiert hat
zu reinen Leitbildern allgemein
deutſchen Hergenshumors und deuticher
Gemütsinnigfeit, Ludwig Ridter
der Grohe. Aber ad), jtände das
Denkmal dod lieber nit da, dak wir
nod) auf ein anderes für ihn hoffen
dürften!
Der Bildhauer, Kircheiſen, Hat
leider von dem auffälligiten Zuge
nicht nur in Richters Charakter, fon
dern auch in feinem Angefiht, von
feiner unmittelbar ermärmenden
Kunftwart
l
!
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1
!
1
Freundlichkeit und Güte, nichts
wiederzugeben vermodt. Als Beine
Figur ausgeführt, erfchiene fein Wert
vielleicht troßdem nidt ganz ohne
Innerlichkeit, jo wie es ilt, läht es
nit nur falt, fondern ftöht e8 ab.
Das Denkmal ijt traurig bezeichnend
für die Verftändnislofigfeit in Denk—
malsfragen, unter der, ſchon durch
törichte Bewerbungsbedingungen, auch
der Bildhauer felber gelitten haben
mag. Will ich ein Denkmal feßen, fo
wäre, follte man meinen, bie nädjite
Aufgabe: die Stimmung mit bem
Ganzen wiederzugeben, melde Die
Berfönlichleit des Gefeierten in mir
erwedt. Anſpruchslos zwiſchen Laub
und Naturftein an pläticherndem
Wäſſerchen Richter mit Rindern um
fih, in runder Plaſtik oder als Re—
lief oder als Bild — das etwa hätte
dem ein wenig entiprocdhen, was wir
bei dem Namen „Ludwig Richter“
empfinden. Freilich, Hundertfad anders
noch hätte fih die Aufgabe Löfen
laſſen, die eine der köſtlichſten mar,
die e8 gab. Ein Behagen hätte aus—
ftrablen müſſen aus einem RNichter—
Denfmal auf alle Beihauer, auf
Reich und Arm, auf Groß und Klein.
Das ſehen wir jegt? Einen Dann,
der zeichnet, in der Haltung alles
eher, als monumental, aber in einer
Kolofialgröße, die monumental wirken
foll und nun plump wirft, genau wie
das glatt polierte Steinwerf darum
und darunter, mit dem lächerlihen Mo=
fait und dem lädherlichen Gitter. Es
wird Einem einfady weh ums Herz,
fieht man den Sammer an.
Natürlich läßt die Aufftellung des
| Richters Denfmals auch jedes „Ein=
pflanzen“ in die Umgebung vermiffen,
von einem bdeforativen Zujammen=
hange mit ihr fann faum geſprochen
mwerden. Uber das allgemeine Fehlen
des Sinns für diefe Aufgaben fann
ih an Dresden in der nädjten Zeit
nod viel ſchwerer rädhen, als bei
diefem Dentmal, das ja eine fpätere
Generation hoffentlih zum Einfchmelzen
verfaufen wird. Man plant nämlidy
wieder, an große Stüde besfelben
„alten Dresdens“ die Hand anzulegen
das unfer Elbflorenz berühmt ge=
madt hat. Jede Stadt muß ſich den
ı neuen Zeiten mit ihren Bedürfnifjen
|
anpajjen, e8 fragt fid) nur, wie daß
geſchieht. Und Hier in Dresden ift
das Gefährlihite nicht einmal, da
unfre Stadtväter und ihre Bevoll—
mädtigten die architektoniſchen Schön—
2. Oftoberheft 1898
heiten der einzelnen alten Gebäude
nicht verjtchen. Nein: man ift in Ges
ihmadsdingen jo heruntergekommen,
dak man bei —— des Straßen=
baus, welche die Vorfahren zu [öjen
wußten, jetzt nicht einmal mehr die
Probleme ſieht. Mit einem ganz
vortreffliden Memorandum hat noch
in legter Stunde Gornelius Gurlitt
fadveritändig und fünftleriich jein=
fühlig, und mit Ruhe und Mäkigung,
ewarnt. Möge man auf ihn hören.
ber jelbit die Schäden, die er ab=
wenden will, wären für das Stadt=-
bild Dresdens nicht von jo übermäch—
tiger Richtigkeit, wie die Aufführung des
Mallotfhen Landtagshaufes an der
geplanten Stelle am Schloßplag. Käme
dorthin ein Riefenmwürfel, der nur von
fern irgend einem ber bisher vor=
gelegten Wallotſchen Pläne entipräche,
fo bedeutete das für Dresdens Schöne
heit an ihrer edelſten Stelle einfad
die Zerftörung. u.
* Ein Rüdblid auf die Mün—
hener Ausstellungen diefes Jah—
tes ſcheint zu ergeben, dab die Ueber—
gangsperiode unferes Ausſtellungs—
mwejens ih in befchleunigtem Tempo
ihrem Ende zuneige. Noch zeigen die
Ausjtellungen im großen annähernd
ihr gewohntes Bild, und trogdem ift
gar fein Zmeifel möglich, dat Diejes
fi jest ganz raſch verändern wird,
Fragt man jemand, moran das
liege, fo ruft der vielleicht „modernes
Sunftgewerbe!” Ich meine, das bes
zeichnet die Sache doch nod) ein wenig
äußerlih. Nichtiger würde die Ant—
mwort wohl lauten: eine ®eneration
mit äfihetifcher Kultur wächſt heran.
Dan geht nım nidt ver in die
Ausitellungen, um Bilderchen zu bes
fehen, jondern um das fünitlerifche
Xeben jeiner Zeit begreifen umd vers
folgen zu fönnen. Und daß bas nicht
in der Delfarbe oder ber Bildform
überhaupt gebunden Liegt, iſt nun
Gott ſei Dank ſchon fast ein Gemein—
plat gemworden. Die beiten Stünftler
wenden ſich jetzt jedem Gebiet zu, auf
dem e8 etwas zu gestalten gibt.
Was die neue Zeit noch verfäumt
hatte: ſich eineigenes fünfstlerijches Kleid
zu ſchaffen, wie es jede frühere Epoche
gethan, — fie Holt e8 nad; und
auf ihren Beruf, das zu zeigen, fangen
unfere Ausſtellungen an, fich zu be=
finnen.
Seit zwei Jahren iſt dieſer Um—
ſchwung bei uns in Deutjchland fennt=
lid geworden. War das, was ber
Kunftwart
|
69
„Ausſchuß für Kunſt im Handwerk“
vergangenes Jahr im Glaspalaſte
veranſtaltete, faſt noch ein Verſuch,
ob ſich dieſer Weg überhaupt begehen
laſſe, ſo zeigen heute die beiden Aus—
ſtellungen in München und die in
Berlin, daß es eine Notwendigkeit ge—
worden iſt, ihn zu beſchreiten. Jede
Wahrſcheinlichkeit iſt dafür, daß er
noch weiter verfolgt wird, mas die
Konſequenz ergibt, daß fid) die Aus—
ſtellungen dem Charakter der vereins
zelien großen Kunſthandlungen vor—
nehmen Stils nähern, die in manchen
Sauptitädten ſchon beftehen. Feitlich
geſchmückte oder intim ausgeitaltete
Näume, als ſolche allein fhon Kunſt—
merfe, und darein wie die Perlen der
Spange gefügt die beiten Werke
abitrafter Kunſt, die das Jahr her=
vorgebradjt Hat. Der Menge deſſen,
was nur im Sandelsinterejie oder
ganz ohne inneren Grund entitanden,
wird damit wieder ein Steimboden ent=
zogen.
Melden Weg die Kunſt in ber
legten Zeit gegangen, das habe ich in
diefen Blättern nun ſchon jo oft bes
fproden, daß ich davon Heut nicht
wieder zu reden brauche. Zudem
haben wir jest ja die Möglichkeit, den
Lefern das zu zeigen, morauf wir
feine Aufmerkſamkeit lenfen mödten,
denn wenn unfre Bilderbeilagen aud)
noch nit gerade „Kunjtblätter” fein
fünnen, jo unterrichten fie von den
uns wertvoll und intereflant erjcheis
nenden Werfen doch jedenfalls viel
beifer als hundert Worte könnten.
Da wir nad) Möglichkeit im folgenden
Halbjahr die nah unferer Meinung
beiten Werke der beiden Münchener Aus—
ftellungen reproduzieren werden, io
haben wir nod) öfters Gelegenheit,
in begleitenden Worten auf jie zurüde
zufommen. Nur foviel fei nod) ges
fagt, daß ganz neue Verſchiebungen
oder Ericheinungen nicht aufgetreten
find. Die alten Namen bewährten
ſich zumeift in neuen Werfen, mande
Künſtler zeiaten fi) in ihrer ſtraft
ewachſen. Da, wo man ernithaften
atitab anlegen darf, trat nirgends
ein Zurüdgang oder aud) nur ein Nach—
laſſen hervor. Wirkliche „Offenbar:
ungen“ babe ich nicht gefunden, die
find aber aud früher nicht allzu
häufig gemefen.
Dan hat oft jagen hören, daß die
Sezeifion mit ihrem Heim einen
ſchlechten Tauſch gemacht hätte. Ich
kann das nicht finden. Die Vorzüge
2. Oktoberheft 1898
der großen, gutbelichteten Säle in der
Prinzregentenitraße wurden bier auf—
gewogen durch eine Reihe anderer,
unter denen die Heizbarfeit und Die
zentrale Lage nicht Die kleinſten
waren. Die Näume zeigten fih nicht
groß, aber gut und jo geihmadvoll
ausgeitaltet, wie nur je. Im Glas:
palait hatte man feine Veränderungen
des Arrangements vorgenommen.
Schultze-Naumburg.
*Der Kongreß für Kunſt in
dberDeffentlichleit, der in Brüffel
vom 22.—26. September jtattfand, Litt
an mandjerlei Uebelftänden, die feine
Wirkung beeinträdtigten. Won den
befannten belgifchen Künſtlern nahm
überhaupt feiner teil, weil der ein:
berufende Verein (l’Oeuvre de l’Art
Public) infolge von mand)erlei uner=
frenlihen Vorkommniſſen feinerlei
Sympathie bei der belgifchen Künſtler—
ſchaft genießt. Im Gegenteil murde
der Kongreß nebſt feinen Veranſtaltern
in einigen belgiſchen Kunſtzeitſchriften
und Tageszeitungen ſehr heftig ange—
feindet. Das macht ja die gute Sache
als folde, über die hier verhandelt
wurde, nit ſchlechter, bedauerlid)
bleibt e8 aber, daß der Kongreß nicht
von Männern veranftaltet ward, bie
fih allgemeiner Sympathie erfreuen
und die veritanden hätten, alle Kunſt—
freife Belgiens zur Mitarbeit heran—
auziehen. Sadlidh wurde gegen den
Kongreß eingewendet, daß durd ein
gewiſſermaßen gemwaltfames Borgehen
in Sachen der Stunit in der Deffents
lichfeit mehr geichadet als genüßt
würde, daß man es vielmehr der Zeit
überlaffen müßte, allmählich Wandel
zu ſchaffen und das Leben mit Kunſt
zu durchdringen. Hierüber fann man
ja in der That verjchiedener Unficht
fein. Der Stongreß war von Deutſch—
land aus ſehr mangelhaft bejudht;
außer mir ıvar nur Baurat Stübben
aus Köln anmefend, fo daß man
die verfchiedenen „Originalberichte*
in den Zeitungen mit einiger Stepfis
anfehen darf. Dagepnen waren
aus Frankreich, Belgien, Holland,
Schweden, Italien, Umerifa Vertreter
der Wegierungen, der Stadtverwal—
tungen, Muſeen, Kunitichulen u. ſ. w.
gefommen. Borligender war der bels
giiche Miniſter Beernart, auch der franz
zöſiſche Miniſter Bourgevis leitete eine
der Hauptiigungen. Es wurde in drei
Abteilungen beraten: Kunſt in ber
Oeffentlichkeit vom gejeggeberiichen,
vom Sozialen und vom tedhnifchen
Kınftwart
Standpunkte aus. Man beſprach da
vielerlei, was in Deutjchland längſt
ausführlich erörtert worden iſt — Kunſt
in der Schule, Reitaurierung und Schuß
der Kunſtdenkmäler u. ſ. w. Auf einige
wichtige Einzelheiten aus den Debatten
kommen wir zurück. Man beſchloß
übrigens, im Jahre 1901 einen zweiten
internationalen Kongreß für Kunſt in
der Oeffentlichkeit in Paris zu veran—
ſtalten, und ſprach zugleich den Wunſch
aus, es möchten im Jahre 1899 natio—
nale Kongreſſe gleicher Art abgehalten
werden. Paul Schumann.
* Die Broſchüre gegen die mo—
derne Kunſt ift wieder einmal ers
ihienen. Die Broſchüre, — e8 ift ja
immer Diefelbe, wenn fie alle brei bis
vier Jahre in neuen Auflagen heraus:
fommt, obgleih Papier, Drud, Titel,
Verleger und Verfaſſer wechſeln. Es
ift immer diefelbe mit demfelben Pa—
thos der ehrliden Entrüftung, dem—
felben aufrichtigen guten Willen, zu
helfen, und demjelben jeurigen Kampf
gegen dieſe jelben gottlofen Riefen,
die mit ihren gewaltigen vier Flügel—
armen das ideale Blau aus dem Him—
mel reißen. Sagt ein anderer: aber dieſe
Niefen find ja Windmühlen!, — fo
fann man fi) doch nicht darüber ver—
ftändigen, denn man jieht mit vers
fchiedenen Augen und man fpricht mit
verjchiedenen Spraden. In der neuen
Ausgabe heißt die empörte Streit—
ichrift: „Karl Guſſow und der Natu—
ralismus in Deutſchland“ und ihr
Verfaſſer Baitor Dr. Karl Pietſch—
fer. Da wir bereits bei der Be—
fprehung der früheren Auflagen be=
fannt haben, daß wir mit nod) fo
berzensüberzeugt vorgetragenen Kunſt—
dogmen nichts anzufangen wiſſen, jo
fünnen mir uns ein abermaliges
Eingehen jparen.
* Berliner Blätter melden: „Die
AufitellungderBildfäulen der
Dichter aus den Freiheitsfriegen im
Biftoriaparfe fol, wie man aus Künſt—
lerfreifen uns mitteilt, nicht eher er«
folgen, als bis der Kaſiſer die Werke
befichtigt haben wird. Man wird alfo
mit der Aufftellung wohl bis zum
Frühjahr warten müſſen.“ Alſo jtellt
das fortichrittlich regierte Berlin die
legte Entjcheidung über „Bildjäulen“
von Dichtern ohne jede Not dem Sailer
anheim, der weder in literarifchen nodh-
in fünftlerifhen Dingen Sadyveritäns
Diger iſt. Wenn er allmählich zu der
Meinung käme, der erjte Sadvers
tändige in allen Ungelegenheiten,.
2. Oftoberheft 1898
fozufagen Spezialift für alles zu fein,
fo mwär’8 nad) folden Erfahrungen
nur menfhlid. Den Herren ihrerjeits
iſt's herzlich gu gönnen, wenn ihnen
die allerhöchſte Gnadenfonne, in der
fie den gefrümmten Budel wärmen
wollen, gelegentlich) etwas unangenehm
drauf brennt.
* Im Zauf-Medaillen oder
Plaketten hat jegt das preußifche
Kultusminifterium Preife ausgeichries
ben. Alſo läßt es fi) nicht im Weiters
befchreiten des guten Weges itören,
den e8 mit feinem Preisausichreiben
um eine Hochzeitsmünze betreten hatte,
— meld ein Gemigel aud) die Geiſt—
reichen in der Prefje deshalb erhoben,
die jamt und ſonders nicht verjtanden,
worum fich’8 handelte. Es liegt im
dringenden Intereſſe aller Künftler mie
aller Kunſtfreunde, die hier vom ſultus—
minifter verfuchte Förderung einer vor=
trefflihen Sache mit allen Kräften
zu unterſtützen.
Dermijchtes,
* „Das Dreigeitirn Menzel
Begas-Fontane* hatnad einem Ber—
liner Zeitartifel künſtleriſch über der
Bismard-Wera „gejtanden“: „Die Werte
dieſes Dreigeftirns tragen den unaus—
löſchlichen Stempel von Bismards
Geilt“. Warum? Das hab id nicht
verftanden! Daß e8 aber durd) die
faiferliche Empfehlung unjres „Michels
angelo* in der That ſchon möglich
wäre, außerhalb der Hoftafelrunde
Begas mit Menzel und Fontane in
einem Atem zu nennen‘, das hätte ich
bisher nit geglaubt. Menzel und
Fontane, mie verfchieden an Größe,
haben gemeinfam ihre echte Inner—
lihfeit. Sie find beide Künſtler
des „Ausdruds*, Verherrlicher Preu—
Ben aus dem Verſtändnis feines
Geiftes heraus — man fann fie immer—
bin der „Hera Bismard“ einordnen.
Begas aber ift der hodgewandte
Schwelger in fhönen Formen ohne
feeliihe Ziefe, der jelbit beim ſoge—
nannten Nationaldenfmal nidt viel
mehr anzufangen weiß, als ein großes
Biltoriageihrei Höchst effeftvoll zu ins
ftruımentieren. Das iſt „deforative
Politik“ in der unit, nit bismarck—
fcher Geiſt. Nicht Menzel-Begas-Fon—
tane heißt das Dreigeftirn, zu dem
Begas gehört, fondern Nafchdorif=
oder Knackfuß-⸗Begas-Lauff, und hier
bedeutet er allerdings den weit über:
zagenden Gipfel. Wer's nicht glaubt,
Kunftwart
betrachte fich feinen Entwurf zu dem
faiferlich bejtellten Bismard » Sarfo=
phag. Dean weiß da nicht recht: ift
Bismard die Hauptfahe oder jein
Mantel mit den Nenommierfalten?
+ Die fommiffion für das
Urheberrecht, deren wir im letten
Hefte gedadhten, ſoll nad) Mitteilung des
Staatsfefretärs Nieberding nur einen
„informatorifchen“ Gharafter haben.
„gu einer fpäteren entgültigen Be-
gutachtung des neuen Geſetzentwurfes
über das lirheberrecht werden bejon=
dere Sachverständigen : Nusfchüfle ges
bildet werden, an denen Berufsichrift-
iteller, Journaliiten und Tonfünitler
in gleicher Zahl teilnehmen werden
wie die bisher geladenen Buch» und
Mufifalienverleger.* Das heikt mit
andern Worten: man fieht ein, daß
man fi verlaufen hat, mag's aber
nicht zugeben und redet nun um die
Sad)e herum. Denn das ift ja gerade
das Unerhörte, daß man zu feiner
„Snformierung“ nicht die Hervor—
bringer, fondern die Zwiſchenhändler
berief.
lebrigens fommt jet Leben in
die Urheberrechts = Bewegung. Die
„Berfammlung deutſcher mufifalifcher
Autoren“ Hat unter PBorfig unieres
Mitarbeiters Prof. Hans Sommer in
Leipzig getagt. Eine „Anstalt für muſi—
kaliſches Aufführungsrecht” ıft nach den
Eingaben der Komponiſten genehmigt
worden. Der Direftor des Berliner
Schillertheaters, Löwenfeld, Hat ſich
bereit erklärt, ein Prozent der Ein—
nahmen aus Klaſſikervorſtellungen für
die Schillerftiftung abyutreten. Andere
Bühnenleiter werden ihm anitands=
halber folgen müffen.
Unſere Beilagen.
Die diesmalige Noten beilage ilt
eigentlich eine Illuſtration zum vori—
gen Hefte. Sie enthält zunächſt aus
den dort befprochenen „Sclidten
Weifen* (Leipzig, CE. F. ®. Siegel)
von Alexander Ritter das „Wer
da Sieht die Augen dein“, ein Lied,
deſſen mit zarter Schwärmerei geparte
Innigfeit und feingezogene melodiſche
Zinie fi) Schon beim eriten Durchſingen
in ihren Reizen erjchliegen dürfte.
Das folgende, aus Guftav Mah—
ler3 zweiter Sinfonie herausgehobene
Stüf erfordert dann etwas Nach—
denfen und lebhaftere Phantafiethätige
2. Oftoberheft 1898
keit. Jedenfalls bitten wir, die Be—
merfungen über den ganzen Sat auf
©. ı1 unfres vorigen Heftes nachzu—
ichlagen. Als Probe ift die Stelle
gewählt worden, wo zu ber frifchge-
ſchwungenen Tanzmelodie in der Ober:
ſtimme gleidygeitig Die trippelnde
Weiſe des Ländlers erklingt. Unfer Be—
arbeiter, Kapellmeijter Jofef Stransky
in Prag, bat die beiden Stimmen, fo
lang es klaviertechniſch möglidy war,
d.h. bis auf Taft ı8 und 19, ziemlich
Scharf auseinandergehalten. Es em—
pfiehlt ſich — für mufifalifh minder
Geſchulte ſozuſagen eine Vexier-Auf—
gabe — ſich über den Gang jeder einzel—
nen Stimme zu orientieren und vor
allem jede für ſich durchzuſpielen, um
dann beide im Vortrag gut unter—
ſcheiden zu fünnen. Wer fi für das
Merk irgend eingenommen fühlt, der
wird freilich zu der vorzüglichen Be—
arbeitung für wei Sllaviere von Her—
mann Behn (Leipzig, Fr. Hofmeiiter)
greifen, da die Hände eines Spielers
der verwidelten Bolyphonie nimmer
mehr gewachſen find.
Bei der Auswahl unferer Bilder
lag diesmal nicht die Abſicht vor, den
Leſern erläuternde Beijpiele für prins
zipielle Erörterungen des Textes zu
geben, e8 follten einfad) aus den Aus»
ftelungen einige beſonders hervor=
tragende Werke gezeint werden. Auch
den beiden Künſtlern, die wir heute
vertreten, Dill und Samberger,
gemeinfam iſt die Großzügigkeit,
mit der jie das ihnen Weientlie aus
der Natur Herausgeben und zu ein
facher Form gejtalten. Sie geben alfo
das Gegenteil von den „ſachlichen
Naturabſchnitten“ der eigentlichen Na—
turalijten, fie halten dem Beichauer
nicht gleihiam die Natur ſelber in
einem Ausſchnitt hin, aus der Diefer
dann herausſehen mag, mas feiner
eigenen Stimmung entſpricht. Gie
zwingen ihn vielmehr, ſozuſagen, nicht
nur mit ihren Augen, jondern auch
mit ihrer Seele zu leſen. Dabei
wiſſen fie, ihren vereinfachten Neuge—
ſtaltungen ſinnfällig wohlklingende,
auch dekorative Form zu geben.
Bei Dill fehlt in unſerer Repro—
duktion freilich das Grundmotiv: die
Farbe, deren Klang der Hauptträger
der Poeſie feiner Werle iſt. Das läßt
ſich ja nicht ändern, man muß aus
dem Spiel von Hell und Dunkel ſo
weit auf die Farbe ſchließen, wie das
eben angeht. Dill ſcheint bei der als
möglich denkbaren Verfeinerung
angekommen, ohne kraftlos zu wer—
den. — Bei Samberger bewundern
wir immer wieder die mächtige Ein—
fachheit, die das Seelenbild eines
Menſchen mit wenigen Strichen hin—
ſchreibt. Wohl von Muther ſtammt
das Wort, daß in Samberger ein
aweiter Lenbad) entitände, mit weniger
Pikanterie, aber mit berberer Größe.
Dieſem Hefte find auch wieder die
„Amtliden Mitteilungen“ des
„Vereins zur Förderung der Hunit“
in Berlin beigelegt. Wir maden unſre
neuen Abonnenten darauf aufmerfiam,
dab nur Diefe „Mitteilungen“
Organ des genannten Vereines find,
nicht etwa der Kunftwartjelber.
Der Berliner Verein hat für feine
Mitglieder den Kunſtwart abonniert
und verbreitet durch den Kunſtwart
feine „Mitteilungen“ als Beilagen,
hat aber nicht den geringsten Einfluß
auf den Aunjtivart, dejien Redaktion
anderjeits auch den Verein und jeine
„Mitteilungen“ nicht im mindeften bes
einflußt. Beide Teile betrachten fich
als Bundesgenofjen „zur Förderung
der Kunſt“, find aber nad) dem ges
fagten volllommen unabhängig von
einander.
Inhalt. Nochmals vom Urheberrecht. — Zukunftslyrik? Bon Adolf Bartels.
— Dramatifer zwifden ben Suliffen. Von Ferdinand Gregori. — Karl Löwe.
Bon Richard Batla. — Neue Kammermuſik.
Von Paul Schumann. — Lofe Blätter: E83
Verwirrung der Kunſtbegrifſe.“
Bon Hermann Teibler. — „Die
bat noch feinen Begriff. Romanbrudjtüd von Dtto Ludwig. — Rundſchau.
— Bilderbeilagen: Ludwig Dil, Landidaft. — Leo Samberger, Bildnis. —
Notenbeilage: Wlerander Ritter, „Wer da fteht die Mugen dein.” — Guftav
Mahler, Zändler.
Derantwortlih: $erdinand Apvenarius in Dresden:Blajemwig.
Derlag von Georg D. W, Callwey. — Kgl, Hofbucddruderei Kaftner KKoffen, beide in Mänchen,
Sendungen für den Test an die „Kunfwart»£eitung”, Dresden:Blafewit, Wachwitzerſtrae.
Beiträge über Mefif an Dr. Rihard Batka, Prag :» Weinberge.
Befiellungen, Anzeigen und Geldiendungen anden Deriag: Geora D. W. Eailwer in Münden,
CWARE:
BELLAGE SSNUNS
„Wer da sieht die Augen de
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Alexander Ritter, Op.2.No.4.
Langsam.
wird
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®) Aus den „Schlichten Weisen‘‘ Mit Bewilligung des Verlegers C. F. W. Siegel in Leipzig.
Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München.
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Alle Rechte vorbehalten.
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44817
LEO SAMBERGER
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
LUDWIG DILL
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
ar +
J IN Wr
3
Andante
aus GUSTAV MAHLERS C
SINFONIE. 2.Satz, Takt 254-95.
moll-
JOSEF STRANSKY.
Für den Kunstwart eingerichtet von
Andante con moto
?
sehr aus
PIANO.
drucksvol — —
4
ER
Ad
1
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plötzlich;
4817
mit grossem Ton und Wärme
immer mehr zurückhaltend
dim. ersterbend
—
44917
Stionu Drvatkv Ösen
3eil
agen.
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Do *
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onn msen en igesen Probe
andlung: Georg D- WI. Callwep in Asünchen.
Lachdruct famtlicher Eigenbeiträge, mit ni der — — und der n,
unter Quellenangabe "erlaubt. — Für unverlangt eingefandte Mannffripte wird feine
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, ı nur wenn Rüdporte beilag.
Paris 1839, Gent 1889, “ Brüssel 1891. Br 1891,
‚Chicay London 189. u Preisgekrönt Magdeburg
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Poehlmanns Gedächtnislehre entwidelt die Beobadtungs- und Auffafſu
elt die Aufmerffamteit, heilt fomit von Zerftrent eit und ftählt das natürliche ang
Sies Erlernen von Spraden MWiffenfhaften ıc. nwendung aufs praftifhe £eben. jn
en 2/s Jahren 10000 S aller 3— Stände. Empfehlende Rezenfionen von en
itopäifgen Zeitungen, Zeit ſchriften und Se 2 p We Fchim mit u. u
Kan —— gratis und frante dur dur Finkenſt ——
Digitized by G 008
hr —— —
12. Jabrg. Erstes Novemberbhett 1898, hett 3,
DER RU DITWART |
Schbauspielkunst und Tbeaterschuien.
Ueber unſere Schaufpieltunft wird heuer wieder viel geklagt. Den
Jungen iſt fie zu alt und den Alten zu jung. Dem Einen jpielt fie
nur noc die Klaſſiker ftilgereht, dem Andern jcheint der Klaſſikerſtil
noch nicht erreicht, und der Dritte ſeufzt, dag die Meifterdramen der
Veltliteratur nicht mehr dargejtellt werden können. Ueber den Grund
diejer überall anders empfundenen jchaufpielerifchen Unzulänglichkeit wer—
den dann die bunteiten Bermutungen ausgegrübelt, auf die man, mie
fih das beim Theaterjammer von jelbft verjteht, die wunderſchönſten
papiernen Reformen aufbaut, über deren Eingang die Aufforderung
immer wiederfehrt: nieder mit den Dugendkünften! Es lebe die Kunſt!
Eines ijt diefen gutgemeinten, wenn auch zumeift mit zuviel dünnen
Theorienwaſſers abgefochten Vorſchlägen gemeiniam: fie machen jelten
die Schaujpieltunjt jelber für ihre Schwäde, ihren Verfall verantwort—
ih, fondern Hagen mit Vorliebe die äußeren Faktoren, die den Gang
der TIheaterereignifje beftimmen, auf Tod und Leben an. Da ift der
Berfajfer, der Schundjtäde jchreibt, ferner der Direktor, der den Schund
aufführen, da ſchließlich das Publikum, das ihn fich behagen läßt. Die
arme Scaufpielfunfi muß ja bei ſolcher methodiichen Vergewaltigung
jo krank und hilflos werden, wie fie num leider ift. Und über diefem
nur zum fleinen Teil berechtigten Mitleid vergißt man meift, in das
Werden der Schaufpielfunjt einen ruhig prüfenden Blid zu thun, zu
forfhen, welcher Art denn die Grundjäße find, nad) denen die keuſche,
junge Dame beim Eintritt ins böſe Leben gern handeln möchte und
denen fie nur aus bitterjter Not entfagen muß.
Seitden der wandernde Komödiant ein ſeßhafter Hünitler gewor—
den, iſt auch die fünftleriiche Erziehung eines brauchbaren Nachwuchſes
eine jtete Sorge der Männer gemejen, die ein Theater nicht als geld-
bringenden Handel, jondern als befruchtende Anregung für das Geiftes-
leben der Zeit geleitet oder die jonjt „in diefem Sinne“ gemirkt haben.
Goethe nahm fi perfönlich feiner Anfänger an, prüfte fie, gab ihnen
Kunftwart 1. Novemberheft 1898
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techniſche Winke, fuchte die perjönlihen Anlagen des Einzelnen zu ent—
wideln, und vor allem: drang auf umfaffende Studien, auf Geiftesbil-
dung im höchſten Sinne, die dem Darfteller erjt den rechten Gebraud
feiner Fähigkeiten verſchaffen mußte. Nah ihm kam im Anfang der
fechziger Jahre Ed. Devrient, der Gefchichtsichreiber der deutichen Bühne,
mit dem Plane, zum preußiſchen Hultusminiftertum ftaatlihe Schaufpiel=
Akademien zu errichten. Er wies auf die Mufifichulen, auf die Akademien
und Sammlungen der bildenden Hünfte Hin und verlangte auch für die
Schaufpieltunft eine höhere Bildungsftätte von Staatswegen. Es murde
nicht8 daraus, aber inzwiſchen haben wir den Segen der jogenannten
„Theaterfhulen“ gründlich kennen gelernt. . Bor Aufhebung der Gemerbe-
freiheit im Jahre 1870 wuhte der Bühnenalmanad) nur von 270 Theatern,
heute führt er gegen 700 auf. Mindeftens die Hälfte des riefigen Mehr—
bedarf an Darftellern ift in den fchnell wie die Pilze aus dem Boden
geichoffenen Theaterichulen abgerichtet worden.
Selbſt in den befferen Anftalten diefer Art, die fid) zumeift den
lingenden Titel „Konfervatorium” zugelegt haben, geht e8 immer noch
verdreht genug zu. Als Devrient feinen Antrag ftellte, war er fich
darüber klar, daß „Rede und Geberde in untrennbarem Rapporte ftehen,
daß aljo keine Schule verfuhen darf und Tann, Eines ohne das Andere
auszubilden“. In den Stonfervatorien, die das Erbe Devrients für eigene
Rechnung angetreten haben, blüht dagegen das Iuitigite Spezialiitentum.
Da lehrt der Meifter der Redekunſt Herr Brüller mit Fleiß und vielem
Luftverbraud) das „Wort“ (d. i., die Redekunſt) und den „geiltigen Ge—
halt“. Und hat der Schüler dann feinen Tert mit all dem bemefienen
Auf und Nieder des Tonfalls feft im Ohr, To geht er zu Herrn Zier—
fih, dem unübertrefflichen Meiſter der plaftifchen Geberde, in die Mimik—
ftunde. Bier lernt er lächeln und laden, ſchluchzen und heulen, Hier
das Eritehen und Erftochenwerden genau fo ſchön, wie es im Mimik—
Katechismus des Herrn Zierlich jteht, und ohne daß er dabei etwas zu
fagen oder gar zu denken brauchte. Denn die Verbindung diefer zwei
Welten erfolgt erit in einer dritten, in der Welt der „Bühnenübung“,
die womöglich unter einem neuen Herrjcher ſteht. Der erflärt natürlich),
daß Herr Brüller wie Herr Zierlich als arge Dilettanten von der Kunſt
feinen Dunft haben; er methodiert alfo das Gelernte wader um. Der
arme, honorarzahlende Schüler lernt um und an, baut auf und bridt
ab, will e8 allen recht machen und wird von allen getadelt, und wenn
er dann nad) ein bis zwei Jahren die Anstalt mit dem erfefjenen Reife—
zeugnis verläßt und noch einen Klaren Gedanken im Kopfe hat, fo ift er
entweder ein Dickſchädel oder ein Genie.
Mitterwurzer, da8 Schaujpielergenie der zweiten Jahrhunderthälfte,
wußte wohl, was er fagte, wenn er auf die Frage nad) dem Wert dieler
Sunftfabrifen antwortete: Stoniervatorienbildung iſt ein fchönes Etitett
auf einer leeren Flaſche. Er ift auch fein Lebelang jeder „Profeſſur“ an
folhen Buntdrudichulen aus dem Wege gegangen. Die Leute, die fich
dazu drängten und noch dazu drängen, find chemalige Bühnenfünftler
mit einigermaßen unbeftimmten einftigen Thaten, von deren Herrlich
feit verftaubte Lorbeerfränze an den Wänden in der Regel mehr zu er—
zählen wiſſen, als die eingerofteten Lehren der nunmehrigen Kunſtpäda—
gogen. Auch die vielen dramatischen Stundenlehrer und Lehrerinnen, die im
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Einzelnen ihre Kurſe veranftalten, leiten aus dem lorbeerumgrünten
Nimbus gemweiener Theatergröße das Recht ab, mit den Ueberlieferungen
einer toten Zeit einen ſchwungvollen Unterrichtshandel zu treiben. Sie
find dem Neuling weniger gefährlih, da fie von ihm nur eine Auf—
fallung feiner Rollen verlangen, die ihrige. Aber fie haben auch ihre
Spezialität: fie wittern das Talent wie jene nüglichen Tiere die Trüffeln.
Es iſt im höchften Grade bemundernswert, wie fie mit ihrem Blid aus
einem fnabenhaften Anfänger den kommenden Künſtler herausfühlen.
Ein Gedicht, ein paar Berfe aus dem Wallenitein genügen Herrn Meyer—
Woldan, denn ein großes Künſtlerauge fieht eben mehr als das fchärfite
Dugendgeficht des Laien. Der junge Mann intereffiert ihn lebhaft, und
unwillfürlih murmelt er etwas von außergemöhnlicdyer Begabung. Ob
der Meiſter vielleicht jelbit der Lehrer...? fragt überglüdlich der junge
Mann. — Der Meifter — nun, er ift zwar jehr beichäftigt, indes —
aber nur, wenn die Eltern ihre Einmilligung ... das ift Prinzip! Und
er reicht dem düfter dreinichauenden Jünglinge tröftend die Sand zum
Abihied... Uebrigens für den Bedarfsfall: die Stunde koftet ſechs Mark.
Zu Haufe geht nun der Junge mit edler Duldermiene herum und
ihlägt die Zeit mit Grillen tot. Der Bater brummt, er folle erit was
lernen. Aber der Junge läßt fich Schon die Locken brennen, deflamiert
insgeheim den Karl Moor und fieht von Tag zu Tage verjonnener und
bedeutender aus. Indes jegt die Mutter dem Bater zu, dem herzigen
Buben doch die Ihöne Zukunft zu gönnen und ihm den Zaubergarten
zu erichließen, wo auf goldenen Bergen der grüne Ruhmeslorbeer wächſt.
Das Talent zu ſolchen Sachen hat der Teufelsjunge ja im Sad, denn
wenn ſich fogar Herr Hofichaufpicler a. D. Meyer-Woldan, der große
Meyer-Woldan für ihn lebhaft intereffiert, dann muß ja wohl was be=
fondres in ihm fteden. Und jeufzend greift der Vater in die Tafche
und zahlt; Meyer-Woldan befommt einen neuen Schüler.
Nun geht es vier Wochen lang an Sprahübungen, wobei Karl
Moor ji) langmeilt, weil er das alles ſchon kann. Meyer-Woldan
Iangmeilt fi) auch und beginnt mit den Rollen. Er ſpricht vor, Karl
Moor ſpricht nad; im Geichwindichritt Holpern fie ein halbes Jahr lang
durch ein PViertelhundert Eafftscher Dramen, dann ift das „Repertoire*
zufammengelernt und der Schaufpielfünitler bühnenreif. Herr Meyer:
Woldan hat da8 Engagement in Bimmelburg mit größter Uneigennüßigs
feit bejorgt — mit Fliegender Kravatte und Hochiliegenden Plänen reift
der Jüngling ab; die Bimmelburger jollen was erleben. Was nun
folgt, iſt männiglih befannt. Kränkendes Nichtbeachten feiner reihen
Gaben macht aus dem Anfänger in kurzer Zeit das verlannte Genie.
Boten und Kammerdiener foll er jpielen, Er, der doch nur erite Charaf-
tere, Karl Moore, Hamlet und dgl. zu meiltern gelernt hat! Wofür ift
er denn der begabteite Schüler Meyer-Woldans gemeien? Herr Meyer:
Woldan aber iſt nach wie vor der vielbeichäftigte Talententdeder, der
für jeine Kunst, die hehre, unvergleichliche, jahraus und ein immer neue
Jünger heranzieht, von denen jeder fih rühmen darf vor feinem Mteifter
der Begabteite zu fein.
Die Leidenſchaft gänzlich unmufitaliicher Menfchen für das Singen
ift befannt, aber gottlob, jie gehen doch für gewöhnlich nicht Knall und
Fall zur Oper; ein Gejangverein thut e8 da auch ſchon. Der Theater-
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teufel jucht fih mit Vorliebe Leute aus, denen ber Herr eine ſchwere,
lispelnde Zunge gab, deren Kehle für den Ton der Leidenihaft nicht
Kaum hat, deren Hirn iſt gleihwie ein Pflaumenkern: fteinhart und
wenig drinnen. Für diefe armen Beſeſſenen iſt fein Theaterverein öffentlich
genug, ja, er bejtärft fie durch billigen Beifall vielmehr in dem Wahn,
daß die Bühne ohne fie unrettbar verloren jei. Wenn die Pädagogen
der Schaufpieltunft nun wenigstens diejen Elementen ein fehlerfreies
Deutich beibrächten, aber die Herrichaften find da viel zu ſehr ehemalige
Größen, um fich mit folchen Slleinigfeiten geduldig und ausdauernd zu
plagen. Gegen dieje erdrüdende Ueberzahl oberfläclicher „Lehrer“, deren
Geichäft zumeift wie eim Beilden im Verborgenen blüht, kommen die
Wenigen nit in Betradt, die ihren Schülern für die Zukunft feinen
wertlofen Wechiel, jondern gutgeprägte Zinsgrofchen geben, mit denen
fih’8 ehrlich wuchern läßt.
Diefe Schulbeftrebungen, welche die Schaufpielfunft entweder wie
eine Fabrikware aus einzelnen Teilen zufammenjegen, oder fie feucht-
ohrigen Jünglingen durch Vorſchwatzen ähnlich beibringen, wie man
Papageien jprechen lehrt, kranken jelbjt in ihrer beiten Art an der über-
mäßigen Wertung des Handwerks. Sie erzeugen in dem Neuling
ein ganzes faliches Gefühl für das, mas eigentlich zum Schauipieler
gehört. Sie gehen wohl von dem richtigen Grundfag aus, dag nur das
Aeußere, die Technik fich lehren, ſinnfällig erklären laſſe, daß das
Innere, der Geiſt ſeiner Kunſt ein Ding ſei, welches dem perſönlichen
Erfaſſen oder Nichterfaſſen des Schülers anheimgeſtellt werden müſſe.
Aber ſie thun auch nicht das Geringſte, dieſen Geiſt zu wecken, ihm
Nahrung zu geben, ihn mit Kenntniſſen zu rüſten und zu waffnen für
die Kämpfe, die feiner harren. Sie lehren den dialektiichen Zungenſchlag
der Rede, aber fie lafien den großen Gedanken, der verhüllt in der Rede
Ichläft, ruhig weiter jchlafen, ftatt ihn in feiner wachen Schönheit aufzu—
deden und begreifen zu lehren. Allerdings find ja die allerwenigiten
„dramatischen Lehrer“ jelber imjtande, die Größe groß nachzuempfinden,
darum drüden fie fi) um dieſe wichtigite Schulforderung mit ein paar
ebgenugten Phraſen geichidt herum.
Was madht denn aber den Schaufpieler, wenn er den Künitlertitel
verdienen foll, eigentlid) aus? „Ein Ueberſchuß von Anpaffungsfähigkeiten
aller Art, welcher im Dienite des nädjten, engiten Nugens nicht mehr
befriedigt werden fann, der als Inſtinkt andere Inſtinkte tommandieren
(lernt . . .*, ſagt Niegiche und trifft damit das Wefen der Naturbegabung,
„Studium ift nicht genügend ohne Einbildungstraft, und Studium umd
Einbildungsfraft nicht hinreichend, ohne Naturell“, jagt Goethe. Und
Schopenhauer jegt die Anpaffungsfähigfeit als jelbjtveritändlich voraus,
wenn er vom Schauipieler verlangt, „ein tüchtiges und ganz Tomplettes
Eremplar der Menſchheit zu jein.“ Wir aber drüden uns heute jo aus,
daß, wie wir von der Schaufpieltunft al3 von einer vorwiegend kultu—
rellen Kunſt jprehen, wir vom Schauspieler vor allen Dingen den
Kulturmenichen fordern.
Es iſt dabei ganz gleichgültig, ob man die Schaufpieltunit als-
Halb: oder Vollkunſt, als Hilfs- oder Bedarfsfunft gelten läßt, wenn
man fi) nur flar ift, daß fie ſchlechtweg als Kunſt Aufgaben hat, die
jenſeits von aller Kunſtfertigkeit und Schultechnik liegen. Sie formt mit.
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edelitem Material, dem lebendigen Menichen, und iſt von allen nach—
Ichaffenden Künſten die freiefte. Das dürre Wort, das im Bude fteht,
it ihr oberites, ihr einziges Geſetz. Keine Noten, fein Kapellmeiſterſtab
geben ihr Ton und Maß, fie iſt Selbjtherricherin und folgt auf der
Bühne beim Berlebendigen der Dichtung lediglih den Beitimmungen
ihres eigenen ntellefts. Bon der Stärke diejes Intellett8 hängt die
Treue, die Ehrlichkeit ihrer Leiltung ab. Ihn zu bilden, ihm den Zeitgeift
zu erichlichen, müßte die allererjte Pflicht einer Schule fein. Sie würde mit
Erfüllung diejer Prlicht zugleid) die Achtung vor dem Wort des Dichters,
vor der Bejonderheit ſeines Ausdrudes erobern, was bei der heute
beliebten Berhudelung und Verdrehung des uriprünglichen Satbaus ein
wahrer Segen märe.
Eine folhe Erziehung zur innerlichen Freiheit wäre verlorene
Liebesmüh vor dem rohen Dtenichenmaterial, das gegenwärtig die Theater
ſchulen und von ihnen aus die Schaufpielbühnen bevölkert. Sie würde
ja auch in Zufunft — darüber wollen wir uns flar bleiben, — immer
nur einen kleinen, vornehmen Schülerkreis finden, der in der harmonischen
Ausgeltaltung der Perjönlichkeit fein fernes Biel erblidt. Aber das
geiftige Rundleuchten einer derartigen Anftalt würde über den ganzen
dunklen, armjeligen Stand feine Helle verbreiten. Und um dieſe einzige
wahrhafte Hochſchule der Schaufpieltunft — nit Theaterihule —
fammelte ji dann all das Streben, das unter den gegenwärtigen Ver—
hältniffen aus Mangel an gejunder Leitung verdumpft, oder nur mit
unfäglihen Mühen und Irrtümmern zu einem feften Wefensinhalt feiner
Kunst fi durchkämpft. Daß ein Staat diefen frommen Wunjch für
fommende Geſchlechter erfülle, wollen wir angefichts des Kaſernengeiſts,
der unfre Hofichaufpieler erit durch Beförderung zu „Paradetruppen“
recht zu mweihen meint, weniger hoffen, als daß fich vermögende Leute
aus dem Bühnenlande finden, die ein gehöriges Kapital ftatt immer für
altersſchwache Künſtler auch einmal für die ſieche Schauſpielkunſt felber
hinterlaſſen.
Aber ſo lange es noch nicht ſo iſt, wie es ſein könnte, müſſen
wir den Theaterſchulen und der dramatiſchen Stundenlehrerei, wie ſie
heute ſind, mit aller Entſchiedenheit den Krieg erklären. Der Nutzen,
den ſie ſtiften, beſteht, wie wir geſehen haben, in nicht viel mehr als einer ge—
läufigen Zunge und Kehle, der Schaden, den ſie anrichten, iſt gar nicht aus—
zumeſſen und wird ihnen obendrein noch bezahlt. Darum bleibt heute für
den angehenden Schauſpieler der uralte Bildungsweg immer noch der
beſte, der ihn ſchwer aber ſicher zum Ziel führt, wenn er es redlich
ſucht: das Dienen von unten auf, das kleine Anfangen an kleinen
Bühnen. Ein ſolcher Schritt erfordert mit all ſeinen Konſequenzen vor
allem ein klareres Wollen, eine größere Selbſtverleugnung als das be—
queme Mimen bei irgend einem Privat-Lehrer oder neben irgend einer
bezahlten Schulbank. Es verſchlägt auch keinem wirklich begabten
Schauſpieler etwas, wenn er zunächſt duch ein paar Jahre tüchtiger
bürgerlicher Berufsarbeit den Kern ſeines Weſens härtet, und dann erſt
ſeine größere Einſicht überzeugter und ſicherer der inneren Stimme ge—
horchen läßt. Die praktiſche Lebensgrundlage bleibt ihm dann, um
meiterzubauen, wenn er im trügeriichen Rampenlicht nicht finden jollte,
mwonad; er auszog. Und al3 einer, der ſich gewöhnt hat, als Menſch
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im Leben fich zu behaupten, wird er da8 Leben beifer fünftlerifh meiſtern
tönnen, wenn er das nunmehr verfucht.
VER
Grottbussens Probleme und Charakterköpfe.
„Ich glaube, die Literarifche KHritit muß wieder mehr Fühlung mit dem
Publitum geminnen. Sie muß das Techniſche zurüdtreten lafjen, das All—
gemein = Dienichliche und das Schöne ſchlechthin in den Vordergrund ftellen.
Sie muß unbedingt auf alle überflüffigen Schlagworte und die geiitreichelnde
Sudt nad; der Formulierung neuer Kunftprinzipien u. f. mw. verzichten. Und
endlich darf fie den Künſtler nicht aus dem Erdreiche, in dem er menschlich
rourzelt, berausreißen, um ihn in das Herbarium irgendwelcher äfthetiich-
tehnifher Programme zu preifen, fondern fie muß ihn im Gegenteil vom
MWurzelboden aus unterfuhen, feine Weltanfhauung, fein Verhältnis zu der
Beit und zu den legten Dingen beleuchten. Gerade darauf richtet fi) das
größte Intereffe der Zeitgenoffen, die gewohnt find, in dem Dichter nicht nur
den Künſtler, fondern auch den Propheten und geiftigen Führer zu jehen. Die
Kritik ſoll fi nicht auf die Auseinanderiegung mit dem Verfaſſer beſchränken,
fondern auch ihrer Aufgabe als Vermittlerin zwiſchen ihm und dem Publikum
ftet8 bewußt bleiben. Mit zwei Worten: fie muß praftifcher und natürlicher
werben.“
Diefe Ausführungen, die in dem Vorwort des Freiherrn Jeannot Emil
von Grotthuß zu feinen Studien „Probleme und Charafterföpfe* (Stuttgart,
Greiner & Bieiffer) enthalten find, proffamieren im weſentlichen die Kritik
des „gefunden Wenfchenveritandes*. In der Forderung, daß der Hünftler vom
Wurzelboden aus zu unterfuden und feine Weltanfhauung zu beleuchten fei,
ſcheint freilich mehr zu liegen. Aber von dem Erdreid), in dem der lebende
Künſtler menſchlich wurzelt, willen wir in der Regel wenig genug, und die
Weltanfhauungsfrage fann in der Beiprehung eines Kunftwerls natürlich
nit mit philoſophiſchem Tieffinn behandelt werden, der dem Publikum auch
ebenfowenig eingehen würde wie die äjthetifche Spekulation. Bedenkt man
das, fo wird man zugeben, dab ber „gejunde Menſchenverſtand“ in einer
Kritik, wie fie Grotthuk wünſcht, zum ausſchlaggebenden Faltor werden muß.
Sehen wir zu, wie weit Grotthuh jelber mit dem gefunden Dlenichenveritand
gelangt iſt.
Er behandelt in feinem Buche Niegiche, Hauptmann, Sudbermann, Voß,
Ibſen, Zolftoj, Ehegaray, Maupaſſant und zuſammenfaſſend nod) einige andere
Poeten wie Liliencron und Dehmel, er jchreibt über „Alte und neue Ideale“.
„Das erotiihe Problem in der Literatur“, „Publilum, Literatur und Preſſe“.
Wir wollen ihn in feinem Verhältnis zu Hauptmann und Subermann be-
trachten, da anzunehmen iſt, dab ihn da fait jeder Lefer kontrollieren fann.
Mit mwünfchensmwerteiter Deutlichleit hat Grotthuß felbit zum Schlu des
Sudermann = Nuffates feine Anſchauung über die beiden Dichter prägzifiert:
„Hauptmann betradjtet die Dinge mehr im einzelnen, Sudermann mehr im
ganzen, in ihrem großen Zufammenhange Jener ftrebt mehr nad Wirte
lichkeit im Detail, diefer mehr nad) Wahrheit im Großen. Subdermann
Kunftwart {. Novemberheft 1898
— .—
Eugen Kalkſchmidt.
ift mehr Weltmann, Hauptmann mehr Träumer. Es find ja die Träumer,
melde das Gras wachen und verfunfene Gloden läuten hören, nur wiſſen fie
häufig niht — mo? Hauptmann hat mehr Beobadhtung, Sudermann mehr
äußere und innere Erfahrung. Und das fommt wohl daher, daß jener die
»graue verfchleierte Frau« niemals fo reht gefannt bat, die Sudermann fo
lange Jahre Hindurd eine treue Freundin und unzertrennlide Genoffin war
— bie Frau Sorge.” Es Tiegt Grotthuß fern, wie er jagt, bie Frage ent=
fheiden zu wollen, wer von beiden ber größere fei, aber der gefunde Menſchen—
veritand jedes Lejers wird fi wohl fagen, daß Wahrheit im Großen mehr fei
als Wirklichkeit im Detail und äußere und gar innere Erfahrung unbedingt
über Beobadhtung gehe. Die Lektüre der beiden Auffäge im ganzen madjt es
dann augenfheinlih, dat Grotthuß mehr zu Subermann neigt. Hauptinann
wird, wie in dem oben angeführten Sag über den Träumer, gelegentlich bei—
nahe verfpottet: bei der Helene in „Bor Sonnenaufgang“ wird Buſchs
„grommer Helene” gedadt, mit den „Webern“ hat fih Hauptmann um den
Staat wohlverdient gemacht, „der Staat, die Regierung follte ihn dafür aud)
belohnen, etma durch den Kronenorden IV. Klaſſe oder den Titel Kommiſſions—
rat oder Profeſſor, auch die Führung des Kommerzienratstitel8 würden dem
Dichter feine Dkittel erfreulichermweife erlauben“ *. Doch hievon ganz abge
fehen, Grotthuß behauptet aud), daß die „Weber“ durch „rohe Effekte“ wirkten;
beim „Sannele* bemerkt er: „Irgend etwas Faules, Stranfes, Zerlumptes,
Gemeines muß ſchon von Zeit zu Zeit babei fein, das gebietet dem gefinnungs=
tühtigen Autor Die Pflicht der Pietät.“ Weberhaupt fommt außer dem „Fries
densfeſt“, das fih nad Grotthuß durch großartige Wahrheit und Kraft der
Eharafteriftif auszeichnet (e8 wird ja auch in ihm gerettet), fein Stüd Hauptmanns
eigentlich gut weg; ben „Biberpelz* überläßt Grotthuß „den Motten der Zeit“,
im „Kollegen Grampton“ ift außer bem Helden faum etwas, was über das
gewöhnliche Mittelmaß gut bürgerlicher Luftfpielfabrifation hervorragt, u. ſ. w.
Aber in „Hannele* entdedt Hauptmann nad) Grotthuß freilich feine größte
dichterifche Gabe, die Iyrifhe Mder, die andere Leute weder ftarf nod) gefund
pulfen fühlen, die aber nah Grotthuß aud) der „verfunfenen Glode* den Reiz
verleiht, Hauptmann iſt überhaupt eine weiche, träumerifche, den verfchiedeniten
Eindrücken empfänglid) hingegebene Natur, ein Halber, der die Halbheit feines
Glockengießers nicht darſtellen kann, da dazu ein Ganzer gehört (5. 119), ob—
wohl er (S. ı22) „über die Straft verfügt, das mas er daritellen will, auch
wirklich darzustellen, einen Gedanken, der ihm ſelbſt klar vorſchwebt, mit eine
dringlider Schärfe und greifbarer Anfchaulichkeit zu verlörpern, eine Stim—
mung, die er ſelbſt empfindet, jo zwingend zu verdichten, daß wir davon ge=
rührt und gepadt werden, daß wir unter ihren Bann geraten.“ Da mödhte
man, meiß Gott, den Grafen Derindur rufen! Sehen wir uns nad) Suder—
mann um: In der gemütsarmen modernen deutſchen Literatur ift „Frau
Sorge“ eine That (mie viele Thaten hat da Wilhelm Raabe vollbradt!), jo
übermütigsgelajien, fo beißend ſcharf und fpig wie Sudermann in ber „Ehre“
hatte bisher noch) fein Moderner den modernen Ehrbegriff verhöhnt (lieſt fein
Menſch mehr Schopenhauers „Barerga und Paralipomena“ ?), die Geftalt der
Magda in der „Heimat“ ift mit entſchiedener innerer Veberlegenheit ausge
ftattet (weil fie Jo sono Jo fagt?), Roſi in der „Schmetterlingsjagd“ iſt eine
* Das ilt, da die Scherze bei Gelegenheit eines fo erniten Stüdes mie
die „Weber“ erfolgen, nidjt etwa bloß die Beripottung des Staatlichen Verfahrens.
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reizende Badfifchgeftalt (A la Blumenthal ?), der „Johannes“ nun gar ein be=
deutendes Kunſtwerk. Vor allem der „Sohannes* Hat es nämlich Grotthuß
angethan ; er hat ihn noch aus dem Manuffript fennen gelernt und findet ihn
tiefreligiös und von wahrhaft KHriftlihem Gehalte erfüllt. Grotthuß ift über-
zeugter Ehrift.
In der That, die natürlichere und praftifchere Sritit des gefunden Men—
fhenverftandes, die Grotthuß proflamiert hat, läuft zulegt auf eine Begut—
achtung der Dichterwerke vom Hriftliden Standpunkte hinaus,
mit dem fich ber ber alten Erhebungs-Aeſthetik zwanglos verbindet. „IH be—
fenne offen, ich huldige nod} der unmodernen Anſicht, daß die Kunſt berufen ift,
uns über die gemeine Mlltäglichleit zu erheben und uns nicht nur ein wahres,
fondern auch ein das Leben in feinen Tiefen und Höhen möglidhit erſchöpfen—
des Spiegelbild zu zeigen.” Ich habe durchaus nichts gegen den driftlidhen
Standpunkt des Herrn Berfaflers einzuwenden. Wenn er aber, beifpielsmeife
in den Sätzen bes Goethiihen Fauſt, die feine Schluferlenntnis ausdrüden,
in den Süßen: „Nur der verdient ſich Freiheit und das Leben, der täglich fie
erobern muß“ und „Sold ein Gemimmel möcht' id) fehn, auf freiem Grund
mit freiem Volle ftehn“, das chriftliche „Liebe deinen Nächſten als Dich ſelbſt“
wicderfindet, jo fträubt fih mein gefunder Drenihenverjtand dagegen. Um
glei, die Schluffolgerung zu ziehen: Es ijt nichts mit der Kritik des geſun—
den Menſchenverſtandes; denn jedem, auch dem gefunden Menſchen jchaut
irgend jemand, ber Chriſt, der Wriftofrat, der Radikale über die Achſel. Und
weiter: eine künjtlerifche Verjünlichkeit, ein wirkliches Kunftwerf zu erfaſſen, ge—
nügt ber gefunde Menſchenverſtand, der auf das Allgemeinmenfchliche und
Schöne, auf das Natürliche und Prattifche ficht, bei weiten nicht, er läßt es,
wie wir gefehen haben, ganz ruhig zu, da man bei dem Dichter Hanptmann
nur die Wirklichkeit und bei dem Mader Sudermann die Wahrheit findet.
Entbehrlich ift er natürlich nicht, aber er gibt nur negative, feine pofitive Er—
fenntnis. Die pofitive Erkenntnis über einen Dichter und fein Werk gewinnt
man eben dod nur, wenn man dieſes Werk äfthetifh, daß heißt zunächſt als
durch fünftlerifche Mittel gefchaffene Welt für ſich sine ira et studio betradtet.
Die Leute, denen e8 immer nur um die Weltanſchauung zu thun ift, und bie
in dem Dichter nit nur den Künſtler, den Bildner, fondern vor allem den
Propheten und geiltigen Führer fehen, machen die Lefer fonfus, denn fie
mweifen nicht auf das Wie, wo jeder von jedem echten Poeten genießend lernen
fann, fondern auf das Was ihrer Gedanken und ihrer Weltanſchauungen, bis
der arme Leer ſich Ihlieklich nad) allen vier Reltanfhauungs-Windrihtungen
zugleich von je einem Seher und Propheten gezogen fühlt.
Innerhalb der Grenzen, die ich hier weniger ziehen als andeuten fonnte,
find die Studien von Grotthuß immerhin ganz tüdjtig und daher aud) leſens—
wert. Dem großen Rublitum möchte ich fein Bud) jedoch nicht gern in die Hand
geben, da es vielfach vermirrend wirfen mul. Um noch einige Beijpiele zu
geben: So überfieht Grotthuß bei Richard Voß über der Nervofität die uns
zweifelhafte Erfolgfucht des Dichters, die ihn zu allen möglichen kraſſen Effekten
greifen läßt, fo wirkt es doch höchſt drollig, wenn er bei Ebers’ „Gred“, Die er
natürlich verurteilt, von dem Butzenſcheibenroman zu Grunde liegenden „Kunits
anfhauungen“ redet, fo erfcheint ihm Liltencron als „Bürge deutiher Eichen—
fraft und frommer germanifcher Hindlichleit*, mas dem holjteinifchen Poeten
hoffentlich ein vergnügtes Schmunzeln entlodt hat, und Ibſen nennt er, doch
wirklich mehr „Ihön“ als bezeichnend, einen „geweihten Priejter der heiligen
Kunftwart 1. Movemberheft 1898
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FERNAND KHNOPFF
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
sonejqidnegg sap assnjypg we axoy, "dA
NNVASIOH A "I D MM
ie Stimme“
*
„Wachet auf, ruft uns d
ach.
Gesetzt von
Strophe 3.
Joh. Seb. B
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Verlag von GEORG D. W. CALLWEY, München
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Alle Rrchte vorbehalten.
Joh. Seb. Bach.
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ſtunſt“. Das find, wie ich zugebe, Herausgeriffene Einzelheiten, aber fie be—
weiien, dab Grotthuß den fpringenden Punkt nicht immer findet, nein, daß er
oft gerade in der Hauptſache fchief ficht. Wer aber fein Buch cum grano
salis lieft, den wird es vielfadh anregen. Daß Grotthuß viel über alle mög—
lichen fünftlerifhen und literariſchen Dinge gelefen und den Stoff in fi zu
verarbeiten gefucht hat, merkt man troß der Schnellfertigfeit, die er hier und
da zur Schau trägt. Adolf Bartels.
—
—
Die Technik des Sprechbens.
Wenn es bem feiner vaterländifhen Kultur mit Liebe Ergebenen ein
Wichtiges gibt — was könnte es ihm mehr fein, als die Urt, wie feine Mutter—
ſprache behandelt wird? Das goldene Zeitalter war e8 für die Dicht: und
Redefunit, da diefe, num getrennten Kunſtarten eine einzige, unteilbare
Kunst waren, ba wer das Gold der Sprade prägte, e8 auch felbit als Münze
in Umlauf feste. Heute hat ſich, gewiß nicht zum Borteil der Sprachentwick—
lung, die Bildnerarkeit an dem heiligiten Volfsgute längſt in eine Arbeits-
teilung aufgelöft. Mit Ausnahme eines einzigen Beifpieles find „Singen“
und „Sagen“ verſchiedene Dinge geworden. Fremd wurden fih der Künſt—
ler jener und der Künſtler diefer Kunſt, und zwifchen beiden fteht nun der
beutende, theoretifhe Erflärer, weicher Beider That vor dem Verſtande recht—
fertigt, das an ihr Erlernbare in ein wiffenfhaftliches Lehrgebäude bringt.
Wird nun ein ungefähres, ftätes Gleihgewidht beftehen zwiſchen dem,
mas des „Singens* würdig ift und benen, die berufen find, e8 zu „Tagen“, fo
Ihmillt im Gegenteil in demjelben Maße der Reihtum eines Volkes an theo=
retiihen Spradfunfterflärern, als e8 ärmer wird an Männern der Sprad-
kunſtthat. Mehr ober minder ijt alles in Scheunen geborgen, was bei der
Forſchung über Urfprung, Vergangenheit, Verwandtſchaft, Eigenart, Geſetzes—
funde deuticher Sprache einzuernten war, Der forfchende Verstand verfuhr da—
bei in genauem Bewußtſein der Grenzen feines Vermögens: während er ung
die Vergangenheit der Sprade zum offenen, gründlichit erläuterten Buche
ſchuf, unterließ er jeden Verſuch, ihre Zulunft vorzudeuten, denn bier gebührt
nur dem ſchaffenden Genius das Wort; jelbit die leichter zu erfaliende Gegen—
wart der Sprade, d. 5. die ledendige, von Ohr zu Ohr, von Herz zu Herzen
tönende Gegenwart, nicht die durch Schrift dem Auge vermittelte tote, alio
die Kunſt der Rede blieb als Lehrgegenitand mündlicher Vermittlung über
lafjen, ward theoretiihh nur fehr jelten behandelt, meiſt nur vorübergehend
geitreift, und felbit das hauptfähli nur von jchaffenden Künftlern. So
verdanken wir Shafejpere, Goethe, Schiller, Leſſing, Wagner, Jordan (dem
Spender jenes oben erwähnten eitizigen Beifpieles) und anderen wohl treffende
Bemerkungen über fie, jedoch nur in Werfen anderer Urt zeritreut, ohne jede
Abſicht, ein ſyſtematiſches Lehrgebäude für dieſe ſchwer zu erfaflende Kunſt
anzuregen. Die ausübenden Htünftler, die jich meiit ſelbſt, durch Irren, Streben,
eigene Erfahrung erzogen hatten und denen es nun aud) wieder allein über:
laſſen blieb, Anderen ihre Kunſt praktiſch zu lehren, hielten ſich — mit wenigen
Ausnchmen — ber Theorie ihrer Kunſt ganz fern. So find die mit Nußen zu
verwendenden Lehrbücher über fie äußerſt felten: erwähnenswert nur die von
Paleste (der allein den Vortrag felbit berüdfichtigt), Hey (mit letzter Rückſicht
Kunftwart 1. Hovemberheft 1898
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auf den Geſang) und Stodhaufen. Um fo freudiger begrüßt man e8, wenn
nun ein Künſtler, ber gleich begabt ift, feine Kunft auszuüben, wie über fie zu
und denfen flar zu jprechen, die Summe jeines Willens darüber niederlegt. Das
geidieht in Karl Hermanns neuer Schrift „Die Technik des Sprecdhens“ *.
Sie iſt, wie ſchon das Borwort befagt, zunädit für den Rezitator,
Scaufpieler, Sänger beitimmt. Zum Borteile allgemeiner Bildung dehne man
biefen Kreis meiter aus auf ben Regiſſeur, auch auf den Dirigenten, den Vor—
tragsmeiſter feiner Künitler, und ſchließlich wendet ſich eine Kunſt der Rede
nicht nur an die, welche fie auf den Brettern üben. Auch der Rezitator, der
Prediger, der Sprecher auf ber Tribüne, der Anwalt kann fräftiger wirken,
wenn ihm das Wort in der Faſſung der Kunſt zu Gebote jteht. Jedoch ift
fraglo8 das Theater diejenige Stätte, mo die gute Sitte ber Kunſt am ein=
dringlichften dem Bolfe zu lehren iſt. Hier verjpüre er, zu eigenitem Vorteile,
an fi felbft die Wahrheit des Hermannſchen Wortes: „Je bejier man uns
vorgefproden Hat, deſto beſſer ſprechen wir nad.“
Eine ernftlihe Beichreibung der „Sprechwerkzeuge“ führt bei Hermann
zur Anmeifung für ihre rationellite Behandlung. Der Berfafler nimmt bier
ihon Gelegenheit, auf die mangelnden Wechſelbeziehungen zmwifchen erfennen=
der Theorie und praltifher That, auf die Notwendigkeit praftiiher Lehre hin—
dentend, diefer die erite Stelle anzumeifen. Er jelbjt begründet e8, wenn er
an einen der größten Theaterfenner — an Leffing — erinnert, der fein
Schaufpieler war, und an altitalienifche Gefangsfünftler, denen die Natur ihrer
Stimmmerfzeuge ein unbefanntes Feld blieb. Diefer Abſchnitt, worin der Ge—
braud) der Stimmbänder für den Stimmeinfaß, der Lippen, Zunge und
ftinnlade als Konſonanzbildner behandelt wird, belehre, außer den zuerit
angefprochenen, redenden und fingenden Künſtlern, die mufifalifhen Dirigenten
darum, weil ein großer Teil der Wirkung des Wagnerſchen Tondbramas auf
der richtigiten Ausführung des Ainochenbauß der Sprade, ihrer Ktonjonanten,
beruht. Man Halte dieſe Daritellung des Buches mit der von Wagner in
„Dper und Drama* gegebenen Lehre zufammen, ja man vergegenmwärtige fich,
wie Wagner aus den fonfonantijchen Anlauten der Sprade, die für feine In—
firumentationsmweife glüdlichiten, erfindungsreichiten, wahrhaft neuen Ausſichts—
punfte für (mie er felbit treffend jagt) fonfonantiihe Anlaute der Orcheſter—
inftrumente gewann. Dann wird man’s einfehen: von den Dirigenten, welchen
die gleichzeitige Leitung der Künſtler auf und vor der Bühne in jenes Großen
Werfen anheimgegeben ift, kann diefen Werfen nur gerecht werden, wer genau
die techniſchen Mittel kennt, mit deren Hilfe fie errichtet wurden.
Ein höchſt wichtiger Teil handelt fodann von der Kunſt des Atmens*.
Man muß die hödfte Steigerung der Atemkunit bei Meiftern der Nede und
des Gefanges erlebt haben, um die auf joldye Weile zu ermöglicdhende außer—
ordentliche Wirkung zu begreifen. Jh kann nicht umbin, Hier zweier Künſtler
als vollendet in diejer Hinficht mit Bewunderung zu gedenken: Poſſarts, der
oit, bei geichidteiter Atemeinteilung, eine Anzahl längerer Verszeilen in einem
Atem nimmt — der Sembrich, welde die längiten melodifhen Linien durch
diefe Kunſt zu plaſtiſcher, ſüßeſter Schönheit zu bringen vermag. Hermanns
Lehre vom „ſeeliſchen Atmen“, das hier gebotene Beifpiel mit feiner muſter—
haften Stanfion (Hamlets Anrede an den Geift feines Vaters) iſt höchſt an—
*), Ein Handbud für Redner und Sänger. (Leipzig & Frankfurt a./DR.,
Kejielting, 1898.)
Kunftwart ı. Mopemberheft 1898
— Ei —
tegend. Maren in der geiprochenen Rede zu allen Zeiten die Aufgaben für
die Atemkunſt gleich Schwierige, deren Beherrſchung gleich lohnend, fo blieb es
Wagner vorbehalten, fie im mufifalifch-deflamatorifchen Stil im hellften Lichte
ſtrahlen zu laſſen. Nicht als ob die ihm vorangehenden omponiften in ihrer
Melodie geringere Anſprüche ftellten: die hoheitsvolle Ruhe der Gludichen, die
reine Schönheit der Mozartfchen, die üppige Pracht der Schubertichen Melodik
ftellen gleihe Aufgaben. Jedoch feiner diefer Komponiſten wagte e8, wie
Wagner, den Sänger fo frei, losgelöſt von aller inftrumentalen Unterſtützung,
allein auf dieſe Kunſt fußend, au erponieren, felbit Gluck nicht in ben pathe—
tiſchſten Stellen feiner Monologe. Schon in feinen früheren Werfen Tiebte e8
Wagner, die Melodie als joldhe, ohne jede harmonifche Unterlage austönen zu
laſſen — id) erinnere an den Matrofengefang im Holländer, das Hirtenlied im
Zannhäufer. Nun betradyte man die elementare Eindringlichleit einer Stelle,
wie die Anrede Brünnhildes an Wotan: „War c8 fo ſchmählich, was id) vers
brach“ — eine Stelle, wo das Ohr des Hörer8 wie gebannt an dem Munde
der Daritellerin hängt. Die Spannung des Augenblids, atemlofe Stille des
Daujes, das Schweigen der Snjtrumente, zugleich die längfie Ausdehnung,
welche diefem wirkungsvollſten, darum fparfamit zu verwendenden Kunſtmittel
ber thatfählichen Alleinrede zu geben erlaubt war, die für den Soprandaralter
der Sängerin unbequeme, für ben dramatiſchen Charakter der Sitution jedoch
von der fünftlerin zu fordernde Tonlage — alles wirft hier gufammen, um
einen ſolchen Augenblick als eine der jchmwierigiten Aufgaben der Atemkunft,
aber aud) als ihren Triumph ericheinen zu lafjen.
Beim Kapitel „Unfere Spradlaute* möge man zur Ergänzung der hier
gebotenen praltifhen Lehre die beiten hiehergehörigen theoretifchen Ausfüh—
rungen nadlefen: Wagner8 Worte über Konſonanzwert, Jordans epoche—
madende Schrift „Der epifche Bers der Germanen“, Wolzogens geiftreiche
„poetiihe Lautſymbolik“. Auf das Wohltäuendfte fühlt man da das Zu—
fammenftimmende der Unfhauungen eine® bedeutenden Stünftlers, großer
Dichter, des tiefblidenden Forfhers. Hier gelangt nun aud) die vielumiftrittene
Ausfpradie des Buchſtabens G zur Erörterung. Es ift unzweifelhaft, daß
endlich einmal Hier eine Einigung erzielt werden muß. Sit es fchon bei der
Bühnenſprache höchſt empfindlih, ihn an jedem Theater, ja von jedem ein
zelnen nad Belieben behandelt zu hören, fo ilt beim Geſang beifen ſchwan—
fende, meiſt umrichtige Aussprache geradezu unerträglid. Im allgemeinen
folgt Hermann ben Anleitungen Stodhaufens, des großen (mie er ihn mit
Recht nennt) „Meifters der Spradhe im Reiche des Gefanges*, dem er aud)
fein Merk zugeeignet hat. Einen wichtigen Punkt möchte ich hier hervorheben:
Wie die Sprechenden, dachten auch die Dihtenden, je nad) ihrer engeren Heimat,
über ben Buchſtaben g verfchieden und ließen ſich durch ihre im Leben geübte
und innerlich gehörte Ausfprade beim Reime leiten. Hat Hermann wohl Recht,
wenn er die Regel aufitellt: „zroifchen zwei Vokalen flingt g wie g“, jo würde
bei ber fonfequenten Durchführung diefes, allerdings jest aufzuftellenden Grunde
fates 3. B. Goethe bei den herrlidhiten Stellen feiner Sprachmuſik zu kurz
fommen. 8 iſt zwar befannt, daß Goethe über die jogenannte Reinheit bes
Reims andere, vernünftigere Anſichten hatte, als unfere neueren Poetifer, welche
in demfelben Maße ftrengere Reimgefege für die neuere Zeit beanfprudten,
als Iegterer die Gedanken ausgingen, für melde der Reim die Flanglicdhe
Hilfe fein fol. „Wäre ih nod jung und vermwegen genug, jo würde ich
abjichtlich gegen alle ſolche techniſche Grillen verjtoßen, falfche Neime gebrauchen,
Kunjtwart 1. Novemberheft 1848
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wie e8 mir käme und bequem mwäre; aber ich würde auf bie Hauptſache los—
gehen und fo gute Dinge zu fagen fuhen, daß jeder gereizt werden jollte, es
zu lefen und auswendig zu lernen.“ So der alte Staifer der deutſchen Sprache
zu Edermann. Das Volk hat niemals andere Anfichten gehabt. Wenn aber
Goethe Reimklänge in unmittelbarjte Nähe zu einander rüdt, fo redinet er
natürlich) auf ein reines Reimecho; und fagt er, um eine g Stelle für Biele
anzuführen: „Ad neige, bu Schmerzensreiche*, jo muß zweifellos auf Goethes
Frankfurter Ausſprache Rüdficht genommen werben und ift der eimitubierende
Regiffeur gehalten, feiner Gretchen-Darſtellerin ein weiches ch in ‚„neige“ zu—
zumuten. Gin großer Dichter hat das Recht, feiner Sprache Geſetze vorzu—
fchreiben; dieſe verdankt ihm fo viel, daß ein Nahgeben von ihrer Seite
nur Danfespfliht ift. So gut der Italiener feinem Dante zu Liebe beflen
Florentiniſch zum wahren Stalienifch erhob, gelte doch mindeſtens dem Deutfchen
die Ausſprache feines größten Dichters der Beachtung wert. Um fo Teichter
werde ihm diefe darum, weil e8 wahrlidy mit der Frankfurter Ausſprache nicht
jo ſchlimm fteht, wie e8 Hermann kennzeichnet. Als Frankfurter verfichere ich,
daß man nicht geradezu für „König“ — „Keniſch“ ſpricht.
In dem folgenden Kapitel „Tonbildungsübungen* und „Zonumfang*
beherzige der Lernende namentlid) das über „Stimmregiiter” Gefagte.
Der Schaufpieler denft über Regifter feiner Stimme im allgemeinen leichter
als der Sänger, meld) legterer — wenn er nit, wie dies in Deutfchland gang
und gäbe ift, zum Theater geht, ehe er zu fingen verſteht — lange Zeit auf
die Husgleihung feiner Regifter zu verwenden hat. Doch fann man aud in
Schaufpielhäufern vet oft verſchiedene Perfonen aus einer Kehle redend ver—
nehmen. In Opernhäufern follte allerdings eine ſolche Kunitbarbarei niemals
vorfommen. Über wer verließe eine deutjche Theatervoritellung und jpräche
nit mit Wotan zu ih: „Heut haft du's erlebt“.
Wir gelangen nun zu dem Stapitel „Geläufigleit*. Treffend mahnt Hermann
bier den Zernenden an die Wichtigkeit dieſes Lehrabfhhnittes mit den Worten
Shakeſperes, welcher, als er im Hamlet für die gefamte Schaufpieltunft feinen
goldenen Kanon aufitellt, der Kunſt gedenft, die jelbjt „den Sturm, den Wirbel:
wind der Leidenſchaft“ zu beherrihen Habe. Noch ſchwieriger, darum der
Uebung nod) merter, wird dieſe Kunſt, wenn fie, Statt in dem Strome der
Leidenſchaft, in bem feichteren, leichten, aber raſchen Fahrwaſſer des Luftipieig,
namentlich des mufifalifchen, erprobt werden, zum glatten, behendeften Dahin=
ihwimmen befähigen foll. Hier, an einer der deutfchen Zunge fo ſchwer zu
überwindenden Schwierigkeit ift die Klippe zu fuchen, an welcher meift bie
gute Daritellung eines Quftipieles (gar eines mufitalifchen!) jcheitert. Der
Frangofe und Italiener behandelt feine Sprade im Slonverjations- und Luft
fpielton ungleich lebendiger, als der Deutſche. Er artikuliert nit allein in
der geiprocdhenen Komödie thatfählich rafcher als im Leben, er fingt aud) im
gegebenen Falle raſcher, als er in diefer letzteren fpridt. Man höre das
leggiero ber Réjane, das Prestissimo der Dufe oder d’Undrades, des Lehteren
bligjchnelles, dabei genau artifulierteß Parlando, fein minutenlurges „Fin ch'han
dal vino* im Don Juan. Aber der deutfche Dichter und Komponiſt verlangt
in Wahrheit ein ſolches Tempo von feinem Dariteller ganz in demfelben Maße,
wie fein romaniſcher Kollege. Das deutſche — oder, faſſen wir Dielen Begriff
weiter, das germaniiche, alfo auch Shafefperefhe — Luſtſpiel bietet Situationen,
die an Bühnenbemweglidyfeit feiner italieniihen Farce, feiner Molierefhen Ko—
möbdie nachitehen. Auch vergeffe man nicht folder deutichen Balladen, mie des
Kunftwart 1. Yovemberheft 1598
— BB —
Goetheſchen Hodzeitslieds, als Aufgabe für die Rezitationskunit; deren muſi—
faliiher Kompoiition, wie des Löwe-Rückertſchen „Kleinen Haushalts!” Nicht
nur der italieniiche und franzöfifhe Komponiſt ftellt in feiner Theatermufit
die höchſten Anſprüche an die Bolubilität der Ausſprache — Roffinis Barbier
und Berliozs Gellini! — auch der beutfche; und zwar nicht nur in beutjchen
Werfen, melde auf italienische Worte fomponiert find, wie Don Juan und
Figaro, fondern auch in nad) jeder Hinficht echteften deutfchen: Entführung,
Meiiterfinger, Siegfried. Ich erwähne diefe drei Werke darum, meil bier
ſowohl Osmins Poltereifer, wie einige Beckmeſſerſzenen, das feifende, echt
Ihmarzalbenhafte Gezänte zwischen Aiberich und Mime, den äußerſten Schnellig=
feitäSgrad im Vortrag Dedingen. Die von Hermann gegebenen Beifpiele aus
den Jordanſchen „Nibelungen“ und dem Wagnerfhen „Ring“ mögen Lehrer
und Lernende auf die richtige Weife leiten, wie folche, im deutſcheſten Stil ge=
gebene, lautmalende Stabreimverfje zu rezitieren find.
Ein fehr ihön behandeltes Kapitel ift Hermanns Abhandlung über „das
Lachen“. Er jagt jehr wahr: „Man ladıt nie auf einem Ton — immer .
durchläuft man eine Ladjfala*. Dies haben auch bie Komponiiten, deren
Aufgabe es ift, das Auszudrückende tonlich feftzuftellen, fehr wohl gewußt
und dem Schaufpieler, dem Nezitator, ift c8 darum höchſt Iehrreich zu bes
traten, wie Bad eine gläubige Seele, Mozart den jchwerfälligen Osmin,
Nicolai und Verdi den weinfeligen Falltaff, Wagner Iuftige Spinnerinnen, den
fluchenden Alberich, die grellehöhnende Kundry im Lachen ausklingen läßt, ja
der letzte Meifter felbit für Gurnemanzens „heiliges Lachen“ noch den Afforb
zu finden weiß.
Das letzte Kapitel des Hermannſchen Buches „Bon der Tonbildung
zum fünitlerifchen Vortrag“ ift wohl das inhalt und lehrreidhite. Kein Schaus
fpieler follte diefe Worte über „[ogifhe Betonung“, Über „Steigerung“,
welche oft ganze Reihen von Berszeilen zu überfluten hat, über den „Ems
pfindungston“ ungelefen laffen. Auf der Beachtung dieſer drei Puntte,
der zu erfüllenden Pfliht, fie im Obre des Hörers in Einklang zu bringen
mit der für das Auge vorhandenen Yorm der Dichtung, beruht die ganze
legte fünjtlerifhe Wirkung von jpradlicher Seite. Wären biefer Forderung
unfere Scaufpieler immer gerecht geworden, mahrlih, wir hätten nie
die Klage felbit der größten und einſichtsvollſt betrachtenden Poeten über bie
einmal feitftehende Form unferer Mafjischen Dramas vernommen. Diefe Form
ift befanntlid; der von den Engländern uns überlommene jambifche Quinar.
Selten wird man ihn geſprochen hören, ohne daß der und jener fünftler an
ber Grenze der fünften Hebung jeder Versreihe Einhalt madt. Schon Goethe
bat (in feinen „Regeln für Schauspieler”) bei jeinen Bemerkungen über Jamben=
vortrag darauf Hingemwiefen, daß „der Gang der Deflamation“ durd) die Be—
obachtung ber Versanfänge nicht geftört werben dürfe Ihm, welcher dieſer
Dihtungsform die vollendetite fpradhliche Ausgeftaltung danken mußte, — man
denfe an bie Iphigenia in Profa und deren enbliche marmorſchöne Rhythmik
und ihren, durch die Form nun geradezu erzeugten höheren Gedankenreichtum
— ihm, welchem es vorbehalten war, in diefer Form die höchſte Verfeinerung
der deutjchen Sprache zu erreihen — ihm freilich fonnte e8 nicht beikommen,
die Form felbit für gelegentlihe Mithandlung durch ausführende Organe ver—
antwortlid) zu maden. Regte fih in Schiller [hon der Unmut darüber, daß
fein äufßeres Ohr im Theater oft da beleidigt wurde, wo fein inneres beim
Schaffen nur reine muſilaliſche Schönheit empfunden? Genug, er jehnte fi
Kunftwart s 1. Novemberheft 1898
— 65 —
ſchon hinaus aus den engen Schranfen des Quinars, in welchem er doch fo Glän—
zendes geichaffen, nad) der breiteren Form des Trimeters für feine Tragödie.
Weit mehr als die allerdings richtige Erwägung, die deutſche Sprade, einer
foldy konzentrierten Kürze wie die engliihe unfähig, verlange nah einem
meiteren Bette zur Aufnahme des Gedankens, veranlafte ihn wohl zu feinem
Wunſche die Gewißheit: der feite Markitein des fechiten Jambus und die durch
ihn meift veranlafte Abgrenzung des Inhaltes mache das Zurüdfallen eines
Dellamatord in den alten fehler mindeftens unſchädlich. Auch ſprechen
Schillers äußerst weifer und mufterhafter Gebrauch diefer Form in der „Jung=
frau von Orleans“ und ber „Braut von Meffina* für folde Bermutung.
Welche Erfahrungen müfjen aber neuere Meifter der deutjchen Sprache im
Theater gemadjt Haben, daß fie fi) vollitändig ablehnend gegen eine Form
verhalten, in welcher doch einmal ein größter Teil unſeres geiitigen Beſitz—
ftandes niedergelegt ift und allabendlich auf unjeren Bühnen vorgetragen
wird? Dean Iefe nur, mit welcher Abneigung Wagner in „Oper und Drama”
von dieſem fünffüßigen Ungeheuer fpricht, diejenige Schaufpielerin als ver—
ftändig preift, welche Ddiefen Rhythmus in einfahe Proja auflöftel
Eine höchſt feine Bemerkung verdankt man Hermann bei dem Bergleich
zwiſchen dem Sänger, welchem der Stomponift feine Ausdrudsmweife vorjchreibt,
und dem Nebner, welcher, in dem er fie im Augenblid erfindet, fein eigener
Komponift fein muß. Hierin ift der ganze geistige Unterſchied zwiſchen Sänger
und Redner enthalten. Ob, wie Hermann fagt, „Reden“ eine ſchwerere Ktunſt
fei al8 „Singen“, bleibe eine offene Frage. Die Hauptaufgabe des Dichters
ift, wenn er überhaupt der erreichbaren finnliden Schönheit feiner Aunft
gerecht werden will, daß er, auf Grumd einer Stimmung und vermittelft eines
dur feine Sprache „verdichteten* Gedanfens, mit diefer Sprade eine muſi—
faliiche Wirkung bervorbringe* Der Redner verwirklicht ihm diefe Abſicht ver
mittelit eines nad) Höhe und Tiefe wohl verfchiedenen, aber unbeftimmten,
ber Sänger vermittelft eines genau beftimmten Tones. In dem reicheren
Vermögen des Einen liegt das ärmere des Andern und umgefehrt. Tauſchen
laſſen fi) die Rollen nicht. Die Tonffalen Beider find eben grundvericdhieden,
und ein Dellamator, welcher plögli mit beitimmter Tonhöhe „fingen“ wollte,
würde ebenfo lächerlich erfcheinen wie ein Sänger, der plötzlich im Gejange,
feine Skala verlaſſend, „Iprähe*. Nur als äuferftes, darum höchſt felten ans
zuwendendes Wirktungsmittel verträgt die eine Ausdruckskunſt das Hebergreifen
in die andere. Am felteniten wird ſich in der Nezitation eine Gelegenheit
dazu ergeben; felbjt wenn eine Textwendung den Deflamator zu flüchtiger
Gefangsandeutung drängt, darf diefe nicht mehr als eine ſolche fein, denn mit
dem Erfaſſen des bejtimmten Gejangstons begibt er fi) aller Vorrechte feiner
Kunſt für die Folge. Und in der nejamten Vofalmufif wühte ich nur aller
feltenfte Fälle, die dem Sänger erlaubten, mit plöglihdem NRüdfall aus ber
höchſten Höhe feiner idealen Tonkunſt in die reale Welt der Schwere eine
Wirlung hervorzubringen. Nicht allein die Skala, aud) die Rhythmik beider
*) Saum im Widerfprud; mit dem Herrn Berfafler, möchten wir doch
ausdrüdfich dem Mihverftändniffe vorbeugen, als betradjteten wir die finnen=
fällige, die Hanglihe Schönheit der dichteriſchen Sprache als eine ihrer wide
tigiten Eigenſchaften. Das thaten die Blateniden, wir thun's nicht, denn
ung tjt die Poeſie vor allem eine Bildnerei mit Boritellungen. Nur
als charafterifierendes Mittel zu diefem Zweck fommt uns die â— ——
der dichteriſchen Sprache in Betradt.
Kunftwart 1. Hovemberheft 1898
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Vortragskünſte ift eine verihiedene. Die Rhythmik des Sängers nähert fi
der mufifalifchen, welche erit in der Inſtrumentalmuſik ihren ſcharf beftimmten
Ausdrud gefunden hat, ohne fie je genau erreichen zu fünnen und zu follen;
die Rhythmik des Rezitators entfernt fi von ihr. Die Wirkung des Reb-
ners fann darum eine um fo tiefere fein, weil er — in gewiſſem Sinne unter
dem Bann bes Augenblids improvifierend — mit derjenigen UInmittelbarfeit
zu wirken vermag, welche ſtets die plögliche Eingebung weit über eine vorbe—
reitete, überdachte Leitung erhebt. Der Sänger jedodh, wenn ihm auch der
Komponift vorgedadt haben follte, hat eine höhere Steigerung der Aunft
felbjt zur Seite; in feiner Macht fteht es, durch feine Vortragskunſt das Will:
fürliche jeiner Leiltung als etwas plötzlich Eingegebenes, Unmillfürliches er—
fcheinen, durch mwahrhafte, tönende Muſik dasjenige vollenden zu laffen, mas
im Grunde genommen dod nur aus dem Mutterſchoße der Mufik geboren war.
Eine Vortragserläuterung Igrifher, epifher und dramatiſcher Stüde
fliegt das Werk. Der Verfaſſer hätie nit gründlicher und nicht geiftreicher
verfahren können, als er es hier that. Diefe VBortragsanmeilungen fliehen
fi) dem Beiten an, was wir hierin bejigen, und fpinnen ein Verfahren meiter
aus, das ſchon Goethe in feinen erwähnten „Regeln“ andeutete. Und nun zum
Schluß: das Hermannſche Bud) iſt eim fprechendes Zeugnis für die tiefe Bil-
dung, Lehrtüchtigkeit, die reife Künftlerfchait und ideale Gefinnung feines Ur—
hebers. Möge die gute Saat, die hier niedergelegt, aufgehen zum Heile deutfcher
Redekunſt! Anton Urſpruch.
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Ueber Kunstpflege im MWDittelstande.
9. Rohmals: Die Bilder in der Wohnung.
Im vorigen Aufſatz ſprachen wir von ber Heithetif des Zimmerbildes.
Diesmal möchte ih im Anſchluß daran noch einige rein praftifche Fragen
erörtern, die in Nichtlünftler = Kreifen nur zu oft feine Antwort oder doch
feine Löſung finden.
Ich iprady wiederholt vom Wandbilde als der natürlichiten umd am
beiten und edeliten ihmüdenden Form des Bildes. Man ftelle fih einen Naum
nur wirflich vor, deffen Hauptwand in einer gewiſſen Höhe vom Boden ab in
ihrer ganzen Ausdehnung von einem Wandbilde ausgefüllt wird, Das in feiner
disfreten Tönung den Eindrud der abjchliefenden Wand nicht unterbridt. Da
e8 ein Stüd der Wand ift, hat es natürlich feinen Rahmen, fondern nur eine
ſchmale Leiſte, die bei dem geringen Naum, den fie einnimmt, recht gut von
Gold fein kann. Hein Vorgang, feine auffälligen Dinge brauchen hier darge
ftellt zu fein. Aber Stimmung muß von der Wand wehen, der Blid muß
träumend den Linien entlang gleiten und ſchweifend fich verlieren fünnen. Es
it für das Wandbild viel wichtiger, dab nichts Störendes, nichts „Herausfallen=
des“ darauf iſt, als daß der Blid von etwas Beſonderem fejtgehalten wird.
Ruhig, wie eine Fläche, wie ein Gobelin, muß es zurüdtreten und mit feiner
Wirkung nur wie mit einer leifen Wufil das Gemad) erfüllen.
Es werben fo viel Aufträge planlos erteilt. Warum verfallen Die Aufs
traggeber jo jelten darauf, ſich ihr Heim durch fold einen Schmud zu vers
Ihönen? Dan bedente nur die ungeheuere Viannigfaltigfeit, Die durch die ver—
Ihiedenartigen Flächen, die in der Architektur frei bleiben, geboten werden,
die Unmengen Räume, in denen Staffeleibilder gar nicht am ‘Plage find, wie
Kunftwart . Ziovemberheft 1598
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Vorhalle, Diele, Treppenhaus, Loggia, Saal, und alle die Räume, in die das
Wandbild mindestens ebenjo gut gehört. Und wieviel Vorwürfe bieten fich
dem Befteller, falls er dod ein ftoffliches Intereſſe damit verbunden haben
will! Doch vermeide man eins: den Künſtler durch beengende Vorſchriften zu
fähmen, ihn in Forderungen einzuſchnüren, die dem Kunſtwerk nit zum Vor—
teil dienen können. Am beiten thut man jedenfalls, den Künſtler das maden
zu laflen, was diefem jelbjt am paflendften für den Ort erſcheint. Der Auf:
traggeber darf feine Bhantafie niht über die des Künſtlers ſtellen wollen,
indem er genau Daß erwartet, was er ſich vorstellt. Ein wirklicher
Künftler fann felbjtverftändlih Bedingungen und Berhältniffe überfehen, die
der Nichtkünftler nicht ſogleich überſehen kann, und fo wird den Beiteller
fpäter oft gerade das erfreuen und entzüden, was er zunädjft nur ungern
entſtehen jah.
Es iſt auch durchaus nicht erforderlid, dab zu einem derartigen Wand—
ſchmuck ein eigenes Haus gehöre. Auch in der Mietsmohnung läßt fich ein
wenigitens ähnlicher Shmud fehr wohl anbringen. Dann wird das Bild
natürlich nicht auf die Dauer gemalt, fondern, um den Transport des Bildes
in eine andere Wohnung zu ermöglichen, auf einen ftarfen Stoff, 3. B. auf
®obelinleinwand. Wan fpannt es dann über die Wand. Das Riſiko, daß
das Bild in einer andern Wohnung nicht paffe, tt nicht jo groß, wie man
meinen mag. Denn eritens find die Bedingungen in allen Mietsmwohnmgen
meift fehr ähnliche, und dann befteht ja jelten ein Zwang, ein fehr „aufge
fprodyenes* Format, wie etwa einen Fries, zu wählen. Ein fehr ſchöner
Schmud iſt etwa ein Wandbild in Höhenformat, das man neben ruhig ge=
tönten Flächen (wie Belourtapeten, Stoff u. f. mw.) anbringt. — Daß die
Koſten hierbei feine höheren find, als die eines guten Zimmerbildes üblichen
Forımates, weiß ein jeder, der fich mit ſolchen Dingen beichäftiat hat.
Yucd über den Ankauf von Gemälden dünkt e8 mi am Plage,
einige Worte zu fagen. Es ilt erſtaunlich, wie jelten der natürlichſte Weg
gewählt wird: von den Stünjtlern felbit zu kauſen. Manche Leute glauben,
daß diefe „grob würden“, wenn man mit foldyen Anliegen zu ihnen fäme. Uber
das find Idealiſten. Es ift doch eigentlid von allfeitig gebildeten Leuten ans
zunehmen, daß fie Befanntidaften mit Werfen von ihnen jympathiichen Hünjt-
lern geihloffen haben, und die ihnen am meiften ſympathiſchen Autoren follten
fie getroit aufſuchen, wenn jie einmal mit der Eriwerbung eines Bildes ums
gehen. Oder, wo fie das nicht fönnen, jollten fie fih an einen vornehmen
Kunſthändler wenden und nicht an einen jener Winlelhändler, deren es aller
orten jo viele gibt. Befonders bei Leuten, deren Urteil noch nicht ganz ficher
ilt, it das gefährlih. All die ſüße und alberne Fabrikware, die da feilgehalten
wird, bedeutet ja ſchon als Sapitalsanlage betrachtet für den Käufer einen
Hineinfall, — gute Wirtfchafter jollten ji fhon deshalb vor ihr hüten. Während
Werke von wirklihen Künitlern, follten fie auch dem Publitum noch ganz fern ſtehen,
im Werte fteigen, wird ja glatte Fabrikware in etlihen Jahren feinen roten Heller
mehr wert fein. Auch vor dem Staufe auf großen Ausjtellungen braudt man
durchaus nicht die Furcht zu haben, die man gewöhnlid im Publikum findet.
Ih glaube, die meiften würden erjtaunt über die Billigfeit fein, wenn fie die
Preife erführen, zu denen viele Bilder aud) in den vornehmiten Aus—
jtellungen angeſetzt find. Es gibt jo mande, Die fi) gern jedes Jahr ein Bild
faufen mödten, wenn nidt das Märchen in ihrem Kopfe jpufte, daß zur Er—
werbung eines ſolchen gleich ein Vermögen gehörte. Weld) wundervolle Sachen
Kunftwart ı. Ziovemberheft 1898
m BE —
Habe id) ſchon gefunden, die zum zehnten Teil des Preifes angefegt waren, zu
denen im Durchſchnitt das mertlofe Zeug von Malern mit populären
Namen majjenhaft gekauft wird! Und mit zu nichts verpflichtender Bes
reitmwilligfeit geben alle die Sefretariate der Ausftellungen ſtets Auskunft. —
Dann aber ſcheue ſich der Käufer auch nicht, Farbe zu befennen, d. h. er
unterlaffe nit aus Furcht vor einer Tante den Anlauf eines Bildes, das ihm
im Grunde feines Herzens recht wohlgefällt, von dem er aber weiß, da dieſe
Zante e8 „überfpannt* finden wird. Echte Kunſt muß am fpießbürgerlihen
Herd leider immer überfpannt gefunden werden.
Bon den Aunitvereinen ift zumeiſt wenig Gutes zu erwarten. Es gibt
einige Orte, an denen ein feinempfindender Kunſthiſtoriker an die Spite eines
ſolchen Bereins geftellt ift und ihn wirklich in gute Bahnen bringt. Aber das
bleiben Ausnahmen. Die Regel ift die Pflege einer bodenlofen Trivialität
und eines felbitzufriedenen Dilettantismus — neunzig von hundert Kunſtver—
einen haben mit der Kunſt nichts zu thun. Aber ihre „Prämien“ fojten den
Gewinnern nichts und werden alſo aufgehängt.
Auch über die Porträtaufträge lönnte man Bücher ſchreiben. Ich
nehme hier an, daß ich bei den Lejern des Kunſtwarts nie zu boffnungslofen
Banaufen fpreche und unterlafje Bemerkungen, die fonit am Plate wären und
die einem wirklich nicht übel zu nehmen wären, wenn man die Praris des
Porträtmalers fennte. Jh brauche aljo bier nichts über die Leute zu fagen,
welde die Wahl des Künſtlers vornehmen, wie die bes Handichuhladens,
d. 5. die zum nächſten, beften gehen. Das aber möchte ich fagen: man be—
denke doch jtets, daß das Bild bei einem tüchtigen Hünftler immer dann am
beiten wird, wenn man biefem die Auffaſſung, die Wahl der Toilette u. |. w.
überläßt. Man mühte eben [don felbft ein feinerer Künſtler fein, follte ein
Dreinreden etwas beilern. Aber aud dann würde ein Vermengen von zwei
Auffajiungen nur ſchaden.
Nod von einem Fünftlerifhen Shmud möchte ich reden: der flopie.
Es gibt jo viel große Meifterwerfe in der Welt, und wer mödte e8 jemand
verdenfen, wenn er eine ımuftergültige Stopie eines großen Kunſtwerkes einem
mittelmäßigen Originale vorzieht? Und menn eine volltommen gute Kopie
auch nicht gerade billig zu fein braucht, jo wird fie es doch fein im Anbetracht
deſſen, daß fie eigentlich denfelben fünftleriichen Genuß gemährt, wie das Ori—
ginal felbjt. Ich Habe in diefen Blättern ſchon bei den verſchiedenſten Ge—
fegenheiten davon geredet, welch wundervolle deforative Momente die Alten
in ihren Werten haben, mie alfo gerade fie als Wandſchmuck gleich wenigen
geeignet find. Und das find nicht allein die großen italienischen Hochrenaiſſance—
fünftler, fondern aud) die Brimitiven, und nicht minder haben unjere eigenen
alten Meiiter die deforative Wirkung wundervoll erreicht. |
Denen aber, bei denen die Mittel aud zu Kopien nicht ausreichen,
bietet ſich Heutzutage noch ein Ausweg durd) die ausgezeichneten Neproduftionen
nad Werfen neuer und alter Meiiter, die in einfarbigen Tondruden der vers
fchiedenften Nünncen nad faft allen Meiſterwerken der Welt zu haben find,
Ueber den fünitlerifhen Wert von folden zu reden, verlohnt nicht der Mühe.
Dat aber gerade diefe feingetönten Reproduftionen aud) zum deforativen
Shmud fehr wohl geeignet find, darauf ift im Kunſtwart Shon oft und fe
hier nochmals ganz befonders hingewieſen. Allerdings iſt es nötig, fie ſehri
geihmadvoll und mit dem nötigen Takt zu rahmen. Leber die ganze Rahmens
frage das nächſte Mal, Schultze-Naumburg.
Kunftwart 1. Novemberheft 1898
Lose Blätter.
Aus Fontanes „Stechlin“.
Fontanes letzte Werke liegen als zwei fräjtige Bände vor uns, das
„Autobiographiihe*, „Bon Zwanzig bis Dreißig“ und der Roman „Der
Stedhlin“, fie find beide bei %. Fontane & Eo. in Berlin erjchienen.
„Von Zmanzig zu Dreißig“ ſchließt fih an „Meine Hinderjahre*
an, aber nicht „Lorreft”, denn fo etwas liebte der Alte nicht, fondern mit Ab—
fchmeifungen vorwärts und zurüd in der Zeit, und nad) rechts und links hin
zu andern Menfchen. Wir verleben mit Fontane feine Upothelerzeit, wir be—
gleiten ihn, bis er Schriftfteller wird und heiratet, und fehen derweil mit feinen
fo hellen Augen jedem Menſchen ins Herz, der auf ein Stüd Weges an feine
Seite tritt, oder maden aud) mit ſolchen Belanntichaften einen Heinen Spazier—
gang feitwärts. Das literariſch Interefjanteite dabei ift das Kapitel vom „Tunnel
über der Spree*, das aus dem Berliner literariichen Leben der vierziger und
fünfziger Jahre fehr vieles Wiſſenswerte berichtet und beleuchtet. Berühmt:
beiten jchreiten da an uns vorbei, und eine Davon, Theodor Storm, wird recht
ausführlich befprocdhen, aber auch Unberühmtheiten, die einjt Bedeutung hatten,
und es ift nod) die Frage, ob von den einen oder den andern nüßlicher zur
Iefen fei. Alles ift mit dem föftlihen Fontanifhen Plaudern erzählt, das
feiner unter ung Lebenden mehr fo unvermerft fein zu einem Darftellen
maden fann, wie er das konnte. Wie wir uns aber der Lichter erfreuen, bie
überall diefe Menſchen Hinfpielen, müffen wir immer wieder des Lichtes
denfen, von dem fie ausgehen. Welche Fülle von Menfchentenntnis und
Weltverftändnis, meld) entzüdende Beweglichleit des Geiftes iſt mit Fontane
erlofchen! Es hat wohl ſehr felten einer fo viele Weisheit mit jo wenig weiſem
Gehaben vereinigt.
„Der Stehlin*, Fontanes hinterlaffener Roman, ift wieder ein Junker—
roman. In der Nähe von Rheinsberg liegt der See Stedlin als Glied einer
ganzen Stette von Sceen, in menſchenarmer Gegend mit vieler Waldung, in
die ein paar Dörfer geitreut find, fonft aber nur Förftereien, Glas- und Theeröfen.
„Zwiſchen flahen, nur an einer einzigen Stelle teil und quaiartig anjteigen=
den Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von.
ihrer eignen Schwere nad) unten gezogen, den See mit ihrer Spige berühren.
Hie und da wächſt ein mweniges von Schilf und Binjen auf, aber fein Hahn
zieht feine Furchen, fein Vogel fingt, und nur felten, dab ein Habicht drüber
binfliegt und feinen Schatten auf die Spiegelflähe wirft. Alles ſtill Hier.
Und doch, von Zeit zu Zeit wird e8 an eben diefer Stelle lebendig. Das iit,
wenn e8 weit draußen in der Welt, ſei's auf Jsland, fei’s auf Java, zu rollen.
und zu grollen beginnt oder gar der Aſchenregen der hawaiiſchen Vulkane bis
weit auf die Südfee hinausgetrieben wird. Dann regt fih’8 auch hier, umb
ein Waſſerſtrahl fpringt auf und finft wieder in die Tiefe. Das willen alle,
die den Stedhlin ummohnen, und wenn fie davon ſprechen, fo fegen fie wohl
auch hinzu: »Das mit dem Wafferjtrahl, das iſt nur das Stleine, das beinah
Alltägliche; wenn’s aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren
in Liſſabon, dann brodelt’8 Hier nidyt bloß und ſprudelt und ftrudelt, dann
fteigt jtatt des Wajjerjtrahls ein roter Hahn auf und fräht laut in die Lande
bineins*. Dan merkt, das wird aud) ſymboliſch gemeint fein. lInd am See
Stedlin, im Schloſſe Stedlin hauft der alte Herr Stedhlin, Dubslan von Stech—
lin, „ber Typus eines Märkiſchen von Abel, aber von der milderen Objervanz,.
Kunftwart 1. Yopemberheft 1898
— 4) —
eines jener erquidlichen Originale, bei denen fidh felbft die Schwächen in Vor—
züge verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich ſympathiſch berührende
Selbitgefühl all derer, die »fchon vor den Hohenzollern dba waren«, aber er
hegte diefes Selbitgefühl nur ganz im ftillen, und wenn e8 dennod zum Aus—
drud fam, jo kleidete ſich's in Humor, auch wohl in Selbitironie, weil er feinem
ganzen Wefen nad) überhaupt Hinter alles ein Fragezeihen machte Sein
ihönfter Zug war eine tiefe, fo redht aus dem Herzen fommende Humanität,
und Dünfel und Ueberheblichkeit (während er fonit eine Neigung hatte, fünf
gerade fein zu laflen) waren fo ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten.
Er hörte gern eine freie Meinung, je draitifcher und ertremer, befto beſſer.
Daß fi diefe Meinung mit der jeinigen dedte, lag ihm fern zu wünſchen.
Beinah das Gegenteil. Baradoren waren feine Pajfion. »Ich Bin micht Hug
genug, felber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn's andre thun; e8
iſt do) immer was drin. Unanfedhtbare Wahrheiten gibt e8 überhaupt nicht,
und wenn e8 welche gibt, fo find fie Iangmeilig.« Er ließ fid) gern was vor=
plaudern und plauderte felber gern.“ Er war, mit zwei Worten, das leib—
haftige Ideal Theodor Fontanes, und mas den Stift geführt hat, der ihn
zeichnete, war die Liebe eines im Grunde ganz nahen Vermandten. So freuen
wir una immer mieder, wenn Stechlin ins Bild tritt und empfinden ihn als
den Helden des Ganzen, obgleich er eigentlich gar nichts thut, fondern nur
plaudert ober zuhört.
Ras der Roman uns vorführt, fpielt jo ungefähr innerhalb des letzten
Lebensjahres des alten Stedhlin, der dann während der Hochzeitsreife feines
Sohns eines fanftjeligen Todes jtirbt. Eine Neidstagswahl, bei welcher der
Ulte gegen ben Sozialdemokraten durchfällt, fommt aud) darin vor, wird aber
on und für fih nicht jehr ernjthaft genommen, denn Stechlin ift fein großer
Politifer, Aber auch fie iſt Symbol, denn der eigentliche Inhalt des Buchs iſt
das Eindringen des Neuen in bas Alte auf dem Land. Ganz rein vertritt
das Alte eigentlih nur Stehlins Schmeiter, die Domina von Hlofter Wut.
Paſtor Lorenzen, der Mann, den Stehlin am meijten von allen bei ſich da
draußen refpeftiert, obgleid) er ganz anders denkt, als er felber, Lorenzen ift
nationalfozial. Und der unangenehme Empsrfömmling Gundermann, ber
in der Nähe von Stedylin fein Geld macht, und die fromme und finderreiche
Prinzejfin = Gemahlin des Oberföriters und die Leute, fo durch den jungen
Woldemar Stehlin zum alten fommen, und der junge Woldemar felbft mit
feiner gräflihen Braut Urmgard und der feingeiftigen Schwägerin Melufine,
es find Menfhen der Neuzeit, um fo wahrer gezeichnete, als fie nicht nur
vom Neuen beftimmt find. Mit Woldemar bliden wir, mehr wie in Epifoden,
aud in ein paar Berliner Stadtwohnungen, in adlige, aber aud) in bürger=
fihe und in eine PBortierloge. Wie fi der alte Stechlin mit dem Neuen inner=
li auseinanderfegt, das gibt dem Romane die innere „Handlung“ — dieſem
Romane, für den fchon allein ber märfifche Adel dem Meifter Theodor ein
Denkmal der Dankbarkeit fegen dürfte. Denn obgleih der Roman jehr cava-
lierement fomponiert ijt (id) bitte fo fagen zu dürfen, da e8 bei Fontane aud
ſchrecklich fremdwörtelt) und obgleid) in den Reden nur dem Inhalte nad) in=
dividbualifiert wird, ber Form nad) aber VBornehm und Gering, Jung und Alt
fo ziemlich das gleiche Fontanifd) ſpricht, — fo iſt hier doch gar föftlich lebendig
geworden, was zu bes Djtelbiertums höherer Ehre Fontane zu leben be—
rufen Hat. i
Kunftwart 1. Uovemberheft 1898
Von den Stüden, die wir zum Vorfhmad bringen, zeigt uns das erite
während ber Aheinäberger Neihstagsmwahl fonfervative Herren aus dem Streife,
die auf der Bank vor dem „Brinzrenenten” das Ergebnis abwarten:
Es waren ihrer fünf, lauter Kreis- und Barteigenoffen, aber nicht eigent=
lich Freunde, denn der alte Dubslav war nicht jehr für Freundfchaften, Er
fah zu fehr, mas jedem einzelnen fehlte. Die ba fahen und aus purer Ranger:
weile ſich über die Vorzüge von Allaſch und Chartreufe jtrittien, waren Die
Herren von Molchow, von ftrangen und von Gnemfomw, dazu Baron Beeg und
ein Freiherr von ber Nonne, den die Natur mit befonderer Rüdficht auf feinen
Namen geformt zu haben ſchien. Er trug eine hohe ſchwarze Stravatte, drauf
ein Heiner vermiderter Stopf ſaß, und wenn er ſprach, war e8, mie wenn
Mäufe pfeifen. Er war die fomifche Figur des Kreiſes und wurde gehänfelt,
nahm e8 aber nicht übel, weil feine Mutter eine fchlefifhe Gräfin auf „inski”
mar, was ihm in feinen Augen ein folches Uebergewicht ficherte, daß er, wie
Friedrich der Große, jeden Augenblid bereit war, „die fi etwa einftellenden
Pasquille niedriger hängen zu laſſen.“
„Ic denke, meine Herren,“ fagte Dubslav, „wir gehen in den Barf. Da
bat man dod immer was. An der einen Stelle ruht das Herz des Prinzen,
und an ber andern Gtelle ruht er felbft und bat fogar eine Pyramide zu
Häupten, wie wenn er Sefoftris gewejen wäre. Jch würde gern einen andern
nennen, aber ich fenne bloß den.” 5
„Natürlich gehen wir in ben Park,“ fagte von — „Und es iſt
fchlieflich immer nod ein Glüd, dab man jo was hat .
‚Und auch ein Glück“, ergänzte von Molchow, „dab man folden Wahl-
tag mie heute hat, der einen ordentlich zwingt, fich mal um Hiftorifches und
Bildungsmäßiges zu fümmern. Bismarden iſt e8 aud) mal fo gegangen, noch
dazu mit 'ner reihen Amerifanerin, und hat aud) gleich (das heißt eigentlich
lange nachher) das rechte Wort dafür gefunden.”
„Der hat immer das rechte Wort gefunden.“
„Immer. Aber weiter, Molchow.“
. Und als nun alfo die reiche Amerikanerin jo runde vierzig Jahr
fpäter ihn wiederſah und ich bei ihn bedanfen wollte von wegen des Bilder:
mujeums, in das er fie halb aus Berlegenheit und halb aus Ritterlichfeit be—
gleitet und ihr mutmaßlich alle Bilder falich erflärt Hatte, da Hat er all diefen
Dank abgewieſen und ihr — id) feh’ und hör’ ihn ordentlidh — in aller Fide—
lität gejagt, fie habe nicht ihm, fondern er habe ihr zu danken, denn wenn
jener Tag nicht gewejen wäre, jo hätt’ er das ganze Bildermufenn höchſt
mwahrfcheinlich nie zu ſehen gekriegt. Ja, Glüd bat er immer gehabt, Im
großen und im fleinen. &8 fehlt bloß noch, daß er hinterher auch noch Gene:
raldireftor der königlichen Wufeen geworden wäre, was er ſchließlich doch aud)
noch gefonnt hätte. Denn eigentlich fonnt er’ alles und iſt auch beinah’ alles
gemejen.“
„Ja,“ nahm Gnewlow, der aus Langermweile viel gereift war, feinen Ur—
gedanken, dat foldyer Park eigentlih ein Glüd fei, wieder auf. „Ich finde,
was Molchow da gefagt Hat, ganz richtig; e8 kommt drauf an, daß man ’rein-
geziwungen wird, jonit weiß man überhaupt gar nidts. Wenn id) jo bloß an
Italien zurüddenfe. Sehen Sie, da läuft man nu fo rum, mas einen doch
anı Ende itrapziert, und dabei Diefer ewige pralle Sonnenfchein. Ein paar
Stunden geht e8; aber wenn man nu ſchon zweimal Kaffee getrunfen und
Granito gegeſſen hat, und es iſt noch nicht mal Mittag, ja, ich bitte Sie, was
Kunjtwart ı. Xovemberheft (898
02 —
bat man da? Was fängt man dan an? Gradezu fhredliid. Und da kann ich
Ihnen bloß jagen, da bin ich ein kirchlicher Menſch geworden. Und wenn
man dann fo von ber Seite Her till eintritt und hat mit einem Dale die
Kühle um fih ’rum, ja, da will man gar nicht wieder 'raus und fieht ſich fo
feine fünfzig Bilder an, man weiß nicht, wie. Is doch immer noch bejler als
draußen. Und die Zeit vergeht, und die Stunde, mo man mas Reguläres
friegt, läppert fich jo heran.”
„Ad glaube doch“, fagte der für kirchliche Hunft ſchwärmende Baron
Beetz, „unfer Freund Gnewkow unterfhäßt die Wirkung, die, vielleicht gegen
feinen Willen, die Duattrocentiften auf ihn gemadt haben. Er hat ihre Macht
an fich jelbit empfunden, aber er will e8 nidt wahr Haben, dab die Frifche
von ihnen ausgegangen ſei. Jeder, der was davon veriteht . . .“
„Ja, Baron, das is es chen. Wer mas davon veritehtl Uber wer ver—
Steht was davon? Ich jedenfalls nicht.”
Unter diefen Worten war man, vom „Prinzregenten“ aus, die Haupts
ftraße Hinuntergejchritten und über eine Meine Brüde fort erjt in den Schloß—
hof und dann in den Park eingetreten. Der See pläticherte leis. Kähne lagen
ba, mehrere an einem Steg, der von dem fiesufer her in ben See hineinlief.
Ein paar der Herren, unter ihnen auch Dubslav , jchritten die ziemlich wack—
lige Bretterlage hinunter und blidten, als fie bis ans Ende gelommen waren,
wieder auf die beiden Schloßflügel und ihre furzabgeitumpften Türme zurüd.
Der Zurm rechts war der, wo Stronprinz Fri fein Arbeitszimmer gehabt hatte.
„Dort hat er gewohnt”, jagte von der Nonne. „Wie begrenzt iſt doch
unſer Hönnen. Mir wedt der Anblid folder Fridericianiihen Stätten immer -.
ein Schmerzgefühl über das Unzulängliche des Menfhlihen überhaupt, freilich
auch wieder ein Hochgefühl, daß wir diefer Unzulänglichfeit und Schwäche
Herr werden können. Tod, mo ift dein Stadjel, Hölle, wo iſt dein Sieg ?
Diefer Hönig. Er mar ein großer Geiit, gewiß; aber doch auch ein verirrter
Geift. Und je patriotifcher wir fühlen, je fchmerzlicher berührt uns die Frage
nad) dem Heil feiner Seele. Die Seelenmeffen — das empfind’ ich in ſolchem
Yugenblide — find doch eine wirklich troitfpendende Seite des Katholizismus,
und dab e8 (felbjtveritändlih unter Gemähr eines höchſten Willens) in bie
Macht Ueberlebender gelegt ift, eine Seele frei zu beten, das ift und bleibt
eine große Sadıe.“
„Nonne,“ fagte Molchow, „machen Sie fih nicht komiſch. Was haben
Sie für ’ne Boritellimg vom lieben Gott? Wenn Sie fommen und den alten
Srigen frei beten wollen, werden Sie 'rausgeſchmiſſen.“
Baron Bee — auch ein Anzweifler des Philofophen von Sansfouci —
wollte feinem Freunde Nonne zu Hilfe fommen und erwog einen Uugenblid
ernitlich, ob er nidjt feinen in der ganzen Grafſchaft längſt befannten Vortrag
über die „ichiefe Ebene” oder „c'est le premier pas qui coute* noch einmal
zum beiten geben ſolle. Klugerweiſe jedoch ließ er e8 mieder fallen und war
einverftanden, als Dubslav fagte: „Meine Herren, ich meinerfeits ſchlage vor,
dag wir unfern Auslug von dem Wadelftege, drauf wir hier fiehen (jeden
Augenblid fann einer von uns ins Waſſer fallen), endlich) aufgeben und ung
lieber in einem der hier herum liegenden Kähne über den See ſetzen laſſen.
Unterwegs, wenn nod; melde da find, fünnen wir Teichrofen pflüden und
drüben am andern Ujer den großen Prinz Heinrich-Obelisken mit feinen fran=
zöſiſchen Infchriften durchſtudieren. Solde NRefapitulation ftärkt einen immer
Kunftwart 1. Movemberheft 1898
— 93 —
biftorifh und patriotifh, und unfer Etappenfranzöfifh fommt auch wieder zu
Kräften.”
Ulle waren einveritanden, felbjt Nonne.
*
Eine andere bezeichnende Stelle iſt die, wo Gräfin Meluſine den Paſtor
Lorenzen beſucht. Dieſe geſcheite Frau hat dem jeder Damenunterhaltung lange
Zeit entwöhnten raſch jede Scheu benommen und iſt nun mit ihm im eifrigen
Geſpräch:
. . . Ich kann Ihnen zuſtimmen“, lächelte Lorenzen. „Uber wenn ich,
Frau Gräfin, in Ihren Mienen richtig leſe, ſo ſind dieſe Bekenntniſſe doch nur
Einleitung zu was andrem. Sie halten noch das Eigentliche zurück und ver—
binden mit Ihrer Ausſprache, fo ſonderbar es klingen mag, etwas Spezielles
und beinah’ Praftifches.*
„Und ich freue mid, daß Sie das herausgefühlt haben. Es ift fo. Wir
fommen da eben von Ihrem Stehlin her, von Ihrem See, dem Belten, was
fie hier haben. IH Habe mich dagegen gemwehrt, als das Eis aufgeſchlagen
werden follte, denn alles Eingreifen oder audy nur Einbliden in das, mas
fi) verbirgt, erfhredt mich. Ach refpektiere da8 Gegebene. Daneben aber
freilih aud) das Werdende, denn eben dies MWerdende wird über kurz oder
lang abermals ein Gegebenes fein. Alles Alte, fo weit es Anſpruch barauf
bat, follen wir lieben, aber für das Neue follen mir recht eigentlich Ieben.
Und vor allem follen wir, wie der Stedhlin ung lehrt, den großen Zufammen-
hang ber Dinge nie vergeifen. Sich abſchließen, heißt fih einmauern, und fi
einmauern ilt Tod. Es fommt darauf an, daß mir gerade das beſtändig
gegenwärtig haben. Mein Vertrauen zu meinem Schwager ift unbegrenzt. Er
bat einen edeln Charakter, aber ic) weiß nicht, ob er aud) einen feſten Cha—
rafter hat. Er iſt feinen Sinnes, und wer fein ift, ift oft beitimmbar. Er iit
aud) nicht geiftig bedeutend genug, um fi gegen abweichende Meinungen,
gegen Irrtümmer und Standesvorurteile wehren zu können. Er bedarf ber
Stüge. Diefe Stüge find Sie meinem Schwager Woldemar von Jugend auf
gewefen. Und um was ich jet bitte, das heißt: »Seien Sie's ferner.«“
„Daß id) Ihnen fagen fünnte, wie freudig id) in Ihren Dienjt trete,
gnädigite Gräfin. Und ich fann es um fo leichter, als Ihre Ideale, wie Sie
wiſſen, aud; die meinigen find. Ich lebe darin und empfind’ e8 als eine
Gnade, dba, wo das Alte verfagt, ganz in einem Neuen aufzugehn. Um ein
ſolches »Neues« Handelt e8 ſich. Ob ein foldes »Neues« fein ſoll (meil es
fein muß) oder ob es nicht fein fol, um Diefe Frage dreht fich alles, Es
gibt Hier um uns ber eine große Zahl vorzüglidher Leute, die ganz ernfihaft
glauben, das uns Ueberlieferte — das Kirchliche voran (leider nicht das Chriſt—
liche) — müſſe verteidigt werden, wie der falomonifche Tempel. In unferer
Oberfläche Herricht außerdem eine naive Neigung, alles »Preußifche« für eine
höhere Kulturform zu halten.“
„Genau wie Sie jagen. Uber ih möchte doch, um der Gerechtigkeit
willen, die Frage ftellen dürfen, ob dieſer naive Glaube nicht eine gemille Be—
rechtigung hat?“
„Er Hatte fie mal. Aber das liegt zurüd. Und kann nicht anders fein.
Der Hauptgegenfag alles Modernen gegen das Alte beiteht darin, daß bie
Menichen nicht mehr durdy ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden
Platz geitellt werben. Sie haben jeht die Freiheit, ihre Fähigkeiten nad) allen
Seiten hin und auf jedem Gebiete zu bethätigen. Früher war man dreihuns
Kunftwart 1. Ziovemberheft 1898
— Gb —
dert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinen=
weber eines Tages ein Schloßherr fein.“
„Und beinah’ auch umgekehrt“, lachte Meluſine. „Doc laſſen wir dies
heifle Thema. Viel, viel lieber Hör’ ich ein Wort von Jhnen über den Wert
unjrer Lebens und Gefelichaftsformen, über unfre Gefamtanfhauungsmeife,
deren beſondere Zuläffigfeit Sie, wie mir fcheint, fo nachdrücklich anzweifeln.“
„Nicht abfolut. Wenn ich zmeifle, fo gelten diefe Zmeifel nicht fo fehr
den Dingen felbit, al8 dem Hochmaß des Slaubens daran. Daß man all diefe
Mittelmakdinge für etwas Befonderes und Ueberlegenes und deshalb, wenn's
fein kann, für etwas ewig zu Stonfervierendes anfieht, das iſt das Schlimme.
Was mal galt, foll weiter gelten, was mal gut war, foll weiter ein Gutes
oder wohl gar ein Beites fein. Das ift aber unmöglid, auch wenn alles,
was feineswegs ber Fall ift, einer gemiffen Herrlichkeitsvorjtellung entipräde.
... Bir haben, wenn wir rüfbliden, drei große Epochen gehabt. Deijen follen
mir eingedenf fein. Die vielleicht größte, zugleich die erite, war die unter dem
Soldatenfönig. Das war ein nit genug zu preifender Dann, feiner Zeit
wunderbar angepaßt und ihr zugleich voraus. Er hat nicht bloß das König—
tum ftabilert, er hat au, was viel wichtiger, die yundamente für eine neue
Zeit gefhaffen und an die Stelle von Zerfahrenheit, felbitifcher Vielherrſchaft
und Willkür Ordnung und Gerechtigkeit geſetzt. Gerechtigkeit, das war fein
heiter ‚rocher de bronce*,*
„Und dann ?*
„Und dann fam Epoche zwei. Die ließ, nad) jener eriten, nicht Tange
mehr auf fi) warten und das feiner Natur und feiner Gefhidhte nad) gleich
ungeniale Land fah fih mit einem Male von Genie durdbligt.*
„Muß das ein Staunen gemejen fein.”
„Sa. Uber doch mehr draußen in der Welt als daheim. Anſtaunen ift
auch eine Kunft. Es gehört etwas dazu, Großes als groß zu begreifen...
Und dann fam die dritte Zeit. Nicht groß und doch auch wieder ganz groß.
Da war das arme, elende, halb dem lintergange verfallene Land, nit von
Genie, wohl aber von Begeilterung durdjleudtet, von dem Glauben an bie
höhere Macht des Geiftigen, bes Wiſſens und der Freiheit.”
„But, Zorenzen. Aber weiter.“
„Und all das, was ich da fo hergezählt, umfaßte zeitlich ein Jahrhundert.
Da waren mir den andern voraus, mitunter geiftig und moraliih gewiß.
Uber der ‚Non soli cedo-Wdler‘ mit feinem Bligbündel in den Fängen, er bligt
nit mehr, und die Begeifterung ijt tet. Gine rüdläufige Bewegung iſt da,
längjt Wbgeftorbenes, id; muß es wiederholen, joll neu erblühn. Es thut e8
nidt. In gewiſſem Sinne freilich fehrt alles einmal wieder, aber bei dieſer
Wiederkehr werden Jahrtaufende überfprungen ; wir fönnen die römischen Kaiſer—
zeiten, Gutes und Schlechtes, wieder haben, aber nidyt das jpanifche Rohr aus
den Tabalstollegium und nicht einmal den Arüdftof von Sansſouci. Damit
iſt e8 vorbei. Und gut, daß e8 fo iſt. Was einmal Fortfchritt war, iſt längit
Rüdihritt geworden. Aus der modernen Gejdhichte, der eigentlichen, der leſens—
werten, verſchwinden die Bataillen und die Bataillone (trogdem fie fich be—
jtändig vermehren) und wenn fie nicht felbit verſchwinden, fo ſchwindet doch
das Interejje daran. Und mit dem Intereife das Preitige. An ihre Stelle
treten Erfinder und Entdeder, und James Watt und Siemens bedeuten uns
mehr als du Guesclin Bayard. Das Heldifche Hat nicht direft abgemwirtichaftet
und wird nod) lange nicht abgemirtfchaftet haben, aber fein Kurs hat nun mal
Kunftwart ; ı. Novemberheft 1898
i.
feine beſondere Höhe verloren, und anftatt fi in dieſe Thatſache zu finden,
verfucht es unfer Regime, dem Niederfteigenden eine fünftliche Haufe zu geben.“
„Es ift, wie Sie fagen. Aber gegen wen richtet ſich's? Sie ſprachen
von »Negimes. Wer ift dies Regime? Menſch oder Ding? Iſt es die von
alter Zeit ber übernommene Mafhine, deren Räderwerk tot meiterflappert,
oder iſt e8 Der, der an der Mafchine fteht? Oder endlich ift e8 eine bejtimmte
abgegrenzte Vielheit, die die Hand des Mannes an ber Maſchine zu beftimmen,
zu richten trachtet? In allem, was Sie jagen, flingt eine ſich auflehnende
Stimme. Sind Sie gegen den Wdel? Stehen Sie gegen die »alten Familien«?*
„Zunädft: nein. Ich liebe, Hab’ auch Urſach' dazu, die alten Familien
und möchte beinah’ glauben, jeder liebt fie. Die alten Familien find immer
nod) populär, audy heute no. Aber fie verthun und verfehütten dieſe Sym—
pathien, die doch jeder braucht, jeder Menſch und jeder Stand. Unfre alten
Familien kranken durchgängig an der Vorstellung, »daß e8 ohne fie nicht gehe«,
was aber weit gefehlt it, denn es geht fiher aud ohne fie; — fie find nicht
mehr die Säule, die das Ganze trägt, fie find das alte Stein- und Moosdach,
das wohl nod) laftet und drüdt, aber gegen Unmetter nicht mehr ſchützen kann.
Wohl möglid), daß ariltofratifche Tage mal mwiederfehren, vorläufig, wohin
mir jehen, jtehen wir im Zeichen der demofratifhen Weltanſchauung. Eine
neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine beſſere und eine glüdlicdhere. Aber wenn
auch nicht eine glüdlichere, jo doch mindeftens eine Zeit mit mehr Saueritoff
in der Quft, eine Zeit, in der mir beijer atmen fünnen. Und je freier man
atmet, je mehr lebt man. Was aber Woldemar angeht, meiner find Sie ficher,
Frau Gräfin. Bleibt freilih, als Hauptfaktor, noch bie Komteſſe. Für Die
müjfen Sie die Bürgichaft übernehmen. Die Frauen beſtimmen ſchließlich
doch alles.”
„So heißt e8 immer. Und mir find eitel genug, e8 zu glauben. Aber
das führt ung auf ganz neue Gebiete. Borläufig Ihre Hand zur Befieglung.
Und nun erlauben Sie mir, nad) diefen unferm revolutionären Diskurſe, zu
ben Hütten friedlier Menſchen zurüdzulehren.*
*
Sehen und hören wir zum Schluß nod dem Wlten felber ein wenig zu.
E8 geht zu Ende mit Dubslav von Stehlin, nun hat er feinen Paſtor rufen
laffen, fi) nod) einmal mit ihm auszufprehen. Fontane fährt fort:
Zorenzen nahm des Alten Hand und fagte: „Gemwiß fommen andre
Zeiten. Aber man muß mit der Frage, mas fommt un» was wird, nicht
zu früh anfangen. Ich feh’ nidt ein, warum unfer alter König von Thufe
bier nit nod) lange regieren follte. Seinen legten Trunf zu tun und den
Becher dann in den Stehlin zu werfen, damit hat es noch gute Wege.“
„Rein, Zorenzen, e8 dauert nicht mehr lange; die Zeichen find da, mehr
als zu viel. Und damit alles Happt und paßt, geh’ ich nun gerad’ ins Sieben:
undſechzigſte, und wenn ein richtiger Stehlin ins Siebenundfedhzigite geht,
dann geht er aud) in Tod und Grab. Das is fo Familientradition. Ich wollte,
wir hätten eine andre. Denn der Menſch iS nun mal feige und will dies
ſchändliche Beben gern meiterleben.* .
„Schändliches Leben! Herr von Stehlin, Sie Haben ein jehr gutes
Leben gehabt.“
„Na, wenn e8 nur wahr ift! Ich weiß nicht, ob alle Globſower ebenfo
denken. Und die bringen mid) wieder auf mein Hauptthema.”
„Und das Tautet ?*
Kunftwart 1. Yovemberheft 1898
„Das lautei: »Teuerfter Paftor, forgen Sie dafür, daß die Globſower
nicht zu fehr obenauf fommen.«*
„Über, Herr von Stehlin, die armen Leute. . .*
„Sagen Sie das nit. Die armen Leute! Das war mal richtig; heute
zutage aber paßt e8 nicht mehr. Und fol unfichere Paffagiere wie mein
BWoldemar und wie mein lieber Lorenzen (von dem der Junge, Pardon, all
den Unfinn bat), ſolche unfichere Paffagiere, ftatt den Riegel vorzufcdieben,
fommen den Torgelowſchen* auf halben Wege entgegen und fagen: »Ja, ja,
Zöffel, du haft aud) eigentlich ganz recht, oder, was noch ſchlimmer iſt: »Ja,
ja, Jodem, wir wollen mal nadichlagen.«*
„Über, Herr von Stechlin.“
„ja, Zorenzen, wenn Sie aud) nod) ſolch gutes Geſicht machen, e8 ist
doch fo. Die ganze Geſchichte wird auf einen andern Leiſten gebracht, und
wenn bann wieder eine Wahl ift, dann fährt der Woldemar rum unb
erzählt überall, Katzenſtein“* fei der rehte Mann. Oder irgend ein andrer.
Aber das ilt Mus wie Mine; — verzeihen Sie den etwas fortgefchrittenen
Yusdrud. Und wenn dann die junge gnädige Frau Beſuch friegt oder wohl
gar einen Ball gibt, da will ih Ihnen ganz genau fagen, wer dann hier in
biejem alten Staften, der dann aber renoviert jein wird, antritt. Da ift in
erfter Reihe der Minifter von Rigenberg geladen, der, wegen Staltitellung unter
Bismard, von langer Hand her eine wahre Wut auf den alten Sachſenwalder
bat, und eröffnet die Polonaife mit AUrmgard. Und dann iſt da ein Profeſſor,
Kathederjozialift, von dem fein Menſch weiß, ob er die Gefellichaft einrenten
oder aus den Fugen bringen will, und führt eine Adelige, mit kurzgeſchnit—
tenem Saar (die natürlich fchriftitellert) zur Quadrille Und dann bewegen
fih da noch ein Afrikareiſender, ein Architekt und ein Porträtmaler, und wenn
fie nad) den eriten Tänzen eine Baufe maden, dann ftellen fie ein lebendes
Bild, wo ein Wilddieb von einem Edelmann erichofjen wird, oder fie führen
ein franzöſiſches Stüd auf, das die Dame mit dem furggefchnittenen Haar
überiegt hat, ein fogenanntes Ehebruhsdrama, drin eine Advokatenfrau ges
feiert wird, meil fie ihren Dann mit einem Tafchenrevolver über den Haufen
geichoffen hat. Und dann gibt e8 Mufifftüde, bei denen der Slavierfpieler
mit jeiner langen Mähne über die Taften hinfegt, und in einer Nebenjtube
figen andere und blättern in einem Album mit lauter Berühmtheiten, obenan
natürlich) der alte Wilhelm und Saifer Friedrid) und Bismard und Moltke
und ganz gemütlich dazwiſchen Mazzini und Garibaldi, und Marx und Laffalle,
die aber wenigſtens tot find, und daneben Bebel und Liebknecht. Und dann
fagt Woldemar: »Sehen Sie da ben Bebel. Mein politifher Gegner, aber ein
Dann von Gefinnung und Intelligenz. Und wenn dann ein Wdeliger aus
der Refidenz an ihn Herantritt und ihm fagt: »Ich Bin überraſcht, Herr von
Stehlin, — id) glaubte den Grafen Schwerin bier zu finden«, dann jagt
Woldemar: »Ich habe die Fühlung mit dieſem Herrn verlorene“,
Der Paitor lachte. „Und Sie wollen jterben. Wer fo lange ſprechen
fann, der lebt noch zehn Jahr.“
„Nichts, nichts. Ich Halte Sie feit. Kommt es fo, oder fommt e8
nidt fo ?*
„Run, es fommt fiherlih nicht fo.“
*) Den Sozialdemofraten, die einen Torgelow gewählt haben.
+, Der Fortjchrittler.
Kunftwart 1. Uovemberheft 1898
— 9 —
„Sind Sie deſſen ficher ?*
Ganz ſicher.“
„Dann ſagen Sie mir, wie es kommt, aber ehrlich.“
„Run, das kann ich leicht, und fie haben mir ſelber den Weg gewieſen,
als Sie gleih anfangs von »Hönig und Kronprinz« ſprachen. Diefer Gegen—
ſatz exiſtiert natürlich überall und in allen Lebensverhältnijien. Es fommen
eben immer Tage, wo die Leute nad) irgend einem »Fronprinzgen« ausfehn.
Aber jo gewiß das richtig ift, noch richtiger tft das andre: der Kronprinz,
nad dem ausgeſchaut mwurbe, hält nie das, was man von ihm ermartete.
Manchmal kippt er gleid um und erflärt in plöglich erwadter Pietät, im
Sinne des Hochfeligen meiterregieren zu wollen; in ber Regel aber madt er
einen leidlich ehrlichen Verſuch, als Neugeftalter aufzutreten, und Holt ein
Voltsbeglüdungsprogramm aud wirflid) aus der Taſche. Nur nicht auf lange.
»Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch eng im Raume jtoßen ſich die
Saden.«e Und nah einem halben Jahre lenkt der Neuerer wieder in alte
Bahnen und Geleife ein.”
„Und fo wird e8 Moldemar auch madjen?“
„So wird es Woldemar aud machen. Wenigjtens wird ihn die Luft
fehr bald anmwandeln, fo halb und Halb ins Alte wieder einzulenken.“
„Und dieſe Luft werden Sie natürlich befämpfen. Sie haben ihm in
den Kopf gefett, dab etwas durchaus Neues fommen müſſe. Sogar ein neues
Ehriitentum.”
„Ih weiß niht, ob ich fo geſprochen habe; aber wenn id) jo ſprach,
dies neue Ghriltentum ijt gerade das alte.”
„Slauben Sie das?”
„Sch glaub’ es. Und was beffer ift: ich fühl’ es.“
„Nun gut, das mit dem neuen Ehriftentum ift Ihre Sade; ba will ich
Ihnen nit bineinreden. Aber dag andre, da müſſen Sie mir was veriprecden.
Belinnt er fi, und fommt er zu der Anficht, da das alte Preufen mit König
und Urmee, troß all feiner Gebreiten und altmodiſchen Geſchichten, doch immer
nod) bejjer ilt als das vom neuejten Datum, und daß wir Alten vom Gremmer=
Damm und von Fehrbellin her, auch wenn es uns felber ſchlecht geht, immer
nody mehr Herz für die Torgelowſchen im Leibe haben als alle Torgeloms zus
fammengenommen, fommt e8 zu folder Nüdbelehrung, dann, Lorenzen, ftören
Sie diefen Prozeß nit. Sonst erichein’ ih Ihnen. Baftoren glauben zwar
nicht an Geipeniter, aber wenn melde fommen, graulen fie ſich aud).”
Rorenzen legte jeine Hand auf die Hand Dubslaus und ftreichelte fie,
wie wenn er des Alten Sohn geweſen wäre. „Das alles, Herr von Stedlin,
kann ich Ihnen gern verfprehen. Ich Habe Woldemar erzogen, ala es mir
oblag, und Sie haben in Ihrer Klugheit und Güte mich gewähren lajien. est
tft Ihr Sohn ein vornehmer Herr und Hat die Jahre. Sprechen Hat feine Zeit,
und Schweigen hat jeine Zeit. Uber wenn Sie ihn und mid von oben her
unter Stontrolle nehmen und eventuell mir erfcheinen wollen, fo fhieben Sie
mir dabei nicht zu, was mir nicht zukommt. Nicht ich werde ihn führen. Das
für ift geforgt. Die Zeit wird fprechen, und neben der Zeit das neue Haus,
die blaffe junge Frau und vielleiht aud) die ſchöne Meluſine.“
Der Alte lächelte. „Ja, ja.“
Sp ging das Gejpräd. Und als Lorenzen aufbrad), fühlte fi der Alte
Kunftwart 1. Hovemberheft 1898
_ 8 —
wie belebt und verſprach fich eine gute Nacht mit viel Schlaf und wenig Bes
ängftigung.
Aber es fam anders; die Naht verlief Thleht, und als der Morgen da
war und Engelfe das Frühſtück bradte, fagte Dubslav: „Engelle, ſchaff die
Wabe weg; ich kann das fühe Zeug nit mehr fehn. Krippenſtapel hat e8 qut
gemeint.
traft der Natur.”
Ich glaube doch, gnäd’ger Herr.
Wabe nid) an.“
Uber e8 is nichts damit und überhaupt nichts mit der ganzen Heil—
Bloß gegen die Gegenfraft fann die
„Du meinft alfo: »für 'n Tod fein Kraut gewadjen iſt«. Ja, das wird
*
Rundschau.
es wohl fein; das mein’ id aud).*
Engelke ſchwieg.
Cciteratur.
* „Steht die Katholiſche Bel—
letriftit auf der Höhe der Zeit?*,
diefe „Literarifche Gemiljensfrage* er—
örtert VBeremundus in einer bei
Franz Kirchheim in Mainz erichienenen
Flugſchrift. Er will freilid unter
„tatholifher Belletriftil nicht Ten—
dena = Belletriftit verftanden mijfen |
(da Tendenz ſich mit wirklicher Dich—
tung überhaupt nicht vertrage), fon=
bern Werke, die aus fatholifhem Em—
pfinden al® echte Hunjtwerfe heraus-
gewadjfen find. Nah zum Teil viel-
leiht anfechtbaren äſthetiſchen Be—
trachtungen über das Weſen des Ro—
mans gibt Veremundus einen Ueber—
blick über die katholiſchen Autoren,
von denen unter ſieben ſechs Frauen
ſind. Es zeigt ſich eine niederdrückend
gering Ausbeute an wirklich Wert—
vollem. Veremundus begründet das
zum guten Teil daher, dab in der
tatholifchen Preſſe fait überall an
Stelle der unparteiiich fünitlerifchen
Beurteilung auch den Dichtungen
gegenüber die von einem erzieherijchen,
engherzig moralifierenden Standpunlt
aus getreten jei. Insbeſondere die Ge—
fahr, daß der Leſer und die Leſerin die
ſchlechten Beijpiele der Literatur nad):
ahme, fei zu einem wahren Schreds
eipenite geworden. Der Berfajler
feinerfeits erfennt als „abfolut uns
ſittlich‘' nur Werfe an, „die einen an
fi) unfittliden Gedanken zur Grunde
lage habe, die Sünde begehrenswert
darjtellen oder durch jeruell reizende |
Schilderungen die Scham verleten.“
Nicht die „von den Jeſuiten gepflegte
inguifitorifche* Kritik und Literaturs
Kunftwart
|
99
geſchichtsſchreibung alſo fünne der
katholiſchen Belletriftif aufhelfen, ſon—
dern „pofitive Mitarbeit von einem
freien und großherzigen Standpunlfte
aus“, „Befhäftigung mit allen bie
Zeit bewegenden Fragen“, „das aufs
trihtige Bemühen, das Ringen und
Sehnen der Zeit in künſtleriſchen
Fragen veritehen zu lernen“ und „uns
erbittlihe Wahrheitsliche, die das
Gute und Schöne, wo aud immer fie
e8 findet, anerfennt und bereitwillig
aufnimmt“. Der Berfajler verlangt
größere Beteiligung des Laienelements
an der literarifhen Kritik, da der
ſtlerus 3. B. erotiihe Probleme faum
unbefangen beurteilen könne,
aber bedeutende fritifhe Organe fehl:
ten leider ja überhaupt. Was Bere
mundus al® „die wahren Urſachen
unfrer literarifchen Rückſtändigkeit“
anfieht, die er nun zufammenfajjend
beipriht, erfennen wir aus dem
Sejagten. Mit der Tatholifchen Lite
raturfritit geht er nochmals ſcharf
ins Gericht aud) mit den fatholiichen
Familienblättern, der katholiſchen
Deere überhaupt. Unter Berufung
auf den „Kunſtwart“ warnt er davor,
die „Stimmen aus dem Leſerkreiſe“
zu überfhägen und fo fich führen zu
laifen, wo man führen joll. Jn einem
legten Abfchnitt bezeichnet der Ver—
faſſer die Abwendung vieler Katho—
lifen von der gegenmärtigen fatholi=
fchen Literatur als einen „Proteft der
jelbftändigen Bildung gegen eine bes
vormundende und miktrauifche Lite-
raturüberwadlung und eine daraus
fih ergebende Literaturverwäjlerung“.
Nicht auf die geiftig Gebildeten der
Nation, jondern auf die große Maſſe
2. Yovemberheft 1898
ber Lefer werde fortwährend pein—
lichjte Rüdfiht genommen: „hat der
Kritifer irgendwo das Gefühl, Die
geiftige Selbitändigfeit einer Reihe
von Leſern könnte nicht groß genug
fein, um das Wert aud) in dem Sinn
u verftehn, in welchem es verftanden
* will, fo wird er ſchon zaudern,
ſich uneingeſchränkt dafür zu be—
geiſtern.“ So müßte alles ins Platt—
verſtändliche herabgedrückt, müßten
greifbare Tendenzen hineingetragen
oder herausgearbeitet werden, was
dann „den Hochgenuß ſelbſtändiger
Deutung der Lebensthaäatſachen beein—
trächtigt und verkümmert.“ „Genau
betrachtet iſt dieſe Richtung eine feine
Art von Rationalismus“, die alles be—
weismäßig zu vernüchtern ſucht „und
den Künſtler, den Myſtiker des Na—
türlichen, zum Scholaſtiker des Na—
türlichen umwandeln“ möchte. „Soll
es wahr werden, was unfre Gegner
behaupten, daß der Katholizismus als
Weltanſchauung feine erobernde Kraft
verloren habe, daß er ſich nur mehr
auf die Erhaltung feines Beſitz—
Standes einrichte und es daher lieber
mit den geiftig Genügfamen unter
feinen Befennern, als mit den unter
dem Einfluß ihrer Zeit Begehrlicheren
zu thun habe?“ Verhindert werde das
nur, „wenn wir unfer ®Wirfen in der
Zeit, mit den Mitteln und in der
Sprade ber Zeit als unfere Pflicht
erlannt haben. In der Erfüllung der
erfannten Piliht merden wir dann
auf biefen Gebieten allmählidy heimi—
ſcher, und mit ber größeren Vertraut:
heit wird unfere innere Teilnahme
ewedt, unjer Verhältnis auch zur
dönen Literatur und Kunſt wärmer,
thatlräftiger werben * €.
Pichtung.
* Zu Didhterdenfmälern
mird -in der letzten Zeit wieder häu—
figer angeregt. Jetzt fol Gujtav
Freytag in Wiesbaden ein Stand=
bild befommen und Goethe, db. 5.
der junge Goethe, der Student Goethe,
in Straßburg.
* Ueber Jungöſterreich“ hielt
Hermann Bahr nun aud im
Münchner Scriftjteller- und Journa—
liftenverein einen Bortrag. Es war
mandjes daraus zu lernen, was ber
Herr PVortragende gar nicht ehren
wollte.
Kunftwart
|
Gleich anfangs ſchon flug mir
die Luft des Feuilletons entgegen:
Bahr erklärte, e8 fei eine öſterreichiſche
Eigentümlidhfeit, unmidtige Dinge
fcheinbar wichtig zu behandeln, über
Sadıen dagegen, die einem am Herzen
lägen, ganz leihthin zu reden. Es
wird fchlehte Menichen geben, die
Herrn Bahr fragen, ob er vielleicht
die Wertung der Dinge in feiner kri—
tifierenden und fonitigen Scriftitellerei
auch nad) dieſer „ölterreihiichen Eigen=
tümlichfeit* vornchme. Nun erzählte
uns Herr Bahr in mwißelnden Anek—
doten, wie man vor etwa dreizehn
Jahren in Oeſterreich geglaubt habe,
mit der Poeſie ſei's aus. Dann hätten
jth einige junge Leute zujammenges
than, das Gegenteil zu bemeifen. Zus
erſt gab’8 Sturm und Drang im
Safehaus, dann Gigerltum, Anders—
feinwollen als andre in „ftilvollen“
PBrivaträumen; endlich aber jeien die
Leute darauf gefommen, ſich ſelbſt
ehrlidy zu geben, wie fie feien, als
Defterreiher nicht als Pariſer, und
damit eine nationale, ſpezifiſch-wiene—
riſche Kunſt zu begründen. Das ſei
nun ganz ſchön, ein großer Uebel—
ſtand aber knüpfe fi dran: in ihrem
Wienertum wurden bie Defterreiher
in Berlin und anderswo oft nicht
verstanden. Ach glaube nit, daß
Bahr mit diefer legten Behauptung
viel Gläubige finden wird; mit dem
Unverftändnis gegenüber Dem ſpezi—
fiſch Wieneriſchen hat e8 wohl feine
Gefahr, weder hier nod in Nord—
deutichland. Freilich, es gibt eine
Art Patriotismus, die aud) den eignen
Budel für einen entzüdenden aweiten
Bufen hält‘, aber es iſt dod nicht
nötig, dab dieje Anficht außerhalb
der Familie geteilt wird. Bringt
uns aber überhaupt dieſes Jungöſter—
reich eine ganz eigentümlih öſter—
reihifche Hunt ? Nach dem, was ung
Herr Bahr vorgelefen, muß ich's ent=
fchieden verneinen. In der pſycholo—
giſchen Studie „Die Toten ſchweigen“
von Arthur Schnigler kann ich beim
beiten Willen nichts bezeichnend Wie—
neriihes außer den Straßennamen
und dem Dialekt des Hutfchers finden.
Ein junger Mann macht mit feiner
Geliebten, einer verheirateten Frau,
eine Droichfenausfahtt am fpäten
Abend. Der Fiafer wirft um, und
die Frau findet fih plöglicdh ſchreck—
betäubt auf der Straße neben dem
Geliebten liegen, der durch den Sturz
angenſcheinlich getötet ift. Sie fihickt
1. Novemberheft 1898
den Droſchkenkutſcher um Hilfe. Allein
mit dem Toten, wird fie von der
Angit vor Entdedung gepadt, fie läßt
ihn im Stih und läuft durd Die
Nacht davon. Glüdlidy gelangt fie
unbemerft in ihr Haus. Dann aber
verrät fie fih in einem halben Fie—
berdelirium jo weit gegen ihren Gatten,
dab ihr nichts als ein Geftändnis
übrig bleibt. In der feften Abjicht,
dies Geſtändnis unummunden abau=
Iegen, findet fie ihr moraliſches Gleich—
gewicht wieder. Die Behandlung des
Geihichtleins fällt durch nichts ſpezi—
fiſch Wienerifches auf: alles, mas dieſe
Frau denkt, fühlt, leidet, fünnte in
genau eben derjelben Weiſe jede be=
Tiebige Grofitädterin durchmachen.
Literarifh hat das Stüd feinen Wert
als gejdidte, mohlüberlegte, ſorgfäl—
tig ausgeführte Schriititellerarbeit:
als Didtung aber will's nicht viel
bedeuten. Der Gharafter der Haupt—
perion, der untreuen Gattin, zeiat ſich
eben nicht alsein lebensfähiges Ganzes.
Einesteils iſt fie ein lingeheuer von
Egoismus: vor lauter Denken an fi
fommt bei ihr nicht einmal bie er te,
elementare Verzweiflung bei der
Ueberraidung durch den Tod zum
Ausbruch. ALS fie erkennt, daß der
plöglih tot vor ihr Liegt, dem fie
eben noch leidenichaftlid) die Lippen
gefüht hat, ſtößt jie nicht einmal
einen ummillfürliden Schrei des Ent—
fegens aus — fie, Diejelbe Frau, Die
auf ihrer Flucht heimmärts eine höchſt
erregbare und dabei naive Empfin—
dungsfähigfeit zeigt, wenn auch nur
in der Angst für ih. Zum Schluf |
tritt diefe fchillernde und jchwanfende |
Eriheinung gar noch als moralifche
Heldin auf, die in der Buße offnen
Geſtändniſſes Araft und Ruhe findet.
Auf die Studie befommen wir
übſche ſtimmungs- und humorvolle
ahrmarktsſchilderungen von Felix
Salten zu hören. Indeſſen jo wiene—
riſch diesmal der Stoff war, den
Eindruck, daß dieſe Sachen grad ein
Rienerfind mit feinen bejonderen
Wiener augen gefehen, habe id) nicht
empfunden, und darauf, auf dasWie,
kommt es doc) bei all ſolchen Fragen
an. Zum Scluffe gab uns Bahr ein
Stüd eigner Arbeit, „Die jchöne
Fran“, zum Beten. Die jhöne Frau
wird dent Dann auf der Hochzeits-
reife dadurch zur Plage, daß fie über-
all vom Bublitum bewundert werden
will — mo das nicht geſchieht, ift
ihres Bleibens nidt. Um endlich
Kunjtwart
— 10X
feine Ruhe zu befommen, mietet der
Dann in Sclierjee den Meßner zum
Bewunderer feiner Frau für drei
Dart täglich und freie Verpflegung.
Braudt es mehr als dieſe Inhalts»
angabe zum Beweiſe dafür, dab ſich's
nur um einen Yeuilletonipaß handelt?
Ale Gewächſe des Mikes und der
Komif, die an diefer von den Herren
„Humorijten* häufig begangenen Land—
ſtraße blühen, ſammelt dabei Herr
Bahr gewiſſenhaft ab, ohne das be=
iheidenite Blümchen zu verſchmähen.
Anſpruchsvollere Leute dürften
doch ein wenig gewundert haben, da
Bahr mit „Werfen“, mie den geſchil—
derten, einen neuen mienerifchen Lites
teraten » Gafetifch gleih als „Jungs
öſterreich“ vorſtellen mollte.
In den Kaimſälen hörte man vor
ein paar Tage wieder einmal einen
ſchlichten Mann feine Dialettdichtungen
vorlesen, die „Literarische Geſellſchaft“
hatte ihn bergebeten. a, das war
ein Vertreter feines Vaterlandes. Ich
meine Veter Rojeggaer In ihm
als Nezitator tritt das Berinögen
plaftifhen Erzählens, das in all uns
fern deutichen Alpenvölkern ftedt, ganz
auffallend ſtark hervor. Dabei hat er
fih troß der ärgſten Bewunderungs—
anfälle jeitens der Mode die ganze
Gdtheit und die unbelümmerte Na—
türlichkeit feines Vortrags bewahrt.
Das allein ſchon madte ihn zu einem
merfwürdigen Dann. Und grade dar=
aufhin follten ihn ſich unsre
Iheatergrößen mal anfehen. Un
Gehalt waren die vorgeiragenen Saden
freilich reht ungleich.
x. Weber.
—
Theater,
*Von den Berliner Theatern.
Der König der modernen Bühne
iſt der Schwanf. An reihen Falten
fließt dev Mantel der Macht von feinen
Schultern, und das brealüdte Volk
jubelt, wenn er fih in aller Herrlid)-
feit feinen trunfnen Bliden offenbart.
Das beglüdte Volk ift immer dank—
bar, und jo zahlt es Seiner Majeſtät
mit Freuden eine Rente, die ihr ein
Reben erlaubt, fo luxuriös, wie das
irgend eines anderen gefrönten Hauptes.
Der Schwank hat aber mehr als Dieje
Rente; er hat, was nicht alle Herrſcher
haben, er hat im äfthetiichen Parlament
eine ſichere Majorität. Wenn er lächelnd
die Bühne betritt, verſtummt die Kritik
und dienert beflifjen. Die literarifchen
1. Hovemberheft 1895
—
Abgeordneten vergefien Mandat, Pro—
gramm und eigene Würde, um in
einem fanften Bogen zu eriterben, bei
dem ſelbſt der felige Hofmarſchall
von Kalb das Bewußtſein einer ge—
wiſſen demokratiſchen Widerhaarigkeit
empfunden hätte. Eine lumpige Tra—
göbte. mwird gedreht, gewendet und unter
die Lupe genommen. Ein lyriſches
Bud, wird mit fpiten Fingern anges
faßt und mit füffifantem Lächeln mie
eine geiſtige Abnormität herumgereicht.
Über ein Schwank — ab, der Schwank
ift König! Er hat Macht und Tantie=
men au vergeben und hat erreicht, was
fein europäifcher König in der Zeit
des allgemeinen Wahlrechts erreichen
fann: daß feine Maßnahmen einer
ſachlichen Kritik entzogen find. Er
führt ein Schredensregiment — wohl—
an! Er frißt die geiftigen Sträfte des
Volks — nun wohl! Er lebt, indem
wir alle fterben — mas ſchadet's!
„Es ift ja ein Shmwanf“, fagt die
Berliner Kritik und ftredt die Waffen,
Der Zuftand ift hoffnungslos, wenig—
ſtens infofern, als der einzelne ihn nicht
zu ändern vermag. Wer naiv ift, reißt
den Degen aus ber Scheide, muß aber
bald erfennen, daß er gegen Mächte
fiht, gegen bie fein Degen hilft. Die
Machtſtellung des Schmwanls iſt eine
biftoriiche Notwendigfeit, die nur durch
hiſtoriſche Kräfte befeitigt werden fann.
Das Kapital hat manden Winfel er—
leuchtet, der vorher dunfel mar, wenn
aud nur mit Auerſchem Glühlicht.
Die Philifter find durch das moderne
Leben mafjenmeife aus ihrer dumpfen
Trägheit geriffen worden. In ber ans
ſpruchsvollen Gegenwart wollen aud)
fie fich nicht länger mit Kartenabenden
und anderen ebenfo harmlojen Geiſtes—
übungen aufrieden geben. Es wächſt
der Menſch mit feinen höheren Zwecken
— in den Zirfus wollen fie, ins Pa—
noptifum, zum Radfahrertongreß und
— in den Schwanf. Die einzige Macht,
die hier einigen (aud) nur: einigen)
Wandel ſchaffen fönnte, die weilver—
breitete Preſſe nämlid), verjagt und
muß verjagen. Sie kann Ibſen tole=
tieren und Hauptmann loben — das
fchadet nichts. Wenn nur der Schwank
nicht angetaftet wird! Die Leute, die
Blumenthal lieben, find zugleich die
Abonnenten der mweitverbreiteten Preſſe
und Abonnenten reizt man nicht, we:
nigjtens nicht zum Widerfprud. Der |
Schmwanf ift die literariihe Cha— | Dreyer bringt, war immer da.
in ber Unſchuld feines Herzens glaubt,
diefen Zufammenhang der Intereſſen
durhbrehen zu fönnen, beikt auf
Sranit. Der äfthetiihe Kampf foll
und muß geführt werden, mit dem
ganzen feuer, das eine gute Sade ver=
leiht. Er fann vieles lindern und vieles
mildern. Die neue Zeit aber bringt
er nicht herauf, ſowenig wir Literaten
die deutſche Geſchichte beitimmen. Die
Gefundung des Theaters und ſchließ—
lich des gejamten Scrifttums iſt ein
hiftorifher Vorgang, an dem Dichter
und Sritifer fi) wie andere Staats—
bürger auch beteiligen fünnen — aber
nicht in der literarifchen Preſſe.
Wenn man den neuen Schmanf
Mar Dreyers in dem eben ſtizzier—
ten Zufammenhange betraditet, darf
man ihn harmlos nennen. Harmlos
freilich nicht in dem Sinn, in dem eine
allzu liebensmwürdige Kritik dem Mutor
das beliebte Beimort als willlommenes
Geſchenk enigegenbringt. Harmlos nur
infofern, als e8 ſchließlich der fämpfen=
ben Literatur auf einen ſeichten Schwank
mehr oder weniger nidt anlommen
fann. Dab allerdings gerade Mar
Dreyer ihn fchreiben mußte, ijt ein
Umitand, ber für viele Leute einen
unangenehm bitteren Nebengejhmad
haben wird. Für viele — wie ih
gleich hinzufügen will, nicht für mid),
denn id) perjönlich habe Dreyer nie
für einen Dichter von felbitändiger
Bedeutung gehalten und weiß daher
auch jet meine Verwunderung zu
zähmen, wo er feine unleugbaren lite—
rariihen Stenntnijfe in Bauſch und
Bogen für einen Schwanferfolg los—
geichlagen hat. Da man aber den
literarijchen Ernjt gern und oft als
Griesgrämlichkeit verdächtigt, muß ich
wieder fchreiben, daß ich einen guten
Schmwant fehr gerne ſehe. Wer einen
Schwanf ſchreibt, bat große Rechte.
Er darf ſich über jede ernſthafte Pſy⸗
chologie und über jede innere Notwen—
digkeit hinwegſetzen wie ein Student
am erſten über die Geſetze der Finanz—
funjt. Mer aber Rechte hat, hat Pflich—
ten, und wir fünnen zu unjerem Leid—
mwefen die Schwanfautoren von dieſem
hausbadenen Sat nicht ausnehmen.
Wir fordern von ihnen irgend eine
originelle Figur, irgend einen origis
nellen „Goup“, irgend ein originelles
fatiriiches Streifliht, furz und gut,
irgend etwas Driginelles. Was aber
Oder
rafterlofigfeit und die „weitverbreitete* | wenn man will, es war nie ba, injo=
Preſſe ijt die journaliftifche.
Kunftwart
Wer | fern feine Konflitte nie im Icbendigen
ı. Xiovemberheft 1898
- I —
Menſchendaſein wirkten, fondern immer
nur bei den Bühnenamüfjeuren jeder
Zeit und jedes Landes. Was Dreyer
zeichnet, ift der Weiberfeind, der männ=
lihe Haller des zweiten Geſchlechts in
feiner unmännlichſten ®eftalt, die Kar—
tifatur eines großen Motivs, das ohne |
äfthetifche Bedenften dem Gejohle der
Galerie preisgegeben wird. Der Herr
Butäbefiger — e8 ift in Dreyers Fall
ein Gutsbefiger — haft die Weiber
und belegt das mit Zitaten aus Schrift-
jtellern, die ebenjall8 ohne philofo= |
phiſche Bedenken dem Spott der Frauen
und der Stinder preißgegeben merben. |
Der Dann war verlobt und in der
$tnofpenzeit der Liebe fühte feine Braut
einen anderen ; deshalb hakte der Diann
die Weiber. Seine Belehrung zum
allein ſelig madenden Weib ift der
Vorwurf des Dreyerjhen Schmantes,
in feiner Durhführung jo armielig
wie die Freiheit in Preußen. Was
außer dem armfeligen Helden nod) über
die Bühne geht, find ein „bummer
Diener“, ein paar adrette Lieutenants,
ein Backfiſch von Moſer und eine
dumme Köchin aus irgend einer andern
Poſſenfabrik. Daß bei diefem Per—
fonal ein befeßte8 Parkett aus dem
Häuschen gerät, ift in der Ordnung;
daß die Kritik dienert, ift begreiflic,
dat aber jelbft ehrliche Leute ihre An—
ſprüche bis zu einem ergebenjt gemur=
melten „harmlos“ berabitimmen fonn=
ten, bedauern wir, weil foldhe jage
Beicheidenheit uns zur Erwähnung
eine® Ddramatifierten Gemeinplaßes
nötigt, der ſonſt Hanglos hätte ver:
ſchwinden fönnen.
Und nun zu Schnigler Der
Wiener Poet, der fo angenehm zu
plaudern weiß, mill augenſcheinlich
nit mehr plaudern. Er will irgend
etwas mitteilen, was die Menſchen
länger beichäftigt, als eine Taſſe ſchwar—
zen Kaffees und eine Zigarette das im
allgemeinen zu thun pflegen. Das Be—
deutende fcheint ihn zu reigen, der ein=
zelne Fall, der wie ein Schredihuß
wirft und Die Gefellfchaft in ihrem
fatten Wohlfein ſtört. Den Willen
bat er, aber es ift ein überreigter Wille,
ein Wille, der nicht aus der Kraft ge—
boren wurde, der im Gehirn entitand
und nun nad der Straft fchreit. Dies
grelle Schreien aber ift unerquidlid.
Dan hat immer den Eindrud, einem
Menſchen gegenüber zu figen, der ſich
fünftlih „auffragt*“, um bedeutend zu
ſcheinen. Scniplers Motiv ift alt.
Die Menſchheit weiß nun nachgerade,
Kunftwart
— — — — — — —
daß die Bourgeoiſie verlogen iſt und
daß die Demimonde Repräſentanten
der erhabenſten Geſinnung enthält.
Schnitzler ſagt es noch einmal, leider
ohne die Literatur darüber zu be—
reichern. An der Frage an ſich haben
wir kein Intereſſe; wir ſtehen der
„Belt“ und der Halbwelt gleich fern
und ſchenken unſer Ohr ben beiten
Gründen. Nun find es aber leider
die Gründe, auf die Schnigler jo voll:
fommen verzichtet, wie ein radifaler
Naturalift auf die Schönheiten der
Spradie. Bon dem weiblichen Engel,
der uns rühren fol, erfahren wir nichts
Nennenswertes, als den Tod ihres
Vaters, der fie in der landesüblidhen
Weiſe verfludt hat und den fie in der
Iandesüblichen Weiſe einfan bat fterben
laſſen. Das fcheint mir etwas wenig,
wenn mid die Dame drei Stunden
lang interefjieren und überdies von
meinen Borurteilengegendie bourgeoife
Zimperlichfeit furieren fol. Im alle
gemeinen find ja die fleinen Damen
der Voritadt, die in der inneren Stadt
teure Etagen bemohnen, recht harm—
108; ſie färben ihr Haar, leiſten ſich,
wenn's gebt, ein Sloup& und haben
unter allen Umftänden feite Logenſitze
im Theater. Wenn id) außer dem noch
an eine gemifle Engelhbaiftigleit der
Gefinnung glauben fol, verlange ich
Gründe — nein, ich verlange mehr:
id verlange den Grund der Gründe.
Ich mill fehen, wie zwei Dinge fo ver—
ſchiedenen Weſens wie Tugend und
Dalbmwelt zufammen wachſen fonnten.
Die Geſchichte der Gründe möchte
ich fennen lernen, und ich erhalte nicht
einmal die Gründe, felbit Schniglers
„Vermächtnis“ fteht und fällt, und
fällt alfo mit der kleinen Perſon, die
er zur Trägerin der Borftadtherrlich-
feit gemadjt hat. Sie meint, meil ihr
Beliebter ſtirbt — das thun andere
auch; fie begieht die Leiche ihres ſtin—
des mit Thränen — das thut eine
Mutter immer, aud) wenn fie daß
ausgehaltene Mädchen eines reichen
Mannes war. Sie ift in der Familie
ihres Liebhabers voll von Taft und
Rückſicht — das ift verftändlich, weil
fie alles zu verlieren und nichts zu
vergeben hat. Das Bejondere fehlt.
Die Heine Maitreffe, deren Martyrium
uns erzählt wird, ift eine Maitrefje
wie andere mehr, fie hat nichts per=
jönlicheg, das fie in unferer Erinnerung
haften läßt. Das fcheint mir der
Hauptmangel. Ob das Stüd geſchickt
oder ungeichidt, elegant oder plump,
1. Novemberheft 1898
— 105 —
geijtreich oder ſchlicht gearbeitet iit,
— darüber ließe ſich ftreiten. Aber
der Kunſtwart braucht feinen Raum
für Wichtigeres.
Zum Schlufje zu Halbe Das
Berliner Premierenpublifum hatte
feinen guten Tag. Im Haufe Leſſings
herrſchte mitunter ein Radau, wie man
ihn jelbit in einem Matrojentheater
legten Ranges nur jelten trifft. Ernite
Szenen wurden mie gelungene ftalauer
bejohlt; mohlgemeinte, aber veruns
glüdte Sentenzen wurden mit Donnern=
dem ironifchen Bravo begleitet und
wenn der Dichter eben feine ſchlimmſte
Niederlage erlitt, wurde er unter wies
herndem Gelächter gerufen. Der Dichter
— ad, er hieß Mar Halbe. Sein
Stüd it fchleht und verdiente Die
furchtbare Niederlage, den Sfandal
aber verdiente er nicht; um des Did)-
ters willen, der ehrlich geitrebt und
Gutes geleiftet hat, hätte das Publikum
feine ſchlechten Injtinfte zügeln müffen. |
Kritifieren fann man dieje „Tranödie*
nit. Halbe hat fih, in einer aller
dings faſt unbegreiflichen Weije, über
feine Begabung getäuscht. Er veriteht ſich
auf intime Bühnenftimmung und ins
time Charafteriftif.
leben und weben im Duft ihrer Heimat,
und das iſt viel. Im „Eroberer“ aber
beihmwört er die Renaifjance herauf,
wagt er jih an Motive, die mit ge—
waltiger Kraft geitaltet fein wollen,
wenn nicht das Erhabene in das Lächer—
liche umſchlagen fol. Bon den Eleinen,
hübjchen Liebestonfliften der „Jugend“
verlangt er, daß fie bedeutend fcheinen
follen. Bei der Premiere hat er ges
büßt, was er gefündigt und hat oben=
drein noch Unrecht erlitten. Daß er
endlich die Grenzen feiner Begabung
erfennte! Er iſt ein Poet des Intimen
und fann ebenfo leicht bedeutende Stoffe
bewältigen, wie Sinderarme ein
Schladhtihmert ſchwingen können. Der
geitrige Abend hat klar und deutlich
das Gebiet bezeichnet, das fein Fuß
nie betreten darf und der defpotifche
Mob Hat zudem eine Rarnungstafel
aufgerichtet, die wohl geeignet it, zu
fchreden.
Someit die Sadhe in Betracht kommt,
ichliegen wir jegt. Darüber hinaus
glauben wir aber doch unferen Leſern
eine Mitteilung jchuldig zu fein. Ein
leidlich begabter Dlime, der Jarno
heißt, fühlte fich vom geiſtesverwandten
Ulk des Publikums angeftedt und ulkte
in einer fchmwierigen Situation durd)
eine rüde Handbeweaung mit. Daß da—
Kunftwart
Seine Menſchen
— — — — — —
nigen der
durch der brauſende Lärm im Parkett
zum Orkan anwuds, iſt ſelbſtverſtänd—
lich. Ebenſo ſelbſtverſtändlich aber
hätte ſein ſollen, daß Herr Direltor
Neumann-Hofer den vergnügten Herrn
noch am ſelben Abend aus dem Ver—
band ſeiner Bühne entließe. Die kon—
traktliche Berechtigung dazu hatte er
unter allen Umſtänden.
Erih Schlaikjer.
Muſit.
* In Münden war das bedeu—
tendite „Muſikereignis“ der legten Zeit
Profejlor Berthold Hellermanns
Unternehmen, mit dem bedeutend
veritärften Kaim-Orcheſter, die ſämt—
lichen zwölf ſymphoniſchen Dich—
tungen Liſzts in einem vier Übende
umfaffenden Zyflus vorzuführen, eine
„Ihat* (um cin viel mihbraudtes
Wort aud einmal da anzumenden,
wo e8 wirflih am Plage ilt), deren
fogufagen „moralifhes“ Verdienſt
nicht geringer anzujdylagen iſt, als
das rein fünitlerifhe. Ein Alt pie
tätvoller Huldigung, vom Schüler
dem großen Lehrer und Meifter dar
gebradt, geitaltete ſich durch feine
mwürdige, zum Teil geradezu alanz=
volle Ausführung zu einem muſilkali—
ihen Ereignis allereriten Range®.
War e8 ſchon im allgemeinen hoch—
interejlant, dieſe Meiſterwerke einer
Gattung, in der, wie faum in einer
anderen, die fünjtlerifche Gigenart
Liſzts ſich rein und deutlich ausprägt,
in lüdenlofer Reihe vorüberzichen zu
hören, fo faınmelte fi natürlich diefe
Zeilnahme ganz bejonders auf dieje—
ymphoniſchen Dichtungen,
die man ſonſt felten oder gar nicht
aufführt. In diefer Beziehung bot
der „Hamlet“ wohl auch folden,
die mit dem Lifztichen Schaffen vers
trauter find, eine Ueberraſchung. Die
mit Worten nidt einmal aud nur
anzubeutende, geradezu ſuggeſtive
Wirkung, welche dieſes kurze Stüd
troß, oder vielleicht gerade mit in=
folge feiner mufifaliihen Schlicht—
beit und Reizlofigleit bei fongenialer
Aufführung, mie bier unter Keller—
mann, ausübt, war jelbit für genaue
Stenner der Bartitur faum zu erwar—
ten. Für das große Publitum frei
[ich wars „Caviar“, was man außer—
dem nur noch von der grandios wuch—
tigen „H£roide funebre* jagen fann.
Auch diefes Werk veritehend zu ges
nießen, wird noch für lange Zeit den
1. Novemberheft 1898
- 18 —
„Epopten* des mufifalifchen Eleufis
vorbehalten fein. Dagegen verjehlten
die fämtlihen übrigen Stüde aud)
auf die Menge der überhaupt künſtle—
riſch Genußfähigen nicht ihre tiefe und
mächtige BWirfung, wie ja diefe Sachen
ganz dazu angelegt find, im beiten
und ebeliten Sinne des Wortes po=
pulär au merden. Möge Seller:
mann Nachfolger finden! Denn mehr
noch als ſ. 3. an Wagner und Bers
lioz Hat die Nahmelt an Lifzt ein
großes, von den Mitlebenden began=
genes Unrecht wieder gut zu maden,
foweit das möglih iſt. Seine uner-
hörten Triumphe als Slavieripieler
ftanden ihm im Wege, als er Die
Hand nad) dem unvermelflicheren
Lorbeer des neu jchaffenden Htünitlers
auszuftreden wagte: war er dod) fo
unvorlidtig, das zu thun, nachdem
ihn die „Kritik“ bereits dur das
Auffleben der Etifette „reprodugzies
render Künſtler“ zur Unfähigkeit auf
dem Gebiete der jelbjteignen muſika—
liihen Produftion verdammt hatte.
Es ift hohe Zeit, diefer Fälfhung und
Arreführung der öffentlihen Meinung
mit aller Energie entgegengutreten,
und zwar nidt ſowohl um Liſzts
willen — jein Genius wird jidh mit
oder gegen uns doch ſchließlich Bahn
breden —, als megen unjrer jelbft,
damit mir nicht zu Mitjchuldigen an
den Sünden unferer Väter werden.
Sollte man es doch nicht für möglid)
halten, daß — um ein bezeichnendes
Beiipiel anzuführen ein gegen
Liſzt keineswegs voreingenommener,
ihm vielmehr durchaus ſympathiſch
gegenüberſtehender Beurteiler, Hugo
Riemann, auch noch in der neueſten
Auflage ſeines weit verbreiteten Mu—
ſiklexikons (1894) den Saß ſtehen läßt,
daß „die eigentliche ſchöpferiſche Bes
gabung Liſzts anzugmeifeln“ fei, einen
Saß, den er doch eigentlich jelbit als
abjurd erfannt haben müßte.
R. £ouis.
* Wornad und wie ftudiert
man Sontrapunft?*, fragte vor
einiger Zeit ein eifriger Kunſtwart—
lefer und Muſikfreund“, der feine
Kenntnifje vertiefen und in die Wun—
der ber Polyphonie, der Fugenkunſt
u. f. w. eindringen wollte. Damals
fonnte ich ihm privatimnur eini e mehr
oder minder unpraftiihde Schmöder
nambaft maden, die ihn ohne die
mündlide Erläuterung eines Lehrers
aud nicht viel weiter gebradt haben
dürften. Nun vermweife id) ihn aber
Kunftwart
— und zwar zu allgemeinem Nupß’
und Frommen gleih im Kunſtwart
jelbit — auf die Ausgabe der Fugen
des „Wohltemperierten Klaviers“ von
Dr. 5%. Stade (Leipzig, Steingräber,
2 Bde. a Mi. 2.50). Diefe ift partitur=
mäßig, d. h. jede Stimme iſt auf einem
befonderen Syftem gefest, was den
Einblid in die Stimmführung und
damit in den Aufbau der Werle außer—
ordentlich erleichtert. Unter dem Texte
läuft ein vorzügliher Kommentar, der
die motivifchen Bildungen und ſom—
binationen fnapp aber treffend erläus
tert. Und jo glaube ich verfichern zu
fünnen: mer dieſe Ausgabe durchge—
arbeitet bat, iſt ein wohlbeſchlagener
Mufitus, der vor den gelahrteiten
Kontrapunktiſten mit Ehren beitehen
fann, und befigt eine Einſicht in den
Bachiſchen Stil, die ihm aud die
Kenntnis feiner übrigen Werke fait
mühelos erfhließen muß. Der Her—
ausgeber, Dr, 5. Stade, hat durd) eine
vorausgeihidte furze „Lehre vom
Stontrapunft und von der Fuge* bie
Brauchbarkeit des Ganzen aud) beim
Selbitunterridte in dankenswerter
Weiſe erhöht. Der Tert an fih fann
endlich noch zur Verbreitung im Par-
titurfpiel dienen, mobei der Vorteil
darin liegt, dab fi) der ganze Satz
Haviermäßig ohne Auslaſſungen fpie-
len läßt.
* Mit dem Mufitverfauf nad)
dem Hilo dürft’ es zu Ende fein:
Herr Karl Simon erläht im „Wahl-
zettel“ eine lange Erflärung, die über
den Berrat diejes „Geſchäftsgeheim—
niſſes“ an uns klagt, zum Schluffe aber
verfündet: er wolle in Zufunft feine An=
gebote von Reitauflagen, für den Handel
„in Rabattform jtatt in ſilogrammen“
maden. Das wird etwas mwürdiger in
der Form fein, aber an der Sadıe
ändern wird es natürlich nichts. Wir
wollten dem Mann auch gar feinen
großen Vorwurf maden, er hat naiven
Gemütes für einen traurigen Zuſtand
nur den treffenden Ausdruck gefunden.
Das Traurige aber liegt darin, daß
Mufitalien nit nad dem innern
Wert, jondern nad) der Höhe der Ra—
battjäge für den Zmifchenhandel ins
Volk geworfen werden.
Bildende Kunft.
Aus dem Berliner funit-
leben.
E8 iſt mir von jeher aufgefallen,
mwieviel Gutes und ntereflantes in
1. Xovemberheft 1898
- 1065 —
Berlin befonders im Winterhalbjahre
au fehen ift. Zu einer Zeit, mährend |
der e8 in München ganz tot ift, fann
man bier die verfchiebenartigjten in—
und ausländifhhen Werke fennenlernen. |
Gine fi ſtets fteigernde Konkurrenz |
zwingt die Inhaber der Kunſtſalons,
die itrengjten Unjorderungen an ihre |
AYusjtellungen zu itellen. Und über |
mangelnde Teilnahme bürfen fie ſich
|
hier nicht beflagen, denn, foviel Ba= |
naufentum Berlin umfchliefen mag
— die Zmweimillionenftadt beherbergt |
doch auch eine fo ftattliche Gemeinde |
von „Eſoterikern“, daß fie allein * |
ein zahlreiches Publikum ftellt. Und |
vielleiht fteigt der Prozentfag an
wirflihen Sunftfreunden in feiner |
Stadt Deutſchlands fchneller, als ges |
rade bier. |
Wie wäre eine Schöpfung, wie die ı
Ausstellung Keller & Reiner fonft
möglih! Es iſt mohl das großartigite |
Privatunternehmen diefer Art, das in |
Deutichland beiteht. Schon im Vor⸗
jahre war im Sunftwart mehrfach
davon die Rede; in diefem Herbit hat
nun eine bedeutende Umgeltaltung
und Vergrößerung ftattgefunden. Bor
allem iſt das Inſtitut um zwei große
Oberlichtſäle für Bilderausitellungen
vermehrt worden, die zu einem ver—
einigt werben können und dann den
arößten Saal biefer Art in Berlin
bilden, woburd bie zweckmäßige Vor—
führung monumentaler Werfe ermög-
liht wird. Dann aber find bie fänt-
lihen alten Räume * erſter Linie
der angewandten Kunſt gewidmet) jo
durchweg neu delorativ ausgeſtaltet
worden, daß man ſie nicht wieder er—
kennt. Beſonders der große Vorraum
mit Verkaufshalle, das Leſezimmer
und die nach den höher gelegenen
Räumen führende Treppe iſt durch
Van ber Veide in ganz eigenartiger |
Weiſe ausgeftaltet worden, während
die folgenden Zimmer befonders durch |
Künitler der Bereinigten Werfitätten
für Kunſt im Handwerk Münden ge—
ſchmückt und gefüllt murden. Ein
Raum wurde mit anmutigen dekora—
tiven Stidereien von Marie Kirſchner
ausgestattet, während ber Oberlicht-
bau von Meſſel ftammt. So bildet
diefe Anstalt jegt den Ort, an dem
die Jdeen und der Wille unferer Zeit
am beiten und vielfeitigiten zum Aus—
drud fommen. — Die Eröffnungss
— Posi eine große An—
zahl von Werfen — um eine beliebte
Nedensart zu gebrauden:
Kunftwart
die aufge
forderten Künftler hatten ihre Viſiten—
farte abgegeben. Das Bebeutendite
war wohl Klingers Marmorftulptur,
die im Frühjahr in Wien war. Die
weite Ausitellung bringt Barifer Neo—
Impreffioniften. Ich könnte nicht be=
haupten, daß ich den Wunſch hegte, dieſe
Gemeinde möchte hier Schule machen.
Aber daß die Werke die Künſtler und
auch die kunſtverſtändigen Laienkreiſe
ehr intereſſiert haben, iſt anzunehmen.
an will ſchließlich doch ſehen und
kennen lernen, was um einem herum
entjteht, und da ift einem, was tolle
Sprünge madjt, immer nod lieber,
al8 die einfdhläfernde Fabriksware
draußen in Moabit. Was das Winter:
programm von Seller & Reiner fonjt
noch verheißt, das fpridt aud von
feinem Gefühl für die Bedürfnifie
unferer Zeit.
Auch die übrigen Kunſtſalons in
Berlin bringen ausgezeichnete Herbſt—
ausitellungen. So Schulte eine
ganze Sammlung mwundervoller Schö—
pfungen Hlingers. Es find Entwürfe
in Delfarbe, anſcheinend für —
gedacht, und es iſt ungemein ſeſſelnd,
dieſes Genie ſich auf ſolchem Gebiet
bethätigen zu ſehen. Wir wollen ver—
ſuchen, im Bild und Wort auf dieſe
Arbeiten nochmals zurückzukommen.
Auch Gurlitt bringt zwei Klingerſche
Merfe — merkwürdig, wie mit ein—
mal das Publikum den noch vor
kurzem ſo wenig Verſtandenen ſucht.
Dann iſt das neue Künſtler—
Pen eröffnet worden. Die Aus:
tellung bietet wenig Neues; eine Aus—
lefe von guten und fchlechten, neuen
und alten ®erfen, ohne Wahl aufge
hängt, ungefähr mie in ber großen
Ausitelung draußen. Ein jchöner
Ludwig von Hofmann ift zu fehen;
faſt nod) lieber ijt mir ein Bild diefes
Künftlers, das jest bei Gurlitt tft.
Da wir von Hofmann heut eine Bil-
derbeilage geben, verweiſe id) auf die
Begleitworte Dazu. Sd.-eXba.
* Zur Dentmalpflege.
Eine der köſtlichſten Zierden der
Rheinlande bildet das ehemalige fur=
fürftlide Schloß zu Mainz, ein
mädjtiger Profanbau aus dem ı7. und
ı8. Jahrhundert, deſſen Wiederher-
—— ſeit Jahr und Tag eine be—
chloſſene und geſicherte Sache iſt.
Leider ſcheint nun bei der Militärver—
waltung ein Plan gereift zu ſein, der
dazu angethan iſt, alle Opfer vergeb—
Li werden zu laffen; man beabſich—
ı. Ziovemberheft 1898
— 16 —
tigt die in unmittelbarer Nachbarſchaft
bes Schloſſes befindlihe fogenannte
Schloßkaſerne, einen öden, langge—
ftredten Nutzbau bedeutend au ver=
größern und zu einem umfangreichen
Soldatenlager umzugeſtalten. Alles
Streben einen Balafibau deutſcher Re—
naiffance in feinem urfprünglichen
Glanze wiederherzuitellen, wird, wenn
dem Stunftwerfe der Rahmen fehlt und
die Umgebung ihn nicht hebt, fondern
drüdt, für alle Zukunft, jo lange der
geplante Kaſernenkaſten fteht, gemalt
fam vereitelt. Die Schloßkaſerne wird
dann als trennende Barrifade zwiſchen
Alt- und Neuftadt liegen bleiben an
jener für alles Schöne prädeftinierten
und zugleich einzigen Stelle des Rhein-
ufers, an der ſich der innigite Zus
ſammenſchluß zwiſchen Alt- und Neu:
ftadt vollziehen müßte. Es liegt hier
ein tiejgehender Stonflift der militä=
tifhen und fommunalen Intereſſen
vor, der bei der Bedeutung des Monu—
mentes, um das es ſich handelt, in
weiteren Kreiſen befannt zu werden
verdient. Es ſcheint nicht einleuchtend,
warum man daran denkt, im fünitle-
rifhen Mittelpunftt des Stabtbildes
eine ausgedehnte unſchöne Zwingburg
au errichten, während fonft überall
das Beitreben vorherrſcht, die Kafernen
in die Nähe der großen Hauptitraßen
und Bahnhöfe zu verlegen. Bei einer jo
wichtigen Sache mühten fich die Ver—
mwaltungen entgegenlommen, um zu
verhüten, was fpäter nicht mehr oder
nur mit unverhältnismäßigen Opfern
gut zu machen ift. Es ift zu erwägen,
ob nicht das Reich bei derartigen Kon—
fliften eingreifen joll, und wenn dazu
etwa nod) die rechtliche Handhabe fehlt,
ob fie nicht gefchaffen werden fünnte?
Bielleiht iſt nicht allgemein befannt,
daß im Nahbarlande Frankreich die
Staatliche Denftmalpflege durd) das Ge—
feg vom 30. März ı887 eine feſte
juriftiihe Grundlage erhalten bat.
Diejes Gejeg iſt im gleichen Maße
überall ben vorhandenen Rechtsin—
ftituten und den Einridhtungen ber
Bermaltung angepaßt worden, e8 hat
mit Glüd die in langer Thätigfeit ge⸗
ſchulte „commission des monuments hi-
storiques“feinen Zmweden dienjtbar ge=
madt und meilt alle Merkmale ges
funder Gefeggebungspolitif auf. Ohne
Webertreibung find dadurch Die Inter-
eſſen der Gedichte und Kunſt gewahrt
und auch jein Verſuch, die auf dem
@ebiete des Dentmalichuges jo Teicht
einander feindlich fi) begegnenden In—
Kunftwart
|
|
—— —— ——— — ——— — — nn — —
tereſſen und Anſprüche möglichſt aus—
zugleichen, iſt vollkommen gelungen.
Der Ausblick auf fremditaatliche Ver—
hältniffe fcheint in unferem Falle um
fo gerechtfertigter, weil die franzöſiſche
Verwaltung und die dortigen Gerichte
ftet8 anerfannt haben, daß Gebäude
ip werden dürfen, fofern fie nur
ein Denkmal verunjtalten oder ver—
bergen. Statt deſſen will man bei uns
einen öden roten Steinblof mie bie
Schloßkaſerne, dem jede geichichtliche
und künſtleriſche Bedeutung fehlt, nicht
nur in unmittelbarer Nähe eines der
fein ten und reizvollſten deutſchen Re—
naiſſancedenkmäler erhalten, ſondern
ihn ſogar noch durch Ausbau nad)
jeder Richtung bedeutend vergrößern.
Selbitverftändlid kann nicht, wie
hon Geh. Juftizrat Prof. Lörſch in
einen Ausführungen zu dem mehrfad)
nenannten Geſetze Darlegt, an eine
flache Uebertragung der frangöfifchen
Beitimmungen auf deutſche Verhält—
niſſe gedadhht werden. Über in ihrer
Folgerichtigfeit und glüdlihen An—
paſſung an das geltende Recht und die
beftehenden Einrichtungen find fie als
geradezu vorbildlicd) anzuerkennen. Die
Frage, ob nicht Die deutſche Geſetz—
gebung, ohne die Selbjtändigfeit der
einzelnen Provinzen und Staaten zu
verlegen, allgemein leitende Geſichts—
punfte fejtlegen fünnte, iſt feinesmegs
von der Hand zu weiſen. Freilich
wird der Gefehgeber und werden nod)
mehr diejenigen, die ihn unteritüßen
wollen, fi) immer wieder vorhalten
müflen, daß auch das beſte Geſetz
feinen Nuten ftiftet, wenn das, mas
es fördern und ſchützen fol, nicht in
den Anfhauungen und Neigungen des
Voltes und vor allem der Gebildeten
Anerfennungund Schu findet. Möchten
wir dod) alle der Worte Miontalemberts
gedenten: Les longs souvenirs font les
grands peuples.
Unfere Beilagen.
Unfre Notenbeilage bietet dies—
mal ber Hausmufift drei Sadıen dar
von Joh. Seb. Bad. Brauden wir,
nah allem früher Gefagten, zu bes
gründen, weshalb wir von „fo be=
fannten Meiſtern“ etwas bringen ?
Sind fie denn „ſo“ befannt? Dem
Namen nad, ja da find ſie's wohl,
aber den Werfen nad) find ſie's höch—
ftens, wo ſich's um ihre Hauptſchöpf—
ungen handelt. Abſeits von denen
aber jprudeln Quellen lauteriter Schön-
ı. Movemberheft 1898
- 102 —
Künftler8 ausmadt: das innerlidye
Schauen, das Berdidhten der bloßen
Natureindrüde zu neuen inbividuell
eprägten Formen, ilt bei ihm jo
Fat, wie bei ganz wenigen. Die Welt,
beit, zu melden oft faum ber Fach—
mufifer den Pfad gefunden hat.
Gleich das erjte Stüd, der Schluß—
ver8 der herrlichen Stantate über
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“
im ftraffen Choralfaß iſt weit weniger
befannt als die Bearbeitung ders
felben Weiſe (fie findet fi) zuerſt
1598 in Philipp Nicolais „Freuden—
ipiegel*) in Mendelsjohns „Paulus“.
Mendelsſohn verftand ſich mwahrlid)
nicht jchleht auf die Setzkunſt, aber
mer ſich Bachs überlegene, gemaltige
Meifterfchaft recht zu Gemüte führen
will, vergleiche deffen Arbeit mit der
feinen, wie wir fie heut wiedergeben.
Welch fchöner Fluß der Stimmen!
Melde Natürlichkeit der Harmonien,
da man meint: e8 fünnte gar nicht
anders gemadt werden! Welcher Ernit,
welche Mannhaftigfeit des Charakters!
Belommt nad diefem Pröbchen der
die er geftaltet, ift ganz feine Welt
und wer fih einmal in fie hinein ge—
fehen, der erfennt fie jtet8 mieber.
Hofmann tft ein Meifter des Delorativ-
formalen: aber ihm gelingt e$ in jeinen
beiten Schöpfungen nicht minder, fees
Lifch zu beleben. Weſſen Phantafie über:
haupt ſtark genug ift, in eine Zauber—
traummelt einzudringen, der wird bei
ihm vor allem der märdenhaften
Stimmung genießen, aber dieje
Stimmung ijt hier mit dem Defora=
tiven völlig eines geworden. Merf-
mwürdig ift unfer Bild alsdann, meil
e8 mit dem Rahmen ein jdier uns
| trennbares Ganzes bildet. Wer da
‚ meint, daß das ein Fehler jei, der
Leſer auf die ganze Stantate Luft, fo | möge die Begründung für dieſe Mei—
ift das legte Ziel diefer Unregung ers | nung ſuchen — wir glauben nicht, daB
reiht. Empfohlen fei die Ausgabe bei | er aufStichhaltigeres, als überfommene
Breitfopf & Härtel (Slavierauszug | Vorurteile treffen wird. Die Linien
ME. 1.50). und Formen, die Hofmann da bringt,
Das folgende Stüd ift dem Supple= | klingen wie anmutigsfeierlihe Mufif,
mentband zu Bachs Slavierwerfen | fie jchmellen an und verhallen dann
(Edition Peters, ME. 3.—) entnommen | wieder leife, wie ins Unendliche. Hof—
und trägt die Bezeihnung Gigue, | manns Kunſt ilt eine Kunſt der ans
d. h. einer alten Tanzform in fehr | mutigen Schönheit. Er ſucht nicht
lebhaften Zeitmaße. Es hat gar nichts | das unerbittlid Charafteriftiiche, ſon—
opfiges an fih, ja man fönnte e8 | dern er träumt von paradiefifchem
iſchweg als Charafterftüd, etwa mit | Lebensglüd.
der Ueberſchrift „Fröhlicher Reiters: Sernand Khnopff in Brüſſel
mann“ fpielen und darin gejdildert | ift einer der feltfamften Maler der
finden, wie das Rößlein ausgreiit, wie | Gegenwart, das Bild aber, das wir
es unter feden Aflorden den Abhang | hier von ihm bringen, wählten wir,
herunter, dann geitredten Galopps | um einmal zu zeigen, wie fein charak—
über die Ebene faujt und fchließlich | teriftifch diefer Myjtifer auch das ge=
unfern Bliden entichwindet. — Das | mwöhnliche Leben daritellen fann. Das
folgende Heine Menuett entftammt | Bildnis des Kleinen Mädchens erjcheint
gleichfall8 jenem Supplementbande. | auf den eriten Blid fait „harmlos“.
Jedes Find kann es fpielen, aber auch Aber mit welcher Jntimität ijt es
der erwachſene Muſiker wird an feiner | gegeben! Es jtedt eine Beobadhtung
entzüdenden Einfachheit und Grazie | und eine malerifhe Feinempfindlich-
feine $reude Haben. feit und Vornehmheit darin, die ſtau—
Bon unfern Bilderbeilagen | nenswert ift. Khnopff ift durch und
ift die eine Ludwig von Hofmann ges durch „refervierter Ariſtokrat“ unter
mibmet. Was unfrer Anſchauung nad | den Malern.
eines der wefentlidhften Momente des
Inhalt. Säaufpieltunft und Theaterihulen. Bon Eugen Kalkſchmidt. —
Grotthußens Probleme und Charakterlöpfe. Bon Adolf Bartels. — Die Technik
des Sprediens. Bon Anton Urſpruch. — Ueber Kunjtpflege im Mitteljtande. IX,
Von Paul Schulge-Naumburg. — Loſe Blätter: Aus Fontanes „Stehlin”.
— Rundihau. — Bilderbeilagen: Ludwig von Hofmann, Babdende; —
Khnopff, Porträt. — Notenbeilage: Joh. Seb. Bach, Choral, Gigue, Menuett.
Verantwortlich: der —— Ferdinand Avenarius in Dresden-Blaſewitz. Mitredafteure: für
Mufif: Dr, Rihard Batfa in Prag, für bildende Kunf: Paul Shulge-Haumburg in Berlin
Sendungen für den Tert an den Herausgeber, über Mufif an Dr,
Batka.
Derlag von Georg D. W. Callwey. — Kgl. Hofbuchdruderei Kaſtner & Koffen, beide in Mäanchen.
Beftellungen, Anzeigen und Geldjendungen an ben Derlag: Georg D. W. Callwey in Mänchen.
handlung: Georg D. W. er in ABüncben.
Nahdrud fämtliher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und der Beilagen,
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird feine —
übernommen, Rüdfendung nur wenn Rückporto beilag.
Chicago, London 1999. Preisgekrönt a FE...
F. W. Barella’s Universal- ‚Magenpulver.
Sollte kein Magenleidender unversucht lassen, da es sofort alle
beseitigt. Proben gratis gegen Porto! Auskunft sasstgsttiteh, 410
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DER RUDSTWART |
Künstlerische Weibnacbtsgescbenke.,
Es gibt bei ung eine munderfame Spezie® von reich verzierter
Bare, die man „Kunftgegenftände* nennt. Sein Menſch dächte je im
tiefiten Traume daran, fid) fo etwas zu kaufen, und feiner verlangt im
hellften Wachen jemalß nad) feinem Beſitze. Wer’8 aber gejchentt be=
fommt, der jagt: „eil“, denn von Geſchlecht zu Gefchleht hat fich in
ihm der fromme Glaube vererbt, diefer Gegenftände Wirkung fei, „das
Leben zu verſchönern“. Deshalb: hältit du etwas auf did, jo mußt
du ja wohl dergleichen im Haufe haben, e8 geht nicht anders, denn: als
Gebildeter mußt du dir „daS Leben verjchönern“, dazu aber find jene
Dinge da, — alfo! Früher nannte man fie „Salanterieartifel“, jett
nennt man fie mehr „Gefchenfsgegenftände*. Denn was du dir nicht
felber thuft, das füge du den andern zu: faufjt du „dag“ nicht für Dich,
fo kauf es, um es zu verfchenfen, wie du deinerfeit dergleichen geſchenkt
friegft. Seine Geftalt ift mannigfaltig: e8 kann aus Zinkguß und
bronziert, e8 fann aber auch auß „cuivre poli“ fein, oder aus Por—
zelan, in welchem Falle zumeiſt Roſen daran fleben oder himmlische
Genien, oder aus Krofodillederimitation mit Meffingbleh. Bon den Em—
pfängern liebt e8 der erfahrene bejonder8, wenn e8 aus Glas ift, denn
diejes entjchuldigt vor dem Gefchentgeber eher ein Unglüd, das über
Trümmern Hagen läßt. Aber die Erfahrenheit gedeiht, wie angedeutet,
hier langjam: bei weitem die meijten ftauen und jtapeln ſich al ihrer
Jahre Geichenkstunftgegenftände auf und wandeln zagen Schrittes zwijchen
ihnen herum. Mit den Hochzeitsgeichenten ging e8 los und mit jedem
Geburtötag und jeder Weihnacht wuchs der Segen.
Ernfthaft geſprochen: ach, es find Karikaturen, diefe „Kunftgegen-
ftände*, diefe Prachtvaſen, das Stüd zu fünf Dark, dieſe Photographies
rahmen und =ftänder mit den Formgejhwüren und Zierratsausſchlägen,
diefe Photographiealbums mit ihren „reichgepreßten Metalldeden“, dieje
Briefbeichwerer, Lampen, Lämpchen und Laternen, diefe Metalltifche und
Majolitatifhe und Pradtteller, die ihr verlogenes Dafein damit moti=
Kunftwart 2. Wovemberheft 1898
— 19 —
*
vieren wollen, daß fie, wenn fie nichts jeien, jo doch nad) etwas aus—
fähen, worauf e8 ja beim Berfchenten ankomme. Oder ftimmt’8 heute,
im Jahre 1898, nicht mehr? Sind all die blendend hellen Schaufenfter
die ganze Leipziger, die ganze Friedrichftraße in Berlin entlang
dem Bankerotte nahe? Es fieht nicht danach) aus. Daß all diefe Schäge
für den Gebrauch nicht möglich oder doch zum mindeſten höchſt uns
zwedmäßig find, das ahnen nun zwar die Käufer und Befiger. Uber
fie müffen doch wohl ſchön fein, weil fo viel Verzierung daran ıft, und
der Gebildete, Männlein oder Fräulein, muß in feinem Zimmer doc)
„Kunftgegenftände* Haben.
Man jagt, e8 würde nicht Geld genug für Kunſt ausgegeben.
Man zähle einmal zufammen, was für Summen bei diefem, eines ernſt—
haften Menjchen unmürdigen Plunder umgefegt werden, Ein Teil
nur davon genügte jchon, eine Fülle von echter Kunſt in die Häufer und
die Familien zu tragen. ber man vertrödelt fein Geld für Albern—
heiten, vor denen ein fommendes Geſchlecht noch lange darüber nach—
finnen wird, wie e8 fi) feiner mit Anſtand entledigen fünne.
Die Gejchenkzeit naht. Wie ſchön im Grunde da8 Streben ift,
allen Näherftehenden eine Freude zu machen, jo wenig Ichön ift zumeift
die Art und Weile, wie man ihm nachkommt. Den November über
denkt man noch nicht viel an Weihnadht, aber Mitte Dezember, vor
Thorſchluß, fällt's einem ein: es iſt ja die hödjfte Zeit! Man ftedt
Bifitenfarten in die Tafche, fährt in das Geichäft mit den „Xurus-
waren“, jucht, da man zwölf Leute beichenten muß, zwölf Gegenftände
zu den beftimmten PBreifen zuſammen, ftedt die Karten daran — „nicht
wahr, ich kann mich auf Ihre Pünktlichkeit verlaffen?* — und damit
ift auch dieſes „Geſchäft“ erledigt. Man fehrt Heim und befommt am
heiligen Abend den Lohn feiner Thaten. Wie du mir, fo ich dir.
Und wie ſchön Fünnte ſich gerade diefe Gelegenheit geftalten, den
häuslichen Kunſtſchatz zu bereichern. Nicht als ob ich ſelbſt der Anficht
wäre, daß man nur Kunſtſachen ſchenken dürfe — id) habe nie verſtan—
den, weshalb es gegen die Sitte ift, Fernerſtehenden aud einen prak—
tiichen, d. h. einen jchlichten und thatlächlich verwendbaren Gegenftand
zu ſchenken, gegen die Sitte, er ſei denn eß-, trinf- oder rauchbar. Aber
gerade die Gejchenfzeit regt ja gut am dazu, fich mit der Kunſt zu be=
Ichäftigen, und folder Anregung brauchen wir nod).
Gibt man fi) etwas Mühe, jo ift es Heute fo Schwierig nicht mehr,
gute Sachen zu fchenfen. Daß die Grundbedingung dazu die ift, ich
mit dem zu Beichenfenden gedanklich zu beichäftigen und zu ergrüns
den, was er wünſcht oder was ihm notwendig ilt, das brauch ich
hier nicht zu erörtern. Es gehört zum theoretiichen Nllgemeinen, machen
wir heut, wo Weihnachten naht, Lieber ein paar praktische Vorſchläge.
Die zeigen auch, was wir meinen, nügen aber zugleich, indem fie ins
volle Leben weiſen.
Die Hauptmaſſe der Geſchenke beſteht wohl aus Sachen im Werte
von drei bis dreißig Mark — einen feſten Satz kann man ja da nicht
annehmen. Was ſteht Einem zu ſolchen Preiſen zu Gebot? Iſt es da
wirklich ſchon möglich, von Ankäufen „echter Kunſt“ zu reden? Ich ver—
bürge mich dafür, daß es möglich iſt, in einem Umfange und einer
Kunftwart
— 110 —
Eermergon
Reichhaltiateit der Möglichkeiten, die vieleicht die meiiten der Fernſtehen—
den gar nit ahnen.
Auf dem Gebiet der reinen bildenden unit wird es fich natürlich
zumeilt um Stopien, um Reproduftionen Handeln müljen. Aber auch
wenn man Originalwerke wäünſcht, wollte id) mich verpflichten, eine
ganze Sammlung zuſammen zu befommen. Auch wenn für jedes ein-
zelne Blatt nicht einmal immer der oben genannte Marimalpreis ans
gelegt werden ſollte. Dabei meine ih jet auch nicht Originals
radierungen und Lithographien,, die ja Ichlieklih, obwohl Abdrüde, als
Driginalmerfe gelten müſſen. Sondern heraus aus den Studien und
Stizzenmappen der Künſtler würde es möglich fein, Schäge zu heben.
Ih bin im allgemeinen nicht dafür, Skizzen an die Wände zu hängen.
Uber e8 gibt zwiichen den andern auch Kleine Entwürfe oder auch Skizzen,
die fi zum Wandihmud eignen, wenn man nur die rechten zu finden
verfteht. Die rahme man dann nicht anfpruchsvoll, fondern eben als
Heine Entwürfe. Dder wenn fie fih nicht für die Wand eignen, ja,
würden jie denn nicht auch als Kunitblatt für die Mappe mehr Freude
machen, als irgend ſolch ein Qurusartitel aus dem Laden, wenn fie von
einem Lieblingskünitler des Beſchenkten ſtammten?
Ader wie das Beſchaffen? Allerdings, jo einfach wie's emem
im Laden gemacht wird, fo einfach hat man's nicht. Trotzdem, die Be-
mwohner der großen Städte könnten e8 ohne erheblihe Mühe erreichen.
Und wie viele Gichäftsleute und Beamte aus der Provinz lommen im
Binter einmal in die großen Städte und könnten die Gelegenheit benugen.
Schon aus Freude an dem Intereffe und der Liebe zur Kunſt würden
die Künstler Leuten mit folchen Anliegen gern entgegenfommen. Ya,
die Liebe zur Kunſt — mo dieje Liebe fehlt, da freilich wären die Mühen
zu groß und all meine Vorichläge in den Wind geredet. Aber mievtel
verlorene Liebesmüh gibt es auch bei den Kanſtlern, die herzlich froh
wäre, „gefunden“ zu werden. Und fchliehlich gibt es noch andere
Dege. Da find die vielen Weihnachtsbazare, wie jie die Künftler im
Berlin und München ſelbſt veranstalten. Sie mahen ſolche kleine Ein-
fäufe leicht, — meinem Geſchmack freilih entipräh e3 eher, mih an
einen mic gerade beſonders intereffierenden Künstler jelbit zu wenden
und jeine Mappen durchzuſehn.
Bliden wir dann auf die Driginal-Radierungen, die Litho—
graphien. Was in diejen legten Jahren auf diefem Gebiet in Deutich-
land geichaffen worden ift, davon ſpricht ja eines der erfreulichiten Blätter
der neueren Runjtgefhichte. Die einzelnen Abdrücke koften fo wenig, daß
von großen Mitteln gar nicht die Rede zu fein braucht. NRadiervereine
und Bereine für Originallithographie find in allen Künſtlerſtädten, jo
jest fogar in Karlsruhe und Weimar entitanden, und ihre Publikationen,
die oft faſt zu Drud- und Bapierkoften verkauft werden, enthalten eine Fülle
von echten Fünftlerifchen Gaben, von denen einzelne, geihmadvoll ges
tahmt, einen wirklichen Schmud de3 Zimmers bedeuten würden. Die
Schwerfälligkeit, zu fragen: ja, wo befomme ich dieje denn, braucht man
wohl von unfern Leſern niemanden zugutraun. Jeder Buch und Kunſt—
händler gibt da Auskunft.
Noch weit größer ift dann die Auswahl, wenn es fi) um mecha—
niſche Reproduktionen Handelt. E83 gibt faſt gar feine Meiſterwerke,
2. Yovemberheft 1898
— zu —
gleihviel in welcher Technik geichaffen, die nicht in muftergültigen Re—
produftionen verhältnismäßig billig zu haben wären. Die Herrlichiten
Belasquez, Van Dyd, Tizian, Giorgione, Botticeli, Mantegna, Ghir—
landajo, Lionardo, Rembrandt, Dürer, Holbein, Reynolds, Gainsborougd,
Zöcklin, Klinger, Whiftler, Watts und wie die Großen alle heißen, ftehen
in Schönen Tondruden ja für wenige Dark zur Verfügung, einige weitere
Mark genügen für eine fchlichte und doc die dekorative Aufgabe zur
Senüge löfende Rahmung. Jede größere KHunfthandlung legt ſolche
Blätter mappen= und ftoßmeile vor. Man weiß nit, wo man da ans
fangen foll ver Schägen. Und e8 gibt Leute, die nichts zu verichenten
finden? Müffen die den Beſchenkten niedrig einfhägen!
Sind diefe Sachen zumeiſt zum Wandihmud geeignet, jo mehrt
. fi die Zahl der Möglichkeiten noch mehr, wenn das Kunftblatt für Die
Mappe oder da8 Sammelwerk in Betradt fommen ſoll. Gegen die
iogenannten „Prachtwerke“ haben wir von vornherein ein Mißtrauen;
der Kunſtwart hat ja in einer ihnen gewidmeten Weihnachtsbetrachtung vor
ein paar Jahren deutlich) genug gelagt, warum. Sie nehmen meist diejelbe
Stellung ein, wie die Eingangs bejchriebenen „Luruswaren“: aud
dag „Prachtwerk“ iſt ein Gegenjtand, der nicht zum Gebrauch da iſt,
fondern „aufgelegt“ wird, angefehen wird er höchftens im Borzimmer
des Zahnarztes einmal, die Angjt zu vertreiben. Das Prachtwerk-Un—
mwefen hat nun aud ſchon abgenommen, die Bücher ftreben allmählich
wieder dem handlichen Buchformat zu, und nur einzelne Sammelmerfe
behalten ihr großes Format, wo das zum Vorteil großer Reproduftionen
nötig iſt. Solche Werke über Bödlin und Slinger oder die föftlichen
Ludwig Nichter-Mappen u. ſ. w., wer ſähe in ihnen nicht in der That
Hausihäge? Eine Lifte der beiten hat der Kunſtwart das vorige Jahr
vor Weihnachten aufgeftellt, wir könnten fie heuer nur wieder abdruden.
Abermals wächſt die Auswahl der Fünftleriichen Gejchente, wenn
Leute von Geſchmack die freilich nicht immer ganz billigen Ergeugniffe
des modernen Kunſtgewerbes mit hereinzichen fönnen. Ich habe Hier
oft genug davon gejproden, daß nicht alles, was ſich modernes Kunſt—
gewerbe nennt, die Werte hat, die das oft formulierte Programm der
modernen Sünftler fordert. Aber es gibt genug Gutes, und jollten nicht
in einem jeden Haufe, mo man von der Sache einigermaßen etwas veriteht,
die Ichlichten edlen Formen eines Riemerſchmidſchen Leuchters, eines ge=
jtidten Kiſſens von Obrift, einer Bafe von Läuger, Schmuz-Baudiß oder
Heider oder der jeinfinnigen neuen Gebrauchsgläfer von Köpping Freude
bereiten? Eine Menge jener wunderbaren „Geſchenksgegenſtände“ koſten
nicht weniger. ch möchte bei diefer Gelegenheit nochmals auf die Künſt—
lervereinigung „Bereinigte Werkjtätten für Kunſt im Handwerf“ in
Vünden verweilen, die viele der betrefienden Künſtler herangezogen
haben und vielleicht eine der beiten Vermittlungsftellen zwiichen Publikum
und Stünftlern find, die es gibt.
Berühren wir noch mit einigen Worten das für unjere heutige
Betrachtung Sehr wichtige Gebiet der plaftifden NReproduftion.
Wie von Malereien und Feichnungen gibt es heute auch von Skulp—
turen Sopien, die aud) das Material gut wiedergeben, — denn ala
Kopien, nidt al Imitationen, müffen wir diefe Reproduftionen hier
affen, ein Unterfchied, den ein bald im Kunſtwart ericheinender Auf—
Kunitwart
- 1 —
fat mieder eimmal behandeln mwird. Zumal von Sleinplaftit iſt
eine ſolche Fülle der Auswahl von alten und neuen Meiſterwerken da,
da man wohl mit ihnen jedem Raume, jedem Charafter, jedem Geſchmack
entiprechen könnte. Natürlich handelt e8 fich um Abgüffe, „Gipsabgüffe*
nennt man fie gewöhnlich, obgleich die Mafle durchaus nicht aus Gips
allein befteht und heute einen leidlichen Grad von Feitigkeit hat. Sehr
gute Einfaufsgelegenheit bietet die Gipsgießerei der Mufeen in Berlin,
die im Nuftrage de3 Staates in rein idealen Intereſſe unter dem
eigenen Heritellungspreis Abgüſſe nad den plaftiihen Kunſtwerken aus
dem Staat3befite verkauft. Schon, was die Berliner Mufeen bieten,
it von großem Reichtum. Wie verbindet fich hier der Zimmer:
ſchmuck mit dem Ktunſtwerk an fih! Von den wundervollen antiten
Neliefs, die richtig aufgehängt, die Wand herrlich gliedern und beleben,
bi8 zu den Renaiffancebüften und »Statuetten, die einen Pla auf einem
eigenen Geftell, zur Not auf einem Heinen Tiſche beanfpruden fünnen,
bis zu der reizenden Kleinplaſtik, die auf dem Schreibtiih Pla finden
mag, und zu der Mltertum und Renaiſſance gleich viel Material ftellt
— melde Fülle von Möglichkeiten bietet fi da! Dabei kann man
Heine Statuetten ſchon für einen Thaler das Stüd befommen, größere
Reliefs Ichon für 5—15 Mk., — kurz, wir haben e8 hier mit Preijen
zu thun, die bei „Qurusmwaren:"Plunder für ganz niedrig gelten.
Dieſe Plaftifen führen ung auf ein Gebiet eigener Thätigkeit. Sie
find nämlich weiß, ziemlich nüchtern, „tadellos“ weiß — und fo ein
weißer Gipsfleck iſt nicht jchön, aud; wenn feine Form dag noch jo ſehr ift.
Die Form kommt dann bei der weißen Farbe nicht zum Ausdruck. Diejes
häßliche Weiß des Gipfes muß alſo erft tot gemacht, getönt werden,
um die Form recht Har heraustreten zu laffen. Am beiten wäre nun
wohl, man fopierte die Originale genau in ihrer Material» oder Farb:
wirkung, alfo 3. B. das fhimmernde Grau, Gelb oder Rot des antifen
Marmord oder die Patina ihres Bronzetones. Es gibt einzelne Ge—
ihäfte, die Diejes farbige Kopieren muftergiltig ausführen, doc hat man
jolche nicht überall bei der Hand. Selber zu tönen oder zu bemalen, er-
fordert fo viel Kunſtgefühl und technisches Geſchick, daß es im allgemeinen
fo ohne meiteres nicht angeht, und was man fo im Publitum „Bron=
zieren“ nennt, mit „Brongzetinftur“ momöglich, it wirklich fchon mehr
DBarbarei. Genüge für heute der Hinweis darauf, daß man mit Be—
fireihen von einfahen Thonmaffer und dann Abmwilchen mit einem
nalen Schwamm, wodurch die Tiefen etwas mehr Färbung erhalten,
das ſchlimmſte des häßlichen Weißes Hinmwegbringen kann. Wer künſt—
lerifch feine Tönung verlangt, zieht vorläufig doch wohl am beiten einen
Künftler gu Rat oder eine Anftalt wie Barth & Co. in München.
Wir find auf ein neues Gebiet gefommen : das der eigenen Thä—
tigkeit, Des eigenen Schaffens von Gefchenten, — de8 Dilettantis-
mus. Und weil die Liebhaberkünite zur Feſtzeit ihre üppigſten Blüten
zu treiben pflegen, müffen wir auch davon ein wenig reden.
Mit dem Wort „Dilettant“ hat fih ja leider eine Ichlimme Neben
bedeutung verknüpft. In der That: der Dilettantismus mar das
rihtige warme und nährende Miftbeet für all die Plattheiten und Ges
Ihmadlofigkeiten geworden, mit denen alte und junge Damen und Herren
den vermeintlichen Atelierftil in das Wohnzimmer einzuführen bejtrebt
2. Hovemberheft 1898
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waren. Was dagegen bei rechter Bildung Dilettanten leiften fönnen,
das hat Lichtwark in feiner „Organifation des Dilettantismus“ vortreff=
lich vorgezeichnet. Alle, die dilettieren wollen und ſich zu zeittötenden
Narreteien zu vornehm find, follten fich als erftes jagen, daß fie auch
hier etwa8 lernen müffen. Das bloße Herummurfteln mit Material
und Handwerkzeug hat doc wirklich für dem gereiften Menſchen feinen
Sinn, dem feine Zeit zum Totſchlagen zu gut ift.
Ih kann hier unmöglich alles aufzählen, was ſich vornehmen
ließe. Nur einige allgemeine Geſichtspunkte möcht ich geben. — Die
Männer haben ja bei ung zu Lande nur felten Zeit zu Arbeiten diejer
Art, der Hauptanteil daran fällt Frauen und Sindern anheim. Die
follten fich bei ihren Arbeiten und ganz beionder8 da, wo fih’8 um
Geſchenke handelt, als oberſtes Geſetz aufftellen, nur Sachen zu maden,
die wirklich einen praktiſchen Zmwed haben. Die Frauen haben doch
ihre Handarbeit, ihre Nadelarbeit — warum verjuchen jelbft die Hugen
und gebildeten von ıhnen nicht lieber, dieje jolide Arbeit fünftlerifch aus—
zubauen, als ſich der Mafjenanfertigung von Läppifchkeiten zu widmen,
wie man fie leider, leider oft genug in den beiten Familien ficht? So
peinlihe Geichmadlofigkeiten trifft man ja bei ſonſt guten Menjchen,
dab man ſich ſchämen möchte, fie anzufehen! Muß ich erſt eine Blüten
lefe davon machen?
Die zum „Delorationsgegenftand“ erhobene Läppiſchkeit ift der
Krankheitsbazillus der Aeſthetik unſerer Wohnjtuben. Auch an diejer
Stelle fei nochmals dreifach unteritrihen gejagt: feine Dekoration
hilft etwas, jo lange nicht der Gebraudsgegenitand ſach—
fi und ſchön zugleich ift Shon ohne Deforation. Will man
Gegenftände jelbft anfertigen, jo thue man's in der Technik, in der man
gelernt hat, etwas ordentliches Herzuftellen. Das ift bei vielen Frauen
die Nadelarbeit. Allzugroß ift das Können dort im allgemeinen auch
nicht, es ift viel fchlechte Arbeit dabei, aber immerhin ift die durch
Ichnittliche Leiftung hier die höchſte. Da nun fertige man Dinge an, die
wirklich nutzbar find: denen, deren Wirtichaft es noch brauchen fann,
die Stüde des Weißzeugs: Tifchläufer, Theejervietten, Eisdedchen u. |. mw.
Wirklich gut gearbeitete Sachen find ja da ſtets willlommen. Je mehr
einer oder eine fann, deito weiter fann das Gebiet ausgedehnt werden:
zur Goldftiderei für Hilfen und Portieren, u. j. wm. Kann man aber
nichts, wirklich, jo laſſe man’s lieber bleiben. Holzbrandmale in Ge—
ftalt eines Kater, unter dem gejchrieben fteht: „Warum küuüſſen fich die
Menſchen?“ und anderes jolchen Geiſtes erfreut leider nicht jedermann,
empfängt er's als „Schreibtiſchſchmuck“.
Denen aber, die ſich wirklich mit Hingabe der Erlernung eines
künſtleriſch auszuübenden Handwerls widmen, werden bei Durchſicht
unſerer modernen Kunſtgewerbezeitſchriften genugſam die Augen aufgehen,
in welcher Richtung fie ſich bethätigen können. Am einfachſten und klarſten
weilt ihnen Lichtwarks Broſchüre den Weg.
Noch ein Gebiet möchte ich zum Schluß ganz kurz berühren: das
im Sunfiwart ja gleichfalls früher jchon beleuchtete moderne Spielzeug.
In dem letzten Jahrzehnt ift e8 in eine neue Phaſe feines Dafeins ge—
treten: in die des „Tonlequenten Naturalismus“. Puppen werden gemadt,
die fo jehr wie Babies ausſehen, daß man fi fürdhten mödte, bei
Kunftwart
— 114
falfder Haltung Stiege ihnen das Blut in den Kopf, Baufaften, aus
denen ſich nur zwei verfchiedene Häufer bauen Tafjen und dieje nach Vor—
fchrift, aber „Itilgerecht“. Zinnſoldaten, jo getreu der Uniform nad), als
ob fie dem Panoptikum entnommen wären, Spielichiffe aus Blech, die
ein getreues Modell von S. M. Nacht Hohenzollern darftellen. Die alten
Spiele mit Würfel und Roulett find pädagogiich ausgebaut morden,
und die Willenichaft hat ihnen den Stachel des Berwerflichen genommen.
Wie langmeilig und phantafielos ift das alles! Wie man alles das, was
dag Kind nun mit dem Spielzeug erſt machen follte: das Hinein-
legen der Bedeutung, da8 Bejeelen, das gleihlam känſtleriſche
Ausbauen des Rohmateriald nun plump vorwegnimmt, damit das
Kind mit Gewalt alt und blafiert gemadt werde! Wahrlich, da hat's
der Bauernjunge gut, der feine Latte als Schiff auf dem Dorftümpel
ſchwimmen läßt und im Lehmabhange feine Häuschen baut.
Schulge-Manmburg.
Wleibnachbtsschau.
Vorbemerkung.
Wir haben unſern Leſern vor einem Jahre geſagt, weshalb wir ihnen
feinen der üblichen Weihnachtskataloge als Verater empfehlen können, und
haben zugleich den Verſuch gemacht, für „die beſonderen Intereſſen, die beſon—
dere Geiſtesrichtung, der unſer Blatt dient“, eine eigene Weihnachtsliſte aufs
auitellen. E8 war ein fehr mangelhafter Verſuch, und jehr mangelhaft iſt aud)
unjer Heuriger noch, wie wir ihn hiermit vorlegen. Einen Fortichritt aber be=
deutet er infofern, als fich’S Diesmal um eine motivierte Weihnadtstiite
handelt, die alfo nicht ganz des erflärenden Wortes entbehrt. Nächſtes Jahr
hoffen wir wieder ein Stüd weiter vorwärts zu fommen.
t. Aeltere Fiteratur,
Für den Kritiker iſt das Bücherlefen Arbeit, nicht Genuß. Auch wenn
er fi eine friie Aufnahmefähigleit bewahrt Hat, fi ganz an das Werf, das
er vor Hugen hat, hingeben und die Neflerion auf die Zeit nach der Lektüre
verjchieben fann, fommt es doc) felten bei ihm zu jenem föftlihen Schwelgen
int Buche, zu jener einzigen Glüdsftimmung, die, mag ſie auch mit tiefiter
Ergriffenheit gepaart fein, dod) das Leben aufs freudigite bejaht. Man denft
vielleicht nit an die zu jchreibende Kritik, aber man fühlt fie im Hinter
grunde ftehen, man hat die Empfindung, von Bücherhaufen umgeben zu fein,
die harren, die einen porwärtsdrängen. Einmal im Jahre wenigſtens ſuche
ich für mein Teil dieſe Empfindung [oszumerden, an ben Weihnacdhtstagen,
zwiſchen Weihnadten und Neujahr; dann ruht bei mir die Kritik, dann greife
ih zu Büchern, die ich längſt fenne, die mir ans Herz gewachſen find, und
unter dem Tannenbaum geniehe ich wieder rein, „Himmelbod jauchzend, zum
Tode betrübt”, wie in den glüdlihen Tagen der Jugend, wo ich nod) las, um
zu lefen, und von dem ganzen Biteraturelend nichts wußte.
2. Hovemberheft 1898
— 15 —
#
Welche Bücher das find, die ih dann leſe? In ben letzten Jahren ift es
vornehmlih Goethe gemweien. Un feine Größe, an mein Bildungsmenidhen-
tum dachte ih gar nit, es ftieg in mir einfah Die Sehnſucht nad) jeiner
Jugendlyrik, nad) dem Werther, dem Götz, dem Fauft, dem Wilhelm Meifter
auf, und ich war glüdlich, fie befriedigen zu können. Solde „Sehnfucdten“,
mir längft befannte Bücher wieder zu lefen, babe ich eigentlid immer — ans
dern wird es natürlich auch fo gehen —, und ich bedauere nur, daß e8 nicht
einmal ein ganzes Jahr lang Weihnadt ift. Vielleicht, daß das Alter ein jolches
Jahr für uns auffpart! Jene Bücher aber, die man immer wieber lefen mödhte,
find, glaub ih, aud die richtigen Weihnachtsgeſchenkbücher, fie vor allen
follte man für andere faufen; denn der Sinn bes Schenfens iſt doch, daß man
andere ber Güter teilhaftig machen möchte, die man felber am höchſten ſchätzt. Ich
weiß wohl, verſchiedene Menſchen werden verfhiedbene Bücher unter dem Tannen—
baum lefen wollen. Doc) aber würde die deutſche „Weihnachtsbücherſehnſuchts—
Lifte‘, wenn man fie aufitelen wollte, vieleicht nicht jo viele abweichende Vor—
ſchläge ergeben, mie bei der verſuchten Zufammenftellung der Lifte der hundert
beiten Bücher zu Tage getreten find.
Goethe habe ich genannt, ich glaube, in Goethe finden wir Deutfchen uns
noch alle zufammen troß aller Leberhebung ber Modernen. Bei Beffing
und Schiller ijt e8 mir zmeifelhafter, fie find beide, ihrer dichterifchen Größe
unbeſchadet, rechte Theaterleute (felbjtverftändlih in würdigftem Sinne) und
gelangen alfo am beiten auf der Bühne zur Geltung. Die Jugend und das
Volt fommen aber bei ihnen immer auf ihre Rechnung, Leſſingſche Schärfe der
Eharakteriftit, Schillerfiher Schwung werben allezeit begeiſterte Bewunderer
finden, und fo werben die beiden aud) auf deutfhen Weihnadtstifchen vielleicht
nod) ein Jahrhundert lang nicht fehlen. Wer e8 liebt, große Männer zwanglos zur
beobaditen und fich die Welt, in der fie lebten, in der Phantaſie neuzuſchaffen,
fol neben den Werfen aud) die Briefwechſel ber Hlaffifer nicht veradten.
Leifings Briefe an Eva König, Goethes und Schillers, Schillers und Körners,
Schillers und Lottes Briefwechſel fommen hier vorzüglid in Betracht, und
eine Quelle immer neuen Genuffes find Goethes Gefpräde mit Edermann,
doc wohl dag Mufterwerk diejer Gattung. E8 ijt ein Genuß ganz eigner Urt,
in dem alten Goethe den jungen wieder zu entdeden — man kann's, Gott jei
Dank
Neben die drei alten Hlaffiler, die von den früheren ſechs nod) lebendig
geblieben find, Haben fi in fpäterer Zeit dann zwei neue gejtellt: Kleiſt und
Grillparzer. Ueber beide brauche id) nicht viel zu fagen, fie find trotz ihrer
faft diametralen Verſchiedenheit alle beide Dichter, der Preuße jo gut mie der
Defterreicher, deren Welt groß und mweit genug ift, um ſich für ein Menſchen—
alter darin einzuleben; fie find alle beide auch liebensmwert. Mic; entzüdt das
„Kätchen“ immer neu, dieſes echt „romantifche Ritterichaufpiel”, das dem
Geifte unferer Zeit jo fern liegt, und Grillparzers Dramen aus der Antike be=
ſchwören mir ein echtere8 Griechentum herauf, als irgend ein beutfches Werk
fonft. — Welch ein anderer Geift benn in den Werfen Hebbels und Lud—
wiges, die ungmeifelhaft ſchon gang modern find, nun aber bereit® anfangen,
Haffifhe Geltung zu erlangen. Da haben wir endlich die echte Tragik unſerer
Zeit, büftergewaltig, Itarr, zermalmend — „wo Wunden noch zu heilen find,
da hat eure Kunft nichts zu ſuchen!“ Außer Hebbels Werfen jol man fid) auch
feine „Tagebücher“ noch zu eigen maden, wohl die trenejte unmitielbare
Widerſpiegelung eines durch raftlofe fünftlerifhe und geiftige Arbeit ausge
Kunftwart
— 116 —
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Alle Rechte vorbehalten.
verlag von GEORG D. V. CALLWEY
Aus den „Liedern und Gesängen“ mit Bewilligung des Verlegers W. Schmid
Op. 37. Nr. 8.
Aus dem Schlummerlied
von
Richard Strauss
München.)
(Verlag J. Aibl,
Bewegung. Sehr gebunden.
Ruhig gehende
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458012
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Erster Druck nach dem Manusertpt.
Im Rosen
Franz Mikorey.
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Vgl, hliezu den Text im Hauptblatt,
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HERMANN URBAN
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
füllten Menſchenlebens, welche die deutfche Literatur aufmeift. Die genannten
fieben Dichter find, meiner Anſicht nad, die, deren Werke jeder Deutfche, der
wiffen möchte, mie fein Bolt mit dem ihm anvertrauten Pfunde gewuchert
bat, bie jeder fi zu eigen madyen muß, der diefes Pfund, wenn nicht vermehren,
body wirklich mit befigen möchte. Bon den Gefamtwerfen fremder Dichter
braucht er dazu nur die Shakeſperes.
Aber e3 gibt noch eine ganze Reihe von Einzelwerken aus der beutfchen
Literatur, die zu jenen Gefamtwerfen Hinzuzutreten berechtigt find. So zu—
nädhft eine Anzahl von Sedihtfammlungen Hölderlin in umnferer
Zeit noch „obligatorifch” zu machen, würde mancher vielleicht Bedenken tragen;
ih) meine aber, dab gerade er, wie wenige, geeignet ift, mit feinen Tönen
die ftürmifchen Wogen des modernen Lebens zu glätten. Gin milder Abend-
bauch, das Teste Rot am Himmel — mir miljen, da die Nacht fommt, aber
mir fürchten fie nicht. Mit Hölderlin nenne ich gleich feine beiden Landsleute
Ubland und Mörike, diefer, mie man jet mehr und mehr erfennt, ale
Lyriker dod ber „Einzige*. Und wie lange haben ihn Heine und Geibel in
der Berborgenheit gehalten! Heine, ja — dem foll keiner feine literaturge—
ſchichtliche Stellung bejtreiten wollen, aber unter den dbeutfhen Tannenbaum
gehört er doch wohl nicht, gehört aber auch faum nod) der fittlid) reine aber
als Künftler wie als Menfh wirklich wenig bedeutende Seibel. Die beiden
Schweizer Gottfried Keller und K. F. Meyer dürfen unter den Lyrifern,
je man immer zur Hand haben muß, ſicher nicht fehlen, und von den neueren
Neihsdeuifchen Teinesfals Storm und Klaus Groth und kaum auch
Martin Greif. Wohl gibt's noch manche andere Hangvolle Namen, wohl
dürfen aud viele echte Ältere Talente unferer Zeit — ich nenne nur Her—
mann Lingg und Julius Grofjfe — ohne Vergleich mehr Beachtung
beanſpruchen, als fie bisher gefunden haben, aber jene acht jind die Iyrijchen
Meiſter, auf deren Bände die Lichter des Tannenbaums fo lange berabitrehlen
werden, wie unfere Spradhe noch gefprodhen und verftanden wird. Ih bin
als Hritifer gewiß ein böfer Menſch, aber wenn ich einen diefer Bände auf—
ſchlage, dann werde ih „romm, mie e8 Die Finder find“. Bier ruhen des
beutfchen Volkes teuerste Güter.
Auf epifhem Gebiet, wenn man unter Epos ein Gedicht veriteht, iſt
die deutſche Kunft nicht zu ſolcher Meifterfchaft gediehen wie auf dem Iyriichen.
Man mag mich einen Ketzer ſchelten, aber jeit ich die Hebbelſchen Nibe—
lungen fenne, habe ich fein Bedürfnis mehr, das Nibelungenlieod zu lejen,
wenn ich auch den eigenen Reiz feiner geharnifhten Strophen nicht beftreiten
mag. Im Homer leſe ich nod) hin und mieber einen Gefang — e8 ilt ge—
wiß etwas dran, wenn man fagt: bier jei die Natur felber —, und in die
gewaltige Hölle Dantes trete ic) auch bisweilen ein; Arioſto und Byrons
Don Juan ferner vergnügen mid immer wieder. Damit wäre fürs deutfche
Haus die epifche Lifte wohl zu beſchließen, obſchon ih Sch effjels „Trom—
peter” für ein jüngeres Alter, jagen wir, für den GSelundaner, Webers
„Dreizgehnlinden“ für bejtimmite Streife und Wilhelm Hertz' „Bruder Rauſch“
für alle Feinfhmeder gern empfehlen will.
Die Breite des epiſchen Schaffens neuerer Zeit ergieht fi in den Ro—
man, unb da gibt es allerdings eine Reihe von Werfen, die jeder Deutfche,
der Bildung beanſprucht — ad) mas, deifen Herz nad wahren Kunſtgenüſſen
verlangt, fennen muß. Hier nenne ich Gottfried Kellers „Grünen Hein
rich“ zu allererft, nad) dem „Werther“ ben beiten deutſchen Roman ſchlechthin,
2. Movemberheft 1898
— 17 —
meil nie ein ein deutſches Jugendleben mit mehr Poejie und — Wahrheit dar
geitellt worden tjt. Neben ihm erfcheint mir jelbit Otto Qudbmigs gewal—
tiges Wert „Zmwilhen Himmel und Erde“ als Epifodenroman. Bei Seller,
wenn aud) eine Stufe tiefer, mag dann gleich der kluge, mwelterfahrene Fontane
ftehen, der mit Keller in bemjelben Jahre geboren, aber glüdlicherweife jo
viel fpäter geftorben ift. „Irrungen, Wirrungen“, „Frau Jenny Treibel*,
„Effi Brieſt“, auch das letzte Werk „Der Stehlin“ Haben neben dem älteren
„Srete Minde* den erſten Anfprud auf Berüdfihtigung. Nicht die Jugend,
aber das reifere Ulter, das ſchon Erfahrungen Hat, wird Fontane zum Lieb:
ling erwählen. Bon Werfen älterer Dichter haben fh Immermanns
„Münchhauſen“, wenn aud) nur in dem Auszug „Der Oberhof“, Willibalb
Alexis Romane, bejonders „Die Hofen des Heren von Bredom* (mit Fort-
fegung), einige von Jeremiaß Gotthelf und auch Freytags „Soll
und Haben? — troßalledem — bis auf dieſen Tag gehalten unb werben
es Hoffentlih noch lange thun. Scheffels „Edehard“, unfer reinjter
fulturhiftorifher Roman, ift mir auch wert geblieben troß all der fürdjter«
lihen „Scheffelei*, und von K. 5. Meyer erfüllen mid) „Der Heilige“ und bie
„Hochzeit des Mönchs“ vor allen mit immer neuer Bewunderung. Bon Une
zengruber ift mir der „Schandfled“ Lieber als der fünftlerifh vielleicht
höher ftehende „Sternfteinhof*, von Roſegger imponiert mir der „Gott—
ſucher“ am meiften. Raabes Werle liebe ich alle und leſe fie immer wieder;
beionders empfehlen will ich „Alte Neſter“, „Wunnigel*, „Horader“, gleichſam
die Quintefjenz feines Schaffens. Jenjen mag mit „Uus den Tagen der
Hanfa“, einem Hiftorifhen, und „Doppelleben“, einent modernen Romane, hier
ftehen, Wilbrandt mit der „Djterinfel*, jeinem Hebermenfhenroman. Ein
perfönliches Verhältnis habe ich zu den Werfen von ®. 9. Riehl („Ein
ganzer Wann“, alle Novellen) und Adolf Stern („Die legten Humaniſten“,
und die „Wusgewählten Novellen”). E3 find ja überhaupt ganz jubjeftive Be—
mwertungen, die ih hier gebe, auf Grund freilich jahrelanger Studien und immer
neuer „Altenrevifionen“. Auf die modernen deutſche Romane, bie hier anzu—
ſchließen wären, will ih an anderer Stelle kommen.
Das ausländifhe Hauptwerk der Romanliteratur ift immer noch Ger=
vantes „Don Quixrote*, den man natürlich nicht verfchlingen, aber kapitel—
weife mit auberordentlihem Behagen geniehen kann. Gine jo hochragende
humorijtifch = tragifche Geftalt wie den Ritter von der Mancha hat die jpätere
Kunft doch nicht mwieber gefhaffen. Leſages „Gil Blas* und Fieldings
„Zom Jones“ erfreuen Kenner auch noch; hier ift „der Welt Lauf“ fo gut wie
bei Fontane. Bei den Engländern ziehe ih Thaderay jet Dickens
vor (e3 genügt, wenn man das eine oder das andere Hauptwerf von beiden
lieſt), und vor George Elliot Habe ih großen Nefpelt. Unter den
Schöpfern hiftorifcher Romane ift mir Scott der liebſte geblichen (man leſe
nur die auf fchottifhen Boden fpielenden Werke und vor allem die früheren),
doch taude ich mit Biktor Hugo aud ganz gern in die Nacht des Mittel—
alters („Notre Dame*) und laſſe mir Manzonis „Berlobte”, dieſes fo
klare und plaftiihe Werk, durd) den Vorwurf der Langmeilinfeit nicht ver—
efeln, Meiſter Balzac ſchlägt mir dann den Hiftoriichen Roman doch in
die Flucht, — war er aud) fein Künſtler, jo war er doch als Schriftjteller ein
Genie. Als die Hauptwerle der ruffiihen Romanliteratur erfcheinen mir
Zoljtojs „Krieg und Frieden” und „Unna Sarenina“, von Turgenjem
lee ich lieber die Novellen und Doftojermstfy mehr der Merktwürbigfeit
Kunftwart
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halber, ohne „Sehnſucht“. Bon den neueren Frangofen gebe ih Daudet
den Vorzug vor Zola, weil er mehr Poet iſt als dieſer.
Auch bei der Novelle Steht mir Gottfried Keller mit den „Leuten
von Seldwyla“ voran — die „Züricher Novellen“, „Das Sinngedicht“, felbit
die in ihrer Urt entzüdenden „Sieben Legenden“ kann ich Teichter entbehren. Zu
Storm hab id ja ſchon als Landsmann ein intimes Verhältnis, zu Heyfe
aber faun eines, obgleich ich einzelnes von ihm bewundere. Marie von Eb-
ner-Ejhenbad) lefe ich ftetS mit dem größten Genuffe, fo gut ich meiß,
daß nicht alles, was fie ichrieb, gerade Kun ft wert ift. Gern fehr ich bisweilen
bei Hans Hoffmann ein. Außer Turgenjew find mir von ausländifchen
Novelliften noch Björnſon mit feinen Bauerngefhichten und Bret Harte
mit den falifornifchen Erzählungen lieb, Mit Maupafjant fümen wir zu
den Modernen, Die befonders behandelt werden follen.
Roman und Novelle haben nun doch eine ziemlich lange Lifte ergeben.
Uber jie find eben das tägliche Brot des Kunſtgenuſſes, die Lyrik ergibt die
töjtlihen Frücdte dazu, das Drama — num, das foll am Ende fo etwas wie
der fonntäglihe Feitihmaus fein. Die großen Dramatiter habe ich aber bei
den Geſamtwerken fajt alle genannt, bier wären nur noh Moliere zu er—
mwähnen, den man, zumal wenn man ein wenig fulturhiftorifches Intereſſe am
Beitalter Ludwigs XIV, hat, immer noh mit Genuß Iefen fann, und dann
natürlid Ibſen, deilen Talent (ih höre hier das Lachen der Ibſenianer)
dem Moliere8 von vornherein gang Ähnlih war, von typenſchaffen—
der Kraft nämlich, dem aber leider der Sinn für Komik, von Humor ganz
zu gefchweigen, fehlte. Dan vergleihe, um meine Behauptung zu würdigen,
nur einmal Molieres „Mifanthropen” mit dem ®regor Merle aus der „Wild-
ente“. Daß man zur Zeit ein halbes Dutzend Ibſenſcher Stüde fennen muß,
und daß dieje einitweilen zur Weltliteratur gehören, das braudje ich ja nicht
auszuführen.
Notenwerfe,
Schon wiederholt find aus unjerm Lejerfreife Anfragen eingelaufen,
wie man’ wohl anfangen jolle, um eine gute Mufifbibliothet auftande gu bringen.
Die Ratsbedürftigen Hagten, wie ſchwer es felbit bei beftem Willen fei, fih in
ber Maſſe der vorhandenen Literatur zurechtzufinden und daraus eine gute Zus
fammenitellung zu treffen. Biel foften dürfe die Sache ja natürlich auch nicht.
Mir erfuhren, daß der, wie man glauben follte, als Ratgeber zunächſt berufene
Sortimenter und Mufilalienhändler ih in vielen Fällen nicht bewährt habe:
teils ſah er nur auf feinen gefhäftlichen Vorteil, teils fehlt’ es ihm mwirflid an
Kenntnis und Fritif. Verſuche auf eigene Fauſt hätten zu zahllofen Mihgriffen
geführt, fchlieglid könne man auf die Auswahl dod nicht allzuviel Zeit ver—
wenden und förmliche vergleichende Studien, insbefondere was die Wahl der
Ausgaben betrifft, anstellen. Diefe Beihmwerde ijt gewiß berechtigt, aber die
Erfüllung des Wunſches, ſozuſagen das Verzeichnis einer Normalbibliothet für
Muſikfreunde au veröffentlichen, nicht leicht. Sie ift ſchwer ſchon in Anbetracht
der verfchiedenen Grade mufifaliicher und allgemeiner Bildung, der Spielfertigs
feit, wie der Dannigfaltigfeit der Anlagen und Charaktere im großen Bublifum,
dem man ja gerade dienen möchte, das dies aud) am notwendigſten braudt.
Der biemit gemachte Verſuch will daher nırr als Verſuch beurteilt fein. Sceiden
wir von vornherein aus, was an rein virtuofer oder Amuſementsmuſik ſich
barbietet, legen wir das Gewicht auf die zu edler Erbauung und Erfreuung
2. Yovemberheft 1898
im Haufe, im Familienkreiſe vor allem geeigneten Werke, ſetzen mir getrojt bei
den Spielern ein tüchtiges Können voraus, bezeichnen aber (durch *) aud) Die
für eine befhheidene Technif zu bemältigenden Stüde, fo ift zu hoffen, daß unſere
Lifte ſchon in biefer eriten verſuchsmäßigen Faſſung Gutes ftiften und einer
gediegenen Mufifpflege förderlich fein wird.
1. Ulte und klaſſiſche Zeit.
Klavier. Bei den Vorgängern und Zeitgenofien Bachs genügt dem
Mufiler, dem’s nicht auf ftrenges Spezialſtudium ankommt, eine gute Auswahl.
Ih verweile da auf die von 2. Köhler zufammengeftellte „Klaviermuſik aus
alter Zeit (Litolff, 13 Hefte je ME 1ı.—). Das elite Heft ift Rameau ge-
widmet, das zehnte Gouperin, bezüglid deſſen aud) auf das Couperin-⸗Album
(Breitkopf, B.-U., ME. 1.50) verwiefen fei. Bon Scarlatti hat Hans von
Bülow achtzehn Stüde in Suitenform bei Peters (DE. 2.—) Herausgegeben.
Mem ber hiltorifhe Sinn abgeht, der wird übrigens auch diefer Koſtproben
immerhin entraten können.
Wir müſſen nämlich jchon Sehr zufrieden fein, wenn es gelingt, bie
Mehrzahl unferer Mufiffreunde auf Bad) als das fejte Fundament der deutſchen
Muſik, ohne den insbefondere die neuere gar nicht recht verftanden wrden fann,
zurüdzuführen, und das ijt in Wahrheit feinesmegs fo leicht. Spieiern, bie
aus den fogenannten populären Slavierfchulen Hervorgegangen find, wird er
troß aller etwa erlangten Gemwanbtheit und guter mufttalifcher Anlage jih nur
ſchwer erfchließen, fie müffen erſt einen Kurſus des polgphonen Spiels ich
aneignen, wobei zwei Anthologien „die erften Studien“ zu Bad) und Händel
(* Peters, je ME. 1.50) als Vorſchulen gute Dienfte thun. Reizende kleine
Stüde, technifch oft finderleicht, ftehen im Supplementband zu den Klavier—
werfen Bachs in der Edition Peters (ME. 3.—), die fich für diefen Meifter über—
haupt empfich!t. Man nehme dann etwa nod die franzöfifchen Suiten, das
italienifche Konzert famt der chromatiſchen Phantaſie (2 Hefte, je DIE. 1.20) und
ſchließlich das „Alte Teitament der Hlaviermufif“, das „Mohltemperierte Alavier”
(2 Bbe,, je Mk. 2.—). Wer ſich darnad) in Bach ganz eingelebt hat, dem wer:
den die „Vier Toccaten* und die »2ifztfche Hebertragung der DOriginaliompo-
fitionen (2 Bde.) da8 gewaltige Bild des Großmeijters in erhebender Weife
vervollftändigen.
Die Gejchichte der Klaviermuſik ſtrebt über die Sonaten Philipp
Emanuel Bachs (Ausgewählte Werle, Steingräber, ME. 1.60), Haydn
(* Die beliebteiten 10 Sonaten, Litolrf, MI. 1.50) und Mozart (Ebenda, ME. 2.50)
au ihrem zweiten ragenden Gipfel, den Sonaten Beethovens. Wer fi da
nicht den bei Breitkopf erſchienenen, prachtvoll ausgeitatteten Urtext (3 Bde. jr
ME. 5.—) faufen will, vem rate id) unbedingt zu der mit wertvollen kritiſchen
Bemerkungen verjehenen von Damm (Steingräber, 3 Bde,, zuf. IE. 6.—). Auch
von Beethovens Heineren Stüden findet man da unter dem Titel „Reichtefte
Kompofitionen* (ME. 1.—) eine empfehlenswerte Ausleje. Für Schubert
gebraudhe ich die Musgabe der „Sämtlichen Pianofortewerle* in 3 Bänden bei
Breitlopf & Härtel. Der zweite Band enthält die Tänze (ME 2.—), ber dritte
die Impromptus und Moments muficals (DIE. 1.50); von Weber gibl's eine
billige Anthologie bei Litolff, Nr. sı2 (ME. 1.—).
Schließlich feien noch jene, nicht fürs Klavier gefchriebenen Inftrumentals
werfe der flaffiihen Zeit namhaft gemadt, die man in Sllavierbearbeitungen
anzufhaffen pflegt. Bon Bah das „D-moll-Stonzert* (* Peters, Mi. 1.20), von
Kunftwart
- a —
Händel das berühmte „Rargo* (Steingräber, Mt. 1.—), von Haydn „Zwölf
Sinfonien* (Breitlopf, B.« A., Mt. 3.—), von Mozart „Sechs berühmte Sin-
fonien* (Peters, ME. 2.50), von Beethoven „Neun Sinfonien“ (Breitfopf, V.A.,
Mt. 3.—) und „Sämtlide Ouvertüren” (Peters, ME. 1.50), von Schubert bie
C-dur (Breitfopf, ME. 1.—), die H-moll (Peters, ME. ı.—), von Weber „Sümt-
liche Ouvertüren“ (Breitkopf.ENk. 1.—).
Bioline (und Mlavier). Ich ftelle die Titel zufammen: Saybn,
Biolinfonaten (Mi. 2.50), Mozart, 8 Sonaten (Mi.a.50), Konzerte in A und
Es (je ME. 1.50), Beethoven, Sonaten, 2 Bde. (je DIE. 2.50), Konzert
(ME. 1.—) ſämtlich bei Breitkopf & Härte. Schubert, Sonatinen (Peters,
Mk. 1.20).
Klaviertrios von Haydn (Breitlopf, je ME. 1.20), Mozart (Litolff,
zuf. DE. 4.50), Beethoven (Ebenda, DM. 7.50) und Schubert (DE. 5.—).
Streihquartette (Stimmen) bei Litolff: von Haydn (Ausmahl,
ME. 5.50), Mozart (ME. 10.50), Schubert (ME, 3.50), Klavierquartette
von Mozart (DE. 4.—) und Beethoven (ME. 3.50).
Streidhgquintette von Mozart (ME. 6.—), Beethoven (Mt. 4.—)
und op. 165 von Schubert (ME. 3.—). SRlavierquintett von Beethoven
(Mk. 2.—) und Schubert (orellenquinteit, ME. 2.—). Sämtlidy bei Litolff.
Nicht jeder tief Mufifbedürftige ift in der Lage, an Orten zu mweilen, wo
die Meifterwerle der Orcefterfunft in guten Aufführungen zu hören find und
die Riedergabe am Slavier gibt auf die Dauer doch auch nicht die volle Bes
friedigung. Wo aber, felbit im kleinſten Winkel, ein paar ehrliche Muſik—
menſchen beifammen figen, da fünnen fie fich vermittelft der Breittopf & Härtels
ſchen „Hausmufil* die Löftlihfien Genüffe ſelbſt verſchaffen. Es iſt dies eine
Sammlung von vortreiflihen Bearbeitungen Haffifcher Orcheſterwerke für
Klavier, Streicdhquintett und Flöte, wobei ber Stlavierpart 1'/.—3 Dit., jede
Stimme 30 Pf. koftet, und Blas- und Schlaginftrumente nad) Belieben bezw.
nad Borhandenfein hinzugefügt werden fünnen. Erſchienen find bis jekt Sins
fonien und Ouverturen von Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Schubert,
Dtendelsfohn, Schumanı, aber auch Stüde von Gretry, Richard Wagner u, a.,
das bedeutet eine wahre Himmelsgabe für die muſikaliſche Provinz, die doch
auch ihr gutes Anrecht auf die Segnungen unferer großen Tonkunſt hat.
Dpern Beim Studium unjerer Opernmujit gibt e8 ein Grundgefeg:
ſtets nur Klavierauszüge mit Tert* anſchaffen. Wir fehen den Text der Oper
nicht, wie eine frühere Zeit, als Vorwand oder als Stüge zum Muſikmachen,
fondern als mejentliden Beitandteil eines aus Wort, Ton und Gebärde
fih aufammenfegenden Kunſtwerks an, aus dem man die Mufif nicht befonders
abziehen darf. Glud findet man in feinen Hauptwerken Orpgeus, Ulcefte,
Armida und ben beiden Jphigenien bei Peters (je ME. 2—3); die aulidifdye
Spbigenie iſt überdies in Rihard Wagners mufjtergiltiger Bearbeitung bei
Breitlopf & Härtel (B.:U., ME 5.—) erfchienen. An zwei fo bedeutenden
Meiftern wie Mehul („Iofef in Egypten“, Peters, WIE. 1.50) und Cheru—
bini („Bafjerträger* und „Medea“, ebenda, ME. 3.-- und ME. 6.—) follte fein
erniter Muſikfreund vorübergehen, wie das jegt leider vielfach geſchieht. Sie
gehören einfah zur mufilaliihen Bildung Für Mozart fei die Bollsaus:
gabe von Breitfopf empfohlen; „Cosi fan tutte“* im der Levifchen Bearbeitung.
„Die Zauberflöte* und Beethovens „Fidelio“ ziehe ich allerdings in der neuen
Litolfiſchen Ausgabe vor.
2. Xovemberheft 1898
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Lieder Bor allem muß hier das große, vierbändige Sammelwerk
„Das deutſche Lied“, herausgegeben von 9. Reimann (Berlin, Simrod,
jeder Band DE. 3.—) genannt werden. Derfelbe Mufifer hat, zu gleihem Preis,
3 Bände eines „Internationalen Bolfsliederbuches“ erſcheinen laſſen. Bor
ben Lieberalbums bei Peters, von Parlow (Litolff, ME 5.—) und von
Niemann (Steingräber, Mk. 3.—) den Paris zu fpielen, fühle id) mid
nicht berufen. Alle drei find gut, weil fie fajt alle dasielbe Material um—
falten. Nochmals ergreife ich die Gelegenheit, um die Bedeutung des alt»
deutſchen Volfsliedes für unjere Hausmufif zu betonen. Den Anfang made
man etwa mit ben föltlihen Stüden, die Plüddemann zu Anfang feines
Heftes (Lieder und Gefänge, Nürnberg, Schmid, ME. 1.50) veröffentlichte, und
movon die diesmalige Muſikbeilage eine Probe gibt. Einen überaus wertvollen
Hausſchatz ftellen Die „dDeutfchen Volkslieder“ mit Stlavierbepleitung von Johannes
Brahms (Simrod, 7 Hefte zu DH. 4.—) dar. Eines jchöner als das andere, mit
einem harmoniſch wundervollen Alavierfag. Bon Mozarts, Beethovens und
Webers Liedern iſt das Beite und Bleibende bereits im den oben erwähnten
Sammel-Albums enthalten. Eher lohnt fih ſchon Die Anfchaffung einer Ges
famtausgabe der Schubertfen Lyrik und zwar in der Ausgabe von M. Fried—
länder (Peters, 7 Bde. je Mi. 3.—), die einen von allen jpäteren Entftellungen
gefäuberten, authentifhen Muſiltert darbictet. (Schluß folgt.) R. B.
Bildende Künfte,
Eine Aufzählung derjenigen Werfe, die dem gebildeten Laien als Weg—
weifer auf dem Gebiete der bildenden Künſte dienen können, iſt weniger leicht
gemadt, als e8 auf den eriten Blick fcheinen möchte. Denn gerade hier ift
die Grenzlinie zwiſchen Fachliteratur und wirklich wertvollen Werfen für den
Laien recht ſchwer zu ziehen. Was zunädhit die allgemeine Gefhichte der
bildenden Künste angeht, jo ift an foldhen Werken, die für einen meiteren
Referfreis beftimmt find, fein Mangel; faſt jedes Jahr erfcheint eine neue
mehr oder minder reich ausgejitattete Kunſtgeſchichte. Es gehört eben nicht
mehr viel dazu, ſolch ein Buch lesbar abzufaſſen; wenn fich nur ein Verleger
bereit findet, fo finden fi) fo und fo viele Bearbeiter, die auf Grund der vor—
handenen tüchtigen Werle und fonitigen Hilfsmittel ein „neues“ Buch zus
fanımenfchreiben, Neue eigenartige Gedanlen und anregende Schreibmeiie oder
gar Ergebniſſe eigener Forſchungen fuht man dann freilich vergeblid).
Das beite hierher gehörige Werk iſt noch immer Anton Springers
gut illujtriertes „Handbuch der Kunſtgeſchichte“ (Beipzig, E. U. Seemann, 5. Aufl.
1898), ein Werk, das mit univerfeller Beherrſchung des gefamten Stoffes
als reife Frucht Iangjähriger Forſcher- und Lehrthätigfeit entitanden iſt und
cht Hiftorisches Veritändnis mit lebensvoller, anregender und klarer Daritel-
lung verbindet. Den Lübkeſchen und ähnlichen Büchern ift das Springerfche
um dieſer Gigenichaft willen, wie wegen jeiner Selbitändigfeit und Zuverläffig-
feit bei weiten vorzuziehen.
Heben diefem Buche nennen wir, als ein etwas bejihränfteres Gebiet
gleichfalls vorzüglid) behandelnd, die „Geſchichte der chriſtlichen Kunſt“ von
Franz Faver raus (Freiburg, Herderſche Verlagshandlung), von der bis—
ber der erfte Band in zwei Mbteilungen und des zweiten Bandes erſte Abtei-
lung eridienen find. Sie beſprechen die hellenistifch = römische Kunst der alten
Chriſten, die bygantinifche Kunſt, Anfänge der Kunſt bei den Völkern des Nor—
dens, das Mittelalter. Auch hier haben mir e8 mit einem Werfe zu thun,
Kunftwart
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das teils auf ernithaften felbfitändigen Forfchungen, teil auf übers
legener fritifcher Verwertung der Forſchungen anderer beruht und eigne
Gedanken eines geiitvollen und hiſtoriſch geihulten Mannes in geihmadvoller
Form darbietet. Der fatholiihe Standpunkt des Verfaſſers tritt nicht in
einer Weife hervor, die den Andersbentenden ftören fünnte. Auch das Kraus—
fhe Werk ijt vortrefflich illuſtriert. Als das am beiten illufirierte ber
allgemeinen Werke diefer Urt muß die dem Papite gewibmete „Allgemeine
Kunſtgeſchichte“ bezeichnet werden, die ber Benebdiltiner Prof. Dr. Albert
Kuhn im Verlage von Benziger & Co. erfcheinen läßt. Von den 25 Liefe—
rungen zu ME. 2.— find bisher ı5 erfhienen. Der gelehrte Verfaſſer jteht auf
einem fittlich fehr engen Standpunkte, der 3. 2. die Venus von Milo in
fieben Zeilen abzuthun und von ihr nur den Kopf abzubilden erlaubt. Auch
macht Kuhn 3. B. einen jtrengen Unterſchied zwiſchen religiöfer und litur—
gifcher Kunft.
MWeiter iſt zu empfehlen die im G. Groteichen Berlag zu Berlin er—
fhienene jehsbändige „Gejchichte der deutichen Kunſt“. Amwertvollſten ift von
den einzelnen Wöteilungen darin die Gejchichte der deutfchen Malerei von dem
zu früh veritorbenen Hubert Janitſchek, der gleichfalls weit mehr gibt, als
bloße Wiederholung von Schulmeinungen. Hieran Tchlichen ſich die Baukunſt
von Dohme, die Plaftit von Bode, das Aunjtgewerbe von Jakob
von Falke, fomwie die zwar nicht viel Eigenes bietende, aber durchaus korrekte
Geſchichte des Kupferſtichs und Holgichnittes von Lütz o w.
Für Italien insbeſondere iſt als eines der köſtlichſten Bücher kaum noch
einer Empfehlung bedürftig „Der Cicerone“ von Ialob Burckhardt,
(Leipzig, Seemann), in der That, was jein Untertitel bejagt: „eine Anleitung
zum Genuß der Kunitwerfe Italiens“. Die Bilder, die hier fehlen, fann man
fih durch die „Aunitgefchichte in Bildern“ erfegen, die als neue Musgabe der
„Kunjthiftoriichen Bilderbogen“ gleichfalls bei Seemann erfchienen ist.
Für die Malerei fommt in Betradt die „Geſchichte der Malerei” von
Karl Woermann und Alfred Woltmann (keipzig, E. U. Seemann),
melde in folider Weiſe die jpruchreifen Ergebniffe der Forihung zuſammen—
faßt. Der von dent verliorbenen Woltmann verfaßte Teil, der das Mittel-
alter betrifft, iſt jreilihd im mander Beziehung von der neueren Forſchung
überholt. Dieſes Werk genügt auch für die Geſchichte der italienischen Malerei,
fo dab es hierfür feines befonderen Buches bedarf. Das grundlegende Wert
von Crowe und Gavalcafelle fäme für den Laien ſchwerlich in Frage, eher bie
mit pifanter Polemik gefchriebenen „SKunitkritifchen Studien zur italienischen
Malerei“ (Leipzig, F. U. Brodhaus) — falls jemand ſich über Die fritifchen
Srundlagen der italienifhen Kunitgeihichte unterrichten will. Ganz von mo—
dernem Geiſte getragen ilt die „Geidichte der Malerei im 19. Jahrhumderts*
von Rihard Muther (Münden, ©. Hirths Kunftverlag). Der Verfaſſer iſt
wegen ber zahlreichen Entlehnungen und nicht genügender Ungabe der Quellen
getabdelt worden. Hätte er die Gedanken jeiner fpäteren Berteidigungsfährift in
das Vorwort des Buches geſetzt, To Hätte er den Angriffen die Spike abge:
broden. Un fi Hat er ein fehr brauchbares und ſehr anregendes Bud) ge=
ſchrieben. Es ift aber leider zur Zeit nur antiquariih zu außerordentlich
hohem Preiſe im Handel.
Eine genügende allgemeine Geſchichte der Plaſtik fehlt, die Lübkeſche
iſt veraltet. Vorzüglich iſt die „Geſchichte der griechiichen Plaſtik“ von Mas
zime Gollignon, überjegt von Eduard Thrämer (I. Bd. durch Zuſätze
2. Hovemberheft 1898
— 123 —
unb Literaturnachweiſe erweitert und auf den gegenwärtigen Stand der Wiſſen—
Ihaft gebradjt) und von Frig Baumgarten (II. Bb., ohne Zufäße, Die bier
nidt von Nöten waren). Das Werk ift eigentlid für Urhäologen von Fach
berechnet, aber fo frifch und Iebendig geſchrieben, daß e8 aud) für Laien durch—
aus empfehlenswert ericheint; es ift zudem vom Berleger, 8. I. Trübner in
Straßburg, mit mujfterhafter Gediegenheit ausgeftattet. Die Overbeckſche „Ger
ſchichte der griechiſchen Plaſtik“ ift damit überholt; Brunns „Geſchichte der
griehifhen Künstler“ eignet fi für den Laien faum. Hieran fließen mir
„Die italienifhe Plaftil* von Wilhelm Bode, eines der bei W. Spe-
mann erfhienenen Handbüdher ber Königlichen Mufeen zu Berlin (die übers
haupt zu empfehlen find), ein zuverläffiges felbitändiges Buch in Bodes bes
fannter Art, mit zahlreichen Abbildungen verfehen. Das Bodeihe Werk über
bie deutſche Blaftif nannten wir ſchon. Für die Plaſtik der Neuzeit fommt
nur in Betradjt Anton Springers Kunſt des 19. Jahrhunderts“ (Leipzig,
@. U. Seemann).
Für die Baukunſt ift zunächſt wieder auf Burdharbts „Eicerome“ und
Springer® „Handbuch“ zu vermweifen. Cine allgemeine „Grfchicdhte der
Architektur“ hat W. Lübke (s. Aufl., 1884—86) zumeifi auf Grund frember
Sorfhungen zufammengeftellt. Seibjtändiger ift die viel umfünglichere.
„Beihihte der Baufunft* von Franz Kugler (Stuttgart, 1856—59,
1—3. Bd., Altertum und Mittelalter umfaffend; diefe drei Bände bedürfen
allerdings mancher Storrefturen). Das Kuglerſche Wert wurde fortgeſetzt zunächſt
von Jakob Burdhardt als „Geſchichte der Nenaiffance in Jtalien* — ein
inhaltſchweres Bud) in gedrängtem Stil, dann von Wilhelm Lübte mit den
beiden Geſchichtswerken über die Reneifjance in Franfreih und in Deutſch—
fand, von denen namentlich das über Deutfchland zu Lübles befferen Arbeiten
gehört, und von Cornelius Gurlitt mit der dreibändigen „Gefchichte
des Baroditils, des Nolofo und des Klaſſizismus“, die als erjtes zufammen:
faffendes Werk auf dieſem Gebiet wertvoll ift, wenn ſchon der Berfailer
ficherlich bei einer zweiten Auflage manches Grundfähliche (Auffaſſung des
SJefuitenftils, Vernachläſſigung des Spanischen Barocks) und manderlei Ein
aelheiten Ändern wird. Das Dohmeſche Werk über die deutihe Baulunſt
erwähnten wir fhon. Ferner find zu nennen: Berrot ımb Chipiez, Hi-
stoire de l’art dans l’antiquite, 1.Bd. Aegypten in deutſcher Ausgabe, Leipzig,
1882— 84). Das beite neuere Werk ift: die chriſtliche Baukunſt des Abend—
landes8 von Dehio und v. Vezold, groß angelegt, für tiefere Studien, mit
großem Bilder-Atlas.
Die ilfuftrierte „Geſchichte der Graphiſchen Künfte* von J. E. Weſſely
(Reipzig, T. DO. Weigel Nachf., 1391) berüdfihtigt die moderne Forſchung nidt
in genügender Weiſe. Den „Kupferstich“ befpricht vortrefflid Lippmanns
Berliner Mufeumshandbud) (Berlin, W. Spemann), bis in die Gegenwart reicht
die frisch und Tebendig geſchriebene „Geſchichte des NKupferftihs* von Hans
Wolfgang Singer (Magdeburg a. E.), die mandhem allerdings durch Die
hier und da etwas burſchikoſe Ausdrucksweiſe mißfallen dürfte, Sponjels
„Modernes Plakat“ (Dresden, Kühtmann) ein umfänglider Band, für den bie
großen franzöſiſchen u. a. Werke Lug benugt worden find, unterrichtet mit
guten Worten und Nahbildungen. Dazu kommen die rei und vornehm mit
Kunftblättern und Sluftrationen ausgeftetteten Beröffentlihungen der Gefell-
ihaft für vervielfältigende KHunft in Wien: „Die vervielfältigende
Kunſt ber Gegenmwart*, cin Prachtwerk in Folio-Bänden. Cine gute
Kunfjtwart
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„Geihichte ber tehniihen KHünfte* in drei Bänden veröffentlihte Bruno
Bucher (Stuttgart, 1875—93) im Verein mit anberen Gelehrten, Einige
ber älteren Übteilungen find zum Zeil nicht mehr ganz auf der Höhe. Uebrigens
find in dem Bude aud) Miniatur, Glyptik, Formſchneidekunſt und Kupfer:
ftih behandelt. Auch desſelben Verfaſſers Auffagfammlung „Mit Gunft* ft
lejenswert. Für das Kunſtgewerbe fommen bann vor allem bie gehalt
vollen und anregend geichriebenen Schriften von Jakob von Falle in Be
tracht, zumal jeine „Geſchichte des Geſchmacks“ im Mittelalter. Auch Bruno
Bucher bat eine Reihe interejlanter Auffäge (unter dem Titel „Mit Gunft“)
veröffentlicht.
In der Literatur kunjtgefhihtliher Eſſays ftehen in erfter Linie bie
„Bilder auß der neueren Runjtgefhichte* von Anton Springer (2. Aufl.
Bonn, 1686), achtzehn inhaltreihe und vielfach gerabezu bahnbrechende Auf
fäge, umfaffend die ganze Kunftgefhichte vom Mittelalter bis in die neueite
Beit, und glänzend geſchrieben. Mehr feuilletoniftifh und ftreitbar gehalten
find bie „Wiener Aunftbriefe* von M. Thaufing Die Hettnerfcden
Ejjays zur Gefhichte der Renaiffance find hiſtoriſch unzuverläffig, feine
„Kleinen Schriften” (Braunſchweig. 1884) dagegen enthalten mandes Interef-
fante zur modernen Kunftgefhidhte. Neben das grundlegende und epoche—
madende Werk diefer Art, bie „Kultur der Nenaiffancee* von Jakob
Burdharbt, Stellen ſich die geiftvollen vier Vorträge von Hubert Ja—
nitfhet: „Die Geſellſchaft der Renaifjfance in Italien und die Kunſt“ (Stutt«
gart, 1879). Weiter nennen wir Gottfried Sempers Heine Schriften,
die hauptſächlich der Architeltur gewidmet find, aber u. a. aud) ben berühmten
erjten Aufſatz über die Farbigfeit der griechiſchen Plajtik enthalten, dan Her=
mann Grimm „Eſſays“, die voll find von fubjeltivem Geiſtreichtum,
weiter für bie Antike: „Griechiſche Götterideale, in ihren Formen erläutert”
von Heinrich Brunn (Münden, 1895), die freilich in gleichfalls geiftreicher
Subjeftivität, gleichfalls nicht immer bei der nüchternen Wirklichkeit bleiben.
Weiter find gu nennen: „Konrad Fiedlers Schriften über Kunſt“ (Leipzig,
1896), wertvolle Belenntniffe eines denkenden Kunitfreundes, die allerdings
etwas ſchwierig zu lejen find.
Werte über Aeſthetik gu empfehlen, ift ganz befonders ſchwer. Die
fogenannten „populären“ find zum minbeften, infofern fie mit dem Anſpruch
auf wiſſenſchaftliche Erkenntnis auftreten (und das thun fie zumeift), eher
ſchädlich als nugbringend, meil fie die „Halbbildung bes Stunftverftändnijjes”
fördern. Die wirklich wifjenfhaftlihen dagegen, unter benen Rihard Ave
nariuß „Kritik der reinen Erfahrung“ auch für die Aeſthetik epochemachend
war, fegen gediegene pfydolsgiihe Bildung und Geübtheit im abſtrakten Denten
unbedingt voraus. Das einzige Werl, das wenigſtens von einigen Problemen
der wiſſenſchaftlichen Aeſthetil auch dem gebildeten Laien fon eine fahliche
Anſchauung gibt, iſt Fechners höchſt anregende „Vorſchule der Aeſthetik“.
Lange Zeit hindurch galt Gottfried Sempers monumentales Werk
„Der Stil in den technifchen und teftonifhen Künften“ (Stuttgart, 1878) als
unfehlbar. Zum Zeil andere Anfhauungen werden entwidelt von Alois
Riegl in dem Bude „Stilfragen, Grundlegungen zu einer Gefhichte der Orna=
mentit“ (Berlin, 1895). Dazu lefe man das zufammenfaflende interejjante
Bud von Ernft Große „Die Anfänge der ſtunſt“ (Freiburg, 1844).
Weit populärer gehalten, als Semperß bedeutendes Werk, it Jakob
von Falfes „Uefthetil des Kunſtgewerbes“, ein Handbud) für Haus, Schule
2. Yovemberheft 1898
— 15 —
und Werkftätte (Spemann). Die Mitte hält Georg Hirths reich illuftriertes,
auf reiher Eriahrung beruhendes Werk „Das deutſche Zimmer der Gotik und
Renaiffance, des Barod-, Rokoko⸗- und Zopfitils“, Anregungen zu häuslicher
Kunftpflege. Desjelben Verfaſſers „Aufgaben der Hunftphyfiologie“ Tann man
eine phyfiologifche Aeſthetik nennen, fie hat viel dazu beigetragen, die modernen
Probleme der Malerei auf wiffenichaftliche Grundfäge gurüdzuführen. Auch der
berühmte Phyſiker Helmbolg bat ja in feiner „Phyfiologifhen Optik“ in ber
gleihen Richtung gewirkt. Ueber die Fragen bes Realismus, Idealismus, Naluralis-
mus findet man ungemein intereffante Auseinanderſetzungen in Ju ſt is Velazquez⸗
Biographie (Bonn, Marcus), einen der geijtvolliten kunſtgeſchichtlichen Bücher,
das wir kennen; und über die inneren Triebräfte der modernen Hunftbemegung
auf dem Gebiete der Dlalerei gibt vielfeitigen Aufichluß das Buch „Der Kampf
um die neue Kunſt“ von Karl Neumann (Berlin, Walker). Das Gleiche für
die Zeit um 1863 leiftet Julius Meyers Bud zur , Geſchichte und Kritik der
modernen beutfchen Kunjt“, herausgegeben von Konrad Fiedler (Leipzig, Grunert).
Hierher gehören auch des Grafen von Shad intereffante Schrift „Meine
Gemäldeſammlung“ (Stuttgart, Cotta), die über feine Erlebniffe mit zahlreichen
Künftlern, wie Shwind, Bödlin, Genelli, Feuerbach u. ſ. w, Auskunft gibt, und
die treffenden Eritifchen Betrachtungen, die Ludwig Pfau niedergelegt Hat
in feinen äfthetifhen Schriften: „Bilder und Baumerfe*, „Dialer und Gemälde”,
„Die Kunft im Staate* (Stuttgart, 1888). Hier nennen wir auh Walter
Eranes fehr widtige Schrift „Die Forderungen der deforativen Sunft“ (deutſch
von D. Wittih, Berlin, 1896), welches mit Nahdrud die Gleihberehtigung
der beforativen Kunſt (des Kunſtgewerbes) mit den fog. hohen Künſten barlegt.
Ueber die äſthetiſchen Anſchauungen auf dem Gebiete der Plaftil um
bie Wende umnferes Jahrhunderts findet man reiche Belehrung in Julius
Langes Buch „Thorwaldjens Darftelung des Menſchen“ (Berlin, 1894),
während für die Gegenwart Adolf Hildebrands tiefgründiges Bud „Das
Problem der Form in der bildenden Kunſt“ (Straßburg, 1893) grundſätzliche
Betrachtungen bietet. Für die Farbigfeit der Plaftil, die Hildebrand be—
tämpft, trat Georg Treu ein in feiner Heinen Schrift „Sollen wir unfere
Statuen bemalen?* (Berlin, Oppermann). Weiter gehört hierher Max
Klingers gebantenreihe polemifhe Schrift „Malerei und Zeichnung“,
melde bie Grenzen von Dtalerei und Schwarzweißlunft, fowie das Recht des
Künftlers auf die Daritelung des nadten Körpers vom Standpunkt bes Bild-
ners erörtert. Endlich feien bier wenigſtens noch erwähnt das bedeutend
ältere Bud „Der vatikaniſche Apollo” von Anjelm Feuerbach und bie
Aeſthetik des Häßlihen* von Roſenkranz. Das Beite, was wir auf dem
Gebiete der praltiſchen Farbenlehre fennen, iſt Chevreul, »De la loi du
contraste simultan& des couleurse, deutfh von Jännide, und »Des couleurs et
de leurs applications aux arts industriels« (Paris, 1880 u. 1888).
Für die Aeſthetik der Baufunft fommen in Betradt: 1. auf dem
Gebicte des Städtebaus: Sitte 8 treffliches Buch „Der Städtebau nad) feinen
fünftlerifchen Grundfägen“, das für daß Dlalerifche, die frumme Linie in deu
Unlagen der Städte eintritt, ferner von feinem Gegner Stübben daß um—
fänglidere Wert „Der Städtebau‘, das mehr das praktiſch zunächſt Erreich—
bare darſtellt, endlih von Henrici der Text zu feinem „Preisgefrönten Kon—
furrenzentwurf zu der Stadterweiterung Mündens* (Münden, 1895). Auch
Göllers Schriften zur Aeſthetik der Baufunit find wichtig, aber freilich nicht
populär. Das find dafür durchaus Hans Schliepmanns frifhe „Betrach—
Kunftwart
- 1236
tungen über Baufunft“. Für die Häusliche Kunjtpflege empfehlen wir folgende
Heine Schriften: Gurlitt, „Im Bürgerhaus“, Henrici, „Betrachtungen über
die Grundlagen zu behaglicher Einrichtung“ und Lichtwark, „Alter Wein,
neue Schläuche”, wie Lichtwarks Feine Brofhüren überhaupt.
Die Fragen des Kunſtunterrichts erörtert unfer Mitarbeiter
Shulge- Naumburg in ber Schrift „Der Bildungsgang für moderne
Maler“. Für die allgemeine äfthetifche Bildung des Volkes trat mit Entſchie—
benheit fonrab Lange ein in feinem Bude: „Die fünjtlerifche Erziehung
des deutſchen Volks“. Lichtwarks Fleine Schriften fommen auch und gerabe
bier in Betradt. Wir nennen auch Spaniers Schrift: „Rünftlerifcher
Bilderfhmud für Schulen“ (mit Bilderverzeichnis).
Endblih führen wir bier in Kürze die nad unferer Meinung beiten
Künftlerbiographbien an: „Belazquez”, „Murilo* und „Winkelmann“
von Juſti, „Raffael und Michelangelo“, ſowie „Albredt Dürer“ von Anton
Springer, „Studien zur Geſchichte ber holländiſchen Malerei” (Rembrandt
und „Franz Hals*)von Wilhelm Bode, „Hans Holbein“ von Woltmann,
„Peter Flötner* von Konrad Lange, „Rietihel* von Oppermann,
Zubmwig Ridters Selbjtbiographie, „Chodowiecki“ von D. v. Oettin—
gen, „Mantegna” und „Eorreggio" von Henry Thode, „Sandro Bots
ticelli” von Ullmann, „Rubens“ von Roofes, „van Dyd* von Guiff—
rey, „Die florentinifhen Maler der Renaiffance* von Bernhard Beren-
fon (beutfh von Otto Dammann, Oppeln, 18398), „Defer“ von Dürr,
„Schlüter“ von Gurlitt, „Bödlin* von Max Lehrs, „Eonftantin Meunier*
von Georg Treu. Für das Berftändnis Klingers: „Mar Hlingers Griffel-
Zunit“ von Ferdinand Uvenarius. Endlich nennen wir nod) das eben
erfhienene Bud: „Beiträge zur Aumftgefhichte von Italien” von Jakob
Burdhbardt. Die Künftlerbiographien im Dohmes „Kunft und Künſtlern“
und in der nadfußfhen Sammlung find natürlich fehr ungleichwertig, wegen
ihrer zahlreichen Bilder aber find doch felbft die legteren eigentlih ausnahmes
108 zu empfehlen.
Es mag fein, daß bei dieſem eriten Verſuch einzelnes Wertvolles über:
fehen worden ift, indes dürften nicht viele Werke fehlen, die wir als wertvoll
für weitere Kreife mirfli empfehlen wollten. In ben meiften
Fällen dürfte zutreffen, daß wir das, was vielleicht der eine oder der andere
vermißt, eben nicht für bedeutend genug für den befonderen Zmed hielten.
Paul Shumann.
(Weitere Auffäge zur „Weihnachtsſchau“ folgen im nächften Hefte.)
(2 Ber
402 AR?
Gerbart bauptmanns „Fubrmann benschel“.,
Wenn e8 mir barum zu thun wäre, Hauptmanns neues Werk mit einem
‘bequemen Schlagworte zu bezeichnen, jo würde ich fagen: er hat feinen Bahn=
wärter Thiel jegt auf bie Bühne gebradit. Daß der Bahnmärter und ber Fuhr⸗
mann, beides offene, arglofe, einfach⸗männliche, in ihrer Art ftarle, aber, wenn
‚man fie trifft, auch fofort tödlich getroffne Naturen mit dem leidenſchaftlichen
Zuge zu den lindern, der folde Menjchen auszeichnet, und einem myſtiſchen
Hang — daß fie mindeftens Brüder find, und daß fie an demfelben Verhäng-
niffe, an derfelben Gattung Weib zugrunde gehen, wird niemand beitreiten
tönnen. Völlig verfchteden ift aber das Milieu der beiden Werke. „Bahnmärter
2. Hovemberheft 1898
— 127 —
Thiel? fpielt irgendwo an ber märlifchen Eifenbahn und übt außer durch dag
in ihm bargeftellte Menfhenihidfal aud durch die Naturfzenerie, die vor—
trefflih zur Anſchauung gebradte Einfamkeit der märkiſchen Kiefernmaldung,
eine ftarfe Wirkung; „Fuhrmann Henſchel“ gibt das gewöhnliche Leben, nit
die Satfon eines fchlefifhen Kurortes wieder, läßt alfo gleichſam Hinter bie
Kuliffen eines ſolchen bliden.
Der Inhalt des von Hauptmann „Schaufpiel* genannten neuen Dramas,
das wieber bei S. Filcher in Berlin erfchienen ift, läßt ſich mit ein paar
Worten erzählen. Die rau des Fuhrmanns Henſchel ift zu früh aus dem
Kindbette aufgejtanden, wieber „umgefallen“ und jest dem Sterben nahe. In
ihrer Krankenſtimmung, ziemlich) einfam und verlaffen daliegend, argmöhnt fie,
da ihr Mann mit der Magd Hanne ein Verhältnis habe (e8 fann davon bet
dem Gharalter des Mannes nicht die Rede fein), und nimmt ihm nad) einer
heftigen Szene vor ihrem Tode daß Verſprechen ab, Hanne nicht zu heiraten.
Henſchel, der fih nad) dem Tode feiner Frau völlig verlaffen fühlt und durch
ein kränkliches ind gezwungen ift, wieder zu Heiraten, nimmt Hanne doch, nad)
dem fie ihm eine Komödie vorgefpielt und der Beſitzer des Babes ihm gefagt
hat, dab das Verſprechen an die Tote body nidyt bindend fei. Er nimmt fie,
itogdem er weiß, Daß die Magd ein uneheliches Kind hat. Die neue Frau
Henschel geht dann jofort ein Verhältnis mit einem ftellner ein und Triegt ihren
Dann, wie man zu jagen pflegt, „völlig unter“. In feiner unbegrenzten Gut:
mötigteit führt ihr Henſchel, nachdem fein eigenes Kind geftorben, nod) das
ihrige zu; fie nimmt es keineswegs freundlih auf. Bei einer Wirtshaus—
ftreiterei erfährt Henschel endlich, was alle Welt weiß, auch, daß ein Gerücht
umgehe, Hanne babe feine erfte Frau und ihr Kind auf die Scite gebradt,
möglicherweife im Einverftändnis mit Henfhel. Da verſinkt er in Zieffinn,
bat Erfheinungen feiner erjten Frau und tötet ſich zulegt jelbit. Bahnmärter
Thiel tötet bafür fein Weib, ein Ausgang, den man hier auch befürchtet, doch
hat Hauptmann richtig gewählt: der Fuhrmann fteht menihlih, wenn man
will moralifh etwas höher als der Bahnmärter. Mit der Haupthandlung find
ein paar Nebenhandlungen, fomeit denn von Handlung die Rede jein kann,
verbunden, wir fehen jenen Badbefiger allmählich zugrunde gehen und bliden
in bie Sorgen eines Wirte, eines chemaligen Schaufpielers Hinein — im
ganzen komint dieſes Nebenbei wenig in Betrad)t.
E8 befagt wenig, das Stüd als einen „Rüdjall“ in den Naturalismus
zu bezeichnen. Zwar wird man an Hauptmanns erjtes Werl „Bor Sonnen=
aufgang* und an beijen Vorbild, Tolftojs „Madjt der Finfternis“ ſtark er—
innert, body hat ſich der Dichter hier vor naturalijtifden Extravaganzen ge=
hütet, obgleich ihm das Treiben der Hanne ja Gelegenheit genug dazu geboten
hätte, er hat das Nötige nur andeutend gebradit. Wie das durch den Sturm
und Drang zu erflärende „Ertravagante* ift dann aud) das in „Bor Sonnen=
aufgang* enthaltene Zeit- und foziale Element meggejallen, „Fuhrmann
Henſchel“ ift ein reines fchlefifches „Volks- und Dialeltftüd”, enger als das
Erftlingsmwert, mit dem es bie Atmofphäre teilt, dafür aber geſchloſſener, fünft=
Ierifch reifer. Die Teilnahme fammelt burhaus der Fuhrmann felber auf ſich,
er ijt der „Held“, wenn ınan diefen Begriff nicht im herkömmlichen Sinne verfteht,.
und bedeutet künſtleriſch eine ſehr tüchtige Leiftung. So findet man vom „Fuhr—
mann“ aud den Weg zu jenen Dramen Hauptmanns, in denen, wie im
„Kollegen Crampton“ und im „Biberpelz*, ein Charakter ben Mittelpunft bildet
und bie ihn umgebende Welt völlig auf ihn zugeſchnitten iſt, jo daß ſich Fein.
Kunftwart
— 18 —
eigentliches Weltbild ergibt. Die Nebenperfonen haben aud im „Fuhrmann“
faft alle nur Typen=, faum individuellen Charakter, felbft Hanne, die Magd,
bleibt in mancher Beziehung „abftraft*. Was der Dichter mit ihr gewollt Hat,
willen wir ſchon, aber völlig in fie hinein verfegen können wir uns nit. Die
abfolute Gemütlofigkeit — das Wort umfchreibt ihre gemeine Natur fo ungefähr,
aber pofitiv, individuell beftimmt tritt fie uns faum entgegen. Man muß bier
als Bergleihsmerte verwandte ältere dichteriſche Schöpfungen, wie etwa Anzen⸗—
grubers Sternfteinhofbäuerin, heranziehen, und wird ſich dann jagen, daß diefer
Dichter in ber Zeichnung dieſer befonderen Geftalt weiter gemollt hat und
meiter gelommen ift als Hauptmann. Un individueller Unbeftimmtheit leidet
aud der Babbefiger Siebenhaar, dagegen find die Typens oder Milieumenſchen
Wermelskirch, der Schaufpieler-Wirt, feine Tochter Franziska (ein bischen
Sudermannifches finde ich freilich in ihr), der fächftiche Kellner George, ber
Knecht Hauffe, der Haufierer Fabig fait durchaus gelungen und vollftändig an
ihrem Platze, und in ber erften Frau Henſchels hat Hauptmann mwenigftens den
„Situations*-Charafter volljtändig getroffen.
Alles in allem bietet das neue Wert feine Ueberrafhungen. Daß Haupt
mann dergleihen fann, befjer als feine Mitjtrebenden, wiſſen mir alle; bie
große Hauptmannsfzrage ift nur, ob er barüber hinaus kann. Der Wert folder
durchaus „echter“ Lebensdarjtellungen ift garnicht zu beftreiten; Geftalten mie
eben der Fuhrmann, Szenen wie bie vor bem Sterbebette und der Wirtshaus:
ftreit werden auch ftetS eine ergreifende Wirkung üben, von der Bühne herab,
wenn fie gut verlörpert werben, ſowohl, wie auf den jtillen Lefer, falls dieſem
nichts Menichliches fremd iſt. Aber man darf nicht überfehen: an dergleichen
Darjtellungen ift unfere Literatur fehr rei, wenn man nur das ganze Gebiet
der Erzählungen heranzieht, ja, fie find audh vor Hauptmann auf die
Bühne gelangt, durch Ungengruber 3. B., der gewiß vielfach theatralifcher,
aber dafür oft auch wieder ein gut Teil frifcher, Iebendiger, vielfeitiger, leichter
fortreißend, vielleicht Überhaupt „genialer als Hauptmann war. Die fih als
Hauptmanns engfte Gemeinde fühlen, werden mir’s wieder jehr übelnehmen,
aber ih kann mir nicht helfen: Hauptmann ſcheint mir mehr zu „brüden“, als
Angengruber. Und manchmal fommt dabei nicht einmal das Richtige heraus.
So kann ih perfönlid die Szene, wo Hanne ihrem Herrn die Komödie vor=
fpielt, wirklich nicht vortrefflic finden. Der plöglih auftauchende „Bruder“
Hannes müßte jelbft dem Arglofeiten verdächtig vortommen, und die „Strofodils=
thränen“, die Hauptmann das Mädchen „flennen“ läßt, verfegen einen in bie
Bintertreppenromansphäre. Doch fommt ja nicht viel darauf an.
Was mid an dem „Fuhrmann“ beunruhigt, ja, geradezu betrübt, das ift:
dat Hauptmann aud) mit diefem Werke nicht aus dem Streife des naturaliftifchen
Vollsjtüds zur bürgerlichen Tragödie emporgelommen ift. Daß ich fein Menſch
bin, der an Formen lebt, habe ich bemwiefen, indem ich in meinem Hauptmann—
buche für die „Weber“ eine eigene vollberedtigte Form annahm, aber an bes
fondere dramatifche Formen, an die Tragödie, an befondere dramatiſche Prob—
leme und an das befonbere bramatifche Talent, das diefe fieht und im jenen
ſchafft, glaube ic) allerdings. Der „Fuhrmann Henſchel“ Hat nichts befonderes
Dramatiihesan fi. Der Fuhrmann felber wird zu feiner wahrhaft tragiſchen
Geſtalt, nod) prägt fih in feinem Schidfal jene dramatifche Notwendigkeit auß,
die das dramatiiche Problem felbit, wie alles Einzelgeichehen als ſchlechthin
unvermeidlidh ericheinen läßt. Noch endlich wird das Stüd ſchleſiſchen
Lebens, welches das Werk entrollt, irgendwie zum Weltbild — alles trägt den
2. Novemberheft 1898
— 11 —
Charakter des Einzelfalls. Es ift nicht einzufehen, warum der „Fuhrmann
Henfchel* nicht jo gut in erzählender Form zu geben wäre, wie ber „Bahn
wärter Thiel”. „VBerbammen“ kann man bie von Hauptmann beliebte dramatifche
Form natürlich nicht, aber von einer inneren Notmwendigfeit, diefen Gehalt
als Drama zu geftalten, fann man auch nicht ſprechen. Und fo bleibt Hauptmann
auch hier wieder ben Beweis fchuldig, daß er der „neborne* Dramatifer ift,
wie feine Freunde, Prof. Erih Schmidt an der Spike, ſchon lange behaupten.
Ih wünſchte, er wär’ es, denn nichts fehlt der Literatur der Gegenwart
mehr, als ein großes fünftlerifches dramatiſches Talent, das unter feinen Um—
ftänden Konzeffionen an die bloße Theaterfunft machte, nichts wäre aud für
die Zukunft unferes Dramas und unferer Bühne wünfhensmwerter, als die Er—
hebung des naturaliftiihen Vollsftüdes zum wirflihen Drama, zur bürger-
lihen Tragödie, bie, bisher erit in zwei, drei Stüden vorhanden, dem großen
biftorifhen Drama ebenbürtig an die Seite träte und „repertoirebilbend* würde.
„Buhrmann Henschel” ift ein in feiner Art ſehr jhägensmwertes, gutes und er=
greifendes Stüd, mit Bildern und Szenen voll echter Stimmung, eine nicht
bloß Beobachtungen vermertende, fondern auch ganz und gar burhempfune
dene wirklicht Dihtung, die als folde an und für ſich fchon Höher fteht,
als die Arbeiten der Theaterfchriftfteller, wie Sudermann und Fulda. Aber
für Haupmanns Entwidelung bedeutet das Stüd nichts, und nichts für die
Entwidelung unferer deutfhen Literatur, Je größere Berhäliniffe die Haupt
mann⸗Verehrung annimmt, je freudiger wir felbft die VBebeutung des Dichters
Hauptmann anerfennen, bie ja im funftiwart von anderer Seite ſchon an=
erfannt worden ijt, als neunundneunzig unter einem Hundert feiner jegigen
Bewunderer nur Hohn und Empörung für ihn hatten — je mehr find wir ver—
pflichtet, auch die Grenzen feiner Begabung dort, wo wir fie zu jehen glauben,
zu bezeichnen. Adolf Bartels.
—
Die Theaterboͤrse.
Zur Delegiertenverſammlung der Genoſſenſchaft dentſcher Bühnenangehöriger.
Es gibt wohl keine zweite Kunſt, die fo lahm auf eigenen Fühen ſteht
und vorwärts fchreitet, wie die Bühnenkunſt. Auf das Vorfhaffen jtärkerer
Schweſterkünſte angewiefen, bat fie die Möglichkeit unabhängiger Entwidlung
aus eigener Kraft jo gut wie nicht, und nirgends haben neue Werte von
heut mit dem geheiligten Gefeg von geftern mehr zu kämpfen als auf der
Bühne Nur aller hundert Jahre, wie im Märchen, ringt fi hier langſam
ein neuer Tag, ein neuer Lebensgehalt zur Herrfhaft burch, während Dichtung
und bildende Kunſt im felben Zeitraum wohl dreimal neu und ebenfo oft
alt geworden find. Und es hängt aufs innigite mit dieſer Langfamfeit der
Anpaſſung an die Sunftfordberungen der vorwärtshaftenden Zeit zufammen,
daß der innere Organismus bes Theaters, das Verhältnis zwiſchen Unter—
nehmern und Ungeftellten heute noch in denſelben patriardalifhen Bahnen
ſich bewegt wie zu Beginn bes Jahrhunderts. Heute wie damals fennt ber
Bühnenkontraft für den Direktor kraft der gezahlten Gage nur Rechte, die für
den Dariteller zu ebenfovielen Pflichten werden. Aber nicht genug an dieſem
einen duch eine Batterie von Strafparagraphen unterftühten Pflichtforderer
— daß neunzehnte Jahrhundert Hat noch für einen zweiten geforgt, der über—
allhin mit allezeit freundlihem Lächeln die allezeit offene Hand ausftredt und
drohend bittet: „nur eine Kleinigkeit“ — für den Agenten.
Kunftwart
- 0 —
Die ältefte derzeit beitehende Theateragentur ift im Jahre ı849 be=
gründet worden, zu berfelben Zeit, als Die befferen beutfhen Bühnen fi) mehr
und mehr dazu herbeiließen, den Autoren mwenigftens bie neuen Stüde zu
honorieren. Durch das Öffentliche Leben trieb ein fchnellerer Pulsihlag, und
man wollte ihn aud beim Theater fpüren. Man verlangte nad) neuen
Stüden, neuen Darftellern, von benen man durd) die geihmwinden Eifenbahnen
billige Hunde erhielt. Die gute alte Zeit mit ihrem behaglichen Genügen an
dem, was vorhanden mar, ging unter im Lärm ber Lofomotive, in der Sucht
nach wechſelndem Tagesgenuß. Kunſtvirtuoſen aller Art begannen ihre Raub=
züge durch) das Land und verblüfften das Publiftum mehr durch Kunſtkniffe,
als dab fie feinen Geſchmack durch wirkliche Kunft verfeinerten. Namentlich
beim Theater wurde das Gajftieren, das früher nur bei befonderen Anläffen
Eitte war, zu einer Modeplage, welcher fih auch ber Direktor, dem die Pflege
eines abgerundeten Zuſammenſpiels als altes Bühnenziel am Herzen lag, mit
ſeufzendem Wiberftreben fügen mußte. Die Folgen dieſer Wirtſchaft mit ftäns
digen Reigmitteln zeigten fich jehr bald; das Publikum bekam die alten, ver—
trauten Darsteller fatt, weil man fie eben fannte. Wenn fein fremder Taufend=
fünftler auftrat, war das Theater leer. Was follte der Direftor maden? Alle
Tage ein neues Stück aufzuführen, war ebenfo unmöglich, wie alle Tage einen
anderen großen Mimen oder Sänger als Lodipeife auszuftellen. Aber das
ganze eingefpielte Enfemble jedes Jahr anders zufammenzufegen, das mar
etwas Neues, das gab ben Leuten frifchen Redeſtoff und alfo auch erneutes
Thenterintereffe. Und während früher ein neu zu verpflichtendes Mitglied vom
Direftor vorher gefannt und beurteilt wurde, was bei ben meijt mehrjährigen
Verträgen ja fehr nötig war, wurden jetzt fogenannte „Saiſon⸗Abſchlüſſe“ mit
völlig fremden Bühnenkünftlern allgemein üblich, meld legtere nicht nur Reifen
etwa von Züri) nad) Königsberg i. Pr. alljährlich aus eigener Taſche machen
mußten, fondern aud) in den erjten vier Moden die Kündigung des Vertrages
ohne Mud hinzunehmen Hatten, wenn dem Direltor des Künftlers Nafe nicht
gefiel.
Es mwar ganz begreiflih, daß fo ein vielbefhäftigter Theaterleiter nun
nicht mebr die Anſprüche und Angaben all der vielen Bewerber, die fi beim
Wechſel jedes Theaterjahres einftellten, forgfältig prüfen wollte; die Kün—
Digung war ja immer eine fidhere Rettung für den Notfall. Aber man konnte
doch ſchließlich nicht dem ganzen Perfonal fündigen, wenn es nichts taugte,
um im legten Augenblid vielleicht eine noch weniger anftellige Truppe auf ben
Hals zu befommen. Es fanden ſich alio ſach- und geihäftslundige Männer,
die zwiſchen Angebot und Nadjfrage vermittelten, wie in anderen, bürgers
lichen Berufen auch. Sie nahmen dem Direktor die umftändliden Verhand—
fungen mit jedem einzelnen Dariteller ab, lieben dem Erfteren ihre Rechte,
dem Letzteren ihre Linfe, — umd beider Hände Arbeit hatte der wirtfchaftlich
Schwächere, ber Bühnenkünftler, zu bezahlen.
Auch das pflegt in der Stellenvermittlung anderer Berufe ebenjo zu
fein. Der Handlungsgehilfe zahlt, meift an die Kaſſe feines Berbandes, einen
fleinen Betrag zur Dedung der Portofoiten und als Entichädbigung ber ver—
brauditen Arbeitszeit des mit dem Nachmeis betrauten Beamten. Der Matrofe
entrichtet dem Heuerbas“, der ihn auf irgend einem Schiffe untergebradit hat,
feine Steuer. Der Kutſcher gibt den Gefindevermieter vom Handgeld bie
feftftehende Vermittlergebühr. Aber fie alle find mit der einmaligen Abgabe
einer von vornherein beitimmten Eumme, die in leidlichem Verhältnis zu ber
. 2. Xiovemberheft 1898
_ 11 —
veranlaßien Arbeitsleiftung jteht, jeder jerneren Verpflichtung gegenüber ber
Mittelsperfon enthoben. Der Bühnenfünjtler dagegen mirb gezwungen, zus
glei) mit feinem Kontrakt auch das Recht ber Ugentenprovifion anzuerkennen,
— daß heißt: während der ganzen Dauer feiner Anftellung in
Raten, gewiſſermaßen als fejtftehende Rente dem Vermittler Geld zu zahlen,
ober richtiger: ſich bauernd Geld für ihn abziehen zu Iafjen.
Dies Gezwungenfein bedarf einer Erläuterung. Zwang fann nur aus—
gehn von Einem, der Madt hat, und welcher Agent, wird man einwenden
fann dem Darfteller den geradejten Weg ber Bewerbung, das Selbitangebot
verwehren? Ganz gewiß fein einziger. Aber die Thatfahe, daß mit Aus—
nahme ber in fiheren Zebensitellungen befindlichen Theatermitglieder und der
wenigen Träger großer Namen alle übrigen, alfo etwa vier Fünftel der Ge—
famtheit, ihre Zuflucht zu den Agenten nehmen, ſpricht doch wohl dafür, daß
bier thatſächlich eine Macht wirkt, die ſtärker ift, als der befte Einzelmwille. Sie
erwuchs ganz von felbit aus ber Verſchiebung des Verhältniffes zwiſchen Direk—
toren und Wgenten.
Als die Bühnenvorjtände in dem Gefühl ber eigenen Kurzſichtigkeit für
das Auf und Ab im Kurs bes Künftlerfapitals und feiner Zinjen einen Beob-
achtungs-Mittelpunkt durch die Agenturen, eine Theaterbörje, nad und nad
ins Leben gerufen hatten, ba waren im Anfang die Agenten befheibene, höf⸗—
liche Leute, die wohl wußten, was fie ihren Nuftraggebern fchuldeten. Sie
fühlten ſich mehr als Ungeftellte, die zum Beiten ihrer Herren Chefs ein mad
fames Uuge hatten auf alle Werte des Marktes, die Gewinn verfprachen. Aber
je mehr fie e8 verftanden, fi aud) die Vertretung ber nötigften Theater-
ware, der von allen Bühnen heiß begehrten neuen Stüde zu fichern, befto un=
abhängiger wurden fie vom guten Willen der Theaterleiter, denen die Theater=
freiheit im Jahre 1870 eine allenthalben Iuftig wuchernde Konkurrenz befcheerte.
Und als im Jahre 1876 das Urhebergefeß folgte, das ben Berfajler am Theater-
gewinn an jeder Bühne beteiligte, indem e8 das Aufführungsredt von feiner
oder feines Agenten Erlaubnis abhängig machte, — da wurden bie Mgenturen
eine felbftändige Macht, mit der fortan der größte Teil nicht nur des Bühnen-
voltes, fondern aud) der Bühnenherrfcher rechnen mußte.
Denn jetzt hat der Agent drei Trümpfe in ber Hand, die er gejchidt
gegen einander immer fo ausipielen fann, daß er mit jedem gewinnt, ohne
felbft etwas dabei zu verlieren oder aud) nur aufs Spiel zu fegen. Der Ver—
fafler braucht die Bühne, aljo den Schaufpieler, dieſer Läuft Dem Direktor nad),
und der fucht wieder den rechten Berfaffer zu erwiſchen. Die Reihenfolge kann
fi aud) anders bewegen, allen dreien notwendig aber iſt der Agent,
wollen fie bei diefem Nundlauf einander erreihen. — Am jhmerften hat es
babei der Verfajfer, wenn er den eriten Anlauf zum Sprung auf die Bühne
unternimmt. Mit „ſolchen Leuten“ — follten fie fi) zu ihm verirren — läßt
ſich ein Theateragent, der feinen Beruf „ernst“ nimmt, zunächſt unter feinen Um—
ftänden ein. Er madjt fie höflich aber beftimmt auf ben Direftor aufmerffam,
der für neue Stüde der rechte Mann jei. Wagt dieſer nun einen Verſuch mit der
Neuheit und Schlägt fie ein oder gar durch, fo ericheinen furz darauf in feier-
licher Prozeffion die Herren Agenten zur Gratulationsfur beim jüngiten Lieb—
ling der Mufe und verfihern fehr höflich aber auch [ehr beftimmt, dab Die
finanzielle Ausnutzung des präditigen Werkes durd fie — für den Autor
natürlih — nun fogleid beginnen müſſe. Sie fpreden von ihren weitreichen=
den Verbindungen, fhildern mit Tieblichen Ziffern einnehmende Zufunftsbilder,
Kunftwart
und durch ihre Worte tönt e8 wie ber ferne Klingklang aufgezählter Goldftüde.
Der Berfafler denkt im Stillen, daß Tantiemengelder, die man nur einzu=
ftreihen braudt, ohne ſich um ihr Herfommen den Stopf zu zerbredien, doch
eine riefig bequeme Sade find. Er gibt alfo einem der Waderen jein Werf
zum „Bertrieb* und findet es ganz ſelbſtverſtändlich, daß der Biedermann fi
für feine forgende Mühe mit ein paar — fagen wir fünf — Prozentchen von
allem, was eingeht, bezahlt mad.
„Das Aufführungsredit der »Spartanerin« allein zu erwerben von Mufen-
thal & Go.* fteht von jegt ab in diden Leitern in den von Mufenthal & Eo.
awanglo® herausgegebenen „Iheaterneuigfeiten* oder Proſpekten, die dem Theater
direltor von Zeit zu Zeit auf den Schreibtifch flattern. Heutzutage, wo beinahe in
jeder Stabt von mehr als 25 000 Seelen ein Winter- und ein Sommertheater die
gaftlihen Piorten aufthun, mo die Bürger von Wiklingen es für eine Schande
halten, in Theaterdingen nicht ebenfo blanf und neu bedient zu werden mie
die da drüben in Siglingen, Heutzutage iſt Schnelligkeit im Wegftfchen ber
lederften Sheaterbifien die erſte Direktorenpflicht. Auch fteht der Mann des
Sommers als treibendes Gefpenst hinter dem, der im Winter die moralijche
Unftalt verwaltet, und umgefehrt; von beiden wird das „Neueite aus Berlin“
von einem p. t. Publikum verlangt, Alfo tradhtet jeder, mit Mufenthal & Eo.
in gutem Einvernehmen zu bleiben, damit ihm vor dem andern das Neuefte
zufällt. Hat einem diefe Firma nun nod) über VBerlegenheiten in böfen Tagen, mie
fie dem Hunftuorjtande mit idealem Streben ja nie erjpart bleiben, mit
einigen Tauſendmarkſcheinen gu — jagen wir: fünf Prozent nachſichtig hinweg—
geholfen, fo muß man ihr auch mit Gegengefälligfeiten gern zu Dienften fein.
Eine ſolche aber ift ber „Bezug“ des Perfonals durch das genannte Haus, und
noch dazu eine, bie doppelt gut ift, weil fie dem gefälligen Direktor felbjt
nichts Toftet. Ja, des Direktor Entgegenlommen geht aud) wohl fo weit, daß
er ſelbſt dem Dariteller, mit dem er ausnahmsmweife ohne Zuthun des Agenten
handelgeinig geworben ift, dennoch durch diefen den Vertrag ſchicken läßt, d. 5.
zu deutfch : das Mitglied zu Abgaben zwingt, die von allen drei Parteien ber
Agent am wenigsten, nämlich überhaupt nicht verdient hat.
Während alfo das Verhältnis zwiſchen Direktoren und Agenten inners
halb der Iegten Jahrzehnte ſich vielfach ins Gegenteil verkehrt hat, und der ehe—
malige Angeftellte mehrerer Chefs jegt felbft zum Chef mehrerer Angejtellter
geworden ift, verharrt die träge, große Majle der SKKünftler = Urbeiter ben
Agenten gegenüber immer nod in derfelben Frohn- und Schmeideljtellung
wie früher. Höchſtens ift ihre Lage dur das immer größer werdende An—
gebot, burd) das Anwachſen eines verzweifelten Schaufpielerproletariats noch
drüdender geworden. Umgekehrt wie beim Verfaſſer ift hier für den Anfänger
der Weg zur Bühne kinderleiht. Wem das Schaufpielersfernen auf der Aka—
demie zu langweilig wird, der fchreibt einfach an den Agenten, melden ihm
ein älterer Kollege vorfhlägt, um „Engagement“. Ganz gleid) nun, ob er uns
orthographifch oder fonftwie frembländifh und genial fid) dabei ausgedrüdt
bat — poftwendend trifft bereitwilligfte Antwort ein unter Beilage eines Kon—
traftes mit co Marl Monatsgage an das „höchſt empfehlenswerte, nur nad
fünftlerifchen Prinzipien geleitete Stadttheater zu Witzlingen“. „Eine zufällige
Vakanz und eine Polition, wie fie ſich dem jungen Künſtler nicht alle Tage
bietet”, fchreibt der Agent. Sechzig Mark! Welch ein Riefengeld für das, was
einem felber ja vorläufig nur Spaß und feine Mühe macht! Die vielen Para
graphen, die nad) dem Niefengelde fommen, Iefen fi zwar ein bischen
2. Yovemberheft 1898
_ 135 —
fhmerer, fo im Stile ber Sriegsartifel, mit lauter „beitraft” am Schluß, aber
fte werden wohl ftimmen, denn jie find ja gedruckt. Alſo unterfchreibt man
eben; und man ſetzt den großzügig hingeworfenen Ramen mit unbedenklichem
Stolz auch unter den Zeitel, der bes Näheren ausführt, wir nur folange, als
diefer Vertrag dauert, für die Ugentur durch die Direktion allmonatlid) fünf
vom Hundert abgezogen werden dürfen. Wird aber der Kontralt ohne Ver—
mittlung verlängert, fo ift der gute Agent fogar mit drei Prozentchen ſchon
äufrieden, da er ja nur feinen freudigen Anteil an ſolchen Ereigniljen bezeugen
möchte.
Er wird dieſe dreiprogentige Teilnahme — verſichert das Papierden
mit dem Namen „Revers* weiter — er wird fie zum mindeiten fechs Jahre
lang pünktlich bemweifen, wenn e8 dem Dariteller gefallen ſollte, folange bei
einer Bühne auszuhalten. Sollte diefer aber — fo droßt der Revers an —
fo unvernünftig fein und den Kontraft noch vor Ablauf der erften Spielzeit
löfen, nur weil anderswo durch einen anderen Agenten was Bejleres winkt,
fo würde der erjte Vermittler feine fünf vom Hundert des aufgelöjten Ber:
trages dennoch nicht fahren laſſen, ſondern fie durch den gerechten Arm des Ge—
richtes ſich einholen, jals ihm der Künſtler das Weh anthäte, fein weiches Herz
hierzu zu zwingen. Solderlei verzwidte Gefchichten weit der Revers herzuſagen.
Weil fie aber der Phantafie des wahren Künſtlers zu vergwidt und weil alle
jungen Künſtler wahre Künſtler find, fo unterfchreibt man fie eben, denn da—
zu ſchickt man fie einem dod).
Freilich, wenn dann die Zeit der Erfüllung ba ijt, und der Theaterbüreaufrat
an jedem Monatserftenvon ben ohnehin nicht zu reihen Groſchen ben Agentenabzug
aurüdbehält, fo hört alle Verzwicktheit auf, und der ftünjtler fühlt einfach und
Mar. Er ſaßt einen Entſchluß; das muß fi erjparen laffen. Für die nächſte
Saifon inferiert er ih — Ergebnis: eine Agentur will fich feiner annehmen, alfo
grade das, was er nit annehmen will. Er ſchreibt an Direktoren — kommt
überhaupt eine Antwort, lautet fie: alle Fächer befegt. Er wird die frudtloie
Eelbjiftändigfeit müde. Da fommt ein Brief von feinem alten Agenten, der
ihn väterlid vor unflugen Inferaten, „direlten Schritten“ u. dergl. warnt, ihn
auch unterzubringen verſpricht, wenn er fie unterliefe. Mürbe gemacht, läßt
er fie dann, unterfchreibt wie zuvor den Never mit fünf vom Hundert an
Muſenthal & Co. und zahlt wohl au, wenn er's eilig hat und hoch hinaus
will, zur befonderen Regjamkeit an die Firma fünfzig Mark oder mehr für
Grtrabemühungen. Und ehe acht Tage herum find, fann er fih Viſikenkarten
mit dem Prädikat „Hofichaufpieler* druden laſſen.
Man begreift nun mohl eher den Agenten-Reſpekt felbit Dei großen
Mimen, wie 3. B. Friedrich Haafe, den noch als Miteigentümer de8 Deutfchen
Theaters die bleihe Angſt fabte, und ber des alten L'Arronge unerſchrockenes
Gebot: den Berliner Agenten die Yreilarten zu verweigern, durhaus rüd-
gängig machen mollte. Steigen wir nod) ein paar Stufen meiter bis dahin,
wo die Intendanten gedeihen, jo hören wir aus dem Munde Ernit von Pof—
ſarts, ber body erit recht ein großer Dann und Mime ift, wie ein Königlich
Bayrifcher Hofbühnenleiter vor Gericht ganz unbefangen zugibt: er habe mit
dem Wngellagten, einem bunfeln Ehrenmanne und Agenten, Heine Gefchäftchen
gepflegt, um feine Mitglieder vor den Angriffen des Agenten = Revolverblätt-
chens zu ſchützen; denn das donnerte gleich los, wenn am Hoftheater nichts für
feinen Lenker abfiel. Wir, die wir nit fo in die Konſtruktion von Hofbühnen
eingeweiht find, wundern uns wohl, warum ein foldhes Inititut jamt feinem
Kunftwart
— Le
Sntendanten das Wadeln Trient, fobald ein Konflikt mit einem Heinen Revolver—
manne droht; doch das veriteht Herr von Poffart beſſer. Wenn aber bie
Fürften im Theateritaate von banger Furdt vor ber Raubgemalt der ſechzig
bis jiebzig !lgenturen angewandelt werben, wie fol man da von den Taufens
Den ber minderen Leute im Reiche eine felbjtändige Auflefnung gegen bie
Herrſchaft Diefer Frohnvögte verlangen?
Zwar, 08 iit etwas der Art in legter Zeit verſucht worden.
Die „Genoſſenſchaft deutfcher Bühnenangehöriger* ift der Sammeiverein
der folideren unter den Theaterleuten, derer, die ans Ulter denken oder auch
für ihre Yamilien vorforgen wollen und fünnen. Als Ziel der Genoffen-
ſchafter Steht wohl die „Hebung der geiftigen und materiellen Intereifen
n. j. w.“ im Statut, aber wenn man ihr Organ, mo der Geift ih aufhalten
follte: die „Deutihe Bühnengenoffenihaft* daraufhin durchblättert, wird man
weder in nod) außer den öden Lofalberichten aus jedem Net, wo fünf Ver—
einslente beifammen find, viel Geiftiges unter ihnen finden. Dagegen haben
fie in fiebenundzwanzig Jahren wader die Millionen gefpart, und das Kaſſen—
weſen ift in befter Ordnung. Auf allen anderen Gebieten jreilih mollt’ eg
ihnen weniger glüden. Denn da die Genoſſenſchaft etwa nur ein Drittel des
Standes und audy den doch nur für die „materiellen Intereſſen“ Hinter
ſich hat, nimmt fie der „Bühnenverein“, zu dem fic die meiften Direktoren erſten
und zweiten Ranges zufammengethan haben, als Standesvertretung nur bann
für vol, wenn fte gottergeben zu feinen Sciedfprüden und Maßregeln ja
fagt. Und meil die Genoffenfhaft von ben großen Bühnen Geſchenle und Be—
nefize für ihre Kaſſen braudt, gibt e8 denn auch auf ben Delegiertentagen
der Mimen viel Herzlide Sympathies und Danfesworte und die Berfammlung
„begrüßt” oder „ſpricht die Hoffnung aus“ und erhebt fi alle Augenblid zur
Ehrung und Anerlennung von den Siken. Aber etwas, das auf Grund von
Thatfaden zu neuen, wahrhaft wertvollen Maßregeln binüberleiten könnte,
das tapfjere Bloßlegen fauler Stellen im Theater-Organismus, das fand ge-
wöhnlidy bei den überdantbaren Herren feine Wortführer und nur fehr lauen
Widerhall.
Wohl aus dem ſtarken Gefühl des fünfundzwanzigſten Geburtstages
heraus wurde aber im Jahre 1896 ber Agentenrevers des Langen und Breiten
beiproden, fogar einer Stommiffion zur Prüfung übergeben. Und fiehe ba, die
gefürdteten Herren Agenten, die größten voran, kamen der Kommiſſion ent—
gegen, neigten fi) vor ihr und verſprachen in Demut, alles zu thun, wenn fie
dabei nur „beftehen” Zünnten. Ein wunderſchöner Tarif wurde ausgerechnet,
ber erit vom 400 Marl Monats - Einfommen ab und weiter hinauf die fünf
vom Yunbdert verlangte, die Heineren Gagen dagegen ftufenmeife bis herab zu
2°/s Prozent entlaftete. Mit diefen Ergebniffen zogen die Genoſſenſchafter ftolz
zum Bühnenverein, ber nun gnädig feinerfeits auch mal bloß ja fagte, und bie
aufatmende Theaterwelt erfuhr, daß der ı. Januar 1898 in den Ugentenreverfen
— zunächſt für zwei Jahre — eine neue, menſchlichere Hera einleiten würde,
Aber trotz Bühnenverein und Genojlenfhait — ijt dieje Einleitung bis
Heute ausgeblieben. Das erite Jahr der ausgemachten zwei ift nahezu abge—
laufen, aber nad) wie vor „arbeiten“ die Agenten mit alten Prozenten und
alten Reverjen, nad) wie vor unterfchreiben die Bühnenleute alles, was ihnen
vor die Finger fommt. Aber auch nad) wie vor fehren in Fachblättern bie
„breihundert Mar!“ fettgedrudt wieder, die ein Anonymus ober öfter nod) eine
Anonyma für ein „fiheres Engagement an nur guter Bühne“ nicht etwa ver—
2. Xiovemberheft 1898
— 15 —
fangt, ſondern demjenigen auf die Prozente nod) drein verfpricht, ber es vers
ſchafft. Soll man angefihts ſolch brutalen Stellenfaufs nicht an allem Befjern-
wollen verzagen, und haben die Ugenten mit ihrer unbefümmerten Politik des
Fortwurftelns nit das letzte Urteil über bie Unverbejjerlichleit des ganzen
Standes, wie über den Bedarf ber Theaterbörje geſprochen?
Wir meinen vorläufig doch noch: nein.
Jeder ift am Ende fo viel wert, wie er verlangen darf. Der Agent
fordert für feine Arbeit, die manchmal nur zwei Briefe und zwei ausgefüllte
Vertragsformulare lang ift, für feine Empfehlung von Leuten, die er kaum
gejehen bat, geſchweige denn künſtleriſch werten fann, einen oft jahrelangen
Zins dieſes feines lebendigen Kapitals. Aber nicht feine Arbeit gibt ihm feine
Bebeutung, das Geheimnis feiner Uebermwertung ift feine Uebermadt. Die
Summen, die dem Vermögen der Autoren, dem der Bühnenkünftler alljährlich
durch die Agenturen verloren geben, Haben in Hunderttaufenden nit Pla, fie
fhreiten weit über die Millionengrenze. Und warum? Weil die großen Ber-
bände dahintappen wie verichlafene Kinder, weil fie fih von den Agenten an
ber Nafe führen lafjen und glauben, ohnedem ging es nicht mehr. Weshalb thut
ich die Bühnengenoffenfhaft nicht als Agenten- Konkurrenz auf? Warum
will fie Die platonijche Freundfhaft mit dem Bühnenverein nicht zur praftifchen
Kameradſchaft auf Gegenjeitigleit werden laffen? Köberle hat e8 Hier im Kunft-
wart vor neun Jahren ſchon gefagt und ich wiederhol’ es heute: bie Bühnenge-
nofjenihaft muß, wenn fie ihre Ziele von der Hebung des Standes ernft nimmt,
mehr thun als die Alten, die Witwen und Waifen zu ſchützen. Die noch mitten
im Lebensfampfe ftehen, haben aud ein Recht auf Schu dur) bie Geſamt—
beit, damit fie nicht gezwungen find, ſich gieriger Ausbeutung durch Jobbertum
außzuliefern, um leben zu können. Die Genojienfhaft allein ijt ein guter
Schild; geht der Bühnenverein ihr zur Seite, fo fommt bas Schwert hinzu,
und beide zuſammen find fie eine Macht, die das beutfche Theater aus dem
üppig wuchernden Schlinggefleht unlauterer Schmarotzer doch wohl wird heraus-
hauen können. Iſt aber durd beide Vereinigungen eine Bermittlungsitelle für
den Theatergeſchäftsverkehr geihaffen, deren Thätigfeit nit nad) Wucherer⸗
mwillfür, jondern nad) feitem Sat entihädigt wird, die von Autoren, Bühnen
leitern und Darftellern gleihmäßig benugt werden fann, fo würden aus den
jest jo aufgeblafenen Theaterbörfianern wohl oder übel wieder die bejdei-
denen, höflichen Leute von früher werden, bie burd den Geſchäftsrückgang ein-
gejehen hätten, wie es fi) aud) mit viel, viel weniger als fünf Prozent von
allem, was einem durch die Finger geht, fo leidlich „beitehen“ läßt. Mag es
immerhin vorher an der Theaterbörfe ein bischen krachen, wenn anders bie Luft
nicht fauber wird. Und wer da mit dem alten Fontane bedenklich fagt: ein
gar zu weites Feld — der vergejie doch nicht, dab e8 auf weiten Feldern bas
Meiſte zu thun gibt. * M.
Lose Blätter.
Der Kletterer.
herbſtmorgen, klar und mild, aus gutem Traum
Haſt du, ein wenig früh, mich aufgemwedt.
Ich fand mich unter einem Kirfchenbaum,
Die Hand nad feinen Früchten ausgeftredt.
Kunftwart
= 16:
Ein Knirps war ih, wie ich als Knabe war,
Und ad, zu hoc hing mir die füße Frucht.
Da fam ein Wind. Saft padt ih, um ein Baar,
Den fchlanfen Zweig, da war er auf der Flucht.
Schon wollt ich weinen, als vom Baum herab
Ein Dogel pfiff. Als ih nah oben fah,
Pidt er fih grad die fhönften Kirfchen ab.
Ih warf nah ihm. Er pfiff nur und blieb da.
Du! rief ich böfe, hätt’ ich Flügel nur!
Doch wart, id; hab fie. Und im Zorn umfing
Den glatten Stamm ich, mit dem ftillen Schwur:
Du fommit hinauf! Und welde £uft! Es gina!
Schon ſchwang ich mich ins grüne Kanb hinein,
Der freche Dogel floh mit hellem Schrei.
Burrah! Nun find die Kirfchen alle mein!
Schon wollt ih ſchmauſen, o, da war's vorbei.
AUun lieg ich lächelnd halb und halb betrübt,
Und den? des Traums. Es war fo wunderfam,
Als mir, der nie im Klettern fich geübt,
Plötlidy die Kraft zu meinem Willen fam.
Hätt’ nicht der Wind mit ſchwankem Sweig genedt,
Spottvogel nicht aereizt, es hätt’ die Gier
Umfonft den kleinen Eungerhals geredt. —
Jetzt, Herbft, zeig deine höchſten Früchte mir.
Guftan Falke.
Aus Bölfches „Ciebesleben in der Natur“,
Borbemertung. Dugende von Malen ihon iſt im Kunſtwart davon
Die Rede geweſen, wie dringend eine wahrhaft äfthetifche Kultur eine Kamerad-
ſchaft, ſozuſagen: eine Ehe mit naturmwilfenihaftlicher Bildung verlange, wenn
die rechte ganze Menſchenkultur draus entfprichen fol. Deshalb empfehlen
wir bei jeder Gelegenheit auch wiſſenſchaftliche Bücher, die zu unfer aller
Mutter Natur als gute Führer braudbar find, Mit Wilhelm Bölſches
„Liebesleben in der Natur“ (Leipzig, Eugen Diederichs, ME. 5.—, geb. Mt. 6.—)
ift aber foeben ein Lleines, übrigens aud) geradezu muftergültig außgeitattetes
Werk erjchienen, das zudem durch die Form feiner Darftellung unfre bejondre
Teilnahme verlangt. Es ift eines der wenigen, die Naturwilfenihaftliches in
der That auf echt Fünftlerifche Weife darjtellen. Empfindfame oder bombaftifche
Schönrednerei, die freilicd ift in „populären“ Büchern aud) der naturwiſſen—
ſchaftlichen Literatur nicht felten, Auflöfung der fchriftitellerifchen Aufgaben
aber durch wirkliche Geitaltungen ift hier eine im höchſten Maße feltene
Sadıe, und muß es wohl fein, denn das verlangt vom Berfaffer neben dem
wiljenichaftlihen Kennen und Können dichteriſche Begabung nicht nur, fondern aud)
Schulung. Für Bölſche wird jede Vorstellung, fobald ers will, zur Anſchauung,
und jeden Gedanken umgibt er mit Empfindungen, die hin- und herſchweifen
über das ganze Gefühlsgebiet zwifchen dem bderbiten Komiſchen und dem
2. Xovemberheft 1898
— 112 —
Erhabenen. Die Größe des Stoffes bewirkt e8 freilih, daß ſchließlich doch
alles in dieſes Erhabene einklingt.
Das Buch, jelbjtverftändlih nicht für Kinder gefchrieben, iſt eine „Ente
widlungsgeihiähte der Liebe”. Die Beurteilung auf feinen Inhalt
bin fällt natürlich der naturwiffenfhaftlihen, nicht aber unferer Kritik zu:
wir haben's nur mit feiner Form zu thun. Aber zum beſſern Verjtändnis
der Stelle, die wir als Probe bringen, bitten wir, den Gedanken, der fi in
dieſem Nebentitel ausſpricht, im Blide zu Halten. Andere Stellen des Buchs
geben noch beffere Geftaltungen, da ſich diefe jedodh mit der Kunft
beichäftigt, gehört ihre Wiedergabe vor den übrigen hierher:
*
Empor!
Noch einmal rede deine Flügel aus.
Die Madonna Rafaels gibt dir nohmals Straft.
Umſchließe fie noch einmal ganz mit deinem Blid: in ihrem goldenen
Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit ihrem Antlig, in dem alle weib-
liche Schönheit der Jahrtaufende zufammenzufliegen ſcheint — fie, bie Menſch⸗
heit iſt und Weltgeheimnis iſt.
Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde nun ſeit faſt vier—
hundert Jahren um die Sonne trägt? Wo wuchs es heraus aus dem Stamm—
baum der Dinge im großen Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelftern ?
Es ijt Kunſt.
Bon der Madonna gleitet dein Blid hinüber zu einer Schar ähnlich
vollfommener Weiber. ‚Die einen auf eine Fläche mit Farben gemalt wie
diefes. Die anderen in Marmor zu ganzem Umriß ausgeformt. Die miles
fifche Venus mit ihrer aufrecht ftarken, unbefiegbar heiteren Reine. Die Pietä
Michel Angelos, deren Gigantenfraft in Liebenden Mitleid ſchmilzt. Die morgen=
belle nadte Venus des Tizian in der Tribuna von Florenz, die alles Süßefte
als genofjen nod einmal träumt. Eine enge, innerlich verwandte Genoffen-
haft, die in ftiller Schöne hier und dort aus der fchnellen, mechfelnden, grau
abftrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt.
Kteines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne je „gelebt“.
Keines ift erzeugt durch den körperlichen Akt organifcher Fortpflanzung. Und
doc ftehen fie in all,ihrer Schöne mitten unter uns. Sie ftehen da, erzeugt
aus einer unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollfommenen Hingabe
eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein Zweites, an ein „Schaffen“,
eine Uebertragung bes höchſten Jdeals im eigenen Ich auf ein anderes, dauern—
bes, das den Tod biejes Ichs überleben ſoll. Mit dem Geilte und ber vom
Geifte Bis in jede feinite Musfel durhmwärmten Hand find fie gezeugt in
biefelbe Natur, diefelbe Wirklichkeit hinein, der auch ein in der Geſchlechtsum—
armung erzeugtes Kind angehört — aber dod) als Sonderdaſein in ihr, das ber
Begriff jenes Kindes nicht deckt und Die geſchlechtliche Lebenszeugung nicht umfaßt.
Nun zu diefen Bildern, diefen Statuen noch weiterhin Geftalt um Ges
ftalt, ein unabfehbarer Zug von Königen an Gedanken und Kraft, die alle auf-
leben, wenn das Wort des Dichters erklingt. Rhythmen der Spradje, nie ver—
nommen in all dem Gtimmengemwirr der Natur, als fei es Geifterrede aus
einer Ueberwelt. Und reiner lang, aufjubelnd und aufdonnernd wie eine
ewige Löjung aller Dinge, wie die Stimme der innerften Weltenharmonie
felbjt ... . Und alles ebenjo aus dieſer heißeſten Geiftesliebe in die Wirflichheit
hineingezeugt — gezeugt, als habe ber Geiſt, der aus der Sinnenliebe Mens
Kunftwart
— 158 —
ſchenliebe jchuf, endlich aud) das Myfterium der Zeugung für neue, wunderbare
Zwede in jeine Hand gebradt ...
Zum drittenmal eine große Wanderichaft. Die Liebe ward Kunſt.
Auch Die Kunst liegt auf dem Wege vom Blut zum Geift. Much fie
ſank nicht wie ein fremdes Meteor herab, Derſelbe Menih von Fleiſch und
Bein hat fie gefhaffen, der Menihenkinder im Fleifche zeugte nad) dem ehernen
®eftaltungsgefege der Natur. Der Menſch, der aus dem Tiere fam. Bon diefem
Zier fhon erbte er den Heim ber ſtunſt. Das Tier aber hatte ihn gefäet in
den Stunden — feiner Liebe.
Hörjt du das rhythmifche Lied der Nachtigall Hingen «+. ſiehſt du
den Schmetterling fi) wiegen in feinem wunderbaren Farbenkleid «0...
Welcher Weg, — von dort herauf! Und doch war e8 ber Weg.
Aus dem tiefen, dunklen Weltenfülhorn der Natur rann e8 herzu, durch
Honen, — Licht, Farben, Mänge, rhytymifche Verhältniffe aller Urt.
Da tauden auf der fonnenerwärmten Erde lebende Wefen auf. Sie
empfinden Licht, empfinden Klang. Erft dumpf und matt. Dann erzeugt ber
Lebenskampf, erzeugt die Entmwidelung ihnen Sinnesorgane von feſter Art,
Auge und Ohr. Ihr erjter Zweck ift Verteidigung. Ungftvoll ftarrt das Tier
um fi in die drohende Welt, lauſcht auf die Gefahr. Alles ift Angriff um e8
ber. Oder e8 behauptet fich felbit, greift an. Dann ift alles Beute, die mit
wilder Gier erjagt, zerriffen werben fann. Da auf einmal im Leben bes In—
dividbuums aber eine Stunde von ganz anderer Wertung. Die Liebe. Das
Zier fucht ein anderes feiner Art Sucht es nicht als Feind, fondern mit der
Sehnfiiht der Liebe, mit den Augen ber Liebe. Das Wuge ber Liebe, — e8
war das erite Auge des Ideals. Und die Kraft ber Liebe: fie zeugte die erfte
„Schönheit? im aktiven Sinne an den Liebenden ſelbſt. Sie malte ben
Schmetterling, gab dem Bogel fein Hochzeitsfleid. Sie fomponierte der Nachti—
gal ihr Lied. Die Liebe war ber Spiegel, ber zunächſt äußerlich alle Har—
monie, allen Rhythmus, alle blind angebahnte Schönheit der lebendigen Natur
in einen Brennpunkt fing.
Nun aber wuchs ber Geift mehr und mehr dazu. Zu dem fchauenden
Auge draußen trat das innerlich ſchaffende Auge: die Phantafie. E8 fam der
Menfhengeift. Der Menſch erzeugte fih am Leibe felbit feine bunten Flügel,
fein SHochzeitögefieder mehr. Er fah das alles innerlih, als Licht und Har—
monie, Sehnfuht und Zdeal — in ber Phantafie Wie er nicht mehr Löwen—
Hauen und Gürteltierpanzer fih am eignen Leibe zum Schutze wadien ließ.
Sondern im Geifte fann und in der Phantafie das Werkzeug fah. Wie aber
feine Hand, weich und bildfam geblieben und ganz nur Schüler nod) des Ge—
hirns, diefe Werkzeuge dann wirklich formte aus Stein, Horn und Metall, fie
in die Wirklichkeit hinein projizierte mit felbftthätig fchaffender Kraft und die
Technik begründete als Stern aller künftigen Naturbeherrfhung: — fo formte
er mit derjelben Hand, was die Phantajie an rhytgmifchen Bildern, Sehnſuchts—
bildern, Scönheitsbildern ſah, — er ſchuf die bemuhte Kunſt im höchſten
Zeugungsfinne als Kern aller künftigen menschlichen Naturerweiterung.
Sahrtaufende auf diefem Wege: Rafael, die Madonna. Und fo fort und
fort. Ein neues Raturreih blüht auf: nicht Stern, nicht anorganiſch, nicht
Pflanze oder Tier, nicht im organischen Sinne Menſch felber — die Stlänge,
Geitalten, Ereigniffe der Kunſt. Eine heiße Welt, vom Liebesatem durchglüht,
mit allen Schauern wilder Zeugung. Und doch zugleich verflärt, der Erden—
trübe entrüdt in einen reinen blauen Geiftesäther hinein ...».«
Das ift die Liebe, die zu etwas geworden iſt.
2. Xovemberheft 1898
- 19 —
Die Liebe in ihrem Hochbau.
Bon hier, von der Goldkuppel mußt du fie fehen, um zu ahnen, waß in
ihren Anfängen war. Und dieſes Goldliht mußt du dir zurüditrahlen laſſen
in diefe Anfänge hinein. Darum ber Tanz der Eintagsfliegen, Darum das
groteske Nachtbild des Häringszuges. Diefelbe Naturkraft, die da unten in
den grauen Urmaffern gärt. Und die oben als purpurne Lotosblüte der
Kultur aus dem blauen Spiegel in die Sonne fteigt. Weil e8 fo ift, darum
kann alles Vergangene nicht roh fein. Es muß felber dir wie eine edle Knoſpe
feinen. Nichts bleibt da innerlich Hein, Licht ftrömt zurüd auf diefe Ein—
tagsfliegen am, Bad, dieſe Fiiche im Ozean. Wie dunfel ringende Urfeelen
der Liebe ‚treten fie vor di Hin. Worauf mwandernde Träume des großen
Liebesgetjtes, der aufwärts will. Diefer Fiſch, diefe Eintagsfliege ift CHriftus,
ift Goethe, ift Rafael. Iſt das Evangelium, iſt Fauft, ift die Madonna. Iſt
die Menfchenliebe, der Sternentraum, die Hunit,
Die Defadenten.
Der bleiche Kellner, dem die zahllofen durchwachten Nächte ihre unver—
tennbaren Spuren in violetten Striden unter die mattmafferblauen Augen
gemalt hatten, verjah Heute fein Amt läffig .. Endlih fam er... „Die
Herren wünfdyen ?*
„Bringen Sie Abjinth*, jagte der mit bem Spigbart, „ameimal Abſinth.“
Seine Stimme mar von jenem meiden Wohllaut, der bag Kind abftei=
gender Rultur verrät.
Abſinth“, nicte zuftimmend der Andere, „wie ihn ein Verlaine trant,
Abſinth mit Eiswaſſer ..“
Er lächelte ſelig bei dieſem Gedanken, lächelte, wie nur Leute lächeln
lönnen, deren Geiſt in einer eigenen, volllommenen Welt über ftillen grün—
blauen Waſſern fhmebt ...
Der ſchmale Kellner verihwand im Rauche der Zigarretten, der den
Raum dicht wölfte....
„Eigentlih wollte ih feinen Wbfinth trinken,“ hauchte ber mit dem.
Spitzbart, „weil ih ihn mir wünſchte. Er wird mid) enttäufchen, wie jede
Erfüllung, wird Waffer fein, im Bergleiche zu meinem Wunfche, aber ih will
ihn dennoch trinken, benn er ftreichelt meine Seele . ..*
Dann ſchwiegen fie. Verſunken in heiligem Selbjtgenießen, bemerften
fie es nicht, wie ber verlangte Abfinth vor fie Hingeftellt ward ... Sie ſprachen
nit... Wozu wohl? Bie Ketten ihrer Gedankenſphären liefen einander
parallel, ihre Nervenftränge wirkten aufeinander leichter, weniger anftrengend,.
als das rauhe Wort, deſſen fie fi nur maßvoll bedienten. Der mit dem
Spigbart brad endlich wiederum das Schweigen, das fi auf dem Gemoge
der allgemeinen Kafehaustonverfation unmerklich glättend ausgebreitet Hatte,
wie eine fette Subftanz auf erregten Wellen ...
„IH ſehe in veildenfarbigem Dämmer einen ſchwarzen Zypreſſen—
Hain... .*
Der Andere erſchauerte. . . Er war blond...
„Schwarz“, fagte er, „Ihwarz empört meine Wefenheit, madjt meine
Nerven flirten, wedt Diffonanzen auf der Harfe meine Seele... .*
Der mit dem Spihbart nidte. „Du Haft Recht,“ ermwiderte er, „indeß
wenn id aud) den Zyprefienhain ſchwarz nannte, ich empfand ihn nicht fo, ich
empfand feine Farbe als ein Gemijd) von Karmin und Pariferblau, vergieb!“
Kunftwart
— 10 —
Der Blonde lächelte wehmütig, und wieder ſchwiegen fie und rührten in
dem Eiswaſſer mit Strohhalmen ... Dann begann der mit bem Spihbart
aufs Neue: „Ich ſehe einen veildenfarbigen Dämmer. Rote Riffe rigen das
Firmament ... Und in dem Dämmer fehe ich ein blaues Haus von gräßlicher
Pofitivität. Grün ift fein Dad, und feine Mauern find aus laſtendem Stein.
In diefem Haufe wohnt ein Menjch, der über allen Menihen menſcht ..“
„Menſcht,“ haucht der Andere, „menſcht! Menfcht ift eigenartig, menfcht
ift neu, menſcht ift tiefinnerlich. Wie überriefelt diefes »Menfcht« meinen Geiſt.“
„Und in dem Haufe dämmert ein fadıniumfarbenes Licht mit ſchimmer—
blauem Franz, beifen Ruß zur Studdede lodert, flieht, Ioht, fladert ... .*
Der mit dem Spigbart ſchwieg, ſtill ſaßen fie einander gegenüber, aber
ihre Seelen ſchrien laut in feligem Genuffe, Taut und bachantifch, eine lange Weile.
Dann erhoben fie fi, um der Fülle der Wonnen nicht zu erliegen. Ge—
fenkten Hauptes fchritten fie durch den Saal, auf ihren abfallenden Schultern
aber lajtete die große Müdigkeit des finfenden Jahrhunderts.
K. 6. Bardenberg in der „Jugend“.
Tr$
Rundschau.
£iteratur. das Schiff, feht den Fuß aufs Verdeck
— ganz Saiferin! Der Unter wird ge=
* Wohin dag Uebertrumpfen und | lichtet! Navigare necesse est,
Ueberijchreien im Zeitungsdeutſch vivere non necesse est! Im
eigentlich führt, das zeigt fih erſt Augenblid verliert das Schiff feine
tet, wenn ein wirklich außergewöhn- | alltägliche Wirflichleit, e8 wird er=-
lihes Ereignis auch außergewöhnliche | haben; das Kielwaſſer dieſes Fahr
ftraft der Sprade verlangt. Dann zeugs müßte unvergänglich bleiben,
fiſchen die Herren, die bei der Ent— | iſt e8 doch ins Element des Traumes
deckung jede® neuen Dichters oder | und des Todes eingefurdt.” Das
Malerjünglinggenies, alſo alerWochen | „Navigare necesse est“ an diefe Stelle
mal, in den feinften Nervofismen und | zu bugfieren — wahrhaftig ja, das ift
den großartigften Senfationen gemacht eine Leiſtung! Schade, fie geht ja
haben, verzweifelt nad) nod groß» | nicht von einem Reporter felbit, ſon—
artigeren und noch jenfationelleren | dern nur von einem ber helliten Vor—
Ausdrüden in ihren Gewäſſern herum: | bilder der Reporter aus. Die Nach—
'
|
ad), was fie fangen, gleicht docdy nur | ahmung entipridt den ſchwächeren
der Qualle, mit der es nad dem fchönen | Kräften. „Zudringlid branden
Gedichte „alle“ iit, „wenn fie auf ben | unfere Thränen an ihrem Sarg“, ſchreibt
Sand gefett*. Jetzt Hat die Ermor= | einer hier, jelbit „Durch das entjtellende
dung ber Kaiſerin von Defterreich wie- | Glas des Irrſinns“ beflagt ein anderer,
der Sprachweſen hervorgebradt, die fo | feine Slarheit zu fehn, und wieder
läherlih und miderwärtig zugleich | einer jchildert den Volfsprater nad)
find, wie alte Dirnen als Klage- | Einlauf der Todesnahridt fo: „Still
weiber. Bon Gabriele B’Unnungzio gab | liefen die NRinglfpiele ihre Bahn ohne
die „Neue Freie Preffe* Säte wieder, | das herfümmliche Kreifchen der Dreh—
nad) denen er als richtiger Aeſtheſe orgeln und Jauchzen der Fahrenden.
nichts als das unbeitrittene Weithe- | Die hölzernen Pferde bäumten
tifche diefer Mordthat fieht: „ich weiß, | ſich lautlos; felbit die Eifenbahn
es hat Herzen gegeben, die enthuſia- ſchien weniger zu klappern als an
ſtiſch ſchlugen, als die herrlichen Ein= | andern Tagen.“
zelheiten des blutigen Hinganges be= Theater
fannt murbden“, heißt es, und dann | TI
meiter: „Schon erfüllt vom emwigen *VondenMündhnerBühnen.
Scmeigen, die Seele gneblendet von Felir Dörmanns „Ledige
den Dingen, bie durch den zerriffenen | Leute“ find nun aud) „im Reich“ zu einer
Schleier ſchimmerten, verfolgt jte ihren | Erjtaufführung gelommen — das Müns
Weg, erreicht fie das Ufer, befteigt fie ! chner Gärtnertheater hat fie gegeben.
2. Xovemberheft 1898
— 1 —
Frau Mloifie Brand! macht ſich's
und ihrer Familie dadurch gemütlich)
auf der Welt, daß fie ihre Töchter
aufs ungeniertefte verfuppelt. Zur,
die jüngjte, ift aber noch innerlid)
menigitens unverdorben genug, um
fi) aus ihrem Streife wegzuſehnen,
obwohl ihr die Mutter auch fchon
längſt einen —— —— „Alten“
verihafit bat. In dieſe Geſellſchaft
von Dirnen und Lebemännern wird
Toni Wallner, ein ernſthafter, un—
ſchuldsvoller Jüngling eingeführt, und
wiſchen ihm und Lux entſpinnt ſich
fort ein Verhältnis. Schließlich ent—
führt er die Zur, die er für ein reines
Mädchen hält, und bringt fie zu feiner
Mutter. Da erfcheint die alte Brandl,
verlangt ihre Tochter zurüd und bedt
zugleidy das vorteilhafte Verhältnis
ihrer Zur mit dem „Alten“ vor dem
überraſchten Bräutigam auf. Entſetzt
wendet fih Toni Wallner von dem
Mädchen ab, das ihn getäuſcht Hat.
Das will ihn nun, da ihre Hoffnuns
gen auf ein reines Glüd zerjtört find,
mwenigitens als Geliebten haben. Es
wird nichts draus: in ihrem leiben=
fchaftlihen Gebahren tritt eine vers
hängnisvolle Nehnlichleit mit ihrer
verdorbnen Schweiter hervor, — Toni
ftürzt feiner Mutter in die Arme.
Die beiden eriten Alte ſchildern
uns aufs eingehendfte die lüderliche
Wirtfchaft im Brandlichen Haufe. Märe
diefe Schilderung, die den allerges
meinften Unrat zu Tage fürdert, von
fittlidem Ernft, von herbem ſati—
riſchen Geiſt durchdrungen, das Stüd
wäre natürlich wütend niederge—
ziſcht worden. Aber der Verfaſſer
ütete ſich klugerweiſe davor, jetzt
chon mit der Sittlichkeit zu kommen.
Er madte das Gemeine im Gegenteil
dadurd Ichmadhaft, daß er feine „amit=
fante* Seite nach Kräften ausichladtete.
Oder ift das nicht komiſch, wenn bie
Lüderjane und ihre Dirnen, die Brandl—
ihen Schweitern, dem verblüfften
Süngling, ber von der jüngften Tochter
des Hauſes feinen ersten Auß belommt,
‚Schwager! Schmager!* zujubeln
und damit feine vermeintlihe glück—
lihe Ankunft in ihrem allgemeinen
Pfuhle begrüßen? Durhaus zu diefen
beiden, dem Nüngling und Zur und
ihrem Verhätnis zu einander, zieht
fih überhaupt die Dörmannfcde
Idealität“ zurüd, bier hauſt und
von bier aus fpridt fie zu den
‚Erniten* im Bublifum, während alles
andre für die Vergnügten gemadt ift.
Kunftwart
— 10
Wie rührend 3. B.: Zur in ihrer
innerlih unberührten Naivetät be=
wundert offenherzig Augen und Haare
de8 jungen Mannes und erflärt
ſchüchtern, fie würde ihm fo gerne mit
den Fingern durd) die Haare fahren.
Der liebe Junge lispelt: „So thun
Sies!l* Und mun vollends Der leste
Akt im Wallnerfhen Haufe: mwelder
glüflihe Vater denft nit an fein
Töchterhen daheim, wenn er das
Unnerl Wallner feinen beißen Katao
fhlürfen und von der Schule ſchwatzen
hört? Und dann, wie's ſchlimm wird
und die unmilllommene Zuxr ericheint,
die hHalberdrüdten Wehelaute des
Drutterherzens der Frau Wallner! Und
der Schluß, der „lautre“ Schluß! Alles
Anrücige, jelbjt Lux, die reuige Mag—
balena, entfernt und auf der Bühne reine
Tugend, Mutter und Sohn einander in
den Armen. Welcher Biedermann, dem
das Gewiſſen vielleicht do ein wenig
unruhig ward, als er die Brandliche
Dirnenmwirtfhaft gar jo amülant
dargeſtellt ſah — welcher Bieder=
mann ſagt ſich nicht jetzt beruhigt:
Nein, nein, hinter dem ſcheinbar fri—
volen Spaß lauerte ja der dickſte Ernſt,.
nein, nein, ich bin in einem urmorali—
ſchen Stüd gemejen!“
Dörmanns „ledige Leute“ bedeuten
ein jehr geſchicktes Machwerk, das leb—
baft ſchildert und, während e8 feinem
Gehalt nad) umfre trivialen „Bolfe-
ſtücke“ um nichts überragt, den Ton
der Wirklichkeit meiſtens befler zu treffen
weiß, als jie. Bor allem bezeichnend
ift feine Aufnahme dafür, was für jtarfe
Sadıen ſich das ſittlich fonft fo Leicht
verlegte Publikum bieten läßt, wenn
fie ihm nur in der ridhtigen Mifchung
von Frivolität und Sentimentalität
ferviert werden.
Das MünchnerSchauſpielhaus zeich⸗
net ſich gegenwärtig unter unfern Thea⸗
tern durch feinen erfreulichen Spiel—
plan aus. Die Stücke, die dort ge—
geben werden, dürfen faſt durchgängig
eine gewiſſe literarifche Bedeutung
beanipruden. Da finden mir den
Biberpelz“ und „Die Einfamen Men—
fchen“ von Hauptmann, die „Jugend“
von Halbe, „Die Gefpenfter* von Ib—
fen, „Sodboms Ende“ von Suder—
mann, „Die Gläubiger‘ von Strind-
berg, den „Erdgeift* von Webelind
u. ſ. m.; — Werke, welche mir, die
weder zu Sudermanns Gemeinde nod
zu Medelinds Gemeindehen gehören,
gewiß nicht fämtlih zum „Beiten“
zählen, deren Vorführung aber über die
Zuſtände unfrer Literatur gut unter=
rihtet. Das iſt danfensmert, na—
mentlich wenn man an die Amuſe—
mentsware denkt, die aljährlih auf
den Premieren in deutichen Landen
ansgeboten wird. Zudem wird im
Münchner Schaufpielhaufe jegt gar
nicht übel gefpielt. Ich fah eine Auf:
führung des „Biberpelzes*, in ber
einzelne fogar ganz Borzügliches leiſte—
dien, vor allem wurde der Rentner
Krüger mit ſcharfem Berjtändnis und
überrafcdyender Lebendigkeit dargeitellt.
Auch „Die Släubiger” von Strinde
berg wurden verhältnismäßig gut
gegeben; es jtörte wenigſtens nicht
allzuviel, und das will bei diefem
deenjtüd, in dem faft nur von inner=
them Gejchehen die Rede iſt, jchon
etwas heißen. Guſtav, der geſchiedene
Gatte einer Frau Thekla, zeigt ihrem
en märtigee Mann Ubdolf, mie be=
Haffen jein Weib eigentlich ift, das
der verliebte Schwächling für ein geiit=
volles ,„ jelbitändiges Weſen hält.
Guitav will fi auf dieſe Weife an
Adolf und der Frau rächen. Er bes
mweijt ihm, dat alles, was fie an Ges
danken Hat, geitohlnes Gut ijt und
zwar ihm, ihrem jegigen Dann ge—
ſtohlnes Gut; und er weiß ihm klar
zu maden, daß während er, Adolf,
immer gegeben, fie ihn gewiſſermaßen
ausgefogen und aller Mannestraft
und allen Mutes beraubt habe. Schließ-
lid erbringt er ihm auch nod den
handgreiflichen Beweis ihrer Untreue,
was Die Satajtrophe, den Tod Des
Mannes, hHerbeiführtt. Das Drama
mwimmelt von den befannten Strind—
bergiihen Paradogen. Aber es wird
audh viel Bedeutungsvolles in dem
Verhältnis der Geichlechter zu einan—
der aufgegraben. Und vor allen, dem
anzen Stüd * man's an: es iſt kein
oduft der Willkür, ſondern ein Er—
gebnis leidenſchaftlicher innererftämpfe.
Solche Werke aber ergreifen ja durch
ihre menſchliche Wahrhaftigkeit alle—
mal, mögen ſie nun als Kunſtwerk
gelungen oder mißlungen ſein.
Bei dieſer Gelegenheit möchte ich
fragen, wo eigentlich Rüderers
„Fahnenweihe“ hingeraten iſt? Im
Frühjahr hieß es, das Gärtnertheater
werde jie bringen; dann entbrannte
ein Streit zwifhen Scaufpielhaus
und Särtnertheater ums Aufführungss
teht, und nun fieht und hört man
von der „Fahnenweihe“ nichts mehr.
Das iſt bedauerlid. Unfrer ein wenig
in ſich ſelbſt verliebten Bevölkerung
|
|
— — nn ——— — —— en
und namentlich ihren berühmten Ge—
birgsbarden thäte es recht gut, wenn
fie die kräftige Satire öfter zu hören
befümen. Außerdem, mein ich, hat
die Satire Rüderers ihren großen
Wert als eine durchaus ehrliche, derbe,
deutſche Satire, x. Weber.
* „Die Krone“ nennt fid ein fünf
aftiges Schaufpiel von Unton von
Berfall, das in Stuttgart feine
erſte Aufführung erlebte. Der Stoff
it dem gleidinamigen Romane des
Schriftjtellers entnommen, was, wie
e8 jcheint, den Beweis liefern fol,
dab man ein und dasjelbe bald epiſch,
bald dramatiih behandeln Tönnte,
Leider ijt der Beweis aud) in dieſem
all mißglückt. Daran trägt vor allem
a8 ZTypifche der GEreigniffe wie der
Berjonen und Situationen die Schuld.
In einem Roman find der recht- und
unrehtmähige König, das plumpe Volk,
dann die Sage von einer Wunderfrone,
die auf dem Haupte des — Thron⸗
erben erglühen * teils geläufige und
unbeanſtandete, teils ſpannende Vor—
ſtellungen, auf der Bühne iſt mit der
einmal gelöſten Spannung alles vor—
bei und man mag die einzelnen Her—
änge ſo wenig zum zweitenmal an—
Ai wie einen Unterhaltungsroman
zweimal leſen, fofern nicht die Ereig—
niſſe als folde durch ein ſtarkes Ins
nenleben der beteiligten Perfonen ſtets
erneute Teilnahme weden. Dies trifft
aber nicht zu. Am eheiten würde ich)
noch eininal Die erjten beiden Akte an=
hören ınögen, die wirbklich hübfche
Stimmungen und lebendige Handlun—
gen entalten. Der vor dem Ujurpator
gerettete, in der Ferne erzjogene ah—
nungsloje Thronerbe legt wirklich als
vermeintliche Kind aus dem Bolt
Proben eines hochherzigen Mutes ab,
und man fünnte denfen, Der Dichter
wolle nun zeigen, wie der Jüngling,
den Glauben an die Wunderfrone viel—
leicht mitbenügend,, ſich durch joziale
Thaten die wirkliche Krone verdiene.
Uber e8 fommt ganz anders, Wir
fönnens uns eriparen, davon zu er—
zählen. Die menichliche Teilnahme ver=
blaßt eben vom dritten Alt an immer
mehr. Nur noch eines: Wer mit fo
banalen Effekten arbeitet, wie die Mo—
talpredigt über Freiheit (Nichtinswirts=
hausgehen) eine ilt, den fann man
nicht ernit nehmen, aud) wenn er den
Prediger nachher verfichern läßt, To
unmoralijh jei das gröhlende Bolt
nur unter Tyrannenherrſchaft; Die Ab—
fiht, das Volf als entjeglich roh und
2. Novemberheft 1898
— 13 —
dumm hinguitellen, wirft auf der
Bühne viel bösartiger als im Roman.
— Bei guter Ausitattung und wirk—
famer Inſzeneſetzung (wie es hier der
Fal war), mag fi) das Stüd eine
eitlang behaupten, glüdlichermeife
iſt e8 von einem Zeil der Preſſe ledig⸗
lich humoriſtiſch behandelt worden.
K. Grunsky.
*Das Berliner Premieren
publifum bat allergnädigit geruht,
Hauptmanns „Fuhrmann Henſchel“
von dem wir an anderer Stelle ſprechen)
dooit zu empfangen. Desfelben
Gerhart ne g0 Florian Geyer“,
der an echt dichterifchen Werten taum
fo viel weniger als „Die verjunfene
Slode* enthält, geruhte es, bildlich)
gejproden, mit faulen Eiern zu bes
werfen, während e8 eben die „Vers
ſunkene Glode“ wieder „reizend“ fand.
Mit faulen Eiern, wie kürzlich Dar
Halbes „Eroberer“, der doch mohl
immer nod) höher ſteht, als des kleinen
Fulda ernſtgemeinte dramatiſche
cherze, oder gar die Werke der Phi—
lippi und Blumenthale, bei denen ſich
Seine Majeſtät das Premierenpublikum
wie in der Familie fühlt. Unbildlich
geſprochen: die Berliner Erſtaufführun—
gen find abhängig von einem in feiner
Mehrheit urteilslofen Beurteilerkreife,
aber die Gefährlichkeit diefer Maſſe
entipringt nicht jo fehr daraus, als
aus feiner widerlichen Anmaßung und
Gelinnungsrohheit. Amüfieren will
man fih, und amüſiert einen ein Werf
nicht, jo amüjiert man ſich über das
Werk: man verlaht und bejohlt den=
felben Menjchengeift, gegen den man
von feinen früheren Gaben her Dante
barfeit empfinden würde — wäre man
wirflih innerlicher Erfaffung einer
Dichtung überhaupt fähig. Daß man
von Dankbarkeit nicht Das mindejte in
fid) fpürt, beweiſt, dab auch die Be—
geiiterung nicht glühte, ſondern irr—
lichtelierte. Aber was Seine Vajeität,
der Berliner Premitrenplebs, be—
fiehlt, das geichieht: „Florian Geyer
und der „Eroberer“ werden nögefebt,
Philippi und die Blumenthale wer—
den aufgeführt. Und nicht nur für
Berlin, nein, in ganz Deutf
land, denn ganz Deutichlands
Iheaterdireftoren beugen fid) vor
Berlins Entiheidungen, da ihnen
leider mit den Eſeln gerade die Hals
ftarrigfeit nicht gemein iſt. Und
jo tyrannifiert das Berliner Pre—
mierenpublifum die geſamte reichs—
deutihe Bühne: unjfer ganzes
Kunftwart
Th
Theaterweſen ſteht unter der
Pöbelherrſchaft.
Muſik.
*Für Albert Lortzing. Eine
Anregung.
Wenige Komponiſten haben für die
deutſche Volksoper ſo viel gethan wie
Albert Lortzing. Als er, der abge—
dankte Mime und Kapellmeifter, am
21. Jan. 1851 im tiefiten Elend ftarb,
hinterließ er der Welt an feinen volls⸗
tümlichen Opern ein reiches Erbe. Hat
li ihm dafür gedanft? Je nun, man
hrt feine Opern alljährlid) wohl hun⸗
dertmal auf; fie ſind ja tantiemefrei
und ziehen noch immer. Man bringt
auch Gedenktafeln an feinem Geburts—
und Sterbehaus an. Aber — Ep
als die Hälfte feines fünftlerif
Nachlaſſes (das Verzeichnis um at
16 Nummern, darunter ı Oratorium,
5 große Chöre, 2 Liederfpiele, Ouver:
türen, Lieder u. det.) iſt noch unges
drudt. Mögen jene Handichriften im—
merhin Jugendarbeiten enthalten, deren
Bedeutung jener feiner Hauptwerke
nicht gleihtommt, fo würden fie dod
einen Einblid in Lorgings künſtle—
rifhen Gntwidelungsgang ermög—
lichen. Heute, wo Strauß und Lanner
ihre ftolzen Gejamtausgaben haben,
müßte fi doch ein Verleger aud) für
Lortzing finden laſſen. Um einen ſach—
fundigen Herausgeber braudten wir
nidyt zu bangen.
Mar Garr=- Wien.
* Bon den Bungertianern
müffen wir leider wieder einmal fpre=
chen, nicht, weil der Schall der Trome
peie von Ithaka unfern Ohren jegt
lieblicher oder bedeutender oder wich—
tiger flänge, fondern meil diefe Herren
im Stampfe für ihren Dichterlompo⸗
niſten eine Unſittlichkeit in der
Wahl der Kampfesmittel anwenden,
die denn doch, Gott ſei Dank, ihres
gleichen fucht. Die Lefer erinnern fi
unſres Aufſatzes im 20. Hefte des vori—
gen Jahrgangs, der das Bungertianer—
Geſchwindel zugleich mit der Erbärm=-
lichkeit der Redaktion der „Begenmwart“
aufdedte. Antworten lie ſich darauf
nicht, e8 mar leider unmiberleglich,
man mußt es einjteden, und fo jtedte
man’s ein. Nun aber ein Aufſatz von
Batka in einem angejehenen Mufifblatte
Wiens auch an der Donau das Ge—
ihäft bedrohte, wollte man dagegen
mwenigitens etwas thun. Was alfo
that man? Dab man Batla ſachlich
— 14 —
etwas hätte entgegnen, etwas beſſeres
überhaupt Hätte bringen follen, als
perfönlihes Schimpfen, war ja nit
zu erwarten. Aber man unterbot wirk—
li nod) die Erwartungen dod: man
wiederholte felbit heute noch cin:
Ps diealten Zügen, die bereits
reimal öffentlich miderlegt
waren, zweimal im Stunftwart, ein=
mal auf Grund des Preßgeſetzes im
Hauptblatt der Bungertianer, Der
„Gegenwart“, ſelbſt — widerlegt, ohne
dat man ihre Widerlegung auch mur
mit einem Worte hätte anzweifeln
Zönnen. Dr. Batla ift der Barteifelretär
der Deutſchen, der Muſikreferent des
deutichen tampfdlattes „Bohemia“ und
ein Dann, deſſen Arbeiten feit jo und
fo viel Jahren auch von den Gegnern
mit Neipeft genannt werden. Hier
wird nad ihm als „einem Tſchechen—
jüngling aus der Havlicefgaffe* mit
Gemeinheiten geipudt, wie fie andere
Spredorgane als die des Herrn Ver—
faſſers nicht eben leicht zu erzeugen
vermögen. Es iſt ja nicht angenehm,
bei jo etiwas zuzuſehn, aber man muß
es wohl, will man fi) über die Bun—
gert-Propaganda unterrichten —, des—
halb empfehlen wir den Artikel zum
Selbititudium. Er fteht im Heft 3
der „Redenden Künſte“, das man für
50 Pfennige von Conſtantin Wilds
Berlag in Leipzig und Baden - Baden
beziehen fann, und fein Verfaſſer heilt
oder nennt fid) Chop. Und nun nod)
zum Sclufie eine Frage an Bun—
gert: weiß er von dieſer Sorte
von Striegführung unter feinem Vans
ner? Herren, die nat ihrer bisherigen
Beichäftigung kleine Literaten, nad)
ihrer geiftigen Straft jchöne weiße
Lämmer und nah ihrer Stimme
Leuen find, zichen aus und erheben
zu feinem Ruhm ein Gebrüll, wie es
in deutihen Landen nod) faum er—
ſchollen iſt. Sei's drum, das fchadet
ja nidjt viel. Über, Tieber Herr Bun—
gert: reine 2uft möcten wir gern
behalten, denn ohne die geht's nicht,
die braucht man zum Atmen — könn—
ten Sie die Jhrigen nicht etwas mehr
zur Reinlichfeit anhalten ? U.
* in Köln errang Anton Urs
ſpruchs Oper „Das Unmöglichite von
Allen“ einen wmbeitrittenen großeu
Erfolg. Das Wert ift eines von denen,
die, um vollfräftig zu wirken, unbes
dingt eine bis ins fleinite vollendete
Ausführung vorausfegen. Die Schwie—
rigfeit Liegt vor allem im Stil bes
nn
fait vergefien war, den Parlando—
ftil, madt Urſpruch zur Grundlage
des ganzen Werkes, und er verlangt
vom Sänger feine Beherrichung, wie
vor ihm feiner. Eben der PBarlando-
ftil aber ift für das onverjations=
ftüd der einzig möglihe und Ur—
er Oper iſt ein Konverſations—
tüd, wie es feit dem Figaro nicht
mehr über die Bühne gegangen ijt.
Hat Urfprud in diefem Punkte nichts
Neues geihaffen, fo bedeutet doc) die
Art, wie er den Barlandoitil der Oper
anpaßt, einen großen yortichritt auf
dem Gebiet der modernen unit.
Seine Oper iſt undenkbar ohne die
Werke Mogarts, aber ebenfo ohne die
unferes Bayreuther Meilters. Sein
Menſch wird fie wagnerifh nennen,
wenn damit aud nur auf entfernte
Anklänge an unfern größten Dtufil-
dramatifer gedeutet werden foll, und
bod) ift gerade Urſpruchs Oper wag—
neriſcher als die vieler anderer, die
glauben, eine Oper fei dann allein
„echt“, wenn man beim Anhören be=
ftändig im Triitansftolorit ſchwämme.
Solde ahmen ja gerade das nad,
was in Wahrheit unnachahmbar it.
Bei Wagner entwidelt fih das ganze
Kolorit, ih möchte fait jagen, Die
Stilart des einzelnen Wertes
durhaus aus dem vorliegenden Ins
halt des Stoffes. Erinnert Triftan in
der Örokartigfeit und Breite des Me—
los, infeiner berüdenden Harmonik und
finnlichen Farbenpracht an die Pinſel—
führung Tizians, jo mödte ich Die
Megiterfinger in ihrer Kleinkunſt faſt
mit der Holzicgnittfunft eines Dürer
vergleichen. So hat jedes Werk jeinen
ganz eigentümlichen Gharalter und
Stil aus fi felbit, chmt man den
nad, wird man jelber ftillos. Was
aber durchaus nachgeahmt merden,
was feit Wagner die Grundlage unjeres
Schaffens bilden muß, das find Die
bahnbrechenden und grundlegenden
Ideen des Mufildramas, wie er
fte theoretifc und praktiſch gelehrt hat.
Daß Urſpruch diefe vollitändig in ſich
aufgenommen und verarbeitet hat, ijt
bei einem Künſtler von feiner Fein
fühligleit felbitveritändlid. Dadurch
aber, daß er auf Grund Diefer Ideen
feinem Werfe einen eigenen Stil zu
geben vermodte, indem er, Durd) die
Art des Stoffes gezwungen, genau da
anfnüpfte, wo die Entwidlung dieſes
Stils in der Kunſt jtehen geblieben
war — beim „Figaro* dadurch
‚gründet: gerade das, was ſeit Wagner brachte er uns thatſächlich einen Forts
2. Novemberheft 1898
— 6 —
jhritt. Urſpruch darf fortan als der |, Urfpruch als ficherer Beherricher. Am
Begründer des modernen muſi—
taliſchen Konverſationsſtücks
elten. Was dieſes vom alten unter—
cheidet, iſt in erſter Linie die Grund=
form, die als Einheit nicht die Arie
oder das Lied ſetzt, ſondern die dra—
matiſche Szene Mozart hat das
in feinen Finalen im Figaro bereits
in höchſter Vollendung gethan, aber
nur in dieſen genialen Enſembles.
Urfprud) wendet die Form auf das
ganze Werk an. Er fhafft fo eine Reihe
großer Szenen, die ftreng ſympho—
nifch aufgebaut find. Das ſetzt aber
notwendig voraus, daß die Geſtaltung
bes Tertes eine foldhe ſymphoniſch—
mufifalifhe Form zuläßt, dab das
Prinzip des Gegenfages, wie e8 ſich
im Haupt- und Seitenthema aus—
fpricht, auch im Text genau vorbereitet
ilt. Sei e8 num dadurch, daß die Szene
einen Dialog darstellt zwiſchen zwei
Perſonen verſchiedenen Eharafters (das
iſt das Häufigite bei Urjpruch), oder
aber, daß der Stoff bei einer Solo=
m ben Gegenſatz in fich birgt. Das
iſt natürlich nicht immer möglidh, und
wo nicht, datreffen wir aud) hier die
Szene auf Grund eines Themas,
mwelde in dieſem Falle fih als das
größten aber ijt er in jeinen Enjenibles,
deren Anwendung eine notivendige
Konfequenz des ganzen Stils ift. Nicht
nur, daß er, wie zum Scherz, Ganons
und ſelbſt eine Fuge mit fünf Themen
fo anwendet, daß man nirgends bie
Arbeit empfindet. Was das Widhtigite
it: er führt innerhalb dieſer Formen
die Gharafteriftit der einzelnen Per—
fonen aufs jtrengite durch. Ueberhaupt
it es die Charafterzeihnung,
melde am meijten in die Augen jpringt.
Sämtliche Perſonen des Stüdes find
mufilaliihe Typen. Ich nannte bis—
ber als die beiden Meifter, auf Deren
Ideen Urfpruh fuht, Mozart und
Wagner; einen dritten darf ich aber
nicht vergeflen: Hector Berlioz. Nicht
nur auf die Inftrumentation eritredt
fi) der Einfluß des genialen franzö—
ſiſchen Meiſters, wenn er auch hier
unverfennbar iſt (man braucht nur
einmal auf Die eigenartig reizende
Behandlung des Fagotts zu achten
oder der Tuba), auch in vielen ans
deren Bunften wird man finden, daß
Urfpruh von Berliog gelernt bat.
Er ijt ferner ein Schüler Meifter
Liſzts. Eines vor allem verdankt
erder@rziehung diefes einzigen Dteifters,
das iſt die Stlarheit des Rhythmus
und das vornehme Maßhalten fomohl
nah ber Richtung des Grniten mie
aber d, witellt. Letztere Form ift es be=
entjnr"..ıd, weldhe Wagner am häufigften
uumendet, und die ihm die Anwendung
bes Leitmotivs ermöglicht, ohne welche
wir uns das große Mufildrama nit
mehr denfen können. Die ſympho—
niſche Form läßt Dies nicht zu, fie
bietet dafür aber gerade für den leich—
ten Parlandoftil des muſikaliſchen
Konverjationsitüdes die einzige Möge
lichkeit. Während in dem erniten
Drama das Leitmotiv die Charak—
terifterung der Figuren bildet, fie ge—
radezu mufifaliih materialifiert, fällt
diefe Aufgabe im Stonverfationgftüd
dem ganzen Thema, der Melodie
zu, unterſtützt natürlich Durch die Farben
bes Orcheſters. Das legtere freilich
geichieht erit im zweiter Reihe, denn
eine Grundbedingung dieſer Gattung
ift e8, dag das Orcheſter gegen den
Gejang zurüdtreten muß und ihm nur
als Folie dienen kann, ſoll anders der
lebhafte Fortgang des pointierten Die=
logs nicht leiden oder gar untergehen.
Das verlangt natürlic wieder eine
Bevorzugung des Streichordeiters,
ohne aber deshalb auf die Errungen—
Ihaften anderer Jnitrumentation zu
verzichten. In al dieſem zeigt fich
Kunftwart
|
„ey dult der Entwiclung von. S.Bad
|
\
des Komiſchen hin. — Die Kölner Auf
führung entſprach vollftändig dem
Wert des Werl. Sri Dolbad.
Bildende Kunſt.
* Am Berliner Sumitgemerbes
mufeum iſt eine Yusitellung über
„Buchdruckkunſt“ eröffnet worden.
Sie fann natürlid” dem feine Offen—
barungen bringen, der die Bublifationen
des Buchhandels aufmerkſam verfolgt,
da ja dort ſchon alles zu ſehen war,
eh e8 in den Muſeumsbeſitz gelangte.
Über Sehr interejfant ift Diefe zus
fammenfajjende Vorführung doch aud)
für ihn. Sie zeigt uns eine hödjit
höchſt erfreuliche Entwidelung, Die
dahin geführt hat, daß Heute ein
einigermaßen guter Verleger faum nod)
etwas Wertvolles herausgeben Tann,
ohne mit den Jdeen der Künſtler zu
rechnen, die man als „die Modernen“
vor ein paar Jahren nod, verjpottete.
Die doch im Grunde fo einfahe Er—
fenntnis, Daß aud) der Buchſchmuck aus
dem Öcgebenen, d. h. den Drudbedin-
gungen eines Buches herauswachſen
— 146 —
müſſe, iit heute allgemein angenommen
worden: man rechnet nun überall mit
ſchwarzen und weißen Fläden und
Linien, wie daß dem Stode entipridt.
reilich, daß alle nad) 1860 geborenen
2eute, die den Maler= und Zeichner—
beruf ergriffen haben, Genies jeien,
Die niemals Geſchmackloſigkeiten oder
Geijtlofigfeiten zeichneten, nein, daß
wäre nit zu behaupten. Es hat
aber aud) bis jet nody niemand be=
hauptet.
Die Aufgabe des künſtleriſchen
Buchſchmucks als ſolche werden wir
im Kunſtwart bald wieder einmal
beſprechen. Gelegentlich dieſer Aus—
ſtellung wollen wir nur noch be—
merken, daß auch ſie ein Zeugnis
mehr dafür iſt, wie ſich das preußiſche
Kultusminiſterium hinſichtlich
der bildenden Kunſt vortrefflich be—
thätigt. Gerade wir, die vor dem Ver—
dacht ber Riebedienerei nad) oben ficher
find, dürfen Hier unfre helle Freude
ausſprechen. Die Berwaltung der
preußifchen Kunftmufeen, die Beitres
bungen in Saden ber Kunſtpflege,
die Dentmalspflege, die Preisaus—
fchreiben u. ſ. w., das iſt jet alles
geradezu vorbildli in Preußen und
zeugt von klarſtem Sachverſtändnis
wie von marmer, innerlidher Betei—
ligung und entſchiedenem Rillen, zu
fördern. Ad, daß e8 auf anderen Ge—
bicten hier ebenfo wäre!
* In Holland, das frei ift durch
und dur, beſonders aber von Vor—
urteilen, wenn fih’8 um literarifchen
Diebftahl handelt, erſcheint eine neue
illustrierte Zeitſchrift „Meubileerings-
Kunft“ bei der „Uitgevers - Maat-
fhappij »Bivat«e Amfterdam*. Bon
ihrem erften Hefte find von fünf
en vier, ift ferner fogar
Ziteflopf und Umſchlagzeichnung ein
fah auf medhanishem Wege ber
Innendetoration“ von Koch in Darm=
tadt gejtohlen. Iſt das eine reſpel—
table Leiftung, jo überrafcht fie Doch
gerade uns nicht ſehr, denn vor Jahren
erihien in Holland ein ſtunſte und
Riteraturblatt, deffen Probenummer
zur größeren Hälfte aus einem einzigen
Hefte des Kunſtwarts zuſammen über=
fet war. Es waren wörtlich unſre
Artikel, nur die Ueberſchriften er=
innerten vor Beideidenheit nicht
einmal an die unfern, und mit Staunen
las jeder unferer Mitarbeiter bei dem
Berfaflernamen, daß er auf holländiſch
volllommen anders, und war wie ein
richtiger Mynheer hieß. Die „Vivat“=
Gefellihaft madjt ähnliche Masten-
pa — follten hinter ihrer beſcheidenen
amenlofigfeit unfere alten Freunde
fteden ?
Wie's gemadht wird.
Geiftlihe als Geſchäfts—
reifende anzuſtellen, bemüht fich.
das „Südbeutfche Verlags = Inftitut“
zu Stuttgart, indem e8 die Pajtoren
zum Bertreiben der Pfleidererſchen
Bilderbibel durch ein mit „vertraus
lich!“ und „höchſt wichtig!" bezeich«
nete8 Zirfular auffordert. Die Ueber—
fchrift verheißt mit fetten Lettern:
„Gratig-Erwerbung der Meifterbilder=
bibel durdy Empfehlung“, und das ijt
p zu verjiehen: verſchafft der Pfarrer
rei Käufer, fo befommt er ein Frei—
esemplar, glüdt e8 ihm aber nur,
mei oder nod) weniger Käufer zu—
—— zu bringen, ſo muß er auch
fein Exemplar mit 40 Mark bezahlen.
Das bedeutet: mit weit mehr als dem
Buchhändlerpreis, ſo daß die Verlags—
handlung, die auf dieſem Wege die
Bilderbibel „zu dem“ „machen“ will,
„wozu fie geihaffen it, zum Kleinod,
zum erhebendften Schage jedenChriſten⸗
hauſes“, zugleid mit folder edeln
That ein glänzendes Geſchäft madht.
Trogdem hätten wir dieſes ftille
Wirten des „Süddeutſchen Verlags-In—
ſtituts“ vielleicht nicht beleuchtet, m” 3
bier nicht den Geiftlichen vorger,!" In⸗
der Pfleidererſchen Bilderbibel
„Die Welt unbeſtritten das
höchſte und jhönfte Dentmal
Hriftlider Kunft*. Es märe zu
beflagen, wenn biejer linfinn-
von Herren geglaubt und meiterver=
breitet würbe, bie in Sunftdingen zu
eigener Beurteilung zu wenig bewan—
dert und zu beideiden find. Wenn
ic) eine Menge von religiöfen Bildern
ber verſchiedenſten Meifter einfach ko—
piere, ſo ergibt das ſelbſt bei guter
Reproduttion höchſtens eine intereſ—
ſante Sammlung, aber noch lange
keine gute Bilderbibel. Zu einer ſol—
chen gehörte vor allem einmal Ein—
heitlichkeit. Bei ber Pfleiderer—
ſchen Bibel aber werden wir zwiſchen
alter und neuer, nörblicdyer und ſüd—⸗
licher und auf das mannigfadjite ab=
weichender erſönlicher Auffaſſung
unter allen Ariftlicen Kunjtnationen
und Malerſchulen herumgeworjen und
außerdem nod durch das gänzliche
Sonorieren der grunbverjchiedenen
Bedingungen zwiſchen Wand» oder
Zajelbild und Budilluftration geftört.
Wie fol ein Sammeljurium erbauen
2. Novemberheft 1898
— 142 —
und nicht zerjtreuen fol, das begreife | und die fein meifternde Technik Des
ein anderer. Eine wirklich gute Bilder- | jungen Tonfegers iſt e8 ein ſprechen—
bibel für den Deutiden von heute | des Zeugnis. Wie allen Modernen,
fehlt leider überhaupt, befjer als die | wird aud) ihm das einfahit Gedachte
Pileidererfche ift als Sausbud) aber | unter den Händen fo ſchwierig, daß
fogar nod) die Schnorrfhe. Wer aber | namentlih der Spieler mit der Aus—
einfach Meifterwerfe der chrijtlihen | führung feine Not hat. ES liegen uns
Malerei in Nahbildungen fammeln | nod) andere Driginalarbeiten Mikoreys
will, der kann das für weniger Geld | vor, die wir unſern Leſern zugleid)
bejier haben, als durd) die fogenannte mit einer Charakteriſtik jeiner ftarfen
„Meifterbilderbibel*. ı Begabung vorzulegen gedenfen.
| Der „Ritter“ von Herterid, den
Unſere Beilagen. wir ferner unjern Leſern zeigen, hat
| Diefes Jahr auf der Ausftellung der
Unjere Muſi kbeilage eröffnet dies | Sezeffion viel Bewunderung erregt;
mal ein „Ave Maria“ aus dem | er it dann, wenn wir nicht irren,
vierzehnten Jahrhundert. Die tief | vom Staate für die Pinafothel ange
innige, gejangvolle Bolfsmelodie hat | fauft worden. Bewundernswert in der
M. Plüddemann mit einer ganz ein= | That ift an dem Bilde der breite, der
fachen Klavier- (oder Harmoniums) | wahrhaft wuchtige Vortrag, im ges
Begleitung verfchen, die ihre Schön= | raden Gegenjage zu kleinlicher Pim—
* voll hervortreten läßt; ſie wird pelei und mit ſo vollkommener Sicher—
ier aus ſeinen „Liedern und Geſän- | heit gegeben, daß alle — zu⸗
gen“ (Nürnberg, Schmid, ME. 2.—) ſammengehn und alles Körperliche ſich
mitgeteilt. Das Heft enthält unter | rundet. Aber diefe rein malerischen
anderem nod fünf altdeutiche Lieder, | Vorzüge bedeuten dod nur einen
die dem ausgemählten faum nad | der Werte, die das Bild auszeichnen.
ftehen. Im Bortrag diefer Weife, | Der andere, feclifcher Urt, liegt in der
von der Plüddemann mit Recht be= | der eigentümlichen Zegendenftimmung.
merkt, daß ihr an Zartheit und relis | Eben diefe erhebt den Charafter des
giöfer Inbrunſt nur wenig Neueres | Werks weitüber den einer wennauch noch
gleichkommt, macht nur das durchaus ſo vortrefflichen Studie nad) der Natur.
gleichmäßig geforderte Pianiſſimo Des Amerikaners Urban wunder—*
Schwierigkeiten. ſchönes Bild „Der Albanerſee“ möge
ALS Proben aus den ſoeben bei.Aibl | uns wieder zeigen, wie wohl es ge=
in München erfchienenen neuen Liedern | than iſt, ſchlagwortähnlichen äſtheti—
von Richard Sirauf (10 Befte; je ſchen Lehrfägen vorfihtig und zweifel—
DH. 1.20) geben wir den Schluß feines | bereit zu begegnen. Der Sa, daß
Schlummerliedes, worin vier felb- | Fernfidten niemals „Bilder“ er—
ftändige Wielodien nebeneinander= | gäben, daß man fie alſo nie malen
laufen. Der Baß in mwiegender Be= | dürfe, iſt von vielen Malern ein Jahre
megung, zwifchen ihm und den in | zehnt lang mit großer Enticdiedenheit
der Höhe webenden Sechzehnteln eine | verfodhten worden. Das Wort ent—
leihjfam ſanft ſtreichelnde Mittel- ; fprang dem jehr beredhtigten Wider—
timme und zu allem nod der auß= | willen gegen die alte Vedutenmalerei,
drudsvolle Geſang. Diefes jo kom- | welde die im Bädeder beiternten
plizierte Gefüge ergibt nichtsdeftome- | „Ichönen Blide* oder „romantijchen
niger einen ganz Ihlidhten und übers | Punkte“ durhaus unkünſtleriſch ver—
zeugenden Gefamteindrud. Wir werden nutzen wollte Aber auch hier fommt
demnädft im funjtwart einen zus es eben aufs Wie an. Wer fih in
fammenfafjenden Auffat über Strauß der Fülle einer weiten Ausficht nicht ver=
als Licderfomponiiten bringen. liert, fondern die großen Formen aus
Das dritte Stüd „Im Nofengärt- | Nähen und Fernen zufammenzufaflen
lein“, ftammt von Franz Milorey | weiß zu fait monumentaler Geſchloſſen—
und wird bier zum erjten Dale ver= | heit und Größe, der „darf“ wirklich
öffentliht. Für das zarte Empfinden auch Fernfichhten malen.
zubalt. Künſtleriſche Weihnachtsgeſchenke. Von Paul Schulge-Naumburg. —
eihnadtsihau. — Gerhart Hauptmanns „Fuhrmann Henſchel“. Bon Adolf
Bartels. — Die Theaterbörfe. — Loſe Blätter: Der Kletterer. Bon Guftan
Falle. — Aus Bölſches „Liebesleben in der Natur“. — Die Defadenten. Bon
K. ©. Hardenberg. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Ludwig Herterih, Ein
Nitter; Hermann Urban, Der Albanerjee. — Notenbeilage: M. Plüddemann,
Ave Maria; Richard Strauß, Schlummerlied; Franz Milorey, Im Rofengärtlein.
Derantwort!.: der Heransgeber $erdinand Apvenarius in Dresden -Blafewig. Mitredafteure: für Muſit
Dr. Rihard Batfa in PragMeinberge, für bildende Kunf: Panl Schulge-Naumburgin Berlin,
Sendungen fär den Cert an den Berausgeber, über Mufif an Dr, Batko.
Verlag von Georg D. W, Eallwer. — Kgl. Hofbuchdruderei Kaftner & Eofjen, beide in Münden.
— — — — — — — — — —
TI Gar
Mit Bilder: und Moten-Beilaaen.
ebenda ——
Bernaspreis 21/5, Mark vierteljährlih. Ein einzelnes Heft 50 :
SENSE: —
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Derausgeber;
#erdinand Zlvenarius,
Werlag von GeorgdTI.Callwepin/Dünd
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Erstes Dezemberbeft 1898.
rganNdg- a für Berlin: 3, Behr’s Derlaa. W. Stealiherkr.
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« Der Kunffiuarf =
erfcheint jährlih 24 mal in Heften von 32 Seiten (je zu Anfang und Mit
Der Abonnementspreis beträgt /BR. 2.50
Einzelne Hefte foften 50 Pfa.
Ale Buchhandlungen und Poftanfialten, fowie die unterzeichnete Derlagsha 0
Abonnements-Beftellungen entgegen. Probehefte unentgeltlich und poftfrei von der Derlage
handlung: Georg D. WI. Callwep in ABüncben. “
Vachdruck fämtlider Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird
übernommen, Rüdfendung at abgelehnter, nur wenn Rüdporto beilag.
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Paris u Bi —— —
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Berlin W. =
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Pochlmanns —— entwickelt die Besbedtunge un, uf und
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AN
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\ Kunstpbotograpbie.
P As wir Studenten waren, grün noch von Geift und ehrfurchtslos
be Et et, liebten wir's, aus den Anhängeläften der Photographen die
Blidten fonderbar ins Tageslicht; diefelben, die uns im Kunſttempel der
m).
ierten Helden und Heldinnen vom Theater bliden zu fehn. Sie
29
x fenftabt gar wohl ans Herz zu rühren verftanden, gaben uns zu den
Rgödien nun Satyrfpiele eigner Art: die Lodenperrüde, hier auf der
nn Sraphje wurde fie nicht zum mwallenden Haar, dag Koftüm, Hier
* es nicht zur Tracht, die große Geſte nicht zur lebendigen Be—
* Ng, das Mimengeſicht nicht zum Heldenantlitz, die Maske nicht zum
** — wie Kinder waren wir, die das Spielzeug zerſchlagen, um
Rohr ‚su fchauen: wie fonft die Schaufeite, jo vergnügte uns nun die
jeite Der Theaterkunft, die Komödianterei. Aber wir wurden durch
gmaH ScHaufaftenftudien auch aufmerffam auf das Theaterhafte in den
Bande Ichen, den „bürgerlichen“ Photogrammen. Eigentlich war's ein
nung, eT, Daß wir’s jegt erft wurden, nur die Allgemeinheit der Erſchei—
mar .Märt, daß keiner fi dran ſtieß. Erinnern ſich die Lefer, wie
Yhaut Amals, vor zwei Jahrzehnten noch, photographierte? Nein, nun
—8 ern; ich jelber, denn ich weiß e8 ja: man photographiert heute
o.
or Allerdings, nicht mehr ſo allgemein. Daß man vor einem ge—
8 reich geſchnitzten Schreibtiſche im Zimmer an einer ſteinernen
atten-Baliuſitade ſitzt, Hinter welche der Große Geiſt des Lichtkunſtlers
höne Neapel mit Golf und Befun herbeigezaubert Hat, e8 ift wenig
Nens in den großftädtifchen Ateliers jest immerhin eine Seltenheit. Und
die photogräphlichen Marterwerlzeuge, die den Kopf zum Gtillhalten
gingen und ben Neuling jo angfterregend an den Zahnarzt erinnern,
fie amten den fchnellen Trodenplatten zum Dank nicht mehr überall, wenn
fie aud) noch da und dort fpufen am hellen lichten Tag. Dan verftedt die
Komödianterei beffer. Aber man gibt dem Wejen nad) immer noch die
Unnatur für die Natur. Man dient noch heute, Ausnahmen immer zu:
Kunftwart 1. Dezemberheft 189€
- 19 —
te
gegeben, hier nicht der Wahrheit, jondern der Macherei, dem Schwindel.
Wer denkt daran, auf dem lichtempfindlichen Papier jchlieglih als Bild
zu fallen, was an einem Menjchengefiht bezeihnend oder was ma:
leriſch it? „Schön“ foll man ausjehen, und ift man's nicht, Jo wird
man’ gemadt. „Schön“, — was man fo unter „Ihön“ veriteht. Du
bift eine Frau, Sorgen und Segen haft du getragen, man fieht dir's
an, man freut fi deffen. „Um Gott, da find Runzeln!“, denkt der
Retoucheur, und er zieht dir ein allgemeines Glacehandichuhleder vom
einen Ohre zum andern. Du bift ein Mann, in geiftiger Arbeit erzogen, der
Retoucheur rührt die Falten und Förmchen in deinem Angeficht zuſam—
men zu einer meiden Inkarnatsſchmiere, mit der er di in einen
blühenden Barbiergehilfen umfchmintt. Oder bit du ein Puppenkopf
geworden ? Man könnt e8 denken, denn eine ſchöne jcharfe Linie ums
‚rändert dein Auge, wie das im Puppenland üblich, aber ein Lichtpunft
gibt dir dafür einen fogar übermenſchlichen Glanz, denn er figt anders—
wo, als er bei gleicher Beleuchtung auf Menſchenaugen jähe.
Es ift alſo eine merfmürdige Sorte von Jungbrunnen, die Wert:
ftätte des Berufsphotographen vom Durchſchnitt. Künftler verzichten da—
ber gern auf ihren Bejuh, marten auf einen befreundeten Amateur:
photographen oder nehmen doch, müſſen fie fi) mal von einem Fad-
mann photographieren laſſen, dem Lichtbezwinger einen erniten Eid ab,
mwenigitens nichts zu retoudjieren. Das Publikum jedoch ift meift ganz
zufrieden, ift e8 jo jehr fogar, dah es die Photographen je mehr preilt,
je mehr fie ihnen die Natur von den Gefichtern wegpinjeln. Es ift ein
ganz beichämendes Zeugnis dafür, wie allgemein dem Publikum die
eriten Elemente des Sunjtverjtändnifjes mangeln, daß es fi die Miß—
handlung durch unſre Berufsphotographen nicht nur gefallen läßt, nein,
dab e3 fie geradezu jelber verlangt. Fyeinfühlige Photographen, „die
was davon erfannt*, konnten bisher einfach nicht auflommen, bis fie
widermwillig, was verlangt ward, machten — e8 wäre jehr Unrecht, den
ganzen Stand als ein Gewerbe jtrupellofer Pfuſcher Hinzuftellen.
Auch den Liebhaberphotographen fehlte aber in Deutichland bis
vor wenigen Jahren noch allgemein ein künftlerifches Verſtändnis. Sie
retoudhierten nicht, das war ihr Borzug, im Uebrigen Huldigten fie
vorurteilgmäßigen Jdealen. Möglihit ſcharf follten die Bilder werden,
und möglichſt viel follte darauf zu jehen fein, die Sonne mußte wo—
möglid) von vorn fallen, in den Schatten noch mußte alles Har fennt-
lich fein, die Perjpeftive durfte nicht gar zu verfchroben fein — damit
ungefähr waren diejer Leute hauptjächliche Forderungen erfüllt. Man
regijirierte mit Photogrammen Familie und Freundihaft und nahm aus
der Landſchaft „Anfichten* und „Ausfihten* auf. Gin recht bezeid-
nete8 Wort, dag „Aufnehmen“: man nahm auf, was da lag, man
hatte nicht da8 Bedürfnis, aus dem Gegebenen erft etwas zu bilden.
Das Verfahren jelbjt war man dabei gewohnt, durchaus als einartig
beftimmt zu betradhten: eine Expofition war gut oder fchlecht, je nad-
den, ob fie genau durchgearbeitet und doc nicht überlichtet war oder
anders, eine Entwidlung war gut oder ſchlecht, je nahdem, ob fie ge
willen Forderungen genügte, die für alle Fälle genau die nämlichen
waren. Es war, wie ein Automat, in dem man oben etwas ftedt,
wofür er was hergibt: er fann gut oder fchleht, aber nur auf eine
Kunftwart
— 150 —
Weile funktionieren, — mehrere Möglichkeiten des Guten hat er nicht.
Gab ein Photogramm Licht und Schatten der Natur nad Möglichkeit
richtig wieder und zeigte e8 möglichft deutlich alle Einzelheiten, fo
war e3 gut, wenn nicht, jo war es mißlungen: das „gute“ Refultat zu
erreichen aber war eine rein technifche Gejchielichkeit.. Nur in der Aus—
wahl deifen, was man vor die Linfe ftellte, und darin, wie man’
ftellte, bethätigte man freien Gefhmad: Entwidlung und Kopierung des
Negativs war ein unumgänglicher, aber langmeiliger mechanifch = hemi-
iher Prozeß. Wer nicht viel Zeit Hatte, Tieß fih „das“ deshalb Lieber
vom Fachphotographen beforgen.
Sest fi ein KHünftler, jagen wir: ein Zeichner mit dem Bfleiftift
vor die Natur, jo hat er eine unbegrenzte Zahl von Möglichkeiten, den
Stift fo oder jo zu führen, um megzulafjen, zu ergänzen, zu verändern,
hervorzuheben und zurüdgudrängen, bis nicht eine Abfchrift der Natur,
jondern bis das auf dem Blatte fteht, maß feine Seele durch fein
Auge aus ihr entnommen Hat. Was bedeuten gegen diefe Fülle von
Möglichkeiten die Möglichkeiten der Beeinfluffung eines photographifchen
Bildes durch den Photographen, wenn fie nur von der angedeuteten Art
find? GSelbftverftändlich wurde alfo ein gelegentlicher Stolz der Amateur-
photographen auf ihre „Kunft* von den Malern beläcdelt. Aber ber
Möglichkeiten, das Bild zu beeinfluffen, find viel mehr, ala man benuste.
Abgeſehen von der Wahl des Standort und be Modells, der Tages-
zeit mit ihrer Beleuchtung und all diefes Gegenftändlihen außerhalb des
ApparatS: man kann die Linje wählen fo oder fo, man fann mit
fleineren oder größeren Blenden, man kann längere oder kürzere Zeit
erponieren, man fann Platten fehr verfchiedener Art benugen, man kann
mit ganz verjchiedenen Entwidlern auf verfchiedene Weife entwideln, man
kann dann verftärfen oder abſchwächen, kann vergrößern oder verkleinern,
man kann ganz verjchiedenartige Bapiere wählen und auf eine jede Art
mannigfaltig und jet durch den Gummi-ANrabicum-Drud ſogar in jeder
beliebigen Farbe und mit ftarfer perfönlicher Beeinfluffung kopieren.
Dan kann das alles, — fobald man nur von dem Gedanken abgeht,
„gut“ ließe fih „das Techniſche“ nur eben auf eine Weife beforgen, mit
‚andern Worten: fobald man nad allen Kräften das Mechanifche aus-
Ichaltet und das Techniſche von Fall von Fall abändert, anpaft, erhebt
zum individuellen Ausdrudsmittel.
Nun find die enticheidenden Schritte getjan. Maler und als Künftler
gebildete Amateure haben zuerſt in England und Franfreih, und dann
aud in Deutichland, mo Vereine in Hamburg und Wien unter verjtänd-
nisvoller Zeitung zuerjt den Kampf aufnahmen gegen die Konvention, in
der That eine photographiihe Kunſt geichaffen. Sie iſt noch ein Find,
diefe Kunft, unerzogen und launiſch, aber alle Merkmale einer wirklichen
Kunft, das iſt unbejtreitbar, trägt fie. Erftaunlich, wie in ihr die fünft-
leriſchen Richtungen zu Tage treten! Der oberflädliche Beichauer glaubt vor
Photogrammen nad) Gemälden der engliihen Malerſchulen zu ftehn, trifft
er auf die Photogramme engliiher Kunſtphotographen-Landſchafter. Er
geht nad) Paris: ganz ähnliche Motive der Iandjchaftlihen Vorbilder er-
innern ihn doc jofort durch das Wie der Wiedergabe an die modernen
Maler Frankreichs. Und mehr: heitere und ernite Seelenftimmungen
ſprechen aus diejen Blättern, wie aus Gemälden. Und mehr: man
1. Dezemberheft 1898
— I —
lernt e8 bald, aus den verſchiedenen Bhotogrammen verichiedene Künſtler—
Berfönlichkeiten Mar zu fondern und immer wiederzufinden, die als eigen-
artige Menfchenmaler in eigenartiger Sprache zu uns ſprechen.
Ich deutete an, wie man das erreicht hat. Mit den Augen des
Malers ſah man auf die Natur, was „maleriſch“ ift, wollte man ihr
abgewinnen. Nicht höchſte Deutlichkeit jeder Nebenfache ift maleriſch, die
alle mit gleicher ‘Beinlichkeit vor dem Auge aufzählt und in alle Einzel-
heiten bejchreibt. Dan weiß e8 längſt: Kurzſichtigen ift die Welt male-
rifcher als Fernfihtigen, diefen zerftüdelt fie fich, jenen baut fie ſich auf
in großen Maffen, in bedeutenden Silhouetten. Mit der Annahme diejes-
Sates ſchon zerbrady man das bisherige Jdeal der Photographie. Aber
e8 blieb nicht hierbei. Man erjirebte auch für die Photographie bemußt
das malerifche Spiel der Licht: und Schattenwerte mit einander, das
feinen größten Meifter in Rembrandt dem Radierer gefunden hat. Pan
begann die Mafjen abzumägen zu einem Rhythmus der Flächen. Dan
begann die Wichtigkeit der dunfeln Form zu erfaſſen und zu benugen,
die fih im Schattenriß abhebt vom lichterem Hintergrund. Man lernte
unterzuordnnen und zu betonen auch in der Photographie. Man ftudierte
mit energifchem Fleiß das Charafteriftiihe der Bewegungen, von ber
großen Geften bis zum Mienenfpiel. Die moderne Kunftphotographie
fühlt fih ganz und gar als das junge Schwefterlein der großen Kuünſt—
lerin Malerei, von der fie mit leidenſchaftlichem Fleiße zu lernen fudt.
Das iſt das richtige, auf jeden Fall, für jegt: ob e8 immer fo
bleiben wird, mwiffen wir nicht. Sehen wir ein Lichtbild, das ausfieht,
wie die farblofe aber fonft genaue Kopie eine Delgemäldes, fo ver:
miffen wir das Befondere im Eindrud, das uns jofort empfinden ließe:
ic bin ein Erzeugnis einer eigenen Kunſt. Aber es gibt. auch jchon
fünftlerifche Photogramme, die ihrer fünftlerifchen Wirkung nad) als etwas
durchaus „Apartes“, Eigenartiges erjcheinen.
Die ganze Bewegung der Kunſtphotographie ift weit über das Heine
Neich der Photographenkünftler hinaus von Wichtigkeit. Sie wird all-
mählich die Amateure beeinfluffen, durch diefe das Publitum und die
Berufsphotographen. Sie wird nicht im Handumdrehn eine Menge neuer
Künftler auf die Welt fegen, aber fie wird an vielen Stellen die Augen
ein wenig, und an manden Stellen die Augen fehr viel bilden zur
Empfänglichkeit für fünftleriihe Werte, Aufgaben und Bemühungen.
Und jo wird fie, abgefehen von dem Schönen, daß fie ung ſelbſt bejcheert,
vielleicht von Bedeutung werden für die fünftlerifche Erziehung unferes
Volkes, zu welcher bisher die Berufs- ſowohl wie die Amateurphoto-
graphen jo gut wie nichtS beigetragen haben.
BEER
Weibnachtssebau.
2. Moderne Literatur.
Die literaturhiftorifche Kritik fucht mit Hilfe der auß dem vergleichender
Studium der Weltliteratur gewonnenen Maßſtäbe den wirklichen Lebensgehalt
feſtzuſtellen, als deſſen „Träger“ die Hunjt als ſolche erjcheint, und mweiter den
Wert einer Didtung als nationalen und „menjchheitlichen“ — —
e
Kunftwart
41
Segen die Anwendung ihrer Vethoden auf die moderne Tichtung hat man
aber in neuefter Zeit vielfach proteitiert und statt deſſen cine bloß interpre=
tierende Kritik gewünſcht, die alfo den Dichter -leihjfam als gegebene Größe
Hinnimmt und ihn pfychologiſch und äſthetiſch-techniſch erflärt, zum Genuſſe
feiner Werfe anleitend. Wir meinen, daB der wahre, der schorene Kritiker aller
zeit beiden forderungen entipredhen mu: Zunächſt hat er möglidit das
volle Veritändnis de3 Dichters, feiner Kunſt zu erweifen und zu vermitteln,
dann aber den Dichter aud) feinen Pla in feinem Kreiſe und weiterhin
dieſem reife feinen Blag in der Welt, mag diefe Weli aud Iheinbar nur
die papierne der Literaturgeihichte fein, anzumeifen. Er bai zu erkennen
dann aber aud zu urteilen, auf Grund der eigenen Perfönlicyfeit (etwas an
deres iſt ja nicht möglich), aber dann doch nicht dogmaätiſch, fondern erfah—
rungsgemäß, biftoriich erfahrungsgemäh. Weshalb die Modernen die literatur—
Hiftorifche Kritik nicht fonderlich Lieben, das leuchtet ohne meiteres ein; gewiß
iſt Dieje in den Händen Unberufener vielfach Ichablonenbaft ausgefallen und
dem modernen Leben nicht gerecht geworden, dod man kann auch ruhig von
einer gewiſſen Furcht neuerer Dichter vor dem hiſtoriſchen Urteil ſprechen: fte
find von der fi fajt nur in Ertremen bewegenden öffentlihen Meinung
unferer Zeit zu body emporgehoben worden, als daß fie Hoffen dürften, vor
dem unbejtechlichen Urteil einer weitihauenden Gefhichtsfchreibung in ihrer
ganzen fcheinbaren Größe beilehen zu fünnen. Sie haben ferner oft felbjt jene
Bropheten- und geitige Führerpofe angenommen, die dem Dichter, der bloßer
Lebensgeftalter iſt, am allerwenigiten fteht. Und ſelbſt ein Teil derer, bie fich
heute mit Literaturwiſſenſchaft beichäftigen, unteritügt die Poeten auch gegen
die berufene Kritit — die Herren reden fich ein, als Interpreten der Dichter
felbit fo etwas wie Künſtler, wie fünftlerifche Nachſchöpfer eines dichterifchen
Lebenswertes fein zu können, und denfen damit zugleich von Bedeutumg für Die
moderne Gefellfchaft zu werden, die ſich natürlich fehr wenig um gründliche
Literaturhiitoriiche Arbeit kümmert. So entſteht das Literaturhiftoriiche Salon—
profejlorentum, das die modernen Dichler — einige wenige, forgfältig ausge
wählte jelbitveritändlih nur — in ihrem Propheten- und Uebermenſchendünkel
beitärft und die Verwirrung der Köpfe, die hodhgradige Unflardeit über die
Bedeutung der modernen Talente in beirächtlicher Weiſe vermehrt.
Die vorjtehende Auseinanderiegung war nötig, ıın den Standpumft feſt—
zulegen, von dem aus die Empfehlung moderner Werke zu Meibnadten hier
erfolgen jollte. Ein Buch, das man zu Weihnachten fchentt, muß Gehalt haben,
muß größeren oder geringeren Wert als nationales oder gar „menfchheitliches“
Lebensgut Haben, bloßer Zeitwert, bloße künftlerifchstechnifche Vorzüge, bloße
„moderne“ perſönliche Bejonderheit entfcheiden Hier ganz und gar nidt. Ob
ich einen kulturhiſtoriſchen Roman, wie er vor zwanzig Jahren beliebt war,
oder ein naturaliltiiches Drama ftrifter Obſervanz oder ein fymbolistifches
Gedichtbuch ſchenke, bleibt fid) an und für ſich vollitändig glei), die „Rich—
tung“ iſt garnichts, der Gehalt, den die Verbindung von Talent und Berjön-
lichleit verleiht, iſt alles, Wir haben jegt einige große und ziemlich viele
mittelgute Talente, aber wir Haben ſehr wenige Perfönlichkeiten. Das ift
meine auf Grund literaturhiftorifcher Kritik gewonnene Anfchauung, die bloß
interpretierende Kritik, die alles gleich groß und gleich Mein fieht, kennt dagegen
eine ganze Anzahl deuticher Genies der Gegenwart. In Gottes Namen!
Noch jegt, aud; nachdem unfere deutiche Dichtung wieder felbitändig
geivorben it, möchte man feine Empfehlungen moderner Werfe mit foldhen
1. Dezemberheft 1898
. 163 —
von Ausländern beginnen. Gerade, wer gut national fühlt, fol fich vor der
verderblichen Selbittäufhung bewahren, die Talente unferer Literatur der
Gegenwart hielten mit den großen Ausländern gleihen Schritt: wir beſſern
nichts durch ſolches Vogel-Strauß-Weſen, das ſtatt unfre Kräfte zum Wettkampf
aufzurufen, uns in jelbftgefälliger Faulheit beitärft.
Ja, wenn wir unfere moderne Dichtung von 1840 abredinen, bann fommen
wir mit, aber ſchwerlich, wenn wir mit 1880 anfangen. Die brei großen
Ruſſen habe id; genannt, auch die beiden Norweger eriten Ranges, aber neben
Ibſen und Björnfon find da im Norden nod) Leute wie Arne Garborg
und nut Hamſun, wie der Däne Jalobfen und der Schwede Strind=-
berg, alles „müde Seelen“, aber von jenem „intimen Weiz“, der das Ziel
und — das Geheimnis moderner Kunſt iſt. Holland liefert feinen Diaarten
Maartens, Belgien feinen Maeterlind dazu, Frankreich bat neben den
Großen, Flaubert, Zola, Daudet, Maupauffant aud nod bie
befadenten Lyrifer, wie Berlaine und NRomancier® wie Bourget,
Sabre, Prevoft, Pierre Boti n.f.m., die, mögen fie nun groß oder
Hein fein, doch fait alle von Einfluß auf unfere deutfche Literatur geweſen
find. Und dann nod die italienifchen, ja, die ſpaniſchen Beriften, überhaupt
die ungeheure Entwidlung der realiftifchen Zebensbarjtellung bei allen ſtultur—
völfern, bie überall wenigstens zu beifer lesbaren Werfen geführt hat, als bei
uns. Aber ih fühle feine Veranlaſſung, das Regifter der Engelhornihen
Romanbibliothek und ähnlicher Unternehmungen auszufchreiben. Wenden wir
uns zur deutichen Dichtung !
Alſo zunächſt zu Gerhart Hauptmann Daß man fi nad
hundert Jahren feine gefammelten Werte zu Weihnachten jchenfen wird, bes
zweifle ich, offen ſei's geſtanden, aber daß der moderne Deutiche feine Haupt:
werke fennen muß, beitreite ich feinen Augenblid. Es find das meiner An—
fiht nad) „Die Weber“, „Kollege Grampton“, „Der Biberpelz“ — „Einfame
Menichen“ mag der Merkwürdigkeit, nicht feiner inneren Bedeutung nad), aud
nod) dazufommen. Das „Hannele* und „Die verfunfene Glode* würde id
unter die Werke für Liebhaber einordnen, dagegen Die beiden novelliftiichen
Stiggen „Der Apojtel* und „Bahnmärter Thiel“ wieder von allen Literatur:
freunden gelefen wünſchen. Um Mar Halbe kennen zu lernen, nad
Hauptmann da8 bedeutendite dichterifche Talent, das heute auf dem Gebiet
des Dramas thätig ift, genügt wohl feine „Jugend“. Dazu nehme man von
modernen Dramen dann etwa noeh Schnitzlers „Liebelei“, Philipp
Langmanns „Bartel Turaſer“, und Jofeph Ruederers „Fahnenmeihe‘,
alle drei vor allem aucd wegen ber in ihnen zur Anſchauung gebrachten Atmo—
ſphäre. Sapienti sat! Und Ernft von Wildenbrudy? Nun, von dem fann man
ein älteres Stüd, etwa den „Marlow* ſchon fchenten. Und Hermann
Sudermann und Ludwig Fulda? Ja, deren Stüde habe ich zunächſt
meift von der Bühne herab fennen gelernt und niemals Verlangen verfpikt,
fie ftill für mich zu genießen — las ich fie dann, fo that ich's, weil ich's mußte.
SH bin aufgefordert worden, heut einfad) mein eigenes Fühlen gegenüber
der Literatur herauszufagen, und das ijt num einmal fo. Wer's aber feiner
Bildung ſchuldig zu fein glaubt, der mag „Sodoms Ende“, den „Johannes“ und
den „Zalisman“ als die hauptfählid in Betradht fommenden Werte vornehmen
— den Reit fann er fich ficher ſchenken. Anders fteht es mit Sudermanns erſtem
Roman, der „Frau Sorge”, der ift fogar ein Weihnachtsgeſchenkbuch in
beitem Sinne und gehört zu den wenigen modernen beutfchen Romanen, it
Kunftwart
14 —
denen wirkliches, nicht gezwungen erwedtes Leben ftedt. Iſt er doch auch aus
bes Dichters Heimatboden gemadfen. Und wie diefes Werk, hat uns die fo-
genannte Seimatkunft noch mehrere gute Romane geſchenkt, auf die wir hin=
weiſen fünnen, wenn man fragt, was denn bei der ganzen modernen Entwid-
lung berausgefommen jei. Da find zwei oder drei Werfe von Wilhelm
von Polenz („Der Plarrer von Breidenbah*, „Der Büttnerbauer”, „Der
Grabenhäger*), da iſt wenigſtens der „Silvefter Geyer* von Georg von
Ompteba*, da ift Wilhelm Weigands feiner Roman „Die Franten-
thaler”, da iftt Walter Siegfrieds in feiner Art immerhin bedeutender
Künjtlerroman „Tino Moralt*“, der zugleich) auch eine ‚Urt modernen, aller
dings jehr „fingulären* „Werthers* if. Da find Dichter, die alle erit empor=
gekommen find, als ber eigentliche neuere Sturm und Drang vorüber war,
aber jie beginnen nun die älteren Romanfchreiber zurüdgudrängen. Bon dieſen
will ih Hermann Heiberg wegen feines ungmeifelhaft beiten Buches, des
„Apothekers Heinrih*, Max Kretzer, insbefondere wegen des „Meiiter
Zimpe” und Wilhelm Walloth wegen bes gerabezu unheimlihen Romans
“sm Bann der Öypnofe* erwähnen.
Sehr groß ift ja die Zahl der romanfhreibenden Damen — wie ih an
Diefer Stelle ſchon öfter erwähnt habe, fie find den Männern im Durchſchnitt
oder beiler: fie find den Durchſchnittsmännern hier „über“. Mande von
ihnen, Helene Böhlau, Ida Boy-Ed, Ilſe Frapan, Marie Janitjchef, Emil
Diarriot, Charlotte Niefe, Gabriele Reuter fommen aud) mit einigen ihrer
Werte für ben Weihnaächtstiſch in Betracht, und zwar eher mit ihren Novellen=
und Sfizzeniammlungen, als mit ihren Romanen. Hier tritt eben der Ge—
fihtspunft der Heimatsfunft wieder in den Vordergrund, Helene Böhlaus
„Ratsmädelgefhichten*, die Hamburger Novellen von Jlfe Frapan, die hu—
moriſtiſchen Skiggen der Niejfe oder um eine noch weniger befannte Holitei-
nerin zu nennen, die von Helene Boigt ziehen ihre beite Kraft aus dem
Heimatboden und wirken denn aud) mädtig auf das immer mit poetifchen
Empfindungen verbundene Heimatgefühl. Deshalb wollen wir Die realiftifche
Ktunſt diefer Damen nicht unterihäßen. Uebrigens beginnen jest aud Die
Männer mehr und mehr aus der Großitadt zurüd auf das Land zu flüchten:
Beilpielsweife mögen bier Karl Söhles Muftfantengeihichten (denen das
Muſikaliſche noch einen allgemeineren Weiz gibt), Timm Hrögers „Die
Wohnung des Glüds“ und Max Bittrihs „Spreewaldgeihicdhten“ genannt
fein. Ich bezmeifle nicht, daf es noch mehr gute Sammlungen diejer Art gibt;
um fie alle richtig zu bewerten, muß man eben Zofaltenntnis haben.
Das Hauptinterejfe unter den modernen Lyrifern nehmen befanntlich
zur Zeit Liliencron und Dehmel in Anſpruch. Ich bedauere, dat es noch
feine gute Auswahl aus ihren Gedichten gibt, die man „ohne weiteres“ für
den Reihnadtstifch empfehlen könnte; fo wie die Dinge jegt liegen, muß man
fagen: Kauft alles und fucht euch das Beite Heraus! Im Gegenſatz zu den
genannten hat Avenarius* in feiner legten Sammlung „Stimmen und Bil—
* Serausgefordert, darf ich zu diefen Worten wohl auch zwei jagen.
Ich leſe, was Bartels da fchreibt, mit einem Heiteren Auge, das dem Ver—
gnügen über feine gute Meinung entipriht, und einem traurigen, weil bier
ein alter Brauch des Kunſtwarts durchbrochen iſt. Bin ich doch überzeugt,
daß manche unfrer Leſer von meiner Dichterei noch heutigen Tages fo wenig
willen, daß Bartels fie felbft durd den Hinweis auf feine vielen Geſinnungs—
genoffen nicht ganz von einer gewiſſen Beirrung befreien könnte, als handle
1. Dejemberheft 1898
— di —
der” faft nur vollendete Stüde geboten und fann mit dieſem feinem Buche
daher rüdhaltlos für den Weihnachtstiſch empfohlen werden. Mehr über dieje
Gedichte druden zu laffen, wird mir der Herausgeber des ſtunſtwarts ver—
wehren, ich meinerjeit8 würde mich nicht fcheuen, fie nody mehr zu loben —
mer mid als Sritifer fennt und mir dennoch mihtraut, mags eben thun. Gute
Sammlungen für den Weihnadhtstiih bietet noch Guſtav Falle Ganz
eigenartig als Menſch und Boet ift Karl Spitteler (Felix Tandem) mit
feinen „Schmetterlingen* und „Balladen“. Bon Jüngeren, die fiher noch mit
Reiferen fommen werden, dürfen wir zunächſt noch abfchen.
Damit mag es genug fein. Das große unfehlbare Sieb, durch Das alles
Korn der Literatur hindurdfällt, nur Spreu zurücklaſſend, befige ich leider nicht,
ja, ich weiß nicht einmal, ob ich eigentlich alles, was Hineingehörte, ins Sieb
gethan habe. Und indem ich nun das Gefchriebene wieder überlefe, bemerk ich's
leider , daß ich doch mur wenig Dichter genannt habe, habe nennen fönnen, die
in ihren Werfen wirkliche Lebensgüter ihres Volkes gefchaffen. Doc) die, die
fünftlerifch ernfthaft ftreben, ſich des Gehalts ihrer Zeit mwirflich zu bemäch—
tigen, diefe Dichter Habe ih am Ende genannt, und Diefen gehört unbedingt
auch der Lohn, der Erfolg. Ein ‚Weihnachtsſpekulant“, wie wir fie noch vor
einem Jahrzehnt in Menge hatten, iſt ſchwerlich unter ihnen.
Was von allerneueften Ericheinungen für den Vücherſchrank umirer
Meinung nad) in Frage kommt, davon werden wir ja noch reden fünnen.
Adolf Bartels
Notenwerfe,
2. Die romantiſche Periode
Klavier. Die Stlavierliteratur Hat in der nachklaſſiſchen Zeit eine
Reihe wertvoller Bereicherungen erfahren, aud) in formaler Hinſicht, da neben
der Sonatenſchablone, die no Weber (Sonaten, Steingräber, ME. 1.50) er—
findfam zu erfüllen vermochte, das freigefügte, poetiſche Klavierſtück aufkam.
In Deutihland madten Mendelsfohns „Lieder ohne Worte” den Anfang
(*Steingräber, ME. 1.—). In berjelben Ausgabe erihien aud eine Musmahl
feiner Hlavierfompofitionen. Unſerm modernen deutfchen Empfinden entiprechen
Schumanns phantafievolle, innige Klavierwerke allerdings mehr. Eine Aus:
wahl! bietet Steingräber (WE, 1.50); im einzelnen empfehle ich die Breitkopf—
fhen Ausgaben etwa in folgender Reihe: Jugendalbum und Albumblätter (*je
ME. 1.—), Kinderfzenen, (Waldfzenen, Arabeske, Blumenftüd, Romanzen, Nadt-
ftüde (je 5o Pf.), Phantafieftüde op. ı2 (ME. 1.—), Sonate op. 15, Davids:
bündlertänge 2 Bde., Garneval, Phaniafie op. ı7 (je ZU. 1.—). Bon Schu—
manns bedeutendfiem Schüler Th. Kirchner feien hervorgehoben: op. 7 Al—
fih’8 bier um Kameraderie. Uber warum wiſſen fie fo wenig von meiner
Dichterei? Weil in den elf Jahren, die der Kunſtwart jetzt beteht, fein Text
nod mit feiner einzigen Zeile über mid als Poeten geſprochen hat.
Wer damit vergleicht, was fonjt in deutichen Blättern üblich ift, wird dieſe
Thatfache etwas ungewöhnlich finden. Schliehli aber wend' ih mich als
Poet doch an diejelben Leute, wie als Zeitungsmann, denn ich thu es fo
und fo zum Menſchen ala Menſch, wobei Profa und Poeſie nur verfchiedene
Ausdrucksweiſen find, die ſich gegenfeitig ergänzen. Leſen nun bie Freunde
des Zeitungsmannes N. nie von den Büchern des Poeten W., fo iſt das mohl
auch ein unnatürlicher Zuitand, eine Künſtlichkeit, die eigentlich um fo jelt-
famer ift, ala man über meine Boeterei ihon viel mehr geichrieben hat, als
fogar über den Hunftwart. Das entichuldige die Ausnahme von dem, was
für uns Regel bleiben fol. a.
Kunitwart
— IS —
1
312 ®..
F, MATTHIES-MASUREN.
MÜNCHEN fec.
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
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Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
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HUGO HENNEBERG : WIEN fec.
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
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2) SINYd -AHDVNIG "N
bumblätter (Rieter-Biedermann, DE. 2.50), op. 9 Präludien (Ebenda, ME. 3.50),
op, 13 Lieder ohne Worte (ME, 4.—), Kirchneralbum (Hofmeifter, ME. 6.50),
von Bargiel „Drei Gharakterftüde”, op. 8 (Breitlopf, ME. 3.—), Jenfen,
Wanberbilder (Peters, ME. 1.50), Bolkmann op. 27 (* Schott, Mt. .—),
Raff op. 75 (*Riftner, ME. 1.—), ı62 (Ehallier, Mi. 7.50).
Bon frembländifhen Komponiſten bilden Field (Notturnos, Stein
gräber, Mi. 1.50), Chopin (Auswahl bei Steingräber, Mi. 1.40 eine vorzüg-
liche Gefamtausgabe in 3 Bden. zu 4 ME. bei Peters) und Stefan Heller
(op. 77, und 125 Breitfopf, je ME. 1.—) eine Gruppe für fi; eine zweite,
meiit von Mendelsfohn und Schumannn beeinflußte, die Nordländer: Gabe
mit anmutigen Rlavierfacdhen, befonders op. 36*, 19, 34, 41, 28, (Gefamtaus-
gabe, Breitlopf, Mt. 4.50), Hartmann op. 55*, 53 (Hanfen, je ME. 3.—),
Norman op. ı, 2, 5, 9, 1 (Ebendba), Grieg op. ı2*, 3*, ı7, 19 (Beters,
ME. 1.— bis 1.50). — Bennett op. ı0 (Siftner, ME. 1.75). — Tſchaikowsky,
Album (Steingräber, ME. 1.50).
VBierhändiges: Aus der vorangehenden Zeit ift nachzutragen: Mo—
zart, Sämtliche Originallompofitionen (Beters, Di. 2.—), Schubert, Ori—
ginallompofitionen, 2 Bde. (Breitfopf, je ME. 3.75), Weber, Originalmerfe
(Ebenda, DIE. 1.50). — Aus der romantifhen Beriode feien empfohlen: Schu—
mann, Originalwerke (Breitlopf, ME. 2..—), Volkmann, Mufilalifches
Bilderbud; (*Hiftner, ME, 2.—), Brahms, Ungarifhe Tänze, 2 Bde. (Peters,
je +.—), Händel-Varlationen op. 23 (Simrod, Mt. 4.50), Rob. Fuch s op. ı,
Zwölf Stüde (Dollinger, ME. 5.—), Dvorat, Legenden (Simrod).
Violine (mit Klavier): Mendelsfohn, Biolinfonzert (Breitkopf, DE. ı.—);
Schumann, Sonate op. 105 und 121 (Breitlopf, je ME. ı.—), Rubinftein. op. ı9
Sonate (Ebenda, Mt, 5.—), op. ı3 Sonate (Peters, Mt. 2.—), Babe, Sonaten
in A und D (Breitlopf, je Mf.4.—), Brahms, op. 78, 100 und ı08 (Simrod,
Mt. 7.50 und 8.—), Grieg, Sonate op. 8 (Peters, DE. 2.—), op. 13 (Breitlopf,
ME. 3.—), Dooral op. 57 (Simrod, Mt. 8.—).
Klaviertrios Neben den Trivos von Dtendelsfohn und Schumann
(Breitfopf, je ME. 3.—) find namentlid die Novelletten von Gade und das
Trio von Smetana (Pohle, ME. 12.—) zu erwähnen.
Streichquartette: Schumann, Quartette (Breitlopf, DH. 3—); Smes
tana, Aus meinem Leben (Peters, ME.5.—); Grieg (Ebenda, ME. 5.—), Rubin=
ftein op. 17 Nr. 2 (Breitfopf, ME. 5.—) Dvoraf op. 105, 106, (Simrod, Mt. .—).
Rlavierquartette: Schumann op. 47 (Breitlopf, ME. 1.20); Brahms
op. 25, 26 und so (Simrod, je Mi. 7.50).
Klavierquintette: Schumann op. 44 (Breitlopf, ME. 2.—); Brahms
op. 34 (Simrod, Mt. 7.—).
Opern. Hier empfiehlt fi natürlich wieder die Anfhaffung von
Klavierauszügen. Weber: „Freiſchütz“ (Litolf, ME. 2.—) Euryanthe (Breit
kopf, ME. 2.—), Oberon (Beters, ME. 1.50) und (Breitlopf, Mt. ı.—). Marſch—
ner: Sans Heiling (Peters, Mi. c.—), Templer (Peters, ME. 6.—), Nicolai,
Die Iuftigen Weiber (Litolf, ME 4.—). Lortzing, Ezar und Zimmermann
(Peters, ME. 3.—). Mendelsfohn, „Sommernadtstraum“ (Breitfopf, ME. 1.50).
Shumann, „Genovena* (Breitlopf DE. 4.—), „Vtanfred* (Mi. 1.50), Fauſt—
muſik (ME. 3.—).
Dratorien, Chorwerke. Mendelsfohn „Elias“ (Peters, DIE. 2.—),
Schumann, „Wöventlied* (Breitkopf, ME. ı.—), Paradies und Peri (Mi. 3.—),
Brahms, „Deutfches Requiem” (Rieter-Biedermann, ME. 7.—).
1. Dejemberheft 1398
Bieder Wo nichts anderes bemerkt ift, gibt e8 Ausgaben für hohe
und tiefe Stimmen. Weber, Lieder (Breitlopf, so Pf) Mendelssohn,
Yuswahl (ME. .—). Shumann, 4 Bände (je Mt. .—). Robert Franz,
s Albums (Peters, je ME. 4.—) Brahms, „Ausgem. Lieder.“ Band 2
(Peters, ME. 3.—). Die folgenden bei Simrod: op. 3 Nr. ı und 5. — op. 19
Nr. 3 und 5, op. 48 Nr. 2, op. 49 Nr. 4 (je MM. ı1.--), op. 85 Nr. 6, op. 86
Nr. 2 und 4, op. 96 Nr. 4, op. 97 Nr. 4 (je Mt. 1.50), op. 105 bis 107 (je
DE. 4.—).
Balladen: Freunde biefer gefunben, in unferer Hausmuſik noch viel
zu wenig gepflegten Gattung vermweife ich auf die Boeme- Albums, Bb. ı, 2
(Beters, je ME. 4.—) Bd. 3—6 (Schlefinger, je Mi. 4.—), Bb. 3-6 (Schlefinger,
je Mt. 4.—). Grimmer, Balladen und Romanzen (Breitlopf, Mt. 3.—), Pludde⸗
mann, Balladen, 5 Bände (Nürnberg, Schmid, je DIE. 4.—).
3. Neudeutſche Muſik.
Klavier. Die neudeutſche Muſik iſt beſonders auf pianiſtiſchen Gebiete
von folder Schwierigkeit, daß fie wie in Liſzts epochemachenden Werten,
felbft tüchtigen Spielern faum zugänglich ift. Zur eriten Beichäftigung damit
diene das Liſzt-Album (Breitkopf, ME. 1.50). Eher eignen ſich die vierhändigen
Klavierbearbeitungen moderner Orcheſterwerke fürs häusliche Muſizieren, ob=
ſchon fie gleichfalls eine große Fertigkeit vorausfegen. Lifzt, Fauftfygmphonie
(3. Schuberth, Mt. 12.—); die fämtlihen jymphonifhen Dichtungen für zwei
Klaviere bei Breitlopf (2 Bbe,, je ME. 10.—); Ungarifhe Rhapfodien, zhändig
(Senf, je Mt. 3.—). Wagner, Fauftfymphonie (Breitlopf), Kaiſermarſch
(Peters, ME. 1.50), aud) zweihändig wie das Siegfried-JdyN (Schott, Mk. 3.50)
und Huldigungsmarid (Schott, ME. 1.50). — Zu vier Händen ferner: Brudner
8 Symphonien (Wien, Eberle, je Mi. 12.—). Mahler, C-moll Symphonie
(Weinberger, ME. 8.—), Ri. Strauß, Symphonie F-moll (Aibl, ME 8.—),
Aus Italien (Di. 8.—), Don Juan, Tod und Verklärung (je Mt. .—).
Mufildramen: Bor allem natürlid) die von Wagner im Klavier—
außzug: Holländer (Fürjiner, Mt. 10.—), Tannhäufer (Ebenda, ME. 12.—),
Rohengrin (Breitlopf, ME. 9.—), Zriftan (Ebenda, DE. 10.—), Rheingold (Schott,
Mt. 10.—), Walküre (ME. 12.—), Siegfried, Götterbämmerung, Bteifterfinger,
Barfifal (je ME. 135.—). — Eornelius, Barbier v. Bagdad (Kahnt, Mi. 8—),
Sumperdind, Hänjel und Grethel (Schott, ME, 10.—), Alex. Ritter,
Der faule Hans (Frisih, ME 10.—), Wem die Krone (Aibl, ME. 10.—),
Shillings, Ingwelde (3. Schubertb, ME. 153.50).
Ausland: Bizet, Carmen (Bote & Bod, ME. 17.—), Verdi, Traviata,
Rigoletto, Troubadour (Peters, je ME. 6.—), Aida (Bote, ME. ı13.—), Falitaff
(Mi. 16.—), Smetana, Verfaufte Braut (Bote, ME. 16.—), Rubinftein, Mac—
eabäer (Senff, ME. 16.—).
Chorwerke, DOratorien u. ſ. w. Liſzt, Graner Meſſe (Kahnt),
Heilige Eliſabeth (ME. g..—), Chriſtus (ME. 12.—). — Bruckner, Te deum
(Rättig, DU. 1.50), Ceſar Franck, Seligkeiten (Brandus, DH. 20.—), Tinel,
Franziskus (Breitkopf, ME. 17.—).
Lieder. Nur das bedeutendſte kann hervorgehoben werden. Lifzt,
Sämtliche Lieder (ahnt, ME. 12.—), Bagner, Acht Gedichte (Schott, ME, 3.25),
Weg. Ritter, Schlidte Weifen (€. 5. W. Siegel, ME. 1.25), Fünf Lieder
(Fritzſch, ME. 2.40), 9. — Rich. Strauß, op. 19 Heft ı (ME. 1.50), op. 27
Nr. 2—a4 (Mi. —.so bis ME. 1.20), op. 29 Nr. ı (ME. 1.20); Hugo Wolf,
Kunftwart
_ 18 —
Mörikelieder (Hedel, ME. 25.—, aud) in ı0 einzelner Heiten ), Goethelieder,
12 Hefte (Ebenba, Mi. 2.25 bis MM. 3.75; Hans Sommer, op. 11, Balladen,
2 Hefte (Litolff, je ME. 1.50), Aus dem Süden (Mi. 1.50), Rattenfängerlieder
(2 Hefte je ME. 1.20).
Bücher über Mufit.
Mufitgefhihte: Kiemann, Ratehismus der Mufilgefchichte
(Helle, ME. 3.—). Muſiklexikon (Ebenda, Mt. 12.—, Banghans, Mufil-
geihichte (Leudart, Mi. 24.—).
. Muſikkritik: Kretzſchmar, Führer burd ben Honzertfaal (Breit
forf, 2 Bde. je ME. 5.50), Bultbaupt, Dramaturgie der Oper (Breitlopf,
Mt. 10.—), Keigel, Führer duch die Oper. Nur ben ı. u. 2. Bd. (Liebes-
find, ME. 11.—), BfoHl, Die moderne Oper (Reisner, ME. « —).
Bermiihte Schriften: Ambros, Bunte Blätter (Leudart,
Mt. 4.—), Spitta, Zur Muſik (Paetel, Mk. 10.—).
Einzelſchriften und Biographien: Bad, v. Spitta (Breit
topf, ME. 36.—), Batla (Reclam, 20 Pf.), Händel, v. Ehryfander (Breitkopf,
ME. 18.60), Volbach (Harmonie, ME. 3.50), Haydn, v. L. Schmidt (Harmonie,
Mt. 4.—), Gluck, v. Marc (Janke, ME. 10.—), Mozart, v. Jahn (Breit-
topf, DH. 32.—), Briefe (Ebenda, Mt. 9.—), Beethoven, v. Nohl (Reclam,
20 Pf.), Briefe, 2 Bde. (Breitfopf, je Mt. .—), Lo ewe, v. Bulthaupt (Hars
monie, ME. +.—), Shyumann, v. Reimann (Peters, DE. 3.—), Batla (Reclam,
20 Pf.), Jugendbriefe (Breitkopf, Mt. 7.—, R. Franz, v. Prodazla (Reclam,
20 Pf.), Geſpräche mit R. Franz, v. Waldınann (Breitlopf, DIE. 3.—), Brahms,
v. Reimann (Harmonie, DE. 3.50), Bifät, Briefe, 3 Bde. (Breitlopf, ME. 19.—),
Briefe hervorragender Zeitgenoffen an Lifzt (Ebenda, ME. 14.—), Briefwechſel
mit Ri. Wagner (Mt, 24.—), Wagners Briefe an Uhlig, Fiiher und Heine
(Mt. 7.50), an Roedel (DIE. 2.—), an Hedel (Fifcher, Berlin, ME. 3.—), Erinne⸗
zungen an R. W. von 9. v. Wolzogen (Reclam, 20 Pf.), Biographie v. Glafenapp
(Breitlopf, ME. 18.—), Ehamberlain, Das Drama R. Ws (Ebenda, Mi. 3.—),
Bülow, Briefe, 4 Bde. (Breitlopf, je Mt. 7.—).
Schriften berühmter Mufiter: Weber, Schriften (Reclam, 20 Pf), Shu>
mann (Reclam, DH. 2.50), Liſzt, 6 Bde. (Breitlopf, ME 4—6), Wagner,
10 Bbe. (Fritzſch, Mk. 25.—, Nachgelaffene Schriften und Didtungen (Breits
fopf, Mi. 6.—), Bülow, Schriften (Ebenda, ME. 2.—), Berlioz, Schriften,
deutſch, + Bde. (Mi. 10.—).
Neue Muſikalien.
Erſte Shidt.
Faft graufen kann's Einen, wenn man auf dem Redaftionstifh ben
geftapelten Berg frifch eingelaufener und fhon nad flüchtiger Durchficht größten
teil8 wertlofer Noten anfchaut, die von Tag zu Tag gebieterifcher zu fragen
ideinen: Weihnachten fommt, wann werben wir befproden ? Nad) dem Feite
hat's doch beinahe feinen „Zmwed* mehr! Alſo faßt fich der Referent ein Herz,
arbeitet den ganzen Stoß in einigen Abſätzen durch und ftellt dann das, was
fich über das Mittelmäßige und Intereffeloje erhebt, mit einigen Gloſſen ver-
fehen, hübſch zuſammen. Ultra nemo teneatur!
Gleich obenauf liegen, als bie leichteite Ware, bie Lieder. Anfänger im
Gefange intereffieren vielleicht die von M. Friedländer herausgegebenen „so Uns
terrihtslieder“ (Peters, ME. 1.50, hoch und tief), e8 find auch einige jehr
bübfche wie Hinrichs „Prinzeffin“ und das volkstümliche „Rätjellied”" drunter,
1. Dezemberheft 1898
— 19 —
bie noch feine andere Anthologie enthält. Sorgfame hiftorifche Nachmweife und
eine praftifche Taftlehre im Anhang vervollftändigen ben Wert bes Heften,
Eine von Th. Hauptner redigierte Sammlung von Dratoriens und Opern«
buetten wird in manchem mufifliebenden Haufe nit unwilllommen fein. Diefes
„Duetten- Album” (Eulenburg, 4 Bde, je Mt. 3.—) empfiehlt fih auch
dadurch, daß es viele ſchöne Stüde aus Werken enthält, die jegt nicht mehr
auf dem Spielplane unferer Theater ftehen, 3. B. aus Opern von Sacdjini,
Weigl, Gimarofa, Bellini, Garafa, Paer u. a. — Das angeblid Bach ſche
Lied „Willft du dein Herz mir ſchenken“, das Viele als ein Wert bes Jtalies
ner8 Giovanini hinſtellen, tft nun auch im beutfhen Vieberverlag (Breitlopf
30 Pf.) erfhienen. Um auch „Lieder moderner Meifter“ ohne große
Koften zugängli zu maden, gab E. Rebling unter diefem Titel ein Album
(Leipzig, Weinholz Mt. 2— hoch und tief) heraus, das 25 Lieder von
Deutfhen (Marfchner, Lifzt, Jenfen, Laffen, 9. Sommer, Hermann, Woyrſch),
Sranzofen (Godard, Bounod) und Slaven (Chopin, Rubinftein, Tſchaikowsky)
enthält. Die Idee ift an fi gut; an ber Ausführung hab ich vor allem das
Uebergehen unfres größten modernen Lieder-flomponiften, Hugo Wolf, zu bes
mängeln. Daß der in diefer Eigenfhaft wenig befannte Marfchner zu Worte
fommt, mag hingehen; wie aber gerät ber in allen Albums vertretene Chopin
und gar Meyerbeer unter die Propheten, will fagen modernen Liebmeifter ?
Franfreih müßte doch aud) durch Fauré, Deutichland noch durch Komponiiten
wie ler. Ritter und Strauß vertreten fein. Mögen das fpätere Bände nach—
holen! Bon andern Neuheiten nenne ih Aug. Ludwigs „Sängerfrieg” (Beips-
ig, Hofmeifter), eine Liederreihe, aus ber das famofe, dem Berliner Muſikſenat
ironifch gewidmete „Natur und Kunſt“ (ME. 1.—) hervorgehoben fei. Wenn’s
die Berliner Mufil- Mlademifer nicht zu ihrem Bundeslied erfiefen. und bei
allen Ausflügen und Stneipabenden mit voller Begeifterung anftimmen, ver—
dienen fie nicht, jung zu fein. — Eine befondere Spezies bilden „Rezenfentens
Lieder”, das find von namhaften Mufikfritifern komponierte Gefangsitüde,
buch deren Vortrag fonzertierende Sänger beibderlei Geſchlechtes den Autor
auf deutliche Art ihrer ungemeinen Hochſchätzung verfihern können. Auch Ferd.
Pfohl, der Sritifer der „Hamburger Nachrichten“ Hat mit feiner Engel-Sere—
nabe (Leipzig, Eulenburg, DH. 1.50) nur einen ſolchen Reſpektmeſſer verfertigen
wollen; er macht ſonſt beifere Mufil. Zu diefer gehört übrigens eine leichte,
ſüße Stimme und ausgebildete Sangeskunſt. — In anderem Sinne Spezialität
find Bantocks „Chinefifche Geſänge“ (Breitlopf u. Härtel, DE. 21, die einen
auch wirklih ganz „chineſiſch“, d. h. unverftänblid annıuten, obzwar man
leider nicht recht erfehen fann, ob man’s mit Originalmelobdien oder mit Imi—
tationen zu thun hat. — Die jüngſt erfchienenen Lieder von Rihardb Strauß
und Sigmund von Haufegger werden von anderer Seite beſprochen
werben. Ein fräftiges modernes Talent ift auch Karl Gleitz, wenngleich feine
eigentliche Stärke gerade im Lyrifchen nicht liegt. Ich erwähne von ihm die
„Zwölf Lieder“ op. 2 (drei Hefte je ME. 2.50) und die „Acht Lieder“ op. 12
(drei Hefte ME. 2.50, MH. 3.— und ME. 2.50) im Berliner Verlag Groscurth.
Der Wert der einzelnen Stüde ift fehr ungleih, Hart neben fehr Eigentüms
lihem ſteht manches faſt konventionelle, auf die Wahl der Texte ift ebenſo⸗
wenig immer Sorgfalt verwendet wie auf richtige Dellamation. Am bedeus
tenditen und originelliten erfcheint mir das Lied „Mit findli großen Yugen“
(op. ı2, Seit ı), ein merfwürbiges, einer ganz individuellen Künftlerphantafie
entfprungenes Gebilde, das feinen Autor fogleih aus ber Reihe ber Dußend-
Kunftwart
— 10 —
tomponiften heraushebt. Ueberdies kamen von Gleitz foeben „Vier Lieder”
op. 20, auf Gedichte von Vanſelow bei Bote & Bod in Berlin heraus, von
denen „Idyll“, „Abendftunde* und „Sommer“ intereffant zu fein fcheinen.
Bon biefen Gefängen zu den Klavierftüden bildet die von Richard
Strauß komponierte melodramatifhe Muſik au Tennyſons „Enoch Arden“
(Leipzig, Rob. Forberg, ME. 5.—) den natürlichen Uebergang. Ich gehöre nicht
zu den Liebhabern des rührfeligen Gebichtes, aber die Kompofition Straußens
zählt mir zwar nicht zu feinen genialften — aber bod zu feinen anmutigften
Schöpfungen. Sie entwidelt fi) aus menigen, fehr plaftifchyemelodifhen und
ftimmungshältigen Motiven, die mit jeder Wiederholung und neuen lImbil-
bung reicher an feeliihem Ausdruck erjcheinen und den Schluß in wunderbarer
Keinheit und Innigkeit ausklingen laffen. Die Harmonif ift, wie immer bei
Strauß, fehr originell, befonders in dem Andanteſatz zu Anfang des zweiten
Zeile. Wer Wilhelm Bergers Liederzyflus „Eliland“ kennt, dem wird eine
frappante Uebereinftimmung bes Irmingartmotivs mit ber Liebesmelodie im
Straußifchen „Enoch Arden“ auffallen und neuerdings bezeugen, wie ganz zu—
fällig oft die Phantafie zweier Tondichter die nämlichen melodifhen Gebilde
hervorbringt und meld) unfidheres Handwerk eigentlich die Remiszenzenjägerei
barftellt.
Klaviermufil! Die Zahl der Einläufe ift Legion, daß einigermaßen
Mertvolle an Fingern abzuzählen. Guten Spielern wird Eugen d'Alberts
„Intermezzo und Ballade* (Peters, DE. 1.50) Vergnügen maden; dem Walzer
(Ebenba, 1.50) fehlt leider das Beſte: Der Segen einer ausgewachſenen Melodie.
Das Eduard Risler gewidmete „Scherzo* (Ebenda, DE. 1.50) d'Alberts dürften
aber nur Birtuofenhände von A bis 3 bemältigen. Dasfelbe gilt von ber neu
herausgegebenen Romanze von Joſ. Wieniamstki op. 10 (Breitfopf & Härtel,
ME. 1.50). Ein brillantes, aud) für eine geringere Technik erreichbares Klavier—
ftäd ift Sinbings „Frühlingsraufhen“ (Peters, ME. ı.—). Geilt und Kurz—
meil findet man in bem „Mufitalifhen Scherz‘ von Karl Gleitz, prächtige
Variationen über das Thema eines Laien (GroscurtH, ME. 2.50). Die bei
Sefeda in Mailand verlegten Hlavierjtüde von Boſſi nenne ich deshalb, weil
ihre Gehaltlofigkeit ebenfo groß und auffallend ift, wie die Darüber gefchlagene
Preßreklame.
Violinſpielern dürften die von Sitt herausgegebenen ‚Vortrag—
ſtücke Haffifcher und moderner Meiſter“ mwilllommen fein (Leipzig, Weinholz,
2 Bde. je Mi. 2.—). Sie enthalten Violinſätze von Bad, Corelli, Nardini,
Händel, Mozart, Node, Ernit, Schloeffer, Laub, Sauret, Spohr, Holländer,
Svendſen u. a., Die „Arie“ von Beracini joll bier zum erjten Male veröffent-
Kit fein. Derfelbe Verlag fendet uns auch Quintuors für Piano, 2 Violinen,
Gello und Flöte, die, wie der Gefamttitel Hauskonzert“ andeutet, zur Unter—
haltung im häuslichen Kreiſe beftimmt find und als Borftufe zur Ausführung
Haffifher Kammermerke dienen follen. Die „gefunde mufifalifche Koft“, welche
diefe Arrangements zu bieten glauben, wird durd die Aufnahme des Meyer—
beerfchen Prophetenmarfches mindeftens verdächtig.
Schließlich ſei noch auf die bei Dupont in Paris erſchienene Partitur
des Borfpiels zu dem Mufildrama „Urmor* von Lazzari hingemiefen, die
mir mit ihrem Format die erfte Schicht des hohen Notenberges äußerlich ab—
grenzt. Nach einigen meitgefpannten, geheimnisvollen Akkorden ber fordinier=
ten, mehrfad) geteilten Streicher fteigt in den Kontrabäſſen der breite, eintönig-
dumpfe Gefang bes Meeres auf, von ben Holzbläfern fanonifh aufgenommen
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WIE EEE TTS UOTE Tara
und zu raufchender Fülle im Unijo gelteigert. Dann ebbt die Flut wie am
Strande gebrohen, in veränderter Bewegung zurüd, die Wellen jheinen ſich
glätten zu wollen und ſchlagen, endlich in ben Bläſern wieder anjchmellend,
in der rhythmiſch umgeftalteten, melandoliih austönenden Meermelodie, bis
der eingetretenen Siille ein heroiiches Motiv entipringt. Armor meint e8, ben
verheißenen Helden, der die Wogen bezwingen und König Urtus glorreiche
Krone tragen fol. Alles Hoffen der keltifhen Lande ringt fih in einer feu—
rigen Violinpaſſage hervor, doch umfonft. Der fehnfühtige Auf nad) Armor
verballt in leere Fernen, und troftlos rollt der eintönige Geſang des Meeres
weiter. — Ohne Frage eines der poetifheiten und im Ausdruck überzeugenditen
orcheſtralen Stimmungsbilder aus ber jungiranzöfiihen Komponiſtenſchule,
der Lazzari angehört. R. B.
Neueſte Muſikliteratur.
Der Ertrag an neuen Büchern über Muſik iſt in der diesjährigen Weih—
nachts⸗Erntezeit ſpärlicher als ſonſt. Zwar hat 3. B. Breitkopf & Härtel eine
Reihe ſchon dem Titel nach intereſſanter Erſcheinungen angekündigt, aber her—
ausgekommen iſt bis zur Stunde noch wenig davon. Was einſtweilen vor—
liegt, kann allerdings als willkommene Bereicherung der Literatur gelten, ſo
vor allem Mar Grafs Buch über die „Muſik im 19. Jahrhundert” (Berlin,
Cronbach DH. 2.—) als erjter Verſuch, eine Ueberfiht aus der Vogelfhau über
die Gefhichte der neueren Tonkunſt zu gewinnen und fcharf umriſſene Sil—
houetten ihrer wihtigiten Perfönlichkeiten zu zeichnen. Den äußeren Gang ber
Entwidelung weiß Graf hübſch zu veranſchaulichen. Er fchreibt fehr anregend,
— aber mit der verftimmenden Abſicht, durch große Worte, kühne Antithejen
und Parallelen zu Blenden und zu verblüffen. linter vielem Gefuchten finden
fih immerhin aud treifende Gedanken und gute Beobadtungen. Als unge—
mwöhnlich fällt auf einerfeits das harte Urteil über Schumann, anderfeits Die
liebevolle Beihäftigung mit Brudner.
Die Berliner Berlagsgejellihaft Harmonie läht den bereits erfchienenen,
prädtig außgeftatteten biographiſchen Büchern über Brahms, Händel und
Loewe ein Lebensbild Haydn aus der Feder L. Schmidts nadjfolgen, die
fih nicht bloß durch die vielen intereflanten Bild- und Fakſimile-Beigaben,
fondern aud) durch wiſſenſchaftliche Zuverläffigkeit und gute Schreibweife em—
pfiehlt. Da die Haydnforſchung durch Pohls grundfegende Arbeiten in allem
Wefentlihen abgeſchloſſen iſt, erwuchs dem Berfaffer die Aufgabe, das be=
fannte Material zu fihten, zu durchdringen, zu veranfhaulihen, und vom
kunſthiſtoriſchen Gejihtspunfte zu beleuchten, was ihm ungeachtet einer ge—
willen Trodenheit des Tons auch wohl gelungen iſt. Schmidt legt den Nach—
drud auf die Entmwidelung bed jungen Haydn. Der jpätere, nahmozartifche
Haydn, jagt er, ijt allgemein befannt; an ihn Inüpft ſich die Vorſtellung feiner
Perſon als eines alten Mannes. Und bei aller Liebe zu dem Gegenftand
feiner Schilderung behält Schmidt bie Unbefangenheit zu verjihern, daß
Haydn als Menſch keine bedeutende Berfönlichleil gemeien fei. Elf Porträts
bes Somponiften, 7 Yallimiles und 20 andere Abbildungen fowie ein halbes
hundert Notenbeifpiele illuftrieren das fhön gebunden zum Preife von 4 Mt.
außgegebene Bud, und ein Verzeichnis der Haydnſchen Tonwerke vervolljtäne
Digt e8 in banlenswerter Weije.
Andreas Mofer, obwohl „nur ein Geiger“ (mie er im Vorwort
nit ohne Humor verfidert), hat eine Biographie feines Lehrers „Joſef Joa=
Konftwart
— il —
him“ (Berlin, E. Bod, Mi. 5.—) verfaßt, die gleichfalls mit Bildern und
Fakſimiles geſchmückt und fehr gewandt ftilifiert ift. Der Reihtum an neuen
Daterialien macht dieſes Werk gu einer wertvollen Duelle für die Muſikge—
Thichte der fog. neudeutſchen Zeit. Der Beurteilung von Perfonen und Kunft-
rihtungen gegenüber fann ich hier — ba e8 an Raum zur Wiberlegung fehlt
— eben nur meinen entgegengefegten Standpunft betonen und auf die Zweifel—
Haftigfeit mander angezogenen Autoritäten wie Hanslid u. f. mw. vermeifen.
Die Verfuche, Joahims Verhalten in der Wagnerfrage zu befhönigen, dürften
Niemanden überzeugen.
Wer ſich für die Kehrfeite der Medaille intereffiert und die Stimmung
tim andern Lager kennen lernen will, bem bietet der eben erfchienene britte
Band der „Briefe Hans von Büloms“ (Breitlopf & Härtel, Mt.r.—) bie
befte Gelegenheit dazu. Sie umfafjfen die Zeit von 1855 bis 1864, ftehen den
voraußgegangenen inhaltlih an Bedeutung nit nad und find an Raff, Zul.
Stern, Rich. Pohl, Bronfart, Draefele, Cornelius, Brendel, Aler. Ritter, Louis
Köhler, Jenſen, Laffen, Wied u. a. geridhtet. Wir erhalten einen klaren Ein=
blid in das Getriebe der muſikaliſchen Bewegung jener Zeit, Bülows Geijt
fprüht bligende Funlen und verfengt mit brennendem Spott jeine Widerfa cher.
Lilzt und Wagner ftehen im Mittelpunft, Inappe Anmerkungen von der weiten
Gattin Bülows helfen bem Verſtändnis dunkler Anfpielungen auf vergeffene
Vorfälle nad. Und fo kann die alte Verlegerphrafe, daß das Bud in feines
Mufiffreundes Bibliothek fehlen dürfe, in diefem Fall einmal ganz ehrlich ge=
braudt werben.
Ein ſchönes Geſchenk für Wagnerianer und jolche, die e8 werden wollen,
find Rihard Wagners „Briefe an Emil Hedel* (Berlin, S. Fiicher, ME. 1.50),
die ſowohl wertuolle Dokumente zur Entitehungsgefhicdhte der Bühnenfejtipiele
in Bayreuth enthalten, wie fie zahlreiche in fünftlerifcher Beziehung intereflante
Aeußerungen und menſchlich charakteriitiihe Züge des Meiſters überliefern.
Die Briefe find nicht blank aneinandergereiht, fondern durch die fortlaufenden
perfönliden Erinnerungen Hedels verbunden, was das Lefen anziehender und
den Inhalt lebendiger macht. Sehr bemerkenswert, wenn aud) bem genaueren
Bagnertenner kaum befremblich, erfcheint der Sag: „Wagner hegte eine große
Antipathie gegen Menfhen, melde nur das Willen und die Bildung befahen,
ohne fich felbft als mwandlungsfähig zu ermweilen. Dagegen jchäßte er jede
unmittelbare Gmpfänglidleit. Als ih) ihm einmal meine Abficht kund—
gab, dur das Studium Schopenhauers mir feine Werke auch auf anderem
Wege zu erſchließen, da lachte er mich aus.”
Ein näheres Eingehen auf dies ober jenes aus dem kurz Erwähnten
behalten wir uns jelbitverftändlich vor. R. B.
IB
Weber Kunstpflege im Mittelstande.
10. Die Rahmen.
Der Rahmen ift aufzufaffen als die deutlich fihtbar gemadte Grenze
der Bildfläche, welche die Bilderfheinung gleihjam feit zufammenhält, Wie
wichtig diefe Funktion ift, wird man am beiten dann jehen, wenn man ein
Bild mit und ohne Rahmen nadjeinander betrachtet. Auch beim fefteltgefügten
Rhythmus der Linien und Flächen innerhalb des Bildes hat man durch das
Hineinmwirken ber Umgebung das Gefühl, als möchte das Bild zerfliehen, wäh—
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— 15 —
rend durch bie Begrenzung eines anderen, anders gearteten und anders ge—
färbten Materials die Darftellung von ber realen Außenwelt fräftig abge-
fchloffen und dadurch zur fleinen Welt für fi, zum Bilde wird,
Alſo einfah als fihtbar gemorbene Grenze ilt der Rahmen zu be—
traten. Faft immer thut diefen Dienft eine ſchmale Fläche, deren Farbe
im Bilde ſelbſt nicht vorkommen darf, Denn nur bann kann ja
ber Rahmen gut die Welt begrenzen, die im Bilde lebt, wenn diefe Welt
fi nit in fie hinein fortfegt, fondern an ein neues ftößt. Es iſt leicht er—
ſichtlich daß man Schon deswegen ftetS gern zum Gold als Farbe für Rahmen
gegriffen bat: das ift ein Ton, der zum mindeften in feiner Materialwirkung
im Bilde höchſt felten vorfommt. Ferner that man's aud) wohl, weil das
Gold in feinen Lichtern eine Leuchtkraft und Stärke des Tons bat, der weit
über jeden mit Farben erzgeugbaren Ton hinausgeht und dadurd ben Unter-
ſchied zwiſchen der realen Außenwelt (von welcher der Rahmen ja ein Stüd
ift) und ber nit realen Bilbmwelt bejonders betont. Daß das Gold in
ber gefhmadlofeften Weife mißbraucht wird, ift eine Thatfache, Die aus dem
Progen ftanımt, aus dem Blenden und Prunken, die VBerwerflichfeit der Gold—
rahmen für alle Fälle aber body mit Nichten bemeift.
Mikbraudt worden aber ift der Goldrahmen als der Vermittler zwiſchen
Bild und umgebendem Raum in der That [ehr viel, e8 wird gerade mit Gold—
rahmen noch heute alltäglich gefündigt und oft genug fogar von fonft tüch—
tigen Künftlern. Wie uns bie fchledte papperne Ornamentik gemiffer Möbel
und Deden ein Greuel geworden ift, ſo ift e8 auch die papperne Herrlichkeit
der Goldrahmenornamentif geworden, die nod) heut leider gang und gebe ilt.
Und wenn man an feiner andern Stelle eines ſchlicht- vornehmen Zimmers
hänbebreites Goldprogentum haben mag, jo follte man's aud; um bie Bilder
vermeiden. Es gibt hier ein Endweder-Oder. Entweder ber Rahmen will
nihts fein für fi, fondern nur die Begrenzung ber Bildflähe, — dann hat
er feinen Anfprud) auf eigene Bedeutung, und eine ſchmale, vielleicht ganz
leicht gegliederte LXeifte (die von Gold fein kann, wenn das Gold als Ber-
mittler zwiſchen Bildton und Raumftimmung taugt) genügt dann. Oder:
der Rahmen foll mehr fein — dann wächſt er fid) zum felbitändigen Kunſt—
werk aus, dies aber verlangt, bat er auch nicht von irgend einem Fabrilanten,
fondern vom Künſtler felber und zufammen mit dem Bilde entworfen fein.
muß*, mit dem er dod) eine innere Einheit bilden fol, Die vordringlid)
breiten, mit einem Hleinlihen Ornament überlabenen Goldrahmen, die ben
ihönen Namen „Aunfthändlerrahmen* führen, find immer vom llebel. Man
war eine Zeitlang in Sachen angewandter Hunft fehr aniprudslos; man hatte
eben feine Kräfte nie auf diefe® Gebiet gerichtet, Daher kommt e8, ba
wir oft Werke von ausgezeichneten Künftlern in folchen Rahmen finden —
unfere Galerien wimmeln ja davon. Sicherlich haben fid) damals die Maler
meift faum um die Rahmung gelümmert, dafür „forgte* der Kunſthändler. Und
aud) heute noch fönnen fo viele von der ihnen nun ein Menfchenalter ge=
wohnten und dadurch felbftverftändlich gemorbenen Stonvention nicht los—
fommen.
Obwohl nun Gold die Färbung hat, die am häufigften paßt, gibt es
doch nod) eine Menge anderer Töne, die als Vermittler ebenfo gut und mand)=
* linfere Bilderbeilage in Heft 3 nad) Ludwig v. Hofmann möge als
Beilpiel für dieſe Ausnahmsfälle dienen.
Kunftwart
— 1 —
mal auch beijer zu brauden find, Ein dunkel getönter Holzrahmen wird oft
weit feiner wirken (id) erinnere an die fchönen alten dunfelxoten polierten
Mahagoni-Rahmen), aber auch jede andere Farbe ift zu brauchen, die im ein-
zelnen Falle der Bildflähe Abſchluß und Ruhe bringt. Ober man kann aud
eine Verbindung von folhen Tönen und Gold bieten, indem man einen
ganz fhmalen, Halbfingerbreiten Glanzgolbftreifen innen einfügt. Welche
Skala liegt doch zwiſchen dem glänzendſchwarz polierten und dem jtumpf
weiß getönten Holzrahmen. AU die Metallpatinatöne, die in ihrem bißfreten
Schimmer fo große foloriftifche Reize haben; und felbft ausgeſprochene Farben
find, immer unter der Vorausfegung, daß ihr Klang im Bilde nicht wieder-
fehrt, zu brauchen.
Ueber die Formen felbft zu reden, iſt unmöglid. Es gibt feine zu
normierenden Formen: jede Form, bie fünftlerifch ift, hat an irgend einem
rihtigen Platz ihre rihtige Verwendung. Dak man feine Plunderware, mie
die einft jo beliebten mit Sand beftreuten und dann vergoldeten Bretirahmen
in fein Zimmer hängen mag, ift felbftverftändlid. Daß an manchen Stellen,
bejonders aber bei Heinen Bildern, ganz breite Rahmen, die dem Ganzen
dann mehr Fläche geben, fehr gut angehen, ſei nebenbei bemerkt. Mir wollen
ja keine Rezepte geben, was in Geihmadsdingen immer von Uebel ijt, da ber
Geſchmack fi gerade im feinjten Individualiſieren bethätigen will.
Der Gebraud), Kleinere Kumftblätter und Reproduftionen ohne meißen
Nand zu rahmen, ift weit mehr als eine bloße Mode. Denn der weiße Rand
(der ſich von ſelbſt ergibt beim KHupferdrud) tft Schon ein Rahmen und zwar
der natürliche für die Mappe und das Bud: er bildet hier die ftarfe und be—
tonte Begrenzung der Bildflähe. Um dieſen erften Rahmen nun nochmal
einen zweiten zu maden, jcheint doch mit Berechtigung miderfinnig. Nun
aber: e8 wird nur fehr felten im Intereſſe der beforativen Wirkung erwünfcht
fein, auf der Wand große weiße Flächen zu haben; wozu alfo bei Blättern,
die an fid) gar feinen Plattenrand haben, dieſen weißen Papierrahmen her—
ftellen ? Wenn im Intereffe der Vermittlung zwiſchen Bild und Raum wirklich
ein weihliher Klang notwendig wird, fo wird die nächſtliegendſte Löfung
fein, den feſten Holzrahmen weiß zu tönen. Will man, falls dies beforativ
auläffig ift, den Plattenrand eines Kupferbruds, der im Zimmer aufgehängt
werben fol, erhalten, fo ift das Natürliche, diefen Rand felbft als Rahmen
zu benugen: durch ein Glas gebedt, bedarf er dann nur eines haltgebenden
Abſchluſſes, der in einer unauffälligen weiten Holzleijte, oder, zur Not, in
einem umzgellebten Leinwandſtreifen beftehen mag.
Bei einfarbigen NReprobuftionen nad) Gemälden, befonders bei Photo—
graphien oder Photogravüren nad) Delbildern ift aber der weiße Rand unbe
dingt vom Uebel. Berlei findet jedenfalls die befte Rahmung in einer wie
beim Original eng anſchließenden Leifte, die recht gut in Gold oder aud) in
einem andern Farbenton gehalten fein fann — wie das cben zum Ton des
Drudes paßt.
Noh einen Punkt möchte ich berühren: das Glas über dem Bilbe.
Man Hat viel Einwände dagegen gehabt, jo befonder8 den einen, daß bie
Spiegelung des Glafes das Bild nit recht fihtbar werden ließe. Mein
Standpunft dazu ift der: ich bevorzuge das Glas nicht etwa in erjter Linie
der befleren Erhaltung des Bildes wegen, fondern feiner rein äfthetifchen
Wirkung halber. Ich finde, daß durch das Glas das Bild noch viel mehr der
realen Außenwelt entrüdt wird, eine neue Welt bildet, die nun, nachdem ung
1. Dezemberheft 1598
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die Hörperhaftigleit des Farbmaterials ferner gerüdt, ganz durch die Scheibe
getrennt, wie ein Traum vor uns liegt. Schadet e8 wirklich jo viel, daß die
Scheiben dann und wann mehr jpiegeln, als es Die Bilder ohne Scheiben
täten? Ih Bin manchmal verfuht, darin geradezu einen beforativen
Reiz mehr zu erbliden. Denn an und für fi ift das Spiegeln eine feine
Lichterſcheinung. Will man aber das Bild als ſolches intim genieken, fo
wird man doch ſtets den ridhtigen Play aufſuchen, von dem aus meder das
Glas noch auch das Bild ohne Glas ſpiegelt.
Ueber die Umgebung bes Bildes, ben „erweiterten Rahmen“ habe ich
ſchon geiprodhen. Jh will hier nohmals daran erinnern, dab es dem formalen
und farbigen Rhythmus eines Bildes faum gut thun fann, wenn darum
große Tapetenblumen flattern. Denn das Bild foll das Leben in die Wand
bringen, fol gleihfam ihre Seele werden. Shulge-Taumbura.
IE
Lose Blätter.
Konrad Ferdinand Meyer +.
Nun ift auch Konrad Ferdinand Meyer nicht mehr.
Sollten wir ihm eine Leichenrede halten? Ja, wir follten’s, wir follten
ihm ins offene Grab den Dank nadırufen für Alles, was er uns war. Aber
mir empfinden ben, der nun erlöft ift von ſchweren Leiden, heute mehr als
einen Lebenden, denn feit Jahren: in voller Manneskraft jtcht er feit heut
mieber vor uns. Stehren wir ein bei Dem Konrad Ferdinand, der nidjt ge
ftorben ift, und lauſchen wir, wie er ſpricht, während die Züricher Gloden
vom Tode deſſen fingen, ber hinging.
Lauſchen wollen wir ihm heute, wie er von fich jelber fpriht. Nicht
abermals bejchauen den „Goldbrofat“, wie Keller fagte, der ftolgen Gewebe
feiner epiſchen Schilderkunſt. Wir mollen fein Bild betrachten, wie e8 ung
Stauffer erhalten Hat, und dazu hören, wie diefer wunderfam feine Geift mit
dem tief Teidenfchaftlihen und doc ſtets gebändigten Fühlen fpridt. Ueber
ihn abermals zu fprechen, bleibe für ruhigere Tage der Betradjtung vorbes
halten.
*
Da fißt ein Pilgerim.*
Einft in Tosfana war's,
Ich ruht’ im Abendfdein,
Den Reifemantel um,
Dor einem Kirchenthor,
An mir vorüberfchritt
Ein Weib mit einem Kind,
Das Mädchen flüfterte:
Da fit ein Pilgerim ...
* Wir — dieſes Gedicht in der urſprünglichen Faſſung, die uns
Meyer vor zehn Jahren zur Veröffentlichung im Kunſtwart ſandie; in feinem
Gedichtbuch findet fi eine Umarbeitung davon.
Kunftwart
— 16 -
Es freute mich das Wort,
Ich nahm es mit mir fort,
Und wann mid Dampfesfraft
Durch fremde Zande trna,
Wann mir der Sonnenball
Aus nenen Meeren ftieg,
Kant jubelte mein Herz:
Jh bin ein Pilgerim....
VNach mandhem Jahre war's
Auf blanem Comerſee,
Daß mir ein Reiſ'geſell
Aus meiner Scläfe 309
Mit einem leichten Scherz
Das erfte weiße Baar,
Ein Seufzer hob die Bruft:
Ih bin ein Pilgerim....
Jetzt herz’ ih Weib und Kind
An meines Herdes Glut,
So ift es fchön und gut,
So joll es ewig fein....
Was flüflert mir im Ohr ?
Das unvergeffne Wort
Der Meinen Tuskerin:
Da fitt ein Pilgerim ....
Abendwolke.
So ſtille ruht im Hafen
Das tiefe Waſſer dort,
Die Ruder ſind entſchlafen,
Die Schifflein ſind im Port.
Nur oben in dem Aether
Der lauen Maiennacht,
Dort ſegelt noch ein ſpäter
Friedfert'ger Ferge ſacht.
Die Barke ſtill und dunkel
Fährt hin in Dämmerſchein
Und leiſem Sterngefunkel
Am hHimmel und hinein.
Lenzfahrt.
Am Himmel wächſt der Sonne Glut,
Aufquillt der See, das Eis zerſprang,
Das erſte Segel teilt die Flut,
Mir ſchwillt das Herz wie Segeldrang.
2. Novemberheft 1898
— 16T —
Zu wandern tft das Herz verdammt,
Das feinen Jugendtag verfäumt,
Sobald die Lenzesfonne flammt,
Sobald die Welle wieder ſchäumt.
Derfcherzte Jugend ift ein Schmerz
Und einer ew’gen Sehnfudyt Hort,
Nach feinem Kenze ſucht das Herz
In einem fort, in einem fort!
Und ob die £ode dir ergraut
Und bald das Herz wird ftille ftehn,
Noch muß es, wann die Delle blaut,
Uad feinem Lenze wandern gehn.
Die toten freunde.
Das Boot ftößt ab von den Buchten des Geftads.
Durch rollende Wellen dreht fi der Schwung des Rads.
Schwarz qualmt des Rohres Rauch ... Heut hab’ ich fchlecht,
Das heißt mit lauter jungem Dolf gezecht —
Du, der geftürzt ift mit zerfchoffener Stirn,
Und du, verfhwunden auf einer Sletfcherfirn,
Und du, verlodert wie ſchwüler Blitzesſchein,
Meine toten freunde, faget, aedenft ihr mein ?
Wogen zifhen um Boot und Räderfchlag,
Dazwifchen jubelt ein dumpfes Fechgelag,
In den Fluten brauft ein fturmagedämpfter Chor,
Becher läuten aus tiefer Nacht empor.
Ueber einem Grabe,
Blüten ſchweben über deinem Grabe.
Scdmell umarmte dich der Tod, o Knabe,
Den wir alle liebten, die dich Fannten,
Defien Augen wie zwei Sonnen brannten,
Deſſen Blide Seelen unterjochten,
Deſſen Pulfe ftarf und feurig pochten,
Defien Worte fdyon die Herzen lenften,
Den wir weinend gejtern hier verfenften.
Maiennadt. Der Sterne mildes Schweigen...
Dort! id; feh’ es aus der Erde ſteigen!
Unterm Rafen quillt hervor es leife,
Slatterflammen drehen ſich im Kreife,
Ungelebtes £eben zudt und lodert
Aus der Körperfraft, die hier vermodert,
Ubgemähter Jugend letztes Walten,
Letzte Glut verraucht in Wunſchgeſtalten,
Eine blaſſe Jagd:
Kunftwart
= 168 —
Doran ein Secher,
In der fauft den überfüllten Becher !
Weh'nde £oden will der Buhle faflen,
Die entflatternd nicht ſich hafchen laffen,
Euftgeftachelt raft er hinter jenen,
Ein verhälltes Mädchen folgt in Chränen.
Dur die Brandung mit verftürmten Haaren
Seh’ ich einen fühnen Schiffer fahren.
Einen jungen Krieger feh’ ich toben,
Helmbededt, das lichte Schwert erhoben.
Einer ftürzt fi auf die Rednerbühne,
Weites Dolfsgetos beherricht der Kühne.
Ein Gedräng, ein Kämpfen, Ringen, Streben |
Arme ftreden fih und Kränze fhweben —
Kränze, wenn du lebteft, dir befchieden,
Nicht erreichte!
Knabe, fchlaf in Frieden!
Eingelegte Auder.
Meine eingelegten Ruder triefen,
' Tropfen fallen langfam in die Tiefen.
Nichts, das mich verdroß! Nichts, das mich freute!
Niederrinnt ein fchmerzenslofes Heute.
Unter mir — ad, aus dem Licht verfhwunden —
Träumen fchon die ſchönern meiner Stunden.
Aus der blauen Tiefe ruft das Geftern:
Sind im Licht noch manche meiner Schweftern ?
Die Schlittſchuhe.
„Hör! Ohm! In deiner Trödelfammer hangt
Ein Schlittſchuhpaar, danach mein Herz verlangt!
Don £ondon haft du einſt es heimgebracht,
Swar tft es nicht nad} neufter Art gemacht,
Doch damasfiert, verteufelt elegant!
Dir roftet ungebrauct es an der Wand,
Du gibft es mir!" Bier, Junge, haft du Geld.
Kauf’ dir ein ſchmuckes Paar, wie dir’s gefällt!
„Ad was! Die damasfierten will ich, deine:
Du läufft ja nimmer auf dem Eis, ich meine ?"
Der liebe Quälgeift läßt mir feine Ruh.
Er zieht mich der verſchollnen Stube zu;
Da lehnen Masten, Klingen freuz und quer
An Bayles ftaubbededtem Diftionär,
Und feine Beute fchon erblickt der Knabe
In dunfelm Winfel hinter einer ruhe:
„Da find fiel“ Ich betrachte meine Habe,
Die Jugendfhwingen, die geftählten Schuhe!
Mir um die Scläfen zieht ein leifer Traum .
.D ber
REIT 1. Dezemberheft
Kunftwart
„Du gibft fie mir!“ ... In ihrem blonden Haar,
Dem aufgewehten, wie fie lieblih war,
Der Wangen edel Blaf; gerötet kauml ...
In Xebel eingefchleiert lag die Stadt,
Der See, ein Boden fpiegelhell und alatt,
Drauf in die Wette flogen, Gleis an Gleis,
Die £äufer ; Wimpel flaggten auf dem Eis...
Sie ſchwebte ftill, zuerft umfreift von vielen
Geflügelten wettlaufenden Geſpielen —
Dort ftürmte wild die purpurne Bachantin,
Bier maß den Lauf die peinliche Pedantin —
Sie aber wiegte fih mit fchlanfer Kraft,
Und leichten Fußes, Iuftig, elfenhaft
Glitt fie dahin, das Eis berührend faum,
Bis fi die Bahn in einem weiten Raum
Derlor und dann in fhmalre Bahnen teilte.
Da lodt’ es ihren Fuß, in Einfamfeiten,
In blaue Dämmerung hinauszugleiten,
Ins Märchenreidy; fie zagte nicht und eilte
Und ſah, daf ich an ihrer Seite fuhr,
Nahm meine Hand und eilte rafcher nur.
Bald hinter uns verfcholl der Menge Schall,
Die Winterfonne fanf, ein Feuerball,
Dod nicht zu hemmen war das leichte Schweben,
Der fel’ge Reigen, die beſchwingte Flucht,
Und warme Xreife zog das raſche Keben
Auf harterftarrter, geifterhafter Budht.
An uns vorüber ſchoß ein Fackellauf,
Ein glüh Phantom, den grauen See hinauf...
In filler £uft ein ungewiſſes Klingen,
Wie Glodenlaut, des Eifes furrend Singen...
Ein dumpf Getos, das aus der Tiefe droht —
Sie laufcht, erfchrickt, ihr araut, das ift der Tod!
Jäh wendet fie den Kauf, fie ftrebt zurück,
Ein fchener Dogel, durch das Abenddunfel,
Dem £ärm entgegen und dem Kichtgefunfel,
Sie löft gemach die Hand... o Märchenglück! ...
Sie wendet fi) von mir und fucht die Stadt,
Dem Kinde gleich, das ſich verlaufen hat —
„Ei, Ohm, du träumft? licht wahr, du gibſt fie mir,
Bevor das Eis geſchmolzen ?“ ... Junge, bier.
Alle.
Es ſprach der Geift: Sieh aufl Es war im Traume.
Ich hob den Blick. In lichtem !Dolfenraume
Sah ih den Herrn das Brot den Zwölfen brechen
Und ahnungsvolle Kiebesworte fprechen.
Weit über ihre Hänpter Ind die Erde
Er ein mit allumarmender Gebärde,
To —
Es fprad der Geift: Sieh anf! Ein Linnen ſchweben
Sah ih und vielen fhon das Mahl gegeben,
Da breiteten fi unter taufend Händen
Die Tifche, doch verdämmerten die Enden
In granem Nebel, drin auf bleihen Stufen
Kummergeftalten faßen ungerufen.
Es ſprach der Geift: Sieh auf! Die £uft umblante
Ein unermeßlih Mahl, foweit ich fchante,
Da fprangen reidy die Brunnen auf des Lebens,
Da ftredte feine Schale fih vergebens,
Da laa das ganze Dolf auf vollen Garben,
Kein Pla war leer, und feiner durfte darben.
Rundschau.
£iteratur.
* Der Cottaſche Muſenalma—
nad, herausgenebenvonDtto®Braun,
erſcheint nun, für 1899, Schon zum neuns
ten Dale, kommt alfo dod) wohl einem
Bedürfnis nad. Zum eriten Male
bringt er jetzt auch ziemlich viele Ge—
dichte von „Jungen“, nur die ſchlimm—
ften Nevolutionäre fehlen nod).
„Nun Gott fei Dank, der Kampf hat
ein Ende,
Todfeinde jchütteln ſich — die
ä
nde,
Dichter dichten wieder — wie Dichter,
Und nur das feine Nullengelichter
Schwört zu dem papiernen Stern
Und nennt fi immer noch »modern«.
Wollt ihr die Streitart nicht begraben?
»Es ift das Einzige, was wir haben«*,
fingt oder vielmehr jagt Heinrich Bult—
haupt in dem Bande jelbit. O ja,
es fann jegt wieder ſehr hübſch were
den auf dem deutſchen Parnaß, doch
habe id) dagegen, daß Dichter wieder
„wie Dichter“ dichten, immerhin meine
Bedenten. Ich meine, die Dichter ſoll—
ten eigentlih „wie Menſchen“ dichten,
erade daß fie fich zu ſtark als Dichter
üblten, bat in den fiebziger und acht—
äiger Jahren „das ganze Unheil an=
gericht’t*, unfere Poeſie fonventionell,
unwahr gemadt und den Sturm und
Drang als Reaktion darauf hervor=
u Ich weiß nun redt mohl,
ab Bulthaupt weit davon entfernt ift,
uns einen konventionellen Aeſthetizis—
|
)
!
|
)
B
J
mus zu empfehlen, möchte aber doch
meinerſeils davor warnen, über das
Berechtigte, das unzweifelhaft in den
Beſtrebungen des Sturmes und Dranges
lag, allzu ſchnell zur Tagesordnung
überzugehen: man follte die äußere
und innere Wahrheit, die ihm troß
allem als höchstes Ziel erfhien, den
formell = ünftlerifhen Eigenſchaften
gegenüber nicht wieder in die zweite
Reihe jtellen. Es ijt etwas jehr Schönes
um die Gabe, vortrefiliche Berfe maden
zu können, e8 iſt noch ſchöner, hübſche
Gedanken und Einfälle und das dazu
nötige Gefühl zu haben, aber alles das
zufammen ergibt noch lange fein Ge—
dicht. Ein Gediht wird, man madıt
es nicht, hat ſchon Heine gejagt; mir
wollen lieber, wie in den ſchlimmſten
Zeiten des Naturalismus, gar feine
Gedichte mehr haben, als einen Ueber—
fluß an gemadten. — Ein Mujen=
almanad) wird nun ohne die gemad=
ten Gedichte (ih brauche den Aus—
drud keineswegs im ſchlimmſten Sinne,
wie man , Macher“ für Faifeur braudit),
ohne fehr viele Verje, die feine Ge—
dichte find, nicht leicht ausfommen,
aber ein paar wirkliche Gedichte muß
er immer enthalten. Um Ende laflen
fie fi) aucd in diefem Bande finden,
leider nicht bei den Jungen, eher bei
den Alten, etwa bei Hermann Lingg
(„Kindergruß*) und Hans Hoffmann.
Es iſt das eigentlid ſchlimm, denn
bei den Alten freut man ſich ja über—
haupt jchon, daß fie noch da find, bei
1. Dejemberheft 1898
ner
RI Wen
den Jungen aber ſucht man die
Leiftungen. Wahrjcheinlih wird ber
Herausgeber doch für das nächſte Jahr
nicht darum herumkommen, die wirt:
ih neuen und eigenartigen Talente
ber Jungen, ſelbſt Dehmel, ben Schred=
lichen, zu Beiträgen aufzufordern, auch
wenn er ebenjo wenig wie mir in
ihnen Iyrifche Genies fieht. — Bon den
beiden Profabeiträgen des Bandes ift
Adolf Sterns „Weihnahtsoratortum“
bei weiten der beſte, eine ſtimmungs—
volle fulturhiftorifche Novelle, auf einem
Boden ſpielend, den bie Dichtung ſonſt
nicht ehr liebt, im Kurſächſiſchen näm—
fh. Die Ausitattung des Muſen—
almanachs iſt leider zuderfüß —
Theater.
*Von Berliner, Wiener und
auch neueſten Münchner Erſtauf—
führungen können wir leider erſt ein
nächſtes Mal ſprechen, wie von man—
chem ſonſt noch, worüber zu berichten
iſt. Trotz der wiederholten Erweite—
rungen unſrer Hefte muß eben zur
Weihnachtszeit allerhand „Aktuelles“
und ‚Nichtaktuelles“ dem „Alleraktuell—
ſten“ vom großen Buchmarkte den
Vortritt laſſen. Wir halten dieſen
Buchmarkt, jo wie er iſt, bekanntlich
durchaus für keinen Segen, aber rech—
nen muß mit ihm, wer die Wahl der
geiſtigen Nahrungsmittel im deutſchen
Volk ein wenig beeinfluſſen möchte.
* Von wirklich guten Ueber—
fegungen ausländilher Dichtungen
find in ber letzten Zeit eine ganze
Anzahl erſchienen. ir wollen für
heut nur ein Feines Verzeichnis defien
geben, was uns fürs Felt beadhtlich
erfheint, im Sunitwart aber nod
nicht erwähnt worden ift. Da ift zus
nächſt eine fünjtlerifch eigenartig und
wunderhübſch ausgeitattete vortreff-
liche Ueberjegung von J. B. Jacobs
ſens „Gejammelten Werfen“, die bei
Eugen Diederichs in Leipzig erfcheint:
bis jet liegt davon „Frau Marie
Grubbe* und „Niels Lyhne“ vor, doch
fommt der dritte Band auch nod)
vor dem Felt. Dann hat Grunow in
Reipzig eine gleichfalls vortreffliche
neue Weberfegung von Björnjons
Bauerngefhichten unter dem Titel
„Ueber den hohen Bergen“ auch recht
fein und geihmadvoll ausgejtattet —
möge fie diefe ferngefunden unb bis
ins legte germanifhen Dichtungen bei
uns zu Hausbühern maden! Georg
Kunitwart
172
Heinrich Meyers Verlag in Leipzig,
dem bejonders die Deutfch-Defterreicher
für all feine Mühen um ihr Schrift:
tum jehr zu Danke verpflichtet find,
bemüht fich jet, uns den „ungarifchen
Didens* toloman Mikszath durch
eine fechsbändige ſchöne Ueberſetzung
feiner bumoriftifhen Romane und
und Novellen näher zu bringen. Aus
dem Polniſchen führt uns J. P. Ba—
chem in Köln Theodor Jeske—
Ghoinstfis hiftorifhen Roman aus
Marc Aurels Germanenlampfzeit vor:
„Eine Sonne im Erlöſchen“. Für Ge—
ſchenkzwecke ſehr mit Auswahl au bes
nutzen, literarifch aber fait durchgängig
von Karakteriftifcher Bedeutung find
die bei Albert Langen in Münden
erichienenen Leberfegungen nad) Bour=
get, Maupaſſant, Prevoft, Hervieu,
Hermant, VBanderem, Hamfun, Skram,
Zihehoff u. a. Auch in der Engel:
hornfhen und in unfern anderen bil—
ligen „Bibliothefen“ find mieder gute
Ueberjegungen berausgelommen. Wir
behalten uns, mie gejagt, vor, auf das
für unfere Zwecke wichtigſte aus all
dieſen Büchern zurückzukommen, wer—
den wir doch überhaupt aus den von
Bartels in der heutigen Weihnachts—
hau ausgeführten Gründen die Lite»
ratur des Auslandes fortan mehr be=
achten müſſen.
*Julius Lohmeyer läßt wie—
der von ſich hören, unter allen, die
gegenwärtig in Deutſchland ſchreiben
und redigieren, um die deutſche Ju—
gendliteratur wohl der verdien—
teſte Mann. Er gibt bei J. F. Leh—
mann in München eine „vaterlän—
dBifhejugendbüderei für finaben
und Mäddjen* heraus, die fiherlich
Gutes bringen wird. Er läßt ferner,
bei W. Vobach & Eo. in Berlin, eine
„Sllnjtrierte Finderzeitung“
—— die mit Wochenheften zu on
Pfennigen das Stüd eine Art billiger
Wiederholung der mit vollem Recht
vielgelobten „Deutihen Jugend“ ver
ſuchen wird. Jhre Zugabe, die „Jllu=
ftrierte Kinder-Mode“, steht freilich
nicht unter Lohmeyers Leitung und
entſpricht weder hygieniſch noch äfthe=
tiſch noch pädagogiſch dem, was hier
zu verlangen wäre. Auch als Poet
tritt Lohmeyer wieder vor uns. Ein
Band Novellen von ihm, „Die Be—
fheidenen“, ber foeben bei Karl
Reißner in Dresden erfchienen ift,
führt uns unter die Beute, bie ge—
meiniglih im Leben von Stolzeren
überfehen, von Glängenderen über—
ſtrahlt werden, und deren Treiben
einem freundlichen Seelenforſcher doch
ſo viel des Feinen und Intereſſanten
zeigt. Lohmeyer charakteriſiert nicht
impreſſioniſtiſch, durch wenige Flecken
am rechten Ort, ſondern ausmalend
bis ins Kleine und modellierend und
beleuchtend mit dem Behagen der
Liebe. Am meiſten hat mir von den
beiden Erzählungen bie letzte gefallen,
trog einiger abenteuerliher Wunder:
lichleiten darin: „Der harmloſe, träu—
meriſche Mann, die gottvergnügte
Natur, die fi) jeden Morgen auf die
Sterne der Nacht und jede Nacht auf
die Sonne bes Morgens freuen fonnte*,
er, der Paſtor Gotthold Wurzbad),
und fein jovial lebemänntiher Amts—
bruber Brandt mirfen mie getreue
Studien nad) der Natur, dod) ijt e8
nit bei der Studie geblieben. Sie
gejellen ſich zu uns wie leibhaftige
gute Bekannte. Ueberzeugen uns
mandmal Begebniffe und Wuftritte,
die beinahe „efektvoil“ find, weniger
vor ihrer inneren Wahrheit, als Die
Charaktereſchilderungen, fo [allen ge—
rade ſolche Stellen fäiriftftelferifcher
Abſichtlichkeit bie natürliche frohe Ehre
fichleit und warme Gefundheit bes
Berfafjers überall fonjt erjt recht er—
quidli fühlen. — In letzter Stunde
empfangen wir nod) einen Band Loh—
meyerfher $umorestenvonfreund
& Yedel in Berlin — wir erwähnen
ihn ohne Beurteilung, da wir ihn ..
mehr lefen fonnten.
* Nachdem mir in Rinde
„Hermann Bahr, den Kritiker“ ferbit
gefehen hatten, den Bartels vor einem
Jahre als den Paul Lindau redi-
vivus gekennzeichnet hat (ich empfehle
allen, die's ernſt meinen, den betref-
fenden Aufjag ſſtw. XI, 9] nochmals
zu lefen) — nad) Bahr jelbit alfo
hörten wir nun „unjern feinen Hof—
mannsthal“, von dem dort aud)
die Rede war. Die literarijche Geſell—
ichaft führte fein dramatifches Gedicht
„Der Thor und der Tod“ auf. Es
zeigt uns den Thoren Glaudio, der
das Leben niemals in feiner Tiefe zu
erfafien und jo aud nit recht zu
genießen verjtanden hat. Wie er fi)
darüber abgrämt, erſcheint ihm der
Tod, ihn abzurufen. Glaudio fleht
um Aufſchub, da er nicht fterben will,
ohne gelebt zu haben. Da ruft der
Zod mit feinem Geigenjpiel Mutter,
Geliebte und Jugendfreund bes Tho-
ren aus dem Grabe, um ihm an biejen
Eriheinungen zu zeigen, wie das
Leben ihn, den Thoren Glaudio fajt
gewaltfam im feine Streife gezogen,
er aber in feiner falten Eigenfucdht
fih jelbft dem warmen Leben ents
munden babe. Erſchüttert erfennt’s
Glaudio, und nun iſt er bereit dem Tode
zu folgen, denn er fieht: die Nähe
des Todes, die den vollen Gefühls-
fturm in feiner Bruft entfejfelt, Hat
ihm zum erjten Mal wahres Leben
gebradt. — Leider kann das Stüd
nicht den Unfpruch erheben, den außer—
ordentlich wirkſamen Stoff in einer
reinen Dichtung geitaltet zu haben.
Es tritt mehr allegorijch als
ſymboliſch auf ; dem Verfaſſer iſt's nicht
voller Ernit mit der Wahrheit feiner
Geitalten, er benußt fie häufig als
bloßes Mittel um jagen zu laſſen,
was er fagen mödte, ohne Rüdficht
alfo darauf, ob das dem Gharalter
feiner Geitalten entſpricht. Am klarſten
tritt dies wohl an der Stelle zu Tag,
wo Glaudio fertig bringt, im Ange
fihte des Todesfürjten zum Schreib-
tiſch zu laufen und dort aus einer
Schublade ein Pädlein Briefe heraus—
zubolen, um feine lagen gegenüber dem
Tode zu rechtfertigen. So kann's na—
türlih nicht zugehn, wenn einem in
förperlicher Babrhaftigei folch’ furcht=
barer Dämon erjheint. Man ficht,
das ift nit mit der Phantafie
erfhaut und erichaffen, der Verfaſſer
lebt nidt in der Situation, Die er
beraufgerufen hat, fein „Tod“ iſt hier
nur noch ein Begriff in Menjchenges
ftalt, mit dem man fi auseinanders
fegt. Aber auch die übrigen Geſpenſter
reden fo viel und ſo ausführlich, daß mir
ihre Geifterform oft nur als eine Hülſe
erfchien, in der der eigentliche lern das
war, was Hofmannsthal dem Thoren
zu fagen hatte. Ein böfer Wider:
ſpruch iſt's ferner, wenn der Tod über
dem gefällten Glaudio in Bezug auf
die Ausbrühe, die in Diefem Die
Geiſter der Beritorbenen hervorges
rufen, pbilofophiert: „wie wunderbar
find diefe Menſchenweſen; fie deuten,
was nicht deutbar“ u. ſ. m. — der—
felbe Tod, der doch diefe Erſchei—
nungen mit feinem Geigenfpiel vor
Glaudio Hingezaubert hat, damit fie
ihn belehren! Troß alledem wirkte
das Stüd; ijt ja die Jdee ſchon an
und für fich ergreifend, wenn aud
nicht gerade neu. Dazu fprad aus
allem unverfennbar das Gefühl
des Dichters. Ob dieſes Gefühl freis
lic) bei Hofmannsthal ſchon jegt einen
eignen Wusdrud gefunden, das
ı. Dezjemberheft 1898
— 1) —
will mir nad) den „prädtigen“ Verſen,
die mir im Ohr nachklingen, recht
zweifelhaft ericheinen.
Das zweite Stüd des Abends,
Theodor Wolfs „Niemand weiß
es“, war, um’8 grade herauszufagen,
eine lächerlihe Abgeſchmacktheit. Ein
japanifher Maler Jori und eine ja=
aniſche Prinzeſſin lieben fi}, trennen
ich aber, denn dem zarten Prinzeß—
hen grauft e8: die große unheim—
liche Liebe könnte ihr Inneres fo aus—
brennen, daß ihr für „jpätere* Tage
am Ende nur mehr ein trübes, faltes
Neithen ihres Selbſt übrig bliebe.
Nachher, als das vorfidtige Prinzeß—
chen einen Fürften geheiratet, grauit
ihr auf einmal nicht mehr davor, der
gemaltigen Liebe zu Jori freien Lauf
zu lalfen. Das merft aber auch der
Fürft, und nun iſt's Unheil fertig:
der Maler eritiht den drohenden
Bringen. Eritarrt fiten dann die bei—
den Liebenden längere Zeit da, bis
ori vom hereindringenden Gefinde
abgeführt wird und die Prinzeffin
ohnmädtig umfällt. Die Hauptjache
it, e8 wird in allerhand Arten von
Gefühl „geichwelgt“, ein fürdjterlicher
Unfug mit japanifher Blütenpracht
getrieben und dabei von allem Bolt
„märdenhaft“ in Gleichniſſen geredet,
die dümmiten Sachen werden dabei
als „Naivität“ aufgetiiht und Die
trivialften Redensarten geberden ſich
beinahe & la Schur, als ftedte ein
erhabener Tieffinn dahinter. Er—
mwähnenswert an dem ganzen Stüd
ift eigentlih nur der Umstand, daß
e8 überhaupt aufgeführt werden konnte,
und nod) dazu im einer literarischen
Gejellichaft.
Eine „Mündyner Volfsbühne*
ift ins Leben getreten. Der Verein be=
abſichtigt, „Durd) regelmäßige Theater
vorjtellungen , Konzerte und Vor—
tragsabende allen Schiäten der Be:
völferung die Möglichkeit zu geben,
ohne größere peluniäre Opfer an den
Errungenschaften unferer Kultur leben=
digen Unteil zu nehmen.“ „In eriter
Linie“ will der Verein: „bedeutfame
Schöpfungen Ichender Sünftler zur
Aufführung bringen“, und er hat da«
bei befonders in Ausſicht nenommen
„Werke von Ibſen, Hauptmann, Halbe,
Burkhardt, Aram, Aanrud, Hamfın,
Maupajiant, d'Annunzio.“ Erfreu—
licherweiſe wird aber auch unſre lite—
rariſche Vergangenheit nicht vernach—
läſſigt: neben den Modernen ſollen
Leſſing, Goethe, Schiller, Kleiſt, Grabbe,
Unnſtwart
|
Ds
Otto Ludwig, Hebbel gehört werben.
Ferner heißts in dem Mufruf: „Die
Münchner Voltsbühne ijt ein ges
fchlofiner, auf breitefter vollstümlicher
Grundlage aufgebauter und nad) volks—
tümlichen Grundfägen geleiteter Ver—
in.
Es iſt überflüffig auszuführen, von
mwelder Bedeutung eine Münchner
Voltsbühne für unfer Kunſtleben wer—
den fann. Eine leichte Aufgabe ifts
freifih nit, die fi der Verein ge—
jet Hat. Es iſt ſchon fchmierig
genug, unter den neueiten Erſcheinun—
gen, die ja die Volksbühne hauptfäd-
lich berüdfichtigen will, das wirflid
Bedeutfame herauszufinden und e8
nit mit interejlanten „Grillen der
Zeit“ zu verwechſeln. Uber das Weſen
einer Vol fs bühne verlangt zudem,
glaube ih, daß auch nod) mit diefem
Bedeutfamen eine Sichtung vorge-
nommen merde. Denn es wird ja
von diefer Bühne herab zu cinem
Publikum geredet, das zum größten
Teil mit unfrer Literatur erſt befannt
gemadjt merden muß. Ich glaube,
dag man da unter dem „Bedeut—
ſamen“, Gharafterijtifchen für unſre
Zeit vor allem das aufjuden muß,
maß bildend zu wirfen geeignet ift.
Das Mort „bildend“ allerdings in
weitem Sinne genommen. Ich 3. 8.
würde ohne weiteres jedes MWerf für
bildend erklären, hiner dem als Autor
eine Perſönlichkeit mit fräftigen männ-
lichen Initinften ſteht, eine Perſön—
lichkeit alfo, die bereit ift, mit dem
Leben chrlih zu ringen; dagegen
würd ich joldhe Beifter möglichit fern
halten, die jih in ihre krankhaften,
wenn auch noch fo feinfühlinen Ge—
lüjte einipinnen oder fi in ſchwäch—
licher Jronie über dem Leben erhaben
dünfen. Wünfchensiwert wär’ e8 jeden-
falls, dab alle ohne Musnahme, die
e8 ernit mit unſrer Kunſt und Bil:
dung meinen, ihre Anficht in der
„Münchner Voltsbühne* aum Aus—
drud brädten. Die Möglichkeit dazu
ift einem jeden durch die „volkstüm—
lihe* Organifation des Vereins ge-
geben. Der Vorſtand wird nämlidı
von den Mitgliedern jelber alljährlid;
in einer Generalverfammlung gemählt.
Weber.
Muſik.
*Bmwei Muſikkalender, der
eine bei Dax Heſſe (Beipaig), der
andere bei Raabe & Plothow (Berlin )
verlegt, beginnen in jedem Herbit mun
ſchon jeit elf Jahren den Konkurrenz—
fampf. Jedes der beiden Bücher hat
fein Gutes. In der Ausführlicgkeit
bes Adreſſenmaterials iſt Heſſe im all—
gemeinen etwas überlegen; im beſon—
dern 3. B. hinſichtlich Frankreichs ift
Raabe da und dort reid;haltiger. Recht
mangelhaft find bei beiden die Ungaben
über Prag, die ich kontrollieren fann.
Im Verzeichnis der Zeitfchriften fehlt
die „Neue Muſikaliſche Rundſchau“.
Das Raabeſche Regilier der verjtorbes
nen Komponifien übergeht, was nicht
ſcharf genug gerügt werden fann, ben
Namen Plüddemanns! Bei Heſſe wieder
jtört das oft allzu aufdringliche Re—
Hamemefen. Dennoch gebe ih ihm
den Vorzug, nicht nur wegen ber bei—
egebenen Bildnilje und biographi—
(sen Skizzen (Srangu. O. Günther), ſon⸗
ern auch wegen der trefflichen Aufjäße
NRiemanns, der biesmal über Ele-
mentarmufifunterricht handelt und das
rin die jeßige Notenfchrift gegen bie
Berfuhe mit Buchitabenzeichen über—
zeugend verteidigt. Mit dem bei-
ftimmenben Hinmeis auf diefen Artikel
erledigt ji übrigens zugleich das uns
foeben zur Beſprechung eingefandte
Schrifthen von U. Hundoegger über
die „Zonifa-Do-Dtethode* (Hannover,
E. Dieyer). Die unmittelbare finnliche
Beranihaulidung des Steigens und
allen der melodijchen Linie durch die
otenschrift iſt durch die abftrafte Be—
zeichnung durch Buchltaben nimmer—
mehr zu erfegen.
Umſchläge und Titelblät—
ter zu Notenheften künſtleriſch
auszuführen, iſt eigentlich eine moderne
Errungenſchaft, obzwar die vormärz—
lichen Titelvignetten in Stahlitich auch
nicht jo übel waren. Dann aber folgte
die nücternjte Induftrieperiode des
deutihen Berlagsmefens mit den
leihjörmigen Umſchlägen der für
aſſenabſaß berechneten, fogenannten
„Editionen“. Eine Ausnahme mach—
ten nur „Salonpiecen* mit ihren
finnig fein follenden Rofenranfen und
niedrigfomifche Stüde, die dann und
wann menigitens Anſätze zu indivi-
dueller Titelzeihnung jehen ließen.
Im legten Jahrzehnt aber nahmen
die Jlluftrationen auch auf gediegenen
Muſikwerken einen erfreuligen Auf—
ſchwung: Klinger ſchmückte Brahm—
ſens Liederhefte, Thoma den Klavier—
auszug von „Hänſel und Grethel“,
und ſogenannte moderne Lieder er—
ſcheinen kaum mehr ohne ein Bildnis,
|
|
das nad) Sezeſſion ausfieht. In dem
Beitreben, nur ja recht Auffallendes
und „Apartes* zu liefern, wird freis
fi oft der Zufammenhang zwiſchen
Bildſchmuck und Inhalt außer Acht
elaffen: der Umſchlag eines Licders
eftes von B. Schuiter 3.8. — Kirch—
hof bei Marer Sternennadt — läßt
allerhand Gräucl und Schreckniſſe
ahnen, enthält aber nichts als die
harmloſen Gedichte „Glückes genug“,
„Schmwalbenficiliana*, „Die Mufit
fommt*. Undere Ausgaben fchen von
der plafatartigen Ausführung der
ZTitelblätter ab und wählen lieber ein
Gedenktbild. Hugo Wolf 3. ®. lieh
feine Mörikelieder mit dem Bildnis des
Didters erfcheinen, eine von ihm
felbft angeregte, ſchöne Huldigung für
den, der ihn zu feinen Melodien be=
geiitert Hatte. Neueftens will ber
Wiener Verlag Hed mittelft der Um—
ichläge die Denkmäler unferer veritors
been Meiſter popularifieren, eine
Idee, deren erſte Verwirklichung mir
in Auguſt Ludwigs Liedweiſen zum
„Pfarrer von Kirchfeld“ vorliegt. Das
Grabmal Anzengrubers iſt darauf ab—
gebildet, der unterrichtende Zweck
würde noch beſſer erreicht, wenn der
Name des Bildhauers, Hans Scherpe,
darunter ſtünde. Wenige, denen das
Heft in die Hand fällt, wiſſen vom
Daſein dieſes Grabmals, noch weniger
kennen es, Manche werden durch das
Bild vielleicht angeregt, es aufzuſuchen.
Bildende Kunſt.
* HeinrihBogelervon Worps—
mwede hat ein Vilderwerl über Gerhart
Hauptmanns „Werfunfene Glocke“ bei
Fiſcher & Franke in Berlin (Preis:
3 u. 30 ME.) herausgegeben. Ein eigene
tümlihes Wert — e8 wirkt zunächſt
fo ausgeſprochen manierijtiih, daß
man verſucht ift, es jchnell wieder
weg zu legen. Bertieft man ſich doch
darein, fo taucht zunächſt vereinzelt
da und dort eine ganz echte Märchen:
anihauung wie ein Spuf am Wald—
rande auf, und jhliehlid; bewegt fid)
rings eine fonderbare HYalbtraummelt
mehr Vogelerſchen als Hauptmann—
ſchen Geiſtes. Sie bewegt ſich — aber
ſie lebt doch nicht recht — jedes der
Bilder iſt intereſſant, manches ganz
eigentümlich naturſtimmungsvoll, aber
das Seeliſche der Geſtalten bleibt
ſchattenhaft, es ſpukt nur lautlos vor
uns hin, es beteiligt uns nicht an
ſeinem Sein. Ein Bild wie das
1. Dezemberheft 1898
ſtarke vom Pfarrer, der zu Ber
fteigt, bietet da das meiite, oder au
glei) das erjte mit dem Nidelmann,
obgleich das Rautendelein auch Hier
ebenſowenig wie der Waſſergeiſt zu
rechtem Leben kommt. Dieſes eigen—
tümlich Gedämpfte iſt bei Vogeler
nicht etwa Folge mangelhaften Kön—
nens, er will gar nichts anderes, er
erjtrebt keine Körperlichkeit, er ſieht
eben das Märchen mit dem inneren
Auge fo. Aber man kann's halt ver«
fhieden fehen. Jmmer erfreulich bes
rühren auch uns dagegen Bogelers
Zandihaften, die find mit einem be=
fonderen feinen Auge aus der Natur
gleihfam felbjtändig ertaftet und zu
neuen Bildern zufammengefühlt. X.
+ Mit den „Blumenmärden“, die
bei Piloty und Loehle in Münden
erfchienen und nun im Buchhandel
für nur 5 Mark zu kaufen find, it
Ernst Kreidolf, deſſen Aquarelle
wir vor Jahren mit großer Freude
begrüßt haben, nun vor die breitere
Deffentlichkeit getreten. Ein Künſtler
wie er hat’8 heute auf dieſem Ge—
biete nicht leicht: die „alten“ werden
die liebgewordene Sühlichleit der
ſchlechten deutiden Bilderbücher ä la
mode vermijjen, die „neuen“, Die
ihnen ans Hera gemadjene Danier der
Dre und Gngländer, während
eidolf, ohne da und dort aus den
Bilderbüdhern feine unit zuſammen—
aufuhen, fie auf Feld und Flur der
Heimat gefunden hat. Nur, wer jeg—
lihe Brille ablegt, wird ihm gerecht
werden, darum freun fih aud die
Kleinen jo fehr über ihn, deren Nafe
nod feine getragen Hat. Zunächſt
mal: e8 ijt eben durchaus eine unit
für Kleine weder mit den Bildern,
noch mit den (übrigens ganz prädtis
gen) Begleitverjen blinzelt jie über
die Stinderlüpfe weg nad) den Großen
bin. Zweitens: man darf ja nicht fo
äußerlich fein, weil's hier Blumen—
märden gibt, den eigentlichen Kern
der Kreidolffhen Kunſt bei den Blu—
men zu fuhen. Die find äußerſt ges
fhidt verwertet, aber den Erwach—
fenen ftört da, was dem Sind gar
nichts jchadet, weil’S drüber weg
fieht: der Erwachſene fommt über das
Unorganifche der ganzen Sadıe, wenn
er überhaupt ein Gefühl für das
Körperhafte ausgebildet hat, nicht hin=
weg. Dan fehe die Menfchengefichter
Kreidolf8 an mit ihren ungejunden,
derben Gharafterzügen, man beadte
die wirkliche Volks- und Kindertrüm—
Kunftwart
|
|
| der Herrn U. zu einer Auszeichnung
lichkeit feiner ehrlichen, Herzlichen
Poefie, die fi 3. B. auf den Tafeln
von der „wilden Jagd“ und von den
„Dieben“ bis zu ſehr Fräftigen Natur—
Gefamtitimmungen fteigert, — dann
wird? man den Künſtler Kreidolf
finden. Wir als große Leute freuen
uns darauf fünftig Sadhen von ihm
zu fehen ohne Blumen: es müſſen
urheimatli deutſche Bilder wer—
den. Für die Fleinen Leute aber
— ja, mo find denn deutſche Bilder
bücher, die für fie an freudeerregender
Kraft diefen „Blumenmärden“ „über
wären ? Sleichwertige fennen wir, aud)
bejiere dem Zeichnen nad), das leider
Kreidolfs Starke Seite nicht ift, aber
bejiere dem Geifte nah? Nein. Und
der gleichwertigen find herzlich wenige,
und der gleih urfprüngliden
liegen höchſtens drei, vier auf jedem
Buchhändlertiſch.
* Wie ein Denkmal zu
Stande fommt. Die Denkmäler
Komitees bilden fih wie die Wahl:
fomitees. Der Rentier U. träumt
davon, einen Orden zu erhalten, und
fragt fh, welden großen Dann,
gleicyviel ob er auch bloß mittelgroß
oder Hein war, er wohl auf einem
Öffentlihen Plate aufitellen könnte.
Und id) fenne einen Bildhauer 8,
verholfen hat und der heute nod) bie
Mehrkoſten der Modelle und Ausfüh-
rungsarbeiten für ein jehr deforatives
Denkmal zu zahlen Hat.
Die Sache trägt fi) fo zu: Herr
U. hat die Idee zu einem Stanbbild
Er geht natürlid” zu dem Bildhauer
B. und fragt:
»Mürden Sie nicht einen... (Hier
ber Name des großen Mannes) für
8000 M. mahen? Bedenken Sie, daß
dadurch eines ihrer Werfe auf einem
öffentlichen Plage zur Aufitellung ges
langtel«
»Wenn id) das haben kann, fo
made ic) e8 für 6000 M.«
»Bravo! Alſo abgemadt, für
6000 M.«
A. geht direkt ins Minifterium der
Schönen Fünfte Er verlangt vom
Staate die Koften bes Marmors. Der
Staat gewährt gemwöhnlih für den
Marmor die Hälfte deifen, was das
| Dentmal often fol. Das ift einmal
ſo Sitte. U. erflärt aljo dem Staate,
' daß das Standbild mohl 12000 M.
fojten wird, und der Staat gibt ihm
| 6000 M., alfo genau ben Preis, den
der Bildhauer verlangt hat. Diefer
— le —
ift im Voraus bezahlt. Die Subffri-
benten find Reingeminn. Nun fauft
A. Bapier und läßt den offiziellen
Brieflopf darauf dbruden:
Komitee des Standbildes für U. 8.
Präfident : Herr U.
BizesPräfidenten: bie Herren E. u. ©.
Schriftführer: Herr €.
Das Standbild mwirb eingemeiht.
Der Präfident U. erhält einen Orden
111. Klaſſe, die Vizepräfidenten bekom—
men einen folden IV. Slaffe, der
Schriftführer einen Zitel. Und ber
Bildhauer? .... Der Hat ein mit
feinem Namen gezeichnetes Werk auf
einem öffentlichen Plate. Das Stand—
bild Hat ihn mehr Mühe und Zeit
gefoftet, als er erwartet, die 6000 M.
und darüber find ausgegeben. Der
Bildhauer hat auß eigener Tafche zus
‚gefegt und fagt philoſophiſch:
»Ich Habe fogar Wechſel unter
zeichnet, um die 3000 M. Mehrkoiten
zu bezahlen. Ich habe 9000 M. aus—
gegeben und 6000 erhalten. Wenn
aber mein Knopfloch gähnt und mein
Geldbeutel leer ift, jo habe id; wenige
z. dem Bräfidenten zu einem Or—
en verholfen. Meine Mühe war aljo
nit umſonſt«.“
Das Merkwürdigſte ift, daß dieſes
nicht eben freundliche Bildchen aus
der Wirklichkeit in der „Deutichen
Kunſt“ zu finden ift, Die bisher bei
unfern Zuftänden ganz; hübſch ver-
gnügt und zufrieden war.
*Shmüde beinen Eiſen—
babhbnmwagen!
In Berliner Zeitungen fteht zu
Iefen: „Zu Gunften ber eleftrifchen
Hochbahn Hat der Grundbefigerverein
»Süd⸗Oſt« in feiner legten Sitzung be=
chloſſen, folgende Petition an den
agiftrat zu richten: In ber Erwägung,
daß die eleftriihe Hodhbahn ı. einem
wirflihen Bedürfnis entſpricht, daß
2.ihr Ausſehen durch entſpre—
chende Verzierungen gefälliger
geſtaltet werden fann...* Wir
empfehlen dem Grundbeſiherverein,
fi) den Nat des Simpliziffimus zu
überlegen: „jeder Gegenstand, der ben
Schönheitsfinn der deutfchen Frau oder
Jungfrau verlegen könnte, läßt ſich
durch Bepinfelung mit flüjfiger Gold—
bronze alsbald in eine wahre Augen
meide verwandeln, mährend Gegen=
ftände, die fhon an ſich ſchön find,
durch die Bronzierung geradezu nied—
lid werben.” Wann mirb e8 endlich
ben berühmten „weiteren Streifen“ be—
wußt werben, daß e8 ein Aberglauben
ift, „Durch entfprecdhende Verzierungen”
tönne eine häßliche Sache „nefälliger”
werben? Sie fhön in ber Form und
fhön in ber Farbe zu geftalten,
darauf fommt’8 an. Gelingt es, fo
enügt e8 zunächſt, mißlingt es, jo
ilft alles Aufihminten von „Ver
jierungen“ nichts.
Dermifchtes.
* Da wir neue Büher unferer
ftändigen Mitarbeiter nur in
Ausnahmefällen befprehen können,
während doch gerade fie für unfere
Lefer von erhöhten Interefje find, fo
erwähnen wir die zwei neueften heute
an biefer Stelle. Adolf Bartels
hat die zweite Auflage feiner Litera—
turgefhichte der jüngjten Zeit, deren
erfte unter dem Titel „Die Alten und-
die Jungen“ erfhienen war, durch
näheres Eingehen fo weſentlich er=
meitert, baß jeine „Deutfhe Dich—
tung“ (Leipzig, Ed. Uvenarius [Ub.
Goldbed]) nun als ein neues Bud
erſcheint. Was wir von Bartelsſcher
Kritit halten, bezeugt einfach die That-
fahe, daß mir Bartels Tängft zum
Eintritt in unfre engjte Mitarbeiter
fhaft eingeladen haben. — Richard
Batka hat achtzehn Auffäge zu einem
Bude „Mufilaliihe Streifzüge” ver-
einigt, daß bei Gugen Diederichs in
Leipzig berausgelommen if. Wir
nennen einige Themen: „Grillparzer
und ber Sampf gegen die deutſche
Oper in Wien“, Aus „Schumanns
Lehrjahren“, „Yur Erinnerung an
Glara Schumann“, „Wagner als Ro—
mantifer“, Loge“, „Rohengrin nad)
Bayreuther Mujter”, „Ulfo jprad) Za—
rathuftra”, „Die Mufitballade*, „Zur
Reform der Vollsfeite.* Der Redat-
teur unfrer Mufitbeiträge bat bei der
Zufammenftellung natürlidy) vorzugs—
br bie Kunſtwartleſer im Auge ges
abt.
+ Wie’8 gemadt wird.
Bei der Berliner Gegenwart“
ibt e8 zwei Möglichkeiten für ein Bud),
efprochen zu werden, wenn's nicht
gerade beiprodhen werden muß. Die
eine: man beherzigt, was vertrauens=
voll mitgeteilt wird vom „Berlage
der Gegenwart“, deifen Inhaber Dr.
Th. Zolling, Redbafteur der „Gegen=
wart“ ilt: e8 werden bei ihr nad
ihren eigenen Worten „grundb=
fäslih jene Werte befproden,
welde im Annoncenteil anges
zeigt werden“, — man fauft fid
1. Dejemberheft 1898
alfo mit so Pf. für die Annoncenzeile
eine Rezenfion im Terte. Zweite Mög—
Iichkeit: man madt folıh ein vertraus
liches Schreiben untollegialer Weife
befannt — dann madt es Zolling
„Sp, wie's das — im Bauer
thut:
Wenn's nicht vor Liebe ſingt, ſo
ſingt's vor Wut“,
und ijt diefe Gemütsbewegung aus—
iebig, fommt’8 vor, daß er das—
Pelbe Bud) zwei Mal hintereinander
gratis beſingt. So geſchieht mir's,
im Heft 45 der „Gegenwart“ auf S. 302
fönnen unſre Leſer zum zweiten
Male leſen, wie „abſolut talentlos und
nichtsnutzig“ meine früher in der
„Gegenwart“ fo warm gelobte „echte
Poeſie“ iſt, — ſeit der Kunſtwart“
Herrn Theophil Zollings Geſchäftsge—
heimniſſe verraten hat. Daß mein Ver—
leger mid) „weltberühmt“ nenne, ſchrei—
tet dabei als Hauptgreuel auf den
Bänfebeinen des Zitats einher — alſo
muß es doch wohl wahr jein? Ecdyade,
es ijt troßdem einfach und ſchlank ges
Iogen.
Unfre neuen Leſer, die nicht näher
willen, worum ſich's handelt, verweijen
wir auf unfern Auffat „Die Gegen=
wart“ auf ©. 257 ff. im 20. Heite des
vorigen Hunftwart: Jahrgangs. Bis
zum heutigen Tage bat die „Gegen—
wart“ mit feinem Worte auf meine
ſchweren Bejchuldigungn geant—
wortet. Kein Wort von dieſen Be—
ſchuldigungen hat fie ihrerſeits mit-
eteilt — das hätte geheiten, ſich
hitſt vor den eigenen Leſern an den
Pranger zu ſtellen. Die ganze That—
fadye meiner Angriffe bat fie ver—
heimliht — Hätten ihre Leſer aud)
nur gewußt, daß id) fie angriffe, man
hätte ja vielleicht im Kunſtwart nad)=
geleien, und zugleich märe das plöß-
lihe Shimpfen auf mid) al8 — Lyriker
in allen Pradten feines Weſens er—
fannt worden. Auf meine Bezeichnung
ihres Treibens als verächtlich, hat
fie nicht geflagt; es gibt ja bei ſol—
hen Dingen einen Wahrheitsbeweis,
wobei mitunter noch mehr zur Sprade
kommt, als ſchon gejagt worden tft. A.
* Du dem, was einen erfreuen
tann, gehört das Schillertheater
in Berlin, denn fein Direktor hat
immer nod) nicht die Verſprechungen
vergeflen, die er bei feiner Eröffnung
gemacht hat: beim Scillertheater
redet noch heutigen Tages aud) die
Kunſt mit. Aber Direktor Loewen—
feld thut für diefe Frau noch mehr.
Kunjtwart
Sp gibt er fortan eine kleine ernite
Zeitichriftt „Die Volksunterhal—
tung“ heraus, die jehr nützlich wir—
ten kann, und weiter ilt er der eigent—
lie Vater von „volfstümliden
Kunjtausstellungen“, die jetzt in
Berlin veranitaltet werden. Möge
ihm die Obrigleit dabei gnädiger fein,
als neulich, da fie dem Schillertheater
das geiitlihe Konzert für den
Buß- und Bettag in letter Minute
verbot, weil nur Oratorien am
Bußtag aufgeführt werben „dürften“.
Im vorigen Jahr „durften“ das aud)
andre Tonmwerfe, die neue Kunſter—
leuchtung iſt der hohen Polizei erit am
19. März diefes Jahres aufgegangen,
welches Datum die Verordnung trägt.
Nun willen wir ja: jedem preußiſchen
Odrigfeit3uniformrod wohnt das My—
fterium inne, ein äſthetiſches und fitt-
liches Wilverjtändnis nad innen aus:
zujtrahlen. Uber vielleiht wird uns
einmal offenbart, warum fromme
Vokalmuſik duldbar aber fromme
Initrumentalmufit verwerflid iſt.
* Die Beiden Reiſebeſchrei—
bungen „der Saifon“, die unzweifel—
haft die „nanabariten* fein werden,
find diesmal fehr ungleicdher Art. Das
eine iſt 9. S. Landors „Auf vers
botenen Ziegen“ (Leipzig, Brodhaus).
Man braudt nur feine Bilder zu
durchblättern, um das Grufeln zu
lernen: Randor iſt's in Tibet befannt=
lich jchledht ergangen, und die Bilder
zeigen viel Davon. Aber fie und die
Worte zeigen auch vieles mehr: eine
Natur von über = hodhalpenmäßiger
Großartigfeit, ein Volk, oder ridhtiger
mehrere Bölfer von höchſt merkwür—
diger Kultur, und die Erlebniſſe eines
Mannes von einem Mute, der Toll:
fühnheit mit Zähigkeit verbindet. Was
wir vermiſſen, ift ein einführender
Grundriß von unter gegenwärtigen
Kenntnis dieſer abgefperrten tibetanis
ihen Welt; man hätte dadurch ſozu—
ſagen eine Bauftelle für al bie Eins
zelgebilde gehabt, die das Buch ans
ſchaulich, aber ein wenig in die Ruft
vor uns hinſtellt. Nur den populärs
unterrichtenden Wert jedod betrifft
dieſe Bemängelung: anregend und
unterhaltend in hohem Mate bleibt
das Bud) jedenfalls.
Recht das Gegenteil dazu iſt Mark
Twains „Reife um die Melt“
(Stuttgart, Robert Zub), Die fi
durchaus nicht auf verbotenen, fon=
bern auf den meilibefabrenen Wegen
begibt. Mark Twains Bud ift Feuil—
- 13 —
leton, aber, wie wir gleich hinzuſetzen
mödten: Feuilleton im beiten Sinne,
Der Mann, der f. Zt. in der Miener
„Soncordia” für ganz fürdterliche
Witze und Mätchen rafend gefeiert
murde, madjt den übeln Eindrud, den
er nad) diefer Vorftellung in Deutſch—
land Hinterließ, durch diefe Reiſebe—
fhreibung wett: bier fpridht fein ge—
ſucht geiftreiches „Plaudern“, fondern
ein reifes und feine Mannesdenten,
da8 etwas zu fagen hat, vom Herzen
eines echten Humoriften genährt und
nur jelten von einer mehr äuferlichen
Komik über den Wegrand gedrängt
wird. Guropa und Amerila werden
übrigens faum berührt, über Aus—
ftralien, Afrifa und befonders Indien
wird geſprochen. An mandıer Stelle
tritt plötzlich zur Seite des Feuille»
tonilten der Dihter Mark Tmain.
Ermähnen mir im Anſchluß ein
Bud) von Oberländer, „Durd) nor=
wegiihe Jagbgründe* (Neudamm, 3.
Neumann) — kein Reiſebuch im ergeren
Sinn allerdings, fondern mehr ein
Jagdbud), das aber doch auch Reifer
bilder aus dem hohen Norden bringt.
Leider geht uns der Band zu ſpät zu,
als daß mir ihn nod) Iefen könnten.
Die Stihproben befürmorten eine
Eesstung, die vielen Bilder find
* GSelegentlid) der Anſichtspoſt—
farten = Sammelfrantheit, die jegt
durch die Welt geht, wie im Frühjahr
der Schnupfen, züchtet man immer nod)
föftlichere Reinfulturen von Narretei.
Auf die zwei Gejellfhaften zur Ver—
fendung von Anfihtspoftlarten von
ber Staiferreife follen mehr denn hun—
derttaufend derer, die nicht alle wer—
den, hHineingejallen fein. Aus ihren
Kreifen erhob fih dann ein Klagen,
man fei wirklich hineingefallen, denn
die Gefellfhaften bewährten ſich nicht
als folid, die „Lünftlerifh) auszufüh-
renden” Karten wären in Wirklichkeit
mit Berlaub zu jagen, ſcheußlich u. ſ. w.
Haben die Schmerzensrufe aus der
Melt der blauen Monde, bei denen
die Schatten verfehrt fallen und Die
Betten gefommert werben, bie ftarren
Herzen der Unternehmer erweidht?
Mittlerweile hat Herr Karl Bött—
Her eine journaliftifhe Nouveaute
eingeführt. Er verheißt den Redak—
tionen, die ihm feine Artifel ablaufen,
auf wei Yeuilletons eine An—
fihtspoftfarte gratis! 24 Reife-
berichte offeriert er in einem Zirkular,
dann heißt e8 weiter: „US anges
179
nehme Zugabe erhält jede Redaktion
—— von ſo der wichtigſten, auf der
eltreiſe berührten Punkten je eine
illuſtrierte Poſtkarte mit einem fröh—
lichen, Iolalgefärbten Gruß, fo daß
dieſe an Ort und Stelle aufgegebenen
Anſichtskarten zuſammen für ſich allein
eine »Weltreiſe en miniature« darſtellen
— ein Boftlartenfaß, der wegen feiner
Eigenart mit der Zeit hohen Wert
erlangt.“ Herr Sarl Böttcher Schreibt
viel, er muß wohl feine Leute kennen.
Und fo ift zu vermuten, daß manchen
Leſers treues Auge in feinem Blätt-
chen Neilebriefe findet, — meil der
betreffende Herr Redakteur Anſichts—
poftfarten fammelt.
Unſere Beilagen.
*Unſere Mufifbeilage enthält dies
mal etwas Zeitgemäßes, das Stüd
Knecht Rupredt* aus Shumanns
föftlihem „Jugendalbum*. Uber das
fennt doch jedermann — hören wir
zufen. Ja, es ift ziemlich befannt,
wenigſtens dem Namen nad), aber
wir wollten diejenigen, die e8 doch
nicht kennen, nachdrücklich darauf hin—
meifen. Schumann hat in dieſem
Album Stüde geboten, zu deren Vor—
trag die Technik eines Kindes und
das kräftige Gemüt eines Erwachſenen
erfordert wird — gerade fo etwas
dürfte mandem Mufiffreund unter
unjern Leſern, denen andere Arbeiten
nur eine geringe Fertigkeit auf dem
Stlavier erwerben lieken, willkommen
fein. Und nod) eine Abficht beftimmte
uns zur Wahl diejes Stüdes. Wir
wollten mit einem Beifpiel darauf
binweifen‘, daß wir leider faft immer
zu älteren Werken zurüdgreifen müjjen,
wenn wir gute Hlaviermufil verlangen,
die uns als treue, freundliche Gefähr—
tin bastäglihe Leben umfhmüden
und unjere häuslichen Feſte zu vers
fchönern helfe. Sol das immer fo
bleiben ?
Hierauf folgt eine bretoniſche
Volfsballade. Wie fo oft im Volks—
lied verbindet ſich mit dem traurigen
Zert eine fcheinbar an ſich heitere
Melodie, aber als ich es fingen hörte,
zeigte ſich's recht, wie wohl fid) die
melodifche Linie, (der ic), jo charalte=
riftifch fie für ihren Urſprung ift, Doch
feinen bejonderen mufitalifhen Wert
beimejjen mödte), dem Inhalt ber
einzelnen Berfe anfchmiegen läßt. Ih
füge no den Text der meiteren
Strophen Hinzu, für den Fall, daß
1. Dezemberheft 1898
einer unjerer Sänger fi daran ver= , bungen in der Photographie, das von
uchen will, in einer wörtlihen | bem Maler Matthies- Mafuren in
eutfchen Ueberjegung: Münden redigierte Photographiſche
. f : du“ entralblatt* zu veröffentlicdyen pflegt.
RR ——— * Biete Bilder find als Illuſtrationen
„Ad um mein Ringelein — zu dem gedadht, was im heutigen Leit⸗
Eins, zwei, drei — trallalei aufjage über die neue Bewegung ge—
Ins Waffer fiels hinein.“ fagt ift. Man vergleihe mit diejen
Ralleralidaba. Immer auf das Grohe, das Ganze Hin
„a6 Mädchen gift du mie zum | rtsbelien Mihem mit In male
Hol ich den Ring —— * ———— vi rn
Ein Küßchen oder zwei.“ — En FRREH WIE UOSUDAUDDEN. .
it graphien“, und man wird erftaunen
[: Beim erften Sprunge, ben er that:] | darüber, in wie hohem — der photo⸗
—— en nt re ae = Gemifhe Brosch zu en —
mittel werden kann. Immerhin: er
:Da& er noch taucht zum drittenmal:] | kann's in noch höherem Grade werben,
Lächelt fie mit holdem Blid — als unfere Bilder zeigen, denn erftens
Nie kehrte er zurüd. geht natürlid) beim Reproduzieren
[: Sein Vater an dem Fenſter ftund:;j | immer einige Feinheit verloren, dann
Hat wie er fank geſchaut aber: die ganze Bewegung iſt noch
Klagte und ſchluchzte laut: durchaus im Fluß. Es wird uns
freuen, von dem, was ſie bringt, ge—
lr Ich hatt drei Knaben —— und | Tegentlich wieder etwas vom Beften
den Lefern zeigen zu fünnen.
Nod) eine weitere Beilage nicht ge=
ſchäftlichen Charalter8 bringen mir
diesmal, die freilich ganz anderer Art
ist, ein „VBergeihnis empfeh—
lenswerter Jugendidriften“,
das fein irgendwie materiell Beteilig-
ter, fondern der Vorortsausſchuß der
vereinigten beutjhen Prüfungs-Aus—
ſchüſſe für Jugendliteratur herausge—
geben hat. Der Leitaufjat des nädjften
Heftes wird von unfern Jugendfdhriften
handeln. Uber vor Weihnachten iſt ja
jede Woche koſtbar, deshalb geben wir
den freunden der Jugend ohne wei—
tere Erflärung ſchon heute als Er—
gängung unfrer eignen Weihnachtsſchau
diefen Berater beim Einkauf von
AJugendidriften in die Sand, Wir
Vier weitere Blätter unterbreiten | dürfen ihn aufrichtig empfehlen, ob=
unfern Lefern Neprobdultionen nad | glei aud er natürlid” nicht „der
Kunftphbotograpbhien, wie fie | Weisheit legten Schluß“, ſondern vor—
das in Deutfchhland führende Organ | läufig auch nur einen ‚„Verſuch“ bes
für die wirklich fünftlerifchen Beftre= ' deutet.
MWegen einem falfchen Kind
Alle drei geftorben jind.
Das Lied fteht in der Sammlung
bretonifher Volksweiſen von Bour—
gault= Ducoudray (Paris, Lemoine).
Wir verweifen auf diefe Eammlung,
weil fie ein franzöfifches Eeitenftüd
au ben Bearbeitungen beutfcher Volls—
lieder von Brahms bildet.
Von unjern Bilderbeilagen ift
die erite ein Blatt der Huldigung bei
KonradFerdinand Meyers Tod,
eine Wiedergabe bes Iebenfprühenden
Bildniffes von Karl Stauffer-Bern.
Einige Abzüge der Originalradierung
fönnen noch durch den Stunjthandel
von Amsler & Ruthardt in #erlin
bezogen werben.
Inhalt. Kunftphotographie. — Weihnachtsſchau. — Ueber Kunftpflege im
Mittelftande. X. Bon Paul Schulte Naumburg. — Lofe Blätter: Konrad
gen nom Meyer F. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Karl StauffersBern,
ildnis Konrad Ferdinand Meyer; Kunftphotographien von %. Matthies—
DMafuren, Hugo Henneberg, Heinrich Kühn und Robert Demachy. — Notenbei-
lage: Robert Schumann, Knecht Ruprecht; Bretonifches Volkslied.
Derantwortl,: der Herausgeber Ferdinand Avenarius in Dresden-Blafewig, Mitredafteure: fär Muſil
Dr. Ridhard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Hunf: Pan! Shulge-Naumburg in Berlin.
Sendungen für den Tert an den Herausgeber, über Mufif an Dr, Batla,
Derlag von Georg D. W. Callmwer. — Kgl, Hofbuchdruderei Kaftner & Coſſen, beide in Mändgen.
Beflellungen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D, MW. ECallmer in Mändher.
Knecht Ruprecht.
Schumann, Op.68. No. 12.
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Allegretto.
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Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München.
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Rechte vorbehülten,
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mit Bilder⸗ und Noten-Beilagen,
Bezugspreis 2"ja Marf vierteljährlich. Ein einzelnes Heft 50 Pfennige.
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Abonn ngen entgegen. Ba ill ei von der isses
handlung: Georg D. WI. Gallwep in Minchen.
Nachdruck fämtlicher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und det Beildgen
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird Peine Gewähr
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nıir wenn Rildporto beilag.
Paris 1889, Gent 1889, Brüssel 1891, Ya *
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12, Jabrg. Zweites Dezemberbeft 1898, Dett 6,
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Zugendscbriften.
Ob wir Ehriften find oder Heiden, ob wir von „Nächftenliebe” zu
reden gewöhnt find oder von „Altruismus“ — das Chriftentum hat
für jeden ernften Menſchen dem Weihnachtsfefte das „Denke der Andern“
aufgeprägt. Die Stimmung, der Konrad Ferdinand Meyer in dem er—
habenen Gediht „Alle“ Geftalt gegeben hat, da8 wir mit dem vorigen
Hefte den Lefern unterbreiten durften, für jeden ſittlich Gereiften ift fie
die echte Weihnadtsjtimmung. Und nicht nur auf die leibliche Not be=
zieht fie fih. Wer aber gemöhnt ift, vor allem auf die geiftige zu
fehn, der erfennt mit grüßendem Auge neben den Nußpflangungen unfrer
Kultur noch dunkle Weiten ungerodeten Landes: urbar gemacht, werden
fie einft wogen vom goldenen Korn für die Seelen. Wenn ihn das Leid
der Brüder jchmerzt, ruft ihn die Fülle der Aufgaben für frohe Arbeit
von der Klage zur That, und immer wieder, wenn mit den neuen
Ernten neue Saatkorn reift.
Da liegt das Gebiet der äfthetifhen Erziehung des Menfchen fo gut
wie unbebaut vor unferm Bid, Urwald noch an der einen Stelle, an
der andern Sumpf, der einjt mehr war. Aeſthetiſche Erziehung — wie
wenige wiljen auch nur, um mie unüberfhägbar Wichtiges ſich's da
handelt! Wefthetiiche Erziehung — fie denken an jo etwas dabei, wie an
Erziehung zur Feinichmederei, daß man die feinen Weine und Zigarren
auf der Lurustafel fünftleriicher Genüffe recht unterfcheiden und würdigen
ferne. Sie wiſſen nicht, daß gerade das SHunftgigerltum kein Ding jo
ſehr zu fürchten hätte, wie äjthetifche Erziehung. Sie wiſſen nicht, dat
felbft, wenn mir Kunſt betrachten und hören, das Hunftwerf ung nur
ber Führer ift dahin, wo mir raften, während der „Aeſtheſe“ mit der
Schwächlichkeit feiner einfeitig überfeinerten Nerven nicht weiter fann,
al8 bis zu Leinwand oder Noten= oder Buchblatt. Nicht die Kunſt
genießen wir in der Kunſt, jondern im legten wieder die Natur,
wie fie da draußen als Landichaft fi) auslebt in unendlichen Farben
und Formen und drinnen in uns als das Reich der Phantafie, mil:
Kunftwart 2. Dezemberheft 1898
— 181 —
lionenfach bevölkert von Erinnerungen und Ahnungen, von Gefühlen
und Gedanken, die Natur, wie fie durch Leben und Lieben und Sterben
der Tiere und Pflanzen und durch Werden und VBergehn der Berge und
Deere und Erden und Sonnen und wie fie durch die Geſchichte der
Völker geht und durch die Geſchicke der einzelnen Menſchen, die Natur,
wie fie Spricht mit Lichtern und Schatten und mit den Farben und
Klängen und Rhythmen. Mit all den Augen, mit all den Geiftern der
Künftler, denen er zu folgen vermag, genieft, wie mit verhundert-
fachtem Eingelleben, der äfthetiich wahrhaft Gebildete durch die Kunſt
die Natur, das Leben, und er erfreut ſich dabei zugleich der Natur in
denen ſelbſt, die ihn führen. Wie edel der Rauſch dejjen fei, der im
echten Kunſtgenuß „den Gott erleidet“, gerade die äjthetiiche Erziehung
lehrt, daß er nicht das letzte zu fein braudt, dieſer Rauſch, daß er
nur die Empfängnis bedeuten fol, die zu ermweitertem Leben führt.
Neithetifhe Erziehung ift Erziehung zu gehobenem Lebensgefühl, und
damit zur Freude. Wann wird einmal die Allgemeinheit die unverfiegliche
Quelle von Glüd ahnen, die ſolche Erziehung den Menſchen erfchlöffe ?
Unfre Volkswirtſchaft entdedt eben jet mit Staunen die gewaltige materielle
Wichtigkeit der Kunſtpflege. Aber nod) feine StaatSmweisheit fieht, wo
der Kaviar fürs Volk jo billig zu beichaffen wäre. Es muß erft eine
Schar von Vorkämpfern erjtehen, welche die Segnungen einer äfthetifchen
Erziehung am eignen Xeibe erfahren hat. Die aber wächſt jegt in
den Familien derer heran, „die was davon erfannt“.
Bon der Erziehung der Empfänglichteit für bildende Kunſt und für
Muſik ift auch in den legten Jahrgängen des Kunſtwarts ziemlich oft
die Nede gemefen, von der Erziehung zur Genußfähigkeit an Dichtung
mehr in den früheren. Es ijt an der Zeit, daß wir aud) diejen Fragen
wieder mal näher treten. Greifen wir für heute eine heraus, die zur
Weihnachtszeit befonder8 „brennt“, die Frage nad folder Jugend—
literatur, die zur Genußfähigkeit an Dichtungen mitbilden kann.
Auch für die Erziehung zum Poefiegenuß kommt noch mandes
andere mit in Betracht — davon Sprechen wir ein ander Dal. Aber
felbft die Jugendliteratur fällt nicht etwa ganz unter unfre Heutige Be—
trachtung. Die moraliihen ſowohl wie die wilfenihaftlihen Bücher be—
rühren unjern Gegenjtand nur am Rande. Beim Lejen in einem wiffen-
Ichaftlihen Lehrbuch überwiegt an Intereſſe das Was fo jehr das
Die, dak auf findlicher Stufe der Geiftesthätigleit die Form die befte
ift, die das Erfaffen der mitgeteilten Gedanken am meiften bejchleunigt
und die erfahte Thatſache am fefteften einprägt. Bei moralifden und
religiöfen Büchern, bei Katechismus und Bibel 3. B., Tiegt das Verhältnis
ſchon anders, aber die Erläuterung des Lehrers erſeßt, was etwa an Ans
Ihaulichkeit und Wärme fehlt. Für die Bildung des Berjtändniffes von
Dichterwerfen bei der Jugend kommt deinnad) vor allem die freie Lektüre
in Betracht, mit der das Kind fi vergnügt. Alles Lernen geht durchs
Ueben. Bon der Vergnügungs-, ber Unterhaltungsleftüre wird es ab—
hängen, ob ein junger Geift zur Genuffähigkeit an echter Boefie erzogen
oder Dafür verdorben wird.
Aber der Pädagoge alten Schlages fagt: halt — ſchon die Worte
Vergnügen und Unterhaltung Hingen meinen Ohren nicht Tieblih: auch
die freie Lektüre des ſtnaben belehre und erziehe ihn, indem fie ihn anleitet
Kunftwart
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zu allem Schönen, Guten und Wahren! Das war der gutgemeinte Ge—
danfe, der zum Bater ward unferer fogenannten „Ipezifiichen Jugend-
literatur‘. Sehen wir nach, wozu er führen mußte.
Der wirkliche Dihter Hat feine andere Abfiht, als: den Ein-
drud, den irgend ein Stoff auf ihn macht, wenn er fi innig in ihn
einlebt, auf andere zu übertragen. In der Stärke feines Denkens,
Fühlens und vor allem feiner Phantafie liegt feine Ueberlegenheit über
dem Leſer, liegt, was ihn berechtigt und befähigt, jeim Bild von dem
gewählten Stüd Welt vor andere förperhaft hinzubannen, fo dab es
vor ihnen lebt gleich einer Wirklichkeit. Wirklichkeit ift e8 nicht, aber es
ift Wahrheit: des Dichter feinere Organe fonnten dem Leben dod
nur entnehmen, was in ihm ftedte, da8 lehren fie nun den Leſer au
ſehn. Der hat 3. B. in einer GerichtSverhandlung erjt jüngft von einem
verlaifenen Mädchen gelefen, das zur Kindsmörderin ward. Ueber ein
furzes Mitleid bracht’ ihn das nicht hinaus. Nun lieft er im Goethe
von Gretchen, es faßt ihn wie den Fauſt, der dabei war, der Menſch—
heit ganzer Jammer an. Und doc gab jene Verhandlung Wirklichkeit,
Gretchen war feine: fie hat nicht gelebt. Und hat gelebt und lebt doch
überall, fie ift Wahrheit. Was ergriff ihn? Nicht der Stoff, der ja
‚derjelbe war mit dem der Gerichtsverhandlung. Alſo that e8 die Form,
alfo that e8 der Dichter. Er war, im Sinne unferer einleitenden Be-
trahtungen, Führer zur Natur, zur Wahrheit, zum Leben geworden.
Daß eine echte Dichtung fittlich wirkt ohne jede Tendenz, ift nicht
nur bei der Gretchen-Tragddie, es ift ohne Frage immer der Fall,
wenn fie nur ein fittlicher Dienjch gejchrieben hat. Denn eine gelungene
Dichtung bedeutet ja eben das gelungene Uebertragen des eigenen Innern
auf den Geniefenden. Stellen wir uns nun vor, ein Tendenz-Schrift—
fteller hätte das Gretchen-Thema behandelt. Er hätte verfchiedene Mög:
lichkeiten gehabt. Er hätte mit möglichſter Deutlichkeit die Unfittlich-
keit des Werhältntjies von Fauſt und Gretchen jchildern fünnen. Dann
hätt er verſuchen müffen, die beiden als entiprechend umnfittlich zu ſchil—
dern. Oder er hätte diefes Verhältnis als Folge des Leichtſinns be>
Ichreiben können, zur Warnung vor foldem. Oder den Hindsmord,
zur Warnung, daß eine ſchlimme That andere nachzieht. Gr hätt es
nod) anders machen fönnen, aber gerade wegen feiner fittlihen Tendenz
niemals mit der anſchaulichen und eben deshalb auc niemals mit der
moralijhen Wirkung Goethes. Durch das Zurüddrängen anderer Er-
ſcheinungen zu Gunften der tendenzidöß bevorzugten hätte ja unbedingt
die Lebensfülle des Ganzen, ferne Wahrfcheinlichkeit, ſeine Anſchau—
lichkeit und damit feine Ueberzeugungskraft leiden müffen.
In unfern fpezifischen Jugendichriften nun Herrfcht im Großen und
Ganzen diefe Blendlaternenbeleuchtung der Tendenz. Sie ift oft noch was
Schlimmeres: die Berfafjer haben in ihren Blendlaternen Laterna magica-
Bilder, die fie auf die Dinge werfen; der fogenannt religiöjen, mora=
liſchen und patriotiichen Tendenz zu lieb wird die Wirklichleit auf das
Unbefangenste gefäliht. Dann denft man wieder an die Unterhaltung,
und jo fommt nad einem Slapitel Gottjeligfeit ein Kapitel Graufamteit
-oder nah einem Sapitel Byzantinismus ein Kapitel Läppifchleit dran.
Ih will davon nicht viel im Einzelnen fprechen. Man leſe Wolgaſts
„Elend unserer Jugendliteratur” oder verfolge die Hamburger „Yugend=
2. Dezemberheft 1898
— 185 —
Ichriften-Warte**. Ein befonderes Kennzeichen diefer Jugendliteratur ift
dabei die unbemußte Geringihägung des weiblichen Geſchlechts. Dan
vergleihe daraufhin nur den Spemannſchen „Guten Kameraden“ mit
feinem Seitenftüde für Mädchen, dem „Srängdien“. Im Knabenbuch
doch auch Nüsliches, Anregendes, Ernfteres, im Mädchenbuche faft nichts
al3 Nichtigkeiten. Für die Frauen kämen noch andere Gründe als die
der äfthetifchen Erziehung in Betracht, um fich gegen die Herzblättchen-
und fonftige Gänfezudtliteratur in einer Zeit aufzulehnen, die doch auch
im Mädchen weniger und meniger nur die Heiratsfandidbatin, ſondern
den Menjchen fieht.
Was aber ift die Folge von folder Jugendlektüre? Entweder:
fie wird den jungen Lefern langmeilig, fie jehen hinter dem Weltbild
den aufgehobenen Schulmeifterfinger durchſcheinen, den verhaßten, und
flühten fih vor ihm zur Bücherei des Vaters oder zur Leihbibliothet,
wo fie dann mahllos verfhmaufen Nütliches und Schädliches. Oder:
fie gehen auf den pädagogifchen Leim. Armer Junge, armes Mädel,
das moralisch fo bleihlüdtig ift, daß e8 durch daß literarifhe Häma—
togen von Tendenzjugendichriften aufgebefjert werden fann! Zange vor:
halten mwird’8 nit. Aber ausgiebig lange vorhalten wird die Verderb—
nis des Geſchmacks durch eine Geiftes- fozufagen Nahrung, die nicht
zur Natur, zum Leben, zur Wahrheit führt. Dem echten Gottesdienfte
der Kunſt, bei dem die Freude zum Gebet und das Gebet zur Kräftigung.
wird, ihm find die auf ewig verloren, die dauernd an den fpezifiichen
Jugendſchriften Gefallen finden. Aber gaftlich öffnen fich ihnen die Pforten.
unfrer Familienblattliteratur mit all ihren Ieihbibliotheffülenden Ablegern.
ALS Theodor Storm von der „Deutfhen Jugend“ aufgefordert.
mar, eine Jugenderzählung zu jchreiben, ſandt' er ihr nad) geraumer
Zeit den „Pole Poppenſpäler“, mit einem Begleitwort. „Die Schwierig-
feit der Jugendichriftitellerei war in ihrer ganzen Größe vor mir auf-
geftanden. »Wenn du für die Jugend fchreiben willſte, — in diejem
Paradoxon formulierte es fid) mir — »ſo darfſt du nicht für die Jugend
ſchreiben!« Denn es ift unfünftlerifch, die Behandlung eines Stoffes ſo
oder fo zu wenden, je nachdem du dir den großen Peter oder ben
Heinen Hans als Bublitum denkſt.“ Das ift ja fo einfach, fo felbftver-
ftändlih: wenn die dichterifhe Phantafie einen Stoff einfhmilzt und
wieder außfryitallifiert in einer Verkörperung, fo hat er eben in allem
Wejentlihen eine Gejtalt. Die lebt nun im Bewußtſein des Poeten
als ein Organismuß, dem er nicht Glieder abfchneiden oder anleimen
oder zu andern Formen verrenfen fann. Wen Storm „Baradoron“
überrajcht, der bedenke, daß man bis zu den Philanthropen fpezififche
Jugendfchriften kaum gekannt Hat. So jollten die Kinder alles Iefen,
* Die „Jugendicriften- Warte“ Tann durh E. U. Hellmann, Hamburg,
Mohldorfer Str. 9, bezogen werden oder im Buchhandel dur E. Boyfen für
nur 1,20 Mark jährlid. Wir nennen nod) ein paar andre Schriften, die hier
in Frage fommen: Wolgaft, „Das Elend unferer Jugendliteratur“ (2 ME.) und
„Ueber Bilderbud und Jllujtration“ (40 Pf.), beide im Selbjtverlag, Hamburg,
Dttoftr. 18. Werner: „Beiträge zur literarifchen Beurteilung der Jugendichrift“
(so Bf.), herausgegeben vom Hamburger Prüfungsausfhuß für Jugendidriften
im Selbitverlag. Storms „Pole Poppenfpäler“ ift jet verſuchsweiſe in einer
Ausgabe für die Jugend für 50 Pfennige neugedrudt worden, mit einer Eins
leitung von Wolgast. Verleger davon: George Weſtermann in Braunfchmeig.
Kunftwart
— 154 —
was die Erwachſenen leſen? Alles gewiß nicht, aber fie follen nichts
lefen, daß nicht auch den Erwachſenen erfreuen fünnte. Es gibt nur ein
wirklich dichterifches Schrifttum, nicht je eines für große und für fleine
Zeute, nur der Schriftiteller kann fi feinem Publiko „anpafjen“, der
Poet nicht, ohne daß er fich ſelber verneinte. Hier: für die Jugend
abfichtlich eingerichtete Jugendichriftitellerei und auf derfelben Linie
fpäter abfihtlih auf den Geſchmack der Leute eingerichtete Unterhaltungs
leftüre mit Familienblattgemüt und Senfationenfpannung. Dort: ohne
Hinblid auf irgend ein Publikum aus dem feelifchen Bedürfnis des Poeten
erwachſene Dihtung. Das find zwei verfchiedene Welten. Die erfte
macht den Menſchen zum Sklaven des Stofflichen, die zweite zum Herren
darüber. Man kann nicht für die zweite zum Herrn bilden, wen man
zuvor in ber eriten zum Sklaven verderbt Hat.
Für den äſthetiſchen Erzieher Tiegt demnach die Aufgabe fo: gib
den Snaben und Mädchen Dihtungen zu lefen, deren Form ihnen ſchon
verständlich und deren Inhalt ihnen nicht ſchädlich, ſondern womöglich
gefund ift. Der wirkliche Jugenddichter, wie Storm mit feinem „Pole
Poppenſpäler“ einer war, wird deshalb, wenn er „für“ die Jugend
fchreiben will, einfach feine Stoffe forgfältigft darauf hin prüfen, ob fie
dem unreifen Geifte Schaden fünnen. Der äfthetifche Erzieher aber wird
auch aus den Dichtungen „für“ Erwachfene eine Anzahl getroft den
Jungen und Mädeln in die Hand geben können. Zumal man’s mit
dem Nicht-Berftehen nicht gar jo ängjtlich zu Halten braucht, fo weit nicht
Neigungen ins Spiel kommen.
Borläufig wird die Jugendliteratur im deutſchen Volk faſt nur nach
geihäftlihen Grundfägen verbreitet. Unſere Tageskritif beipricht ihre
Erzeugniffe, die aud ganz abgejehen von der äſthetiſchen Erziehung
doch wahrhaftig wichtig genug find, in 99 von 100 Fällen einfach, in-
dem fie Wajchzettel abdrudt — was geht fie die Geiftesnahrung der
Werdenden an, fie braucht Pla und Honorare für den Theater- und
Konzertllatih! Die Zeitichriften machen's auch nicht viel beffer, ſelbſt
Blätter, fogenannte erjten Ranges ſchämen fich nicht, über Jugendbücher
völlig kritikloſe Alleslobereien abzudruden. Wie's die Weihnachtskataloge
maden, haben mir voriges Jahr gekennzeichnet. Die Buchhändler find
und müſſen, Gott ſei's geklagt, in der Mehrzahl fein einfach Kaufleute,
die am liebiten abjegen, was die höchſten Prozente abmirft. Und die
ungeheure Maſſe der Jugendſchriften werfen nicht einmal fie ins Bolf.
Die wuchert entrüdt den Augen ſelbſt der allerzahmiten Kritik, ungefähr
fünfhundert „Groffogefhäfte”, die ohne Beziehung zum Buchhandel
ftehn, laſſen ungefähr dreitaufend Neifende jahraus jahrein bei allen
mögliden Buchbindern, KHurzmarenhandlungen, Krämern, SKolporteuren
„in“ diefem Schund „machen“, der dann in vielen Millionen von Exem—
plaren unter die Leute kommt. Gin einziger Jugendichriftenverhöferer
ſolcher Art faufte von einem einzigen Jugendfchriftenfabrifanten 55000
Eremplare eines einzigen jolden Jugendbuhs auf ein Mal. In all
dieſen Fällen find die Zwiſchenhandelskoſten jo groß, daß die Herſtellung
des betreffenden Ding nur ein paar Pfennige koſten darf. Und
mir wundern uns, wenn die äfthetifche Kultur der Deutjchen herunter-
gelommen: ift.
2, Dezemberheft 1898
— 15 —
Unire heutigen Ausführungen haben ihren Zwed erfüllt, wenn fie
den Kämpfern gegen das jetige Jugendſchriftenweſen auch in unjerem
Kreife zunächft einmal wohlwollende Beobachter gemönnen. Eine Probe
der Arbeit diejer Männer gab das dem vorigen Hefte beigelegte Ver—
zeichnis. Wir denfen in mandem Einzelnen anders als fie, im Grund—
fäglichen und bei weiten auch bei den meijten Anmendungen der Grund—
fäge ftimmen wir ihnen mit herzlicher Anerkennung und den allerbeiten
Wuünſchen für das Gedeihen ihrer Arbeit zu.
47 N
Wleibnachtssebau.
Neues Erzählendes,
Das Bild des MWeihnahtsbüher marftes ift abgebraudt, aber es
ftimmt noch immer, Hunderte von Buben, von freilich nicht fehr kaufluſtigem
Publikum umbrängt, vor jeder ein Ausrufer, der feine Ware als non plus
ultra anpreijt, einige ehrliche, jehr geplagte „Kommiffionäre” zwiſchen beit
Reihen, zahlreichere nicht gerade unehrlihe, aber die Vermittlung rein ge—
ſchäftsmähig Betreibende, Hier und da ein jpöttifcher Beobachter. Wer ein
neueres Bild wünſcht, mag etwa an einen raſch hinſtrömenden Fluß denken, in
den die Buchhändler ihre neuen Bücher geworfen haben; an den Ufern halten
die Kritiker Ausſchau, gemaffnet mit langen Stangen, halten hier und da ein
Bud) auf und fiſchen's Heraus — das Publitum aber ftürzt ſich meijt über das,
was gerade irgendwo angeſchwemmt mirb.
Ich meinerfeits habe zuerst den neuen Roman Wilhelm Jenfens
„Das Bild im Waffer* (Dresden, Karl Reißner) herausgefiſcht. Jenſen fährt
fort, in unfre „rauhe, ſchnöde Wirklichkeit" Poeſie Hineinzubichten. Diesmal
hat er fi eine Meine Prinzeffin (in Wirklichkeit ift e8 freilich Feine), die im
einem einfamen weißen Schloffe Iebt, und dazu einen Primaner, der mit acht—
schn Jahren über den Unterſchied masculini et feminini generis noch jehr
mangelhaft orientiert ift, erfunden und läßt fie ein wunderſchönes Jdyl mit
einander durchleben, das freilich durch ein jehr böfes MWeibsbild, eine fchein-
heilige Paftorstocdhter Namens Agneta ein tragifches Ende nimmt. Diejes
Idyll iſt zwar ſehr „unwirklich“, aber doch gejchieft in die Wirklichkeit hinein
gefett, und da Jerfen den Zauberftab, der Stimmung gibt, in der That be—
figt und feinem Primaner auch eine Entwidlung zu geben vermag, jo fommt
ein immerhin fejjelndes Buch zuſtande. Im einzelnen find Feinheiten da, die
unfere Jüngeren immerhin zum Nachdenken barüber bringen follten, ob es
nötig war, den Symbolismus von auswärts zu holen. So iſt e8 3. 2. ehr
ſchön dargejtellt, wie dem Primaner bie Natur zu [eben beginnt. — Stimmung
und Yeinheiten wie bei Jenfen darf man bei Ernſt Wichert nit ſuchen,
aber er fteht dem Leben klaren Blides gegenüber und ſpinnt fein Garn mit
Behagen und ſchätzenswerter Sicherheit. „Vom alten Sclage* heißt fein
neneites Werl (derf. Verlag), es ift vom alten Schlage, es könnte aus den
Zagen ſtammen, wo Edmund Hoefer und Fr. W. Hadländer deuifche Lieblings
autoren waren. Doch ift der Stoff modern, unferem Zeitalter der Tehnif und
der Kolonialbejtrebungen entnommen, das ganze ein gefundes, unterhalt-
james Bud, das man ruhig auch in eine VoltsbibliotHet ftellen könnte, mo
Kunftwart
— 16 —
e8 viele eifrige LZefer finden würde. — Iſt Wicherts Werk unterhaltfam, fo iſt
Kurd Laßwitzens „Auf zwei Planeten“ (Weimar, Emit Felber) geradezu fpan«
nend, Es behandelt die Eroberung der Erbe durch die Bewohner des Mars.
Alſo etwas im Stil Jules Vernes? Ja, aber wie die beutfchen Autoren, wenn
fie fi energiſch auf etwas legen, die Franzoſen oft übertreffen, fo auch Laß—
wig feinen franzöfiihen Vorgänger. Laßwitzens Phantafie ift mächtiger, und
er war aud) imftande, feinem Buche Gedanfengehalt zu verleihen; ber aſtro—
nomifhe Roman wird zum Zukunftsroman & la Bellamy. Ich kann mid) nun
zwar mit ber Tendenz de8 Nomans nicht befreunden, aber das hindert mich
doch nicht anzuerkennen, daß er wohl das Beite ift, was wir in dieſer Art be—
figen. Die Geitalten gewinnen Leben, e8 gibt ba wirklich poetifhe Entwick—
Iungen, wie 3. B. bie Vermenſchlichung ber Martierin La, immer wieder aber
zwingt einem bie Größe ber Phantafie und des Kombinationsvermögens Be—
munberung ab.
Unnähernd die nämlichen Tendenzen wie Laßwitzens Wert hat dag neue
Bud von Bertha von Guttner, „Shah ber Dual* (Dresden, Pierfon).
Es nennt fih ein „Phantafieftüd*, aber Phantafie ift wenig darin und ein
Stüd ift e8 aud nicht, es gibt Stüde!l Man fünnte e8 einfad) als eine durch
eine Einkleibung zufammengefaßte Aphorismenfammlung über moderne fo=
siale Fragen bezeichnen. Frau von Suttners Ideen und Bejtrebungen ver—
dienen unbedingt, daß man ihnen näher tritt — ich fehe das ein, empfinde ich
perfönlich auch immer wieder, daß ich mit ihr garnichts gemeinfam habe, Für
die „Menfchheit” kann ih mid mit dem beften Willen nicht begeiftern, denn
bie ift mir ein Begriff, und jedes Volk hat wohl feinen befonderen Begriff
von ihr; das deutfche Blut aber, das mir in den Adern fließt, ift eine Rea=
lität und, wie ih immer wieber merke, ein ganz beſonderer Saft. Ich Bin
fein Chauviniſt, aber gerade auf dem Gebiet, auf das ich gejtellt bin, auf dem
der Kunft, ift das Vollstum beinahe alles und könnte die europätfhe Menſch—
heit, die Frau von Suttner und ihresgleihen wünſchen, wahrfheinlid wenig
fein. Ein Beweis? Bon all den deutfchen Poeten, die Franzofen, Norweger,
Auffen nahahmten, ift bisher einzig Gerhart Hauptmann etwas Rechtes
geworden — ber an fein enges Schlefiertum gebunden ift. Die Blüte ber bis—
herigen internationalen Kunſt aber heit — Trilby. Natürlich fließen Dieje
meine Anfchauungen bie gefunde Wechſelwirkung der Nationalliteraturen (Die
übrigens ja uralt, keinesfalls erit „modern“ ift) nicht aus, ja, wer kann etwas
dagegen haben, wenn fi ein deutſcher Dichter auch einmal kühn über die
Grenzen feines Vollstums hinauswagt!
Frau von Suttner ift Ariftofratin in ihrer Art, Johannes Richard
aur Megede ift aud) Ariſtokrat, aber meld) ein Unterfchied! Die Frau fennt
im Grunde das Leben nicht, der Dann kennt es ausgezeichnet, und doch iſt
fein Bild des Lebens nicht weniger ſchief als das ihrige. Zur Megedes neuer
Roman „Bon zarter Hand* (Deutiche Verlagsanitalt) ift talentvoll, mie allcs,
was dieſer Schriftiteller fchreibt, voll feiner Beobadjtungen, vor nichts zurück—
bebend, aber wie ungefund, übertrieben, gezwungen erſcheint alles! Maßgebend
ift zuletzt nur die Senfation, der zuliebe der hochariſtokratiſche Defadente Held
benn auch erft zum Schluß merkt, daß ihn fein grünäugiges Mädchen Tiebt,
nachdem er felbjt zum Mörder und feine Schwiegermutter zur Giftmifcherin
geworben ift. Doch wird unfer Publifum zur Megedes Werk verfchlingen,
das Publitum, das ohne Senfationen nicht leben mill nod) fann. — Es gibt
nod) ein anderes, das fogenannte Familienpublifum. Auch diefes ift Heute
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— 17 —
nicht mehr fo bejcheiden wie vor zwei Jahrzehnten, e8 verlangt, wenn nicht Sen=
fationen, doch ftärkere Wirkungen und dann fo etwas wie einen ethifchen oder
fozialen Gehalt. Jhın kommt Gujtav Freuffen mit feinem Roman „Die
drei Getreuen“ (Berlin, Grote) entgegen, ber gleihfalls Talent verrät. Man
merkt bier und ba, daß der Verfaſſer ein protejtantifher Theologe ijt, im
Herzen ift das Werk aber doch weltlich.
Viel energifcher auf ben außerpoetiſchen Zweck los, ala das Werk des
Proteftanten gehen zwei Werte fatholifchen Urfprungs, Jofepp Sp illmannss.J.
„Zapfer und Treu“ (Freiburg, Herder) und Charles be Vitis „Roman
einer Wrbeiterin* (Köln, Bachem). Wie der Kunſtwart zur konfeſſionellen
Literatur jteht, bedarf faum der WAuseinanderjfegung: er nimmt Das Gute,
wo er es findet, und hätte ganz und gar nichts dagegen, wenn das fatholifche
Deutfhland dem deutſchen Volke im Berhältnis ebenfoviele poetifhe Talente
Ihentte, wie das proteftantijche bisher gehabt hat. Wir ſprechen nicht einmal
gegen die Tendenz im Roman ohne weiteres, wir laffen fie gelten, fobald
fie den Zebensgehalt des Werkes nicht verzerrt oder gar zerjtört. Das thut
fie nun freilih in dem Romane Spillmanns. ES ijt ſicher eine Hübfche Jdee,
die franzöfifhe Revolution durch die Auffaljung eines gläubig =Tatholifchen
Schweizer-Offiziers zu fpiegeln, aber das mu dann auch mit Wahrheitsliebe
geſchehen, der Pater Spillmann, der die neueren katholiſchen Werke über die
franzöfifche Nevolution fennt, darf dem Schweizer nicht fortwährend über Die
Achſel hauen. Hier wird die franzöfifche Revolution auf eine große Frei—
maurerverſchwörung zurüdgeführt, und die Schweizer Offiziere willen ſchon vor
der Eröffnung der Nationalverfammlung genau, daß es dem Könige ans Leben
gehen wird! Auf weitere Einzelheiten will ich mich nicht einlaflen, nur nod
die Spekulation auf die unvornehmen Inſtinkte der Leſer vermerken, die fid)
durch den ganzen Roman hindurchzieht: der Held muß wiederholt einen Ja—
tobiner ober Sansculotten durdjprügeln. Etwas treuherziges Schweizertum ift
troß alledem in dem Werke, und das iſt feine beite Seite. — Ohne Vergleid)
höher fteht de VBitis’ Werk. Der Verfaſſer fheint ein Luxemburger zu fein,
ber lange in Paris gelebt hat. Sein Bud) ftellt die Arbeiterinnenverhältnifie
der Weltitadt dar, mit einer Treue und Offenheit, die ſehr bemerlenswert find.
Die Gefhichte felbit iit etwas romanhaft, aber immerhin nicht gerade uns
natürlich, ihr Stil ift, wie mir fcheint, von Balzac (nicht von Zola) bejtimmt.
Etwas Tendenz ift aud) da, aber feine aufdringlide — mer läßt ſich die
katholiſche Kirche als foziale Helferin, und zumal in einem romaniſchen Lande,
nicht gern gefallen? Trotz feines Statholizismus iſt de Vitis ein relativ freier
Geift, der weiß, worauf e8 ankommt. Leuten wie ihm fünnen wir jehr wohl
die Hand zur Waffenbrüderfchaft bieten, Leuten wie Spillmann nidt.
Was fonit nod) zu befprechen wäre, muß warten bis hinters Felt.
Adolf Bartels.
Zur Literaturgeichichte.
Die von den beiden Profejforen Fried rich Bogt und Mar Koch
herausgegebene „Geſchichte der deutſchen Literatur von den ältejten Zeiten bis
zur Gegenwart“, erfchienen zu Leipzig im Bibliographiſchen Inſtitut, hatte die
Aufgabe: die Entwidelung ber deutſchen Literatur von ihren Anfängen bis
auf unfere Tage auf Grund der geficherten Ergebniffe der germanijtiiden und
allgemein literargeſchichtlichen Forſchung aus den Quellen durchaus gemein
verftändlicd; darzuftellen. Die beiden Verfaſſer haben ſich derart in die Auf—
gabe geteilt, dab Vogt das Mittelalter daritellte, dazu den Uebergang bis zur
Kunftwart
— ]E5 —
Opisiihen Reform, d. 5. bis zu dem Bruch mit ber alten Boltsliteratur, wie
er fih im Anfang des ı7. Jahrhunderts durch die Begründung einer Nenaif-
fancedihtung in deutſcher Sprade vollzog. Den meiteren Berlauf ber Ent—
mwidelung bis auf unjere Tage fhildert dann Mar Koh: Der erite Zeil des
Werkes darf als wertvoll bezeichnet werden. Vogt beherrfcht feinen Stoff mit
fiherer Hand und verjteht es einerfeits, die hervorragenden Berfönlichkeiten
als Träger der Literatur ihrer Zeit, fomweit dies möglich ift, plaſtiſch heraus—
arbeitend darzuftellen, anderfeit$, die dürftigen Refte — wir haben da natürs
lich befonders die Ältere Zeit im Sinn — als Steine zu einem wohl geſchloſſenen
Bau zufammenzufügen. So gewinnen auch die fünftlerifch mwertlofen Erzeug-
niffe der Literatur im kulturgefhichtlihen Zufammenhang als Ergebnifle der
herrſchenden Jbeen ber Zeit ihren Wert, und gerne überlaffen wir uns ber
Führung bes Hiftorifer8, der mit weit umfafjendem Blid und fachlich wohl:
begründetem Urteil fo wohl abgerundete anfhauliche Bilder entlegener Zeiten
vor unseren Augen entrollt. Bon den großen Epen gibt Bogt, um aud ein
einzelnes zu erwähnen, Mare Inhaltsangaben, die durd reichhaltige Texrtproben
(im Urtert und in neu hochdeutſcher Uebertragung) unterjtügt werden. Daneben
vernachläſſigt er auch die philologiſch-hiſtoriſche Kritik nicht; die befannten
Streitfragen 3. B. über das Verhältnis der Ribelungen-Handicriften, werben
in Kürze in ihren weſentlichen Punkten erörtert, und der Berfafler begründet
eben fo fnapp und ſcharf feine Entfcheidung, die 4. B. gegen die Lachmannſche
Liedertheorie ausfällt. Die Abbildungen, fachimilierte Text- und Bilderproben
mittelalterlider Handidriften, find mit Sachverſtändnis gewählt und in ihrer
tehnifhen Ausführung vorzüglid. — Nicht fo uneingeſchränkt können wir
den zweiten Teil des Buches loben. Wir haben zwar nichts dagegen einzu=
wenden, dat Koch aud) Mozart und Haydn gelegentlih erwähnt, daß er Richard
Wagner einen guten Pla in der Literaturgefhicdhte anweiſt, noch auch dagegen,
dab wir aud auf Namen von bildenden Künftlern ftoßen, da ja der Hinmweis
auf allgemeine fulturgefhichtlihe Zufammenhänge immer aufflärend ift. Wir
find aud) ganz damit einverftanden, daß der Berfaffer die Entwidelungs-
geihichte nicht im Einzelbiographien auflöft, fondern 3. B. ein großes Zeitbild
entwirft, in deren Mitte er die Geſtalt Goethes ftelt. Aber dieſe Zeitbilder
find nicht von ber plaftifchen Klarheit, die Vogt, allerdings begünitigt von dem
weiteren Abſtand der Zeiten, erreicht hat. Mehr noch haben wir auszufegen
in Bezug auf die äfthetiihe Wertung verſchiedener namentlid) moderner Ers
iheinungen. Die fühle Behandlung einer fo glänzenden und urfprünglichen,
einer fo überragend großen Erzählerperfönlichkeit, wie der Gottfried Kellers,
das Lob, das einem Sudermann geipendet wird, die zum Teil wunderliche Aus—
wahl unter den modernen Dichtern, bei der mitunter der Zufall mitgefprocdhen
zu haben ſcheint, und manche Einzelurteile machen e8 uns Doch zweifelhaft, ob der
Herr Verjaffer gut daran gethan bat, die Grenzpfähle feiner Schilderung ſoweit
vorwärts zu rüden, ob er nicht beifer die Gegenwart nur in einem allge=
meinen UWeberblid behandelt hätte. Vereinzelte Jrrtüimer, wie dab Uhlands
Geburtsjahr falfch angegeben wird, fommen neben dieſen Fehlgriffen im äſthe—
tiichen Urteil nicht in Betracht. Uebrigens wollen wir aber gern zugeben, daß
auch der Kochſche Zeil der Literaturgefhichte erfreuliche und glänzende Partien
enthält, und daß man fid) feiner Führung zum minbeiten bis zu Goethes Tode
wohl getroft anvertrauen fann. Für die neueſte Zeit böte die Bartelsjche
Deutſche Dichtung“ eine unferes Erachtens allerdings notwendige Ergänzung.
— In Bezug auf die illujtrative Ausstattung können wir dem Buche auch in
2. Dezemberheft 1898
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feinem zweiten Teil nur volles Lob fpenden. Die trefflichen Bildniſſe und
die Schriftproben find in der That geeignet, in mancher Beziehung als wirk—
liche Suftrationen, als Erläuterungen zu bienen, die ben Beitgeift veranſchau—
lien. Das bunte Bild der Schlußſzene aus Wagners Parfifal freilih führt
ſchon an die Grenze, wo das Bilderbuch beginnt, das die beutfche Literature
geihichte (vgl. Robert König!) folange eniwürdigt hat. Paul Shumanı.
Neue Bilderwertfe. j
Bei jedem Ueberblid über die Runftpublifationen ber legten Zeit haftet
das Auge zunädft an Max Hlingers „Bon Tode, II. Teil“, wovon nun
ſechs Blätter bei Amsler & Nuthardt in einer Mappe mitfammen erfchienen
find, und zwar wohl bie gemaltigften von allen: Elend, Und doch, Mutter und
Kind, Berfuhung, Zeit und Ruhm, An die Schönbeit. Der Preis diefer fechs
Blätter mußte mit 450 Marl zu body angefegt werben, als daß viele dag
Werl erwerben fünnten, das auch nur in hundert Exemplaren gebrudt worden
ift. Aber wo man’s kauſen fann, da kaufe man’, benn man fann nichts
Wertvolleres von künſtleriſchen Werfen laufen! Die bei Breitlopf & Härtel
erfhienenen billigen Lichtdrucke können von der griffellünitleriichen Herrlichkeit
diefer Schöpfungen nicht mehr als einen „Abglanz“ geben. Bei der Wichtig—
feit des geiftigen Elements bei Klinger find fie freilich trogdem nod von
beträdtlihem Werte.
Ueber den andern Großen unter ben „PBhantafiemalern” unfrer Zeit,
Arnold Bödlin, ift etwas fehr Erfreuliches veröffentliht morben;
J. 9. Weber in Leipzig Hat ı5 Holzſchnitte nad Bödlinfhen Gemälden
mit einem guten Bildniffe und einem Fendlerſchen Texte zu einer Mappe vereinigt.
Mande der herrlichſten Böcklinſchen Bildungen: die Toteninfel, das Schweigen
im Walde, da8 Spiel ber Wellen, der Heilige Hain, die Pietà finden fi) unter
den Blättern, deren Format das der Brudmannihen Bödlinwerke zumeift
wefentlich übertrifft, während fich der Preis doch nur auf 25 Marl, alfo etwa
1" Mark fürs Blatt ftellt. Den Einwand „es find ja nur Holzſchnitte“ brauchen
wir bei unfern Leſern nicht zu beforgen: höchſtens der Linienſchnitt hat fidh
vor den medjanifhen Techniken zu fürdten, der Tonfchnitt gewiß nit, wenn
er in befonderen Aunftblättern die Reize ausbildet, die ihm eigentümlid
find. Ein vollendeter Tonholzſchnitt ift fünftlerifeh nichts minder Mertvolles,
als eine vollendete Radierung; feine eigentümlihe Schönheit ift nur bisher in
weiten Kreifen noch gar nidt entde dt worden. Kommt, wie hier, vorzüg—
liher Drud auf japanischen Papier hinzu, fo wird die Freude wirklich rein.
Von den Weberjhen Blättern nad) Vöcklin find einige fo ſchön, fo maleriſch—
deforativ, fo fammetig und faftig auch in der Farbe, daß ih mic) feinen
Wugenblid fcheuen würde, fie an die Wand zu hängen. Jh habe nur zwei
Wünſche: eritens, die Verlagshandlung möge die Blätter womöglich auch eins
zeln abgeben, zweitens, fie möge ihre Verdienſte um die deutſche Holzſchneide—
funft dadurd) erhöhen, daß fie künftig nicht nur das Ütelier, jondern den ein—
zelnen holzſchneidenden Künſtler nennt.
Franz Stud, nad) deifen Bildern jet Franz Sanfftängl in Münden
ein Wert von 50 Photogravären auf bolländifhen Handpapiere bringt (in
Pappe 75, in Lederband 100 ME), ward früher oft als ein Nachahmer Böd-
lins betrachtet. Jetzt ift ale Welt darin einig, dab cr weit mehr als ein bloßer
Nachahmer iſt, und wer diefe Sammlung durchblättert, der findet troß aller
Vielfeitigfeit eine jo unverlennbare Bejonderheit, daß er jenes anfängliche
Mikverftändnis faum nod) veriteht. Kaum fogar, daß wir noch begreifen, wie man
Knnftwart
— 19 —
die Hauptbedeutung Studs, dieſes Meiſters der Vereinfahung im maleri—
fhen Sehn, einit auf ben Wegen ſuchen fonnte, auf denen ſich Bödlins
naturbefeelende Genialität entmwidelt bat, foviel der Berührungspunlte da find,
Mit zwei Worten zu cdharakterifieren ift Stud natürlich nidt. Begnügen wir
uns für heut mit diefem Hinweis auf die in Technik und Gefhmad der Aus—
ftattung volllommene Publikation, und fommen mir auf den, dem fie gilt,
bald eingehender zurück!
Auch das neue Franz von Lenbach-Werk, das gleihfalls bei
Hanfſtängl erfchienen ift, verze ichnen wir heut chen nur. Es bringt (in
Mappe für go ME., gebunden für 100 ME) 20 ftattlidje Photogravüren nad)
Lenbachſchen Bildniffen, von denen natürlid) eine Anzahl wieder weit befannte
Perfönlichkeiten wiedergibt, von geiltigen Größen Björnfon, Virchow, Momme
fen, Bergmann. Auch über Lenbachs Kunft dürfen wir mwieber einmal mehr
fagen, als in diefer Ueberſicht angeht.
Dann gibt eine Mar Liebermann= Mappe, erihienen bei Bruno
und Paul Gaffirer in Berlin, 28 Zeichnungen Liebermanns in fehr ſchönen
Lihtdruden für co Marl, Auch das fei heute nur, den Befchenkern von Ver—
ehrern bes Berliner Meisters zu Nut, vor dem Feſte nod) regiftriert.
Die großen und foftbaren der neuen Bilderwerle, die je nur einem
Maler gewidmet find, wären mit ben bezeichneten genannt. Bon fleinern
unb beſcheidneren hätten wir das neue, d. h. elite „Oberländer- Album“
(Münden, Braun & Schneider, 5 ME.) zu begrüßen. Gin Gruß genügt ja
hier, ein dankbarer Gruß — weiß doch jeder, was ihm mit einem neuen Ober—
länder = Album geboten wird an zeichnerifch meifterlicher Charafterifierungs=
funft und an Humor von jener Art, die wie „ein echtes Herz“ „gar nit um—
zubringen* ift, mit einem Worte: von Hilfsmitteln zur Freude. Der Inhalt
de8 neuen Albums greift übrigens zum Teil um mehr als zehn Jahre zurüd.
Dann ift en Hermann Haulbad- Mbum zu erwähnen, erfchienen bei
Guſtav Weife in Stuttgart, der ı4 Autotypien nad) Originalzeihnungen aus
dem Stinderleben bringt, wozu Anna MayersBergwald Verfe geſchrieben Hat.
Ein Mbum von J. B Engl vom „Simpliciffimus" (Münden, Langen,
ME, 3.50) ijt angelündigt, liegt aber zur Zeit noch nidht vor. So wäre an
dieſer Stelle nur eine einem fehr alten Herrn gewidmete Sammlung nod) zu
erwähnen: „Das radierte Wert des Adrigen van Ditade in Nach—
bildbungen, mit biographifh Fritifher Einleitung herausgegeben von Jaro
Springer“ (Berlin, Fiſcher & Franke, DE. 5.—). Die Nenroduftionen, in Ori-
ginalgröße, find fo gut, wie man’s von Zinfägungen nad Rabdierungen eben
verlangen kann. Gründet fi Heute, wie der Herausgeber im Vorwort be—
merkt, das Anſehen Oſtades hauptſächlich auf feine Delbilder, fo Hat er die
bisher ununterbrochene Dauer feines Reſpeltes bei der Nachwelt zunädjft feinen
Agquarellen und dieſen NRabierungen zu verdanfen, denn „feine Liebenswürdig—
feit machte ihn aud) den gepuderten Rofofomenfchen genehm, und ein glüdlicdher
Humor bejeitigte die Bedenken ber gerehten Biedermaier, die fih in Kunſt—
ſachen immer als Romfahrer fühlten.“
Weiſen wir hier gleich auf eine hübſche Anthologie von Bildern alter Meiſter
hin, die derfelbe Kunfthiftorifer im nämlihen Verlage erjcheinen ließ: „Das
Beben Chriſti“, 37 Foliotafeln, deren Preis Teider nicht angegeben iſt.
Schon dadurch, das fi das Werk auf Reproduftionen nad alten Stichen und
Rabdierungen befchränft, alfo wenigftens aus zweiter Hand gibt, nicht wie bei
den Bildern nad) Stihen nad) Zeichnungen von Tafel- oder Wandbildern aus
Annſtwart 2. Dezemberheft 1898
— 4 -
dritter und vierter, ijt es einheitlicher als 3. B. Pfleiderers viel zu viel ge—
lobte „Meilterbilderbibel*, es mill aber auch gar feine Jlluftrierung ber
Bibel geben, fondern einfach eine Sammlung nad) religiöfen Bildern. Das
wichtigſte Sammelwerf biefer Urt, das in dieſem Jahre vollendet worden, ift
freilich das große Sanfjtänglfche Photogravürenwert „Die Königliche Ge—
mäldegalerie zu Dresden“ mit einem gediegenen Terte von Hermann
Lüde und einer Menge von Nahbildungen von einer Schönheit, die nad) dem
heutigen Stande der Technik nicht zu übertreffen it. Der Preis von 150 Mt.
für daß gebundene Eremplar ift im Verhältnis zu dem Gebotenen fogar auf:
fallend niedrig: man durfte eben bei einer Monographie über eine der aller-
berühmtesten Bildergalerien der Welt mit vielen Aäufern rechnen. Gebt
ſie weit über das Statalogartige hinaus, fo beweiſt Janitſchs „Jlluftrierter
Katalog“ des Schlefifhden Muſeums der bildenden Künfte zu Breslau
(Wisfott, geb. Mf. 10) erfreulich, wie rege ſich jet auch unfre Feineren Samm—
lungen bemühen, wenigſtens durch Fleinere Bilderwerfe ihre Schäße dem Ge—
meingut der Nation anzufchließen.
Ein wirklich wertvolles Sammelmerf bisher nicht publizierter noderner
Kunst verfchiedener Meifter ift die eben bei Heinrich Keller erfchienene Frank—
furter Künftler-Mappe*, „zo Blätter Gr-Folio meift eigenhändiger
Lithographien und Radierungen ber beitragenden Künſtler“ zum Preife von
30 Mk. Die Sammlung ift von der Frankfurter Künftlergefellichaft veranitaltet
worden ohne Jury, d. h.: e8 wurde jedem Mitglied anheimgegeben, nad)
eigener Wahl ein Bild beizutragen. Durd) ihre Originalbeiträge in eigener
Ausführung ift die Mappe ungewöhnlich intereffant, durch die Jurylofigkeit ift
fie äußerft mannigfaltig geworden. Aber man gewinnt vor bem Frankfurter
Kunſtleben doch Achtung dabei. Thoma felbit (deffen Einfluß ſich übrigens
ehr vielfach bemerkbar macht) hat eine wunderſchöne Farben-Ulgraphie in fünf
Platten, „Sübdeutihe Landfhaft”, beigejleuert; fie wiegt eigentlih ſchon den
Saufpreis der ganzen Mappe auf. Wilhelm Steinhaufen hat ein ernft ſchönes
Abdendbild gegeben, das merkwürdig an Millet erinnert.
In der Indujtrie der eigentlihen „Bradtmwerfe* darf man erquid-
licher Weife eine gewiſſe Flauheit verzeihnen; der äußerlich progigen und inner
lich leeren Allerweltsgefallfudt-Spefulationen nad) Art der Bongſchen „Mo—
dernen Kunſt“ und ihrer Geiltesverwandten find diesmal weniger da. Selbſt
der neuefte C. W. Ullers ift dabei nicht einmal fo ſchlimm, wie feine jüngsten
Vorgänger. Auch bei feiner Fahrt „Rund um die Welt“ (Stuttgart, Union,
geb. co ME, fchreibe: fehzig Mark für einen — C. W. Allers!) Hat zwar diejer
Zeichner nicht einen einzigen großen Eindrud, nicht ein einziges maleriſches
Bild aufzufangen vermodt, und feine jtricjelnde Technik ift ebenfo unbedeutend
geblieben, wie fein geiſtiges Erfaſſen. Da er aber einen guten Photographen—
apparat im Auge hat, jo ift bei der großen Mannigfaltigfeit des Erblidten
wenigstens viel ſtofflich Intereilantes ins Bud) gefommen. Wer fi über
Allers noch nicht klar geworden ift, geh einmal von der Stuttgarter „Union“
nebenan zu Cottas Nachfolger und blättere in Wdolf Menzels Bilderwerf
zu Mleijis „Zerbrodhenem Krug“ — diefes Werl in einer billigeren Wusgabe
(zu 12 Di.) wieder herauszugeben, war fehr an der Zeit. Zwar find Hier
nur einige wenige ber Holzjchnitte fo gut, wie die zu Kuglers „Friedrich dem
Großen“, und man empfindet das teilmweis recht unangenehin, aber bei jedem
Bilde fühlt man doch den Geift, der überquillt von Leben und nod) in den
Heinften Nebenſachen das Tüpfchen übers i feht.
Kunftwart
Nennen wir an biejer Stelle „das diesjährige Prachtwerk der Katho—
liken“, das bei Benzinger & Go. in Einfiedeln erfchienen ift. E8 beißt „Der
Vatikan, bie Päpfte und die Zivilifation, die oberfte Leitung der Kirche“,
bat bie Frangofen Goyau, Peratt und Fabre zu Berfaffern, ift eingeleitet vom
Kardinal Bourret, hat ein Nachwort vom Bicomte Meldior de Vogüé von ber
Acad&mie Frangaise, ift von Karl Muth überfegt und „Zur Erinnerung an
die biamantene Jubelfeier ber Prieftermeihe Sr. Heiligkeit Papft Leos XIII.”
herausgegeben. Diefe Angaben Tennzeichnen das Bud für unfern Zweck ge—
nügend. Der Tert ift in jeder Zeile auf feine Uebereinftimmung mit ben
Lehren der fatholifhen Kirche geprüft. Damit ftellt ſich fein Inhalt als eine
interne Angelegenheit unferer katholifhen Mitbürger bin, in die hineinzureden
ung nicht zufteht. Die Jlluftrierung mit ungefähr 550 Bildern ift durchaus
fahlid erläuternden Charakters, die Ausftattung vornehm und gediegen, der
Preis (30 ME, in Ganzlederband mit Goldſchnitt) fo billig, dab ihn nur ein
ſehr großer Abfag erflären fann. Unter den Nidhikatholifen wird das Werl
für diejenigen wichtig fein, Die fi) über die Stellung des Vatikans zu ben großen
Fragen der Wiſſenſchaft und ſtunſt eine erite Anſchauung leicht erwerben wollen.
„Das Rheingold“ nennt fi ein neues Prachtwerk aus dem Vers
lage von ©. Wigand in Leipzig (ME. 45.—). Der bem mädtigen Format ent—
ſprechend auf Flächenwirkung berechnete, braun getönte Einband aus Eſchen—
holy mit grünem Titelgrund und Golddrud nimmt ſich fehr nobel aus. Der
Inhalt befteht auß zwölf großen Vollbildern und vielen Meinen Zeichnungen
von E. Weimar, bie fünftlerifh etwa auf ber nicht eben hohen Stufe von
Hendrichs befannten Wagnerbildnern jtehen, nur daß fie fi) genauer an bie
Wagnerſche Szenerie anfhlieken. Den verbindenden Text hat Sans von
Wolzogen verfaht, er erzählt den Inhalt des MWagnerfhen Werkes fchr
glüädlih im Stil und Ton einer nordifhen Saga. Hoffen wir, daß die Leute
aus jenen Streifen, für die das teure Buch zunächſt wohl beftimmt ift, gelegent=
lid außer den Zlluftrationen auch mal die Worte dazu betraditen. Dann be—
kommen fie vielleicht eine Ahnung von dem Inhalt des Bühnenwerkes, das fie
fi) fo und fo oft „angefehen“ Haben. Den Wunſch, baß dem fo mwerbe, legen
einem ja gelegentlide Beobachtungen nahe.
Ein im vorigen Jahre erfchienenes Werk von GE, Weichardt, „Pompeji
vor ber Zerftörung* (5o ME), fommt jet aud in einer Lieferungsausgabe
heraus. Der gemöhnliche Reifende weiß mit der Stadt ber Ruinen erfahrungs=
gemäß „nit viel anzufangen“; nur wer fih mit andädtigem Sinn und
eindringlichen Stubien vertieft in die mannigfaltigen Refte, vor deſſen Auge
erjteht, was einit war, und er wird mit freudiger Erinnerung an die Stadt
am Veſuv zurückdenken. Mancher mag ſo ſchon fi in Gedanken einzelnes
tefonftruiert haben, feiner aber hat es planmäßig gethan, feiner wenigſtens
der vielen Archäologen, die über Pompeji gefchrieben und Bilderwerfe ver=
öffentlicht haben, hat bisher Rekonjtruftionen des alten Bompeji veröffent—
licht, bis dies ber Leipziger Architelt E. Weichardt ganz aus eigenem Untrich
that. Sein Werk enthält zwölf Foliotafeln, in Lihtdrud nad) Aquarellen, nad
denen Weichardt uns die pompejanifhen Tempel in ihrer Umgebnng nad)
ihrem urfprünglichen Ausſehen voritellt, ferner 155 Tertillujtrationen in Zinko—
und Autotypie, darjtellend kleinere Relonftruftionen, Grundrilfe, Ruinen und
Einzelfunditüde der Tempel, ſowie Kopfleiften und Schlußvignetten. Pompeji
tritt uns, wie dies auch Ernit Curtius noch kurz vor feinem Tode ausgeſprochen
bat, in diefem Werke ‚menſchlich näher“. Mag der Fachgelehrte mit Weichardt in
2. Dezemberheft 1898
— 193 —
einzelnen Punkten reiten, feine Darlegungen und Schlüſſe find fo Harund zwingend,
daß man mit vollem Bertrauen ihm zu ben einzelnen Schönheiten Pompejis folgen
fann. Der Text ift von Weichardt felbft ohne jede Spur der pedantiſchen Lang—
weiligleit geſchrieben, die in Deutfchland bei gelehiten Werfen no) vielfach
für unentbehrlich gilt. Als bejonders interejlant fei noch das Kapitel Bervor=
gehoben, in dem der Berfafler Elarer und überzeugender als jeder anbere
Pompejiforfcher vor ihm über die alten Nusgrabüngen in Pompeji unterrichtet.
Wie die Lejer aus manchen Ankündigungen gefehen haben, wird jegt Rudolf
Adamys „Urditektonit auf Hiftorifher und äfthetiiher Grundlage* von ber
Hellwingſchen Verlagsbuchhandlung in Hannover zu fehr ermähigtem Preiſe
angeboten. Diefe Geſchichte der geſamten Arditeltur ift ein Torfo geblieben;
berechnet war fie auf drei Bände in elf Abteilungen, von denen aber nur adt
erjhienen find; der Verfaſſer ijt im vorigen Jahre gejtorben. Des erften
Bandes erjte Abteilung („Die Arditeltur als Kunst, Aeſthetiſche Forſchungen“)
erihien 1881, die erſte Abteilung des [legten Bandes, bie Frührenaijjance bes
handelnd, iſt erjt 1896 berausgefommen. Für die Negfamfeit der modernen
Forſchung ift diefer Zwiſchenraum zu lang, als dab nicht mittlerweil vieles
veralten mußte, was damals als vortrefflid”) begrüßt werden durfte. Auf
Einzelheiten lönnen wir uns Hier natürlih nicht einlaflen. Es fei bemerkt,
daß die einzelnen Abteilungen nad) einander behandeln das orientalifhe Alters
tum, Griechenland, Rom, die altchriitlihe Baukunjt, den muhamedanifden und
ben romaniſchen Stil, die Gotif und die Frührenaiflance. ebenfalls ift das
Wert mit großem Fleiß und mit aller Gewiſſenhaftigkeit abgefaßt, der Forſcher
wird e8 nod) heute mit Nutzen nachſchlagen, wennglei man e8 nit ohne
Einſchränkung empfehlen könnte Schr zahlreihe aus anderen Werfen entlehnte
Abbildungen find ihm beigegeben.
Bon einzelnen Kunftblättern Haben wir nur recht wenige auf
auzählen. Unfre beſte Unjtalt für farbige BVervielfältigungen, Trowitzſch
& Sohn in Frankfurt a. db. Ober, Hat eine höchſt forgfältig und fein durch—
geführte Chromotypie nad) Rafaels „Heiliger Gäcilie* vollendet. Geftehen
wir's, wir fönnen uns dieſer ſtarken VBerfleinerungen großer figurenreicdher
Bilder doch nicht recht freuen, c8 verfchiebt fi zu vieles in der Wirkung da—
bei. Deshalb empfehlen wir unfern Leſern mehr die farbigen Reproduftionen
der gleiden Anjtalt nah weniger geftaltenreihen Werfen, bei denen das Ein—
zeine deshalb größer wird, Giorgiones „Konzert“ (in diefer Vervielfältigung
ber edelite Bildſchmuck für ein Muſilzimmer, den man fid) denlen kann), dann
die Brujibilder (bejonders Kranachs Selbjtporträt und van Dyds Söhnchen
Karls), das bleiben hier unfere Lieblinge Schöne farbige Reproduftionen
von Werfen wie Bödlins anakreontiſcher Mufe, von einzelnen ſchönen und
beforativen großen Köpfen überhaupt, fehlen noch viel zu fehr im ſtunſthandel.
Bon der kleinsten der fünftlerifchen Einzelblätter, vonfünftlerifden
Unfihtspofttarten hat uns die freundliche Beihilfe der Mode dagegen
eine ganze Menge verſchafft. Es ijt wirklich wertvolles dabei. So die Künſtler—
Loltlarten in Kupfer-Gravüre von Mar Liebermann (Berlin, U. Hilde—
brandt), Die wegzufdiden einem Kunftfreunde fhon Ueberwindung koftet. Dann
die mit Originalradierungen von Bernhard Mannfeld (Hödft a. M.,
Joſef Meder): mehrere Serien mit befannten Anfichten, daher für das größere
Fublifum der Reifenden, in bem fie, fein und wirkungsvoll zugleih wie fie
find, außerordentlidy viele Freunde finden dürften. Bon ben farbigen Ans
ſichtspoſtkarten ftreiten fi) mehrere Folgen um den Preis der Vorzüglichkeit.
Kunitwart
— ICH —
„FreytagsSchwäbiſche Künftlerpojtlarten“ (Stutigart, $. Frey:
tag) bringen von tüdhtigen KHünftlern ungewöhnlidy hübfche Landſchaftsbilder
über befanntere Motive aus Württemberg. Baden ftellt ihnen (neben den
älteren Beltenfchen) neue „Karlsruher KünftlerbundsBoftlarten”
aus ber G. Braunſchen Hofbuchdruderei zur Seite, DOriginallithograpbien der
ersten badifchen Künftler, die zum Unterfhied von den vorigen mindeftens
ebenfo der Stünjtlerlaune wie dem Landfhaftsgeifte gewidmet find. Das fagen
mir zur Begriffsbeftimmung, nicht etwa als Borwurf. Die „Künftler«
poittarten aus dem Sadhfenlande* (Leipzig, Meiner u. Bud), Die
in einem Preisausjchreiben des ſächſiſchen Miniſteriums gekrönt worden find,
halten fi} wieder, mie die ſchwäbiſchen, viel mehr an die Landbihaft. Alle
die hier genannten Anſichtspoſtkarten find, was nicht etwa alle find, die ſich
jonennen: FKünftlerpoftlarten. Käme nur auf je hundert verſchickte An—
fihtspojtlarten eine aus diefen Serien, man fünnte um dieſe unsre liebe
Tochter den ganzen Unſinn verzeihen. Aber was iſt uns fonft nod) alles „in
diefer Brandje* zugegangen |! Gut, daß das Weihnadtsfeft für den Mantel der
Nädjitenliebe jorgt ...
Einzelne Sachen, bie erjt in legter Stunde eingetroffen find, und dann die
periodifc erſcheinenden Bilderwerfe (unter denen jeht mandjes Gute ift)
möüffen mir ein anderes Dal beſprechen.
[> *
ep ’
FR
Hugo Wolfs Moͤrike⸗Lieder.
Zahlreihe Aneldoten und Hiftörchen berichten davon, mit wie unglaub-
licher Raſchheit Franz Schubert feine Lieder ſchuf. Es fommen ihm Berfe zu
Geſicht, regen ihn bligichnell an und löſen in wenigen Augenbliden einen mu=
ſikaliſchen Einfall aus, der fogleidh zu Papiere gebradjt wird und gefungen bie
herrlichſte Wirkung thut. Und zu folder genialen Fruchtbarkeit entflammen
ihn nicht etwa bloß Meiſterwerke der Dichtung; ebenfoleiht reagiert fein Geift
auf das banalite, phrafenhafteite Gereim. Es iſt eben nicht jo jehr das Ge—
dicht als Kunſtwerk, jondern fein rein ftofflicher Inhalt, mas ihn ergreift, ja
es fann ihm, wie in der „Böfen Farbe“, fogar gefhhehen, daß der tonſchöpfe—
rifhe Akt Schon begonnen bat, eh nod) das ganze Gedicht zu Ende gelefen ift,
und daß er 3.B. den Beginn bei „Jh möchte zichen in die Welt hinaus“ aus
bioßer Unfenntnis des Folgenden im Ausdrud gänzlich verfehlt. Denn fo,
wie er's Hinjchreibt, mag ein frifhfröhlicher Neitersmann feine Wanderluſt
fih vom Herzen fingen, nicht aber der verzweifelte Müllerburfch, dem ber
Poet diefe Worte mit ganz anderem Einne in den Mund gelegt hat.
Im Vergleih zu folhem Berfahren jcheint mir bemerfensmwert, was id)
neulich über einen Liederabend berichtet fand, den feinerzeit der vielumiftrittene
zeitgenöfliihe Wiener Komponift Hugo Wolf gegeben bat. „Zunädjt las er
die Gedichte im ſchönſten fteirifchen Dialekt, aber jo von innen heraus em—
pfunden, daß nur einem ganz thörichten Menſchen die Sache hätte komiſch er—
ſcheinen können. Nah beim Mörikefhen »In ein freundliches Städtchen tret ih
eine wandte er fih an uns: »Iſt das Gedidt nit zum Heulen ſchön?«
Und nun fing er an zu fingen*.... die ganze fünjtlerifhe Eigenart Wolfs
läßt fih aus dieſer einen Mitteilung erfchliegen. Bor und über dem Singen
jteht ihm die Erfaffung des Dichterwortes; dDefjen Wert ijt ent-
ſcheidend für feine Wahl. Und man wird geitehen, dab ein Muſilker, der foviel
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Poetenſinn befigt, um wirkliche Dichter als ſolche zu erfennen unb ben unter
den Gedichten Mörifes gerade jenes eine vor allen „zum Heulen“ bringen kann,
jedenfalls eine außergewöhnliche Erſcheinung ift.
Es gibt unter den fortfchrittlihen Muſikern befanntlich eine ſtarke
Gruppe, die in Hugo Wolf den größten Iebenden Tondichter und ben Vollen—
der des deutfhen Liedes fieht. Sie hat barin meines Eraditens unbedingt
Recht; nur die Gründe, bie fie dafür gemeiniglich vorgibt, kann ih nicht
ohne weiters anerfennen. Da heißt #8 3. B.: feine Originalität beftehe darin, daß
die Hlavierbegleitung aus ihrer untergeordneten Stellung als Stüße ber Mes
lodie heraustrete und zur Interpretation, zum Sommentar des Gefungenen
werde. Wber dag wäre bod nur eine finngemäße Lebertragung des Wagner
ſchen Prinzips auf das Kunſtlied, alfo nicht eben originell, und dann iſt bie
fomphonifhe Behandlung des Maviers, die Durchführung eines Motivs, Die
Ergänzung bes Gefungenen dur den Inftrumentalpart aud) im Liebe nicht
neu. Seber Kenner wird von Schubert, Schumann, Franz, Brahms eine er—
Medlihe Anzahl von Liedern anführen können, bie dem angeblich Wolfſchen
Prinzip entfprechen oder doch fehr nahe fommen. Und ſchließlich ift bei einem
Geſangſtück der vofale Teil doch immer die Hauptfahe, fo daß ein Ueber—
wuchern des Snftrumentalen, fobald es bie Singftimme behindert, geradezu
einen Fehler bedeuten würde. Anders nimmt fi ſchon bie Berherrlichung
Molfs aus dem Grunde aus, daß er immer richtig beflamiere. Aber dann
braudte ja Einer das Gedicht, das er lomponieren will, fih nur von einem
Meifter des Vortrags rezitieren zu laſſen und deſſen Tonfall bei der Einfegung
der Singftiimme in die natürlich vorher ſchon fertige „Iymphonifche* Unterlage
genau zu beachten, und ein Meifterlied märe auf dem nit mehr ungemöhn=
lihen Wege ber Kompagnie-Arbeit zuftande gebradjt. Aurzum: es ſcheint mir
vor allem darauf anzufommen, daß mit den erörterten theoretifchen, zum Teil
bloß negativen Vorzügen fih eine pofitive praktifche, muſikaliſch-ſchöpferiſche
Kraft verbindet und daß diefe Kraft nit in felbitherrlicher Bethätigung ihr
Genügen findet, fonbern fid) ganz in den Dienft des Poeten ftellt, um ben
Yusdrud feiner Kunſt aus dem mufilaliihen Vermögen zu veritärfen, Ein
Komponift, der bei genialer Begabung in ſolchem Grade feine Muſik der wohl:
verftandbenen dichteriſchen Wirkung unterordnet, der durch feinerlei virtuofe
Vordringlichleit die Aufmerkſamkeit von ihr auf fi) abzulenken ſucht, ſondern
nur bezwedt, den Wert der Dichtung mit feinen Tönen ins hellſte Licht zu
rüden: ein folder Komponiſt fteht wirklich einzig da. Aus Molfs Verhältnis
zu feinen Terten erflärt fih dann aud), warum er nur gute Dichter in Mufit
feßt, nicht aber mittelmäßige ober ſchlechte. Das Komponieren ijt ihm eben
nicht Selbitzwed, er will fi) durch die Worte nit allgemeinhin zu mufifalis
ſchem Schaffen anregen laſſen, fondernlihnen ganz fpeziell zu tönendem Leben,
zu tieferer Wirkung auf das Gefühl verhelfen. Immer bleibt dabei das Ges
dicht die Hauptfadhe und die Muſik nur ein Mittel des Ausdrudes.
Geht man von diejem Geſichtspunkt aus, fo kann einem fchwerlid ein
höherer Genuß auf dem Felde der Lyrik widerfahren, als gerade die Bekannt—
fhaft mit den Mörike-Liedern Wolfs, die ih unbedenklich dem Allerbedeutends
ften an die Seite jtelle, was nur je im biefer Kunftgattung geleiftet worden iſt.
Und dies umfomehr, als Wolf in Bezug auf Erfindung eine in unfern Tagen
geradezu eritaunlide Urfprünglidfeit beflundet und unbefchadet feiner
wunderbaren Sadlidjfeit die eigene ſtarke Perſönlichkeit doch nicht verleugnet.
Sein Reichtum an Melodien, die imitande find, „das Gefühl ficher zu beſtim—
Kunftwart
— 196 —
men“, ift ebenfo groß wie fein muſikaliſcher Formenfinn und feine Runft, ihn
in völliger ilebereinftimmung mit bem poetiſchen zu bethätigen. Ich befenne
frei, daß ih mid aus anfänglid nit geringen Vorurteilen allmählich zu
einem wahrhaft ſchwärmeriſchen Verehrer Hugo Wolfs dank der überzeugenden
Kraft feiner Tonſprache befchrt habe.
Wolf ift als echter Lyriker faſt ausfchließlich Liederlomponift; wenig—
ftens vermag ich feinem bisher einzig dDramatifhen Verfuh, der fomifchen
Oper „Eorregidor*, keineswegs eine gleiche Bedeutung zuzuerkennen. Er ijt
„Spezialift*, wenn man das häßliche Wort denn einmal anwenden will, aber
auf feinem Gebiet von einer Vieifeitigleit, die in Erftaunen fest, meil er für
die verfchiebeniten Empfindungen und Stimmungen den reiten Nusdrud mit
aleicher Sicherheit zu treffen meiß. Ein Blid in den Mörike-Qiederband *, der
doch nur einen Bruchteil feines Schaffens umfchlieht, wird das ofienbaren, Da
findet man die ganze Reihe vom flotten Gonplet „Auftrag“ Bis zum große
artigen Balladenftil des „Feuerreiters“, vom burſchikos übermütigen „Abſchied“
bi8 zu dem aus tiefiter Verzweiflung auffchreienden Geſang „Wo find ich
Troſt“. Es gehört zu Wolfs befonderen Vorzügen, daß er nicht wie andere
Lyriker der Gegenwart Hauptfädhlich in erotiſchen Ergüſſen ſchwelgt, jondern
ebenso oft andere Saiten des Empfindungslebens anſchlägt. Da iſt zunädyit
die Gruppe der religiöfen Gefänge mit ihrer Krone, dem ſchon erwähnten „Wo
find ich Troſt“; da iſt daß innigfromme „Gebet“ mit dem entzüdenden Syn—
fopennadjipiel; da iſt das tiefemyftiihe „Schlafende Jefulind*“ und das von
kindlicher Lieblichkeit umfloffene Lied „Zum neuen Jahr“. Dean könnte daran
jene weltlich=ernften Gefänge anſchließen: „Der Genefende an die Hoffnung“,
namentlich im legten Teil ein Meiiterwerf inbrünftigen Musdruds; das aus
heiterem Spiel unter ſchmerzlichen Seufzern zu unheimlicher Gewalt ſich fteigernde
„Dent e8 o Seele“; die in anmutsvoller Dielodie befriedigte, rondoartige „Vers
borgenheit* ; das geheimnisvolle, harmoniſch feltfame mit dem wunderbaren
Gedicht wetteifernde „Mitternacht“ mit dem zauberhaften Refrain „vom Tage“.
Damit ift gleich der Uebergang zu den Naturliedern gefchaffen, zu dem hin—
reißenden Frühlingsgefange „Er ift’8*, zu der rüftig ausfchreitenden „Fußreife”
— man beadte im Hlavierpart namentlih die delifate Ueberleitung in bie
Wiederholung des Hauptthemas vor der legten Strophe — und zu dem in ber
genialen Umbildung feines Grundmotivs ſchon rein muſikaliſch imponierenden
„Auf einer Wanderung“.
Die dritte Gruppe, die mehr oder weniger erotische, fchlieft mit dem
„Heimmeh* an bie Wanderlieder an. Ein Lied, wie e8 wenige gibt, das uns
ſchon mit den eriten Taften völlig in den Bann der Stimmung nimmt und
gar nicht mehr losläßt! Dann in bunter Folge, immer eine Perle nad; der
andern: das elementare, überaus charafteriftifch deflamierte „Lied vom Winde”,
das elegiiche „Ein Stündlein wohl vor Tag”, aus einem einzigen Motiv, das
in den hohen Lagen ganz überrafchend Vogelgezwitſcher nachahmen fann, meifter-
haft aufgebaut, und die graziöfe „Begegnung*, Die hifpanifches Kolorit durch—
fcheinen läkt. Gibt e8 etwas Anmutigeres, als das „Jägerlied“ mit feinem jo
ganz natürlich °/s Tat? Gibt es etwas Nührenderes als das ſchlichte „ver-
* Der ganze Band (55 Lieder) ift bei %. Hedel in Mannheim erjchienen
und mit dem Bildnis des Dichters gefhmüdt. Gin für Wolfs Verehrung für
jeine Dichter recht bezeichnender Zug. Sonit find die Lieder aud) in zehn
Seiten erichienen, von denen fi zur erften Bekanntſchaft namentlich Heft 1—4
und 6—9 eignen.
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laſſene Mägdlein“ mit den intereffanten harmoniſchen Rüdungen feines inſtru—
mental ftreng gehaltenen Themas? Oder etwas Holdieligeres, als den „leicht—
geſchwungenen“ „Gärtner“ ? Welche ſchmerzliche Nefignation in „Wgnes“!
Welche tragilomifchsreigende Berfpeltive beim „Zitronenfalter im April“! Und
ihlieglih „An eine Yeolsharfe*, eine der glüdlihiten Eingebungen Wolfs mit
feiner jühen, aus dem Tonfall der Rede wie von felbjt herausblühenden Kan
tilene des Mittelfages (Shade nur, dab die Führung der Singitimme in
der zweiten Hälfte mit der mädtigen Steigerung des Klavierparts nit mehr
ganz gleichen Schritt hält), fowie das in feiner freien Form, mit den aus—
drudsvollen injtrumentalen Zwiſchenrufen höchſt merfwürdige „Erite Liebes—
lied eine Mädchens“.
Die ſchalkhafte „Nimmerjatte Liebe“ Teitet zu jener Gruppe hinüber, mo
Wolf feinem warmen, echten, fernigen Humor die Zügel fhiegen läßt. Die
famoje „Stordenbotfhaft“, den auf den Ländlerton fein abgejtimmten „Rat
einer Alten“, das behaglich progige „Selbitgeftändnis* u. am. Mit dem
drajtifchefomischen „Tambour“, einem Kabinetitüd feiner Art, find wir ſchon halb
aufs Gebiet der Ballade gelangt, wo das Böjtlih> „Elfenlied“, der prachtvoll
entwidelte, Ieidenfhaftlihe „Jäger“, ein Stonzertlied eriten Ranges, der dä—
moniſch padende, atemoerjegende, graufige „Feuerreiter” und der vilionäre,
fih zu königlicher Majeſtät erhebende „Geſang Weylas“ heroorragen, von
meld letzterem wieder zu den religiöjen Gejängen zurück nur noch ein
Schritt ift,
Ih Habe nur jene Lieder aus dem ſtattlichen Bande namhaft gemadt,
die in mic den größten Eindrud zurüdliegen, ſodaß ich fie al3 ein unverlier=
bares geiitiges Beſiztum am hmeiſten ſchäze. Andere Imögen in dem reihen
Hort noch andere Edelfteine wählen. Doh lünnten wir einftweilen gar fehr
zufrieden fein, wenn wenigitens jene zur Zeit Schon in weiteren Kreiſen deut—
fher Muſiker belannt und geliebt Joären, wie fie es verdienen. Statt
deilen enthällen fie ihren Glanz noch ſozuſagen heimlich, in Vereinskonventikeln
und Tendenzlonzerten. Damit will ich die Waderen, die für die Anerkennung
Wolfs feit Jahren tapfer und unermädlich eintreten, wahrhaftig nicht Fränfen,
und um jo weniger, als ſich ja auh der Hunftwart fhon vor einem Jahr—
zehnte mit ihnen verbündet Hat. Vielmehr, ich will betonen, wie ſchmachvoll es
iit, dab jo hochbedeutende Shöpfungen einer befonderen Bropaganda überhaupt
noch bedürfen. Dem unglütlihen Künjtler, den jegt die Naht der Krankheit
umfangen Hält, ijt es ergangen [wie feinem Dichter Mörike. Sein Bolt als
Ganzes hat ihn in feiner Größe nicht erkannt, man hat beitenfall3 das Nied—
liche und Spielende an ihm gelten laifen. Es jift wieder einmal ein Genie
vorübergegangen, da8 man von der vielköpfigen Heerde der Talente nicht
unterfcheiden konnte, die Tonkunſt hat wieder einmal ihren heimlihen König
verloren, bevor man merkte, daß e3 ein König war. Rihard Batfa.
RE)
Lose Blätter.
Sur Weibnachtszeit.
Bon Peter Rofegger.
VBorbemertung Wollen wir zur Weihnahtszeit ein Bild beſehen,
das uns ganz das Gefühl gebe, daheim zu fein, darüber find wir ja
einig, fo gehn wir zu Ludwig Richter. Wollen wir aber etwas lejen, das
Kunftwart
— 5 —
ſolche Gefühle pflege, und mögen wir doch unter denen bleiben, deren Auge
nod) das Sonnenlicht trinkt, bei wem Hopfen wir dann am beiten an? IH
mwenigitens thu es am liebjten beim alten Raabe ober bei Klaus Groth im
Norden broben ober bei Rofegger im Süben. Diefer, Rofegger, zeigt uns dieſes
Jahr allerdings „Jdyllen aus einer untergehenden Welt.“ Aber der Geift, der
fie uns erzählt, ber Darf nicht untergehen, ber ift unfer Beites. Er foll fi
vermählen mit der Frau Neuzeit, aber feine Kinder follen nit allein nad
der Mutter ſchlagen. Und das ift ja unfer Troft und unfer Glüd: fie wer—
den's auch nicht, denn fie können's nit, denn es wäre wider bie Natur, Wie
du dich freuen magſt darüber, daß bein Junge fo helläugig ins Leben von
heute fieht und feine Arme drin zu gebraudhen weiß — ganz plöglih wirft
du's immer mwieber mal merken: da fteht der Vater aus ihm, da gudt gar ber
Großvater heraus, So bleibt das Holz an den Stammbäumen das alte und
wird doch immer wieder verjüngt und tüchtig zum Anospen und Treiben. Der
neue Rofegger, diefer Sammelband ba von furzen Geſchichten, den uns der
Staadmannfhe Verlag unter die Tanne legt, Spricht übers Einzelne oft gar
fröglihen Tons, ift aber al8 Ganzes dod) eine wehmütige Elegie. Eine alte,
fhöne und wohl nad) Menfhenmöglichkeit glüdlihe Welt vergeht da in den
"Alpen, und einer ihrer beiten Söhne fieht’s mit an und kann fo wenig helfen
‚wie irgenb mer fonit gegen das Ungeheuer Neuzeit. „Wo ift das alte Bolt
mit ben ftarfen, frohen Herzen, wo iſt das Leben, das Jahrhunderte lang fo
glücklich die Wage gehalten hat zwifhen urfprüngliher Natur und menſch—
licher Zivilifation? Es verflüchtigt fih von Tag zu Tag und die Individuen
ber Bauerfchaft ftranden an den Fabrifen.* Aber aud) in die Fabrifen tragen
fie mit ihr Erbe aus der langen gefunden Vergangenheit. Mas ward, bag
muhte werben, je tüdhjtiger aber die Erbſchaft eines Geſchlechtes ift, je mehr
‚dürfen wir hoffen, daß auch aus feiner Verbindung mit der neuen Zeit ein—
mal wieder Tühhtiges aufgehen werde, ahnen wir aud) noch nidt, was und
wo und wie.
Unfre Probe aus NRofeggers Bud ift anſpruchsloſe Heimatfchilderung.
Sie paßt zur Feſtzeit. Vielleiht auch: fie wird noch vor der Feſtzeit gelefen.
Dann forge fie wohl dafür, dat um bie Weihnadt felber mehr von NRofegger
im Haufe fei. Iſt er doch einer ber wenigen, an denen der Alte und der Junge,
und Dann und Frau und Stenner und Nichtlenner gleih ehrliche Freude
‚haben können. Ri
Das Kreisftehen.
Un einem Dezemberabend fam der Bettelmann zu uns ins Waldbuuern=
haus, Er war nod nidt betagt, war nicht mühſelig, aber er bettelte. Er
jtehe fich beim Betteln beſſer, meinte er, als beim Wrbeiten. Erſtens fei im
"Winter bei den Bauern ſchwer eine Arbeit zu belommmen, zweitens fei das Holz—
baden im Schnee weniger angenehm als das Sigen in ber warmen Stube
als „Statthalter Gottes“. Damit fpielte der Schalt auf den Pfarrer an,
der gerne predigte über den Text, daß ber Herr Jefus Heute no auf Erden
mwandle, und zwar in Gejtalt der Armen, und dab, was man den Armen
thue, ihm ſelbſt gethan fei.
Diefe ſchöne Lehre der Barmherzigkeit verftand der Bremer-Sepp —
mie er bie — nicht übel auszunutzen, und fo faß er in den Bauernftuben
herum, einmal am Herde, einmal am Tiſche, dann wieder neben dem Stroh—
‚Ihaub, den er als Bett erhielt unter dem Ofen. Freimütig gefagt, waren
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aber die Bauern in unferem Alpel inımer noch nicht evangeliſch genug gefinnt,
um eine folde Statthalterfchaft recht zu ſchätzen, fie Duldeten ben Faulenzer
aus einem anderen Grund. Etlidhe Wochen früher war der Bremer ala Ber:
abfchiedeter vom Militär zurüdgelommen. Seine Bermandten waren während
feiner Abweſenheit geltorben, er fand fein Heim mehr, nachdem er zwölf Jahre
lang bei den Soldaten geweſen. Uber er mußte jonderlei Merkwürdigkeiten
zu erzählen von der meiten Welt und aus feinem Leben al8 Tambour, er
fannte auch viel wunderfame Beihichten, Märchen und hatte allerhand Schnurren
und Schwänke in fih, mit denen er bie Leute an den langen Abenden gar
töftlih unterhielt. Dem Hauspater war ftetS daran gelegen, daß bie Knechte
und Mägde beim Spänellieben, Rübenabfräuteln, Strautihaben und Flachs—
fpinnen nicht allgufrüh ſchläfrig murben und dann etwa von der alten Ge—
mwohnheit, um neun Uhr ins Bett zu gehen, Gebraudy madten. Der Bremer
padte feine „Faxen“ aus, fie bewunderten, fie ladten, ſie fchauderten und
blieben oft bis gegen Mitternacht bei der Arbeit.
So hat fich der „Statthalter“ erfleflich ausgezahlt, und wir, die jüngeren,
hatten an dem vielerfahrenen Danne einen Iujtigen Lehrmeifter, dem befonders
ich etwelches zu verbanfen habe; mande meiner Gefhichten, die erft in fpäten:
Jahren reif geworben, hat damals der Bremer gefät. Wenn der Bettelmann
Gefahr witterte, daß er am nächſten Tage mit feinem Tragforbe höflich weiter
gefhidt werden fünnte zum Nachbar, jo hub er am Abende zuvor eine gar
wunderbare Begebenheit an zu erzählen und verſchob die Fortjegung auf den
nächſten Abend. In alten Zeiten hat diejen Spak ſchon die berühmte Schehe—
rezade erprobt, heute wiederholen ihn die Zeitungen, er bewährt ji immer und
den Bremer haben fie nirgends fortgefhidt, bevor er eine merkwürdige Ge—
fhichte zu Ende erzählt.
So war der Bremer Sepp alfo aud) bei uns eingetreten mit ber artigen
Bitte, er möchte feine verfrornen Beine gerne ein wenig wärmen, an bem Herd—
feuer, Meine Mutter riet ihm das Schneefhaufeln, das made aud) warm.
„D, meine liebe Waldbäuerin!*, rief der Bremer, „warm macht's freis
Lich, aber Helfen thut's nichts; ſchaden thut's. Die fündteuren Schaufeln west
man dabei ab, und morgen fchneit es doch wieder alles zu. Und wenn's nicht
zuſchneit, jo iſt's noch jhlimmer bei der unſicheren Zeit, mo die Schelme und.
Näuber frei truppenmeife umbherziehen bei der Nacht. Sich gut in Schnee ein—
mauern laflen und das Haus mit Mannerleuten befegen, auch mit folchen,
die von Wehr und Waffen was verstehen, ift das allerbeite, was gejcheite Wald—
bauersleute thun können.“
Wir im kargen Waldbauernhauſe Hatten zwar nie beſonderen Anlaß,
uns vor Räubern zu fürchten, doch aber mochte meine Mutter gedacht haben:
weil er gar ſo ſchlau ſchwatzen kann, mag er halt ſitzen bleiben in der Stube.
Gut ſchwatzen muß man auch lohnen. — Saß alſo der Bremer noch am ſel—
bigen Abende beim Ofen und ſaß eine Woche fpäter auch noch beim Ofen.
Wir hatten ihn recht gern, er war aud) außerhalb feiner Schnurren ein
ergößlider, ganz artiger Menſch. Und gar nicht übel anzufehen! Die blaue
Soldatenhofe Hatte er an und die graue Holzmüße auf, unter mwelder an
beiden Ohren die ſchneidigen Lodenjechier, hübſch glatt gewichſt, hervorſtanden.
Er hielt was auf ſich und that fi) täglih an den Baden und dem Kinn ra=
fieren, auch hinten am Naden; weil er dorthin ſelbſt nit gelangen konnte,
fo mußte ihm unjer Altknecht die goldiggligernden Härchen megfragen. Das
Schnurrbärtlein ließ er Stehen und fpigte es mit Schuſterpech ſcharf auf, daß
Kunitwart
— MW —
es nad) beiden Seiten ganz bajonettartig in die Luft ſtach, gleihfam wie eine
Waffenbereitfhaft, für den Fall ihn eines unferer Dirnlein plöglich küſſen wollte.
Ob eine ſolche Gefahr beitand, das weiß ich nicht, wenigjtens hat er fie nicht
felbit heraufbeſchworen. Für einen dreiunddreißigjährigen Soldatenabfchieder
that er fpottwenig um mit den Dirnlein. Höchſtens gudte er manchmal der
einen fo eim bißchen fchiefwinkelig nad, ber Stallmagd Chriftina. Und fiehe,
dieſe Chriftina Hatte einen großen Abfcheu vor dem hübſchen Bettelmann. Sie
war fonft ein rundes, gutmütiges „Beutel“, aber wenn ihr der Bremer in die
Nähe kam, dba wurde fie ganz edig, fpigte die Ellbogen unb war aufgeregt wie
eine Henne, wenn ber Geier nicht weit ift. Sie ließ ihm auch ihre Verach—
tung merfen. Der Bremer aber ſchmunzelte ihr nad) und breite an feinen
Bartipigen.
Und als der Dann fo eine Woche bei uns im Waldhaufe gemefen war,
ba fam das heilige Weihnadtsfeft. In der Ehriftnacht verließ alles, was
gehen konnte, das Waldhaus und ging über bie weiten Höhen hin zur Kirche
von Fiſchbach, wo ununterbroden die Glocken läuteten, bis, wie man fagte,
ber legte berauslamı vom Hinterften Graben. Aus fernem Thal her fanı hin
und mwieber ein leifer, balbverlorener Glockenklang aud zu uns herauf. Es
war eine helle Mondnadht, nur bisweilen flogen Woltenfegen vorüber und
verbedten das ftillheitere Rundgefiht am Himmel. Unfer waren ein ganzes
Nudel, die Burfchen, die Dirnen; Bater und Diutter nur waren daheim ge=
blieben, um das alte Haus zu hüten. Der „Statthalter war auch bei uns
und brachte wieder Schnurren vor. Sp wußte er vom Teufel zu erzählen, der
in der Chriſtnacht mit dem Fünfguldenbeutel umgeht, den er foldem, der ihm
die Seele verfchreibt, zum Angebinde verehrt; von ben Tieren, bie in dieſer
Nacht in menihliher Sprade ſich ihre Leiden Hagen, die fie das Jahr hin—
durch von den argen Menſchen auszujtehen gehabt, und aud) von den Wollen,
die jedem, der jo etwas zu lejen verfteht, alle Bevorjtehungen des fommenden
Jahres an den Himmel jchreiben.
Die Stallmagd Ehrijtina entrüftete ſich ſtumm über berlei Frevel, Die
MWeidmagd Hingegen war auf ihre „Bevorliehungen* bejonders neugierig, fie
fragte daher, wie das wäre.
„Ja, mein Schagerl, das ift jo !“, belehrte der Bremer und drüdte ſich
eng unter die Leute. „Da müfjen wir aufpafjen, wenn ein Streuzmweg fommt.
Am Kreuzweg müſſen wir uns alle aufjtellen im reis und gegen Himmel
fhauen, was die Wolfen für Figuren maden, und auf die Bäumäfte horchen,
ob fie fragen. Da werden wir ſchon etwas erfahren. Seid ihr Dabei?“
Wir waren alle dabei. Auf der flachen Höhe des Waldes angelangt,
fahen wir im Mondenlidt den Pfahl, welder mit drei Armen Hinausmies
gen Stanz, gen Sankt Kathrein und gen Fiſchbach. Der Bremer fommanbierte
uns in Reih und Glied eines Streifes. Ein alter tohlenbrenner aber war mit,
ber lief feitab, hielt fih) Augen und Ohren zu: er wolle nichts willen. Das
Unglüd, wenn eins bevoritehe, erfahre der Menſch immer noch früh genug.
Wir andern ftanden im Streife, immer ein Bub und ein Mädel anein=
ander, und hielten ung an den Händen und fhauten in ben Mond, an welchem
die Wolfen zogen. Für jeden und jede befonders wurde mwahrgefagt, und ber
Bremer mählte die Leute und deutete die Dinge Mit dem Altknecht Hub es
an, ba ftand der lachende Mond rein und die Wollen wichen ihn aus. „Der
Altknecht Hat fiebzig Gulden Jahrlohn, da wird freilich der Himmel nit trüb
werden,” fagte der Bremer. Als es die alte zahnlüdige Lieſel galt, die gern
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teifte, da verftedte fih der Mond raſch Hinter eine dichte Wolfe. „At ohne
meitere Auslegung verſtändlich,“ fagte der Bremer. Beim Feldbuben Hans
bildete die Wolfe über dem Mond eine Art Sad, ber aber ſachte zufammen-
ſchrumpfte. „Wird auch aufs Jahr Karten fpielen, der Hanfel,“ ſprach der
Bremer. Beim Ochſenknecht kam ein großes Ungeheuer heran, that den Rachen
auf und fraß den Mond. Diefes Zeihen wußte ber Bremer nicht zu erflären.
„Wenn man fich heutzutage noch dem Teufel verfchreiben könnte, fo möchte id)
an jo etwas benfen,* fagte er. Wir mußten e8 ber Zeit überlaffen, was fie
über ben Ochſenknecht verhängen würde. Bei ber Stallmagd Ehriftina, die ih
widermillig in ben Kreis geftellt hatte, Hub ein helles Hallo an! Gerabe unter
dem Monde fpielten die Wolkenzipfel fo, als ob ein Männlein unb ein Weib-
lein nebeneinander ftänden und fidy die Hände reiten. „Heiraten wird fie,*
fagte ber Bremer in bumpfen Zone. Da fchrie die Ehriftina auf: „Ich mag
nit heiraten !*,riß aus und lief wegshin. Mber fie wendete fi um, denn noch
hörten wir ihre helle Stimme: „Keinen Faulenzer mag id} nit! Steinen Men—
ſchen, ber ferngefundb ift und feine geraben Glieder hat und nit arbeiten will,
ben mag id) nit! Die ftarfen Händ’ zum Betteln aufhalten, pfui Teufel! Und
wenn's das einzige Mannsbild wär auf der Welt, und wenn er in Gulb und
Ebelgeftein gefaßt wär, und wenn er fo ſchön wär wie ber Adam alfer neuer,
wie ihn Gott derfchaffen gehabt Hat; wenn er nit arbeiten thät, wenn er nur
ihmarogen wollt, fo mödt id ihn nimmer und nimmer zu meinem Mann.
Gute Naht allmiteinand !* Und dann war fie in ben Waldweg verſchwunden.
Eilihe von uns lachten, andere fhauten auf den Bremer. Der Monb
macht zwar alle roten Gefichter bla, aber dem Bremer-Sepp feines war jekt
außnehmenb fahl; wie der hölzerne Wegmweifer daneben, fo ftarr ftand er da
und endlich fagte er leife und Iangfam: „Das ift ein verfludtes Weibmenſch,
dieſe Ehriftina, aber — — recht hat fie!”
Und dann ift er ihr nadigegangen. Denn bumm mar er nidjt, mußte
aud, was er wollte. — Wer hat ihr benn gefagt, baß fie juft den „Faulenzer*
nehmen follte? Das Hatte der Mond nicht gefagt, und fonft auch niemand. Ei,
doch! Einer hatte e8 gejagt, aber ganz heimlich, in ftiller Naht, nur au fi
allein gefagt, unb das war er felber, ber Sepp. — Und bie Ghriftina hatte
ſich jegt gottloß verraten. Die muß ſchön viel an ihn denken, wenn ihr fein
anberer einfällt, den fie nicht heiraten mill!
Kurze Zeit darauf ftand die Weggeigerfäule wieder allein auf ber Wald—
höhe und das Woltenfpiel fuhr fort, die fünftigen Gejhide den Menſchen an
den Himmel zu zeichnen.
Ob e8 aber aud) zutrifft?
Ein Jahr darauf, als wieder Weihnachten fam, hatte ber Ochſenknecht
fein arm Dirnlein verlaffen und in einen großen Bauernhof geheiratet. Aber
in dieſem Hofe, neben bem Geldfad, jaß ein Drade, die alte Bäuerin, ber er
fich hatte verjchreiben müffen mit Leib und Seele. Er war nicht mehr Ochſen—
tnecht, er war ein reicher Grofbauer, manchmal aber ſchaute er trübfelig in
die Wolfen auf, und am Himmel fah er Ungeheuer.
Und ber Bremer-Sepp? Ber hatte ein Sleinhäufel gepachtet, im Früh
jahre ben Ader gepflügt, Korn gefät und Nartoffeln angebaut. Und dann war
er eines Tages zu uns gelommen — wieder als Bettelmann. Nicht mehr
bettelte er um einen Si am warmen Ofen, nicht mehr um eine warme Suppe,
er beitelte um die Stallmagb Chrijtina, die freilid auch nicht falt war, Zus
erit fchmetterte fie ihm unter glühendem Augenleuditen fein bisheriges Vaga—
Kunftwart
= 202 —
bundenleben ins Geſicht, dann nahm fie ihn. Denn fein Horn ftand ſchon im
Grünen und die Nartoffeln huben an zu blühen, fo brauchte er weiter nicht
ein Wort zu fagen, daß er auch arbeiten könne. — Die Gefahr zeigte ſich erit
wieder in fpäteren Jahren. Als die Kindlein erfchienen waren, wollte er nicht
mehr draußen adern oder Holz jchneiden, wollte lieber in der Stube bei den
Kleinen figen und ihnen allerlei Gefchichten erzählen und Schnafen vormaden,
weil fie gar fo fröhlich dabei lachten. — Da fah er einmal bei einem Kreis—
ftehen in ber Weihnacht, das er nad; altem Brauche gerne nod) trieb, am
Simmel ein feltfam Spiel. Die Ruine eines Haufes und eine Öruppe von gar
verfümmerten Bettelleuten, die unter einer Riefenpeitfche ſich in Segen löſten.
— Da ging er hin, arbeitete mit neuem Eifer und die heiteren Schwänke hob
er fi für den Sonntag auf.
Seither find mehr als dreißig Jahre verfloffen. Der alternde Bremer
Sepp kann wieder Kreisſtehen, jeden Tag wenn er will. Der Kreis feiner
Kinder und Enkel ift nicht Mein und weiſt auf eine hoffnungsvolle Zukunft.
Das Dreiföntigsfingaen.
Die Bergeinfamteit bringt an den Menſchen eine ganz andere Art
geiftigen Lebens hervor, als etwa das bevölferte Thal, durch welches Eifen-
bahnen ziehen, oder vollends als die Großſtadt. Eine aus der Einſamkeit her—
vorgegangene geiftige Welt ift aber dunkler als bie andere, ift blutwärmer und
beftändiger. Sie ift aüch künſtleriſcher. Sie Iebt in Geftalten, dramatifchen
Borgängen und in Stimmungen. Jebod im Laufe der Zeit entflieht daraus
der Geift, bie urfprüngliche Idee, und oft faft allein zurüdbleibt die Form,
die troß ihrer Inhaltslofigkeit Jahrhunderte Iang weiter gefchleppt wird, die
fi) nit an Menſchen bindet, wohl aber an bie Scholle.
So ift e8 mit vielen Volfsfitten, anfangs waren die meiften religiöfen
Urfprunges, und heute zeigt uns eine ftarre Form nichts, als verfteinertes
Heidentum. Nur jene Vollsgebräude, die im Ghriftentum fich verjüngt, die
dem mobernen Menſchen und feinen geſellſchaftlichen Verhältniffen fich ange—
ſchloſſen hatten, bleiben auch im Geifte lebendig, und diefe Sitten find es, die
Voefie in das herbe Dafein des Volkes tragen. Soldje Gebräuche find ſtets
"enge verbunden mit den religiöfen Feften. Am reichſten hierin ift das Weih—
nachtsfeſt, das wie feines fonft dazu angethan, die feligen Geifter ber Nädhiten-
liebe und des Wohlthuns aufzumeden.
So kommt in manden Wlpengegenden das Weihnaditfingen vor. In
den wohlhabenden Häufern und Großhöfen jchmelgen fie bei ihren Chriſt—
mabhlen; am heiligen Abende ift ein fettes, am Chrifttage ift ein großes, mit
oft mehr als einem Dutzend Gerichten, am Neujahrstage ift wieder ein üp—
piges, am Dreifönigsabende find drei große Mahle nebeneinander. Bei dieſem
dreifahen Feitmahle find in der djtlihen Steiermark zur Zeit meiner Jugend
noch neun verfhiedene Koch“ (Breigerichte) aufgetragen und verzehrt worden.
Da hatten ſich die Leute fo voll gegeſſen, da fte fi hernach gar nicht aufs
Stroh legen fonnten, die erfteren mußten ſich, wie man fagte, mit Hilfe der
noch Stehenden nieberlaffen, und der legte mit Hilfe der langen Ofengabel.
Und während bie in den wohlhabenden Höfen fo fchwelgten, hatten bie
in den armen Hütten oft faum das Nötige. Aber da ſtrich fein fozialdemo-
fratifher Wind wie heute. Zwar verfammelten fi die Armen und gingen in
Rotten zu ben reihen Höfen und heifchten Brot. Aber wie liebensmwürdig |
Sie begehrten e8 nit mit herben Worten oder gar mit Drohungen, fie er=
2. Dezemberheft 1898
— 1205 —
fangen es fih. Die Kinder der Armen, die gute Stimmen hatten, ftanden
zuſammen. Sie gingen bin, ftellten fi) auf vor der Thür des großen Hofes
und fangen hell ein inniges, oft auch gemütlich heiteres Lied vom Lieben
EHriftlindlein, oder einen launigen Glüdwunfdh zum neuen Jahre, in welchem
fie den Bewohnern des Hofes alles Gute und Angenehme willig waren: dem
Hausvater einen guldenen Tiſch und auf jedem Gd einen gebratenen Fildh,
und in der Mitten ein Glafel Wein, das foll dem braven Hausvater zur Ges
fundheit fein. — Der Hausmutter ein junges Ehriftfindel in der dDiamantenen
Wiegen und ein Federbett, wo fie mit dem ftindel kann liegen und mit den
Federlein in den Himmel fann fliegen. — Der Haustodhter einen Bräutigam
mit brinntoten Hofen, und in jedem Sädel eine Dufatendojen. — Dem jungen
Hausfohn eine reiche Braut, die brav auf ihn ſchaut und auf Gott vertraut.
— Die anderen mitfammen, „die wir nit nennen, wird Gott der Herr im
Simmel derfennen, das wünſchen wir all mit Hal und Shall zum Ehrift-
findeltag und zum neuen Jahr!”
In mandem Thale treiben fie c8 nod heute zu den Weihnadtzfeiten.
— Und meil die Kinderſchar in vielen Gegenden aud) die „heiligen drei Hlönige“
bei jih hat, zu welchen die brei Geichidtejten verkleidet werben, und meil fie
auf langer Stange einen Stern vor fi Hertragen, jo werben fie auch Stern=
finger genannt. Das ſieht fih oft gar glänzend an, wenn die Winterfonne
darauffheint. Mit güldenen Aronen rüden die hungerigen und frierenden
Kleinen heran unter dem Sterne. Und es ift ein gutet Stern, unter dem fie
heute wandeln. Aus jedem Fenfter des reichen Hauſes ſchauen ein paar Köpfe
Heraus, mwohlgefällig den Aufzug betradhtend, die friſchen Stimmlein hörend,
und die Glückwünſche als gute Vorbedeutung für das fommende Jahr freund—
ih aufnehmend. An der Thür aber erjcheint die Bäuerin und winkt, Die
Heinen Sänger und Sängerinnen möchten nur hineinlommen in die warme
Stube, wo alles in Wohlgefallen ihrer harrt und wo das Hausbüblein in ber
Wiege begehrend feine Händchen ausſtreckt nad) der unerhörten Pradt.
In der warmen Stube geht es auch fonjt gar nicht übel her, da gibt
es Fleiſchlnödeln mit Spedfraut, Schmalzkoch mit Zibeben, Strapfen mit Honig.
Und ein großer blumiger Krug ift vorhanden, aus deſſen Schnabel jedes ein=
mal trinfen darf. Nach dem Trunfe wifchen fie ji) mit dem Handrüden ben
Mund ab und bie Aeuglein leuchten: Das ift gui geweſen!
Dann ziehen fie zum nächſten Hofe, vor dem fie wieder ihren Sang thun,
bei dem fie wieder ins Haus geladen und bemirtet werben. Und was jie endlich
nicht mehr ejfen können, das wird ihnen in Bündlein gepadt, damit auch den
Alten, die in den Hütten zurüdgeblieben find, an diefen Tagen Heil widerfahre.
Wenn in der Gegend ein Haus jteht, das nicht in Ehren ijt, fo gehen
die Weihnadhtsjänger an demjelben vorüber und fingen nicht. Und Diejeg jtille
Kindergeriht wird mandmal ſchwer empfunden, und nichts Schlimmeres kann
einem Hofe nachgeſagt werden, ald: Dem meiden die Weihnachtſinger aus! —
Dingegen fühlt jedes ehrenhafte Haus die glüdjelige Stund, wenn es das gött—
liche Sind bemirten kann, welches da bei ihm eingelehrt ift in Geftalt der
Armen! Und gefegnet, dreimal gejegnet eine Sitte, in welder die chriitliche
Nädjitenliebe verklärend auf die foziale Frage füllt! Verſöhnt mit ihrem Schid-
fale, weil fie ſatt gegefjen, fehren die Armen zurüd in ihre Hütten, und Die
„heiligen drei Könige* bergen Stern, Reichsapfel, Pupurmantel und Flitter—
fronen wieder in ber Rumpellammer, wo die Spinnen bald ihre Schleier weben
über vergangene Derrlichkeit.
Kunftwart
- u —
Neuere Eyrit.
Aus „Triumph des Lebens“.
Ueber allen Finſterniſſen
Keuchteft du, mein inneres Licht, —
‚ Blüten, meinem Sweig entriffen,
Meiner Sonne ftarbt ihr nit ... .
Was an farben und an Düften
Einft die Sommermwelt erfüllt,
xängſt in Keimes grünen Grüften
£ag dies alles eingehüllt.
Da mid in den toten Mächten
Heberfchauerte das Eis,
Und erftarrt im weißen Schneefturm
Dorrend hing mein Knofpenreis, —
In mir glühte doc die Flamme
AU der ewigen Kiebesbrunit,
Und ein Purpurfonnendunit
Flutete in meinem Stamme.
Trunfen laa ich, heil umflungen
Don dem Kied goldfarbiger Träume,
Jauchzend hab ich mich entſchwungen
In des Kichtes hellfte Räume,
In des Aethers Wellenjchäume, —
So voll Sehnen und Derlangen
Stand ich da im höchſten Prangen,
Ganz von Blüten überhangen.
Die ihr auch lebendige Trauben
pflüdt vom früchtereifen Baum,
Diefe herbftlich roten Lauben
Schaut’ ich lang vorher im Traum,
Und es quoll in meinem Becher,
Und ic tranf gleih euch, als Zecher
Ihres Weines grünen Schaum.
Julius Bart.
(„Triumph des Leben“, Leipzig, E. Diederichs).
In Korn und Unfraut.
Mit meinem Mädchen fchlüpft ich heut allein
Durch reifes Korn im roten Abendfchein.
Wie Kinder rauften wir die Aehren aus,
Feldblumen wanden lachend wir zum Strauß
Und freuten uns der bunten Farbenpradt,
Die uns wie Banernftaat entgegenladt . . .
Als rauſchten es die Halme vor fih hin,
Sing mir ein Derslein leife durch den Sinn:
Die Liebe ift ein goldnes Aehrenfeld,
Dazwifchen Unfrant, Mohn und tauber Spelt;
1. Dezemberheft 1898
— 205 —
Es fällt zufammen aus des Aufalls Hand
Und wädhft empor in Sturm und Sonnenbrand.
Die Aehren find ein ſchönes Gottesaut,
Allein des Unfrauts bunte Farbenglut
Iſt eine ſtille Freude der Natur —
Was wird im Herbſte aus der ſchönen Flur“ ...
Ein fühler Haud ging durch mein Herz — „Sieh, ſchon“,
Rief da mein Mädchen, „ſchon verblüht der Mohn!“
Dans Bergmann (. n.)
Reiter im Herbſt.
Dier wilde Gänfe fchreden fhen empor —
Wer reitet noch zum Abend übers Moor?
Der dicke Nebel teilt ſich ſchwer und träg —
Ein rotbraun Rößlein Flappert übern Weg.
Ein Rittersmann! Sein fähnlein ſchwimmt im Tan,
Schwarz ift die Rüflung, und fein Ange aran,
Blickt ftarr und ftill wie in ein weites Grab,
Sein Rößlein nagt am Weg die Kräuter ab.
Er reitet wie verdroffen, wie im Traum,
Wohin er blidt, erfhauern Buſch und Baum,
Und was er ftreift mit feiner Eifenhand,
Riedaras und Rohr, finft nieder wie verbrannt.
So taudt er lanafam in das Nebelmeer —
Dit fallen welfe Blätter hinterher ...
Bans Beramann („Sommerfonnenglüd“,
Berlin, Schufter & Köffler).
Mein Bübden.
Ich ging hinans und fragte die Wolfen:
„Liebe Wolfen, ich bitt’ euch ſchön —
Habt ihr mein Bübchen nicht aefehn?
Iſt gar ein lieber, Fleiner Kerl,
Singt und fpringt den ganzen Taa,
Bat ein Stimmcen wie Lerchenſchlag,
Zwei Angen, fo blau wie der Himmel
Und ladıt,
Sobald er fie morgens aufgemacht.“
Die Wolfen brummten: „Den fennen wir nicht!
Wir fahen ein Bübchen, das ſchrie nad der Mintter,
Wollte von Singen und Springen nichts wiffen,
£ag am Abend fo blaf; in den Kiffen
Und fchlief doch vor lauter Jammer nicht ein.
ein —
Das fann dein Inftiges Bübchen nicht fein.“
Kunftwart
— 206 —
Ich weiß nicht, wie mir ift ....
Als ob ih weinen müßt‘!
Was gab ih auch mein Bübchen hin,
Daß ih nun fo alleine bin,
Es dorten und ich hier —
Ad Gott, behüt’ ihn mir!
Anna Ritter.
(Gedichte, Leipzig, Liebeskind.)
Stimme im Regen.
„Ein feiner Regen ftrihelt um mich ber —
mir ift das Herz von Heimweh franf und ſchwer —
fo wandle ih auf unbefannten Wegen
dem Nichts entaegen.
Dom Hut tropft mir das Waffer ins Gefiht —
ein grauer Xlebel rings — mehr feh’ ih nicht —
fein Menfcenlant, fein Keben, fein Bewegen —
nur Regen .. Regen ..
Es fämpft mein Fuß im fchlüpfrig weichen Grund,
in MWölfchen dampft der Atem mir vom Mund,
der Regen ſcheint fih tief in alle Poren
mir einzubohren.
Der nadelfeine Regen madt mir Schmerz;
ich fühle: er durchörinat mich bis ans Herz.
Mein Herz ift müde, und es ruhte aerne
o in die ferne —|
Heut ift’s ein Jahr, daß du und ich uns fanden —
und find getrennt, in fremden, Falten Landen.
Könnt’ ih mein Herz in deine Hände legen!“
— Es raufcht der Regen...
Mar Bruns („Aus meinem Blute*,
Minden, J. €. €. Bruns).
FEN
Rundschau.
Kiteratur.
*Verzeichnen wenigjtens müflen
doch aud wir Bismards „Gedanken
und Erinnerungen”. Die eigentliche Bes
fprehhung des Buchs gehört ſelbſtver—
—5* nicht in den Kunſtwart,
elbſt das wird Sache des Kulturhi—
ftorifers fein: das merkwürdige Ver—
halten unſerer Preſſe gegenüber diefer
ungeheuren Zertrümmerung hiſto—
riſcher Mythen zu unterſuchen. Wir
haben uns nur mit der Form des
Werks zu beſchäftigen, von der aber darf
auch der Kunſtfreund reden, denn ſie iſt
bewunderungswürdig und dabei zum
Staunen charalteriſtiſch für Bismarck.
Wie hier innerhalb des Stiles ſach—
lichſter Relation Menſchen und Dinge
oft nur mit zwei Worten in volles
Leben geſetzt werden, das iſt zum
Entzücken, auch ſchon rein techniſch.
Wir glauben nicht, daß die deutſche
Literatur ein zweites Buch hat, das
mit fo volllommen ſicherer Ueberlegen⸗
heit ariſtokratiſch reſervierte und bemo=
2. Dezemberheft 1898
— 202 —
kratiſch revolutionäre Gedanken und
Gefühle in fi) ausgleicht.
* „Zur Beridtigung über
Schiller“ fprad W. Kirchbach in der
„Nation“, indem er der jegt ſehr be=
liedten Unterihätung dieſes Großen
entgegentrat. Es fehle an Verſtändnis
für die „ethifchen Energieen“ als Qebens-
geſetze der Völker, deshalb könne man fie
nit in Schillers Dramen mwiederers
tennen, es fehle an Scyaufpiclern, bie
dieſe aus tiefer hiſtoriſcher Einficht
mit voller Seelentenntnis geſchöpften
Dokumente der Menfchheit realiftifch
darstellen fünnten, deshalb erjchienen
fie oft al8 „Deflamationen“. Don
Kirchbachs Betradhtungsmeife gebe das
Beifpiel der Schluß: „Ein Sciller-
biograph meint (über die Jungfrau
von Drleans): »Wenige werden ein
Berlangen haben, fie zum zweiten Dale
zu fehen.« Ich bin in langer Referenten=
praris genötigt gemwejen, ſie wohl
zwanzig Dial zu fehen, aber mein
Staunen aud über dieſes Werk hat
ſich nur gefteigert. Wenn die Seiten
uns Deutfhen von Neuem lehren
werben, jene »Imponderabilien«e ber
politifchen Kräfte, von denen Bismard
ſpricht und die Schiller in diejer Jung—
frau darzustellen wünſchte, Begeifter-
ung, jeherhajte Negungen der Volks—
feele und anderes, zu würdigen, dann
wird man erſt die volle Größe dieſer
Konzeption mit ihren kleinen Shmwäden
und * hinreißenden Vorzügen ver—
ſtehen. Man wird den Takt Schillers
reiſen, Daßer diefe »Jmponderabilien«
in Form einer romantiſchen, nicht
einer realiſtiſchen Tragödie vorführte,
man wird feinen Taft aud) ſonſt wür—
digen, ber ihn für jedes Werk, je nad)
ee Hoeengehalt, aud eine ans
liegende Form wählen ließ. Diefer
Fähigkeit verdankt er feinen Erfolg,
der unverändert überall da fortbeftcht,
wo man Schiller jpielen fann. In
Berlin deflamiert man ihn in abſcheu—
licher Weife; daher die ganze leidige
Anti-Schiller-Aeſthetit. Aber es trifft
ihn nicht felbit, es trifft nur feine
ſchlechten NRegiffeure und Schaufpieler,
die innere Geijtesleere feiner Fritifer.
Wer die »Johanna« in der einzig rich—
tigen Auffaſſung geſehen hat, nicht nur
ale Schlachtenwaälküre, jondern als
zarte Seherin, ahnungsvolle Träumerin
im reinjten weiblichen Inſtinkt von
rührender, nidt deflamatorifcher
Begeilterung erfaßt, der wird Die
innere Wahrheit diejes Werkes ganz
ander8 anſchlagen, als diejenigen,
Kunftwart
melde aus derSchuldeflamationfamen,
um ihre eigenen Sünden dem großen
Poeten aufzuhaljen. Als ein Bühnen=
märden, ein romantiih Werf will
e8 allerdings verjtanden fein, rein
techniſch; aber auf welchen tiefen, realen
ethiſchen Energieen ruht aud) dieſes
vielverfannte Geiftesgebilde, und welche
a enthält es für Die weiter-
ftrebende, kämpfende Dlenfchheit!“
* Ginige neue Wusgaben
deutſcher Werke feien Heute ver—
zeichnet, auf die widtigften kommen
wir zurüd. Da ift eine neue Aus—
gabe von Hebbel, von Karl Zeik
(Bibliographifches Inititut), eine neue
billigere Storm= Ausgabe (Weiter
mann), eine Felix Dahn-Ausgabe
(Breitfopf & Härtel), von der bis
est 10 Bände vorliegen, cine Ge—
amt» Yusgabe in Lieferungen von
W. H. Riehls Novellen (Gotta), eine
der „Gejammelten Romane“ von Th.
9 Bantenius (Belhagen u. Kla—
fing), eine fehr ſchön ausgeitattete des
Novalis (Eugen Diederichs), der
durch den Symbolismus wieder „mo=
dern“ gemorden iit.
Bon Ginzelausgaben fei die
neue bes Goethifhen „Fauft“ (Eriter
Zeil) erwähnt, die GE. 5. Amelangs
Verlag in Leipzig veranftaltet hat.
Sie ijt dem fehr richtigen Gedanken
entfproffen: nötiger als eine neue
„Pradt“ -Ausgabe fei uns eine edel
geſchmackvolle Hand» und Taſchenaus—
gabe der größten deutfhen Dichtung.
Der vornehme biegjame braunrote
Ganzlederband entipriht aud) dem
Zmede volllommen, das Typogra=
phijche aber leider nicht. Die pedan-
tiich = alademifh gräzifierenden Kopf
leiten entfprechen weder dem Geijte
nad) dem eriten Teile des Fauft, nod)
der Austattung nad) den als Text—
Ihrift gewählten Shwabadern, uns
begreiflih ilt e8 in umnferer Zeit
des funftgewerbliden Aufſchwungs,
dab zu Auszeihnungszweden mitunter
Budjitaben von viererlei verſchiedener
Zeichnung ein und diefelbe Seite uns
ruhig machen. — Dann find fügel-
gens „Jugenderinnerungen eines
alten Mannes“ in einer „billigen Ges
ſchenkausgabe“ (geb. ME.2.50) bei Ri-
hard Wöpfe in Berlin erſchienen. Der
Mert des Buchs iſt jo allgemein an-
erfannt, dab man ihn nit noch ein=
mal auseinanderzujegen braudt; es
war nur bisher Für meite Kreife zu
teuer.
202 —
* Yu ein Hausbuch.
Wenn Volks- oder Hausbücher vor=
geichlagen werden, hat ein Kunjtblatt
ein Wort mitzureden. Denn da fann
fih’8 nur um Bücher Handeln, bie
äußerlich und innerlich Kunſtwerke find.
Aeußerlich. Da denke ich z. B.
an die neuen einfach-vornehmen Ein—
bände (Haus- und Volksbücher dürfen
gar nicht anders als gut gebunden
geliefert werden), mit denen der Gru—
nowſche Verlag in Leipzig Jentſchens
Geſchichtsphiloſophiſche Gedanken und
Vollswirtſchaftslehre, Philippis Kunſt
der Rede, Kämmels Werdegang des
deutſchen Volkes u. a. ausgeftattet hat.
Auch fonjt erfcheinen mir diefe Ver—
öffentlihungen in ihrem Aeußern als
Mufterleiftungen. Die gemählte Höhe
und Breite ift gerade recht, das Papier
gut. Nur der Drud follte etwas
größer und jtärfer fein. Und dann
wünfche ich in Volls⸗ und Hausbüchern
etlichen Schmuck: feine Kopfleiiten und
anderen kleinen Zierrat, womöglich
nicht fabrilmäßigen, ſondern indivi—
duellen Gepräges.
Das gehört ſchon faſt mit zum
Innern, zum Inhalt im eigentlichen
Sinne, den id) für mein Hausbud
hier verzeichne:
1. Ein kurzes Gedicht, geeignet als
Richt⸗Spruch.
2. Geleitwort zum ganzen Inhalt
des Büchleins.
3. Lebensgeſchichte deutſcher Wörter—
Begriffsgeihichten. Immer mei Grup—
pen: die eine aus dem häuslichen,
bürgerlichen, wirtſchaftlichen, die an—
dere aus dem Geiſtes-Leben.
4. KRleinode: Sprachbücher; ſchöne,
volle, kurze, treffende Worte. Mit aus—
malenden Betrachtungen, wenns nötig
oder die Gelegenheit beſondes günſtig iſt.
5. Eine Dichtung, die auf der Höhe
Steht, als Mittel zum Zwede der Ge—
ſchmacks- und Gemiffensbildung. Oder
auch mehrere jelbftändige Teile grö—
Berer Werte.
6. Aus der Werlitätte des Sprach—
geiftes. Anſchauliche Beweiſe feines
eigenartigen Schaffens.
7. Dichteriſche Hleinmalerei land—
fhaftliher Schönheit. Stüde von
Stifter, Roſegger, Reuter 3. B.
8. Bebensgeihichte eines vorbild=
lichen Menſchen.
9. Vergleichende Betrachtung deut—
ſcher Mundarten.
10. Rundſchau. Gute Schriften und
Bildwerke — alte und neue — werden
ausführlich bejprochen.
Warum mein Hausbuch mefentlich
die Aufgabe haben fol, die Leute ing
Reid) des Sprachgeiſtes zu loden? —
„Die Sprade ijt das unerichöpfliche
Schatzhaus der edeliten Bildung“,
fagt Weeifter Hildebrand.
Das Büchlein enthält etwa 200
Seiten und koſtet doch, gebunden,
nicht mehr als ı Mark. Immer auf
Weihnadten erfcheint ein neues.
Der niedrige Preis jeht Maſſenab—
fat voraus. Und ber ift fiher: nicht
bloß die Bildungsvereine werden c8
taufendmeife erwerben und an Unbe—
mittelte verfchenfen — e8 wird auf
allerlei Weihnachtstiſche gelangen;
auch anſpruchsvolle Leute müſſen es
gern kaufen und leſen. Denn an dem,
was es bringt, haben gemeinſam ge—
arbeitet wiſſenſchaftliche Einſicht, ge—
ſunde Weltanſchauung, reiner Ges
ſchmack, feines Sprachgefühl.
Mer mag es verlegen?*
Rud. Dietrich.
* Und wer gut verfaſſen? K.x.
* Von den Berliner Bühnen.
Ueber Hauptmanns „Fuhr—
mann Henſchel“ als Dichtung hat
Bartels im Kunſtwart gefprodhen. Der
Erfolg der Aufführung im „Deutichen
Theater* war jehr laut, zu laut für
nacdenflihe Leute. Jeden Beifalls
würdig aber mar unter allen Umſtänden
die Aufführung Es mag ein
großes Wort fein, aber ich nlaube
nicht, daß eineandere europäiſche Bühne
(den Stil Hauptmanns vorausgefett)
eine jo einheitliche, intime und farben=
fatte Vorſtellung herausbringen fann.
Ueber die Spielmeife des „Deutjchen
Theaters” kann man reiten. Ich be=
greife den Kritiker, der ſich nad) Auf—
führungen fehnt, die einen Zug monus
mentaler Größe haben. Ohne Marlten
aber und ohne Feilſchen muß zuges
geben werden, daß das „Deutiche
Theater* innerhalb jeines Stils
eine Bühne von ganz ungewöhnlicher
Bedeutung iſt.
Am Kgl. Schaufpielhaus offenbarte
Fulda mit feinem „Herojtrat“ wieder
etwas von dem inneren Reichtum, mit
dem ihn nun einmal der Himmel ges
fegnet bat. Fulda gehört zu den
Dichtern, die in einer glüdlichen Stunde
geboren find: er mag Happrige Verje
fchreiben (und er thuts), er mag ſchiefe
Bilder brauden (und er braudt jie),
er mag feine Motive fälfhen (und er
2. Dezjemberheft 1898
fälſcht) — e8 ſchadet nichts, er bleibt für
feine kritifche Verehrerfchaft der „form=
vollendete‘, der „ſprachgewandte“,
der „geiftreiche” Dann. Auch nad) dem
„Serojtrat” wird das nicht anders
werden, obſchon ſich Fuldas Dichters
figur vor dem Hintergrund eines
Rieſenmotivs beſonders ſchmächtig aus—
nimmt. In der Dichtung ſelbſt iſt das
Motiv natürlich gefälſcht; Fuldas
Heroſtrat“ iſt ein Künſtler, der den
Tempel der Artemis in Brand ſteckt,
weil die Göttin ihn betrogen und ver—
laſſen hat, und der dann ſeine Reden
mit Floskeln von ewigem Ruhme“ u. ſ.w.
ſchmückt. Der Höhepunkt der Tragi—
komik wird im legten Alt erreicht. Ich
meine wicht die entzüdend ſeichte
Löſung, Die hier eine eingewobene
Liebesgeichichte findet. Jch meine etwas
viel Schöneres, das gerade dadurch
fo heiter ftimmt, daß Fulda hier fo
ihlau war. Der Richter einer
fragt den guten Serojtrat, warum er
eigentlich Die ungeheure That begangen,
der Branditifter müßte nun natürlich),
wenn er fih nicht um feine ganze
biftorifhe Reputation bringen will,
antworten: „Weil ih unijterblichen
Ruhm erwerben wollte‘. Das fann
er aber nit; wenn ers thäte, würden
im Parkett felbit die Unbegabten
nıerlen, daß er flunfert, hat er doch
in vorigen Alt des Längeren aus—
einanbergejegt, wie jonjt andere Motive
ihn trieben. Was alio thun? Shake—
fpere iſt aud ein Dichter, aber jo
börfenpfiffig hätte er die Erflärung
der fünitlerifchen Pleite nicht zu um«
gehen gewußt, wie unfer Fulda:
Herojtrat redt feine edle Geſtalt und
rollt mit einer Seuichheit des Em—
pfindens, bie einem Brandjtifter alle
Ehre madt, die Worte hervor: „Im
Ungefiht des Todes ziemt Ver—
ſchwiegenheit“.
Auch Herr Bahr hat wieder ein—
mal ein Theaterſtück aufführen und
fi) interviewen laſſen. Das Interview
war jehr interejjant: Herr Bahr ver—
traute dem Reporter de8 „Berliner
Zageblatts“, daß die Bewegungen
feiner Frau „reifenhofer’ich“ feien, und
daß bie Reifenhofer — ſchadel — einen
fhöneren Naden Babe. Aber aud)
literariihe Dinge famen zur Sprade
— gewiß, denn um der Literatur
willen interviewt ja doch das „Ber—
liner Tagblatt“ überhaupt nur. Bahr
verfündete dem Bublitum, daß Su—
dermann „ohne Frage* der bedeus
tendjte lebende Dichter in Deutjchland
Kunitwart
fei, was hoffentlich felbit die Abon—
nenten Moſſes mit vergnügtem Lächeln
aufgenommen haben. Das Stüd hieß
übrigens „der Star“. Es ift injos
fern bemerfenswert, al8 man auf der
Generalprobe einen ganzen At ftreichen
fonnte, ohne daß man am Abend der
Premiere auch nur einen Gedanken
vermißt hätte. Was übrig blieb, be=
Ichäftigte Ir mit der Frage, ob eine
befannte Schaufpielerin (ein „Star“)
ein anitändiges Weib fein kann oder
ob höhere künſtleriſche Geſichtspunkte
ihr die Lüderlichkeit ſozuſagen zu einer
fittlichen Pflicht machen. Bahr ift mehr
für daß letztere. Wenn wir ihn recht
veritanden haben, meint er, daß eine
Schauſpielerin, weil fie öffentlich aufs
tritt, nun aud) eine öffentliche Schön—
heit fein müſſe. Seine Heldin, bie
bereit8 einen Grafen und verfchiedenes
andere hinter fih Hat, verſucht mit
einem verunglüdten Dichter (er ift
im Bivilberu Pojtbeamter) ein ans
ftändiges Zufammenleben zu beginnen,
und da ihr das mißlingt, läuft fie zu
dem Grafen und ben verfchiedenen
anderen zurüd. Das arme Weib! fie
it nun eben durch eine traurige
Fügung des Himmels ein „Star“ mit
einer Riejengage und muß dafür —
wie ſchwer e8 aud) werden mag —
ihrem Beruf die Tugend opfern. Die
orm des Stüdes entſpricht volls
ommen ſeinem Gehalt. Etwas von
der amüfant arrangierten Seichtigkeit,
die man Eſprit nennt, um das deutfche
Wort „Geiſt“ niht zu mißbrauden;
fehr viel Seichtigkeit, die nichts als
feiht iſt; Szenenſcherze auf Koften der
Charakteriſtik; alte Theatertypen in
unechter Vergoldung, Patſchuli, kurz:
die Talmikunſt der äfthetifchen Halb—
welt, inder Bahr ein gefeierter Mann ijt.
Bon ihm zu Otto Erid Hari—
leben ift fein fleiner Sprung. Der
Verfaſſer des „Einhorn-Apothekers“
und anderer luſtiger Geſchichten iſt
ein Dichter, der über den noraliſchen
Philifter und feine unfreiwilligen ero=
tiſchen Bodiprünge recht fein zu lächeln
weiß. Er bot diesmal im „Leſſing—
Theater“ vier Eingfter, denen er den
Gejamttitel „Die-Gefreiten“ gegeben
hat, was beinah philoſophiſch Elingt,
die Kritik in erfreulicher MWeife zum
Nachdenken reizt und im übrigen zu
nichts verpflichtet.
Die Schladt (Premieren in Berlin
verdienen ja biefen Namen) wurde
mit dem „Fremden“ eröffnet. Ach,
das Motiv ijt fo alt, daß man fait
— 210 —
verſtimmt wird, wenn man die erſten
Takte diefer Muſik Hört. Es Handelt
fih um eine Dame, die „wie Die Dinge
lagen“, eine Bernunftehe mit einem
langweiligen, aber reihen Spießer
eingehen mußte. Nah zwölfjährigem
— erſcheint dann ein
Menſch, der ſie als junger Student
geliebt hat und den ſie damals wieder
liebte. Die Sache iſt furchtbar ernit,
faſt als wenn ſie von Ibſen wäre,
nur daß leider bie Tiefe fehlt. „Er“
madt ihr in einer etwa halbitündigen
Unterhaltung Elar, daß fie zu ihm
gehört, fie begreift mit dem feinen
Verſtändnis, das durchgehenden Frauen
eigen ift, und geht als „Befreite“ von
binnen. Der Bürger bleibt von dem
Borgang in einer Milhung von
Shmerz und erhabener Duldung zurück.
Was und am meiiten intereifiert
hätte: wie nämlih ein Gharafter
beihaffen jein muß, der zwölf Jahre
verzichtet und dann plößlich rebelliert,
wie ferner ein Liebhaber ausjteht,
der das erzwingt: davon erfahren
die nichts, die gern etwas davon er=
führen, und fomit huſcht an diefen
Anſpruchſsvollen das Stück wie ein
düſteres Schattenſpiel vorüber. Allein
in dem Gedanken, den Gatten als den
Fremden zu bezeichnen, ſteckt poetiſches
Gold, das den Dichter Hartleben er—
fennenläßt. Das zweite Stück, „Wbihied
vom Regiment“, iſt wirkungsvoller,
aber ſchlechter, weil feine Birkungen
roh find. Ein Hauptmann foll verjegt
werden, weil feine Frau ihn durch ihr
alantes Treiben unmöglih gemacht
at. Er fommt in der Naht anges
trunfen vom Liebesmahl im Kaſino
zurüd, es gibt eine wüſte Szene und
meiblihe Hilferufe, die den vorjorg=
lich veritedten Liebhaber erjcheinen
laſſen. Beide Herren ziehen, und der
betrogene Ehemann wird nun fo zahm,
wie man nur wünjhen fann. Er
fält. Wie man fteht: nicht einmal ein
Alt, geihmweige denn ein Ginafter,
fondern lediglih eine Satajtrophe.
Rächender Theaterdonner, der uniere
Ohren beläjtigt, aber von ber Er—
habenheit und der reinigenden ſtraft
des künſtleriſchen Donners nichts an
ſich hat. Viel, ſehr viel beſſer
iſt die „Sittliche Forderung“, die als
drittes Stück auf dem Zettel ftand.
Ich kann das Stüf nit fo Toben,
wie ih gern mödte Ich kann es
nicht, weil es vor Jahr und Tag jeine
erite Aufführung erlebte und der Raum
zur Beiprehung von Wiederholungen
EEE
nit ausreiht. Es ift eine amüfante,
fünjtlerifch lorajältig gearbeitete Sa=
tire auf die Bhilijtermoral, um deren=
willen man Sartleben die vorauf=
gegangenen und ſchließlich aud den
folgenden Einakter verzeihen Tann,
denn auch der folgende bedarf der
Verzeigung. Er heißt „Lore“ und iſt
die betrübende „Dramatijierung“ der
feinen „Geſchichte vom abgeriſſenen
Knopf’. Wie ein zugelnöpfter jugend=
liherBedant einem luſtigen Studenten=
mädel den Kopf heiß macht, weil fie
einen ausgeriffenen Knopf nicht wieder
annäht, und wie das junge Ding
endlih mit einem vorurteilsloferen
Fuchs davongeht — das ift die Hand—
lung, die unter manchen guten und
manchen ſchlechten Witzen an uns vor⸗
überzieht, eine Kataſtrophe wie das
zweite Stück, ein Ding, das kein Ab—
ſchluß iſt, weil wir keinen Anfang
kennen lernen. Es iſt gut, daß Hart—
leben für die Bühne ſchreibt. Wir
dürfen hoffen, daß der Dichter der
„Sittlihen Forderung“ einmal mit der
handfeiten Theatralik des „Abſchieds
vom Regiment“ eine Ehe oder wenig—
ſtens ein intimes Verhältnis eingehen
wird. Nur muß er dann dafür forgen,
bie geſchminkte Bühnenjchöne bei Heiten
zu zähmen. Erih Schlaikjer.
* Im Dresdner Hoftheater
ging kürzlich der Geift des feligen
Müllner um; er Hatte feine ftille
u an einem Speer, ber einen
Menihen töten muß, er mag aud
ein Biel fuhen, welches er mill.
Diefer Schidjalsipeer hatte e8 einem
jungen Dresdener Dichter angethan.
Adolf Geißler
rachte, was er im Herodot geleſen,
ohne zu prüfen, wie weit es mit un—
ſerem modernen Empfinden vereinbar
ſei, in ſeinem Trauerſpiele „Adraſt“
auf die Bühne Was er an ihn ges
ändert, find leider feine Verbeſſerungen.
In der Sage hat König Kröſus ges
träumt, jein Sohn, den Geißler Oylos
nennt, werde, von einem Speere ver—
mundet, iterben. Geißler veräußer-
licht dieſes Moment der Ahnung in
einen Drafeliprud), der uns glei im
eriten Alte erzählt wird, damit wir
nur ja willen, woran wir find. Es
fragt fih nun nur noch, wie und
wann Hylas ftirbt, ob in einer Rüft-
fammer duch einen herabfallenden
Speer, ob bei der —— mit
einem Krieger ſeines Vaters, ob ſonſt
wie und ob er im zweiten oder dritten
2. Dezemberheft 1898
sul —
Alte ftirbt. Die Sage gibt dem
„Dichter das Ende durch Adraſt an
die Hand, der mit Hylas auszog,
einen mwütenden Eber zu jagen und
aus Verſehen den Hylas traf. Adraſt
kommt in das Haus bes Kröſus und
empfiehlt fi) dem verzärtelten Königs—
fohne zu raſch aufflammenbder Freund=
ſchaft dadurch, daß er er einen Mord
auf dem Gemiflen hat. Er hat einen
Nebenbubler erſchlagen und das Weib,
um befjentwillen der Streit entjtand,
Sermione, findet er als die Braut des
Hylas. Offenbar nicht gefonnen, meis
ter au morden, unterdrüdt er dieſes
Mal feine Eiferfucht, die ihn in Die
Schuld gejagt, und findet den Hylos
ebenjo liebensmwert, mie dieſer ihn;
ja, er läßt fi von Hermione bereden,
feinen Befhüger zu jpielen. Hermione
erfennt nämlih plößlih in dem
Manne, der fie mit feiner Liebe ver—
folgt und den fie nicht ausſtehen
fonnte, den edelen Dann. Bei folder
Freundichaftfeligfeit, in die auch der
alte Kröſus mit einftimmt, könnte
das Stüd nun fließen, wenn nicht
das böfe Schidjal märe, das e8 nun
einmal anders mill. Es hat in der
Zeiten dunkelm Hintergrunde ſich ein
tückiſches Mittelhen aufgeipart, einen
roßmächtigen Eber der eine ganze
Sandfehaft verwüjtet. Der in unfrei—
mwilliger Muße verjauernde Hylas will
fih an dem Eber jeine Ritteriporen
verdienen, und ber alte Hröjus läßt
7 unter dem Schuße Adraſts zichen,
it doch ein Wildfchweintreiben kein
Krieg. Aber die Orakelſprüche haben
es an fih, in Erfüllung zu gehen,
mag man fie noch fo ſchlau aus—
deuten, und fo fommt von ber graus
figen Jagd nicht nur der Eber, fondern
auch Held Hylas tot in das Haus bes
Kröfus. Auf der Bühne läßt der
Eber dem Hylas, wie e8 jich gebührt,
den Vortritt. Daheim mälzt fich na=
türlih ſchon alles in düſteren Ahn—
ungen, denn ber legte, der dritte Uft
hat begonnen. Hermione fällt in Ohn—
macht und jtirbt Hinter der Szene,
Adraſt aber, des Unglücks müde, das
er gehabt, eriticht ſich an der Leiche
bes von ihm getöteten Freundes, und
Kröfus, der Alte, der nun auch gerne
ftürbe, hat das Nachjehen, während
fein Hausfreund Menander die Nach—
rede hält. Diefe rührende und „er
ſchröckliche“ Geſchichte ift in flüffigen
SJamben erzählt; an einzelnen Höhen=
punften gibt es auch Oden und Reime,
alles recht nett und fein fäuberlich
Kunftwart
— 212
gemacht, aber auch beileibe um nichts
beſſer, als eben Jamben von geübten
Versmachern gemacht zu werben pfle=
gen. Daß Ganze zeigt viel lyriſchen
Ueberſchwang, noch mehr bramatiiche
Unbeholfenheit und eine findlihe Un—
terordnung unter das Madjtgebot des
Stoffes, wie fie zu Zeiten des Hans
Sachs in echter Naivetät mohl bes
greiflih war. Die Sprache aber und
die Berechnung auf die Empfindfams
feit der Zufchauer find bei dem mo=
dernen ®erehrer ber Antife durchaus
nicht naiv. Naiv war nur fein Eifer,
die lauten Beifallshuldigungen, die er
_ * ihn und andere: leider — fand,
ernſthaft entgegenzunehmen.
x. £ier.
*Münchner Theater.
Oskar Blumenthal iſt in eine neue
Geſchäftsverbindung eingetreten: Max
Bernſtein heißt der neue Teilhaber
des Hauſes. So verkündet es der
Theaterzettel: Mathias Gollinger,
Luſtſpiel in vier Aufzügen von Os⸗
far Blumenthal und Marx
Bernftein Da man’s dem ſtunſt—
wart da und dort zum Vorwurf ges
macht hat, daß er Dar Bernftein und
feine Frau Elja, genannt Ernit Ros—
mer nicht zu den wirfliden Dichtern
des jüngern Gefchlechtes zählen wollte,
fo wird Die Befanntmadjung der neuen
Doppelfirtma mande Seele verblüfft
haben. Wir rufen ein Bravo dazu, denn
unjrer Meinung nah bat ja Mar
Bernitein längſt im Stillen zu denen
gehört, in deren Lager er nun mit
flingendem Spiele eingerüdtift. Sagen
gute Leute: was wollt Jhr, e8 war
mal ein dummer Streich, er wird es
nicht wieder thun, — fo laden wir
fie ein, fich zwecks befferer Informie—
rung bie Stompagnonarbeit anzufehn.
Das wird fie ausgiebig belehren.
Die Handlung des Stüdes? Ad,
die iſt ja eigentlih ganz nebenfäd-
lich: ein Berliner heiratet eine Münch—
nerin, will fie zur Großitadtdame er=
ziehn, erkennt aber ſchließlich, daß er
fie fo laffen muß, mie fie iſt. Wozu
überhaupt eine Handlung ? Biel ein=
facher wär’, Blumenthal und Bern:
ftein ließen fid) bewegen, felber auf
die Bühne binaufzufigen und von dort
herab abwechſelnd ihre Berliner und
Münchner Witze zu madhen; denn auf
die ift’S ja im Grunde allein abgejehn !
Allein ? Nicht doc), da wäre das Pu—
blifum auch wieder nicht zufrieden;
e8 würde das „rührende* Clement
vermiffen. So mußte denn eine „Ge—
fchichte* ber, und nun murbden fie
heraufbeſchworen, auß der Tiefe
deutſchen Herzens, die ſchon fo oft
beuntubigten Typen: der Mann von
„goldehtem“ Gemüt und rührender
Beichränttheit (diesmal Vertreter des
bajuvarifhen Stammes), der ſchnei—
dige Berliner mit eigentlich ebenſo
oldnem, nur eine Schicht tiefer ge—
agertem Gemüt, das emanzipierte
Mädel und der pebantifche Jüngling,
die fi} à tempo gegenfeitig belehren
und einander unter geiftreihem Trogen
und Schmollen lieben, ber Grandl-
bauer, der nur jo thut, weil er halt
ar fo ein guter Kerl iſt u.f.m. —
Babrhaftig, ſchon das ift traurig ge—
nug, wenn ſich ein Mann, der als
ernſthafter Kritiker gelten will, zur
Verfertigung eines Stückes herbeiläßt,
das lediglich dem Amüſement des
Pöbels unter den Gebildeten dienen
ſoll. Wie aber ſoll man's nennen,
wenn er, der als Kritiker den moder—
nen Geſchmacksreiniger ſpielt, als
Praktiker all das geſchmackverderbende
ſentimental Berlogene aus dem
alten ‚Luſtſpiel“ herübernimmt, wenn
er dieſes innerlich ſo wurmſtichige und
verfaulte alte Gerümpel aufladiert,
um es den Vielen, die nicht alle wer—
den, als feinfeine neue Poeſieware
aufzuhängen? Dieſe Frage deutlich zu
beantworten, fehlen mir die parla—
mentarifhen Ausdrüde.
£. Weber.
"Mon Richard Voh wurde ein „Les
genbdenjpiel*, geheiken „Das Wunder“,
in Züri aufgeführt, eine Folge viſio—
närer Bilder aus der frommen Ge—
ſchichte, die während des erften und
des legten Aufzugs auf Capri bei dem
Ziberius der Sage, mährend der bei=
ben mittleren Akte im heiligen Zande
unmittelbar nad) Ghrifti Tod fpielen.
Ein junger Germane Baldur bringt
ichlieklid dem Tiberius, der fich im
Gäfarenwahn zum Gott erflärt hat,
heilige Schale, Schweißtuch und Bild-
nisfhrein vom Gefreuzigten. Als
der Schrein geöffnet wird, bricht vor
dem bimmlifhen Licht, das ihm ent-
ftrömt, der Jmperator tot zufammen,
während am Himmel daß Kreuzes—
zeichen erjcheint: das Chriſtentum be=
fiegt Rom. Die meiften Szenen find
melodramatifch behandelt. Adolf Frey
bezeichnete in der „NR.3. 83.“ Diefes
„Wunder“ als ein neues Beifpiel für
das Bebürfnis unferer heidnifchen
Zeit, ih in die Vorftellungen einer
tindlic) naiven Anſchauung zurückzu—
verſetzen. Wagner, Rubinſtein, dann
Roſtand und Sudermann und nun
Voß! Die dramatiſche Wirkung gibt
das neue Myſterium natürlich ganz
auf: wo die Folgeridhtigfeit verjagt,
ftellt fich eben das Wunder ein mit
dem deus ex machina. „Dan mödjte
meinen, Rihard Voß wäre plöglich
unter die fatholifche Propaganda ges
treten, wenn man den Pomp fieht,
mit dem er die Marienverehrung uns
menfhlid nahe zu bringen und ver—
ftändlich zu maden ſucht. Aber, der
Dichter bezweckt etwas anderes. Ihm
ift die Begende, die fromme Dichtung
des Glaubens nur eine Form künſt—
lerifher Erfcheinung, wobei man nur
im Zweifel fein fann, ob in ihm ber
bichtende oder ber bildende Künſtler
mädtiger war. Jedenfalls iſt fein
Myiterium nur dadurch auf der Bühne
lebensfähig, daß es dur die Muſik
gehoben wird, die e8 zu einem fchönen
Melodram geitaltet.* Die gelobte
Muſik ift von Lothar Ktempter.
* Den Kinematographen büh—
nentechniſch gu verwerten, verfuchte
man jet in Breslau Zunächſt
beim Walfürenritt: man benußte fine=
matographiiche Bilderreigen nad Reis
tern, die man als Walfüren koſtü—
miert Hatte. Die Projeltionsbilder er—
mwiejen ſich als zu klein und zu ver—
ſchwommen. Darüber ließe fi ja bei
noch bejlerer Technik hinwegkommen,
aber unfre Phantafie erfhaut ein durch
die Lüfte jagendes Pferd anders als
eines, das auf dem Boden läuft. Man
wird einen phantaftifchen Vorgang nie
mit rein tehnifchen Mitteln darjtellen
tönnen. Trotzdem find genug Fälle
benfbar, für welche der Hinematograph
Binter der Bühne „Zufunft hat“.
Mufik.
* Das Mündener „Hof- und
Nationaltheater“ bradhte am 7. Des
zember als erſte Opernnovität ber
Saifon Ferdinand Rangers
„romantifhe VBollsoper* „Der Pfeifer
von Hardt“ (Text nad) Hauff's Lichten=
ftein von Dr. Hermann Haas), eine
fünfaftige, ehe langmeilige Nehs
leriade im Liedertafeljtil vom reinften
„Waſſer“. Was die Intendanz dazu
veranlaßt haben mag, diejes „Werk“,
nahdem e8 feine Unmöglichkeit an
andern Orten erwiefen Batte, nod) ein=
2. Dezemberheft 1898
— 215 —
.
nr
mal zu einem ephemeren Scheindajein
zu ermweden, bleibt vätjelhaft.
der hiefige Theaterabonnent auch mit
das geduldigſte Wefen auf Gottes
Erdboden — einmal findet doch aud)
feine — fagen wir: göttlihe — Lang—
mut ihr Ende, und dann wird aud)
der geriebenite „Iheaterpraftiter* inne,
daß Liſzt nicht gang mit Unrecht fagte:
„Defizite der Kunſt führen mit
der Zeit unausbleiblich zu Defiziten
der Kaſſe“. Daß unfere Opern—
leitung Gelegenheit haben werde, dieſe
Erfahrung recht bald und recht gründ—
lih zu maden, das wünſche idy zum
neuen Jahre ihr und un 8 aus vollem
und aufrichtigem Herzen.
Rudolf Konis.
+ Wie’Sgemadt wird.
Das „Kleine Journal“ in
Berlin Hat große Aehnlichkeit mit
Orpheus, dem göttlihen Sänger:
gleich ihm zieht es zu fich heran durch
Muſik. Aber es ift edler, als jener:
es will nicht nur erfreuen, e8 will
auch bilden, deshalb verfpridht es
wertvolle Mufil. „it unfer Blatt
nobel!*, dadjten die Abonnenten, als
fie zum eriten Dale das lajen, und fie
faben im Geilte die Dufifgelehrten
des „leinen Journals“, wie fie prüf—
ten und jpielten und fannen und aber=
mals prüften, auf dab fie aus dem
Guten das Befte fänden, und fahen
den Verleger, wie er dabei ſaß und
lauſchte und ſprach: „Für meine Leſer
ift mir nichts zu teuer !* Alſo dachte
mwohl auch Herr Fanfelow, der Tone
feger, und er jchidte eine Kompofition
ein. Die Antwort aber, die er erhielt,
lautete folgendermaßen :
„Berlin SW., den 22. Oltober 1898.
Herrn Alb. Fanſelow, Gr. Lichterfelde.
Bezugnehmend auf Ihr mw. Schreiben
vom 21. d. M. teilen wir Ihnen hier—
durch ergebenft mit, daß mir bereit
find, Ihre Kompofition, Lied: »Am
Bades, in unferem »Mufil- Journal«
zu veröffentlihen zum Preiſe von
Me. 200, inkllufive Heritellung des
Stiches (Platte). Wir bemerfen Ihnen
noch, daß die Herftellung der Platte
ca. 8 Tage Zeit in Anſpruch nimmt.
Ihren geih. Nachrichten entgegen
fehend, zeichnen wir Hochachtungsvoll
ppa. »Das Kleine Journals,”
Gef. m. beſchr. Haftung.
9%. ©. Barthel.”
Kunftwart
Bildende HKunft.
* Nah John Ruskin gibt es
leider vollftändige Leberjegungen noch
nicht einmal von den allerwidtigiten
Werfen — bei bem ungeheuren Er«
folg, den er in England gehabt hat,
begreift man das ſchwer. Aber jegt
find wenigstens gute „Gedankenleſen“
aus feinen Schriften da. Für unfere
Lefer befonbers wichtig find die zwei
fleinen Bände „Wege zur Stunt“,
„Üüberjegt, zufammengeftellt und eins
geleitet von Jakob Feis*. Sie koſten
gebunden je 2! Marf und find bei
3. 9. Ed. Heiß in ge erichienen.
Auf Austin fommen wir bald zurüd.
* Das Zierfhräntden.
Wenn man mit Interejje verfolgt,
was in Deutidland auf bem Gebiete
des modernen Kunſthandwerks gemadt
wird, fällt einem eins auf: ein merf-
mwürdiges Uebergewicht, das daß Pier:
ſchränkchen unter den Möbeln bes
hauptet. Das Zierſchränkchen jcheint
das Hauptbedürfnis des deutſchen
Hauses zu fein. Es medjfelt in ten
Formen: einmal Eckſchränkchen, einmal
Schreibihräntdhen, einmal Glass
ſchränkchen, einmal Silberfhräntden,
aber immer iſt's ein kleines fpieles
rifches Möbel, das fhon von weiten
fagt: ich diene gar feinem Zweck, ih
bin eigentlid) nur da zum Schön-Aus—
fehen und zum Plasfüllen. Wir wollen
nicht behaupten, daß dieſe Funk—
tion nicht hie und da in der Ordnung
fei, (jede größere elegantere Wohnung
mwird folhe Schränkchen brauchen) —
aber zu den allernotwendigiten Dingen
gehören fie doch nidjt, und diefen not=
mwenbigiten Dingen wird nicht entfernt
entiprechend viel Mühe mehr auge
mwandt, als dieſem Lieblingsfinde, dem
Zierſchränkchen. Fürdtet man fich,
die handgreiflichiten, einfachiten Dinge
zu entwerfen? Wir glauben eher: man
weiß gar nicht recht, was eigentlich
notwendig ift, was ein praftifcher
Menih in einer praftiihen Wohnung
thbatlählih braudt. Es iſt das ein
Vorwurf, der nicht die Künstler treffen
foll, denn gerade unfere modernen
deforativen Künſtler haben ja ihre
Thätigfeit mit bewußter Abfiht auf
die @eftaltung der alltäglichen Dinge
gelegt und befennen dieſen Standpunft
bei jeder Gelegenheit. Es ift ein Vor—
wurf, der vielmehr die Konfumenten
trifft, denn fie beſtimmen das, was
der Händler vorrätig hat. Und um:
_ 24 —
die Vedürfnilfe diefes faufenden Pub—
litkums jcheint e8 aud) dort, mo Sunit-
efühl herrſcht, ganz kurios auszu—
ehen. Gewiß, an den jchönen reinen
Ktunſtwerken, der „Objets d’art“, die
man heute reihlih findet und fauft,
übt ſich der Geihmad, das Kunſtge—
fühl. Aber das alles allein geitaltet
eine, Wohnung doch nie und nimmer.
Das Grundlegende muß doch wohl der
Sinn für Sachlichkeit, für Zwed-
mäßigfeit, für Bequemlichkeit
werden, und der jcheint bei uns noch
weit mehr zu fehlen, ald man gewöhn—
lich annimmt. Man gehe nur einmal in
den Häufern herum, die man mohl
eingerichtet nennt, gleichviel ob nad)
alten oder neuen Gelichtspunften, und
fehe, ob man da auch nur einen
richtigen und richtig untergebradjten
Tiſch findet, einen Tifh, an dem man
bequem figen fann, auf dem man
feine Bücher und Werke bequem be—
fehen kann, einen Tifh, der groß,
breit, gemütlich iſt, mit Beinen, an
die man fih nicht anitöht, mit
einer Platte, deren Politur man
nicht beitändig zu verfragen fürch—
tet und an einem Plate, auf
den das Tagesliht voll von der
Seite fällt und wo auch die fünftliche
Beleuchtung derart iſt, daß man ji
nicht die Augen verdirbt. Ferner: man
fuhe in großen Möbellagern, Die
oft jo voll von den fchönjten und
moderniten Erzeugniffen find, nur
einen richtigen Bücherfchrant. Wer
Die modernen Muſterzimmer mala fide
befieht, fann hinterher mit einem ge—
wiſſen Recht behaupten, daß der Dann
mit der modernen Einridtung jeine
Bibliothek in Sophas, Zierſchränkchen,
Edbrettern und Büffets unterbrächte.
Mo kann man ſchon einen ganz ſachlich
bequemen Schreibtiſch finden, der ein
immer nicht ſchändet, bei dem aber
tageren und Konſolen auch nicht zum
Sauptmotiv werden; einen Screib-
tifh, in dem ein Privatmann bequem
feine Rechnungen, Bücher, Briefe und
was alles dahin gehört unterbringen
fann, in dem fonjt ein Plaß iſt für
all das, was eben der Schreibtifch
bergen foll und der eine große be=
queme Platte zum Wusbreiten beim
Schreiben hat? Welcher Möbelhändler
bat ihn, ber doch über drei Zier—
ſchränkchen mit hundert Vaſen darauf
verfügt? Ich möchte mit meinen Worten
auf einen mwunden Punkt Hinmeifen,
der meinem Gefühl nad) gerade fo eine
fhlimme Klippe tt, die jorgjam ums
gangen werden muß, wie die Gefahren
einer mangelhaften, äſthetiſchen Durch
bildung. Greift die Kunſt in die
raftifhen Dinge, ins Handmerf ein,
o follte jie dabei nie vergeffen, daß
die praftifchite und behaglidite
Form auch eine Forderung der Neu—
zeit ift, Die fie mit zu löſen hat.
Shulge-Uaumburg.
Dermifchtes.
* Das „Weiße Röhl“ als
Kunftwert und Weihnachts—
gabe. In der Wiener „Deutjchen
Kunſt- und Muſikzeitung“, herausges
geben von D. Keller, jteht die folgende
Beiprehung:
»Im weißen Rößl.« Luſtſpiel
in drei Aufzügen von Ostktar Blu—
menthal und Guſtav Kadel—
burg. Verlag von Mar Simſon
in Charlottenburg. — Allen theaters
freundlihen reifen in Wien und aus—
wärts dürfte es willfommen jein,
au erfahren, daß die jüngſte, eben in
Wien mit jo durchſchlagendem Erfolge
über die Bretter gegangene Kompagnie—
Arbeit der beiden bewährten Bühnen-
dihter Blumenthal und Kadel—
burg: »Im weigen Rößlé ſchon
vor längerem auch im Drud erſchie—
nen ilt, und dab dieſes treffliche
Luſtſpiel mit herrlich ausgeführten
Kunjtblättern verfehen wurde,
welde prädtigen Jluftrationen, zehn
an der Zahl, im gleichen Verlage, bei
Dar Simfon in Charlottenburg, zu
haben iind. Angeſichts des na—
benden Weihnachtsfeſtes em—
pfiehlt ſich daher der Band ſamt den
dazu gehörigen Bildern aufs beſte und
dürfte die ſchönſte Erinnerung
an den gehabten theatralifhen Ge—
nu darbieten. Laut jtatiltifchen Aus—
weiſes über die an den wichtigſten
deutfchen Theatern zur Wufführung
gelangten Wühnenwerte im erſten
Viertel de8 heurigen Jahres erlebte
»Im weißen Rößl« in Berlin allein
254 Aufführungen. B. v. R.
Wenn jo etwas ſchon in Fachblätter
geihmuggelt werden kann, bei Gott,
dann iſt e8 Hohe Zeit, gegen ben
Maſſenvertrieb verfälſchter Nahrungss
mittel auf dem Gebiete des Geiſtes—
lebens mit aller Rückſichtsloſigkeit
vorzugehn.
Wiesgemachtwird. Anny
Wothes Frauenzeitung „Von Haus
zu Haus“, iſt wie kaum eine andere
2. Dezemberheft 1898
— 216 —
geboren aus dem reinen Gemüte der
deutfhen Jungfrau, nein, fie bewegt
fih andauernd in deſſen füßer Lieb—
lichkeit, wie die Fliege im Syrup. Bes
fonder8 vor Weihnadten, wenn die
Herdheimchen, Taufendfhönden und
Herzblättchen ei wie reizende Geſchenke
machen und einfaufen wollen, kleckern
ordentlich feine Blätter nicht doch von
Syrup, nein, von goldigem Honig ber
Seele. Aber ad), e8 ift Kunjthonig!
Denn nad) welchen Gefichtspunften das
nur Wahrfte und Beite für die Lefe-
rinnen ausgewählt wird, Davon zeugen
die Briefe, die vor der Weihnachtszeit
an die Berlagsbuchhhandlungen ergehn:
Hierdurch geitatten wir ung, Jhnen
die ergebene Mitteilung zu maden,
daß bei unferem leßten großen Preis
ausfchreiben über »Empfchlenswerte
Bücher und Prachtwerke für Weihnachts⸗
geſchenke⸗ beifolgendes Manuſtript
durch einen Preis ausgezeichnet wurde.
Bei der großen Menge der vorlie=
genden Bücdjerbeiprehungen und bei
dem bejonders vor Weihnachten nur
Inapp bemefjenen Raum ift e8 uns
leider nicht möglich — wie mir fo
gern möchten — alle preisgefrönten
Beiprehungen nod vor Weihnadten
zum Abdrud zu bringen.
Wir müſſen uns daher vorerit
darauf bejchränfen, die Rezenſionen
ber Bücher vor dem Feſt abzudruden,
wo (fo!) uns aud) gleichzeitig Inferate
zugehen.
Unjer Zeilenpreis beträgt u. ſ. w.. *
Abdrüde der Rezenſionen nad)
dem Feft helfen natürlich dem Berleger
nicht8 mehr. Was es mit den jub-
limen „Preisausfchreiben“ und „Bes
fprechungen“ dieſes Pradtblattes auf
fih hat, haben wir ſchon früher mit
geteilt.
* Eine Reformation des Ber—
liner gefellihaftliden Lebens
regte vor kurzem ber Bildhauer Eber—
lein an: fie jollte eingeleitet werden
durh den monumentalen Bau eines
geopen Zabernafels, in dem ſtunſt und
iſſenſchaft ſich ein Stelldichein geben
und in dem nur geiftige Sntereffen
gepflegt werden follten. Der Berliner
Lokalanzeiger erließ darauf bin eine
Umfrage, wie denn die Beute darüber
bädten?
Dabei fonnte man wieder mal redit
beutlicd) fehen, wie wenig Fühlung mit
ben Gebieten des Lebens, die ber
Beruf nicht gerade vor ihre Nafe ftellt,
bie Menſchen doch haben. Ganz rich—
Kunftwart
—— — — —— — — — — — — —
tig empfand man zwar, daß die ma—
teriellen Intereſſen zu ſehr überwiegen,
daß Freude an Kunſt und Wiſſenſchaft
fehlen. Wer kann es uns geben? Lo—
giſche Antwort: die Künſtler und bie
Gelehrten! Bleiben wir bei den Künfts
lern: der ‚Verkehr“ mit „Künitlern“
mwird —“ Welche kommen in
—* Ganz gewiß doch einmal die
erühmteften. Wäre alſo unſerer
breiteren Geſellſchaft Gelegenheit ge—
geben, zwanglos mit dieſen Künſtlern
in den von ihnen bereiteten Stätten
zu verkehren und alſo ſich von ihnen
anregen zu laffen, fo müßte bald eine
erhöhte Kunftfreude die Berliner Ge—
ſellſchaft durchdringen. — Oder etwa
immer noch nicht?
Man denke ſich mal den ſo gut ge—
meinten Plan verwirklicht. Wer würde
die Künſtler herausleſen, die dort in
dem Zempel das Wort führen jollten?
Geihäh es von „offizieller Seite“, jo
würde wahrſcheinlich Anton v. Werner,
geihähe es durch ein „Plebiszit”, ficher
der fo beliebte Aller Kunftoberbonze
werden. Wer meiter „führte”, kann
man fi felbit ausdenfen. Es gibt
ja noch eine fo reichhaltige Liſte von
wohlangefchriebenen Dlalern und Bild-
hauern und Lieblingen des Publikums.
Gott bewahre ung vor einem nod
ftärferen Einfluffe der im bürgerlichen
Reben ja gewiß durchaus adıtbaren
Männer!
Alle die, fo es mit der Kunſt ehr—
lich meinen, jollten fid) als erſte Haupt=
regel merken, daß Künſtler mit
Maler und Bildhauer durdaus
nicht immer dasfelbe bejagt und daß
neun unter zehnen, bie als Künftler
ı im Adreßbuche ftehen, große Banaufen
find, felbjt wenn ſie Lorbeerkränze
haben, jo umfänglid mie gerollte
Feldmäntel.
Aber auch mit dem „Berfehr“ iſt's
eine eigne Sache. Ein wirklich be=
deutender Menfh, mas zeigt er benn
gemöhnlih von fih im „Berlehr“ ?
Keine wirklich gehaltreihe Natur
reiht ihren Geilt herum mie eine
Tabaksdoſe: „Prife gefällig‘? Im ver—
traulichen Gedankenaustauſch mit
Geiſtesverwandten erſt gibt fie ihr
Gutes, im allerintimften Gefpräd erft
ihr Beites. Auch deshalb alfo dürfte
biefer Verſuch, Berühmtheiten nutzbar
zu maden, nicht ganz ernfthaft zw
nehmen jein. -e-
u
* Darwin über Sunftgenuß.
„Ih habe meinen Gejchmad für Ge—
mälde und Mufit beinahe verloren.
Mein Geiſt fcheint eine Art Maſchine
geworben zu jein, allgemeine Geſetze
aus großen Sammlungen von That=
ſachen berauszumahlen. Warum dies
die Atrophie desjenigen Teiles meines
Gehirns verurſacht haben könnte, von
welchem die höheren Geſchmacksent—
widelungen abhängen, fann id) nicht
verstehen. Wenn ic mein Leben nod
einmal zu leben hätte, jo würde ich
mir zur Regel machen, menigitens
alle Wochen einmal etwas Poetifches
au lefen und etwas gute Muſik anzu
ören. Denn vielleiht würden dann
ie jet verfümmerten Teile meines
Gehirns durch Gebrauch thätig erhals
ten worden fein. Der Berluft der
— — für derartige Sachen
iſt ein Verluſt an Glück und dürfte
möglicherweiſe nachteilig für den In—
tellett, noch wahrſcheinlicher für den
moraliſchen Charakter ſein, da er den
tur ſchwächt.“ So zu leſen in Darwins
„Autobiographie“.
* Bei der Herjtellung unfres vorigen
Heftes Hat fi leider der Setzer—
teufel auf das Ungebildetſte bes
nommen. Nicht genug damit, daß er
bier und dorthin fein Gift verfprigte,
hämiſch vertaufchte er auch amei Seiten,
und ſchließlich mifchte er ſich ſogar in
die Redaltion, indem er aufs greäite
behauptete, Kreidolſs urgefunde Kinder—
gelichter feien ungefund, ja, er ertrogte
für die doc törihte Meinung ben
Sieg, daß bei Streidolf nicht Kinder
tümlichfeit fondern Sindertrümlichkeit
zu finden fei. Was gefchehen ift, fei
geihehn! Nun aber find die hohen
Chefs und Hochmögenden und Aus—
führenden der Kgl. Bayer. Hofbuch—
druderei von Kaſtner & Loſſen zu—
fammengetreten, um den vom Druder=
teufel bejeflenen Kunſtwart durch einen
kräftigen Exorzismus zu befrein. Sei
gemütlich erregbaren Teil unferer Nas | Segen auf ihrem Wertel
Unsre Beilagen.
Die Mufikbeilage bringt, mit Bewilligung de8 Verleger 9. Hedel in
Mannheim, ein Lied von Hugo Wolf — wir verweifen in biejer Beziehung
auf unfern heutigen Auffag über den Tondichter. Beim Studium insbejonbdere
dieſes Liedes fehe man fi) zunädft die Singjtimmen an und verfude, fie
allein, aber mit dem vollen durch den Text beftimmten Ausdbrude zu fingen.
In der erjten Strophe empfehlen ſich am Schluß jedes Verſes (nad Weife,
Ieife, Morgen, frommen, Billtommen) Heine, faum merflihe Pauſen. Der
Klavierpart führt ein Hold melodifches Motiv von kindlicher Reinheit durch;
man könnte zumeilen auf Mozart raten, wenn nicht einige verſtiegene Harmo—
nien, rüdende Modulationen im Mittelfag und diffonierende Gegenführungen
der Stimmen den modernen Mufiler verrieten.
Mit tiefer Wemut und dann wieder mit freudigem Stolz werden unfere
Leſer Hugo Wolfs köſtliche Kunst geniefen, wenn fie ihnen Hilft, das Weih—
nachts⸗ und Neujahrsfeft künftlerifch zu adeln. Mit tiefer Wehmut: denn der
wie faum je ein anderer verjtand, big zu der innerften Seele einer Dichtung
vorzudringen und ihr zu den Worten die Töne zu fchenten, daß fie bis zum
heiligſten Leiten ihr Beſtes ausfprechen könne — er lebt nod), und hört doch
unfern Danf nicht mehr. Uber wie wir bes Menfhen Schidjal betrauern:
dab ſolches Schaffen jet in der Gegenwart zwifchen uns wirkte, das er—
hebt uns mie ein biblifches Pfand von einem Bunde der himmliſchen Mächte
2. Dezemberheft 1598
— 211 —
mit uns Deutfhen. Wieder ift uns ein Mufifergenie aus dem ſchlichten Volke
erftanden — ber Anlage nad müſſen wir doch wohl ein Kunſtvolk fein!
Auch unfre Bilder wollen heut tet vom Allerdeutſcheſten in
ber Kunſt ſprechen. Wie mir umberftreifen mögen das Jahr hindurch, am
Heiligen Abend mollen wir ja einfehren ins Elternhaus. Wo finden wir das
Elternhaus deutſcher Kunſt, wenn nit bei UIbredt Dürer?
Die Wundermwerle, die wir heut von ihm abbilden, hat er beide im Jahr
1519 als Gegenjtüde geſtochen. Des Erasmus „Lob der Narrheit“ war das
mals erjchienen, worin die Glückſeligkeit ber Weltentrüdten in Gegenſatz geitellt
war zu der Thorheit der Denter, die ungewiß ftreben nad Erfenntnis. Dieſem
Gegenſatze entiprojien die beiden Blätter, aber der Gedanke aus des feinen ſati—
rifhen Männleins Erasmi Geiſt verwandelte ſich in bem ehrlichen und geraden
Sinn Meifter Albrechts von Nürnberg. Zwar, ein meltentrüdter Meifer
ijt er ja, Diefer „Heilige Hieronymus im Gehäuß“, aber das ift wohl nicht
ſchwer zu fein, wenn das eigene Keine Sondermwelthen fo behaglich ift. Das
gemütliche Löwenvieh, das jchläfrig blinzelt, während ſich's mit dem Hausſpitz
zufammen fonnt, ift nicht zum Gruſelmachen angethan, nicht einmal der Toten—
topf ift es: grundmwohl wird ung, wie bem Heiligen, nachdem er feine Aus—
gehepantinen unter die Fenſterbank geitellt, ih unter den Kiſſen, auf bie er
was gibt, das fommodeite ausgeſucht und fi) in molligen Hausſchuhen vor
feine Arbeit gejegt hat. Man fieht’s ihm an: ihn plagen feine Sfrupel; mie
er ſchreibt aus feiner reichen Gotteserfahrung heraus, da genieht er felber mit
Innigkeit feinen Glauben. Und über ihn und über alles ringsum in dieſem
faubern und ordentlihen Heime des Friedens ſcheint durch Die Butzen her die
Sonne, die ruhige, die wärmelnde, wie fie jedermann eine Freude und einem
alten Herrn eine Wonne ijt, die Liebe, milde Sonne.
Uber Dürer vereinigt beide Reihe in feiner Seele, das der Jdylle mit
dem der Tragil. Denn nit wie das „Lob der Narrheit* das Tragifomifche,
fondern als echter Deutſcher allein das Tragifche fieht er in dem vergeblichen
Ringen der Weifen nad Grfenntnis: die Stimmung feiner „Melandolie* ift
aufs nächſte verwandt mit ber des verzmeifelnden Fauft im erften Monologe.
Brütend fit das ftolze geflügelte Weib da, den Zirkel no in der Hand, mit
dem es vergeblich ſich gemüht hat, wie ad, fo oft mit all diejen Inſtrumenten
rings, „mit Rad und Hämmen, Walz und Bügel“ — „zwar euer Bart iſt
fraus, doch hebt ihr nicht den Riegel!“ Da huſcht denn die Fledermaus ber
Melancholie gefpenftifch Iautlos um fie herum, und ftatt im TZagesglanze fieht,
fie die fhöne Welt im ungemwiljen und unheimliden Schimmer von Nordlidt
und Komet. Dürer bat in jeine „Melandolie* eine Menge von Beziehungen
bineingeheimnißt, denen nachzugehen uns hier zu weit führte. Uber auf das
Licht wolle man adjten. Wie fteht es im Dienjte der Stimmung! Gegenüber
dem ruhigen Sonnenjdein im Hieronymus bier ein Beleudhten von vorn und
von hinten zugleich, das in feinem Widerjprud doch Fein wirkliches Erhellen
fondern nur Unruhe bringt.
Wer fih in diefe beiden Werfe vertiefen will, nimmt am einfadjten
die fhönen Reproduftionen der Neichsdruderei zur Hand, bie für je 3 Darf
zu beziehen find. Schon unfere Bilder aber werden dem finnenden Beſchauer
ein Gefühl ermweden, als ftände er hier vor den Quellen ber beiden Haupt—
ftröme deutſcher Griffeltunst. Die Melancholie — arbeitet nit jhon hier ganz
berjelbe Geiit germanifhen Träumens, Sehnens und Ringens, der ſich erjt in
Kunftwart
— 28 —
der Gegenwart feinen gemaltigfien Ausdruck verſchafft hat in Hlingers „Bom
Tode” bis zu feinem troßigen „Und doch“? Der Hieronymus — läßt er nicht
bie Meifter ahnen, aus deren Reihe dann Ludwig Richter, der Liebenswerte,
als ber beite zu uns tritt? Wereinigt aber in ein und demſelben Geifte hat
Idylle und Tragif nie wieder gemaltet, wie in Dürer.
Neben ſolchen Werken fih zu behaupien, fält Ludwig Nichters
„Sternennadt“ zunächſt wohl ſchwer. Es ift ja ein ganz anſpruchsloſes fleines
Bild. Uber e8 ift trogdem ein Meiftermerf. „Die Himmelslichter find doch
wirklich, wie die Augen am Menſchen, vffnere oder garter bededte Stellen der
Welt, wo die Seele heller durchſcheint“ — dieſes Claudiusſche Wort bat Richter
darunter gefeßt. Daß wir die Beiden anfehen, die fo empfinden, und zugleich
ihr inniges Eheglüd fühlen und an den Sternenhimmel benfen, uns ganz in
eines fegend mit ihnen felbit, das zu bewirken vermochte nur eines großen Mei—
fters Kunſt: das Blatt hat eine ganz feltfame Gemalt über den Beſchauer,
wenn er nur ehrlich bereit ift, fie auf fi üben zu laſſen. Doch es ift auch
als Kompofition für den Holzſchnitt und ſchließlich als Schnitt felber ein
Meifterwert, weshalb denn Gaber Stolz feine Initiale darunter gefegt bat.
Unfre Leſer joll e8 zugleih an „Fürs Haus” erinnern, wohl die allerfchönite
unter den ſchönen Richterſchen Sammlungen, die bei Alphons Dürr in Leipzig
erichienen find und ber es entnommen ift — das edelſte Familienbilderbud,
das wir haben. —
Eine äußerliche Neuerung ift diesmal die Einfügung der Beilagen an
den Schlußß des Hauptblattes. Wir wollen dadurch einerfeitS bewirken, daß.
die Bilder gleich neben dem Texte ftehen, der zu ihnen gehört, anbderfeits, dab
man fojort ein Merkmal für die Stelle Habe, wo man den „Inhalt“ jeden
Heftes verzeichnet ſucht. Die Noten fliehen fih dann an die Bilder an.
Uebrigens find fie abfihtlih nur fo loder eingeheftet, daß fie leicht an andere
Stelle verfegen kann, wem biefe Einrichtung nicht gefällt. Wir werben für die
Noten und Bilder künftig aud) befondere Mappen, die ben Ginbanddeden ent».
ſprechen, zur Verfügung unfrer Leſer halten.
2
SH
Unsern Zesern
dürfen wir zum Felt etwas Erfreuliches mitteilen. Auch unfer neues
Wagnis ift geglüdt: Die Zahl der Bejteller des Kunſtwarts ift über
unfer Hoffen jchnell, ift ſogar noch ſchneller al8 im vorigen Herbite ge—
ftiegen und fteigt noch jeßt recht munter fort. Dadurch jehen wir uns
nicht nur im Stande dazu, troß der Bilder- und Notenbeilagen unfern
alten und niedrigen Beftellpreis zu behalten, fondern au dazu, wiederum.
neue Berbeflerungen ins Auge zu falten.
Wir haben, ermutigt durch die guten Zeichen beim Jahrgangs»
mechiel, jedem Heft fchon in dieſem Quartal je zwei Bilder ftatt des.
verjprochenen einen mitgegeben. Fortan follen fie auch) noch auf bejjerem
Papiere gedrudt werden und dann und wann werden's ihrer auch noch
mehr werden. Aber diefe Eleine Aeuferlichleit mögen unjere Abonnenten:
2. Dezemberheft 1898
nur als ein Zeichen dafür anfehen, daß der Kunftwart „nicht raſten
und nicht roften“ will: denn in der Hauptſache will er feine Mehrein-
nahmen doch auf innere Befferungen verwenden.
Die Weihnachtszeit, die in Deutfchland fo über alle Maßen wich—
tig ift für die Verbreitung von Kunftwerten aller Art ins Bolt, fo
wichtig, daß mir diefen großen Markt nicht ohne Verlegung unfrer Ber
zufspflicht vernachläfiigen können, fie drängt leider in unjern November-
und Dezemberheiten alljährlich manche andere Sache zur Seite. So haben
wir auch diesmal Berichte der verjchiedenften Art zurüditellen und noch
viel andere8 vertagen müſſen. Liegt uns fchon dies bedrüdjfam auf
der Seele, fo thun das noch mehr die fürdhterlihen VBerfpätungen,
ünter denen das Erſcheinen des Kunſtwarts in diefem Quartale gelitten
hat. Sie famen daher: mit der Einführung der Notenftecherei, Bilder-
reproduftion, Kunftdrudpapierfabrifation und Kunftdruderei in unfer Ge—
triebe hatten mir plöglich eine Menge von Fehler: und Berzögerungss
quellen mehr zur Verfügung, und feine davon verfäumte, fi) vorzu—
ſtellen. Nun aber fommen die Neuerungen allmählich in den geordneten
Lauf, und fo werden wir künftig feltener die Nachficht unferer Leſer be=
anfpruchen müflen.
Daß fie uns mit froher Bereitwilligfeit bei der weitern Verbreitung
des Kunſtwarts unterftüsen, daß haben wir mit Dankbarkeit erfahren.
Weihnachten fteht vor der Thür — it ein Abonnement auf den Kunſt—
wart ein übles MWeihnachtsgefhent? Neujahr fteht vor der Thür — e8
gibt feine beſſere Zeit zum Wirken für ein Blatt, als diefe. Empfiehlt
man das unjre, jo bedeutet das feine Privatunterjtügung, jondern das
Anmwerben zum gemeinfchaftlichen Wirken für-eine gemeinjchaftlidde gute
Sade. Das wiſſen unfre Leſer, danach werden fie Handeln. Wir
mwünfchen ihnen allen ein ernſtfrohes Weihnachtsfeſt und ein hoffnungs—
volles Neujahr. Auf Wiederfehen denn im legten Jahr diefes alten
Säkulums zu weiterer gemeinfamer fröhlicher Vorarbeit fürs neue!
-Bunftwart-Feitung: Presden Kunftwart-Perlag:
Ferd. Uvenarius, Münden. Geora D. W. Eallwey.
3nhalt. Jugendſchriften. — Weihnachtsſchau. — Hugo Wolfs Mörike-Lieber.
Bon Richard Batka. — Zofe Blätter: Zur Weihnachtszeit. Bon Peter Rojegger. —
Neuere Lyrik. Gedichte von Julius Hart, Hans Bergmann, Unna Ritter und
Dar Bruns. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Albrecht Dürer, Hieronymus
im Gehäuß; Melandholie. Ludwig Richter, Sternennadt. -- Notenbeilage:
Hugo Wolf, Zum Neuen Jahr.
Derantwortl. : der Herausgeber Ferdinand Avenarius in Dresden:Blafewig. Mitrebaftenre: für Mufit:
Dr. Richard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Kun: Paul Shulge-Naumburgin Berlin,
Sendungen für den Text an den Eerausgeber, über Muſik an Dr. Batfa.
Derlag von Georg D. W. Callwer. — Hal. Hofbuchdruderei Kaftner & Loffen, beide in Mänden.
Beftellungen, Anzeigen und Geldjendungen an ben Derlag: Gsorg D. W. Callwer in Mänchen.
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Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
ALBRECHT DÜRER
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
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LUDWIG RICHTER
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
Zum Neuen Jahr.”
Kirchengesang.
Mässig (nicht eilen). Hugo Wolf.
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"Mit Bewilligung des Verlegers B. Heekel in Mannheim. (Vgl. dazu den Text im Haupt:
blatt.)
Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München.
Alle Rechte vorbehalten. 46143
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Derausgeber:
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12. Jabrga 2luslieferung für Berlin: B. Bebr’s Derlaa. W. Stealiterfr. & Dates BE
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2; mal in Beften von 32 Seiten (je zu Anfang und Mitte des Monat: ;:
Der Abonnementspreis beträat Mk. 2.50 für das Dierteljabr.
Einzelne Hefte foften 50 Dra. U
Ale Buchhandlungen und Poftanftalten, ſowie die unterzeichnete Derlaashandlung nebm--
Abonnements-Beftellungen entgegen. Probehefte unentgeltlich und poftfrei von der Derlagsbud-
handlung: Georg D. WI. Callwey in München. |
Nachdruck fämtliher Eigenbeiträae, mit Ausnahme der „Eofen Blätter” und der Beilasen
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird feine Gewähr
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nur wenn Rüdporto beilag.
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2
Gedächtnis.
Poehlmanns Gedädtnisiehre entwidelt die Beobahtungs und Auffaffunasaabe,
fejfelt die Aufmerkſamkeit, heilt fomit von Zerftrentheit und ftählt das natürliche 3
Leichtes Erlernen von Sprachen, Wiſſenſchaften ꝛc. Anwendung aufs praktiſche Leben. In den
legten 2'/s Jahren 10000 Schüler aller Stände. Empfehlende Rezenſionen von nahezu 100
europäifhen Zeitungen, Zeitfcriften und Fachblättern. Profi mit Zeugniſſen nebh ‚
reiben Seitungsrezenfionen aratis und franfo dur U. Poehlmann, Sintenftaden
Münden F. 4, ? i *
Digitized by Google
bett 7.
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12. Jabrg.
Ersies Januarbeft 1899,
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Wohlwollende Kritik.
Jedes Blatt, das feiner Zeit ehrlich dienen will, hat neben dem
Nein das Ja zu pflegen, hat nicht nur „einzureißen“, fondern aud) „auf:
zubauen“, — das iſt eine Wahrheit, die lebendig weiter grünen wird,
wenn aud) jeder Zeitungsmann alle Wochen mal über fie läuft als über
einen Gemeinplag. Immer auf Ganze müſſen wir jehen, daß die
Quellen der Freude im Menfchenbereich fich nicht mindern, fondern mehren,
alfo: verjtopfen wir hier eine Zuftquelle, weil wir die Luft, die fie gibt,
für jchädlid Halten, jo jollen wir fuchen, andre zu öffnen, dem Forſt—
manne glei), der für einen Baum, den er fällt, zwei andere einpflangt.
Wie aber bethätigt die Wirklichkeit unfers Zeitungsweſens den Sag? Sie
hat das ſchöne Wort von der „mwohlwollenden Kritik“ aufgebradt.
Bliden wir ung zunächſt einmal um, wie die wohlmollende Kritik in
der Praris ausfieht.
Bor Weihnadten ift dafür die beite Zeit. Wollte der Leer eines
Tageblattes, der nicht davon mweiß, „wie's gemacht wird“, und noch
ganz arglojen Herzens ift, fi einmal überlegen, mie jold eine Tages-
nummer entjtehe, er müßte zu dem Ergebnis fommen, daß jein „Organ“
die Zahl feiner Redakteure und Mitarbeiter plöglich vervierfadht habe,
oder daß die Leute am eriten Adventſonntage Uebermenjchen merden.
Der Taufend noch mal, was fteht jet alles da drin! Man weiß doc,
wie viel Zeit man braudt, ein Buch nur zu lejen. Und Hier werden
Bücher beiprocdhen, Spalten lang in jeder Nummer, obgleich aufs ein-
zelne beim Zufammendrängen der Gedanfenfülle nur wenig fommt !
Und jedes aus doch ungzmeifelhaft genauejter Kenntnis des Inhalts
heraus mit wahrhaft verblüffender Urteilsficherheit! Für Goethe oder
Klauenſeuche oder Bismard oder Haustelegraphie oder Hühnerpips oder
Marstanäle, für alles hat augenscheinlich daS Blatt unter den rajtlojen
Mitarbeitern maßgebliche Spezialiften! Aber weiter: alle Neuheiten der
Induftrie werden abgehandelt, die für den Markt in Frage fommen, für
fid) oder gemeinfam mit der dritten Gruppe. In dieſer nämlich werden
Kunftwart \. Jannarheft 1899
— 21 —
alle größeren Läden der Stadt „bejucht“, jo meit fie nur „Weihnacdts-
ausftellungen“ machen, bejucht, geprüft, beurteilt und beiprocdhen und
alle gleichfalls mit der erftaunlichjten Brancdhenfenntnis. „Was hab ich
für ein Blatt“, denkt der Leſer, er denkt's mit Stolz. Nicht minder
ſtolz aber ift er auf dieſes wundervolle Leben im Baterlande, von dem
diefes fein Blatt ihm zeugt. Denn die hunderte von Notizen, fie dürfen
ja alle, Gott fei gepriefen, aus vollem Herzen Toben, wiſſen fie dod)
augenscheinlich nur von Gutem, Beſtem, Allerbeftem. Sa, alle dieje
Bücher über Goethe, Hlauenjeuche, Bismard, Haustelegraphie, Hühner-
pips und Marstanäle, fie find, jo ſchwer das augenjcheinfich bei manchen
zu machen war, doch „hochgeeignet zu Feltgeichenfen“, und all die Neu—
heiten der Induftrie und was ſonſt in all den Läden zu fehen, ift gleich»
falls „hochgeeignet“ dazu...
Die Eingemweihten legen ihr Blatt ungelejen beifeite in diefer Zeit,
da die Druckerſchwärze mit Honigſeim angemadt wird. Sie find nicht
weiter entrüftet, fie find abgeftumpft gegen den grenzenlofen Schwindel.
Nur wenn die Feitbetrahtungen fommen mit ihrer Frömmigkeit, ihrem
Gemüt und ihrer Nädjitenliebe, „wildzt“ wenigſtens in einigen doch die
innere Natur, und die Orgie der Heuchelei empört. Mitleid mit den
Armen, gerührte Thränen und inniges Ghriftentum auf demjelben Löſch—
papier, das vier Wochen lang den erbärmlichſten Schund, und wärs ein
förper= und feelenverderbender, den Leſern gegen Bezahlung angefchmiert
hat! Denn bezahlt mit Waren oder mit Anzeigen oder, nichts weniger
als jelten, mit barem Gelde, waren ja 999 von 1000 diejer Geſchäfts—
empfehlungen zum Weihnadhtsmarkte. Und bezahlt mit Waren, d. 5.
mit Rezenfionseremplaren, waren alle diefe Waſchzettel!
Hier handelt fih’8 nun um Dinge, die man mit dem rechten Namen
nicht anders als Korruption nennen fann, nicht gelegentlihe „Ent
gleifungen“, fondern echte Korruption, nämlich eine jo allgemeine Herr—
ſchaft geichäftlicher Umfittlichkeit, da fie gar nicht mehr als das, was
fie it, empfunden wird. Ueber ſolche Ericheinungen kann unter erniten
Menichen ja feinerlei MeinungSverfchiedenheit fein. Deshalb wollten
wir auch am fie nur einmal wieder im Vorübergehn erinnern, da man
vorläufig ihre ſchlimmen Folgen nicht beffer als durch immer wiederholte
Warnung befämpfen fan.
Aber auch die harmlofere Sorte der „wohlwollenden Kritik“ treibt
in den übrigen Jahreszeiten doch fozufagen nur ins Kraut, blühn thut
fie mit den Weihnachtsrofen zugleih. Auch da, wo nicht plumpere oder
feinere Beftechlichkeit das Zeitungslob beitimmt, auch bei den verhältnis=
mäßig mwenigen Feuilletons der anftändigen Blätter wird vor Weih—
nachten die NRezenjentenbrille mit jeder Woche rofiger angehaudt. Die
‚sreundlichkeit der allgemeinen Stimmung ftedt an — man „nimmt’s
nicht fo genau‘. Zu entſchuldigen ilt das gewiß, ift’S aber auch zu
rechtfertigen?
Ja, mas hat denn eigentlich die Zeitungs- und Zeitſchriftenkritik
zu thun ?
Zunächſt einmal: jedenfall nicht dasjelbe, mie die eigentliche
wiſſenſchaftliche Kritik. Zeitungskritik ift feine pſychologiſche Unter:
ſuchung mit dem alleinigen Zwecke der Erkenntnis, Zeitungskuitik muß
mit den Berhältniffen rechnen, unter denen fie gelejen wird, hie regt an
Kunjtwart
oder regt ab, fie „wirft“ irgendwie, und wenn fie ihren Beruf ernit
nimmt, jo ergibt ich daraus die Berpflichtung, praktiſch, wenn man
will: volfspädagogiih gut zu wirken. Wie wirft fie „gut“? Darüber
find mir einig: das bloße Amüſieren thut’3 bier ebenfowenig, wie bei
fogenannten Dichtungen und wie bei Theaterftüden — deshalb fchägen
wir die Kopftlowns niedrig ein, die fih unterm Strich produzieren.
Rechter Genuß — allen Dank dem, der ihn bringt, denn was ich recht
genieße, das nährt mich und mehrt mir das Lebensblut. Bloßes Amüfes
ment aber jchlägt nur die Zeit tot, ſchmeckt nur auf der Zunge, nährt
nit. Davon aljo abgeſehn — wie foll Zeitungskritit wirken ?
Sie fann wirken zunächſt einmal im geichäftlihen Intereſſe der
Autoren und ihrer Verleger. Da unfre Welt fih ums Geld dreht, fo
iſt das geichäftliche Intereife die Sonne, um die auch die meiften unfrer
Zeitungsrezenfionen freien. Bon den allergemeinjten Formen folcher
Abhängigkeit haben wir jchon geſprochen, es gibt aber viel mehr ver—
ichleierte, feinere und auch anjtändigere. „Sollit du den Leuten dag
Geſchäft verderben ?*,, denkt der mohlmollende fritifer. Und dann
fommt eine jehr beliebte Gedantenphrafe, ich wenigſtens habe fie des
öftern gehört: „Lob ift leichter zu verantivorten, als Tadel“. Schmiert
einem ein Schneider jchofle Kleiderſtoffe an, jo findet man's nicht honett,
aber literariiche Schofelmare darf man den Leuten ins Haus loben? Ich
will nicht davon fprechen, wie weit jene Prachtphraſe ein Schuggedante
für den geheimen Wunſch nad netten Rezgenfionseremplaren ift.
Ein ehrlicher Zeitungskritifer, der ſich feinen Beruf ein bischen
überlegt, fann felbjtveritändlich gefchäftlihen Wünjhen nur jo weit folgen,
wie daS ohne Schädigung der Berufspflidt angeht. Die fordert ja
immer die Arbeit zum allgemeinen Wohl. Nun verlangt das jchon,
daß er zwei Herren diene, ſchwer aber ift das hier doch nicht, denn
beider Borteil dedt ſich. „Was nüst der Literatur als folder ?*, hat
fi) auch der beicheidene Rezenient zu fragen, „was alfo der Produktion?“,
um hübſch modern mwirtjchaftlid” zu reden. Und zweitens: „was nützt
den Leſern als den Konſumenten?“
Es ift gar feine Frage, daß der Literatur als folder die „mohl-
mollende Kritik“ nicht das mindejte nügt. Nein, e8 gibt für fie faum
etwas jchädlicheres, als daS Durcdeinandermwerfen aller Mapitäbe, das
die modiſche Allesfoberei mit fi) bringt. Nicht nur dort, wo die Grünjt-
deutihen in geheimen Konklaven Päpſtchen und Gegenpäpftchen wählen,
fondern aud in unjern Tagesblättern werden mit unbeirrtem Selbftver-
trauen tagtäglich neue Größen und s.v.v. Größinnen entdedt. Da nun
fpradjliche Steigerung jenfeit der Superlative verjagt, jo befommen alle
als hervorragend angejehenen Leute annähernd dasjelbe Lob. Es ift in
der Kritik aller Künſte jegt jo, wer 3. B. das mädtige Genie Mar
Klinger und das gute Talent Saſcha Schneider nicht fennte, würde
nah den öffentlichen Beipredyungen die beiden jo ungefähr gleich hoch
einihägen. In der Literaturfritif aber ift fo etwas gefährlicher, weil
die ſtontrole viel jchwerer ift, da man in NAusftellungen und Laden
fenitern die Bilder jelbjt, von Büchern aber nur die Einbände Sieht. Die
Allesloberei führt aud; zu den albernfien Widerſprüchen. Nach den ein-
zelnen Rezenfionen falt nur Talente und Genies, nad) den allgemeineren
Betrachtungen „Uebergangsperiode*, „Bodenbereitung für den fommens
= 23 — 1. Januarheft 1899
den Mann“, „Sehnjuht nad) dem Meſſias“ — wie reimt fich das zu—
fammen? Wenn id; allein die Literatur-Meffiafie zufammenzähle, die ich
jegt vor Weihnachten in echten ober „imitierten“, d. 5. Waſchzettel—
Rezenfionen gepriefen gefunden habe, jo könnten mir davon noch allen
übrigen Literaturen abgeben, und es reichte. Was aber denn doc nicht
al3 Genie bezeichnet werden fann (oder auch, was etwa wirklich eines
iſt), da kriegt den großen Süßigkeitspinſel wenigſtens einmal quer über
den Mund geftrichen, indem man's „liebenswürdig“, „anmutig”, „reizend“
oder „meti“ Heißt. Der wirflihen großen Begabung wird das Auf:
kommen durch ſolches Weſen natürlich unfäglich erſchwert, wenn fie nicht
befondere Glüdsumftände emportragen: fälſcht nicht Neid oder der natür—
lihe Haß der Kleinen gegen die Großen das Urteil, jo fann man dod)
auch da8 Genie nur Genie nennen, das aber werden fo viele, daß feiner
mehr recht drauf achtet. Man denfe, ein Beilpiel aus der Muſik zu
nehmen, an Hugo Wolf.
Um uns wieder auf die Literatur zu beſchränken — ihr aljo wird
duch) den großen Pairsihub ins Oberhaus der Poeten nicht gedient;
es ift gewiß, daß viele dabei find, die nicht her gehören, und ift dog
nit einmal gewiß, daß alle dabei find, die das thun. Hilft nun die
„mwohlwollende Stritif* dem PBublitum? Hann denn dem was helfen,
das ber Kunſt fchadet? Es wird durch die Allesloberei wie ſyſtematiſch
zur Urteilslofigfeit erzogen. Daß c8 nirgends mehr auf Rezenfionen
was gäbe, ift leider nicht wahr: man ſetzte nicht Wafchzettel und fo und
jo viel andere Mittel in Bewegung, um gute Rezenfionen zu bekommen,
wirkten fie nicht auch in der Tagespreſſe noch immer.
Wir haben bei unfrer Betrachtung von einer Frage ganz abge-
fehn, die vielen vielleiht al8 die Vorfrage ericheint: wie, wenn der bes
treffende Kritikus überhaupt nicht das Zeug hat, einem Werke gerecht
zu werben? So jonderbar das klingen mag: ich halte diefe Frage für
nebenfädhlid. Theodor Storm jchrieb mir einmal, feiner Meinung
nad jeien die echten Kritiker jo felten wie die echten Poeten, ja, zur
Zeit hätten wir vielleicht für Lyrik feinen in Deutichland. Jedenfalls
gehören feine kritiſche Abwägungen und Bemertungen zu den feltenften
fiterarifchen Zederbiffen, und daran ift gar nicht zu denken, daß fie aud)
nur in allen großen Zagesblättern aufgetiicht werden könnten — fo
lange mwenigitens nicht, als alle Redaktionen auf „Originalrezenfionen“
ftolz find und „jo etwas“ nicht abdruden mögen. Seien wir alfo zu—
frieden, iſt die uns vorgejegte Koſt nur rein, nur unverfäliht. Auf:
richtigfeit ift die erfte Forderung wie an die Künſtler, fo an die Kri—
tifer. Uebt und erzieht nad) Möglichkeit euern Geichmad, ftellt euch em
für das, was der Künſtler gewollt hat, damit ihr nicht an feiner Ab—
ficyt vorbeifeht, und dann jagt uns chrlich, was ihr meint: Hat er fie
erreicht, und wie, war's eine gute Abfiht, und was gefiel und mas
mißfiel euch? Sagt das, indem ihr Umnterfchiede macht, Abſtände haltet,
Har erkennen laßt, meine ih, wen ihr mehr und wen ihr noch mehr
Ihägt. Sagt offen, was euch mittelmäßig jcheint, was fchleht, mas
gut, und tretet für Die, die ihr für Genies haltet, mit einer Kraft ein,
die ihr für ein Talent nicht ohne Weiteres aufwendet. Irren thut auch
der „geborne* Kritiker gelegentlih mal, es iſt feine Schande, zumal
nicht, wenn er's ſpäter eingefteht. Jrreführen alſo werdet ihr uns auch,
Kunftwart
— 224 —
wenn ihr aufrichtig jeid, danı und wann, aber jedenfalls zehn Mal
weniger, als wenn ihr's nicht feid. Mehr als das Geforderte Darf
man von der Tageskritit billiger Weife nicht fordern. Das aber darf
man verlangen, zumal wenn fie fi zwar nicht nur auf die beiten,
aber doch auf die am meilten bezeichnenden Werte befchräntt.
Ja, fagt der Lefer, aber ginget ihr nicht davon aus, daß man
nit nur einreißen, fondern aud aufbaun folle? Bon jedem Ganzen
ſoll man da8 verlangen, aljo von der Zeitung als ſolcher, oder auch von
ihrem Feuilleton. Ihre Kritik aber ift Heute noch nirgends ein Ganzes.
Was Rezenfionen bringen, wird ja jo gut wie ausnahmslos abhängig
gemadt von dem, was man zur Beipreihung einſchickt oder doch von dem,
mas neu erjcheint, mit andern Worten: vom Zufall. Ob der Rezenſent
(oben darf oder tadeln muß, hängt da alſo vom Zufall, aber gar nicht
vom Willen des ehrlichen FKritifers ab. Da zuden: natürlich ſtets das
Hervorragende feltener ift als das, woraus es hervorragt, jo würde
die Bitte: mußt du fchon tadeln, jo lobe auch wieder, nur dieſes be—
lagen: lobe auch Mittelmäßiges.
Kein, eine in Wahrheit der Kunſt wohlwollende Prefje hätte ganz
andere Aufgaben. Sie hätte nicht nur „niederzureißen“, fie Hätte aud)
„aufzubaun“, aber e8 könnt’ ihr recht wohl geſchehn, daß ihre Beſprechungen
von neuen Sachen mal eine gute Weile lang nur „niederzureißen“ hätten.
Aufbauen könnte fie deshalb doch, müßte fie deshalb doch, wenn fie
ihre Aufgabe recht ernit erfaßte. Sie könnte gute Werke im Feuilleton
bringen, neue, oder, wenn's Meilterwerke find, auch alte. Sie könnte
Erörterungen künftlerifcher Fragen bringen — ift e8 nicht zu verlangen,
daß jedes Platt dergleichen aus eigenen Mitteln beftreiten fan, warum
dürft’ e8 dann nicht auch dergleichen nachdrucken, fo aut wie PBolitifches ?
Und ſelbſt auf dem eigenften Gebiete der Kritik könnte Bofitives ſehr
wohl geleiftet werden, wenn man jich entichlöffe, auch Meifterwerfe der
Bergangenheit, und feien es allbefannte aus klaſſiſcher und vorklaſſiſcher
Zeit, auf ihre befonderen Werte Hin fritifch zu betrachten. Auch das
fönnte ruhig unter Anlehnung an die beiten Bücher unfrer äfthetiichen
Literatur geichehn.
Vom modernen Drama.
Die Thatjahe, dab fast gleichzeitig drei Werke erfcheinen, die fich mit
der Gefchichte und der Aeſthetik des modernen Dramas beichäftigen, mag einem
Zufall zu danken fein, wie ihn das literarifche Leben fo oft zeitigt. Der Bes
obachter aber ber Entwidlung bes modernen Dramas wird fie freudig be=
grüßen, jcheint fie body mit einem enticheidenden Punkte diefer Entwidlung
jufammengutreffen. Gin Symptom dafür, daß folch einer erreicht fei, ift auch
das jüngite Drama Mar Halbes, deſſen fchöpferiicher, vorwärtsmeifender Ge—
danke als folcher durch den tobenden Lärm einer Berliner Radaupremitre
nicht getötet werben kann. Die letzte Stunde des fonfequenten Naturalismus
auf der Bühne jcheint nicht mehr fern, daran Ändert auch der Erfolg von
Yauptmanns „Fuhrmann Henfchel* nichts. So fehr diefes Schaufpiel als die
reifſte Frucht des ftilreinen Naturalismus gepriefen werben darf, e8 zeigt nicht
1. Jannarheft 1899
— 2 —
mehr vorwärts, mir empfinden es als ein Werk der Beharrung und fühlen
daß fein Standpunft überwunden werden muß. Die Gefahr, fih in ein Spe-
zialiitentum zu verlieren, das von bem geiftigen Leben der Gegenwart nur
noch ganz einfeitig genährt wird, ift nicht länger mehr zu verfennen.
Bon dem Gefühle, vor einer Wendung zu ftehen, zeugt auch Edgar
Steigers Bud: „Das Werden des neuen Dramas“, das bei Fontane in
Berlin erfhienen ift. Es fließt mit einem halb prophetifh, Halb doktrinär
fordernden Hinmeife auf den neuen Menfhen der That, der den Stimmungs-
menfhen, das Produft des Milieus, in ſelbſtherrlicher Größe und Freiheit
ablöfen fol. Einen foldien Thatmenſchen zu juchen, bat Mar Halbe feinen
Streifzug in bie Beit der italienifchen Frührenaiffance unternommen. Die Beute
ift gering, aber die Abficht entfpringt einem durchaus gefunden Empfinden
für das, was uns not thut.
Edgar Steiger nennt fein zmeibändiges Werk jchergend die Zwick—
auer Dramaturgie, er hat e8 in unfreimilliger Muße gefchrieben, im Ge:
fängnis bes Zmidauer Landgerichts. Die Einfamfeit mag dba dem Fluge
feiner Gedanken allzu freies Spiel gelaffen zu haben, feine Phantafie Hat ſich
des Zügels der ruhigen Kritif oft allzufehr entledigt. Gebanfenausflüge in
eine moelthiftorifhe Betradtung der Fünfte haben da munberlide Dinge
heimgebradht, Paradora, die als bleibende äfthetifche Prinzipien, Einfälle
die als tiefe Gedanken gelten follen. Gar mandjes davon kann der be-
fonnenen Prüfung nicht jtandhalten und iſt wohl auch mehr beitimmt,
unterhaltend anzuregen als zu belehren. Unter diefe „anregenden” Zuthaten
rechnen wir vor allem die äjthetifche Ouvertüre von dem Schaffen des Did-
ters, die viel Anfehibares enthält, zum Beijpiel die hochmütigen Urteile über
Schiller, und die Einteilung der Kunftgeihichte in eine bildnerifche, eine muſi—
falifhe und eine dramatiſche Epoche. Einen Einblid in bie eigentliche Genefis
des modernen Dramas, die ohne einen getreuen Hintergrund der Zeitgefhichte
im allgemeinen nun 'mal nit darzuftellen ift, wird man von Gteiger8 Bud)
fchon deshalb nicht erhalten, weil er durchaus unhiſtoriſch verfährt, wilffürlich
den Begriff des modernen Dramas im Sinne der fogenannten „Moderne“
begrenzt und bie Frage, ob nicht aud) außerhalb diefer engeren Streife modernes
Reben ſich rege, ernftlih gar nit aufmwirft. Im allgemeinen darf man fagen:
Steiger jhildert nit da8 Werden des modernen Dramas, fondern er analy—
fiert da8 Gewordene. Aber aud das thut er weniger, indem er das Weſent—
liche finngemäß ordnet und zufammenfaßt, als, indem er die einzelnen Werke
auf ihren Gehalt an modernem Leben in Bezug auf Form und Inhalt prüft.
In dieſer Weife zergliedert er 3. B. Die modernen Dramen Ibſens, mit fehr
feinem Berftändnis, aber doch im mefentlidhen, ohne zu ihrer Würdigung dem
neues hinzufügen, was andere vor ihm, 3. B. Jaeger, Brandes, Ehrhardt,
Hanftein gefagt haben. Sehr bezeichnend iſt es für Steiger Betrachtungs—
mweife, daß er die ganze Entwidlung Ibſens aus der Romantik übergeht und
ihre bis in bie jüngjten Werke hinein bemerfbaren Folgeerfheinungen über:
fieht. Iſt ihm nun Ibſen mehr Kritiker der Geſellſchaft, mehr Moralijt als
Schöpfer lebendiger, naturwahrer Geftalten, fo ericheint ihm Gerhart Haupt—
mann al8 der eigentliche Entdeder des modernen Menſchen für die Bühne, ja,
man möchte faft glauben, de8 Menſchen überhaupt. Denn die „Gepflogenheit
früherer Dramatiker, die ftummen Gedanfen und Gefühle der Menſchen in
Schöne Worte zu verwandeln“, erjcheint ihm als „Iyrifche Unart und tadelns—
werte Bequemlichkeit“. Mit der Oberflächlichkeit einer folchen künſtleriſchen
Kunftwart
— 220 —
Auffaffung muß man ſich noch heutigen Tags auseinanderjegen! Eriteng,
find die ftummen Gedanken und Gefühle der Menſchen, deren Dajein, d. 5.
deren Wirklichkeit Steiger ja jelbjt nicht beftreitet, von den früheren Dra-
matifern durchaus nicht allein in „Schöne“, ſondern aud) in charakteriſtiſche
Worte verwandelt worden. Zmeiten®: nur wer fi niemals bemüht hat, in
die fünftlerifhe Schaffensmeife der „früheren Dramatifer“ einen Einblid zu
gewinnen, fann bier von einer tadelnsmwerten Bequemlicdfeit reden. Be—
quem find foldhe in einer ernten Debatte unbrauhbare Wendungen. Und
mas bejagt der verſchwommene Ausdrud: „frühere Dramatifer* ? Es gab doch
wirklich auch früher Dramatiker reht verſchiedener Art. Wenn ferner
G. Hauptmann als „geborener Dramatiker“ gerühmt wird, weil er den
lebendigen Menfhen in der Dichtung habe neu entitehen laffen, „wie er ihm
in der Wirklichkeit erfchien“, fo iſt das eine mehr als gemagte Schlußfolge—
rung. Oder fann nicht audy der Epiker diefen „vermeintlichen Tebendigen
Menſchen“ neu erftehen laffen, nur mit anderen Nunftmitteln? Dann aber muß
der Grundirrtum Steigers feitgeftellt werden, daß nur das wirklich fei, alfo
in der Kunſt Dafeinsredht behaupten dürfe, was in ber Wirklichkeit den
Sinnen bemerfbar wird. Steiger vergikt dabei, daß der Künſtler fehr
wohl auch das Unwirkliche wirklich erfcheinen Iaffen fann und daß es in aller
Kunst nit auf das Wirkliche an fid, fondern auf den Schein der Wirklichkeit
anlommt. Schon eher fann man fi feine Behauptung gefallen Taffen, dab
Haupimann „die Alltäglichkeit, fo wie fie ift, durch die reine Anſchauung er=
obert* habe. Wllerdings Hat Hauptmann aud mit diefer Methode, die das
Wefen einiger feiner Dramen ausmadt, durchaus nichts bisher Unerhörtes in
die Kunst eingeführt, wenigſtens nicht für den, deſſen Stenntniffe fi nicht abficht-
lic) auf die legten Jahrzehnte befhränfen. „Dem Begriff Menſch“, fo umreißt
Steiger Hauptmanns künftlerifches Programm, „der auf der Bühne herum—
fpufte, mußte die Erfheinung Menſch gegenübergeftelt und darum ber
Augenblid, in bem uns allein (1?) das Leben gegeben ift, vom Künſtler er—
faht werden.” Diefe Kunft der Alltäglichleit, der Schilderung de8 Augenblicks—
menſchen, ift in der That Hauptmanns Kunſt, aber weder ift uns im Augen—
blick allein das Leben gegeben, nod ift die Gunft des Augenblids von den
Ktaturaliften fo ausgenußt worden, daß fie uns, wie Steiger aud) fagt, nötigte,
„uns alles übrige hinzuzudenken.“ So meit es möglid war, alles dieſes
Uebrige uns mittelbar zu verraten, ward es cben nur möglih Dadurd, daß
die Naturaliften ihre Figuren auf einem niedrigen Niveau ſuchten, auf einer
Stufe der Entwidlung, wo alles Har und einfah war. Sobald fie feiner
differenzierte, tompliziertere Menfchenfeelen zu fchildern ſuchten, verfagte eben
diefe Uugenblidsfunft mehr oder weniger. Gerade die eigentlichen modernen
Helden gerieten, abgefehen von ihrer angeborenen Rückenmarksſchwäche, in Ge—
fahr als Phrafeure zu mwirlen, weil wir von ihren modernen Ideen nicht mehr
zu hören befamen, als gerabe die Gunſt des Augenblides vergönnte. Mit der
Kunst des Emig-Alltäglihen, des Emig-Augenblidliden ſchrumpfte und mußte
die geijtige Welt im Drama zuſammenſchrumpfen.
Nun aber fommt die Ueberrafhung : lieſt man Steiger Ausführungen
meiter, fo fieht man mit Staunen, daß er die Hurzfichtigkeit der naturalijti=
ihen Theorie fich keineswegs verhehlt, ja, daß er wohl gar nicht abgeneigt ift,
alle unfere Einwendungen zu den feinigen zu madjen. Eine folde Daritellungs=
mweife führt aber in Die Irre. Wohl gilt e8, jede Entwidlungsitufe zu vers
ftehen, ſich in den Geift derer, die fie-herbeiführen, zu verfenfen, aber es heißt
1. Januarheft 1899
— 222 —
doch aud), Stellung dazu nehmen und zwar fofort. Steiger bevorzugt eine
anderen ®eg und fo überraſcht er uns bei dem Sapitel von Maeterlingt mit
ber Frage: Mo war denn die vielgepriefene Wirllichfeit? „Draußen im fidht-
baren Raume oder im Unfihtbaren in uns? Durfte man überhaupt von einer
Melt reden, mie fie wirflih war? War fie nicht für jeden wirklich, aber auch
für jeden ander8?* So findet er den Weg von dem angeblichen Objektivismus
der naturaliftifchen Hunft zu dem ber feelendeuterifhen eines Maeterlind. Denn
nicht die Seele des Dichters, fondern die der Wefen, Dinge und Erſcheinungen
fol in diefer Kunft vor uns lebendig werden und zwar unter Veraditung aller
Aeußerlichleiten der Wirklichkeit. Dem extremen Realismus folgt als Gegen—
ſchlag die extreme Phantaftif, die das Leblofe befeelt und das Lebendige des
äußeren Lebens entkleidet, um nur die Seele noch fprechen zu laſſen. Immer—
hin fällt die Erfcheinung Diaeterlinds als eines Sonderlings aus dem Rahmen
einer Betradhtung des „modernen“ beutfchen Dramas, weil er e8 nur wenig
beeinflußt hat. Weder im „Hannele* nod in der „Berfunftenen Glode* find
Epuren einer intimeren Beeinfluffung durch Maeterlind zu finden, wenn man
ihm nicht überhaupt die Anregung zum Phantaſtiſchen zufchreiben will. Beide
Werte überfhätt Steiger unſeres Erachtens. An einem langen Stapitel:
„Namen und Dramen“ fommen dann nod eine Menge von Dramen an die
Reihe, die unter einem höheren Gefihtspunft zufammenzufafien ſich Steiger
verjagt Hat.
Im allgemeinen fehlt feinem Buche ein klarer Plan, fehlt ihm die Höhe
der Geſichtspunkte, die Reife und Ueberlegenheit des Urteiles, die man von einem
Darfteller des Werdens des neuen Dramas fordern muß. Steiger jteht viel
zu fehr inmitten der Berwegung, als daß er fie beherrfhen könnte. Wertvoll
aber ift uns fein Belenntnis, daß auch er den modernen Thatmenfhen, die
große Tragödie herbeifehnt.
Sp manden nüglihen Wink für die Beurteilung bes modernen Dramas
hätte Steiger in Arthur ElveBers Bud: „Das Bürgerlide Drama.
Seine Geſchichte im ı8. und ı9. Jabhrhundert** finden können,
wenn e8 ihm jchon vorgelegen Hätte, Auf die Vergleihsmomente zwiſchen
dem älteren deutjchen bürgerlihen Drama des ı8. und 19. Jahrhunderts und
dem ber Moderniten braudt nur ganz furz hingewieſen zu werden. Stellten
ſich die Schöpfer des bürgerlihen Dramas in ben Dienst der bürgerlichen Auf—
Härung, der moralifhen mie der politifchen, fo ftehen diefe im Dienste des
fozialen Gedanfens. Fragen ber bürgerlihen Moral, die Pilicht der Indivi—
duen gegen einander, gegen bie Geſellſchaft, die Wirfungen der wirtfchaftlichen,
politifhen und fozialen Lage auf den einzelnen und auf ganze Klaſſen und
Stände ftehen hüben wie drüben im Vordergrund des Interefjes. Freilich gehen
beide von jehr verfchiedenen Standpunlten aus. Daß ältere bürgerlidhe Drama
fieht die Gefelichaft als eine Urt von Jdealmefen an, dem das Individuum
angepaßt werden muß, es ftellt eine Moral als etwas lnantaftbares hin,
gegen bie zu veritoßen ben Schuldigen an fi felbft am empfindlidjiten
Ihädigt. Das moderne Drama fegt die Forderungen ber Gefelfchaft und des
Individuums in einen ſcharfen Gegenfaß, e8 behandelt bie landläufige Moral
als das Beengende, Freiheits- und damit Entwidlungsfeindliche und läßt ben
einzelnen moralifche Forderungen Stellen, während dort die Geſellſchaft (d. h.
die bürgerlide) gewiſſermaßen die Erfüllung der höchſten moralifhen Forde—
* Berlin, Wild. Herk, Beſſerſche Buchhandlung.
Kunftwart
— 28 —
rungen verförperte. Immerhin find die Gedankenkreiſe in beiden Dramenarten
einander eng verwandt, nur tft an die Stelle des dritten Standes ber vierte
getreten. Aber auch die fünftlerifchen Jdeale mweifen verwandte Züge auf.
Beiden eignet der Glaube, ein neues Stüd von Wirklichkeit, wenn nicht bie
Wirklichkeit ſchlechthin, auf die Bühne gebracht zu haben; beide bevorzugen bie
Welt der Alltäglichfeit und finden den Beifall aller derer, denen das Alltäg-
lihe in ber Kunſt das Wahre, das Höchſte dünkt. Gloeher zieht dieſe Pa—
rallelen, die bier nur angedeutet werden follen, nicht. Er erfaßt feinen Gegen-
ftand bauptfädhlid von der Seite des Moralifhen und des Politifhen und
fchilbert, höchſt anziehend, wie fi im bürgerliden Drama des 18. und des
19. Jahrhunderts die Gefchichte der Aufflärung von ihrem Aufgang bis zu
ihrem Niedergang widerjpiegelt. Die Hauptperioden dieſer Entwidlung werben
durch bie Namen George Lille, Leiling, Ludwig Schröder, Diderot, Jifland,
Kopebue, Bird) = Pfeiffer, Benedix, Bauernfeld bezeichnet, während Hebbels
Marie Magdalena den Abihuk der Entwidlung und den Keim einer neuen
bedeutet. Die rein fünitlerifhe Entwidlung des Dramas, die für uns be—
fonders wichtig gemejen wäre, ftreift Eloeßer leider nur im Borbeigehen.
Befonders ergiebig hätte fi eine Betrachtung ber äfthetifhen Theorien
Diderots geftalten müjfen, auf deren Uehnlichkeit mit denen Zolas Eloeßer ja
hinweiſt. So fordert Diderot, ein Drama folle fo dargeftellt werden, als fei
gar fein Publilum da, e8 zu fehen, es folle nicht als Kunſtwerk, ſondern
unmittelbar als Reproduktion des Lebens wirken. Der Dichter braudt ſich
nit zu fcheuen, alles auf die Szene zu bringen, was aud) in ber Welt ge:
ſchieht. Noch weiter als Diderot geht Louis Schaftien Mercier, der u. a. aud)
Heinrich Leopold Wagner beeinflußt Hat. Nach feiner Theorie, die er freilidy
ebenfo wenig wie Diderot rüdfichtslos in die Pragis umgujegen gewagt hat,
joll der Dichter als Berfünder einer höheren fozialen Gerechtigkeit aus den
Salons auf die Straße hernieberjteigen, den Markt des Lebens, bie Stätten
der Urmen und ber Arbeit aufjuhen. Durd) genaue Sittenfhilderungen und
realijtiiche Einzelheiten follten die bürgerlihen Dramen gewiſſermaßen zu
fulturbiftorifhen Quellenfchriften jür fommende Zeiten gemadt werben. „Der
Urgrund ber Produktion follte nicht die innere Welt des Genius fein, fondern
das Notizbuch, dem die documents humains gemiflenhaft anvertraut wer—
ben. Ueberall follte der Dichter fein, wo ein Eindrud zu erwarten war, auf
dem Scladitfelde, bei einer Hinrichtung, als der menſchlich Unbeteiligte, der
mit willenfchaftlicher Objektivität fein Diaterial fammelt. „II n'a rien ä
craindre, rien ä espérer, il est &tranger äce qui l’environne,
il va quitter la salle, oü retentit la voix plaintive du mal-
heureux.“ In Merciers Werten, die freilich, wie gelagt, hinter feiner Theorie
weit zurüdbleiben, findet ſich bereits die Teilung in Hinter=- und Vorder—
haus, findet ſich aud), als Sturiofum, ein ganz in ber Sprache des modernen
Proletariers redender Weber bei der Arbeit!
Gibt uns Eloeker in feinem verdienſtlichen Werte Zeitgefhichte im Spiegel
der Dichtung, fo verfährt Hans Sittenberger in feinen „Studien zur
Dramaturgie der Gegenwart“ (Münden, E. 9. Beds Verlag, Münden)
durchaus als Yeithetiker, befonders als Dramaturg. Von feinem Werke liegt zunächſt
ein Band vor, ber fih mit dem dramatifhen Schaffen in Defterreid
beihäjtigt. Die gefonderte Betrachtung dieſes Schaffens wird in dem eins
leitenden Kapitel über die öfterreihifhe Tradition im Drama, d. 5. bie Wie-
nerifche, begründet. Der Verfaſſer vermweift hier mit Recht auf die unmittelbar
1. Januarheft 1899
— 229) —
vollstmülichen Impulſe, die bei Grillparzer nicht viel weniger bemerfenswert
find, als bei Bauernfeld, Raimund und Neftroy. Daß er folden Impulſen
nur wenig unterworfen war, iſt vielleicht nicht der lefte Grund der geringen
Mirkung, die von einem fo produftiven Talent, wie e8 das Franz Niffels ge—
wejen, ausgegangen iſt. GSittenberger fommt am Schluſſe feiner fo eingehen=
den wie anregenden Studie über den Dichter zu dem Ergebnis: „Niffel ift ein
Miener Kind, aber Wiener Art ift in ihm nicht Tebendig geworden, im Men:
fhen gar nit, im Dichter äußerft felten.* Uber nicht das allein war ein
Verhängnis für den Dichter, ein meit größeres für ihn war fein Streben nad
einem Mujter, dem er feine nennenswerte Berfönlichkeit entgegenzufegen hatte,
nad) Schiller. Niffel ift in der That geradezu das Mufter eines unglüdlicdhen
Scdillerepigonen, ber nur felten den Mut bat, er felbft zu fein, und immer,
fo ſchönes ihm aud) gelingt, unter feinem Jdeale bleibt. Sittenberger nennt
ihn den Tragifer der öfterreihifchen Bourgeoifie, d. h. einer Bourgeoiſie, der
zum Tragifhen nicht weniger als alles fehlt. Der Standpunkt, von dem aus
Sittenberger feine Studien anjtellt, ift der des Realismus, wie er in den
jüngeren Werfen Goethes, in denen Hleifts, Hebbels, Grillparzers und Ludwigs
zur That geworden ift. Der Berfaffer ſpricht ſich zwar an feiner Stelle des
näheren über biejen feinen Standpunft aus, aber, fo jehr er auch die einzelnen
Merfe aus ſich felbjt Heraus zu erflären und zu würdigen bemüht ift, jo wenig
fann doch diefe feine prinzipielle Stellungnahme verfannt werden. Es bari
uns bier nicht beifommen, feinen Urteilen, die durch Ruhe, Bejonnenheit, Reife,
dur) Offenheit des Blides und künſtleriſches Feingefühl fi auszeichnen, im
einzelnen nachzugehen. Es genüge, die Hauptnamen, deren Träger er charak—
terifiert, zu nennen: Mofenthal, Prechtler, Weilen, Hamerling, Saar, Doczi,
Wartenegg, Keim, Ebner-Eſchenbach. Mit ihnen find die Studien über bie
ältere Wiener Richtung abgeſchloſſen; e8 folgen die über die moderne Ridhtung,
in denen das literarifhe Jung-Wien im Ganzen mit überlegenem Urteil ge—
tennzeichnet wird und in denen ferner die hervorragendften Werke von Eber—
mann, Bahr, Lothar, Schnigler, Dörmann und David fehr treffend gemürbigt
werden. Der wertvollite, fichtlih mit der größten Liebe behandelte Abjchnitt
des Buches ift der über Unzengruber und das neuere Volksſtück. Namentlich
find die Ausführungen Sittenbergers über Anzengrubers fünftlerifchen Ent:
widlung, über den Realismus feiner Darjtellung, über feine Auffaffung von
Gut und Böfe, über feinen Humor als den Ausdrud einer ernften Lebensauf—
faffjung, über feine Shägung und Charafterifierung der Frau außerordentlich
beadjtensmwert, weil fie uns ungezwungen und mit aller Kraft anſchaulicher und
farer Beweisführung unmittelbar in den Geift des Dichters verfegen. Im
ganzen Verlauf feiner Studien aber hält Sittenberger den Zufammenhang ber
einzelnen Dramen mit der Bühne und ihren Forderungen und Möglichkeiten
im Uuge. Der zweite Band der Studien wird ihm mohl aud) Gelegenheit
geben, fi) mit dem modernen Drama der Hauptmann und Genoffen ausein—
anderzuſetzen. Leonh. Lier.
Kunſtwart
ADusikpflege im AMittelstande.
1. Einleitende®.
Ich bin nicht mufilalifch“, das hört man nicht felten von gebildeten
Leuten, die damit im Grunde nur befagen wollen, daß fie fein Snftrument be—
herrfchen und feine Noten Iefen können. Und wie oft müffen fogenannte Muſik—
freunde fi) aus der Zahl der urteilsfähigen „Muſiker“ ausgeſchloſſen fehen,
meil man ihnen nadjfagt, daß fie vom Stontrapunft nichts verjtehen oder daß
fie nicht anzugeben miffen, in mweldher Tonart man ihnen eben vorfpielt.
Anderſeits treffen wir auf die oft gemachte Erfahrung, dab der Fortfchritt auch
in ber Tonkunſt nicht gerade von denen am jchnelliten erfannt ward, bie fich
mit befonderem Nachdruck als Leute vom Fache fühlten, fondern von ben ver—
achteten Laien, deren ungeſchultes Ohr da neue Schönheiten wahrnahm, mo
das feine Gehör des Muſikers vom Fach nur chaotiſches Tongemwirr bemerfen
fonnte. Wie löſt fi diefer Widerfpruhh ? Wo läuft die Grenzlinie zwiſchen
ber mufilalifchen Bildung und dem baren Unverftand ? Sierüber zu fpredhen,
ift gerade im Kunſtwart von Wichtigkeit, da fi unfere Zeitfhrift über bie
Muſiker von Beruf hinaus an den weiteren Streis aller wendet, denen die Ton—
funft als thätig oder empfangend Genießenden ein feelifches Bedürfnis be—
friebdigt.
Das erfte, worauf man heutzutage einen Muſikmenſchen, dem man be=
gegnet, zu prüfen pflegt, ift feine Technif, fei e8 als jchaffender, fei e8 als aus—
übenber Künſtler. Bejteht er da, fo fchenft man ihm meiter Vertrauen. Fehlt’s
irgendwo, fo weiſt man ihn leicht als fläglihen Stümper ab. Denn das muf
wahr fein, denft man: die technifche Beherrihung des Sages und des Inſtru—
mentes verleiht einen fo bedeutenden Vorteil, daß fein allaugroßes Quantum
angeborenen muſikaliſchen Talentes dazu gehört, um einen guten Somponiften
und treffliden Interpreten zu maden. Schön, aber fo hoch man den Wert
der Technik mit gutem Rechte anſchlagen und fhägen mag: fie ift nicht alles,
fie ift namentlich in ber Mufit nicht jene von ſelbſt verftändliche Vorausfetzung
ber Bildung, wie das Lejen für das Titerariiche Gebiet. Die Buchjtabierkunft,
die dem tieffinnigften Dichter des beutjchen Mittelalters, Wolfram von Eſchen—
bad), verſchloſſen war, iſt jegt zum unbedingten Gemeingut nicht bloß der
geiltigen Arbeiter geworden. Nicht fo Gefang und Spiel, bie im linterricht
dem Belieben des Einzelnen jet völlig überlaffen bleiben, während fie in der
Erziehung bes hellenifchen Altertums obligat waren. Ja, mir fönnen mit
Bezug auf die Verbreitung der Spielfunft fogar von einem verhältnismäßigen
Rüdgang reden, wenn aud) das technifche Vermögen des gegenmärtigen Ges
ſchlechtes mit den erhöhten Anforderungen und der zweckdienlicher gewordenen
Behrmeife gewachſen ift. Der Normalmenfh von heute fpielt im der Regel
Klavier, nicht felten Violine, zumeilen Gello, aber nur ausnahmsmeife Flöte,
Horn, Glarinette u. f. w., oder gar mehrere Injtrumente Nicht einmal der
Berufsmufiler thut das, meil eine den modernen Anſprüchen genügende Vir—
tuofität ihn mit Notwendigkeit ins Spezialiltentum hineintriebe. In früheren
Zeiten war freilid auch bei Dilettanten eine vielfeitige technifhe Schulung
in der Mufif nichts ungewöhnliches. Uber das maren Zeiten, bie viel mehr
„Zeit* und viel weniger Sorgen hatten und haben durften, Zeiten, mo das
politiihe Thema verpönt, der Zugang zu den Wilfenfhaften erichwert, ber
geijtige Horizont überhaupt fehr eng und der Kampf ums Dafein im allge:
meinen Wettbewerb lange nit fo graufam und aufreibend war. Jetzt ift die
1. Jannarheft 1899
— 231 —
Zahl der von Natur muſikaliſch Begabten, welden die Drangfale des Lebens—
berufes nicht die Muße ließen, um fi die dem modernen Stande angemeſſene
Fertigkeit auf einem Instrument zu erarbeiten und bie dadurd) entmutigt, dem
Meiterftreben entfagten, größer als man gemeiniglidy denft, zumal bier auch
das oft vorfommende „Ipezififhe Untalent* zu mechaniſchen Gejchidlichkeiten
feinen hemmenden Einfluß ausübt. Ja, die Zahl der muſikaliſchen Analpha—
beten wird bei ber fortlaufenden Steigerung der erörterten Umſtände vors
ausfichtlich eher zu=- als abnehmen. Allen diefen das Stimmrecht in den
weſentlichſten Fragen der Tonfunft gänzlid) entziehen zu wollen, wäre ent—
fhiedene Unbill.
Gewiß, nicht das Gefhid feiner Finger madt den guten Mufifer aus,
fondern die Auffaſſungskraft feines Gehörfinnes. Und zwar fommt es babei
nicht fo sehr auf die Schärfe bes Ohres an ſſonſt müßten ſcharfſichtige See—
feute auch die beiten Beſucher von Bildergalerien ftellen), fonbern auf eine
gewiſſe Fähigkeit, die gewonnenen akuſtiſchen Gindrüde innerlid; zu verar—
beiten. Es gibt Leute, die jeden angefchlagenen Ton ſogleich unjehlbar auf
feine Höhe beftimmen fünnen, aber Tonmwerten äfthetiih als wahre Botokuden
gegenüberftehen; e8 gibt anderfeit$ Leute von höchſter Empfänglichkeit jür
die Tonkunft, die faum imitande find, Mängel der Ausführung, Unreinheiten
der Stimmung, Zuhoch- oder Zutieffingen u. dgl. lebhaft zu empfinden, Wit
diefer Thatſache muß gerechnet, diefer Mangel muß auf feine ridtige Bedeu—
tung zurüdgeführt werden, und dies gejchieht, wenn wir das abfolute Hören
und das fünjtlerifche Hören forgfältig auseinanderhalten.
Somit jtöht man bei ber Sude nad) der letzten Orundlage des Muſi—
kaliſchſeins auf eine geiftige Dispofition. Dan muß eben, wie Shaffpere fügt,
Muſik in ic) felber haben. Uber diefe Dispofition bedarf, wie jede, um frucht—
bar zu werden, ber Pflege; fie fann, um wirlfam zu fein, einer gemiffen
Summe gefammelter mufilalifder Erfahrungen nidht entraten. Und dies führt
mwieber zu einer geredhten Bewertung der erworbenen Technik zurüd, Je ges
mwandter Einer fpielt, defto mehr Werke find ihm zugänglich, defto leichter fällt
ihn: die Kenntnisnahme des Vorhandenen, defto reicher und tiefer fann feine
mufifalifche Erfahrung werden. Alfo: veracdhtet mir die Technik nicht. Biel»
mehr follte ſich jeder glücklich fchägen, der fie befigt, denn fie iſt ber Schlüffel
zum bequemiten Eingang in das Reich der Tonkunſt. Der bloß auf's Hören
angemwielene Mufiffreund flimmt auf rauhen, jteilen Pfaden zu ihrem Reiche
hinan, und manche feiner hocdhgelegenen Bezirfe bleiben ihm zeitlebens unzu—
gänglid).
Denn Hören ift zwar eine fhöne Sache, aber wer ſich darauf verläßt,
bleibt immer ein Sklave des jemeiligen Angebots. Hansfonzerie, wo man
feine Wahl felber treffen fann, werden immer feltener, und ber bloße Hörer
hat aud in ihre Programme nur felten dreinzureden. In Theatern und
öffentlichen Konzerten wird Gutes und Schlechtes, Förberliches und Verbilden=
des im bunten, verwirrenden Durdeinander aufgetifcht. Was Wunder, wenn's
mit dem Geſchmack des Publikums nicht zum Beten beftellt ift? Die Preſſe,
die hier aufflärend eingreifen könnte, thut das leider nur fehr mangelhaft.
Sie lenkt das Interefje vom Aunftwerf ab auf bie Aufführung, wenn nidt
geradezu auf die PBerfon der Ausführenden. Praltiſche Hilfsbücher gibt es
wenig; die vorhandenen ſchweigen fi oft gerade über das Allerwidtigite
aus, und wer fann ſich's aus der mweitverfireuten Literatur mühfam zufammens
fuhen! Ein Grundriß der Muſilkwiſſenſchaft. der zu jeder einfchlägigen Frage
Kunftwart
— 232 —
angäbe, von wen und wo darüber gefhhrieben wurde, fehlt noch immer und
wohl noch auf lange hinaus.
In einer hiemit eingeleiteten Reihe von Aufſähen fol nun verfudt
merden, jenen Muſikfreunden, die bei beſcheidenen Mitteln und bei geringem
eigenen technischen Vermögen doch der muſikaliſchen Freuden im edelften Sinne
teilhaftig werben und nad) und nad) das ganze Gebiet der Muſik mit hinläng—
lihem Berftändnis erfaifen möchten, einige Winfe zu geben, auf welchem Wege
man dazu gelangt, wa$ man dabei zu thun und au vermeiden bat, und wie—
viel überhaupt dazu gehört, um fich jenen Grab muſikaliſcher Bildung zu er-
werben, der befähigt, fich eine begründete Anſicht ſowohl über bie allgemeinen
Fragen der Tonlunft wie über den befonderen Wert der einzelnen Tonwerke
zu bilden. Richard Batka.
EZ 1
Kunstpflege im AMDittelstande.
11. Gebraudsgegenjtände.
Die Grundfäge, die mir in ber Folge diefer Aufſätze aufgeftellt haben,
wiederholen fih natürlih auf allen Gebieten in gleicher oder doch nur wenig
veränderter Weile. Die Hauptſache bleibt immer die ſachliche Löfung, melde
die praftifche Benutzbarkeit als michtigites behandelt, eine Form bildet, Die
auch ohne jeden Zierat ſchön ift, allein vermöge ihrer Linie und der Farbe
ihres Materials, und melde die Beitimmung des Gegenitandes beutlich aus-
ſpricht. Das letztere nit etwa duch bloße angeheftete Symbole, fondern
durch das Weſen der Erſcheinung. Als Beifpiel denfe man etwa an folgendes:
eine Uhr drüdt nicht dadurd ihre Beſtimmung als Zeitmeffer klarer aus,
daß eine Figur ober ein Figürden des Chronos mit ihr verbunden ijt, fon
dern dadurd), daß Zeiger und Zifferblatt fo deutlih und Far wie möglid) find,
daß man den Gang des Uhrwerks ſozuſagen mitfühlt, daß man das ſekunden—
weife VBormwärtsrüden der Zeit durch das jchwingende Pendel mitempfindet.
Deswegen verlangt bie älthetifche Löfung der Aufgabe, eben diefe Deutlichkeit
auf irgend melde Weife fhön zu geftalten, nicht aber: fremde Schmuck—
motive Daran zu heften. Es fann fih ja auch eine Ihr oder fonit etmas
ähnliches zu einem beſonders prächtigen Zierat auswachſen; Fürftenktunft hat
ja mandjmal fonderbare Blüten getrieben, bie uns trogbem heute noch ent—
züden, wenn fie wirkliche Künftler gemadt haben. Für unfere hier zu behan-
deinde Frage kommt eine derartige Aufgabe aber nicht in Betracht, da es id)
hier ftet8 nur um mehr oder minder anmutig geformte Gebraudisgegenftände
handelt — fo daß ich gar nicht näher darauf eingehe. Denn es bedürfte ſchon
des allerficheriten Taktes, um in eine fehr einfache Einrichtung fo koſtbare Dinge
harmoniich einzufügen. Dan verjtehe mich recht: nicht, als ob man nicht feine
Freude an fo etwas haben „dürfte“, wenn man es gerade zufällig befigt; nur
follte man nicht glauben, daß der fünjtlerifche Eindrud eines Zimmers von
der Koſtbarkeit der Gegenjtände darin abhinge. Die Kunjt einer einfachen
Bauernſtanduhr kann größer fein, als die einer fojtbaren Bronzeuhr im Stil
Ludwig XIV. Meift aber langte es dort, wo das falſche Streben nad Prunf
und Koftbarleit vorhanden war, gar nicht bis zur Kunſt zu, und e8 entftanden jene
ſcheußlichen Machwerke, die wir aud) heute noch unter Glasglocken in ber guten
Stube jtehen fehen. Daß ſolch eine Uhr auch richtig geht, daranf ijt wohl nie
befonderer Wert gelegt worden; ich wenigftens habe fogar nod) nie eine zeit-
1. Januarheft 1899
— 23 —
angebend gejehen, oft, ad), fehlten fogar die Zeiger. Schon ihrer unglaubliden
Unfacdhlichkeit wegen, der man ihre Untauglichkeit zum Zweck ſchon von weiten
anfieht, ift ein äfthetifches Quftgefühl, welches fi) doch eigentlich in ber Freude
an der vollendeten Harmonie des Innern mit dem Aeußern lundgibt, für den
äfthetifch Gebildeten hier nicht möglich. Ich ſprach ſchon hier des öfteren da—
von, welch wichtige äſthetiſche Faktoren in den von raffinierter moderner Technik
geſchaffenen Werken fhlummern, die wir zuerft bei den Engländern im Beginn
ihrer bewußten Ausbildung fahen. So iſt 3. B. die Erſcheinung eines ganz
ſachlichen Chronometers mit faft wiſſenſchaftlichem Eharafter für einen Wohn—
raum jedenfalls bejjer zu brauchen, als der jalfhe Bombaſt unferer Stand»
uhren und Negulatoren. Früher durfte in feinem Haufe die große Standuhr,
von ber gleichſam die Regelung des ganzen Hausmefens ausging, fehlen. Es
iſt mit Freude zu begrüßen, daß man auf diefe Form der Uhr wieder zurüd=
fehrt, jchon weil das fchlanfe Auffteigen, das zur Gliederung einer Wand fo
vorzüglich geeignet ift, aus gar feinem anderen Gebraudsmöbel mieder fo
von ſelbſt hervorgeht. Leberhaupt iſt ja die Uhr eine der wenigen bewegten
Segenitände, fie madt durch ihr Tidstad ein Zimmer behaglich, und auf
mic; wenigſtens übt fie eine ähnliche fuggeitive Wirkung, wie das Schnurren
einer Hate und das Summen eines Theekeſſels, das Kniſtern des brennenden
Holzes im Stamin oder das regelmäßige Klatſchen des Regens an die Fenſter—
fcheiben, wenn man ihn aus der warmen Stube hört. Daß frühere Jahr—
hunderte dieſe Stimmungsmomente fehr wohl zu ſchätzen wußten, geht aus der
ungemein mannigfaltigen Ausbildung der Uhr und ihrer Formen hervor. Dan
laſſe fih alfo diefen Yaltor, bei dem man Nüplichkeit, Stimmungsmomente
und fhöne Formen jo gut verbinden fann, nicht entgehen. — Ueber Taſchen—
uhren einiges beim Thema „Schinud“.
Einer der Gegenjtände, die wohl amı beiten ausgebaut find von allen,
iit ber Eßtiſch, mit all dem, mas dazu gehört. Das liegt wohl daran, dba
das Eſſen und Trinken überhaupt fo jehr im Vordergrund alles Intereſſes fteht
und zumal den Mittelpuntt der gefelligen Zufammenfünfte bildet. Dann
aber aud) daran, daß unfere gut erzogenen Damen bie untadelige Sauberfeit
und Nettigfeit hier zur eriten Norm maden, wird fie doch beim Tiſch gerade
zu zum äſthetiſchen Faltor. Der Schimmer eines tadellofen weißen Damajt-
tuches iſt ſchön und ein Fleck darauf nicht in hygieniſcher Beziehung zu be—
dauern, ſondern äjthetifch jtörend. Es iſt wohl ſelbſtverſtändlich, dab Leute,
die auf ſich etwas halten, hier für ji allein nicht geringere Anfprüdje ftellen,
als wenn jie Gäjte haben, fondern eine Verſchiebung nur Hinfihtlih der Koſt—
barfeit, nicht aber der abjoluten Schönheit eintreten laſſen. Der Beitand an
Tafelzeug und Services iſt wohl relativ das beite, was man im Durchſchnitt
bei ben „Gebildeten* zu fehen befommt. Auswüchſe an Tellern anzubringen
geht zudem nicht gut an, und aud) die Biergläfer müjjen doch wenigjtens oben,
wo man fie an den Mund jeht, glatt fein; da, wo man jie anfaßt, dürften fie
ihon eher Stadheln und Dornen haben. Bei Gläfern bedenfe man das Wejen
diefes Materials, zum eriten feine Eigenſchaft der Durchſichtigkeit, zum zmeiten
feine Technik. Ganz natürlid) muß die Hauptſchönheit eines Glafes im Schimmer
des Lichts zu ſuchen fein, das mit feinen Nefleren darin ſpielt. Da das
Glas geblajen und gedreht wird, entitehen von felbit die gewölbten glatten
Flächen, die bei ihrer Dünnheit fo dDurhfichtig find und nur vereinzelt icharf
abgegrenzte Slanzlichter auffangen. Alle wirklich guten Gebraucdhsgläfer gehen
auf diefe beiden Grundeigenſchaften zurüd. Als abſchreckende Beifpiele bejehe
Kunftwart
— 24 —
man fid) die fogenannten Services, die fo oft als billige Geſchenke überreicht
werden, von Auswüchſen ftrogen, ba$ Glas mie Bronzeguß behandeln mödten
und dadurch allen Reiz bes Materials verderben.
Es find fchliehlich immer Ddiefelben Jdeen, die bei jedem Geräte maß—
gebend find. Dlejlergriffe, die nicht glatt und gut in der Hand liegen, bie
zadig und mit harten Kanten verfehen find, müffen an fi) ſchon ftillos wirken;
denn man wird nur dann Höchites Wohlgefallen an der Form haben, wenn
man beim Anſehen ſchon empfindet, wie der Griff wirflih im beiten Sinne
ein Griff ift, der fid) der Hand anſchmiegt. Und immer und immer mieder
find e8 auch auf dieſem Gebiet die billigen Sachen, die nad) etwas ausfehen
follen und durd einen Schwulſt von Zuthaten ihre Billigkeit verdeden möchten.
Aehnlich ift es beim Porzellan. Gewiß ift bemaltes Porzellan etwas fehr ſchönes,
allein wo es nicht dazu langt, glaubt man mit einem bunten Aufdbrud Dem
Scheine bes Gemalten nahe zu fommen. Warum verivendet man nur fo wenig
ganz meihes Porzellan, bei dem der Reiz dann in der Feinheit und Dünne
liegen muß! Allerdings fann das immer nod) teurer fein, als das billigere,
bedrudte, „da8 nad) was ausſieht“! Mir fielen neulich einmal in einem Por—
zellanladen ganz einfache, fehr dünne weiße Theetaflen in Form flacher Schalen
in die Hände, bie das Stüd 30 oder 40 Pig. fofteten. Ein kluger Dann, den
id) darauf aufmerffam machte, kaufte fie, ftellte damit ein Service mit einigen
raffiniert feinen japanifhen Lackſachen und Silber zufammen und verfaufte
dann die Taſſen um mehr als das Dreifahe ihres eigentlichen Preifes, da die
Leute nun erſt fahen, wie fein das einfachſte in der ridtigen Umgebung wirken
kann. — Ueber Tafelihymud möchte ich beim Thema Blumen nod ſprechen.
Auf dem Gebiet der Beleuchtungskörper ilt durd) die Neuartig—
feit des eleftrifhen Lichts bedeutende Beflerung gelommen. Auch hier war es
England, das ſich zuerst zu einfaden und dem Wefen ber Beleuchtung ent—
fprechenden Formen entſchloh; Wege, in die man aud) bei uns einlenft. Leider
ift aber hier die eleltrifche Beleuchtung verhältnismäßig noch etwas feltenes,
und ich glaube, daß heute noch in der Familie die Petroleumbeleudtung das
eleftrifhe Licht und das Gas zujammen überwiegt. Hier fieht es nun ſchlimm
aus. Das, was heute zumeift im Befig it, iſt vor zehn Jahren gekauft
worden, und was man da anfertigte, war die Reinkultur der Gefhmadlofig-
feit, jene bronzierten Zinfgüffe, die ich neulich bei Gelegenheit ber Weih—
nachtsgeſchenke befprad. Sind aud) allmählid die Majolifafühe mehr aufs
gefommen und ift der Zinkguß zur Montage zurüdgetreten, jo iſt dabei
doch nichts gutes geihaffen worden. Es dürfte ſehr ſchwer fein, eine wirt»
lih gute Petroleum-Tifhlampe zu finden, die praftiih und ſchön zugleich
iſt. Das befte, was id) fenne, ift, rein künſtleriſch natürlich, noch die alte
DOellampe, am Stativ veritellbar, mit dem Baflin nad) dem Prinzip der kom—
munizierenden Röhren. Hier iſt eine Lüde, für die ich feinen Rat weiß,
und da naturgemäß die modernen Sünjtler ihr Intereſſe mehr dem elef-
trifhen Licht und zur Not dem Gafe zumenden, jcheint die Lüde fi bis
zum gänzlichen Ausjterben der Petroleumlampe nicht ſchließen zu wollen *.
Und doch ift die mit einer Hand bequem tragbare, ſehr jtabil unterftüßte,
niedrige Lampe fo angeordnet, daß ihr Licht nur auf den Tiih, nicht in
die Augen jält, ein alltägliches Bedürfnis, an das ſich unfere Künſtler doch
aud) einmal heranmachen jollten. Vielleicht gibt das jegt fo ftarf auflommende
* Mol, den Vermerk in der „Nundichau“ diefes Heftes.
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Azetylen, das fih als Fahrradlaterne ja vorzüglich bewährt, eine Anregung,
etivas Neues, Praftifches und Sinnreiches zu ſchaffen. Vielleicht gibt es auch
Gelegenheit, endblih einmal einen Lampenſchirm zu fhaffen, ber in unferem
Sinne gut ift. Dis heute blieb immer nur der Ausweg zum grünen Bureau—
ſchirm übrig, der wenigfiens durd) feine „Verzierungen“ weh that; benn ber
fonft fo reiguolle Schleier taugt nur zur Salon-, nit zur Studier- oder Lefe-
lampe. Biel beiler ift es dem Leuchter ergangen, ber, obgleich er heute viel
weniger Bedürfnis iſt als die Tiſchlampe, ſich doc) in geradezu muftergiltigen
Formen ausgewachſen Hat. Wllerdings entitehen neben den 10 guten 200
ſchlechte moderne Leuchter, in denen man fich meijtens mit allen fünf Fingern
mie in einem Fuchseifen verfangen fann, und munbderlid: das Publikum
tiebt vor allem das Fuchseiſen. Seitdem für das Gas fo ganz neue Formen
aufgefommen find, die vor allem im Gasglühlicht gipfeln, ſcheint auch für
diefe Beleuchtungsweiſe eine neue Aera zu fommen. Man hat die häßlichen
langen Gasglühlihtzylinder mit beiten Erfolg durd) die furzen Birnen aus
mattem Glaſe erfegt und ift fo auf eine Grundform gelommen, die fih nun
äußerſt reizvoll ausbilden läht und die zum Teil aud) ſchon ausgebildet wurde.
Am elektriſchen Licht hat die Neuartigfeit von jelbft zu neuartigen Formen ges
zwungen, beren fünftleriiche Momente überall da in ber Einlage fihtbar find,
wo man nidt an das Schöne gedacht, fondern nur auf das Sadjlidhe Wert ge—
legt hat, alfo wiederum bei unferen Bureaus und Gefhäftslampen. Es ift fehr
Mar, daß der Stil ber eleftrifchen Lampe aus dem Wefen der Beleuchtung,
alfo der einfahen Zuleitung durch den Draht und durch die volllommen will:
fürlihe Neigung der Beleucdhtungsförper ſelbſt beitimmt wird, ba man es
nidjt mit einer Flamme, fondern mit einem fejt eingefchloffenen glühenden
Körper zu thun hat, ber ohne jede Feuersgefahr überall und in jeder Lage
angebradjt werden kann. Wenn man aber, ıwic ih auch Schon gefehen habe,
eine eleltriſche Tiſchlampe baut und dann unter ihr fünjtlih ein ſinnloſes
Baſſin anbringt, bloß, weil man ſich von der herlömmlichen Form der Lampe
nicht losmachen kann, jo iſt das eine Stillofigfeit im ſchlimmſten Sinne, bie
allerdings in dieſer Kraßheit nicht oft vorfommt. Genau dem Wefen bes elei-
trifchen Lichts entfprehend find ja im Grunde aud) die „Quftres“ nicht, bei
denen bie Zuleitung buch Vtetallröhren wie beim Gafe geſchieht, doch wider:
ſprechen fie aud) der Zweckmäßigkeit nicht gerade und können fehr gefällig ge-
bildet werden. Befonders reizvoll erfcheint mir beim eleftrifchen Licht die Art
der Montierung, bei der die einzelnen Lampen mie an Stetten oder dünnen
Drähten etwa in einem Kreis von der Dede herabhängen und fo Gelegenheit
geben zu einer Fülle von neuen und beforativen Einfüllen. Ih komme Bier
auf ein Gebiet, das ja ſchon fo reich ausgebildet ift, daß ich zu einem ganz
beitimmten Leferfreis fpreche, wenn id) es überhaupt berühre. In großen
Städten wird man ja genügend Gelegenheit haben, überall die Wunder bes
elektrifhen Lichts zu fehen. Leider verleitet feine mannigfaltige Benußbarfeit
oft auch zu großen Läppiſchkeiten. Ein Beifpiel für viele: bunte Glasfrüdte,
die man einer Bronzefigur in den Schoß gelegt hat, als Lichtquellen |
Zu den Dingen, die man täglich braudt, die eben unbedingt praltiich
fein müſſen und die der kultivierte Menſch aud ein wenig ſchön haben mödte,
gehört da8 Schreibzeug. Im Stontor ift e8 meift praftiih, auf Damen—
jhreibtifhen unprattiih und unfhön in höchſter Potenz zugleih und auf
Herrenfhreibtiihen in den Privatzimmern nit viel bejjer. Es iſt wirklich
wunderlich, wie man fi) durch das Vorurteil, daß Auswüchſe „Zieratc*, alfo
Kunftwart
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ſchön feien, verleiten läßt, fein ganzes Beben lang das Schreiben mit Störungen
zu verbinden. Vielleicht bringt man aud) hier nicht ganz mit Unrecht die Aus—⸗
rede: e8 gibt eben nichts anders. Aber da Halte ich es immer noch für weit
bejier, fi) zu dem fchlidten Burenumaterial etwa von Soenneden zu retten,
als fihh mit Trivialitäten des Galanteriewarenhändlers zu befaflen. Es iſt
ſchade, daß ſich foldhe Firmen, die ſachliche Forderungen in geradezu raffis
nierter Weife befriedigen, da, mo es ſich um verfeinerte Kormen für ben Haus—
gebrauch Handelt, nit mit wirfliden Künftlern in Verbindung fegen, ſondern
dem äjthetifhen Genüge geleiftet zu haben glauben, wenn fie 3. B. dem vor»
her einwandfreien Tintenfaß einen ſchlechten Aklanthus aus geſtanztem Blech
auf den Kopf gefegt und rechts und links Gelegenheit zum Wehthun gegeben
haben, anftatt in ber erfeinerung ber Linie des eigentlichen Körpers bie
Aufgabe zu erbliden. Ih fann bis heut nur raten, ruhig bie praftifchen
und gänzlih unverzierten Gegenftände zu faufen, fie fönnen für mein Ems
pfinden felbft in der üppigften Einrichtung feinen ftörenden led bilden.
Dasfelbe oder ähnliches gilt vom Rauchzeug und all ben petits riens,
von denen id) ebenfalls neulich ſchon ſprach. Wollte ih noch von all dem
einzelnen reden, das einem beim Durchgehen von Wohnungen einfällt, fo käme
ih vom Hundertſten ins Taufendfte. Ich kann nod) erinnern an das Maſſen—
aufgebot von Photographieen Verwandter und Belannter, die ja für ben Bes
figer Stimmungsmwert haben, die diefen Wert jedoch nicht verlieren würden,
wenn man fie anftatt unfhön, gefhmadooll anordnete. Ein Heer von Kleinen
geprebten Rahmen iſt ficherlih nicht geſchmackvoll, beifer ſchon find die als
Reifeetuis befannten Ledertäfhchen zum Zufammenflappen, und recht ausbaus«
fähig erfcheint mir die heute manchmal angewandte Idee, Glasrahmen in ges
eigneter Weiſe mit Möbeln zu,verbinden, hinter denen man bann ganz pafjabel
Wechſelausſtellungen von Photographieen maden fann. Wllerdings kann das,
falfch oder finnlos gemacht, fich ebenfalls ins Schlimme menden.
Shulge-Naumbura.
Lose Blätter.
Aus Bjärnftjerne Björnfons „Paul Lange und Tora Parsberg‘.
Borbemerfung. Das neue Wert von Björnfon — id) meine den
Bater — ift in ber deutfhen Musgabe foeben bei Langen in München er=
ſchienen. Es handelt durdaus von Politik, aber nicht eigentlich von der Po—
litik irgend eines Einzelfalls. „Politifher Stüde* haben wir ja eine Unzahl,
meift aber find fie Antriguenftüde, wo das Vergnügen an ben Verſchlingungen
der Handlung eben eines Einzelfall die Hauptjadhe ift. Bei Björnſons
neuem Werfe dagegen hat, wie etwa bei Ibſens „Volksfeind“, Die politifche
Handlung jelbit nur die Bedeutung des Symptoms oder, wenn man will, des
Symbol8: die Politif als ſolche, das „Eharakterverberbende* ihres Treis
bens foll beleuchtet werden, die gefährliche Verderbtheit der politifhen Moral.
Im Mittelpuntte fteht der eben zurüdtretende Minifter Paul Lange.
Der König läßt ihn bitten, für feinen alten Minifterpräfidenten noch einmal
im Parlament einzutreten — zur Entihädigung für den etwaigen Berluft
einer „politifhen Chance“ dadurd bietet er ihm einen Gefandtenpojten. Langes
Abneigung gegen „Öffentliche Abftrafungen“ dedt fi) mit des Königs Wunjd,
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m 25727 —
obgleich ihm felber der Minifterpräfidbent nicht mohl getan hat — aber er
fagt weder ab nod) zu. Da kommt Arne Kraft, ein Mitführer feiner Partei
ein ihm befreunbeter Ehrenmann und er bringt Lange zu dem Verſprechen,
fid) des Eingreifens in die Debatte zu enthalten. Die Erhörung feiner Liebe
au Tora PBarsberg, ber Geiftuollen, Guten, Großen, hebt Lange über die enge
Auffaſſung des ehrlichen Straft hinweg: nicht das Befritteln des Alten, ſondern,
„das Neue durdguführen, das ift die Hauptfache*, er läßt ſich nicht von
feinem Verſprechen, fondern nur von der Sade felber Ieiten. Er ſpricht für
den Präfidenten und hält dadurch das Minifterium, das zu dieſer Zeit feiner
MHeberzeugung nad) ba8 einzig mögliche if. Daran aber geht er zu Grunde:
feine Feinde, der böfe alte Storm voran, benutzen e8 und verquiden es mit
Entftelungen und Verleumdungen fonft, und auch die herrlide Tora kann
den innerlih Gebrochenen nicht mehr retten.
Björnſons Schaufpiel hat in der Handlung und in ber Kompojfition
unleugbar einige Schwächen, als Ganzes aber ift e8 ein Werk von ungemwöhn-
licher Kraft, Überzeugender Reinheit des Empfindens und von jener geijtigen
Meite, die leider auch den beiten unferer heutigen deutfchen Dramatiker fehlt
— ganz zu fhmeigen davon, daß wir eine Behandlung der öffentlihen Zu—
ftände in Deutſchland auf ber Bühne überhaupt ‚nicht Haben! Die Tiefe des
Biörnfonihen Dentens und Fühlens fommt am meiften in den Szenen zwiſchen
Zora und Lange zum Ausdrud, Szenen, die zu fehr ben Zufammenhang mit
dem Ganzen verlangen, als daß wir fie Hier abdruden fönnten. Geben wir
dafür einigeß auß ber unheimlichen Schilderung der Gefelfchaft, die am Abend
nad) Zanges Rede in den Salons des Fräuleins Parsberg jtattfindet.
*
Tora Parsberg: Wollen Sie nit hineintommen, meine Herren?
Der alte Storm: Nein, danke, wir wollen gern nod eine Weile hier
bei einander bleiben.
Zora Barsberg: Und ein Wohlfahrtstomitee bilden?
Der alte Storm: Und ein Wohlfahrtsfomitee bilden.
Zora Barsberg: Ich hojie, e8 wird nicht fo graufaın wie jenes erfte.
Der alte Storm: Leider nit. Uns fteht feine Guillotine zur Ber:
fügung. Sonſt —!
Zora Barsberg (unterbricht ihn): Wo du bift, Großvater! —? Du
unterſchätzſt dich! (Mb. Alle lachen Taut.)
Der alte Storm (ftolz): Die ift nicht von ſchlechten Eltern!
Balle: Es ift ja aud Ihre Enkelin!
Deralte Storm: Aber fie ift immer gegen mich gemwefen. Bon Ktind—
beit an. Immer Hat fie das Unmögliche verſucht. — Und eben habt ihr’8 ja
felber gehört —?
Ramım (nad furzem Schweigen): Was meinen Sie damit?
Der alte Storm: Was id damit meine —? Natürlid) das, weswegen
ich bier bin.
Balte (vorfidtig): Und das iſt —?
Der alte Storm: Ihr habt e8 doc) jelber gehört? Paul Lange!
Ramm: Das war ja Scherz.
Der alte Storm: Scherz mit Ernſt vermischt!
Ramm: So had) fann er doch wohl nicht hinaus wollen? — —
Der alte Storm: Paul Lange?!
Kunftwart
— 28 —
Balke: Fräulein Parsberg amüfierte fih nur! Alle diefe Gerüchte über
feine Freiereien —
Der alte Storm (unterbridt ihn): Jch weiß, mas ich weiß! Und ber
Kerl weiß, was er will! Es foll mid) nicht wundern, wenn wir heute abenb
noch erleben, baß die Verlobung deflariert wird!
Alle (ganz erftaunt, dDurdheinander): Was fagen Sie? Das ift doch nicht
möglih? — Das überjteigt doch alles —? Nein, nein! (Dan ladıt.)
Balke: Fräulein Parsberg verheiratet ſich nie!
Ramm (lat): Und Paul Lange hütet fi) wohl, fi) noch einen Korb
zu holen. Dan fann aud einem Schelm Unrecht thun!
Piene ſſchnell): Einem Freier aber nicht!
Der alte Storm: Eben!
Piene: Einem Freier nit! Und er gehört zu dieſem Typus. Im Aus—
land nennt man fie „Streber”, aber Freier ift das rechte Wort. Sie freien
als Schulfnaben um ben Lehrer, als Studenten um den Profeffor, "dann um
reihe Mädchen, dann um Wähler und Gönner, dann um Orden und hohe
Stellungen. Und er hat alles erreiht! (Voller Wut.) Und er hat alles erreicht!
Balke (fügt ſchnell Hinzu): Troß Ihres fteten Proteſts! He be bel
(Allgemeines Gelächter.)
Der alte Storm (während fie laden): Sind Sie neibifh, Piene,
mein Freund ?
Piene: Paul Lange iſt meine Spezialität! (Schnell ab.)
Die andern (laden und wiederholen): Seine Spezialität!
Der alte Storm: Ja, ihr müßt den Nann ftudieren! Schon zweimal
zog er ſich von der Politik zurüd. Und beide Male war er verfichert, als er ging.
Alle (laden): Das ift wahr!
Balte: Nicht fo laut!
Ramm (leifer): Nein, leiſer!
Der alte Storm (ebenfalls leiſer): Jetzt geht er zum dritten Mal
Und ift natürlich wieder verfihert! Nur, daß die Gefahr diesmal größer ift.
Deswegen ijt er jest auch höher verfichert !
Die andern (laden, aber nicht fo laut).
Balte (während fie lachen): Mit Fräulein Parsberg verlobt? Ja, bie
Aſſekuranz ift gut!
Mehrere (lachen): Ja, die iſt gut genug!
Der alte Storm: Ja, ihr lacht? Aber mit Tora Parsberg unterm
Arm lacht er! Lacht euch alle miteinander aus! — Kommt ein wenig näher!
Balte (neugierig): Gibt's noch mehr? (Nähert fi.)
Piene (eilt herbei): Gibt's noch mehr?
Der alte Storm: Das beite fommt noch!
Ramm: Das wäre des Teufels! (Kommt auch heran.)
(Dan fchart fi dichter an den alten Storm.)
Der alte Storm (läft fie fomeit zurüdtreten, daß er fehen kann, ob
jemand von links fommt. Als er niemand fieht): Das mit Tora PBarsberg
erflärt ja nur, weshalb er es wagt, zu gehen. Das erflärt nicht, weshalb er
e8 wagt, im felben Augenblick, wo er geht, zu reden. Für den Kabinettschef
‚zu reden! Der ihm fo viel böfes angethan hat.
Piene: Das iſt e8 jal Der Grund! Der Grund!
Der alte Storm: Dazu muß er einen befonderen Grund haben,
Piene: Das ilt es ja, was ich fagel
1. Januarheft 1899
— 29 —
Der alte Storm (Tieht fi abermals um): Wenn ich etwas heraus—
haben mill, dann verfuche id) e8 bei denen, die glauben, daß fie klüger find
als andre. Ich hab's mit dem Kammerherrn verfuht! (Gebämpftes Laden.)
Balke (neugierig): Nun?
Der alte Storm: Der Gefandtihaftspoften in London iſt frei.
(Allgemeine Berwunderung. Man fieht einander an. Die Gefichter Hären ſich
auf, fie werben heiter und verſchmitzt. Es endigt in einem allgemeinen Gelächter.)
Sanne (ber fih niemals ganz mitfortreißen läßt): Aber, jo bebentt
doch, wo ihr feid!
(Das Lachen wird gedämpft, gewinnt aber an Intenfität.)
Balke (Teife zu Ramm): Iſt er nicht ein Meifter ?
Ramm: Ein Großmeister! (Das Lachen wiederholt ih. Einer macht
Bewegungen mit den Beinen, als wolle er einen Reel tanzen.)
Sanne (bämpft das Laden).
Zwei Stortingbauern (fommen, vom Laden herbeigelodt. Der
eine ift so Jahre alt, der andere ift jünger).
Piene (eilt auf fie zu): Paul Lange ift mit Fräulein Parsberg verlobt
und foll Gefandter in London werden! Da habt ihr es! Fortes adjuvat fortuna!
(Auft ihnen gerade ins Gefiht.) Bähl
Die beiden Stortingbauern (find ganz verwundert. Endlich
fommen fie heran).
Der ältere: Spinnt er?
Sanne: Nein, aber betrunfen. Bolitifher Branntwein. (Wb.)
Balte: He he he!
Der jüngere (lahend zu Storm, dem er bie Hand reiht): Is dös
wahr, döß mit Paul Lange?
Der alte Storm: Weiß Gott, es ift wahr!
Der ältere (begrüßt Storm ebenfalls): Grüß Gott, Alter!
Der alte Storm: Grüß Gott, bu!
Balke: Beide Parteien liegen gelähmt da. — Gelähmt durd ihn, —
unb er felber geht mit dem Profit ab! He be He! Ich kann's nicht Teugnen,
das ift brillant gemacht! Ich bemundere ihn.
Der ältere Stortingbauer: Der Kerl hat an g'ſcheiten Kopf.
(Das Lachen fängt von Neuem an.)
Der alte Storm (erhebt fih): Uber meine Herren! Wo bleibt denn
ihre Indignation? Wir können doch, zum Hudud, aus ihrer Bewunderung,
feine Indignation maden!
Mehrere: O jal (Heiterfeit.)
Ramm (während des Gelädters): Die Empörung wird ſchon fomment
Balke (auögelajien): Ein hemifcher Prozeß! Nein chemiſcher Prozeßl
(Das Laden wird ftärfer.)
Sanne: St! St!
Biene (ſtürzt herbei): Da iſt er! (Abſolute Stille.)
Der alte Storm (fest fih): Ja, jet werden wir ja fehen!
Der Kammerherr (fommt an Paul Langes linker Seite herein).
Paul Lange (in eleganter Gefellicdhaftstoilette): Guten Abend! (Geht:
auf fie zu.) — (feine Antwort.)
Paul Lange: Plöglid alles fo jtill?
Der Kammerherr (fteht immer neben Baul Lange): Iſt jemand von.
ben Herren mit einem Wit durchgefallen?
Kunftwart
— 20 —
Der alte Storm: Ja, ich habe leider das Pech gehabt.
Paul Lange (geht geradewegs auf den alten Storm zu und gibt ihm
die Hand).
Der alte Storm (nimınt die bargebotene Hand, verſucht ſich zu er—
heben, es fcheint ihm aber ſchwer zu werden): Es wird mir mandmal fo
ſchwer, aufzuitehen.
Paul Lange: Bleiben Sie bod), bitte, figen! Nun, wovon handelte benn
der Witz?
Der alte Storm: Aufrichtig geiproden, — von Jhnen.
Paul Lange: Und dod wollt er nicht glüden? (läft feine Hand los.
Mendet fih an Ramm, bem er mit vertraulihem Gruß die Hand reihen will).
Ramm (legt feine beiden Hände auf den Rüden).
Paul Lange (mwird Teichenblaß; richtet fich kerzengerade auf. Sieht
fh um. Wohin fein Blid fällt, legt man bie Hände auf den Rüden. Alle,
mit Ausnahme des alten Bauern, der aud) ein wenig abſeits jtehi): Jetzt ver—
ftehe ich den Wit, den finde auch ich dumm. (Wendet fi an den ſammer—
herrn.) Die Wirtin ift da drinnen?
Der tammerbherr (ftrahlend): Ja, Erzellenz! (Beide ab.)
Alle (bewegen fi), ladıen, reden).
Der alte Storm (richtet ſich Schnell an feinem Stod auf und ruft aus):
Das habt ihr, den Teufel auch, gut gemad)t!
Piene (für fih, indem er entzüdt die Hände reibt): Bravo! Brano!
Daran ftirbt er!
Ramm (gleichzeitig zu Storm): Das traf, — wie?
Balfe (gleichzeitig): Daran wird er denken!
Sanne (gleichzeitig): Das fam von allen Parteien!
Der alte Storm: Nichts fommt in der Politik einer gut durchgeführ—
ten Berihmörung glei. (Setzt fich wieder, fehr vergnügt.)
(Drinnen zur Linten beginnt das Orcheſter. Chor mit Begleitung.)
Piene (kommt begeiftert heran): Das ahnte mir! Das ahnte mir! Denn
als ich heute Abend im Schnee durch den Wald fuhr, war e8 mir, als hörte
ih Wolfsgeheul. Ich Hab die Wölfe in meiner Kindheit oben iyı Gebirg heulen
hören, befonders bes Nachts. Da war es, als rufe der alte, beimatlofe, nor—
wegiſche Geift in unfern Schlaf hinein! Klagend, drohend rief er: Du Sieben=
fchläfer, ich Tale dir nie mehr Ruhe! Nie mehr Ruhe! Auf follit du! Morden
folft du! Weiter morden!
Namm (leife zu dem Zunädjititehenden): Uber das iſt ja ber reine
Parorysmus!
Piene (ohne innezuhalten): Das Weiche, das Ungefunde ſollſt du morben!
Das, was jekt Heimatsredt in Norwegen hat! Du follit die weiberſchwache
Gefühlsdufelei, bie Freiheitsbummler follit du morden! Den modernen National-
ſchwindel follft du morden! Ach, du gefundes, mordlüjternes, weisſagendes
Wolfsgeheul aus den Wäldern, aus ber Urzeit, jedesmal ein Anzeichen, wenn
einem ber Garauß gemadt werden ſoll! — (Er fieht fie an und begegnet nur
beiteren Gefichtern.) Barbarus hic ego sum, quia non intelligor nullo! (murmelt):
Ovidii tristia 5, 10, 37. (Entfernt fih gefränft unter dem Gelächter der andern.)
Der alte Storm (ftöht mit dem Stod auf den Fußboden): Nein,
nein, nein! Es ift etwas Großes in dem, was er fagt! Es find feine ganzen
Menſchen, diefe andern. Nur halbe Menſchen find fie, oder noch weniger! Die
ganzen Menſchen, die gehen voran, die ftürmen drauf [o8, die erobern für bie
1. Januarheft 1899
- 4 —
Menſchheit. Aber diefe mit dem ſchwachen Rücken, Diefe jentimentalen Leute,
die find nicht dazu imjtande. Die humpeln hinterdbrein, und dort bleiben fie
bei ben Schwädlingen, den Stümpern, den Berbraudten — und bei ben
Meibsbildern! Und tufcheln und pufteln mit denen herum! Und wollen uns
alle dahin haben, damit wir e8 cbenjo machen. Rückwärts ſoll e8 gehen!
Ihre Gedanken find Krankenſtuben-Gedanken, und ihr Programm lautet: Bann
tommt die Zeit der Krüppel? Und foldhe Männer follen in der Bolitif mit fein?
Eollen dem Geflecht den Kurs vorfchreiben ? — In der Bolitif, die vor ges
funder Brunft brüllen follte wie ein Stier? Zum Teufel mit der jämmerlichen
Geſellſchaft!
Die andern: Bravo! Bravo! (Sie lachen und rufen alle durcheinander.)
Er ift heute Abend famos, der alte Storm! Ja, weiß Gott, er ift famos! Ein
echter norwegiſcher Fichtenftamm!
Sanne (leifer): Über jet werden wir wieder zu laut!
Der alte Storm: Ad, das macht nichts! Ich nehme die Verant—
wortung auf mich! Uebrigens hören die dadrinnen nur bie Muſik!
Ehriitian Deitlie (ift mährenddes von außen hereingefommen unb
überreicht Piene einen Brief).
Piene (erbricht ihn Schnell): Hier find Abdrüde von der Korrektur eines
Artikels, der morgen erfcheint. Ich habe mir gleid) mehrere ausgebeten, da—
mit ihr e8 leſen könnt.
(Berteilt langfpaltige Abdrüde.)
Balte: Da alfo haben wir das Wolfsgeheul in Roten gefegt! He, he, hei
(Aud) die andern laden und ordnen fid in Gruppen, zu zweien und dreien
um jedes Exemplar.)
Der alte Storm ſſetzt fih allein mit dem feinen Hin).
Piene ſchlendert hinter ihnen hin und her und fchwelgt in der Wirkung.
Mitunter faut er feine Nägel. Wird er zu eifrig dabei, fo hält er die eine
Hand mit der andern feit. Hört er von einer ber Gruppen Geläditer oder
eine Bemerkung, wie: „Das ijt brillant!“ — fo eilt er herzu und ficht in den
Abdrud Hinein, um ſich zu überzeugen, welder Stelle das gilt. —
Bon lints fommen:
Der Kammerherr (Arm in Arm mit Frau Bang).
Frau Bang: Beiter Kammerherr! Sie müſſen mir wirklich fagen, mas
es iſt. Iſt 08 etwas mit Paul Lange? Ein Skandal — was?
Der Kammerherr: Wenn die Menfchen in den Grad eifrig find, jo
ift e8 allemal ein Skandal.
(Die lefenden Gruppen werden, eine nad) der andern, fertig. Alle laden und
reden.)
Balke: Nun, Der Artikel ift doch wohl energifd genug! He be bel
(Man hört Yusrufe: Ja, der wird wirlen! Das geſchieht ihm recht! Der wird
böjes Blut madjen!)
Der alte Storm ſiſt ber legte): Das läßt fid) Hören! (Erhebt fich.)
Ja, jest gehe ich hinein und hole ihn.
Mehrere (entjegt): Sie wollen ihn holen?
Andere (ebenfo): Hierher?
Der alte Storm: Jamshl!
Ramm: Sie befommen ihn nicht wieder heraus.
Der alte Storm (auf dem Wege): Das wird fich zeigen.
Kunftwart
— 22 —
Ramm: Ja, aber wie?
Deralte Storm: Wir kann er eine linterredung nicht verweigern,
menn id ihn darum bitte. Ich bin Toras Großvater. (Humpelt fchnell an
feinem Etod von bannen.)
Ramm (folgt ihm eine Strede): Bedenken Sie doch, mas daraus ents
ſtehen fann.
Der alte Storm (unbeirrt): Gerade das, ja,
Balke (eilt ihm ebenfalls nad): Und denfen Sie daran, mo wir ung
befinden!
Deralte Storm: Gerade das, ja.
Ramm: Sie befommen ibn nicht mit]
Der alte Storm (bleibt jtehen und wendet fih um): So —? Wenn
der alte Storm feine Hlauen in jemand hineingeſchlagen hat, fo hat er ihn
nod) niemals losgelaſſen (ab nad) Links).
Ramm: Diefer Satan! Was wird jegt gefchehen ?
Balfe: Einen Skandal gibt es, Freund! Einen Skandal! Wenn id
nicht fo neugierig wäre, madte id), daß ich davon käme!
Sanne (zu Piene): Uber es ijt nicht alles wahr, was bier fteht!
Piene (hisig): Was zum Teufel, madht das? Wenn es nur wirft!
(ganz empört au Balfe gewendet) Der Efel jagt, e8 wäre nicht wahr!
Balke (gu Sanne): Gerade da, wo die Wahrheit nicht mehr ausreicht,
fängt Biene an! — (Geläditer.)
Sanne: Id bin damit einverjtanden, da ein folder Dann aus der
Politit heraus muß. Er fchabet.
Biene: Na ja, — Alſo?
Sanne: Aber nicht mit ganz beliebigen Mitteln!
Piene: Man muß aufpaffen, wenn er einmal einen Fehler begangen
hat, zum Teufel auch!
Sanne: Das mag fein. Aber — Wollen Sie etwas fagen, Hakonſtad?
Der ältere Stortingbauer: Ja, dös is dö GE'ſchicht von dö Fehler.
Mir alle jehlen allemeil. Aber in dö Politik bal aner an fehler g'macht hat,
nacha nehmens ihn und lafa damit bis ans Eudb von ber Welt. Und no an
Stüdl meiter. (Man lädelt.) Was anders hat er gar nie gemacht, als wie
diefen Fehler. Und fa andrer hat an Fehler g'macht, beileib net, außer eahm.
Ind dös wird halt z’viel. (Man ladht.)
Biene (überlegen): Herr Hakonſtad veriteht nicht, daß e8 darauf an—
fommt, im Augenblick zu fiegen! Mir haben nur dieſen einen Augenblid! Und
da müfjen alle Mittel gelten.
Sanne: Das kann fhlimm über ben Einzelnen ausgehn!
Piene: Den Einzelnen. Was, zum Teufel, ift der Einzelne? Wenn er
im Wege iſt? Und wäre er auch ber größte.
Balke (entfegt): Ja, weiß Gott, er hat ihn mitbeflommen!
(Dan gruppiert fih. Piene hinter den andern.)
Deralte Storm (zu Paul Lange, der an der Thüre ftehen bleibt):
Gm. Erzellenz müffen begreifen, daß ich triftigere Gründe habe als die andern,
Em. Exzellenz verjtehen, was id) meine.
Baul Lange: Id glaube zur verftehen, worauf Sie anfpielen.
Der alte Storm: Da habe id ein gemwilfes Recht, Em. Erzellen; um
eine Erklärung zu bitten. Was Sie heute gethan haben, fest böfes Blut.
Baul Range: Ein ander Dal und an einem andern Ort.
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— 235 —
(Will gehen.)
Der alte Storm: Aber Em. Erzellenz fünnen nicht fo in der öffent»
lihen Meinung daftehen, in dem Nugenblid, mo Em. Erzellenz in meiner Fa-
milie — ich brauche wohl nicht zu vollenden.
Paul Lange: Ja, was verlangen Sie denn, das ich thun foll?
Deralte Storm: Schlagen Sie daß Gerede nieder! Gleich Hier!
Paul Lange: Vor diefen Herren, bie mich beleidigt haben? Nein!
(Will wieder gehen.)
Der alte Storm: Wenn nun aber die Herren glauben, dab Sie fie
verraten haben ?
Paul Lange (wendet fh um): Ich habe abfolut niemand verraten.
Ich Habe nur meine aufridtige Meinung über einen alten, hochverdienten
Mann gefagt.
Der alte Storm: Haben Em. Erzellenz die Abendzeitungen gelefen?
Paul Bange: Jh habe fie gelefen. Und was darin fteht, bat mit
diefer Sache nichts zu thun.
Sanne (nähert fi, beitig): Hat e8 etwa nichts mit dieſer Sache zu
thun, baß Em. Erzellenz uns einen unguverläffigen Habinettschef empfehlen?
Der alte Storm: Was Sie aus Erfahrung wiſſen?
Sanne: Bon ihm fagten Sie heute, er fei troß allem derjenige, ber
das normegifche Bolt am beiten zufammenhält.
Paul Lange (nähert fi ein paar Schritte): Das fage ic) jetzt nodh!
Sanne: Was für ein Bolt müfjen wir da fein!
Mehrere (wiederholen den Satzz: Was für ein Volk müſſen wir dba
fein!
Paul Lange: Das Volk kennt nur feine großen Thaten. Oder glaubt
wirklich jemand, daß das Kapital an Liebe und an Bewunderung, das er ein=
gefammelt hat, jetzt verbraucht ift? Iſt das nicht der Fall, dann habe ich recht:
„Trotz allem ift er noch derjenige, der daß norwegiſche Voll am beiten zu—
fammenbhält.“
Kamm: Die Zukunft wird zeigen, daß das nicht der Fall ift. Das
normwegifche Volk ift zu aufgeflärt. Aber felbit, wenn dem fo wäre, — fo gibt
es einen Mann, ber dies Argument nicht gebrauchen kann, mie überhaupt
fein Argument, das dieſen Ktabinettschef ftügt, — und biefer Dann find Em.
Erzellenz.
Paul Lange: So? — Mehrere von Ihnen, unb darunter auch ber
Mann, der foeben ſprach, fannten feine Fehler ebenfalls, ſchwiegen aber.
Schmwiegen und ftüßten ihn, folange fie mit ihm einig waren.
Ramm: Da ftanden wir mit ihm in der Oppofition. Da hatten biefe
Sehler keinen großen Einfluß. Aber an ber Spige ber Regierung, — das iſt
eine andere Sadıe!
Mehrere (lebhaft): Ja, fo ift es!
Paul Range: Die Politik erzieht feine Engel. Männer mit größeren
Fehlern als er Haben große Völter geleitet und gehören zu ben größten Namen
in der Politik.
Ramm: Wir aber find ein Feines Voll. Für uns gilt feine Erobe-
rungsmoral. Gelten feine Kriegsgefege. Wir vermögen nichts durch Madit.
Wenn wir Achtung erlangen wollen, fo muß e8 durch das Beifpiel geichehen,
das ein gejundes Volt gibt.
Alle: Ja, fo iſt es. So!
Kunftwart
Sanne: Die Berfolgung eines einzelnen Mannes iit nicht gefund.
Ramm: In der Politif kommt e8 darauf an, dak man ein Ding zur
Zeit vornimmt. Jetzt ift diefe Sache an der Reihe.
Baul Lange: Jeder handelt nad} jeiner Natur. Das Amt des Scharf
richters ift nichts für mid).
Der alte Storm (hat ſich gefeht, Diesmal auf bas Sopha zur Linken):
(Für fih.) Er antwortet gut. Aber er joll, hol mich der Teufel, unterliegen!
(Lant.) Weshalb gingen Em. Erzellenz nicht Ihrer Wege, als Sie fo von ihm
mißhandelt wurden ?
Paul Lange: Man follte mir lieber danken, dab ich Stehen blieb. So
daß das erſte freifinnige Miniſterium, das das Land gehabt hat, ruhig weiter
arbeiten fonnte. Deswegen ſchwieg ich.
Der alte Storm: Aber jetzt, wo Sie es bequemer fanden zu gehen,
weshalb ſchwiegen Sie denn nicht auch jetzt?
Mehrere: (näher an ihn herankommend): Ja, weshalb ſchwiegen Sie
nicht auch jetzt?
Ramm: Oder, wenn Sie durchaus reden wollten, weshalb ſagten Sie
da nicht dasſelbe wie wir? Sie hatten doch dieſelben Erfahrungen gemacht.
Nur noch Ihlimmere.
Paul Lange: Darauf Habe ich bereits geantwortet. Und jest, finde
ih, kann e8 genug fein. (Mill gehen.)
(Der Stortingspräjident und mehrere Herren fommen von links.)
Der alte Storm (erhebt fih und jagt zu Paul Lange gewendet):
Em. Erzellen; müffen verzeihen, aber hier ift man der Meinung, daß Sie einen
andern Grund gehabt Haben! (Er fommt näher.) Einen ganz befonderen
Grund — den Kabinettschef heute zu verteidigen
Paul Lange (zu ihm): Was meinen Sie bamit?
Der alte Storm (gerade heraus) : Das willen Sie felber am beiten !
Baul Lange (leihenblaf, fteht einen Moment regungslos da): Das
ft eine infame Berleumdung! (Ab.)
Arne Kraft (wird draußen auf dem Flur fihtbar).
Sanne (ber ihn zuerst erblidt, erfreut): Da iſt Arne Kraft !
Mehrere: Arne Straft? (wendet ſich um).
Ramm (leife zu Balke): Der weiß Bejcheid.
Balke (ebenfo zu Ramm): Und er fpricdht fi aus, das follen Sie
feben !
Paul Lange (geht auf ihn zu): Gut, dab du fommft! Du bift nicht
einverftanden mit dem, was ih heute gefagt habe. Aber du fennjt meine
Gründe dafür. Sag’ fie ihnen jegt hier! Du allein fannjt es!
Urne Kraft (ſieht ihn an, jagt aber nichts).
Mehrere (kommen auf Arne Kraft zu und begrüßen ihn.)
Urne Kraft (zu Sanne, der ihm am nädjten fteht): Was geht
bier vor ?
Sanne: Du haft dod) die Abendzeitungen gelefen ?
Arne Kraft: Jh habe das „Tageblatt“ gelefen ?
Mehrere: Ja, gerade das!
Sanne: Dann kannst du dir ungefähr vorjtellen, was hier vorgeht.
Ramm: Und du Haft vielleicht einige Aufflärungen zu geben ?
Der Stortingpräfident (flüftert Urne Kraft etwas zu).
Arne Kraft (fieht fih um und fieht namentlih Paul Lange an. Er
1. Januarheft 1899
— 245
fpricht mit innerer Erregung): Ja, ich habe etwas hinzuzufügen zu den Auf—
tärungen bes „Tageblatts*. (Mehr und mehr Herren ſtrömen von links her—
bei.) Ich begreife es fehr wohl, daß Norweger überall, wo fie jezt zuſammen—
fommen, ein Gefühl haben, als fönnten fie über nichts meiter reden. Paul
Zange ift einer der Beiten, die wir haben. Einer von denen, der den meiteiten
Bli Hat, und der das meiite ausgerichtet hat. Großherzig wie fein Zmeiter,
Hug, rückſichtsvoll. Außerhalb der Parteien jtehend, aber oft allen voran,
wenn e8 darauf anfam. Wir haben ihm viel zu verdanken. Die Verfolgung,
der er ausgejegt gemefen ift, bat ihn und nur noch teurer gemadt. Wir
fegten Erwartungen in ihn, wie fie größer nur in Einen geſetzt worden find.
Der ältere Stortingbauer: Das iſt wahr!
Sanne: So ift es.
Biene (tritt leife an ben alten Storm heran und flüftert): Die Sade
geht ſchief!
Der alte Strom: Bäh!
Arne Kraft: Dann aber fam das, was wir heute erlebt haben, — —
ja, wenn mir jemand geſtern oder aud) nur heute vormittag gefagt hätte, daß
e8 jo fommen mürde, da hälte ih mein Leben dafür eingefegt, daß das un:
möglich fei. Es ift in feiner Art das Ueberrajchendite, mas mich betroffen hat.
Ich leide noch jo darunter, dak mir die Worte fehlen. Er muß nicht be—
greifen, was er gethan hat. Daß jeht ein jeder das Gefühl Hat, als habe er
eine Niederlage durch ihn erlitten, fomohl diejenigen, die gewannen, mie bir,
die verloren.
Viele: So ift es!
Arne raft: Wir haben ein Gefühl, als hätte er ung alle mitein=
ander verraten. Als hätten wir einen nationalen Unglüdstag erlebt. Nie=
mand aber empfindet das ticfer als id. Denn wir find Freunde von Jugend
on. (Stille.)
Ramm: Du fagteft, du hättet Aufllärungen zu geben ?
Arne Sraft: Ja. Bor drei Tagen war id) bei Paul Lange. Da war
das Miftrauenspotum gerade eingebradt. Ih kam, um Paul Lange daran
zu erinnern, daß er unmöglid den Habinettschef ftügen fönnte. Er weniger
als alle andern.
Drehrere (wiederholen murmelnd): Er weniger als alle andern.
Arne fraft: Dann hatten wir eine längere Unterrebung darüber. Der
Hauptinhalt war, daß ohne Rechtſchaffenheit fein Bollsglüd möglich fei.
Mehrere (gedämpft): Wahr! Wahr!
Urne rat: Daraus aber ergab fid), daß der Staat nicht von einem
Manne geleitet werden fünne, der nicht ganz zuverläjlig märe.
Mehrere (wie oben): So ift es! Das ift’s, mas wir geſagt haben!
Arne Kraft (fieht Paul Zange an): Nun ja! (Langſam und gemidtig.)
Das gab Paul Zange mir zu. Ich verlangte nichts meiter von ihm, als daß
er fi) fern halten ſollte. Nidyts weiter. lind das verſprach er mir, Feier—
lich. (Leifes Bemurmel.) Ich höre jveben vom Präfidenten des Stortings,
daß er ihm dasſelbe veriprodgen hat. (Stärferes Gemurmel.)
Sanne: Das iſt aber doch ganz unerhört !
Paul Lange (tubig): Das glaube id) doch nit. — Man Hat oft
gehört, dak ein Mann unter ſtarkem Drud etwas verfpricht, wovon er Hinter
her fühlt, daß es nit für ihn paßt.
Biene (Hinter den andern): „Nicht für ihn pabt!”
Kunftwart
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Arne Kraft: Darüber will ih nichts fagen. — Daß aber das, mas
da8 „Tageblatt“ jagt, wahr ift, das kann ich bezeugen. Dafür habe ich
Bemeife.
Mehrere: Dafür hat er Beweiſe!
Sanne, Ramm, Balke: Dafür haben Sie (haft bu) Bemeife ?
Arne Kraft: Ja, und zwar fdlagende Beweiſe.
Piene (Bricht fidh während des num folgenden allgemeinen feierlichen
Schmeigens Bahn zmwifchen den andern und ruft): Der Mann ift ja unmög—
Gh! (Er erfhridt über fich felber und ftürzt zurüd. Alle lachen.)
Paul Lange: Ich merke bie Abficht. Man will mid unmöglich maden.
Urne Kraft: Die Mbficht iſt, die Politit Hier zu Lande ehrlidy zu
maden. Zu einer ehrlichen Beratung braver Leute, Das ift bie Abfiht. Dazu
haft Du, alter Freund, dein Zeil beigetragen. In großmütiger, edler Weile.
Ras daran Schuld ift, daß mir jet, um unfer Hiel zu erreichen, dich ents
fernen müſſen, — — das meißt nur du allein. Ich weiß es nidt. Für uns
bajt du fo viel zerftört, wie in dieſem Augenblid überhaupt zu zeritören war,
Wir werden badurd; um viele Jahre zurüdgetrieben. Die Sache war zweifel—
haft, jest ift fie entichieden. Fir alle die beiten im Lande mwirb dies ein
Hummer fein. Du .geminnit ihr Vertrauen nie mwieder. Das thut mir leid.
Ja, von Herzen, von ganzem Herzen thut e8 mir leid. Aber dabei ift nichts
mehr zu maden. (Allgemeines und gebämpftes Durmeln, man hört Aus—
drüde wie: „Das war gut!” „Das wird Bahn brechen!“ „Das war Ernft!)“
PaulLange (geht auf Arne Kraft zu): Jetzt Haft du mid) vernichtet.
Daß du e8 fein würdefi, hätte ich nicht geglaubt! Er bededt fein Geficht mit
ber Hand, man ficht, wie fein Körper erbebt.)
Urne Kraft (tritt einen Schritt zurüd, als erwache er zu einer neuen
Auffaffung der Sade).
Zora Barsberg (ift von ihrer Tante geholt worden und Hat eine
Meile im Hintergrund 'geftanden, ohne bemerkt zu fein, tritt jet, von ber
Zante gefolgt, vor): Verzeihen Sie, meine Herren, aber Sie fränfen mein Felt.
Deralte Storm: Mein Sind, wir wollen nur — —
Zora Barsberg (mit einer abmehrenden Bewegung): Der Mann, zu
beilen Andenten mir bies heutige Felt feiern, fagte fo oft: Ich begreife die
Politik nicht! Sie ward uns gegeben als freiheit, die größeite Form ber
Menſchenliebe zu ſchaffen, und dann machen fie fie gu der gehäffigften Men—
ſchenjagd. Sie ging aus, um der Menſchheit guten Mut und gefunbe Lebens:
bedingungen zu fchaffen, unterwegs aber vergiftet fie viele Gemüter. Die Fahne
der Bolitifer trägt zwei Inſchriften: „Wahrheit“ und „Gleiches Recht für alle!”
Unter diejer Fahne aber wird nicht das Wahrheitsgefühl geftärft, und fie ver—
fuhen oft, einander rechtlos zu maden.
Der alte Storm: Aber wenn fie nım doch wirklich —
Tora PBarsberg: Verzeih, Großvater! Ein Felt ift eine gemweihte
Stätte. Gute Feen halten Wacht und ſchützen e8. Und ich bin die Oberfte
biefer Feen. Könnte id) wie der große König im Märchen fagen, der zum
Feſte einlud: Seid willlommen alle, aus der verherten Welt, Jhr, die Ihr da
draußen in Eurer Menſchlichkeit Not leidet! Ihr, die Ihr nicht Hug genug
wart, um unter Wölfen zu fein, nit fchlecht genug für die Parteimacht, nicht
paragraphenmäßig genug für die Gefegestafel, nicht unmwahr genug für ben
Menihenhandel. Ihr Warmen und Guten, die Ihr den Weg nit fandet,
weil Eure Schwinge getroffen war, Ihr, die Ihr von einem Berfted ins
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— 2 —
andre humpeltet um der Unklugheit millen, um des Mutes willen, um ber
Xiebe willen! Bier follt Ihr die Eriten fein! Die Märtyrer der Menjchheit |
Ein Feſt! Nur freie und edle Gefühle können ein Feit feiern! Uber kann id)
eine ſolche Rede nit halten, jo kann ih in jedem Fall handeln, wie ich
wünſche. Denn bier bin ich die, Die regiert. Jh wähle mir zum Führer in
den Feſtſaal hinein den Mann, der mir troß aller feiner Berirrungen als ber
Schuldlofeite erfcheint. (Von rechts fällt das Orceiter mit einem Marſch ein.
Sie wendet fih an Paul Lange.) Exzellenz — wollen Sie mir bie Ehre er—
weiſen, mic) zu Tiſche zu führen?
ER
Rundschau.
£iteratur. über Greif, Frau Ambroſius über
Klaus Groth, Ebers über Gottfried
*Gottfried Heller, der | Keller, Eckſtein über Mörike ftänden !
fhriftitellernde Dilettant. Es ift fo gemeint. „Merkwürdig wie
Wer nähere Einblide in das Ge= | die Urteile verfchieden find“, fchreibt
triebe dbe8 Buchhandels hat, weiß, | ber Dann, „ich habe von Seller nur
daß e8 bei ihm nicht nur unter den | Dlartin Salander gelefen und muß
Berlegern, fondern aud) unter den Sor= | geftehen, daß mir etwas dilettan—
timentern und gerade unter den kleinen tenhafteres nicht oft begegnet it.
Männer von wirklicher Bildung gibt, | Mit dem einen Werke Hatte ich ge—
bie das Gute fennen und fid} nad | rade genug von Diefem Schrift»
Kräften bemühen, e8 unter die Leute | fteller, der fo plögli als Genie ent—
zu bringen. Mit was für Geiftes- deckt worden iſt.“ Man verftehe mid)
nabrung aber leider viele Buchhänd- | nicht falfh: ich made dem Herrn gar
Ier fich ſpeiſen laſſen, das bezeugt | feinen Vorwurf daraus, daß er nichts
die mir vorliegende Nr. 49 der „Allgem. | von Poeſie verjtcht. Könnt er aber
Buchhändlerztg.“ in einem faum glaub= | fo fchreiben, wenn er aud) nur müßte,
lichen Beifpiel. Daß darin gegen unsre | mie vor Jahrzehnten ſchon Fr. TH. Vi—
YAuffaffung vom Urheberrechte polemis | jeher den „jo plößli als Genie ent—
fiert wird, ift für dieſe Intereſſenver- dedten* gefeiert hat, dem er dann in
tretung jelbjtverftändlich, ift ihr gutes feinem „Much Einer* ein herrliches
und allerbeites Recht und geht uns hier ; Denkmal errichtete, wie der alte Moltke
nichts an. Aber man höre, wie fi) | ihn verehrte, wie Paul Heyfe ihn ala
die deutſche Literatur im Kopfe eines | den „unfterblihen Shafeipere der No—
Mannes jpiegelt, der als Berater in | velle* feierte, auf deſſen Ruf „der
einem deutſchen Bucdhhändlerblatte | Dichtung goldne Zeit zu beginnen“
mitfprehen barfl Der Herr, feines | fcheine, mie Theodor Storm ihn als
Namens ©. Hölfcher, zitiert unfere | den größten bdeutichen Erzähler be=
Gegenüberftellung — bier: Blumen wunderte u.f.w.? Bir wollen zu Herrn
thal, Julius Wolff, Frau Ambrofius, G. Hölfchers menſchlicher Ehre anneh—
Ebers und Eckſtein, die Gefchäfte | men, er habe von all dem nichts ge=
maden, dort: Hebbel, Greif, Groth, | wuht, denn ſonſt bedeutete es ſchlicht—
Gottfried Keller und Mörike, die feine | weg eine UInverfhämtheit auf Grund
Geſchäfte machen. Dann Heißt es: | der Hölſcherſchen Ueberlegenheit über
„wenn Avenarius, mie es fcheint, | Bifcher, Moltle, Heyfe und Storm
durch feine Gegenüberftellungen jagen | von Kellers „Dilettantenhaftigfeit“ zu
will, dab die mertlofe Literatur ges |! reden.
fauft wird, während das, mas er für ! Aber mas geht uns ©. Hölſcher
Gold anfieht, unberüdfichtigt bleibe, | an! Dak mit jo volllommener nicht
fo wird jeder Vorurteilöfreie dDiefe | nur Urteilslofigfeit, fondern auch Ig—
Beifpiele für durchaus ver- | noranz in einer „Allgemeinen Bud=
fehlt halten.“ Dan greift ih an | Händlerzeitung“ von unferer
den Hopf — nein, das kann dod, | deutfhen Literatur gefproden
fagt man fi), feiner meinen, daß Blu: | werden barf, das foll feitgenagelt
menthal über Hebbel, Julius Wolff werden. Ach weiß babei ſehr mohl,
Kunftwart
— 28 —
dat dieſes Blatt nicht das amtliche
Organ des Buchhändlerſtandes ift; im
„Börfenblatt für den deutihen Buch—
handel“ wäre das unmöglid) geweſen.
Uber das macht die Sadje bei nähe—
rem Zufehn nur fhlimmer. Das durch—
aus anitändig geleitete „Börfenblatt“
fann, gefcäfttich gefihert, mit ben
Intelligenzen rechnen. Die „Allgem.
Buchhändlerzeitg.“ aber jpefuliert anf
die Maffe der Standesgenoffen, um
aus ihnen Abonrenten zu filhen. Und
in feine Brobenummer, die e8 mit
der Bitte um Durchſicht und Abonne—
ment an bie Kollegen verjendet, hat
es dieſen Ürtifel aufgenommen,
Theater.
* Die Genoſſenſchaft deutſcher
Bühnenangehöriger hat auf ihrer
VBerfammlung in Berlin beſchloſſen, eine
eigene Theateragentur zu grüns
den. Damit ift die Forderung unſeres
Auffages im fünften Heft, der zu dieſer
Berfammlung erichien,
warts endlich vermwirfliht worden.
Die erite kräftige Agitation dafür
leitete der Generaldireftor a. D. Georg
Stöberle vor mehr als einem Jahr
zehnte in unfern Blättern ein — es
ziemt fi) wohl, nun aus feinem Wollen
die That wird, feiner zu gedenten.
* Hebbels „Julia“ auf der
Bühne.
In Berlin bat ein Urbeiterverein
eine alte Schuld des königlichen Schau—
fpielhaufes bezahlt: er hat Hebbels
„Julia“ zur Aufführung gebradt.
Gigentlid; hätten ja die reichen Theater
dem Grafen Hochberg den Fleinen
Dienst ermeifen follen, da nun einmal
der Herr Antendant feine literarifchen
Schulden nicht jelber abtragen fann
— aber fie hatten leider aud fein
Geld dazu, fie mußten Stüde von
Sudermann und Fulda und Bahr
mit fürftlicher Freigebigfeit ausjtatten |
und behielten dann für eine alte
Schartefe von Hebbel nichts übrig.
So ward es denn ben Plebejern bes
Dftens erlaubt, in dem befcheidenen
Ditendtheater fih ein Verdienſt um
die Literatur zu erwerben und gleich—
zeitig in die Theatergeichichte eine
Nandgloffe einzutragen, wie fte feinem
biffiger hätte gelingen können.
Die „Neue Freie Voltsbühne*, jo
heißt der iapfere Arbeiterverein, wagte
mit der Aufführung ſehr viel mehr,
als ein „requläres* Theater mit dems
erfüllt und |
fomit eine alte Unregung des units |
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}
felben Unternehmen gewagt hätte.
Zmei Bedenken wogen befonders ſchwer.
Würde e8 gelingen, ein im guten,
aber aud) im fchledten Sinne naives
Bublitum mit der fremdartigen Welt
in Hebbels „Julia“ vertraut zu machen ?
Und würde e8 gelingen, mit Schau—
fpielern zweiten Ranges — auf foldhe
iſt die Bühne bei ihren befcheidenen
Mitteln ja angemwiefen — die dichtes
rifhe Gewalt des Dramas zum Aus:
drud zu bringen? Beides gelang und
zwar über Erwarten gut. In diefer
Thatſache fehen wir, offen geitanden,
die bleibende Bedeutung ber Auf—
führung. Einer äfthetifhen Rettung.
bedürfen die Dramen Hebbels unferes
Eradtens nidt. Daß die Direktoren,
die fie modern laſſen, äſthetiſch
unverantwortlid) handeln, ſcheint uns
nachgerade jelbjtverftändlih zu fein,
dab fie aber auch gefhäftlich ſchlecht
ſpekulieren, ift eine Erkenntnis, Die
am Ende doch hier und da einigen
Eindrud machen fann. Nun ift das.
ublitum — aud) da® der Arbeiter—
ühnen — feit Jahren an die natu=
raliftifche Zechnif gemöhnt. Es hat
gelernt, Die monumentale Gewalt der
Sprade und andere „antiquierte* dich—
terifche Mittel gering zu fchägen und
fih dabei „Literariih* zu bünfen.
Man hat e8 peinlich=fleinlich auf einen
ı Realitmus des Details drefftert. Und
doch Läht eben dasfelbe Publikum fich
willig fortreißen, wenn e8 vor den
DOffenbarungen eines wirklichen Dich—
ter8 der Größe ſitzt. Es verträgt den
monumentalen Zug in HebbelsSprade,
ohne ſich zu entrüjten, e8 lauſcht Vio=
nologen, als wären fie nie verfehmt
gewefen und läßt fich von den Schauern
der Romantik ummehen, ohne im Na—
men ber modernen Aufflärung zu pro—
teftieren. Sollte das nicht endlich die
Bühnenleiter zum Nachdenken zwin—
gen? Sollten fie nicht endlid ein—
fehen, daß man auch mit Hebbel Ge—
jchäfte machen fann? Zwar: nicht fo
gute wie mit Blumenthal, — das
fei ehrlich eingeftanden. Wohl aber
beſſere, als mit den Dußenden von
gequälten „ernithaft = literarifchen“
Stüden, die regelmäßig mit jeder
neuen Saifon auftauden, um dann
wieder mit der alternden Saifon zu
welfen und fterben. Im das Geſchäft
fommen wir beim modernen Theater
nit herum. Grade deshalb aber
müjfen wir zu den Bühnenlapitaliiten
eine Sprache reden, bie fie verſtehen
und grade deshalb fcheint mir der
1. Januarheft 1893
— 29 —
durchſchlagende a der „Julia“
fo meientlidy zu jein Man Tann
gewaltige Dramen aufführen und da=
mit ein befjeres Gefhäft machen als
mit den Berjifizierungen Fuldas. Die
Aufführung der „Julia“ hat den pa=
radoren Saß beftätigt.
lieber die Aufführung nod einige
furge Worte. E8 fol auf eine Shwäde
des Stüds hingemwiefen merden, die
auf der Bühne bejfonders deutlich zum
Yusdrud fommt: die Nebenhandlung
überwudert die einfahe Fabel und
droht ſie jtellenmeife zu erjtiden. Graf
Bertram, der im Mittelpunkt der Hands
lung Steht, hat fi) durch Ausſchwei—
fungen zu einem wandelnden Gejpenit
gemacht und wartet nur nod) auf die
Gelegenheit einer guten That, um das
Leben nicht völlig als unnüger und
veräditlicher Mann zu verlajfen. Um
dieſe Gelegenheit herbeizuführen, hat
Hebbel das Schidjal der Julia er—
fonnen — das Schidjal des verführten
Mädchens, das aus dem Vaterhauſe
flüchtet, weil e8 fi) von feinem Lieb—
haber betrogen und verlajfen glaubt.
Graf Bertram heiratet zum Scheine
Julia, um fie vor der Verachtung der
Melt zu bewahren. Die Gejhichte Ju—
lias ijt aber fo verfchlungen, fo ſpitz—
findig erdacht, fo konftruiert, daß
Hebbel ſeinen ganzen Scharflinn braud)t,
um fie zu entwideln. Daß er dabei
auf Abwege gerät, ift der Fluch der
mißlungenen Anlage. —— dieſe
Abwege führen uns in das Haus der
Julia, wo wir einen ergreiſenden
Starrkopf von Baier kennen lernen
und Auftritte von gewaltiger Wucht
erleben. Auf Ubmegen aber befindet
10 der Dichter doch, das kann wenig—
tens dem gebildeten Zuihauer nicht
ameifelhaft fein. Dem gebildeten,
jage ih), denn dem naiven kommt c8
laum zum Bewußtfein. Das Arbeiter:
publitum der „Vleuen Freien Volks—
bübhne* ließ fih von der Romantif
der Nebenhandlung völlig gefangen
nehmen, mwodurd der Dichter Hebbel
eine Anficht des ftritifers gleichen
Namens bemwahrheitete — daß nämlid)
das Publilum ſich gern aud) zu einem
Fluge mit fortreißen läßt, fofern es
nur die Fauſt eines fräftigen Mannes
im Naden fühlt.
Erih Schlaifjer.
+ An Wien murde das Jubi—
läums-Stadttheater unjres bis—
herigen Wiener Beriditerftatter8 Mül—
ler-Öuttenbrunmn eröffnet, mit der „Her:
mannsſchlacht“, in der Müller eine
Kunftwart
250
Huldigung Hleifts für Oeſterreich fieht.
Anläklich diefer Sache hat der Bürger-
meijter Queger fich über Kunſt ausge
ſprochen. Kleiſts „Hermannſchlacht“,
meinte er, ſei ein „Schandſtück“, und
Müller-Guttenbrunn ſolle doch lieber
fidele Stücke geben. Vergani, der
Herausgeber des „Deutſchen Volfs-
blattes“, erlaubte fi), dem zu wider—
fpreden, ein Stadtrat Wähner mwollte
vermitteln: der Herr Bürgermeiiter jei
mißverjtanden worden. D weh, nun
ergriff aber Lueger nochmals das
Wort. Man müfje tradhten, die rechte
Melange herzuſtellen. Darin fei ja
der Wiener ein Meifter, man denfe nur
an jeinen ausgezeichneten Kaffee; den
ſchrecklichen ſächſiſchen Bliemdentaffee
mög' er nicht. Das tertium comparationis
zwiſchen dem Bliemchenkaffee und der
Hermannſchlacht konnten wir nicht er:
fahren. Aber auch in Wiens obrig—
keitlichen Kreiſen weiß man, ſoviel
ergibt ſich, über Kunſtdinge ebenſo ſach—
verſtändig zu ſprechen, wie im deutſchen
Reichsſtag, im preußiſchen und baye—
riſchen Abgeordnetenhauſe und im
Dresdner Stadtverordnetenkollegium.
* Mar Bernſtein führt eine
journaliftifhe Neuheit ein. Er bat
eine Rellamenotiz über feinen und
Blumenthals „Mathias Gollinger“ ins
„Berliner Tageblatt“ Tanziert, wonach
Franz Defregger das GStüd gut
findet. Franz Defregger ift ein tüch—
tiger Maler. Wird künftig ein Delge-
mälde von der Kunſtkritik abgelehnt,
fo wird wahrſcheinlich der Maler in
die Zeitung jegen, fein Freund, ber
befannte Tondichter Soundfo, fänd es
vortrejflid. Gin Komponiſt, dem die
Kritik feine Symphonie fhhledht madt,
wird fi) öffentlich auf den Bildhauer
nebenan berufen, zu dem Bemeife,
dab fie gut fei. Und wenn einmal
die Aurilten jagen jollten, Herr
DBernitein, der Rechtsanwalt, habe übel
plaidiert, fo wird er das mit dem
Hinweis auf feines Freundes, des ge-
achteten Idyllendichters, Wutorität
widerlegen.
Muſik.
*Ueber Wilhelm Kienzls
von der Berliner Kritik faſt einſtimmig
abgelehnten „Don Quixote“ wollen wir
an unfrer Stelle zunädjt einmal Mar
Marſchalk ſprechen laſſen, zumal feine
Bemerkungen in der „Deutſchen Welt“
zu dem Sachlichſten gehören, was gegen
das neue Werk eingemwendet wurde:
„Den Roman Gervantes’ für bie
Bühne fruchtbar zu maden, iſt vor
dent Verſuche Kienzls ſchon vielen
mißglückt. Kienzl war ſich der
Schwierigkeit ſeines Unternehmens
vollkommen bewußt, er hielt es für
ein Wagnis, aber ſchließlich doch für
ein geglücktes. »Ich faßte die Figur
des Don Quixote«, äußert' er Mh
»dramatiich als einen firen Punft auf,
um den fi die ſämtlichen Übrigen
Figuren in tollem Wirbel drehen, als
die tieftragifche Achſe einer in berb-
genialer Zollheit fih abmwidelnden
burlesfen Handlung. Und dies fcheint
mir das völlig Neuartige und daher
aucd einigermaßen Gewagte meines
Unternehmens zu fein. Nur unter
dem Gefihtspunfte der Tragilomödie
und mit einer diefem entfprechenden
Darftellung meines Werkes iſt die von
mir gedachte Wirkung auf das Publi—
tum erreihbar.« Kienzl ſetzt ein mit
dem Erwachen des Wahnes in feinem
Helden und läßt ihn zum Schluffe zu
Grunde gehen, niedergemwudtet in dem
Augenblide, wo er nad) feiner durch
die Lift der Nichte und ihres Geliebten
erzwungenen Rüdfehr den Zmiefpalt
zwifchen der idealen Welt, in die ihn
feine Träume verführt hatten, und ber
renden, die ihn umgibt, mit fürdter-
licher Deutlichkeit empfindet. Zwiſchen
dem Erwachen des Wahnes und dem
MWiedererwahen der Klarheit ſpielen
ſich in bunter Folge einige der Haupt—
abenteuer des Ritters von der trauri—
gen Geftalt ab.
Aber man fieht nur immer die
reale Welt, die mit einem Stranfen ihr
bertherziges Spiel treibt, man fieht
fie mit eigenen Augen, nidt mit
denen des wahnbefangenen Ritters,
und fann ſich natürlid, da man fort—
während das reale Bild nor Augen
bat, nit vorftellen, daß Don
Quigote in dem Wirte, feiner Tochter
und den Gäſten etwas anderes fieht
als eben den Wirt, feine Tochter und
die Gäſte. Wir befinden uns ſozu—
jagen unter den Gfäſten, und da wir
feiner geartet find, als fie, werden ung
die fortgefegten Scherze bald unbe=
quem. In dem das reiche Gefühls-
Icben Don Quixotes, feine phanta=
ſtiſche Gedankenwelt breit ausmalen=
den Romane, bleiben wir in jedem
Augenblide in engiter Beziehung zum
Annenleben des Helden, das ung
durch feine Verjegung auf die Bühne
und zwar ganz bejonder® durch Die
Art der Kienzlſchen Behandlung voll-
kommen verfchleiert wird. Wir ſehen
immer nur auf ihn, faſt nie aber
aus ibm heraus auf feine Um—
gebung. Stelfenmeife, wie im ganzen
amweiten Akt wird fogar jeine Ber:
fönlichleit fomweit zurüdgedrängt, dab
nichts übrig bleibt, als ein Haufen
von Menfhen, die üble Poſſen—
reißereien ausführen... Der Fort—
gang der Handlung jeht erit wieder
im dritten Wite ein, wo ber als
Mondritter verkleidete Barbier den
Nitter von der traurigen Geftalt
bejiegt und ihm das Verſprechen ab—
nimmt, nunmehr feine Fahrten aufzu—
geben. Don Quixote kehrt zurüd,
madt fein Tejtament und jtirbt. Die
»tieftragiihe Achſe-, von der Sienzl
fprist, kommt dem Zuſchauer erit
zum Schlujje ins Bewußtſein. Bis
dahin überwudert und erftidt das
burlesfe, leider jo mißlungene Beimerf
den Stern der »Tragifomödie«, bie,
weil jie nicht komiſch wirkt, feine Ko—
mödie und, weil fie nicht tragiſch
wirkt, feine Tragöbie ijt. (Darin liegt
eben die Gigentümlidyfeit der tragi=
fomifhen Wirkung! R. 2.) Die
Muſik, die Kienzl geichrieben Hat,
ift nicht eigenartig. Sie haralteriftert
glüdlih, aber immerhin nur äußerlich
und oberflählid. Sie iſt geſchickt
nemadt, und die Snjtrumentation
Ichillert in allen Farben, ohne in=
dejlen neuartige Effelte zu erzielen.
Beitenfalls fann man an der Mufii
loben, das fie über ben gering:
fügigen Inhalt an manden Stellen
mit Erfolg hinwegtäuſcht. Uber ob=
gleich jie ohne Größe und Gigenart
ift, obgleich fie aud) bier und da einen
alltäglichen Ynjtrich bekommt, jeden=
falls ilt fie immer „Muſik“, das heikt,
es mohnt ihr immer eine gewiſſe
Kraft inne, den Weg durchs Ohr ins
Herz zu finden. Es wird jo viel ſoge—
nannte Muſik gemacht, der jede ſeeli—
ſche Einwirfung mangelt, die nur ein
leeres Getön iſt, dab fich Herr Kienzl
glücklich Ihägen kann, zu den Wenigen
zu gehören, denen heute ein echtes
Mufitantentum nachzuſagen ift.“ Ich
meinerfeit8 habe von dem Werk einen
wejentlich günitigeren Eindrud davons
getragen und vermiſſe in den Berliner
Urteilen vor allem bie Feititellun
der bemerfensmwerten Thatladhe, da
e8 einen beträdtlihen fünjtlerifchen
— über den „Evangelimann“
inaus bedeutet. R. B.
1. Jannarheft 1899
— 5 —
+ Wie man Rihard Wagner
verſteht —
nein, dieſe Heberfchrift ift ungerecht,
fchreiben wir befjer: wie das Berliner
Wagner-Dentmalstomitee feinen Mei—
fter veriteht. Aber dasfagt auch wieder
zu wenig, denn ſchließlich hat nicht
nur ber Denkmal-Ausſchuß das von
ihm arrangierte große „Richard Wag—
ner⸗Feſt“ mitgemadt, fondern nod) fehr
viele andere Leute haben's gethan —
wer aber hat mwiderjproden?
Das Felt bei Kroll war „arobartig“;
e8 gab außer einem fFeitfpiel, das
ernithaft war, zur Ehrung des Bay—
reuther Gedantens höheren Zingels-
tangel, zur zarten Erinnerung an die
verunglüdte Yusftelung im Meh«
palaft einen Bazar und zum Andenken
an das ParfifalsGeleitwort der Richard
Wagner-Vorkämpfer von ehebem:
„ob im Berein,
brüdergetreu
zu fämpfen mit jeligem Mute,“ —
ein feinfeine® Tanzvergnügen. Adh,
befäme bod das brave Komitee fein
Geld ſchnell zufammen, daß mög—
lichſt bald das Denkmal irgend einen
Platz „dekorierte“! Eine lächerlich—
traurigere Geſchichte haben wir ja
noch kaum erlebt, als dieſe, da man
zur Ehrung Wagners Spott mit den
Gedanken Wagners treibt. Unſern neuen
Leſern möchten wir mitteilen, daß ſie
eine Beleuchtung dieſer ganzen Denk—
malsſache im zweiten Maiheft unfres
vorigen Jahrgangs finden.
*Für Mascagnis „Iris“ wird
jetzt wieder auch in den deutſchen
Blättern eine ungeheure Reklame ge—
macht. Wie ſolch ein Fiſchzug auf
die Goldfiſche eingeleitet wird, davon
handelte neulich ganz anſpruchlos die
„Röm. Chronik“ der Frankf. Ztg.: „Das
»Iris«⸗-Fieber hat noch nicht nachge—
laſſen. Für den Kenner der Kuliſſen
iit die Geſchichte um fo intereflanter,
als er weiß, dab in ganz Italien,
menige Blätter des Nordens ausge
nommen, die Theaterfritif ein Geſchäft
wie jede8 andere ift. Entweder be—
zahlt ein fogenannter Kritikus der
Zeitung eine jährliche Pacht für den
Mritifraum, den er bann je nad) den
&elbern, die er von den Theatern er=
hält, ausfüllt, oder größere Blätter
verhandeln direlt mit den Jmprefarii.
Handelt e8 ſich aber, wie bei der
Gründung von Mascagni = Erfolgen,
um — die über Millionen
verfügen, fo weiß man auch die Kri—
tifen der PBeitungen zu würdigen.“
Kunftwart
— 252
een nn ñ w nn nn nn nn —— ——
Ob von Mascagnis Verleger auch
deutfche Rezenfenten einfad; baar oder
in der Form von Reifevergütung oder
fonftwie „entjchädigt* werden, wiſſen
wir nicht, dab aber die gewaltigen
Zrommelmirbel für jede neue Mas—
cagniſche Oper nicht allein der Fünit=
lerifchen Begeifterung entipringen, das
wiflen wir. Dieſelben Blätter, die
für eine ernfte Oper eines Deutſchen,
die anderswo als in Berlin aufge—
führt wird, höchſtens fünf Zeilen
haben, beglüden uns mit langen Feuil—
letons über Diascagnis „Iris“, mit
einem ganzen Sad voller Reflames
notizen über das gleichgültigfte Neben=
bei der Aufführungen, mit Szenen-
bildern fogar — nod ehe das Wunder—
mwerf über die beutfche Grenze gelom—
men if. Das Wunderwerk? Ja, fagt
man, wenn’8 maß ganz großes iſt, jo
iſt das ſchließlich erflärlih! Uber das
ift ja gerade das Luftigite: felbit von
al den eifrigen Korrefpondenten fann
fein einziger aud) nur die Behauptung
wagen, e8 ſei mas großes, fie müſſen
alle wohl oder übel durchblicken laſſen,
jo was „Extraes“ fei die „Iris“
eigentlih nicht. Und trogbem immer
weiter das Bum Bum!
Mer fi über fo etwas ärgert, ben
entihädigt der Meifter durch jein
neues Bilb — verjäume niemand,
fih’8 anzufehn! Der Illuſtriſſimo hat
fih nämlich in dem Uugenblid photos
sraphieren laſſen, da die Mufe ihn
fübte. Am Slaviere finnt er, das
Titushaupt in unnachahmlich erhabener
Poſe:
„Begeiftert blickt er in die Höh:
Willkommen, göttliche Idee!“
wie Wilhelm Buſch von Balduin Bäh—
lamm ſingt. Man frage ſich, was ein
Verdi, ein Wagner, nein, einer der
kleinſten unter den Echten auf die Zu—
mutung geantwortet hätte, beim Photo=
graphen mit feinem Heiligiten Ieben=
des Bild au figen,
+ Mies gemadt wird.
„Bechrte Redaktion!
Jede ganze ober teilmeife Wieder—
gabe einer der meinen Sendungen
beigefügten Befpredhungen
ober jede eigene Befprehung oder Er—
wähnung meiner Berlagsartifel v ers
güte Ahnen in angemefjener Höhe
durch Poitanmeifung im Laufe des
April 1899. Bitte nohmals um geil.
Einfendung von Belegnummern.
Hochachtungsvoll
Dresden. Y. (nidt: 9.) Bod,
Hofmuſikhändler.“
Bildende Kunit.
* Bon Wiener unit.
Einen modernen Kunſttempel, der
den Namen verdient, hat hier Die
Wiener Sezejlion („Bereinigung bil—
dender Künſtler Oeſterreichs“) mit
ihrer zmeiten Austellung eröfinet:
ihr neuerbautes Haus auf dem Ges
treidemarft, hinter der Akademie.
Seit Monaten war bdiejes Haus
der Gegenitand hitzigen Streites im
Publitum und in der Preife. Die eine
der Barteien gab dem empörten äſthe—
tifchen Gewiſſen des Spiehers von
Wien lauten Ausdruck, indem jie das
Gebäude eine Schande, einen öfſent—
lihen Standal, einen Tempel für
Laubfröfhe und ägyptiſche Mumien
nannte; die andere erflärte es für
das bedeutendite Bauwerk des Jahr:
——— —— — — —
hunderts. Wieder andere Leute — es
war nur ein winzige Fähnlein —
meinten: man müſſe warten, bis e8
fertig ſei. Und dann iſt es eröffnet
worden.
Olbrichs Baugedanke war folgen
der. Modernes Leben und moderne
Kunft follten in engite Berührung ge—
bracht werden durd) ein Gebäude, das
mit Hilfe der beiten technifchen Eins
rihtungen dem Kunſtgenießenden einen
Zufludtsort böte, wohin er vor dem
Tageslärm fliehen fönne, um unges
ftört mit der Schönheit Zwieſprache
zu halten. Gleichzeitig aber follte es
ihn (duch) verichiebbare Zwiſchen—
wände, Ober= und Seitenlidtvorriche
tungen u. dgl.) daran erinnern, daß
er ein Sind feiner Zeit iſt, Die
Schnell genießen und gern jchnelle Ver—
änderung haben mill, nicht aus Ober=
flächlichkeit, ſondern weil die Kunſt
ein Wiederſchein des großen Lebens
iſt, das uns umgibt, und wo die
Eindrücke und die Stimmungen raſch
und oft jäh wechſeln. Eben dadurd,
daß Diejes moderne Wusitellungss
gebäude mit feinen großen und
fleinen, mittleren und feitlichen, breiten
und ichmalen Räumen, mit feinen
Lihtdämpfern und Lichtbringern uns
reichite Abwechslung zu bieten vermag,
anstatt durch das Zuviel auf einmal
zu ermüden, eben dadurch bedeutet e8
einen entfcheidenden Schritt zur Re—
formdes Ausſtellungsweſens
wie ihn alle Einſichtigen ſchon ſeit
Jahren herbeigeſehnt haben. Das iſt
Joſef M. Olbrichs erlöfende That,
wie fie fpäter allgemein aufgefakt und
anerfannt werben wird, menn ber
m — — — en nn —— —— —
Zank über dieſe Architektur längſt
zur wohlverdienten Ruhe einge—
gangen iſt.
Nicht daß ich damit der Außen—
Architektur einen Vorwurf machen
wollte. Sie iſt kraftvoll, männlich,
ungetüftelt und ungeſchminkt, durch
und durch konſtruktiv und von prak—
tiſchen Gefihtspunften bedingt, immer
den Anforderungen im Innern ent—
fprehend. Nur die ungemein hoch
heraustretenden, ſchrägen Glasdäcer
der Oberlichtkonſtruktion ftören fehr. Ob
fie zu vermeiden geweſen wären, wage
ic) nicht zu enticheiden, aber jchön
find jie nit. Was an Schmud und
Zierformen vorhanden ift, wird nicht
in eriter Linie durd die Architektur,
fondern mit den Mitteln der Plaftit
(itilifierte Tierförper und ſymboliſche
Masten) oder der Linie (goldene
Ranken und Arabesken, nebjt erha=
benen Ynichriften) zum Ausdrud ges
bradt. Un den Seitenmauern und
hinten mindet fi) ein ſchwungvoller
Reigen tanzender Mädchen mit gols
denen Kränzen und hellbräunlich ge=
tönten Xeibern an der weißen Wand
entlang. Ueber dem Saupteingang
thront zwiſchen vier halbhohen Eck—
pfeilern eine großblätterige, grüns
goldig Shimmernde Kuppel von durd)=
brochenen Lorbeerzmweigen.
Wie ausgezeichnet der Lichtereinlaß
in den Innenraum den Bedürfniffen
angepaßt werden fann, bemieß ber
Zag vor der eigentlichen Eröffnung.
Es mar einer der duntfeliten und
trübjten, Die der November uns
brachte. Aber drinnen war alles von
einem jo milde leuchtenden Schimmer
überflutet, daß man beim Hinaus—
treten ins Freie eine Empfindung
hatte, als trete man ins Dunflere.
Sp viel alfo vom Haufe, feinem
„hohen berrlihen Bau“, aber doch
einem, der den Mieijter lobt und vor=
trefflich feinem Zwecke dient. In der
Austellung jelbit herrfcht wieder das
Ausland mit bedeutenden Werken
vor, wenn auch nicht jo jehr, wie im
Frühling. Eine Bejchreibung oder
ufzählung der Bilder gehört nicht in
den Kunſtwart, doch feien die Oeſter—
reicher genannt, die am beiten neben
dein Ausland beitehen. Etwas frifcheres
als die farbenjatten und leuchtenden
Bilditudien von Alois Hänifh kann
man nidt verlangen; er übertrifft
3. B. weit den feit geraumer Zeit fo
jehr verfladhten Dettmann (Berlin).
Bon den in Wien lebenden Dtalern
1. Januarheft 1899
find Friedrih König, Otto — —
Ludwig Siegmund, Wilhelm Bernagif
(„Märchenfee*), Garl Mol, der Prä—
fıdent Guſtav Alimt, der Ehrenpräfident
Rudolf von Alt (der sojährige Aqua—
rellift) und endlich der tiefernite Stöhr
zu nennen. Was die Plaſtik betrifft, fo hat
mohl Edmund Hellimer (der Schöpfer
des ausgezeichneten Schindler = Den:
mals) Anwariichaft auf die erfte
Stelle. Auch die Architektur ift durch
bedeutende Hünftler, wie Otto Wag—
ner, vertreten.
Im Defterreihiihen Mufeum
für unit und Induſtrie ift augen=
blicklich die zweite Ausſtellung von
Möbeln und kunſtgewerblichen Arbeiten
durch den Hofrat von Scala veran—
ftaltet worden. Sie enthält meist
ftrenge Kopien englifcher Muſter (von
Sheraton, Chippendale und anderer)
oder doch mehr oder weniger von
England beeinflußte Ergeugnifie. Gegen
den Direktor diefes Mufeums hat be=
Zammtlich der Kunfigewerbeverein
feit einem Jahre ein förmliches Haber—
feldtreiben in Szene geſetzt, das, unter
anderen mißliebigen Zerwürfniſſen,
auch den Rüdtritt des Erzherzogs
Rainer vom Protektorate der beiden
Inſtitute zur Folge hatte. Dies iſt
wohl nicht ohne nadteilige Wirfung
eblieben, denn in Defterreih muß
o ziemlich alles, was Anfehen haben
fol, Durch den Ytamen eines Erzherzogs
„wededt* werden. Man darf die Ges
fhihte aber hier um fo aufrichtiger
bedauern, als der Proteftor zu den
vornehmiten und kunftfinnigiten Mit—
gliedern der habsburgiihen Familie
gehört. Bei dem unerquidliden Ton,
der wohl weniger durch hyper-äſthe—
tifhe als kaufmännische Bedenken in
den Streit hineingetragen ward, war
der NRüdtritt ganz unvermeiblid).
Gegen die gemaltfame Propaganda
des Hofrats Scala für die neue Rich»
tung mag man ja Bedenfen haben.
Aber man darf nicht vergeffen, daß
gen in Wien (mo die Berhältniffe
o fumpften, daß alle Hunftgewerbes
arbeiter nur auf Spät-Barode oder
„Kongrebftil* eingefchult waren) eine
rüdfichtslofe Durchfegerkraft von Nöten
war. Deshalb muß man fie unter-
ftügen, denn zur Shulung find diefe
Engländer vortrefflih zu brauden.
Natürlich ift ein vornehmer, organiſch
entmwidelter Stil nicht jo ohne weiteres
aufzupfropfen, fondern es wird dann
darauf antommen, ob die Einheimi-
ihen genug Selbjtänbdigfeit be—
Kunftwart
—
figen, um ihn allmählich unſern eigenen
Bebürfniffen anzupaflen. Bon Het
auf übermorgen ijt fo etwas nicht ge=
madt. Aber einmal muß angefangen
werden, und deswegen Dürfen wir
diefen neuen Kurs, obwohl er für
Wien von oben diftiert wird, vorläufig
eben bier willlommen heißen.
Wilhelm Shölermann.
* Eine neue Petroleum—
lampe wird in Münchner Zeitfhriften
und Tagesblättern bejchrieben, als der
erite ernftlihe und ziemlich geplüdte
Verſuch, diefes wichtige Hausgerät nad
der praftifchen und nad der äſthe—
tifhen Seite Hin zu verbejlern. Bis
auf unmefentliche Kleinigkeiten ift die
neue Lampe handlich und gut in Der
Form. Sie hat übrigens in gewiſſem
Sinne eine Vorläuferin in der Lampe
von Garabin in Paris, der fie, troß
ber Verfchiedenheit in einer Hauptſache,
jehr ähnelt. Die eriten in Kupfer ge=
triebenen Gremplare jtempeln Die
beutiche Lampe duch ihren Sand:
arbeitScharafter und durch den Preis
zu einer Quruslampe, e8 foll aber bald
eine billige folgen. Dur; Maſſenher—
ftellung noch billiger geworden, wird
dieſe dann zum Gebraud) in mittleren
und fleinen Haushaltungen geeignet
fein, fo daß fie einen der zahlreichen
und zum Zeil nod) „ungewedten“ Fal—
toren zur Hebung des allgemeinen
Gefhmadsniveaus darftellen fann.
Die neuen Lampen ftammen von Wil:
helm & Lind in Münden. F. M.
* Sp lange die Geſelſchap-Aus—
ftellung in Berlin zu fehen war, hielt
ung eine erflärlihe Scheu von einer
Mitteilung zurüd, die wir der Deffent=
lichkeit zur Kennzeichnung unſrer eigen=
tümlichen Kunſtverhältniſſe jet machen
müffen. Auch wer Gefelfhap mit
großer Achtung gegenüberjtand, wie
wir, wird fih darüber gemunbert
haben, da meitum in Deutjchland
jelbit Feine Zeitungen von dieſer Aus—
ftelung wie von einem hochwichtigen
Ereigniſſe ſprachen. Hier die Auf—
klärung: für die Geſelſchap⸗-Aus—
ftellung hat das offiziöſe Wolff—
{he Zelegraphben-Bureau gear—
beitet. Für jeden Kenner ber publi=
iftifchen Verhältniſſe ift das fo er—
aunlic, daß aud) wir erſt durd) das
Vorlegen zweier Wolffiſcher Originals
telegramme mit Lobeserhebungen, No=
tigen über die Fülle des Beſuchs,
Mahnungen, ja nod rechtzeitig zu
fommen u. f. m., gezwungen worden
find, e8 zu glauben.
Dermifchtes.
* Was uns von folden neuen
Kalendern befannt geworden ift,
die fi) vorzugsmeile an ein Publikum
wie das des Kunſtwarts menden,
fönnen wir heuer nur ganz kurz auf
zählen. Es tritt auch davon zum
eriten Dale nur der Oeſterrei—
chiſche Kalender* von Artaria
& Go. in Wien auf, der 4 Gulden
fojtet, aber auch ein Meines Pracht—
werk ilt. Jedes Kalenderblatt mird
von einer formenreichen und farbig
ausgeführten Tafel gebildet und hat
zur Seite eine Kompoſition ähnlicher
Urt, in der an Stelle des Stalenda-
riums ein Bild fteht. Nennt mar die
Namen Heinrich Leffler und Joſeph
Urban als die der Hünftler, fo wird
fihh der Leſer eine ungefähre Vorſtel—
lung machen fönnen vom Wie. Alles
Uebrige aus der Stalendermelt zeigt
uns in neuem Wusgehrod gute Bes
fannte. So der namentlidh für alle
Freunde künſtleriſch geitalteter Heral—
dit wirklich wertvolle „Mündner
Kalender“ der dortigen „Nationalen
Verlagsanftalt“ , fo die verſchiedenen
Lauterburgſchen Abreißkalen—
der „Schweizerbilder“ und „Bilder
aus Deutſchlands Gauen“ mit ihren
netten Anfichten auf jedem Blatt, fo
ber Langeſcheidtſche „Litera=
rifhe Abreißkalender“ (75 Pf.)
Der „Deutihe Frauen-Halender“
ME. 2.) von Anna Bauer bringt auf
edem Blatt ein Gedicht oder eine
Betrachtung, alio eine Anthologie, die
entfchieden nad) erniten Gefichtspunf-
ten ſehr bedadt und mit Geſchmack
und Geichid zufammengeitellt it. Auf
den neuen Jahrgang von Kürſch—
ners „Jahrbuch“ fei auch hier hin=
gerwiefen. Bon Kürſchners Geheim—
kunſt, Wiflensertrafte abermals einzu—
kochen, zeugt auch Die neue „Jahr=
buchs“⸗Auflage wieder glänzend: man
fauft da für eine Marf ein dreißig
fach beitilliertes Konverfations=Lerifon
in der Rocktaſche. Wir wünſchten aber
doch, Kürfchner beſcheerte uns neben
biefem „Jahrbuch“ nod eines von
minderer Knappheit, in größerem For—
mat, mit größerem Drud u. f. w.,
etwa zu 3 bis 5 Marf, wie früher
foldhe bei 3. I. Weber in Leipzig er—
ſchienen. Denn etwas derartiges, ein
gutes illuſtriertes Nachſchlagebuch
übers legte Jahr, für die einzelnen
Gebiete von Sadjverftändigen ver—
faßt, fehlt leider —— Weiſe
jetzt auf dem deutſchen Büchermarkt.
*Geiſt“ im Reichsſstage. Haft
du einmal als Schuljunge Räuber und
Indianer geſpielt, verehrter Leſer?
Dann erinnerſt du dich noch, wie ihr
lachtet, wenn der Klaſſenwitzbold bei
der Anführerwahl für den Feigſten
fimmte. Nun fiehit du, gerade fo
macht man’s im Hohen deutſchen
Reichstagel Bei der Präfidentenmwahl
ftimmt der Hauptfpaßvogel für Ahl-
wardt — das iſt doch zu komiſch:
„nroße Heiterkeit“ fteht im Protokoll.
ALS der erſte PVizepräfident gemählt
mird, ftimmt der Ungenannte mit dem
vielen Humor wieder für Ahlwardt —
nein, iſt das ein Wig: „itürmifche
Heiterkeit” jteht im Bericht. Und fo
mweiter fol derfelbe Scherz ſich
felber durch die ganze Bureaumahl,
und immer gibt's jchallende Heiterkeit
darüber. Wenn mir Räuber und Sol:
daten fpielten, durfte der Spaß nur
einmal gemacht werden, allerdings.
* Stein, ganz it der Druder-
teufel aus unfern fäjten und Re—
galen noch nicht ausgetrieben, mir
merden ihn meiter beihmören müſſen.
Diesmal fei ihm zu Truß erflärt, daß
der im legten Hefte vorgeitellte Lyriker
nidt Bergmann, fondern Benzmann
heißt, und daß Otto Erich Hartlebens
„Befreite* feine „Befreiten“, fondern
meijten® ohne Gharge, wenn mit mel-
der, dann aber im Offigiersrange find.
Und nun hoffen wir, daß der „innere
Krieg“ in unfrer Druderei enden und
aud) an dieſer Stelle verſtummen fann.
IX
Unsre Beilagen.
Als Mufikbeilage bringen wir diesmal ein Liedhen „Lenzknoſpen“ von
Engelbert Humperdind, unter Genehmigung des Verlags, aus dem ſo—
eben bei Breitlopf & Härtel erfchienenen Prachtwerk „Trifolium“,
Die Ten—
benz; nad) folden „Geſamtkunſtwerken“, worin ſich Poeſie, Muſik und dar
I. Januarheft 1899
ftellende Kunſt verbünden, tritt feit Klinger8 Brahmsphantafien immer häufiger
zu Tage. Humperdincks Weifen zu den harmlofen Liedhen Moriz Leiffmanns
find von einer bei dem berühmten Stontrapunttifer verblüffenden Einfachheit in
Sat und Modulation, aber ganz dem Charakter ber Gedichte entſprechend. Der
reihe Bilderfhmud rührt von Alexander Frenz her, dem befannten Illu—
ftrator des Ehamberlainihen Wagnerbuches. Zu einer eingehenden Beſprechung
ber Publikation liegt um fo meniger für uns ein Anlaß vor, als dieſe No—
tizen por allem anregen follen, fi mit den Büchern und Noten felber zu be-
ichäftigen. Das aber bejorgen im vorliegenden Falle Humperdinds Noten für
dasjenige Publitum, für welches diefes Trifolium überhaupt in Betracht fommt,
fiherlid am beiten.
Bon unfern Bilderbeilagen zeigt uns die erjte ein Bildnis Björnit-
jerne Björnfons von Franz von Lenbad. Es ijt einem Blatte jenes
großen Hanfſtänglſchen Lenbach Wertes nachgebildet, welches wir fon ange—
zeigt haben und auf das mir des Ausführlidern noch zurüdfommen wollen.
Als Beigabe zum Abdrud der Szenen aus Björnfons neueftem Werk wird es
unfern Lefern, fo hoffen wir, gerade heute beſonders willkommen fein.
Unfer zweites Blatt gibt eine Radierung des Karlsruher Walter
Conz wieder, nad) einem Blatt aus ber Mappe de8 Karlsruher Original-
rabiersVereind. Das Motiv ift dem Schweginger Park entnommen. Die köſt—
Iihe Ruhe, die gehaltene Größe diefer bildnerifhen Schilderung wirkt fo
natürlid) = jelbftverftändlih aus dem Bilde hervor, daß wir jedes weiteren
Wortes darüber enthoben find.
Unferm Verſprechen, gelegentlich wieder beſonders gute Ktunſtphoto—
gramme zu zeigen, fünnen wir ſchon heute genügen, indem mir ein Küſtenbild
Philipps von Schöller in Wien den Lejern zeigen. Dem „Berufsphoto-
graphen“ alten Schlages, aber aud; dem Amateur bisheriger Urt wäre dieſes
höchſt „undeutliche* Bild ein Greuel geweſen, dem maleriſch fehenden Photo=
graphen-ftünftler ift’8 eine Freude. Das ift Waffer dort unten, und darüber,
das ift mit Wafferdampf gefhmwängerte Luft! Daß die Schönheit des land—
ſchaftlichen Motivs auf das glüdlichjte gefehen und das Bild vortrefflicdh ab—
gegrenzt ift, fommt hinzu. Wir jehen bier eines der ftimmungsvolliten Licht»
bilder nad) der Natur, die bisher gefchaffen find.
Nod etwas ſchicken mir den Lefern mit, einen eigens für fie gemadjten
Wandkalender von J. V. Eiffarz, dem jo ſchnell zu Unfehen gelangten
Zeichner unfres Umſchlags und unferer Kopfleiite. Da ſich's hier um „Eigen=
bau“ handelt, haben wir über feinen Kunftwert nichts zu jagen. Leider mußte
das Blatt feiner Größe wegen zweimal gebrodhen werden. Zieht e8 aber ein
Buchbinder bald auf, jo ſchwinden die Bruchlinien bis zur Unfichtbarfeit.
Inhalt. Wohlwollende Mritit. — Bom modernen Drama. Bon Leonb. Lier.
— Muſikpflege im Mitteljtande. 1. Von Rihard Batka. — Kunftpflege im Mittels
itande. XI, Bon Paul Schulge-Ntaumburg. — Lofe Blätter: Aus Björnftjerne
Björnfons „Paul 2 und Tora Parsberg“. — Rundihau. — Bilderbei-
lagen: Franz von Lenbach, Bildnis Björnitjerne Björnfons. Walter Conz, Im
Schloßpark. Philipp von Schöller, Kunjtphotographie. — Notenbeilage: Lenz—
fnofpen. Bon Engelbert Humperdind.
Derantwortl. : der Herausgeber $erdinand Avenarins in Dresden:-Blafewig. Mitredafteure: für Muftt::
Dr. Rihard Batka in Prag-Weinberge, für bildende Kunf: Paul Shulge-Haumburgin Berlin,
Sendungen für den Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr. Batka.
Derlag von Georg D. W. Lallwer. — Agl. Hofbuchbruderei Kaftner & Coſſen, beide in Mänden.
Beftellungen, Anzeigen und Beldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Lallwer in Mänchen.
FRANZ VON LENBACH
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
— — — —
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Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
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ENGELBERT HUMPERDINCK.
GESANG.
46188
Breitkopf & Härtel in Leipzig.(Vgl
vorbehalten
Alle Rechte
Verlag von GEORG D W. CALLWEY, München
"Aus, Trifolium‘ Mit Bewilligung des Verlages
hiezu den Text im Hauptblatt.)
und Klin-gen ist
Glanz
Dass
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Jauch - zen
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Stich y. Druck v OscarBrandstetter, vorm. FW Gareracht , Lolazig .
45158
— Mit Bilder⸗ und Noten-Beilagen
Bezugspreis 2'js Mark vierteljährlich. Ein einzelnes Heft 50 Pfennige.
Dichtung, Theater, —
und bildende Künste.
berausgebert
Ferdinand Avenarins. |
„EEE Georg D.TW.Callwey in /Düncen.
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zefeint jahrlich 24 mal in von 52 Seiten (je zu Anfang und Mitte des Monats, .
- _ Der Ubonnementspreis beträgt AR. 2.50 für das Dierteljahr.
Einzelne Hefte Foften 50 Pfg.
Alle Buchhandlungen und Poftanftalten, fomwie die unterzeichnete Derlagshandlung nehmen
Abonnements-Beftellungen entgegen. Probebefte unentgeltlich und poftfrei von der Verlagsbuch ·
handlung: Georg D- WI. Callwey in München.
Vachdruck fämtliher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter” und der Beilagen
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlanat eingefandte Manuffripte wird feine Gewähr
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nur wenn Rüdporto beilag.
Paris 1889, G 1889, 3 Brüssel 1891. Wi 1891, —
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Gedächtnis.
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"Fa ae he ogle
Münde
12, Fand.
bett 8.
Zweites Januarbeft 1899,
DEN TUDSTTART
Das Tbema vom Glück in der Dichtung,
Immer und immer wieder unterliegen die Dichter, und zwar die
echten am ehejten, der Verſuchung, einmal das reine fonnige Glüd zum
Hauptvormwurf einer Dichtung zu wählen. Und immer und immer wieder
ergibt fich ftatt des erjehnten goldenen Reichtums: Niedlichkeit, Spiel,
Süplichkeit, bei etwelcher Ausführlichkeit: Einförmigkeit und Dede, mithin
Unlesbarfeit. Anders angefhaut und ausgedrüdt: e8 will und kann
nicht gelingen, das AZufriedenheitsgedicht, alfo das Idyll, in höhere Ge—
biete und in größere Formen zu erheben.
Darum nun nit? Warum follte ein Zuftand, den die dichtende
Seele erjehnt, der nämliche Zuftand, der, in der VBergangenheits- oder
Zukunftsform geichildert, ergreifende Poeſie erjten Ranges zeugt, nicht
wert und fähig fein, dem Dichter ald Hauptgegenftand zu dienen ?
Sadlide Gründe, wie man fie hiefür hat angeben wollen, Ernit
des Dajeins, Kampfespflicht, Unmahrheit des Glüdes auf Erden und
dergleichen, halten der Prüfung nicht Stich, da der Maler, welcher doch
auf der nämlidhen Erde wohnt, dem Glüdsthema die allerherrlichiten
Zriumphe verdankt, mie vornehmlich die venezianishe Schule bemeift.
Angenommen alfo und auch zugegeben, das Glüd wäre hienieden bloß
als feltene Inſel zu finden, jo ift damit noch nicht erklärt, warum die
Dichter nicht die Inſel hervorfuchen und ex professo ſchildern jollten.
Der Grund ift vielmehr rein formaler Natur: die Dichtkunft wirkt
ja mit Handlung, oder zum mindeiten mit Bewegung, das Glüd aber
befagt einen Zuftand, Zuftand aber ift da8 Gegenteil von Handlung
oder Bewegung. Darum kann das Glück bloß berichtet, etwa zur Not
auch probemweis in einer einzelnen Ausfchnittsjzene vor Augen geftellt,
nicht aber ex professo, al3 oberjtes Ziel eines größeren Wertes mit
organiicher planvoller Arbeit gefaßt werden, darum erledigt Homer das
Kalypſo- und Kirkeidyll in wenigen Zeilen, darum behandeln die italie=
nijchen Epifer das jchönheitsfunfelnde Motiv der Alcinen und Armiden nur
epifodisch und gegenfäglih, darum endet der typiiche Liebesroman mit
Kunftwart 2. Januarheft 1599
— 257 —
dem Augenblide, da die Handlung abſchließt und der Zuftand beginnt,
mit der Hochzeit.
Mas der Gedanke errät, und die Literaturgefchichte lehrt, beftätigt
die tägliche Erfahrung. Nehmen wir den Fall, und der Fall ereignet
fihh wohl häufiger als man vermuten follte, ein Dichter nähme fich
wirflih vor, in einem großangelegten Werfe die Glüdspuntte, die ihm
ja gleich dem Maler in der Konzeption als Glanzpunfte vorjchmeben,
nun aud) zugleich al8 Hauptpunfte anzuftreben, alfo ihnen ungeſchmälerten
Raum und vollen Akzent zu gönnen. Was geichieht? Bor allem werden,
mährend der Handlungsteil des geplanten Wertes fich kraft der inneren
Logik gerne zu natürlichen Gruppen aufbaut, die Glücks- und Glangteile
ungeordnet, in chaotiſchem Gefunfel Liegen bleiben, ohne der Phantafie
einen Keimkern, ohne dem Geift ein vorn oder hinten Ddarzumeilen.
Screitet er dann zur Ausführung, To wird er gewahr, daß zur Be-
arbeitung des Glanzteil3 ganz andere, und zwar minderwertige Aufgabeır
an ihn herantreten, als zur Bearbeitung der Handlung und Bewegung,
nämlich die rhetorifchepoetische Aufgabe der Befchreibung, im welcher ftatt
der Geſtaltungskunſt die Redekunſt das Gejeg vorjchreibt. Je mehr aber
einer Dichter ift, deito unmilliger wird er fich diefer untergeordneten und
fremden Aufgabe unterziehen. Endlich, wenn beides gethan ift und der
Berfaffer auf feine Arbeit prüfend zurüdblidt (nicht mit den Augen,
fondern mit der Phantaſie natürlich), fiche da taucht die geitaltete Handlung
groß und einfach im Gedächtnis auf, während die außgefertigten Zuſtands—
ſzenen troß aller Arbeit noch jo flach und chaotiich vor der Erinnerung
gligern, wie zuvor. Denn was nicht phantafierbar ift, iſt auch nicht
erinnerbar. Die goldnen Zuftandsigenen bilden jett glänzende Flecken
im Gedicht, mit einem Wort: fie find Fehler, fie können in foldher Aus—
dehnung nicht geduldet werden.
Nehmen wir nun den weitern Fall, und diefer Fall tritt unter
folden und ähnlichen Umſtänden bei jedem gemiljenhaften Künſtler ein,
der Dichter beginne an der Hand der gewonnenen Einficht von neuem,
diesmal mit dem beitimmten Willen, die Handlung unerbittlich überzu—
ordnnen, umd nur joviel von dem Sonnengolde zu geben, als jene erlauben
wird. Dann fommt 08 unabwendbar dahin, da die Handlung alles andere
bis auf den legten Reit auffrikt, ſodaß der Dichter Ichliehlich froh fein
muß, wenn er für das, was er anfänglid) als Hauptiahe bringen
mollte, einige Zeilen oder, wenns hoch fommt, eine Epifode erübrigen
fann. Diefe mwerden dann freilih um jo beſſer gelingen und um fo
prächtiger funfeln. Das Exempel ift alſo auch durd) die Umdrehung
bemieien.
Etwas ganz anderes iſt der Glüdseindrud, den em Kunſtwerk
auf den Genießenden madt. Diefer Eindrud it unabhängig von der
Stimmungsfarbe der dargeftellten Dinge, und beruht auf anderen Fak—
toren. Die Jlias, die Odyffee, der rajende Roland 3. B. machen den
Gindrud des Glüdes, obichon in der Ilias und im Roland Ein—
gemweide und Köpfe nur jo umberfliegen, was gewiß an fi nicht Glück
bedeutet, und obſchon die Odyffee eine recht Schwarze Weltanſchauung be—
fennt und die Helden darin beitändig heulen und greinen wie die Klage—
weiber. Was Hier und überall in der Kunſt den Eindrud des Glüdes
bewirkt, das ift die Lebensfülle, die Lebenskraft und der Lebensmut der
Kunftwart
2 —
Handlung, die Phantafieluft, der Reichtum der Geichehniffe u. f. m.,
und nicht zum mwenigften auch die vielfeitige Kunſt des Dichters. Reich-
tum und Geftaltungsfraft des Dichter verbunden mit Größe und Fülle
des Stoffes, das ift der einzige Weg zu einem glüdftrahlenden Wert.
Ein Ummeg allerdings. Allein einen direkten abkürzenden Fußweg zum
Glück gibt e8 für den Dichter nicht. Karl Spitteler.
CARS
Für die gute Familie,
Ja, warum ſoll's feinen Kamilienroman geben, feinen Roman, an dem
Eltern, mohlergogene Söhne und Töchter gebildeter Familien bei gemeinfchaft-
licher Lektüre eine reine Freude haben fünnen? Der große Poet wird ihn
zwar ſchwerlich fhreiben; ihn loden die tiefgründigen Probleme, die tragischen
Konflikte, große Charaktere und große Leidenschaften, aber die Literatur wird
nicht bloß von den großen Poeten gebildet, die viel zahlreicheren Heinen ge—
hören auch) dazu. Und deren Gebiet ift doch wohl vor allem das der Alltän-
lichkeit mit ben gewöhnlichen Menſchen, bie darum noch nicht gemöhnlich im
ſchlechten Sinne zu fein brauchen, die fehr brav und tüdtig fein und auch
ihre Schidfale haben können, feſſelnde Schidfale.. Wie der Familienroman in
Deutichland in Verruf gelommen, weiß jedermann, er ward Familienblatt-
roman, fhablonenhaft, fhönfeligeunmahr, falfcheidealiftiih und fentimental,
mit einem Wort: er heuchelte. Da mußte ein Umſchwung fommen: wir er—
hielten den naturaliftiihen Roman, der düſterbrutal, kleinlich, gemein und
aulekt aud) wieder unwahr ward. Der Durchſchnittsmenſch ift fein Engel, aber
auch kein Tier. Am beiten kommt man der Durdfchnittsmelt gegenüber mit
dem verföhnliden Humor und mit der heiteren Ironie zurecht, und das war
das Geheimnis des Erfolgs Wilhelm Raabes und Theodor Fontanes, Die
ja große Talente, aber doch nicht eigentlich große Dichter, Leidenſchaftspoeten
find. Nun treten auch wieder fleinere Talente auf, die begriffen haben, daß
die erfreulichere Seite der Alltäglichleit genau fo viel Anrecht auf Darftellung
hat wie die ımerfreuliche, daß man, wenn man die Nachtfeite der Welt nicht
in der Tragödie zur mwudtigen Erſcheinung bringen fann — und wer von ben
Naturaliſten fonnte das? — befjer thut, die Sonne über Geredhte und Ungerechte
fcheinen zu laſſen. Es ift ja viel Shmuß in der Welt, in den Dienfchenfeelen,
aber doch aud; mandjes, was man nad) dem Haffifhen Wort als reinlich
und zweifelsohne bezeichnen darf.
Zu den Talenten, die unfern Roman wieder reinlich und zweifelsohne
machen und ihm das gute Familienpublitum zurüderobern mödten, gehört
u.a. Ernit Muellenbad, der früher unter dem Namen Ernft Lenbach fchrieb
und im Kunſtwart ſchon öfter erwähnt worden ift. Wir wollen ung einen
Roman von ihm hier etwas näher betrachten, nicht fomohl, um über das
Talent des Verfaflers ins Klare zu fommen, mehr, um die Technik eines
befferen modernen Durchſchnittsromans kennen zu lernen. Der Roman ift bei
Reißner in Dresden erfchienen, heißt „Waifenheim“ und fpielt in einer Unis
verjitätsftadt, wohl in Bonn; er begimnt mit der Schilderung jonntäglichen
Kaffeehausfebens und madt von Tarrifterender fatirifher Darſtellung fofort
Gebrauch, wird aber fhon im zweiten Kapitel ernft und läßt uns deutlich
2. Jannuarheft 1899
- 29 —
erfennen, worauf der Verfaffer hinaus will. Alſo, es it Tendenz da? Welcher
moderne Roman wäre ohne Tendenz! Der alte Abenteuerroman, der bunte
Begebniffe luſtig aneinanberreihte und eine herzliche Freude bes Verfaſſers
an ber Fülle des Lebens zeigte, ift Tange tot, unfere Romandichter wollen
alle etwas bemweifen oder widerlegen, ſelbſt wenn fie tun, als gäben fie ganz
unperfönlicdhe documents humains — reine Daritellung fennt man da nicht mehr.
Muellenbach alfo jchreibt feinen Roman nicht bloß für, fondern aud) im In—
terefje der guten Familie; er will nachweiſen, daß diefe beſſer iſt als ihr Ruf.
So bringt er als Helden einen mwelifremden Dr, phil, der feine Anſchauungen
über die moderne Gejelihajt und das moderne Weib zunächſt aus den
römischen Satirikern, Dann aber aus „ganz modernen Büchern zumeift in gelben
Umfchlägen mit rotem Aufdrud, franzöſiſch oder deutſch, die er in befonderer
Schublade verwahrt und nur lieft, wenn er ganz allein ift“, geſchöpft Hat.
„Haft alle diefe Bücher“, fchreibt Muellenbad, „ipielten in modernen Große
ftädten, ihre Helden und Heldinnen bewegten fi in der modernen »guten Ge—
felfhaft« und boten von dieſer ein betrübendes Bild; denn Die Heldinnen,
welche zumeift alle fünfzig Seiten einmal defolletiert oder im Negligee erſchie—
nen, liefen fi der Regel nah von intereffanten Herren in Geſellſchaftstracht
zu den jhändlichiten Dingen verführen. Die Verfafler fhilderten das jo fühl,
als ob fie felbft zugegen und nicht im mindeften über etwas fo Uebliches verwun—
bert geweſen wären; aud) befannten fie fid) ausdrüdlic) als Wahrheitsichilderer,
bie fein Verdienſt beanfpruchen, als die Welt zu ſchildern, wie fie wirklich ift.“
Hat man diefe Stelle gelefen, fo iſt man im flaren. Der Held verliebt ſich
dann in eine Tochter des Volkes, die ihm bildungsfäbig erfcheint, und verlobt
fih mit ihr; fie ift aber früher jo etwas wie eine Stubdentenliebfte, wenn
aud nicht im böfen Sinne, gemejen, und als der brave Doktor das erfährt,
verunglüdt er. Doch wird er gerettet, fein Kätchen fommt in die gute Schule
einer jehr edlen vornehmen Dame, nad) deren Stiftung der Roman „Waifen=
beim“ beißt, der Doltor kriegt die richtigen Anfihten über die moderne Ge—
felfhaft und das moderne Weib und das Ende wird gut. Neben dem bildung-
beuchelnden Käichen ſteht ihre naive Schweſter Franziska, bie gefunde Volks—
natur, die ji einen poetifierenden Stulfateur zu einem vernüftigen Dann
erzieht. Uus den höheren Streifen lernen wir gleichfalls zwei fontraftierende
Paare fennen, einen trefflihen jungen Arzt, der ein fehr Schönes und warmherziges
reiches Fräulein heiratet, danı einen Kaufmann, der etwas Lebemann ift und
feine fühle Koufine heiraten foll, die wejentlid; nur als fog. gute Erziehung
ericheint. Zwei edle, vornehme Typen, die ſchon genannte Dame und ein
Profeſſor, ſowie zwei ziemlich bösartige Weiber aus dein Volle vervollftändigen
bie Geſtaltenreihe des Nomans. Die Gefchichte felbjt verläuft fo einfach, daß
ich fie nicht weiter zu erzählen brauche, das Milieu ift hinreichend, aber nicht
minutiöß gegeben. Alles in allem lieſt fich der Noman angenehm, ergriffen
und gepadt freilid) wird man nirgends, und der genauere Kenner bes Bolfes
empfindet dod) immer wieder, dab Muellenbach e8 zwar gut beobadtet hat,
aber dod) nicht recht kennt. Sein Humor ift immer nod) zu fehr der alte
fhlimme Humporesfenhumor,
Weshalb ich mich mit diefem Romane, der augenscheinlich alſo nicht be=
beutend ift, fo lange abgebe? Zunädjft, weil feine Anlage fo Har if. Man
fann mit ziemlicher Beitimmtheit behaupten, dab er einen „gedanklichen“ Urs
fprung hat, daß, wenn nicht eine Tendenz, jo doch die Abficht, die Bedenklichkeit
der Heiraten zwiſchen Gebildeten und Ungebildeten barzujtellen, dns Werk
Kunfwart
— 260 —
geboren hat. Wahrſcheinlich hat Muellenbah auch ein Paar mie ben
Doltor und jeine Käthe gelannt, aber ſicher Hat ihn der Verftand, nicht bag
Herz zur Daritellung getrieben. Und ber Beritand ließ ihn dann aud) das
Mittel des vierfahen Parallelismus wählen. Nicht mehr da8 eigene Erlebnis,
das große, die Phantafte erfüllende Ereignis regt ben heutigen Romanfchreiber
an, er will etwas darthun. Man kann vielleicht fagen, daß fogar der moderne
Dichter meift das will. Und hier, glaub’ ich, ftedt die große Schwäche ber
modernen Poeſie. Weiter möchte ih doc der Unfhauung Muellenbachs und
vieler anderer, als ob die „moderne Wahrheitsfunft” ohne den lintergrund
realer Vorkommniſſe geihaffen, alfo gleichfam gelogen oder doch übertrieben
habe, entgegentreten. Eine fo gewaltige Literatur, mie e8 die naturaliftifche
ift, wenn man bie Leiftungen der Ausländer einſchließt, entfteht nicht aus dem
Nichts, wird nicht beliebig von ben Schrijtftellern hervorgerufen, ſondern ift
immer natürliches Zeitgewächs. Unzweifelhaft gibt es defabenzfreie Sreife,
unzmeifelhaft find die unteren Klaſſen ebenfomwenig frei von Raftern und
Schwächen wie die oberen, ſicherlich ift vielfach in pejorem partem bargeftellt
worden — das alles ift aber fein Grund anzugmweifeln, daß bie Dichter unferer
Beit für ihre Darftelungen das nötige Subjtrat in der Wirklichkeit haben.
Die Dihter wohlverftanden, die, mögen fie aud; bemußter als vielleicht gut
auf ihre Aufgabe losgehen, doch wie die Apoftel ftets ihrer Natur nad) von
dem berichten müffen, „was fie gefehen und gehöret Haben“ — die Senſations—
fchriftiteler gebe ich ohne weiteres preis. Was aber im Befonderen bie „gute
Familie“ anlangt, fo fpielt die gefellfhaftlihe Heuchelei bei dieſem vielver-
wenbeten Begriff eine fehr große Rolle. Ich wenigitens habe noch feine gute
Familie gefannt, die nicht auch ihr mauvais sujet gehabt hätte, und ic) glaube,
dab jeder Menſch, der einige Erfahrung hat, ähnlich ausfagen wird. So liegt
eine gemifle Gefahr in der Tendenz aud) des Muellenbadiichen Romans, ob=
ſchon er recht hat, gegen bie voreingenommene Verurteilung der höheren Klaſſen
und die Verhimmlung des Volkes aufzutreten. Wir Wilden find nicht immer
beſſere Menſchen. Adolf Bartels.
ge
ER
Das Konzertwesen der Gegenwart.*
Eine fozialemnfifalifhe Studie.
Die Trennung zwiſchen Künjtler umd Dilettanten war in der Zeit der
Haffiichen Muſikepoche noch eine Strenge. Den Mitgliedern ber Geſellſchaft galt
die Bethätigung ihres mufifalifhen Könnens Tediglid als Erholung und Er—
bauumg, und nur fomeit als ziemend, als feinerlei materielles Intereffe daran
gefnüpft war. Der Künſtler aber ftand außerhalb der Geſellſchaft. Denn feine
Beziehungen zu ihr waren ausſchließlich auf feine muſikaliſche Wirkſamkeit
beſchränkt.
Dieſe ftrenge Abſonderung mußte ſchon durch Die Umwälzung ber ſozialen
Verhältniſſe ſeit dem Ausgang des vergangenen Jahrhunderts fallen. So
*) Wir falten diefen Aufſatz, der vielfach eine Ergänzung der einleiten-
den Morte zu unferer Urtifelreihe über „Mufitpflege im Mittelftande* bildet,
abfichtlidh Hier ein, ehe wir dieje Folge fortfegen. Sein Verfaffer ift ein hoch—
angejehener Berliner Muſiker.
2. Januarheft 1899
u —
langſam aud), insbefondere in Deutſchland, die Vorurteile der Standesunter-
fchiede fi verminderten, ganz fonnte doc die Bewegung, die von Frankreich
ihren Ausgang genommen, nicht unbeadtet bleiben. So erfolgte ſchon zu Be—
ginn dieſes Jahrhunderts eine Annäherung zwiſchen Hünftler und Geſellſchaft.
Zu einem vollftändigen Ausgleich aber trug die Entwidlung, die fi in der
Kunft felbjt vollzog, das Wefentlichite bei. Die formale Schönheit des Klaſſi—
zismus erfuhr duch Beethoven eine engere Verknüpfung mit dem ſeeliſchen
Leben des Menſchen, die Romantik führte die Muſik der Aufgabe zu, die mannigs
fachſten Vorgänge und pſychologiſch komplizierte Stimmungen zu fdhildern.
Der Muſiker bedurfte nun eines reicheren Wiflens, eines erhöhten geiftigen
und feelifhen Vermögens. Diefe breitere Grundlage feines Schaffens näherte
ihn auch fozial den Gebildeten feines Stammes. Er wurde ihnen geiftig gleich—
geitellt, und die Schranken einer bisher berechtigten Boreingenommenheit mußten
aud) aus diefem Grunde zufammenfinfen. Diefe Entwidlung fam füglich nun—
mehr dem Stande als ſolchem zuitatten. Der Künſtler ftand nun nit mehr
außerhalb der Geſellſchaft. Auch die ausübenden Mufiler begannen an dieſem
Vorrechte teilzunehmen. Paganini, der Geiger, und Liſzt, ber Klavierſpieler,
gehörten zu ben Lieblingen der europäifchen Gefellfchaft. Und bie Rückwirkung
auf diefe konnte nicht ausbleiben. Die Befhäftigung mit der Mufif blieb nicht
mehr auf das Dilettieren befhränft. Immer zahlreicher jtellten auch die Kreiſe
der Gebildeten und der Wohlhabenden zünftige Muſiker.
Diefer Vorgang mußte der Mufil und ihrer Pflege zum Vorteil gereichen.
Denn er knüpfte die Beziehungen zwiſchen ber Muſik und ben anderen Hünften,
ſowie zur Literatur, zwiſchen Mufilern und Gebildeten immer enger. Der ſtreis
der Mufittreibenden wurde immer größer. Je mehr das Unfehen des Mufilers
wuchs, je gefelliger er in die Beziehungen ber Geſellſchaft eintrat, befto nach—
haltiger mußte fein Einfluß aud auf die geijtigen Beftrebungen der Zeit fein,
dejto zahlreicher wurden die Mufifliebhaber und Dilettanten. Unterftügt wurde
Diefe Bewegung durch den unermeßlichen Auffhmwung der beutfhen und fran—
zöfifhen Hausmuſik feit den vierziger Jahren des Jahrhunderts. Diefe herr—
lihe Klavier- und Liedermuſik ermöglicht Thon dem Einzelnen, fih und ben
Seinen einen Genuß zu bereiten, während im vergangenen Jahrhundert erft
die Vereinigung von wenigstens drei Perfonen zur ſammermuſik bie befchei-
denfte Form des Mufizierens darftellte. Denn das Lieb ftand noch beſcheiden
im Hintergrund, Schuberts Lyril begann erjt in den fünfziger Jahren allgemein
befannt zu werben, und das Sllavierfpiel wurde mit und nad) Beethoven die
wichtigſte Kunſtbethätigung des Dilettanten. Mit diefem Aufſchwunge der
Hausmufif wurden auch ben größeren Stonzertvereinigungen, den Ghor= und
Ordejtervereinen, ausübende und zuhörende Teilnehmer zugeführt. So ent—
ftanden, gerade auf beutfhem Boden, eine große Anzahl von Dilettanten-
Ehören und Berufs-Orcdheftern, denen ihre Aufgabe, die Werke unferer Groß—
meister auszuführen, erft Durch die engeren Beziehungen der Mufiler zur Ges
ſellſchaft und die allenthalben gepflegte Hausmufit ermöglicht worden ift. Das
deutſche Konzertleben ift nit mehr von ber Gunft einiger reihen Familien
abhängig, e8 wurzelt in dem Bebürfnis aller Gebildeten. Aus ber ariftolra=
tiihen Vergnügung ber alten Zeit ift eine demokratiſche Inftitution gemorden.
Sowie fich der Uebergang aus der Ordnung der abfolutijtifchen Zeit in
bie Gefellichaftsform der Gegenwart nicht vollgogen Hat, ohne die Schwächen,
die dieſer, wie jeder menſchlichen Einrihtung anhaften, zu Tage zu fürbern, fo
find aud mit dem Umſchwung der ſozial-muſikaliſchen Vechältniſſe erhebliche
Kunijtwart
= 2 —
Mikftände verbunden gemejen. Mit dem Auslöfchen der Vorurteile gegen den
Stand als ſolchen, mit der jteigenden Achtung vor dem Mufiter, bie jih auch in
erhöhten Einnahmen und bejfer geficherter Lebensftellung äußert, wurde auch
bald der Zudrang zum Studium dieſes AKunftzweiges ein beträdhtlicher. Die
Virtuofen waren bald angejehene und gern gefehene Mitglieder der Geſellſchaft
und famen bald in die Lage, auch peluniäre Erfolge zu verzeihnen. Lifzt
war wohl der erjte, der unternahm, feine Hörer ohne Hilfe anderer Künſtler,
lediglich durd) den Zauber feiner Klavier-Vorträge zu fefleln. Auf votalem Gebiet
folgte ihm in den fünfziger Jahren Julius Stodhaujen, der mit dem Vor—
trage Schubert: und Schumannſcher Lieder zuerft in Paris, danır in Deutſchland
und England fein Programm ausfüllte. Bald fanden fie berufene und unberufene
Nahahmer. Den unermeklichen Einfluß diefer Künftler auf die ausübende Kunft
verfenne ic nicht. Aber dab ihr Borgehen den Unfto gegeben gu dem Ueber—
handnehmen des virtuofen Elementes, zu dem ungefunden Ueberwiegen der aus—
übenden Kunſt über die fchaflende, ſcheint mir unverkennbar. Nur allmählich,
aber jtetig, wuchs dieſe Probuftion. Noch in den fiebziger Jahren hielt ſich das
öffentliche, virtuofe Mufizieren in beicheideneren Grenzen. Mit dem Jahre 1880
begann, befonders in Berlin, jenes Uebermaß von Veranstaltungen, gegen das
die Prejje in jedem Jahr anzulämpfen für geboten eradjtet, während fie e8
doch immer wieder durch Beſprechungen in ihren Spalten fördert.
Diefe eigentümliche Erſcheinung liegt in der Stellung begründet, welche
die Muſik im Leben der Gegenwart einnimmt. Nachdem jedes Haus, in dem
gute Sitte und Verftändnis für geiftige Dinge heimiſch ift, die mufifalifche
Erziehung als einen mejentlihen Zeil des pädagogiſchen Bildungsftoffes
anfieht, iſt das Bedürfnis nad geeigneten Lehrkräften ins Ungemefjene ges
wachſen. Unjere Konfervatorien arbeiten ja hauptfählic an der Förderung zum
Lehrberuf geeigneter Sträfte Nur ftreben natürlid dieſe jungen Leute nad)
einem höheren Ziele, als, lediglich die Elemente der Kunſt zu ehren. Sie
fehen eben den einzigen Weg, vorwärts zu lommen, in dem erbrachten Bemeife
eigener Künſtlerſchaft. Dann gehen fie in die Deffentlicgkeit und ftellen fi) dem
Urteil der großen Stadt und ihrer Fritif. Wirken fie in einem kleineren Gemein—
weſen, fo foll ſchon die Thatſache des Konzertierens in einer großen Stadt ſelbſt
ihr Anfehen heben, und die einigermaßen günftige ober nur wohlwollende Beur—
teilung eines Teils der Stritif der großen Stadt befeftigt ihre Stellung weſent—
li. Gehören fie aber der großen Stadt jelbjt an, in der fie fonzertieren, fo
wird ihr Freundes und Verwandtenkreis eingeladen und bewundert die Leiſt—
ungen des jungen Stünfilers. So erweitert er feinen pädagogifhen Wirfungs-
freis. Abfällige Urteile der Preſſe werden als bösmillige oder unverftändige
bezeichnet. Diefe lehrenden Elemente überwiegen unter den Konzertanten. Erſt
in zweiter Neihe jtehen diejenigen, die in Ausübung ihres eigentlichen Berufes
mufizieren. Seitdem aud) die kleinen und kleinſten Städte Konzertvereinigungen
befigen, ift der Bedarf nad) Sängern und Inftrumentalvirtuofen natürlich
gewachſen. Die Dirigenten diefer Vereine haben nun meijt feine Verbindung
mit den befannteren Lehrern ber großen Städte. Sie verfolgen ben Verlauf
ihrer Konzerte und lefen die Berichte der Zeitungen. Auf Grund diefer In—
formation wenden fie fih an die Ugenten. So find bie jungen Künſtler,
welche auf Engagement in Hleineren Städten rechnen, zu fonzertieren gezwungen.
Grit der Ausweis eines glüdlidy bejtandenen Eramens vor dem muſikaliſchen
Areopag der großen Stadt befähigt fie zu Beziehungen mit den Bereinen der
fleineren Städte.
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- 23 —
E8 bedarf nun zunächſt die Frage einer Beantwortung, ob diefe Unzahl
von Eingellonzerten dem gefamten Mufifleben in der That nadteilig fei.
Sicherlich. Zunächſt wirken diefe überwiegend mittelmäßigen Vorträge auf den
Gefhmad der Hörer ungünftig. Bei diefer Flut von Mittelmäßigfeit und
Impotenz verwirrt ſich das Urteil des Laien, verwildert Die Pädagogik. Ferner
tft die mwirtfchaftliche Seite der Sache nit außer Acht zu Tafien. Die Zeit
der muſikaliſchen Kreife ift im allgemeinen ebenfo genau eingeteilt, wie ihr
Etat. Hält fi) ber pater familias für verpflichtet, das Stonzert des in feinem
Haufe untermeifenden, oder in anderer Beziehung ihm naheftehenden units
jüngers zu befucdhen, fo muß er auf die Gaben eines guten und bewährten
Künftlers verzichten. Iſt es nicht für das Stonzertleben Berlins bezeichnend,
daß Beranftaltungen eines b’Ulbert und Risler, eines Scheidemantel und Feliz
Kraus, ber entzüdenden Marcella Preggi vor leeren Bänken vor ſich gehen?
Dak die Vortragsabende unferer größten Dteifterin, Amalie Joahim, von
denen unfere junge Generation lernen jollte, nur ſchwach beſucht find?
Id kann nicht umbin, an diefer Stelle bes Ugentenmwefens zu gedenken.
Mit der Vermehrung der fünftlerifchen Produktion erſchienen gewandte Geſchäfts—
leute auf bem Plan, welche die Vermittlung zwiſchen Angebot und Nadjfrage,
gleihfam als Zwiſchenhändler, übernahmen. Die VBereinsleiter wenden ſich an
den Agenten, der ihren Wünſchen entſprechende Vorſchläge macht, und das
Engagement abjließt. Für jeine Mühemwaltung erhält er einen Prozentfag
des Honorard. Er arrangiert dem Künſtler ferner Tourneen gegen diefe
Art der Thätigkeit, Täbt fih fügli nichts einmwenden. Erleichtert fie doch
dem binlänglid in Anspruch genommenen Künſtler die Mühe des Organifierens.
Nun kann fi) aber der Agent auf den Abſchluß ſolcher Geſchäfte allein nicht
beichränten. Die große Anzahl junger Künjtler, noch ohne Ruf und Namen,
ſucht ihn auf und erbittet feinen Rat. Der Kaufmann und der ehrliche Menſch
müſſen bier nicht felten in Konflikt geraten. Stellt fi der Agent lediglich
auf den Standpunft des Gefhäftsmanns, ber fih einen Gewinn nicht entgehen
laſſen darf, jo muß er zu dem Wagnis eines öffentlichen Konzertes anjpornen,
von dejien Ausfall die Zukunft des Neulings abhängt. Dann ijt er jedenfalls
einer Provifion fiher. Ueberwiegt aber feine redlidhe Gefinnung, jo wird er
in ber Mehrzahl der Fälle von diefem Schritt abraten. Ih glaube zuverficht-
lich, daß unfere Agenten, wenn fie um ihre fünftlerifche Anficht befragt werden,
materielle Intereffen Hintenanfegen, und den Weifungen ihres Gewiſſens folgen
werben — folange ſich's ihnen eben nur um einen lucrum cessans, um einen
entgehenden Gewinn handelt. Anders aber, wenn fie fich felbit der Freiheit
ihrer Entfhließung beraubt haben. Und diefer Fall liegt vor, wenn ein Agent
felbjt Eigentümer eines Saalgrundjtüdes ift. Wenn er darauf angemiefen ift,
die Zinfen dieſer fapitaliftifhen Anlage zu erwerben, jo muß er darauf be—
dacht fein, will er nicht empfindlih Schaden leiden, fo viel Konzerte als
möglid) zu bemwerkitelligen. So trägt er weſentlich zur Berihlimmerung
eines Zuftandes bei, der von allen Beteiligten als unwürdig und ſchädlich
empfunden wird.
Iſt ein fogiales Uebel einmal erfannt, jo pflegen Vorſchläge zu feiner
Belämpfung bald bei der Hand zu fein, welche theoretifch begründet, in praxi
zumeift als undurhführbar ſich herausjtellen, weil zu ihrer Verwirklichung
ftarke und einflußreiche Faltoren gehören, zu deren Einigung e8 an einer
führenden Macht gebridt. Wo der Staat einzugreifen nicht berufen ift, kann
nicht der Einzelne, jondern nur die Bereinigung der Beteiligten helfen. In
Kunftwart
— 28 —
unferem Fall wäre in eriter Linie der Lehrerftand berufen, für eine ver-
nünftige Verminderung des ausübenden Mufiferftandes Sorge zu tragen. Ein
engeres Zufammenfhließen aller Pädagogen müßte die Würde und den Wert
des Standes heben. Gine ſolche Vereinigung würde dann aud eine Inſtanz
für die lehrende Thätigleit des Einzelnen bilden. Leider ift bei unfern heutigen
Verhältniffen der vollftändigen Lehrfreiheit, die Jedem ohne Nachweis feiner
Fähigkeit geftattet, fi) ein mufifalifches Lehramt anzumaßen, auf eine nähere
Beziehung diefer heterogenen Elemente nicht zu reinen. Solange unfere Lehrer
fih nicht al3 Mitglieder eines Standes, fondern immer nur als Individuen
fühlen, werben fie auch den Maßſtab der Beurteilung ihrer Fähigkeiten nur in
ſich ſelbſt ſuchen, und nur bei wenigen Auserwählten fann das genügen. Die
Konfervatorien allein können diefe notwendige Fühlung nicht herjtellen. Diefer
durch die Verhältniffe gebotenen Jfolierung entfpringt vielfach jene Sorglofig-
feit, mit der fie den Schüler untauglid) oder unreif in die Deffentlichkeit ftellt.
Eine Organifation des Lehritandes würde den Eifer des Einzelnen erhöhen,
feine Gemiflenhaftigfeit und das Gefühl feiner Verantwortung fhärfen.
Erſcheint ein Eingreifen von diefer Stelle in vorausfehbarer Zeit aus—
geſchloſſen, ſo Liegen die Ausfichten für eim gefchloffenes und einmütiges Vor—
gehen der Preſſe günftiger. Ich unterfcheide nun die Aufgabe der politis
fhen und literarifhen Blätter von derjenigen der mufitalifhen Fachzeitungen.
Sene haben Lediglich die Beitimmung, ihre Lejer über bemerfensmwerte Vor—
gänge bes Mufillebens zu unterrichten. Auf die Kunft Einfluß zu üben, ihren
Beiprehungen erziehlichen Inhalt zu geben, kommt ihnen nicht zu. Deshalb
follten fie fi) damit begnügen, felbit auf die Gefahr Hin, daß ihnen einmal
ein unbefanntes Talent entgehe, über VBeranftaltungen zu berichten, die für
ihren Zejerfreis Bedeutung befigt. Ich leſe aber in den angejehenften politifchen
Organen, befonders Berlins, täglich Berichte durchaus gleichgültigen Inhalts.
Die Voſſiſche Zeitung befhäftigt allein drei Referenten für Muſik. Die Preffe
fagt immer wieder über das ungemefjene Anwachſen der Einzelflongzerte. Nun
fie hat e8 in der Hand, dieſem Uebel die Wurzel abzugraben. Jgnorierte fie
fonjequent alle Mittelmäßigfeit, die an die Oberfläche tritt, fo fiele für die
große Mehrheit der Debütanten die treibende Peranlafjung zu öffentlihem
Auftreten weg. Die Auswärtigen würden ficherlic) zu Haus bleiben. Daß
unfere Kritiker diefe Erwägungen gut heißen, ijt zweifellos. Man bedenke
aber, daß dieſe Herren nit unabhängig find. Einmal haben fie fi dem
Willen der Ehefredafteure zu fügen, Die ſich ihrerfeits weniger von Grundſätzen
allgemein wirtſchaftlicher und ideeller Natur, als von denjenigen der Oppor—
tunität leiten lajjen. Dann aber haben fie mit ihrer eignen materiellen Wohl—
fahrt zu rechnen. Denn da, wo das Gehalt des Mufifreferenten nicht ein
jährlich feitgefegtes ift, fondern nach ber Zeile beredjnet wird, bejteht ein
pekuniäres Anterejfe, möglichft viel zu berichten. So find denn auch für das
Eingreifen dieſes Faktors in unferm Fall vielfade Unterftrömungen zu über-
winden. Zu dem bejjeren Zeil unferer Preforgane, und nur auf ihn kommt
e8 an, hege ih das Vertrauen, daß fie Meinliche Intereffen, den idealen, auf
die Durchführung einer dringend wünſchenswerten That gerichteten Beitreb-
ungen werben unterzuordnen wiſſen.
Unders geartet, als die Aufgabe diefer Blätter, ift diejenige der Fach—
prejfe. Sie ift dazu da, nicht nur dem aufitrebenden Talent, fei e8 ber
Ihaffenden, fei e8 der ausübenden Kunſt, den Weg zu bahnen, fie foll auch den
Stand unjeres Mufiktreibens ins einzelne verfolgen, und jpäteren Generationen
2. Januarheft 1899
. ME —
einen geſchichtlichen Rüdblid auf die Vergangenheit ermöglichen. Gleichzeitig
ift fie zu einer wichtigen pädagogiſchen Aufgabe berufen. In jedem Fall fol
fie die Vorzüge des ausübenden Künstler ins redite Licht fegen, und feine
Mängel beleuchten. Dazu freilih ift nur der fachlich gebildete Beurteiler ge=
eignet. Solange fi unfere mufifalifche Preife nicht grade darin vor ben
andern mufifreferierenden Organen auszeichnet, daß fie durch auf jedem Einzel
gebiet vertraute Männer vertreten ift, folange fann fie diefe pädagogische Seite
ihrer Aufgabe nicht Löfen. Welche Ratichläge kann ein inftrumental gebildeter
Mufifer dem Sänger in techniſcher Hinficht geben? Und wiederum, befigt der
fürs Klavier ergogene Sritifer genügende Speziallenntniffe, den Geiger zuredt-
aumeifen ? So fehr id) das Spezialitätentum in der Kunſt verdamme, fo drine
gend verlange ih für die Ausübung der ſachgemäßen, zur Förderung des
Kunſtjüngers beftimmten Kritik Spezial-Kenntniſſe. Mit einem in feiner Tota—
lität zutreffenden Urteil ift das Einzelne nicht erfchöpft, und darauf kommt es
bei einer fo gedachten Kritik an.
Meine Aufgabe ift erfüllt, wenn e8 mir gelungen ift, die Uebelſtände
nachzuweiſen, die unfer heutiges Konzertleben gezeitigt hat. Sollte aud) bie
Anregung zur Befeitigung ber erlannten Mißſtände Beachtung finven, jo find
meine höchſten Erwartungen übertroffen.
Volkskunst.
Eine „Erinnerung“ an ben Hamburger Verein „Volkskunſt“ veröffent«
licht Heinrich Harz in der „Deutfhen Kunſt und Dekoration”. Ruhig und be—
fheiden und von beteiligter Seite, nämlich vom früheren Schriftführer des
‚Vereins, gefchrieben, gibt fie in der Hauptfahe nur einiges Thatfächliche.
Deshalb erlaube man uns, die wir dieſen Verein fozufagen aus der Nähe be=
obachtet Haben, noch einige Worte zur Beleuchtung bes Witgeteilten. Wir
nämlich glauben, daß man die Seite in der Gefchichte des deutſchen Kunit-
handwerks, auf der von diefem Bereine die Rebe ift, einft als eine der lehr—
zeidyiten betrachten wird.
Bor elf Jahren ungefähr thaten fih in Hamburg ſechszehn junge Leute
aufanımen, Mufterzeihner, Angeſtellte in kunſtgewerblichen Anftalten u. f. w.,
von benen jebt der befanntefte der fehr begabte Ehriftianfen iſt, deren eigent—
lihe „Seele* aber Oskar Schwindrazheim war, ein Dann, wie Harz fid) aus—
drüdt, „von eminenter Dielfeitigleit und erftaunlicher Arbeitskraft“, von großer
Hdeenfülle und ausgezeichneter Befähigung zum Lehren. Vol idealer Freudig-
feit und Arbeitsiuft gründete er „Beiträge zu einer Volkskunſt“, ſchlicht aus—
geitattete Hefte mit Tert und Bildern. Aber abgefehen vom „Kunftwart* und
feinem damaligen Beiblatt „Das Kunſtgewerbe“, das aud) ein zu früh geborneg
Kind war, fanden bie Hamburger Volkskünſtler faft nur bei Brindmann Unter
ftügung, in weit überwiegender Mehrheit gingen die Herren vom Fach mit ver=
ächtlichem Spott über diefe von feinem Kapital und von feiner alademiſchen
Würde getragenen jugendblihen Beitrebungen hinweg. Sag id) zuviel? Man
prüfe daraufhin bie Innerlichleit der Gründe in einem Sat wie dem fol—
genden: „ES find fo jämmerliche, dünne, mit elenden Farbendruden ausge»
itattete Hefthen, daß unfere Lefer wohl zu der Frage beredtigt wären, aus
weldem Grunde hier in einem Referat über die neueſten kunſtgewerblichen
Kunftwart
— 26 —
Literatur » Erfiheinungen derlei Plunder beſprochen wurde, neben welchem der
Büchermarkt ja eine Ueberfülle des Präditigiten darbiete.” Der bei völliger Gleich
giltigfeit gegen den Geist in der Wiener „Preſſe“ den Hymnus auf die ele=
gante Ausstattung ſchrieb, dem dieſer Sag entjtammt, e8 war fein ge=
ringerer als Albert Zlg, der gefeierte Direktor der kaiferlihen kunſthiſtoriſchen
Sammlungen von Wien. Was aber wollte bie „Volkskunſt“? Es fei er=
laubt, heute noch einmal ihr Programm bier herzuſetzen, wie es Avenarius
damals im „Kunftwart* niedergelegt hat:
„Zwei Wege haben uns zu der Forderung einer »Volkskunſt« geführt.
Nur der eine von ihnen begann bei dem Gedanken, daß es auch für den min=
der Bemittelten im eigenen Heim eine Hunft und ein Sunftgewerbe geben
follte, wenn er fähig wäre, fich ihrer zu erfreuen. Den Haupt-Nießbrauch vom
Luxus⸗Kunſtgewerbe haben Börftianer und fonftige Geldleute, Nun unterfcheis-
den wir fharf zwiſchen Reichtum und Vornehmheit. Das Wort »Vornehm—
heit« fann unferer Anſicht nad) in der Hunft nur Sinn haben, wenn es Vor—
nehmheit fünftlerifhen Gmpfindens bedeutet — Bornehmheit folder Art
fanden wir ſowohl bei Männern der AWriftofratie wie bei Angehörigen bes
gebildeten Mitteljtandes der Lehrer, Beamten, Offiziere, Geiftlichen, gebildeten
Staufleute u. f. w., und ſelbſt, wenngleih bier natürlich zumeift nur als An—
lage, bei Bauern, Handwerkern und Arbeitern, aus deren Streifen ja der tüch—
tigen Künſtler und Kunſthandwerker fon fo viele hervorgegangen find. Alfo:
wir glaubten hier eine Ungerechtigkeit bes Lebens zu erfennen, und wir
wollen fie zu heben ſuchen, wenn dies angeht. Die Unmöglichkeit fehen wir nicht
ein, weil wir Sunft nit an Qurus, weil wir Schönheit im Gewerbe weder
an Gold, Seide, fofitbare Hölzer noch fonftiges teures Gut für untrennbar
gebunden halten, nod) allein an mühevolle und daher koftbare Techniken.
Was wir Schon jetzt als »billiges Kunstgewerbe fürs Volk« haben, iſt in
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Schund sans phrase, fein Kennzeichen
iſt Nadäfferei der Formen- und Farbengebung des Lurusgemwerbes. Stud als
Marmor, Papier als Stud, Zintguß als Bronze — Schwindel überall ftatt
Wahrheit. Es ijt ein Gewerbe der Unehrlichkeit und Würbelofigfeit, das mit
Komödiantenflittern das Gold und mit Similidiamanten ben echten Ebelitein
nachmacht, ſtatt die Schönheit aud) des ſchlichteren Materials herauszubilden.
Wir erjtreben alfo im Kunſtgewerbe auch für die Kreiſe der wenig Be—
mittelten ein echtes, fein Surrogat = Hunjtgewerbe, wie wir's ja hätten. Es
ergibt jich die Aufgabe, ein Kunſtgewerbe zu halfen mit wenig, dba und
dort fogar ganz ohne Lurus. Ihrer Löfung gilt unfre Arbeit. Und unfre
Forderungen an ein Kunſtgewerbe für Minderbemittelte find dieſe:
ı. Künftlerifche Geftaltung ift uns denkbar im Notfall felbit ohne jedes
ſchmückende Beiwerk, alfo einfach durch Formengebung. Diefe ift ja Har und
bezeichnend nicht teurer herguftellen, al8 unklar und nicht bezeichnend, während
doch das einfadhite, Stoff und Zwed des Gegenjtandes durch feine Form be=
zeichnende Gerät fhon »ftilgemäß« it. Nicht denkbar aber ift uns wahrhaft
künſtleriſche Geſtaltung »bei Jmitatione, alſo bei Nahahmung ber Eigen=
ihaften fremder Meateriale, fremder Techniken, fremden Zweden entſprechender
Formen. So wollen wir jeberlei Nahahmung im angedeuteten Sinne aus—
ſchließen und dagegen fordern: daß billigere Stoffe, die wir der Wohlfeilgeit
wegen verwenden müflen, benugt und wo dies irgend angeht, charakteriſiert
werden als das was fie find. Wahrheit des Gegebenen ift unfere erfte
Forderung.
2. Jannarheft 1899
— 2162 —
E8 wird freilich nicht überall möglich fein, den bemußten billigen Stoff
durch Formgebung deutlich zu charakterifieren, teils vielleicht wegen gewiſſer
Anforderungen der praktiſchen Brauchbarkeit, teils auch deshalb nicht, weil das
betreffende Material uns unſchön erfheint. Dann tritt in ber Mehrzahl ber
Fälle eine Bemalung inihr Recht — und nun Stellt fi) die Forderung nad
Wahrheit fo: die Bemalung foll deutlich als Bemalung eriheinen. Wir wollen
den Unfinn befämpfen, der beifpielsmeis Tannenholz »eihhenholgartig«e bepin-
felt und auch bier wieder ein proßenwollendes »Jmitieren« einſchmuggelt.
2. Wir erjtreben noch in einem anderen Sinne für »die Farbe« größeren
Einfluß, als fie ihn jest befigt. Für ein Kunſtgewerbe für den Minderbemit-
telten ijt fie ja ſchon deshalb wichtig, weil ihre anmutigen ober ernften Schön=
heiten im allgemeinen für wenig Geld zu gewinnen find. Wie viel mehr koſtet
warme Farbigkeit, als nüchterne Farbenkälte?
3. Aus unferem Hauptgrundfaße der künſtleriſchen Wahrheit ergibt es
fih, daß wir vom Hunftgewerbe für den Minberbemittelten aud) das verlangen,
daß e8 dem Empfinden, dem Denen, den Lebensgemohnheiten dejjen, für den
es beſtimmt ift, nicht widerſpreche, daß es fie im Gegenteil womöglich fpiegele.
Weil wir Deutfche find, fol e8 deshalb deutſch fein, biefes Kunſtgewerbe,
national und Heimatlih in feinem Gharalter. Es foll Fremdes, das ber
Deutfche herübernimmt, angepaßt zeigen an fein eigenes Wefen, e8 foll vor allem
aber heimatlidem, »Bodenwüchſigem« zum kunſtgewerblichen Ausdruck ver-
helfen. Die Forderungen, die fid) hieraus für die Geftaltung der Geräte er—
geben, liegen Har. Für die Ornamentik ergibt ſich daraus 3. B. das Verlangen
nad) der Benugung heimiſcher Naturformen, nad) der Stilifierung unferer
Pflanzen und Thiermelt ftatt endlofer Wiederholungen von Wlanthus und
Palmette. Deshalb geben aud; die Hamburger Beiträge vor allem Studien,
die fich ejelsbrüdenmähig überhaupt nicht verwenden laſſen. Auch was fie
fonit bieten, find in erjter Reihe Anregungen.
Bis auf wenige Punkte find die Forderungen, die wir an das Kunſt—
gemwerbe für Minderbemittelte jtellen, alfo in ihrer Berechtigung längjt aner—
fannte Forderungen an das Gejamtkunftgewerbe. Nur das iſt das weſentliche
Neue, dak wir das Lurusfunftgewerbe zunächſt ganz aus dem Spiele Lafjen.
Bei ihm liegen die Verhältniffe viel verwidelter, wir halten uns zunächſt ans
Einfadere. Aber wir haben jenes nicht vergefien. Jh fomme nun zu dem
amweiten Wege, der uns zu der Forderung nad einer »Boltsfunft« führte. Er
ging von der Ueberzeugung aus, daß aud dem Lurusfunitgewerbe auf keine
Meife beifer zu helfen fei, als eben durch eine »Volkskunſt« in unferem Sinne.
Mer, nachdem wir, »fampfmüd und fonnverbrannte, wieder beim Empire
angelangt find, von einer neuen Kurreiſe durch die hiſtoriſchen Stilarten ſich
die Gefundheit verjpricht, der mags thun. Wer glaubt, daß immer neue
Mufeen und Lehranftalten uns viel helfen, jo lange wirs treiben, wie wir!
jept treiben, der mags glauben. Wer in möglichſt vielen Staatsbejtellungen
möglichſt fojtbarer Qurusgegenitände den größten Segen fieht, mag ihn dort
fehen. Wir thuns nidt. Wir fünnen uns eine für bie fünftleriihe mie für
die wirtfchaftliche Kultur unjeres Vaterlandes mit Sehnſucht zu erwartende
Blütezeit unferes Aunftgemwerbes nicht vorftellen, wenn e8 nicht aus einer alls
gemeineren Teilnahme ber Nation fi nährt, wenn nicht möglichſt vielen
Talenten die Gelegenheit gegeben ift, erfannt zu werben, und menn es nicht
zur vollen Originalität des Schaffens fommt. Ihm Diefe drei Bedingungen
Kunftwart
— 2168 —
des Gedeihens zu erwerben, dient eben, jo glauben mir, nichts beſſer, als die
Volkskunſt«“. —
Und nun, was bie Fabel Ichrt. Forderungen biefer Art waren e8, über
deren Nieberfchrift eine der angefeheniten Autoritäten de8 damaligen Kunjt=
gewerbes, eben Ilg, feiner Zeit Nusdrüde wie „Geſchwätz“, „Plunder“, „Jammer-
blättchen“, „albern“, „elend“, „miferabel“, „armfelig‘, „phrafenhaft“, „un
verfhämt*, „ſchmachvoll“, „ſchofel“, „läpperig“ in eine einzige Beiprehung zu—
fammengoß. Und jet? Der Name „Vollskunft* war eben ein Name, welcher
der fadlihen Grundfäge aber, bie in diefem Programm ausgeſprochen liegen,
das famt ben „Hämpen bes Kunſtwarts“ damals von den Hochmögenden fo
ſtolz verachtet wurde, ift heute nicht anerfannt? Gie find Forderung aller
geworden, die man überhaupt nod) ernjt nimmt, und aud) an den leitenden
Stellen ber Sammlungen jtehen zumeift [don Männer, die fie verfechten. Aber
Schwindrazheims „Beiträge* find Längft unbeadhtet eingegangen, ihn jelbft hat
man noch nicht einmal irgendwohin als Lehrer berufen, unfer „Kunftgewerbe*
mußte aud) den Stampf aufgeben, und der „Kunftwart” ſelbſt warb nur durch
bie Opferfreubigfeit feines Berlegers über Waſſer gehalten, bis das deutſche
Volk in feinem elften Kampfesjahre entbedte, daß er da fei. Die Entdedung
aber, daß auch Leute wie Schwindragheim und ihre Arbeit da find und vor
allem: daß fie da waren, fhon lange, ehe die „neue Mode“ kam, bat mau
noch heute nicht gemadt. Man Hatte ja zu viel nach England oder Frankreich
au ſehen. Dort nämlih verfochten ein paar Jahre nad; den erſten deutſchen
Künstlern Frembe basjelbe wie fie. Nun wars „weit her“, nun durfte mans
beachten.
Etwas über Technik in bildender Kunst,
Die Bedeutung der Technik in der bildenden Kunſt ift lange Zeit fehr
unterfhägt worden, eine Unterlaffung, die gar manche Schäden gegeitigt Hat,
auf welde dann eine Reaktion eintreten mußte. Man glaubte lange, Die
Kunſt als folde hätte mit Technik als folder nichts zu thun. Aber ber
BZufammenhang zwifchen der geijtigen und der handwerklichen Seite ijt fehr
intim und die Wechfelbeziehungen der beiden find ſehr mannigfaltig: die geiftig
feinften Künftler find zumeift auch vorzüglidhe Techniker geweſen, eine ausge—
bildete Technik kann auch die geijtigen Kräfte der Hunft erweitern, indem fie
ihre Ausdrudsmittel, ihre Sprache, verbeifert. Gerade in den letzten Jahren
ift nun mit der erneuten regeren Entfaltung der Kunſt in jugendftarfem
Badstum ein eindringlicheres Studium ber Technik Hand in Hand gegangen.
Wird es den kunſtliebenden Leſer intereffieren, in furzen Worten etwas darüber
zu hören?
Was man bei uns Delmalerei nannte, war wenig fyftematifc ausgebaut,
die willenfchaftlidye Grundlage war wohl einigen befannt, doch bei weiten den
meiften ber Ausübenden nit. Der Lehrgang auf Alademieen und Privat
anftalten ſchloß eine Fakultät für Technik nicht ein, und wo eine vorhanden ,
war, bejtand fie mehr auf dem Papier, als in der Wirklichkeit. Man kaufte
die Delfarben in irgend einer Handlung und malte dann halt drauflos, bis die
Leinwand ungefähr fo ausfah, wie man fie haben wollte. Schade nur, daß
man badurd nicht allein die Haltbarkeit ber jo gemalten Urbeiten in einer
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— 269
Weiſe gefährdete, da ſich faum für eine halbjährige Kebensdauer bürgen lieh,
fondern aud) die Ausdrudsmittel felber in unnötigem Maße beihränfte und
die ungemeine Mannigfaltigkeit der Palette nicht zur Entfaltung bradte.
Denn — ich wiederhole es noch einmal — jo gut die rein äſthetiſche Ent—
widelung nad; neuen Darftellungsmitteln fuchen läßt, fo gut geben diefe neuen
Darftelungsmittel neue äfthetifche Gefichtspuntte.
Noch vor zehn Jahren ordnete man im allgemeinen fo: alle glänzenden
Bilder waren Delbilder, alle matten Aquarelle oder Paftelle. Um aber über
die Mannigfaltigleit der Technik jener erftgenannten Art, der glänzenden,
farbenfatten Bilder einen Ueberblid zu geben, vergegenmärtige man fich
folgendes. Gehen wir durch die Mufeen, jo fällt uns unmittelbar die Ver—
fchiedenartigkeit de8 Wusfehens der Werke aus verfchiedenen Jahrhunderten
auf; eine Verſchiedenheit, die ſich nit allein aus der Individualität der ein=
zelnen Meifter oder ihrer künſtleriſchen Anſchauung erflären läßt, fondern
unbedingt verlangt, die Anwendung ihrer Mittel zur Beurteilung mit heran—
auziehen. Die eine Art bilden jene bis ins kleinſte duchhgeführten Haren Bilder
der Meijter des 15. Jahrhunderts, die in Deutſchland etwa von van Eyd ab
datieren und fi bis ins 16. Jahrhundert hineinziehen. Jene Malereien zeigen
die wundervolle larheit und Leuchtkraft, die oberflächlich Urteilende wohl
mit glafig, bunt- oder ſchönfarbig fennzeichnen zu dürfen meinen. Zu der
anderen Art gehören jene bravourhaft, meift in tiefen Tönen, mit breiten
Strihen bingemalten Werke, die ihren Reiz nit in der minutiöfen Aus—
führung oder Durdhbildung der intimen Form ſuchen, jondern eben in der
machtvoll deforativen Ericheinung des Ganzen. Ihre Hauptmeifter ziehen ſich
in Stalien von Tizian über Veronefe bis zu Tiepolo, fie erjtreden ſich in
Spanien auf dem Umwege über Ribera bis zu Velasquez, im Norden von
Rubens und Rembrandt bis zu Reynoldts.
Auch dem Laien fällt da wohl ein elementarer Unterſchied auf, den er
vielleicht mit dem forifchreitenden Können zu erklären ſucht. Dies ift ein Trug—
ſchluß. Denn wer will fagen, wer den anderen am Können überlegen war:
ob ein van Eyd einem Tizian, ob ein van der Weyden einem Goreggio,
ob ein Dürer einem Nembrandt? Ihr Hömmen liegt nur in verichiedener
Richtung.
Die ältere Wiffenfhaft nahm van Eyd als Erfinder der Delmalerei an.
Die Technik wäre alfo im weſentlichen von jenen uns noch fo dunklen Zeiten
ab bis auf den heutigen Tag ziemlich gleich geblieben. Doch ift das faum
verftändlih. Denn der Eindrud jener alten und ber fpäteren Bilder ift ein
fo gänzlich verfdhiedener, daß man fie nicht für Werke einer Technik halten
fann. Dann aber ift e8 auch mit unferen Oelfarben unmöglid, jene Mare
Ziefe, wie wir fie bei van Eyd und feinen Nachfolgern fehen und bewundern,
au erreichen. Denn jene Bilder zeigen einen fo dünnen Farbenauftrag, ber den
weißen Grund überall burchicheinen läßt und ihn zum Urheber jener feltfamen
Leuchtkraft macht, daß fie uns faſt ausſchließlich mit Laſuren erreicht zu fein
fcheinen. Diefe Lafuren aber müſſen fo zahlreid) übereinander gelegt geweſen
fein, die immer und immer wieder den Ton moderieren und die Form meiter
modellieren, daß mir nicht mehr an DOelfarbelafuren glauben können, denn die
wären, (dank dem Ueberfhuß an Delbindemitteln, den unfere Oelfarbe nun
einmal führt), ſchmierig und trübe geworden. Trogdem ift uns urkundlich über-
liefert, daß van Eyd mit der herkömmlichen Waffer-Tempera brad; und die
Delfarbe erfand. Und in der That fehen wir zwifchen ihm und feinen uns
Kunftwart
— 210 —
mittelbaren Vorgängern einen fo ftarten Unterſchied in der plaftifchen körper:
haften Durchbildung der Formen und leichten Sicherheit bes Vortrags, daß
wir an eine epochemachende Erfindung glauben müffen. Diefe Erfindung hat
ben Gelehrten lange Zeit viel Kopfzerbrehen gemacht. Es iſt das große Ver:
dienft von Ernft Berger, Licht in die Sache gebradjt und eine Erklärung
gegeben zu haben, bie uns das Dunkel volllommen aufzuflären fcheint.
Er wies nämlih an der Hand von zahlreichen Quellenihriften und, mie
ihm dies als ausübendem Maler möglich, von jahrelangen eingehenden praf:
tifchen Verſuchen nad, daß van Eyd allerdings eine Erfindung gemad)t Hatte
und mit „Delfarbe“ malte — daß dies jedoch nicht unfere Delfarbe, fondern
eine (das ift das Wefentliche) mit Waffer mifhbare und deshalb unges
mein verbünnbare Delfarbe gemefen fei.
Das klingt zunächſt abfurd. Und doch wird es jedem, der etwas Chemie
verfteht, nicht mehr feltfam vorkommen, wenn er hört, da das Bindemittel
nicht reines Del, fondern eine Oclemulfion mar, die befanntlid) mit Waffer
miſchbar ift.
Für ben, der mit Farben wenig Beicheid weiß, muß ich Hier beifügen:
das Del ift der Feind der Delfarbe, es ift als Bindemittel ein notwendiges
Uebel, das wir nicht zu erfegen mwuhten. Es mird ranzig und trübe und,
wenn e8 nicht bem Lichte ausgeſetzt ift, gelb und undurchſichtig. Wenn eine
Delfarbenihicht eine andere dedt, trübt fich alfo das Del der unteren Farben=
ſchicht, weil die obere das Licht hält. Dadurch nun wird auch die obere trübe
und fchwer, benn feine Farbe deckt ſo vollkommen, daß die darunterliegende
Schicht nicht mitwirkte. Wiederum liegt ja in dieſer Mitwirkung der unteren
Farbenſchicht ein großer Teil des Reizes unſerer Farben, da ſie den Reichtum
ber Palette bedeutend mehr entwickelt, als es bei bloßen als Moſaik eingeſetzten
Deckfarben möglich wäre. Wir haben in der Oelfarbe immer mit einem Ueber—
ſchuß von Oel zu thun, der ſehr vom Uebel iſt. Es wäre ja nun eine ſehr
einfache Erwägung, zu ſagen: man nehme ſo wenig Oel in die Farbe wie
irgend möglich und bewirke die weitere Verdünnung mit einem flüchtigen
Bindemittel, alfo meinetwegen einem ätheriſchen Del. Doch wird man hierbei
deswegen nicht auf feine Rechnung fommen, weil jedes Farbenpigment eine
gemwilfe Summe Del zum Binden braudt; eine Quantität, die bei gewiſſen
Pigmenten oft das Zehnfache des eigenen Volumens trägt. Diejes Del ſchluckt
das Farbenpulver gleihjam beim Reiben, und natürlich trodnet diefe große
Dienge Del mit ein. Der Berfuh, das Bindemittel aus einer Mifhung von
dien und ätheriſchen Oelen berzuftellen, mißglückte meiit deswegen, meil die
Farben durchaus nit aufzuheben waren, fondern zu raid eintrodneten.
Immerhin bieten diefe Sorten von Delfarben (mir fommen fpäter bei ber
Beiprehung der Ludwigſchen Publilationen darauf zurüd) einen erheblicdyen
Borteil gegen die nur mit didem Del bereiteten Sarben. Ban Eyds Erfindung.
beitand num darin, daß er als Bindemittel eine Oclemulfion nahm, d. h. eine
medanifhe Mifhung von Gi und Del oder von Gummi umd Del, die mit
Waſſer mifchbar tft. Diejes bot folgende Vorteile: Erjtens, das zum Reiben
verwandte Bindemittel enthält erheblich weniger Del als bei unferer Delfarbe
der Fall. Zweitens, e8 ift möglich, bei der Miſchbarkeit mit Waſſer die Farbe
in hohem Grade zu verbünnen, ohne Bejorgnis, durch das Verdünnungsmittel
wiederum einen fhädlichen Ueberſchuß von Oelen oder fonjtigen nicht reftlos
verbunftenden Medien in die Farbe zu bringen. Da das Waſſer reftlos ver—
dunſtet, bleibt nur gerade foviel Bindemittel zurüd, als zur Haltbarkeit der
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Fri En
Farbe notwendig. Drittens ijt Durch die Miſchbarleit mit Wafler eine Behand—
Iungsmöglichteit ber Farbe ermöglidt, die die dünnjten Lafuren, die feinsten
Striche zuläht, fo dak man erft den hohen Grad der Ausführung der Werfe jener
Quattrozentiften begreift. Denn wollte man jene minutiöfen Durdbildungen mit
unferer Farbe unternehmen, fo würden diefe durch Das bedeutende Delvolumen, das
mit eintrodnet, erjtens weit paftofer werden, zweitens aus eben bem Grunde
nicht die duftige Klarheit erhalten können, Die wir an jenen Bildern bewundern.
Es iſt Hier nicht der Ort, eingehender von den großen VBorzügen dieſer Technik
zu reden. Doch mird es ohne meiteres einleudten, dab, fo gut e8 bei uns
Künitler gibt, bie den breiten virtuojenhaften Vortrag der Ginquecentijien
firhen, e8 eben auch foldhe geben wird, bie an ber intimen formalen Durch—
bildung und den buftigen zarten Farben, die die Del-Tempera bietet, ihre
Freude haben. Uebrigens wär e8 ein Trugſchluß, ohne weiteres anzunehmen,
daß die Del-Tempera ſich nur für fein durchgebildete Werke eignet. Einige
neuere Meiſter, fo vor allem Stud, haben in ihren Tempera=Bildern zur Ge—
nüge gezeigt, wie fid) ihre Eoloriftifchen Vorzüge, die gegen die Oclfarbe in
erhöhter Tiefe und Stlarheit beftehen, recht gut auch mit breitem Pinfelvortrage
verbinden läßt.
Jedenfalls ift die wiſſenſchaftliche Relonſtruktion Bergers, die übrigens
auf rein empiriſchem Wege ſchon von anderen Malern, jo Bödlin, vorgenommen
und verwendet worden ijt, wert, weit allgemeinere Beadhtung und Anwendung
zu finden als heute noch geſchieht. Trogdem braudt man das nicht als die
Forderung nah einem abfoluten Erſatz der Delfarbe aufzufajlen, denn aus
dem Weſen und der Beitimmung eines jeden Kunſtwerkes muß ihm eine be=
fondere Technik erwachſen.
Ih habe mein Stedenpferd, Die deforativen Forderungen der Malerei,
zwar ſchon genugjam im Stunftwart geritten, allein ih kann mir an biefer
Stelle nicht verfagen, darauf hinzumeifen, wie gerade dieſe van Eyckſche Technik
dazu geeignet tft, die deforativen Werte miederherzuftellen und als etwas not—
mwendiges auch in die Tafelmalerei einzuführen. Denn erjtens ift fie wenig
bazu geeignet, die Art von Naturwahrheit, die lediglich) im Nachbilden des
äußerlich erfehenen Eindruds bejteht, zu erreichen. Zweitens madjt fie einen
paftofen Auftrag ganz unmöglich, trogdem fie denfelben oder einen ſtärkeren
Tonmert erreicht, als der paftoje Oelfarbenauftrag. Der Maler ift desmegen
gezwungen, mehr als fonjt feine Aufgabe in der foloriftifchen Flächenlöſung
au finden anftatt nur in einem Nachſchreiben der Natur. Die ganze ins Rollen
gelommene Bewegung befchäftigt fich nicht allein etwa mit der Tempera, fon=
dern nicht minder mit einer rationellen Durdbildung der reinen Delfarbens
technif, die allerdings von einigen ſchon lange gepflegt war, jetzt aber,
ſcheint's, vom gejamten Dalerjtande aufgenommen wird. Daß aud) diefe ihre
gewaltigen Vorzüge hat, unter denen nicht der Heinfte die bequeme Handlich—
keit, iſt Leicht erſichtlich. Ihre Anwendung weiſt aber in ein anderes Gebiet.
Es gibt Kunſtwerke, die nur in Oelfarbe denkbar find, wie es ſolche gibt,
melde die Forderung der Tempera-Technik gleihfam ſchon in fid) tragen.
In der Redaktion eingegangen find von Werfen, die auf dieſes Gebiet
Bezug haben: „Die Tehnif der Delmalerei“, im Uuftrage bes preußis
[hen Kultus-Winifteriums verfaßt von Heinrih Ludwig, und licher „Die
Orundfäge der Delmalerei und das Verfahren der Klaffifhen
Meiiter“ (beide aus dem Berlage von Wilhelm Engelmann in Leipzig). Der
erſte Teil des zuerjtgenannten Merfes enthält eine fehr klare Darſtellung der
Kunftwart
— 77: .
optiichen Eigenfchaften der Malerei, im befonderen der Delmalerei; ein Gebiet,
wo ein jeder Maler Beſcheid wiſſen follte, der fid) intimer mit der Technik
feiner Kunſt abgibt. Im zweiten Zeile geht Ludwig zu der Beichreibung der
Delfarbentechnif über, mie er fie für rationell hält, einer Technik, die jeden
falls fein durhdadjt ift und auf ernitem Studium beruft, manchmal freilich
auf dem Wege der Theorie zu Schlüffen fommt, die der Praxis nicht in dem
Grade entiprehen, wie er glaubt. Die äjthetifhen Grundfäße, die der Ver—
fafler dabei aufftellt, enthalten viele Wahrheiten, die nur zu fehr vergeffen find
und bie immer wieder zu miederholen nur von Nuten fein kann. Mllerdings
ift alles erfüllt von einer gewiſſen prinzipiellen Bitterfeit gegen alle Diodernen,
die fich oft zu biſſigen Ausfällen jteigert, wie fie nur für ganz gewiſſe „Mo=
derne“ Geltung haben könnten. Ludwigs ftete Behauptung, daß fo alle Hand—
geihicdlichleit vermindert jei, ift gewiß nur zu begründet, und die Folgen
davon find nur zu fihtbar. Much der zweite Teil feiner Schrift, in dem ein
reiches Material von Mitteilungen über Technik zufammengetragen ift, fann
für jeden Maler von größtem Nugen fein. Durch die Hiftorifche Darftellung
der Entmwidelung der Technik, der befonders das zmeite Werk gewidmet ift,
zieht ſich allerdings ein großer Jrrtum, wenn Bergers Entdeckung wahr iſt,
was die Wahrjcheinlichfeit auf feiner Seite hat. Ludwig erflärt nämlich die
Dralereien jener PBrimitiven des ı5. Jahrhunderts für reine Delmalerei und
bemweift an der Hand des Späteren, felbjt von Tizian ab, daß die „Faujt-
Malerei“ der Delfarbe ſich nicht gehalten hätte. Sind nun jene Werke des
QDuattrocento TemperasBilder, fo fommt man allerdings zu dem Schluß, da
fih Delfarbe überhaupt nicht dauernd hält, ſondern allein der Del- Tempera
jene Lebenszäbigkeit verliehen ilt. Dat Ludwig mit der einzig rationellen
Oeltechnik feine Petroleum = Malerei meint, it nicht zu vermwundern, da man
gerade fo gut die Sache fo auffafien fann, dab er eben die Technik mählte,
die ihm die einzig rationelle ſchien.
„Quellen und Technik der Fresko-, Del- unb Tempera—
Malerei des Mittelalters“ von Ernſt Berger ift ein anderes bier-
hergehöriges Merk, erſchienen bei Georg D. W. Callmey in Münden. Die
beiden erjten Bublifationen dieſes Werkes, die ſich auf die antife Maltechnit
beziehen und die wir beſprechen werden, wenn fie demnädft in zmeiter Auf—
lage erfcheinen, find für uns nicht von der Wichtigkeit mie der vorliegende
dritte Band, folange e8 fi wenigstens um XTafelbilder handelt. Diefer
Band umfaßt die Miniatur-, Wand» und Tafel-Dtalerei des Mittelalter8 und
die Oel-Tempera ber van Eyd, ein Stapitel, das Berger befheiden genug als
„einen Verſuch zur Löfung der Frage von der Erfindung der Del-Malerei dur
die Brüder van Eyck“ bezeichnet, und in dem er auf äußerſt ſcharffinnige Art
und Weife das ſchwierige Thema zerlegt. Durch geradezu raffinierte Kombi-
nation von Worten der alten Quellen hat er auf und zmwifchen den Zeilen ges
fucht, bis er jchlieflih den Schlüffel fand. In welcher Weife das gefchieht,
habe ih oben befprodhen. Es muß übrigens verwunderlich erfcheinen, daß
man bdiefe Kraft, die die praftifche Kenntnis des Malers mit der Grünblichkeit
des forfchenden Gelehrten verbindet, nirgends als Lehrer ber Technik auszu-
nutzen verstanden hat — wieder ein Zeichen, wie wenig Wert man auf die hand—
mwerlliche Ausbildung auf Mlademieen legt. Noch ein Buch deffelben Verfaflers
möchte ich hier erwähnen: „Der Katehismus der Farbenlehre“ (Ver—
lag von 3. 3. Weber, Leipzig), der in kurzen Zügen über die optifhen Eigen—
ſchaften der Farbe unterrichtet. In anfhaulicher Schilderung beſpricht Berger
2. Jannarheft 1899
— 23 —
die Eigenſchaften des Lichts und ihre phyfilogifchen Beziehungen, um im prak—
tifhen Teil dann auf die Technik felbit kurz zu ſprechen zu fommen und enb-
lich die Beziehungen der Farbe auf das alltägliche Leben zu beleuchten. Auch
diefes Bud kann all denen, die nicht die genügende Borkenntnis haben, um
fi) ohne meitere8 gründlich mit den Fragen der Technik zu beſchäftigen, als
nüglide Einführung empfohlen werden. Shulge-Taumburg.
VE
Spieltrieb, Schönbeitsdurst und Wirtschaft.
Nicht ernfter, vorforgender Wirtfchaftsdienft ift in ber Urzeit die erfte
Urbeit des Menfhen, fondern ein Spiel, das in Bethätigungsdrang, Nach—
ahmungsluft und Schönheitsdurft wurzelt. Fröhlich und forglos lebt er dahin,
ein großes Kind, das fi von der Mutter Natur ernähren läßt.
Über die Gaben der Natur haben ihre Grenze. Auch tropifche Fülle der
Früchte vermag allmählich die fich mehrende Menſchheit nicht mehr zu ernähren,
e8 beginnt ber Nahrungsmangel und mit ihm die ernfte Arbeit. Es fommt der
Augenblid, da ein Zeil ber Menjchheit ben „Garten Eden“ verlaffen und Gegen
den auffuchen muß, in denen er nicht in jedem Augenblid beliebig fein Nahrungs
bebürfnis befriedigen fann, in denen er über den heutigen Tag hinausdenken
und für die Zukunft forgen muß.
Die Kraft, die fi) früher nur fpielend und geniehend bethätigt hat, muß
fih jest wirklicher Arbeit zuwenden. Ganz allmählid vollzieht ſich der Ueber—
gang zur Wirtfhaft. Nicht überall aber erfordert die Wirtſchaft alle Kraft,
und mo fie uns Raum läßt zu freierer Bethätigung, ba behält nach wie vor
ber Spieltrieb und Schönheitsburft einen Teil der Herrfhaft. Im Dualleben
be8 hohen Nordens freilich reicht die menfchliche Arbeitskraft bei aller Anftrengung
nur zur fhliten und Inappen Selbiterhaltung aus. Unter einer wärmeren
Sonne aber bleibt neben der wirtfhaftlichen Arbeit noch Pla für die Be—
thätigung jener alten Triebe, für den Schmud bes Lebens und die Verfhönerung
des kurzen, mühenollen Dafeins.
Je weniger bie eigentliche mwirtfhaftliche Arbeit alle Kräfte bes Volkes
in Anſpruch nimmt, um fo mehr wenden dieje ſich der künſtleriſchen Beſchäfti—
gung zu, ſowohl bei ben Urvölfern der Tropen, die nur geringer wirtſchaftlicher
Thätigfeit bedürfen und deren Kunſt zwar ihrer Kulturftufe entiprechend höchſt
primitiv ift, aber doch eine erftaunliche Menge halb fpielender Arbeit birgt,
ie bei den fortentridelten Völkern ber mittleren Zonen, denen eine blühende
Vollsmwirtichaft Zeit und Muße zur Befhäftigung mit fünftlerifhen Dingen läßt.
Der Tropenbewohner arbeitet ohne Zwang überhaupt nur, wenn er
Freude an der Arbeit hat, Freude an dem Entſtehen fünftlerifcher Formen.
Auf die Herftellung der einfachſten Geräte vermag er eine Unfumme von Arbeit
zu verwenden, wirtfhaftlich fcheinbar verlorene Arbeit, die indeffen für ihn
durchaus notwendig ift, da er fich überhaupt nicht zu eintöniger, anjtrengender
Arbeit entichließen fannı, ohne dauernde Abwechslung, ohne Freude an ben ent=
ftehenden Gebilden. Unb wenn beifpielmeije eine ſchlichte Matte vollitändig
mit Fellen oder Haaren bededt wird, ſodaß Feinerlei Mufter der Matte zu
fehen bleibt, fo wird er fie nicht in ber natürlichften und einfachſten Form
flehten, fondern fie mit fünftlerifhen Muftern verfehen, fpielend, fortgefegt
feinen ſchlichten Schönheitsfinn bethätigend. Aufmerkſame Forfdungsreifende
Kunkwaert
— 24 —
berihten über mannigfadje fchlagende Belege für dieſe allgemein verbreitete
Thatſache.
Gerade bei primitiven Völkern nimmt die kunſtgewerbliche Arbeit
einen ganz erſtaunlich weiten Raum ein; die wenigen Geräte, die ſie brauchen,
und die ihren Schatz bilden, werden in langwieriger und mühſamer Arbeit
relativ höchſt kunſtvoll hergeſtellt und mit jedem möglichen Schmuck verſehen.
In ihrer höchſten Erſcheinungsform, dem Menſchen, ringt die ſchönheitsdurſtige
Natur eben am ſtärkſten und tiefſten nad) dem Ideal ihrer ſelbſt, nach ber
Schönbeit.
Diefes Ewigkeitsideal ber Wirtſchaft follten wir doch nicht fo ganz vergefjen,
wie wir e8 im heißen, wirtfchaftlihen Kampfe vergeflen zu haben fcheinen. Wir
follten nicht vergeffen, daß wir nicht um ber Wirtfchaft willen arbeiten, nicht
vergeflen, wie unendlich die Arbeit erleichtert und gehoben wird, wenn fie ſich
menigitens zum fleinen Teil als Bethätigung des allgemein menſchlichen Spiel=
triebes und Schönheitsdbranges geitaltet. Sehr treffend bat Bücher darauf
hingewieſen, wie beifpielsweife die heutige Yabrifarbeit unter der erdrüdenden
Eintönigkeit, unter dem vollftändigen Mangel bes Rhythmus leidet. Die ſchöne
Form, die rhythmiſche Bewegung heben die Arbeit hinweg über bie furdtbare
Qual bes unerbittlichen Muß und geben dem Arbeitenden bie Freude an feinem
Schaffen.
Spieltrieb und Schönheitsdrang ftehen am Eingange ber Wirtſchaft, die
wirtfchaftliche Arbeit ift in der Urmwirtfhaft eng verfnüpft mit künftlerifcher
Bethätigung. Daf beide in ber modernen Wirtfchaft unendlich weit von einan—
der getrennt find, das ift aud) ein Hauptgrund ber großen Arbeitsunluft, ber
Ungufriebenheit des Urbeiters mit feinem maßlos eintönigen Leben, der man—
gelnden Befriedigung durch fein eigenes Schaffen. Die mwirtfhaftliche Arbeit
mit fünftlerifher Bethätigung und fünftlerifcher Befriedigung zu durchdringen —
wem ba$ in der modernen Wirtfchaft gelänge, der könnte ung auf eine unver=
gleihlich Höhere Stufe heben, ber leiftete der Gefamtkultur und unferem fozialen
Leben vielleicht den größten Dienst, der ihnen überhaupt geleiftet werben kann.
Arthur Dir.
2 4
Lose Blätter.
Das verlorene Thal.
Wo führt der Weg wohl noch einmal
Mir heimmwärts ins verlorne Thal?
Fernab von all dem heißen Gewühl
Scläft es im Scatten ftill und fühl.
Dort ift eine große Einfamfeit.
Dort ift das Reich der Dergangenheit.
Durch der Buchen hochragenden Säulenban
Schweift leife eine ſchöne frau,
Im flimmernden Baar den Waldveilhenfranz
Und die dunfeln Augen voll tiefem Glanz.
2. Jannarheft 1599
- 15 —
Sadıt riefelnd rinnt der Quell durchs Geftein,
Ein filbernes Tropfen fidert drein.
Wo das Wafler am Moosblod murmelnd ſchäumt,
Dort wartet fie lange, träumt und träumt.
Still blühen die blanen Blumen ringsum,
Die weißen $alter fliegen ftumm,
Wo führt der Weg wohl no einmal
Mir heimwärts ins verlorne Thal?
Ch. Weftphal.
Unvergeffen.
Achtzig Jahre — jünglingsfrifch,
Und gelähmt dann über Nadıt
Sitt er hinter feinem Tifdh,
Hält mit müden Angen Wacht,
Ob denn gar niemand vorüber will gehn,
Grüßend zum binmigen Senfterlein fehn.
Doch vergift die rafche Melt,
Was nit mehr im Strome zieht,
Schatten fteigt und Schatten fällt,
Frühling fommt und Frühling flieht.
Ephengrün drüben an Mauermanns Haus
Schleicht fi fhon über den Schornftein hinaus.
Drinnen fchreibt auf buntem Rund
Wanduhrzeiger feinen Kreis,
Tröftet leis mit Tick-Tack-Mund,
Daß nody einen freund er weiß,
Der einft am $enfter mit ruhendem Fuß
Stehn wird und winfen verföhnenden Gruß.
Helene Doiat.
Auf den GSaffen der Heimat.
Droben der Mond und die dämmernde Macht,
Die Welt jo ftill und verlaffen,
£eife Flirrt mein langſamer Schritt
Auf träumenden Heimatgaffen.
Am Markt der Brunnen — ich lehne mich dran;
Hab hier fo oft gefeflen.
Ihr ragenden Bäume und Dädyer ringsum,
Habt ihr den Buben vergeffen ?
Ich faffe den Eimer und laf ihn fact
Sur Tiefe niedergleiten ...- »
Aus dem Jugend-Brunnen einen Crunk —
Dann will ich weiterjchreiten.
Wilhelm £obfien..
Kıunftwart
Mondfpuf.
Don Leopold Weber.
Der Vollmond leuchtet hoch am bläulichen Himmel; fein Glanz bat das
letzte weiße Wölkchen verzehrt; fogar die Sterne find in feiner Lichtflut er—
trunfen, und nur die großen Himmelsbilder glänzen noch neben ihm. Bon
unten herauf funfelt die Wintererbe feitlih im Schnee; Berge reden dort ihre
Silberföpfe empor, und mitten in ben Bergen drin, am Fuß eines Hügels,
Liegt ein Dörfchen lautlos im Mondidein.
Beer und Hell find alle Gaffen des Dörfleing. Rieſig ragt die Kirche
aus den niedrigen Häuschen hervor, ein mächtiges fteinernes Ungetüm; ein
hoher Zaubrerhut gligert der fpige Kirchturm darüber. Zwei Lukenaugen
ſchaun finfter aufgeriffen unter dem Hut. Auf einmal fängt's an, im Innern
des fteinernen Tiers zu rumoren; e8 raſſelt, es ftöhnt, ſchwerfällig zieht's
Atem: 's will Mitternadht ſchlagen. Aber ſeltſam: es ftöhnt und raffelt, es
wird wieder ftill, und fein Glodenfchlag hat geihallt. Statt deſſen — in ben
dunfeln Lukenaugen droben glüht’8 auf, und eine ſchnarrende Stimme fchreit
hinaus ins Land:
„Eins, zwei, drei, . . . . Zwölf!“
Da thut's einen Rumpler unten im Dorf. Das iſt im Haus vom Weg—
macher Jadl geweſen. Der felber iſt aus dem Bett hart auf bie Füße ge—
fahren und wandelt quer durd) die Stube. Aber ganz abweſend ſchaut er
brein. Er geht ans Fenfter; 's ift dicht mit Epheu zugewachſen; und fit
nieder. Der Mond jcheint durd den Epheu, malt helle Flede aufs wetter—
braune Runzelgefiht und blickt grad hinein in die Augen....
Ganz ftad ift’S draußen, und graufam hell, und alle Hausthüren ſtehn
weit offen.
„Was i8 denn des ?*, denkt der Jadl: „is doch nachtſchlafende Zeit!”
Uber die Hausthüren ftehn offen, und jetzt fieht er's: eine ganz leife
leuchtende Schafherde wimmelt die Gaffe Hinab; ſchneeweiß, mwollig, flodig
wimmelt's, wuſelt's Durcheinander. Ein mondheller Wolfshund rennt an ihr Hin,
umfreift fie; Funken tanzen auf feinem Borftenfell, flüffiges Silber trieft ihm
aus dem Maul. Und Hinter der Herde drein wankt der Hirt, in blauem
Mantel, ein alter Dann. Tief figt ihm der große Glanzhut im Geſicht, daß
nur ber welke Mund und das bleiche Kinn hervorſchaun; an langem Steden
wankt er bin und bewegt bie Lippen. Er fingt.
„In Gottes Namen
Die Mondſchaf' treib’ ih. Amen!“
klingt's faum hörbar in die Stube, während er vorbeifchwantt.
Und Hirt und Hund und Herde find verfchwunden.
Zange Eiszapfen funfeln an den Dadrinnen. Der Schnee ftrahlt von
taufend feurigen Sternlein. Dit ſchlafſchwerem Blick haut der Jackl hinaus
in Die weiße Pracht, die fo ftumm ift und fo kalt.
„Wie einfam, dab’ is, ha, wie einfam!*
Auf einmal träppelt’S daher durd die Mondnadt — ein Hünblein
träppelt über den gligernden Schnee. Ganz allein. Graufarben iſt's, ein
Krummbein, ein Dadeltier ift’8. Kerzengerade hat's feinen Schwanz aufgeftellt
und wedelt leis mit der Spibe, und feine Iangen Ohrwatſcheln zittern, wie es
bahinläuft.
„Ah Narr! is denn des nit der Woidl? ja biſt denn nit tot? was bift
benn fo grau, Woibl?*
u 2. Januarheft 1899
Aber Jadls Stimme hat gar keine Kraft. Der Waldl hört ihn nicht,
fhon ift er weg — unb bie Gafje hinab fommt eine junge Dirn gezogen, wie
im Schlaf, mit gefhloffnen Augen. Sie hat ein volles Geſicht; doch iſt es fo
weiß mie das Licht, das drauf ſcheint. Einen Augenblid bleibt fie ftehn und
wendet den Kopf mit ben geſchloſſnen Augen in ber Luft, als fuchte fie etwas.
Dann geht fie grad’ aufs Haus vom Maurer Franz zu. Die Edenlisl iſt's,
die fo ſchnell Hat fterben müffen, ein Jahr iſt's her! Sie tritt ans Fenfter. Mit
ben Fingerfpigen ber rechten Hand fchlägt fie leicht ans Glas, dab es Flingt.
Dann fest fie fih aufs Bänflein darunter, legt die Hände in ben Schooß und
lächelt ftill vor fich hin.
Aber da raufcht es auf, heimlich in der Ferne; raufcht wie ein Menſchen—
flüjtern, zieht näher; das Lisl verblaßt, zergeht, jetzt ſchwillt's in's Dorf
und faul durd) die Gaſſe ſtäubt's heran, eine blaſſe Schar, Männer und
Weiber. Eben grad ſichtbar blinken fie im Mondlicht durcheinander. Belannte,
Unbefannte wechſeln, wogen Hin, verdrängen einander, und alle fteigen fie
dort hinten bei ber Kirche ins Monbdlicht hinein und verihmwinden einer um
den andern. Der Jadl will fie anrıtfen, den, jenen, zurüdhalten will er fie —
zu raſch treibt alles dahin. Wie er fi) aber noch müht, fie zu erfennen, ba
knarrt's ihm zu Häupten, Inarıt und raffelt, als thäte fi) bie Dede ausein-
ander, als ſchütte der Kalk herab, und gellend ſchreit durch die offne Dede
die ſchnarrende Stimme:
„Eins!“
Der Zadl fteht auf — ausgelöſcht ijt fein Bewußtſein, gefchloffen haben
fi) die Augen — und marfdiert zurüd in fein Bett.
Reingefegt ift die Gaffe von allem Spuf, nirgends regt e8 ſich mehr. Die
Haustüren find zu. In den Lulenaugen des Kirchturms iſt das heimliche
Glühen ausgegangen. Der Mond fcheint grad aufs weiße Zifferblatt und unten
biegt der bärtige Nachtwächter ums Ed beim Arämer und fingt in die Gaſſe
inein:
9 „Hört, ihr Herrn, und laßt euch fagen:
Die Glode hat eins geichlagen.
Bhüt euch Gott und Marial*
Epigrammatijches.
Don ferd. Avenarius.
Jdeal und Küde.
Das Dolf, Poet, es liebt das Jdeale,
Nur wolle nicht, daß es dafür bezahlt:
Es hat noch nicht die höh’re Welt vergeffen,
In der du lebft, und meint, dort wirft du effen.
Saungäfte.
„Zehn Pfennig der Schemel, um drüber zu ſchaunl“
Ausruft’s ein Gefhäftsmann hinter dem Faun.
„Die fann man nur jo ohne Scham
Ein Zaungaft fein”, jo denft Madam.
Doch weil der Dorhang noch unten bleibt,
Mit einem Bud fie die Zeit vertreibt,
Das nicht gefauft zwar in der Stadt,
Dod für zehn Pfennia geborgt fie hat,
Kunftwart
— 27685 —
Und audt einem Dichter in Herzensruh
So als ein richtiger Saungaft zu.
Qeuheiten.
Iſt ein Ideechen nody fo Plein:
Sceint’s neu, fo fallt ihr drauf hinein,
Als wäre der alte Columbus blof
Schon wegen des Eierfpäfihens groß.
ZUR
Rundschau.
£iteratur.
* Arthur Zapp hat in der „Zus
funft* unter der Ueberſchrift „Schrift
ftellerleiden* einen durch feine Offenheit
überaus wertvollen Beitrag zur Beur—
teilung der modernen Literaturpflege
veröffentlit. Er jchildert darin, wie
er zu dem gemorden fei, maß er jet
if. Während er fih noch als „Plaus
derer“ ufm. ernährte, hab er endlich
die Arbeitszeit au einem großen Roman
fich erfämpft, als der fertig war, hätten
ihn alle abgelehnt, bis ihm endlich ein
Verleger 300 Darf dafür zahlte. Jetzt
famen günftige Kritiken: „Diejelben
Blätter, bie mir mein Manuflript als
nit geeignet zurüdgeihidt hatten,
lobten mein Bud) jegt über den Klee“,
und „zumeilen waren die Lobſprüche jo
überihmwänglih, daß mir die Nöte
der Scham ins Geſicht ftieg“. Aber
verfauft wurde nichts. Zapp ſchildert
nun, wie er erſt dies und dann das
verſuchte, um mit ſeiner gelobten Feder
endlich auch das Geld zu verdienen,
das ſeine Familie zum Leben brauchte
— und er ſchildert dieſes Bemühen ſehr
klar als ein fortwährendes Hinunter—
ſteigen. Mit bewußter Abſicht ver—
derbte er ſeine Arbeit, des Brotes
wegen — und nun kam der Erfolg.
Ah laſſe Zapp ſelber ſprechen, ohne
weiteren Kommentar als die Beſtätig—
ung, daß feine erſte Arbeit auch uns
vom Kunſtwart den Eindrud eines
ftarfen und viel veripredhenden Ta=
lentes gemacht hat.
„Schon nad vier Wochen kam die
Antwort. Endlih, endlid ftand ich
an dem heißerfehnten Ziel. Das Welt:
Familienblatt erflärte ſich mit Ver—
ügen bereit, mich in die Zahl feiner
eneidensmwerten Mitarbeiter aufzu=
nehmen, und bot mir für meinen
Roman ein Honorar von dreitauiend
Mark. Dreitaufend Mark! Meine Frau
meinte vor Freude und ih, — num
mic durchſchauerte ein etwas unflares
Gefühl von Genugthuung und Weh—
mut, von Freude und Scham. Go
ungefähr mußte dem Eſau zu Mute
geweſen fein, nachdem er fein Erſtge—
burtrecht für ein Linfengericht verfauft
hatte. Der entſcheidende Schritt war
gethan. Dem erften Familienblatt-
Roman folgte ein zweiter, dem zweiten
ein dritter. Auch in den Feuilleton=
fpalten der großen politiichen Zeit—
ungen wurde id ein oft und gern ges
fehener Gaſt. So treibe ih e8 nun
feit mehreren Jahren, jedes Jahr
mindejtens meine drei Romane »fabris
zierend« — fo darf id wohl jagen.
Meine Frau fann ſich zwei Dienſtmäd—
chen halten, meine finder genießen die
bejte Pflege und ih... ich bin bid
geworden, trinte täglich meine Flafche
Wein, rauche Zigarren, deren ſich ein
Kommerzienrat nit zu fchämen
braudjt, und leifte mir proßig jedes
Jahr eine große Erholungsreife.
Bei alledem bin id) ein fleißiger
Arbeiter und jchreibe Tag für Tag
meine zweihundert Zeilen. Auf »Stims
mung« zu warten, babe ich nicht mehr
nötig. Meine Routine läßt mid) nie im
Stich. Das nervenangreifende Ringen
und Kämpfen dichteriicher Arbeit und
die »Monne des Schaffens« kenne ic
nicht mehr. Salt »wie 'ne Hunde—
ſchnauze« ſetze ich mid) an die Arbeit.
Mich erhebt beim Schafen fein did)=
terifches Hochgefühl mehr in die Wol-
fen, dafür aber peinigt mid) aud) fein
Bangen, fein Zweifel mehr. Jmmer
bin ich meiner Sache fiher, denn id)
weiß ja, »wies gemadt mwird.«
Nur in der erfien Zeit fam ab
und zu noch ein Rüdfall vor. Einmal
hatte e8 mir ein befonders reigvoller
Stoff angethan, fo daß ich die gebotene
Vorliht vor dem »Tendenziöfen« aus
den Uugen ließ. Gin ameites Dal wieder
2. Jannarheft 1899
— 279 —
hatte id mir eine ausführliche »Milieu—
Schilderung« und eine pſychologiſche
Vertiefung des Charafters meines
»Helden« nicht verfneifen können. Die
Strafe folgte jedesmal auf bem Fuße.
Vergebens klopfte ich in foldhen Fällen
bei allen Familienblättern und bei
den großen Zeitungen an. Unerbittlich
wies man mir die Thür, und id
mußte mid; mit dem geringen Honorar
für Die Buchausgabe begnügen. Einmal
ichrieb mir der Redakteur einer unferer
angejehenften illuftrierten Zeitichriften,
die in allen Journal-Leſezirkeln ver:
treten ift und in jedem größeren Cafe
und Rejtaurant ausliegt (e8 handelte
jih um einen ſatiriſchen Roman, der
gewiſſe Unfitten des modernen gejell-
Ichaftlichen Zebens unverblümt geißelte
und der nicht ganz ohne literarifchen
Ehrgeiz geichrieben war) in heller Ent=
rüſtung: »So gern wir aud) fonjt Jhre
Arbeiten alzeptieren, diesmal begreifen
wir wirklich nicht, wie Sie uns zu—
muten fünnen, unferen Leſern etwas
derart Anjtößiges zu bieten.« Im Ueb—
tigen erfreue ich mich des beiten An—
fehens bei den Samilienblättern und
gehöre zu den »beliebten Erzählern«.
Ich habe nicht mehr nötig, mit meinem
Fabrikat lange zu reifen. Ich bin ſozu—
fagen eine renommierte Romanfirına
geworden, und meine Romanfabrif hat
zahlreiche, gut zahlende Hunden und
Abnehmer. Die Zeitungen und Zeit—
fchriften warten nicht, Bis ich ihnen
meine Ware zufhide: fie jenden mir
ihre Offerten ins Haus und ich be=
finde mid) in der angenehmen Situa=
tion, nicht für das Lager, fondern auf
Beitellung zu arbeiten.
Zu Nuß und Fronmen ftrebjamer
junger Kollegen will id) hier ein paar |
lehrreiche Stellen aus einigen mir zu—
negangenen DOffertenbriefen
Die Redaktion einer vielgelefenen
Frauenzeitjchrift fchreibt mir: »Wir |
erlauben uns Die ergebene Anfrage,
ob Sie uns nicht freundlichit einen für
ein feinere8® Damenpublitum geeig—
neten Roman zur Verfügung itellen
fünnen. Die in unferem Blatt zur
Veröffentlihung gelangenden Beiträge
dürfen weder eine politifche noch eine
religiöfe Tendenz enthalten und müſſen
in erotifcher Hinſicht fo gehalten fein, |
daß jie auch vor jüngeren Vlitgliedern
im Yamilienfreife vorgelefen werden
fünnen. Auch darf weder eine Ehe
fcheidung noch ein Selbjtmord vor=
fommen. Die Handlung muß stetig
an Spannung zunehmen, und in jedem
Kunftwart
zitieren.
Stapitel muß irgend eine Wendung in
der Fabel, ein neues Greignis oder
dergleichen eintreten. Der Ausgang
muß ein glüdlicher, einen angenehmen
Eindrud hinterlafjender fein..... «
Aehnlich fchreibt mir die Redaktion
eines in weit über Hunderttaufend
Eremplaren verbreiteten Familien—
blattes: »Unfer Unternehmen iſt für
den Familienkfreis beitimmt, fo daß
wir in eriter Linie auf ftrenge Dezenz
Gewicht legen müjfen und auf abjo=
Iutes Vermeiden alles politiih und
fonfeffionell Anftößigen. Auch jol auf
eine äußerlich ereignisreiche, immer in
Spannung erhaltende Handlung und
fnappe Darjtellung Bedadjt genommen
und ermüdende Schilderungen, fowie
Reflexionen vermieden werden. Uner—
läßlich iſt auch ein befriedigender
Schluß der Erzählung... .«
Man fieht: ein deutjher Romans
Ichriftiteller muß ſozuſagen mit gebun—
dener Route marſchieren, und ich habe
nicht übertrieben, als id) vorhin von
dem »Familienblatt- Roman = Leiften«
ſprach. Man darf einen Roman nidjt
»dichtene, jondern man muß ihn ges
wiſſermaßen »zurehtihuftern«e. Freis
lich, die Stritif nimmt mid zum Teil
nicht mehr ernit. Beipricht man meine
Romane überhaupt no, fo nennt
man jie verächtlich »Schablonenarbeit«,
»Dußendwares und mid) einen »Viel—
fchreiber«, einen »Dußendichriftiteller«,
einen »Familenblatt « Romanfabritan=
ten«. Grit neulid) jagte ein Stritifer
über meinen legten Roman: »Das
neuejte Elaborat von Zapp, eine mit
handfeſtem Thatfachenmaterial wirt—
ſchaftende Geſchichte, könnte ohne Um—
ſtände in das große Fach der ein—
fachen Unterhaltungsſchriften verwieſen
werden, wenn nicht Zapp einſt einer
der begabteſten unter den Jüngeren
geweſen wäre und durch ſeine Friſche
und Urſprünglichkeit Hoffnungen ge—
weckt hätte, die zu erfüllen, ihm nun
der Ehrgeiz zu fehlen ſcheint.« Der
Ehrgeiz nicht, verehrter Herr Fritifus,
aber der Mammon fehlt mir, den
Blüdlichere, wie 3. B. Hauptmann
und Stephan George, befigen und ber
abfolut dazu gehört, will man in
Deutſchland wirklich Literarifch ſchaffen.
Und nun kommt das Intereſſante,
Charakteriſtiſche, das wie eine blu—
tige Satire klingt und doch nur
eine einfache, ſchlichte Wahrheit iſt:
jener ſtritiler, der an feinem Blatt
zugleih die Stellung des Feuilleton=
vedafteurs ausfüllt, wird unerbittlich
280 —
a tr +
sr
jeden erzählenden Beitrag, der nicht mit
»hundfeitem Thatſachenmaterial wirt—
ſchaftet«, von den —— ſeines
Blattes ausſchließen, und er wird ſich
nicht einen Augenblick bedenken, Ge—
ſchichten, die er als Kritiker naſerüm—
pfend in das »große Fach der einfachen
Unterhaltungsſchriften« verweiſt, im
Feuilleton ſeines Blattes zum Abdruck
zu bringen. So iſt es mir thatſäch—
lich einmal paſſiert, daß der Kritiker
einer großen berliner politiſchen Zei—
tung einen Roman von mir gehörig
vermöbelte, den ein Jahr vorher das—
ſelbe Blatt zum Abdruck gebradt und
mit hohem Honorar belohnt hatte.
Und nun frage ih zum Schluß:
wer bat Schuld, daß mir in Deutſch—
Iand feit Jahrzehnten zwei Arten von
Romanliteratur haben, eine Bude
Noman-Riteratur, die färglich ihr Da—
fein friftet, und eine Zeitungs=- und
Samilienblatt = Roman =» Literatur, Die
üppig wuchert, von der die Autoren
leben und die aus dem Dichter einen
Handwerker madt und ihn ſyſtema—
tih zwingt, ſich wiffentlid
und mit Abſicht zu verfla=
hen, fich felbit ſozuſagen literariſch
zu faftrieren ? E8 flingt wie eine uns
finnige Webertreibung und iſt doch,
wie alles vorher von mir Gefagte,
budhjtäblih wahr und mit Zah—
len fann ih e8 belegen: je ober=
flählidher fonventioneller,
fhablonenhafter, furz, je
unliterarifher ih eine Arbeit
geſchrieben Habe, deito raſcher feste
ich fie ab und deſto Höher war das
Honorar, das fie mir eingetragen bat,
— und umgefehrt. Das geringite Ho—
norar, ein wahres Ulmofen, hat mir
mein erjter Roman gebradjt, der ein=
aige, den id mit literariihem Ehr—
geiz, mit fiebernden Bulfen und klo—
piendem Herzen, mit voller Dichteris
Icher Hingabe geſchrieben habe, der ein=
aige meiner dreißig Romane, den Die
Kritit mit einhelligem Lobe bedacht hat.
Mein Fall ift typiſch. So wie mir
ergeht e8 vielen anderen. Es ijt ein
tragifches Gefhid, deutiher Romans
fchreiber zu fein.“
Soweit Zapp. Wir empfehlen feine
GSelbjtbefenntnijfe auch allen denen,
die meinen, das Talent „bredie fi
Bahn“, das Urheberrecht aber ent=
fhädige und belohne allein ſchon nad)
Verdienft und wahre das Intereſſe des
Staates: daß die Talente fich zum
Wohle der Allgemeinheit entwideln
und beihätigen fünnen.
Cheater.
* Die Müngner literarifche Ge—
felichaft bradte uns Mar Burd-
hards ländlihe Komödie „Die Bür—
germeijterwahl* zu Gehör.
Ein reicher Jude will fi in einem
öfterreihifchen Gebirgsdorf , nieder
Iajien; doch die darob beunruhigten
Bauern ſchwören ſich gegenſeitig zu,
ihm unter keinen Umſtänden Grund
und Boden zu verkaufen. ſtaum aber
zeigt ſich's, daß man an dem Mann
feinen Profit maden kann, fo fällt
einer um ben andren ab; ber ver=
haßte Fremdling befommt nicht nur
fein Anweſen, fondern wird ſchließlich
von den Verſchwornen ſelber, die er
alle in feine Hand zu bekommen ge—
mußt bat, einftimmig zum Bürger-
meijter gewählt. Ein ganz bezeichnen:
der und zeitgemäßer Vorwurf, mie
jeder zugeben wird, der unsre Gebirg-
ler nit bloß aus Ganghoferfchen
Romanen, fondern aus perfönlicher
Unjhauung fennt. Bezeichnend —
aber mit Ausnahme des Sclußeffefts,
dab der Jude zum Bürgermeiiter ges
wählt wird. Nad) meiner Stenntnis
unjrer Bauern menigiten® fchiene
mir’s im Gegenteil geradezu typifch,
daß fie bei Bejegung dieſer Stelle
mit altväterifcher Hartnädigkeit dennoch
an ber Wahl eines der Jhrigen feſt—
halten, jo große Handelsleute vor dem
Herrn fie ſonſt aud) gewißlich find.
Ueberhaupt verdirbt der Verfaſſer feine
hübſche Erfindung durch tendenziöfe
Uebertreibungen in der Ausführung.
Es wird ſchier fein gutes Haar mehr
an ben Bauern gelaſſen; und folch’
boffnungslofe Lumpenhunde find die
Leute in ihrer Gejamtheit ſchließlich
grade jo wenig, wie höhere Wefen in
Stniehofen. Uber ſelbſt eine derartige
Uebertreibung wäre immerhin nod
enießbar, wenn Burdhardb menigs
tens da, wo er übertreibt, charak—
teriftifch, wenn aud) grotest über
triebe. Wie die Gebirgler raufen und
faufen und wie die Dorfhonoratioren
am Stammtiſch fi) gebärden, das
weiß er war; das äußere Milieu
veriteht er jehr geihidt und amüfant
zu geben; aber das ſozuſagen innere
Milieu, des Bauernmeinen und »fühlen
ift ihm meiner Anficht nad) verſchloſſen,
fomeit es ſich nit um jehr bekannte
Züge Handelt. Ganz überzeugend
tritt das in einer Gerichtsfzene des
zweiten Mufzugs zu Tage. Der Bes
zirfsadjunft findet an einer hübſchen
2. Januarheft 1899
= 231 —
Bauerndirn Gefallen, und nachdem
er feine Schreiber und alle fonjtigen
Berjonen unter ſehr zweifelhaften Vor—
mwänden aus ber Stube hinausbejör-
dert hat, füßt er das junge Ding ohne
lange Zeremonieen ein paar Mal ab,
was dem Mädel fo gut eingeht, daß
e8 den Herrn Adjunkten fofort ins
Haus, ihres Fünftigen Mannes einlädt
und zwar zu einer Zeit, wo biejer
Mann abmwefend fein werde. Solche
Szenen ſchmecken ja mehr nach ſchlech—
ten Literarüberlieferungen als nad)
Leben überhaupt. Aber wenn man
auch die Möglichkeit zugibt, daß ſich
eine Halbkokotte allenfalls fo aufführe
— ein fiebzehnjähriges Bauernmädel
geberdet ſich unter ſolchen Umſtänden
anders: ſo raſch und ſelbſtverſtändlich
findet ſich eins, das Tag für Tag in Stall
und Feld ſchafft, dann doch nicht im Die
Paſchalaunen eines himmelweit von ihm
verſchiedenen Stadtmenſchen und Ge—
richtsherrn. Ausnahmen aber müßten
als ſolche deutlich gekennzeichnet wer—
den. Auch daß ein öffentlich aner—
kannter „Depp“ von einem Bauern
erllärt, e8 babe vor Freude in ihm
„aufgefchrien*, al8 er gemerkt, daß er
die Mali „in feine Hand* befommen
habe, ſcheint mir nicht ganz dem
Deppenmilieu zu entijprehen. Welche
Mittel der Autor gelegentlih nicht
verfhmäht, das zeigt auch wohl eine
furze Snhaltsangabe des zweiten Aftes.
Der Aufzug bejteht aus lauter Ges
richtsſzenen. Erjte: Ein Bauer wird,
ohne feinerfeits zu Wort fommen zu
fönnen, vom Adjunkten fategorifch ab=
gehandelt und verurteilt, worauf ſich
natürlich zeigt, daß fie gar nicht den
richtigen vor fi) haben. Zweite: Der
Adjunft radebricht mit einem Italiener
und läßt den Ahnungslofen, der fein
Wort des Gerichtsherrn verftanden
hat, einfach in Haft abführen. Dritte:
Die ſchon geſchilderte Kußſzene. Vierte:
Eine Verhandlung wegen Rauferei im
Stile unfrer berühmten, wißigen Zei—
tungsgerichtsperhandlungen. Gegen-
über dem ftarfen Beifall, den das
Stück fand, glaub’ ich diefe bedenk—
lihen Punkte hervorheben zu müſſen:
ein näheres Eingehen auf die früher
beſprochene „Bürgermeifterwahl* darf
ſich ja der Kunſtwart jegt eriparen.
£. Weber.
* Weber das Mefen der Hof—
theater hat kürzlich Poſſart einiges
Intereſſante in einer Erflärung gejagt,
mit melder er Mngriffen in ber
Münchner Preſſe begegnen wollte. „Wir
Kunftwart
geben Stüde von Halbe und andern
Vertretern der modernen Richtung,
aber e8 iſt ungeredht, von der Hofe
bühne alles zu verlangen. Man ver:
gikt bei der letzteren immer eines:
daß fie nit bloß ein Sationalz,
fondern aud) ein Hoftheater fein fol.
Der Hof gibt jährlih eine Halbe
Million dafür aus. Bei Hofe find’
acht minberjährige Prinzeſſinnen. Wir
fönnen e8 nicht dahin kommen laſſen,
daß fünftig das Hofmarfchallamt bei
uns anfragen muß, ob der Beſuch
diejer oder jener Borftellung für die
jungen Damen geeignet fei oder nicht.”
Sp müſſen denn die fünftlerischen
Aufgaben der Hofbühnen darauf hin
unterfucht werden, ob fie fih aud
mit der Erziehung der acht jungen
Damen vertragen. Poſſart hätte ebenfo
gut fagen fünnen: man darf von den
Herrſchaften nicht verlangen, daf ihnen
vorgefpielt werde, was ihnen nicht
gefällt, und fo iſt e8 eigentlidy befon-
ders nett von den jungen Pringzeflinnen,
daß fie nidt nur Stüde fordern;
die jungen Mädchenherzen lieblich firtd,
Mir Sprechen ganz ernithaft, wir fpotterf
Herrn von Boilarts nidt — denn
wir müjlen ihm in diefem Punfte
volllommen recht geben. Bezahlt ein
Fürft für ein Theater eine halbe
Million jährlich, jo ſoll's ihm einer
verdenfen, wenn er die Sade dafür
men nad) feinem Familien-Bedarf
haben will! Aber freilich: feine Zivil:
lite wird fo hoch bemefien, weil der
Staat von der Borausjehung aus—
geht, er werde jene „Repräfentation®-
gelder* zahlen. Zu Anſtalten, die allein
| der $unft dienen, fünnte man deshalb
diefe Bühnen nur machen, wenn man
die betreffende halbe Million der
Zivilliſte abſchriebe und für ihre
gegenmärtigen Zmede unmittelbar
beitimmte. Dann hätte man Statt der
Hoftheater ſtaatliche. Aber welches
deutſche Parlament entſchlöſſe ſich zu
einem jo „verwegenen“ Schritt! Und
ſchließlich iſt zuzugeben, daß die Or—
ganifation eines Staatstheaters auch
nicht einfach wäre, wenn es alle Auf—
gaben der gegenwärtigen Hoftheater
übernehmen müßte.
*Etwas von Klatſchen und
Verbeugen.
Man macht uns auf eine Rezen—
fion der „Boffifhen Zeitung“ aufmerk—
fam, in der gelegentlih der Auffüh—
rung von Georg Ruſelers Stück „Die
Stedinger* in Berlin Franz Servaes
u. 9. fchreibt: „Es war eigentümlid,
— 2 —
ihn zu fehen, mie er vors Publikum
trat und fi) verbeugte, der etwa
dreikigjährige Schulmeifter aus dem
Marſchland: ein obiger, bebriliter
Bauer, glattrafiert wie ein fatholifcher
ſtaplan, mit einem etwas pfäffiichen
Bug in dem bleichen, grobgeſchnitzten
Geſicht.“ Schön finden wir das wirk—
lich nit, aber nit annähernd fo
widermwärtig wie die erhabene Ueber—
—— des Geiſtreichen, der im
„Börſenkouriere“ fragt: „die ſchwarzen
Handſchuhe, die Herr Ruſeler trug,
ſtammen wohl auch aus Oldenburg ?*
Auf die Handſchuhe, jawohl, auf die
kommt's an. Schließlich müſſen mir
Friedrich Lange zuſtimmen, der über die
ganze Verbeugerei vor dem Publikum bei
dieſer Gelegenheit ſagt: „Mir iſt es
immer ein Gegenſtand des Erſtaunens
geweſen, daß ſich die Bühnendichter
zu dergleichen Faxen herablaſſen. Ver—
führt ſie die Eitelleit dagu, nun dann
erfüllt ja die Eitelkeit auch hier ihre
Zauberkraft im Dienſte der Geſellig—
feit, daß fie die Brücke ſchlägt zwiſchen
denen, die ſich ſonſt um einander nicht
kümmern würden, und dann iſt kein
Wort darüber zu verlieren. Verbeu—
gen ſich die Dichter aber aus Ueber—
zeugung, ſo möchte ich wohl die Logik
kennen lernen, die ſie zu dieſer Sitte
überredet. Auf die Bühne gehören
die Schauſpieler; ſie mögen ſich ver—
beugen, da es zu ihrem Berufe ge—
hört, dem Publikum zu Gefallen zu
ſein. Aber der Dichter — von ihm iſt
es eine Nachgiebigkeit an den demo—
kratiſchen Inſtinkt, und ſolche Nach—
iebigkeit, wenn ich ſie in eigener
—* mit meinem ganzen Selbſt
leiſten ſollte, würde ich mir dreimal
überlegen. Vollends in Berlin, vor
einem Parkett von — na, ſagen wir:
nicht von Königen!“
Muſik.
*Lieder und Sänger.
Die Programme unſerer Lieders
abende jehen traurig aus. Bon einigen
rühmenswerten Ausnahmen abgefehen,
herrſcht hier troftlofe Gleichförmigteit.
Schubert (Müllerlieder, „Schmwanen=
gefang”, niemals aber die herrliche
Winterreife),, Schumann („Der
Ben Kiebe und Leben“, „Der Nuß—
aum*, „IH grolle nicht“,
freis [Eichendorff] mie verfchollen),
Beethoven (Wdelaide u. ſ. w., Die
herrlichen englifchen Volfslieder jo gut
wie nie), Mendelsfohn („Frühlings-
Lieder |
— — —S — — —— en — nennen,
lied*, „Auf Flügeln des Geſanges“ —
der Reit fast ganz verfhollen), Brahms
(„Deine Liebe ijt grün”, „Ständen“,
„Bon emiger Liebe“ u. f. w. Die
Magelonenlieder troß aller Ugitation
faft nie), Rob. Franz (Rofenlied,
„Stille Sicherheit“, — ſonſt unglaubs
lich ra — das märe fo das
Schema Bon Hugo Wolf, Richard
Strauß, Maufe, Prochazka, Plüdde—
mann, Fielit, Hans Hermann, Pfitzner,
Zemlinsky, Nodnagel, Zumpe u. f. w.
weiß man in unfern Stonzertfälen faft
nichts. Noch zahlreicher find die uns
gehobenen, beijeite gemworfenen Schäße
an alter Literatur. Wo Hört man
3. B. bie herrlichen Bearbeitungen Bad)=
Icher Arien von R. Franz oder des—
jfelben Meifters Ausgabe der Balladen
von F. Grimmer? Liſzts Lieder find
(„ES muß ein Wunderbares fein” und
„Loreley“ etwa ausgenommen) vers
geilen. Aurz: e8 wird ftelS das—
felbe von denselben gefungen.
Wie gedanfenlos und le da
vorgegangen wird, zeige nachfolgendes
Erempel. taum zwei Jahre iſt e8 ber,
daß man bie Deffentlichkeit auf Hugo
Wolf aufmerfiam madte* und ſchon
heute wird ein großer (und mwahrlid
nicht der fchledhteite) Zeil feines Werfes
bei den Sängern wieder vollitändig
vernadläffigt. So die herrlichen Goethes
lieder und die Gefänge nad) Texten
Michel Angelos, während man fein
„Wächterlied“, „Anafreons Grab“,
„Der König bei der Krönung“, „Bite:
rolf“ allwöchentlich hören fann. Auf
diefe Weife geht der ideale Zmed der
Liederabende — dem mufilliebenden
Bublitum Führung, Anregung und
Belehrung zu bieten, die alten Meifter
au pflegen und neue befannt zu machen
— gänzlich verloren. Ja, wenn man
überhaupt nad) Programmen urteilen
wollte, fönnte es jcheinen, dab Die
Meiſter des Liedes nur die par Opern
' geichrieben haben,
die uns unjere
Sänger und Sängerinnenimmer wieder
vorführen. Außerdem: Wie — frage
ih — jollen denn jüngere, redlich
ftrebende Muſiker befannt werden,
wenn man ihnen die Pforten der
Sonzertfäle verschließt? Denn Die
Konzertſäle find es, von wo aus Muſik—
mwerfe ihren Zug durd) die Welt ans
treten. Dan hört im Konzertſaal ein
Lied, e8 hat einem gefallen, man kauft
* Den HunitwartsLejerfreis aber
ausgenommen, der weiß von ihm feit
' mehr als zehn Jahren etwas.
2. Januarheft 1899
es, empfiehlt es an Freunde weiter —
und fo wird die tompofition befannt.
So menigjtens ſolllte e8 fein. Aber
ftatt deſſen fommt es vor, daß oft
monatelang fein einziges neues Lied
gefungen wird — hödhitens etwas vom
Stlavierbegleiter, mit dem man fi
ja „itehen* muß...
Und mas läßt fich gegen bie ge=
ſchilderte oberflächliche Gedankenlofig-
keit thun? Vielleicht wird man, um
wenigſtens teilweiſe eine —— zu
ſchaffen, auf die außer Uebung ge—
kommenen, übel angeſehenen Kompo—
ſitionskonzerte zurückgreifen müſſen.
Beſſer freilich wär es, wenn ſich der
denkende Teil des muſikliebenden
Publikums ſelbſt gegen die Laßheit
von Sängern und Sängerinnen, die
ihre Programme auf die eingangs ge—
ſchilderte Art zuſammenſtellen, ver—
wahren wollte. Das wäre der natür—
lichſte und beſte Weg. Mar Garr.
*Beim Beginn eines der legten Kon=
zerte der f. Hoffapelle inBerlim machte
man durch die Verteilung grüner Zettel
befannt, daß infolge eines unvorher—
gejehenen Zwiſchenfalles das ange—
fündigte Ordeiterjtüd „Zwiegeſpräch“
von Scillings ausfalle und dafür
die Tannhäuferouvertüre eingefchoben
werde. Der „unvorhergejehene Zwiſchen—
fall* beſtand aber darin, daß das Wert
vormittags bei der Hauptprobe vom
Publikum ausgeziiht morden mar.
Demnach wid Weingartner vor den
Meinungsäußerungen eines anonymen
Konzertpubliftums tapfer zurüd. Wir
unjerjeit8 meinen: war die fompofition
wirklich ſchlecht, dann hätte fie über-
haupt nit aufs Programm gefeht
werden Dürfen, hielt man fie aber für
gut, dann hieß es: durch. Dan jtelle
ih vor, wie fih in foldhen Fällen
etwa ein Bülow verhalten hätte. Wenn
ſich auch unsre eriten Stonzertdirigenten
nicht mehr als Erzieher und Führer
zur Kunſt fühlen, fondern einfah als
ausführende Angeftellte der Publikums—
Viellöpfigkeit, dann find wir am
Ende.
* Eduard Behm, der Kompo—
nift der in Dresden aufgeführten
neuen Oper „Der Schelm von Ber-
gen“, iſt als der ganz vortreffliche
Klavierbegleiter Eugen Guras in
weiten reifen befannt, bat fi) aud)
als ZTonfeger ſchon früher bethätigt,
mit einem rejpeftablen Sertette für
Stelzner =» Inftrumente (2 Biolinen,
Viola und 6 Biolotta, Cello und Cel—
Ione), das aus einem WPreisausfchrei=
Kunftwart
— ——— — — — — — — — — ——— — —
ben hervorging. Auch dieſer ſein ge—
wiß reſter dramatiſcher Verſuch kann
immerhin als eine Talentprobe gelten.
Freilich, kurz und allgemein geſagt,
iſt auch der Behmſche „Schelm von
Bergen“ eben nur eines unter den
vielen Muſikdramen, die durch den
Regen der Wagnerbewegung befruchtet
worden ſind. Keine Faſer darin, die
nicht durch Wagner (im beſonderen
durch die Nibelungenring-Partituren)
geſiebt wäre. Und doch iſt's immer
noch alles Mögliche und aller Aner—
kennung wert, daß überhaupt Motive
zum Vorſchein kommen, die als ſolche
zu entziffern ſind, wenn ſie auch, von
einem reizvollen Menuett im alten Stile
abgeſehen, bei ihrer Kleinheit und ner—
vöſen Unruhe mehr wie melodiöſe
Flimmerſchwänzchen, denn wie rich—
tige, feſte Melodieleiber ſich bewegen.
Die Dürftigkeit der Handlung darf
man auch hier nicht an den aufge—
wendeten, großen Mitteln abwägen
* Orcheſter herrſcht die reine Nibe—
ungen-Polyphoniums-Farbenpracht),
ſonſt nimmt ſich das Ganze doch jo=
zuſagen wie ein Wagnerſturm im
Waſſerglaſe aus. Die Handlung lehnt
ſich an die bekannte Ballade vom
„Schelm von Bergen“. Auch iſt das
gleichnamige Luſtſpiel von Roquette
mit benutzt worden. Zu Beginn das
Maskenfeſt, zum effektvollen Abſchluß
ber Preis- und Dankchor, dazwiſchen
das Hin und Her eines doppelten
Liebesvexierſpiels: der edle, als Trou—
badour verkleidete Henkersmann und
Titelheld umgirrt die ſchöne Herzogin
und über Kreuz der großmütige Herzog
die pikante Henkersfrau, nachdem diefe
als Wahrſagerin alle die merkwürdige
Verliebtheit den Leuten aus den Hän—
den vorausgeſagt hat. Als dann nach
dem Menuett die Masken gelüftet
werden müſſen, entladet ſich das Ge—
witter. Aber es bleibt, gottlob, bei
kalten Schlägen, der Ausgang iſt ſo
überraſchend gut wie möglich: ſtatt
daß der edle Henker für ſeine geniale
ei ae den Kopf laſſen muß, wird
er feierlich vom Herzog, den die große
Verteidigungsrede tief gerührt Hat,
zum Ritter geichlagen.
In letzter Zeit hat unfere Opern
leitung einen löblihen Eifer entwidelt,
ältere, befonders in Dresden vernach—
läffigte Werke auszugraben und nad)
Kräften wieder zu Ehren zu bringen,
wie „Euryanthe*, die wegen ihres
mijerablen Textes ja leider nicht
dauernd auf den Spielpian zu Halten
234 —
ift, und den köſtlichen „Barbier
von Bagdad“ von Peter Gorneliuß.
Der „Eid“ des liebenswerten Dichter=
mufifers ift in Vorbereitung Mit
Berdis großartigem „Othello“ wurde
bie Winter-Spielzeit glanzvoll eröffnet.
Die Stapelle hat einen beflagenswerten
Verluſt durh Rappoldis NRüdtritt
erlitten.
Ueber anderes Ridhtige aus dem
Dresdner Mufilleben ſprechen wir zu—
fammenfajjend fpäter.
Karl Söhle.
* Zur Berofi- Reklame.
Das letzte Mal fpraden wir vom
neuen großen Mascagni-Preßrummel,
aber die italienifhen Verleger laſſen
fidy’8, das muß wahr fein, ein Heiden=
geld fogar bei chriſtlicher Muſik koften.
Und zudem: ja, was ſollt' es denn
auch für den Hunftteil einer deutjchen
Zeitung Wihtigeres geben, als daf
man in Rom von einem Muſiker
meint, er fei ein Talent? Natürlich
haben die Hoftheaterintendangen in
Berlin und Wien fidh beeilt, das
wälfche Wunder zur Aufführung feines
Werks in Berfon zu „gewinnen“. Es
ift rein, als ob Berofi das Oratorium
erfunden, als ob ein Bad, Händel,
Haydn, Mendelsfohn, Schumann,
Lift, Frand, Tinel nie gelebt hätten.
Das Gute in Ehren, woher es fomme
— aber wenn ihr deutſche Kunſt in
Deutſchland nicht bevorzugen mollt,
meine Herren, dann doch mwenigftens
ein bishen mehr Gleichſtellung
deutfher Komponiſten mit fremden,
wenn's beliebt! Wo bleiben bie Po—
ſaunenſtöße der Preſſe, wenn ein
deutſcher Komponiit ein gutes Ora—
torium jchreibt, und mann fällt es
dem Wusland ein, einen beutjchen
Komponiiten fofort zu ſich einzuladen %
Wir wollen im eigenen Hauſe ein
verjtändiges Htunftleben, aber was ba
drinnen geidicht, darauf hören mir
nidt. Denn wir müffen die Ohren
fortwährend draußen vor dem Thor
haben: ob nicht irgend wer von an—
derswo die Straße her pfeift.
Uebrigens iſt auch bei Berofi die
Mache ganz leicht kenntlich, wie tas
lentvoll der Mann fein mag. Eine
echte Bewegung bei folden Dingen
geht fo: anerfennende Berichte, dann
ftärfer anerfennende und eingehendere,
furz: ein Wadfen der Erwärmung
für die neue Sache. Eine gemadte
aber beginnt fait nie mit hohem Lob,
dazu find die Herren zu geicheit, weil
das Widerſpruch erweden fünnte, be=
vor die Mache ftarf genug ward, ihn
zu ertragen. Alſo: zunächſt ganz
ruhige, jcheinbar objettive Beſprech—
ungen, die Einwände nicht verhehlen
und ſtarke Mängel zugeben. Man
Tiejt e8 und legt's beifeite. Während
aber nun ein anderes nidt mehr
Ferner Werk ein für alle Dal erle»
igt wäre, fommen Feine Notizen über
diefe8, und immer neue, unb während
die anfängliche leidlich zutreffende
erite Beſprechung allmählich ver—
gejlen wird, fuggeriert die Häufigkeit
der Notizen allmählich bem Leſer, daß
ſich's dod um was ganz auferordent=
lihes handeln müſſe. Dann erit
wird von demfelben Werft ganz felbit-
veritändlih wie von etwas hochbe—
deutendem geſprochen: das Wunder—
kind iſt mit der Reklame nun aufge—
päppelt. So war's mit Mascagni,
fo iſt's mit Perofi: die erften Kritiken
fagten von ihm bei aller Anerfennung
feines Talents gan; unumwunden,
eine originelle Künſtlernatur fei er
nit. Statt der natürlihen Folge:
rung daraus: lafjen wir ihn alfo in
Frieden, fam dann die fünftlihe: er:
ichleihen wir ihm alfo, nachdem wir
der ehrlichen Gegenkritik durch unfer
Zugeitändnis den Mund verfchlofien,
nun umſo munterer von hinten her=
um ein Rühbmden und uns ein We:
fhäfthen, indem wir tro% unfrer
eriten Bejprehungen ihn als großen
Dann behandeln.
Bildende Kunft.
* Zur Ehrung Adolf Menzels.
Kaifer Wilhelm Hat, mie die
Zeitungen mitteilten, an Prof. Anton
von Werner das folgende Telegranım
gerichtet: „Ih habe Sr. Exzellenz dem
Profeſſor Dr. v. Menzel meinen hohen
Orden vom Schwarzen Adler ver—
liehen; e8 foll diefe höchſte Ehrung,
die einem Künſtler je zu teil geworben,
ein Zeihen meiner Dankbarkeit fein
für die durch feine Kunſt meinem
Haufe geleijteten Dienjte, ſowie ein
Sporn werden für die Jünger der
Kunſt der Malerei, aud) auf den von
Menzel fo erfolgreich betretenen Bahnen
au folgen und zu ftreben, es ihm gleich—
zuthun. Wilhelm R.*
Diefe faiferliche Kundgebung wirft,
abgejehen davon, daß fie als ein Zeugs
nis dankbarer Gefinnung erfreut, ins
fofern außerordentlich angenehm, als
in ihr einmal ganz unzweideutig zum
Yusdrud fommt, daß derartige höchite
2. Jannarheft 1899
— 25 —
Ehrungen“ für Verdienite um das
Kaiferhaus verliehen werden, nicht
alfo etwa für Berdienite um Die
Kunft. Un fi ift es ja nur felbit-
verftändlih, daß weder Monarden
noch Regierungsbehörden in Sadıen
der Kunst zuftändig fein fönnen. Uber
e8 gibt doch noch recht viel naive
Menſchen, die in der fozialen Stellung,
in Titeln und Orben eines Künſtlers
auch einen Maßſtab für feine fünft-
lerifhen 2eijtungen erbliden; und
viele, die diefeDteinung für ih imStillen
nicht teilen, halten e8 doch für nützlich,
monarchiſch, ja „patriotifch”, ſie öffent
lich zu befennen. Diefen allen iſt der
Kaifer mit gewohnter Offenheit ent-
gegengetreten, indem er als maß—
gebendes Motiv für die Verleihung
„bödhiter Ehrungen“ Verdienite um
den Glanz feines Haufes enthüllt hat.
Damit klärt er aljo in dankens—
werter Weife auch weitere ſtreiſe über
den eigentlihen Wert von Orden und
fonftigen ſtaatlichen Auszeichnungen
auf. Vorausgeſetzt allerdings, daß fie
das klar Gefagte verftehen wollen.
Das Leben Menzels, in deſſen geijt-
voll und oft recht ſcharf ſatiriſcher Uuf—
faffung in der That der preußische Hof
und die, fo ihm nahejtehen, vor der Zus
funft weiterleben werden, hatte fieben=
jig Jahre gewährt und e8 fam hoch
"Damit und e8 währte achtzig, aber nod)
immer war ihm die Auszeichnung nicht
geworden, die ihn gegen die Witte
des neunten SLebensjahrzehntes Hin
überrafhen ſollte. Es iſt gemiß:
er hat nicht nach ihr geſtrebt. Und
es iſt wohl auch gewiß: feine Ktunſt
wäre ebenſowenig wie eine andere wirk⸗
lich geniale durch die Hoffnung auf den
Schwarzen Adlerorden oder eine
andere allerhöchſte Belohnung ge—
worden, was ſie ward. Wenn wir
uns alſo angeſichts des zweiten, des
pädagogiſchen Teils der kaiſerlichen
Drahtung fragen, wer durch ſolche
Ehrung zum Betreten der Menzelſchen
Bahnen angeeifert werden ſolle, ſo leud)=
tet ein, daß die wirklich großen Künſtler
hier von vornherein auszuſcheiden ſind.
Ganz offenbar kann der Kaiſer nur die
mittelmäßigen Talente und ſchwächern
Charaktere unter den „Jüngern der
Kunft*“ veritanden haben und fann *
das „gleichthun“ nur auf die dynaſti—
ſchen Dienſte beziehen. Denn hervor—
ragende Talente oder gar Genies
können ja überhaupt einen Ratſchlag
über die Bahnen, denen fie zu folgen
haben, jelbjt wenn er aus faiferlihem
Kunftwart
Munde kommt, ſchwerlich verwerten;
fie finden das höchſte ihnen Er—
teihbare nur auf den Wegen,
die ihre eingeborene Begabung ihnen
weilt. Sollte man annehmen, ein
Goethe oder Schiller, ein Wagner oder
Klinger hätten den Geift ihrer Werke
nad) der Ausfiht auf einen hohen
Orden modifiziert? Seine Majejtät
fann fi) von der pädagogiſchen Ab—
ficht feiner Berleihung ———————
nur bei Künſtlern Erfolg verſprechen,
deren Thätigkeit ſich durch au ßer künſt—
leriſche Motive beeinfluſſen läßt. Die
praktiſche Folge des Erlaſſes dürfte
demnad eine Etärfung der bynaftifchen
Hofkunſt jener Art fein, die fich bei
Begas, U. v. Werner, Rafchdorff, Knack—
fuß, Leoncavallo, Zauff u. ſ. w. ent
mwidelt, Männern, unter denen wir
vielleicht die nächiten Künſtler-andi—
daten für den Schwarzen Udlerorden
au fuchen haben.
* Huch auf gediegene Ginbände
richtet fi) unter der Einwirkung der
„neuen Kunjt“ nun häufiger das Augen—
merf; mehr und mehr Bücjerfreunde
ftreben darnach, die gejchmadlofe
Marktware an Bücherbänden durch
Gutes und Mürdiges zu verdrängen.
Bei den Bölfern, deren äſthetiſche Er—
ziehung meiter vorgeſchritten iſt als
die unſrige, ſteht dem nichts beſonderes
im Wege. Die Engländer 3. B. liefern
ihre Bücher in einfachen Kartonnagen
unaufgejchnitten. Da mags dann der
Käufer halten, wie er will; er fann fie
fo laffen oder zum Buchbinder geben.
In Deutſchland aber fommts hHäufigvor,
daß neue Bücher nur gebunden und be=
fchnitten ausgeliefert werben. Das heißt
aber, man stellt dem Bücdherfreunde, der
mas von Einbänden verfteht, dieſe
Wahl: entweder er jtelle den „Originals
einband“ von Berlegers Geihmad in
feinen Schranf, oder er verzichte auf
das Bud. Wird der freundliche Nat
gegeben: „wechſeln Sie doch den Dedel
aus“, fo ift das, wenns nicht Spott
ift, eine Gedantenlofigkeit, denn erſtens
liebt e8 der Bücherfreund oft, gute
Merfe nur oben des Staubes wegen
ein wenig zu bejchneiben und zu ver=
golden, und zweitens brädhte jenes IIm=
binden bei folider Ausführnng ein
boppeltes Beſchneiden mit fi, und
da8 machte den Rand noch ſchmal—
fhultriger. Selbit die Qurusausgabe
von Bismards „Erinnerungen“ konnte
man, jelbjt wenn man fie ſechs Wochen
vor dem Erfcheinen beftellt Hatte, in
feinem ungebundenen und unbes
Jchnittenen Exemplar befommen, felbit
Bismarcks hochbedeutfames Werk alfo
fann man ſich nicht wahrhaft vornehm
einbinden lajjen. Solden Erfahrungen
gegenüber wird die Forderung dring=
lih: maden wirs wie die Engländer,
geben wir fartonnierte Exemplare
mit unbejdhnittenen BT un
Dermifchtes.
* Beim Tode Moritzens von
Egidy haben wir in den Zeitungen
fo und fo oft die VBerficherung gelefen,
der Dann fei feine geiftige Größe ge—
weſen, er hab e8 wohl gut gemeint,
aber feine Gedanken hätten dem Wol—
len nicht entijproden, und fo feine
Arbeit verfehlt geweſen. Nun ift e8
wohl war, ein großer Denker war
Egidg nit, aber feine Arbeit war
troßdem nicht verfehlt — man follte
nit glauben, mit derlei Bemänges
lungen das Widhtigfte über ſolche Er—
fheinungen hervorzuheben. Auch feine
größte Bedeutung lag ja darin, daß
er rückſichtslos die Konſequenzen aus
ſeinen Erkenntniſſen zog, daß er ein
„Belenner* war, auch er war weit
mehr als ein intelleftuelles ein ethi—
ſches Talent, und fo wirkt' er meit
weniger durch jeine Gebanten als
durch feine Perſönlichkeit vorbildne—
riſch erziehend. Wir, deren Endziel
es iſt, im Leben aller Künſte nichts
Minderes als den unverfälſchten Aus—
druck des Empfindens zu ſehen, den
großen Austauſch des Fühlens der
Nation, wir haben am wenigſten
Grund, ſolche Männer gering zu be—
werten.
"Im Simpliciſſimus-Prozeſſe
hat alſo der Zeichner Heine ſechs
Monate bekommen, und wegen „Fahrs
läffigfeit* find fogar die Druder
beitraft morden. Die Berhandlung
war wieder geheim, bamit nit von
hundert Zuhörern all das Entjegliche
vernommen mwerbe, was danf ber un=
ſchätzbaren Reklame durch die Anklage
einige hunderttaufend Menſchen mehr
erfahren Haben. Hinſichtlich unfer
Stellung zu biefen fhönen Saden
verweifen mir auf den Auffag zum
„Halle Trojan“.
+ MWürbern“.
Die fämtlihen Tageszeitungen,
melde die letzte Poſt uns bradte,
machten ſich über „ein köſtliches Pröb-
hen von Berwaltungsdeutfh* Iuftig:
das WUmtsgeriht von Weida fagt in
einem Berjteigerungsausgebot, ein
Grundbefiß fei auf fo und fo viel
Mark „gewürdert“ worden. „So wer—
den wir richterlich »ſprachbereichert⸗“,
heißt es einſtimmig dazu. Werte Herren
von der Vreſſe, bier Hat ſich leider
niht das Amtsgericht von Weida
blamiert, fondern ihr habt's gethan,
und zwar „voll und ganz“. Denn
„würdern“ iſt feine „Sprachbereiche—
tung”, jondern das ganz alte gute
beutfhe Wort für das Fremdwort
„tarieren“.
Unsre Beilagen.
Mit unfrer Mufifbeilage legen wir diesmal eine Szene aus Wilhelm
Kienzls neueſtem Opernwert „Don Quirote* vor — einer Tragilomödie,
wie man auch beim Spielen unſrer Probe nicht vergejlen darf. Es ijt die
tomanzenartige Es-moll-Stelle des dritten Altes, die eine Probe der Kienzlſchen
oollstümlich plaftifchen Melodik geben mag. Den melandolifen Terzengang
ber Einleitung führen die Mlarinetten aus; dann ertönt in den Hörnern das
Motiv der Ritterflage, während das Gello mit einer feufzenden Figur ſich ein-
miſcht. Die Kantilene felbft wird von den gebämpften Streichern begleitet.
Bei der Wiederholung des Satzes „fern von Dulcinea“ fest glanzvoll die Harfe
‚ein. — Mlavierfpielern feien aus dem bei Bote & Bod erſchienenen Klavier—
auszuge (ME. 20.—) die ftimmungsvolle „Waffenwadht” und die beiden ſym—
phonifhen Intermezzi empfohlen.
Eine große Freude ift e8 uns, dab wir den Lefern heut zwei der herr-
lichſten Blätter Klingers mitgeben dürfen und zwar in Reprodultionen, bie
2. Januarheft 1899
= 237 —
dankt außerordentliher Bemühung der Münchner Firma Dr. E. Albert & Eo.
den nur im Feiner Auflage möglichen Lichtdruden (zu je 2 ME.) faum nach—
ftehen, wenn fie aud) die Herrlichkeit der Originalradierungen natürlich nur ahnen
laffen. Diefe, die Originalradierungen, finden ſich befanntlich in der „Brahms=
phantafie*, von welder noch Eremplare zum! Preife von 450 ME. von Amsler
& NAutbard "in Berlin zu beziehen find. Den Tert entnehmen wir ber im
gleihen Berlage erfchienenen feinen Schrift „Mar Hlingers Griffelfunft* von
Ferd. Avenarius:
Klinger eröffnet und ſchließt bie erjte Reihe diefer Blätter, wie mit einem
gezeichneten Vor⸗ und Nachſpiel, mit mei Vollbildern, die Veranſchaulichungen
find der befeelenden Macht der Mufil. „Akkorde“ und „Evofation* find fie
genannt; wir wollen fie miteinander. betraditen.
Yuf einem nüchternen hölzernen Gerüft, das den Gedanken an eine
Symbolifierung der Alltagsprofa an uns vorüberhufhen läßt, figt der Spieler
vor feinem Inftrumente am Meeresjtrand, den Blid auf die Noten geheitet,
neben fich die geliebte Yrau. Und nun fi die Noten zu Tönen beleben, beginnt
die Seele bes Spielenden auf den Wogen der Muſik Hinauszufhmeben, mie
der Menfh dort im Sahne auf den Wogen ber See zu erniten Heiligtümern
ftrebt. Ein munderfames Regen beginnt in der Natur. Die See, das fel-
fige Ufer drüben, die Wolfen, die über ihm hinftreihen und aufwachſen: wir
fühlen es, all das wird mehr, als Wafler, Stein und Luft. Da aus der Tiefe
hebt fich eine gewaltige Harfe, ein Haupt iſt darauf und auf diefem Haupte
ein mufchelartig Gebild, als raufchten in ihr, wie in der Mujchel, die Geheim-
niffe des Meeres. Töchter der See tauchen auf und greifen nad) ihren Seiten.
Uber der Zauber der Muſik beginnt erit; er Spieler droben fieht von all dem
MWerdenden noch Nichts.
Er fpielt und fpielt, mächtiger und mächtiger wird die Welt der Mufit.
Endlih, bei einem volltönenden Aklorde, blidt. er auf — das ſchildert das
zweite Blatt — und fiehe: zu neuem Leben durchgeiſtigt erſcheint ihm nun,
was ihn umgibt. Emporgerauſcht ijt die Harfe, die toten Höhlen in ihrem
Haupt haben fi gefüllt mit mächtig blidenden Augen, durch die tönenden
Saiten aber grüßt ftatt des verſchwundenen irdiſchen Weibes den Spieler das
göttliche, das alles nur Erdenmähige von ſich geworfen hat, wie Maskentrödel.
3u höherer Ordnung verwandelt fcheint felbjt das Geländer bes Gerüftes, wie
der Begeifterte Edleres auch im Gemöhnlidjiten erkennt. Berge und Himmel
aber über dem fingenden Meer find Gejtalt geworden: die Töne haben das
Tote erwedt aus dem Stein und fihtbar gemadht aus den flüfternden Lüften
— nun lebt die ganze Natur, und ihre Titanen find erwacht zum Kampfe.
Inhalt. Das Thema vom Glück in der Dichtung. Bon Karl Spitteler. —
Für die gute Familie. Bon Adolf Bartels. — Das Konzertweſen der Gegen=
wart. — Volkskunſt. — Etwas über Technik in bildender Kunſt. Von Schulges
Naumburg. — Spieltrieb, Schönheitsdurft und Wirtfhaft. Von Arthur Dir.
— Loſe Blätter: Gedichte von Th. Weftphal, Helene Voigt, Wilhelm Lobfien.
Mondſpuk. Bon Leopold Weber. Epigrammatifches. Von Ferd. Avenarius.
— Rundſchau. — Bilderbeilagen: Mar Klinger, Akkorde, Evofation. — Noten=
Beilage: Aus „Don Quixote“. Bon Wilhelm Sienzl.
Derantwortl. : der Herausgeber $erdinand Upenarius In Dresden-Blafewig. Mitredaftenre: fär Mufif::
Dr, Rich ard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Kun: Panl Shulge:- Naumburg in Berlin,
Sendungen für ben Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr, Batfa,
Derlag von Georg D. W. Callwey. — Kgl, Hofbuchdruderei Kaſtner & £offen, beide in Mändgen.
Beflellungen, Anzeigen und Geldfendungen an ben Derlag: Georg D. W. Lallmer in Mänchen,
sonejqgidneg sop asnyyag we waL "BA
MADNTTN XVN
N
nn
5
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MAX KLINGER
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
Aus der Tragikomödie
„Don QUIXOTE“
GESANG.
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u: ü 2 — 7 —— a ar Tor ca
Roeinante einen Pfad vom Gebirge herab, lehnt sich an den Bug des Pfer-
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Mit Bewilligung der Verleger Bote & Bock, Berlin.
verlag von GEORG D. W. CALLWEY, München.
Alle Rechte vorbehalten, 45270
den Or- te barg sich
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Dort an
Quixote.
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Vgl. den Text am Schlusse des Hauptblattes.
Rundschau
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Dichtung, Theater, Musik
und bildende Münste.
Derausgeber;
Ferdinand Avenarins.
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DER
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W
J
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® — —
a
12. abroang. Erstes Februarbett 1899. Dett-9;, Cooale
me u “in Malie: = Haha nel m Ein taun -
= Der Runſtwanh =
ericheint jährlid 24 mal in Beften von 32 Seiten (je zu Anfang und Mitte des Mionat:.
Der Ubonmementspreis beträgt Mk. 2.50 für das Vierteljahr.
nzelne Hefte foften 50 Pfo.
Ale Zuchhandlungen und Poftanftalten, ſowie die unterzeichnete Drrlagsbandlunga nehm:
Abonnements-Beftellungen entgegen. Probeheite unentgeltlich und poftfrei von der Derlagsbud
handlung: Georg D- WI. Callwep in Abüncben.
- Nachdruck fämtliher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Kofen Blätter” und der Beilaaen
. unter — erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuſkripte wird Peine Gewähr
übernommen, Rüdfendung at abgelehnter, 7 nur wenn. — Aipsete beilag.
Paris 1889. Gent 1889, krönt u — 1891,
P.FW. Bea —— Ma agenpulver.
Sollte kein Magenleidender unversucht lassen, da es sofort alle Schmerzen und Beschwerden
beseitigt. Proben gratis gegen Porto! Auskunft unentgeltlich. 410
In Schachteln & Mk, 2.50 und Mk. *
Berlin SW.
Friedrichstr, 220, P. F. W. Barella
—————— Gesellachaften für Frankreich,
— MÜNCHEN, LUDWIGS- EKE. — —
236
FLÜGEL
PIANINOS !
Einfache u. Pracht-Gehäuse jeden Stils
BARMEN KÖLN A. RH.
Neuerweg 40 Neumarkt la.
Gedächtnis.
Poehlmanns Gedädtnisiehre entwidelt die Beobadtun und 4 be,
fefele die Aufmeetfamteit, Fe von Zerfrentheit und Aählt das matärlide Bebkatnis
LCeichtes 4 ——— ıc. Anwendung aufs praftifäe Ke Zeben. In |
legten 2'/a Jahren 10000 Stände. Empfehlende Rezenfionen
europäifde — — and ) Sahblättern. Pr mit Seugnifen me * 4
Digitized by Google
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bett 9.
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Etbiscb und Hestbetisch.
„Kunſt und Moral“ überjchreibt man in der Regel das Sapitel,
zu dem ich mir auch einmal einige Bemerkungen erlauben mödte. Ich
gebrauche mit Abficht nicht diefen Ausdrud, weil ich bemerkt zu haben
glaube, daß er mitichuldig ift an jo manchem Schiefen und Unzulänglichen,
das bei den Erörterungen über diejes Thema zu Tage gefördert wird.
Das Thema jelbit ift ja alt, e8 jeheint mir aber zur Zeit wieder wichtiger
geworden zu fein als in manchen anderen Zeiten. Für die Gejundheit
unferes geijtigen Lebens hängt ohne Zweifel nicht wenig daran, daß
etwas mehr Klarheit in die Sache fomme, als zumeift in den Ver—
bandlungen darüber zu vermerfen ift.
Wenn ih mir überjchlage, was ih in den legten Jahren über
„Kunſt und Moral“ lejen und hören mußte, und nad) dem Grunde frage,
warum mir das meilte den Eindrud des Ungenügenden und Unfrucht—
baren gemadt hat, jo jcheint mirs in der Hauptiache an folgendem zu
biegen :
Bei dem Worte „Moral“ pflegt man lediglid an die Summe der
jeweils herrichenden fittlichen Begriffe zu denken, ſei nun ihr Herrichafts-
gebiet eine ganze Stulturperiode, eine ganze Volksgemeinſchaft, eine be=
jtimmte Boltsihichte oder mas immer — oder auch das Individuum.
Immer wird an die vorhandenen, aus irgendweldhem Grunde irgendwo
geltenden theoretifchen Anjchauungen und Urteile in fittlichen Dingen ges
dacht. Und überdies werden dieje fittlichen Begriffe in der Negel nod)
ziemlich flach und äußerlich im Sinne der landläufigen Alltagsmoral ges
fat. Die Frage, die erörtert wird, ift dann nur, welchen Einfluß dieſe
„Moral“ auf das Urteil in Kunſtſachen beanjpruchen dürfe oder nicht ?
Unter „Kunſt“ aber veriteht man dem gegenüber lediglich die ge=
wollte, bewußte, durd) beitimmte Ausdrudsmittel in gemiffen Formen fich
vollziehende Darftellung eines für ſolche Daritellung geeigneten und aus—
gewählten Gegenstandes — um welchen Zweig der Kunſt fihs nun handle
und was im einzelnen jene Ausdrudsmittel und Formen fein mögen.
Kunftwart 1. februarheft 1899
Und die Frage Stellt fich von dieſer Seite nur fo: welche Gegenftände
darf der Künſtler zur Darftelung bringen, ohne mit jener Moral in
Widerſpruch zu geraten? Oder: hat er fid überhaupt in feiner Wahl
und in feiner Darjtellung um die Grundfäge jener Moral zu kümmern
oder gehen fie ihn ſchlechtweg gar nichts an?
Dementiprechend pflegen dann auch die Antworten auszufallen —
als magere Ergebniſſe oft recht geichmwollener Unterfuchungen. Im
wejentlichen läufts darauf hinaus: entweder fagt man, es gebe aller-
dings gemwilfe Grenzen, melche die Moral den Darftellungen der ſtunſt
ziehen müſſe; ſowie fih8 dann aber um die Abſteckung dieſer Grenzen
handelt, beginnt e8 um fo bedenflicher zu hapern, je äußerlicher der Be-
griff der Moral gefaht war. Oder aber man fommt zu dem Schluß:
Kunſt und Moral haben überhaupt nicht8 mit einander zu thun, die
Moral habe fich jedes Urteild über die Kunſt zu enthalten; und wem's
bei diejem freilich etwas billigen Ergebnis doch nicht ganz wohl ift, der
gibt etwa nod) zu: e8 fomme immerhin auf das Wie der Darftellung
an, hiedurdy könne unter gemwilfen Bedingungen die Dioral verlegt werden,
nicht aber durd) das Was. Nur daß e8 abermals bedenklich Hapert,
fomie nun jene Bedingungen Hargeftellt werden follen.
Es ift kaum glaublich, welche Trivialitäten dabei auch von Leuten
vorgebracdjt werden, bei denen man etwas anderes gejucht hätte. So,
wenn eifrigft der Sat erörtert wird, die Kunſt müſſe das Recht haben,
auch da8 Kalter darzuftellen, dafern e8 nur nicht in lafterhafter Abſicht
und zur Nufmunterung des Laſters geichehe — und was dergleichen
Binfenwahrheiten find, die teil8 von feinem halbwegs vernünftigen
Menſchen bezweifelt werden, teils in ihrer Salglofigkeit feinen Hund
vom Ofen loden. Und am Ende kommt bei all dem für die Klärung
des Urteil3 oder gar für die Neberzeugung der Gegner jo gut mie nichts
heraus. Der Moralphiliiter ftößt fi) nad) wie vor an jedem Kunſtwerk,
das irgendwie über feinen fittlihen Horizont geht, der Bildungs- und
Kunſtphiliſter läßt fi) nach wie vor jede Schweinigelei als Kunſt aufs
ſchwatzen, wenn fie nur mit einigem formellen Geſchick gemacht ift; beide
Philifterforten ſchimpfen über einander in großer Entrüftung, und —
was das Betrüblichite ift — auch bei denen, welche weder zu der einen
noch andern PBhilifterart gehören, findet ſich keineswegs jene jchöne
„Hebereinftimmung aller Einfichtigen“, die man oft in jo rührender Be—
reitwilligfeit vorauszufegen geneigt iſt. Der nächſte befte praktiſche Fall
fann das Gegenteil in erichredender Deutlichkeit zu Tage bringen.
Alio damit kommen mir auf feinen grünen Zweig. Wie wär's
aber, wenn wir vorläufig einmal „Hunft und Moral* dahingeitellt fein
ließen und etwas tiefer zu graben juchten, indem mir das fragliche
Kapitel „Ethiſch und Aeſthetiſch“‘“ überfchrieben und uns zunächſt auf
pſychologiſchem Wege über das thatlädhliche Verhältnis der mit diefen
Worten zu bezeichnenden Lebenserjcheinungen einige Klarheit verichafften ?
Wenn ich es verſuche, jo Habe ich natürlich vor allem Har zu
lagen, was ich bei jenen Worten denfe.
Im Unterichiede von der „Moral“ als einer überflommenen oder |
irgendwie erworbenen Summe von fittlichen Begriffen und Grundfägen,
alſo von einem mejentlich theoretiihen Bemußtieinsinhalt — verftehe
ih unter dem Ethiſchen die mannigfach verichlungene Gefamtheit all
Kunftwart
— 290 —
der jeclifchen Energien, welche bewußt oder unbewußt das Willensleben
des Menichen bejtimmen. Und zwar bejchräntt fi) das, was hier Wille
heißt, keineswegs auf gewiſſe bewußte Eingzelentichlüffe zu beitimmten
Handlungen, fondern e8 umfaßt furzgefagt den ganzen Umkreis des,
Aktiven im Menjchen, alles deſſen, was auf Lebensäußerung geht —
im Unterjchied von der Aufnahme von außen fommender Eindrüde und
je nachdem, in Reaktion gegen diefe Eindrüde. Es gehört alfo aufer
dem bemußten Wollen im engeren Sinn aud) alles hieher, mas Ge—
mütsbewequng heißt, Trieb, Affett, und mas oft nur unbemußt die Ak—
tivität beftimmt; ferner wirft aud) das Vorſtellungsleben, die Phantaſie
im meiteften Sinne herein, und auf Grund deijen allerdings auch, wenn—
gleich oft nur in beſchränktem Maße das, was an jenen fittlichen Bes
griffen und Grundfägen theoretifch dem Bewußtſein angehört, was aber
nicht immer im hellen Lichte des Bewußtſeins, fondern oft genug in der
unbewußten Form eine8 durch Uebung gefchaffenen Mechanismus in
Thätigkeit tritt. In diefem Sinn ift das Ethifche die beherrichende Grund—
rihtung des Aktiven im Menfchen, feiner Willensifphäre — und es bildet
fo, weit hinaus über den engen Umkreis jener fogenannten Moral, das
eigentliche Xebenszentrum deſſen, was wir Berjönlichleit nennen, etwa
auch al3 den Charakter oder das beherrichende Lebenspathos bezeichnen.
Dabei läßt fi) das, was von der individuellen Perjönlichkeit gilt, mit
einiger Vorficht auch auf die Lebensäußerungen ganzer Völker, Volks—
Ihichten, Hulturperioden und dergl. anmenden.
In dem Ausdruck „ethiſch“ iſt demnach an und für fi) noch fein
fittliches Werturteil enthalten mie fo häufig in dem Ausdrud „moralifch“ ;
man wird auch nicht wohl in VBerfuhung kommen, „unethiſch“ zu jagen,
wie man „unmoralifh“ jagt. Wohl aber fprehen mir fchon ein ges
wiſſes Maß von fittlicher Billigung und Zuftimmung aus, wenn mir das
Borhandenfein einer ethiichen Berlönlichkeit oder eines ethiichen Charakters
feitftellen, während der Mangel daran, alfo die Abmejenheit einer be—
ſtimmten Grundrichtung des Willensleben? uns ohne meiteres tadelns—
wert erjcheint. Dagegen über den Inhalt, über die Beichaffenheit der
ethiichen Berjönlichkeit ift mit der FFeititellung ihres Vorhandenfeins nod
nicht8 Bejtimmtes ausgejagt; es kann kräftige, gejunde, feite, Hare, an—
ziehende, bedeutende, große — es fann aber auch ſchwache, kranke, an—
gefaulte, verichrobene, unbedeutende, widerwärtige ethiſche Berjönlichkeiten
geben.
Das Weſen des Aeſthetiſchen fodann liegt in der von allen
praftifchen oder theoretifchen Intereffen befreiten Konzentration des Be—
wußtſeins auf die finnlich vermittelte Anſchauung im weiteſten Sinne
des Worte8 — und in der davon untrennbaren gefühlsmähigen Wertung
der Anſchauung nach der Seite der Luft oder Unluft; und die ſeeliſche
Energie, die dabei wirkſam ift, nennen wir die Phantafie, ob fie num
produktiv oder rezeptiv fi) verhalte. Darüber wird im allgemeinen,
mwenigiten® vom Standpunkt einer pigchologiichen Ylefthetif aus, fein
Streit mehr bejtehen, wenn auch im einzelnen die Meinungen auseinander-
gehen mögen. Dagegen ift in diefem Zufammenhang zweierlei aus—
drüdlich zu betonen. Einmal: auch das äjthetiiche Verhalten ift innere
Aktivität, ſelbſt wo es fi nit um Produktion von Gegenständen der
älthetiihen Anfchauung, fondern um bloße Aufnahme von äfthetiichen
1. februarheft 1899
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Eindrüden handelt — die Dinge an fi) find nicht äfthetifch, wir machen
fie erit dazu, indem wir uns äſthetiſch zu ihnen verhalten. Sodann: der
äfthetifche Akt, fer er im übrigen produktiv oder rezeptiv, vollendet fi
exit, indem wir — in der Regel unbewußt, gefühls- und ſtimmungs—
mäßig — unfere Perjönlichkeit in die Anſchauung hineinlegen. Dies ge=
ſchieht ſogar im rezeptiven äjthetiichen Verhalten, ift ein mejentlicher
Faktor in dem verwidelten jeeliichen Prozeß, dur) den wir die an ung
fommenden Eindrüde zu äfthetiihen geftalten. Bon der Möglichkeit,
irgendivie das Perfönliche in die Anſchauung Hineinzufühlen, hängt im
legten und geheimften Grunde der äfthetiiche Luſtwert der Anfchauung
ab. Vollends aber im äfthetifch produftiven Verhalten, im künſtleriſchen
Schaffen, ift jenes Einjtrömen des Perjönlichen in den Schaffensprozek
von ſolch ausichlaggebender Bedeutung, daß ſich hiedurch geradezu die
wirklich jchöpferiiche Begabung von dem bloß reproduftiven landläufigen
Formtalent untericheidet. Auch das werden am Ende nur die „ſchwachen
Perfonnagen“ nicht zugeben, von denen Goethe einmal im Zuſammen—
hang diejer Frage redet.
Ohne dies deswegen vorläufig näher zu verfolgen, läßt fich hier
fofort fo viel jagen: wenn jenes Perfönliche ein weſentlicher Faktor des
Heithetiichen iſt, aus dem Perfönlichen aber das Ethiiche ſich nicht aus—
fchalten läßt, das Ethiiche vielmehr den eigentlichen Lebensnerv der Per—
fönlichkeit bildet, jo folgt daraus unmeigerli, dat das Ethijche ſich vom
Aeſthetiſchen gar nicht trennen läßt, daß vielmehr beides durch das Band
des Perjönlichen aufs engfte verbunden it. Trennen läßt fich beides
nur da, wo feine ethiſche Perjönlichkeit verhanden iſt, alſo auch feine
äfthetiich jchöpferifche, feine wirkliche Kunſtthätigkeit, ſondern höchſtens der
äußere Schein einer folchen infolge einer gewiſſen reproduftiven Hand—
habung des Technifhen, der äußeren Formgebung. Auch im äjthettich
rezeptiven Verhalten ſpricht das Perfönliche, alfo Ethiihe im Menichen
mit. Es gibt allerdings Fälle, in denen der Gegenftand der älthetifchen
Anſchauung nur verſchwindend geringe Anfnüpfungspunfte für das Per:
fönlich-Ethifche bietet; das find aber aud die Fälle, in denen Die
äfthetiihe Wirkung felbjt von relativ untergeordneter Bedeutung iſt —
Fälle, die ſchwerlich zu Meinungsverichiedenheiten über das Verhältnis
des Ethiſchen und Nefthetiichen führen werden und deswegen ruhig außer
Betracht gelafjen werden fünnen.
Das Gebiet der produftiven Bhantafiethätigfeit — oder, fagen wir
jest: des künſtleriſchen Schaffensprogefies — das iſt alfo , pſychologiſch
betrachtet, der Boden, auf welchem vor allem die Frage des Verhält-
niffes von Ethiih und Hejthetiih zum Yustrag fommen muß. Bon
diefem Schaffensprozei aber muß man nun freilich auch die richtigen
Borftellungen haben. Und ganz unzulänglic find bier gerade jene Vor—
ftellungen, welche in den landläufigen Betrachtungen über „Kunft und
Moral“ ihr Wejen treiben: als ob ſichs dabei nur eben um jene be-
wußte, gewollte Darftellung und Wiedergabe von gewiffen Objekten in
beitimmten Formen, mit beſtimmten techniſchen Ausdrudsmitteln, um
ein ethiſch indifferentes Geihäft handle! Das it im beiten Fall das
Verfahren der lediglicd; reproduftiven Phantafie, das gar fein wirklich)
fünftleriiches Schaffen darftellt, vielmehr den eigentlichen Wachsboden
alles höheren oder niederen Dilettantismus. Das wirklich künſtleriſche
Kunftwart
Schaffen vollzieht fi) au8 einer inneren Notwendigkeit der Perfönlichkeit
heraus, und dieſe ganze Perfönlichkeit mit ihrem ethischen Zentrum ift
am Schaffen beteiligt. Unbewußt beteiligt! Wie im Weben der Traums
phantafie treten nicht bloß dem Bewußtſein geläufige Anfhauungen in
den Prozeß ein, jondern gar nicht Gewußtes, ganz Ueberraichendes tritt
aus den unbemuhten Tiefen der Berfönlichkeit in die Produftionsthätigkeit
als Material und Faktor; nicht bloß die vorhandene Vorſtellungs- und
Gefühlsmelt regt fich in vertiefter Weife, fondern das Verſchloſſenſte und
Verborgenſte aus der Gefamtperjönlichfeit ſtrömt wie aus taufend Quellen
herauf; nicht blog mit dem, mas man gemeinhin Phantaſie nennt,
jondern mit all feinen Kräften ift der Hünjtler am Schaffen — und nicht
am le&ten ift e8 der ethiſche Gejamtgehalt der Perjönlichteit, was be—
ſtimmend und füllend, innerlich belebend und fräftigend den Schaffens—
prozeß durdftrömt. Wer davon feine Ahnung hat, hat feine Ahnung
von der Entitehung des Kunſtwerks! Und ferner: die äußere Form—
gebung mit ihren technifchen Mitteln erſchöpft fo wenig den eigentlichen
Schaffensprozeß, daß fie vielmehr nur fein letztes Stadium ausmadt;
mas in diefem Prozeß geſchaffen wird, das ift vor allem der Gegenstand
der Darftellung, der Inhalt der Formen jelbft. Diefer eigentliche Gegen
ftand und Inhalt ift perfünlichev Lebensgehalt: in Tolchen verwandelt
der Künſtler daß von außen gegebene Objeft, die Eindrüde und An—
Ihauungen, welche den Rohſtoff für das Schaffen abgeben — es ilt ein,
zum Teil gleihjall8 unbewußt fich vollzgiehendes Durcharbeiten, Durch—
wirken, Durchkneten diejes Rohſtoffes mit allen lebendigen Botenzen des
jeeliichen Lebens, was erſt eim wirkliches Objekt für künſtleriſche Dar—
ftellung jchafft. Und indem diefer perjönliche Lebensgehalt fich unter ge—
wiſſen äſthetiſchen Formgefegen organifiert, entjteht zunädjit daS, mas
man die innere Form de Kunſtwerks nennen kann; mit ihr lebt das
Kunſtwerk bereitS im Geifte feines Schöpferd. Dieſe innere Form nun
auch in äußere Form umzujegen, das für den Künſtler ſchon lebendig
Vorhandene auch für andere vorhanden zu machen, es aus dem mern
herauszufegen zu objeftivem jelbitändigem Dajein in beitimmten Formen
— das ift endlich die Arbeit der äußeren Formgebung, bei der es ſich
zum guten Teil um die bemußte, technisch fichere Handhabung der Aus—
drudsmittel einer beftimmten Kunſt, um das Stüd Handwerk handelt,
dag an aller Kunſt hängt. Aber jelbft das noch erhält fein beſonderes
Gepräge durch die individuelle Befonderheit des Berfönlichen im ſchaffenden
Künftler, während der bloß reproduftive Kopf nur geläufige oder gar
tonventionelle Formen und lernbare technifche Griffe verwendet. Es gibt
in der jchöpferiichen Kunst bis auf die äußere Formgebung hinaus durd)=
aus feine beliebigen Formen, durch die ein beliebiger Inhalt dargeftellt
werden könnte, jondern alle Form wächſt organisch aus dem Gehalt, der
Gehalt aber ift perjönlicher Art und enthält unmittelbar das Ethijche
des Künſtlers miteingefchloffen.* Carl Weitbredt.
(Schluß folgt.)
* Das alles gibt natürlidy die Mefthetit des Naturalismus nicht zu,
ber feine Aufgabe lediglih in der möglidhit genauen Wiedergabe des be=
obadjteten Wirklichen fieht. Darin liegt aber eben auch feine äſthetiſch-ethiſche
Impotenz, die ſich immer wieder in jchredlicher Stlarheit offenbart. — Eben=
jomwenig werden e8 die äſthetiſchen Formaliſten zugeben, welche das Wefen der
1. februarheft 1899
— 205 —
Ueber Wlagner als Denker
und von fünftlerifher Weltanfhanung überhanpt.*
Als Quellen unferer Aufgabe, die Weltanfhauung Wagners zu ent—
wideln, finden mir zwei verfdhiedene Arten von Hundgebungen, in denen ber
Meifter feine Anfiht vom Wefen der Welt niedergelegt hat: feine Kunſt-
mwerfe und feine profaifhen Schriften — und es ift zunächſt notwendig,
Wert und Bedeutung beider für unfer Unternehmen zu charalterifieren und
gegeneinander abzuſchätzen. Da foll denn zu allererft ausdrücklich feitgeftellt
werden, daß mir feinen Augenblid vergeffen mollen, daß Rihard Wagner in
erjter Linie Künſtler gemejen ift, erjt in zweiter Denker und philofophifcher
Scriftiteller, und zwar fo fehr, daß mir aud) bei Beurteilung feiner Proſa—
fchriften niemals aus dem Auge verlieren dürfen, daß fie ein Künſtler ge-
fhhrieben hat, dem als ſolchem das unbeftreitbare Recht zufteht zu verlangen,
daß man an feinen philofophifhhen Arbeiten, was jtreng wiſſenſchaftliche Syite-
matif, fachmänniſche Borbildung, überhaupt die äußere Form und Einfleidung
der Gedanken anbelangt, nicht denfelben jtrengen Maßſtab anlege, wie an die
Werke des zünftigen Bhilofophen. Für diefen Mangel entjchädigen die Wag—
nerſchen Schriften vollauf durd) ihren hohen jubjtanziellen Gehalt, die jprühende
Lebendigkeit und Unmittelbarkeit ihres Vortrags und vor allem dadurch, daß
ber Gegenftand, der ihren Hauptinhalt ausmacht und in dejjen Lichte ihr Ur:
heber die ganze Welt erblidt, die Kunft, ihm nichts Fremdes, von außen Auf—
genommenes, fondern ein innigit VBertrautes, mit feinem eigenen Wefen und
Wollen geradezu Jdentifches ift. Es gehört daher die ganze felbitgefällige
Ueberhebung des philiftröfen Zunftgelehrten dazu, um den Wert folder, jtreng
genommen allerdings nur halbphilofophifchhen, Offenbarungen des Genies zu
verfennen und bei ihrer Beurteilung einzig an ihrer formalen WAußenfeite
hängen zu bleiben.
Damit, dat wir in Wagner vor allem den Künſtler jehen, hinter dem
der vom Künſtler zudem in jeder Beziehung abhängige Denker durchaus zurüd:
tritt, haben wir nun für unfern Zwed feine Schriften zwar als die nädjit:
liegende Quelle erfannt, um zu erfahren, wie Wagner über die Welt dachte,
zugleich aber aud) zugejtanden, daß dieſe Schriften nur im Zujfammenhange
mit den das eigentliche Lebenswerk des Meijters bildenden Kunſtwerken,
in melden fi) uns offenbart, wie Wagner die Welt anfhaute, wahrhaft
veritanden und gewürdigt werden können. Die Kunſtwerke und ihr poetifcher
Gehalt werben uns immer als die oberjte Jnitanz zu gelten haben für jeglidje
unit nur in gewiſſen Verhältniiien der äußeren Formen juchen. Daß mit
ihnen einfad) nicht zu ftreiten ift, ift mir längit jo klar wie der Grund dieſer
Eriheinung: die Herren fennen wohl jo und fo viel Kunſtwerke aber feine
Piydologie des Künſtlers, fie willen in allen Scul= und Gelehrtenjtuben Be—
icheid, aber nicht in der innern Werfitatt der produftiven Phantafie. C. W.
* Wenn wir die Leberzeugung haben, da über einen bejtimmten Gegen=
ftand etwas gejagt werden muß, wenn wir dies aber in einem neuen Bude
fo gut gejagt finden, dab mir ung eingeftehen müſſen: beffer machen könnten
wir's nicht — weshalb jollten wir dann nicht das gut Gefagie einfach wieder
geben, gleichzeitig zu anſchaulicher Empfehlung des betreffenden Wertes? Das
Folgende entnehmen wir dem eben — vorzüglichen Buche „Die Welt—
anſchauung Richard Wagners“ von Dr, Rudolf Louis (Leipzig, Breitfopf
& Härtel, DE. 3.—), im Einvernehmen mit dem Verlage. Es jtehen auch an
Stelle einer Erörterung über Wagners „Schriften“ aus Anlaß der Vollendung
ihrer dritten Auflage (Leipzig, E. W. Frigfch, 10 Bände, je Ulf. 2.50).
Kunftwart
— 24 —
Beurteilung des inneren Kerns der Wagnerſchen Weltanfhauung, und gerabe
auch feine Schriften werden wir erjt dann recht nußen fünnen, wenn wir fie
zufammenhalten mit ben Sunjtwerfen, als beren Ergänzung, das gefamte
Schaffen und Wirken des Meiiters als eine organifche Einheit betrachten.
Denn nit fo iſt die vielfeitige Begabung eines Wagner zn verftehen,
als ob da mwunderbarermeife zwei grundverſchiedene Seelen, eine fünftlerifche
und eine philofophifche, in einen Körper gefahren wären, und ba nun, fo gut
es ging, nebeneinander gehauft hätten. Vielmehr ift das Wagnerſche Grunditreben
ein einziges und durchaus einheitlihes: es ift gerichtet auf die Verwirklichung
eines dramatifhen Kunſtwerkes, wie es ſich ihn gemäß feiner Begabung
als Worttondichter als naturgemäher Ab⸗ und Zufammenfhluß der bis auf
ihn getrennten Entmwidelung des gefprodhenen Dramas und der Oper
geoffenbart Hatte.
Nichts ift Daher verfehrter wie jenes oft gehörte Gerede, Wagner hätte
beſſer gethan bei feinen Leiſten zu bleiben, als fih um Dinge zu kümmern, wie
Politik, Religion u. f. m., die ihn als Mufifer doch eigentlih gar nichts an—
gingen. Denn abgefehen davon, daß nicht einzufehen ift, warum einem ben=
tenden Menſchen vermehrt werben jollte, jenen hödjiten Fragen des äußeren
und inneren Dtenfchenlebens, die noh dazu für Jedermann das höchſte
perfönliche Antereife haben, feine Aufmerkſamkeit und Thätigfeit zuzuwenden,
felbft wenn er nur Stünftler iſt, — Wagner hat in Wirklichkeit jenen gut—
gemeinten Nat jo jehr befolgt, daß er Zeit feines Lebens über gar nichts
anderes gefchrieben Hat, als über das von ihm angeftrebte Kunſtwerk.
Das klingt parador, wenn man die mannigfaltigen Gegenstände, welche in den
Wagnerſchen Proſaſchriften behandelt werden, ſich vergegenmwärtigt, ift aber
nichtsdeftomeniger budjtäblid richtig. Wagner erjtrebt die Verwirklichung
feines Stunftideals, er erfennt die Unmöglichkeit feiner vollen Verlebendigung
und Realifierung unter den modernen Kunſtverhältniſſen, wie jie ihm als ein
notwendiger Ausfluß unferes ganzen ſozialen und öffentlihen Dafeins, unferer
Bivilifation und Kultur erfcheinen. Daher feine Kritik dieſer Zuſtände. Aber
abgejehen von diefen äußeren Hindernifjfen gelangt er in Berfolgung feines
Weges an einen Punkt, wo ſich ihm die unabmweisliche Nötigung aufdrängt,
über fein eigenes Wollen zu vollitändig klarem Bemußtjein zu gelangen und
das, was er bis dahin inftinktiv und unbewußt angeftrebt Hatte, mit der
Fackel des begrifflihen Erkennens zu beleuchten: jo entjtehen anjcheinend rein
theoretifche Werfe wie „Oper und Drama“.
Er findet Genoſſen auf feinem Wege, ſolche, die vor ihm diefelbe Straße
gezogen, und folche, die mit ihm gleichzeitig nad) demfelben Ziele ftreben; es
drängt ihn, ſich mit ihnen auseinanderzufegen; über ihr Weſen und Wollen
im Verhältnis zu feinem eigenen fich far zu werden: jo madjt er einen Beet—
hoven, einen Liſzt zum Gegenstand feiner kunſtphiloſophiſchen Unterfuhungen.
Aber überall werden mir in den Proſaſchriften des Meiſters dieſe enge
und genaue Beziehung zu feinem Tinitleriihen Wollen und Streben, feiner
eigentlihen Lebensaufgabe finden; nur, wenn wir dies nie vergejlen,
werben wir imftande fein, Wagner als Denker zu würdigen; dies außeracht
gelafien, muß diefe Seite feiner Thätigfeit notwendigermweife in falſchem Lichte
erfcheinen. Hüten wir uns alfo vor der irrtümlichen Meinung, Wagner habe
irgendivie außerkünſtleriſche Zwede verfolgt, etwa ein philoſophiſches Syſtem
begründen oder eine religiöje Sefte ſtiften wollen. Wagner war Künftler und
zwar im tiefften Grunde feines Weſens nur Stünftler.
I. februarheft 1899
— 206 —
Eine jede MWeltanfhauung ift individuell gefärbt, fubjeltiv und fomit
einfeitig, Shon deshalb, weil mir die Dinge nur fo und fomeit kennen, mie
fie uns erfcheinen, al® unfere Vorjtellung, und meil als fubjeftive Faktoren,
melde diefe bedingen, neben ber uns allen gemeinfamen Organifation des Er—
fenntnisvermögens nicht minder die individuellen Differenzen, Eharafter, Tem—
perament, Stimmung u. f. w. in Frage fommen. In ganz befonders hohem
Grade gilt bie von der künſtleriſchen Weltanfhauung; denn alle jene in=
divibuellen Einflüffe, welche der philofophifche Denfer bis zu einem gemiffen
Grabe als „Fehlerquellen“ betraditen und eliminieren kann, fie maden fi
beim Künſtler ohne allen Gegeneinfluß geltend. Was für den Bhilofophen ein
oft lebhaft gefühlter Mangel iſt, den er möglichſt unſchädlich zu maden fudht,
die individuelle und jubjeftive Bedingtheit und Einfeitigfeit feiner Weltan—
ſchauung, für ihn „ein Erdenreſt zu tragen peinlidy“, gerabe das betrachtet ber
Künftler als einen ihm eigentümlichen Vorzug. Und mit Recht. Denn diefe
Einfeitigfeit, mit welcher der Sünftler alles fozufagen vom „egozentrifchen“
Standpunft aus betrachtet, fie allein verleiht ihm jene ruhige Feitigfeit und
eindringenbe Tiefe des Blid8, die ihn Abgründe erhellen läßt, die dem wiſſen—
fhaftlihen Denken ewig im Dunkel bleiben oder im irrlichtelierenden Hin und
Herfladern des dialektiſch ſich widerſprechenden Für und Wider das augen:
blendende und alles beitimmte Erfennen eines feſten Gegenstandes unmöglich
machende Antinomienfpiel eines unentfchiedenen Sfeptizismus zeigen. Man
könnte die fünftleriiche Individualität in diefer Beziehung vergleichen mit
einem fcharf gefchliffenen, aber gefärbten Augenglaje. Freilich zeigt es uns alle
Gegenstände in einer einzigen, einfarbigen Beleuchtung, aber es entſchädigt
dafür durch die gerabezu magifhe Erhöhung der Sehfraft, die e8 dem Geſicht
verleiht. Je genialer der Künftler tt, deito mehr tritt hier die Nachteil Hinter
dem Vorzug zurüd, deſto meniger iſt jene indivibuelle Beleuchtung eine in—
haltliche Fälfhung oder Trübung des Wefens der Dinge, befto ausſchließlicher
erjtredt fie fi) allein auf die formale Geftaltung und Art der Mitteilung.
Denn, wie fhon Schopenhauer jagt, „Senialität ift Objeltivität“, — aber nicht
jene oberflädhlicdhe, welche aus dem ſich widerfpredenden Für und Wider das
arithmetifhe Mittel einer Tendenlahmen Kompromikmeinung zieht, welde ihre
Individualität zurüdtreten oder ſchweigen läßt, fomeit fie überhaupt eine ſolche
bat, nicht jene Objektivität ber aurea mediocritas , fondern eine ganz anders
geartete, welche dadurch entiteht, daß ſich das fünftleriiche Subjeft zur Welt-
feele ermeitert, daß das Individuum alles Seiende in fih aufnimmt und aus
feiner felbfteigenen ſchöpferiſchen Urkraft heraus neu gebiert, — die Objektivität
(der im Gegenfat zur disfurfiven Vernunft) uno obtutu das Wefen ber Dinge
erfafienden genialen Intuition.
Diefe höchſte Art genialer Objektivität, welche identifch ift mit der Sub—
jeftivität eines das AN umfaffenden, wahrhaft univerfal veranlagten Indivi—
duums, bejaß fein Künftler mehr als Wagner, und er befaß fie in fo hohem
Maße gerade wegen feiner „Einfeitigfeit“, die ihn, unbelümmert um einen
möglichſt vorurteilsfreien und allgemein zugänglichen Standpunft, die ganze
Welt sub specie suae ipsius individualitatis erbliden ließ, die
ihn befähigte, den Dingen auf den Grund zu jehen, meil er ihre Seele in
fih aufgenommen, fi in ihnen wieder erfannt und fie in feinem und durch
feinen eigenen Geiſt zu neuem bewußten Leben ermedt hatte.
Wie viel diefe gute Einfeitigfeit des genialen Individuums mehr wert
it und tiefer dringt als bie an ihrem Orte und innerhalb ber ihr gezogenen
Kunftwart
— 21% —
Schranken ja keineswegs zu veradhtende indivibualitätsentleerte wiſſenſchaftliche
Objektivität, das können wir von niemand befier lernen, als von dem großen
Bayrenther Meifter. Und daß mir diefe Lehre nötig haben, dürfte jo lange
umbeftreitbar fein, als wir noch immer nicht ganz aufgehört haben, eine charakter—
und phyfiognomielofe Allerweltsobjeftivität, die zudem oft nichts meiter ift
als ein billiger Dedmantel für marflofe Gefinnungslofigkeit und feige Oppor=
tunitätspolitif, fhon an und für fi für etwas Höheres zu halten als das
Recht einer autonomen und jelbiterrworbenen eigenen Meinung, fo lange noch
die Charafteriftil, welde Bogmul Goltz einmal vom modernen Menfchen ent=
wirft und welche ih mir nicht verfagen fann, hier anzuführen, mehr oder
minder zutrifft.
„Der moderne Fluch und Unfinn“, meint der geniale, Heutzutage leider
Gottes viel zu wenig mehr gelejene Seelenfündiger, „ist die überall angeitrebte
Univerfalität, Objeftivität und Weltbürgerlichkeit. Die gebildeten Leute mödten
heute reits und lints, oben und unten, fie möchten wißig und weiſe, pfiffig
und einfältig, und Alles in Allem und in einem Atem jein, und darum jind
fie eben darafterlofe Gaufler und Narren, darum find fie nichts. Die Bes
ftimmung bes Volks ift aber Stärke, Tiefe und Feitigkeit in der Einjeitig-
feit und Subjeftivität. Einer großen wahren Idee, einem Gefühl fol
der Menſch mit aller Straft der Seele und bes Geiftes hingegeben fein.
Das madt ihn harakterfeit, freudig und frei. Mer aber feinen feiten Ans
nüpfungspunft im Innern Hat, der buhlt mit allen Erfcheinungen und geht
mit feiner eine Ehe ein — ber iſt ein Rohr im Winde. ES gilt aber das
Reben in einem und demfelben Geſichtswinkel feitzubalten, e8 gilt einen feiten
Standpunkt in diefem Wechſel und Wandel der Erfheinungen, es gilt Ziefe
und Einfeitigfeit; denn wer Eines veriteht und lebt, der verfteht und lebt Alles,
da bie Welt diefelbe iſt überall.“ Rudolf Kouis.
IR
(Dusikliteratur.
Auch die Mufilliteratur Hat ihre Erntezeiten, in denen man den Ertrag
des Jahres auf den verfchiedenen Verlagsgefilden einheimft. Die erfte im
Frühling, eh bie großen Mufikfefte beginnen, und die zweite im Frübherbit,
vor der Theater» und Konzertjaifon, bringen die meiiten Notenmerke Die
dritte im Advent fürdert dann die Bücher über Muſik vor den Weihnachts—
tifch. Ueber einige Erfheinungen diefer letzteren Art find wir unfern Leſern
nod kurz fennzeicdhnende Hinweiſe fchuldig.
Die Mitteilungen „Uus U. B. Marr’ literarifhem Nahlaf*
(Berlin, DO. Janfe, Mt. 1.—) bilden ein wertvolles „Sedenfblatt* zum hundert—
jährigen Geburtstag des verdienten Sunftgelehrten. Es find Gedanken und
Notizen zu zwei großen Werfen („Muſikwiſſenſchaft“ und „Mufikgefhichte*), an
deren Vollendung ihn der Tod verhindert hat, die aber auch in ihrer aphori—
ftifchsflühtigen Faſſung den denkenden Mufiter vieliah anregen werden. Als
Anhänger der Gehaltsäjthetit befämpft Marx jene, die das Striterium der
Künftlerfchaft, ja des Genies darin jehen, daß ein größeres Ganzes ſich zu—
fammenhängend geftaltet. Er behauptet, diefe Anſicht fei ungeſchichtlich und
dilettantiſch, das Sich-nicht-geſtalten-wollen bemeife nur Ingefhid. Das Ge—
2. februarheft 1899
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* Me Fe pn EEE ah ni a
Italten fünne gelehrt und gelernt werden, der Inhalt nit. „Geftalten haben
alle Mittelmäßigfeiten gefonnt: Pleiel, Hummel u. f. w., aber ihre Geitalten
unterjcheiden fi von denen ber Künſtler durch den Inhalt.“ Wir fagen: ber
Wert und die Fülle der Einfälle ſowie die Kraft fie zu formen machen den großen
Künftler auß.
Zmei Werle ftreng fachwiſſenſchaftlichen Charakters fünnen bier nur er-
wähnt, nicht eingehend beurteilt werden, nämlich Jonquiéres geiftvoller
„Grundriß ber mufitalifchen Akuſtik“ (Reipzig, Grieben ME. 4.—) und Riemanns
an neuen Auffchlüffen reihe „Gefhichte der Mufiktheorie des 9. bis 19. Jahre
hunderts“ (Leipzig, Helle, ME. 10.—).
Der Berliner Verlag Harmonie, dem wir die f[hönen Biographien von
Brahms, Loewe und Haydn verdanken, hat nun das zmweifelhafte Verdienft,
Mar Kalbeds gefammelte Opernrezenfionen unter dem Titel „Opern:
abende. Beiträge zur Geſchichte und Mritil der Oper” in zwei Bänden
(ME. 7) herausgegeben zu haben. Leider find die Hiltorifchen „Beiträge* in
gedanklidher Hinfiht dürftig, im ftofflicher geradezu Null. Die „Hritif* aber
iſt eine folche, wie fie unter ernit zu nehmenden Leuten nicht herrſchen follte.
Bon liebevollem Eingehen auf fünftleriiche Abfichten feine Spur, es ſcheint dem
Autor nur darauf anzulommen, feine Leſer als Federafrobat zu amüfteren
und mit fünftlern und Sunftwerfen einen „geiftreich“ fein mollenden, im
inneren Wefen aber unvornehmen Feuilletoniftenjocus zu treiben. Eine unſachliche,
feichte, hHämifche und unmahre Beiprecherei, bei der ich nicht entjcheiden mag,
ob ihre Unmahrbeiten auf Leichtſinn oder böfem Vorfage beruhen. Wenn einer
3.8. 1883 fich fo blamiert hat, den Tran in ‚Triſtan“ für einen wirklich wirffamen
Liebestrant zu halten und darüber geihmadloje Wise zu reihen, jo darf er
diefen Unfinn 1898 anſtändigerweiſe dod) nicht mehr neu druden lafjen. Selbjt
da8 bloße Vergnügen an den ftiliftifchen Tricks verleidet einem immer wieder
der Ekel vor dem flachen Seift, der das Ganze troß eines gewiſſen affek—
tierten Feinfinns befeelt. Kulturhiftorifcdy bleibt das Bud als Zeugnis für
den intelleftuellen und moraliſchen Zieiftand der maßgeblichen Wiener Muſik—
kritik ficherlich intereffant; der naive Mufiffreund wird ſich von diefer künſt—
Ierifchen Brunnenvergiftung mit Nugen fern Halten. Cine eingehendere Be—
gründung meines harten Urteils fteht auf Wunſch jedermann zu Dienften.
Bon dem zmeibändigen Erlerfhen Werfe „Robert Shumanns
Leben aus feinen Briefen“ fam eine zweite Auflage heraus, Die gegen Die
erite fo gut wie unverändert ift. Gemwiß, das Bud ift für die Schumann—
forfhung wertvoll, aber feit feinem eriten Erfcheinen hat fi das Material
zur Schumannbiograpbie fo jehr vermehrt, daß cine völlige, ergänzende Um—
arbeitung nötig gewefen wäre. So werden wir uns alle bie verftreuten Nach—
träge auch weiterhin mühlam zufammenjuchen müffen.
Das eigentliche „Ereignis der Saifon* unter den neuen Quellenfchriften
bildet aber der von der La Mara herausgegebene „Briefmwmedhfel zwiſchen
Liſzt und Bülom“ (Leipzig, Breitlopf & Härtel, DI. 8.—), wiederum ein
hochwilllommener Beitrag zur Geſchichte der neudeutihen Muſikbewegung. Er
umfaht die Jahre ı851 bis 1884 und iſt faft ganz in franzöfifcher Sprade ge—
balten. Eine reihe gedanflihe Ausbeute, wie etwa Liſzts Briefiwechfel mit
Magner, bietet er wohl nicht, aber für die Berjonalien, für den äußeren Ver—
lauf des jtürmifchen Stampfes um die „Zukunftsmuſik“ ift er eine wahre Fund—
grube, deren Braudibarleit dur) ein Negifter erhöht wird.
Kunftwart
— ZUR —
Sehr lefenswert find ferner die beim Verlage der Allgem. Mufilgeitung
(Charlottenburg) nun in Buchform erfhienenen „Briefe Rihardb Wagners
an Wefendond* (Mi. 2.—), die in mwahrhaft ergreifender Weife fchildern,
wie Wagner aus Rüdfiht auf feine Freunde immer wieder in den Strudel
des ihm fo verhakten „Muſiklebens“ untertaudt. Seine Erfolge als Dirigent
und Komponiſt freuen ihn nicht, weil er fie mit den „langmeiligften und
nieberträdhtigiten“ Leiftungen ganz unebenbürtiger „Kollegen“ teilen muß;
allem äußerlich Iodenden Getriebe um ihn ber hält er beharrlich die ideale
Forderung entgegen, bis ihn in trüben Stunden der Gedanfe überfommt, er
„Scheine bem zu viel Ernft geliehen zu haben, was der Welt am Ende ewig:
lid) nur ein Spiel dünkt“. Für die pfyhologifche Erkenntnis Wagners jind
dieſe Briefe von großer Wichtigkeit. Noch eine Stelle heb ih als Probe heraus.
„Und nun famen jo herrliche Kupferitiche in mein Haus! Ach, Kinder — welch'
bittere Thräne rinnt mir doch manchmal über die Wangen! Ja, aud) id) jehnte
mid) wohl nad) der Ruhe eines edlen Genießens: doch das wird mir nie be=
ichieden fein. Ruhe zum Schaffen, oder Ruhe zum Sterben: nur in diejem
Sinne fenne id) die Ruhe. Aber wie gut, dag ſich doc das Edle wieder er—
gänzt; was ich nit kann, das follt Ihr und was Ihr genieht, das genießt
Ihr für mich, und in Euch geniehe ich es mit. Diefe Ruhe ift die edelfte Thätig-
feit, die Euch bejchieden iſt.“ (Schluß folgt.) KR. B.
Kunstpflege im Mittelstande.
12. Sammlungen.
Es gibt unzählige Dinge, die, wenn man fie recht betreibt, alle zur
Kunst führen. Der wirklich äfthetiich Gebildete kann garnicht anders als fünft-
leriſch leben; ‚das Wejthetifhe wird ihm zu einer Bedingung rechten Lebens
und verflärt ihm alles, es gibt ihm ungeahnte Freuden, von deren Dafein
andere gar feine Voritellung haben. Schriebe ich das nicht für den Kunſtwart,
fo würde ich zitieren, was Avenarius neulich bei dem Thema „Jugendfchriften“
von ber äjthetiihen Erziehung gelagt hat.
Der Sammeltrieb fcheint ein urfprünglicher Trieb, kein ſekundärer im
Menſchen zu fein. In den feltenjten Fällen wird feine Befriedigung geradezu
zur Kunſtpflege gerechnet werden fünnen; nur wo e8 fth im befondern um
Kunſtſammlungen handelt, könnte man das ja. Über aud) in feiner allges
meiniten Erfcheinung führt er fogar den Unfultivierten zur Kunſt, während der
äjthetifch Gebildete überhaupt nicht fähig ift, ihn anders aufzufaffen.
Die uns hier zunächſt liegenden Sammlungen, die ſich nah Raum und
Koften am leichteiten in unfern angenommenen Rahmen einfügen laſſen, find
wohl die Buch- und Hunftblattfammlungen. Bei ihnen wird der Geld—
punft fein Hindernis bilden, denn in ihren ſchlichteſten Formen find fie einem
jeden, aud) dem Wermiten zugänglid. Wem käme nicht hie und da irgend
ein guter Holazjchnitt, fei e8 in einer PBrobenunmmer oder fonjtigen Reklamebei—
lage, in die Hände! Achtet man darauf, hat man feine Freude daran, hebt
mans auf. Sat man erft mehreres, fo befreit mans von dem Ballaft, der
daranhängt, d. 5. man ſchneidet's aus und hebt's gefondert auf. Es fommt ja
1. $ebruarheft 1899
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dabei gar nicht auf bie Kunſtform an, in welcher der Inhalt übermittelt wird;
auch die billigiten unferer heutigen Reproduftionen find nicht fo ſchlecht, daß
fie niit ein Teilchen des geiltigen Inhalts der Werfe wiedergäben. Und in
geſchmackvoller Art gefakt, vielleicht auf einen weiken Bogen aufgelegt, bringt
auch der ichlechteite Holzichnitt nach einem guten Kunſtwerk, deſſen Schidjal es
fonft iſt, ala Einmwidelpapier auf bie Straße geworfen zu werden, ein Stüd*
Ken Kunſt ins Haus. In dieje befcheidenen Anfänge einer Sammlung, die ich
fhon öfters zu beobachten Gelegenheit hatte, drängt fi} natürlich oft gar
mandjes, was mit Hunjt wenig zu thun hat. Aber mit dem zunehmenden
Umfang ber Sammlung mwird das Mindermertige ausgefondert und auf biefe
Weile das Niveau mehr und mehr gehoben. Und ih muß fagen: bier zum
Zwecke der Erziehung zur Kunſt käme e8 mir vielmehr auf das, mas repro=
duziert ift, alfo auf die Güte des Werks, als auf die Vornehmheit der Repro—
duftion jelbit an. Mit anderen Worten : ein paar fhlichte Yutotypieen nad
Meifterwerten fürbern das Kunſtgefühl fiherlind mehr, als wirkliche Ori—
ginalradierungen von mittelmäßigen Künſtlern. Die Erziehung zur Freude
an der Feinheit der KHunftform mag dann folgen, wenn bas Gefühl für Kunſt
überhaupt gemedt ijt. Sit leßteres da, fo folgt eritereß gang von felbit
nad, eim natürliche® Ergebnis des wachſenden Verſtändniſſes. Und wie uns
endlich viel Meiitermerfe jtehen Heute in guten Reproduktionen, die zu ge
ringen Preifen käuflich find, maffenhaft zur Verfügung. AU die Bilder- und
Formenihäge, die Stataloge, die Ausjtellungsführer find in ihren Einkaufs—
preijen ſehr niedrig geitellt ; ja, fie ftehen fogar dem Wermften bei Untiquaren
einzeln oder in unvollftändigen Exemplaren für wenige Pfennige zur Ver—
fügung. Es liegt in dieſer Ueberſchwemmung mit Neproduftionen fiherlich
eine Gefahr, die Gefahr, daß bei der Weberfülle des Zubrängenden alles zu
flühtig angejehen wird, als daß man das wirflid; Gute herausfinden und
genieken fünnte. Aber der Segen überwiegt doch wohl, und jedenfall darf
über Mangel an Hunftanregung aud) der Unbemittelte nicht flagen.
It einmal der Grunditod einer Sammlung gebildet, wird fie zu einer
Fülle von Unregung für den Befiger, ja für die ganze Familie (ich kenne
ſolche Sälle!), jo wird es ſich in den meijten Fällen von ſelbſt machen, daß
allmählich auch mohlfeile Originalmerfe (fie brauchen deswegen nicht ſchlecht
au fein), hinzutreten. Jit erit einmal bie Freude daran erwedt, dann gibt das
Budget aud einen Heinen Kunftfonds her, der unferer Sache zu gute fommt.
Ah ſprach ſchon bei Gelegenheit der Weihnachtsgefchenfe davon, wie gute Ra—
dierungen, Lithographieen, ja felbit fleine Originalwerte durchaus nicht fo uns
erſchwinglich find und erinnere hier noch einmal daran, welche Freude Künſt—
lern meift damit bereitet wird, wenn jie ehrliche und warme Teilnahme finden,
fo daß viele von ihnen die pefuniären Vorteile vielleicht gern außer acht
laffen, lediglich um ein großes Ziel: die Erziehung zur Hunftfreude zu unter
ftügen. Not thät’s. Irgend wer bat mal gefagt, jeder Menſch müßte zum
mindeiten ein Stedenpferd haben. Wie anders jäh’ es bei uns auß, wenn
recht viele das Stedenpferd des Kunſtſammelns ritten und fei e8 in jeiner
primitivften Form. Man lache die Leute nicht aus, die ihren Schaf forgfam
hüten, ihn ordnen, einfügen, fidhten, verſchließen, ihn wieder hervorziehen und
wieder betrachten. Gewiß, ein Teil davon ift Bedanterie, ift Sammelmante
meinetwegen — was thut's? Der Boden, auf dem die Kunſtfreude bei den
Menſchen Wurzel ſchlagen fann, iſt nicht fo felfig, wie man meint. Und
wenn man in der Sammelmanie vielmehr die lächerlihen Seiten als das
Kunftwart
— 300 —
Streben nad) Hunftgenuß fehen will, fo glaube man doc wenigitens an bie
Möglichkeit, da felbit fie in vielen Fällen zur KHunft führen.
Der Literaturfreund wird durch feine Bibliothef auf unfer Gebiet
von felbft gebradt. Seine Freude am Buch wird, wenn feine Yugen mehr
als die Sprache allein veritehen, mit der Ausstattung des Buches fteigen. Er
braucht Einbände zu ihnen, er mag wünſchen, ein ex libris zu haben, und
fo verichiebt fi ein Teil feiner Wünſche auf die bildende Kunſt. Auch beim
Einband ift die Sadlichkeit ſtets die erjte Regel. Leider ift der Notjchrei nad)
fünjtleriihen Buheinbänden jo vielfach mikveritanden worden. Als das
moderne Kunſtgewerbe auffam und die englifhen Lilien alles übermwucherten,
ließen bei ung die Damen hie und da davon ab, Holgbrandmale zu errichten, be—
lebten dafür aber alles mit Lilien und verwandten ſchlanken Saden. Die
Freude an der Formermeiterung war ja jehr gut. Aber es ijt zu bedauern,
wenn fie zu folden Stillofigkeiten führte, wie 3. B. einem Bud), deſſen Dede,
d. 5. feine Schiebfläde, mit erhabener Technik, meinetwegen mit Stiderei, be—
dedt ijt. Unfere Form des Buches ift dazu da, in Reihen gefhichtet mit dem
Nüden, darauf der Titel, nad) außen gefehrt, in Schränfen zu ftehen. Es iſt
Uar, daß da die Deden, die in empfindlicher Technik gehalten find, nicht allein
ſelbſt rajch ruiniert werben, fondern geradezu die bequeme Nutzbarkeit des Buches
hindern. Man könnte ja wieder einen Schufeinband darum maden, nicht
wahr? Aber wozu dann überhaupt einen zweiten Ginband darunter, der dann
nicht mehr Einband ift? Die rechte Freude liegt aud) beim Einband an
der fahlih und äſthetiſch zugleich gelöſten Form. Ein unfadlidher Einband
ruft vielleicht feiner Organiiterten dieſelbe ftörende Empfindung hervor, wie
ein nicht äfthetifch gedachter, und wenn einer behauptet, ihn ftöre e8 nicht,
fo läßt das eine fehr einfahe Schlußfolgerung auf ihn zu. Die Löfung liegt
ja aud) bier durchaus nicht etwa im Schmud, fondern, ebenfo wie überall, in
der Behandlung des Materials, in den Formen, die durch die ſachlichen For
derungen vorgefchrieben find. Wer einen ſchönen Einband nicht erfinden und
ausführen fann mit den einfadhiten Materialien: gefärbtem Leder oder ges
färbter Leinwand und Scriftaufdrud, dem gelingt's aud ſchwerlich, wenn er
reichere Mittel zur Verfügung hat.
Das ausgelegte Bud, das „Prachtwerk“, ift ein Unfinn; ich brauche
faum noch zu reden von den mit Goldſchmuck überladbenen Budydedeln, die
auf dem Sofatiſch ein ödes Dafein führen; es iſt im Kunſtwart oft genug ab=
geichildert und ausgeladht worden, Man verwechſele die Grumdidee des Stils
des modernen Buches doch ja nicht mit dem des alten Mönchsbuchs, dem
riefenhaften Folianten, der, mit Silberbefchlägen und foitbaren Steinen ges
ſchmückt, nur für das Pult da und an dem fogar angelettet war. Die Bedin—
gungen für unferen Buchdrud find in allem und jedem mit allen Neben—
beziehungen fo volllommen anders geworden, daß eine Parallele gar nicht zu—
läffig wäre.
Soll id noch dem ein Wort fagen, der viele Bände billig zu binden hat,
fo mödte ich Hier wieder zuerst zur Farbe raten, als dem billigften Mittel
zur Erzielung äfthetifher Wirkungen. Ein ganz einfach, in grüne oder blaue
Leinwand von fympathiihen Ton gebundenes Bud, mit einem voten Titel-
fhild, wirft allein oder in Reihen gefhichtet ganz befriedigend und fann in
legerer Form im Zimmer geradezu einen deforativen Wert bilden.
Neben den eigentlichen ftunitfammlungen feien nunnod) alldie „Eulturellen“
Sammlungen erwähnt, die Ultertümers, Bronzes, „Japan‘-Sammlungen und
1. februarheft 1899
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mie man fie alle nennen mag. Leider finden mir auch hierbei nur allzubäufig
das Aeſthetiſche vernadläffigt und das Kulturhiftorifche ganz allein zum Mittels
punfte gemacht, wenn ſich's nicht gar um die Kuriojität und die Rarität dreht.
Warum lafjen fi} fo viele, die bewußt und mit Ubficht im fulturgefhichtlichen
Intereffe fammeln, die fünftlerifhen Werte, die fid) dabei in reichjter Fülle
einstellen, ganz entgehen? Ich wiederhole e8 an dieſer Stelle nochmals: der
zur Kunft ſchon Erzogene wird überall und überall Anregung zu Genüſſen
finden, wo ber andere nur ins Leere fhaut. Sogar die wiſſenſchaftlichen
Sammlungen haben genau fo gut aud) ihre äfthetifhen Werte, Bon zwei ganz
gleich praktiſchen Inſtrumenten oder Apparaten kann der eine fchön, der andere
unſchön gebaut fein. Oft ihnen felbjt unbewußt äußert ſich au bei Männern
der Wiflenichaft diefes Wohlgefallen oder Mißbehagen in unverfennbarer Weije.
Mögen fie e8 vielleiht in Gedanken mehr auf Kojten ber „Anſchaulichkeit“
fhieben; im Grunde Handelt ſich's um äfthetifches Empfinden. Im hödjiten
Grade befriedigen das felbjtverftändlich die Naturalienfammlungen. Man
denke fi nur eine Schmetterlingsfammlung, wo die fünftlerifche Anregung fo
offenbar zu Tage liegt, dab ein folder Kaſten geradezu zum Studiumfeld
eines Farben- und Formenmenjhen für Jahre werden kann. Die koloriftifchen
Gedanken, die Stimmungswerte, die hier die Natur in Farben niedergelegt
bat, fie find von unerfhöpfliden Reihtum. Bei näherem Hinjehen erichlieft
derjelbe Reichtum fich aber auf allen anderen Feldern, einer Häferfammlung
ober etwas Aehnlichem; ja, mifroftopifche Präparate eröffnen dem mit rechtem
Verſtändnis Darangehenden ganz neue Gebiete ber äjfthetifchen Betrachtung.
Welche Duelle ber höchſten Anregung bieten Mineralien, Steinfhliffe und num
gar Pflanzen! Hier komme id) auf ein neues Gebiet, das ich in einem eigenen
Aufſatz behandeln möchte. Shulge-Maumburg.
— —
Kr)
Der neue Berliner Dom.
Es gibt einen einzigen Platz in Berlin, auf bem eine gewiſſe Gefchichte
ruht. Und da man die Erfahrung Bat, daß nur die Gefhichte gute, interef=
fante Stadtbilder zu fchaffen vermag, jo iſt e8 auch die einzig wirklich ſchöne
Stelle in Berlin. Jh meine die Umgebung des Scloffes. Der graue, ehr=
würbige Koloß des Schloffes jelbit, das ftrenge Mufeum, die Spreeläufe mit
den malerifhhen Kähnen, die Schloßbrüde mit den Hervengruppen, die mit
ihrer antifen Schönheit in das nordiſche Klima hereinragen, der Blid in die
neuen, fuppelbededten Stadtteile des induftriellen Berlins, — das gibt ein ans
ftändiges Bild.
Seit einiger Zeit fieht man die Kuppel des neuen Doms über diejen
Platz hinüberleudten. Man ſieht fie weit von den Linden ber, und jedermann
hat das Gefühl, dat an diefer Stelle ein Bau entjteht, der zu den wenigen
gehört, die der Phyfiognomie der Stadt ihr Gepräge geben. Das Gerüft ums
gittert nod) den Bau; aber ſchon bietet er fi dem Blid fo weit dar, daß
man feine Gefamtmirfung und feine Einzelmirlungen beurteilen kann. Der
Laie wird mit diefem Dom fehr zufrieden fein. Er zeigt eine prächtige Re—
naifjances-Faflade, ift von einer Hauptfuppel und mehreren Nebentuppeln ge=
frönt, ex fieht ftoly und monumental aus; und im einzelnen ijt die feine Glies
derung zu beobadten, die die großen Urchitelten der Hoch-Renaiſſance nad
Kunftwart
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langer Erfahrung als die legte Volltommenheit ihres Stils herausbildeten.
Der Laie wird fagen: biefer Dom ftimmt im Stil mit den übrigen Bauten
des Quftgartens überein ; zu dem Schloß, zu dem Zeughaus und felbjt zu bem
Muſeum paßt er gut.
Ich aber mödjte mir erlauben, dieſer Meinung entgegenzutreten. Ich
made mir aus diefem Stilgefühl gar nichts, und ich glaube fogar, daß in
diefem Bau kunftgefhichtlihh genommen eine große neue Yufgabe in großem
Stil verfehlt worden ift. In wenigen Zeilen will ich erflären, wie es fo ge—
fommen ijt, und warum es jo nicht gut war.
Dem Baumeifter des Doms, Raſchdorff, periönlich ift nichts zu ent—
gegnen. Er handelte unter dem Einfluß des Haifers Friedrich, der die Idee
Diefes neuen Doms fahte. Die Bauanſchauung unferer ſämtlichen Fürften ift
die der romanifhen Renaiffance. Diejer Stil bedeutet für fie das Emige,
Herrichende, Gewaltige, das fie naturgemäß in ihren Bauten ausgedrüdt haben
wollen. Sie haben, fomweit e8 feitlihe Bauten anbelangt, bie populäre Mei—
nung babei auf ihrer Seite. Wir haben wenige Bauten in Deutſchland, bie
wie das Reihstagshaus, wenigſtens in Fleinen Einzelheiten von dem großen
Muſterbuch des Palladio abweihen. Man kann e8 fih in Deutſchland noch
immer nicht anders vorftellen, als daß der feftliche Stil italienifcd fein muß.
Für die romanische Anſchauungsweiſe unferer Fürften war in leßter Zeit be—
fonders die Anlage der,Siegesallee-Dentmäler bezeichnend. Diefe Reihe mweifer
Herrfher vor bem grünen Hintergrund des Tiergarten® war eine Louis-Quar—
torzesJdee; gerade Linien, Parallelismus, Heraufbefhmörung unbelannter
Männer in die ſymboliſche Sphäre von Denfmälern, die Kuliffen eines großen,
imperatorifhen Theaters. Nachdem der Tiergarten feine Bedeutung als fürft-
licher Park Längft verloren hat und demokratifiert worden ift, ftehen jest in
ihm die Denkmäler der ariftofratifhhiten Kunſt, die e8 je gegeben hat.
Aus denfelben Anfhauungen ift der protejtantifhe Dom von Berlin
hervorgegangen. Ein Bau, der ganz von Tradition getränft ift, ohne daß an
diefer Stelle der Tradition folcher Art das Wort zu reden wäre. Drei Gründe
mären dagegen vorzubringen: Eritens ijt eine fünfilihe Tradition ein
Unding, und e8 ijt ſchade, da man alle Sträfte, die man auf ein foldjes Werk
verwendet, nur in den Dienft einer Neubelebung alter Formen ftellt. Es ift
ein geziertes Stilgefühl, das uns dazu treibt, weil zwei Bauten in Renaiffance
daftehen, aud) einen dritten Bau daneben in bemfelben Stil ausführen zu
müflen. Dieje Angit vor Stilunterfchieden nimmt uns jede Fähigkeit, einen
Bau perfönlich zu begreifen. Das eben gerade ift ja der Unterfchied unſerer
Epoche von früheren, daß wir nicht mehr das Maß derfelben herrichenden
Formen auf alle Dinge vom Dom bis zum Wohnhaus, von der Thür bis
zum Teppich anlegen, fondern für jedes Ding feine eigentümlicdhe Sprade zu
finden ſuchen. Es ift eine Art Selbftbetrug, wenn wir einen Bau, ber aus
unjeren Bedürfniffen hervorging, in das Kleid früherer Zeiten iteden. Es ift
fogar verdädtig. Es ift, als ob wir uns da etwas vormaden wollten.
Zweitens iſt e8 bedauerlid, daß gerade die monumentalen Bauten,
die doch ber größten Deffentlichleit ausgejegt find, Hinter den fonftigen Stil-
fortjchritten ihrer Tage am meisten zurüdbleiben. Wir haben jet ganz ans
ftändige Villen, fehr bemerlenswerte Warenhäufer, die Wohnungen entwideln
fi) perjönlich, aber diefe monumentalen Bauten werden im alten Renaiſſance—
Schlendrian fortgebaut. Sie fümmern ih gar nidht um unfere Zeit. Der
neue Zandtagsbau, den man jet eröffnet, fieht nicht viel ander aus, als
2. februarheft 1899
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wenn man ihn ſchon vor zweihundert Jahren hergeſtellt hätte. Und es iſt zu
befürchten, daß alle anderen baulichen Fortſchritte wieder im großen Strom
untergehen und unfruchtbar bleiben, wenn nicht dieſe Hauptbauten baldigſt die
Führung übernehmen.
Der dritte Punkt iſt der wichtigſte. Der Bau, den wir vor uns haben,
it ein proteftantifher Dom, fein katholiſcher; und der Stil, in dem er ausge—
führt wird, ift ein fatholiicher, fein protejtantifcher. Mit dem theatralifchen
Reichtum der Renaiffänce iſt ganz von felber die Vorjtellung der fatholifchen
Kultur verbunden. Hat ſich dazu der Proteftantismus losgeriffen, dat er nad)
vierhundert Jahren in feiner deutfchen Hauptliche wieder die Sprache derer
fpriht, von denen er fich losriß? Das gehört doch zu den merkwürbdigiten
Sachen, die in der Hunftgefhichte gefchehen find. Wenn id) vor der italienifhen
Faflade des Doms jtehe, glaube ich eher ein Theater zu fehen, als das Monu—
ment des Proteitantismus. Hier wäre eine neue Aufgabe von höchſtem Reiz
zu bewältigen gewejen! In der deutſchen Renailfance und in der Baditein=
Kultur des deutichen Nordens find Motive genug vorhanden, aus denen ber
Schöpfer des Dome feine Anregungen hätte beziehen tönnen. Und einem
Genie wäre hier vielleicht ein Wurf gelungen, der kunſtgeſchichtlich Epoche ge—
macht hätte. Kein fuppelgefröntes Theater, fondern ein großes Rathaus, ein
Gemeindehaus, ſozuſagen von einem gewiſſen fozialen Eindruck aud) durchs
Aeußere, eine Erhebung der Heinen Freuden der deutſchen Renaiflance ins
Algemeine, Große, Umfaffende, — das wäre cin proteitantifcher Hauptdom
geworden. Jh möchte an eine Parallele aus der Mufilgeichichte erinnern. Da
der katholiſche Ritualgefang für den proteitantiichen Gemeindegottesdienft nicht
ohne weiteres zu verwenden war, wurbe der Choral geſchaffen, der ih an
da8 alte Volkslied anlehnte und dieſes Hymnenartig bearbeitete. Der mehr—
ftimmige Choral von deutſcher Volfsherfunft wurde der Mittelpunkt des pro=
tejtantifhen Gottesdienites; und ohne jeine Wirkung fehlte der Badischen
Kunst ihre Vollstümlichkeit. Der Choral murde das Stilfennzeichen der pro—
teitantiihen Muſik im Gegenſatz zur fatholifhen. So ein gebauter Choral,
da8 wäre das Jdeal des proteitantifhen Doms. Vom Volk hergenommen
und in firhlicher Größe ausgebreitet. Jetzt aber ertönt im Mittelpunfte Des
5. Proteſtantismus eine Meſſe von Paleſtrina. Niemals iſt zwiſchen einem In—
halt und feiner Ausführung, einem Volksbewußtſein und der Zeremonie ein
größerer Widerfprudy zu Tage getreten. Deshalb bedauern wir, daß ber
Som fo wird. Daß keine fonfeflionellen Bedenken mit hineinfpielen, braucht im
Kunſtwart wohl faum gejagt zu werben, Osfar Bie
| Sprechsaal.
| In Sachen „Schauipielfunft und Theaterjchule‘.
| Zu der ehrlihen Arbeit Eugen Kalkſchmidts über „Schaufpielfunft
und Theateridjulen” muß in Fachkreiſen Stellung genommen werben, einmal,
N mweil eine allfeitige Verftändigung über das Thema von großer Bebeutung
für die zielbewußte Weiterentwidlung der Schaufpielfunit ift und dann, weil
verfhiedene aus lebendiger Teilnahme am Gegenitand hervorgewadjiene
Unfichten der Bertiefung in die aufgemorfenen Fragen nur förderlich fein
Kunftwart
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tönnen. Der erfahrene Fahmann* kann Kalkſchmidt unbedingt da zuftimmen,
mo er bie feichte und leichtfertige Art beflagt, in der nod) immer in den üb—
lichen „Iheaterfhulen“ die Talentlofigkeit großgepäppelt und das Proletariat
für die Bühne gezüchtet wird. Aber — — ber Kenner fann fi) nad) der Lel-
türe des Gedankens nicht erwehren, daß Kalkſchmidt Hier das Kind mit dem
Babe ausfchüttet.
Ich gehe glei auf die Hauptſache ein, das Bedenkliche der ſtalkſchmidt—
hen Schlußfolgerungen. Er fagt, nachdem er von der „übertriebenen Wertung
des Handwerks“ gefproden und unter Uebergehung der Technik eine „Hoch—
fchule der Schaufpielfunft” gefordert hat, deren Zweck die harmonifhe Durch—
bildung zum Kulturmenſchen ift, etwa: „Solange eine derartige vornehme
Bflegitätte wahrer fünjtlerifcher Begabung nicht eriftiert, bleibt für den an=
gehenden Schaufpieler der uralte Bildungsweg immer noch ber bejte, ber ihn
ſchwer aber fiher zum Ziel führt ... das Dienen von unten auf, das fleine
Anfangen an Heinen Bühnen.“ Welcher Regiffeur, der über das Mittelmak
bes Könnens als „Urrangeur und Dekorateur* hinaus wirklich die Wiedergabe
der Dihtung erzwingen möchte, denkt bei derartigen Ausſprüchen nidt an
die Legion der fleißigen Darjteller, die trotz Aufbietung aller Kraft nie em—
porfommen, meil ihnen das NRüdgrat einer foliden Technik fehlt! Sehr
oft erfaßt ihn tiefes Mitleid mit ehrenwerten Menfchen, die ihren bürgerlichen
Beruf im Rauſch erträumter Künjtlerfchaft aufgegeben, um die aufreibende
Jagd nad dem Glüd zu beginnen und fid) bei aller Energie die richtigen
Schwingen nit zu geben vermodten zum Aufflug in den Weiher mühelos
und frei ſchaffender Kunft. Bon den zahlreihen „Kolleftanten“ find viele, jehr
viele dem Jlarosflug erlegen — fie wußten ihre Kunftmittel weder richtig ein—
aufhägen, nod richtig zu gebrauchen. Riefenhaft wüchſe das Bühnenprole=
tariat an, wollte man jo ohne meiteres Kalffhmidts Forderungen in bie
Praris umfegen; die Theater würden mit wertlofem Rohmateriale arbeiten
Und mer gäbe den gültigen Maßſtab für den Grad der Künftlerfchaft? Kritik
oder Publikum, oder die Bühnenleitungen? Bon welchem Gefihtspunft aus
urteilte alsdann bie ſtritik, mo ift das Publitum, das über ein naive Ems
pfinden hinaus richten fönnte, wo nehmen die Bühnenleitungen beim Maugel,
allgemein fejtitehender Technik ihre Richtfehnur her? Etwa aus dem famojen
Stontraltparagraphen, wonach über fünftlerifches Unvermögen einzig unb allein
die Direktion entfcheibet ?
Der Berfajler rechnet mit „der Kunſt“, — die ihm doch wohl in genauer
Definition als jtillfchmeigende Vorausfegung bei feinen Auseinanderſetzungen
gilt — ? Dann aber fchlägt er ſich ſelbſt. Es wäre traurig, ftünde die Schau—
fpielfunft heute noch fo Hilflos da mie früher, da man nur nad) einem uns
Haren Empfinden und ihrem Niederfhlag — einer durchaus fubjeltiven Stim—
mung — urteilte. Welcher Künftler wäre nod) fiher, einem fo wechſelvollen
Dieer von Stimmungen gegenüber fein bewußtes Können durchzuſetzen? Sol
die Schaufpielfunft ewig das unmündige Stieflind bleiben, allein vom Forts
fchritt ausgefhhloffen fein, während alle anderen fünfte in mweifer Selbitzucht
die Technik ftetig verftärfen, um in der Neifegeit fich ihrer fpielend leicht bes
dienen zu können. Autodidakten erflimmen in vereinzelten Fällen den Gipfel,
falls fie Uusnahmenaturen in höchſter Potenz find; aber wer bemeiit, daß fie
nicht zu noch höherer Vollendung gelangt wären mit Hilfe einer techniſchen Aus—
*Kalkſchmidt ift Übrigens auch „Fachmann“. Km...
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bildung von vorn herein? Gewöhnlich ſieht man im Leben folder begnabeten
Menſchen nur die Lichtfeiten; den blutigen Schweiß aber, bie unfrudtbare
Arbeit, die Tantalusqualen des Werdeganges ermißt ber Befchauer nicht mehr.
Es ift falſch, die Ausnahme als Regel erflären zu wollen. Ich ſchätze aus ber
Zeit gemeinſchaftlichen Wirkens Mitterwurzer zu fehr, habe zu oft ben gedie—
genen Ernſt bes Mannes als Regifjeur bewundern dürfen, als daß ich ihn als Bei-
ſpiel gegen eine vertiefte Auffaflung des Schaufpielerberufes und feiner Vor—
bedingungen angeführt fehn fönnte. Mittermurzer verfügte über eine gewaltige
Technik und Hatte nad dieſer Richtung nichts gemein mit ben „genialen
Köpfen“, bie einer folden glauben entbehren zu dürfen.
Betrachten wir, abgejehen von ber volkswirtſchaftlich uumöglichen Durch—
führung der Kallfhmidtichen Forderungen, ben „Werdegang“ bes Schaufpielerg
oder befler: feine Vorbedingung: Die Theaterfhule Es iſt traurig, daß
die barjtellende Kunſt von ber Fürforge des Staates ausgeſchloſſen ift und
jene durhaus notwendige Forderung Emil Devrients an das Hultusminifte-
rium, die heut ebenfo aftuell wie damals, nicht erfüllt werben konnte. Diefer
Vernadjläffigung verdanken wir bie mit der Zahl der Theater zunehmende
fünftlerifche Vermilberung breiter Schichten der Darfteller. Mit einem Schlage
würde das anders, wenn ein bejtimmtes Maß pofitiven Wiffens und tehnifhen
Könnens einer ftaatlihen Prüfung unterläge; dann würde für ben gebildeten
Künftler der Weg frei, und ungeeignete Elemente fchalteten fich von ſelbſt aus,
Es ift dabei auf bie genau prägifterte Forderung zu achten: allgemeines Wiffen
und tech niſches, nidt in vollem Umfange fünftlerifches Können; das letztere
ift in jenem Stadium ber Entwidlung oft ein zu zartes Pflänzchen, um fid
dem prüfenden Blid und dem Ohr unzweifelhaft in feiner ganzen Ausdehnungs-
fähigkeit zu offenbaren. Wir leiden in der Schaufpiellunft tro zahlreicher
„Lehrer und Schulen“ an einer fo großen Unfiderheit in Rüdfiht auf die
Technik, wie fie in diefem Grade wohl bei feiner ber Schweiterfünfte angetroffen
wird. Die „Empirie* thront nod überall, und dabei blühen die leidigen
„Methoden“ jo üppig wie 3.8. im Gefangsunterriht. Schließlich kann es
dem Schüler wohl fo ergehen, wie feinem Sameraden im Fauft. Die Lehrer
umgeben fi meift mit einem Nimbus, der ihre Unfähigkeit verdeden fol. Sie
vermeiden e8 aus naheliegenden Gründen, 3. B. mit Hilfe der Wilfenfhaft die
phonetifche Grundlage für das Spreden zu erfennen und zu bemeifen und fo
den Schüler zur jelbftändigen Urbeit heranzuziehen. Wie viele — man kann
ruhig jagen: die meiften Schaufpieler fennen nit einmal den Apparat, deſſen
fie fich zum Spreden bedienen, hinlänglih, um ihn bewußt und vorteilhaft zu
verwerten. Da gibt e8 die wahnfinnigften Vorftellungen über den Bau des
Stehlkopfs und das Zufammenmirfen von Stimmton und Eigenton. Der Hals—
arzt kann oft ergöglihe Geſchichten davon erzählen. Das Ohr, diefer weſent—
liche Kritiker, wird nicht ausgebildet, weil der Lehrer felbft die ſchwierige, aber
für eine bewußte Kunjtausübung unerläßliche Fähigkeit nicht befigt, fi ch Telbft
zu hören. Neberhaupt die Sprache wird als Nebenſache behandelt, und
das vom Schüler heiß erfehnte Rollenſtudium möglichft früh begonnen ; damit
iſt dann allerdings ber Lehrer gerettet und bewegt ſich auf fiherem Boben,
der Schüler aber wird dadurch zur ewigen Unfelbftändigfeit verdammt.
Wie follen ſolche ECharlatans ein Talent entdbeden? Kallſchmidt gibt
darauf die richtige Untwort. Aber follte fih aus dem Rohmaterial wirklich
garnichts erkennen laffen von der Entwidlungsfähigkeit? Doch wohl? Worin
bejtegt denn das erkennbare Talent des Anfängers? An nichts anderem, als
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in ber Fähigkeit, auch vermidelte Gedanken und Empfindungen durch das
Sprechen mieberzugeben, alfo die richtige Sprachmelodie, den fymbolifchen
Beziehungston mehr oder minder zu finden. Freilich verhindert die Unkennt⸗
nis ber Sprachtechnik oftmals, daß ſeeliſch richtig Empfundenes in deutlicher
Art zum Ausbrud gelangt. Doch kann das nicht verhindern, daß ber fein-
fühlige und fcharfhörige Lehrer fih ein fubjektiv mahrheitsgemäßes und ehr-
liches Urteil verſchafft. Wie weit diefe Entwidlungsteime Wurzel ſchlagen
und Frucht bringen, kann niemand vorausfagen, weil das Talent in tieferem
Sinne fi) erft im Leben und am Leben fteigert und beshalb mit dem inneren
Wachstum bes Künftlers untrennbar verbunden ift.
Hier hört das Gebiet der Theaterfhule auf. Bon ihr verlangen, mas
erit das reifende Leben zeitigen kann, wäre unbillig. Damit verliert jedoch
die Fünftlerifch geleitete Theaterfchule keineswegs an Dafeinsberedtigung. Denn
ohne forgfältigfte Pflege und Wartung fünftlerifher Anlage ift ber Kampf dba
draußen im ftürmifhen Deere der Praxis eben nit möglih. Wie gering
bewertet man doch eine Sunft, die fo durch eine Behrjungenpragis von einem
jeden erworben werden kann?! Thatfadhe ift: diefe Möglichkeit, in Kunft zu
machen, wird von fehr, fehr vielen Schaufpielern als einzig richtig wirklich
empfohlen. Die ſtunſthandwerker fpannen eben jede Aufgabe über benfelben
Reiften und die gedantenlofe Alltagskritik preift den ftünftler, der es fo munbers
voll „veritanden hat, die Rolle feiner Individualität anzupaſſen“. In unferer
Zeit ift das nichts befremdendes: da unfer Ohr mehr als je abgeitumpft ift,
hören mir bie Schaufpieler nicht mehr, fondern fehen fie nur noch; Koftüme
und Zoilettenfragen find unendlich viel wichtiger als die Darftellung in ihrer
Ganzheit, in ihrem Zufammenmweben von Ton, Gebärde und Spiel. Wenige
Schaujfpieler können Gedichte fprechen, das ijt befannt. Ein größeres Armuts—
zeugnis gibts aber nicht; denn es bemeift die vollendete Einfeitigleit. Nehmt
vielen unferer Bühnengrößen den Nahmen der Bühne, der Dekoration, der
Koftüme, und ihr prahlerifches Nichts ſinkt in feiner Nadtheit zufammen. Des
halb weg mit dem abfoluten Rollenftubium! Für den Schüler ifts meift Gift.
Nicht Haltlofe Shwärmer, fondern Kenner follen erzogen werben. Lehrt Lyrik
nadfühlen und wiedergeben, lehrt in Berbindbung mit der Gebärde die Affekte
von der einfachsten big zur fompligierteften Erfcheinungsform zu verstehen und lehrt
beim Rollenftudium aud die Vertiefung in die pſychologiſche Folgerichtigteit
ber darzuftellenden Charaktere, ohne auf ben poetifhen Zauber, der auch in
der moderniten Figur fteden fann, zu verzichten. Hierfür find außer Shake—
fpere aud) unjere modernen Problembichter hervorragend geeignet, unb für
den Schüler bedeuten Ibſen und Hauptmann zunächſt mehr als Schiller
und Goethe, die zulegt zu behandeln find. Wird fo auf vernünftiger Baſis
gearbeitet und dabei nicht verfäumt, den Blid, außer in die Vergangenheit, zu
richten auf das Kämpfen und Bauen, das Wehen und Stürmen unferer Tage,
dann hat die Schule ihren Befähigungsnachmeis erbracht und wird brauchbares
Material an die Bühnen abgeben; dann wird fie aber feine bloßen Rollen
fpieler züchten, ſondern durch geeignete unausgefegte Uebung Regiffeure
erziehen, d. h. Künftler, die das Kunſtwerk in feiner Ganzheit zu erfajjen ver—
mögen, deren Phantafte nicht nur im beiten Falle die Role anſchaut, jondern
vom ganzen farbenreichen Gemälde ausgehend, ſich die Einzelfarbe, d. i. die
Role in ihren mannigfachen Schattierungen ausmwählt. Dann erſt wird die
Herrſchaft ber Tradition und ber öden ſtunſthandwerkerei gebrodyen werden.
Und endlich dann erſt, als meitblidgemährendes Dad, kann eine Hochſchule der
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Schaufpiellunft im Sinne Kalkſchmidts dem auf ficherem Boden feft erbauten
Gebäude der Theaterfchule aufgepflanzt werden und Nutzen verfpreden.
Rudolf £orenz.
Lose Blätter.
Die Peft in Bergamo
von 3.8. Jacobjen.
Hier war Alt-⸗Bergamo, oben auf dem Gipfel eines niedrigen Berges,
im Gehege hinter Mauern und Türmen, und bier war das neue Bergamo,
unten am Fuß des Berges, allen Winden offen.
Eines Tages brady unten in der neuen Stadt die Peſt aus und griff
fürchterlich um ſich; e8 ftarben eine Menge Menſchen und die anderen flüchteten
über die Ebene fort, nad) allen vier Enden der Welt hin. Und die Bürger in
Alt-Bergamo zündeten die verlaffene Stadt an, um die Quft zu reinigen, je—
doch e8 half nicht; fie begannen auch droben bei ihnen zu fterben, erit einer
im Tag, dann fünf, dann zehn und dann ein Dutzend, und da e8 auf feinem
Höhepunkt, noch viel mehr.
Und fie konnten nicht jo flüchten, wie die in der neuen Stadt e8 gethan.
Es gab deren ja, die e8 verfuchten, allein fie befamen ein Leben zu leben,
wie das bes gejagten Tieres, mit Verbergen in Gräben und unter Brüden=
kaften, hinter Heden und zwiſchen grünen Feldern; denn bie Bauern, bie bald
da, bald dort von den erften Flüchtlingen die Peſt ins Haus geſchleppt bes
kommen, fie fteinigten jede fremde Seele, die fie trafen, von ihrer Flur meg,
oder ſchlugen fie wie tolle Hunde ohne Gnade und Barmherzigkeit nieder — in
gerechter Notwehr, wie fie meinten.
Sie mußten bleiben, wo fie waren, die Leute von Bergamo, und Tag
für Tag wurde e8 wärmer im Wetter, und Tag für Tag wurde die grauen
hafte Anſteckung gieriger und gieriger in ihrem Griff. Das Entfegen ftieg wie
zu einem Wahnfinn, und mas bisher von Orbnung und ridtigem Regiment
eriftiert hatte, war, als hätte e8 die Erde verfhlungen und das Schlimmite
dafür hinaufgejandt.
Gleich im Anfang, als die Belt gelommen, hatten die Leute ſich zu Einig-
feit und Verträglichkeit zufammengefhloffen, hatten barüber gewacht, daß die
Leute ordentlih und gut begraben wurden, und jeden Tag dafür geforgt, daß
auf Märkten und Plätzen große Scheiterhaufen Feuer angezündet murben,
. daß ber gefunde Rau durch die Straßen zöge. Wachholderbeer und Eifig
war an die Armen ausgeteilt worden, und vor allem hatten die Leute früh
und fpät die Kirchen aufgefucht, einzeln und in Progeffionen; jeden Tag waren
fie bei Gott gemefen mit ihren ®ebeten, und jeden Abend, wenn die Sonne in
bie Berge ging, hatten aller Kirchen Glocken aus hundert ſchwingenden Schlün=
den flagend zum Himmel binaufgerufen. Und Faften waren auferlegt worden,
und die Reliquien waren jeden Tag auf den Altären ausgeftellt worden.
Endlich) eines Morgens, da fie nicht mehr wußten, was thun, hatten fie
von des Hathaujes Altan, unter der Pofaunen und Tuben Klang, die heilige
Jungfrau für nun und ewig zum Podeſta ober Bürgermeifter über die Stadt
ausgerufen.
Kunftwart
Jedoch das half alles ingefamt nichts; es gab nichts, was half.
Und als die Leute das vernahmen und feit wurden im Glauben, daß
der Himmel ihnen nicht helfen wolle oder nicht könne, da legten fie nicht bloß
bie Hände in den Schoß, fagend, daß alles fommen müffe, wie e8 fommen
werde, nein, e8 mar als ob bie Sünde aus einem verborgenen oder fchleichen>
ben Siehtum eine böfe und offenbare, rafende Peit geworben, die Hand in
Hand mit der leiblichen Krankheit gierte, die Seele totzufchlagen, wie diefe,
ihre Körper zu Grunde zu richten. So unglaublid waren ihre Thaten, fo uns
geheuer ihre VBerhärtung. Die Luft war voll Läfterung und Gottlofigkeit, voll
des Völlers Stöhnen und des Trinfers Heulen, und die mildeite Naht war
nicht ſchwärzer vor Unzucht, als e8 ihre Tage waren.
„Heute wollen wir eſſen, denn morgen müſſen wir ſterben!“ — Es war
als hätten fie dies in Noten gefegt, in einem unendlichen Höllenfongert auf
mannigfaltigen Inftrumenten zu fpielen. Ja, wären nicht alle Sünden fon
vorher erfunden gemefen, fie wären e8 hier geworden; denn es gab nicht einen
Meg, den fie in ihrer Berkehrtheit nicht gegangen wären. Die unnatürlichiten
Lafter florierten unter ihnen und fogar fo feltene Lafter wie Nefromantie,
Zauberei und Teufelsanrufung waren ihnen wohlbefannt; denn fie waren zahl
reich, die bei der Hölle Mächten den Schuß zu finden meinten, den der Himmel
ihnen nicht gemähren wollen.
Alles, was Hilisbereitihaft und Mitleid hieß, mar aus den Gemütern
verfhmunden; jeder hatte nur Gedanken für fich felbft. Der firanfe wurde als
der gemeinfame Feind aller betrachtet, und gefhah’8 einem Armen, daf er,
mait von der Peſt erftem Fiebertaumel, auf der Gaſſe umfiel, gab e8 nit
eine Thür, die ſich vor ihm aufthat, fondern mit Lanzenſtichen und mit Steines
mwürfen ward er gezwungen, fi) aus der Gefunden Weg fortzufchleppen.
Und Tag für Zag nahm bie Peſt zu; die Sommerfonne brannte auf die
Stabt herab, es fiel fein Negentropfen, e8 rührte fich fein Wind, und von ben
Reihen, bie in den Häufern lagen und faulten, und von den Zeichen, die in
der Erde ſchlecht geborgen waren, erzeugte fich ein eritidender Gerud, der fich
mit der ftodenden Luft in den Straßen vermifchte und Naben und Strähen in
Schmwärmen und in Wolfen anlodte, jo dab e8 von ihnen auf Mauern und
Dächern ſchwarz war. Und rundum auf ben Ringmauern der Stadt ſaßen
eingelnmeife feltjame große ausländifche Vögel, von weit her, mit raublüfternem
Schnabel und erwartungsvoll gefrümmten Klauen, und fie jaken und jchauten
mit ihren ruhigen gierigen Augen binein, als warteten fie nur barauf, daß
die unglüdlihe Stadt eine einzige große Aashöhle werde.
68 war gerade der Elfwochentag nad) Ausbruch der Peſt, als die Turmes
wächter und andere Beute, bie fid) auf Hohen Stätten befanden, einen feltfamen
Zug fi aus der Ebene hinein in die engen Gaſſen der neuen Stadt, zwiſchen
den rauchgeſchwärzten Steinmauern und ben Schwarzen Aſchenhaufen ber Holz=
feuern durchſchlängeln jehen fonnten. Cine Menge Menſchen! gewiß gegen
fehshundert und noc mehr, Männer und Frauen, Alte und Junge, und fie
hatten große ſchwarze Kreuze zwiſchen fich und breite Banner, rot wie Blut
und Feuer, über ſich. Sie fingen, während fie gehen, und fehr verzweiflungs—
voll klagende Töne jteigen durch die ftille, brütend Heiße Luft hinauf,
Braun, grau, Schwarz ift der Leute Tracht; doch alle Haben fie eine rote
Marke auf der Bruft. Ein Kreuz ijt’s, als fie näher fommen, denn fie fommen
immer näher. Sie preffen fih den fteilen mauereingehegten Raum hinauf, der
zu ber alten Stadt führt. Es iit ein Gewimmel von ihren weißen Gefichtern
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fie tragen Geißel in den Händen; e8 ift ein Feuerregen auf ihre roten Fahnen
gemalt. Und bie ſchwarzen Kreuze ſchwingen nad) ber einen Seite und nad)
ber anderen im Gebränge.
Ein Geruch fteigt vom zufammengepferdten Haufen auf, von Schweiß,
von Alche, von Wegftaub und altem Kirchenräucherwerk. Sie fingen nicht mehr;
fie reden auch nicht; bloß ber gefammelte Herbenartig trippelnde lang von
ihren nadten Fußen.
Gefiht um Gefiht taudht in ber Turmpforte Dunkel und fommt auf
ber anderen Seite mit lichtſcheuen Mienen unb halbwegs gefchloffenen Augen
wieder ins Helle.
Dann beginnt der Gefang aufs neue: ein Miferere, und fie preflen bie
Geißel und fchreiten ftärfer aus wie bei einem Kriegsſang.
Als kämen fie von einer ausgehungerten Stadt, fo fehen fie aus; fie
haben hohle Wangen, ihre Backenknochen treten hervor, fie haben fein Blut in
ben Lippen und bunfle Ringe um die Augen.
Die aus Bergamo find zufammengemimmelt und ſchauen mit Verwun—
derung und Unruhe auf fie herab. Rote verfhmwärmte Gefichter ftehen von
biefen bleichen ab; fchlaffe unzuchtsmatte Blide ſenken ſich vor biefen ſcharfen
flammenden Augen; grinfende Läfterer vergeffen den Mund offen vor biefen
Symnen.
Und es iſt Blut auf all diefen Geißeln von ihnen.
Den Leuten wirb vor diefen Fremden ganz wunderlich zu Mute.
Aber es währte nicht lang, ehe man diefen Eindrud abfchüttelte. Es
gab einige, die unter den Kreuzträgern einen halbverrüdten Schufter aus Brefcta
erfannten, und ftrad8 mar die ganze Schar durch ihn zum Gelächter worden.
Uebrigens mar e8 ja doch etmas Neues, eine Zerftreuung vom Alltäglichen,
und als die Fremden nad der Domkirche fortmarfchierten, fo folgte man nad),
wie man einer Gauflerbande oder einem zahmen Bären folgte.
Dod während man ging und gefchoben ward, fam man in Erbitterung;
man fühlte fi jo nüchtern der Feierlichkeit diefer Menfchen gegenüber, und
man erriet ganz gut, daß diefe Schuhmadjer und Schneider gelommen waren,
um einen zu befehren, für einen zu beten und bie Worte zu fprecdhen, die man
nit hören wollte. Und ba waren zwei magere graubaarige Philofophen, die
hatten die Gottlofigkeit in ein Syftem gefett; fie hegten die Menge und reizten
fie recht aus ihres Herzens Bosheit, fo daß mit jedem Schritt, den e8 nad)
der Kirche ging, die Haltung der Menge drohender ward, ihr Zornesausbrud)
milder und nur wenig fehlte, fo hätten fie an dieſe fremden Geißelfchneider
Sand angelegt. Jedoch, da öffnete, nicht Hundert Schritte von der Kirchen—
pforte, ein Wirtshaus feine Thüren und eine ganze Schar Zechbrüder ftürmte
hervor, einer auf dem Nüden bes anderen, und fie festen ſich an die Spige
ber Prozeffion und führten fie fingend und johlend, mit den narrenhafteit an—
dächtigen Gebärden, mit Ausnahme von einem unter ihnen, der bis hinauf
zu den grasbewachſenen Stufen ber Stirdhentreppe die Daumen drehte. Da
lachte man denn und alle gelangten friedlih ins Heiligtum.
Es war feltfam, wieder ba zu fein, durch diefen großen fühlen Raum
zu fchreiten, in diefer Luft, die beikend war vom alten Raud der Wachslicht-
fhnuppen, über diefe eingefuntenen Fließen, die der Fuß fo gut fannte, und
über diefe Steine, an deren verwegten Ornamenten und blanten Inffriptionen
der Gedanke fich jo oft abgemübdet. Und während nun das Auge halb neu—
gierig, halb unmillig fi im weichen Halblicht der Wölbungen zur Ruhe Ioden
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ließ ober Hinglitt über bie gebämpfte Buntheit von verftaublem Gold und
verräucherten Farben oder fich in bie fonderbaren Schatten der Altarwinkel zu
vertiefen anfing, fo fam eine Art von Sehnfuht empor, bie nicht zum nieber-
Balten war.
Mittlerweile trieben die vom Wirtshaus ihr Unweſen broben beim Haupt-
altar felbft und ein großer und kräftiger Metzger unter ihnen, ein junger Dann,
Hatte feine weiße Schürze abgeldft und fih um den Hals gebunden, fo daß fie
wie ein Mantel über feinen Rüden berabhing, und fo hielt er broben Meſſe
mit den wildeiten, wahnwitzigſten Worten voll Unzudt und Gottesläfterung;
und ein ältlicher Heiner Didmwanft, lebendig und behende, troßbem er jo did
war, mit einem Antlig wie ein gefchälter Kürbis, er war Küfter und reſpon—
dierte mit all ben lüderlichſten Weifen, die fih im Land umtrieben, und er
Iniete und er fnigte und wendete dem Altar fein Rüdteil zu und Täutete mit
ber Glode wie mit einer Narrenfchelle und flug im Rab um fi mit bem
Näuchergefäh; und die anderen Trinker warfen fi beim Kniefall nieder, fo
lang fie waren, und brüllten vor Laden und fchluditen vor Trunkenheit.
Und die ganze Kirche lachte und juchzte und verhöhnte die Fremden und
rief ihnen zu, fie möchten doch gut zufehen, damit fie herausfriegten, wie man
bier in AltsBergamo ihren Herrgott fhäße. Denn e8 geihah ja gar nicht,
weil man Gott etwas anhaben wollte, daß man über bie tollen Streiche jubelte,
fonbern weil man fi darüber freute, welch ein Stachel im Herzen diefer Heiligen
jede Läſterung fein mußte.
Mitten im Schiff hielten fi die Heiligen auf und fie ftähnten vor Dual;
ihre Kerzen kochten in ihnen vor Haß und Rachedurſt und fie beteten mit
Augen und Händen hinauf zu Gott, daß er fih doch rächen wolle für all ben
Sohn, der ihm bier in feinem eigenen Haus zugefügt wurbe; fie würden gern
aufammen mit diefen Vermeffenen untergehen, wollte er nur feine Macht weiſen;
mit Wolluft würden fie unter feiner Sohle zerdrüdt, wenn bloß Er triumphierte
und Entjegen und VBerzmeiflung unb Reue, die gu fpät war, aus all dieſen
gottlojen Mäulern ſchrieen.
Und fie ftimmten ein Miferere an, das in jedem Tone Mang wie ein Ruf
nad) dem Feuerregen, der über Sodoma fam, nad) der Madit, die Simfon be—
ſaß, als er des Philifterhaufes Säulen umfaßte. Sie beteten mit Sang und
mit Wort, fie entblößten bie Schultern und beteten mit ihren Geißeln. Da
lagen fte fnieend, Reihe für Reihe, bis zum Gürtel herab entblößt, und
ſchwangen bie ftadheligen Rebſchnurknoten über ihre blutftriemigen Rüden.
Bild und rafend bauten fie zu, fo dab das Blut von ben zifchenden Beitichen
fprigte, Jeder Schlag war ein Opfer für Gott. Daß fie dod anders ſchlagen
könnten, daß fie fich doc Hier vor Seinen Yugen in taufend blutige Stücke
zerreißen könnten! BDiefer Leib, mit dem fie wider Sein Gebot gefündigt, er
follte geftraft, gefoltert, zu Nichts gemadjt werben, damit Gr ſähe, wie fie ben
Leib haften, damit Er fähe, wie fie Hunde waren, Ihm zu gefallen, geringer
als Hunde unter Seinem Willen, das niedrigite Gewürm, das unter Seiner
Fußfohle Staub fra! Und Schlag auf Schlag, Bis die Arme niederjanten oder
ber Kampf fie zu Knoten ballte. Da lagen fie, Reihe für Reihe, mit wahnwitz—
funfelnden Augen, mit Geiferwolten vor dem Mund, das Blut über ihr Fleiſch
berabriejelnd. "
Und bie das fahen, fühlten auf einmal ihre Herzen Elopfen, merften bie
Wärme in ihre Wangen fteigen und Hatten Beſchwerde zu atmen. Es mar
gleichſam, als jtrammte ſich etwas Kaltes unter ihrer Kopfhaut und ihre Knie
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wurden ganz ſchwach. Denn das ergriff fie; e8 war ein Feiner Wahnfinns-
punft in ihrem Hirn, der diefe Tollheit verſtand.
Dies, fi) als der gemaltigen harten Gottheit Sklave zu fühlen, fi
felbjt vor des Herrn Füße hinzuſtoßen, fein Eigen zu fein, — nicht in ftiller
Frommheit, nit in fanfter Gebete Unwirkſamkeit, jondern e8 rafend zu fein,
in ber Selbfterniedrigung Rauſch, in Blut und Geheul und unter feuchtigkeits—
blintenden Geißelzungen, dies waren fie aufgelegt zu verjtehen; jogar der
Sleifher wurde ſtill und die zahllofen Philofophen dudten ihre grauen Köpfe
vor ben Augen, die fie rings um fi fahen.
Und e8 wurde ganz till drinnen in der Kirche; nur ein fahtes Wogen
ging durch den Haufen.
Da ftand einer von ben Fremben, ein junger Mönch, über ihnen auf und
rebete. Er war bleich wie ein Laken, feine Schwarzen Augen glühten wie Sohle,
die am Auslöfchen ift, und die büjtern, Shmerzgehärteten Züge um den Mund
waren als mären fie wie mit einem Meſſer in Holz gefchnitten, und nicht
Falten in eines Menſchen Geficht.
Er ftredte die dünnen, zerlittenen Hände im Gebet gen Himmel und die
ſchwarzen Suttenärmel glitten über feine mageren weißen Arme herab.
Dann redete er.
Von der Hölle fprad) er, davon, daß fie unendlich war, wie der Himmel
unendlich ift, von der einfamen Welt der Qualen, die jeder von ben Ber-
dammten zu durdhleiden und mit feinen Schreien anzufüllen hat; Seen von
Schmefel waren da, Wiefen von Storpionen, Flammen, die fih um ihn legten
wie ein Mantel fi umlegt, gehärtete Flammen, die fi in ihn bohrten wie
ein Spießblatt, da8 man in einer Wunde umbdreht.
E8 war ganz ftill; atemlo8 lauſchten fie feinen Worten, benn er rebete,
als habe er das mit feinen eigenen Augen gefehen, und fie fragten fich jelbit,
ift nicht diefer einer von den Verdammten, der zu uns aus ber Hölle Raden
heraufgefhidt ward, um vor ung zu zeugen.
Dann predigte er lange vom Gefe und der Strenge des Gefeges, darüber,
daß jedes Tüpfeldhen erfüllt werden müſſe, und daß jede Uebertretung, deren
fie fih jchuldig gemadt, ihnen bis auf Loth und Unge würde angerechnet
werden. „Aber Ehrijtus ift für unfre Sünden gejtorben“, jagt Ihr; „wir find
nicht mehr unter dem Geſetz“. Aber ic) fage Euch, daß die Hölle nit um
Einen von Euch wird betrogen werden und nicht einer der Eifenzähne an der
Hölle Marterrad wird Eueres Fleifches verluftig gehen. Ihr bauet auf Gol—
gathas Kreuz; fommt, fommt! fommt e8 zu fehen! ich führe Euch ganz bis
zu feinem Fuß. Es war ein Freitag, wie Jhr wüßt, als fie ihn durch eines
ihrer Shore hinausſtießen und das ſchwerſte Ende eines Kreuzes auf feine
Scdultern legten und e8 ihn gu einem unfrudtbaren und kahlen Lehmhügel
außerhalb der Stadt tragen ließen, und fie folgten zuhauf mit und rührten den
Staub auf mit ihren vielen Füßen, fo daß e8 mie eine rote Wolle über der
Stätte lag. Und fie riffen feine Kleider von ihm ab und entblößten feinen Leib,
fo wie bie Herren bes Gefeges einen Miffethäter vor Aller Bliden entblößen
laſſen, damit Alle das Fleiſch jehen können, das der Pein fol überantwortet
werben und ſie jchleuderten ihn nieder, auf fein Kreuz zu liegen, und ftredten
ihn darauf und fchlugen einen Nagel aus Eifen durch jede feiner wider—
ftrebenden Hände und einen Nagel durch feine gefreuzigten Füße; mit Heulen
ſchlugen fie die Nägel bis an den Kopf hinein. Und fie richteten das Kreuz
in einem Loch der Erde auf, jedoch es mollte nicht feft und gerade
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ftehen, und fie fchüttelten e8 Hin und ber und trieben Keile und Pflöcke
rund herum ein, und die e8 thaten, fihlugen ihre Hüte auf, damit
das Blut feiner Hände ihnen nicht in die Augen tropfe. Und er dort oben
fah vor fih hinab auf die Soldaten, die um feinen ungefäumten Kittel fpielten
und auf biefen ganzen johlenden Haufen, für den er litt, damit berfelbige ers
löſt werden könne, und e8 war fein mitleibend Auge im ganzen Haufen. Und
bie dort unten fchauten wieder ihn an, ber leibend und ſchwach da hing; fie
fhauten auf daß Brett zu feinen Häupten, worauf gefchrieben ftand: König
der Juden, und fie fpotteten fein und riefen hinauf zu ihm: „Du, ber bu
Tempel nieberbrichft und in drei Tagen wieder aufbauft, erlöfe nun dich felbit,
bift du Gottes Sohn, fo fteig herab von diefem Kreuz.” Da erzürnte Gottes
hochgeborener Sohn in feinem Sinn, und fah, fie waren ber Erlöfung nicht
wert, die Haufen, fo die Erde erfüllen, und er riß feine Füße über den Kopf
des Nagels und er ballte feine Hände über die Nägel ber Hände und zog fie
heraus, daß bie Urme des Kreuzes fi) wie ein Bogen fpannten, und er fprang
zur Erde und riß feinen Mantel an fih, dab die Würfel über den Abhang
von Golgatha rollten, und er warf ihn um mit eines Königs Zorn und fuhr
auf gen Himmel. Und das Streng blieb Leer ftehen und der großen Verſöhnung
Werk wurde nie vollbradt. Es iſt fein Mittler zwiſchen uns und Gott; es tft
fein Jefus für ung am Streuz gejtorben, es ift fein Jefus für ung am Kreuz
geftorben, e8 ift fein Jeſus für uns am Kreuz geftorben!*
Er jchmieg.
Bei den letzten Worten hatte er fich über die Menge vorgebeugt und
mit Lippen und Händen feine Ausfage gleihfam auf ihre Häupter niederge-
worjen, und e8 war ein Stöhnen ber Angſt durch die Kirche gegangen und in
den Winfeln Hatten fie zu ſchluchzen begonnen.
Da drängte ſich der Fleifcher mit aufgehobenen drohenden Händen, bla
wie eine Reihe vor und er rief: „Mönch, Mönd, mirft du ihn wieder aus
Kreuz nageln, wirft du... .!“ Und Hinter ihm Fang e8 Heifer und fcharf:
„Sa, ja; freuzige ihn, freuzige ihn!” Und von allen Lippen wieder, drohend,
bettelnd, dröhnte es in einem Sturm von Rufen zur Wölbung hinan: Kreu—
ige, freuzige ihn!“
Und Elar und hell eine einzige Stimme: „Sreuzige ihn!“
Jedoch der Mönch ſah auf dies Geflatter aufgeitredter Hände hinab, auf
diefe verzerrten Gefichter, mit des rufenden Mundes dunklen Deffinungen, aus
denen die Zahnreihen wie Zähne gereizter Raubtiere bligten, und er breitete
die Arme in der Efftafe eines Moments gen Himmel auf und ladite. Dann
ftieg er hinab, und feine Leute hoben die Feuerregenbanner und ihre leeren
ſchwarzen Kreuze und brängten aus der Kirche hinaus, und wieder zogen fie
fingend über den Marftplag und wieder durch der Turmpforte Schlund.
Und die von Alt-Bergamo ftarrten ihnen nad), als fie ben Berg hin—
unter gingen. Der jteile mauereingehegte Weg war vom Licht der Sonne um«
nebelt, die draußen über der Ebene janf, und fie waren vor all dem Licht nur
halb zu fehen; doc auf den roten Ringmauern der Stadt zeichneten die Schatten
ſich ſchwarz und Scharf ihrer großen Kreuze, die im Gedränge von ber einen
Seite nad) der anderen ſchwankten.
Ferner ber fang ber Gefang; rot [chimmerte nod ein Banner oder
zwei von der neuen Stadt brandſchwarzer Stätte; dann verfhmwanden fie in
der lichten Ebene.
1. februarheft 1899
_ 33 —
a EAN TED BETT
Rundschau.
Literatur.
”» Südbifhe Gharaltere bei
Grillparzer, Hebbel und Otto Ludwig“
beurteilt ©. Lublinski in einem bei
Siegfried Cronbach in Berlin erſchie—
nenen Bude. „Einen Kleinen Bei—
trag zur deutſchen Literaturgefchichte,
geſehen (!) auß dem Geſichtswinkel
eines jüdiſchen Temperamentes nennt
der Verfaſſer herein das aus fünf Eſſays
(„Hebbels Judith“, „Der Jude in der
@enoveva*, „Herodes und Dtariamne“,
„Dtto Ludwigs Makkabäer“, „Grills
parzers Efther und Rahel von Toledo“)
ah gr Sale Werk, und er verhehlt
aud) feine Sympathien für den —
mus nicht. Wir haben es alſo mit
einer ehrlich jüdiſchen Arbeit zu thun,
und ſchon durch dieſe Ehrlichkeit ge—
winnt das Werk auch Bedeutung. Nicht,
daß ein Jude (an ihre ſogenannten
Dichter, recte Geſchäftsleute denke ich
hier natürlich nicht) deutſch dichtet oder
in Sachen ber deutſchen Literatur mit=
rebet, Dürfen wir uns verbitten — wir
haben bafür vielmehr banfbar zu fein,
denn alles, was uns zur Erfenntnis,
zur Selbfterfenntnis verhilft, ift wert
voll. Nur die Geltendmadhung jüdi-
her Dichtungen als aud im Geiite
eutfcher, weiter fpezififch jüdifcher
Unfhauungen als allg emein-äjthes
tifher kann verberblidy werden und
ift e8 geworben, wie jede Berfchleierung
von Unterſchieden nationalen Empfin=
dens, bie dorh einmal da find. Sagt
jemand ruhig: ih dichte und ſchreibe
als Jude, jo hat er durchaus das Redt,
gegen antifemitifche Angriffe geſchützt
u werden, denn Kunſt- und Wiſſen—
Haftsbetrachtung gehen zunächſt auf
das Berftändnis des Dienfchengeiftes
aus und haben feine nationalen For=
men dabei einfach als gegeben hinzu—
nehmen. Wo es jih um nationale
Kunft handelt, dort aber gewiß, fommt
dann die Echtheit und Reinheit des
Nationalgeiftes in Frage für die Ein—
heitlichfeit des Werkes in ji. Wo
jüdifhe Menſchen von Künftlern ger
manifher Raſſe dargejtellt werden,
da haben die Juden natürlid) ein dop—
peltes Recht mitzufpredhen, und wenn
fie fi hier zu bemerfensmwerter Ob-
jeftivität aufſchwingen, fo verdienen
fie Lob. Ich ſtehe keinen Augenblid
an, ©. Lublinsfi dieſes Lob für fein
Bud zu wünjden. Er hat zwar die
vielleicht anfechtbare Anſchauung, daß
Kunftwart
erft die Unterbrüdung bie ſchlechten
Eigenſchaften bes jüdiſchen Volles her—
vorgerufen habe, aber das iſt ihm
kaum zu verdenken, denn ähnlich ent—
ſchuldigen wir uns alle. Er neigt zwar
zu übergeiſtreichen Kombinationen und
madt von ben Uebermenſchentums—
ideen mehr, als mir nötig fcheint,
Gebraud), aber die Dichter, die er be=
handelt, bemertet er doch im ganzen
richtig, und bie jübifchen Geſtalten, bie
fie geben, lehnt er nit hochmütig ab,
fondern er nimmt fie an und madt fie
uns wirklich anfhaulich, viel se als
dies ber bejte nichtjüdiiche Beobachter
bes Judentums könnte. Das ijt ein
Verdienſt, auch infofern, als es uns
wieder einmal bdarthut, daß wenigſtens
der Dichter über die nationalen Schran=
fen binausfann. Im einzelnen hätte
ich Dies oder das auszufegen. So hat
Sebbel die drei Könige aus dem Mor-
genlande zum Schluß von „Herodes
und Mariamne“ gewiß nicht der „ver
alteten und kindiſchen Berföhnungs-
theorie” zuliebe gebradt, gegen die
er felber taufendbmal geſprochen, ſon—
bern aus demjelben Grunde, aus dem
Shatefpere zum Schluß bes Hamlets
den Fortinbraß auftreten läßt. So
ſchwankt das genannte Drama ſchwer—
lich zwifhen Buhdrama und Bühnen-
ftüf unflar hin und her — man führ
e8 nur einmal auf! — und läßt bie
Farben und Blüten, wenn man darunter
nit bloß Lyrismen verjteht, ficher
nicht vermiffen. So iſt Ibſen, der Dich—
ter, jedenfalls nicht die Vollendung
Hebbels und Ludwigs. Aber ſolche
Meinungen“ ſchaden nicht, wenn bie
Hauptarbeit nur geleiſtet wird, und
das iſt hier das tiefere Eindringen in
die Charaktere auf Grund oder unter
Kontrolle der jüdiſchen Stammes—
empfindung. A. Bartels.
Cheater.
* Hermann Sudermann hatte
mei Verehrern ſchon lange ver—
proden, ein Mal als Märdjenprinz
zu fommen. Noch ehe Hauptmann
Blode in dem Bergjee verfunten, —*—
gute Freunde ein Zeichen des Koſtüms
verraten, daran man ihn dereinſt
erlennen ſollte, drei Reiherfedern,
und kurz vor dem Feſte ward ver—
kündet, hinter dem Duft des Märchens
ſchlummere ein großer Gedanke. Nun
iſt der große Tag hinter uns, in drei
— 34 —
Städten, in Berlin, Dresden unb
Stuttgart, ward er gefeiert, aber hier
wie dort war der Gindbrud mäßig, in
Dresden warb fogar ein Mikerfolg
nur mübevoll verhült. Gemeinfam
ift dem Prinzen Witte, dem Helden
ber Reiherfedern,* mit dem Glocken—
+ Das Märchen, das dem Stüde
zu Grunde gelegt iſt, und aus dem
fich bei Bertiefung ftatt Beräußerlihung
etwas hätte machen laffen, geben mir
hier zur Orientierung über Die Fabel
mit den Worten Bodo Wildbergs
wieder: E8 war einmal ein Prinz, der
litt an ber großen Sehnfudt, an ber
Sehnfuht nah dem Weibe, bem ide—
alen Weibe, der feligmadhenden Krone
aller Frauen. Zu ihin jprad) die Be-
gräbnisfrau auf der einfamen Inſel,
wo ber Friedhof der Unbelannten ift,
nahe von Samlands Küſte: „Wenn
Du mir die Federn bringit von jenem
Neiher, der hoch im Norden von einem
milden Volke als König verehrt wird,
fo will id) Dir fagen, wie Du das Weib
aller Weiber gewinneſt“. Und der Brinz
tötete den Reiher und bradjte die drei
Febern, und die Begräbnisfrau ſprach:
„Wenn Du die erfte diejer Federn ver—
brennit, wird fie im Dämmer Dir
ericheinen; wenn Du die zweite in bie
Flammen wirfit, wirft Du fie nacht—
wandelnd ſchauen; wenn aber die dritte
im Feuer verglüht, dann ftirbt jenes
Meib.* Und ber Prinz verbrannte die
erite Feder; eine verjchleierte Geſtalt
ſchwebte fern am Himmel bahin. Den
rg 30g die große Sehnſucht nad
üden. Die Königin von Samland
mar in arger Bedrängnis, der Prinz
rettete fie vor ihren Feinden und fie
wurde jein Weib. Uber die Sehnſucht
in ihm kam nicht zur Ruhe; in ftiller
Nacht verbrannte er die zweite Feder.
Da fam die Königin aus ihrem Ge—
mad; unwirſch fuhr er fie an, daß
[e ihn ftörte: „Du riefit mid“, ſprach
e. Er aber hatte nicht verftanden.
Und er brad) ihr die Treue und aud)
als Herrfcher wurde er fchledht, jo daß
man ihn endlich) vom Throne vertrieb.
Und er lebte fünfzehn Jahre in der
Berbannung: und endlih fam er
wieder auf jene öde Oſtſee-Inſel, nah
an Samlands Küſte. Die Königin
örte von feiner Anweſenheit auf der
nfel und fam ſamt dem nunmehr
erwachſenen Prinzen, um den Büßer
aurüdzuholen. Da geitand er, mas
ihn fein Leben lang in der Jrre her—
umgeführt; nun aber müfje er wiſſen,
— — — —
gießer die innere Zerriſſenheit, das
Fremdſein hier wie dort, das im
Grunde ein Sichſelbſtfremdſein iſt, die
Exzentrizität“, die nur durch den Tod
beendet, nicht gelöſt werden kann. Iſt
aber das Ideal des an ſeiner ſtraft ver⸗
zagenden Künſtlers in einigen Sätzen—
annähernd zu beſtimmen und der
Märchenrahmen leicht überſchaulich,
ſo zerfließt in Sudermanns anſpruchs⸗
vollem dramatiſchen Gedicht Inhalt
und Form in das Geſtaltloſe und
Unfaßbare und wird zum erſchrecken—
den, unfreiwilligen Geſtändnis philo—
Topbifher und unfünftlerifher Unklar—
beit und Verworrenheit. Dumpf und
verwirrend fingen allerhand Stimmen
an unfer Obr, Sehnfuht nad) läuten=
der Frauenreinheit, Verachtung der
fhillerden Lüge Weib, reuiger Zweifel
bei Unedt und Schuld, ſich
auflehnender Troß ber Kraft, die
felbft die Make alles Großen
ſchaffen will, daß Recht ber Liebe und
der Macht über das Recht. Steine
moderne Sehnfuht, keine Halbwahr—
heit unferer fuchenden Tage, die fidh
da nicht zum Worte meldete, und über
allem die billige Gemwißheit, daß ber
Tod dem Durdeinander der Wider-
ra für den Einzelnen ein Ziel
etze.
Après nous le déluge. Wird ſo
das Ganze zum unfreiwilligen Spiegel=
bild einer Seele, die ſich nur in Ver—
zerrungen fpiegeln Tann, fo Hat bie
fünftlerifche Geſtaltungskraft verjagt
und verfagen müffen, wo e8 auf
mehr al® momentane Bühnencffefte
anlommt, die alle Mittel der „Uftua=
Iität* ausnuben fünnen. Wem fi
das Weltbild jo vertraft und ver=
— darſtellt, dem iſt auch die Mög—
ichkeit einer lichten Geſtaltung ver—
ſagt. Der Zauberſpruch der Reiher—
federn, in ſich doppeldeutig, bannt die
Sehnſucht des Helden ganz in die
Sphäre des Glückes, das Weibes Rein—
heit gewähren kann. Nach den herben
Erfahrungen, die Prinz Witte bei dem
Zug nach dem —— gemacht,
follte man meinen, als gefeſtigter Mann
erjehne er nur noch ein beſcheidenes
Glück. Dennoch mwühlt in ihm aud
die Sehnſucht des Herrenmenſchen, ja
die einfachſter königlicher Herrfchbegier.
wo jenes Weib jei. Und er verbrannte
die dritte Feder. Da ſank die Königin
tot zu Boden. Die Begräbnisfrau
aber fprad: „Nun feid ihr mein...
Gehet ein zum Frieden.”
1. sebruarheft 1899
35 —
Beide Ideale aber verleugnet er in
einer zu ſchwacher Stunde geſchloſſe—
nen Ehe mit einer Königin, dem Vor—
bild aller weiblichen Milde und Hoheit.
Der gute Zuſchauer ahnt natürlid) jo=
fort, daß fie die Frau fei, Die ber
Zauberſpruch verheift, e8 wird ihm
aud) bei dem Verbrennen der zmeiten
Feder beftätigt, indem die Königin
nachtwandelnd erjcheint. Dem Helden
aber fehlen alle Organe, das Gute zu
erkennen, das fo nahe liegt. Ob folder
Blindheit bemächtigt fi) des Zufchauers
die lange Weile oder die Neigung,
er allem, was er noch vorgehen
teht, einen tieferen Sinn, den „großen
Gedanten“ zu juchen und damit thut
er ih’ und dem Dichter bitteres Un—
recht. Schlieklidy atmet man auf, wenn
im fünften Alte nad) fünfzehn Jahren
erfreulicher Abweſenheit des Helden die
dritte Reiherfeder verbrennt. Prinz
Mitte würde in fünfzehn Alten nicht
erfennen, was ihm not thut. Nun
aber ftirbt die Königin, fein verlajfenes
Weib; das helle Licht, das ihm in
diefem Wugenblid aufgeht, kann er
nicht vertragen, und er ftirbt auch. Der
Dichter aber fagt: Begrabt ihn, „Dann
geht nachdenfiam von hinnen, Denn
mein Wert ift aus.“ Nachdenkſam geht
man allerdings nad) Haus, aber wohl
niht gan; im Sinne des Dichters.
Dan fragt fih doch, mie ein fo ges
mwandter Mann feine Araft fo ver—
fennen, wie er in dem ihm fremden
Gebiete alle feine technische Geſchicklich—
feit vergeffen, wie er für den Bombalt,
die ſchielenden Bilder feiner Sprade
fein Ohr, fein Auge haben fann. Das
Broblem, das er fich geitellt, hat er
nicht gelöjt, dafür aber dem Beobachter
moderner Kunſt das unerfreuliche Pro—
blem eines überrafchenden Niedergangs
geitellt. £eonh. Lier.
Eine Dresdener Zeitung faßte ihr
Urteil über die „Reiherfedern“ in das
Schlagwort zufammen: „Suder-
manns Ende* Nein, jo weit find
wir noch nicht. Nahdem der Mike:
erfolg der erjten Aufführungen aud
in Sudermanns Leibprejien nicht zu
bejtreiten ıwar, beginnt nun wieder die
Made, die wir gelegentlidy Perofis
beleudjteten, und das „Berliner Tages
blatt“ jest nad) jeiner abjprechenden
Kritif Heute ſchon mit kritikloſer Wieder
gabe von Theaterdireltionsnadridten
ein über den großen Erfolg der weis
teren Boritellungen. Die erite Rezen—
fion wird vergejfen werden, die Notizen
Kunftwart
sin
werben fi mieberholen und immer
wiederholen, — jo wirds gemacht. Uber
das Verhalten im Publikum ift doch
ein gutes Zeichen. Als ein Dichter
bat Subdermann begonnen, mit ehr
lichem Schaffen aus innerem Drange.
Dann führte die Mode ihn aufs Theater,
und nun ward er allmählich zum Ma—
cher, werbend um die Gunſt der klat—
fchenben und bezahlenden Hände als
ein Spefulant in Gffeften. Aber ber
Poet in ihm war einmal da und
quälte ihn, daß er Großes fchaffen
folle, — er, der doch ein kleiner Menſch
mar mit der Ehrfurdt vor Parkett
und Rängen. Einen Johannes wollt
er fchreiben, — er, mit der Ehrfurdht
vor Parkett und Rängen. E8 ward
nicht8 Rechtes daraus, dba fam bie
Stimmung ber „Reiherfedern“. Und
e8 ward abermals nichts Rechtes da>
raus: wer zehn Jahre lang gegen fein
Beites gearbeitet hat, dem gehorcht e8
nit mehr, wenn ers plößlich ruft.
Das iſt das Tragifhe in der Tragi—
tomödie vom Glauben an Sudermann.
* Bon den Berliner Bühnen
wird demnächſt verichtedenes zu be—
richten fein, für heute genüge der Hin—
weis darauf, daß die „Neue Freie
Volksbühne“ den übrigen Theatern
wiederum voranſchritt und unter Cord
Hachmanns bewährter Regie Björn—
fons „Paul Lange und Tora Pars—
berg* zur Aufführung bradte. Die
Gefahr lag nahe, daß zwischen Wollen
und Können der tapferen Wrbeiter=
bühne ein böſer Widerſpruch entitehen
würde, und dann hätte der ſchau—
fpielerifche Schiffbruch erbarmungslos
auch die Dichtung in den verſchlingen—
den Strudel gezogen.
Es fam zu feinem Schiffbruch.
Björnſons ftolzer Segler glitt ruhig
und von freudigem Jauchzen begrüft
in den bergenden Hafen. Der Nach—
mittag im Oſtend-Theater war in ber
That ein Genuß. „Paul Lange und
Zora Parsberg“ gehört zu Björnſons
beſten Dramen, was mir, wie ich gern
bekennen will, beim Leſen nicht ganz
deutlich geworden war. Die Dichtung
hat bei aller Klarheit und Anſchaulich—
keit den Blick in die Tiefe, den kein
bedeutendes Drama entbehren kann.
Paul Langes Schickſal iſt tief. Er hat
in den Niederungen des Lebens ge—
atmet und hat ſich anſchmiegen und
Rückſichten nehmen müſſen, um ſteigen
zu können. Dadurch iſt er jener inneren
Abhängigkeit verfallen, die eine Feig—
heit des Herzens iſt und doch mit
grober Güte beifammen wohnen fann.
eine Augen hängen am Mund ber
Reute, die ihn — durch die meland)o=
liſche Gemwöhmung eines langen Lebens
— beherrſchen und ihın das Maß liefern,
mit dem er Wert und Unwert feiner
eigenen Piyche mißt. Nur einmal ift
er frei. Ein ftrahlendes Weib, deſſen
flare Stimm immer von ber Luft der |
Höhe umfpielt wurde, umnebelt feine
Sinne mit einem Rauſch. Die Fetten
fallen und er wagt e8, der tyrannifchen
Menge feine Meinung grade in die
beutegierigen Zähne hinein zu jagen.
Als nun aber das Geheul um Radje
durch alle Straßen gellt, verfliegt der
Raufh, und Paul Lange iſt ein ge=
fallener Dann, dem bie Stirn in ehr
loſer Sham brennt und der die Augen
nicht gu erheben wagt. ber immer
nod iſt er Paul Lange, ein Dann,
ber ein Leben nicht meiter führen
mag, das er als verädtlid erfannt
hat. Darum gebt er — in eine
Stille hinein, die der Gafjfenlärm ber
öffentlichen Meinung nicht ftören kann.
m Nebenzimmer jhießt er ſich eine
gel durch den Hopf. Der Ring ift
geihloffen: der gedudte Mann, der ſich
vermaß in der Freiheit zu leben, muß
mit Notwendigkeit im Grabe büfen.
Erih Sclaifjer.
* Der Münchner akademiſch—
dramatifhe Berein hat fi ſchon
durch manche hübſche Aufführung Ver—
dienſte erworben, er hat z. B. Ruebdes
ters „Fahnenweihe“ im vorigen Jahre
Im eingeführt und erft neulich Ger-
art Hauptmanns „Friedensfeit” dar—
geltellt. Um jo bedauerlicdher ift ber
gewaltige Mißgriff, den er mit ber
Wahl des Falkenbergſchen Stüdes
„Erlöfung* gethban bat. Der ne
de8 Dramas bejteht darin, daß eine
lebensuntüdhtige Frau, die vor ber
Gefhhlehtsberührung mit ihrem Manne
aurüdichredt, in dem Freunde diefes
Mannes den Befreier ihres Seelen=
lebens zu finden meint, bis denn end=
lich der Tod als der richtige „Erlöſer“
ericheint. Ein weichlich müdes Schwär—⸗
men, ein wehmütig wirken ſollendes
Spielen mit den „weißen Blumen des
Todes“ und dem „Lebensland der
zoten Roſen“, ein trunfnes Schwelgen
in den Phrafenherrlichkeiten deutſcher
Literatur, wobei die Geliebte 5. B .als
„Königin“ und „Priejterin“ angehim=
melt wird, — das iſt der mejentliche
Gehalt des Stüdes — ber befannte
Blumenkohl unfrer Ullerneueiten. Da=
zu ein Auskramen von geichledtlichen
ntimitäten, das bei der allgu naiven
ffenherzigfeit, mit der der Verfaſſer
an das Enthüllen diefer heiflen Dinge
geht, komiſch wirft. x. Weber.
Wie's gemadt wird.
Die „Breslauer MorgensBeitung”
—— „Im »Berliner Tageblatt«
teht zu lefen: »Der Schauspieler und
Regifjeur Mar Reit vom Aachener
Stadttheater wurbe, wie uns ein Privat:
telegramm meldet, nad) glängendem
Gajtipiel vom Direktor Dr. Loewe
an das Stadttheater in Breslau
engagiert.« — Bon einem »glängenden
Gaftipiel«e des Herrn Rei, der mit
mäßigem Erfolge bei der Kritik zwei
wenig belangreihe Schwankrollen und
zwar im Lobe- und Thalia-Theater
daritellte, iſt hierorts abjolut nichts
befannt.* Wir erwähnen den Fall,
mweil er Anlaß gibt, des allgemeinen
Mißbrauchs zu gedenken, der mit Tele-
grammen über Theater-Erfolge ges
trieben wird. Telegramme maden
mehr „Effekt“ als Briefe, Telegramme
werden daher vom Herrn Nebafteur
mwohlmollender behandelt, als „ges
wöhnlihe Poſtſachen“, ZTelegramme
werden aber auh nad Schluß ber
Redaktion von der Druderei zumeift
nod aufgenommen, alfo ohne redaf-
tionelle VBorprüfung. Das weiß ber
Kluge, darum telegraphiert er noch
Nachts nad) Theaterſchluß feinen „Er—
folg* in die Welt. Das Publikum
aber thut gut, wenn e8 Ruhmesmel-
dungen durch den Draht mit verdop—
pelter Stepfis aufnimmt.
uf.
* In Berlin iſt Albert Beder,
ber bedeutendjte protejtantifche Kirchen—
fomponijt der Gegenwart, im Nlter
von 65 Jahren verfhieden: ein guter
Meiiter, eine ſympathiſchePerſönlichkeit.
Seine B-moll-Mefje, die vor 20 Jahren
feinen Ruf begründete, dürfte jo bald
nit vergellen werden; fie bedeutet
den Höhepunft feines Schaffens. Diejes
fhöne, erhebende Werk jteht unter den
modernen Werfen proteitantifcher
Kirchenmuſik fiherlid obenan. Alle
Vorzüge Bederjher Kunſt find da—
rin wie in einem Brennpunkt vers
reinigt: wundervollreiche Polyphonie,
Hangihöner, meifterlider Chorſatz
und im Orcejter eine farbenreiche
glanzvolle, moderne, Inſtrumen—
1. Februarheft 1899
tation, ſowie endlid blühende Me—
Iodit, die bei aller Gingänglichkeit
doch immer vornehm bleibt. Ein Wert
von hohem Werte ift noch der häufig
aufgeführte, ergreifende „geiftliche
Dialog” für eine Altitimme und Chor
a capella. Fußte Beder je mie über-
haupt in feinen zahlreichen Kirchen—
fompofitionen auf Bad, fo folgte er
auf finfonifhem Gebiete mit geringerer
Selbſtändigkeit ben Spuren Beethovens
und ber Romantifer. Zuletzt warf er
ſich auf die dramatiſche Mufit und
vollendete eine Oper „Lorelei* im
Wagnerſchen Stil, auf die er große
2 ungen fegte.e Mor rg ba
chrieb er mir darüber in feiner lau=
nigen Weife, er gehöre nicht zu den
Mufitwüftlingen, deren Stärke in den
Hörnern (und Trompeten) beftehen,
in ber Uebertreibung, im Mißverftehen
bes Meijters Wagner. Dies kenn—
eichnet feinen Standpunkt. Ehre
En Andenten.
* Berliner Mufit.
Als vor langen Jahren ber hyper=
geniale Hans von Bülow bei einem
Konzerte in Meiningen zweimal hinter⸗
einander Beethovens IX. Symphonie
aufführte, als er dann erh in Berlin
an einem einzigen Abende bie fünf
legten Sonaten Beethovens fpielte, da
mollte er offenbar mweit weniger als
ftünjtler, denn als Lehrer und Erzieher
vor da8 Publilum treten. Mir per
fönlih find derartige Vorführungen,
bei denen wir nicht nur künſtleriſch
genießen, fondern aud) in hervorragen=
der Weife fünftlerifch lernen, äußerſt
ſympathiſch. Ferruccio Benvenuto
Buſoni ſcheint wie Bülow auch der
Anſicht zu ſein, daß der Künſtler ſein
Publikum nicht nur erfreuen, ſondern
auch belehren ſoll. So hat er uns
dieſen Winter an vier Samstagabenden
die Entwickelung des Klavierkonzerts
gezeigt. Jeder, Abend ſollte vier
Konzerte bringen. Den Reigen eröff-
nete der gewaltige Thomas = flantor
mit feinem Konzert in D-moll mit
Streihordeiter; ihm folgte der ſoge—
nannte Raphael der Mufil mit dem A-
dur-Stonzert; dann der Titane Beetho-
ven mit dem Slonzert in G-dur und
fhlieglih — eigentlich gar nicht in
einem Atem mit feinen Vorgängern
zu nennen — Hummel, von dem aller
dings oje Vianna da Motta mehr
poetiſch als richtig behauptet, er fei
„ein ſchlafender Mozart, ber von Lifzt
träumt; Epigon und Brogon zugleich“.
Kunftwart
Am zweiten Abend fam ganz ent-
ſprechend feiner übergemwaltigen Größe
Beethoven abermals zu Wort und
zwar mit dem unvergleidhlichen Es-dur-
Konzert; im übrigen war der Abend
den Romantifern gewidmet; Weber
mar mit feinem Konzertſtück in F-moll,
Schubert mit der Defeat ale I
und Chopin, „Die Klavierſeele“, wie ihn
Rubinftein nannte, mit dem Konzert
in E-moll vertreten. Die Romantiler
behaupteten aud) am dritten Abend
ihre Stellung! Mendelsjohn mit dem
G-moll- und Schumann mit dem A-
moll-Stonzert; inihre Geſellſchaft paßte
wiederum Henſelt ſchlecht; er ſchloß ben
dem „moll‘ gemweihten Abend mit feinem
Konzert in F-moll ab, Die „Moderne“
bildete ben Abſchluß des ganzen Zyflus:
Nubinftein, Brahms und Lifzt jtanden
mit ihren Stonzerten in Es-dur, D-moll
und A-dur auf dem Programm. Die
Reiftung Bufonis tft, allein vom rein
phyitfchen Standpunkte aus betrachtet,
ganz ungeheuer ; das Gedädhtnis —*—
Mannes, der alles auswendig ſpielte,
eradezu phänomenal. Betrachtet man
eine Leiſtungen vom künſtleriſchen
Standpunkt, ſo kann es allerdings
ſcheinen, als ob Buſoni doch nicht der
rechte Interpret für ‚„hiſtoriſche“ Kon—
zerte wäre; er ijt nicht objektiv genug,
id) möchte fast fagen, er ‚doziert“ nicht
genug; in alle Darbietungen legt er
zu viel von feinem perfönlichen Ems
pfinden, von feinem nervöſen, cho—
pinfhen Temperament; es iſt nicht
der abfolute Bad, Beethoven und
Weber, der zu uns durch Bufoni ſpricht,
fondern e8 ift Bufoni, der uns erzählt,
wie er die einzelnen ftünftler ſieht
und verfteht; er gleicht gewiſſermaßen
ben eriten franzöfiihen Impreſſioniſten,
die nicht den Gegenstand abfolut dar—
ftellten, fondern fo wie er ihnen ges
trade erjchien; fie festen daher nicht
unter ihre Bilder den objektiven Titel,
3. B.: „chat qui se promene“, fonvern
„impression d'un chat qui se prome&ne“,
Daß troß der großen Subjeftivität
Bufonis die einzelnen Darbietungen,
namentlih Chopin und Schumann,
von ernitejter Künftlerihaft zeugten,
die weit entfernt iſt von jeder Effekt—
bafcherei, muß unbedingt zugegeben
werden; ob in ben künſtleriſch-hiſtori—
ſchen Rahmen das herzlich unbedeutende
Hummelſche Wert, ſowie das virtuofen-
hafte Konzert Henjelts ſehr gut hereins
abten, mag dahingeſtellt bleiben. Herr
Bianna da Motta hatte ein gutes Pros
grammbud mit hiftoriichen und ana=s
— 38 —
Iyfierenden Bemerkungen zu ben ein
zelnen Konzerten gefchrieben. Der
große Erfolg, den Bufoni errang, war
durchaus gerechtfertigt.
eben Bufoni ijt e8 noch ein zweiter
Klavierfünftler, der das allergrößte
Antereffe beanfprudjt: wir meinen ben
Pariſer Edouard Risler. In mehreren
Konzerten iſt dieſer Meifterfünftler
aufgetreten und Hat ſtets denfelben
roßen Erfolg gehabt. Für fein Können
peint e8 gar feine Grenzen zu geben;
er fpielt Bach gerade fo vollendet wie
Mozart, Beethoven und Ehopin; darin
eben unterjcheidet er fi) mejentlich
von Bujoni, daß er vollftändig in dem
Komponiften, defjen Werk er vorführt,
aufzugeben ſcheint; er lebt ſich mit der
größten Ruhe und Objeltivität in deſſen
Stil ein und läßt feine eigene Per—
fönlichkeit völlig verſchwinden Hinter
derjenigen des Komponiften, An einem
Ubend brachte er die A-moll-Orgelfuge
von Bad, die Cis-moll- Sonate von
Beethoven, Mozarts F-dur-Sonate und
Ehopins Bolonaife in C-moll zum Vor⸗
trage, aljo Werke, bie in ihrem Stil
und in ihrem Gmpfindungsgebalt
mweltenmweit außeinanderliegen. Man
laubte gar nicht, daß e8 immer der—
—* Ktünſtler war, der da ſpielte, fo
ausgezeichnet wußte er jedem Werte
gerecht zu werden. Die Perle war
wohl Mozarts Sonate. Die Weichheit
und Grazie, die zarte Poeſie der Kanti—
Ienen mußte Risler fo herrlich zum
Ausdruck zu bringen, daß man fdhier
glaubte, Mozart bis dahin nod) nie
richtig gehört zu Haben! Und nachher
zeigte er in der gewaltigen Sonate
Beethovens eine fo furdhtbare Kraft,
eine jo dämonifche Leidenfhaft, da
er den Zuhörer mit dem Vortrag bes
legten Satzes geradezu erfchütterte.
Was wir aber Herrn Risler befonders
hoch anrechnen, tit die Selbitlofigkeit,
mit der er ſich in den fünftleriichen
Dienit anderer jtellt; fo wirkte er u.a.
in einem Liederabend von Lilli Reh
mann mit und verſchaffte dem Publikum
einen Genuß, wie e8 ihn fo bald nicht
wieder haben wird; zwei ftünftler von
der reifen Künſtlerſchaft einer Lilli
Lehmann und eines Edouard Risler
findet man nämlich nicht allerwegen.
Wie im vergangenen Winter bei dem
böhmifhen Quartett, fo war Risler
Diefes Jahr bei dem Amſterdamer
Konfervatoriums- Quartett beteiligt: fie
bradten ShumannsEsdur-Quintettge= |
meinfam zur Aufführung. A. Bifchoff. |
(Fortf. folgt.)
* Mufilalifhes aus Stutt=-
t.
r
Es iſt die Meinung aller Konzert⸗
unternehmer und machtausübenden
Virtuoſen, daß bie Kritik — nament—⸗
lich in auswärtigen Blättern — nur
dann einen Sinn habe, wenn fie ‚wohl⸗
wollend“ fei, d. h. neben bidauftragen=
den Berichten aus andern Städten bie
Rofalverhältniffe einer mindeftens
—— Beräucherung unterziehe. Aber
em Kunſtleben einer Großſtadt iſt
wahrlich nicht damit gedient, daß man
es in lokalpatriotiſchen Glanz taucht.
Und die Leſer des Kunſtwarts würden
kaum zufrieden ſein, wenn ich z. B. zu
melden vergäße, daß unſre Hofbühne
weder Triſtan, noch die Meiſterſinger,
noch den Ring mit eigenen —
eben kann, daß das erſtgenannte Werk
—* der Erſtaufführung (109) vom
Spielplan verſchwunden iſt, daß bie
Meiſterſinger erſt im vorigen Winter
nach dreijähriger Pauſe wieder er—
ſchienen und daß neulich die endlich
wieder aufgenommene Götterdämme—
rung, ein für Stuttgart gemaltiges
Ereignis, für das man Teilnehmer
von nah und fern aufgeboten Hatte,
wenige Stunden vor Beginn der Auf—
führung abgefagt wurde. Der Grund
war: eine mit dem königlichen Haufe
verwandte Prinzeffin war verſchieden.
Warum bleiben denn in foldem Falle
die Kunſtgalerien offen? Man fcheint
das Theater an mahgebenber Stelle eben
bloß als Bergnügungsanftalt zu betrach⸗
ten. Uebrigens fehlt e8 gegen früher an
regem Streben, an Neuheiten und Neu-
einftudierungen jetzt feinesmegs, aber
die jhönften Werte werden aus allzu
ängftliher Rüdfihtnahme auf Publikum
und Preſſe nad ein paar Aufführungen
abgefegt. In der Hauptſache reiten
lotfifce Opern bie Ehre bes Stutt—
garter Hoftheaters. Auch, Tannhäuſer“
und „Zohengrin“ ſucht man durch ſtück⸗
mweife Auffrifhung dem Schlendrian
au entreißen,
Un der Spitze unferes Muſikweſens
ftehen die von Dr. Obrift geleiteten
zehn Abonnementstonzerte der Hofe
fapelle, deren Programme nicht bloß
nene Erzeugnifje (unlängit 3.8. Wein—
gartners „Gefilde der Seligen*) auf
nehmen, fondern aud), ſoweit Die So—
liſten das zulaffen, nad) formalesftili=
ftifhen Grundfägen zufammengeitellt
werden. Zmeimal fonzertierte Wein»
gartner mit dem Münchner Kaim—
orcheiter, wobei Berlioz' „Romeo“
und Liſzts „Taſſo“ bedeutenden Eins
1. februarheft 1899
- 39 —
druck Hinterließen. Berliog öfter zu
hören, madt Einen ungemein fein
fühlig gegen Orcheſterwirkungen. Sind
nicht die lärmenden Tutti mit ihren
verwirrenden Trompetenſtößen bei
Konzertlompofitionen (die „Hajfifchen“
nicht ausgenommen) eine Geſchmacks—
verirrung? Keiner unjerer Meifter hat
in Konzerten, ſei es für Violine, Klavier
oder Gello fein Ureigenites, woran fid)
fein Ruhm fnüpft, gegeben. „Taſſo“
wirkte durch die Schönheit und Breite
der fangbaren Melodieen, durch die
mufifalifche Polyphonie, die mie bei
Wagner zwei gefonderte Boritellungen
in eine verflidht, und durch die orga—
niſche Entwidlung der Themen mie
eine Offenbarung. Wenn zu bem
höfifhen Menuett die ſchwermütige
venetianifhe Taſſomelodie Hinzutritt,
fo padt einen förmlidy die Angit, daß
der unglüdlide Dichter, überall feine
Schmermut mitbringend, das ſchönſte
Leben kataſtrophiſch zernichten werde.
Solche Durdhgeiftigung der Polyphonie,
für die Wagners Meijterfingervorfpiel
und Götterbämmerungsihluß Die her—
vorragendften Beifpiele find, bürfte
bei Bach wenn je, höchſt felten ange
troffen werden; etwa in der Cis
moll-Tripelfuge des mwohltemperierten
Klaviers?
In der Kammermuſik hat ſich ein
neues Unternehmen hervorgethan: Herr
Schapit führt Beethovens mittlere und
legte Quartette auf. Die legten Quar—
tette insbefondere müjjen jedem den
Weg zu Meifter Brudner bahnen;
ich habe jtetS die Empfindung, daß
diefer auf die Symphonie den Stil
übertrug, den Beethoven für das Quar—
tett geichaffen Hatte: Muſik als un—
mittelbarfte Sprache bes Innern, die
ihre Form ganz von dem Verlauf des
Annenlebens empfängt und formvoll—
endet iſt, fobald fie ihn überzeugend
und feilelnd ausfpridt. Nur glaube
man nidt, dab Brudner mwilllürlich
das Ordeiter an Stelle des intimen
Quartetts gefegt habe; das Recht da=
zu jchöpfte er aus jeiner fchlichten,
einfachen Natur, die ein modern-kom—⸗
pliziertes Seelenleben nicht hatte. Die
Symphonie verhält fi) zur Kammer—
mufif ähnlich wie das Chorlied zum
einjtimmigen: bort eine gewiſſe All-
gemeinempfindung, hier das indivi—
duelle Sonderleben. Man erinnere
fih, wie fharf R. Wagner die Sym—
phonieen Beethoven® als oratio
directa, als große Volksreden von
der Kammermuſik unterjhied. Was
Kunftwart
Brudner zur Symphonie beftimmte,
war bie Qiebe zur vollstümlichen Heiter-
feit des Tanzes und zum feierlich Er—
babenen einer die Maflen nieber-
zwingenden Andacht; was zwiſchen
diefen Polen liegt, da8 ganze Gebiet
moderner Sehnjudht, flüchtiger Stim—
mungen, bleibt faft unberührt. Hierin
bewegen fich die Antipoden Hugo Wolf
und Richard Strauß, deſſen ſympho—
niſcher Stil ganz anders ijt, gleihfam
eine birefte Erweiterung ber Kammer—
muſik; daher aud) Kretzſchmar zwiſchen
Bruckner und Strauß eine ziemliche
Entfernung wittert und den Kontra—
punft des erfteren „jteif“ tituliert.
Brudner wird jetzt den Stuttgar—
tern regelmäßig dargeboten, — vor=
läufig am Klavier, fo gut e8 da geht.
Die 2., 3. und 5. Symphonie murbe
von mir erläutert und mit den Pia—
niften Hollenberg und Biart an zwei
Flügeln vorgeführt. Man verzeihe
diefe Selbjterwähnung; die pädago=
giihe Notwendigkeit diefer Beranftal-
tungen ift durch den ſchwachen er
hinlänglich bemwiefen. Darf ih no
einen Vergleich zwiſchen Brudner und
Beethoven anitellen? Diefer jcheint
mir in den Mdagios das Größte als
Quartett-Wdagio gegeben zu haben;
Brudners Symphonie- Adagio mit
feinem feierlihen Typus iſt etwas
abjolut Neues. Ohne die Feierlichkeit,
die eine Allgemeinftimmung ift, wären
fo jtilgemäße Orcheſter-Adagios nicht
auftande gelommen. Bielleiht bin ich
widerlegbar; aber das Nachdenken über
die pſychologiſchen Bedingungen ber
und der Muſik jollte viel mehr geübt
werben.
Eine von Brudner vollitändig vers
ihiedene Natur ift Hugo Wolf.
Dank den unermüdlichen Bemühungen
bes liniverjität = Dufikdireltor® Dr.
Kauffmann von Tübingen (der aud)
ſchon Brudners F moll-Defje aufführte)
und des hieſigen Rechtsanwalts Faißt
beherrſcht Wolf bei uns ſchon das
öffentliche und erfreulicherweiſe auch
das private Mufizieren auf dem lyri—
fchen Gebiete. Es iſt ja erftaunlich, wie
vieljeitig feine Lieder find; man kann
ganze Ubende zuhören, ohne Einförs
migfeit zu empfinden. Dabei find —
eine bisher unerhörte Thatſache — ganze
Liederzyflen (Mörife, Goethe, Italie—
nifhes, Spanifches Liederbud) von
einer unverfennbar unterjchiedlichen
Stileinheit in fih. Am zweckmäßigſten
wird man bie Befanntjchaft des Ton—
dichter8 mit den 55 Mörifeliedern ein=
— 320 —
leiten. Goethe iſt mehr eine Koſt für
die Feinen, Bornehmen, aber immer
noch von einer fühlenden Friihe im
Vergleich zum Italienischen Liederbuch,
das die verfeinertite Erotif in glühen=
den, ſchmachtenden Weifen pflegt. Der
tiefen Inbrunſt der geiftlichen, der
liebensmwürdigen Anmut der weltlichen
Lieder des Spaniſchen Liederbudes
fommt ſchwerlich in dieſer Art etwas
gleich.
Bon den Geſangvereinen pflegt der
Stuttgarter Liederfran; das Lieder—
tafellied und verleiht feinen vier Kon—
zerten durch Beiziehung berühmter
Splijten Glanz. Der Verein für flaf-
fihe Kirchenmuſik hat feinen Ruf nicht
verbejlert, feit er zu Faißts Nachfolger
nicht den von ihm beftimmten Orga—
niften Lang, jondern Brof. De Lange
gewählt hat. Der Neue Singverein
unter Prof. Seyffardt bradte Cſar
Srands „Seligpreifungen“. Unter
den Soliftenfonzerten hatte feines eine
deutlich erkennbare kunſtpädagogiſche
Bedeutung K. Grunsky.
*Wie's gemacht wird.
Wir begrüßen es erfreut, daß uns
nun auch andre Zeitſchriften darin
folgen, beſonders ſchamloſe Waſchzettel
öffentlich anzuheften. So ſchreibt die
Oeſterreichiſche Muſik- und Theater—
zeitung“: „Behufs ‚Beiprechung‘ ſendet
uns die Verlagsfirma W. Ulbrid,
Berlin NO. 43, eine bei Durchſicht
ih als eine im jchablonenhafteften
ſog. Salonftil ermeifende Dutzend—
Kompojfition »Mignon=Gavotte« eines
gewiſſen PB. Semler ein, und »erlaubt
fich« eine »drudreife Beſprechung« der
drei Kompoſitionen einzufenden, deren
erite diefes Machwerk ift, mit der
»gütigene Zufage nah Abdrud
diefer Befprehung die zwei nod) feh—
lenden Gremplare einzufenden.“ Alſo
auch hier wieder: erft das Lob, dann
als Bezahlung des Lobes, das, mas
ihr ohne e8 zu fennen, vorihriftsmäßig
aelobt Habe.
Bildende Kunft.
* Bon Berliner Hunt.
Uns bradte der Winter nun ſchon
eine ganze Menge interejjanter Kunſt—
eindrüde. Die Zahl ber Kunſtſalons
bat fi) wieder um zwei vermehrt, die
Salons Caſſirer und Ribera, und wenn
man das neuerbaute Htünitlerhaus und
feine Ausſtellungen dazurechnet, alſo
ſogar um drei. Da ſich jeder beſtrebt,
es dem anderen zuvor zu thun, und
mm —ñ ñ e — — —ñ — — — — — — — — —— — — — — — — — —
wirkliche Kunſt zu bringen, kam dies—
mal wirklich etwas recht befriedigendes
heraus: das Kunſtleben Berlins wacht
aus feinem langen, langen Halbſchlafe
almäblih auf. Bejonder® murben
intereffante Sammelausftellungen ge—
madt: von Liebermann, Rops, Meus
nier, Lenbach, Michetti (in der Akade—
mie) u. ſ. w. Eine ber ſchönſten war
die von Werfen Ludwigs von Hof—
mann, von dem unfer zweites dies—
jähriges Heft eines feiner edelften Werke
gezeigt hat, bei Keller & Reiner — man
hatte bei der Fülle von Studien und
Entwürfen reiche Gelegenheit, ihn fen=
nen zu lernen. Und das Erfreulichite:
man lernte ihn fennen, aud) das
Publikum, jo meinen wirs, ſcheint zu
feinem Verſtändnis durdhzudringen,
denn fajt die Hälfte feiner ausgejtellten
Werfe ging in Privatbefiß über. Len—
bad) zeigte ſich bei Schulte in feiner
ganzen Größe und Bedeutung; er fügte
feinem Ruhme nichts Neues hinzu, er
gab einen lieberblid über das Beſte
—— letzten Jahre, das aber war ſo
taunenswert, daß wohl keiner umhin
konnte, in ihm unſeren größten Bild—
nismaler zu ſehen. Sehr dankbar
mußte man aud) eine Sammlung de—
forativer Arbeiten von Klinger bes
grüßen, die Schulte zeigte, zu derjelben
Zeit, zu ber Gurlitt zwei ältere Bilder
und Seller & Reiner das neuejte Mar—
mormerf diejes Meifters brachte. Der
in neuerer Zeit viel genannte Fidus
ftellte bei Gurlitt aus. Troß jeiner
ausgeiprodhenen Begabung vermönen
uns feine Arbeiten nicht rein zu bes
friedigen, da fich zu früh ein Schema,
ein beinahe manieriftifhes Serunter-
zeichnen der einmal gefundenen Form
und damit eine innere Armut einitellt.
Gerade bei jeiner unit, die doch offen=
bar den Anfprud auf geiftige Vertie—
fung madt, wirft das bejonders bes
dauerlid. Der neue Salon Ribera
führt zunächſt einige intereffante Künſt—
ler vor, wie die Worpsmeder und
ı jet eine Sammelaugjtellung eines
\ jüngeren Berliner fünftlers, Balu=
- 321
chef, die fehr vielverfprehend iſt.
Im allgemeinen fcheint auch bei diefer
neuen Gründung das Beftreben zu
herrſchen, wirtlih Kunſt zu bringen.
Ermwähnen müflen mir nod) eine Sons
derausftelung Hermoneß von
Preufhen. Bei ihr weiß man lei—
ber wirklich nit mehr, was größer
ift: die Anmaßung, mit der fie aufs
tritt, oder die ang Kindiſche ftreifende
Wertlofigkeit ihrer „Werke“? Die ein—
1. Februarheft 1899
zige Höflichkeit, die der Kritiker dieſer
Dame gegenüber bethätigen fann, be—
fteht in Schmeigen.
Mar Ehler.
* Yuf Karl Krumbholz, aud
einen der Vorarbeiter der neuen Ge—
werbefunft, weiſt jegt wieder eine Bub-
likation hin, die „Vegetabile Pflanzen—
formen“ von ihm vorführt. Der Die
reftor der mitten im praftijden
tunjtindujtriellen Leben wirkenden Kgl.
Induſtrieſchule in Plauen i.®., Profeſſor
R.Hofmann, ſchreibt uns darüber:
Im Berhältnis zu der großen
Zahl kunftgewerblider Beröffentlich-
ungen, welche in den legten Jahr—
zehnten im Buchhandel erjchienen find,
befinden fid) auffälliger Weiſe die guten
DOriginalmerte zeitgenöfiifcher
Künftler ſtark in der Minderheit. Die
meiften Diefer Meröffentlidungen
bringen Abbildungen von ——
lichen Gegenſtänden aller Stilepochen
zum Zwecke der unmittelbaren Nach—
bildung, oder aud) nur, um Künſtlern
und Sunjtgewerbetreibenden Anregung
zu „neuem Schaffen” zu geben. Was
unter diefem „neuen Schaffen“ bisher
veritanden worden ijt, braudt nicht
erläutert zu werden; denn das neu=
zeitlihe Drängen und Treiben nad)
einer neuen Hunft, nad) einer andern
Ausdrudsmeife des den Menſchen eine
geborenen künſtleriſchen Scaffens-
dranges bemeifen ja deutlich genug,
dat die Zwangsjacke des archaiſtiſch
geſchulten Epigonentums anfängt, die
Bruſt zu beengen, und daß wir alle
Urſache haben, im Hinblicke auf die
künſtleriſchen Fortſchritte anderer Völ—
ker gegen eine Ohnmacht anzukämpfen,
in die wir durch das anfangs berech—
tigte, dann aber nicht rechtzeitig über—
wundene Nachahmen gegenüber den
geiſtigen Erzeugniſſen unſrer künſtleriſch
hochbegabten Vorfahren geraten find.
Der Fortichritt läßt ſich nicht durch
antiquarifhe Scrullen eindämmen.
Wir befinden uns im Auffhwunge
einer neuen Ktunſtepoche, denn mir
menden uns, ıwie dies zu allen Zeiten
nad) der Periode des Berfalles ge
ſchehen ift, wieder der Natur zu, um
uns durch fie zu verjüngen und um, ge—
leitet von neuen Grundfäßen und % z
ſchauungen, aus dem Reichtum der
Pflanzenwelt neue unftformen er—
ftehen zu laflen. Die neue Richtung
bricht fich ſiegreich Bahn. Und die bis
jegt errungenen Erfolge miderlegen
die Behauptung, daß die Pflanzenwelt,
weil fie zu allen Zeiten die gleiche
Kunftwart
— 322
geweſen jei, uns neue Formen nicht
mehr zu bieten vermöge.
Obgleich nachweislich die ftärfften
Anregungen zu dieſer Richtung von
deutfhen Künſtlern ausgingen, ift e8
doch der größeren Znitiative und dem
ausgeprägteren Rationalitolge der Eng-
länder zu danken, daß fie fi), wenn
aud als „engliiher Stil“, leider mit
einer etwas zu weit gehenden Benuß-
ung japanifcher Elemente durchge
rungen bat. Die fünftlerifhe Läu—
terung wird diefer neue Stil aber erjt
in $ranfreid und Deutſchland erfahren
müllen, und zwar duch eine Ber=-
ae der ſtiliſtiſchen Auf—
aſſung der Naturformen und durch
die Beſeitigung des japaniſchen Ein—
fluſſes, der leider auch auf anderen
ſtunſtgebieten zu einer für uns Euro=
päer geradezu befhämenden Herridhaft
gelangt iſt. Schon aus wirtſchaftlichen
Gründen, nämlid unter der be=
ftimmten Borausfiht, daß Die euro—
päifche Kunſtinduſtrie in abjehbarer
zei mit der japanifhen auf dem
eltmarkte in Wettbewerb zu treten
haben wird, follte man jede Nachäffung
der unjeren Empfinden biametral
gegenüberftehenden japanifhen und
hinefiihen Kunſt vermeiden.
Als einerder Eriten in Deutichland,
die mit der PVeröffentlihung eigner
Entwürfe in der neuen Richtung her—
vorgetreten find, iſt Profeſſor Karl
Krumbholz zu nennen. Er, der
jet im 79. Lebensjahre iteht und
lange Jahre feine fegensreiche Thätig-
feit als Lehrer an der Dresdner Kunſt—
gewerbeſchule entwidelt hat, gehört
neben den Franzoſen Ehabal-Dusurgey,
Dumont und dem Elſäſſer Müller zu
den beiten Pflanzenzeichnern feiner
Zeit. Wer jein Schaffen kennt, wird
nicht allein die fünftlerifche Auffaſſung
und feine Duchbildung feiner Pflanzen—
daritellungen bewundern, fondern er
wird auch überraſcht fein, zahlreiche
Blätter mit pflanzlich ſtiliſtiſchen Ent—
mwürfen vorzufinden, die vor etwa
——— Jahren, alſo zu einer Zeit ent—
tanden ſind, wo die gegenwärtige
Stilrichtung noch tief im 833 der
Zukunft ruhte.
Erſt in den Jahren 1880—8ı wagte
Krumbhol; mit der Veröffentlichung
feines Werkes „Das vegetabile Orna=
ment“ einen kräftigen Vorſtoß in ber
neuen Richtung, fand aber, mit Aus—
nahme einiger anerlennenbdber Beſpre—
Hungen, namentlich von Friedrich Pecht,
in den Fachkreiſen wenig Verſtändnis,
wohl aber eine herbe Verurteilung.
Denn die Schäße ber hiftorifhen Stil-
arten waren noch nicht erſchöpſt, und
Barod und Rokoko harrten noch der
„Wiedergeburt“, fo daß man feine rechte
Veranlaſſung fah, den bequemen Weg
der Nachempfindung zu verlaffen, um
aus noch unbebauten Lande im
Schweiße des Angefichts eigne Frucht
au gewinnen.
eitdem haben fi die Anſchau—
ungen weſentlich geändert, das Bäch—
lein ift zum Strome geworden, und
neue Apojftel find eritanden, die gegen
den „ellettiiyen Schematismus“ in
unſerm Stunjtgemwerbe predigen, e8 iſt
jo manches mehr oder weniger wert—
volle vegetabil = ftiliftifche Werk er—
fchienen, auch die Kunſtgewerbeſchulen
fangen an, das Etilifieren von Pflanzen
au üben, — ja felbit in den gewerb—
lien Fortbildungsjchulen glaubt man
thörichterweife, fich mit der Umgeital=
tung der Natur= zur Sunftform be=
Ihäftigen zu müſſen. Thörichtermeife?
Ja, denn e8 ijt thöricht, fich mit einer
Aufgabe zu beichäftigen, zu deren Be—
mwältigung die notwendigen Vorſtudien,
in Diefem Falle ein jahrelange, gründ=
liches Zeichnen und Dialen von Pflanzen
nad) der Natur, gänzlich fehlen. Diefes
„thöricht* rufen wir aber nidht allein
den unzulänglich organifierten Schulen
zu, fondern allen Denen, die ohne die
notwendigen Studien nad der
Natur gemadt zu haben, fi ohne
weiteres dem Stilifieren ber Pflan-
zen zumenben.
Wir begrüßen daher das neue, ſo—
eben im Berlage von Chriftian Stoll
zu Plauen i. V. erfchhienene Werk des
ra" Karl Krumbholz „Begeta=
ile Naturformen“* mit befonderer
Freude; denn e8 zeigt den Weg, der
eingefhlagen werden muß, um Gutes
in der neuen Kunst zu fchaffen.
Krumbholz beabfichtigt mit dieſem
Werke nicht, unmittelbar verwendbare
Vorlagen für Zeichner und Jnduftrielle
zu geben. Sein Zmed iſt ein höherer,
er will erzieheriich wirken.
Das Werk beiteht aus zwei Teilen
mit je ı8 Tafeln nebjt einem Vor—
worte beherzigenswerten Inhalts. Der
erite Teil zeigt vegetabile Naturformen
in freier Daritellung, mwährend im
weiten Teile mehr itilifterte Pflangen=
Toren gegeben find, in der Abficht,
auf neue pflanzliche Gebilde für flache
und plaftiiche Berzierung aufmerffam
zu machen.
Der vornehme Zug, der von jeher
die Arbeiten diefes Künſtlers auszeich-
nete, fehlt auch den neuesten Erzeug—
niſſen feines raftlofen Schaffens nicht ;
frei von der modernen Sudt, originell
auf Koften der Schönheit zu fein, ver—
meibdet er in feinen Stilifierungen alle
Einflüffe fremdartiger Kunſtweiſe und
ibt nur das, was er an der Natur=
orm für charakteriſtiſch und geeignet
zur Verwendung erfannt hat, in feiner
fünftlerifchen Eigenart wieder.
Natürli iſt deshalb der zweite
Teil des Werkes für uns von höherem
Intereffe. Viele der darin enthaltenen
Darftellungen bemeifen, daß, wie
Krumbholz im Vorwort ſich ausdrüdt,
mit einer „Findigfeit im Entdecken
neuer Formen“ in der That noch ganz
und gar Neues der Natur abges
wonnen werden fann. Deshalb wird
fie nie veralten, und der Sat: „daß die
Natur für alle Zeiten die wahre und
unerfhöpflihe Quelle alles Kunſt—
ichaffens fein und bleiben wird,“ fann
nie zur Phraſe werden.
Nur glaube man nicht, daß die Na—
tur fich mit mathematifhen und kon—
ftruftiven Mitteln zur Herausgabe neuer
Formen zwingen läßt. Nur wer mit
Dingebung, Begeifterung und bem freien
Blide des Künſtlers in ihre ewigjung—
fräulide Schönheit einzudringen ver—
mag, dem wird fie fi) ganz erfchließen.
Aber wie überall, fo werden aud) auf
Diefem Gebiete unter den Bielen , die
berufen find, nur wenige ausermählt
fein, die genügend befähigt find, ſelbſt—
ſchöpferiſch zu arbeiten.
Der hohe Ernft, mit dem Krumb—
holz jederzeit an feine Aufgaben her—
angetreten ift, der hier wieber in feinem
Vorworte zum Ausdrud fommt und
aus feinen bildlihen Darjtellungen
ſpricht, möge Vielen, die fi) auf diefem
ſchwierigen Gebiete verfuchen, eine
Mahnung fein, denn, um mit feinen
eigenen Worten zu fchlieken, »mit ge—
ringeren Vorausſetzungen als den (im
Vorworte) dargelegten oder auf einem
anderen weniger natürlidhen oder gar
phantaftiihen Wege zu etwas Neuem,
Gigenartigem und zugleid Schönem
zu gelangen, dürfte vergebliches Ber
müben fein.«*
6
- Bi -
1. februarheft 1899
Unsre Beilagen.
Mit der heutigen Mufitbeilage geben mir den Leſern ein ſtark „jezei=
fioniftifch* geartetes Lied des Prager tapellmeifters Jofef Stransky, bie
Kompofition eines Gedichts aus den „Stimmen und Bildern“ von Avenarius.
Hier läßt ſich, der wechſelnden Zmieliht-Stimmung entipredhend, feine Tonart
feitftellen. Leiſe Schatten fcheinen über den Boden zu huſchen, in ftodenden
padenden Syntopenaftorden zittert die allgemeine Spannung, fie löſt fih in
eine weiche, den Mondenfhein malende melandolifche Melodie. Seltſam, daß
die Künstler das Aufgehen eines Lichts muſikaliſch als ein Fortiffimo empfin=
den, — „ungeheures Getöfe verkündet den Aufgang der Sonne“, heißt e8 ja
auh im „Faust“. Dem entipredhen bier Takt ı2 und ı4. Die folgenden
dumpfen Akkorde atmen Hamletluftl. Dann wieder die weiche Melodie des
„groß und traurig“ blidenden Mondes und der fachte Schritt des bleich übers
Feld wandelnden Lichtſcheins, ſynkopiſche Steigerung zu der dominierenden,
im ruhig leuchtenden Bogen gefpannten Mondmelodie bis zum legten Verklingen.
Bon unfern Bildern zeigt das erfte ein Delbild Heinrich Vogelers,
„die heiligen drei Könige“. Wir halten es für eines der beiten Werfe des
Worpsmweder Hünitlers; es iſt eine innerlich angejchaute, empfundene und aus—
gereifte Schöpfung ohne eine Spur des Manierismus, von dem man mwohl
fonft bei Vogelerfhen Bildern mit Recht oder Unrecht ſpricht. Es iſt ein ganz
echt deutiches Märchenbild. Das Vervielfältigungsrecht davon beſitzt J. J. Weber
in Leipzig, der uns bald mit einer Vogeler-Mtappe erfreuen möge, das Ktlifchee
iſt Eigentum der „Gejellihaft für vervielfältigende Kunſt“ in Wien, Deren
„Sraphiiche Künfte* in ihrem vierten Heft u. a. einen fehr reich und ſchön
illuftrierten Auflag über Vogeler bringen.
Bon den beiden Blättern nad) Zeichnungen von Mar Liebermann
wird die Leſer das Bildnis ſchon jtofflich intereffieren, denn es zeigt den
belgifchen Bildhauer Meunier, einen der mwenigen unbejtritten großen
Künſtler unferer Zeit. Das zmeite landichaftlihe Blatt fei ein Beiſpiel für
Liebermanns Kunſt des Großſehens, des Vereinfahens — der Laie fommt
feinem Berjtändnis vielleiht am beiten nahe durch die Frage: ift es möglich,
mit weniger und anſpruchsloſeren Mitteln vom Augeneindrud der Natur mehr
zu geben? Freilih, unfere Reproduktion fann nur andeuten, was auf dem
Driginale in vollem Reize mitfpridt: das Wirken des Lichts, das Weben des
Sonnenſcheins, der durch die Bäume über Gejtalt und Erdboden fpielt. Um
das zu würdigen, muß man fhon die fürzlich bei Bruno und Paul Eaffirer
in Berlin erſchienene Liebermann-Mappe zur Hand nehmen, die neben köſtlichen
anderen Zeichnungen aud) die Originale unferer beiden Blätter in ganz vor-
trefflihen Lihtdruden wiedergibt. Wir fommen auf Liebermanns Malerei
zurück.
znbalt, Ethiſch und Aefthetifh. Von Carl Weitbrecht. — Ueber Wagner als
enfer. Bon Rudolf Louis. — Mufikliteratur. Von Rihard Batla. — Kunſt-—
pflege im Mittelftande. XII. Bon Paul Schulge-Naumburg. — Der neue Ber-
liner Dom. Bon Oskar Bie. — Spredjfaal: In Saden „Scaujpielfunjt und
Theaterſchule“. Bon Rudolf Lorenz. — Lofe Blätter: Die Peſt in Bergamo.
Bon J. B.Jacobjen. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Max Liebermann, Bildnis
Gonitantin Meuniers; Landfhaft. Heinrich Vogeler, Die heiligen drei Könige.
— Notenbeilage: Joſef Stransky, Mondaufgang.
Derantiwortl. : der Herausgeber $erdinand Avenarius in Dresden:Blafewig, Mitredafteure: für Muri?
Dr, Rihard Batfa in Prag-WDeinberge, für bildende Kunft: Paul Shulge- Naumburg in Berlin.
Sendungen fär den Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr. Batka.
Verlag von Georg D. W. Lallwer. — Kgl. Bofbuchdruderei Kaftner & Eoffen, beide in Mündır _
Beftellnngen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Lallauey in Nländen,
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MAX LIEBERMANN
Vgl, Text am Schlusse des Hauptblattes
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Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
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HEINRICH VOGELER
Vgl. Text am Schlusse des Hauptblattes
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.JOSEF STRANSKY.
(F. Avenarius.)
„ Langsam.
GESANG.
PIANO,
Verlag von GEORG D. W. CALLWEY, München,
Alle Rechte vorbehalten.
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hen rings um mich her-um
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Sehn al-le ernst zum
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Stichu. Druokv. OscarBrantstetter vorm. F.W Gartracht, Leinzig.
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12, Jabrg. Zweites Februarbeft 1899, Dett 10.
DEN TUNSCTART]
Das Varicte der Zukuntft.
Bor bald einem Jahre verlangte ein Leitauffag des Kunſtwarts
Statt der jest üblichen Reklamenotizen ernithafte ſtritiken über die Variété—
Bühnen, damit der fünftlerifch gebildete Geſchmack auf fie Einfluß ges
mwänne, eh e8 zu fpät fei. Das Variété, fchrieb Avenarius damals
Kw. XI, 12), „treibt e8 heut wie ein begabter, aber verwahrlofter Junge.
Es hat fich keiner darum befümmert, nun ift er zu einem großen und
ftarfen Burſchen ausgewachſen, der mit Gefellen, die von aller Herren
Bändern Her auf der Landſtraße kommen, dumme und gefheite Streiche
Durcheinander treibt, recht3 und links in die Gärten der feßhaften Kunſt—
geſchwiſter einbricht, ihre entrüfteten Mienen verfpottet und ein gut Teil
der Lacher auf feine Seite bringt. Mit verfchränftten Armen dem zuzus
fehn, das geht nicht mehr an, foll aber der Junge mit fich reden laſſen,
jo müſſen wir's im guten verfuhen. Wir dürfen ihn nicht als Ver—
brecher verachten, wir müſſen mit ihm fprechen, wie er's verjtehen kann.
Bor allem überhaupt: wir müſſen uns herbeilaffen, mit ihın zu fpreden.
Unbildlich gejagt bedeutet das: mir müfjen das Bariete in den Kreis
der ernithaften äfthetifchen Kritik ziehn.* Wir dürften ja, hieß es
jpäter, den Einfluß der Bariete-Bühnen auf die äfthetiiche Erziehung
des Volkes nicht überjehen. „Sie find nun einmal, und alfo wirken
fie. Aber fie wirfen, wenn wir Sunftfreunde verachtend abſeits jtehen,
ganz gewiß nicht in unjerm Sinne. Treten wir alfo näher an fie heran,
nugen wir, was von Macht wir immerhin haben! Denn jo volllommen
oder auch jo gering find ihrem Wefen nad) nur wenige dieſer »Speziali-
täten«, daß fich nicht aus ihnen mit gutem Beirat etwas Bornehmeres
entwideln ließe, als da iſt.“
Es ift fiherlich wahr: fieht man fich das Publikum in den Speziali-
täten= Theatern an, beobachtet man die Gefichter, jo gewinnt man die
Meberzeugung, daß die meiften viel weniger duch äfthetiiche Momente,
als dur ziemlich rohe Intereſſen Hingezogen werden. Und doch —
Lönnte nicht die künſtleriſche Form der Darbietungen und das übrige
Kunftwart 2, februarheft 1899
— 5 —
Gute, was das Bariete bringen kann, erziehenden Einfluß gewinnen?
Es gälte einen unfhäsbaren Vorteil zu benugen, nämlich den, daß das
Variété auf der Höhe der Beliebtheit fteht, daß e8 die einzige Anſtalt ift,
von der aus auf das „Volt“ überhaupt eingemwirft werden fann, weil
dahin die Leute gern und regelmäßig gehen, weil fie hier Erholung nad.
der Tagesarbeit und Anregung fuchen. Der Riefenerfolg de8 modernen
Variétés kommt daher, daß die Leute dort Freude finden. Wo man
Sreude hat, ift man angeregt, alfo: lernt man leicht. Wie, wenn man
da8 Variete, das noch die Kunſt jo oft ſchädigt, dem Dienfte der
Kunft gewinnen, wenn man’8 ber großen Sache der äjthetifchen Er—
ziehung einordnen könnte? Wie vermöchte man das Variete, ohne ihm
daß allgemeine Intereffe zu nehmen, fünftlerifch auszubauen? Wir be—
mühen uns fo jehr, hohe Kunſt volfstümlich zu machen, verjuchen wir
auch, voltstümliche Vergnügungen zur Kunſt zu erheben.
Manche Leute haben ja den Kopf gefchüttelt, daß der fonft doch
leidlich ernſthafte Kunſtwart ſich fürs Variété „begeiftere‘. Begeiſtert
für das Variete, wie es iſt, hat er ſich nicht, er hat nur eindringlich
vor demfelben Fehler gewarnt, den die KHünftler Jahrzehnte lang in
Deutfchland begangen haben, al fie fi fürs „Kunſtgewerbe“ zu gut
hielten und damit die tagtäglihe Einwirkung auf den Bollsgeihmad
den Gejchäftsleuten und ihren Angeftellten überließen. Und mir müſſen
geitehen: der fünftleriiche Ausbau einer ſolchen Al-FHunft-Bühne ericheint
uns zudem als eine gar luſtige und reizuolle Aufgabe. Denn die Mittel,
die hier zur Erreihung einer fünftlerifchen Abficht zur Verfügung ftehen,
find jo mannigfaltige und abwechslungsreiche, wie nicht jo bald in einer
anderen Kunſtform mieder.
Kunftempfänglich ift unfer niederes Volt, jo unkultiviert e8 au
ift. Nicht nur die Erfahrungen der Volksbühnen u. f. w. ermeifen das,
vor allem macht e8 eine große Thatſache wahrjcheinlih. Ich meine die
Thatſache, da eine Anzahl, daß vielleicht die Mehrzahl unferer größten
Genies aus den unteren Bolksklaffen hervorgehen, deren Lebenskraft noch
nicht angebrocdhen oder deren Kräfte auf geiftigem Gebiet feit Geſchlechtern
nicht zur Bethätigung gelommen find und die nun mit einen Male in
verblüffender Eigenart aufleben. Diefer großen und rohen Maſſe, bie
ſich jest Tüftern zum Tingeltangel drängt, ohne weiteres alles Kunft-
gefühl abzufprehen, wäre lächerliche Ueberhebung. Wer von uns Ge—
bildeten jo verächtlich auf jene herabfieht, der jchlage an feine Bruft und
frage fi, wie oft ihn Schon, wenn er ganz ehrlich in jeinem Innern
fi befragt, unfünftlerifche, fagen mir: finnliche Intereffen zur Kunſt
geführt haben. Und iſt e8 denn wirklich eine Ehre, jold ein Fiſch zu
fein, daß man bei Tizians Venus gar nicht miehr das fchöne Weib, bei
Botticeli gar nicht mehr die anmutige jüße Form, bei der fpäten grie=
chiſchen Plaſtik ihre Sinnlichkeit gar nicht mitempfindet? Es fragt fich
doch wohl, was im einzelnen Fal im Bewußtſein herrſcht, ob dieſe
Sinnlichkeit oder Kunſtgefühl.
Avenarius hat bei feiner Anregung vorzugsweis andere Seiten der
Trage berührt, ſei's mir heute erlaubt, etwas über den Ausbau des Variétés,
wie wir e8 wünjcden, zu jagen. Sprechen wir zunächſt von dem, was
nur in feiner jegigen Weiſe als da8 „Bedenklichſte“ erjcheint, von dem
Kultus des fchönen menjhlihen Körpers. Steine Dramen-Bühne darf
Kunftwart
— i.—
feine Pflege zum Selbitzwed machen; hier aber geht das fehr wohl an,
nein, hier wird e8 Pflicht, denn daß die künftlerifche Pflege der Körper-
ihönheit eine Aufgabe it, die von dem Gejchlechte vor uns zu ſehr ver-
nadhläffigt ward, ift ja heut eine von allen Kunſt- und Schönheits-
freunden eingejtandene Thatjahe. Anzeichen genug dafür find da,
daß die Pflege der Körperjchönheit wieder ein Teil jelbftverftändlicher
Kultur wird, wie fie e8 einftmal® war. Unſer Variete hat nun zwar
heute noch mehr Anflänge an, den römischen Zirkus, al8 an das grie-
chiſche Gymnaſium; aber für ung moderne Menfhen kann e8 in feiner
veränderten Form vielleicht eine andere, aber doch entiprechende Miffion
erfüllen, wie jene beiden für ihre Zeit.
Man rühre alfo das Volk dort, wo alle fterblich find, und mo e8
berührt wird, wenn nicht von fünftlerifchen fo von — roheren Händen,
und leite e8 in unſerem Sinne zu feineren und edleren Entwidelungen
diejer Gefühle. Hier ift die Kunſt die Brüde. Es wird und kann nicht
ſchwer fein, durch geeignete Eindrüde auch diefen Menfchen ein Ieifes
Ahnen von der unendlichen Schönheit des menjchlichen Körpers aufgeheit
zu laffen. ch Halte deswegen alle jene Vorführungen, die allein dieje
legtere zum Motiv nehmen, für berechtigt; für nicht berechtigt, ja für
frivol halte ic nur den Borwand, wenn fie unter einem ſolchen ge-
zeigt werden. Ein fchöner Menſch ift nicht Kunſt, fondern Natur; ihn
aber jo zu zeigen, daß jeder, der im Leben blind vorbeigeht, nun Har
empfinden muß: „mein Gott, wie ſchön ift das“, das iſt Kunſt, und
ihre Form heißt Bewegung, Belleidung, Beleudtung. Man fagte fpot-
tend von der Eleo de Merode, fie könnte ja gar nicht tanzen, fie fei ja
nur ſchön. Ich muß fagen, mid) hat gerade daS bei ihr angenehm be—
rührt, daß fie gar nicht den Anſpruch machte, choreographiiche Leiftungen
zu geben, fondern nur mit wenigen chythmijchen Bewegungen die ganze
Lieblichkeit und Anmut ihrer Erfcheinung, die jo gar nicht kokottenhaft
wirkte, zum Ausdrud brachte und fo wirklich eine Freude für ſchönheits—
empfängliche Augen gab. Ich denke übrigens hier nicht bloß an den
weiblichen Körper, fondern ebenjo den männlichen, der doch mindeftens
gerade jo ſchön ift, der aber vom Manne viel weniger begriffen wird,
als jener. Die plaftifhe Schönheit eines muskulöſen, in jeiner Kraft
jpielenden Athleten ift für mic) das Alpha und Omega aller die
Geſtaltungskraft befruchtenden Naturbeobadtung. Mit ihm fett die Kunſt
ein; die Schönheit des meiblichen Körpers ift erft gleichſam eine Ab—
leitung davon in verfeinerter Auflage. Nadte Ringer zu jehen, iſt des—
wegen ein mwundervoller Anblid, den leider unſere Variétés nicht bringen
fönnen. ber fie follten dann mwenigftens ihre Athleten und Turner fo
Heiden, dab die Muskelbewegungen jo weit zur Geltung fommen, mie
das ohne Verlegung defjen möglich) ift, was unfere Eitte nun einmal
als anftändig anfieht. Manche Halbe Belleidungen find ficher ordinärer
und mehr auf Lüfternheit bedacht, als der Trifot*, und aller bunte
* Ich glaube, jehr viel zu dem Gindrud des „Unanftändigen“, ben Trikots
maden, trägt ihre jogenannte „Fleiſchfarbe“ bei, die übrigens aud) in male
tifher Beziehung wie eine rohe Parodie auf den Inkarnatton abftoßend häß—
lich wirkt. Ein Körper in feingeftimmtem hellgrünen, blauen, grauen oder
auch weißen Trifot erfcheint viel dezenter und läßt die Bewegungen der Mus—
fulatur nicht minder — Die „fleiſchfarbenen“ Trikots find aber auf
großftädtifchen VBarietebühnen aud) fon zu Seltenheiten geworben. A.
2. Februarheft 1899
— 322 —
Firlefanz follte beifeit bleiben. Das Motiv folder Schauftellungen müßte
deswegen auch vielmehr die Schaufiellungen des Körpers in feiner
Bemwegtheit fein, als nur die langweiligen Wettbewerbe der Kraft—
leiftungen, wenn diefen auch ein gemilfer Spannungsreiz nicht abzu-
fprechen ift. Es ift deswegen nur zu bedauern, wenn bei gewiſſen Dar:
ftellungen, 3. ®. bei Trapeztünftlern, diefe, um das Gefährliche der
Situation und den dadurch entjtehenden Schauer aufs höchſte zu fteigern,
dem Auge in ſolch ferne Höhe entrüdt werden, daß das eigentliche Motiv,
der Körper, nicht mehr Har fihtbar ift. Davon, daß es jo verlorene Liebes—
mühe ift, ewig neue Trid® und Abfurditäten auszudenfen, anftatt die
natürlich gegebenen Motive aufs feinfte auszubauen, davon ift im Kunft-
wart fchon des öfteren die Rede gemefen.
Eine Hunftform vor allem ift e8, die beim Variete ihre höchſte
Vollendung finden fünnte: der Tanz und, die edeljte Form, der ge—
fchrittene Reigen. Welche Fülle und Mannigfaltigkeit ſich hier der Phan—
tafie öffnet, das ijt mit Worten gar nicht zu umjchreiben! Abend um
Abend ließe fi) mit neuen Motiven, mit neuen Variationen füllen, und
es könnte alles wirklich Kunſt fein. Die Bedingungen wären diejelben,
wie die ſchon vorhandenen: einzelne, mehrere, viele Tänzer und Tän—
zerinnen, ein Sinabenreigen allein mit jungen Mädchen zufammen u. ſ. w.
Mas alles durch Abwandlungen noch entjtehen könnte, jagt fich jeder
ſelbſt, wenn er bedenkt, welche Motive noch alle Hinzutreten könnten:
die Gemwänder fo oder fo, farbige Beleuchtung, zum Tanze Gejang, das
getanzte Gedicht. Welche Anregung für das Gedicht ſelbſt, wenn da=
durch auf natürliche Weile der Rhythmus wieder in ein altes Recht rückte
und fo zum Ausgangspunkt von ganz alten und wieder ganz neuen
Sunftformen würde. Es gibt auf diefem Gebiet gewiß ſchon mand
Schönes zu fehen und doch ift die Zahl der Möglichkeiten noch faum
angebrocdhen. Mir fchmwebt vor allem ein Motiv vor: eine durch Tanz
bewegte Menge, mit undurchfichtigen fchleppenden Gewändern befleidet,
die unmittelbar über den „nadten“ Körper gelegt find, ſodaß deſſen
bewegte Schönheit mit dem Faltenmotiv zufammen eine neue Einheit
bildet, — wer Gemandmotive griechifcher Plaftit wie des Parthenon—
friefes wirklich in fich aufgenommen bat, verfteht, um wie traumhafte
Schönheit ſich's da Handelt. Allerdings, wenn erſt Korfett und Spigen=
unterrod darunter figen muß, dann Hört jede Schönheit auf und es
bleibt nur noch das Reſtchen pikanten Reizes übrig, der mit hoher unit
nichts zu thun hat. Daß aber auch das Koſtüm als folches wieder zum
Gegenſtand fünftlerifcher Gejtaltung werden fünnte, befonder8 hier, mo
es jo ganz frei und phantaftifch behandelt werden darf, darauf fer nach—
drücklich hingewieſen, denn nicht der menschliche Körper allein ift es, der
eine äfthetifche Erziehung fördern fönnte, fondern e8 fommen noch un—
zählige andere Momente Hinzu. Bei den Gerpentintängen wurde die
Linie des menſchlichen Körpers fait nebenſächlich; wogender ornamentaler
Rhythmus, der der Träger von wundervollen Farbenklängen war, wurde
zur Hauptjache. Diefer Rauſch von Farben, wie ihn bis dahin in ſolchem
Slanz und Reihtum noch nie ein Menfch gefehen, hat auf die Kunſt
felbjt einen Einfluß gehabt, der mit dem nur weniger Bilder verglichen
werden fann, und wenn Zoie Fuller die Schöpferin jener Hunftform ift,
jo tft fie ein Genie. Der Serpentintanz hat die Farben bei uns frei
Kunftwart
— 328 —
gemadt, er hat dem fanatifchen Pleinairismus mit den Garaus machen
helfen. Welhe Fülle von koloriftifhen Ideen, von Farben-Einfällen
gingen von ihm aus! Welh ein Einfluß auf die Frauenmode ift ihm
zuzuschreiben! Ich möchte die erite Aufführung des Serpentintanzes das
Datum nennen, an dem für die Sleidung eine neue Entwidelungsphafe
begann. Denn e8 ift Thatjache, daß der Farbenfinn der Frauen, fomeit
er fich in den Toiletten ausfpricht, fich entichieden hebt. Der erfte Schritt
war ein Üebergang zur Farbe, zur Freude an der Farbe überhaupt,
dem dann merfliches Verfeinern folgte. Und das nicht bloß bei den
oberen Zehntaufend. Aber entwidelter Farbenſinn bleibt nicht bei den
Toiletten jtehen, er wird fich in den Häufern, den Wohnungen ebenio
bemerkbar machen, und die Kinder diefer Mütter werden nicht die blöden
Augen jener Generation haben, die noch eben rot von grün unterjcheiden
fonnte und dieſe Fähigkeit nur deswegen zu ſchätzen ſchien, weil Farben-
blindheit zum Staatsdienft untauglic) machte.
Mit der fünftleriichen Freude an der Naturfchönheit des Menſchen—
leibes, feiner Bewegungen und feine Lebens wäre aber nur ein Gebiet
der Barietesftünfte berührt. Eine Erfcheinung wie die Yvette Guilbert
it no ein Unikum, aber es wär ein Segen, wenn ihr andere folgten.
Und warum nicht zwifchen all dem Lodern und Zuftigen aud einmal
etwas Ernſtes? Das Bedürfnis nah Abwechslung zeitigt jet platte
Sentimentalitäten und bei den Haaren herbeigezogene Patriotismen, die
dod auch ernft genommen werden wollen. Ich meine, im Rahmen des
Ganzen würde fich ein Melodram gerade jo gut einfügen, wie der Guil-
bert mit Mufikbegleitung rezitierte Stimmungslyrif. Und wäre das
Variete nicht gerade der Platz, eine gewiſſe Gattung moderner Dichtung
ins Leben einzuführen, die in Buchform ihren Zweck verfehlt hat?
Und dann der Humor. Mit ihm öffnet fich ja hier eine folche
Fülle von Möglichkeiten, daß nit einmal an ein Andeuten ihrer aller
gedacht werben kann. Bis heute erfüllt der Clown diefe Aufgabe ziem—
fh) mäßig. Ermüdend ift e8, all diefe abgedroichenen Trid$, mie ber
eine ben anderen ohrfeigt und der ein dumm eriiauntes Geficht macht,
und der andere ihn dann wieder ohrfeigt und dann der erite ein dummes
Gefiht macht, allabendlich aufs Neue über die Bühne gezerrt zu fehen.
Es ift, als ob den Leuten auch rein garnichts einfiele. Was da alles
zu machen wäre, weiß ein jeder, der mohlgelungene Künftlerfeite bejucht
hat. — Ganz gut waren mandmal Die volkstümlichen Burlesfen, die
man in ben legten Jahren ſah; doc, blieben aud) fie bisher jehr ver—
einzelte Erfcheinungen. — Dann die Peitfatire, die Modeſatire. Da
fönnten Leute von Geift und Witz ein Inftitut ichaffen, das ſchon mehr
einer Kulturerſcheinung als einem Tingeltangel ähnlich jähe.* — An
eine Nummer denfe ich noch: die drefjierten Tiere. Sie thun mir immer
(eid, die geicheidten kleinen Kerle, die ihre Sache jo gut machen wollen
und denen eine alberne Rolle aufgezwungen wird, während fie in jeder
Pfote mehr natürliche Komik und Grazie haben, als ihre Herren im Kopf.
Meift fommt es denen ja nur drauf an,. das Schwierige, womöglich das
„Unmögliche* zu zeigen, Dinge bei den Tieren zu erreichen, die in ihrer
Natur nicht liegen, und deren mühlames Erlernen dann die ganze Pointe
* Und die hohe Polizei?
, 2. $ebruarheft 1899
— 39 —
ift, jo wenig mit der Borführung auch gefagt wird. Darüber mie über
manches noch, was hierher gehört, hat ja ſchon vor einem Jahrzehnte
Spitteler Bortreffliches im Kunſtwart gejagt. — Dann ferner: warum
nicht auch amüjante Vorführungen aus dem Gebiete angewandter Wiffen-
Schaft? Der ungeheure Erfolg des Sinematographen hat gezeigt, mie
willlommen dem Publikum derartiges if. Was allein kann da der ein«
fache Projektionsapparat leiften! Heute, wo eleftrifches Licht und alle
Hilfsmittel überall reichlich zur Hand find, müſſen die großen Borfüh-
rungen von Meifterwerten aller Art, von ſchönen Landſchaftsbildern,
Bauwerken jo einfach) fein, daß man von ihnen viel mehr Gebraud)
maden follte.. Sie würden dem Publitum zur Ausfüllung zwiſchen den
größeren Nummern doch wohl willtommener fein, al3 die Sängerinnen
vierten Grades, die man heute dazu verwendet, und hätten dabei für
den Unternehmer noch den Vorzug größerer Billigkeit. Neue intereffante
Berjuche, Erfindungen, Entdedungen wie damals die Röntgen-Strahlen
und ihre volfstümliche Borführung wären vereinzelt im Variete gewiß
auch am Plage. Man braucht desmegen noch lange nicht davon zu
reden, dab das Variete „Kenntniffe verbreiten“ jolle.
Es ift fchade, daß ihm, dem Variété, ein Odium anhängt. Frei—
lich: eigentlich anrüdig ift e8 ja längſt nicht mehr. Wer aus der Ge-
ſellſchaft „mitreden“ will, muß dageweſen fein. Aber e8 gilt nicht für
vornehm, es ernjt zu nehmen. Und doch: das fchnelle Steigen feines
Anſehens läßt die Hoffnung berechtigt ericheinen, daß e8 allmählich zum
Kunftinftitute werden wird. Eine wirflihe Höhe der Tünitlerifchen
Zeiftung kann's allerdings erft erreichen, wenn e8 für niemand mehr
etwas peinliches hat, unter die Artiften zu gehen. Ach, und wie viel
liebe Stollegen babe ich, die von Geburt vielmehr Artiften als Dialer
find, die Genie8 wären und Bahnbreder als Clowns und Satiriker,
und bie den Hägliden Ruhm vorziehen, „Kunftmaler* zu heißen und
armjelige Bilderhen aus fid) herauszuquälen. Man Magt immer darüber,
daß jo wenig neues, jo wenig wirklich originelle8 von ben Artiſten ge—
Ihaffen würde. Und mwelde Fülle von Wi und Geift bringt oft ein
einziges Sünftlerfeft zu Tage, — ein Variete könnte Jahre lang dran
zehren. So lange das Variété ift, wie es heute ift, wird fich leider
noch mander von feinem wahren Berufe abhalten laffen, der auf dem
„Brettl“ eine Miffion erfülen fünnte. Dan denfe auch an all die ent—
gleiften Literaten. Im Bariete wird der Gaffenhauer geboren. Wie
greulich trivial ift er bis auf verfhwindende Ausnahmen. Und dabei
wären fo mande unferer Literaten wie gemacht für diejes Fach, auf
dem ſie, mweil fie immerhin Kunſt brächten, Bahnbrecher werden könnten.
Ich träume manchmal von dem Zukunfis-Variété, der zur Kunſt
erhobenen „undogmatiichen Bühne‘, wo fi all’ das Schöne, Amüfante,
Intereſſante, Pilante zeigen Tann, das auf dem würdigen Theater, in
dem man auf Handlung fieht, ſelbſt bei der dümmften Poſſe und beim
alberniten Ballet nicht Pla hat. Mir erfcheint diefe Löſung der Variété—
Frage, die ja anfängt, zu „brennen“, die einzig ausfichtsreiche. An eine
Ausrottung des Variétés ift bei den heutigen Berhältnifien, wie fie
nun einmal geworden find, nicht zu denten, und das Erſetzen durch etwas
anderes, beſſeres dürfte auch recht fchwer werden. Suche man e8 alio
fo weit äfthetiih und charaktervoll aus- und durchzubilden wie möglich.
Kıunftwart
Dann kann das, was uns heute als böſer Kunftfeind ericheint, noch
einmal einer der mwichtigften Mithelfer zur fünftlerifchen Erziehung wer—
den, Die wir haben. Schulge-Taumbura.
X
Etbisch und ZAestbetisch.
(Schluß.)
Iſt dem aber ſo, was folgt daraus? Zunächſt offenbar das: alles
produktiv⸗aſthetiſche Verhalten, alſo alles Kunſtſchaffen bringt den Schaffen—
den zugleich in ein unmittelbares ethiſches Verhältnis zu ſeinem Werk.
Und zwar beſteht dieſes Verhältnis nicht in der bewußten Reflexion darüber,
was die „Moral“ dem Künſtler erlaube und was nicht, oder in der be—
wußten Abficht, diefe „Moral“ zu ehren oder zu verlegen ; jondern zu—
nächſt unbewußt und unmillfürlich aber mit unvermeidlicher Notmendig-
feit befommt das Werk feinen gemeijenen Anteil von dem thatjächlich
vorhandenen ethiichen Gehalt in der Perjönlichkeit des Schaffenden. Die
Größe und Bedeutung feiner ethifchen Perjönlichkeit gibt auch feinem
Werft Größe und Bedeutung bis in die Afthetiichen Formen hinein, Die
durd die ethifche Wucht des Perfönlichen gemeitet und erhöht werden;
der ethiiche Reichtum, die ethische Tiefe bereichert und vertieft auch das
Aeſthetiſche; die ethiiche Gefundheit ift auch künſtleriſche Geſundheit, die
ethiiche Güte wird auch äfthetiicher Wert. Dagegen eine fleine, enge,
beichräntte ethische VBerfönlichteit mindert aud) den Kunſtwert des Werkes ;
ethiſches Kränteln, ethifche Verichrobenheit, Fäulnis, Verkehrtheit, Frivolität
durchjeucht auch die äfthetifche Leitung, ohne dab die bewußte Abficht
beftünde, „unmoralifh* zu fein oder zu wirken. Mit anderen Worten:
der Künftler ift für fein Werk und damit für deifen Wirkungen nicht nur
äfthetiich, fondern ebendamit zugleich ethilch verantwortlich. Und obwohl
er dieje Verantwortung zunächſt unmillfürlich und unbewußt übernommen
hat, fo fühlt er fich doch, jomweit er zum Bewußtſein über jein Schaffen
und fein Werk gefommen iſt, auch bewußt verantwortlich im ethiichen
Sinne. Das ift nicht nur eine logische Schlußfolgerung, jondern das
entipricht den Thatſachen.
Weiter aber: auch im rezeptiv äſthetiſchen Verhalten ſpricht das
Perfönliche, alfo aud; das Ethifche mit, die ethifche Perfünlichkeit des
äjthetifch Aufnehmenden, Geniegenden, Urteilenden. Aeſthetiſche Luſt oder
Unluft hängt ſehr wefentlich auch davon ab, was oder mie viel einer
von feiner ethifchen Perſönlichkeit in die äſthetiſche Anſchauung hinein—
legen kann — nicht theoretifch im Sinne von bejtimmten Moralbegriffen,
fondern eben äfthetiich, das heit mit gefühls- und ftimmungsmäßiger
perjönlicher Wertung der Anſchauung. Auch das rezeptiv äfthetiiche Ver—
halten fucht mit unvermeidlicher pſychologiſcher Notmendigfeit ein perfönlich
ethiſches Verhältnis zu feinem Objett — und dies um jo mehr und um
fo ficherer, je mehr diefes Objekt ein Kunſtwerk ift, aus dem ein per—
ſönlich-ethiſcher Lebensgehalt feines Schöpfers ſpricht. Da können nun
verfchiedene Fälle eintreten. Die Perfönlichkeit des Aufnehmenden fann
der Ichöpferiichen Perfönlichkeit ebenbürtig oder menigitens irgendwie
ethilch verwandt fein, die eine faßt die andere raich und leicht oder doch,
2. Februarheft 1849
— 31 —
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wenn auch nur allmählich und mit einiger Mühe, ficher und richtig,
jedenfalls am Ende mit dem Ergebnis äfthetifcher Quftwerte. Oder die
ethifche Perfönlichkeit des Aufnehmenden reicht irgendwie an die des
Künſtlers nicht hinan, vermag fi nicht oder nur unvolllommen in fie
einzuleben — da8 Ergebnis find Unluftwerte oder ein zmielpältiges
Schmanten zwiſchen Luft und Unluft, vielleiht ein formell äfthetifches
Angezogenfein bei ethiicher Ablehnung oder mwenigftens Unbehaglichkeit,
möglicherweife auch das, daß der Aufnehmende in feiner äſthetiſch-ethiſchen
Berlegenheit ſich Hinter gemiffe theoretiiche Moralbegriffe flüchtet, um ſich
gegen die unbequem=ethifche Leberlegenheit der ihm entgegentretenden
Perfönlichkeit zu wehren. Oder aber: nicht jelten tritt der Fall ein,
daß die Berfönlichkeit des Aufnehmenden der andern zwar theoretiſch ge=
wachſen ift, fie wohl begreifen und verftehen fann, ihr etwa gar in jeder
Beziehung, auch ethilcheäfthetiic überlegen ift — aber der pofitive Inhalt,
die ethiihe Qualität beider Perfönlichkeiten ift fo verſchieden, daß fein
andres Berhältnis möglich ift als Abſtoßung und Ablehnung. Ethiſch
gejunde, gerade, wahrhaftige Geifter fühlen ſich vom ethiſch Kranken, An—
gefaulten, Berlogenen, Perverſen aud) dann abgeftoßen oder angemidert,
wenn e8 als perjönlicher Gehalt einer Kunftleiftung ihnen entgegentritt,
ja fie find leicht doppelt unangenehm berührt, wenn das ethiſch Zus
widere in bejtechenden äfthetifchen Formen einhergeht, mit glängender
Technik fich geltend zu machen ſucht. Jedenfalls kann in diefem Fall
bei aller Anerfennung formal äfthetifcher Vorzüge das äfthetiiche Ge—
famturteil, aus dem die ethiiche Wertung ſich nicht ausjcheiden läßt, un—
lustig ablehnend ausfallen. Denn das darf man nicht vergefjen, daß das
Ethiſche im Menſchen eben ſchließlich doch ftärfer ift, als eine gemifle
theoretijhe Erwägung oder Anerkennung des bloß Formalen im Aeſthe—
tiſchen.
Dieſe verſchiedenen Fälle laſſen natürlich eine Menge von Modi—
fikationen und Variationen zu; welche aber auch eintreten mag, Eines
bleibt: daß das äſthetiſche Geſamturteil über eine Kunſtleiſtung ganz von
ſelbſt und notwendig zugleich ein ethiſches Urteil enthält, wie die
äſthetiſche Luſt oder Unluſt thatſächlich vom ethiſchen Faktor irgendwie
mitbeſtimmt iſt. Iſt das aber Thatſache, ſo hat man auch mit ihr zu
rechnen — das heißt: es iſt durchaus falſch, über unberechtigte Ein—
miſchung fremder Geſichtspunkte in Kunſtangelegenheiten zu klagen, wenn
in äſthetiſchen Urteilen über Kunſtſachen ethiſche Maßſtäbe und Geſichts—
punkte mit in Anwendung gebracht werden. Solches Klagen hilft auch
gar nichts — es wird doch nichts anders dadurch. Solange der pſychiſche
Organismus des Menſchen iſt, wie er iſt, werden jene ethiſchen Maß—
ſtäbe und Geſichtspunkte immer wieder im äſthetiſchen Urteil auftreten;
ja gerade je tiefer einer in das pſychologiſche Weſen des Aeſthetiſchen
eingedrungen iſt und je ausgeſprochener er ſelbſt eine ethiſche Perſönlichkeit
iſt, deſto unbedenklicher wird er das ethiſche Moment im Aeſthetiſchen
zur Geltung bringen — freilich auch deſto vernünftiger und ſachgemäßer
Man wird es dem Einzelnen niemals zum Vorwurf machen können,
wenn er ein Kunſtwerk, deſſen perſönlich-ethiſcher Gehalt ihm einmal zu—
wider iſt, auch äſthetiſch ablehnt und dieſe Ablehnung ethiſch begründet,
weil das ethiſch Widerwärtige ihm etwaige nur formell-äſthetiſche Vorzüge
überwiegt. Wie meit freilich dieje feine Ablehnung aud) auf andere
Kunftwart
— 32 —
Eindrud madt, das wird eben von dem Gewicht feiner ethiſchen Per—
ſönlichkeit — und von dem ethifchen Charakter jener andern abhängen.
Ferner gibt e8 aber nicht nur ethiſche Einzelperjönlichkeiten, ſondern es
gibt in beftimmten Zeiten, geiftigen Entwidlungsperioden, Nationen u. ſ. w.
auch eine gewiſſe Uebereinftimmung ethifcher Perfönlichkeiten, die fich
gleihmäßig zuftimmend oder ablehnend gegen gemwifje vorhandene ethifche
Richtungen oder Perfönlichkeiten verhalten. Allerdings find das meiſtens
Minderheiten, namentlih wo es fi um Ablehnung einer gerade zur
Herrichaft Aber die Maſſen gelangten ethiſchen Zeitrihtung Handelt;
aber vor der Geſchichte pflegen dieje mwiderhaarigen Minderheiten Recht
zu behalten, gegenüber der milligen Mehrheit — gerade mie die von
ihrer Zeit unbegriffenen ethiſchen Einzelperfönlichkeiten der Durchſchnitts—
moral der Maſſe gegenüber Recht zu behalten pflegen.
Anders fteht die Sache, wenn aus einer angeblichen Kunftleiftung
gar feine ethiſche Perfönlichkeit ſpricht, alfo fein Erzeugnis jchöpferijcher
Phantafie vorliegt. Dann mag unterm Gefichtspuntt jener bloßen
„Moral“ alles noch jo korrekt und unanftöhig fein — gerade der Mangel
des Perfönlid-Ethifchen wird ein Grund äfthetifcher Ablehnung werden.
Wenn dagegen fol ein angeblidhes Hunftproduft durch den Gegen—
ftand oder die Art der Darftellung nun auch jene moralifchen Begriffe
verlegt, jo hat die Aeſthetik überhaupt weiter nichts zu fagen, fie tritt
achjelzudend beijeite und gibt das ganze Machwerk ruhig der „Moral“
preis, und rufe dieſe jelbft nad) dem berüchtigten Staatsanwalt. Denn
dann hat fi) nicht mehr Nefthetifches und Ethiſches oder nur auch
„Kunjt und Moral“ auseinanderzufegen, fondern Untunft und Moral —
beides aber geht die Aeſthetik nicht an. Sie hai nur noch den Vor—
behalt zu machen, daß die „Moral* oder der Staatsanmalt fich nicht
zu entjcheiden anmaße, was Kunſt oder Unkunſt ſei — daß feftzuftellen,
bleibt Sache des äfthetifch-ethiichen Urteils.
Dies jührt freilich hart an die praftiiche Frage: wie foll das
äfthetifch=ethiiche Urteil zur Geltung kommen über die Grenzen des indi-
viduellen äfthetifchen Verhaltens hinaus? Nun, ich denke: wie die an—
gewandte Piychologie zur Aeſthetik wird, jo heißt die angewandte Aeſthetik
— Kritik! Zwar weiß id) wohl, in welch jammertraurigem Zuftand fid)
unfere jogenannte Kritik befindet; ich weiß, dab e8 einfach zum Lachen
wäre, wenn man in ihr, jo mie fie dermalen iſt und wohl noch ge=
raume Zeit fein wird, den höheren Gerichtshof jehen wollte, an den in
diefen Dingen zu appellieren wäre; ich weiß, daß fie zu neunzig bis
neunundneungig Prozent ethiſch wie äfthetiich gleich unfähig ift. Aber
e8 gibt doch auch jeßt ſchon wenigſtens einen Heinen Prozentjag von
wirklich leiftungsfähiger Kritik, und wir müßten dod in peſſimiſtiſchem
Quietismus jchon weit gediehen fein, wenn wir auf alle Bejtrebungen
verzichten wollten, diefen Kleinen PBrozentjag zu mehren mwenigjtens bis
zu einer anftändigen Minderheit, die eine geiftige Macht darftellte. Ja—
wohl, der einzige Weg, aus dem unhaltbaren Wirrwarr im Sapitel
„Kunſt und Moral“ (wenn wird jegt einmal fo nennen wollen) heraus—
zukommen, ift: mit allen Kräften dahin zu wirken, daß an Stelle des
heillofen Mifchmafches von Reklame und urteilslofem Geſchwätz, das ſich
Kritif nennt, eine wirkliche äſthetiſche Kritik trete, eine von feitgegründeten
und äfthetiich durchgebildeten ethiſchen Berjönlichkeiten getragene Kritik,
2. februarheft 1899
m SE —
eine jchöpferifche Kritik, die nicht bloß ſchwätzt, ſondern etwas kann —
und fo auch Kunſt und Unkunft fcheiden kann. Eine folche Kritik braucht
gar nicht von vielen geübt zu werden, fie fann in den Händen meniger
liegen, wenn nur diefe gehört werben und gelten. Aber mie gejagt,
von Berfönlichkeiten muß fie getragen fein, die als ſolche etwas find und
bedeuten, von in ihrer Art fchöpferifchen Perfönlichkeiten, denn nur diefe
können ber fchöpferifchen Kunft urteilend gerecht werden und jchöpferiiche
Kunft von Scheinkunft und Unkunſt ficher unterfcheiden. Einen unfehl-
baren objettiven „Kanon“ für das äſthetiſch-ethiſche Urteil gibts freilich
nicht — aber eben, meil e8 einen foldhen nicht gibt, iſt für die äſthetiſche
Kritik die Perfönlichkeit von derfelben Bedeutung wie für die äfthetifche Pro—
duktion. Perjönlichkeiten aber find eine Macht und könnten aud) die
Kritit zu einer Macht erheben, gegen die fein Staatsanwalt und kein
Moralphilifter, aber auch fein Afterpoet und Kunſtſchweinigel auffäme.
Der Staat aber ald Hüter der öffentlichen Moral fünnte die äfthetiich-
ethifche Hut der fittlichen Güter der Nation ruhig dem Urteil dieſer
Kritik anheimftellen und nur da, wo ſie über ein Machwerk äjthetijch-
ethiich zur Tagesordnung übergegangen märe, zujehen, wie weit er nun
etwa die Moral gegen dieſes Machwerk zu wahren hätte.
Ein folder Zuftand der Kritik ift denkbar und muß erftrebt werden,
wenn wir nicht einfach die Flinte ins Korn merfen wollen; mit welchen
Mitteln diefer Zultand anzuſtreben wäre und erreicht werden könnte,
das ift wieder eine Frage für fich, die hier zu weit führen würde. Aber
darüber täufche man fich nicht: jo lange die Kritik in ihrem dermaligen
Zuftand verlotterter Impotenz verharrt, läßt fich zwar unter den Ein-
fihtigeren auf größere Klarheit über die Fragen des Ethifchen und
Nefthetifchen Hinarbeiten, aber aus der Sadgaffe, in die „Kunft und
Moral* praktiſch fich verrannt hat, fommen wir nicht heraus.
Inzwiſchen, meine ich, follte die ihres Ernſtes fich bewußte Kritik
nicht zimpferlich werden in Betonung des ethiichen Elementes im Wefthe-
tiihen. Mir fcheint, vor eitel Streben nach Geredtigfeit und Billigkeit
gegen alles, was irgendwie möglichermeife fünftleriich mehr wert fein
fünnte, als uns jet dünkt — vor eitel Furcht, dem Moralphiliftertum
und dem Staatsanwalt Zugeltändnifje zu machen, find mir nächſtens
in Gefahr, einer kritiſchen Feigheit zu verfallen, die e8 faum mehr wagt,
irgend einen lauten Knaben herzhaft an den Ohren zu nehmen, wenn
er bei windiger oder faum aus dem Ei gefchlüpfter Perfönlichkeit feine
Portion Formtalent dazu mißbraucht, uns 3. B. mit Unzüchtigkeiten und
Schamlofigkeiten, die wir ohne meiteres als ſolche empfinden, zu brutali=
fieren — nit in bewußter böfer Abſicht, behüte! — fondern nur eben,
weil das feiner „Perſonnage“ jo entipricht und weil er dieſe Fünftlerifch
ausleben zu müfjfen glaubt. Warum diefem nicht rundweg erflären:
erwirb du dir zuerft einen begründeteren perjönlich-ethifchen Anſpruch
darauf, dich vor unfern Augen auszuleben — fonft läßt dich die Aeſthetik
ftehen und du kannt jehen, wie du mit der Moral zurechtlommft! Und
auch da8 follten wir nicht vergeffen: e8 gibt immer von Zeit zu Zeit
ethiiche Piychofen, die wie Epidemieen um ſich greifen — eine fpätere
Beit erkennt fie unfehlbar als ſolche, folange fie aber herrfchen, geben fie
fi für Geſundheit aus und wiſſen fich der Maffe der Urteilslofen als
folche aufzuichwagen, während nur eine unangeftedt gebliebene Minderheit
Kunftwart
— 354 —
fie als Krankheitserſcheinungen erkennt. Wer fich da in feiner eigenen Per—
ſönlichkeit ethiſch geſund genug fühlt, der foll nicht zaghaft fein, die
Krankheit beim Namen zu nennen und zu befämpfen, auch wenn ers der
Mehrheit nicht haarklein beweiſen kann, daß und wiefern es Krankheit
ift, auch wenn er vielleicht felbft die Krankheit mehr aus feinem ethifchen
Gefühl heraus erkennt als nad) einer theoretijch Har zu begründenden
Diagnofe. Bon folden Pſychoſen aber werden zumeilen nicht bloß die
Pfuſcher und die bloßen reproduftiven Formtalente in der Kunſt ergriffen,
fondern auch Berfönlichkeiten, die am fich fchöpferiiche Kraft hätten —
auch fie braucht die Kritik nicht weichlich zu jchonen, auch ihnen braucht
fie nicht alles zu gute zu halten, ja gerade fie hat fie ernithaft darauf
au verweilen, daß fie fich äfthetifch Ichädigen, wenn fie der ethiſchen Ber-
feuhung nicht mwideritehen. Wollen oder können fie dann nicht hören,
fo haben auch fie es fich ſelbſt zugufchreiben, wenn fie eines Tages von
der Meute des Moralphiliitertums angefallen werden und die Aeſthetik
fie nicht oder nur ungenügend ſchützen kann. Und follte die ernithafte
ſtritik ausnahmsmeije vielleicht auch jemand zu Hart anfallen — ei, ift
er ein rechter Kerl, fo wirds ihm auf die Dauer nicht fchaden, und e8
wird ihm lieber fein, von einer ſolchen Kritik einmal etwas zu hören,
was er nicht ganz verdient zu haben glaubt, al8 wenn er von der All—
tagspöbelfritif vielleicht „moraliſch“ unangetaftet bleibt aber äfthetijch-
ethijch um jo blödfinniger behandelt wird.
Gerade, wenn wir auf das Entſtehen einer Kritik binarbeiten
mollen, die als zuftändige Nichterin in dem Streit zwiſchen „Kunft und
Moral“ gelten dürfe, müjjen wir darauf bedacht fein, daß ſchon jetzt
jede echte Kritik fich gerade in diefem Kapitel gründlich unterjcheide von
dem Kritikaſtergeſchwätz, das feine Ahnung bat von dem tieferen Zu—
fammenhang zwifchen Ethifch und Aeſthetiſch. Carl Weitbredt.
UI
Arcbitektonischbe Zeitfragen.
Unter diefem Titel hat der unferen Zejern bekannte Wilhelm Streiter
beim „Cosſsmos“ in Berlin eine Schrift veröffentlicht, die er im Untertitel als
eine Sammlung und Sichtung verfhiedener Anſchauungen mit bejonderer Bes
ziehung auf Prof. Otto Wagners Schrift „Moderne Architeltur“ bezeichnet.
Otto Wagner ift Profeffor an der Kunſtakademie in Wien und hat fi) durch
feine eigenen Werfe als Künſtler einen bedeutenden Namen gemadjt. Sein
feines Bud) follte zunächſt nur ein Führer auf dem Gebiete der modernen
Architektur für feine Schüler fein, aber e8 erregte weithin Auffehen unter den
deutfchen und öfterreichifchen Architekten, weil Wagner darin einen extrem fort:
ſchrittlichen Standpunft vertritt und den Anſpruch erhebt, „die Bafis der heute
vorherrfhenden Anfhauungen über die Baufunft zu verjchieben und die wahre
und einzig mögliche Richtung zur Erreichung des Erahnten, Erhofften Der
modernen Arditeftur zu weiſen“. Gegenüber diefem Buche unternimmt nun
Streiter „ben Verſuch einer tieferdringenden, möglichſt objektiven Würdigung“,
ben man als überaus intereffant und in vieler Beziehung klärend bezeich—
nen darf.
2. februarheft 1899
Streiter gebt davon aus, daß feit dem Ende ber Rokokozeit fein feſter
Stil, feine bejtimmt ausgeprägte einheitlide Grunditimmung im Kunſtſchaffen
ber europäifhen Kulturvölfer fi) mehr ausgebildet hat. Denn e8 ift eine feſt—
ftehende Thatſache, da den Architekturwerken bes 19. Jahrhunderts bei den
Kulturvölfern der alten und der neuen Welt jene der Gleichzeitigkeit ihres Ent—
ftehens entſprechende Hebereinftimmung in ber formalen Durchbildung mangelt,
die man als Bauftil bezeihnen darf. Unſer Jahrhundert wird von der Ardi-
tefturgeihichte der Zukunft als eine Periode bezeichnet werden, in melder bie
Pflege der hiftorifhen Stile an die Stelle der Alleinherrfchaft eines eigenen
Stile der Zeit trat. Diefer Zuftand wird befanntlih von ber einen Seite
beflagt und hinweggewünſcht, von ber anderen als ganz günftig und wohl
erträglich bezeichnet. Die Unzufriedenheit mit dem herrichenden Eklektizismus
äußerten in ganz ähnlicher Weife Otto Wagner in feiner Schrift von 1898 und
RN. Wiegmann, Profeffor in Düfleldorf, einer der Haupts-Vorfämpfer ber deutich-
nationalen Romantik, im Jahre 1841, ebenfo Wilhelm Stier auf der Architekten
VBerfammlung zu Bamberg im Herbit 1843 und nicht viel anders J. ©. Wolf,
Profeſſor in Kaſſel, auf der Arditelten-Verfammlung in Kaſſel 1846, der in
dem Treiben der damaligen Baufünftler „eine zweite babyloniſche Verwirrung“
erblidte, „wo feiner den andern mehr verfteht, keiner weiß, worin und aus
weldem Grunde er mit dem andern einverftanden fei oder ven ihm Verſchie—
benes denke und wolle.* Die Zufammenftellung ber Heukerungen von Arditelten
und Mejthetifern aus unjerm gelamten Jahrhundert ift ganz beſonders inter—
effant in bem Streiterfhen Bude. Sie zeigt, daß eine Menge von Gedanken,
die bei Otto Wagner fo mandem als ganz neu erfcheinen könnten, zum
eifernen Beftande unferes Jahrhunderts gehören und immer wieder von neuem
auftauchen, ohne bisher die Verhältniffe irgendwie geändert zu haben.
Streiter fhildert dann die Meinungsverfhiedenheiten der Arditelten in
ben vierziger bis jechziger Jahren, die Verſuche, neben der Wiederermedung
der biftorifhen Stile auch durd; freies Kombinieren der überlieferten Formen—
freife einen neuen Bauftil zu Schaffen (Schinkels Bauafademie, Marimiliansitil
in Münden), endlich das Erlahmen des Streites, begründet durch die Fülle
von Yufgaben nad) 1870/71, zu deren raſcher, des Erfolges einigermaßen ficherer
Bewältigung die Anwendung der bewußten Formgebung der hiſtoriſchen Stile
mit einer gemijfen Unwiderſtehlichkeit fi aufdrängte. Dan fam damit zu
einer mehr optimiftifchen Beurteilung der Sadjlage, inden man nad dem
Scheitern aller Beitrebungen um einen modernen einheitlihen Bauitil den
berrichenden Zuftand als eine Notwendigkeit betrachten und unfere arditels
tonifhen Leiftungen als denen früherer Zeiten nicht unebenbürtig anfchen
lernte. In diefem Sinne äußerte fich 3. B. Fritſch. Uber die Klage, daß wir
feinen eigenen Monumentaljtil hätten, daß die Triebfraft der Schmudiormen-
tradition erlofchen fei, fam immer wieder (fo durch Göller); und was ſchon
Heinrich Hübſch vor fünfzig Jahren äußerte, das wiederholten Karl Neumann
und Otto Wagner, nämlidy den Gedanken, „dab die Pflege der hiſtoriſchen
Stile dem Gebraud) fremder, fozufagen toter Sprache zu vergleidhen jei und
daß dieſe Bielfpracdhigfeit der modernen Arditeltur-Schöpfungen das Verſtänd—
nis derjelben beim Publitum fchr erfchweren, ja unmöglich maden müffe*.
Das Publilum Hat infolge des überaus rafhen Wechſels von Modeitilen in
den legten Jahrzehnten ganz das Vertrauen verloren, fid in Gefhmadsurteilen
feinem eigenen Gefühl zu überlaflen. Die Folge mußte eine Unficherbeit, eine
Verworrenheit im ftiliftifhen Empfinden fein, mie fie vielleiht nod) niemals
Kunftwart
- 30 —
in diefem Grabe beitanden hat.“ Diefer Mangel eines einheitlihen Stil—
gefühls trug in hervorragender Weife die Schuld an dem Rüdgange bes
Kunftgemwerbes in unferem Jahrhundert. Die Kunftgewerbefhüler müſſen
gedrillt werben, die verfchiedenften Formenſprachen nachzuſtammeln; die Archi—
teften haben Not, bei ihren Monumentalbauten gerabe die Handwerler, Maler
und Bildhauer auszumählen, welche in ihrem hiſtoriſchen Stil verhältnismäßig
die meifte Hebung haben; und in ben felteniten Fällen wird bei derartigen
Reiftungen des Zuſammenwirkens verjchiedener ein ganz befriedigender tief-
gehender Gindrud erzielt. Das haltlofe Hin= und Herſchwanken des Geſchmackes,
begünstigt durch das dem Fabrilanten dienlihe Modeunmejen, murzelt in dem
bijtorifchen Eklektizismus, der feit dem Anfang dieſes Jahrhunderts die Archi—
teftur beherricht. Gegen Ende bes Jahrhunderts Hat fi das bunte Allerlei
in der Architektur fogar noch gefteigert. Nunmehr aber erhebt fi) parallel
mit ben ähnlichen Bejtrebungen auf den Gebieten der Literatur, der Dtalerei
und ber Plaftik der Hampfruf der Modernen auch auf bem Gebiete der Baufunft:
„Weg mit dem hiſtoriſchen Hoftüm, weg mit den fonventionellen Phraſen!
Für die modernen Lebensverhältniffe ein moderner künſtleriſcher Ausdruck.“
Zu diefem „arditeftonifhen Realismus“ befennt fih unummunden
Dtto Wagner. Mit rabilaler Schärfe befämpft er die Pflege der hiſtoriſchen
Stile und mit vollem Optimismus glaubt er an den Stil unfrer Zeit:
„Ganz wie von felbjt wird, wenn wir ben richtigen Weg einfchlagen, das ber
Menichheit angeborene Erkennen feines Schönheitsideals zu lauterm Ausdrucke
kommen, bie ardjiteltonische Sprache verftänblich werden und der uns repräfen:
tierende Stil gefchaffen fei. Ja noch mehr! Wir befinden uns mitten
in dbiefer Bewegung. Diefes häufige Abweichen vom breiten Wege ber
Nahahmurg und Gemwöhnlichkeit, dieſes ideale Streben nah Wahr—
beit in ber Kunſt, mit gigantifcher Kraft dringt e8 durch, alles den be—
ftimmenden Siegeslauf Hemmende niederwerfend.”
Die Berechtigung diefer Hoffnungen prüft nun Streiter eingehend.
Er behandelt im zweiten Stapitel die Frage jenes Realismus in der
Architektur. Selbftverftändlich ift folde Forderung nit neu; fie wieder-
holt fih, wie der Ruf nad Natur in den andern Künſten, fo oft die Kunſt—
verhältniffe e8 nötig maden, jo um 1750, bann um 1850 und jeßt wieder.
Streiter erflärt Realismus in der Arditeltur als die meiteitgehende
Berüdfihtigung ber realen Werdebedingungen eines Bauwerkes, die möglichit
volltommene Erfüllung der Forderungen ber Zmedmäßigfeit, Bequemlichkeit,
Gefundheitsförberlichkeit, mit einem Wort: die Sachlichkeit. Aber das iſt noch
nicht Alles. Wie der Realismus ber Dichtung e8 als eine feiner Hauptaufgaben
betrachtet, den Zuſammenhang ber Charaktere mit ihrem „Milieu“ ihrer Um—
welt ins Auge zu faffen, jo fieht die verwandte Richtung in der Architektur
ein vor allem erjtrebenswertes Ziel tünftlerifher Wahrhaftigkeit darin, den
Charakter eines Baumerfes nit aus feiner Zwedbeftimmung allein, fondern
aus dem Milieu, und zwar nicht nur aus der Eigenart ber jemweilig vorhandenen
Bauftoffe, nein, auch aus der landſchaftlich und gefhichtlich bedingten Stim—
mung ber Dertlichfeit heraus zu entwideln.
Die Forderung eines Realismus in ber Baukunjt entipridt bem ftarf
realiſtiſchen Grundzug, der durch unfer ganzes öffentliches wie privates Leben
geht. Steine Zeit war geeigneter, als die unfrige, der Anfhauung Raum zu
Ihaffen, daß in Arditeltur und Sunftgewerbe künſtleriſche Wahrhaftigkeit,
Rnappheit und Sadlichkeit, vollklommenſte Erfüllung des Zweckes mit den
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einfadhften Mitteln als erſte Bedingung gelten follen. Die ganze fo großartig
entwidelte moderne Technik ift beherrfht von dem oberften Grunbfaß: Die
größtmögliche Leiftung mit den geringftmöglihen Mitleln, und gemöhnt
ung mehr und mehr an bie ftruftivstehhnifhe Sadhlichkeit, zudem ift unfer
Körpergefühl durch die außerordentliche Steigerung ber Verkehrsmittel für eine
größere Bemegungsfähigfeit ſehr empfänglid) und demnach für allen hemmen—
den und erfchwerenden Ballaft ſehr empfindlich geworben. Aus dieſen pfycho=
Iogifhen Thatfahen ergibt ſich die fpezifiih moderne Auffaffung teftonifher
Aufgaben, bie Wagner furz fo formuliert: „Eimas Unpraltifhes Tann nie
ſchön jein.*
In England ijt diefes Ziel Wagners, über die hiſtoriſchen Stile hinaus
zu einer neuzeitlichfelbftändigen Baumeife zu gelangen, in gemwiffem Grabe
erreicht, und Streiter nimmt diefen neusenglifchen Stil mit Erfolg in Schuß
gegen den Vorwurf der Nüchternheit, den ihm 3. B. Robert Neumann madt
in dem Buche: „Architektoniſche Betrachtungen eines deutſchen Baumeiſters mit
befonderer Beziehung auf beutfches Wefen in beutfcher Baukunſt“, Berlin 1896-
Während Dtto Wagner den geſchäftlich-praktiſchen, nivellierenden („bemofra=
tiſchen“) Tendenzen de8 modernen Lebens Tünftlerifh nachzugehen empfiehlt,
fuhen die Engländer vielmehr (und viel richtiger) im Kampfe gegen dieſe
Tendenzen bie künſtleriſche Individualität zu retten. „Das Geheimnis bes
Erfolgs der Engländer liegt nad) Streiter wohl darin, daß fie den teftonifchen
Realismus richtig aufgefaßt und angewendet haben. Sie haben die gebieterifhen
Anfprüde de8 modernen Lebens in meitejtgehender Weiſe berüdfichtigt, dabei
aber den künſtleriſchen Individualismus zu mahren verftanden, fomeit es
irgend möglich ift. Wo aber die große Mafje, die Herſtellungsweiſe (Maſchinen—
Sabrilation!) und der raſche Verbrauch moderner Gegenftände eine gediegene
ünftlerifche Ausfhmüdung unmöglid) macht, da allerdings haben fte mit vollem
Recht aus der Not eine Tugend zu machen verfudt und ji bemüht, durch
einfahe Eleganz der Grundform, durch forgfältige Ausführung im Sinne des
Materialftils diefen Dingen den größtmöglichen äfthetifchen Reiz abzugewinnen.“
Daß erfolgreiche Vorgehen der Engländer erflärt Streiter für vorbildlich
auch für uns. Ohne daß wir uns an einen ber hiftorifhen Stile geradezu
anlehnen, fünnen wir doch ein felbftändig modernes Formgefühl entwideln,
indem mir gleich den Engländern an heimiſche Ueberlieferung anknüpfen, zu—
gleich aber nad) aller Möglichleit die modernen Lebensbedingungen erfüllen.
So fommen wir zu dem Realismus in der Urditeltur, nad der oben wieder—
gegebenen Erklärung Streiterd. Die heimifhen Baumeifen aber (Ziegelrohbau,
Putzbau, Holzbau u. f. mw.) bieten infofern zur Antnüpfung befondere Ausficht
auf Erfolg, als fie nad) den Deaterialverhältnifien, nad der landſchaftlichen
Stimmung und den Stammegeigentümlichkeiten der Bevölferung ſich al® bes
fonders wurzelecht und Tebensfähig ermiefen haben, ftatt in eigenmädtigen,
ins Bodenlofe ſich verlierenden Experimenten dem in meiter, bunfler Ferne
liegenden Ziel bes Zufunftsftils ungebuldig und vielleicht auf Irrwegen zuzu—
ftreben.
Indem wir fo verfucht haben, auß dem zweiten Kapitel des Streiterſchen
Buches die Quinteffeng wiederzugeben, haben wir allerdings die intereffanten
Erörterungen über die Ausfichten eines nationalen oder eines internationalen
Stils, die nicht minder interejjante Polemik gegen Wagner und Robert Neu=
mann, die Ausführungen über das engliihe Heim nad Dohme, über ben
deutfchen Barvenujtil u.a. übergehen müſſen; wen dieſe ſämtlichen Fragen
Kunftwart
— 38 —
tiefer berühren, der wird das feffelnd gefchriebene Streiterfche Buch ſelbſt zur
Sand nehmen müffen.
Gegenüber Wagners überfhmänglihen Hoffnungen, daß der neue Stil
ſehr raſch da fein werde, ift Streiter fehr feptifch geftimmt. Er faßt feine
Bebenten in den Satz zufammen: „Mit dem Realismus, mit der Sadlichleit
allein ift noch feine moderne Kunſt, fein neuer Stil gewonnen, fonbdern nur
eine gefunde natürlide Grundlage hierfür.“ Da Wagner große Erwartungen
auf neue Konftruftionen als ftilbildende Faktoren fest, behandelt Streiter im
dritten Kapitel .befonders die Frage nad) dem Zufammenhang von ſtonſtruktion
und Funjtform. (Schluß folgt.) Paul Shumann.
ZI
Lose Blätter,
Srillpyarjers „Adin von Toledo
ift ein Wert, das ber alternde Dichter befanntlih im Groll dem unempfäng-
lien Bublitum vorenthielt. Jetzt erſt ſehen wir’s mit an, daß e8, wenigstens
in Dresden, auf der Bühne wirklid zu leben beginnt, indem es auß aufs
gehendem Verſtändnis ſtarke innerlide Teilnahme eriwedt. Bisher galt e8 als
ein Werk von ungleihem inneren Werte. Bisher fühlte man fich verliebt in
die fhwarzen Augen der Rahel und jtand und blieb unter ihrem Banne, aud).
wenn fie der Dichter längſt von der Szene entfernt hatte. Den beiden legten
Akten folgte, jo befennt der alte Theaterpraftifus Laube, das Publiftum nicht
mehr: es hatte für die feinften Töne der Dichtung fein Ohr. Sollte e8 nicht
ein, wenn auch unerwarteter Erfolg unferer modernen indivibualifierenden,
perjönlihen Kunft fein, daß wir fie jegt nicht nur vernehmen, fondern ung
gerade an ihnen entzüden?
Die Zuſchauer vergangener Jahrzehnte ſuchten Typen, wir ſuchen Individuen
auf. Nun ift ja Rahel durchaus nicht nur Individuum, ja fie ift es vielleicht
weit weniger als der König Alfonjo, als feine Gattin; fie ift „nur das Weib
als jolches, nichts als ihr Geſchlecht“. Nur als folches, als Geſchlecht, feffelt
fie den König, der fte liebt, ohne fie zu achten. So ift fie denn aud) in ber
Dichtung nur ein Mittel zum Zmed, nit mehr. Uber befangen von einer
Neigung, auch die ungeläuterte Natur im Lichte eines Ideals zu erbliden,
fuht man und fuchte man leider vielfach auch heute noch in Rahel ein Ideal,
und trauert dann darüber, daß e8 elend vernichtet wird. Vielleicht meint man
in Rahel die Heroengröße einer Leidenfchaft zu finden, die nichts über fich er—
fennt. Aber wie weit dieſe Leidenfhaft von der aufopfernden Liebe eines
Gretchen, wie meit fie von der trunfenen Hingabe einer Julia entfernt ift,
überlegt man nidt. Für Rahel gibt es feine Opfer isrer Berfönlichkeit, nur
folde der Sinnlidjleit, die ſchließlich an fi felbit zu Grunde gehen muB.
Wohlweislich hat uns Grillparzer nur gezeigt, wie es Rahel gelingt, das Herz
des unerfahrenen Hönigs zu entflammen. Ueber die Freuden dieſer Liebe gleitet
er raſch hinweg; der flüchtige Rauſch kündet ſchon im dritten Ute die fommende
Ernüdterung an. Sobald der Trank nicht mehr auf ber Tafel winkt, verliert
er an verlodender Kraft, und erit die Schalheit und Nüchternheit, mit ber der
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Deimfehrende von ber Gattin begrüßt wird, läßt ihn wieder verführerif er—
feinen. Ein feder Vergleich mag die Rahel Grillparzers ein allerdings unend—⸗
lich jeineres Vorbild moderner Kofottenpoefie nennen. Uber bei diefem Vergleich
offenbart fih auch der grelle Unterfhied. Dumas verflärt die Dirne, Grill-
parzer behandelt fie mit der Geringfhätung, die ihr gebührt. Sie iſt genug
geadelt, wenn fie einem edleren Menfchen Hilft, fich auf fein befferes Selbft zu
bejinnen. Dem Wahne, aus einem Gejchöpf, das ſich felbit nur als Werkzeug
der Luft des Mannes achtet, ein höheres zu entwideln, wird gar nit nach—
gegangen. Trotz biefer fcheinbaren Barbarei fünbet ſich in der Dichtung ber
foziale Gedante mit aller Macht an, freilih nit in einem parteipolitifchen
Sinne, fondern in feiner für alle Zeiten gemeingültigen und tiefiten Auffaffung,
in der einer gegenfeitigen Verſchuldung aller Menſchen an der menſchlichen Uns
volllommenheit. Jedes Individuum trägt an dem Zujtand des Dafeins feine
Schuld; wo einer ſchuldig wird, find e8, die mit ihm Ieben, auch, wenn fchon
in verfhiedenem Grade. Aber nicht auf das Abmeſſen dieſer Grade kommt «8
an, fondern darauf, fi gemeinfam bei der büßenden und fühnenden That
brübderlich zu helfen.
Eine Tragödie, bie in fo tiefen ethiſchen Gedanken ausklingt, fann fein
Drama äußerliher Gejchehniffe fein. Gang im Stile des Goethefhen Taſſo
ift alles äußere Gefchehen in den Hintergrund gedrängt, zur Vorbereitung ber
Reibenfhaftstragödie das Sichtbare nur fomweit e8 ganz umentbehrlih — bie
beiden Begegnungen des Königs mit Rahel — gegeben, von allen anderen
„Ihaten“ find nur die Entfchlüffe, die Folgerungen dargeftellt. Um fo reicher,
fo muchtiger enthüllt fih das innere Gefhehen, und zwar in unmittelbarfter
Gegenwart vor ung. Nur bie entfheidenden Eindrüde, die der König an der
Reihe der Geliebten empfängt, werben uns berichtet, wir müſſen uns rüds
wärts in die Empfindungen bes Königs verfenfen. Bielleiht hätte ein fühnerer
Dichter uns diefe Szene bes Königs an ber Reiche felbjt vorgeführt. Grillparzer
aber hat doch das Weſentliche diefer Szene nachgeholt, allerdings mit dem
ftilfchmweigenden Unfpruh an einen Dariteller, der e8 verjteht, ung mimifd)
auf die entjcheidenden Worte vorzubereiten: „Ein böfer Zug um Wange, Ktinn
und Mund, Ein lauernd Etwas in dem Feuerblid vergiftete, entitellte ihre
Schönheit.“ Weniger ift e8 ihm gelungen, den Gedanken der allgemeinen Buße
aller zu verfinnlicdden, da fi) das Mittel einer den Thatſachen vorauseilenden
Prophetie der Zukunft dem Dichter, der jtets inmitten ber Situation ſteht,
ſchlechterdings als unfünftlerifch verfagen mußte.
Auf eine Tragil aber, die fein Leben des Helden forbert, verjtand man
ſich dereinft noch wenig. Noch heute verdient Hebbels tief gehende Würdigung
bes Hleiftichen Prinzen von Homburg, eines Werks, das in mandherlei Betradt
zu Recht mit Grillparzers Jüdin in Vergleich geftellt wird, nachdenklich gelejen
au werden. Hebbel weiſt hier nad), dab eine tragifche Katharſis auch ohne
Tod des Helden erreidht werden könne. In dieſe Tiefen der Tragik reicht
Grillparzers Jüdin nicht hinab, dazu ift des Königs Liebe zu Rahel zu jehr
Rauſch; des Prinzen offenes Grab iſt eine Thatſache von erjhütternder Wirt:
lichkeit. Auch erwacht das rettende Gefühl der Piliht bei Grillparzer nicht fo
unmittelbar aus dem ſittlichen Konflift wie bei Mleift. Dafür aber fehlt der
Kleiftichen Tragödie der Gedanke der Verpflidhtung aller für alle, zu dem fig
endlich) auch Rahels Schwefter, Ejther, befennt: „Wir ftehn gleich jenen in
der Sünder Reihe; VBerzeihn wir denn, damit uns Gott verzeihe!*
Kunftwart
Die Tiefen aber ber Berkettung menſchlicher Neigungen zu gemeinfamen
Verſchulden hat Grillparzer in der herrlichen, bemegten und klärenden Szene
zwifhen dem König und ber Königin im vierten Ufte berührt. &8 ift eine
jener Szenen, die rüdmwärts wie vorwärts das hellfte Licht verbreiten, bie die
zarteften Gegenfäße von Individuum und Geſchlecht mit Aberraſchendſter Wirkung
aufbeden und doch immer im Befonderen des Falles zugleich das Allgemeine
lebendig und anſchaulich werben laffen, eine Szene von fo intimem Reize der
Gegenwart, von folder Schlagkraft der pſychologiſchen Entwidlung, mie fie
Ibſen nur in den reifften feiner Werfe annähernd, wie fie noch fein moderner
Deutſcher je ganz erreicht hat. Auf eine ganze Reihe von Fragen, bie unferen
Modernen Stoff zu Dramen gegeben haben, fällt in dieſer einen Szene des
Meifters helles, klärendes Licht.
Wir geben fie in Folgendem wieder nad) der neuen Ausgabe von „Grill-
parzer8 Sämtlihen Werken“, die (in 40 Lieferungen zu je 40 Pfennigen) bei
Cotta in Stuttgart erfchienen ift. £eonh. £ier,
*
Der König kommt von ber linken Seite, hinter ihm jein Knappe.
König: Der Braune, fagit du, hinkt? Nun, e8 ging ſcharf,
Doch hab’ ich feiner fürder nit vonnöten.
Lak ihn am Zügel führen nad) Tolebo,
Dort ſtellt ihn Ruh als beſte Heilung her.
Ih felber will an meiner Gattin Seite
In ihrer Kutſche mich dem Volke zeigen,
Auf dab e8 glaubt, was e8 mit Augen fieht,
Daß abgethan der Zwiſt und die Zerwürfnis,
(Der Stnappe geht.)
Ich bin allein. Kommt niemand mir entgegen?
Nur fahle Wand und fchweigendes Gerät.
Hier haben fie vor kurzem, fcheint’8, getagt.
O, dieſe leeren Stühle ſprechen Tauter,
Als jene, die drauf ſaßen, e8 gethan,
Allein was fol das Grübeln und Betrachten,
Gut machen heißt's; damit denn fang’ id) an.
Hier geht’8 hinein zu meiner Fraun Gemädhern,
Betret’ ich denn ben unwilllommnen Weg.
(Er nähert fi der Seitenthüre rechts.)
Allein die Thür verfperrt? Holla, da drinnen,
Der König iſt's, der Herr in diefem Haus,
Für mid) gibt's hier fein Schloß und feine Thür,
Eine Kammerfrau tritt aus ber Thüre,
König: Verfperrt ihr euch?
Kammerfrau: Die KHön’gin, Majeftät —
(da der König mit jtarfem Schritte hineingehen will)
Die innere Thür aud) hat fie felbft verfchloffen.
König: Eindringen will id nicht. Sagt ihr denn an,
Ach fei zurüd und Laffe fie entbieten —
Vielmehr fagt: bitten, wie ich's jetzt gefagt.
(Die Kammerfrau geht.)
König (dem Throne gegenüberftehend): Du hoher Si, die andern
überragend,
2. sebruarheft 1899
_ Hu —
Gib, daß wir niedriger nicht fein als bu,
Auch ohne jene Stufen, die bu leihit,
Das Maß einhalten bes, was groß und gut.
Die Königin fommt.
König (ihr mit ausgejtredter Hand entgegen gehend): Lenore, fei gegrüßt
Königin: Seid uns willlommen!
König: Und nit die Hand?
Königin: Ich freu mich, Euch zu fehn.
König: Und nicht die Hand?
Königin (in Thränen ausbrehend): O Gott und Vater!
König: Lenore, diefe Hand tft nicht verpeitet.
Zieh’ ih in Krieg, wie ich denn ſoll und muß,
So wird fie Feindes Blut vollauf bededen,
Do klares Waſſer tilgt den Makel aus,
Und rein werd’ ich fie bringen zum Willkomm.
Das Waffer nun der körperlichen Dinge
Hat für die Seelen geiftigen Erſatz.
Du biſt als Ehriftin glaubensftart genug,
Der Reue znzutrauen ſolche Macht.
Wir andern, die auf Thätigkeit gejtellt,
Sind fo befheidnem Mittel nicht geneigt,
Da e8 bie Schuld nur wegnimmt, nicht den Schaden,
Ya, Halb nur Furcht ift eines neuen Fehls.
Wenn aber Behres wollen, freudiger Entſchluß
Für Gegenwart und für die Zukunft bürgt,
Sp nimm’s, wie ich e8 gebe, wahr und ganz.
Königin (beide Hände hinhaltend): O Gott, wie gern!
König: Nicht beide Händel
Die Rechte nur, obgleich bem Herzen ferner,
Gibt man zum Pfand von Bündnis und Vertrag,
Vielleicht um anzudeuten: nicht nur das Gefühl,
Das feinen Si im Herzen aufgefhlagen,
Auch der Berftand, des Menfchen ganzes Wollen
Muß Dauer geben dem, mag man verſprach;
Denn wechſelnd wie die Zeit it das Gefühl,
Mas man erwogen, bleibt in feiner Kraft.
Königin (die Rechte bietend): Auch das! Mein ganzes Selbit.
König: Die Hand, fie zittert. (Sie loslaſſend.)
Ih will dich nicht mißhandeln, gutes Weib.
Und glaube nicht, weil minder weich ich fpreche,
Ich minder darum meik, wie groß mein Fehl,
Und minder ich verehre deine Güte.
Königin: Verzeihn ift Leicht, begreifen ift viel ſchwerer.
Mie es nur möglich war! Ich fall’ es nid. |
König: Wir haben bis vor furz gelebt als Kinder.
Als ſolche Hat man einftens uns vermählt,
Und mir, wir lebten fort als fromme finder; |
Doch Finder wachſen, nehmen zu an Jahren,
Und jedes Stufenalter der Entwidlung,
Es fündet an fi dur ein Unbehagen,
Kunftwart
- 3
Wohl öfters eine Krankheit, die ung mahnt,
Wir fein diefelben und zugleich auch andre,
Und andres zieme fih im Nämlicdhen.
So iſt's mit unferm Innern aud beftellt,
Es dehnt fih aus, und einen mweilern Umkreis
Beſchreibt e8 um ben alten Mittelpunft.
Sold eine Krankheit Haben wir bejtanden;
Und fag’ ich: wir, fo mein’ ich, daß du ſelbſt
Nicht unzugänglich feift dem innern Wadstum.
Lab ums die Mahnung ftumpf nicht überhören!
Wir wollen fünftighin als Kön'ge leben,
Denn, Weib, wir ſind's. Uns nicht der Welt verfchlieken,
Noch allem, was dba groß in ihr und gut;
Und mie die Bienen, die mit ihrer Ladung
Des Abends heim in ihre Zelle kehren,
Bereihhert durch des Tages Vollgeminn,
Uns finden in dem Kreis ber Häuslichkeit,
Nun doppelt füß durch zeitliches Entbehren.
Königin: Wenn du's begehrft, ich ſelbſt vermifl’ es nicht.
König: Du wirſt's vermiffen dann in der Erinnrung,
Wenn du erft haft, woran man Werte mißt.
Nun aber laß Vergangnes uns vergeſſen!
Ich Liebe nicht, daß man auf neuer Bahn
Den Weg verfperre ſich durch dies und das,
Durch dag Gerümpel eines frühern Zuftands.
Ih ſpreche mid von meinen Sünden los,
Du felbit bedarfit e8 nicht in deiner Reinheit.
Königin: Richt fo! nicht fo! O, wüßteſt du, mein Gatte,
Was für Gedanken, ſchwarz und unbeilvoll,
Den Weg gefunden in mein banges Herz.
König: Wohl etwa Rachſucht gar? Nun, um fo beffer,
Du fühlit dann, daß Verzeihen Menſchenpflicht
Und niemand ſicher ift, auch nicht der Beſte.
Wir wollen uns nit rähen und nicht ftrafen;
Denn jene andre, glaub, ift ohne Schuld,
Wie's die Gemeinheit ift, die eitle Schwäche,
Die nur nicht widerſteht und fich ergibt.
Ih felber trage, id}, die ganze Schuld.
Königin: DO, la mid glauben, was mid Hält und tröftet.
Der Mauren Bolt und all, was ihnen ähnlich),
Geheime Künfte üben fie, verruchte,
Mit Bildern, Zeichen, Sprüchen, böſen Tränten,
Die in der Bruft des Menſchen Herz verkehren
Und feinen Willen maden unterthan.
König: Umgeben find wir rings von Zaubereien,
Allein wir,jelber find die Zauberer.
Was weit entfernt, bringt ein Gedanke nah,
Was wir verſchmäht, fcheint andrer Zeit ung hold,
Und in der Welt voll offenbarer Wunder
Sind wir das größte aller Wunder jelbft.
2. Februarheft 1899
— 13 —
Königin: Sie hat dein Bilb.
König: Sie foll e8 wieder geben;
Und beften will ich's fihtlih an bie Wand
Und drunter ſchreiben für die fpäten Entel:
Ein König, ber an ſich nicht gar jo ſchlimm,
Hat feines Amts und feiner Pflicht vergeflen.
Gott ſei gebanft, daß er ſich wieder fand.
Königin: Mllein du felber trägit an deinem Hals —
König: Ja fol ihr Bild? Ward bir das auch ſchon fund ?
(Er nimmt das Bild mit der fette vom Halfe und legt e8 auf
den Tiſch rechts im Vordergrunde.)
Sp leg’ ih e8 benn hin, und mög! e8 liegen,
Ein Blit, der nicht mehr fhäbli nad) dem Donner.
Das Mädchen aber felbit, fie fei entfernt!
Mag dann mit einem Dann fie ihres Voll —
(von vorn nad rüdwärts auf und nieder gehend, in Abſätzen
ftehen bleibend)
Ob das zwar nit. — Die Weiber diefes Stamms
Sind leiblidh, gut fogar. — Mllein die Männer
Dit ſchmutz'ger Hand und engem Wuderfinn,
Ein folder foll das Mädchen nicht berühren.
Um Ende bat fie Bellern angehört. —
Allein, was fümmert’8 uns? — Ob fo, ob fo,
Wie nah, wie fern! — Sie mögen felber forgen.
Königin: Dod wirſt bu ftark auch bleiben, Don Alfonſo?
König (ftehen bleibend): Sieh nur, du haft das Mädchen nicht gelannt.
Nimm alle Fehler diefer weiten Erbe,
Die Thorheit und die Eitelkeit, die Schwäche,
Die Lift, den Trog, Gefallfudt, ja, die Habjucht,
Vereine fie, fo haft bu dieſes Weib.
Und wenn, jtatt Sauber, rätfelhaft du's nennt,
Daß jemals fie gefiel, fo ftimm’ ich ein
Und fhämte mid, wär's nicht natürlich wieder.
(Geht auf und nieder.)
Königin: DO, nicht natürlich, glaube mir, mein Gatte.
König (ftehen bleibend): Ein Zauber endlich ift. Er Heißt Gemohnbeit,
Der anfangs nicht beitimmt, doch fpäter fejthält,
Von dem, was ftörend, widrig im Beginn,
Abftreift den Eindrud, der uns unmwilllommen,
Das Fortgefegte jteigert zum Bedürfnis.
Iſt's leiblich doch auch anders nicht beitellt.
Die Kette, die ich trug — und die nun liegt,
Auf immer abgethan — ſo Hals als Bruſt,
Sie haben an den Eindruck ſich gewöhnt,
(ſich ſchüttelnd)
Und fröſtelnd geht's mir durch die leeren Räume.
Ich will mir eine andre Kette wählen,
Der Körper ſcherzt nicht, wenn er warnend mahnt.
Und damit nun genug!
Doch daß ihr blutig
Kunftwart
— 354 —
Euch rächen wollte? an ber armen Thörin,
Das war nicht gut.
(Zum Tiſche tretend.)
Denn ſieh nur dieſe Augen —
Nun ja, die Augen — Körper, Hals und Wuchs,
Das bat Gott wahrlich meiſterhaft gefügt;
Sie ſelber madte ſpäter ſich zum Zerrbild.
Laß Gottes Werk in ihr uns denn verehren
Und nicht zeritören, was er weiſe ſchuf.
Königin: Berühr es nicht!
König: Schon wieber denn ber Unſinn!
Und wenn ich’8 nehme wirklich in die Hand,
(er hat das Bild auf die Hand gelegt)
Bin ich ein andrer drum? Schling’ ich die Fette
Aus Scherz, um bein zu fpotten, um den Hals,
(er thut's)
Das Bild, das dich erfchredt, im Buſen bergend,
Bin minder ic) Alfonfo, der es einfieht,
Daß er gefehlt, und ber den Fehl verdammt?
Drum ſei's des Unſinns endlich body genug.
(Er entfernt ſich vom Tiſche.)
Königin: Allein —
König (wild nad) ihr Hinblidend): Was iſt?
Königin: DO Gott im Himmel!
König: Erihrid nicht, gutes Weib. Doch fei vernünftig
Und wiederhole mir nicht ftetS basfelbe,
E83 mahnt zulegt mich an ben Unterſchied.
(Auf den Tiſch, dann auf die Bruft zeigend.)
Dort jenes Mädchen — zwar jeht ift fie hier —
War thöricht fie, fo gab fie ſich als ſolche
Und wollte Hug nit fein, noch fromm und fittig.
Das ift die Art der tugendhaften Weiber,
Daß ewig fie mit ihrer Tugend zahlen.
Bilt bu betrübt, fo tröften fie mit Tugend,
Und biſt du froh geitimmt, iſt's wieber Tugend,
Die dir zulegt die Heiterkeit benimmt,
Wohl gar bie Sünde zeigt als einz'ge Rettung.
Was man die Tugend nennt, find Tugenden,
Verſchieden, mannigfalt, nad Zeit und Lage,
Und nicht ein hohles Bild, das ohne Fehl,
Dod) eben drum aud wieder ohne Vorzug.
Ich will bie Fette nur vom Halfe legen,
Denn fie erinnert mich —
Und dann, Senore
Daß du mit den Bafallen did) verbünbet,
Das war nidt gut, war unklug, mwidrig.
Wenn du mir zürnft, bift du in deinem Recht;
Dod) diefe Männer, meine Unterthanen,
Was wollen fie? Bin ich ein Find, ein Knabe,
Der noch nicht fennt den Umkreis feiner Stellung?
2. februarheft 1399
— —
Des Neiches Gorge teilen fie mit mir,
Und gleiche Sorge, meik ich, iſt mir Pflicht.
Doch ich, Alfonſo, ich, der Menfh, ber Mann
In meinem Haus, in meinem Sein und Wefen,
Schuld' ich des Neiches Männern Rechenſchaft?
Nicht fol Und hört’ ich nichts als meinen Zorn,
Ich kehrte raſch zurüd, woher id) fam,
Nur um zu zeigen, daß nicht ihrem Urteil,
Nicht ihrer Billigung ich Unterthan.
(Nah vorn tretend und mit dem Fuße auf den Boden ftampfend,)
Und endlid) diefer Alte, Don Manrique,
Wenn er mir Bormund mar, ift er es no?
Don Manrique erjheint in ber Mittelthüre. Die Königin zeigt mit ge—
rungenen Händen a | ihrem Gatten. Manrique zieht ſich mit einer beruhigen-
en Bemwegung beider Hände zurüd,
König: Erfühnt er fih, dem König vorzuſchreiben,
Die hHausgebadnen Lehren feiner Weisheit?
Wohl gar zu heimlicher, verwegner That —?
(In der Quere der Bühne auf und nieder gehend.)
Ich will das unterfuchen, ich, als Richter,
Unb zeigt fi eine Spur nur von Vergehn,
Von frevelhafter Abficht oder That,
Se näher mir der Schuldige, ja nächſt,
Nur um fo höher büß’ er fein Erfühnen,
Nicht du, Lenore, nein, du biſt entichuldigt.
(Die Königin Hat fi während des Letzten leije durch die Seitentjüre entfernt.)
Wo ging fie Hin? So läßt man mid) allein?
Bin ich ber Thor in meinem eignen Haus?
(Er nähert ſich der Seitenthüre recht.)
Ih will zu ihr! — Die Thür verfchloffen?
(Die Thür mit einem Yußtritt fprengenb.)
Aufl
So nehm’ ih) mir im Sturm mein häuslich Glüd.
(Er geht hinein.)
“
—
*
— Rundschau.
* Um 8. Februar feierte Wilhelm
Jordan feinen adtzigiten Geburts-
tag. Daß er eins unferer vielfeitigiten
Talente und daneben eine Perfönlich-
feit von befonberer geiftiger Artung,
ein Dann mit felbjtändiger geichlotz
fener Weltanſchauung tft, darüber wird
man in ganz Deutfchland einig fein,
über die Bedeutung feiner einzelnen
Werke gehen aber die Meinungen fehr
auseinander.
Ich perſönlich ſchätze feine Lu ft=
fpiele am hödjten. Wer einmal
Kunftwart
; einer guten Aufführung von „Durchs
Ohr” ing inet 0 hat, mit Schaufpie=
lern, die fpreden fonnten und Laune
hatten, ber wird fi eingeftanden
haben, daß ihm ein Kunftgenuß ganz
eigener Art bereitet worden, mie ihn
die deutiche Literatur faum zum zwei—
ten Male ermöglidt. Er wird, wenn
er ein literarifch gebilbeter Zuſchauer
war, begriffen haben, was bie alten
griehifhen Dramatiker fo redefrob
machte, und mie bie Spanier ihr
Publitum in der Diantel- und Degen=
komödie hinzureißen vermodten, unb
- Mi —
weshalb Shafefpere Benedikt und Bea=
trice in „Viel Lärm um nidhts* und
noch mande andere Geſtalten ſchuf,
bie mit der Dialeltik umzugehen wiſſen.
Ja, ſprachliche Meiſterſchaft, die Freude,
das Inſtrument der Sprache vollſtän—
dig zu beherrſchen, die Fähigkeit, typiſche
Charaltere dialeltiſch zu entwickeln, den
Ktnoten theatraliſchen Situationsreiges
leicht zu ſchürzen und leicht aufzulöſen,
einen Vorgang des Lebens nicht durch
gewichtigen Ernſt oder ſorgfältig und
breit behandeltes Milieu, ſondern durch
Laune und poetiſche Grundſtimmung
u heben, ja, das alles ſind äußerſt
ann 2 Dinge Und Wilhelm
Jordan hat fie jo deutſch gemacht, wie
es nur irgend möglich war. Alle, die
es nad) ihm verfudjten, wie etwa Lud—
wig Fulda, jind weit hinter ihm zurück—
geblieben. Die große deutſche Charafter=
fomddie, die wir erfehnen, hat Wilhelm
Jordan zwar nit gejchaffen, aber er
ift der vorzüglidhite Vertreter des
deutfhen romantischen Zuftfpiels, und
die Leute, die jet den Franzoſen
Roftand auf den Schild erheben, follten
fih entfinnen, daß Jordan lange vor
ihm ähnliches geleijtet hat.
Uber als Jordans Hauptwerk wird
in der Regel feine „Nibelunge“ hin—
geftellt. Ich leugne die nationale Be-
deutung dieſer Bearbeitung unferer
mädtigften Sagenmwelt nidjt, aber ich
finde in ihr ſchon die Schwächen des
fpäteren archäologiſchen Romans der
Dahn und Genojjen, und daneben ein
Vorwalten der Reflerion oder dod) der
Reflerionsftimmung über das Anſchau—
lihe. Das tritt noch mehr in andern
Werfen Jordans hervor, in feinem
„Demiurgos* und in feinen beiden
Romanen „Die Sebalds“ und „Zwei
Wegen’, — bier jedoch ift e8 mehr
am Plage. Man verurteilt ja in der
Regel die Reflexionspoeſie unbefehen,
aber fie hat ihr Recht, wenn fie wirk—
li eine volle Berfönlichkeit offenbart,
und das thut die Wilhelm Jordans.
Sie zu genießen, ijt natürlich nicht
jedermanns Sade, Iehnt man in dem
—— des ſo ſtark reflektierenden
ymbolismus Wilhelm Jordan wegen
feiner Reflerionspoefie ab, jo erlauben
wir uns aber, das nicht fehr ernst zu
nehmen. Jordan hat fich allerdings durch
allerlei geharnijchte Angriffe auf die
Yüngiten diefen nicht gerade angenehm
gemadt. Wir freuen uns aber, daß
der alte Herr noch da iſt, und haben
die fejte Ueberzeugung, dab es jehr,
fehr vielen unjerer jüngeren Berühmt—
- 37
heiten ſchwer fallen wird, einen foldhen
Charakterkopf“ zu entwideln, wie er
ihn ungmeifelhaft zwiſchen den Schul=
tern trägt. Adolf Bartels.
"Wie beridtigt wird,
Herr ©. Hölfcher fendet uns eine
„Berichtigung“ in Sachen unſres Rund-
Ichaubeitrags im fiebenten Hefte: „Gottes
fried Seller, der ſchriftſtellernde Dilet-
tant.“
„\. Es iſt unwahr, daß ich be—
hauptet hätte, Blumenthal, Suber«
mann, Fulda, Jul. Wolff, Ambrofius,
Ebers und Editein feien als Schrift-
fteller bedeutender als Hebbel, Hola,
Schlaf, Martin Greif, Klaus Groth,
Sottfr. Heller und Wtöride. Aus dem
Wortlaut (nad) dem übrigens Blumen=
thal ausgeſchloſſen war) geht vielmehr
für jeden, der richtig lefen will,
unzweifelhaft hervor, daß id Ihre
Beilpiele von »wertlofer Literature
für verfehlt halte.“
Wir wollen Herrn Hölfcher auf das
meitelt mögliche entgegentommen, in—
dem wir den ganzen Paſſus aus feiner
Urbeit abdruden:
„Rad; Avenarius wird ein Genie
heute nur anerfannt, wenn es feinen
70. Geburtstag feiern fann, oder wenn
e8 »durch vorfidhtige Eltern und
Battinnenmwahl oder durch menſchliche
Ellbogentraft frühzeitig mit zu der
Krippe gelangt, in die das Urheber—
recht aus feinem Füllhorn den Blumen—
thalen vorjchüttet.«e Dann werden
Sudermann ımd Fulda mit Hola und
Sclafverglidhen; die einen »verdienen«,
die anderen »hungern« ; Onfel Julius
Wolff und Tante Ambrofius jcheren
ihre Schäfchen, Martin Greif und Klaus
Groth Haben auf Menfhen gerechnet
und alfo nichts zu fcheren, Eber$ und
Editein »gehen« gut, Gottfried Keller
und Mörile »gingen« ſchlecht. Wenn
Avenarius, wie es ſcheint,
durch feine Gegenüberſtellungen
ſagen will, daß die wertloſe
Literatur gekauft wird, wäh—
rend das, was er für Gold an—
ſieht, unberückſichtigt bleibe,
ſo wird jeder Vorurteilsfreie
dieſe Beiſpiele für durchaus
verfehlt halten.“
Daraus haben wir Schlüſſe ge—
zogen. Ob ſie falſch waren, kann man
nachprüfen.
„2. Es iſt unwahr, daß id
Gottfr. Keller einen »ſchriftſtellernden
Dilettanten« genannt habe. Mit aus—
drüdlihem Ausſchluß feiner übrigen
Werte habe ich nur gejagt, daß id)
2. febrnarheft 1899
einen Roman »Martin Salander« für
ilettantenhaft halte.“ .
Die Worte „mit ausbrüdlihem
Ausſchluß“ wird man würdigen, wenn
man: den Grund bes „ausdrüdlichen
Ausſchluſſes“ kennt. Herr Hölfcher hat
nämlih moörtlih geichrieben: „Ich
babe von Heller nur Martin Salander
gelefen und muß geitehen, daß
mir etwaß Dilettantenhafteres
nicht oft begegnet ijt. Mit dem
einen Werfe Hatte ih gerade
enug von biefem Schriftiteller, der
o plötzlich al8 Genie entdedt worden
it.” Trotzdem hält alfo Herr Hölfcher
Gottfried Steller nicht etwa für einen
ſchriftſtellernden Dilettanten. „Bes
hauptet“ hatten wir zwar nicht, daß er's
thäte, aber allerdings angenommen, da
man aud) dem Gegner bis zum Bemeife
bes Gegenteils einige Logik zutrauen
fol. Jetzt müffen wir Hölfcher wohl
fo verftehn: „Gottfried Keller, der früher
ein Poet geweſen, fing auf feine alten
Tage das BDilettieren in Boefie an.”
Das war dann nit Shön von Steller,
da aber Höliher die Sache durch—
fchaute und Kellern troß feines di—
lettantifden „Salanber“ für feinen
Dilettanten hielt, jo veritehen mir
nit ganz, warum er „mit dem
einen Werke gerade genug“ von ihm
hatte. Und mir veritehen’s jegt
wirklich erjt recht nicht, jet, wo mir
durch Die „Berichtigung“ willen, daß
Hölſcher die andern Werke (die er doch
nicht fennt und nit kennen lernen
mag) ausdrücklich von feinem ges
firengen Urteil über den „Salanber“
ausſchließt.
So alſo wird „berichtigt“.
Herr Hölſcher glaube uns: will
man öffentlich über Literatur ſchreiben,
ſo iſt's immerhin gut, wenn man ſich
mit den Dingen, über die man ſchrei—
ben will, vorher beſchäftigt. Wer von
dem Bon nachgoethiſchen Profaifer
fein einziges Hauptwerk und wer den
größten nadgoethijhen Lyriker fo
wenig fennt, daß er nicht einmal weiß,
mie ſich Mörike fchreibt, dem darf fein
billig Denfender zürnen, wenn er feine
Sraft dem undankbaren Umte des
öffentlichen Belehrens über Literarifche
Dinge entzieht.
Unfere Leſer aber bitten wir, zu
entichuldigen, daß wir fie mit dieſen
KHleinlichkeiten beläftigen. Selbſtver—
ftändlich ginge den Kunſtwart Hölfcher-
{che Literaturkritif nicht das mindeite
an, wäre nicht die feitzunagelnde Thate
ſache die: mit folder Sadfenntnis,
Kunftwart
mit ſolchem Beritändnis und auf ſolche
MWeife darf bei uns zu dem geſchäft—
lihen Vermittler zwiſchen deutſchem
Schrifttum und deutfhem Volke über
einen Meifter unfrer Boefie geſprochen
werben, auf ſolche Weife zum deutfchen
Buchhandel über einen Gottfried Heller.
Theater.
*Von den Berliner Bühnen.
E8 gibt wohl wenige Fritifer, bie
den Dichter Mar reger fo hoch
Ihägen, wie ber Schreiber dieſer Zeilen.
In feinen Romanen lebt für mid) der
Zug ins Große, ben wir in den Tagen
der artiftifchen Feinheit und Kleinheit
fo ſchmerzlich vermifien, wie man etwa
den Wald und das falzige Meer ver—
miffen mag, wenn man fid) lange mit
Ballblumen und ſchwüler Zanzluft
begnügen mußte. In fein neues Schau—
fpiel aber hat Kretzer weder Wald und
unendlihes Weer, noch Größe und
Tiefe binübergerettet. Es ift trivial
geworden, einem Romandichter bei
einem Drama feine Romankunſt vor=
aumerjen, e8 fann aber troßdem mits
unter richtig fein, und in unferm be=
fondern Fall ift es richtig. Der „Sohn
ber Frau“ ift fein Schauspiel, ift über»
haupt fein Drama, fondern eine Ro—
manhandlung, die in geihidte und
mitunter jogar in poetiſche Szenen
gebradt iſt. E8 handelt ih um eine
Frau, bie vor ihrer Ehe mit einem
wohlhabenden Witwer einen Fehltritt
begangen bat. Den Fehltritt hat fie
ihrem Gatten geitanden, nicht aber,
bab der Fehltritt einem Sohne das
Beben gegeben hat. Diejen Sohn nun
läßt fie heimlich erziehen, und als er
zu einem tugendhaften Jüngling etwas
veralteten Stils herangereift ift, bringt
fie ihn ungelannt in das Haus ihres
Mannes, wo er bald eine Stüße des
Geichäfts wird. Die beiden lüderlichen
Söhne aus erjter Ehe befehden den
moralifchen Eindringling, aber fchließ-
lich fiegt die Tugend (und was für
eine Tugend!) des Sohnes; die Mutter
geiteht, die Verföhnung erfolgt und
die lüderlihen Söhne werden in eine
andere Firma abgeſchoben, allwo jie
ſich in doppelter Buchführung und in
Tugend ſchnöde üben müffen. Das ijt
— mit Verlaub Kretzers oder meinet=
wegen auch ohne Verlaub — feine
Handlung für ein Drama. Man könnte
das Scidjal der geheimnisbedrüdten
frau oder dasjenige des verleugneten
Sohnes oder endlid) dasjenige des
hintergangenen Gatten in den Dtittel-
puntt rüden und hätte dann alles aus
dem Charakter des Helden (man ver—
zeihe das altmodifche Wort, das äſthe—
tiih die Sache trifft) glaubhaft zu
maden. Bei Streger aber ftehen alle
Berfonen gleich jehr im Vordergrund,
und was allein aus den aufgeitellten
Menfhen eine Kompofition maden
tönnte, der breite, madıtvoll gemalte
Hintergrund des Romans nämlid —
das eben fehlt und muß auf ber
Bühne fehlen. Was im grellen Licht
der Lampen übrig bleibt, ijt eine Kom—
bination, feine dramatiſche Handlung;
eine Kombination, die vielleiht im
Beben eintrifft, vielleiht aud nicht,
die aber in beiden Fällen den Zuſchauer
gleich) falt läßt. Wenn wir nod) hinzu=
fügen, daß „Der Sohn der Frau* im
„Keuen Theater“ gut gegeben wurde,
glauben wir unfrer kritifhen Pflicht
genügt zu haben.
Menden wir uns zu Fulda und
Dreyer. Mit ihnen dürfen wir fürs
zer umgehen. Beide haben mit zu—
fammen vier Ginattern einen bunt=
Ihedigen Abend im „Leifingtheater“
bejtritten. Dreyer fcheint ſich in den
Regionen, in denen ſeine Großmama“
fpielt, Teider wohl zu fühlen. Wenig:
ftens hat er jie mit feinen neuejten
Einaftern nicht verlaffen, jo daß Fulda
ihm mit der einleitenden Sleinigfeit
„Die Zeche“ den Rang ablaufen konnte.
Fulda zeigt fi) in diefem Alt viel
beſſer als in feinem dürftig gufammen«
geleimten „Heroitrat*. Ein alter Lebe—
mann trifft mit feiner fchnöde verlafjes
nen AJutgendgeliebten zufammen und
möchte fie heiraten, um der falten Ein=
famtkeit zu entgehen. Sie mill aber
nicht, und er zahlt mit einem freud-
Iofen Dafein „die Zeche”. Fulda ift
in foldhen Stleinigfeiten mitunter (nur
mitunter) tüdhtig, was jehr gut zu
dem Umſtande jtimmt, daß er bei
großen Stoffen traurigen Schiffbrud)
au leiden pflegt. Den Inhalt der
übrigen Einafter erzählen wir nicht;
er würde nit einmal für ein gutes
Epigramm der Jugend ausreichen und
müßte fih mithin in unferer armen
Proſa volllommen ins Wefenlofe vers
flühtigen. Am ſchlimmſten ift Die
Situation für das „Rejjingtheater*.
Es fommt aus der Jagd nad) neuen
Stüden nicht heraus, und das iſt —
um der guten fünjtlerifchen Mittel
willen — zu bedauern.
Erich Sclaifjer.
Ernjt von Wildenbrud hat
fein neues Stüd zurüdgezogen, um e8
umzuarbeiten — unter ſolchen Um—
ftänden halten wir uns nicht für be=
rechtigt, e8 jetzt ſchon zu beſprechen.
Muſik.
*Vom ‚Bärenhäuter“.
Iſt das ein Ktrawall in der ſoge—
nannten Mufilwelt, weil Siegfried
Wagners erjter dramatifcher Ver—
fuh in Münden vor einer größten=
teils „gutgefinnten“, in Leipzig vor
einer „unpartetifchen* Hörerfchaft einen
unbejtreitbaren Erfolg errungen Hat!
Unter normalen Berhältniffen müßten
wir uns damit begnügen, über dieſe Erſt—
ling8oper mit ein paar Zeilen au be—
rihten. Nun will man aber in dem
inzwijchen heftig entbrannten Streite
um den „Bärenhäuter* ein beftimmtes,
objeftives Urteil von uns, und wenn
die Wahrheit in ſolchen Fällen gewöhn—
lich in der Mitte Liegt, darf man doch
nit einfad) das geometriſche Mittel
zwiſchen den vorhandenen Extremen
ziehen. Die „Extreme“ find diesmal
fehr „ertrem*. Es ijt nicht ſachlich
und nicht geredjt, ein Erſtlingswerk
zu behandeln, als gäbe es fchon, was
es vielleicht verheißt, aber es ijt
auch nicht ſachlich und gerecht, in all
feine Falten hinein nad) „neuen Bah—
nen“, „Ziefen der Gmpfindung“,
„Ihöpferiichem Zdeenreichtum* u. f. w.
zu leuchten, und ſich adhfelzudend ab—
aumenden, wenn man bdieje fchönen
Dinge nit findet. Willen wir bod)
aus der Muſikgeſchichte, daß die Ans
fangsmwerte felbft der größten Genies
davon nur ganz ausnahmsweiſe etwas
zeigen. Bon Siegfried Wagner ver-
langte man 3. B. einen neuen einheit-
lichen Stil für die Volksoper, obgleid)
ihre größten Meiiter bekanntlich feinen
gefunden haben.
Man kann aud als Objeltiver cin
neues Werk ſehr verfchieden beurteilen,
je nachdem man's an den je erreichten
höchſten Werten der Gatiung
oder an den Wrbeiten der zeitge:
nöffifhen Produktion mißt.
Rüdt man ben „Bärenhäuter” neben
die Monumentalmwerfe Wagners des
Großen, fo ericheint er al8ein Schatten
unter den Opern der Gegenwart iit
er eine immerhin recht beträdtlid)e
Leiſtung. Zunächſt ſei feitgeftellt, daß
das Textbuch unbeſchadet mancher
flüchtigen Motivierung und mancher
anfechtbarer Verſe zu dem Beſten zählt,
was auf dieſem Gebiete ſeit Jahr—
2. Februarheft 1899
zehnten gefchrieben if. Mit welcher
Sicherheit des Bühnenblids fann dieſer
junge Wagner, der erjt feit wenigen
Jahren die redenden Künſte betreibt,
einen Stoff einfah und überſichtlich
— Die erfahrenen Librettiſten
er gepriefenften neueren Tondramen
haben das wirklich kaum fo zuftande
gebradt. Man vergleihe, melden
dramatiſchen Wechjelbalg ein fogufagen
„gelernter Dichter“, H. Wette, auß dem—
felben Stoffe gemadyt hat. Siegfried
Magner it ber geborene Szeniter,
nit nur mwegen der äußerlich wirk—
famen Bilder, die fein Märchenfpiel
entrollt, fondern vor allem infolge
der innerlich bewegenden, plaſtiſch—
ausdrudsvollen Situationen und Vor—
gänge, die er in feinen Stoff hinein—
ober aus ihm herausgejehen hat. Wie
er eine Szene vorbereitet, anlegt, ex—
poniert, jteigert, wie er fie im einzelnen
belebt und in Fluß erhält, das ift für
ein ErftlingSwerf einfach bewunderns-
würdig. Darüber käme man mit einer
beiläufigen Unerfennung des jjenifchen
„Beihids* nicht Hinweg, da dieſes
„Geſchick“ als angebornes Talent in
Deutjchland zu den größten Selten=
"heiten gehört. Und für die Bebensfähig-
feit eines Bühnenmerfes gibt es den
Ausſchlag. Ich befenne, daß ich nad) einer
raſchen Durchſicht des Klavierauszugs
mit ziemlich geringen Erwartungen
nach München gefahren bin und von
dem Eindruck der lebendigen Auffüh—
rung auf's höchſte überraſcht ward.
Grenzt das dramatiſche Vermögen
Siegfried Wagners bereits an Meiſter⸗
ſchaft, ſo liegt das muſikaliſche
noch im Keimen. Allerdings, wo die
Muſik nichts anderes will, als die
Szene unterſtützen, eine Pointe heraus—
heben, eine Geberde rhythmiſieren,
da löſt ſie zunächſt ihre Aufgabe. Der
Komponiſt hat ſich aus dem dritten
Teil des Nibelungenſtils für den
Dialog einen realiſtiſch-dramatiſchen
Dellamationsitil abgezogen und er
verzichtet auf die üÜberreiche Polyphonie
der Begleitung. Das trefflich in—
ftrumentierte Orcheſter ſchmiegt ich,
ohne die Singftimmen zu deden, dem
ſzeniſchen Verlauf auf das feinfühligite
an. Dort aber, mo der abjolute Muſiker
das Wort ergreifen foll, vermag er
den Gefühlsgehalt der Situation in
der Erfindung oft nicht zu erfchöpfen, er=
freut aud) ſelbſt, wo die melodijche Straft
nicht ausreicht, der dramatifche Inſtinkt,
die Richtigkeit der Antentionen.
Die Szene wächſt auf, wie eine wohl—
Kunitwart
gebildete Pflanze; Stengel und Blätter
ihießen hervor, und man meint, jegt
müfle — wie beim Bater — Die rege
fünjtlerifche Triebkraft in eine farben=
rächtige, beraufhende Melodienblüte
ch ergießen. Statt deſſen bricht oft
nur ein zarter, blaffer, ſchmächtiger
Blumenjtern auf. Unbildlich gefprochen:
den Motiven fehlt oft die fchlagende
Prägnanz im höchſten Sinn, oder mo
die melodifche Linie charakteriſtiſch ift,
wünſchte man eine tiefere harmoniſche
Beripeftive. „Jmpotenz!*, rufen ſchnell⸗
fertig die Gegner, die Freunde dürften
entgegnen können, daß Siegfried eben
das Gemwühl innerer Stämpfe nod
fremd geblieben iſt, die den Vater zum
ehernen Mann geichmiedet und ihm
die ergreifenditen Seelenlaute erpreßt
haben, daß er die größere Welt der
Empfindungen nur erjt auß der Phan—
tafie, nicht aus eigenem erfhütternden
Erlebnis kennt. Wollte man die Ent
mwidelung des Vaters als Analogon
heranziehen, ſo ſpräche ſie dafür, daß
Siegfried als Melodiker wachſen
wird, denn auch beim Vater war das
dramatiſche Genie das primäre, am
di fertige, wogegen das muſikali—
che einen langen Werdegang in mächti—
ger Steigerung erfuhr. Dürfen wir
ruhig jagen: mit den „Feen“ kann's
der „Bärenhäuter* ſchon aufnehmen,
fothun wir’s freilich nur, um zu zeigen,
dab Vergleiche zwischen Vater und Sohn
fogar zu Gunjten des Sohnes gemadt
werden fünnten — es wäre lächerlich,
daraus den Schluß zu ziehen, Siegfried
wäre ein zweiter Richard oder wo—
möglich mehr, e8 ift aber auch falſch,
aus anderen Bergleidhen zu folgern,
mweil er fleiner als der Große ift, fei
er nun gar nichts. An Trivialitäten
fehlt e8 im „Bärenhäuter“ nicht. Sie
find nicht angenehm, aber fie find bei
einem jungen Mufiter natürlicher,
als bombaitifches Großthun und
Affeltation von Tieffinn. Das ift
überhaupt das Erfreuliche, Gefunde,
zu weiterem Hoffen Berehtigende, daß
Siegfried Mufil das Abbild, ber
„Ausdrud* feiner Berfünlichkeit tft, ein
noch gährendes Gemiſch heterogener
Eigenſchaften, das ihn vorläufig noch
nicht befägigt, einheitlich zu „Itilifieren“.
In der „Boltsoper“, die er für ſich
rellamiert, braucht es deifen ja zum
Glück auch nit. Für die Aufführungen
thäte eine recht fräftige Kürzung gut
— es ijt grundfalſch, wenn man fi
da dem Sohn Richards gegenüber vor
energifhen Ratſchlägen jcheut.
— 350 —
Das Bruchſtück, das mir unfern
Refern in der Beilage mitteilen, dürfte
das eben Gefagte beitätigen. Niemand
wird behaupten, e8 ſei als abfolute
Mufit „überwältigend* im Ausdruck,
aber jeder, der e8 von ber Szene her
fennt oder ſoviel Phantafie Hat, um
fih die Szene lebendig vorzuftellen,
wird zugeben, daß e8 eine une
gemöhnlihe Wirkung erreiht. Es
ift ſozuſagen „geihaute* Muſik, alfo
berfelben Art, mie jene Richard
Wagners und aller echten Tondramas
titer, derjelben Art, für die felbft den
bebeutenditen Iebenden Stomponiften
der Sinn fo nänzlidy zu fehlen ſcheint.
Mein Urteil geht alfo dahin, daß der
„Bärenhäuter* zwar durdaus fein
abjolutes Meiſterwerk ijt, aber eine
der beften und mirffamften fpezifiich
mufitdramatifhen Erſcheinungen
nch Wagner dem Ulten. Und wenn
uns Siegfried fünftig auch nicht8 andres
ſchafft, als eine Reihe wirklich aufs
führbarer Vollsopern, jo find wir's
gern zufrieden, denn die thun Not ges
trade in unferer Zeit.
Einftmweilen geht das Werk mit
großem Beifall über alle Bühnen. Da
fragt wohl felbft der Neidloſe beforgt,
ob nidjt die bequeme Sicherheit des
Erfolges auch die beitangelegte
Natur ungünftig beeinfluffen, fie in
ihrem Streben, in ihrer geiftigen
Spannkraft erihlaffen machen muß.
Fügt es ein guter Genius, daß der
Glanz, der den Sohn feines Vaters
umgibt, ihn erleuchtet und nicht ver=
blendet, fo bedeutet dies das größte
Meifteritüd des oft bewährten Glüdes
von Wahnfried. 8.8,
* Berliner Mufil. (Fortf.)
Von den Quartett=Bereinigungen
wäre wohl diefes Mal das Halir=
Quartett befonders hervorzuheben, das
in feinen fonntägliden Rammermuſik—
Matineen die Werfe zmeier meltbe=
rühmten Dirigenten, BWeingartners und
Mottls, dem Bublilum vorführte.
Weingartners Quartett ijt opus 24
und geht aus D-moll, Wer dba vermutet
hatte, etwas „Hochmodernes“, bigarrite
Rhythmen, raffiniertefte Klangeffekte zu
hören, der fonnte arg enttäufcht nad)
Haufe gehen. Nichts von alledem war
zu hören; Weingartner wandelt viel-
mebr auf der ficheren Bahn Beethovens,
er bat fidh den vornehmen Quartett=
ftil, der allem „Modernen” durchaus
feindlich tt, in hervorragender Weife
zu eigen gemacht. Jedes Inftrument
iſt genau nad) feiner Charakteriſtik be=
351
handelt, nirgends werden unnatürliche,
„intereffante* Anforderungen geitellt,
und fo bemegt fich alles in ruhigem
Geleife fort. Die Themen find nicht
geſucht, fondern natürlich und dabei tief
empfunden, ihre Verarbeitung ift fehr
Mar. Um beiten gefiel mir das Adagio
mit feiner weit ausladenden, edlen
Kantilene, die alöbald in einen äußerſt
temperamentvollen Zwiſchenſatz über—
geht; von ganz reizendem, pikantem
Humor ift der dritte Sat, der gerabes
zu herrlich geipielt murde; das Wert
ſchließt mit einer ziemlich freien Fuge.
In ſcharfem Gegenfate zu Weingartners
Merk iteht das Fis-moll-Quartett des
Karlsruher Dirigenten. Es entbehrt
jener ruhigen Stlarheit, die dem Wein—
gartnerfchen Werk fo gut anſteht, und iſt
äußerit vermwidelt geſchrieben; Mottl
möchte mit feinem leidenſchaftlichen Em-
pfinden über die natürlichen Grenzen des
Quartetts herausgeben; es finden fi)
in feinem Werfe Stellen, die durchaus
modern orchefterhaft empfunden find,
Zonfolgen, wie fte bis jegt noch nicht
im Kammermuſikſtil gehört wurden;
nebenher trifft man dann auf Stellen,
die geradezu unvornehm klingen. Ein
rechtes Urteil über ein folch neuartiges,
ſchwer verjtändliches Werk abzugeben,
ift nicht leicht; wenn der Applaus
maßgebend wäre, jo müßte e8 eine
fehr dankbar zu begrühende Bereiches
rung der Quartettliteratur fein. Nach
dem hochmodernen Mottlihen Wert
wirkte das altfränfifche E-dur-Quartett
von Dittersdorf beinahe komiſch in
feiner Einfalt und Beſcheidenheit.
Herr Frig Steinbad hat aud in
dieſem Jahre wieder einige Konzerte
in der Philharmonie veranftaltet. Wir
wollen ihm dankbar fein dafür, da
er fo manches alte, gar nicht oder jels
ten gehörte Werft uns vorführte; Die
befannten Sachen braucht er aber doch
wahrhaftig nicht in Berlin wiederzu—
geben; welchen Zwed hat e8 3. 8., in
einem ſolchen Konzert das Vorſpiel zu
ben Mieilterfingern zu fpielen? Neben-
bei war die Auffaſſung eine derartig
freie, fprunghafte und geſuchte, daß
der Beifall ſchwer zu verſtehen ift.
Sehr intereffant war das Klarinetten—
fonzert von Weber, in dem Mühlfeld
feine unbeitrittene Meifterjchaft zeigen.
fonnte. Das Bachſche D-moll-Konzert
für zwei Violinen und Mozarts ons
zert für Violine und Bratiche dürfte
wohl jedem einen fehr großen Genuß
bereitet haben, insbefondere da Joachim
und Eldering bezw. Wirth es wundervoll
2. februarheft 1899
vortrugen. Ganz eigenartig nahm fi
Bachs Gambenkonzert aus, ein Wert,
das für 8 Gamben und 24 Bratſchen
eichrieben ift; der lang iſt völlig
fremb; „Ihön* kann man nicht gut
agen; aber ſchon wegen feiner Selt—
famfeit war das Stonzert wohl wert,
«ınmal aufgeführt zu werden. Leider
mußte das in Ausfiht genommene
zweite Brandenburgifche Konzert von
Bad) wegen Krankheit des erſten Trom—
peter8 abgejegt merden. Mozarts
„Kongertantes Quartett für Oboe, Horn,
Fagott und Stlarinette* war mir aud
neu. Wenn der rein fünftlerifche Ge—
nuß bei diefen älteren Saden aud)
nit gar fo groß ilt, jo Hört man der—
artige Werke doch mit einem um fo
größeren hiſtoriſchen Intereſſe an und
freut ſich aufridhtig, ihre Bekanntſchaft
zu maden. Solange Herr Steinbad)
derartige „Neuheiten“ bringt, wird er
immereingern gejehener Gaſt jein;dann
haben feine Konzerte aud) für Berlin
eine fünjtleriiche Berechtigung, indem
fie ein Gebiet erjchließen, in das Die
anderen Dirigenten unferer großen
Konzerte nicht einzudringen pflegen.
Herr Steinbad) follte lediglich die alte
Mufil pflegen, die neuere aber unferen
heimiſchen Dirigenten Strauß, Wein—
gartner, Wud und Nikiſch überlajfen.
Sein Orcheſter hat Steinbad) vorzüg-
lich geihult. Ich habe felten fo rhyth—
miſch ſcharf, fo „militäriih ſtramm“
ſpielen hören und ſehen, wie es die
Meininger thun. Auf die allergenaueſte
Beobachtung des Rhythmus legt der
Dirigent den — das Knochen⸗
gerüſt des Kunſtwerkes iſt ihm die
Hauptſache; der Satz feines großen
Vorgängers Bülom „im Anfang war
der Rhythmus“ ijt ihm der allererite
Glaubensjag; daher gelingen ihm die
älteren Werfe, bei denen e8 doch viel
mehr auf genauen Rhythmus und
flare Gliederung ankommt als mie
auf Dynamit, Schattierung und indis
viduelle Auffaſſung, weit bejler als bie
in ihrer Idee, ihren Slangfarben und
ihrer mehr ing Belieben geitellten Auf—
fajjung ſchwierigen nad) = mozartfcdjeh
Tonftüde. Nebenbei gefagt: Stein=
bad) hat fo vortrefflihe Bläfer, daß
wir ihm raten mödjten, einmal in ber
Literatur für Blasinjtrumente herum
auftöbern und dann nächſtes Jahr auch
von diefem in Berlin vernadyläjfigten
Kunſtzweig einige Blüten mitzubringen.
Eine künſtleriſche Miffton kann Herr
Steinbad in Berlin fehr gut erfüllen,
ohne den anderen Dirigenten irgends '
Kunftwart
|
|
in ihre Programme hereinzrgeraten.
Weg, den er diefes Jahr mit Bad
mw. beſchritten hat, ijt der ee
(GFortſ. f. A. Biſchoff.
Bildende Kunſt.
wie
Der
u. |.
* Zur Volkstrachten-Bewegung.
Mehrfah haben wir im vorigen
Jahre über Volkstrachten geichrieben,
insbefondere die Beftrebungen zu deren
Erhaltung und ihre Anſichten erörtert.
Heute liegt uns ein Prachtwerk eriten
Ranges aus dieſem Gebiete vor, das
aus ber Schweiz hervorgegangen ijt.
Am ı4. März 1896 veranitaltete eine
Büricher literarifche Vereinigung, ber
fogenannte „RefezirkelHottingen*, in ber
Neuen Tonhalle dafelbit ein Trachten—
feft, welches aufs prädtigite gelang.
Sämtliche Teilnehmer waren bejtrebt,
möglid in echten Kojtümen au er=
fcheinen. Die beſte Gejellihaft war
vertreten, nie vorher hat Zürich eine
ſolche Fülle von echten Trachten vereint
gejehen. Alles, was die alten Familien
an ſolchen Schägen befaßen, war be=
reitwillig zur Verfügung gejtellt wor—
en.
Im Anſchluß an dieſes Tradten-
feit, dem im Juni 1898 zur Eröffnung
des Schweizerifhen Landesmuſeums
ein Trachtenfeftzug folgte, iſt das Wert *
entitanden, das uns jeßt vollendet vor»
liegt. E83 enthält 36 große farbige
Blätter, die nad) Photographieen her—
geftellt und auf photomechaniſchem
Wege in Farben ausgeführt wurden.
Das Wert Hat — wie
nad) der Seite der künſtleriſchen Wieder—
gabe einen gleih Hohen Wert. E83
haben nur ſolche Tradten als Vor—
bilder gedient, die wirklich getragen
morden find oder nod) geiragen wer—
den. Die Bilder find unter Wahrung
bes harmonifchen Gefamteindruds bis
in die fleinjten Einzelheiten mit einer
Schärfe und Klarheit ausgeführt, daß
man darnad) fofort die gefamte Tracht
ausführen Iafjen könnte: wir haben
auf diefem ®ebiete noch nichts fo Voll»
endetes gefehen. Die Herausgeberin
Frau Julie Heierli gilt übrigens als
die gründlichſte wenn nidht bie einzige
Kennerin des ſchweizeriſchen Trachten
* Die Schweizer Traditen vom ı7. ”
bis ı9. Jahrhundert, nad) Originalen
bergejtellt unter Leitung von Frau
Julie Heierli. Verlag des Bolygraphi=-
ſchen Instituts (W.-G.) Zürich. 36 Tas
feln 42:55 cm, Preis yo Franfen.
weſens. Und fie hat es fich nicht ver—
drießen lafjen, felbit auf die Wanbe-
rung zu gehen und auch auß den ent—
Iegenften Thälern der Schmeiz bie not»
mwenbigen Trachten zu beſchaffen.
Mit lebhaftem Bedauern lieſt man
im Texte, ber jedes ber 36 Blätter be—
gleitet, daß die meijten diefer Trachten
entweder ſchon ausgeitorben oder doch
dem Untergange gemidbmet find. Ueber
biefen Borgang hören mir manches
Rehrreiche, wenn aud) nicht gerade viel
Tröftliches. Bon planmäßigen und
erfolgreihen Beitrebungen zur Erhal—
tung ber Tradten, mie in Freiburg
4. Br., iſt leider nicht die Rede, obwohl
e8 in der Schweiz gewiß manden
„wurmt“, Zeuge fein zu müfjen, mie
die alten guten Gewohnheiten dahin—
ſchwinden. Intereſſant find vielleicht
folgende Beobadjtungen, die wir aus
dem Texte aufammentragen. Nirgends
in der Schweiz gibt e8 eine fantonale
Tracht; fait immer find e8 die Thal—
ſchaften, die ihre fpezifiihen Tradten
aufmeifen. So Hat e8 im Stanton
Yarau vier verfhiedene Trachten ges
geben: oberer Aargau, Freiamt, ehem.
Grafſchaft Baden und ehem. öſterreichi—
fhen Fridthal. Die Patriziertrachten
find zuerſt verfhmwunden; was nod)
ganz oder wenigitens teilmeife erhalten
iſt, nd nur Volkstrachten im engeren
Sinne Die Männer legen die Tradt
zuerſt ab, die Frauen halten viel länger
und viel gäher daran feft. Die prote=
ftantifchen Stantone laſſen die Tracht
eher fallen als die fatholifhen. In
dem fatholifchen Appenzell-Inner-Rho=
den lebt noch ein Völflein, das ſich
den alten Stolz auf feine Tradten
erhalten bat. In Deutſch-Freiburg
hat ſich die Tradt feit einem Jahr
undert fait nicht verändert, bei den
älſch-Freiburgern hat fi über—
haupt feine Tracht entwidelt.
Die Tradıt hängt mit dem Haus«
fleiß zufammen. Die Träger ftellten
fie aus ſelbſt erzeugten Stoffen her.
Je weiter die Fabrifation und der
Verkehr vordringt, umfomehr ver
ihmindet die Tradt. In meltfernen
Thälern ijt die Vollstracdht noch heute
an der Tagesordnung, fobald die Eifen=
bahnen fich dahin eritreden, kommt fie
auf den NWusjterbeetat. Neben dem
Kulturfortfchritt Hat auch der unver—
ftändige Spott der Städter dazu beis
getragen, jo in Bern gegenüber ber
überaus originellen Guggisberger
Tracht.
Hottenroths Beobachtung, daß die
Vollkstrachten ſtehen gebliebene Trach—
ten der Vorzeit ſeien, bewahrheitet ſich
z. B. im Lötſchenthal im Wallis, einem
Thal, wohin weder Fahritrafe noch
Zelegraph führt. Die Hochzeitstradht
mit dem geftidten Frad und den wei—
Ben Rnieftrümpfen entſpricht durchaus
ber frangöfifhen Zopfzeit und würde
einem vornehmen Städter um 1780
alle Ehre gemacht haben. Die bir
trägt einen unfinnig gefhnürten Ban=
zer, die Taille ift volljtändig mit Fiſch⸗
bein gefüttert, das geſamte Kleid iſt
aber im eigenen Lande gefertigt. Der
ſteife gefältete Radkragen, den wir von
den Bildniſſen des 17. Jahrhunderts
fennen, bat fih noch in der Frauen—
tradit im Stanton Deutjch- Freiburg
erhalten. Im Gegenfag zu Hotten=
roths zu allgemeiner Behauptung be=
mweifen aber manche andere Tradten,
daß fie in der Vollsart und in ber
Natur des Landes mwurzeln.
Eine anfpredyende Bemerkung madt
Frau Heierli bei der Beſprechung ber
Tracht des Berzascas im Kanton Teſſin.
Die Mädchen tragen dort Männerhüte,
vermutlich, weil fie Männerarbeit ver—
richten. Das Gegenteil findet fid) näm=
ih im Lötfchenthal. Jin Sommer ift
dort das Vieh den Frauen überlajjen.
Im Winter aber werden die Tiere in
Ställen untergebradt, die weitab von
den Rohnhäufern liegen. Da der Weg
dahin mühſam durch Schneemaſſen
gebahnt werden muß, verſorgen die
Männer in dieſer Zeit das Vieh. Da—
bei tragen ſie das Hirtenhemd und den
Frauenhut. Offenbar thun ſie dies
in dem Gedanken, daß ſie eigentlich
Frauenarbeit verrichten, daß fie dieſe
nur ihren Frauen zuliebe wegen der
rauhen Witterung und des beſchwer—
lichen Weges übernehmen. Im Thal
von Illiez, das von Montreur nad
der Dent du midi führt, tragen übri—
er Frauen und Mädchen, melde die
efchmwerliche Alpenmwirtichaft beforgen,
zum Zeil (ebenfo mie die Wildheue-
rinnen im Santon Schwyz) Männer—
feidung bis auf das rote Kopftud,
das ganz maleriſch und graziös mit
einer einzigen Nadel fo befeitigt wird,
daß der eine Zipfel über den Rüden,
der andere über die redhte Schulter
fallen muß.
Was fchlieklih die Erhaltung der
Tracht anbetrifft, fo iſt nah Frau
Heierli bei der fehr Heidfamen Tracht
der Bernerinnen am eheiten die Hoff-
nung beredtigt, daß fie noch geraume
Zeit bejtehen werde. Hoffentlid erhält
2. februarheft 1899
fih aud die Sitte noch recht Lange,
daß bei den Familienfeiten der Mod.
babenden alle Teilnehmer in Tracht
erjcheinen. Daneben drängt fich Die
Beobachtung auf, dak audy die Trach—
ten fi wohl am leichteſten erhalten
lafien, die mit bem Stande bes Trä-
gers im ni gg ftehen —
3. B. bei den Sennen. Soldye Standes-
trachten zu fördern, dürfte am eheiten
ausjichtsreich, Daher von den Freunden
der Volkstracht beionders ins Auge
zu faffen fein. Jedenfalls ift dieſen
aber das prädtige Schweizer Werk,
das wir hier beſprochen haben, beſtens
au empfehlen; fie werden reihen Genuß
davon haben.
Gleichzeitig fönnen wir darauf hin—
mweifen, dab das Werl „Deutide
Boltstradten* von Albert
Kretihmar in zmeiter mwohlfeiler
Ausgabe in Lieferungen (30 u. 75 Pig.)
zu ericheinen beginnt. Diefes befannte
empfehlenswerte Hauptwerk auf dem
einſchlägigen Gebiete enthält 91 treff=
lich ausgeführte Karbendrudtafeln mit
vielen hundert Volkstypen aus allen
Gegenden Deutichlands nebit einem
ausführliden erläuternden Zerte.
Paul Shumann.
Dermifchtes.
*Wie's gemacht wird.
Das Anbiedern u Ge—
ſchäftszwecken, eine dir unſere
Zeit ſehr bezeichnende Erſcheinung, ge=
deiht ungewöhnlich ſchön bei „Arnold
Müllers Jugendzeitung“, die ſich be—
ſcheiden „Zentralblatt für die
Jugend“ nennt. Hören wir, mie
fie fpridt. Zu den „geehrten
Eltern“, „denen der finder Wohl
und Mehe am Herzen lieat“, ſpricht
fie fo: „Wir mödten durch Bild und
Mort veredelnd und geiftig
fördernd mirfen. Unſer Grund—
faß, der lejelujtigen Jugend nur das
Beſte vom Beiten in einer an—
tegenden, Geilt und Gemüt bildenden
Reltüre zu bieten, wird treu einges
halten werden, und mir bitten alle
Diejenigen, die fi) geiſtesverwandt
mit ung fühlen in der Liebe zu den
Kleinen, in der unermübliden
Sürforge nidt nur für das leib-
liche, fondern auch für das geiftige
Wachſen und Gedeihen unferer jugend-
lihden Schüßlinge u. ſ. w.“ Den „lieben
Nihten und Neffen” fagt fie Das:
„Seht nur, feht, wie lieb und ſreund—
lich diesmal Eure Zeitung ausfhaut,
und froh überrafht werdet Ihr ge—
mwiß fein, wenn Ihr al’ die ſchönen
Gaben näher betradtet, die Euch der
Ontel bier bietet. Da er Eud alle,
Ihr lieben Leinen Leute, fo jehr gern
bat, jo ſoll aud) jedes von Euch etwas
bejonberes Schönes haben u. f. mw.”
Unterzeichnet: Onkel Paul.” Wer ilt
nun dieſe Seele von einem Ontel?
Sie ift die Firma Arnold Müller,
Warenhaus für Stindergarderobe in
Berlin, und das ganze buch Bild
und Mort veredelnde und geiftig för—
bernde Zentralblatt für die Jugend
hat mweiter gar feinen Zwed, als: zu
Kindergarderobe-Einkäufen bei dieſer
Firma Kunden zu fiſchen, von der es,
da noch kein Fiſch ſeinen Köder be—
zahlt hat, gratis verſchickt wird. Die
ws. größten von den im ganzen
reizehn Bildern der uns vortra—
genden Nummer zeigen, mit brunter
gefegtem Texte beichrieben, insgeſamt
30 „Phantafie » Pelerinen = Mäntel“,
„Driginal= Engl. Bloufen = Anzüge”,
„iehr eleg. Mäntel für Mädchen“,
erg u. ſ. w. — alles im
Zerxte, aljo abgefehen von den Ans
noncenfeiten. Nun, mit dem Willen
vom wirklichen Zmed Iefe man bie
gefühlvollen Anſprachen nod einmal
— Bürgfhaft vor dem llebelmerden
leiten wir aber nidt.
+
Unsre Beilagen,
Vor dem Durdjipielen unferer Brobe aus Siegfried Wagners „Bären=
häuter“ (die dem bei Dar Brodhaus in Leipzig erſchienenen Klavierauszuge
von E. Reuß und J. Siniefe entnommen ijt, und zu der man natürlich no bie
Beiprehung in der heutigen „Rundihau“ nadjlefen wolle) zwei Worte über
die Handlung. Hans Kraft, ein junger Landsknecht, verdingt fi) dem
Teufel auf ein Jahr zum Höllenheiger. Er beforgt die Keſſel, darin die armen
Seelen brennen, als ein fremder, der verfappte Hl. Petrus, fommt und ihn
zum Würfelfpiel verleitet, wobei Kraft jchlieglich alle Seelen aus den Keſſeln
verliert. Für diefe Pflichtverlegung ftraft ihn der wütende Teufel. Er läßt
Kunjtwart
— 3 —
ihn über und über mit Ruß und Schmutz befudeln, verbietet ihn, fich zu
mwajchen, zu fcheeren und zu putzen und verheißt ihn Gnade nur, wenn ein
Mädchen ihn troß feines gräulichen Aeußeren liebt und ihm Treue hält. Wie
Dies geihieht und Sans fein Luischen beimführt, zeigen dann Die beiden
folgenden Alte des Werkes. Das ausgehobene Bruditüd ſtammt aus dem
zweiten. Der rußige Gefell wird als Ungeheuer geſchmäht und gefürditet,
Zuischens ältere Schweftern haben fein Werben mit Spott und Hohn be—
antwortet, und felbjt bie Stleine, ein halbes Kind, muß lachen über fein feltfames
Uusfehen. Da bemerkt fie, wie aus dem Auge des armen, veradteten Bären-
häuters eine helle Thräne quillt, und dieſe Thräne wedt ihre innige Teilnahme.
Wie jie dann „durd Mitleid milfend*“ wird und in dem Unglücklichen das
Hoffen auf Erlöfung neu belebt, zeigt unfere Szene. Manche werden ſich auf
bie etwa bemeifte, übrigens durch die Stoffe ſelbſt gegebene „Nehnlichteit* der
Situation mit jener zwifchen Senta und dem Holländer zu Gute thun; andere
genießen mit uns hier gerade — ben Unterfchied. Senta tritt dem Holländer
bereits mit dem gefahten Entjchluß zu feiner Erlöfung entgegen, im Luischen
fol diejer Entſchluß erft nad) und nad), vor unfern Augen, alfo dramatifch
erwachen: e8 handelt ſich aljo um ein ganz anderes technifches Problem. Zu—
erjt lefe man darum, die Situation im Auge, die Worte aufmerffan durch
und fpiele darnad) die Singjtimme mit ihrer ausbrudsvollen Dellamation.
Der dramatifhen Blid hat, wird aud wahrnehmen, wie darauf gerechnet ift,
dat ber Dariteller die Rede und insbeſondere ihre Pauſen durch harakteriftifche
Mimik belebe. Den Rhythmus der Geberben biftiert dann gleichfam bie
begleitende Muſik. Sie erwächſt aus zwei Motiven; das einleitende fönnte man
das der auffeimenden Zuneigung nennen, das andere (bei „drüdt ein Kummer“)
das der teilnehmenden Hoffnung. —
Bon unfern heutigen Bildern „zum Symbolismus“ zeigt ung das erjte
Studs „Sphinx“ nad einer Photogravüre aus bem fchönen, bei Hanfſtängl
in Münden erjchienenen Stuck-Werk. Bon vielen wird gerade diefes Bild für
den Höhepunkt des bisherigen Kunſtſchaffens Studs gehalten, jedenfalls be=
deutet e8 eine der abgefchloffeniten, einwandfreiefter Werke des Künſtlers.
Dan hat von dem Bilde vor allem den Eindrud einer gewaltigen Kraft. Dan
beobachte die mächtige Formengebung Studs, ber nie mit zwei Strichen jagt,
was er mit einem fagen könnte, und bei dem dann diefer eine Strich jogufagen
eiferne Strenge ift. Es gibt viel Leute, die fagen, dab ihnen der geiftige
Inhalt von Studs Bildern nit ſympathiſch fei. Wohl, aber jhon die That—
ſache, dab ein fo ftarfer geiitiger Inhalt da ift, dat man fofort unter dem
Eindrud einer fo ftarfen Perſönlichkeit jteht, befagt wahrlich viel. Man beachte
in der Bewegung der „Sphinx“ die Energie, mit der ausgedrückt wird, was aus—
gedrüdt werden foll, man verjente ſich in die fprechende Gewalt der Köpfe,
der frallenden Tagen. Das ift wahrlih Kunfternft, nicht Spielerei.
Mit den übrigen drei Blättern, eriten Vervielfältigungen nad) Originalen
von Martin Brandenburg, die jegt in Berlin die Gemüter zu lebhaften:
Kunftitreit erregt haben, lafjen wir die Lefer einen Blid in das vielleicht jehr
anfechtbare, jedenfalls aber auch ſehr intereflante Arbeiten eines „Hodhmodernen“
thun. Auch fein Wollen müffen wir zunächſt gu fennen und gu verjtehen jtreben
— mie wir uns dann dazu ftellen, ift eine andere Frage. Unbeſtreitbar ift
und bei Brandenburgs Urbeiten zunächſt, daß fie eine bejondere Perfönlichkeit
deigen: e8 ift ein IH da, das fi) ausdrüdt. Auch fein eigentlidyes Gebiet
feinen Daritellungen zu fein, die fid) nicht mehr mit ber Nachſchaffung der
2. februarheft 1899
— 565 —
realen Welt, fondern mit der von Bifionen, mit vom inneren Auge erfchauten
Vorgängen abgeben. Aber auch bei ſolchen Vorwürfen gibt e8 befanntlidh er—
klügelte Arbeiten one überzeugende Stimmung, zünftige Phantafiebilber,
die meit weniger Phantafie haben, als mand; pebantifch nachgemaltes Stüd
Natur. Bei Brandenburg gibt das Beite wirkliche Bifionen. Aber fonderbar,
fie find das Gegenteil von Träumen eines ſeligen Jbeals, wie mir fie etwa bei
2.0. Hofmann finden, fie jtehen unter dem Zeichen des Albdrucks; quälende, be=
ängftigende Spuferlebniffe fcheinen ihnen zu Grunde zu liegen, und diefe bange
Stimmung erſcheint fogar oft in Arbeiten, in denen Brandenburg fie nicht beabſich⸗
tigt. Unfer erjtes Bild zeigt uns etwas davon. Ein ehernes Symbol auf einfamer
Bergipige am Meer fteigt ſchwarz empor, unbeweglich, ftarr, von Tageshelle
umflutet und doc „grufelig* ragt e8 mie ein heidnifches Gögenbild, das ſich
von neuem zum Lichte drängt, in die Welt der Lebenden. Weit weg, weit Hinten
da8 brandende Meer. Das gewährt Einblid in ein ganz eigentümliches Geiftes-
Ieben, und ſchon deshalb tft es „berechtigt“, gibt e8 dem Befchauer eine Bereiherung,
Verftandesmäßig leichter faßlich ift das zweite Bild, das Brandenburg „Der
Dann im Schatten“ nennt. Im bürren fiefernmwalde irrt er umher. lieberall
um ihn ift Sonne. Nur gerade an ber Stelle, wo er eben jteht, ift immer
Schatten. Große Naditfalter umflattern ihn börbar. Und Hinter ihm — er
fieht e8 nicht, aber er weiß e8 ganz genau, fchleicht immer etwas her. Immer
ein Stüd weit von ihm entfernt, aber ſtets bereit, ihm, wie eine State, auf ben
Naden zu fpringen. Vergleiht man dieſes Bild etwa mit ſolchen Alingers, fo
empfindet man, dat Brandenburg nicht gelingt, was Klinger in feinen beiten
gelingt: bie Gebilde in Traumanſchauung vollftändig aufzulöfen. Aber weit
vorgefähritten auf dieſem Wege ift auch er ſchon; das allegorifhe wird aud)
bei ihn ſchon weitaus zumeiſt zu wirklich lebensvoller Geitaliung.
Dan könnte Brandenburgs Kunſt eine pathologifhe nennen. Aber
zunädit kann unfere Frage nit da nach gehn, fondern nur dahin: ob e8 ber
Niederfhlag von etwas perfönlid Erlebtem, und fomit, ob e8 edte
ſtunſt fei. Das müſſen wir bei Brandenburg doch bejahen. Es ließe ſich
vielleiht von Mihgriffen reden, wenn er gerade dieje Darftellungen als Ge
mälde gäbe. Aber er gibt fie als Griffeltunft, und das ift etwas ganz anderes.
Ueber ben elementaren Unterfhied von Malerei und Griffeltunft ſprechen mir
wieder einmal, wenn unſre Bilder uns erft einen größeren Vorrat von erläus
ternden Beifpielen an die Hand geben.
Brandenburg ijt übrigens aud) dem eigentlichen Bilde gewachſen. Rein aus
dem Malerifchen heraus iſt die fleine Skizze aus den Dünen entftanden, mit
den mit Humor gezeichneten Sonntagsjpaziergängern. Bei diefem Blatt follte
man befonder8 auf die Kharafteriftifche Verteilung von hellen und dunklen
Sleden achten und auf ihre eigentümliche Formgebung, die man bald als
Brandenburgs ureigene Sandichrift erfennen wird.
Inbalt. Das Variete der Zukunft. Bon Paul Shulge-Naumburg. — Ethifch
und Aeſthetiſch. (Schluß) Bon Carl Weitbrecht. — Architeltoniſche Zeitfragen.
Bon Paul Schumann — Loſe Blätter: Grillparzers „Jüdin von Toledo”. —
Rundſchau. — Bilderbeilagen: Zum Symbolismus: Franz Stud, Sphinr.
Martin Brandenburg, Ehernes Symbol, Der Mann im Schatten, Dünenland»
fchaft. — Notenbeilage: Aus Siegfried Wagners „Bärenhäuter*.
Verantmwortl. : ber Herausgeber $erbinand Uvenarlus in Dresden-Blajewig. Mitrebafteure: für Muſit:
Dr, Richard Batfa in Prag-Weinberge, für bildende Kunft: Panl Shulge-Maumburg in Berlin,
Sendungen für ben Tert an ben Eierausgeber, über Mufif an Dr. Batfa.
Derlag von Georg D. W. Callwey. — Ugl. Hofbuchdruderei Kafiner & Coſſen, beide in Mänden,
Beftellungen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Tallmer in Münden.
ZUM SYMBOLISMUS
FRANZ STUCK
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UN SYMBEOLISMUS
MARTIN BRANDENBURG
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MARTIN BRANDENBURG
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Aus dem „BÄRENHÄUTER
mit besonderer Erlaubnis des Verlegrrs M. BROCKHAUS
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Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München.
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Abonnements · eſte lnugen entgegen.
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Nachdruck fänıtlicher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Lofen Blätter“ und der
unter Quellenangabe erlaubt. — für Inverlanat eingefandte Manuffripte wird feine ı
—— Rückſendung —— —— Nur wenn Rüdpörte 2. 4
Gent 1889.
Paris 1889,
Chicago, London 1894 burg 1000, . 2
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beseitigt. Proben gratis gegen Porto! je Inentgeitlich. —
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Ungekürzte Auffübrungen u. s. w.
Es gibt unter den Kunſtpflegern bekanntlich eine Partei, die da
meint: die Kunſt fei im Grunde doh nur für ein par Ausermählte,
für ein par, jagen wir „Fachleute“ da, der übrige „Pöbel“ aber, der unjere
Theater, Konzertjäle und Galerien füllt, fer eben gut genug, um durch
fein Erfcheinen, d. h. durch fein Eintrittsgeld fünftlerifche VBeranftaltungen
überhaupt zu ermöglichen. Dieje Partei geht von der nicht unrichtigen
Beobachtung aus, daß es Werke gibt, die ihrem Gedankengehalt und der
Geftaltung nad, über das Faflungsvermögen einer fo großen Zahl von
Menſchen weit hinausgehen, als erforderlid find, um foldhe Veran
ftaltungen zu gemährleiften. Bleiben mir bei meinem mufifalifchen
„Reffort“: an Werfen wie dem „Triſtan“ oder dem A moll-Quartett
op. 132 würden alle Bopularifierungsverjuche, jofern fie auf ein wirk—
liches Berftändnis, nicht auf ein Gefallen an Aeußerlichkeiten abzielen,
unbedingt jcheitern.
Indeſſen wär’ arg übertrieben, behauptete man: alle oder auch
nur die meilten echten Kunſtwerke feien diefer Art. Wir glauben viel-
mehr, e8 dürften fich, ſelbſt wenn man von den auf vollstümliche Wir-
fung ausgehenden Werfen abficht, wohl die meiften dem BVerftändnis
meiterer Kreiſe erfchließen laffen, wenn die Sadje nur gefhidt und that=
fräftig angefaßt wird. Man braucht dem „L'art pour l’art‘‘ gegenüber
nicht in den Gegenſatz zu verfallen und die intimjten und ſchwierigſten
Schöpfungen feinftorganifierter Künſtlernaturen gleih zum täglichen
Geijtesbrot für Hinz und Kunz verbaden zu wollen. Aber man muß
als rechtjchaffener Kunftpionier auf die Wedung und Belebung des fünit-
leriſchen Bedürfniffes, auf die Erziehung zum Hunftgenuß im Volle hin—
arbeiten, man muß, indem man den Zugang zum Sunftwerf erleichtert
und ebnet, die Maffe der „Beſucher“ zum urteilsfähigen „PBublitum“
beranbilden helfen.
In diefer Hinficht hat man ſich — wer möchte das leugnen —
in den legten Jahren nicht wenig bemüht. Wir haben nicht bloß zahl-
Kunftwart 1. Märzheft 1899
— BET AO
reihe gute und billige Ausgaben und Reproduttionen der Haffifchen
Werke, fondern auch gute und billige Aufführungen und Ausftellungen
erhalten und befommen deren immer mehr. Wohlfeile gedrudte „ Führer”
gehen dem Novizen im Theater-, Konzert- und Bilderfaal an die Hand
oder helfen ihm, die Erinnerung an das Gehörte und Gejchaute zu er=
neuern. Auch einleitende Vorträge mit lehrreichen Erklärungen find im
der populären Kunſtpflege gar nicht8 Seltenes mehr, ja, kürzlich Hat Hof»
fapellmeifter Zumpe dem wahrlich nicht leicht eingängliden Scillings-
hen Mufildrama „Ingmwelde* in Schwerin zu durchgreifender Wirkung
verholfen, indem er vor der Aufführung einen Öffentlichen Vorbereitungs-
abend abhielt und dabei die Anmwejenden durd Wort und Beilpiele (am
Klaviere) mit den beacdhtenswertejten Schönheiten und Charafterzügen
des Werkes befannt machte. Möge diefes jehr zweckdienliche Verfahren
auch anderwärts, wo es fich um das Eintreten für ein verwickeltes Fünft-
leriſches Erzeugnis handelt, finnvolle NRahahmung finden.
54 Alles Verftändnis beruht auf ordentlicher Kenntnis, und dieſe
Kenntnis jest Gelegenheit zum Kennenlernen voraus. Aber es iſt nicht
genug, dieſe Gelegenheit durch Berbilligung de8 Genuffes zu vermehren,
momit mande jchon alles zu thun meinten. Bei Borftellungen und Kon—
zerten kommt's wahrlich dod) auch auf die Huge Wahl des Programms
an, und gerade hierbei begegnen wir den zahlreichiten Mikgriffen. Die
einen jchägen ihr Publikum zu hoch ein und bieten ihm Stüde, deren
Genuß von einer bedeutenden geiftigen und technilchen Borbildung ab=
hängt, die andern ſchätzen's zu niedrig ein und fegen ihm unter der Marfe
der Bollstümlichfeit platte Banalitäten vor. Beide aber pflegen tm,
wenn nicht dem Gehalt, jo doch der Menge nad) zu viel zugumuten.
Kurz gelagt: unfere TIheatervoritellungen und Konzerte dauern in der
Regel zu lange, jomohl in Anbetracht der geiftigen Spannkraft wie
mit Rückſicht auf die num einmal herrichenden Zebensverhältnilfe. Darüber
hilft uns fein theoretifches Wenn und Aber und fein noch To ehrlich)
mwohlmeinender Idealismus hinweg.
So verfhieden die Aufnahmefähigkeit der Einzelnen in Bezug auf
mufifalifche Genüffe fein mag — zweieinhalb bis höchſtens drei Stunden
werden die Spannen fein, innerhalb derer ein Normalmenſch ſzeniſchen
Darbietungen ohne Ermattung aufmerkſam folgen fann. In Konzerten
und namentlich in folchen, in welchen rein injtrumental mufiziert wird,
dürfte die äußerte Grenze, bis zu der von eigentlihem Genuß ges
ſprochen werden fann, etwa anderthalb Stunden fein. Man jehe die
Sade nur nicht immerzu vom Standpunfte des Kunſtſportlers an, der
fih auf Genußreforde trainiert hat, und ſchenke der Heuchelei der Bil-
dungspharifäer feinen Glauben, fondern bedente fühlen Blutes, was wohl
ein Menſch, der vom Morgen ab in feinem Amt ober Beruf fich redlich
plagen muß, des Abends an Nerven dranzufegen imftande iſt. Dabei
wird fich ergeben, daß unfere Theater: und Konzertaufführungen jenes
oben bezeichnete Maß gar ſehr überfchreiten und daß man fich über das
jegt überall bemerkte Nachlaſſen des Zulaufs bei ernitem Spielplan nicht
wundern foll, zumal auch die durch häufigen Bejuch des Theater8 und
KonzertfaalS verurfachte Störung der geregelten Lebensweiſe mit ins
Gewicht Fällt.
Kunftwart
_ 585 —
Die jest durchichnittlich beliebte Dauer eines Mufitabends ftammt
aus Zeiten, die meit geringere Anforderungen an die Tagesarbeit des
Menjchen ftellten, alS der heutige Wettbewerb, aus Zeiten, mo der Sinn
der Menfchen nicht mit jo vielfältigen Interefjen belaftet war und mo
man der fchöngeiftigen Erholung einen weit umfangreicheren Teil des
Daſeins mwidmen konnte. Damals durfte der Künftler fich weit freier
und behaglicher dem Spiele jeiner Phantafie überlafjen, weil feine Auf:
gabe mit darin bejtand, die Zeit angenehm zu vertreiben, wogegen uns
die Berhältnifje geradezu zwingen, mit unferer Zeit haushälteriſch um—
zugehn. Daraus mürde der Grundjag für die moderne Kunſt folgen,
fih möglichiter Knappheit zu befleibigen und fich mehr auf Verdichtung
zu verlegen, al8 auf Entfaltung. Seltfamermeije ſehn mir die Künſtler
der Gegenwart auf entgegengejehtem Wege: nicht mit Unrecht klagt man
bei allen neueren Erjcheinungen über Breitichweifigfeit und Uebermaß.
Der Erfolg der neuitalienifchen Einakter beruhte jeinerzeit hauptlächlich
darauf, daß fie einem Bedürfnis des Publitums nad) minder hinhalten-
den und zeitraubenden Opern entgegenfamen. Die Künſtler werden ent-
rüftet fein, daß man verlangt, fie jollen ihre Phantafie den Schwächen
des großen Haufens unterordnen, aber fie vergeffen nur allzuleiht, daß
auch in früheren Zeiten die öffentliche Kunſt fich den Herrichenden Lebens—
formen anpafte und daß nur wenige, ſozuſagen zeitlofe Monumental-
mwerfe ſich in Widerfpruch zu den äußeren Bedingungen der fünjtlerifchen
Deffentlichkeit jegten. Und das Unglück liegt eben darin, daß jest auch
die geringften Schaffenden Monumentales leiſten und fi) sub specie
aeterni betrachtet wilfen wollen. Die Kunſt, die mit dem Tag geboren
it, dem beicheidenen fünftlerifchen Bedürfnis des Tages ehrlich dient
und mit ihm verichwindet — die überläft man ganz und gar den
Stümpern und Spekulanten.
Aber jelbit in dem Fal, dat unjere Komponiſten aus den Zeichen
der Zeit die Lehre ziehn und fich eine gewiſſe räumliche Beſchränkung
auferlegen: was fangen wir mit den herrlichen Schöpfungen der glüd-
lihen, minder eilfertigen Bergangenheit an? Früher griffen Die Kapell—
meifter mit rückſichtsloſen Strichen ein, was bei der nummernhaften An—
lage und bei den üblichen Repetitionen immerhin anging, bei organiſch
entwidelten Kunſtwerken jedoch den Zufammenhang gröblich verlegte.
Diefe Erkenntnis hat einem entgegengefegten Prinzip Geltung vericdafft.
Unfere Dirigenten erbliden jegt ihren Ehrgeiz in ungekürzten Aufführungen
und zwar nicht nur bei Schöpfungen aus einem Guß, fondern auch bei
den mojailartig zufammengefegten. Das ift bei Feftaufführungen auch
wirklich das einzig richtige, in der Flucht des Alltags, im laufenden
Repertoir hingegen iſt e8 unnatürlich und unvernünftig. Unfer Publikum
wird durch die langen Mufitabende übermüdet und immer mehr ent=
mwöhnt, Konzert» und Theaterfaal als Stätte edler Ergögung zu be=
traten, unjere Sänger und Mufiter aber verbrauchen in den enormen
Anftrengungen ihrer großen Aufgaben vorzeitig ihre Kraft. Es fällt
mir beileibe nicht ein, dem fchaffenden Künftler im Geftalten Schranten
zu jegen, nur fordre er nicht, dag man im Volt inmitten des gewöhn—
fihen Werktagsiebens die ganze Fülle feiner Gaben auf einmal auf-
nehme. Dan hat Bearbeitungen Shakeſperes für die neuere Bühne gewagt;
man wage getroſt auch Bearbeitungen der großen Tonwerke für populäre
1. Märzheft 1899
— 559 —
Aufführungen. Wenn man diefe mit fünftleriihen Sinn und forgfäl-
tiger Ueberlegung vornimmt und an Stelle der vom Kapellmeiſter in der
flotten Haft des Theaterlebens getroffenen Zurichtungen fest, wäre das
ein nicht zu unterfchägender Gewinn. Freilich dürfte folches Bearbeiten
nicht bei mechanifchen Operationen mit dem Rotitift Stehen bleiben, ſon—
dern müßte jelbftfchöpferiich eingreifen, um da und dort an Stelle aus—
gefallener Glieder des Ganzen paffende Weberleitungen zu fegen. Bei
Werten lebender Autoren überliege man die Bühnenbearbeitung — etwa
auf Grund der bei den Erftaufführungen gewonnenen Einfiht — am
beiten den Somponiften ſelbſt, wiewohl mit dem Umftande zu rechnen
ift, da des Autors von ſelbſt verftändliche Befangenheit zumeift der Ein-
fiht hindernd im Wege jteht.
Die Lehre von der unantaftbaren Monumentalität der Kunſtwerke
führt im alltäglichen Kunftleben zu Unzukömmlichkeiten, die faum mehr
zu ertragen find. Ich meine drum, daß man in der Prariß zu jener
Anficht zurückkehren müffe, daß ein Kunſtwerk, das zur Freude und zum
Genuß für fterblihde Menſchen geichaffen ift, ſich auch den Verhältniſſen
diejfer Menichen anpafje, ein Gedanke, der auch den Chryſanderſchen
Händelbearbeitungen zu Grunde liegt und vielleicht ſogar ihren größten
Wert umſchließt. Ber Feftaufführungen und fonftigen befonderen Ge—
legenheiten mögen äjthetiiche und hiftorifche Erwägungen uneingefchräntt
gelten: für den ſozuſagen mocdjentäglichen Kunſtbetrieb aber halte ich fie für
Ihädlich, weil fie das Intereffe an den fünftlerifchen Darbietungen eher
Ihwäden als ftärten. Geht e8 jo fort wie in der Gegenwart, fo kann
die große Reaktion, die allgemeine Kunftverdroffenheit und Kunſtflucht,
menigftens was die öffentlihen Aufführungen angeht, über kurz oder
lang faum ausbleiben. Und jedenfalls müſſen wir uns darüber Mar
werden, daß immer und um jeden Preis ungekürzte Aufführungen neben
dem Guten, daS fie den fozujagen Gemeihten geben, eine Gefahr haben
für die im Bolt, jo man als Schüler und Jünger der edlen Mufita be=
zeihnen darf. Wir wollen diefe Leute doch nicht zu KHunftheuchelei oder
Mufitmodenmitmacherei erziehen, fondern zunädjft einmal zum Aufnehmen,
zum Genießen. Ueberbürden mir fie nicht! Ridhard Batfa.
Dekadenz in der Unterbaltungsliteratur.
Neulich fonnte ih im „Kunftwart* von Verſuchen berichten, wieder einen
anftändigen Roman für anftändige Menſchen zu fchaffen, von Verſuchen,
die ohne Zmeifel jehr ſchätzenswert find, fobald man fid aus der Anjtändig-
feit nur fein befonderes Verdienſt madt. Es zeigt fi in unferer Unterhal—
tungsliteratur aber aud) die entgegengefehte Tendenz: Man beftrebt fich, die
Deladenz für das Leihbibliothel- und Feuilleton-Romanpublilum nußbar zu
maden. Geſchichtlich ift ja dieſe Erſcheinung leicht verſtändlich. Jede Litera-
tifhe Richtung hinterläßt einen Bodenſatz, und dieſes Bodenſatzes bemädhtigen
fi) die Unterhaltungsſchriftſteller. So wurde der Durchſchnittsroman, nach—
dem bie Blütezeit bes Naturalismus vorüber war, naturaliftiih, jo wird er
jest, wo Symbolismus und Spätdekadenz abzumirtfchaften beginnen, da er
Kunftwart
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ſymboliſtiſch wegen ber Schwerverftändlichkeit nicht gut werben fann, befabent,
defadent in jener Form, der ich das „[pät* anheften möchte, weil das Geſchlecht,
das fie ſchuf, ſich felbft von vorneherein als „fertig“ in jeder Beziehung erflärte
und, wenn man fertig ift, natürlich etıvas Neues fommt. Nach der Frühdekadenz
alſo die Spätdeladenz, nah ihr aber das Neue. Es iſt ja aud ſchon hervor—
getreten, dieſes Neue, zunächſt als „Heimatskunit“.
Gegen die Spätdefaben; als literarifhe Richtung haben mir jelbftver-
ſtändlich angelämpft, dabei aber doch nicht vergeffen, daß fie wohl einmal
fommen mußte, und fo haben wir ihre Talente immer als foldhe gelten laſſen.
Hartlebens „Geſchichte vom gajtfreien Paftor* ift ohne Zweifel ein nichts-
nußgiges Produft, aber ihr Verfafler befigt die Grazie, die der Erzähler nichts—
nutziger Geſchichten befigen muß. Otto Julius Bierbaums Romane find ficher-
Lich höchſt bebenflicher Natur, aber der barode Humor bes Dichters hilft uns
in ber Regel über den Schmutz weg. Tovotes Dirnenromane haben ein gut
Teil verlogener Sentimentalität, aber doch auch hier und da feinere pſycho—
Togifhe Werte. Jakob Waflermanns „Juden von Zirndorf atmen bie unge—
ſundeſte Sinnlichkeit, aber eben diefe Sinnlichkeit bringt einiges grandios Örauen=
hafte zu ftande. So jteh ich mit den Herren ungefähr fo: id) münfche ihnen
aufrichtigen Gemüts ein baldiges Abmwirtihaften, aber — e8 thut mir doch
dabei leid um fie. Wenn ich nun aber fehe, wie bie Dekadenz als Mittel be—
nut wird, Lefer zu fapern, wenn man beifle Dinge darftellt, nicht, weil man
muß, ſondern meil fie’8 „alle* thun und das liebe Bublitum fo was deshalb
wahriheinli do gern Haben muB, — fo möchte ich die Herren Autoren .. .*
Menns nur immer Autoren wären! Auch die Autorinnen reitet ber
Zeufel. Daß Marie Janitfchet einiges fehr böfe verbrochen hat, habe ich hier
früher einmal ausgeführt; jest fommt „Hans“ von Stahlenberg, eine noch
ziemlich junge Schriftftellerin, über deren Erftlingsroman nit ungünftig ges
urteilt worden ift, und fchreibt ein Bud, das — nein, ruhig Blut! Wer
Hans von Kahlenberg ift, hat uns Kürjchner ſchon verraten — Ernit
Brauſewetter, der fie in dem zweiten Bande feiner „Meifternovellen deutjcher
Frauen“ behandelt und fehr (obt, Hält das Pſeudonym noch feit. Nun, für
ein Wert, wie das foeben erfhienene, „Nichen, ein Beitrag zur Piychologie
ber höheren Tochter“ (Dresden, Reikner) braudt eine Dame aud ein Pjeudo-
nym. Der Heine Roman ift in Briefen gejchrieben, zwei Freunde taufhen ihre
Erlebnifje aus; der eine, ein Idealiſt, fchildert jein feufches Liebesſtreben, ber
‚andere, der Realift, fein Abenteuer mit einer Berliner Geheimratsjöhre, die
ihn, ben berüchtigten Schriftfteller, in feiner Junggefelenwohnung aufſucht
und fi) alles gefallen läßt, nur ein Baby möchte fie nicht gern haben. Nach
zwei Briefen wiſſen wir, daß die Geheimratsjöhre des Realiften und die feufche
Jungfrau des Hpealiften eine und biefelbe Perſon ift. Beide merfen aber
nichts, troßdem bie Briefe alles geradezu Handgreiflih maden. Der Trit
mußte natürlih durchgeführt werden. Eben weil wirß hier mit einem Trik
zu thun Haben, fünnen wir aber Hans von ftahlenbergs Arbeit nicht als fünit-
lerifhe gelten Iaffen, und eben deswegen haben wir aud das Recht, fie ethiich
abzulehnen. Es liegt mir ſelbſtverſtändlich nichts ferner, als für die Tugend
der höheren Tochter einzutreten, es tit zmeifellos, daß viele, was Sans von
Kahlenberg fchildert, echt ift, aber die nadte Gemeinheit ſchildert man nicht
* (Anmerkung des Berfaffer8 beim Korrefturlefen:) Ach, bier hat mir
ber Herausgeber meinen ſchönſten und kräftigften Sag geltriden! A. 3.
Beglaubigt. F. A.
1. Märzhſeft 1699
— 361 —
„um ihrer felbit willen“, nur im Dienfte einer höheren fünftlerifhen oder audy
meinetwegen fozialen Idee. Hans von Kahlenberg thut ja Bier und da fozial,
aber fie wird feinen einzigen Lefer finden, ber ihr Bud) anders als um bes
pitanten Amüfements willen liejt, und das entſcheidet ja wohl. Völlig original
tft ihr Werk auch nicht einmal, mandes darin kommt aus zmeiter Hand. Ich
entfinne mich, die Autorin früher mit Subermann vergliden zu haben; feine
Geſchichten „Im Zwielicht“ — da haben mir.
„Harmiofer* als Hans von Ftahlenberg it Arnold Glut, deſſen Bud
„Moderne und andere Novellen“ heißt (derj. Verlag); aber er ift mohl nur
harmlofer, weil er talentlofer ift. In „Modern“ ſchildert er, wie ein Defabent
eine Dekadente heiratet — er genügt ihr geijtig und vor allem körperlich nicht,
und fie geht ihm durch. In der zweiten Novelle haben wir eine Hochzeits—
naht, aus ber nichts wird. Die dritte ift eine höchſt ſentimentale Liebes-
geihichte. Glut arbeitet mit bem gewöhnlichen Romanphbrafenapparat — ver
möhntere Lefer werden ihn alfo ſchwerlich genießen, aber die nit vermöhnten
werben es vielleicht thun.
Ludwig Wolffs „Im toten Waffer* (derf. Verlag), das dritte Bud,
das ich zur Slluftration der Dekadenz in der linterhaltungsliteratur verwenden
möchte, genügt doch eher fünftlerifhen Anſprüchen. Es ift ein Wiener Roman,
Jakob Waffermann hat ihn eingeleitet, mit jener Charakteriſtik des Modernen
MWienertums A la Hermann Bahr, die nun ſchon ftereotyp fit. Ludwig Wolffs
Held kann auf Neuheiten feinen befonderen Anſpruch erheben, wir fennen ihn
von Schnigler, Bahr, Roßner u. f. w. her. Aber feine Geſchichte ift mit einiger
Feinheit durchgeführt, man ekelt fi nicht allgufehr vor dem Menſchenſchleim⸗
tier, das er ung zeigt, ja, fie fann einem beinahe leid thun, diefe Menſchen—
forte: früher fpie man vor ihr aus (figürlih natürlich), heute photographiert
man literarifch ihren eigenen Schmuß und hebt ihn in Büchern auf, mas doch
für ſolche Leute gewiß fein Vergnügen iſt. Adolf Bartels.
BIER
Archbitektonische Zeitfragen.
(Schluß.)
Im dritten Kapitel behandelt nun Streiter das Grundproblem aller
Architeltur-Aeſthetik: Wie kann der formale Ausdruck einer konſtruktiven Funktion
(Tragen, Auflaſten, ſowie Endigung, Zug, Drud, Schub ꝛc.) für den Beſchauer
äfthetifch wertvoll, „Ihön* fein? Otto Wagner iſt nad) Streiter Urteil hier—
über in empfindlicher Unflarheit, indem er jagt: „Jede Bauform ift aus der
Konftruftion entjtanden und fulzeffive zur Kunftform geworden . . . immer ift
ein fonitruliiver Grund, der bie Formen beeinflußt, e8 kann daher mit Sicher=
heit gefolgert werden, daß neue Stonitruftionen auch neue Formen gebären
müſſen“, und indem er Semper vorwirjt, er habe ſich mit einer Symbolik der
Konitruftion beholfen, ſtatt die Konſtruktion felbit als „Urzelle* der Baukunft
au bezeichnen.
Diefe Unfiht Wagners ijt irrtümlich, denn die Anſicht Sempers felber
von der Symbolik in der Baufunft bejteht noch heute zu Recht, nur bie
Semperianer haben feine Lehre vertäffht. Wenn Semper fagte: beim Werden
einer Konſtruktion fämen aud Stoff und Technif in Betradit, jo meinten die
Kunftwart
— 52 -
vu J m. 18
Semperinner jofort, ſchlechtweg die Hunitform fei ein Probuft aus Stoff und
Technik. An joldem Kunftmaterialismus franft aud; Wagner etwas: denn
die Konjiruftion fann man wohl als Urzelle bes Bauens, niit aber ohne
meitere8 auch des fünftlerifchen Bauens, alfo der Baukunst bezeichnen. „Die
Werke des Ingenieurs, bes Mafchinentechnifers gehen gleichfalld auf die ons
ſtruktion als Urzelle zuräd; aber fie gelten im allgemeinen nicht als tefto-
nifhe Kunſtwerke, eben weil fie jener „Symbolif der Konftruftion* entbehren,
meil ihre Formen im ganzen und in den einzelnen Zeilen nicht in plaftifcher
Anihanlichkeit als der unmittelbar fühlbare Yusdrud einer von uns gemiffer-
maßen mit erlebbaren, uns ſympathiſchen körperlichen Verhaltungsweiſe in
einem leicht auffaßbaren ordnungsmäßigen Zuſammenhange ſich darftellen. Erft
dadurch, dat die Glieder einer baulichen Konftruftion als „Symbole“ einer
von uns mit Befriedigung mitgefühlten räumlichen oder förperlichen Dafeins-
meife erfcheinen, gewinnen jte für uns äfthetifches Intereffe; erſt dadurch wird
das erreicht, was Wagner da8 Zbealifieren nennt, mas alfo das tektonifche
Gebilde zum fünftlerifhen madt. Semper hatte volltommen recht mit feiner
Symbolif der Konftruftion.
DaB jede Bauform aus ber Sonftruftion entftanden und nad und nad
zur Kunftform geworden fei, wird miberlegt durch die gotifhe Fiale, bie als
Belaftungstörper dient, in der Form aber als frei emporſchießende Endigung
erfcheint, durch die Stuppelhaubendäder von Kirchtürmen, durch die Bafis der
jonifhen Säule, die bei der dorifchen fehlt, durch die Verſchiedenartigkeit der
antifen Stapitelle u. ſ. w. Vielmehr beeinflußt unter Umftänden ein beftimmtes
Formgefühl in entfcheidender Weife die Konftruftion, jo bei der Anwendung
des fo unpraktifhen und techniſch fo ſchwierigen Hufeifenbogens und des
Stalaltitengewölbes (maurifhes Formgefühl), der Netzgewölbe mit Herab-
hängenden Schlußjteinen (gotifh), der Zwiebelfuppeln (ruſſiſch) u. ſ. w. „Die
teftoniiche Kunftform bietet eben außer der Erfüllung eines beftimmten Zweckes
noch ein übriges; dieſes Ueberſchüſſige, d. h. über die Forderungen des praf-
tifhen Bedürfniffes hinausgehende (dabei nicht rein ornamentale) Tann aber
auf mannigfache Weife geleiftet werben. Nur dies begründet jene Freiheit des
Geitaltens, die berechtigt, die Architektur zu den „freien Künften” zu zählen.“
In unferer Zeit gilt vielmehr der umgekehrte Sat, daß durd) das Form—
gefühl die Konſtruktion gewählt, beftimmt, vervolllommnet oder erfunden wird.
„Die weitaus größte Mehrzahl der Architeften läht ſich beim Entwerfen neuer
Bauten vom Formgefühl eines hiltorifhen Stiles leiten und wählt bement-
Ipredend bie Ktonjtruftionen, verwendet, was häufig vorkommt, die als zweck—
mäßiger oder billiger bevorzugten modernen Konjtruftionen und maskiert jie
durch ſtilgerechte Scheintonitruftionen.“
Streiter ſtellt nun beſtimmt die von Wagner nicht beantwortete wichtige
Frage: Wie iſt überhaupt aus der Konſtruktion die architektoniſche Kunſtform
zu entwickeln? Die nächſte Antwort iſt: auf die mannigfaltigfte Weiſe. Denn
wie ſchon Wölfflin fagt: Die Technik fchafft niemals einen Stil, jondern
wo man von Kunſt fpricht, ift immer ein beftimmtes Formgefühl das Primäre.
Um die Wahrheit diefes Sages zu ermeffen, braudht man nur zu bebdenten,
dab das, was man den Stil einer Kumjtperiode nennt, allen Künſten ges
meinfam ift, alfo unmöglich durch die Technik (Konſtruktion) einer Kunſt bes
ftimmt fein kann. Dies beweist wiederum, daß Wagners Sa von der Kon—
ftruftion erſt durch feine Umkehrung wahr wird. Dafür ſprechen aber aud)
Wagners eigene Bauten, denn nur der griechiſche Steinbaltenbau und ber
\. Märzheft 1899
363
gotiiche Gewölbebau zeigen Mar in ihrem Aeußern das ganze fonftruftive
Gerüfte. Dagegen lafien die Renaiffance, ber Barod= und der Rofokoftil —
feßterer ift überhaupt fein Bauſtil mehr — in ihrem Neuberen den Beichauer
über deren fonftruftives Innere gänzlid im Dunkel. Wagners eigene Bauten
und Entwürfe find aber Deforations-Arditeftur im Sinne der Renaiffance, die
er nad) feinem Satze von ber Konftruftion vermwerfen müßte.
Auf die gleihen Widerfprüche ſtößt Streiter bei der Frage: „Inwieweit
begünftigt infonderheit daß, mas unfere Zeit als Neues den überfommenen
Konstruktionen hinzugebracht hat, die Entwidlung neuer Kunſtformen? Hiebei
fommt natürlich vor allem die größte fonftruftive Errungenschaft der Neuzeit
in Betradt, die meitgehende Verwendung bes Gifens als Baumaterial
Schon Böttidher fprad) 1846 die größten Hoffnungen Hinfichtlid des Eiſens aus.
Das Eifen hat auch den Erwartungen Böttihers, „es müſſe raumbildend
und fonftruftiv gejegt jede benfbare, dem Lebensbedürfnis irgend ent-
fpringende Plans und Raumform zu erfüllen im ftande fein“ volllommen ent:
fproden, jo daß Wagner jest jchreiben konnte: „Die Eigenſchaften des Eiſens
iind thatſächlich fo außerordentlich, daß fie fast jede Forderung zu erfüllen im
ftande find und betreffs der Anwendung dieſes Miateriales eigentlich nur von
einer Grenze des Geldbeutels gefprodhen werben kann.“ Uber ein neues Reid)
der Kunſtformen, einen neuen Stil hat bas Eifen nidt gebradjt. Darüber find
die Theoretifer einig (3. B. Adolf Göller, K. E. DO. Fritih und Robert Neumann)
— und die Praxis ermeijt, daß die Gifenkonftruftion fi ebenfo gut in bie
Antife (daB riefige fpätrömifche Pradtforum der Kolumbiſchen Ausſtellung in
Chicago mit feiner verborgenen Eifenkonftruftion), in die romanifchen Bau—
formen (die turmhohen Häufer von Henry Hobjon in Amerika), Renaijfance-
bauten (Reichsgerichtsgebäude), wie in gotifche Badfteingotif (märkiſches Muſeum
in Berlin), wie in Barodbauten (Saiferpalaft in Dresden) einfügt. Alſo auch
das Eiſen bemeift: nicht eine neue Technik bringt einen neuen Gtil hervor,
fondern ein beftimmtes Formgefühl bildet die neue Technif nach diefer oder
jener Seite fünftlerifh aus.
„Wo immer Eifenfonftruftionen in bedeutenden Abmeſſungen offen liegen
und für ſich allein auftreten, da zeigt ich”, jagt Streiter, „ihre abjolute Sprödig-
feit gegen fünftlerifche Geftaltung.* „Die fleifchloje Dünnheit und fteife Troden-
heit der Konjtruftionsteile, die durch ihre ftatifhe Berehnung gegebene Ge:
bundenheit der Unordnung, bie äußere Gleichartigfeit der Glieder, welche die
Verſchiedenheit ihrer Leiftung (Widerftand gegen Zug oder Drud) im allge:
meinen nicht erfennen laffen, die bei großen Konſtruktionen verwirrende Menge
fi) durchkreuzender faft förperlofer Linien, deren Sinn und Zwed nur dem
techniſch gefhulten Verftand, nicht aber dem einfachen Gefühl faßbar wird: all
das läßt uns bie Eifenfonftruftionen gleichgiltig erfheinen, wenn auf) mand:
mal den Gefamtumrißlinien folder Werke (Bogenbrüde, Eiffelturm) oder ber
Wirkung der durd; fie ermöglichten koloſſalen Innenräume ein gemiffer äſthe—
tifcher Reiz nicht abzufprechen ift. Eine bedeutende, tiefgehende echt fünftlerifche
Stimmung hervorzurufen wird auch ber großartigiten Eifenfonftruftion nicht
gelingen.” Da fomit die Eifenkonftruftion zu einer beforativen Berhüllung
hindrängt, jo droht die Gefahr, dat die nur ſchmückende Gliederung der großen
Verkleidungsflähen zu Maßitabverzerrungen, unnatürlichen Scheinarditekturen,
furz zu äußerlich fpielender Behandlung führen wird, zum geraden Gegenteil
des Wagnerſchen Grundfages: „Der Architekt habe immer aus ber Konftruftion
die Kunſtform au entmwideln.*
Kunftwart
— 34 —
Ein beionders ausgeprägt erfreulicher Zug in der Gntwidelung der
Architektur des letzten Vierieljahrhunderts ift, daß der Sinn und das Ver—
ſtändnis für den Materialitil und der Stil der verfchiedenen Techniken ſtark zu—
genommen hat. „Aber diefer Zug gab zunächſt nur die Veranlaflung, da in
verschiedenen Städten und Landitrihen an jene heimifhe hiſtoriſche Bau-
reife wieder angelnüpft wurde, in der die jemeilig zu Gebote ftehenden Bau—
ftoffe die anfprehendfte fünftlerifhe Verwendung gefunden hatten. So griff
man in der Mark die Badfteingotit, in Frankfurt a. M. die dem roten Main
fanditein befonbers günstige deutſche Renaiffance, in Nürnberg die dem dortigen
Sandftein angepafßte Früh-Renailfance, in Münden den Puhbaroditil wieder
auf.” Das ift ein entſchiedener Fortfhhritt gegenüber der früheren Surrogats
Wirtſchaft, aber ein neuer Stil, geſchweige denn ein einheitlicher neuer Stil
fann ſich daraus nicht entwideln.
Ein folder einheitliher neuer Stil, ber nicht bloß die Ardhiteftur in fich
begreift, kann fich nur bilden aus unferen gefamten Lebensverhältniſſen, unjerer
gefamten Lebens- und Weltanfhauung. Diejes Lebensgefühl und damit aud)
unſer Formgefühl wirb nun allerdings auch durch die überall hervortretenden
Wirkungen der modernen Technik beeinflußt. „Alle Wahricheintichkeit ſpricht
aber dafür, da ein fo breit murzelndes neues Formgefühl zuerſt auf den
Gebieten des Kunſtgewerbes, der Dekoration, der Kleinkunſt zum Durchbruch
gelangen wird; benn hier fann fi troß ſtarker Abhängigkeit von den praf-
tifhen Anforderungen des täglichen Lebens am freieften und Teichtejten ein
neuer Formen und Farbenfinn ausheben‘, hier bewährt und verſchlingt fid)
am unmittelbariten und mannigfaltigiten die amedli bedingte Körperlichkeit
teftonifcher Gebilde mit der Gejftaltenwelt ber malerifchen, plaftifchen und
dichterifchen Phantafie.”
Falls aber für die Architektur überhaupt eine Entwidelung nad) einer
einheitlichen Stilrichtung erwartet werden fann, jo fünnte e8 fih nur um einen
Raumjftil handeln, nicht aber um einen organifhen Monumentalftil, da ein
folcher ein neues Ronitruftionsprinzip vorausfegen würde, ein ſolches aber
nicht mehr denkbar ift. Die Unterfcheibung bdiefer beiden Stilarten ftammt
von Jakob Burdhardt. „Die organifchen Stile,* jagt er, „haben immer nur
einen Haupttypus, ber griedhifche ben oblongen reditmwinkligen Tempel, der
gotische die mehrſchiffige Kathedrale mit Fronttürmen. Sobald fie zur abge
leiteten Anwendung, namentlid” zu fombinierten Grunsplänen übergeben,
bereiten fie fih vor, in Raummpftile umzuſchlagen. Der ſpätrömiſche Stil ift
ſchon nahe an diefem llebergange und entwidelt eine bedeutende Raumſchön—
Beit, die bann im byzantiniſchen, romaniſchen und italieniſch-gotiſchen Stil in
ungleihem Grabe meiterlebt, in der Renaifjance aber ihre volle Höhe erreicht.“
Burdharbt nennt alfo Raumitile alle die Stile, deren vollendete architeltoniſche
Ausdrudsform nit nur ein Haupttypus räumlicher Anlage fein kann, welcher
ber techniſchen und äjthetifchen Leiftungstraft des konſequent durchgeführten
Konſtruktionsſyſtems am meisten entſpricht, die vielmehr in mannigfaltigen
Raumtgpen und ihren Verbindungen — „tombinierten Grundplänen“ — „eigenen
und großen Aufgaben“ gerecht werden, „welche ein organiſcher Stil gar nidt
würde innerhalb feiner Gefege Löjen können.”
Alſo nur ein folder Raumitil ift bei der jhier unbegrenzten Verjchieden-
artigfeit der Raumgeftaltung und Raumlombination in der modernen Archi—
teftur möglich; das Formgefühl aber, das in die Baulunſt der Zufunft eine
einheitlihe Grundftimmung Hineinbringen könnte, wird bei ber Formgebung
. Märzheft 1899
m 565 —
des Einzelnen und der Dekoration einfegen müffen. Seine vorherige Ent
widelung auf bem Gebiete der beforativen Kunſt lafien nad Streiter unjere
modernen Aulturverhältniffe befonders glaubhaft erfcheinen.
Das dritte Kapitel, beffen Hauptinhalt wir hier kurz wiedergegeben haben,
bildet den Höhepunkt der Erörterungen. Das vierte, das ben Beitgeift und die
Architektur behandelt, enthält zwar auch noch viel Intereſſantes, ift aber nicht
von fo durchſchlagender Bedeutung, wie namentlich das über Konſtruktion und
Kunftform.
Streiter bezeihnet als Geift unferer Zeit, wie er fi in den ardjitefto-
nifhen Beitrebungen äußert, zunähfi das Gritarten des Nationalitätsgefühls,
bie Forderung, daß die Architektur national fei. Ich felbjt habe mid) in einem
Aufjage über Dresdner Architeltur über die harakteriftifchen Züge einer beutjch-
vollstümlihen Baukunst fo ausgefproden: „Deutſch iſt nicht die Haffifche Kühle
und Ruhe der Griechen, deutſch ift vielmehr warmes frifch pulfierendes Leben,
nicht die formale und regelmäßige Schönheit, fondern die innerliche Befcelt-
heit, nicht eine in fid) harmoniſche, reihe Schaufeite, die feinen Schluß auf das
für fich beftehende Innere zuläßt, fondern: daß das Aeußere in feiner Mannig—
faltigeit, ja Unregelmäßigfeit das Innere offenbare; deutſch ift nicht Die
Dugendjhablone, Sondern die immer neue individuelle Charafteriftif, nicht Die
(von Otto Wagner gepriefene) „antififierende Horigontallinie*, fondern die Viel-
geltaltigfeit ber Linien, unter denen der fenlredten, der aufwärts ftrebenben,
ihr volles Recht zukommt, ja die in dem hohen Dade, in den Giebeln und
Erfern, in den Türmen und Treppenbauten oft geradezu für ben äſthetiſchen
Eindrud das beftimmende Motiv ift. Kurzum, deutſch iſt der ganze Reichtum
an malerifchen Elementen, der eben bie deutjche Renaiffance vor allen anderen
Bauſtilen auszeichnet.“ Diefe Anfichten billigt auch Streiter, indem er mit
Robert Neumann als Karakteriftifch für die beutiche Kunft und als erhaltens-
werte Vorzüge bezeichnet: das Vorwiegen des Gedankeninhaltes über das
Formale in der Darftelung der Runftgegenftände, das kräftige Hervortreten
der individuellen Eigenart des Einzelnen, das Iebhafte Naturgefühl, den Sinn
für das Malerifhe. Daß ſich diefe deutfhevollstümlidhen Züge an verſchie—
denen Stilarten offenbaren können und daß aud) der deutſche Baroditil nicht
als ſchlechtweg undeutſch bezeichnet werben darf, iſt wohl jelbjtverjtändlid.
Nächſt dem nationalen Zug behandelt dann Streiter die Frage, inmie-
weit der hiftorifche Sinn unferer Zeit, insbejondere die hiftorifche Pietät ber
Entwidelung einer felbjtändigen modernen Baumeife hemmend im Wege ſteht.
Das Ergebnis ift, da mit der Steigerung der funftgefhichtlichen Objektivität,
des geichichtlichen Verſtändniſſes auch die äfthetiiche Objektivität gewachſen fei.
Man ftreitet nidyt mehr über das „einzig wahre Prinzip“, fondern duldet die
verfchiedenen Stile neben einander; man hat nicht mehr den Wut, die Ueber—
zeugungstraft, für feinen eigenen Standpunkt eifrig Propaganda zu machen;
man fcheut fich, ftilfritifch zu unterfuchen, welche Formenſprache dem Lebens=-
gefühl des modernen Menſchen wohl die meilte Ausdrudsfähigfeit entgegen=
bringen könnte, man hat fid) daran gewöhnt, in abwechſelungsreichem Geniehen
jedem Stil feine befondere Stimmung nachzuempfinden und je nad Bedarf
zur Erzeugung diefer oder jener Stimmung bei Neubauten dieſen oder jenen
Stil zu wählen.“
Inmitten der Gahrung, des unlicheren Sucdens und Ringens auf allen
®ebieten der Gegenwart erfheint Streiter der hiftorifche Sinn, die Anhänglich-
feit an das Alte nicht als eine jentimentale Schwäche, jondern als eine tief-
Kunftwart
— 56 —
begründete Folgeeriheinung, ein Segen, eine Pfliht. Mit diefer Pflicht, das
Alte zu erhalten, das Neue an das Beitehende anzufchmiegen und einzufügen,
hält Streiter die volle Erfüllung aller praftiihen Anforderungen der Neuzeit
vollftändig vereinbar; und indem er fo auf eine „Eonfervativsfortihrittliche*
Schaffensweiſe zukommt, tritt er auch mit dem Rembrandt-Deutſchen für einen
gewiſſen Partikularismus in der deutſchen Kunft, für „architeltoniſche Volls—
trachten“ ein.
Schließlich ſpricht Streiter, nachdem er den ſogenannten demokratiſchen
Grundzug der Kunſt unſerer Zeit geſtreift hat, von der unſerem Jahrhundert
eigenen ſcharfen Trennung zwiſchen weltlicher und geiſtlicher Kunſt. Auf reli—
giöſem Gebiete herrſcht jetzt, wie Jakob Burckhardt treffend ausgeführt hat,
eine unverkennbare Unſicherheit, aus welcher eine ungemeine Empfindlichkeit
gegen angeblich nicht heilige Formen folgt; ein ſtark peſſtmiſtiſcher Zug gebt
durd) das Geiftesleben des ı9. Jahrhunderts. Diefe beiden Züge find für den
Urhaismus in der Kirchenbaukunſt erfordberlih. Es „muß mit Sicherheit er-
martet werden, dab der zunehmende religiöfe Jndifferentismus die firchlich ge»
finnten Kreiſe mehr und mehr in der Ueberzeugung befejtigen wird, daß e8 das
einzig Richtige fei, an der ftimmungsoollen Kunſt einer glaubensträftigen Ver—
gangenheit feftzuhalten, an einer Kunſt, deren feierlich ernite Größe erfahrungs—
gemäß auch auf die Freidenfer ihre Wirkung nicht verfehlt“. Die Verfuche,
für den proteftantifhen Kirchenbau einen felbftändigen Typus gu entwideln,
begegnen fortgejeßt den größten Schwierigkeiten. „In Bezug auf die Raum—
anlage iſt Neues gewagt worden, in ftiliftiiher Hinfiht aber ift man um fo
tonfervativer geworden. Man fürchtet eben, bei alljeitigem, »rationaliftifchem«
Vorgehen (mie es das Mittelalter unbedenklich wagte), über fur; oder lang
bei einem mehr oder weniger fünftlerifh ausgefhmüdten Hörfaal für ethiſche
Vorträge anzulangen. So Stark aber die Bande ber Tradition in der firdlidhen
Kunst find, fo meint Streiter im Hinblid auf die gefhichtliche Folge von
Gotik, Renaillance, Barod, Rokoko im Kirchenbau doch, daß eine ähnliche ftili-
ſtiſche Beeinfluffung der religiöfen Kunft von außen her auch in Zulkunft ſich
vollziehen fanın, ohne daß Wanblungen ber innerlirhlichen Verhältniffe Hierzu
den Anitoß geben. „Sobald in der Profankunft ein beitimmt ausgeprägtes,
jtarfes und einheitliches Formengefühl fi entwidelt hat, wird ſich auch bie
firhlihe KHunft gegen den allgemein herrſchenden Gefhmad nicht verſchließen
können.“
Streiter ſchließt ſeine Ausführungen über die Möglichkeit eines neuen
Stiles peſſimiſtiſch, wenn auch nicht ganz hoffnungslos ab. Er bringt Stimmen
bei, die nur jugendfriſchen Völkern die Kraft zuſprechen, einen eigenartigen
Kunſtſtil zu ſchaffen, und den Hinweis, daß die europäiſchen Kulturvölker ihr
Jünglingsalter zur Zeit der Kreuzzüge und der Minneſänger hatten, jetzt aber
im arbeitsjamen, auf Erkenntnis und Erwerb gerichteten Diannesalter jiehen.
„Darum dürfte aud) in ihrer Kunſt männlich-ernſte Befonnenheit den natür—
lihen Grundzug bilden und ber Realismus feine tiefe innere Begründung
haben als Gegengewicht gegen einen unechten, erfünftelten, unzeitgemäßen
Idealismus.”
„Sp möge denn aud) der arditeltoniiche Realismus fid) heilſam ermeifen
gegen Unmahrheit und Knechtheit, gegen falſches Pathos und Hohles Phrajen-
tum. So möge er reinigend und ftärfend die Ardhiteltur der Gegenwart durch—
dringen und fie einer neuen Blüte entgegenführen. Dieje Blüte wird freilich
zu ihrer vollen Entfaltung der wärmenden Sonne neuer Jdenle, neuer geiftiger
1. Märzheft 1899
— Mo.
Dafeinsmwerte nicht entbehren können. Denn alle höchſte Kunſt it ibealiftifch.
Und für die Baunkunſt aud gilt das Dichterwort: „Es ift der Geilt, ber ſich
den Körper baut” (nicht „ſchafft“, wie Streiter falſch zitiert).
Ih habe mic; bemüht, den Gedanfengang Streiters in Kürze rein fach
Tich wiederzugeben. Ich konnte dies um fo eher thun, als ich mid) feinen An—
fihten faft durchgehends anſchließen möchte. Er hat das Berdienft, die fo
ſchwerwiegende und immer wieder befprochene Frage eine® modernen Stils
unter allfeitiger Heranziehung ber einfhlägigen Literatur und mit gründlicher
Sadlenntnis jo weit geflärt zu haben, als es die gegenwärtigen Zuſtände
überhaupt zulaffen. Innerhalb des Labyrinths der verjchiedenartigiten An—
fihten über die Möglichkeiten und die Ausſichten eines modernen Stils bietet
feine Schrift einen Leitfaden, deffen befonnene Ausführungen vielen höchſt wills
fommen fein werben. Panl Shumann.
Der Fall Diefenbach.
Ueber Karl Wilhelm Diefendbah muß auch der Kunſtwart wieder einmal
ipreden. Halten wir uns ganz unbefangen. Sören mir alfo zunächſt, was
uns unjer Wiener Bertreter darüber zu fagen hat — für Diefenbach vorein=
genommen ift er gewiß nidt. Schölermann alfo fchreibt uns:
„Seit Jahren nimmt das bedauernsmwerte Schidfal Diefenbachs die Teil—
nahme weiterer Sreife in Unfprud. Auch im Sunftwart war mehrfach von
feinen Werken die Rebe. In jüngjter Zeit hat die Wiener Preſſe ſich noch
häufiger als fonft mit ihm befhäftigt. Auf die Einzelheiten einzugehen, iſt
bier nit notwendig. Nur foviel, daß unlängft, wie e8 vorauszufehen mar,
der Konkurs über Diefenbah und die Kolonie, welche feinen Haushalt mit ihm
teilte, erflärt worden ift.
Bei dem Dunkel, das die Lebensweiſe und bie Perfon Diefenbahs ums
gibt, bei ber Heftigkeit, mit der für und gegen ihn Partei ergriffen wirb, fcheint
es dringend geboten, einmal Flärendes Licht in bie vielen Widerſprüche
zu bringen, welche wieber und mwieber bie Gemüter aufregen. Objektiv zu ur—
teilen ift meiner Anfiht rad) nur ber im Stande, ber in perfönliche Berührung
mit Diefenbadh und feinen Anhängern zu fommen Gelegenheit gehabt hat, ohne
dadurch in die Schar feiner Jünger, oder feiner Gegner hineingetrieben zu jein.
Meine zufällige Bekanntſchaft mit zwei Diefenbadianern war die Ber:
anlaffung zu einem Befudh im »Himmelhof«, einer alten Billa in Ober-St. Beit
bei Wien, wo vergangenen Sommer ber Meiſter und feine Jünger in lieblicher
Gegend eine fommuniftifche Heine Gemeinde bildeten. Wenn der Lefer aus den
nun folgenden Mitteilungen hie und da mir ben Vorwurf unnötiger Schärfe
und Härte machen follte, jo muß ic) ihn hinnehmen im Bewußtſein der Pflicht,
die Wahrheit und Hlarheit aud) da unter allen Umftänden aufrecht zu erhalten,
wo es fih um einen in ungünftiger Lebenslage befindblihen Mann handelt,
der in mehr als einer Hinficht trog alledem unfer Mitleid verdient,
Die unliebfame Erfahrung, durch perfönlidhe Belanntfchaft mit einem
„berühmten“ Dianne jozufagen aus allen Himmeln gejtürzt zu werben, bat
Kunitwart
wohl faft jeder im Leben einmal gemadt. Wenn es mir nun aud nidt fo
mit Diefenbad) ging, weil id) meine Erwartungen nicht überhoch geipannt hatte,
fo war es doch eine jener Enttäufchungen, die man nicht wieder vergiht. Ich
hatte einen milden, von feelifher Hoheit durchleuchteten Menſchen ermartet.
Was id) fand, war ein leidender Mann mit nervöfen, fladernden Augen, ber
mir in einer mwohlgejehten Rede zum Empfange feine ganze Lebensanſchauung
fogufagen über den Kopf fchüttete, mit dem Refrain, daß bie übrige Menſch—
heit fich gegen ihn verfchworen habe. Auf feine Qebensmeife will ich Hier nicht
mweiter eingehen. Daß Diefenbady gute Ideen hat, ift wahr, nur find fie uns
geflärt und viel zu negativ und fulturfeindlih, um fruchtbar fein zu können.
Dann ift auch das Wahre daran nicht neu. Daß der Menfh in Licht und
Sonne leben fol, ijt ridtig, ebenfo dat man ohne Fleiſchkoſt Teben und ges
jund fein fann, fogar im nordifhen Klima. Anders verhält ſich's mit ber
ethifhen Frage in Bezug auf die Tötung von Tieren. Ließen wir 3. B. alle
Häslein leben, die im Laufe von zehn Jahren zur Welt fämen, fo würde fein
einziger Kohltopf mehr für die Vegetarianer übrig bleiben. Und wenn Freund
Staar, Sperling und Konforten unfere Kirſch- und Pilaumenbäume ganz uns
geitört plünderten, wovon wollten die Fruchtejier leben? Wer neben bem er—
zeugenden Prinzip das ergänzende und ausgleichende der Zerftörung und Weg—
räumung nicht in der Natur zu erfennen vermag, ber fann mit fih und der
Welt nicht zur Klarheit und Verföhnung fommen.
Mas uns hier mehr interefjiert als das Menfchheitsapofteltum Diefen-
bachs, ift aber die Frage, ob feine unausgefegte Anklage gegen die Menſchheit
berechtigt ijt oder nidt? Man muß e8 verneinen. Da ich nicht zu benen ge—
höre, die in die Lage gelommen find, Diefenbad) helfen zu können, fo wird
man mich nicht mißverftehen, wenn id) fage, daß Diefenbad öfter und mehr
geholfen worden ift, als vielen, die in ähnliche Lebensverhältniſſe gerieten,
wie er. Mas aber ſelbſt die größte Bereitwilligkeit und fyreigebigleit ſchwer
erträgt — meil wir nun dod) einmal Menſchen find —, das ilt die Boraus-
fegung feitens des Empfangenden, daß es die Pflicht und Schuldigfeit ber
verblendeten Menſchheit fei, ihm zu helfen. Wird diefe Vorausſetzung, wie es
von Diefenbad und feinen Angehörigen gefchieht, immer und immer wieder
laut und heftig ausgeſprochen, jo fchredt das die Wohlwollenden ſchließlich
doch ab. So ging e8 hier; denn im Lauf der Jahre hat Diefenbah mehr als
einmal einflußreiche und wohlhabende Kreiſe für fich zu intereffieren gemußt.
Kein Wort der Verföhnlichkeit und Milde, von Dank zu ſchweigen, wird man
aber aus feinem Munde vernehmen, nur Grol, Abjheu und ein Wühlen
und Glorifizieren in feinem eigenen Märtyrertume, wie man e8 oft bei Naturen
findet, deren Ehrgeiz und Hoffnung Schiffbrud gelitten haben, und Deren Gecle
nicht jtark genug war, um Enttäufhungen allein zu tragen.
Vor etwa Jahresfrift erließ die »Ehrenvereinigung zur Rettung K. W.
Diefenbadhs« einen Aufruf, der als Plakat gedrudt an den Straßeneden und
Littfaßſäulen angebradjt war. Unter einem Leidbenshaupt mit den Zügen Diefen=
bachs war die Aufforderung zum Bejud) der Austellung feiner Bilder gedruckt.
Die Namen zweier Ritter von Spaun als Unterzeichner diefes Aufrufs der
Ehrenvereinigung wirkten ſehr einnehmend auf die Wiener, einmal von wegen
ber »Ritterfchaft«, dann aber noch befonders, weil die Vorfahren diefer Familie
eine Rolle fpielten in dem gaſt- und kunſtfreundlichen Kreife, mo Mori von
Schwind, Schubert, Lachner u. a. verfehrten. Auch auf mid, den »Ausländer«,
madten dieje Namen einen günftigen Eindrud. Daß diefe »Aufrufenden« jelber
1. Märzheft 1899
— 369 —
zur Saushaltung Diefenbachs gehörten, d. h. mit ihm und von ben Mitteln
Tebten, die ihm auflofien, mußte ih damals nod nidt. Wie man unter Jbeal-
menschen über die Juläffigfeit einer derartigen, jagen mir »unbeabfidtigten
Verleitung zum Mikverftändnis« denkt, weiß ih nit. Der Aufruf war aber
an die Nicht-Idealmenſchen gerichtet, und unter diefen bezeichnet man fo etwas
mit dem Worte Rellame. Nun ift ja die Reflame an ſich nicht unbedingt ver—
dammungsmwürdig. Auf bem Gebiet des Idealen hört aber nad) meiner un:
maßgeblihen Anſicht die Zuläffigfeit da auf, mo der geſchäftliche Nutzen, oder
die Hoffnung auf einen ſolchen, anfängt. Ueber die foziale Durhführbarfeit
des Kommunismus mag jeder feine eigene Auffaffung haben; die Zweckmäßig—
keit desfelben in diefem Falle und die firenge Kontrole über die Einnahmen
jeines Kreiſes und jedes einzelnen Mitgliedes besfelben laſſen den praktiſchen
Meltveritand und organifatoriihen Sinn des Meiſters in durchaus günftigem
Lichte ericheinen.
Seine vielfach wechſelnde Jüngerichar, die er intelleltuell und namentlich
durch feine Willenszähigkeit natürlich überragt und beherrfcht, kommt als geiftiger
Faltor faum in Betracht. Durch einfaches, nüchternes Leben und friiche Buft
iſt es ihm gelungen, feine Rinder zu körperlich gefunden und natürlichen Men—
ſchen zu maden; daß durch Aeußerlichkeiten in der Belleidung und auffallende
Namengebung auch andere, fehr menihlide Schwächen früh ausgebildet wer—
den, braudt man nicht allzuhoch anzurechnen, da dieſe aud) in anderen Sphären
vorfommen. Sntereffant war für mid) nur die auffallende Betonung bes
Mortes »Nitter« in diefer Umgebung. Ich bin anardiftifhen oder ſozial—
demokratischen Zdealen nicht zugethan. Es gehört zu ben Grundlagen meiner
innerjten lieberzeugung, daß ein Ritter Dasfelbe Recht hat, fi des Lebens zu
erfreuen, wie andere Menſchen. Ob aber die volllommene Entäußerung alles
MWeltlichen und Allgumeltlichen jich nicht auch mit dem Verzicht auf den »Ritter«
harmoniſch vereinigen liebe, ift eine Frage, deren Beantwortung wir benen
überlaffen müſſen, die fich nur nod) in der idealen Zone des Naturmenſchen—
tums bewegen.
Dan mißverſtehe mid nicht! Ich kämpfe nicht gegen Berfonen. Wenn
der Tal Diefenbach eingehendere Erörterung verdient, fo fommt e8 in eriter
Linie auf das Typifhe dabei an. Und dieſes Typifche ift das Gefährlihe,
Srreieitende baran, ilt das, wogegen einer einfichtigen Kritik nichts anderes
übrig bleibt, als energifd; Front zu machen. Wer die Abficht Hat, Diefenbad
in feiner jegigen Zage zu helfen, der wird fid) durd) das von mir Gefagte, wenn
er's richtig verftanden, nicht abhalten laſſen. Die verkehrten Schlüffe aber, die
man aus dem Scheitern von Diefenbachs Leben und Streben vielfad gezogen
hat, beweiſen aufs neue, Daß e8, wie zu allen Zeiten, auch heute noch in Diefer
Melt des Schein der Brauch »Irrtum ftatt Wahrheit zu verbreiten«. Die Ans
feindung oder Verhöhnung eines Menſchen von urſprünglich hohem Streben,
wie Diefenbad), bleibt immer pöbelhaft; feine Berhimmelung aber iſt übertrieben.
Koh ein Wort über die Kunſt Diefenbadhs, ſoweit id) fie kenne. Was
ih an fertigen Gemälden fah, war oft tief und ſtark empfunden, oft vollitändig
unfünftlerifd) in der Behandlung. Das cedelite und wirklich bedeutende Wert,
ber lange Silhuettenfries „Per aspera ‘ad astra“, iſt befanntlih von Karl
Höppeners Hand ausgeführt worden. Man mag nun über »geiftige Urheber—
ſchafte denten wie man mill, jedenfalls ift bei der bildenden Kunſt die
ausführende Hand nicht nur »faum zu entbehrene, jondern an fie und ihre
Kraft de8 Ausdrucks müffen wir uns in erfter Linie halten, wenn wir bie
Kunftwart
- 0 —
fünftlerifhen Werte eines Werkes erkennen und abmwägen wollen. Höppener
ober Fibus, mie er von feinem Lehrer getauft warb und fi als Stünitler
noch jest nennt, hat diefem ſtets ein dankbares Ungebenten bemahrt, was aus
zahlreichen feiner mündlichen und ſchriftlichen Weußerungen bervorgeht, bie
nad ber Trennung erfolgt find. Anders Diefenbad. Ih Habe felten lieb—
lofere, um nicht zu jagen gehäffigere Ausdrüde vernommen, als der Meifter
über feinen Fidus — nun »Infibuse — wie überhaupt über alle diejenigen,
welche einit feine Anhänger waren, ohne Zögern ausſpricht. Was mir vor
allem pſychologiſch auffällt, ift, daß erſtens die hohe wirkliche Bornehinheit der
Gefinnung und zweitens die milde, reine, vergebende Menfchlichkeit nicht zu
ihrem Rechte fommt bei einem Manne, ber ſich mir gegenüber wiederholt mit
Jeſus Ghriitus verglichen hat, nur mit dem Unterſchiede, daß Ehriftus nicht im
entferntejten die Leiden zu erdulden gehabt habe, wie er, Diefenbadh. Man
mag ſolche Vergleiche geihmadvoll finden oder nicht, auf jeden Fall wird man
dem Meifter den Vorwurf übergroßer Beicheidenheit nit machen können.
Soll id meine Unfiht über Diefenbad als Künftler zufammenfaffen, fo
ift e8 bieje: durch fein abnorm entivideltes Selbjtgefühl und den fteten Wider:
ſpruch mit der ihn umgebenden Welt, ift fein urſprünglich reines Empfinden
mehr und mehr getrübt worden, biß c8 ben ganzen Menſchen mit der Unver:
föhnlichkeit des ftarren Fanatikers erfüllte und feine ſchöpferiſche Kraft wie mit
einer unfrucdhtbaren Dornenhede umzog. MWilbelm Shölermann.”
So meit unjer Wiener Mitarbeiter — aber derfelbe Schölermann fandte
uns zu dieſen jelben Zeilen aud) warme Worte eines Aufrufs für Diefen-
bad. Was uns felber betrifft, fo bezweifeln wir feinen Augenblid, daß all
bie Erfcheinungen, die Schölermann ſchilderte, fo find, mie er fie fchilderte,
aber unfre Beurteilung iſt doch eine andre. Es ift Thatfahe, daß fi das
Reklamehafte“ bei Diefenbach erft langfam nah und nad entmidelt Hat.
Hätte man ihn gehn laſſen, wie er wollte, es Hätte ja freilich in feinem Höllriegels—
greut zu großer „Reklame“ faum kommen fönnen. Dagegen, aud) das tft That-
ſache, verfolgte und verguälte und verärgerte unfre „offizielle Welt“ den Mann,
wo ſichs nur irgendwie machen ließ, meil er anders, nur, meil er anders
war, als die andern. Das ilt e8, was mich perſönlich angemidert bat, fo
lange ich Diefenbadh8 Reben und Leiden zufehe (und ich Habe ihm ziemlich aufs
merkſam zugejehen): dieſer Bhilifterhaß gegen das Abrveichende, dieſe Unduld—
jamteit gegen das Ungemohnte, diefer Lieberlegenheitsdünfel der Obrigfeiten und
ber Mehrheiten, die zahlungsfähig auf ihr Portemonnaie mit ererbten Wert—
urteilen klopfen, in dem dod wahrhaftig auch Gold» und Scheidemüngen
nebeneinander liegen. Möglich it, daß dadurch der Phantaſiemenſch Diefen-
bad) geijtig frant geworben tft, ja, e8 wäre ein Wunder, wär es nicht fo.
Aber dann hat unfere Gefelihaft nicht das mindeite Recht, ihm fein fpäteres
Treiben und Laſſen vorzumägen. Bielmehr: fie hat die Pflicht, ihm zu helfen,
jest erft recht.
Sie könnte dem übrigens fehr einfach nahlommen, und zugleich ſich jelber
einen Dienft tun. Nämlich: durch Ankauf bes großen Silhuettenfriefes „Per
aspera ad astra*, „Es entjtrömt“, fchreibt eben Schölermann darüber, „der
ganzen Kompofition und Ausführung ein fo reiner, von Frühlingsduft um—
mehter Klang, daß das Werk unbedingt für jedermann zugänglid gemacht
mwerden follte.* Wir bringen Bruchſtücke daraus auf unfern heutigen Bilber-
beilagen — wer ben Fries nicht kennt, wird ftaunen darüber, dab das fon
längjt Geſchaffene nicht Schon Längft Gemeingut der Kunftfreunde ift. Und bie
ı. Märzheft 1899
- MM —
Autorfhaft? „ES ift Diefenbachs Beſtes“ — ja, das ift es, aber man wolle
nidjt vergeffen: e8 iſt auch Fidus' Beſtes, zum minbdeften das Befte aus Fidus’
früherer Zeit. Neben dem Schüler hat hier doch alfo wohl auch der Lehrer
gegeben, wie Fidus felber jtet8 vornehm anerkannt hat. Und fei dem, wie ihm
wolle: das ganze Werk Hat unbedingt Anſpruch darauf, in öffentlichen Beſitz
zu treten. Und e8 wäre doch ſchön, wenn Diefenbady jelber das Geld dafür
befäme, und nicht erjt irgend ein Stunfthandelsmann, der in Vorausficht der
fünftigen Preisfteigerung jest bei der Auktion ein Spefulatiöndhen wagte. 2.
Lose Blätter.
Aus „Prometheus und Epimetbeus”
von Felir Tandem.
Mit den folgenden Stüden mödten wir unfere Lejer auf eines ber „fon
derbariten“ Bücher aufmerffam machen, das die neuere deutihe Literatur ges
ichaffen hat, auf ein Werk, das bei feinem Erjcheinen die lebhafteſte Teilnahme
von Männern wie Gottfried Keller, KH. F. Meyer, Friedrich Nietzſche und andern
wahrhaft bedeutenden erregt hat, das aber ganz ungewöhnlich ftarfe Anforde—
rungen an das Denken und die Phantafie der Leſer ftellt und deshalb nicht
nur den großen Maſſen, fondern auch unfern jüngſtdeutſchen Kritikern und
den afademifhen Fachmännern der Literaturgefhichte unbefannt geblieben ift.
Gine Befprehung des Buchs verbietet fih an diefer Stelle dadurch, daß
Felix Tandem der Pfeudonym unfres Mitarbeiters Carl Spitteler war.
Und was eine Inhaltsangabe anbetrifft, jo madjt die Wiedergabe der erjten
einleitenden Stelle eine Andeutung darüber unnötig, eine Zufammen=
faffung ber Handlung aber ift mit kurzen Sägen nit zu geben. Unſer
zweites und drittes Stüd find Proben aus den „Erzählungen“, die Prometheus
feinem kranken „Hündchen“ mitteilt. Nimmt der Leſer das bei Sauerländer in
Yarau erfhienene Bud) felber zur Hand, und lieſt er's mit wirklicher Vertiefung
in feine Welt, die an Nießfche erinnert und body ganz eigentümlich ift (die
Dichtung erfchien bereitS 1880 im Drud!), jo wird er daraus auch Stimmen
ganz anderen Klanges ſprechen hören, als hier wiederhallen. Freilich wird der
fühn jymbolifche Charakter des Werks überall’gemahrt, und auch feine fatiri=
fhen Schilderungen gehen immer aufs Große, auf8 Monumentale hin.
*
Es war in feiner Jugendzeit — Gefundheit rötete fein Blut und täglich
wuchſen jeine Kräfte —.
Da fprad Prometheus Uebermutes voll zu Epimetheus feinem Freund
und Bruder:
„Auf! laß uns anders werben, als die Vielen, die da wimmeln in dem
„allgemeinen Haufen!
„Denn fo wir nad) gemeinem Beifpiel richten unfern Brauch, jo werben
„wir gemeinen Lohnes fein und werden nimmer fpüren abeliges Glüd und
„leelenvolle Schmerzen!“
Und in dem Undern zündete das Wort, und alſo madten fie fi auf,
und wo am jtillften war ein Thal, und wo am laufdigften fi fügten die
Berge, da wählten fie ihr Heim und bauten ein Jeglicher fein Haus von hüben
und von drüben an dem flaren Brunnen.
Kunftwart 5
- 32 —
Und allda lebten fie getrennt von allem Volt und gingen nicht zu opfern
bei der Brüder Göttern, und gingen nicht zu Markte kaufen von ben richtigen
Begriffen, und wenn die Andern fangen, fangen fie nicht mit.
Und legten einen Ballen vor ben Weg und fperrten mit Schloß und
Riegel wohl das Thal und nahmen fein Gefek und feine Sitte an, und war
ihr einziges Gebot ber eignen Scele Flüftern, wenn fie finnend wanbelten in
Wald und Hain und an bes Berges duftgen blumigen Gelänben.
Und über alle dem, jo warb befonders ihre Art und anders ihre Spradhe,
alfo daß fie jagten „ı“ wo Alle fpraden „[*, und daß fie rüdlings fi ver—
neigten, wo die Undern fi) befreuzigten in ihres Herzens andachtvoller, ftau=
nenber Verehrung.
Und warb baraus ein gegenjeit’ges Mikverhältnis hin und her, und es
geihah, wenn ab und zu ein Zufall oder auch gejelliges Verlangen fte ver-
führte in der Brüder ſtreis, fo ftodte alljofort das Spiel und murde ſtumm
das trauliche Gefpräh — und fanden feinen Pla und paßten nirgends hin
und waren allerorten fremde unmilllommne Gäſte.
Und Abends, wenn fie gleich den Andern auf ber großen Straße fich er=
labten an ber ſommerlichen Luft, da faken vor dem Thor die Aelteſten des
Volks im Sonnenfhein und flüfterten und ſprachen Einer zu dem Anbern mit
Behagen:
„Bon wannen fommen Die? und nicht gemein ift ihre Art, jedoch e8
„tehlt darin ein Etwas, das ich fehr vermiſſe.“
Und glei gejtimmten Muts ergänzte und fprad) der Andre:
„Und aud) ein Etwas ift darin zu viel, daß mir mißfällt auf eine jede
Weiſe.“
Und Niemand, der nicht Anſtoß nahm an ihrer Art, ein Jeglicher von
einer andern Seite.
*
Und über dem im zwölften Jahr, als ſchon zum Winter neigte der
Herbſt, ba kam bie Zeit, daß ſich der Engel Gottes wähle Einen aus ber
Menfhen Schar und jege ihn zum König über alles Land an feiner Stelle.
Und drang ein bumpf Geräufh von diefer Nachricht in das Volk, und
mit geheimnisvoller Miene teilt’ e8 Jeder feinem Nädhjften mit, und Der bes
zweifelt’ es, befämpfte e8, uud trug es ameifelnd weiter...
* *
Und jetzt erſchienen ſieben ernſte Tage überm Land, da ward fein Laut
gehört und auch kein Lüftchen regte ſich im Raum, und ruhig ſtieg vom Berg
der Rauch empor und in den niedern Gründen lagerte geheimnisvoll ein
weicher duftger Nebel.
Und an der ſieben Tage Samstag wars, da wandelte Prometheus ſinnend
auf und nieder in dem Garten ſeines Hauſes, blickte ruhend durch die Nebel,
während unter feinen Schritten rafchelten die welken Blätter.
Und fon, vom langen Herbit beraubt, war arm bes Gartens Pradt,
und fpärlid Hing an Bufd und Baum das goldne Laub, und wen'ge dunkel—
rote Blumen ſchauten aus dem Nebelmeer hervor, — dod) eine reiche ahnungs-
ſchwere Stille brütete ob alle dem, die ward geheiliget durch einer Umfel leifes
Zwitſchern, wenn fie, träumend von des Sommers hingefhmundner Luft und
Wonne, huſchte durchs verlaffene Gehölz — und ſchien ein jedes Leben aus—
geftorben rund umher, und nirgends that fi eine Regung fund, als nur ein=
3’ger Sonnenftrabl, der fpielte auf dem grünen Rafen, jagte um ſich felbft mit
1. Märzheft 1899
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tindlidem Gemüt, verſchwand und kehrte wieder, fchlüpfte durch den Zaun und
zitterte am Blatt unb haftete am Boden —
Und während er fo ruhig wandelte und ſchön und heiter, wie von
innerm Frieden, leuchtete jein Angeficht und finnend meilte auf dem Sonnen-
ftrahl fein Blid, indes in weiter Ferne fchmeiften die Gedanten,
Da trat der Engel Gottes zu Prometheus unverjehenen Geſchehns und
redete und Sprach zu ihm mit Ernſt die ſchweren Worte:
„Prometheus, fühner Fremdling aus der Menfchen Banden! Ich Habe dich
„gemerkt feit langer Zeit und habe wohl betradjtet deines Geiftes Kraft, und
„nicht ift mir entgangen deines Weſens ungemeiner Reichtum!
Jedoch bei alle bem: verworfen wirft du fein am Tag bes Ruhms um
„deiner Seele willen, die da fennet feinen Gott und achtet fein Geſetz und nichts
„it ihrem Hochmut heilig, Jo im Himmel als auf Erben.
„Und drum, fo höre meinen Rat, und trenne dich von ihr und ein Ge
»wilfen geb’ ich dir an ihrer Statt, daß wird dich lehren »Heit« umd »Sleit« und
„wird did) ficher leiten auf geraden Wegen.”
Und es erwiderte und ſprach Prometheus mutigen Entjhluffes:
„Erhabner Herr! der du verteileft Ruhm und Schande in ber Menſchen
„Bolt mit eigenwilligem Beſchließen!
In Wahrheit Habe Dank! denn mild ift deiner Nede Sinn, und eines
„Breundes Meinung ſpür' ich wohl verborgen unter deinen Worten.
„Jedoch nicht ſteht's bei mir zu richten über meiner Seele Angeſicht,
„denn fiehe meine Herrin iſt's und ift mein Gott in Freud und
„LZeid, und was id immer bin, von ihr Hab ichs zu eigen.
„Und drum fo will ih mit ihr teilen meinen Ruhm, und wenn es muß
geihehn, wohlan fo mag ich ihn entbehren.“
Und über diefem Wort, da wurde finjterer des Andern Stirn und er be—
gann und warnte und ſprach — und mehr verfündete fein Blid als feines
Mundes Rebe:
„Prometheus! allzukeck it dein Gemüt, und allgufchnell bereitet fich dein
„Mund zum Widerftreben!
Jedoch ein Wichtiges bejtchet zwifchen dir und mir und deines ganzen
„Lebens Schidfal Tieget unter deiner Zunge!
„Und drum, zum andern Male achte wohl auf meinen Rat: es wird
„geihehn, wenn du es nicht vermagft, und did) befreift von deiner Seele un-
„gerechter Art, jo ift dahin für dich der vielen Jahre großer Kohn und beine .
„Herzens Glüd und all die Früchte deines vielgejtalten Geiſtes.“
Und wiederum beharrte und jprad Prometheus fejten Mutes:
„Erhabner Herr! der du ber Erde Luſt bewahrit in deinem Schaf und
„fern von deiner Gnade hat fein Glüd Beltand in eines Menſchen Herzen!
„Vielleicht du kennſt das Märchen aus der Menſchen Land: e8 war ein
„Mann, zu dem gerieten feine Freunde ängſtlichen Gemüts: „„ein fchlechtes
„Weib und fieh zu Tod und Sünde wird fie didy verführen.“*
„Und ruhig lächelte der Mann: „„Wohlan fo ſei's zum Tod und fei’s
„zur Sünbe.““
„Und alfo iſts mit mir und nicht in Freud und Leid vermag id) zu emt=
behren ihr geliebtes Flüjtern.“
Und über dem Befcheid, da wandte ſich der Engel, grüßte und jdhieb.
Und langfam zog er durch des Thales Schlucht und feste Schritt vor
Schritt mit zögerndem Verweilen;
Kunftivart
- 34 —
Und an des Thales innerften Verfchluß, ba hielt er gänzlich ftill und
ftand und wartete, wie wer da glaubt an Widerruf, und wer da hofft auf
feines Freundes fpätes enbliches Bebentfen.
*
Doch Epimetheus überm Bach vom nahen Haufe hatte wohl vernommen
jegliches Geſchehn und wohl verjtanden alle ihre Worte.
Und da er nunmehr jah den Engel mwartend jtehen an bes Thales Marf,
dba fam ein Geift der Klugheit über ihn, und heimlich fchli er aus dem Haus
und dudte fich und eilte auf verftedten Pfad, bis dab er war gelommen vor
des Engels Antlitz;
Und allda fiel er auf die Knie und betete und ſprach mit demutsvollem
Herzen:
„Mein Herr, mein Gott! im Jrrtum wandelt ich bis jeßt, gefangen durch
„des ältern Bruders Wort und Beiipiel;
„Doch nun fo ift nad Wahrheit mein Begehr, und fiehe meine Seele
„liegt in deiner Hand, und fo es dir gefällt, fo gib mir ein Gewiſſen, das mid)
„Iehre »Heit« und »Steit« und jegliches gerechte Weſen.“
Und alfo jprechend überreicht er ihm ein Käſtchen reich geſchmückt mit
Gold und Böjtlichen Gefteinen.
Und mit geneigtem Willen hörte der Engel fein Gebet und nahm das
Opfer an und that nad) feinem Wunſch und ſchenkt ihm ein Gemifjen gnädiger
Gemährung ;
Und über dem, dba madte er fih auf und war verfhmwunden in bes
Thales Falten. :
Und e8 gefhah, da Gpimetheus ſich erhob, da fpürt’ er größer feinen
Wuchs und feiter jeinen Mut und all fein Wefen war geeint und all jein
Fühlen war gefund von fräft’gem Wohlbehagen.
Und alfo kehrt er fihern Schrittes durch) das Thal, geraden Wegs, wie
mer da Niemand jcheut, und offnen Blicks, wie wen bejeelt bes eignen Recht—
thuns Angedenten.
Doc als er nun gelommen vor bes Bruders Haus, da redete und ſprach
zu ihm Prometheus bittern Grußes:
„Bon wannen fommit du? und was eralänzet wie vom Redtthun dein
„Befiht und mas verflärt fi) von Verrat dein Auge?
„Und mwahrlid) lieber wäre mir, daß ich Dich fähe auf dem Schandgerüft,
„veripottet von des Pöbels roher Schar, als daß du alfo Haft zerriffen unfern
„Bund und haft um Heit und Keit verhandelt deine freie Seele.”
Und ſprachs und wandte ſich und wechjelte in Bosheit alle feine Freundſchaft.
*
Das tote Thal.
In ferner Felſenwüſte wohnt' ein Mann, der lebte ſchlecht und recht im
Schweiße ſeines Angeſichtes mit ſeinen ſieben Söhnen. —
Und es geſchah des Morgens, wenn die Söhne ackern gingen auf dem
unfruchtbaren Feld, da warnte und ſprach der Vater mit beſorgten Mienen:
„Bor allem habet Acht, daß ihr das tote Thal vermeidet, das ba Liegt
„zur Rechten unterm Palmenhain, denn alfo hab’ auß meiner Eltern Mund
„ich oft gehört: es wird gefhehn, wer immer diefes Thal betritt, jo faſſet
„Bahnfinn feinen Geilt und nimmer wird er Freude finden alle Tage feines
„Lebens.*
1. Märzheft 1899
— 35 —
Und alfo ſprach er Tag für Tag und fie gehordten feinem Wort und
führten ein fleißig Leben fchleht und recht, im Schweiße ihrer Angeſichts,
jebod) zufriedenen Gemütes.
Doch eines Mittags, da fie ſich zu Tifche fegten zur gewohnten Zeit, ba
mufterte der Vater feine Söhne, ſuchte und zählte; und fiehe dal es fehlte
der Yüngite.
Und e8 ermwibderten und fpraden feine Brüder zu dem Bater tröjtenden
Gebahrens:
„Mit Unredt ängftigt fi dein Herz, denn fiehe, da mir ihn verliehen,
„war gefund und wohl fein Leib und beim Geräte blieb er noch zurüd unb
„alda bat er wohl gefäumt, jedoh in Kürze wird er ohne Zmeifel felbit
„ericheinen.”
Und mwährend fie noch ſprachen, that fi auf die Thür und fiehe da,
der Bruder trat herein, jedod das Haar entfärbt, das Angeſicht verzerrt, und
ganz verändert feiner Augen Bliden. —
Und heftigen Entfegens fprangen alle auf, umringten ihn, umbdrängten
ihn, beitürmten ihn beforgten Fragen®.
Und eine lange Weile ftand er ſprachlos da und feufzte und feudhte und
in die weite Ferne ftarrten feine Augen.
Doch endlich übte er Gemalt und zwang zufammen feinen Geift und
öffnete den Mund, erbleichte und fchauderte, erzählte und ſprach mit atem=
Iofer Stimme:
„Es ift gefhehn, da ich als Letzter Heimmärts fam gezogen nad) ge=
„wohntem Braud, da war vom Mittag hei die Luft und glühend das Geſtein
„und cine ſchwere Stille war gelagert überm ganzen Lanbe.
Und ba ih alfo müben Schritte fam gegangen zu den Palmen überm
toten Thal, da fühlte ein angenehmer Schatten meine Stirn, und unwillkür—
lich raftete mein Fuß, und ohne Abficht ſenkte ſich mein Blid und fiel hernieder
auf die bleiernen Gejteine. —
Und während ih fo ſchaute ohne Arg, dieweil mein Körper ruhete vom
beißen Gang: da laufchte mein Ohr und mie ein Summen brang® zu mir
herauf aus der verflucdhten Tiefe.
Und eine Weile glaubt ich’8 nicht, Doch um des Zweifels willen, ſchärft ih
meinen Sinn und dudte mid) und ſchloß das Auge und legte mich zur Erbe.
Und gänzlich deutlich hört ich's jeßt: ein taufendfältiges Geräufd von
vielverfhlungenen geheimnisvollen Stimmen.
Und aufgeregten Wefens fprang id; auf und magte eine Strede mid
hinab: und lauter warb ber fonberbare Ton; und über dem ba trat ich noch—
mals vor, und alfo fort, bis wo ber Rafen endet bei dem Zeichen an bes
Randes Grenze.
Und allda ftand ih eine lange Zeit und horchte, dieweil der Atem
ftodte in meiner Bruft und tofend hämmerte das Blut an meinen Schläfen.
Und endlich hielt ich’8 Länger nit und ſpähete umher mit ſcheuem Blid,
und als nun gänzlidy Niemand war zu jehn, jo weit das Auge reichte in dem
weiten Rund, da faßt’ ich mir ein Herz und büdte mich und griff nad) einem
f Stein und wandt' ihn ſachte um —: und fiehe dba, darunter wimmelt es und
4 — zappelt' es, und zuckte von tauſendfachem warmem weichem Leben.
Und außer mir vor tötlichem Entſetzen hob ich einen zweiten Stein;
und allda war es wie zuvor und alſo fort und fort und wo ich ging und
ſtand, da war es alles Leben, Leben! —“
Kunſtwart
— 276 —
Und während er fo ſprach, entwich ihm wiederum fein Geift und ftaunend
ftand er da und ſinnlos rollten feine Augen. —
Und e8 begannen feine Brüder wider ihn mit Tröften:
„Ermuntre dich, mein Freund! und mwehre deinem Sram! und wohl ein
„böier Traum des Mittags hat dich alfo fehr erjchredt, jedodh fo magit bu
„ohne Mühe ſelbſt erfennen des gefpenft’gen Bildes Nichtigkeit und Lüge:
„Denn fiehe, wenn e8 Iebte in dem Thal, fo müßt e8 jterben wiederum
„und alfo fort und fort in alle Ewigkeit, und wie vermag dein armes Herz
„zu glauben fold) ein abermwigig teuflifches Geſchehn!“
Und über diefem Wort da warb ber Andere außer fi:
„Und drum fo hab ich e8 gejehen fterben, jterben überall im meiten
Thale.” —
Dod jene lächelten getroften Muts und winkten fih, verjtanden fich,
und als nun nachts der Mond beleuchtete das wüſte Feld, da madten fie fi
heimlich auf und eilten zu den Palmen überm toten Thal und lauſchten und
mwagten fi hinab — und als am andern Morgen kam ber Bater meden feine
Söhne zur gewohnten Zeit, da faßen fie ein Jeder auf dem Boden vor bem
Bett, verzerrten Angefichts mit Heulen.
E
Sophia.
Es war an einem Sonntag Nahmittag zur Sommerszeit, als feftlich
avar gelleidet Walb und Feld, und jilbern funfelte bie Luft und fröhlich
ſchwangen fih ber Gloden reine Klänge über Stadt und Land in unbegrenzte
Ferne,
Da ftrömete bes Himmels Volk aus allen Gaffen, flutete durchs Thor,
zerftreute fi und mwallete in Gruppen dort und bier vereinzelt zu den Bergen,
zu den Wäldern, zu den buftigen Gebüſchen.
Und mwährend biefe alfo fi) ergingen in ber fommerlidhen Quft, und
jede Sünde war verjöhnt und jedes Leib verfchmerzt, und jeber Kummer Löfte
fih ob diefes Tages Heitrer gnabenvoller Klarheit,
Da ſaß in ihrem lichten Schloße in des Himmels wonnigſtem Berlieh
Sophia, Gottes ält’ste, [hönfte Tochter, Iegte feufzend ihre Hände in den Schooß
und blidte traurig durch das offne Fenfter nad) dem Adler, der fi wiegte
in Hoher Luft und nad) dem fchatt’gen Berge, der zu ihr hernieber fchaute
mit feinem grünen, ſchöngeformten Haupte.
Und Stund um Stunde ſaß fie alfo da mit trübem Blid, geduldigen
Gemüls, mie wer e8 oft geübt und wen Gntfagung ift geläufig ob ber täg—
Iihen Gewohnheit,
Da plöglih fprang fie auf, durdhfchritt das glänzende Gemach, und
leicht, mit garter Hand umfaffend das Geländer ſchwebte fie hinab die breiten
‚Stufen, eilte zu der dunflen, fchwarzverhängten Kammer, mo ihr Bruder
mohnte, ber kranke Sohn des füniglichen Gottes.
Und allda that fie auf die Thür, und auf der Schwelle ftehend Hub fie
an und rief und fprad) zu ihm mit Unmut und mit Thränen:
„So möcht' ich nimmer heiken Gottes Tochter, nimmer wohnen in dem
„ſchönſten Haus! und lieber wäre mir zu fein von den Geringjten Eine, die
„da wohnen unbefannt und namenlos im niedern Haufen.
„Denn fiehe, allen Undern iſt ein Gatte oder aud) ein Bruder, ber an
„ſie gedenft und ehret fie und führet fie zum Feſt, und Freude rötet ihre
„Wangen;
1. Märzheft 1899
— 322 —
Doch id), verlaffen fi ich einfam Tag für Tag, und ijt für mid) fein
„Seit, und Niemand nimmt fi) meiner an und Niemand läßt mein Antlitz
„Tpüren Sonnenfdhein und Waldesatem!“
Und träge bob der Andere fein Haupt, und nad) ber Schmefter blidenbd,
die dba vor ihm ftand in ihrer Schönheit Glanz, von Anmut rofig angehaudt,
vom Tageslicht umfpült, begann er jetzt und redete und ſprach mit fraftver-
laſſ'nem Ton die vorwurfsvollen Worte:
„Beliebte Schweiter! meines Dafeins Troft, und teurer meinem Herzen
„als mein eignes unglüdfel'ges Selbit — und gerne gäb’ ich, fo id) e8 ver—
„möchte, taufendmal um dich mein Beben! —
„Hinweg mit den gemadten Thränen! frevle nit, indem du leichten
Mutes ſpielſt auf deinem Angefiht ein nadhgeahmtes Leid! und alfo wünfd*
„ich dir, und alfo flehe ich für dich in täglichem Gebet, daß nimmer bu erfahren
„mögeft wahres Leid und ächte Thränen!
„Und nun, du weißt es: gern mwillfahrt’ ich deinem Wunſch; jebod in
„meiner Seele wohnt ein böfes Web, davor id) nicht ertrage Sonnenſchein
„und Weltenluft, und Gift ift meinem Herzen all das vielgeftalte Leben;
„Und drum fo will in Nacht und Einfamkeit ich Hier begraben meiner
„Sram, bu aber ziehe heim in Frieden, dich begnügenb mit ber eignen Ge—
ſundheit unfhägbarem Gute.”
Doch nicht gehordhte jene feinem Wort, und ſchritt auf ihn Hinzu, erwies
derte und fprad zu ihm mit Bitten und mit Thränen:
„In Wahrheit, allzulange weilſt bu fchon allein, und wurdeſt nimmer=
„mehr gefund und ſchlimmer nur geriet durch Einſamkeit dein Leiden;
Zedoch fo wage den Verſuch und reiße did) von Hier, auf daß vielleicht,
„wenn du’8 ber Sonne anvertrauft, vielleicht, daß fie e8 heile.“
Und alfo fprechend jchlang fie ihren weißen Arm um feinen Hals, lieb—
fofte ihn und drängte ihn mit zärtlichen Gebärden.
Und ſei's von ihrem Wort, und fei e8 von geheimer Hoffnung feines
Herzens umgeftimmt, da gab er endlih nah, und Jene eilete hinauf und
fhmüdte das ſchwere jSchiwarzgelodte Haar und legte ben Purpur um den
eblen Leib, und über bem da madten ſie ji) auf und traten vor das Haus
und vor dem Haufe auf die allgemeine nolfbelebte Straße.
Und es geſchah, vor ihrem Anblick teilte fi) das Volk und fchaute ihnen
lange nad), entblößten Haupts, mit achtungsvollem Mitleid.
Und ſcheuen Wefens ſchritt der kranke Gott einher, beleidigt von des
Tages grellem Licht, beläftigt von dem vielen Bolf, und folgte mutlos feiner
Schmeiter, die ihn leitete entſchloſſ'nen Willens.
Und ungern, notgedrungen trieb fie auf der großen Straße, eine treue
Pilegerin, vermeidend, mo fie e8 vermochte, jeden Gruß, bejdjleunigend ben
Schritt, und immerfort um ihn beforgt und immerfort bewachend feinen Blid
— und als num über eine Weile fid ergab ein Weg, der feitwärts führte übers
Feld zum nahen Wald, da lenkte fie den Bruder hin und allda zogen fie der
Eine an des Andern Seite auf dem ſchmalen Pfade.
Und jest, vom Vollsgewühl erlöft, von Einſamkeit umringt, vor ihren
Füßen unabfehbar fi erftredend ein bequemer Plan, und über ihrem Haupt
des Aethers Riefenkuppel, Hod und Iuftig aufgebaut auf ſchlanken Säulen,
Raum und Helligkeit im Uebermaß gemwährend, nirgends Iaftend, nirgends
drüdend, vielmehr alle8 Schwere aufwärts ziehend wie mit einem Bilfereichen
Kunftwart
- —
Arm: da wurbe ruhiger der Beiden Schritt, und freier hob der franfe Gott
fein Haupt, begann fi) zu erlaben an der großen Stille.
Und mehr behagt’ ihm als Die ftolze Straße der beiheidne Pfad mit
feinem harten Boden, feinem zarten Widerjtehn, und wohl empfand er’s, wie
derfelbe eifrig mied die grellen Flächen, wie er lieber einen Ummeg nahm,
auf frummen Bahnen dahin meiftens jtrebend, mo von ſchlanken Kirſchen, mo
von hohen Saaten fi fein Antlig fühlte, fih fein Leib bejchattete; — und
dankt ihm alles Das, und mward ihm nimmer gram, ob ab und zu er fi
erlaubte, daß er fpiele mit ben hohen Gäften, ſich verftedend, fich verfenfend
plögli in der Ferne wiederum erhebend feinen roten Leib und neckiſch hers
wärts grüßend, wintend, daß fie muntrer folgten auf feinen Spuren.
Und über eine Zeit gewann er’8 über fih, daß er ein wenig mit ben
Bliden naſche von dem Sonntag um ihn her, verjtohlen zwar und wollte felbft
ſichs nicht geftehn, verbrießlid, wenn die Schmwefter ihn betradjtete aus ihrem
Haren Aug; — doch Jene, fei e8 Zufall, jei es Abficht, wandt' ihm nunmehr
immer bar bie feidnen Loden, während ungefehn er jetzt befriedigte das heim—
fihe Gelüften.
Und war ihm angenehm au ſchauen über all die üpp’gen Saaten, mo
das ſtorn zum Golde eben erit gedieh und nod die leichten Halme Iotrecht
ftanden, Mann an Diann gereiht und Bolt zu Volk gefügt, ein unabjehbar
mwohlgeordnet Heer, darüber gleich berittnen Königen in gleidhgemeffnen
Zwiſchenräumen ragte dann und wann hervor ein hochgewachſener Baum —
und war ihm nicht zu viel die warme Luft, die mild und freundlich ſchwebte
über alle dem, vom Blumenhaud erfüllt, von Sräuterbuft gewürzt — und
nahms geduldig an, wenn ab und zu ein Oftwind leife fam gezogen übers
Land und fräufelte das golbne Meer und flüfterte im Baum und fpielte in
dem Gras, berichtend einen taufendfält’gen Gruß von ferner Luft verfündigend
von allgemeiner, eingeftimmter Wonne eine herrliche Erzählung; —
Doch mehr nod that ihm wohl ber finjtre Wald, mit feinen dunklen
Farben feinen büftren Schatten, dba er gleich ald wie mit einem buſchigen
Trauerfrang umgab das blühende Gefield, Gedanken zeugend, Wehmut mwedend,
über all dem jugendlichen fröhlichen Getrieb ein ernfter, reifer Mann, vom
Unglüd ungebeugt, durd) Shmadh und Spott geftählt, der Mehrheit mutig
trogend;
Und endlich wieder über eine Zeit, da fi fein Auge nun gewöhnt und
lichtre Farben immer mehr vertrug, da war's ihm eine Nenigfeit, daß er die
Blide, die fo lange Zeit gefangen lagen in des Zimmers engen Raum, daß
er bie Blide fende nad) den größten Fernen: feitwärts nad) dem weißen duf—
tigen Gebirg und vom Gebirge aufwärts fühnen Sprunges in die blauen,
fledenlofen Gründe:
Und erſt erfchien ihm keuſch und edel zwar, doc leer und ohne Geift
das Iuftige Gebiet, und aller Orten glei), und nirgends ein bejeelter Zug und
nirgends für das Aug ein Halt und für das Herz ein Ruhepunft, und hielt für
gänzlich unmert dieſes Feld, verglihen mit dem goldnen Reihtum unter
feinen Füßen,
Doch bald mit feinerem Berftändnig fah er ſichs bewegen in den unge
heuren Räumen, jah verborgne Schleujen fi erichließen, fah es allerorten
quellen, rinnen, fprudeln in den blauen Höhlen.
Und fchaute ftaunend, wie mit vollem Strom die Iuftigen Wellen ftiegen
nad) des Wethers filberfuntelndem Palaft, wie fie den Einzug hielten durch
ı. Märzheft 1899
das Strahlenthor und all die prächt'gen Säle, all bie heitren Säulenhallen
füllten mit ihrem duftigen Störper, ſachte tretend, daß aud fein Geräuſch er—
fhüttere den heil’gen Bau — und mie fie aus ben offnen Fenſtern gleich als
wie aus taufend Thoren wiederum bernieder fluteten, und endlich mit Gebet
und mit Gefang, ein grenzenlofes Meer, zur Ewigkeit wallfahrteten, von Engeln
angeführt, vom heil’gen Geifte, hoch zu Rob auf weißem Flügelpferd, begleitet. —
Und lernte mefjen dieſes Meeres feenhafte Tiefe, wenn auf einer Riefen-
wolle ftehend er betrachtete den Abgrund unter ihm und hob ihn mit dem
Geift empor und türmt’ ihn dreis und vierfach über fi: und niemals war’s
genug, und immer höher jtieg bie blaue Krone in Spiralen aufwärts, ihm
entweidhend, aus der Ferne winkend mit der duft’gen Hand — unb mwährend
er fo maß, dba warb von einem breiten Wogenſchwall hinweggeſchwemmt bie
Wolfe unter ihm, die Wolfe nicht allein und mit der Wolfe feine Blide, mit
den Bliden das gefamte feite Land mit allen Bergen, allen Wäldern.
Und oben auf des luft'gen Stromes höchſter Höhe ſchwamm ein Adler
ruhig über aller Welt, vom Auge faum bemerkt, und einem Bunfte gleich,
darum fich dreht die ganze Welt und einem mwinz’gen Kern, worum fich hüllt
ein ungeheurer Umfang.
Und unbemweglih an derfelben Stelle fhien er ftetS zu ruhn, und feine
Regung war an ihm zu jehn, und [dien erftarrt in ihm ein jebes Leben.
Da plötzlich ftieg er jeht herab und wuchs und wuchs, befpiegelte im
Sonnenglanz den ſchwarzen Leib und drehte fi und kehrte fi), und über eine
Zeit fo Hub er an mit fchräggeneigtem Körper zu umfliegen die im reis fich
behnenben Gelände.
Und langſam, königlichen Fluges zog er feine Bahn, ein einfam wan—
delndes Geftirn im grenzenlofen Raum, und unter ihm in tiefer Ferne folgte
fein Schatten, riefenhaften Schrittes fchreitend über Feld und Wald und über
Häufer, über Gärten, durch den Fluß und durch den See, Binan, hinunter an
den grünen Hügeln.
Und alfo ftricd er trägen Willens eine lange Zeit; doch als nun über
eine Zeit zu feinen Füßen prangte bes Himmels Stadt auf fel’ger Höh, von
dunklen Gärten eingefäumt und thronend auf gemalt’'gem Schemel, eine milde
Königin, gegrüßt, geliebt von allem Land und ſchön bedient von mannig
fachen bunten Schlöſſern,
Da ſchlug er zweimal mit dem kräft'gen Arm und zweimal blitzete und
funkelte ſein Flügelpaar: und jähen Aufſchwungs ſtieg er in die Höh, und
ftieg und ſtieg — und plötzlich wich er großen Bogens ab und ſegelte mit
Windeseile feitwärts nad) den weißen, dichtgeballten Wolken.
Und allda bog er um das Thor und war verſchwunden binterm weichen
Berge.
— Und über dem da war vermwailt und leer die ungeheure Luft — ba
fiehe: an ber Wolfen andrer Seite brady er wiederum hervor und jtürmte
himmelwärts mit aufgeregtem Mut, durchſchnitt in einem Augenblick der Sonne
roten Ball, und plöglich drang ein jcharfer Ruf hernieder aus der unmeh-
baren ferne.
Und dreimal wiederholt’ er ungeduldig ben Befehl, und über dem ba
ftürzt’ er wiederum herab und ftieg und fiel in regellofen Zügen zornigen
Gemüts, bis daß er fiegreih nun vollendet ben gewalt’gen Umgang.
Und über dem da ſchifft' er niedrig ftreihend überm Walde langſam
nad der unbekannten jehnfudhtsreichen Ferne.
Kunftwart
= 530 —
Und ebe fie bes Feldes Milte noch erreicht, es fei von Einfamfeit und
fei vom hehren Blumenbduft, da wurde weniger das Schmerzen in des Stranfen
Brust und heller ward das Bliden feiner Augen:
Und e8 vernahms die Schweiter feligen Gemüts und gerne hätte ſie's
aus ihres Herzens tiefftem Grund gejubelt und gejaucdhzt in alle Welt; und
faum enthielt fie deſſen ſich; Doc ob's ihr fchien ein großer Zwang, fo war
die Liebe größer noch, und alfo fchritt fie ruhig ihre Bahn, mit feinem Zeichen
ihm verratend, daß fie e8 gefehn, damit fie ja nicht ftöre das geheimnisvolle,
zarte Werk der feimenden Genefung.
Und weiter aogen fie de8 Wegs und e8 gefhah, mit jedem Schritt
gefundete der ſtranke mehr und mehr, und unerträglicdher geriet der Schwefter
inneres Frohloden.
Und, über eine Zeit, als gänzlid nahe ſchon erfhien der Wald und
fhon jein warmer Wohlgerud erfüllte die Luft,
Da fentte fich der Weg und zwiſchen weichen Ufern fchli ein Bächlein
durd) das faft’ge Gras, verborgen in dem ſchmalen Grund, befchattet von des
Feldes Halmen.
Und zahm und fittig war bes Bäcdhleins Gang und mohlgezogen feine Art, und
war fein Arg nod) Falſch in ihm, und feicht erjchienen überall die klaren Fluten;
Und in des Baches fühlem Bett vergnügten fih von Kindern eine nadte
Schar und tanzte, — fich befprigend, fchreiend, lachend, — ftampfte uner-
müdlih in dem weißen Schaum, und rofig mengten fi die jatten Leiber in
ber ſommerlichen Luft, bieweil vom Fuß zum Knie fie deckte Wajler.
Und von den Gröften wagte Einer Hin und wieber fi Hinzu, wo
ſchauerlich mit hohlem Tone gludite der Bad und ſchwer und dunkel floh die
Flut und ein Geheimnis ohne Zweifel lag dafelbft verborgen;
Und ſachte, taftend, feßt’ er feinen Fuß, verachtend feiner Brüder heftiges
Geſchrei, bezwingend feines eignen Herzens Bangigfeit, und ftetig mit ver—
mwegnem Mute rüdt’ er vor, und tiefer ſank er immerfort hinab und ſchon
umfpülten ihm die Wellen Leib und Schenfel,
Da plöglich floh er jähen Laufs zurüd, beitaunt, bewundert von den
tabelnben Genojjen.
Und lädelnd ſah ber Kranke auf das kindliche Betrieb und meilte lange
auf dem ſchmalen Steg und ungern zog er meiter.
Und als er wiederum des Feldes Höhe nun erreicht, da öffnet’ er mit einem
Deal ben längit verfchlofinen Diund, daß er begann zu fprechen und zu fragen
unbefangenen ®ebahrens.
Und über dem ba Tannte feine Schranken mehr das ungeftüme Wefen
ihres Glüds, und wie von Sinnen warf fie ſich an feine Bruft, und küßt' ihm
ſtürmiſch feinen bleihen Mund und über dem die Schultern und bie beiden
Hände, warf fid) vor ihm nieder, preßte feine Sinie und fprang von neuem
wiedrum auf und alfo fort und fort und kannte weder Maß nod Grenzen.
Und während alle bem ergoß fich perlend ein Gemwitterbad von Thränen
über ihr von Glüd bejtrahltes fonnenhelles Antlitz.
Und tiefbewegten Herzens ſchaute Jener ihrer Liebe reinen ungefälſchten
Strom, und bebend zog er fie zu fi) heran, berührt’ ihr andachtvoll mit feinen
Rippen ihre reine Stirn und fegnete ihr Herz aus feiner Seele tiefftem Grunde,
Und über dem, da war verwandelt alle Welt und rüftig, neubelebten
Mutes zogen fie von dannen, Arm in Arm gehängt, und tranten Seligfeit aus
jeglihdem Geſchehn, und jeder Zufall mußte ſich zu ihrem Glüd bequemen.
1. Märzheft 1899
— 3 —
Rundschau.
Dichtung.
Friedrich Spielhagen, der
am 24. Februar 70 Jahre alt ward,
iit, alles in allem genommen, ber be=
deutendſte Unterhaltungs—
ſchriftſteller des verfloſſenen
Menſchenalters geweſen. Zu einem
bedeutenden Unterhaltungsſchriftſteller
gehört ein großes Stück Poet, es ge—
bört ein ausgeſprochen erzähleriſches
Talent, es gehört wohl auch, zumal
in unferer Zeit, wo die einfache ge—
funde Natur nicht mehr wirft, ein,
man erlaube mir zu jagen: anziehen
des Berfönlichkeitsparfüm dazu. Alles
dies hatte Spielhagen, und er gab fi
redlihe Mühe, feine Zeit wirklich zu
erfennen, um wieder auf fie einwirken
au fönnen. Freilich, er blieb immer
Parteimann, geiftvoller Menſch, Sen—
jationsschriftiteler, wurde nie voller
Dichter. Ich für meinen Teil habe
ihn in meinen Jugendtagen leiden=
fchaftlich gern gelejen, ich laſſe mid
noc heute gelegentlich von ihm fort
reißen, aber ein Bedürfnis, ihn zu
leſen, babe ih nit mehr und ich
fürchte, ich werde ihn nad) dreißi
Jahren, wenn ich ’# erlebe, faum 2
lejen fönnen. Seine literatursbijtorijche
Stellung wird er behalten, fo gut wie
Bulwer, an den er überhaupt jehr
ſtark erinnert — mer liefi heute noch
Bulmwer? Es iſt ein eigenes Schidfal,
das über dem Zeitroman jchmebt,
wenn er nicht voll poetijch wirkt; nicht
einmal zu kulturgeſchichtlichen Zwecken
benugt man ihn in fpäterer Seit, da
nıan weiß, daß eben doch nur der
Boet richtig gejehen hat. Doch, das
iit feine Betrachtung für dem fiebaig-
jien Geburtstag eines Lebenden. Wir
müſſen Spielhagen zugeitehen, daß er
auf feine Zeit ſehr ſtark eingemirft
bat, wir wollen nicht bejtreiten, daß
er heute mit feinen beiten Werfen noch
lebendig ift, wir wollen fefthalten, daß
ihn feiner des jüngeren Geſchlechts
bisher auf dem Gebiete des Zeitromans
übertroffen, daß feiner nur entfernt
feinen Erfolg erreicht hat. Das langt für
einen Haufen Lorbeerfränge, wenn aud)
vielleicht der eine nicht dabei iſt.
Adolf Bartels.
* Goethe im Reichſtag — das
it das Thema, das der Herr Zentrums:
Ubgeordnete Schädler durd) eine ſchöne
Nede zur Disluſſion in den Zeitungen
gebracht hat. Ueber Goethes wiſſen—
Ichaftlihe Bedeutung, meinte er, fünne
Kunftwart
man doch jtreiten, fein Patriotismus
jei fehr anfedhtbar u. ſ. w. deshalb
dürfe man den Straßburgern eine
Staatsbeihilfe für ihr Denfmal bes
jungen ®oethe nicht gewähren. Wir
würden's ihnen auch abidjlagen, aus
andern Gründen allerdings. Wber
weshalb ärgert man ſich fo über Herrn
Schädlers Gründe? Wenn man von
Goethe jpricht, denit feiner, ber eine
Ahnung von feiner Bedeutung hat, an
feine „Wiffenihaft* oder an jeinen
„Patriotismus*, gewiß — aber waren
die Urteile, die wir von Vertretern der
Regierungen über unsre Geiltesgrößen
gehört haben, nicht ojt um fein Rot
gewichtiger? Und wenn fih Schädler
für feine Einfhägung der Goethifchen
Riffenihait u. a. auf einen Du Boiß:
Reymond berief, erinnert uns das
nicht an die unübertrefflie Verſtänd—
ni8lofigfeit aud) diejes großen Gelehr—
ten gegenüber Goethiſcher Poefte ? Ehe
wir uns daran gemöhnen, im Reichs—
tage die Bertretung aller möglicher
anderer, nur nit etma höherer
Interefien unferes Voltes zu jehn,
fommen wir aus dem MWerger über
dieſe Herrichaften nicht zu der einzigen
befreienden, zu der humoriftiichen Be—
tradjtung ihres Treibens, über dag die
Gun Entwidlung ja doch ruhig fort—
geht.
* Häuslihe Vorleſungen
von Dichtungen für die Diener
ſchaft empfiehlt ein ungenannter Re—
gierungsrat in der „VBoltswirtichaftl.
Beilage* der Tgl. Rundidau al
„Sozialpolitil im Haufe“ „Ih kann
diefe Cinrihtung zur Nadhahmung
empfehlen. Sie wird allerdings bier
und da nidt angebradt, an andern
Orten nit jo leiht durchzuführen
jein, wie in meinem Haufe, deſſen
Dienftboten aus guten Heinbürgerlichen
Familien ftammen, Takt und natür—
lichen Anſtand haben und ihre Dienft-
jtelung nicht nur als Geſchäftsſache
betradten, fondern mit warmem per-
fönlichem Intereſſe auszufüllen
bemüht ſind. Wo aber derartige Ber-
hältniffe beſtehen oder hergeſtellt
werben fönnen, da werben ſich ge
meinfame Lejeabende als eine höchſt
wohlthuende und erfreuliche Einrich—
tung bemeifen, und zwar für alle Bes
teiligten.”*
Wir können das aus eigner Er—
fahrung beftätigen, aber eine Be
dingung iſt noch dabei, und gerade
gegen die wird häufig gefehlt. Sobald
folche Hörer und Hörerinnen etwas von
Tendenz merken, von Abſicht, ihr
Denken im Sinne des „Herrn“ zu be=
einflujjen, iſts aus. Im Uebrigen hat
man in ben legten Sahrzehnten fo oft
beobadjtet, wie ſelbſt hochitehende,
ſchwierige⸗ Dichtungen vom „Bolfe*
‚ überrafchend leiht und dankbar auf⸗
genommen werden, daß eigentlich die
Frage naheliegt: warum faßte man
8 Ih häusliche Vorleſungen nicht eher
ins Auge? Der Anonymus teilt aud)
ein fleine Lifte erprobter Leſeſtoffe
* ‚Bildung und Beſitz“. Wir
leſen in einem Sclaner Xofalblait:
„Der Abgeordnete Dr. V., deſſen Ver—
mögen man auf etwa 400000 Gulden
geſchätzt hat, Hinterlich eine Bibliothef
im Werte von — 100 Gulden.“ Und
er war doch nur einer von ad), wie
vielen!
Cheater.
Yvette Guilbert gaftiert
wieder in Deutfhland, und wir wol—
len wünſchen, dab ſie's recht lange
und an redjt vielen Orten thue, denn
fte ijt nicht nur eine wahrhaft bedeu—
“ tende, fondern aud) in der That eine
erzieherifche Kraft. Mit feiner einzigen
„Nummer“ der Übende, an melden
ih fie a: zeigte das Variété auch
nur annähernd fo verfänglidhe Stoffe
behandelt, wie die Guilbert behandelte,
— und feine einzige andere Darbietung
erreichte Die ihrigen an rein geiiti=
ger Wirkung. Ich habe nie in höherem
Make das Gemeine auflöjen ſehen
durch den Geilt, als hier, ich Habe
nie mehr den Triumph der Kunſt über
den Stoff nefühlt, als bei diejer gro—
Ben Realiftin. Will man von den
Mitteln Sprechen, jo wird man ja von
ihrer Kunſt des Sprechgeſangs aus—
gehen und auf den wundervollen Takt
hinkommen müſſen, mit dem ſie in Geſte,
Wort und Ton das Prinzip des klein—
jten Straftmahes walten läßt: fie gibt
unter allen Mitteln jtetS demjenigen
den Vorzug, das die erforderte Wir—
fung mit dem Eleinjten Aufwande er=
reiht. So erzmwingt fie aus vornehmer
Ruhe heraus mit einer kleinen plötz—
lihen Gefte fhon einen Eindrud, wie
ign zwiſchen der aufgeregten Unruhe
gewöhnlicher Sängerinnen die wildes
iten Geberden nicht erzielen. Wenn
fie aber zu jtarfen Dlitteln greift, fo
verwandelt fie auf Sekunden einer
Ichnellften Geitenfolge das Bild in eine
Szene, die wie mitleden. Auf Scluns
den, auf eine Minute vielleiht, nie
auf länger, als erforderlich ift, dann
iſt nad) dem Dramatifchen wieder das
Epifhe da, das feinit und geiitvollit
harakterifierende und glofiterende
Schildern, nicht mehr das unmittel-
bare Beteiligen. Bon dem Maß—
halten ber Guilbert fann man ler=
nen. Und lernen fann man zumal
bei uns in Deutſchland aud) von ihren
Zerten, ohne daß man da auf allen
Wegen mitzugehen braudite. Die hohen
Obrigfeiten fönnien davon lernen, die
jest mit volllommener Banaufenhaftig-
feit in jeder freieren ſatiriſchen Kunſt
Sitten- und Staatsgefährlidhfeit ver—
muten, und die Boeten fönntens, denen
im feineren Brettlfang ein Bermittler
zum Volt erwachſen könnte, um wel—
chen ſichs lohni, mit dem Gaffenhauer
zu kämpfen. Nicht lernen läßt ſich nur
die hohe perſönliche Hunjt der Guil—
bert, — bewahre uns ber Simmel
vor imitierten Yvettes! U.
* Die Mündner literarijche Ge⸗
ſellſchaft brachte uns eine Aufführung
= „Meiſter Delge* von Johannes
Sch iaf Gegenüber ber Verhöhnung,
die der Theaterpöbel nad) berühmten
Berliner Mujtern dem Stüd anges
deihen lieg, muß aufs entſchiedenſte
betont mwerden, dab wir’8 im „Dleilter
Delze* troß aller offenbaren Ge⸗
brechen des Dramas mit dem Werk
eines Dichters und intereſſanten
Menſchen zu thun haben. Wenn von
vielen Seiten eine eigentliche Hand—
lung im Stück vermißt wird, ſo liegt
das erſtens daran, daß übermäßig
ausgedehnte Stimmungs- und Milieu⸗
ſchilderungen die wachſende Bewegung
im Drama teilmeis verbergen, und
zweitens daran, daß die Bewegung
felber in doch wohl allgu weiten Wins
dungen anjteigt. Sandlung, inner
liche, feeliiche Handlung hat das Stüd.
Meiſter Delze hat feinen Stiefpater ver—
giftet und das ganze Erbe für fid) zu er=
Schleiden gewußt. Pauline, die rechte
Tochter de8 Ermordeten, ahnt den
Sadyverhalt. Sie hat fich in Oelzes
Haus feltgefegt und ſucht dem Stief-
bruder das Leben dadurch zu vers
gällen, dab fie ihm mit beftändigen
Erinnerungen an den Vater und mit
verjtedten Anfpielungen auf dejjen un—
natürlichen Tod zufegt. Oelze wehrt
ſich damider mit dem ingrimmigen
Hohn des überlegenen Egoiiten, der in
feinen Mitmenſchen nur eine Herde
1. Märzheft 1899
— 33 —
von Dummköpfen fieht, die man mög—
lichſt ausnügen fol. Diefer Kampf
mwädjt an Erbitterung und Kraft, bis
Schließlich Paulines Schmerzgefühl um
den Bater und ihr Hat gegen ben
Bruder, bis alles in ihr in die eine
ſchier dämonifh ſich erhebende Be—
gierde zuſammenſtrömt, um jeden
Preis gewiß zu erfahren, ob ihr Vater
von Delze vergiftet worden. Delze
dagegen verjtodt immer mehr in feiner
grimmigen Eigenfudt und jtirbt, ohne
etwas zu befennen, ftirbt, nachdem er's
fertig gebracht, die Stieffhmwefter noch
auf dem Totenbett troß all feiner
Ungftanwandlungen und Wahnvorſtel⸗
lungen au verhöhnen.
Uber id) fann das Stüd nicht bloß
interefjant finden, fondern muß jagen,
daß aud tiefere Wirkungen davon
ausgehen. Entſchieden ergreifend wirft
e8 3. B. auf mid, wenn ber jter-
bende alte Sünder nod) kurz vor'm Ver—
röcheln Hartnädig nad) der Zenſur
feines Sohnes verlangt, um fie zu
unterfhreiben. In diefem ſchlichten
Zug zeigt ſich's, daß Schlaf dem von
ihm erſchauten Menſchen bis in Herz
und Nieren geblidt und nidt etwa
bloß einen arimmigen Böſewicht ſich
peiftreich fonftruiert hat; denn das hat
ie Natur nun einmal in einen jeden,
aud) den miferabelften Menfchen ge=
legt, daß er nod) irgend etwas außer
fih mit Liebe erfaſſen muß. Auch
Yumor findet fih in dem Stüd; id)
erinnere nur an die Szene, wo Oelzes
Sohn feiner harmloſen Gymnaſiaſten—
Zausbubenhaftigkeit die Zügel ſchießen
läßt, feine Feine Kouſine in aller Lies
bensmwürdigfeit zu Tode ängitigt und der
alten verrüdten Großmutter, die als gro—
test erſtarrte Mumie in die unſchuldig
bewegte Kinderwelt hineinragt, unbe—
kümmert renommiſtiſch die Pflaumen—
kerne auf den Kopf ſpukt. Freilich, eine
volle Lebensanſchauung des Verfaſſers
ſpiegelt das Stück nicht wieder, es be—
ſchränkt ſich auf reine Charakterent—
wicklung. Damit weiſt es ſich ſelber
einen beſcheideneren Platz an, den aber
nimmt es auch in Ehren ein.
x. Weber.
* Bon den Berliner Erſtauf⸗
führungen der legten Zeit berichten
wir aujammenfafjend.
* ‚Kunst und Kirche“. Unter
diefem Stihmwort ward in den Blättern
jüngit viel über einen Fall geichries
ben, der fih in Darmitadt ereignet
hat: die evangeliſchen Geiftlichen der
dortigen Gemeinden hatten die Direk—
Kunftwart
tion des Hoftheaters in einer moti—
vierten Eingabe erſucht, die Operette
„Der Opernball* vom Spielplan ab=
aufegen. Gegner aller obrigfeitlicdhen
Dreinrederei in Kunftdingen, hatten
wir ung dem Zeitungslampfe gegen
diefe Theologen doch nicht anſchließen
wollen, bevor mir genügend unters
rihtet waren, jeßt aber, wo wir's
find, müjjen mir geftehen: die betref:
fenden Paſtoren haben unferer Mei—
nung nad nit mehr ausgeübt, als
ihr gutes Recht. Gerade, wer mit ung
für Aunft, Kunſt jeder Art unbe
ſchränkte —— fordert und 3.8.
gegen die Denunziation Dehmels mie
gegen bie Rotftiftitreichereien bei einer
Guilbert mit uns Front madt, follte
fih hüten, eindeutige Schmeinereien
und zweibeutige Schlüpfrigfeiten einer
franzöfifhen Operette als Ktunſt ein
Ihmuggeln zu laſſen, die gar nichts
weiter bieten, als das. Bon all den
Urgumenten, die wir felbit gelegent=
lich Dehmels troß aller Gegnerſchaft
gegen feine unfrer Ueberzeugung nad)
überreigte und kranke Sinnlichkeits-
poefie vorgebradht haben, trifft Der
fein einziges zu: e8 Handelt fich hier
um eine allein dem Geldmachen durch
Amüfement gewidmete frivole Durch—
fchnittSoperette, bei der von „Gipfel-
kunſt“, von dem Suchen nad) Neuland
bes Empfindens gar feine Rede fein
fann. lebrigens haben die Darm:
ftädter Bajtoren nit dbenunziert,
nod) haben fie ein obrigfeitliches Ver-
bot der Operette für alle Bühnen er—
ftrebt, fie haben nur das Hoftheater,
das ja als ſolches nad) alter Legende
eine Runjtanftalt fein ſoll, gebeten,
ben „Opernball* zu Gunjten anderer
Werke vom Spielplan abzufegen. Dan
fann anderer Meinung fein und ba=
gegen petitionieren, einen Grund zur
Entrüjtung über „Pfaffenanmahung”
ſehn wir aber nicht, fo lange Pa—
ftoren diefelben Rechte haben wie andre
Staatsbürger.
* Hat das Stüd gefallen?
Die Antwort auf diefe Frage, die wir
in unfren Berichten grundfäglich nur
dann geben, wenn die ufnahme durchs
Publitum in irgend einer Beziehung
fennzeichnend war, meinen die meijten
TheatersReferenten der Tagesblätter
nit umgehen au bürfen, meil der
Durchſchnittsleſer fie für hochwichtig
hält. Wie wenig fie über den eigents
lien Wert eines Werkes befagt, das
zeigten fürzlich die Aufführungen des
Shlaffhen „Meifters Oelze“ in Mün—
Ken ganz ungewöhnlich ſchön. Die
Vorstellung fand für eine Hälfte
der Mitglieder der dortigen Literari—
fhen Geſellſchaft am Abend, für bie
andere am nächſten Vormittag jtatt.
Und nun wird berichtet: „Die Abend—
— ließ das Drama durchfallen, die
ormittagshälfte bereitete ihm einen
ſtarken herzlichen Erfolg.“
Wie's gemacht wird.
* Kapitel von ben Erfolgs—⸗
Telegrammen, von denen wir im
Heft 9 an diefer Stelle geiproden
haben, veröffentlicht jegt der Berner
„Bund“ einen ſchönen Beitrag. „Letzten
Montag früh erhielten wir vom Buch—
und Muftlalienverlag 3. Schuberth u.
Eo. in Leipzig ein gedrudtes Zirkular
mit einigen auf Reklame berechneten
Mitteilungen über verfchiedene neuere
Opern, mit Notizen, die ung »zwecks
UbdrudzurBerfügunggeitellt« werden.
Darunter befindet fi auch die nach—
folgende, die mit fchlauer Berechnung
offenbar für ein Dienstag-Mtorgenblatt
beitimmt ift: »Ein Telegramm aus
Bremen meldet uns: Um Montag
Abend erzielte unfer Stattheater einen
glänzenden Erfolg mit der trefflichen
Aufführung der Oper »Ingmelde« von
Schillings.« In der Leipziger Muſi—
faliendandlung hat man alfo fon
legten Samstag, an weldem Tage
der Brief aufgegeben worden iſt, vom
»glänzenden Erfolge ber zwei Tage
fpäter ftattfindenden Bremer Auf—
führung Kunde nehabt! Da ein Datum
mweislic vermieden ift, wäre vielleicht
noch die Ausrede möglich, die Notiz
— ſich auf den vergangenen Mon—
tag, den 6. Februar. Allein ein Tele—
gramm aus Bremen braucht auch auf
dem Umwege über Leipzig nach Bern
nicht acht Tage, und wenn eine Zeitung
die Ingwelde-Notiz morgen in der
übermittelten Form bringt, ſo —
ſie der Leſer ganz felbftverftän lich
auf den jüngſten, den heutigen Montag
Abend. Mit ſolchen Reklame-Kunſt—
ſtückchen wird man BF Zag für Ta
beglüdt, wir wollten deshalb einma
von dem uns gütigjt zur Verfügung
geitellten Material Gebraud) machen,
wenn aud) in etwas anderem als in
ben beabfichtigten Sinne.” Geſchähe
das von unfern Tageszeitungen nicht
ausnahmsweiſe, Jen in ber Regel,
b wären wir bald ben Unfug los.
ber von taufend ſolchen Zelegra=
phiften wird vorläufig hödjstens einer
mit der richtigen Münze bezahlt. Und
oft genug ift nicht, wie im Falle Schil—
ling®, der Komponiſt felber an der
Sade offenbar unschuldig, fonbern ber
Autor felbft fpielt den dienfteifrigen
Reporter.
Mufit.
+ Bon Münchner Mufit.
Multa non multum, — das ift und
bleibt in Lünftlerifher Hinfiht das
Zeichen deſſen, was man die „Saifon“
nennt, — eine leberfülle an Maffe, zu
ber daß qualitative Defizit in einem
fchreienden Gegenſatz Steht. Und fo
leicht e8 mir wäre, ein ganzes Heft bes
.„Kunftwarts* zu füllen, wenn id) die
mufilalifchen Genüſſe des abgelaufenen
Vierteljahres aud) nur aufzählen follte,
fo ſchwer fällt e8 mir, etwas namhaft
au maden, was in einem höheren Sinne
mwirflich verdiente, an diefer Stelle er—
mähnt zu werden. Das ift nicht etwa
deshalb jo, weil hier bloß oder aud)
nur vorwiegend ſchlechte Muſik ge—
macht würde — das iſt durchaus nicht
der Fall, — ſondern weil, um es ganz
kurz zu fagen,! unferm Muſikleben eine
leitende fünftleriiche Berfönlichkeit fehlt,
die das ganze Treiben mit ihrem Geiſte
erfüllte, und in den Dienft einer fünft=
lerifhen Gefinnung ftellte, weil
unfer Konzert= und Theaterwejen ein
wüſtes Chaos ift, in dem Gutes und
Schlechtes unterſchiedslos und gleich
er und ziellos durdjeinander wir—
elt.
In Richard Strauß, ber nun
nad) Berlin gegangen ift, hatte Mün—
chen einen Künitler, der die perſönliche
Eignung au einer führenden Nolle
zweifellos in hohem Maße befah. Es
würde zu weit führen, wollte id) mich
darauf einlaffen, zu unterfuchen, warum
Strauß troß feines gewaltigen Talen=
tes, jolange er hier war, ohne jeglichen
Ginfluß blieb. Sein Nachfolger wurde
Bernhard Stavenhagen. Er hat
ſowohl im Ronzertfaal wie im Theater
bemiefen, daß er doch weſentlich befjere
Dirigenteneigenfhaften befigt, als er
bei — vorigjährigen zweimaligen
Auftreten als Leiter des Kaim-Orche—
ſters gezeigt hat. Aber eine künſtleriſche
Perſönlichkeit von beſtimmt ausge—
ſprochenem Charakter iſt er nicht.
Se Löwe, der ftändige
irigent der Kaim-Konzerte im vori—
gen Winter, hätte ungmeifelhaft das
Be in ſich gehabt, um mit der Zeit eine
ofche zu werden, aber Herr Dr. aim
hielt ihn nicht fo lange, wie nötig it,
um das Publikum an eine neue Er—
1. Märzheft 1899
335 —
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in
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1
— F or,
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ſcheinung zu gewöhnen, die nod) feine
Berühmtheit ijt. Seine herrliche Auf:
führung der Brudnerihen B-dur-Sym=
phonie bedeutete eine fünftlerifche That,
die unvergeffen bleiben wird. Man lieh
ihn gehen und berief an feine Stelle
Felir Weingartner. Bei diefem
Wechſel iſt das Kaimſche Unternehmen,
inſofern es ein „Geſchäft“ iſt, durchaus
auf ſeine Rechnung gekommen, nicht
in gleicher Weiſe aber der aufrichtige
Kunſtfreund. Weingartner iſt unzwei—
felhaft ein höchſt glänzender Dirigent,
und als folder nicht bloß Wirtuos,
mie man mohl behauptet hat, fondern
in vieler Hinſicht auch echter Künſtler.
Schon wegen feines hinreigenden Tem-
peramentes und Feuers ift er Das,
worin ihm nur ganz moenige feiner
Sunftgenoffen gleich fommen dürften.
Aber um eine führende Rolle au fpielen,
dazu fehltS ihm an Snitiative, oder
deutlicher geiproden: an Mut. Aus
allem, was er thut, daraus, wie, und
nod) mehr aus dem, was er dirigiert,
erjieht man, daß er ſich immer als
des allmädtigen Bublitums achor=
famen Diener betradjtet, daß er nichts
mehr fürchtet, als irgendwo Anstoß zu
erregen, — ein betrübend eifriger Apo—
ftel des „Steisgemwohnten“. Wie weit
er in dieſer fervilen NRüdfichtnahme
auf die göttliche „vox populi* bismetlen
gebt, zeigte ſich ja unlängjt in fraffer
Weiſe in Berlin, wo er ein auß eigene
ſter Initiative aufs Programm gefch-
tes Stüd am Zage der Aufführung
felbit noch wieder abjeßte, weil e8 vom
Publitum der öffentlihen Hauptprobe
abgelehnt worden mwar.* Demgemäh
find auch Weingartners Hiefige Pro—
gramme überaus tonventionell und
zahm, — mogegen die Ausführung
meiſt höchſten Lobes mert ijt. Ein
Komponijt, dem Weingartner nicht
geredjt zu werden vermag, tft Berlioz,
deſſen cyarafteristische Härten und Eden
er nach meiner Meinung fehr unan—
gebrachter Weile möglichit abzuglätten
fih bemüht, und zum Teil aud
Ziszt. Zwar den „Zaflo* brachte er
zu einer Wirkung, wie fie glanzvoller
nicht gedacht werden fann. Dagegen
fehlte dem eriten Saße der Dante
Symphonie durchaus jene dämoniſche
Energie und fchroffe, ja rohe Wild-
heit, ohne die er nicht das ift, was er
fein fol. Bon Neuheiten brachte Wein—
gartner bis jet nichts als eine aut
gearbeitete, ſtark „griegilierende* Sy ne
* Vgl. Kunftwart XII, 9.
Kunftwart
— — — — — —— — —— — — — — — — — — — — — — — — —
phonie von Sinding, die keine
tiefergehende Teilnahme zu erregen
vermochte, und ein „Starneval“ be—
titeltes Orcdheiterftüf von Dworſchak,
— im Grunde nichts meiter als eine
geihidte Epigonenleiftung auf dem von
Berlioz in fo genialer Weife gepflegten
Gebiete, die gleih allen aus Nach—
empfindung heraus entftandenen Wer—
ten das Mißliche Hat, daß ſie jelbit
dann mindeftens überflüjffg wäre, wenn
fie ihrem Vorbilde durchaus gleichfäme,
— was aber bei Dworſchak keineswegs
der Fall ift. Daß Weingartner es über
ſich bradite, in einen ernſt fein follen=
den Stonzerte dem Bublifum ein künſt—
leriiche Niatferie, wie Saint-Saëns
„Rouet d’Omphale“ vorzufegen, fei nur
der Kurioſität halber ſchließlich noch
erwähnt.
Intereſſanter in ihren Programmen
als die Kaim-Konzerte waren die Ver—
anſtaltungen des Hoforcheſters, die in
dieſem Jahre abwechſelnd von Franz
Fiſcher und Bernhard Staven—
hagen geleitet werden, — wogegen
ſie, was Güte der Aufführung anbe—
langt, Hinter jenen zurüditehen. Der
Uebelitand, daß ein in feiner Zuſam—
menjegung vortrefflider Ordeiterför-
per andermeitig zu ftarf in Anſpruch
genommen iſt, um genügende Zeit für
Konzertproben zu erübrigen, madt ſich
in der Akademie oft in unangenehmer
Meife fühlbar. Won neuen oder weni—
ger befannten Werfen hörte man
Tſchaikowskys „Symphonie pathe-
tique*, ein Merk, das jicher nicht un=
interejjant iſt, das id) aber doch nicht
jo Hoc ftelen fann, wie e8 neuer—
dings (von Berlin aus) wohl geſchieht,
je ein Mlavierlongert von Staven—
hbagen und Sgambati, von denen
das erjtere den Stil der beiden Liszt—
ſchen Konzerte äußerlich geihidt nach—
ahmt, ohne indeſſen einen einwand—
freien Beweis für den Stomponiiten-
beruf feines Autors zu liefern, während
das zweite in jeder ig lang=
weilig ift, und Straußens „Tell
Eulenſpiegel“, deſſen „ſchlechte Witze
ſo gut ſind, daß man ihm nicht gram
ſein kann und nur bedauern muß, daß
der Komponift ſich verleiten lieh, dieſe
Art „mwitiger Mufit* auch bei einem
von Haus aus fo erniten Vorwurf,
wie bem „Zarathuftra* anzuwenden.
Dräfetes „Symphonia tragica“
zeiate einen hodhgebildeten, mit Aus—
nahme der AInftrumentation, dic ver—
aitet ift, auf dem Gefamtgebiete mo—
dberner Rompofitionstechnil wohl bes
— —
wanderten Muſiker, der Ernites und
Hohes anjtrebt, deſſen erfinderijche
Begabung aber mit feinem Wollen in
einem in der That tragischen Mißver—
hältnis fteht. Was der Hörer ſchon
nach dem eriten Sate glaubt, daß
näuilich Dräfele uns eigentlih gar
nichts zu fagen habe, wird in den
folgenden Sägen nad allen Regeln
der Kunſt und des Slontrapunfts fo
unwiderleglich dargethan, dab auch
nicht mehr der geringite Zweifel bleibt.
Dak die Symphonie, ohne ausgefpro=
bene Programm Mufif zu fein, zu der
Gattımg von Werfen gehört, die, um
mit Richard Wagner zu reden, troß
des Felthaltens an der überlieferten
Form felbit jehr „programmbedürftig”
erſcheinen, macht die Sadje nur noch
fhlimmer. Enttäuſcht Hat mich aud)
Humperdinds (nadfomponiertes)
Borfpiel zu den Königskindern“. Da
Dieses Stüd als reine Konzertpiece ge=
dacht ift und mit dem Rosmerſchen —
nennen wir es einmal: Drama in
äußerft lofem Zufammenhange ſteht,
das erhellt ja jchon daraus, daß der
Komponiſt feine Königskinder-Muſik
vom Stapel laufen ließ, ohne erſt die
Vollendung diejes Vorſpiels abzuwar—
ten. Im Theater iſt es alfo wohl
zum mindejten überflüäffig. Aber auch
im Konzertſaal macht es feine ſonder—
lich gute Figur. Einige recht primi—
tive Tongedanken erſcheinen in dem
prunkenden Gewande der bekannten
manchmal etwas überladenen Humper—
dinckſchen Polyphonie und ſeiner nicht
immer ſehr durchſichtigen Inſtrumen—
tation. An Wirkung fommt es der
Duverture zu „Hänſel und Gretel“, mit
der es den Fehler cines unverhältnis=
mäßigen Aufwandes an mufifalifchen
Ausdrudsmitiein für eine eigentlid) |
doch recht einfache Sache teilt, nicht |
im entfernteiten gleich.
Auch die Alademie-Konzerte hatten
eine Kurioſität aufzuweiſen: ein Orche—
ſterzwiſchenſpiel aus der Oper „Der
Fremdling“, mit deren Kompoſition
unfer gefeierter Heldentenor Heinrich
Vogl zur Zeit befchäftigt ijt. Der
Komponijt mag fich bei dem Sänger
dafür bedanten, da ich nur die That—
ſache der Aufführung konftatiere.
Einigtammermufifnopvitäten
brachten die QuartettsVereinigungen
Hösl und Weber.
vierquartett des in letzter Zeit öfter
genannten Anton Beer, ein frifches,
klangſchönes, nicht eben tiefgründiges
Werk eines „guten Mufifer8“ von vor—
— — — — — ——
Erſtere ein Kla-⸗
wiegend heiterem Stimmungsgehalt,
das aber gerade mit infolge ſeiner
Anſpruchsloſigkeit ſehr ſympathiſch be—
rührte, und ein Streichquartett des
böhmiſchen Komponiſten Karl Bendl
(geb. 1838), eine etwas „vormärzliche“
Muſik, aber tüchtig und nicht ohne
aparte Klangreize, — das Weber—
Quartett, ein Klavierquartett von
Selig vom Rath. Diefes op. 2 ge-
hört unjtreitig zu den bedeutenderen
neueren tammermufifmerfen. Der tom:
ponift zeigt viel Temperament und
eine bemerfenswerte Selbjtändigfeit.
Einzig der erite Sat, der überhaupt
noch hie und da ein wenig ungellärten
„Sturm und Drang“ enthält, verrät
in etwas den Einfluß Max Schillings,
dem das Merk gewidmet iſt. Ganz
hervorragend ſchön iſt der langſame
Sab, ſehr friſch und wirkungsvoll auch
das leider etwas kurz abbrechende
Scherzo.
— Schluß ſei noch einiger be—
mertenswerten LRiederneuheiten
gedacht, um deren Vorführung ſich
namentlich Eugen Gura und die Damen
Hertha Ritter, Clementine Schönfield,
Johanna Dietz u. a. verdient machten.
Mar Schillings, Siamund non
Dausenger, Ludwig Thuille und
Hermann Biſchoff Iernte man in
ſehr beachtenswerten Schöpfungen als
im beiten Sinne des Wortes moderne
Liedersflomponiiten durch ſie kennen.
Bon Chor-Aufführungen iſt nur
ein Konzert des rührigen Lehrer—
geſangvereines zu erwähnen, das
Liszts Sonnenhymnus des Heiligen
Franziskus von Aſſiſi (Tür Bari—
tonſolo, Männerchor, Orcheſter und
Orgel) brachte. R. Lonis.
* Berliner Muſik. (GFortſ.)
Das Operndirigieren hat Wein—
gartner „aus Geſundheitsrückſichten“
dran gegeben — Gott ſei Dank erlaubt
ihm aber ſeine geſchwächte Geſundheit
noch, Konzerte in Bremen und München
und Berlin und einigen anderen Städten
zu leiten! Zur erſten Opernhaus-Konzert
fam er uns fehr klaſſiſch; zunädjit ein
Händelfches Konzert für zwei obligate
Violinen, Cello und Streihordefter
vom ehrwürdigen Händel. «8 iſtſchade,
daß man Händel nicht öfter hört, 3.8.
das famofe concerto grosso; es ftedt
denn doch eine ſolche gefunde, von
ı feiner Nervofität und Grübelei ange
|
kränkelte Kraft in ihm, feine Melodieen
find fo einfah und groß, feine Arbeit
iſt fo natürlich, durfichtig und ſchön,
1. Märzheft 1899
— 5 —
daß man immer unb immer wieder
ftaunen muß über diefen großen, leider
etwas ftark in Vergeflenheit geratenen
Meiſter. Mozart mit feiner herrlichen
Es-dur und Beethoven mit Der IV.
Symphonie vervolljtändigten das klaſ—
fihe Bild. In der Oberon-Ouver—
ture — nit mit geltopften Hörnern
wie bei Herrn Steinbah, der dieſe
Manier dem großen Bülow nahmadıt
— wurde der Romantik ein fleiner
Tribut gezahlt. In den nächſten Kon=
zerten ging es mutig in die moderne
und modernste Muſik herein; das rech—
nen wir Herrn Meingartner body an!
Tſchaikowsky, der unvergleidlicdhe
Nufle,derimmer mehr anBoden gewinnt
— natürli nad feinem Tode — fam
mit der Danfredfymphonie zu Gehör.
Das Werk ift reinite Programmmufif
und fordert in feinen einzelnen Zeilen
unbedingt die Kenntnis der Byron—
ſchen Dichtung, der c8 auch die Heber-
ſchriften feiner einzelnen Zeile entlchnt:
„Danfred; die Alpenfee erjcheint Man=
fred auf dem Regenbogen über dem
Sturzbach; Hirtengefang, freies, ein-
faches und fröhliches Xeben; der unter=
irdifhe Palaft des Ariman; Manfred
erfheint bei einem Bachanal; Be—
ſchwörung des Schhattens der Witarte;
Manfreds Tod.* Lieft man diefe Leber:
ſchriften und denft dabei an Tſchai—
kowskyſche Muſik, dann kann man fi
fchon auf einiges gefaßt machen. Dem
Orcefter mutet der Ruſſe in ruſſiſcher
Rüdfichtslofigkeit das Unglaubliche zu.
Was jemals an Tonmalerei geleijtet
worden iſt, da8 mödjte er noch über=
bieten. Schade ift nur, daß unter
diefer Tonmalerei oder Spielerei der
innere Gehalt, da8 Weſentliche ent—
ſchieden zu leiden hat; denn e8 iſt gar
nicht zu leugnen, daß die andern Sym=
phonien Tſchaikowskys — namentlid)
die E-moll und Die pathetique —
weit bedeutender find. Die Melodien
fließen ihm ja auch in dieſem Werke
zahlreich zu, aber fie find nicht von
der gleichen Tiefe, wie in feinen ſon—
ftigen Werfen. Die Tonmalerei vers
fhlingt alle Straft; die Alpenfce am
Sturzbad) ijt ein Mufikitüd von be=
rüdender Schönheit, aber e8 iſt mehr
geiftreich als geiftvoll; es ift wie ein
Makartſches Gemälde: mundervolle
Sarben, herrliches Fleifc), aber darunter
feine fräftig = f[hmwellenden Musteln,
fein anatomifh ſchöner Knochenbau;
der unterirdiihe Palajt des Ariman
erinnert in feiner verwirrenden Pracht
und Großartigkeit an das Schlukbild
Kunftwart
eines Riefenballetts. Selbſt vor Effelt-
hafchereien fcheut der Komponiſt nicht
aurüd; fo 3. B. wern im legten Saße
nuch Manfreds Tod plößlich die Orgel
eingreift, um dann allerdings in herr—
licher echt Tſchaikowskyſcher refignier-
ter Abgellärtheit da8 Ganze zum Ab—
ſchluß zu bringen. Am großartigſten
und einwandfreiejten dürfte aber doch
der erite Saß fein, der des Menſchen
Streben, Grübeln und Ringen dar=
ſtellt. Intereſſant und padend iſt das
Werk in jeder Note. Die heitere Ruhe
der C-dur von Schubert in ihrer „himm⸗
lifhen Länge” war ein ausgezeichneter
Gegenfag zum Töne-Tohuwabohu
Tſchaikowskys. Das dritte Opernhaus
Konzert brachte al Neuheit d'Aalberts
„Seejungfräulein, Szene für Sopran
und Ordefter”. Das Werkchen dürfte
wohl nicht allzu lange leben; am beiten
barin ijt die Injtrumentation, die von
einer vollendeten Beherrfhung ber
orcheſtralen Mittel zeugt; die Erfindung
ilt aber doch fehr wenig aus dem
Herzen fommend, fie „riecht nad) ber
Zampe”. Frau Herzog mit ihrer vor=
züglihen Stimme und ect fünitleri=
hen Wuffaffung verhalf dem „See
jungfräulein“ zu einem guten Achtungs—
erfolg. Neben d'Alberts Kompofition
ftand nodein, wiegeipräd) für Feines
Orcheſter“ von Schillings, dem Schöpfer
der Ingwelde, auf dem Programm.
Mit dem „Zwiegeſpräch“ Hatte es eine
merkwürdige Bewandtnis. In ber
Probe war das Werk glatt durchge—
fallen. Darauf zog Herr Weingartner
dasfelbe für die Abendaufführung ein—
fah zurüd. Gott jei Dank, fagten
Manche. Wir denken denn doch etwas
anders darüber und möchten uns mit
Herrn Weingartner einmal ausein=
anderiegen*. Bevor das Werk abends
aufgeführt wird, hat der Dirigent e8
doch genau durchſtudiert und geprüft;
er ijt von feinem Werte fo jehr über=
zeugt, daß er es dem Publikum der
vornehmften Berliner Konzertunter—
nehmung vorzuführen für gut findet;
indem ereinfolches Wert einftudiert, ver«
bürgt er fih gleihfam für deſſen künſt—
lerifchen Wert, erfontrajigniert esgleich«
fam, wie der Minijter eine Kundgebung
des Königs gegenzeichnet. Er handelt
völlig frei, aus innerjter Ueberzeugung ;
jegt erfcheint diefes Werk in der Generals
probe und wird vom Publikum abge
* Wir haben dag im ſtunſtwart [don
gethan, es fchadet aber wirklich nichts,
wenn e8 zweimal gefchieht.
Fu
Ichnt. Iſt denn das Publikum über:
haupt maßgebend? ſpricht fein Urteil
für die Güte des Werkes? Ja! dann
wäre der Mozartiche Figaro, Roſſinis
Barbier, Wagners Tannhäuſer und
Bizet3 Carmen Heute nit auf dem
Spielplan, denn alle biefe Werfe find
bei ihrer Eritaufführung durchgefallen!
Wenn Weingartner fih fo vom Beis
fall de8 Publikums abhängig macht,
dann iſt er fein Erzieher, wie es ein
Dirigent dod) fein jollte. Das Werl,
deſſen Partei er genommen, als er e8
auf das Programm jeßte, mußte er
verteidigen; verteidigte er einen ver=
lorenen Poſten — gut, fo fiel er eben
mit dem Werf. Als er es aber zurüde
30g, da verließ er feinen Bolten, da
wurde er fahnenflüdtig! Ein ähnlidyer
Fall war damals der Geneſius-Skan—
dal. Dan konnte jagen, aus perſön—
licher Bejcheidenheit hätte der Kom—
ponift Weingartner jein Werk zurück—
gezogen, als er jah, daß es dem Publi—
kum nicht bedagte; bei dem Schillings-
ſchen Werk gilt diefe Entſchuldigung
aber nicht; war e8 angenommen, fo
durfte e8 nicht nad) ber Probe zurück—
gezogen werden. — Im letzten Kon—
zert erjchien eine aufgefrijchte, alte
Schöne; Mottl bat aus mehreren
Gluckſchen Opern eine Tanz: Suite zu—
fammengeitellt und zwar ſehr geſchickt.
Der alte Gluck hat ſchon manche Be—
arbeitung über ſich ergehen laſſen
müſſen. An ſeiner Iphigenien-Ouver—
ture haben gleich drei herumverbeſſert:
Mozart, Spontini und Wagner; vielen
Erfolg haben die galvanifchen Be,
lebungsverſuche aber doch nicht gehabt!
Sonst famen noch in diefen Konzerten
au Gehör: die V., VI. und IX. Sym—
phonie Beethovens, Shumanns C-dur
und Haydns Symphonie mit dem
Paukenſchlag. Berliog war mit den
drei befannten Säßen feiner Romeo—
Symphonie vertreten; warum nur mit
drei Sägen, ift mir unerfindlich.
(Fol. f) A. Bifhoff.
* Neue Lieber.
Der Komponijt der phantaftifchen
Sinnober=- Oper, Sigmund von
Hausegger, Hat foeben bei Nies &
Erler eine Sammlung von zwanzig
Liedern erjcheinen Lafjen, die einen be=
deutenden Fortichritt in feinem Schaffen
daritellen. Seine muſikaliſche Erfin—
dung quillt rei) und breit innerhalb
der duch den Tert gezogenen natür=
lihen Grenzen; er bleibt dem Dichter
nichts im Ausdrude ſchuldig, verhüllt
ihn aber auch nicht mit feinen Tönen
bis zur Unkenntlichkeit. Man beachte
daraufhin glei das erite Lied, „Lenz
Manderer*, ferner die wunderſchön
Ichwebende Begleitung in „Herbjt“
oder die fommerliche Schmwüle, die über
„Mittag im Felde“ ausgebreitet liegt.
Nebenbei jei bemerft, daß die Lieder
einzeln für fi) einen ftärferen Eindrud
maden, als wenn man fie nacheinan—
der zufammenhängend durchſpielt.
Eine Ausnahmeitellung nimmt das
legte: „Chriftoph, Ruprecht, Nikolaus“
ein, ein humorvoller, kräftiger Sang,
in dem ich weniger das Vorbild Wag—
ners erkennen fann, al® das eines
fleineren aber doch Fernigen, echten
deutihen Künitlers, Martin Plüdde-
manns. Unſere Sänger follten nad)
Hauseggers neuejter Gabe greifen, und
die Bianijten würden an dem Begleit-
part ihre ganz bejondere Freude haben,
dankt dem peinlidh fauberen, wirklich
flaviermäßigen Satze.
Der BANN hat mir hart neben
diefe Werke auch die „Lieder, Gefänge
und Balladen“ op. 5 und 6 von Hans
Hermann (Magdeburg, Heinrichs—
hofen) ins Nezenfierfach gelegt. Sie
find mit einem fin de sidele-Umſchlag
verjehen und Frau Sanderjon ges
widmet, derjelden, die Bungert [don
vor zehn Jahren mit WBhilinens
Schuhen fo erfolgreich klappern ließ.
Ohne Zweifel bat Hermann Talent,
aber daß er e8 fo bewußt auf das
Publikum fpelulierend ausnügt, macht
diefe Lieder für eine — — Natur
unerfreulich. Noch nie habe ich ſo
raffinierte Einfachheit geſehen, wie in
op. 6: „Daß Herz“ und „Erfüllter
Wunſch“, noch nie jo verlogene Tiefe
wie in op. 5 „Legende“ und „Drei
Wanderer“. Und diefer Komponiit,
der durch den Gegenfaß zu Hauseggers
durhaus wahrhaftem, ehrlichen
Schaffen gekennzeichnet ijt, zählt zu
den erflärten Lieblingen der Reichs—
hauptitadt! 5. Teibler.
*Wie's gemadt wird.
Wiener Blätter enthalten zur Zeit
folgendes Inſerat:
Junge Komponiiten,
welche ihre Werke gedrudt haben
wollen, nehmen ein Abonnement
auf die „Deutfhe Kunſt- und
Muſikzeitung“, Redaktion: Wien,
VII, Neuſtiſtgaſſe 66, in welcher
Kompofitionen aller Art von Abon⸗
nenten als Beilagen ericheinen.
Abonnement jährlih 5 fl. Der
1. Märzheft 1899
— 59 —
Wert der 24 Mufifbeilagen über
fteigt bedeutend den Abonnement-
etrag.
Was bie Abonnenten für die Ehre,
gedrudt zu werden, im einzelnen Fall
drauf zahlen müſſen, ift leiber nicht
angegeben. Beim „Stleinen Journal“
in Berlin fojtet’8 200 Mark, an ber
Wiener Kunftbörfe mag man einen
andern Kurs notieren. Schön ijt die
Bemerlung vom „Wert“ der betrefjen=
den Mufikbeilagen im felben Atem mit
der Mitteilung, wo fie herfommen.
Bei anderen Gelegenheiten dürfte das
freundlide Blatt feine Noten als
„Auslefe des Beten zeitgenöffifcher
Produktion“ anpreijen.
Bildende Kunft.
* Im Berliner Aunjtleben bringt
jest jeder neue Monat Ueberrafhungen
und Wnregungen. Die Münchener
ftellen fleißig aus, die Stunfthandlungen
forgen für eine jtarfe Beteiligung des
Auslands, und geichlofjene Zirkel von
Künſtlern Berlins fuchen fid) durch be—
fondere Vereinigungen von dem abzu=
fondern, was man in der Reichshaupt—
ftadt bisher für Kunſt bielt. Eine
der erflufivefien Ausſtellungs -Ver—
bände waren von jeher die „Elfer“,
die diesmal bei Keller und Heiner
ausftellten und dort ihrem Grund—
faß, nur Kunſt zu bringen, treu ge=
blieben find. Befonders Leiſtikows
Weg geht aufwärts. Auch Branden-
burg ijt ausgezeichnet vertreten. Lieber—
mann, Thoma, Dora Hik, 2. v. Hof—
mann und die anderen ber EIf ftehen
mit ihren Werken auf der alten Höhe.
Die „[reieBereinigung“, ebenfalls
ein Berliner WNusftellungsverband,
zeigte fich diesmal im Künftlerhaus
und bot ihre beften Leiſtungen in
Arbeiten von Dito 9. Engel, Lange
hammer u. a. Auch von Sturt Herr
mann ſah man dort einige feiner
ihönen Toloriftifhen Impreſſionen,
wie er fie gern an befonders reizvolle
Sinterieurteile (nit Stilleben im ges
wöhnlihen Sinne) anfnüpft. Einen
fehr bedeutenden Zuwachs erhielt das
Künstlerhaus ferner dadurd), daß e8
die Ausstellung derdeutfhen Aqua—
rellijten für ih gewann. Auch hier
fand man einzelne Namen ber Elfer,
wie Skarbina, Liebermann Stahl,
Leiſtikow; neben ihnen Hang Herrmann,
Dettmann und mande andere. Bon
Nichtberlinern war die Dachauer Schule
mit Dil und Hölgel glänzend vertreten,
Kunftwart
— 3%
DIN zumal zeigte fih in feinen neue—
ften Uquarellen auf einer Höhe, bie
er jelbft wohl faum er überbieten
fann. Man wird diefe feine Aquarelle
für daß vollendetfte and vornehmite
halten müfjen, was die beutfche Aqua—
rellmalerei geſchaffen in — Caſ—
firer verlegte Diesmal feinen Schwer—
punft in beutfche Maler, wie Thoma
und ZTrübner. Bei Gurlitt konnte
man einen neuen Bödlin fennen lernen,
der zwar an deſſen befte Merfe nicht
heranreicht, aber doch intereffant genug
war. Daneben eine Reihe Klingerſcher
en und eine Sammelaus=
tellung von graphiſchen Arbeiten des
befannten Illuſtrators Fidus, ber lei—
der fein ſchönes Talent mehr zerſplit—
tert, als ausbildet. Bei Schulte
lernte man in Laszlo einen Bildnis—
virtuofen kennen, ber zwar nicht große
Ziefe, aber viel Anpafjungsvermögen
und feinen efleltifhen Gefhmad hat
und deswegen das Publikum entzüdt.
* Für die Bismardjäulen,
welche die deutſche Studentenſchaft er=
rihten will, ift nun ein Preisaus—
ſchreiben „an alle deutfchen Künſtler“
erlaffen worden, „um für die Säule
die würbigfte und volllommenfte Form
zu erhalten”. Die mwürdigfte Form
für die Säule? Wir haben den Ge—
danken folder Säulen, die an feier-
lihen Abenden $lammenmale tragen,
mit Freude begrüßt, aber ein Generals
model für alle Bismardfäulen er—
gäbe nur eine neue Abart der jeht
Gottlob in Berruf fommenden Dußend:
benfmäler. Das Grundmotiv gleid:
eine Säule als Feuerträger, die Ge—
ftaltung wechſelnd je nad) des Ortes
Gelegenheit und nad) dem Geijt, der
dort waltet, — wie ungleich befjer ſym—
bolifierte da8 die geeinte Mannigfal—
tigfeit, den 'geeinten Reihtum des
deutſchen Volkes, und wie viel künſt—
lerifcher wär’ es!
Dermiichtes.
* Qiterarijher Abel und li—
terarifher Pöbel.
Oberhalb aller Linterfcheibungen
zwifhen abmeidhenden Sunftfpielen
und Aunftftilen befteht zu allen Zeiten
der dide Grenzjtrich, der bie Spreu
von dem Waizen trennt. Es gibt
Ktünftler, die ihr Vifier auf die Gegen
wart, alfo auf Beifall, Glüd, je m
und Ehren, und Künſtler, Die ihr Viſier
auf die Ewigkeit richten. Solche,
denen der Widerglanz ihres Namens
und foldhe, denen die dauerhafte Vol—
lendung ihres Werkes die Hauptfadje
ift. Solche, die den höchſten Anfprüchen
an fi ſelbſt entfagen, um unter ber
Maste der Beicheidenheit refolut in
der Stunft herumgutölpeln, und ſolche,
die, wahrhaft beſcheiden, fühlen und
mwiflen, daß man entweder nad) dem
Höchſten nom oder ſchweigen foll.
Kurz, e8 gibt unverfhämte Künftler
und —2 die ſich ſchämen fönnen,
die ihr Werk vergleichen, denen das
Beiſpiel der Großen als Zuchtrute dient.
Jenes iſt der Pöbel, a der Adel.
Beide find dur eine himmelmeite
Kluft gefondert und find leicht von
einander zu unterfcheiden, ob man aud)
faum fagen fann, moran. Es geht
wie bei den echten und falfhen Münzen:
fie fühlen fih anders an, fie haben
einen andern Metallglanz, einen andern
Zon. Umſonſt fpielt der Pöbel Ver-
ſteckens, vergättert und verjteinert die
Toten, damit diefe unerreichbar fcheinen
follen, erflärt fih und die Mitwelt
(mit Vorliebe bie Mitwelt) zum vorn=
herein für mindermertig, Damit die An—
ſprüche fo niedrig gehalten würden,
daß er ihnen genüge; umfonft verhüllt
er feine garjtige Blöße mit Prinzipien
fähnchen und Parteilappen, e8 hilft
ihm alles nichts: er ift mit dem künſt—
lerifhen Kainszeihen, dem Zeichen
bes Strebers, gezeichnet. Und mieje
feine Stirn nod fo viele Ruhmes—
fronen auf, der Edle wird ihn nie=
mals mit jener ehrerbietigen Achtung
grüßen, mit welcher er ben Geringften
jener grüßt, die fih ehrlih darum
— und bekümmern, ob ihr Werk
nach ihrem Tode bleibe oder vergehe.
Carl Spitteler.
* Die dem Reichstag vorgelegte fo=
enannte neue „Lex Heinze ent—
ält eine ganz befondere Merkwürdig—
feit in ihrem $ ı84a, nad) dem mit
Gefängnis bis zu ſechs Monaten bes
ftraft werden fol, wer „Schriften, Ab—
bildungen oder Darjtellungen, welche
ohne unzüchtig zu fein, das Scham—
— gröblich verletzen, zu geſchäft—
ichen Zwecken an öffentlichen Straßen,
Plätzen oder anderen Orten, die dem
öffentlichen Verkehr dienen, in Aergernis
erregender Weiſe ausſtellt oder an—
ſchlägt“. Alſo Unzüchtigkeiten braucht's
nicht mehr, nur Nacktheit. Sobald der
Prachtparagraph bewilligt iſt, werden
wir den Töniglich — en Staat
denunzieren, weil er die Berliner
Schloßbrückenfiguren duldet, und S. M.
den Kaiſer allerhöchſtſelber, weil er
den Begasſchen Schloßbrunnen mitten
in die Oeffentlichkeit geſetzt hat, wo—
durch doch ſchon mancher gereiften
Jungfrau Schamgefühl verletzt und
ſomit Aergernis erregt worden iſt.
Salt, dieſe Kunſtwerke dienen ja kei—
nen „geſchäftlichen Zwecken“ — Scham—
verlegung und Aergernis zu nicht
efhäftlihen Zwecken erlaubt ja ber
—ã er wenn einer nun
am Schloßplatz eine Photographie
der Schloßbrücke oder des Begasſchen
Brunnens ben unbeanſtandeten Ori—
inalen gegenüber zum Verkauf aus—
tellt? Ach, dem Manne wird keiner
helfen können!
*Die Furcht vor dem Witz,
die in jüngſter Zeit wiederholt zu An—
klagen gegen Witzblätter geführt hat,
die ſelbſt in den Jahren der Reaktion
nicht möglich geweſen wären, hat einen
neuen Angriff obrigfeitlichen Philijter=
geiftes auf fröhliche Narrenfreibeit ge—
zeitigt. Diesmal aber „führt“ Bayern.
Denn während dem Starnevalgumzuge
3. B. in Köln politifhe Scherze auch
— unverwehrt waren, hat die Po—
izei in München alles derartige auf
das ſtrengſte verboten. Und je wird
man ja wohl mit der Zeit alle Ven—
tile, durd) die der Unmut etwa luſtig
verpuffen fünnte, zur Wahrung der
öffentlichen Sicherheit verfchließen.
CSEI
Unsre Beilagen.
Zur Illuſtration der heutigen Teiblerſchen Anzeige der bei Ries & Erler
erfhienenen neuen Lieder Sigmunds von Hausegger bringen mis
daraus „Mittag im Feld“.
Das Gedicht ift von Martin Greif. Daß man e8
aufmerkſam durchleſe, eh man an die Kompoſition Herantritt, braudt im
Kunfiwart wohl faum nod gefordert zu werden — das follte fih) immer
von felbjt verftehen. Aber wenn wir bei früheren Gejangsbeilagen meiit
empfahlen, zunädjt die Eingftimme für fich zu fpielen und recht ausdrudsvoll
mitzufingen, fo muß dag Studium dieſes Liedes vom Klavierpart aus
1. Märzheft 1899
gehen. Denn das Lied iſt ein Stimmungsbild; nicht jo ſehr um die mujila=
lifche Beranfdaulichung der Worte und Säte handelt ſichs Hier, als darum,
die zu Grunde Tiegende, jozufagen hinter und zwiſchen den Worten ſchwebende
Stimmung in Töne zu bannen. Das thut der gehaltene Klavierpart, der
boralartig anhebt und nur einmal, gegen das Ende zu, fich in Tebhaftere
Bewegung Löfen will. In fein Gefüge flicht ſich Die Singftimme, aber nicht
als frönender Faktor, fondern wie eine von aufen hinzutretende Ausbeutung
des inftrumentalen Tonbildes — zu jelbitändigem Ausdruck erhebt fie fih nur
bei der Stelle „mandmal rauſcht das Feld“. Bliden wir zur richtigen Beur—
teilung auf das enifpredhende Verfahren des Malers. Er kann entweder das
Bandichaftsbild rein als ſolches wirken laſſen — dem entipräde ein abjolutes
Tonſtück mit einer die Phantafie des Hörer zurehtweifenden Uebeiſchrift.
Oder er fann einen Menjchen mit in die Landſchaft malen und den Gindrud,
den fie auf ihn bewußt oder unbewußt madt, an ihm zur Anſchauung bringen,
fozufagen ben Betrachter mit feinen Empfindungen felbft in das Bild proji—
zieren. Dem vergleicht fidy der Hier vorliegende Fall. Oder drittens: das
Antlit des empfindenden Menſchen als Spiegel feines pſychiſchen Zuftandes
wird dem Maler zur Hauptjache, die Umgebung, die Urſache feines fo gearteten
Fühlens tritt in den Hintergrund und dient nur dazu, die Geftalt intereffant
zu beleudten oder herauszuheben. Diefer Art find Lieder mit prinzipaler
Singitimme. Mir fcheint, daß die feiernde Stimmung. der einidhläfernden
heiligen Mittagsfhmüle, der großen Stille, wenn „Ban jchläft”, kaum über-
zeugender hervorgerufen werden kann, als durch diefe Muſik Hauseggers.
Zu unfern heutigen Bildern von Diefenbad und Fidus molle
man den Aufſatz „Der Fall Diefenbah“ vergleichen. Das erite Bild, das
„mufizierende Mädchen“, erſchien zuerit als Stunitbeilage der nunmehr einge
gangenen Zeitfhrift „Sphinx“, Die übrigens ihre ſämtlichen Diefenbad:
Fidusſchen Blätter in eine Eleine Mappe vereinigt hat, welde von G. A.
Schwetſchke & Sohn in Berlin W. 9 noch heute bezogen werben fann. Die
ſechs anderen Brucdhitüde find dem großen Fries „Per aspera ad astra“ ent=
nommen, der jetzt in Wien veriteigert werden fol. Die Reproduktion iſt leider
jo ein, daß die auferordentlide Schönheit der Silhuettenzeihnungen nicht
mehr mit der rechten Ruhe wirkt. Dan mag aber bei Einzelnen getroit zum
Vergrößerungsglaſe greifen, die Schärfe unfrer Drude erlaubt das Thon. Uns
kam es darauf an, möglihft mannigfaltig das fröhliche Leben fih fpiegeln,
oder beſſer abſchatten zu Iaflen, das nad) Diefenbachs Fries dereinjt herrſchen
fol, wenn bes Meiſters Ideale verwirklicht fein werden. Eine fehr ſchöne
größere Ausgabe des Friefes ift leider zur Zeit im Kunſthandel nicht mehr zu
haben. Hebrigens dürften von Diefenbah oder den Seinen (Adreſſe durch
Dr, Emil Boeniſch, Wien VII, Mariahilferjtraße) Auskünfte gern erteilt werben.
Inhalt. ungefürzte Aufführungen u.f.w. Bon Richard Batla. — Dekadenz
in der lnterhaltungsliteratur. Bon Wdolf Bartels. — Urdjiteftonifche Zeit-
fragen. (Schluß) Bon Paul Schumann. — Der Fall Diefenbach. Von Wilhelm
Schölermann. — Loſe Blätter: Aus „Prometheus und Epimetheus.“ Bon
Felir Tandem. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Diefenbady-Fidus, Murfizies
tendes Mädchen; aus „Per aspera ad astra“, — Notenbeilage: Sigmund von
Hausegger, Mittag im Feld.
Derantwortl, : der Herausgeber $erbinand Apenarius in Dresden-Blafewig. Mitredaftenre: für Mafıl :
Dr. KRich ard Batla in Prag-Weinberge, für bildende Kunft: PaulSchulge-Naumburg in Berlin,
Sendungen für den Tert an ben Herausgeber, über Mufif an Dr. Batla,
Derlag von Georg D, W. Eallwer — Hgl, Hofbuchbruderei Hafner & Loffen, beide in Münyen,
Beſte lungen, Anzeigen und Beldjendungen an den Derlag: Georg D. W, Eallwer in Mänchen.
DIEFENBACH—FIDUS
Musizierendes Mädchen
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DIEFENBACH—FIDUS
Aus: Per aspera ad astra
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SIEGMUND V. HAUSEGGER.
MITTAG IM FELDE
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von Martin Greif.
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Mit Bewilligung des Verlages Ries & Erler, Berlin.
Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München.
Alle Rechte vorbehalten.
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Bezugspreis 2'/s Marf vierteljährlih. Ein einzelnes Heft 50 Pfennige.
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Der Abonnementspreis beträgt AdR. 2.50 für das Diertel
Einzelne Befte foften 50 Pfg.
Ale Buchhandlungen und Poftanftalten, fowie die unterzeihnete Derlagshandlu
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handlung: Georg D- WI. Callweg in ABüncben.
Nachdruck fämtlicher Eigenbeiträge, mit Ausnahme der „Kofen Blätter” ı
unter Quellenangabe erlaubt. — für unverlangt eingefandte Manuffripte wird
übernommen, Rüdfendung abgelehnter, nur wenn Rückporto beilag. |
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_Poehlmanns Gedädtnisiehre entwidelt die Beben > und ? —
feffelt die Aufmerffamteit, heilt fomit von Serfirentheit und flählt das m fanasae
Seichtes Erlernen von Spraden, Wiffenfhaften ıc. Anwendung aufs praftifche Leben. n dm
legten 2'/s Jahren 10000 Schüler aller Stände. Empfehlende Rezenfionen von fake’ 100
europälfhen Zeitungen, Zeitſchriften umd Sadhblättern. 8 mit Seugniffen .ı *
re ru gratis umd franfo durch L. FPoehlmann, £inten # 1,
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1794
GEGRÜNDET
BARMEN
Neuerweg 40
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DER RU DSTUART|
Die Kunst im Reichbstage.
Und fie faßen mieber einmal beilammen in dem Hohen Haufe, das
da umſchließt die Ermählten der deutichen Nation, und äußerten fich über
Kunft. Zur Debatte ftanden zunädft „Koften der Herausgabe eines
Wertes über die Sirtinifche Kapelle in Rom“, Koften für eine wenn
man fo jagen darf: philologiſche Kunftpflege, die ganz gewiß nichts
Lebendigem, das fi nad; Sprache jehnt, den Mund öffnen wird,
auf daß e8 fprede. Eine derartige Kunftpflege hat weiter feinen Zweck,
und eine Kunftpflege, die weiter feinen Zmwed hat, nennt man eine
ideale Sunftpflege. Darum erklärte ein Herr, daß es fich bei der vor—
fiegenden PBofition um eine Förderung der deutſchen Kunſt handle, und
ein anderer, daß fih auf diefe Weije der deutichen Kunſt der Zoll der
Dankbarkeit entrichten laſſe. Wirklich, fie erklärten daS. Und der
Reichstag war hochgebildet und bemilligte den Titel.
Darauf fam zur Beratung „die Ausihmüdung des Reichstags—
gebäudes mit Bildwerfen und Malereien“. Einer ſagte dazu dieſes und
da8, was darauf Hinauslief: Kunst kofte doch eigentlich viel Geld. Und
es erhob fih ein Parteihirt, um zu jagen, was daS nun gar für
Kunſt ei, die da viel Geld koſte. Nämlich: es fei nicht die wahre.
Denn auf die „Gemälde“, jo in der Wandelhalle zu jehn (gemeint
war der Studie Fries), könne man den Ausdrud Dlalerei über-
haupt nur anwenden, wenn man „jede Schmiererei* jo nenne. Dieje
Zeiltung fei überhaupt „die denkbar jchlechtefte‘, die man erwarten konnte,
mwie ein „Tintenklex“ nähme fie fich aus (Heiterkeit), „ein wahrer Spott
und Hohn“ fei fie „auf jedes äjthetifche Gefühl und jeden geläuterten
Geſchmack“. Man könnte noch eher „die Titelblätter der »Jugend« da
oben anfleben“, als diefe8 Zeug, mit dem der Reichstag „verhonibelt“
werde. Mit einem fchönen Bilde meinte der Redner, „die deutiche Malerei
fei Manns genug“, Beljeres zu leiten, dann ging er zu den Hildebrand
Ihen „Scidjalsurnen des Reichstags” über, um auch fie einzuhüllen in fo
begeifternde Scherze, daß im Hohen Haufe „Heiterkeit“ auf „Heiterkeit“
Kunftwart — 2. Märzheft 1899
— 8 m
folgte. Aber er ward mieder ernft: da müſſe ein Fehler der ganzen
Organifation vorliegen: „Wir müfjen hier in Berlin einen Hünftler haben,
der unter feiner perſönlichen Verantwortung die Entwürfe zur Aus—
ſchmückung des Reichstagsgebäudes leitet.” Ein Herr von der Regierung
antwortete. Er that e8 ſanft, er that e8 nett, denn der Barteimann war
ein Gemaltiger, er that es fo, daß man immer heraushörte: Sie haben
ja ganz, Sie haben ja jo Recht, aber erbarmen Sie fich, ich darf das
doch nicht jagen. Dem Ardjitelten des Haufes, fo teilt’ er dann mit,
feien wohl in der That „zu weit gehende Befugniffe“ verliehen worden
— dieſem ſelben Architekten Wallot, jegen mir erläuternd Hinzu, dem
man feine beiten Gedanken durchs Dreinreden und Dreinpfufchen ver-
dorben hat. Man folle, fuhr er fort, „für die Ausihmüdung eines jo
wichtigen nationalen Gebäudes eine Kunftichule allmählich heranbilden“.
Indem man (fragen wir in da8 „Sehr gut” des Hohen Haufes) wahre
Meister neunationaler Dtalerei wie Anton von Werner und Hermann
Knackfuß erfuchte, fich der Sache doc) mal etwas anzunehmen? Nein, ſprach
der Herr, indem man mit aller Ruhe warte, bis ſich würdige Meifter
zeigen — würdige, mit Berlaub, nach Anfiht der Kunſtkenner im Hohen
Haufe. Nach ſolchen erniten Erörterungen erhielt der Scherz fein Recht
durch einen Herrn von der Linken. Auch feinem Gejhmad miderjtrebe
da8 „Gemälde“ aufs Aeußerſte, aber jenes Herrn Kollegen Tadel finde
er doch zu Scharf. Wie wär's mit Bildniffen der großen Redner des
Haufes? Aber zum Schluß ward auch diefer Mann furdtbar ernit: „Es
ift dringerd notwendig, daß der deutiche Reichstag eine feiner Bedeutung
und feiner Beitimmung entjprechende Ausstattung erhält!“ Beifall. Je—
do: wie foll er fie befommen, wenn er daß Gute ablehnt ?
Wir haben die Namen der Redner nicht genannt. Wen's inter:
ejfierte, der fonnte fie ja in jedem Tagesblatte nachlefen, für unjern heutigen
Zweck find fie gleichgültig. Was intereffiert nun an der Sache uns?
In materieller Beziehung gäbe fie Anlaß, von neuem das nad)
gerade allbefannte und deshalb Iangmweilige Lied von der gänzlichen Ur-
teilölofigkeit des Reichstags in fünftlerifchen Fragen anzuftimmen. Seiner
der Herren Redner wußte etwas vom Unterjchied zwiſchen Bild und
Schmudwert, keiner hatte daher gemerkt, daß die Studihen Arbeiten
gar feine „Gemälde“ find, noch welche jein wollen oder jollen, jondern
daß fie ein deforativer Fries find, beftimmt, in großer Höhe ans
gebracht zu werden in einem Vorraume, und dab e8 nicht ihre Aufgabe
mar, an ſich hübjch zu fein, fondern einen Raum in feiner Wirkung zu
heben. Einen Borraum, übrigens, wo alſo Geſchichts-, Monarchen- oder
Boltsrednerbilder faum hingehörten. Als Wallot die Entwürfe am Boden
ſah, zweifelte aud) er, jo viel weiß id, an ihrer rechten Wirkung, als
er fie in der Höhe ſah, war er fofort überrascht befehrt. Jch kenne die
Entwürfe* nicht, ich weiß nur das: wenn einer zur fühnen Löſung
großer gerade dDeforativer Aufgaben befähigt erjcheint, fo ift es jeden-
falls Stud. Hann man aber vom Reichstag fordern, daß er etwas
von Kunst verjtehe? Er ift feine KHörperichaft, die nach ihrem Sachver—
ſtändnis für diefe und jene Materien zufammengefegt ift, mie die Re—
gierung, er ift auf die Vertretung politifher Meinungen Hin ge:
* Näheres über fie findet man in unferer heutigen „Rundſchau“.
Kunftwart
— 354 —
wählt, und ob er Mitglieder enthält, die durch Kunftverftändnis her-
vorragen, ift fomit Zufall. Wenn nicht, jo wird feine Befähigung
in diefer Beziehung wohl ungefähr den Durchſchnitt der Fünftlerifchen
Kultur unfrer fogenannten Gebildeten überhaupt darjtellen. Kann man
ihm alſo wirklich einen Vorwurf draus maden, daß ihm „jedes äfthe-
tifche Gefühl und jeder geläuterte Gefhmad“ abgeht, jo bereitwillig er
felbft diefe guten Dinge ſich zufpriht? Oder fann man nur ſeufzen und
zu feinem Teil daran mitarbeiten, daß unfere Kinder, unfere Enfel wie—
der ein Kunſtvolk werden?
Gut. Aber weiter: Auch jemand, der von Funft nichts verfteht,
hat unzweifelhaft das Recht, fich feine Wohnung nad) feinem Geſchmack
einzurichten. Das ginge doch nicht an, dag wir ihm Saden aufzwängen,
die ihm nicht gefielen. Stritte man alfo dem Reichstag das Recht ab,
Stucks Fries ſowie Hildebrands Urnen abzulehnen, jo ſchüttete man aud)
unfrer Meinung nad) das Kind mit dem Bade aus.
Gut. Aber weiter: Ein gebildeter Privatmann, dem ein berühmter
Künftler ein Werk anbietet, das ihm mikfällt, wird e8 unter einem Höf-
lichkeitsvorwand oder ohne Begründung oder, am beiten, mit der ehr-
lichen Begründung abmeifen: e8 gefällt mir nit. Im Reichstag aber
hat man fich für bereditigt gehalten, ſozuſagen vor dem ganzen deutjchen
Volke drei feiner höchftangejehenen FKünftler, Wallot, Hildebrand und
Stud, mit den verädtlichiten Worten zu bejchimpfen. Und das Prä-
fidium, das Ausdrüde wie „Schredgeipenjt“ und „Eiertanz“ als un—
parlamentarifh rügt und jeden abmejenden Schugmann beſchirmt, meil
er fich nicht verteidigen fünne, läßt diefe Hünftler ruhig Stümper und
Schmierer nennen. Und feiner am Regierungstifch findet etwas dabei.
Und fein einziger im ganzen Haufe erhebt fich gegen diejen NRüpelton
zum Proteſt. Nicht in der Ablehnung jener Kunſtwerke alfo, fondern
hierin liegt die fürchterliche Bloßftellung des deutichen Reichstages vor
aller Welt, darin: daß er, wie meines Willens feine andere Volksver—
tretung jemals, den Hohmut des deutijhen Bildungspöbels
gegenüber der lebendigen Kunſt gezeigt hat.
Die Regierung, die zur Rechtfertigung ihrer Beauftragten berufen
mar, zeigte fi) noch in anderer Beziehung „intereffant”. Was gab das
jüngft für ein Wetter, als der Reichstag richterliche Urteile, immer ohne
den Richtern felbjt im mindeften zu nahe zu treten, fritifierte, was ift e8
ftet3 für ein Herabfanzeln, wenn ein anderer als die Fachleute von Mili-
taribus oder ſonſtigen ſakroſankten Dingen etwas verftehen will! Der Ge-
dante, dat ſichs aud) in der Kunſt mitunter vielleicht um Fragen handle, die
der Fachmann beſſer verftehe als der Niht-Fahmann, und fei diejer
Niht-Fahmann Barteiführer oder Minifter oder gar König und Saifer,
diefer Gedanke lag auch dem Regierungsvertreter natürlich zu fern, als
daß er ihn ausgeſprochen Hätte. „Bis zum Sünftler herab“ ift man
nicht zur Konſequenz verpflichtet.
Uebrigens ift auch diefe neue Reichsſtagsverhandlung für unſre
geiltige Kulturentwicklung ſchwerlich vom Uebel. Die Zuftände find, wie
wir fie verdienen, diefe harte Wahrheit bleibt. Je deutlicher fie werden,
je mehr lernen mir daraus. Der einzelne mag unfchuldig darunter
leiden, und Männer wie Wallot, Stud und Hildebrand Haben in der
That zum „Uebermut der Aemter“ faum beigetragen. Die große Mehr-
2. Märzheft 1899
— 55 —
heit unjrer Künſtler ift fi) aber ganz ſicher noch nicht der Aufgabe be—
mußt, die fie mit den Dentern als Führer der geiltigen Sräfte der
Nation zu löſen Hätte, der Aufgabe, einen führenden Freiftaat des
Geiftes in Unabhängigkeit von den Mächten oben ſowohl wie unten zu
bilden. Wo ift die Gelehrten und Künftlerrepublit, von der man fo
viel gefchrieben Hat? Seid ihr Männer, fo zeigt e8 zunächſt einmal da-
durch, daß ihr euch von all den Dingen frei macht, die nur ſchmeichelnde
Nictigkeiten find. Aber heute fcheltet ihr auf die Regierung, und morgen,
wenn eine Hoheit einen Hofratstitel oder ein Ordensband vergibt, To
küßt ihr die Hand. Sie mag eine ganz vortrefflid; rejpeftable Hand
fein, aber fie gehört zu demfelben Kopfe, den ihr eben erſt mit vollem
Recht als urteilsunfähig in euren Angelegenheiten bezeichnet habt.
Ürteilsunfähig, wenn er euch jchlecht, urteilsfähig, wenn er euch dann
gut behandelt — werte Herren, das geht nicht an. est feid ihr auf
den Neichstag böfe, wirft er euch Aufträge aus, jo hat er plötzlich Er:
leuchtung in Sachen der Kunſt. Seine Ausftellung wird bei uns eröffnet,
ohne daß ihr ehrfurchtsvoll wie einer Offenbarung den Worten der
Majeftät laufchtet, die zum erften Mal in ihrem Leben drei Blide auf
das Lebenswerk eines Hünftlers wirft. Kein Denkmal kann gefegt werben,
ohne daß ihr irgend einen unbejcholtenen Prinzen zum „Proteftor“ der
Sade madt. Kommt ein Minifter nicht zum Feſteſſen eines alten
Poeten, fo fränft euch das, macht man eine europäifche Berühmtheit mit
achtzig Jahren zum Ritter eine Ordens, den jeder brave General mit
ſechzig Jahren hat, jo entzüdt es euch. Das alles, mwährend ihr ganz
genau wißt, dab jene ftaatlihen Autoritäten Sadverftändige für euer
Schaffen nicht find und nicht fein fünnen, das alles alfo, während ihr
die Werturteile, die diefen Außzeichnungen zu Grunde Tiegen, als ganz
unerheblich erfennen müßt. Und ihr verlangt, daß jene Autoritäten
in der Tiefe de8 Herzens euh achten follen? Achtung aber, das
gerade ift e8, was wir beim Reichstag wie bei der Regierung vor allem
brauchen, Achtung vor der uns heiligen Welt, deren Thore auch den
Andern als Tempelthore erfcheinen müßten, nichts als Tingeltangelthüren,
die nur der Saffierer bewacht.
„Freie Kunft und freie Willenichaft!" — es ift eine ſchöne For—
derung. Ihre Verwirklichung allein kann die Kunſt und die Wiſſenſchaft
befähigen, der Menſchheit und zunächſt dem eigenen Volfe das zu fein,
was fie fein jollen: Führerinnen aufihren Gebieten. Wie unbeichräntter
Führer auf anderm Gebiete der Staat fein ſoll. Aber in die NRepublit
der Geilter fann nur eintreten, wer ſich innerlich frei gemacht bat davon,
Autoritäten gelten zu laſſen oder richt gelten zu laffen je nahdem,
ob fie ihm als Menſchen nützen oder fchaden, ob fie ihn beleidigen oder
aber ihm fchmeicheln. Wer fo weit ift, dem ift daS Treiben im Reichs—
tage fo gleichgültig wie das der Begas, Werner und Knackfuß, er weiß,
daß die Kunſt, die uns vorwärts führt, in feiner Partei gemadt
wird, oder au in allen, mo freie Menichen find, aber weder mit
Majeftäts- noch mit Majoritätsbefchlüffen. Wer führen will, muß die
Fübe frei haben.
Lehrt dereinft eine von eifernen und goldenen fetten befreite Denter:
und Geftalterfchaar ein Volk, das die Sprade gelernt hat, in der jene
reden, dann wird die ftaatliche wie die reichstägliche Kunftpflegerei von
Kunftwart
— 5% —
heute in ihren meilten Erjcheinungen ſchwer zu Degreifen fein. Das
Bolt zur KHunftgenukfähigkeit zu erziehen, die Künſtler frei zu machen
nicht minder von Feffelungen durch Eitelfeiten wie von denen durch Gut
und Geld, das find Die beiden großen Vorbedingungen einer wahrhaften
fünftlerifchen Sultur. So ſchwer es iſt, fie zu erfüllen, allmählich wer—
den fie doch erfüllt werden, meil das Bedürfnis nach edeln Genüſſen
mit der Ausbildung unſrer förperlihen und jeeliihen Organe wachſen
wird, bis es ſich Gemährung erzmingt. a.
Zur deutscben LWiteraturgeschichbte,
Ueltere Lefer des Kunftwarts willen, daß id) bedauerliher Weife gegen
den modernen Literaturgefchichtsbetrieb im allgemeinen ftarf eingenommen bin.
Es fehlt mir 3. ®. leider die Gabe, das mit ihm verbundene Wichtigmachen zu
ſchätzen, das jede hilfswiſſenſchaftliche Thätigkeit zum Range hoher wifjenfchaft-
licher Leiftung erheben möchte, und noch weniger vertragen kann ich das reine
Plusmahen, welches das geringfügigite neuentdedte Material als wichtigſten
Bund Hinftelt und einen Stoff, der für einen furzen Aufſatz genügte, wohl gar
zu diden Büchern breittritt. Man rühmt ſich freilih, jeht die wahrhafte, die
pſychologiſche Literaturmiljenichaft zu jchaffen, aber wer für das poetifche
Schaffen wirklich Verſtändnis hat, fieht fi meist in der Lage, die gewonnenen
piyhologifhen Ergebnifje als unweſentlich oder gar mißverftändlich und falfch
abzulehnen. Hier und da ilt ja ein feinerer Geiſt thätig, der vom Wejen und
Schaffen bes Dichters eine Mare Vorſtellung hat und bei Eingelunterfuchungen
auf fihern Pfade geht, aber die Mehrzahl handwerkert und Ieidet jedesmal
Schiffbruch, wenn fie felbitändig ein Urteil über dichterifhe Begabung abgeben
fol. Da hat man denn bie Ejelsbrüde erbaut, daß überhaupt nicht geurteilt
werden dürfe, und es find viele, die fie befchreiten.
Daß dennoch manch ſchätzenswerter Beitrag zur beutfchen Literatur
geſchichte erfcheint, will ich damit nicht bejtreiten ; freilich, das Meifte aud) des
Brauchbaren geht doch in der Regel nur die Fadıfreife, nicht die gebildeten
deutjchen Leſer überhaupt an. Wirfli gute Bücher über Literatur, die felbft
eine Bereicherung unſeres Schrifttums bedeuten, find jehr felten, und das fpricht
denn eben der Gefamtliteraturmiflenfhaft unferer Zeit, zumal fie mit jo hohen
Unfprüden auftritt, das Urteil. Ich mwiederhole inımer wieder: Wo ift die
allgemeine deutſche Literaturgefhichte, die ung Gervinus’ Werl erfegte?
Ro find Monographien wie die Adolf Wilbrandts über Heinrich von Kleiſt,
die nad) der Anfchauung der „Fachleute“ durch Otto Brahms Wert „überholt*
ist, aber das Brahmſche Buch als Darjtellung taufendmal übertrifit? Wir, die
wir nit „Fadjleute* find, glauben nicht mehr an die alleinjeligmachende Me—
t5ode, wir wollen den lebendigen Geijt fpüren, uns gilt ein treffender
Aphorismus unter Umftänden mehr als eine von der Sonne der Wiſſenſchaft
noch jo durdhgetrodnete Progranımabhandlung.
Von den mir zur Zeit vorliegenden literaturbijtorifchen Arbeiten ftammt
Hermann Andreas Hrügers Schrift „Der junge Eichendorff“ (Oppeln,
Georg Daste) aus Fachkreifen, erhebt fi) aber im erſten Teile doch zu wirk—
licher Daritellung. Es hat dem Berfafler eın noch unbefanntes Jugendtagebud
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Eichendorff8 vorgelegen, und man muß ihm das Zeugnis außjtellen, daß er
e8 geſchickt benugt hat — was natürlich nicht ausſchließt, daß ung einer feiner
Nachfolger das Tagebuch eines Tages vollftändig im Drud vorlegt, verjteht
fih, mit Anmerkungen. Den zweiten Teil des Buches „Eichenborff8 Jugend»
werfe* kann ich nicht in dem Maße Ioben; ba haben wir jene minutiöfen
Unterfudungen über Entjtehung und Veröffentlihung, Sprade und Metrit
Eichendorffſcher, meift wertlofer Jugendgedichte, deren Veröffentlidung wenig-
‘tens ich für überflüffig Halte. Für Lyrik vor allem gilt das franzöfifche
Sprichwort „C’est le ton, qui fait la musique“; wer über Lyrik fchreibt, muß
die feinfte Empfindung für den „Ton“ in fi) ausgebildet Haben, und mit Hilfe
diefer kann er dann Gedichte viel beifer harakterifieren als mit rein formalen
und ftofflihen Unterfuhungen. Recht gut ift wieder bie Unterfuhung über
den Roman „Ahnung und Gegenwart“ — beim Roman fpielt eben aud ber
Gehalt eine große Rolle, und den fann man durch Vergleihung mit zeitgendf-
fifhen Werken ziemlich fiher in Zeitgut unb perfönliches Gut auflöfen.
Ueber „Otto Ludwigs äfthetifhe Grunbfäge” hat Ernſt Wadler
eine philoſophiſche Unterfuhung (Berlin, E. Ebering) herausgegeben. Eine
folhe war wohl einmal nötig, und wir wollen uns ihr Ergebnis, daß der
Yutodidalt Ludwig in mander Hinfiht mit der Nefthetit der Herbartifchen
Schule einig ift und in die Nachbarſchaft der neueren Forfhungen jeit Fechner
tritt, ad notam nehmen. Warnen will id) noch einmal davor, Ludwigs viel-
fah vom Moment beftimmte, wie Wachler auch felbft jagt, „relativiftifche”
Niederfhriften als äſthetiſchen Grundkoderx Hinzuftellen, wozu man bier und ba
Miene madt. Wenn Ludwig beiſpielsweiſe jchreibt: „Eigentlih müßten bie
Schaufpieler felbft die Dichter ihrer Rollen und fo des Stüds fein und zwar
in dem Augenblid ber Darftellung. Die commedia dell’arte ift eigentlih ber
Ausgangspunkt. So muß der Didter auf die Sade angreifen; er
muß fih, wie bie Rede von einer Berfon zur andern übergebt, in
bie verfhiedenen Schaufpieler, und mit jedem ſich in bie darge—
ftellte Berfon verfegen. Nicht unmittelbar in die dargeſtellte
Perſon, weil nit diefe dargeftellten Berfonen felbit das Stüd
fpielen“, fo ift das ein Ausfluß des unglüdfeligen Ludwigſchen Erperimen
tierens und reine Phantafie; denn e8 ijt erftens bem feine Menſchen fehenden
Dichter ſchwerlich möglich, und zweitens wäre es höchſt gefährlich, da eben die
ganze Unmittelbarleit des poetifden Schaffens dadurch aufgehoben mürbe.
Dergleihen Saden finden fi bei Ludwig oft, alfo Vorſicht! — Von Emit
Wachler, der jet ben Kynaſt“ berausgibt, ſtammt aud eine Schrift „Die
Läuterung deutſcher Dichtkunſt im Volksgeiſte“ (Berlin-Eharlotten-
burg, Richard Heinrich), die u. a. einen früher im Kunftwart erſchienenen Auf:
fat Volkstümliche Dramatif* wieder aufnimmt. Meiner Meinung nad) hängt
Wachler no zu jehr am nationalen „Stoff“, e8 fommt doch vor allem auf
den Geift an. Nach wie vor halte ih „Iphigenie“ für ein deutſches Werk und
gebe ſämtliche Hohenzollerndramen Wildenbruchs und noch einiges andere ruhig
dafür Hin. Aber manche bemerkenswerte Hinmeife enthält Wadlers Schrift,
vor allem jtimme ih aud darin mit ihm überein, daß Richard Wagners Mufil-
drama das Wortdrama nicht, wie dieſer glaubte, erfegen könnte, fonbern etwas
ganz anderes ijt, und dab es jeht Zeit wird, letzterem etwas mehr Aufmerk—
feit zugumenden, benn cine neue Blüte des erjteren ſteht jo kurz nad) ber Er=
reihung des Gipfels natürlich nicht zu erwarten. Ich halte e8 für nötig, dies
einmal flipp und klar auszuſprechen, da einzelne Wagnerianer die Alleinherrs
Kunftwart
— 38 —
Ihaft Wagners auf der deutſchen Bühne, fomeit fie Kunſt bringt, immer noch
feftzuhalten verfuhen und zu dem Zwed fogar einem Blumenthal milde mer»
ten, der ja freilich dem Meifter nit ſchaden kann. Die Talente für das
Wortdrama werben wohl fommen, wenn nur einmal die Bahn freier gemacht
wird, und auch gegen ältere Dichter, wie Hebbel, Ludwig u. f. w. haben wir
Deutfchen noch Verpflichtungen einzulöfen.
Ein gutes Buch, das feinen Zweck erfüllt, ift die Biographie Guſtav
Freytags von Friedrih Seiler (Biographifhe Vollsbücher, Verlag von
N. Voigtländer, Leipzig), die freilich nicht zur Fachliteratur gehört. Wer für
das Volk über Leben und Schaffen eines Dichters fehreibt, der braucht nicht
gerade als äfthetifcher Ertenner und Empfinder „über“ feinem Dichter zu ftehen,,
es ift im Gegenteil vorzuziehen, wenn er verehrungsvoll zu ihm auffhaut?
denn e8 fol durch Liebe Liebe gemedt werden. Blinde Liebe ift freilich nicht
gut; diefe hat Seiler aber auch nicht, er beachtet die Einwürfe der Kritik gegen
Sreytags Werke und ſucht fi mit ihnen auseinander zu jegen. Seine Grunb=
anfhauung ift nun allerdings, daß in ber Kunſt die Weisheit und Geredhtig-
feit zu finden fein müſſe, welche die Geſchichte und das Leben, ſcheinbar wenig⸗
ſtens, fo oft vermiſſen laffen. Er zitiert ben Ber:
Irxrational erfcheint das Leben,
die Kunſt fol feine Brüche geben.”
Das ift für uns eine überwundene Anſchauung, wir wollen die Brüde, bie
wirklich da find, aud in der Kunſt wieder finden und glauben nicht daran,
daß fie darum fon „troftlog” werde. Im Gegenteil, das beliebte Zupflaftern
der Wunden der Menfchheit erfcheint uns als das Troftlofe, die volle, nicht
übertriebene Wahrheit als einzig einer fo erniten Sade, mie bie Kunſt tft,
würdig unb baber zulegt auch allein als wirklich befriedigend. Bei Freytag
ſchadet nun aber die alte Anſchauung meiter nicht, falls man nur feine Romane
des guten Ausganges nicht gegen vollbichterifche Werke wie etwa „Werther“
und den „grünen Heinrich” ausfpielt. Vom rein äfthetifchen Gefihtspunft aus
ift Seiler alfo nicht vollgunehmen, was fih u. a. aud) barin zeigt, daß er
„Minna von Barnhelm“ und „die Journalijten* für Charakterluſtſpiele Hält,
während fie doch ungmeifelhaft Situationsluftfpiele find. Uber er hat das
Reben Freytags gut gejchrieben, den „Volkswert“, den feine Werke immer noch
haben, Mar hervorgehoben und damit feine Aufgabe gelöft. Man hat, wenn
man an das ganze beutfche Volk denkt, immer noch alle Urſache, für Freytag
einzutreten. Ein Stüd Philifter freilich jtedte in ihm, fein neuerbings befannt
gemwordenes Urteil über Seller hat das ja auch wieder gezeigt.
Mit einem verfhollenen vormärzlichen öjterreihifhen Dichter, Ju ftus
Frey (Undreas Ludwig Jeitteles), befhäftigt fi ein von deifen Sohn heraus—
gegebenes Büchlein (Leipzig, ©. H. Meyer), das viele poetifche Proben enthält.
Nach) diefen zu urteilen, war Jeitteles ein nicht fehr felbftändiger, aber doch
namentlich für das Didaltifche begabter Poet, fo daß man die in Ausſicht ge—
ftellte Neuherausgabe feiner Dichtungen, wenigftens einer Auswahl, gutheiken
fann. Es wird ja doch eines Tages einmal die landfchaftliche deutfche Literatur—
geſchichte gefhrieben werden müſſen, und da wird man in Dichtern wie Frey
die Einflüffe, die kulturhiſtoriſchen Wirkungen der großen allgemeinsdeutfchen
Talente befonders gut beobadten können. Haben diefe Heineren Dichter dann
noch etwas Eigenes, um jo bejjer. — Vor allem von landfhaftlicher Bedeutung
it auh Michael Albert, der fiebenbürgifche Dichter, deifen Leben und
Didten Adolf Schullerus zunädhit für feinen Volksſtamm, dann
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— 9 —
aber auch fachwiſſenſchaftlich gefhildert Hat (Hermannftadt, W. Krafft). Albert
war Gnmnafiallehrer in Schäßburg, ſchrieb Lyrif, Novellen, Dramen, von
welch lettern „die Flandrer am Alt“ und „Hartened* im allerbeiten Sinne
fofalpatriotiich) zu fein fheinen, ein „Hutten“ auch wohl weitere reife inter=
effieren fönnte. Am beachtenswertejten ſcheinen mir aber die Novellen Alberis
zu fein, die das Leben der Siebenbürger Sachſen darftellen, vor allem die ſton—
flitte, Die die neue Zeit der Magyarifierung ba hineintrug; diefe nationalen Ge—
Ihidten werden wohl aud im deutſchen Reich Aufmerkſamkeit beanspruchen
dürfen. Schullerus’ Arbeit erfcheint durchaus tüchtig und geradezu abſchließend;
die ganze fiebenbürgifche Literatur wird mehr oder minder ausführlid ge—
tennzeichnet. .
Ueber alle genannten Schriften ragt bedeutend hervor Richard Welt-
richs „Chrijtian Wagner“ (Stuttgart, Streder & Moſer), befonders des—
wegen, weil diefes Werk auch ein Bekennerbuch ift und die Berfönlichkeit feines
Verfaſſers offenbart. Auf fait 500 Seiten ftellt Weltrich das Leben und Dichten,
die Perfönlichkeit und die Weltanfhauung des noch wenig befannten mürttem=
bergifhen Bauern und Dichters allfeitig dar, und er erreicht e8, uns für Die
im deutſchen Leben jehr merkwürdige Erfheinung Wagners aufs höchſte zu
intereffieren. Er nimmt aud) perfönlidye Stellung zu Wagners Ideen und
Idealen und gibt uns fein fubjeftives Urteil über unfere Zeit, das id als
ſolches gelten laſſen muß, wenn id) ihm auch nicht zuftimme. Was den Dichter
Wagner anlangt, fo weiſt Weltrich felber die Anſchauung ab, als ob er ein
jogenannter Bauern= und Naturdichter fei, ex ift fi Mar bemußt, bat Wagner
von Bildungseinflüjlen ſtark bejtimmt worden. Seinem Talent nad) ftellt er
ihn über ferner und Schwab, näher an Uhland und Mörife heran; id) mödte
eher an Rüdert und feine Schule, die Schefer, Daumer u. f. w. erinnern, nur
dab Wagner an Anſchauungskraft und Urſprünglichkeit bei vielen Schwächen
fait den Altmeifter jelbft übertrifft. Inn unjerer modernen Riteratur bildet er
fozufagen eine Gruppe für fi, eine merkwürdige Mifhung von Poet und
Philoſoph, wie fie felten zu werben beginnt. Der Umerilaner Walt Whitmann
tft vielleicht etwas ähnliches. Gewiß verdient Wagner die höchſte Aufmerk—
ſamkeit, und verdient er auch ein fo dickes Bud), obwohl wir aus praktiſchen
Gründen ein mefentlid) dDünneres vorgezogen hätten. Weltrichs perfönliche
politijchfozialzethifhe Anfhauungen gehen den Kunftwart nur injomeit an,
als fie unfere Zeit als für die Entwidlung von Hunft und Wiffenfhaft un:
günjtig Hinftellen, über reaftionären Geiftesdrud Hagen, überhaupt die Kultur-
feindlichkeit unjerer Zage behaupten. Jch bin der Unfiht, daß der Mangel
einer „Blüte“ beifpielsmeife der Dichtkunft einfady auf ben Mangel an groben
Talenten zurüdzuführen ift, daß im übrigen aber, und zwar gerabe im Inter—
ejie unferer Kultur, ein Zurüddrängen des „papiernen“ Schaffens (ic) braude
wohl nicht zu fagen, was ich darunter verjtehe) durch dag politifche und foziale
Handeln fogar höchſt wünfhensmwert wäre. Wir haben nicht zu wenig Bücher
und Zeitungen, jondern zu viel, und wenn man bie Hälfte der jchreibenden
Menſchen beuticher Herkunft etwa in den Kolonien anderswie nüßlich ver—
wenden könnte, jo würde ich das für fehr erſprießlich halten, felbit auf die
Gefahr Hin, daß ich als der Erjte Saffeebohnen und Baummolle ernten helfen
müßte, Adolf Bartels.
ZUR
Kunftwart
Zur ADusikpflege. *
2. Bom Volksliede.
Die einfachſten mufitaliihen Bethätigungen find das Volkslied und ber
Bollstanz. Sie bilden die Keime der ganzen vielgeftaltigen Tonkunſt, das
wiſſen wir alle Es ift wohl aud nicht nötig bier zu wiederholen, was
Künſtler und Sunftfenner von Herder und Goethe ab Schönes zum Preife des
Volfsliedes gefagt haben. Seit mehr als hundert Jahren wird mit dem Rufe
„Burüd zur Natur“ immer wieder bie Mahnung nad) „Rüdtehr zum Volksliede“
oder wenigſtens die Hoffnung laut, es fünnte aus dem Volkslied eine neue
geiunde nationale Kunſt entjpringen und die Erzeugnifle unferer überfeinerten
Berfallszeit ausſtechen. Mit folden Schlagworten, hinter denen ſich wohl ein
berechtigter Stern verbirgt, ift gut arbeiten, wenn man die gute Sadje im großen
Publikum fördern will. Aber fie find gefährlih, fobald der hinreißende
Brediger jelbjt mit feiner Einfiht in den Worten fteden bleibt, wenn fie nicht
aus dem Grund einer Karen Erfenntnis aufwachſen. „Die Wahrheit ift eine
Nuance“, pflegte Renan zu jagen; verfudhen wir e8, fie zu treffen.
Die heutigen Pfleger und Fürfprecher des Volksgeſanges thun ſich viel auf
eine genaue linterjcheidung von Volkslied, volkstümlichem Lied, Lied im Volks—
ton und Gaflenhauer zu gute. Volkslbieder in dieſem jtrengen Sinne find
nur die im Volke jelbft entitandenen Lieder; volfstümliche hingegen wären
Aunftlieder aus den ftreifen der Gebilbeten, die aber nad) Inhalt, Sprache und
Weiſe jo allgemein verftändlih find, dab fie aud) von den Maſſen gefungen
werden. Man räumt dabei ein, daß mas mir als echtes Volkslied rühmen,
oft nur ein voltstümliches Lied ift, deſſen Autor unbelannt blieb und das im
Munde des Volkes allmählid alle Merkmale feiner „künftlichen“ Herkunft ab-
geitreift Hat. Alſo die Grenzen verſchwimmen oder find oft rein zufällige
Hit dem Kunjtinufiler oder Dichter die Nachahmung des Voltsliedes miklungen,
fehlte es ihm an Naivität des Ausdruds oder affektierte er fie merklich: fo
bat er nur ein „Lied im VBollston“ zuftande gebradt. Gegen biefe Pfeudo-
volislieder führt man mit Recht einen heftigen Kampf, ebenfo wie gegen ben
Gaſſenhauer anderfeits, der hinfichtlich des Urfprungs mit dem Boltslied
etwas gemeinfam hat, nicht aber deſſen Wert und Lebensdauer. Diefe Ein-
teilung wirft äſthetiſche und Literargefhichtlihe Dinge durdeinander, um
von bein geheiligten Begriff des Volklichen und VBollstümlichen jede ungünftige
Vorjtellung fernzuhalten. Gin fchlehtes, niedriges Volkslied mirb als
Baflenhauer aus der guten Gemeinihaft ausgefhieden; das mihlungene
vollstümlihe Lied geht dieſes Namens verluftig und muß fih Lieb im
Vollston ſchelten laſſen. Sagen wir darum jtatt diefes fpigfindigen Spiels
mit Worten, einfah: nur gute Volks- oder vollstümliche Lieder follen ge—
pflegt werben.
Wann ift nun ein Volkslied „gut“, worin liegt fein eigentümliher Wert ?
Die Frage beantwortet fid, wenn man erwägt, waß die Gebildeten bes vorigen
Sahrhunderts veranlaßte, fih mit dem Volksliede zu befaffen. E8 mar Re—
aktion des gefunden menſchlichen Gefühls gegen eine Hunftpoefie, die den Boden
der Natur unter ben Füßen verloren Hatte, in einer abjtrakten, byperidealen
Empfindungswelt fi) bewegte und nur unter Göttern unb verwandten
* Wir verallgemeinern ben Titel unferer Folge fo, weil wir ung ent=-
fchloffen haben, ihr Stoffgebiet zu erweitern.
2. Märzheft 1899
Haffıfhen Geftalten ſich heimifch fühlte. Es mar bie Reaktion bes natürlichen
Sinnes gegen eine Aunftpoefie und Kunſtmuſik, deren überlomplizierte, ver—
fchnörkelte, mittelbare Ausdrudsmweife fie behinderte, je Gemeingut weiterer
Kreiſe zu werben. Es war bie Reaktion gegen bie ariſtokratiſch-hochmütige Auf⸗
faffung, als fei die Kunft nur zum Parademaden oder zum geiftigen Sport
der höheren Gefellfhaft da und nit auch ber freundlihde Shmud und traute
Gefährte unferes ſchlichten, täglichen Lebens. Die Bedeutung bes Volksliedes
Tiegt alfo in feinem Inhalt, in feinem Ausdrud und in feiner Anwendſamkeit.
Der Inhalt des Volkslieberfhages umfaßt ben ganzen Umkreis typifcher
ober fonftwie Häufig miebderfehrender Empfindungen. Die Freude an ber
Natur, am Wandern, an Lenz und Luft, an Wald und Fluren, an beiterer ober
erniter Gefelligkfeit, an Wein und Weib, an Liebesglüd und Liebesleidb gibt
fih in ihnen fund. Sie begleiten ben Jäger beim Streifen burd ben Forft,
ben Schnitter bei ber Felbarbeit, bie Mädchen beim Spinnen. Ja, fie äußern
und begleiten nicht nur, fie vermitteln aud) den Einblid in das Fühlen der
verſchiedenen Stände und Lebensalter, und bereihern damit das Empfinbungs-
leben ber Andern. Uber man bedente auch mwieber eines: von unfern Volks—
liedern hat die Mehrzahl ländliche, Hat faum ein Drittel Meinftäbtifche Verhält-
niffe zur realen Vorausfegung, und für das Bedürfnis des Großſtädters reichen
fie gar nicht mehr aus. Man fingt dort die alten Lieber zum guten Teil nur
als poetifche Filtionen, und fogar auf dem Lande befinden fi die Zuftände
nad diefer Rihtung hin in der Entwidelung. Geht ber Zug unferer Zeit
immer mädtiger auf die Befreiung vom Banne konventioneller Zügen, fo be—
greift man den geheimen unbemußten Widerftand, den bie Bevölkerung ben
Beitrebungen der Bollsgefangvereine entgegenftellt. Und bie alten Lieber ben
Verhältniffen der Gegenwart anzupaffen, hat der „dichtende Volksgeiſt“ bisher
nod nicht vermodit.
Aber barüber mögen fih bie Iiteraturfundigen Mitarbeiter des Kunſt⸗
warts bie Köpfe zerbrehen. Das Muſikaliſche, die Melodil der Volkslieder
iſt jedenfalls nicht „veraltet“, nein wir finden, daß die altdeutſchen Liebmeifen
den neueren an Energie und Fähigkeit „das Gefühl ficher zu beitimmen“ durch—
aus nit nadftehen. Im Gegenteil. Freilih: den Empfindungsinhalt
eine® Gebildeten ganz zu erfhöpfen, vermag fein Volkslied, e8 vermag’s
mweber den Worten noch den Beifen nad. Es kann uns alfo nie ganz das
Kunjtlied erfegen, das gewiſſe zufammengefegte feelifhe Stimmungen, wie
fie der Zeitgeift unter denen, die ihm naheſtehen, auslöft, eben allein be
friedigen und ausgeprägt indivibuelle8 Empfinden eben allein zum Ausdrucke
bringen kann.
Weil nun die Volkslieder nad Form und Inhalt fo einfach und fahlich
find, eignen fte fich vortreffli für den erften Unterridt. Und dort finden
fie noch bei weitem nicht jene Verwendung, die ihnen zukommt. In den grumbs
legenden Gefang- und Klavierſchulen follte der ganze Reichtum der Kinder—
lieder entfaltet und damit von Gefchleht zu Gefchleht überliefert werben, wie
denn überhaupt auf diefer Stufe Inftrumental= und Gejanglehre Hand in Hand
gehen follte. Die Elemente der Phrafierung, bes ausdrucksvollen Vortrages
u. ſ. w. ließen fi in biefer Verbindung viel leiter, natürlicher dem kindlichen
Verſtande beibringen. Ueberhaupt müßte bei der Erziehung ſchon darauf hin—
gewirkt und e8 nicht bem Zufall überlaffen werden, daß ber junge Menſch
mwohlvertraut mit dem nationalen Liederſchatze ins Leben tritt, um daraus bei
jeder Gelegenheit ſchöpfen zu fönnen, um einen Grundftod fünftlerifch geitalteter
Kunftwart
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Empfindungen in fi gu tragen, auf dem die höhere Kunst einmal meiterbauen
fann. Sonft findet ihre Stimme feinen Wiederhall. Hier Tiegt auch mit der
erziehlichite Einfluß ber ftubdentifchen Gefelligfeitsvereine, namentlich
für junge Leute aus den Städten. Sie lernen die ſchönſten und geläufigiten
Volkslieder kennen und, was mehr heikt, fie erproben fie praftifch in ver—
fhiedenen Lebenslagen, 3. B. die Natur: und Wanderlieder auf fröhlichen Aus—
flügen, die Trink-, Weihe» und Trauerliedber bei entſprechenden Anläfjen u. f. w.
So knüpft fid) an jebes Lieb eine Fülle von Erinnerungen aus ber frifcheiten
Blütezeit des Lebens, und mer ſich fo durch den Lieberhort in jungen Tagen
durchgeſungen, der hört die einzelnen Gefänge, dank den unvergeßlich daran
baftenden Affoziationen, fiherlid” mit gang anderem Empfinden an, als mer
fie damals etwa im Kommersbuh durchlas oder meineimegen, wenn er
vielleicht Fachmann“ für Vollsliedforfhung war, fogar „itubierte“.
Hit das Volkslied mithin in feinem typifchen Eharalter fo recht bie Aus—
drudsform der Jugend, fo broht feiner Wertfhägung eine Gefahr in jenem
Ultersjtadium, wo fi) die Individualität der Menſchen ftärker entwidelt und
in einem pſychologiſch erflärlichen erften Uebereifer alles ihr nicht Gleichartige
abſtößt. Mander fommt aus diefer Periode nicht mehr heraus; bie meiſten
aber überwinden aud) fie, nur daß ihnen bie neuauflebenden Jugendibdeale in
einem anderen Lichte erfcheinen. So kehrt man denn auch fpäter, nit nur
erinnerung8halber zum Vollsliede zurüd, um das Herz daran zu laben und
ben Geift zu erfrifchen, und hält dem freundlichen Gajte gern einen Plaß an
ber Zafel bes Lebens frei. E8 gibt nun allerdings Leute, die da glauben,
daß nicht nur der fhaffende Künftler immerzu auf der Höhe des Ausdrucks
wandeln, fondern, daß auch jeder rechtſchaffene Kunſtmenſch ftreng Hinter ihnen
herftelgen müffe, beileibe ohne je einen Wbftieg in Thäler und Vorberge zu
unternehmen. Sie gleichen den Praffern, bei benen opulente Feitmähler nicht
fröhliche Ausnahmen, fondern fportliches Reglement find, und bie ſich Dabei
ben Gaumen fo ſehr überreizen, daß ihnen gefunde Hausmannskoft gar nicht
mehr eingehen will. Solde Leute mögen nobel thun oder nobel fein: jeden=
falls find fie jehr bedauernsmürdig. Wir aber möchten nicht, dat bie Deutſchen
auf dem Gebiete ber Kunſt fih bloß aufs Gipfelflettern und Feinfchmedern
verlegten; fie follen in ihrem ganzen Bereich zu Haufe und für alle nahr—
bafte Koft empfänglid fein. Womit natürlich nicht gefagt ift, daß fie au in
den Sümpfen zu mwaten und fi bei Waffer und Brot zu kaſteien brauchten.
„Richt gefungene Volkslieder find halbe Volkslieder oder gar feine“,
meint Herber ſehr richtig. Alfo wader darauf losgefungen. Leider haben die
Heinen Gefangvereine, beren wichtigſter Lebenszweck die intime Pflege
des Volksliedes fein follte, dieſe Aufgabe vielfach ganz aus den Augen verloren,
fie pflegen entweber gemadte, jentimentale Nahahmung oder fie thun mit
„impofanten“ Leiftungen, römifhen Triumpbgefängen, Chorballaden n. dergl.
groß. Ueber dieſes Leiden ift wiederholt an diefer Stelle geflagt worben.
Einer gefunden Reaktion, wie fie in Deutfhöjterreih vom Wiener Volksgeſang—
verein ausgeht, wünfchen wir vom ganzen Herzen Glüf und wir maden zu—
gleich auf bie Flugfchriften diefes durch Joſef Pommer ins Leben gerufenen
"Bereins aufmerffam.* Selbſt für den anfprudisvolleren Mufiffreund ges
* Flugſchriften zur Stenntnis und Pflege des deutſchen Volfsliedes. Her—
ausgegeben vom deutfhen Volfsgejangverein in Wien (V. Pilgramgafie ı0).
Wegweiſer durch die Literatur des deutſchen VolfsTiedes". (20 fr.)
2. Märzheft 1899
— 0 —
winnen die BVollsmweifen durch verfeinerte Harmonifierung und Tunjtreiche
Stimmenführung an Reiz, jo daß fich unfern Tonkünſtlern nad) diefer Rihtung
nod ein fruchtbares Feld eröffnet. Dasjelbe gilt von den in neneiter Zeit
beliebt gewordenen Bolf8liedern mit Hlavierbegleitung. Als Mufter können,
was echte volkstümliche, aber feinmuſikaliſche Einfahheit anlangt, die Bear—
beitungen von Martin Plüddemann gelten. Dem fpezififhen Muſiker mird der
lavierfag, den Brahms zu vielen ſchönen Volksweiſen erfonnen Hat, hohen
Genuß bereiten. Dieje Bearbeitungen bilden dann den natürlichen Uebergang
zu den Sunjtliedern, von denen ein nächſtes Mal einläßlicher gehandelt
werben wird. Richard Batfa.
Kopie und Fmitation,
Kopie und Jmitation bedeuten beide etwas ganz ähnliches, näm—
lih die täufchende Wiedergabe eines gegebenen Borbildes in einer
neuen Arbeit. Und doch muß man beide Dinge grundverſchieden be—
werten. Denn während die Kopie eines Wertes einfach den Berjuch be—
deutet, durch Wiederholung diejelben äfthetiichen Genüffe zu bereiten,
wie das Original, jo haftet dem Begriff Jmitation der Makel des Un—
ehrlichen, der Sinn de8 „Täujchenwollens“ an. Allerdings gehen beide
Begriffe ohne feite Grenze ineinander über, und es gibt viele Fälle, mo
man faum nod) jagen fann, ob man es mit einer Jmitation oder einer
Kopie zu thun Hat.
Um fi) den Unterſchied Zar zu machen, denfe man fich folgendes
Beifpiel: Wenn einer ins Muſeum geht und einen Tizian „abmalt”, fo
ergibt das flärlich eine Kopie. Hier kann jogar das Material genau
dasſelbe fein, und je muftergültiger die Kopie ift, je mehr bereitet fie
uns einen Genuß wie das Originalwerf. Oder: e8 macht jemand einen
Abguß nach einer antiken Plaftit. Die Plaftit ift aus Bronze, der Ab—
guß aus Gips. Durch geeignetes Tönungsverfahren kann man diejen
jedoch) dasjelbe Ausſehen verleihen wie der Bronze, jo daß der Augen—
eindrud, um den es ſich beim Kunſtwerk handelt, aud) hier, wo ein
anderes Material vorliegt, genau der gleiche bleibt, wie beim Original-
wert. Niemand wird in einem ſolchen Kopieren, jo lange feine betrü-
geriichen Verſuche, die Kopie als Originalmwerf unterzufchieben, in Frage
ftommen, etwas äſthetiſch Anftößiges jehen können. Die Kopien find
nicht jo folid, wie daS Material, allerdings, aber das ift ein Praftifcher
Nachteil, der nuc bei einem Gebrauchsgegenftand aud) ins äfthetiiche
hinüberfpielte, bei reiner bildender Kunſt fommt als äfthetifcher Wert je
nur das Bild fürs Auge in Frage.
Und nun denfe man fi) ein Beifpiel für Jmitation. Ein Mann
möchte reich gejchnigte Deden in feinem Zimmer haben. Seine Ver—
hältniffe erlauben ihm jedoch folden Lurus nicht. Da läßt er denn
reiche Holzdeden in Gips abgieken, Holzfarben abjtreihen und fie fo
mei Hefte beutiche Volkslieder f. gemiſchten Chor. (je 30 fr.)
Sechzig fränkiſche Volfslieder f. + Männerftimmen. Di. 3.—.
222 echte Stärntnerlieder. 2 Bde. je fl. 1.25.
Kunftwart
— 404 —
anbringen, daß man nun meint, in einem Zimmer mit reich gefhmgter
Holzdede zu fein. Oder e8 macht jemand Photographie-Albums. Seine
Kunden möhten am Tiebften recht reich ausſehende Dedel aus dickem
Leder mit ſchwerem Silberbeihlag haben. Sie können aber nur den
dreißigften Teil von dem ausgeben, was fol einer foften würde. Da
weiß unfer Dann denn Rat; er läßt Papier jo preſſen, dab es äußer—
lich gerade wie Leder ausfieht, läßt den Silberbeihlag aus dünnem
Blech ftanzen und gibt ihm eine dünne Berfilberung. Das heißt dann
imitierter Lebereinband.
An diefen Beifpielen mird klar werden, worin der grundlegende
Unterfchied zwifchen Kopie und Jmitation liegt. Zum erften wird man
dort von Kopie reden können, wo die Vorlage ein Originalmerf, ein
mwirflihes Kunſtwerk ift, deffen Bedeutung in der Form oder in der
Farbe, nicht im Material Tiegt. Wir fünnen die Benus von Milo zwar
bejjer genießen, wenn fie in Marmor vor ung fteht, als in Gips, aber
die Idee des Kunſtwerks und deshalb das Weſen ihrer Bedeutung liegt
lediglich in der Form, wie fie der griechiiche Meifter einft erfonnen. Das
Material ift zwar erfreulih, für die Konzeption des Kunſtwerks aber
nebenfählih. Kann man den EGindrud des fchönen Materials künftlich
erzeugen, fo thut man e8, um den reinen Nugengenuß zu haben, den
das Marmororiginal erzeugt. Ganz anders beim Photographie-Album.
Da wählt man das Leder ja deswegen, meil in ihm die Gewähr für
die größtmögliche Haltbarkeit beim Gebraude liegt. An fi ließen
fih) auch im Bappdedel oder im Papier die größten fünftleriichen Reize
erzeugen, jo lange man die Eigenart des Material3 herausfehrt. Aber
greift man zum Leder, fo iftö eben der praftiihen Eigenſchaften
des Material, nicht allein feines Ausjehens wegen. Dieje Eigen
fchaften gehen natürlich dem imitierten Materiale ab. Dan kann zur
Not den Augeneindrud des Leders heriiellen, der Gebrauhsmert
fällt volllommen weg. Wählt alfo jemand daS Lederalbum aus
Papier, fo ift e8 ihm gar nicht darum zu thun, den Gegenftand wirk—
Ih im Sinne feiner eigentlichen Beltinmung zu haben, jondern er
wählt ihn nur — jchließt der Hunftverftändige leicht — um den Schein
zu erweden, er könne ſich echt lederne Einbände leiften. So führt die
praftifche Bedeutung der Frage ins Ethiſche hinüber. Jener „Schluß“
des Kunſtverſtändigen richtet fi) gegen den Charakter des Menfchen,
mwelcher nicht das Bedürfnis Hat, ehrlich zu zeigen, mit welchen Mitteln
er arbeitet. Er mag mißverftändlich fein, diejer Vorwurf, er mag nur
Daher fommen, daß der andere nicht fühlt, wie nicht in der Koſtbar—
keit, jondern allein in der Ausgeſtaltung durch Form und Farbe
der wirkliche Kunftwert einer Arbeit liegt. So kann Mangel an äfthe-
tiicher Bildung in den Geruch ethiiher Mängel bringen.
Und auch die äjthetifchen „Lügen“ haben kurze Beine. Eine wirk—
liche Hnlzdede wird durch) Gebrauh und Abnukung eher jchöner, das
Holz nimmt mit dem Alter und der Verräucherung die reizvolliten Patina—
farben an, während der angejtridhene Gips höchftens ſchmutzig und unan—
jehnlich wird, ganz abgejehen von den Stellen, wo er abbrödelt und in
den weißen Flecken fein wahres Weſen enthüllt. Ganz ebenfo beim Album.
Jeder Kratzer und Drud hebt den Eindrud des Leder auf, mährend
der „Beſchlag“ fich bald abwetzt, eindrüdt und dann feine blecherne
2. Märzheft 1899
105 —
Exiſtenz erkennen läßt. Auch bei der größten Schonung find folde
Dinge nad) wenigen Jahren traurige Ruinen, mährend der edite
Gegenstand vielleicht nie feinen Wert verliert. So ift auch rein mirt-
Ichaftlich die Erwerbung von Jmitationen zumeift ein Selbjtbetrug.
Allerdings, die moderne Technik liefert Beifpiele, daß mit dem
Erſatz durd) fremde Materialien auch Eigenſchaften verbunden mwerben,
die denen des echten Materiald gleich fommen, ja, die fie manchmal
übertreffen. In fol einem Falle kann natürlich der Begriff Jmitation
nicht in demfelben Sinne verwendet werden. Wo mir heute gemifje
Steinimitationen haben, die an Qualität den Stein ſelbſt übertreffen,
da kann e8 nicht unrichtig fein, fie an Stelle von Stein zu verwenden.
Nur follte man bedenken, daß mit der Qualität des Materials fi) aud)
feine äfthetifche Yorm verändern müßte. Man denke an Zement. Zement
ift ganz jicher ein ausgezeichnetes Material. Und doc tft es falſch, mit
ihm einfach die gewöhnliche Haufteintechnit nachzuahmen. Man follte
verfuchen, die Geftaltungsmöglichkeit eines jeden Material3 derart kennen
zu lernen, daß man aus feiner Eigentümlichkeit heraus die natürlichen
Kunftformen entmwidelt.e Und dies ift in unferer modernen Induſtrie
auch da noch nicht geichehen, wo es fih um Dtaterialerfag handelt, der
im übrigen einwandfrei wäre. Ueberall jpuft noch die „Jmitation“.
Paul Schultze-Naumburg.
Lose Blätter,
Gedichte von Detlev von Kiliencron.
Wenn Detlev von Lilieneron noch immer nur wenig gelefen mwirb, io
hat ers ganz gewiß den befannten GErblaftern der Deutfchen zu verdanken, die
er fo herzlich Habt, jehr wahriheinlicher Weife aber nebenbei dem Geſchrei
einer literarifhen Gefolgfchaft, die ihn als neuen Goethe und größten Lyrifer
fett dann und dann mit unermübdlicher Qungenfraft ausgerufen hat. So trat
man mit hochüberſpannten Erwartungen zu ihm, fühlte ſich enttäufcht und
ging wieder. Aber Liliencron ift an ber Verhimmelung durch feine Gefolgſchaft
nicht jchuldig, er perfönlih Hat nie irgend welche Reklame erftrebt, nie irgend
welche Elique gepflegt, er ijt in feinem Iiterarifchen Wirken ſtets untabdelhaft
gewefen. Und wenn ihm aud ein gerundetes ganz rein lyriſches „Lied“
faum je gelungen ift, wie wir fie von Goethe, Mörike, Groth, Seller, Storm
und den andern großen Lyrifern befigen, und wenn wir ihn deshalb gerade
zu biefen faum zählen dürfen, jo iſt er dod ohne Zweifel ein kernechter
und ferngefunder Poet von frifchefter Urfprünglichkeit und ausgeſprochener
Eigenart — ein „ganzer Kerl“ in der Literatur, der jedem aus feiner Lebens—
fülle was abgeben fann. Heute gilt c8 ung nidt, ihn zu fritifieren. Mir fegen
den Xefern heut ein par Proben aus feinen Gedichten vor. Aber diefe par
Proben ſchon werden zeigen, daß man ſich ein ganz falſches Bild von Lilien-
eron macht, wu man etwa nidhts als einen fröhlichen Leutnant als Menſchen
im Poeten vermutet. Der fieht aus den Liebesgedichten heraus, aber ſchon
aus den Schladhtenbildern blidt mehr. Ein Gedicht wie „ES lebe der Staifer”
bat übrigens an eindringlicher Anſchauungs- und Stimmungsfraft in ber
Kunftwart
— 406 —
ganzen beutfchen Kriegslyrik kaum feinesgleihen. Auch wo Lilieneron nur
„liebelt*, ift er leichtlebig und vielleicht Teichtfinnig, aber niemals lüſtern ober
frivol, er ift immer, und das ijt das Prächtige an ihm, durchaus natürlid.
Daß er fich gelegentlih zu wirflih großen Anfhauungen, zu dichteriſchen Ge—
fihten aufſchwingt, ermeife feine „Sündenburg”. Bon all den Jüngftbeutfchen,
die in ihm ihren Führer ſehen, ift ſchwerlich noch einer jo ferngefund, wie
er. Darin ift er in ber That mit Goethe verwandt, aber das meinen bie
Herren ja nidt, wenn fie ihn einen newen Goethe nennen, mie gelegentlich
Dehmel ober font wen.
Die folgenden Stüde find den beiden Sammlungen entnommen, Kampf
und Spiele” und „Kämpfe und Ziele”, die, bei Schuiter & Löffler in Berlin
erfhhienen, je 2 Mark koſten, gebunden 3 Mark, Auch „Neue Gedichte‘ find
bort herausgelommen. Ebenjo „Ausgewählte Gedichte“, die aber fein rechtes
Bild geben.
*
Den Waturaliften.
Ein echter Dichter, der erforen,
Iſt immer als Naturalift geboren.
Doc wird er ein roher Burfche bleiben,
Kann ihm in die Wiege die Fee nicht verfchreiben
Swei NRätfel aus ihrem Wunderland:
Humor und die feinfte Künftlerhand.
Es lebe der Kaifer.
Es war die Zeit um Sonnenuntergang,
Ich fam vom linfen Flügel hergejagt.
Granaten heulten, heiß im Mörderdrang,
Hol euch die Peft, wohin ihr immer fchlagt.
Ich flog imdefjen, das war nichts gewagt,
Unter fi kreuzendem Geſchoß inmitten.
Rechts reden unfre Rohre, ungefragt,
£in?s wollen feindliche ſich das verbitten.
Gezänk und Anfpuden, ich bin hindurchgeritten.
Plötzlich erfenn’ ich einen Johanniter
Um roten Kreuz anf feiner weißen Binde.
Wo fommft du her, du ſchneidiger Samariter,
Was trieb dich, daß ich hier im Kampf dich finde?
Er aber riß vom Haupt den Hut gefhwinde,
Und fhwang ihn viel, den feltnen Küftefreifer,
Und fhwang ihn hod im ſchwachen Abendwinde,
Und rief, vom Reiten angeftrengt und heifer:
Geftern ward unfer greifer, großer König Kaifer.
Und zum Salute donnern die Batterieen
Den Kaifergruß, wie niemals er gebradht.
Aweihundertfünfzig heife Munde fchrieen
Den Gruß hinaus mit aller Atemmacht.
Schen ſchielt' aus gelbgefäumter Wolfennacdt
Sum erften Mal die heife MWinterfonne,
* 2. Märzheft 1899
Und fchwefelfarben leuchtete die Schlacht
Bis anf die fernft marfcierende Kolonne —
Daf hod mein jung Soldatenherze fchlug in Wonne.
Tot lag vor mir ein Garde mobile du Nord,
Es fcharrt mein Fuchs und blies ihm in die Haare.
Da lang ein Ton herüber an mein Ohr,
Den Höllenlärm durchſtieß der Ton, der Flare.
Nüchtern, nicht wie die fchmetternde Fanfare,
Klang her das Horn von jenen Musfetieren.
Daf dir, mein Daterland, es Gott bewahre,
Das nfanterie-Signal zum Avancieren.
Dann bift du ficher vor franzofen und Bafchfiren.
Sum Sturm, zum Sturm! Die Hörner fchreien! Dranfl
Es fprang mein Degen zifchend aus dem Gatter.
Und rechts und linfs, wo nur ein Slintenlauf,
Ich rif ihm mit ins feindlihe Gefnatter.
£erman, £erman! Durh Blut, Gemwehrgeicnatter,
Durch Schutt und Qualm! Schon fliehn die Kugelipriten.
Der Wolf brad ein, und matter wird und matter
Der Widerftand, wo feine Zähne bliten.
Und Siegesband umflattert unfre Fahnenſpitzen!
Auf der Kaffe
Beute war ich zur Kaffe beftellt,
Dort läge für mich auf dem Zahltiih Geld.
Warens auch nur drei Marf und adıt,
Hinein in den Beutel die fröhlihe Fracht.
Auf der Kaffe die Hähler und Schreiber,
Die Pfennigumdreher und Stenereintreiber,
Wie fie Falt auf den Sitzböcken thronen,
Sichten das Geld wie Kaffeebohnen.
Möchte doch lieber Zigeuner fein,
Als Mammonbefchnüffler im goldenen Schrein.
Im Bürean ift jeder zu warten fchuldia,
Stand ich denn aud eine Stunde geduldig.
Dacht' ich mir plößlich: mit Derlaub,
Wären doc all hier blind und taub!
Der Geldfchranf fteht offen, rifch wie der Pfiff
Thät' ich hinein einen herzhaften Griff,
Padte mir berftvoll alle Tafchen,
Machte mich fchleunigft auf die Gamafchen,
Nähme Schritte wie zwanzig Meter.
Binter mir ber der Gendarm mit Gezeter,
Brächt' mich nicht ein, fo jehr er auch liefe,
Saß auf der fchnellften £ofomotive.
Kunftwart
— 44 —
Mit der Derwendung des Geldes num,
Bin ih doc Fein blindes Huhn.
Stoljierte umher wie der König von Polen,
Sudte mir bald ein Bräutchen zu holen.
So ein Mädchen mit blanfen Zöpfen
Könnt’ ih wahrhaftig vor Liebe köpfen.
Dor dem Spiegel, auf hohen Zehen,
Stehn wir, wer größer ift, zu fehen.
Ad, diefe Mähel Den Puls ihres Kebens
Fühl' ih im Spiele des nedifdhen Strebens.
Weiter! natürlih Wagen und Pferde,
£änder und £eute, Himmel und Erde.
Sacral Wie will ih mich amüfteren...
„Bitte, wollen Sie hier quittieren.“
O, wie das nüchtern und eifig klang.
Nahm die drei Marf und acht in Empfana,
CTrank beſcheiden ein Krüglein Bier,
Trollte nad Hauſe, ich armes Tier,
Schalt meine frau mich bis in die Yacht,
Daß id fo wenig Geld gebradt.
Anf einer grünen Wiefe.
Du junge fhöne Bleicherin,
Wo fährft du denn dein Leinen bin?
Raſch fpring’ id auf den Bod zu dir,
Sufammen dann Putfchieren wir
Auf deine grüne Wieſe.
Da breiteft du im Sonnenfcein
Die Hemden fein, die Höschen fein.
Ih feh dir zu, mein Herz wird laut,
Wir fpielen Bräutigam und Braut
Auf deiner grünen Wieſe.
Und Nachts, im milden Mondenfceint,
Bewachſt dein £innen du allein.
Ih gebs nicht zu, es ängftigt mich,
Dor Raub und Mord bejchüt’ ich dich
Auf deiner grünen Wiefe.
Die Sündenburg.
Ich bin gewandert durch manches Kand,
Blieb gern von der Menge ungefannt.
Die Menſchen fand ich allenthalben
So gleichgeartet wie die Schwalben.
Sehr wenig Gutes, viel Gemeinheit,
Diel plumpes Getrampel und wenig Feinheit.
Befonders der Neid fchien bei allen mir aleich,
Die fräftig hofften aufs Himmelreic.
2. Märzheft 1899
. 409 -
Kunftwart
Recht Hübſches entdeckt’ ich im Strebertume,
Und fah manch ähnliche füße Blume.
Die Heuchelei, das war fpafhaft zu fehn,
Saft fonnt’ fie auf einem Beine ftehn,
Sehs Stunden lang am Kirchenthor,
Bis würdevoll anfam der Herr Paftor.
Diel Artiges fhaut’ ih im Lügen und Trügen,
In denen fo gern wir uns vergnügen.
Und taufend und taufend andere Sachen,
Die waren zum Weinen, die waren zum Lachen.
Was fehr mir mißftel bei der Wanderpartie,
Das war der Mangel an Poefie.
Und befonders in Dentfchland hab’ ichs empfunden,
Und hab’ es gefpürt wie fchmerzende Wunden.
Ja, ja, fein mittel, Schablone, brav,
Auf alter Weide das alte Schaf.
Dor einem LCaden die Sudelei:
„Großvater füttert den Enfel mit Brei“,
Betracht’ ich, und mit mir Chriften und Juden
Stehn entzüdt vor diefer Buden.
Wenn es Klinger aber und Bödlin wär,
Sie fhenften dem Bilde gewiß wenig Ehr.
Ja, ja, fein mittel, Schablone, brav,
Auf alter Weide das alte Schaf.
Da zupft mid; einer am Aermel verftohlen,
Ich denke, mich foll der Teufel holen.
Denn neben mir fteht ein Meiner Mann,
Der faum an die Schulter mir reichen fann.
Mageres Körperchen, dürftiges Kleid.
Klagt mir ein Bettler fein fchmähliches Leid ?
Er zwidt mit den Augen fo mühfam und faul,
Und arinfend verzieht fi das breite Maul:
„Du Narr unterftehft dich, auf Alles zu fchelten,
Auf alle Menfcben, auf alle Welten.
Du follft dich fchämen, du weißt doch nichts,
Sieh mich an, ih bin ein Engel des Lichts
Und fenne Alles. Bift du nicht banae,
So folge mir anf dem nädften Gange.”
Und ch ich gefprodyen, und eh ich gewollt,
Schon bin ih von feinem Mantel umrollt.
Wir fliegen zufammen, ich weiß nicht wohin,
Mir klopfen die Pulfe, mir fchwindet der Sinn,
Bis endlib wir aus den Iuftigen Gaſſen
In einer Müfte uns niederlaffen.
„Was fiehjt du? Ich frage dich, was du fchauft ?“
Und dreimal fchlug feine knöcherne Fauſt
Mich auf die Stirn: „Was fiehft du nun?
Gefällt mein Treiben dir und Thun?“
— 40 —
Im Dierfant ftrebt ein Felſen auf,
So hod, er hemmt den Sonnenlauf.
Senfredten Schroffen fidern ab
Diel Tropfen in das MWüftenarab.
Wild auf des Steines Platten oben,
Steht eine Märdenburg erhoben,
Ein Donnerftuhl, ein Bliteplat,
Ein Widderfopf in Sturmeshat.
Der Regen raufht auf Zack und Zinnen
Und ftürzt aus Drachenrachenrinnen.
Aus dem zerfeßten Wolfenzug
Zieht gierend ans ein Geierflug,
Und prädtig fällt die Sonnenflut
Dem NRaubzeug auf den Federhut,
Und zeigt im Licht die weißen Mauern
Und fhwarzer Tannenfränze Tranern.
Und Turm auf Türmen und Terraffen,
Und Koggien, Ballen, Säulengaffen,
Sugbrüden, Grotten, Gärten fchweben
Und weben ein phantaftifch eben.
Und wieder zieht der Sonne vor
Aſchfarben fih ein Schleierflor.
Dom grauen Himmel, ohne Haud,,
Sticht ab ein feiner ſchwarzer Rauch,
Der aus der Burg, der Säule gleich,
Hinaufzieht in das Gnadenreid,.
Iſt ein befränzter Stier gefällt,
Ein Opfertier im Tempelzelt?
„Sprich, Alter, was hat die Burg zu bederiten,
Iſt fie beſetzt mit ftreitbaren Leuten ?*
„Ihr Menſchen möchtet in Alles dringen,
Und wühlt zu gern in geheimen Dingen.
Aur immer mit deinen fragen hübfch jacht,
Doch deshalb hab’ ich dich hergebradht,
Um dir dein Bleinliches Denken zu zeigen,
Dein hochmütig Reden im Lebensreigen.
Was madıft du dich Iuftig über die andern,
Und mußt doch aucd ihre Wege wandern ?
Das Schloß dort oben auf graufiger Kant
Hab’ ih die Sündenburg genannt.
Dahin fend’ ih alle Gedanken,
Die heimlih euh aus dem Herzen ranfen,
Die nie aus tiefftem Seelengrunde
£eichtfinnig entfchlüpfen enerm Munde,
Die verftedt ihr haltet in dunkelſter Kluft,
Die mit ihr nehmt in Grab und Gruft,
Wünſche nah Mord und fcheußlichen Lüften,
Weltuntergang, wenn ihr an lodenden Küften
ei 2. Märzheft 1899
- —1
Kunftwart
Nur euch allein dort Fönnt aefallen,
Sum Nucknck dann mit den übrigen allen.
Hotdürftig dageaen fchriebt ihr Geſetze
Und fpanntet euch ein in fchütende Netze.
Und dächtet ihr nicht an den ftrafenden Gott,
Ihr endetet alle auf dem Schaffot.
Yun aber ift es von mir zur loben,
Daß diefen Gedanken fit auszutoben
Ich erlaube, wenn auch nur auf furze Stunden
Erlöfung auf jener Burg fie gefunden.
Denn jedesmal um Mitternacht
Derbrenn’ ih den Kram und ein End tft gemadht.
Die Feſte fteht wieder am anderen Morgen,
Ih braude für neues Gedräng nicht zu foraen.
Haft du Deranügen an jenem Derein,
Wir fehen einmal durhs Fenſter hinein.“
„Du teuflifcher Kerl, das tft nicht wahr,
Du läßt uns Menfchen Fein gutes Haar.
Wir haben die Selbftzucdt anf ſtachligem Weg,
Die führt fernab vom Höllenfteg.
Treibt es dich, fieh allein in dein Haus,
Mir würde das Hirn verrüdt vor dem Graus.“
„So feid ihr Menjchen! Ihr fpottet und lacht
Ueber des Nächten Gebahren und Tradıt.
Dod will ich einmal euer Seelben euch zeigen,
Dann feid ihr feig und heifcht mich fchweigen.“
„Zah dem Rauch zu fragen ift mein Begehr,
Der dort oben zieht fo grad wie der Speer.“
„Je nun, das ift eine Fleine Filiale,
Ein Suderbonbonden auf blutiger Schale.
Oft peinigt ein Sehnen euch hei und erflärlich,
Für end und die Welt fonft fehr ungefährlich.
Wie fag’ ih: Ein Mädchen liebt einen Knaben,
Ein Knabe möcht gern ein Mädchen haben,
Und fönnen durchaus nicht zu einand,
Das ift für die beiden dann fehr genant.
Oder einer will gar zu gern einen Orden,
Und ift ihm doc nimmer und nimmer geworden.
Und ähnlihe MWünfche, wohl eine Kegion
Sudt jeder zu ftillen im Erdenfrohn.
Da hab’ ich abfeits dort einen Altar,
Dor dem wird alles glüdlih und klar.
Ich wette, juft eben die Opferthat
Stammt danfbar von einem Kommerzienrat.“
„Hund an die Burg, verruchter Gejell,
Sonft dreh den Hals ich dir um auf der Stell.“
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„Gemach, mein Freund, auf deinen Stelzer,
Ein Pfiff, und du würdeft dich vor mir mäljen.
Doch weil dir das Brennen fo fehr gefällt,
Hab’ ich die Uhren raſch vorageftellt.
Schon wird es dunkel, ſchon wird es Macht,
Schon hab’ ich die Fackel in Schwung gebracht.“
Ein rotes Sünglein ftredt ſich aus,
Und dort und dort ein Flammenſtrauß,
Aus allen Fenftern ledt die Glut
Aum Dach hinauf in eiliger Wut.
Schon rötet fih das Himmelszelt,
Als ftänd in Brand die ganze Welt.
Und praffelnd kracht Gebälf und Wand
Im Niederſturz anf Sand und Kand.
Ich hör Gefdrei, wahnfinnig Singen
Furchtbar zu mir berüberdringen.
Ein wüſtes Stimmendyaos brüllt,
Ein Käfig, tigerangefüllt.
Nun fteht, ein glühend Ungehener,
Die große Sündenburg im feuer.
Sangjam fteigt aus der £ohe Weben
Ein mächtig Kreuz: Ich hab vergeben.
Und zwifchendurdh wie Barfenflana,
Wie Orgelton und Chorgeſang.
Ein letter Reſt, ein letter Rif,
Und Schutt und Qualm und Sinfternis
Und kurzer Aichenregenfall —
Und eine Stille überall.
Nur böfe, durd die Nacht alänzt fern,
Ein großer grüner Funkelſtern.
Bitte an den Schlaf, nah fhwerften Stunden.
Dod eh der Peitichenfnall des neuen Tages
Mich morgen wieder in die Wüſte ruft,
Beftelle deinen Bruder an mein Bet:.
Gutmütig leat der alte Kerr die Hand
Auf meine Augen, die fib öffnen wollen,
Und fagt ein Wicgenlied, die Worte laugſam,
Sehr langiam jprechend:
So, ſo, fo...
Nicht bange fein...
So, | VPE
2. Märzheft 1899
- A — i
Rundschau.
Literatur.
" Der Kaifer hat fi mit Kabel⸗
telegramm nad) bem Befinden bes
amerilanifhen Poeten Rudyard
Qipling erkundigt, von dem er ein
großer Verehrer fei. Nun beginnt
wieber dag freundliche Spiel, in dem
wir bei allen Sachen groß find, mit
denen der Kaiſer zu thun Hat: Zeitungs⸗
artifel, Reitauffäge jogar, die mit rofi=
gen bengalifhen Flammen die ——
ſo anleuchten, daß keine andre Farbe
zu ſehen bleibt, und Privatgeſpräche,
Schimpfereien ſogar, die ſich über das
Berhalten des Kaiſers hier zu deutſchen
und dort zu fremden Schriftitellern
mit aller Kühnheit unbewachten Man—⸗
nesmutes äußern. Wir meinen, die
Sache liegt doch recht einfach. Der
Kaiſer regiert nicht die Literatur,
in ſeinem Verhältnis zu ihr wie zur
Kunft überhaupt iſt er Laie und Privat⸗
mann. Legen wir feinen Aeußerungen
über ſolche Dinge eine Wichtigkeit bei,
bie fie als Anfichten eines Laien nicht
haben können, fo ift daß unfre Schuld,
und laſſen wir fie gar für ung maß—
gebend fein, fo hat eben unfer Be—
dürfnis, zu dienen, über daß, felber zu
denten und zu fühlen, geftegt. Underes
bedeutet e8 nicht, wenn mir bei jeder
Aeußerung des kaiſerlichen Kunftjinns
Hofiannah oder Wehehe Ichreien, be—
glüdt oder gelnidt, weil er aud) jo
denkt wie wir, oder nicht fo. Nur
wenn etwa obrigfeitlihde Machtmittel
aufgewenbet werden follen, ben kaiſer⸗
lichen DERO DENE dem ber Sad)
verftändigen entgegenzujegen, geht er
ung etwas an.
* Baul Lindaus Geilt hat in
feinem Grabe zu Meiningen feine Ruhe
gefunden, er geht wieder um und jucht
flagend nad) einer neuen Stätte. Redet
man ihn an, fo fpridt er und ver—
tündet mit hohler Stimme, er fei das
Opfer der eleftrifhen Beleuchtung im
Meininger Hoftheater geworden. Wlfo
that er auch zu einem Reporter des
„Berliner Lofalanzeigers’, und mit
foldem Erfolg, daß diefer Wann das
Geipenft für etwas Lebendiges hielt.
Denn er fchreibt: „Die Nachricht der
Entlaſſung mirfte bier (in Deiningen)
wie ein Donnerihlag“, „alle Streife
fühlen den Verluſt“, „ſämtliche Herren
und Damen vom Theater gehen in
Trauer”, „das Bedauern Über Lindaus
Scheiden ift unermeßlih‘. Weinen
wir auch mit, mahnen wir aber dann
Kunftwart
zur Faſſung, dieweil ja wirklich der
treffliche Paul ſchon feit reihlich zehn
Jahren dauerhaft tot ift. Lindau II,
auch Oskar Blumenthal geheißen, ja ber
iſt nod) dran, über deffen Späßchen
freuen fih nod viele te Deutjche,
und Lindau III, bürgerlid Hermann
Bahr genannt, geijtreichelt den Dingen
auf der Oberfläche mit fo feinen fran-
zöſiſchen Bas herum, daß die jungen
Leute in ihm ihren Vortänger fehen,
wie die von damals in Lindau I. Das
Geſchlecht derer von Lindau lebt alfo
noch, aber den Ahn wedt feine Reklame
mehr auf.
* Georg Brandes Hat einen
beutjhen Fritifer um bie öffentliche
Mitteilung gebeten, baß alle feine bei
9. —— in Leipzig erſchienenen
Bücher un —— Ausgaben be—
deuten. „Seit wohl ı5 Jahren verfolgt
diefer Barsdorf mich mit feinen Aus—
gaben meiner Bücher. Er bat wohl
ı2 oder ı4 Bände von mir heraus—
gegeben. Auf den »Hauptftrömungen«
ſteht jogar:» Einzige autorifierte deutſche
Ausgabe! Er madt Wenberungen,
läßt aus, fügt Hinzu, beſonders He
ame für feine Verlagsartitel. Doch
all dies weiß ich nur durch andere;
ih Habe nie jelbit diefe Bücher in
meinen Händen gehabt. Er hat mir
nie weder ein Exemplar, nod einen
Pfennig geihidt... Der Mann Hat
mid in Deutſchland vernichtet, meine
eigenen Ausgaben getötet.” Warum
madt ein Schriftiteler, ber als
folder doch die Feder nahe zur Hand
hat, diefe unerhörten Dinge erſt jetzt
befannt? So heruntergelommen find
mwir in Deutfhland Gottlob denn doch
nit, daß die öffentlihe Meinung,
früher unterrichtet, dem gejchäftigen
Herrn das Handwerk nit fchon ge:
legt hätte.
Cheater.
* Hätten bie jüngjten Erftauffüh-
rungen der Berliner Theater
lauter Stüde gezeigt, denen gelungen,
was fie gemollt — unjere Bühnen
hätten auf Jahre hinaus literariſch
wertvoller neuer Dramen genug. Denn
an erniteren literariihen Abſichten
hats nicht gemangelt. Leider find all
diefe neuen Werke Verſuche geblieben,
denen zum Gelingen das legte fehlte.
Da zeigte fih, vor Jahren fon
einmal aufgeführt, wieder eine Mär—
— 44 —
chen⸗ und Ideendichtung, Wolfgang
Kirchbachs „Lette Menſchen“, Kirch—
bach iſt ungmweifelhaft ber Anlage nad)
ein Poet, e8 gibt fein Werk von ihm,
mo nicht in Stellen ein Dichter ſpräche.
Über e8 gibt aud fein Werk von ihm,
wo nicht in Stellen der Dichter voll-
tommen verfagte, und eine jchier ver—
blüffende Kritiflofigkeit ftatt der Poeten⸗
abe Banalitäten, ja geradezu Albern—
heiten böte. Die Tegten Menichen glau=
en bie erften zu fein, diefe Vorſtellung
iſt gewiß dichteriſch erfaßt, und fie fin
det da und dort ein ſchönes lyriſches
Wort zum Ausdruck. Uber was alles
ftört dazwischen, zeriticht und zerichlägt
geradezu die Ainofpen und Blumen,
aus denen Früchte reifen könnten! Die
wenig eine innerlihe Einheit da ift,
dafür betrachte man als Beweis nur
dieſen gl der erhaben beginnt, dann
plöglih einfach verliebter Hansmurft
wird, ſchmachtender Klown bleibt bis
zum Tode, als er ftirbt aber plötzlich
wiederum jo erhaben wird, daß wir
ihn al8 den großen Ban empfinden
follen, mit welchem das Leben ber
Welt erliſcht. In diefem Kirchbachſchen
Werke iſt nad) dem hödhiten Kranz fein
wahrhaft ernite8 Ringen, dem bie
Kraft fehlt, Hier wird uns ein ober—
flächlidhes Spielen mit Einfällen als
gro : zen ausgegeben.
3 Widerpart ift Georg
Hirf hfed, ber frühreifeltaturalift, der
Verfaſſer dervon den damals Hochmoder⸗
nen (heute ſind ja wieder andere hoch—
modern) fo vielbewunderten „Dtütter“.
Man findet feine „Pauline“ viel ſchwä—
cher, als jenes Stüd — ift fies, altert
etwa Hirschfeld ſchon, änderte ſich nur
der Geihmad? In den „Müttern“
fpielte Hirfchfeld ae 18 —— —
das wirkt wohl a in d
„Bauline“ (childert. ji was *
nicht am eigenen Leibe erfahren hat.
Das Milieu gibt die Küche, fünf Lieb-
m. wollen die brave Pauline, ben,
en fie, wie's fcheint, am menigiten mag,
ben mindeſt feinen, den demofratifchen
berben Schloſſer, den nimmt fie
ſchließlich. Dahin führt die „Handlung“.
683 find ganz nette Bilder, vor zehn
Sahren hätte man ihren Zeichner jehr
bewundert, denn bamals konnten }o
etwas nur die Patentinhaber. Jetzt
könnens mandje. Und die natura=
re Technik entgleifet diesmal auch
zu Zeiten.
habe, daß wir auf) von Mar
Dalbe nichts recht befriedigendes be—
richten fünnen, ein andrer Kerl als der
feine Hirfchfeld iſt er ja vorläufig
doch no), und nad) der Premitren-
pöbelei gegen jeinen „Eroberer* gönnte
man ihm, dem mwader Arbeitenden,
einen eindeutigen Erfolg boppelt.
Aber aud) die „Heimatlofen“ bra —
keinen, wenigſtens keinen literariſchen
Die Meine Lotte, die ihrem engen Heiz
matshaus mit der Ausfiht auf einen
Steuerafjellor entflieft, um frei zu
fein, bat nicht in fi, was fie zu fol-
chem Entſchluſſe von feelifcher Mitgift
braucht, und fo fällt fie in Berlin auf
einen fchneidigen Agrarier hinein, ber
fie verführt und zum Selbitmorb treibt.
Vieles ift gut im Stüd, aber das Beite
wirft wie ein neuer Aufguß nad) altem
Halbeſchen Rezept. Rach wie vor fteht
die „Jugend“ als deſſen einziges Wert
da, von dem man prophegeien darf,
daf es auf fpätere Zeiten fommt. In
ihm allein ijt das Etwas von Größe
wirklich Leben geworden, in allen
feinen andern Stüden blieb es auf dem
Bapier.
Des Fürften Friedrich von
Wrede Bierakter „Das Recht auf fi
ſelbſt“ zeigt uns ein neues Talent.
Ein vermwittweter Arzt hat ein junges
Mädchen geheiratet, und beide find
glüdlih. Da kommt e8 heraus, daB
fie vor ihrer Ehe ein Jahr im Ge=
fängnis gejeffen hat. Unſchuldig? Ja,
unſchuldig, aber er glaubt e8 erjt, als
fie dabei ift, ſich zu vergiiten. Das
it nun fold eine Theaterfunftfache:
entweder, die Leute find nicht die
idealen Menſchen, voll herzlicher Seelen=
gemeinſchaft, als die fie uns gezeigt
werden, ober fie find’8, — dann hätte
fie ihn den Fall nit verheimlicht
und mwürde er an fie glauben ohne
Bergiftungsverfudh. Neben diefer und
andern Gewaltſamkeiten find aber auch
Feinheiten in dem Stüd. Als Talent-
probe alfo iſt das Erſtlingswerk ge—
lungen.
Dann gab man Spielhagens
Schaufpiel „Liebe um Liebe*, dag vor
einem Bierteljahrhundert nad) furgem
Rampenleben begraben worden war.
Auf dem Hintergrunde ber Franzofen=
herrſchaft von 1813 ein romantifches
Stüd von einem edlen Baron, ber vier
Jahre lang verfchollen mar, feine
Braut als Braut feines Freundes wie—
derfindet, fehr traurig iſt, fih aber
dann in die Schweiter feiner Ehemali—
gen umperliebt. Sehr edle Menſchen,
die in fehr edler Sprade reden. Es
ift doch eine fonderbare Art von Ehrung,
auf dem Hoftheater am YJubeltag eines
2. Märzheft 1899
— 465 —
tüchtigen Romanfdhriftitellers öffentlich
zu bemeijen, was niemand bejtritten
bat: daß er nie ein Dramatiler war.
x
+ Um Münchner Gärtnertheater
gab man Juliane Derys „Magere
Jahre“. Das Stüd iſt eine Poſſe
durchaus befannter Art. Der Ober:
finanzrat von Hoff hat den Bräutigam
feiner Tochter auf feine Koſten jtudieren
laſſen und ſich dabei fieben Jahre lang
aufs äußerſte einſchränken müſſen.
Schließlich erweiſen ſich der Bräutigam
und ſeine Familie als rechte „Bagage“,
der Oberfinanzrat wirft die ganze Ge—
ſellſchaft hinaus, zieht die vorher ab—
gewieſenen kleinbürgerlichen Bewerber
ſeiner Töchter wieder ins Haus und
iſt vor allem froh, daß die „magern
Jahre“ zu Ende find, daß er fich wies
der jatt eflen fann. Ganz zu der üb-
lichen Dtarttware fann man aber das
Stüd nicht rechnen. In der natürliches
ten Führung des Dialogs verrät ſich
immerhin eine gemijje feinere Bes
gabung. Auch treten itellenmeije ernſt—
haftere Abſichten der Verſaſſerin her—
vor: es iſt z. B. die troſtloſe Stimmung
in dem Verhältnis der Brautleute, die
von lWeberdruß an einander erfüllt
find, mit fünftleriihen Mitteln ge—
geben. Im ganzen freilich zeigt ſich
das Talent Juliane Derys denn doch
als ein zu fleines Feuerlein, als daß
man fih daran erwärmen könnte.
Der Beifall des Publifums galt wohl
der nad bewährten Rezepten zubereis
teten Witzkoſt, die in herzhaften *
tionen verabreicht murde.
* leber unire —— von
der Julius Hart gerabe vor einem
Jahre eingehend im Kunſtwart ge=
ſprochen hat, fpricht er, abermals ges
legentlih Sudermanns, nun nod) ein=
mal fur; in der „Zäglihen Rund»
fhau“:
Die eine Tragödie haben unfere
Dramatiker von heute nod) immer nicht
geichrieben: die Tragödie ihres eigenen
Gemiljens, das große Drama ihres
Scduldgefühls gegen die Hunft. Ad,
nerade die Beiten von ihnen führen
ein armes Midas-Leben: unter ihren
Händen wird alles zum Gold — zum
blanfen gleißenden Bold — und dabei
eritiden fie im Hunger nad) einem
Trunf lebendigen Waſſers, nad) einem
Biffen nährenden Brotes.
Wiener Hauptmann= Feier diefer Tage
bat ein Profeſſor der Geologie die
allerdings unbezmweifelbare Thatſache
verfündet, daß heute ganz allein der
Kunftwart
ſehen bat,
Name eines Theaterpoeten in wei—
tere Streife dringt, daß unfere ganze
Bildung, gleichgültig gegen alle andere
Dichtlunft, einzig und ausſchließlich
noch der Theaterkunſt Teilnahme ent—
gegenbringt. Aber Herr Profeſſor Sueß
hat wohl faum gemußt, ein wie ver—
nichtendes Urteil er damit über unſere
Kunft und über unjere äfthetiiche Bil—
dung außgeiproden hat. Ja, der Dra=
matifer jtürmt von Erfolg zu Erfolg,
die Dienge jauchzt ihm zu, an goldenem
Gemwinn fehlt e8 ihm nit, — aber
nah dem Rauſch folgt ein jähes Er—
wachen, und eine unbarmherzige Er—
fenntnis fteigt wie ein Geſpenſt vor
ihm auf: Sind das nit alles Pyrrhus—
fiege, die da errungen werben, — Siege
auf often gerade ber Aunft? Die
mädhtigiten Bühnenerfolge fommen zu
ſtande — aber mie ein eherner Richter
ſteht das äjthetiihe Gewiſſen immer
wieder da und ſtreicht die Namen all
dieſer großen Rattenfänger gelaſſen
aus dem Buche der Dichtung: immer
— immer wieder, bie floßebue und
auch die Iffland, die Raupach und die
Birch-Pfeiffer, — die Sardou, die Lin—
dau, die Blumenthal, — ungerechnet
all die Tauſende noch kleinerer. Auch
die Beſten von heute umſchließt dieſer
Schatten. Ihre Dramen gehen über
alle Bühnen, alle Welt ſpricht über
ihre neuejten Werke, aber immer mies
der fällt ein Wort wie ein vergiften-
der Tropfen in ihren —
Theaterkunſt! Theatererfolgl“ Was
der Wiener Profeffor ganz richtig ge=
das iſt die Bewegung an
der Oberfläche unferes literarifchen
Lebens, aber hätte er in die Tiefe
hineinbliden fönnen, bann mwürde er
‚ eine gerade entgegengefeßte Bewegung
' wahrgenommen haben. Die ernfteiten
funft immer meiter um fid
Kunſtkreiſe ſind's, in denen eine tiefe
mwurzelnde Geringihäsgung der Bühnen=
greift.
Und die Dramatifer felbit, die beiten
von ihnen, mad)en einen gequälten
Eindrud; etwas Unzufriedenes, Uns
glüdliches haftet ihnen an, in ihrer
Seele wohnt der Schmerz, der aus
Hauptmann „Verfunfener Glode*
beraufflingt, und ein bumpfes, pein-
lihe8 Gefühl laſtet auf ihnen, daß
alle dieſe Theatererfolge ja nur
flüchtige und nidtige Tageserfolge
Bei der |
find, daß ihre Kunſt nichts als eine
ı arme Kunſt des Flachlandes und des
|
|
flachen Geistes ijt. Und verzmeifelnd
reden und Itreden fie ih, um zu den
Zempeln auf ben Bergen emporzu—
— 46 —
fteigen. Immer wieder jahen wir
in dieſen leßten Jahren das gleiche
trübe Schauspiel, wie die Haupt—
mann, die Halbe, die Sudermann
und die Fulda um das „große Wert“
qualvoll rangen, und hoffnungslos —
ganz hoffnungslos an dem Dranıa ber
MWeltformung und Perſönlichkeitsge—
italtung jcheiterten. Diefe Niederlagen
aber enthüllen nur die große Krank—
heit unjerer alerandrinifchen Kunſt von
heute, den tiefen Irrtum ihrer äſthe—
tiichen Glaubensbefenntniffe, Die leder: |
ihägung der Tedynif, den Glauben an
das Heil der toten Naturnahahmung,
die Erfolgjucht, die Gier, um jeden
Preis zu erregen und zu mwirfen. Sie
glauben, e8 von aufen machen zu kön—
nen, und willen nicht, daß alle große
funft nur aus dem Streben umd
Ringen des großen Menſchen hervor—
ſteigt, der ſich ſelber ſormen und bil—
den, mit der Welt und dem Leben
fertig werden mill.
*» Schülervorftellungen
zur Ergänzung des Unterrichts wer—
den jebt in BPeit eingerichtet.
veranitaltet fie im al. Nationaltheater
vom April ab, Nachmittags, mit Preiſen
bis zu 20 Kreuzer abwärts. Die Stüde
werden von der Theaterleitung ge—
meinfam mit Schulmännern ausge—
wählt, jede Vorjtellung leitet ein Vor—
trag über das Werk und feinen Dichter
ein.
* Dem Hervorruf nidt mehr
Folge zu leiften, haben eine Anzahl
von Bühnenſchriſtſtellern beſchloſſen;
ſie machen das in einer öffentlichen
Erklärung bekannt. — Man wolle hie—
zu die Notiz „vom Klatſchen und Ver—
beugen“ in der Rundſchau unſres
8. Heftes vergleichen.
* Melpomene, Rembe & Go.
Längit ſchon haben's Die hellen
Köpfe durchſchaut, daß es nichts ijt
mit dem Solo⸗-Dichten, und fo arbeites
ten ja längit ſchon, eh das neueite
dramatische Firmenſchild Blumenthal
& Bernitein enthüllt ward, die genial
ften tompagnongeichäfte in Dramatif.
Aber jest erjt iit die Löſung gefunden,
die allen Bedürfniffen der Neuzeit
wahrhaft entipriht: man gründet
dichtende Altiengejellfchaften. Und
fein Auslieferungsbureau von Poefie
und feinen Fabrilationgjfaal von
Dramatit wird es fünftig geben,
ohne daß fie ziere, lorbeerumrantt,
die Büfte von Anatole Rembe,
dem Manne, der's gemacht hat.
Dan
|
|
|
|
nn nn nn. — —
Bor uns liegt ein „PBrofpelt!! —
laufchen wir dieſes großen Idealiſten
wahrhaft erhabenem Pathos:
„Auf eine wier monatliche Lebens—
dauer blickt das Dramaturgiſche In—
ſtitut (Direktion: Anatole Rembe, Ber—
lin) am heutigen Tage zurück. Als
wir in den erſten Oktobertagen des
vorigen Jahres unſere Proſpelte in
die Welt hinaus ſandten, konnten wir
wohl ſchwerlich den koloſſalen Er—
folg ahnen, der unſerem ehrlichen
känſtleriſchen Wollen beſchieden
ſein ſollte. Eine wahre Hochflut von
Stücken hat ſich ſeitdem auf uns er—
goſſen, daß wir kaum ihrer Herr wur—
den, aus allen Ländern, in denen
deutſche Sprache klingt, ſandten deutſche
Dichter ihre Werke ein — das Dra—
maturgiſche Inſtitut war ein Be—
dürfnis geworden. — Infolge des
rieſenhaften Andranges haben
wir leider vor der Hand ein Lieb—
lingsprojett von uns fallen laſſen
müſſen: das Erſcheinen der Zeitſchrift
»Der Sinai«. Im Intereſſe der im
Dunkel ſtehen den talentvollen
Dramatiker ſahen wir uns aber
zu einer Maßregel genötigt, die ſie
ſchützen ſoll vor den unſere Zeit nutz—
los raubenden Erzeugniſſen der ta—
lentloſen: zur Erhöhung der
Prüfungs=- und Beſprechungs—
‘ gebühr von 10 Mark aufso Mark.
Dieſes materielle Opfer joll ein Sporn
fein zu größerer Selbſtkritik.“
Wiegen diefe paar Säße nicht allein
einen ganzen Band Wilhelm Buſch
auf? Weiter:
„Unfer Wahlſpruch heißt:
dem Talente freie Bahn!
Darum wollen wir fernerhin: jedes
uns eingereidhte Stüd binnen a bis 10
Tagen lefen, gemifjenhaft prüfen und
einer ſchriftlichen fritifchen Beſprechung
unterziehen, die auf 8 bis ı0 Folio=
* den Verfaſſer eingehend auf alle
eine Fehler aufmerkſam macht. Wir
wollen dabei rückſichtslos unſere ehr—
liche Meinung ſchreiben, die Talent—
loſen abſchrecken, den Talentvollen aber,
ſeien fie auch noch ſo bühnenunbehol—
fen, mit fachmänniſchen Ratſchlägen
zur Seite ſtehen, ſie auf die ſo hinder—
lichen und doch oft ſo leicht zu be—
ſeitigenden Fehler aufmerkſam machen,
wie auf Längen im Dialog, unwirk—
ſame Charakteriſierung, mangelhafte
Steigerung, ungeſchickten Aufbau des
Szenengerippes, ſchlechte Attſchlüſſe,
bühnentechniſche Irrtümer u. ſ. w. u. ſ. w.
Selbſtverſtändlich werden wir bei dieſen
2. Märzheft 1899
— MT --
raktiſchen Ratjchlägen, die wir unter
trengiter Diskretion erteilen, uns bie
äußerite Feinfühligleit für
bie dichteriſche Jndividualität
ber Berfaffer bewahren, und jtet8 wird
unfer Seziermeifer den innerjten Lebens⸗
nerv ber betreffenden Dichtung zu
fhonen wiſſen.“ Und nun:
„Aus den Reihen ber Wutoren
felbjt Hat man uns zu vollſtändi—
gen Bearbeitungen gedrängt,
melde die Stüde von all’ ihren Feh—
lern und Schladen befreien, fie bühnen=
reif machen und fo die Sinderniffe
einer Annahme von Seiten ber Direl-
toren befeitigen. Unfere Bearbeitungen
fanden ſolchen Anklang, daß fie jest
ganz in den Bordergrund ge
treten find. Mir mollen aber aud)
die Verfaffer davor bemahren, ihre
Kraft an ungeeigneten Stoffen zu vers
ſchwenden. Wir find daher bereit,
unfere fahmännifhe Erfahrung auch
in ben Dienft der noch ungeſchrie—
benen dramatifchen Arbeiten zu ftellen.
Zu diefem Zwed teile man ung mit:
1. Die Grundideen, 2. Fabel des Stüdes,
3. Charafterifierung der Perfonen, 4.
Einteilung der Handlung in die Alt |
Auch
ſchlüſſe, 5. das Szenengerippe.
hierbei hat man uns zu Bearbei—
tungen aufgefordert. In einem
40 bis 60 Folioſeiten ſtarken Expoſé
bauen, wir das Stück bühnenge—
recht auf, geben für jede einzelne
Szene die leitenden Geſichtspunkte,
führen die Handlung, die Charakteri—
fierung ber einzelnen Berfonen genauer
aus u. f. w., jteden fo Schriit für
Schritt den Weg ab, den der Dichter
durchlaufen muß, fo daß er von allem
Techniſchen unbehindert, unterftügt von
einer fid) von Akt zu Alt fteigernden
Handlung, feiner dichteriſchen
Kraft frei die Zügel ſchießen
Iajjen fann (!). Bei all’ unferen
fritifhen Beipregungen und Be:
arbeitungen bleibt jtetS das eine Ziel:
die Aufführung Da mir nidt
jedes beliebige Stüd den Theatern
empfehlen, jondern nur diejenigen, die
ihres inneren Wertes wegen ver-
dienen, an das Richt gezogen zu wer—
den, fo liegt e8 in ber Natur der
Sade, daß eine Empfehlung un—
fererfeits den Direftoren bedeu—
tend mehr gilt, als die ber Theater—
agenturen.“ Leichter fann den bunfeln
Talenten das Dichten und ber Er—
folg ja nicht gemadjt werden, voraus—
gejegt ganz allein, daß fie in der Lage
find, die „Bedingungen“ zu er-
Kunftwart
füllen, die Anatole Rembe ftellt: „ı.
Jedes Manuffript muß leſerlich ge
fhrieben und mit Seitenzahlen ver—
fehen fein. 2. Honorar für Prüfung
und eingehende Beiprehung 50 Mt.,
welche dem Dtanuffript beizufügen find.
3. Honorar für Bearbeitung eines
dichterifchen Stoffes 350 ME. (250 ME
pränumerando, 100 Mt. nad
Unnahme an einem Theater eriten
Ranges). 4. Honorar für Bearbeitung
eines ganzen Werkes 600 ME. (400 Mt.
pränumerando, 200 Di. nad
Annahme an einem Theater eriten
Ranges). 5. Ule Sendungen Haben
franko zu erfolgen.“ Wnatole Rems
bes denlmürdiges Schreiben jchließt:
„So jenden wir unjeren Proſpekt nod
einmal hinaus in die Welt, möge er
der Deutſchen Dichtkunſt zum
Heile gereichen!*
Sa, das möge er! Und eigentlid
wäre e8 frevelhaſt, zu begmeifeln, dab
nunmehr endlich der deutſchen Dra—
watik goldenes Zeitalter heraufzieht.
Wird es doch, in ſchönem kauſmänni—
ſchen Deutſch aushgedrückt: in Unter—
nehmung genommen von Melpomene,
Rembe & Eo., der ſchon viec Monate
lang rennnomierten Geſellſchaft mit
(allerdings:) beſchränkter Haftpflicht.
Mufit.
* Sriedrih von Hausegger,
der ausgezeichnete Diufilgelehrte und
Weithetifer ift in Gray im 62. Bebens-
jahre gejtorben. Er war e8, der ber
tormaliftifhen Auffaſſung ber Tonkunſt,
dem Hanslidfhen Sag: „Mufit ift
törend bewegte Form“ das Prinzip
„Mufif als Ausdruck“ entgegenjegte
und jo der Schöpfer der modernen
mufttaliihen Aeſthetik wurde, die er
felbft im Gegenjag der deduktiven
und induliiven Aeſthetik als „Aefthetit
von innen“ bezeihnete.e An teinen
legten Lebensjahren beſchäftigte ihn
insbefondere die Erforſchung der pſy—
Hiihen Vorgänge beim künſtleriſchen
Schaffen, deren Ergebnifje er in dem
Buche „das JenfeitS des Künſtlers“
niedergelent hat. Der Kunſtwart hat
in Hausegger einen jeiner älteften
Mitarbeiter verloren.
* Berliner Mufik. (Fortf.)
Arthur Nikiſch, ber Dirigent der
berühmten philharmonifchen Stonzerte,
machte uns mit einer hodjinterejlanten
Novität, der großen B-dur-Symphonie
(V.) bes vor zwei Jahren verjtorbenen
Anton Brudner, befannt. Nikliſch ift
418 —
derjenige Dirigent, der dem Linzer
Domorganiiten undnadhherigen Wiener
„Hoftspellorganiften* den eriten durch—
fchlagenden Erfolg verichafft hat. so
Sabre war der Komponiſt alt, als
Nitifch fi im Jahre ı8e4 feiner VII.
Symphonie annahm und fie in Leipzig
zu einem glänzenden Giege führte.
Ein Jahr fpäter eroberte ſich dieſes
Merk unter Hermann Levys, des be=
rühmten Barfifal-Dirigenten, genialer
Leitung die bayeriihe Hauptitadt.
Wiederum ein Jahr fpäter gelangte
die Symphonie über Sachſen und
Bayern in des Komponiſten Vater—
land. Hans Richter wollte ihr Wien
im Triumph erobern — fie fiel glatt
duch; der Miener Kritiker Hanstlid
gab dem gefallenen Löwen den Eſels—
tritt. Allmählich brach ſich Brudner
aber doch immer mehr Bahn. Leicht
zu veritehen find feine Werke gerade
nit, und namentlich) die C-dur-Sym=
phonie jtellt an den re große,
aber aud) jehr lohnende Anforderungen.
Brudners Kontrapunttit ift eigenartig;
er hält fih nit an das befannte
Schema, fondern läßt fi ftarf von
der, ich möchte jagen, „aufgelöiten“
Kontrapunftif Wagners, den er fo hoch
verehrte und dem er feine dritte Sym—
phonie widmete, beeinfluffen. Eine
ganz bejondere Liebe zeigte er für die
„Umfehrung”, die vielfach das Kontra—
fubjelt bildet. Des weiteren hat er
ih vom großen Bayreuther in der
äußerft glanzvollen Inftrumentierung
beeinflufjen Iaffen. Seine Werte ftrahlen
in einem für die Symphonie ganz un=
erhörten Glanz; er war fein jo trodes
ner Asket wie fein Wiener Kollege
Brahms, der jedem fchönen lang in
feiner herben Art aus dem Wege
ging. Brudners Erfindung ift fehr
bedeutend; feine Melodieen find meit
gefpannt und haben einen durch—
aus großartigen heroifchen Charafter;
fie find nicht ausgefuchſt und mit aller-
nd rhythmiſchen Raffiniertheiten ver
eben, mit denen heutzutage manchmal
der Mangel an Echöpferkraft verbedt
wird. Nennt man Haydn G-dur-
Symphonie wegen eines immer wie—
derfehrenden Paufenichlags die „Sym-
phonie mit dem Paufkenſchlag“, fo
mödte man Brudners Werk die „Sym=
phonie mit der Generalpaufe* nennen.
Mir ijt fein zweites Wert befannt, in dem
die Generalpaufe eine fo große Rolle
Ipielt. Der Komponiſt liebt e8, einen
Gedanken ziemlich fchnell zur Höhe zu
treiben und dann plöglich abzubrechen,
ö—— — — — — — —— — —— — nn,
um nach einer Generalpauſe mit einem
ganz neuen Gedanken aufzutreten und
es mit ihm ebenfo zu machen. Es ift
nicht au leugnen, dab fein Werk das
dur etwas Ubruptes erhält, anders
feit3 iſt aber auch nicht zu leugnen,
daß durch die Generalpaufe die Span—
nung immer von neuem erregt und
die Aufmerkſamkeit wie mit einem
Peitſchenhieb aufgerüttelt wird. Der
erite, etwas lange Saß zeigt haupt
fählih am Schluſſe eine große Schön=
beit und nimmt einen ftolzen, fieg-
reihen Charalter an. Das jehr vor—
nehm gehaltene Adagio meijt ein inter
ejlantes Motiv mit abfteigenden Sep=
timen auf, an das ſich eine ruhige,
echt Brucknerſche, langſam aufiteigende
Kantilene anſchließt. Der letzte Satz
iſt wegen ſeiner königlichen Pracht bei
weitem der ſchönſte. Ein Oltavanſprung
und ſeine Umkehr ſpielen eine große Rolle
hier. Eine gewaltige Fuge und Doppel—
fuge führen zum Schluß, der durch ein neu
hinzutretendes, aus Hörnern, Poſaunen,
Trompeten und Tuba beſtehendes Or—
cheſter das Ganze wahrhaft pompös
fließt. Dan fann Herrn Nikiſch gar
nicht genug dafür danken, daß er uns
die Bekanniſchaft mit diefer Symphonie
vermittelt hat. Das Publikum ſchien
allerdings jehr wenig Gefallen daran
zu finden; das klatſcht fich Lieber
die Hände nad dem MWiegenlied
von Ries-Sembri mund. Die zweite
Neuheit für Die philharmonifchen
Stonzerte war die E-moll-Symphonie
Tſchaikowskys, die früher, ebenfo
wie Rimsky-ſtorſakoffs „Scheheragade*
fhon in den Opernhausfonzerten auf»
geführt worden ift. Das crite Motiv
bes eriten Satzes betradıtet Tſchai—
kowsty gleihfam als Entmwidelungs-
motiv; e8 fehrt in allen Säten wieder
und ijt befonders im Finale von großer
Bedeutung. Einen Sat wie das „An-
dante cantabile con alcuna licenza“
vermochte mit feiner fühen Haupt—
melodie, die fo Liebefehnjücdhtig und
frauenhaft weich erklingt, nur Tſchai—
kowsky zu fchreiben; er hot fie denn
auch feinem Lieblingsinitrument, der
Waldhorn, mit feinem ſammetweichen
Klange anvertraut. Ganz leije, wie
eine jcheue Frage, läßt er den Saß
ausklingen, eine Manier, die wir ja
bei Tſchaikowsky ſehr oft finden. Das
Scherzo ift ein Walzer, der in feinem
ganzen Charakter an den Walzer im
Eugen Onegin erinnert, obgleih er
durchaus feine Aehnlichkeit mit diefem
hat; es ift aber derjelbe Geijt, der
2. Mãrzheft 1899
— 49 —
beide Tonftüde durchweht; der Schluß—
jag ift im andante maestoso gehalten;
da8 Hauptmotin der ganzen Sym—
phonie erjcheint mehrfach im nlänzen=
den Dur; ein echt ruſſiſch rhythmi—
fiertes Motiv ſchließt iin an; der
Schluß des Sakes iſt ſehr interejlant
und effektvoll Tontrapunftiftiih ge—
arbeitet. Alles in allem, fann man
Tſchailowskys E-moll-Symphonie wohl
als eines der allerihönften neueren
Erzeugnifle auf diefem Gebiet arjehen.
Im IV. Stonzerte gelangte zur erſt—
maligen Aufführung die Feitouverture,
welche Felix Dräjele im Auftrage der
Stadt Dresden zur QAubelfeier Des
Königs Albert von Sachſen fomponiert
hat. Das Merk hinterläßt feinen tiefen
Eindrud. Wenn ſpektatulös und feſt—
lich identiich find, dann muß Die
Duverture jehr feftlich fein. Es mag
ja alles darin nach den Regeln der
beiten Kunſt gearbeitet fein, trogdem
wird man das Gefühl der Stapell-
meiſter- und Gelenenheitsmufif nicht
los. Wenn e8 dabei nod) gut flänge!
Uber das iſt gar nicht der Fall. Der
Schluß, in den „Heil dir im Sieger:
franz“ (nach berühmtem Muſter) ver
mwoben wird, klingt geradezu hart und
unfhön; da ilt denn doch die Ver—
mwebung von „Eine jefte Burg“ in den
Staifermarih Wagners ganz anders
bewerlitelligt.. Daß aud) noch eine
zweite fremde Melodie („wer ift der
Ritter hochgeebrt* aus "Marfchners
„Zempler und Züdin“) in die Seit:
ouverture verflochten wird, fpricht nicht
ſehr für den Erfindungsreichtum des
fonftfotüchtigen Muſikers. Werdas Wert
einmal aufgeführt hat, führt e8, glaube
ich, fein ameites Dal auf. — Won bes
fannten Werfen ftanden auf dem dies—
mwinterliden Programm: Beethovens
VL, VII. und IX., Mendelsſohns ſchot—
tifhe, Brahms E-moll- Symphonie;
ferner Beethovens und Gonus’ Violin—⸗
ſowie Moszkowskis Klavierkonzert;
dann Arien aus Figaros Hochzeit,
Meyerbeers Dinorah, Verdis Ernani,
Maſſenets Herodiade; ichlichlich Ber—
lioa’ Carneval romain, Wagners Kaiſer⸗
marſch und Webers Euryanthe⸗Ouver⸗
ture. Als Soliſten wirkten mit: der
vornehme Baritoniſt Laſſalle, die Sem—
brich, Moszkowski, Burmeeſter und
Petſchniloff. A Biſchoff.
ortſ. folgt.)
* Den Aufruf für en Bruckner—
Dertmal in Wien Hat Guftav
Mahler nicht unterzeichnet, meil es
ihm mibderjtrebe, „auf der Lifte ge—
Kunftwart
420
meinfam mit folden Leuten zu jtehen,
die fi) bei Brudners Lebzeiten nie
um ihn gefümmert haben und von
denen er alles andere als Förderung
feines Schaffens und feiner Perſon er=
'ahren hat.“ Wenn man unter dem
Aufruf für das Berliner Wagner=
Denkmal alle die mwegftreichen mwollie,
auf die eine entiprechende Kennzeich—
nung paßte, wie viele Namen behielte
man?
* Mies gemacht wird.
Keinerhabnerer Künſtler unter allen,
jo auf den Zaften rafen, als Roſen—
thal — mir haben das ſtets geſagt,
aber was unſer Kunſtheros in Amerika
leiſten muß, das ſtellt all ſein hieſiges
noch in Schatten. „Dieſer Heros der
Muſik, der die Geſchicklichkeit eines
Preſtidigitateurs beſitzt, die Kraft eines
Schmiedes, die Weichheit eines Weibes
und die Lauterkeit eines treuen
und bejheidenen Jüngers Der
Muſen“ (mie eine amerifanifche Zei-
tung über ihn fchreibt) hat fi drüben
aud) zu einem herrlichen Dichter ent—
widelt. Und er Didhtet nicht nur, er
lebt aud, was er dichtet, — oder
menigitens: er hat e8 dann immer
erlebt. Zum Beifpiel: Rofenthal mweilt
an einem italienifchen See, da erfährt
er, am entgegengefegten Ufer wohne
Rubinitein. Kein Boot iſt zu haben,
was madıt’8 unferm Mori ? Er ent—
hüllt die Pracht feiner Glieder, midelt
feine leider in einBadet, und lächelnd
ſchwimmt er über den See. Dort be
leidet er fi wieder, befudht Rubin—
jtein, wägt mitihm eine Stunde lang
Drufitprobleme, und lächelnd ſchwimmt
er wieder zurüd. Das fteht in den
Blättern zu lefen, und dann geht man
bin und bezahlt das Billet und ſieht
ihn und hört ihn und fagt: iſt der
Rofenthal nicht der genialjite Pianiit,
den's gibt?
+ Wie man „umarbeitet”.
„Beim General-Intendanten Grafen
Hochberg“, jo wird einem ſchleſiſchen
Blatte mitgeteilt, „fand geitern ein
Frühftüd ftatt, an dem Sailer Wil-
helm teilnahm. Zu diefem Frübftüd
war auch Adolf L'Arronge geladen,
der hierauf den von ihm gründlich
umgearbeiteten Text zu der von
Lortzing nachgelaſſenen Oper »Re
gina« vorlas, die demnächſt im Ber—
liner Opernhauſe zur Aufführung ge—
langen ſoll. Ueber die Einzelheiten
der Umarbeitung unterhielt ſich der
Kaiſer mit L'Arronge aufs eingehendſte
und ſprach beſonders ſeine Befriedi—
gung über den vaterländijdhen
Hintergrund aus, der der Oper
nunmehr gegeben ift. Herr L'Arronge
fheint allerdings den Lorkingichen
Text fehr gründlich umgearbeitet zu
— denn urſprünglich war dieſer
ext eine in freiheitlichem Sinne ge—
dichtete Epiſode aus dem Jahre 1848.“
Bildende Kunſi.
*Die Stuckſche Dekoration
für das Reichſstagshaus, von der im
Reitauffage die Rede, fol einen ge
bogenen Streifen unter dem Oberlicht—
Dache des Borraums vor dem Sigungs=
faal ſchmücken. Sie hat daher Die
Aufgabe, fih durchaus der Arditeltur
anzupafjen, alfo nichtals „Semälde*
zu wirken, nicht als Bild, das Die
Hufion freien Ausblids in eine vor=
eftellte Welt erjtrebt, fondern als
Moser einer Wand, die vom
Auge durdgefühlt wird. Stud Hat
die Löfung mit ganz einmendfreien
Kunftmitteln eritrebt. Ein Ranken—
werk zieht ſich über die Fläche, gleich-
fam als idealijierte Gitterung, die aljo
an ſich ſchon den Beariff des Gemäldes
zu Gunſten des Architektoniſchen auf—
löſt, Wappenſchilde (die vorgeſchrieben
waren) ſind unten eingefügt, und da—
zwiſchen weben ſich Figurengruppen,
die auch in der Farbe nicht realiſtiſch
gemalt, ſondern mit dem Uebrigen zu
einer Art von Gobelinwirkung im
Tone zufammengefaßt find. Als Motiv
zu den Gejtalten und Gruppen ift Das
Suden nad Glück in allerlei formen
enommen, nad) Glüd als Liebe und
Muttirglüd, aber auch als toter Beſitz,
dem der Geizhals zuſtrebt, als Prajjer:
glüd, dem der Schlemmer huldigt
u.ſ. w. — am nädjiten am Glüd find
ein Narr und zwei alte Leute, die
auf Krüden zum Grabe gehn. Wifo,
bein Vorraum entfprechend, feine un—
mittelbar „reihstäglidien* Darſtel—
lungen, fondern Gebilde erniter und
ſcherzender finnvoller Bhantaftil, wie
fie vor Holbein fhon als ganz be=
fonders deutſchen Geiftes empfun=
den worden find. Auch von „Nubdis
täten”, mie fie etwa die ja bänglid
zu behütende Keuſchheit der Reichs—
boten ins Schwanfen bringen lönnten,
ift nichts Dabei.
MWasnun Adolf Hildebrands
Stimmzettel-Urnen anbetrifft, fo bleibt
deren Verwerfung im Hohen Haus
für uns Unerleuchtete draußen zunädjit
ja erit recht ein Nätjel. Die eigent—
— — — — — ——
liche Vaſe, die in edelſter Einfachheit
geſtaltet iſt, wird von Männergeſtalten
etragen, die mit dem Rücken dagegen
tehen und ſich die Hände reichen,
Symboliſierungen des wählenden Vol—
kes in ſeinen verſchiedenen Lebensaltern.
Wer je eine Hildebrandſche Plaſtik ge—
ſehen hat, weiß, in welchem Geiſte das
gehalten iſt. Was haben nun eigent—
lich die Leute dagegen? Man mag es
kaum ſagen, ſo lächerlich erſcheint's,
und doch iſt es jo: das Hohe Haus
fürdtet fidy vor der Nadtheit der
Bronzgemänner.
Das offene Schreiben der Münch—
ner Künftler an Wallot fam erit
heraus, als auf dem erjten Bogen bes
Heftes unfer Leitauffag ſchon gedrudt
war. Wir fonnten es deshalb in ımire
Betrachtungen nicht mehr einbeziehn.
Uebrigens dedt ſich fein weſentlicher
Inhalt vollkommen mit den betreffen—
den Ausführungen bei uns,
+ Bon Wiener Kunſl.
Fünf moderne Runjtausftellungen
auf einmall
Wirklich, e8 geht hier jegt vorwärts.
Der ſcharfe Wettbewerb macht ſich heil—
ſam bemerkbar. Auch im altenſtünſtler—
haus iſt vieles, worüber man ſich
ehrlich freuen darf. Als Beweis ſeien
nur die „Originale der Jugend“, im
Künſtlerhaus und im Salon Miethke
ausgeſtellt, erwähnt — dieſe präch—
tigen Kronzeugen für das Vorhanden—
ſein eines kerngeſunden Nachwuch—
ſes in Deutſchland — und eine ſeine
Auswahl von kunſtgewerblichen Sachen,
welche die Arnoldſche Kunſthand—
lung in Dresden beſorgt hat. Köp—
ping, Tiffany, Lelieore, Ledru, Fir
DMaffeau und einige Dänen und
Holländer zeigten — was bier nod
alles gelernt werden muß, wenn die
Deiterreiher die verlorene ie eins
holen wollen. Der Anfang iſt
wenigſtens gemacht, und mit der An—
regung fommen auch die wirklichen
Zalente bald an Die Oberfläche. Im
Kunstgewerbe find der Architekt R.
Hammel und der Bildhauer E. Rat:
hauski zwei neue Namen, die man
fih wird vormerten müjjen. Näher
auf fie einzugehen mag einer jpäteren
Gelegenheit vorbehalten jein.
Als deforatives Talent tritt jegt
auch der Architekt Joſef Hoffmann
fehr vorteilhaft hervor. Gr Hat die
zweite Ausjtellung im neuen Gebäude
der Bereinigung bildender Künſtler
Oeſterreichs eingerihtet, wodurch
ſein Geſchmack für Farbe und ruhige,
2. Märzheft 1899
— 421 —
breite Geſamtwirkung günftiger zur
Geltung fommt, al® in den
meijten feiner Buchſchmuckbeiträge für
das „Ver Sacrum“, Diefe Zeitjchrift
beginnt ihren neuen Jahrgang (jebt
im Verlage von E. U. Seemann) mit
einem vom Arditelten Olbrich zu=
ammengeitelten Sonderheft. Wenn
ie Zeihen nit trügen, fo wird das
„Bereinsorgan* im zweiten Jahre
gebiegener werden und feine flinder-
franfheiten abſchütteln. Schon das
Khnopff= Sonderheft bedeutete einen
Schritt vorwärts.
Die Ausftellung felbjt war ernit
und gediegen. Klinger „Chriftus im
Olymp“ wurde viel beſprochen, von der
Kritik behutfam und mit ber adhtungs-
vollen Berbeugung, die man dem
Namen fchuldig if. Mir bereitete das
große Bild eine Enttäufhung. Die
gedankliche Größe verfenne ich nicht,
doch wirkt Ddiefe nad) meinem Em—
Akte in der ſchwarz-⸗weiß Repro—
ultion viel klarer, als durch Die
Farbe. Aus dem ganzen Werk fchreit
der Plaſtiker mit titanenhafter
Ueberfraft heraus, während der Maler
unzulänglid) nad) befreiendem Aus—
drud ringt. Der Kunſtwart und feine
Dritarbeiter find für Klinger eingetreten,
„als noch verfannt und fehr gering“
unjer Klinger auf Erden ging. Dann
fam die Zeit, „da viele Jünger ſich zu
ihm fanden, bie fehr felten fein Wort
veritanden*. Auch das hat uns nicht
beirrtt. Nun aber ift Mar Slinger
die anerlannte, beglaubigte Größe,
welcher aud) diejenigen bemundernd
huldigen, die früher von ‚dieſem erzen=
triihen Sonderling“ nichts wiſſen
wollten. Der allgemeine Umſchwung
ift erfreulih, vermag indeſſen unfer
leifes Mißtrauen gegen die Verſtändnis—
innigfeit Der alfo Belehrten nicht ganz
zu befeitigen. Pflicht der erniten
Kritik ift e8, die noch Unklaren aber
ehrlih Suchenden jegt nicht im Stich
zu laffen, wenn e8 gilt, vor Jrrtümern
zu warnen, namentlid bei einem
Künjtler von der nationalen Bedeutung
Klingers. Wer ihn aud) da nod) halt=
los bewundert, mo feine edige, tiefe
Perſönlichkeit gerade am ſchwerſten
en U.
nad) Abrundung und Vollendung ftrebt,
der macht ſich's nicht nur fehr bequem,
fondern richtet wirklichen Schaden an.
Someit ich Hlingers Natur zu verjtehen
vermag, iſt er eine Parallelerſchei—
nung zu bem großen Florentiner ber
Renaijjance, der niemals ganz aus
feinem angeborenen plaftifchearditel-
tonifhen Empfinden een
tonnte. Bon feinem Chriſtus im Olymp
nehme ich jedesmal ben Einbrud mit:
wäre e8 doch ein großes Marmorrelief,
etma im „landſchaftlichen“ Stil Ghi—
bertiS, wie könnte man’® dann ge
nießen! —
Mas Übrigens die gemagteite
malerische Technik, wenn fie aus ber
Berfönlichkeit entipringt, zu leiſten vers
mag, das zeigen die herrlichen Sadıen
des Vlamen Theo van Ryffels
berghbe. Hier fühlt man zwiſchen
jedem Punkt und flimmernden Farbens
fleck das geijtige Band und Die ſou—
—— Herrſchaft über die geſtellte Auf⸗
ga
e.
Ueber Meunier s Bedeutung bes
darf e8 feiner Auseinanderfegung im
ſtunſtwart mehr.
Die Sezeffion verfteigerte den grös
Beren Zeil des Nadhlafjes Theodor
vonhörmanns, ihres wackeren Vor—
fämpfer®, der zu früh jtarb und zu
fpät angefangen hatte, um fein lehtes
Ziel verwirklit zu ſehen. Der Er:
trag des Nadlajjes iſt für eine fünit-
leriihe Stiftung beftimmt, möglider-
weiſe für die Gründung einer Galerie
moderner öjterreihifcher Künſtler, ein
Lieblingswunſch Hörmann.
Ueber den neueröffneten Wiener
Rathbausfeller, deſſen Aus—
ſchmückung Heinrich Lefler und einigen
minder berufenen jüngeren Känſtlern
übertragen wurde, müßte man ents
meder viel oder gar nichts jagen.
Heute alfo nur foviel, daß der Haupt:
feller am beiten ausgefallen ift. Die
ganze Wrbeit wurde in unglaublid
furzer Zeit ausgeführt, für mande
Schwäche der einzige Milderungsgrund,
da die Eile durchaus unfreimillig war.
In Wien jcheint man nur Uebereilung
oder Verfäumnis zu kennen.
mw. Shölermann.
Kunftwart
Unsre Beilagen.
Unfere Mufitbeilagen verfolgen nicht nur ben Zweck, bie betreffenden
Aufſätze bes Heftes zu illuftrieren, mo das angeht, fondern fie wollen zumeilen
auch felbftändig ohne befonderen Begleittest auf beachtenswerte „ungebrudte”
Talente hinweifen und ihnen ben Weg zur Deffentlichfeit ebnen. Wir bringen
diesmal ein Klavierftüd von Otto Ball, einem jungen Mufiler in Wien;
es ſpricht duch ſich felbft und bedarf feiner näheren Erklärung. Zur Ab—
wechslung nad der vielen vorausgegangenen Gefangsmufit dürfte es Manchen
willlommen jein.
Bon unfern Bilberbeilagen bietet die erfte das Portrait Detlevs von
Lilienceron, von dem mir gleichzeitig Gedichte bringen. Unfer Bildnis ift
eine Reproduftion nad) ber Zeihnung Hans Oldes, bie ber „Pan” im
2. Heft feine 4. Jahrgangs gebradt Hat.
Als zweites Blatt geben wir bann Dürers „Ritter, Tod und Teufel”,
ben dritten ber berühmten brei ojt zufammen genannten Supjerftihe, von
benen wir ben Leſern ben „Hieronymus im Gehäuß* und bie Melancholie“
fhon mit unferm Weihnachtshefte ins Haus gefandt haben. „Ritter, Tod und
Zeufel* ift freilih Ion ſechs Jahre früher entjtanden, als jene beiden eng
zu einander gehörenden Blätter. Und es ift auf eine Weife entjtanden, auf
die wir die Aufmerkſamkeit unjerer Freunde aus einem befonderen Grunde
Ienten möchten. Wie oft hört man in Zaienfreifen als einen Vorwurf gegen
Künftler fagen: Das foll nun einen Heiligen barftellen, und wir fennen doch
den alten Müller, das Modell, oder: Das foll nun eine Paradieslandihaft
fein, unb mwer’8 weiß, fieht doch glei), es ift ein Stüd vom Stadtpark bei
Weimar. Iſt nım jemals ein dichterifchsfünftlerifher Gebante in höherer
Vollendung verlörpert worden, als in biefem Blatte? Da ift alles nüchtern
Allegorifhe aufgelöft in Tebendige Anfhauung, in jene Anſchaulichkeit der
Träume, bie ja Dürer fo viel beichäftigt haben, ber Träume, von denen
er felber fagte, fie ließen ihn „große Kunst“ erfhauen. Der dort feineß geraden
Weges hinzieht, der chriſtliche Ritter Ohnefurcht, To jtolzsgleihgültig gegen
das Geiftergefindel, daß er's nicht einmal eines Blides würdigt, dem alten
Kriegsiprucd getreu:
„Laß fommen die Höll, mit mir zu ftreiten,
Ih will durd) Tod und Teufel reiten!" —
wir glauben an ihn, weil wir ihn ja ſehen, weil wir aud) feinen Mut und
fein Gottvertraun in feinem Wefen ſehen. Wir Menfchen von Heute würden bag
Bild fogar verftehn, wenn die beiden Scheufäler nicht dabei wären; bie er.
höhen für uns mur die Stimmung bes Ganzen, nicht feine ſymboliſche Klar—
heit: Haltung und Bewegung der Neitergeftalt, die (wie deutſchl) der treue
Hund begleitet, fagen für Die Idee fhon genug. Und nun ift dieſes Töftliche
Bild hervorgegangen — aus einer Koftümftudiel In ber Albertina finden
wir biefe Studie noch heut, ein Aquarell, und babei fteht von Dürers Hand:
„Das iſt die Rüftung zu der Zeit in Deutſchland gemeit ı498.* Der Mann
fah fo „forſch‘“ aus, daß er Dürern zum Sinnbild der „Forſchheit“ überhaupt
ward. Das ift der Weg, auf dem in der Kunſt ein rechtes Symbol zu Stande
2. Märzheji 1899
— 425 —
lommt: man legt’8 nicht aus dem Kopfe in die Natur hinein, es wächſt einem
aus ihr felber heraus. In unferm Fal brauchte es fünfzehn Jahre, bis aus
der Gewandſtudie das fertige Griffellunftwert gewachſen war. Meift geht Das
Beleben bes Stoffes mit Geift aber jchneller, ja bligartig ſchnell — wir hoffen
unfern Leſern aud) dafür bald ein fejlelndes Beifpiel zeigen zu fünnen.
Mit diefem Hefte fchließt der erite Band bes Kunſtwarts ad, der
„Bilder und Noten“ gebradt hat. Ueber alles Erhoffen groß ift die Anerfen=
nung gemefen, die unfre Neuerung und bie Auswahl ber vervielfältigten
Kunstwerke gefunden hat. Das entihädigt uns für die manderlei Unluft, Die
uns erwuchs, wenn wir, ad) wie oft!, uns durch, ad) wie viele! verſchiedene Um—
Ttände behindert fahen, das nad) unjerer Anficht Beſte beitens zu geben. Unſer
Troit bleibt, daß e8 uns mehr und mehr gelingen muß, die Schwierigfeiten
zu überwinden. Borläufig ift diefe Einrihtung ja auch zu neu, als daß fie
immer Muftergültiges bieten fünnte. Ind immer wollen wir's ja nidjt ein=
mal; e8 ijt unjre Pflicht, gelegentlich aud) künſtleriſch Mindermertiges zu zeigen,
wenn wir dadurch diefe und jene wichtige Bewegung oder Frage oder Einzel
ericheinung im Kunſtleben beleuchten fünnen.
Viel: Befer find mit dem Beiheften der Noten und Bilder unzufrieden.
Daran können wir leider, vorläufig menigitens, nichts ändern: auch uns
wäre dag einfache Beilegen lieber, aber die Blätter gingen, fo lange wir jie nur
beilegten, in geradezu unheimlicher Menge verloren, jo daß wir die Rellamationen
troß allerbeften Willens fchließlich nicht mehr befriedigen konnten. Im Herbit
wird wieder diefes und das beim Kunſtwart anders werden, Hoffentlih finden
wir bis dahin eine alle Teile befriedigende Löſung aud Diefer Frage. Je
mehr derer vom Aunftwart werben, je leichter läßt fi) ja alles einrichten.
Werben die neugemonnenen Leſer fo warme Förderer und Berbreiter unferer
Sade, wie die alten geworden find, fo wird jich hier bejfern laſſen und aud)
in mandhem anderen nod. Mögen ſie's werten!
Titel und Inhaltsverzeichnis zu diefem Bande folgen wieder mit einem
der eriten Hefte des nächſten Vierteljahrgangs.
Inbalt. Die Kunft im Reihstage. — Zur deutſchen Literaturgefhichte. Yon
Adolf Bartels. — Zur Mufifpflege. Von Richard Batla. — Kopie und Imi—
tation. Bon Paul Schulge-Naumburg. — Loſe Blätter: Gedichte von Detlev
von Liliencron. — Rundſchau. — Bilderbeilagen: Hans DOlde, Portrait Detlevs
von Lilieneron. Albrecht Dürer, Ritter, Tod und Teufel. — NRotenbeilage:
Otto Ball, Jmpromptu.
Derantwortl, : der Herausgeber $erdinand Unenarius in Dresden-Blafewig. Mitredafteure: für Mufif:
Dr. Rihard Batfa in Prag:Weinberge, für bildende Kunft: Paul Shulge-Naumburg in Berlin,
Sendungen fär den Tert an den Berausgeber, über Mufif an Dr. Baita.
Derlag von Georg D. W. Tallwer. — Xgl. hofbuchdruckerei Kaftner & Loffen, bride in Mäusen,
Belellungen, Anzeigen und Geldfendungen an den Derlag: Georg D. W. Callwer in Münden,
HANS OLDE
Detlev von Liliencron
Digiti
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by Google
ALBRECHT DÜRER
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IMPROMPTU.
Erster Druck nach dem Manusoript.
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Verlag von GEORG D.W. CALLWEY, München,
Alle Rechte vorbehalten.
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tichu Druckv OscarBrandstetter, vorm. F.W.Garbrecht, Leipzig.
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45388
Amtliche Ditteilungen
aus dem
Derein zur $örderung der Kunft.
Begründet 1897 von Bein; Wolfradt, Berlin,
Eentrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S.
Geichäftsftelle: NW, Klopftoditraße 21. Geichäftsftelle: Karlsftraße 25,
Die „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein 3. 5. d. X. find das Dereinsorgan diefes Dereins und
werden den Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunitwart” geliefert, auf den von der Dereins:
leitung für fämtliche Stanımmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den
„Kunftwart“Uibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlichungen des die gleichen Siele wie der
„Kunftwart” verfolgenden Dereins ebenfalis Intereſſe baben dürften. — Zuichriften in Dereinsangelegen»
beiten find nur an die Geichäftsftelle des Drreins 3 F. d. K. zu richten, foldhe in redaktionellen Un:
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlinsfriedenau, Cranachſtr. Nr. 50,
Chendor Fontane 7.
Am 20. September d. J. ift Theodor Fontane geftorben. An
feinem Grabe tranert mit ganz; Deutſchland auch unfer Derein, deffen
Ehrenpräfidium der Derftorbene von Anfang angehörte. Seine fterbliche
Hülle haben wir der Erde überaeben; allein fein Geiſt, feine Schöpfungen
werden unter uns weiter leben.
Daß wir uns mit dem herrlichen Dichter und Edelmann eins
wiffen durften in unferen Beitrebungen, wird jtets unfer Stolz bleiben.
Der Berein zur Förderung der Kunſt.
Erster Vereinsabend und Generalversammlung,
Unfer erfter heuriger Vereinsabend brachte zunädjit einige „Streifzüge
durch die Iheaterwelt“ von Dtto Felling; zur Vorleſung gelangten Betrach—
tungen über HKonzert= und Theaterflegelei, über das Qynden von
Autoren, ſowie über die Elaque Daran jhlo fi) eine geiftvolle Plau—
derei Sigmar Mehrings über den Hervorruf, die darin gipfelte, man folle
auch in diefer Frage individuell verfahren, ihn je nad) Charakter und Stil
des Stüdes anwenden oder vermeiden — was freilich ein ideales Publikum
zur VBorausfegung bat. — Dem prinzipiellen Verbot des Hervor=
rufs widerrät Mehring, mweil es leicht zu apathiſchem Verhalten des Publitums
führen fann, das wiederum auf die Leiftung des Künitlers feine nachteilige
Rückwirkung äußern würde.
Diefen Vorträgen ſchloſſen fih NRezitationen Humoriftifcher Gedichte
von Sigmar Mehring, fowie einer Humporesfe in oftpreußiihem Dialekt
an, durch deren meifterlihe Ausführung Frin. Edela Rüft große Heiterleit her—
vorrief und lebhaften Beifall erntete.
Un diefe Literarifchen Darbietungen fchloß fi) die durch den zweiten
Borfigenden Sommerzienrat Liffauer geleitete Generalverfammlung Zwei
Punkte aus deren Tagesordnung, nämlich der Jahresbericht, ſowie unfere
Pläne für den fommenden Winter find unjeren Mitgliedern bereits
aus der vorlegten Nummer der „Mitteilungen“ befannt. Die einzelnen Ver—
anftaltungen mwerden natürlich jemweil® beſonders dur die „Mitteilungen“
angefündigt werden. Die Statutenrevifion hatte eine Anzahl unmejent-
liher Abänderungen zur Folge, von denen unfere Mitglieder demnächſt durch
Ubdrud der vollftändigen Sagungen Kenntnis erhalten werden. — Der
Kaſſenbericht erbradte den erfreulidhen Nachweis, daß wir, bei allen An—
firengungen nad) der fünftlerifchen Seite, dennoch haushälteriſch gemwirtichaftet
haben. Troß der in Nr. ı7 erwähnten Unterftügungen und aller anderen Aus—
gaben für fünftlerifche Zwecke ſchließt der KHafjfenberiht mit einem Ueberſchuß
von mehr alStaufend Martab. Die Haffenführung murde als richtig
erfannt und der Schafmeifter entlaftet.
Nachdem der I. VBorfigende, Herr Wolfradt, den Künftlern und Autoren,
die uns zu Erfolgen geholfen, ſowie der Preife, die uns fait ausnahmslos
Wohlwollen gezeigt, der Rathaustommiffion, den Konzertdireftoren H. Wolff
und Gugen Stern, fomwie den Spenbern von Ertrabeiträgen für ihre Unter
ftügung unferer Bejtrebungen den Dant des Vereines ausgeſprochen hatte,
fand nod) eine furze Debatte über die Art der Propaganda jtatt.
Die nächſte Veranftaltung wird eine Heine Gedäcdhtnisfeier für unferen
teuren Theodor Fontane bilden, die am 26. Oftober in Bürgerfanle des
Rathauſes Stattfinden fol. An diefem Abend mollen wir verjuchen, haupts
fählich durch eine charakteriitiihe Auswahl aus den Werfen des lieben Toten
unjeren Mitgliedern und Freunden jein Bild einzuprägen. E. 9. U.
*
* *
Einen Erfolg eigener Art hat unſer Woldemar Sads fi errungen,
mdem er in einigen Näumen des „Cafe Nollendoriplag” in Berlin eine
„Muſikerklauſe“ ins Leben rief, mit der er der Berliner Muſikwelt einen
reizenden Sammelpunft ſchuf. Die jedem, aud Nichtmuſikern zugänglichen
Zimmer, find mit Klavier, Mufiferfchreibtiih, — zu deſſen unentgelts
fih zur Verfügung Ttehenden Uteniilien auch Notenpapier und Raſtral ges
hören — und einer fhon jetzt fehr anſehnlichen Bibliothef, — zu der täglich
neue Stiftungen von Komponiiten und Berlegern einlaufen, — ausgeitattet,
können tagsüber zu Proben, Studiengweden oder drgl. verwendet werden und
find abends meilt von einer großen Schar namhafter Künftler und Künſtle—
rinnen beſucht. Beionders die Dienſtag-Abende, an denen regelmäßig zwang—
[oies Zufammenjein itattfindet, erfreuen fich bereits großer Beliebtheit. Ja, Die
Gemütlichkeit der Stlaufe droht ſchon beinahe eine Gefahr für unfer Mufifleben
au werden, da ſie jelbit folide Künſtler verführt, fo daß jegt wohl bald eine
Stodung der Berliner Mufifproduftion zu erwarten fein wird.
⸗ — FR e — — m —— — — — — — — — — — ——— — — —
Verlag von Geotg D. W, Callwey, München. Verantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin⸗Charlottenburg.
2. Jahrg. ir. 5. 1. November 1898.
Amlliche Diffeilungen
aus dem
Derein zur $örderung der Hunt.
Begründet 1897 von Peinz "Wlolfradt, Berlin.
Centrale: Berlin. Zweigverein: Halle a. 5.
Gefchäftsftelle: NW. Klopftodftrafe 21. Geichäftsftelle: Harlsftraße 26,
Die „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein 3. F. d. X, find das Dereinsorgan dieſes Dereins und
werden den Stammmitgliedern desielben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins-
leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den
„Kunfwart".ibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlidungen des die gleichen Ziele wie der
„Kunitwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereſſe haben dürften. — Zuſchriften in Dereinsangelegen:
beiten find nur an die Geichäftsftelle des Dereins z. F. d. K. zu richten, ſolche in redaktionellen An-
gelegenbeiten an den Schriftleiter, Berlinsfriedenau, Cranachſtr. Nr. 50.
Unser Zweigverein alle
macht erfreuliche Fortfchritte und entfaltet unter der Führung feines raftlos
thätigen Leiter8 Rudolf Lorenz einen Eifer, der nicht unbelohnt bleiben wird
und hoffentlich ein reges Wachſen des Vereins im Gefolge hat. Soeben tritt
er wieder mwerbend mit einem Aufruf vor die Kunftfreunde der Mufenjtadt an
der Saale und entrollt den Plan für die fommende Vereinsfaifon. Wir heben
folgende Stellen aus dem Aufrufe hervor:
„Der Hallefhe Verein dient als Zmeigverein den größeren, umfaffenderen
Interefien des Hauptvereins, und fomit it jede Beteiligung ein Beitrag über
Halles Diauern hinaus zur Förderung deutſcher Kunft überhaupt, der Verein
hat aber auch in unferer Stadt eine Miffion zu erfüllen, die von feiner anderen
Bereinigung bisher angeitrebt worden ilt. Es galt, einen Mittelpunft zu Schaffen
für die Sunftbeitrebungen Halles; e8 galt, die einheimifchen Vertreter der Kunſt
zum Zufammenfhluß zu bewegen, alsdann den Stunitfinn der Einwohner zu
mweden oder anzufpornen, und auf diefe Weife das Kunſtleben, fo weit e8 vor—
handen ift, zu fräftigerem Pulsfchlag zu veranlafien, oder jo weit e8 nicht
vorhanden war, zu Schaffen und dadurd) der Kunſt felbft diejenige Anerfennung
au erobern, die ihr in einer Stadt von ber hiltorifchen und volfsmirtichaftlichen
Bedeutung Halles im Hinblid auf die Kunſt gebührt.
Große Ziele werden nicht in wenigen Jahren, gefchmweige denn in wenigen
Monaten erreicht, und fo können auch wir heut’ noch nicht auf Refultate zurück—
bliden, die eine zwingende Beweiskraft in ſich bergen; doch werben alle vor=
urteilslofen und einſichtsvollen Beobachter unferer Arbeit fi) der Thatfache
nicht verfchließen fünnen, daß relativ viel erreiht ift.....-
Zunädjt find für das fommende Bereinsjahr folgende Unterhaltungs—
abende in Ausficht genommen, deren Neihenfolge nod) vorbehalten bleibt:
1. „Wie lernen wir Kunſtwerke fehen?“ Bortrag von Wilhelm von
Buſch-Berlin, mit darauffolgender Diskuffion.
2. Ein Hlavier-Abend von Agnes Zeeh auf der Janko-Klaviatur; die
dem Konzert folgende Debatte wird jedem Befucher ermöglichen, die technifchen
Vorzüge der Janko-Klaviatur zu prüfen und fennen zu lernen.
- 5
3. Ein Gleig=-Abend foll unfer Bublitum mit der genialen künſtle—
rifchen Eigenart dieſes Komponiſten befannt maden; Borlefung aus Künſt-
ler Erdenmwallen“ von ®leip.
4. Georg Rufeler: lieber volfstümliche Literatur.
5. Vortrag von Ria Elaaffen (Münden) über das „ſymboliſtiſche
Drama“.
6. Bortrag: „Streifzüge durch die Theaterwelt* von Otto Felfing.
7. „Die Kunft im Haufe“ (Dr. Albert Dresdner).
8. Vortrag mit Sfioptilun= Projektionen von Dr. Koeppen und
Stoedtner=-Berlin.
9. Hlavier-ftonzert von S. Mayflapar = Betersburg.
10. Ferdinand Avenarius: Lyrik.
Außerdem, je nad) dem Eingang von Neuheiten, Beſuch des ftädtiichen
Muſeums und der permanenten Gemälde-Nusftellung von Tauſch & Groſſe;
diefe Firma hat ſich bereit erklärt, für unfere Mitglieder den Jahresbeitrag um
ein Drittel zu ermäßigen.
*
” *
In der Generalverfammlung des Zmeigvereins Halle wurde beichlofien,
den dortigen Penftionaten ermäßigte Beiträge zugubilligen, und zwar: ı2 ME.
Sahresbeitrag für den Benfionsvoritand und 2 ME. für jeden Ben»
fionär für die Beredtigung, an den großen Uinterhaltungsabenden des
Winters teilzunehmen.
Der „Kunjtwart“, der aud) für den Zmeigverein das Bereindorgan
bildet, wird den Wollmitgliedern foftenlos, nur gegen Erfiattung des
Portos (15 Pf. pro Lieferung) monatlid) zweimal zugeitellt.
Der „Kunjtwart* fann auch von je zwei Mitgliedern, deren Bei—
träge zufammen ı2 ME. betragen, ebenfalls foftenlos (wie oben) bezogen
werden.
Die Beiträge unferer Dlitglieder werden von jet ab nur einmal pro
Jahr gegen Jahresfarte erhoben.
Sodann find zwei wichtige Neueinrihtungen getroffen worden: Der
Direktor des arhäologiihen Mufeums, Hr. Brof. Dr. Robert, hat
in uneigennügigiter Weife feine ſtraft in den Dienſt der von uns vertretenen
kunſtfördernden Bejtrebungen geftellt und wird regelmäßig Sonntag® vormit-
tags (in dieſem Winterfemefter) nur für unfere Mitglieder Borträge
über griechiſche Kunft, verbunden mit Führungen durch die Kunſt—
Thäte des Muſeums, veranitalten.
Ungelihts der Auszeihnung und Anerkennung, welche durch dieſen Ent:
ſchluß des Hrn. Prof. Dr. Robert unferen Bemühungen zu teil geworden ift
und aud um des Borbildes willen, das hiermit von autoritativer Seite im
Anterejfe des Kunſtlebens unferer Stadt gegeben wird, ift es einfad eine
Ebhrenpflidt, dab wir dem Rufe zur gediegenen Ermweiterung
unjerer Aunftanfhauungen möglidhft zabhlreih folgen und
durch treue8 Intereſſe undb regelmäßiges Erfdheinen dem lie—
benswürdigen Wanne unjeren Danf ausdrüden für dieſe ſelbſt—
Iofe Förberung ber Kunſt.
Das Gleiche gilt von dem Kurſus über „Mufil“, den Herr Gompes
de la Porte in gleiher Art ebenfalle an Sonntagen vormittags abhalten
wird. Das Programm lautet:
Theoretifhes: Einführung reſp. Weiterführung in Harmonielehre
und im einfachen und doppelten Kontrapunkt; Durchſprechung und Löfung dies
bezüglicher Aufgaben; Analyfe von Tonftüden nah formellem, harmoniſchem
und motivifhen Aufbau; Lied, Präludium, Fuge, Sonate, Sinfonie, ſinfoniſche
Dihtung; Korrektur etwaiger Kompofitionsverfuche. — Einführung in klaſſi—
{he und moderne Orcefterpartituren. — Uebungen im Partiturfpiel. — Ans
leitung zum Inftrumentieren.
PBraftifhes: Mufizieren am Flügel; Belanntmahung mit wichtigen
Novitäten durch Primapiftafpiel u. ſ. w. u. f. m.
Beide Veranftaltungen thun bar, daß es uns ernit ift, um eine Ver—
tiefung und Förderung unferes Kunftverftändnifies und Kunjtlebens; bat wir
uns unterfheiden wollen von bloßen Unterhaltungs—
vereinen” Soweit der Aufruf unferes eriten Zmeigvereins.
Kir fönnen nur lebhaft bedauern, daß nicht aud) aus anderen intelli-
genten Städten des Reichs Die Bitte an uns gelangt: Zmeigvereine mit den
gleihen Tendenzen, wie fie der „Verein 3. F. d. K.“ verfolgt, zu errichten. Es
gibt Städle genug, für deren geiftiges und fünftlerifches Leben ſolches von
hohem Nugen fein fünnte, wo man des Wadfens und Werdens anderer
Kunftanihhauumgen nod) faum einen Hauch verfpürt. — Alſo: Freimillige
vor! zum Kampfe für unfere „heiligiten Güter“. 8. W.
Die Vergünstigungen,
die unfer Verein feinen Mitgliedern außer den eigenen Veranftaltungen mie
Konzerten, VBorlefungen, gemifchten Abenden, ſowie Theatervorftellungen bietet,
find folgende:
1, Die Mitglieder erhalten ein vollitändiges Eremplar des Kunſtwarts
mit allen jeinen Beilagen, Noten, Bildern und unjeren „Mitteilungen“.
2. An allen Wochentagen um etwa ı Mt. pro Plag ermäßigte Billets
zum Refidenze, Neuen=-, Metropols, Belle Alliances,
Thalias und zum Quifentheater; um 25°, ermäßigte Preife für
die Operettenaufführungen im Zentral: Theater (Operette). Die Pläße
werden gegen Portoeritattung durch unſere Geſchäftsſtelle bejorgt.
3. Wir befigen eigene fejte Abonnements:
a) zu dem fgl. Opernhaus und zwar für alle Tage die Pläße ıı
und ı2 im Parkett, die nod) etwa zwei- bis viermal im Monat (je 2 Pläße)
im beitimmten Turnus oder auf Einzelgefuhe à DH. 4.50 verfügbar find.
b) für das kgl. Schaufpielhaus einmal im Monat zwei Pläge . Rang
Balfon 20 u. 21. à M. 3.50, fowie zweimal im Monat Sonntags zmei
Barlett=sPläge ı0. Reihe ä Mi. 3.50, endlid noch 2 Parkettpläge, deren
Nummer nicht feftiteht.
ce) Jm deutſchen Theater die Site im Parkett redts 5. und
6. Reihe 35. 36. 49. 50 und links 38 und 39 A ME. 3.75, im I. Rang
Balkon ı Sig I. Reihe ı2 (ME. 2.25) und Sperrfig Nr. ı (ME. 1.75) für
jeden Donnerstag; dieſe Pläße find bei rechtzeitiger Meldung 3. B. bei
Wiederholungen von Stüden oder bei Behinderung von Stamm = Inhabern
abzugeben; außerdem find von Januar 1899 ab die Plätze 49 und 50 fait
dauernd frei. Desgleihen Ballon Nr. 12 vom November ab. —
= 3. =
d) Zu den Nikiſch- (Philharmonifchen) Konzerten befigen wir Pläge in
Reihe ı4 Nr. 38 u. 39 mit 20° Ermäßigung, bie zeitmeife zufammen oder
einzeln zu vergeben find.
e) Zum Berliner Theater ftellen wir unjeren Mitgliedern für je—
den Freitag zwei Plätze Parkett (Fauteuil) um 25°, ermäßigt in der
amweiten Reihe bei rechtzeitiger Meldung zur Verfügung.
Endlich f) für die fehr unterftügungsmwerte „Oper des Weſtens“ Haben
wir ıztägig Freitags zwei Pläge ı4. Reihe (11. Abt. Park. a Mi. 2.25)
und zwei Pläge Parkett (Fauteuil) 2. Reihe (à ME, 3) zu vergeben, ebenſo
für einige Montage zwei Bartett II. Abt. (A ME. 2.25) zur Verfügung. —
Aber auch für Erleichterungen im Beſuche anderer Aunftinititute, als
der Theater und Konzerte, ift ausreichend geforgt, fo genießen unfere Mitglie-
der ben Vorzug,
g) Gutfcheine, zur alten „Urania“ für die Projeftionsvorträge der Herren
Dr. Koeppen nnd Stoebtner, bei unferer Gefchäftsftelle fo ften [os erhalten zu
tönnen, die mit 50 Pig. auf den Plag in Anrechnung gebracht werden.
h) Die Sunitfalons der verdienitvollen Firma Steller u. Reiner,
Potsdamerftr. Nr. 121 werben ben Mitgliedern gegen eine um 33 '3°%a er—
mäßigte Dauerkarte, die für das ganze Jahr 2 Mark koſtet, zum Beſuch der
immermwährenden, monatlich wedhfelnden Ausjtellung offen jtehen, und endlid)
bat ſich
i) der Leiter der anerfannt wertvollen Gurlittfhen Ausftellungen bereit
gefunden, unferen Mitgliedern, vorläufig an einem Abend, ben wir nod)
befannt geben werden, feine Ausstellung ganz koſtenlos zugänglich zu
maden.
Die Bereinsleitung hofft, daß unfere Mitgliedervon allen diefen Einrichtungen
und Erleichterungen, Die zweifellos ebenfalls eine Förderung der ſtunſt in fich fchlies
Ben, ausgiebigiten Gebraud; machen werben, und daß fie uns ihre Anerkennung
durd) Zuführung neuer Mitglieder aus ihrem Belanntenfreife bezeugen merden.
Außerdem würden wir uns auch freuen, wenn aus der Zahl der Berliner
Lefer unferer „Mitteilungen“ fi auf dieſe Vergünftigungen hin recht viele
unferem Verein anſchlöſſen. Die Hoften, die dies erfordert, werden zehnfach
durch die im vorstehenden aufgeführten Vorteile wieder eingebradt, abgeſehen
davon, dab mir hoffen, auch mit unferen fonftigen Beftrebungen ein Anrecht
darauf zu haben, mit allen Sräften gefördert gu werden. Wir bitten ja nicht
für uns. BD. W.
=
* ”
„Künstlerdank‘,
fo nennt fi ein zeitgemäßes Unternehmen, das unter dem Proteltorate der
„Genoſſenſchaft deutfcher Bühnenangehöriger* ins Leben getreten iſt und ſich
die Beforgung guter Pläge für Theater oder Stongerte gegen einen geringen
Zuſchlag (25 Pf. pro Billet) zur Uufgabe ſtellt. Aehnlich wie der recht ſegens—
reich wirkende „Invalidendank“ beftimmt das neue Unternehmen einen Zeil
feines Erträgnilfes einem humanitären Zmed, und zwar ber linterjtügung von
Künftlern. Darum fönnen wir das Inſtitut Berliner Hunftfreunden ebenio
wie hierher fommenden Fremden warm empfehlen. 5. W.
Derlagvon Georg D, W, Callmey, Münden. Derantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin‘ Sriedenau.
2. Jabra. ?ir. 4 15. November 1898.
Amtliche CDifteilungen
aus dem
Derein zur Förderung der Hunt.
Begründet 1897 von bein; Woltradt, Berlin.
Centrale: Berlin. Zweigverein: Halle a. S.
Geichäftsftelle: NW. Klopflodftraße 21. Gefchäftsftelle: Harlsfiraße 25.
Die „Amtliben Mitteilungen“ aus dem Derein 5. 5. d. N. find das Dereinsorgan dieſes Dereins und
werden den Stamntmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunitwart“ gelierert, auf den von der Dereins:
leitung für fänttliche Stanımmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auc den
„Kunitwart“«Nbonnenten beigefügt, melde für die Deröffentlihungen des die gleichen Siele wie ber
„Kunimart” verfolgenden Dereins ebenfalis Intereſſe haben dürften, — Aufcriften in Dereinsangeleuen.
beiten find nur an die Beichäftsftelle des Vereins 5. $.d. K. zu richten, ſolche in redaltionellen Ans
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlinsfriedenau, Cranachſtr. Kir. 50,
Sonnabend den 26. Movember
im Rathauſe
Abends pünktlich 8', Ubr
(Beginn des Vortragszyklus)
„Ueber moderne Kunft”.
Eriter Abend: Die iymbolifhe Dihtung in Lyril und Drama
und Hugo von Hofmannsthal (Fran Ria Claaſſen, Münken) und
‚Don Quihote* als Oper (doffapellmeilter Dr. Willi Kleefeld).
Nach den Vorträgen: Gedanftenaustaufh und gemütliches Beifammen=
fein der Mitglieder.
— Näheres ift durch Rundichreiben befannt gegeben.
Unser Fontane=Ebend
am 26. Oktober verlief einfach) und würdevoll, der Bedeutung des großen heim
gegangenen Meiiters entiprechend, ohne jedes Gepräge gemwollter Feierlichteit
die Theodor Fontane von jeher perhorreszierte. Hein Vortrag über
Fontane, fein faltes Gipsbild des Heimgegangenen inmitten eines künſt—
lich bergeftellten Yorbeerhaines, fein Bild im Herzen und vor dem geiitigen
Auge, fo nahm die ftattliche Zubörerichaft die Gaben feiner Kunſt aus berufenem
Munde entgegen.
Theodor Kontane hat die Palme und den Lorbeer im ideellen Sinne
jo ehrlich verdient, dak wir auch von dieſer ſymboliſchen Andeutung glaubten
abfehen zu fünnen, wie von der Ginladung der Kritik, denn über Fontane ift
das Urteil wohl abgeſchloſſen und es ſchien uns nicht der rechte Ort, neue Ur—
teile über den Toten herauszufordern, vor allem aber follten unfere Gaben an
diefem Abende mehr mit dem Herzen, als mit dem fühl abmägenden kritiſchen
Urteil hingenommen werden.
Und dieſe Abficht ift ganz und gar erreicht worden. Befonders mar e8
Frau Almwine Wiede— bisher am Deutſchen- jegt am Schillertheater —
die mit ihrem unvergleichlid; charatteriftifchen Vortrag fich Die vollite Aner—
fennung der Hörer gewann. Ihr Vortrag war vom Herzen fommend und
ging zum Herzen, er brachte alle Vorzüge Fontaneiher Art voll zum Muss
drud. Bei den vorzüglich ausgewählten wenigen Kapiteln aus „Jrrungen und
— — —
Wirrungen, die ein veritändliches Ganzes bilden, dem Abſchied, wurde einem
flar, mit wie einfachen Mitteln Fontane die ftärfiten Wirfungen her—
vorzubringen im ftande war, und man ſah im Saale manden, in deſſen
Augen helle Thränen glänzten. Die leicht fatyriihen und die herzergreifend
innigen Gedichte bradte Frau MWiede ebenfo galüdlid zur Geltung,
während fie mit den luſtigen märtifchen Poeſieen und dem vollstüm=
lihen „Joadim Hans von Ziethen“ jubelnde Heiterkeit wedte. Wir fünnen
der trefflichen Künſtlerin nicht genug für ihre jelbitlofe Hingabe und für ihr
Verdienjt um unseren großen Toten und unferen Verein danken. Die Ge—
fangsvorträge, hauptfählid; von Vertonungen Fontaneiher Dichtungen durd)
Karl Zoewe, Martin Plüddemann, Rihard Sternfeld, Mary Ele-
ment, (zum Teil noch Manuffripte) brachten eine angenehme Abmechielung
in das Programm. Den Sänger Hr. Emil Severin haben wir aber ſchon
beiier disponiert gehört, vielleicht trug die im Saale herrichende Hitze die Schuld.
Kurz vor Beendigung des Programms betrat der I. Borligende, Herr
Heinz Wolfradt, dernad) längerer Ubweienheit von Berlin direft vom Bahn-
hof nad dem Rathaufe geeilt war, für wenige Minuten das Podium und ride:
tete an die zahlreihe Zuhörerichaft einige herzlihe Worte, und den Dank für
ihr fo zahlreihes Ericheinen, damit die Bitte verbindend, ſich zur Ehrung
unferes veritorbenen Ehrenpräfidenten von den Sigen zu erheben. Er legte
kurz dar, warum wir von aller äußeren Feierlichkeit und von einem
Vortrag über Fontane abgefehen hätten und ermahnte die Anweſenden, ſich
nicht genug fein zu laffen mit dem, mas fie heute aus Fontanes Werfen ge:
hört, und über ihn aus Anlaß feines Todes gelefen, jondern er bat fie bewegten
Herzens, lich immer wieder in die Werfe Fontanes, fein Gemüt und fein ganzes
Weſen, das er in ihnen niedergelegt zu vertiefen und fo das Andenken an ihn
hoch zu halten. Fontanes Werke jeien das Dentmal, wertvoller und unver:
nänglicher, als foldhe aus Stein und Erz, das er ſich ſelbſt in dem
Herzen jedes wahren AHNunftfreundes erricdtet babe.
Die Worte, doppelt wirfam, weil man ihnen an der Bewegtheit des
Sprechers anmerfte, daß fie tief empfunden und ganz unvorbereitet waren,
mwedten den lebhafteiten Widerhall, weil fie fich mit dem dedten, was ein jeder
bei ſich felbit empfand.
An uns, den Kunſtfreunden ift es, Diefen Worten durd die Befolgung
jener Bitte Nachdrud zu verleihen.
Ueber Zweigvereine
haben wir uns in voriger Nummer unserer „Diitteilungen“ bereits geäußert,
anläßlid) des Berichtes über die rege Ihätigfeit und fortichreitende Entmwidelung
des Halle'ſchen Zweigvereins. Wir fünnen heute nur mwieverhofen, daß uns
die Errichtung folder ungemein anı Herzen liegt und wir fie für
dringend notwendig eradıten, um unferen funftiördernden Ideen meitere
Ausdehnung zu geben. Wir rihten an Anhänger unserer Abdeen,
befonders an unfere ausmwärtigen Mitglieder das eindringlidite Erſuchen,
fi die Errihtung von Zweigvereinen angelegen fein zu laſſen und
an ihren Wohnorten fih mit funftiinnigen, kunſtbegeiſterten und
funjtveritänigen, organifatorifdh veranlagten Berfönlichkeiten ins
Einvernehmen zu jegen und fie für unfere Jdeen umd Begründung eines gleichen
Vereins zu intereffieren. An jedem Orte werden jich wohl zwei bis drei ſolcher
Perjönlichkeiten finden laſſen; beionders iſt an ung bis jegt der Wunſch nad
einem Zweigverein gelangt von Breslau, Franffurta WM, Damburg,
= 8 —
Sannover, Haffel, Kopenhagen, Leipzig, Münden, Prag und
Schwerin.
Aus allen diefen genannten Städten fordern wir diejenigen auf, die
mit ihren heimischen Kunſtzuſtänden nicht zufrieden find oder glauben, daß
Beitrebungen wie die unferigen dort Boden finden würden, fih an den
Hauptverein Berlin bezgl. näherer Informationen, Ueberlaffung von Programm,
Safungen und Aufruf, Angabe unferer Mitglieder an den refp. Orten zu wenden.
Rir werden jedem ernſthaften Bewerber gern alles notwendige Material
zur Verfügung ſtellen. — Dabei bemerken wir ausdrüdlich, daß jedem Zweig—
verein vollitändige Mltionsfreiheit und Selbitverwaltung gemährleiftet wird
und wir nur (unter Berüdfihtigung der örtlichen Verhältniſſe allerdings mit
Modifilationen) Die Innehaltung des Programms und der
Statuten fordern, ohne aud) dabei Fleinlich zu verfahren, da mir
wertvollen Anregungen und Verbeijerungen fehr zugänglich find.
Bei diefer Gelegenheit geben wir auch Bericht, bis zu welchem Punfte
Verhandlungen über diefe Materie mit Prag und Staffel gediehen find.
In eriterer Stadt, in der wir bereits eine Anzahl thatträftiger Anhänger
bejigen, fand unter Beitung unferes VBorfigenden Heinz Wolfradt eine Beratung
itatt, an der außer einigen unferer Prager Mitglieder auch Vertreter anderer
bortiger Stunftvereine 3. B. des Schriftftellervereins „Concordia“ und des
„Kammermuſik-Vereins“ u. a. teilnahmen, ferner Muſiker, Schriftiteller, ſowie
die Ktunitfritifer der drei hervorragenden deutfchen Zeitungen, endlidy mehrere
Juriiten und Induſtrielle. Das „Für“ und „Wider“ wurde lebhaft diskutiert
und es wurde in richtiger Würdigung der nationalen Berhältniffe und mit Rüd-
fiht auf Diefe, auf nationaler Basis ruhenden, beitehenden Kunſtvereinigungen
dem Antrag zugeitimmt, zunächſt im Anſchluß an die reip. dortigen Vereine
die Erfüllung unſevres Programıns anzuftreben.
Zu diefem Zmede würde jeder Wertreter eines Prager Hunitvereins in
jeinem Kreiſe den Anſchluß an unfern V. 3. F. d. 8. dringend befürworten und
das Zufammengehen anraten. Erjt wenn dies nicht zu einem guten Nefultar
führen follte, würde die Begründung eines felbitändigen, unabhängigen Vereins
3. 5. d. K. in Prag energifch zu betreiben fein. Auherdem fand ein anderer
Vorſchlag allgemeine Zuſtimmung: Es wurde betont, wie fegensreid ein Ver—
ein 3. 5. d. ft. wirfen fünnte, wenn er jeine Beitrebungen, mie auf die deutichen
fo auch auf die böhmischen fleineren Jnduitrieitädte ausdehnte. Hier wäre nod)
viel zu thun, um aufflärend und veredelnd durh Wandervorträge und Ber:
anitaltungen auf das Volk zu wirken; folche Berfönlichkeiten müßten aber der
größeren Zugkraft wegen nicht von einem eventuell Brager Berein aus dorthin
entfan®t werden, fondern aus dem Bergen Deutichlands heraus, aus Berlin,
da man darin gleich eine Unterſtützung des Deutichtums, des nationalen Ele—
ments erbliden würde Ein Komitee zur Popularifierung der Aunit würde
ſich leicht aus einigen geeigneten Berjönlichkeiten, vornehmlich aus Großindu—
ftriellen an dem jeweiligen Orte bilden laſſen. Der Führer der Deutichen in
Böhmen, der unsern Vorfigenden tags darauf in liebensmwürdigiter Weile zu
einer Beiprehung empfing, erklärte fich in entgegentommendfter Form fofort
bereit, ihm jolche dafür befonders geeignete Perfönlicdykeiten nachzuweiſen und
alles zu thun, uns der Erreichung unferer Abfichten näher zu bringen.
In Kaſſel ferner, wo unter reger Anteilnahme eines früher in Berlin
anfäfligen Mitgliedes, jegt Lehrer an einer dortigen höheren Schule — und
felbit ein verheigungsvolles fchriftitellerifches Talent — vorbereitende Schritte
für das Zuſtandekommen eines Zweigvereins 3. F. d. St. in Staffel unternommen
wurden, war das Nefultat zunächſt das, daß ſich ſofort einige hervorragende
— 9 —
Perfönlichkeiten,, unter denen der fgl. Hofkapellmeiſter Dr. Franz
Beier, und Herr Konfervatoriumsdirefior von Sternberg: 3tjerna
bereit erklärten, der Idee eines Zweigvereins ihre fräftige Unteritügung ans
gedeihen zu laſſen, Außerdem follen hervorragende Künftler wie Brofeffor
Knackfuß, Bildhauer Epverding, hervorragende Jnduftrielle wie
Fabritbefiger Henidhel, ein hervorragender Mäcen, Herr Gym—
nafialdireftor Dr. Harniid u. a. m. erfuht werden, dem Komitee
beizutreten. Ferner joll dur die Preſſe und direkte Verfendung eines Auf-
rufs an kunſtliebende und angefehene Berfönlichkeiten das Intereſſe für einen
jolchen Verein gewedt werden; in diefem Aufruf fol gleichzeitig die Bitte aus:
geiprochen werden, daß fid) Berfönlichkeiten zur Teilnahme an den Arbeiten und
eventuell Eintritt in den Boritand melden. Das wird nun in Kürze geſchehen.
Dierbei ſei auch an diefer Stelle nochmals darauf hingersiefen, daß die
entfprehende Wirfung eines Vereins, wie wir ihn bilden, durchaus nidt
abhängig iſt von einer Anzahl Dlitglieder. Auch ohne Mitglieder, nur
von einem leitenden Ausſchuß von vier bis ſechs thatfräftigen, verſtändnis—
vollen Perſönlichkeiten lafien fit nad) Analogie der „Vereine für Volksunter—
baltung*, nur mit mweniger einfeitigen Tendenzen, die meiſten unjerer künſtle—
rifchen Forderungen Punkt für Punkt erreichen. Es träte eben an Stelle oder
neben die Beihäftigung mit bewährten alten Stunftwerfen und Künſtlern aud
das Befaſſen mit dem wertvollen und vor allem nod) unbefanntem
neuen, das gerade bei einem naiv empfindenden nicht blafierten Publikum
die Probe auf feine Wirkung bejtehen fünnte; ja felbit das noch nicht fertige
und aud das verheikende MWerdende könnte an diefer Stelle zu Worte kommen
dürfen. Außerdem wäre die Beichäftigung mit der unit auszudehnen auf
alle Geſellſchaftsklaſſen und alle Zweige der Kunſt.
Selbit die Durchführung humanitärsfünftlerischer Beitrebungen (materielle
Förderung der Künitler und ihrer Werke) ließe ih ohne die Sefolgihaft von
Mitgliedern erreillen, wenn ein ſolcher Verein fi Gönner zu erwerben wühte,
ein opferfreudiges Publikum fände, oder von uneigennügigen Mäcenen gefördert
würde. Und das jollten alle die fein, die von einem überreihen Beſitz—
tum etwas entbehren wollten, und die die Segnungen der Aunit mit ihrem
Einfluß auf Herz und Gemüt der Menichen anerkennen, die Achtung haben
aud) vor minder begüterten braven Mitmenjhen nnd der fo viel vermögen
den göttlichen Kunit. Sie gerade ift das Geſchenk vom Himmel, das wir
jenen immer aufö neue Daraubringen nie müde werden
jollen. 5. W.
ws
Rihard Strauß bat fih am 5. November als Nachfolger Weingarts:
ners am fal. Opernhaus in Berlin durd eine im orceitralen Teil unvergleich
fchöne Aufführung des „Triftan* glänzend eingeführt und wurde vom Publikum
und Breile begeiftert begrüßt.
Gerhart HSauptmanns „Fuhrmann Henschel“ erbradite durd
die jtürmifche Begeiſterung, mit der er vom Publikum aufgenommen wurde,
den Beweis, dak man, fogar — „naturaliftiih* kommen darf und dod bes
jubelt wird. Das übermältigend tiefe Stüd darf wohl als das reifite ſchönſte
Kunitiverk bezeichnet werden, das der deutiche „Naturalismus“ bis jetzt be=
figt, es it das Werk eines echten Dichters und Seelentünders und wird am
„Deutichhen Theater“ meifterhaft dargeftellt.
rn —
Derlag von Georg D. W. Callwey, München, Derantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin«$riedenan,
2. Jahrg. Ar. 5. 1. Dezember 1898.
Amtliche (Ditfeilungen
aus dem
Derein zur $örderung der Runſt.
Begründet 1897 von bein; Wlolfradt, Berlin.
Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. 5.
Geſchäfts ſtelle NW, Alopſtockſtraße 21. Geſchäftsſtelle: Karlsſtraße 25.
————
Die „Unitlichen Mitteilungen” aus dem Derein z. F. d. K. find das Dereinsorgan dieſes Vereins und
werden den Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins»
leitung für jänttlihe Stamnmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auc den
„Kunftwart“.Albonnenten beigefügt, melde für die Deröffentlidungen des die gleichen Ziele wie der
„Kunftwart” verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Aufchriften in Dereinsangelegen:
beiten find nur an die Gefchäftsitelle des Dereins 3. F. d. K. zu richten, solche in redaktionellen Ans
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlins$riedenau, Cranachſtr. Ne. 50.
Vornotiz!!
Mittwoch, den 28. Dezember, abends S Ahr
veranitalten wir im Bürgerfaal des Rathauses einen Abend.
Thema: „DHeitere Runf,
Mitwirkende ſind bis jest: Frl. Edela Rüft (Rezitationen), Unna
v. Pilgrim (Bioline), Roldemar Sads als Klavierhumorift.
Unfere Mitglieder freien Eintritt bei Vorzeigung der
Mitgliedskarte. Weitere (Gaſt-Marten durch Deitglieder DIE. 1.50 (Vor—
augspreis) bei der Geſchäftsſtelle des Vereins.
Unsere Vorträge.
Ria Claaſſen, Schrüititellerin aus Münden, die im Rathaufe
am 26.Nop. über „Hugo von Hofmannsthbal und die Symbolif
in Drama und 2yrif“ ſprach, hatte mit dem liebelitande zu fämpfen,
dab von den etwa 300 anmefenden Hörern die meilten faum den Namen des
jugendlichen Wiener Boeten, nicht der zehnte Teil aber Werfe von ihm kannten.
Wenn e8 daher dem begeifterten und geiltvollen Bortrage der Dame gelang,
den Yutor an einem Abend mehreren hundert Perfonen geiftig näher zu bringen
und ihn aud) nur einige Freunde feiner Kunſt zuzuführen, fo hat fie damit
eine Aufgabe erfüllt, die wohl eine „Förderung“ bedeutet. Wenn es nicht alle
waren, die fie in feinen Bann zwang, fo liegt das nicht zum menigiten in ber
Eigenart des Stoffgebiets Hofmannsthals, das nidt nach Jedermanns
Geſchmaäck iſt, teils aber aud in der für ein volles Verftändnis mangelnden
Borbedingung, des genügenden Vorbereitetieins für die zur Erörterung ſtehende
Materie. Aber auch der Vorwurf fann der Rednerin nicht eripart werden,
da fie ihr Thema nihtvollstümlic genug und für ein — wenn aud)
funftfinniges — Laienpublikum beredinet, durchführte; wenn Symbolif
überhaupt leicht fahlich interpretiert und fommentiert werden fann. Jedenfalls
hätte fie das Wefen der Symbolik allgemein verftändlicher und auch an ans
deren Beijpielen eremplifizieren müſſen. Trogdem laufhte man mit ges
fpannter Aufmerffamleit, und befonders die mit fubtiliter Feinheit herausgear—
beiteten meift frei gejprochenen Rezitationen aus: „Der Tod des Tizian“,
„Der weiße Fächer“, „Der Thor und der Tod“ und endlich der
Rortrag der „Jdylle* padte die Hörerfchaft mädtig, troß oder vielleicht
- 11
gerade wegen ber auf Rednertribünen fonjt nit mehr gemohnten Theatralif.
Die geiftvolle Dame, die damit ihre frühere Zugehörigkeit zur Bühne deutlich
zu erfennen gab, follte fi) aber vor einem „Zuviel“ im Wgieren hüten, das
leicht falfch gedeutet werben könnte. Scharfes geiitiges Eriallen bes In—
halts, felbitändige und reife Gedanken lich Frau Claaſſen vielfah erfennen
und eine geradezu ungewöhnliche rhetorifhe Gabe ift ihr zu eigen und in
Szenen wie in der „Jdylle* zwiſchen Kentaur und Schmied war man in Er—
innerung ber verwandten Szene in Hauptmanns „Berjunfener Glode* verſucht,
von einem „weiblichen Kainz“ zu fprecdhen.
Alles in allem ein großer Erfolg für ein Debut der Rednerin, die in
fürzeiter Zeit einen zweiten Vortrag im „Verein 5. Förderung der
Kunmft* über die „[omplizierteren $rauengeitalten Jbjen=
fher Dramen“ halten dürfte, und von dem Halleſchen Berein ebenfalls
eingeladen wurde, dort zu ſprechen, welcher Bitte fie bereits Diefer Tage ent=
ſprach.
Nah Frau Ria Claaſſen ſprach Hofkapellmeiſter Dr. Wilhelm
Kleefeld über „Don Quichote“ als Opernſtoff. Mit einer er—
fchöpfenden Stenntnis des einſchlägigen Materiald berichtete der Redner über
die zahlreihen Dramatifierungen des Gervantes’fhen Stoffes. Die ältefte
Opernbearbeitung ein mufilalifches „Quftipiel* von Hinſch, Mufit
von Foertſch wurde 16590 ſchon in Hamburg aufgeführt. E8 war in
Mirklichfeit aber eine burleste komiſche Oper, in der Don Quichote mit einem
alten Haushofmeifter um die Gunft einer hübſchen jungen Hofdame buhlt.
Alle Ubenteuer, die D. Q. durchmacht, werden, als von feinen Gegnern in Szene
geſetzt hingeſtellt, um ihn ber Lächerlichfeit Preis zu geben und dadurch die
eigenen Chancen zu erhöhen. Bei den da8 zweite Dutzzend überfteigenden
Zahl fpäterer Bearbeitungen als Oper find Komponiftennamen von gutem
Hlange zu finden wie Galdbara, Salieri, Holzbauer, Piccini,
Paefiello, Dittersdorf, Mendelsfohn*, und erit neuerdings beſchäf—
tigten fi wieder drei Komponiſten damit, darunter Wilhelm Kienzl und
Anton Beer- Münden, ein Hünftler, der ja gerade durch den Verein 3. F.
d. . vor etwa einem Jahr weiteſten Kreifen bier in Berlin vorteilhaft befannt
geworben iſt, endlich iſt es Rihard Strauß, der ben Inhalt des Stoffes
durch feine Diefer Tage zur Aufführung gelangte „ſymphoniſche Dichtung“
nur muſikaliſch und gewiſſermaßen ſymboliſch zu erihöpfen verfucht hat. Dann
wandte fi Redner in längeren durchaus objektiven Betradhtungen dem
Kienzlidhen Werke zu und es kann nur freudig begrüßt werden, wenn ein
gerade fehr divergierend beurteiltes Kunſtwerk, in durchaus unparteiifcher
MWeife vor einem verftändigen, kunftfinnigen Publikum fommentiert wird. Es
ift Dies anregend und würdig bei einem erniten und ehrlich gemollten Werf.
Redner betonte, daß während faſt alle Komponiften bisher das Iuftige Mo—
ment ausſchießlich betonen, Kienzl einen ganz neuen Zug des Don OQ. zu er:
fennen gegeben habe und daß der Ideengang Kienzls gemefen fei: in fait jedem
Menihen ftede etwas vom D. Q., ein Stüd Jdealiftenwahns,
dereritnad langem, ausfidtslofem Kampf überwunden wird,
fo habe Stienzl aus der fpanifchen Burlesfe ein Stück allgemein menſchlicher
Tragödie geformt. Der Erfolg wäre diefer Oper fiher aud in noch meit
höherem Maße geworden, wenn gerade Das Zuviel des Burlesfen im
II. Akt befeitige würde, durch näher bezeichnete Stride. Muſikaliſch ſei vieles
in ber Oper hochbedeutend. Großer und verdienter Beifall lohnte Herr Dr. Klee—
feld, —
* Rubinftein, Franz Liſzt.
Das Hamburger Stadttheater gab vor einigen Wochen einem jungen
fhmedifhen Komponiſten, unferem Mitgliede, Dr. Preben Nodermann,
Gelegenheit, feine erjte Bühnenarbeit „König Magnus“, Opernhandlung in
einem Alt, Dichtung vom Grafen Mörner zu fehen. Das Werk fcheint nad)
allem, was man darüber in Hamburger und ausmärtigen Zeitungen zu Iefen
befam, alle Ungzeichen ber Anfängerichaft zu tragen, aber doch lebhaft ausge—
prägten Sinn für nordiſch-volkstümliche Melodik zu verraten. Das bedt fich
mit den Eindbrüden, bie ich jelbft aus Bruchftüden von Nodermanns zweiter Oper
„Sunlög-Saga* am Klavier gewonnen habe. Seine Schreibweife neigt fehr zur
Homofonie und Hat einen ganz merkwürdigen Zug von Unberührtheit und
Naivetät; trogdem Hatte das Werk beim Publikum einen ehrlichen Erfolg, nicht
fo bei einem Teile der Preife, von dem ich weiter unten ſpreche, da unfer
Verein eine Förderung der Kunſt auh im Schuße der Künstler gegen
IIngeredtigleiten erbliden muß.
Die maßgebende Hamburger Kritik läßt fih über „König Magnus“
fehr freundlih und aufmunternd vernehmen; fo fihreibt Ferdinand Pfohl,
ber angeiehene Referent der Hamburger Nachrichten, u. a.:
Sein Wefen, Stil und träumerifh, feine weiche, fanft geartete Natur
weiſt auf einen ftünjtler bin, der weit mehr im Lyriſchen als im Dramatifchen,
fih heimiſch fühlt . . . Nodermann ift als Mufifer ein ganz lofaler Typus :
feine Kunſt wurzelt im fchmedifchen Volfslied und feine Mufik ift nichts anderes,
als ein fteter Nachhall, als ein vielfahes Echo diefer ſchwediſchen Volkslyrik
RT So erfreulih nun die innige Verwandtſchaft eines Mufifers mit der
vollstümlihen Kunst feines Heimatlandes an fi fein mag, fo glüdlich die
Anregungen, die Keime, die er auß dem allzeit befruchtenden Born des Volks—
liedes ſchöpft, e8 muß doch ein mwefentlih künſtleriſches Geitalten fein,
mit dem der Muſiker diefe volkstümlichen Klänge nachformt. . ..
Seine Muſik reiht (dagegen Melodie an Wtelodie, Tie ift von Anfang
bis zu Ende melodiſche Linie, oft anmutig bewegt, wie in den reizenden
Tänzen, häufig ein wenig blaß und fchlaff, wie Blumen, die von den Bergen
in ein kleines Hausgärtchen verpflanzgt wurden. Uber diefen Melodieen und
Bolksliedern fehlt die innige Verbindung untereinander ..... Eine borizontal
fortlaufende Linie. Seine Oper iſt eine einzige Sopranmelodie, immer liegt
die Melodie »Sopra«, in der Oberftimme, Mittelitimmen und Ba find voll:
ftändig vernadjläffigt. ... Seine Muſik ift zum Erftaunen einfad), fennt weder
die polyfone Wrditeftonit noch die Steigerung - . ..... Da aud in der
Ordeiterbehandlung eine unerfahrene und wenig geübte Hand ſich anfündigt,
fo ift es nicht fchmwer zu erraten, dah der Mufif Nodermanns dramatifcher
Ausdrud GCharafteriitif und die fprühenden Afzente fehlen . . . . Eine merf-
würdige, faft unerflärliche Erſcheinung in einer Seit, der, wie der unferen die
Muſik als ein Sprachrohr der feinsten Seelenregungen, ber intimiten pſychiſchen
Geheimniffe bient.....
Zum Schluſſe beitätigt Pfohl noh, daß es der fleinen Oper „an aufs
munterndem Beifall nicht gebrady“. Im Vorbericht Fonitatiert er mehrfachen
Servorruf des Komponiften und erwähnt noch ausdrüdlidh deſſen „lebhaften
Sinn für Melodif“.
In den „Hamb. Neueiten Nachr.“ erblidt Rudolf Herzog feine Auf:
gabe darin, „nad dem Anzeichen zu fpähen, die für die zufünftigen Spenden
de8 Stomponiften maßgebend werden bürften“. Dann fchreibt er u. a.:
„Eins fommt dem Komponiſten ſehr zu ftatten, und das ift fein ausgefpro=
chenes Gefühl für Melodif. Ein großer Melodieenreichtum fteht ihm zur Ver-
fügung und er macht ausgiebigen Gebraud) davon. Das darf nicht überfehen
und muß lobend hervorgehoben werden zu ciner Zeit, wo unfere modernen
— 3 —
Stürmer und Dränger uns nicht zu jehr mit Melodieen zu ſegnen bereit find.
(na! na! ©. Reb.).
Auh Herzog fonitatiert „eine freundliche Aufnahme“, für die Noder—
mann „vor ber Rampe quittieren durfte”.
Heinrich Chevalley fpridt in einem dreifpaltigen Feuilleton des
„Hamb. Kremdenblattes* von einer Muſik, „die in jedem Takt den Anfänger ver:
rät, Die an Mängeln überreich ift und doch in Einzelheiten nicht unſympathiſch
anmutet, da fie mwenigitens ohne Prätentionen auftritt“. Nach ausführlicher
Tarlegung der großen technifcher Fehler des Werkchens jagt er: „Zu den Bor:
zügen der Oper rechne ich neben der erwähnten Beicheidenheit die melodiſche
Potenz ihres Schöpiers. In feinen Molodieen ſpricht Nodermann mohl einen
außgeiprodhenen mufitalifchen Dialeft feiner Heimat, aber diefe nationalen
Alzente find niemals ſchädlich . . . . Daß e8 feine Blitze des Genies find, die
bier vor uns aufzuden, ift wohl wahr, aber hübſche, in ihrer Volkskümlichkeit
feft anfernde Einjälle find nicht zu verltennen. Die Ballade mit Chor und die
des Ritters Arved weilen deutlich dahin, wo Nodermanns Stärke Tiegt, ımd
aud) der dharakteriftifche Tanz ift zu den glüdlihen Nummern zu redjnen.“
Den Schlußeffelt nennt Chevalley „forciert“.
In eigentümlichem Gegenfag zu diefen übereinitimmenden fachmänni:
chen Urteilen fteht es, wenn der nit fachmännifch gebildete Korreſpondent
eines großen Berliner Börfenblattes von „mufifaliiher Schundliteratur“,
„tühler Ablehnung“ redet und fortfährt: „Daß einige Freunde und Lande
leute des jungen fomponierenden Doftors (!) Doch einen Hervorruf erjwangen,
führte nur dazu, daß fich das eifige Schweigen des Publikums in emergiiches
Ziſchen verwandelte.“ Vorher redet der betr. iorrefpondent im Gegenſatz zu
den Fachleuten von „mufifalifcher Erfindungsarmut“. Wie er mit Thatſachen
umfpringt, bemweift die einfah unmwahre Behauptung: „mad genau dreiviertel
Stunden liegen jämtliche auftretenden Perſonen an der Peit verendet da.“ (Das
iſt bei feiner der auftretenden, namhaft gemadjten Berfonen der Fall. D. Red.)
Vor mir liegen nody einige private Urteile anerfannter Fachleute, aus
denen ich im folgenden einige Säge wiedergeben mödte.
Johann Severin Svendſen ſchreibt u. a.: „Die Melodieen, in denen der
Mollton vorherrichht, find durchgehend ſchön; Soloftimmen und Chor ſehr aut
behandelt, und die Inſtrumentaätion ift fehr anzuerkennen.“
Otto Malling, Profeflor an der Kopenhagener Hochſchule, jagt, „dab
N. ein großes Talent befigt, das bejonders fid in einer melodiſch ſchwediſchen
Eigenart äußert, und daß feine Mufif große dramatifche Anlage zeigt”.
Mehnlich lauten noch zahlreidhe andere Gutachten.
Wir können uns alfo im Sinne unferer Bereinsbeitrebungen nur freuen,
dah die Hamburger Bühne einem talentvollen, wenn auch unreifen Eritling
verfucd ſich erſchloſſen und jo einem jungen Künſtler die Gelegenheit geboten hat,
auch an feinen Fehlern zu lernen. Wenn wir für muffaliihe Dramen Ber:
fuhsbühnen befähen, fo hätte man allerdings im Sinne einer mwohlveritans
denen Förderung der Kunſt Werke, wie das in Rede ftehende, ihnen zu übers
mweifen, zumal folange die großen Bühnen noch immer nicht ihre Verpflich—
tungen gegenüber Werfen, wie „Genefius“, „Ingwelde”, „Suntram“, „Cor:
regidor*, „Elfi*, erfüllt haben. Ernft Otto Hodnagel.
— „Die Stedinger“, cin hiltorifches Drama unseres Mitgliedes Georg
Aufeler aus Oldenburg, hatte beahtensmwerten Erfolg im Belle
Alliancetheater, das Georg Droeſcher veritändnisvol nad künſtle—
riichen Grundfäßen leitet. Selbſt Kritifer mit fo hohen Anſprüchen mie
Jul. Hart (Tägliche Rundichau), einer der wenigen bedeutenden Beurteiler in
unferer Tagespreiie, fprechen fi) anertennend über das Gritlingsmwert Ruſe—
ler aus.
Derlag von Georg D. W. Callmer. München. Verantwortlich: Ernſt Otto Nodnagel, Berlin. Sriedrnen.
2. Jahrg. Ar. 6. Ar. ©. 15. DPejember _15. Dezember 1898.
Amtliche Ditteilungen
aus dem
Derein zur Sörderung der Kunft.
Begründet 1897 von Peinz Wlolfradt, Berlin.
Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S.
Geichäftsitelle: NW. Klopftoditrage 21. Geſchaftsſtelle: Karlsitraße 25,
— — ——
Die Am Mitteilungen“ aus dem — 54 x find — Dereinsorgan dieſes Vereins und
werden den Stammmitgliedern desſelben zugleich mit dem „Kunſtwart“ geliefert, auf den von der Vereins⸗
leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den
„Hunftwart“:llbonnenten beigefügt, welche für Die Deröffentlichungen des die gleichen Ziele wie der
„Kunimart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Auichriften in Dere einsangelegens
heiten find nur an die Geichäftsttelle des Vereins 3. F. d. K. zu ricdıten, ſolche in redaktionellen Ans
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanitr. Ar, 1UT1,
En unsere Mitglieder
und alle diejenigen Berjonen, die unferen Beitrebungen
Iympathiih gegenüberitchen, richten wir wiederum die Bitte, ung
zur Erreihung unjerer Ziele dadurch behilflich zu fein, dat fie in Freundes—
und Befanntenkreifen unermüdlid auf den Verein, feine Abfichten und feine
bisherigen Leiftungen hinweiſen und ihm dadurch neue Mitglieder zuführen.
Die Aufgabe, welche wir uns gejtellt haben, iit groß und unsere Mühen fönnen
nur dann von Erfolg gekrönt fein, wenn cine große Mitgliederzahl in allen
Zeilen Deutichlands und außerhalb der Grenzen unseres VBaterlandes den
Verein ftüßt, und uns Hilft bei der Arbeit für die idealen Güter des Lebens.
Wir find augenblidlid) damit beihäftigt, einen neuen Aufruf vorzubereiten
und bitten alle Jnterefjenten benen wir Eremplarein be
liebiger Anzahl gern zur Verfügung ſtellen), uns ihre
Adreſſe aufzugeben
Behufs Errichtung von Zmweigvereinen in anderen Städten (mir ver—
weiten hierbei auf das leuchtende Vorbild Halle’8) erbitten wir Vorſchläge und
Hinweiſe auf geeignete Perfönlichkeiten, welche geneigt und fähig find, Die
Führerichaft eriterer zu übernehmen. Die Geichäftsftelle.
Zur Nachricht. Die feit furgem mit bedeutendem Erfolge eröffnete
tunitausitellung von Bruno und Paul Haffirer (Ber
lin W, Victoriaitraße 35) gewährt unseren Mitgliedern Abonnements zu dem
Vorzugspreiie von DIE 2.— für das ganze Jahr. Wir fünnen den geehrten
Vitgliedern nur dringend den Beſuch diefer hochintereſſanten Ausstellung em—
piehlen.
Dem viel und rühmlihit genannten Komponilten Herrn Wilhelm
Berger, welcher unseren Mitgliedern durd) feine, kürzlich in Königsberg mit
einem Preife von 2000 ME. erfolgte Auszeichnung (für feine Kompofition zu
dem Goetheichen Tert „Du meine Göttin“) mwohlbefannt ift, wurde wiederum
ein Preis in gleicher Höhe bei dem in Bonn (Beethovenhaus) ausgefchriebenen
mufitaliihen Wettbewerb — diesmal für ein orcheftrales Wert — zuerkannt.
In der Jurie waren auch die Herren Profefforen Joahim, Reinsberger und
Rüllner.
Anläßlich des kurz bevoritchenden Jahreswechſels machen mir alle
Freunde unferes Vereins wiederum auf die BeitrittSbedingungen aufmerffant:
Der Eintritt in den Berein fann jederzeit erfolgen (Stein Eintrittsbeitrag!).
Der Jahresbeitrag iit:
ı2 Mark für das erite Mitglied einer Familie (inkl. Kunfimart),
* Mark für das zweite, 4 Marf für jedes weitere Mitglied
und wird in vierteljähdrliden Raten eingezogen. Kündigung hat ein
Vierteljahr vor Ablauf des Gefhäftsjahrs durh eingeſchriebenen Brief
zu erfolgen, ſonſt gilt die Mitgliedichaft als verlängert.
Jede geeignete funftwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wirb nad)
Möglichkeit berüdfichtigt und Hat einen Anfpruch auf Aufführung, wenn es die
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonſt wird das betr. Werk fojtenlos, und
— mie mehrfah dagemweien — wirffam an maßgebenden Stellen empfohlen.
Näheres durch die Geſchäftsſtelle des Vereins.
Unfere Mitglieder maden wir nochmals auf ben in voriger Nummer
angefündigten IV. Vereinsabend, mwelder am 28. Dezember im Bürgerfaale
des Rathauses itattfindet, aufmerffam.
Mitwirkende find: Frl. Edela Rieſt und Frau Aınav. Pilgrim.
Thema: Heitere Kunſt. — Näheres durch Rundfchreiben.
*
* *
Jo ſef Frifhen aus Hannover, den wir im fommenben Winter unferen
Mitgliedern mehrfad als Dirigenten ſowohl, wie als Komponiften vorführen
werden, hat während des Sommers auf Norderney mit einem vortrefflich
aufammengefegten Orcefter eine intereffante und erſprießliche künſtleriſche
Thätigleit entfaltet und außer eigenen Werfen auch eine Reihe anderer Neu—
heiten zur Aufführung gebradit. Der „Hannov. Kurier“ fchreibt darüber
u. a.: Eine formenfchhöne, melodiſch reihe Novität war U. Hlughardts Sin-
fonie Wr. 3 (D-dur), die ihr Schöpfer, der befannte Hoffapellmeijter aus
Deſſau felbit dirigierte, Desfelben Komponiſten eigenartige Scilflieder er—
warben fich ebenfalls volle Anerfennung. Intereſſant war ferner Nodnagels
Eymbolie „Vom tapfren Schneiderlein”. — Auf dem gleihen Programm mie
legteres Werk finden wir aud) die „Pietä* von Karl Gleiß, deſſen Name
ja jegt öfter auf Klonzertprogrammen zu ericheinen beginnt. Auch Niliſch wird
in diefem Winter in Berlin eine Neuheit von Gleis, feine faum erit vollendete
dreiläßgige Tondichtung »Fata morgana« zur Aufführung bringen.
Das „tapfere Schneiderlein” von €. D. Nodnagel, das vorher ſchon in
Darmftadt, Homburg und Berlin zur Aufführung gelangt war, hat fürzlich auch
in Köln im Gürzenid) unter Zeitung des Komponiſten einen Erfolg gehabt,
über den die „Köln Ztg.* (Dr. ©. Neitzel) folgendes fchreibt: „Das Bolf wid—
mete beiden Neuheiten eingehende Aufmerkſamkeit und warmen Beifall. Wir
beginnen mit dem Gaft, E. DO. Nobnagel, Sänger und Komponiſt, einem ber
eifrigiten Neuheitenbefördberer, der diesmal mit einer eigenen Orceiterfompo:
fition, der Symbolie „Vom tapferen Schneiderlein“ erihien und fein Werk
perſönlich leitete. Der Hauptuormurf, daß es mehr mit dem ftopf als dem
Herzen erfonnen fei, ift ihm ſchon in einem Muſikbrief der Kölniſchen Zeitung
begegnet und erwies fid) aud) diesmal als zutreffend. Sonft iſt Darüber nur
Günitiges zu berichten. Nodnagel arbeitet mit allen Deitteln moderner Orcheſtrie—
rungsfunft, ift ſehr geſchickt im Verarbeiten der Themen, kombiniert fie gern und
virtuos in Richard Straußſcher Manier, deſſen Banner er fo ſehr entfaltet, bag man
das Ganze etwa als einen etwas abgemilderten „TiN Eulenspiegel“, ſtellenweiſe
gar als „Don Quixote“ bezeichnen fünnte. Das an einer Stelle gedämpfte Blech—
orcheſter ſchildert charakteriſtiſch die ſchlafenden Rieſen, deren Kampf dann gar
fürchterlich, — „freislich“' würde‘ Wagner ſagen — (in Kanonform) entbrennt.“
Auch ein Ordeiterfherzo von Joſef Friſchen gelangte im Gürzenich
au erfolgreiher Aufführung.
Derlag von Georg D. W. Lallmey, Mönchen. Derantwortli: J. V. Wilh. Mifchel, Berlin.
2. Jahrg. Ar. 7. t. Januar 1899,
Amtliche Ditteilungen
aus dem
Derein zur Sörderung der Kunft.
Begründet 1897 von Heinz Wlolfradt, Berlin.
Centrale: Berlin. Aweigverein: Halle a. S.
Gefchäftsftelle: NW. Hlopfodftrafe 21. Gefchäftsitelle: Karlsftrafe 25,
u —
Die „Amtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein | 3. F. d. find das — diefes Dereins und
werden den Stammmitgliedern dbesjelben zugleich; mit bem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der ——
leitung für ſämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch be
„Kunitwart“.iibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlidyungen des die gleichen Ziele wie der
„Kunitmwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereſſe Br dürften. — öufcriften in Dereinsangele —
heiten find nur an die Geichäftsftelle des Dereins 5 F. d. K. zu richten, a in rebaftionellen
gelegenheiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanftr. Vr. 11/TI,
Meujahrsgruss!
Micder ftehen wir am Abſchluß eines Jahres und bliden zurüd auf
zwölf Monate rajtlofen Strebens und heißen Ringens für da8, was wir im
heutigen Kunſtleben als notwendig erfannt haben.
Ueber da®, was wir erreichten, iſt an dieſer Stelle im einzelnen fchon
geiprochen worden; inwieweit e8 fich mit dem dedt, was wir wollten und mas
wir verfprahen, — das zu entfcheiden, überlaffen wir denen, die fich zu
Richtern über uns berufen fühlen. Eins aber können wir ohne Selbftüber-
bebung und ohne Eigenlob mit freier Stirne behaupten: Ehrlich iſt unfer
Wollen gemwejen, und was uns an Können zu Gebote ftand, das haben wir
freudig Darangefeßt, und mit frifhem Mute und unerſchütterlicher Zuverficht
fehen wir dem kommenden Jahre, und ben neuen Aufgaben, bie e8 uns bringen
wird, entgegen.
Es ift ein fteiniger Boden, auf dem wir arbeiten, und manches ausge
ftreute Saatlorn ift auf ihm ſchon verfümmert und verdorrt. Uber Schritt
um Schritt gelingt es uns, ihn fruchtbar zu maden, und mand ein junger,
zarter Keim hat auf dem Neulande fhon Wurzel gefaßt und fi zur frifchen,
fröhlich fprießenden Pflanze entwidelt, deren fräftiges Wachstum ben der—
einstigen, weithin Schatten fpendenden Baum-Rieſen ahnen Täßt.
Allen denen, die in uneigenmüsigfter MWeife dazu beigetragen, und ung
geholfen haben, den Boden zu fultivieren, auf dem geſunde deutſche Kunſt
frei emporſprießen fann, Jedem, ber fein Schärflein in die Urne geworfen Hat
mit deren Inhalt manchem fchaffenden, von einem rauhen Gefhid getretenen
und mißhandelten Künſtler eine Erleichterung feiner Lage, eine Möglichkeit zu
fernerm Schaffen bereitet wurde — jagen wir jet am Jahresihluß, nicht im
- 17 —
Namen der geitügten Künftler, fondern im Namen aller tunftgenießen-
den (und mer gehörte nicht dazu?) aufrichtigiten Dank. Fahret fort, Ihr
Opfermwilligen — die Jhr ja doch andererjeits auch wiederum die mit geiitigen
Genüſſen Beichentten ſeid — im Helfen, Stüßen und Fördern! Verliert nicht
den Mut und die Ausdauer, aud wenn unferem Streben bie Erfolge nicht
gleich als leuchtende Genien anhangen. „Rom ward nidt an einem Tage
erbaut”, und eine fhöne Frucht bedarf auch der nötigen Zeit und des nötigen
Sonneniheins, um zur Reife zu gelangen. Boll ausgereift aber wird fie uns
laben und erquiden und uns der föftlihfte Lohn fein, der unferem Streben
werden fonnte!
Euch aber, Jhr jungen und alten Künſtler, die Jhr Euch berufen fühlt,
an dem zu fchaffen, was der Menfchheit das öde Dafein verfhönt, was die
graue Alltäglichfeit und Einförmigkeit erniten Lebens mit einem rofigen
Schleier umhüllt, was uns in unjerem eigenen Bufen, in unferer eigenen Seele
ein Jenfeits erfchliejt, wie jchöner und erquidender uns nie ein anderes be—
ihieden- fein fann, — Euch Ahr Didter, Mufiler, Maler, Bildhauer und wie
Ahr im einzelnen fonit Euch nod) nennen mögt — Euch danken wir für all
das Schöne, was Ihr aus dem tiefen Born der fünjtlerifchen Seele zur Freude
und zum Genuffe Eurer Mitmenſchen an das Tageslicht gefördert habt, und
rufen auch Euch ein „Faſſet Mut“ und „Slüd auf“ zu beim Beginn des
neuen Jahres.
Ya, faſſet Mut, Ihr die Ihr aufridtig und ehrlich für die Kunſt ringt;
Ihr die Ihr nicht von niederen Geſchäfts-Intereſſen getrieben, gemeine Buhl:
ihaft mit der Kunſt treibt; Ihr die Ihr eintretet mit Leben und Seele für
die Wahrhaftigkeit, für die Aufrichtigfeit fünitleriihen Schaffens und für das
was Euer innerſtes Gewiſſen und Euer geheimstes Empfinden in fünftlerifchen
Dingen als „ſchön“ und „erhaben* erfannt hat! —
Mir willen e8 wohl, wie gevade der ehrliche, der echte Künſtler den
ſchwerſten Standpunft hat. Ueberall wird er von raffinierten Machern ver=
drängt, die den niedrigen Inſtinkten des Aunitpöbels huldigen, die eine Ware
zu Markte tragen, nad der der lüfterne Gaumen einer ſeeliſch-ſeichten, oft fo=
gar verrobten Maſſe lechzt.
Eine Schein und Schwindelkunſt macht ſich allenthalben breit, und er=
ftieft mit der dunſtigen Atmoſphäre, welche fie an allen Orten, und nicht zum
mwenigften in den großen Städten ausftrömt, die jungen Triebe edeler, auf—
richtiger, wahrhaftiger Aunft. Wir aber rufen Euch zu: „Slüd auf“, denn all
dieſem Sunftfhwindel zum Troß haben wir uns feit zuſammengeſchloſſen, und
auf unfer Geiſtesſchwert geſchworen, Euch zu helfen, Euch zu fördern in
Euerem Streben, und damit der echten Kunſt zu dienen wie Ihr!
Alles Cliquen- und Ridtungs= Wefen ift uns fern! Wir wollen weder
Naturaliiten noch Symboliften, weder Realiften noch Aeſtheticiſten züchten ;
— IR.
wir wollen vielmehr Jeden in feiner Eigenart, in feiner Individualität groß
werben lafjen, und wollen ihm helfen dabei, daß er dieſes kann, daß er an
ben rechten Platz geftellt, die edelen Triebe feines Talentes auch recht entfalten
und entwideln könne; denn was in ihm ift, ilt das Beite am Künſtler. Alles
Anerzogene und Ungelernte wird früher oder fpäter mie eine fchlechte Ver:
goldung von ihm abfallen. In ihrer Nadtheit muß des KHünftlers Seele und
fein Können fchön fein, und ſich nicht mit fremdem Tand und Flitter behängen.
Und dab Euere Seelen bleiben können, was fie von Geburt find, daß fte nicht
von mihlihen Berhältniflen gezwungen, von der Notmwendigfeit des Geldvers
dienens Dazu getrieben werden, ſich zu verfaufen, fich in ein ihnen fremdes Ge—
wand zu büllen, dazu wollen wir Euch helfen, ſoweit e8 in unferen ſchwachen
Sträften ſteht.
Harret aus, Ihr die Ihr Thon unter unferer Flagge fämpiet, fchaart
Euh um fie, hr die Ihr fern von ung leidet und darbet um der unit
willen.
Ein neues Jahr beginnt! — Glüd auf! getreuer und waderer Mit—
arbeiter; das Bewußtſein, Gutes gethan und der Kunſt gedient zu
haben, wird Dir ein föftliher Lohn fein! — Slüd auf! ringender
Künstler! Der Verein zur Förderung der Kunſt will Dir helfen!
In hoe signo vinces!
Der Vorstand, m.
BR
Mitglieder, ſowie Freunde unſeres Vereins und Freunde jchöner,
erhabener Muſik machen wir auf das am 9. Januar 1899 Stattfindende phil:
harmonische Konzert aufmerfiam. Der uns längit lieb germordene, und als
Menih und Mufiler die höchſte Anerkennung verdienende, geniale Komponiſt
Garl Gleis tritt an diefem Abende mit feiner fymphoniihen Dichtung »Fata
morganas hier in Berlin zum eriten Male vor die Deffentlichkeit! Cs bedarf
wohl feiner bejonderen Aufforderung unfererfeits zur Beteiligung an dieſem
stonzerte! Wille die Sleig als Künſtler aus früheren Werfen fennen, willen, daß
fie nur Beites von ihm zu erwarten haben, und diejenigen, welche ihn noch
nicht fennen, verweilen wir auf Urteile aus der Feder von muſikaliſchen Sta=
pazitäten eriten Ranges, wie fie in unieren Mitteilungen (Beilage zu Wir. ı8
des Kunſtwarts, 1. Jahrgang) wiedergegeben find. Es iſt zweiſellos, daß
Gleig zu den bedeutenditen Erjdyeinungen der Neuzeit auf mufifaliichem Ges
biete gehört.
Frl. Jeanne Golz hatte in Berlin wieder einige Ttarfe Erfolge als
Interpretin neuer Lieder; fie verdankt dieſe Erfolge ihren bedeutenden Vor—
tragstalent und ihrem warmberzigen poetifchen Empfinden, denn ihre Ge—
fangstechnif meist nody immer große Mängel auf, deren vollitändige Beſeiti—
aung der jungen Stünftlerin einen Blag im Bordertreffen der heutinen Sängers
welt fichern würde.
Dr. Breben Nodermann, ein junger nordiiher Tondichter, hatte’
in Hamburg mit feiner einaftigen Erftlingsoper „König Magnus“ ehr
lihen Erfolg. Auf das Verhalten eines Teiles der Preſſe diefem Werke
gegenüber fommen wir nod) einmal zurüd, da wir eine Förderung der Kunſt
auch im Schuße der Künſtler gegen Ungeredtigfeiten erbliden.
Die auswärtigen Mitglieder bitten wir im Hinblid auf ben vor der
Thüre ftehenden Quartal®- Wedel, den Beitrag für das I. Quartal 1899 an
unfere Vereinskaſſe, zu Händen unferes Schagmeifters, des Herrn Verlagsbuch—
händlers Richard Taendler, Berlin W., Friedrid) » Wilhelmftr. ı2, fenden zu
wollen,
Von Wohnungs=-Beränderungen bitten wir unferer Geſchäftsſtelle,
Berlin N.W., Klopſtockſtr. 2ı, fo fchnell mie möglid) Mitteilung zu machen,
damit eine Verzögerung in der Zufendung des ſunſtwarts und der Vereins—
Mitteilungen vermieden werde.
Der Eintritt in den Verein kaun jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!)
Der Jahresbeitrag ilt:
12 Mark für das erite Mitglied einer Familie (inkl. Kunſtwart)h,
6 Mark für das zweite, 4 Marf für jedes weitere Mitglied
und wird in vierteljäbrlidhen Raten eingezogen. Kündigung hat ein
Bierteljahr vor Ablauf des Geſchäftsjahrs durch eingeihriebenen Brief
zu erfolgen, ſonſt gift die Mitgliedfchaft als verlängert.
Jede geeignete Ennftwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad
Möglichleit berückſichtigt und Hat einen Anfprud; auf Aufführung, wenn es die
Kräfte des Vereins nicht überfteigt. Sonſt wird bag betr. Werk fofitenlos, und
— wie mehrfad dagemweien — wirkſam an maßgebenden Stellen empfohlen.
Näheres durch die Gejchäftsftelle des Vereins.
Derlag von Georg D. W, Callwer, Münden, Derantwortlid: J. V. Wilh. Miefchel, Berlin,
2. Jahrg. Ar. 8. 15. Januar 1899.
Amtliche Ditteilungen
aus dem
Derein zur Förderung der Kunft.
SBegründet 1897 von bein; Woltradt, Berlin.
Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S.
Geichäftsitelle: NW. Klopftodftrafe 21. Geichäftsitelle: Karlsitrafe 25.
— — —
Dir „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein z. F. d. K. find das Vereinsorgan dieſes Vereins und
werden den Stammmitgliedern desjelben zugleich mit dem „Kunftwart” geliefert, auf ben von ber Dereins«
leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den
„Kunitwart“1ibonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlihungen des die gleichen Ziele wie ber
Kunſſwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Zuidriften in Dereinsangelegen:
heiten find nur an die Gefchäftsftelle des Dereins z. F. d. K. zu richten, foldhe in rebaftionellen in
gelegenbeiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanſtr. Zir, I1/I.
Moritz von Egidp FT.
Ken hätte fie nicht bis in's innerite Herz getroffen Diele er—
ſchütternde Nadyriht ? — Wer fühlte fie nicht wie eine lautloje Klage
durch unfer ganzes Vaterland zittern? — Egidy tot! „Ja ift e8 denn
möglicd ?* fragten wir uns erftaunt, als mühten wir uns auf uns
felbjt befinnen ; ift es möglich, daß er, der blühende, rüftige Dann,
der unerfchrodene, mwadere Streiter für Recht und innere Freiheit
nun vom Tode beſiegt darniedergeſunken iſt? Ja es ilt fo, und wir
werden ung an die Lüde in unferer Reihe gewöhnen müflen! — Er
hat uns die Wege zu dem Hohen und Edlen gemwiefen, aber er wird
uns fortan nicht mehr führen; nur fein Geift wird uns umſchweben
und uns einen Halt gewähren, wenn wir ftraucdheln oder ermübden.
Uber dieſer Geiſt, der bei uns bleiben wird, der in einem
Xeden von ung wachlen und wirfen wird — um fo ftärfer, je deut—
licher wir die Verantwortung und die Notwendigkeit fühlen, überall
die Saat der Selbitbefreiung und Nädhitenliebe auszuftreuen, die der
große Mann durch fein Scheiden auf unfere Schultern geladen hat
— dDiefer Geiſt war fein ganzes inneres Selbft, wir werden
alfo, obfchon wir feinen Leib in die Gruft gefenklt haben, nicht von
ihm verlaiien fein. In uns wird er weiterleben, und wird unferen
Geiſt und unfere Gedanken befruchten, auf daß wir den rechten Weg
finden, fein großes Werk der Menſchenliebe aller Orten fortzuſetzen.
Seit kurzem hatte er Sig und Stimme im Vorſtand unferes
Vereins niedergelegt, weil er der allgugroßen andermweitigen Anfor—
derungen wegen nicht mehr mit ganzer flraft für unfere Be-
jtrebungen eintreten fonnte; und etwas halbes zu thun, wideritrebte
ihm. Sein Intereſſe aber verblieb uns, und ſtets war er uns mit
Rat und That zur Seite, fobald wir feiner beduriten.
Unvergeglich wird er uns bleiben, in hödjiten Ehren werden
mir jein Andenken halten und leuchtend und mwärmend mird fein
Bild in unfere Seelen geprägt fein: Zum VGorbilde und zur
Nacheiferung! Der Borjtand.
Wlas bedeutet Egidp für die Kunst?
Herr v. Egidy war auf feinem Gebiete der Kunſt Ichöpferiich thätig —
auch nicht dilettantifch, foviel mir befannt! Das legtere ift eigentlich bei einem
Danne wie diefer felbitverftändlih, denn er gehörte zu Den Naturen, bie
nichts balb machen! Dennoch verdient Egidy auch in unjerem heutigen Aunit-
leben Beadhtung ; das wird namentlid) allen denen ohne weiteres flar fein,
die feinen vor etwa einem Jahre in Kellers Feitfälen gehaltenen Vortrag über
das Thema „Die Kunſt dem Volfe* anhörten! Er entwidelte dort Ideen,
die zwar heut nod) vereinzelt daftehen, aber von Tag zu Tage mehr Anhänger
gewinnen und hoffentlidy dereinft zur Wohlthat der Menſchheit und zum Segen
der unit verwirklicht werden.
‚Richt mehr Kunſt neben dem Leben, unser Leben sclbst
Kunst“, war die große Forderung, die er an und für die Menichheit flellte!
Sineintragen wollte er die Kunit in das Volk, einem Jeden follten ihre Ge
filde erichioffen fein; alle, -- der Mermite wie der Neidhite, jollten fie hinein
in das Paradies der unit, niemand vor feinen Thoren ftehen! Wie überall
fo legte er aud) hierin den Hauptwert auf die Erziehung! „Das Voll muß
zum Stunftveritändnis, zum rechten Aunftgenuß erzogen werden, dann wird
auch die Kunst im Wolfe den rechten Boden finden, wo fie blühen und gedeihen
fann. Die Freude an der Schönheit und an der Kunſt muß das Volk in allen
Poren durchdringen, es muß die Kunſt und den Genuß derſelben nicht mehr
als einen gelegentlichen Zurus empfinden, fondern als einen notwendig und
unentbehrlich gewordenen Beitandteil des alltäglichen Lebens.” Er wollte, dat
der ganzen Zeit und ihren Kindern ein harmoniſch-künſtleriſches Gepräge auf-
gedrüdt würde. „An jedem Gebraucdhögegenitande mu Schönheit, müſſen
fünitlerifch geitaltete Formen unfer Heim erfüllen ; was auf Straßen und Plägen
fih dem Auge darbietet, muß den Stempel edler Kunſt an ſich tragen, umfer
Auftreten ſelbſt muß von dem Einfluſſe fünftleriihen Schönheitsfinnes ber
herricht fein. Wenn fo die gefamte Menſchheit zur Kunst erzogen iſt, fo werden
auch die Künſtler nicht mehr auf die taufend Schwierigkeiten, auf das uns
durchdringliche Unverftändnis ftoßen, dem fie heut überall begegnen und an
dem ihre Kräfte erlahmen und zerfplittern.*“ Wie in allem, was er that und
dachte, jo Stand er auch bier auf hoher Warte und ließ den Blick meit hinaus
in das Land des Kommenden ſchweifen. Nicht eine ſchwache Wand wollte er
errichten, um einen feinen Zeil der Hünitler dahinter vor der Gewalt des
Sturmes zu bergen, — den Sturm felbit wollte er ablenfen! Stets
war fein hochfliegender Geciit darauf bedadıt, die Wurzel eines Lebels
zu zeritören; nie begnügte er fi) damit, Die Zweige des wuchernden lipas:
baumes ein wenig veritugt zu haben! Hier war das Gebiet, auf dem feine
Intereſſen mit den unferen am feiteiten Sand in Hand gingen. Die Pflicht,
auf dieſem Gebiete in feinem Sinne weiter zu arbeiten, ijt das heilige Erbteil,
welches er dem Verein zur Förderung der Kunſt zurüdgelafien hat!
Wilh. Mieicel.
* ”
Die Abſicht, im Rahmen des Vereins eine beiondere Trauer- Feierlid:
feitzu Ehren unseres verftorbenen Boritandsmitgliedes, des
Herrn Oberjtlentnant a. D.Morig von Egidy zu veranftalten, haben mir
aufgegeben, da vom Borftand der Egidy-Vereinigung eine Ginladung an
unfere Mitglieder ergangen it, fih an der am 15. ober 22. Januar (die
Tageszeitungen werden das Nähere bringen) im Saale des Stonzerthaufes
— Reipzigerftr. — ftattfindenden Feier zu beteiligen.
Wir übermitteln unferen Mitgliedern hierdurch diefe Einladung, und
ſprechen den Wunſch aus, daß die Beteiligung eine recht rege fein möge.
2x7
Unser IV. Vortragsabend,
welcher am 28. Dezember im Bürgerfaale des Berliner Rathauſes ftattfand,
fudte feinen Zweck meniger darin, neue Künſtlerwerke von hohem Werte in
die Deffentlichkeit zu bringen, als vielmehr darin, unferen Mitgliedern zum
Jahresſchluß durch Heitere Kunſt eine reine Freude zu verfchaffen.
Daß wir viel boten, rechne man uns nicht zum Vorwurfe an, denn
uns leitete die Jdee: Wer viel bringt, wird manchem etwas bringen!
Zum Bortrag gelangten Dihtungen von S. Mehring, E. Reichel,
2. Marco, BP. Bornitein, E. Rüft, ſowie die Skizzen „die Bacchantin“ von
Leo Hilded, „meine Wohnungssuche‘ von Roja Litten und die Bier—
baumſche Erzählung „Emil der Verſtiegene“. Die fehr begabte Rezitaterin
Edela Nüft erntete durch den Vortrag diefer Werke reichen Beifall.
Auf mufitalifchem Gebiete erfreuten uns Frau Anna von Pilgrim
durh ihr ſchönes Violinfpiel, die in Begleitung des Herrn Starl Kämpf
(Hlavier), Pibcen von Ries, Gabrielli und Bohm vortrug, und Herr €. ©.
Nodnagnel, welcher Lieder von Mendelsjohn, H. Molf und J. Rothftein fang
und abwechſelnd von den Herren Henry Puſch und James Rothitein begleitet
wurde. Das Publitum erwies den Bortragenden durch reicdhlichen Beifall
feinen Danf!
Nach den Vorträgen im Rathaus vereinte einen Teil der Mitglieder
ein gejelliges Beifammenfein in den Räumen des neuen Hünftlerhaufes in der
Bellevuejtr. Auch hier wurden uns von Gäſten und Mitgliedern noch interejlante
künſtleriſche Genüſſe geboten.
Unſere Mitglieder machen wir ſchon heut auf die am 30. ds. Mts.
im botel de Rome stattfindende musikalische Veranstaltung aufmerk—
jam. Zur Darbietung wird Kammermufif von Karl Gleitz, James Rothitein
(von Letzterem das D-moll-Streichquartett opus 29) und anderen Kompo—
niften gelangen. Inter den Mitwirfenden heben wir befonders das Quar—
tett des Herrn Proffeſſors Waldemar Meyer hervor. Leber die weiteren
Einzelheiten diefes Abends werden die Dlitglieder bei Ueberſendung der Eins
trittsfarten unterrichtet! Pi
Zur besonderen Beachtung !! Seit dem 8. Januar dieſes Jahres
ift im Stunftialon Ribera, Potsdameritr. 20 eine Ausitellung von Werfen des
als Schilderers des Berliner Volkslebens vorteilhaft bekannten Malers Hans
Baluſchek eröffnet. Daran jchließen fih Werfe von Theodor Hagen, Chr. Rohlfs,
A. Lamm, Franz Storwan, Osfar Halle, Harro Magnuſſen, ſowie eine Schwarz—
weiß-Ausſtellung, an der fih in hervorragender Weiſe Fri Overbed und
Heinrich Vogeler beteiligen.
Die Leitung des erftgenannten Salons bat fich freundlichit bereit erklärt,
für unfere Mitglieder den Eintrittspreis am 15. und 22. Januar auf 20 Pig.
zu ermäßigen. Als Legitimation dient die Mitgliedskarte. Am Zonntag,
— 25—
den 29. Januar- ift der Eintritt frei. Mn diefem Tage wird von 212 Uhr
an entweder Herr Balufchel ſelbſt oder eine geeignete andere Perſönlichkeit
gütigit die Führung durch die Yusitellung und Erklärung der Gemälde
übernehmen.
Mir empfehlen allen unferen Mitgliedern dringend, von
biejer großen Liebensmwürdigfeit Gebraud zu maden.
*
August Enna, den wir mit Stolz den unſrigen nennen, hat in Breslau
foeben mit feiner Oper „Cleopatra“ vollen echten und verdienten
Erfolg gehabt. Publitum wie Kritif find einer Meinung, dab das Werk
eritten Ranges ift.
Für den Schreiber diefes, der die Partitur fennt, der die Erfolge der
Oper an vielen Orten verfolgt hat — diejer Tage geht fie in Brüffel in Szene
— iſt das feine Leberrafhung; mir fragen aber, warum enthalten uns bie
Berliner Opernhäufer — wir haben nämlich jet zwei — dieſes Werf vor,
mit welchem Rechte unterdrüden fie eine fünftleriiche Perfönlichkeit, die mit
ihrem eriten Werte „die Here* ſchon bemiefen bat, dab ihr der Stempel bes
Genies aufgedrüdt ift?
*
Rarum beflommen wir Gorneliuß’ „Barbier von Bagbad“,
Mebers „Euryanthe*, Bizets „Perlenfiſcher“ (Neubearbeitung),
Gounods „Vhilemon und Baucis*, Puccini's „Manon“ und
Maſſenet's „Werther* nit zu hören; warn ferner bringt die königliche
Bühne endlich die uns fhon Hundertmal veriprochenen (immer zu Beginn
jedes Theaterjahres) „Novitäten* heraus? Findet fih benn niemand in
der Tagespreffe, der dem königlichen Jnititut vorhält, daß es ebenſo
feine Berfprehungen einzulöfen hat, ıwie jeder andere, der foldhe gibt!
Mas würde man von dem Direktor eines Privattheaters fagen, der feinen
Abonnenten viel verſpricht, das er nachher nicht hält? 8.8.
a
Mitglieder und Freunde unscres Vereins
machen wir nohmals darauf aufmerfiam, dak in kurzer Zeit ein neuer Aufs
ruf im Drud ericheint, und mir allen Jatereffenten (deren Adreſſen wir uns
anzugeben bitten) Exemplare in beliebiger Unzahl gern überienden,
Behufs Errichtung von Zmeigvereinen in anderen Städten erbitten wir
Vorschläge und Hinweiſe auf geeignete Berfönlichkeiten, welche geneigt, und
fähig find, die Führerichaft eriterer zu übernehmen.
Die Geſchäftsſtelle.
*
Der Eintritt in den Verein kaunn jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!).
Der Jahresbeitrag iit:
ı2 Markt für das erſte Mitglied einer Familie (infl. Kunftwart),
6 Mark für das zweite, + Mark für jedes weitere Mitglied
und wird in vierteljährlicdhen Naten eingezogen. Kündigung hat ein
Vierteljahr vor Ablauf des Geſchäftsjahrs duch eingefhriebenen Brief
au erfolgen, fonjt gilt die Mitgliedichaft als verlängert.
Jede geeignete funjtwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad
Möglichkeit berüdjichtigt uud Hat einen Anſpruch auf Aufführung, wenn es die
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonst wird das betr, Werk kostenlos, und
— mie mehrfah dagewefen — wirffam an mahgebenden Stellen empfohlen.
Näheres durd) die Geſchäftsſtelle des Bereins.
Derlag von Georg D. W. Lallwer, Münden. Derantwortlih: J. V. Wilh. Mieſchel, Berlin,
2, Jabrg. ir. 9. 1. Februar 1899.
Amtliche Ditteilungen
Derem zur Förderung der Runſt.
Begründet 1897 von beinz Wolfradt, Berlin.
Centrale: Berlin. Sweigverein: Halle a. S.
Geichäftsitelle: NW. Klopftoditrafe 21. Gefchäftsftelle: Karlsftrafie 25.
— er — — We
Die „Umtlichen Mitteilungen“ aus dem Derein z. F. d. K, find das Vereinsorgan dieſes Verelns und
werben den Stammımitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunitwart" geliefert, auf den von der Vereins
leitung für fäntliche Stanımmtitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch ben
Kunſtwart“ · UAbonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlicbungen des die gleidten Ziele wie der
„Kunjtwarti“ verfolgenden Vereins ebenfalis Intereife haben dürften. — Suicheiften in Dereinsangelegen:
heiten find nur an die Geichäftsftelle des Vereins 5. F. d. K. zu richten, ſolche in redaftionellen An—
gelegenheiten an den Schrifileiter, Berlin, Stepbanttr, Yir, 11T,
Traurige Theaterzustände.
Unfere „Mitteilungen“, deren fargbemeffener Raum eigentlich nur den
internen Bereinsangelegenheiten gewidmet fein follte, werden ſich wohl nicht
länger dem immer ftürmifcher werdenden erlangen verichliefen fünnen: ein:
zugreifen in die Fragen der Kunst, die uns als inen Verein zur Förderung
fünjtlerifcher Interejfen lebhaft angeht. Wir follten cs nicht länger ruhig
anfehen, daß fich wie im faufmänniichen Zeben, fo auch in der Kunſt un—
lauterer Wettbewerb geltend madt, daß uns „Nunftbazare“ und
„Warenhäuſer“ an Stelle von Kunſt- und Bildungsanftalten geboten wer:
den, und es ift Zeit, daß die ehrlichen Sunftfreunde energiſchen Proteit
erheben gegen eine Befudelung unseres Theaterlebens, eine Berilahung des
Kunftgeihmades, gegen eine Jrreführung des Bublifums. Was
foll der Fremde denken, der in die Metropole des Deutichen Reiches fommt und
lieft: Kgl. Schauspielhaus: Blumenthal, Schillertheater: Blumen—
thal, Leſſingtheater: Blumenthal (aud) Berliner Theater zuweilen), Neues
Theater zum ı00. Male: „Hofgunft* von Trotha, ein Stüd, von dem ber
Wiener Storrefpondent der „Frankfurter Zeitung“ vor einigen Tagen fehr
richtig ſchrieb:
„Im „Jubiläumstheater“ hat man jegt die „Hofgunſt“ des Deren
Thilo von Trotha aufgeführt. Anſtändige Sarmlofigleit läht man über
fich ergehen, doch wenn ein Stoff, der an ſich Krallen und fatirifche
Stadeln befigt, auf fo raffinierte und mühevolle Art
alles deifen beraubt wurde, wasſs den Geihmadder Wenge
nur um Weniges irritieren fönnte, verliert man leidt
alle Geduld Ih babe nod Selten ein Stüd geſehen, das
jih in fo hbervorragendem Maß durch Stumpffinn und
hbeitere Geberden außgezeihnetbhätte Aberich höre, daß
man das Stüd in Berlin 100 mal gegeben hat!!*
Sollte man glauben, daß diefe Handwerker der Stunit untere Geiſtes—
herven, unfere Nationaldihter find, wollen wir ums megen umterer
dramatiihen Gefhmadsrihtung verhöhnen lailen ?
- 3 —
Auch in anderer Hinfiht Haben wir diefen Niedergang der Berliner
Theater bitter zu beflagen, nämlich um der Künſtler willen, deren Können an
ſolchen albernen Aufgaben ſich „verichandeln“ muß. Iſt es nicht beklagens—
wert, daß Künſtlerinnen von der Intelligenz einer Rofa Bertens, Luiſe Dumont,
einer Geßner, einer Poppe, Künſtler von der Bedeutung eines Matkowsky,
Bonn, Mar Pohl ır. a. m. die meiste Zeit „feiern“, oder, wie e8 im Bühnen-
jargon heißt, „Ipazieren gehen“? — Abgeſehen von den Theatern, die nie etwas
anderes verfprodien und geboten haben, als die Berliner Poſſe, Vaudeville,
Operette ober das „Refidenztheatergenre*“ (dieſes immer einzig in feiner Art),
it es nur das „Deutſche Theater“, das wie ein fünftleriicher „.rocher de
bronce“ aus diefem „toten Meer der Hunft“ aufragt, und ſich auf achtungge—
bietender Höhe zeigt ; obichon fein Leiter auf feine Abonnenten auch mehr Rüdiicht
nehmen fönnte, al® daß er ihnen am Donnerstag vier= bis fehsmal diefelben
Stüde — und feien e8 bie beiten — vorfegt. Das werden fi die Abonnenten
im nächſten Jahre merken, aber immerhin ift das weniger unangenehm, als
wenn einen al8 Abonnent des Königlichen Schaufpielhaufes „ver Schlag
trisft“, auf feinen Tag ıımal die „Sonnenseite Blumenthals“ (Tan:
tiemen) oder die „Luftipielfitma* mal vorgefegt zu erhalten. Bon dem —
man entferne die Bezeihnung — Beffing- Theater und ſchreibe Blumenthal
Theater, das e8 in künſtleriſcher Hinficht ja beinahe ift und höchſt wahrſcheinlich
aud) bald de facto fein wird, ganz zu fchmweigen, das, geleitet von einem
„Wanne der Kunſt“, der jahrelang ſich berufen glaubte, über das literariiche
Wohl Berlins zu Gericht zu ſitzen, das ſchmählichſte fünftleriihe Finsfo bes
deutet, das jemals ein Kritiker als Direltor gemadt hat. Man ſieht, wohin
Vettern= und Bafenwirtichaft und ungefunde finanzielle Machenſchaften führen
müflen, und bald wird der Zeitpunft fommen, wo e8 literariihe Perſönlich—
feiten, ein Dreyer, Bartleben, unter ihrer Würde halten, dem abfoluten
Herrſcher „Sefolgichaft“ zu leiften. „Gefolge und Stab“, fo biegen ja bei den
eriten Anfündigungen die Autoren, mit denen fich der Herr „Direktor“ umgab,
aber — umgelehrt, fagt ein Sprichwort, wird ein Schuh daraus, fo
wäre e8 ja ein netter Stiebel! —
Tab es an allen Eden gährt, das mögen Auszüge aus berufener
Feder bemweifen. So äußert ſich Hans Land in der jehr beadhtenswerten Zeit—
Ichrift „Das neue Jahrhundert* über das Kgl. Hoftheater wie folat:
„Am 8. Dezember 1898 berichtete das „Kleine Journal“ unter der Spitz—
marfe „Die Zuftände der königlichen Generals Intendantur zu Berlin“ über die
ganz unmwürdige Behandlung, weldhe einem Wiener Schriftiteller, Herrn Karl:
weiß, von feiten der Seneral-Antendantur zu teil geworden. Herr Karlweiß
war telegraphiih um Einreihung feines Stüdes „Das liebe Jh” (jept am
Leffing: Theater aufgeführt) durd) die General: Intendanz erſucht worden, hatte
diefem Erſuchen ftattgegeben und dann von feiten der General: Intendantur
den berühmten Mauſefallen-Vertrag erhalten, in welchem nichts anderes ſtipu—
liert ift, als daß der Autor, wenn er zwei Jahre vergeblich auf die Aufführung
feines Werfes am Berliner Hoftheater gemartet hat, dann in den Beſitz des
wundervollen Rechtes gelangt, fein Stüd anderweitig zur Aufführung zu
bringen. — Herr Starlweiß nennt diefen Vertrag einen lächerlichen; er ift es
in der That. Der Autor fegt nun, unter Zuftimmung des Herrn Grube, den
Termin der Aufführung in den Vertrag, fandte diefen Vertrag nad) Berlin und
blieb dann nad) wochenlangem Warten, felbit auf mehrfache briefliche und teles
graphifche Anfragen, ohne jede Antwort feitens der Jntendantur, bis ihm eines
—*
Tages durch einen Wiener Freund, der aus Berlin zurüdfehrte, die Kunde ge-
bradjt wart, man fei von der bee, fein Stüd aufzuführen, in der General—
Intendantur abgelommen. So werben die Scriftjteller, die etwas
tönnen, beim Schanufpielbauje behandelt; die, bie nichts können,
fommen ungleich beffer weg, eine Thatſache, wofür die Tageszettel des Hof—
theaters beredtes Zeugnis ablegen. -- Ganz ähnlich wie Herrn Karlweiß ift e8
Paul Heyie ergangen und dem Frankfurter Hermann Faber mit feinem Schau—
jpiel „Emige Liebe“, welches feinen Weg über 7o dbeutfhe Bühnen genommen
hat. (Wir find ſonſt nicht gemöhnt, das „Kleine Journal“ als den Anwalt
des gebeugten Rechtes zu bewundern.)
Wenn die Schriftiteller einen geſchloſſenen Stand bildeten, fo würden
fie gegen foldhe Behandlung ihrer Berufsgenoffen durd die königliche General—
Intendantur geharniſchten Proteft einlegen, ſie würden, wenn ſolche Proteſte
wirfungslos blieben, bei ihren dramatiſchen Stollegen erreichen, daß eine Bühne,
wie dieſe, welche die Schriftiteller wie die Schuhpuger zu behandeln liebt, von
dem gefamten Stande boyfottiert würde. Wir aber find nichts weniger als
ein gefchloffener Berufsitand. Ueberall da, wo ein Schriftjteller mißhandelt
wird, erfcheint im nächiten Yugenblid ein anderer, der ſich noch geringihäßiger
behandeln zu lajjen geneigt ift, mofern er nur ein geringes Entgegenlommen
für feine perſönlichen Zmwede erhoffen darf. Die wahnfinnige Ueberproduftion
im Fade der Schriititelferei hat ein Elend gezeitigt, welches ſolchen hochmütigen
Mißhandlungen gegenüber zu dulden und zu fchmeigen geneigt iſt. Daß aber
eine königliche Behörde folches Elend dazu benüßt, um an ihm ihr hochfahren—
bes Weſen auszulaffen, it nichts weniger, denn föüniglid. Es fehlt im Schrift-
ftellerberufe an jeglichem Korpsgeijt! Die fünf, ſechs Autoren, melde als
erfolggefrönte Dramatifer die moderne Bühne beherrfhen, würden ſicherlich
mitleidig die Achſel zuden, wenn man mit der Bitte an fie heranträte, ihre
Macht zu Guniten eines jo mißhandelten Berufsgenoffen zur Verfügung zu
jtellen. Da demgemäß von einem geichlojjenen Vorgehen des Schriftſteller—
ftandes gegen Bühnen, die, wie diejes königlich preußiſche Hoftheater, den
Schriftitellern eine demütigende Behandlung zu teil werden laſſen, nicht die
Rede fein kann, To ſei im Intereſſe der Berufsgenoffen hiermit folgende dringende
Warnung erlaſſen: Wer ein fo ſchlechtes Stüd gejchrieben hat, dab ihm die
linehre einer Aufführung auf der Berliner Hofbühne droht, der hüte fi, den
Mauſefallen-Vertrag zu unterzeichnen, in welchem die Hauptfache, nämlich der
Termin der Erft- Aufführung, ſowie die dazu gehörige Konventionalſtrafe fehlen.
Er laſſe ſich nicht durch gütiges Zureden oder durch das verbindlidhe Lächeln
de8 Herrn Pierfon benebeln. Mündliche Verſprechungen feitens des Herrn
Geheimrats, des Direktors der Hofbühnen, find eitel Wind, ein gegebenes Wort
des Herrn Grube iſt wertlos. Wer der GeneralsIntendantur ſolche von ihr
gegebenen mündlihen Verfprehungen mahnend vorhält, wird mit bedauerndem
Achſelzucken abgewieſen. Herr Grube erflärte einem Berliner Schriftteller
wörtlid: „Kontrafte mit fejtem Termin der Aufführung ftellen wir nicht
aus“, während e8 ein offenes Geheimnis ift, daß der Hofbühne die Stüde,
welche fie zu haben wünſcht (zum Beifpiel Blumenthalfche) und die fie aufs
führt, alfo die ſchlechteſten und elendeiten, welche die modernen Dramen—
Fabrifanten liefern, dab ihr diefe Stüde nur gegen fontraftlihe Einräumung
fefter Termine der Erit-Aufführung überlaflen bleiben. Einem abgeipielten
Schmarren, wie Madame sans gene gegenüber, ijt die General-Intendanz eine
ſolche Bernflihtung mit einer Stonventionalitrafe von 3000 DE. eingegangen,
4
— 2 —
ebenfo tft die fchöne „Sonnenfeite* mit einem Erft:Wufführungstermin beehrt
worden. Solchen Machwerken gegenüber wird fogar von feiten der Jntendantur
eine beitimmte Zahl von Aufführungen, in diefem Falle 20, garantiert. Dieſe
Thatſache wurde in den Blättern von jeiten der General-Jntendantur wider—
rufen, mas aber nur bemeiit, dat fie unleugbar ift. Die in diefer Wochenſchrift
am 8. Cftober 1698 gegen die General: Intendantur erhobenen Beihuldigungen
find bisher ohne die geringite Widerlegung von feiten dieſer königlichen Be:
hörde geblieben. Ich konſtatiere Hiermit vor dem Lande, daß der Woribruch
fein Vergehen iſt, weldhes diefe königlichen Beamten in ihrer Qualififation
zum königlichen Dienste irgendwie beeinträdtigt. Munter und unberührt
bleiben fie in Amt und Würden, dem fönigliden Namen gewißlidh nicht
zur Ehre.“
Someit Hans Land! Gomrad Alberti fchreibt in einem fehr beadhtens-
werten Artikel derjelben „Jeitichrift unter dem Titel „Iheaterverdroffenheit*
folgendes:
„Das »Deutiche Theater« ift die einzige große Berliner Bühne, bei der
von fünftlerifcher Arbeit die Rede fein kann, aber nur fünf oder ſechs Dichter
fommen da überhaupt zu Wort, und deshalb ijt der Geift des Theaters ein—
jeitig — aber menigitens iſt überhaupt ein Geift, ein Stil, eine Führung zu
fpüren, und darum fann man ihm gönnen, daß e8 allein im Berliner Theater:
leben ſich materieller Erfolge erfreut. Was fonit an den erjten Berliner
Bühnen geleiftet wird, ift haariträubend. Wie man am Königlichen Schau:
jpielhaufe die Schriftiteller behandelt, hat uns Herr Land an anderer Stelle
verraten, und es ift wahr, daß ein ungebildeter und intriganter
Bureaufrat, der fih jahrzehntelang mitder moralijden Eri-
jtenz des Gatten einer Jhledhten Sängerin begnügte, Leute wie
Paul Heyſe, Karlweiß ze wochenlang nidt einmal einer Ant—
wort würdigt. Ueber das ,‚ Leſſingtheater denkt man, wie das
Publikum, am beſten gar nicht. Am Berliner Theater verkleidet ſich
eine brave aber von allen Grazien verlaſſene Hausmutter neckiſch als Pariſer
Sumpfblume und ein klobiger Handwerker, der mit der Feder umgeht, wie ein
Steinießer mit feiner Ramme, macht aus dem intimſten Konflilt des Jahr—
hunderts einen brutalen Zamilienradau.
Aber auch anitändig geleitete Bühnen, wie das mwadere Vorſtadttheater
des Herrn Dreöfcher, geben den Kampf auf und müſſen die Waffen vor Exrcen—
trics und abgerichteten Doggen ftreden. Der wahre Beherrſcher de8 Theaters
in Berlin heißt troß „Fuhrmann Henfchel“ heut Hugo Baruch, der König im
Reich der Ballete und der feidnen Tricots, ohne deſſen Willen feine Soubrette
oder Ballerina einen zahlungsfähigen Freund findet. Gebt ihm die Beine,
er macht Euch Die Kleider und den Erfolg.
Huch in Berlin rüdt die Zeit heran, da ein Gelehrter, cin Yabrilant,
furz ein ernithafter Mann die Jumutung, einen Abend im Theater zu ver—
tändeln, als Hohn anjchen wird.
Eine Kulturbedeutung bat das Theater, als es eine Waffe in der Hand
der zur Macht ih auffämpfenden Bourgeoifie gegen die Reaktion war: da—
mals war Schiller ein Gott, und Die Laube, Gutzkow, Freytag, die heut halb
vergellen fcheinen, Derven. Das Proletariat aber iſt heut nod) nicht vorge»
bildet genug, um in dem Freien Volksbühnen etwas anderes als die rohe
Zendenz zu beflatfdhen, indes der Banlier aus dem Tiergartenviertel im
— 28 —
DeutichenTChenter bei den „Webern“ nur den fozialen Sigel des Satten em—
pfindet, jo gut wie vor Liebermanns Bildern.
Vorläufig jteuert die Entwidlung unferer Bühnen nad) einer ganz anderen
Richtung. Außer Herrn Lautenburg gibt es feine felbitändigen Einzelpächter
bei den großen Berliner Bühnen mehr. Die Herren Brahm, Neumann=Hofer,
Praſch, Schulz, Hofpauer find auf feiten Gehalt gejegte Beamte fapitaliftiicher
Gefeljchaften, die fi zur Ausbeutung eines beitimmten Theatergebäudes und
einer Anzahl Stüde und Autoren vereinigen.“ —
Wäre e8 dba nicht Zeit, dieſe Mikitände öffentlich in einer grofen
Broteftverjammlung zu behandeln und ein Veto einzulegen gegen die
Willkür in unferem Theaterleben? Wir verlangen Raum für die wirklichen
Könner und für den Flügelihlag neuer werdender Talente und folcher,
die Proben ihres Könnens bereits abgelegt haben. (Wo bleiben Langmann,
wo Max Petzold [Debut am Schaujpielhaus], in der Muſik Enna, Scillings,
Urſpruch u. j. w.?)
Wir rufen den Gütern unferes Kunſtlebens zu: „Videant consules!!!““
Die Kunftfreunde aber fordern wir auf, fich bei den Hämpfen um
nnjere fünftlerifchen Intereflen zu bethätigen und zu bewähren.
herbert Neukirch.
Die im VI. Philharmoniſchen Stonzerte aufgeführte ſymphoniſche
Dichtung von Karl Gleis erlebte unter der vorzüglicden Leitung Arthur
Nikiſchs einen entichiedenen Erfolg. Der Komponiſt wurde an diefem Abend,
forwie im populären Stonzerte der Philharmonifer, das zwei Tage ſpäter ftatt-
fand und wobei er jein Werk ſelbſt dirigierte, wiederholt gerufen.
Chriſtiani [hreibt in der Börjen=- Zeitung:
„Der ziveite Teil des Abends brad)te ala orcheitrale Novität eine drei—
teilige ſymph. Dichtung von K. Blei, „Kata Morgana“ betitelt. Trop
der dem Programmbude eingefügten langen Erläuterungen zu dem Werke hat
man e8 bier nicht mit eigentlicher BProgramm=-Mujit zu tun. Yata Morgana
repräfentiert vielmehr lediglich eine Dreizahl von Stimmungsbildern, in denen
die Gefühle und Stimmungen des in öder Wüſte ſich dahinſchleppenden Pilgers,
fein Sehnen nad) dem Ende der Wanderung muſikaliſch illuftriert werden
jfollen, alfo in weiterem Sinne das Sehnen des Erdenpilgers und feine end—
liche Erlöfung.
Herr Gleitz zeigte fih in der Durchführung dieſer poctiichen Jdee als
ein Muſiker von blühender Phantafie und Erfindung, der auch über ein ge—
diegenes Forms und Inſtrumentations-Geſchick verfügt. Seine Themen haben
Empfindung und Kraft, und namentlich der legte Sat iſt von hinreißendem
Schmunge, er erinnert in feiner orcheitralen Farbenpracht zumeilen an Richard
Strauß oder audh an Wagner, dejien Einfluß auf Gleig auch fonft in vieler
Hinfiht zu Tage tritt. So trägt der erite Teil der „Fata Morgana“ entichieden
Triftanifche Züge, und auf einige Uugenblide taucht aucd die flimmernde
Chromatik der Venusberg-Scene bier auf.
Alles in allem bedeutet das neue Werk einen entichiedenen Fortichritt
in dem Stunftichaffen des Komponiſten, dejjen heiligsernjtes Streben von jetzt
— U —
an fiher gebührende Würdigung finden wird. Daß feine Arbeit geitern dert
Beifall des gejamten Publitums gefunden hat, mag Herrn Gleitz zugleich als will—
foınmene Vorbereitung für fpätere Erfolge gelten.“
Profeſſor Albert Becker, auch einer derer, die unferen Beitrebungen
aufridtige Sympatbieen entgegengebradit und von dem wir für die
Zukunft eine große Förderung unferer Sache zu erwarten hatten, ift uns durch
den Tod entriffen worden. Xeider viel zu früh! Wir werden ihm das gute
Andenken bewahren, das er verdiente! Wielleicht bietet ſich auch Ge—
legenheit, demnächſt einen interejfanten Brief von ihn, unfern Berein betreffend,
zu publizieren,
*
* *
Joſef Friſchen, unſer treuer Genoſſe und der vorausſichtliche Leiter
eines großen Konzerts, das wir am ı6. März mit dem Philharmo—
nifhen Orcheſter zu veranstalten gedenten und bei dem wir Friiden
aud) als Komponist von Ordeiter: und Chormwerfen in Berlin einzu—
führen hoffen, hat wie Berliner, Hannoverſche und die „Frankfurter
Zeitung“ vermelden, einen geradezu Aufſehen erregenden Erfolg im
Abonnements:Stonzert der Hoftapelle in Deffau unter Hlugbarbdts
Leitung mit feinen Chorwerken „Bineta* und „Grenzen der Dienfchheit* (Goetbe)
gehabt. Hoffen wir, daß uns der gleiche Erfolg beſchieden fein wird, und daß
wir den „Oberbonzen“ unjeres Dlufillebens wieder einmal bemeifen, wie
wenig fie fi um das wirklich gute Neue befümmern und mie wenig über-
flüffig der „Verein zur Förderung der Kunſt“ ift. Herr Siegfried Ochs
und verjchiedene andere „Intelleltuelle* wollen das nämlich nod immer nicht
glauben. b. W.
*
Es *
Hans Pfitzner, der befannte Komponiſt hervorragender (aud) bei uns
teilmweije gejungener) Lieder ſowie der Oper: „Der arme Heinrid),“ (die Die
fönigliche Oper längft angenommen, immer angefündigt und nie aufgeführt),
der lebensgefährlid an Nervenfieber und Typhus erkrankte, befindet ſich
glüdlicherweife nad) perfönlih in Frankfurt a. M. eingeholten Berichten
nunmehr außer Lebensgefahr, was feine vielen Freunde gewiß mit aufridh-
liger Freude hören. Xeider wird der vielverfprechende Künſtler nocd lange
infolge der Entlräftung darnieder liegen müjjen; dann aber hoffentlich in die
Lage verſetzt werden fi) durd eine Reife nah dem Süden zu fräftigen, um
zu feiner geliebten Kunſt zurüdfehren zu können. 5. W.
Der Eintritt in den Berein kanun jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!).
Der Jahresbeitrag ilt:
ı2 Markt für das erfte Mitglied einer Familie (infl. Kunſtwart),
« Mark für das zweite, 4 Darf für jedes weitere Mitglied
und wird in vierteljährlihen Waten eingezogen. Kündigung bat ein
Vierteljahr vor Ablauf des Gefhäftsjahrs durch eingeihriebenen Brief
zu erfolgen, jonjt gilt die Wlitgliedjchaft als verlängert.
Jede geeignete funjtwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad
Möglichkeit berüdjichtigt und hat einen Anſpruch auf Aufführung, wenn es die
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonft wird das betr, Werl foftenlos, und
— wie mehrfad) dageweſen — wirtfam an maßgebenden Stellen empfohlen.
Näheres durd) die Geſchäftsſtelle des Vereins.
Verlag von Georg D. W, Eallwey, Münden, Verantwortlich: Wilh. Mieſchel, Berlin,
2. Jahrg. Ar. to. 15. februar 1899.
Amlliche Ditfeilungen
aus dem
Dereim zur Sörderung der Kunſt.
Begründet 1897 von Bein; Woltradt, Berlin.
Eentrale: Berlin. Sweiaverein: Br'le a. 5.
Geichäftstelie: NW. Klopflodftraße 21, Gerguris.:le: Karlsftraße 26.
Die „Umtlichen Mitteilungen” aus dem Derein z. 5. d. K. find bas Dereinsorgan diefes Dereins und
werden den Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von ber Dereins«
leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber and den
„Kunftwart“:Ubonnenten beigefügt, welche für Die Deröffentlihungen des die gleichen Ziele wie der
„Kunftwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereſſe haben dürflen. — Zuichriften in Dereinsangelegen:
beiten find nur an die Geichäftsftelle des Dereins z. F. d. K. zu richten, ſolche in redaktionellen Un—
geiegenheiten en den Schriftleiter, Berlin, Stephanftr, Nr. 11/TI,
Zweigvereine!
In Eaifel und Breslau iſt die baldige Gründung von Zmeigvereinen
unseres Vereins zur Förderung der Kunſt in Wusjicht. In beiden Städten
haben Beſprechungen ftattgefunden, die in nächſter Zeit ſichtbare Erfolge und
ein Heraustreien an die Deffentlichkeit nach fi ziehen dürften, da viele Ber:
fönlichleiten, die im Kunſtleben dieſer Städte die Führung haben, uns ihre
Sympathieen und ihre Teilnahme an unseren Beitrebungen ausgedrüdt haben.
Sobald der feit langem forgfältigft vorbereitete Aufruf — der
zugleih auch unfer Programm und einen Auszug unferer Satzungen ent-
hält — erfchienen iſt, werden durd) die Verjendung desjelben die bisherigen
Intereilenten in den genannten Städten zu einem Zuſammenſchluß unter
einander angeregt, und weitere Ktunſtfreunde für unfere Sadje intereffiert
werden.
In Caſſel haben ihre volle Sympathie mit unferen Zielen brieflich
Profefjor Knackfuß, fowie Hoffapellmeifter Dr. Beier ausgedrüdt.
Gymnafialdireftor Dr. Harniſch madht feine Teilnahme von einigen
Einfhränfungen nad) der deutichnationalen Seite hin abhängig, die in ges
wiffen Punkten — der materiellen Unterftüßung 3. B. — gewiß
berechtigte find und die der Hauptverein ohnehin fpäter feinem Programm
jedenfalls einverleiben würde.
In Breslau iſt es vor allem der bedeutende Verleger (Befiger
der ſchleſiſchen Verlagsanftalt, Herausgeber von „Nord und
Süd*), der befannte philantropifche Großgrundbefiger Schottländer, der
uns in gemwohnt liebenswürdigiter Weife fräftige Förderung unferer
Beitrebungen zu Zeil werden laſſen will. Ein gleiches bereitiilliges Entgegen—
fommen Seitens des erfolgreihen und funftfinnigen Direftorß des Breslauer
Stadttheater8 Dr. Löwe iſt uns auch fiher; er bat der dee begeijtert zuge—
ftimmt und wird uns im ideeller Hinficht eine große Stüße fein.
Alle Leſer diefer Notiz — insbejondere aber die Breslauer und
Caſſeler — denen unſere Beitrebungen fympathifch find, Bitten wir dringend,
gleich; ihre WMitgliedfhaft anzumelden, und fih von unferer Gefchäftsitelle
Profpefte zu Werbezweden fommen zu laſſen.
— Der Vorſtand.
Kkammermusiks-MovitäteneAbend!
Mit dem allmähliden Ammwachfen feiner Mitgliederzahl will der Verein
3. 5. d. 8. allmählih aud an die Bemältigung größerer und bedeutfamerer
Aufgaben herantreten, als bisher. Unſere fünfte heurige Veranitaltung beitand
in einem Kammermuſik-Abend, für den wir uns der Mitwirkung des vortreif-
lihen Waldemar Meyer-Quartetts verliert hatten. E83 galt uns darum,
zwei interefjante und wertvolle Neuheiten auf dem Gebiete der ammermufif
zur Mufführung zu bringen, ein Streid: Quartett aus D-molt von James
Rothitein (op. 29) und ein Hlavierquintett aus C-dur von Franz Mohaupt
(op. ıı).
James Rothitein iſt unferen Freunden ja fein Fremder mehr. Un unferem
großen Biederabend im vergangenen Frühjahr waren es befanntlid, feine Lieder
gereien, die fogufagen den Vogel abichoflen, und aud an unserem heiteren
Abend, 28. Dezember, mußte eines der drei neuen Lieder Rothſteins, Die
der linterzeichnete vortrug, zur Wiederholung gelangen. An unſerem ammer:
mufifabend fam Nothitein zum eriten Male mit einem größeren Werfe zu
Wort. Sein Streichquartett zeichnet jich durch fuappe Mare Form, gedicgene
Arbeit und fichere Beherrſchung des Quartettitils aut. Auch die Behandlung
der Inſtrumente ift quartettmäßig; einzelne orcheitrale Unwandlungen fchlieken
das nicht aus. — Die Erfindung ift frei von aller Aufbauichung, gibt fich
fhlicht, gefund und natürlich, hie und da freilich fast zu Ichlüht und naiv. Es
find nicht fonderlich neue, eigenartige, ja faum bedeutjame Gedanfen, aber
dennod) wirken fie wie das ganze Werk fympathifh. Es it ein unbeforgtes
lfiebenswürdiges Drauflosmufizieren eines Künſtlers, der mas gelernt hat,
und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß e8 al8 Studienwerk
entitanden iſt, mit der Abſicht, fi Form und Stil dieſer Aunitgattung zu
eigen zu machen, nicht aus der tiefen inneren Not heraus, ein inneres Erlebnis
au geitalten, da® nun gerade die Form des Streidyquartetis, jede andere aus—
fchließend, gebieterifch erbeifchte. Den erfreulichſten Eindrud hinterläßt das
Thema des Bariationenfages, ein reizendes fleines Lied ohne Worte. Die
Bariationen felbit find etwas matt und farblos, mehr formales Spiel mit
dem Thema treibend, denn e8 vertiefend und in neue Beleudytung rüdend.
Eine für Deutfchland völlig neue Erfcheinung fit der 1854 geborene
Böhme Franz Mohaupt, deifen Quintett op. 11, vor ebenfovicl Jahren ent:
ftanden, in Defterreich ſchon einige glänzende Beurteilungen, jo durch Batka,
erfahren Hat und auch im „Sunftwart* (Jahrg. XII, 2) durh Teibler warm
gewürdigt worden ift. Much in ihm, das fünftleriih naturgemäß auf viel
höherer Reifeſtuſe fteht, als Rothiteins Merk, ift eine gefunde anſprechende
Melodif als ein Hauptvorzug zu betonen. Die Faktur iſt vortrefflid, die Form
auch bei ihm gewandt und ficher gehandhabt. Auch Mohaupts Werk enthält
einen Bariationenfag. Seine Variationen eine® kurzen anmutigen Themas
find zum Zeil in der That harafteriitiiche Umgeitaltungen des Themas, jo in
einem „Adagio“, cinem „ungarijch“ gefärbten Abſchnitt und einem Mari in
dreiteiligem Takt. Der Komponift, der fid) übrigens aud) durd die erite
Dejterreihhifche Aufführung des interejlanten Tinelſchen „Franzisfus“ vorteil-
haft befannt gemadjt bat, war anweſend und konnte fi) eines vollen Erfolges
erfreuen; ebenjo fand aud das Rothiteinihe Quartett überaus beifällige Auf—
nahnıe. Den Abend, den St. Saëns Trompetenjeptett wirkſam abſchloß, Dürfen
mir zu unferen bejtgelungenen zählen, und es gereiht uns zur Freude, dag
wir mit einem ſolch erniten ſchweren Programm einen jo vollen Saal erzielt
2 —
haben. Befonderen Dank müjlen wir dem ausgezeichneten Meyer-Quartett,
ferner ber Hofpianistin Frl. Jeppe und den Herren ammermufifern Strüger
und Hermann Schulg ausfprechen für ihren fünftlerifchen Unteil an dem Ges
lingen des Abends.
Ernft Otto Modnagel
BIER
Um 16. Januar fand im Stadt: Theater zu Kottbug das Erſtlings—
wert unferes Mitgliedes Dr. Ernit Backmeiſter „Die Rheintochter“, ein
dramatiſches Halbmärden, bei eritmaliger Aufführung reichen, von Alt zu Aft
fich iteigernden Beifall. Der anwesende Autor mußte ſich auf der Bühne zeigen.
Die Kritik findet in dem Werk eine „beadytenswerte Talentprobe, reidy an
Poeſie, die Sprade von hoher Schönheit und dabei die Handlung voll
Spannung und dramatiiher Wirkung mit lebensvollen Volksſzenen“. Die
„Beitalten Har gezeichnet; mit befonderer Schärfe und Feinheit die Rheintochter
Hürli und auch ber finnlihe und rafedürjtende Abt Klemens charakteriſiert.“
Das Aufführungsredit ift durch Felir Bloch Erben, Berlin, zu erwerben.
®
* *
Im Ktunſtſalon Ribera, Potsdamerſtraße 20, waren am 22. Januar
eine Anzahl Mitglieder unferes Vereines zur Befichtigung der dort ausgejtellten
Gemälde, Zeihnungen und fonftigen Sunftgegenflände verjammelt. Der
Maler, Herr U. Cechini, mwelder die Führung übernommen hatte, wies in
feinem Vortrage auf die Eigenart, die ſtarken und ſchwachen Seiten der einzelnen
Ausſteller Hin, und madte auf dieſe Weiſe die Beihauer fihnell mit jenen
befannt. Ganz befonderes Intereffe erregten die Werle von Hans Baluſcheck,
der ein Meifter, nicht nur in padender, realiftifher Darſtellungskunſt, fondern
ganz befonder® auch in der Schilderung des Berliner Volkslebens iſt. Den
„Berliner Zola in ber Dtalerei* ift man verfuht ihn zu nennen! Neben
diefem ift es namentlih Theodor Hagen, mwelder durch eine Menge prädjtiger
Landſchaften auffällt, die durch ihre Plaſtik und durch ihre überraichend wirkende
Stimmung den Beſchauer in das dargeftellte Stüd Natur verfegen. Aber aud)
andere, wie Rohlfs, Magnufien u. f. w, ſowie Overbed und Vogeler,
welche die Hauptvertreter der Schwarzweiß-Ausſtellung find, verdienen erwähnt
zu werden. Biel Schönes bot fi) unferem Auge aud auf dem Gebiete des
Kunft = Gewerbes dar. Alles in allem genommen ilt man gezwungen, den
Begründern des erſt feit ganz kurzem eröffneten Salons feine Anerkennung
dafür zu zollen, daß fie e8 auf dem in diefer Hinficht fo viel bietenden Berliner
Boden vermocht Haben, ihrer Ausstellung ein fo eigenartiges, echt künſtleriſches
Gepräge zu geben. W. M.
*
* *
Um 22, Februar gibt unfer Mitglied Fräulein Agda Lyſell, Die
hervorragende ſchwediſche Pianistin, ein Stlavierfongert in der Sing«
akademie, auf welches mir feines hohen Stunftiwertes wegen unfere muſik—
liebenden Mitglieder befonders aufmerkſam machen.
“
* *
In den letten Tagen dieſes Monats veranftaltet unfer Berein einen
literariichen Abend, an welchem nur Werke zum Vortrag fommen, melde
bisher noch nicht in die Deffentlichkeit gelangten. Zum Zeil fommen aud
Dichter und Schriftiteller zu Wort, deren Arbeiten weiteren Streifen bisher
nod) völlig unbefannt geblieben find. Näheres wird den Mitglicdern noch bes
fannt gegeben und in den Tageszeitungen publiziert!
*
* *
Mitglieder und Freunde unseres Vereins
machen wir darauf aufmerkſam, daß nunmehr ein neuer Aufruf im Druck
erſchienen iſt und wir allen Intereſſenten ſderen Adreſſen wir uns anzugeben
bitten) Exemplare in beliebiger Anzahl gern überſenden.
Behufs Erridtung von Zmweigvereinen in anderen Städten erbitten wir
Vorichläge und Hinweife auf geeignete Perfönlichkeitert, welche geneigt und
fähig find, die Führerichaft eriterer zu übernehmen.
Die Geihäftsitelle.
Der Eintritt in den Verein fann jederzeit erfolgen (fein Eintrittsbeitrag!).
Der Jahresbeitrag iit:
ı2 Mark für das erſte Mitglied einer Familie (inkl. Kunftwart),
6 Markt für das zweite, 4 Mark für jedes weitere Mitglied
und wird in vierteljährlidhen Raten eingezogen. Kündigung hat ein
Vierteljahr vor Ablauf des Geſchäftsjahrs durch eingefhriebenen Brief
zu erfolgen, fonjt gilt die Mitgliedichaft als verlängert.
Jede geeignete funjtwertige Arbeit eines Mitglieds des Vereins wird nad
Möglichkeit berüdfichtigt und hat einen Anſpruch auf Aufführung, wenn es die
Kräfte des Vereins nicht überjteigt. Sonſt wird das betr. Werk foitenlos, und
— wie mehrfach dageweſen — wirffam an maßgebenden Stellen empfohlen.
Näheres durch die Geſchäftsſtelle des Bereins.
Drerlag von Georg D, M. Callmer, Münden. Derantwortlib: Wilb, Mieſchel. Berlin.
2. Jahrg. Ar. 1. 1. März; 1899.
Amlliche Dikteilungen
aus dem
Derein zur Förderung der Hunit.
Begründet 1897 von Bein; TWolfradt, Berlin.
Eentrale: Berlin. Sweigverein: Bofle a. 5.
Gefchäftsttelle: NW, Klopflodftrafe 21. Germuris..lle: Karlsftraße 25,
m
Die „Umtlichen Mlitteilungen” aus dem Derein z. 5. d. K. find das Dereinsorgan dieſes Dereins und
werden ben Stammmitgliedern desfelben zugleich mit dem „Kunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins«
leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde, — Die „Mitteilungen“ werden aber andı den
„Kun rxt“ Abonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlidungen des die gleichen Ziele wie der
„Kunftwart“ verfolgenden Dereins ebenfalls Intereffe haben dürften. — Zuſchrijten in Dereinsangelegen»
heiten find nur an die Geicäftsftelle des Dereins 3. F. d. K. zu richten, ſolche in redaktionellen An«
geiegenbeiten an den Schriftleiter, Berlin, Stephanftr. Ur. UIII.
Ueber unsere Daseinsberechtigung!
Gerade jet, mo der Verein zur Förderung der Kunſt ftärker denn je
bie Werbetrommel rührt, um neue Streiter für feine Jdeen zu ſammeln, dürfte
e8 angebradjt fein, die leider bismeilen immer noch von diefem oder jenem
Laien reip. Feigen farkaftiihelähelnd behandelte Frage der Dafeinsbe-
rehtigung des Vereins zy erörtern!
Es gibt immer noch unter den gebildeten Leuten einige, Die dieſe Frage
nicht mit einem bedingungslofen „ja“, wenn nit fogar mit einem häßlichen
„nein“ beantworten. Ob die Urſache zu diefer Verneinung der Notwendigkeit
unferer (de8 Vereins) Exiſtenz in einem allaugroßen, blinden Optimis-
mus, ober in einer unverzeihlihen Gleichgültigfeit gegen unfere Mitmenfchen,
oder gar in einem feigen, verachtungswürdigen Egoismus zu fuchen find,
überlajien wir der Enticheidung jedes Einzelnen. Für ums eriftiert die Frage
der Dajeinsberedtung ſchon feit langem nicht mehr; wir haben ftatt deren das
Bewußtſein der Dafeinsnotwendigfeit. Hätten wir e8 nicht ſchon vor der
Entjtehung des Vereins gehabt, mwahrlid bei unferer Thätigkeit in diefem,
hätte e8 uns fommen müſſen! Wir fördern die Kunſt, d. 5. das Blühen und
Gedeihen aller Künſte, indem mir begabten Stünitlern ihr Schaffen erleichtern,
wie und wo wir Gelegenheit dazu haben, und indem wir den Boden, auf dem
gefunde Kunſt emporjpriegen fann, kultivieren, d. h. in Geift und Gemüt des
Volles das Beritändnis für mahre Hunft wachrufen. Dat wir mit Heinen
Mitteln bisher nur in Fleinem Maße helfen und unferen Zielen näher fommen
tonnten, begreift wohl Jeder; aber weil es ein Jeder begreift, deshalb follten
ih alle uns anſchließen, und dadurch unfere Mittel und räfte derart ver—
größern, daß der Merein zur Förderung der Kunſt zu einer Macht ans
wüchje, melde einen großen und wichtigen Faktor im Sunftleben und in der
Kunftentwidlung bildete! Das Bedürfnis nah Hilfe auf dieſem Gebiete iit
riefengroß. Wenn mir unferen Gegnern, jenen ffeptifchen Nörglern zeigen
würden, wie oft und in welch’ verichiedenartiger Geftalt, und wie laut und
eindringlid der Ruf nad Hilfe in der kurzen Zeit unferes Beſtehens ſchon in
unjer Ohr gebrungen iſt — es überliefe fie vielleicht ein Schreden vor ihrer
eigenen, verbammensmerten Hurzfichtigfeit. Und haben wir denn nidt
ihon geholfen? Das Zartgefühl verbietet uns, Namen auszuſprechen; aber
— 56 —
mir verweilen auf manche Kritif in den Tageszeitungen allwo wiederholt zu leſen
ift: „Diefe eine That allein würde fon genügen, um uns zu zwingen, dem
Berein unfere Anerkennung zu zollen und fein Dafein als ein tiefbegrin-
detes Erfordernis unferer Zeit ertennen laſſen.“
Das große Publitum, welches jo felten von dem Schidfal der Künftler
etwas erfährt, fo lange dieſe noch leben, begreift den vorstehenden Ausſpruch
vielleiht nicht im feiner ganzen erfchredenden Wahrheit; es fieht ja nur den
Lorbeerkranz, den ſich der alternde Künſtler am Grabesrande in die grauen
Locken drüdt, aber es weiß nidt, daß diefer Rorbeerfrang mit Blut umd
Thränen zufammengelittet ift, und e8 weiß auch nidt, daß jene grauen
Koden vom Hummer und von der Rot lange vor der Zeit gebleicht wurden.
Das Publitum fieht nur die Denkmäler, die man bem Künſtler errichtet, aber
es weiß nicht, daß man diefem während feines Erdendaſeins mehr Steine als hier
ftehen, in den Weg warf. Diejenigen aber welche ſelbſt mitten im Stumftleben, und
Diejenigen, welche mit ber Preffe in Verbindung ftehen, haben täglich und ftünd-
lich Gelegenheit „hinter die Kouliſſen zu ſchauen“l Und wenn ſolche Herren (umd
wie oft geihieht das!) noch die Stirne haben, aufzutreten und zu jagen: „Die
Künftler entbehren nichts, es ift alles gut und ſchön, fo wie es ift, Hilfe thut
durchaus nicht not”, — jo find wir gezwungen, ihnen unfere Verachtung und
gerechte Empörung, ob ihrer verfnöderten Selbitfuht entgegenzufchleubern.
Blind fein gegen die Notlage folcher begabter Künjtler und Autoren, heit in
diefem Falle hart und graufam fein. Kein einziger Berufsmenfch bedarf jo
fo fehr eines freien und forglofen Gemütes, eines friſchen, ſpannkräftigen
Geijtes, als gerade der jchaffende, der aus dem Born feiner Seele ſchöpfende
Künstler! Aber gerade er ift es, der fo oft durch Entbehrungen aller Urt
darniedergedrüdt und durch die nagende, quälende Sorge um das tägliche Brot
müde und jchaffensunluftig gemadt wird. Gerade ihm fehlt der Sonnenſchein,
bas Element feines Lebens, die Grundlage feines Könnens.
Und nit nur Unfänger in der Kunſt, nicht nur unbefannte oder be=
ftändig verfannte Künftler und Autoren haben unter diefem Drud zu leiden
— o nein, bie Welt vergikt auch jene Geiitesheroen bisweilen, denen ſie
bereinst ſchon zugejubelt bat! Sie vergißt fie, und weiß nicht, daß vergefien
hier mitunter morden iſt. Sie fann es nun einmal nicht begreifen, daß aud
der Künſtler arbeitet, und daß feine Arbeit nit nur auch, jondern erit
recht belohnt merden muß.
Der Verein zur Förderung der Kunſt hat ſchon fo mande Thräne
geftillt; jo manches ftille Segenswort ift feinem heimliden Walten gefolgt, fo
manches Zalent, welches im Begriff war, in dumpfe Verzweiflung zu ver:
finten, iſt durch jein fchnelles Eingreifen der Kunſt erhalten und dem Höhen:
piade wieder zugeführt worden.
Der Berein beginnt, fi) zu einem Grunditein zu geltalten, auf dem das
Gebäude einer freien, unabhängigen Kunſt emporfprießt; denn jedem hilfs-
bebürftigen Künſtler mill er helfen — ganz gleihgültig, welcher „Richtung“
er huldigt —, wenn er eben nur „Künitler*, wahrer, aufridhtiger Künſtler ift!
Rollten wir uns heute aurüdziehen vom Felde unferer Thätigfeit,
wahrlich, e8 würde eine arge Lücke entjtehen, deren Vorhandenſein mander
Autor und Künſtler ſchmerzlicher empfinden würde, als früher, bevor er bie
Hand des Vereins geipürt hatte.
Der Vorſtand. Mm.
2x7
— 56 —
Wieder ijt die Notwendigfeit zu helfen an uns herangetreten. Es
handelt fich diesmal um vier Autoren und Fünftler, deren materielle Rotlage
ein rafches Eingreifen erforberli macht, und zwar um:
ı. einen hervorragenden, bisher an eriter Stelle wirkenden Stapellmeiiter
und begabten Stomponiften, der infolge foeben überitandenen ſchweren Leidens
noch auf längere Zeit fchaffensunfähig ift,
2. einen bereit8 anerfannten Schriftiteller in Berlin, deifen troftlofe
Notlage derart ift, daß feine Freunde — darunter viele befannte Autoren —
ſich veranlaßt jehen, ſchon Schritte zu einer Beſſerung feiner drüdenden Situa-
tion zu thun, und
3. und 4. einen in Siehtum geratenen, Shmwerringenden armen Hamburger
Schriftiteller, fomwie um die Familie eines von vielen Schickſalsſchlägen heimge-
ſuchten Journaliſten in Graudenz.
Diefen allen muß fjchnellitens geholfen werden. Der hilfsbereiten
Hände gibt e8 in unferem Kreiſe zwar viele, aber wie oft mußten fie ſich ſchon
öffnen! Müffen wir nicht fürditen, daß fie einmal erlahmen, wenn mir fie
gar zu oft zum Zugreifen veranlaffen? — Diefe Frage in Erwägung ziehend,
haben wir diesmal — wo wir ſchnell helfen müſſen und eine große Summe
dazu gebrauchen — einen Ausweg gewählt, der den Hilfsbedürftigen Rettung
bringen, die Helfer aber ein wenig entihäbigen und anfeuern wird. Diefer
Ausweg ijt folgender:
Der Verein zur Förderung ber Kunft veranftaltet am 16. März er. im
großen Feftianl ded KHünftlerhanfed, Bellevuejtr. 3, abends 8 Uhr be-
ginnend, eine
WohltHafigkeits-Weranftaltung,
beitehend aus muſikaliſchen und deflamntorifchen Vorträgen, an melde
Sich ſpäter Souper und Ball anihliehen.
Die Vorträge werden von hervorragenden fünjftlern aller=
eriten Ranges ausgeführt, die ihre Kräfte in uneigennüßigfter und Hilfs-
bereiter Weife an diefem Abende in den Dienſt der Wohlthätigfeit ftellen.
Maler von Auf haben Beiträge verfproden, einige größere Ge—
mälde im Werte von mehreren Hundert Mark ftehen zur Berfügung und
werden am Abend zur Verlofung gelangen. (Loſe a ı Mi) Den Damen wird
eine mit dem Ganzen harımonierende Spende überreicht.
Der Ertrag der Veranftaltung, welcher hoffentlich recht reichlich aus—
fällt, wird nad Abzug der verhältnismäßig geringen Unkoſten zu den vorer—
mähnten linterjtügungen verwendet werden. -
In Anbetracht des guten Zweckes unjerer Sache hoffen wir, daß die
Beteiligung eine recht rege fein wird. Die Freude am Wohlthun wird den
Anweſenden die natürliche Freude des Amüfements noch erhöhen.
Die Teilnehmersstarten foften pro Berfon:
a) nur für Soirée und Ball 3 Mt. /
b) für Souper (Huſter, Engl.
Haus), Soirce und Ball 6 nt. \
Nihtmitglieder zahlen ı Mi. mehr pro Starte,
Beitellungen auf Karten, die wir möglichſt umgehend er-
bitten, find (unter genauer Bezeichnung der Art) an die unterzeichnete Kom—
miffion zu richten.
für die Mitglieder des Vereins
und deren Ungehörige.
Die Unterftügungs: Kommijfion
des Dereins zur Förderung der Kunit.
Sefchäftsitelle: Berlin NW, Stlopftoditraße 2ı pt.
— 3% —
Zur gefälligen Beachtung! Wir machen, obwohl foldhes ſchon durch
die Beilage gefchieht, auch hiermit nochmals befonders auf dag am Sonntag
ben ı2. März er. Mittags 12" Uhr im Beethoven=-Saale ber Phil—
harmonie ftattfindende Konzert unferes Mitgliedes Viftor von Woikowéky—
Biedan aufmerkffam, das vorausſichtlich ein intereffantes, künſtleriſches Reſultat
zeitigen dürfte,
Wenn Herr Viktor von Woikowsky-Biedau auch den Ertrag einem wohl—
thätigen Zmede übermeifen will (er iſt Staatsbeamter), fo legt er bennod
Wert darauf, in feiner Eigenſchaft als Mufifer ftreng beurteilt u werden, mas
er auch nicht zu fchenen braudt, da er durch eine frühere Mufführung jeiner
Werke bereiis vorteilhaft befannt geworden iſt. Eine Kleine Anzahl von Eintritts—
Karten wird uns der Beranftalter im Intereſſe unferes Vereins koſtenlos über:
laffen. Diesbezügliche Anſragen bitten wir an unfere Geſchäftsſtelle zu richten.
»
* *
Zur Beethoven-Matinee am 12. März hatte das
Waldemar Meyer-Quartett
die Freundlichkeit, uns eine Anzahl guter Pläke für unfere Mitglieder zum
Vorzugspreis (Ubonnement) von ME. L.— zur Verfügung zu ftellen. Wer
die hervorragend fünftlerifchen Leiftungen des ausgezeichneten Quartetts lieb»
gewonnen und Karten wünfcht, wenden fi an die Geſchäftsſtelle d. D. 3. F. d. K.
*
*
Im Intereſſe der vielen Muſiker und Muſikſtudierenden unter unſeren
Mitgliedern, wie auch aller anderen Beteiligten verweiſen wir auf nachſtehende
amtliche Bekanntmachung der kgl. Akademie der Künſte zu Berlin.
Befanntmachung.
Königliche Akademie der Künſte zu Berlin.
Sommerfurfus der Lehranftalten für Muſik.
X. Akademiſche Meifterfhulen für muſikaliſche Kompolition.
Boriteher: Die Profefforen Dr. Blumner, Dr. Brud und
Freiherr von Herzogenberg.
Die Meifterfhulen haben den Zmed, den in fie aufgenommenen Schülern
Gelegenheit zur mweiteren Ausbildung in der KHompofition unter unmittelbarer
Leitung eines Meifters zu geben.
Genügend vorbereitete Wipiranten, melde einem der genannten
Meiſter ſich anzuschließen wünſchen, haben ſich bei demfelben in den eriten
Wochen des Upril perfönlich zu melden und ihre Kompojitionen
und Zeugniffe (insbefondere den Nachweis einer untabelbaiten
fittliden Führung) vorzulegen.
Ueber die fünjtlerifhe Befähigung der Bewerber zur Aufnahme
in die Dieifterfchule entfcheidet der betreffende Meijter. Der Unterricht iſt bis
auf weitere Beſtimmung unentgeltlid.
B. Akademiſche Hochſchule für Mufik,
Direktorium: Die Profeſſoren Dr. Joachim, Freiherr von Herzogenberg,
Rudorff, Schulze.
Die Aufnahme-Bedingungen ſind aus dem Proſpekt erſichtlich, welcher
im Bureau der Anſtalt, W. Potsdamerſtr. 120, unentgeltlich zu haben iſt. Die
Anmeldung iſt Schriftlich und portofrei unter Beifügung der unter Nr. VII
des Profpeftes angegebenen Nachweiſe, aus denen das zu jtudierende Haupt
fach erfichtlich fein muß, fpäteitens bis zum ı. April 1899 an das Direktorium
der Anitalt, W. Potsdamerftr. 120, zu richten. Auch muß aus der Meldung
hervorgehen, dab dem Nipiranten der Prüfungstag bekannt ift.
Derlag von Georg D. W, Callwey, Mündyen. Derantwortlid;: Milk. Mieſchel, Berlin,
2. Jahrg. Ar. 12. 15. März; 1899.
Amtliche CDikfeilungen
Derein zur Förderung der KRunſt.
Begründet 1897 von beinz Woltradt, Berlin.
Eentrale: Berlin. Smweiapverein: Br'le a. 5.
Geichäftsnelle: NW. Klopflodftraße 21. Geimutisj.2lle: Karlsftraße 25.
Be 0 —
Die „Amtlichen Mittrilungen“ aus dem Derein z. F. d. U. find das Dereinsorgan dieſes Vereins und
werden den Stammmligliedern desfelben zugleich mit dem „Hunftwart“ geliefert, auf den von der Dereins-
leitung für fämtliche Stammmitglieder abonniert wurde. — Die „Mitteilungen“ werden aber auch den
„Kunftwart”«Ubonnenten beigefügt, welche für die Deröffentlichungen des die gleichen Ziele wie der
„Hunftwart“ verfolgendben Vereins ebenfalls Interefie haben dürften, — Zuſchrüten in Dereinsangelegen»
beiten find nur an die Geichäftsttelle des Dereins z. F. d. X, zu richten, ſolche in redaktionellen Ans
geiegenkeiten an den Schriftieiter, Berlin, Stephanjtr, Yir, LIT,
Unser literarischer Abend!
Am ı. März cr. fand im Arditelten-daufe unfere 6. Beranitaltung, ein
literariſcher Abend ftatt. Der Zweck desſelben war — wie es ja bie
Tendenzen des Vereins bedingen — fünftlerifch wertvolle Werke in die Oeffent—
lichleit zu tragen, die diefer aus irgend welchen Gründen bisher vorenthalten
blieben. Das Programm mar auf das jorgfältigite zufammengejtellt worden,
fodak dem Publifum nur — nad) unserer Annahme — wirklich Gutes geboten
wurde.
Eröffnet wurde ber Abend mit Dichtungen von Ferd. Uvenariuß
aus den Sammlungen „Stimmen und Bilder* und „Lebe“. Näher hierauf
an diefer Stelle einzugehen, verbietet uns der Wunſch des Dichters. Das Eine
aber wollen wir nicht unerwähnt Iafien, daß das Publikum begriff, in meld
gewaltiger Größe die Tragik ihm hier entgegentrat, und daß die Berliner
Kritif Avenarius zu würdigen weiß. Die Deutihe Warte nennt feine Gedichte:
„Die Produkte einer großen Geſtaltungskraft, von einem fo warmen Herzichlag
durchpulſt, daß fie aud) mit Macht an die Herzen rühren müſſen.“ Ferd.
Gregoris meifterhafter Vortrag that das feine dazu, um den Hörern biefer
Gedichte den Kunſtgenuß zu einem vollendeten zu geftalten.
Nächſt dieſem war e8 wohl die von Dr. G. Manz mit dramatifcher
Wirkung vorgetragene Skizze „Hunger“ von Max Dreyer, welde das Pub—
likum am meijten feffelte, und den ſtärkſten Beifall fand. Das „Kleine Jour-
nal* jchreibt darüber: „Die Stizze, die aus Dreyerß erſter Schaffenszeit
ftammt, iſt ein packendes, ergreifendes und mit realiftifher Kraft ber
Schilderung hingeworfenes Bild aus dem verlorenen Leben eines mobernen
Uebermenfhen. Die ganze Arbeit fcheint troß des milden Sturmes und
Dranges, der fich mit gewaltiger Kraft darin Bahn bricht, unter Doſtojewski—
ſchen Einfluß zu ftehen. Der Moment, in bem der junge, aus Stolz hungernde
Student fih aus Gier nad Brot an feiner Wirtin vergreift und beinahe zum
Mörder wird, ift mit genialer Brutalität dargeftellt, und doch können mir ihn
begreifen, ihn verstehen, den armen Idealiſten, der fi) fo hoch gedünft, daf
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er die Arbeit zurüdiwies, und ber nun, herabgeſtürzt vom Piedeital ber lleber-
menfclichfeit, zum gemeinen Verbrecher wird aus denfelben beitialifhen Ins
ftinkten wie jene unglüdlihen Geihöpfe, die in den Augen ihrer Mitmenſchen
zum Verbrechen präbdeftiniert erfcheinen.*
Die rühmlichit befannte Rezitatorin Fräulein Seraphine Detſchy
brachte Dichtungen von Guſtav Nenner und dem Schreiber dieſer
Zeilen zum Vortrag. Weber Legteren kann begreiflicher Weife an dieſer
Stelle nicht geiprocdhen werben. Die Rennerfhen Gedichte (der Mönd, Ballade,
Berziht, den Peſſimiſten u. a.) fanden die ihnen gebührende Anerkennung.
Guſtav Nenner ift ein Poet voller Kraft und Annerlichkeit, dem die Kunst nicht
ein Spielmerf, fondern das Element ift, welches feine Seele braudt, um fi
entfalten zu können. Mas er fchreibt ift erlebt, d. 5. innerlih, in der Seele
und im Geiſte erlebt. Er gibt eine Kunſt, bie Beben ilt. Die Belannt-
fhaft eines jungen, bisher nor) mit feiner Arbeit an die Deffentlichfeit ges
tretenen Autors, des in Xeipzig lebenden Walter Hofmann, vermittelte
uns Fräulein Edela Rüſt, die die Rezitation diefer Gedichte noch in letzter
Stunde übernommen hatte. Hofmann, der unzweifelhaft dichteriiche Begabung
befigt, it ein Talent ohne Form. Gr wird bejtrebt fein müflen, ftrenge Zucht
an feinem Können zu üben, und eine ſcharfe Feile an Das Fertige zu legen.
Frl. Rüft trug darauf nod die anmutigen Berje Editha v. Reitzenſteins
vor, die namentlid) bei dem meiblichen Zeil der Zuhörerjchaft lebhaften Bei—
fall fanden. Reichlicher wurde dieſer jedoh noh Paul Remer gegollt.
Seine an ſich wirkungsvollen und zu Herzen gehenden Dichtungen wurden
dur den künſtleriſch vollendeten Vortrag und die beftridend anmutige Art der
Rezitatorin, Frau Alwine Wiefe — 3. 3. am Sciller-Theater in Berlin
— derart „in das rechte Licht geftellt“, dad die gejamte Zuhörerihaft dem
Dichter wie der Anterpretin das reichite Lob fpendete.
Sodann las Herr Ferdinand Gregori nod) einige in Form und Ausdrud
gute fatyrifche Gedichte von Harl Moenfeberg:Hamburg und Szenen aus
dem zmweiaftigen Drama „Hains Tod* von Leopold Ripke aus Caſſel vor. Das
Drama — welches leider zu jehr auf unwährſcheinlichen Vorausfjegungen aufs
gebaut ift — weiſt im einzelnen I[yrifche Stellen von großer Schönheit und
bisweilen auch Wucht und Kraft in der Gejtaltung der Leidenihaft auf. Ale
Ganzes jedod will es uns noch nicht reif genug erjcheinen. Die innere Not—
mwendigfeit der Geſchehniſſe und der Handlungen, insbefondere die Notwendig—
feit von Kains Tod fcheint uns nidyt genügend motiviert. Kains Tod ers
warten wir als eine Folge feines durd) das quälende Gewiſſen hervorgerufenen
Selbjt-VBernihtungsdranges. Ein Genie würde dem Stain vielleiht auch jenen
„Drang über’ Grab zu jchauen“ in die Seele legen, und dadurd) feinen Tod
herbeiführen. Trotz diefer (unferes Eradtens nad) Mängel, iſt das Drama
ein unleugbarer Beweis von dem dramatifhen Talent Ripfes, das ſich nament=
lich in lebhaften nnd gemandtem Bühnenfpiel uud in einer bilderreichen, wohl
tönenden Sprade zeigt.
Wilb. Mieſchel
Bon Wohnungd-VBeränderungen bitten wir unferer Geſchäftsſtelle,
Berlin NW, Stlopftoditr. 21, fo fchnell wie möglich Mitteilung zu machen, das
mit eine Verzögerung in der Zujendung bes ſtunſtwarts und der Vereins:
Mitteilungen vermieden werde.
Derlag von Georg D. W, Callwer, Münden. Derantwortlih: Wilh. Mieichel, Berlin.
32101 064174723
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